= PESHEER tier tann SEE Bere: Een ii Hr ai H Bu B Es Bi Hirt? Y if 2» 123% rem une Monatssehrift des WISSENSCHAFTLIGHEN VEREINS ZÜRICH. Herausgegeben von dem Redactionsausschuss desselben : FERDINAnD HırzıcG, EDUARD ÖSENBRÜGGEN, Hemrich Frey, Aporr Schuiptr, HEINRICH SCHWEIZER. (Hauptred.: Epvarp OsEnBrüsgen.) VEBBTBRZ YVJABESGATE ZÜRICH, VERLAG von MEYER & ZELLER. 1859. ze R Ew Une: ! Inhalt des bierten Sahrgunges. Geschichte der Censur in Zürich. Von G. MEyEr v. Kxonav A E Ein Abehnitt aus der jüngsten Geschichte des Freiheitsbegriffs. Von O H. IND RE RE rn EEE Die Choraula, ein aller Festtanz. Von H. Rune . „ .: ... Die Entstehung des ärztlichen Stande. Von A. L. CioermmA .. Die Familie im deutschen und schweizerischen Recht. Von A. v. Ben Der Quellkultus in der Schweiz. 1. Von H. RuneE Ein Pferdeopfer der neuesten Zeit. Von H. Runer . Noch eine Notiz über das Kolenberger Gericht. Von ÜsENBRÜGGEN Die weisen Frauen der Germanen. Von L. Ettmüller . . . ER Beiträge zur Statistik der Industrie und des Handels der N Von BE bRöonn: 2... .. Sr oe eb fee °C Der Quellkultus in der EN I. io H. Ra ER 5 Deutsche Rechtsalterthümer aus der Schweiz. (Fortsetzung.) Von En. R BERGGEN- Ser nen, ne re N ee Ueber das Verhältniss zwischen Lessing’s Erziehung des Menschenge- schlechts und Nathan dem Weisen. Von C. Hrsrer . Anzeige von W. Munzinger’s Schrift über die Sitten und das Recht ur BBOGOSIR Sn BEE 10. ER FE RE No Ar Neurophysiologische ERS Von E. Harızs .. . Ueber Meteoriten. Von A. Kennoom .. Fe Die ältesten Jahrbücher der Stadt Zürich. Von 6. RER s R Zur Geschichte des neutestamentlichen Kanons in der römischen Kirche. Von G. Voıxvmaer . . . ae Berichte über die Sitzungen des wüsenechalilienen Forains, S. 17. 226. 301. Druck von E. Kiesling in Zürich. L “ PTR FD FEN ; > ae Bi Marke E43 wer Mmumda 5 pa: Au ab Sa WERE, ah i ne vr « * I rer ler, vers) ei = er ETWRDERFETS na EN POLEN ws EINEN kN er hy EIICS ab a “ 1,» nd fr £ i wo son Dr oh AN re‘ ns a n t [ 4 . De 4 ER : . BR: ur ur In ins re Eyrngaruih ie * Re ER u u. ER: r: x EL Far n a - $ EEE 6 ei keep! re pr : u ii: ek Duo”. TV I 2 I , e Wo ob! Lues ame a al f nö x ‚00 “ 7 anna FT 2. R ur: 70 % DaETE DAR FR) Per Io 4 PU IR nn, wir ya nn ie Tun Kr oe RL ENT EV DEETT 3 4 N Dh 2“ „ . . . x ‘ı. » ne‘ BEL. ame, BR ser: eo. Dis a "OHR men m dere nz eh BR al YrtadiR- se wor lan; &% a — —— —— — N - Monatsschrift + | des WISSENSCHAFTLICHEN VEREINS ın ZÜRICH. | Herausgegeben von dem Redactionsausschuss desselben : Ferpınann Hırzıc, EDUARD ÖSENBRÜGGEN, Hemrıch Frey, | ApoLF ScHmiDT, HEINRICH SCHWEIZER. a \ (Hauptred.: Epvarp OsEnBrüceen.) PFLEBRBREBRB JABRSARE. Erstes und zweites Belt. ee . „ZÜRICH, a VERLAG vol'Meren & ZELLER. 1859. Preis für den Jahrgang 2 Thir. 20 Ngr. = 9 Fr. Der Hauptbestandtheil dieser Zeitschrift ist selbstständigen, von den Ver- fassern unterzeichneten Aufsätzen aus allen Zweigen der Wissenschaft gewidmet, mit dem Zweck: die Ergebnisse gründlicher Forschung in möglichst anziehender und anregender Form darzulegen und dergestalt, wie eine unmittelbare Förde- rung der Wissenschaften, so namentlich auch eine Vermittlung derselben unter sich anzustreben. Grössere Recensionen sollen nur in selteneren Fällen Platz finden, kurze Notizen aber und gelegentliche Urtheile über neue Erscheinungen, sowie Berichte und Anfragen in dem Anhange mitgetheilt werden. Inhalt des borliegenden Beftes: Geschichte der Censur in Zürich. Von G. Meyer v. Knonav. .... 1 Entstehen der Oensur. Censurbehörden. ÜCensurordnungen. Censur der Bücher. Censur der Zeitungen. Aufhören der Censur. Ein Abschnitt aus der jüngsten Geschichte des Freiheitsbegriffs. Von 1 ORTO SH: WDEGER N. ee ee ee ee Re ae 1. Die Vorbereitungen einer Krise seitens der Philosophie. 2. Eine Gesammtverschuldung der Philosophie an der F'mpirie und der Kampf und Sieg der modernen Naturforschung. Die Choraula, ein alter Festtanze. Von H. Russe . . . 2 .2..2...63 Zusendungen an die Redaction werden portofrei oder auf dem Wege des Buchhandels erbeten. Grgentwärtige Mitglieder des Wissenschaftlichen Vereins G. v. Wyss, Präsident. Cravsıus, Vicepräsident. HıLLEsRanD, Sekretär. Bozrık. CLoETTA. DERNBURG. EcLı. EscHEr v. d. Lınta. Fear. H. Frey. Ferıtzsche. Heer. Hırdesranp. Hırzıc. J. J. Hortrınser. Kensecorr. Köckıy. Kym. LE£BERT. v. MarscHarı. H. Meyer. MEYER-ÄHREns. MÜLLER. NÄGELI. v. ÖRELLI. ÖSENBRÜGGEN. RocHAT. RÜTTIMANN. SCHEUCHZER. SCHLOTTMANN. AD. ScHMIDT, ALEX. SCHWEIZER. H.ScHWEIZER. STÄDELER. F. VıschERr. VoGEL. VoLKMAR. Druck von E. Kiesling in Zürich. Geschichte der Gensur in Zürich. ') Von GEROLD MEYER von KNONAU. Entstehen der Censur. Censurbehörden. Censurordnungen. Die Censur begann zu Zürich im Jahre 1523 und den Anstoss dazu sollte ein vom 20. Januar datirtes Schreiben des Reichstages zu Nürnberg geben, welchen Brief das Staatsarchiv noch im Original aufbewahrt.‘ Der Statthalter des Kaisers, die Churfürsten, Fürsten u. s. f. wenden sich darin an die Eidgenossen und befehlen ihnen „um der geuerlichen Irrigen missuerstende vnsers heiligen Cristlichen glaubens, So ytzo durch allerley vnbedechtlich ausschreiben, druck vnd' lere, allenthalben bey dem gemeinen man entsteen, hinfurther nichts news mher zudrucken, Es sey was es woll, dasselbig sey dann zuuor durch etlich vnser Erbaren verstendigen gelerten personen, so vnser yeder In sunderheit darzu ordnen soll besichtiget vnd zugelas- sen.“ Der zürcherische Rath mochte um die ihm bevorstehende Zu- muthung gewusst haben, denn gleich im Anfange des Jahres wurde von dem grossen Rath zwei Mitgliedern des Stiftes, Ulrich Zwingli und dem Chorherrn Uttinger, sammt zwei Räthen der Auftrag ertheilt, Alles was in der Stadt Zürich gedruckt werden sollte, zu besichtigen und dem Buchdrucker Christoph Froschauer zu befehlen, dass ohne ihr Wissen nichts zum Drucke befördert werde. Dem Reformator ward jedoch die diessfällige Mühe wieder ab- genommen und dem alten, d. h. dem nicht regierenden Bürgermeister und etlichen seiner Miträthe übertragen. Diese Einrichtung dauerte bis zum Jahre 1553, in welchem der Rath, in Erwägung, dass jene ‘) Leider ist der erste Beitrag des um die Alterthumskunde Zürichs und der Schweiz hochverdienten Staatsarchivars G. Meyer von Knonau, mehrjährigen Mitgliedes des wissenschaftlichen Vereins, auch der letzte für die Monatsschrift. Noch kurz vor seinem Tode (f 1. Nov. 1858) legte er die bessernde Hand an diesen aus einem Vortrage in der „vaterländischen historischen Gesellschaft“ zu Zürich entstandenen kleinen Aufsatz, den die Redaction der Monatsschrift des historischen Inhalts wegen und als Andenken an den Verstorbenen doppelt werthschätzen muss. Wissenschaftliche Monatschrift. IV. 1 BERN 00.3 Magistratspersonen ohnehin mit viel Rathsgeschäften täglich beladen seien, einen Stadtgeistlichen, ein Mitglied des kleinen und eines des grossen Rathes ernannte, und ihnen auftrug, „alles das so man alhie zu trucken vnnderstadt. Zuuor Eigentlich zu besehen vnnd zu erlesen.* Die Buchdrucker wurden zugleich verpflichtet, jedem der drei Ver- ordneten für ihre Mühe ein Exemplar der Druckschrift zu verabfolgen. In der zweiten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts, 1674, ward die Censurbehörde auf sieben Mitglieder ausgedehnt und namentlich verordnet, dass alle theologischen Schriften, die Thesen inbegriffen, ausser dem Antistes, auch von den zwei Professoren für das alte und neue Testament, den sogeheissenen beiden Theologen, sowie von Herrn Professor Schweizer, in welchen man wegen seiner Rechtgläubigkeit wie Gelehrsamkeit ein besonderes Vertrauen setzte, censirt, und dass, wenn diese Gelehrten oder die Censurbehörde in einem Tractat irgend etwas Bedenkliches finden sollten, sie solches vor den Rath oder wenigstens vor die obersten Schulherren zu bringen hätten. Vier Jahre "hernach wurde auch hinsichtlich der philosophischen Bücher den Cen- soren anbefohlen, wenn sie unter sich „missverständig* würden, die Deeision an M. Gn. Herren zu bringen, in der Meinung jedoch, dass Gründe und Gegengründe gehörig auseinander zu setzen seien. Man blieb inzwischen nicht nur bei wissenschaftlichen und politischen Schrif- ten stehen, sondern verfügte 1695, auch die Kalender seien in die Censur zu geben, und ging im nächsten Jahre noch einen Schritt weiter, indem erkaunt wurde, dass die hiesigen Kupferstecher, ohne Vorwissen und Bewilligung der Censoren, keine die Religion betref- fenden Kupfer stechen dürften, auch dass die Mitglieder der Behörde bei den Künstlern Nachschau zu halten hätten. Im Aufange des achtzehnten Jahrhunderts, 1711, ward nach frü- hern Vorgängen abermals eine articulirte Censurordnung erlassen, wo- rin der Rathı die Erfindung der Buchdruckerkunst eine der herrlichsten Gutthaten Gottes nennt; weil aber die vortrefllichsten und nützlichsten Sachen oft am allermeisten den Missbräuchen unterworfen seien, so habe die Obrigkeit die Druckerordnung von 1660 umarbeiten lassen, in der Erwartung, dadurch allem aus dem schändlichen Missbrauch dieser edeln Kunst erwachsenden Aergerniss möglichst vorzubiegen. Die Censurbehörde, deren Mitgliederzahl sich wieder auf sieben belief, ward verpflichtet, auf das Sorgfältigste zu verhüten und zu diesem Zwecke die Drucker durch den obersten Censor ins Hand- gelübde nehmen zu lassen, dass im Geringsten nichts in Zürich ge- a druckt oder von Zürchern anderwärts zum Druck befördert werde, welches entweder der heiligen Schrift, dem eidgenössischen Glaubens- bekenntniss und den übrigen symbolischen Büchern zuwider, oder der Ehre und Ruhe „unseres politischen Standes“ nachtheilig sei, auch der Ehrbarkeit und den guten Sitten zum Aergerniss gereichen möchte. Würde, heisst es weiter, ein Stadtbürger oder Schirmsverwandter aus- wärts etwas ohne das Imprimatur der zürcherischen Censur drucken lassen, so könne der Fehlbare wegen seines Ungehorsams nicht nur mit scharfer Strafe belegt, sondern die Druckschrift confiseirt werden, selbst wenn eine solehe ohne Erlaubniss gedruckte Schrift nichts An- stössiges enthalte. Dieser letztere Artikel der Censurordnung ward im Jahr 1789 „in Rücksicht gegenwärtiger Zeitumstände®, sagt das Protokoll, dahin erläutert, dass allen auswärts sich befindenden Bür- gern und Schirmsverwandten wie Angehörigen vergönnt sein möge, auf eigene Verantwortlichkeit hin ihre literarischen Producte in Druck zu geben; in der Meinung jedoch, dass Aufsätze, welche mehr oder weniger auf hiesige Sachen, Gesetze und Personen Bezug haben, ohne Genehmigung der Censurkammer in Zürich nicht in Druck ge- geben werden sollen t). Diese Censurkammer bestand bis zum Frühjahre 1798, wo sie mit so vielen andern Institutionen vorübergehend ihr Ende fand. Bald muss selbst die aus einer Revolution hervorgegangene helvetische Re- gierungsgewalt die Unzulässigkeit gänzlicher Presslizenz eingesehen haben, denn wir begegnen während der Helvetik, wenigstens in den Zeitungsblättern, dem Walten der Censur in Zürich, ausgeübt durch einen gewissen Rordorf. Mit dem Sturze der helvetischen Regierung trat gleich das Be- dürfniss einer Aufsicht auch über das Bücherwesen hervor, und der als Denker wie durch reinen Geschmack sich auszeichnende Johann Heinrich Meister war nach Einführung der Mediationsverfassung bis zu seiner Uebersiedelung nach Paris zuerst alleiniger Censor. Ihn ersetzten vom Juli 1803 an der ältere Rathsherr Konrad von Meiss und der Öberriehter Ludwig Meyer von Knonau, welche sich zum Substituten von der Regierung den Staatsschreiber Hans Jakob Lavater 1) Es ist uns ein Fall bekannt, wo selbst dem Censor aus dem Rathsaale ein Missfallen zu Theil ward. Dies geschah 1791 gegen das erste Mitglied der Behörde, welches anstössige Kupfer in einem hiesigen Kalender betreffend, die Zurückführung des entflohenen Königs von Frankreich nach Paris, wie einen den Abbildungen entsprechenden Text hatte passiren lassen. ee erbaten, innerhalb Jahresfrist aber ihre Entlassung nahmen, und durch den Bezirksgerichtspräsidenten Johann Konrad Ulrich und den Kan- tonsarzt Hans Kaspar Hirzel ersetzt wurden. Inzwischen traf man die Einleitungen zu einer neuen Censurordnung, und mit der Abfas- sung derselben wurde die Commission des Innern betraut, deren Mit- glieder über die Nothwendigkeit einer sorgfältigen Polizei in Betreff der Drucksachen ‘einer Meinung waren, über Anwendung der erfor- derlichen Mittel aber sich nicht einigen konnten und daher dem kleinen Rathe ein Majoritäts- und Minoritätsgutachten vorlegten. Im Mai 1805 erliess nun der grosse Rath ein Gesetz über das Censurwesen. Vor- übergehend hatte man auch daran gedacht, in dasselbe eine Bestim- mung aufzunehmen, welche dem eingerissenen Missbrauch steuern sollte, geheim zu haltende Acten der Regierung in den Zeitungsblät- tern zu veröffentlichen; allein man überzeugte sich, dass eine solche gesetzliche Bestimmung nicht nur unpassend wäre, sondern sogar von schädlichen Folgen sein könnte, und’suchte diesem Uebelstand durch das Reglement des kleinen Rathes abzuhelfen. Es mochte hier haupt- sächlich auf Paul Usteri abgesehen gewesen sein, der sich nicht nur damals, sondern auch später öfters erlaubt hat, wichtige Staatsschrif- ten in der Augsburger allgemeinen Zeitung oder in den europäischen Annalen abdrucken zu lassen. Die am 8. Juni 1805 ernannte Ceusureommission bestand aus fünf Mitgliedern. Rathsherr David von Wyss, dem das Präsidium übergeben ward, hatte die bei Orell, Füssli und Comp. und David Bürkli erscheinenden Zeitungsblätter zu censiren; Chorherr Johann Jakob Hottinger die Censur aller in das philologische, historische, politische, pädagogische und schönwissenschaftliche Fach einschlagen- den, kleinern oder grössern Werke mit Inbegriff aller diessfälligen Journale oder Monatsschriften zu besorgen; Chorherr Felix Nüscheler die Censur sämmtlicher theologischen und philosophischen Werke und Journale, sowie die erste Aufsicht über alle Cataloge der Buchhand- lungen, Leihbibliotheken u. s. f. zu übernehmen; der obenerwähnte Cantonsarzt Hirzel musste die physiealischen, mathematischen und medieinischen Schriften, sowie das Näfische Intelligenzblatt, und die monatlichen Nachrichten censiren, auch eine spezielle Aufsicht über die Leihbibliotheken führen, welche er von Zeit zu Zeit zu besuchen hatte; endlich bekam Bezirksgerichtspräsident Ulrich, der als Taub- stummenlehrer sich wohl mehr Lorbeeren erworben hätte, als ihm dies auf dem Felde der Politik gelang, die Censur des Wochenblattes und un aller Broschüren, wie die persönliche Aufsicht über die Bücherauctionen und diejenige der Colporteurs und Kupferstichhändler, insbesondere an Markttagen. Für Winterthur ernannte der kleine Rath einen be- sondern Aufseher, der sich mit seinen Collegen in Zürich in Verbin- dung zu setzen hatte. Es war der Stadtrathspräsident Heinrich Stei- ner, ein allgemein geachteter Mann, der, zwei und zwanzig Jahre lang, bis an seinen Tod die Censorstelle bekleidete, welche dann nicht mehr besetzt wurde. — Es ist eine wahre Freude, auch die Namen der späteren Censoren zu nennen, weil sie fast alle zu den besten Köpfen und edelsten Characteren Zürichs gehörten. Als von Wyss Bürgermeister ward, wurde Johann Jakob Hirzel beim Reh zu seinem Nachfolger ernannt. An Nüschelers Stelle trat Johann Jakob Stolz, und als dieser starb, Johann Martin Usteri, der den Rathsherrn Jo- hann Caspar Weiss zum Successor erhielt. Für den 1817 resigniren- den Ulrich trat Rathsherr Heinrich Hirzel in Stadelhofen ein. Nach des Archiater Hirzels Tode kam an seinen Platz der Hofrath Johann Caspar Horner; und Hottinger, welcher so schwer zu ersetzen war, ward wirklich ersetzt und zwar durch den Chorherrn von Orelli, wel- chem der unvergessliche Salomon Vögelin folgte. Die schwierigste Aufgabe hatte der Rathsherr Hirzel beim Reh, nächst Reinhard wohl der gewandteste Staatsmann im Rathe, ein Mann, der das Censoramt mit seltener Milde ausübte, so dass am 29. December 1821 der kleine Rath ihm in dem Staatsrath und alt Bürgermeister Hans Conrad von Escher einen ausserordentlichen Censor zur Seite geben zu müssen für gut hielt, welch’ letzterem ein Jahr später nach Ablauf der zürcheri- schen Vorortszeit, der kleine Rath für seine vielfachen, klugen und geschickten Bemühungen, wegen der aus diplomatischen Rücksichten ihm übertragenen Censur der hiesigen Zeitungen den besten hochobrig- keitlichen Dank bezeugte. Hirzel war nun selbst eine Zeit lang ängst- licher geworden, was hauptsächlich die Bürklizeitung empfand. Die 1805 niedergesetzte Commission, welche bis im Anfang des Jahres 1815 in unverändertem Bestand geblieben war, erlitt durch Tod und Resignation, wie soeben bemerkt worden ist, mehrfache Ver- änderungen; allein genau lässt sich nicht mehr mittheilen, welche Ge- schäfte später jedem Censor überbunden wurden; die Vermuthung darf man jedoch aussprechen, dass jeder der fünf Censoren in Zürich das- jenige zu prüfen hatte, was seiner Neigung und wissenschaftlichen Be- fähigung am nächsten lag. Censur der Bücher. Hierüber gründliche Mittheilungen machen zu können, müsste für die Literaturgeschichte unbestreitbar von grossem Werthe sein, indem aus der mehreren oder minderen Beengung der Presse der Zeitgeist in den verschiedenen Epochen sich noch besser erkennen liesse, als dies aus den Werken, welchen das Imprimatur ertheilt wurde, gesche- hen kann; allein in dieser Beziehung boten sich uns die Quellen auf das Spärlichste dar, und selbst unsere an Manuseripten so reiche Stadtbibliothek soll hinsichtlich der Büchercensur keine Aufschlüsse geben. Es liegt dies in der Natur der Sache selbst, da der Censor, wenn er Scerupel hatte, einfach strich und des Autors Einwürfe ge- wärtigte oder mit demselben mündlich verkehrte. Oft mag zwar auch ein schriftlicher Verkehr stattgefunden haben, aber solche Briefwechsel fielen wohl sämmtlich der Vernichtung anheim, da sie für keinen Theil angenehme Erinnerungen gewährten. Nur in Fällen, wo die Censur umgangen ward, blieben uns diessfällige Untersuchungen aufbewahrt und derartiges findet sich auch noch unter den im Staatsarchiv lie- genden Censuracten vor. Der Klagen über zürcherische Impressen hingegen gibt es in Hülle und Fülle, und namentlich waren es”die Controversschriften, welche Stoff zu vielen, oft den erbittertsten Schrei- bereien lieferten, sogar den Katholiken Veranlassung gaben, Bücher zu verbrennen, was zum Beispiel in Luzern 1669 geschah, wobei frei- lich der blinde Eifer übersah, dass das geächtete Buch, welches von einem Prädikanten Imhof herrührte, weder von einem Zürcher geschrie- ben, noch in Zürich gedruckt worden war. Im Reformationszeitalter, wo fast alle Zweige der Wissenschaften frische und lebenskräftige Blüthen trieben, und neben Zwingli, wie nach dessen frühen Tode, wahre Heroen der Wissenschaft aus Zürich hervorgingen oder in seinen gastlichen Mauern sich sammelten, in jener Zeit unvergänglicher geistiger Schöpfungen mögen nur selten Streichun- gen der Öensoren den freien Aufschwung gehemmt haben und ausser Ochin, der seine Dialogen, in deren einem die Polygamie unter ge- wissen Umständen vertheidigt war, zu Basel mit Umgehung der zür- cherischen Censur drucken liess, und der in Folge dessen in hohem Alter, zwar nicht ungehört, durch den Rath verbannt wurde, ist uns kein Gelehrter jener Zeit bekannt geworden, der mit der Censur in ernstliche Confliete gekommen wäre. Doch diente dieselbe zu einer wohlthätigen Schranke gegen die Wiedertäufer, die durch ihr stürmi- = sches Treiben nicht allein die Reformation gefährdeten, sondern auch den Staat zu Grunde zu richten drohten. Wie die Geschichte uns vielfach belehrt, liegt es in der Natur des menschlichen Geistes nach ungewöhnlicher Erhebung wieder Rück- schritte zu thun, und so kam es auch, dass noch bei Bullingers Leb- zeiten, der zwar bis an seinen Hinschied wie ein Schutzgeist über Zürich gewaltet hat, bindende Vorschriften, unter andern das helve- tische Glaubensbekenntniss, erlassen wurden, um der katholischen Kirche gegenüber möglichst eine Einheit der Lehre zu erzwecken. Immer mehr jedoch gab sich eine Aengstlichkeit kund, die nur zu oft vor dem freien Aufschwung des Denkens erschrak, und jene Einseitigkeit vorbereitete, welehe das siebzehnte Jahrhundert in einen so schroffen Gegensatz mit dem sechszehnten stellt. Ausgezeichnete literarische Erscheinungen fehlten indessen auch dem siebzehnten Jahrhundert nicht, und es freut uns, in diesem Kreise zwei gewichtige Urtheile hervor- heben zu können, durch deren eines, von Dr. Alexander Schweizer, Heidegger, der so vielfach Misskannte, als Zelote Verschrieene, gleich- sam geistig rehabilitirt und als nüchterner Denker dargestellt wurde; durch deren anderes, wenn auch in Kürze, doch in historischer Treue und voll Humanität uns jenes Zeitalter skizzirt ward; ich spreche von unseres Hottingers neuestem Werke. In diesem siebzehnten Jahrhun- dert wurde die Censur mit unerbittlicher Strenge ausgeübt, namentlich auf theologischem Gebiete. Fast nicht minder ängstlich war man in politischen Fragen, wozu sich gegen das Ende des Jahrhunderts und bis ins folgende hinein grosses Misstrauen gegen die Naturwissen- schaften gesellte. Wie aber in Zürich nach und nach eine freiere Gesinnung sich Bahn brach, die gegen und nach der Mitte des achtzehnten Jahr- hunderts bis zu jener Reformation des Geschmackes sich steigerte, welche unsere Vaterstadt zu einem der genanntesten Punkte Europas machte, so gestattete auch die Censur die Erscheinung eine Reihe von Werken in den verschiedensten Fächern, in denen der frischeste, man darf wohl sagen, ein oft kühner Geist sich offenbart. Das Schwert des Damokles schwebte jedoch immer über den Häuptern der Autoren, ja es traf, wie wir gleich hören werden, einen jungen Schriftsteller, welcher der Censur trotzen zu können glaubte, ein solch schweres Gericht, wie weder vor noch nach ihm einen hiesigen Literaten. Von Bedrängnissen der Schriftsteller durch die Censoren war in unserm Jahrhundert keine Rede mehr; es gab sich vielmehr eine ächte ae DR Liberalität kund, wovon schöne Beispiele mitgetheilt werden könnten. Ein einziger Zug möge hier Erwähnung finden. Dr. Stolz schilderte im Neujahrsstück der Stadtbibliothek von 1818 eine Scene aus der Geschichte Zugs, wo 1522 an einem Markttag der Priester durch Vorweisung des hochwürdigen Gutes die wegen des Reislaufens Ent- zweiten zu besänftigen wusste, welche der römischen Kirche gegen- über an den Tag gelegte Ovation von Seite eines zürcherischen Theo- logen ein hiesiger Gelehrter ganz unpassend fand und daher als un- entwegter Freund des Protestantismus diese dem NReformationsfeste unmittelbar vorangehende Erzählung, die ein Kupfer veranschaulicht, in einem Nachtrage zu dem fraglichen Neujahrsstücke zu widerlegen zu müssen glaubte. Stolz, der Censor, strich in dem Aufsatze nicht Ein Wort, sondern setzte vielmehr sein Imprimatur bei. Das Verfahren der Obrigkeit bei Umgehung der Censur, war, wie wir schon bei Ochin gesehen haben, ein ungemein scharfes, und. es liessen sich hiefür noch manche Beispiele anführen, von denen fol- gende genügen mögen. Buchdrucker Hamberger wagte es 1661 etliche Abhandlungen, oder wie man sie damals hiess „Tractätchen “, sowie auch ein vierstimmiges Psalmenbuch, „hinterrucks zu drucken“, und als man ihn auf das Gefährliche des Unternehmens aufmerksam machte, namentlich ihn an den Wellenberg erinnerte, gab er trotzig zur Ant- wort, es sei schon mancher Ehrenmann im Wellenberg gesessen. Schwere Geldbusse traf ihn. — „Ein sehr vitiöser, mit abergläubi- schen Regeln u. s. f. angefüllter Kalender,* um mit Dr. Johannes von Muralt zu sprechen, ward 1708 confiseirt und veranlasste den berühmten Arzt zu dem Wunsche gegen den Rath, es möchte Herrn Fäsi, welcher sich dem astronomischen Studium ganz ergeben, anbe- fohlen werden, „fürohin die rechten fundamenta astronomiea, oder alles Merkwürdige, was im Laufe des Jahres am gestirnten Himmel sich zutragen wird“, aufzusetzen und in etwa einem halben oder gan- zen Bogen hinten an den Kalender drucken zu lassen. Des Mathe- matikers Fäsi Kritik des supprimirten „unartigen* Kalenders ist noch vorhanden. — Mächtiges Aufsehen erregte 1768 in Zürich eine bei Orell, Gessner und Comp. erschienene Druckschrift, betitelt: De l’origine des prineipes religieux, mit einem Motto aus Juvenals fünfzehnter Satyre. Heinrich Meister, damals ein junger Mann von vierundzwanzig Jahren, dem der Ruf eines vielversprechenden Kopfes vorausging, hatte eines Tages dem gerade sehr beschäftigten Chef der Buchhandlung Rudolf Füssli sein Manuseript zum Drucke angetragen, welcher es Be BER annahm, und ungelesen, ohne Mittheilung an den Censor, drucken liess. Bald nach dem Erscheinen des Werkchens sah sich indess der Verfasser genöthigt, den Kanton zu verlassen und es schrieb ihm sein Vater nach Hauptweil im Thurgau: „Du darfst dich gewiss ohne Le- bensgefahr in Zürich nicht sehen lassen, seitdem die ganze Burger- gerschaft, Kleine und Grosse, bis auf Knechte und Mägde, ja selbst bis auf die Bauern auf unsern Landschaften, welche gewiss von deinen prineipes religieux keinen Begriff haben, von dir anders nicht als von einem ausgemachten, des Feuers und Schwerts würdigen Atheisten reden.“ Mehrmaligen Aufforderungen des Examinatoreonvents oder der obersten kirchlichen Behörde, vor ihr zu erscheinen, leistete der junge Theolog und Philosoph keinen Gehorsam, suchte aber den Con- vent in ehrerbietigem Tone für sich einzunehmen und bemerkte unter anderm: „Die Liebe zur Kürze sowohl, als der Geschmack des Zeitalters überhaupt hat mich manchmal zu unbescheidenen, allzufrechen, indeter- minirten Expressionen verleitet, welche einen ärgerlichen Doppelsinn veranlassen können. Der Hauptgedanke meiner Broschüre soll kein an- derer sein, als zu zeigen, wie leicht alle die, so das Licht der gött- lichen Offenbarung aus den Augen verlieren, abergläubisch werden, auch dass zu allen Zeiten Menschen gewesen, die, wenn sie ihrem Gewissen und ihrer Vernunft treulich gefolget, gesunde Begriffe von Gott und seinem Dienste erlangten. Ich sage in der Origine viel öfters, was andere gedacht, als was ich selbst denke. Wie ungerecht und widersprechend wäre es nicht, mich zugleich des Manichäismus, des Anthropomorphismus, des Atheismus und der Abgötterei zu be- schuldigen, weil ich mich bemüht, den natürlichen Ursprung aller _ dieser Irrthümer zu zeigen.“ Dieser Entschuldigungen ungeachtet ging die Untersuchung ihren Gang und es wurden nicht nur mit den Besitzern der Buchhandlung, sondern auch mit den Schriftsetzern Ver- höre aufgenommen, denn die Behörden nahmen Anstoss, dass auf dem Titel weder der Druckort, noch die Drucker erschienen waren. Ein wichtiger Umstand erschwerte noch den Prozess, nämlich dass Meister eine andere castigirte und verbesserte Ausgabe drucken liess, und zwar abermals ohne Vorwissen der Censoren, wozu die Verleger auch diesmal Hand boten. Mit dem Verfasser hofften sie dadurch einen von Genf her drohenden Nachdruck unmöglich zu machen und über- dies das Publikum durch Weglassung der schlimmsten Stellen zu be- schwichtigen. Alles nützte nichts und der Prozess schritt weiter vor. Am 3. Juni 1769 befahl der kleine Rath dem Chef der Buchhandlung, U 0 Rudolf Füssli, wie seinem Vetter Heinrich, dem rachherigen Frofes- sor der Geschichte und spätern Obmann, sich bis zu Austrag der Sache still in ihren Häusern aufzuhalten. Der Letztere hatte im April gegen die Verordneten der Büchereensur geäussert, er habe seit vier Wochen der Meisterischen Schrift halben unbeschreiblichen Gram und Kummer ausgestanden, bei Durchlesung der Piece sie ebenfalls ver- abscheut und mit allem Ernst getrachtet, das dadurch verursachte und noch mehr erfolgende Unheil möglichst abzuwenden. Trotz dieser Reueversicherungen hatte aber Heinrich Füssli die abermalige Umge- hung der Öensur beim Druck der zweiten Auflage, welche wie die erste fünfhundert Exemplare stark war, begünstigt. Am 23. Juni ward nun Heinrich Meister verurtheilt und vor dem Rathhause wurde die erste und zweite Ausgabe „ihres so verwegenen, schändlichen und spöttischen Inhaltes wegen“ öffentlich durch- den Scharfrichter ver- brannt, der Verfasser des geistlichen Standes entsetzt und beschlossen, dass wenn sich derselbe in der Stadt oder in deren Immediatlanden zeigen würde, er sogleich festgenommen und in den Wellenberg ge- bracht werden solle. Auch sei er in den gemeinen Herrschaften nieht zu dulden. Rudolf Füssli ward für vier Tage auf das Rathhaus ge- setzt, ein Jahr von der Zunft ausgeschlossen und ihm vor seiner Heimkehr ab dem Rathhause wie dem genannten Heinrich Füssli 'vor gesessenem Rath das hochobrigkeitliche Missfallen bezeugt, auch die Buchhandlung um 40 Mark Silber gebüsst. Nach drei Jahren wurde jedoch Meister auf sein Ansuchen wieder begnadigt, indem er vor den Examinatoren beider Stände, so nannte sich auch der Kirchenrath, mit vieler Rührung eine Erklärung abgab, ungefähr dahin gehend, in dem Glauben, in welchem er getauft und erzogen ward, leben und sterben zu wollen. Er ahndete wohl damals nieht, später selbst Censor zu werden. Fast vierzig Jahre nachher erschien zu Hannover von dem Werk- _ chen, das seiner Zeit auch in Deutschland Verbreitung gefunden hatte, eine Uebersetzung von dem berühmten Theologen Stäudlin, in dessen Magazin für Religion, Moral und Kirchengeschichte. Diess freute Meistern so, dass er in ein gerettetes Exemplar der Origine vornen folgende Bemerkungen des Uebersetzers notirte: „Man wird, dit le traducteur dans une note, von mehreren richtigen Blieken in diesem schönen Beitrag zu einem vernünftigen Pragmatismus in der Religions- geschichte um so mehr überrascht, da der Verfasser noch nieht unter dem Einflusse der kritischen Philosophie schrieb;“ et plus bas: „Noch Fu. wäre es der Mühe werth, den Ort der Erscheinung und noch mehr den Namen des Verfassers zu erfahren. Einen Reformirten liesse der Sinn für Einfachheit des Cultus ahnden; doch wie er auch heisse, ein Volkskenner, ein Mann hat diese kleine Schrift geschrieben.* Und über die Stelle: On pouvoit croire & la morale avant d’avoir concu l’esperance d’une vie ävenir, äussert sich Stäudlin: „Wie viele deutsche Schriftsteller sehen wohl jetzt die psychologisch historische Richtigkeit dieses Blickes ein, welchen ein Franzose schon so frühe hatte.“ In diesem Jahrhundert wurde ein einziges Werkehen unterdrückt, weil es der Censurbehörde nicht vorgelegt worden war, ein „Zürcheri- sches Taschen- nicht Buch, sondern Büchlein “, das als ein unvollkom- menes Machwerk betrachtet wurde, weil es zu seinem Redaetor nur den Kernenfasser Zimmermann hatte. Auf die Existenz dieses Geistes- productes stiessen wir erst in den letzten Tagen. -Das am 20. Juli 1821 in der Gessner’schen Buchhandlung zum ersten Mal veröffentlichte „Schweizerische Volksblatt“, welches einen Ludwig Christ zum Redactor hatte, musste mit der 18. Nummer auf- hören, indem die Herausgeber durch sechs kleinere Streichungen und zwei grosse, die jedesmal einen Achttheil des Blattes betrafen, sowie durch ertheilte Winke und Warnungen nicht belehrt, in ihrem höchst ungebührlichen Tone und schmähsüchtigen Wesen fortfuhren. Die Un- terdrückung der Zeitung wurde am 24. November von dem kleinen Rathe mit 20 gegen 3 Stimmen ausgesprochen. Der Büchereensur wird in unsern Tagen kein Vernünftiger mehr bei uns das Wort reden; ein schlechtes Buch verurtheilt sich und sei- nen Autor selbst, und die Kritik versieht unnachsichtlich die Stelle des Censors. Aber eine etwelche Ueberwachung der Tagespresse, deren Produkte sich bei uns auf fast schreekhafte Weise mehren, ist doch die Zahl der öffentlichen Blätter in der Schweiz seit Neujahr 1830 (das grosse Basel hatte damals keine Zeitung) von 24 auf 300 an- gestiegen, liegt wohl in den frommen Wünschen manches Ehrenman- nes, der keineswegs die in einer Republik naturgemässe Freiheit in Rede und Schrift verkümmern möchte. Ich spreche nicht nur von jenen verwerflichen Blättern, die aller Sitte, ja oft dem gesunden Menschenverstand Hohn sprechend, in der Hefe der Bevölkerung ihren Kreis suchen und manchen ihrer Leser schon um sein Lebensglück betrogen haben, nein auch in unsern bessern Zeitungen finden sich oft so viele, schonend gesagt, unbesonnene Worte, so manche unreife Aeusserung, die den Halb- und Ungebildeten eher verwirren als Pe belehren, und wahrhaft an Brunnenscenen erinnern mitunter die per- sönlichen Kämpfe. Namentlich aber muss das manchmal so rücksichts- lose Urtheil der Presse die Kraft der Regierungen lähmen ; aber wie da geholfen werden kann, das ist die Frage. Oensur der Zeitungen. Die Zürcher Freitags- oder Bürklizeitung, welche stets ihren eigenen Weg ging und obwohl sie sich hauptsächlich die Aufgabe stellte, die Politik dem Volke mundgerecht zu machen, doch auch im Kreise der Gebildeten viele Leser zählte, hatte ungeachtet ihrer Frei- mütbigkeit während der langen Zeit von drei Decennien, von 1798 bis 1828 verhältnissmässig wenige Vexationen von Seite der Censur zu erdulden. Weiter hinaufreichende Exemplare sind keine mehr vor- handen. Wir fanden bei Durchsicht von ungefähr 1600 Zeitungsnum- mern blos 71 Censurlücken, und es mag von Interesse sein zu wissen, welche Materien dieselben betrafen. Dem ersten Schnitt der Censurscheere begegnen wir im October 1801 bei Anlass der in Bern stattgehabten Senats- und Landammänner- Wahlen. Am 19. Februar und 12. März 1802 durfte das „Aller- neueste aus Bern“, zwar nur kleine Stellen, nicht erscheinen, und wenige Monate nachher fand, während kurzer Zeit, ein gänzliches Verbot des Blattes statt, das namentlich bei der helvetischen Central- behörde übel angesehen war. Noch ward am 10. Dezember in der Zeitungsempfehlung für das Jahr 1803 eine Stelle gestrichen. In der Mediationsperiode erscheinen nur von Zeit zu Zeit unter- drückte Stellen. Nach glücklicher Bekämpfung des Aufstandes im Frühling 1804 wurden jedoch in der Nummer vom 13. April von achthalb Quartseiten zwei gänzlich gestrichen. Die eine Stelle war dem Schweizerboten entlehnt, der über den Aufruhr im Kanton Zürich seine Empfindungen mittheilte, die andere enthielt vermuth- lich Bürklis eigene Ansichten über jene gefährliche Volksbewegung. 1805 (im Juli und November) kommen Zwei, zwar nur kleine weisse Stellen im Neuesten vor. Im März 1806 durfte sich das Blatt über die Wienerverhältnisse nicht aussprechen, und im Dezember 1808 begegnen wir wieder einer beinahe Spalten langen Censurlücke über die bevorstehende Sitzung des zürcherischen grossen Rathes. Von 1809 bis 1813 wurde meist nur kleinen Stellen das Imprimatur versagt: 1809 einem Leitartikel, Äusserungen über die Schlacht bei Wagram u. s. f.; 1810 solchen über die Verhaftung des Philosophen Troxler, FE über die scharfen Maassregeln Napoleons gegen die Colonialwaaren und über den Kampf in Spanien, welch’ letztere Stelle indess nur theil- weise supprimirt wurde; 1811 einer solchen über die Geburt des Kö- nigs von Rom. Die letzte Censurlücke in der Mediationsperiode findet sich am 17. September 1813 vor, wo die Unruhen in einer benach- barten Provinz, welche die Verhaftung des Freiherrn von Hormayr zur Folge hatten, nieht besprochen werden durften. Während der nächsten sieben Jahre stösst man auf blos drei Lücken, wovon eine im Jahre 1818 das Schreiben des Generals Gour- gaud an die Kaiserin Maria Louise betraf, eine andere im Dezember 1822 die französischen Ultras, „welche sich mit dem errungenen Sieg in den letzten Wahlen sehr dick machen, und dieselben gern als die öffentliche Meinung geltend machen möchten,“ und die dritte ein vom Wienerhofe beschlossenes neues Anleihen von 30 Millionen Gulden. Auffallend gegen die frühern Jahre war die scharfe Ueberwachung der Bürklizeitung im Jahre 1823, in welchem wir achtunddreissig Censurlücken begegnen. Schon im Neujahrswunsche ward eine Stelle gestrichen und in der gleichen Nummer eine Bemerkung bezüglich auf den Drapeau Blanc, welcher sich über die Deputationen an die französische Regierung wegen des spanischen Krieges lustig machte. Sogar einen Passus aus dem österreichischen Beobachter über den Kampf in Griechenland traf am 21. Februar das gleiche Schicksal. Der Eröffnungsrede des Grafen Liverpool im Oberhaus betreffend die spanische Revolution durfte nur theilweise gedacht werden, und diese Revolution wie die in Griechenland verursachte noch über 20 Censur- lücken. Eigenthümlich war es, dass am 6. Juni ein Artikel des Schweizerboten, der zu Gunsten des fremden Kriegsdienstes neue An- sichten eröffnete, nicht vollständig erscheinen durfte, und bemerkens- werth, dass eine Stelle des Müller-Friedberg’schen Erzählers, die in der Schaffhauserzeitung ungehindert erschien, in Zürich theilweise der Censurscheere anheimfiel. Dieser Artikel besprach voll Indignation die freche Entstellung eines sehr wohlwollend abgefassten Schreibens des Grafen Nesselrode, in welchem derselbe gegen unsern Geschäftsträger in Wien einige billige Wünsche des russischen Kaisers ausgesprochen. Den Abschluss der Censurlücken in der Bürklizeitung bilden vier in den Jahren 1824 und 1826 vorkommende. Eine betraf die stehende Armee der Republik Haiti, die übrigen die grosse Gaunerprozedur in Luzern. Die Zürcherzeitung, ein weit jüngeres Blatt, als die Zürcher Frei- Bu tagszeitung, veranlasste in den zwei letzten Decennien des verflossenen Jahrhunderts öftere Klagen von dieser oder jener Seite; Censurlücken hingegen begegnen wir niemals. Erst als das Blatt den geistreichen Publieisten Paul Usteri zum Redaktoren bekam, und zugleich die Aarauerzeitung sich am 2. Juli 1821 in dıe Neue Zürcherzeitung ver- wandelte, beginnen die Censurlücken. Ungeachtet Usteri einem ent- schiedenen Fortschritt huldigte und im Rathssaale in politischen Din- gen nur wenig Gleichgesinnte fand, ward seinem Blatte, das wöchent- lich drei Male erschien, und noch jetzt als Quellensammlung betrachtet werden darf, grosse Nachsicht zu Theil; denn es finden sich während beinahe acht Jahren nur zweiundzwanzig Censurlücken und darunter blos vier etwas grössere. Von diesen zweiundzwanzig Ausstreichungen fallen dreizehn auf das Jahr 1823, sechs auf 1824, die drei übrigen auf 1822 und 1826. Vier grössere Stellen beschlugen unbekannte Materien; die andern, meist ganz kleinen, betrafen: Joseph Görres Meinung über die Schweiz; Troxlers Beschwerde gegen die Luzerner Regierung ; die Schweizerregimenter in Neapel; diejenigen in Frank- reich; vier davon das 1822 vielfach besprochene Retorsionssystem; gleichfalls vier die spanischen Angelegenheiten; eine die trigonome- trische Vermessung der Schweiz; eine andere das Uebungslager zu Schwarzenbach; eine Lücke bezog sich auf den Schultheiss Keller’- schen Handel; eine fernere auf eine von Uri geplackte Beisassenfamilie; eine auf die helvetische Gesellschaft in Schinznach, was Usteri zu der Aeusserung veranlasste: „Der ausserordentliche Censor strich das Weitere“; endlich eine auf eine in Ausserrhoden nen errichtete Erzie- hungs- und Unterrichtsanstalt, die einen Appenzeller zu dem frommen Wunsche im Schweizerboten veranlasste: „Man sollte den Leuten alle Zeitungen und alle Schriften verbeuten ausser den Lobwasserschen Psalmen !“ Eine interessante publieistische Erscheinung war der 1823 zum ersten Mal erscheinende Schweizerische Beobachter, eine Wochenzeitung, in welcher „die Theorie der Winde“, um mit ihrem Herausgeber Nü- scheler zu sprechen, wirklich nicht studirt werden konnte, welche aber auch durch ihre Keckheit den lebenserfahmen Usteri stutzen machte, und eine Gluth im Lande entzündete, die auch ohne die Pariser Juli- tage gewiss später zur Flamme geworden wäre, denn mehrere der einsichtvollsten Männer der Landschaft sprachen sich gegen uns aus: „Nüscheler und seine Freunde haben dem Volke den Weg nach Uster gezeigt!“ Der Beobachter veranlasste inzwischen, seiner Freimüthigkeit or ungeachtet, den Censor nur drei Male zu Streichungen, welche den holländischen Militärdienst, das neue Bisthum Basel, und den Gedan- ken, griechische Schweizerregimenter zu gründen, betrafen. Die monatlichen Nachrichten, welche volle achtzig Jahre in Zü- rich herauskamen, waren im vorigen Jahrhundert so harmlos, aber auch so gründlich langweilig, dass nie Klagen über sie laut wurden. In diesem Jahrhundert gewannen sie an innerm Werthe, bis sie in den letzten Jahren unter der Redaction des vorerwähnten Nüscheler sich zu einer bedeutenden periodischen Zeitschrift gehoben hatten. Obwohl seine Feder auch in der Monatschronik ihre Keckheit nicht verläugnete, wurden nur zwei Male Stellen gestriehen: in der Februar- nummer von 1828 eine Anmerkung betreffend die Abfassung des Pro- tokolles in der Bisthumsangelegenheit des Kantons Bern, und in der Octobernummer des gleichen Jahrgangs vier Strophen eines auf das Monument in Luzern bezüglichen Gedichtes, betitelt: „Der sterbende Löwe“, von K. G. (Karl Gengenbach). Aufhören der Üensur. Nachdem im Waadtland schon im Mai 1822 ein Pressgesetz er- lassen worden war, das zwar in Folge der Tagsatzungsbeschlüsse von 1823 erst im Sommer 1828 mit gänzlicher Aufhebung der Censur in volle Kraft trat, nachdem die Republik Genf im Jahre 1827 eben- falls mit einem Pressgesetz hervortrat, folgte auch Zürich nach und der Grosse Rath nahm mit 127 gegen 17 Stimmen am 15. Juni 1829 ein Pressgesetz an. Bei der diessfälligen Discussion hatten einund- dreissig Mitglieder das Wort genommen, von denen ungefähr zwei Drittheile sich als entschiedene Freunde der Pressfreiheit aussprachen. Dasselbe enthielt mildere Strafen als das genferische und wich von dem waadtländischen unbedeutend ab. Journalurtheile über die Auf- hebung der Censur in Zürich wurden nur wenige laut. Die Neue Zürcherzeitung hielt das Pressgesetz für keinen Fortschritt, und in der Augsburger Allgemeinen Zeitung, deren Spalten Usteri stets offen standen, gedachte er des Aufhörens der Censur gar nicht. Wohl aber widmete Nüscheler im Schweizerischen Beobachter diesem Ereigniss einen kurzen Artikel, überschrieben: „Abschied von der Censur“, in welchem er sich hinsichtlich der Zeitungseensur in Zürich in unüber- trefflicher Weise so ausdrückt: „Der Beobachter hat mit der Censur immer in gutem Vernehmen gelebt, und ihre Humanität sowohl als ED irgend Jemand anerkannt; er glaubt auch, dass die Art, wie dieselbe in den letzten Jahren gehandhabt worden, wesentlich dazu beigetragen habe, die Pressfreiheit vorzubereiten; denn ein plötzlicher Sprung wäre für die Schriftsteller und das Publikum nicht wohlthätig gewesen. Mit aufrichtigem Dank nimmt also auch er von der Censur Abschied und wünscht, die verdriesslichste Arbeit, die es auf der Welt giebt, möge wenigstens darin eine kleine Belohnung finden, dass ihr nicht am Ende Undank zu Theil wird. Aber mit Thränen kann der Be- obachter nicht scheiden; denn neben dem Censiren giebt es nicht leicht etwas Verdriesslicheres, als sich zum Weinen zu zwingen, wenn man nicht mag. Das neue Pressgesetz ist mit all’ seinen, be- sonders formellen Mängeln dem Wesen nach erträglich und wird soviel Freiheit gewähren, als wir bedürfen. Der Beobachter findet nicht nöthig, ein einziges Segel zu streichen, sondern glaubt, wo es die Noth erfordert, noch einige beisetzen zu können, ohne Be- sorgniss zu stranden, oder auf den Grund zu segeln. Diejenigen, welche meinen, das neue Gesetz werde der eingerissenen Presslizenz, wie sie es nennen, ein Ende machen, haben sich, wie das Sprüchwort sagt, den unrechten Finger verbunden. Man hat zu viel auf Furcht und Aengstlichkeit gerechnet.“ Nach anderthalb Jahren kam die Pressfreiheit auch in der Ver- fassungsrevisionscommission zur Sprache, veranlasste jedoch nur eine kurze Discussion. Ferdinand Meyer, der Protocollführer, äussert sich folgendermassen: „Ein fernerer Artikel wurde der Freiheit der Presse gewidmet. Die Freiheit der Rede, die sich von selbst ver- stehe, wurde übergangen, eben weil es kein Bedürfniss sei, ihrer zu erwähnen, und eine solche Erwähnung sie eher hindern als för- dern könnte, indem dadurch gleichsam gesagt wäre: „Sie verstehe sich doch nicht so ganz von selber.* Der die Presse betreffende Artikel unserer jetzigen Verfassung lautet so: „Die Freiheit der Presse ist gewährleistet; die Censur darf niemals hergestellt werden. Für Rechtsverletzungen, welche mittelst der Presse verübt werden, ist Jeder nach dem Gesetze verantwortlich.* Pr Ein Abschnitt aus der jüngsten Geschichte des Freiheitsbegriffs. ') Von Dr. OTTO HEINRICH JEEGER. J. Die Vorbereitung einer Krise seitens der Philosophie. Wer die Freiheitslehre will abhandeln, der muss sich’s, wie ge- genwärtig die Dinge liegen, gefallen lassen, schon von vornherein durch die blose Ankündigung seines Vorhabens zu einer bestimmten Partei zu zählen. Dies zeigt auf eine Ausscheidung und Spannung im geistigen Gesammtleben, die schon an sich als Energieausweis des letzteren begrüsst werden darf. Allein andererseits geräth da die Wis- senschaft unter den Zwang von Auseinandersetzungen, mit welchen sich zu befassen nicht etwa blos vielfach bemühend ist, sondern nach- gerade auch seine wirklichen Bedenken hat. Man muss heraus auf den grossen Markt mitten unter den Parteizank, und sein Anrecht — seinen Gegenstand sich erkaufen und erkämpfen — nicht nur von den streitenden Parteien selbst, sondern namentlich eben auch von der Masse der blossen Zuschauer, die — nicht durchaus dazu angethan, — nun einmal thatsächlich über den fraglichen Gegenstand gleichsam zu Gericht sitzt — wenigstens eine Einsprache und Berücksichtigung des Entschiedensten beansprucht und — verdient. Indess ist jetzt vielleicht eben gerade dies nicht das Geringste, worüber sich die Philosophie zu beglückwünschen Ursache hat. Aus ihrem in die Einsamkeit zurückgewendeten.- Denken heraustreten auf den vollen Schauplatz des Lebens — sicher, in Verhandlung ihres Hauptproblems zusammenzutreffen mit einem allgemeinen Interesse, — dies ist eine so seltene Fügung, dass, sie nicht benützen, nicht nur thöricht wäre, sondern geradezu gleichkäme einem Verzieht überhaupt auf die Geltung strenger Wissenschaftlichkeit — somit einem Verzicht auf die eigene Existenz. Dies ist denn auch bedacht worden. Aufs Verschiedenfachste hat man sich in den philosophischen Kreisen geregt und herbeigelassen. Ja nach den Akten der Streitfrage behauptet sich nun die Spaltung und der Kampf mehr und mehr geradezu als zusammenfallend mit dem Gegensatze zwischen empirischer und anderer- seits philosophischer Forschung. An dieser Parteibereinigung ist etwas Richtiges. Mit dem Frei- heitsbegriffe nemlich steht und fällt unmittelbar sie — die Philosophie. i) Der Verfasser behält sich vor, auf anderem Wege dem „Abschnitt“ seine gehörige und nöthige Ergänzung zu geben. Wissenschaftliche Monatsschrift. IV, 2 ar Allein jedenfalls ist hier nieht Alles in der Ordnung. Die Philosophie hat da iu Bausch und Bogen auch Bestrebungen unter ihren Deck- mantel genommen, die sie, so unschuldig und anerkennenswerth im Allgemeinen ihre Absicht sein mochte, im Namen der Wissenschaft geradezu in Gemeinschaft mit ihrer Schwester, der Empirie, unter entschiedenster Zurückweisung zu bekämpfen berufen war. Ich meine all die zahlreich und geschäftig am Horizont aufsteigenden restaura- tiven Bemühungen mit sogenannten Beweisen für Gott, Freiheit, Un- sterblichkeit u. s. w. — unternommen im’ Namen aller idealen Güter und Interessen des menschlichen Geschlechtes entgegen einem angeb- lichen zersetzenden Materialismus unserer Tage. Zwar das ist richtig: es dreht sich hier Alles sammt und sonders wirklich um die Frage der Freiheit; denn abgesehen davon, dass uns ohnehin ‚mit diesem Begriffe alles Uebrige von. selbst zufallen dürfte, ist nun einmal we- sentlich dies der Punkt, in welchem der ganze Handel sich zu dieser Breite aufgerollt hat und mit der allgemeinen Bewegung des Lebens selbst und mit seiner praktischen Interessenwelt zusammenhängt und vapportirt. Allein übel und bedenklich ist es, dass die blose gute Meinung, die hier — jeder Wissenschaftlichkeit fremd und baar — ihren Anlauf nahm, ein Verhalten der Philosophie begründen konnte, was dieser mindestens den Schein zuziehen muss, als billige sie oder gestatte sie wenigstens ein Beweisverfahren zu Nutz und Frommen des Freiheitsbegrifts. Es möchte scheinen, als wollten wir hier das Ganze sogleich auf Nebensachen hinaustreiben und wären überhaupt nur ausgegangen auf einen ersten besten Anlass zu Hader inner der eigenen Partei. Wie- derum scheint es aberwitzig, für den Freiheitsbegriff miteintreten und im selben Zuge sich verwahren gegen eine Verfechtung dieses Begriffs mittelst Beweisen. Indess dürfte sich herausstellen, dass hier gegen- theils gerade nur der Hauptknoten des ganzen Problems will in An- griff genommen werden und namentlich genau in demjenigen Punkte eingesetzt wird, in dem allein die Partei ein Recht, eine Operations- basis und eine Stärke kann gewinnen, die Bürge ist für die glückliche Führung des Kampfes. Wir erklären uns. Es ist verlockend, für die Freiheit einzutreten mit Beweisen. Einmal bietet sich uns dieselbe immer zunächst rein erfahrungsmässig als eine Thatsache unseres Bewusstseins. Bei der ersten flüchtigsten Selbstbeobachtung bemerken wir nemlich in uns, falls wir uns nur überhaupt im richtigen Lebenszustande befinden, die Vorstellung unsers — WM „Könnens, wenn wir wollen“, und wiederum sich beziehend auf all das, was jeweils von uns gethan worden ist oder eben erst voll- bracht wird und geschieht, — das ausgeprägte energische Bewusstsein, dass, wenn wir gewollt, wir auch anders gekonnt hätten. Das Ich zieht äber darin insofern überhaupt Alles in den Kreis seiner Willkür, als es sich für diejenigen Fälle, wo es sich mit derselben stösst und gebrochen und beschränkt sieht, im tiefsten Hintergrunde beständig auch die Möglichkeit der Aufreibung und Preisgebung dieses seines endlichen Ichs reservirt. Es verweigert es somit schlechterdings, zu müssen. Dies ist die allgemeinste am nächsten liegende und be- kannteste Erscheinung der Freiheit, und da wir’s hier zu thun haben mit einem in uns vorgefundenen einfach gegebenen Bewusstsein, so ist natürlich, dass wir nach den Voraussetzungen fragen und uns um- sehen nach einer Erklärung dieses seltsamen Phänomens, was wir durch Beobachtung in uns konstatirt haben. Es ist aber weiter ins- besondere klar: wir bangen, ob dieses Bewusstsein — ob jene Vor- stellung Recht habe und fondirt sei, denn gleichzeitig erfahren wir und konstatirt sich uns in unserer Selbstbeobachtung, wie sehr wir in Wirklichkeit eben fort und fort beschränkt sind und uns bestimmen und herumnehmen lassen. Die Lage ist jetzt einfach die: als in uns gegebene an uns kommende und von uns vorgefundene Vorstellung beansprucht und erwartet die Freiheit jedenfalls so wie so ihre Er- klärung; in dieser aber scheint sie von vornherein verloren zu sein; es gilt somit einen ausdrücklichen Beweis der Wahrheit zu führen. Was hier hauptsächlich treibt zu einem Beweisverfahren, ist offenbar die Vermuthung und Befürchtung, das Ich möchte sich mit seinem Freiheitsbewussisein in einer Selbsttäuschung befinden. Indess man übersieht: unser Freiheitsbewusstsein hat an der Thatsache der eignen Endlichkeit, Beschränktheit und Bestimmtheit keinen unmittelbaren stossenden Gegensatz, sondern es ist jedenfalls einmal in ihm selbst das volle Wissen um diese Thatsache ; es setzt aber dieselbe ausdrück- lich, ja nimmt dieselbe übergreifend geradezu selbst in sich herein und gibt sich an ihr überhaupt seine Folie. Gerade von ihr hebt es ab. Es ist hier Gefahr, einer lächerlichen Schulmeisterei zu verfallen. Man übersehe nicht: das Ich kennt recht gut dasjenige, worin sich der Verdacht der Selbsttäuschung gegen es begründen möchte. Gerade dasjenige Ich, was sich als dieses bestimmte beschränkte endliche Wesen weiss, — gerade dieses versichert sich und behauptet die Un- begrenztheit und Macht seiner Willkür, und es thut dies nicht anders, Be ee als eben sich stemmend und im. Hinblicken und mit Hindentang: auf jenes ‚sein bedingtes Wesen. Der Verdacht einer Selbsttäuschung — durch Nichts mehr fondirt — ist aber jetzt gerade nur unser Freiheitsbewusstsein selbst in potenzirter Form als Reflexion über sich selbst. Das seiner Freiheit sichere und sich versichernde Ich findet reflectirend über sich, dass Es selbst es.ist, was in jener Weise sich die Freiheit zuschreibt, und versichert sich nun seiner Willkürmacht aueh gegen sich selbst in der Weise, dass es die Möglichkeit ventilirt einer Selbsttäuschung — einer Ueber- hebung und Anmassung. "Es ist aber klar, wie ungefährlich dieses Spiel der freien Reflexion ist — sogar dann, wenn es ihr gelänge — und fehlen kann es hier nicht, irgendwoher wirkliche Belege für sich aufzutreiben. Das freie Ich sässe nemlich bei alle dem immerhin noch als das Reflexionssubject oben auf, während es sich als das ursprüng- liche zugrundeliegende Reflexionsobject unten wegdemonstrirt hätte, und es kostete nur einen abermaligen Reflexionschwung, um dass 'es auch in der letzteren Position unversehrt wieder zum Vorschein käme, Damit fällt das Hauptmotiv zu einem Beweisverfahren dahin. Was aber das Andere anlangt, dass sich uns die Freiheit präsentirt als diese Erfahrungsthatsache unseres Bewusstseins neben all den un- bestimmt vielen anderweitigen Erfahrungsthatsachen, so ist dies keines- wegs schon eine Veranlassung zu Ableitungs- und Erklärungsexperi- menten. Man übersieht jedenfalls, dass Thatsachen, welche für die erste Reflexion nebeneinanderliegen, ein sehr ungleiches Verhältniss zu einander haben können. Es ist ja sehr wohl möglich, dass all diese anderweitigen Thatsachen eben sammt und sonders aus jener Einen abzuleiten und zu erklären sind. Es ist noch sehr fraglich, ob unsere Thatsache überhaupt aus Anderem zu erklären ist, oder ob sie nicht vielmehr eine absolute Thatsache ist, aus welcher als aus einem letzten obersten Prineip immer nur Anderes zu erklären ist. Klar ist: der empirische Charakter träte alsdann unmittelbar wieder vollständig zurück, wir befänden uns bei derjeni- gen Thatsache, in welcher das Empirische oder das Apriorische völlig in Einen Punkt zusammentritt; ja es war dann eben jenes Gegebensein in der Erfahrung wirklich ein bloses Zunächst oder vielmehr Hinter- her: sofern wir's mit unserer eigenen Spontanäität und Aktualität zu thun haben, würfe sich nemlich nunmehr alles Empirische überhaupt auf einen blosen Reflex inner unseres natürlichen ‚Selbstbewusstseins, und hervorspränge ein absoluter Akt, worin Ich — schlechthin aus sich” = WW anfangend und sich selbst und mit sich selbst überhaupt alles Uebrige erst setzend — sich ein Dasein gäbe, was von allem Unmittelbaren, Natürlichen und Natürlichsichvermittelnden prineipiell und durchaus verschieden und unabhängig ist. Wir hätten in der Freiheit einen Akt, der grundlos und unbeweisbar nur ist, sofern er sich vollzieht, dessen Vollzug eine reine unbedingte Entschliessung und Leistung ist, der sofort erst dadurch, dass man ihn vollzieht und nun zugleich auf sich und sein Thun refleetirt, auch etwas Beobachtbares wird und einen Vorstellungsreflex absetzt inner des natürlichen Selbstbewusst- seins, der endlich für die Beobachtung sich als absolute Thatsache — als etwas Absolutgiltiges hinstellt, und der nun einfach — statt bewiesen — analysirt sein will als Prineip, auch den übrigen be- obachtbaren Thatsachen Absolutheit — objective Giltigkeit zu verleihen — gleichsam festen Grund und Boden unter die Füsse zu schaffen. In diesem Falle dürften wir uns nun aber wirklich befinden, und es sollte nicht schwer halten, von Denjenigen, welche so energisch für die Geltung eines über die Natur erhabenen geistigen Lebens- universums in den Kampf gehen, die Ueberzeugung zu erlangen, dass für sie Alles abhängt von der Anerkennung der Freiheit als einer reinen schlechthin grundlosen und unbeweisbaren absoluten Thathand- lung. Der Geist des Menschen nemlich ist nur — aber auch ganz in dieser Thathandlung und ist nichts als diese selbst. Als diese absolute T'hathandlung ist die Freiheit dasjenige, was — uns unterschei- dend von der ganzen Natur — auch vom Menschen selbst wieder als blosem Naturwesen — im eigentlichsten Sinne des Wortes unser gei- stiges Wesen ausmacht und uns jenen Charakter verleiht, der uns von Natur zwar nicht nothwendig fehlt, aber auch nicht unmittelbar nothwendig zukommt, sondern eben das freie sittliche Lebensgut ist. Bei diesem Punkt ist sogleich etwas näher zu verweilen auf die ‘Gefahr hin, dass wir da oder dort vorzugreifen genöthigt werden. Wir stossen hier auf eine nur allzuverbreitete und geläufige Verwechs- lung und zwar gerade bei Denjenigen, welehe so beflissen sind, gegen die gesammte Natur und gegen das, was der Mensch von Natur ist und mit sich bringt, eine seharfe Grenzlinie zu ziehen und in das Abgegrenzte zugleich Alles auszuschliessen, was mit diesem Natur- haften überhaupt endlich sich vermittelt und als dies Gegebene — in den Bereich der Endlichkeit hineinfallend — der Endlichkeit auch wieder den Tribut gibt. Wir meinen die Verwechslung von Geist und Seele. Dieselbe u spielt in der Frage, die uns zunächst beschäftigt, eine bedeutende Rolle. Man spricht aber damit offenbar Hohn einem besseren Wissen. Das Beseeltsein ist der allgemeine zugleich mit dem T'hier gemeinsame ja mit der gesammten Natur verknüpfende nothwendige Gattungscha- rakter des Menschen als endlichen Naturwesens, und — lediglich die Innenseite und das Organisationscentrum unseres physischen Le- bens Leibens und Daseins — ist unser physisches Wesen gerade so recht der Schoos, worin unsere allgemeine durchgängige Naturbedingt- heit und Endlichkeit kulminirt und sich voll ausdrückt und spiegelt. Der freie Geist aber macht unsern höheren sittlichen ganz in die Hand eines Jeden selbst gestellten Werth, ist an ihm selbst, was eben schon in dem Worte Freiheit liegt, die schlechthinige innere Erhebung über diesen ganzen Bereich der Endlichkeit und Nothwendigkeit, und ist in keinerlei Weise ein Naturhaftes, etwa ein Ereigniss und Produkt in der naturnothwendigen Entfaltung unseres Seelenlebens — eintre- tend unter gewissen glücklichen Bedingungen, oder etwa in Kombination mit einem solchen — überhaupt in endlicher greifbarer und präparir- barer Vermittlung — das Ergebniss gewisser Operationen; sondern, was hier vorliegt, ist immer nur eine absolute schlechthinübergrei- fende auf alles Endliebe lediglich rückwirkende Kausalität — ein Etwas, was sich weder von selbst macht, noch sich Jemanden, der es nicht hat, geben lässt, sondern bezüglich dessen Jeder sich an sich selbst zu halten hat — nemlich einfach an eine innere Entschlies- ' sung. Das freie Geistesleben der eigene sittliche Gehalt und Charakter ist reiner Entschluss reine Schöpfung; es ist dasjenige, worin der Mensch in seiner Punktualität und Konzentration sich gegen Alles kehrend, was ihm wird oder sich ihm bietet, und vielmehr schlecht- hin’ anfangend aus ihm selbst — aus sich heraustritt in einer lauteren That — in reiner Leistung, und worin er sich selbst erneu- end und ein neues Leben beginuend zum Schöpfer wird alles desjeni- gen, was wir uns selbst zu verdanken beanspruchen, in dessen Dasein wir unsere Ehre setzen, und an dessen Besitz, Pflege und Anerkennung wir unsere gegenseitige Achtung messen. Alles hängt sich hier offenbar an unsere absolute Thathandlung. Wer nicht aus ihm selbst von ihm selbst frei wird und nun eben darin erstarkt zum geistigen Leben, dem ist nicht zu helfen. Die Freiheit ist der einzige unbedingte schlechthin und auf Einen Schlag sich voll- ziehende und, sowie er sich nur zu sich entschliesst, sein Gesetz und = IB seine Mittel auch ganz in ihm selbst findende Akt — der Akt, der unmittelbar fertig einfach sich einführt durch sich selbst — durch seine reelle volle Praxis und damit das geistige Leben ausgebärend sofort den Rechtstitel abgibt für unsern Stolz wie für unsere Ver- antwortlichkeit. Das Gewicht legt sich aber hiebei immer auf die Absolutheit des Akts. In dieser ist dann eben das Geistige, dem es ganz wesentlich und innerlichst eigen ist, keine andere Vorbereitung und Vermittlung — kein anderes Dasein und Signalement zu haben als die freie That und ihren Effekt, so dass es — aus sich selbst geboren — aus sich herausschreitend auch unmittelbar überhaupt das ist, was es ist, und nicht erst lang dies und das, was es nicht ist. Frei sein und auf geistige Werthung Anspruch besitzen ist zusammen- fallend diejenige Seite in uns, die eine Vermittlung weder bedarf noch zulässt — so wenig, dass sie vielmehr immer nur annimmt in eben- bürtiger Gesellschaft unter mehr oder minder ausgesprochener Wah- rung ihrer Autonomie. Und eine Geschichte hat jetzt die Freiheit und das Geistesleben nur insofern, als die sittliche Potenz im Ganzen der Menschheit als die kulturschaffende Macht immer schon vorhanden in dem jeweiligen Stande von Recht, Staat, Religion, Sitte, Kunst ‚und Wissenschaft der Willensenergie des Einzelnen wie ganzer Klas- sen, Völker und Geschlechter immerhin zugleich Aufgaben stellt, und bezüglich deren Lösung je das System von Aufforderung orga- nisirt, was wir mit einer erlaubten Verallgemeinerung des Worts Er- ziehung nennen können. Es mag aber nicht unnütz sein, hiebei zu erinnern, dass bekanntlich alle wirkliche Erziehung, je besser sie ist, um so entschiedener sich und ihrem Zögling die Anerkenntnis auf- 'erlegt, es müsse die wirkliche Lösung der von ihr nahegebrachten Aufgaben schliesslich immer eine absolute That des Letz- teren selbst sein, dass sie daher ihre Zucht gründet auf die Lockung des freien sittlichen Entschlusses, und dass sie endlich, indem sie als ‚System der permanenten Appellation an letzteren vorgeht, als Orga- nismus sich immer und überall gipfelt in eine Sphäre des freien Diensts, deren Betretung und Eröffnung gleichkommt einer Majorenn- erklärung ihres Zöglings. Das geistige Leben — die gesammte Kultur und Geschichte quillt in unserm Freiheitsakt. Dieses Gelöstseins des Geistes und des gesammten sittlichen Le- bensuniversums in unsern Freiheitsakt als in eine reine sich in sich selbst tragende und unterhaltende und sich schlechthin mit sich zusam- menschliessende absolute Thathandlung — dessen ist man sich denn — Si. — auch im Grunde wohl bewusst. In Wahrheit auch — es gibt hier nirgends ein Dinghaftes; der freie Menschengeist ist kein Ding, dem seine Thätigkeit zukommt und beizulegen ist etwa als Eigenschaft — so nemlich, dass er für sich seinem Sein nach gegen dieselbe zugleich relativ selbständig wäre und unmittelbar substantiellen Wesens im Sinne des Aktsubjeets derselben voraus nnd zu Grunde läge als seiner blosen Lebensform. Vielmehr ist der Geist eben sein freies Thun selbst, und nur insofern dieses einen in sich geschlossenen Zusammen- hang und Kreislauf bildet — eben absoluter Akt ist, ist überhaupt Er selbst und ist er Einer in sich ganz und beharrend. Diese Ein- heit und Totalität aus dem Thun selbst herauszuabstrahiren und vor dasselbe hinzusetzen als materielles Substrat — als Substanz im Sinne des Subjeets, dem es angeheftet und zu prädiciren wäre, dies ist _ zwar ein im Selbstbewusstsein immer und überall vorkommender und nothwendig sich behauptender Akt, aber eben auch nur dies — Akt, der in der freien Reflexion seine Anerkennung und seine Erklä- rung findend unmittelbar von selbst dahinfallen lässt die Behauptung sei- nes Inhalts als eines wirklichen objectiven von ihm unabhängigen That- bestands. Ich war es, was sich für sich selbst als Selbstunter- scheidung als jenes Ding gesetzt hat; das Ding ist nach wie vor ganz umschlossen, gehoben und unmittelbar wiederum gelöst in der Aktualität; so ist es nicht vor ihr und ausser ihr und ohne sie, sondern eben sie selbst. Dies dürfte auch vollkommen erfahrungsgemäss sein. Von einem solehen Dinge nemlich finden wir in uns schlechterdings keine Spur; vielmehr untersuchen wir die betreffende Voraussetzung, so zerrinnt uns dieses dingseinsollende Selbst unter der Hand unmittelbar in eine innere Aktualität. Als Richtiges stellt sich hiebei heraus, dass allerdings die Aktualität — es als Grund in sich heraufnehmend und umfangend — ein Natursubstrat hat. Allein abgesehen von der Aktualität qualifieirt sich dieses nicht im Entferntesten als dasjenige, was wir den freien Menschengeist nennen und als solchen eben in der Aktualität anerkennen und charakterisiren. Unser physischpsychi- scher Lebensorganismus auch in der höchsten Vollendung, die ihm nur immer auf Grund normaler Verfassung und Ausstattung kann ge- geben werden, hat und behält eben immer nur die Bedeutung einer blosen Vorlage und des Rohmaterials — des blosen Organs und des Ausdrucks- und Darstellungsmediums; nie aber ist er das Subject selbst, dieses ist im Akt als absolutem. Der Vollbesitz, die Stärke m 10 und glückliche Ausbildung dieser natürlichen Gaben und die Routine- vollendung in ihrem Haushalt und Umtrieb — dies dürfte zwar im Leben des freien Geistes seine positive Geltung finden, allein es für sich konstituirt noch keineswegs den geistigen Werth und Charakter, so wenig als umgekehrt eine Armuth oder Verkümmerung in dieser Beziehung an sich schon ohneweiteres eine Entschuldigung wäre ge- genüber den in der Freiheit sich in uns uns präsentirenden sittlichen Aufgaben, und wiederum für Andere eine Instanz abgäbe gegen den Anspruch des Betreffenden auf geistige Werthung und Geltung. Wir haben da an diesem Natürlichen vielmehr einen Grund, welcher der freien geistigen Potenz und Produktion entweder noch völlig uner- schlossen vorausliegt oder aber, wo er von ihr ergriffen und be- herrscht ist, nach wie vor als dies Bedingte Endliche Phänomenhafte einer Verkettung angehört, welche die Freiheit — das Geistige ge- radezu zu erdrücken oder vielmehr auszuschliessen scheint, sofern sie jedes Eingreifens sofort sich bemächtigend die freie That und die gei- stige Erfüllung stets unmittelbar gewissermassen übersetzt in die Form eines Geschehens und Bestehens nach der allgemeinen natürlichen Le- bensordnung und sie so — ihr den Stempel der Nothwendigkeit auf- drückend — in ihrem Prineip und Grundcharakter wenigstens hinterher wieder maskirt. Der freie Geist und andererseits unser physisch- phychischer Lebensorganismus — Ersterer den letzteren in sich tra- gend und gestaltend als seine Folie als seine Instrumentation als sein Element und Object — bleiben so nichtsdestoweniger innerlichst und durchaus wesensverschiedene Dinge. Es ist aber klar: der Ter- minus Ding auf den Geist angewandt ist überhaupt eine Lüge — eine Rohheit; man thut Gewalt der Erfahrung — der inneren Nothwen- digkeit der Begriffe und im Grunde wie gesagt seinem eigenen bes- seren Wissen und Gewissen. Nun findet man aber eben diesen Begriff‘ des Geistes als: reiner absoluter Thathandlung schwierig, weil ja doch immerhin ein Subjeet sein müsse, welches die freie Thätigkeit äussere. Ein Unvermögen, den Begriff der Freiheit als absoluter Thathandlung, rein und vollstän- dig zu denken, unterhält wenigstens den Vorbehalt und die Erwartung, am Ende denn doch etwas zu finden, wo schlechterdings nichts zu finden und in Wahrheit gar nichts zu vermissen und zu suchen ist. Das Ausblieken und Suchen erhält sich aber offenbar mitten in der thatsächlichen Anerkennung seiner Vergeblichkeit und Ueberflüssigkeit. Denn wer aus dem genannten Grunde den entwickelten Begriff des Geistes nicht denkbar findet, der möge einmal angeben, was denn ungefähr das für ein Subject ist, was er sucht, um ihm die freie Thä- tigkeit anzuheften. Unfehlbar bestimmt er dasselbe wieder durch eine Thätigkeit, und sehen wir genau hin, so ist es eben ganz dieselbe, die er so schwierig findet. Dieser Thätigkeit legt er dann wieder ein Subject zu Grunde, bestimmt es wieder durch die freie Thätigkeit und so fort ins Beliebige. Er thut also im Grunde ganz dasselbe, was Wir thun .und fordern; er löst den Begriff des Geistes in den Begriff der Freiheit als reiner absoluter Thathandlung,. nur mit dem Unterschiede, dass Er dies thut in Form eines endlosen Regresses, ohne dieses seines Thuns ansichtig und als eines Berechtigten habhaft gewiss und froh zu sein, während Wir abgeschlossen haben und fest- stehen in dem Wissen, dass wirklich in der freien Thätigkeit selbst das Subject gesetzt und enthalten ist, das er verlangt. Indess dieser Unterschied zieht nun seine schweren Folgen nach sich. Während nemlich thatsächlich wirklich zur Erfahrung gebracht wird, dass der Geist nichts Dinghaftes ist, was sich aus seinem Thun herauspräpariren, zu abgesonderter Betrachtung etwa in Weingeist setzen und sich nun überhaupt einmal erst seinen Heimatschein anfer- tigen liesse über dies sein Thun und Leben, unterhält sich eben doch wie gesagt das Bedürfnis die Spannung und das Hinausblicken, und es ist nın ganz natürlich, da sich unter der verzweifelten Opera- tion immer nur jenes Andere präsentirt —- nemlich das Natur- substrat — der physischpsychische Lebensorganismus und zwar sich als dies Bedingte Dinghafteimmer eindringlicher und massenhaf- ter gleichsam von selbst vors Bewusstsein heraufarbeitet und die offen- gehaltene leere Tafel besetzt, so greift man zuletzt — über jene Er- fahrung sich betrügend und die geheime innere Warnung vor der ver- botenen Frucht überspringend — in Gottes Namen nun eben zu die- sem Natürlichen, stürzt über in diesen Bereich, dessen Betretung man sich so eben noch in aller Form säuberlichst verbeten hatte, und wirft die Freiheit und das geistige Leben so zu sagen im Ueberdrusse die- sem: Naturnothwendigen Gattungsmässigen der Seele an den Kopf. ‘Wir haben jetzt jene obige Verwechslung von Geist und Seele und zugleich den Grund ihrer Verbreitung ihrer Geläufigkeit und ihres zähen Eingewurzeltseins selbst bei Denjenigen, die von Haus aus nichts weniger als zu Naturvergötterung angethan sind. Das Bedürfnis nach einer Dinghaftigkeit unseres geistigen Wesens ist jetzt gestillt; die Freiheit — die freie Thätigkeit — die sittliche Potenz, Energie, Ak- tualität und Produktion hat jetzt einen Kopf, auf dem sie sitzt und an dem sie flattert. Wir wollen das Bedürfnis, das sich hier seine Befriedigung erobert — ja in einer wirklichen Ueberrumplung genommen hat, nicht weiter untersuchen. Seinen Grund seine Unweigerlichkeit und sein Recht haben wir anerkannt, indem wir das Sichvonsichselbstunter- scheiden und Sichalsdingvorsichhinsetzen und -fixiren als einen Substanzakt unseres freien geistigen Selbstbewusstseins bezeichnet ha- ben. Wir haben es aber ebendamit bereits in seine Schranken zurück- gewiesen. Dagegen verlohnt sich nun eben nach dem Preis zu fragen, mit welchem diese seine tumultuarische Befriedigung erkauft ist. Derselbe ist aber einfach und genau zu berechnen. Es ist der Philosophie, die sich auf Kants Paralogismen der reinen Vernunft ver- gessen hat, Recht geschehen, dass die moderne Naturforschung den Naturbegriff festhaltend nun eben vom Boden jener unbeholfenen rohen Anschauungsweise aus ihr den Begriff der Freiheit.in Anspruch genommen, das bezügliche nun wirklich zum blosen Postu- lat im schlechten Sinn herabgerückte Dogma ihr im ersten Anlauf über den Haufen geworfen, ja nun konsequent den Geist überhaupt, sofern er irgendwie sich noch als etwas Höheres gegen die allgemeine Natur behauptet, ohne weiteres an den Schatten der sogenannten Ideen- welt gesetzt hat. Die Freiheit ist jetzt aber allerdings wirklich so recht gründlich in der Lage, sich mit Beweisen stützen und. beisprin- ‚gen zu lassen; sie ist jetzt überhaupt ihrem innersten: ganzen Wesen nach sorecht eigentlich eben dies Erst-zu-beweisende; der freie Geist sitzt mitten in der Natur, einen Riss wirkend durchs allgemeine Lebensuniversum, und die Natur gegen diesen Riss: remonstrirend und siegsgewiss diesen ihren Antipoden überhaupt zum Beweise ‚seiner ‚Existenz herausfordernd hält denselben in ihrem allgemeinen ‚ewigen festinsichgeschlossenen Lebenszusammenhange sozusagen unter dem ‚Daumen, dass er sich :wehre auf Tod und Leben. ! Dieser Preis ist .offenbar etwas hoch und schmerzlich. Allein man wollte es ja so. Das bessere Wissen und Gewissen, über das hinweg man sich in diese Lage hineingesetzt hat, beweist sich damit, dass man festhaltend an der Bestimmung des Geistes durch die freie 'Thätigkeit innerhalb des Naturbegriffs nun durchaus dualistisch zu Werke geht und jedenfalls ihn, den Menschen — den Naturorganismus in seiner höchsten Koncentration, seiner einheitlich vollsten geschlos- sensten Artikulation, seiner harmonievollsten Instrumentirung und u de seiner ebenmässigsten vollendetsten Ründung — mitten durchschneidend auseinanderreisst in Seele und Leib. Andererseits bekundet es sich aber darin, dass diesen Beflissenen, während sie sich in solch un- barmherziger Weise einen Seelenbegriff doch nach ihrem Bedürfniss hergerichtet haben, nichtsdestoweniger als Schatten ihres bösen Ge- wissens fortwährend der beunruhigende Zweifel zur Seite schreitet, es möchte noch nicht genug geschehen sein. Der letztere Punkt ist etwas näher ins Aug zu fassen. Es treibt hier nicht blos die Besorgnis über die fatale Thatsache des Fixseins und Innewohnens und Sichauslebens der Seele in diesem räumlich- zeitlichen Leibesdasein, sondern ein wirklich besseres Wissen um das, was Seele und Seelenleben sei. Vornweg verbirgt sich ja die That- sache nicht, dass das Beseeltsein auch den Thieren eignet oder viel- mehr richtiger gesagt etwas allgemein Thierisches — ja eben das eigentlich Thierische ist. Man weiss, dass der Mensch sein ge- sammtes Bewusstsein in Empfindung, Trieb und Wahrnehmung völlig gemein hat mit dem grossen Thierreich; ja man spürt es heraus, dass Hand in Hand mit dem rapiden Fortschritt unserer Tage in wissen- schaftlicher Behandlung der Zoologie unweigerlich immer mehr eine Nachbarlichkeit des Menschen mit der lieben Mitkreatur sich heraus- kehrt, über welche man umsonst die Nase rümpft, gegen welche sich zu sträuben eine eitle lächerliche Sentimentalität verriethe. Dem lie- ben Vieh aber, wie die Konsequenz forderte, nun auch die Frei- heit und den Geist dreinzugeben, das hält man denn doch, wie es denn auch wirklich das wäre, für sündlich bei aller sonstigen Be- wunderung für den „Geist in der Natur“. Aber nicht nur das. Das bessere Wissen greift noch weiter. Bekanntlich eignet sofort dem Menschen auch eine Entwicklungs- und Bethätigungssphäre des Psychischen, welche allen Thieren abgeht und ibn — von diesen unterscheidend und vor ıhnen auszeichnend — wirk- lich eine Stufe höher hebt. Dies Specifischmenschliche ist das’Selbst- bewusstsein in Fühlen, Begehren und Denken. Und nun weiss man im Grunde recht gut, fühlt es wenigstens, dass auch dieses Specifisch- menschliche als allgemein Gattungsmässiges nichtsdestoweniger eben immer noch rein von Naturwegen da ist und hier überall noch nicht ohneweiteres schon Jenes ins Spiel kommt, was wir das Freigeistige nennen, und womit wir die Menschen selbst wiederum von einander unterseheiden und vor einander auszeichnen. Dieses Selbstbewusstsein dürfte zwar in einem gewissen näheren Verhältnisse stehen zum freien a Geistesleben ; das letztere tritt nun einmal nur im Menschen auf, setzt sieh innerhalb seiner also eben dasjenige voraus, was den Menschen gattungsmässig unterscheidet von allen übrigen Naturwesen — speciell vom Thiere als solchem. Allein da steht die Tihatsache der Gattungs- mässigkeit, der sich nicht aus dem Wege gehen lässt, und man spürt, wie falsch und fatal es wäre, die Menschen sich vom Thier unter- scheiden zu lassen einzig durch seine geistigsittliche Bestimmtheit; denn wie der Mensch in seinem äusserlichphysischen Leben, Leiben und Dasein scharfe Gegensätze zeigt gegen den Typus der übrigen Thierwelt und zwar diess eben ganz innerhalb und unbeschadet der durchgängigen natürlichen Gemeinsamkeit und Verwandtschaftlich- keit mit der letzteren, so eben auch wohl hinsichtlich der psychischen Innenseite seines natürlichen Organismus. Sodann verbirgt sich nicht das Anererbte Angeborene Gegebene Sichvonselbstsoergebende Be- rechenbare und Phänomenhafte dieser Selbstbewusstseinsfunktionen und die in diesem psychischen Leben überall zu Tag tretende Bedingtheit und Endlichkeit; man fühlt es im Innersten wohl, dass man es hier überall zunächst zu thun habe mit rein natürlichen Phänomenen — mit selbständigen Elementen, Potenzen, Richtungen, Äusserungen, Vor: gängen und Formen in der naturnothwendigen Selbstentfaltung des natürlichmenschlichen Seelenlebens;; dieses Selbstbewusstsein in Fühlen, Begehren und Denken — dies ist die nothwendige Entwicklung, die einfachthatsächliche Auszweigung, die fixnormirte normale Verfas- sung und der gesunde natürliche Verlauf des allgemeinthierischen Be- seeltseins in diesem So» Mensch, und der Mensch kann dafür und bestimmt sich dafür so wenig als z. B. für sein Sprachleben, worin dieses sein Selbstbewusstseinsleben sich an ihm selbst kund gibt und sig- nalisirt. Endlich kommt es Keinem in den Sinn, denjenigen Menschen, in welchen das freie geistige Leben sich noch nicht aus sich erschlos- sen oder aber sich in sich sündhaft zerrüttet hat, eben darum auch schon die Ichheit — den Vollzug der Selbstbewusstseinsfunktionen abzusprechen. Es ist aber klar, mit alledem ist eben die Grenzlinie zwischen Seele und Geist — zwischen Natur und Freiheit aufrecht erhalten. Darin nun erkennen wir eben die andere Seite in der Bezeugung jenes besseren Wissens und Gewissens, und nicht die geringste Besieg- lung erhält jetzt dieselbe an den gewaltsamen vergeblichen Anstren- gungen, die man macht, um der Verstrickung in seine Konsequenzen nicht zu erliegen. Nicht wissend, wo sonst das Freigeistige unter- ze, bringen, genöthigt wie gesagt es im Menschen an ein besonderes substantiell fixes Subject anzuheften, und doch im Grunde sieh wohl bewusst und geständig, dass es in der Seele und ihrem Leben ebenso verkauft und verloren ist, wie im äusserlichphysischen Lebensorganis- mus, — so in Angst und Noth schwebend zwischen Himmel und Erde zu schlecht und unreif für das Himmelreich und doch für die Ver- dammnis wirklich zu gut und zu spröde — so flüchten sie jetzt ver- zweifelnd hinein in die göttliche Schöpferkausalität entschlossen, hier in dieser des grossen Räthsels sich ein für allemal zu entschlagen. Allein es hilft ihnen nichts; unser Herrgott ist kein Auskunftsmittel für eine Denkschwachheit. So wenig die menschliche Freiheit, der Geist, in der psychischen Natur des Menschen auf dein Wege rein- natürlicher Entfaltung entsteht und besteht, so wenig ist derselbe und kann er sich behaupten als ein Etwas, was durch eine besondere Schöpferthat etwa nun einmal über den natürlichen Menschen herein- erschaffen und in ihn hineinorganisirt und sozusagen festgenagelt ist. Das Wunder — die Erdrückung der Schwierigkeiten oder Unmöglich- keiten in der göttlichen Allmacht rächt sich, indem jetzt eben die Freiheit, das geistige Leben, transcendent wirdan diesem Schö- pfer und der Mensch lediglich das Zusehen hat. In Wahrheit ist denn auch gewöhnlich dies der Nöthen Ende, dass man, nachdem man die Begriffe gehörig herumgestossen und zerknetet hat, seines Objeets — für sich selbst resignirend — sich versichert in der Persönlichkeit Gottes. Die Freiheit — der Geist hat sich jetzt hinausgehoben und salvirt über jenen Bereich der Räthsel und Nöthen. Doch nein — um nicht ungerecht zu werden: aus diesem Jen- seits der Denkschwäche und Resignation fällt jetzt in die Endiichkeit sie mit einem ganz neuen Lichte beglänzend ein Wiederschein zurück der überraschendsten Art. In Gott — in der absoluten Kausalität, die man angerufen und die aushilft, denkt man nemlich offenbar wirk- lich den Begriff des freien Geistes — eben den, den wir fordern, be- zieht jetzt dieselbe ganz richtig auf die Natur und auf's unendliche Ganze des Lebens und Daseins überhaupt, lenkt darin — den Begriff Gottes und seines Verhältnisses zur Welt bald so bald anders sich zurechtmodelnd — aus der heidnisch dualistischen Anschauungsweise auch wieder zurück in die wesentlich monistische des Christenthums und der modernen Philosophie, und beginnt nun den Begriff der Natur für einmal 'aufzuschlucken und zu verdauen in den des freien Geistes. Diese Konsequenz ist sehr lobenswerth, und hätte Anlage, wenn auch Ei - auf einem Umweg, am Ende zum richtigen Resultate zu führen; nur hat man leider in den wenigsten Kreisen das Geschick und den Muth, sie auch wirklich ganz zu ziehen, und so besteht denn der Effect meist in der einfachen Rehabilitirung und Befestigung einer edukativ und erbaulich gehaltenen Psychologie als der eigentlichen wahren Gei- steslehre. Den Freiheitsbegriff sichert man sich aber jetzt eben dadurch, dass man den Menschen möglichst isolirt, sich auf sein Eingeordnet- sein in ein unendliches Ganzes von Natur zu vergessen sucht, und in der überschwenglichen Bewunderung des Geistes in der Natur sich sozusagen Scheuleder anlegt. Nicht rechts und nicht links blickend operirt man fort auf dem rein psychologischen Felde gewissermassen auf gut Glück. Sehen wir aber nach den Früchten, die in dieser üblen einge- bildeten und angekünstelten Sicherheit ausgeheckt werden. In Wahr- heit — während die Freiheitslehre als solche brach liegt, wimmelt es von Psychologieen, die unter dem allgemeinen regen Interesse an „Selbsterkenntniss* hervorwuchernd — üppig strotzen von jener Durch- einanderwirrung und Zusammenknetung von Geist und Seele — von Freiheit und Natur — von Charakter und Individualität — von sitt- licher und natürlicher Bestimmtheit. Konsequent geschieht es alsda, dass man bereits beim Kapitel des Empfindens sentimental und ästhe- tisch wird, beim Kapitel des Triebs aber sich juristisch in Positur setzt und dann nicht verfehlt, bei demjenigen der Wahrnehmung lehr- reich erkenntnistheoretisch sich zu ergehen. Vollends aber lässt man sich in dieser Weise an inner der Sphäre des Selbstbewusstseins, die man gar nicht anders betritt als mit der geziemenden Andacht und Vorbereitung auf das Allerheiligste, und wo man pflichtschuldigst allererst dem Sokrates das delphische yvw94 osa@vzov nachzitirt. Beim Gefühl verhandelt man gleich das Kapitel der Religion und der feine- ren Bildungstugenden und sofort alle zarten Lebensansprüche und Le- bensaufgaben, beim Begehren entwickelt man die Moral und macht gar in Politik, schliesslich aber beim Denken und Sprechen denkt und spricht man vollends über alle Weisheit, Kunst und Wissenschaft und vergisst nicht, fein die Regeln und eine Anleitung zu geben, wie logisch gedacht und gesprochen werden müsse, um in den Besitz und in die Ehre dieser Herrlichkeit zu gelangen. Was die Freiheit anlangt, so wird die so selbstverständlich gefunden, dass man sie, ob- wohl natürlich auch eine Haupteigenschaft unserer Seele, kaum noch irgendwo besonders verhandelt; dagegen wird da auf's Eifrigste und EREE ne Sehönste die Unsterblichkeit bewiesen und einlässlich die Frage des irdischen Glücks und der ewigen Glückseligkeit besprochen. Eine besondere Berücksichtigung erhalten aber dabei überall die guten und schlimmen Anlagen; begreiflich, denn wirklich in schönster Eintracht mit der Freiheit reifen ja hier die Früchte des Geistes sammt und sonders am Stamme unserer Naturgaben. Und nur da erhob sich ein kleiner Hauszwist, als einmal einige in diesem Stücke gar zu Dienst- beflissenen Anstalt machten, das hetreffende Kapitel lieber gleich hand- greiflich abzuhandeln und den Geist, da er sich vorerst vom Stamme des Nervengewebs nicht wohl abschütteln liess, wenigstens einmal an den Ecken und Beulen unseres Schädelgewölbs abzufingern. Unge- schiekte Jungen hatten da begonnen, aus der Schule zu schwatzen und die Sachen etwas gar zu wörtlich zu nehmen, und wieder ist darüber einem besseren Theile ein gelinder Schreck in den Leib ge- fahren, von dem er sich denn auch richtig nimmer erholen sollte. Es war da ein leichtes Wölkchen über den Himmel der Psychologie ge- zogen — ausgebrütet am Uebermaasse des Sonnenscheins; es war aber der erste Vorbote des heraufbeschwornen Gewittersturms. Man wird in den strengwissenschaftlichen Sphären diese Schil- derung unbillig — übertrieben — anmaasslich finden. Dagegen ist nichts einzuwenden ; wir griffen absichtlich zum grossen Mittelschlag. Allein Ihr Berufenen, die Ihr — natürlich überhaupt nur in auser- lesenen Kreisen — auf dem hohen Kothurne der Wissenschaftlichkeit einherschreitet, habt Ihr Euch nicht selbst — wenigstens bei dem einen oder dem andern Kapitel — auch einmal in diesem Genre versucht ? Die Hand auf's Herz — die Wenigsten werden es in Abrede stellen, und namentlich schmeckt ganz besonders auch die „Lehre vom sub- jeetiven Geiste“ sehr stark nach derlei psychologischem Gebräu. In Wahrheit die Zeit ragt noch mitten in die Gegenwart herein, wo man 'schwelgte, in der Psychologie als „Anthropologie* von allem Hohen und Niedrigen der Menschheit und Menschlichkeit zu handeln, wo sich die Psychologie mit all diesen Dingen behangen und aufge- donnert gravitätisch gebärdete als eine Art Universalwissenschaft mit erbaulicher Anlage zu einer menschheitsbeglückenden Allerweltspädagogik und allgemeinen Bildungsschule. Alles Mögliche wird da dedueirt und bewiesen — zwölfmal bewiesen; kurz das arme Ding, die Seele, muss für Alles herhalten; es ist, als wüchsen all die hohen und höch- sten Früchte der menschlichen Kultur auf den Bäumen, und nichts ist so erhaben, dass es nicht herabstiege und sich seine Toilette machte u als natürliche 'Vollkommenheit des menschlichen Geschlechts. Nun erhält sich zwar freilich auch hier noch jenes obige bessere Wissen und Gewissen; allein im Effekte das Ganze nur noch zustutzend und vollendend. Meist nemlich gehen diese hochweisen Forscher doch nichtsdestoweniger von ihrer Psychologie noch über zu einer beson- dern Rechts- und Staatslehre, Religions- und Sittenlehre, Aesthetik und Logik; allein es geschieht, nachdem sie in der Psychologie so gute Geschäfte gemacht und in Alles hineingeschmeckt und hinein- ‚gepfuscht haben, wesentlich im Gefühle ihrer eigenen Vortrefflichkeit und sich selbst noch nicht genügend in durchaus naiver Weise, als wär es und gälte es da einen einfachen Fortgang vom Allgemeinen zum Besondern — von der abstrakten Regel zur konkreten Anwendung und zur Modifikation im praktischen Leben. Im Dusel ihres Schwelgens — überreizten und verwöhnten Magens und ganz eingewiegt in’s Gefühl der Sicherheit setzen sie sich eben nun auch einfach fort — der Meinung, da noch ein Uebriges zu thun in ‚verdienstlicher Aufopferung für dasjenige, zu was sie nun einmal vorzugsweise berufen und angethan seien, und was die Welt nun eben gerade von ihnen noch erwarte. Die wahre Bedeutung jenes Uebergehens geht so für sie offenbar vollständig verloren, ja verkehrt sieh ihnen in’s gerade Gegentheil. So handeln sie denn also in einer Anwandlung. von Hochsinn und in ungewöhnlicher Aufraffung sich weiterschleppend noch im Besondern vom Recht, vom Staat, von der Religion, von der Sitte, von der Kunst und von der Wissenschaft, überall natürlich rekurrirend auf ihre Psychologie und mit den gehöri- gen Verweisungen auf diesen allgemeinen Theil. Indess es ist dann auch darnach: saft- und kraftlos — dürre, hohle, müde Gestalten — den Tod im welken Gesicht uud doch nicht sterben dürfend — so ‚wanken nun diese weiteren Disciplinen mühselig hinterdrein, ihrer fettelhaften aufgedonnerten Lehrmeisterin die Schleppe zu tragen. Nach- ‚geborene Kinder leiden sie an der Ungewöhnlichkeit und Unnatürlich- keit, mit der sie ihre Erzeuger der Altersschwäche abgerungen haben, uuu diese selbst erfreuen sich ihrer kaum. Wahrhaftig diese Guten ‚sie ahnen und ahnen doch wieder nicht, dass sie hier in der Auf- „opferung für die Menschheit wirklich des Guten zu viel thun, dass sie Unmögliches leisten in diesen Disciplinen, dass sie ja das Alles -wärklich schon abgehandelt und produeirt haben in ihrer Seelenlehre, ja in dieser bereitg angelangt sind beim Non plus ultra — beim spe- kulativen Denken — bei den Ideen, wo ja doch sonst derlei Men- Wissenschaftliche Monatsschrift. IV. _ 3 —_— 31 — schenkindern der Verstand und die Potenz auszugehen pflegt. Es gibt's nun einmal nicht; es gibt gar keine praktische Philosophie, so lange man in jener Weise Seelenlehre abhandelt und Naturphilosophie und Geistesphilosophie so zu sagen auf Einen Sitz producirt. Im Uebri- gen lassen sie sich jedoch nichts weniger als draus bringen, und ent- schlossen, Nichts zu sehen, wo alle Anderen im Geheimen längst siutzig geworden sind, rühmen sie sich wohl gar der Popularität und nehmen schliesslich die Ehre in Anspruch der wahren Aufklärung. In Wirklichkeit — es ist hier einer der Fälle, wo die Gescheidtheit für sich noch sich spreitzend im Bewusstsein ihrer Vortrefflichkeit, weil sie nemlich das Gefühl ihrer Veberanstrengung für wahre Kraft nimmt, eben durch ihr eigen Werk, worauf sie sich, damit steift, für alle übrige Welt bereits längst am Pranger steht. Die Universalkost, die sie gereicht haben in ihrer Psychologie, war mehr für verdorbene Mägen; die Einfalt — der schlichte sittliche Takt sträubte sich im Grunde und protestirt gegen eine derartige die Zurechnungsfähigkeit des Menschen bedrohende Mengselei und straft jenen Anspruch der wahren Aufklärung Lügen. Doch nein — man darf nicht ungerecht werden: eine Frucht haben diese Universalanthropologieen wirklich gehabt. Eben diesen sittlichen Takt, der sich dunkel des rechten Weges und streng zu unter- scheidender Gebiete und Begriffe wohl bewusst ist, allein — unbe- holfen, wie er ist, und der Begriffsunterscheidung selbst nicht gewach- sen — diese und seine eigene Rechtfertigung nun einmal von der Wissenschaft erwartet, — diesen gelang es ihnen bei dem zahlreichen Schlage der vermeintlich Gebildeten zu übertäuben und zu verwirren, und am Baume der Aufklärung wuchs nunmehr in den tonangebenden Kreisen die Frucht der Erkenntniss, wie doch Alles in der mensch- lichen Natur so recht einfach und natürlich und glücklich organisirt und geordnet sei, und wie man im Grunde, um seine Bestimmung zu erreichen, nur hübsch natürlich sein und dabei fleissig seine Natur auch studiren müsse. Wirklich — in Erziehung und Unterricht sahen wir einstmal Zug für Zug ganz neue Ideen Grundsätze und Anforderungen kommen. Durch eine naheliegende entschuldbare Verwechslung kam diesem Re- formstreben der realistische Sinn zu statten, der wohlberechtigt und aus ganz anderem wirklich gesundem Grunde quellend — sich über- haupt im modernen Geiste regt und nach allen Seiten Bahn zu brechen sucht. Eine laxe seichte süssliche Moral gewann allmälig die Ober- — 5 hand, und durch alle Schichten sickerte nach und nach das beitzende Gift einer Weltanschauung, in welcher der im Kern und in der wirk- lichen Leistung noch gesunde unverwüstliche derbe Geist des Jahrhun- derts sich nunmehr ausnimmt — ungefähr, wie ein Held in Kravatte und Scehnürbrust, mit geschminkten Wangen und gekräuseltem Scheitel. Doch auch in dieser Gestalt und Verfassung brach schliesslich die Derbheit durch und ist's gekommen zu einer kräftigen hoffnungs- vollen That. Aus jenem psychologischen Aufklärungshimmel nemlich trat jetzt als ehrlicher Mephisto siegsgewiss die frisch herangereifte moderne naturforschende Empirie mit dem Donnerworte hervor, dass Geisteskultur und all jene menschlichen und göttlichen Herrlichkeiten sammt und sonders, die man so artig zu deduciren wusste, im Grunde nichts wären — ja wirklich überhaupt ganz und gar nichts wären als das Produkt einer glücklichen Konstellation unseres Nervenspiels, unserer Schädelbildung und Hirn- und Rückenmarksfasern, unserer Sinneswerkzeuge und Bewegungsorgane, unserer Blutmischung und Säfte- umsetzung,, unserer Magen- und Unterleibsstimmung, ete. — etc. Daran ist denn freilich jene Sorte Anthropologen und Philosophen bis in den Tod erschrocken. Allein es war zu spät: zu lang hatte man das gefährliche Spiel getrieben, aus der Natur den Geist zu de- dueiren und die Menschen gut und gescheidt werden zu lassen nach dem Motto: „Der Herr gibt's den Seinen im Schlaf.* Man hatte es eigentlich im Innersten vorausgesehen, dass das kommen würde. Ist von je überhaupt all derartigem Dogmatismus als Schatten des bösen Gewissens der Zweifel zur, Seite geschritten, so schlich sich speeiell in diesem Bereiche da und dort sich verrathend im Hintergrunde stets eine gewisse Unruhe und Besorgnis hindurch: das Spiel ward getrieben trotz der Warnungen, die man empfing. Wahrhaft bewundernswürdig aber in systematischem Drauflosarbeiten hat man Alles gethan, das Gewitter über sich heraufzubeschwören. Ja der derbe flegelhafte Junge, der da mit gleichen Füssen hereingesprungen und das Unheil anzurichten kam, war eben im eignen Hause gezeugt — grossgezogen — geschult worden, und kaum hätte man mit der Herrlichkeit seiner psychologischen Systeme so schnell die Waffen gestreckt und aus dem fetten Behagen des Dogmatismus heraus in der völligen Verzweiflung sein Ende gefunden, wenn nicht das eigene Gewissen geschlagen und verdammt, und man im Stillen tiefbeschämt nicht seiner üblen Vater- schaft sich erinnert hätte. Das Schicksal hat sie ereilt; es ist ihnen einfach Recht geschehen. II. Eine Gesammiverschuldung der Philosophie an der Empirie und der Kampf und Sieg der modernen Naturforschung. Doch wir müssen abermals fürchten, zu weit zu gehen, oder viel- mehr das volle Herz, was ja stets bereit ist, im Glauben an die Ge- rechtigkeit des Schicksals die Erfüllung seiner Ansprüche und Erwar- tungen sich vorwegzunchmen, hat uns den wirklichen Thatbestand übersehen und überspringen lassen. Nicht, dass etwa die Krise, wie wir sie überhaupt einmal von der nun gerade zunächstliegenden Seite her aus ihr selbst werden zu lassen und bloszulegen versuchten, gar nicht oder in wesentlich anderer Weise stattgefunden hätte; wer auch wollte sie in Abrede ziehen ? — fest steht jedenfalls der Umschwung selbst im Bewusstsein und Geständnis Aller, die unbefangen und ehrlich sind, und dann — über den Grund und Zusammenhang lässt sich zwar noch streiten; wir selbst sind keineswegs gemeint, der Quelle unserer gegenwärtigen Zustände erschöpfend bereits auf den innersten ersten Grund gegangen zu sein; doch aber gewiss ist, dass so, wie „wir’s gezeichnet, von allen möglichen Seiten her wenigstens vermittelnd und beschleunigend eingegriffen worden ist. Nein — was wir ver- fehlten: das Gewitter hat wo anders eingeschlagen — nicht in die öde Sumpfwildnis, in deren faulen Wasserlachen und Ausdünstungen es gebraut und ausgebrütet worden ist, sondern mitten in die Gärten und Gehöfte menschlichen Segens, wo man auf eine Heimsuchung kaum gefasst war. Wir erklären uns. Absichtlich haben wir es gemieden, irgendwie einzutreten auf die innere Entwicklung der modernen Philosophie in ihren oberen berufenen strengwissenschaftlichen Kreisen, wie sie Jedermann kennt und domi- nirt weiss von Kant Fichte Schelling und Hegel. Wir hielten es für der Mühe werth, unsere Hauptposition zunächst mehr zu nehmen nach Seite der allezeit grossen namenlosen Schaar jener Halben Misrathenen und Unheilvollbeflissenen, welche aufgegriffen und mitgeschleppt in dem nuneinmal unvermeidlichen und unentbehrlichen Tross als üble Dreingabe von jeher den Namen der Philosophie und ihre Rüstung und Waffen mehr führen in Folge Unbedachtsamkeit und schlaffer Diseiplin von oben als aus irgendwelchem Verdienste, die aber nichts- destoweniger — ja oft eben geradezu überwiegend und den Ausschlag gebend — schon darum Bedeutung haben, weil sie mit ihrem geschäf- tigen Treiben überall hin sich verbreitend und Alles umgarnend — Eee en dem Leben und der grossen Masse der Laien weitaus näher stehen — ja ganz mit letzterer verwachsen die elementaren Organe sind, durch welche das philosophische Gesammtbewusstsein eines Zeitalters jeweils sich in Kurs setzt und sich wiederum abnützt. Dass es bei diesem Geschäfte nicht abgeht ohne reichlichen Zusatz, ist natürlich und so bekannt und zugestanden als begreiflich. Wir möchten es aber hier noch besonders betonen und im Auge behalten wissen. Das unglück- selige Treiben dieses Schweifs ist jedenfalls eine Hauptbasis der gegen- wärtigen Zustände. Wie nun aber verhält sich’s mit diesen? Was wäre denn jetzt der wirkliche Thatbestand? — Bekanntlich brach die Krise, von der wir gesprochen, zu einer Zeit aus, da die moderne Philosophie als solche in ihrer vollsten üppigsten Blüte stand und sich der unbestrittensten Herrschaft er- freute. In der aufstrebenden Jugend — bei allen Gebildeten der Na- tion und selbst über die Grenzen dieser hinaus waltete ein nie dage- wesener Eifer und das regste Interesse an den Fragen der Philosophie, im Lager dieser selbst aber eine Lebendigkeit und ein Ueberfluss und Segen an verfügbaren Kräften — an Genie — Talent — Routine — Waffen und Munition, wie es kaum zuvor irgend ein anderes Zeitalter gehabt und aufzuweisen hatte. Nun war da offenbar seitens der Em- pirie ihr — der Philosophie ein Fehdehandschuh hingeworfen worden der schönsten Art. Nicht willkürlich haben wir von vornherein den Freiheitsbegriff rundweg für das Prineip der Philosophie erklärt und von seiner Geltung und Vertretung die Existenz und das Schicksal dieser abhängig gemacht. Indem wir uns verbitten, die Reihen und Glieder im Streitlager der modernen Philosophie für erschöpft und ab- gethan zu halten mit jenem Schweife, den wir nun kennen, geschieht es wesentlich, weil wir den berufenen Kreisen’ dieser “ein’"gleiches Bewusstsein über diesen Punkt zugestehen und vindieiren. So aber war denn: jene Negation des freien Geistes, welche von der: modernen Naturforschung in’s Lager geschleudert worden, eine wirkliche Heraus- forderung — sich addressirend an alle auch an die höchsten’ Kreise und aber eben ‚auch niehts als eine Herausforderung. Man hätte den- ken sollen , die moderne Philosophie würde diese Antastung ihres inner- sten Lebensnervs und Gehalts mit beiden Händen als willkommenen Anlass ergriffen haben, dem eintönigen Friedenszustande, der mit ihrer völligen Oberherrschaft eingetreten war, eine erfrischende Ab- wechslung zu bereiten, unter Abschüttlung jenes üblen Schweifs her- auszutreten zu einer glänzenden Waffenthat und vor dem allgemeinen Pr : ee öffentlichen Interesse, was ja an ihr hing, und dem ja jene kecke Negation ebenfalls geradezu als Anreiz und Stachel aufsitzen musste, wiederholt das Zeugnis ihrer inneren Vollendungsgrösse abzulegen und zu belegen, was sie sich ja so vielfach schon ausgestellt hatte und laut verkündend vor sich her trug. Hatte man seiner selbst sicher den Schweif gewähren lassend — der Krise nicht vorgebeugt, so war nun wenigstens zu erwarten, dass man in ihr dem Gegner, der nun einmal erwachsen war, die Spitze böte und sich der Verwieklung in jeder Hinsicht gewachsen zeigte; es galt ja die Lebensfrage. Und nun — was geschah ? Wir überlassen es Jedem, die Antwort sich selbst zu geben. Es sind eben nicht blos jene obigen beiden Richtungen gewesen, die wir so in einander haben überstürzen sehen, sondern unglaublich — in die- sem Ueberstürzen hat wirklich sie — die Philosophie selbst einen Fall gethan. Und nun — woher diese jähe Verstriekung des gesamm- ten philosophischen Lebens? — woher dies durchgängige völlige hart- abbrechende Sichabwenden des öffentlichen Interesses auch von aller und jeder Philosophie? — woher der allgemeine Abfall und Reissaus — das plötzliche Verstummen und Aussterben im philosophischen Lager selbst und zwar eben durch’s Ganze hindurch ? — woher dieser gewaltige lauffeuerartig Alles ergreifende Umschlag, der eine Zeit lang als das grosse öffentliche Geheimnis die Gemüther in Athem erhaltend — schliesslich in den vierziger Jahren allseitig musste eingestanden werden und nunmehr so ziemlich überall zum Worte gekommen ist? Also nicht das wildwuchernde Unkraut, was üppig aufgeschossen den Stamm der modernen Philosophie umrankt hielt, ward abgeschüt- telt und hinweggefegt, sondern scheint’s der Stamm selbst in seinem Marke zerspellt ist es gewesen, was der Gewittersturm als Opfer sich ausersehen und hinweggenommen hat. Die Krise — der innere Um- schwung stellt sich wenigstens jetzt noch von einer ganz anderen ernsteren Seite dar; wir haben es offenbar mit einer Katastrophe zu thun, die uns unter den Händen eine bedenkliche Wucht und Breite annimmt — völlig hinausgreifend über jenes Gebiet, von dem aus wir ihr überhaupt einmal beigekommen sind. Wir sagen aber hier rundweg Allen ab, die noch etwa gar meinen, dem Uebel sei gesteuert, wenn sie sich den Anschein zu erhalten suchen, als ignorirten sie das- selbe. Eine vornehm selbstgenügsame Haltung ziemt sich kaum, wo man so verlassen dasteht und vereinsamt. Die Sache lässt sich jeden- falls nicht verbergen. ee Es ist aber klar: jetzt dürften wir mit dem, was wir im ersten Abschnitte sagten, denn doch nahe daran gewesen sein, eine Ehre zu vergeben am falschen Ort. Die Schuld — oder vielleicht ebenso gut gesagt — das Verdienst der Krise und Kalamität, in der wir uns augenblicklich befinden, ganz und gar immer noch lediglich dem un- glückseligen Treiben des Schweifs zuzuschreiben, — das geht nun kaum mehr an. Es ist am Tag: die Quelle unserer gegenwärtigen Zustände sitzt wirklich etwas tiefer, und man wird sich jetzt nur zu hüten haben, sie gar zu tief zu suchen. Man könnte nemlich nun- ınehr sagen wollen, an dieser ganzen Krise hafte wenigstens wesent- lich mit der Gesammtgeist des Jahrhunderts und des allgemeinen öffentlichen Lebens. Ganz richtig; allein da abladen wollen, wäre denn doch wahrlich so frivol als müssig, denn der Zeitgeist — der allgemeine Geist — das sind doch wohl wir selbst, die in ihm leben und ihn bilden. Nein, so sauer’s uns ankommen mag, und so ent- schieden wir nach wie vor inner der Kreise der modernen Philosophie unterscheiden, wir haben Anlass, eben bei der modernen Philosophie als solcher stehen zu bleiben, hier aber nun eben eine Gesammtver- schuldung zu vermuthen, uns an den Stamm zu halten und ernstlich doch auch wieder die innersten berufensten und höchsten Kreise in Anspruch zu nehmen. Es geht einmal nicht anders. Es wäre jetzt aber so thöricht als ungerecht, wollte das Ganze etwa der Hegel’schen Philosophie aufgehalst werden. Zwar, dass die Uebersättigung — das allgemeine Sichüberlebthaben- und unter dem Stosse des Gegners der rasche völlige Nachlass gerade mitten im Flor dieser Schule ausbrach, dürfte immerhin nicht zu übersehen sein und seine gute Vernunft und Bedeutung haben. Indess — einmal, wie will Hegel überhaupt abgetrennt und isolirt werden und nun vollends ‚gerade da, wo es sich offenbar handelt um eine in’s Mark selbst so tief einschneidende Wandlung? — sodann besteht ja zwischen jener üblen fatälen Sorte und Richtung, die wir im ersten Abschnitte zeich- neten, und andererseits diesem Systeme keinerlei unmittelbarer und durehgängiger Wesenszusammenhang, wie wir sie denn auch geschicht- lich viel weiter zurückreichen und sich ausbreiten sehen, und doch werden wir nun‘ gerade sie eben der modernen Philosophie als solcher wirklich in gewisser Hinsicht immerhin auch wieder zu überbürden haben. Bei aller Unterscheidung, wie wir sie hinsichtlich des Be- wusstseins um’s Prineip aufrecht erhalten, wird nemlich nunmehr an- erkannt werden müssen, jener Schweif habe — wonicht das, was in 2 A den oberen Kreisen ausgeheckt worden, gerade nur zu gangbarer Münze ausgeprägt und in Umlauf gesetzt — so doch wenigstens der ganzen Entwicklung Schritt gehalten als Verräther einer inneren Schwäche und entschiedener Missgriffe von oben her. Man dürfte sich eben nicht ganz in der Lage und Verfassung befunden haben, diesen Schweif abzuschütteln und seinem Treiben den Riegel zu stossen. Man hatte selbst — wenn auch im Allgemeinen das Prineip erfasst und gewahrt — so doch in seiner Formulirung und Durchführung immerhin am Freiheitsbegriff und an den sich im Freiheitsbegriffe beschliessenden Aufgaben der Philosophie sich vergriffen und verfehlt, und so geschah es denn und konnte es allein geschehen, dass man in die Krise ver- wickelt und hinabgezogen wurde und, eh’ man sich’s versehen, selbst aus dem Sattel geworfen war. In jenem trotzig herausfordernden Auf- begehren der Empirie — jerer tumultuarischen wegwerfenden Bean- spruchung des Freiheitsbegrifis seitens der Naturforschung rächten sich Verirrungen und Versündigungen, die man ‚sich sicherlich in allen Kreisen im Operiren mit diesem Begriffe hatte zu Schulden kommen lassen; so allein — aber dann auch unmittelbar erklärt sich’s, dass die gesammte Philosophie von der Krise sich ergriffen und in Schwebe gesetzt fand. Wirklich — der Stamm selbst, der geknickt scheint, der wenig- stens gebrochene Kronen und abgestorbene Hauptäste zeigt, kann un- möglich ganz gesund gewesen sein. Zwar sich haltend an das von uns gebrauchte Bild und fussend auf der Unterscheidung, wie wir sie selbst aufrecht erhalten, könnte man sich jetzt versucht fühlen, hartnäckig wirklich die Schuld ganz nur auf das unselige Treiben des Schweifs abzuwälzen und dieses selbst wiederum lediglich abzuleiten von einer nur allzugrossen Sicherheit und von schlaffer Diseiplin inner des philosophischen Lagers, nicht aber aus einer Unsicherheit und aus wirklichen Fehlgriffen der Führer selbst hinsichtlich ‘ihres Berufs und der Mittel und Wege der Philosophie: ‚überhaupt. Auch der gesun- deste stärkste Stamm, könnte man sagen wollen, wird ja schliesslich vom schlingenden Unkraut ausgesogen und erstickt und mürb' gemacht, dass er alsdann beim Anpralle des Sturmes in sich: zusammenbricht. Ja in diesem ‚abwehrenden Zugeständnisse mehr nur äusserlicher Ver- schuldung könnte man nun, um sich aus der Schlinge zu ziehen und nur in der Hauptsache nichts zu vergeben und auf sich kommen zu lassen, gleich noch. viel weiter gehen wollen; Einen ‘gewissen Um- stand nemlich, ist man ja nun zum Glück fast‘ allgemein soweit, 3 BE offen einzugestehen; wir selbst sprechen ihm gerne ein Gewicht zu und zwar ein Gewicht, was dann wahrhaftig eben sehr schwer in die Waagschaale fällt. Bekanntlich ward zum Erstenmal wieder so recht entschieden und grundsätzlich und nunmehr kritisch begründet und gesichert von Kant der idealistische Standpunkt eingenommen, auf welchen die Philosophie innerlichst gewiesen ist durch ihr Motiv und Prineip. Nun könnte man gewillt sein und glauben, ein mehr nur äusserlich Formales zu- zugeben. Wirklich — es lässt sich in gewisser Hinsicht so ansehen und hat ’was Bestechendes. Statt einfach, könnte man nemlich sagen, diesem idealistischen Standpunkte seine praktischrealistische Folge zu geben, — statt nun auch wirklich den Schwerpunkt gesetzt und gelten zu lassen da, wo er ja so ganz richtig und bereits entschieden hin- verlegt und fixirt war, — nemlich eben im freien Menschengeiste, der wir selbst sind, und der uns — wie unsere subjectiven Aufgaben Interessen Normen und Thätigkeiten — so in Wahrheit in unserem Gesammtbewusstsein auch das Organ und: das Element und Material dazu — unsere objeetiven Grundlagen sammt und sonders vermittelt und garantirt, — und statt sich also nunmehr mit gesammelter ge- spannter Kraft hinauszuwenden und zu werfen auf die andere Seite — nach der andern Richtung hin, wonach es galt, aus dem Prineip in Analyse desselben und immanenter Fortbestimmung des darin Ge- wonnenen nun eben diese objectiven Grundlagen und ebenso jene prak- tische Berufs- und Lebenswelt des Subjeets wirklich zu eruiren und hervorzustellen, und zwar darin in Erschöpfung aller inneren Voraus- setzungen und Konsequenzen unablässig vorzudringen bis dahin, wo alsdann das Terrain der Empirie zu Tag tritt, — wo dann auch wirk- lich Jedem vollständig erkennbar und: packend — nur jetzt: eben er- klärt und ‚aus seinem’ Freiheitsbewusstsein neugeboren — die wohl- bekannte bestimmte konkrete’ Wirklichkeit der Dinge und seines ge- sammten 'eigenmenschlichen Wissens Wollens Thuns‘ und Geniessens wieder hervorspringt, so dass den jetzt Alle zur Anerkennung des Prin- eips sieh berufen, legitimirt — ja gezwuigen gesehen hätten, — kurz statt nunmehr zur Sicherung und Bewahrheitung des nuneinmal richtig gewonnenen idealistischen Prineips in Benützung der Konsequenz des gesunden Idealismus nun auch ein Herz zu sich zu fassen und mitten hineingreifend mit ganzer Seele und vollen schöpferischen Zuges Realist zu sein, ganz und unverwandt der’ konkreten Wirklichkeit und dem praktischen Leben zuzusteuern und Zuzuarbeiten und auf dem soliden Grund und Boden, worin ja das satte Bild der realen Welt wirklich in ihrer Ganzheit enthalten und entworfen lag, nun auch einmal den versprochenen und erwarteten Hochbau zu erstellen, darin Jedermann sein Unterkommen fände und sich auskennete und heimisch fühlte, — statt dessen beliebte man sich umgekehrt zu verbeissen in’s Prineip, — blieb auf dem Prineipe sitzen — gefiel sich behaglich auf ihm herumzureiten — nörkelte und machte ewig nur in neuer Formulirung desselben — ja sich damit rückwärts bugsirend — nach hinten und oben zu in’s Nichts hineinarbeitend — da seine Welt aufschlagend und hinaufbauend — ritt und schwindelte man sich mit dem Prineip hinein in jenes Unding einer absoluten Substanz, in der, um einen treffenden Ausdruck eines Mitschuldigen zu gebrauchen, alle Kühe schwarz aussehen, und die nunmehr gegentheils das absolute Subjeet — den freien Menschengeist — ihm über den Kopf weggehend und als bedräuender Abgrund über es hineinragend — geradezu erdrückt — in sich zurücknimmt — auffrisst und das menschliche Ich in eine bodenlose dunkle Tiefe hinunterschlingt, statt ihm -— emporhebend — jenen seinen Schwerpunkt seine centrale Stellung zu sichern und ihm seine konkrete reale praktische Lebenswelt zu erklären zu vollen- den und zu garantiren; — kurz man schwelgte in der Transcendenz und ruhte nicht, bis denn auch am Ende wirklich das Prineip selbst glücklich gründlich verunstaltet und völlig unkenntlich geworden war, und schliesslich im Grunde Niemand mehr so recht zu sagen wusste und wissen konnte, warum es sich denn eigentlich in der Philosophie handle. Zwar man hat auch in dieser Beziehung Wendungen erlebt; allein sie erfolgten nicht auf dem Grund einer ernstlichen Gewissens- umkehr aus diesem Sichhinaufschwindeln, sondern selbst wieder nur in einer neuen Art Verblendung. Man war zu guter Letzt auch noch übermüthig geworden, und das Uebel wurde jetzt schliesslich nur noch recht ausgereift und gerade nur vor aller Welt deklarirt. Es machte einen gewaltigen aber höchst zweideutigen und bedenklichen Effekt, als auf die üble gravitätische Vornehmheit hin, mit der man sich in Schelling in das feierliche Dunkel und in den Ur- und Ungrund des Tiefsinns zurüekgezogen hatte, die Philosophie aus diesem Jenseits mit aufgeblasenen Segeln in Hegel und seiner Schule wieder hervor- brach und nun über Alles hinweg- und in Alles hinein -voltigirend —- sich mit dem ganzen Reichthume des konkreten Weltbewusstseins in der Systemsfabrikation auf die Geistreichheit und auf’s dialektische Kunststück verlegte. Es geschah so zu sagen providentiell, um den m er unvermeidlichen Bankbruch vollends eklatant zu machen. Jetzt — hier, wo Jedem so zu sagen die Tasche geleert und am Ohr gezupft und die Augen aufgerissen und unmittelbar Alle auf die Philosophie instradirt instruirt und interessirt wurden, — jetzt erst wurde so all- mälig klar, wohin man mit der Philosophie gerathen möchte; unter dem trunkenen Taumel des Uebermuths beschlich nachgerade alle Ge- müther mehr und mehr eine gewisse Unruhe und Angst; mit der fieberhaften Erregung steigerten sich die Momente der Abspannung; die Besonneneren kreuzigten sich nach und nach hervorrückend ab in Temperirungs- und Akkomodationsversuchen und allerhand Variirungen und Rekonstruirungen des Systems; die Meisten verfielen aber darüber dem Ueberdruss — der Blasirtheit — oder gar verzweifelt selbst jener Sphäre der Ordentlichkeit und Gewöhnlichkeit, wo eben nach wie vor unbeirrt vom Treiben der oberen Götter in den alten breitgetretenen Geleisen der zahlreiche Schlag der Banausen — der Tross und Schweif der modernen Philosophie — mit dem Ballaste des angestammten überallher aufgestappelten gemeinen Hausraths wiederkäuend einherwan- delte und sein Wesen trieb. Bald aber pflegte man sich allgemein zu besinnen und fühlt nun lebhaft das Unrecht, was die deutsche Phi- losophie beging, indem sie mit wenig Ausnahme das allgemeine ge- spannte Interesse, was ihr die Nation zuwandte, gleichsam stets nur als Staffel benützte, ihrerseits sich immer höher in den Himmel der Abstraktion hineinzuschwingen und immer mehr in jener Selbstgenüg- samkeit Erhabenheit und Unergründlichkeit der Spekulation und wie- der in jenem Uebermuthe taschenspielerischer Systemsfabrikation sich festzusetzen, deren wolkentreterisches orakelhaftes und effekthaschendes Gebaren zwar das starrende Staunen der offenen Mäuler und Nasen kann unterhalten, aber schliesslich nur um in der gaffenden Zuschauer- menge das peinliche Gefühl des leeren Kopfs und Magens zu erwecken und zu steigern. Und das zu einer Zeit, welche so glänzende Beweise von Empfänglichkeit abgelegt hatte, eines ernst und besonnen beleuch- tenden und anregenden Eingehens auf ihren thatsächlichen Gesammt- bewusstseinsgehalt — auf ihre nächsten Ideenkreise und auf ihre un- mittelbar praktischen Motive so werth als bedürftig war, und nicht nur ihre positiven konkreten Lebensanschauungen Lebensaufgaben Le- 'bensgrundsätze und Lebensinteressen gleichsam von vornherein schon zugestutzt zu prineipieller Erörterung — sondern entsprechend als Folie dafür auch ein hinlänglich aufgewecktes Freiheitsbewusstsein entgegen- brachte, auf dass nun eben die Berufenen mit der Energie der wissen- Fi schaftlichen Erforschung und Verhandlung sich ihrer annähmen und bemächtigten und so dem Leben in seiner allgemeinen Fortschritts- bewegung mit der Fackel des Geistes voranleuchteten. Wie tief wohl im Herzen thut nicht das vereinzelte Beispiel Fichtes im Befreiungs- kriege. Es ging aber eben verloren an diesen Grössen. Man hatte zu noblen Geschmack für derlei. Und nun wirklich — als Ausfluss oder vielmehr als Warnung und Strafe für einen üblen Geschmack — für unzeitgemässe Passionen — für verfehlte Stellung und Haltung gegenüber dem Leben und der Mitwelt, könnte man gewillt sein, die schliesslich hereingebrochene Krise und den nunmehrigen Stand der Dinge zu erklären. Was Wun- der, könnte man sagen, dass jener unglückselig geschäftige Schweif, wo von je die Philosophie betrieben wird mehr wie eine Profession, die sich vererbt, nach grossväterlicher Weise, nicht nur ungestört und seiner Ausbreitung und seines Terrains im Publikum vollkommen sicher — der Entwicklung in den oberen Kreisen Schritt und die Stange halten konnte, sondern geradezu sich befestigte und vermehrte und an Bedeutung gewann — ja gar schliesslich in den besondern Geruch der allein soliden und brauchbaren Sorte und Richtung kam und nun eben immerhin das philosophische Gesammtbewusstsein im grossen Ganzen entscheidend und dominirend und repräsentirend — in jener Weise, wie wir’s im ersten Abschnitte gezeichnet, den Gewittersturm über die Philosophie überhaupt heraufbeschworen hat? Was Wunder endlich, könnte man weiter sagen, dass darauf die Geister, welche mehr gaffend als aufnehmend der Entwicklung der modernen Philo- sophie in den oberen Sphären gefolgt waren, — lediglich verwirrt und schliesslich überdrüssig des spannenden Schauspiels — rasch sich ab- wandten und nun eben auch der Philosophie überhaupt den Rücken kehrten, als einmal die junge naturforschende Empirie in gezeichneter Weise anknüpfend und verständnisvoll dem realistischen Drange des Lebens und: des Jahrhünderts sieh unterziehend — hervortrat mit einer runden gründlichen Absage und jetzt wenigstens von diesem Bereiche aus 'auch wieder einmal eine derbe"gesunde Hausmannskost nach der- bem' gesundem Bedürfnis dargereicht wurde? —: Oder gäbe es wirk- lich ‘noch 'Solehe,. welche’ auch in ‘jener Richtung nichts wissen wollen von Verirrungen und Versündigungen seitens der Heroen der modernen Philosophie ?''—-ı Meint man etwa, es wäre etwas zu gering für.die Philosophie? — es wäre ihr mit jener Zumuthung einer Durchführung des idealistischen Prineips im Sinne eines voll dem Leben zugekehrten u, A und unaufhaltsam das Leben in seiner Ganzheit und seiner satten Wirklichkeit erfassenden Realismus Ungebührliches oder wenigstens Unmögliches zugemuthet? — Will man etwa die Philosophie entbin- den von der Aufgabe, das Leben in all seinen Sphären und Schichten — die ganze volle reale Welt in ihrer thatsächlichen konkreten Fülle und Bewegung zu begreifen und so nun — wenigstens in den Spitzen und Enden — ihrer Schwester, der Empirie, die Hände zu reichen? — Ist man auch hier immer noch des fatalen Geschmacks, der zurück- bebt, wenn statt der Grau in Grau radirten hochstylisirten schemen- haft: vorüberschwebenden Allgemein-Begriffsreihen, denen die kranke Blässe des Studirzimmers und der fressende Bücherstaub anhaftet, ein- mal frisch aus dem Leben und seiner Beobachtung heraus koneipirt eine andere Gesellschaft aufwandert, welche die Farben des Lebens trägt und getränkt in diesem Borne den Geist des Lebens fasst und haucht? — Was soll uns der Begriff, wenn er nieht aus dem Leben ‘quellend und ganz. aus der Beobachtung resultirend — lediglich das Bild — das volle Bild des Lebens fixirend und auffangend wieder- spiegelt und dem Leben nun auch wiederum zuarbeitet? — Und wit- tert man endlich gar bereits Gefahr für die strenge Wissenschaftlich- keit, wenn man der Philosophie den Beruf auferlegt, ein Herz — einen Zug zu haben zu der Zeit und Umgebung, aus der sie ihre Anregun- gen empfängt, und voraus einem allgemeinen wirklichen Verständnisse seitens der Gebildeten der Nation zugänglich zu sein ? — > Indess wir dürften uns hier ereifern am falschen Orte; wir sind jetzt nemlich doch keineswegs gemeint, uns abfinden zu lassen mit einer ‚solchen Erklärung der gegenwärtigen Krise und Kalamitäten, welehe diese beim Lichte besehen herabsetzt und verkehrt zu einer Sottise auf den vernünftigen doch überall die innere Gerechtigkeit des Schicksals zur Geltung bringenden Geist der Geschichte. Uns mag jetzt nachträglich allerdings Manches so erscheinen, wie wir es in die- ser Erklärung haben zum Worte kommen lassen; allein das Meiste davon kommt lediglich auf Rechnung des Abstands, in den wir durch den allgemeinen Fortschritt unsererseits jener Periode der Philosophie gegenüber gerückt worden sind, und sagt mehr aus über den Geist, der uns dermalen in Sachen der Philosophie beherrscht, als dass es irgendwie eine auch nur halbwegs gerechte und getreue Charakteristik wäre des Geistes jener Philosophen. Die Rollen dürften jetzt aber vollständig wechseln. ' Wir glauben nemlich, dass Diejenigen, welche in der gezeichneten Art erklären wollten, den grossen Philosophen der Mn Nation weit mehr überbürden — ja wirklich zu nahe treten gegenüber dem, wie doch die Dinge thatsächlich lagen und wir sie beanspruchen müssen und wollen. Einmal — gesetzt auch, jener subjective abstrakte in der Transcendenz schwelgende Idealismus, wie er als Speecifisches in der Entwicklung der Philosophie von Kant bis herunter auf Hegel allerdings anzuerkennen sein möchte, dürfte wirklich als blose Ge- schmacksache behandelt werden, so müsste dann jedenfalls sogleich auch das Weitere zugegeben werden, dass dieses üble bedauerliche Gebaren nicht ohne positive Anknüpfungspunkte war und ohne direktes volles Entgegenkommen seitens des damaligen deutschen Geschmacks überhaupt. Sodann aber besinnen wir uns ernstlich über die betref- fende Periode der Philosophie und auf das, was wir alle aus den Wer- ken jener Männer und von ihrem Leben Streben und Wirken wissen, so nimmt sich nun eben all das, was in genannter Weise als blose üble Geschmacksrichtung und Form möchte angesehen und ausgegeben werden, unmittelbar und durchein an ihm selbst zurück in die innere \ wesentliche strengsachliche konsequente Entwicklung des Prineips und der Philosophie selbst, die ihrerseits wiederum in keinerlei Weise nur so im subjecetiven Belieben dieser Männer etwa stand, sondern mit der sich dieselben denn doch auch wieder nur gebeugt haben in den Dienst einer immanenten am allgemeinen Geiste des Lebens und Jahr- hunderts sich garantirenden Nothwendigkeit. Es war dies eben so recht eigentlich die Geschichte — der innere Bildungs- und Fortentwick- lungsgang des Prineips selbst — diesem diktirt geradezu schon in Kant selbst und wiederum unmittelbar zusammenhängend und rapportirend und spiegelnd zugleich mit der Entwicklung des allgemeinen Freiheits- bewusstseins im Ganzen der Gesellschaft und des öffentlichen Lebens. Wir wissen, damit sprechen wir unsererseits keine Absolution über jene fatale Richtung und Bewegung der modernen Philosophie, wie wir sie angedeutet haben. Was wir sagen, ist nur dies: dieselbe ist keinerlei Weise ein lediglich aus dem subjeetiven Geschmack und Be- lieben fliessendes Aeusserlichformelles, sondern im Centrum verlaufend eben der Gang der Sache selbst gewesen, und wir beanspruchen dess- halb nun das Recht, eben wirklich von positiven Verirrungen Miss- griffen und Versündigungen zu reden, welche durch alle Kreise hin- durch der deutsche Idealismus An seinem Prineip — am Freiheits- begriff und an den sich in ihm beschliessenden Aufgaben der Philoso- phie hatte zu Schulden kommen lassen. Wiederum fällt aber nun- mehr zum grossen Theil dahin die Unterscheidung, wie wir sie anfangs u selbst nahe gelegt haben. Der zahlreiche geschäftige einflussreiche Schweif nemlich mit seinem unheilvollen Treiben verwandelt sich nun- mehr doch wirklich, wie wir schon oben vermuthen mussten, in einen Anhang — in eine Leibgarde. Nicht grundlos und ohne Absicht haben wir schon im ersten Abschnitt in der Erwähnung und Heran- ziehung der „Lehre vom subjectiven Geist“ hinaufgegriffen in die Ent- wicklung in den oberen Regionen. Wir konnten aber, obwohl gerade bei Hegel am meisten dürfte aufgewiesen werden können, wie sehr sich die gezeichnete fatale Sorte und Richtung von oben herunter — aus den innersten berufensten Kreisen heraus speiste und rekrutirte, wir konnten ebensogut auch Schelling in Anspruch nehmen, ja schon Fichte und endlich Kant selbst. Die Unfähigkeit, den Freiheitsbegriff — den Begriff des freien Geistes rein und vollständig zu denken, sprach sich bei Kant aus in der doch wieder unstreitbar obwaltenden Dürftigkeit und Unsicherheit, was überhaupt die Herausarbeitung und Präcisirung des Prineips anlangt, sodann aber direkt als Beeinträch- tigung des Prineips und im Besondern der Universalität des philoso- phischen Wissens in der abstrakten Trennung und Entgegensetzung der theoretischen und der praktischen Vernunft und der fatalen zwei- deutigen Einschränkung der ersteren auf Sinnlichkeit und Verstand, womit dieselbe ganz redressirt und fixirt auf die natürlichpsychischen Funktionen, auf unser subjectives unmittelbarnatürliches Bewusstsein und Selbstbewusstsein, das Subject nothwenrdig eben ganz in Schwebe hält am „Ding an sich“ und so von vornherein eine Schranke gesetzt war auch für die praktische Vernunft, über die hinwegzukommen fortan unmöglich, und über die man denn auch richtig gestolpert und zu Falle gekommen und dem Prineip untreu geworden ist, wie namentlich in der „Lehre vom höchsten Gut“ unverkennbar zu Tag liegt. Die völlige Verunstaltung des Prineips, die damit gesetzt war, beginnt dann mit Fichte. Nach der schreienden Unwahrheit, mit der dieser von seinem ersten Grundsatz abspringt oder vielmehr einfach zurückfällt zum zweiten, statt vielmehr den in jenem so richtig ausgesprochenen Akt in seiner Absolutheit festzuhalten und zu analysiren, — damit wurde man jetzt überhaupt vom Ich abgesprengt, über es zurück- hinaus- und hinauf-getrieben in die Abstraetion — in das Unding der absoluten Substanz, um dann darin schliesslich das Prineip zu todt zu hetzen und zu Grabe zu tragen. Kurz — wäre hier der Ort, einzutreten, so wäre es ein Leichtes, für all dasjenige, was wir im ersten Abschnitte zur Basis der gegenwärtigen Krise und Kalamitäten ———. . Ü. genommen haben, die Gründe Rückhalte Anknüpfungspunkte Bezie- hungen Analogieen und Belege aufzuzeigen und zu verfolgen in der ganzen Entwicklung der Philosophie von Kant bis herunter auf Hegel. Das Uebel reicht hinein und quillt in der Fassung Formulirung Posi- tion und Behandlung des Prineips, und stetig zunehmend verbreitet es sich jeweils durch’s ganze System. Endlich findet aber jene obige äusserliche Erklärungsweise ihre Widerlegung noch an besondern Um- ständen. Wir finden ja doch immerhin in dieser ganzen jüngsten Pe- riode einen frischen vollen unmittelbar an der allgemeinen Bewegung des Lebens selbst und am Gesammtbewusstsein der Zeit sich haltenden und beflügelnden Schwung des Geistes, — eine ungewöhnlich stranme und weit- und tiefeingreifende Herrschaft der Philosophie über die eigenen Streitkräfte wie über die Masse der Laien und über die all- gemeine öffentliche Stimmung und Meinung, — ein vorherrschendes starkausgeprägtes Streben nach Einheit Universalität und Geschlossen- heit in System und Schufe und nach Durchbildung und Durchführung des Prineips am gesammten Stoffe, — ja gerade in diesen Beziehun- gen nur zu oft gegentheils ein Zuweitgehen — eine Selbstüberhebung, und endlich wissen wir alle genug und widerstrebt es schon von vorn- herein unserm Gewissen, den Grad des Verständnisses zu unterschätzen, mit welchem sich die so massenhaft in all ihren Sphären und Schichten ergriffene Gesellschaft an der Entwicklung der Philosophie mitlebend und mitbestimmend betheiligte. So aber präsentirt sich uns denn nunmehr wirklich jene Krise — jener Umschlag und die ganze Komplexion der gegenwärtigen Zustände und Kämpfe inner der Wissenschaft als eine innere Schicksalsver- flechtung von den bedeutendsten Dimensionen; wir haben Grund zu vermuthen, die moderne Naturforschung, welche an der Spitze der Umwälzung steht, habe hinter sich die ganze Empirie — die empiri- sche Wissenschaft überhaupt, und vornweg müssen wir jetzt ganz die gröbliche beleidigende Unterschätzung von uns weisen, als habe der Gegner, welcher da der Philosophie erwachsen ist, seine Provokation und Motive — seine Macht und Rechtstitel nicht ganz nur empfangen aus dem innersten Gesammtbewusstsein des Jahrhunderts und wieder in vollkommen richtigem Verständnis gerade aus dem innersten Geiste der modernen Philosophie selbst — aus dem Centrum ihrer Entwick- lung und Herrschaft und aus den innersten berufensten höchsten Krei- sen ihrer Repräsentation. Nun aber, indem wir jetzt offenbar der modernen Naturforschung, de die mit jener herausfordernden Leugnung des freien Geistes — mit jener Streichung des Freiheitsbegriffs ganz richtig auf den eigentlichen Lebensnerv der Philosophie zückend in die Arena gesprungen kam, eine wirkliche ernste hohe Bedeutung zugestehen — ein geschichtliches und ein wissenschaftliches Recht und! Gewicht — ja in beiderlei Hin- sicht wirkliche positive zum Theil schon vorliegende Verdienste, sind wir doch entfernt nicht gesonnen, auf die Geltung und Zukunft der modernen Philosophie darum schon zu verzichten, etwa auch mitein- zustimmen in das wohlfeile leichtfertige Gerede von einem wirklichen Verfall, oder gar, wie dies seitens eines zahlreichen Schlags fahnen- flüchtiger ehmaliger Jünger und Anhänger und Nachbeter geschehen ist, die Philosophie selbst überhaupt preiszugeben und aus der Welt und Geschichte der Wissenschaft zu streichen. Wenn wir uns als Ge- wissenspflicht auferlegen, dem Gegner aus dem Lager der Empirie unumwunden unsererseits die geziemende Achtung und Anerkennung zu zollen, — ja mit voller Ueberzeugung uns anschicken, ihm die Hand darzureichen zu einem aufrichtigen herzhaften Dank, geschieht es doch wesentlich gerade nur im Namen und Interesse der Philosophie selbst — ja eben des deutschen Idealismus, der unterlegen ist, und ganz unmittelbar in der Hoffnung — in der Zuversicht und mit dem Vorbehalt einer unablässigen Wiederaufnahme und einer entschlossenen nachdrücklichen — nur eben gerechten und glücklichen Führung des Kampfs zwischen Empirie und Philosophie. In Wahrheit auch, halten wir Umschau, so sind wir dazu hin auch gar nicht verlegen, wo uns anschliessen, um mitzustreiten. Wir erkennen in der Gegenwart noch Trümmer und wieder frische Kräfte und Elemente der Philosophie in gehöriger Anzahl und Stärke, und wär es auch grösstentheils eben gerade im Feindeslager drüben. Wirklich — für uns trägt gerade der Gegner — der ganze Boden, auf dem er steht und operirt, — die Prineipien, von denen er ausgeht, — die Motive und Zwecke, worüber er hält, — ja selbst die Waffen, die er schwingt, zu deut- lich an sich den Ursprung aus der modernen Philosophie selbst — den philosophischen Heimatschein und Stempel oder dann wenigstens die Signatur eines durchgängigen inneren Zusammenhangs und Rapports mit ihr — der Philosophie. Mit allem Diesem fühlen wir uns wirk- lich so recht ganz im Elemente — in der innersten Lebenswelt — in der Weiterentwicklung und Selbsterneuung der modernen Philo- sophie. Diese greift uns über die ganze Krise über, trägt sie in sich als eine Phase innerhalb ihrer selbst, balaneirt und bugsirt sie als Wissenschaftliche Monatsschrift. IV. 4 Fe vu eine Krise ihres eigenen Lebens und Schaffens, und so tritt denn wirk- lich zur Gewissenspflicht und zum Vorbehalt auch ein froher ziels- gewisser Muth und Entschluss. Nun aber, versteht sich eben, sind wir nicht gemeint, jede Verbindlichkeit zu übernehmen, die uns aus dem Anschluss an die Partei Derjenigen könnte gefolgert und aufge- muthet werden, welche aus dem Schiffbruch herübergerettet und wie- derum neu aufgetaucht und hinzugetreten sich dermalen präsentiren als die Streiter. und Vertreter der Philosophie; gegentheils werden wir eifrigst auf die Abschüttlung und Ausrottung einer gewissen Rich- tung und Sorte Philosophen halten, welche dermalen so ziemlich flores- eirt und unser eigen Wohlbehagen theilt. Hinwiederum versteht sich von selbst, dass wir uns in der Passion für den Gegner aus dem Lager der Empirie nicht wollen verfangen geben. Wir sind keineswegs gesonnen, nur so ohneweiteres insgesammt auch gar Alles mit in den Kauf und in die Affektion zu nehmen, was da drüben im Feindeslager gespielt wird und sich umtreibt und herüberertönt. Auch dort stossen wir ja auf Dinge, die uns wiederstreben, und vornweg mindestens auch auf einen Tross und Schweif, in welchem allerhand Unsauberes und Fatales mitläuft, und wir werden Sorge haben, uns nicht blindlings zu vergeben. Hienach kann nun aber kein Zweifel obwalten über unsere nächste Aufgabe. Nachdem wir im ersten Abschnitte versucht haben, den Stand der Sache im Allgemeinen — die obwaltende Krise überhaupt einmal und wie gesagt eben von der gerade zunächstliegenden Seite her aus ihr selbst werden zu lassen, müssen wir nunmehr versuchen, das Auftreten der modernen Naturforschung, indem wir ihm noch eine bestimmtere Anknüpfung geben an der Entwicklung der Philosophie, in seinem wahren Ernst erscheinen zu lassen und sodann wenigstens in flüchtiger Skizze den gegenwärtigen Zuständen und Parteistellungen, wie sie durch die Krise herbeigeführt worden sind und unterhalten werden, eine etwas eingänglichere bestimmtere Konfrontation und Cha- rakteristik widerfahren zu lassen. Es ist aber klar: wir müssen jetzt überhaupt — insbesondere aber eben für diese genauere Musterung — die Kreise etwas weiter ziehen und uns sofort hüten, einmal die Grösse der Arena des Kampfs und dessen Schwere zu unterschätzen, sodann namentlich die gewaltigen inneren Unterschiede Spaltungen und Gegen- sätze zu übersehen, welche inner der streitenden Parteien selbst wie-. derum obwalten und dem ganzen Kampf eben diejenige Verwicklung geben, welche seine Eigenthümlichkeit ausmacht, und welche im Wei- en MB teren denn auch Jedem unmittelbar seine Aufgaben und seinen Opera- tionsplan bestimmt für den Fall eigener aktiver Betheiligung. Dies veranlasst uns zu einer Zwischenbemerkung. Man könnte es schon anmaasslich gefunden haben, dass wir ohne doch irgendwie auf die innere Entwicklung der modernen Philosophie in ihren oberen berufenen strengwissenschaftlichen Kreisen einzutreten, nichtsdestoweni- ger eben nach dieser Seite hin ohneweiters von wirklicher Verschul- dung sprechen an der gegenwärtigen Lage. Vollends aber wird man es als ein unbefugtes Richtenwollen verdammen, wenn nun gar ohne solch positive streng philosophische Leistungen im Hintergrunde zu haben, die Jedermann bereits vorliegen, und auf die kann verwiesen werden, — die ebenbezeichnete Aufgabe will an Hand genommen werden. Indess wir leben in einer Zeit, wo die Philosophie keiner Schule angehört, ein vollständig freies Verhältnis zu den Aufgaben und In- teressen der Philosophie eingetreten ist, und in jeder Beziehung das Bedürfnis die Forderung und die Geltung eines Systems — hoffentlich nur pausirend — zurückgetreten ist. Da hat Jeder freies Wort und freie Bahn, und Keiner das Recht, es zu verwehren, wenn wir das Bewusstsein bekennen wollen, was sich uns gebildet hat über Dasjenige, was dermalen vor Aller Augen vorgeht. Hiezu kommt eine wirkliche Verbindlichkeit. Es wird doch wohl Keiner im Ernste den Umschwung in Abrede ziehen und wiederum Keiner der gegenwärtigen Krise inner der Wissenschaft, die wesentlich zugleich eine Krise des Lebens selbst — des gesammten Lebens sein dürfte, ihre Bedeutung und Folgen- schwere wollen absprechen? Nun aber dann hat auch Keiner das Recht, sich abzuziehen oder gar von vornherein that- und theilnahm- los in der Rolle des blosen Zuschauers zu verharren. Vielmehr Jeder wird berufen sein und schon ob der Unmöglichkeit, auf die Zukunft zu verzichten, von selbst sich verpflichtet und gemahnt fühlen zu Parteinahme und werkthätig eingreifender Betheiligung unter Einsetzung seiner ganzen Energie. Ich frage aber: Wer könnte und dürfte Hand anlegen in Erfüllung dieses Berufs, Wer endlich — die Gewinnung einer Position und die praktische Anknüpfung seiner Operationen auch vorausgesetzt — die Hoffnung hegen, dass er — wo nicht einen Erfolg — so doch wenigstens für sich das Bewusstsein herausschlage, nach Kräften seinem Berufe obgelegen zu sein, — Wer, wenn er nicht vor allem aus nach denjenigen Mitteln und Erfahrungen, die nun einmal ihm in seinem individuellen Kreise zu Gebote standen, sich überhaupt ein bestimmtes Bewusstsein über die Konfiguration der fraglichen Ver- = Zu hältnisse und ihrer Krise — über diesen Boden und Gegenstand seiner Operationen gebildet hat, und nun eben damit beginnt, dieses sein Be- wusstsein auf jede Gefahr hin — wenn auch immerhin mit dem Zu- geständnis und Vorbehalte seiner stetigen Weiterbildung rund und frischweg auszusprechen ? — In Wahrheit, wie gegenwärtig die Dinge liegen, gibt es überhaupt keinen andern Zutritt zum Markte des wissen- schaftlichen Lebens, als durch diese vom Lärm Aufruhr und Waffen- getöse des allgemeinen Kampfs wiederhallende Pforte hindurch, die nuneinmal nicht passirt wird, ohne Streiche auszutheilen und zu empfan- gen. So maassen wir uns denn an, weil wir müssen und um des höheren Preises willen die ob der Unabgeschlossenheit des Urtheils zu gewär- tigende Feuertaufe gering achten. Indem wir aber also eintreten in die Pforte und Vorhalle der Kampfesarena, schweben uns wiederholt die Bilder vor der grossen Philosophen, welchen die Nachwelt hier ihre Denksteine und Gedenk- tafeln aufgestellt hat. Die Erinnerung ist aber fast entmuthigend: woran sie uns nun gemahnen, sticht so völlig ab gegen dasjenige, was wir drinnen als Wirklichkeit sehen und zu gewärtigen haben. Indess es ist so, so unglaublich es sich gegenwärtig ausnimmt; so gar lange her ist es ja überdies noch nicht: es gab eine Zeit, waren Naturfor- schung und Philosophie verbunden in der glücklichsten Harmonie — verschwistert durch Gemeinsamkeit des Interesses — selbst der Arbeit und des Verkehrs — jedenfalls aber gewisser Früchte und im All- gemeinen des öffentlichen Ansehens und des Geschicks. Ja die Ge- reifteren beiderseits pflegen sich noch zu besinnen, dass überhaupt eine strenge Sonderung der beiden verhältnismässig sehr neuen Datums ist, wie denn auch ihre dermalige .Entzweiung wunderlich absticht gegen die noch immer forterhaltene vollkommene Vereinigung der be- treffenden Fakultäten auf den Hochschulen, und es ist eben das Un- glück dieser Männer, dass sie sich nicht entschliessen und gewöhnen können, diese Erinnerung hinter sich zu werfen. Es war aber einstens im Rapporte mit den grossen kirchlichen und socialen Reformationen kurzweg und ganz entschieden eben die Philosophie, welche überhaupt der Wissenschaft modernen Stils die eigentlich entscheidenden Breschen gelegt hat in jenen gewaltigen Bau der mittelalterlichen Weltanschau- ung, in dessen engen dunklen von Modergeruch erfüllten Kammern und Gängen widernatürlichen Bunds zugleich noch die Geister des Verfalls der Antike ihren umheimlichen Spuck trieben. Wir wollen hier nicht etwa Ansprüche begründen auf Dankbarkeit = seitens der modernen Naturforschung. Weitentfernt; zwar wird man gewisse Thatsachen nicht vergessen. Man wird z. B. für immer im Gedächtnisse behalten, dass es die Philosophie war, welche uns ge- wöhnt hat, in der Mathematik, diesem Fundamente und Grundstock aller Empirie, alle Grössen und Grössenverhältnisse und Figuren als werdend und progredirend — nemlich lediglich als Zähl- und Mes- sungsmethoden seitens des frei produeirenden Subjects zu fassen und zu behandeln; und bekanntlich war es hauptsächlich eben dieses Be- wusstsein, dass es keine Grössen gebe, als die durch uns und unsere Thätigkeit in dem in’s Endlose fortführbaren in mannigfachster Weise abbrevirbaren und potenzirbaren Zähl- und Messungsakt konstruirt und fixirt und verzeichnet werden und so überhaupt erst entstehen, — be- kanntlich war es diese Umsetzung und Auflösung der gesammten Ma- thematik in lauter Aufgaben — Setzungen — Konstruktionsarten — Reihen und Reihenprogresse und Reihungs- und Vergleichungsgesetze, — diese lebendige genetische Alles in That — Handlung — Bewe- gung — Produktion — Reflexion und Vergleichung umsetzende Auf- fassung, — kurz die Erhebung des Begriffs der variablen Grösse zur Grundlage der Mathematik, womit sich diese verwandelte in die Theorie der Grössenkonstruktion, — bekanntlich, sage ich, war es eben diese Neuerung, woran sich die Umwandlung der gesammten Empirie — die Gestaltung der empirischen Wissenschaften im Geiste der moder- nen Forschung principiell geknüpft — vollzogen und entschieden hat. Es ist aber Kartesius gewesen — das eigentliche Haupt der modernen Philosophie, welcher zuerst diesem Begriffe der variablen Grösse seine Einführung in die Mathematik gab, indem er ihn anwandte bei der Geo- metrie; Er ist der Schöpfer der analytischen Geometrie, die lange nach ihm die kartesianische hiess. Die Hauptthat auf diesem Gebiete voll- führten aber endlich Leibnitz und Newton, indem sie den Begriff der variablen Grösse in seinen Elementen aufgefasst haben und ihn über die ganze Mathematik ausdehnten in der Erfindung der Infinitesimalrechnung. Damit war denn die Schranke völlig durchbrochen und niedergeworfen ; seitdem haben alle empirischen Wissenschaften — vor Allem aus aber eben die Naturwissenschaften — mit ihrem wahren Organ und Rüstzeug versehen — jene ungeheuren grossartigen Fortschritte und Eroberun- gen gemacht, die überhaupt den Charakter der Empirie als Wissen- schaft erst eigentlich entschieden und aber eben damit den modernen Geist auf diesem Lebensgebiete zum Durchbruch — zur Geltung und zur Repräsentation gebracht haben. Doch wie gesagt — es wäre auch ru aberwitzig eitel, einen Dank noch fordern und begründen zu wollen, wo er sich so von selbst versteht und im Grunde von Niemanden vorenthalten wird; wir nehmen jetzt diese Erinnerung überhaupt nur zur Folie; auch in jenem Bunde, dieser schönsten Zierde der Refor- mationszeitalter, war eine Unwahrheit, und diese ist’s vielmehr, der wir Worte geben wollen. Wir fassen jetzt in’s Auge eben jene jüngste Periode von Kant ab. Die Empirie war bereits erstarkt; die Philosophie aber trat jetzt entscheidend in eine Richtung und Entwicklung, mit der Schritt für Schritt jener Bund sich verkehren musste in eine Unwahrheit und Un- zuträglichkeit. Der deutsche Idealismus — im Ganzen den Beruf der Philosophie so richtig auffassend, als die Empirie den ihrigen — litt denn doch nichtsdestoweniger hinsichtlich der Fassung Formulirung Position und Durchführung des Prineips noch durchgängig an einer gewissen Unvergohrenheit und Unfertigkeit, und eine Zeit lang hin und her schwankend zwischen den Extremen zopfiger Pedanterie und wiederum flegelhaften Uebermuths verfiel er schliesslich — sicher ge- macht durch’s Gefühl der Richtigkeit des allgemeinen Prineips und Standpunkts — eben über seiner Unbeholfenheit in eine wirkliche Anmaassung. Statt nemlich in der innern begrifflichen Konstruktion der Verbindlichkeit sich bewusst zu bleiben, es gelte lediglich aus dem allgemeinmenschlichen Freiheitsbewusstsein heraus eine Rekon- struktion der konkreten thatsächlich erfahrungsmässigen Wirklichkeit der Dinge inner unseres Gesammtbewusstseins für ein durchdringendes umfassendes und mit jenem Freiheitsbewusstsein in Einklang setzendes Verständnis, es müsse also schliesslich im Resultate wenigstens all- gemein erkenntlich die wohl bekannte empirische Wirklichkeit und — nur jetzt eben geläutert und bereinigt und abgeschlossen — das volle satte Bild des thatsächlichen Lebens in uns und um uns wieder zu Tag treten und unverkümmert in sein Recht eingesetzt werden, — statt ein Klaffen zwischen der Empirie und andrerseits den letzten Kon- sequenzen des aufgestellten Princips als Beweis zu fassen einer schie- fen Fassung Formulirung Position und Durchführung des letzteren, — statt dessen drehte man unglückseligerweise immer kecker den Stiel um, wendete jeden Mangel an Uebereinstimmung in dieser Beziehung — jede Unzulänglichkeit als Beweis der Unreellheit umgekehrt der be- treffenden Erfahrungsthatsachen, — bildete sich ein, in der Idee sich zu genügen, — verstieg sich mehr und mehr zur Meinung, — exer- zivte sich, ja gefiel sich schliesslich darin, in’s Blaue hinein die Welt m. 0 schöpfermässig zu konstruiren, — glaubte am Absoluten, in das man mittlerweile das Prineip substanziirt und sich hatte entwischen und jenseitig werden lassen, sich einen völlig unantastbaren Standpunkt gesichert zu haben für die Behauptung der Reellheit seiner ausgeheck- ten Begriffswelt, und den empirischen Thatsachen hier aus dem Wege gehend — dort wieder geradezu die gröblichste Gewalt anthuend — aller Erfahrung Trotz bietend und mit dem erfahrungsmässigen Wissen um Natur und Geschichte in unverantwortlichster Weise umspringend — brachte man’s am Ende wirklich dahin, dass die Wegwerfung und souveraine Verachtung der Empirie überhaupt für die eigentliche Staffel und 'Thürschwelle galt in’s Heiligthum der Philosophie als der alleinig- wahren alleinwissenschaftlichen absoluten Erkenntniss. Die Idee, statt ihr überall erst ihren Heimatschein abzuverlangen und zu untersuchen und sie im demüthigen Selbstbewusstsein zu erhalten, dass sie nichts sei als unsere Bemühung um die Erkenntnis der Substanz der Dinge, ward gegentheils — in’s Absolute hineingetragen — ohne- weiters privilegirt, unmittelbar geradezu eben diese Substanz selbst zu sein und nun auf dem Throne des Weltschöpfers sitzend unsern Kult entgegenzunehmen, und das unerlässlichste Merkzeichen im Signalement eines wahren Jüngers — eines ächten Philosophen war jetzt eben die vornehme Geringschätzung der Empirie. Wenigstens gehörte diese zum guten Ton im Kreise der Auserwählten und Berufenen und es konnte soweit kommen, dass Wir in Deutschland, während längst um uns her — emporgehoben vom praktisch -realistischen Geiste des allgemeinen Lebens — die empirische Wissenschaft in die Bahn ihres nunmehrig- allseitigen rapiden Fortschritts eingezogen war, gegentheils wirkliche Rückschritte gemacht haben und theilweise völlig denjenigen Stand- punkt aus dem Auge verloren, welcher doch von uns selbst schon im 17. und 18. Jahrhundert eingenommen — ja der Welt überhaupt ge- schaffen worden war. Es dürfte dies aber wesentlich mitgeholfen ha- ben, — ja geradezu vermöge des Kontrastes unserer thatsächlichen Gesammt- Weltlage die Herausforderung dafür gewesen sein, demjeni- gen Ruhme beim Ausland, auf den wir im Uebrigen mit Recht stolz sein dürften, — dem Ruhme, die philosophische Nation zu sein, jene Zweideutigkeit — jenen herben bitteren Zusatz zu geben, der uns beschämt und verletzt. Man wird wirklich nicht umhin können, und ist im Grunde der einzig richtige und sichere Weg, ehrlich einzuge- stehen, dass in dieser Beziehung der deutsche Idealismus sich schwer verfehlt hat. Seine Zukunft hängt jetzt an der Art, wie er sich der a hereingebrochenen Krise unterzieht und seine Schuld abträgt. Indess sehen wir zu, welchen Gang die Dinge überhaupt genommen haben. Es liegt eine bewundernswerthe Konsequenz darin. Leicht begreiflich hatte die Geringschätzung — die willkürliche Verwendung — die Misshandlung und Beeinträchtigung der Empirie auf allen Gebieten und nach allen Richtungen hin gleich drückend und verderblich sich geltend gemacht. Der Alp lag ebenso drückend und vernichtend auf der geschichtsforschenden Empirie und ihrer weitschich- tigen Auszweigung und ihren verschiedenen Hilfswissenschaften, wie auf der naturforschenden Empirie. Ueberall herrschte eine geraume Zeit her das souveraine Umspringen mit dem empirischen Material und das Ignoriren oder aber Sich-zurechtstossen und Aus-den-Fugen- stossen der in mühsamer gewissenhafter Detailforschung gewonnenen -Resultate. Die Unterlage aber beider Hauptzweige der Empirie — das gemeinsame Fundament — nemlich eben die Mathematik ward jetzt unter Abschätzung der sich an sie zunächst anschliessenden und sie mit dem Stoffe der Empirie verknüpfenden praktisch- technischen Hilfsfächer herübergezogen und — wie wollte man sie auch sonst unter- bringen — degradirt zu einer blosen niederen pädagogischen Vorstufe für die Philosophie, die natürlich je eher je lieber wieder hinter sich zu stossen sei. Ja recht herzlich schlechter Mathematiker zu sein, war da bald nicht nur erlaubt, sondern gegentheils fast empfehlend und gar als vielversprechend angesehen; es gehörte das wenigstens Vielen auch mit zum guten Ton. Es war also eben wirklich wesent- lich die gesammte Empirie, welche sich ihrer Existenz zu wehren hatte. Indess — es lag im Wesen der Sache und aber speciell nun einmal in der Richtung des auf den übrigen Lebensgebieten am all- gemeinen Fortschritt arbeitenden Zeitgeistes: am stossendsten und em- pfindlichsten musste doch eben gerade die Art sein, wie inner der Philosophie mit dem Naturbegriff handthiert wurde, wie sie — die Philosophie — eingewiegt in die Meinung, es komme ihr zu, neben- bei der Natur überhaupt zu einer Idee — zum Geiste zu verhelfen, ihr heute dieses morgen jenes System beliebte — des Glaubens, ein solches souveraines Aufoktroyiren sei nun eben das sich für diesen Gegenstand allein geziemende und von selbst verstehende — vollkom- men sach- und ordnungsgemässe Verfahren. Ueberdies war man eben gerade in dieser Beziehung — im Zwange des Berufs der Philosophie zur Gestaltung eines Systems stehend, wonach vornweg immer eine Metaphysik zu leisten ist — besonders produktiv und freigebig gewesen. Es hat aber eben in sehr verschiedener Beziehung und sehr verschie- denem Sinn hüben und drüben seine gute Vernunft, wenn man nun- mehr ziemlich allgemein bei dem Worte Philosophie alsogleich vor- zugsweise an Metaphysik denkt und die Lebensfrage der Philosophie in die Formel gefasst hat, ob es eine Metaphysik gebe. Man hat es aber so weit gebracht, und ist nun an dem, dass weitaus die Meisten sich die Ohren zuhalten und die Flucht ergreifen, wo auch nur von Weiten von einer derartigen philosophischen Wissenschaft, wie sie doch in Wahrheit unerlässlich und der eigentliche Grundstock im Sy- stem ist, überhaupt will geredet werden. So denn ist es gekommen: Emancipation der Naturforschung durch Zurückgehen auf den soliden mindestens für völlig neutral zu erklärenden und fortan als Centrum “zu wahrenden und anzubauenden Boden der Mathematik Statistik und experimentirenden Beobachtung — das musste die Losung werden zu einer Sammlung und einem Kampfe wider die Philosophie. Diese — die Philosophie hat es selbst so gewollt und gefügt — oder billiger gesagt: dies resultirte nuneinmal als Nothwendigkeit und Verhängnis aus der Entwicklung, die sie ihrerseits genommen und sich beschafft hatte. Sie, die moderne Naturforschung, war der berufene Vorposten für eine Revolution inner des wissenschaftlichen Lebens, und war sie einstens der innigste Bundesgenosse — ja das eigentliche Schoosskind der modernen Philosophie, so hat es jetzt seine gute Vernunft und Berechtigung, wenn, nachdem es nun ausschliesslich wieder die exakte empirische Forschung ist, welche inner der Wissenschaft dominirt und der Welt gegenüber vertritt, eben sie — die moderne Naturforschung — zur Volljährigkeit und Selbständigkeit herangereift — als Gross- macht den Markt des wissenschaftlichen Lebens beherrscht und besetzt hält und nunmehr ganz das Interesse der Gebildeten und der Nation in Anspruch nimmt, während es sonst ebenso — ja fast ausschliess- lich der Philosophie zugewandt war. Sie, die jüngste Generation inner des Lagers der Empirie als Träger der Naturforschung und im Namen dieser, hatte der Philosophie den Fehdehandschuh hinzuwerfen und den Kampf zu führen in erster Linie. Dazu kam aber von der andern Seite noch ein besonderes: obwohl mitinteressirt war nemlich denn doch die geschichtsforschende Empirie nicht recht angethan zu einem Kampfe, wie er nuneinmal bevorstand: vom Freiheitsbegriff aus und in dessen Namen waren ja immerhin all jene Verirrungen und Ver- sündigungen erfolgt; gegen diesen aber Position zu nehmen, das unter- sagte der Geschichtsforschung ihr Objeet und ihr eigenes Fachgewissen; "u sie konnte hier immer nur bis zu einem gewissen Grade gegen ge- wisse Konsequenzen Protest erheben, nicht aber einen Angriff und Stoss auf’s Centrum übernehmen, und doch galt es nun wirklich über- haupt einmal einen principiellen Kampf, nachdem die Empirie so völlig war in Schwebe gesetzt und bedroht worden. So war es denn wesentlich ein Bruch und Kampf zwischen Phi- losophie und Naturforschung, und man wird nicht umhin’ können, der Letzteren das Zeugnis zu geben, dass sie dabei den kürzesten ge- radesten Weg mit bewundernswürdiger Festigkeit und Konsequenz beschritten habe. Während sie — die Philosophie — überzeitig und an ihr selbst ermüdet — auf ihren Lorbeeren auszuruhen gedachte und in keinerlei Weise dazu angethan war, den Schauplatz der realen praktischen Lebensinteressen wirklich zu behaupten, hat sich die exakte Wissenschaft — erstarkt in ihren mit diesen Interessen sich unmittel- bar verflechtenden Eroberungen auf dem Boden der Natur — zur Wahrung dieser und zur Sicherung desjenigen Naturbegriffs, dem sie diese ihre Eroberungen verdankt, mit aller Energie aufgemacht, und gerüstet zugleich mit denjenigen Waffen, welche ihr die Philosophie selbst in die Hand gegeben, hat sie nun eben forschend sich hinüber- geworfen direet auf das Prineip — auf die Frage der Freiheit — auf dieses höchste jener Interessen. Es war so: beherrscht von der Art der bisherigen Vertretung und Nutzanwendung des Freiheitsbegriffs, — wohl bewusst oder doch instinktmässig herausfühlend die fortwähren- den Hemmnisse und Bedrohungen ihrer Errungenschaften — ihres Fortschreitens — ja ihrer Existenz von dieser Seite her, — ihrerseits nicht dazu angethan, zwischen einem Begriff und seinen in der Ge- schichte wechselnden Fassungen viel Unterscheidens und Federlesens zu machen, — im Uebrigen ganz dominirt vom Sturm und Drang auf ihrem specifischen Fachgebiet und demgemäss ganz verfangen und festgewurzelt im Boden der Erfahrung — in dieser Verfassung hat sie die Frage der Freiheit ganz im Allgemeinen gleichsam beim Schopf genommen und auf's Zielbrett gesetst. Gesonnen, nun einmal gründlich mit Allem aufzuräumen, was ihrem durch Leistungen und positive Errungenschaften bestätigten Naturbegriffe nieht harmonirt und, wie die Erfahrung leider hinlänglich zeigte, sich versucht fühlen könnte, ihr ihr Gebiet und ihre Arbeit mindestens zu verpfuschen, — dazu gewohnt, den Feind immer gleich im Herzen anzugreifen, — so hat sie begonnen, diese Frage zu ventiliren, ob es überhaupt eine Freiheit gebe. Eine nüchterne Antwort hat sie dem Menschen abverlangt dar- ii We über, und man kann nicht gerade sagen, dass sie,sich dabei nicht doch wieder die Pflicht der Unhefangenheit und ein selbstloses ge- wissenhaftes Erforschen auferlegt habe. Mit derselben Energie wenig- stens, mit der sie die Natur auf die Folter des Experiments gespannt und unter dem Mikroskop ihrem zuckenden Nerv mit der Lanzette ihre innersten Geheimnisse ablockte, — mit derselben Energie hat sie sich schliesslich, allerdings um nuneinmal sich selbst hinter den Rücken zu kommen und von daher sich zu decken, auch dieser Frage bemächtigt. Und siehe — es war so: in diese Tiefen ist sie — die Empirie vergeblich gedrungen. Bis in’s Innerste des Gehirns hinein und bis zu dem feinsten verborgensten Spiele des Lebens hat sie nichts gefunden — sowenig als im Sternen- und Weltenlauf, oder gefunden zwar — aber eben gefunden, dass, was im Menschen webt und wächst, ganz desselben Stoffes und denselben Gesetzen dienstbar, wie dies Alles, was überhaupt im Leben kreist, — was im Thierleibe formt und bewegt, was auf den Bäumen wächst, was endlich im Steine schlummert und in den Wassern murmelt, und was letztlich über's Ganze her in diesem Ungemessenen der Lüfte spielt und glänzt. ' Darauf hin hat sich denn das menschliche Herz von der -Ver- zagtheit gewendet zum Trotz. Man hatte nemlich da wirklich mehr erreicht, als man im Grund eigentlich wollte; allein jetzt schien’s auch unwiderruflich, und so geschah es denn. Verzweifelt an der Freiheit — verzweifelt, weil Sie von ihrem Boden — vom Boden der Erfah- rung aus — etwas Derartiges nirgend konnte ausfindig machen, — weil Sie in ihrem Object — im ganzen weiten Reiche der ‘Natur — einem derlei Dinge nieht konnte beikommen, — weil Ihre Mittel, Beobachtung Hypothese und Experiment, sie hier sammt und sonders im Stiche liessen, weil Ihre Bestimmungen — Zahl Maass Gewicht u. s. w. — ihr an diesem Dinge versagen, — weil sich Ihr gleichen Schritts mit der menschlichen Nachforschung überhaupt Alles im gesammten Leben und Dasein gleichsam unter den Händen unmittelbar verwandelt in reine Natur und sich immer nur ausweist als nothwendiges Bestehen und Verhängnis, — so hat die empirische Forschung angethan mit dem ganzen Stolze der Wissenschaft entsagt, und gewohnt, sich strenge zu sein, — mit jener Entschlossenheit, welche sie überall auszeichnet, mit der gleichen Energie, mit der sie überhaupt jene Frage nach der Freiheit aufgeworfen, versichert sie nun, wie sich eigentlich voraus- sehen liess und sich recht gut erklärt und entschuldigt, offen und rundaus, dass es keine gebe. Wir haben jetzt — nur auf einem damals u noch verborgenen höchst bedeutsamen Hintergrund — jene Leugnung der Freiheit — des freien Geistes. Es ist — wohlfondirt und zugleich festgewurzelt und emporgehoben im Geiste der Zeit und des allgemei- nen Lebens — die ernste strenge naturforschende Empirie, welche sie ausspricht, und wiederum ist es die Philosophie, der sie von eben dieser vor die Füsse geschleudert wird. Man leugnet, und offenbar leugnet man sich getröstend, nunmehr ein- für allemal einer unseligen oder wenigstens lästigen Gegnerschaft ledig zu sein. Diese Wendung war oder blieb aber nicht etwa vereinzelt. Es wäre übel, wollte man sich hier Täuschungen machen und die Aüigen zuhalten. Auch die Gesetztesten und Besonnensten unter den Natur- forschern waren wenigstens längst durch die Art, wie man’s drüben im philosophischen Lager trieb, verwirrt und überdrüssig geworden. Sie mussten fühlen, dass ein längeres Halten an jenem alten Bündnis einem Verziehte gleichkäme auf jede solide Forschung inner ihres Fachgebiets. Die Geduld musste nachgerade Jedem ausgehen, der es überhaupt ernst meinte mit letzterer. Man hatte keine Wahl mehr, als innerlich zu brechen. Hatte man sich aber überhaupt einmal ge- trennt und auf eigene Füsse gestellt, so war es alsdann äusserst schwer und gelang es imwer nur Wenigen und immer nur bis zu einem ge- wissen Grade, sich der Verstrickung in Konsequenzen zu erwehren, mit denen man im Grunde doch eigentlich ganz auf’s gleiche Resultat hinauskam. Im Ganzen war es denn auch so: nachdem man so lange einig ge- gangen war, haben sich die Wege auch durchgehends vollends rasch und sichtlich getrennt. Die Philosophie selbst wollte es nicht anders. Einen festen Standpunkt — ein festes Ziel — eine sichere Methode gab es längst überhaupt nirgendmehr als auf dem Boden des unmittelbar That- sächlichen Erfahrungsmässiggegebenen an der Hand der exakt mathe- matischen Betrachtung und Erforschung d. h. eben inner der Empirie. Ueberdies hatte ja früher die Philosophie mehr denn einmal selbst dahin verwiesen, und intermediär, glaubten die Zaudernden, auch so noch offene Fragen genug übrig zu behalten, und nun bezüglich dieser würde man ja alsdann immerhin noch nach wie vor eine philosophische Erwägung — den Entscheid seitens der Philosophie anrufen. Wirklich dürften weitaus die Meisten zunächst eben in diesem Sinne der Phi- losophie den Rücken gekehrt haben; getrost überliess man sich dem nuneinmal gebotenen rein empirischen Verfahren, indem man sich schmeichelte mit dieser Hoffnung eines Immer- wieder- zusammentreffens = BB —_ und - zusammenarbeitens. Allein nur eben darin hatte man sich ge- täuscht: die Hinterthüre, die man sich zu reserviren gedachte, war bald genug verrammelt und verschwunden ; man musste sich verfangen in dem nuneinmal ergriffenen Prineip. Liegt es schon ohnehin über- haupt immer und überall in der Natur eines jeden wissenschaftlichen Prineips, seine Bewährung zu suchen eben in der konsequenten Durch- führung am Ganzen des Lebens und Daseins, — denn dies ist so: in der Universalität liegt seine Werthung, — so trat hier noch ein Besonderes hinzu. Diese — die Universalisirung lag ganz im Wurfe der soliden formellen Bildung und einer Tendenz, welche man gerade von der Philosophie eben noch mit sich gebracht hatte. So ist denn die Wandlung geschehen auch in denjenigen Kreisen, wo man auf Philosophie und jedenfalls auf die höheren idealen Inter- essen der Menschheit mit ganzer Ueberzeugung hielt und nicht gerade von vornherein gesonnen war, seine philosophischen Konnexionen und Beziehungen zöllig preiszugeben. Aecht philosophische Konsequenz- festigkeit und eben der innere Ueberzeugungsmuth — die strenge Gewissenhaftigkeit der in jener selbständigen Weise begonnenen und an ihrem ÖObjeet wie am drängenden Zeitgeiste stets neu gereizten und beflügelten Forschung — dies führte allgemach auch hier zu Er- gebnissen, die man anfangs weder gehofft noch gewünscht hatte. Es waren aber dieselben, wie die, welcher man sich da und dort noch ernstlich wollte erwehren, und es blieb jetzt nichts übrig, als eben- falls sie zu bekennen — selbst auf die Gefahr hin, dem Theuersten des menschlichen Herzens an’s Leben zu greifen. Entgötterung der Natur und des Weltenlaufs — Entgeistung des Individuums — Ne- gation der menschlichen Freiheit — dies war die Linie, in welche bald genug die empirische Forschung von allen Seiten — nur mehr oder minder ausgesprochen — zusammenlief und unwiderruflich zu enden drohte. Der Gang der Dinge war unaufhaltsam. Man wusste nicht an- ders: wollte man der grossartigen Eroberungen auf dem Gebiete der Natur nicht entrathen, die bereits vom Leben erfasst und im Dienste seiner praktischen Kulturzwecke erprobt — mit Blitzesschnelle das innerste Lebensgut — der Segen und Stolz des Jahrhunderts wurden, so musste man jene Einbussen auf dem Gebiete der idealen geistigen Interessen mit in den Kauf nehmen. Eine Abwendung dieser Ver- luste schien unmöglich. Es ist aber klar: von jener schönen Verschwi- sterung inner der Wissenschaft war man jetzt unversehens gerathen EN. in eine grundsmässige totale Entzweiung. Denn dies ist so: in der Freiheit — um diese nemlich und ihre inneren objektiven Grundlagen und praktischen Konsequenzen handelte sich’s — in der Freiheit be- schliesst sich jegliches Interesse der Philosophie. Sie, die Philosophie, hat keinen andern Boden — kein anderes Ziel — kein anderes Prin- eip und Kriterion; ohne den Begriff der Freiheit gibt es eben keine Philosophie. Sie — die Fhilosophie war's, mit der man gebrochen. Zum Gegner also — man mochte wollen und sich’s gestehen oder nicht — zum Gegner war man geworden und zwar gestellt in einen Kampf auf Leben und Tod. Es war einmal so: Prineip und Methode forderten ihr Recht, und — Dank sei es gewusst — der Muth liess es ihm geschehen. Damit war die Umwälzung inner der Wissenschaft zunächst voll- zogen. Beim Leben — bei der öffentlichen Meinung stand es jetzt, praktisch vollends den Ausschlag zu geben. Indess der Ausschlag war längst da, und scheinbar ganz zu Ungunsten der Philosophie ist er ausgefallen. War es überhaupt denn doch wieder nur ein veränderter Zug in der allgemeinen Strömung der Geister und Interessen, der sich in jener Bewegung der Wissenschaft gerade nur seinen schärfsten Aus- druck gegeben, so belehrte jetzt vollends der Effekt der einmal be- kannten Ergebnisse auf die jüngeren Generationen und auf die Masse der gebildeten Laien: man hatte scheint’s wirklich den rechten Nerv im Leben der Gegenwart getroffen. Jetzt, nachdem die Meister gesprochen und von allen Seiten das Echo eingeklungen, — jetzt schossen wie Pilze über Nacht die emsige Schaar von Jüngern empor, die, ohne irgend die Wehen eines Ueber- zeugungskampfs erlebt zu haben, begierig die neue Lehre einsogen und — geschult und gerüstet mit den enormen Schätzen und Mitteln der exakten Empirie — sich ihrer — unleugbar unter dem Beifall der Menge — bemächtigten als des eigentlichen Evangeliums des Jahrhunderts. Durchgängig verwachsen mit den Interessen, welche allezeit die Noth und den, Umtrieb des äusseren Lebens beherrscht haben, — nun aber elektrisch durchpulst von ihrer unter der lang- herigen Verkennung Bedrückung Demoralisation und Erschlaffung von anderer Seite ungestüm nach ÖOmnipotenz ringenden Gewalt — 50 wenden sich die Geister massenhaft und mit einer gewissen Lust dem Dienste der Materie zu — dem Kulte, dem — lediglich nach dem eigenen Glaubensbekenntnisse geurtheilt — dermalen und im Grunde allezeit die Menge fröhnt. Ja mehr — es drohte eine Zeit lang immer aa gewöhnlicher zu werden, die Güte jeder neuen Weltanschauung und Belehrung nach dem Grade der Feindseligkeit zu schätzen, mit wel- cher sie Alles beleidigt, was doch in Recht Staat Religion Sitte Kunst und Wissenschaft als höchstes Gut der Menschheit die allgemeine Achtung und Pflege in Anspruch nimmt und sonst als das Erste aller wissenschaftlichen Interessen eben zum Studium der Philosophie ge- führt hat. Der Philosophie! — dieser hatte man nun scheint’'s zu Grabe geläutet. Vor ihr — vor der Philosophie vollends hegen diese Kna- ben und Männer des Fortschritts unserer Tage wahrlich die absonder- lichste Ehrfurcht. Den wenigen Gebildeten, die es hoch genug bringen, im allgemeinen Schwindel und im Dusel völliger Gleichgiltigkeit und Blasirtheit überhaupt einer Anregung von dieser Seite noch empfänglich zu sein, — diesen Seltenen zwingt sie — die Philosophie — kaum mehr ab als jenen eigenen Respekt, mit dem nur allzu oft der Mensch die Anwandlungen dunkelbewusster Pflichten sich vom Leibe hält und verdeckte Schuldgefühle zum Schweigen bringt. Es ist die Achtung eben vor den Todten — vor den Todten aber, die schon bei Lebzeiten in unseren Herzen keine Stelle mehr besassen. Insonderheit endlich die Fahnenschwinger und Führer und Vorläufer —- jener kecken losen lauten Jüngerschaar entwachsen — diese zeichnet nichts so sehr als der ungewöhnlich gereizte bittere höhnende Unmuth und die wilde Aufregung, worein sie jede Erinnerung an philosophische Dinge und Prineipienfragen alsogleich zu stürzen pflegt. Ein Bruch nach dieser Seite hin war es eben gewesen. Man trägt den Stachel noch in sich. So hat sich denn scheinbar der Fall der Philosophie vollendet. Wenigstens ist es wirklich dahin gekommen, dass dermalen von ihren Heroen — Kant Fichte Schelling Hegel — in der Mehrzahl der Ge- bildeten nicht viel mehr lebt als der Name und etwa wie gesagt eben jene Achtung vor den Todten der Nation. Man setzt ihnen jetzt, wenn’s hoch kommt, Denkmäler von Erz und Stein. — — Die Choraula, ein alter Festtanz. Von H. RUNGE, Der heilige Eligius, welcher von 588 bis 659 lebte, verbietet in seiner bekannten Predigt gegen den heidnischen Aberglauben auch gewisse Reihen- und Springtänze und die „teuflischen Gesänge“ und * # = 6 = nennt dabei namentlich auch die Caraula oder Choraula!). Ein ähn- liches Verbot erscheint in den Bussfragen und Dekreten des Burchard von Worms (+ 1024); auch hier werden in gleicher Weise und fast mit denselben Worten Tänze und Lieder angeführt, welche die Heiden, indem sie der Teufel lehrte, erfanden. Doch wird der Name Choraula nicht ausdrücklich genannt. (10, 34). . Schon die Zusammenstellung der Choraula mit saltationes und ean- tica diabolica lässt uns errathen, dass wir es hier mit einem Tanz zu thun haben, welcher nach alter Sitte mit Instrumentalmusik und Ge- sang verbunden war; darauf deutet auch der Name hin, der aus xogög und &uAdg gebildet ist und also einen Chortanz mit Flöten- begleitung bezeichnet. Merkwürdiger Weise hat sich die Choraula bis auf den heutigen Tag erhalten, aber ausschliesslich im Waadtland und im Kanton Freiburg; die Waadtländer haben sogar das Zeitwort eoreihi, springen (korrespondirend mit x0gerw, Reihen tanzen) und die Einwohner der Thalschaft Greyers (Gruyere) nennen ihre Tanz- lieder Caraoula (pl. Coraoules). Bei den Letzteren fanden noch vor etwa 25 Jahren die festlichen Tänze hauptsächlich im Herbst und zwar, wie schon St. Eligius bemerkt, an christlichen Festtagen und namentlich am Tage St. Michael (29. Septbr.) statt; gegen den Abend hin versammelte sich bei schönem Wetter die ganze sonntäglich ge- kleidete Jugend mit den alten Leuten bei einem kleinen Gehölz auf der Ebene Fin de Plan zwischen Riaz und Vuippens; man plauderte, scherzte und lachte. Plötzlich wurde von Einigen ein bekanntes, altes Lied angestimmt und von der ganzen Schaar oft schreiend gesungen. Dann begann der Reihentanz. Paarweise reichten sich Knaben und Mädchen in willkürlicher Zahl die Hände und hüpften im Kreise, den sie bald ausdehnten, bald wieder zusammenzogen. Von Zeit zu Zeit schlüpfte der ganze Zug unter den aufgehobenen Armen eines Paares durch. Im Dreiviertel- Takt sangen sie dazu die sogenannten Chor- aulen; bald liessen sich nur einige Stimmen hören, dann fielen wieder Alle ein; bald wechselten zwei Halbchöre fortwährend mit einander ab. Die meisten dieser Lieder sind uralt, einzelne so verstümmelt und verdorben, dass man fruchtlos in manchen Strophen einen Sinn zu finden sucht, ganz wie es auch sonst bei den ältesten Volksliedern 1) Nullus Christianus in festivitate $. Joannis vel quibuslibet sanctorum solemnitatibus solstitia aut vallationes (?), vel saltationes aut caraulas (i. e. choraulas) aut cantica diabolica exerceat. = 68. —_ vorkommt; sie enthalten scherzhafte Liebesklagen, bringen satyrische Ausfälle auf Nachbarn, Mönche und Priester und selbst auf Fürsten und Herren, oder erzählen Liebesabenteuer und zwar nicht selten auf Kosten der Geistlichkeit, welche deshalb auch oft gegen sie ihre Stimme erhob und das Einschreiten der weltlichen Obrigkeit veranlasste. Von der letzteren Art ist namentlich das beliebte Ringspringerlied „Intr& Tzerlin et Marschin“, das gegen die schon 1579 aufgehobenen Prä- monstratenser von Humilimont gerichtet ist und noch heute gesungen wird. Kuenlin theilt es in seinen Alpenblumen (S. 27) in Original und übersetzt mit. Eine Spott-Choraula gegen den Fürsten von Sa- voyen ist in den Alpenrosen von 1823, das hübsche Liedehen auf den Mol&son in demselben Taschenbuche Jahrgang 1824 aufgezeichnet. Jede einzelne Strophe pflegt die vorhergehende theilweise zu wieder- holen und einen Refrain zu haben. Was die Sprache betrifft, so wiegt der Dialekt der Thalschaft vor, doch treten häufig ihm ganz fremde, in Savoyen und im Jura gebräuchliche Worte und Formen auf. Aus den in einzelne Lieder eingestreuten historischen Thatsachen und An- spielungen ergibt sich oft der Zeitpunkt ihrer Abfassung, der selten später als das sechszehnte Jahrhundert fällt. Freilich kam es noch in diesem Jahrhundert mitunter vor, dass einer der Tänzer eine Choraula frischweg improvisirte, aber diese neueren Dichtungen pfleg- ten gewöhnlich mit demselben Abend wieder zu verschwinden, mm- destens verbreiteten sie sich nicht über einen engen Kreis hinaus. Ausserhalb des Greyerser Landes fand sich die Choraula noch vor Kurzem zu Freiburg, Romont und Stäfis und an andern Orten des Kantons; in der Regel wurde sie in der Nähe alter schöner Bäume auf grünem Plan bei den Hochzeiten und an kirchlichen Feiertagen, besonders auch beim Fest des Kirchenpatrons getanzt. Im Waadtland sah man den Reigen (riond) noch vor etwa sechszig Jahren im Sommer und Herbst allabendlich unter den Kastanienbäumen des Münsters ; ging es verhältnissmässig still zu, so tanzten die Vornehmern und die Geringern getrennt, oft aber vereinigten sie sich zu einem Reihen. Ein solcher allgemeiner Tanz am Festtage des Patrons hiess Benichon; hie und da wurden indess mit diesem Namen auch diejenigen Tänze bezeichnet, welche bei Trauungen vor den Kirchenthüren stattfanden. Der Text eines bei solcher Gelegenheit gesungenen Liedchens steht im Helvetischen Almanach 1810 $. 119. „Nous n’irons plus au bois“ fing eine bekannte Weise an, welche auf Tänze in Wäldern hinzu- deuten scheint. Eine komische Geschichte, welche in Neuss vorfiel, Wissenschaftliche Monatsschrift. 1V, 5 eu ee erzählt Vuillemin ( Waadt II, 60); äls einmal der Berner Landvogt mit seinem Sohne theilnahm, begann eine zwischen Beiden tanzende Wäscherin das alte Lied: „Dansons, mes amis, dansons — Dansons entre l’äne et l’änon!* Nur mit Mühe konnte der erzürnte Landvogt, welcher die Sängerin sofort verhaften wollte, beruhigt werden. Die Lieder waren im Waadtlande im Allgemeinen dieselben, wie in Frei- burg, und auch der Tanz hatte die gleiche Form; nur haben wir noch zu bemerken, dass die Verbindung der einzelnen Tanzenden früher durch Tücher, welche diese in der Hand hielten, hergestellt wurde, so dass der Kreis leicht weit ausgedehnt werden konnte. Was den Ursprung der Choraula betrifft, so behauptete die Tradition, dass sie aus Griechenland herstamme und in sehr früher Zeit eingeführt worden sei. Von einer eigenthümlichen Choraula, an der auch der Graf Peter von Greyers (1346) theilgenommen haben soll, erzählt eine ältere Auf- zeichnung Folgendes: „Il avint un jour que le comte de Gruyere rentrant en son castel trouva en dessous d’icelui grande liesse de jouvencaux et jouvencelles, dansant en koraule. Ledit comte, fort ami de ces sortes d’&battements, prit aussitöt la main de la plus gente de ces femelles et dansa tout ainsi qu’un autre. Sur quoi aucun ayant pro- posd comme par singularite dont puisse &tre gard& souvenance, d’aller toujours en dansant jusqu’au village prochain d’Enney, pas n’y man- quörent, et de cettui endroit continua la koraule jusqu’au chäteau d’Oex, dans le pays d’en-haut; et c’&toit chose merveilleuse de voir les gens des villages par olı passerent se joindre & cette joyeuse bande.* (Course dans la Gruyere. Paris 1826. p. 25). Man nannte diese Karavane, welche mehr als vier Stunden zurücklegte, la grande Coquille, in Erinnerung an die Schneckenwindungen, welche sie gemacht hatte. Kuenlin (in Schwabs Ritterburgen der Schweiz, 2, 288) erzählt die auch von Uhland besungene Sage ausführlicher und theilt auch das Reigenlied auf den Grafen von Greyers mit; nach ihm nahmen 700 Personen Theil und man tanzte 36 Stunden, worauf der Graf ein grosses Fest am Arnensee veranstaltete. Nach der obigen Auf- zeichnung scheint es, als ob diese Form der Choraula, die Coquille, nicht gewöhnlich war; sie findet sich indess unter diesem Namen und auch als Farandaule gleichfalls im Waadtlande. Ueber Berg und Thal Alles, selbst die Kinder mit sich fortreissend, stürmte der tanzende Haufen bald in langer Kette, bald sich zusammenschlingend oder von - Zeit zu Zeit unter den Armen eines Paares durchschlüpfend oft meh- rere Stunden weit, bis die Nacht oder Ermüdung der wilden Lust ein u. De Ende machte. Wie Rochholz (Kinderlied 371) bemerkt, nannte man einen solchen Festtanz in Luzern das Gäuerlen, den Schling- und Reihentanz durch das Gäu hindurch tanzen; ein ähnlich beschaffener Maienreigen ist bei den Deutschbündnern noch vor Kurzem üblich gewesen und Salis hat über ihn sein gleich benanntes rhythmenleichtes Lied geschrieben. Als ganz ähnlich bezeichnet er ferner den Springel- und Langtanz und den Trommeltanz der Dithmarschen und andere im Norden übliche Reihen. Selbst die Echternacher St. Veitstanz -Pro- cession, an welcher 1845 13,000 Menschen theilgenommen haben sollen, steht der Farandaule nicht fern. Nicht uninteressant sind die Nachrichten über die Farandole oder vielmehr Farandoule im Süden Frankreichs und namentlich in der Provence und in Languedoe. Sie kömmt dort bei privaten und öffent- lichen Festen, bei Taufen, Hochzeiten, an Heiligen -Tagen u. s. w. vor. Die dazu gehörige Musik ist ein Allegro im Sechsachtel- Takt. An der Spitze des Reihens befinden sich die Musiker, ihnen folgt der Reihenführer, welcher das Ganze leitet, und darauf paarweise die Tänzer und Tänzerinnen, deren Zahl so gross als möglich ist. Auch hier reichen sich die Einzelnen nicht die Hand, sondern fassen je zwei ein Tuch an, das sie verbindet. Wie im Waadtland dehnt sich die Kette bald aus, bald zieht sie sich zusammen uud selbst das Durchschlüpfen fehlt nieht. Natürlich sind die Figuren sehr einfach uud die Theilnehmer halten sich nicht an bestimmte Tanzschritte; jetzt ziehen sie langsam dahin, dann ergreift sie plötzlich wieder ein wil- des Laufen und laut aufschreiend bezeichnen sie den Takt durch den _ heftigen Auftritt der Füsse. Das Ganze hat ein ungemein leiden- schaftliches Aussehen und nicht selten folgen üble Scenen und Unglücks- fälle. Während der Reaktion des Jahres 1815 diente die Farandoule an mehreren Orten politischen Ausbrüchen, wenn sie in der tollsten Aufregung durch die Städte zog; so wurde am 15. August 1815 bei einem solchen Reihentanz zu Toulouse der General Ramel vom Volke ermordet. (Encycl. des Gens du Monde X. 508.) Auch hier ist der Glaube verbreitet, dass der Tanz aus Griechen- land stammt und von Phociern nach Marseille eingeführt worden ist. Man bezeichnet ihn als den Geranos, welcher bei den Apollofesten durch Knaben und Mädchen zur Ausführung kam, das Labyrinth nach- ahmte und angeblich zuerst von Theseus bei der Theoria am Horn- altar zu Delos getanzt wurde; bekanntlich soll er seinen Namen davon erhalten haben, dass die Bewegungen der Tänzer Aehnlichkeit mit a U denjenigen in Haufen fliegender Kraniche hatten. Ob diese Angaben wirklich begründet sind, können wir hier nicht untersuchen, ohne noch auf eine Reihe anderer Tänze des Alterthums und des Mittelalters einzugehen; jedenfalls sind die Choraula und die Farandoule nicht nur kulturgeschichtlich wichtig, sondern auch uralt und, wie schon Eligius bemerkt, entschieden heidnischen Ursprungs. Sollte es gelingen, ihre Herkunft aus Griechenland nachzuweisen, so würde damit ein sehr interessantes Licht auf manche unserer Kinderlieder und Kinderspiele fallen, welche bereits als bekannten griechischen sehr ähnlich bezeich- net worden sind. Zum Schluss sei uns noch gestattet, zwei bildlicher Darstellungen von Choraulen aus der Schweiz zu erwähnen. Die erste befindet sich auf dem merkwürdigen, mit Holzformen gedruckten Teppich von Sitten, der wahrscheinlich aus Italien stammt, dem 14. Jahrhundert angehört und von Dr. Ferd. Keller (Mitth. d. Ant. Ges. XI, Heft 6) beschrieben worden ist. Die eine Bilderreihe auf diesem ältesten Zeugdruck zeigt uns einen stillstehenden Lautenspieler, eine tanzende Tambourinschlä- gerin und die Tanzenden selbst, abwechselnd Männer und Frauen, welche eine Kette bildend sich entweder bei der Hand oder am Zeige- finger fassen oder auch ein Tuch halten. Das Tuch in der Hand des Letzten deutet an, dass der Reihen nicht vollständig gegeben ist und der Ring geschlossen werden sollte. Auf demselben Teppich befindet sich eine Darstellung der Oedipus-Sage in mehreren Bildern und ein Kampf zwischen Rittern und Bogenschützen. Eine zweite Choraula aus demselben Jahrhundert wurde vor einiger Zeit auf einer "Wand des Hauses zum Grundstein in Winterthur entdeckt; ein Fideler macht‘ die Musik und ein Krieger mit Bassinet, Ringkragen und Panzerhemd,, die Hellebarde in der Hand, führt den Tanz an. Eines der Paare erhebt die Hände, augenscheinlich damit die Schaar darunter fortgehen kann. Wahrscheinlich werden sich auch in der Schweiz noch andere ähnliche Bilder auffinden lassen, da der Gegenstand gewiss häufig zu Darstellungen Gelegenheit gegeben hat. Verlag von MEYER & ZELLER in Zürich. | Handbuch der vergleichenden Statistik — der Völkerzustands- und Staatenkunde. — Für den allgemeinen praktischen Gebrauch von 6. Sr. Kolb. 25 Bogen gr. 8 geheftet 2 Rthlr. Dieses vorzügliche Werk ist nach den neuesten und verlässigsten, zum Theil nicht allgemein zugänglichen Materialien mit grossem Fleisse bearbeitet. Es gibt keineswegs ein geisttödtendes Ziffernmeer, sondern es schildert die staat- lichen und socialen Verhältnisse, zugleich die Ziffernangaben erklärend und erläuternd, die Thatsachen vergleichend und beurtheilend, dabei unter steter Hinweisung auf die Hauptveränderungen seit dem Beginne der so Vieles umgestaltenden ersten französischen Revolution. Den Nachweisungen über Umfang, Bevölkerung, Gebietswechsel, Finanzen (Budgets und Schulden), Heer- wesen, Gewerbs-, Handels- und Schiffahrtsverhältnisse, schliessen sich solche über allgemein menschliche Zustände, über wichtige sociale Fragen an. Da das Buch wesentlich für den praktischen Gebrauch eingerichtet ist, so wird dasselbe nicht nur dem Statistiker von Fach, sondern auch jedem Geschäftsmanne, jedem Zeitungsleser nützlich sein. Die Börse, die Börseoperationen und Täuschungen, die Stellung der Aktionäre und des Gefammtpublikums, Ein Handbüchlein für Papierspekulanten und Nichtspekulanten. Auf Grundlage von Proudhon’s Manuel du Speeculateur de la Bourse. Für deutsche Leser frei bearbeitet. Preis 18 Ngr. — fl. 1. Die vorliegende Schrift ist eine kurze deutsche Bearbeitung von Proudhons Aufsehen erregendem Manuel du Speeulateur de la Bourse. Sie beschränkt sich ' aber keineswegs auf Auszüge aus diesem Werke oder auf eine Uebersetzung des- _ selben, obwohl sie die Hauptstellen in wörtlicher Uebertragung wiedergibt. Der Verfasser, selbstständig urtheilend, bespricht vielmehr den Gegenstand in seiner Weise; und während Proudhon nur französische Verhältnisse und Zustände kennt, zitirt er mit gleicher Sachkenntniss Beispiele aus Deutschland, Oesterreich und der Schweiz, überall das Spezielle mit dem Allgemeinen verbindend. Actien-Speculanten und Nichtspeculanten werden mit Nutzen und Interesse diese Enthüllungen lesen, — Enthüllungen zumal über die wirkliche Stellung .der Actionäre, die Verwaltungsräthe und Directoren, die Generalversammlungen, die Staatsaufsicht, die Fusionen u. s. f., dann über die eigentlichen Börseopera- tionen (welche erläutert werden, unter Beifügung einer Uebersicht der wichtig-. sten Speculationspapiere in Deutschland, Frankreich und der Schweiz). Die Schrift . bespricht aber auch ausserdem die bedeutendsten und eindringlichsten Fragen der heutigen sozialen Entwicklung, einschliesslich des Momentes der auf alle Verhältnisse so mächtig einwirkenden Vertheuerung der Lebensbedürfnisse, der: dadurch erzeugten Arbeiterkoalitionen und deren wahre Veranlassung, Clausius, Dr. R., Ueber das Wesen der Wärme, verglichen mit Licht und Schall. Preis 8 Ngr. — 28 kr. — 80 Cts. Honegger, J. J., Vietor Hugo, Lamartine und die französische Lyrik des neunzehnten Jahrhunderts. Historisch - kritisch dargestellt. Preis 26 Ngr. — fl. 1. 36 kr. Vogel, J., Augustin Thierry als Geschichtsschreiber und Politiker. Preis 12 Ngr. — 40 kr. — — , die französische Presse während des Jahres 1789. Ein Beitrag zur Geschichte der franz. Revolution. Preis 8.Ngr. — 28 kr. Der Kampf der liberalen und katholischen Parthei in Belgien, eine Warnung für Deutschland. 8° geh. Preis 15 Ngr. — 51 kr. Köchly, Dr. H., akademische Vorträge und Reden. Inhalt: Aeschylos Prometheus — Cato von Utica — Sokrates und sein Volk. 30 geh. Preis Rthlr. 2. 10 Ngr. — fl. 4. Meyer, Prof. Dr. G., die richtige Gestalt der Schuhe. Eine Abhand- lung für Aerzte und Laien. Mit Holzschnitten 80 geh. Preis 12 Ngr. — 40 kr. Dr. Ludwig Snell’s Leben und Wirken. Bearbeitet nach den von dem Verstorbenen hinterlassenen Papieren und Schriften von einem jüngern Freunde desselben. Preis 1 Rthlr. 10 Ngr. — fl. 2. 20 kr. Broch, F.K., Kaspar Hauser, kurze Schilderung seines Erscheinens und seines Todes. Zusammenstellung und Prüfung des bis jetzt vorliegenden Materials über seine Abstammung; Mittheilung seither noch nicht veröffentlichter Thatsachen und kritische Würdigung der Angaben von Feuerbach, Eschrieht und Daumer. 80 Geh. Preis 12. Ngr. — 40 kr. Vischer, Fr., Kritische Bemerkungen über den ersten Theil von Göthe’s Faust, namentlich den Prolog im Himmel. Preis 4 Ngr. — —, über das Verhältniss von Inhalt und Form in der Kunst. Preis 6 Ngr. Wyss, Georg v., über die Geschichte der drei Länder Uri, Schwyz und Unterwalden iu den Jahren 1212—1315. Preis 8 Ngr. Hitzig, Fr., Rede zur Feier des 25jährigen Jubiläums der Hoch- schule Zürich. Preis 8 Ngr. ee Monatsschrift i des WISSENSCHAFTLICHEN VEREINS in ZURICH. Herausgegeben von dem Redactionsausschuss desselben : 1 ' 2 Feroıwann Hırzıg, EDUARD ÖSENBRÜGGEN, Hemrıcn Frey, ApoLr Scuwmivr, HEINRICH ScHWEIZER. (Hauptred.: Epvarn Osensrüccen.) VIEEBRBTBB JAELZSAÄATG Brittes und biertes Heft. ZÜRICH, VERLAG von MEYER & ZELLER. 1859. — 7 SET ET ET ET Sau Fan Tre TEE re an Eee 5 Ber eier BEE ER REEEIEE Fin BE EEE Preis für den Jahrgang 2 Thlr. 20 Ngr. = 9 Fr. Der Hauptbestandtheil dieser Zeitschrift ist selbstständigen, von den Ver- fassern unterzeichneten Aufsätzen aus allen Zweigen der Wissenschaft gewidmet, mit dem Zweck: die Ergebnisse gründlicher Forschung in möglichst anziehender und anregender Form darzulegen und dergestalt, wie eine unmittelbare Förde- rung der Wissenschaften, so namentlich auch eine Vermittlung. derselben unter sich anzustreben. Grössere Recensionen sollen nur in selteneren Fällen Platz finden, kurze Notizen aber und gelegentliche Urtheile über neue Erscheinungen, sowie Berichte und Anfragen in dem Anhange mitgetheilt werden. Inhalt des borliegenden Beltes: Die Entstehung des ärztlichen Standes. Von A. L. Croemma.. . » .. 69 Die Familie im deutschen und schweizerischen Recht. Von Dr. ALoysv. OreıLı 85 Der Quellkultus in der Schweiz. Von H. Ruısee . . . 2... .10 Ein Pferdeopfer der neuesten Zeit. . H. RuseeE. . . x... 0.124 Noch eine Notiz über das kolenberger Gericht. Von End. OsEensküseEn . 126 Bericht über den Vortrag des Wissenschaftlichen Vereins vom 17. Januar und. 142 Mebrüar 1859,92 re ee En Eee Te Zusendungen an die Redaetion werden portofrei oder auf dem Wege des Buchhandels erbeten. Grgenboärtige Mitglieder des Wissenschaftlichen Vereins : G. v. Wyss, Präsident. Crausıus, Vicepräsident. HıLLEsrann, Sekretär. BoBrRIk. CLoETTA. DERNBURG. Ecuı. EscHer v. d. Lınrn. Feur. H.Feey. FRıtzsche. Heer. Hıunvesranv. Hırzıc. J. J. Hortıngser. Kenseort. Köchıy. Kym. Lesert. v. Marscuaız. H. Meyer. Mever-Aurens. Mürter. NÄcerı. v. Orertı. OsENBRÜGGEN. RocHAT. RÜTTIMANN. SCHEUCHZER. SCHLOTTMANN. AD. SCHMIDT, ALEX. SCHWEIZER. H. ScHWEIZER. STÄDELER. F. VıscHEr. VoGEL. VoLKMAR. Druck von E. Kiesling in Zürich. Die Entstehung des ärztlichen Standes. Akademischer Vortrag gehalten vor einem gemisehteu Publikum von A. L. CLOETTA. Wie wir bei dem Aufsuchen der Anfänge jeder Kunst und Wis- senschaft schliesslich in eine mythische, sagenreiche Zeit gelangen, so ist dieses auch mit der Mediein der Fall. Die ersten Nachrichten von der Kunst, den gesunden Zustand des menschlichen ‚Körpers zu er- halten, den kranken hingegen zu heilen, verlieren sich in dem Zeit- alter der Kindheit des menschlichen Geschlechts. Wenn Einzelne glau- ben, dass es einmal eine Zeit gegeben habe, während welcher die Menschheit frei von Krankheit gewesen sei, so beruhen solche An- nahmen ganz gewiss auf irrthümlich vorgefassten Meinungen; wir wollen gerne zugeben, dass im rohen Zustsfide der Menschheit die Krank- heiten einfacher und demnach leichter zu heilen waren; dass die meisten unserer innerlichen Krankheiten Folgen der vielfältigen Bedürfnisse sind und desshalb mannigfaltiger und zahlreicher, aber vernunftgemäss müssen wir annehmen, dass die Mediein so alt als das Menschen- geschlecht ist. a Die Beobachtungen an heutzutägigen Völkern, die dem Natur- zustande näher stehen, lassen uns annehmen, dass Zufall und Instinkt in, der ersten Zeit den Menschen die Mittel an die. Hand gegeben haben, allfällige Störungen, die ihren Organismus betroffen, zu besei- tigen; in dem Verhältniss nun, wie das Menschengeschlecht nach und nach durch die Beobachtungen der Natur, durch die Erfahrung und den allmälig geregelten Gebrauch seiner Vernunft aus dem rohen in den gebildeten Zustand übergegangen ist, gab sich unter anderın auch das Bedürfniss der Pflege der Medicin kund, die je nach dem herr- schenden Culturzustand in verschiedener Form geübt wurde. — Die ältesten Ueberlieferungen, welche wir über die Heilkunde und deren Ausübung besitzen, stammen von den orientalischen Völkern her. Bei den alten Völkern des Orients, bei den Juden, Egyptern, Persern u. s. w. sehen wir durchgehends die Mediein mit dem religiösen Cultus in Verbindung stehend, ein Verhältniss, das auch gegenwärtig bei allen Naturvölkern sich zeigt. Die Krankheit, diese fremde unerklär- bare Veränderung des Körpers, dachten sie sich als ihnen unmittelbar Wissenschaftliche Monatsschrift, IV. B) — WW — von erzürnten Geistern oder Gottheiten zugesandt und mussten dem- nach auch den Glauben haben, dass sie nur durch wohlthätige und freundliche Götter wieder von derselben befreit werden könnten. Wir sehen daher die Kranken zu Versöhnungen der Gottheit ihre Zuflucht nehmen, indem sie ihr das opfern, was ihnen das liebste ist, das beste Vieh und die wohlschmeckendsten Früchte. Die versöhnte Gottheit erscheint ihnen im Traume und gibt ihnen die Mittel zur Heilung an. Diejenige Gottheit, die die meisten glücklichen Curen auf diese Weise verrichtet hat, wird daun als ein besonderer Schutzgeist der Gesund- heit öffentlich verehrt und die Priester, die dieser Gottheit dienen, sind die einzigen heilkundigen, Sterblichen. Auf diese oder wenigstens ähnliche Art wurde die Heilkunde bei den alten Orientalen getrieben; wenn auch in Bezug auf Namen der Gottheit oder den dabei vorkommenden Gebräuchen Aenderungen bei den einzelnen Völkern sich finden, so bleibt doch das eine fest, dass die Medicin einen Theil des religiösen Cultus bildete. Eine nennenswerthe Modifikation fand neuern Nachforschungen zu Folge bei den alten Indern insofern statt, als bei ihnen schon sehr frühe der ärztliche Stand von dem priesterlichen getrennt erscheint; allein das Recht sich demselben zu widmen, war nur höhern Kasten vorbehalten und religiöse Handlungen nehmen bei Einweihung der Aerzte oder Aus- übung ihres Berufes eine wichtige Stelle ein, auch bei ihnen erscheint die Heilkunde als ein Geschenk der Götter, als eine Offenbarung, dem- nach als etwas Feststehendes, keiner weitern Entwicklung weder Fä- higes noch Bedürftiges. Schon aus diesem Grunde konnte eine künst- liche Bearbeitung der Heilkunde, ein Fortschritt in derselben gar nicht aufkommen, abgesehen davon, dass der Aberglaube damaliger Zeiten jede Untersuchung der Todten unmöglich machte und daher die hierin gegebene wichtigste Grundlage einer wissenschaftlichen Mediein, die Kenntniss von dem Baue und den Verrichtungen des menschlichen Körpers fehlen musste. Die ganze Heilkunde bestand in einer Anzahl Erfahrungssätzen, welche aber in keinem Zusammenhange standen und durchaus nicht auf einen höhern wissenschaftlichen Werth Anspruch machen konnten. Diese schwachen Keime konnten auf dem Boden, auf dem sie entstanden waren, nicht weiter sich entwickeln; denn wir sehen, dass bei den meisten Nationen des Orients, nachdem dieselben auf einen gewissen Grad der geistigen Entwicklung gelangt waren, ein dauernder Stillstand eintrat, der sich bei einzelnen noch bis auf den heutigen en Tag erhält. Wir müssen desshalb, wenn wir der weitern Entwicklung unserer Wissenschaft folgen wollen, uns demjenigen europäischen Lande zuwenden, das schon sehr frühe der Mittelpunkt der Weltbegebenheiten, die Bildungsstätte für Kunst und Wissenschaft wurde, und das ist das alte Griechenland. In diesem Lande konnten die Bildungskeime, die von Asien herüberkamen, gedeihen, in diesem Lande hat auch die Mediein ihren ersten Kampf durchgemacht, deren so viele nachher bis auf die Gegenwart folgten. Wie bei den orientalischen Völkern, so sehen wir auch bei den Griechen in der ältern Zeit die Mediein mit dem religiösen Cultus verbunden, daher begegnen wir unter den vielen Gottheiten, die in der Mythologie der Griechen aufgezählt werden, auch verschiedenen medicinischen. Die vornehmste und wichtigste unter ihnen ist Aselepios (Aes- eulapius). Ob Aesculap ursprünglich eine historische Person gewe- sen ist, können wir nicht entscheiden, die Sage berichtet über seine Abstammung und seine Wundercuren vielerlei, allein bei der Anschau- ung der Griechen, welche ihre Gottheiten als persönliche Wesen be- trachteten, kann uns dieses nicht auffallen und was die Wundereuren betrifft, so müssen manche Zeugnisse der Alten von der Geschicklich- keit des Aesculap nothwendig auf die Orakelsprüche bezogen werden, welche späterhin in seinen Tempeln ertheilt wurden. Sei dem, wie ihm wolle, so viel ist sicher, dass das griechische Volk den Aesculap als das Symbol, als den Inbegriff aller ärztlichen Kunst sich dachte und was die Zeit betrifft, zu welcher die Verehrung des Aesculap als medieinische Gottheit den Anfang genommen, so müssen wir nach Allem annehmen, dass dieses um 1100 v. Chr. nach der Besitznahme von Argos durch die Heracliden geschehen. Von dieser Zeit an wur- den zum Andenken an die grossen Wohlthaten, welche der Gesund- heitsgott den Menschen geleistet, zahlreiche Tempel durch ganz Grie- chenland erbaut und gottesdienstliche Personen angestellt, die dort Opfer verrichten mussten. Diese Aesculap’s- Tempel oder Asclepien und die Art, wie in ihnen der Cultus geübt wurde, spielen eine grosse Rolle in der Entwicklung der Heilkunde, daher es wohl gerechtfertigt sein mag, wenn ich etwas näher darauf eingehe. Es ist unverkennbar, dass die Asclepien-Priester ärztliche Kennt» nisse aus Tradition und Erfahrung hatten, und dass sie in der Be- handlung ihrer Kranken demnach als wirklich behandelnde Aerzte auf- traten und nicht nur als Vermittler zwischen den Kranken und dem BR rettenden Ascelepios. Aber wir finden doch, dass sie dem wunder- gläubigen Publikum gegenüber die letztere Stelle zu behaupten wünsch- ten und dass sie daher ihre Vorschriften und ihre Behandlungsweisen in den Nimbus religiöser Gebräuche hüllten. Dahin gehört vor Allem, dass sie nur in den Tempeln heilten; diese Tempel waren aber so gelegen, dass sie schon dadurch sich als Heilorte qualifizirten. Die Asclepien lagen nämlich sämmtlich in ge- sunden und angenehmen Gegenden, wo möglich weit entfernt von den Städten, die einen in frischen schattigen Hainen, die nicht allein die schädlichen Winde abhielten, sondern auch die Luft rein und gesund erhielten; an waldigen Hügeln oder wo diese fehlten, ersetzten künst- liche umfangreiche Gärten das, was die Natur von sich aus nicht leisten konnte; andere baute man auf hohe Berge, weil die Erfahrung lehırte, dass die Bergluft gesunder sei, als die Athmosphäre der Thäler. Man wählte auch gerne Gegenden, wo reines fliessendes Wasser in der Nähe sich befand; besonders gerne aber verlegte man sie an Orte, wo warme (Quellen oder Mineralquellen vorkamen, so dass schon die Alten mit Recht diesen oder jenen Tempel für bestimmte Krankheiten besonders heilbringend priesen, und in dieser Beziehung sind sie auch unsern jetzigen Ourorten und Bädern zu vergleichen. Zu diesen Tem- peln gehörte in der Regel einiges Land, bei einzelnen hatten die An- lagen einen Umfang von einer Stunde, jedenfalls durfte aber niemand in der Nähe des Tempels das Land bebauen. Was nun das Innere dieser 'T’empel anbetrifft, so zeigt sich auch in der Einrichtung derselben deutlich das Bestreben, die Mediein mit dem Cultus in Verbindung zu bringen; daher fand sich in diesen Tempeln ausser einigen andern allegorischen Figuren an einem pas- senden Platze die Bildsäule des Aesculap aufgestellt. Diese Bild- säule stellte in der Regel einen ältern Mann in langem, zum Theil übergeworfenem Gewande vor, in der einen Hand einen knotigen Stab, in der andern eine Schlange haltend. Wenn auch die Symbole, welche die Bildsäule umgaben, in den verschiedenen Tempeln wechselten, so blieben doch der Stab und die Schlange die stetigen Attribute der- selben, und besonders die letztere hatte auch ihre bestimmte Bedeu- tung, denn die Schlange war einerseits das Symbol der List und Wahrsagerei, andererseits betrachtete man sie wegen ihres Aufenthaltes in Höhlen und Grotten als die Wächterin der Heilquellen. Jedenfalls spielte die Schlange in den Asclepien eine grosse Rolle, denn gezähmte Schlangen wurden von den Priestern stets gehalten und ihre Abrichtung -- U Ar — war auch eine Hauptbeschäftigung derselben. Sie wurden in der Regel den Hilfesuchenden gezeigt und waren auch eines der Mittel, womit man den abergläubischen Laien zu imponiren suchte. Aber nicht nur in Bezug auf die Lokalität, wo die Mediein aus- geübt wurde, sondern auch in der Art des Empfanges und der Be- handlung der Kranken sehen wir unverkennbar das Bestreben, die eigentliche Praxis in den Nimbus des Cultus zu hüllen und bei den Laien die Vorstellung zu erhalten, dass die Krankheit eine unmittel- bare Schiekung der Gottheit sei, und daher nur durch diese oder durch deren Vermittler, die Priester, geheilt werden könne. Desshalb konn- ten auch die Hilfesuchenden nicht direkte in das Heiligthum eintreten, sondern sie mussten, wenn sie die Hilfe der Gottheit erflehen wollten, sich zuvor bestimmten Läuterungen unterziehen. Alle diese Vorbereitungshandlungen hatten hauptsächlich zum Zweck, die Erwartung zu spannen und die Phantasie mit allerlei Bildern der hoffnungsvollen Zukunft und grosser Aufschlüsse zu beschäftigen; nebenbei waren es medicinische Vorbereitungscuren. Zu den Bedingungen, welche von den Hilfesuchenden erfüllt werden mussten, um in den Tempel gelangen zu können, gehörte in erster Linie, dass sie 1 oder 2 Tage vor dem Betreten des heiligen Bodens fasten mussten; dieses mag allerdings in vielen Fällen die beste physische und psychische Vorbereitungscur gewesen sein. Dar- auf würden die Kranken von den Priestern empfangen und durch die Räume des Tempels geführt. Während dieser Wanderung wurden ihnen mit Umständlichkeit und in mystischen Ausdrücken die Wunder erzählt, die die Gottheit schon vollbracht und die Weihtafeln erklärt, die aus Dankbarkeit von den geheilten Kranken gestiftet worden. Die- ses Herumführen und Erklären hatte offenbar einen doppelten Zweck, einerseits musste dadurch die Einbildungskraft der abergläubischen Kranken erhöht und der Glaube an die Macht der Gottheit befestigt werden, anderseits hatten die Priester während dieser Zeit Gelegenheit die Kranken zu beobachten. Nachdem dieser zweite Akt vollendet war, schritt man zum drit- ten, nämlich zum Opfern. Das Opfer, das der Kranke der Gottheit bringen musste, war in der Blüthezeit der Tempelmedicin ein Widder, später liess man auch andre Thiere zu. Mit dem Opfer musste ein lautes Gebet um Mittheilung der göttlichen Offenbarung verbunden werden, das in einzelnen Tempeln sogar mit Musikalinstrumenten be- gleitet war. ee : Die letzte Vorbereitung nun, die vom Kranken noch erfüllt wer- den musste, war die, dass er ein Bad nahm, womit je nach Umstän- den Abreibungen, Begiessungen oder Einsalben verbunden wurden. Endlich, nachdem Alles dieses vorausgegangen und die Phantasie ge- hörig erregt war, durften sich die Kranken in dem Tempel selbst oder in dessen Nähe zur Ruhe legen, damit ihnen im Traume der Gesund- heitsgott erscheine, der ihnen die Mittel zur Genesung angebe oder die Heilmittel selbst offenbare; und dass viele dieser Kranken während der Ruhe phantastische Gesichtserscheinungen bekamen, lässt sich nach den vorausgegangenen Eindrücken wohl denken. Sehr häufig konnten die Kranken die Erscheinungen, die ihnen während des Schlafes vorkamen, nicht selbst deuten, desshalb mussten sie sich an die Priester gder Tempelwächter wenden, um von ihnen den Rathschlag der Gottheit oder die Auslegung einer allegorischen Gestalt, die ihnen erschienen, zu vernehmen, Dass in solchen Fällen die Glaubenszuversicht der armen Kranken häufig missbraucht wurde, lässt sich wohl denken; ja die Priester anerboten sich sogar, für die- jenigen, welche entweder aus Angst oder einem anderen Grunde nicht schlafen und träumen konnten, dieses Geschäft statt ihrer zu über- nehmen, wobei sie natürlich jeden beliebigen Traum den Kranken vor- erzählen konnten und auf seine Leichtgläubigkeit bauend ihm daraus die Rathschläge der Gottheit entwickelten; man nannte sie auch dess- halb ganz zweckmässig Traumhändler. Später hielten sich auch Philosophen und Redner in den Tempelgängen auf, welche den Kran- ken ihre Dienste als Traumhändler anboten. Die Heilmittel, die den Kranken im Traume erschienen oder die von den unterhandelnden Priestern empfohlen wurden, waren ver- schiedener Art. Sie bestanden entweder im Anrathen von Bädern, Leibesübungen oder es wurden ihnen unschädliche und gelindwirkende Kräuter empfohlen; in andern Fällen waren es aber auch heftige Mittel und tollkühne Rathschläge, zu deren Befolgung jedenfalls ein gehöri- ger Köhlerglauben erforderlich war. So z. B. ist die Tempelmediein mit dem nervenschwachen Redner Aristides bösartig umgegangen, nicht genug, dass sie denselben durch Gyps und Sehierling beinahe um’s Leben gebracht und durch unsinnige Aderlässe so entkräftete, dass er wassersüchtig wurde, sondern schliesslich empfahl sie dem entkräfte- ten Manne sich mitten im Winter nackt in den Fluss zu stürzen, was er auch von blinder Glaubenszuversicht befangen, Angesichts einer a mM — grossen Menschenmenge ausführte. Alle diese tollkühnen Heilversuche setzten ihm auch dergestalt zu, dass er zuletzt wahnsinnig wurde. Dureh die erwähnten Vorbereitungen, welche an den Kranken ausgeführt, durch die Befolgung der Rathschläge, welche ihnen in diesen Tempeln ertheilt wurden, oder durch den längern Aufenthalt in denselben, trat bei den einen Genesung und Besserung ein, andre mussten aber auch unverrichteter Dinge wieder abziehen. Bei allen diesen Handlungen war man aber stets darauf bedacht, das Vertrauen der Kranken zu erhalten oder zu gewinnen, fiel z. B. ein Rathschlag oder eine Cur unglücklich aus, so waren die Priester auch nicht ver- legen, indem sie das Nichtgelingen einfach dem Mangel an Glauben und Gehorsam von Seite des Kranken zuschrieben und so sehr oft dem physischen Leiden noch ein moralisches hinzufügten; überhaupt suchten sie alles zu vermeiden, was ihrem Rufe hätte schaden können; daher auch das Gebot, dass kein Kranker in der Nähe des Asclepion sterben dürfe, — Im entgegengesetzten Falle, wenn die Kranken gestärkt oder geheilt entlassen wurden oder ‘wenn die Rathschläge, die ihnen ertheilt worden, sich als heilbringend erwiesen, so wurden der angenommenen Grundlage der Formen entsprechend, die Aerzte nicht direkte hono- rirt, sondern es musste dem Gotte, dessen Vertreter sie waren, ein Opfer gebracht werden. Diese Geschenke bestanden entweder in baarem Gelde, das die Kranken in die Quellen warfen, denen sie ihre Heilung zuschrieben, oder sie beschenkten die Tempel mit einem werthvollen Gefäss, liessen auch die kranken Glieder in Gold oder Elfenbein ar- beiten und opferten sie nachher der Gottheit. Oft grub man auch die Namen der Kranken, ihre Krankheit und die angewandten Heilmittel auf Tafeln ein, die in einzelnen Tempeln sehr sorgfältig aufbewahrt und fortgeführt wurden. Hatte sich ein Arzneimittel besonders be- währt, so verewigte man den Namen desselben auf den Thürpfosten oder Säulen. ' Auf diese Weise wurde die Mediein in Griechenland Jahrhunderte lang ‚getrieben, Jahrhunderte lang hatten die Priester des Aesculap, die Asclepiaden, das Monopol für die Ausübung der Heilkunde in den Händen, und aus der grossen Anzahl von Aesculap’s Tempeln, es. werden deren über 60 mit Namen angeführt, muss man auch ent- nehmen, dass der Glaube des Volkes an dieselben ebenfalls ein grosser war. Es soll uns dieses auch nieht wundern, denn abgesehen davon, dass diese Art des Cultus vollkommen der Richtung damaliger Zeit entsprach, so musste das mysteriöse auf den Aberglauben berechnete = Verfahren gewiss nur Zutrauen erwecken. Wir Aerzte sind auch weit entfernt, darin etwas besonderes zu finden, denn zu allen Zeiten, trotz der fortschreitenden Cultur, sehen wir, dass die praktische Mediein sich da am meisten Anhänger unter dem Volke zu verschaffen wusste, wo sie sich mit Gaukelei und Charlatanerie umgab; selbst in der Ge- genwart müssen wir leider noch Zeugen sein, dass das, was in der Mediein mysteriös und wunderartig betrieben wird, von Einzelnen noch für höhere Weisheit gehalten wird. — Mögen auch viele Aesculap’s- priester diese Sachen gedankenlos und selbst gläubig mitgemacht haben, so ist doch nicht zu denken, dass nicht ein grosser Theil der Kunst- kniffe als solcher bewusst gewesen sein sollte und es ist deutlich, dass ein solches System priesterlichen Betruges, verbunden mit geistlosem Festhalten an hergebrachten Formen sich auf die Dauer nicht halten konnte. Wirklich gab es auch ausser den Tempeln viele Ungläubige und ausser den Tempeln erwuchs mit der Zeit diesen Priestern eine wirksame Concurrenz. Schon zur Zeit des Plato hatten die Priester- ärzte bei den Aufgeklärten allen Credit verloren und Aristophanes z. B. lässt in seinem „Plutus* den Sklaven Karion erzählen: er habe während des Tempelschlafs gesehen, wie ein Priester die der Gottheit verehrten Speisen heimlich in einen Sack gesteckt habe und damit verschwunden sei, wofür er sich auch an dem Weinkruge eines alten Weibes entschädigt habe. Wenn auch der Misskredit, in den die Tempelmediein allmälig verfiel, ein gerechter und verdienter war, so lässt sich auf der andern Seite doch nicht läugnen, dass in einzelnen Tempeln für die Heil- kunde auch Nützliches geleistet wurde. Die Sammlungen von Weih- tafeln, auf welchen die Krankheit mit den Mitteln aufgezeichnet waren, gaben der Nachwelt werthvolle Anhaltspunkte und man erzählt sich auch, dass Hippocrates, den Sie uoch werden kennen lernen, der Sammlung‘,dieser Erfahrungen Manches zu verdanken hatte. Hätten die Priester an der Sache wirkliches Interesse gehabt, wären sie bei diesem theurgisch - empirischen Systeme nicht eigensinnig stehen ge- blieben, so hätten sie selbst viel damit zum Besten der Menschheit ausrichten können; allein wir haben keinen einzigen Beweis in Händen, dass sich dieselben irgend welche Kenntniss von dem Baue oder irgend eine Vorstellung von den Verrichtungen des menschlichen Körpers zu verschaffen suchten. So konnte es nicht ausbleiben, dass das Ansehen dieser Priester allmälig untergraben und schliesslich vollkommen ver- niehtet wurde. Dazu haben auch die auftauchenden philosophischen r zum = und die damit in Verbindung stehenden weltlichen medicinischen Schu- len das ihrige beigetragen. Durch diese Concurrenz kam die Mediein aus den Priesterhänden in die weltlichen und wurde dadurch ein Ge- meingut der Nation. Dieser Uebergang war natürlich kein rascher, sondern verwirklichte sich nur allmälig. Wir wollen versuchen dem- selben zu folgen. Nach Allem, was uns bekannt ist, können wir annehmen, dass die Tempelmediein ungeschwächt ihre Herrschaft bis ungefähr zum 6. Jahrhundert vor der christlichen Zeitrechnung ausüben konnte. Bis zu dieser Zeit betrachtete man allgemein die Krankheit als eine Er- scheinung, welche dem absoluten Willen der Götter zugeschrieben werden müsse und von der nur die Gottheit die Menschen wieder be- freien könne. Noch niemand hatte es bis dahin versucht, eine Er- klärung der Wirkungen zu geben, einen natürlichen Zusammenhang zwischen Wirkungen uud Ursachen herauszufinden. Der erste der- artige Versuch ging von den alten Naturphilosophen aus. Indem sich diese die Aufgabe stellten, das Wesen der menschlichen Seele zu untersuchen und zu ergründen, mussten sie nothwendigerweise auch das Studium der Verrichtungen des menschlichen Körpers in den Kreis ihrer Betrachtungen hineinziehen, daher finden wir, dass dieselben schon sehr früh darüber grübelten, wie das Athmen zu Stande komme, die Verdauung erfolge und welcher Zusammenhang zwischen Krank- heitsprozess und Krankheitsursache bestehe; auf diese Weise wurde der erste Keim zu einer medicinischen Theorie, unabhängig von der theurgischen Richtung, gegeben; die Mediein oder wie man sie jetzt schon nannte, die Wissenschaft von den Verrichtungen des Körpers im gesunden und kranken Zustande, machte einen Theil der Philoso- phie aus, wie sie in den Händen der Priester einen Theil des reli- giösen Cultus bildete. — Diese ersten Versuche einer Theorie der Arzneikunde zu gründen, lassen uns allerdings“die Philosophie jener Zeiten noch in ihrer völligen Kindheit erkennen. Anstatt sich zuerst eine Kenntniss von den Bestandtheilen des Körpers zu verschaffen, wagten die damaligen Fhilosophen die kecksten Aussprüche über die Entstehung und Zusammensetzung desselben; anstatt die‘ Wirkungen des Körpers zu beobachten, grübelte man ihren Ursachen nach; je ‘weniger man die Natur kannte, desto dreister war man in der An- nahme von Ansichten, die man für ebenso viele Wahrheiten hielt; ein Verfahren, das uns übrigens lebhaft an die Bestrebungen der Natur- philosophen in neuerer Zeit erinnert. Das Detail dieser Erstlingstheorien me - © ist ein sehr mannigfaltiges, je nach den Ansichten, die sich die Ein- zelnen bildeten und es wird um so eher gerechtfertigt sein, in ‚das- selbe nicht einzugehen, als es weder allgemeines, noch besonderes wissenschaftliches Interesse bietet. Unter den ältesten Philosophen Griechenlands, die mit der Mediein in Verbindung standen, verdienen vor allem Pythagoras und seine Anhänger erwähnt zu werden, denn sie beschäftigten sich nicht nur mit der Theorie der Mediein, sondern übernahmen auch die Behandlung von Kranken; es ist dieser letztere Umstand beson- ders zu berücksichtigen, da wir hier zum erstenmale sehen, dass welt- liche Personen sich mit der Ausübung der Heilkunde beschäftigen. Pythagoras, der in Croton einen geheimen Bund oder Orden, allerdings zu andern Zwecken als medicinischen stiftete, hatte offenbar theils von Asclepiaden, theils von persischen und ägyptischen Priestern die An- leitung erhalten, Krankheiten zu behandeln; diese Kenntnisse theilte er seinen zahlreichen Schülern mit, welche sie aber vollkommen in sich bewahren mussten, denn unverbrüchliches Schweigen und blinder Gehorsam gehörten auch zu den Hauptpflichten derselben. Die Behandlung der Pythagoräer wich im Ganzen von derjenigen der Asclepiaden nicht ab, auch hei ihnen spielten Zauberformeln die Hauptrolle. Daneben hielten sie besonders viel auf strenge Diät, und unschuldige Kräuter, Salben u. dgl. waren die einzigen Mittel, die sie anwandten. Pythagoras sah vielleicht wohl ein, dass die Zauberfor- meln bei der Behandlung ziemlich überflüssig waren, allein er war genöthigt dieses zu thun, wenn er als Coneurrent der Tempelmediein auftreten wollte, sonst hätte das Volk kein Vertrauen zu seiner Heil- kunst gehabt. Nach der Auflösung und Zersprengung des pythagoräischen Bun- des, ein Ereigniss, das mit dem Tode des Stifters zusammenfällt, sehen wir einen Theil seiner Schüler, welche nach allen Gegenden sich. zerstreuten, als Aerzte auftreten. Viele von ihnen warfen die Maske des gelehrten und religiösen Betruges ab und erklärten öffent- lich, dass sie die Kranken bloss durch natürliche Mittel heilen wollten, sie machten sich auch anheischig andere Laien in dieser Kunst zu unterrichten. Sehr bald zeigte es sich auch, dass sie nicht vergebens an den gesunden Geist der Griechen appellirt hatten, denn bald fingen die Aufgeklärten unter ihnen an einzusehen, dass man sich sicherer diesen weltlichen populären Aerzten anvertrauen dürfe, als den ver- kommenen | Aesculapspriestern. Einige dieser Aerzte, welche sich = WW = besonders durch ihre Geschicklichkeit auszeichneten, erwarben sich bald grossen Zulauf und zahlreiche Schüler, welche für die Verbreitung ihrer Lehren sorgten; andere wanderten von Stadt zu Stadt und boten ihre Dienste den Kranken an, und führten ihres Herumwanderns wegen den Namen Periodeuten. Eine günstige Gelegenheit, um dieser weltlichen Mediein Eingang zu verschaffen, boten die Kampfschulen oder Gymnasien dar. Diese Anstalten hatten zunächst die körperliche Uebung der Jugend zum Zweck, sie wurden ursprünglich an Quellen und Flüssen in der Nähe von Asclepien erbaut und später mit den öffentlichen Bädern verbunden. In diesen Kampfschulen konnten die populären Aerzte ihre Mediein praktisch verwerthen, die Vorsteher derselben machten sich selbst mit den nothwendigen medieinischen Kenntnissen bekannt, lei- teten darnach die Leibesübungen und liessen die vorkommenden Krank- heitsfälle durch Angestellte besorgen. Daher sehen wir mit der Zeit diese Gymnasien zum Theil Heilanstalten werden, welche allerdings ibrer ursprünglichen Bestimmung nach eine besondere Richtung in der Behandlung zeigen mussten. Die Behandlung in diesen Kampfschulen bestand hauptsächlich darin, die Muskelthätigkeit zu üben und die Diät zu reguliren; ausserdem wurden Einreibungen und Kräuterwaschun- gen vorgenommen, doch sehen wir niemals innerliche Mittel anwenden. Manche dieser Gymnasten kamen auch als Aerzte in grossen Ruf, so Ikkus von Tarent und Herodikus von Selymbria. Das ganze Verfahren, die Art und Weise, wie die Curen geleitet wurden, lassen uns diese Gymnasien als die Vorläufer der heutzutägigen orthopädischen und heilgymnastischen Institute erkennen. Plato nennt auch geradezu die erwähnten Gymnasten die Erfinder der medieinischen Gymnastik. Jemehr nun die Zahl der weltlichen Aerzte zunahm, je mehr die Medicin ein Gemeingut des Volkes wurde, desto tiefer sank das früher so bedeutende Zutrauen zu den Asclepiaden; es war auch ein Zeit- punkt gekommen, wo sie mit den übrigen Aerzten nieht mehr eon- eurriren konnten, daher auch der Hass‘ der Asclepiospriester gegen die andern, der sich bei verschiedenen Gelegenheiten Luft machte. Die intelligentern unter ihnen sahen auch das Unhaltbare des bisherigen Zustandes ein, verliessen ihre Zaubermedicin, traten ebenfalls als öf- fentliche Aerzte auf und anerboten sich andere darin zu unterrichten. Se sehen wir zuerst die Asclepiaden von Knidos ihre Tempel zu welt- liehen Schulen umändern und bald folgten diesem Beispiele einige an- dere wie diejenigen von Kos. Po Auf diese Weise kam es, dass in der Periode, welche mit der Zeit des peloponnesischen Krieges zusammenfällt, drei verschiedene Clas- sen von Aerzten auftraten, die nach ihrer Abstammung entsprechende Namen führten: 1) die Asclepiaden, 2) die populären Aerzte und Periodeuten und 3) die Gymnasten; alle diese hatten auch ihre Ge- hülfen und Sklaven, welche später ebenfalls den Namen Aerzte an- nahmen. Diesem ärztlichen Personale, die Sklaven ausgenommen, stand es in der Regel frei, ihre ärztliche Kunst auszuüben, wo sie Leute fan- den, die sich ihnen anvertrauten, nur in Athen war das Recht zu praktiziren, um diese Zeit gewissen Bestimmungen unterworfen. So musste jeder, der in dieser Stadt als Arzt auftreten wollte, in einer öffentlichen Rede um Erlaubniss zur Ausübung der Kunst anhalten; er musste erzählen, was er bisher getrieben, wo und bei wem er seine Lehrzeit durchgemacht. Es waren auch schon zu jener Zeit Gesetze zum Schutze des Publikums vorhanden und der Staat verhängte be- deutende Strafen für muthwillige Verwahrlosung der Kranken. Im übrigen Griechenland galten keine derartige beschränkende Bestimmun- gen; daher sehen wir die Zahl der Aerzte in kurzem sich bedeutend ver- mehren; viele davon beuteten die Mediein zum blossen Gelderwerb aus und gingen mit ihren Kranken aufs gewissenloseste um; dazu kam, dass die Heilkunde von aller theoretischen Basis entblösst war, denn die auf willkürliche Voraussetzungen begründete Naturlehre der alten Phi- losophen war nichts weniger als geeignet, als Grundlage einer Erfah- rungswissenschaft zu dienen; mit einem Wort, eine rohe zusammen- hanglose Empirie war es, was man damals ärztliche Kunst nannte. Wir dürfen uns daher nicht wundern, wenn wir schon damals die heftigsten Streitigkeiten unter den Aerzten ausbrechen sehen, hervor- gebracht durch schnurstraks entgegengesetzte Meinungen; was der eine für das Beste hielt, wurde von dem andern als schlecht verworfen. Dadurch brachten sich die Aerzte in den Augen des Publikums be- greiflicherweise sehr herunter und Aristophanes hatte wiederholt‘ Ge- legenheit in seinen Comödien die Charlatanerie der Aerzte seiner Zeit zu verspotten. In dieser Beziehung zeichneten sich allerdings die Aselepiosprie- ster vortheilhaft aus, indem sie, so lange sie ihren Credit erhalten konnten, auch den collegialischen Anstand aufrecht erhielten, wenn auch der Grund, der sie zu gegenseitiger Lobesversicherung verband, ein egoistischer war. E NEAR Ein solcher Zustand konnte sich auf die Länge nicht halten, ent- weder musste gänzlicher Ruin eintreten oder ein Wendepunkt zum Bessern sich zeigen. Sollte denn die Medicin leer ausgehen, während ein grosser Theil der Künste und Wissenschaften im alten Griechen- land einen Grad der Ausbildung erreichte, über den die Nachwelt stets staunen muss? — Glücklicherweise ist dieses auch nicht erfolgt, denn mitten in diesem unseligen Treiben, wo Asclepiaden, Periodeu- ten, Gymnasten und Naturphilosophen einander in den Haaren lagen, trat endlich ein Mann auf, der dazu berufen war, das Gute, das noch vorhanden zu schützen und zu ordnen, das Schlechte zu vernichten, und so der Medicin eine neue Aera zu gründen, das war Hippo- erates, dem die Nachwelt mit Recht den Namen „Vater der Medi- ein* gegeben hat. Diese erste Reformation der Heilkunde ist wie alle Veränderun- gen im Reiche der Wissenschaften nicht plötzlich, nicht allein durch diesen einzigen Mann geschehen, sondern auch sie erfolgte allmälig, war durch verschiedene Thatsachen schon vorbereitet. Die Priester- familie der Asclepiaden von Knidos und Cos, deren letzterer Hippo- erates angehörte, hatte schon seit einiger Zeit den heiligen Schein ab- geworfen, den Aberglauben und Vorurtheil den Häuptern ihrer Ahnen verliehen, freimüthig hatten sie seit der Zeit den Lernbegierigen ihre Kenntnisse mitgetheilt; allein unser Asclepiade hatte zuerst den Muth und die Fähigkeit, gegen die herrschende Gegenwart aufzutreten und die Mediein bis auf eine gewisse Stufe der Vervollkommnung zu führen. Die Lebensgeschichte des Hippoerates müsste sehr interessant sein, wenn wir sie aus glaubwürdigen Zeugen kennten, allein leider ist sie uns nur aus Bruchstücken bekannt. Das Wahrscheinlichste, was sich darüber sagen lässt, ist Folgendes: Wie schon erwähnt gehörte er einer. Familie des Ordens der As- elepiaden auf der Insel Cos an; der Name Hippocrates war in der- selben sehr gebräuchlich, denn mit diesem Namen werden 7 Aerzte genannt, welche der Reihe nach aufgetreten sind. Der ganze Ruhm der Hippocratischen Familie eoncentrirt sich auf unsern Hippocrates, der der Il. in der Reihenfolge ist und dessen Geburt in das Jahr 460 v. Chr. fällt. — Den ersten Unterricht erhielt er von seinem Vater, der ihm die Anweisung ertheilte, die in den Tempeln vorkommenden Krankheiten zu beobachten und nach der Art der Asclepiaden zu be- handeln. Nach dem Tode seiner Eltern, der, wie es scheint, früh- zeitig erfolgte, verliess der junge wissbegierige Hippoerates seinen 2 Geburtsort und begab sich auf die Wanderung, um andre Schulen und Ansichten kennen zu lernen. So kam er zum Gymnasten Herodikus von Selymbria, dessen eifrigster Schüler er wurde, längere Zeit hielt er sich auch bei dem Philosophen Gorgias in Athen auf; die meisten medieinischen Kenntnisse aber schöpfte er aus den Weihtafeln, welche in den verschiedenen Aeseulap’s Tempeln aufbewahrt wurden, ameisen- artig sammelnd zog er von Tempel zu Tempel und benutzte so mit seinem klaren Geiste sichtend, die zum Theil werthvollen Beobachtun- gen der Alten; er gesteht es auch in seinen Schriften, dass er einen grossen Theil des Materials, das sie enthalten, seinen Altvordern ver- danke. Nach seinem Geburtsort Cos scheint er nicht mehr oder nur auf kurze Zeit zurückgekehrt zu sein, sondern er verlebte die grösste Zeit seines Lebens in verschiedenen Städten Thessaliens, so nament- ” Jich zu Larissa, wo er auch in seinem 83. Jahre starb. Wie jede Lebensgeschichte grosser Männer von der Nachwelt mit Mährehen und Anekdoten geschmückt wird, so fehlen diese Illustra- tionen auch bei derjenigen des Hippoerates nicht. So z. B. wird er- zählt, er habe sich längere Zeit als Leibarzt beim König Perdikkas von Maeedonien aufgehalten und denselben von der Schwindsucht ge- heilt. Dem Artaxerxes Macrochir von Persien, der ihn zu sich be- rufen, soll er die ärztliche Hülfe aus Patriotismus abgeschlagen haben. Unter den vielen berühmten Curen, die von ihm erzählt werden, figurirt auch die, dass er den Philosophen Demoeritus von Abdera vom Wahnsinn geheilt habe. Da uns leider viele der ächten Hippo- eratischen Schriften entgangen sind, so kann man auch nicht sagen, ob diese und viele andre Erzählungen wahr sind, in den wenigen litterarischen Ueberresten, die wir von ihm besitzen, ist nichts davon enthalten; der Umstand aber, dass viele dieser Erzählungen bald nach seinem Tode niedergeschrieben worden sind, gibt uns wenigstens den Beweis, dass er schon zu seiner Zeit als Arzt grosse und verbreitete Anerkennung gefunden. Es hat begreiflicherweise nur ein specielles medicinisches Interesse, in das Detail der hippoeratischen Schriften einzugehen, daher ich hier- von abstrahiren muss, dagegen erlauben Sie mir noch einige Bemer- kungen über seine allgemeine Bedeutung. Bei seinem Auftreten hatte Hippocrates eine doppelte Aufgabe zu erfüllen, einerseits musste er gegen den gedankenlosen Empirismus einschreiten, der unter den Aerzten seiner Zeit eingerissen war und anderseits die Mediein den Händen der Naturphilosophen entwinden, Fo. en welche aus derselben ein hohles, auf blosse Vermuthungen gestütztes System verfertigt hatten. Die grosse Aufgabe, die Hippoerates sich vorgenommen hatte, wurde von ihm auch auf eine für die damalige Zeit staunenerregende Weise gelöst. Er zeigte uns zuerst, dass der ‘Weg der Beobachtung in allen Wissenschaften der einzige ist, der zum Ziele führt, dass auch in der Mediein die Vernunft irre leitet, wenn sie nicht von der Erfahrung unterstützt wird. Von diesen Grundsätzen ausgehend, hat er eine Mediein geschaf- fen, die zwar keine wissenschaftliche im heutzutägigen Sinne genannt werden kann, aber doch dieselbe zu einer auf bestimmte Erfahrungs- regeln gegründeten Kunst erhoben. Seine Schreibart, die Darlegung seiner Beobachtungen, und die Art, wie er sich seinen Gegnern ge- genüber ausdrückt, zeugen von einer wohlthuenden Frische und Ruhe des Geistes und einer ernsten Auffassung des ärztlichen Berufes, ver- bunden mit einer aufrichtigen religiösen Denkungsart. Alles Pomp- hafte und Anmassende war ihm fremd, dieses beweiset auch eine Stelle in seinem Buche über die Gelenkkrankheiten, welche also lau- tet: „Wenn es möglich sein sollte, die Kranken auf mehrfache Weise „herzustellen, so soll man den am wenigsten auffallenden Weg wäh- „len; denn dieses ist sowohl eines ehrenhaften Mannes würdiger; „als auch der Kunst angemessener, weil es nicht darauf berechnet ist, „bei den Laien Aufsehen zu erregen.“ Natürlich dürfen wir nicht vergessen, dass Hippocrates zu einer Zeit gelebt hat, in welcher die Kenntnisse vom Baue und den Ver- richtungen des menschlichen Körpers höchst ungenügende waren. Denn einerseits sind Untersuchungen menschlicher Leichen wegen damaliger Vorurtheile gar nicht möglich gewesen und anderseits hatte man von dem auf physikalische und chemische Gesetze sich stützenden Mecha- nismus des Körpers nur dunkle Vorstellungen. Daher kommen in seinen Werken falsche Auffassung und falsche Deutung zur Genüge vor. Es ist auch nicht das Spezielle seiner Medeein, was uns veran- lasst ihn so hoch zu achten, sondern die Methode der Beobachtung, die er in die ärztliche Praxis eingeführt hat. Mag Hippocrates noch so viel Irriges gesagt haben, er wird stets ein Muster der Beobach- tungstreue und der praktischen Sorgfalt sein; immer wird man zuge- stehen müssen, dass er zuerst in der Mediein die Bahn gebrochen und das vernünftige Denken an die Stelle der theoretischen Spekula- tion, die gründliche Beobachtung an die Stelle des empirischen Glau- bens gesetzt hat. imiir 2 Nr) So wurde zuerst die Mediein als eine von dem Einflusse einer fremdartigen Kaste freie Kunst geschaffen, indem ein Mann auftrat und die zerstreuten Anfänge sammelte, welche als mehr zufällige Neben- äusserungen anderer Bestrebungen erschienen waren und indem er mit ordnendem Geiste aus dem vorhandenen Material ein System baute. Ist dieses System für uns auch nur noch von historischem Interesse, sind selbst die einzelnen in seinen Werken niedergelegten Erfahrungen für uns grösstentheils werthlos, so bleibt Hippocrates doch immer der Typus eines wissenschaftlichen Arztes, welcher frei von Einseitigkeit alle Quellen des Wissens anerkennt und damit seine Wissenschaft auf breitester Basis aufbaut und als solcher ist der grosse Mann von Cos auch heute noch für uns Gegenstand der Hochachtung und Verehrung. Die Familie im deutschen und schweizerischen Recht. Akademischer Vortrag gehalten vor einem gemischten Publikum von Dr, ALOYS v. ORELLI, Vor mehreren Jahren ist von dieser Stätte aus in einem ebenso gehaltvollen als anziehenden Vortrage die Idee des Rechtes mit be- sonderer Rücksicht auf die socialistischen Theorien entwickelt und darin das Eigenthum als ein Grundpfeiler der Rechtsordnung darge- stellt worden. Möge es mir heute vergönnt sein, ein anderes Fun- dament unseres staatlichen und gesellschaftlichen Lebens, die Fami- lie, zum Ausgangspunkt meiner Betrachtungen zu nehmen und Ihnen, soweit es die Zeit gestattet, die Bedeutung des Familienrechtes und seinen Zusammenhang mit dem gesammten Rechtsorganismus vor Augen zu führen. Dieses Thema bietet mir den Vortheil , dass ich an Ver- hältnisse anknüpfen kann, die Ihnen Allen bekannt sind, dagegen ist der Stoff ein so umfangreicher, dass es unmöglich wäre, denselben vollständig zu behandeln; es ist diess auch keineswegs meine Absicht, sondern vorzüglich beseelt mich der Wunsch, Ihnen die Vorzüge der deutschen Rechtsanschauung auf diesem Gebiete hervorzuheben und zu zeigen, wie dieselbe in der Schweiz, insbesondere auch in unserer Vaterstadt fortwährend lebendig ist. Zuerst wird es wohl nöthig sein, einige kurze Bemerkungen vorauszuschicken, welche dem Nicht-Juristen das Verständniss erleichtern sollen. Die erste und älteste Grundlage der menschlichen Gesellschaft ist die Ehe, welche auf göttlichem Gesetze beruht. In der That bedeutet auch das deutsche Wort Ehe vom ahd. ea oder ewa herstammend, nichts Anderes als Gesetz, Bund, Band!). Auf der Ehe ruht die Familie. "Mit diesem Ausdruck bezeichnet man bekanntlich sowohl die Gemein- schaft der Ehegatten unter sich als diejenige, welche die Eltern mit, ihren Kindern verbindet. Zuweilen braucht man auch das Wort in einem weitern Sinne, wovon später die Rede sein wird. Wie nun die Ehe durch die Naturordnung bedingt ist und durch dieselbe der Gegensatz der Geschlechter zu einer höhern Einheit verbunden wird, so liegt auch dem Kindschaftsverhältniss das natürliche Bedürfniss der !) Grimm, deutsche Rechtsalterthümer. 2. Ausg. 8. 417. Wissenschaftliche Monatsschrift, IV, 6 Pe Erziehung der kommenden Generationen durch die bereits herange- wachsene zu Grunde und es ist also auch nach dieser Seite hin von der Vorsehung in wunderbarer Weise die nöthige Vorsorge getroffen. Die Familie besitzt also nach den beiden in ihr enthaltenen Richtungen hin eine durch die Natur gegebene Basis; soll aber den höhern Be- dürfnissen der menschlichen Gesellschaft Genüge geleistet werden, so muss jene natürliche Gemeinschaft durch einen sittlichen Gehalt ver- edelt und zugleich in rechtliche Form gebracht werden. Das Recht muss aber hier dem höhern sittlichen Zweck der Verhältnisse gemäss sich gestalten und es gibt daher kein Rechtsinstitut, welches sich mehr durch seinen ethischen Charakter auszeichnet, als die Familie. Es ist namentlich die Ehe als Basis von Rechtsverhältnissen nothwendiger- weise Monogamie und in der That wurde diess von jeher von allen eivilisirten Völkern anerkannt. Indem die Familie als solche Grundlage mannigfacher rechtlicher Verhältnisse wird, so spricht man von einem besondern Familien- recht, welches einen wesentlichen Bestandtheil des Privat- oder Civil- rechtes bildet. Es fallen hier zuerst in Betracht die rechtlichen Be- ziehungen der Ehegatten zu einander, vornehmlich die Regelung ihrer Vermögensverhältnisse, ferner das Elternrecht oder die wichtige Lehre von der väterlichen Gewalt. Was hingegen die Vorschriften über Ein- gehung und Scheidung der Ehe anbetrifit, so gehören dieselben bei den christlichen Völkern eigentlich mehr in das Gebiet des Kirchen- rechts. Aus der Familie entspringt ferner ein anderes wichtiges Rechts- Institut: die Vormundschaft, welche in erster Linie für verwaiste Kinder einen Ersatz des fehlenden Familienhauptes bieten soll, dann aber auch andern Personen zu Gute kömmt, welche in Folge von Geisteskrankheit oder körperlichen Gebrechen oder wegen moralischer Fehler (Verschwendung) eines rechtlichen Schutzes bedürfen. Endlich steht die Erbfolge mit der Familie ebenfalls in nahem Zusammenhang. Es leuchtet auf den ersten Blick ein, dass die Gestaltung des Familienrechts für das Leben des Einzelneu, wie für die Geschicke der Nationen den allergrössten Einfluss ausübt. Je höher der gei- stige und sittliche Culturzustand eines Volkes ist, desto reiner und edler wird sich auch sein Familienrecht ausprägen: bei den christlichen Völkern muss nothwendigerweise das Familienrecht ganz anders sich gestalten als bei den heidnischen, denn das Christenthum hat zuerst den Frauen eine richtige, den Männern ebenbürtige Stellung ange- wiesen, sie herausgehoben aus dem Stande der Dienenden und die Ehe — 817 u in idealster Weise verklärt zu einem Bunde, dem die katholische Kirche die Natur des Saeraments beilegte. Die Heiligkeit der Ehe, Zucht und Sitte im häuslichen Kreise sind die wichtigsten Grundlagen eines gesunden und geordneten Volkslebens.. Eine zu laxe Organisation lockert die Familienbande, eine zu strenge hemmt die Selbstentwick- lung des Individuums und schlägt die persönliche Freiheit in Fesseln. Im Familienrecht, insbesondere in der Lehre von der väterlichen Ge- walt, müssen sich die beiden grossen Prineipien, deren harmonische Vereinigung die schwierige Aufgabe jedes ächten Staatsbürgers, vor Allem aber des wahren Republikaners ist, die Waagschale halten: das Prineip der Unterordnung nämlich, wodurch allein eine Staatsordnung und ein vernünftiges Zusammenleben der Menschen möglich ist und das Prineip der freien Selbstbestimmung, welches die allseitige Ausbildung des Einzelnen und die ungehemmte Entwicklung des Ganzen erhält?). Ich will das Gesagte durch zwei Beispiele veranschaulichen: Eine wesentliche Ursache der gesunden staatlichen Zustände Englands, die aber häufig ganz übersehen werden, liegt gerade auch darin, dass hier das Familienleben seine schönsten Blüthen entfaltet; das den Britten innewohnende Autoritätsgefühl für Gesetz und Ordnung hat im häus- lichen Kreise seine kräftigen Wurzeln geschlagen und nirgends wohl werden die Frauen so hochgeachtet als in dem freien England. Blicken Sie von diesem gesunden Organismus nach dem Extrem auf der andern Seite, nach dem sprichwörtlich gewordenen kranken Mann, der Türkei. Hier wird trotz aller europäischer Civilisations- Experimente nie ein kräftiges Staatsleben entstehen können, weil die wahre Familien-Grundlage gänzlich fehlt. Gehen wir nun nach dieser Einleitung zu unserer eigentlichen Aufgabe über. Es ist ein Vorzug des deutschen vor dem römischen Rechte, dass es die Familienverhältnisse von einem viel idealern Gesichtspunkte auffasst. Zwar muss man ja nicht etwa meinen, dass die Römer den ‘religiösen und sittlichen Charakter der Ehe igno- rirt hätten, im Gegentheil, sie haben von dieser eine sehr würdige ‚Vorstellung, aber sie sind nicht dazu gekommen, dieser Idee auch im Rechtsgebiet den entsprechenden Ausdruck zu geben. Sie normiren ihren Rechtsorganismus scharf und konsequent, trennen das sittliche Gebiet gänzlich vom rechtlichen und überlassen das erstere dem Ge- 2) Vgl. Dernburg Rede gehalten beim Antritt der Professur des gemeinen Civilrechts an der Universität Zürich. Zür. 1854. (Ueber die väterliche Gewalt.) wissen des Individuums. Das deutsche Recht dagegen verflicht die ethischen Prineipien in seine rechtliche Auffassung und gewinnt so einen höhern Standpunkt. Jederzeit wird der scharfdenkende und verständige Jurist dem römischen Recht seine Bewunderung zollen, aber der Jurist von Gemüth wird sich stets mehr zum deutschen Rechte hingezogen fühlen. Diese innere Verschiedenheit der beiden Rechte spricht sich am allerprägnantesten im Familienrechte aus. Ich will es versuchen, Ihnen dieselbe an einigen der hauptsächlichsten Punkte klar zu machen. Das lateinische Wort „familia “3) bedeutet ursprünglich den In- begriff alles dessen, was dem privatrechtlichen Willen einer selbst- ständigen Person unterworfen ist, das ganze Hauswesen; insbesondere aber die Gesammtheit der Sklaven, welche den wesentlichsten Theil des Vermögens eines römischen Hausvaters auswachten. Entsprechend dieser Bedeutung fällt bei den Römern das ganze Verhältniss zwischen Ehemann und Frau, zwischen Vater und Kind, unter den Begriff der Vermögens-Objekte; die Pflichten der Ehegatten gegen einander sind hier nur sittliche Pflichten, die Ehe ist ein Akt des freien Willens der Einzelnen und es ist auch eine willkürliche Scheidung jederzeit möglich. Wohl kann man sagen, das römische Recht habe es mit richtigem Takte vermieden, jene ehelichen Pflichten, die ja doch dem innersten Leben angehören, durch Rechtsnormen zu regeln ; allein die Vermögensverhältnisse sollten denn doch in einer Weise geordnet sein, welche dem wahren Wesen der Ehe entspricht. Das ist aber durch- aus nicht der Fall. Die Römer kennen nur eine Alternative: entweder wird die Frau mit ihrem Vermögen der Herrschaft und Gewalt des Mannes unbedingt unterworfen, ähnlich wie eine Tochter, so dass von einer Rechtsfähigkeit und Selbstständigkeit durchaus gar keine Rede ist, oder aber sie bleibt vollkommen frei und unabhängig von dem Manne und sie oder ihr Vater behält auch ihr Vermögen unter eigner Verwaltung und zum eignen Gebrauche, mit einziger Ausnahme der dos, d. h. der zur Tragung der Haushaltungskosten bestimmten Mit- gift. Das erstgenannte Verhältniss, welches mit dem Ausdruck manus bezeichnet wird, war in der ältern Zeit das Regelmässige. Hier er- warb der Mann durch die Ehe das ganze Vermögen der Frau und &) Vergl. Festus s. v. fam u. 1. 195 Dig. d. V. 8., ferner Ersch und Gru- ber s. v. familia. Erste Sektion. Bd. 41. famel. = servus. Also familia: Alles, "was. dienet, unterworfen. ist. =, mw = dessen spätere etwaige Vermehrung. Starb sie, so blieb ihr Vermö- gen in der Familie ihres Mannes. Starb dagegen der Mann oder dessen Vater, so erbte sie, wie eine Tochter oder eine Enkelin, zwi- schen ihr und den Kindern ihres Mannes fand das gleiche erbrecht- liche Verhältniss statt, wie zwischen Geschwistern. Bei der Ehe ohne manus dagegen hatte der Mann, wie bereits angedeutet, absolut gar keine Rechte am Frauengut. Uebrigens ist nicht daran zu zweifeln, dass nicht das Leben vielfach die Inconvenienzen des Rechts gemil- dert habe. Ganz anders gestalten sich die ehelichen Verhältnisse bei den Germanen. Schon in der vorchristlichen Zeit wurde nach den Berich- ‚ten von Taeitus®) die Frau als Genossinn des Mannes in Glück und Unglück (socia laborum perieulorumque) hochgehalten und die Ehe als unauflösliches Verhältniss betrachtet. Nachher hat unter dem Einflusse des Christenthums diese Auffassung dahin geführt, die Ehe rücksicht- lich ihrer Eingehung und Auflösung als kirchliches Institut zu behandeln. Der Mann als das Haupt der Familie und als der natürliche Beschü- tzer des Weibes ist ihr ehelieher Vormund, sie steht unter sei- nem mundium, demzufolge nimmt auch der Mann ihr Vermögen in seinen Besitz, oder wie die Quellen sich ausdrücken: „in seine Gewere zu rechter Vormundschaft.‘ Das Vermögen beider Gatten erscheint während der Ehe als ein einheitliches, als ungezweites Gut. In der Regel zwar behält die Frau das Eigenthum an ihrem Vermögen, aber der Mann hat dessen Verwaltung und Nutzniessung. Nach dem Tode des einen Gatten fällt es bei kinderloser Ehe wieder an die Familie des Verstorbenen zurück. Noch mehr entsprechen der germanischen Idee des ungezweiten Gutes die verschiedenen deutschen Systeme der sog. Gütergemeinschaft, wonach mit Bezug auf das ganze Gut oder rücksichtlich gewisser Bestandtheile des Vermögens das Eigenthum des Einzelnen gar nicht mehr unterschieden wird. Blicken wir nun auf die Stellung des Vaters gegenüber den Kin- dern, so zeigt sich hier wieder der gleiche schroffg Gegensatz. Bei den Römern nämlich gilt die strengste patria potestas, d. h. ein un- bedingtes Gewaltsverhältniss des Vaters über seine Kinder wie über Sklaven, welches fortdauert, so lange der Vater lebt. Nicht Alters- schwäche, nicht Wahnsinn desselben heben diese Gewalt auf, weder 4) Tacitus Germania cap. 18. u Mündigkeit noch Verheirathung befreien das Kind. Nur des Vaters Tod kann sie beendigen. Wohl gab es im Laufe der Zeiten ein künst- liches Mittel, die Emaneipation (Scheinkauf), um sie zu lösen, allein der Vater musste seinen Willen dazu geben, zwingen konnte man ihn nicht, und dann waren auch alle Familienbande gelöst. Nach dem ältesten Rechte konnte der römische Vater seine Kinder sogar tödten und verkaufen, ja selbst wenn der Sohn die höchsten Staatsstellen be- kleidete, änderte diess nichts in dem Gewaltsverkältniss. Dass kein Missbrauch hievon gemacht werde, das überlassen die Römer dem Gewissen des Einzelnen. Der Staat mischt sich nicht ein, höchstens indirekte kann durch nota censoria eingeschritten werden. Aus dem Mitgetheilten erklärt sich auch, dass der Sohn rechtlich völlig unfähig ist, etwas Eigenes zu besitzen; was er erwirbt, gehört dem Vater. Allmälig, aber nur langsam wurde diese uns fast unbegreifliche po- testas gemässigt, immerhin blieben die Fundamente der alten römischen Familienverfassung bis in die spätere Kaiserzeit hinab bestehen. Nur bei einer grossen Gesinnung konnte soleh strenge häusliche Gewalt gedeihlich sein. In diesen eisernen Banden, in dieser grossartigen Entsagung liegt ein wichtiges Moment der Macht des alten Roms. Bei den Germanen wird im Gegensatz hiezu die Stellung des Vaters gegenüber dem Haussohn ebenfalls vom Gesichtspunkt der Vor- mundschaft aus betrachtet. Der Vater hat nur eine beschränkte Ge- walt über Person und Vermögen der Kinder?); er hat zugleich auch Pfliehten ihnen gegenüber, nämlich diejenigen des Schutzes und der Erziehung. Zwar bis zum Alter der Waffenfähigkeit oder Mündigkeit ist der Germane auch unter strenger Zucht, aber der waffenfälige Sohn ist eignen Rechtes und mit Stolz blickt der Vater auf seine Unabhängigkeit®). Sobald der Sohn einen eignen Heerd gründet, so wird ihm ein T'heil des Familiengutes überlassen, damit er dem neuen Hause seine Kräfte widme. Dieser Anschauung gemäss hat auch die deutsche Mutter eine ganz andere Stellung zu ihren Kindern als die römische. Vom sittlichen Standpunkt aus betrachtet ist das Verhält- niss der Mutter zu den Kindern dem des Vaters ähnlich, nur tritt natürlich, so lange der Vater lebt, ihre Autorität in den Hintergrund; 5) Wohl hatten in den ältesten Zeiten die Germanen auch das Recht, ihre Kinder auszusetzen oder in die Knechtschaft zu verkaufen, aber mit dem Er- scheinen des Christenthums musste natürlich diese barbarische Sitte verschwinden. S. Grimm D. R. Alterth., 8. 455 ff. 6) Kraut Vormundschaft II. S. 586 fi. = HE immerhin hat sie einen Antheil an der Erziehung des Kindes und bei einigen deutschen Völkerstämmen erhielt sogar die Mutter wirkliche Vormundschaftsrechte, wenn der Vater starb’). Es möge sich hieran die Bemerkung anknüpfen, dass im deut- schen Recht die Vormundschaft an das Familienrecht sich an- lehnt, während bei den Römern die Stellung des Tutors gegenüber seinem Pupillen nicht nach dem Vorbild der väterlichen Gewalt ge- schaffen ist, sondern zunächst als ein rein obligatorisches Verhältniss erscheint, und für ähnliche Bedürfnisse in der Kuratel eine Aushülfe gegeben wird. Das deutsche Recht kennt ferner eine Familie im weitern Sinne des Wortes. Die Familienglieder sind verpflichtet, einander gegen Gewalt und Unrecht beizustehn, daraus hat sich in älterer Zeit, wo die Staatsgewalt noch nicht so ausgebildet war, wie heute, — wie man ilberhaupt nicht vergessen darf, dass die Familie in den primi- tiven Zuständen eine höhere Aufgabe hat, als bei vorgeschrittener Kultur — das System der Blutrache entwickelt, später das Recht der Verwandten das Wergeld des Getödteten zu fordern. Aus der- selben Idee entspringt die Unterstützungspflicht für unvermö- gende Verwandte, sowie die im Interesse der gesammten Familie be- schränkte Dispositionsbefugniss über das Vermögen, mit andern Wor- ten der Grundsatz, dass der Eigenthümer seinen Grundbesitz nur im Falle echter Noth oder mit Einwilligung seiner nächsten Erben ver- äussern dürfe. Die Verwandten haben auch binnen bestimmter Zeit ein Rückkaufsrecht. Eigenthümlich sind dem deutschen Rechte ferner die sog. Familien- oder Stammgüter. Von alle dem wissen die Römer nichts, die Freiheit des Einzelnen über sein Vermögen zu schalten wie er will, kann dort nicht beeinträchtigt werden durch Familien-Rücksichten. Zur weitern Familie gehört nach deutscher Rechtsanschauung auch das Gesinde; es wohnt ja im gleichen Hause mit der Herrschaft; die Interessen sind gemeinschaftliche, denn die Wohlfahrt der letztern bedingt auch diejenige der erstern. Demgemäss hat die Dienerschaft Anspruch auf Schutz, ist aber ihrerseits wiederum zu besonderer Treue und Gehorsam verpflichtet$). eu m ?7) Nämlich bei den Burgundern und Westgothen. Man könnte diess zwar aus dem spätern römischen Recht (Nov. 118 Cap. 5) herleiten, ich halte es in- dessen für richtiger, diese Vormundschaft aus der germanischen Auffassung des elterlichen Verhältnisses zu erklären. 8) Den Germanen war zwar die Sklaverei auch bekannt, aber es ist merk- = ‚Oh + ee Anschliessend an das Gesagte möchte ich auch des Erbrechtes noch mit wenigen Worten Erwähnung thun. Ein Vermögen, als In- begriff von Rechten und Verbindlichkeiten, besteht zunächst nur in Beziehung auf eine bestimmte Person, welche Subject desselben ist. Mit dem Tode dieser Person würde nun nach abstracten Begriffen dieses Vermögen herrenloses Gut werden. Allein was der Familien- vater sich während seines Lebens erworben hat, wollte er nicht bloss für sich, sondern auch für seine Angehörigen besitzen und bewahren. Hatte er bei Lebzeiten die moralische und die rechtliche Pflicht für den Unterhalt der Seinigen, für die Erziehung der Kinder zu sorgen, so ist es nur natürlich und billig, wenn sein Vermögen, entweder in Folge seines letzten Willens, oder beim Mangel eines solchen, in Folge gesetzlicher Vorschrift seinen Nachkommen und Blutsverwandten bleibt. Diesen Gedanken hat nun das deutsche Recht vor allen festgehalten. Indem es viele Rechtsregeln in sinnigen und kurzen Sprichwörtern auszudrücken pflegt, sagt es: „der nächst’ am Blut, der nächst‘ am Gut.“ Noch weiter gehen die Sprichwörter: „Wer will wohl und selig sterben, lässt sein Gut den nächsten Erben“, und „Gott nicht, der Mensch macht die Erben)“, welche geradezu darauf hindeuten wollen, dass alle Erbfolge auf der Blutsverwandtschaft, auf der Fa- milienverbindung beruhe und dass weder Testament noch Vertrag die Succession ändern dürfe. Dieses war die ältere Auffassung der Deut- schen und in der 'That kannten sie ursprünglich kein Geschäft, wo- durch jemand über sein Vermögen Anordnungen treffen konnte 1), Später erst entwickelte sich der letzte Wille und die Erbverträge, bilden aber immer die Ausnahme. Hierin liegt eine sehr bedeutende und äusserst interessante prineipielle Differenz zwischen dem deutschen und römischen Recht. Bei den Römern beruft zwar auch das Gesetz der natürlichen Bestimmung des Vermögens gemäss gewisse, durch enges Familienband nächstberechtigte Personen zu Erben. Allein von Alters her 11) hatte der würdig, wie sie doch dieselben anders erklären, resp. nicht zu rechtfertigen suchen, wie die antike Welt. Vgl. S. Sp. IH. 1, 2 Schmidt der prineipielle Unterschied zwischen dem römischen und germanischen Rechte, I. S. 209—212. °) Hillebrand, deutsche Rechtssprichwörter S. 143 ff. 10) Vergl. Tacitus Germania cap. 20. '!) Genauer gesagt seit dem XII. Tafelgesetz. Mit der ältesten Staats- und Familien-Verfassung wäre diese Dispositionsfreiheit des Individuums unverträg- lich gewesen, daher die Form der Testamentserrichtung vor der Volksversamm- -— 3 — Erblasser die freie Befugniss dieses Gesetz durch seinen Willen zu brechen und es bildet in Rom gerade die testamentarische Erbfolge den Mittelpunkt des ganzen Erbrechts. Es war eines der vorzüglich- sten Rechte des Civis romänus über seinen Nachlass durch freien Wil- len zu verfügen. Im spätern römischen Recht ist allerdings diese Be- fugniss nicht mehr ganz unbeschränkt. Dasselbe kennt nämlich soge- nannte Notherben, d. h. Personen, die ohne bestimmte und wichtige Gründe nicht übergangen werden dürfen; allein der Gegensatz zwischen der deutschen und der römischen Auffassung zeigt sich doch immer noch sehr schlagend darin, dass in Folge des deutschen Familien- prineips dort die Erbschaft den Erben ohne weiters zufällt, während es hier stets eines bestimmten Erbschafts-Antrittes, d. h. einer Erklä- rung zur Annahme des Nachlasses bedarf. Man hat in neuerer Zeit wie das Eigenthum so auch das Erbrecht angefeindet und in Zweifel gezogen. Wenn man nun nach der Rechtmässigkeit und inneren Be- gründung der Erbfolge überhaupt frägt, so lässt sich dieselbe gewiss von der eben angedeuteten Idee aus, also vom Standpunkt des Fami- lienzusammenhanges, recht wohl vertheidigen, während diess schwieriger sein dürfte mit der römischen Auffassung der absoluten Verfügungsfreiheit. Fassen wir das bisher Gesagte zusammen, so zeigt sich uns also im ganzen Gebiete des Familienrechts bei den Römern die un- bedingte Herrschaft des berechtigten Subjectes, der freje Wille des Familienhauptes, daneben die absolute Unterordnung der seiner Gewalt subjieirten Personen; bei den Germanen dagegen ist die Gewalt des Familienhauptes durch die Pflichten desselben gemässigt; in gemüth- lieh-ethischer Weise gestaltet der deutsche Volksgeist sein Familien- recht und manche sittliche Pflichten, wie z. B. die Unterstützung armer Verwandter, die Sorge für die Erziehung der Kinder, der Schutz des Gesindes werden zu Rechtspflichten erhoben. ‘Ausser den privatrechtlichen Verhältnissen, welche hier vorzugs- weise besprochen werden mussten, äussert aber die Familie bei den Deutschen auch in andern Gebieten ihren tiefgreifenden Einfluss. Es ist gewiss gerade desshalb um so auffallender, dass die deutsche Sprache für diesen Begriff kein eignes Wort hat, allein unsere Rechts- quellen brauchen hiefür zwei andere Ausdrücke, welche den von mir hervorgehobenen Ideen in umfassendster Weise entsprechen, nämlich lung oder vor dem Heere. Vergl. Müller Lehrbuch der Institutionen, Leipzig 1858. S. 715 fi. Le „das Haus“ und „die Blutsfreundschaft“ oder „Sippe.“ In beiden ist die Familienverbindung ausgedrückt. Das Haus, als solches, als der Sitz der Familienglieder ist ein heiliger Heerd, der eines besondern Schutzes geniesst, welcher mit dem Worte Hausfrieden bezeichnet wird. Diese germanische Idee der Unverletzlichkeit des Hauses hat sich heutzutage noch in England in praktischer Geltung erhalten in dem bekannten Spriehwort: „my house is my castle* (mein Haus ist meine Burg). Ins Innere der Wohnung darf dort selbst von einem Beamten wider Willen des Eigen- thümers nicht eingedrungen werden. Wie das Haus einen eigenen Frieden hat, so besitzt die deutsche Familie auch eine eigene Ehre. Die Verletzung der Ehre des Einzelnen ist auch ein Angriff gegenüber der gesammten Familie und der Bruch des Hausfriedens auch eine Verletzung der Hausehre. Die bei allen unverdorbnen Völkern so heilig gehaltene und hochgestellte Gastfreundschaft steht im innigsten Zusammenhang mit der Hausehre und in tiefsinniger Weise sagt das unter dem Namen Schwabenspiegel bekannte Rechtsbuch aus dem vier- zehnten Jahrhundert: „von der hus ere ist vil guter dinge komen.* Nicht mit Unrecht hat daher ein neuerer Schriftsteller 1%), welcher die Familie in ihrer soeialen Bedeutung behandelt, das deutsche Volk das „familienhafteste * genannt. : Uebergehend zu dem zweiten Theile meiner Aufgabe, richtet sich mein Blick nach unserm Vaterland. Zwar zeigt uns das Privatrecht der einzelnen Kantone noch die bunteste Mannigfaltigkeit und mehr oder minder hat jedes einzelne derselben seinen eignen selbstständigen Entwicklungsgang befolgt, allein es lässt sich doch die gemeinsame germanische Wurzel in den einzelnen Partikularrechten leicht nach- weisen und dabei wieder die allamanische von der burgundischen Schweiz scheiden. Da wir in unserm Vaterlande das römische Recht nie reeipirt haben, eine Thatsache, welche mit unserer politischen Selbstständigkeit in merkwürdiger Wechselwirkung steht, so hat sich auch bei uns ein viel reineres deutsches Recht erhalten, als in Deutsch- land selbst und es tritt das gerade auf dem Gebiete des Familien- und Erbrechts am deutlichsten zu Tage. Alle schweizerischen Rechte, soweit sie mir wenigstens bekannt sind, betrachten das Verhältniss des Mannes zur Frau unter dem Ge- sichtspunkt der ehelichen Vormundschaft. Unser Zürcher Civilgesetzbuch 12) Riebl die Familie. Stuttgart 1855. S. 32. a W = sagt im $ 126 sehr schön: „die Frau wird dureh die Trauung die Genossin des Mannes,“ um dadurch die sociale Gleichstellung der Gattin anzudeuten, welche den Geschlechtsnamen und das Burgerrecht des Mannes erwirbt. Der Pflicht des Ehemanns für den Unterhalt und den Schutz der Familie zu sorgen geht parallel sein Niessbrauchsrecht am Vermögen der Frau. In der ganzen östlichen Schweiz galt von frühern Zeiten bis auf die Gegenwart herab das Prineip, welches schon die schwyzerische Offaung von Küssnacht so ausdrückt: „und soll ouch einer frowen gut weder schwinen (schwinden) noch wachsen one ir wüssen noch willen.“ Neben diesem regelmässigen und gewöhnlichen güterrechtlichen Systeme bieten aber auch die schweizerischen Städte und Landschaften eine reiche und interessante Menge von Statuten und Lokalgewohnheiten, in welchen gerade die Vermögensverhältnisse der Ehegatten in der verschiedenartigsten Weise normirt werden, aber immer ganz nach deutscher Rechtsanschauung. Bis vor Kurzem waren ja selbst im Kanton Zürich hierüber ganz verschiedene Rechtsgewohn- heiten in Kraft. In Elgg, Andelfingen, Ossingen galt wie im Thurgau die sogenannte Gütergemeinschaft, nieht minder in Eglisau. Sehr merk- würdig in dieser Beziehung ist das Recht von Graubündten, und selbst im Wallis und Neuchatel haben eigenthümliche Satzungen durchaus im germanischen Recht ihre Erklärung zu finden, was ich hier natür- lieh nieht erörtern kann, und keineswegs im römischen Recht, wie man etwa schon irrthümlich behauptet hat. *“ Dass in dem Elternrecht die deutsche Auffassung auch bei uns die allein maasgebende sein kann, bedarf keines weitern Nachweises. Ist man doch selbst in Deutschland, nachdem bereits das römische Recht immer mehr Einfluss gewonnen hatte, wenigstens in diesem Punkte der germanischen Rechtsanschauung treu geblieben! Was die Erzie- hungspflicht bedeute, zeigt in würdiger Weise der $ 252 des Zürcher Civilgesetzbuches. Auch in der Regulirung des Vormundschaftswesens hat sich na- mentlich in frühern Zeiten der deutsche Familiencharakter geltend gemacht und theilweise noch bis auf heute bewahrt. In älterer Zeit betrachtete man das Amt eines Vormundes nicht so fast wie eine Ver- pfliehtung, sondern vielmehr als ein Recht, zu welchem der nächste Verwandte von väterlicher Seite, der auch zur Erbfolge zuvörderst befugt war, geboren wurde, so dass selbst der sterbende Vater ohne dessen ausdrückliche Verzichtleistung den Kindern keinen andern Vogt bestellen konnte. Diess galt namentlich in den Urkantonen. Ein Pr: ae solcher Vogt hiess ein erborner Vogt im Gegensatze zu einem er- kornen, d. h. einem solchen, der auf Bitte des zu Bevogtenden oder von Amtswegen demselben dürch die Obrigkeit gegeben wurde, sofern sich in der Person des durch die Geburt dazu Berufenen, z. B. eines ältern Bruders oder Oheims nicht die gehörigen Eigenschaften fanden. So bestellte in Luzern der Rath solche Vögte, wo es nöthig war. In Schwyz hielt man noch lange daran fest, dass nicht die Obrigkeit, sondern die Freunde, d. h. die Blutsverwandten und zwar vorzugs- weise die Vatermagen den Vogt ernennen, wenn der Vater auf seinem Todbette nicht hiefür gesorgt hatte, oder wenn es sich um die Bevog- tigung volljähriger Personen handelte. Darum heisst es in dem alten Landbuch von Schwyz 13) (II. 33): „were ouch das jemand vaters nicht haette und aber eines vogts bedörffte, dann so sond siner fründen die erbarsten und die nechsten zusammen gan, und sond einen vogt erkyessen under sinen fründen, er sye vater oder muttermag der sy dann allerbest bedunke.* In dem alten Handbuch von Glarus $ 94 heisst es: wenn Vater und Mutter arn sind, müssen die Verwandten bis in den dritten Grad die Erziehung der verwaisten Kinder übernehmen. Das Regelmässige in allen schweizerischen Rechten ist also, dass die vaterhalb verwaisten Kinder einen männlichen Vormund aus der Verwandtschaft erhalten. Ich habe aber oben schon erwähnt, dass bei einigen deutschen Stämmen *) die Mutter sogar wirkliche Vormund- schaftsrechte erhält. Diesem System folgt die alte Berner Handveste vom Jahr 1218 $ 44, das Stadtrecht von Beeilung 15) und ebenso die Coutümes von Neuchatel 19). Nach der Vogts-Ordnung von Basel vom Jahr 1590, revidirt 1747 und zur Stunde noch gültig, sind es die Zünfte, welche einem verwaisten Kinde aus ihrer Mitte einen Vormund bestellen. Auch diese Rechtssitte ist nichts anderes als ein Ausfluss des germanischen Fa- milienprincips, denn die Zunft ist eben ein Surrogat der Blutsfreund- schaft, sie tritt an die Stelle der Familie. In neuern Zeiten huldigt man nun allerdings in den meisten Schweizerkantonen dem Grundsatz, dass die Obrigkeit den Vormund bestellt, es tritt überhaupt mehr die staatliche Vorsorge hervor, allein 13) Landb. v. Schwyz. Herausgegeben von Kothing. Zür. 1850. 14) Jex Burgund 85 1. 15) Gaupp, deutsche Stadtrechte. Bd. 2. S. 82. 16) Calame, droit prive d’apres la eoutüme neuchateloise. Neuch. 1858. S. 351. ii gu. = die ursprüngliche deutsche Familienauffassung spiegelt sich denn doch noch in manchen Punkten ab, man nimmt auch bei uns in Zürich, wie anderswo, gerne auf die Wünsche der Familie Rücksicht, unter Umständen darf sogar ausnahmsweise sogenannte Familienbevogtigung eintreten und die Art und Weise, wie unser Zürcher Civilgesetzbuch in $ 341 die Pflichten des Vormunds dem minderjährigen Vögtling gegenüber regulirt, erinnert in hohem Grade an die Stellung des Vaters. Es wäre sehr zu wünschen, dass dieser Paragraph mehr beherzigt würde. Noch in einem andern Gebiete ist der Redaktor unsers Civilge- setzbuches der deutschen Auffassung treu geblieben, indem er den Abschnitt, welcher von dem Dienstbotenverhältnisse oder Gesinderecht handelt, nicht in das Obligationen-, sondern in das Familienrecht ein- reiht und dadurch andeutet, dass diese Verhältnisse nicht vom rein kontraktischen Standpunkt aus behandelt werden sollen, sondern vom sittlichen und familiären. Insbesondere wird diess durch $ 455 be- stätigt, wo es heisst: „Die Herrschaft ist gegenüber den Dienstboten zur Leistung des Lohnes und Unterhaltes, soweit solcher versprochen ist und sich aus den Verhältnissen ergibt, und zu Schutz und Bei- stand in Nothfällen verpflichtet. Sie ist berechtigt, die Sitten der Dienstboten zu überwachen.“ Jene deutsche Rechtsgewohnheit, dass man ohne Einwilligung der Verwandten seine liegenden Güter nicht veräussern dürfe, oder dass doch letztere binnen einer bestimmten Zeit das verkaufte Gut um den gleichen Preis wieder an sich ziehen können, was mit dem Ausdruck: Näher-, Retrakts-, Zugrecht, auch Erblosung bezeichnet wird, findet sich bis auf die neuere Zeit in der ganzen Schweiz vielfach in Anwendung. Es wäre mir ein Leichtes, eine Menge von Quellenzeugnissen hie- für zu eitiren. Schon das alte Stadtrecht von Luzern erwähnt das Näherrecht der gesippten Freunde17). Ebenso das alte Stadtrecht von Solothurn 18). In den Thälern Graubündtens scheint es ganz besonders häufig vorgekommen zu sein. Nach der Landsatzung des Hochge- richts der 4 Dörfer Thrimmis, Zitzers, Igis und Untervatz ist nicht nur derjenige, der Häuser oder liegende Güter verkaufen will, sondern auch derjenige, der solche Vermögensobjekte verleihen oder versetzen will, verpflichtet, sie zuerst seinen nächsten Blutsfreunden anzubieten 19). 17) Segesser II. S. 482. 18). 5. Stadtrecht von Solothurn v. 1604, $. 94 fi. 19) Landsatzung der 5 Dörfer S. 98 ff., besonders S. 82 und 83. Land- buch von Davos S. 81, von Klosters S. 31 ff. u In Appenzell geschah die Einwilligung der nächsten Verwandten und Erben zur Veräusserung von liegendem Gut in Form einer feierlichen Handlung vor Gericht?®), Am detaillirtesten und eigenthümlichsten ist dieses Näherrecht der Familie im Wallis ausgebildet. Die latei- nisch abgefassten Statuten des Oberwallis?!) von 1571 bezeichnen das- selbe mit dem Ausdruck „tenta“, der meines Wissens sonst nirgends vorkömmt. Das neue Civilgesetzbuch dieses Kantons hat sämmtliche Zugrechte abgeschafft und so ist es in neuerer Zeit fast überall ge- schehen, denn sie widerstreiten den Bedürfnissen des freien Verkehrs und den modernen Rechtsanschauungen. Endlich macht sich auch in unsern Erbrechten, vorzüglich in den- jenigen der östlichen oder ehemals allamannischen Schweiz das alte deutsche Familienprineip geltend, indem die Intestat-Erbfolge das Re- gelmässige und der Erblasser meistens durch die Rücksicht auf die Blutsverwandten in seiner Befugniss zu testiren sehr beschränkt ist. Fast allzustrenge hielt unser Zürcher Stadt-Erbrecht vom Jahr 1716 an der germanischen Idee fest und bekanntlich war der FPflichttheil, den man den erbberechtigten Verwandten hinterlassen musste,‘ sehr beträchtlich. Erst das neue privatrechtliche Gesetzbuch hat diess eini- germassen gemildert, ohne indessen den alten Standpunkt ganz zu verlassen. Dasselbe hat auch eine andere Sonderbarkeit, welche Zü- rich mit Luzern, Uri, Schwyz, Unterwalden, Glarus und Zug gemein hatte, nämlich die gänzliche Ausschliessung der mütterlichen Seite vom Erbrecht, als mit der Gerechtigkeit und dem jetzigen Rechtsbewusstsein unvereinbar, aufgehoben und völlige Gleichstellung der väterlichen und mütterlichen Seite eingeführt. Und so ist nun wieder der ganzen Fa- milie ihr Recht geworden. Von dem Hausfrieden, von dem ich früher gesprochen habe, finden sich gerade in unsern ältern schweizerischen Rechtsquellen ebenso zahlreiche als ächt poetische Belege und ich kann wenigstens meine Fachgenossen hiefür auf die vortrefflieche Arbeit meines sehr schätz- baren Kollegen, Hın. Prof. Osenbrüggen?!) verweisen, sowie denn auch der gleiche Forscher in seinem jüngst gehaltenen, anziehenden Vortrage darauf hingewiesen hat, dass und warum die Familien- 20) Blumer Rechtsgeschichte d. schweizer. Demokr. I. S. 439. 21) Statuta Vallesiae pag. 61—67, 153—155, 179-183. Cropt elementa juris romano-vallesii. 22) Osenbrüggen, der Hausfrieden. Erlangen 1857. eV rache in der Schweiz?3) sich länger erhalten hat als anderwärts, so dass ich hierauf nicht weiter eintreten zu müssen glaube. Ebenso bedarf es wohl keiner weitern Auseinandersetzung, dass die Ehre und speciell nun auch die Hausehre unsern Vorfahren ein wahres Heiligthum war. Die Hausehre ist so sehr ein Attribut der deutschen und schweizerischen Wohnung, dass sie sogar bisweilen in der Sprache der Rechtsquellen mit dem Hause identifizirt wird. So heisst es in der Offnung von Wiedikon?*): „wer ouch den andern in diesem gricht tags oder nacht usser siner hus ere freventlich fordert oder heischet, der soll es buezzen* etc. Sie sehen aus allen diesen Andeutungen, dass das deutsche Fa- milienprinzip in unserm Rechte sich lebendig und frisch abspiegelt und kräftig erhält, es liegt hierin eine wesentliche Ursache unserer gesun- den staatlichen Entwicklung und ein Grundpfeiler der socialen Ordnung. Gestatten Sie mir, dass ich Sie noch auf eine besondere Eigen- thümlichkeit unsers Vaterlandes aufmerksam mache, welche meines Er- achtens gerade mit dem von mir hier entwickelten Familienbegriff aufs innigste zusammen hängt, ich meine nämlich unsere Gemeinds- Organisation. Gegenwärtig noch ist das Gemeindeleben eine der kräftigsten und gesundesten Seiten unserer öffentlichen Zustände. Aus der Selbststän- digkeit der Gemeinden ist die schweizerische Freiheit erwachsen. In ihr liegt die Wurzel unsers republikanischen Lebens. Die Gemeinde bildet die Brücke von der Familie zum Staat und man kann die Ge- meinde geradezu als eine erweiterte Familie auffassen, Hat aber diese Auffassung irgendwo Berechtigung, so ist diess in der Schweiz der Fall. Wenn nämlich bei uns der Heimatsgemeinde die Pflege der Armenunterstützung ihrer Angehörigen obliegt, wenn sie für ver- waiste Kinder den Vormund bestellen muss, was sind das anders als Ausflüsse des deutschen Familienprineips? Die Schweiz besitzt ein ganz eigenthümliches erbliches und persönliches Bürgerrecht, wel- ehes zugleich die Bedingung des allgemeinen Staatsbürgerrechts ist. Niemand kann bei uns Kantonsbürger und damit auch Schweizerbürger sein, ohne dass er einer bestimmten Stadt- oder Landgemeinde als 22) Deutsche Rechtsalterthümer aus der Schweiz, abgedruckt in der Monats- schrift des wissenschaftl. Vereins III. S. 152. Ueber die Blutrache nach den Rechtsquellen von Schwyz, vergl. insbesondere auch die interessante Abhand- lung von Kothing im Geschichtsfreund XII. Einsiedeln 1856. 24) Schauberg, Zeitschr. fiir noch ungedruckte schweizer. Rechtsquellen I. 16. — 10 — Bürger angehört. Hierdurch unterscheidet sich unser Vaterland nicht bloss von den monarchischen Staaten, sondern auch von unserer gros- sen und mächtigen Schwesterrepublik in Nordamerika, denn dort ist gerade umgekehrt das Gemeindebürgerrecht ein Ausfluss des allgemei- nen Staatsbürgerrechts. Das Bürgerrechts-Prineip hat sich zuerst in den Städten ausgebildet, in unsern Landgemeinden dagegen erst seit dem 17. Jahrhundert, indem die Gemeinde-Genossenschaften vorzüg- lich um der Pflicht der Armenbesorgung willen, welche ihnen über- bunden wurde, sich corporativ abschlossen, so dass neue Ankömm- linge nur durch Bezahlung einer Einkaufssumme in das Gemeindegut und Aufnahme von Seite der Gemeinde in diese eintreten konnten. Auf solche Weise wurde das Bürger- oder Heimatsrecht zu einem persönlichen erblichen Recht aller derer, die aus Bürgerfami- lien abstammten, gleichviel ob sie Grundeigenthum in der Gemeinde besassen oder nicht. Die Bürgergemeinde wurde so zu einer grossen Familie, welche in den Nachkommen sich stets erneuernd, fortlebt. Indem bei uns das Heimatsrecht in verschiedenen privatrechtlichen Beziehungen selbst für den in einem andern Kanton oder im Ausland lebenden Schweizer maassgebend ist, erhält sich eine unsichtbare, aber feste Verbindung mit der Heimat. Wohl kann ich nicht verkennen, dass wir in Folge unsers vom Grundbesitz gänzlich gelösten Bürger- rechts jenen in vielen Beziehungen störenden Dualismus von Bürger- und Einwohnergemeinden, resp. von Bürgern und Niedergelassenen, welcher gerade jetzt unter der neuen Bundesverfassung noch zu man- nigfachen Conflikten und schwierigen Erörterungen führen wird, be- sitzen; allein keine menschliche Einrichtung ist vollkommen und man würde, meines Erachtens, sich sehr irren, wenn aan glaubte die Schwie- rigkeiten damit zu beseitigen, dass an die Stelle des persönlichen Bürgerrechtsverbandes ein lokaler der Einwohner zu treten hätte. Je- ner Dualismus wäre allerdings gehoben, aber das eigenthümliche Fun- dament unsers schweizerischen Staatslebens, das Gemeindebürgerrecht, zerstört. Nach unserm bisherigen System beruht die Gemeinde auf dem Zusammenhang des Blutes. Von Geburt an gehört das Kind der Gemeindeverbindung an, welche schon seine Vorfahren umfasst hatte. Dadurch wird.ein Gefühl der Pietät erzeugt, das ein bloss kürzerer oder längerer Aufenthalt an einem Orte nie geben kann. Der Bürger wechselt seine Heimat nicht, auch wenn er vielleicht zeitweise seinen Wohnsitz verändert. Selbst in der Ferne bleibt er mit ihr verbunden. Indem er aber fortwährend diesem erblichen Bürger-Verbande angehört, — 101 — gerade so wie ihn stets auch seine Familie umfangen hält, so nimmt er Theil an den Geschicken desselben. Er behält ein lebendiges Gefühl für die Ehre und Wohlfahrt seiner Heimatgemeinde. Wie er sich darüber freut, so sehützt sie ihn hinwieder, wenn er in Noth gerathen sollte. Dieses Pietätsgefühl hat bei uns die schönsten Blüthen der Bürger-Tugend und des gemeinnützigen Sinnes hervorgebracht. In dieser Liebe zum heimatlichen Dorfe, oder zur Geburtsstadt, im leb- haften Gefühl für ihre Ehre und ihr Glück wurzelt auch die Liebe zum grössern gemeinschaftlichen Vaterland. Ja hat nicht vielleicht das uns Schweizern eigenthümliche Gefühl des Heimwehs nicht bloss in unserer schönen Natur und in unsern freien Einrichtungen seine Er- klärung zu suchen, sondern auch in jener Pietät, die uns an die Hei- matsgemeinde wie an die Familie knüpft ? Die Gemeinde bildet also die Brücke von der Familie zum Staat und man kann und darf in unsern schweizerischen Bürgergemeinden eine erweiterte Familie erblicken. Dagegen wäre es total falsch, auch den Staat selbst als eine Familie im Grossen aufzufassen. Man hat zwar auch schon den Satz aufgestellt, die Familie sei das Urbild des ‚ Staates. Demzufolge wurde dann das Staatsoberhaupt mit dem Vater, das Volk mit den Kindern verglichen. Allein diese Analogie passt durchaus nicht und darf höchstens bei der patriarchalischen Staatsform benutzt werden, dagegen nicht bei dem nationalen und modernen Staat, der eine ganz verschiedene und weitergehende Aufgabe hat als die Familie und auch auf andern Grundlagen ruht. Es ist indessen nicht meine Aufgabe, das Verhältniss des Staa- tes zur Familie, resp. die Gegensätze zwischen Familie und Staat +) zu entwickeln, sondern meine Absicht war vorzüglich die, zu zeigen, von welchem Einfluss das Familienleben und die Gestaltung des Fa- milienrechts auf die Staatswohlfahrt sei. Wenn auch dieser Einfluss meist ein indirekter ist, so kann er doch nicht hoch genug angeschla- gen werden. Der Staat hat daher neben der Pflicht, die Familien- rechte zu schützen, ein hohes Interesse auch die Gesundheit des Fa- milienlebens zu fördern und zu erhalten. Zum Schlusse nur noch Eines! Das Haus ist diejenige Stätte, wo jeder Einzelne Grosses wirken kann, auch derjenige, dem es sonst nicht vergönnt ist, im öffent- lichen Leben sich zu bethätigen. Vorzüglich aber ist es die Sphäre, 24) Vergl. hierüber Bluntschli allgemeines Staatsrecht, S. 51. 23) A. a. 0.8. 53. Wissenschaftliche Monatsschrift. IV 7 — 102 — wo den Frauen das Feld ihrer politischen Wirksamkeit angewiesen ist. Sie sind ja, und gewiss nicht zu ihrem Nachtheile, von der Theilnahme an den Rechts- und Staatsgeschäften ausgeschlossen, aber ihre Ein- wirkung auf das Staatswohl ist desshalb nicht minder bedeutend. Gross ist der Segen, den sie im stillen häuslichen Kreise als liebevolle Töchter, als treue Gattinnen, als für die Erziehung ihrer Kinder ver- ständig besorgte Mütter stiften und auch unsere Schweizergeschichte weiss von manchen edeln Frauen zu erzählen, die gerade durch ihr Familienleben und ihre häuslichen Tugenden dem Vaterlande Grosses geleistet haben; ich erinnere an die burgundische Königin Bertha, an Stauffachers Frau, an Zwinglis Gattin. Treffend und wahr sagt Bluntschli25): „Es ist ein schöner Zug des Staatsrechtes, besonders unter«den germanischen Völkern, dass die Frau auch als Genossin der politischen Ehre und Würde ihres Mannes betrachtet wird. Es liegt darin die Anerkennung der wahren mittel- baren Beziehung des Weibes zu dem Organismus des Staates und ein würdiger Ersatz für die den Frauen versagte Theilnahme an den ei- gentlichen politischen Rechten.“ Der Quellkultus in der Schweiz. Von H. RUNGE. Mit ebenso viel Entschiedenheit als Recht haben sich Grimm und Andere gegen die Ansicht ausgesprochen, dass den ältesten Einwohnern Deutschlands nur ein grober götterloser Naturkultus eigen gewesen sei. Schon Tacitus Angaben lassen darüber keinen Zweifel zu, dass die Germanen Götter und Göttinnen verehrten; und selbst wenn diess auch nicht der Fall wäre, so würden spätere Mittheilungen, welche einzelne Gottheiten nennen und ihre Anbetung schildern, und der Volks- glaube, der noch heute an sie anknüpft, ihr einstiges Vorhandensein beurkunden. Aber ebensowenig lässt sich leugnen, dass die Elemente bei unsern Vorfahren in hoher Verehrung standen, dass man sie für heilig hielt, ihnen göttliehe Kräfte zuschrieb, bei ihnen der Zukunft nachfragte und noelı vieles andere that, was uns zeigt, dass ihr Kultus eine der Hauptseiten der Religion der germanischen Stämme bildete. Ganz ähnlich verhielt es sich bei andern Völkern und namentlich auch bei den Kelten, den bekannten ältesten Bewohnern Galliens und Hel- vetiens, von denen wir ebenfalls eine Reihe von Thatsachen in Hinsicht auf die Verehrung der Elemente besitzen. Mit Recht sagt Grimm, (Myth. 548): „Auf dem Grund und Boden des Elementardienstes er- wächst niemals die eigentliche Religion des Volkes; der Glaube selbst entspringt in einer geheimnissvollen Fülle übersinnlicher Ideen, die mit jenen Stoffen nichts gemein hat, sondern sie sich unterwirft. Allein der Glaube duldet Heilighaltung der Elemente in seinem Gebiete, er vermischt sie mit sich und sie kann sogar, wenn er untergeht und vergröbert wird, unter dem Volke fortwähren und länger anhalten. Der gemeine Haufen lässt seine grossen Gottheiten fahren und beharrt doch noch eine Zeit lang in dem Kultus vertraulicher Hausgötter; auch ihnen 'entsagt er und behält seine Scheu vor den Elementen. Die Geschichte des heidnischen und christlichen Glaubens lehrt, wie lange nach Untergang jenes und Befestigung dieses eine Menge abergläubi- scher Gebräuche fortdauern, die mit Verehrung der Elemente zu- sammenhangen ; es ist der letzte kaum austilgbare Ueberrest; nach dem Zerfall der Götter treten die nackten Stoffe wieder vor, mit denen — WE sich das Wesen jener geheimnissvoll vermählt hatte*. Der Beweis für diese Behauptung liegt sofort klar zu Tage, sobald man an eine Prüfung der Sagen, des Volksglaubens, der Festgebräuche geht; in der Schweiz z. B. weiss das Volk nichts mehr von keltischen und germanischen Gottheiten, selbst die Dämonen, in welche sie sich ver- wandelt, entschwinden; aber noch immer flammen Feuer auf den Ber- gen, werden die Gewässer beleuchtet, taucht man Kranke mit geheim- nissvollen Ceremonien in Quellen ein, opfert man bei Steinen und lässt sich von Wolken, Wind und Schnee die Zukunft prophezeien. Wurden aber auch von allen heidnischen Völkern die Elemente verehrt und stehen sie noch heut in hohem Ansehen, so folgt daraus noch keineswegs, dass nicht das Eine überall oder nur bei einzelnen Stimmen mehr hervortrat und sich ein höheres Ansehen errang, als die andern. Freilich haben wir darüber nicht immer ein sicheres Ur- theil, weil die Quellen nicht gleicbmässig fliessen und der Elementar- kultus auch noch keineswegs die ihm gebührende, tief eingreifende Bearbeitung gefunden hat, aber so viel steht doch fest, dass z. B. der Stein, der Felsblock für den Kelten weit bedeutsamer war als für den Germanen. Im Allgemeinen aber stellt sich als unzweifelhaft heraus, dass Feuer und Wasser, weil sie sich den Sinnen weit mehr fühlbar machten und weil ihre Wirkung in jeder Minute gesehen wurde, die Verehrung kräftiger an sich zogen, als die freilich alles erzeu- gende und nährende, aber doch unbewegliche Erde und selbst als die wohl dem Ohr und dem Gefühl, aber nicht dem Auge bemerkbare Luft. Noch heut wirken ja der rinnende, murmelnde Bach, die lodernde Flamme, wenn nicht stärker, doch jedenfalls häufiger auf uns ein, als das Wehen des Windes, der grüne Rasenteppich, der freundliche Hü- gel; wie hätte es bei unsern Vorfahren, deren Geist und Gemüth mehr als der unsrige sinnlichen Einflüssen geöffnet war, anders sein können! Was die Schweiz betrifft, so weisen die zahlreichsten Spuren von Elementarkultus auf Wasserdienst hin und keine Gegend dieses Landes, herrsche nun in ihr die deutsche, französische, romanische oder ita- lienische Nationalität vor, ist von demselben entblösst oder auch mit ihm verhältnissmässig nur schwach bedacht. Ueberall, in Sagen, wie in Gebräuchen, im Volksglauben, wie in Kinderreimen hebt sich das heilige, reinigende, sühnende, befruchtende Element heraus, und es ist wirklich auffallend, wie gross die Bedeutung war, welche ihm im Mittelalter und noch in den letzten Jahrhunderten beigelegt wurde. Selbst das Feuer tritt gegen das Wasser so sehr in den Hintergrund, — 105 — dass man genöthigt ist, ohne Widerspruch dem Wasserkultus den ersten Rang und den durchgreifendsten Einfluss auf das gesammte Volksleben zuzugestehen. Wir wollen, weil sich das im Verfolg unserer Unter- suchung leicht ergeben wird, hier nur an die Bäder erinnern, welche alle Stände und alle Alter in einem uns fast unbegreiflichen Maasse liebten, denen sie Stunden und Tage weihten, ohne welche kein feier- licher, für das ganze Leben bedeutsamer Akt vor sich gehen konnte, und deren Wirksamkeit so ausserordentlich hoch erhoben wurde, dass man sich durch sie von jedem geistigen und leiblichen Uebel und selbst von dem jedem Menschen unerbittlich herannahenden Alter befreien zu können glaubte. Je zahlreicher und bedeutsamer aber die Spuren und Ueberreste des schweizerischen Wasserkultus, welche in Schriften aufgezeichnet wurden oder im Volk noch vorhanden sind, sich darstellen, desto wichtiger wird es, sie, ehe sie ganz verschwinden und untergehen, zu sammeln und zu beleuchten. Freilich hat das seine grossen Schwie- rigkeiten, weil bisher noch gar keine Vorarbeiten gemacht wurden und gerade die interessantesten Materialien von denjenigen, in deren Hände sie zufällig gelangten, durch unvollständige Wiedergabe oder durch willkürliche Ausschmückung für immer verdorben worden sind; aber einerseits verlangt auch niemand jetzt schon eine vollständige und erschöpfende Darlegung aller Formen, in welchen sich die Verehrung des Wassers einst aussprach, sowie eine genaue Geschichte seines “Dienstes und andererseits hat auch der einzelne Sammler eine an Er- trägen reiche Ernte zu erwarten, weil er das ganze Gebiet nach allen Himmelsrichtungen durchwandern darf. Sollte sich dabei eine sichere Grundlage für alle spätern Forschungen, der feste Punkt des Archi- medes finden lassen, so wäre damit unendlich viel gewonnen, weil es in diesem Falle an Kräften nicht fehlen kann, welche, auf der be- tretenen Bahn fortschreitend , dieselbe mehr und mehr ebnen und nach allen Seiten hin erweitern und fortführen werden. Indem wir daher den Versuch machen, wenigstens einen Theil des Wasserkultus, den Kultus der Quellen und Bäche in seinen Grund- zügen darzustellen und zu betrachten, verzichten wir von vornherein darauf, dasjenige auszuscheiden, was den einzelnen Religionen ange- hört!). Bis jetzt ist es noch nicht gelungen, solche Sagen, welche in ') Es sind in der Schweiz nicht nur Reste der keltischen und germanischen, sondern auch, wenn gleich seltener, der römischen Mythologie nachweisbar. — 106 — der keltischen Mythologie wurzeln, von denen germanischen Ursprungs zu trennen; ja wir vermögen nicht einmal gallische und deutsche Alter- thümer, trotzdem sie doch viel Abweichendes an sich tragen, immer mit vollster Sicherheit zu bestimmen: wie sollten wir es da wagen können, den fast überall zusammentreffenden Elementarkultus in seinen einzelnen Aeusserungen theilweise diesem, theilweise jenem Volke zu- zusprechen. Im Allgemeinen sind wir freilich zu der Annahme be- rechtigt, dass wir es in den meisten Fällen mit germanischem Brauch zu thun haben. Was die deutsche Schweiz betrifft, so ist das leicht begreiflich, weil hier die Kelten jedenfalls theils ganz verschwanden, theils so geschwächt und unterdrückt wurden, dass sie auf ihre Be- sieger wenig Einfluss ausüben konnten. Aber auch in der französi- ‚schen Schweiz hat das deutsche Element, das dort mit den Burgundern Fuss fasste, sich in Sage, Recht und Brauch ziemlich wohl erhalten, obwohl es nicht einmal die Sprache zu wahren wusste. Ganz ähn- lich verhält es sich in Bündten, wo selbst in durchweg romanischen Gegenden der deutsche Zwerg sich neben der gallischen Fee behaup- tet hat, und höchstens in der italienischen Schweiz müssen wir dar- auf verzichten, germanischen Wasserkultus anzutreffen, obwohl auch darüber nicht einmal etwas Unumstössliches feststehen kann. I. Dass das Wasser im Allgemeinen, das rinnende wie das ste- hende (und selbst das geschöpfte) den heidnischen Bewohnern der Schweiz heilig war, ergibt sich nicht nur aus einzelnen 'Thatsachen, welche dafür den direetesten Beweis liefern und die wir an geeigneter Stelle berücksichtigen werden, sondern vorzüglich auch daraus, dass noch heut eine grosse Anzahl von Quellen, Bächen und Seen als ver- ehrt nachgewiesen werden kann. Namentlich ist diess bei Quellen und Brunnen der Fall und es bestätigt sich dadurch Grimms Behauptung, dass vorzüglich der Ursprung als heilig galt. Leicht lässt sich diese Thatsache erklären. Nachdem das wunderbare Element unendlich lange tief unten in der schwarzen, finstern Unterwelt geblieben und dann langsam auf weitem unbekannten Wege emporgestiegen?), wird es von 2) Woher kommen die Quellen? Die Sage weiss, dass sie aus einem unge- heuren See entfliessen, der im Innern der Erde liegt und unter gewissen Um- ständen (beim Weltuntergang) ausbrechen und die Thäler und Höhen überfluthen kann. Dadurch erklärt es sich, wesshbalb so viele Bäche der Schweiz Ausflüsse hochgelegener Bergseen sein sollen. Dass dieser unermessliche See eigentlich der Welt umgürtende Ocean ist, lässt sich nicht bezweifeln. — 17 — der Mutter aller Dinge, der Erde, an das Licht des Tages geboren, um die Erzeugerin selbst zu befruchten. Geheimnissvoll und desshalb heilig ist sein Entstehen, geheimnissvoll sein Erscheinen, geheimniss- voll auch sein ganzes Wesen. Während die Erde still und todt da zu liegen scheint, zeigt das Wasser Leben und Kraft; es bewegt sich und spricht; ruhelos und rastlos, dem Menschen ähnlich, strebt es in die Ferne hinaus, überallhin Wohlsein und Gedeihen bringend. Aber ‚es lebt die Quelle nicht nur, sie erscheint auch unsterblich. Während Geschlechter und Völker untergehen, dauert sie fort und blüht dabei in ewiger, schöner Jugend. Alle Elemente sind ferner reinigend, hei- lend, sühnend, vorzüglich aber das Wasser; um aber dasjenige fort- nehmen zu können, was Körper und Seele befleckt, muss es selbst rein sein und darauf hat es nur in dem Augenblick, wenn es aus dem Boden hervorquillt, vollen Anspruch. Das spricht sich auch in der Sage aus. Die Flussgottheiten können Männer und Greise sein, die- jenigen der Quellen müssen stets als Jungfrauen gedacht werden ®); während jene zürnen, schaden und den Tod bringen, liegt auf ihrer Stirn ewige Schönheit, ewige Ruhe, ewige Milde und wo sie auftre- ten, bringen sie Segen und Gedeihen. Aus demselben Grunde, weil das Wasser an seinem Ursprung reiner und heiliger und desshalb in jeder Hinsicht wirksamer ist, zieht man als Taufwasser dasjenige der Quellen und Sodbrunnen vor. Tau- fen in Flüssen rechtfertigen sich zwar ebenfalls, dagegen entsprechen “sie, in Teichen und Seen vorgenommen, der ursprünglichen Vorstel- lung gewiss nicht. Es lässt sich kaum zweifeln, dass die bei den nordischen Heiden gebräuchliche Heiligung des neugebornen Kindes ‚mit Wasser (vatni ausa), das wahrscheinlich auch bei den Germanen geübte Begiessen, ebenfalls mit Wasser aus Quellen oder doch aus ‚Strömen bewirkt werden musste. Beschauey wir uns ferner die Bäder ‚des Mittelalters, so bemerken wir, dass auch da die Quellen vorge- ‚zogen wurden; man pflegte sich in sie einzutauchen, mochten sie auch noch so kalt sein und kaum ein Minuten langes Verweilen gestatten. Noch heut finden die Abwaschungen kranker Kinder, auch wenn diese 3) In schweizerischen Sagen zeigen sich bei Quellen und Bächen nur Jung- frauen und weisse Frauen. Grimm (Gramm. 3, 384—6) bemerkt, dass in der deutschen Sprache die meisten Flussnamen weiblich sind. Niemals ist in einer heimischen Ueberlieferung von einem Dämon des Rheins die Rede, doch eddisch heisst die Rin (fem.) svinn, äskunna (prudens, a diis oriunda Saem. 248 a). Aus dem Rhodanus, le Rhöne, macht der Deutsche die Rhone. — 18 — sehr leidend sind, unmittelbar im Ausfluss selbst statt. Das geschöpfte Wasser genügt nur in seltenen Fällen, wenn es nämlich an besonderen Tagen und zu hestimmter Stunde geholt wurde und von der Sonne nicht beschienen war. Wenn im Verenenloche zu Baden im Aargau unfruchtbare Frauen die Erfüllung ihrer Hoffnungen suchten, so muss- ten sie, um des Erfolges sicher zu sein, das Bein in die Oeffnung stecken, aus welcher das heilsame Wasser hervorströmt; und von der heiligen Quelle zu Sacramentswald erzählt die Tradition, dass sie sich weder in Trinkgefässe auffangen noch in Wannen leiten lässt. Dürfen wir schon im Allgemeinen den Ursprung als heilig be- trachten, so besitzen wir doch auch viele Quellen, bei denen sich die Verehrung aus dem Namen oder aus ihrer Bedeutung im Volksglauben ergiebt und die also den für alle geltenden Satz bestätigen. Einzelne Brunnen heissen ausdrücklich heilige, so z. B. das „heilig Brünneli* zu Össingen im Kanton Zürich und. der heilige Brunnen im Dorfe It- tigen bei Sissach (Brunner Merkwürdigkeiten 2072). Eine Ortschaft Heiligenbrunn findet sich in der innerrhodischen Pfarre Oberegg, eine andere zu Bernang. Ausserdem werden die vierzehn Brunnen vor dem Kloster Einsiedeln, die Verenabadquelle zu Baden, der St. Felix und Regula Brunnen zu Zürich und einige andere ausdrücklich als heilige bezeichnet. Sobald einmal nach dem Vorgange der antiquarischen Gesellschaft zu Zürich die Aecker-, Wiesen- und Quellnamen der Schweiz treu aufgezeichnet sind, werden sich unzweifelhaft noch mehr dieser Namen ergeben. Häufiger als die heiligen Brunnen treten die .Gutbrunnen auf, welche bei dem innigen Zusammenhang der Heil- brunnen mit jenen ebenfalls in Betracht kommen. Ein Gutbrunnen befindet sich zu Dachsen (Zürich), ein Gutenbrunnen, heilsam gegen Brustübel, in der Pfarre Belp (Bern) und ein anderer in Obersimmen- thal; ein Gütlibrunnen , gine ausserordentlich klare und dabei sehr starke Quelle, angeblich der Ausfluss des hochgelegenen Muttsee, bei Lintthal im Kanton Glarus. Der Name bonne fontaine findet sich, wirklich an heilsamen Quellen haftend, auf dem Moleson und in den freiburgischen Pfarren Praroman und Girisiez. Als heilige Brunnen sind ferner diejenigen zu betrachten, welche durch unmittelbare, göttliche Einwirkung, durch ein Wunder hervor- gerufen wurden®), wie z. B. der Quell, welehen Moses aus dem Fel- sen schlug, die Quelle der Rhea in Arkadien, die Rossquellen auf dem *) Selten kommt es vor, dass Heilige Quellen versiegen lassen; doch thut diess der heilige Mönch Spinulus auf Bitte des heiligen Nidulf, Stifters des Klo- — 109 — Helikon, zu Korinth und zu Troezene, die Brunnen, welche Wuotan, Balder und Karl der Grosse ihrem durstenden Heere geschaffen haben sollen, sowie auch die zahlreichen Quellen, welche Heiligen ihren Ur- sprung verdanken (Grimm Myth. 550). Auch an solchen Brunnen fehlt es der Schweiz nicht. Als einmal aus Mangel an Wasser zu Ols- berg Menschen und Thiere zu Grunde gingen und man täglich im Kloster Busspredigten hielt, sprudelte plötzlich, während ein frommer Kaplan Messe las, hinter dem Altar eine schöne Quelle hervor, die fortan aller Noth ein Ende machte (Rochholz Sagen I. 29). Sowohl die Quelle als der Geistliche galten fortan als heilig. Bei dem Kirch- lein zu Munzach zeigte sich einst die Mutter Gottes; an der Stelle, welche ihr Fuss betrat, entsprang der treffliche Brunnen, der Jahr- hunderte lang von den Pilgern mit Scheu und Ehrfurcht getrunken wurde, wenn sie, Heilung von körperlichen Leiden suchend, hieher kamen (Lenggenhagen Schlösser in Basel-Land 283). Man leitete ihn als Heilbrunnen in das ziemlich entfernte Siechenhaus. In der Nähe seiner Einsiedelei im St. Immerthal liess der heilige Himerius einen Quell hervorströmen, indem er mit dem Schösslein eines Baumes den Boden berührte; sein Wasser galt als ausgezeichnetes Heilmittel (Hot- tinger Kirchengeschichte I. 238). Die Quelle von Sakramentswald in Unterwalden entstand, als Räuber auf der Alp das gestohlene heilige Sakrament niedergelegt hatten; man errichtete sofort über ihr eine Kapelle und sie zeigt drei wunderbare Eigenschaften , befreit nämlich *den Badenden von allen Krankheiten, lässt sich nicht trinken und kann auch nicht herausgeleitet werden (Lang histor. theol. Grundriss I. 867). Auf der kleinen Insel Umberau bei Klingnau steckte St. Verena drei Finger in den Boden und rief damit einen schönen Brunnen hervor; ‚zwei andere liess sie zu Zurzach entspringen (Rochholz 1. ce. I. Nr. 9). Zu St. Gingolph schlug der Heilige, dessen Namen der Ort führt, wie Moses mit seinem Stab Wasser aus dem Boden und es entstand ein Quell, welcher alle Krankheiten des Unterleibs vertreibt (Des Lo- ges Voyage d. l. d&p. du Simplon 36). In gleicher Weise rief St. Lu- pieinus die kräftige Badquelle zu St. Loup (Waadt) hervor und der Brunnen der heiligen drei Angelsachsen zu Sarmenstorf entstand, als ihre abgeschlagenen Häupter zur Erde fielen. Dass alle diese Quellen ihr Ansehen und ihre Verehrung in christ- licher Zeit heidnischen Anschauungen und Begriffen verdanken, daran sters Moyen-Moutier (} 707), als die von ihm hervorgerufene Salzquelle viel Volk anzog und die Ruhe der Mönche störte. (Schröckh Kirchengeschichte XX. 116.) 2 — 10 — können wir nicht zweifeln. Wir wissen, dass der Quellkultus im kel- tischen und germanischen Heidenthum ®%tarke Wurzeln hatte und be- sitzen eine grosse Reihe kirchlicher und weltlicher Verbote, aus denen nicht nur hervorgeht, wie schwer er auszurotten war, sondern auch, dass das früheste Christenthum jede Gemeinschaft mit ihm abwies?). Mit der grössten Consequenz traten ursprünglich die christlichen Send- boten der Verehrung der Bäche und Brunnen entgegen und wir dür- fen gewiss sein, dass sie heilige Brunnen auch in dem Sinne, wie sie die katholische Kirche gegenwärtig, wenn nicht annimmt, doch zulässt, niemals anerkannten, denn sonst würden sich in den Verboten irgend welche Spuren der Ausnahme von der Regel finden. Diess ist aber nirgends der Fall; überall erfolgt der schon von St. Eligius in seiner bekannten Predigt gegebene Befehl, die Quellen und Bäume, welche man heilige nennt, zu zerstören®). Erst als der Versuch der Ver- nichtung theilweise wenigstens misslang und das Volk nach wie vor der alten eingewurzelten Gewohnheit treu blieb, wich man auch hier wie in so vielen andern Dingen seiner zähen Ausdauer, indem man christliche Legenden an die Stelle heidnischer Traditionen treten liess und Brunnen, welche vielleicht Wuotan, Balder, Holda u. s. w. ge- weiht gewesen waren, auf kirchliche Heilige übertrug. Es stimmt diess ganz mit der Sitte, auf altheidnischen Kultstätten christliche Tempel zu erbauen und heidnische Feste in christliche umzuwandeln, was be- kanntlich von Päbsten und Heidenaposteln angerathen und durchge- führt wurde”). Einzelne Heilige, welche (wie z. B. St. Verena) schon 5) Nullus Christianus ad fana, vel ad petras, vel ad fontes, vel ad arbo- res aut ad cellos vel per trivia luminaria faciat aut vota reddere praesumat. — Fontes vel arbores, quos sacros vocant, succeidite. (St. Eligius.) Venisti ad ali- quem locum ad orandum nisi ad ecclesiam ... .. id est vel ad fontes, vel ad lapides .... . et ibi aut candelam, aut faculam pro veneratione loci incendisti, aut panem, aut aliquam oblationem illue detulisti, aut ibi comedisti, aut ali- quam salutem corporis aut animae ibi requisisti (Burchard v. Worms). Non li- oet inter sentes aut ad arbores sacrivos vel ad fontes vota exsolvere (conc. au- tissiod. a. 586. can. 3) ete. Grimm Myth. 90. 6) St. Bonifacius duldete nicht einmal die von einigen Geistlichen auf den Feldern und bei Quellen errichteten Kreuze und Oratorien, die das Coneil von Soissons (744) auch wirklich verbot. 7) Fehr, der die katholische Kirche so eifrig gegen den Vorwurf, verthei- digt, dass sie den Aberglauben gefördert oder wenigstens geduldet habe, recht- fertigt die Nachgiebigkeit der Kirche mit den Worten: Die Kirche musste sich nicht nur zu den Bedürfnissen dieser rohen Völker voll Liebe und Nachsicht, wie es der Mutter eigen ist, herablassen, sondern, wenn auch mit schmerzlichem EZ — ill — in ihre Legenden zahlreiche mythische Bezüge aufgenommen haben oder die sieh gar aus mythischen Wesen entwickelten, besitzen dess- halb, auch viele solcher Gewässer, und (beiläufig bemerkt), da man sich mit den Steinen in demselben Fall befand, auch heilige Felsen und Höhlen, trotzdem die Kirche ursprünglich den Steindienst nicht weniger entschieden verwarf als den Quellkultus. Dass diese Erklärung des Auftretens von Quellen, welche christ- lichen Heiligen geweiht waren, begründet ist, ergiebt sich auch daraus, dass die wunderbare Entstehung von Brunnen und (Quellen in einzel- ‚nen Fällen noch der Einwirkung mythischer Wesen, Zwerge und Heroen zugeschrieben wird, Als der Ziegelbrenner Bartli am kahlen Berglein auf der Heide zu Lengnau (Aargau) sich ansiedelte, liess das ihm günstig gesinnte Heidenwibli seine Reben gedeihen und auf dem F]- sen das, sogenannte Heidewibli-Brünnli entspringen. (Kochholz 1. e. I: 176). In dem Augenblick des feierlichen Eidschwurs der drei Männer im Grütli entsprangen zu ihren Füssen drei schöne Quellen. Das Schongauer-Bad auf dem Lindenberge entsprudelt an der Mord- eiche, an welcher der Aargauer Blaubart Rüfengügges die von ihm verlockten Mädchen zu erhängen pflegte und ein Jungfernbrunnen zu Langrüti (Kanton Zug) entstand auf der Stelle, wo ein Zwingherr mehrere tugendhafte Jungfrauen umbrachte (Stadlin Gesch. v. Zug I. 33,) Bezeichnend ist es, dass das oben erwähnte Schongauer-Bad in früherer Zeit Guggi- und Heidenbad hiess. Der Gugger ist bekannt- lich der Teufel, der so oft an die Stelle heidnischer Götter trat. Ein heilsamer Guggersbrunn findet sich noch im Kanton Appenzell; ein anderer zu Ottenbach (Zürich). In der Berner-Gemeinde Guggisberg ist ein Ort Guggersbach. Am Fusswege von Gais nach Appenzell ‚liegt die waldige Kluft Guggerloch mit einer Trinkquelle, neben wel- cher eine Frau aus Dankbarkeit für die glückliche Befreiung von einem Augenühel eine Kapelle erbaute (Lutz Lexikon ‚IV. 100). Den ‚Na- ‚men Heidenbad führt auch das Bad zu Ibenmoss im Kanton Luzern "Gefühle, ihre tief eingewurzelten heidnischen Vorurtheile mit grosser Langmuth ‚ertragen, wollte sie die Erziehung dieser Völker nicht aufgeben und sie auf die gefährlichsten Abwege gerathen lassen. (Der Aberglaube und die kathol. Kirche ‚des Mittelalters 30). Unser Herr Gott hat seine Märtyrer an die Stelle unserer Götter gesetzt, die er ihren Geschäften nachgehen liess, sagt Theodoretus von Alexandrien (} 458) (Wolf Beiträge XIH.) Wichtig in dieser Hinsicht ist be- sonders das Schreiben des heiligen Pabstes Gregor des Grossen an den Abt Mel- litus in Franken. = 12 — (Balthasar II. 185); ein Heidenbrünnlein kennt Bruckner (362) zu Holee bei Binningen, ein anderes ist zu Oberhof im Aargau, ein drit- tes zu Grindelwald. Auch die sogenannten Zeitbrunnen, von denen noch die Rede sein wird, heissen Heidenbrunnen. Gewiss sind diese Namen geeignet, die Ansicht von der frühern Bedeutung dieser Quel- len, die sich schon durch ihre Benutzung als Heilquellen begründet, noch mehr zu stützen. Es sei uns gestattet, hier noch einige Quell- und Bachnamen, welche ebenfalls mythische Beziehungen und Quellkultus verrathen, ein- zufügen. Häufig kommen Hellbäche vor; wir finden deren z. B. in den Zürcher Flurnamen zu Brütten, Riekenbach, Rutschweil-Bänk und Töss. Ein Hellbach ist oberhalb Waag im Sernftthal; zwei Hellmüh- len befinden sich im Aargau, Kreis Othmarsingen und bei Amrisweil im Thurgau. Das Helloch ist beim Rheinfall zu Laufenburg, der Höll- haken bei Rheinfelden, der gespensterreiche Helgraben bei Leuk. Der Name Doggelibrunnenwald (bei Rüderswyl) deutet darauf hin, dass dort ein Brunnen Zwergen gehörte, denn Doggeli ist im Kanton die gebräuchliche Bezeichnung der Zwerge (Jahn Kanton Bern 512.) Eine Salzquelle zu Ryken war das Eigenthum der Heidemandli, ebenso das Aescher- oder Heidenbrünnlein bei Oberhof und das Schellenbrünnlein auf der Staffelegg (Rochholz I. 270, 295, 312) und viele andere. Der Dürst oder wilde Jäger wohnt beim Cappeler-Born und seine Ge- liebte beim Bachteler-Bad, das auch das Allerheiligen-Bad heisst (Anahein im Schweiz. Unterhaltungsblatt 1848 No. 38). Am Fusse des Childberg hat der Schimmelreiter seinen Brunnen, ebenso der Stie- felireuter im Maiengrün u. s. w. Unweit der Ruine Haldenstein (Bünd- ten) ist eine heilsame Quelle, welcher die sie bewohnende Quelljungfer die Kraft verleiht, Kranke von ihrem Uebel zu befreien; man sieht oft eine weisse Gestalt neben dem Born sitzen (Vernaleken Alpensa- gen 233). Eine solche weisse Frau sitzt auch am St. Margarethen- Brunnen in Basel-Landschaft. Den Namen Hollabrunn, dem wir doch in Deutschland begegnen, finden wir in der Schweiz nirgends. Neben den erwähnten, durch Heilige geradezu hervorgerufenen Quellen giebt es noch eine sehr grosse Anzahl solcher, welche von christlichen Märtyrern und Bekennern den Namen führen und theil- weise auch mit der Legende in Verbindung gesetzt werden; sie gelten ebenfalls, trotzdem nur ein geringer Theil mineralische Beimischungen verräth, als vorzüglich heilkräftig. Wir müssen uns versagen, sie hier sämmtlich anzuführen und heben desshalb nur die bedeutsamsten her- “= — 13 — aus. St. Verena besitzt ausser den schon erwähnten drei Quellen noch drei andere: das Verenaloch, eine inerustirende Quelle zu Oltingen, den Quell bei der Einsiedelei zu Solothurn und den heiligen Quell zu Baden im Aargau, der, wie schon erwähnt, von unfruchtbaren Frauen benutzt zu werden pflegte. St. Felix und Regula, den Patronen der Stadt Zürich, waren eine Quelle am Fuss der Baumgartenwand bei Lintthal und die einst berühmte Quelle in der Wasserkirche zu Zürich geweiht; bei beiden sollen die Heiligen gewohnt haben. Ein St. Gal- lusbrunnen befindet sich am Tössstock, ein zweiter zu Tuggen, wo St. Columban und seine Gefährten die Götzen zerstörten; zwei Mein- radsbrunnen finden wir in der Nähe der Schindellegi und des Etzels, zu Pfungen den St. Pirminiusbrunnen, oberhalb Chur am Mittenberg die Höhle und die Quelle des heiligen Königssohnes Lucius, zu Re- müs den Brunnen des heiligen Florin, dessen Wasser sich in Wein verwandelte, zu Beinwyl den Brunnen des heiligen Pfarrers Burk- hardt, der so viele Krüppel herstellte, dass von den in der dortigen Kirche aufgehängten Krücken, Stelzen und wächsernen Gliedern der Ort selbst den Beinamen Ghanget-Beuel empfing®), zu Einsiedeln den Brun- nen Gottes, seiner Mutter und der zwölf Apostel, zu Bad Leuk Un- serer lieben Frauen Brunnen, zu Verossa im Wallis den Quell des Burgunderkönigs St. Sigismund, bei Airolo den St. Carlsbrunnen und viele Andere. Dass auch diese Heiligenbrunnen, wie jene durch Hei- lige hervorgerufene, dem heidnischen Quellkultus ihre noch heut fort- dauernde Verehrung verdanken, ergibt sich aus dem bereits eben Ge- sagten, aber auch aus den Erzählungen der Legenden selbst, sobald man auf dieselben näher eingeht. Es sei uns gestattet, so kurz als mög- lich bei Einigen den mythischen Ursprung der an ihnen haftenden Sage aufzuweisen. Auf dem Rigi ist der Schwesternbrunnen zu Kalt- bad, bei welchem zur Zeit der Verfolgungen der habsburgischen Land- vögte drei heilige Jungfrauen sich niedergelassen haben sollen. Sind auch die Namen der drei von der Kirche nicht angenommenen Beken- nerinnen nirgends genannt, so entdecken wir doch leicht in ihnen jene St. Einbett, St. Warbett und St. Wilbett, welche Panzer in Bayern so häufig nachgewiesen hat und von denen wir auch zu Basel, im Haslithal und anderswo Sagen finden. Ein zweiter Schwesternbrunnen ist zu Rafz (Kanton Zürich), ein Riaux des filles ergiesst sich im 8) Das Aufhängen von Armen und Beinen aus Holz verbietet als heidnisch der Indieulus superstitionum (Cap. NXIX. de ligneis pedibus vel manibus pa- gano rvitu.) — 114 — Waadtland in die Tine (Levade Waadt 308). Auf dem Kronberg (Appenzell) befindet sich der St. Jakobsbrunnen, auch der Wunder- brunnen genannt, in der Nähe einer Kapelle der Apostel Bartholomäus und Jacobus; der letztere soll vom hier aus seinen Wanderstab bis nach San Jago di Compostella geworfen haben. Unter diesem schleu- dernden St. Jacobus verbirgt sich, wie wir an einem andern Orte (Berchtoldstag 8. 36) nachgewiesen haben, niemand anders als Donar, dessen Hammer Miölnir sich in manchen Sagen in einen Stab ver- wandelt. Bei Courfaivre im Berner Jura liegt unweit eines Hexen- tanzplatzes und mehrerer Feenkreise die Grotte der heiligen Columba und bei derselben sprudelt der Brunnen der Einsiedlerin, aus welchem sie zu trinken pflegte und der als geweiht betrachtet wird. Er heilt alle Krankheiten und die Mütter pflegen ihre verkümmernden Kinder in das eiskalte Wasser zu tauchen (Quiquerez in Coup d’oeil d. l Soe. Jur. 1856 Pag. 138). Eine andere Höhle und einen anderen gleich wirksamen Brunnen derselben Heiligen sieht man bei Under- velier am Ufer der Sorne (Fäsi Erdbeschreibung 1V. 528). Die Kirche weiss von der heiligen Columba, der auch im französischen Jura Quel- len und Steine geweiht sind, nichts; auch im Volke hat sich nicht mehr erhalten, als dass sie fromm und keusch in Höhlen und in der Einsamkeit lebte und man glaubt sie desshalb zu den keltischen Feen rechnen zu dürfen, von denen noch viele Traditionen erhalten sind und deren Vorhandensein an dieser Stelle die nahen Feenkreise be- stätigen®). Jedenfalls ist hier die Heiligkeit der Quelle nicht einmal durch die kirchliche Legende anerkannt worden. Aber nicht allein dadurch, dass man gewisse Brunnen als durch Heilige hervorgerufen oder von ihnen gesegnet und mit heilsamen Wir- kungen begabt anerkannte, suchte in frühester Zeit die Kirche den heidnischen Quelldienst umzuwandeln; sie gestattete es sogar, dass 9) Es ist indess auch eine andere Erklärung des Namens möglich. Zu den heiligen Steinen der Kelten gehören bekanntlich die sogenannten Menhir (von Men Stein und hir lang), säulenartig aufgerichtete Steine; wurde ein solcher Stein mit dem passenden Namen columna bezeichnet, so konnte aus einer heiligen Columna durch Verwechselung eine heilige Columba entstehen. Die Säule heisst im heutigen Französisch nicht nur colonne, sondern auch colombe. Dass diese Menhir zuweilen Bildsteine waren, scheint aus dem Namen Peulvan (peulPfei- ler und van oder man Gestalt, Figur) hervorzugehen. Doch bedarf diese Vermu- thung noch besserer Begründung, obwohl dergleichen Umwandlungen vorkommen und z. B. zu Bulle in Frankreich (Oise) aus einer heiligen Quelle eine St. Fon- taine entstand, deren Kapelle über dem noch heut verehrten Brunnen erbaut ist, — 15 — einzelne ehedem heilige Gewässer in Kirchen und Kapellen aufgenom- men nnd zu Taufbrunnen gemacht wurden. Beispiele dafür haben wir in Deutschland nicht selten; in der Schweiz kennen wir den schon erwähnten Brunnen unter dem Altar zu Olsberg, den Burkhardt-Brun- nen in der Kirche zu Beinwyl, die St. Felix und Regula Quelle zu Zürich, die Quelle zu Sacramentswald, die Quelle zu St. Villette (Waadt), welche wunderbarer Weise alljährlich einen Rosenstock zur frühen Blüthe brachte und Andere, welche sämmtlich zugleich Gesund- brunnen sind. Viele Quellen befinden sich mindestens an Kirchen oder in der Nähe derselben, z. B. der Verenenbrunnen an der linken Mauer der Zurzacherkirehe, dessen Wasser vom Volke so geschätzt wird wie Weihwasser (Rochholz Sagen I. 14), der St. Annabrunn bei der eh- maligen Wallfahrtskirche zu Oberstammheim (Zürich), der heilige Brun- nen zu Einsiedeln, das St. Martinsbad unweit der St. Martinskapelle zu Worms im Veltlin und Andere. In vielen Fällen wurde die Kirche oder Kapelle selbst nach der Legende neben den Pilger und Wall- fahrer anziehenden Brunnen hingebaut, wie z. B. zu Munzach, auf dem Kronberg, beim St. Himeriusquell, auf Rigi Kaltbad u. s. w. Auch Klöster errichtete man neben heiligen Quellen, wie z. B. Fontaine St. Andr& (Neuenburg) ursprünglich an einem verehrten Brunnen im Val de Ruz erbaut wurde und von ihm auch den Namen empfing. Dasselbe wird auch, nach dem Namen zu schliessen, bei dem Kloster Fraubrunnen der Fall gewesen sein, da hier ein der Mutter Gottes geweihtes Gewässer vermuthet werden muss1P). Eine Erinnerung an heidnische Tempel bei Quellen beurkundet sich in der Tradition, dass. am Hinterrhein unmittelbar am Ausflusse desselben aus dem Gletscher ein Tempel der Nymphen gestanden habe; eine kleine Glocke in der Dorfkirche soll von dort herstammen1#). Auch bei der sogenannten Heidenkirche auf dem Isenberge unweit Ottenbach (wo im vorigen ‚.„10%) Mone zählt nach Bodin eine Reihe von Abteien und Klöstern auf, welche in Frankreich bei heiligen Quellen, begründet wurden und von ihnen den Na- men empfingen (Geschichte des Heidenthums I. 380). St. Columbanus baute Luxeuil an einen Ort, wo warme Quellen waren (Murer hely. sancta 81), auch St. Meinrad wählte die Stätte, wo jetzt Einsiedeln steht, des schönen Brunnens wegen (Murer 126). Dass die schweizerischen und der Schweiz nahe gelegenen Inseln als Baustätten für Klöster gewählt wurden (Seekingen, Rheinau, Reichenau, Lindau, Ufenau, Lützelau, St. -Petersinsel im Bieler-See u. s. w.) können wir hier nur beiläufig erwähnen. 11) Sererhard Einfalt. Delineation gem. drei Bünde. Manpser. Stadtbiblio- thek Zürich. 1. Quart. 52. I. 80. = Mn Jahrhundert wirklich Säulen, anscheinend von einem Tempel herrüh- rend, entdeckt wurden) soll ein wunderschöner Brunnen gewesen sein. Wie man noch heut beim Ausbruch eines Feuers in einigen Ge- genden dieses dadurch zu löschen sucht, dass man Reliquien hineinwirft und feierliche Besprechungen durch Priester stattfinden lässt; wie man ferner eben dieselben Mittel gegen Stürme und Ungewitter in Anwendung brachte: so pflegte man sonst wohl auch aufgeregte Gewässer durch Segnungen zu besänftigen. Dergleichen kömmt noch in den Pyrenäen und in einigen andern Gegenden Frankreichs vor und Giraldus Cam- brensis (Top. Hib. 2, 7) erzählt von einer Quelle in der irischen Pro- vinz Munster, welche, wenn sie von Menschen berührt oder auch nur gesehen wurde, die Gegend überschwemmte, bis sie durch Aussprengung von Weihwässer und von Milch einer einfarbigen Kuh „nach heidnischem und unvernünftigem Brauch“ wieder versöhnt worden war. Sowohl dieses Milchopfer als auch die Segnungen deuten auf Kultus der Quelle, welcher man dämonische Eigenschaften zuschrieb, hin. Wir sind nicht im Stande, ähnliche Weihungen bei den zahlreichen stürmenden Seen der Schweiz nachzuweisen; dagegen war es aber überhaupt Sitte, zu gewissen Zeiten die Gewässer zu segnen. Zu Sempach findet noch heut zu Tage alljährlich am Mittwoch in den Bittfasten ein Bittgang um die Stadt und die feierliche Segnung des Sees statt; die benach- barten Gemeinden pflegen sich dem Umgang anzuschliessen (Geschichts- freund 14, 61). Dasselbe geschah in Bezug auf den Zugersee und Andere. Damit der Lünersee am Scesaplana nicht ausbricht und das Unterland verheert, lässt man alljährlich Messen lesen. Zu Ostern und Pfingsten pflegte man die Taufbrunnen zu segnen (Hottinger Kir- chengeschichte 2, 677). Den Namen „gesegneter Brunnen“ führt eine herrliche Quelle in der Nähe eines Kreuzes bei Zermatt, da wo der Reit- und der Fussweg nach dem St. Theoduls-Pass zusammentreffen. Haben wir vielleicht den Namen als segenbringend zu erklären, so wird doch in den Legenden oft erwähnt, dass Heilige Quellen segne- ten und weihten, und wir wissen auch, dass die laufenden wie die Ziehbrunnen alljährlich zu bestimmter Zeit, die letzteren auch bei ihrer Anlegung benedieirt wurden. In einem Manuscript des 11. Jahrhun- derts, das sich in der Klosterbibliothek zu Rheinau befindet und au- genscheinlich stark benutzt wurde, sind uns die Formeln für solche Weihungen und Exoreismen erhalten!?). Aus allen diesen Segnungen 12) Wir veröffentlichen dasselbe in den Mittheilungen der Antiquarischen Gesellschaft zu Zürich unter dem Titel: Adjurationen etc. bei Gottesgerichten. — 117 — ergiebt sich aber, dass den Quellen, Brunnen, Seen u. s. w., mochten sie nun der Sage nach von Geistern bewohnt sein oder nicht, dämo- nische Eigenschaften zugeschrieben wurden, welche sich nur durch den früheren Kultus erklären. Weit verbreitet ist die Sage, dass man gewisse Seen nicht beun- ruhigen darf, weil sie sonst zu stürmen anfangen, austreten und die Umgegend verheeren oder aber Gewitter und Stürme hervorrufen. Wie Liebrecht (Otia imperialia 143) ganz richtig bemerkt, verdanken diese Traditionen oft dem Umstaude, dass man durch eigenthümliche Bräuche Regen zu bewirken suchte, ihre Entstehung und namentlich möchte diess in der Schweiz in Hinsicht auf die Sage vom Pilatussee der Fall sein. In vielen andern Fällen liegt dagegen in ihnen der Ge- danke an eine dem Wasser oder seinem Dämon zugefügte Beleidi- gung zum Grunde. War das Wasser heilig, so durfte ihm kein Un- berechtigter nahen, blieb jede Störung und Besudelung des reinen Elements untersagt. Klar ergiebt sich das aus der eben angeführten Sage vom Quell zu Munster in Irland, der nicht einmal gesehen und noch weniger berührt werden durfte. Ihr schliesst sich die schwei- zerische Sage von der Quelle in Bruderbalm, nicht weit von der un- tern Nase am Bürgenberg, an. Dort soll ein Brunnen in der Tiefe des Sees sein; wenn man ihn mit lauter Stimme dreimal ruft, so quillt er mit grosser Gewalt von Grund auf über das Seewasser her- vor, so dass man eilends davon fliehen muss. Die Person aber, welche "gerufen, muss noch in demselben Jahre sterben (Cysat Vierwaldstät- tersee 244). Dieselbe Strafe trifft auch denjenigen, welcher in den Seelisbergersee hineinschreit oder der sich am Charfreitag an den Pi- latussee wagt und den Pilatus erblickt. Ein anderer, einst von allen Reisenden besuchter, jetzt indess fast vergessener Brunnen ist derje- nige auf Engstlen-Alp (Bern). Er fliesst nur im Sommer drei bis vier - Monate lang (ist also ein sogenannter Zeitbrunnen), aber dann auch nicht immer, sondern er steht oft mehrere Stunden lang ab und kömmt ‚darauf wieder mit unterirdischem Geräusch hervor, so stark, dass er ein Mühlrad treiben könnte. Man behauptete von ihm, dass er Men- ‚schen und Thieren ausserordentlich wohl thue und niemals schade; auch fliesse er so sanft über die Alp, dass er nicht einmal den Thau von den Pflanzen abspühle. Von ihm erzählt Scheuchzer in der zwei- ten und fünften Bergreise die Sage, dass er oft auf lange Zeit aus- bleibe, wenn etwas Unreines hineingeworfen oder darin gewaschen werde; das wohlthätige Wasser zürnt über die Besudelung und Ent- Wissenschaftliche Monatsschrift. 1V., ö — 18 — heiligung. Wer im Einfisch-Thal (Wallis) fliessendes Wasser verun- reinigt, verursacht den Seelen seiner verstorbenen Eltern Schmerzen (Des Loges Voyage 138). In den Ganges darf der Hindu nicht speien. Dass man auch die den Heiligen geweihten Brunnen nicht besudeln darf, ohne sich eines schweren Verbrechens schuldig zu machen, bedarf keiner ausdrücklichen Erwähnung. Die Heiligkeit der Brunnen spricht sich ferner dadurch aus, dass sie die Zukunft verkünden; nur die Gottheit giebt Orakel13). Alle Völker kannten weissagende Quellen; wir erinnern hier nur bei den Griechen an das redende Wasser Anapanomenos zu Dodona und an die Kastalische Quelle zu Delphi. In den nordischen Sagen haben wir Urds Brunnen, den Brunnen des Geschicks, und Mimir’s Brunnen. Nach Plutarch prophezeiten die weisen Frauen in Ariovist's Heere aus den Strudeln der Flüsse. Dieselbe Weissagungsart kannte auch Cle- mens von Alexandrien und Pabst Gregor III. ermahnt die getauften Deutschen, von den heidnischen Gebräuchen und namentlich von den Orakeln der Quellen (fontium auguria) abzustehen (Epist. bei Othlo Vit. Bon. I. p. 37). Quellen und auch Seen, welche emporsteigen und andere, welche versiegen, weissagen Unglück, Sterbefall und na- hende Theurung; wenn des Landesfürsten Tod bevorsteht, hält der Fluss in seinem Lauf ein und giebt gleichsam Trauer zu erkennen; versiegt der Brunnen, so stirbt bald der Herr des Geschlechts (Grimm D. S. No. 110. 103). Häufig sind besonders die Hungerbrunnen, welche, wenn sie ungewöhnlich reichlich fliessen, ein unfruchtbares Jahr, Theuerung und Hungersnoth verkünden; sie finden sich überall, namentlich ausserhalb Deutschland auch in England und schon Plinius (2. 103—106) erwähnt eines solchen mit den Worten: In Reatino fons, Neminie adpellatus, alio atque alio loco exoritur, annonae mu- tationes significans. In der Schweiz stand früher besonders der Hun- gerbach zu Wangen (Zürich) in hohem Ansehen und Scheuchzer (Na- turgeschichte I. 340) meint, er sei fast würdig, dass täglich seine Bewegungen auf obrigkeitlichen Befehl beobachtet und in ein Register eingetragen würden, damit das ganze Land sich vor Eintritt des Brod- mangels vorsehen könne. Derselbe Schriftsteller giebt eine Vergleichung der Kornpreise mit dem Stand des Wassers zum Beweise, dass wirk- lich starker Wasserzufluss mit Theuerung zusammentreffe. Als andere 13) In Appenzell sagt man: Wenn man ins rinnende Wasser sieht, so sieht man der Gottheit ins Auge (Vernaleken 345.) Vergleiche F. Wachter bei Ersch und Gruber s. v. Orakelgewässer. — 119 — Wasser gleicher Art bezeichnet er den Seltenbach zu Eglisau und den Haarsce bei Henggart; wenn dieser ganz ausgetrocknet ist, so glauben die Bauern an eine ausserordentlich reiche Ernte. Weitere ähnliche Gewässer sind die Quelle Bramafan im Jaunthal und der Mocausasee im Waadtlande, ein Quell bei der Ruine Neuenburg am Rhein (Schaff- hausen), der Hornusser Hungerbrunnen im Friekthal und derjenige im Degermoos (Rochholz 1. e. I. 40), der Weiher zu Nerach (Zürich), die Brunnen auf Aspi bei Affoltern am Albis und viele andere. Diese Hungerbrunnen heissen auch Heidenbrunnen. Von der Bedeutung, welche sie hatten, erhält man einen Begriff, wenn man Dietmar’s von Merseburg (I. 1. cap. 3) Bericht über den See Glomazi im slavischen Elbland liest; er sagt nämlich, dass derselbe, je nachdem ein gutes Jahr oder Krieg zu erwarten war, Weizen und Hafer oder Blut und Asche ausströmte und dass die Anwohner ihn höher als die Kirchen verehrten und fürchteten (hune omnis incola plus quam ecclesias, spe quamvis dubia veneratur et timet). Dass es wie Seen so auch Brun- nen gab, welche das Wetter verkündigten, ergibt sich daraus, dass Witterung und Ernte nahe zusammen gehören; wir können es ausser- dem aus dem Namen Wetterbrunnen (bei Wintersingen), den wir bei Bruckner (2374) finden, schliessen und ferner wissen wir, dass das Schlagen der stehenden und fliessenden Wasser durch die Hexen Stürme und Ungewitter hervorruft. Die intermittirende Quelle von Ebauches bei Morgens im Wallis prophezeit ebenfalls das schöne Wetter (Des Loges Voyage 44). Bei allen diesen Brunnen erzählt uns die Sage nichts von einem Geiste oder Dämon, der in und bei demselben seinen Sitz hat; wir haben aber als Ausnahme eine Sage vom Pilatus, nach welcher dort bei einer Quelle alljährlich zu gewisser Zeit eine Frau mit zwei weissen oder zwei schwarzen Ziegen erscheint, je nachdem wöhlfeile Zeit oder 'I'heuerung bevorsteht. Es ist nicht unwahrschein- lich, dass ähnliche Ueberlieferungen auch von andern Gewässern vor- handen waren. Eine sehr merkwürdige Tradition haben wir von dem Todten- bächlein zu St. Stephan im Saanenthal, einer starken Quelle, welche am Eingange des Kirchhofes hervorquillt und sofort eine Mühle treibt. Sie soll sich nämlich bei Wetterveränderungen trüben und dann meh- rere Stunden lang einen weissen Stoff auswerfen, bei schönem Wetter aber klar sein. Ausserdem glauben aber auch die Einwohner, dass bald nach Eintritt der Trübung Jemand aus der Gemeinde sterben muss und dass die Quelle früher auch den Eintritt der Pest geweis- — 120 — sagt habe. Unter dem Kirehhofe soll ein ungeheurer Drache liegen ; er beunruhigt das Wasser, wenn er von Zeit zu Zeit heftige Convul- sionen hat. Dieser eingeschlossene Drache erinnert an Loki, den Va- ter der Midgardsschlange, welchen einst die Asen seiner Unthaten wegen über drei Felsen banden; träufelt ihm das Gift des über ihm aufgehängten Wurms in die Augen, so schüttelt er sich, dass die ganze Erde sich bewegt und das nennt man Erdbeben. Unter den Convulsionen des Drachen von St. Stephan sind wahrscheinlich eben- falls Erderschütterungen zu verstehen, die ja bekanntlich in dem na- hen Wallis häufig genug vorkommen. Jedenfalls deutet das Unthier auf die Unterwelt hin. Für uns ist die Tradition besonders desshalb wichtig, weil nach ihr der Brunnen nicht nur das Wetter, sondern auch ein herannahendes Sterben und den Tod Einzelner verkündet!®). Wir haben schon erwähnt, dass ähnliche Brunnen aueh von Grimm aufgeführt werden; wahrscheinlich waren sie in der Schweiz früher häufiger, denn wir haben allein im Kanton Zürich die Todtenbächlein zu Unterleimbach und zu Maschwanden und das Todtenbrünneli zu Wollishofen (Zürcher Flurnamen). Ob bieher auch der Todtensee auf der Grimsel, der diesen Namen schon vor dem bekannten Kampfe der Oestreicher und Franzosen führte, zu rechnen ist, wollen wir nicht ent- scheiden; Seen verkünden aber ebenfalls Todesfälle und im Fischteich zu St. Maurice zeigt eine todte Forelle das nahe Absterben eines Chor- herrn, im Rootsee das Erscheinen eines grossen Fisches den Tod des Grundherrn, ein ähnlicher Fisch „gleich wie ein eichbaumiges Schiff“ im Zugersee Krieg, Pest und Theuerung an. Wir können‘ hier gleich noch einer andern Art von Brunnen, welche ebenfalls hochgeachtet wurden, gedenken: man behauptete von ihnen nämlich, dass sie nur zu denjenigen Zeiten flössen, wenn Men- schen und Thiere ihrer bedürfen. Es sind diess die sogenannten Mai- brunnen (fontes majales) und sie treten im Gebirge sehr häufig auf, weil die Bedingungen für ihr Entstehen fast überall vorhanden sind. Den Namen Maibrunnen haben sie davon, dass sie meist im Mai zu fliessen anfangen sollen; ihr Aufhören setzt man in den September, wenn die um Pfingsten auf die Alpen ziehenden Heerden wieder heim- 14) Die hohe Bedeutung dieser Quelle ergibt sich auch aus der Sage, dass die Erbauung der Kirche in ihrer Nähe stattgefunden habe, nachdem zwei Stiere den Bauplatz bezeichnet hatten. Diese weisenden Thiere gehören Fro an, der auch in andern Sagen durch St. Stephan vertreten zu werden pflegt. (Wolf Bei- träge I. 124.) DR. kehren. Ausserdem nennt man sie auch Zeitbrunnen, weil sie nur periodisch Wasser haben. Der vorhin erwähnte Engstlenbrunnen gehört zu ihnen. Von einigen dieser Quellen behauptet noch heut das Volk, dass sie genau an einem Marientage (Verkündigung, 25. März) her- vorkommen und an einem andern (Geburt, 8. Sept.) abstehen; zu die- ser Zahl gehört Unserer lieben Frauen Brunn zu Leuk und sie wer- den in der Regel als heilsam betrachtet. Andere fliessen angeblich zwischen zwei Kreuztagen (Kreuz-Erfindung und Erhöhung). Gewiss ist diese Beziehung der Quellen zu christlichen Festen beachtenswerth, obwohl leicht erklärlich. Da die Maibrunnen in der That wohlthätig sind und oft dem Wassermangel abhelfen, so schrieb man ihr recht- zeitiges Erscheinen, das man sich nicht natürlich zu erklären wusste, einem Wunder zu, das freilich in heidnischer Zeit von den Göttern, in christlichen aber von den Heiligen ausgehen musste. Im Allgemeinen haben sie mit den Hungerbrunnen das gemein, dass ihre ausserge- wöhnliche Wassermasse auf Theurung hindeutet; aus dem ebenfalls vorkommenden Namen Schonbrunnen lässt sich auch auf Verkündigung des Wetters schliessen. Als die merkwürdigsten unter ihnen erschienen übrigens diejenigen, welche täglich zu gewissen Stunden flossen, zu andern abstanden und oft ganz unerwartet mit Geräusch und reichem Erguss hervorsprudelten; wie sollte man sich ein solches Phänomen anders als durch höhere, göttliche Einwirkung erklären? Ein solcher Quell war der schon erwähnte Anapauonenos zu Dodona und desshalb hiess er eben auch der Ausruhende; um Mitternacht sprudelte er am stärksten, um Mittag am schwächsten #9). Neben diesen zu verschiedenen Zeiten stärker oder schwächer fliessenden Brunnen erregten auch alle andern Quellen Aufmerksam- keit, welche sich durch irgend etwas von den gewöhnlichen Wassern unterschieden, namentlich also alle eiskalten und alle heissen Quellen, die Gletscherbrunnen, die rothfärbenden und inkrustirenden Brunnen u. s. w. Wir können aber hier über sie fortgehen, da eine er- schöpfende Behandlung an diesem Orte nicht möglich ist und einige der wesentlichsten Beobachtungen weiter unten vorgeführt werden sollen. Wir wenden uns desshalb lieber noch einigen Quellen zu, welche durch ihre Sage von höherer Bedeutung sind. Das Wasser ist das fruchtbar machende Element; ohne dasselbe 15) Der Brunnen im Val d’Assa (Engadin) soll täglich dreimal abwechseln ; er fliesst jedesmal nur etwa eine Stunde lang, aber sehr stark. lässt sich für alles Lebende, für Menschen, T'hiere und Pflanzen weder Entstehung, noch Gedeihen und Entwicklung denken. Aus diesem Grunde geht auch von einer grossen Anzahl von Brunnen und Teichen die Sage, dass aus ihnen die Kinder herkommen. So werden zu Köln die Kinder aus dem Brunnen bei der St. Cuniberts-Kirche geholt, zu Halle aus dem Gütchenteich, zu Braunschweig aus den zwei Göde- brunnen, zu Flensburg aus dem Brunnen auf dem Gebermarkte u. s. w. (Wolf Beiträge I. 164). Derselbe Glaube ist auch in Belgien ver- breitet. Wir kennen solche Brunnen in der Schweiz freilich nicht 16), vielmehr erzählt man hier in der Regel, dass die Kinder aus Felsen und Bäumen kommen; aber wir zweifeln nicht, dass man sie noch auffinden wird 17). Jedenfalls ergiebt sich die Beziehung der Brunnen und Bäche zu den Kindern aus dem Rufe, mit welchem die Knaben in Aarau den wieder erscheinenden Stadtbach begrüssen, sie bezeich- nen sich damit gewissermassen als Kinder des Baches 18). (Rochholz Sagen Il. 21.) Bemerkenswerth ist auch der einst allgemein verbrei- tete Glaube, dass todtgeborene Kinder durch die Taufe, wenigstens auf einige Minuten, in das Leben zurückgerufen werden könnten; na- mentlich soll diess besonders häufig in der Wallfahrtskirche Unserer lieben Frau zu Büren geschehen sein. (Hottinger Kirchengeschichte ll. 971). Der Gedanke von der Fruchtbarmachung des Wassers spricht sich auch in der Meinung aus, dass viele Quellen, vorzüglich aber die heissen, die Unfruchtbarkeit der Frauen heben. In vorzüglichstem Rufe stand in dieser Hinsicht bekanntlich das Verenenbad zu Baden, welches Jahrhunderte lang von den angesehensten Frauen und, wie behauptet wird, mit vielem Erfolg benutzt wurde; doch auch Bad Ga- ney im Prättigau verdankte demselben Glauben den grösseren Theil seiner weiblichen Besucher. Bemerkenswerth ist der Volksglaube zu Croutoy (Oise) in Frankreich. Eine Frau, welche während ihrer ersten Schwangerschaft nicht dreimal wenigstens aus der Quelle des heiligen 16) Dr. Coremanns Mittheilung an Wolf, dass zu Zürich ein Kinderbrunnen bei dem Fraumünster sei, ist irrig. 17) In den Kinderbrunnen wohnt Frau Holda, sie nährt und pflegt die Kin- der. Einzelne Brunnen heissen desshalb auch Hollabrunnen. Dass Holda, welche der Erde Fruchtbarkeit verleiht, und den Ehesegen giebt, in Quellen ihren Sitz hat, rechtfertigt sich leicht aus der Bedeutung des Wassers. 18) Der Bach chunnt, der Bach chunnt! — Sin mine Buebe-n- alli g’sund ? Jo-j0-jo! Der Bach isch cho, der Bach isch cho; -- Sin mine Buebe-n- alli-do? Jo-jo-jo! — 123 — Michael trinkt, bringt nur Mädchen zur Welt; diejenige, welche nach ihrer Entbindung die Windeln nicht an einem andern Quell, la Galöne, wäscht, entehrt sich und erzieht nur ein geistig und körperlich elen- des Kind. Uebrigens ist nicht zu übersehen, dass im Mittelalter am Hochzeitstage Braut und Bräutigam ein Bad zu nehmen hatten, wie denn auch in einer gewissen Nacht des Jahres der Brunnen im Mond- schein den Mädchen das Bild ihres künftigen Bräutigams zeigt (Panzer. I. 124). h; In nahem Zusammenhange mit diesen Kinderbrunnen steht der Jungbrunnen, welchen das Mittelalter kannte; wer in ihm badet, heilt von Krankheiten und wird davor bewahrt; Rauchels legt darin ihre Haut ab und verwandelt sich in die schöne Sigeminne; ein solcher Brunnen giebt nicht nur Schönheit und Jugend, er hat sogar mitun- ter auch die Kraft, das Geschlecht zu verändern. Gleichbedeutend ist der ahd. queeprunno, mhd. queeprunne, auch kekprunno (fons vivus). (Grimm M. 554, Wolf Beiträge I. 167.) Schweizerische Sagen, welche eines solehen Brunnens, durch welche eine förmliche Wiedergeburt be- wirkt wird, ausdrücklich erwähnen, sind bis jetzt nicht aufgefunden ‚worden, dagegen zeigt sich allerdings der Name. Bei St. Nielaus im Visperthal ist der wilde Jungbach und aus der Gadmenfluh im Ber- ner Oberland brechen die Jüngisbrunnen, auch Achtelsaasbäche ge- nannt, hervor. Bei Genf haben wir Eaux vives und Fontaine vive. Eines Queck- oder Keckbrunnen erwähnt Rochholz (Sagen I. 42) im Dorfe Waldhäusern im Aargau; ein Kechbrunnen befindet sich zu Ober- mettmenstetten (Zürich) und die Grenzen der Herrschaft Farnsburg bildeten ein Geggenbrunnen und ein Keckbrunnen (Bruckner 2144). In mehreren Fällen scheint man den Namen später missverstanden zu haben und wandelte ihn in Quecksilberbrunnen um; von diesen geht gewöhnlich die Sage, dass sie aus Rache durch hineingeschüttetes Queck- silber verdorben worden seien. Ob aus den Quecksilberbrunnen wieder die Silberbrunnen entstanden sind, lässt sich nicht bestimmen, möglich ist diess freilich, da zwar der Sage nach den Quellen oft Gold, aber niemals Silber beigemischt sein soll. Aus allen diesen Zeugnissen über die hohe Bedeutung der Quel- len, wie der Gewässer überhaupt, welche indess den Gegenstand kei- neswegs erschöpfen können und die sich namentlich dann, wenn auf Ströme und Seen eingegangen würde, noch bedeutend vermehren liessen, dürfen wir wohl mit vollem Recht den Schluss ziehen, dass auch in der Schweiz das Element des Wassers in hohem Grade verehrt wurde. — 124 — Simrock (Myth. 509) möchte zwar voraussetzen, dass in allen Fällen wenigstens bei den Germanen der Kultus nicht dem Wasser an sich, sondern dem in ihm wohnenden Fluss- und Quellgeist gegolten habe; wir halten indess diese Annahme für unrichtig. Abgesehen davon, dass, wie wir in der Einleitung an J. Grimm uns anschliessend aus- geführt haben, überall und bei allen Völkern Elementarkultus statt- fand, sind die Verbote des Mittelalters auch zu bestimmt; es ist: in denselben stets deutlich und klar von Verehrung der Steine, Bäume und Quellen die Rede. Dass in einzelnen Fällen das ‚Gewässer als von einem bösen Geiste bewohnt erscheint, ist freilich ebenso wahr, als dass in der Schweiz von Dämonen in Quellen, Flüssen und Seen nicht selten die Rede ist; aber dieser Umstand schliesst gewiss nicht den reinen Wasserkultus aus. Jedenfalls müsste das Gegentheil erst bewiesen werden. Uebrigens beabsichtigen wir nicht, diesen Punkt, dessen Besprechung zu weit führen würde, näher zu erörtern; wir haben desshalb auch häufig Quellen erwähnt, bei denen ein in ihnen hausender Dämon eine grosse Rolle spielt, und werden es auch auf den folgenden Blättern so halten. Kaum würde sich auch feststellen lassen, ob der einzelne Brunnen zu heidnischer Zeit einem Gott ge- weiht war oder ob man erst in christlicher Zeit, wie es gewiss «oft geschehen sein wird, dem verehrten Quell einen teuflischen Geist oder ein Gespenst zuschrieb. Ebensowenig gehen wir an dieser Stelle auf die Wasserdämonen ein, obwohl sie in manchen Beziehungen zu in- teressanten Beobachtungen Anlass geben und dem deutschen Mytho- logen namentlich desshalb wichtig werden, weil hier das Hereinragen der keltischen Götterlehre in deutsches Sagenthum oft bemerkbar her- vortritt. Aber gerade darum führen sie auch von unserm Gegenstande zu weit ab und wir ziehen es desshalb vor, uns zur Ergänzung un- serer Untersuchung den verschiedenen Kultusformen, so weit sich’von ihnen noch Reste und Spuren erhalten haben, zuzuwenden. Ein Pferdeopfer der neuesten Zeit. |Von H RUNGE. Während Blumen-, Geld-, Brod- und andere dergleichen kleinere Opfer sich in Gebräuchen und Sagen, namentlich auch unter den so- genannten sympathetischen Mitteln und in Verbindung mit Segensfor- meln noch zahlreich erhalten haben, treten T'hieropfer wenigstens in — 25 — dem letzten Jahrhundert unserer Zeitrechnung, wenn sie auch noch nicht ganz geschwunden sind, doch verhältnissmässig selten auf. Die Ursache davon liegt auf der Hand; dergleichen Opfer erschienen dem gemeinen Mann bald zu kostbar, zumal er nicht mehr, wie in der heidnischen Zeit, von dem nun dem bösen Geist geweihten Thier speisen mochte. Ausserdem hatte es die Geistlichkeit schon in frü- hester Zeit dahin zu bringen gewusst, dass solche Opferthiere, wie alle übrigen Gaben, an christliche Tempel gestiftet wurden. Hierher gehören namentlich auch die Tempelrosse, welche wir in der Schweiz bei vielen Kirchen finden und für welche eigene, vom Bodenzins be- freite Futterwiesen verzeichnet sind; sie waren in Erinnerung an Wuo- tan’s Sleiphir und an die von Taeitus erwähnten Rosse der heiligen Wälder und Haine in der Regel Schimmel und hatten das heilige Sacrament zu tragen, wesshalb auch die bekannte Sage von Rudolph von Habsburg in einigen Fassungen das von ihm dem Priester ge- schenkte Pferd als ein schneeweisses bezeichnet. Niehts desto weniger muss sich die Erinnerung an die alten ger- manischen und auch für die Allemannen durch Agathias bezeugten Pferdeopfer, wie ein Beispiel beweist, noch erbalten haben. Als näm- lich im Jahre 1815 zu Algentshausen im Toggenburg ein fünfzehn- jähriges Mädchen vom St. Veits-Tanz befallen wurde, suchten die Eltern lange Zeit bei Quacksalbern, Teufelsbeschwörern und Kapu- »zinern fruchtlos Hülfe. Endlich wandte man ein letztes Mittel an. Man nahm nämlich ein Pferd (das freilich krank war und desshalb keinen hohen Werth hatte), band demselben eine Bürde Stroh an den Hals, verbrannte diese und vergrub endlich das Ross lebendig und zugleich mit allen bei diesem Akt gebrauchten Werkzeugen (Hoffmann Henau $. 120). Augenscheinlich haben wir hier ein Opfer und zwar ein doppeltes, zuerst die Verbrennung des Strohs, hierauf das Pferd selbst. Man könnte dabei an Wuotan denken, dessen Ross oft Hafer- büschel geweiht wurden und welcher im Besitz der Heilkunst war, der auch Herr der Todten ist; aber auf ihn passt das Verscharren des Opferthieres nicht, weil es auf die Unterwelt hindeutet, und er nimmt auch nur die gefallenen Krieger bei sich auf. Wir haben es desshalb mit der Hel zu thun. Wenn ein Todkranker genest, so sagt man in Schleswig: „er hat sich mit der Hel abgefunden“; in Däne- mark : „jeg gav Döden en skiäppe havre*, er hat dem Tod (für sein Ross) einen Scheffel Hafer gegeben. (Grimm Myth. 804). Der Tod hat ebenfalls ein Pferd, dem man Gaben bringt, und die Hel reitet — 1236 — in Pestzeiten auf ihrem Rosse, den Tod verkündend und bringend, herum. Bei unserem Opfer galt die Bürde Stroh, das Brandopfer, dem Todesross und das Ross selbst der Hel, welche beide damit besänf- tigt werden sollten. Dass die Werkzeuge, welche durch die Hand- lung geweiht worden waren, verscharrt werden mussten, bedarf keines Beweises. Auffallend bleibt dabei freilich der Umstand, dass die Kranke am St. Veits-Tanz, den man mit Swantowit in Verbindung setzt, litt. Dieser Gott war aber der slavische Odin und auch ihm waren Rosse heilig, weil er einen heiligen Schimmel besass und auf demselben ge- gen die Feinde auszog. Aber schwerlich wird man annehmen können, dass die slavische Mythologie im Toggenburg irgend welchen Einfluss ausgeübt habe. Noch eine Notiz über das kolenberger Gericht. (s. Monatsschrift 1858 S. 137 ff.) Für die Existenz des kolenberger Gerichts in Basel am Ende des 14. Jahrhunderts und dessen Form kann der Chronist Andr. Ryff als zuverlässiger Gewährsmann gelten, aber unzuverlässig ist eine hi- storische Notiz, welche er seiner Beschreibung einverleibt hat, indem er sagt: „und das ist ein.sollich gericht, deren nur vier im römischen keiserthuom sind, dann es ist ein sondere freiheit von keiseren ge- geben. eins ist zuo Basel; eins zu Augspurg, eins zuo Hamburg, das vierte zu ...... “ Der Name der vierten Stadt ist hier ausgefallen. Um etwas über ein derartiges Gericht in Hamburgs alter Zeit zu er- fahren, ersuchte ich einen Freund desshalb nachzuforschen und erhielt die Antwort, dass der gründlichste Kenner hamburgischer Rechtsalter- thümer, Herr Archivar Dr. Lappenberg, kein Bedenken trage, zu erklären, dass ein solches Gericht, welches dem baseler nur entfernt ähnlich gewesen, in Hamburg nicht nachzuweisen sei. Mittlerweile habe ich für andere rechtshistorische Zwecke die Geschichte Augsburgs im Mittelalter studirt, aber weder bei Gassarus (Annales Augusta- nae), noch in P. von Stetten’s treflicher Geschichte der Stadt Augs- burg, noch anderswo eine Notiz über ein solches Gericht gefunden, das die Chronisten und Historiker schwerlich unbeachtet gelassen haben würden, wenn es ihnen aufgestossen wäre. Ich kann demnach die Nachricht Ryff’s zwar nicht für unwahr erklären, aber doch für sehr unsicher. N Osenbrüggen. — 127 — Sitzung des wissenschaftlichen Vereins am 17. Januar und 14. Februar 1859. Vortrag des Herrn Prof. Dr. Schlottmann über den Begriff des Gewissens. I. Der Vortragende knüpfte an seine frühere Erörterung des Be- griffes der Religion an, mit welchem der des Gewissens in unver- kennbarem Zusammenhange steht. Beide gehören zu denjenigen wich- tigen und Jedem zugänglichen Begriffen, deren scharfe Bestimmung ihre besondere Schwierigkeit hat. Ueber den Mangel an einem klaren und genügenden Begrifi des Gewissens ist neuerlich öfter geklagt wor- en. Kein Versuch diesem Mangel abzuhelfen hat eine ähnliche durch- greifende Bedeutung gewonnen wie Schleiermacher’s Behandlung des Religionsbegriffs.. Es wird in diesem ersten Theile des Vortrags die Aufgabe sein, den Begriff des Gewissens für sich genommen psycho- logisch zu bestimmen, um dann in einem zweiten Theile das Verhält- niss desselben zu dem Begriff Gottes und zu dem der Religion zu untersuchen. Zuerst wird in Betreff des Wortes Gewissen der verschiedene Sprachgebrauch unterschieden. Das Gewissen, demzufolge oder dem zuwider man handelt, wird als Gewissen im primären Sinne bezeich- net; das aus solehem Handeln hervorgehende gute oder böse Gewis- sen als Gewissen im secundären Sinne; fasst man unter dem Namen Gewissen den ganzen psychologischen Vorgang von dem Gewissen im primären bis zu dem Gewissen im secundären Sinne zusammen, so „kann man dies das Gewissen im complexiven Sinne nennen. Es wird 1) als mit dem leichtesten begonnen mit der Betrach- tung des Gewissens im secundären Sinne. Das gute Gewissen ergiebt sich als die Harmonie, das böse Gewissen als die Disharmonie des sittlichen Bewusstseins mit dem Moment desselben, welches als pri- märes Gewissen bezeichnet wurde. Dann wird 2) übergegangen zu den psychologischen Vorgängen, welche den Namen des Gewissens im complexiven Sinne des Wortes führen. Dieses hat Kant (ohne den verschiedenen Sprachgebrauch scharf zu unterscheiden) vorzugsweise zum Gegenstande seiner Unter- suchung gemacht, indem er in geistreicher und sittlich energischer Weise das herkömmliche Bild des inneren Tribunals durchführt. Er verwechselt aber mehrfach das Gewissen mit der spontanen Reflexion über das Gewissen, während er selbst anderwärts darauf hinweist, dass es in dem Menschen etwas Unwillkürliches und eben desshalb für ihn Unentfliehbares sei. Die letztere Auffassung ist die allein rich- tige und muss consequent durchgeführt werden. Alle psychologischen Vorgänge, die man mit Recht zu dem Gewissen selber rechnet, sind unwillkürlich und gehören nicht dem Freithätigen, Selbstbestimmenden in der Seele an, sondern dem Bewusstsein als dem reinen Sein der Seele, daher sich, wie besonders Shakespeare das meisterhaft darzu- -— 18 — stellen weiss, das Gewissen auch im Traume mit furchtbarer Macht kund geben kann. Das Sein der Seele aber ist im Unterschiede von dem Freithätigen in ihr nicht ein Blindes, Unvernünftiges (&Aoyov). Es treten in ihm unwillkürliche Gedanken und Willensregungen her- vor. Dahin gehört, was wir unmittelbares Wissen, höheren Trieb nennen. In beiden Formen erscheint das Gewissen und kommt so dem freithätigen Element der Seele, statt von ihm auszugehen, viel- mehr entgegen. Wohl aber kann das letztere, wie auf das Sein der Seele (das Bewusstsein) überhaupt, so auch auf das Gewissen zurück- wirken. Es wird gezeigt, wie das Freithätige, nachdem durch seine gewissenswidrige Selbstbestimmung das böse Gewissen hervorgerufen ist, den Schmerz des letzteren auf rechte oder verkehrte Weise zu überwinden sucht, wobei insbesondere die verschiedenen Arten der Ein- schläferung des Gewissens zur Sprache kommen. Hierauf wird 3) an die schwierigste Aufgabe geschritten, näm- lich die, das Wesen des Gewissens im primären Sinne genauer zu bestimmen. Dasselbe gleicht in seiner Erscheinung formell einer durch Ideenassociation hervorgerufenen unwillkürlichen Erinnerung. Für jeden einzelnen Fall des Handelns entsinnt sich gleichsam der Mensch in dem Gewissen gerade desjenigen, was seine Pflicht ist. Und diese Besinnung des Gewissens wirkt zugleich auf den Willen als unwill- kürlicher, nicht aber unwiderstehlicher sittlicher Trieb. Woher nun jenes Wissen der bestimmten Pflicht? Oder, mit andern Worten, wo- her hat das primäre Gewissen seinen concreten Inhalt? Kant, Fichte, Hegel antworteten eben so wie früher Wolff: Durch eine vorangegan- gene spontane Denkthätigkeit. Diese Ansicht wird in ihren verschie- denen Gestalten widerlegt. Es zeigt sich wie alles ethische Denken immer selber schon das Gewissen voraussetzt, wie denn auch Fichte als dabei mitwirkenden Factor einen „sittlichen Trieb“ annimmt, den er freilich in unklarer und unhaltbarer Weise bestimmt, der aber, richtig aufgefasst, nichts anderes ist als eben das primäre Gewissen selbst. Dieses ist in jedem menschlichen Bewusstsein als eine den ‚ganzen Organismus des Sittengesetzes umfassende Potenz gesetzt, welche in dem Maasse, als der Mensch sich entwickelt und die einzel- nen Pflichtfälle an ihn herantreten, in den Actus tritt. Wenn aber hierbei das freithätige Element störend einwirkt und das wahrhafte Gewissen einschläfert und zeitweilig unterdrückt, so entsteht das so- genannte falsche oder irrende Gewissen, welches nicht nur in einzel- nen Individuen, sondern in ganzen Geistesrichtungen, nationalen und religiösen Gemeinschaften zu einer verderblichen Macht werden kann. Davon zu unterscheiden ist das schwache Gewissen, welches nicht auf einer sittlichen Verkehrung, sondern auf einer unvollkommenen Ein- sicht beruht, durch die es, an sich auf das Wahre gerichtet, irrthüm- lich gebunden ist. Das Resultat der letzten Untersuchungen wird in folgenden De- finitionen zusammengefasst: 1) Das primäre Gewissen in seiner einzel- — 1229 — nen Erscheinung ist das unmittelbare Bewusstsein unserer bestimmten Pflicht, welches sich als unmittelbares sittliches Wissen und als sitt- licher Trieb zugleich äussert. 2) Das primäre Gewissen in seiner All- gemeinheit ist das der menschlichen Natur wesentliche Bewusstsein des Sittengesetzes in seiner organischeu Totalität, welches Bewusstsein für jeden einzelnen Pflichtfall als ein diesem entsprechendes unmittel- bares sittliches Wissen und sittlicher Trieb zur Erscheinung kommt. Schliesslich wird das Gewissen als das apriori alles ethischen (praktischen) Erkennens und Wollens verglichen mit den apriorischen Momenten des theoretischen Erkennens und der ästhetischen Anschau- ung. Die letzteren (die der ästhetischen Anschauung) lassen sich in Beziehung auf die einzelne conerete Schönheit gar nicht auf bestimmte allgemeine Sätze zurückführen, denn worin jene, z. B. die Schönheit einer einzelnen Melodie oder Harmonienfolge, wesentlich besteht, ist etwas sehlechthin Unsagbares. Das Apriorische des Schönen kann in dem Begriff des Geschmacks zusammengefasst werden. Das Apriori- sche des theoretischen Erkennens lässt sich auf allgemeine Sätze zu- rückführen,, aber diese sind nicht wie die des Gewissens, im unmit- telbaren Bewusstsein gegeben, sondern werden erst durch diseursives Denken gefunden, welche Aufgabe z. B. in Beziehung auf die apriori gegebenen Gesetze der formellen Logik durch Aristoteles gelöst wurde. Für die apriorischen Momente des theoretischen Erkennens gebraucht man zuweilen den Ausdruck „Vernunft“, welcher jedoch auch auf die Potenz des freithätigen Denkens angewandt wird. Das Gewissen hat eine centrale Stellung im Verhältniss zum Geschmack und zur “Vernunft, wie denn auch Kant von einem Prineipat der praktischen Vernunft vor der theoretischen redet. Der Werth des Menschen ent- scheidet sich nach dem Verhältniss seines Thuns zu dem primären Ge- wissen; auch die gesunde Entfaltung des Aesthetischen und Intellec- tuellen ist dadurch bedingt. lI. Nach einer Erörterung über den verschiedenen Sinn, in welchem das Sein Gottes in der Welt auszusagen ist in Beziehung auf das Bewusste und Freie und auf das Unbewusste und Unfreie, in Bezie- hung auf das Normale und auf das Abnorme, wird gezeigt, wie als dasjenige Sein Gottes in dem Menschen, welches des Letzteren gei- stiges Wesen constituirt, diejenigen Momente anzusehen sind, welche für den ideellen Gehalt seines Wollens, Denkens und Anschauens, mithin für die Ideen des Guten, Wahren und Schönen das a priori bilden. Und insofern unter diesen apriorischen Momenten wiedegum für das Gewissen sich eine centrale Bedeutung ergab, ist es in be- sonderem Sinne als Sein Gottes in uns zu fassen. Schleiermacher hat in der Dialektik (mit Uebergehung der Analogie auf dem Gebiete des Aesthetischen) das Apriorische der Ideen und das Gewissen unter je- nem höchsten metaphysischen Gesichtspunkte aufgefasst. Unhaltbar ist es aber, wenn er das Gewissen nur gleichsam in abstracto und als blosse Potenz für ein Sein Gottes in uns erklärt, während es, so- — 130 — bald es in einzelnen Urtheilen lebendig werde, nicht das Höchste in sich trage, weil es auch des Irrthums fähig sei. Nur das könnte ge- sagt werden, dass die Aeusserungen des Gewissens, sobald dieses irre, nicht mehr das Höchste in sich tragen. Es wurde aber in dem vorhergehenden Vortrage nachgewiesen, dass das sogenannte irrende Gewissen gar nicht mehr als Aeusserung des wahren Gewissens be- trachtet werden kann. Der Satz, dass das Gewissen ein Sein Gottes in uns ist, kommt aber nicht in. jeder Regung des Gewissens als solcher zum Bewusst- sein; es ist daher aus demselben nicht die religiöse Natur des Ge- wissens zu beweisen. Diesen Beweis sucht Kant aus der Form des Gewissens zu führen. Letzeres als inneres Gerichtsverfahren setze nämlich einen innern Richter, dieser aber könne nicht als der Mensch selbst, sondern nur als Herzenskundiger und Allmächtiger, also als Gott, gedacht werden. Aber hier wird aus dem religiösen Bewusst- sein heraus in ein blosses Bild mehr hineingetragen, als wozu dieses an sich berechtigt. Kant hat davon selbst ein Gefühl gehabt, wess- halb er seine Auseinandersetzung nicht als einen Beweis für das Da- sein Gottes genommen wissen will. — Unter den Neueren, welche das Gewissen als unmittelbare religiöse Lebensäusserung auffassten, hat Rothe seine Ansicht am klarsten und consequentesten durchgeführt. Er hält dessen Beziehung auf das Praktische fest und definirt dasselbe, im Unterschiede von dem religiösen Bewusstsein, als die durch Gott bestimmte menschliche Selbstthätigkeit oder als den religiösen Trieb. Objeetiv genommen ist allerdings das Bestimmtwerden durch das Ge- wissen ein Bestimmtwerden durch Gott. Aber subjectiv ist im Gewissen das Bewusstsein, durch Gott bestimmt zu sein, nicht unmittelbar gegeben. Die Erfahrung zeigt, dass das Gewissen auch ohne die zum Bewusst- sein gekommene und das Bewusstsein beherrschende Gottesidee sich zu regen vermag. Wenn Rothe der Religion gegenüber wohl die Sitt- lichkeit, nicht aber das Gewissen als relativ selbstständig betrachtet, so ist diess unzulässig, denn Sittlichkeit und Gewissen stehen und fallen mit einander. Das Richtige, was den zuletzt besprochenen Auffassungen zu Grunde liegt, ist der enge Zusammenhang, welcher zwischen dem Ge- wissen und dem religiösen Bewusstsein besteht. Denn 1) wenn, wie in dem früheren Vortrage über den Religionsbegriff entwickelt wurde, als allgemeine Offenbarung Gottes alles dasjenige zu betrachten ist, wadurch die Entfaltung der religiösen Anlage des Menschen gleich- sam sollieitirt wird, so gehört dazu ganz besonders das dem Gewissen eingeschriebene Gesetz. In diesem liegt eine Aufforderung an den Menschen, es als göttliche Ordnung, als göttlichen Willen an- zuerkennen. Die religiöse Selbstbestimmung des Menschen gegenüber jener allgemeinen Offenbarung geschieht durch den innern Akt des Glaubens, von welchem Begriffe Kant sagt, dass die Philosophie den- selben, wenn er ihr nicht durch das Christenthum dargeboten wäre, — 1311 — von sieh aus hätte finden müssen. 2) Insofern der Glaube eine innere freie That ist, wird er selbst, wie jede andere freie T'hat, durch das Gewissen bestimmt. Eben darum sagt man, dass die Religion Sache des Gewissens sei und fordert für dieselbe mit Recht und im Sinne des Christenthums absolute Gewissensfreiheit. Wenn aber durch den Glauben das Bewusstsein ein religiös bestimmtes geworden ist, dann gilt für dieses, was Schleiermacher für dasselbe als selbstverständlich bezeichnet, „dass das Gewissen ganz vorzüglich auf eine göttliche Ursächlichkeit zurückgeführt und als die Stimme Gottes im Gemüth, als eine ursprüngliche Offenbarung Gottes angenommen wird.“ Jede sittliche Pflicht wird dann auch religiöse Pflicht. Religion und Ge- wissen verhalten sich daher ganz so zu einander, wie das religiöse und das ethische Lebensgebiet. Die Religion setzt das Ethische, mithin auch das Gewissen voraus. Und das Ethische, mithin auch das Gewissen, ist darauf angelegt, mit dem religiösen Element durchdrungen zu werden. Oder, nach dem angeführten Worte He- gels, die höchste Stufe des Gewissens ist das religiöse Gewissen. In dieser Gestaltung vollendet sich daher auch die centrale Bedeutung des Gewissens für die ganze menschliche Natur und das in demselben gesetzte Sein Gottes in uns. Es wird darauf hingewiesen, wie die Vollendung des Ethischen durch das Religiöse nicht nur im Gesetz des Alten Testaments mit erhabener Einfalt ausgesprochen ıst, sondern auch in der hellenischen Philosophie erkannt wurde; wie ferner auf dem Zusammenhange der Religion mit dem Ethischen und dem Ge- wissen alle tiefern Züge des Glaubens an ein zukünftiges Leben und ein zukünftiges Gericht beruhen, welcher den edleren weltgeschicht- lichen Völkern gemeinsam ist. Das Verhältniss des Gewissens zur Religion ist nun noch insbe- sondre in Beziehung auf das Christenthum als positive Religion zu betrachten. Kant, obgleich er von seinem philosophischen Standpunkte aus über die Realität einer stattgehabten geschichtlichen Offenbarung nicht absprechen kann und will, erhebt nichts destoweniger Gewissens- bedenken dagegen, irgend einem durch geschichtliche Offenbarung be- dingten Lehrsatz religiöse Bedeutung beizulegen, weil man, selbst des- sen Wahrheit vorausgesetzt, dennoch von derselben, wegen der Trüg- lichkeit aller geschichtlichen Erkenntniss, nicht zweifellos überzeugt sein könne. — Es wird gezeigt, wie dieses Bedenken, welches der einseitig intelleetualischen Fassung der Religion gegenüber eine gewisse Berechtigung hatte, bei Schleiermacher durch seine Lehre von dem Wesen des religiösen und speciell des christlichen Bewusstseins über- wunden ist, indem das Religiöse, als eigenthümliches Lebensgebiet, auch seine eigenthümliche Art der Gewissheit und Ueberzeugung in sich schliesst. Das Resultat bleibt, auch wenn man das als einen Mangel anerkennt, dass Schleiermacher, indem er die Unmittelbarkeit des religiösen Bewusstseins hervorhebt, zu wenig jenen von Kant mit Recht betonten Akt der freien Selbstbestimmung und somit die Mit- wirkung des Gewissens zum Rechte kommen lässt, wodurch das Be- — 132 — wusstsein erst ein religiös bestimmtes wird. Kant betrachet nach Weise seiner Zeit das einzelne menschliche Individuum zu atomistisch, los- gerissen von dem grossen Organismus der menschheitlichen Gesammt- entwicklung. Ist in Christus das Leben in seiner religiös-ethischen Vollendung geschichtlich erschienen, so ist damit auch die Möglich- keit gegeben, dass diese Erscheinung, indem sie in dem Gesammt- leben der Menschheit fortwirkt, sich zugleich für deren religiös-ethi- sches Gewissen als wirklich erweist. Das in der Gemeinde lebende christliche Bewusstsein kann in seinen einzelnen Aeusserungen, auch in Beziehung auf geschichtliche und dogmatische Dinge, irren; der Protestantismus erkennt dabei keinen unfehlbaren menschlichen Schieds- richter an; aber damit ist ebensowenig eine Anarchie und Selbstauf- lösung gesetzt, als das allgemeine menschliche Gewissen, für welches gleichfalls kein untrügliches Schiedsgericht besteht, in seiner Einheit und Selbstgewissheit dadurch gefährdet wird, dass es in seinen ein- zelnen Aeusserungen dem Irrthum unterliegt. Von den entwickelten Gesichtspunkten aus erledigt sich auch in Beziehung auf die theologische Wissenschaft die Antinomie, welche Kant in dem Universitäts- Organismus zwischen den drei praktischen Facultäten überhaupt und zwischen der philosophischen setzt. Jene drei ersteren sind ihm zufolge nach innerer Nothwendigkeit an gewisse durch den Staat aufrecht zu haltende statutarische Bestimmungen ge- bunden, deren Kritik nicht ihnen, sondern einzig der philosophischen Faeultät anheimfällt: gerade in diesem Kampfe, in dieser „discordia concors und concordia -discors * schreite die Wissenschaft fort. Aber die praktischen Facultäten werden sich selber das Recht und die Pflicht jener Kritik nieht nehmen lassen. Die Gefahr der Einseitigkeit besteht wie für sie, so in andrer Weise auch für die philosophische Facultät, welche, indem sie die reine Wissenschaft ohne unmittelbaren praktischen Zweck zu fördern sucht, leicht den realen geistigen Lebensmächten sich entfremdet. So bedürfen alle Zweige des grossen akademischen Organismus ihrer gegenseitigen Ergänzung und lebendigen Wechsel- wirkung, wie denn aus einem Gefühle davon auch unser wissenschaft- licher Verein sich gebildet hat. Auch die Theologie, als Vertreterin des religiösen Lebensgebietes, hat ihre Stellung innerhalb jenes Orga- nismus als für Lehrende und Lernende wünschenswerth und heilsam anzuerkennen; sie hat nicht zu wünschen, dass der in streng wissen- schaftlicher Form auftretende Gegensatz, auch gegen das geschichtliche Christenthum selbst, aus jenem Organismus gewaltsam entfernt werde; sie hat vielmehr an der Ueberzeugung festzuhalten, dass die Gewis- senhaftigkeit, welche aller ächten und lebenskräftigen wissenschaftlichen Arbeit unveräusserlich ist und sich in dem Feuer der Kämpfe und Gegensätze immer aufs neue läutert, auch den Sieg der höchsten re- ligiösen Wahrheit fördern und deren Zusammenhang mit allen edelsten Bestrebungen der menschlicher Natur in immer helleres Licht setzen muss. An der Discussion betheiligten sich die Herren Al. Schweizer, Kym, Ad. Schmidt, Volkmar, G. von Wyss, Egli. a EEE) ieeringe Verlag von MEYER & ZELLER in Zürich. Handbuch der vergleichenden Statistik — der Völkerzustands- und Staatenkunde. — Für den allgemeinen praktischen Gebrauch von 6. Sr. Bolb. 25 Bogen gr. 8 geheftet 2 Rthlr. Dieses vorzügliche Werk ist nach den neuesten und verlässigsten, zum Theil nicht allgemein zugänglichen Materialien mit grossem Fleisse bearbeitet. Es gibt keineswegs ein geisttödtendes Ziffernmeer, sondern es schildert die staat- lichen und socialen Verhältnisse, zugleich die Ziffernangaben erklärend und erläuternd, die Thatsachen vergleichend und beurtheilend, dabei unter steter Hinweisung auf die Hauptveränderungen seit dem Beginne der so Vieles umgestaltenden ersten französischen Revolution. Den Nachweisungen über Umfang, Bevölkerung, Gebietswechsel, Finanzen (Budgets und Schulden), Heer- wesen, Gewerbs-, Handels- und Schiffahrtsverhältnisse, schliessen sich solche über allgemein menschliche Zustände, über wichtige sociale Fragen an. Da das Buch wesentlich für den praktischen Gebrauch eingerichtet ist, so wird dasselbe nicht nur dem Statistiker von Fach, sondern auch jedem Geschäftsmanne, jedem Geschichte des griechischen Kriegswesens von der ältesten Zeit bis auf Pyrrhos. Nach den Quellen dargestellt von iM. Nüstob, ehemaligem preussichem Genieoffizier und Br. %. Köchle, ordentlichem Professor der griechischen und römischen Literatur und Sprache an der Universität Zürich. Mit 134 in den Text gedruckten Holzschnitten und 15 Uebersichtsplänen zu Schlachten und Belagerungen. 30 Bogen. gr. 8°. geh. 2 Thlr. 24 Nor. Der als gelehrter Philolog und praktischer Schulmann rühmlichst bekannte Herr Prof. Köchly hat sich mit einem vielseitig durchgebildeten Offizier ver- einigt, um durch diese „Geschichte des griechischen Kriegswesens“ eine bisher fast ganz vernachlässigte Seite der Alterthumswissenschaft gründlich aufzukläreuı. Aber nicht allein der eigentlich Gelehrte wird in derselben neue und überra- schende Aufschlüsse finden: das Buch ist ganz besonders auch Schulmännern zu empfehlen, welche bei der Lection der Classiker und dem Vortrage der alten Geschichte ein wirkliches und lebendiges Sachverständniss, und eben dadurch Lust und Liebe zur Sache bei ihren Schülern fördern wollen. Die sorgfältig gewählten und sauber ausgeführten Abbildungen machen es auch demjenigen, welcher wenig oder Nichts vom Kriegswesen versteht, möglich, sich und seine Schüler leicht und richtig zu orientiren. Wir behaupten nicht zu viel, wenn wir sagen: das Buch ist ein unentbehrliches Hülfsmittel zum Sachverständniss des Herodot, Thucydides, Xenophon und Arrian, und insofern ein nothwendiges Supplement aller Ausgaben dieser Schulschriftsteller. a tsschift WISSENSCHAFTLICHEN VEREINS in ZÜRICH. Herausgegeben von dem Redactionsausschuss desselben : FERDINAnD Hırzıs, EDUARD ÖSENBRÜGGEN, HEINRICH FrEy, ADpoLF ScHwmiDT, HEINRICH SCHWEIZER. VEIBBTSBR JAELRSARFS: Künftes bis siebentes Beft. ZÜRICH, 1859. (Hauptred.: Epvarp OsENBRÜüGGEN.) 019 0-—- Preis für den Jahrgang 2 Thlr. 20 Ngr. - 9 Fr. Der Hauptbestandtheil dieser Zeitschrift ist selbstständigen, von den Ver- fassern unterzeichneten Aufsätzen aus allen Zweigen der Wissenschaft gewidmet, mit dem Zweck: die Ergebnisse gründlicher Forschung in möglichst anziehender und anregender Form darzulegen und dergestalt, wie eine unmittelbare Förde- rung der Wissenschaften, so namentlich auch eine Vermittlung derselben unter sich anzustreben. Grössere Recensionen sollen nur in selteneren Fällen Platz finden, kurze Notizen aber und gelegentliche Urtheile über neue Erscheinungen, sowie Berichte und Anfragen in dem Anhange mitgetheilt werden. Inhalt des borliegenden SHeftes: Die weisen Frauen der Germanen. Von Lupwıs ErmmülteRr . . . . 133 Beiträge zur Statistik der Industrie und des Handels der Schweiz. Von VER BRHRÜOT BESTER ee ee RE Bade HALT ieh Are le el ee ee 0 Der Quellkultus in der Schweiz II. Von H. Rusee. . ». .».2...02 Bericht über die Sitzung des Wissenschaftlichen Vereins am 21. Mai 1859 226 Zusendungen an die Redaction werden portofrei oder auf dem Wege des Buchhandels erbeten. Gegenbärtige Mitglieder des Missenschaftlichen Vereins : G. v. Wyss, Präsident. Crausıus, Vicepräsident. HırLesrann, Sekretär. Bopkık. CLoEtTaA. DERNBURG. Ecrı. EscHEr v. d. Lınta. Feuer. H. Frey. FeRitzsche. Heer. Hıwvesgann. Hırzıc. J. J. Hortıneer. Kenseort. Köchry. Kim. LEsErRT. v. MarscHaLz. H. MEYER. MeYErR-Aurens. MÜLLER. NÄGELI. v. ORELLI. OSENBRÜGGEN. Rocuart. RÜTTIMANN. SCHEUCHZER. SCHLOTTMANN. AD. ScHMIDT. ALEX. SchwEizEr. H.ScHwEIzER. STÄDELER. F. VıscHER. VOGEL. VOLKMAR. Druck von E. Kiesling in Zürich. Die weisen Frauen der Germanen. Akademischer Vortrag, gehalten vor einem gemischten Publikum von LUDWIG ETTMÜLLER. Die Erforschung und Verkündigung der Zukunft war allen Völ- kern des Alterthums Bedürfniss. Wir finden sie daher nicht nur bei den polytheistischen Griechen, Italikern, Germanen und Kelten eifrigst gepflegt, sondern auch bei den monotheistischen Hebräern. Bei den Griechen befassten sich damit beide Geschlechter, wie bei den Kel- ten, bei den Italikern nur Männer, bei den Germanen endlich nur Frauen. Einzelne weissagende Frauen können begreiflicher Weise bei den Italikern vorkommen, wie einzelne weissagende Männer bei den Germanen; aber das Verhältniss im Ganzen und Grossen ist das an- gegebene. Dass bei den Hebräern weissagende Frauen meist im un- günstigsten Lichte erscheinen, wird uns nicht verwundern, wenn wir uns nur daran erinnern, dass es sowohl in Juda als auch in Israel sehr zahlreiche Prophetenschulen gab, die ihren Erwerb nur "ungern geschmälert sahen. Die Germanen bilden also zu den sonst stammverwandten Italikern einen entschiedenen Gegensatz. Dass die Germanen dem ganzen weiblichen Geschlechte eine höhere geistige Begabung in Bezug auf Kenntniss künftiger Dinge zugestanden, als den Männern, geht schon aus der allgemein bekannten Behauptung des Tacitus hervor, der mehr als einmal und in Uebereinstimmung mit Cäsar es ausspricht: Die Germanen sind alle der Meinung, dass etwas Voraussichtiges und Göttliches den Frauen innewohnef), d. h. das Vermögen, zukünftige Dinge vorauszusehen, oder die Gabe der Weissagung. Wie aber andere Kräfte des Menschen ungleich ver- theilt sind, geistige wie leibliche, so verhält es sich auch mit der Kraft, zukünftige Dinge voraus zu ahnen. Es gab daher zu allen Zeiten Frauen, welche dieses Vermögen in reicherem Maasse besassen als ihre Schwestern, und die hinsichtlich dieser Kraft mit Vorzug be- gabten Frauen sind es nun, die man zur ehrenden Auszeich- nung vor allen andern weise Frauen nannte. ’ Die allgemeine Benennung der weisen Frauen in Deutschland war, wenn man ihre menschenfreundliche, hilfreiche Eigenschaft hervorheben wollte, der Name Idisi, Itisi; wollte man die entgegengesetzten Wissenschaftliche Monatsschrift. IV. 9 — 134 — Eigenschaften bezeichnen: Hagazusi, verkürzt Häzusi, unsere Hexen. Bei den Skandinaviern hiessen sie in erster Auffassung Disir, in der andern Flagd, und wenn ihre Gabe der Weissagung ganz besonders hervorgehoben werden sollte, späkonur oder Völur, Völvur. Bleiben wir bei diesen Benennungen einen Augenblick stehen. Die Benennung Idisi, Itisi, oder nordisch Disir mit abgeworfenem i, be- sagt soviel als die leuchtenden, strahlenden, sei diess nun durch Geist oder durch Körperschönheit. Dass diesem Worte damals kein nachtheiliger Nebensinn anhaftete, geht schon daraus her- vor, dass der christliche Dichter des Heljand keinen Anstand nahm, die Maria idis zu nennen. Keinen Eintrag thut diesem Verhältnisse, dass bis auf den heutigen Tag in Glarus die Hexen Wuottise, d. i. Wuot-itisi genannt werden; denn das ungünstige der Benen- nung wird eben durch das vorgesetzte wuot bewirkt und angedeutet. Anders verhält es sich, wenigstens in der spätern Zeit, mit der Be- nennung hagazusi. Sie gehört zu hagan, hög, welches Wort um- schliessen, schützen bedeutet, und wozu auch unser hegen und hag, aber auch das altnordische hagr, klug, weise, hoegr, ruhig, gehören. Ha- gazusi wird also die Eingehegten, von andern Menschen abge- sonderten bezeichnen. Es wird also wohl auch dieser Benennung in der Urzeit kein abschreckender Nebensinn angehaftet haben. Das Christenthum freilich konnte um so leichter dazu kommen, den in den Hägen, dem Walde, einsam hausenden Frauen böse, menschenfeind- liche Gesinnung zuzuschreiben; als bekanntlich gerade der Wald der ursprüngliche Ort heidnisch-germanischer Götterverehrung war, die al- ten Götter aber zu Teufeln umgestaltet wurden, abgesehen von dem Einflusse, welehen die hebräische Ansicht hier wie in anderen Din- gen gehabt haben mag. Die altnordische Benennung Flagd ist zurück- zuführen auf Flaga, welches enthäuten bedeutet, aber auch vom ab- schneiden der Baumrinde und von dem abstechen des Rasens gebraucht wird. So hätten wir denn hier die Wurzeln und Kräuter sam- melnde, aber auch die Thiere abhäutende. Späkonur bedeutet einfach Weissagerinnen, Völur, Völvur’aber die Wählenden, da sie dasjenige, was sie verkünden wollen, aus der Masse ihres Wissens auswählten; vielleicht aber auch die Gewählten, d.h. die von den Göttern Auserwählten, mit besonderer Kenntniss der Zukunft Aus- gestatteten. So bahnen uns denn diese Benennungen gleich den Weg zur Erwägung der Stellung und Geltung, welche die weisen Frauen in — 15 ° — der germanischen Mythologie sowohl, als auch im germanischen Alterthum überhaupt einnahmen. „Das Verhältniss der Frauen und Männer zu den Göttern und ihrem Werke, der Welt, ist ein verschiedeues“, sagt J. Grimm sehr riehtig in der deutschen Mythologie?), weil nur Männer berühmte Geschlechter bilden, nicht aber Frauen. Daher lassen sich dem Helden, der als eine Mischung göttlicher und irdischer Natur er- scheint, keine Heldinnen zur Seite stellen. Was die Frauen aber hier einbüssen, wird ihnen auf anderem Wege reichlich erstattet. Denn für jene Besonderheit einzelner Heldenrollen, die nur zu oft auch un- wirksam untergeht, sind ihnen allgemeine Aemter mit vielbedeu- tendem, dauerndem Einflusse überwiesen. So vermittelt eine ganze Reihe anmuthiger oder furchtbarer Halbgöttinnen den Menschen die Gottheit. Ihr Ansehen war offenbar grösser, ihre Verehrung weitgreifender als die der Heroen; denn was unter den Frauen den Helden entgegentritt, erscheint noch erhöheter, geistiger. So ragt Brynhild über Sigurd, die Schwanjungfrau über den Helden hinaus, dem sie sich verbündet.* Geschäft und Bestimmung der weisen Frauen ist nun also nach Grimm im Allgemeinen so zu bezeichnen, dass sie als Erwählte und "dazu Begabte den Göttern dienen, den Menschen verkündigen, und offenbar haben Aussprüche des Schicksals im Munde der Frauen nach deutscher Ansicht grössere Heiligkeit. Daher kennt das deutsche Alterthum nur Seherinnen, keine Seher?). Weissagung also und Zauber in gutem und bösem Sinne sind vorzugsweise Gabe der Frauen, und bis auf den heutigen Tag sind sie wenigstens bezau- bernd geblieben, wenn sie auch von ihrer schon von Alters her hoch- gerühmten Sehergabe keinen so weitgreifenden Gebrauch mehr machen. Als Verkünderinnen der Zukunft stehen sie unter den Nor- nen, als Zauberinnen unter Wödan, der Erfinder der Zauberei ist). Aber nicht nur Heil oder Unheil, Sieg oder Tod den Menschen anzusagen, war das Amt der weisen Frauen; sie wissen beides anch wohl selbst zu bereiten. So musste denn, um dieses ihr Geschäft zu vollführen, ihnen Weisheit und übermenschliche Kraft zu Gebote stehen. Ihre Weisheit erspäht, ihre Kraft lenkt und ord- net die Verflechtungen unsers Schicksals. Bei der Geburt des Men- schen schon erscheinen sie weissagend und begabend, im Kampfe hilfreich und siegverleihend. So kommt es, dass die weisen Frauen auf der einen Seite an die Nornen, die eigentlichen Schick- — 136 — salsgöttinnen, auf der andern an die Walkyrien, die Schwan- jungfrauen, Wunschmädchen gränzen, ja in die letzteren zum Theil ganz übergehen. Mit den Nixen, Nichsen, Nihhusit berühren sie sich nur, insofern auch die Schwanjungfrauen als Meerfrauen (mer- menni, merwip) erscheinen. Ar sich sind die Nihhusi als göttliche Wesen natürlich auch der Zukunft kundig. Hier wird es nun noth- wendig, etwas näher auf die Nornen und Walkyrien einzutreten. Von den Nornen sagt die altnordische Vala in dem nach ihr der Vala Weissagung benannten Gedichte in Str. 19, nachdem sie dieselben schon in Str. 8 als Thursenmädchen an Obmacht reich aus lötun- heim bezeichnet hat: Esche weiss ich stehn, heisst Yggdrasil, laubreichen Baum, bestreut mit lichtem Staube (den Sternen) ; von ihm kommt der Thau, der in die Thäler fällt; er steht immer grün über der Urda Brunnen. Von da kamen Mädchen, manches wissende, drei aus dem See, der unterm Dollen (d. i. Baume) liegt. Urd hiessen sie eine, die andre Werdandi Die schnitten auf Scheite — Skuld die dritte. Wie bei den Griechen sind also auch -bei den Germanen der Schicksalsgöttinnen drei, und bei beiden stehen sie nicht innerhalb, sondern ausserhalb des Götterkreises; denn auch die Götter sind ihren Fügungen unterworfen. Bei den Griechen ist ihre Mutter die Anagke, die Nothwendigkeit; bei den Germanen werden keine Eltern genannt, sondern nur gesagt, dass sie den alten Urmächten an- gehören, die von den die Welt ordnenden Göttern nur zum Theil bezwungen wurden. Ihr eigentlicher Sitz ist am See unter der dritten Wurzel des Weltbaumes, der Esche Yggdrasil, welche das ganze Weltgebäude stützt und trägt, unter der dritten Wurzel, welche hin- abreicht in die Heimat der Thursen und Iötune, der alten, als Riesen gedachten Urmächte, der Titanen der Griechen. Der See, an oder in dem die Nornen sitzen, ist gleichsam der Urquell alles Seins, denn aus dem Wasser ist Alles entstanden. So geht von ihnen aus alles, was entsteht und vergeht, und für Götter und Menschen lassen sie entstehen was sie wollen, aber sie wollen nur das Nothwendige, und so schaffen sie allen ihr Geschick. Dieses Schaffen des Geschickes fassten die Griechen auf als ein Spinnen und Abschneiden des Lebensfadens, die Germanen als ein Einschneiden des, was geschehen soll, in Holztafeln, obwohl auch ihnen die Vorstellung der spinnenden Parcen keines- — 137 — wegs fremd war, wie hinwieder die Römer wenigstens ebenfalls das schriftliche Aufzeichnen dessen, was geschehen soll, kennen. Tertul- lianus meldet ja im 3. Cap. seiner Schrift „über die Seele“, dass am letzten Tage der ersten Woche eines neugebornen Kindes man die fata Seribunda angeflehet habe. Die Eigennamen der Normen?) Urd, Werdandi, Skuld drücken aus das Gewordene, das Wer- dende, und das Werden sollende, also Vergangenheit, Ge- genwart, Zukunft. Folgerichtig ist bei den Germanen die erste der Nornen die mächtigste, denn alles Werdende ist nothwendige Folge eines bereits Gewordenen, während bei den Griechen im Gegensatz die dritte Moira, die Atropos, die Unvermeidliche, als die wichtigste erscheint. Diese hat merkwürdiger Weise bei Hesiodos Zwerggestalt®). Aber wenn auch das Spinnen des Lebensfadens bei den Germanen nicht gerade gäng und gäbe Vorstellung war, so reden doch die Skandinavier von einem verwandten Drehen und Festigen des Lebensfadens, und die Skandinavier, Sachsen und Angelsachsen gemeinsam von einem Weben der Schicksalswift. Der Ausdruck Vyrd geväf, Wurd hat es gewoben, ist so allgemein und so häufig vorkommend, dass darüber kein Zweifel walten kann. Also die griechischen Moiren spinnen, die deutschen Nornen weben. Doch findet sich bei den Griechen hinwiederum auch die Beziehung der Moiren auf die Phasen der Zeit. Platon z. B. in seiner Schrift über den Staat”) lehrt, dass die weissgekleideten, bekränzten Moiren, die Töchter der Anagke, auf den Knien ihrer Mutter die Spindel drehen und dabei das Schicksal singen. Lachesis singt ra yeyovöra, das Gewordene, Klotho z& Ovre, das Seiende, Atropos ra u&Akovre, das Seinwerdende. In den Namen der Moiren liegt diese Beziehung nicht, indem Lachesis, die lösende, Klotho, die Spinnende, Atro- pos die Unabwendbare bedeutet. Wie die Nornen Alles im Ganzen und Grossen leiten und ordnen, so erscheinen sie auch bei der Geburt des Menschen, ihm sein Lebens- geschick bestimmend und verkündend, was sonst Geschäft der wei- sen Frauen ist. Hier fallen also Nornen und weise Frauen, die Dienerinnen mit ihren Herrinnen, zusammen. So heisst es gleich zu Anfange im Liede von Helgi: Einst war es, dass Adler sangen ‚a Heilige Wasser stürzten von Himmelbergen ; Da hatte den Helgi, den Hochgesinnten , Borghild geboren in Bralund. E — 133 — Nacht barg die Burg, Nornen kamen, Die dem Landgebieter das Leben schufen: „Der Gewaltigen erster er werden soll, Der hohen Herrscher Herrlichster!“ Sie schürzten mit Kraft die Schicksalsfäden, Da brachen Burgen in Bralund; Sie führten umher des Fadens Gold, Und festigten ihn mitten unterm Mondessaale. Gen Osten und Westen sie Enden bargen, Da lag des Fürsten Land inmitten; Neri’s Niftel da hin nach Norden warf Einen Faden: „fest soll der halten! = Hierbei ist besonders darauf hinzuweisen, dass immer zwei der Nornen bei solchen Gelegenheiten Glück und günstige Gabe schenken, die dritte dagegen Unglück und drohendes Verder- ben darreicht. In unserer Stelle ist das ausgedrückt durch den Aus- spruch: „der Gewaltigen erster er werden soll, der hohen Herrscher herrlichster*, und dadurch, dass zwei der Nornen den goldenen Schick- salsfaden von Ost nach West, gleicbsam über die ganze Erde hin ausspannen, die dritte aber einen Faden nach Norden hinwirft, wel- cher halten, hemmen soll. Der Norden aber galt als die böse Ecke, woher das Unheil kommt®). Deutlicher noch erhellt diese Ansicht aus der Nornagestsage, Cap. 11, wo erzählt wird: Damals fuhren weise Frauen — Völur, im Lande umher, welche auch späkonur, Weissagerinnen, genannt wurden. Die Leute entboten sie zu sich ins Haus, bewirtheten und beschenkten sie. Einst kamen sie auch zu einem Häuptling, dessen neugeborner Sohn in der Wiege lag; neben ihm brannten zwei Kerzen. Die Frauen wurden freundlich empfangen und bewirthet. Aber es kam des Volkes mehr, den Neugebornen zu sehen, und in dem entstehenden Gedränge ward eine der Frauen von ihrem Stuhle gestossen. Als darauf zwei der Frauen das Kind mit Glückseligkeit vor andern seines Geschlechtes begabten, er- hob sich zürnend die dritte Norne und rief: „Ich schaffe, dass das Kind nicht länger leben soll, als die neben ihm leuch- tende Kerze brennt.“ Schnell ergriff da die älteste Vala die Kerze, löschte sie und gab sie der Mutter mit der Mahnung, sie nie wieder anzuzünden. — Öhne mich auf die Verwandtschaft dieser Sage mit der griechischen von Meleager einzulassen, bemerke ich nur, dass hier die Benennungen Völur und Nomir, weise, weissagende Frauen — 139 — und Schieksalsgöttinnen als völlig gleichbedeutend genommen sind, wodurch wieder der enge Zusammenhang beider bezeichnet wird. Der Römer bezeichnet das Schicksal durch das Wort fatum, das Ausgesprochene. Der Plural fata ward von den spätern Romanen als weiblicher Singular genommen, und so entstanden die fatae oder Fö&en®) der romanischen Völker, die ebensowohl Schöpfer des Schick- sals sind als Verkündigerinnen desselben, also Nornir und Völur. Auch sie erscheinen den Menschen bald günstig, bald feindlich, und auch sie werden häufig als spinnend eingeführt. Allen wird bezaubernde Schönheit zugeschrieben, welche wohl den weisen Frauen, aber weder den Nornen noch den Moiren zukommt, und auch ihre Häuser, Schlösser und Berge gemahnen an die Thürme der germanischen weisen Frauen. Bei dem staunenerregenden Reichthume der romanischen Völker an Feensagen und Feenmärchen ist es un- zweifelhaft, dass die Feen eigentlich ein Rest keltischen Glaubens seien. Wie bei den Moiren, Parcen und Nornen waltet auch bei den Feen die Dreizahl; aber bedeutsam kommt daneben auch die Zahl sieben und dreizehen vor. Zwei, sechs oder zwölf erweisen sich in ihren Gaben immer huldvoll gegen die Menschen; aber die dritte, siebente oder dreizehnte bethätigt auch immer ihre Feindselig- keit. Sie tragen Eigennamen, die zum Theil wenigstens der kelti- schen Sprache angehören. Die bedeutsamsten sind Mörgan oder rich- tiger Mörgu£n, d. h. die leuchtende Frau des Meeres. Ich erinnere hierbei nur an die Urd und ihren See, Eine zweite heisst Arian- rod, welche eine Schwester des Gwydion, d. i. Wödan, genannt wird. Ihr Name bedeutet Silberpfad, wobei ich bemerke, dass die Kelten heute noch die Milchstrasse: Arianrod nennen. Die dritte heisst Maglör oder, in vollerer Form, Mandaglör, d. i. Mandragora1P), Diese stimmt also zur deutschen Aljarüna, Alraun, ein Name, den nicht nur eine weise Frau, sondern auch eine Zauberwurzel trägt. — Einen Zug, den besonders französische Ueberlieferung hervorhebt, muss ich noch erwähnen; denn durch ihn werden die Feen wiederum den deutschen Riesenjungfrauen gleichgesetzt. Sie betheiligen sich nämlich an Bauten,“und tragen mächtige Felsblöcke auf dem Haupte oder in der Schürze herbei, während sie zugleich mit freier Hand ihre Spindel drehen!!), Zu weit würde es mich führen, wenn ich mich auch noch einlassen wollte auf die Matres oder Matronae biviae, triviae, quadriviae; auf die Matres Nehalenniae, Rumanehae, Vacallinehae, Maviatinehae, Aserieinehae, Gaesatenae, Etraienae, Ga- — 10 — vadiae, Vatviae, Arvagastae, Aufaniae, Mopates, — Namen, die uns sämmtlich Votivsteine gallischer und britannischer Legionäre bewahrt haben12). Aber schon aus der Menge dieser Namen dürfen wir auf den Reichthum der keltischen Mythologie an weiblichen Wesen die- ser Art schliessen. Ihre Bezeichnung als Mütter und Matronen stellt sie den weisen Frauen, Nornen und Feen gleich, wofür auch ihre Bezeichnung als Kreuzwegmütter spricht, denn an Kreuzwegen sitzen die Hexen, hagazusi, wenn sie zu schädigen gedenken. In Bezug auf die Walkyrien, die Kührerinnen der von Odin Erwählten, und ihr Verhältniss zu den weisen Frauen kann ich mich kürzer fassen. Sie waren Jungfrauen, die Wödan aussandte, die Hel- den, denen blutiger Tod im Kampfe beschieden war, nach Walhalla zu führen. An ihrer Spitze steht Skuld, die jüngste der Nornen; aber auch zur Freyja stehen sie in einem gewissen Verhältnisse!?). Sie erscheinen zu 2, 3, 6, 12 und 24. Aber nicht nur das Geleiten der im Kampfe Gefallenen ist ihr Amt, sie beschützen auch Hel- den, denen sie sich verbanden, und lehren sie Weisheit, denn sie sind Wissende. In Walhalla sind sie zugleich die Mundschenkin- nen, die den Helden die Trinkhörner reichen. Sie müssen Jungfrauen bleiben und hören auf Walkyrien zu sein, sobald sie sich vermählten. Sie reiten über Meer und Land, gerüstet mit Helm, Schild, Geer, Bogen und Pfeil. Ihre Rosse sind die Wolken. Sie besitzen die Fähigkeit, andere Gestalt anzunehmen und erscheinen häufig als Schwäne, daher Schwanjungfrauen, Schwanmädchen genannt. Konnte ein Held sich ihrer Schwanhülle bemächtigen, während die Walkyre etwa badete, so war sie ihm verfallen und musste ihm dienst- bar sein. Sorgfältig aber musste er die Schwanhülle vor ihr verber- gen; denn konnte sie derselben sich bemächtigen, so flog sie davon, Krieg zu treiben. Gross ist ihre Weisheit und sie verkündigen den Helden ihr Schicksal!*). Hier ist also der Punkt, wo auch ‘die Walkyrien mit den weisen Frauen zusammenfallen, und in der That werden sie oft geradezu wisiu wip genannt. Ein bekanntes Beispiel bietet das Nibelungenlied da wo erzählt wird, dass dem Hagen, als er mit den Burgunden zur Donau kommt, weise Weiber, denen er ihre Gewänder genommen hat, auf dem Wasser schwimmend, erst trügerische, dann wahre Kunde bieten, indem sie ihm sagen, dass er und alle Burgunden bei den Hunen ihren Tod finden werden. Ihrer Abkunft nach gehören die Walkyrien theils den Riesen- geschlechtern, den alten Urmächten, theils den Elfen, theils er- — 141 — lauchten Fürstengeschlechtern zu®®). Da die Frauen und Jung- frauen der Germanen an den Kriegen sich thätig betheiligten, und, wie Strabo diess von den kimbrischen Frauen berichtet, zuweilen selbst mitkämpften, so begreift sich leicht, wie man zu mensch- lichen Walkyrien gelangen konnte. Unbestritten gehören die Er- zählungen von den Walkyrien dieser Gattung zu den anmuthig- sten, die der Norden kennt. Aber wie auf der einen Seite diese Walkyrien die holdeste und reizendste Erscheinung sind, so sind jene höheren auf der andern zugleich auch die grausenhafteste und schrecklichste; denn es fehlt ihnen die ruhige, alle Härte und Grausamkeit mildernde Erhabenheit der Nornen. Jener Anmuth schlägt darum dann völlig in das Gegentheil um, wie denn auch ein besonders hervorstechender Zug ihres Charakters Blutgier und Grausamkeit ist. Uebrigens weben auch sie gleich den Nor- nen; aber die Fäden ihres Gewebes bestehen aus Menschendärmen und Menschenhäupter sind die Webersteine zur gehörigen Streckung des Fadenaufzuges. Zum Weberkamme dient ihnen ein blutiges Schwert, und ein Pfeil ist ihre Weberspule. In der Niala, einer altnordischen Erzählung aus dem 11. Jahrhundert, singen die Walkyrien, während sie in einer Berghöhle ihr Schlachtgewebe weben, wobei sie belauscht wurden, folgendes Lied: Weit ist geworfen übers Wahlfeld hin Des Weberbaumes Wolke, und sie wogt von Blut. Nun ist mit Spiessen aufgespannt die graue Wift Des Männervolkes, wo sie mordgrimm färben Mit rothem Blut des (Schild-) Randes stählern Blau. Gespannt sind zum Gewebe Menschendärme hier, Gezogen straff durch Menschenhäupter todt und bleich. Blutfeuchtes Schwert ist uns der Weberkamm, Für Spulen aber flücht’ge Pfeile laufen. Der Geer soll sausen, brechen soll der Schild, Der Helmzerspalter durch die Panzer fahren. — Winden wir, winden wir die Wift des Kampfes, Fort lasst uns gehn dann, in das Volk uns stürzen, Wo unsre Freunde hoch die Schwerter schwingen. — Winden wir, winden wir die Wift des Kampfes, Und dann dem Fürsten, unserm Schützling, folgen wir; Da schaun wir bald der Helden Heerkleid blutbeträuft. — Winden wir, winden wir die Wift des Kampfes , Nicht lassen Einen schonen wir des Lebens da: Walkyrien ziemt die Auswahl ja des Männervolks! Nun ist die Wift gewoben, und das Feld wird roth. Horcht, rings im Lande heult der Weiber Klage; —_— 142 — Ein Schrecken ihnen ist es anzuschaun, Wie blutige Wolke hoch am Himmel zieht. Auf! reiten auf den Rossen wir nun rasch hinweg! „Fort! mit geschwungenen Schwertern, auf! hinweg, hinweg! — Als sie dieses Lied gesungen hatten, heisst es weiter, da ris- sen sie das Gewebe von oben herab entzwei, und jede behielt, was sie in den Händen hatte. Darauf bestiegen sie ihre Rosse, und es ritten sechs nach Süden und sechs nach Norden8®). Nachdem wir nun die Nornen, Feen und Walkyrien, wie ihr Ver- hältniss zu den weisen Frauen ‚ betrachtet haben, können wir uns wie- der diesen letztern zuwenden. Die weisen Frauen haben gleich den Walkyrien verschiedene Ab- kunft. Die ältesten, mythischen, stammen gleich den Nornen, in deren Dienste sie besonders stehen, von den Thursen, den Urriesen, die im Besitz der alten Weisheit sind, gleich wie Themis und Pro- metheus, und die selbst Wödan zuweilen aufsucht, theils um Weis- heit bei ihnen zu erwerben, theils um sich mit denselben in einem Wettkampfe der Weisheit zu messen. So sagt die Vala in der Völuspä; d. h. der Weissagung der Vala, gleich in der zweiten Strophe von sich selbst: Ich erinnere mich der Iötune, der urgeborenen, die vor Zeiten mich erzogen haben. Neun der Welten kenne ich, neun der Weltstützen, den grossen Stützbaum unter der Erde nieden. — Später, Str. 21, 22, bezeichnet sie es als den ersten Frevel, der in der von den Göttern eben neu erschaffenen Welt verübt ward, dass die Götter sie, die Vala, da sie ihnen ihre Weisheit ver- sagte, in Odins Halle auf Geere spiessten und dann mit Feuer brannten; aber „noch lebe ich“, setzt sie trotzig hinzu. Dreimal brannten sie die dreimal geborne, fährt sie fort, Heid hiess man sie17), zu wessen Hause sie kam, wohlspähende Vala. Sie zäumte sich Wölfe: immer war sie die Vertraute bösen Volkes. — Lassen wir jedoch die mythische Vala auf ihrem Wolfe ihres Weges reiten, und wenden wir uns zu den irdischen weisen Frauen. Ich habe jener überhaupt nur Erwähnung gethan, weil, hätte es nicht mensch- liche weise Frauen gegeben, wir gewiss keine mythische weise Frau kennen würden. Es ist ganz einfach auf diese übergetra- gen, was man an jenen erlebt hatte. Die mythische könnte daher ohne Weiteres als ein Beweis für das einstige Dasein der irdischen dienen, wenn es dieses Böweises bedürfte. Aber es bedarf dessen nicht; Cäsar, Taeitus, Strabo und andere Schriftsteller des Alterthums — 143 — haben uns Nachrichten hinterlassen von weisen Frauen der Germanen, welche dadurch zu wohlgesicherten, geschichtlichen Personen geworden sind. Besonders ausführlich erzählt uns Taeitus das Thun und Treiben der Veleda, einer brukterischen Jungfrau, und wäre uns das 5. Buch seiner Geschichten ganz erhalten, so hätten wir auch davon Kunde, wie es ihr in römischer Gefangenschaft ergangen sei. Was er nun im 4. Buche seiner Geschichten über die Veleda uns mittheilt, ist folgendes. Zur Zeit des Krieges zwischen Vitellius und Vespasianus, im Jahr 69 unserer Zeitrechnung, bereitete der Bataverhäuptling Claudius Civilis, der lange in römischen Kriegsdiensten gestanden hatte, aber schon von Nero beleidigt worden war, den Römern den Krieg, um ihnen Gallien zu entreissen. Zu diesem Zwecke suchte er die nord- westlichen deutschen Stämme unter einander und mit sich zu vereini- gen, nachdem er sich bereits mit dem Gallier Julius Sabinus in Ein- verständniss gesetzt hatte. Er nahm die Maske vor, als stehe er auf Seiten des Vespasianus gegen Vitellius, und hatte ‚schon früher die diesem anhangenden römischen Truppen am Niederrheine besiegt. Zu dieser Zeit nun lebte im Lande der Brukterer, an der Lippe, eine Jungfrau, Veleda geheissen, die die Gabe besass, künftige Dinge voraus zu wissen und «die deshalb bei allem Volke im höchsten An- sehen stand. Sie wohnte tief im Walde aufeinem hohen Thurme, war also hagazus, und der Zugang zu ihr war nicht gestattet, viel- mehr vermittelten ihre Verwandten die Unterhandlungen zwischen ihr und den Rathsuchenden, Dass dieser nicht anders als gegen reiche Geschenke ertheilt ward, versteht sich von selbst. In dieser Beziehung war es damals, wie es heut zu Tage ist, und Veleda that auch ganz recht, ihre Sprüche sich anständig bezahlen zu lassen; denn was nichts kostet, das ist, wie Sie wissen, ge- meiniglich auch nichts werth. Nun bestand aber zwischen den Thenktern und Ubiern oder Agrippinensern, wie die letztern von den ‘Römern meist genannt werden, weil sie die Colonia Agrippina, oder Cöln, als langjährige römische Bundesgenossen bewohnten, eine alte Feindschaft, so dass es dem Claudius Civilis sehr schwer ward, Frie- den und Freundschaft zwischen ihnen herzustellen. Aber nur unter dieser Bedingung hatte ein Krieg gegen die Römer Aussicht auf glücklichen Erfolg. Da nun die Ubier sich lange sperrten, nicht nur der alten Feindschaft wegen, sondern auch, weil sie es bedenklich ' fanden, die römischen Fleischklösse gegen das ihnen bereits unge- — 14 — wohnt gewordene germanische Eichelmuss zu vertauschen, so schlug ihnen der batavische Häuptling die Veleda als Vermittlerin und Schiedsrichterin vor, und das Ansehen dieser Jungfrau war so gross, dass die Ubier den Vorschlag annahmen. Man kam also überein, dass Claudius Civilis in Gemeinschaft mit der Veleda die Bedingun- gen der Sühne ordne, und diese Jungfrau dann das Bündniss weihe und heilige. Die Ubier erlangten, was sie wollten, da dem Bataver- häuptling Alles an ihrem Beitritte gelegen war, und die Thenkteren fügten sich auch: hatte doch Veleda die Bedingungen gut geheissen. Die verbündeten Germanen erfochten bekanntlich mehrere Siege über die niederrheinischen Legionen, wie das Veleda geweissagt hatte. Aus Dankbarkeit ward ihr das Admiralschiff der‘ römischen aus 24 Dreirudern bestehenden Rheinflotte, die schon früher von den Batavern genommen worden war, in feierlichem Zuge auf der Lippe, gleich- sam als Beuteantheil, zugeführt. Die Verbündeten schritten nun zur Belagerung von Mainz, aber diese Stadt ward von den Römern behauptet, da Vocula mit zwei Legionen zu ihrem Entsatze noch rechtzeitig ankam; und weil Julius Sabinus den den Römern treu gebliebenen Sequanern erlegen war, der von Vespasian später ge- sandte Feldherr Petilius Cerealis aber gegen die Verbündeten mit Glück kämpfte, so schloss Claudius Civilis mit den Römern einen für sich und seine Verbündeten vortheilhaften Frieden. Veleda freilich, die der römische Feldherr als Haupturheberin des Abfalles und Aufstandes der Germanen betrachtete, konnte nicht gerettet werden. Petilius nahm sie gefangen und sandte sie nach Rom 18), Einer älteren weissagenden Jungfrau, welcher Taeitus in der Ger- mania, Cap. 8 gedenkt, der Aurinia, oder wie sie wohl eigent- lich hiess, Aljarüna, geschweige ich, da wir von ihr nichts als den Namen, und dass sie grosses Ansehen besessen habe, wissen., Eben- sowenig berücksichtige ich die Ganna, deren Cassius Dio 67, 5 Er- wähnung thut, oder die aus Alamannien noch im Jahr 847 nach Mainz gekommene Thiota, deren die fuldaischen Annalen (Pertz I, 365) ge-' denken19). Wichtiger wäre die Weissagerin, die dem Drusus, als er sich der Elbe näherte, im Lande der Cherusker in „mehr als mensch- licher Grösse“ entgegentrat, ihm weiter vorzudringen wehrte, und ihm sein nahendes Ende weissagte, wenn von diesem Vorfalle mehr als diess wenige, das uns Cassius Dio (55, 1) und Suetonius übereinstimmend (Claud. I.) berichten, bekannt wäre. Ob endlich die Druidin, welche dem Alexander Severus, als er durch Gallien — 145 — zog, in gallischer Sprache zugerufen haben soll: „Geh! hoffe nicht den Sieg und vertraue dich nicht deinen Soldaten an!“ wie Lampri- dius (Alex. Sev. 60) mittheilt, und ob die baierische „Runenjung- frau“, die den Attila, als er den Lech überschreiten wollte, durch ein dreimaliges: „Zurück Attila!“ verscheucht habe, wie Paul von Stetten in seiner Geschichte von Augsburg (S. 25) erzählt, auf histo- rische Geltung Anspruch habe, lasse ich dahin gestellt sein. Allein was Hubertus Leodius in seiner Abhandlung über die Alterthümer Heidelbergs (de Heidelbergae antiquitatibus) von einer Weissagerin Jettha erzählt, die „zur Zeit der Veleda“ auf demselben Hügel, auf welchem die Heidelberger Schlossruine steht, ein fanum bewohnt und sich weitreichenden Einflusses erfreut habe, aber endlich von einer Wölfn an dem Brunnen, der noch jetzt Jetthenbrunnen heisse, zerrissen worden sei, ist schwerlich etwas anderes, als eine gelehrte Erfindung. So viel wenigstens ist klar, dass fast alle Einzelheiten der reich ausgeführten Erzählung aus des Taeitus Schilderung der Ve- leda herüber genommen sind. Eigenthümlich hat Leodius nur den Jetthenbrunnen und die zerreissende Wölfin, und wenn er, der um 1535 schrieb, sich auf ein uraltes Buch als seine Quelle beruft, so will das wenig sagen, denn wir kennen diess uralte Buch nicht. — Noch giebt es eine Notiz über weissagende germanische Frauen bei Strabo (7, 2), die allerdings unverdächtig ist; aber ich trage einiges Bedenken, Ihnen dieselbe ganz mitzutheilen. Sie könnte Ihnen, m. D., fürchte ich, vielleicht einen schreckhaften Traum er- regen, im Fall Sie nämlich von Träumen heimgesucht werden, was ich nicht wissen kann. Ich sage Ihnen also nichts davon, dass die kimbrischen Weissagerinnen, wie Strabo erzählt, den einge- brachten Gefangenen mit blossen Schwertern aus dem Lager entge- genstürzen, sieergreifen, bekränzen und zum blutigen Opfer- kessel hinschleppen; ich verschweige, dass sie dort auf einer angelehnten Leiter emporklettern, die ergriffenen Gefangenen hin- auf heben und hoch über den Kessel emporragend den Unglück- lichen die Kehle durchschneiden, das Blut in den Kessel strö- men lassen und daraus dann weissagen. Wie gesagt, all diess Schreckhafte übergehe ich; aber Strabo schildert uns zugleich die ge- wiss sehr kleidsame Tracht dieser priesterlichen Prophetinnen, und da Sie sicher noch in keinem Modejoumal etwas Aehnliches erschaut haben, so mag Strabo’s Schilderung immerhin zu Ihrer Kenntniss ge- langen. Zuerst also sagt er: Es seien Frauen gewesen, weissbe- — 146 — haart, durch hohes Alter ehrwürdig. Ihr schneeweisses Haar habe Schultern und Rücken tief hinunter, aber nicht in zierlichen Locken, dicht eingehüllt. Ihr Untergewand war blen- dend weiss, darüber aber trugen sie ein gleichfarbiges leinenes Oberkleid mit einer ehernen Spange auf der linken Schulter befestigt. Ihren Leib umschloss ein eherner Gürtel, ihre Füsse jedoch waren unbekleidet, wahrscheinlich, dass man die goldglänzenden Erzringe, die sie ohne Zweifel über den Knöcheln trugen, desto besser sehen konnte, wenn auch Strabo diesen Umstand nicht erwähnt. Das Costüm war einfach, aber in Hinsicht auf das zu verrichtende Geschäft nieht gerade besonders gut ausgewählt, was die Farbe betrifft, wenn man ihnen nicht eine ganz besondere Gewandtheit in ihrer Kunst zugestehen will. Wenden wir uns nun zu den Skandinaviern, so treten uns da eine ganze Menge weiser Frauen entgegen, bald anmuthige, bald schreck- hafte Erscheinungen. Es ist diess begreiflich, da das Heidenthum sich daselbst weit länger erhielt, als im eigentlichen Deutschland. Sie hatten sogar ihr eigenes grosses Opferfest, das Disablöt, welches in Nor- wegen auf den ersten Tag des 12. nordischen Monats, auf unsern 23. Oet. fiel, in Schweden dagegen am 1. Tage des 11. Monates, an unserm 23. September gefeiert ward; sie wurden demnach geradezu als Göt- tinnen betrachtet?0). Es ist diess das grosse nordische Herbst- opfer. Ohne Zweifel nahm man die Voraussage einer reichen Ernte für gleich mit dem Gewähren derselben, wie ja auch bei andern Gelegenheiten nicht selten das Verkündigen eines Ereig- nisses dem Hervorbringen desselben gleich geachtet ward. Da alle weisen Frauen zugleich auch als Zauberinnen galten, folglich im Besitze übermenschlicher Kräfte gedacht wurden — ich erinnere nur an das Wettermachen der spätern Hexen?!) — so erklärt sich schon hieraus, wie ihnen das grosse Herbstopfer geheiligt werden konnte. Aber neben der Kunde der allgemeinen Verehrung der wei- sen Frauen in Skandinavien haben wir auch Spuren grosser Miss- achtung von Seiten Einzelner. Es gab im Norden immer ein- zelne Männer, die im Gefühle ihrer Kraft von einer Verehrung. der Götter überhaupt nichts wissen wollten und nur an sich selbst, an ihre eigene Macht glaubten. „Trüa & sittmegin, an seine Stärke glauben“ ist die gewöhnlich gebrauchte Bezeichnung dieses Unglau- beus22). Dass aber Leute, die von den höhern Göttern nichts hören wollten, die Verkündigerinnen des Zukünftigen, des — 1417 — Willens der Götter, auch nicht achteten, ist ganz begreiflich. Ein merkwürdiges Beispiel davon gewährt uns die Geschichte des Örvar- Odd. — Odd, später Örvar-Odd, d. i. Pfeil-Odd genannt, erhielt seine Erziehung bei einem norwegischen Häuptlinge, dem Iarl Ingiald, zugleich mit dessen Sohn Asmund. Ingiald war dem Opferdienste sehr ergeben, ein „Opfermann“, wie solche Leute genannt wurden, daher denn glaubte er auch an Weissagungen, und weise Frauen stan- den bei ihm in grossem Ansehen. In seiner Nähe lebte nun eine be- rühmte Weissagerin und Zauberin. Sie hatte immer 15 Jünglinge und 15 Jungfrauen zu ihrem Geleite, und nie erschien sie bei einem Ge- lage ohne diess Gefolge. Als es nun an der Zeit war, dass Odd und Asmund ihre erste Wikingfahrt unternehmen sollten, berief Ingiald die Weissagerin, die Heid hiess, zu sich und stellte ein grosses Gastmahl an, wie es bei solcher Gelegenheit üblich war. Sie ver- sprach zu kommen, und als sie wirklich kam, gieng ihr Ingiald mit allen seinen Dienstmannen cehrerbietigst entgegen. Sie ward auf den Hochsitz geleitet und man vereinigte sich dahin, dass sie nach dem Gastmahl, während die Männer schliefen, ihren Seid, d.h. Zau- berkünste üben, und am Morgen darauf allen ihr Geschick verkün- den sollte?). Demgemäss traf sie während der Nacht ihre Vorkeh- rungen, und am Morgen giengen alle Männer einzeln vor sie, und sie verkündete allen lauter erfreuliche Dinge; ein Zeichen, dass sie mit der Bewirthung zufrieden war. Aber Odd wollte sich nicht weissagen lassen, sondern lag sehr respeetwidrig, unter seinem Mantel versteckt, auf einer Bank. Da sprach sie zu Ingiald: Sind nun alle Männer hergegangen, die zu deinem Gefolge gehören? Alle, glaube ich, erwiederte Ingiald. Was liegt dort auf jener Bank? fragte die Vala. Ein Mantel liegt dort, antwortete Ingiald. Mich dünkt, sprach sie, er bewege sich, wenn ich ihn ansehe. Da richtete sich der auf, der.unter dem Mantel lag und sagte: Dir dünkt ganz recht, ein Mann ist hier, und zwar ein Mann, der da will, dass du sogleich schweigst, und nichts herplauderst in Bezug auf sein Geschick ; denn ich glaube nichts von dem, was du schwatzest. Odd hatte ein grosses Holzscheit in der Hand und drohte ihr damit auf die Nase zu schlagen, wenn ‚sie ihm weissage.* Und doch werde ich es thun, sagte sie, und du wirst zuhören.“ Darauf sang sie: „Angst mir nicht mache, Odd zu Iadar, mit dem Brandscheite, ob wir beid’ auch hadern. Sich er- wahrt das Wort, so die Wölwa spricht, ihr eignet Kunde von Aller Schicksal. Nicht fährst du über so ferne Meere, oder segelst über — 148 — Silberwogen — ob das Meer auch über dir mächtig walle, hier sollst du brennen in Berujodur. Ein Wurm dich bewältigt mit der Wuth des Giftes, aus deines Hengstes Hirnburg kommt er; eine Natter dir nieden nagt den Fuss, wenn du vollalt bist, Fürst geworden.“ — Schwatze du, aller Hexen ärmlichste, über mein Geschick, rief da Odd; sprang auf und stiess ihr das Holzscheit so stark an die Nase, dass sogleich Blut zur Erde fiel. — „Nehmt meinen Kessel“, sagte die Weissagerin, „ich will fort von hier, denn das ist mir noch nie begegnet, dass ein Mann nach mir geschlagen hat.“ — „Das sollst du nicht thun,“ sagte Ingiald, „denn für alles giebt es Bussen. Du sollst noch drei Nächte hier weilen und gute Ga- ben empfangen.* Sie nahm die Gaben, aber fuhr hinweg vom Gelage. Den Tag darauf führen Odd und Asmund den Hengst hin- aus in ein tiefes Thal, tödten ihn, graben eine mannstiefe Grube, werfen das Pferd hinein, füllen das Grab mit Erde zu und häufen Sand und die schwersten Steine darauf, die sie nur finden können, so dass ein mächtiger Hügel ob dem Grabe entsteht. — „Nun glaube ich sicher zu sein®, sagte Odd, „dass der Kopf des Pferdes mir nicht zum Tödter wird; in dem nistet wahrlich niemals eine Schlange und kein Mensch sieht ihn mehr.* Darauf gehen beide in das Haus zurück, begeben sich dann auf Wikingfahrten und sehen eine Reihe von Jahren die Heimat nicht wieder, so dass beide die Begebenheit endlich ganz vergessen haben. Und doch gieng die Weissagung buchstäblich in Erfüllung. Nach vielen, vielen Jahren nämlich wird Odd, der inzwischen durch seine Heerfahrten ein sehr reicher und angesehener Mann geworden ist, aber in weit entlegener Gegend seines Alters Ruhesitz gegründet hat, durch Umstände genö- thigt in seine einstige Heimat zurückzukehren, um irgend ein Geschäft daselbst auszuführen. Durch Zufall kommt er auch an den Ort, wo er einst sein Ross begraben hat. Da sieht er einen weiss gebleichten Pferdekopf da liegen, und indem er mit dem Fusse darnach stösst, sagt er, bist du’s oder bist du’s nicht? Da springt eine Natter aus dem Knochen hervor und sticht ihn in den Fuss. Odd fand seinen Tod, wie es ihm geweissagt worden war, und ward an derselben Stelle verbrannt ?®). Als einen Beweis der Missachtung weiser Frauen muss man auch dasjenige betrachten, was Jornandes Cap. 24 von dem noch heidni- schen Gothenkönige Filimer erzählt. Er habe unter seinem Volke Zauberweiber gefunden, welche in gothischer Sprache Aljarunös — 149 — genannt würden, und da sie ihm verdächtig geschienen, habe er sie hinaus in die Wildniss getrieben. Mit denselben hätten Wald- menschen (silvestres homini, fauni ficarii) sich verbunden, und die Frucht dieser Verbindung sei das Volk der Hunen gewesen 2). Da also schon im Heidenthum neben der hohen Achtung auch Miss- achtung der weisen Frauen sich einfand, woran sie freilich hie und da selbst Schuld sein mochten, so dürfen wir uns um so weniger wun- dern, wenn nach Annahme des Christenthums sie in gänzliche Ver- achtung sanken. Aber die Hexenverfolgungen liegen ausserhalb mei- nes Themas. Nachdem ich nun zuerst über das Wesen und die Bedeutung der weisen Frauen des germanischen Heidenthums im Allgemeinen gesprochen, dann ihr Verhältniss zu den Mächten des Schick- sals, den Nornen, Feen und Walkyrien, erörtert, nachdem ich endlich einige der berühmtesten Weissagerinnen an Ihrem geistigen Auge vorübergeführt habe, bleibt mir nur noch die Frage zu beantworten, wie die weisen Frauen wohl zu ihrer Kunde zukünftiger Dinge gekommen sein mögen, wenn man ihnen über- haupt solche zugestehen will. Diese Frage kann auf verschiedene Weise beantwortet werden, wie mir es scheint; bei einigen war die Gabe der Weissagung gewiss nur Wirkung des gesteigerten Ahnungs- vermögens, wie wir diess ja heute noch bei Somnambülen finden; bei anderen jedoch, und zwar bei der Mehrzahl, beruhte die Weissagung auf Beobachtung verschiedener Zeichen, Erscheinungen und Vorgänge in der belebten und unbelebten Natur. Dazu bedienten sie sich auch wohl verschiedener Geräthe, wie des Kessels, des Siebes und, im Nor- den wenigstens, des Weissagestuhls, hiall genannt, welches Wort mit hiala sermocinari, fabulari, zusammenhängt?®). Dass sie an die Wahr- heit ihrer Wahrnehmungen selbst glaubten, das ist sicher, wenigstens in den frühern Zeiten. Später freilich mochte man mit Kessel und anderen Geräthen auch wohl nür Hokuspokus zu treiben belieben, um Aufsehen zu erregen und mit Hülfe des Wunderbaren, Unheim- lichen desto eher Glauben zu finden. Bei manchen aber, und gerade den einflussreichsten, mochte die Weissagung eine Folge kluger Com- bination bereits vorhandener und ihnen bekannter Ereig- nisse und Umstände sein, also das Ergebniss wohlbedachter Berechnung. Wenn z. B. Veleda den Sieg der verbündeten Ger- manen und die Niederlage der Legionen voraussagte, so konnte sie diess mit ziemlicher Sicherheit tbun, da ihr ohne Zweifel nicht nur Wissenschaftliche Monatsschrift. IV. 10 + u der in Folge des Kampfes zwischen Vitellius und Vespasianus gänz- lich zerrüttete Zustand der rheinischen Legionen, so viele ihrer noch da waren, genau bekannt war, sondern auch der kurz vorher stattgehabte Brand des Capitoliums ganz allge- mein für ein Anzeichen des Unterganges römischer Macht angesehen ward. Dann aber musste ihr für das Eintreffen ihrer Weissagung gewissermassen die Persönlichkeit des Claudius Civi- lis selbst bürgen, denn nicht nur sehr hervorragende Eigenschaf- ten als Feldherr hatte er bereits bewährt, auch seine Schlauheit und Umsicht waren allgemein bekannt und anerkannt. Man braucht also keineswegs anzunehmen, dass Veleda nur weissagte, was Clau- dius Civilis geweissagt haben wollte; obwohl Spuren vorhan- den: sind, dass sie zu ihm in einer engen Beziehung stand. Das Un- ternehmen, Gallien den Römern zu entreissen, scheiterte in der That auch nur dadurch, dass Vespasian durch die ebenso schnelle und unerwartete als schimpfliche Niederlage des Vitellius unbestrittener Herr der Monarchie ward. So vermochte er die 14. und 18. Legion unter Vocula zum Entsatze des belagerten Mainz abzusenden. Da nun noch ‘obendrein Julius Sabinus, der seine Gallier dem batavischen Feldherrn zuführen sollte, von den Sequanern gänzlich geschlagen wor- den war, so musste die Belagerung von Mainz aufgehoben und der ganze Plan aufgegeben werden. Dass alle diese Ereignisse eintreten würden, das wusste Veleda nicht, und konnte es auch nicht wis- sen. Uebrigens hatte sie auch nicht die Eroberung Galliens ge- weissagt, sondern nur die Besiegung der zu Anfang-des Krie- ges schon am Rheine stehenden Legionen, und das ist eingetroffen. Eine dritte Classe von Weissagerinnen, die es ohne Zweifel auch gab, wusste von den zukünftigen Dingen nicht mehr als andere Menschen, aber sie gaben vor, mehr zu wissen, und um nicht so gar leicht zu Schanden zu werden, ertheilten sie, gleich den alten Orakeln, ihre Sprüche immer in mehrdeutigen Worten. Dann mochte es kommen, wie es wollte, ihre Kunst blieb immer in. An- sehen und Ehre, aber natürlich nur bei denen, die ihr unter jeder Bedingung Ansehen und Ehre zuzugestehen geneigt und, willig waren. Ob aber nicht manche weise Frau gelegentlich aus zweien oder allen ‘dreien der genannten Quellen schöpfte, das muss bis auf weitere Forschung dahingestellt bleiben. . — 151 — Anmerkungen. 1) Tacitus Germ. 10. Caes. b. G. I, 50. 2) Grimm, deutsche Mythol. I, 368. 3) Doch zwei Seher werden in der Edda genannt, Mime und Gripir, allein beide sind mythische Wesen. Bei Mime’s abgeschnit- tenem Haupte erholt sich Odin selbst Rathes. Wenn harugari oder barawari, d. h. Vorsteher eines harug oder baro, eines einem Gotte geweiheten Haines, also Priester, godar, das Wiehern heiliger Rosse deuten oder Auspicien anderer Art anstellen, so ist diess ein anderes. Wenn in dem Indie. superstit. et pagan., den Capp. der fränkischen Könige, den legg. Barb., den Biographien mancher Heiligen von Wahr- sagern und Zauberern neben Wahrsagerinnen und Zauberinnen hie und da die Rede ist, so begreift sich das einmal schon aus der späteren, christlichen Zeit, dann aber auch aus der Art der Schriften, in denen ihrer erwähnt wird. Genannt werden ihrer nie, während einzelne pytho- nissae auch spät noch und sogar namentlich angeführt werden. #) Hävamäl 149 fl. Als Entzauberer erscheint Wödan auch im Merseburger Spruch, nachdem Frija, Fulla, Sunna und Sinthgunth ihre Kunst vergebens versucht haben. Thö begölen Wuotan sö her wola konda (da besang ihn Wuotan, wie er wohl konnte), heisst es da- selbst, nämlich den von Phol, d. i. Föl (= Loki) durch Zauberkraft lahm gemachten Fuss des Rosses Balders. Föl verhält sich zum ags. Faul; d. i. Favl, immundus spiritus nach Lib. Med. I, 45, wie Söl zu Säuil, s@la, ags. sävl, säul zu säivala, und somit ist auch die Al- litteration Föl und Fuorun ganz in Ordnung. Föl = Baltar, wie Grimm will, kann ich nicht annehmen. Drei Götter reiten in den Wald, Wuotan, Baltar und Föl, nicht bloss zwei, Wuotan und Föl. Ritten nur diese beiden, so müsste gesagt sein, welcher auf Baltars Rosse geritten sei; auch darf der nicht verschwiegen blei- ben, der den Schaden angerichtet hat, was nur Föl (= Loki) sein kann. Erwägt man unbefangen den Eingang des Spruches: Phol (d. i. Föl) endi Wuotan fuorun zi holza: thö wart demo Balderes fo- lon sin fuoz birenkit, so sieht man, dass drei Götter als in den Wald reitende genannt sind, Wuotan, Baltar, Föl, dass mithin Föl nicht Baltar sein könne. Noch einiges zu dem Namen Föl, Favl. Die go- thische Form hat man wohl Fauils, d. i. Favils anzusetzen, wie auch sauil für savil steht; denn wäre das au in sauil organischer Diphthong, so müsste die ags. form seäl lauten; sie lautet aber sägel, segel, si- gel, mit andern Worten: das gothische v ist in g übergegangen. Nun finde ich bei Bosworth aus Cot. 85 ein figel neben fifele angegeben mit der Bedeutung a buckle, button, fibula. Fifele ist nichts als fibula; aber figel kann nicht aus fibula entstanden, sondern nur ein synonym zu fifele sein. Sonach möchte ich diess figel, seinem An- schein nach ein Maseulinum, da es schwerlich für fögel steht, zu fa- vil stellen, wie sigel zu savil gehört. Figel, favil ist also eine Nadel, etwas spitzes, stechendes. Dass ein Gott, und zwar ein schädlicher, so — 12 — heissen könne, wird uns nieht wundern, wenn wir uns an Grendel, den Wassergeist von Riesengestalt, dessen Namen pessulus, serra be- deutet, erinnern, und den Frauennamen Spange in Erwägung ziehen. 5) Der Name Normir (goth. Naurneis? ahd. Norni?) ist noch un- erklärt. An das ags. Neorxna-vang, mag«dEL00S, das ebenfalls einer sicheren Erklärung noch ermangelt, ist dabei nicht zu denken, wie- wohl man Nornir und Neorxna-vang hat in Verbindung bringen Valle Ich versuche beide Wörter zu erläutern und beginne mit dem zweiten. In Bezug auf dasselbe ist soviel sicher, dass neorxna, neorcsna ein gen. plur. ist ng dass die Nesationsnärhkel ne den Anlaut bildet; also neorxna = n-eorxna. Eorxna würde nun ein eorxa, m, 2 eorxe, f. im nom. sing. fordern, ein Wort, das man bis jetzt noch nicht aufzufinden im Stande war. An veorc, opus, darf man nicht denken, obwohl man dieses Wort herbeigezogen hat, weil da das x = cs, unerklärt bleibt; dem Sinne nach wäre freilich ein Feld (= vang) der Ruhe, des Nichtwirkens, eine schickliche Be- zeichnung des Himmels oder Paradieses. Da man aber weder von veore noch von vyrcan fernere S-Ableitungen kennt, so muss man diese Erklärung aufgeben. Zur Erklärung bietet uns nun die gothische Sprache ihr rikvis (gen. rikvisis) dar, “welches 0x0T0S, Finsterniss, überträgt. Da nun im ags. R leicht und gern seine Stelle vertatikht (vgl. irnan, borna, gärs, ferse, berstan, forma, bird — rinnan, brunna, gräs, frisc, brestan, fruma, brid u. s. w.), i aber vor r in eo gebrochen wird, so erhielten wir für das gothische rikvis ein ags. eorces, oder nach schwacher Declination eorese, eorcsa (eorze, eorxa), dessen gen. plur. eorxna wäre. So wäre Neorzuß. -vang ein campus AOROTELVOg, ein campus splendorum, ein Feld des Lichtes, des Glanzes; eine gewiss gleichfalls passende Uebertragung von zragadeıoog. Zur Unterstützung meiner Erklärung führe ich nun noch aus dem ags. Gespräche zwischen Adrianus und Ritheus (Altdeutsch. Blätter II., 189) an was folgt: A. Saga me, hvät sint hä tvegen men on neorxnavange? Dic mihi qui sint duo viri in paradiso. R. Ic pe secege: finoe and Helias. Dieo tibi: Enoch et Elias. A. Saga me hver vunjad hi? Die mihi ubi habitant. R. Ic be secge: (in) Malifica und in Timphonis, pat is on Sein- felda and on scänfelda. Dico tibi: in Malifica et in Timphonis, id est in luminis campo et in splendoris campo. Wir. sehen also, dass Enoch und Elias bis zu ihrer Wiederkunft in einer, Gegend des Paradieses (neorxna-vang) wohnen, der Lichtfeld und Glanzfeld heisst, meine Deutung von neorxnayang also bestätigt. Aber noch mehr. In demselben Gespräche lesen wir: A. Saga me hver scine seö sunne on niht? Die mihi ubi Sol noete luceat? R. Ie pe secge: on prim stovum; zrest on päs hvales innöde be is eveden Leviathan, and on Ööre tid heö scind on helle, and pä hridda tid heö scind on päm eälonde pät is Glid nemned, and u — 153 — . “ per restad häligra manna sävla 65 dömes däg. Tibi dico: in tribus loeis; prima noctis parte in balen® ventre, qu® nominatur Leviathan; altera noetis parte Jucet in Orco, tertia noctis parte lucet in insula que Glidö nominatur, et ibi requiescunt sanctorum -virorum animae usque ad diem judicii. Den Namen der Insel nun, Gliö oder Glid;, der offenbar deutsch ist, führe ich zurück auf glia, lucere, wovon glia, f. nitor, splendor. Glid scheint ebenfalls gen. fem. und splendor zu bedeuten. Diese Stellen sind Grimm entgangen, wenigstens erwähnt er in der Mytho- logie weder scinfeld noch scänfeld noch gli. Schlagen wir nun bei Nornir denselben Weg ein, den wir bei Neorxnavang einschlugen, und ziehen wir zur Erklärung die ags. verba vyrnan oder vernan, impedire, negare, recusare, satagere; vearnjan (ahd. warnen oder warnön), vitare, cavere, monere, herbei, so wären Nawarneis, zusammengezogen Naürneis, Nornir, entweder non vitandz, oder dare non recusantes, Bedeutungen, die beide zu dem Begriffe der Nornen sich fügen. Ich habe irgendwo,, erinnere ich mich recht, in einer Bemerkung von A. Kuhn, gelesen, dass die Nahanarvali oder Naharvali als Navarnahali, Nornenmänner, Nornenverehrer (wie die Suewen Ziuwari, Ziuverehrer heissen) aufzufassen seien, ohne jedoch dass eine Deutung von Navarna gegeben ward. Die Deutung wäre annehmbar, wenn man begriffe, wie Taeitus dazu kam, Navarnahali in Nahanarvali oder gar Naharvali zu verwandeln. 6) Hesiod. asp. 258. 7) Plato de republ. 508 Bekk. Anders sind bei röm. Schrift- stellern die Aemter vertheilt; vgl. Apulejus de mundo p. 580. Isidor. etym. 8. 11, $ 92, 93. 8) In den friesischen Gesetzen liest man „Alle Friesa hördon &r north and tha grimma herna*, d. h. alle Friesen hörten (waren unter- thänig) früher nach Norden in den grimmen Winkel (d. h. den Nord- mannen) Rüstr. 133, 20. Ems. 10, 21. Hunsing. 10, 19. Wester- law. 11, 23. Grimms Rechtsalterth. 808. Aber obgleich das Böse, Grimme, zunächst der Naturerscheinungen, wie Sturm, Kälte, Frost, aus dem Norden kommt, so wandten sich doch die germanischen Hei- den, wenn sie beteten, nach Norden, wie die Christen nach Osten. Deutsche Mythol. I, 30. 9) Ital. fata, plur. fate; prov. fada, span. fada, hada, plur. fadas, hadas; franz. fee, plur. fees. 10) Deutsche Mythol. I, 384, Anm. 11) Heinrich Schreiber: Die Feen in Europa 11, 12; 16, 17. 12) Zeus: Die Deutschen und die Nachbarstämme, p. 35. 13) Deutsche Mythol. 1, 391. 14) Snorra edda p. 39. Völs. sag. c. 2. Sörla pättr, 7. Finn Magn. lex. myth. unter Valkyria. 15) Deutsch. Mythol. I. 395 ff. — 14 — 16) Dieser berühmte Gesang der Walkyrien, von dem ich nur die Hauptstellen mittheilte, findet sich in der Niala, Cap. 158. 17) Heid bedeutet Stand, Ehre; von einer Person gebraucht, ist Heid = Weib, also Adelheid = Adelige. 18) Der Name der brukterischen Jungfrau Veleda scheint fast Amtsname, wenn man ihn zu Vala, Völva (ahd. Walawa) hält. Auch der Name des kunstreichen Schmiedes und Helden Veland, Völundr, Wieland (= Dxdalus) scheint dazu zu gehören, ja selbst valkyria. Nur in Zusammensetzungen findet sich der Name noch, z. B. Walada- marka, Name einer Gothin, Jornand. 48. Waladerieus, Trad. Corbey. p- 364, vielleicht auch Waldemär. Das hohe Ansehen der Veleda bezeugt Taeitus Germ. 8: Veledam diu apud plerosque numinis loco habitam. Histor. 4, 61 ea virgo nationis bructere late imperi- tabat, vetere apud Germanos more, quo plerasque feminarum fati- dicas et augescente superstitione arbitrantur deas. 19) Aljarüna, die Fremdes, Geheimes Raunende, Flüsternde; von ali und riuna (raun, runum). Tae. Germ. 8. Sed et olim Auriniam (der Name ist verderbt, schwerlich Uebersetzug eines deutschen Na- mens, etwa Goldrün ?) et complures alias venerati sunt, non adulatione nec tamquam facerent deas. — Andere ‚weise Frauen sind Ganna, Thiota u. s. w. Tavva ragdgvog uera ımv Belndav Ev 1 Keks $eıalovon, Cass. Dio 67, 5. Der Name kommt von ginnan (gann, gunnum) allicere, decipere, und entspricht daher dem Beinamen des Apollo Ao&iag. — Thiota gehört zu thiuda, Volk, und ist ähnlich dem ohen erklärten Heid gebraucht. Andere Namen sind Gannascus, Tac. Ann. II. 18, 19; Theodalind, Dietburg u. s. w. 20) Bei den Skandinaviern waren einzelne, gleicn Göttinnen ver- ehrte, weissagende Jungfrauen die Irpa, Pörgerdr, Pördis, Pörbiörg u. A. Fornm. sög. I, 255, Islend. sög. I, 140. Kormaks sag. p. 204 ff. Fornm. sög. II, 108, III, 100, XI, 134—137, 142, 172. Irpa und Thörgerdr führen den Beinamen hörga brüdr, nyımpha luco- rum, aber auch gud, numen (Niala c. 89). 21) Die nordischen Quellen sind reich an Berichten von dieser Thätigkeit der weisen Frauen. Vgl. Friöpiofssag. Cap. 6. Deutsch. Mythol. II, 1040 ff. In der älteren Zeit galt es meist der Vernich- tung der Kriegsheere, in der späteren der Unfruchtbarmachung der Aecker, Schädigung des Viehes u. s. w. A 22) Belegstellen zu trüa & mätt sinn ok megin hat Grimm deutsch. Mythol. I, 5 ff. gesammelt. 23) Es ist stehender Zug, dass wenn weise Frauen ihren Zauber, seid, üben, Männer fern bleiben müssen. Es geschah immer zur Nacht- zeit und unter freiem Himmel. Vgl. deutsche Mythol. II. 994 ff. 24) Örvar-Oddsaga, cap. 2. Ein ähnliches Ereigniss erzählt der russische Geschichtschreiber Nestor von Oleg (d. i. Helgi, Heilago, wie Olga —= Helga, Heilaga, beides sind ursprünglich skandinavische Namen). n — 15 — 25) Eigentlicher Zweck dieser Sage ist freilich Herabwürdigung der Hünen (Xoövo.) von Seite der Gothen. Die Austreibung der wei- sen Frauen jedoch kann ganz wohl ein geschichtliches Ereigniss sein, ünd sie bezeugt die Verachtung, in der damals die „weisen Frauen“ bei den Gothen standen. 26) Unter den Geräthen der weissagenden und zaubernden Frauen nehmen ohne Zweifel Kessel, Sieb und Weissagestuhl (er ent- spricht dem Dreifuss der Pythia, war jedoch vierfüssig) den ersten Rang ein. Die Kessel waren ursprünglich Opferkessel, Blutkessel (hlautbollar, blötbollar, eups® ete.), wie aus der oben angeführten Stelle Strabo’s und aus der vita Columbani von Jonas Bobbiensis (Mabillon ann. Bened. 2, 26) hervorgeht. Sie dienten zunächst zum Auffangen des Blutes der Opferthiere, aus dem geweissagt ward, und zum Sieden des Opferfleisches. So ergiebt sich hier zugleich ein Zusammenhang der weisen Frauen mit den heidnischen Priesterinnen. Die Hexen- kessel der spätern Zeit beweiset die Lex Sal. Cap. 67. Si quis al- terum ehervioburgum hoc est strioportium (Hexenträger) clamaverit, aut illum, qui inium dieitur, portasse, ubi strias (= stri&) eoci- nant ete.), wozu Grimm, Rechtsalterth. 645, zu vergleichen sind. Ueber das Sieb ist Deutsche Mythologie II. 1062 nachzulesen. Was end- lich den vierbeinigen Weissagestuhl betrifft, so kennen ihn nur skan- dinavische Quellen und er heisst hiallr, seiöhiallr, z. B. Fornald sög. 2, 72: peer efldu seidinn ok feerdusk & hiallinn med göldrum ok giör- ningum. Hrölfssag. Cap. 3: setti hana & seiöhiall häan. Die vier Beine desselben, stölpar, werden Fornald. sög. 3, 319: sia par hiall hävan ok undir fiora stölpa — erwähnt. Ueber andere Geräthe zu Zauber und Weissagung lese man Deutsche IRNER II. 983—1058, 1116 —1197 nach. Beiträge zur Statistik der Industrie und des Handels der Schweiz. Von G. FR. KOLB, I. Einleitung. Ein neuerer französischer Nationalökonom hat an die Spitze seiner Erörterungen den Satz gestellt: L’histoire du commerce est T’histoire de la eivilisation. Dieser Satz entsprang ohne Zweifel einer einsei- tigen Auffassung, und enthält demgemäss eine Uebertreibung. Da- gegen gelangt man allerdings mehr und mehr zu der Erkenntniss, dass Industrie und Handel unbedingt zu den allerwichtigsten und in jeder Beziehung bedeutendsten Momenten der Völkerentwicklung und der Culturgeschichte gehören. Man kann nicht mehr, wie es noch vor wenigen Jahrzehnten sehr allgemein geschah, mit Geringschätzung oder günstigsten Falls mit einem herablassenden Wohlwollen, auf Gewerbs- wesen und Verkehr von oben niederblicken. Nicht selten sucht sich sogar eine entgegengesetzte Tendenz geltend zu machen. Wenn nun Industrie und Handel schon im Allgemeinen eine we- sentliche Beachtung anzusprechen haben, so verdient deren hohe Ent- wicklung in der Schweiz, unter überaus ungünstigen Verhältnissen, besondere Aufmerksamkeit. Auch haben, besonders seit John Bow- ring vor länger als zwei Jahrzehnten (1837) seinen, allgemeines Aufsehen erregenden Bericht über den Handel, die Fabriken und Gewerbe der Schweiz an das britische Parlament erstattete, manche Nationalökonomen und Staatsmänner mit einem gewissen Erstaunen auf die industriellen Leistungen der Eidgenossenschaft geblickt. Manchem derselben sind die erzielten Resultate noch heute unbegreiflich. In Wirklichkeit entbehrt die Schweiz jeder Begünstigung des Indu- striewesens durch die natürlichen Verhältnisse: sie ermangelt vor Allem der so wichtigen Steinkohlen, die selbst jetzt, nach Herstellung der Eisenbahnen, nur um hohen Preis aus grosser Entfernung zu beziehen sind; ihre Eisenproduction ist nicht bedeutend; und endlich liegt das Land weit entfernt von der See, weit entfernt von den Bezugsquellen der meisten Rohmaterialien, die sonach nur mit ansehnlichen Kosten herbeigebracht zu werden vermögen. Dabei erzeugt das Land weitaus — 1597 — nicht genug Lebensmittel, insbesondere nicht genug Brodstoffe, für seine Bewohner; in Folge dessen und in Folge sonstiger Verhältnisse steht der Taglohn höher als in allen angrenzenden Gebieten. Hiezu kommt dann noch der schlimme Umstand, dass alle Nachbarstaaten mehr oder minder entschieden dem Prohibitiv- oder dem Schutzzull- system huldigen, und somit den Absatz der Schweizer Waaren inner- halb ihrer Grenzen durchgehends ungemein erschweren, vielfach sogar vollkommen verhindern. Hat man aber den Schweizern den Absatz ihrer Erzeugnisse in der Nähe künstlich unmöglich gemacht, so haben sie in fernen Welt- gegenden, in beiden Hemisphären, andere Märkte aufgesucht und ge- funden. In den Vereinigten Staaten und der Levante, in Indien, in Persien und Südamerika concurriren sie vielfach siegreich gegen die durch natürliche und künstliche Gestaltungen begünstigten übrigen Handelsnationen. Trotz aller Schwierigkeiten und. Hemmungen ist der Verkehr der Eidgenossenschaft einer der relativ grössten, und in Er- wägung der Ungunst so vieler Verhältnisse gestaltet sich die hier er- langte Entwicklung als die ungewöhnlichste, überraschendste und ab- solut wunderbarste, welche die Nationalökonomie überhaupt nur kennt. s II. Schwächen der Statistik. Es sei hier eine kleine Abschweifung gestattet. Was das Fernrohr für den Astronomen, das Mikroscop für den Physiker, die Wage für den Chemiker, — eben das ist die statistische Zahl für den Nationalökonomen geworden. Bezeichnungen von viel oder wenig, womit man sich in frühern Zeiten meistens begnügte, geben viel zu unbestimmte, viel zu sehr bloss relative Begriffe, um heute noch zu befriedigen. Aber — auch mit den Zahlen finden gar seltsame Täuschun- gen statt. Die Bedeutung grösserer Zahlen ist für uns meistens an sich schon weit schwerer fassbar und begreiflich, als wir ahnen. So hört man reden (um wenigstens ein Beispiel anzuführen) von den Millionen Sternen, welche den nächtlichen Himmel schmücken. Nun hat man frei- lich die Menge jener leuchtenden Welten mit Hülfe eines Herschel- schen Riesenteleskops auf mehr als zwanzig Millionen geschätzt, — allein mit blossem Auge wird selten Jemand die bescheidene Zahl auch nur von; 2000 überblicken, denn die Gesammtsumme aller Sterne er- ster bis einschliesslich sechster Grösse beträgt auf der ganzen nörd- — 18 — lichen Halbkugel des Himmels (nach Argelanders speeiellen Berech- nungen) nur 2836, also nicht „Millionen.“ Die Zahl-erhält ihre richtige Bedeutung erst, wenn sie nicht mehr bloss absolut und trocken vor uns tritt, — sie-erhält diese Be- deutung erst durch Vergleichungen. Ueber statistische Tafeln schweift das Auge des Lesers in der Regel mit Gleichgültigkeit, selbst mit Widerwillen hin. Und es ist diess ein richtiges Gefühl; denn ein Ziffernmeer, das in der gewöhnlichen Weise vorgeführt wird, bringt doch keinen dauernden Eindruck hervor, und selbst diejenigen Zahlen, welche man ansieht, entschwinden schnell wieder dem Gedächtniss. Nur die vergleichende Statistik dringt tiefer; sie ist geeignet, zu weitern Vergleichungen und Forschungen aufzumuntern; geeignet, neue Ideen zu wecken; geeignet überhaupt, in lebendiger Erinnerung zu verbleiben, und ebenso sehr den wissenschaftlichen Denker weiter an- zuregen, als dem blossen Praktiker zu dienen. u Allein hier gelangen wir an eine andere schwache Seite der heu- tigen Statistik, die — so sehr es bisher absichtlich und (noch viel öfter) unabsichtlich verschwiegen ward — offen bekannt werden muss: wir meinen die Ungenauigkeit und darum Unzuverlässigkeit des weit- aus grössten Theils alles bis heute vorliegenden Materials. — Die ganze Statistik befindet sich erst im Anfang ihrer Entwicklung ‚# und es giebt wenige Verhältnisse, von denen sie uns mehr, als bloss höchst entfernt (vielmehr nur annähernd) richtige Resultate zu liefern vermag. „Diess ist eine amtliche Angabe“, pflegt man zu sagen, und meint damit jeden Zweifel unbedingt beseitigt zu haben. Aber wie viel fehlt dazu! Wir reden gar nicht von solchen Verhältnissen, bezüglich welcher diese oder jene Regierung ein Interesse zu haben glaubt, wenn auch nicht gerade absichtlich falsche Angaben zu verbreiten, doch wenig- stens die wahre statistische Ziffer, namentlich in ihren Elementen, nicht bekannt werden zu lassen. Unendlich vieles ist durchsichtiger geworden, als es früher war, und dennoch hält man nicht selten so- gar solche Notizen zurück, von deren Veröffentlichung sich nach ge- wöhnlicher Anschauung auch nicht der geringste Nachtheil erkennen lässt. In keinem andern Staate ist so viel für amtliche Statistik ge- schehen und aufgewendet worden, wie in Frankreich. Vierzehn gewal- tige Foliobände der Statistigue generale de la France sind veröffent- lieht. Schwerlich wird, wer diese Bände aufschlägt, erwarten, hier fast so viel wie gar keine Aufschlüsse über die confessionellen Ver- — 159 — schiedenheiten der Bewohner des Reichs zu finden, sondern der Be- merkung zu begegnen, dass „Erwägungen besonderer Art“ die Admi- nistration bestimmt hätten, die Uebersicht der Verbreitung jedes ein- zelnen Cultus in den verschiedenen Departementen nicht drucken zu lassen. Nur die Gesammtsumme ist angegeben, diese Ziffer aber muss, schon nach den Materialien, welche sich der Privatmann verschaffen kann, als durchaus unhaltbar angesehen werden. Irrthümer werden oft auf seltsame Weise herbeigeführt. So findet sich in dem nämlichen ceolossalen Werke der Statistik Frankreichs u. a. eine Vergleichung der Bevölkerung des Staats in seinem jetzigen Umfange nach den verschiedenen Populationsaufnahmen. Dabei ist aber übersehen, dass einige der 86 Departemente vor den Friedens- schlüssen von 1814 und 15 eine etwas grössere Ausdehnung besassen als seitdem. -So ward das Arrondissement Weissenburg im Nieder- rheinischen Departemente zufolge der Pariser Verträge um drei Kan- tone verkleinert, welche an Deutschland zurückkamen. Wenn man nun die Bevölkerung des genannten Bezirks (Arrondissements) im Jahre 1806 mit 137,244, dagegen im Jahr 1821 nur mit 88,938 Bewoh- nern vorgetragen findet, so ahnet man wol nicht den wahren Grund dieser auffallenden Verringerung, um so weniger,sals es sich um eine amtliche Vergleichung des Schwankens und Steigens der Volksmenge in dem jetzigen Umfange des Staats handelt. — Auch glaube man nur nicht etwa, dass deutsche Gründlichkeit jeden derartigen Fehlgriff zu vermeiden im Stande sei*). Sehr häufig rühren die Ungenauigkeiten daher, dass, wie nament- lich bei den Bevölkerungsaufnahmen, die ersten Erhebungen nicht durch eigentliche „Staatsbeamte“, sondern durch oft ungebildete Communal- angestellte (Dorfschulzen, Bürgermeister u. s. f.) vorgenommen werden. In andern Beziehungen fällt freilich jedes derartige Bedenken hin- weg, wie namentlich bei Führung der Zollregister. Ueberall besteht zudem die sorgsamste Controle, damit, was immer verzollt wird, auch *) Der Verf. dieses Aufsatzes bekennt vielmehr ganz offen, dass ihm gar kein grösseres statistisches Werk je bekannt geworden, in welchem sich nicht wahrhaft enorme Irrthümer gefunden hätten. Dass er sein eigenes, von der Kri- tik (ohne Rücksicht auf politische oder sonstige Tendenzen) durchgehends so wohl- wollend beurtheiltes „Handbuch der vergleichenden Statistik“ auch nicht entfernt ausnehmen will, versteht sich von selbst. Begegnet man doch sogar in den, von dem ausgezeichneten Nationalökonomen und Statistiker, von Hermann, aus- schliesslich nach amtlichem Material, bearbeiteten Tabellen von Baiern einzelnen äusserst auffallenden Irrthümern. — 160 — in den Listen erscheine; und es versteht sich von selbst, dass man in den Verzeichnissen der Mauth nirgends das Geringste bucht, was nicht wirklich die Grenze passirt. Nur der Schleichhandel entgeht selbstverständlich den Aufzeichnungen. Dennoch gelangen wir mit Hülfe der noch so wenig angewende- ten vergleichenden Statistik zu Ergebnissen, wie die folgenden sind: Die Seideausfuhr aus Frankreich nach Belgien betrug im Jahr 1853, den französischen Zollregistern zufolge, 36,862 Kilogr., in den belgischen Listen finden wir dagegen, als von Frankreich her eingeführt, nur 25,947 Kilogr. vorgemerkt. Vermuthlich wird man in diesem Falle die Wirkung des Schleichhandels unterstellen, wodurch freilich der Glaube an die Verlässigkeit der amtlichen Ziffern auch schon gewaltig erschüttert würde. Allein man reicht selbst damit keineswegs aus, wie einige weitere Beispiele darthun mögen. Die Steinkohlenausfuhr aus Belgien nach Frankreich betrug im nemlichen Jahre nach den belgischen Listen 21'121,520 metrische (Doppel-) Cent- ner, während die französichen Register eine Einfuhr von bloss 19'655,869 metr. Centner constatiren. Bei diesem Artikel fällt die Vermuthung des Schmuggels vollständig hinweg. Wo sind aber: die anderthalb Millionen metrische oder drei Millionen gewöhnliche Centner Steinkohlen geblieben ? Wir treffen indess auf noch grellere Thatsachen. Wenn sich in den eben erwähnten Beispielen die’ aus- geführte Menge bei der Ankunft vermindert hatte, so fehlt es auch keineswegs an der entgegengesetzten Erscheinung, nemlich einer Ver- mehrung der Waarenmenge, sogar in der colossalsten Ausdehnung. Die Wolleausfuhr aus Belgien nach Frankreich betrug 1853 371,260 Kilogr. (Doppelpfund). Dagegen langten in Frankreich aus Belgien an und wurden zollamtlich deelarirt nicht weniger als 3’301,500 Kilogr. Wolle. Die gleiche Waare hat sich also auf dem kurzen Wege von den belgischen Zollstationen zu den französischen nicht etwa bloss ver- doppelt, sondern beiläufig verzehnfacht! Glaube man nicht, dass solche Erscheinungen bloss an der bel- gisch-französischen Grenze vorkämen. Vergleichen wir die Französi- schen mit den Englischen Zolllisten. Im Jahr 1852 ist der Werth der Wolleeinfuhr aus Frankreich in Grossbritanien im ersten Lande zu 11'750,000 Fres. notirt, im letzten dagegen (auf gleiche Münze redu- eirt) zu 32'007,000 Fr. — Bei Baumwolle sehen wir das entge- gengesetzte Verhältniss: Frankreich exportirt nach England für 8’644,000 Fres., das letzte führt ebendaher nicht mehr ein als für — 161 — 4'500,000, also wenig über die Hälfte. — Im Jahr 1853 sandte Frankreich 952,085 Kilogr. Seidengewebe nach Grossbritanien ; hier langten nur 233,739 Kilogr. an, also lange nicht einmal der dritte Theil! Dagegen scheint auf dem Wege eine seltsame Verwechslung mit einem andern Artikel stattzufinden. Den Britischen Listen zu- folge betrug der englische Seideimport in Frankreich 245,925 Kilogr., — den Französischen zufolge weit mehr als das Doppelte dieses Quan- tums, nemlich 597,354 Kilogr. — Ebenso führte man im nemlichen Jahre 2'207,741 Kilogr. Wolle aus englischen Häfen nach dem oft- genannten Staate diesseits des Canals aus, und hier Jangten nicht we- niger als 3‘'940,496 Kilogr. an! — Auf demselben Wege soll sich das Getreide von 87,716 Hectoliter auf 312,768 vermehrt, — die Steinkohlen dagegen sollen sich von 7'292,411 auf 5'631,829 metr. Cntr. vermindert haben. (Alles stets auf gleiches Maass und Gewicht redueirt.) Vergleichen wir die Englischen mit den Belgischen Zolllisten, so stossen wir auf Widersprüche gleicher Art. Im J. 1853 wurden aus Grossbritanien nach Belgien 1'015,173 Kilogr. Kaffee versendet. Wenig über die Hälfte gelangte dort zur Einfuhr, nemlich bloss 572,613 Kil. — Die grosse Quantität von 4'036,049 Kil. Wolle schrumpfte sogar auf 1'643,766 Kil. zusammen. — Ebenso langten von 1'676,701 Kil. Hopfen, welche Belgien nach England versendete, nicht mehr als 861,466 daselbst an. Dagegen vermehrten sich 3’766,544 Kil. Glas- waaren auf ihrem Wege von Belgien nach den britischen Inseln auf 5'645,826 *). Aehnliche Resultate ergeben sich bei einem Nebeneinanderstellen der Holländischen und der Hanseatischen Aufzeichnungen. So betrug im J. 1854 die Holländische Ausfuhr nach Hamburg zufolge der Nie- derländischen Listen (auf preuss. Thlr. redueirt) 5’458,000 Thlr., — zufolge der Hamburger Notirungen nur 4'368,000. Nach Bremen wur- den im Jahr 1854 versendet für 430,000 Thlr., es langten aber mehr an, nemlich für 493,000. Im nächsten Jahre, 1855, stellte sich das umgekehrte Verhältniss ein: abgesendet aus Holland für 469,000, an- gekommen nur für 386,000. Neuer, noch grösserer Widerspruch im J..1856: ein Werthquantum von 421,000 wächst auf 744,000 Thlr. In einigen der vorbemerkten Fälle lässt sich der Grund der Ab- weichung theilweise errathen: wenn nemlich die Versendung zur See ®) Zu vergl. Journal des Economistes, Jahrgang 1858. — 12 ° — geschah und in den beiderseitigen Seehäfen eine nicht übereinstimmende Aufzeichnungsweise stattfindet, je nachdem die Versendung unter der Flagge des absendenden, oder des empfangenden, oder eines dritten Staates erfolgte. Doch reicht selbst dieser Erklärungsgrund keines- wegs allenthalben aus *). Es sei hier gleich bemerkt, dass wir in einer spätern Abtheilung unsers gegenwärtigen Aufsatzes in den Fall kommen werden, nachzu- weisen, wie namentlich bei dem für die Schweiz so besonders wich- tigen (aber auch, seiner Leichtigkeit wegen so schwierig zu contro- lirenden) Artikel Seide, die eidgenöss. Register eine verhältnissmässig viel zu geringe Einfuhr von Rohmaterial constatiren, um (nach Ab- zug des Abgangs bei der Verarbeitung, und unter Berücksichtigung der inländischen Consumtion) die grosse Quantität zur Ausfuhr liefern zu können, welche angenommen wird. Sehr häufig kommt ein anderer Fehler vor, den wir hier bloss andeuten: eine falsche Zifferngruppirung; man vermengt ungleichartige Dinge, absichtlich oder unabsichtlich, und gelangt dann zu scheinbaren Resultaten, die der praktische Beobachter ungereimt findet. Es dürfte geeignet sein, Thatsachen, wie die eben angege- benen, schärfer, als es bisher allenthalben geschah, ins Auge zu fassen, ebensowohl um zu bewirken, dass die, beinahe für alle Theile des praktischen Lebens, wie für viele Zweige der Wissenschaft so unge- mein wichtige Statistik besser begründet und durchgeführt werde, — als auch um nicht zu täuschen über den Grad der Verlässigkeit der einzelnen Angaben, welche man heute zu bieten vermag. Es wäre ein entschiedener Fehlschluss, wenn man aus den vor- stehenden Daten sofort die absolute Unhaltbarkeit aller statistischen Berechnungen folgern wollte. Was wir oben anführten, sind einzelne Widersprüche, herausgesucht aus hunderten von mehr oder minder übereinstimmenden Angaben, und es sind natürlich die grellsten Bei- spiele, die wir überhaupt entdecken konnten. Damit kann nicht allem *) Wo, wie in den Vereinigten Staaten Nordamerikas, der Zoll bloss nach dem Werth der Waaren berechnet wird, ist der Grund zu falschen Angaben nahe gelegt; der amerikanische Senator Biegles hob kürzlich in einem Berichte hervor, dass in den officiellen Tabellen über den Handel Frankreichs im vorigen Jahre die Ausfuhr von dort nach der Union um zwanzig Millionen Dollars (also um mehr als hundert Millionen Franken!) höher angegeben sei, als dieselbe Quantität Waaren in den offieiellen Einfuhrtabellen der Vereinigten Staaten. Und doch muss in den letzten jede Angabe auf dem Zollamte sogar beschwo- ren werden. — Von solchen Dingen sehen wir ganz ab. — 18 — Vorhandenen der Stempel der Unrichtigkeit aufgedrückt sein. Das Meiste ist vielmehr annähernd (und nur davon sprechen wir) entschie- den richtig. Selbst in den meisten Fällen entgegengesetzter Art wer- den sich die Ungenauigkeiten am einen Punkte durch die am andern in der Hauptsache wieder ausgleichen. Das Zuviel am einen Orte wird dem Zuwenig am andern ziemlich entsprechen. So wird man, — und so wird namentlich die kritische Statistik (nie darf die Statistik aufhören kritisch zu sein) — zu Resultaten gelangen, welche, trotz sehr bedeutender Lücken und Mängel, dennoch in allen Haupt- beziehungen, im ‘Grossen und Ganzen, unbedingt verlässig sind. ‚Zum Schlusse dieser allgemeinen Betrachtungen noch eine Bemer- kung. Die eidgenössische Zollordnung, einzig und allein abzielend auf den unmittelbaren praktischen Gebrauch, liefert dem Statistiker nicht, wie die meisten andern Zollregister, eine Taxation des Geld- werthes jedes einzelnen ein-, aus- oder durchgeführten Artikels, und natürlich ebensowenig eine amtliche Schätzung des Werthbetrags des Gesammtverkehrs. Es geschieht die Verzollung vielmehr classenweise, mach drei ganz verschiedenen Prineipien; theils nach der Stückzahl (besonders bei Thieren), theils nach dem Geldwerthe (besonders Holz), theils nach dem Gewichte der Waaren, im letzten Falle wieder mit der Abweichung, dass Einiges nach Zugthierlasten (jede angeschlagen zu.15 Cntr.), das Uebrige nach Centner und Pfund notirt wird, Man hat diese Einrichtung schon öffentlich getadelt, und es ergibt sich au- genscheinlich, dass sie für den Statistiker nichts weniger als bequem ist. Indess darf nicht übersehen werden, dass eben keineswegs die Bequemlichkeit des Statistikers, sondern eine möglichst zweckmässige Einrichtung für das Institut an sich, und so weit nur thunlich für Erleichterung des Verkehrs des Gesammtpublikums, maassgebend sein muss. ‘So erwünscht es uns daher in manchen einzelnen Fällen sein würde, wenn die eidgenössischen Listen nach dem auf dem „statisti- schen Congresse“ zu Brüssel im J..1853 aufgestellten (der in Frank- reich und Belgien angenommenen Einrichtung nachgebildeten) Schema *) bearbeitet und berechnet wären, so tragen wir doch einiges Bedenken, *) Siehe: Compte rendu des trayaux du congr&s general de Statistique, r&uni & Bruxelles les 19 — 23 septembre 1853. — Zu vergl.: Compte rendu de la deuxitme session du congres international de Statistique, r&uni A Paris les 10—15 sept. 1855. Bei der ersten Versammlung ward ein eigenes Schema für Führung der Zolllisten durchberathen und auf dem zweiten Congresse wurde dasselbe in allen Einzelnheiten wiederholt empfohlen. — 164 — der Eidgenossenschaft die Annahme dieser Methode unbedingt zu em- pfehlen, weil dieselbe nicht ohne bedeutende Entwicklung büreaukra- tischer Einrichtungen und keineswegs kostenlos durchzuführen wäre, und dennoch nur unsichere Resultate liefern würde. Kann einmal durch den Zutritt der Eidgenossenschaft zu jenem Systeme eine Gleichheit der Behandlung der Sache in ganz Mitteleuropa herbeigeführt werden, wolan, dann möge dieser Anschluss nicht fehlen. So lange aber selbst der deutsche Zollverein sich dazu nicht entschliesst, liegt für die Schweiz wol kaum genügender Grund zu einer Abänderung ihrer jetzi- gen Einrichtung vor. (Ebenso müssen wir es als eine zweckmässige Maassregel anerkennen, dass vor etwas mehr als einem Jahre zu Ham- burg die Ausfuhrdeelarationen abgeschafft wurden, obwol die früher damit erlangten Uebersichten unzweifelhaft interessant erschienen.) Nicht die Wünsche des Statistikers, sondern die Anforderungen des prak- tischen Verkehrslebens sollen in solchen Fällen bestimmen. Diess vorausgesendet, wenden wir uns zu den wichtigsten Ein- zelnzweigen des schweizerischen Handels. Wir bemerken dabei, dass dass Hauptmaterial für unsere Arbeit sich in den alljährlich amtlich veröffentlichten „Uebersichtstabellen der in der Schweiz. Eidgenossen- schaft zur Ein-, Aus- und Durchfuhr verzollten Waaren“ findet, theil- weise auch in dem zu Ende des vorigen Jahres veröffentlichten höchst werthvollen „V. Theil der Beiträge zur Statistik der Schweizerischen Bidgenossenschaft“, enthaltend: „Statistische Uebersichten über den Han- del der Schweiz mit dem Auslande, vor und nach der Zentralisation des eidgen. Zollwesens, vom eidgen. Departement des Innern.* Zu bedauern ist, dass diese von Franseini begonnene und nach seinem Tod von anderer Hand fortgeführte Arbeit (zunächst zufolge der durch jenes Ableben eingetretenen Störung) bei den Einzelnberechnungen nur ältere Ziffern zu Grund legte, meistens die Durchschnittsergebnisse der uns doch schon ziemlich entfernten Jahre 1853—55, theilweise 1856*) ; während nunmehr nicht nur die Zolllisten vom Jahr 1857, sondern auch bereits die von 1858 veröffentlicht sind. Welchen Werth aber in der Statistik gerade die neuesten Ziffern besitzen, bedarf keiner be- sondern Ausführung **). Unbeschadet einiger abweichenden Ansichten, *) Bloss ganz ausnahmsweise sind einige Notizen von 1857 eingeschaltet. #*#) Sehr zu bedauern ist hier, bei einem statistischen Werke, die Unzahl der Druckfehler. Eine Menge derselben findet sich zwar auf zwei Seiten des Buches verzeichnet, doch sieht man sich auch nach sorgsam vorgenommener Cor- rectur derselben gar oft noch durch weitere gestört. — 15 — welche wir am’ geeigneten Ort zu begründen haben, suchen wir im Allgemeinen unsere Berechnungen auf gleichen Grundlagen, wie die der statist. Beiträge, durchzuführen. II. Die wichtigsten Handelsproducte. (a. Landwirthschaftliche und Naturerzeugnisse.) In einem Gebirgsland ist Viehzucht gewöhnlich eine Hauptsache. Wer überdiess die weit ausgedehnten, herrlichen Weiden der Schweiz, und wer die prächtigen, kolossalen Rindviehracen des Landes gesehen, wird nicht daran zweifeln, dass das hier gezüchtete Vieh einen Haupt- ausfuhrartikel der Schweiz bilde. Und doch ist diese, sehr allgemein verbreitete Ansicht vollkommen irrig. Die Zolllisten vom Jahr 1858 ergeben in dieser Beziehung fol- gende Resultate: Einfuhr. Ausfuhr, i Stück. Stück. Sogenanntes „Kleinvieh“ - k 5 > 131,862 33,682 „Grossvieh“ nemlich: Schweine über 80 Pfund . - f ; 13,598 1,501 Rindvieh (grösseres, ausschl. Kälber) . 64,282 47,143 Esel . . . . . . 149 106 Füllen . 2 . s . 1,085 570 Pferde und Maulthiere > - i - 3,017 , 1,434 Gesammtsumme 213,933 84,436 Demnach weit mehr denn noch einmal so viel Einfuhr als Ausfuhr! Es war diess zwar kein ganz normales, allein doch auch nicht etwa ein ganz exceptionelles Ergebniss. Im Vorjahre (1857) stellten sich die Ziffern, im Wesentlichen nicht gerade gar sehr abweichend von den vorstehenden, folgendermassen: Einfuhr. Ausfuhr. Stück. Stück. Kleinvieh . . B . > 116,074 35,798 Mastschweine . . . ? r 10,334 1,079 Grosses Rindvieh . - . . 61,958 47,194 Esel B % e . . s 146 99 Fülen . . as). Sets 1,065 513 Pferde und Maulthiere S } R 3,869 1,639 Zusammen 193,446 86,322 In beiden Berechnungen haben wir die Durchfuhr hinweg ge- lassen. Dieselbe betrug 1857 43,698 und 1858 48,830 Stück, mei- stens Schafe. Wissenschaftliche Monatsschrift. IV. 11 — 16 — In den frühern Jahren war das Verhältniss des Viehhandels mit dem Auslande: Einfuhr, Ausfuhr, 1855 - . 150,557 88,045 1856 . .. 167474 108,936 In den „statistischen Beiträgen“ ist nach den Ein- und Ausfuhr- listen der Jahre 1853-55 eine ungefähre Berechnung des Geldwer- thes des auswärtigen Viehhandels aufgestellt, dabei jedoch die Durch- fuhr mit eingerechnet. Darnach ergäbe sich eine Einfuhr von 15'012,448, gegenüber einer Ausfuhr von 10'890,620 Fr. jährlich. Die Ziffern würden verhältnissmässig noch viel mehr von einander abstehen, ohne die, natürlich auf beide Positionen mit gleichem Gewicht fallende Durchfuhr, welche hier nichts entscheidet. Nimmt man, im Einklange mit dem Verf. der „statistischen Bei- träge“, den Werth des Kleinviehs per Stück zu 8, des Grossviehs zu 180, der (besonders taxirten) Pferde und Maulthiere zu 300 Fr. an, so erhält man für das Jahr 1858 folgende Hauptergebnisse: Einfuhr. Ausfuhr. Werth Frs. Werth Frs. iemvich RER na 2. ur TER ER 269,456 Grossvieh . . . . % . . 14229,720 8'877,600 Pferde und Maulthiere . . : = 905,100 430,200 16'189,716 9:577,256 Man würde indess gewaltig irren, wenn man den Zustand der Viehzucht in der Schweiz im Ganzen bloss nach diesen Ziffern beur- . theilen, und daraus etwa folgern wollte, das Land müsse dref Achtel oder wol gar über die Hälfte seines gesammten Viehbedarfs vom Aus- lande beziehen. Gleich hier schon macht es sich geltend, wie gewal- tig überwiegend der innere Verkehr gegenüber dem auswärtigen Handel ist. Der letzte bildet im vorliegenden Falle (wie weitaus in den meisten Beziehungen) keineswegs die Hauptsache, sondern dient nur zur Ergänzung, zur Ausgleichung des ungemein grösseren innern Verkehrs. Wir betonen diese Bemerkung um so mehr, als man deren Bedeutung vielfach nicht im vollen Umfange erkennt. Bemerkenswerth ist, dass auch Butter weit mehr ein- als aus- geführt wird. Der Verkehr betrug (unter Hinweglassung der hier nur störenden Ziffer der Durchfuhr): Einfuhr. Ausfuhr. 1857: Ctr. 24,755 Cir. 1,833 1858 „ 23,558 „ 1,841 Rechnen wir den Werth des Centners zu 90 Frs., so orh sich: — 197 — j Einfuhr, Ausfuhr. 1857 Fre. 2/227,950, _Frs. 164,970 1858. ,„. 2/120,220 „ 165,690 Damit ist zugleich zur Evidenz dargethan, wie es sich mit den im Auslande so ungemein häufig vorkommenden Verkaufsanzeigen von „Schweizer Butter“ verhält. Doch trotz des bezeichneten starken Passivhandels der Schweiz an Vieh und Butter erzielt dieselbe aus einem einzigen Milchproducte beiläufig so viel, als sie in jenen beiden Beziehungen dem Auslande alljährlich an Geld entrichtet. Der Käse ist dieses Product, und der internationale Handel mit demselben stellt sich so: Ausfuhr. Einfuhr. 1857 Ctr. 143,131 _ Ctr. 3,743 1858 „ 106,118 „ 4,736 Geldwerth, den Centner zu 67 Frs. geschätzt: Ausfuhr. Einfuhr. 1857 Frs. 9/589,777 - Fıs. 250,781 1858 ,„ 7.109,806 „317,312 Wir bemerken hier (was wir später auch bei andern Artikeln wahrnehmen werden) eine Absatzverminderung im letzten Jahre, zu- nächst wol Folge theils der grossen Handelskrisis, theils der Ueber- spannung der Ausfuhr im Vorjahre. — In den 3 Jahren 1853—55 date sich durchschnittlich beim Käse eine Mehrausfuhr von 117,537 Ctr., im Werthe von 7'874,979 Frs. ergeben, — bei der Butter hin- gegen eine Mehreinfuhr von 19,955 Ctr,, zu 1'795,950 Frs. ge- schätzt. Gleichzeitig verursachte der Viehhandel einen auf 4'121,828 Frs. angeschlagenen Geldausfall. Beide (scheinbare) Einbussen an Vieh und Butter wurden indess um beinahe zwei Millionen Frs. durch den Käsehandel allein überwogen. Nur in dem etwas abnormen Jahr 1858 ward. der dessfallsige Bedarf hiedurch nicht gerade vollständig gedeckt, Wie bedeutend aber auch die Käseausfuhr erscheinen muss, so bleibt doch die Menge der im Lande selbst consumirten Milchproducte bei weitem grösser. Der Verf. der „statist. Beiträge“ schätzt den Geldwerth dieser inländischen Consumtion auf ungefähr 901/, Mill, Frs., wobei er den hier verbrauchten Käse (als meist von geringerer Qualität) nur zu 40 Frs. per Ctr. in Rechnung bringt. € — Ehe wir uns zu den Erzeugnissen der Gewerbsindustrie wenden, möge hier noch eine kurze Notiz über einen, den sog. Naturproduc- ten angehörenden Ausfuhrartikel eingeschaltet sein, dessen starken Absatz man nur bedauern kann, — nemlich das Holz. Der Ver- — 168 — brauch desselben ist vielleicht um die Hälfte grösser, als der wirk- liche Zuwachs. Das, nach dem Werth verzollte, exportirte Holz, sammt Holzkohlen, ward im Jahre 1857 zu 5'670,220, 1858 zu 5'009,217 Frs. notirt. Dagegen finden wir in den beiden Jahren bei der Einfuhr bloss vorgemerkt: 11,262 und 10,007 Ctr. Holzkohlen. Nach den Zolllisten der Nachbarstaaten muss die Holzausfuhr aus der Schweiz in Wirklichkeit viel grösser sein, als man dieselbe in die diesseitigen Register eingetragen findet. Der Verf. der „statist. Bei- träge“ berechnet diese Exportation nach den Mauth-Aufzeichnungen in den Nachbarstaaten und für die Jahre 1853—55 durchschnittlich auf 10'159,398 Fr. (wovon 8'587,559 auf Frankreich kommen), gegen- über einer Einfuhr im Werthe von bloss 2'155,860 Fr. — Schonung der Wälder kann nicht oft und nicht dringend genug empfohlen wer- den, ganz besonders der unberechenbaren Nachtheile wegen, welche die Abholzung der Berge nach sich zieht. Die zu lösende Aufgabe wird dadurch einigermassen erleichtert, dass die von Norden und Sü- den nach der Schweiz. führenden Eisenbahnen den Bezug von Stein- kohlen wenigstens vergleichsweise zu einem bedeutend billigern Preise als bisher, ermöglichen. (b Seidehandel.) Von allen Zweigen der Industrie gebührt der Seideverarbeitung ünstreitig die erste Stelle. Als Einfuhr (stets abgesehen von der blossen Durchfuhr) finden sich vorgemerkt: . 1857. 1858,.. Ctr. Ctr. Seide, rohe u. Floretseide, gekämmt, gesponnen oder gedreht 18,607 21,359 n und Floretseide, gebleicht oder gefärbt . - - 29 64 Seidencocons und Seidenabfälle ; & 11,694 10,183 Seidene und floretseidene Stoffe und Fabrikate, halbaeläcnh 2,216 2,279 Hiezu; im Inland producirte Rohseide, geschätzt . F 600 600 Zusammen 33,146 34,485 Dagegen führte die Schweiz aus: Seide . 2 a EL RE 3,766 3,601 Seidenabfälle aha Floretseide b : . R R . 6,022 4,368 Seidene und halbseidene Waaren . 2 2 a - 29,549 28,019 Zusammen 39,337 "35,988 Die Eidgenossenschaft soll also, nach diesen Aufzeichnungen, weit mehr seidene Fabrikate ausgeführt haben, als wozu sie das abso- lut nöthige Material bezog oder selbst erzeugte! Berücksichtigt man, - — 169 — dass die Verarbeitung der rohen Seide in Gewebe einen Abgang von 4 Proc. bedingt, in jedem der obigen Jahre also einen solchen von 1120—1180 Ctr.; rechnet man dazu den Seidenverbrauch in der Schweiz selbst, den die statist. Beiträge (gewiss nicht zu hoch) auf 4000 Ctr. veranschlagen, so liegt ein Resultat vor, nach welchem im Jahre 1858 über 6600, im Jahre 1857 aber sogar über 11,300 Cent- ner Seidenwaaren mehr ausgeführt und consumirt wurden, als wozu der Rohstoff vorhanden gewesen wäre. Dass diess geradezu unmög- lieh ist, bedarf keines weitern Beweises. Wir haben damit ein ferneres Beispiel von der Mangelhaftigkeit vieler statistischen Notizen, sowie wir dieselben heute noch besitzen. Auch darf man nicht unterstellen, ein solcher Fehler komme nur allein in den schweizerischen Zolllisten vor. Der Verf. der „statist, Beiträge“ gründet seine Berechnungen in diesem Punkte (für die 3 Jahre 1853—55) ausnahmsweise gar nicht auf die eidgenössischen Mauthregister, sondern ausschliesslich auf jene der vier die Schweiz umgränzenden Staaten. Er gelangt zu dem Er- gebnisse: Die Ausfuhr der im Lande selbst erzeugten Seidewaaren be- trug 24,159 Ctr. Zur Herstellung derselben wären 29,285 Ctr. Roh- seide erforderlich gewesen. Es wurden indess, nach den Zollregistern der angrenzenden Staaten, und mit Dazurechnung der eigenen Pro- duction, nur 20,505 eingeführt und erzeugt. Bei dieser Detailrech- nung findet der Verfasser also ebenfalls einen Ausfall (ein Manco) von 8,780 Ctr. jährlich, zu dessen Erklärung er die Bemerkung beifügt: „Dieses auffallende Verhältniss kann kaum auf andere Weise erklärt werden, als dass in den Grenzzollregistern unserer Nachbarstaa- ten‘auch theilweise mit Wolle, Baumwolle oder Lein vermischte Ge- webe als reine Seidenwaaren verzeichnet wurden. Zudem sind auch die Farben, besonders die dunkeln, auf das Mehrgewicht von einigem Einfluss.“ Hiebei ist zu bemerken: Dass der letzie Umstand doch nicht so bedeutend erscheint; ferner: dass das Missverhältniss nicht bloss in den Registern der Nachbarstaaten, sondern (wie oben gezeigt) auch in den diesseitigen selbst vorkommt; endlich dass, welches auch der Grund sein möge, jedenfalls die Thatsache einer bedeutenden Un- genauigkeit unzweifelhaft vorliegt. Bloss durch das (hier nicht er- wähnte) Gewicht der Emballage mag sich ein Haupttheil der Differenz wirklich erklären lassen. Da es im Uebrigen gewiss nicht zu bezwei- feln ist, dass in den Nachbarstaaten kein grösseres Quantum verzollt wurde, als daselbst wirklich eingieng; da vielmehr bei den dortigen hohen Zollsätzen auf Seidefabrikate, sich selbst noch ein ansehnlicher — 10 — Schleichhandel vermuthen lässt, so wird man wesentlich die Einführung einer bedeutend grösseren Menge Rohmaterials in die Schweiz zu un- terstelleg' haben. Welche ungemein hohe finanzielle Wichtigkeit die Seideindustrie für die Schweiz besitzt, mag eine kurze Berechnung auf Grundlage der obigen, aller Wahrscheinlichkeit nach bei der Einfuhr unvollstän- digen Ziffern (wenigstens einigermassen und mindestens annähernd) andeuten. Wir schätzen dabei den Geldwerth der Rohseide und der Abfälle (nach Dieteriei) zu 600—800 Thlr., hier 2600 Fr., den der Gewebe aber zu 2000 Thlr. = 7500 Fr. Einfuhr. 1857. 1858. Werth Frs. Werth Frs. Rohseide und Abfälle (30,330 u. 32,206 Otr.) . 78'858,000 83'735,600 Fabrikate (2216 und 2279 Ctr.) 5 F 3 16°620,000 17'092,500 Zusammen Einfuhr 95478,000 .100'827,100 Ausfuhr. ‚ Rohseide und Abfälle (9,788 und 7,969 Cir.) . 25'448,800 .20'719,400 Fabrikate (29,549 und 28,019 Ctr.) . ; . 221'617,500 210'142,500 Zusammen Ausfuhr "247'066,300 230”861,900 Diess ie ech den Betrag der eigenen Rohseide-Produetion und ebenso ungerechnet jenen der Consumtion an Seidefabrikaten im eigenen Lande, welcher letzte auf (mindestens) 30 Millionen BR geschätzt wird. Zur Vergleichung sei hier noch bemerkt, dass der wirkliche Werth (im Gegensatze zum s. g. „officiellen Werthe*) der in Frankreich und England verarbeiteten rohen Seide folgendermassen berechnet wird *): in Frankreich in Grossbritanien 1847—49 . „02° 140,4 Mill. Frs, 21,42 Mill. Fre. RD DE, BAR 0100 1853-55 ;,.. 1% SABGAR. 43,83 nn TBB rs ve. Abi JE“ 1 DE PREIDON: (ce. -Baumwolle.) Nach den verschiedenen Graden der Verarbeitung dieses für die Industrie so wichtigen Productes ergaben sich in den drei jüngstver- *) Offenbar ganz unrichtig ist die, im neuesten Hefte des (im Allgemeinen mit vieler Sachkenntniss redigirten) „Journal des Economistes“ aufgeführte Schä- tzung des Werthes der verarbeiteten Rohseide, angeschlagen in Frankreich auf 225 Mill. Fr., in England auf 200, Oesterreich (besonders Lombardei) 50, Zoll- verein und Schweiz je 40, Russland 35, Piemont 10 Mill. Fr. ete, — M1 — flossenen ‚Jahren 'nachbemerkte Quantitäten, denen wir sogleich den Durchschnittsbetrag der 3 nächtsvorangegangenen Jahre 1853 — 55, und. überdiess eine Schätzung des Geldwerthes zur Seite setzen, wobei wir ‘(im Wesentlichen nach dem Vorgange Dieterici’s und der statist. Beiträge) den Preis des rohen Centners Baumwolle zu 56, der Garne zu 200, und der Gewebe zu 630 Frs, annehmen. Rohe Baumwolle und deren Abfälle, 1853/45.) 1856. 1857. 1858, Mr Chr. Or. Ch. Okr. Einfhr 2 22202 02 251,429 259,822 237,127 206,289 Ausfuhr . Joilgen.s 49,615 16,120 13,693. 18,044 Bleiben zur Nöracheituig ei w...5 201,814 243,702 223,434 188,245 Ungefährer Geldwerth in Frs. 1853/45. 1856. 1857. 1858. Einfuhr . . ...14080,024 14'550,032 12'279,112 11'552,184 Ausfuhr . . 2:778,440 902,720 766,808 1'010,464 Bleiben . . 11'301,584 13'647,312 11'512,304 10'541,720 Bensyellengarn u. Zwirn, einschliessl. einer geringen Quantität Watte**). 18925. 1856, 1857. 1858. mw) Ctr. Cir. Ctr. Ctr. a Finish .elfoun 25,189 . 16,386 ; 18,504 19,437 Ab die Einfuhr . . . . P 10,914 3,602 4,957 6,420 Bleiben . . . . a 14,27: 2755 12 12,784 13,547 13,017 er Ungefährer Geldwerth in Frs. . 18%),,. 1856. 1857. 1858. Ausfuhr . . F 5'037,800 3:277,000 3'700,800 8’887,400 Ab Einfuhr . . 2'182.800 720,400 991,400 _. 1284,000 Bleiben . . ....,21855,000 2'556,600 2'709,400 2'603,400 Baumwolletücher. 189%. 1856... 1857. 1858. Auflhr » 2 0.20 er 00e00000,..150,547 165,037 168,475 135,302 Ab Einfuhr - . ° R N 40,276 49,238 . 64,260 53,253 Bleiben . . . ’ 4 110,271. 115,799 104,195 82,049 ss Ungefährer Geldwerth in Frs. ar 1852/5. 1856. 1857. 1858. Ausfuhr . 3 94'844,610 103'973,310 106'139,250 85'240,260 Ab Einfuhr s 25'373,880 31'019,940 40'483,800 33'449,390 Bleiben . . 69'470,730 72'953,370 65'655,450 51'790,870 os) E '*) Im Durchschnitt der Jahre 18°%/,, ist wahrscheinlich die unmittelbare Durchfuhr einbegriffen, welche wir bei unserer eigenen Berechnung bezüglich der Jahre 1856—58 (als in Wirklichkeit nicht hieher gehörend) hinweglassen. Bei dem in jeder Position verbleibenden Resultate verschwindet indess die daher rührende Differenz ohnehin vollständig. 0. %%) In den Jahren 1857 und 58 betrug die eingeführte Watte 139 und 164 Centner. —- 12 — Nach obigen Ziffern hätte nicht bloss das durch die Folgen der Handelskrise schwer bedrückte Jahr 1858 einen ansehnlichen Rück- schlag gebracht, sondern es wäre sogar schon 1857 hinter dem drei- jährigen Durchschnitt von 1853—55, und noch mehr hinter 1856 zurückgeblieben (1858 gegen 1856 um 28 Proc.!). Wir wagen nicht, darüber abzusprechen, ob die gegenseitigen Ziffern die gleiche Rich: tigkeit besitzen. “Auf Grundlage obiger Berechnungen ergeben sich übrigens fol- gende Hauptresultate: Von Baumwollefabrikaten — nemlich Tücher und Zwirn zu- sammengerechnet — wurden (nach Abzug der eigenen Einfuhr) netto in das Ausland exportirt: 185355 durchschnittlich 124,546 Ctr. = 72'325,730 Fres. werth. 2 ee 8 75'509,970 „ y 1857 . . e e 117,742 „ 68'364,850 „ = 1858 . . . ö 95,066 „ = 54'394,270 „ = Die inländische Baumwolleconsumtion lässt sich etwa folgendermassen schätzen, — wenn wir nemlich die obigen Ziffern (einerseits der Einfuhr roher Baumwolle, anderseits der Ausfuhr von Baumwollefabrikaten) dem Ueberschlag zu Grunde legen. Der Verbrauch an blosser Watte wird auf 9 Loth per Kopf der Bevölkerung jährlich geschätzt, somit im Ganzen auf 7000 Centner im Werthe von 658,000 Fr. (nemlich den Centner zu 94 Fr.. gerech- net). Sonach blieben zur Verarbeitung im Lande: | 1853/,,. 1856. 1857. 1858. Ctr. Ctr. Ctr. Ctr. 194,814 236,702 216,434 181,245 Ungefährer Geldwerth in Frs. 1852755. 1856. 1857. 1858. 10'643,584 12'989,312 10'854,304 9'883,720 Auf Garn redueirt mit einem Abgang von 10 Proc., dagegen mit weit höherem Geldwerthe erhalten wir 185%/5. 1856, 1857. ° 1858.. Or... Che: Oi, „Ch RER We NEFEEE 175,333 213,032 194,890 163,120 Hievon ausgeführt 5 h . ä 14,275 12,784 13,547 13,017 Bleiben zur weitern Verarbeitung n 161,058 200,248 181,343 150,103 Ungefährer Geldwerth in Frs. 1852/,. 1856. 1857. 1858. Gamwerth . 2. 35'066,600 42’606,400 38‘978,000 32'624,000 Ausgefüht . - : 2'855,000 2'556,600 2'709,400 2‘603,400 Bleiben . 2... 32”211,600 40’049,800 36'268,600 : 80‘010,600 - 13 — 18% /%,. 1856. 1857. . 1858. 15 j Ctr. Ctr. Ctr. Ctr. Auf Gewebe redueirt (7%/, weiterer Abzug) 149,784 186,231 168,649 139,596 Hievon wurden ausgeführt . . . 110,271 115,799 104,195 82,049 Sonach im Lande consumirt . ’ . 39,513 70,432 64,454 57,547 Ungefährer Geldwerth in Frs. 1853/,,. 1856. 1857. 1858, der Gewebe A . 94'363,920 116'325,530 106'248,870 87'945,480 Hievon ausgeführt . 69'470,730° 72-953,370 65655,450 51'790,870 Consumirt für . . 24898,190 43'372,160 40:593,420 36°154,610 Diess ergibt auf jeden Einwohner schon in den Jahren 1853— 55 1 Pfd. 18 Loth, in den beiden letzten Jahren durchschnittlich über die Hälfte mehr. Auf Baumwollwaaren redueirt entspräche diess einer Consumtion 1893/,,; von 14, 1856/,, von etwa 20—24 Ellen, im Geld- werthe (einschliesslich Watte) von ungefähr 10, resp. 16 Frkn. Ge haue Berechnungen nach der Kopfzahl sind vorerst nicht herzustellen, da wir die Veränderungen in der Bevölkerungsmenge seit 1850 nicht kennen, und eine neue Aufnahme erst im J. 1860 erfolgen wird. Im Ganzen glauben wir, dass die inländische Consumtion keinenfalls ge- ringer gewesen sein mag, als obige Ziffern andeuten. Unzweifelhaft fand seit 1853/,; eine sehr starke Vermehrung des Verbrauchs im In- lande statt. Diese Erscheinung deutet ein erhöhtes materielles Wohl- befinden der Bevölkerung an. Was den @eldwerth des internationalen Baumwollenhandels der Schweiz betrifft, so stellt sich das Verhältniss, obigen Einzelnberech- hungen zufolge, so: 185% /,5. 1856. 1857. 1858. Ausfuhr von Gan . . 2'855,000 2'556,600 2'709,400 2603,400 » » Tüchern » . 69'470,730 72'953,370 65°655,450 51'790,870 Zusammen s . » . 72'325,730 75°509,970 68'364,850 54'394,270 Ab: Preis d. rohen Baumwolle 11'301,584 13'647,312 11‘512,304 10'541,720 Jährl. Geldertrag v. Ausland 61'024,146 61'862,658 56'852,546 43'852,550 Wir müssen jedoch hiebei aufmerksam machen, dass jede der- arfige Berechnung für das einzelne Jahr schon aus dem Grunde nicht absolut maassgebend sein kann, weil die eingeführte rohe Baumwolle wol nur in den wenigsten Fällen gleich im nemlichen Jahre wieder als Fabrikat über die Grenze gesendet werden kann. Immerhin ersieht man aus der Gesammtsumme vorstehender Da- ten die hohe ‘Wichtigkeit der Baumwolleindustrie für die Schweiz. Dabei ergibt sich aber auch zugleich, um wie viel dieselbe durch die — 1114 — Seidefabrikation übertroffen. wird, für welche sich in den oft bezeich- neten Jahren ein s. g. Activhandel von 126, dann von 151!/g, end- lich von 130 Mill. Frs. entzifferte. (d. Uhrenhandel.) Während Seide- und Baumwollemanufaeturen besonders in der deutschen Schweiz blühen, hat sich die Uhrenindustrie vorzugsweise in zwei französischen Kantonen entwickelt, in Neuenburg und Genf. Die rauhen Gegenden des Neuenburgischen Jura, namentlich. die. da- durch bedeutend gewordenen Orte La Chauxdefonds und Locle, dann St. Immer ‚und die Thäler von St. Croix und Lac de Joux, verdanken dieser Fabrikation beinahe ausschliesslich ihren Wohlstand, und selbst für das, sehr vielfacher Hülfsquellen sich erfreuende Genf, besitzt dieser Industriezweig eine so hohe Bedeutung, dass es ohne Zweifel nur einem Uebersehen beizumessen ist, wenn sich diese Stadt in den „statistischen Beiträgen“ nicht neben und selbst vor den eben bezeich- neten andern Orten und Gegenden genannt findet. Im Allgemeinen hat der angegebene Geschäftszweig fort und fort an Ausdehnung ge- wonnen, doch zumeist nur an, den Punkten, an denen er seit längerer Zeit. blüht; eine Verpflanzung nach andern Gemeinden oder gar nach entfernten Ländern wollte nur ausnahmsweise gelingen. . So scheint die Uhrenfabrikation nach Ueberwindung grosser. Schwierigkeiten in Biel feste. Wurzeln geschlagen zu haben, während die zu Lausanne (Waadt) gebildete „Gesellschaft für Einführung der Uhrenindustrie“ (laut, einer Nachricht vom Februar 1859) zur Liquidation schreiten muss, (Auch die meisten deutschen und französischen Verpflanzungsversuche schei- terten vollständig.) Dass die Uhrenfabrikation eine sehr hohe Bedeutung für das ganze Land besitzt, unterliegt nach dem Gesagten und noch mehr nach jeder eigenen Wahrnehmung in den unmittelbar betheiligten Gegen- den keinem Zweifel. Der Baumwolle- und ganz besonders der Sei- denindustrie kommt dieser Gewerbszweig allerdings gewiss nicht gleich. Eine Berechnung des Geldwerthes der Ausfuhr auf Grundlage der Zollregister ist fast unmöglich, da die zollamtliche Behandlung centnerweise stattfindet. Der Verfasser der „statistischen Beiträge* hat eine Schätzung in der Weise versucht, dass er bei der Ausfuhr je,6 Stück goldene oder silberne Uhren aufs Pfund, und: dabei den Werth jeder einzelnen Uhr durchschnittlich zu 80 Fr. annahm (das Pfund also zu 480 Fr.); — bei der Einfuhr dagegen nur ein Vier- — 15 — theil dieses Betrags in Ansatz: brachte, weil der Import bloss Uhren- theile umfasse, Diese Annahme däucht uns in ihrem ersten Theile um so mehr zu hoch, als auf das Gewicht der Verpackung gar keine Rücksicht genommen zu sein scheint. ‚Nur behufs der Vergleichung berechnen wir daher die neuesten Data nach dem angedeuteten Maasstabe. Es betrug 1857. 1858. 1857. 1858. Ctr. Ctr. - Werth in Franken. Dun Kaklıır 2.00.00 0 BE TOO 101'824,000 91’440,000 , Enfhr 20.001484 877 17'808,000 9'524,000 Mehrausfuhr . . 5 637 1028 84°016,000 81'916,000 (e. Strohgeflechte.) Die Strohflechterei hat sich über eine ganze Reihe von Kantonen ausgebreitet; am meisten blüht sie im Aargau.. Um in der Grundlage der Schätzung des Geldwerthes mit dem Verfasser der „statistischen Beiträge“ möglichst übereiuzustimmen, nehmen wir nachstehend den Preis der gemeinen Strohgeflechte zu 37, den der feinen zu 372, und bei der Ausfuhr, wobei Geflechte und die viel theurern Hüte (Werth gegen 1500 Frs.) nicht ausgeschieden sind, zu 1000 Fr. den Centner an, (letzteres scheint. uns schon äusserst hoch gerechnet, — eigentlich schon zu hoch als Durchschnitt, während der gedachte Verfasser so- gar 1116 Fr. = 300 Thlr. preuss. ansetzt.) 185%/5._ 1856. 1857. 1858. Ctr. Ctr. Ctr. Ctr. aa ni ah A - . DAR Einfuhr: feine Strohgeflechte DR 288 287 492 422 ER gemeine .; 2 = 5 232 394 501 637 Zusammen Einfuhr nn Ta Tage 0. Mehransiahr . . ., & "o..,un 2 8,923 ° A,6ba 8,861. 2,789 P Ungefährer Werth in Frs. u 185%, 1856. 1857. 1858. Auflır . 2. 4443,000 5'335,000 4'344,000 8'848,000 Einfuhr, fin . . 107,130 106,768 183,024 156,984 _» gemeine a 8,584 14,578 18,537 23,569 Gesammteinfuhr . . 115,714 121,346 201,561 180,553 Mehrausfuhr . . 4'327,286 5'213,654 4'142,439 3667,447 Hiezu kommt dann noch der Verbrauch im eigenen Lande. >» %) Wenn unsere Ziffer für den Betrag der Einfuhr im Jahre 1857 von der in den „statistischen Beiträgen“ sehr bedeutend abweicht (dort sind nemlich nur 690 Ctr., im Werthe von 8'280,000 Fr. angegeben) , so rührt die Differenz da- = ii = (£. Haupteinfuhrartikel.) Bei der grossen Mehrzahl der Handelsartikel überwiegt nicht die Ausfuhr, sondern im Gegentheile die Einfuhr. Die Pro- duction der Schweiz bleibt fast durchgehends hinter dem Bedarfe zu- rück. Es sind eigentlich nur sehr wenige Gegenstände, bei denen die Production ein Uebergewicht besitzt; bei diesen ergibt sich aber das Uebergewicht in eminenter Grösse, und es handelt sich um Waaren von ungewöhnlich hohem Werthe, wie wir vorstehend schon sahen. Dem Geldbetrage nach repräsentiren die sieben von uns im Einzelnen besprochenen Artikel (Seide, Baumwolle, Uhren, Stroh- geflechte, Vieh, Käse sammt Butter, und Holz), nach der Berechnung des Verf. der „statist. Beiträge“ — bei der Einfuhr fast 50, bei der Ausfuhr aber beinahe 90 Proc. des internationalen Gesammt- verkehrs der Schweiz — zusammen etwa 71 Proc. des ganzen Han- dels mit dem Auslande. ; Die „statist. Beiträge“ geben von den wichtigsten Einfuhr- artikeln (abgesehen von den bereits näher besprochenen Gegenstän- den), nach Maassgabe des Durchschnitts von 1853—55, eine Zusam- menstellung. Wir lassen dieselbe folgen, da sie eine gute Uebersicht gewährt, finden es aber doch geeignet, eine mehr einlässliche Erör- terung anzureihen, zumal die blosse Kenntniss der Einfuhr einer ge- wissen Waarenquantität wenig bedeutet, wenn ihr nicht die Angabe der betr. Ausfuhr zur Seite steht, welche bei Aufstellung erwähnter Liste gänzlich unberücksichtigt blieb. Haupteinfuhrgegenstände. Chr. Werthschätzung. , Getreide und Hülsenfrüchte . . 2523,921 zu Fr. 18 — 45'430,578 Fr. N N 354,122 „ „ 25 = 8'853,050 „ a ee rn 3 0 1 REST Wein OR u RER at 375,185 „ „ 50 — 18:759,250 „ Deleiyeit‘ . . _ 79,126 4. „ 100 =. '7:972,600 Kaffee und Kaffon Burrogeii 22 188,900 „ „ 60 = 11'334,000 „ 3 ee 201,047 5, „ 57 = 11/459,679 „. Tara 80,023 5 „ 180 = 14'404,140 „ Eisen und Eisenwaaren a . 226,049 „ „ 21= 4747029 „ Wir unterlassen jedes Eingehen in die einzelnen Preisansätze, Hingegen geben wir nun eine Zusammenstellung. des internationalen her, dass jenem Verf. entging, wie ausser der Position „Uhrenbestandtheile “, noch eine weitere in den Zolllisten’ sich findet: „Uhren aller Art, ausser den hölzernen — Montres et pendules.* Die hölzernen Uhren lassen auch wir unberücksichtigt. — 11 — Handelsverkehrs in den genannten Artikeln nach den einzelnen Jahren, woraus sich Ab- und Zunahme erkennen lässt, und unter steter Be- rücksichtigung der Ausfuhr ebensowol als der Einfuhr, zugleich mit _ den neuesten Daten: 1. Mehlstoffe. Getreide u. Hülsenfrüchte. Mehl. Einfuhr. Ctr. Ausfuhr. Ctr. Einfuhr. Ctr. Ausfuhr, Ctr. 1852 2'435,070 60,236 537,350 22,182 1853 2'527,376 23,006 492,334 19,243 1854 2'659,552 41,203 330,848 19,288 1855 2'384,845 42,148 239,185 20,957 1856 2'258,306 53,900 137,444 31,769 1857 2'251,235 » 45,307 218,658 15,621 1858 2’039,968 - 31,231 222,802 8,314 Es ist damit der Bedarf der Schweiz an Brodstoffen bezeichnet. Man muss sich eigentlich wundern, dass die Schwankungen in diesem Bedarfe nicht grösser erscheinen, da unsere Liste die bekannten Miss- jahre mit in sich schliesst. Wol nur selten wird die Einfuhr bedeu- tend unter das im vorigen Jahre netto importirte Quantum herab- gehen. Man würde indess sehr irren, wenn man bloss den Unter- schied von etwa 600,000 Ctr. Getreide und 200,000 Ctr. Mehl, der sich zwischen guten und schlimmen Erndtejahren ergibt, ins Auge fassen wollte. Das Drückendste der Missjahre liegt in der auf das Doppelte, das Dreifache und selbst noch weiter gesteigerten Erhöhung der Preise, — nicht bloss für die 800,000 Ctr. Mehreinfuhr, ja nicht bloss für die Gesammteinfuhr von drei Millionen Ctr., sondern für die Gesammtsumme des Brodstoffbedarfs, also mit Einschluss der ganzen inländischen Production, die, wenn auch nicht ausreichend für die Bevölkerung, dennoch immerhin weit ansehnlicher als alle Einfuhr ist. Und eine solche Erhöhung der ersten Lebensmittelpreise muss um so übler wirken, da sie im Allgemeinen jeden Armen ohne Aus- nahme mit einer gleich hohen Summe trifft, wie den Allerreichsten. Daher die statistisch nachgewiesene Erscheinung, dass im gleichen Verhältniss der Theuerung — die Sterblichkeit bei jedem Volke an- wächst*). Die Menschen sterben freilich selten unmittelbar und so- gleich aus Hunger, aber sie verkümmern zu Tausenden, werden kraft- los und elend, und erliegen vor der Zeit. Man machte sich keinen Begriff davon, in welcher ungeheuern Ausdehnung dieses Verhältniss *) S. meine Abhandlung über „Bevölkerung“ in der neuesten (dritten) Auf- lage des Rotteck-Welcker'schen Staatslexikons, und mein „Handbuch der vergleichenden Statistik.“ — 18 — obwaltete, bis die Statistik die unzweifelhaftesten, überraschendsten Resultate ermittelte. Minder bedeutend, als man erwarten mag, ist die Einfuhr "von Reis und besonders von Kartoffeln (doch darf nicht übersehen werden, dass die letzte Ziffer Zugthierlasten &:15 Ctr. bezeichnet). Reis. Kartoffeln, 1852 72,419 Otr. 5,517 Zugthierlasten. 1853 107,223 „ 4,892 Rn 1854 125,473 „ 6,489 5 1855 80,675 „ 7,658 3 1856 77,559 „ 10,417 ; 1857 77461 „ 7,047 5 1858 79,421 „ 5,458 n Die Ausfuhr von beiden Artikeln ist sehr unbedeutend. Beim Reis schwankte sie zwischen 1593 und 2926 Ctr. — Kartoffeln finden wir nur in Verbindung mit frischem Obst, Feld- und Garten- gewächsen in den Ausfuhrlisten vorgemerkt, alles zusammen variirend zwischen 2728 und 7738 Zugthierlasten, wovon auf Kartoffeln un- zweifelhaft ein sehr kleiner Antheil kam. 2. Geistige Getränke. Wenige Länder erzeugen verhält- nissmässig so vielen Wein wie die Schweiz, und obwohl die grosse Menge von sehr geringer Güte ist, so befinden sich doch auch manche bessere und selbst vorzügliche Sorten darunter. Jedenfalls müsste man staunen über die Einfuhr fremder Weine, wenn man nicht wüsste, dass die Consumtion dieses Getränks überall da am grössten ist, wo die bedeutendste Production desselben stattfindet. u Einfuhr, Ausfuhr. 1852 476,389 Ctr. 6,182 Ctr. 1853 496,474 „ 58,827 1854 359,463 „ 6,349 „ 1855 _ 264,369 „ 8,264 „ 1856 349,261 „ 7,867 „ 1857 439,788 „ 4,642 „ 1858 479,539 „ 4,263 „ Hiezu kommt noch die Einfuhr von „Wein, Bier, Branntwein, Essig ete. in Flaschen oder Krügen,“ zwischen 3193 und 5606 Ctr. Das exportirte Quantum dieser Art Spirituosen ist oben bereits ein- begriffen. — Nach Abzug des Gewichtes der Fässer treffen "auf jede Familie in der Schweiz durchschnittlich gegen 80 Pfund oder, fast 27 Maass ausländische Weine. ai Sehr bedeutend ist die Menge eingeführten Branntw eins, der =- 179 — indess grossentheils zu technischen Zwecken dient, wogegen die Bier- einfuhr zwar noch einen geringern Umfang erreicht hat, als in an- dern Weinländern, dabei aber doch enorm gestiegen ist. Branntweineinfuhr. Biereinfuhr. 1852 0 78,277 Cr. 5,521 Ctr. 1853 1775,44 „ 3,523 „ 1854 772,820 „ 7,078 „ 1855 89,115 „ 10,007 „, 1856 90,207, 11,758 |, 1857 95,333 „ 13,513 , 1858 83,505 „ 16,142 „ fuhr von Branntwein schwankte zwischen 1726 und 2463, die von Bier zwischen 1078 und 2207 Ctr. 3. Sogenannte Colonialwaaren. Die Einfuhr betrug ’ Kaffee u. Surrogate. Zucker u. roher Syrup. 1852 145,744 tr. 177,862 Ctr. 1853. 136,595 „ 182,783 - 1854 122,850 „ 186,247 „ 1855 164,459 „ 234,112. „ 1856 144,774 „ 193,724 „ 1857 132,948 „ 174,501 „ 1858 150,541 „ 228,628 „ Die Ausfuhr schwankte beim Kaffee zwischen 1637 und 2298, beim Zucker zwischen 560 und 1467 Otr. — Der Verbrauch von Kaffeesurrogaten ist in der Schweiz ein ungewöhnlich starker, was bei dem geringen Zoll um so mehr auffällt. Kaffee- und Zuckerverbrauch haben unverkennbar zugenommen, doch nicht so bedeutend wie in andern Ländern. Eine Vergleichung der Consumtion in der Schweiz mit der in fremden Gegenden ist da- durch erschwert, dass hier Kaffeesurrogate und roher Syrup den beiden Hauptartikeln beigerechnet sind. Zudem vertritt, was Kaffee betrifft, bei vielen Volksstämmen, z. B. den Engländern, Nordameri- kanern, auch manchen Norddeutschen, der Thee dessen Stelle. In- dessen liegt doch ein beachtenswerther Stoff zu Vergleichungen vor. Betrachten wir zuerst den Zuekerverbrauch. Während in der Schweiz, nach obiger Zusammenstellung, auf jeden Kopf der Be- völkerung zwischen 3,48 und 4,66 Kilogramm (nahezu 7 und 91/, Pfund) kamen (wobei Syrup eingerechnet ist), betrug die reine Zucker- eonsumtion im deutschen Zollverein 1856 7,39 Pfund (3,7 Kilogr.); in England und’ Frankreich aber: — 180 in Frankreich in Grossbritanien 1851 3,24 Kilogr. 12,26 Kilogr. 1852 Re 1317 „ 1853 4,04 5 13,62 „ 1854 A224 5 15,44 „ 1855 447 nm 13,62 „ 1856 459 „ 271 25 1857 473 7 13,28 „ 1858 ? - 15,13 „ Diese Ziffern deuten in starker- Weise an, um wie viel besser das britische Volk in dieser Beziehung lebt und zu leben im Stand ist, als das continentale. Wenn übrigens die Consumtionsziffer der Schweizer kaum der der Deutschen und Franzosen gleichkommt, so rührt diess wol grösstentheils von der, zur Zeit diesseits noch fort- dauernden sehr allgemeinen Gewohnheit her, den Kaffee ohne Zucker zu geniessen. — Uebrigens betrug der Zuckerverbrauch auch in den oben bezeichneten Ländern früher bei weitem weniger als jetzt, wie sich aus nachstehenden Notizen — gleichfalls Berechnungen nach der Einwohnerzahl — ergibt: in Frankreich in Grossbritanien 1816—20 1,08 Kilogr. 1844 7,72 Kilogr. 1826-30 2,07 „ 1845 9,08 „ 1841-45 323 „ 1846—50 3,35 Auffallender sind die Ergebnisse einer Vergleichung der Kaffee- consumtion. Während in der Schweiz (freilich mit Einrechnung der Surrogate) im Jahr 1857 ein Verbrauch von 5,51 Pfund auf jeden Kopf kam, und 1858 von 6,02 Pf., war das Verhältniss in andern Ländern folgendes: Gesammtconsumtion. Per Kopf.- Schweiz. Cir, Pfund. Frankreich . . „4857 559,712 1,55 1858 564,016 1,57 Oesterreich *) Se BT 394,000 1,08 1858 403,200 1,11 Deutscher Zollverein . 1857 1'220,708 3,7 1858 1°300,000 "3,94 Belgien engar 1858 423,362 9,2 Holland 3 . 1858 400,000 12,1 Grossbritanien . » 1857 250,000 0,9 Vereinigte Staaten . 1857 1'725,660 6,4 1858 2'512,550 9,13 *) Eigentlich 387,000 und 396,000 österreichische Centner, — 131 — Man wird hier vor Allem wieder an die Ungenauigkeit der Re- sultate der Zollregister erinnert. Bei Oesterreich insbesondere darf der notorische Schleichhandel nicht ausser Acht gelassen werden. Der Ansatz bei „Holland“ beruht auf blosser Schätzung, da der Kaffee in diesem Lande keinem Zoll, die Ziffer also keinerlei amtlicher Contro- lirung unterliegt. Jedenfalls stellt sich die Consumtion in der Schweiz weit höher, als in den Nachbarländern Oesterreich, Frankreich und selbst dem Zollvereine. 4) Tabak. Die Einfuhr des gewöhnlichen Rauch- und Schnupf- tabaks blieb sich auffallend gleich, jene der Cigarren stieg, doch auch nicht auffallend. Eingeführt wurde Tabak In Blättern Zum Rauchen Cigarren. u. Karotten. od. Schnupfen. Ctr. Ctr. Ctr, 1852 65,006 11,430 5,064 1853 66,587 11,741 6,456 1854 67,438 ’ 11,458 5,698 1855 56,300 11,972 5,416 1856 65,948 11,593 6,059 1857 55,014 11,958 7,017 1858 76,811 11,874 6,511 Die Ausfuhr betrug gleichzeitig: beim Tabak in Blättern zwi- schen 107 und 717, beim fabrieirten Tabak (einschliesslich Cigarren) zwischen 1270 und 2725 Ctr. N 5) Eisen und Eisenwaaren. Um unsere Liste nicht allzu- sehr auszudehnen, fassen wir die Resultate der 5 Jahre 1852 ein- schliesslich 1856 zusammen und geben davon das Mittel (in runder Zahl) neben den neuesten Ziffern. Einfuhr (nach Centnern). 1852—56. 1857. 1858. Eisen, rohes, Brucheisen, Eisenspäne . L 72,710 134,788 133,626 Eisenbahnschienen - h : : b 1,740 823 1,688 Eisen zum Maschinen- und Schiffsbau : 11,300 26,504 21,280 Eisenblech, rohes, in grossen Dimensionen . 9,150 17,078 12,886 Eisen, geschmiedetes, gezogenes od. gewalztes 79,730 119,496 122,632 Eisenguss, ganz unverarbeiteter . & . 31,300 52,174 52,930 Eisenblech, nicht besonders genannt . e 15,310 25,531 25,510 Eisendraht und verzinntes Eisenblech . .- 14,430 19,837 19,517 Eisen- u. Stahlwaaren, ohne Politur od. Firniss 19,530 26,593 27,967 Eisenblechwaaren, ausgeschlagene . ü 1,230 1,527 ‘1,318 Hieher gehört aber ohne Zweifel noch ein grosser Theil derjeni- gen zollfreien Einfuhr, welcher „für Eisenbahnen bestimmte Gegen- stände“ umfasst, — im Jahre 1857 nicht weniger als 540,207 und 1858 390,781 Otr. Wissenschaftliche Monatsschrift. IV. 12 —_ 12 — Ausfuhr. 1852 —56. 1857. 1858. Eisenerz . - - 5,380 Zugthierlast. 10,603 Zugthrl. 10,965 Zugthrl. Eisen, rohes u. Stahl 24,020 Centner. 30,417 Ctr. 17,453 Ctr. » geschmiedetes, gewalztes, Eisen- blech und Draht . 8,020 , 8.5325 ; 6,565 „ Eisenguss, Eisen- und Stahlwaaren % 19,480 „ 12,800 „ 7,709 4m IV. Uebersicht des gesammten internationalen Handels- verkehrs der Schweiz. Da die Verzollung der verschiedenen Waaren nach durchaus von einander abweichenden Normen stattfindet, und da auch eine Schätzung des Geldwerthes der Handelsgüter nach amtlich aufgestellten Nor- men mangelt, so lässt sich der Umfang des internationalen Verkehrs der Schweiz nicht mit einer einzelnen Ziffer angeben. Wir haben aber schon den Zweifel geäussert, ob die Erlangung einer solchen Ueber- sichtsziffer alle Schreibereien und Berechnungen, die hiedurch veran- lasst würden, werth wäre, zumal solche Werthangaben und Werth- schätzungen doch immer bedeutend von der Wirklichkeit entfernt blei- ben. Wie dem sei, um einen Ueberblick des auswärtigen Handels- verkehrs der Schweiz zu erlangen, muss man die Ergebnisse der ver- schiedenen Abtheilungen des Zolltarifs neben einander aufführen, da sie keine gleichartigen Grössen bilden, folglich nicht kurzweg addirt werden können. Wir greifen bei der nachstehenden Zusammenstellung bis zum Jahre 1852 zurück, — dem ersten Jahre seit Einführung des jetzigen, centralisirten Zollsystems, von welchem uns die amtlichen Listen vorliegen. Ein Rückgreifen bis dahin scheint uns nicht etwa bloss durch das Verlangen nach Vollständigkeit geboten, sondern be- sonders darum nöthig, weil die seitdem verflossene Periode höchst ab- norme Jahre in sich schliesst, — erst Jahre unnatürlichster, krankhafter Steigerung des Verkehrs, dann die Epoche der grossen Handelscrise. A. Einfuhr. Thiere, Werthgegen- Zollbare Gewicht- Zollfreie Ein- Stück. stände. Fres. gegenstände. Ctr.*) fuhren. Cir. 1852 173,219 170,327 9'191,824 11,652 1853 199,388 219,943 9'396,581 21,519 1854 185,617 332,494 9'627,792 569,136 1855 150,557 1'031,215 9'217,369 911,524 *) Einschliesslich der nach Zugthierlasten berechneten, jedoch ausschliess- lich der zollfreien Einfuhren. — 1535 — Thiere. Werthgegen- Zollbare Gewicht- Zollfreie Ein- Stück. stände. Fres. gegenstände. Ctr. fuhren. Ctr. 1856 167,474 786,799 9:537,262 970,682 1857 193,446 1'476,946 10°104,771 1'087,578 1858 213,933 1'739,479 10'514,129 1'035,027 B. Ausfuhr, 1852 65,393 '4:378,568 1:273,416 1853 59,633 5'626,515 1'166,105 1854 62,370 6'070,517 1'329,751 1855 88,045 5'163,697 1'489,513 1856 108,936 6'966,518 1'558,258 1857 86,322 5'670,220 1'617,864 1858 84,436 5‘009,217 1’476,115 ©. Durchfuhr. 1852 64,647 422,228 390,905 1853 65,055 890,514 357,368 1854 69,279 719,299 391,847 1855 68,607 1'073,695 530,020 1856 69,806 1'283,231 596,874 1857 68,452 602,476 552,961 1858 80,251 353,475 654,951 Vor der Zeit der Centralisirung des Zollwesens war der Han- delsverkehr der Schweiz jedenfalls bei weitem geringer als jetzt. Die „statist. Beiträge* geben darüber eine Reihe Detailnachweise, deren Hauptziffern wir kurz so zusammenfassen. Die Centnerzahl der da- mals verzollten Waaren, welche die Einfuhr bildeten, betrug: 1817—22 durchschnittlich 1'009,000 Ctr. 1823—30 2 1'402,000 „ 1831—37 s 1'602,000 „ 183839 R 1'800,000 „ 184044 h 2:100,678 „ 1845 —49 z 2274,84 „ Die höchste Ziffer kam auf das Jahr 1849, nemlich 2'652,234. Allein es muss hier doch ausdrücklich erinnert werden, dass diese Ziffern den obigen nicht an die Seite gesetzt werden dürfen, und dass sich nicht eine eigentliche Vermehrung von 28/,, Mill. Ctr. im Jahre 1849, auf mehr als 9 Mill. im J. 1852 und 101/, Mill. im J. 1358, sonach etwa auf das Vierfache, folgern lässt. Diese Ziffernsteigerung rührt vielmehr ohne Zweifel zum grössten Theile daher, dass die neue Zollordnung mehr Gegenstände als die frühere zur Verzollung beizog, und wol auch, dass die Verwaltung besser geordnet wurde, so dass ihr weniger entging. (Die kritische Statistik hat besonders vor Feh- — 134 — lern zu warnen, welche sich in Folge des Unbeachtetlassens derartiger Aenderungen in der Basis der Ziffern ergeben.) Da die eidgenöss. Zollregister eine amtliche Schätzung des Geld- werthes der Waaren nicht enthalten, eine solehe Sehätzung sich aber in den Listen der angrenzenden Staaten findet (mit Ausnahme des Zollvereins, für welchen indess Dieteriei's Taxation vorliegt), so hat sich der Verf. der „statist. Beiträge“ der Mühe unterzogen, aus diesen aus- ländischen Quellen diejenigen Ziffern zusammen zu stellen, welche die Schweiz betreffen. Seine Hauptergebnisse sind, nach drei verschiede- nen Perioden: Einfuhr. Ausfuhr. Gesammtverkehr. Fres, Fres. Fres. Zwischen 1840—44 269'226,909 194'614,177 463'841,086 R 1851-52 _ 338'887,738 372'417,746. 711'305,484 5 1851—55 407 978,082 370'504,277 778'482,359 . 185355 _478'946,258 537'708,177 1,016‘654,435 Sehen wir ab von dem Bedenken, welches der Verf. der oftge- nannten stat. Beiträge selbst, um desswillen äussert, dass er, in Er- manglung vollständigen gleichzeitigen Materials, öfter genöthigt gewe- sen, die Zollregister des einen Landes von diesem, die des andern Staats von einem folgenden Jahre zusammen zu stellen (ein Bedenken, das wir an sich sogar noch etwas leichter nehmen würden, als der geehrte Verf.). Allein es erheben sich andere Zweifel. Man darf die auf dem angegebenen Weg gefundenen Hauptresultate nur so unmittelbar unter einander reihen, wie wir eben gethan, um sich zu überzeugen, dass diese ausländischen Ziffern nicht richtig sein können, weil sie unter sich selbst viel zu viel differiren. Wenn z. B. die Zolllisten des Zollvereins von 1851, Frankreichs von 1852 und Oesterreichs und Sardiniens je von 1855 zusammen einen Total-Verkehr von 778 Mill. ausweisen, so lässt sich damit der für alle diese Staaten entzifferte Durehschnitt von 1016 Mill. für die Jahre 1853—55 doch kaum vereinbaren. Es machen sich alle unsere in der Einleitung angeführ- ten Bedenken über den Werth der Ziffern geltend, für deren Erlan- gung die meisten der angrenzenden Staaten so viele Mühe, Schreibe- reien und Kosten aufwenden: und man darf es darnach um so mehr gerechtfertigt finden, wenn die Eidgenossenschaft ein derartiges un- sicheres Resultat nicht mit gleichen Opfern erkaufen mag. Was den Verkehr der Schweiz mit den einzelnen der vier Nachbarstaaten betrifft, so lauten die Zahlen für die Jahre 1851 resp. 52 folgendermassen : — 185 — im Einfuhr in die Ausfuhr aus der Gesammt- Jahre. Schweiz. Fr. Schweiz. Fr. verkehr.’ Fr. Zollverein n ; 1851 98'850,473 105'856,816 204'707,289 Oesterreich s n 1851 99'237,271 86‘113,380 185'400,651 Frankreich £ ; 1852 119'536,295 149'859,185 269.395,480 Sardinien . 2 ’ 1852 21'213,699 30'588,365 51'802,064 Zusammen 338'887,738 372'417,746 711'305,484 Selbst die Richtigkeit dieser Ziffern angenommen, würde man gleichwol sehr irren, wenn man, wie es häufig geschieht, die Wich- tigkeit des Verkehrs nach jedem dieser einzelnen Länder so hoch an- nehmen wollte, wie die vorliegenden Zahlen anzudeuten scheinen. Die aufgeführten Summen bezeichnen nicht etwa bloss den wirklichen Han- del mit den genannten Staaten, sondern sie begreifen auch wesentlich in sich die gesammte Durchfuhr, den Handel der Schweiz nach allen Weltgegenden, — nach Amerika, Ostindien, der Levante u. s. f. So betrug im J. 1852 allerdings der Gesammtverkehr der Schweiz mit Frankreich im s. g. „allgemeinen Handel“ (d. h. mit Einrechnung der Durehfuhr) und nach den (vielfach nicht mehr passenden) amtlichen Tarifrungslisten 2691/; Mill. Allein es kamen von den beinahe 150 Mill. der Ausfuhr noch nicht 30 Mill. auf den Absatz in Frankreich selbst, während hinwieder von den 1191/, Mill. der Einfuhr aus Frankreich nach der Eidgenossenschaft über 581/, Mill. wirklich fran- zösische Erzeugnisse waren. Genau stellen sich die Ziffern so: Einfuhr aus der Schweiz 149'859,185 davon 29‘999,345 im Specialhandel. Ausfuhr nach der Schweiz 119'536,296 . 58'648,060 „ * Zusammen 269'395,480 davon 88'647,405 im Specialhandel, Es ist daher augenscheinlich sehr irrig, wenn man mitunter wol annimmt, Frankreich bilde ein so eminentes Absatzgebiet für die Eid- genossenschaft, dass diese im genannten Jahre für 150 Mill. daselbst verkauft, und dagegen von dort nur für 1191/, Mill. bezogen, somit aus Frankreich rein über 30 Mill. gewonnen habe. Das Verhältnis erweist sich vielmehr umgekehrt; Französische Waaren wurden (noch- mals sei es gesagt) für mehr als 581/, Mill. in der Schweiz abgesetzt, — Schweizerwaaren in Frankreich noch nicht für 30 Mill., und die Eidgenossenschaft erfreute sich also mit dem genannten westlichen Nachbarstaate keineswegs eines Activhandels, sondern sie hatte einen Passivverkehr, wobei sie über 231/, Mill. an Frankreich herausbezahlte. Alles Andere war (direct oder indirect) bloss Durchfuhr von und nach andern Ländern, die natürlich ebenfalls Frankreich wesentlichen Nutzen brachte (das Meiste ging nach Amerika). Dieses Missver- — 186 — hältniss trat nicht etwa bloss ausnahmsweise in einem oder dem andern Jahre hervor; es ist vielmehr ein althergebrachtes und con- stantes. Schon aus den bei Bowring vorkommenden Notizen ergibt sich, dass in den 14 Jahren 1821—34 einschliesslich, Frankreich im Ganzen für 383 Mill. Waaren in der Schweiz absetzte, aber nur für 159 Mill. daher bezog (durchschnittlich im Jahre 27'363,854 Fr. ge- gen nur 11'358,645), was also für diese Zeitdauer einen Geldverlust der Schweiz von 224 Mill. Fres. ausmacht. Wir huldigen viel zu sehr dem Freihandelssystem, sind viel zu sehr von der mittelbaren Ausgleichung der „Handelsbilanz“ über- zeugt, als dass wir in obigen Ziffern eines Passivhandels etwas ab- solut Bedenkliches finden sollten. Dagegen schien es uns nicht über- flüssig, die Täuschung zu bekämpfen, welche sich bei blosser Beachtung der Hauptziffer bildet. Ueberdiess liegt eine bezeichnende Andeutung in der Thatsache, dass, während die Schweiz (schon im Jahr 1852) für 120 Millionen ihrer Erzeugnisse durch Frankreich, meist nach entfernten Weltgegenden, versendete, und welche dort, jenseits des Oceans, Absatz fanden, sie in Frankreich selbst (in diesem grossen Staate und in der unmittelbarsten Nähe) in Folge des so schädlichen Prohibitivsystems, welches dort noch waltet, kaum für 30 Mill. ver- kaufen konnte, obwohl sie beinahe für 60 Mill. eben daher bezieht. — Es ist diess jedenfalls ein Beweis von der völligen Unhaltbarkeit des oft vernommenen Satzes: „Frankreich ist unser bester Käufer!“ Weit bedeutender als der Specialhandel mit Frankreich ist ohne Zweifel der mit Deutschland. Zu unserm besondern Bedauern fehlen gerade hier genauere und neuere Ziffernangaben. Der Verf. der „stat. Beitr.* schätzte den Durchschnitt des allgemeinen Handels mit dem Zollverein in den Jahren 1853—55 auf mehr als 400 (den mit Frankreich nur auf 334) Mill., nemlich: Ausfuhr aus der Schweiz nach dem Zollverein . . 5 211'182,000 Fr. Einfuhr aus dem Zollverein in die Schweiz » . : 189'590,000 „ Zusammen " 400'772,000 Fr. Nun ist es zwar nicht ermittelt, wie viel von der ersten Summe (Ausfuhr aus der Schweiz) auf die blosse Durchfuhr durch den Zoll- verein trifft. Notorisch ist es aber, dass diese blosse Durchfuhr un- vergleichbar weniger beträgt, als jene durch Frankreich; dass also eine desto grössere Summe auf den wirklichen, unmittelbaren Handel mit dem Zollverein kommt. Auch ist, wenigstens was den Transit durch den Zollverein nach der Schweiz anhelangt, so viel consta- — MU. tirt, dass derselbe im Jahre 1851 auf nicht mehr als 8'281,023 Thlr. stieg, wonach die ganze übrige Einfuhr aus dem Zollverein auf den Specialhandel traf. Und bei der Ausfuhr dürfte wol ein annähernd ähnliches Verhältniss stattgefunden haben. Aber es wird auch der 83. 8. „allgemeine Handel* der Schweiz mit dem Zollverein jenen mit Frankreich voraussichtlich um so stärker übersteigen, sobald endlich die hohen Durchfuhrgebühren in Deutschland abgeschafft sein werden. Alsdann wird unfehlbar ein grosser Theil des heute über Havre ge- henden Schweizer-Exports nach Amerika, statt dessen die Richtung nach Bremen und selbst Hamburg erhalten. Denn die innere Ueber- legenheit der deutschen Rhederei über die französische ist evident, und bisher schon bildete die bezeichnete Durchgangsabgabe bis zu den Seehäfen das einzige Hinderniss einer vollständigen Entwicklung des Schweizerverkehrs auf dieser Route. Eigenthümlich stellt sich. die Beziehung zu Oesterreich. Im Jahr 1855 betrug die Durchfuhr durch den Kaiserstaat aus der Schweiz etwas über 54, die nach der Schweiz etwas über 31 Mill. Frkn. Dagegen kamefi auf den Speceialhandel: Einfuhr aus der Eidgenossenschaft in Oesterreich 101/;, Ausfuhr aus Oesterreich da- gegen über 120 Mill. Frs. Dieser wahrhaft colossale Unterschied rührt wesentlich daher, dass Oesterreich (vielmehr die Lombardei) der Schweiz fast das gesammte Rohmaterial für ihre Seidenindustrie lieferte, wie denn dieselbe in dem gedachten Jahre und nach der nemlichen Schätzung für 1081/, Millionen rohe Seide daher bezog. Es ist diess der beste Beweis, wie es an sich rein gar nichts entscheidet, ob ein Land mit einem andern im s. g. Activ- oder im Passivhandel steht. Zur Vervollständigung sowol, als der Wichtigkeit an sich wegen, ist hier noch des vierten der Nachbarstaaten, Sardiniens, zu ge- denken. Im J. 1855 betrug der wirkliche Werth (nicht der bloss fietive nach der stabilen amtlichen Liste) bei der Einfuhr 37, bei der Ausfuhr 35%/, Mill. Fr. Hievon kamen auf den Spezialverkehr 15%/, und 241/, Mill. Es lässt sich erwarten, dass das schon jetzt für den Schweizerhandel bedeutende Genua eine für denselben noch grössere Bedeutung erhalten wird. — Mag nun auch die absolute Richtigkeit vieler der vorstehenden Ziffern begründeten Zweifeln unterliegen, so beweist doch alles Mit- getheilte zur Evidenz die ungemeine Ausdehnung des internationalen Handelsverkehrs der Schweiz. Seit einigen Jahren hat man nun wiederholt Berechnungen auf- _— 18 — gestellt, um die Geldsumme zu ermitteln, welche in den verschiedenen Ländern im internationalen Handel auf jeden Kopf der Bevölkerung treffe. Auch der Verf. der „statist. Beiträge* folgte diesem Vorgang, und erhielt im Wesentlichen folgende Resultate: Es beträgt der allge- meine Handel auf jeden einzelnen Einwohner (jeden „Kopf*) in Russ- land 19 Frs., in Oesterreich 43, dem deutschen Zollverein 83, Frank- reich 101, den Verein. Staaten Nordamerikas 112, Grossbritanien 263, Belgien 296, Holland 387, der Schweiz 406, und nur die deutschen Hansestädte erscheinen mit einem grössern Betrage, nemlich 711 Frs. Nachdem der bezeichnete Verfasser diese mühsame Berechnung in allen Einzelnheiten durchgeführt, gelangt er zu der Folgerung: „Auf eine solche Höhe von Gewerbsthätigkeit, ja nach seiner Einwohnerzahl zum ersten Handelsvolke der Welt hat sich die Schweiz ge- hoben“ u. s. w. In Wahrheit ist indess diese Berechnungsweise an sich völlig un- zulässig, das scheinbare Ergebniss völlig unhaltbar. Das vorstehende Ziffernresultat bildet einen neuen Beweis, wie vorsichtig man im Grup- piren der Ziffern sein muss, um nicht zu Fehlschlüssen verleitet zu werden. Stehen die auf dem Papier gefundenen Resultate, so wie hier, mit der notorischen Wirklichkeit im Widerspruche, so wird dadurch das Vertrauen zur Statistik überhaupt erschüttert; sie verliert in den Augen der Meisten auch den Werth, den sie wirklich besitzt, und bleibt dann selbst in denjenigen Beziehungen unbeachtet, in welchen sie dem praktischen Leben wie der Wissenschaft vom entschiedensten Nutzen sein könnte. Man muss darum, im Interesse der Statistik über- haupt, solchen Trugschlüssen entgegen treten, sowenig diess im Ein- zelnfalle den Wünschen zusagen mag. In Wirklichkeit kann man nicht in der Weise rechnen, wie es hier von dem Verf. der „statist. Beiträge“ geschehen ist. Ein rich- tiges Bild von der industriellen Thätigkeit eines Volkes und von sei- nem Handel wird man nur dann erlangen, wenn man dessen Ge&- sammtverkehr in Betracht zieht, — den inländischen ebenso- gut, als den auswärtigen (internationalen). Dieser innere Ver- kehr ist nun bei jedem Volk ohne Ausnahme weitaus grösser, als der internationale Handel. Je umfangreicher und bevölkerter ein Staat, ein desto grösserer Antheil seines Gesammtverkehrs muss auf den in- nern Handel kommen, — je kleiner, desto mehr auf den auswärtigen. Man denke sich Frankreich oder England in Gebiete von 21/, Mil- lionen Menschen zerlegt (also in Gebiete vom Umfange der Schweiz), —_ — 189 — und rechne dann den Verkehr, welchen diese Gebiete unter sich führen, dem vorstehend allein beachteten Fremdhandel hinzu, so wird man ganz andere Summen erhalten, als die oben gefundenen. Oder man nehme zu dem externen Handel des deutschen Zollvereins alle Beträge des gegenseitigen Umsatzes unter den einzelnen Zollvereins- staaten hinzu, also den gewaltigen Verkehr zwischen Preussen, Sach- sen, Hannover ; zwischen Baiern, Württemberg, Baden, Hessen u. s. f. Welche gewaltige Vergrösserung der Ziffern müsste sich ergeben, ohne die geringste reelle Veränderung in den wirklichen Beziehungen. Oder hinwieder: man unterstelle, die Eidgenossenschaft fände es unter irgend welchen Verhältnissen zuträglich, sich mit irgend einem Nachbarstaate, z. B. Sardinien, merkantilisch in der Weise zu verbinden, dass alle »Zollschranken zwischen beiden Ländern hinwegfielen; — würde dann der auswärtige Handel beider zusammengerechnet nicht merk- -lich kleiner werden, als er jetzt erscheint ? und doch hätte man mit einer solehen Maassregel den Verkehr gewiss nicht gehemmt und ver- mindert, sondern man hätte ihn erleichtert und gefördert. Während man in Wirklichkeit mehr Umsatz hätte, fände sich auf dem Pa- piere weniger. Hienach ergibt es sich denn aber auch von selbst, -wie es kommt, dass in der aufgestellten Uebersicht durchgehends die “kleinen Gebiete ein Uebergewicht über die grossen zu besitzen schei- -nen; es erklärt sich, warum der deutsche Zollverein, Frankreich, die ‚amerikanische Union, ja selbst England, so gewaltig übertroffen wer- ‚den sollen von Belgien, Holland und der Schweiz, — diese hinwie- der ebenso von den deutschen Hansestädten, — dermassen, dass der Schweizerhandel das Vierfache des Französischen betrüge. Man hat, um die angenommene Berechnungsmethode zu verthei- digen, den Satz aufzustellen gesucht, es sei einzig und allein der aus- -wärtige Handel, welcher einem Lande wahren Vortheil und Gewinn ‚bringe. Man hat wörtlich gesagt: „Nur die vom Ausland kom- ‚menden Werthe können den Nationalwohlstand eines Staats begrün- den, und der interne Handel dient bloss dazu, dieselben unter der Masse auszugleichen.* Diese Ansicht, — obwol zur Zeit der Herrschaft des s. g. „Mer- -kantilsystems“ die allgemein angenommene, und obwol durch Friedr. ‘List vor wenigen Jahrzehnten aufs Neue zu beleben gesucht, — ist indess irrig und wissenschaftlich unhaltbar. Es geht diese Meinung im Grunde von der Unterstellung aus, dass im Handel der Eine nur ‘gewinnen könne, was der Andere verliere {oder man möchte beinahe 2 u sagen: um was er übervortheilt werde). Eine Auffassung, wie die oben bezeichnete, beruht ferner auf der Voraussetzung, dass die Summe der Werthe auf der ganzen Erde sich nieht vermehren lasse, wenigstens nicht durch den Handel. Es wird in alle Zukunft eines der grössten Verdienste Adam Smith’s bleiben, die Unhaltbarkeit die- ser Sätze gezeigt zu haben, welche den Nicht-Nationalökonomen gerade ebenso leicht beherrschen, als die Meinung von einer Bewegung der Sonne um die Erde dem Nichtastronomen augenscheinlich däucht. In der Regel findet die Wohlstandsvermehrung jedes Landes nur zum kleinsten Theile durch dessen auswärtigen Handel statt; weitaus zum grössten Theile dagegen durch die nur auf das Inland berechnete In- dustrie und den innern Verkehr. Innig damit verbunden ist die Frage bezüglich der Handelsbilanz. Die Bedeutung, welehe man ihr früher beilegte, hat sich als ein Luftgebilde erwiesen. Auch verdient es alle Beachtung, dass die, industriell und commereiell so hoch ste- hende Eidgenossenschaft sich in ihrer praktischen Handelspolitik von je her freihielt von dem bevormundenden Prohibitiv- und selbst dem Schutzzollsystem. Der Freihandel ist es, vermittelst dessen sie zu ihrer heutigen ökonomischen Blüthe gelangte. Wir legen den Ziffern, welche eine „Handelsbilanz* beim Ab- schluss ergibt, aus allgemeinen nationalwissenschaftlichen Gründen nur einen höchst sekundären Werth bei, — um so mehr, als es unmög- lich ist, den Geldwerth der Ein- und der Ausfuhr absolut richtig zu bestimmen. Dazu kommt für die Schweiz noch ein eigenes Moment, das theils unmittelbar, theils mittelbar, in ungemeiner Ausdehnung auf die Ernährungs- und überhaupt auf die ökonomischen Verhältnisse des Volkes einwirkt: die alljährlich herzuströmende Menge von Vergnü- gungsreisenden. Die ausländischen Waaren, welche sie consu- miren, sind in der zollamtlich behandelten Einfuhr einbegriffen; da- gegen gibt kein Zollregister die Geldsummen an, welche sie behufs dieser Consumtion in das Land hereintragen. Es ist evident, dass dieser Umstand allein schon die Richtigkeit jeder formalen Bilanz um- stossen würde, wenn auch im Uebrigen überhaupt eine solche Rich- tigkeit erzielt werden könnte. Sind wir aber auch nicht im Stande, vermittelst eines Ziffern- abschlusses zwischen dem Geldbetrage der Ein- und der Ausfuhr selbst nur annähernd richtig nachzuweisen, wie gross gerade die Summe, um welche das Volksvermögen in der Schweiz alljährlich sich ver- mehrt; — vermögen wir solches um so weniger, als das Steigen des — 191 — Volkswohlstandes noch ganz anderer Quellen sich erfreut, wie nament- lich des Fremdenbesuchs, und vor Allem des Werthes der im Inland bleibenden Production, — so unterliegt es doch keinem Zweifel, dass die auf den auswärtigen Absatz berechnete Industrie hier einen ganz ungewöhnlich ausgedehnten Umfang und eine ungemein hohe Be- deutung besitzt. Keiner Uebertreibung huldigend, bekennen wir rück- haltlos, dass es Täuschung sein würde, zu glauben, kein anderes Volk der Erde erfreue sich vergleichsweise eines so ausgedehnten Handels, wie die Schweiz. Was wir dagegen mit fester Zuversicht behaupten können, ist dieses: Im Verhältniss zu der Ungunst der äus- sern Umstände*) hat kein anderes Volk der Erde in In- dustrie und Handel so viel geleistet wie das Schweize- rische; wenn auch nicht absolut, so doch relativ hat es alle an- dern entschieden übertroffen. Wir können diesen Punkt nicht verlassen, ohne einige Bemerkun- gen über den Umfang der gesammten Schweizerischen Industrie einzuschalten. Leider fehlt das Material zur Herstellung einer eigent- lichen Schweiz. Gewerbsstatistik, und wir finden uns durchgehends auf blosse Schätzungen hingewiesen. Pascal Duprat, der tüchtige Nationalökonom, glaubt (im Nouvel Economiste, Decemb. 1858) die Zahl der Fabriken im Gebiete der Eidgenossenschaft zu 1600, die Menge der in diesen Fabriken und in noch viel mehr Werkstätten beschäftigten Arbeiter auf 250,000 anschlagen zu können, also auf ein volles Zehntel der Einwohnerschaft, mit Dazurechnung der Kin- der. Diess würde wol zu der Annahme berechtigen, dass beinahe die Hälfte der gesammten Bevölkerung mittel- oder unmittelbar von der Gewerbsindustrie lebe. Die relativ grösste Anzahl kommt auf Ver- arbeitung der Baumwolle. Duprat glaubt annehmen zu können: Anstalten. Arbeiter. Mechanische Spinnereien . - h ; 200 20,000 Handweber : , . : | ; _ 38,000 Bleichereien . a , n ‚ } 100 Baumwoll-Druckereie , ; , j on 7,000 Appreturen - : 5 \ 2 - 60 Grosse Färbereien . b 5 4 s 260 Mousselin-Stickerinnen . 2 - : _ 8,000 *) Entfernung von der Weltverkehrsstrasse, der See; Mangel an Steinkoh- len; Umgebensein von Schutzzoll- und Prohibitivstaaten; dabei Theuerung der Lebensmittel und der Handarbeit etc. —_ 12 — Diess ergäbe gegen 73,000 bloss ınit der Baumwolleindustrie beschäftigte Menschen. Die Spinnereien zählen gegen 1,200,000 Spindeln. Im J. 1830 waren es erst 400,000, 1840 750,000, 1850 950,000. (Zur Vergleichung sei hier bemerkt, dass man im Anfange des Jahres 1859 in dem weitausgedehnten Oesterreichischen Kaiser- staate ebenfalls nicht mehr als 200 Baumwollespinnereien mit 1'563,928 ‚Spindeln zählte, demnach bloss etwa 1/, Spindeln mehr, als in der kleinen Schweiz.) Indess dürfen wir nicht übersehen, dass (wie oben nachgewiesen) in den beiden letzten Jahren ein empfindlicher Rück- schlag eintrat. Allein allem Anscheine nach ist diess doch nur eine der im industriellen Leben immer vorkommenden zeitweisen Schwan- kungen. Trotz dieser Fluctuation zweifeln wir keineswegs daran, dass der eben besprochene Industriezweig einer noch weiter gehenden Ent- wicklung fähig ist, und derselben auch sehon nach kurzer Unter- brechung thatsächlich entgegen schreiten wird. Die zweite Stelle in Beschäftigung einer grossen Arbeiterzahl nimmt die Seidenindustrie ein (dem Geldwerthe des Productes nach die erste Stelle, wegen Kostbarkeit des Rohmaterials). Duprat schätzt im Einzelnen: Anstalten, Arbeiter. Erziehung von Seidenraupen .. - i 40 600 Zwirnereien . A 5 R r & 13 4,500 Webereien glatter Zeuge S . - 25 30,000 Bänderverfertigung . ; - : s _ 10,000 Zusammen über 45,000 Uhrenmacherei und Bijouterie. Bei der ersten finden wir eine aufs Aeusserste entwickelte Theilung der Arbeit, wesshalb sich die Zahl der einzelnen Anstalten nicht ermitteln lässt. Man glaubt annehmen zu dürfen, dass die Herstellung von Taschenuhren etwa 36,000 Menschen beschäftige, jene von Spieluhren (eigentlich Dosen mit Musik, boites & musique) 500, von Bijouteriegegenständen 3000, zusammen fast 40,000. Strohflechterei. Duprat glaubt die Zahl der damit Beschäf- tigten auf 70,000 veranschlagen zu können. Diess mag zeitweise richtig, dürfte aber im Ganzen zuviel angenommen sein. So ernährten sich denn von diesen vier Industriezweigen jeden- falls über 200,000 Personen, d. h. beiläufig vier Fünftheile der Schwei- zerischen Manufakturbevölkerung. ‘ Die Industriezweige zweiter Ordnung sind: — 193 — Anstalten Arbeiter Leinwandweberei . x . _ 8,000 = \ Spinnereien . f 15 | wolle | Tuchfabriken Ar ae Metallurgie . B { . — 6,000 Maschinenverfertigung . ; -- 6,000 Spitzenverfertigung . . \ = 4,000 Tabaksfabriken n i ; 60 3,000 Gerbereien ; 500 3,000 Dann kommen etwa 150 Buch- = 100 Steindruckereien mit etwa 2000 Arbeitern u. s. f. Was den Geldwerth der Erzeugnisse betrifft, so lassen wir nachstehend noch Duprat’s Schätzung folgen, stellen derselben indess diejenigen Ziffern zur Seite, welche sich nach unseren oben gegebenen Einzelnerörterungen, als wahrscheinlicher dürften annehmen lassen. Nach Duprat. Berichtigte Ziffern. Seidenfabrikate . 8 i 300 Mill. 275 Mill. Fr. Baumwollefabrikate : . LOOY® DIODZ CN, Uhren .. ; ; a j 5”, in „= Wollenzeuge . ! . 5 Eos ’ Strohgeflechte F A - 12W 5—6 „ „ Bijouteriegegenstände . } 10975 Mousselinstickereien . e ER Maschinen . : . ’ fen Glaswaaren . ; roh DIR Tabakfabrikate . > ? Dr. Gerberwaaren : 3 Zu Buch- u. Shehıdöuakeseinmeduichs Da Papeterien . . - ln Parqueterien u. Hole gs Diess ergibt eine Gesammtsumme nach Duprat von etwa 600, nach unserer Berichtigung eine solche von noch immer über 500 Mill. Fres., wobei freilich die zum Theil sehr theuern Rohstoffe etc. (Seide allein fast 100 Mill.) eingerechnet sind *). Hievon kämen auf eigentliche Arbeitslöhne, nach den wei- tern Schätzungen des öfter genannten Nationalökonomen: bei den Baum- wollemanufacturen 17 Mill., der Seideindustrie 12, der Uhrmacherei 15, der Strohflechterei 81/,, der Metallurgie 2 Mill. (Bei keinem der *) Was die einzelnen Kantone betrifft, so nimmt Duprat an, dass Zürich für 60 Mill. Waaren liefere (besonders in Seide und Baumwolle), Neuenburg für 40 (Uhren,und Bijouterien), Aargau 32 (Baumwollefabrikate und Strohflechtereien), Genf 24 (besonders Uhren und Bijouterien). Es sind nur anderthalb Kantone — Uri und Obwalden — in denen sich unsers Wissens gar keine Fabriken befinden. — 14 — übrigen Zweige erreicht der Betrag die Ziffer von 300,000 Fres.) Natürlich sind diese Annahmen höchst unsicher, und sie sollen nur als entfernte Anhaltspunkte zu weitern Berechnungen dienen. — Wir haben oben die Ansicht entwickelt, dass, obwol wir auf die gefundenen Resultate der Handelsbilanz keinen besondern Werth legen, der fortschreitende Wohlstand der Schweiz ausser Zweifel sei. Hiefür bietet u. a. das ansehnliche und nachhaltige Steigen der Zoll- erträgnisse ein bedeutendes Beweismoment, indem es die finanzielle Consumtionsfähigkeit der Bevölkerung andeutet. Wir glauben um so mehr hiebei verweilen zu sollen, als dieses wichtige Moment dem Verf. der „statist. Beiträge * völlig entgangen zu sein scheint, indem wir in seinem sonst so reichhaltigen Werke vergeblich nach Mittheilungen über diesen Punkt suchen. Der Bruttoertrag der eid- genössischen Zölle stellte sich nemlich so: im Jahre in 3 Jahren 1850 4'169,019 1851 5'070,674 } 14'955,708 Fres. 1852 5°716,015 \ 1853 5'884,372 1854 5'550,575 ! 16'161,082 „ 1855 5'726,135 1856 6'160,241 1857 6'494,635 1868 6'874,807 19:529,653 ——— Dass in den einzelnen Jahren Fluctuationen vorkamen, ist eine allzugewöhnliche und allzunaturgemässe Erscheinung, als dass es nöthig wäre, darüber in bestimmte Erörterungen einzugehen. Dagegen ver- dient die Zunahme der Zollerträgnisse in den beiden letzten Jahren, ganz vorzüglich im J. 1858, specielle Beachtung. Die Handelskrise schadete unbestreitbar der auf den Export berechneten Industrie, und zwar in sehr hohem Maasse; die starke Verminderung im Bezuge roher Seide und roher Baumwolle, sowie die entsprechende Vermin- derung in der Ausfuhr von Seide- und Baumwollefabrikaten, lassen namentlich bezüglich dieser beiden wichtigsten Exportartikel keinen Zweifel. Gleichwohl aber stieg die innere Consumtion im Gan- zen, denn die Zölle treffen ja bekanntlich zumeist den innern Ver- brauch. Auch im ersten Quartale des Jahres 1859 hat sich eine wei- tere ansehnliche Vermehrung der Mautherträgnisse ergeben, trotz der bedeutenden Störung der Industrie in Folge der Kriegsaussichten. Es sind diess fernere, nieht unwichtige Beweise dafür, dass, wie ansehn- — 19 — lich der auswärtige Handel immerhin sei, doch keineswegs von ihm allein die Begründung und Erhaltung des Volkswohlstandes abhängt. Uebrigens begegnen wir derselben Erscheinung eines Steigens der Zollerträgnisse während des letzten Jahres auch in andern Ländern, namentlich im deutschen Zollvereine. Es sei gestattet, eine Uebersicht der Zolleinnahmen dieses eben genannten Staatenvereins anzufügen. Vor- gängig sei nur bemerkt, dass die Volkszahl dort im J. 1850 29’800,000, 1854 (in Folge Beitritts von Hannover und Oldenburg) 32'560,000, und 1858 etwa 33 Mill. betrug. (Die Ergebnisse der letzten Volks- zählung sind noch nicht bekannt.) Die Roheinnahme an Ein-, Aus- und Durchgangsabgaben betrug: 1850 22'948,809 Thlr. preuss. Crt. 1851 _ 23'256,050 „ Mc 1852 24'469,721 „ n be 1853 22:016,154 „ 1854 23'157,407 , 1855 26:323,3711 1856 26‘156,450. „ 1857 26'595,788 „ 1858 28'606,592 „ 4 e Mittelbar gehört hieher der Ertrag der inländischen Rübenzucker- Steuer, 1855 ergebend 3'934,931, 1858 aber auf 7'416,687 Thlr. ansteigend. In Oesterreich war der Zollertrag:: 1855 22‘956,017 Guld. C. M. 1856 ABa0B, 383 EHRT 1857 21372553 5,04; 1858 ZWIETORTI N EE Si In Frankreich hingegen ertrugen die Zölle im J. 1856 177, 1857 183 Mill. Frs. Die vorstehenden Ziffern fordern zu einigen Vergleichungen auf. Vor Allem was den Ertrag der eigentlichen Zölle von jedem einzelnen Einwohner durchschnittlich anbelangt. ne Te”? A a | 1850. 1858. Schweiz Fr. 1,732/, Cent. Fr. 2,75 Cent. Zollverein *) 2,864, , 3,55. „ Oesterreich *) etwa 1,34 „ Frankreich etwa D10 Zunächst ergibt sich aus diesen Ziffern, dass man in der Schweiz mit den so äusserst niedrigen Zollsätzen (bei der höchstbestenerten *) Ohne die Steuer vom inländischen Zucker. — I6 — Classe 15 Fıs. = 4 Thlr. per Centner) beinahe eben so hohe Erträge erlangt, wie bei dem vielfach schwer belastenden Tarife des Zoll- vereins; noch einmal so hohe als in Oesterreich, und wenigstens mehr denn halb so hohe, als sogar in Frankreich mit seinen gewaltigen Mauth- anstalten. (Doch darf auch hier nicht übersehen werden, dass zwi- schen den Verhältnissen grosser und kleiner Staaten ein Unterschied obwaltet; je grösser ein Zollgebiet, desto mehr Erzeugnisse kann man aus dem Inlande, also zollfrei, beziehen, was natürlich eine Verrin- gerung des Roh- oder Bruttoertrags bewirkt; hingegen wird der Rein- ertrag in kleinen Gebieten durch die relativ grösseren Grenzbewachungs- kosten geschmälert.) Abgesehen hievon muss die Verschiedenheit in den Graden der Ertragsvermehrung auffallen. Obgleich der Zollverein durch den Anschluss von Hannover und Oldenburg den Zuwachs einer Bevölke- rung erlangte, deren Consumtionsfähigkeit für weit höher, als die normale ‚angesehen ward (daher die Gewährung eines enormen Präci- puums von den gemeinsamen Einnahmen an die dortigen Regierungen) erhoben sich die Einkünfte im Zollverein von 1850—58 pr. Kopf doch nur um nicht vollständig 24 Proc, — in der Schweiz dagegen stiegen sie gleichzeitig um 57%/, Proc., also in einem mehr als dop- pelt so grossen Verhältnisse. | Wir wollen nicht schliessen, ohne noch eine andere statistische Notiz mitzutheilen, deren Inhalt ein wesentliches Moment bildet, um sowohl den Umfang des Gesammtverkehrs (des innern und des aus- ländischen Handels), als den Grad der Massebildung des Volkes zu bezeichnen; wir meinen die Zahl der (durch die Posten beförderten) Briefe, Wir bedauern, von den meisten Staaten keine neueren An- gaben, als vom J. 1856, zur Hand zu haben, und unterlassen, mög- lichster Gleiehförmigkeit wegen, die Aufnahme einzelner neuerer No- tizen; wo Abweichungen unvermeidlich, setzen wir die Jahreszahl bei. Es wurden Briefe befördert: in Grossbritanien *) £ e 478 Mill. = 17,25: „ Frankreich - ; i 252 aa — We! „ Preussen**) _.. : . 110laas. = 76,42 „ Oesterreich 54 „ = 1,47\ auf jeden Kopf der „ Russland (1855, angeblich) 16%, = 0,94/ Bevölkerung „ Baiern = zul = vsr| „ Württemberg > 40), = 118) „ der Schweiz (1856) ##%) i 233/19, 88 *) 1858 523 Mill. **) 1858 124 Mill. “) 1857 24'322,358; — 1858 25'528,379. b — 197 — Schlussbemerkungen. Man wird uns das Zeugniss nicht versagen, in vorstehender Ab- handlung aufs Angelegentlichste bestrebt gewesen zu sein, jede Ueber- treibung ferne zu halten, und alle Folgerungen zurückzuweisen, welche auf einem Vermengen verschiedenartiger Elemente beruhen. Um so mehr verdient die von uns festgestellte Thatsache allgemeine Beach- tung, dass der Schweizer Handel — wenn auch nicht absolut der bedeutendste, wie man irrig behauptete, doch im Hinblick auf die Ungunst so vieler Verhältnisse — die relativ grösste Leistung irgend eines Volkes auf diesem Gebiete in sich schliesst. Und wenn John Bowring, der gründliche Kenner und Beurtheiler, schon vor zwei Jahr- zehnten die Aufmerksamkeit Englands und ganz Europa’s auf die merkwürdige Erscheinung lenkte, welche die Eidgenossenschaft in commercieller Beziehung darbot, so ist die seitherige Weiterentwicklung der diesseitigen Industrie und des Handels ganz geeignet, diese Auf- merksamkeit aufs Neue und in noch höherm Maasse in Anspruch zu nehmen. Von selbst drängt sich die Frage auf: Wodurch war diese holıe Entwicklung überhaupt möglich, gegenüber der grossen Ungunst der natürlichen Verhältnisse und so vieler Hemmungen durch die Schutz- zölle und Prohibitionen der Nachbarstaaten? Als wichtigsten und in alle Einzelnverhältnisse tief eingreifenden Umstand betrachtet der Verf. das Frineip des Selfgovernments, welches Prineip nicht etwa bloss in dieser oder jener Beziehung geduldet wird, sondern auf welchem hier gleichsam Alles beruht. Da es indess un- sere Absicht nicht sein kann, bei dieser Gelegenheit in eigentlich po- litische Erörterungen einzugehen, so beschränken wir uns auf eine ein- fache Erwähnung dieses Verhältnisses. Die Industrie der Schweiz konnte und musste unter inländischen handelspolitischen Zuständen beginnen, welche heute jede nennens- werthe Leistung ausschliessen würden. Ursprünglich hatte jeder Kan- ton seine eigene, von der des Nackbarkantons verschiedene Münze; vergeblich suchte die helvetische Republik (1798) dieses Hinderniss des Verkehrs zu beseitigen; auch ein Versuch unter der Mediations- verfassung (1803) blieb erfolglos. Dabei war das Maass- und Ge- wichtsystem durchgehends verschieden. Man hatte 20erlei Fusse, 50 verschiedene Ellen-, 29 Flächen-, 76 Getreide- und 53 Flüssigkeits- maasse, sodann 36 Pfunde. Erst im J. 1840 trat ein Concordat un- Wissenschaftliche Monatsschrift. 1V. 13 — 198 — ter 12 Kantonen ins Leben, das wenigstens diesen (aber nicht der gesammten Eidgenossenschaft) gleiches Maass und Gewicht verschaffte. Die ganze Schweiz war überdiess mit Zollstätten gleichsam über- schüttet. Im Jalır 1823 klagte J. C. Zellweger auf der Tagsatzung: „In der ganzen Eidgenossenschaft sind über 400 Zollstellen, welche das bunteste Gemälde bilden... .. und die, wenn sie einzeln auch noch so klein (welches aber nicht immer der Fall), zusammengenommen nicht unbedeutend sind.“ Ebenso sprach ein Bericht der Revisions- kommission der Tagsatzung vom April 1838 die sehr wahren Worte aus: „Wir haben eine Menge Zollberechtigungen unter den verschie- densten Namen. Diese verschiedenen Gebühren, wovon viele eine Ent- schädigung für Leistungen, andere hingegen eigentliche Steuern sind, gehören den Kantonen oder Gemeinden und andern Corporationen oder auch Privaten ..... Da die verschiedenen Zölle und Gebühren an der Grenze jedes Kantons und selbst auf Strassen im Innern erhoben wer- den, so bilden sie eine bedeutende Belästigung der Freiheit des Ver- kehrs im Innern.“ Dieses letzterwähnte Hemmniss wirkte nicht selten noch belästigender als die meist geringe Abgabe an sich. Der Beginn einer höhern Industrie unter solchen Verhältnissen war zwar möglich in frühern Zeiten, in denen man auch anderwärts, namentlich in Deutschland, beinahe überall auf Zollstätten, Aceise- stellen, Weg-, Brücken- und Pflastergeld-Erhebungen u. dgl. stiess, — dagegen mussten diese Hemmnisse beseitigt werden mit dem Ein- tritt der Epoche der Dampfschiffe, Eisenbahnen und Telegraphen. Das Hinwegräumen dieser Hindernisse war aber gerade in der Schweiz keine leichte Aufgabe, — in einem Lande mit den localen und tra- ditionellen Eigenthümlichkeiten der Eidgenossenschaft. Man verdankt es dem neuen Bunde, alle diese Schwierigkeiten besiegt, gleiches Maass, gleiches Gewicht, gleiches Münzsystem hergestellt, und die Binnen- zölle (wenigstens die unmittelbaren und lästigsten) aufgehoben, die Mauth an die Grenze des Staats verlegt zu haben. Ohne diese durchgrei- fende, glückliche Umgestaltung wäre man, so weit sich nur absehen lässt, niemals zu den jetzigen Resultaten gelangt; ohne die bezeichnete Aenderung im Innern wäre ein Aufblühen der Industrie und des Han- dels bis zu dem heute erlangten Maasse geradezu unmöglich gewesen. Als die neue Organisation der von einem Staatenbunde zu einem Bundesstaat umgebildeten Eidgenossenschaft stattfand, konnte kein Zweifel darüber entstehen, dass der Freihandel, nicht ein Schutz- zoll- oder gar ein Prohibitivsystem, die Grundlage der Mauthein- | — 19 — richtung bilden müsse. Es war unumgänglich, der neuen Centralgewalt selbstständige Einkünfte zu sichern, so dass sie nicht von Matricular- beiträgen der einzelnen Stände, dass sie nicht von dem guten oder schlechten Willen der verschiedenen Kantone abhängig sei. Wie in Nordamerika bestimmte man auch hier die Zölle als Hauptfinanzquelle der Bundesgewalt. Aber als selbstverständlich galt es, dass die Auf- lage in allen Theilen eine entschieden mässige sei. Wer irgend die industriellen Verhältnisse der Schweiz wirklich kennt, für den wird nicht der leiseste Zweifel darüber bestehen, dass diese Industrie niemals ihre jetzige Höhe und Ausbreitung hätte erlan- gen können, noch dass sie diese Ausdehnung fortzubehaupten vermöchte unter irgend einem andern Systeme, als dem des Freihandels. Schutzzölle würden vielleicht (auf Kosten der Gesammtheit der Con- sumenten, d. h. auf Kosten des ganzen Volkes!) einzelne Gewerbs- oder Fabrikzweige künstlich gefördert haben, sie hätten aber — un- mittelbar und mittelbar — alle jene Zweige, die wir dermalen in so wundervoller Entfaltung erblicken, an der Erlangung dieser Blüthe gehindert. Man suche auf der ganzen Erde irgend ein anderes Land, ‘das, unter so ungünstigen Verhältnissen wie die Schweiz, vermittelst der Schutzzölle und Prohibitionen auch nur entfernt zu einem solchen industriellen Aufschwung gelangt wäre! Alle Folgerungen, welche John Bowring schon vor länger als zwei Jahrzehnten aus den merkantilen Verhältnissen der Eidgenossenschaft für den Freihandel ableitete, haben sich in der seitdem verflossenen ziemlich langen Zeit nicht nur im Allgemeinen bewährt, sondern es liegen weit erhöhte Beweise für ihre Richtigkeit vor. Der Schweizer Industrie kam, gegenüber der des Auslandes, be- sonders noch ein Umstand zu statten, der gewöhnlich ganz unbeachtet bleibt: die Eidgenossenschaft ist frei von der Last eines stehenden Heeres, ist ohne Conseription (obgleich nichts weniger als verthei- digungsunfähig, in Folge ihres, im Ganzen trefflichen Milizsystems). Es ist schon oft erörtert worden, welche enorme Lasten den Staats- finanzen unausgesetzt erwachsen durch die Unterhaltung stehender Heere ; ferner, wie sie es hauptsächlich waren, welche das furchtbare Anschwellen unproductiver Staatsschulden und einer immer colossaler gewordenen Zinsenmenge herbeiführten. Von beiden grossen Uebeln — Ausgabe für ein stehendes Heer und Verzinsung einer durch dessen Existenz herbeigeführten Staatsschuld — hat sich die Eidgenossen- schaft frei gehalten. Damit findet sich indess nur der eine, vielleicht en) nur der kleinere Theil des abgewendeten Uebels bezeichnet. Der an- dere Theil beruht darin, dass (abgesehen von kurzen, aber genügen- den militärischen Uebungen) hier Niemand der ökonomischen Thätig- keit behufs zwecklosen Kasernenlebens entrissen wird. Man vergegen- wärtige sich die ganze ungeheuere Menge von Erzeugnissen, welche durch die Gesammtmasse aller jungen Männer, gerade in ihren aller- besten Jahren, hervorgebracht werden; man vergegenwärtige sich, was Alles davon hätte hinwegfallen müssen, wenn (wie nach dem einen Militärsysteme) alle gesunden jungen Männer drei Jahre lang — oder wenn (nach andern Systemen) eine durch das Loos bestimmte Anzahl derselben 6, 7 oder 8 Jahre lang ihrem bürgerlichen Berufe entrissen (und wol hintennach auch noch der Arbeit entwöhnt) gewesen wären. In der Schweiz selbst vergegenwärtigt man sich wol am sel- tensten die ganze Grösse des dadurch gewährten Vortheils. In früherer Zeit, besonders während des vorigen Jahrhunderts, lieferte die Schweiz beinah allen andern Staaten eine fast unglaubliche Menge von Söldlingen (gegen Ende der 1780er Jahre zählte man aus- wärts 29 Schweizerregimenter, etwa 50,000 Mann stark.) Noch heute ist es nicht gelungen, das unwürdige „Reislaufen* ganz zu beseitigen. Die finanzielle Wirkung dieser hässlichen Gewohnheit war und ist allerdings eine andere, als jene des Conseriptionssystems, indem den Geworbenen eine weit höhere Löhnung gewährt werden muss, als den Ausgehobenen. So bewirkten früher die Werbungen einen Hauptgeld- zufluss nach der Schweiz (in den Jahren 1740— 50 sollen die nur von Frankreich bezahlten blossen Werbegelder jährlich etwa 600,000 Livres betragen haben, im J. 1744 sogar 11/, Millionen, ungerechnet den laufenden Sold). Der Erfolg hat aber thatsächlich gezeigt, dass gerade das möglichste Abschneiden dieses Geldzuflusses auch finan- ziell eine Wohlthat für das Land ist, indem die Arbeit der nun in der Heimath bleibenden oder der auf ihr Gewerb reisenden jungen Männer einen ungleich höhern Werth besitzt, als die im Söldnerdienst erlangte und meist vergeudete Löhnung. Die Zeit der Hemmung jenes Söldnerdienstes ist wenigstens nicht ganz zufällig die Epoche eines höhern Aufschwungs der Industrie. Redet man irgendwie von dem Wohlstande der Schweiz, so wird man allerdings auch an den Geldzufluss erinnert, welchen die ge- waltigen Naturgestaltungen dem Lande, wie ein blosses Geschenk, durch Herbeiziehen zahlloser Fremden alljährlich verschaffen. Unver- kennbar handelt es sich dabei um wahrhaft enorme Summen. Indess — 201 — schlagen wir den auf diese Weise erlangten ökonomischen Nutzen bei weitem geringer an, als die von den Reisenden verausgabten Summen annehmen lassen. In mancher Beziehung ist dieser Andrang üppiger und verschwenderischer Fremden sogar von überwiegenden Uebeln be- gleitet; nicht selten trägt er bei zur Untergrabung der Sittlichkeit, zur Gewöhnung an Nichtsthun und Bettel. Viele der besuchtesten Gegen- den, wie das Berner Oberland, gehören zu den ärmsten, und sicher- lich. würde das Emporkommen der Industrie auch diesen Gauen grös- sere Vortheile gewähren, als eine Verdoppelung der Reisendenzahl, begleitet von einer, nur kurze Zeit dauernden, oft sinnlosen. Geldver- schleuderung, und gefolgt von einem, drei Viertheile des Jahres aus- füllenden, vollständigen Versiegen dieser Quelle, und einem meist müssi- gen Harren auf ihre Wiederkehr. Wir können unsere Bemerkungen nicht schliessen, ohne noch zweier Charakterzüge der Schweizer zu gedenken: einerseits der spar- samen Lebensweise des Volkes, anderseits der Vorsicht desselben in Benützung des Credits. Diese Vorsicht, diese wesentliche Beschrän- kung auf die eigenen Mittel, halfen wunderbar über die letzte mer- kantile Weltkrise hinweg. Kein Land des europäischen Continents steht verhältnissmässig in so vielfachen und ausgedehnten Handels- beziehungen zu Nordamerika, wie die Schweiz. Die dortige furcht- bare Erschütterung musste daher gerade in der Eidgenossenschaft zahl- lose und schwere Verluste herbeiführen. Gleichwol entstanden in Folge "dieser Krise beinah’ keine Fallimente. Man hatte nicht, wie anderwärts, den Credit toll überspannt und missbraucht. Ganz besonders zeichnet sich in solcher streng soliden Haltung die deutsche Schweiz aus. Es wäre ungereimt, behaupten zu wollen, es sei in allen einzel- nen Beziehungen das Alleräusserste, was überhaupt möglich, geleistet. Es gibt vielmehr noch Manches zu verbessern. So entbehrt die Schweiz heute noch eines vollkommen freien Verkehrs in ihrem Innern, so lange eine Anzahl Kantone ihre kantonalen Aceisen, das den Verkehr belästi- gende Ohmgeld u. dgl. erheben. In mehreren Gegenden, darunter sogar in Basel-Stadt, hat man sich noch nicht zur Anerkennung des Prineips der Gewerbsfreiheit emporgeschwungen (welche Ver- weigerung neben dem Freihandelssystem eine wahre Ungereimtheit bildet). Im Grossen und Ganzen aber sind die Leistungen der Eid- genossenschaft auf dem Gebiete der Industrie und des Handels nicht bloss grossartig, sondern Staunen. erregend. Der Quellkultus in der Schweiz. (Schluss.) Von H. RUNGE. Haben wir bisher aus den Ueberlieferungen und dem Glauben des Volkes nachzuweisen gesucht, dass überhaupt in der Schweiz Quellkultus bestand und in wie ausgedehnter Weise er vorhanden ge- wesen sein muss, so kömmt es nunmehr darauf an, bestimmte gottes- dienstliche Gebräuche aufzuzeigen, da erst daraus sich die volle Be- deutung der Verehrung des Wasser-Elementes ergeben kann. Vor allen Dingen wenden wir uns den Opfern zu. Dass diese bei Quellen statt- fanden, dürfen wir, abgesehen von den Nachrichten der alten Schrift- steller, schon aus den kirchlichen Verboten schliessen. St. Eligius und St. Pirminius verurtheilen die Gelübde an Brunnen, der Indieulus superstitionum et paganiarum (am Schluss des Capitulare Karlomanni de 743 apud Liptinas mitgetheilt) bezeichnet einen Abschnitt mit der Ueberschrift de fontibus sacrifieiorum, Burchard von Worms ist reich an Verurtheilungen der Opfer bei Quellen und in den Coneilien-Be- schlüssen und Capitularien kommen ebenfalls häufige Verbote vor. Einige derselben haben wir bereits mitgetheilt; andere werden wir noch zu besprechen haben, Was zunächst die wichtigsten aller Opfer, die Menschenopfer, anbetrifft, so darf man nach den vorhandenen Zeugnissen annehmen, dass sie bei Gewässern nicht sehr häufig vorkamen; dennoch lassen sie sich nicht bezweifeln. Jonas erzählt im Leben des heiligen Wulf- ram, dass die Friesen Menschen in das Meer und in andere Gewässer stürzten und nach Taeitus versenkten die Germanen Weichlinge und Feige mindestens in Moräste: es ist aber bekannt, dass die Hinrich- tungen der Verbrecher wesentlich Opfer waren. Auch die Römer kannten solche Opfer; der Tiber wurden Menschen und zwar die Greise geopfert, indem man sie von der Brücke hinabstürzte!); später traten 1) More majorum ceasnares arripiunt et de ponte in Tiberim deturbant. Varro bei Non. Marcell. 86, 20. Aus diesem Hinabstürzen der Greise in die Tiber erklärt man depontanus (Greis) und die Redensart sexagenarios de ponte. Ver- gleiche hierüber die interessanten und erschöpfenden Bemerkungen Osenbrüggens (Einleitung zu Cicero’s Rede für Roscius Amerinus pag. 45—58). Fe VE = — 203 — an ihre Stelle freilieh Puppen, die Quirites straminei und die simu- laera scirpea, welche die Priester vom Pons Sublieius in den Fluss zu werfen pflegten. Sextus Pompejus soll Menschen in das Meer haben stürzen lassen, um sie dem Neptun darzubringen (Dio XXXXVILI, 45). Als die schon bekehrten Franken den Po überschritten, opferten sie Weiber und Kinder (Procop. de bello goth. 2, 25). Ein Rest dieser Menschenopfer sind unzweifelhaft die Ertränkungen der Ver- breeher und namentlich der Hexen im Mittelalter; auch diese Todes- strafe stammt, wie das Erhängen, Viertheilen, Verbrennen u. w. aus den heidnischen Opfergebräuchen her. Bemerkenswerth ist bei ihr, dass sie meist nur Frauen traf. Wenn Karl der Kühne von Burgund einen grossen Theil der Vertheidiger von Grandson an Bäume auf- hängen, den Rest aber in den See werfen liess, so folgte er, freilich ohne es zu ahnen, der alten heidnischen Sitte, welche die Gefangenen den Göttern zu opfern gebot. Auf die Menschenopfer, welche Gewässern gebracht zu werden pflegten, weisen auch die Sagen hin, nach denen Seen und Flüsse alljährlich ein Menschenleben fordern; gäng und gebe ist der Aus- druck: „Der See will sein Opfer haben.* Gewöhnlich verlangt er ein unschuldiges Kind. Die Saale fordert alljährlich ihr Opfer auf Wallburgis und Johannis und an diesen Tagen meidet das Volk den Fluss; dasselbe erzählt man von der Elbe, Unstrut und Elster. Wenn Jemand in der Donau dem Ertrinken nahe ist und bisher in demsel- ben Jahre noch kein Unglücksfall der Art vorkam, so eilen die Schif- fer dem Verunglückten nicht zu Hülfe. Sie sagen: „die Donau will ihren Jodel haben!“ (Nork Sitten und Gebr. S. 364), Wallburgis, der Maitag und St. Johannis, die Sommer -Sonnenwende, waren aber Hauptfesttage der Heiden. Bezeichnend ist es, dass einzelne Flüsse laut nach dem Opfer rufen und dieses sogar bei seinem Namen nennen, alle aber wüthen und toben, wenn ihrem Verlangen nicht zu rechter Zeit gewillfahrt wird. Sobald an der Bode das Wasserhuhn pfeift, muss Jemand ertrinken, die Müller werfen dann sogleich ein schwarzes Huhn in den Strom?), augenscheinlich als Ersatz für einen Menschen (Kuhn und Schwarz 426). Solche Opfer fordern in der Schweiz z. B. der Rhein, der Vierwaldstädter- und der Wallen-See, von der Nolla in Bündten heisst es, dass Niemand, der hineinfällt, ohne fremde Hülfe herauskommen kann; der Verunglückte wird nämlich schwer wie Blei 2) Siehe Grimm Myth. 461 und Wolf Beiträge II, 301. — 204 — und das Wasser hält ihn fest. Vom Rhein behaupten sogar einige Sagen, er müsse jährlich drei Menschenopfer haben, und vom Wallen- see erzählt man, dass ein Fischer einmal einen dem Tode Geweihten durch Zauberkünste rettete; der See rächte sich indess dadurch, dass er wenige Tage später beide verschlang. Die Leichen der so Ertrun- kenen kommen niemals zum Vorschein. Augenscheinlich setzen diese Sagen wenigstens zum Theil einen im Wasser hausenden Dämon voraus, den man nicht nur versöhnte, sondern dessen Schonung man auch durch das früher gewiss förmlich dargebrachte Opfer erkaufte?). Auf einen solehen Geist weist auch eine interessante Sage hin, welche sich an eine Quelle knüpft. Bei dem uralten Orte Kempten (Campodunum) im Kanton Zürich fliesst aus dem Burghügel ein vortrefflicher und sehr kühler Brunnen, der selbst bei der grössten Dürre nie absteht oder kleiner wird, heraus; er kommt nach dem Glauben der Dorfbewohner aus einem goldenen Brunnentrog, welchen der Fürst der Unterwelt in eigener Person be- wacht. Man kann diesen kostbaren Trog nur dann erlangen, wenn man dem Schatzhüter ein neugeborenes Kind zum Opfer weiht. In der Regel sieht man in Schatzsagen nur Böcke, Katzen und andere Thiere gefordert; dagegen sollen bei Bauten von Schlössern, Mauern, und, was für uns wichtig ist, auch von Brücken und Dämmen aller- dings Menschen und namentlich Frauen und Kinder dargebracht oder in den Bau eingeschlossen werden. Besonders häufig kommt in der Schweiz das Hineinwerfen von Menschen (und an deren Stelle von Puppen) in Brunnen an solchen Festen vor, welche fast durchweg Reste der heidnischen Frühlings- feier zu sein scheinen. Am Aschermittwoch hielten sonst die Zürcher Metzger (angeblich zum Andenken an die Mordnacht von 1330, bei der sie sich durch ihre Tapferkeit ausgezeichnet hatten) einen fest- lichen Umzug durch die Stadt, bei welchem sie den sogenannten Eisen- grind oder Isegrimm mit klingendem Spiel herumtrugen. Dieser stellte die vordere Hälfte eines Löwen mit zwei Tatzen vor. Ausser- dem pflegte man einen Menschen in eine Bärenhaut einzukleiden und ihn durch einen Hanswurst oder einen Geiger an der Kette führen zu lassen. Das Bild bei dem Neujahrsstück der Musikgesellschaft auf ®) In den meisten Seen der Nordschweiz haust der Haggäma, so genannt, . weil er die Menschen mit einer langen Hacke in die Tiefe zieht; er ist der Nichus (Grimm Myth. 456). —_ — 205 — der neuen Schule von 1785 giebt den Zug folgendermassen: Zugfüh- rer mit Federhut und mit dem eidgenössischen Kreuz bezeichnet, ein entblösstes Schwert in der Hand; Musiker und Trommler in alter- thümlicher Kleidung ; Geharnischte mit Spiessen die Zunftfahne um- gebend; Hanswurst in buntem Rock; Bär an der Kette; Eisengrind begleitet«von zwei Knechten mit grossen Beilen; Rest des Zuges aus Gewafineten bestehend. In den nächsten Tagen nach dem Feste wur- den Bär und Eisengrind an den Fenstern des Zunfthauses öffentlich ausgestellt. Nach Bullinger (Chron. tig. I, 8. cap. 2) hatte man aber zu seiner Zeit noch andere Bräuche. Er berichtet nämlich: „Da aber heut zu tag die torichten schöppen ihre herrliche freiheit und redlich- keit ihrer vordern mit eitelem narrenwerk besudlet und in vergessen- heit gebracht haben ; denn sie tragen wohl der Stadt fähnli und den Leuenkopf zwischen den schlachtbielen herum, nennend aber den stri- tenden Leuen den Isengrind, und muss der denselben tragen, der des- selben jahres den bösten kauf gethan hat, denn mengklich nit anders meint, den er trage darum den Isengrind herum. Dazu hat man erst getan ein unfläthig spiel, ein brut und ein brütigam, um welche alles vollauft narren und butzen (bären u. s. w.) mit schellen, trünklen (Kuh- glocken), kuhschwäntzen und allerlei wusts®). Es wird auch som- licher umzug anders nüt genennt denn der Metzger brut; und wirft man endlich den brütigam mit der brut in den Brunnen.“ Ein ähn- liches Fest zu Zürich war das des Kohlenkorbes; am Hirsmontag, dem ersten Montag nach Aschermittwoch, liess nämlich die Zunft der Schmied- stuben einen Korb in der Stadt ‚herumtragen und begleitete denselben mit Gewehr, Waffen und Spiel. In dem Korbe aber steckte ein Mann verborgen und wenn die Träger zu dem Brunnen, der in der Nähe des Zunfthauses stand, kamen, so warfen sie denselben zu allgemei- nem Gelächter ins Wasser (Mspt. d. Stadtbibl. Zürich, L. Quart 83, 7). Dass der Umzug der Metzger nieht von der Mordnacht herstammt, sondern ein uralter sein muss, ergiebt sich aus den dabei vorkommen- den Gebräuchen, welche mit jenem Ereigniss in keine Beziehung zu bringen sind®), dagegen in allen Theilen mit solchen bei heidnischen 4) Früher scheint auch die Laubeinkleidung stattgefunden zu haben; ein Verbot aus Waldmann’s Zeit besagt: Alles Butzen- (Böggen-) Werk auf den drei Fastnachten, in blossen Hemdern, Epheu, Laub u. s; w. ist bei 2 Mark Silbers verboten. (Füssli Waldmann 89.) 5) Merkwürdig ist es, dass auch das Schönbartlaufen der Metzger in Nürn- berg zu Fastnacht daher stammen soll, dass die Zunft bei einem Aufstande des — 206 — Festen übereinstimmen; Bullinger selbst sagt, dass die Erinnerung an den von ihm behaupteten Ursprung Vielen unbekannt gewesen sei. Der ähnliche Umzug der Schmiede wird gar nicht historisch begrün- det. Als Frühlingsfeier charakterisiren sich beide Festlichkeiten durch den Zeitpunkt, in welchen sie fallen®), den Bären, den bekannten Repräsentanten des deutschen Donnergottes?), die Butzen, die Schellen u. s. w.; selbst der Isengrind, der halbe Löwe, der vielleicht ursprüng- lich ein Wolf (Isangrim, Reinhard CCXLII) war, deutet darauf hin. (Vergleiche über das Durchschneiden, Durchsägen u. s. w. Grimm Myth. 742). Dass die Metzger bei ähnlichen Festen die Opferpriester vorstellen, weil viele Opfer eben blutige waren und das Opferthier gegessen wurde, ist bereits von Simrock (Myth. 401. 547) nachge- wiesen®), und in wie nahe Beziehungen sie zu Brunnen treten, be- weist der Metzgersprung in den Fischbrunnen zu München am Fa- schingsmontag, der also mit der Zürcherischen Feier auch in Hinsicht auf den Zeitpunkt genau zusammenfällt (Panzer Beiträge I. 226). Wenn bei diesem sehr eigenthümlichen Feste die Metzgerknaben im Brunnen stehend, während des Tanzes der Gesellen mit grünbelaubten Reifen das Volk mit Wasser begiessen und dadurch weihen, so haben wir zu Zürich das Eintauchen selbst. Es mag freilich auf den ersten Blick etwas gewagt erscheinen, darin Spuren eines alten Opfers zu sehen; man könnte leicht an eine symbolische Purifieation denken, zumal alle Elemente reinigend sind. Aber es ist vielmehr eine Lustration und als solche mit einem Opfer nothwendig verbunden. Merkwürdig sind die noch vor etwa 25 Jahren beim Brunnenspringen zu Munderkingen an der Donau üblich gewesenen Gebräuche (Meier Schwäb. Sagen 377). Dort musste alljährlich der jüngste Bürger (d. h. derjenige, welcher zuletzt Hochzeit gehalten) am Aschermittwoch in den Brunnen sprin- gen; er trug dabei weisse Hosen und eine rothe Weste und alle Bür- ger begleiteten ihn vom Rathhause bis an den Marktbrunnen. Ehe Jahres 1349 treu zum Rathe der Stadt hielt; es ist aber ebenfalls ein uralter Festumzug (Panzer Beiträge II. 246). 6) Am Hirsmontag fand ausserdem zu Zürich der Umzug des Chrideglade und seines Weibes Else auf dem Schleifrad statt; auch diese beiden Puppen sollen ins Wasser und zwar in den See geworfen worden sein. 7) Thor hiess selbst Biörn, der Bär. 8) Die Metzger zu Zürich hatten in katholischer Zeit (bis 1524) auch die Verpflichtung, am Palmsonntag den Palmesel von St. Peter nach der Kapelle auf dem Lindenhof zu ziehen. (Hess Geschichte von St. Peter 8. 70). — 207 — er dort hineintauchte, wurde das Wasser, das etwa 10— 12 Schuh tief sein soll, umgerührt, so dass es stark wallte. Dann brachte der Mann ein Hoch aus und stürzte sich in den Brunnen; sowie er wieder hervorkam, reichte man ihm eine Stange, damit er wieder heraus- kommen konnte. Abgesehen davon, dass die Wahl des Springenden auf ein Opfer, welches Einer für Alle bringen muss, hindeutet, be- stätigt uns dasselbe auch das aufwallende Wasser und die grosse Tiefe des Brunnens, welche das Ertrinken ohne Hülfe wahrscheinlich macht. Zu Sontheim in Schwaben bestimmte man den Wasservogel nach heid- nischem Brauch durch das Loos, hüllte ihn in Laub und warf ihn von der Brücke über die Zusamm hinab in das Wasser (Panzer II. 89). Hier lässt sich an einem Opfer schwerlich noch zweifeln®). Aehn- lich ging es an andern Orten, z. B. zu Abensberg in Niederbaiern zu, wo derjenige Knecht, welcher seine Pferde zuletzt austreibt, der Wasservogel sein muss (Panzer II. 83). Auch diese Wahlart des Opfers ist uralt; sie erinnert an die Gallische Sitte, denjenigen, der bei den gebotenen bewaffneten Versammlungen vor Anfang eines Krie- ges zuletzt eintraf, hinzurichten, d. h. den Göttern zu opfern. Die Rettung des Springers oder des ins Wasser Gestürzten ändert bei der Sache nur, insofern sie die wirkliche Handlung in eine symbolische umwandelt; in andern Fällen geschieht dasselbe, indem man an die Stelle des Menschen eine Puppe unterschiebt 10), Es sei uns gestattet, noch einige schweizerische Feste gleicher Art zu erwähnen. Zu Baden im Aargau führte man vor etwa 30 Jahren einen Mann, den man dafür bezahlte, als Kind eingefäschet in der Fastnacht auf eigenem Wagen durch die Stadt. Sobald man auf dem Platz vor der Waag angekommen war, warf man ihn dort 9) Der Pfingstl zu Niederpöring wird in den Bach geführt, wo er bis zur Mitte des Leibes im Wasser steht, zuletzt schlägt man ihm den Kopf ab (Panzer. L 236), dasselbe geschieht dem Pfingstbutz zu Wurmlingen (Meier 148.) 10) „In sacris licet simulare,“ ist ein Satz des heiligen Rechts, der nicht nur bestimmt in dieser allgemeinen Fassung ausgesprochen wird, sondern auch in vielen Anwendungen durchgeführt erscheint. In sacris, quae exhiberi non poterant, simulabantur et erant pro veris. Servius Aen. 4, 512. Statt leben- der Menschen werden Binsenmänner in die Tiber gestürzt, statt der hominum capita, oscilla ad humanam effigiem arte simulata dem Dis Pater, der Mania Dea mater Larum statt der capita puerorum capita allii et papaveris, der aegyp- tischen Hera nach Amosis Gesetz statt der Menschen eben so viele aus Wachs gefertigte Bilder zum Opfer gebracht.“ Bachofen Gräbersymbolik 52. Derselbe Satz stellt sich auch bei andern Völkern heraus. — 208 — in eine mit Wasser angefüllte Bütte. Auf dem Platze aber machte man Musik und jedes Frauenzimmer, das sich sehen liess, musste an dem allgemeinen Tanze theilnehmen. Wenn wir auch nicht viel auf den Umstand geben, dass das Opfer gewissermassen gekauft wurde, was ja bei den Deutschen, wenn Verbrecher fehlten , ebenfalls zu ge- schehen pflegte, so müssen wir doch hervorheben, dass es als Kind erscheint; der unschuldige, sündenlose Säugling eignet sich vorzugs- weise zum Sühnopfer. Auch den festlichen Tanz können wir nicht stillschweigend übergehen und die Nöthigung der Frauen und Mädchen zur Theilnahme tritt bei Festen auch anderswo, z. B. zu Solothurn auf, wo bei der Vorstadtkilbi jedes Frauenzimmer, das auf der Strasse oder in den benachbarten Häusern gefunden wurde, sich aın Tanze des Umzuges betheiligen musste. Auch zu Klein-Basel fand ein an den Zürcher Isengrind erinnern- der Festzug statt. Am zwanzigsten Tage nach Weihnachten (fiel er auf einen Sonntag, am nächsten Montag) führte ein in alte Schweizer- tracht gekleideter Mann, Ueli genannt, ‘einen Löwen an einer Kette “durch die Stadt; vor den Häusern der Mitglieder der Zunftgesellschaft zum Löwen pflegte die Maske bei Trommel- und Pfeifenmusik einen eigenthümlichen Tanz auszuführen. Sobald man bei dem Brunnen vor dem Rebhause angekommen war, ergriff der Löwe den Ueli und stürzte ihn in das Wasser. Man nannte das Fest die kalte Kilbi (Kirchweih) und feierte es oft drei Tage lang mit Spiel, Tanz und Vergnügungen aller Art. Acht Tage darauf tanzte ein wilder Mann und wieder eine Woche später ein Greif zu Ehren anderer Zünfte, ohne dass jedoch dabei der Brunnensturz vorkam. Nach Einigen sollen jene Umzüge dadurch entstanden sein, dass die Zünfte Klein-Basels die Gewohn- heit der Edelleute, bei Karnevalsfreuden ihre Diener in ihre Wappen- thiere eingekleidet herumgehen zu lassen, nachahmten; nach Andern stellt der Ueli St. Theodul vor, der sich von dem Teufel, welchen der Löwe repräsentiren soll, in einer Nacht durch die Luft nach Rom und von dort zurück nach Sitten tragen liess. Aus Theodul soll Ueli geworden sein. Beide Sagen sind gewiss eben so unhaltbar als eine dritte, welche die Feier zum Andenken an die Befreiung Klein-Basels von der österreichischen Herrschaft und an die erste Einrichtung des Gemeinwesens stattfinden lässt; keine derselben bemüht sich, den” Brunnensturz zu erklären. Der Umzug des Greif und des wilden Mannes scheinen übrigens nur spätere Nachahmungen des Löwenum- zuges zu sein; dieser aber fällt mit den angeführten Festen in Zürich — 209 — und in Deutschland zusammen und ist unzweifelhaft ebenso uralt als siett). Grimm Myth. 562 behauptet gewiss mit Recht, dass der Was- servogel, den er als Pfingstkönig auch in Oesterreich nachweist, den Zweck hatte, den befruchtenden Regen hervorzurufen, obwohl bei seinen Bräuchen das votis vocare imbrem ganz weggefallen ist; aber damit bestätigt sich gewiss nur, dass eine ÖOpferhandlung vorliegt. Wie wollte man sonst den Gott bewegen, als durch Opfer und Gebet. Auch die bekannte Dodola der Slaven und die Pyrperuna der Neu- griechen, welche er bespricht, sowie das junge Mädchen, das man nach Burchard von Worms noch zu seiner Zeit an den Fluss führte und mit der Fluth besprengte, können schwerlich anders denn als symbolische Opfer erklärt werden. Wenn man nach dem Roman de Rou (v. 11514) dadurch Regen hervorrufen konnte, indem man aus dem Brunnen von Barenton im Wald Breziliande Wasser schöpfte und es auf die Brunnensteine ausgoss, so geschah diess nur, weil man Wasser opferte, um Regen zu erlangen. Die von Liebreeht (Otia Im- perialia 147) erwähnte Stelle aus Thomas de Apib. 2, 57, Nr. 28, bestätigt das, indem der Brunnenstein darnach als Altar erscheint; ausserdem befindet sich auch im See Dulenn in Wales ein Stein, der rothe Altar genannt, dessen Bespritzung ein Wetter veranlasst12). Neben dem Menschenopfer war das vorzüglichste gewiss das des Pferdes. Dass dasselbe von den Allemannen bei den Strudeln der Flüsse dargebracht wurde, bezeugt Agathias (28, 5). Die Sage be- hauptet, dass in der Schweiz solche Opfer vorzüglich auch beim Rhein- fall von Schaffhausen stattgefunden hätten und man will in den Ritzen der Felsen Pferdeknochen und Hufeisen vorgefunden haben. Etwas Näheres steht darüber zwar nicht fest, die Tradition bleibt aber dessen- ungeachtet merkwürdig, zumal sie nichts Unwahrscheinliches an sich hat. Auf die Opferung anderer Thiere deuten nur die Sagen von der Teufelsbrücke hin, nach welchen dem bauenden Dämon an Stelle von Menschen Thiere gegeben werden; wirkliche Thieropfer haben sich nicht einmal mehr bei den Festgebräuchen erhalten, obwohl sie in andern Ländern noch vorkommen!P). So opfert man z. B. auf Korsika 11) Beim Frühlingsfest des Sechseläutens zu Zürich, das am Montag nach dem März-Aequinoktium stattfindet, wird eine Puppe feierlich verbrannt. 12) Villemarque, Contes popul. I. 318. 13) Von den Slaven in Böhmen erzählt Cosmas Pragensis ad a. 1093 bei Menken Tom. 1, 2074: „Tum villani adhuc semipagani superstitiosas institutiones — 210 — dem. Meer Ziegen, in Algier den Quellen Hühner und Schafe, in Guinea Rinder und Schafe, in Norwegen dem Fossegrimm am Wasserfall ein schwarzes Lamm und in Wales bringen bei einer der heiligen Thekla geweihten Quelle die Männer einen Hahn, die Frauen eine Henne dar, sobald sie Genesung von einer Krankheit suchen. (Me&m. des Antiq. de Picardie XIII, 76). Auch Opfer von Geld scheinen sich bis auf unsere Zeiten in der Schweiz nirgends erhalten zu haben; vielleicht sind sie indess bisher nur nicht beachtet worden, da sie sich in Frankreich zeigen und man nach Dum&ge in Bearm kleine Münzen in Bäche, Seen und Quellen wirft und gleiche Opfer auch zu Montlognon (Oise) und zu Mirabet vorkommen. Dasselbe geschieht in den Pyrenäen und zu Toulouse bei der Quelle St. Marie (s. de Nore p. 81, 127). Der Quelle von Llandegla in Wales pflegt man sogar eine festbestimmte Summe, näm- lich vier Pence, darzubringen!#). Spuren alter Opfer haben sich vor- zugsweise bei warmen (uellen bemerkbar gemacht. Nach Conrad Gess- ner (de thermis et fontibus medicalis Helvetiae) entdeckte man im Jahre 1420 zu Baden in der grösseren Quelle unter dem heissen Stein römische Münzen und in neuerer Zeit soll man deren auch zu mehreren Malen in den Quellen des Bades Leuk angetroffen haben. Besonders wichtig ist aber der Fund von mehr als 300 römischen Münzen aus der Zeit von Nero bis auf Constantinus in der Brunngquell-Grotte zu Biel, in Hinsicht auf welehen wir auf Jahn’s Untersuchung verweisen 4a); Nach demselben Gelehrten fand man vor längerer Zeit auch in dem Salzbrunnen zu Niederbronn im Elsass 300 römische Kupfermünzen, In wie hohem Anschen die Salzquellen standen, ist bekannt; der Bie- ler Brunnen liefert zwar nur treffliches Trinkwasser, fliesst aber so reichlich, dass er die ganze Stadt versorgt und noch Wasserwerke in Penteeostes tertia sive quarta feria observabant, offerentes libamina super fontes, et mactabant vietimas et daemonibus immolabant. 14) Geldopfer an Gewässern scheinen fast in ganz Europa und selbst in Asien gebräuchlich gewesen zu sein. W. Scott führt in der Introduetion zur ersten Ausgabe des Minstrelsy eine Stelle aus einem Manuscript an, wo gesagt wird: „Many vän supersti tiously to other wells and theretey offer bread and cheese or money by throwing them into the well.“ Auch auf den Hebriden opferte man Geld (Brand, 2, 230, 232), dasselbe geschah von Norwegern bei einer Quelle, Olufskiälla genannt (Oedmans Bahuslän p. 169), und die gleiche Sitte herrscht bei den Russen wie in Indien. (Liebrecht Gervas. Ailb. p. 101.) 15) Nach dem Echo vom Jura 1846, No. 81, befanden sich unter den Mün- zen auch viereckige; waren diess etwa mittelalterliche (Bracteaten) ? en — treibt. Ob Römer ausschliesslich diese Quellopfer brachten, lässt sich nicht ermitteln; sie können ebensowohl von Kelto-Helvetiern, welche sich ja römischer Münzen bedienen mussten, herrühren. Auch von den Stockenseen auf dem Stockhorn und von dem als Versammlungs- ort der Hexen berüchtigten See von Champe im Wallis fand man römische Münzen, die in diesen einsamen Gegenden schwerlich ver- loren, sondern viel eher absichtlich deponirt sein werden. Gregor von Tours erzählt in seinem Bericht über die heidnischen Feste auf dem Helanus (de gloria eonfessorum, cap. 2), dass man bei denselben als Opfer leinene Tücher, zu männlicher Kleidung dienende Stoffe und Vliesse von Schafen und andern Thieren in den See warf. Noch heut besteht derselbe Brauch, sowohl bei stehenden als bei flies- senden Gewässern in Bearn. In andern Gegenden Frankreichs kennt man, ferner den Gebrauch, bei heiligen und heilsamen Quellen Bänder und Kleidungsstücke an den nächsten Bäumen aufzuhängen!®); man hofft sich dadurch von irgend einem leiblichen Uebel zu befreien und all- gemein ist der Glaube, dass derjenige, welcher diese Gegenstände fortnimmt, sich dadurch der göttlichen Strafe aussetzt und in der Re- gel von demselben Uebel, an welchem der Opfernde litt, befallen wird, Zu Montlognon (Oise) sieht man so neben Blumen, Münzen, Kreuz- chen u. s. w. namentlich auch Kinderhäubchen aufgehängt. Die Neu- griechen gehen an bestimmten Tagen in grossen Haufen zu gewissen Quellen und trinken von dem Wasser; werden sie von ihrem Uebel geheilt, so bringen sie leinene und andere Stoffe dar. In Schottland findet man ebenfalls Kleidungsstücke bei Brunnen und in England bei Benton unweit Newcastle-upon-Tyne ist eine Quelle, an welcher die Gebüsche ganz mit Lumpen und Lappen bedeckt sind. (Me&m. des Antig. de Picardie XIII, 80). Sie heisst davon Rag-well. Auch in Deutschland kommen, obwohl sie noch wenig beachtet wurden, solche Quellen vor; Corvinus (Westermann’s Monatsschrift 1858, 120) er- wähnt den Plunneken-Born (Plundern-Born?) bei Braunschweig, der nur denjenigen heilsam ist, welche etwas an die Gesträuche hängen, sonst aber schädlich wirkt. In der Schweiz wird gegenwärtig kein Brunnen mehr in dieser Weise verehrt, obwohl noch die Sitte herrscht, 16) Hanway sah in Persien einen Baum, an welchen die Reisenden Kleider und Lappen aufgehängt hatten, um sich von dem in der Gegend herrschenden Fieber zu befreien und Park traf auf seiner Reise in Afrika einen ähnlichen Baum, Neema genannt, an dem Niemand vorbeiging, ohne etwas von seiner Bekleidung zurückzulassen. — 212 — dass Kranke ihre Kleider an Gebüschen und Hecken befestigen und, sobald dieselben von Wind und Wetter zerstört werden, auf Heilung hoffen. Dessen ungeachtet müssen früher solche Quellopfer, wie sich aus mehreren Brunnennamen schliessen lässt, vorgekommen sein. Zu Basel gab es auf dem Fischmarkt einen Lumpelbrunnen; ein zweiter war zu Sierenz (Basel im 14. Jahrh. $. 45). Ein Hudlerbrunnen ist zu Uerzlikon im Kanton Zürich; Hudeln sind: aber Lumpen und Lap- pen. Butzen heissen die Popanze und Schreckbilder, mit welehen man die Vögel verscheucht; sie bestehen in der Regel aus alten Kleidern. Butzenbrunnen kommen nicht selten vor; ein Butzenbrünneli ist z. B. zu Flach und eine Butzmattquelle zu Knonau. Zwischen Pierre Per- tuis und der Birsquelle befindet sich die fontaine de chiffel; sie weist auf die französischen fontaines aux chiffons hin. Abgesehen von diesen grösseren Opfern kommen noch verschiedene kleinere vor; sie sind indess in der Schweiz bisher noch wenig beachtet worden. Gigampf, Wasserstampf! rufen die Kinder im Aargau, wenn sie Blumenküschel opfernd ins Wasser werfen (Rochholz Kinderlied 181). Tanner (Heimathliche Lieder, Zürich 1846) salı die Darbringung von Blumen auf dem Rhein bei Schaffhausen. Im 14. Jahrhundert fand zu Basel am Auffahrtstage der feierliche Bannritt statt, bei dem man mit dem heiligen Saerament die Felder umzog; zu den verschiedenen Bräuchen des Festes gehörte es, dass man den Kornmarktbrunnen mit einem Maien schmückte. „Das alles geschah Gott dem Allmächtigen zu Lob und Ehr, der Frucht zum Schirm und der Gemeinde zum Trost für Ungewitter (Basel im 14. Jahrh., S. 25). Im Friekthal steckt man die Pfingsthutte auf den Hauptbrunnen. Wenn die jungen Leute in Hessen am zweiten Ostertage aus der Quelle am Meissner Wasser schöpfen, so wagen sie es nicht, das zu thun, ohne Blumen mitzu- bringen. Blumen und Zwieback werfen die Kinder in den Ilkenborn zu Sievershausen. In den Basses-Pyrendes schmückt man noch heut die Brunnen an einem eigenen Feste, Fontinalia genannt, mit Blumen- Guirlanden; ein gleichnamiges Fest hatten bekanntlich auch die kKömer. Im Schottischen Hochland opfern die Kranken den Quellen ebenfalls wohlriechende Blumen 7) und in England bekränzt man zu Brewood und Bilbrock (Staffordshire) am grünen Donnerstag die Brunnen. Der berühmten Fontaine von Börendon in der Bretagne giebt man nach 17) Brand Observations on the popular antiquities of Great-Britain, Vol. IL, p- 376—378. ee En = m — Villemarque wit den Worten: „Ris doue, fontaine de Berendon, et je te donnerai une £Epingle!* Stecknadeln, andern Brunnen Nähnadeln, Nägel, Muscheln, Läppchen, Brod, Käse!8), ja selbst Kieselchen und Scherben von Töpfen und andern Gefässen. Nieht selten untersagen kirchliche Gebräuche, bei Quellen, Steinen und Bäumen Lichter anzuzünden und sie zu belenchten; schon das Con- eil von Arles (452) erwähnt dieser abergläubischen Gebräuche und in den Bussfragen des Burchard von Worms ist ebenfalls von ihnen die Rede1P). Die für uns wichtigen Ausdrücke, welche dabei vorkommen, sind ad fontes luminaria facere, und candelam deferre und Grimm (Myth. 550) möchte annehmen, dass diese Beleuchtungen Abends oder Nachts stattfanden, wo die in der Fluth wiederscheinende Flamme den Schauer der Anbetung erhöhen musste. Aus demselben Grunde schant man noch hier und da zu Weihnachten in den Brunnen und steckt man am Heilebrunnen zu Oberbronn im Elsass Wachsstümpchen anf (Stöber Volksbüchlein, 2. Aufl. 153). Abbe Santerre bezeichnet in seinen Pelerinages aux fontaines (M&m. des Antiq. de Picardie XIII 82) wirklich mehrere heilige und heilbringende Quellen Frankreichs, welche noch in neuester Zeit durch Fackeln und Lichtehen beleuchtet zu werden pflegen; er erwähnt dabei, dass dasselbe auch an den Quel- len des Nil und in Algier geschehe, und weist ausserdem auf die Lämpchen hin, welche die Hindus den Ganges hinabschwimmen lassen. Auch in der Schweiz wird dieser Brauch nicht selten vorgekommen sein; doch haben sich nur undeutliche Spuren erhalten. Noch im sechs- zelınten Jahrhundert pflegte man Abends in Wäldern und bei Quellen zu tanzen; sicher waren die Bäume dann beleuchtet. Wenn unfrucht- bare Frauen nach Sonnenuntergang zu Baden im Loch der heiligen Verena badeten, umsteckte man je nach Stand und Vermögen mit zahlreichen Liehtehen die oft als ein altes Isisbild bezeichnete Statue 18) Käseopfer haben wir schon in der Note zu den Geldopfern erwähnt. Auf der Spitze des Minch-muir, eines Berges in Peeblesshire in Schottland, befindet sich eine Quelle, die wegen der oft hineingeworfenen Käseopfer noch jetzt Cheese- well heisst (Liebrecht Gerv. Tilb. 101). 19) Conc. Arelat. II.: Si in alieujus presbyterio infideles aut faculas accen- derint, aut arbores, aut fontes, vel saxa venerentur, si haec eruere neglexerit, sacrilegii se reum esse cognoscat. Burchard von Worms: Interrogandum si ali- quis vota ad arbores vel ad fontes vel ad lapides faciat;, aut ibi candelam, seu quodlibet munus deferat, c. 63, Capitul. I. a. 789, de arboribus vel petris vel fontibus ubi aliqui stulti Juminaria vel alias observationes faciunt omnino man- demus ut iste pessimus usus tollatur et destruatur. Wissenschaftliche Monatsschrift, IV. 14 — 24 — der Heiligen. Noch in unserm Jahrhundert kam es in einzelnen Ge- genden und auch im Kanton Zürich vor, dass die Spinnerinnen ihre Stubeten am beleuchteten Dorfbrunnen abhielten und endlich pflegte man wohl bei Volksfesten die Seen durch brennende Fässer oder Schiffe zu illuminiren. Bestimmter tritt der alte heidnische Brauch bei den Frühlings- festen auf. Ueberall im Hochgebirge und selbst hier und da im Thal- land betrachtet man den Winter erst dann als beendigt, wenn die aus- getrockneten Quellen wieder zu fliessen beginnen; ihr Erscheinen wird desshalb als Beginn der sommerlichen Zeit, als Frühlingsanfang be- grüsst und gefeiert. Von dem Tage ab, wo der Maibrunnen oberhalb Schwanden (Glarus) neu hervorkommt, rechnet man dort den Antritt des Sommers. Am Fastnachts-Sonntag, wenn der Stadtbach offen war, setzten noch in diesem Jahrhundert zu Winterthur die Kinder allerlei kleine, mit bunten Lichtehen besteckte Schifflein in das riunende Was- ser und liessen sie in die Stadt schwimmen, wobei sich stets viele Zuschauer einfanden (Vogel Chronik 726). Der Tag selbst galt stets als Festtag und an Stelle der Schiffehen traten oft Figürchen von Blech, welche in der Nähe des Baches feilgehalten wurden. Dsmit erklärt sich die von Kirchhofer (318) aufgezeichnete schweizerische Bauernregel: „St. Friedlis Tag schwimmt ’s Licht durhe Bach ab*; am Tage des heiligen Fridolin (6. März), der als Wetterheiliger gilt, waren die Bäche offen und fliessend und man pflegte dann die Licht- chen den Wellen zu übergehen. Noch jetzt begeht nach Rochholz die Jugend von Glarus das Fest desselben Heiligen, als des Landpatrons damit, dass sie kleine Schiffiehen und Holztröge theert, bewimpelt, Nachts mit brennenden Kerzen besteckt und nach und nach in Brunn- quellen und Dorfbächen abwärts schwimmen lässt. Derselbe Brauch tritt uns auch, freilich schon sehr abgeschwächt, in den Rinde- und Papierschiffehen der Kinder entgegen, während z. B. in den bayrischen Donaugegenden die auf Rollen gestellten und durch die Ortschaften gezogenen Kähne, in deren eisernen Mastkörben Feuer brannten, mehr die ursprüngliche Form behalten haben und auf das Isisschiff der Sueven und den Umzug des im Welt bei Inda gezimmerten Räder- schiffes (Grimm Myth. 237) hinweisen. Der Ilumination der Bäche am Fastnachts-Sonntag und an St. Fri- dolins-Tag muss das Fest zu Ehren des angeblich von einem Stifts- fräulein von Schännis den Bürgern geschenkten Surbaches zu Aarau an die Seite gestellt werden. Alljährlich wird dieser Bach im Hoch- — 21 — sommer behufs der Reinigung abgestellt; sobald er Anfangs Septem- ber wieder angelassen werden soll, findet eine allgemeine städtische Feier statt. Schulen, Werkstätten und Fabriken sind geschlossen. Jung und Alt zieht sonntäglich geputzt und mit Maien und ‚Ruthen geschmückt dem Bach bis zu seinem Ursprung entgegen und marschirt dann gegen Abend mit den wiederkehrenden Wellen in die Stadt hinein, indem die Knaben althergebrachter Weise das Kommen des Baches ausrufen. Sie tragen dabei lange, grüne Zweige, auf welchen ausgehöhlte und beleuchtete Kürbisse gesteckt sind, und lassen bren- nende Wergbüschel hinabschwimmen. Dabei rufen sie: Füerjo, der Bach brännt! u. s. w. (Rochholz Sagen I. 21). Auch hier haben wir es also mit einem Fest des Wasserempfanges, das vielleicht einst in das Frühjahr fiel, zu thun. Aus dem Rufe der Knaben ergiebt sich übrigens klar, dass der Bach auch als Förderer der Gesundheit galt. Es muss bei allen diesen Bräuchen darauf hingewiesen werden, wie hier sich Feuer und Wasser nahe berühren. Grimm hat. schon darauf aufmerksam gemacht, dass prunno von prinnan (ardere), söt von siodan (fervere), welle (Auctus) von wallan (fervere), sual (subfrigidus) von suelan (ardere) kommt und dass Sprudel zu sprühen gehört; die- selbe Vermählung des Wassers mit dem Feuer tritt aber auch sonst noch häufig auf. Da wir uns versagen müssen, auf diesen Punkt näher einzugehen, so wollen wir nur beispielsweise auf die hohe Be- deutung der:heissen Quellen, des siedenden Wassers beim Gottesge- richt, der aufwallenden Gewässer u. s. w. hindeuten. Einen andern bedeutsamen Brauch beim Wasserempfang im Früh- ling erzählt Escher (Beschreibung des Zürichsees, Zürich 1692, 192). „Die jungen Knaben binden des grossen Büntz (Juncus maximus) viel zusammen, legen sich darauf und lernen also schwimmen. Etwan flechten sie eine grosse Burde zusammen, mit dünnen Stricken, biegen denselbigen,, machen ihme einen aufgerichteteu Hals, formiren ihn wie einen Schwanen, binden ihme an den Schnabel einen Zaum; ein Theil der Knaben setzen sich alsdann darauf, fahren davon und führen sel- bigen mit sich in die Stadt hinein, der Lindmat nach hinab bis in den Schützenplatz; andere schwimmen selbigem nach, setzen sich bald darauf, springen wieder darab ins Wasser und ergetzen sich damit mit viel Jauchzen und Frolocken.* Die Ueberbringer des Schwans erhielten von der Obrigkeit einen Trunk. Es erinnert dieser Brauch an den Wasservogel zu Sauerlach in Oberbayern (Panzer I, 234), wo man einem Mann zu Ross einen Schwanenhals ansetzt und ihn so am — 216 — Pfingstmontag einen Umzug halten lässt. Jedenfalls vertritt im Zürcher Brauch der Binsenschwan das fliessende Element und sein festliches Hineinfahren in die Stadt feierte also ebenfalls das Erscheinen des Frühlingswassers. Beachtenswerth ist es dabei, dass die Knaben bis an den Sehützenplatz gingen, also die Nordgrenze nicht überschritten. Alle Nachrichten, welche wir über die heidnischen Feste haben, zeigen uns, dass der Tanz und namentlich der mit Gesang verbundene, dabei eine grosse Rolle spielte. Wir dürfen denselben daher auch an Quellen und Seen erwarten. Nach Abbe Santerre soll er sich in Frankreich nur noch zu Font-Roumeau (Pyrendes-Orientales) bei der dortigen Quelle und vor der Pforte einer Kapelle erhalten haben; die älteren Leute scheinen an denselben religiöse Ideen anzuknüpfen. Was die Schweiz betrifft, so ziehen die Appenzeller, Männer wie Frauen, am ersten schönen Sonntag nach St. Jakobs-Tag auf den Kron- berg zu dem heiligen St. Jakobsbrunnen 20), wohnen dort in der Ka- pelle der Messe bei und vergnügen sich hierauf mit Tanz und Spiel. Dasselbe geschah in früherer Zeit im ausgedehntesten Maasstabe auf dem Rigi bei dem Brunnen der heiligen drei Schwestern zu Kaltbad; von allen Seiten strömten dort zu gewissen Zeiten die Umwohner des Berges zusammen, man erbaute leichte Hütten, brachte Lebensmittel aller Art zur Stelle und tanzte, sang, spielte und jubelte in der Regel drei Tage nacheinander, gerade wie es nach Gregorius Turonensis Bericht zu seiner Zeit am See Helanus in Gevaudan zu geschehen pflegte. Der Hanptfesttag des Kaltbades war der Tag St. Michael, des Schutzpatrons der kleinen Kapelle am Felsen. Als der Graf Peter von Greyerz 1346 seinen Unterthanen ein grosses Fest gab, veran- staltete er es am Arnensee (Kuenlin in Schwabs Ritterburgen 2, 288). Berühmt waren im Mittelalter die Kirchweihen zu Murten und auf den Inseln der Birs; man begab sich dahin in feierlichem Zuge, baute Laubhütfen und ergötzte sich mit Wettlauf und Ringkampf, mit Rei- gentanz und Gesang. Aehnlich waren die Kirchweihen auf den Fluss- werdern zu Mönchenstein und an dem schönen Wasserfall des Giessen. Die grosse Kilbi zu Liestal von 1540 fand am Gestade der Ergolz 20) Processionen kommen selbst zu solchen Brunnen vor, welche bei den Leu- ten verrufen waren; so meldet Herold in seiner Chronik von 1541 über den Salzbrunnen zu Schwäbisch-Hall: Es ist auch etwan ohngeheir umb solchen Bronnen gewesen, daher man viel Jahr mit Heiligthumb allweg nach dem Diens- tag Vocem jueunditatis (fünften Sonntag nach Ostern) umb gemelten Salzbronnen ist gangen.“ Meier Sagen S. 96. — 217 — bei einem laufenden Brunnen statt. Wenn man zu Selva in Puschlav den sogenannten Maienbrei abhält, so besuchen die Kinder zuerst die kleine Kapelle und steigen dann in ein Thälchen zu einem Sauerbrun- nen hinab, wo der Brei bereitet wird und nach der Mahlzeit Gesänge, Tänze und Spiele aller Art stattfinden. Dabei richtet man einen Maien- baum auf. Aechnliche Feste bei Gewässern und namentlich auch bei solchen, welehe auf Höhen, in Bergthälern und in Wäldern liegen, lassen sich noch vielfach und in allen Theilen der Schweiz nachweisen. Wolf hat in den Beiträgen zur deutschen Mythologie (I, 165) bereits darauf aufmerksam gemacht, dass in Kriminal-Akten des Oden- waldes Hexentänze sehr häufig bei Brunnen und Bächen vorkommen. Dieselbe Bemerkung ist auch in Hinsicht auf die Schweiz gerechtfer- tigt. Die Hexe Mia Varmy zu Eeublens (Freiburg) bezeichnet als Ort der Hexentänze (Schetta) die Stelle bei der Brücke über die Broye, ‚Jean Dupont zu Villarepos die Grenze im Gehölz am Bach von Chandon, die Hexe Jacobe Louise d’Evilard (Montagne de Diesse) 1657 die Plätze & la fontaine de souffre & la Prais vers la fontaine Geson und & la fontenaille de vers bise zu Lamboing und Jacques Rosse de Presle die Quelle von Ch@nau. Dieser letztere Name weist übrigens auf einen Eichwald hin und auf der Petersinsel im Bieler-See hält der Teufel als grüner Herr am westlichen Ende des Eichwald- Plateaus seine Feste (Jahn Bern 82). Ein Hexentanzplatz ist bei einer alten Eiche des Herdwaldes zu Leuggern am Solenbächlein’ (Rochholz I, 196); andere finden wir auf der Untermatt an der Saane zu Freiburg, zu Bellaluna an der Albula, beim Brunnen der heiligen Columba, beim Isenbrunnen und Comlenbach zu Sursee u. Ss. w.; ausserdem auch am Ufer mehrerer Seen, z. B. beim See vom Champe, beim Hagel- und Hexensee am Schwarzhorn u. s. w. Aber nicht nur Tänze und Feste kamen an Gewässern häufig vor; man pflegte sich überhaupt gern bei ihnen zu versammeln ?!). Die 21) Wo vor Lyon die Rhone und Saone zusammenfliessen und das Heilig- thum der drei gallischen Provinzen, ein prachtvoller, natürlich der Göttin Roma und Gott dem Kaiser geweihter Tempel steht, versammeln sich alljährlich von den Pyrenäen und der Garonne, von der Loire und der Seine, vom Rhein her und aus unsern Bergen die Abgeordneten der sämmtlichen gallischen Distrikte, und erwählen den geistlichen Vorstand, den sogenannten Priester der drei Pro- vinzen, welcher dann für sie alle ein feierliches Opfer darbrachte auf den Haupt- altar, um dessen Fuss die sämmtlichen stimmberechtigten gallischen Kantone ge- reiht waren. Dann ward Tagsatzung gehalten u. s. w. Mommsen die Schweiz in römischer Zeit, $. 8. Zusammenkünfte der schweizerischen Befreier sollen auf dem Grütli, einer Wiese am Vierwaldstätter-See bei den drei wunderbar entsprun- genen Quellen, diejenigen der rhätischen Bundesgesandten zu Tavanosa bei Truns (Bündtner Oberland) an einem Brünnlein in der Nähe eines Felsens stattgefunden haben (Sererhard Delineation I, 8). In der Aa (a la Angias, deutsch „zu den Erlen“ genannt) tritt beim Amsel- brunnen - (Fontana Merla) die Landsgemeinde des Ober-Engadin zu- sammen; dort stand auch das Hochgericht des Landes. Unterhalb Süss ist die Wiese Rundzosa oder Runzauts am Bach, der aus dem Val Sangliaints kömmt, dort nahm man am St. Georgen-Tag die Ge- richtsbesetzung des Bezirks ob Valtasna mit grossen Feierlichkeiten vor. Wenn zu Baden ein bewafineter Auszug stattfinden musste, so steckte man die Fahnen auf einen Brunnen und sammelte sich um den- selben. Wir könnten noch ein langes Verzeichniss solcher Versamm- lungsorte an Gewässern geben, wollen aber nur darauf aufmerksam machen, dass man auf dem Wasser selbst zusammenkam. Als im Jahr 1447 der Komthur zu Wädenschwyl die Zürcher mit den Eid- genossen zu versöhnen suchte, berief er beide Parteien auf den See; dort fand auch wirklich das Gespräch statt. Nicht selten werden Stellen auf Seen und Flüssen bezeichnet, wo drei Grenzen zusammen- stossen und drei Herrn oder drei Bischöfe eine Besprechung von ihren Schiffen aus halten können, ohne ihr Gebiet zu verlassen, so z. B. bei Hafner (Schauplatz II. 348). Auch Zusammenkünfte auf Brücken fanden, obwohl seltener, statt??); auf der Rheinbrücke zu Sins wird sogar der Jahrmarkt abgehalten. J. Grimm zählt in den Rechtsalterthümern eine grosse Zahl von Stellen auf, aus denen hervorgeht, dass im Mittelalter die Gerichte nicht nur in Wäldern, auf Auen und Wiesen, unter Bäumen u. s. w. gehalten wurden, sondern dass auch in sehr vielen Fällen die Gerichts- stätte an einem Bach oder Fluss, bei einem Brunnen, vor oder auf einer Brücke lag. Gewiss mit Recht glaubt er, dass das heilige Ele- ment ursprünglich zu Gerichtshandlungen erforderlich war und sich darauf die beibehaltene Gewohnheit stützt; er verweist dabei auf das Wasserurtheil und den möglichen Zusammenhang zwischen Schöpfe (judex) und schöpfen (haurire), 22) Das früheste Beispiel einer Zusammenkunft auf einer Brücke gibt Taei- tus (Hist. V. 26); Civilis hält mit dem römischen Feldherrn Cerialis ein Gespräch auf der in der Mitte abgebrochenen Brücke über den Fluss Nabalia. Ber —_; — 219 — Was die Schweiz betrifft, so lässt sich zur Bestätigung der Grimm- schen Annahme Vieles anführen, obwohl bisher in dieser Beziehung noch fast keine Untersuchungen stattgefunden haben. Zunächst wäre zu erwähnen, dass nach den Legenden die Heiligen sehr häufig am Wasser hingerichtet werden. So heisst es z. B. von Felix, Regula und Exuperantius, dass sie zu Zürich an der rechten Richtstatt an der Limmat und bei der Brücke, d. h. da, wo jetzt Helmhaus und Wasserkirche stehen, enthauptet worden seien; wir haben hier die Insel im Fluss, die Brücke und sogar noch den Brunnen, der später als St. Felix und Regula-Quell bekannt und verehrt wurde®). Die Thebäer zu St. Moritz wurden nach Murer und Andern auf einem grossen Stein an der Rloone hingerichtet, so dass St. Mauritius Haupt hinabfiel und nach Vienne schwamm. Als die Stätte, wo anfänglich St. Ursus und Vietor zu Solothurn verbrannt werden sollten, bezeich- net Hafner den Wasserplatz zwischen der Stadt und der Vorstadt Herrmannsbühl, wo ehedem ein Heidentempel gestanden, und bei Trei- beinskreuz auf einer Brücke über die Aare fand endlich die Enthaup- tung der beiden Märtyrer statt. Auch die Hochgerichte des Mittel- alters liegen häufig am Wasser, so waren z. B. die des Engadins in der Au beim Amselbrunnen, zu Puniasca an der Innbrücke, zu Runzauts am Bach aus Val Sagliaints und zu Chünettas am Inn; ferner fand sich das Hochgericht zu Taufers am Rhein und dasjenige von Schan- figg unmittelbar am Thalbach. Ob an allen solchen Orten auch das Gericht selbst abgehalten wurde, ist nicht ganz sicher; in den meisten Fällen wird es freilich geschehen sein und die Vollziehung des Ur- theils sogleich nach Aussprechung desselben stattgefunden haben. In- sofern fallen also diese Stätten des Hochgerichts mit den Dingstätten zusammen. “Was nun diejenigen Orte an Brunnen und Bächen betrifft, an welchen das Gericht selbst gehalten wurde, so sei es uns gestattet, beispielsweise wenigstens einige derselben zu bezeichnen. Am Ende der Gerberstrasse zu Basel, da wo die Zunftstube der Gerber steht, sprudelte im 15. Jahrhundert der Richtbrunnen, in welchem der fabel- hafte Basilisk gehaust haben soll; auf dem Platze breitete ein Baum seine beschattenden Aeste aus. Dieser Richtbrunnen (fons judieii) war es, bei dem in ältester Zeit die Gerichte gehalten wurden. Die hier 23) Auch die heilige Afra wurde zu Augsburg auf einer Insel im Flusse ent- hauptet. Ben. über den Birsig führende Brücke hiess die Richtbrücke. Auch zu Stühlingen und Werenhausen gab es Richtbrunnen, bei denen das Ge- richt sass (Basel im 14. ‚Jahrh. 65). Bei der uralten Kapelle des heiligen Brandolf unmittelbar am Rhein und bei dem dort befindlichen Brandolfsbrunnen versammelte sich das Gericht, um Käufe und andere Akte zu vollziehen (l. ec. 91). Das älteste Rathshaus von Basel war auf dem Fischmarkt unweit von der Brücke über den Birsig. Sonst trat das Gericht auch anderswo in der Stadt bei Brunnen zusammen, z. B. 1460 wurde ein Gericht gehalten „in der vorstadt an der spalen vor dem orthus zem schwarzen Rad zenechst by dem Brunnen.“ Auf dem Stiftshof zu Basel sass bei gutem Wetter der Oftizial des Erz- priesters unter einer Linde hinter dem St. Georgsbrunnen, Zu Klein- Basel stand das Richthaus unmittelbar am Rhein neben der Brücke, Zu Zürich hielt der Schultheiss das Gericht neben dem Helmhause vor der Wasserkirche (in lobio ante capellam quae dieitur aquatica), wo, wie wir bereits erwähnten, neben dem Fluss noch die Quelle vor- handen ist; ausserdem kömmt schon im Richtebrief das „Richthus an der Brugge* vor, das nach $. Vögelin (Altes Zürich 256) wahrschein- lich an der Stelle des jetzigen Rathhauses lag; das spätere Richthaus an der Metzg war ebenfalls von der Limmat nicht weit entfernt. Zu Luzern richtete man auf der grossen Stege vor der nahe am See ge- legenen Stiftskirche St. Leodegar und ausserdem sind von der Hof- brücke datirte Urkunden vorhanden. Andere Gerichte auf Brücken fanden zu Schaffhausen (Zellweger Appenz. Gesch. I. 220), zu Brugg und zu Klingnau statt?*). Eine Gerichtsstätte erscheint urkundlich 1325 zu Oltingen vor der Brugg (Jahn Kanton Bern 4). Als der Pfarrer von Bretzwyl 1566 wegen Todschlag beurtheilt wurde, trat das Gericht an dem Wasserfalle zu Reigoldswyl zusammen: andere Dingstätten in Basel-Landschaft waren am Bach zu Horw, auf der Wiese zu Rüneberg”’), zu Nunningen am Bach. An letzterem Ort setzte der Vogt der Herrschaft Waldenburg, sobald er richtete, seinen Stuhl in den Bach und stellte den einen Fuss ins Wasser, den andern auf das trockene Land. Es erinnert dies an das Gericht auf dem See von Grandlieu, bei welehem der Richter mit dem rechten Fuss den 24) Die sogenannte goldene Bulle von Genf ist 1162 von Friedrich Barba- rossa „apud Pontem Laone super Sonam“ ausgestellt (Archiv für Schweiz. Ge- schichte I, 3). 25) Ei, Ey bedeutet im schweizerischen Dialekt sowohl am Wasser gelegene Wiese als auch Landgericht (Stalder I. 335 und 339). — 221 — Spiegel des Gewässers berühren musste (Men. de l’acad. celt. V. 143) und an das Gericht auf dem Kohlenberg zu Basel, bei dem er den rechten Schenkel in einen Zuber mit Wasser hielt (Osenbrüggen Rechts- alterthümer aus der Schweiz, S. 5). Es wäre interessant zu wissen, ob derselbe Brauch frühester Zeit bei allen Gerichtssitzungen am Wasser vorkam und was sonst noch in Hinsicht auf das heilige Element ge- schah 26); jedenfalls müssen in heidnischer Zeit Kulthandlungen, z. B. Gebete und namentlich auch Opfer stattgefunden haben, da sowohl bei den Germanen wie bei den Kelten Gericht und Opfer zusammen- gehörten und die grossen Grerichtstage zugleich die Opferfeste der Nation waren. Wiederholt haben wir schon von dem Zauber gesprochen, der dann, wenn eine Dürre auf dem Lande lag und die Saaten in Gefahr brachte, stattzufinden pflegte. In der Schweiz hat sich von demselben wenig mehr erhalten. Freilich kommen in den katholischen Kantonen noch hier und da förmliche Regen-Processionen, bei denen man alle Heiligthümer umträgt, vor; aber sie wenden sich, so viel wir bisher ermitteln konnten, nicht zu Quellen hin, sondern besuchen berühmte Kapellen und bestehen in Umzügen um Wiesen und Aecker. Dass dabei das Land mit Weihwasser bespritzt wird, ist zwar richtig; aber es scheint gewagt, dieser Ceremonie heidnischen Ursprung zuzuschrei- ben. An einem andern Orte?”) haben wir die Vermuthung, dass die Sagen von den sturmerzeugenden Seen mit dem Regenzauber zusam- menhangen, ausgesprochen und zu begründen gesucht; sie rechtfertigt sich namentlich da, wo zugleich erzählt wird, dass Hexen den Spie- gel des Gewässers mit weissen Ruthen zu schlagen pflegten, um ver- heerende Stürme und Unwetter, Schnee und Reif zu veranlassen. Wie Rochholz (Kinderlied 177) bemerkt, werfen die Kinder im Sommer Steine in den Bach, weil sie glauben, dass dann Gewitter entstehen; dasselbe geschieht mit dem Tropaeolum majus (Chapuzinerli), einer Regen verkündenden Blume. Bei Meier (Schwäb. Kindr. p. 96 und 147) heisst das Spiel „regnen lassen.“ Ganz ebenso machen die Kinder Wind, indem sie mit dem Munde blasen, und schönes Wetter, wenn sie durch ihre Sprüche die Sonne beschwören, aus den verhül- lenden Wolken hervorzukommen ®). Der bekannte Brauch, am St. Ur- 26) Pilatus wusch sich die Hände, nachdem er das Urtheil über Christus ausgesprochen hatte. 7) Pilatus und St. Dominik, $. 10 (Mitth. d. antig. Ges. XU, 4). 28) Sehr merkwürdig sind die Bräuche bei der Quelle des heil. Lizier auf — 222 — banstage den heiligen Urban, Patron des Weinstocks, in feierlichem Umzuge durch die Stadt zu führen und, weun es dabei regnete, in einen Trog oder Brunnen zu werfen, ist in der Schweiz nur von Basel verzeichnet ; dort soll er sogar noch im 18. Jahrhundert stattgefunden haben. Eine sehr wichtige Rolle spielen im Wasserkultus endlich noch die Abwaschungen und die Bäder; sie beruhen darauf, dass das-Was- ser das reinigende Element ist?®). Wie die Taufe von dem Menschen die Sünde nimmt und nach dem Glauben des Mittelalters auch von schweren Krankheiten befreien konnte, so soll die Abwaschung in der (Quelle nieht nur die Unsauberkeit des Körpers und alle Uebel fort- nehmen, sondern auch das Unreine der Seele fortspülen; der Badende wird durch sie in jeder Hinsicht rein. Weil das Wasser den Men- schen auch von seinen Vergehungen befreien kann, so gilt es als stühnend. Dieselben Purificationen bewirkt das Feuer, desshalb soll nach dem mosaischen Gesetz alles, was das Feuer erträgt, durch die- ses, was ihm dagegen nicht unterworfen werden kann, durch das Was- ser geheiligt werden. Wesentlich dieselbe Idee findet sich in allen Mythologieen und noch heut bilden die Abwaschungen einen sehr wich- tigen Theil der Religions-Uebungen der Hindu wie der Muhamedaner. Streng genommen sind wir auch berechtigt, das Trinken des heiligen Wassers mit den Abwaschungen zusammenzufassen; es ist nichts anders als eine innerliche Reinigung und fällt desshalb auch mit der Ein- der spanisch-französischen Grenze bei St. Girons. Bei eintretender Dürre ruft auf spanischer Seite der Gemeindsvorsteher die Gemeinde zusammen und lässt einen Abgeordneten wählen. Dieser eilt zur Quelle, füllt stillschweigend sein Gefäss, geht heimlich zur Grenze, kniet dort nieder, küsst den Boden Spaniens und hierauf Frankreichs und giesst endlich das Wasser zur Hälfte auf jede der beiden Seiten; aber auf spanischer Seite stark tröpfelnd wie bei einem tüchtigen Platzregen. Folgt dieser der Ceremonie nicht, so wird die Ausgiessung durch einen andern Mann wiederholt; nöthigenfalls veranstaltet man auch einen Um- zug der heiligen Mutter Gottes von Tirbes. 9) Sobald Jemand stirbt, taucht sich seine Seele in das im Hause befind- liche Wasser, desshalb muss man dasselbe gleich nachher ausgiessen. Was das in Basel, Zürich und Luzern gebräuchliche Schwemmen der Verbrecher betrifft, von dem Ösenbrüggen (deutsche Rechtsalterthümer aus der Schweiz 29) spricht, eo kann dasselbe ursprünglich mit Rücksicht darauf eingeführt worden sein, dass Gott bei demselben selbst über Leben und Tod richtet; warum man aber zum Tode Verurtheilte losliess, nachdem sie am Leben geblieben waren, so hat diess doch wohl zum Theil seinen Grund darin, dass sie durch das Strafbad rein ge- worden waren. — 23 — tauchung und dem Bade in vielen Punkten zusammen. Bei der Was- serprobe des Mittelalters musste der Angeklagte Weihwasser verschlu- cken und der Priester sagte ihm dabei: „Dieses Wasser dient dir heut zur Probe.“ Dass man heim Baden das Wasser hauptsächlich, ja ausschliess- lich als purificirendes Element fasste, geht klar aus den Baderegeln hervor. Bevor man eine Kur beginnen wollte, musste man den Kör- per durch oft wochenlanges Nehmen von Arzneien reinigen, hierauf suchte man das schlechte Blut durch Schröpfen und Aderlassen fort- zuschaffen, setzte sich stets nüchtern in die Quelle und strebte end- lich vor allen Dingen darnach, den Badeausschlag, ohne welchen man keine Heilung als vollendet ansah, hervorzurufen. Das Uebel musste heraustreten und dann abgewaschen werden. Interessant ist der Um- stand, dass die Kurzeit im 17. Jahrhundert auf 6 Wochen 3 Tage, d. h. den achten Theil eines Jahres. festgesetzt wurde. Wir müssen uns an diesen wenigen allgemeinen Bemerkungen genügen lassen, um mit einigen Worten der schweizerischen Ablu- tionen gedenken zu können. Es wurde bereits erwähnt, dass am Tage vor der Hochzeit Braut und Bräutigam ein Bad zu nehmen hatten; demselben pflegten die Verwandten und sonstigen Gäste beizuwohnen. Solche festliche Bäder fanden auch bei andern Gelegenheiten statt, z. B. bei Antritt einer Reise und bei Uebernahme eines Amtes, auch vor dem feierlichen Ritterschlag. In Folge dessen gab es fast überall Badestuben in grosser Zahl und sie wurden so stark benutzt, dass wir uns gegenwärtig kaum noch einen Begriff davon machen können. Man hielt das Baden so hoch, dass bei Besuchen bedeutender Per- sonen denselben vor allen Dingen ein Bad angeboten und hergerich- tet wurde; in der Badestube, wohin sie durch Abgeordnete geleitet wurden, brachte man ihnen Gaben dar. Hinreichend bekannt ist, dass man alle Standespersonen, namentlich aber die Mitglieder der Behör- den, beim Besuch eines Badeortes mit sogenannten Badenschenken be- ehrte, bis endlich die Regierungen der dabei eingerissenen Verschwen- dung wegen sich zu strengen Verboten genöthigt sahen. In gleicher Weise, wie die Badstuben, wurden auch die fliessenden Gewässer be- sucht; auch hier wie dort trafen beide Geschlechter zusammen und selbst Nonnen durften lange Zeit ungestört theilnehmen. Ein solches allgemeines Bad hatte, so oft es sich wiederholte, den Charakter eines Festes und Poggio’s Schilderung vom Bad zu Baden zur Zeit des Coneils von Constanz, einer allerdings sehr sittenlosen Periode, lässt _— 224 — ahnen, wie es dabei zuging. Was die Quellen angeht, so spielen sie ebenfalls eine grosse Rolle, und zwar nicht nur die heissen und die Mineral-Quellen, sondern ebensowohl die kalten Brunnen, mochten sie nun aus einem Felsen hervorbrechen oder sich in einer Grube sam- meln oder Gletschern entfliessen; ja gerade diesen reinen, klaren Brunnen wurde die höchste Bedeutung zugesprochen, obwohl bei ihnen in der Regel nicht von einem eigentlichen Bad, sondern nur von einer Eintauchung die Rede sein konnte. Wir haben nur wenige Nachrichten über die Ceremonien, welche bei solehen Abwaschungen in kalten Brunnen stattfanden, indess er- gibt sich doch Folgendes. Bei allen Quellen, welche als heilige galten, ging ein Gebet voran; es ist noch heut bei der Eintauchung in den Brunnen der heiligen Columba und bei dem Trunk aus dem Röhren- brunnen zu Einsiedeln gebräuchlich. Hier und da mag ein Opfer ge- folgt sein, wie sich das schon aus dem Lumpenkbrunnen und den ge- fundenen Münzen ergibt; nach den oben erwähnten Mittheilungen des Herrn Santerre kommt dasselbe noch häufig in Frankreich vor?). Die von Coneilien verbotenen Gelübde werden natürlich nicht gefehlt haben, schon die Kapellen in der Nähe der Gewässer mussten dazu auffor- dern. Die Eintauchung war eine dreimalige; dieser Umstand ist in der Schweiz bei allen kalten Quellen, z. B. bei dem kalten Brunnen zu Leuk, auf dem Pilatus, dem Rigi, im Glarner Lande u. s. w. an- gegeben. Dabei entkleidete man sich nicht vor dem Bade, sondern liess das Gewand nachher auf dem Leibe troeknen, indem man sich in die Sonne legte. Wenn man auch das heilsame Wasser in Fla- schen mit sich nahm, so galt doch in der Regel nur das Bad in der Quelle selbst als wirksam; aber im Kaltwehbrunnen auf dem Pi- latus konnte die Eintauchung auch durch einen Stellvertreter bewirkt werden, wenn nämlich der Kranke den Berg zu besteigen ausser Stande 30) Eigenthümlich sind die Bräuche bei der Quelle St. Arnoult (Oise). Nach- dem der Kranke gebetet hatte, schöpfte er in einem Thongefäss Wasser, ent- fernte sich ein wenig von der Quelle, drehte ihr den Rücken zu, tauchte hier- auf die Fingerspitze in das Wasser, berührte damit Auge, Lippe und Ohr und trank endlich, Zuletzt warf er das Gefäss rückwärts in die Quelle. Fiel sie ins Wasser, ohne den Rand zu berühren, so wurde der Kranke nach dem Volks- glauben bald geheilt; im andern Fall und namentlich, wenn es zerbrach, war dagegen wenig Hoffnung vorhanden. Auch bei der Quelle des heiligen Oswald zwischen Alton und Newton (England) hat man eine Probe; man wirft nämlich das Hemde des Kranken in das Gewässer. Die Herstellung erfolgt, sobald es oben schwimmt. 225 — war. Oft zog man, wie es in Frankreich noch vorkömmt, in Pro- cession zum Brunnen und gewisse Tage, wie z. B. Ostern und St. Jo- hannis im Sommer wurden, wie es scheint, als besonders günstig be- trachtet. Ein Bad in der ‚Johannisnacht galt so gut als neun zu anderer Zeit. Dass Bäder während der Nacht oder am frühen Mor- gen stets vorgezogen wurden, lässt sich nicht nachweisen; es ist in- dess nicht unwahrscheinlich und im Verenen-Loch zu Baden fand die bekannte Ablution der Frauen nach Untergang der Sonne statt. T’hiere wusch man zwar mit dem heilsamen Wasser, pflegte sie indess nicht einzutauchen. So gross war das Vertrauen zu den sogenannten Kalt- wehbrunnen #1), dass man sich nicht scheute, die kleinsten, schwäch- liehsten Kinder in Gewässern, welche oft nur wenige Grad Wärme besassen, zu baden. Doch verbot der Volksglaube eine solche Ein- tauchung Unerwachsener am Freitag. Sprechen diese Nachrichten über die Ablutionen der Schweiz auch von keinen sehr bedeutsamen Bräuchen und ist es noch bisher nicht gelungen, ein Seitenstück zu dem bekannten, von Petrarcha beschrie- benen Bade kölnischer Frauen am St. Johannis-Abend (Grimm Myth. 555) aufzufinden, so sollten sie doch Veranlassung zu weiteren Unter- suchungen geben; in den zahlreichen, bisher ganz ıunbenutzten oder doch vom mythologischen Standpunkt noch ungeprüften schweizerischen Handschriften des Mittelalters und selbst der späteren Zeit sind un- zweifelhaft noch merkwürdige Aufzeichnungen vorhanden. Wie die Schweiz reich ist an Waffen, Schmucksachen, Geräthen n. s. w. aus keltischer, römischer und germanischer Zeit, so findet sich auch in Sage, Festbrauch, Spruch und Volksglaube unendlich viel, das der Sammlung und Zusammenstellung würdig ist und gerade für den Ele- mentar-Kultus wäre noch eine einträgliche Ernte zu halten, wenn es nicht leider an Kräften für dieselbe gebräche. Es sei uns gestattet, hier zu schliessen. Man wird vielleicht finden, dass es die Vorfahren nicht schmeicheln heisst, wenn man ihnen Naturkultus zuschreibt; sucht man doch selbst das, was durch die besten Zeugnisse bestätigt ist, zu leugnen, sobald es als heidnisch anerkannt werden muss und christlichen Anschauungen widerspricht, möchte man doch die Ausbreitung des Christenthums in Helvetien bis in das erste Jahrhundert hinaufschieben und die Verehrung der deutschen *1) Das kalte Fieber nannte man Kaltweh; die kalten Quellen sollten vor- zugsweise gegen diese Krankheit heilsam sein. Daher der Name. — 226 — Götter, deren Tempel St. Gallus und seine Gefährten im siebenten Jahrhundert noch vor sich sehen, für Helvetien ganz leugnen. Ver- dient übrigens der Naturkultus die Verachtung, mit welcher man auf ihn hinabzuschauen pflegt? Wir können darauf nicht besser antwor- ten, als indem wir Jacob Grimm’s schöne Worte hersetzen. „Das lautere, rinnende, quellende und versiegende Wasser, das leuchtende, erweckte und verlöschende Feuer, die nicht dem Auge, aber Ohr und Gefühl vernehmbare Luft, die nährende Erde, aus welcher alles wächst, und in welche alles Gewachsene aufgelöst wird, erscheinen dem mensch- lichen Geschlecht von früher Zeit an heilig und ehrwürdig; Gebräuche, Geschäfte und Ereignisse des Lebens empfangen erst durch sie ihre feierliche Weihe. Weil sie in unablässig reger Thätigkeit und Kraft auf die gesammte Natur einwirken, widmet ihnen der kindliche Mensch Verehrung, ohne dass nothwendig ein besonderer Gott dazwischen trat, der aber oft noch damit verknüpft erscheint. Auch heute weckt die Herrlickheit und Macht dieser Urstoffe unsere Bewunderung; wie hätte sich das Alterthum seines Anstaunens und Anbetens erwehren können? Solch ein Kultus ist einfacher, freier und würdiger als das dumpfe Niederknieen vor Bilder und Götzen,* Sitzung des wissenschaftlichen Vereins am 21. Mai 1858. Vortrag des Herm Prof. Clausius über einige Lichterscheinungen der Atmos- phäre, insbesondere die blaue Farbe des Himmels und die Morgen- und Abendröthe. Die blaue Farbe des Himmels und die Morgen- und Abendröthe haben schon viele verschiedene Erklärungsversuche hervorgerufen. Der erste wurde zu Anfang des 16. Jahrhunderts von Leonardo da Vinei gemacht, und ist später wieder aufgenommen von Göthe. welcher den von L. d. V. aufgestellten Satz als Ur- phänomen an die Spitze seiner Farbenlehre stellte. Dieser Satz lautet dahin, dass ein weisses Licht, durch ein trübes Medium gesehen. roth erscheint, und Dunkelheit durch ein trübes Medium blau erscheint. Demgemäss erscheint der dunkle Weltenraum durch die Luft, welche als ein trübes Medium zu betrach- ten ist, blau, und das weisse Sonnenlicht erscheint, wenn es eine hinlänglich dieke Luftschicht durchlaufen hat, was des Morgens und Abends bei sehr tie- fem Stande der Sonne stattfindet, roth. Der Ausspruch, dass Dunkelheit durch ein trübes Medium blau erscheint, kann wenigstens in dieser Form nicht zuge- geben werden. Soll das trübe Medium in uns den Eindruck des blauen Lichtes erwecken, so muss es selbst erst von einer Lichtquelle erleuchtet sein, und man kann den Satz dann etwa so aussprechen: trübe Medien erscheinen im reflee- tirten Lichte blau, während sie das durchgehende Licht roth färben. In — 227 — dieser Form ist der Satz allerdings für viele trübe Medien richtig, aber er drückt nur eine Thatsache aus, welche selbst noch erst der Erklärung bedarf. Bouguer und Brandes lıaben das Biau und Rotlı der atmosphärischen Far- ben dadurch zu erklären gesucht, dass sie annahmen, die atmosphärische Luft besitze die Eigenschaft von den verschiedenen Farben, aus welchen das weisge Licht der Sonne besteht, das blaue Licht vorzugsweise gut zu reflectiren und dafür das rothe Licht besser durchzulassen. Gegen diese Erklärung ist einzu- wenden, dass die grosse Verschiedenheit, welche die Farbe der untergehenden Sonne an verschiedenen Tagen zeigt, indem sie manchmal nur orangefarbig, manchmal dagegen tief roth erscheint, darauf hinweist, dass die Färbung nicht durch einen Stoff bewirkt wird, welcher immer in ziemlich gleicher Quantität und in gleichem Zustande vorhanden ist, sondern durch einen Stoff, dessen Quan- tität und Zustand an verschiedenen Tagen sehr verschieden sind. Als ein solcher Stoff bietet sich von selbst der in der Atmosphäre befind- liche Wasserdampf dar, und es entsteht daher die Frage, wie dieser eine solche Wirkung auf das Licht ausüben könne? Forbes hat aus gewissen Beobachtun- gen den Schluss gezogen, das Wasser könne ausser im festen, flüssigen und luftförmigen Aggregatzustande noch in einem vierten Zustande existiren, welcher den Uebergang zwischen dem flüssigen und luftförmigen bilde, und in diesem Zustande habe es die Eigenschaft, hindurchgehendes, weisses Licht roth zu fär- ben. Ein solcher vierter Zustand des Wassers ist aber sonst durchaus nicht be- kannt, und man muss daher versuchen, ob die Erklärung nicht auch ohne Zu- hülfenahme eines solchen hypothetischen Zustandes möglich ist. Dazu bieten die bekannten Farben dünner Blättchen einen Anknüpfungs- punkt. Ein sehr dünnes Blättchen eines durchsichtigen Stoffes erscheint näm- lich im refleetirten Lichte blau, und das durchgehende Licht färbt es etwas röth- lich; aber die letztere Wirkung ist so schwach, dass das Licht erst durch meh- rere solche Blättchen gehen muss, bevor die rothe Farbe deutlich hervortritt. Newton, welcher die Farben dünner Blättchen zuerst wissenschaftlich behandelt hat, kam schon auf den Gedanken, dass das Blau des Himmels durch Reflexion an sehr kleinen in der Luft schwebenden Wasserkörperchen hervorgebracht werde, Da er aber die Körperchen als Kügelchen betrachtete, und Kügelchen nicht so wirken können, wie dünne Blättehen, so fand diese Erklärung nicht viel Be- achtung. Der Vortragende hat diese Erklärung wieder aufgenommen, aber mit der Modification, dass er die Wasserkörperchen nicht als volle Kügelchen, son- dern als hohle Blättchen betrachtet. Das Wasserhäutchen, welches die Hülle eines Bläschens bildet, ist als ein dünnes Blättehen anzusehen, und muss ganz wie ein solches auf das Licht einwirken. Nimmt man nun an, dass selbst bei heiterem Wetter immer noch einige sehr feine Bläschen in der Luft befindlich sind, so muss das an ihnen reflectirte Licht blau erscheinen, wodurch die blaue Farbe des Himmels entsteht. Das durchgehende Licht wird durch die Bläschen röthlich gefärbt; da aber das Licht erst durch eine grössere Anzahl von Bläs- chen gehen muss, bevor die rothe Farbe deutlich hervortritt, so beobachten wir diese besonders dann, wenn die Sonne sehr tief steht, und ihre Strahlen daher einen sehr langen Weg in der Atmosphäre zu durchlaufen haben. Dabei ist zu bemerken , dass, wenn das Licht einmal roth ist, dann auch solche Gegenstände, die bei weisser Beleuchtung weiss erscheinen, wie z. B. die Wolken, ebenfalls — 223 — roth erscheinen, woher die Morgen- und Abendröthe sich nicht auf die Sonne selbst beschränkt, sondern einen grossen Theil des Himmels einnimmt, besonders wenn viel leichtes Gewölk am Himmel zerstreut ist. Diese Erklärungsart ist von einigen Seiten als wahrscheinlich richtig aner- kannt worden, von andern Seiten aber hat sie Entgegnungen gefunden, insbe- sondere von Brücke, Reuben Phillips und Moigno. Die meisten Einwände be- ziehen sich darauf, dass für die in der Luft befindlichen Wasserkörperchen mit grösserer Wahrscheinlichkeit die Gestalt von Kügelchen, als die von Bläschen anzunehmen sei. Bei der Erörterung dieser Frage brauchen wir uns nicht auf die Betrachtung der ganz kleinen Körperchen zu beschränken, welche die Farben geben, sondern können auch die grösseren Körperchen, welche die Nebel und Wolken bilden, mit in Betracht ziehen. Bei diesen sprechen mehrere Gründe für die Bläschenform, unter denen beispielsweise folgende hevorzuheben sind. Man hat zuweilen in dieken Nebeln die einzelnen Körperchen mit dem Auge verfolgen können, und da hat sich gezeigt, dass, wenn zwei Körperchen zusam- menflogen, sie zerplatzten, oder plötzlich dem Auge entschwanden, was ebenfalls auf ein Zerplatzen schliessen lässt. Ferner ist es eine bekannte Erscheinung, dass gewöhnliche Wolken keinen Regenbogen zeigen, was doch der Fall sein müsste, wenn sie aus Wasserkügelchen beständen. Aehnliche Gründe giebt es noch mehrere, welche uns nöthigen das Vorhandensein von Bläschen anzuneh- men, wenn es auch schwer ist, sich von der Art ihrer Entstehung eine Vor- stellung zu bilden. Ein anderer Einwand gegen jene Erklärung der atmosphärischen Farben ist von Brücke daraus erhoben, dass es viele andere trübe Medien giebt, welche ebenfalls die Eigenschaft zeigen, im reflectirten Lichte blau und im durchgehen- den Lichte roth zu erscheinen. Solche Medien erhält man z. B. in manchen Fällen, wenn ein in einer Flüssigkeit gelöster fester Körper sich in sehr kleinen Partrikelchen niederschlägt, welche in der Flüssigkeit schweben bleiben. Hier- gegen lässt sich nur sagen, dass es einestheils nicht unmöglich ist, dass in den betreffenden Fällen der Niederschlag aus feinen krystallinischen Blättchen be- steht, so dass auch bei ihnen dieselbe Erklärungsweise anzuwenden wäre, und dass anderentheils, wenn auch in einzelnen Fällen ähnliche Farben aus anderen Gründen entstehen könnten, damit noch nicht bewiesen wäre, dass die für die atmosphärischen Farben angeführten Gründe unrichtig seien. An der Discussion betheiligten sich die Herren Escher von der Linth, Städeler u. A. Verlag von MEYER & ZELLER in Zürich. Handbuch der vergleichenden Statistik — der Völkerzustands- und Staatenkunde. — Für den allgemeinen praktischen Gebrauch von 6. SFr. olb. 25 Bogen gr. 8 geheftet 2 Rthlr. Dieses vorzügliche Werk ist nach den neuesten und verlässigsten, zum Theil nicht allgemein zugänglichen Materialien mit grossem Fleisse bearbeitet. Es gibt keineswegs ein geisttödtendes Ziffernmeer, sondern es schildert die staat- lichen und socialen Verhältnisse, zugleich die Ziffernangaben erklärend und erläuternd, die Thatsachen vergleichend und beurtheilend, dabei unter steter Hinweisung auf die Hauptveränderungen seit dem Beginne der so Vieles umgestaltenden ersten französischen Revolution. Den Nachweisungen über Umfang, Bevölkerung, Gebietswechsel, Finanzen (Budgets und Schulden), Heer- wesen, Gewerbs-, Handels- und Schiffahrtsverhältnisse, schliessen sich solche über allgemein menschliche Zustände, über wichtige sociale Fragen an. Da das Buch wesentlich für den praktischen Gebrauch eingerichtet ist, so wird dasselbe nicht nur dem Statistiker von Fach, sondern auch jedem Geschäftsmanne, jedem Zeitungsleser nützlich sein. ER + Geschichte des griechischen Kriegswesens von der ältesten Zeit bis auf Pyrrhos. Nach den Quellen dargestellt von dM. Rüstob, ehemaligem preussichem Genieoffizier und ®r. 8. öchlp, ordentlichem Professor der griechischen und römischen Literatur und Sprache an der Universität Zürich. Mit 134 in den Text gedruckten Holzschnitten und 15 Ueber- sichtsplänen zu Schlachten und Belagerungen. 30 Bogen. gr. 8%. geh. 2 Thir. 24 Ngr. Der als gelehrter Philolog und praktischer Schulmann rühmlichst bekannte Herr Prof. Köchly hat sich mit einem vielseitig durchgebildeten Offizier ver- einigt, um durch diese „Geschichte des griechischen Kriegswesens“ eine bisher fast ganz vernachlässigte Seite der Alterthumswissenschaft gründlich aufzuklären. Aber nicht allein der eigentlich Gelehrte wird in derselben neue und überra- schende Aufschlüsse finden: das Buch ist ganz besonders auch Schulmännern zu empfehlen, welche bei der Lection der Classiker und dem Vortrage der alten Geschichte ein wirkliches und lebendiges Sachverständniss, und eben dadurch Lust und Liebe zur Sache bei ihren Schülern fördern wollen. Die sorgfältig gewählten und "sauber ausgeführten Abbildungen machen es auch demjenigen, welcher wenig oder Nichts vom Kriegswesen versteht, möglich, sich und seine Schüler leicht und richtig zu orientiren. Wir behaupten nicht zu viel, wenn wir sagen: das Buch ist ein unentbehrliches Hülfsmittel zum Sachverständniss des Herodot, Thucydides, Xenophon und Arrian, und insofern ein nothwendiges Supplement aller Ausgaben dieser Schulschriftsteller. » (Hauptred.: Epvarp OsENBRÜGGEN.) Pr u Bm re ei ww . AG (9 pa —_ ——r Monatsschrift | nd ın ZÜRICH. Herausgegeben von dem Redactionsausschuss desselben : FErDINAnD Hırzıc, EDUARD ÖSENBRÜGGEN, HEINRICH Frey, WISSENSCHAFTLICHEN VEREINS | ADoLF ScHMIDT, HEINRICH SCHWEIZER. FEIESBZBITEL JAEZLEBSAÄaÄaT 5 Achtes und meuntes Heft. I | | | | ZÜRICH, | VERLAG von MEYER & ZELLER. 1859. 6 Preis für den Jahrgang 2 Thlr., 20 Ngr. - ® Fr. Der Hauptbestandtheil dieser Zeitschrift ist selbstständigen, von den Ver- fassern unterzeichneten Aufsätzen aus allen Zweigen der Wissenschaft gewidmet, mit dem Zweck: die Ergebnisse gründlicher Forschung in möglichst anziehender und anregender Form darzulegen und dergestalt, wie eine unmittelbare Förde- rung der Wissenschaften, so namentlich auch eine Vermittlung derselben unter sich anzustreben. Grössere Recensionen sollen nur in selteneren Fällen Platz finden, kurze Notizen aber und gelegentliche Urtheile über neue Erscheinungen, sowie Berichte und Anfragen in dem Anhange mitgetheilt werden. Inhalt des borliegenden Heftes: Deutsche Rechtsalterthümer aus der Schweiz (Fortsetzung. Von Epvarp MÜSENBRUGCEN AN N enge) Br sine a et Del ehe A TE Ueber das Verhältniss zwischen Lessings Erziehung des Menschengeschlechts und Nathan dem Weisen. Von C. Hesrer in Bern . . . . . . 281 Anzeige von H. Munzinger’s Schrift über die Sitten und das Recht der IB09 03, (LSDI ER ı UN a RR RN Duales of ee Bericht über die Sitzung des Wissenschaftlichen Vereins am 14. März 1859 301 Zusendungen an die Redaction werden portofrei oder auf dem Wege des Buchhandels erbeten. Gegenwärtige Mitglieder des Wissenschaftlichen Vereins ; G. v. Wyss, Präsident. Cravsıus, Vicepräsident. HıLLEsrAnD, Sekretär. BoBRrık. CLoETTA. DERnsuRG. Ecrı. EscHEr v. d. LıntH. FeHur. H. Frey. FRitzsche. Heer. Hıtoesrannd. Hırzıc. J. J. Horrıneer. Kennoort. Köckır. Km. LEBErT. v. MarscHaız. H. Meyer. MEYER-AHRENs. MÜLLER. NÄGELI. v. ÖRELLI. OsENBRÜGGEN. RocHAT. RÜTTIMANN. SCHEUCHZER. SCHLOTTMANN. AD. SCHMIDT, ALEX. ScHWEIZER. H.ScHwWEIZER. STÄDELER. F. VıscHEr. VOGEL. VOLKMAR. Druck von E. Kiesling in Zürich. Deutsche Rechtsalterthümer aus der Schweiz. Von EDUARD OSENBRÜGGEN., XVI. Der Freien- Aemter Landgerichtsordnung. Aus der Zeit vor der peinlichen Gerichtsordnung Carls V. öder genauer, bevor diese in der Schweiz Geltung erlangte, existiren ver- schiedene Malefizordnungen, Hochgerichtsformen, Landgerichtsordnun- gen, aus denen sich nicht undeutlich ein den verschiedenen Theilen der deutschen Schweiz gemeinsamer Prozessgang in peinlichen Sachen und ein gemeines materielles Strafrecht erkennen lässt. Mehrere die- ser Ordnungen sind gedruckt, aus anderen sind in rechtshistorischen Schriften einzelne Stücke angeführt. Zu der ersteren Classe gehören die Züricher Blutgeriehtsordnungt); die von Kyburg, welche im Jahr 1634 erneuert wurde, aber weit früher entstanden ist?); die Land- tagsordnung von Wädenschweil®); die Zuger Malefizordnung®); die kurze Thurgauer Landgerichtsordnung?). Jüngeren Datums sind die das peinliche Verfahren und Einzelnes aus dem materiellen Strafrecht behandelnden Stücke des Landbuchs von Davos, des Hochgerichts Klosters, der Landsatzungen des Hochgerichts der fünf Dörfer in Grau- bünden, obgleich auch hier älteres Recht eonservirt ist. Dasselbe gilt von der erneuerten Gerichtssatzung der Stadt Bern (1614) und dem Blutgerichts-Process des Engelberger-Thals®). Das Verfahren gegen abwesende Mörder und Todschläger ist genau beschrieben in der Lu- zerner Landgerichtsordnung aus dem Ende des 15. oder dem Anfange des 16. Jahrhunderts”). Sehr wichtige Rechtsurkunden der Art sind noch ungedruckt. Durch die freundliche Vermittlung des Herrn Archivars Kothing ist mir die Einsicht einer im Staatsarchiv von Schwyz liegenden Hoch- 1) Schauberg’s Zeitschrift I, 374 fi. 2) Schauberg’s Zeitschrift I, 142 ff. %) Zeitschr. für schweiz. Recht IV, 2, 169. 4) Ebendaselbst I. Rechtsq. S. 61. 5) Ebendaselbst I. Rechtsq. S. 49. 6) Ebendaselbst VII, S. 85. 7) Segesser II, 703 fi. Wissenschaftliche Monatsschrift. IV. 15 — 230 — gerichtsform möglich geworden. Sie hat die Ueberschrift: „Hochge- richtsform und bruch in ettlichen Lenderen, so man ofenelich underm himel und nitt mitt beschlossnen thüren richtet, Und soll der richter angethonne hentschen und das richtschwert zu henden haben.“ Das Exemplar, welches sich im Archiv von Schwyz findet, ist von Glarus an Schwyz mitgetheilt worden®), wie deutlich hervorgeht aus einem Passus auf der ersten Seite, wo es von dem Urtheil zur Verbannung des Gerichts heisst: „Diss Urtheil aber wirt am Hochgericht nitt an allen Ortten gebrucht, sonders allein an nideren Grichten, by uns zu Glarus brucht mans gar nitt, weder an hochen noch nideren Grichten.“ Die Hochgerichtsform in dieser Fassung stammt also aus Glarus, im dortigen Archive findet sich aber kein Original derselben, sondern es existiren nur Abschriften in Privatsammlungen. Eine solche Abschrift ist mir durch die Güte des Herrn Dr. Blumer, der sie auch für seine Rechtsgeschichte benützt hat, bekannt geworden; sie ist, wie der Vergleich mit dem Exemplare des Archivs zu Schwyz zeigt, ziemlich incorreet und auch unvollständig. Eine jüngere Copie derselben, im Besitz von Dr. Blumer, enthält schon viele Verände- rungen der ursprünglichen Gestalt, daher ich sie unberücksichtigt las- sen darf. Sehr nahe verwandt ist der Hochgerichtsform von Glarus-Schwyz die Landgerichtsordnung der Freien-Aemter (Aargau). Eine Abschrift derselben, die ich der Güte des Herrn Justizsecretärs J. Keller in Aarau verdanke, im Jahr 1737 gefertigt, trägt kein Datum der Ent- stehung der L. G. OÖ. Für die Zeit ihrer Abfassung lässt sich nichts entnehmen aus dem Umstande, dass derselben eine Urkunde vom Jahr 1637 beigefügt ist. Wichtiger scheint ein in der L. G. O. vorkom- mender Satz zu sein. Nachdem ausgeführt ist, dass derjenige, welcher seinen nächsten Blutsfreund getödtet hat, nebst einem Hunde in einen ledernen Sack gestossen und ertränkt werden soll, folgt die Bemer- kung: „Aber in unsern Landen der Eidgnoschaft wird dise Urtheil selten gebraucht, sondern aus Gnaden werden sie enthauptet und alda auf der Richtstatt vergraben.“ Eine ganz ähnliche Bemerkung findet sich in der Glarner Hochgerichtsform. Allein wenn sich auch ermit- teln liesse, wann die Säckung in der Schweiz abgekommen (in Luzern für Kindsmörderinnen 1609), so ist der Zusatz eben eine Glosse zum Text. Ohne Zweifel sind verschiedene Theile dieser L. G. O. zu 8) Blumer in der Zeitschr. für schweiz. Recht V, 2, 129. =... ı verschiedenen Zeiten entstanden oder einige derselben sind im Laufe der Zeiten verändert worden. Die dem Fürsprech des Klägers in den Mund gelegte Begründung der Anklage mit ihren Belesenheitsproben ist nicht aus der Zeit, in welcher noch drei Männer aus den Schran- ken gesendet wurden, um zu schauen, ob der dritte Theil des Tages verschienen sei und in welcher die in den Urtheilsformeln aufgereihten Strafen noch nicht Antiquität waren. Jene Begründung der Anklage enthält auch nicht nur das Citat der Carolina Art. 175, sondern er- wähnt selbst ein historisches Beispiel vom Jahr 1563. Eine Vergleichung der L. G. O. und der Glarus-Schwyzer Hoch- gerichtsform mit der Züricher Blutgerichtsordnung, welche wahrschein- lich noch dem 15. Jahrhundert angehört, lässt vermuthen, dass der Kern jener Ordnungen und vornemlich der Catalog der Todesurtheils- formeln aus derselben oder einer doch nicht viel jüngeren Zeit stammt. Eine nicht gedruckte Gerichtsordnung derselben Gattung aus dem Canton Zürich ist die Landtagsordnung des Freien-Amtes (Knonau), aus dem 15. Jahrhundert nach Bluntschli, der sie in seiner Rechts- geschichte I, 200 ff. analysirt hat. Eine saubere Abschrift dieser Ord- nung (von 1654) besitzt Herr Oberrichter F. von Wyss, der sie mir freundlich zur Benutzung dargeliehen hat. Die genannten Gerichtsordnungen liefern ein deutliches Bild des öffentlichen peinlichen Verfahrens und in den Urtheilsformeln eine Ein- sicht in den Zustand des peinlichen Rechts vor der Herrschaft der Carolina in der deutschen Schweiz. Die Freien-Aemter L. G. O. ent- hält, neben der schon gedruckten Züricher Malefizordnung, am voll- ständigsten den Apparat von Formeln der Todesurtheile und darin scheint mir der Hauptwerth zu liegen. Diess bestimmt mich, von die- ser Ordnung auszugehen und aus ihr das Wichtigste mitzutheilen, da- bei aber die übrigen Gerichtsordnungen, besonders die ihr verschwi- sterte Hochgerichtsforın von Glarus-Schwyz in Vergleichung zu ziehen. 1. Die L. G. O. beginnt mit der Bestimmung, dass, wenn der Landvogt die Beschickung eines ganzen Landgerichts für nothwendig gehalten habe, er aufstehen soll und eine feste Rede thun, warum und was Ursachen er ein Landgericht beschrieben habe; worauf er einem Landrichter befiehlt, in seinem Namen die Umfrage zu haben, die- weil ihm die Bräuch nicht bewusst und die Namen nicht bekannt seien. 2. Wenn es sieh nun gefunden hat, dass ein ganzes Landgericht versammelt ist, so fragt der Landrichter weiter, was Recht sei. Der Angefragte (Rechtssprecher oder Schöfte) erkennt: Herr, mich dünkt = u Recht, dass Ihr drei Ehrenmänner ausschicket, die Tagzeit zu erkiesen, ob der dritte Theil des Tags vorüber sei, dass ein Herr Landvogt ‚möge richten, dem Ruhigen zur Ruh, dem Unruhigen zu seiner Strafe. Drei dazu ernannte Männer, gewöhnlich Alt-Land- richter und Untervögte, gehen nun aus den Schranken und nachdem sie sogleich wiedergekommen, thut einer von ihnen die Rede also: Herr Landvogt, Herr Landschreiber sammt dem Herm Landrichter, Ihr habt uns ausgeschickt die Tagzeit zu besichtigen; das haben wir nun gethan und haben erfunden, dass der dritte Theil des Tags wohl vorüber ist, und Ihr Herr Landvogt, ob Ihr wollt, wohl möget mit dem Landgericht fortfahren nach kaiserlichen Rechten. Die an- dern zwei Männer sollen auch gefragt werden und sagen: Es ist also. Die Sitte, vor dem Niedersitzen des Richters und dem Verbannen des Gerichts, sich der Tageszeit zu vergewissern, da eine Gerichts- sitzung auf das Tageslicht beschränkt war®) und nach manchen Ge- riehtsordnungen vor Mittag, bei steigender Sonne, zu beginnen hatte, finden wir überall im altschweizerischen gerichtlichen Verfahren 10), Die in dieser L. G. O. ‘gestellte Forderung, dass der dritte Theil des Tages vorüber sei, tritt auch hervor in der Ordnung des Landtags zu Wädenschweil, in der Luzerner L. G. O., in der Zuger Malefizord- nung. Nach der Öffnung zu Tannegg und Fischingen im Thurgau (1432) soll es „vollen miten tag“ sein!!). Der Grund jener Forde- rung, einen bestimmten Theil des Tages1?) bis zur Eröffnung des Ge- richts ablaufen zu lassen, ist ein rein praktischer: denjenigen, welche an dem Tage bei dem Gerichte zu thun hatten, sollte die Möglichkeit gegeben werden, von ihren, vielleicht entfernteren Wohnungen ohne Beschwerlichkeit zum Orte des Gerichtes hinzugelangen. Von den drei Theilen des Tages war der erste zum Herankommen, der zweite zum Richten, der dritte zum Heimgehen bestimmt 13). 9) S. besonders Grimm R. A. 813 fi. 10) Glarus-Schwyz. — Schauberg's Ztschr. I, 142, 376. Ordnung des Landtags zu Wädenschweill. Grimm Wösth. I, 41. 274. Landbuch des Hoch- gerichts Klosters S. 23. Landsatzungen des Hochgerichts der fünf Dörfer $. 41. Luzerner L. G. ©. Bluntschli R. G. I, 201. Zuger Malefizordnung. 1) Grimm Wsth. I, 274. 12) Es ist von Mitternacht an zu rechnen, so dass mit 8 Uhr Morgens der dritte Theil des Tages abläuft, s. Ott in der Ztschr. f. schw. Recht I, 62 Anm. 13) Grimm Wsth. I, 166. Schwyz Rechtsg. S. 47. Segesser I, 626. II, 698. — Kaiser Sigismund gab 1431 der Stadt Sursee die Freiheit, nicht erst nach Ablauf des zweiten Theils des Tages, sondern auch am Vormittag und — 23 — 3. Auf die weitere Frage, was Recht sei, erkennt der Ange- fragte: Herr, mich dünkt Recht, dass mein Herr Landvogt sich nie- dersetze und nehme ein Richtschwert, das zu beiden Seiten schneide!#) und allda richte nach göttlichem Recht und kaiserlichen Rechten, dem Ruhigen zur Ruh, dem Unruhigen nachdem er es ver- dienet hat, damit das Recht seinen Fortgang habe, und allda nicht mehr aufstehe, bis dass er mit Urtel und Recht wieder auf erkannt werde, jedoch ihm Herr Landvogt vorbehalten Got- tesgewalt, Landsnoth 13), zufallende Leibsnoth. Die Regel, dass der Richter, der als Symbol seiner Gewalt über Leben und Blut zu richten das Schwert hat, nicht aufstehen solle vor dem Schlusse des Gerichts oder bis es mit Urtheil erkannt werde, kehrt immer wieder), z. B. in der Züricher Blutgerichtsordnung: „Fürbass, wenn erteilt wird, das es der tagzit syg und er nidersitzen und richten mug umb sachen, die das bluot und leben antreffint, so sol der vogt nidersitzen und nit mer uffstan bis im das mit urteil er- kennt wirt“; in der Luzerner L. G. O.: „so sitzt der richter nider und stat nit uf, er werd dann mit urteil uf bekent.“ Die Gründe für ein Abgehen von dieser Regel, welche hier kurz angegeben sind, wer- den in der Standgerichtsordnung der fünf Dörfer so beschrieben: „Herr Fürsprech, ich frage euch weiters, wann es sich begeben wurd, dass mich Leibs Schwachheit anfiele, oder Aufruhr oder Feuersnoth, Sturm und Platzregen oder auch ander erhebliche Noth zustahn wurde, ob ich in solchen Fällen möge den Stab und das Schwert von Handen geben etc.“ Auffallend ist es, dass die Freienämter-Gerichtsordnung das Ver- bannen des Gerichts, welches sonst durchaus als ein wesentlicher Akt der Einleitung des gerichtlichen Verfahrens aufgeführt wird 17), wenn es ihnen bequem dünke, über das Blut zu richten, s. Attenhofer's Sursee (1829) 8. 47. 14) Nach der Landtagsordnung von Wädensweil legt der Vogt, dem ein Diener das Schwert ins Gericht nachgetragen hat, dieses auf den Tisch vor sich, wenn er das Gericht verbannt und das ist die Regel, s. auch Landbuch von Da- vos S. 100. 15) Glarus-Schwyz fügt hinzu: Fürsnoth. 16) Schauberg’s Zischr. I, 376. 383. Segesser II, 704. Bluntschli I, 204. Landsatzungen des Hochgerichts der fünf Dörfer S. 48. 50. — 0.C.C. Art. 82. 17) Schauberg’s Ztschr. I, 143. 376. Elgger Herrschaftsrecht 1535 Art. 33 $ 3. Landtagsordnung von Wädenschweil $. 171. Bluntschli I, 201. — 234 —- nicht vorschreibt. Wie durch das Verbannen Friede gewirkt, alles Reden ohne Urlaub, Scheltworte u. dgl. verboten wurden, zeigen die Bannformeln 18). Der Grund der Nichterwähnung eines solchen Aktes in unserer L. G. O. ist zu entnehmen aus der Hochgerichtsform von Glarus, wo gesagt ist, das Verbannen des Gerichts, nachdem der Richter sich niedergesetzt habe, sei in Glarus weder in hohen noch in niedern Gerichten Brauch, sondern wo einer frevenlich in das Ge- richt rede, werde er gestraft nach einem Artikel des Landbuchs über Störung des Gerichtes 1?). 4. Der Richter fragt nun, ob etwa einer vorhanden wäre, der des Landgerichtes mangelte oder bedürfte, der möge wohl bitten um einen Fürsprech. Der Untervogt?P), welcher den armen Menschen hat lassen handhaben oder einziehen, tritt hervor und bittet um einen Für- sprech. Dieser wird ihm erlaubt; aber der gewählte Fürsprech „wehrt sich so fast er mag“ und macht Einwendungen, dass er dem so wich- tigen Handel nicht gewachsen sei, er spricht die Besorgniss aus, „er möchte reden, was er schweigen und schweigen, was er reden sollte“ und bittet den Kläger, da noch so viele ehrliche Amtsleute und Rich- ter zugegen seien, einen andern zu nehmen, der besser sei. Der Landvogt, wie auch der Landrichter befehlen ihm aber, er solle ge- horsam sein und sein Bestes thun. Der Versuch des vom Kläger gewählten Fürsprechen sich der zugemutheten beschwerlichen und nicht ungefährlichen Aufgabe?!) zu entziehen, so dass er erst dem gerichtlichen Gebot sich fügt und so dem Anzuklagenden und dessen Partei gegenüber als gezwungen er- scheint, war allgemeine Sitte??). In der Landtagsordnung von Wä- denschweil heisst es: „So er ihn dann nambset, staht der Fürsprech uf und wideret sich dessen mit etwas Worten, dass er ihm zu ungschickt sige, wolle es nit thun, er werde dann mit Recht dazu erkendt. Hieruf der Vogt ein Frag hat im ganzen Schranken bim Eid, ob er Davos S. 101. 110. Fünf Dörfer $S. 42. 49. Klosters S. 24. Zuger Maleflz- ordnung S. 62. 18) Schauberg’s Ztschr. I, 376. Davos S. 110. Vgl. Grimm RA. 853. Weisth. III, 127, 247. Homeyer, der Richtsteig Landrechts S. 436 fi. 19) Landbuch Art. 77. Blumer I, 542. 20) Glarus: „Dann so stat der Weibel dar und spricht: Herr der Richter ich begär Grichts und Rächts im namen miner Herren gemeinen Landlüten etc.* 21) Bluntschli I, 202. 22) Luzerner L. G. O. bei Segesser II, 705. Landtagsordnung von Wä- denschweil S. 171. Blumer ]l, 543, —_— 235 — es nit thun müsse und das wird mit Recht erkennt, dass er es thun muss.“ In einem zu Luzern auf dem Fischmarkte verhandelten Falle (1553) wurde von der Freundschaft des Entleibten ein Kündig zum Fürsprech erwählt, „dessen sich der gesperrt und zu thun nicht ver- meint hat, alsdann das mit Urtheil erkannt ist, ihm bei seinen Eiden zu gebieten, als geschehen ist, seine Red zu thun?3).“ 5. Nachdem der Fürsprech noch einen Vorbehalt gemacht we- „gen etwaiger Fehler und Versäumniss und erklärt hat, dass es dem Kläger freistehen solle, sich jederzeit während der Verhandlung einen andern und besseren Beistand zu wählen ?*), „bittet er dem Kläger um Rath-* Da der Rath ihm erlaubt wird; bittet er 7 unparteiische Landrichter aus dem Ring”). Hier zeigt der Untervogt an, aus welehen Gründen er den armen Menschen habe handhaben lassen und befiehlt dem Fürsprechen, er solle auf des armen Menschen Leben klagen. Nach gehaltener Berathung zwischen dem Fürsprech und den Landrichtern gehen diese Personen wieder in die Schranken zurück. Der Fürsprech begehrt nun, dass der arme Mensch vor Gericht ge- stellt werde und zwar „aufgelost, frei ledig allen Banden“ und dass der Landläufer demselben einen Fürsprech erbitte, damit er hören möge, was man ihm vorhalte und darauf antworten könne. Dieser zum Beistand des armen Menschen erbetene Fürsprech macht dieselbe Weigerung und demnächst denselben Vorbehalt, wie der erstere des Klägers ?®). 6. Der klägerische Fürsprech vom Landrichter aufgefordert, zu urtbeilen auf seinen Eid, was ihm Recht dünke, spricht nun: „Herr, mich dünkt Recht, dieweil ich gehört und verstanden, dass dieser arme Mensch in Eurer Meiner Herren Gefangenschaft etlich Misshän- del bekannt, die wider Gott und sein Verbot seien, dass dieselbige dureh den Herrn Landschreiber abgelesen werden und der arm Mensch sammt seinem Vogt und Beistand auflose, damit sie wissen darüber Euch meinen Herren samt einem ganzen Landgericht Antwort zu ge- ben, darnach weiter um die Sach geschähe was Recht sei.“ Nach der Umfrage steht der Landschreiber auf und verliest die Vergicht laut, dass jedermann sie hören mag. 28) Pfyffer, Canton Luzern I, 377. 24) Vgl. Maurer, Gesch. des altgerm. Gerichtsverfahrens 9, 92. 25) Glarus: „Es fordert dann der Fürsprech uss jedem Tagwen ein Mann und nämpt die Personen, so er begert mit Namen.“ Vgl. Grimm R. A. 786. 26) Luzerner L. G. O. bei Segesser Il, 707. — 2356 — Hierauf bittet des armen Menschen Fürsprech den Landvogt samt den Herın Landrichtern „dem Armen um Rath.* Der Rath wird ihm erlaubt und er bittet 7 unpartheiische Richter aus den Schranken ?7). Sie gehen aus dem Ring und so es sich befindet, dass der arme Mensch der angeklagten und vorgelesenen Sachen „ichtig“ ist und darauf verharret, so befiehlt dann der arme Mensch seinem Fürsprechen, den Herrn Landvogt samt einem ganzen ehrsamen Landgericht um Gnade und Verzeihung, auch um ein gnädiges Urtheil zu bitten. Wir haben hier, wie in der Hochgerichtsform von Glarus-Schwyz, die Schilderung eines peinlichen Gerichts mit aceusatorischer Form, in welchem nicht ein Privatankläger auftrat, sondern ein Diener der öffentlichen Gewalt, und zwar derselbe, der den „argwöhnischen * Menschen, wie ihn die L. @. O. an einer Stelle bezeichnet, verhaftet hatte, die Klage in die Hand nahm: Ein niederer Beamter, der Land- läufer, hatte zu sorgen, dass dem Angeschuldigten sein Recht der Vertheidigung nicht verkürzt werde. Der Angeschuldigte führt den Processnamen „armer Mensch“ ; processirt wurde gegen ihn, weil er als ein „schädlicher Mensch“ (= Verbrecher) erschien. Als das öffent- liche Verfahren beginnt, hat er schon, während seiner Gefangenschaft, ein Geständniss gemacht; ob nach Anwendung der Folter ist nicht gesagt, aber diess ist wahrscheinlich für die muthmassliche Entstehungs- zeit der L. G. ©. Dieses Geständniss, die Vergieht°®), ist auf- geschrieben und wird vom Gerichtschreiber verlesen, kann aber als solches nicht das Fundament der Verurtheilung bilden, sondern muss dem Verfahren am öffentlichen Landgericht einverleibt werden, nach- dem es vor 7 unparteiischen Männern wiederholt wird. Während ?7) Glarus: „und bittet und begehrt auch alle die an sinem Rath, so in des Weibels Rath gsin sind.“ 28) Vergicht, Vrgicht, Urgicht sind die gewöhnlichen Bezeichnungen für das Geständniss überhaupt, nicht bloss für das nach stattgehabter Tortur ausserhalb der Folterkammer wiederholte Geständniss (Bauer, Lehrbuch des Strafprocesses $ 133). In den schweiz. Rechtsquellen ist die Form Vergicht regelmässig (vgl. W. E. von Gonzenbach in Hitzig's Annalen N. F. LXVI. (1854) S. 3 Anm.) und dieses Wort hat denselben Stamm wie Beichte (ahd. diu pigiht); das ahd. Verbum jehan, g&han ist = aussagen; zur Verstärkung dient die Silbe ver, z. B. in dem Landbuche von Schwyz ist ein gewöhnlicher Eingang: „Allen dien, die disen bryeff ansechent oder hörent lesen, künden wir — und vergechent offentlich.“* — Zu viel Gewicht ist in die erste Silbe des Wortes in der Form Urgicht gelegt von Morstadt (zu Bauer a. a. O.), wenn er sagt: „Das Ur bedeutet finalis, also heisst Urgicht so viel wie Schluss- Geständniss.“ Aehnlich Zöpfl, deutsche Rechtsg. (3. Aufl.) $ 131. Anm. 78, — 237 — sonst oft nur 2 oder 3 solcher Urkundspersonen gefordert werden 29), sind hier und in andern altschweizerischen Rechten sieben genannt ?"), was sicherlich als ein Nachklang des alten Uebersiebnens oder Be- siebnens angeschen werden kann, indem diese 7 Männer nun in den Schranken gegen den Angeschuldigten auftreten und er als durch sie überführt erscheint. 7. Der Fürsprech des armen Menschen wendet sich nun in einem längeren Vortrage an die Milde des Gerichts und hebt den Satz her- vor: „Wo Gewalt ist; da ist auch Gnade und Barmherzigkeit zu er- langen.* Der-Fürsprech des Klägers tritt dagegen auf und führt die Anklage mit Hervorhebung der eingestandenen „Laster* aus, bringt einen bedeutenden Apparat aus der heiligen und profanen Geschichte bei und schliesst mit den Worten: — so befiehlt Euer, Meiner gnä- digen Herrn Untervogt auf sein Blut und Gut, Leib und Leben zu klagen und vermeint, er sei nicht werth, dass ihn die Sonne bescheine, noch das Erdreich trage, auch viel weniger, dass er unter andern ehrlichen Christenleuten wandeln soll und begehrt hiemit an Euch, Meine Herren wie auch an ein ganzes ehrsames Landgericht zu er- fahren, ob er „nit wäger tot dann lebendig sey®i) und setzen hiemit die Sach zum Rächten.* Der Fürsprech des Angeklagten kann hier- auf antworten und seine Fürbitte verbessern. 8. Für den Fall, dass eine Priesterschaft, Frauen oder Männer für den armen Menschen bitten wollen und einen Redner beauftragen „ihre Wort darzuthun“, ist eine Form angegeben, welche zum Theil übereinstimmt mit der Gnadenbitte, welche der Hochgerichtsform von Glarus und Schwyz beigefügt ist. So kommt namentlich dieser Passus vor: „Ihr wollent allda ehren die Ehrwürdige Priesterschaft, so da zuo gegen steht, die hierumb Gott für Euch bitten, wollent auch ehren die züchtigen tugentreichen gegenwärtigen Ehrbaren Frauwen und ihr ernstliches Bitt und Weinen Euch zuo Gnaden bewegen lassen, die- weil uns doch durch das weibliche geschlächt unser aller Heilandt in die welt gebohren und ein alts sprüchwort ist, das- frommer Ehren- frauwen bitt nit ungewährt sein soll; ihr wollent allda ehren die schwan- 29) Schauberg's Ztschr. I, 379. 380. Vgl. Zöpfl, das alte Bamberger Recht, Einl. S. 160. 30) Landbuch von Nidwalden 176. Zuger Malefizordnung S. 65, vergl. Dreyers Nebenstunden S. 135. 31) Die Formel „wäger (d. i. besser) todt denn lebendig“ kommt oft vor, s. Schauberg’s Zischr. I, 398. Etterlin’s Kronika v. 1503. —_— 2383 — geren Ehrenfrauwen umb der Frucht willen so sie under ihren hertzen tragen ihrer bitt gewähren, ihr wollen auch allda ehren die biderben leüth sie seient frömbt oder heimisch, die da zugegen stehn, des- gleichen mich armen Redner.“ Im Uebrigen ist aber diese Gnaden- bitte der L. G. O. durch ihre Breite bedeutend abgeschwächt.. Wenn der arme Mensch der Vergicht und That bekenntlich ist, so erklärt nach der Glarner Hochgerichtsform der Fürsprech des Wei- bes auf seinen Eid, dass nun billig „die Vergicht und That ein Ding soll sein und darüber weiter geschähe was Recht ist.“ Des armen Menschen Fürsprech ertheilt auch, es dünke ihn Recht, dass billig sein Vergicht und That ein Ding sei, dieweil er doch das bekenntlich sei, beansprucht aber die Zulassung der Gnadenbitte frommer Leute, der Priester und Frauen. Jene Wendung, dass Vergieht und That ein Ding sein solle, hat wohl die Bedeutung, dass das Geständniss nun das Fundament für den weiteren Process bilden müsse und eine weitere Thatfrage ausgeschlossen sei. Es folgt sodann eine Entschei- dung des ganzen Gerichts (aller 60 Richter), ob jene Fürbitte zuge- lassen werden und ferner, ob nach strengem kaiserlichem Recht oder nach Gnaden gerichtet werden solle®?2). Angereiht ist in der L. G. O. eine besondere Form „für einen zu bitten, der über Ehr und Eid in Krieg gezogen und er für Malefiz- gericht gestellt wird.* 9. Darnach gehen die Landrichter alle aus den Schranken an einen heimlichen Ort, das Urtheil zu machen. Wenn sie wieder in die Schranken kommen, gibt des Klägers Fürsprech das Urtheil in einer dem Verbrechen entsprechenden Formel. Die höchst interessan- ten Urtheilsformeln, welche hier eingereiht sind und die den Haupt- werth der L. G. O. ausmachen, verlangen eine besondere Behandlung; daher will ich dieselben in Angriff nehmen, nachdem die Uebersicht des Rechtsganges absolvirt ist. In diesem Rechtsgange ist die Stellung und Thätigkeit der Für- sprecher eine ganz andere als heut zu Tage. Der von einer Partei erbetene und ihr erlaubte Fürsprech war nicht Stellvertreter derselben, sondern ihm lag ob, was sein Name anzeigt, die „Rede zu thun“ für die Partei?) in Gegenwart derselben. Die Partei war daher nicht 3) Blumer I, 544. 3) Berliner Schöffenrecht in Fidiein’s historisch-diplom. Beiträgen I, 156: „Dy kleger oder syn vorspreke di an syn wort is gekomen.“ — 239 — gebunden an das von ihm Vorgebrachte, sondern konnte es missbil- ligen und verbessern®*) und darauf bezog sich die oben erwähnte Re- servation, die der Fürsprech beim Antritt seiner Funetion selbst machte. Da er sein Bestes thun sollte und wollte, so erbat er sich in wich- tigen Punkten einen Rath aus den Personen des Gerichts®5). Wenn ihm solcher Rath erlaubt war, ging er mit 7 Personen, nach der Freienämter L. G. O., aus dem Ring, um die Berathung zu pflegen; nach der Glarner Hochgerichtsform wählte er 15 Rechtssprecher hiezu aus®®). In dem Ringe, als dem Orte des gebannten Gerichts, in welchem nur mit Erlaubniss des Richters und auf die von ihm ge- stellten Fragen geredet werden durfte, konnte eine solche Berathung nicht stattfinden 37). Besonders hervorzuheben ist das Verhältniss der Thätigkeit der Fürsprechen zu der des Richters. In der Verhandlung erscheint die formgebende Thätigkeit des Richters als unbedeutend gegenüber der rechtmachenden Thätigkeit der für ihre Parteien wirkenden Fürsprecher. Nicht ohne, aber nicht durch den Richter wird das Recht gefunden. Siegel?®) bezeichnet als den Grundcharakter des altdeutschen Ver- fahrens die unbeschränkte äussere und innere Selbstständigkeit, mit der die Partei ihr Recht geltend macht. Die daraus hervorgehende Thä- tigkeit erblicken wir überall in der Freienämter L. G. OÖ. Der an- greifende und zu Recht setzende Fürsprech des Klägers nimmt nicht bloss an dem Urtheilfinden Theil3°), sondern, wenn er durchdringt mit seinem Antrage, tritt er sogar als das Organ der Urtheilsfinder hervor #0), Wenn aber auch die Fürsprecher aus der Zahl der Urtheilsfinder (Schöffen) #1) genommen wurden und sie von dem Urtheilsfinden nicht nur nicht ausgeschlossen waren, sondern dabei in den Vordergrund 8%) Maurera.a. O.$ 98. 35) Vgl. Kyburger L. G. O, Art. 17. 3) Blumer I, 543. 544, #7) Grimm R. A. 786. In dem Herrschaftsrecht von Elgg 1535 Art. 39 ist das Berathen bezeichnet durch „einen heimlichen Verdank nehmen.“ Die Thurgauer L. G. O. spricht von einem „letzten Verdanken der Urtheilen.“ In Basel hiess das Zimmer, in welchem die Urtheilsfinder sich beriethen, die „Dank- stube“, s. Ochs Gesch. von Basel II, 369, 38) Gesch. des deutschen Gerichtsverfahrens I, 51, vgl. S. 105 fi. 3) Maurer 8. 127. #0) $. auch die Kyburger L. G. O. Art. 18. *) Der Name „Schöffen“ ist in den altschweizerischen Gerichtsordnungen nicht gebräuchlich. — 240 — traten, so ist es doch eine Singularität, wenn in dem Wädenschweiler Herrschaftsrecht von 1593 Art. 3. 4. Fürsprecher und Urtheilssprecher identificirt werden, indem es dort heisst: „Es söllend jehrlichen zechen richter das ist fürsprechen oder urtheilssprecher genommen werden® und „die fürsprechen oder urtheilsprecher so jedes jars gesetzt werdent söllent schweren.“ 10. Nach geschehener Umfrage betreffend das Urtheil fragt der Landrichter den Fürsprech des Klägers, was Recht sei und derselbe antwortet: „Herr Landvogt, Herr Landrichter, mich dünkt Recht, die- weil der arme Mensch Leib und Leben verwirkt, dass billig sein Hab und Gut, ob er dessen etwas verlassen hätte, dass zuvörderst die Landgerichtskosten bezahlt werden, dann das Andere der Obrigkeit zu Eigen heimgefallen sei.* Die Glarner Hochgerichtsform enthält nicht die ganz gleiche Bestimmung: „Dieweil der arme Mensch Leib und Leben verwirkt und eine verurtheilte Person ist, dass nun billig sein Hab und Gut, ob er des etwas verlassen hätte und in euer meiner Herren Gericht und Gebiet gelegen wäre, gemeinen Landleuten, als der hohen Oberkeit zu eigen heimgefallen soll sein, doch seiner Ehe- frauen, ob er eine hätte, an ihrem Gut und Erbrecht, desgleich den rechten Gülten und Schuldnern, ausserhalb den Gerichtskosten, ohne Schaden.“ Auch nach der Ordnung von Wädenschweil soll des armen Men- schen Hab und Gut in und ausser dem Gericht der Oberkeit verfallen sein; dagegen ist, wie so häufig in den altdeutschen Rechten, in der Thurgauer L. G. 0.2) die Vermögensconfiscation zu Gunsten der Erben des Verurtheilten beschränkt: „Item so einer vom Leben zum Tod gericht wird, ist der hohen Oberkeit die fahrend Hab und den Erben das ligend Gut, so derselb verlasst, gefallen; doch den Schul- den ohne Schaden.“ Das liegende Gut ist Familiengut. 11. Nach Aufforderung des Richters erkennt derselbe Fürsprech für Recht: „weil gegen den armen Menschen nichts anders dann das Recht vollführt*#3), ob dann jemand wäre, der jetzt oder hernach des armen Menschen Tod achtete (ahndete?) äfferte oder zu rächen unter- stünde, hasste oder schmähte mit Worten oder mit Werken — dass 42) Ztschr. für schweiz. Recht I, S. 51. 43) In Glarus bat, wenn das Todesurtheil gesprochen war, der Fürsprech des Weibels den armen Menschen, um Gotteswillen ihm zu verzeihen, denn was er gethan, sei aus keiner Ungunst, sondern auf Gebot des Richters und Gerichts und auf Befehl gemeiner Landleute geschehen. — 241 — der oder die solches thäten, in des armen Menschen Fussstapfen er- kennt sein sollen und gleicher Gestalt über sie gerichtet werden solle, damit das Recht geschützt und geschirmt werden solle und das Böse gestraft werde.“ Eine solche Bestimmung, wie sie sich auch in der Glarner Hoch- gerichtsform findet, ist sehr häufig. Die Wädenschweiler Landtags- ordnung drückt dieselbe so aus: „der sinen Tod andete oder äfferte mit Worten oder Werken, dass dieselbe Person in sollicher Pin und Banden stahn solle, wie jetz der arm Mensch allhie zugegen staht“; die Kyburger L. G. ©.: „so des armen Menschen sich beladen und annemen oder söllichen sinen tod ze äferen als ze rächen understahn wölte, ob nit derselb in die band und fussstapfen gestelt werden sölte, darinnen diser arm mensch jetzunder ist“; die Zuger Malefizordnung: „wer solches aussern (äfern) anden oder rächen wöllt an einem Rich- ter oder Gericht, Fürsprech, Weibl oder jemandt anders, so in diesem Gericht Rath, That, Wort oder Werk dazu than hätt, der soll ge- straft werden mit meiner höchsten Herren Buossen “##). Das Todes- urtheil Waldmanns schloss mit den Worten: „Und ob jemand, wer der wäre, sinen tod äferti oder andeti mit worten ald werken heim- lich als offentlich, dass der und dieselben in den Schulden und Fuss- stapfen stan sollen, darin Hans Waldmann jtz gegenwärtig stat#),“ Die Verbindung des Worts äfern mit den Synonyma ahnden und rächen zeigt dessen Sinn und die Bedeutung der ganzen Be- stimmung deutlich an. Unrichtig ist es, wenn Zöpfl?6) von einer Eiferung des Halsgerichtes als = calumnia, absichtlich falsche An- klage, spricht und eifern durch irritare erklärt. Mit der Stelle des Bamberger Stadtrechts $ 138 hat es dieselbe Bewandniss, wie mit den angeführten Stellen der altschweizerischen Rechtsquellen. Unter der Rubrik: „Euferung des Halsgerichts“ ist gesagt: „Und wer daz selbe Gerichte (nach $ 137) oder ander halsgerichte dy volgene denn furbaz evert (efert, eufert) on recht, zu dem schol man daz selbe reht haben daz man zu dem vordern gehabt hat uber den da gerichtet ist wor- 4) Schauberg’s Ztschr. II, 52. Engelberger Thalrecht S. 95. Appen- zell A. Rh. Art. 37. I. Rh. Art. 40. 47. (Schäfer’s) Materialien zu einer vaterl. Chronik IV. (Herisau 1812). 8. 97. 124. 45, Füssli, Joh. Waldmann, Ritter, Burgermeister der Stadt Zürich (1780) 8. 22. 46) Das alte Bamberger Recht, Einl. S. 119 und in seiner deutschen R, G. (3- Aufl.) $ 131, Anm. 11. — 22 — den.“ Das Wort äfern (ahd. afarön, mhd. ävern, von dem Adv. afar, avar) hat mit unserm eifern nichts zu thun, sondern ist#?) = wiederholen (iterare), wiederholt rügen und es wird noch dann und wann im Canton Zürich äfern und wideräfern etwa für schelten und tadeln gebraucht. Eine Nüaneirung der Grundbedeutung ist es, wenn das Züricher Erbrecht (1716) III. $ 11 von einem „Wiederäfern schon gemachter Theilungen“ spricht und von unruhigen Leuten, so solche Erbtheilungen wieder über einen Haufen zu werfen bedacht seien. Dadurch ist F. Ott veranlasst worden, in einer Anmerkung zur Zu- ger Malefizordnung äfern zu erklären = wieder rückgängig zu machen suchen; aber diese Erklärung passt nicht für solche Bestimmungen eriminalrechtlicher Art, wie es die genannten sind, denn der Tod eines Hingerichteten, wie Waldmanns, liess sich nicht rückgängig machen. 12. Auf die Frage des Landriehters, ob nun nicht sei gerichtet worden nach den Kaiserlichen Rechten und der Herr Landvogt wohl möge aufstehn und aufhören zu richten, antwortet der Fürsprech: Hoch- geachter Herr Landvogt, Herr Landrichter, mich dünket Recht, dass nun das liebe Recht seinen gebührlichen Gang gehabt und vollkom- mentlich vollführt und das Uebel gestraft sei und Ihr Herr Landvogt wollet aufstehn und aufhören zu richten und Euch auf die Richtstatt begeben und sehen, dass durch den Nachrichter der Urtel statt beschehe. Das urtheil ich und dünkt mich Recht. So meldet die L. G. OÖ. Dass die Todesurtheile sogleich nach dem Erkenntniss vollzogen wurden, ist bekannt #8). Die ©. ©. C. Art. 79 ordnet an, damit der Verurtheilte sich zum Tode vorbereiten könne, dass ihm die endliche peinliche Rechtfertigung drei Tage zuvor an- gesagt werde. In den der L. G. O. einverleibten Urtheilsftormeln ist ein nicht unbedeutender Theil der Symbolik und Plastik des altdeutschen Rechts erhalten #9): 1. Wenn die Strafe der Enthauptung erkannt ist, soll der Nachrichter dem Uebelthäter die Hände auf den Rücken binden, ihn auf die gewöhnliche Richtstatt führen, ihm „alldorten seine Augen 47) Schmeller, bayerisches Wterb. I, 30. Stalder, schweizerisches Idiotikon s. vv. Grimm, deutsches Wörterbuch s. v. 4) Dreyer’s Nebenstunden S. 172 fi. Segesser II, 720. 49) Vgl. die Formeln der Todesurtheile in der Luzerner Malefizordnung (Ende des XVI. Jahrh.) bei Segesser IV, 196 Anm. — Arx, Gesch. des Kantons St. Gallen II, 603 Anm. b. Landbuch von Davos 8. 103. — 43 — verbinden und mit dem Schwert vom Leben zum Tod hinrichten, also dass er ihm soll abhauen sein Haubt und aus ihm in einem Schlag zwei Stücke machen, dass zwischen Haubt und Leib mag passiren frei ein Wagenrad 30),« 2. Urthel über ein bösen Dieben: Ich urtheile das und dünkt mich Recht, dass man diesen armen Menschen solle an den lieehten Galgen henken mit einem neuen Strick zwischen Himmel und Erdenreich so hoch, dass das Haubt ohngefähr den Galgen berühreöt) und unter ihm Laub und Gras wachsen möge und solle allda am Strick zu Tod erwürgt werden, dass er daran sterb und verderb und seinen Leib lassen am Galgen hängen, damit er den Vögeln im Luft erlaubt nnd dem Erdenreich entzogen werde®?2), also dass fürhin weder Leut noch Gut von diesem Menschen geschädiget und andere seines Gleichen ab dieser Straf ein Schrecken und Wahrung empfahen. Ein Urtheil über einen Dieb in Rapperschwyl vom Jahr 1628 erkennt: „— ihm zwischen Himmel und Erden an den liechten Galgen henken, also vom Leben zum Tod hinrichten, dass ihm der Schopf an das Hochgericht anlange und also sein Körper ein Aas der Vögel werde 53), « Die Formeln, welehe von Arx aus dem Ende des XV. Jahrh. anführt, lauten: „Er soll ihn an den Galgen zu Tod henken, dem Erdreich entflöhnen, dem Luft empfehlen, so hoch, dass ein Reiter mit aufrechtem Glen unten durch reiten könne* und: „Er soll ihm dem Erdreich entflöhen, den Vögeln in der Luft erlauben und mit einem Strick am liechten Galgen vom Leben zum Tod erhenken.* — Noch im Jahr 1706 findet sich in einem Aarauer Todesurtheil ein Nach- klang der alten Formel: „ihne auf das gewöhnliche Richtort führen und daselbsten mit dem Strang vom Leben zum Tod hingerichtet und den Vögeln des Himmels zum Raub überlassen werden 5*).« 3. Urthel über Ketzer, Hexen und Bränner: — dass man alda ein Feuer mache und diese arme Person gebunden auf einer 50) Engelberger Blutgerichtsprocess in der Ztschr. f. schw. Recht VII, 96. Schauberg’s Ztschr. I, 388. II, 52. Bluntschli’s R.G. I, 408 Anm. 143. Segesser IV, 194 Anm. Geschichtsfreund X, 266. Wegelin im Geschichts- forscher X, 419. Attenhofer Sursee $. 119. 51) Glarus: „ungevarlich den (dem) Galgen rüre.“ #2) Glarus: „Damit sin Lyb denen Vöglen und dem Luft befohlen und dem Erdrych entfrömbt werde.“ 5%) Gonzenbach in Hitzig’s Annalen LXVII (1854) 8. 162. %) Oelhafen’'s Chronik $. 127, N —_— 24 — Leitheren 55) also lebendig in das Feuer stosse und sein ganzer Leib mit Fleisch und Bein, Haut und Haar „zue bulffer und aschen ver- brönth werde.“ Hat sie aber so schändlich gehandelt und viel Fehler begangen, so thut man noch zu dem Obstehenden: Doch dass sie zuvor vier Mal mit feurigen und glühenden Zan- gen gepfetzt und gebrönth werde bei beiden Brüsten und zu beiden Seiten, damit männigklich ein Schrecken und Wahrung ab dieser seiner Straf empfahe®®). 4. Urthelüber Mörder, Todschleger und Vergifter?”): — Dass der Todschleger oder Mörder dem Meister oder Scharfrichter werde überantwortet in seine Hand und Gewalt, dass er ihn führe auf die Richtstatt und ihn daselbst niederlege und die Arme aus- spannen und heften und ihm also mit einem Wagenrad seine Glieder, die Arme vor und hinter der Ellenbogen, desgleichen an beiden Schen- keln ob und unter den Knieen zerstossen und zerbrechen?) und ob der arme Mensch darvon nicht tod wäre und „eines gesehlen Stoss* begehrte 5%), den will ich ihm durch den Meister zulassen. Darnach soll der Nachrichter den armen Menschen er sei tod oder lebendig auf das Rad flechten und binden und das Rad auf ein Stud empor richten und ihn also radgebrecht und gebunden auf dem Rad liegen und ihn also lassen sterben und verderben. Ob aber der Mörder gestohlen oder gebrannt hat, so wird in die vorige Urthel eingemischt, entweder: dass man ihn soll auf das Rad flechten und binden und auf dem Rad am Galgen aufrichten und seinen Hals als einen Dieben daran mit einem Strick knüpfen und ihn als einen Dieb, Brenner oder Mörder mit dem Rad in ein Feuer stossen und seinen Körper mit Fleisch und Bein, Haut und Haar verbrennen 60) zu Bulffer und Aeschen und was überbleibt auf der 55) Schauberg’s Ztschr. I, 389. 390. 56) Diese Schärfung haben Glarus und Schwyz nicht. 57) Genauer Glarus und Schwyz: „Mörder, Vergifter, Todschleger über frid.* 58) Die St. Galler Formel bei Wegelin a. a. O. lautet: „einem Ross an den Swantz binden und in schlaipfen und im sin Bain, sine Armen und sinen Ruggen brechen sölt und das er in dem Ertrich empfrönden und dem Luft em- pfehlen und in uff ein Rade setzen sölt.“ 59) Glarus und Schwyz: „und an dem Nachrichter noch eins gesellen Stoss begärte.“ — Gnadenstoss. 60) Eine solche Verbindung von Radbrechen, Hängen und Verbrennen auch \ —_— 245 — Richtstatt vergraben, damit darvon weder Leut noch Vieh kein Scha- den beschäche.“ Oder: auf das Rad geflochten und gebunden auf dem Rad ein Galgen aufgericht und sein Hals als einen Dieben mit einem Strick daran knüpfen und das Rad auf ein Stud emporstellen. 5. Urthel über Weiber umb Meineid, Diebstäl, Gotts- lästern und böse und schnöde Sachen: Denselben soll man Händ und Füss zusammenbinden und also gebunden in ein Sack stos- sen®1), denselbigen verbinden und also verbunden in ein tiefe Wag des Wassers werfen, versenken und ertränken und also von dem Leben zum Tod richten.* Hier ist die Bemerkung hinzugefügt: Etwan geschichts aus Gna- den, dass mans mit dem Schwert richt wegen der Verzweiflung. 6. Urthel über Kindsverderberin, Mörderin oder Ver- gifterin: Die soll man ausführen auf die gewonliche Gerichtsstatt, allda soll gemacht werden ein tiefe Gruoben®2), darin soll man le- gen ein Burdi Dörn und sie lebendig daruf werfen, demnach wieder ein Burdi Dörn auf sie®%) und soll man ihr in den Mund geben ein Luftrören und sie mit Erden bedecken und die Gruoben zufüllen, da- mit sie weder Sonn noch Mond bescheinen thüge noch dieselbe sehen möge ®#), alda sie lassen sterben und verderben, damit weder Kind noch gewachsene Lüthen von ihr kein Schaden empfangen. Oder aber diese Urthel: Man soll ein tiefe Gruoben machen und sie darin werfen und soll ihr durch ihren Leib schlagen ein spitzigen Pfahl 6%) und also an das Erdenreich angehefft werden und darnach die Gruoben mit Erden zufüllen, allda sie lassen sterben und verderben. 7. Urthel über jüdische Dieben: Man soll ihn erstlich fragen, ob er den christlichen Glauben und Tauf wolle annehmen, will er das thun, so tauft ihn ein Priester bei dem Landgericht und nach- in Zürich s. Schauberg’s Ztschr. I, 389, 390. Bluntschli I, 409 Anm. 147. Fälle derartiger Cumulation s. bei Gonzenbach in Hitzig’s Annalen. N. F. LXVII. (1854) 8. 11. 163. 6) S. oben Nr. IH. 62) S. oben Nr. IV. 6) Schwyz und Glarus erwähnen die „Burdi Dörn“ nicht. 64) Schwyz und Glarus nur: „das sy weder Sonn noch mon nimmer mer gesehen mög.“ 65) Grimm R. A. 691. Klose in Seriptores rerum Silesiacarum III. (1847) S. 79 vgl. 93. 94. Wissenschaftliche Monatsschrift. IV. 16 — 2146 — dem er getauft ist, so wird er geurtheilt mit dem Rechten zu dem Galgen®®), wie ein Andrer so gestohlen und hiervor staht. Will er ein Jud bleiben und will den christlichen Glauben nicht annehmen, so wird er geurtheilt, wie hienach folgt: Ich urtheil und dünkt mich Recht, dass man diesen jüdischen Dieben ein besonderen Galgen aufrichte und ihn daran mit gebundenen Händen und Füssen, an die Füss zwischen zweien wüthenden oder beissenden Hunden #7), an ein Strick aufhenke zwischen Himmel und Erden so hoch dass unter ihm mag Laub und Gras wachsen und allda den Hunden, auch den Vögeln der Luft®®) befohlen und dem Erden- reich entfrömbt werden und ihr, Herr Landvogt und Herr Landrichter Lüth und Wächter umb den Galgen verordnen, die ihm allda ver- hüten, so lang bis er am Galgen verdorben und gestorben, damit fürobin weder Leüth noch Guot von ihm geschädiget werde und wann das erstattet, dass der Urthel genug beschehen sei, nähm dann die Seel wer Recht dazu hat. : Sonst ist der immer wiederkehrende Schluss: „Gott gnad der Selen“; hier wird dem Teufel sein Recht gelassen #). 8. Urthel über einen der falsche Kundschaft bei sei- nem Eid sagt und schwert vor Gericht und Recht: Dem soll man die drei Finger damit er den falschen Eid gethan und die hei- lige Dreifaltigkeit?) die ewige Wahrheit hiemit gelästert abhauen, darnach soll man ihm seine Augen verbinden und mit dem Schwert 66) S. oben Nr. III. a. E. Klose a. a. O. S. 94 (Breslauer Fall v. 1505). #7) S. oben Nr. III. a. E. 6) „Und dem Luft“ Glarus und Schwyz. 69) Glarus und Schwyz haben diesen Zusatz nicht. 70) Glarus und Schwyz nur: „ime alda abhauwen die dry finger, damit er den faltschen Eyd gethan.“ — Landbuch von Appenzell A. Rh. 10: „Ein jedes Christen Mensch, so einen Eid schweren will, der soll aufheben drei Finger, da dann bei Aufhebung der drei Finger die Bezeugung an die richterliche Herr- lichkeit Gottes des Vaters, Gottes des Sohns und Gottes des heil. Geistes ge- schiehet, und mit denen andern zweien in der Hand gebogenen Fingern die gänzliche Underwerfung der Seele und des Leibs unter den richterlichen Gewalt Gottes vorgestellt wird.“ Aehnlich die Landsatzungen des Hochgerichts der fünf Dörfer 8. 54 und eine (ungedruckte) Urner erschröckliche Bedeutung eines un- gerechten falschen Eids, wonach der Daumen Gott den Vater, der nächste Fin- ger Gott den Sohn, der dritte den h. Geist bedeutet, von den gebogenen der Ringfinger die christliche Seele, der kleine Finger den Leib. Eine ähnliche Sym- bolik kommt auch sonst vor, s. Kaltenbaeck, Pan- und Bergtaidingbücher CXXV, 47. RT \ — 47 — richten, dass aus ihm werden zwei Stuck also und dergestalt, dass zwischen dem Haubt und Körper ein Wagenrad’!) möcht durchgeln, damit männigklich ab diesem seinem Tod ein Schrecken empfahe sich der Wahrheit zu beflissen. 9. Urthel über grausame Gottslesterung Schwerer und Flucher: Man soll ihn als ein schandlichen Uebelthäter aus- führen an die gewonliche Richtstatt neben dem Galgen und ihm allda sein Genick aufspalten und sein gottslesterende Zungen hinden zum Nacken ausziehen und aus dem Hals schneiden und abhauen und die- selbe heften an den Galgen, darnach sein Haubt abschlagen und ihn also vom Leben zum Tod richten ??), auch den Kopf und Körper un- ter dem Galgen vergraben, damit Gott der Allmächtige, seine liebe Heiligen und die heiligen Saeramente von diesem Menschen nicht mehr geunehrt und gelästert werden. Das Ausschneiden der Zunge kommt nach Grimm mehr in den Sagen als in den Gesetzen vor, allein in den Rechten des späteren deutschen Mittelalters findet es sich doch nicht selten und ist auch, sowie das Beschneiden und Schlitzen der Zunge, ausgeführt worden. Gleichwie in der obigen Urtheilsformel bestimmt das Stadtrecht von Regensburg??), dass man einem Gottschelter oder einem, der einen falschen Eid schwört, die Zunge mit einem Hacken aus dem Nacken ziehen soll. In einem österreichischen Weisthum’”*) ist die- selbe Strafe dem gedroht, der Einem seine Ehre absagt. Der Sachsen- spiegel I, 59 sagt: „Sve bi koninges banne dinget die den ban nicht untvangen hevet, de sal wedden sine tungen“, was im Görlitzer Rechts- buch 9 wiedergegeben ist: „Swer bi des kuniges banne richtit unde den ban von me kunige nicht zo len hat, dem sol man die zungin uz snidin.“ Am 21. Febr. 1547 wurde in Solothurn einem Calumnianten die Zunge ausgerissen und an einen Stock geheftet. Derselbe hatte einen Andern bei der Obrigkeit fälschlich angeklagt, als habe er gesagt: Dass dich Gotts Herrgott im Himmel schände. Er erhielt die Strafe, welche dem Angeklagten zu Theil geworden wäre, wenn sich die 71) S. oben S. 243. 72) Glarus und Schwyz: „und die heften an den Galgen und ihn also vom Leben zum Tod richten und sinem todten Cörpel abschlachen das Haupt und den Cörper und das Haupt etc.“ 78) Freyberg, Sammlung histor. Schriften V, S. 55- 74) Kaltenbaeck, Pan- und Bergtaidingbücher CLXIV, 11. — 2148 — Anzeige begründet gezeigt hätte?5). — Im Jahr 1612 wurde zu Strass- burg einem Gotteslästerer die Zunge ausgerissen’6). In Luzern wurde 1416 dem Gerhard Sattis die Zunge gekürzt von böser Rede wegen”) und auch schlitzte man im Thurgau einem Knaben die Zunge wegen Got- teslästerung?®). Nach dem Bericht von Pfyffer?9) wurde im 16. Jahr- hundert, wer Gott oder seine Mutter lästerte, vom Nachrichter auf den Fischmarkt geführt, ihm daselbst die Zunge mit einem Nagel auf ein Holz geheftet, die er, freilich mit zusammengebundenen Händen, selbst wieder lösen mochte, um sodann aus Stadt und Land zu ziehen. 10. Urthel wann ein Mann zwey Frauen undein Frau zwei Männer nähme: So diess beschähe gibt Urthel, dass man sie solle führen auf die gewonliche Gerichtsstatt und aus dessen Leib so solches gethan zwei Stuck gemacht und von einander gespalten und jedem Theil ein Theil desselben gegeben werden nach Vermög Kaiser- lichen Rechten. Diese Beziehung auf Kaiserliche Rechte ist mir unerklärlich. — Die mir bekannte Glarner Hochgerichtsform (wie die Schwyzer) hat ebenfalls „und ihm sein Leyb in zwey Stucken zerspalten.* Dreyer, Beiträge 8. 26, führt aber aus einer von ihm eingesehenen Abschrift an: „und sein Haubt in 2 Stücke zu zerspalten®) * (?). Zu der obigen Urtheilsformel ist in der L. G. O. hinzugefügt®l): Aber durch Gnadbeweisung geschicht es in unsern Landen nicht bald, sondern wird mehrentheils die Urthel mit der Enthaubtung ertheilt; doch wird etwan noch folgende Urthel auch gebraucht, je nachdem der Thäter sich gehalten hat: So urtheil ich und dünkt mich Recht, dass man diese arme Per- son dem Scharfrichter solle überantworten in seine Hand und Gewalt mit Befehl, dass er ihm seine Händ auf den Ruggen binde und ihn als ein Uebelthäter führen zu dem Wasser genannt NN. und ihn allso mit gebundnen Händ und Füssen in die tiefe Wag des Wassers wer- 75) Amiet, Schweizerischer Geschichtskalender S. 11. — Ueber die Strafe der Talion bei falscher Anklage s. Ztschr. für deutsches Recht XVII. S. 184 fi, 76) Stöber, Alsatia 1851, S. 40. 77) Segesser II, 626. 78) Pupikofer, der Canton Thurgau I, 270. 79) Canton Luzern I, 381. 80) Ein Urtheil aus der Mark Brandenburg (1538) lässt einen Mann, der zwei Weiber genommen, stäupen und in jeglichem Arm eine Puppe tragen, s. Hälsehner, Gesch. des brandenb. preuss. Strafrechts S. 111. 81) Aehnlich Glarus und Schwyz. — 249 — N fen, darum dass er das heilige Sacrament nicht besser betrachtet, sondern verachtet, und darin sein falsches und betriegliches Herz ertränken und vom Leben zum Tod richten, damit er die heiligen Saecramente nicht mehr entunehre noch kein Mensch nieht mehr be- triege.“ Das Ertränken als Strafe der Bigamie war im Mittelalter ziem- lich verbreitet 82). 11. Urthel wann einer ein Jungfrauw feltz oder die- selbige nothzwängt®®): Den soll man als ein schedlichen Uebel- thäter ausführen auf die gewohnliche Richtstatt — und ihn allda le- bendig und gebunden in ein offene Grube werfen und ein spitzen Pfahl oder Stecken auf sein Brust gegen seinen unkeuschen Herzen setzen, daruff die beleidigte Person ohne Nachtheil und Schaden ihrer Ehren, wann sie will, mag sie die drei ersten Streich nach allem ihrem Ver- mögen und Kräften thun, darnach solle der Scharfrichter denselben Pfahl zu allem durch ihn schlagen und treiben und also an das Erden- reich heften, vom Leben zum Tod richten, darnach sein Leib in der Gruben lassen liegen mit Erden wohl bedecken und zufüllen, damit niemand mehr von ihm genothzwängt werde und Männigklich ein Schrecken darab empfahe. Und soll auch die übergewältigte Person dieweil dass wider ihren Willen und aus schandlichem Nothzwang ihr Gewalt und Unrecht be- schehen von Niemand desto böser oder unehrlich geschätzt, sondern für ein frommes ehrliches unschuldiges Mensch dieser That halben geachtet und gehalten werden. Die Strafe des Pfählens ist dem Nothzüchter oft im Mittelalter gedroht 3?) und auch die Bestimmung, dass die Genothzüchtigte die drei ersten Schläge thun möge, ist nicht selten®). — Eine von den der Züricher Blutgerichtsordnung hinzugefügten Urtheilsformeln lautet: _„Umb sollichen notzog, übel und misstuon ist von dem genannten N. 82) Bamberger H. G. O., Art. 146: „Und wiewol an viel enden gewonheit, das das gemelt übel mit dem wasser zum Tode gestraft wird.“ S. auch Geib im Archiv des Crim. 1845 S. 204. 8) In der Schwyzer Hochgerichtsform ist bei der Enthauptung der Fall in der Rubrik vorweg genommen, wo jemand „ein Weibsbild so nit ein Magd mit Gewalt notzogt.“ 8) Grimm in der Ztschr. für deutsches Recht V, S.24. Zöpfl, Bamb. Recht Einl. S. 116. Stadtrecht von Ulm (13. Jahrh.) $ 35, vgl. Grimm R. A. 691. 8) Grimm a. a. O. Tengler’s Laiensp. Th. II. Tit, umb Notzwang. Dreyer's Nebenstunden $. 182. — 250 — gericht, dass er dem Nachriehter befolehen werden, der ihm sin hend binden und hinus zuo der waldstatt fueren, und ihm dann sin fuess ouch binden und ihn an den ruggen legen und einen eichimen pfal durch sinen lib schlachen und also gebunden und an dem pfal lassen sterben und verderben ®).*“ Eine Hinrichtung der Art fand am 1. Au- gust 1465 in Zürich statt. Ein junger Bursche, Ulrich Moser, hatte mit 6 Mädchen von 4—9 Jahren Unzucht getrieben. Man entkleidete den Verbrecher, legte ihn auf den Rücken, band ihn an vier in der Erde befestigte Pfähle, setzte einen Pfahl auf den Nabel, schlug ihn durch den Leib in das Erdreich und liess so Mosern „verenden.* Es fehlt auch nicht an andern Beispielen wirklicher Ausführung 8”) einer solchen Strafe in der Schweiz. J. von Arx®®), sich beziehend auf das Tooggenburger Criminalprotocoll und ein im J. 1549 zu St. Gal- len gefälltes Todesurtheil, führt eine der obigen Formel der L. G. O. fast gleiche Sentenz gegen einen Nothzüchter an: „Der Scharfrichter soll ein spitzig Pfahl auf die Brust gegen sin unküsch Herz setzen, daruf die Beleidigte, wenn sie eine unverleümt Magd war, wenn sie will, die ersten drey Streich nach iren Kräften thun mag, ihn pfählen, und begraben, und die bezwangt Wibsperson von niemand böser oder ärger geschätzt werden.“ In Basel wurde ein Gürtler von Memmin- gen, der mit einem fünfjährigen Mädchen Unzucht getrieben, 1515 mit dem Pfahl gestraft89). Ebendaselbst wurde ein über 60 Jahr alter Hintersäss, der mit einem noch nicht achtjährigen Mädchen „ge- muthwilliget“ und das Kind „verwüstet“ hatte, auf einen Karren gesetzt, mit glühenden Zangen gepfetzt, enthauptet und beim Galgen vergraben, worauf ihm ein Pfahl durchs Herz geschlagen wurde 9°). 12. Urthel über einen der seinen nechsten Bluts- frünt ertöt doch ohne Mord®!): Herr mich dunket Recht nach Gestaltsame der Sach und nach Misshandlung dieses armen Menschen, auch nach Vermög der Kaiserlichen Rechten, dieweil er so frevenlich wider alle Billigkeit und wider das Gesetz der Natur also grüwlich gehandlet hat und ihm nicht verschonet, sondern ihn ohn alle Noth 86) Schauberg's Ztschr. I, 340. 87) Gonzenbach in der Ztschr. f. deutsches Recht IX. 8. 330 ff. 88) Gesch. des Kantons St. Gallen III, 285. 89) Ochs, Gesch. von Basel V, 380. Fälle aus dem Elsass s. bei Mer- kel de rep. Alam. p. 113. 9%) Ochs, VI, 487. 91) Glarus: „Der sin nechsten fründ ertödt unredlich doch one Mord.“ — 2531 — und Ursach umb sein Leben gebracht, gleiehsam einen Hund, der sines Gleichen auch nicht verschonet, dass ihr Herr Landvogt ihn dem Scharfrichter in seine Hand und Band und Gewalt befählend, der solle ihm seine Händ auf den Ruggen binden und ausführen als ein schedlichen Uebelthäter zu dem Wasser genannt N. N., ihm daselbsten auch seine Füss zusammenbinden und also lebendig und gebunden mit einem lebendigen Hund in einen ledernen Sack stossen®?) und also vernähet in die Tiefe des Wassers versenken und ertränken, damit er alle vier Elemente anfache manglen®®) und also des Tods ersticke sterbe und verderbe und darnach den Sack und was darinnen ist unter dem Galgen vergraben), hiemit männigklich ab diesem seinen Tod ein Schrecken empfache und seine Fründ und andere vor ihm sicher seien. Aber in unsern Landen der Eidgnoschaft wird diese Urthel selten gebrucht, sondern aus Gnaden werden sie enthauptet und allda auf der Richtstatt vergraben. 15. Urthel über Falschmünzer, Kanthengiesser®), Metallfälscher: Herr mich dunket Recht, dass der Scharfrichter diesen Falschmünzer näme in Hand und Gewalt und ihn allda in einen Kessel oder Standen mit siedent Wasser oder Oel versiede und also vom Leben zum Tod richte, darnach auf der Richtstatt vergrabe, damit niemand mehr von seiner Falscherei beschissen 96) und betrogen werde. Das Sieden des Münzfälschers, worin man wohl einen Ausdruck 92).S. oben Nr. IH. ; 9) $ 6. J. de publicis judieiis: „ut omni elementorum usu vivus carere ineipiat.“ 9%) Im Jahr 1641 wurde in Dorpat eine Kindsmörderin „in einen Sack ge- stecket, ins Wasser gestürtzet und also vom Leben zum Tode gebracht.“ Dem Urtheil des Rathıs ist hinzugefügt: „Wegen der Begräbnus schleusst E. E. Rath, dass die G. O. nach ihrem Tode ohne Sack beim Gericht, das ertödtete Kind aber auf dem Kirchhof begraben werden soll.“ — In Sachsen wurde noch 1734 eine Kindsmörderin mit Hund, Katze und Schlange im Sack ertränkt (Grimm R. A. 697.) 95) Schwyz; „falsch Kantengiesser.“ — Grimm With. I, 243: „Geschirr — es seyen Becher, Kanten, Massen, Kopf oder Gläser.“ 96) Dieses Synonymon (engl. cheat) von betrügen und das Substantiv Be- schiss s. Schauberg’s Ztschr. I, 301. Ztschr. für schweiz. Recht IV, 1, 69. Landb. von Glarus 130. Vgl. Stalder Idiot. s. v. Zarncke zu Brant's Nar- renschiff e. 102. Grimm, Wterb. s. v. Nr. 3. — In einer Urkunde von 1557 kommt das seltsame „Leutbescheisser* für Betrüger vor, s. Abscheide der zu Ba- den im Aargau gehaltenen Tagsatzungen I, S. 189. — 2592 — der Talion sah®”), ist häufig in den Gesetzen angedroht®®). Einem, der in Basel falsche Gulden gemacht, wurde die Stadt verboten, unter Androhung des „Siedens“, wenn er sich dort wiedersehen lasse). Zwei falsche Zeugen wurden 1392 in Bern „in einem Kessel ge- sotten * 100), 14. Urthel über die so schwangere Frauwen auf- sehneiden oder ihren eignen Herrn umbringen), Den sol man ausführen als ein schedlichen Uebelthäter auf die gewobnliche Richtstatt bei dem Galgen und ihn allda mit feurigen Zangen sein Leib zerreissen also lang bis er des Tods stirbt und verdirbt und wann er todt ist, so soll der Meister sein Leib unter dem Galgen vergraben. Dass hier das Aufschneiden schwangerer Frauen als ein beson- deres, schwerstes Verbrechen aufgeführt wird, ist eine Singularität, die sich aber aus einem furchtbaren Aberglauben erklären lässt102), der noch nicht ganz vom Erdboden verschwunden ist. Unlängst wurde in der Oesterreichischen Gerichtszeitung erzählt, dass ein Bauer am Morgen zur Arbeit aufs Feld ging und seine hochschwangere Frau in ihrem Bette zurückliess.. Als er heimkehrte, fand er die Frau todt, mit aufgeschnittenem Leibe im Bette liegen, das Kind mit abgeschnit- tenen Händen daneben. Zwei Bösewichter hatten den scheusslichen Doppelmord begangen, um die Hände eines ungebornen Kindes zu 9) Zeitschrift für deutsches Recht XVIII, S. 176, Anm. 5. Merkel de rep. Alam. p. 113 spricht bei Erwähnung des Siedens die Vermuthung aus: „an iudicio Dei in den wallenden kezzel ze grifenne untz an den ellenbogen in supplicium verso?“ Schwerlich! 08) Rechtsbuch nach Dist. IV, 17, 4. Stadtrecht von Regensburg $. 55. Grimm Wsth. I, 547. Hamburger Stadtrecht 1497. O. XVIII. und in den frü- heren Recensionen. 99) Ochs, Gesch. von Basel II, 360. 100) Stettler's Chronik s. a. Justinger’s Berner Chronik S. 234. Tschudi, Chron. Helv. s. a. Müller’s Gesch. schweiz. Eidgen. II, 7. Einen Fall aus Colmar (1274) s. bei Merkel a. a. ©. Blumer I, 407. 401) Glarus: „Kindverderber, Herren Umbringer.* Erstere sind ohne Zwei- fel Männer, welche Weibern die Leibesfrucht abtreiben. Glarus hat diese Ur- theilsformel nicht. 102) In Augsburg kam 1548 ein solcher Fall vor. s. Stetten, Gesch. Augs- burgs I, 581. Gassarus Annales Augsburgenses: „praegnanti mulierculae foe- tum adhue palpitantem ex utero secuit, abscissoque illi dextro brachiolo vene- fiia cum eo nefaria exercuit.“ Einen Fall aus St. Gallen (1617) s. bei W. E. von Gonzenbach in Hitzig’s Annalen N. F. LXVI. (1854) S. 4. —_— 2593 — erlangen, die sie bei sich tragen wollten, um sich beim Stehlen un- sichtbar zu machen. 15. Urthel über Landtsverrether!%): Ein solchen soll man ausführen auf die gewonliche Gerichtsstatt und ihm allda sein verrätherisch untreuw Herz mit allem seinen Eingeweid aus seinem lebendigen Körper schneiden und unter dem Galgen vergraben, dem- nach ihm das Haubt abschlachen und an ein Stangen auf der Richt- statt neben dem Galgen ins Erdenreich wohl verstattet aufrichten, dar- nach den Cörper in vier Theil zerstucken und an vier Landstrassen an jede ein Stuck offentlich aufhänken und also ein Tag lang hangen lassen und nach Verscheinung desselbigen Tags sollen dieselben vier Stuck auch unter dem Galgen vergraben werden, damit lüth und guot vor demselben sicher und durch sein Verrätherei und falsch Herz nie- mand mehr verrathen werde und männigklich ihm das erschröckliche Spectacel lasse ein Wahrnung sein und daran gedänke. Was das er- stattet, soll der Lieb hie zeitlich gebützt haben. Gott begnad und tröst die Seel. Ein in der Schweizergeschichte hervortretender Fall der Anklage und Verurtheilung wegen Landesverrath ist der Amstalden’sche in Lu- zern vom Jahr 14781%), Es wurde erkannt, „dass der arm Mann Peter Amstalden weger sye tod dann lebent, und daz man ihn dem nachrichter bevelhen, der ab ihm als ob eim verräter richten und ihn zu vier Stucken howen!P5) sol, und dieselben vier Stuck für die tor an die vier fryen Richsstrassen henken, damit ein anderer darob bil- dung neme und sich vor sömlichen schweren und harten sachen wüsse dester bass zu hüten. Gott helff der sel.“ Dieses Urtheil wurde aber in Betracht der Verdienste des Vaters von Amstalden und auf Bitte seiner Verwandten dahin gemildert, dass die einfache Todesstrafe durch Enthauptung eintreten sollte. Der Scharfrichter (von Constanz) bezog sich auf seinen Eid, nach den Gesetzen zu richten und wollte die 103) Schwyz nennt nur „Verräther.* 109) Müller a. a. ©. Buch V. Cap. 2. Segesser in Kopp's Geschichts- blättern aus der Schweiz I, 204 fl. und in der Rechtsgeschichte II, 639. 105) C. C. C. Art. 124: „Item welcher mit boshaftiger Verreterey misshan- delt, soll der Gewonheit nach, durch Viertheylung zum Tod gestraft werden“, vgl. Grimm R. A. 692. In Zittau wurde 1433 ein Verräther geschleift und geviertheilt, s. Seriptores rer. Lusat. N. F. I, 59. Auch die Rädelsführer der im Anfange des 16. Jahrh. unter dem Namen „Bundschuh“ im Breisgau und im Elsass aufgetretenen Bauerneinung wurden geviertheilt, ss Rosmann und Ens, Gesch. der Stadt Breisach $. 290. 303. —_— 2334 — mildere Strafe nicht vollziehen; Luzern musste, wie Müller sagt, das Recht erst aus der Stadt Freiheiten beweisen, nemlich durch Verwei- sung auf das von Kaiser Sigismund verliehene Recht nach Gnade zu richten. Hiemit schliessen die Urtheilsformeln der L. G. O0. Es folgen noch die Strafen, welche einzutreten pflegen, „wenn ‘einem das Leben gefristet wird.“ Erstlich wird ihm ein Leib- oder Geldstraf auferlegt nach Ge- stalt der Sachen. Hat er gestohlen, so wird er mit Ruthen ausgestrichen, ein Ohr abgehauen oder geschlitzt. Ist es ein Weib drei Mal unter das Wasser gestossen und schwämmen 18), Hat er Gott gelästert mit Worten und mit Werken an Pranger stellen, ein Nagel durch die Zungen schlagen oder mit Ruthen aus- hauen oder streichen. XVII. _Der Process gegen einen abwesenden Todschläger. Nachdem ein peinliches Gericht gehörig und förmlich eingeleitet ist und die Behandlung der Sache, für welche es anberaumt wurde, beginnen kann, nimmt die Verhandlung einen verschiedenen Gang, je nachdem der Angeschnldigte in den Schranken steht oder abwesend ist. Für den letzteren sehr gewöhnlichen Fall ist das Verfahren in den verschiedenen altschweizerischen Gerichtsordnungen wesentlich gleichmässig normirt. Am häufigsten war es ein Todschläger, welcher vor der Rache der Familie des Getödteten sich flüchtete oder verbarg, aber das Recht nahm seinen Lauf, wenn die Wittwe,, die Schwester oder die Mutter des Getödteten die Klage als Waffe gegen ihn erhob. Ein anschauliches Bild des Contumacialverfahrens gegen einen Todschläger gibt eine Luzerner Landgerichtsordnung vom Ende des 15. oder Anfange des 16. Jahrhunderts, die bei Segesser II, 703 #. gedruckt ist. Am offenen Landtage wendet sich der Richter, aufrecht stehend und ein Schwert in der Hand haltend, an die im Ringe Sitzenden 106) S. oben Nr. III. _— 255 — und die Umstehenden!), erklärt, dass die Freundschaft des Getödteten das Recht angerufen habe und setzt den Handel kurz auseinander. Darnach fordert er einen, der auch um den Handel weiss, auf, dass er urtheile auf seinen Eid, was nun zu thun sei. Der Angefragte erwiedert, es sei zuerst die übliche Erkundigung nach der Tageszeit vorzunehmen. Nachdem dieses geschehen, setzt sich der Richter nie- der und spricht: „Begehrt jemand eines Fürsprechen, der mag es thun!* Die Kläger bitten um einen solchen, dieser wird eingesetzt und auf seinen Antrag wird ermittelt, ob dem Angeschuldigten der Landtag verkündet worden sei. Der desshalb befragte Stadtknecht gibt die Auskunft, dass er den Angeschuldigten zu Haus und zu Heim fürgeboten habe auf den heutigen Tag?). Auf Antrag des Fürsprechen der als Klägerin hervortretenden Frau wird dann die Bahre mit dem Leichnam ins Gericht gebracht und 7 Männer, denen Eid und Ehr zu vertrauen ist und die den Entleibten in seinem Leben gekannt haben, werden beordert zur Recognition des Leichnams®). Nach der Anfrage des Richters an einen in dem Ringe, ob man der klägerischen Partei Rath erlauben soll, beruft der Fürsprech derselben den halben Theil der Richter zur Seite, um Rath zu nehmen*). Darauf trägt’er die Klage vor und „schreit auf Stadtrecht.“ Wenn die Klage voll- führt ist, setzt er die Sache zu Recht und fordert auf, ob jemand sei, der die Klage verantworten wolle, nun hervorzutreten. Der Thäter oder dessen Freundschaft stehen vor und begehren einen Fürsprech, der ihnen ihre Rede thue. Dieser wird zugestanden und eingesetzt. 1) Segesser, II, 692: „Den Landtagen sassen vor in den Städten Lucern, Sursee und Sempach der Schultheiss, in den Aemtern die Vögte. In den Städ- ten waren noch sämmtliche Bürger, in den Landgerichten die Angehörigen des Kreises zum Besuch der Landtage berechtigt, aber nicht mehr so streng wie in früherer Zeit verpflichtet; die Räthe, Weibel, Untervögte, Fürsprecher und übri- gen geschwornen Männer bildeten den „Ring“. Besonders bedeutende Personen waren die Fürsprecher des Gerichts, aus deren Zahl auch Kläger und Beklagter verfürsprecht wurden.“ Ueber die im Ringe Sitzenden und die Umstehenden s. auch Wajitz, deutsche Verfassungsgesch. II, 421; Siegel, Gesch. des deutschen Gerichtsverfahrens I, 105. 106. 2) Landtagsordnung des Freien-Amtes (Knonau): „Auf vorergangen Urtheil staht der frey Amtmann in Ring und seit auf sein eid, er habe dem N. zu Haus und Hof auf den Tag allhier an das Gerieht verkündt und ihm dem sächer aus geheiss des Landgrafen ein frey sicher gleit an das Recht geben.“ 3) Zuger Malefizordnung (Ztschr. für schweiz. Recht I, 62.) Pfyffer, Can- ton Luzern I, 378, s. oben Nr. XIV. 4) Vgl. oben 8. 235. 239. —_ 256 — Darauf nimmt er den andern Theil der Richter, die im Kreise sitzen, zu Rath. Nach der Berathung tritt er mit der Antwort auf die Klage auf und nach wiederholtem Rathnehmen wird replieirt und duplieirt und zuletzt die Klage und Sache zu Recht gesetzt. Sodann wird die Kundschaft verhört. Wenn der Angeklagte nicht in Person erschienen ist, so werden drei Strassen im Ringe geöffnet, der Stadtknecht tritt vor und ruft: „N. N. dir sind uff den dry strasen in disem ofnen landgericht, da gang inhar, welche du wilt und gib antwurt (der) N. N. uff die klag, 50 sy zu dir tut von wegen N. N., der ir elicher man (ir bruder, ir vatter) ist gesin uf den ersten tag und zem ersten mal.“ Derselbe Ruf geschieht an demselben Tage zum andern und zum dritten Mal und dann werden die Strassen wieder beschlossen. Segesser bemerkt hiezu: „Dieser dreimalige Ruf scheint am Ende des 15. Jahrhunderts an die Stelle der drei Gerichtstage ge- treten zu sein, welche nach älterm Recht dem flüchtigen Verbrecher zur Stellung und Verantwortung offen stunden 5). Blieb auch der dritte Ruf erfolglos, so wurde der Ring wieder geschlossen und mit Urtheil erkannt, der Angeklagte habe sich durch seine Abwesenheit selbst schuldig gegeben und soll sich nicht mehr verantworten können.“ Allein so ganz klar ist es doch nicht, dass nach dieser Landgerichts- ordnung der dreimalige Ruf an einem Gerichtstage genügte. Es wird in dieser etwas confusen Parthie der L. G. ©. dreimal wiederholt als Bestandtheil der Formel „uff den ersten Tag.* Für Segesser’s Vermuthung spricht jedoch, dass in einem bestimmten Falle aus dem Jahre 1553 der Stadtknecht in den drei Strassen rufen musste: „Jacob Schüler, du sollst hieher gehen und dich des Todschlags, den du an Werni Weibel begangen hast, verantworten zum ersten Mal, zum an- dern Mal und zum dritten Mal* und dass dann, als der Gerufene nicht erschien, sogleich die Verrufung statt fand ®). Nach der Zuger Malefizordnung”?) hat der Weibel den Thäter „zu 5) Wie man bisweilen auf deutschem Boden die Regel von den drei Ge- richten umging, indem man sich den Anschein gab, sie zu wahren, zeigt eine Stelle des Berliner Schöffenreehts (Fidiein’s Beiträge I, 157): „Aver kommt die morder von deme morde, man vorvestet en in denselben sunnenschin als di mord geschach, und dy schepen vorrucken di benke dry stunt.“ 6) Pfyffer, Canton Luzern I, 378. 7) Ztschr. für schweiz. Recht I, 62, vgl. den Fall aus Zug vom Jahre 1525 bei Blumer I, 399. — 2597 — Haus und Heimb* zum Rechtstage zu laden und an dem Rechtstage, nachdem der Ring an drei Orten aufgethan ist, dem Sächer mit lauter Stimme zu rufen: „So komm (oder geh ein) hier in diesen Ring und versprich dich des Todschlags (oder grossen Klag, so die N. Klägerin mit ihrem Vogt an dich thun), so du leider begangen hast, an ihrem Ruff den ersten Tag und uff den ersten Ruf.“ Wenn er nicht er- scheint, wird der Ring wieder beschlossen und dann an diesem ersten Tage derselbe Act zum zweiten und dritten Mal vorgenommen. Nach- dem nun der Weibel den Sächer auf den folgenden Tag zu Haus und Hof fürgeboten hat, wird dieselbe Procedur mit dem dreimaligen Rufe am zweiten Gerichtstage wiederholt. In einer Kyburger L. G. 0.8) ist bestimmt, dass nach vorange- gangener Meldung der geschehenen Ladung des Thäters zu Haus und Hof die Schranken des Landgerichts an den drei Orten aufgethan, da- durch drei offene Strassen gemacht und auf jeder Strasse durch einen geschwornen Knecht des Landgerichts dem Thäter N. N. gerufen wer- den soll, solche schwere Klag und That zu verantworten, wobei ihm sicheres Geleit versprochen wird. Wenn dann der T’häter sich nicht stellt, soll das Landgericht so lange warten, „bis einer an das Ort, als wyt der Ruoff hette mögen gahn und gehört werden, kommen möchte®).“ Darauf werden die drei offenen Strassen wieder beschlossen. Dasselbe geschieht an zwei folgenden Landtagen, wie zu schliessen ist aus den Worten: „Dorüber wird dise urteil gegeben, dass die kleger den ersten oder andern und dritten Landtag gegen dem Thetter recht- lich behalten und verstanden 1P) haben.“ Ganz deutlich ist die vollständige Procedur des dreimaligen Ru- fens an je drei Dingtagen!!) noch angegeben in der Berner Gerichts- satzung von 1614 I, 19, 1: „So aber der Schuldig entwycht und hin- kompt, also dass er nit gefangen wirt, so söllend dry Landtagen an offner Crytzgassen uber ihne gehalten, und ihm jedes mahls zum drit- ten mahl darzu gerufft werden. Ob er dann zum dritten Landtag und 8) Schauberg’s Ztschr. I, 147. 9) So auch in der Landtagsordnung des Freien-Amts (Knonau). 10) Wahrscheinlich ist zu lesen „erstanden“, s. Bamb. Art. 236. Landtags- ordnung des Freien-Amts (Knonau): „Dass der Kläger den ersten und andern Tag habe erstanden und behalten.“ Thurgauer L. G. O. Die Berner Gerichts- satzung hat: „das Recht bestanden.“ 11) Vgl. die Thurgauer Landgerichtsordnung in der Ztschr. für schweiz. Recht I, 45, s, auch Bluntschli I, 205. —_— 258 — letzten Ruf nit erschynen wurde, sich ze verantworten, so soll er dannethin erkennt werden von Frid in Unfriden 12).“ An einer andern Stelle derselben Gerichtssatzung III, 12, 4, findet sich jedoch schon eine Abkürzung der Form zugelassen: „Man mag die zwen ersten Landtagen eines Tags halten und soll am anderen glyche Form als am ersten gebrucht werden; kompt dann am andern Landtag der Ge- thäter nit, sich zeverantworten, so soll man den dritten Landtag an- setzen ob vierzächen Tagen und under dryen Wuchen13) und soll der Weibel also rufen: wer den Gethäter seche in Stetten, Landen, in Holtz, Veldt oder uff Wasseren oder wo das sye, der soll ihm ver- künden, wie das der erst und ander Landtag gehalten und der .dritt angesetzt sye, damit er sich darzu fügen könne sich zu versprechen. Erschint er dann am dritten Landtag auch nit, so wirt abermals ob- geschribne form gebrucht und wann zeletzt der Ring beschlossen, die endtliche Urtheil gegeben und durch’ den Weibel ussgerüfft und aller menklichem verkündt, damit sy dem Todtschleger zwüssen than werde.* Laut einer Züricher „Form und Ordnung, wenn man einen Tod- schlag vor Rath verrechtfertiget* aus dem 16. Jahrhundert!?) geschah der Ruf des abwesenden Thäters durch den obersten Knecht oben an - der Rathhaustreppe und bestimmte demnächst der Bürgermeister auf der Kläger Anrufen „mehrtheils allweg den andern und dritten Rechts- und Landtag mit einandern uff ein zyt umb des wenigisten costens willen.“ Huch; Bei der dadurch entstandenen Verschiedenheit, dass mehr oder weniger von der Regel der 3 X 3 Rufe an den drei Strassen ab- gewichen wurde, stimmen fast alle genannte Ordnungen darin ‚über- ein, dass der Ring an drei Stellen geöffnet werden sollte. Der Name Ring wurde bekanntlich beibehalten 15), als schon die äussere Form des Gerichts nicht mehr die runde war, sondern wohl gewöhnlich durch die Stellung der Bänke oder durch die Schranken oder die Stangen, wie bei dem Stangengericht in Zürich, ein Viereck 12) In Bern wurde ein Niklaus Weyermann nach drei gehaltenen Landtagen an der Kreuzgasse im J. 1570 als ein Todschläger auf 101 Jahr von der Stadt verrufen, s. Chronik aus den hinterlassenen Handschriften des Joh. Haller und Abraham Müslin (Zofingen s. a.), S. 143. 13) So auch in der Landtagsordnung des Freien-Amts (Knonau), vgl. die Off- nung von Dürnten, Art. 1 (Schauberg's Beiträge III, 186), Fischenthaler Hof- rodel 3 (Pestalutz Stat. II, 79). 14, Schauberg's Ztschr. I, 365. 15) Grimm R. A. 809. — 259 — entstand. Eine Gleichmässigkeit in der äussern Form der verschie- denen Gerichte in der alten Schweiz ist nicht anzunehmen, vielmehr zeigen manche Notizen in den Rechtsquellen herkömmliche Verschie- denheiten, welche in einer mühsamen antiquarischen Untersuchung zu verfolgen für mein Thema nicht nothwendig erscheint. Nur eine Stelle will ich beispielsweise aufführen, weil sie am vollständigsten sich aus- sprieht über die äusserliche Gestaltung einer Gerichtssitzung. In dem Landbuch von Davos ist eine peinliche Gerichtsordnung aus der Mitte des 17. Jahrhunderts enthalten, welche (S. 97) folgendes vorschreibt: „Es würd ein Tisch mitten uff dem Platz under heitern Himmel ge- stelt, ein schön blosses Schwert und ein Richterstab nebend einanderen daruff gelegt, und ein ‚schöner weiter Ring umb den Tisch mit Schran- ken-Stüelen geschlagen, der Stuol oben durch, daruff der Richter si- tzet, etwas höcher als die andern, und wann dann der Process voll- kommen formiert ist, kombt der Landtamman als Richter, sitzt oben in. Ring, und die Rechtssprecher alle einandern nach in der Ordnung sitzen in den Ring, der Landschriber mit dem Process und Schriften uff ein Sgabellen sitzet zum Tisch. Solehem nach würd die ver- striekte Person mit dem Weibel und sechs bewaffneten Gömern 16), mit ihren Harnischen, Under- und Uebergewehr vom Rathhus in den Ring begleitet, do sy uff ein besondern Stuol gesetzet würd, und die Gömer mit ihren Harnisch und Haleparten stellen sich um den Ring.“ Das Gericht wurde im Freien gehalten — in Bern an offener Kreuzgasse — es correspondirten die vier Seiten desselben mit den vier Weltgegenden, nach deren jeden hin sich der flüchtige Todschlä- ger begeben haben konnte!?). Daher wird, nach der Berner Gerichts- satzung III, 12, 3, der Ring an vier Orten aufgethan182) und dem Todsehläger durch den Weibel gerufen, drei Mal an jedem Gerichts- tage; aber die Regel war, dass der Ring nur an drei Orten geöffnet wurde, wofür der Grund wohl einfach darin zu sehen ist, dass durch Aufthun des Ringes nach allen vier Seiten hin der Ring gänzlich auf- gelöst worden wäre. Wenn der Gerufene nicht erschienen und der Ring wieder be- schlossen war, so wurde erkannt, nach der Luzerner Ordnung, dass 16) Gaumer, Gäumer, Gömer — Hüter. 7) In Verrufungsformeln kommt auch vor „und weisen dich in die vier Strassen der Welt“ und „auch sint in geteilt vier Wege in die Lant“, s. Grimm R. A. 40. 18) Vgl. J. von Arx, St. Gallen I, 443, — 260 — jener sich nun „niemer und zu ewigen Ziten verantwurten* möge und erst jetzt wird nach dieser Ordnung das Gericht verbannt. Es folgt die Verrufung durch den Stadtknecht in dieser Formel: „N. N. ich verrufen dich für ein todschleger, den du begangen hast an N. N., der N. N. elicher man ist gesin und ruff dich us dem frid in un- frid und kund dir ab alle frundschaft und zuversicht, dz du für diese gegenwärtige stund hin erblos, elos, rechtlos verlassen in diser loblichen Statt Lucern hütt und zu ewigen ziten und bekenn minen gnedigen Herren sin guts, was des in unser statt ist und N. N. se- ligen fründen din lib.“ Dazu wird noch gerufen, „welher disen todschleger — wüsentlich in diser statt Lucern huset oder hofet, essen old trinken git oder kein fürdernus tut und dz kuntlich wurd, der wer in allen schulden und banden wie der genant todschleger on allein den tod.“ Ist aber ein Mord gefunden, so lautet die Formel: „N. N. ich verrufen dich für ein morder, den du begangen hast an N. N. der N. N. elicher man ist gesin und empfilch dich der luft und dem ert- rich und ruff dich us dem frid in unfrid u. s. w. — und erloub (dich) dem fogel in der luft, den wilden thieren im wald, dem fisch im wag und allen keiserlichen und küniglichen Rechten und friheit in allen stetten, Merkten und dörffern und an allen orten und enden, do man dz Recht lieb hat und dz ubel strafit*. Hinzugefügt wird noch, „dz der tetter jedem erloubt sol sin und ist, und ouch dabi minen herren sin gut, wo dz ergriffen mag werden in dem Iren, den fründen sin lib“ und „wer disen morder wissentlich huset* etc. Die beiden Formeln sind wortreicher als die in den sonstigen altschweizerischen Rechtsdenkmälern überlieferten Verrufungsformeln, aber durch den Zusammenstoss der directen Rede, wie sie dem Stadt- knecht in den Mund gelegt wird, und der indirekten, welebe dadurch entsteht, dass angegeben ist, was der Fürsprech „ertheilt“, ist die Construction nicht so rein geblieben, wie z. B. in der Formel der Mordacht in der Bamberger H. G. O. Art. 241. Der Stadtknecht von Lucern hatte die Verrufung an dem Orte des im Freien (am Fischmarkt) gehaltenen Gerichts vorzunehmen; nach einer Luzerner Rathsverordnung vom Jahr 1600, als wohl die pein- lichen Gerichte nicht mehr unter freiem Himmel stattfanden, geschah die Verrufung an den acht vornehmsten Plätzen der Stadt an einem Dienstage!?) unter Trompetenschall durch den berittenen Grossweibel, 19) Grimm R. A. 818. Ueber den Dienstag als gewöhnlichen Gerichtstag s. auch Gaupp deutsche Stadtrechte II, S. 61. der begleitet wurde von den Stadtknechten in Panzer, Sturmhauben und Gewehr ?0). Auch in Zürich wurde die Verrufung („offenlich von der Stat schryen“, Richteb. III, 8) eines Todschlägers im 16. Jahr- hundert an mehreren Orten der Stadt vorgenommen, beim Weggen, bei der Apotheke und beim Elsasser ?t). Das Gleiche und das Verschiedene in dem Inhalte der beiden obigen Formeln lässt sich durch Analyse leicht erkennen: 1) Die Friedloslegung, als Folge des ungehorsamen Ausbleibens, ist in beiden Formeln in der einfachsten Weise ausgedrückt mit den Worten „und ruf dich aus dem Frid in Unfrid“; zur Füllung des Begriffs ist noch, im Charakter der alten Rechtssprache, hinzugesetzt „und kund dir ab alle Freundschaft und Zuversicht“, wie in der Ber- ner Gerichtssatzung: „und von Sicherheit in Unsicherheit.“ In dem Luzerner Falle des Jacob Schüler??) sind bloss die entscheidenden Worte gebraucht, wie auch in der Zuger Malefizordnung. Als näch- ster Ausdruck der Friedlosigkeit ist anzusehen, dass niemand den Verrufenen hausen und hofen soll, daher auch in den kürzeren For- meln der Zuger Malefizordnung und des Schüler’schen Falles ein sol- ches Verbot sich findet. Wer den Friedlosen wissentlich beherbergte oder ihm sonst Vorschub leistete, der sollte selbst friedlos sein, es trat also eine Art Talion?®) ein, die in sehr gewöhnlicher Weise be- zeichnet ist mit den Worten „der wer in allen Schulden und Banden wie der genannte Todschläger“, aber es ist hinzugesetzt: „ohne allein den Tod“, wie in der Relation eines Luzerner Falles aus dem Jahr 1421 „ane einig den tod?*).“ Wenn der friedlos gelegte Todschlä- ger den Bann brach und wieder im Lande erschien, so verlor er sein Leben (Schwyz Landbuch, Seite 67) und dieses hätte auch für den wegen Beherbergung des Friedlosen friedlos Gewordenen und demnächst Bannbrüchigen eintreten sollen, aber man gab diese äus- serste Consequenz auf, weil man in der Enthauptung des friedlosen im Lande wieder betretenen Todschlägers zugleich die Sühne für den Todschlag?®) sah, wegen dessen er sich nicht verantwortet hatte. Da- her ist auch in der Zuger Malefizordnung hinzugesetzt: „allein dem 20) Segesser IV, 187. 21) Ztschr. für schweiz. Recht IV, 1, S. 18. 22) Pfyffer, Canton Luzern I, S. 376. 23) Ztschr. für deutsches Recht XVII, 197. 24) Segesser II, 672 Anm. 25) Vgl. den geschwornen Brief von 1434 bei Segesser II, 671. Wissenschaftliche Monatsschrift. IV. 17 — 262 — Leben nit schade“, im Stadt- und Amtbuch 1432 Art. 27 „an allein daz es ihm nit an den Lib gat* und für einen ähnlichen Fall im Schwyzer Landbuche S. 30: „ane des allein, dass es ihm nit an den Lib gan soll.* 2) Der Frieden ist der Schirm der Rechtsgemeinschaft; wer da- her in den Unfrieden gesetzt war, dem verfielen da seine Rechte, wo er nicht weilen durfte, in der Volksgemeinschaft, als deren Genosse er des Friedens und des Rechts (Landrechts) theilhaftig gewesen war, Die Friedloslegung zieht daher die Rechtlosigkeit nach sich und auch diese ist. in den vollständigeren Verrufungsformeln ausgedrückt. Die Luzerner Ordnung stellt voran die Entziehung eines speziellen Hauptrechtes mit dem Worte erblos?®). Diese Entziehung des Rech. tes zu erben correspondirt mit der gegentheiligen Confiscation des Vermögens des Verrufenen. Es folgt die allgemeine Bezeichnung der Rechtlosigkeit in den Worten „&@los, rechtlos.* Dieser volle Aus- druck kommt im alten Luzerner Rechte oft vor, im geschwornen Briefe von 1252 und 1434, im Stadtrecht Art. 154°). Es ist &los = gesetzlos (exlex, engl. outlaw). Wir finden denselben vollen Ausdruck der Rechtlosigkeit auch an einer interessanten Stelle des alten Basler Dienstmannenrechts aus dem 13. Jahrh., $ 12. Wenn ein Dienstmann des Bischofs Huld verliert wegen einer redlichen Sache, so soll er sich zur Besserung für gefangen antworten in den rothen Thurm zu St. Ulrich, bis dass er Gnade findet, und soll dann der Schultheiss einen seidenen Faden mit Wachs davor spannen — und je er soll da liegen bis er Gnade findet. Bricht er aber die Verfestung, also dass er herausginge ohne Urlaub, „so widerteilt man ime ze rehte lehen, eigen und erbe, und ist @los und rehtlos, und sol ime geben ein brot in einen sach und vur die stat vuren in eine wegescheide und lassen gan.* In dem schon mehrfach erwähnten Schüler'schen Falle aus Luzern fällt es auf, dass in der Verrufungsformel nicht dem geschwornen Briefe gemäss „elos und rechtlos* steht, sondern „ehrlos und rechtlos“. Da man annehmen muss, dass Pfyffer’s Relation aus dem Rathsproto- colle genau ist, so lässt sich diese Abweichung wohl daraus erklären, dass es sich in diesem Falle darum gedreht hatte, ob der Thäter den Werni Weibel ehrlich oder unehrlich todt gemacht habe und dass die 26) Haltaus Glossar s. v. ?7) Segesser II, 667 Anm. 2. 669 Anm. 2. 671. 672 Anm. 1. Grimm R. A. 732. —_— 2163 — klägerische Behauptung gegen den sich nicht verantwortenden Beklag- ten obsiegte?®). | 3) In beiden Formeln der Luzerner L. G. O. wird der Leib des Abwesenden den Freunden des Getödteten ertheilt, worin theils eine Anerkennung der Blutrache liegt, theils eine Consequenz aus dem Prineipe der Privatanklage zu sehen ist. Ebenfalls verfällt nach bei- den Formeln sein Gut der Obrigkeit?®); der Friedlose konnte da, wo er aus dem Frieden gesetzt war, keine vermögensrechtliche Persön- lichkeit behalten. Wenn in der Zuger Malefizordnung hinzugesetzt wird, „den rechten Gülten ohn Schaden“, so liegt darin eine Fixirung des Begriffes „Gut“ 30), Die Kyburger Offnung bestimmt $ 1: „Mit was und welicherlei sachen die, so in der graffschaft Kiburg hochen gerichten gesessen sint, den tod verwürkent und verschuldent, das von inen, ob sy be- gryfien werdent, gericht wirt, oder obsy nit begriffen und flüch- tig werdent, sölichs züges darumb sy von dem leben zu dem tod bracht möchtend werden, da ist einem herren zu Kihurg sölicher per- sonen gut nützit ussgenomen, ligends und varends, uf! sin gnad 51) vervallen.“ — $ 4: „Ob aber der todsleger nit begriffen werden möchte, so wird des totten lichamen mentschen 3?) fründen, die in von sibschaft wegen zerechent hand, der lib erteilt, und dem herren zu Kiburg das gut in obgeschribner form.“ Abweichend ist die Thur- gauer L. G. O. Es heisst zwar zuerst in derselben: „Glycher Mas- sen gefalt ihr (der Oberkeit) auch das Gut dess, der ain Todschlag thut, und des Entlybten Fründen sin Lyb“, dann aber sogleich: „Item so ainer vom Leben zum Tod gericht wird, ist der hohen Ober- keit die fahrend Hab, und den Erben das ligend Gut, so 28) In der Mordacht-Formel der Bamberger H. G. O., Art. 241 steht auch „erlos und rechtlos.“ An manchen Stellen, die diese Formel haben, mag er- los statt des nicht mehr verstandenen @los von Abschreibern gesetzt sein, Wackernagel zum Basler Dienstmannenrecht $S. 39, s. aber auch Zöpfl, deutsche Rechtsgesch. (3. Aufl., S. 962.) 29) Vgl. Blumer I, 400 ff. Bluntschli I, 410. Schauberg’s Zeit- schrift I, 61. 30) Vgl. die interessanten Mittheilungen aus den altnordischen Rechten bei Wilda S. 288 fi. 3) Vgl. Segesser II, 642, Anm. 1. #2) Die der Kyburger nachgebildete Neeracher Offnung hat: „des todnen mentschen lichnams fründen.“ Ebenso das Regensperger Herrschaftsrecht Art. 4 das Herrschaftsrecht von Wülflingen Art. 4. Darnach ist es doch bedenklich, wenn Grimm im $ 4 der Kyburger Offinung „mentschen“ herauswirft. — 264 —- derselb verlasst, gefallen; doch den Schulden ohne Schaden. Derge- stalt, wann ainer nit so vil fahrend Gut verliesse, das die Schulden us demselben bezahlt werden möchtend, so soll das ligend Gut‘ das überig bezalen.“ Man kann in den hervorgehobenen Worten die sich im deutschen Mittelalter stark geltend machende Abweichung vom Prinzip der Vermögensconfiseation zu Gunsten der nachgelassenen Familie33) erkennen; die Sonderung des liegenden Gutes von der Fahrhabe®*) hat aber noch die tiefere Beziehung zu dem verschiedenen Verhältnisse, das die Familie zu den beiden Güterelassen einnimmt, Im liegenden Gute ruhte der Wohlstand der Familie, es war das Fa- miliengut und eine Veräusserung desselben aus der Familie heraus sollte nicht leicht statt haben. Auf diese Regel des altdeutschen und altschweizerischen Rechts 3) ist jene Unterscheidung der Thurgauer L. G. O. zurückzuleiten. 4) Die Verrufung des Mörders geschieht nach der Luzerner L. G. 0. wesentlich in derselben Weise wie in der Bamberger H. G. ©. Art. 241, deren bekannte Formel, in einer reineren Construetion, so lautet: „N. als du mit urteyln und recht zu der mordacht erteylt worden bist, also nym ich dein leyb und gute aus dem fride, und thu sie in den unfride, und künde dich erloss und rechtloss, und künde dich den vögeln frey in den lüftten und den thiern in dem walde, und den vischen in dem wage, und solt aufi keiner strassen noch in keiner muntat die Keyser oder König gefreyet haben, niendert friden noch gleyt haben, und künde alle dein lehen, die du hast, jrn herren ledig und loss, und von allem rechten in alles unrecht und ist auch aller- ıneniglich erlaubt über dich, das niemant an dir freveln kan noch solle, der dich angreyfft 36).* Den flüchtigen Mörder in contumaciam zum Tode zu verurtheilen war nicht Sitte der alten Zeit, aber in malerischer Beschreibung gab die Verrufungsformel an, dass er dem Rechte gemäss nicht leben dürfte: die Vögel in der Luft, die wilden Thiere im Walde, der Fisch 3) Vgl. Heydemann, die Elemente der Joachimischen Constitution vom Jahre 1527, S. 122, 242. 3%) S. auch Frideriei I. Imp. const. de pace tenenda 1156 (Pertz Mon. IV, 101 sq.). Marezoll, die bürgerliche Ehre, S. 331. 8) Kraut, deutsches Privatrecht (4. Aufl.) $ 89. Blumer I, 164. 439. Renaud, Beitrag zur Staats- und Rechtsgesch. des Cantons Zug, S. 64. Neu-., gart, Codex dipl. Alem. Index rerum s. v. agnatorum consensus. 36) Vgl, die ähnlichen Formeln bei Grimm R. A. 39 fi. —_— 265 ° — im Wasser und jeder Mensch auf Erden werden angerufen und erhal- ten die Befugniss, den rechtlich Vernichteten vom Erdboden zu ver- tilgen. Keine Freistätte kann ihn schützen und eine Restitution war für ihn unmöglich. Der Todschläger dagegen war nur der Freund- schaft des Entleibten, die diesen zu rächen hatte, erlaubt; sie konnte gegen ihn zum Aeussersten gehen in dem Gebiete des Gerichts, in welchem er verrufen und ihr sein Leib ertheilt war, aber nur sie selbst (und das durch sich selbs%’). Ihn über dieses Gerichtsgebiet hinaus zu verfolgen und anzugreifen war den gesippten Freunden des Getöd- teten nur dann gestattet, wenn sie auch anderswo seine Verrufung erwirkt hatten. Zuger Malefizordnung: „Ob die Freundschaft begehr in: den Orten, mit denen wir verbündt, auch zu verrüfen, dass ihnen dazu ein Ammann oder Rath mit Fürderniss verhülfen seyen in ihren Kosten 3®).“ Ausser den Gebieten der Verrufung war der Todschläger also auch vor der Freundschaft des Entleibten sicher und es gestaltete sich seine Friedloslegung zu einer Verbannung, die freilich schwer für ihn war, aber er konnte restituirt werden, wenn er zuvor mit der Verwandschaft des Getödteten sich abgefunden hatte; die Erlangung des Friedens nach dieser Seite hin wurde für ihn die Brücke zur Wiedereinsetzung in den Frieden überhaupt. Öffnung von Münster: „Item were dz der schedlich man ungefangen endrinne und aber nach dem mal, so die gericht vergangen sint, tädigen wölt, dz sol man im nüt gestatten, es sien denn des toten mannes frund vor abgeleit, da- nach mag denne ein herr in wol laussen ze tädingen kommen und dez allein vollen gewalt han an einen vogt, doch warumb da getädinget wurde, dez gehörent zween teil dem herrn und der dritt theil dem vogt. — Es sol aber dennocht demselben schedlichen man dz dorff ze Münster nit erloubet werden, denne mit der burger daselbs willen, wan si ouch darumb erteilent3®).“ Wir sehen aus diesen letzten Wor- ten, dass, wenn auch der Todschläger die berechtigte Fehde und Rache der Sippe des Entleibten abgekauft hatte oder auf andere Weise durch Vertrag wieder mit ihr in Frieden gekommen war, und nachdem er der Obrigkeit gebessert hatte, der Wiedereintritt in die Gemeinschaft, welche seine Rechtssphäre gewesen und die ihm genommen war durch das Verkünden in den Uufrieden, noch abhing von dem Willen der 37) Glarner Hochgerichtsform bei Blumer I, 400. 38) Landbuch von Gersau (Kothing Rechtsg. S. 79). Vgl. Blumer I, 402. 2) Segesser I, 732. II, 668. — 266 — Gemeindegenossen,, worin gewiss etwas Ursprüngliches lag, wie ja auch ursprünglich die ganze Gemeinde auf den Landtag geboten wurde, um über Leib und Leben zu richten ?°). Da sich für den Todschläger die Friedlosigkeit zu einer Ver- bannung gestaltete, von der eine Erlösung rechtlich möglich war, so lag es nicht fern, daraus eine Verbannung von bestimmter Zeitdauer zu machen und das geschah in der Sehwyzer Einung um Todschlag vom Jahr 1447, indem eine fünfjährige Dauer derselben festgesetzt wurde, wobei die Pflicht, sich mit der Freundschaft des Getödteten abzufinden und eine Busse an die Landescasse zu zahlen bestehen blieb. Auf diese Weise bekam die zeitweilige Verbannung , ihrem Charakter nach eine gemilderte Friedlosigkeit, den Schein einer öffent- lichen Strafe. AVIII. Die Ladung in das Thal Josaphat. In den Rechten des späteren Mittelalters finden sich, zum Theil in direetem Anschluss an die mit schweren Strafen belegte Gottes- lästerung, unzählige Bestimmungen über und gegen das böse Fluchen und Schwören und an dieses lehnt sich als ein hoher Frevel an die Ladung ins Thal Josaphat, die lange Zeit sehr gewöhnlich war und in das strafrechtliche Gebiet gezogen wurde, sodann der kirchlichen Ahndung, auch wohl in der Schweiz dem sittenrichterlichen Einschrei- ten der Ehgäumer anheimfiel, bis sie im 18. Jahrhundert ausser Ue- bung kam. Die Bedeutung ist die der Ladung vor das Gericht des höchsten Weltrichters, das nach dem Propheten Joel C. 3, am jüng- sten Tage in dem Thal Josaphat gehalten werden soll und es knüpfte sich daran der Glaube, dass Gott der Herr, umgeben von den Pro- pheten und Erzengeln, allda seine und seiner Kirche Feinde richten und in den Abgrund verstossen werde, Bei diesem jüdischen, mit Modifieation in die christliche Welt übergegangenen Glauben, erhiel- ten solehe Vorladungen eine besondere Schwere, indem der, welcher sie aussprach, dadurch gleichsam die Rache Gottes auf seinen Feind herabrief und wenn eine weltliche Obrigkeit in dieser Weise geladen wurde, diese als ungerecht hingestellt wurde. Der Abt von St. Gallen erliess 1637 ein Mandat gegen Fluchen und Schwören, welches 1647 und 1666 erneuert wurde. In dem- selben kommt auch der Passus vor: „Und dieweil auch etliche in solche 40), Segesser II, 230 Anm. 1. IV, 125. — 267 — Vermessenheit ausbrechen, dass sie nicht scheuen ihren Nebenmenschen etwan umb geringer Sachen wegen in das Josaphatsthal zu laden, also gebieten wir bei hoher Geld- und Leibesstraff etc.“ Im Jahr 1682 wurde ein Michael Hartmann von Trogen, Soldat und Reisläufer, we- gen solcher Ladung und anderer harten Vergehen sogar mit dem Schwert gerichtet). Als trotz den Coneilienbeschlüssen die Geistlichen in der Schweiz fortführen in wilden Ehen zu leben, sah sich auch die weltliche Obrig- keit veranlasst, dagegen einzuschreiten und es wurde in Olten bei Strafe der Absetzung jedem Geistlichen verboten, eine verdächtige Weibsperson im Pfarrhause zu haben. Darob erzürnte sich der Pfar- rer zu Olten, Johann Schertweg?), der übrigens ein eifriger Katholik war, und behauptete in einer 1588 über die Hochzeit zu Canä gehal- tenen Predigt, dass sein Zusammenleben mit einer Weibsperson nichts Anstössiges habe, denn es bestehe zwischen ihnen beiden eine wirk- liche Ehe, freilich nur eine heimliche, weil die kirchlichen Verord- nungen ihnen keine öffentliche gestatteten und zum Ehestande sei er nach dem Ausspruche der heiligen Schrift, was auch die Kirche da- gegen anordnen möge, durchaus berechtigt, „er lade daher alle, die ihm diese Ehe verwehrten, vor das jüngste Gericht und in das Thal Josaphat, um ihm dort Antwort zu geben; wenn schon der Henker hinter ihm stünde und ihm den Kopf ins Feld hauen wollte, könne er doch nicht anders reden.* Dieser Mann mit dem Schwerte, sagt von Arx, kam freilich nicht, aber Schertweg musste, wie viele an- dere Geistliche, seine Pfründe verlassen. Als in Freiburg ein gewisser Mertz einen Process verloren hatte, trat er plötzlich in den Gerichtssaal und lud die Richter mit feier- lichster Miene drei Tage nach seinem Tode in dem Thal Josaphat zu erscheinen, um dort gerichtet zu werden. Dabei warf er einen Pfen- ning von ausserordentlicher Grösse in den Saal (en gage de sa eita- tion, ou plutöt comme signe de defi). Man nöthigte ihn die Ladung zurückzunehmen und steckte ilın sechs Wochen ins Gefängniss ®). Eine solche Ladung erschien als furchtbar ernst und gewichtig, wenn sie von einem Gerichteten gesprochen wurde, der schon auf dem Schaffot stand. Es sind uns einige Fälle der Art überliefert. 1) (Schaefer) Materialien zu einer vaterländischen Chronik des Kantons Appenzell IV (Herisau 1812), S. 99. 2) J. von Arx, Buchsgau S. 214. 3) Fribourg au moyen äge in: Reyue suisse III. (1840) p. 34. = Ein geschickter Bild- und Steinhauer von Trient, Meister Hans Motschon, der mit dem Schultheiss Lux Ritter in Luzern wegen Be- zahlung einer Bauarbeit in Streit gekommen war, wurde dort der Re- ligionsscheltung angeklagt und am 25. Juli 1560 mit dem Schwert gerichtet. Als er auf dem Richtplatze den Schultheiss erblickte, lud er denselben über ein Jahr ins Thal Josaphat. Ein Jahr darauf sass Ritter in einer fröhlichen Gesellschaft zu Tisch, musste sich einer Un- pässlichkeit wegen entfernen und starb. Es hiess, er sei am Schlage gestorben. Businger in seinem Luzern S. 47 nennt diese Erzäh- lung eine abgeschmackte Bullinger’sche Sage. Im Jahr 1482 wurde der Ritter Richard von Hohenburg, wegen dessen Zürich in die verdriesslichsten Händel mit Strassburg gekom- ınen war#), nebst seinem Diener, wegen Päderastie und andrer Ver- brechen, in Zürich verbrannt. Als er zur Richtstatt geführt wurde, erblickte er auf der Brücke den Obristzunftmeister Waldmann und andre angesehene Züricher. Da rief er den Ersteren an: „Mir ge- schieht Gewalt und Unrecht; ich komme um meines Geldes willen um. Du, Waldmann, hättest mich retten können und thatest es nicht. Darum lade ich dich von heut in drei Tagen in das Thal Josaphat an ein Recht; da nehm’ ich St. Johann den Evangelisten zu meinem Sehreiber und $t. Paul zum Redner.* Der Obristzunftmeister antwor- tete ihm: „Du empfängst eine rechte Urtheil und bald den rechten Lohn. Deinem Laden frag ich nichts nach; wenn meine Stunde da ist, wird mich Gott wohl rufen!* — Als Waldmann sieben Jahr später auf dem Schaffot stand, Jag es ihm wohl näher an den Luzer- ner Frischhans Theiling als an die Drohung Hohenburgs zu denken. XIX. Das Abtrinken des Friedens. Man hört bisweilen die Aeusserung, der alamannische Volksstamm sei besonders kriegerisch und rauflustig gewesen und Blumer ver- weist dafür auf die Rubrik des Art. 45 der lex Alamannorum (Karo- lina) „de rixis quae saepe fieri solent in populo.“ Mehr beweist dafür die ungemein detaillirte Aufzählung der Körperverletzungen in dem alamannischen Volksrecht. Es wäre aber doch gewagt, den übrigen Stämmen darnach eine besondere Friedfertigkeit zuzuschreiben und die Neigung der Schweizer im späteren Mittelalter zum Kriegs- #) Anshelm’s Berner Chronik I, 303. J. von Müller's Gesch. V. c. 3. Strobel’s Gesch. des Elsasses III, 383. — Füssli, Joh. Waldmann $. 45. ee Te — 269 — handwerk und die Rauflust der Einzelnen auf die Stammeseigenthüm- lichkeit zurückzuführen. Als ihr Freiheitssinn sich so glücklich be- währt und sie eingesehen hatten, was man dem Schwerte verdanken könne, da war ihnen das Schwert lieb geworden und von den Künsten des Friedens konnten sie sich weniger angelockt fühlen als die Be- wohner grosser Thalgegenden, bei denen der Ackerbau ergiebig war, an den sich der Handelsverkehr, der nur auf der Basis des Friedens gedeiht, anschloss. Kein Wunder daher, dass die jungen Schweizer sich hingezogen fühlten, wo die Kriegstrompete ertönte und nicht überraschend ist es, was von den Buchsgauern erzählt wird, dass sie im Jahr 1498 zum Schwabenkriege in solcher Anzahl ausgezogen sind, dass kaum so viele Mannspersonen in jeder Pfarrei zurückblieben, als das Begraben der Todten und das Läuten der Glocken erforderte). Der auf diese Weise wach bleibende kriegerische Sinn äusserte sich auch daheim im kleinen und kleinsten Krieg, in den Familienfehden und den Raufereien der Einzelnen, die bei der allgemeinen Sitte Waf- fen zu tragen, leicht einen blutigen Ausgang nahmen. Daher ist in den mittelalterlichen schweizerischen Rechtsquellen kein Gegenstand regelmässiger und gleichmässiger behandelt als der Streit und Kampf der bei jeder Gelegenheit auf einander prallenden Männer. Die Rechts- satzungen hiefür redueiren sich aber keineswegs auf Androhung von Strafe und Busse für Verletzungen und Verwundungen in den Rau- fereien, sondern es wurde die grösstmögliche Verhinderung der Aus- dehnung und schadenbringenden Steigerung dieser Kämpfe erstrebt durch die Verpflichtung jedes Mitgliedes des Gemeinwesens als Frie- densbewahrer einzuschreiten ?), wo es Noth that und daraus ergab sich das Institut des gelobten und gebotenen Friedens, welches so sorgsam im altschweizerischen Rechte ausgebildet ist?). Ich will nicht 1) J. von Arx, Gesch. der Landgrafschaft Buchsgau (1819) S. 189. ®) Als eine noch bestehende Sitte in Appenzell I. Rh. wurde mir von einem Augenzeugen erzählt, dass wenn sich in einem Wirthshause ein Streit erhoben hat, der Landmann, welcher, seiner allgemeinen Pflicht gemäss, Frieden gebie- ten will, auf den Tisch springt, sein Messer in die Decke des Zimmers stösst und zum ersten, zum andern und zum dritten Mal Frieden gebietet. Ob hier das Messer die Stelle des früher allgemein getragenen Seitengewehrs vertritt, welches nöthigenfalls zwischen die Kämpfenden gehalten werden konnte, um sie zu scheiden, oder ob in jenem Gebrauche eine tiefere Symbolik zu sehen ist? 3) Blumer in der Ztschr. f. deutsches Recht IX, 297 fi., dessen Rechtsgesch. I, 160. 421 ff. 590. Schauberg’s Ztschr. I, 20 fl. C. Deschwanden im Geschichtsfreund IX, 75 £. — 270 — weiter wiederholen, was über dieses Friedensrecht von den genannten Schriftstellern treflliich ausgeführt ist, sondern nur hervorheben, wie sich darin zwei Grundfactoren des germanischen Rechtslebens abspie- geln. Ein neuer Schriftsteller*) sagt sehr richtig: „Die auf sich selbst beruhende Kraft des Individuums, verbunden mit den germanischen Begriffen über Ehre und Treue, das sind die Triebfedern, welche die Gestaltungen des germanischen Volkslebens hervorriefen.* Davon lässt sich eine Anwendung im Friedensrechte sehen. Wenn die sich selbst vertrauende Kraft des Individuums zum Uebermuth gesteigert der Gat- tung Gefahr drohte und den Landfrieden störte, so wurde sie repri- mirt durch Herbeiführung eines Gelübdes der Streitenden, den Streit ruhen zu lassen (Trostung?); es trat eine Stallung, d.h. Einstel- lung dieses Streites ein und die an einander gerathenen Männer waren auf Treu und Glauben zum Frieden verpflichtet. Stallung und Frie- den, wie auch Trostung konnten daher in der Rechtssprache identifieirt werden, z. B. in den Glarner Landsatzungen von 1387, im Straf. und Bussenrodel der Höfe Wollerau und Pfäffikon (1484) $ 11: „Item wer frid und stallung bricht mit worten ete.*; Basler G. O. 1539, $ 133. 134. 136. 137. 138. 14]: „so soll darumb der frid trostung oder stallung nit ab sin.* Auf Treu und Glauben ruhte nun dieser Frieden und aus dieser Grundlage ist die Grösse der Schuld desjenigen ab- zuleiten, der solchen Frieden brach. Geschah es durch Tödtung dessen, mit dem er in Frieden stand, so wurde er als Mörder behandelt; auf Verwundung „über den Frieden“ ist vielfach Enthauptung gesetzt und überhaupt wurden „von dem Augenblicke an, wo Einer dem Andern Frieden gelobt hatte, alle Beleidigungen, Vergehen und Verbrechen, die er sich gegen denselben erlaubte, eben weil darin zugleich ein Treubruch lag, mit Missethaten, die an sich für schwerer betrachtet wurden, auf die gleiche Stufe gestellt und mit schärferer Strafe be- legt, als wenn darin bloss ein Bruch des gemeinen Friedens gelegen wäre 6).“ Der gelobte und gebotene Friede war ein Zwang für denjenigen, der in seinem Herzen nicht ausgesöhnt war mit dem Feinde, aber auch überhaupt eine Last wegen der Beschwerung und Potenzirung der über den Frieden auf den Andern, welcher mit ihm in den spe- 4) Geyer, die Lehre von der Nothwehr (1857), 8. 76. .5) Berner Gerichtssatzung 1614, I, 12, 1. Schauberg's Ztschr. I, 24. 6) Blumer in der Ztschr. für deutsches Recht IX. 303. —_— 271 — ziellen Frieden gebannt war, gerichteten Angriffe und diesem zuge- fügten Verletzungen, zu denen er sich mochte verleitet fühlen. Diese Last erstreckte sich auf die beiderseitige Sippe, da der Frieden diese mit umfasste und umfassen musste, wenn er wirksam sein sollte. Auf diese Weise konnte eine grosse Anzahl von Personen unter den Frie- denszwang kommen und es ereignete sich sogar während der Religions- streitigkeiten von 1528 bis 1533, dass das ganze Land Glarus, d. h. jeder Landmann gegen den andern in Frieden gesetzt war”). Das ergab denn nach der strafrechtlichen Seite hin eine grosse Strenge und einen Zustand nicht unähnlich dem Falle, wo in neuerer Zeit Standrecht verkündet ist. Bei dieser Sachlage konnte ein solcher spe- zieller Frieden nicht unbeschränkt sein in der Zeitdauer und es ent- steht die Frage nach den Grundsätzen über sein Aufhören. 1) Es trat von Zeit zu Zeit ein Nachlass der vorhandenen Frie- densgelübde und ein Aufheben der Friedensgebote ein®), in den Lands- gemeinden und bei andern feierlichen Gelegenheiten. Seiner Wirkung nach war diess, wie Blumer bemerkt, einem Begnadigungsacte nicht unähnlich. Dergleichen trat aber, um wirklichen Frieden zu erlangen, auch um den speziell Betheiligten Zeit zu geben, sich mit einander zu richten, mit der Reservation einer kurzen Frist ein, während welcher noch der gesetzte Frieden dauern und in welcher nöthigen Falls bei andauernder hartnäckiger Feindschaft von Parteien der spezielle Frie- den erneuert werden sollte®). In Locarno hielt man dafür, dass beim Eintritt eines neuen Vogts ein allgemeiner Friedensnachlass erfolgen sollte, doch werde der Vogt, wo noch alte Spänne vorhanden, Ein- sehen thun müssen mit Erneuerung des Friedens. Es mochte das Letz- tere dort um so nothwendiger erscheinen, denn „so tief hafteten die gegenseitigen Feindschaften bei diesem Volke, dass Manche zu Zeiten weder beichteten, noch das hochwürdige Sacrament empfingen, um nicht Versöhnung angeloben zu müssen 19). 2) Der gelobte und gebotene Frieden war nur eine Stallung; die Leute, welche darunter standen, hatten sich zu meiden und gingen einander aus dem Wege, wenn sie sich beherrschen konnten. Allein wenn die Hitze abgekühlt war und sie den Zwang und die Last des besonderen Friedens fühlten, mochten sie ‚eine Aussöhnung mit dem 7) Blumer's R. G. I, 428. 8) Uri 19. 30. Glarus 305. Engelberger neues Thalbuch $ 17. 9) Blumer a. a. OÖ. Deschwanden S$. 112. 0%) Ferd. Meyer, die evang. Gemeinde zu Lokarno I, 118. — 22 — Gegner und seiner Familie wünschen, die beiderseitigen Freunde und Bekannte thaten das Ihrige, um eine Sühne zu Stande zu bringen und dem Einen oder dem Andern den ersten und schwersten Schritt im Entgegenkommen zu erleichtern. Aber das Recht verlangte hier Klar- heit und Sicherheit und wir finden daher feine Bestimmungen hinsicht- lich einer solchen Aussöhnung. Es sollte nicht genügen, dass Leute, die aus dem Streite zu einem Waffenstillstand gekommen waren, sich grüssten oder sich eine Gefälligkeit erwiesen; das war nur eine An- näherung, kein definitiver Friedensschluss. Landbuch von Davos 8. 17: „Aber welcher den andern in einer Trostung grüesst, und ihm Guots thuot, darmit ist die Trostung nit ab, unzt dass sy ganz mit einan- deren gericht sind und mit einandern essen und trinkhen.“ Es sind hier neben einander gestellt die Riehtung und das gemeinschaftliche Mahl. Mit der Stiftung des besondern Friedens sind die Rechtsan- sprüche aus der Sphäre der Selbsthülfe in die der rechtlichen Entschei- dung oder des Verzichts gewiesen, daher heisst es im ältesten Land- recht von Nidwalden (1456): „und weller also frid git, da sont ouch dieselben stöss und sach genzlich hin sin untz uff recht11).“ Das gemeinschaftliche Mahl ‘war eine Besiegelung der Richtung, also ein Friedensmahl. Man kann hiermit in Verbindung setzen eine schöne alte Sitte, die noch vor Kurzem in einigen Gegenden Graubündens bestand, vielleicht noch jetzt besteht. „Wenn zwei Männer gegen ein- ander erzürnen und sich verfolgen und drohen mit eigenmächtiger Rache, treten die Freunde derselben zusammen und suchen die Hadernden zusammen zu führen in einerlei Haus und an denselben Tisch. Ist diess gethan, so hört der Groll der Feinde auf und haben sie mit einander von demselben Brote genossen, so ist die Versöhnung ge- schlossen. Ihren Zwist entscheidet dann das Gericht oder ein güt- licher Vermittler.* Das Brod heisst das Versöhnungs-Brod 12). Das Landbuch von Davos sagt: „mit einander essen und trinken®, aber dem Deutschen wird das Trinken zu einer Herzenssache und die Sitte, einen Freundschaftsbund beim Becher zu stiften, ist alt und neu. Daher stammt auch das „Abtrinken des Friedens“, ein. oft erwähnter Rechtsbrauch in der Schweiz. Die Bedeutung desselben ist zwar zu- nächst, dass der spezielle Frieden abgethan wird von den Betheilig- ten, aber diess kann nur geschehen, weil der Grund des speziellen Friedens mit und in der vollständigen Versöhnung verschwindet und 11) Geschichtsfreund IX, 120. Schwyzer Landbuch 8. 22. 1?) Helvetischer Almanach 1806, 8. 51. _— 293 — diese wird besiegelt durch den gemeinschaftlichen Trunk. Dadurch wird also Friede aufgehoben und gesetzt zu gleicher Zeit, so wie der Friedensschluss nach einem Kriege den Waffenstillstand absorbirt. Die Behörde soll es geschehen lassen nach dem Straf- und Bussenrodel der Höfe Wollerau und Pfäffikon 1482, $ 12, wenn es sich fügt, dass die, welche einander Frieden gegeben haben, mit einander verrichtet werden oder mit einander Frieden abtrinken und den Wein einander abnehmen und einander in Freundschaft bitten den Frieden abzutrin- ken und niemand klagt. Aber nach anderen Aussprüchen will das Recht, das Abtrinken des Friedens in seiner buchstäblichen Bedeutung auffassend, eine Garantie, dass dieser Act ernstlich gemeint und der neue Rechtszustand, der durch diesen Act herbeigeführt werden soll, wirklich eintrete; es sollten nicht die Parteien den lästigen Zustand des gelobten oder gebotenen Friedens abschütteln, um mit Freiheit wieder die alte Leidenschaft zu entfesseln.. Wülflinger Herrschafts- recht (1585) Aıt. 1013): „Und so dann etlich den Fryden uff die gfar mit einandern abtrinkend, das sy glich angentz mit einandern unfuren und einandern schedigen, ouch darmit der buss des fıyd- bruchs entrünen mögind, diewil aber trug und gfar niemand schirmen soll, deshalb so yemandts den Fryden so gefarlicher wyss abtrinken und daruff mit worten old werken unfüeren und frefllen wurde, das soll nit anderst geachtet werden, dann ob sy noch in fryden mit ein- andern gewesen und der fryden nit abtrunken were, dann sollicher fryden, vorhin achtzehen stund an stan; und denhin denselben wol abzutrinken gwalt haben sollend.“ Eine solche Vorsichtsmaasregel, wie sie dieser letzte fehlerhaft eonstruirte, aber nicht undeutliche Satz vorschreibt, findet sich auch sonst. Nach den Landbüchern von Ap- penzell A. Rh. 140 und I. Rh. 19 soll kein gemachter Frieden vor einem Monat abgetrunken werden. Beide Landbücher verlangen auch die Anwesenheit und Zustimmung einer obrigkeitlichen Person bei dem Abtrinken eines Friedens. Ebenfalls verlangt der 1524 erneuerte Straf- und Bussenrodel von Wollerau und Pfäffikon $ 10, abweichend von dem früheren, dass der Frieden nur nach vorangehender Prüfung durch die Obrigkeit abgelassen werden solle. Die Vorsicht erstreckte sich noch weiter, indem, wenn der Frie- den abgetrunken oder sonst abgethan war, doch die eine Sache, wegen 13) Schauberg’s Ztschr. I, S. 33, s. auch das Kyburger Grafschaftsrecht (1675) Art. 13. 28. —_ 274 — deren der Frieden vordem nothwendig geworden, noch länger im Auge behalten wurde. Landbuch von Davos a. a. O.: „Doch wo sich der Sachen halben, von dernwegen man in Frid kommen ist, ferner Span erhüebe, innert eines Monats Frist, ob man sieh gleich verrecht hätte, soll es dennoch für ein Fridbruch gerechnet werden.“ Noch strenger war die Basler Gerichtsordnung von 1539 Art. 141. 142: „Ob ouch die, denen frid gebotten ist, nach dem fridbott mit einandern essen und drünken oder dass einer den friden absagen wölte, so soll darumb der frid trostung. oder stallung nit ab sin1*), sunder für und für der sach halb, darumb der frid genommen ist, in wesen bliben, und ob einer den andern umb und von der selben sach wegen leidigete oder an ihm frevelte, der soll ouch für fridbrüchig ghalten werden, die straf liden nach gstalt der sach wie obstat et. — Ob aber zwen oder mer, die denn im friden gegen einandren standen, den friden einandren abkünden oder abtrinken wölten, dass sy das wol thun mögen, doch dass der frid umb die sach, darumb frid botten was, für und bliben soll in ewigkeit.“ Wir erkennen deutlich, dass der ursprüngliche einfache Satz, es sei den betheiligten Personen gestattet, den gelobten oder gebotenen Frieden durch Richtung oder Versöhnung, als damit unnöthig gewor- den, zu beseitigen, wegen Missbrauch und Chicanen immer mehr ver- elauselirt wurde. Am einfachsten blieb dieser Punkt des Friedens- rechts in Glarus, indem noch im Jahr 1548 erkannt wurde (Landbuch 140), dass den Landsassen der Frieden abgelassen sei, „unangesehen an welchem End sie miteinander in Frieden kommen“, und dass, wenn Landleute, Hintersässen oder Dienstknechte mit einem Fremden in Fried kämen, soleher Fried zwischen ihnen anstehn und bleiben solle, bis dass derselbige Fried nach löblichem Brauch und Gewohnheit ab- getrunken werde. Der Friedenskuss scheint bei den alten Schweizern nieht üblich gewesen zu sein. Sie harmoniren mehr mit den Engländern, die das Küssen unter Männern shocking nennen, als mit den Slaven, bei denen dasselbe durch den Excess recht widerlich wird. AX. Rechtspflicht und Liebespflicht. Wie der code penal, so haben auch einige deutsche Gesetzbücher die Unterlassung dessen, der ein ausgesetztes Kind oder eine andere 14) Berner Gerichtssatzung 1614 I, 12, 5. — 75 — hülflose Person findet und nicht um die Rettung derselben sich be- müht, mit ‚Strafe bedroht. Das Thurgauer Str. G. B. $ 135 bestimmt: „Wer ein ausgesetztes hülfloses Kind oder eine andere hülflose Per- son findet, und nieht durch Anzeige bei der Obrigkeit oder auf andere Weise für Rettung derselben sorgt, wird mit Gefängniss oder Geld- busse his zu 300. Gulden bestraft.“ In den Ländern, deren Gesetze eine solche zweckmässige Anordnung nicht haben, würde eine der- artige Unterlassung eine tadelnswerthe Lieblosigkeit, aber nicht straf- bar sein. Allein auch da, wo die Gesetzgebung den genannten Fall berücksichtigt, können viele ähnliche Fälle, die vom Standpunkte der Sittlichkeit nicht weniger schwer sind, eben nur ‚als Vernachlässigung einer sittlichen Pflicht, nicht als Uebertretung einer Rechtspflicht auf- gefasst werden. Im alten Recht war das Gebiet der strafbaren Un- terlassungen überhaupt weit grösser als in der Gegenwart!) und zwar vornemlich, weil man Recht und Sittlichkeit nicht so scharf sonderte als jetzt und weil das Verhältniss des einzelnen Bürgers zum Gemein- wesen ein anderes war. Was den ersteren Grund betrifft, so wurde in alter Zeit biswei- len alles Maass überschritten, wie wir aus folgendem höchst wmerk- würdigen Falle sehen ?). Der Messerschmied Samuel Z. von Zofingen war im Oktober 1615 mit seiner Frau und mehreren Mitbürgern auf den Markt nach Solo- thurn gegangen. Dort stiegen sie. am 28. d. M. in ein Schiff, um auf der Aare bis nach Aarburg zurückzufahren. Durch Verwahrlosung des Schiffers stiess das Schiff an einen Felsen und versank. Die Mehr- zahl der Personen ertrank, Z. und einige andere konnten sich retten. Dem Z. wurden nach der Heimkehr bittere Vorwürfe‘ gemacht, dass er, ein sehr geübter Schwimmer, sich gar nicht bemüht habe, irgend einen der Unglücksgenossen, auch die eigne Frau nicht, zu retten und als er desshalb vor den Rath eitirt ward, erklärte er zu jedermanns Verwunderung: „Es sei wahr, dass er nicht nur seine Frau, die ihm herzlich lieb gewesen, sondern auch andere hätte retten können, allein wider Gottes Willen habe er nichts thun dürfen; das Schiff sei nicht ohne Gottes Willen versunken; die, welche Gott habe retten wollen, 1) Die genaue Untersuchung über strafbare Unterlassungen in Glaser’s Abhandlungen aus dem österreichischen Strafrecht I. zeigt, dass die Bestimmung, was hier Recht sein sollte, noch zu den schwierigsten Aufgaben der Wissen- schaft und Gesetzgebung gehört. 2) (Friekhardt) Chronik der Stadt Zofingen U. (1812) S. 174. _— 276 — seien schon herausgekommen, die er aber zu seinen Gnaden habe be- rufen wollen, seien im Wasser geblieben und diese habe er an ihrem seligen Loose nicht hindern wollen, denn die selig sterben, seien glück- licher als die übel leben ete.“ Die Obrigkeit fand für gut, mit dem Urtheil über ihn nicht zu eilen, sondern ihn zuvor durch Gottesge- lehrte befragen und belehren zu lassen. Endlich fiel aber doch das Urtheil dahin aus, dass, weil er seine eigne Frau nicht habe retten wollen, er mit dem Schwert solle hingerichtet werden. Als man ihm das Urtheil eröffnete, bezeugte er Freude und Dank darüber und am öffentlichen Landtage sagte er: „Es sei des Herrn Wille, dass er nun sterbe; er wolle bald der Seele nach bei seinem lieben Eheweibe und den andern Ertrunkenen sein; er sei gewiss versichert, dass die- selben an dem Port der seligen Ewigkeit glücklich angelangt seien, weil sie in dem Wasser mit emporgehobenen Händen zu Gott gefleht hätten. Wenn er sie aus dem Wasser hervorgezogen hätte, so wür- den sie noch viel gesündigt haben, und vielleicht noch eines unseligen Todes gestorben sein und er würde kein so ruhiges Gewissen haben wie jetzt.“ Z. ward darauf an dem Kreuzwege vor dem obern Thore in Zofingen enthauptet und sein Vermögen fisealiter eingezogen. Der Verdacht, dass der religiöse Schwärmer und Fatalist ein Wiedertäufer sei, wie man aus den Unterredungen mit ihm entnahm, mag auf die strenge Behandlung des Falles eingewirkt haben, aber verurtheilt wurde er, weil er eine sittliche Pflicht nicht erfüllt hatte, die man mit dem Gefühl als Reehtspflicht auffasste; er erlitt die Strafe des Todschlägers, weil er Menschenleben nicht gerettet hatte, da er es hätte thun können. Interessant ist es hiemit zu vergleichen, was Glaser a. a. O. 307 ff. ausgeführt hat. ’ AAI Die Personifieirung der Thiere. Rechtsgebräuche uralter Zeit erscheinen bisweilen plötzlich noch einmal in der Gegenwart, erregen Aufsehen, weil man sie nicht mehr in Harmonie mit der Zeit findet und. verschwinden dann für immer aus dem Leben. Noch im Jahre 1817 beanspruchte in England ein Angeklagter, Thornton, das Recht, seinen Ankläger zum gerichtlichen Zweikampf zu fordern. Das Gericht war darüber verdutzt und sprach ihn frei; ein Gesetz, von 1819 beseitigte in Folge davon den gericht- lichen Zweikampf gänzlich ). 1) Biener’s Abhandlungen aus dem Gebiete der Rechtsgeschichte I, 8. 29. = In der alte Sitte noch treu bewahrenden Schweiz, die aber dem Cultur-Nivellement sich nieht entziehen kann, kommt Aehnliches nicht selten vor. Alte Leute haben wohl noch ein Verständniss des Alten, aber die jüngere Welt steht schon in einer neuen Culturepoche und schaut nicht rückwärts. Ein dem Alterthumsforscher wunderbar in- teressanter Fall der Art ist von Lassberg und Bluntschli er- zählt?). In dem letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts kam ein Bauer zu dem Züricherischen Obervogt Füssli in Erlenbach am Zürich- see mit der Beschwerde, dass ihm sein Nachbar seine Katze getödtet habe. Der Beamte suchte ihn zu beschwichtigen und stellte ihm das Unbedeutende der Sache vor, aber der Bauer berief sich fortwährend auf das Katzenrecht, welches er fordere. Als nun der Vogt ihn fragte, was denn dieses zu bedeuten habe, erwiederte der Bauer, der Nach- bar müsse über das Fell der getödteten Katze, welches auf dem Bo- den auszubreiten sei, so viel Weizen auf einen Haufen schütten, bis dasselbe davon ganz zugedeckt sei, und dieser Weizen gehöre ihm, dem Eigenthümer der getödteten Katze. Es handelte sich hier um eine uralte, nicht bloss germanische Rechtssitte. In einem alten Ge- setze von Wales (also wohl keltischen Ursprungs) war bestimmt: Wenn jemand die Katze eines Andern getödtet hat, soll die Katze am Schwanze aufgehängt werden, so dass sie mit der Schnauze den rein gefegten Boden berührt und es sollen Weizenkörner ausgeschüttet werden, bis die Katze zur Spitze des Schwanzes mit Weizen bedeckt ist. Die- selbe Procedur wird in Betracht getödteter Hunde sehr oft in den germanischen Rechtsdenkmälern erwähnt und ist selbst als eine Rechts- sitte der Araber nachgewiesen ?). Verfolgen wir dieselbe bis auf das Gebiet der scandinavischen Edda, so stellt sich eine merkwürdige Analogie heraus: Der Weizen ist die’ Mordbusse oder das Wehrgeld, wie es im Falle der Tödtung eines Menschen von dem Todschläger an’ die Familie des Getödteten zu zahlen war*). An einigen Stellen 2) Lassberg in Mone’s Anzeiger 1836 S. 48. Bluntschli I, 113. 8) Grimm R. A. 668 fi., Wsth. III, 222. 308. 715. 720. Glosse zum Sach- senspiegel III, 49. 4) Grimm über eine eigene altgermanische Weise der Mordsühne in: Ztschr. für gesch. Rechtsw. I, 323. — Eine wohl durch nichts gestützte Vermuthung ist es, wenn Merkel lex. Alam. p. 166, Note 32 von der Strafe des Lebendig- begrabens, welche Schwsp. 367 L. denen droht, die gegen den Kaiser sich waff- nen, sagt: „fortasse lebendig begraben idem est ac uirigildo quasi confodi. Grimm R. A. 668.“ Wissenschaftliche Monatsschrift. IV. 13 — 278 — ist eben rother Weizen genannt, der mit dem rothen Golde bei der Tödtung eines Menschen correspondirt. Unbedenklich können wir in jenem Katzen- und Hunderecht eine Personifieirung dieser Thiere er- kennen, welche die gewöhnlichen Hausgenossen des Menschen sind. Ein erst neuerdings bekannt gewordenes Zeugniss für den frag- lichen Gegenstand bietet ein in einer Handschrift befindlicher Zusatz zur lex Alam. Karolina LXXXIL, 7: „Quod si eum (canem) nocte omnibus dormientibus, dum atrium latrando eustodiunt, extra umbram sepis oceiderit: domino canis praesente et iudice ducis teneat eum per caudam et de omni genere frugum eircumfundat et sie solus iuret: quia solvi eum per caput meum, iudiei vero 3 solidos conponat et se- curus est?).“ Hätte er den Hund bei nächtlicher Weile innerhalb der Were des Andern erschlagen, so würde ein schweres Verbrechen (Heim- suchung) vorliegen; so konnte er sich aber mit dem Eineide (als ob er in der Nothwehr gewesen) von der schwereren Anschuldigung be- freien; die Worte des Eides scheinen die Sache als eine Angelegen- heit zweier wehrgelds-fähiger Personen hinzustellen, Eine Persönlichkeit ist den Hausthieren auch beigelegt, wenn sie in Ermangelung wirklicher Zeugen vor Gericht als Scheinzeugen auf- geführt werden. Die Basler Landesordnung von 1611 hat eine Be- stimmung der Art erhalten, die sicherlich aus einer sehr alten Zeit stammt. Ist jemand zu Nacht nach der Betglocke in seinem Hause überfallen worden und hat den Angreifer getödtet, so bessert er nichts; ist der Angreifer wieder geflohen und wird des Frevels wegen ge- klagt, der Angegriffene hat aber kein Hausgesinde zu Belastungs- zeugen, hatte aber einen Hund zu der Zeit, als er heimgesucht wurde, so soll er denselben nehmen an ein Seil und drei Halme von seinem Dach und vor Gericht kommen; hatte er keinen Hund, sondern eine Katze hinter der Herdstatt oder einen Hahnen auf dem Sädel, ‚so nimmt er eins von den zweien, welches er will, an den Arm und vollführt den Anklagebeweis. Die drei Halme vom Dache sind hier das Symbol des Hauses, dessen Friede gebrochen war®), der Hund oder die Katze oder der Hahn vertreten das Hausgesinde und können als Scheinzeugen angesehen werden. J. von Müller, der den Fall 5) Merkel’s Ausg. p. 162. 6) Rochholz, Schweizersagen aus dem Aargau II, 278 sieht in der Ueber- reichung eines vom Dache gebrochenen und dem Richter dargebotenen Siroh- halms eine Beurkundung des Klagerechts, was denn die weitere juristische Folge auf Grundlage des Symbols wäre. — 279 — nicht genau der Quelle gemäss berichtet”), meint, die Thiere seien hier genommen „in dem Glauben, dass ihn Gott strafen könne durch die geringste Creatur“ und ihm ist J. Grimm gefolgt®); mir scheint jene Erklärung einfacher und natürlicher zu sein?). Bekanntlich hatte man im Mittelalter manche Beschwörungs- und Bannformeln gegen schädliches Gethier verschiedener Art und veran- staltete feierliche Processionen, wenn solches Gethier den Gewächsen Gefahr brachte. Noch im Jahr 1732, als zu Sursee eine unerhört grosse Menge Würmer und Engeriche die jungen Saaten, Gräser und Blüthenknospen der Bäume verheerte, begehrten die Gnädigen Herren und Obern aus dem Kloster Füossen in Tirol den Stab des heiligen Magnus, der zur Vertreibung des schädlichen Ungeziefers in grossem Rufe stand. Ein Pater des genannten Klosters brachte denselben ins Land und ward in Sursee mit Geläut und Jubel empfangen. In einer Tags darauf gehaltenen Procession über die Felder wurden mit diesem Heiligthum Benedietionen und Exoreismen vorgenommen !P). Die geist- lichen Herrn schlugen aber mehrfach noch ein anderes Verfahren ein, um die schädlichen Thiere zu beseitigen: sie machten ihnen den Pro- cess ganz nach juristischer Regel und Form. Mehrere Fälle der Art erzählt Felix Hemmerlin in seinen Tractatus exoreismorum seu ad- jurationum und dieser gelehrte Cantor der Kirche Zürich billigt solchen modus naturali quadam sagacitate adinventus et non carens ratione. Hemmerlin war Doctor der Rechte, nennt sich aber bescheiden de- eretorum doctor multum inutilis, was sein scharfer Kritiker, der das Exemplar, welches ich aus der Züricher Stadtbibliothek benutzte, mit handschriftlichen Glossen versah, ın den Worten bestätigt: „ Hemerli praepositus Solodorensis et eanonieus Thuricensis vere multum inutilis.* Als einst im Bisthum Chur, erzählt Hemmerlin, Inger und Laubkäfer Saaten und Bäume beschädigten, wurden sie dreimal edie- taliter vor Gericht geladen. Da aber die Citirten wegen Kleinheit ihrer Körper und Minderjährigkeit nieht erschienen, bestellte der Rich- ter, damit die Rechte der Minderjährigen nicht verletzt würden (un- ter Beziehung auf bekannte Stellen des corpus iuris eivilis und cano- niei) ihnen ex offieio einen Curator (curatorem, proenratorem, syndicum 7) Gesch. schweiz. Eidgenossenscbaft III, 2. Anm. 502. 8) Zeitschrift für gesch. Rechtsw. II, 80; R. A. 588. 9) Ueber eine Personificirung der Thiere des Hauses, in welchem eine Noth- zucht verübt worden, s. Ztschr. für deutsches Recht XVII, 99. 10) Atteuhofer Sursee S. 94. — 280 — et oratorem certum ibidem existentem) in der Person eines zuverläs- sigen tüchtigen Juristen, der auf die Anklage und Forderungen der klagenden Landleute antworten und ordnungsmässig bis zur Replik vorgehen solle. Dieser machte für seine Clienten geltend, dass sie Geschöpfe Gottes seien und seit unvordenklicher Zeit ihre Wohnsitze und ihr Recht dort gehabt hätten; er stellte das Gesuch, sie nicht ihrer Nahrung zu berauben, und sie nicht anders als mit ihrer Bewil- ligung aus ihrem Besitz zu vertreiben, eventualiter ihnen von Gerichts- wegen andre Wohnsitze anzuweisen. Und so geschah es. Alljährlich wird ihnen ein bestimmtes Stück Land (terrae portio certissima) reser- virt; dort treffen sie ein und niemand wird von ihnen belästigt. Aehn- liches soll in Constanz vorgekommen sein. Ein verwandter Fall wird aus Bern berichtet!!). Die weise Stadt Bern, sagt Anshelm, von ihren Geistlichen beredet, gab ihrem Stadtschreiber Thüring Fricker, der Rechte Doctor, im Mai 1479 einen wohlausgespitzten lateinischen vollmächtigen Gewaltsbrief unter ihrem Siegel, die schadhaften räuberischen Inger, Käfer und Würmer vor das geistliche Gericht zu Lausanne zu eitiren und der Bischof von Lausanne ertheilte seine Zustimmung. Der bestellte Ankläger verfasste ein weitläufiges Monitorium und es wurde dem Johannes Perrodetus von Freiburg, der zum Fürsprech der Beklagten ernannt war, gebo- ten, seinen Clienten die Ursachen ihres Uebergriffs zu vermelden. Die geistlichen Väter verhörten die klagende und antwortende Partei den gewohnten Rechten nach, deren Terminos sie sehr fleissig und wohl in Obacht nahmen und nach Erdaurung aller Gründe und fleissiger Erwägung der Umstände fällte bemeldeter Bischof formaliter folgendes Urtheil: „Und darauf so haben wir in dieser Sach geurtheilet, aus Rath der Schriftgelehrten, und erkennen also in dieser Geschrift, dass die Berufung wider die schändlichen Würm und Inger, die den Kräu- tern, Wunnen, Weiden, Korn und andern Dingen ganz schädlich sind, kräftig sei und dass sie beschweret werden in der Person Johannis Perrodeti, ihres Beschirmers, und demnach so graviren und beladen wir und gebieten ihnen und verfluchen sie durch den Vater, den Sohn und den heiligen Geist, dass sie von allen Felden, Erdreichen, Samen und Früchten kehren sollen ohne allen Aufzug und also in Kraft sol- cher Urtheil, so erkläre ich Euch bännig und beschwert ete.* Aber wiewohl die Inger als contumaces und violenti raptores und conspi- 11) Anshelm’s Chronik I, 206. Stettler’s Chronik I, 278. — 231 — ratores heftig gebannt worden, blieben sie dennoch in ihrer Gewerd und Possession. Dagegen soll im Jahr 1505 die-nach förmlicher ge- richtlicher Verhandlung in Lausanne erfolgte Bannisation der Käfer wirksam gewesen sein!?). Auch gegen die Blutsauger, welche im See die Fische tödten, liess, nach Hemmerlin’s Bericht, der Bischof von Lausanne processiren. H. Runge erwähnt in seiner werthvollen Abhandlung „Adjurationen, Exoreismen und Benedictionen, vorzüglich zum Gebrauch bei Gottesgerichten. Ein Rheinauer Codex des XT. Jahr- hunderts“ (Mittheilungen der antiquarischen Gesellschaft in Zürich XII, 5 S. 186), der Anwalt des Volkes, als des Klägers, habe in diesem Falle die Reinigung der Angeklagten durch die Probe des glühenden Eisens gefordert; allein ich vermuthe, dass diese Angabe auf einem Irrthum beruht; Hemmerlin, auf den sich Runge bezieht, erwähnt diess nicht und bei der Stellung der Kirche zu den Gottesgerichten wäre ein solcher Antrag auf das Ordal in einem geistlichen Gerichte, selbst wo dieses in das Gebiet des Wahnwitzes führt, sehr auffallend. Zum Ketzer personificirt war der Hahn, welcher im Jahr 1474 auf dem Kolenberge bei Basel verbrannt wurde, weil er überwiesen war, ein Ei gelegt zu haben. Dieses Stück aus der Strafrechtsge- schichte des alten Basels meldet der gelehrte „Kirchendiener * Joh. Gross in seiner kleinen Basler Chronik. Ueber das Verhältnis zwischen Lessings Erziehung des Menschengeschlechts und Nathan dem Weisen. Von C. HEBLER, Privatdocent an der Hochschule in Bern. „Ein berühmter .Litterarhistoriker hat sich neulich über Lessing's Nathan folgendermassen ausgesprochen t): „Mit Zuversicht lässt es sich behaupten, das ganze Drama, nicht bloss Einzelheiten, sondern Hal- tung und Sinn des Ganzen würden anders, wesentlich anders ausge- fallen sein, wenn es nur um etwa zwei Jahre später wäre von Neuem oder zuerst gedichtet worden. Lessing’s Geist war so hoch und gross und darum auch so demüthig, dass er nicht, wie kleinere Menschen 2) Grimm, kleine Schweitzer-Cronica $. 217. !) In den Protestant. Monatsblättern für innere Zeitgeschichte, herausgege- ben von Heinr. Gelzer, B. VI, S. 232-256. _ 232 — gerade in dergleichen Dingen nur zu gern thun, das einmal Erfasste eigensinnig und selbstgenügsam festhielt; ernst, eifrig, redlich arbei- teten die Gedanken in ihm fort, und schon im Jahre 1780, dem nächsten schon nach Vollendung des Nathan, dem letzten noch vor seinem T'ode, schrieb er sein Werk über die Erziehung des Menschen- geschlechts, reicher an Gehalt als an Umfang und, wenn man will, sein letztes, sein Vermächtniss gleichsam. Hier denn lässt er, die sonst der Deismus weislich nicht befragt, auch der Geschichte ihr Recht widerfahren; in dem ganzen Gange aber der Weltgeschichte erkennt er hier eine fortschreitende Erziehung der Menschheit durch -Offen- barungen Gottes und erkennt es an, dass der menschlichen Vernunft die Offenbarung zu Hülfe und zuvorkomme, und erkennt als erste Offenbarung die durch Mose an und als die zweite das Christenthum, in diesem die höhere Stufe, und wenn auch nicht die letzte, auf welche die leitende Hand Gottes den Menschen habe stellen wollen, so doch die vorletzte, die auf ein neues, ewiges Evangelium, das in den Ur- kunden des Christenthums selbst verheissene, ihn vorbereite. Es ist klar, dass mit dieser weiter emporgestiegenen Anschauung der Dinge die Anschauung, die Nathan dem Weisen zu Grunde liegt, nicht mehr kann vereinigt werden; nun ist ja das Christenthum nicht mehr-mit der Geltung des gleichen Werthes oder Unwerthes neben den mosai- schen Glauben, sondern mit dem höheren Werthe eines geschichtlichen Fortschrittes über denselben geordnet, der Islam aber als gänzlich unberechtigt bei Seite gelassen.“ Ebenso erklärt ein neuerer Theologe?): „Lessing, der tiefe Den- ker, ist selbst nicht bei der deistischen Ansicht, die er im Nathan vertritt, stehen geblieben. Ein Jahr nach demselben hat er in der Erziehung des Menschengeschlechts selbst das Bedürfniss der Offen- barung für die menschliche Vernunft anerkannt, und als erste Offen- barung die durch Mosen, äls zweite, als höhere Stufe, das Christen- thum bezeichnet, während er den Islam als ganz unberechtigt bei Seite gelassen hat.* Der Philosoph Jacobi wollte bekanntlich in Lessing bei dem im Juli 1780 mit ihm geführten Gespräch einen erklärten Spinozisten ge- funden haben. Ueber die Zuverlässigkeit dieses Funds wird gestrit- ten, und ich weiss nicht, was unsere beiden Gelehrten von derselben halten; es scheint aber, nicht viel; denn im Jahr 1779 Deist, 1780 in 2) Stirm, Apologie des Christenthums, 2. Auflage, 1856, S. 410. —_— 23 — der ersten Jahreshälfte offenbarungsgläubiger Christ, und nach der Son- nenwende Spinozist — wer möchte Lessing so etwas zutrauen, und wel- cher gute Christ ihn um einer solchen Bekehrung willen preisen und zur Nachahmung empfehlen ? Lassen wir aber für diessmal den Spinozismus. 1777 erschien: Zur Geschichte und Litteratur. Aus den Schätzen der herzoglichen Bibliothek zu Wolfenbüttel. Vierter Bei- trag. Darin befinden sich unter Anderm 5 Fragmente eines Ungenannten und als Zugabe zu einem der- selben die 53 ersten Paragraphen der Erziehung des Menschengeschlechts. 1779 $ Nathan der Weise. 1780 " Die Erziehung des Menschengeschlechts, vollständig. Diese Data beweisen, dass, was wir von einem Fortschritte Les- sing’s vom Nathan zur Erziehung des Menschengeschlechts gehört ha- ben, eine chronologische Unmöglichkeit ist. Man kann nämlich nicht etwa sagen, dieser Fortschritt sei erst in der: zweiten, nach dem Nathan erschienenen, Hälfte der Erziehung des Menschengeschlechts enthalten. Diese Behauptung würde einmal nichts helfen ohne den Nachweis, dass, entgegen Lessing's eigener An- gabe, die zweite Hälfte nicht bloss später „bekannt gemacht“, sondern auch später verfasst und eoneipirt sei, als die erste, was von unsern beiden Gelehrten weder angenommen noch nachgewiesen wird. Ferner findet sich die Anwendung des Offenbarungsbegriffs auf die jüdische und die christliche Religion und die Ueberordnung dieser über jene, d. h. Alles, worin der angebliche Fortschritt über den Nathan besteht, schon in der ersten Hälfte. In der zweiten wird dann auch das Chri- stenthum noch als eine untergeordnete Religionsstufe bezeichnet. Also gerade die dem Christenthum günstigere Hälfte — wenn nämlich Je- mand beide trennen wollte — ist vor, die andere nach dem Nathan erschienen. Wir würden über ein an sich so geringfügiges Versehen schon zu viele Worte verloren haben, wenn nicht etwas Weiteres daran hinge. Die vermeintlich spätere Abfassung der Erziehung des Menschenge- schlechts beweist nach der Ansicht unserer Gelehrten, dass Lessing in seiner letzten Zeit dem Christenthum wesentlich näher gekommen sei; das gerade Gegentheil hievon muss ihnen jetzt feststehen, wenn sie, wie wir nicht bezweifeln können, obige Jahrzahlen gelten lassen. Wenn sie ferner jene vermeintliche Annäherung als einen bedeutenden Fortschritt beschrieben haben, so müssen sie jetzt consequent von einem — 284 — ebenso starken Rückschritte reden. Wie anders nimmt sich nun die Ermahnung aus, welche der Litterarhistoriker an Lessing’s Nachbeter richtet: sie sollen ihm nur noch „weiter nachbeten“! und wie eigen das Lob, welches er demselben spendet, dass er „nicht, wie kleinere Menschen gerade in dergleichen Dingen nur zu gern thun, das ein- mal Erfasste eigensinnig und selbstgenügsam festhielt*! Diesem Lob lässt sich nichts abdingen. Denn die Wahrhaftigkeit desselben kann nicht davon abhangen, ob die Erziehung des Menschengeschlechts 1777 oder 1730 geschrieben ist; nicht eigensinnig und selbstgenügsam das einmal Erfasste festzuhalten, verdient Nachahmung, das Erfasste mag sein, was es will; wir mögen nicht annehmen, dass Lessing um ein Lob ärmer wäre, wenn man sich nicht in einer Jahrzahl versehen hätte, Es ist nun aber doch nicht rathsam, an die zunehmende Unchrist- lichkeit Lessing’s in jenen Jahren bloss auf die Autorität zweier Ge- lehrten zu glauben, die darauf aus waren, das Gegentheil zu beweisen. Wir unsererseits meinten bisher, Lessing sei im besagten Zeitraume zwar nicht christlicher, aber auch nicht merklich unchristlicher 'ge- worden, als er ohnehin gewesen sein möchte. Wäre diese unsere Meinung richtig, so müssten die beiden Gelehrten nicht bloss über das zeitliche, sondern auch über das sachliche Verhältniss der zwei Schriften sich getäuscht haben. Sie erklären den Nathan für einen Ausdruck des Deismus, „jenes Glaubens“ (wie ihn beide fast wört- lich übereinstimmend schildern), „der auch einen einigen Gott be- kennt, aber sich damit nur auf die Vernunft und den Verstand des Menschen, auf das eigene Denken und Erfahren gründet, jede. höhere Offenbarung dagegen verwirft und all solchen Offenbarungen den gleichen Werth und Unwerth beimisst.“ In der Erziehung des Menschengei schlechts hingegen soll Lessing die Offenbarung anerkannt und das Christenthum gegenüber dem Judenthum (vom Islam zu schweigen) für eine höhere, wenn auch noch nicht für die allerhöchste, Offen- barungsstufe erklärt haben. Das Verhältniss beider Schriften so be- stimmt, würde sich allerdings ein wesentlicher Gegensatz zwischen ‚Ähnen ergeben. Aber Lessing pflegte doch sonst dergleichen Sprünge nicht zu machen, und nun gar der Lessing um's. fünfzigste Lebens- jahr, welcher z. B. auf Jacobi's Aeusserung: „Ich helfe mir durch einen salto mortale aus der Sache“ (d. h. aus dem Spinozismus) „und Sie pflegen am Kopfunten eben keine sonderliche Lust zu finden“, entgegnet: „Sagen Sie das nicht; wenn ich’s nur nicht nachzuahmen brauche,* und weiterhin die Zumuthung jenes Sprungs mit leicht er- _ 25 — kennbarer Ironie unter Berufung auf seine alten Beine und seinen schweren Kopf ablehnt. Auch ist's ja nicht an dem, dass der Nathan isolirt dastände; zahlreiche, zum Theil sehr bekannte Aeusserungen vor und nach 1779 drücken die gleiche Denkart aus, wie Lessing selbst bezeugt: „Nathan’s Gesinnung gegen alle positive Religion ist von jeher die meinige gewesen ).“ Andererseits weiss man auch wohl Stellen beizubringen, welche zur Erziehung des Menschengeschlechts im angenommenen Sinne stimmen, Es wird also darauf ankommen, die beiden Schriften — speciell in der durch die vorliegende Frage bestimmten Richtung ?) — etwas genauer anzusehen. Die Erziehung des Menschengeschlechts (deren Aechtheit heute keines Beweises mehr bedarf) erschien zuerst, bis zum $ 53 inel., als Beigabe zu dem fünften Wolfenbüttler Fragment, welches beweisen will, „dass die Bücher A. T. nicht geschrieben worden, eine Religion zu offenbaren“, nämlich, wie der Fragmentist (Reimarus) sofort erläu- tert, „eine übernatürliche, seligmachende Religion, welche vor allen Dingen ein Erkenntniss von der Unsterblichkeit der Seelen, von der Belohnung und Bestrafung unserer Handlungen in einem zukünftigen ewigen Leben, von der Vereinigung frommer Seelen mit Gott zu einer immer grösseren Verherrlichung und Seligkeit erfordert und zum Grunde legen muss.“ Reimarus argumentirt so: Eine geoffenbarte Religion muss die Unsterblichkeit lehren, die alttestamentliche Religion thut diess nicht, und ist folglich nicht geoffenbart. Lessing gibt den Untersatz dieses Schlusses zu, und dehnt ihn auch auf den wahren Begriff von der Einheit Gottes aus, welcher we- nigstens der Masse des Volks bis zur babylonischen Gefangenschaft gefehlt habe. Er bestreitet hingegen den Obersatz. Eine Religion mag immerhin nichts von Wahrheiten, wie die erwähnten, lehren, darum kann sie doch geoffenbart sein. Die Offenbarung könnte ja eine all- mälige, stufenförmige sein; Wahrheiten, die sie auf der einen Stufe nicht lehrt, kann sie auf einer folgenden nachbringen; und — hier greift die Metempsychose ein — keinem Menschen ist es versagt, bis 3) Zu Nathan dem Weisen, im Nachlass, Werke, Band XI, Seite 535 der Lachmann’schen Ausgabe, nach welcher auch fernerhin eitirt wird. #) Sonst vgl. besonders G. E. Guhrauer, Lessing’s Erziehung des Menschen- geschlechts, 1841. H. Ritter, über Lessing’s philosophische und religiöse Grund- sätze, 1847. Danzel’s Recension dieser Schrift in der Neuen Jenaischen Litt. Zeit. 1848, Nro. 172—174. C. Schwarz, G. E. Lessing als Theologe, 1854. — 286 — zur höchsten Stufe oder Classe vorzurücken. Kurz, die Offenbarung könnte Analogie mit der Kindererziehung haben. Diess der Grundgedanke unserer Schrift, welchen Guhrauer zu ausschliesslich in die Metempsychose gesetzt hat; die Bedeutung der Letzteren ist nur die so eben angeführte. Es ist klar, dass Lessing hiemit ebensowenig den Schlusssatz, als den Untersatz des Reimarus angreift. Er behauptet nicht, dass die alttestamentliche Religion eine geoffenbarte sei, sondern nur, dass das Gegentheil hievon aus dem Fehlen der Unsterblichkeit im A. T, nicht folge. ‘Er könnte also mit Reimarus in der Hauptsache, wenn wir darunter den Schlussatz verstehen wollen, einverstanden sein. Viel- leicht hat er den vom Fragmentisten gegebenen Beweis nur darum verworfen, weil er selber einen bessern in petto hat oder provociren möchte. Mit dem Seligmachenden nun zwar (welches Reimarus ebenso wie das Uebernatürliche von einer Offenbarungsreligion fordert) hat es keine Noth; das gesteht Lessing der alttestamentlichen wie jeder Re- ligion zu?); das Uebernatürliche hingegen, den Charakter einer eigent- lichen Offenbarung, der alttestamentlichen Religion so wenig als irgend einer andern. Denn was ist das für eine Offenbarung, die „dem Men- schengeschlechte nichts gibt, worauf die menschliche Vernunft, sich selbst überlassen, nicht auch kommen würde“, nur später®); — die nicht hindert, dass ungeachtet dieses Später andere Völker dem Öffenbarungs- volke zuvorkommen und den Weg weisen, und zwar nicht etwa nur in allerlei weltlicher Bildung, sondern in specifisch religiöser Erkennt- _ niss, in Bezug auf die Lehren von Gott und Unsterblichkeit”); — die 5) Zum fünften Fragment, X, 28. Da die Zusätze zu den 5 mittleren der 7 Fragmente gleichzeitig und in schriftstellerischem Zusammenhang mit der Er- ziehung des Menschengeschlechts erschienen sind, so dürfen wir sie unbedenk- lich mit dieser zusammennehmen. $) Erziehung des Menschengeschlechts $ 4, welchem $ 77 nur scheinbar widerspricht. 7) Ebenda $ 34 f. 42 u. s. w. — zum Theil in offenbarem Anschluss an Rei- marus (B. I, €. 3, $ 9 seines Werks, betitelt: „Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes“, welches Klose nach dem auf der Hamburger Stadtbibliothek befindlichen eigenhändigen Manuscript des Verfas- sers in der Niedner’schen Zeitschrift für die historische Theologie, 1850 ff., in neuen Fragmenten herauszugeben angefangen hat. Die theologische Litteratur muss einen beneidenswerthen Ueberfluss an „freimüthigen,, ernsthaf- ten, gründlichen, bündigen, gelehrten* Werken haben, dass sie sich ein Buch, welchem ein Lessing diese Prädikate beigelegt hat (X, 216), noch immer nicht aneignen mag). „Uebrigens (so sagt Reimarus) lässt sich sehr streiten, ob nicht die Vernunft dem Christenthum ebenso viele Dienste, ja wohl noch weit mehrere ge- — 27 — der Erhellung durch die im Verkehr mit solchen Völkern gebildete Vernunft bedarf; um nicht gar überflüssig zu sein®); — deren Wahr- heiten schlechterdings in Vernunftwahrheiten ausgebildet werden müs- sen, wenn dem menschlichen Geschlechte damit geholfen sein soll®), und nur vorläufig als Offenbarungen angestaunt werden sollenP), eigent- lich aber blosse Vernunftwahrheiten sind, von denen Gott bloss ver- stattet und einleitet, dass sie als unmittelbar geoffenbarte Wahrheiten eine Zeit lang gelehrt werdenf!)? An einer solchen Offenbarung ist so viel offenbar, dass es keine Offenbarung ist, und auch Lessing selbst ist weit davon entfernt, sie dafür zu halten. Die Unterscheidung, welche er scheinbar zwischen Ursprung und Inhalt der Offenbarung macht, als ob nämlich jener ein übernatürlicher und zugleich dieser ein natürlicher, der Vernunft von selber erreichbarer, wäre, ist den angeführten Stellen gegenüber völlig nichtssagend. Lessing selbst weiss sehr wohl, dass zur Offenbarung auch ein eigenthümlicher Inhalt ge- hört: „Wenn eine Offenbarung sein kann, und eine sein muss, und die rechte einmal ausfündig gemacht worden: so muss es der Vernunft eher noch ein Beweis mehr für die Wahrheit derselben, als ein Ein- wurf dawider sein, wenn sie Dinge darin findet, die ihren Begriff übersteigen. Wer dergleichen aus seiner Religion auspoliret, hätte eben so gut gar keine. Denn was ist eine Offenbarung, die nichts offen- baret?12)“ Was das für eine Offenbarung ist? Eben die, welche in than hat, als das Christenthum der Vernunft und Philosophie. — Die Lehre von der Einheit Gottes, und dessen Anbetung ohne Bilder, welche Moses aus der geheimen Weisheit der egyptischen Priester mitgebracht hatte, aber ohne vernünftige Gründe, bloss als ein Gebot, vortrug, hatte bei den Israeliten nicht eher Eingang, als bis sie in der Gefangenschaft mit vernünftigen Heiden umge- gangen waren. Die Lehre von der Unsterblichkeit der Seelen und von den Be- lohnungen und Strafen nach diesem Leben haben die Juden nicht einmal von Mose und den Propheten empfangen, sondern yon den Weltweisen der Heiden, womit sie zuletzt umgingen, angenommen ete.“ 8) Erziehung des Menschengeschlechts $ 37. 9) Ebenda $ 76. 10) Ebenda $ 72. 11) Ebenda $ 70: „Du hast in der Kindheit des Menschengeschlechts an der Einheit Gottes gesehen, dass Gott auch blosse Vernunftswahrheiten unmittelbar offenbaret; oder verstattet u. s. w. (wie oben im Text). 12) Zum zweiten Fragment, X, 14. Die gleiche Frage hatte Reimarus ge- "than (B. I, €. 3, $ 10), um zu zeigen, die sog. Geheimnisse der Religion dürf- ten diess doch nicht in dem Maasse sein, dass Alles dunkel bliebe: „Was wäre denn das für eine Offenbarung der Geheimnisse, die dem Menschen nichts offen- — 2838 — der Erziehung des Menschengeschlechts verkündigt wird. Denn eine Offenbarung, die nichts gibt, worauf die Vernunft, sich selbst über- lassen, nicht auch kommen würde, wird wohl ziemlich die gleiche sein, wie diejenige, in welcher die Vernunft keine Dinge findet, die ihren Begriff übersteigen. Der Glaube an einen übernatürlichen Ur- sprung gewisser Wahrheiten wird denn auch auf eine die Ueberna- türlichkeit rein aufhebende Weise folgendermassen erklärt: „Obsehon der menschliche Verstand nur sehr allmälig ausgebildet worden, und Wahrheiten, die gegenwärtig dem gemeinsten Manne so einleuchtend und fasslich sind, einmal sehr unbegreiflich, und daher unmittelbare Eingebungen der Gottheit müssen geschienen haben, und als solche auch damals nur haben angenommen werden können: so hat es doch zu allen Zeiten und in allen Ländern privilegirte Seelen gegeben, die aus eigenen Kräften über die Sphäre ihrer Zeitverwandten hinaus- dachten, dem grösseren Lichte entgegeneilten, und Anderen ihre Em- pfindungen davon zwar nieht mittheilen, aber doch erzählen konnten 13).« Solche einzelne erleuchtete Seelen sind z. B. im jüdischen Volke die heiligen Schriftsteller!®), und es stehen deren noch jetzt von Zeit zu Zeit einige auf!?), Die Uebermnatürlichkeit der Offenbarung nach Ursprung wie Inhalt, und auch ihre Beschränkung auf einzelne Länder und Zei- ten, ihr Particularismus, kurz die Offenbarung selber ist hiemit auf- gehoben. Sehr deutlich ist auch der Vorbericht: „Warum wollen wir in allen positiven Religionen nicht lieber weiter nichts als den Gang er- blicken, nach welchem sich der menschliche Verstand jedes Orts einzig und allein entwickeln können und noch ferner entwickeln soll, als über eine derselben entweder lächeln oder zürnen? Diesen unsern Hohn, diesen unsern Unwillen verdiente in der besten Welt nichts, und nur die Religionen sollten ihn verdienen? Gott hätte seine Hand bei Allem im’ Spiele: nur bei unsern Irrthümern nicht?“ Hier wird die positive barte, oder nur zu falschen Vorstellungen Anlass gäbe?“ Und noch einmal — freilich wieder in ganz anderem Sinne — frägt Schelling (Philos. d. Offenbarung, Saemmtl. W. Abth. II, B. IV, S. 4): „Wozu gäbe es eine Offenbarung, oder zu welchem Ende würde der Begriff einer solchen nur noch überhaupt beibehalten, wenn wir durch eine solche am Ende nichts weiter erführen oder inne würden, als was wir auch ohne sie und von selbst wissen oder doch wissen könnten?“ 18) Zum fünften Fragment, X, 27 f. Bedeutend prosaischer wird der gleiche Hergang geschildert in den Anmerkungen über eine Stelle des Livius, XI, 76 £. 14) Zum fünften Fragment, X, 25. 15) Ebenda, S. 28. — 2839 — Religion für ein natürliches Product der menschlichen Entwicklung erklärt, wobei zwar Gott seine Hand im Spiel habe, doch nur so wie bei Allem; und diess wird ohne Unterschied von sämmtlichen po- sitiven Religionen gesagt, Judenthum und Christenthum sind nicht ausgenommen, vielmehr ist vorzugsweise an diese zu denken, da un- sere Schrift nur sie näher berücksichtigt. Wir haben, um diess gelegentlich zu bemerken, in der zuletzt angeführten Stelle den ganzen Lessing als Philosophen und Religions- forscher gegenwärtig. Sogar auf die wichtigsten Einflüsse, unter denen er sich in diesen Beziehungen entwickelte, ist darin hingedeutet. Das höhnische Lächeln über die Religion hatte ihn bei den Berliner Fran- zosen, wie Schlosser sie nennt, angewidert. Das Zürnen fand er bei seinem Reimarus1®). Dass weder das Eine noch das Andere, sondern — was Lessing zwar nicht sagt, ‚aber übt — das Begreifen das rechte Verhalten zu diesen Dingen sei, erinnert an einen bekannten Ausspruch und Grundsatz Spinoza’s. Dass wir endlich dieselben nur dann begreifen, wenn wir sie als in der besten Welt inbegriffen er- kennen, ist leibnitzisch. Diese Stelle des Vorberichts ist zur Bestimmung des Sinns der Erziehung des Menschengeschlechts um so mehr massgebend, als Les- sing hier im eigenen Namen redet, während er die Schrift selbst im- mer nur „herausgegeben“ haben will. Letzteres weist schon für sich darauf hin, dass wir eine in gewisser Beziehung exoterische Schrift vor uns haben. Ebendarauf deutet das Motto aus Augustin: Haec omnia inde esse in quibusdam vera, unde in quibusdam falsa sunt, welche Worte, an der Spitze der Schrift stehend, einen nähern Bezug auf diese selbst, als auf die Religionen haben, von welchen man sie sonst auch verstehen könnte; diese (zwar. gewiss nicht für Lessing, aber für uns vorhandene) Zweideutigkeit ist nicht zufällig: sie beruht darauf, dass die Erziehung des Menschengeschlechts selber ein Er- ziehungsbuch ist. Ferner schreibt Lessing dem jüngeren Reimarus17): 16) Wenigstens als Grundstimmung, die sich auch in dem gelegentlichen Spott nicht verläugnet, dessen sich, meint er, die christlichen Apologeten gegen die damals herrschende Religion ebensowenig enthalten haben; auch er schreibt ja eine „Apologie*, nämlich „für die vernünftigen Verehrer Gottes“, und bemerkt, eben das Lächerliche, Ungereimte u. s. w. sei auch das der Vernunft Anstössige, es komme nur darauf an, dass „es in der Sache selbst liege und ihm nicht bloss durch die Art der Vorstellung angehängt werde.“ (Vorbericht $ 13.) 17) 6. April 1778, XI, 503 ft. — 290 — „Die Erziehung des Menschengeschlechts ist von einem guten Freunde, der sich gern allerlei Hypothesen und Systeme macht, um das Ver- gnügen zu haben, sie wieder einzureissen.* C. A. Böttiger1$) kam, auf einem Besuche zu Hamburg im Jahr 1795, im Gespräch mit Elise Reimarus darauf zu reden, dass er schon längst von dem süssen, aber täuschenden Traume von der Erziehung des Menschengeschlechts, einer von Jahrhundert zu Jahrhundert wachsenden Vervollkommnung zu höherer Humanität in dieser Periode unseres Erdenlebens erwacht sei“; auch Elise Reimarus, berichtet er, habe den gleichen Unglau- ben geäussert, und ihm mitgetheilt, „dass Lessing selbst in der Zeit, wo er seine Erziehung des Menschengeschlechts herausgab, nicht mehr an diesen früher geträumten Traum geglaubt, ihn (sie) aber bloss darum damals herausgegeben habe, um den theologischen Streitern eine Di- version zu machen.“ Diess darf nun freilich nicht so verstanden wer- den, dass nach Abzug des Hypothetischen und, wenn man will, Träumerischen nicht etwas Erklecklicbes übrig bleibe; binter dem Hy- pothesenmacher steckt (diessmal) ein Geschichtsphilosoph, hinter dem Träumer ein Seher. Endlich ist der exoterische Charakter der Schrift auch durch die Worte ‚bezeugt, die man gewöhnlich nur für Lessing’s Autorschaft anführt19). Indem er aber hier erklärt, dass er „das Ding nie für seine Arbeit erkennen werde,“ sagt er zwar unzweideutig, dass es seine Arbeit sei, ebenso deutlich aber dass es diess nicht in dem- selben Sinne sei, wie diejenigen Schriften, als deren Verfasser sich zu nennen er nicht so für immer abgeschworen hat. Er hat sich in dieser Schrift ähnlich zum Publikum gestellt, wie, nach ihr, Gott in der Offen- barung zum Menschengeschlecht, von welcher, wenn Lessing Recht hat, der göttliche Erzieher ja wohl gleichfalls im Vertrauen sagen dürfte, er werde das Ding nie für seine Arbeit erkennen. Wie nach der Er- ziehung des Menschengeschlechts die scheinbar übernatürliche Offen- barung in Wahrheit menschliche Selbstentwieklung ist (dabei immer jene allgemeine und beziehungsweise natürliche Wirksamkeit Gottes zugegeben), so stellt der Verfasser eben diese Wahrheit absichtlich noch in der Form jenes Scheins, den er auflösen will, dar; doch nielhıt ohne die „„Fingerzeige“, welche eine jede niedrigere Erziehungsstufe auf die höheren enthält, und nicht ohne wirklich den Ausdruck in dieser 18) Litterarische Zustände und Zeitgenossen ete., herausgegeben von dem Sohn, B. U, S. 19. 19) Brief an den Bruder, 25. Febr. 1780, XII, 539. — 291 — zwiefachen Hinsicht zu gebrauchen 20). Auch der Grund des exote rischen Verfahrens ist bei beiden Erziehungen derselbe: nicht bloss der einzelne Mensch und das Menschengeschlecht, auch das Publieum will gezogen sein, wie diess Lessing einmal aus Anlass von Wieland’s „Plaisanterie“ über Nieolai’s Bunkel äussert?!): „Wenn er nur nicht damit eine ganze Sprosse aus der Leiter ausbräche, die ein gewisses Publieum nothwendig mit besteigen muss, wenn es weiter kommen soll.“ Nun hat Lessing zwar diese pädagogische Rücksicht gegen das Publieum auch in andern Schriften walten lassen, ohne diese desshalb so entschieden für alle Zukunft zu verläugnen. Indessen könnte es blosser Zufall sein, dass uns gerade nur über die Erziehung des Men- schengeschlechts eine solche Aeusserung aufbewahrt ist; auch z. B. zu „Ernst und Falk“ hat sich Lessing nie öffentlich bekannt. Mög- lich ist aber auch, dass er in Voraussicht der Missverständnisse, welche die Erziehung des Menschengeschlechts wirklich mehr als jede andere seiner Schriften erfahren hat, hier ganz besonders wenig Lust hatte, für Alles, was die Leute in das Werk hineinlesen mochten, durch Bekenntniss seiner Autorschaft zum Voraus gleichsam seine Unter- schrift herzugeben. “ Dieser exoterische Charakter unserer Schrift ist es auch wohl allein, was es Thaer möglich machte, sich irgendwelchen Antheil an derselben zuzuschreiben?2), und zwar bot sich hiefür am nächsten eben der ostensible Grundgedanke, wie der Titel ihn ausspricht, dar. Der- selbe ist bekanntlich gar nichts 'eigenthümlich Lessing’sches; schon Joh. Müller, der Geschiehtschreiber, fand ihn bei Epiphanius wieder, und jetzt, um Ritter’s??) Worte zu gebrauchen, „weiss man allgemein, dass nicht allein Epiphanius, sondern die meisten Kirchenväter und manche Scholastiker dieses Bilds und der daran sich anschliessenden Ideen sich bedienten.“ Ritter hält den Tertullian für Lessing’s Quelle; liegt denn aber nicht näher der paulinische „Erzieher (taıdayoyog) auf Christus‘? 20) Im Vorbericht und in den $$. 43. 46. 47. 51. — Aehnlich hat Danzel auch die Unterscheidung des Dogmatischen und Gymnastischen, die Lessing in Hinsieht auf sich selbst macht, auf dessen Gott angewendet. 2!) Brief an Herder, 10. Jan. 1779, XII, 522. 22) Diess, aber auch nur diess, hat sich an Körte’s Behauptung von Thaer’s Autorschaft als wahr herausgestellt. Guhrauer, G. E. Lessing, II, 2, 217 £, Bei- lagen S. 29 fi. AD A.8:0 8538: — 292 — Im Nathan ist als das Ziel aller religiösen Entwicklung eine rein vernünftige Religiosität — Ergebenheit in Gott und Menschenliebe — hin- gestellt. Zu diesem Ziele können und sollen die positiven Religionen (zunächst ist nur von den drei monotheistischen die Rede) hinführen. Jedoch ist eben das Positive an ihnen allen etwas, was dieser: ihrer Bestimmung auch gerade entgegenwirken kann?*). Diess geschieht, wenn ihm ein selbstständiger Werth beigelegt wird. Auf die Menge und die Beschaffenheit dieses Positiven, also das, wodurch sich die Religionen von einander unterscheiden, kommt ohne Vergleich weniger an, als auf das Verhältniss, welches ihm in der religiösen Praxis zu dem Vernünftigen gegeben wird. Das wahre Verhältniss ist, dass man von jenem zu diesem hindurchdringe, das Positive, wenn nicht völlig ablege, doch wenigstens als unwesentlich betrachte oder behandle, nicht darin stecken bleibe, oder es gar ausdrücklich gegen das Vernünftige festhalte. Die positive Religion kann, abgesehen von ihrem beson- dern Inhalt, schon ihrer Form nach, als bloss gegeben, nicht die wahre Religion sein. Der weise Vater hat den ächten Ring desswegen kei- nem der Söhne gegeben, weil er ihn keinem geben konnte, weil der ächte Ring seiner Natur nach sich nicht geben und vererben lässt. Die Weisheit des Vaters war also die einfache und freilich fandamen- tale, nichts Unmögliches zw unternehmen. Er gab. dessenungeachtet jedem Sohne einen Ring, weil er wusste, dass dieser seinem Besitzer behülflich sein würde, den ächten Ring zu erringen, Der Richter ermahnt demgemäss schliesslich die Söhne, sie sollen jeder seinen Ring als eine Aufforderung betrachten, den sich daran knüpfenden Anspruch wahr zu machen. Folgen die Söhne diesem Rath, so sind die Ringe so ächt, als sie ihrer Natur nach sein können; ihre Unächtheit: ist dann nur die ganz unvermeidliche, die überdiess nicht sowohl in ihnen selbst, als vielmehr in der ursprünglichen falschen Meinung, dem fal- schen Gebrauche von ihnen liegt, als seien sie nämlich für sich selber schon ächt. Dieses Verhältniss der wahren Religion zu der positiven würde sich in gewisser Hinsicht noch deutlicher, als durch die Para- bel von den Ringen, durch eine bekannte äsopische Fabel haben ver- anschaulichen lassen. Ein sterbender Vater entdeckt seinen Söhnen, 24) Den entsprechenden Satz in Bezug auf den positiven Staat erläutert Les- sing durch folgendes Bild: „So sind Schiffahrt und Schiffe Mittel, in ent- legene Länder zu kommen; und werden Ursache, dass viele Menschen nimmer- mehr dahin gelangen. Die nämlich Schiffbruch leiden und ersauffen.“ Ernst und Falk, X, 265. = 2 FRE — 23 — er habe irgendwo im Acker einen Schatz vergraben, stirbt aber, bevor er den Ort genauer bezeichnet; die Söhne graben nach, und finden zwar nicht den Schatz, welchen sie meinen, aber die Durchwühlung des Ackers hat diesen selbst zum Schatz für sie gemacht. Allein die Erzählung von den Ringen taugte darum besser, weil es darauf an- kam, jenes Verhältniss ausdrücklich als ein gleichmässig für alle drei Religionen gültiges darzustellen, weil ferner der Uebergang von den positiven Religionen zu der wahren nicht zum Wenigsten dadurch be- fördert wird, dass es ihrer mehrere sind, die den gleichen Anspruch machen. Kaum wird man jetzt noch fragen, ob der Dichter einen der drei Ringe für wahr oder alle drei für falsch erklären wolle: keiner derselben ist der wahre, aber jeder kann sich in den wahren verwandeln oder zu ihm führen. Den wahren Ring konnte der Va- ter, wie gezeigt, nicht geben; einen ganz falschen wollte er nicht geben; gab er jedoch gar keinen, so war er sicher, dass die Söhne zu dem wahren auch in aller Zukunft nie gelangen würden; der ebenso kluge als weise Alte beschloss, mehrere dem Aussehen und also auch Anspruch nach völlig gleiche Ringe auszutheilen, um so durch eben diesen Anspruch die Söhne zum Lauf und Wettlauf nach dem Ziel anzutreiben. Und dieses pädagogische Verfahren sollte im Widerspruch stehen mit der Erziehung des Menschengeschlechts ? Unsere beiden Gelehrten finden einen solehen Widerspruch darin, dass in der letztern Schrift, nicht aber im Nathan, die Offenbarung und der Fortschritt des Christenthums über das Judenthum anerkannt sei. Wir haben jedoch gefunden, dass vorerst die Offenbarung im Allgemeinen (vom Unterschied des Jüdischen und Christlichen noch abgesehen) ebensowenig in der Erziehung des Menschengeschlechts als im Nathan anerkannt ist, wenn man unter der Offenbarung eine eigent- liche, übernatürliche und partieularistische, versteht. Versteht man hin- gegen unter dem geduldigen Wort einen natürlichen, auch ausserhalb des jüdisch-christlichen Gebiets vorkommenden Hergang, so lässt einen solchen auch der Nathan unangefochten. Es ist wahr, die ge- offenbarten oder positiven Religionen — unsere beiden Schriften un- terscheiden zwischen diesen Ausdrücken nicht — werden in dem frü- heren Werke mehr nach ihrer für die wahre Religion förderlichen, in dem späteren mehr nach der ihr schädlichen Seite dargestellt. Aber wenn doch auch die Erziehung des Menschengeschlechts die Ausbil- dung der positiven Religion zur vernünftigen für schlechterdings noth- wendig erklärt, so erhellt, dass sie den in keiner positiven Religion Wissenschaftliche Monatsschrift. IV. 19 — 294 — fehlenden Wahn, als sei sie dieser Ausbildung nicht bedürftig, nur verderblich finden kann. Hinwieder gesteht auch der Nathan den po- sitiven Religionen die Fähigkeit und Bestimmung zu, zu der wahren überzuführen. Wir berufen uns hiefür, ausser dem schon Bemerkten, auf das Verhalten der idealen Hauptpersonen. Haben diese gleich nicht die Pietät in der Weise der väterlichen Religion bewahrt, so doch die Pietät gegen diese Religion selber; vergleiche besonders die Worte Nathan’s: Nun wessen Treu und Glauben zieht man denn Am wenigsten in Zweifel? Doch der Seinen? Doch deren Blut wir sind? u. s. w. (Für Reimarus ist auch diese Abhängigkeit der Kinder von ihren El- tern in religiöser Beziehung und, um mit dem Patriarchen zu reden, „was die Kirch’ an Kindern thut,“ nur ein Gegenstand des Zorns und Hohns.) Dergleichen Aeusserungen wären nicht wohl verträglich mit der Meinung, durch die positive Religion auf dem Wege zur wahren nur gehemmt worden zu sein. Nathan scheint ferner bei seiner Recha den gewöhnlichen Engel- und Wunderglauben absichtlich auf eine Zeit lang unterhalten und so mit ihr die Erziehung des Menschengeschlechts in individuo, als einen Privatcurs, durchgemacht zu haben. Freilich ist jener Glaube etwas dem Christen, Muselmann und Juden Gemein- sames, und insofern bereits über die einzelne positive Religion hin- ausführend. Hiernach können wir zwischen den beiden Schriften, in Bezug auf ihr Verhalten zur Offenbarung im Allgemeinen, einen Un- terschied nicht des Standpunkts, sondern nur der Ausführung zugeben, welcher sich leicht erklärt aus den ganz verschiedenen Zwecken. Die Erziehung des Menschengeschlechts, gegen einen Feind der positiven Religion gerichtet, hat die Aufgabe, zu zeigen, dass die letztere doch auch eine der wahren Religion förderliche Seite habe; den Nathan hingegen, welcher laut der eigenen Erklärung des Dichters „den Theo- logen einen Possen spielen“ oder vielmehr recht ernsthaft mitspielen will, muss die andere Seite hervorkehren. Wir haben noch den Unterschied zu besprechen, dass die Er- ziehung des Menschengeschlechts das Christenthum dem Judenthum überordnet, der Nathan hingegen beide gleichstelli. Worin besteht aber jene Ueberordnung? In der Anerkenntniss, dass das Christen- thum das Gute aus reineren Motiven thun lehre, als das Judenthum, nämlich nicht, wie dieses, um der irdischen Belohnungen und Strafen, sondern um der künftigen willen. Dieser Gegensatz scheint gross u ee ee a a — 295 — genug, und Lessing vertheilt hypothetisch beide Standpunkte sogar an zwei verschiedene Leben (nach der Lehre von der Metempsychose). Aber die gleiche Hypothese spricht er aus in Bezug auf das Christen- thum und das neue, ewige Evangelium ?5), und zwar scheint er sie hier noch ernstlicher zu meinen, als dort. Denn der Unterschied zwischen jenen zweierlei Motiven ist sehr geringfügig gegenüber dem- jenigen, welcher beide Religionen, die christliche und die jüdische, von dem neuen, ewigen Evangelium trennt, wo man das Gute thut um des Guten selbst willen 26), Christenthum wie Judenthum stützen sich beide auf die „Eigennützigkeit des menschlichen Herzens ?7); gleichviel ob sich diese nur auf das irdische Leben oder noch dar- über hinaus erstreckt. Diese Eigennützigkeit findet sich an einer um ‚10 Jahre ältern Stelle28) als Grund angegeben, warum der Christ als Christ zum Held eines Drama’s unbrauchbar sei: „Widerspricht nicht etwa seine Erwartung einer belohnenden Glückseligkeit nach diesem Leben der Uneigennützigkeit, mit welcher wir alle grosse und gute. Handlungen auf der Bühne unternommen und vollzogen zu sehen wünschen ?* Noch geringer würde der Vorzug, welchen das Christen- thum in der Erziehung des Menschengeschlechts erhält, wenn wir an- zunehmen hätten, Lessing habe um die gleiche Zeit das Fragment: „Ueber die Elpistiker“ geschrieben, wo es heisst?®), dass ohne den Glauben an ein künftiges Leben mit Belohnung und Strafe keine Re- ligion bestehen könne und derselbe auch den Heiden nicht gefehlt habe; die altjüdische Religion wird hiermit implicite für so gut als keine erklärt, während ein Vorzug der christlichen Unsterblichkeit vor der heidnischen mittelst des $ 61 der Erziehung des Menschenge- schlechts aufrecht erhalten werden kann: „Eine innere Reinigkeit des Herzens in Hinsicht auf ein anderes Leben zu empfehlen, war ihm (Christus) allein vorbebalten.* Man erinnere sich ferner an die zwei nachgelassenen Fragmente 30), wovon das eine überschrieben ist: „Wo- mit sich die geoffenbarte Religion am meisten weiss, macht sie mir gerade am verdächtigsten“, nämlich dass sie „uns allein die völlig ungezweifelte Versicherung von der Unsterblichkeit der Seele gewähre“, und das zweite: „Dass man die Menschen ebenso von der Begierde, ihr Schicksal in jenem Leben zu wissen, abhalten solle, als man ihnen abräth, zu forschen, was ihr Schicksal in diesem Leben sei“. „Mit 25) 88 96 und 97. 20) 8 85. 27) 8 80. 8) Hamburgische Dramaturgie, 1. Stück, VII, 10. 22) XI, 63. 80) XI, 611 £. — 2% — den Bekümmerungen um ein künftiges Leben verlieren Thoren das gegenwärtige. Warum kann man ein künftiges Leben nicht ebenso ruhig abwarten, als einen künftigen Tag?“ (Eine charakteristische Er- weiterung des Ausspruchs Christi: Sorget nicht für den kommenden Tag! Lessing setzt hinzu: geschweige für ein kommendes Leben!) „Dieser Grund gegen die Astrologie ist ein Grund gegen alle geoffen- barte Religion.“ Was wird nun aus dem „ersten zuverlässigen prak- tischen Lehrer der Unsterblichkeit der Seele“, als welchen die Er- ziehung des Menschengeschlechts Christum bezeichnet, und aus dem Vorzug der christlichen Religion vor der jüdischen, selbst wenn wir die zuletzt angeführten Stellen nicht als gültigen Commentar unserer Schrift betrachten, sondern bei dem stehen bleiben, was wir in dieser selbst gefunden haben? Wir sagen nicht, dass er ganz verschwinde, jener Vorzug. Da Lessing eine Unsterblichkeit angenommen hat, wenn gleich eine andere als die christliche mit ihrem Gegensatz von Diess- seits und Jenseits, von Himmel und Hölle, so hat er gewiss in jener Lehre einen Vorzug des Christenthums vor dem Judenthum gesehen. Die Frage ist jedoch, ob diese relative Höherstellung des Ersteren mit der Gleichstellung in Nathan unvereinbar sei. Diess liesse sich nur behaupten, wenn die eine in derselben Hinsicht geschähe, wie die andere. Aber die Erziehung des Menschengeschlechts, indem sie das Christenthum dem Judenthum überordnet, vergleicht diese beiden Religionen nur eben mit einander; der Nathan, indem er beide ein- ander nebenordnet, tlut diess, sie mit der vollendeten Religion ver- gleichend, und gegenüber dieser werden beide ja auch in der ersteren Schrift auf Eine Stufe gestell. Man kann also nur noch fragen, warum jener Vorzug des Christenthums im Nathan nicht erwähnt werde. Die Antwort ist: weil hier nun einmal, entsprechend den angedeuteten verschiedenen Zwecken der beiden Schriften, der Unterschied der po- sitiven Religionen nicht sowohl von einander, als vielmehr von der vernünftigen Religion dargestellt werden sollte. Man pflegt den Nathan indifferentistisch zu nennen; wenn diess mit Recht geschieht, so muss die Benennung auch auf die Erziehung des Menschengeschlechts ausge- dehnt werden; in Wahrheit passt sie auch auf den Nathan nicht, da die- ser den Unterschied der positiven Religionen von einander nur darum so entschieden zurücktreten lässt, um denjenigen zwischen ihnen allen und der ächten Religion desto stärker zu betonen, im Uebrigen aber weder deren geschichtlich-pädagogische Bedeutung überhaupt, noch die Ver- schiedenheit der einzelnen Religionen in dieser Hinsicht verkennt. u GE: Wenn das indifferentistisch ist, so muss es auch so heissen, dass der Apostel Paulus Juden und Heiden gegenüber dem Christentbum we- sentlich gleichsetzt. Aber freilich das Christenthum ist selbst wieder eine positive Religion, und das neue, ewige Evangelium ist keine, und so mag immerhin Lessing im Vergleich mit dem Apostel ein In- differentist genannt werden. Man sagt jedoch häufig, das Christenthum sei im Nathan dem Judenthum nicht bloss nieht gleich-, sondern sogar hintangestellt, weil nämlich der Jude ein so viel besserer Mann ist, als die Christen. Diese stehen entschieden auch unter Saladın und seiner Schwester, das Christenthum scheint also auch gegen den Islam zurückgesetzt. Allein die Rangordnung der Personen ist nicht zugleich eine Rangordnung ihrer Religionen. Sie erklärt sich — und zwar vorerst die gemeinsame Höherstellung der jüdischen und der türkischen Personen über die christlichen — theils daraus, „dass Juden und Muselmänner damals die einzigen Gelehrten waren“ ?!) (was freilich für die damaligen christ- lichen Theologen kein Compliment ist), theils, wie Lessing am gleichen Ort andeutet, aus der Bestimmung des Stücks für ein christliches Publi- eum, dessen Vorurtheile gegerf die Menschen anderer Religionen zu bekämpfen es galt, theils wohl aus der Erwägung, dass das Chri- stenthum, je höher es unter den positiven Religionen steht, desto mehr dazu versucht sei und desto mehr also auch der Warnung davor bedürfe, sich desshalb für die absolute Religion zu halten. Schwarz ®?) behauptet, „in der That liege gerade dieser paradoxen Gegenüber- stellung von Christ und Jude oder Christ und Muselmann die still- schweigende Voraussetzung zum Grunde, das Christenthum als solches müsse auch eine reinere Sittlichkeit herausgestalten und bleibe nur dann hinter Islam und Judenthum zurück, wenn es nicht zu seinem Rechte komme, wenn es nicht ein lebendiges und praktisches, sondern ein dogmatisches Christenthum sei“ u. s. w. Aber hiernach sollte man erwarten, dass die ideale Hauptperson doch dem Christenthum ange- höre; und offenbar begeht Schwarz die Verwechslung, gegen welche der Nathan gerichtet ist, die Verwechslung einer positiven Religion mit der absoluten, selber, wenn er die Unterscheidung zwischen einer lebendigen, praktischen, und einer dogmatischen Religiosität nur dem Christenthum und nicht den beiden andern Religionen zu gut kommen lässt. Bleibt der Muhamedaner oder Jude auf dem Standpunkt der *) Vorrede zu Nathan XI, 535 £ =) A. a O.S. 217 £. — 28 — dogmatischen Religiosität stehen, so kommt er dem Christen in keiner Hinsicht voran; erhebt er sich dagegen zu lebendiger, praktischer Re- ligiosität, so ist seine Religion eine ebenso vollkommene, seine Sitt- lichkeit eine ebenso reine, ja gänzlich die gleiche, wie die des leben- dig-, praktisch-religiösen Christen, und unbedingt vollkommner als die des bloss dogmatisch religiösen. Versteht man unter dem „Christenthum als solchem“ sein Ideal, so ist dieses genau dasselbe, wie das des Islams und des Judenthums;; versteht man darunter das positive, eigent- liche Christenthum, so gesteht Lessing demselben zwar eine reinere, als jenen (ausdrücklich wenigstens als dem Judenthum), aber nicht die reine Sittlichkeit selber als Eigenthum zu. Dass ferner ein Jude und nicht ein Türke zur Hauptperson gemacht ist, erklärt sich theils gleichfalls aus der Rücksicht auf das nächste Publicum, da unter den christlichen Vorurtheilen mehr die Juden als die Türken zu leiden hatten, theils daraus, dass Lessing die Erhebung über die positive Religion zur vernünftigen in gewisser Hinsicht für einen Juden am leichtesten finden mochte, ohne darum dessen Religion als solche über die beiden an- deren setzen zu wollen, — nämlich desshalb, weil sie sich in einer niedrigeren Weltstellung, als die letzteren, befand und ebendamit auch geringerer Verderbniss, geringerer Gefahr eines Missbrauchs zu welt- lichen Zwecken ausgesetzt war. Dass diese Rücksicht für Lessing viel wog, beweisen die Figuren des Patriarchen und des Klosterbruders. Rötscher 33) meint umgekehrt, Lessing habe darum einen Juden ge- wählt, weil einem solchen die fragliche Erhebung am schwersten habe werden müssen; die jüdische Religion sei dem universellen, rein mensch- lichen Prineip am exelusivsten entgegengetreten; ein Jude habe mit- hin, nm zu diesem hindurchzudringen, den stärksten Feind zu über- winden gehabt; der Sieg jenes Princips erscheine daher in einem Juden am glänzendsten. Zur Bestätigung dieser Ansicht liesse sich allenfalls die Aeusserung des Templers anführen : Kennt Ihr auch das Volk, Das diese Menschenmäckelei zuerst Getrieben? Wisst Ihr, Nathan, welches Volk Zuerst das auserwählte Volk sich nannte? Doch kommt hier wohl weniger darauf an, wer angefangen, als wer’s am weitesten getrieben hat, und nirgends gibt Lessing zu ver- stehen, dass er den Gegensatz zwischen Juden und Heiden exclusiver finde, als den zwischen Gläubigen und Ungläubigen, Seligen und Ver- #3) Cyklus dramatischer Charaktere, B. I (1844), S. 207 fi. = ME dammten. Je grössere Güter eine Religion verspricht, desto grösser muss in ihr auch der Abstand erscheinen zwischen denen, die dieser Güter theilhaft werden, und denen, die es nicht werden. Ueber die Sitten und das Recht der Bogos. Von Werner Munzinger. Win- terthur (Verlag von J. Wurster u. Comp.) 1859. Wenn auch die vergleichende Rechtsgeschichte, welche die Ent- wicklung des Rechts bei den verschiedenen Völkern nach den Grün- den der Gleichheit und Ungleichheit aufweisen soll, noch unendlich weit von dem Ziele entfernt ist, welches hier möglicher Weise erreicht werden kann, so lockt es doch den Rechtshistoriker von Zeit zu Zeit das Gebiet der Vergleichung zu betreten und es hat einen besondern Reiz, das Rechtsleben und die Rechtssitten örtlich weit geschiedener Völker, bei denen weder an Uebertragung hinsichtlich des Gleichen, noch auch an gemeinsame Abstammung oder Verwandtschaft zu den- ken ist, in den Vergleich zu ziehen. Bodenstedt hat über die Rechtssitten der kaukasischen Völker Mittheilungen gemacht, die manche merkwürdige Uebereinstimmung mit denen unsrer germanischen Vor- fahren zeigen. Dabei könnte man noch die „kaukasische Race* gel- tend machen; aber bei den schwarzbraunen Bogos an der Grenze Abyssiniens hört die Denkbarbeit einer jeden Verbindung mit den germanischen Volksstämmen auf und doch erinnern die in der vorlie- genden interessanten Schrift gegebenen Züge aus dem Rechtsleben der Bogos, bei denen der Verfasser seit mehreren Jahren verweilte, viel- fach an altgermanische Rechtssitten. Das Recht ist unmittelbares Erzeugniss des Volkslebens; es wird als Sitte fortgepflanzt. Bei schwach entwickelter Staatsidee gehen die Familie und das Geschlecht nicht auf im Staate; ihre Gestaltung im Innern und die Verhältnisse der zusammengehörigen Familien und Ge- schlechter zu einander ergeben das Privat- und öffentliche Recht. Das Volk der Rogos ist eine patriarchalisch regierte Aristokratie; die Ga- rantie des Rechts ist der Familienzusammenhang. Das ganze Volk der Bogos sieht sich an als Kreis gleichberechtigter Brüder; in den Geschlechtern und Familien beginnt die patriarchalische Aristokratie. Vater, Söhne und Brüder bilden die (engere) Familie, deren natür- liches Haupt und Richter der Vater oder der Aelteste ist. Wenn wegen Todschlag die Blutrache eintritt, wird der Vater, der Sohn und der Bruder des Todschlägers als identisch mit diesem angesehen. Die grössere Familie, das Geschlecht, geht bis zum siebenten Grade. — 30 — Die Geschlechtsgenossen haben unter einander Rechts- und Blutsver- antwortlichkeit. Die Blutrache ist ihre Pflicht und sie sind verbunden, sich bei der Blutsühne mit Zahlung gegenseitig zu helfen. Bei Hei- ratsverträgen sind sie an dem Vermögensaustausch, der dabei statt- findet, betheiligt. Wie der Vater oder der Erstgeborne das Haupt der Familie ist, so „wird als Haupt eines ganzen Stammes die grade Linie vom Erstgebornen zum Erstgebornen betrachtet.“ Der Erstge- borne einer weiteren Familie heisst Sim und gilt als geheiligt und unverletzlich. Stirbt der Sim, so bittet das Land seinen Erstgebornen ihm nachzufolgen. Der höchste Ausdruck des Familiengeistes ist die Blutrache. Die Familie eines Getödteten hat die Freiheit, ihr Blut mit Blut zu rächen, d. h. ein Glied der Blutsverwandtschaft des Todschlägers zu tödten; zieht sie aber den Frieden vor, so wird ihr von einem Vermittler der gesetzliche Blutpreis zuerkannt und damit das Blut ausgelöscht. Die väterliche Gewalt erlischt für die Söhne bei ihrer Grossjäh- rigkeit oder mit ihrer Verheiratung. Die Töchter gehören vom Tage ihrer Verlobung halb dem Vater, halb der Familie ihres Verlobten an. Wenn daher der Vater, der das Recht hat, seine unmündigen Kinder zu tödten und zu verkaufen, dieses Recht an seiner verlobten Tochter ausübt, so ist er dem Hause des Verlobten eine halbe Blut- rechenschaft schuldig und im Falle sie von einem Fremden getödtet oder geraubt wird, theilen sich die beiden Familien in den erlangten Blutpreis. — Der Vater hat die Nutzniessung der Arbeit seiner Kin- der und ist, oder nach seinem Tode der Erstgeborne, der natürliche Vormund der unmündigen oder unverheiratheten Kinder. Eine testamentarische Erbfolge kennen die Bogos nicht. Jeder freie Mann hat aber das Recht bei Lebzeiten über sein Vermögen zu verfügen und davon zu vergaben; hat er aber grossjährige Söhne, so können sie ihn hindern, das Grundvermögen, d. h. die weissen Kühe anzutasten. Die Vollziehung der von dem sterbenden Vater gemach- ten Willensäusserungen hängt lediglich von der Pietät des Erstgebor- nen ab. Deswegen ist die Person, die vor ihrem Tode einen der Söhne oder seine Frau besonders bedenken will, genöthigt, die all- fälligen Legate schon zu seinen Lebzeiten an den Bedachten heraus- zugeben und deren Wahrung einem eigens dazu ernannten Schutzherrn anzuempfehlen. Einmal natürlich todt, ist er auch rechtlich todt. — Das Haus und die Erbschaft bleiben während des Trauerjahrs unge- erbt und ungetheilt. Die hinterlassene Wittwe bleibt in dem Hause — 501 — und geniesst aller ihrer Hausrechte, wie zu Lebzeiten ihres Mannes. Nach Ablauf des Trauerjahrs tritt der erstgeborne Sohn als Haupt der Familie auf und ist bei der Theilung der Erbschaft sehr begünstigt. Das leere Haus gehört aber von Rechtswegen dem jüngsten Sohne. An bekannte Förmlichkeiten beim Anevang des deutschen Rechts erinnert es, dass bei den Bogos ein Verfahren, wenn jemand entwer- tes Vieh anspricht, Gerr genannt wird, welcher Name daher kommt, dass der Eigenthümer, der seine Kuh findet, ihre Hörner ergreift. Ueberraschend ist es in dem Bussenrecht der Bogos nacheinander die Fälle aufgeführt zu sehen, 1) wo jemand eine Person mit einem Eisen (Beil, Schwert, Lanze) verwundet, so dass Blut fliesst (Blut- runs), ohne den Tod des Verwundeten zur Folge zu haben; 2) wo jemand einer Person einen Zahn oder ein Auge ausschlägt oder Kno- chen zerbricht, mit welcher Waffe es sei. Es finden sich manche der- artige Anklänge an germanisches Recht auch in anderen Rechtstheilen und wer für die Rechtsgeschichte Interesse hat, wird dieses Buch mit demselben Vergnügen lesen, wie derjenige, welcher in dem Ethnogra- phischen dessen Hauptwerth sieht. E. O. Sitzung des wissenschaftlichen Vereins am 14. März 1859. Vortrag des Hrn. Privatdocenten H. von Marschall: „Beiträge zur Beurthei- lung der Preisschwankungen im letzten Decennium.“ In der Geschichte der Preise spiegele sich ein namhafter Theil von Volks- wohl und Volkswehe wieder. Der Kulturhistoriker und speciell der National- ökonom und Statistiker habe derselben daher eine grössere Aufmerksamkeit zu schenken, als es in den früheren Geschichtsperioden der Fall war. Die Geschichtschreiber früherer Jahrhunderte und Perioden hätten sich ge- wöhnlich begnügt, nur sogenannte Theurungen der Lebensmittel mit deren Ge- folge von Hungersnoth und Krankheiten oder politischen Aufständen und ausser- dem höchstens noch einzelne Züge auffallender Billigkeit zu notiren. Mache es doch das grosse Publikum unserer Tage noch ebenso, indem es nur bei plötz- lichem oder ausserordentlichem Steigen des Brodes und Fleisches, des Kafe’s und des Zuckers der Erscheinung Aufmerksamkeit schenke. Selbst erschütternde Handelskrisen hätten nach kurzen Zeiträumen das Interesse für das grosse Pub- likum verloren. Um so wichtiger erscheine die Aufgabe der allgemeinen Kulturwissenschaft jene zerstreuten Züge zu sammeln, jene Erscheinungen zu erklären und zu berichtigen. Das für jeden Handelsabschluss, also auch für Bestimmung der Preise, wichtigste Moment sei stets die Bereitwilligkeit des Besitzers eines Sachgutes, — 302 — dieses gegen andere Objecte zu vertauschen, welche man, wenn sie in Geld ausgedrückt werden, den Preis und dann die Operation Verkauf nenne. Nicht die körperliche Bewegung einer Sache durch Uebergabe, Transport etc., sondern das Ausgebot eines Waarenquantums, gewissermassen dessen Bewegung im Geiste der Contrahenten, bilde das Wesentliche des Güterumlaufes.. Dem ausgebotenen Quantum stehe ein Quantum der Nachfrage gegenüber. Die Diffe- renz der Quantitäten, sowie der Stärke von Ausgebot und Begehr sei der Spiel- raum, in welchem das Zünglein 'sich bewege, das die grosse Weltwaage der Waarenpreise heben oder sinken mache. Sowohl beim Feilbieten als bei der Nachfrage könne es sich um etwas han- deln, das nicht unmittelbar, sondern erst in einer gegebenen späteren Zeit zur Verfügung oder zum Bedarf komme. Diess bilde die Speeulations-Verkäufe oder Käufe, welche letztere entweder zur Aufspeicherung oder auf Lieferung gemacht würden. Daher sänken die Preise, z. B. der Lebensmittel, bei einer noch im-Felde stehenden reichen Ernte oder sie stiegen gewöhnlich bei grossen in’s Feld ziehenden Truppenmassen, für deren Consumtion die Speculanten im Voraus Ankäufe machten. Hieraus entstehe der dritte wichtige, den Kaufleuten wohlbekannte, in den Lehr- und Handbüchern, weil schwer fassbare, kaum an- gedeutete Factor, die Meinung. Sie entstehe oft plötzlich, aber nie aus blos- ser Laune. Eine Waare befinde sich nur dann im wirklichen Umlaufe, wenn sie zum marktgängigen Preise, zum wirklichen Curse feil sei. Ihr Regulator sei die Concurrenz, welche ebensowohl auf Seiten der Käufer als der Verkäufer ein- treten könne. Betreffe ein solcher Wettbewerb der Käufer den Bedarf unentbehr- licher Lebensmittel, gegenüber einem für die Consumtion ungenügenden Vorrath, so entständen Nothpreise, Theurung. Von derselben könne bei entbehrlichen Gegenständen nicht die Rede sein, weil, wenn solche zu hoch stiegen, ein gros- ser Theil der Begehrer den Wunsch sie zu besitzen, lieber unterdrücke, als noch mehr dafür ausgebe. Die Regelmässigkeit und Schnelligkeit des heutigen Transportes schütze uns vor Hungersnoth. Die Kosten des Transportes erhöheten aber auch die Preise für das Inlandsproduct, weil solches so lange ein Monopol geniesse, bis es so hoch gestiegen, dass dieser Preis nicht nur den Ankauf, sondern auch die Fracht und Spesen der ausländischen Frucht decke. Hohe Preise seien daher nicht der Grund des Mangels, sondern der Schutz gegen denselben. Trotz der Einschränkung im Verbrauche bei sehr hohen Preisen, als eines der wichtigsten Mittel gegen Abwendung von Hungersnoth, bleibe sich der Be- darf an Lebensmitteln bei einer Nation ziemlich gleich. Denn auch bei der grössten Fülle derselben könne Niemand viel mehr thun, als sich satt essen, und Niemand viel weniger, als sich ebenfalls satt essen. Daraus folge die ausser- ordentliche Preissteigerung bei einem Erntedeficit und der ebenso plötzliche und bedeutende Fall beim Zusammentreffen mehrerer guten Erndten. Dieser schnelle Wechsel von Theurung und Wohlfeilheit sei stets von bedeutenden Störungen des wirthschaftlichen Gleichgewichts begleitet. Denn Theurung der Nahrungs- mittel beraube die meisten Menschen der Mittel grösserer Verwendungen zur An- schaffung von Kleidung, Hausraths- und Luxus-Gegenständen. Diess habe also einen nachtheiligen Einfluss auf den Absatz und mithin auch auf Preise von wer D — 303 — Webstoffen, vielen Handwerks- und ebenso von Kolonial-Waaren — den Luxus- ausgaben der handarbeitenden Classen. Hier sei auch noch auf die ausserordentliche Vermehrung des Gol- des durch die seit zehn Jahren aus Californien und Australien strömenden Schätze und auf die Vermehrung der papiernen Stellvertreter des baaren Geldes, des Kreditgeldes im weitesten Sinne des Wortes, hinzuweisen, die Erfah- zungen über deren Einfluss auf die Preise seien aber noch nicht zum wissen- schaftlichen Abschluss reif. In runder Summe könne man die Vermehrung von ungedecktem Papier- und Banknotenbetrag auf zweitausend Millionen Franken in zehn Jahren bis Ende 1857 berechnen. Die Circulation des baaren Geldes in Europa und Amerika habe sich aber von 1849 bis 1858 von circa 14 Milliarden auf 18 bis 20 Milliarden Fr. — jährlich um 500 bis 580 Millionen Fr. — vermehrt. Mithin habe der Umlauf von Tauschmitteln sich bei Papiergeld verdoppelt, bei Baargeld um dreissig bis vierzig Procent in zehn Jahren vermehrt. Das Papiergeld zirkulire aber zum fast ausschliesslichen Theile in den einzelnen Ländern, wo es emittirt sei, und das Baargeld werde im Welthandel nur zur Ausgleichung der Differenzen — der Bilanz — verwendet, der regelmässige Verkehr von Land zu Land, von Welttheil zu Welttheil aber durch das kaufmännische Papiergeld, die Wechsel, vermittelt. Die Sendungen von Gold aus Amerika und Australien nach Europa seien jetzt Verschiffungen eines Landesproductes gleich Baumwolle, Tabak, Ge- treide etc. Sie hätten in Europa grosse Mengen Silbers überflüssig gemacht, und dieses wandere nun nach Indien und China, im Betrage von durchschnittlich 250 Millionen Franken für die seit zehn Jahren ausserordentlich gestiegene Aus- fuhr indischer und chinesischer Producte, hauptsächlich Thee und Seide. Die ‚Strömung der Edelmetalle sei also eine doppelte, einmal des Goldes von Amerika und Australien nach Europa und sodann des Silbers nach Ostasien. Die Cir- culationsvermehrung habe daher lediglich in Gold, in Silber dagegen eine we- sentliche Verminderung stattgefunden. Für einmal habe dem Golde noch die französische Münzumwandelung den Curs gesichert, da aber seine Production schon jetzt diejenige des Silbers übertreffe, so seien neue Schwankungen im Preise aller Sachen und Dienste unausbleiblich. Wie die Goldminen sich wirklich un- erschöpflich erwiesen hätten, so glaube man an ein dadurch geschaffenes, eben- falls unerschöpfliches Eldorado des Handels- und Unternehmungsgeistes. In wenig Jahren sei das Netz der nordamerikanischen Eisenbahnen von 10,000 auf 30,000 englische Meilen vermehrt worden, seien 60,000,000 Juchart bisher unbebautes Land in Kultur gesetzt worden. Europa habe Kapitalien und Einwanderer ge- liefert. England habe 400 Millionen Dollars, Deutschland und die Schweiz ‘200 bis 300 Millionen Dollars in amerikanischen Eisenbahnen-. Stadt- und Staa- tenpapieren angelegt. Die Hälfte davon werde nimmer wieder über den grossen Bach zurückschwimmen. Den Impuls zum grossen Exodus nach Amerika habe die Theurung von 1847/48 besonders für Irland und 1849 für Deutschland die Unterdrückung der Freiheitsverheissungen von 1848 gegeben. Durchgehends werde jetzt mehr gearbeitet, als vor zwölf Jahren und was die Hauptsache sei, mit Hilfe der Verbesserung von Maschinen, Werkzeugen und Transportmitieln wirksamer gearbeitet. Es werde mithin mehr pro- — 304 — ducirt und dadurch vergrössere sich auch die Kapitalansammlung in weit stär- kerer Progression als früher. Die Materialien zu den Fabricaten, wie z. B. Eisen, Baumwolle und Seide, seien um 50 bis 100 Procent gestiegen. Fast gleichen Schritt habe die Ver- mehrung der Arbeitslöhne gehalten. Die Folge wäre weit stärkere Consumtion von Lebensmitteln und in Folge derselben Steigerung ihres Preises. "Thatsache sei, dass trotz der Steigerung des Preises von Broü, Kartoffeln und Fleisch nir- gends, wo die Industrie heimisch sei, über Noth Klage geführt werde. Den grössten Welthandelsartikel nach Getreide bilde Baumwolle mit einem Erzeugniss von gegenwärtig circa 1890 Millionen Pfund oder 4,500,000 Ballen im Durchschnittsgewicht von 420 Pfund, wozu die Vereinigten Staaten allein 3'/, Millionen Ballen lieferten. Die Entwieklung der Baumwoll-Erzeugung, ihrer Verarbeitung und des Ver- brauchs der Baumwollgewebe nehme unstreitig in der Industrie und Handels- geschichte der Neuzeit die hervorragendste Stellung ein. Sie bilde für Amerika den bei weitem wichtigsten Ausfuhrartikel, indem die Versendung roher Baum- wolle ihm einen Werth von eirca 650 Millionen einbringe. Im Jahr 1784 seien die ersten acht Ballen amerikanischer Baumwolle versandt worden. Eine höchst wichtige und besonders für den Wohlstand unseres Kantons von 1849 bis 1855 bedeutungsvolle Entwicklung finde in der Preisbewegung der Seide statt. Eine ähnliche Steigerung haben die Eisenpreise erfahren und es wurden für diese drei Hauptstoffe der Industrieproduction, sowie für Getreide, vom Vortragenden Preistabellen, sowie graphische Darstellungen der Preisschwan- kungen in den letzten zehn Jahren beigebracht und erläutert. Zwischen den politischen und commerziellen Conjuncturen, sowie dem jähr- lichen Steigen und Fallen hindurch spiele unleugbar die obenerwähnte Verän- derung des Geldwerthes eine bedeutende Rolle. Ihre Entwicklung sei aber eine allmälige, weil es sich nicht um Jahresernten, sondern um die Vermehrung des gesammten, seit Jahrtausenden aufgesparten Münz- und Metallvorrathes handle. An der Discussion über diesen Vortrag betheiligten sich die Herrm Profes- soren G. v. Wyss, Rüttimann, Clausius und Hillebrand. ‘ ba . 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Nor smaH. sth. data ergikisıad Be asbih ser Hnlaanseil.ıeh ER dee en bmerdstifH ben wieda) yusemit ur “ NH Baur Way. 9198 f ni h „ e er . 4 ? “; ” un } ) . nie x P > \ y “ y I , + DR 2 a ; R" #, J FL > 1 ° AN x 3 N Verlag von MEYER & ZELLER in Zürich. Bruch, Dr. C. Untersuchungen zur Kenntniss des körnigen Pigments der Wirbelthiere in physiologischer und pathologischer Hinsicht. Mit 2 Tafeln. Preis 261/, Ngr. — fl. 1. 30 kr. — Fr. 3. 25. Bünter, Dr. H. Ueber Wirbeltuberkulose in einer bisher noch nicht beachteten Form, und über den Krebs der Wirbelsäule. Preis 123/, Ngr. — 45 kr. — Fr. 1. 60 Cts. FAHRNER, J. ©. De Globulorum Sanguinis in Mammalium embryonibus atque adultis origine. Cum. 1. Tab. 15 Ngr. — 54 kr. — Fr. 1.95. Ots. Frey, Prof. Dr. Die Tineen und Pterophoren der Schweiz. Preis Rthlr. 2. 12 Ngr. — fl. 4. — Fr. 8. — — Das Bunanhete thierische Leben. Mit 1 Tafel. Preis 20 Ngr. — fl. 1.8 kr. — Fr. 2. HENLE, J. und A. KörLuıger. 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Der als gelehrter Philolog und praktischer Schulmann rühmlichst bekannte Herr Prof. Köchly hat sich mit "einem vielseitig durchgebildeten Offizier ver- einigt, um durch diese „Geschichte des griechischen Kriegswesens“ eine bisher fast ganz vernachlässigte Seite der Alterthumswissenschaft gründlich aufzuklären. Aber nicht allein der eigentlich Gelehrte wird in derselben neue und überra- schende Aufschlüsse finden: das Buch ist ganz besonders auch Schulmännern zu empfehlen, welche bei der Lection der Classiker und dem Vortrage der alten Geschichte ein wirkliches und lebendiges Sachverständniss, und eben dadurch Lust und Liebe zur Sache bei ihren Schülern fördern wollen. Die sorgfältig gewählten und sauber ausgeführten Abbildungen machen es auch demjenigen, welcher wenig oder Nichts vom Kriegswesen versteht, möglich, sich und seine Schüler leicht und richtig zu orientiren. Wir behaupten nicht zu viel, wenn wir sagen: das Buch ist ein unentbehrliches Hülfsmittel zum Sachverständniss des Herodot, Thucydides, Xenophon und Arrian, und insofern ein nothwendiges Supplement aller Ausgaben dieser .Schulschriftsteller. i Monatssehrift des ZÜRICH. Herausgegeben von dem Redactionsausschuss desselben : FeErDINAnD Hırzıs, EDUARD ÖSENBRÜGGEN, HEINRICH FrEy, ADpoLF ScHumipt, HEINRICH SCHWEIZER. ® (Hauptred.: Epvarp OsENBRüssEn.) 90 FIBBIBZRB JAEBSATE: Zehntes bis stwälftes Heft ZÜRICH, VERLAG vox MEYER & ZELLER. 1859. u 2 Preis für den Jahrgang 2 Thir. 20 Ngr. - 9 Fr. Die unsichern Zeitverhältnisse, welche sehr fühlbar auf den Verlagsbuchhandel einwirken, machen ein vorläufiges Einstellen der Monatsschrift nothwendig; der wissenschaftliche Verein wird es aber nicht unterlassen, in anderer Form Arbeiten seiner Mitglieder und. Berichte über die Thätigkeit des Vereins zu veröffentlichen. Die Redaktion. Neurophysiologische Forschungen. Von Dr. E. HARLESS, Professor in München. Vor wenigen Decennien hatte man noch keine Ahnung davon, dass man das mysteriöse Gebiet der Nerventhätigkeit mit Messinstru- menten' betreten könne, um die dichten Nebelmassen zu durchdringen, welche als vage Vermuthungen, von dem gleissnerischen Licht natur- philosophischer Erklärungsversuche beleuchtet, über ihm lagen. J. Mül- ler wagte zuerst von einer „Physik der Nerven“ zu sprechen und seinem Impuls ist der Muth und die erfolgreiche Ausdauer zu danken, welche von jener Zeit an viele Forscher an die Lösung der grossen Aufgabe setzten. Immer noch steht sie uns als ein höchst verwickeltes Problem gegenüber, und Keiner mag sich rühmen mehr als das eine oder an- dere Bruchstück davon dem Verständniss näher gelegt zu haben. Der Gang der Naturforschung im Ganzen und Grossen hat ge- zeigt, dass sich für den Blick die Verhältnisse um so einfacher ge- stalten, je tiefer er in die Erscheinungen der natürlichen Vorgänge eindrang. Die Verwicklungen, welche gegenwärtig noch die Thätig- keit der Nerven der Forschung darbietet, lassen erkennen, dass wir von dem letzten Ziel noch weit entfernt sind. Nachdem ich mich eine Reihe von Jahren fast ausschliesslich mit einigen speziellen Aufgaben der Nervenphysiologie beschäftigt habe, will ich versuchen, die dabei gewonnenen Resultate in möglichst ein- facher Gestalt den Lesern vorzuführen. Ich muss voraussetzen, dass nicht alle von ihnen so weit in die anatomischen Details und in die physiologische Terminologie eingeweiht sind, um sogleich in medias res einzutreten. Man gestatte mir daher zuerst den Schauplatz und die Hülfsmittel der Forschung mit flüchtigen Zügen zu skizziren. Alle Geschöpfe, welche nach dem gemeinsamen Typus der Wir- belthiere organisirt sind, besitzen ein complieirtes Gefüge von mikro- skopischen Gebilden, durch welche die willkührlichen Bewegungen Wisgenschaftliche Monatsschrift. IV. 20 und das, was wir Empfindung nennen, vermittelt wird, und ohne welches die Aeusserungen geistiger Thätigkeit unmöglich sind. Dieses Gefüge nennen wir Nervensystem, und finden es als Gehirn und Rücken- mark in knöchernen Gehäusen, Schädel und Wirbelcanal, eingeschlos- sen, als Nervenstränge von dort aus sich verzweigend und auf mannig- faltigen Wegen zu den verschiedensten Körpergegenden hingeführt. Die Elemente dieses Systems sind theils amorphe körnige Mas- sen, theils aus Zellen geformte Gebilde und. endlich Fasern, selbst wieder aus chemisch verschiedenen Substanzen zusammengesetzt. Ana- tomisch von einander getrennte Parthien haben ihre besondere Benen- nung gefunden, hängen aber unter einander erwiesener Maassen wenig- stens funetionell zusammen. Nicht in jedem Abschnitt des in soleher Gestalt vereinigten Systems finden sich alle oben bezeichneten Elemente. Zu Gruppen drängen sich da Körnerhaufen und Zellenmassen zusam- men; dort sind es dichtgedrängte Faserzüge, welche sich mit jenen sichtbar vereinigen oder zwischen ihnen hinziehen. Die Spuren ver- alteter Anschauung von dem Verlauf der einzelnen Fasern finden sich in den Bezeichnungen des centralen und peripherischen Nervensystems erhalten. Man dachte sich, jede Faser bilde eine in sich geschlossene Schleife, deren Schenkel einerseits im Gehirn, andererseits an irgend einer davon entfernteren Körperstelle zusammenstiessen. Den ersten Vereinigungspunkt nannte man den centralen, den andern den peri- pherischen, und die ganze Bahn jenseits des Gehirns und Rücken- marks die peripherische. Als man den Begriff eines Centralorganes mehr physiologisch auffasste, bezeichnete man damit allgemein den Ort, an welchem die verschiedenen Nervenelemente in eine functionelle Wechselwirkung mit einander treten. Da man sah, dass diess nur da stattfindet, wo Fasern und Nervenzellen gleichzeitig aufgefunden werden, so konnte man die Centralorgane nicht mehr ausschliesslich in Wirbeleanal und Schädel eingeschlossen denken, weil man gefun- den hatte, dass auch jenseits dieser Hohlräume an den verschiedenen Körperstellen solehe Verknüpfungen von Nervenzellen und Fasern anzu- treffen sind. Das sogenannte Gangliensystem, wie es in den grossen Höhlen des Rumpfes und längs des Halses gefunden wird, besteht aus diesen Elementen und hängt aufs Vielfältigste mit Gehirn und Rückenmark zusammen. Die Ausbreitung des Sehnerven im Augapfel, des Gehörnerven im Ohr kann der ganzen Anordnung nach, sowie unter Berücksichtigung ihrer Entwicklung nur als ein Vorposten des Ge- hirnes mit den Functionen eines Centralorganes aufgefasst werden. EEE — 307 — Die Vermittlung von Empfindung, Bewegung und chemischen Pro- cessen, das sind die allgemeinsten Funcetionen, welche wir den Central- organen zuschreiben; und es lässt sich mit Sicherheit vermuthen, dass die Gruppen, welche der einen oder andern Function vorstehen, durch andere unter einander in Wechselwirkung gesetzt sind. Die Wir- kung eines Centralorganes oder die Wirkung irgend eines äussern Im- pulses von einer entfernteren Körperstelle aus auf das Centralorgan wird durch die Continuität der Nervenfasern vermittelt, welche sich in das Centralorgan einsenken und jenseits desselben verbreiten. Eine bald grössere, bald geringere Anzahl solcher Fasern von einer Scheide umschlossen, bildet die dem freien Auge sichtbare Ner- vensubstanz unserer anatomischen Präparate. Diese Nerven durch ihre Wurzeln in direktem Zusammenhang mit Rückenmark oder Gehirn, verzweigen sich, verbinden sich stellenweise wieder mit benachbarten, um sogenannte Anastomosen zu bilden; allein alles diess geschieht mit Wahrung des isolirten Verlaufes der einzelnen Faser. Diese theilt sich weder, noch verschmilzt sie mit einer anderen längs der ganzen Strecke des Nervenstammes. Erst wenn sie an dem ihr zugehörigen Bezirk angelangt ist, finden sich wenigstens in einigen Organen gabel- förmige Theilungen. Die Verästlungen und netzförmigen Verbindun- gen, welche da und dort an den Nervenzweigen angetroffen werden, hat man sich als conforme Bildungen der hohlen Nervenscheide zu denken, in deren Canälen den einzelnen nicht getheilten Fasern ihr Verlauf angewiesen wird. Innerhalb dieser Scheiden können gleichzeitig functionell ganz ver- schiedene Nervenfasern eingeschlossen zu ihren schliesslichen Bestim- mungsorten hinziehen, und man nennt sie dann gemischte Nerven- stämme. Eine geringere Anzahl enthält nur Fasern von gleichwerthi- ger Function. Am sichersten lassen sich die Wege der empfindenden und Muskeln bewegenden Fasern vor ihrem Eintritt in das Rücken- mark auseinanderhalten; denn dort trennen sie sich so, dass von je- dem gemischten Nervenstamm die eine Classe von Fasern in einem besondern Bündel zusammengefasst als sogenannte vordere Wurzel, die andere Classe in ähnlicher Weise als hintere Wurzel in das Rücken- mark eindringt. Durch die in den vordern Wurzeln enthaltenen Fa- sern wird die Bewegung der Muskeln vermittelt, durch die Fasern in den andern die Empfindung. So entsteht der Begriff der motorischen und sensitiven Wurzeln. Jede einzelne Faser, „Primitivfaser* genannt, stellt selbst wieder — 308 — ein complieirtes Gebilde dar, welches wicht an allen Orten die gleiche Summe der histologisch zu trennenden Elemente enthält. Ein centra- les Gebilde, über dessen Natur gegenwärtig noch differente Ansichten herrschen , wird mit dem Namen Axeneylinder belegt. So wie wir es isolirt darstellen können, erscheint es als ein glasheller, ziemlich resistenter, elastischer, etwas plattgedrückter Faden. Manche Forscher bezweifeln noch, dass er als solcher im Innern. der Faser existire und halten ihn für ein Kunstprodukt durch Gerinnung aus einer an sich flüssigen Masse entstanden, welche den Innenraum der hohlen, Faser erfüllt. Wie dem nun sei: um ihn heram ist eine zähe, aus viel Fett und aus Eiweiss gemischte Masse gelagert, welche den Namen Mark- scheide führt. Die Vereinigung dieser chemischen Bestandtheile ist aber im Leben eine viel innigere, als diess etwa bei einer blossen Emulsion der Fall ist. Es erscheint das Ganze als ein glashelles Rohr, etwa wie eine Glasröhre mit dieken Wandungen. und mit einem stark lichtbrechenden Vermögen. Dieser Bestandtheil fehlt sowohl an den letzten peripherischen Endigungen in den ‚meisten Organen, als auch an den Stellen, an welchen die Faser mit den centralen Nervenzellen in Verbindung tritt. Um dieses Markrohr ist eine äusserst dünnwandige Hülle, „die Nervenscheide“ gelegt, welche aber nicht mit der äussern Nervenscheide oder dem „Neurilem* ‘zu verwechseln ist. Diese fasst eine grössere oder kleinere Menge von Fasern zu Bündeln und Bündelmassen zu- sammen, und bildet, wie oben erwähnt, die verzweigten Canäle, in welchen Fasern und Faserbündel hinziehen. Zugleich bildet sie das stützende Gewebe für die vielfachen Blutgefässe, welche in ihr ein- gebettet den Nervenfasern die ihnen nöthige und stets zu erneuernde Ernährungsflüssigkeit zuführen. Diese anatomische Skizze reicht zum Verständniss des Späteren im Allgemeinen hin. Nun sind einige physiologische Begriffe vorauszuschieken. Einer- seits sind die Centralorgane als Apparate anzusehen, in welchen durch gegenseitige Wechselwirkung und durch Einflüsse, welche ihnen von aussen zugeführt werden, so wie durch chemische von der Ernährung abhängige Vorgänge, theils nur dem Subject wahrnehmbare, theils nach aussen hervortretende Wirkungen erzeugt werden. Davon wie das Erstere geschieht, wodurch es möglich gemacht ist, dass uns der Zustandswechsel unseres Gehirnes bewusst werde, haben wir keine Ahnung. Die Erregung der Centralorgane von aussen her, sowie die = SB = Rückwirkung derselben nach aussen geschieht auf dem Weg der Ner- venfasern. Längs ihrer Bahnen muss ein Impuls sich nach der einen oder andern, oder beiden Seiten hin fortpflanzen, und man nennt diess die „Leitung“. Für sie gilt als oberster Grundsatz, dass sie inner- halb der Bahn je einer Faser isolirt fortschreite, dass sich also jen- seits der Centralorgane kein in der einen Faser erregter Process, wel- ehen man schleehthin die Innervation nennt, auf eine benachbarte über- trage. Man verglich jede einzelne solche Faser mit einem isolirten Leitungsdraht unserer galvanischen Apparate. Die Wirkung nach aussen lässt sich bei Experimenten an Thie- ren allein ausbeuten, und vor Allem die jeder Einmischung des Wil- lens entzogene, durch die Anordnung des Versuches allein erzwungene Muskelverkürzung;; der Zusammenhang des Nerven mit dem Centralorgan, die Strömung des Blutes in den Gefässen des Nerven und des Muskels, die individuellen allgemeinen Zustände des Gesammtorganismus be- stimmen wesentlich die Wirkung irgend eines Impulses, welcher den Nerv trifft, und welchen man „Reiz“ nennt. Wenn unsere Versuche an Nerven gemacht werden, welche getrennt vom Centralorgan und herausgerissen aus dem übrigen Connex der Bedingungen untersucht werden, die auf ihre Leistung und Leistungsfähigkeit innerhalb des unversehrten Organismus wirken, so werden ihre Resultate nur mit Vorsicht und unter der Controlle der am lebenden Thier anzustellen- den Beobachtungen auf die Erscheinungen des Lebenden angewendet werden dürfen. Wenn ferner zu den Versuchen Wirbelthiere niederer Ordnung verwendet werden, wie diess in der Mehrzahl der Fälle nicht zu ver- meiden ist, so können nur die allgemeinsten Schlussfolgerungen dar- aus auf höher stehende Thiere und die menschliche ‘Organisation ge- macht werden und zwar nur dann, wenn die Versuche auf die bei allen wesentlich integrirenden Bestandtheile der Nerven oder auf ihre erwiesener Massen gleiche Function gerichtet sind. Nie aber darf die Controlle direkter Beobachtung auch dabei fehlen. Meine eigenen Versuche sind fast alle an dem isolirten Schenkel- nerven des Frosches gemacht ; doch-sind die wichtigsten Resultate, ehe ihre Allgemeingültigkeit angenommen wurde, auch an dem lebenden Thier geprüft worden; für den Rückschluss auf die Verhältnisse bei dem Menschen sind nur solche Thatsachen benützt worden, deren Analogie sich aus der Natur des untersuchten Objectes unfehlbar vor- aussetzen liess. j — 310 — Am leichtesten hoffe ich den Leser in diese Untersuchungen ein- führen zu können, wenn ich den ersten Entwurf und Ausgangspunkt derselben schildere und ihn so auf den Standpunkt versetze, von wel- chem aus ich selbst mehr und mehr auf dem Gebiet der Messung bestimmter Reize und ihrer Wirkungen weiter geführt worden bin. Ich begann meine Untersuchungen im Herbst 1855. Quantitative Bestimmungen an den Nerven waren zu jener Zeit nur von Helmholtz gemacht worden, welche die Geschwindigkeit ermittelten, mit der sich die an einem Punkt des Nerven hervorgerufene Erregung längs dessen Bahn fortpflanzt. Du Bois-Reymond hatte, so weit diess ein nicht graduirter Multiplicator zulässt, die Intensitäten der von dem Nerv abzuleitenden elektrischen Ströme in seinen verschiedenen Zu- ständen erforscht. In Beziehung auf den galvanischen Grundversuch hatten wir bis dahin keine Methode zur Bestimmung der quantitativen Verhältnisse, welche dabei ins Spiel treten. Man hatte sich begnügt, Stärke und Schwäche des angewendeten Stromes, Stärke und Schwäche der Zuckung, welche der Muskel zeigt, wenn sein Nerv gereizt wird, approximativ zu schätzen. Du Bois’ oberster Grundsatz für die elektrische Strömung lautet: „Nicht von dem absoluten Werth der Stromdichte ist der physiolo- gische Effekt abhängig, sondern von der Geschwindigkeit ihres Wech- sels von einem Moment zum andern.“ Das war der Ausgangspunkt auch für meine grosse Versuchsreihe. Eine Maassbestimmung der Reizbarkeit verlangt die Kenntniss der Quantität des Reizes und der Quantität des bewirkten Effektes. Ich habe hier nur noch daran zu erinnern, was man unter Stromdichte versteht. An der Berührungs- stelle einer galvanischen Combination , also beispielsweise zweier he- terogener Metalle entwickelt sich die Elektrieität, welche man sich unter dem Bild eines strömenden Fluidums vorstellt, wenn ein galva- nisches Element, wie etwa ein Grove’scher oder Bunsen’scher Becher zur Kette geschlossen ist, d. h. wenn seine beiden Metalle unter sich durch einen elektrischen Leiter verbunden sind. Die Metalle bilden die Pole und von jedem fliesst durch den Leiter und durch die Flüs- sigkeit des Bechers zum andern ein Strom. Man spricht aber in ‚der Regel nur von dem einen, nehmlich von dem, welcher vom positiven Pol ausgeht und benennt nach ihm die Richtung des Stromes. An der Contactstelle der elektrischen Erreger wird fort und fort eine be- stimmte Quantität elektrischen Fluidums frei und ertsprechend der Natur der heterogenen Körper, d. h. entsprechend ihrer gegenseitigen — 311 — Entfernung, in welcher sie in der sogenannten Spannungsreihe stehen, wird dieses Fluidum mit einer bestimmten Kraft dem andern Pol zu- getrieben. Dieser Kraft, welche dem Druck einer Wassersäule von bestimmter Höhe verglichen werden kann, arbeiten an allen Stellen des in sich geschlossenen Kreises der Strombahn die Widerstände entgegen, welche aus den Dimensionen und den inneren Beschaffen- heiten der Strombahn entspringen. Das Resultat dieser gegen ein- ander wirkenden Kräfte bestimmt das Mass der „Stromstärke.“ Jene Triebkraft nennen wir die elektromotorische Kraft, und die Wi- derstände theilt man in diejenigen, welche sich innerhalb der galva- nischen Kette, also im Becher, geltend machen, und in die, welche auf der Bahn des übrigen Schliessungsbogens ausserhalb des Bechers herrschen. Die Stromstärke lässt sich also immer durch das Verhält- niss von elektromotorischer Kraft zu der Summe der ihr entgegenge- stellten Widerstände ausdrücken. Weiter hat man sich vorzustellen, dass auf der ganzen Strom- bahn in jedem einzelnen Augenblick die gleiche Quantität Electrieität durch jeden ihrer Querschnitte strömt. Demgemäss ist dieses Fluidum mehr zusammengedrängt, wo die Bahn eng, der Querschnitt also klein ist, weniger dagegen, wo das Umgekehrte stattfindet. Daraus ergibt sich der Begriff der „Stromdichte.* Es leuchtet ein, dass die- selbe wieder von dem Verhältniss zweier Grössen zu einander abhän- gig sein muss, nehmlich von dem Verhältniss der Stromstärke zu dem Querschnitt an dem Ort des ganzen Schliessungsbogens, für welchen man die Stromdichte kennen will. Alle diese Grössen lassen sich in jedem einzelnen Fall ohne grosse Schwierigkeit ermitteln und auf eine bestimmte Einheit redueiren. Doch ist mit alledem noch kein Maassstab für die Grösse des Reizes gewonnen, welcher den Nerv trifft. Denn jenem obersten Grund- satze zufolge, welcher vorhin namhaft gemacht wurde, ist nicht das absolute Maass der Stromdichte maassgebend, sondern die Geschwin- digkeit, mit welcher deren Werth in der Zeiteinheit wechselt. Lässt man also sehr schnell jene Grösse anwachsen und wieder sinken, so reicht zu dem gleichen physiologischen Effekt schon eine unbedeutende Höhe aus, während bei langsamen Anwachsen eine viel beträchtlichere Höhe verlangt wird. Ein einfacher Versuch hat diess schon längst erwiesen. Wenn man an den einen Pol einer sehr vielgliedrigen Vol- ta’schen Säule die eine Hand anlegt, die zweite mit einer zweizin- kigen metallnen Gabel bewaffnet und damit von einer Platte zur andern — 32 — allmählich gleichsam hinaufklettert, so dass man, bis man am zwei- ten Pol der Säule angekommen ist, niemals die Berührung der Säule ganz aufgehoben hat, so empfindet man keinen Schlag, obwohl jetzt ein sehr starker Strom durch den Körper kreist. Entfernt man ‚aber jetzt die eine oder andere Hand von der Säule, so erhält man einen heftigen Schlag bei der plötzlichen Unterbrechung des Stromes, welchem man aber ebenso gut ausweichen kann, wenn man mittelst der me- tallenen Gabel von einem Pol zum andern klettert. Man nennt diese Manipulation „das Einschleichen oder Herausschleichen aus dem Kreis, des galvanischen Stroms.* Eine Maassbestimmung des Reizes verlangt also die Kenntniss der Geschwindigkeit, mit welcher die Stromdichte innerhalb eines be- kannten Spielraumes schwankt. | Von vornherein haben mir zwei Arten der Reizbarkeit als Auf- gaben vorgeschwebt, von welchen jedoch die eine viel schwieriger, vorläufig vielleicht noch gar nicht zu lösen ist. Die eine Aufgabe besteht in der Ermittlung der relativen Werthe der Reizbarkeit, also da ihre Unterschiede aufzufinden, wenn ein und derselbe Nerv von einem Zustand in den anderen übergeführt worden. Die zweite Auf- gabe bestünde darin, das absolute Maass der Reizbarkeit in irgend welchem Moment zu ermitteln, und in Vergleich zu einer bestimmten Einheit zu setzen, mit welcher die verschiedensten anderen Naturer- scheinungen gemessen werden können. Diese Aufgabe verlangte, dass man erstens prüfe, mit welchen Maassen die auf den gleichen Erfolg influirenden Grössen für einander gesetzt werden können; wie weit also Verminderung der Stromstärke durch Einschaltung von grösseren Mengen wirksamer Nervenmasse ersetzt werden könne; wie weit sich die Verminderung der Stromdichte durch Geschwindigkeit der Strom- schwankung, Aenderung des Nerven-Querschnittes durch bestimmte Stromstärken und Unterbrechungsgeschwindigkeiten ete. compensiren lasse. Kann diese Aufgabe gelöst werden, so dass man also jede. dieser einzelnen Grössen in Aequivalenten einer zweiten ausdrücken und damit alle auf einander reduciren kann, so wird man schliesslich auch im Stande sein, die Grösse des Reizes nach absolutem Maass zu bestimmen; und darin bestünde der letzte Theil der zweiten Aufgabe. Meine bisherigen Bemühungen waren zum grössten Theil der er- sten Aufgabe zugewendet. In Beziehung auf die zweite .habe ich nur den einen und anderen Punkt vorläufig ins Auge gefasst, un mich zu orientiren, ob mit unseren gegenwärtigen Hülfsmittela überhaupt ‘eine — 5313 — Aussicht auf deren Lösung vorhanden sei, oder ob erst neue Bahnen hiezu gebrochen werden müssen. Die Grundbedingung für die Lösung der ersten Aufgabe war die Garantie für das ceteris paribus; ohne Erfüllung dieser Bedingung konnte auf keine Vergleichung auch nur zweier Versuche mit einan- der, also auch auf keine Bestimmung der relativen Unterschiede ge- rechnet werden. Alle vorkommenden Unterschiede müssen entweder durch die Anordnung des Versuches’ aufgehoben, oder wo das nicht möglich war, durch die Rechnung eliminirt werden. Auf dem ersteren Weg war erstens eine Gleichartigkeit in der elektromotorischen Kraft: und den Widerständen innerhalb des galva- nischen Bechers herzustellen, zweitens eine vollkommene Gleichmässig- keit in der Form der Schliessung und Unterbrechung des Kettenstromes, drittens eine Gleichartigkeit in dem jedesmal erzielten physiologischen Effekt. Was theoretisch: überlegt war, bedurfte aber Monate langen Prüfens durch Experimente, bis die praktische Zulässigkeit und die Grenzen der unvermeidlichen Fehler festgestellt waren. Als allein brauchbar von allen unsern verschiedenen Ketten er- wiesen sich die Grove’schen Becher mit vollkommener Amalgamirung des Zinks und Füllung mit concentrirten Säuren.‘ Zur Unterbrechung des Stroms konnte allein ein Uhrwerk benützt werden, durch dessen Pen- delschwung ein amalgamirter were regelmässig in Quecksilber aus- und eingetaucht wurde. Als physiologischer Effekt, welcher jederzeit zu leisten verlangt wurde, ist der Minimalwerth der Muskelzuckung gewählt worden, wel- cher isochron mit der einen oder andern Schwingung, also mit Schliessen oder Oeffnen der Kette erfolgte. Diese Zuckung wurde entweder mit dem blossen Auge beobachtet, oder es war der Muskel (Gastrocne- mius) mit einem hundertfach den Ausschlag vergrössernden Fühlhebel in Verbindung gesetzt und dessen geringste Bewegung als Maasstab gewählt. Um diesen verlangten Effekt bei jedem einzelnen Versuch her- beizuführen, musste‘ man messbar die Stromstärke variiren können, Hier handelte es sich wegen der ausserordentlich grossen Empfindlich- keit der Nerven für galvanische Ströme um eine sehr beträchtliche Abschwächung derselben. Man hatte vor mir diess schon durch ein- geschaltete nasse Fäden oder in Glasröhren eingeschlossene Flüssig- keitssäulen zu erreichen gesucht und durch Verlängerung oder Ver- kürzung derselben die geforderte Abschwächung hergestellt. Aber — 314 — diese Hülfsmittel waren vor mir nicht zu quantitativen Versuchen be- nützt, nicht zu wirklichen Messinstrumenten gemacht worden. Diess konnte nur dadurch ermöglicht werden, dass man durch vielfache Ver- suche die nothwendigen für die meisten Versuche ausreichenden Di- mensionen der Röhre ermittelte, und vollkommene Sicherheit vor allen Seitenströmen gewährte, so dass die eingeschaltete Flüssigkeitssäule direkt zu der Messung benützt werden konnte. Die Länge dieser Säule wurde dadurch regulirt, dass man dem metallnen Boden der- selben von oben einen gefirnissten, nur am untersten Ende blanken Kupferdraht beliebig nähern oder von ihm bis auf 41/, Meter entfer- nen konnte. Da es sich hier nur um die Darlegung der Prinzipien der Methode und der damit gewonnenen Resultate handelt, unterlasse ich jede weitere genauere Beschreibung des Apparates, welchen ich fortan mit dem Namen „feuchter Rheostat* kurzweg bezeichnen will. Man könnte zu demselben Ziele gelangen, wenn man den Strom der Kette unmittelbar dureh den Nerv gehen liesse, und eine kurze, aber messbar zu verlängernde Nebenschliessung anbrächte. Diess Ver- fahren ist aber mit zwei Uebelständen behaftet. Erstens leidet unter der kurzen Nebenschliessung die Constanz der Kette in sehr hohem Grad, zweitens bekommt man ohne weitläufige Rechnung die Strom- stärken nicht zur Vergleiehung. Die Fehler dagegen, welche von dem feuchten Rheostaten aus der Polarisation entspringen, lassen sich meist ganz vermeiden, oder durch wenige Controllversuche eliminiren. Dieses, mein Verfahren die Reizbarkeit der Nerven zu messen, unterscheidet sich von dem später von Pflüger angewendeten dadurch, dass ich die für den gleichen Effekt nothwendige Stromstärke auf- suche, Pflüger die Stromstärke gleich lässt und die Differenz des Ef- fektes an der Grösse der Muskelverkürzung misst. Beide Methoden ergänzen sich gegenseitig. Direkte Versuche haben mich davon überzeugt, dass meine Methode eine vielmal grös- sere Genauigkeit zulässt und die zeitraubenden Messungen der von den Muskeln selbst aufgezeichneten Curven erspart. Diese graphische Methode setzt voraus, dass wenigstens sehr nahezu die Grösse der Muskelverkürzung proportional der Nervenerregung sei, wofür wir keine direkten Beweise haben, während meine Methode davon Umgang nimmt und die Auslösung der Muskelkräfte durch die Thätigkeit des Nerven allein ins Auge fasst. Ich gebe zu, dass überhaupt jede Methode, welche an die Muskelthätigkeit als Index der Nervenreizung appellirt, mit grösseren Fehlern behaftet ist, als eine solche, welche die Zustände — 35 — des Nerven an diesem selbst messen liesse; allein eine solche ist vor- läufig noch nicht möglich, und eben desshalb halte ich es für mehr gerathen, die Grenzen der äusseren Reize aufzusuchen, welchen die Kräfte im unbewegten Muskel gerade noch die Waage halten. Um diesen Punkt sicherer zu bestimmen, habe ich das Mittel aus dem Rheostatenstand genommen, bei welchem eben die ersten Zuckungen isochron mit dem Gang des Uhrwerkes auftreten und dem, bei welchem gerade noch jede Zuckung sistirt ist. Beide Methoden können nur unter Beobachtung sehr vieler Cau- telen in Anwendung gebracht werden und stets wird es eine längere Uebung verlangen, um die eine oder andere mit Sicherheit handhaben zu können. Vor allem muss man sich einige Vorstellung von der geringen Stromstärke machen, welche man zu den meisten Reizversuchen bei der Geschwindigkeit der Stromschwankung nothwendig hat, welche in allen Versuchen constant erhalten wurde. Diess setzt voraus, dass man einen Begriff von den grossen Unterschieden hat, welche die Wi- derstände metallischer Leiter und Flüssigkeiten darbieten. Denken wir uns als Einheit den Widerstand eines Kupferdrahtes von 4 Meter Länge und ein Quadrat-Millimeter Querschnitt, so ist der von concentrirter Kupfervitriollösung zum zweifachen Volum mit Wasser verdünnt und zu einem Faden von gleichen Dimensionen wie jener Kupferdraht ausgezogen 25938000 mal grösser. Man sieht hier- nach leicht ein, wie man den Widerstand einer Flüssigkeitssäule von beliebigem Querschnitt auf die Widerstände in einem Kupferdraht von 1[7) Millimeter Querschnitt und bestimmter Länge redueiren kann, wenn man weiss, dass sich die Widerstände direkt verhalten wie die Län- gen, und umgekehrt wie die Querschnitte der Leiter, und wenn man durch Versuche für die fraglichen Flüssigkeiten bei bestimmten Tem- peraturen die Zahlen ermittelt hat, welche beispielsweise für obige Kupfervitriollösung angeführt wurden. In dem von mir gebrauchten Rheostat entsprach .1 Centimeter Höhe der Flüssigkeitssäule bei Was- ser von 15° R. 7129568 Meter Kupferdraht von 1 DU) Millimeter Querschnitt; bei 1 Thl. coneentrirter Kupfervitriollösung auf 1000 Mas- sen 6028522; bei 1 Theil derselben Salzlösung auf 500 Massen 2210680 u. 8. w. Bei den meisten Reizversuchen an frischen Präparaten hatte man. beiläufig 40—50 Centimeter der Wassersäule einzuschalten, also eirca 320 Millionen Meter Kupferdraht. Es gibt aber Zustände des Nerven, in welchen die Widerstände so gesteigert werden müssen, dass — 316 — sie dem eines Kupferdrahtes von einer Länge gleichkämen, welcher 30 bis 40 mal die des Erd-Aequators überträfe. Diese unter allen Umständen so erheblichen Widerstände unterstützen die Methode der Messung sehr wesentlich, indem dadurch mehrere Grössen, deren ab- solute Werthe und Schwankungen ausserdem beträchtliche Fehlerquel- len abgeben würden, verschwindend klein und desshalb unschädlich sich gestalten. Die Widerstände in der Kette gehören 'hieher, und der daraus entspringende Vortheil ist, dass man auf die Gleichheit in dem Con- centrationsgrade der Säuren nur sehr wenig Rücksicht zu nehmen hat. Denn jene könnten in hohem Grade schwanken, ohne dass dadurch am Effekt etwas geändert würde, weil ihr Maximum höchstens 30—40 Meter Normaldraht entspricht. Der zweite Vortheil jener grossen Widerstände liegt darin, dass die Geschwindigkeit des Pendelschwunges nicht absolut gleichmässig zu sein braucht. Hätte man nur eine kurze metallische Schliessung, so würde es einen grossen Unterschied machen, ob die Spitzen des Kupferbügels rascher oder langsamer in Quecksilber untertauchen; denn damit ändert sich die Schnelligkeit, mit welcher die Metalltheile zu der schliesslichen vollkommensten Berührung kommen, damit also auch die Geschwindigkeit, mit welcher die Leitung vollkommen hergestellt wird, und also auch die auf den physiologischen Effekt so einfluss- reiche Schnelligkeit, mit welcher die Stromstärke ihr Maximum er- reicht. Da, wo die Widerstände aber so enorm sind, wie in’ unseren Versuchen, ist die erste und leiseste Berührung von Kupferbügel und Quecksilber schon ausreichend, die Leitung an dieser Stelle unendlich mal besser zu machen als an irgend einem andern Punkt des Schlies- sungsbogens. Wächst nun auch noch die Innigkeit der Berührung und damit die Güte der Leitung am ersteren Ort, so verschwinden diese Unterschiede und dadurch auch die Unterschiede der Geschwindigkeit, mit welcher jene erreicht wird. Der dritte Vortheil ist der, dass schon bei mässig Höhen Rheo- statenständen selbst der an sich grosse Leitungswiderstand kleiner Ner- venstreeken ebenfalls verschwindend klein wird. Bei 5 Millimeter langen Nervenstrecken, welche der Reizung ausgesetzt werden, beträgt deren Leitungswiderstand je nach ihrer Dieke 5—7 Millionen Meter Normal-Kupferdraht. Aber selbst diese Zahl wird für die Rechnung wenig ausgeben, wenn man bedenkt, dass der dazu kommende Wider- stand im Rheostaten 400—-500 und mehr Millionen Meter Draht ausmacht. — 317 — Der vierte Vortheil liegt in der ausserordentlich kleinen Grösse, bis zu welcher bei so schwachen und kurz dauernden Strömen die Polarisation anwächst. Mit äusserst empfindlichen Messapparaten, wie sie uns in den Galvanometern mit astatischen Nadeln und 7000— 8000 Windungen zu Gebot stehen, lässt sich keine Spur einer Polarisation nachweisen, wenn bei Füllung des Rheostat mit Wasser oder 1000fach verdünnter Kupfervitriollösung seine Flüssigkeitssäule auch nur 10—7 Centimeter Höhe hat. Dieser Vortheil ist um so höher anzuschlagen, weil sich die Polarisation nur sehr schwer der Messung zugänglich machen lässt. Bekanntlich versteht man darunter die Folge von der Entwicklung einer neuen elektromotorischen Kraft, durch welche in der zur Leitung des primären Stromes verwendeten Flüssigkeit ein jenem Strom entgegengesetzt gerichteter hervorgerufen wird. Als Quelle dieser Kraft betrachtet man die Berührung der vom primären Strom erzeugten gasförmigen Zersetzungsprodukte der leitenden Flüssigkeit. Daraus resultirt also eine Abschwächung des primären Stromes, deren Maass sich mit Stärke und Dauer des letzteren ändert. Alle diese einzelnen Punkte, auf welche man durch theoretische Ueberlegung schon hingeleitet werden konnte, mussten aber auch ex- perimentell für die von mir gebrauchten Vorrichtungen eruirt werden, was denn auch zu sehr verschiedenen Malen geschah und keinen ge- ringen Aufwand von Zeit erforderte. Waren soweit alle auf die Stromstärke influirenden Grössen der Messung zugänglich gemacht worden, so handelte es sich dem Begriff der Stromdiehte nach noch um die Messung der Nervenquerschnitte an der gereizten Stelle, und um die Ermittlung des, Leitungswiderstandes der Nervensubstanz selbst in den verschiedenen Zuständen, in welehe man sie durch äussere Einflüsse brachte. Die Bestimmung der Querschnitte hatte anfangs mit den grössten Schwierigkeiten zu kämpfen, welche schiesslich ‘zu überwinden nur durch die Methode gelang, die bei der Aufstellung des Präparates behufs der Reizung eingeschlagen wor- den war. Diess war so eingerichtet, dass der frei herab hängende präparirte Schenkelnerv die Elektroden an immer derselben Stelle be- rührte, während der an seinem oberen Knochenende aufgespiesste Un- terschenkel in einem vor Verdunstung gesicherten Raum der Beobach- tung zugänglich war. Der Nerv konnte, so wie er den Raum zwi- schen den beiden Elektroden überbrückte, mit sammt diesen in einen Apparat gebracht werden, in welchem eine genaue mikrometrische Messung seiner Durchmesser gestattet war, ohne dass die geringste — 313 — Spur von Wasser während dieser Zeit von seiner Oherfläche zu ent- weichen vermochte. Der elektrische Leitungswiderstand eines jeden beliebigen Ner- venstückes konnte entweder in den einzelnen Fällen direkt bestimmt oder berechnet werden, wenn man seine Dimension gemessen und den spezifischen Leitungswiderstand der Nervensubstanz ermittelt hatte. Darunter versteht man die Zahl, welche angiebt, wie gross der Lei- tungswiderstand eines ein Meter langen und ein Quadratmillimeter dicken Nerven im Verhältniss zu einem Kupferdraht von den gleichen Dimensionen wäre. Die Benützung einer solehen Zahl kann aber nur dann für den speziellen Fall in Anwendung gebracht werden, wenn sich ergibt, dass ihr Werth bei frischen Nerven verschiedener Exem- plare nicht erheblich schwankt. Damit begann also die erste Vorarbeit für die Maassbestimmun- gen der Reizbarkeit. Die Hülfsmittel hierzu bot ein ganz genau ca- librirter Rheostat; ein sehr empfindliches Galvanometer mit astatischem Nadelpaar, dessen Ablenkung mit Spiegel und Fernrohr beobachtet wurde, constante galvanische Becher und ein Auflagerungsapparat für die Nerven, in welchem die Polarisation so gut wie unmöglich ge- macht und jede Verdunstung des Wassers vollkommen verhütet war, In zwei durch Jahresfrist von einander getrennten Perioden wurden zwei Reihen von je 16 Messungen angestellt, welche zu vollkommen übereinstimmenden Resultaten geführt haben. Die dabei gewonnene Zahl für den spezifischen Leitungswiderstand der frischen Nerven war: 446969436,3 Diese Zahl sagt, dass die Substanz der frischen Nerven 14,86mal besser den elektrischen Strom leitet als destillirtes Wasser. Die vor- kommenden Schwankungen bewegen sich zwischen 13 und 18, Da in der Mehrzahl der Fälle die Widerstände im Nerv gegen- über denen im Rheostat an sich schon gering sind, so ist es gestattet, jene Mittelzahl fast immer zur Berechnung der wirklichen Leitungs- widerstände in dem speziellen Fall anzuwenden, wenn sich an dem Wassergehalt der frischen Nerven nichts geändert hat, und wenn die Dimensionen des fraglichen Nervenstückes gemessen worden sind. Man hat dann nur den Quotienten, welchen man durch Division der in Meter ausgedrückten Länge durch den im Quadrat-Millimeter ausge- drückten Querschnitt erhält, mit jener Zahl zu multiplieiren, um sagen zu können, wie viel Metern Kupferdraht von 1 Quadrat-Millimeter Quer- schnitt der Widerstand in eben jenem Nervenstück gleichkommt. — 319 — Will man die Rechnung umgehen, so kann man bei Vermeidung der Polarisation den Widerstand irgend eines beliebigen Nervenstük- kes mit dem im Rheostaten vergleichen, welcher die empfindliche Nadel des Galvanometers auf denselben Punkt der bleibenden Ablen- kung drängt, und in den für den Rheostaten entworfenen Tabellen unmittelbar den gesuchten Widerstand, in Meter Normal-Kupferdraht ausgedrückt, finden. Der spezifische Leitungswiderstand der Nerven ist wie der der Flüssigkeiten von den Mischungsverhältnissen und der Temperatur abhängig. Die Mischungsverhältnisse sind bei den verschiedenen Nerven schon im frischen Zustand Schwankungen unterworfen, aus denen sich jene oben angedeuteten Unterschiede in dem Leitungswider- stand erklären. Es müssen dieselben natürlich um so grösser aus- fallen, je mehr man durch den Versuch selbst an den natürlichen Mischungsverhältnissen ändert. Dass in solchen Fällen die für die frischen Nerven gefundene Durchschnittszahl nicht mehr benutzt wer- den kann, leuchtet von selbst ein. Von viel grösserem Einfluss bleibt aber stets der Querschnitt der Nerven, weil er bei den Reizversuchen in viel höherem Grad auf die entscheidende Stromdichte influirt als der im Vergleich zu den übrigen Widerständen mehr untergeordnete Leitungswiderstand des Nervenstückes. Die Rechnung ergiebt, dass man unter Voraussetzung der gleichen elektromotorischen Kraft und der gleiehen Geschwindigkeit der Strom- schwankung die zur Erzielung des gleichen Effektes (Minimalwerth der Muskelzuckung) nothwendigen Widerstände in der ganzen Strombahn benützen kann; und zwar gibt in zwei Versuchen an zwei beliebigen Nerven die dazu erforderliche Aus- oder Einschaltung von Widerständen den Maasstab für den Unterschied der Reizbarkeit in beiden Fällen ab, wenn man diejenigen Veränderungen im Rheostaten- stand abgezogen hat, welche durch die Ungleichheiten des Querschnit- tes und Leitungswiderstandes der gereizten Nervenstücke geboten sind. Nennt man G den Gesammtleitungswiderstand der ganzen Strom- bahn im einen Fall und q den Querschnitt des dabei gereizten Nerven, Gi und q! dagegen die gleichnamigen Grössen im zweiten Fall, so lässt sich der Unterschied in der Erregbarkeit = Rh finden, wenn man die beobachteten Factoren zur Berechnung der Formel a er (26). benützt. Daraus folgt, dass man den flüssigen Rheostaten nur dann — 320 — direkt als Messinstrument benützen kann, wenn der Leitungswider- stand und Querschnitt des Nerven in den beiden mit einander ver- glichenen Fällen der gleiche ist. In jedem andern Parallelversuch dagegen verlangt die dabei gewonnene Rheostatenablesung erst eine Correetur, deren Umfang nach der oben aufgestellten Formel gefun- den wird. So lange die Nerven überhaupt reizbar sind und in einem vor Verdunstung geschützten Raum aufbewahrt werden, ändert sich ihr spezifischer Leitungswiderstand nicht, ausser durch die Schwankung der Temperatur, und zwar verkleinert sich derselbe mit zunehmender Wärme und vergrössert sich im entgegengesetzten Fall. Hiemit glaube ich den Lesern wenigstens insoweit eine genügende Einsicht in die Aufgabe verschafft zu 'haben, dass er zu den jetzt mitzutheilenden Resultaten Zuversicht gewinnen wird, weil ihm die Ueberzeugung geworden sein dürfte, dass trotz der Schwierigkeit der Aufgabe und der vielfachen Cautelen, welehe Experiment und Ver- wendung des direkt Beobachteten verlangt, alle Hülfsmittel aufgeboten worden sind, die einzelnen dabei in Betracht kommenden Grössen in Rechnung ziehen zu können. Trotz dem Allem ‘sind aber die Schwierigkeiten bei neurophysio- logischen Forschungen dieser Art desshalb so gross, weil sich‘ das Objeet der Untersuchung fortwährend ändert, ohne dass sich immer die Ursachen dieser Aenderungen auffinden oder nur die gesetzliche Form derselben leicht nachweisen liesse. Die Physik in ihrer An- wendung auf Physiologie hat desshalb mit so viel grösseren Schwie- rigkeiten zu kämpfen, weil fast immer ein Theil der variablen Fac- toren unbekannt bleibt. Hier wird immer nur ein Wahrscheinlich- keitsresultat gewonnen, welches der gesetzlichen Sicherheit durch grosse Versuchsreihen näher gebracht werden kann. Darin liegt das Zeit- raubende und Ermüdende solcher Untersuchungen, dass man oft Mo- nate lang immer dieselben Versuche an verschiedenen Objeeten zu wiederholen hat, bis man die unvermeidlichen Zufälligkeiten entweder zu beherrschen oder von dem Gesetzlichen abzuscheiden lernt. Der erste Angriffspunkt, welchen ich mir wählte, war zu ver- suchen, wie weit man sich zunächst über die functionelle Bedeutsam- keit der einzelnen Bestandtheile der Nerven orientiren könne. Als einer quantitativen Bestimmung und willkührlich herbeizuführenden Aenderung am leichtesten zugänglich musste das Wasser erscheinen, von welchem die Nerven der Frösche im Durchschnitt 76 %/, führen. —_— 321 — . Dieser Wassergehalt konnte durch Quellung wägbar vergrössert oder durch freiwillige Verdunstung in wasserärmern Räumen mit grösserer oder geringerer Geschwindigkeit verkleinert werden. "Der Nerv erfährt, so wie er von den Centralorganen getrennt ist, eine mit der Zeit fortschreitende Veränderung seiner Leistungsfähigkeit und Reizbarkeit. Ein Bild hiervon musste man sich zuerst verschaffen, wöllte man den Einfluss der weiteren Masseaufnahme oder Vertrock- nung hievon unterscheiden lernen. Die Reizung geschah desshalb von 5 zu 5 Minuten an Nerven, welche nebst den von ihnen versorgten Muskeln sorgfältig vor Verdunstung geschützt waren. Die Rheostaten- stände durften hierbei direkt als Maasstab für die Reizbarkeitsgrade genommen werden, und es ergab sich, dass dabei die Reizbarkeit im Verlauf der Zeit anfänglich sehr rasch sinkt, um dann immer lang- samer und langsamer kleiner und endlich verschwindend klein zu wer- den. Es können 3 Stunden und darüber verstreichen, bis man alle Widerstände des Rheostaten ausschalten muss, um noch Zuckungen auszulösen. ‘ Es ist mir keineswegs entgangen, dass in manchen und gerade nicht den seltensten Fällen anfänglich kurze Zeit die Reizbar- keit steigt, um dann schnell zu fallen, allein wegen des Vorwiegens der Fälle, in welchen sich diess nicht ereignete, glaubte ich mich berechtigt, diese Erscheinung als von mehr zufälligen Nebenumständen abhängig und desshalb als nicht charakteristisch für den absterbenden Nerv halten zu müssen. In der That lässt sich auch eine Bedingung namhaft machen, unter welcher diese anfängliche Steigerung fast aus- nahmslos herbeigeführt werden kann. Es ist die, dass man den Nerv sehr nahe der Stelle reizt, an welcher er unmittelbar vorher war durch- schnitten worden. Kam es jetzt weiter darauf an, die Folgen vermehrter Wasser- aufnahme zu studiren, so musste, um den oben aufgestellten Forde- rungen für eine Maassbestimmung der Reizbarkeit zu genügen, die Veränderung der Querschnitte, des spezifischen und absoluten Leitungs- widerstandes der Nerven ermittelt werden. Gleichzeitig wurde auch die Imbibitionsgeschwindigkeit für Wasser von 15—16° R. mit der Waage geprüft. Das Maximum der Wassermenge, welche die Nerven durch Im- bibition aufnehmen können, ist beträchtlich, nehmlich im Durchschnitt 20 Procent des Gewichtes ihrer frischen Substanz. Es wird diese Grenze aber nicht durch einen gleichmässig fortschreitenden Gang der Quellung erreicht, sondern es erfolgt in den ersten 20 Minuten dieser Wissenschaftliche Monatsschrift. 1V. 21 — 322 — Process mit sehr grosser Geschwindigkeit, welche von da ab immer mehr und mehr abnimmt. Von dem Ende der ersten bis zur zwan- zigsten Stunde bemerkt man kaum mehr eine weitere Wasseraufnahme. Dem entsprechend vergrössert sich auch der Querschnitt der quel- lenden Nerven anfänglich mit grösserer Schnelligkeit; von der zwan- zigsten bis sechszigsten Minute dagegen mehr stetig. "Nach 55 Mi- uuten ist er um 71°/, grösser geworden. Der spezifische Leitungs- widerstand wird dabei. fortschreitend grösser, was offenbar von der Verdünnung der in dem frischen Nerven enthaltenen Salzlösungen her- rührt. Die Aschenbestandtheile desselben schwanken zwischen 0,63 und 1,16 Procent der frischen Substanz. Der Widerstand dieser Salzlösung im Nerven macht aber nur 1/, des Widerstandes, welchen der ganze Nerv darbietet. Kein Wunder also, wenn sich derselbe rasch mit dem Auslaugen des im Wasser liegenden Nerven steigert. Im Ganzen erfolgt aber diese Vergrösserung des Leitungswiderstandes in arithmetischer Progression und hat nach 50 Minuten das Doppelte der ursprünglichen Höhe erreicht. Nun sieht man leicht, dass der Effekt der Reizung immer kleiner werden müsste, wenn man den ursprünglichen Rheostatenstand bei- behielte, ohne dass man daraus schliessen könnte, dass dem ent- sprechend die Reizbarkeit des Nerven durch die Quellung abgeschwächt würde. Ebenso ist es mit den Rheostatenständen, welche man her- stellt, um immer denselben Effekt (Minimalwerth der Muskelzuckung) herbei zu führen. Jene müssen zu dem Behuf immer kleiner und kleiner gemacht werden, schon um deswillen, weil sich die Wider- stände im Nerven steigern, noch mehr weil sich die Querschnitte des- selben vergrössern. Von zwei Seiten her wird also die Stromdichte herabgedrückt und erst, wenn man von der direkten Ablesung am Rheostaten den Bruchtheil in Abzug gebracht hat, um dessen Grösse die Widerstände verringert werden müssen, damit die an dem Nerven erfolgten physikalischen Veränderungen wieder ausgeglichen werden — erst dann lässt sich erkennen, in welchem Verhältniss bei den quel- lenden Nerven die Reizbarkeit mit der Zeit abnimmt. Es ergibt sich dann, dass in Folge dieser Ursache allein nach und nach folgende Bruchtheile des ursprünglichen Gesammtleitungswiderstandes aus dem Scehliessungsbogen entfernt werden müssen, um stets den gleichen phy- siologischen Effekt zu erzielen: Nach 5 Minuten Quellung 0,092. rt ” 0,19. -_ 323 — Nach 20 Minuten Quellung 0,26. „ 30 5 5 0,38. „ 50 ” x 0,57. Daraus ergibt sich, dass die Nervenreizbarkeit des galvanischen Froschpräparates unter dem Einfluss der fortschreitenden Imbibition von Wasser (von 15—17° R. Wärme) innerhalb 50 Minuten um et- was mehr als das Doppelte sinkt, und zwar erfolgt dieses Sinken in der ersten Zeit rascher, von der zehnten Minute an dagegen je mehr und mehr bis zur fünfzigsten Minute hin in einer nahezu arithmeti- schen Progression. Bis zu jener Zeit hin erweist sich also trotz der fortwährenden Auslaugung und des Eindringens von Wasser diese Veränderung nicht so eingreifend, als man den unmittelbaren Rheo- statenablesungen nach erwarten sollte, denn die Reizbarkeit sinkt nicht wesentlich anders als bei dem im feuchten Raum absterbenden Nerven, Erst später tritt der nachtheilige Einfluss der Quellung entschiede- ner hervor. Ganz anders wirkt die Entziehung des natürlichen Wassers der frischen Nerven auf die Erregbarkeit; begreiflicher Weise kommt es dabei sehr wesentlich auf die Geschwindigkeit an, mit welcher das Wasser aus der Nervensubstanz entweicht. Immer wird dabei an dem Nerven der Querschnitt und der Leitungswiderstand verändert, und zwar so, dass jener sich verkleinert, dieser sich vergrössert. Ist nun hier ebenfalls wie bei der Quellung die Querschnitts-Aenderung das Wich- tigste, so stehen doch die enormen Widerstände, welche man im Ver- lauf der Austrocknung einschalten muss, um die Minimalwerthe der Zuekung bei jeder Reizung zu erzielen, in gar keinem Verhältniss zu der Verkleinerung des Querschnittes, welcher bei constant erhaltener Stromstärke die Stromdichte anwachsen liesse. Nach kurzer Zeit wächst die Reizbarkeit nach meiner Methode bestimmt um das Zehnfache an, wenn der Wasserverlust erst 3—4°/, beträgt und der Querschnitt sich nur um Weniges geändert hat. Es darf als eine unzweifelhafte That- sache betrachtet werden, dass die Wasserentziehung die Reizbarkeit des‘Nerven in der kürzesten Frist enorm steigert, wozu noch als cha- rakteristisches Merkmal das hinzutritt, dass dieselbe von jener Höhe zuletzt plötzlich auf Null herabsinkt. Gar häufig kann man bei anderen Versuchen, bei welchen man vielleicht dann und wann weniger auf die Sättigung des Experimentirraumes mit Wasserdampf Acht hat, bemer- ken, dass sich die Reizbarkeit gegen Erwarten nach und nach erhöht. In solchen Fällen wird man sich überzeugen können, dass diess von — 324 — einer allmählichen Vertrocknung herrührt. Denn direkte Versuche haben mich belehrt, dass auch ganz ällmähliche Verminderung des Wassergehaltes jene Steigerung bewirkt, und dass auch in solchen Fällen fast immer ein unerwartet plötzlicher Tod der Nerven eintritt, während bei gleich bleibendem Wassergehalt die-Nerven ganz allmäh- lich absterben. Ganz unbegreiflich scheint es oft, wie nach fast vollkommener Austroeknung die Nerven noch reizbar und zwar in hohem Grade reiz- bar bleiben können. ‘Ich habe die dünnen motorischen Wurzeln auf den Elektroden in freier Luft über drei Stunden lang liegen: und zu vollkommen transparenten, gelblichen, kaum mehr sichtbaren Fäden vertrocknen lassen und ihre Reizbarkeit nach dieser Zeit noch äusserst gross gefunden. Somit erscheint es uns als durchaus nothwendig, dass durch den continuirlichen Stoffwandel der Wassergehalt der Nerven innerhalb nieht sehr weiter Grenzen streng geregelt bleibe. Weniger schädlich für die Oekonomie des Ganzen dürfte eine Vermehrung des: Wassergehal- tes als eine Verminderung desselben sein. Wenn die Vermehrung des- selben in der Nervensubstanz des Menschen sich als gefährlich für ihre Function erweist, so kann diess auch dadurch erklärt werden, dass trotz der wenig veränderten Reizbarkeit die Ausgiebigkeit des Angrif- fes gegen die Nerven wie in unseren elektorischen Versuchen beein- trächtigt ist. Lässt sich auf solche Weise ungezwungen der Torpor erklären, welcher sich mit wasserreicheren Nerven verbinden kann, so ‚ergibt sich auf der anderen Seite leicht auch die Gefahr, welche bei Ver- minderung des normalen Nervenwassers droht. Sie liegt in der Leieh- tigkeit, mit welcher in solchen Zuständen die Nerven vorübergehen oder auf längere Zeiten in heftige Erregungszustände übergeführt wer- den können. An den isolirten Nerven lässt sich diess leicht studiren, wenn man das- Phänomen verfolgt, welehes unter der Form der Krämpfe an den Muskeln auftritt, die von vertrocknenden Nerven versorgt werden. Diese Erscheinung habe ich einer genauen Untersuchung unterworfen und will ihre Resultate im Folgenden kurz zusammen drängen. Es war bekannt, dass die Muskeln ausnahmslos in länger dauernde Krämpfe verfallen, ‘wenn man ihren Nerven rasch dadurch das Was- ser entzieht, dass man sie in concentrirte Kochsalzlösung oder trocknes — 325 — Zuekerpulver legt. Lässt man sie in der Zimmerluft vertrocknen,, so ereignet sich diess nicht jedesmal und nicht bei allen Präparaten gleich schnell, wenn auch Temperatur und Wassergehalt der Luft in allen Versuchen gleich bleibt. Man vermuthete, dass der Mischungswech- sel des Nerven an sich schon das ursächliche Moment abgäbe, sobald dieser Wechsel nur mit der gehörigen Geschwindigkeit vor sich gehe. Mancherlei anderweitige Erfahrungen drängten mir die Ueberzeu- gung auf, dass es weniger der Mischungswechsel an sich als vielmehr irgend ein damit verbundener Process sei, durch welchen schliesslich die Krämpfe eingeleitet werden. Welcher Natur dieser Process sein könne, und ob überhaupt die Annahme eines solchen nothwendig wäre, habe ich durch eine ausgedehnte Versuchsreihe zu ermitteln gesucht. Die Nerven wurden theils im freien Zimmerraum, theils in kleineren, geschlossenen und wasserärmeren Räumen der Verdunstung ausgesetzt. Ich liess sie in bewegter Luft vertrocknen, wobei die Geschwindig- keit der Luftströmung gemessen wurde. Dabei wurden die Wasser- mengen bestimmt, welche sie in einer bestimmten Zeit verloren, und die Dimensionen der Nervenstücke gemessen, welche der Verdunstung ausgesetzt worden. Alle diese Versuche haben auf das Zuverlässigste ergeben, dass es nicht der Mischungswechsel an sich ist, durch wel- chen die Krämpfe veranlasst werden, sondern dass der Nerv dann, wenn er eine bestimmte Menge Wasser bereits verloren hat, in einen Zustand geräth, in welchem ein sehr kleiner und kurz dauernder Im- puls eine nachhaltige Reihe von Erschütterungen hervorzurufen ver- _ mag. Diese gibt sich dann am den Muskeln als Convulsionen zu er- kennen. Es hat dieses- Phänomen äusserlich eine grosse Aehnlichkeit mit den bekannten Erscheinungen des plötzlichen Erstarrens einer un- ter Null abgekühlten Wassermasse, wenn sie erschüttert wird u. dgl. Man hat sich zu denken, dass dabei die Kräfte in einen hohen Grad gegenseitiger Spannung versetzt sind, um bei der geringsten Veran- lassung sofort frei zu werden und das Phänomen der Zuckung zu erzeugen. Es hat sich aber herausgestellt, dass es gewisse Prädispositionen gibt, in Folge deren die Nerven eines Thieres leichter in solche Zu- stände gerathen als die eines anderen, und dass die verschiedensten Umstände: schwache mechanische Erschütterungen, sehr schwache Stösse elektrischer Ströme etc. den Ausbruch der Krämpfe herbeiführen, oder ihren Eintritt begünstigen können. Vertrocknen die Nerven in der freien Luft, so ist es vor Allem die Heftigkeit ihrer Strömung, welche —_— 326 — auf das Phänomen influirt; und da die Bewegung der Luft wesentlich dasselbe unterstützen kann, ohne dass dabei die Geschwindigkeit der Wasserabnahme sich zu steigern braucht, so muss angenommen wer- den, dass die mechanische Erschütterung, welche die wirksamen Ner- venelemente trifft, wenn das Wasser entweicht, den bestimmenden Factor zur Erzeugung des ganzen Phänomens abgibt. Da es sich ferner gezeigt hat, dass auf einer gewissen Höhe des Wasserverlustes ohne weitere nachweisbare Schwankung des Wassergehaltes durch äus- sere Umstände beliebig oft hintereinander die Erscheinung der Krämpfe hervorgerufen und wieder sistirt werden kann, so war bewiesen, dass es eben weder auf den Mischungswechsel an sich, noch auf die Ge- schwindigkeit seines Eintrittes ankommt, sondern allein auf die Neben- umstände, in welche ein bis zu einem gewissen Grad ausgetrockneter Nerv versetzt wird. Die Natur solcher Nebenumstände ist im Ganzen gleichgültig, wenn sie nur überhaupt, auf frische Nerven mit höheren Intensitätsmaassen angewendet, Zuckungen hervorzurufen vermögen. Die Heftigkeit der Muskelverkürzung, welche die Vertrocknung der Nerven begleitet, scheint sehr gross zu sein, leistet aber in der That sehr wenig, wie ich mich durch Versuche überzeugt habe. Das heisst: der unbelastete Muskel verkürzt sich bei dieser Gelegenheit wohl um einen beträchtlichen Bruchtheil seiner Länge, aber das Ge- wicht, welches er dabei eben noch zu bewältigen vermag, ist 4—5 mal kleiner als das, welches noch um ein Merkliches gehoben werden kann, wenn der frische Nerv von einem galvanischen Reiz höheren Grades getroffen wird. Somit ist also die Contraction bei den Mus- kelkrämpfen, welche durch die Nervenvertrocknung entsteht, wohl ex- tensiv, aber nicht intensiv heftig. Als äusserst interessant hat sich bei dieser Gelegenheit die ab- wechselnde Wirkung der trocknen Wärme und Kälte herausgestellt. Ist der Wasserverlust in jener bis zu einer gewissen Höhe angewach- sen, so hören die Krämpfe auf, steigern sich im Nu zum Maximum, sobald der Nerv in einen kühleren Raum kommt, und verschwinden plötzlich wieder in trockner Wärme von 29—32° R. Schon geringe Mengen von Ammoniakdampf in der Atmosphäre, in welche der Nerv gebracht wird, sistiren fast momentan nicht bloss die Krämpfe, sondern auch jede Lebensäusserung des Nerven. In Beziehung auf die Eintheilung der Krämpfe in klonische, to- nische und tetanische hat sich hierbei experimentell sehr leicht demon- strirbar herausgestellt, dass der Unterschied durchaus nur ein quanti- — 327 — tativer, keineswegs ein qualitativer ist. Successive lässt sich durch Steigerung des Reizes die eine Form in die andere überführen und durch Verminderung oder Gegenwirkung wieder zur klonischen Form zurückbringen. Als allgemeinste und durch Beobachtungen wie durch Wägungen garantirte Folgerung kann für höhere Organismen und den Menschen das gelten, dass, je geringer die Menge des Wassers in den Nerven durch pathologische Processe wird, desto leichter irgend welche weitere, selbst sehr schwache Reize, welche von aussen oder von innen her die Nerven treffen, zu heftigen Erregungsformen führen können. Man wird fast immer in solchen Fällen, wie in der Cholera, dem englischen Schweiss und anderen Colliquationen oder Hämorrhagien die dabei auftretenden Convulsionen von dem Wasserverlust, welchen die Nerven dabei erleiden, allein oder in Verbindung mit gleichzeitig auf sie wir- kenden Reizen, ableiten dürfen. Nicht unwahrscheinlich ist es, dass bei manchen Formen der Hyperästhesis dieselbe Ursache eine wich- tige Rolle spielt. Ich werde später noch auf eine entferntere Wirkung des Wasserverlustes zurückkommen, welche den Gesammtnerv trifft. Versuchsreihen, welche die Bedeutung des in flüssigem Zustand im Nerv enthaltenen Eiweisses aufklären sollten, haben bisher noch zu keinem bestimmten Resultat geführt, und dürften solche auch nur am Gesammtorganismus anzustellen sein, insoferne es dabei offenbar nur darauf ankommt, die Folgen zu studiren, welche mit der verän- derten Zufuhr der eiweissartigen Ernährungsflüssigkeit verbunden sind. Es ist keinem Zweifel unterworfen, dass auch innerhalb der Nerven- ‚substanz ein fortwährender Stofiwandel vor sich geht, welcher hier, wie in andern Organen, gewisse Zersetzungsprodukte entstehen lässt. Einzelne Beobachtungen lassen mich vermuthen, dass diese vielleicht theilweise mit zur Lebensäusserung der Nerven nothwendig sein mögen. Dass sie in der Nervensubstanz vorhanden sind, ist von Anderen be- reits nachgewiesen. Dass eine schwache Säure entweder frei oder in Verbindung mit einem anderen Stoffe, von welchem sie leicht getrennt werden kann, wichtig für die Funetionsfähigkeit des Nerv ist, ergiebt sich unzweideutig aus den Versuchen, welche ich mit Ammoniakdäm- pfen angestellt habe. Treffen diese auch in sehr grosser Verdünnung den nackten Nerven, so büsst er mit fast blitzähnlicher Geschwindig- keit seine Reizbarkeit ein; hat man ihn aber vorher kurze Zeit den Dämpfen der Salpetersäure ausgesetzt, so bedarf es einer ungleich längeren Einwirkung des Ammoniakdampfes, bis die Reizbarkeit erlischt. — 328 — Vorläufig wird es jedoch noch gerathener sein, von diesem Versuch nur Notiz zu nehmen, ohne schon. jetzt weitere Folgerungen daraus zu ziehen. Nicht minder dunkel ist gegenwärtig noch die Rolle, welche die fettigen Bestandtheile spielen. Aus der verhältnissmässig . grossen Menge derselben lässt sich von vorneherein schliessen, dass sie von Wichtigkeit sein dürften. Leider hat uns aber die Chemie noch nicht hinlänglich darüber aufgeklärt, welcher Natur die fettigen Stoffe und besonders ihre Combination in frischen Nerven ist. Mikroskopisch tritt uns das Bild der Markscheide, in welcher jene Stoffe fast ausschliesslich deponirt sind, im Allgemeinen unter zwei Formen entgegen. Entweder sie erscheint als eine durchaus ho- mogene glashelle Masse, deren Lichthrechungsvermögen gleich dem der übrigen Gewebetheile der Nerven ist, so dass es sich von diesen nicht unmittelbar unterscheiden lässt; oder sie bildet zusammenhängende oder in kleinere Portionen zerfallene, von dunklen Conturen begrenzte Massen, Tröpfehen, Körnerhaufen, gefaltete Canalwandungen — im Ganzen regellos gestaltete Bilder der mannigfachsten Art in der Ner- venscheide eingeschlossen oder aus ihren Riss- und Schnittstellen her- vorgedrängt. Diese zweite Form bezeichnet die mikroskopische Anatomie mit dem Namen: geronnene Markscheide. Man war früher der Ansicht, dass der Nerv, in dessen Mark eine solche Veränderung eingetreten ist, nicht mehr functionsfähig sei. Es ist auch sehr wahrscheinlich, dass der normale Stoffwandel und die dauernden Lebenseigenschaften des Nerven nur dann möglich sind, wenn die erste Form noch besteht; aber geläugnet muss werden, dass der Uebergang in die zweite Form sofort alle Thätigkeitsäusserungen des Nerven unmöglich macht. Die Reizbarkeit, d. h. also die auffälligste Eigenschaft eines Nerven, in Folge dessen z. B. der motorische Nerv die Formveränderung eines von ihm mit Fasern versorgten Muskels hervorzurufen im ‚Stande ist, wenn ihn irgend ein äusserer Impuls trifft, diese Reizbarkeit bleibt dem vor Vertrocknung geschützten isolirten Nerven Stunden, ja oft selbst Tage lang erhalten, während sich leicht zeigen lässt, dass das, was man Gerinnung der Markscheide nennt, in der kürzesten Frist an dem isolirten Nerv eintritt. Nicht "minder sieht man, dass die Nerven reizbar bleiben, wenn man durch Wasser oder durch veränderte Tlem- peraturen jenen Process beschleunigt, ja dass man durch äussere Ein- flüsse die Reizbarkeit sehr mannifach modifieiren kann, bald erhöhen, u ai See — 329 — bald vermindern, ohne dass dadurch gleichzeitig an der Beschaffenheit der Markscheide etwas Wesentliches geändert zu werden braucht. Es gibt-Fälle, in welchen die Reizbarkeit ausserordentlich gesteigert ist, obwohl der grösste Theil des Fettes dabei in Tropfen aus der Faser gepresst worden. Scheint es hiernach, als bedürfte der Nerv wenigstens für tem- poräre Leistungen dieser Stoffe gar nicht, so deuteten grosse Versuchs- reihen, welche ich angestellt habe, wieder darauf hin, dass sie trotz- dem eine wichtige Rolle spielen dürften. Die Experimente, von welchen ich jetzt zu sprechen habe, wur- den mit sehr vielen dampfförmigen Stoffen angestellt, welche alle eine grosse Verwandtschaft zu den fetten Körpern im Nerven haben: Ae- ‚ther-Arten, Alkohol, ätherische Oele. Ich liess die Nerven nur von ihrem Dampf berühren, um der complieirten Wirkung einer gleichzei- tigen Veränderung des Wassergehaltes, der Auslaugung etc. vorzu- beugen. Bei allen diesen Substanzen erfolgt mehr oder minder rasch nach ihrer Berührung eine vollkommene Reizlosigkeit. Die Nerven erholen sich im Dampf vieler dieser Substanzen, wenn sie gleich dar- auf aus demselben genommen und in feuchte, atmosphärische Luft zurückgebracht werden durch blosse Abdunstung des eingedrungenen Dampfes. Das letztere muss angenommen werden, weil an dem iso- lirten Nerven jede anderweitige Möglichkeit eines Wiederersatzes des verloren gegangenen oder deplacirten Fettes mit dem Aufhören der Bluteireulation abgeschnitten ist. Die Geschwindigkeit, mit welcher die Reizlosigkeit und die Restauration eintritt, lässt sich in kein Ver- hältniss zu der Grösse der fettauflösenden Kraft noch auch zu den Siedepunkten der angewendeten Stoffe bringen. Diess musste darauf führen, den Einfluss dieser Dämpfe weniger mit ihrer chemischen Verwandtschaft zum Fett in Beziehung zu setzen, als vielmehr mit der ihnen allen zukommenden Kraft den Sauerstoff der atmosphärischen Luft zu ozonisiren. Diese Kraft kommt nicht allen in gleichem Maass zu; experimentell erwiesen wurde, dass z. B. Bergamotöl, wenn sein Ozon durch kurzes Kochen war zerstört wor- den, seine vorher im auffallendsten Maass zu Tag tretende Wirkung auf die isolirten Nerven fast vollkommen eingebüsst hatte. Direkte Versuche mit reinem Ozon liessen eine den Dämpfen ätherischer Oele parallel gehende Wirkung erkennen. Wie durch diese, so wird auch durch jenes die anfänglich geschwächte Reizbarkeit eine kurze Zeit — 330 — lang gesteigert, um von da an rasch zu sinken und in reiner atmos- phärischer Luft nach einiger Zeit wieder zu steigen. Durch diese Befunde war die ganze Frage der Lösung näher ge- bracht und der scheinbare Widerspruch gelöst, welcher im obigen an- gedeutet wurde. Es ergab sich daraus im Allgemeinen, dass es die in so hohem Grade oxydirende Wirkung des Ozons ist, welches auch auf die Nerven wirkt, wenn sie in den genannten Dämpfen hängen. Im Zusammenhalt mit den früher angeführten Versuchen musste die Vermuthung Platz greifen, dass der ganze Process weniger direkt ge- gen die Nervenfette gerichtet ist, als gegen die eiweissartigen Körper, dass aber die Verwandtschaft der Fette zu jenen Dämpfen das Vor- dringen des Ozons gegen die wesentlichen und eiweissartigen Bestand- theile der Fasern in hohem Grad unterstützt. Somit blieb in Bezie- hung auf die Fette der isolirten Nerven nur die Annahme stehen, dass ihre Bedettsamkeit eine für ihre temporäre Function mehr unter- geordnete ist. Die durch Wasser auszulaugenden Salzbestandtheile, deren keine kleine Menge im Nerv vorhanden ist, können ebenfalls keine sehr wichtige Rulle spielen, denn sonst wäre es undenkbar, dass die Reiz- barkeit quellender Nerven so langsam abnimmt; denn leicht lässt sich aus der Aenderung des Gewichtes und des spezifischen elektrischen Leitungswiderstandes der Nerven während der Quellung auf einen sehr raschen Verlust an Salzen schliessen. Wie vielfach man auch die Versuche abändern mag, immer kommt man auf die allgemeine Schlussfolgerung zurück, dass es die eiweiss- artigen Bestandtheile sind, welehe durch die Beweglichkeit ihrer Mo- leküle, d. h. durch die Leichtigkeit, mit welcher sie sich umsetzen, bei einem bestimmten physikalischen Zustand der festen Theile das Spiel der lebendigen Kräfte im Nerven bedingen. Am Gesammtnerven bildet das äussere Neurilem, die Nervenscheide der einzelnen Faser, und wie ich für meine Person überzeugt bin, der Axeneylinder die Summe der festen Gewebemassen. Legt man über- haupt auf die cohärente Masse einer Faser einen vorwiegenden Werth, so dürfte man wohl im Axencylinder den Körper suchen, auf welchem der Innervationsprocess wesentlich ruht. Man ist freilich nicht im Stand, an ihm in isolirtem Zustand zu experimentiren; es war aber denkbar, dass sich gewisse Veränderungen an ihnen summiren und dadurch physikalische Zustände am Gesammtnerven ändern werden, so- bald der Nerv in Erregung versetzt wird. Man hat an Metalldrähten —_— 31 — kleine Veränderungen ihrer elastischen Kräfte nachweisen können, wenn sie von elektrischen Strömen umkreist wurden. Es konnte möglicher Weise eintreffen, dass auch im Nerven Aenderungen seiner Cohäsion nachweisbar würden, wenn er heftigen Inductionsstössen ausgesetzt wird. Allein alle, auch die feinsten Methoden liessen mich in dieser Beziehung im Stich; mit keiner gelang es mir, irgend eine Cohäsions- veränderung bestimmt nachzuweisen. Damit ist aber nicht gesagt, dass wirklich keine solchen Aenderungen an den wirksamen festen Nerven- theilen auftreten können, sondern nur, dass sie sich nicht nachweisen lassen, weil sie durch die gleichbleibenden physikalischen Eigenschaf- ten der übrigen ausserwesentlichen Gewebeelemente compensirt und dadurch der Beobachtung vielleicht unzugänglich werden. Dass sich mit den physikalischen Eigenschaften der Cohäsion und Elastieität sicher auch die physiologischen Leistungen ändern, darauf wird man theils durch Beobachtungen, theils durch Experimente geführt, welche ich zum Oeftersten anzustellen Gelegenheit hatte. Nicht bloss ergibt sich, entsprechend den grossen Schwankungen im Reizbarkeitsgrad der einzelnen Nerven, eine sehr grosse Differenz in ihrem Festigkeitsmodus durch Zahlen ausdrückbar, sondern auch die Leichtigkeit, mit welcher es gelingt die einzelnen Fasern von den mit ihnen verflochtenen Gewebmassen zu trennen, zeigt grosse Unter- schiede. Ich habe gezeigt, wie man die ganzen Nervenstämme mit fast allen ihren Fasern, ja oft bis zu ihren feinsten Verzweigungen hin aus den grossen Gliedmassen und Muskeln der Thiere heraus- ziehen kann, wobei das Neurilem ringsum einreisst und die Nerven aus ihren Scheiden hervorgezogen werden können; wie diess aber bei den Sommerfröschen viel leichter gelingt als bei den Winterfrö- schen, aber durchaus nicht bei allen Thieren gleich gut. Es lag nahe, diese Thatsachen mit den Befunden bei der Rei- zung in einen gewissen Zusammenhang zu bringen, welcher aber erst dadurch mehr gerechtfertigt wurde, als es mir gelungen war, die functionelle Bedeutsamkeit der Nervenhüllen überhaupt näher ans Licht zu ziehen. Zu diesem Abschnitt meiner Untersuchungen will ich jetzt übergehen. Das Neurilem, ein Fasergewebe von nicht unbeträchtlicher Ela- stieität, umschliesst die Faserbündel der Nerven nicht immer mit der gleichen Innigkeit. Die Elasticität der letzteren, sowie ihre Resistenz ist grösser als die der Hülle. Feine Fältchen geben der letzteren ein — 3532 — zierliches Ansehen, sie reisst aber bei äusserem Zug leichter als das eigentliche Nervengewebe, worauf eben die Möglichkeit beruht, die Nerven, wie eben erwähnt wurde, aus ihren Scheiden hervorzuziehen. Das glänzend weisse Ansehen des Neurilems rührt grossentheils von der nicht unbeträchtlichen Menge Wasser her, welches sie führen. Es wird trübe und gelblich, sowie das Wasser aus ihm abdunstet. Legt man um einen Nerven eine Ligatur oder eomprimirt ihn, so weiss man, dass dadurch der eingeschlossene Nerv anfänglich erregt, schliesslich ganz gelähmt und funetionsunfähig gemacht wird. "Was hier die Ligatur bewirkt, wird jede solche Zustandsänderung des Neu- rilems herbeiführen, in Folge dessen der Nerv auf längerer oder kür- zerer Strecke seines Verlaufes fester von ihm umschlossen wird. Das muss geschehen, wenn der Nerv in toto der Vertroeknung ausgesetzt wird, wenn sauere Dämpfe ihn treffen und die Hülle zum Schrumpfen bringen u. dgl. Die Maassbestimmungen der Reizbarkeit in solehen Fällen be- ziehen sich aber immer auf die Gesammtwirkungen mehrerer Einflüsse, also der Entziehung des Wassers und des Druckes, der ehemischen Veränderung der Nervensubstanz und des Druckes u. s. w. Eine wich- tige Erfahrung, welche ich gewonnen hatte, führte mich darauf, den Druck gesondert von den anderweitigen Einflüssen in seiner Wirkung zu studiren. Ich fand nämlich, dass bei Reizung einer Nervenstelle, deren Wassergehalt unverändert erhalten wird, der Effekt der Reizung enorm steigt, wenn man ein beschränktes Stück des Nerven vor der gereizten Stelle. (d. h. ein näher dem Muskel gelegenes) gleichzeitig vertrocknen lässt. Diese Thatsache beweist, dass die physiologische Leitungsgüte eines vertroecknenden Nervenstückes bedeutend wächst mit der Verminderung seines Wassergehaltes. Ein und derselbe Im- puls, welcher z. B. vom Centralorgan ausgeht, wird demgemäss sehr . verschiedene Erfolge haben können, je nach dem Wassergehalt des Nerven an dieser oder jener Stelle seines Verlaufes. Um jetzt die Druckwirkung für sich zu studiren, construirte ich einen Apparat, in welchem es mir möglich war, ein vor der gereiz- ten Nervenstrecke gelegenes Stück desselben Nerven, ohne dessen Was- sergehalt zu verändern, einem messbaren Druck auszusetzen, und den- selben jeden Augenblick wieder aufzuheben. Dabei fand sich, dass schon bei geringen Gewichten, z. B. 7 Gramm, der Index der Reiz- barkeit um 20°/, erhöht werden musste, um denselben Effekt wie vorher zu erzielen. Bei 170 Gramm Belastung war fast die dreifache _— 333 — Höhe des ursprünglichen Rheostatenstandes gefordert. Von da ab vermindern aber weitere Belastungen die Reizbarkeit wieder, obwohl sie bei 300 Gramm noch um die Hälfte höher sein kann als ursprüng- lieh. Erst Gewichte von nahezu 400 Gramm und darüber heben die Leitungsfähigkeit des eomprimirten Stückes gänzlieh auf. Es war also bewiesen, dass der Hüllendruek sehr wesentlich auf die Erregbarkeitsgrade der Nerven influirt und wenn immerhin auch bei, Vertroeknung, bei der Einwirkung saurer Dämpfe u. s. w. ander- weitige Ursaehen mitwirken — so bleibt doch nebenbei der Hüllen- druck ein sehr mächtiger Hebel für die Entstehung der dabei beob- achteten Veränderungen in der Nervenreizbarkeit. Ganz abgesehen hiervon aber stellte sich heraus, dass die verschiedenen Zustände des Neurilems, d. h. die Festigkeit oder Lockerheit, mit welcher dasselbe die Faserbündel des Nerv umschliesst; von hoher funetioneller Bedeu- tung für.die Leistungen des Gesammtnerven sein müssen. Die einfach- sten Ueberlegungen geben uns die Gewissheit, dass die Zustände des Neurilems in Folge der verschiedenen Ernährungsprocesse im Organis- mus und deren Schwankungen im physiologischen, wie pathologischen Leben mannichfachen Modificationen unterworfen sein müssen. Diese wirken zurück auf die Leistungsfähigkeit und Leitungsgüte der Ner- ven, und wir stehen desshalb nicht an, in den Nervenhüllen sowohl sehr wesentliche Regulatoren der Nervenreizbarkeit als auch sehr aus- giebige Gelegenheitsursachen zur Entstehung und Unterhaltung patho- logischer Vorgänge zu erkennen. Es ist keinem Zweifel unterworfen, dass die Veränderungen in der Nervenhülle auch bei den Einwirkungen der Wärme und Kälte, welcher wir die Nerven aussetzen, eine wichtige. Rolle spielen. Be- sonders sind es die Krämpfe, deren Eintritt und Intensitätsgrade, so- wie ihre Dauer, sowohl in den extremeren Kälte- als Wärmegraden von der Geschwindigkeit abzuhängen scheinen, mit welcher die Aen- derung im Volum und Spannung der Nervenhülle dadurch eingelei- tet wird. Um die Versuche mit verschieden temperirter Luft anstellen zu können, war es nothwendig besondere Vorkehrungen zu treffen, um dem isolirten Nerv allein die geforderte Temperatur mitzutheilen, ohne dass die Muskulatur ihre ursprüngliche Temperatur änderte. Nerv und Muskel war also je in gesonderten Räumen aufzustellen, wobei nach Bedarf die Luft des Raumes, in welchem sich der Nerv befand, mit Wasserdunst gesättigt oder trocken erhalten werden konnte. — 334 — Nicht minder mussten den allgemeinen Grundsätzen nach, welche oben für die Maassbestimmung der Reizbarkeit aufgestellt worden sind, die Aenderungen des Leitungswiderstandes bestimmt werden, welche der Nerv in den verschiedenen Temperaturgraden gewann. Das fortgesetzte Studium dieser Einflüsse verlangte ausserdem noch mancherlei Untersuchungen sonstiger physikalischer Eigenschaften, welche die Nerven in der Wärme und Kälte oder bei dem Uebergang von einer Temperatur in die andere gewannen. Auf diesem theilweise sehr mühseligen Weg gelangte man endlich zu folgenden allgemeinen Resultaten. Wie von ihren natürlichen Mischungsbestandtheilen die Nerven zu ihrer normalen Leistungsfähigkeit stets ganz bestimmter Mengen bedürfen, so ist dazu auch eine gewisse Temperatur nöthig; in Folge dessen wird die Function der Nerven geändert oder sistirt, wenn von einer gewissen Grenze an jene geforderte Temperatur ab- oder zunimmt. Die auffälligste Erscheinung an dem Froschpräparat, dessen Nerv extremen Temperaturgraden ausgesetzt wird, ist die, dass die Muskeln in Krämpfe verfallen, wenn der Nerv unter O erkältet, oder der feuchten Wärme von + 63° R. und darüber ausgesetzt wird. Es nimmt aber weder Dauer noch Intensität zugleich mit der extremen Temperatur zu, sondern beides von einer gewissen Grenze wieder ab. Die Veränderungen, welche in Folge dieser Einflüsse der Nerv er- fährt, und welche eben die Veranlassung zu dem Eintritt der Krämpfe werden, dürfen nicht mit einer unendlich grossen Schnelligkeit den Nerv treffen, sondern sie wirken nur dann, wenn diess mit einem be- stimmten Maass der Geschwindigkeit eintritt; ganz ähnlich wie man bei sehr raschem Zuziehen einer Ligatur, wobei der Nerv plötzlich durehschnitten wird, oft gar keine Zuckungen auftreten sieht, während solche sehr heftig sind, wenn man dieselbe Manipulation etwas lang- samer vornimmt. Untersucht man den Einfluss allmählich steigender oder abneh- mender Temperatur der immer mit Feuchtigkeit gesättigten Luft des Raumes, in welchem der Nerv sich befindet, so beobachtet man so- gleich, dass man es nicht mit einer regelmässig ansteigenden Inten- sitätsskala der Einwirkung zu thun hat, sondern dass es vielmehr ganz bestimmte Wendepunkte gibt, an welchen die Funetion und die physikalischen Eigenschaften der Nerven plötzliche Aenderungen er- fahren. Nach aufwärts liegt ein solcher Wendepunkt bei +29—30° R. An dieser Temperaturgrenze vermindert sich plötzlich in auffallendem Grade die Reizbarkeit; dort liegt auch der Schmelzpunkt des Nerven- — 335 — fettes der Frösche. Resistenz und optische Eigenschaften der Nerven ändern sich dabei plötzlich. Verminderung dieser Wärme bis zu 15— 16° R. lässt die alten Eigenschaften des Nervengewebes wieder zurück- kehren und die Reizbarkeit wieder steigen. Der zweite Wendepunkt liegt bei + 45—48° R. und charakterisirt sich durch einen plötzlich erfolgenden Scheintod, Das Nervengewebe wird dabei plötzlich auf- fallend weicher, dunkler, die Markscheide zerfällt in krümliche Mas- sen. ‚Bringt man den Nerv in die Temperatur von 15—16° R. zurück, so löst sich entweder sofort der Scheintod, oder wenn der Nerv wie- der in 45—50° R. zurückgebracht wird, worauf er denn in dieser Temperatur später eintritt, als diess beim ersten Mal der Fall war. Der dritte Wendepunkt liegt bei ca. + 63° R., in welcher Temperatur, wie oben erwähnt, die Muskelkrämpfe rascher auftreten. Nach abwärts von + 15°R. beobachtet man schon bei + 14— 15° R., dass die Reizbarkeit anfänglich sich steigert, um bald darauf zu sinken. Bringt man dann den Nerv zurück in die Temperatur von + 15—16° R., so sinkt sofort die Reizbarkeit, um hinterher wieder zu steigen. Von — 5—8° R. an bewirkt die Kälte sofort die Mus- kelkrämpfe des Präparates. Von — 10° R, an ist die Resistenz der Nerven erhöht; sie sind verdichtet und äusserst leicht der Länge nach spaltbar. Klar genug tritt in allen diesen Fällen zu Tag, wie haupt- sächlich die Aenderungen, welche die physikalischen Eigenschaften der festen Gewebsmassen der Nerven erfahren, Ursachen der Verände- rungen sind, welche die physiologischen Leistungen und Funetionen des Nerv zeigen. Direkt scheint hierbei der Axencylinder, indirekt, d. h. rückwirkend auf die wesentlichen Elemente, die Nervenhülle be- theiligt zu sein. Grosse Aehnlichkeit haben die Folgen der Temperatur-Einflüsse bei ‚den isolirten und den im Gesammtorganismus noch enthaltenen Nerven. Grössere anfängliche Erregtheit in der kühleren und mässig kalten Luft, zunehmende Abspannung und Schwäche, wenn die Kälte länger einwirkt und tiefer sinkt. Bei hoher Wärme Schwäche, Ener- gielosigkeit. Bei den Temperaturwechseln von der normalen Mitte aus nach aufwärts sowohl als nach abwärts momentane Aufregung. Bei dem Wechsel von tieferen Kältegraden mit der mittleren Tempe- ratur: anfängliche Abspannung, dann wachsende Erregung — alles das sind Erscheinungen, welche wir an uns selbst empfinden, so wie wir sie an den isolirten motorischen Nerven objeetiv erkennbar und messbar ebenfalls nachweisen können. Mögen auch immerhin im Körper — 3356 — des Lebenden noch mancherlei andere Processe mit im Spiele sein: sicher darf Vieles von dem an ihm zu Beobachtenden als eine direkte Einwirkung dieser Einflüsse auf die Nerven selbst betrachtet werden. Man würde aber freilich zu weit gehen und die Verhältnisse nur einseitig auffassen, wollte man mit Aufzählung dieser mechanischen Wirkungen allein schon das für erschöpft halten, was bei dem Ein- fluss soleher Reize von einer Erklärung verlangt wird. Denn es lassen sich am Nerv unmittelbar noch sehr wesentliche Veränderungen nach- weisen, welche im Zusammenhang mit den Reizversuchen beweisen, dass tief eingreifende Molekularbewegungen in den wirksamen und wesent- lichen Nervenelementen dadurch hervorgerufen werden. Hierüber will ich nun zunächst nur so weit meine eigenen Er- fahrungen geführt haben, berichten. Es sei gestattet, für diejenigen Leser, welche vielleicht unserem Thema überhaupt ferner stehen, einige Bemerkungen vorauszuschicken, um sie mit den von Anderen gemachten Resultaten bekannt zu machen, in so weit ich auf diesen selbst wieder fortgebaut habe. Du Bois-Reymond’s Forschungen haben uns eine grosse Gesetz- mässigkeit in den elektrischen Strömen kennen gelehrt, welche man von den Nerven ableiten kann, und deren Ursprung in elektromoto- rischen, den Nervenmolekülen innewohnenden Kräften zu suchen: ist. Die Gesetzmässigkeit liegt darin, dass die Ströme je nach be- stimmten Zuständen, in welchen sich gerade die Nerven befinden, ihre Richtung bewahren. $o zeigt sich an dem frisch präparirten, nicht erregten Nerv ein Strom, welcher anzeigt; dass sich sein Querschnitt negativ gegen die positive Oberfläche des Nerven verhält. Mit dem Tod verschwindet allmählieh dieser Strom oder schlägt kurz vorher in die entgegengesetzte Richtung um. Unter dem Einfluss eines constan- ten elektrischen Stromes, welcher durch eine Nervenstrecke gesendet wird , ändert sich diesseits und jenseits dieser Strecke der Nervenstrom indem er auf der einen Seite stärker, auf der anderen schwächer wird. (Elektrotonus.) Gehen schnell unterbrochene Ströme abwechselnd in entgegengesetzter Richtung durch eine solche Nervenstrecke, so nimmt der ursprüngliche, den Nerven eigene Strom an Intensität ab (nega- tive Stromschwankung). Du Bois hat diese Erscheinungen unter dem Bild einer Molekulartheorie zusammengefasst, nach welcher die einzel- nen Moleküle richtend auf einander wirken, vergleichbar einem System kleiner Magnete. Ist der Nerv in seinem normalen Zustand und nicht — 337 — erregt, so bleiben diese Elemente von den ihnen innwohnenden Kräf- ten gleichsam gebannt, in einem bestimmten gegenseitigen Lagerungs- verhältniss. Wirken auf den Nerven gewisse äussere Erregungsmittel, so wird je nach deren Stärke jenes Lagerungsverhältniss geändert, weil das ursprüngliche Gleichgewicht der Kräfte eine Störung erleidet. Mit dem Eintritt des Todes der Nerven erlöschen diese Kräfte, und so kam es, dass man entweder vorsichtig die elektrischen Erscheinun- gen’als Vorgänge betrachtete, welche parallel neben den Lebensan- strengungen der Nerven einhergehen, oder ohne Weiteres die leteteren mit jenen direkt identifieirte. Unbestritten bleibt, dass wir in dem elektrischen Verhalten der Nerven einen sehr willkommenen Anzeiger für Zustandsänderungen seiner wesentlichen Elemente gewonnen haben, über deren Eintritt wir ausserdem vollkommen ohne Kenntniss geblieben sein würden. "Wenn immer an einem nicht durch äussere elektrische Ströme erregten Nerven Richtungsveränderungen seines ursprünglichen, ihm ei- genen Stromes angetroffen werden, dürfen wir voraussetzen, .dass die innerste Molekularanordnung desselben geändert ist, und können, wenn auch unbekannt mit dem innersten Wesen seines Zustandes, doch den Wechsel desselben an ihm selbst erkennen, was ausserdem weniger zweifellos nur an der Rückwirkung dieses Wechsels auf die mit dem Nerven verbundenen Organe erkannt werden konnte. Dadurch allein schon gewinnen, ganz abgesehen von allen wei- teren theoretischen Folgerungen, die Beobachtungen einen Werth, welche zeigen, dass sich in Folge gewisser äusserer Einflüsse die Richtung des ursprünglichen Nervenstromes ändert und mit dem Verschwinden derselben sich wieder herstellt etc. Ich habe dieses Verhalten der Nerven an dem grossen Multipli- eator unseres Instituts, welcher nach Du Bois’ Vorschriften in Berlin gebaut worden war, geprüft, und zwar wenn die Nerven der partiel- len Vertrocknung, höheren und niedrigeren‘ Temperaturen ausgesetzt worden waren. Nehmen wir an, die Ablenkung der Doppelnadel durch den Strom des frischen, nicht erregten Nerven sei in Folge der Anord- nung des Versuches östlich gewesen, so war sie in die westliche Ab- lenkung bereits umgeschlagen, als (der Nerv so viel Wasser verloren hatte, dass eben die Muskulatur in Krämpfe zu verfallen begann. Liess man hierauf den Nerven kurze Zeit im Wasser liegen, so fand man da- ‘durch wieder die ursprüngliche Richtung des Stromes hergestellt. In ähnlicher Weise sah man die Nadel anfänglich die Nulllinie Wissenschaftliche Monatsschrift, IV. 22 — 333 — einhalten, d. h. es war gar kein Strom mehr nachweisbar, dann aber (nach 4—5 Minuten) nach der westlichen Richtung abgelenkt werden, wenn man den Nerven der feuchten Wärme von ca. 31° R. ausgesetzt hatte. Brachte man dann den Nerven zurück in die feuchte Luft von 14--15° R., so stellte sich nach kurzer Zeit, wenn der Nerv nicht allzu rasch abstarb, der ursprüngliche Strom, wenn auch geschwächt, wieder her. Obwohl wir damit nur die Gewissheit von einer tiefgreifenden Zustandsänderung des Nerven in seinen wesentlichen Elementen erlangt haben, ohne dass damit schon eine vollkommene Kenntniss von.deren Natur unmittelbar erreicht worden wäre, so sehen wir doch damit wenigstens Hand in Hand gehend anderweitige Veränderungen, welche die Erfolge der Reizung des Nerven darbieten, so lange er noch mit seiner Muskulatur in natürlichem Zusammenhang steht. Es ist näm- lich für den Erfolg der Reizung nicht gleichgültig, ob der unterbro- chene elektrische Strom, mit welchem man reizt, den Nerven in auf- oder absteigender Richtung durchfliesst. Tritt der Strom näher dem Rückenmark ein und näher dem Muskelende des Nerven aus, so be- zeichnet man diess als „absteigende“, im umgekehrten Fall als „auf- steigende Richtung.“ Es hat sich jetzt in Uebereinstimmung mit den Erfahrungen Anderer dureh meine Versuche herausgestellt, dass bei frischen oder mit dem Organismus des lebenden Thieres noch im Zu- sammenhang befindlichen Nerven die schwächsten Ströme Zuckungen erzeugen in dem Moment, in welchem die Kette durch den Nerven ge- schlossen wird (Schliessungszuckung). Es bleibt dabei gleichgültig, ob die Stromrichtung auf- oder absteigend ist. Dieses Gesetz büsst seine Geltung am frühesten ein, wenn der Nerv durchschnitten und die Reizung nahe der Schnittstelle vorgenommen worden ist. Hier schlägt nämlich sehr bald die Schliessungszuckung des aufsteigenden Stromes in Schliessungs- und Oefinungszuckung, endlich in ausschliess- liche Oeffnungszuckung um. Bei dem absteigenden Strom kommt da- zwischen Oeffnungs- und Schliessungszuckung, endlich wieder nur Schliessungszuckung zu Stande. Kurz vor dem Absterben geht auch dabei die Schliessungszuckung in Oeffnungszuckung über. Wenn man den Nerven der Vertrocknung überlässt, so beobachtet man zu jener Zeit, in welcher die Reizbarkeit ihrem Culminations- punkt zueilt, dass die Schliessungszuckung, welche bis dahin bei Rei- zung mit aufsteigenden Strömen eingetreten war, der Oeffnungszuckung Platz macht; dasselbe erfolgt, wenn der Nerv sich in feuchter Luft — 339 — von ea. 300 R. befindet, nach wenigen Minuten. Die ursprüngliche Zuekungsform kehrt in der mittleren Temperatur (von 15-—-16° R.) in kurzer Zeit zurück. Diese Thatsachen beweisen, dass die entge- gengesetzien Erregbarkeitsgrade die gleichen Zuckungsformen zulassen dass also die Zuckungsform an sich nicht als Maasstab für den Er- regbarkeitsgrad gelten kann. So weit man aus diesen Fällen allein schliessen darf, lässt sich behaupten, dass die inneren Molekularwir- kungen, insoferne sie sich nach aussen durch ihren Einfluss auf die Nadel des Galvanometer bemerklich machen, mit der Natur der Zuk- kungsform im nächsten Zusammenhang stehen. Es lässt sich hieraus ein Gesetz formuliren,, welches lautet: „Bei derjenigen Richtung des Stromes ruhender Nerven, bei welcher sich der Querschnitt negativ gegen die Oberfläche verhält, geben die schwächsten, den Nerven in aufsteigender Richtung: durchfliessenden, unterbrochenen galvanischen Ströme Schliessungszuckung; gleichzeitig oder sehr nahe dem Zeit- punkt, im welchem sich die Richtung des Nervenstromes umkehrt, schlägt für jene Ströme, mit welchen gereizt wird, die Schliessungs- zuckung in die Oefinungszuckung um, und aller Wahrscheinlichkeit nach fällt der Zeitpunkt, in welchem dazwischen der Nervenstrom ganz verschwunden war, in das Auftreten der Oeffnungs- und Schliessungs- zuckung, während endlich bei Rückkehr des Nervenstromes in die alte Richtung auch die ursprüngliche Zuckungsform eintritt.“ Es war in allen den Fällen, in welchen es sich darum handelte, die Folgen äusserer Einflüsse auf den Nerven an den Aenderungen zu prüfen, welche dadurch die Reizbarkeit erfährt, die Applicationsstelle des elektrischen Reizes unveränderlich die gleiche geblieben. Diese Vorsichtsmaassregel war physikalischer Gründe wegen und auch da- durch geboten, weil man schon früher darauf aufmerksam geworden war, dass die Reizbarkeit des Nerven nicht an allen Punkten seines Verlaufes die gleiche ist. Ich hatte schon vor 13 Jahren darauf aufmerksam gemacht, dass bei frischen Nerven die dem Centralorgan näher gelegene Stelle reiz- barer erscheint, als die weiter davon entfernten. Ich habe sehr aus- gedehnte Versuchsreihen hierüber auch in jüngster Zeit wieder ange- stellt und diess Gesetz im Allgemeinen bestätigt gefunden; nur lässt sich nicht behaupten, dass strikte von Querschnitt zu Querschnitt nach aufwärts gegen die Centralorgane hin die Reizbarkeit immer grösser und grösser werde, sondern dazwischen liegen immer wieder Stellen, an welchen die Reizbarkeit schwächer ist, als an den unmittelbar dar- — 3410 ° — über oder darunter gelegenen Punkten. So wie der. Nerv durchschnitten worden ist, sieht man, besonders in der Nähe der Schnittstelle, bald darauf die Reizbarkeit gegenüber den näher an der Muskulatur gele- genen Stellen schwächer werden, hier auch am frühesten verschwinden; denn der motorische Nerv stirbt von seinem centralen' gegen das- pe- ripherische Ende hin allmählig ab. Die Durchschneidung selbst ruft wie eine Menge anderer Reize, welche momentan auf den Nerven 'ge- wirkt haben, eine mehr allmählig abklingende Nachwirkung hervor, die auf den darauf folgenden Reizversuch von Einfluss ist. Aus- serdem sieht man daraus, wie gross die Unterschiede in den Erfolgen der Reizung sein müssen, je nachdem die Schnittfläche näher .oder entfernter von der gereizten Stelle liegt. Eine weitere Thatsache, welche dazu PETER bei allen ver- gleichenden Versuchen auch die Länge des gereizten Nervenstückes gleich zu erhalten, ist die, dass sich die Erfolge der Reizung sehr wesentlich mit der Länge des eingeschalteten Nervenstückes ändern. Das Studium des Einflusses, welchen diese Länge ausübt, schien an- fänglich rasch zu bestimmten Resultaten führen zu können; allein im Verlauf der Untersuchung fand sich, dass ich nicht leicht einer ‚der hier einschlagenden Fragen mehr Thiere opfern musste, als gerade dieser. Dabei hat sich aber auf das Unzweideutigste zeigen lassen, dass die Nerven nicht einfache Leitungsapparate sind, so dass man ihre Function mit der unserer telegraphischen Drähte vergleichen dürfte, sondern dass in ihnen verwickeltere Anordnungen zu suchen sind, in Folge deren die einzelnen Querschnitie in höchst auffallender Weise gegenseitig auf einander einwirken. - Untersucht man den Erfolg der Reizung zuerst je an einem von zwei hinter einander liegenden Nervenstücken von geringer Länge, und dann den Erfolg, wenn man den Strom durch die beiden Stücke gleieh- zeitig schickt, so. giebt meine Methode die Mittel an die Hand, mit Leichtigkeit zu bestimmen, ob die Summe der Erfolge im ersten Fall gleich dem Erfolg im letzten Fall ist oder nicht. Die Apparate, deren ich mich zur Zuführung des Stromes zu den einzelnen Nervenstellen bediene, gestatten ohne irgend welche Verschiebung der Elektroden bald grössere bald kleinere Nervenstrecken für.sich zu reizen, diese beliebig mit einander zu einer gemeinsamen Strombahn zu verbinden, und dieses sowohl für nahe beisammen liegende, als auch für sehr weit von einander entfernte Nervenstrecken ins Werk zu setzen, aus- serdem die Versuche sehr schnell wiederholen und damit erfahren zu — 341 — können, wie sich die Verhältnisse im Lauf der Zeiten verändern. Um alle Versuche unter einander zu vergleichen, bin ich von der zunächst willkührlichen Annahme ausgegangen, dass zur Erzielung des gleichen Erfolges (Minimalwerth der Muskelzuckung) bei stets gleicher Ge- sehwindigkeit des Stromwechsels das Mittel aus den Stromdichten bei sucecessiver Reizung zweier Nervenstrecken gleich sei der Stromdichte bei Reizung der Combination beider. Fände diess statt, so würde unter der willkührlichen Voraussetzung, dass der Einfluss der Länge in Form einer so einfachen Function aufträte, damit ausgesprochen sein, dass die Einschaltung eines zweiten Nervenstückes zum ersten wirkungslos wäre. Findet man dagegen für die Combination eine Stromdichte, welche geringer ist als jenes Mittel, so würde diess eine entsprechende Begünstigung des Erfolges durch jene Einschaltung andeuten, im ent- gegengesetzten Fall aber eine Hemmung. "Es zeigte sich, dass der Werth der Combination bei dem im Organismus noch befindlichen Nerven lange Zeit ganz gleich bleibt und beiläufig 1/gmal günstiger wirkt, als die Reizung je eines einzelnen Stückes von beiläufig 5 Millimeter Länge. Wird der Nerv von seinem Centralorgan getrennt, so bemerkt man anfänglich immer noch, dass der Erfolg wächst mit der Länge der eingeschalteten Nervenstrecke, allein alsbald beginnt ein Wogen in dem Wertli dieser Combination, über dessen Natur im Allgemeinen man sich nun aus sehr grossen Versuchsreihen ein Bild entwerfen kann. Man sieht, dass von dem Moment der Durchschneidung des Nerven an gerechnet, der Erfolg bei der Reizung der Combination eine Steigerung erfährt, dann eine län- gere-Zeit auf dieser Höhe verweilt, um: von da ab mit bald grösserer, bald geringerer Geschwindigkeit zu sinken. In dem letzten Stadium wirkt die Combination eines Stückes mit einem näher dem Muskel ge- legenen günstiger als mit einem dem Centrum näheren. Im ersten Stadium ist gerade das Umgekehrte der Fall... Wenn man weit auseinanderliegende Nervenstrecken mit einander combinirt, so stösst man häufig zu der Zeit, in welcher die Reizbar- keit in dem einen Stück schon sehr gesunken ist, auf eine eigenthüm- liehe Erscheinung. Ist das eine Nervenstück vollkommen abgestorben, so kann es natürlich nur als todter Leitungswiderstand wirken, um dessen Werth der Rheostatenstand zur Erzielung des gleichen Effektes bei der Eombination dieses Stückes mit einem zweiten erniedrigt wer- den muss. Nun ereignet es sich aber häufig, dass kurz vor dem Tod jener einen Nervenstrecke der Rheostatenstand um sehr viel mehr er- — 342 ° — niedrigt werden muss, als wenn jene Strecke schon ganz abgestorben wäre. Daraus folgt, dass von hier aus auf die noch mehr reizbare Stelle eine Wirkung ausgeübt wird, welche deren Erregbarkeit hemmt, also eine Kraft, welche den Einfluss eines galvanischen Reizes ver- ringert, ja in einzelnen Fällen fast ganz vernichtet, obwohl ihm das zweite Stück an sich noch in hohem Grade zugänglich ist. Die Ergebnisse meiner sehr grossen Versuchsreihe über diesen Gegenstand habe ich im folgenden allgemeinen Satz zusammenfassen zu dürfen geglaubt: „Die Nerven sind nicht einfache Leitungswege für einen in den Üentralorganen wirksamen Apparat, aus welchem sie im Leben ihre Kräfte schöpfen, um sie nach der Trennung von ihnen gleichsam als Vermächtniss noch einige Zeit zu bewahren, sondern es sind selbstständige complicirte Apparate mit verschiedenen aufeinander wirkenden Kräften, deren Auslösungen nach der Trennung von den Centralorganen einem zufälligen Spiel von Anregungen, im lebenden Thier aber den regulatorischen Impulsen der Centra folgen. Die Centralorgane erscheinen somit als solche, welche die im getrennten Nerven vorhandenen und nach zwei extremen Richtungen in Beziehung auf Leistung tendirenden Kräfte in ihren für die Gesammtthätigkeit des unverletzten Nervensystems nothwendigen Schranken halten, Die Nothwendigkeit einer hemmenden Wirkung und damit einer regulato- rischen Thätigkeit gegenüber den freien Kräften der Nerven: das ist eine wesentliche Aufgabe, welche die Centralorgane zu lösen haben.“ Dieser Satz, welchen ich auf Grund meiner Untersuchungen über den Einfluss der Länge eines gereizten Nervenstückes aufgestellt habe, gewinnt weitere Stützen an meinen Beobachtungen über den Einfluss der Centralorgane auf die jeweilige Reizbarkeit des gemischten peri- pherischen Nervenstammes, und über die Wege, auf welchen sich jener Einfluss zum Muskelpräparat fortpflanzt. | Die Resultate dieser Reihe von Versuchen will ich jetzt in der Kürze mittheilen. Die Versuche verlangten besondere Methoden zur Befestigung des lebenden Thieres, und zur Application der stromzuführenden Drähte an den Nerven zwischen der Schenkelmuskulatur, wodurch garantirt sein musste, dass der Reiz auf die gleiche Nervenstrecke während der gan- zen Versuchsdauer beschränkt blieb, dass sich an dem Wassergehalt des Nerven nichts änderte, dass in dem Schenkel selbst, so lange man wollte, die Bluteireulation fortbestand. Erst nach geraumer Zeit — 343 — war es möglich, der Schwierigkeiten Herr zu werden, welehe sich der Erfüllung dieser Bedingung entgegenstellten. War das Thier auf die gehörige Weise befestigt, so wurde die Reizbarkeit des Schenkelnerven auf die gehörige Weise geprüft, dann wurden Stück für Stück durch scharfe Schnitte die Centralorgane durch- schnitten. Es zeigte sich, dass zeitlich zweierlei Folgen auseinander zu halten sind: die Wirkung der Durchschneidung als mechanischer Eingriff und die Folge der Entfernung eines centralen Theiles. Die Durchschneidung als solche bewirkt eine momentane Verminderung der vorherigen Reizbarkeit; sie steigt aber darauf wieder in Folge der Entfernung des centralen Theiles und zwar um so höher, je mehr durch den Schnitt von den Centralorganen war entfernt worden. Durehsehneidet man dagegen das Nervengeflecht im Becken oder den daraus hervorgehenden Stamm des Schenkelnerven an einem Punkt oberhalb der gereizten Strecke, so wird in Folge der Durchschneidung die Reizbarkeit momentan erhöht; diese Steigerung ist im Allgemei- nen um so beträchtlicher, je näher der Schnitt dem Ort der Reizung geführt wurde. Der gemischte Nervenstanmm verdankt also den Grad seiner je- weiligen Reizbarkeit jedenfalls zum Theil dem Einfluss der Central- organe und es wird sich dieser Grad auch im Leben mit den Zu- ständen derselben ändern müssen, wie man auch in den Experimenten sieht, in welchen man die mechanische Entfernung der Centra durch deren partielle oder totale Narkotisirung ersetzt hat. Am entschie- densten tritt dabei der hemmende Einfluss hervor, welchen die Centra äussern und welcher die Reizbarkeit des Nerven, so lange er noch mit ihnen im Zusammenhang steht, geringer erscheinen lässt. Die Wege, auf welchen zu dem Muskelpräparat schliesslich die- ser, wie überhaupt irgend ein Einfluss von den Centralorganen aus fortgeleitet werden kann, sind zweierlei: Die vorderen und die hin- teren Rückenmarkswurzeln. Hat man alle vorderen Wurzeln durch- schnitten, und nur die hinteren stehen gelassen, so zeigt sich, dass die suecessive Abtragung der Centralorgane auch jetzt noch von Ver- änderung der Reizbarkeit des gemischten Nervenstammes begleitet ist. Längs des Weges der hinteren Wurzeln wirkt also der Einfluss der, Centra nach abwärts gegen das Muskelpräparat hin fort. Von dieser allgemeinen Erfahrung ausgehend, wurde sofort untersucht, welcher Natur der Einfluss sei, der sich auf diesem Weg fortpflanzt und wie er sich von dem unterscheidet, welcher längs der Bahn vorderer Wur- a a Se zelfasern zum Muskelpräparat gelangt. Dabei fand sich. erstens, dass in Folge der Durchschneidung der. hinteren Wurzeln .die Reizbarkeit des Nervenstammes sinkt und damit zugleich auch überhaupt die Leich- tigkeit, Zuckungen durch die Reizung auszulösen, geringer wird. 'Bei- des lässt sich dadurch corrigiren, dass man :die durchschnittenen hin- teren Wurzeln chemisch reizt. Zweitens. wurde beobachtet, dass die Reizbarkeit des gemischten ‚Stammes steigt, ‘wenn die vorderen "Wur- zeln durchsehnitten werden. Daraus folgt nun schliesslich, dass es im ebene Organis- mus zwei entgegengesetzt gerichtete Kräfte gibt, welche von den Cen- tralorganen aus längs der Bahnen von Fasern vorderer und hinterer Rückenmarkswurzeln auf das Muskelpräparat wirken, um den Grad der Leichtigkeit zu bestimmen, mit welchem ein den gemischten Ner- venstamm treffender Reiz das Gleichgewicht der Kräfte zu stören im Stande ist, welches herrscht, so lange der Muskel in Ruhe ist, Erschwert wird diese Störung durch diejenige Kraft, welche sich längs der vorderen Wurzeln fortpflanzt, erleichtert durch « eine solche, welche längs der hinteren Wurzeln fortwirkt.' Diese Thatsachen geben im Zusammenhang mit dem, was wir über den Einfluss der Länge eines gereizten Nervenstückes in Erfahrung gebracht haben, eine Vorstellung von dem Spiel der Kräfte, aus wel- chen .die Thätigkeitsäusserung des Nerven zuletzt resultirt. Die normale Function -eines Theiles des lebendigen Körpers ‘besteht in einem, in bestimmten Grenzen gehaltenen Maass von Kraftentwieklung. Sieht man, dass ‚in den Centralorganen besondere Vorkehrungen getroffen sind, in Folge deren zwei entgegengesetzt ‚gerichtete Kraftwirkungen ausgehen, so muss in. dem Nerv-Muskelpräparat ebenfalls ein Kräfte- paar vorhanden sein, welches in ähnlicher Weise in: entgegengesetzter Richtung wirkt. Findet man dann unzweideutige Beweise ‚dafür, dass solche entgegengesetzt gerichteten Kräfte in dem Nerven für sich‘ herr- schen, so sieht man leicht ein, wie die normale Function eines Nerven erst aus der Zusammenwirkung der einzelnen kleinsten Nervenstücke und der Centralorgane resultiren kann. Man darf sieh darnach vorstellen: In jedem kleinsten Nerven- stück, in jedem Querschnitt wirken entgegengesetzt gerichtete Kräfte auf einander, deren Gleichgewicht bald zu Gunsten der einen, bald zu Gunsten der anderen in Folge der. verschiedensten Ursachen ‚ge- stört sein kann. Die resultirende Wirkung dieses Confliktes wirkt mitbestimmend auf die im nächsten kleinsten Abschnitt und so fort —_— 345 — durch die ganze Länge des Nerven. - Das Endresultat aller dieser einzelnen 'Gegenwirkungen im peripherischen Nerven wird aber selbst wieder in Abhängigkeit gebracht von den entgegengesetzt geriehteten Kräften, welche sich von den Centralorganen ausgehend auf das com- plieirte Nerv-Muskelpräparat ausdehnen. Sobald dieser regulatorische Einfluss wegfällt, d. b. sobald der Nerv durchsehnitten wird, tritt die Wirkung des zufälligen Spieles von Anregungen auf, welche den Nerven treffen, und es beginnt ein Weehsel der Reizbarkeit, welcher als nach- theilig für die Function des_unversehrten Nerven von ihm ferne gehalten wird, eben durch die regulatorischen Wirkungen der Centralorgane. Damit habe ich den ersten Kreis meiner Untersuchungen geschlos- sen, welche zunächst nur Zweierlei anzubahnen hatten: einen Weg, den galvanischen Grundversuch für vergleichende Untersuchungen messbar zu machen und sich im Allgemeinen weitere Kenntnisse von der Func- tion der einzelnen Nervenbestandtheile und den Wirkungen zu erwer- ben, welche die Abänderung der sogenannten Lebensreize hervorrufen. Jeden einzelnen Punkt habe ich vorläufig nur bis zu einer gewissen Grenze hin verfolgt, nehmlieh nur so weit, bis sich dessen Einfluss auf die Maassbestimmungen an sich übersehen liess. Denn alle die einzelnen Fragen über Wasserverlust oder Quellung, Druck oder Er- wärmung und Erkältung wurden nicht um ihres eigenen Interesses wil- len in Angriff genommen, sondern nur desshalb, um die Grenzen der Fehler und das Gebiet der Vorsichtsmaassregeln abzustecken, welches für die allein im Auge behaltene Maassbestimmung zu kennen noth- wendig erscheinen musste. e Verzeichniss meiner Abhandlungen, in welchen für das Voranstehende die näheren Aufschlüsse zu finden sind. „Molekuläre Vorgänge in der Nervensubstanz, I. Abhandlung “; in den Abhand- lungen der mathemat. physik. Classe der kgl. Bayr. Akademie der Wissen- ' schaften. Bd. XXXI, pag. 313. II. Abhandlung; ibid. pag. 529. III. und IV. Abhandlung erscheint im XXXII. Bd. (im Druck). „Ueber Maassbestimmungen der Nervenreizbarkeit“; in den Münchner Gelehrten - Anzeigen, 1858, Bulletin vom 27. December. „Ueber Apparate zu neurophysiologischen Untersuchungen“; ibid. 1857, Bulle- ‘ “tin vom 10. und 13. März. „Ueber den Einfluss der feuchten Wärme auf die-Nerven und über die soge- nannten Modi der Erregbarkeit“; ibid. 1859; Bulletin vom 28. März. „Ueber Muskelzuckungen bei dem Vertrocknen der Nerven“; ibid. Bulletin vom 16. März 1859. „Ueber den Einfluss der Länge eines gereizten Nervenstückes “; ibid. Bulletin "vom 3; Sept. 1859 — 346 — „Ueber Lebens-Reize der Nerven“, im bayr. ärztlichen Intelligenzblatt vom 23. April 1859. „Ueber physiologische Vermittlungswege paralytischer und paretischer Erschei- nungen“; ibid. vom 27. März 1858. „Ueber die sogenannten Modi der Nerven-Erregbarkeit“; ; ibid. vom 16. Febr. 1859. „Ueber die Bedeutsamkeit der Nervenhüllen“; in Henle und Pfeufer’s Zeitschrift für rationelle Medizin von 1858. „Ueber Muskelzuckungen bei Nerven-Vertrocknung* ; ibid. 1859. „Ueber den Einfluss der Temperaturen und 'Temperatur-Schwankungen auf die motorischen Nerven“; ibid. 1859. Dr. E. Harless. Ueber Meteoriten. Ein Vortrag, gehalten in der Sitzung des wissenschaftlichen Vereins am 31. October von Professor Dr. A. KENNGOTT. Die vielfachen Beobachtungen derjenigen Erscheinungen, welche Meteoritenfälle begleiten, sowie die Untersuchungen der chemischen und mineralogischen Beschaffenheit der Meteoriten haben zwar bis jetzt keine genügende Kenntniss ihrer Herkunft ergeben, doch konnte man einen Zusammenhang der sogenannten Sternschnuppen und der Feuer- kugeln mit den Meteoriten nicht verkennen, weil darauf gewisse Er- scheinungen hinwiesen, so wie andererseits die in Meteoriten gefunde- nen mineralischen Substanzen mit grosser Wahrscheinlichkeit vermuthen liessen, dass die Meteoriten mit unserer Erde und den Planeten über- haupt Ferkel sind. Wenn wir daher nach der Entstehung dieser wie jener fragen, so müssen wir wohl zugeben, dass noch manche Zweifel übrig sind, da über die Entstehung der Erde sich bekanntlich Meinungen der ver- schiedensten Art gegenüberstanden und wir, wenn auch die Mehrzahl der Geologen in einer Ansicht übereinstimmt, immerhin die Möglich- keit zugeben müssen, dass die herrschende Ansicht Modificationen er- leiden kann, ja dass selbst in Zukunft eine andere Ansicht als die bessere angesehen wird. Es erschien nun im vorigen Jahre in Poggendorf’s Annalen Band 105, Seite 438 ff. ein Aufsatz, worin Freiherr von Reichenbach die Meteoriten und die Kometen und ihre gegenseitigen Beziehungen ausführlich besprach, und ein zweiter (im gleichen Bande, Seite 551 ff.) über die Anzahl der Meteoriten nebst Betrachtungen über ihre Rolle im Weltgebäude. Durch diese Aufsätze suchte Reichenbach darzulegen, dass die Meteoriten ihren Ursprung von Kometen herleiten und dass alle planetarischen Körper mit unserer Erde sich von keinem anderen als von meteoriti- schem Ursprunge ableiten lassen, mithin also die Stellung.der Meteori- — 3147 — ten ziemlich genau zwischen die Kometen und Asteroiden falle, die Kometen der Ausgangspunkt sowohl der Meteoriten als auch der As- teroiden und der Planeten sind. Bei dem Interesse, welches solche Ansichten nicht allein für den Geologen, sondern für jeden Freund der Wissenschaft überhaupt er- regen müssen, ist es meine Absicht, im Nachfolgenden die Reichen- bach’sche Schlussfolgerung in Kürze auseinander zu setzen und die Hauptpunkte einer näberen Besprechung zu unterwerfen, um zu er- sehen, in wieweit die einzelnen Punkte in das Gebiet der Möglichkeit gehören und wie einzelne sich als unwahrscheinlich herausstellen. Im Eingange der ersten Abhandlung bemerkt Herr von Reichenbach, dass zur richtigen Beurtheilung solcher Verhältnisse es für den Forscher nothwendig sei, eine grosse Anzahl von Meteroriten überblicken zu können und dass er darum eine Art von Beruf fühle, sie zu bespre- ehen, weil er in der günstigen Lage umfassender Beobachtung sei, als Besitzer der zweitgrössten Meteoriten-Sammlung, die gegenwärtig Ei- genthum der Universität zu Tübingen ist. Mir war dagegen durch meine mehrjährige Stellung in Wien die Gelegenheit geboten, die da- selbst befindliche Meteoriten-Sammlung, die grösste der Gegenwart, oft zu durchmustern und desshalb glaube auch ich, darin eine Aufforde- rung zu finden, diesen Gegenstand heute zu besprechen. Aus den Beobachtungen der Kometen schlossen die Astronomen (wie Reichenbach angiebt), dass: 1) der Kometenschweif nothwendig aus einem Schwarme überaus kleiner, aber fester Partikelchen, also Körnchen bestehen müsse ; 2) dass jedes einzelne Körnchen von jedem anderen sich in wei- tem Abstande befinden müsse, und zwar in so grossem, dass die Licht- strahlen zwischen ihnen mit Leichtigkeit durchgehen können; 3) dass sich diese Körnehen, im Raume schwebend, frei bewe- gen und dem Einflusse äusserer und innerer Agentien ungehindert nachgeben, sofort sich untereinander anhäufen, verdichten oder aus- dehnen können; dass der Kern des Kometen, wo einer vorhanden ist, nichts anderes als eine solehe Anhäufung von aus Partikelchen beste- hender lockerer Substanz sei. Wir hätten also, um es kurz zu sagen, an den Kometen einen lockeren, durchsichtigen, beleuchteten, frei beweglichen Schwarm kleiner fester Körnchen, schwebend im leeren Weltenraume. — 38 — Die Untersuchungen der Meteoriten zeigen nach Reichenbach, dass wir an ihnen, sowohl den Stein- als Eisenmeteoriten (den Meteorstei- nen und Meteoreisen, welche eine fortlaufende Reihe in eine Kategorie gehöriger Körper darstellen) und zwar bei der grösseren Mehrzahl der- selben ein Aggregat von fertig ausgebildeten Kügelchen haben, die in manchen Stein- und Eisenmassen so überhand nehmen, dass sie allein fast den ganzen Meteoriten ausmachen. Sie sind oft so schön rund, wie abgedrechselt, bisweilen auch unrund, hie und da selbst noch mehr oder weniger eckig und liegen nicht selten so lose im Gestein, dass sie von selbst (beim Zertheilen der Meteorsteine natürlich) aus ihrem Lager sich auslösen und dann herausfallen, eine leere glatte Kugelschale hinterlassend. Ein jedes solches Kügelchen aber ist einzeln genommen eine Bil- dung für sich, ein abgesondertes krystallisirtes Individuum. Es hat seine eigene Entstehungsgeschichte und besitzt sein Dasein für sich. Wir finden es in einem Steine eingeschlossen, aber es existirt als Fremdling darin. Als der Stein gemacht wurde, war es schon früher vorhanden, von älterem Dasein als der neu entstehende Stein und wurde fertig darin aufgenommen. Es diente als Baumaterial zum Me- teoriten, in welchem wir es antreffen, als früheren, längst vorräthigen Stoff dazu. Ein jedes Kügelchen war früher ein ganzer'und vollstän- diger, wenn gleich winziger Meteorit. Diese Kügelchen (die aber, wie wir später erfahren, ursprünglich Krystalle waren, nur zu Kügelchen abgerieben wurden) bildeten sich aus Gasen, welche als Elementarbestandtheile der Meteoriten im Wel- tenraume schwebten, indem sich die Atome beim Festwerden bestimmt gruppirten. Denken wir uns nun mit Reichenbach einen Raum von Millionen Meilen Durchmesser, so gross etwa, wie ihn ein Kometen- schweif einnimmt, erfüllt mit gasförmiger Materie, die zu krystallisiren bestrebt ist, so werden sich Milliarden kleiner Krystalle bilden, die gebildet nicht bedeutend grösser werden können, als sie es gleich an- fänglich wurden, da der Stoff um sie her gleichzeitig vergeben wurde. So hat sich eine unendliche Anzahl kleiner Krystalle in einem mäch- tig grossen Raume bilden müssen, die alle in einem Abstande von einander sich befanden, der dem Raume entsprach , den Ai von ihnen aufgenommenen gasförmigen Atome einnahmen. Das Ganze dieser suspendirten Krystalle würde man einen Ne- belfleck nennen, und ‚wenn dieses ungeheure Heer kleiner Indivi- — 349 — duen sich in gleicher Richtung in Bewegung setzte, so hiesse es ein Schwarm. Das Material der Meteoriten bildete also in einem zwei- ten Stadium solche Schwärme. Was und welche Kraft ein solches Heer in Bewegung setzte, da- von wurde abgesehen, es genügte hier zu zeigen, dass ausser den Kometen und Kometenschweifen noch andere Schwärme fester Kör- perchen im Weltenraume möglieh und wahrscheinlich sind, ja noth- wendig als vorhanden erschlossen werden müssen. Solche Schwärme, soweit sie Meteoriten angehen, besitzen alle Eigenschaften, welche wir an den Kometen und ihren Schweifen wahrnehmen. Sie sind wie diese aus kleinen festen Körperchen bestehend, die kein Eigenlicht haben; sie sind bei hinlänglicher Ausbreitung und weiterem Abstande von einander durchgängig für das Licht, sie brechen es. nicht, aber sie polarisiren es, wenn es von einem anderen Sterne auf sie trifft, wie etwa von der Sonne; sie lassen keine Phasen zu, weil das fremde Licht den losen Schwarm überall durchdringt, sie sind nach ‘aussen und nach innen verschiebbar und jedem äusseren Impulse nachgebend, daher än Gestalt veränderlich und bei grosser innerer Ausdehnung irn Ganzen von geringem specifischen Gewichte. Aus der ungleichen Vertheilung der verschiedenen Grundstoffe und dem Walten ihrer Kräfte kann eine dichtere, stellenweise Aggre- gation hervorgehen und so die Erscheinung von einem oder mehreren Kernen erzeugen, | Sind somit die Meteoriten in diesem Zustande der Entwickelung den Kometen gleich zu stellen, so könnten .jetzt gewisse Fragen we- gen der Zahl und Grösse der Kometen und Meteoriten aufgeworfen werden und in Betreff dieser zeigte Reichenbach, dass kein Wider- spruch vorhanden ist. "Für uns ist auch im Augenblicke die Discus- sion solcher Fragen ohne Interesse, zumal Zahlen auf die Natur der Sache hier keinen Einfluss haben. Einige andere Fragen, welche als Einwürfe aufgestellt werden könnten, und viel wichtiger sind, muss ich hier gleichfalls übergehen, weil Reichenbach selbst in der-Beurtheilung. dieser Punkte von seinem Gedankengange abweicht und die fertigen Meteoriten mit in diese Be- trachtung zieht; diesem Beispiele können wir nicht folgen, ohne das Verständniss seiner Ansicht von vornherein zu stören, Innerhalb der Kometen, welche also als Meteoriten in vorgeschrit- tenem Entwicklungsgange betrachtet werden, gewahren wir Verdich- — 350 — tungsstellen und schliessen, wie Reichenbach fortfährt, mit einiger Wahrscheinlichkeit, dass der innere Zustand kein stabiler, sondern ein im Verdichtungsgeschäft fortfahrender sei; dass der Kern auf Kosten des Schweifes zunehme und ihn vielleicht nach und nach ganz absor- bire, der Komet sich somit endlich ganz consolidire und Meteorit werde. Zu diesem Sprunge im Schliessen, den Reichenbach zugiebt, da er sich nicht aus den Beobachtungen der Astronomen ergiebt, fin- det sich Reichenbach durch die Meteoriten selbst veranlasst. Sie er- scheinen plötzlich als fertige feste Körper aus dem Weltenraume her auf der Erde, und wenn nach seiner Darstellungsweise die Schwärme fester Meteoritentheilchen den Kometen gleich zu stellen sind, die Me- teoriten selbst als fertige feste Körper aus dem Weltenraume auf der Erde ankommen, so muss nothwendig die durch die Kometenkerne angedeutete Verdichtung weiter fortgeschritten sein, wenn das End- resultat die Meteoriten sind. Es wäre somit das dritte Stadium der Meteoritenexistenz das der allmäligen Verdichtung und das vierte das der festen Meteoriten. Hieraus haben wir nun ersehen, wie Reichenbach die. Entwicke- lungsgeschichte der Meteoriten vom ersten Ursprunge an darstellt: Gas- anhäufungen im Weltenraume ergeben Kometenmassen, in solchen Ko- metenmassen tritt partielle Verdichtung ein und schliesslich sind die Meteoriten fertig, die kleinen Planeten, die durch Herabfallen auf an- dere zur Vergrösserung derselben beitragen. Bevor wir zu der übersichtlichen Darstellung des zweiten Auf- satzes übergehen, welcher die Anzahl der Meteoriten und die Rolle derselben im Weltengebäude zum Gegenstande hat, muss ich noch eines Punktes gedenken, welchen Reichenbach selbst am Schlusse sei- ner Meteoritenbildung hervorhebt und somit als zum Verständniss noth- wendig ansieht. Seine Theorie würde, wie er richtig meint, folgern lassen, dass die Meteoriten aus lauter Krystallen zusammengesetzt seien und es wäre zu erörtern nothwendig, warum diess nicht der Fall sei, sondern warum sie grösstentheils aus Kügelchen bestehen, was nicht in der Ordnung der Krystallisationsgesetze und ihrer Ausprägung in der Na- tur liege, die nur eckige und kantige Formen erzeuge. Betrachte man nämlich eine Reihe von Meteoriten auf dem Bruche, so sehe man bald, dass sie nichts weniger als ruhig gebildete oder auch nur einigermassen geordnete Körper sind, wie die meisten ge- wöhnlichen Steine, die wir in der Erde finden; sondern dass sie ein — 351 — sehr unruhiges verwirrtes Erzeugniss, ja meist nichts anderes als eine wahre Breccie ausmachen. Alle erscheinen auf dem Bruche wie ein Trümmergestein, nicht von sehr verschiedenartigem Materiale, sondern meist aus grösseren und kleineren Stücken von den Meteoriten selbst. Hieraus schliesst Reichenbach, dass die Conglomeration der Meteoriten, nachdem die kleinen Partikeln, die kleinen Krystalle bereits gebildet waren, ganz augenscheinlich. nicht immer in grosser Ruhe, sondern unter Mitwirkung von allerlei gewaltsamen Druck und Stoss, also in einem wechselnden Gedränge vor sich gegangen sei, das nicht bloss Spuren hinterlassen, sondern ganz wesentliche Einwirkung auf die Gestaltung der unter seinem Einflusse gebildeten festen Steine ausge- übt habe. Diess gehe auch aus der Betrachtung der Kometen her- vor, die eine beständige Beweglichkeit erkennen lassen. Die näheren Bestandtheile müssten sich in einer fortdauernden Unruhe befinden, in dieser sich untereinander treffen, sich häufen, sich stossen, sich rei- ben, im Kerne sich drängen, quetschen, verletzen, brechen und wie- der zusammendrücken. Das Ergebniss dieser inneren Unruhe könne kein anderes sein, als dass die Kometenkerne sich als eine Breccie formen, die im Schweife schwebenden kleinen ursprünglichen Kryställ- chen, da wo sie zusammengedrängt werden, ihre Spitzen und Kanten an einander gegenseitig abreiben und endlich als abgerundete Kügel- chen übrig bleiben. Die davon abgeriebenen Theilchen wären feiner Sand und Staub geworden und die Meteoriten zeigen, dass sie haupt- sächlich aus einer Art von erdiger Grundmasse bestehen, die nichts als ein mehr oder minder feiner Staub sei, unter dem Mikroskope wieder nur aus krystallinischen Flittern bestehend, die mit der Sub- stanz der Kügelchen sich chemisch gleich verhalten. Dass die Kü- gelchen abgerundete, früher eckige Krystalle seien, davon könne man sich durch ihre Spaltbarkeit überzeugen, die mit der der Krystalle übereinstimme, Eines Bindemittels bedürfe endlich das Conglomerat nicht, da die im luftleeren Raume gebildeten Conglomerate durch den Druck unserer Atmosphäre zusammen gehalten werden. In der zweiten Abhandlung sah sich Herr von Reichenbach ver- anlasst, zunächst die Anzahl der Meteoriten zu besprechen, um zu zeigen, dass sie dadurch eine grosse Bedeutung haben, weil ihre Zahl und Masse ausserordentlich gross sei, soweit wir diess nur aus den- jenigen Meteoriten beurtheilen, welche unsere Erde treffen. Man hat bekanntlich erst in den letzten Jahrzehnten Meteoriten gesammelt und — 352 — den Meteoritenfällen besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Die ge- sammelten Nachrichten ergeben im Allgemeinen, dass seit 75 Jahren 150 Meteoritenfälle bekannt sind, wo beiläufig bemerkt bei einzelnen Tausende von Stücken niederfielen, bei einzelnen das Gewicht eines Meteoriten nach Centnern zu bestimmen ist. Aus diesen durehschnittlich zwei Meteoritenfällen in einem Jahre schliesst Reichenbach, mit Berücksichtigung der Umstände, dass die in der Nacht fallenden unbemerkt vorübergehen, dass viele beobach- teten Meteoriten keine Stücke auffinden liessen, dass drei Viertheile der Erdoberfläche mit Wasser bedeckt sind und nichts finden lassen, dass die Hälfte der Fälle sicherlich auch auf dem Festlande am Tage unbemerkt bleiben und dass bis jetzt auf dem 47ten Theile des trocke- nen Antheils der Erde Meteoriten beobachtet worden sind, aus allen diesen Umständen schliesst Reichenbach, dass jährlich mit Wahrschein- lichkeit 4500 Fälle stattfinden und wenn man jeden einzelnen Fall mit einem Centner Gewicht durchschnittlich veranschlage, - jährlich 4500 Centner Meteoritenmasse zur Erde niedergehen. Wenn diess durch Millionen von Jahren so fortgegangen sei, so müsste wohl ein bedeu- tender Zuwachs durch Meteoriten eingetreten sein. Ein. soleher verhältnissmässiger Zuwachs durch Meteoritensubstanz käme dem Monde und den anderen Planeten zu und somit wäre er- sichtlich, dass dadurch mit der Zeit Veränderungen erzielt werden müssten, die auf die Grösse, das Gleichgewicht, die Stellung und den Lauf der Planeten Einfluss hätten. Ja es könnte möglich sein, dass die Erde, ein ursprünglicher Meteorit, wie die anderen Planeten und Asteoriden allmälig aus Meteoriten aufgebaut worden sei, die auf den ursprünglichen niederfielen. Doch wir wollen uns vor der Hand nieht zu weit in dieser Hypothese versteigen, uns genügt durch sie zu wis- sen, dass die Meteoriten Material zur Vergrösserung liefern können und liefern. Die übrigen Poike) welehe Reichenbach bespricht un welche ihre wichtige Rolle im Weltgebäude bekunden sollen, gehen von die- ser Vergrösserungstheorie aus, die eben dann von Wichtigkeit ist, wenn das durch Meteoriten gelieferte Material ein so massenhaftes ist. Es würde zu weit führen, wenn ich sie jetzt einzeln angeben wollte und ich glaube, dem Zwecke dieses Vortrages zu entsprechen, wenn ich den Schluss der Abhandlung wiedergebe, um Zeit für die Be- sprechung zu gewinnen. Fassen wir nun, sagt Reichenbach am Ende seiner sich steigern- —_— 3553 — den Hypothesen, das Gesagte in engen Rahmen zusammen, so fin- den wir: 1) dass täglich wenigstens 12, jährlich 4500 Meteoriten auf die Erde niederfallen ; 2) dass davon manche sehr klein, manche aber gross und meh- rere Hunderte und Tausende von Centnern schwer sind; 3) dass grosse Massen, die auf der Erde zerstreut umherliegen, wie manche Dolerite meteoritischen Ursprunges zu sein scheinen; 4) dass die Meteoriten endlich nothwendig auf das Gleichgewicht der Erde einigen Einfluss haben müssen ; 5) dass die auf der Oberfläche der Erde sich wiederholenden Flötzformationen mit ihren verschütteten Lebwelten einzelnen grossen Meteoritenstürzen und ihren Folgen zugeschrieben werden können; 6) dass wir fast alle Mineralspeeies, die sich in den Meteoriten vorfinden, in den vulkanischen und plutonischen Gesteinen des Erd- balls gewahren; 7) dass die Grundstoffe, welche die Meteoriten enthalten, ohne Ausnahme schon auf der Erde vorräthig sind; 8) dass das speeifische Gewicht der Erde und das der Gesammt- heit der Meteoriten. sich als gleich ergiebt, die Verwandtschaft also von allen Seiten überaus gross ist; 9) dass sich selbst die Erdwärme mit ihrer Zunahme nach- der Tiefe und die Laven sammt den vulkanischen Feuern sich an die Feuererscheinungen und die Rindenschmelzhitze reihen, mit welcher die Meteoriten ihren Zutritt zur Erde bezeichnen ; 10) dass die Erde somit auffallende Analogie mit den Meteori- ten zeigt und möglicherweise selbst nichts anderes ist als ein Aggre- gat von Meteoriten; 11) dass Trabanten, Asteroiden und Planeten sich in ähnlichen Verhältnissen befinden und & 12) dass die Grössen-Verschiedenheiten der Planeten unter sich proportional denen der Meteoriten unter sich sind und sich dasselbe für die:Stoffverschiedenheiten aus der Erfahrung ableiten lasse. Der gemeinschaftliche Knotenpunkt, in welchem alle diese Fäden zusammenlaufen, sei sichtlich nichts anderes, als eine Hinweisung auf die Wahrscheinlichkeit, dass alle planetarischen Körper mit unserer Erde sich von keinem anderen als von meteoritischem Ursprunge ab- leiten. Mit gleichem Rechte würde man umgekehrt sagen: Alle Me- teoriten Sind augenscheinlich nichts anderes, als kleine Planeten, die Wissenschaftliche Monatsschrift. IV. 23 —_— 354 — in unserem Sonnensysteme umlaufen. Vom grössten Planeten bis zum kleinsten Meteoriten bestehe nur eine fortlaufende Reihe. Nachdem wir nun in Kürze die Reichenbach’schen Ansichten ge- schildert haben, so müssen wir, um zur Beurtheilung derselben über- zugehen, zunächst die Meteoriten überblieken, die eine Reihe von Kör- pern darstellen, "deren Endglieder sehr verschieden sind, die aber un- ter einander einen unverkennbaren Zusammenhang haben. Wir unterscheiden die Meteoriten zunächst als Meteorsteine und als Meteoreisenmassen. Die Meteorsteine sind steinartige Körper, krystallinisch-körnige Aggregate von verschiedener, meist geringer Grösse des Kornes, welche im Aussehen an gewisse Gebirgsarten, doleritische und basaltische Ge- steine erinnern und der Hauptsache nach verschiedene Silikate enthal- ten, welche den Silikaten solcher Gesteine entsprechen. In der Me- teorsteinmasse, die nicht immer ein gleichartiges Gemenge bildet, findet sich oft Eisen eingesprengt, während es einzelnen Meteorsteinen fehlt und somit dieselben als eisenfreie von den eisenhaltigen unterschei- den lässt. Die Meteoreisenmassen erweisen sich uns als compacte Massen, deren Hauptbestandtheil mehr oder weniger deutlich krystallinisches Meteoreisen ist, nickelhaltiges Eisen, welches meist mit einer eigen- thümlichen Verbindung von Phosphor-Nickeleisen durchmengt ist und durch dieses häufig auf polirten Schnittflächen durch Aetzen mit Sal- petersäure die sogenannten Widmanstettenschen Figuren ergibt, deren Erscheinung, eine Folge der krystallinischen Anordnung der Eisen- theilchen und der durch sie bedingten Einlagerung der Theile des Phosphor-Nickeleisens, als ein Kennzeichen meteorischer Eisenmassen angesehen wird, ohne dass es desshalb nothwendig ist, dass alle Me- teoreisen solche Figuren ergeben müssen, ebensowenig als es noth- wendig ist, dass jedes Meteoreisen Nickel enthalte. Von diesen Meteoreisenmassen unterscheiden sich diejenigen, welche gleichsam ein Eisenskelett darstellen, eine löcherige, verästelte, zellige Eisenmasse, deren Hohlräume mit Krystallkörmern von Olivin, einem Silikat der Talkerde mit etwas Eisenoxydul, angefüllt sind und durch diese Vereinigung von Eisen mit einem, auch in Meteorsteinen vor- kommenden Silikate auf die Verwandtschaft mit den eisenhaltigen Me- teorsteinen hinweisen, welche Verwandtschaft durch den in neuester Zeit aufgefundenen Meteoriten von Hainholz im Paderbornschen noch mehr bestätigt wird, da derselbe als Gemenge von Eisen und Olivin WE nr DE TE En Ba — 3555 — so reich an Olivin ist, dass er, wie Wöhler und G. Rose ihn be- schrieben, an der Grenze von Meteorsteinen und Meteoreisen steht und wie Reichenbach angab, das Eisen desselben auch kugelförmige Stücke in der körnigen Olivinmasse darstellt. Wir können somit ohne Bedenken alle Meteoriten in eine zusam- mengehörige Reihe stellen, wenn auch ihre extremsten Glieder völlig ungleich sind. Die Verwandtschaft der gesammten Meteoriten untereinander, die in der Hauptsache hiernach krystallinische Aggregate von Silikaten, von Silikaten und Meteoreisen und von Meteoreisen darstellen, wird ferner durch die Gleichartigkeit der Erscheinungen bestätigt, welche bei ihrem Herabfallen auf die Erde vielfach beobachtet und beschrie- ben worden sind und demnach als bekannt vorausgesetzt werden können. Bemerkenswerth ist hierbei, dass die Meteoriten bei ihrem Herabfallen auf unsere Erde an der Oberfläche schmelzen und die Schmelzrinde deutlich erkennen lassen, die nur nach der Natur der Meteoriten ab- weichend ist. Bei Fällen von Meteoriten hat man ferner beobachtet, dass entweder einer oder mehrere, ja bis Tausende herabfallen, und dass einzelne Meteoriten zerplatzen und ihre Bruchtheile herabfallen, womit auch das Fallen vieler auf einmal zusammenhängt, wenn auch nicht immer das Zerplatzen beobachtet worden ist. Aus Allem konnte man mit Wahrscheinlichkeit schliessen, dass die Meteoriten kosmische Körper sind, welche bei der zufälligen An- näherung an unsere Erde von ihr angezogen mit entsprechender Ge- schwindigkeit herabfallen und dadurch die bekannten Fallerscheinungen hervorrufen. Ihr früheres Verhalten im Weltenraume ist uns völlig unbekannt, wir wissen nicht, ob sie unserem Planetensysteme ange- hören, ob sie wie andere planetarische Körper um die Sonne kreisen oder ob sie zufällig in den Bereich unseres Planetensystems gelangen, wenn gleich die Stoffe, welche sie enthalten, als unserer Erde analoge oder gleiche vermuthen lassen, dass sie der Erde verwandt mit unse- rem Planetensysteme zusammenhängen, ebenso gut aber auch als Fremd- linge desselben betrachtet uns nur den Beweis liefern könnten, dass die stofflichen Verhältnisse der Weltkörper überhaupt nicht weit aus- einander gehen. Dass die Meteoriten einen Beitrag zu unserer Erdmasse liefern, ist auch 'Thatsache und wenn schon so lange als die Erde besteht, Meteoriten auf dieselbe niedergefallen sind, so müsste wohl die Menge des Erdstoffes durch sie vergrössert worden sein, doch möchte es bei —_— 356 — dem bekannten geologischen Bau unserer Erdrinde als zu weit gegrif- fen erscheinen, schon jetzt die Erde als ein Agglomerat von Meteori- ten anzusehen. Die dafür vorgebrachten Beweise sind viel zu schwach, um diess wahrscheinlich zu machen. Selbst wenn der von Reichen- bach dargestellte Verlauf der Meteoritenbildung keinen Widerspruch erleiden könnte, so würden die Vorgänge auf unserer Erde verglichen mit dem geologischen Bau der Erdrinde die Beweise widerlegen lassen. Da es uns zu weit führen würde, das, was andere Forscher über den Ursprung der Meteoriten geäussert haben, zu berühren, zumal Reichenbach, nach unserer Meinung mit Unrecht, ganz davon absah, so wollen wir an unserer Aufgabe dieses Vortrages festhalten und finden dabei, dass Reichenbach den Verlauf der Meteoritenbildung im Allgemeinen mit Wahrscheinlichkeit schilderte, wie es bei so entfernt liegenden Bildungsprocessen nur möglich ist. Wenn er voraussetzt, dass im Weltenraume Gase vorhanden sind, die sich zu Massen, oft von grossen Dimensionen anhäufen, so wider- spricht diess zwar nicht den Beobachtungen, es müssten jedoch so grossartige Anhäufungen von Gasmassen, von Gasen der verschieden- sten Art, die Räume von Millionen Cubikmeilen innerhalb unseres Planetensystems einnehmen, auf astronomische Beobachtungen biswei- len störend einwirken; wenn man sie aber in grosse Entfernungen aus- serhalb unseres Systems versetzte, so würden sie als Nebelflecke er- scheinen, wie wir deren wirklich viele beobachtet wissen. Da diese Gasmassen aber von Reichenbach mit den Kometen in Zusammenhang gebracht werden, die unsere Sonne umkreisen, so müssten sie, zumal so ungeheures Material von Meteoriten auf alle planetarischen Körper fallen soll, unfehlbar durch Störungen der astronomischen Beobach- tungen, wenn auch nur vorübergehend empfindlich werden. Dergleichen Störungen aber sind nicht bekannt, die beobachteten Nebelflecke liegen viel zu fern und somit wäre ihre Existenz in unserem Planetensysteme fraglich. Von den Meteoriten können wir jedoch mit Bestimmtheit sagen, dass sie in unserem Planetensysteme existiren und von den Kometen wissen wir, dass sie die Sonne umkreisen, wollten. wir aber beide miteinander und mit den Gasmassen, die sich in Kometen um- bilden sollen, im Zusammenhang festhalten, so müssten wir wenigstens annehmen, dass das erste Stadium der Meteoritenexistenz, die Existenz in Form von Gasmassen längst vergangenen Zeiten angehört und wir sie nur in ihrem zweiten Stadium, als Kometen in unserem Planeten- — 357 — systeme voraussetzen, die wir wirklich beobachtet wissen und deren Anzahl nicht gering ist. Es ist damit nicht als unwahrscheinliche Sache erklärt, dass die Kometen und Meteoriten von Gasmassen herstammen, wir könnten diese Abstammung recht gut beibehalten uud überhaupt annehmen, dass solche Gasmassen früser existirten, da wir ja auch von unserem Pla- netensysteme mit seiner Sonne voraussetzen, dass es einst eine Gas- masse von ungeheurer Ausdehnung gewesen sei und solche Gasmassen als Nebelflecke kennen, die im Weltenraume schwebend nicht allein zur Bildung einzelner Weltkörper, sondern selbst zur Bildung von Körpersystemen Veranlassung geben. Wir hätten somit diesen ersten Zustand der Meteoriten nicht widerlegt, sondern die Reichenbach’sche Hypothese insoweit modifieirt, als wir annehmen, dass aus derselben massenhaften Anhäufung von Gasen, welche unserem Planetensysteme ihr Dasein gab, die Sonne, die Planeten und Kometen hervorgegangen sind, die Meteoriten aber als solche innerhalb unseres Planetenusystems wie die Planeten und Asteroide existiren oder noch in Form von Ko- meten unsere Sonne umkreisen. In der Annahme, dass einzelne Sterne und Sternensysteme einst in Form von Gasmassen existirten, oder das solehe Gasmassen noch existiren, um einst in Planetensysteme übergeführt zu werden, dass überhaupt die festen Weltkörper sich aus Gasmassen herausbilden, liegt nichts Widersprechendes, weil aus diesem Zustande sich am leichte- sten alle diejenigen Verhältnisse entwickeln lassen, welche bei Ster- nensystemen beobachtet werden. Die Vorstellung ferner, wie aus einer im Weltenraume schweben- den Gasmasse durch den rege gewordenen Krystallisationsprocess ein unendlich zahlreicher Schwarm von Krystallen verschiedener Art ent- stehe, der in seiner Erscheinung mit den Kometen übereinstimmend oder als Komet mit oder ohne Schweif eine bestimmte Bahn einschlage, ist eine ganz sachgemässe und widerspricht keiner Beobachtung, welche über die Entstehung von Krystallen aus Gasen gemacht worden ist, sei es, dass solche mit oder ohne unsere Beihülfe entstehen. Wir könnten demnach wohl annehmen, dass die Kometen Meteoriten sind, welche ihr zweites Bildungsstadium erreicht haben, dem auch noch die Kernbildung folgte, das heisst, wo ein solcher unendlich zahlrei- cher Schwarm von Krystallen neben der Verfolgung einer Bahn eine Annäherung der festen Körperchen aneinander in einem oder mehreren Punkten des Schwarmes, den Kometenkernen zeigt, die aber astrono- — 358 — mischen Beobachtungen zu Folge noch nicht feste undurchsichtige Kör- per geworden sind. Die Durchsichtigkeit der Kometen in allen-ihren Theilen, im Kerne sowohl als im Schweife setzt nun voraus, dass die festen Theil- chen der Kometen in grossen Abständen von einander existiren, weil die Lichtstrahlen überall ungehindert durchgehen und diese Abstände müssen um so grösser gedacht werden, je voluminöser die Kometen sind. Wenn wir aber auch aus der Erscheinung der sogenannten Kerne und der Veränderlichkeit der Schweife schliessen können, dass die festen 'Theilchen der Kometen sich partiell nähern, überhaupt in dem ganzen Schwarme eine stete Beweglichkeit anzunehmen sei, so ist da- mit nicht bewiesen, dass der Komet als solcher fortfahre, sich zu con- solidiren und in dieser inneren Thätigkeit und Beweglichkeit das Ge- schäft eines gegenseitigen Abreibungsprocesses liege, durch welchen die Krystalle zerstossen und zertrümmert, einzelne zu Kugeln abge- rieben würden. Reichenbach erkannte selbst, dass zwischen einem. Kometen mit seinen von einander entfernt liegenden Krystallen und einem auf die Erde fallenden Meteoriten ein grosser Abstand sei, und wenn wir diese Lücke mit einem fortschreitenden Verdichtungsgeschäfte ausfüllen wol- len, weil nach der Meinung einiger Astronomen die Kometenschweife abnehmen, so ist damit noch nicht bestätigt, dass der Kern grösser oder dichter geworden sei. Wir würden uns also hier in der Art der Weiterbildung eine Grenze gesetzt sehen, die wir willkürlich über- schreiten, ja sogar überschreiten müssen, wenn der Komet zum Me- teoriten umgeformt werden soll. Setzen wir nun voraus, dass die anfangs gebildeten festen Theilchen sich einander nähern, dass sie gewissen Anziehungspunkten zustreben, so muss uns auch hier die Beobachtung lehren, wie diese Annäherung vor sich gehe und was für Gebilde sie hervorrufe oder hervorrufen könne. Dazu aber reichen unsere irdischen Beobachtungen nicht aus und wir haben im Bereiche unserer Atmosphäre höchstens die Schneebildung als zur Vergleichung dienendes Objeet, welche uns jedoch zeigt, dass die einfachen Eis- kryställchen bei ihrer Annäherung oder Anhäufung sich ohne solche turbulente Formenstörung verbinden und wenn wir selbst die Bildung des Hagels hinzu nehmen wollten, so ist in diesem wohl eine grös- sere und zum Theil verschiedenartige Anhäufung von krystallinischen Eistheilchen sichtbar, immer aber ohne diese gegenseitige Abreibung. Wo kleinere Krystalle sich zu grösseren vereinen, selbst wenn ver- 56. De ech RE De TEE u Au — 359 — schiedenartige Krystalle zu gleicher Zeit vorhanden sind, wie es in den Kometen vorausgesetzt wird, da kann man wohl eher eine regel- mässige Vergrösserung annehmen, sobald der Raum keine Hindernisse in den Weg legt und da in den Kometen die kleinen festen Körper- chen in sehr grossen Abständen von einander schweben, ja selbst in den Kernen die Abstände noch gross genug sind, um die Durchsich- tigkeit nicht zu hindern, so kann man nicht mit Grund annehmen, dass die gegenseitigen Stösse so stark sind, dass die Krystalle sich gegenseitig zerkleinern und zu Kugeln abreiben. Sehen wir auch in den Meteoriten als Meteorsteinen, die Reichenbach besonders bei sei- nem Abreibungsgeschäft im Auge hatte, ein krystallinisch-körniges Ag- gregat verschiedener Silikate wie in gewissen Gebirgsarten, die sich mit ihnen vergleichen lassen, die Reichenbach sogar mit in die Me- teoritenreihe hineinzieht, ohne an ihnen irgend welche Kügelchen be- obachtet zu haben, so würde uns dieses Aggregat ein Endglied der Kometenumbildung zeigen, jedoch von ganz anderer Art der Bildung; und wenn wir in Meteoriten mitunter, ja selbst wenn wir häufig runde Kügelchen erblicken, so müssen diese nicht durch Abreiben entstan- den sein. So genau man auch die Meteoriten betrachten mag, so findet man nicht, dass sie einem Sandsteine gleichen, sondern wir haben an ihnen ein krystallinisch-körniges Aussehen wahrzunehmen, wie an primitiven Gesteinen, und wenn wir Gesteinsdetritus untersuchen, welcher wie die eisenhaltigen Meteorsteine nicht allein Silikate und andere Mine- rale, sondern auch Metalle enthält, wie die Platin- und Goldhaltigen Sande, so finden wir, dass die Metallkörner am meisten abgeschliffen sind, die anderen Mineraltheile nach dem Verhältniss ihrer Härte und Sprödigkeit abgerieben wurden, während wir in den Meteorsteinen, welche Eisen eingesprengt enthalten, an diesem das Gegentheil wahr- nehmen, in den Meteoreisen, welche Olivin enthalten, das Eisen als eine zusammenhängende zellige Masse vor uns haben, die niemals einem Abreibungsprocesse unterlag. Die Eisenmassen dagegen, welche das- selbe fast rein als Nickeleisen darstellen und die von Reichenbach gar nicht berücksichtigt wurden, erweisen sich als krystallinische Massen von zum Theil ausgezeichneter krystallinischer Bildung, die mehr oder weniger langsam erstarrten. Alle Meteoriten, welche ich gesehen habe, haben für mich nur den Eindruck hinterlassen, dass sie wie krystallinische Gebirgsmassen, die man als Eruptivgesteine betrachtet, sich in einem erweichten Zu- — 360 — stande befanden, aus welchem heraus sie sich krystallinisch entwickel- ten und nun als krystallinische, mehr oder weniger gemengte Massen vorliegen. Hiermit will ich aber ausdrücklich nicht gesagt oder dabei gedacht haben, dass die Meteoriten während ihres Herabfallens durch unsere Atmosphäre schmelzend durch und durch erweichten und nach- her wieder erstarrten, weil während ihres Herabfallens nur die Ober- fläche überschmolzen wurde, wie diesen Vorgang auch Reichenbach in zwei früheren Aufsätzen ausführlich schilderte. (Ueber die Rinden der Meteoreisenmassen und der Meteorsteine in Poggendorff’s Annalen, Band 103, Seite 637 und Band 104, Seite 473.) Es bleibt uns also nach meiner Ansicht zur Zeit noch völlig un- erklärt, wie die Meteoriten feste zusammenhängende Körper wurden, selbst wenn wir zugeben wollten, dass sie aus den Kometen hervor- gegangen sind. Diese stellen uns nur den Ausgangspunkt einer neuen Bildung dar und wir können aus den Kernen, wo die Abstände der festen Körperchen geringer als in den Schweifen zu sein scheinen, ohne dass diess durch mindere Durchsichtigkeit wahrscheinlich gemacht ist, eine Annäherung der Theilchen als möglich erschliessen. Zeugt auch dieses Zugeständniss, dass wir die Endbildung der Meteoriten nicht zu erklären vermögen, ‘von unserer unvollständigen Kenntniss, wie bei manchen anderen Vorgängen in der Natur, so gewinnt auf der ande- ren Seite die Wissenschaft wenig, wenn wir nach einer lieb gewor- denen Meinung sofort beginnen, Alles nach einem Schema zu modeln und entfernt liegende Erscheinungen und Thatsachen so zu vereinen, als läge darin der Beweis für die Richtigkeit der ausgesprochenen Meinung. Von diesem Standpunkte aus betrachten wir den zweiten Aufsatz Reichenbachs über die Anzahl der Meteoriten und ihre Rolle im Weltgebäude. Fast alle Punkte, welche in diesem zur Bekräfti- gung der früher ausgesprochenen Meinung dienen sollen, sind so reich an Unwahrscheinlichkeit, dass man daraus deutlich die Ueberschätzung ersieht, mit welcher ein Forscher so delikater Verhältnisse die Wich- tigkeit seiner Meinung bemisst. Was zunächst die Anzahl der Meteoriten betrifft, so kann eine Berechnung, wie sie Reichenbach durchführte, nur darauf gerichtet sein, zu zeigen, dass die Meteoriten im Stande sind, unsere Erde und die Planeten aufzubauen und dass sie auf diese Weise für uns von grosser Wichtigkeit sein müssen. Eine solche Berechnung aber, die uns belehren soll, dass bei zwei durchschnittlich in einem Jahre be- kannt gewordenen Meteoritenfällen jährlich 4500 Fälle Statt finden — 3561 — und 4500 Centner Zuwachs unserer Erde zuführen, kann wirklich nur den Laien frappiren, während bis jetzt alle Naturforscher, welche sich mit Meteoriten beschäftigten, sich mit der Ueberzeugung begnügten, dass zahlreiche Meteoritenfälle nicht zu unserer Kenntniss gelangen und sie darum doch nicht unterschätzten. Es wäre wenig lohnend, eine Gegenrechnung anzustellen, um zu einem weniger frappanten Re- sultate zu gelangen, da es nach meiner Meinung einfach genügt, die Unwabrscheinlichkeit der Rechnung gegenüber der Erfahrung zu zei- gen, wenn ich angebe, dass nach Reichenbachs Berechnung in Europa, welches beiläufig den 52ten Theil unserer Erdoberfläche einnimmt, jähr- lich 20 Centner Meteoriten niederfallen müssten, oder dass nach sei- ner Berechnung mindestens 22 Centner auf diejenigen Landestheile fallen, in denen bis jetzt Meteoriten. beobachtet worden sind. Welcher Unterschied der Rechnung und der Beobachtung! Wenn ferner Reichenbach, um das massenhafte Auftreten nieder- gefallener Meteoriten auf unserer Erde glaublicher erscheinen zu lassen, die Dolerit genannten Gebirgsmassen als Meteoriten betrachten zu können glaubt, so kann der Grund dazu nur in der Unkenntniss der Gebirgs- gesteine unserer Erde liegen, gegen welche nichts einzuwenden ist, nur muss es wünschenswerth erscheinen, dass ein Forscher, welcher die Meteoriten studirt, auch genau die Gesteine unserer Erde kenne, um nicht diese mit den Meteoriten zu verwechseln, wenn es sich um Beweismittel ihrer wichtigen Rolle im Weltgebäude handelt, da keines- weges Gebirgsarten zu Meteoriten werden, wenn sie auch Gemeng- theile gleicher oder ähnlicher Art enthalten. Ueber die Vermuthung, dass die Laven auch umgeschmolzene Meteoriten zu Tage fördern, wollen wir ganz schweigen. Wenn ferner Reichenbach sich vorstellte, dass die verschiedenen geologischen Epochen, welche aus den Formationen ersichtlich sind, durch grossartige Meteoritenfälle hervorgerufen wurden, so ist diess wohl eine scheinbare gute Erklärung gewaltiger Umwälzungen der die Erdrinde bildenden Massen, wenn man annimmt, dass die Erde durch den Niedersturz grosser Massen, wie ganzer Berge erschüttert wurde. Eine solehe Meinung aber wird nicht durch eine Schlussfolgerung er- härtet, wie sie uns Reichenbach folgendermassen giebt: Die geologi- schen Epochen sind einmal da und die Meteoriten sind auch da, so wie einer von bedeutender Grösse auftritt, so müssen solche Um- wälzungen auf der Erdoberfläche die unausbleibliche Folge sein. Wir sind in der Geologie so ziemlich über die Zeit hinaus, wo — 362 — man sich vorstellte, dass irgend ein plötzliches Ereigniss die Erde in ihren Grundfesten erschütterte, das Wasser der Meere Alles überwogte, die gesammten Organismen ersäufte und so mit einem Schlage der Anfang einer neuen Aera nach Vernichtung der vorangegangenen ein- trat. Die geologischen Studien haben uns hinreichend zu der Ueber- zeugung geführt, dass gerade durch den langsamen, aber sicheren Verlauf der scheinbar bestehenden Verhältnisse grosse Umänderungen herbeigeführt wurden, die zu einem Abschluss gelangend, grosse Wech- sel auf der Erde herbeiführten, dass wir aber in dem Wechsel der Verhältnisse nieht das Resultat Alles erschütternder Ereignisse vor uns haben, Wir bedürfen daher nicht der Meteoriten von Millionen Centner Schwere, um den Wechsel der Formationen zu erklären, so- bald wir nur erst mit aufmerksamem Blicke die geologischen Erschei- nungen der Gegenwart verfolgen. Aus der chemischen Beschaffenheit der Meteoriten, verglichen mit der unserer Erde folgt gleichfalls nicht die Nothwendigkeit, dass die Erde aus Meteoriten aufgebaut sei, sondern wir können daraus nur, wie bereits früher erwähnt wurde, mit grösster Wahrscheinlichkeit schliessen, dass die Meteoriten unserem Planetensysteme angehören oder erkennen, dass andere Sonnen mit ihren Planeten stofllich nicht ver- schieden sind, sobald die Meteoriten aus ihren Regionen uns zugeführt werden. Man darf übrigens auch die chemische Beschaffenheit nicht zu hoch anschlagen, und nicht etwa glauben, dass mit den Analysen Alles abgethan sei, da wir selbst bei dem heutigen Standpunkte der Chemie noch die Erfahrung machen, dass ziemlich einfache minerali- sche Körper bei wiederholter Prüfung Stoffe finden lassen, die man in ihnen übersah, trotz dem es bekannte waren, wie leicht könnten nicht T'heilehen unbekannter übersehen worden sein? Vergleichen wir überdiess noch die in allen Meteoriten gefundenen Stoffe mit den Ele- mentarstoffen unserer Erde, so muss es auffallen, dass die Meteoriten bei Hunderten von Analysen weit unter der Hälfte der Elemente blie- ben und gerade nicht seltene Stoffe unserer Erde den Meteoriten ganz abgehen. Ich erinnere nur an die Elemente Arsenik, Antimon, Blei, Zink, Gold, Silber, Mereur, Titan, Fluor, Barium u. s. w., für deren manche viel sicherere Reagentien bekannt sind, als für gewisse Stoffe, die man in Meteoriten gefunden hat oder zu finden glaubte. Die Erdwärme und die übrigen zum Theil hypothetischen Fol- gerungen aus der nach innen zunehmenden Hitze können wir als Ver- gleichungspunkte ganz übergehen, da wir in diesen Erscheinungen für — 363 — unsere Erde noch nicht klar genug sehen, an den Meteoriten aber nur wahrnehmen können, dass sie oberflächlich erhitzt wurden, als sie unsere Atmosphäre passirten. Eine besondere Aufmerksamkeit schenkte schliesslich Reiehenbach dem speeifischen Gewichte der Meteoriten, welches wie die Reihe der- selben vom eisenfreien Meteorsteine an bis zum reinen Meteoreisen hinauf von 1,7 bis 7,9 wechselt, demnach mit dem der Erde ver- gleichbar erschien, weil er aus 128 Wägungen das Mittel nahm und die Zahl 5 erhielt. Diess scheint uns weniger auffallend, da zum gleichen Resultate die beiden Extremzahlen geführt hätten und es im Uebrigen für eine solche Beurtheilung nicht genügt, aus den Gewichts- zahlen das Mittel zu nehmen, sondern auch die Volumina der Massen dabei berücksichtigt werden mussten, von denen die Gewichte sum- mirt wurden. Fassen wir am Schlusse unserer Betrachtung Alles zusammen, so ersehen wir, dass uns die Reichenbach’sche Darstellung der Meteoriten- bildung nicht weiter geführt hat, als wir jetzt waren, wobei wir etwa die Vergleichung der Kometen mit den Schwärmen der Meteoriten- partikeln annehmen können. Wir erkennen es aber vollkommen an, dass selbst in diesem Falle seine Aufsätze besondere Aufmerksamkeit verdienen, weil sie vielseitiger als es bisher geschehen ist, den mög- lichen Verlauf der Meteoritenbildung besprochen darlegen, Wir er- sehen von Neuem daraus, wie nothwendig und interessant es ist, diese seltenen Gäste genau zu studiren, die uns doch einigermassen mit der Welt ausser unserer Erde in handgreiflichen Zusammenhang bringen. Wir erkennen in diesen merkwürdigen Gebilden fast mit Sicherheit, dass sie, so klein oder so gross ihre Massen sind, die wir kennen, planetarische Körper darstellen, die von ihren Bahnen durch die An- näherung an unsere Erde abgelenkt, auf dieselbe zu fallen gezwungen werden. Ob jeder Meteoritenfall aber den Fall eines für sich kreisen- den planetarischen Körpers auf unsere Erde beweise, oder ob, wie man auch zu vermeinen glaubte, die sämmtlichen Meteoriten die Bruch- theile eines früheren grösseren Planeten sind, darüber lässt sich mit Wahrscheinlichkeit wenig sagen, noch weniger der Zeitpunkt vermu- then, wann ein solcher gesprengt wurde. Da wir jedoch am Schlusse diese Frage berühren, so erscheint es nicht unzweckmässig, derselben noch einige Zeilen zu widmen. Wir haben bereits gesehen, dass alle Meteoriten, so verschieden sie auch aussehen mögen, eine fortlaufende Reihe darstellen, deren — 364 — stofflicher und genetischer Zusammenhang uns leicht auf den Gedan- ken führt, dass sie am Ende Bruchtheile eines früheren grösseren Ganzen bilden und wenn wir damit in Zusammenhang bringen, wie sie zu uns kommen und vorher gewesen zu sein scheinen, so wird diese Vorstellung einleuchtender. Ein Meteorit, welcher in den Be- reich unserer Atmosphäre kommt, wird bei der Schnelligkeit, mit wel- cher er der Erde zufällt, so erhitzt, dass er an der Oberfläche schmilzt, in Folge dieser Erhitzung zerspringt er oft in viele Stücke und die Bruchflächen derselben schmelzen gleichfalls an ihrer Oberfläche oder aus Mangel an Zeit nur zum Theil und wir können recht gut unter- scheiden, welche Theile der Schmelzrinde bei dem Falle eines Meteo- riten und seiner Bruchstücke die jüngeren Bruchflächen bekunden, oder ob alle Stücke eines Falles gleichmässig überrindet ein frühzeitiges Zerspringen nachweisen. Die Gestalten der Meteoriten, so gross sie auch sein mögen, sind regellose und ihr Inneres zeigt keine symmetri- sche Anordnung, wie sie selbstständigen planetarischen Körpern zu- kommen würde, Diess zeigt, dass sie als regellos gestaltete Massen ohne Schmelzrinde den Weltenraum durchstreifen und weist mit Wahr- scheinlichkeit darauf hin, dass sie Bruchtheile eines zersprengten Gan- zen sind. Berücksichtigen wir dabei die verschiedene materielle Be- schaffenheit der Meteorsteine bis zu den Meteoreisen hin, so würden wir daraus schliessen können, dass der grössere planetarische Körper, dessen Bruchtheile alle Meteoriten darstellen sollen, eine verschiedene Beschaffenheit seiner Masse hatte, wie wir es bei der Erde auch ha- ben, deren Rinde verschiedenartige Gesteinsmassen mit oder ohne ein- gesprengte Metalle und metallische Massen von grösserem Volumen enthält, und wie wir in dem Inneren der Erde auch Massen von ver- schiedener Art und Dichtigkeit vermuthen. Es gleichen auch alle Me- teoriten, wenn wir sie vor uns liegen haben, einer Reihe von Gebirgs- arten, die zum Theil Eisen eingesprengt enthalten und den Schluss machen die Metallmassen. Nehmen wir dazu, dass alle Stücke kry- stallinisch körnige sind und entnehmen daraus, dass der Körper sich ganz oder theilweise einst in einem weichen plastischen Zustande befand, dass in ihm, wie in der Erde, sich verschiedene Ge- steinsarten einst bildeten, ja dass selbst in der Zeit seines vollstän- digen Daseins, die Gesteinsarten gewisse Umänderungen erfuhren, ähn- lich wie bei der Erde, so ist ein solcher Vergleich nicht widerspre- chend, so wenig als es ungereimt erscheint, anzunehmen, dass einmal ein planetarischer Körper zersprengt werden konnte. — 365 — Mit diesem Vergleiche und Hinweis auf einen auch möglichen Ursprung der Meteoriten schliesse ich aber meinen Vortrag, um nicht auf neue Hypothesen zu gerathen, deren Lösung vielieicht noch sehr fern liegt. Die ältesten Jahrbücher der Stadt Zürich. Von G. SCHERER, Professor in St. Gallen. Da die Historiographie der Chroniken in allen jenen Fällen nicht entbehren kann, wo es sich um solches Faktische handelt, das seiner Natur nach niemals weder direkt noch indirekt Inhalt eines Diploms wird, so gehört eine erweiterte Einsicht in den chronikalischen Vor- rath wesentlich zu den Fortschritten auch unserer schweizerischen Ge- schichtschreibung. Nun geschieht aber in dieser Richtung zwar sehr viel für Benutzung und Herausgabe älterer Zeitbücher, etwas weniger hingegen scheint für die Bestimmung der verwandtschaftlichen Ver- hältnisse derselben unter einander zu geschehen. Oefinet man zum Beispiel Hallers Bibliothek der Schweizer-Geschichte oder durchgeht die zahlreichen Spezialgeschichten und historischen Zeitschriften der Schweiz, so begegnen uns eine Reihe anonymer oder willkührlich be- nannter Geschichtsquellen, die jeder Forscher benutzte, wie sie eine ihm zugängliche Bibliothek zunächst bot, ohne dass die Identität man- cher dieser Quellen erkannt wurde. Einige Beispiele neuern Datums bestätigen, wie wir glauben, diese Wahrnehmung in auffallender Weise, 1. Längst bekannt ist die sog. Chronik eines Oesterrei- chers (Nr. 645 der Stiftsbibliothek in St. Gallen) aus den Tschudi- schen Handschriften. Der fleissige Haller hat sie seltsamerweise nicht erwähnt; I. Fuchs in Tschudi’s Leben (II. 160) führt sie auf, aber mit mehrern irrigen Angaben. Erstens ist sie nicht von Tschudi's eigener Hand kopirt, sondern von ihm nur mit Anmerkungen versehen, und sodann beginnt sie mit dem Jahr 500 und nicht erst mit 1400, In einem Folioband auf Papier, der ausserdem historische Schweizer- lieder in Copieen von T'schudis Handschrift hat, ist uns diese Chro- nik von Seite 71—491, also auf über 200 Blättern erhalten. Sie wurde benützt zuvörderst von Tschudi selbst und dann auch von Neuern, z. B. Zellweger in der Appenzellergeschichte, aber nirgends beschrie- ben und bestimmt. Eine genauere Durchsicht ergab, dass sie ein und dasselbe Werk ist mit der sog. Sprenger'schen Chronik in Zürich, mit — 366 — den beiden sog. Krieg’schen Chroniken ebendaselbst und mit noch meh- reren Quellen bei Haller und an andern Orten. Da die Krieg’schen Chroniken schon vor mehr als hundert Jahren in Bodmers und Brei- tingers helvet. Bibliothek (Theil 2 und 6) beschrieben wurden und das Werk von Sprenger in den Zürcher Mitth. Bd. II. (1844) abge- druckt ist, so lässt sich nun eine Vergleichung leicht anstellen. Er- stens fehlt in Nr. 645 Alles, was Sprenger Seite 51—59 (des Ab- drucks der Zürch. Mitth.) hat; also die angebliche Entstehung der Chronik in Rom, die Fabeln von dem römischen Ursprung Zürichs und die weitläufige Legende von Felix und Regula. Dieses ist aber auch der einzige Unterschied von Bedeutung; alles Uebrige ist beinahe wörtlich gleichlautend und auch in derselben Ordnung aufgeführt. Es folgt nämlich zweitens die Aufzählung der Kaiser, der Könige und der Bischöfe, die der Stifter des Mönchswesens, und sodann der Pa- ragraph über Dietrich von Bern, der mit einer Strophe schliesst, die Sprenger nicht hat: „Versus. Der Ist edel vnd och gut, der from ist* u. s. w. Die nächsten Titel sind in der St. Galler wie in der Zürcherchronik folgende: Einsetzung der Churfürsten, der Pfaffen- und Laienstreit (Seite 76 der St. Galler Handschrift), die Stiftung der Bettelorden, die h. Elisabeth, Einführung des Fronleichnamstages, Bru- der Berthold, Vertreibung der Herrn von Regensburg und der Bau von Rapperschwyl (letzterer auf Seite 81 mit dem Wappen von Rap- perschwyl). Die Gründung des Schlosses Habsburg und Rudolphs Fehde mit St. Gallen und Basel sind in der St. Galler Handschrift (S. 83"und 85) in umgekehrter Ordnung von der Zürcher (8. 55 und 56 der antiquar. Mitth.) aufgeführt. Die Einnahme von Utzenberg steht in der Zürcher später. In den weitern Nachrichten über Ru- dolph und seine Söhne stimmen wieder beide Handschriften zusammen, ebenso in allem Folgenden, nämlich: Niederlage der Zürcher bei Win- terthur, Erhebung Heinrichs 7. (St. Galler Handschrift, Seite 103), Streit zwischen Ludwig von Baiern und Friedrich dem Schönen, Schlacht bei Morgarten, österreichische Blutrache, Wahl Karls 4., Günthers u. 8. w. bis zu Ende dieser ältesten Zürcherchronik, worauf unmittel- bar die des Eberhart Müller (wie in den Zürcher Mitth. 8. 74) folgt u. d. T. „Von der statt Zürich wirt es hie sagen“ und mit den An- fangsworten: Herr eberhart müller ritter u. s. £ Es wird hienach genug sein, nur im Allgemeinen noch zu konstatiren, dass auch die Müller’sche Chronik Wort für Wort in der St. Galler Handschrift wie- derholt ist und zwar .bis Seite 96 der Zürcher Mitth., wo mit der — 367 — Verbürgerung der Meigenberger die Sprengersche Chronik abbricht, um dann von der Romfahrt Sigmunds noch bis 1446 fortzufahren. DieLücke, die hierbei Sprenger vorhandenist, füllt die St. Galler Handschrift mit folgenden Paragraphen: Rum- lang verbrant — Ulrich von Landenberg — Friede der Reichsstädte — Pfäffikon verbrannt — Torberg und Koppingen verbrannt — Ober- windegg gewonnen — Bülach verbrannt — das Land verderbt — Leopold kommt in das Land hinauf — (St. Galler Handschrift Seite 184). Darauf gibt die St. Galler Handschrift eine Erzählung der Sempacherschlacht (8. 185—187) mit einer guten Federzeichnung und der Strophe: „O Sempach wie schemlich sich die truw brach“ und sodann das Register aller Gefallenen, von dem aber eine halbe Seite ausgerissen ist, ein Defekt, den wir aus einer Handschrift der St. Gal- ler Stadtbibliothek (siehe unten) ergänzen können. Die nächstfolgen- den Titel sind: Wesen wird eidgenössisch — Die Feste Müly ver- brannt (Seite 193) — Zürich gegen Regensberg — Freiburg gegen Bern — Luzern gegen Bremgarten — Friede der Reichsstädte (1397) —- Albrecht von Oestreich im Land (1397) — Neuer Friede der Reichsstädte — Wesen von Oestreich eingenommen (1398) — Von der Schlacht zu Glaris (d. h. Näfels) Seite 197 mit einer Federzeich- nung — Verzeichniss der Gefallenen — Wiederausgrabung derselben — Die Glarner mahnen die Eidgenossen neuerdings — Die Eidg. vor Rapperschwyl — Zürcher vor Regensberg — Zürcher zu Wetzikon — Eidgenossen gegen Baden (1388) — Dörfer am Zürichsee ver- brannt — Die Zürcher vor Bremgarten, im Fischenthal, bei Heunen- berg — Die Zürcher nehmen 12 Fischer von Rapperschwyl gefan- gen — Märkt in Züricn (1390) — Friede der Reichsstädte — Theu- rung in Zürich — Verlängerung des Friedens (1396) — Friede am Zürchersee ausgerufen. — Auf einen einzeln stehenden Paragraphen (Seite 214) „Wie König Wenzel den Grafen von Mailand zum Her- zoge macht,“ lässt nun die St. Galler Handschrift den Appenzeller- krieg folgen (Seite 215): „Jetzt nach volgent Ettlich geschichten vnd sachen, die sich mit den Appenzellern haund verloffen“ u. s. w. (da- neben eine Art Wappen mit einem Drachen, der einen Mann ver- schlingt).. An die Appenzellersachen reiht sich das Constanzerkonzi- lium mit folgenden Rubriken: Sigmund vertreibt Herzog Friedrich von Oestreich aus Schwaben (S. 235. Als Ursache des Zwistes werden die Geldanleihen des Kaisers beim,Papst angegeben) — Der Adel legt sich gegen den Herzog von Oestreich unbillig — Die Eidgenossen — 368 — sagen dem Kaiser Hülfe gegen Friedrich zu, nehmen und vertheilen die Habsburg. Länder, mit Ausnahme Uri’s, das auf seinen Antheil am Raub verzichtet und dafür von den Eidgenossen verhöhnt wird — Die östreichischen Brüder theilen das Etschland (S. 247) u. s. w. Um nicht zu weitläufig zu werden, und doch die Vergleichung mit ver- wandten Handschriften zu ermöglichen, heben wir aus dem Rest des St. Galler Cod. (S. 251—491) noch die folgenden Ueberschriften aus: Aber von Herzog Friedrich von .Oestr. (Seite 251) — Hie wirt K. Sigmund und Hzg. fryderich v. Ö. wieder einig (252) — Hazg. Fridr. v. Ö. stirbt (254) — Constanzer Coneil (und Verzeichniss der‘ An- wesenden (Seite 255—260) — Flucht des Pabstes (260) — Huss verbrennt (261) — Pabst Martin erwählt (262) — Hussiten-Krieg (262— 273) —- Hieronymus verbrannt (264) — Aber von den Ap- penzellern (274) — Brief der Curfürsten an den Bischof von Constanz (277) — Appenzeller im St. Gallischen Bann (279) — Untergang von Zug (281) — Toggenburgerkrieg von Seite 287 an, sehr aus- führlich mit den Anfangsworten: „Der von Toggenburg starb, darnach wurdent wunderbarlich läuff in dem lannd. zwüschen Herzog Friedr. von Oestr. und den sinen.* — Seite 336 (Jahr 1438) wird Graf Wil- helm ven Montfort Bürger von Zürich — Seite 382: Die Eidgenos- sen kommen zusammen gen Luzern (1441) — 8. 396: Kung frydr. v. Östr. kam gen Zürich — 8. 423: Kriegserklärung der Schwyzer an Oestreich 1443 — 8.489: Zug der Schweizer gegen den Abt von Kempten 1460 — S. 490—491: Die Eidgenossen vor Weinfelden und Constanz. Letzte Worte der St. Galler Handschrift: „vnd als sy hinweg züchent da nament sy was sy mit In hinweg mochtend bringen.“ | Schliesslich bedürfen noch drei einzelne, aber nicht unwesentliche Punkte einer besondern Hervorhebung. Tschudi setzte auf die Seite 70 unmittelbar vor der ersten Seite dieser Chronik eine eigenhändige Notiz, worin er von dem Verfasser sagt, er sei „ein guter Oester- reicher gsyn.“ Siehe die ganze höchst charakteristische Notiz bei Zellweger im Archiv der schw. Gesch. III. p. 98 und bei Fuchs II. (S. 161). Da aber das Werk von mehreren Verfassern, nämlich von dem angeblichen Romfahrer des ersten Theils, sodann von Eberhard Müller und endlich ‚von dem Berichterstatter über den Appenzeller- und Toggenburgerkrieg und das Conzil ist, so kann Tschudi wohl nur den abschliessenden Redaktor meinen, also vielleicht den in der Zür- cherhandsehrift sich nennenden Gebh. Sprenger von und in Constanz ? — 369 — Richtig ist es übrigens, dass in allen Abtheilungen eine besondere Vorliebe für das Haus Habsburg hervortritt. Diess führt auf den zweiten Punkt, das günstige Urtheil über Kaiser Albrecht, worauf sich neulich Prof. Hagen in einer Berner akadem. Rede (S. 27) be- zogen hat. Von der fraglichen Stelle, die bei Sprenger ($. 61 der Zürcher Mitth.) zwei Sätze hat, findet sich jedoch in der Tsschudischen Handschrift nur der letztere „dieser König Albrecht war gitig — ein fromm Herr“; in der Abschrift der Vadiana (siehe unten Nr. 2) fehlt alles. Der ganze Passus ist übrigens aus Königshofen (siehe unten). Man vergleiche auch den akademischen Vortrag des Prof. v. Wyss, Seite 27. Der dritte und Hauptpunkt ist endlich die berühmte No- tiz über den ersten Bund der Eidgenossen, 1306 im Rebmonat. Diese Angabe haben auch die beiden St. Galler Handschriften wörtlich gleich- lautend; Tschudi, dessen Abschrift, wie alle andern, die Jahrzahl 1306 trug, setzte zuerst mit eigener Hand diese Zahl an den Rand aus, später aber strich er sie wieder durch und schrieb darunter 1206, ja sogar im Text selbst ist entweder von ihm selbst oder einem an- dern die Dreihundertstelle ausradirt und dafür eine Zweihundert ein- getragen. In Tschudi’s gedruckter Chronik (I. 104) ist dann auch wirklich der erste Bund in das Jahr 1206 „im Hornung“* gesetzt, wofür er sich auf die Zeitbücher der drei Klingenberge beruft. Man darf die Aenderung nicht (mit Kopp. Urkunden II. 43) „willkührlich‘ nennen, sondern sie war das Resultat nachträglicher und wie Tschudi geglaubt haben muss, besserer Belehrung. Auch anderwärts korrigirt er seine Quellen in den Abschriften selbst, die er von ihnen besass und die er nach der Weise des ganzen Mittelalters nicht als Denk- mäler, sondern als Materialien zur eigenen Arbeit, mithin wie ein Eigenthum behandelte. So setzt er bei der Niederlage der Zürcher vor.Winterthur in unserer Handschrift (Nr. 645) eine lateinische Zehn in die Jahrzahl 1282 hinein, weil er das riehtige Datum (1292) an- derswoher kannte. Wie sich nun die Klingenberge zu unserer Hand- schrift verhalten, lässt sich nicht bestimmen, so lange jene unbekannt sind; vorläufig müssen wir annehmen, Tschudi habe zunächst aus un- serer Handschrift (Nr. 645) geschöpft, weil seine Erzählungen vom Rapperschwylerbau, von Rudolfs Jagdabentheuer mit dem Priester und von seiner Fehde und Versöhnung mit Basel und St. Gallen fast wört- lich mit dieser Quelle übereinstimmen. Man vergleiche Tschudi's ge- druckte Chronik I. Seite 40, 166 und 168 mit den Zürch. Mitth. Bd. II. 2. Unter dem bibliothekarischen Titel „Fragment einer eid- Wissenschaftliche Monatsschrift. 1V. 24 — 370 — genössischen Chronik“ findet sich auf der Vadiana eine Hand- sehrift (D. 33) in Quart aus 77 Blättern Papier bestehend, welche Haller ebenfalls nieht anführt, weil sie erst in den Zwanzigerjahren aus einem modrigen Winkel der alten Stadtbibliothek hervorgezogen ist. Zellweger hat sie zuerst für seine Appenzellergeschichte Theil I benutzt, setzt sie aber irrig in das Jahr 1479, während die Hand- schrift selbst an zwei Stellen (Blatt 1 und Blatt 71) deutlich die Zahl 1451 trägt. Sie ist wieder ein und dasselbe Werk mit Chronik Nr. 645 und mit Sprenger und zwar in gleichzeitiger Abschrift, ja sogar entschieden ältern Datums als Nr. 645. Hingegen ist die Copie sehr sorglos gearbeitet, die Auslassungen sind bedeutender als sogar bei Sprenger und in der Anordnung der Materien herrscht noch grössere Confusion und Willkühr. Die Fabeln und Legenden über das älteste Zürich fehlen hier wie in der Tschudischen Handschrift, überdies aber auch die Einsetzung der Curfürsten und der Pfaffen- und Laienstreit; die Vertreibung der Regensberger steht- viel später (Bl. 17 und 18). Nach den Worten „vnd in Calabria* folgt bei uns ein Paragraph, den Sprenger nicht hat: Item desselben jars als Kung rudolf zu aim röm- schen Kung erwelt wurd do hatt er einen vetter der was gaistlich vnd hiess och herr rudolf derselb ward desselben jars erwelt zu ainem Bischoff zu Costentz nach dem vnd us wisent dise nachgeschriben Verss und warent zwayer brüder sön: In Allemannia duorum fratrum filü uno nomine ete. (siehe „pervetusti hi versus“ bei Bucelin Chron. Const. S. 274). Ebenso ein folgender Titel: „Ober elsäss Habspurg Kyburg (Wappenschild). Kung rudolf von habspurg hatt by siner elichen frowen drig sön vnd VI töchtren als die nachgeschriben Verss vswisent: bonus arbor fert ete.* Statt dessen hat Sprenger andere Verse (Z. Mitth. S. 66). Die lateinischen Verse über Rudolfs Königswahl (nach Kopp von einem Sänger Conrad vgl. seine Urkunden I. 81 und s. Geschichte 1. 1.$. 5), die bei Sprenger erst $. 73 folgen, stehen bei uns Bl. 12 mit folgender Einleitung: „Kung rudolf starb da man zalt v. d. geb. Chr. 1291 jar der hochgeborn Kung rudolff von habspurg der römisch König dessen Sele ruwen müsse jn dem friden yeıner me ewenclich amen. die nachgeschriben Vers wisent vs wenn K. R. v. H erwelt ward z. r. K. Comes in habspurg et in fryburg (So!) lantgraviusque ete.“ Wir notiren nicht alle Auslassungen unseres Msc. in den folgenden Materien, und bemerken nur, dass dasselbe hinwiederum einen eigen- thümlichen, allen übrigen fehlenden Passus über die Einsiedlerfehde hat und zwar nach der Schlacht bei Morgarten statt vor derselben, — 371 — mit folgendem Anfang (Blatt 15): Anno dm MOCCCOYIIII jar do ward ein apt erwelt zu den Ainsidlen von aim edlen geschlecht die hiesent die von ruoda. Dies ist übrigens ein Irrthum, da der Abt, unter dem die Fehde ausbrach, Joh. I. Freiherr von Schwanden, 1298 er- wählt wurde. Die weitere Erzählung stimmt mit anderweitigen Nach- richten. Nach dem Ueberfall der Conventsherren heisst es: Aber ett- lich von des aptz Knechten oder lüten sprachent, die von Schwitz hettent das hailig wirdig sacrament usser dem sekell vff den altar geschütt vnd darvmb so täti der apt die von schwitz in den bann, der weret vil zitz vnd batt diser apt hertzog lutpold von österreich das er jm hulf rechen den son der junckfrowen marie darvmb das sy jn hattent vsgeschutt vff den altar. — Von Blatt 17—46 verlässt die Vadian. Hs.-den Zürcher ältesten Anonymus auf eine lange Strecke, springt auf den Appenzellerkrieg über, der Blatt 17—27 gleichlautend mit Chronik Nr. 645 erzählt wird und geht dann auf die österreichi- schen Sachen und die Sempacherschlacht zurück, welche letztere Er- zählung Blatt 31 —34 wieder mit der genannten Chronik übereinstimmt. Im Register der Gefallenen sind hier die 19 Breisgauer-Namen er- halten, die in der Tschudischen Handschrift ausgerissen sind nebst der Schlussstrophe: „Ach löw wes schmukestu dinen wadel.* Der öster- reichische Geist spricht sich überall, sogar in den Ueberschriften aus, z. B. „In disen tagen do wurffent sich die von sempach ab jrem rech- ten natürlichen herren von österrich vnd wurdent jn gesessen burger zu lucern wider irs rechten herren willen.“ Folgen die Wesenersachen, ‚die Näfelserschlacht und die Zürcher Raubfahrten (Bl. 34 — 46) wie in Nr. 645 (S. 192 — 214) und dann eine Gruppe von Notizen, die bei Sprenger und in Nr. 645 an verschiedenen Orten zerstreut stehen, ‘hier aber neben einander gestellt sind: Kauf von Feldkirch und Blu- denz (bei Tschudi S. 172; in den Zürch. Mitth. S. 92), Gessler von Grüningen, Zerstörung von Mailand anno 1162 (Z. M. S. 52), Böh- men ein Königreich anno 1200, der eidgenössische Bund von 1306 (Blatt 47), Beitritt von Luzern (Bl. 47) und von Bern (Bl. 47). Bei ‚dem böhmischen Artikel hat unsere Handschrift eine lateinische und eine deutsche Strophe, die letztere (Wer edel ist und gut) ist dieselbe, die Nr. 645 bei Dietrich von Bern anbringt. Den Eintritt Berns ‚setzen unsere Handschriften ins Jahr 1354, die Sprengersche Chronik (in den Zürch. Mittl. 8. 88) sogar in 1357; beides irrig (statt 1353). ‘Den Beitritt Luzerns- formülirt unsere Handschrift folgendermassen: Item die von lucern verbundent sich zu denen lendern. Anno dm _— 32 — » MCCCKXXI jar do verbundent sich die von lucern zue den dıyg lendern Schwitz vre vnd vnderwalden vnd schwurent also ainen puntt ewenelich mit an andren ze hailten, doch behubent die von lucern den hertzogen von österrich vor ab vnd vor vs sine rechtung vnd gericht zinss vnd gult (diese Notiz fehlt bei Sprenger). Hier tritt in der Vadian. Handschrift die Eberh. Müllersche Chronik mit denselben Wor- ten, wie in der Tschudischen und der von Sprenger ein (Bl. 47). Mit einigen Auslassungen folgen nun von Blatt 47 — 64 die Seiten 74—92 der Zürcher Mitth. bis zu dem letzten übereinstimmenden Paragraphen von 1375 Freitag vor Gallustag (Z. Mitth. $. 92). Al- les Weitere (8. 92 — 96) fehlt bei uns, statt dessen haben wir noch ein Stück des Constanzerkonzils, gleichlautend mit Chronik Nr. 645 mit den Anfangsworten: „Hienach wil ich von dem consilium ettwas sagen und von den löfen“ bis zu dem letzten Titel: wie hertzog fri- drich vnd hertzog ernst sin bruoder dz ettschland tailtend, wo unsere Abschrift oben an der letzten Seite mit den Worten aufhört: „vnd wolt herzog ernst das land kum von handen lausen.* Der leere Raum der letzten Seite ist mit einem Register von Debitoren (des Sehreibers oder Besitzers) aus Constanz, St. Gallen, Wil und Watt bei St. Gal- len ausgefüllt. Zur Vergleichung mit den von Prof. Ettmüller in den Zürch. Mitth. ausgehobenen eigenthümlichen Lesarten haben wir die entspre- chenden Stellen in unsern beiden Handschriften (Tsch. und Vad.) auf- gesucht und notiren sie nachstehend: Seite 50 (Zürch. Mitth.) gedenk (gedeut Tsch. an gent Vad.) baschart (basthart Tsch. Vad.). Seite 54: argöw (turgöw Vad.) baien (laden Vad. Ort Tsch.) widermuot (wider- driess Tsch. widerwertikeit Vad.). Seite 55: all wen zuo (ebenso Tsch. _Vad.) besechnot (belechnet Tsch. Vad.) hat das vnbillich (nam d. v. Tsch. Vad.). 8. 59: Wetslar (Tsch. Wettfuir. Randnote Tschudi’s: vuestflar). $. 61: 20 Jahr (Vad. 15 Jahr. Tsch. 20 und die Worte „war doch noch ein kind“ durchgestrichen). S. 62: gern geirt het (het- tint Tsch. Vad.). — falsch (vor „graf Hugly“) falschlich (vor „graif si.an“) fehlen bei Tsch. und Vad. — Eglin (ebenso Tsch. Egloff Vad.). S. 70: schlaiztent vnd brauchent (brantent Vad.). 8. 71: Tunresberg (etunzesberge Tsch. Dondersperg Väd.). 8. 76: vber das wurbent die- selben (waren T'sch. fielent Vad.). $. 79: vaerlich (Tsch. berlich, Vad. berlichen). $. 80: verrite (zerritte Tsch. Vad.). ®. 81: fraitlich (frai- dielich Vad.‘bei Tschudi fehlt das Wort ganz). $. 83: filtroten (fue- tratend Tsch. Vad. fuorent Krieg). S. 84: berlich (bärlich Tsch. Vad.). —. 393 — S. 85: hülzin getüll (ebenso Tsch. hulzin tuln Vad.). $. 86: oder kloss an die kloss (ob der kloss vnd an die kloss Tsch. und Krieg. Vad. liest: ob der kloss vnd vnder der kloss). $. 87: ziekten (zäckech- tent Vad.). 8. 89: Fraut (frant Tsch. fiant Vad.). 3. „Hans Hüplins Chronik Mse.“ bei Haller B. d. 8. IV. Nr. 375. Nach dieser Beschreibung zu urtheilen, welche von einer Copie auf der Zürcher Stadtbibliothek gemacht ist, muss die Chronik des Hüplin (der sich am Schluss mit Namen und der Jahrzahl 1462 nennt) ebenfalls wieder dasselbe Werk mit den vorigen sein. Ausser dem von Haller angezeigten Inhalt und der Ansetzung des ersten eidg. Bundes auf den Rebmonat des Jahres 1306 erhellt dies beson- ders aus der Ueberschrift; es ist die gleiche wie in den beiden $t. Galler Handschriften und lautet (nach der Vad. D. 33) wie folgt: Hienach stant geschriben ettwa menig ding das iu disen landen vmb Zürich vnd da vmbher beschehen ist es sie von herren lendern vnd stetten vnd-besunder die denen von Zurich zu gehörent vnd mit jnen in punttnus sind vnd och sust ettwa menig ding das och gar hüpsch ist ze hören oder ze wisen hie nach geschriben von Kungen vnd Keyser vnd stetten vnd sölichen dingen vnd die zal darby geschriben. — Tschudis Handschrift Nr. 645 hat wörtlich dieselbe Einleitung, bloss steht voran noch der Vers; We dem lannd welches sin Kung ain kind ist vnd des fürst an dem morgen frü ist. Die Fabeln und Legenden von Zürichs Ursprung scheinen auch bei Hüplin zu fehlen. Ob nun die obige Einleitung oder die des ältesten Zürcher Anonymus die ursprüngliche sei, würde sich noch fragen. Vermuthlich die er- stere, worauf sowohl die Fassung als die Parallele mit Königshofen (siehe unten bei 5) hindeutet. 4. Die sog. Krieg’ schen Chroniken wurden nach einer Be- merkung Bodmers in der helvet. Bibliothek früher für Werke des 13. Jh. angesehen und als solche um schweres Geld zur Kopie und zum Kauf gesucht, wiewohl das 13, Jh. nur zwei Blätter von ihnen ausfüllt, und der Passus, woraus man jenes hohe Alter schliessen wollte, sich erst beim Jahr 1417 auf Bl. 55 (der Handschrift in 4) findet. Hier nennt sich nämlich mitten unter andern Sachen nach Rudolfs Kaiserwahl ein Ulrich Krieg als Augenzeuge von grosser Theurung der Lebensmittel in jenen Zeiten. Diese Stelle fehlt in alleu von uns bis jetzt besprochenen Handschriften, deren Inhalt übrigens der gleiche mit den Krieg’schen ist und es reicht dieselbe sicher nicht hin, um den „Krieg“ als Verfasser der unter seinem Namen gehenden — 374 — Chronik oder überhaupt einer Chronik des 13. Jhs. aufzustellen, viel- mehr stammen beide Krieg’sche Codices von Epitomatoren weit jün- gerer Zeit her. Die Quarthandschrift (59 Bl. bis 1438 reichend) ist die ältere und soll aus dem 14. Jh. und von einem spätern Verfas- ser bis ins 15. kontinuirt sein. Das erste Blatt fehlt, dann folgt Zürichs römischer Ursprung und die Zürcher Legende, hierauf die Stiftungen Karls M. und Ludwigs des Frommen in Zürich und die Wikard’sche in Luzern. Hingegen fehlen Dietrich von Bern, „von dem die buren singen“, der Cölibatshandel und die römische Abkunft der Habsburger. Die Vertreibung der Regensberger, der Verlust der Zürcher vor Winterthur und anderes erscheint wie in den übrigen Chroniken. Die Zürcher Regimentsveränderung 1336 ist bei Krieg noch weit kürzer als in unsern Quellen und gar nieht im Ton eines Zeitgenossen, sondern des spätern Epitomators gehalten, ebenso die Schlacht bei Laupen und der Appenzellerkrieg. Eigenthümlich ist diesem Werk ein Register der Gefallenen bei der zweiten Belagerung Zürichs durch Albrecht, welches bei Sprenger und den St. Gallern nicht zu finden ist. — Die zweite sogen. Kriegsche Chronik (138 Bl. in Fol.) welche die Stelle von Ulrich Krieg gleichfalls hat, ist nach dem Urtheil der Verfasser der helvet. Bibliothek nichts weiter als ein Cento des 15. Jh. aus 4 verschiedenen Fragmenten. Das erste Frag- ment enthält die Zürcherlegende, die Stifter der Mönchsorden, König Rudolfs Jagdabenteuer, die Vertreibung der Regensberger und das Uebrige, nur aber weitläufiger und willkührlicher als der erste Krieg und unsere Chroniken. Das zweite Fragment ist nichts als ein Aus- zug aus Reichenthals bekannter Beschreibung des Constanzerkonziliums, wobei nachträglich zu bemerken ist, dass unsere St. Galler Chroniken von Reichenthal ganz unabhängig sind. Der dritte Theil ist aus -Spren- ger und der vierte Theil wieder ein anderes Fragment, das mit Tschu- dis gedruckter Chronik zusammenfällt. 5. In einem Manuscriptband der St. Galler Stadtbibliothek (F. 3. Fol.) ist ein historisches Fragment von 63 Blättern eingebunden, das sich nach längerm Suchen als ein Stück aus Königshofen el- sässischer Chronik (Seite 35--96 bei Schilter) auswies, welches noch im 15. Jh. abgeschrieben sein dürfte. Bei der Durchsicht Kö- nigshofen’s erschienen sofort eine ganze Reihe von Stellen, die so ziem- lich wortgetreu mit dem sog. ältesten Zürcherjahrbuch und seinen näch- sten Verwandten übereinstimmen. Dahin gehören das Verzeichniss der Königreiche (Schilters Königshofen 8. 101), die Einsetzung der Kur- — 35 — fürsten (S. 110), Heinrich der Heilige (S. 111), der Cölibatsstreit (S. 111) mit der Schlusszeile, wie Heinrich IV. seinen Sohn gefan- gen setzt, der falsche Kaiser Friedrich (S. 119), König Rudolfs Sohn ertrinkt (S. 118, wörtlich gleich mit Zürcher Mitth. S. 60), Adolf von Nassau und sein Streit mit Albrecht (S. 120 Cfr. Z. Mitth. S. 60), die Gegenkaiser Ludwig und Friedrich, die Wahl Günthers von Schwarz- burg (S. 133). Im Durchschnitt ist J. von Königshofen ausführlicher und zwar nicht in Worten, sondern in Sachen, und der Zürcher Ano- nymus ist offenbar der Epitomator. Diess beschränkt sich natürlich auf Reichssachen, die Schweizer und Zürcher Begebenheiten sind dem Anonymus (den man insoweit also für den ältesten Zürcher Chronisten ansehen mag) eigenthümlich und ebenso zwei weitere Paragraphen, nämlich derjenige von einem versuchten Kreuzzug unter Heinrich VII. (S. 69 der Zürch. Mitth.) und der vom schwarzen Tod und Juden- brand. Da nun der von Königshofen sein Buch Anno 1386 schrieb, so fällt hiemit die abenteuerliche Angabe des Zürcher Anonymus von der Entstehung seiner Chronik in Rom im 13. Jh. in sich zusammen und des Ritters Eberhard Müller Chronik ist als die äl- teste uns erhaltene Arbeit dieser Art zu betrachten. Beim Durchblättern des von Königshofen fand sich übrigens noch Folgendes: Das Urtheil unserer Chroniken über Kaiser Albrecht ist auch aus ihm (S. 122) und zwar beide Sätze, wonach er ein „gebu- resch man“ und „gitig nach guet“ heisst. — Die Stelle über den Cö- libatsstreit, und wie die Laien aufingen selbst auf gotteslästerliche Weise zu administriren, liess sich noch weiter hinauf verfolgen. Der elsässische Chronist gibt nämlich in der Vorrede den Eusebius, den Vincentius (Bellovaec.) und den Martinus (Polonus) als seine Ge- währsmänner an. Obiger Laien- und Pfaffenstreit, wie der Titel in unsern Chroniken lautet, ist nun in der T'hat wörtlich im speculum historiale des Vincenz von B. lib. 26 $ 45 enthalten, wobei dieser Sammler nach seiner löblichen Gewohnheit auch die Quelle, diessmal ‚Sigibertus, angibt. Und hier sind wir nun endlich an der Urquelle; denn der Mönch Sigbert von Gemblours (1030—1112), der unter an- dern eine eigene Vertheidigungsschrift für die Lütticher gegen Pabst Gregor VII. und zu Gunsten Heinrichs IV. verfasste, war ganz in der ‚Lage und Gesinnung, als Augenzeuge jene Angabe zuerst zu machen, sie findet sich auch in seinem Chronikon (v. J. 381- 1113) bei Pi- storius wörtlich so, wie in unsern Schweizerjahrbüchern, nur dass Sig- bert noch die gute Bemerkung vorausschickt, Gregors Eheverbot laufe — 376 — ganz der alten Kirchenlelhre zuwider, wonach die priesterlichen Funk- tionen dieselbe Wirkung haben, ob sie nun ein Würdiger oder Un. würdiger verrichte, da-der Geist Christi das eigentlich und allein Wirk- same in denselben sei. Durch wie viele Hände sind doch manche chronikalische Nachrichten gegangen, bis sie zuletzt in unsere neuen und neuesten Schweizergeschichten herüberkamen! — Es wäre somit eine kleine Chronikenfamilie nachgewiesen, deren Glieder sich ohne Zweifel noch vermehren liessen, wenn jemand sich die Mühe nähme, auch andere Handschriften, ‘die muthmasslich. der- selben Sippe angehören, zu untersuchen, wie z. B. die Zofingerchro- nik bei Haller 4 Nro. 384. Zur Geschichte des Neutestamentlichen Kanon in der römischen Kirche. Von G, VOLKMAR, Die aus dem Nachlasse C. A. Credner’s von mir herausgegebene Geschichte des N. T. Kanon (Berlin, bei @. Reimer, 1860) wird wohl auf Jeden den Eindruck machen, dass sie eine Lücke ausfüllt. $8o viel über die Entstehung der einzelnen Schriften N. Ts. verhandelt ist, so schr hat es an einer Zusammenfassung aller der Momente und Do- eumente gefehlt, welche die N. T.liche Sammlung als solche betreffen, und zwar nicht bloss die Entstehung, sondern auch die Weiterbildung derselben. Und doch, wie sehr ist die richtige Würdigung des Ein- zelnen von der Geschichte der Sammlung abhängig! Anerkennung des Hebräer Briefes z. B. und Verwerfung der Apokalypse halten sich je nach den verschiedenen Zeiten und Kirchen fast die Wage, und über keins von beiden Gliedern unseres N. T. wird ohne jene Zusammen- fassung die rechte Beurtheilung erreicht werden können. Auch die sog. katholischen Briefe lassen sich nur zusammen recht verstehen, einerseits unter sich, anderseits in Verbindung mit dem sonst von An- fang Reeipirten oder Ausgeschlossenen. Von welcher Bedeutung end- lich die Geschichte der Sammlung und die dahin gehörigen Docu- mente, die in den gewöhnlichen Einleitungen kaum eine Stelle finden können, wie das Muratorische Fragment, für die Würdigung des Jo- hannes-Evangeliums und der Pastoralbriefe sind, bedarf kaum der An- deutung. Selbst die Kritik der ältern Paulinischen Briefe und ihrer ME beiden Sammlungen gewinnt durch jene Zusammenfassung neue Ge- sichtspunkte. Je mehr aber Credner's Werk die Bedeutung hat, auf diesem wenig betretenen Gebiete bahnbrechend zu sein, um so naturgemäs- ser, dass auf demselben noch gar Manches ergänzt oder noch näher be- stimmt werden kann. Aber den Anhalt zu solchem Weiterforschen kann gewiss nichts Anderes oder Nichts besser geben als dies Vermächt- niss des freien, klaren Mannes. Der Herausgeber hat nur mehr äus- serlich abzuschliessen gehabt. Ich stehe daher nicht an, die Anzeige des ürscheinens alsbald mit einem Versuche zu begleiten, das von Üred- ner Erforschte an einem nicht uninteressanten Puncte zu noch grösse- rer Klarheit zu führen oder doch ein Fragezeichen aufzustellen, wo man das Traditionelle noch zu arglos hinzunehmen gewohnt gewesen ist. Die Frage betrifft die Geschichte des Hebräer-Briefes, im Besondern das Verhalten des römischen Papstthums dazu. Durch Credner’s neues Werk ist es über den merkwürdigen Brief des ältesten Christenthums zu der Entscheidung gekommen, dass er der ältesten Sammlung noch völlig gefehlt hat, wenn er auch schon vor deren Entstehung vorhanden und, wie bei Clemens Romanus, so- gar beliebt war. Nur die alexandrinische Theologie, im Besondern Origenes’ Einfluss hat ihn immer entschiedener den Paulus-Briefen an- gereiht, und durch die Constantinische Bibel von 334 u. Z., deren Bedeutung auch erst durch Credner’s Werk aus dem Grabe der Ver- gessenheit wieder erweckt ist, wurde er für die griechische Kirche ein zehnter Gemeindebrief des Apostels ($. 181 ff.) Das Abendland dagegen, von Anfang an stabiler, erklärte den Brief beharrlich als unapostolisch oder apokryph, der höchstens im Anhange zum ganzen eorpus seripturarum seine Stelle finden könne, während der römische Apologet der ersten Sammlung (im Muratorischen Fragment) ihn un- ter dem Titel einer Epist. ad Alexandrinos sogar als unapostolische „Galle“ vom apostolischen „Honig* zu scheiden verlangte. Erst seit der Constantinischen Kirche und ihrem Arianischen Streit, wie vom Einflusse der griechischen Kirche und deren Bibel aus beginnt das Abendland, namentlich in Hieronymus und Augustinus, ihn in das gültige N. T. einzufügen, also als paulinisch zu erklären ($. 265 ff.). Der Erstere hat ihn übersetzt und in sein lateinisches N. T. aufge- nommen; doch blieb er zwischen den beiden widerstreitenden Autori- täten, der griechischen und der römischen Kirche, schwankend, und _— 5378 — hat sich auch der Brief allmählig in die Vulgata eingebürgert, so war das doch mehr ein Einschleichen, ein factisches Verhalten, das wol praktisch massgebend werden konnte, aber keine höhere Autorität in Anspruch nahm. In mehrern lateinischen Bibeln fehlt er daher ganz. Für Augustinus dagegen war dieses Schwanken unerträglich. Die Einheit der Kirche war ihm eine Herzens-Angelegenheit, wie viel mehr in einer Sache, die ja das Heiligste unmittelbar zu betreffen schien, die Sammlung h. Schriften. Er machte es sich zu einer Lebensauf- gabe, den bestehenden Widerstreit der beiden Kreise der Einen Kirche über Das, was zu h. Schriften N. T.’s gehöre, und das Schwanken in der lateinischen Kirche selbst durch einen ordentlichen Kirchenbeschluss zu überwinden. Es galt vor Allem, Nichts zu verlieren, was auf ir- gend einer Seite heilig geworden war. Die Apokryphen A. T.’'s: Tobi, Judith, (Esther), Maccabäer 1. 2., Sapientia, Sirach, die in der abend- ländischen Kirche stets beliebt waren, wie die Apocalypse Johannis hier nie bestritten, sollten ihre Geltung behalten, wenn sie auch griechi- scherseits bestritten oder verworfen waren. Sie sollten, wenn feierlich diesseits anerkannt, auch gewiss noch jenseits angenommen werden. Dafür aber sollte das jenseits heilig Gewordene, wie der Hebräer- Brief, dieses endlich auch hier, im Abendlande, ausdrücklichst werden. Die von Augustinus geleiteten Coneilien von Hippo, 393 u. Z., und von Carthago, vom Jahr 387, dann 419, gingen auf sein Streben ein. Das abendländischerseits längst Gültige fand keinen Anstand, den Hebräer-Brief aber liessen die beiden ersten Coneilien nur als einen Anhang zu den Paulinischen gelten, indem sie formulirten: Pauli Apostoli Epistolae XIII, ejusdem ad Hebraeos una. Doch war das letzte Coneil in dieser Sache 419 schon unbedenklich darüber ge- worden, einfach Epp. Pauli Apostoli XIV. zu sanctioniren, also jeden Unterschied zwischen diesem und andern Briefen des Paulus aufzuheben. Dennoch hatte Augustinus nicht das Erwünschte erreicht; denn es lag ihm daran, nicht etwa bloss in der Kirche Africa’s Einheit über das angeblich Wichtigste zu erreichen, sondern in der ganzen Kirche, im Abendlande vorab. Dazu gehörte aber die Einwilligung des römischen Bischofes vor Allem. Schon die Synode Carthago’s von 397 hatte die Bestätigung ihrer Beschlüsse oder Vota durch „die apostolischen Gemeinden, denen Apostelbriefe geworden“, d. h. Rom in erster Linie gewünscht. Rom that es nicht, fest an dem abendlän- dischen Herkommen haltend; die griechische Kaiser-Kirche solle so viel nicht gelten. Augustinus aber ruhete nicht. Die Beschlüsse von 393 und — 379 — 397 hatten ein Votum der Africanischen Kirche mit angebracht, dass auch die Acta Martyrum in den Kirchen verlesbar seien. Diess ging gegen das altrömische Prineip, wonach nur Propheten (A. T.liche Schriften) und Apostel in der Kirche gehört werden sollten. Augu- stinus und seine Synodalen gaben daher die Martyrer-Legenden auf, um nur die Haupt-Neuerung im abendländischen Kanon durchzufüh- ren, die Aufnahme des Hebräer-Briefes. Der eifrige Kirchenmann er- reichte es auch, dass dem letzten seiner Concilien ein Legat jener „apostolischen Gemeinde“ beiwohnte. Man vermied nun jeden sonstigen Anstoss und formulirte nur einfach im N. T. auch „Epp. Pauli Apo- stoli XIV.“ mit dem Schlusszusatze: hoc etiam fratri et consacerdoti nostro Bonifacio, urbis Romae episcopo, vel aliis earum partium epis- copis pro confirmando isto canone innotescat. Dem römischen Bischof innotescirte dieses Votum, aber er sah sich nicht in dem Falle, es zu bestätigen. Er liess den wenn noch so verdienten Kirchenobern Africas ohne Antwort hierüber, der nun bis zu seinem Ende verge- bens den Abschluss des Kanons ersehnte. (Das Nähere giebt Credner Gesch. d. N. T. Kanon $. 121 ft.) Diess zwar noch nicht allzu Bekannte, aber doch historisch Si- chere ist nur durch Ein Moment gestört. Auch in Spanien empfand man das Bedürfniss nach einem Abschluss über die kirchlich brauch- baren Bücher (warum dort im Besondern, das siehe bei Cr. $. 278 ff). Ein dortiger Bischof Exuperius drang 402 u. Z. in den römi- schen Bischof jener Zeit, Innocentius, einen bestimmten Aufschluss oder Abschluss hierüber zu geben. Innocentius erliess endlich eine Epistola (decretalis, d. h. auf geforderte Auskunft entscheidend) ad Exuperium dahin, dass ausser Propheten und Aposteln Nichts in der Kirche vorzulesen sei; in einem Breve (Brevis) führt dann die Epi- stola anhangsweise (annexus) jene h. Schriften A. und N. T.'s dem Namen und der Zahl nach auf. In Betreff des A. T.'s nimmt Inno- centius fast wörtlich die letzten Vota der Africanischen Kirchen von 397 auf, auch in Betreff des N. T.'s? Nach dem herkömmlichen Text (bei Mansi, Act. cone. III. p. 1040, bei Credner a. a. O. $. 279) allerdings, denn in der Reihe N. T.licher Bücher werden aufgezählt „Pauli Apostoli Epistolae qua- tuordecim“, also Hebräer-Brief mit inbegriffen. Aber ist diese Lesart auch haltbar? Hat der römische Stuhl 405 die Entscheidung gegeben, dass der Hebräer-Brief als 14. Paulinischer gelte, oder ‘als apostolisch zum N. T. gehöre, was in aller Welt konnte den Nachfolger 419 noch — 380 — veranlassen, die submisse Petition Augustins und seiner Synode fae- tisch abzuschlagen, die auf keine andere Neuerung gerichtet war? Das Verhalten des Papstes Bonifacius gegen das Votum der afri- eanischen Kirche ist so unzweideutig, dass man versucht sein könnte, die Epist. Innocentii zwar nicht selbst, aber doch den Brevis annexus oder das darin gegebene Verzeichniss h. Schriften überhaupt als eine spätere Fietion anzusehn.‘ Aber einer solchen Annahme widerstreitet wieder zu Vieles: 1) setzt das Decretale des Innocentius die Beigabe eines solchen index seripturarum voraus, ohne den es keinen rechten Sinn und Zweck hätte, 2) ist diess Verzeichniss die Grundlage der spanischen Bihel geworden, die das Eigne behalten hat, die Apostel- geschichte allen Briefen nach, der Apocalypse unmittelbar voranzustel- len (vgl. $S. 286 f., 408 f.), und 3) ist die grösste Eigenheit dieses Verzeichnisses, die Johannes-Briefe unter den katholischen voranzu- stellen, von allem andern Usus abweichend, völlig, aber auch nur aus dem ältesten Herkommen der römischen Kirche, aus deren älte- ster Sammlung überhaupt ableitbar (vgl. S. 364 ff.. Ist also an der Echtheit jenes Decretes von Innocentius sammt dem zugehörigen Breve im Ganzen nicht zu zweifeln, dessen Inhalt auch dem ältern Herkom- men der lateinischen Kirche in Betreff der A. T.lichen Apokrypha völlig, in Betreff der katholischen Briefe wesentlich entspricht: so lässt das Verhalten Rom’s gegen Augustinus keinem andern Gedanken Raum, als dass das Decretale von 405 an die Spanier entweder sich so all- gemein gehalten hatte, dass nur „Pauli Apostoli Epistolae“ überhaupt aufgeführt wurden, oder es waren darin ausdrücklich nur „tredeeim Epistolae Pauli Apostoli* gezählt. Das Erstere ist nach dem Zusam- menhang des Ganzen sehr unwahrscheinlich, da sonst durchaus ge- zählt wird: es bleibt also nur die Annahme übrig, dass das Breve des Innocentius dem Herkommen der lateinischen Kirche gemäss „Epp. Pauli Ap. XII.“ aufgeführt hatte, dass aber die spätere Kirche diess ihrem Bedürfniss gemäss in XIV. „berichtigt* hat, woher dann Man- sis Text quatuordeeim stammt. Ist diess schon nach dem Zusammenhang der Dinge aus der Zeit von 393—419 kaum anders denkbar, so tritt dazu bestätigend und erläuternd zugleich das Verhalten des römischen Stuhles am Ende desselben Jahrhunderts. Unter dem Namen des Gelasius, und nach Credner’s elassischer Untersuchung (in dem frühern Werke „zur Ge- schichte des Kanons“ 1847, 8. 151 ff.), aus der Zeit dieses Papstes (492-496) haben wir ein decretum de libris recipendis et rejieien- DIS Ag en = Tun — 381 — dis, allerdings in der mannigfaltigsten Textgestalt. Die unverkennbar älteste aber (bei Cr. $. 258) bietet auch nur „Epistelae Pauli Apo- stoli numero XIII.“ (sie), wogegen die spätern unter Damasus, und Hormidas’ Namen die Briefe des Paulus einzeln nennen und dann auch die Ep. ad Hebraeos zufügen. Beruht diess, wie nach Credner selbst nicht zu bezweifeln, auf der Interpolation, die auch sonst in diesen Decretis Damasi und Hormisdae unverkennbar ist, kann nur jene ein- fache Angabe als die echt päpstliche aus dem Ende des 5. Jahrhun- derts angesehn werden: wie wäre es denkbar, dass eine Entscheidung derselben Curie 405 im entgegengesetzten Sinne vorangegangen wäre ? Wie aber diese älteste Textgestalt des Decretum Gelasii später auch faetisch in ein numero XIV. emendirt worden ist, so wird es auch mit dem Decretale des Innocentius ergangen sein, nur dass hier ein- facher mit dem einen Federzuge das fortan anstössige XIII. in XIV. berichtigt wurde. Argumentire man hingegen nicht, dass Rom so viele Biblien mit dem Hebräer-Brief geduldet hat, nicht ausdrücklich dagegen einge- schritten ist. Gehenlassen und Anerkennen ist für die rö- mische Curie von jeher etwas sehr Verschiedenes gewe- sen. Öhnehin fehlt ja in mehrern eodd. abendländischer Entstehung, wie im Claromontanus, Augiensis, Boernerianus noch bis zum 9. Jahr- hundert ganz, oder doch im Latein derselben der Brief, der also nie vorher ausdrücklich kanonisirt gewesen ist, von den das Mittelalter hindurch immer wiederkehrenden Bedenken (vgl. Cr. S. 293 fi, S. 305 ff.) hier nicht weiter zu reden. Diesem Stande der Dinge, dass von päpstlicher Stelle aus der Hebräer-Brief weder im Deeretale Innocentii noch in dem des Gela- sius eine Anerkennung gefunden hat, entspricht es nun völlig, wenn erst im 15. Jahrhundert das Haupt der abendländischen Kirche dem inzwischen durch factisches Gehenlassen mächtigst angewachsenen Her- kommen entsprochen und endlich den factisch heilig gewordenen Brief auch ausdrücklich consecrirt hat. Aber selbst dabei hat Rom sich gekenn- zeichnet. Eugenius IV. unterhandelte mit der griechischen Kirche über Vereinigung derselben mit dem römischen Stuhl, d. h. deren Unterwerfung unter denselben; zu diesem, im innersten Grunde also hierarchischen Zwecke wurde denn von ihm auch eine bulla de seripturis 1441 gegeben, welche den von der griechischen Kirche “längst unabtrennbar gewordenen Brief gleichfalls anerkannte: quatuor- decim Epp. Pauli: ad Romanos... ad Philemonem, ad Hebraeos (vgl. — 332 — bei Cr. $. 320). Rom war da zwar von seinem frühern Herkommen und Willen abgefallen, aber doch nur in einer höhern Consequenz, der hierarchischen. Seitdem finden sich, so viel ich sehe, keine Bi- blien mehr ohne den Hebräerbrief, seitdem aber wurden die Angaben in den Deeretalen der frühern Päpste auch nicht mehr erträglich ; die Correetur des XIII in XIV oder noch weitergehende Interpolation wurde nahezu eine kirchenrechtliche Nothwendigkeit. Die Autoritäts- Kirche kann ja keine Entwieklung zugeben, muss also Aelteres, was widerspricht, unterdrücken. Ist diess so hinsichtlich der Ep. Innocentii, wie es hinsichtlich des Decretum Gelasii offenkundig ist, dann erst scheint mir die Ge- schichte des N. T.lichen Kanon auch an diesem Punkte, auf Grund der eigenen Data Credner’s klar genug. Aber zugleich tritt das Deeret des Tridentinischen Coneils von 1546, diese letzte und letztmögliche Be- stimmung der lateinischen Kirche über den Schriftkanon (bei Cr. 8. 322 f.) in ein noch eigenthümlicheres Licht. „Indem die römische Kirche zu Trient Jeden mit dem Anathema belegt, der nicht auch den Hebräer-Brief als einen solchen des Apostels Paulus annehme, belegt sie sich selbst einer dreihundertjährigen Vergangenheit nach mit dem Bann.* So hatte ich Credner’s Angaben in dieser Beziehung abzu- schliessen ($. 328). Diess wird nun wohl näher so heissen müssen: die römische Kurie hat zu Trient in Betreff dieses Theils des N. T.'s sogar eine dreizehn hundertjährige Vergangenheit ihrer selbst mit dem Anathema belegt. — Wir lassen ihr dieses um so ruhiger, als sich seitdem auf dem Boden wirklicher Reformation immer bestimmter ein höherer Kanon begründet und befestigt hat, zu dem sich alle Schrif- ten N. T.’s nur als die Zeugen des ältesten und innigsten Lebens in ihm verhalten. (Vgl. Cr. $. 134 f., 327 ff.) Möchten diese Bemerkungen dazu beitragen, den Reichthum und die Bedeutung des Crednerschen Werkes etwas näher in’s Licht zu stellen ! Sitzung des wissenschaftlichen Vereins am 20. Juni 1859. Vortrag des Herrn Prof. Hillebrand über die deutsche Städteverfassung im Mittelalter. Zuerst wurde der Unterschied zwischen Stadtgemeinde und Landgemeinde festgestellt. Darauf folgte die Bemerkung, dass die Germanen vor der Völker- wanderung keine eigentlichen Städte gehabt, wiewohl es damals römische Städte in Germanien gegeben; doch sei die Gemeindeverfassung dieser letzteren wäh- Ei Er an a —_— 383 — rend der Völkerwanderung zu Grunde gegangen. Städte im juristischen Sinne des Wortes hätten sich dann in Deutschland erst wieder aus einheimischen Ele- menten, im zehnten und elften Jahrhundert gebildet. Der Ursprung der deut- schen Städte sei also nicht in römischen Einrichtungen, sondern in der Heraus- nahme einzelner Orte aus der Gauverfassung zu suchen; doch wäre die Städte- entwicklung nicht überall ganz gleichmässig gewesen. Man unterscheide mit Rücksicht hierauf bischöfliche, königliche und fürstliche Städte, je nach der öffentlichen Gewalt, welcher die Entstehung der besondern Verfassung zunächst zu verdanken sei. An der Spitze der aus der Gauverfassung herausgenommenen Orte habe anfänglich ein Vogt oder Burggraf gestanden. Nachdem darauf kurz der Unterschied zwischen Vogt und Burggraf auseinander gesetzt worden, wurde erwähnt, in der Regel wäre einer dieser beiden Beamten auch Vorsteher der vornehmsten städtischen Gerichte gewesen, derjenigen, in welchen man bei Hals und Hand zu bestrafende Verbrechen abgeurtheilt. An der Spitze der gewöhn- lichen städtischen Gerichte hätte dagegen ein Schultheiss gestanden. Zur Seite der Vögte, Burggrafen, Schultheissen wären in den Gerichten Schöffen gewesen, die das Urtheil zu finden gehabt und deren verschiedene Wahlarten dann kurz besprochen wurden. Darauf wurde bemerkt, dass in den Städten sich übrigens nicht bloss die Verfassung, sondern auch das Criminalrecht und namentlich das Privatrecht auf besondere Weise ausgebildet habe. Es ward näher auf das Ei- genthümliche der Stadtrechte, insbesondere auch auf die verwandtschaftlichen Beziehungen verschiedener Stadtrechte miteinander eingegangen, auch die Ety- mologie des mit Stadtrecht gleichbedeutenden Wortes Weichbildrecht gegeben. Alsdann wurde wieder auf die Entwicklung der städtischen Verfassung zurück- gegangen. Es ward erörtert, dass bei steigendem Wohlstande sich die Bürger- schaft allmählig aus der Abhängigkeit vom Stadtherrn loszuringen gesucht und dass eine Folge dieses Strebens die Bildung des Stadtrathes (consilium, colle- gium consulum) gewesen sei. Die Grundlage bei der Bestellung des Stadtrathes habe das Schöffencollegium abgegeben, mitunter dadurch, dass es sich ausge- dehnt, mitunter aber auch dadurch, dass eine neue Behörde zu ihm getreten sei. Der Wirkungskreis des Stadtrathes habe sich hauptsächlich auf die städtische Verwaltung bezogen, welche früher dem Vogt oder Burggrafen zugekommen. Nachdem dieser Punkt genauer erörtert, wurde erwähnt, dass der Vorstand des Stadtrathes, magister civium seu consulum, rector eivium, Bürgermeister geheis- sen. Auch wird erklärt, woher es gekommen, dass es manchmal mehrere, na- mentlich zwei Bürgermeister gegeben. Dann wurde angeführt, die Stadträthe wären von dem Hohenstaufenschen Kaiser Friedrich II. und von seinem Sohne König Heinrich verboten worden, jedoch ohne Erfolg. Weiter wird bemerkt, früher sei die Meinung sehr verbreitet gewesen, der Ursprung des städtischen Rathes in Deutschland sei römischen Ursprungs; man habe sich hierbei vorzüg- lich auf Cöln und die sog. libertas romana gestützt, welche die Kaiserin Adel- heide im Jahr 987 der Stadt Selz im Elsass verliehen. Diese Ansicht über den römischen Ursprung der deutschen Stadträthe wird zu widerlegen gesucht und dann zu den Bewohnern in den Städten selbst übergegangen. Die Klassen der- selben werden charakterisirt. Hierauf wurde zur letzten Stufe in der Entwicklung der deutschen Stände im Mittelalter übergegangen. Seit der zweiten Hälfte des vierten Jahrhunderts 384 (A hätten nemlich die Handwerker nach Theilnahme an der Stadtregierung gestrebt. Desshalb sei es in vielen Städten zu blutigen Kämpfen gekommen, welche meist zum Vortheile der Handwerker geendet. Mitunter sei nun die gesammte Bur- gerschaft einer Stadt in Zünfte eingetheilt und von diesen dann der Stadtrath besetzt worden. An manchen Orten hätten sich jedoch die Handwerker mit einer bestimmten Zahl von Stellen im Rathe begnügt. Nicht selten habe man übrigens zwei Stadträthe eingerichtet, den bisherigen, welcher kleiner, innerer, engerer genannt worden und den grossen, äusseren oder weiteren. Die Handwerker hätten nun in den verschiedenen Orten mehr oder weniger Befugnisse bei der Besetzung der Stellen in diesen Räthen erhalten. Diess wird genauer ausgeführt und dann übergegangen zu den Rechten, welche dem grossen Rathe zugekommen und welche hauptsächlich in der Controlirung des kleinen Rathes bei dessen Ver- waltung und in der Beistimmung zu wiehtigen Angelegenheiten bestanden hätten. An der Discussion über diesen Vortrag betheiligten sich die Herrn A, v. Orelli, Rüttimann, G. v. Wyss, Ad. Schmidt. 2 MAY 1055 Br, is I en Bar} r. Be ge N RR aeg Bi | Sn sa rer Fi BR z Ar. rer ll ten AH ; F > ron Y% 2er wn Ö v x ‚ FR ne / % 22 .. % Br ruhe le Ba N KieY 6 y ,% a HR rer \ f 4 r | wre van s N BEE. tl ee Ei ET 08H L 1 N ” E er L = ; ex End DET TR IRRE a8 RAGT arg 4 iR ‘> k a ” e | i E A AH ey AL Ta X“ u ie > > T a ee n Tas i A jr . ’ Roma a3 Baal Sata eisen Kar & 67% 3 > e 6 ji ee ead Br er riet N : > i g » e w 9 Verlag von Meyer & Zeller in Zürich Mann, Friedr., Naturwissenschaftlich-pädagogische Briefe. 1ste and 2te Reihe. Preis des Heftes Fr. 1. _. _ Die Geometrie, dargestellt in entwickelnder Methode für höhere Lehranstalten und zum Selbstunterricht. ister Theil: Planimetrie. -. » -» -.. . Fun 2. 40. 4 Iter Theil: Stereometrie, nebst Vorkurs der deseriptiven | Geomstrie :.... 1. Fan Be eD: "__ Das Messen der geometrischen Eigenschaften, nebst einer B . darauf beruhenden Methode, Aufgaben zu lösen und Lehrsätze 3 zu beweisen. Cum. ht ne ee Preis‘ Fr. —. 80. NEE Leop., Professor in Aarau, Grösstentkeils neue Auf- gaben aus dem Gebiete der Ge&ometrie deseriptive, nebst deren Anwendung auf die konstruetive Auflösung von Aufgaben über B räumliche Verwandtschaft der Affinität, Colineation ete. 14 Bogen 1 Text mit 60 lithographirten Tafeln. 4. brosch. Preis Fr. 12. Orelli, J., Lehrbuch der Algebra, für Industrieschulen, aan, und höhere Bürgerschulen. 18 Bogen gr. 8. geh. Fr, 3. 60. Pädagogische Monatsschrift. Im Auftrage des schweiz. Lehrerverein herausgegeben von H. Zähringer. Jährlich 24 Bogen ink % ER nit ee ae ERBRS SE Jahrgang. Fr. 5.9 Raabe, Dr. J., ‚Veber die Integration zweier simultan bestehenden i linearen Diferenzialgleichungen zwischen. nVariabeln. 8. ‚geh 2 Preis Fr. =, 40 — — Mathematische Mittheilungen. I. u. I. Heft . & Fr. 2. 40, 5 Strauch, Dr. G. W., Theorie und Anwendung des sogenannten Varia- 5 tionskalkuls. 2 Bände mit 6 Tafeln mathematischer an h Zweite wohlfeile Ausgabe. Lexikonformat. Preis- Fr. 1 F ERERErT RER ist, f [ el : al: f Da fi ‘ R Rurie r H $ > F . Pa ! % FRA RR, BER B ie) ! f %