_ - y L a T vu REMFADN PN SPORE RE TALN TER RN ji Nav IR Aa, IR UEOHEN, } tr M $ ; TA Da ; 1 Ale Ki) FrcHan BubpeheN DRAN LM Ka Tan al) Ai - ) Ar N a AELIREN a $ EN u h } BuKBDRrT, u NAITLAHEN Me, ar N N work “ h I ie He NN \ ai j Ra | AR Boa in Be FR Ka 2 nn a 1 # N Ar TUN a END x Ad IN N Yale FAR Hl MM; Kal Mr Bar sr are LTEN IE, » NE I ei Ban el I 1 Da ee Aut sul a AT MehnR Ye ER Pfhen Yen UN ma ut MN led Br don RN ne + var Farm un hraiwe der ml fh 1 5 [F , Pag EA TIeE N BEREITETE ng Yan aitap Wr BEIN Ay ah halle zn Ti dr hy a pi eos AR His N 17 we, vr BEN, LEN Ku) 10) 46 heuer Yin i Üben ht ge TEL ETT [Dar IR Er » Ne 5,7 We 1 ‘a kr En Sn In Na I, N ar Hi Les Kr Fer Laie Valle ir j Tue jr NIE SARAH TEE ' ARTEN EN ! MYychen Au DE AREAL DER) N 1 Dre N Au NER, an Natürliche Schöpfungs-Geschichte. = u f u h rw - u .r" 13 Ma ale a r Ba Bull = er Ak Par i « s ’ j N 19 re h Dr, FR F BT u ü ; S a 2er) m r b IA7 DR. er e shuflkgiee a 1 7 A * = u r Bi en B: 4 ir u ge u “ a} a vo Bi‘ : | e RR a ü ni, B I u | > & h ? u. & | j | | Br ( { 5 v # 5 5 @ - di - re Sr x < 3 ” \ z = . r e u ee \ ; 5 $, Be D 3 t + = < j Z > : : i j : en g ie = 3 _ . - : x Te wen — = 1 - F 3 > Er ar Be u = | 3 ” Di Fe r E 2 & E Zee = = z a erg = Is $ > a Fee here» , Han hel Natürliche Schöpfun gs-Geschichte, Gemeinverständliche wissenschaftliche Vorträge über die Entwickelungs- Lehre im Allgemeinen und diejenige von Darwin, Goethe und Lamarck im Besonderen. Von Ernst Haeckel, Professor an der Universität Jena. Achte umgearbeitete und vermehrte Auflage. Mit dem Porträt des Verfassers und mit 20 Tafeln, sowie zahlreichen Holzschnitten, Stammbäumen und systematischen Tabellen. Berlin, 1889. Druck und Verlag von Georg Reimer. „Nach ewigen ehernen „Grossen Gesetzen „Müssen wir Alle „Unseres Daseins „Kreise vollenden !* Goethe. Inhalts- Uebersicht. Erster Theil. - Allgemeine Entwickelungs- Lehre. (Transformismus und Darwinismus.) I. Vortrag. lI. Vortrag. III. Vortrag. IV. Vortrag. V. Vortrag. VI. Vortrag. VII. Vortrag. VIII. Vortrag. IX. Vortrag. X. Vortrag. XI. Vortrag. XI. Vortrag. XII. Vortrag. XIV. Vortrag. XV. Vortrag. l..— XV. Vortrag. Inhalt und Bedeutung der Abstammungslehre oder DessandenzFheorie „12.7: ame) et ef Wissenschaftliche Berechtigung der Descendenz- Theorie. Schöpfungs-Geschichte nach Linne . . . Schöpfungs-Geschichte nach Cuvier und Agassiz Entwickelungs-Theorie von Goethe und Oken Entwickelungs-Theorie von Kant und Lamarck . . Entwickelungs-Theorie von Lyell und Darwin Die Züchtungs-Lehre oder Selections-Theorie. (Der DaLwanısmusv)aey me Vererbung und Fortpflanzung . ....... ü Vererbungs-Gesetze und Vererbungs-Theorien. . . Anpassung und Ernährung. Anpassungs-Gesetze . Die natürliche Züchtung durch den Kampf um’s Dasein. Cellular-Selection und Personal-Seleetion Arbeitstheilung und Formspaltung. Divergenz der Species. Fortbildung und Rückbildung . ... . Keimes-Geschichte und Stammes-Geschichte Wanderung und Verbreitung der Organismen. Die Chorologie und die Eiszeit der Erde ...... Entwickelung des Weltalls und der Erde. Urzeu- sung. Kohlenstoff-Theorie. Plastiden-Theorie . VI XVl. AYUT. XV. XIX. XX. XXI. XXI. XXI. ZIRIV, AXV. XXVl. XXVI. XxXVIl. XXIX. XXX. Inhalts - Uebersicht. Zweiter Theil. Allgemeine Stammes-6Geschichte. (Phylogenie und Anthropogenie.) Vortrag. Vortrag. Vortrag. Vortrag. Vortrag. Vortrag. Vortrag. Vortrag. Vortrag. Vortrag. Vortrag. Vortrag. Vortrag. Vortrag. Vortrag. XVL.— XXX. Vortrag. Schöpfungs-Perioden und Schöpfungs-Urkunden . . Phylogenetisches System der Organismen. Protisten ind Histonen. «2. = Ken a Phylogenetische Classification des Thierreiches. Gastraea-Dheorie. 2"... ©,» 20 2 Genre Stammes-Geschichte der Chordathiere (Mantelthiere und“ Wirbelthrere)s eu man ue. 0 2 Stammes-Geschichte der Amphibien und Amnioten Stammes-Geschichte der Säugethiere ...... Stammes-Geschichte des Menschen . . ...... Wanderung und Verbreitung des Menschenge- schlechts. Menschenarten und Menschenrassen . . Einwände gegen die Wahrheit der Descendenz- INNOOTIO. ee ee en Beweise für die Wahrheit der Descendenz-Theorie Vorwort . zur ersten Auflage. Die vorliegenden freien Vorträge über „natürliche Schöpfungs- Geschichte“ sind im Wintersemester 1867/68 vor einem aus Laien und Studirenden aller Facultäten zusammengesetzten Publicum hier von mir gehalten, und von zweien meiner Zuhörer stenogra- phirt worden. Abgesehen von den redactionellen Veränderungen des stenographischen Manuscripts, habe ich an mehreren Stellen Erörterungen weggelassen, welche für meinen engeren Zuhörer- kreis von besonderem Interesse waren, und dagegen an anderen Stellen Erläuterungen eingefügt, welche mir für den weiteren Leserkreis erforderlich schienen. Die Abkürzungen betreffen be- sonders die erste Hälfte, die Zusätze dagegen die zweite Hälfte der Vorträge. Die „natürliche Schöpfungs-Geschichte* oder richtiger ausge- drückt: die „natürliche Entwickelungs-Lehre“, deren selbständige Förderung und weitere Verbreitung den Zweck dieser Vorträge bildet, ist seit dem Jahre 1859 durch die grosse Geistesthat von Charles Darwin in ein neues Stadium ihrer Entwickelung getreten. Was frühere Anhänger derselben nur unbestimmt andeuteten oder ohne Erfolg aussprachen, was schon Wolfgang Goethe mit dem pro- phetischen Genius des Dichters, weit seiner Zeit vorauseilend, ahnte, was Jean Lamarck bereits 1809, unverstanden von seinen befangenen Zeitgenossen, zu einer klaren wissenschaftlichen Theorie formte, das ist durch das epochemachende Werk von VIII Vorwort. Charles Darwin unveräusserliches Erbgut der menschlichen Er- kenntniss und die erste Grundlage geworden, auf der alle wahre Wissenschaft in Zukunft weiter bauen wird. „Entwickelung“ heisst von jetzt an das Zauberwort, durch das wir alle uns um- gebenden Räthsel lösen, oder wenigstens auf den Weg ihrer Lö- sung gelangen können. Aber wie Wenige haben dieses Losungs- wort wirklich verstanden, und wie Wenigen ist seine weltumge- staltende Bedeutung klar geworden! Befangen in der mythischen Tradition von Jahrtausenden, und geblendet durch den falschen Glanz mächtiger Autoritäten, haben selbst hervorragende Männer der Wissenschaft in dem Siege der Entwickelungs-Theorie nicht den grössten Fortschritt, sondern einen gefährlichen Rückschritt der Naturwissenschaft erblickt; und namentlich den biologischen Theil derselben, die Abstammungs-Lehre oder Descendenz-Theorie, unrichtiger beurtheilt, als der gesunde Menschenverstand des ge- bildeten Laien. Diese Wahrnehmung vorzüglich war es, welche mich zur Veröffentlichung dieser gemeinverständlichen wissenschaftlichen Vorträge bestimmte. Ich hoffe dadurch der Entwickelungs-Lehre, welche ich für die grösste Eroberung des menschlichen Geistes halte, manchen Anhänger auch in jenen Kreisen der Gesellschaft zuzuführen, welche zunächst nicht mit dem empirischen Material der Naturwissenschaft, und der Biologie insbesondere, näher ver- traut, aber durch ihr Interesse an dem Naturganzen berechtigt, und durch ihren natürlichen Menschenverstand befähigt sind, die Entwickelungstheorie zu begreifen und als Schlüssel zum Ver- ständniss der Erscheinungswelt zu benutzen. Die Form der freien Vorträge, in welcher hier die Grundzüge der allgemeinen Ent- wickelungs-Geschichte behandelt sind, hat mancherlei Nachtheile. Aber ihre Vorzüge, namentlich der freie und unmittelbare Ver- kehr zwischen dem Vortragenden und dem Zuhörer, überwiegen in meinen Augen die Nachtheile bedeutend. Der lebhafte Kampf, welcher im letzten Decennium um die Vorwort. IX Entwickelungslehre entbrannt ist, muss früher oder später noth- wendig mit ihrer allgemeinen Anerkennung endigen. Dieser glänzendste Sieg des erkennenden Verstandes über das blinde Vorurtheil, der höchste Triumph, den der menschliche Geist er- ringen konnte, wird sicherlich mehr als alles Andere nicht allein zur geistigen Befreiung, sondern auch zur sittlichen Vervollkom- mung der Menschheit beitragen. Zwar haben nicht nur diejenigen engherzigen Leute, die als Angehörige einer bevorzugten Kaste jede Verbreitung allgemeiner Bildung überhaupt scheuen, sondern auch wohlmeinende und edelgesinnte Männer die Befürchtung ausge- sprochen, dass die allgemeine Verbreitung der Entwickelungs- Theorie die gefährlichsten moralischen und socialen Folgen haben werde. Nur die feste Ueberzeugung, dass diese Besorgniss gänz- lich unbegründet ist, und dass im Gegentheil jeder grosse Fortschritt in der wahren Naturerkenntniss unmittelbar oder mittelbar auch eine entsprechende Vervollkommnung des sittlichen Menschen- wesens herbeiführen muss, konnte mich dazu ermuthigen, die wichtigsten Grundzüge der Entwicekelungs-Theorie in der hier vor- liegenden Form einem weiteren Kreise zugänglich zu machen. Den wissbegierigen Leser, welcher sich genauer über die in diesen Vorträgen behandelten Gegenstände zu unterrichten wünscht, verweise ich auf die im Texte mit Ziffern angeführten Schriften, welche am Schlusse desselben im Zusammenhang verzeichnet sind. Bezüglich derjenigen Beiträge zum Ausbau der Entwicke- lungs-Lehre, welche mein Eigenthum sind, verweise ich insbeson- dere auf meine 1866 veröffentlichte „Generelle Morphologie der Organismen“ (Erster Band: Allgemeine Anatomie oder Wissen- schaft von den entwickelten Formen; Zweiter Band: Allgemeine Entwickelungs-Geschichte oder Wissenschaft von den entstehenden Formen). Dies gilt namentlich von meiner im ersten Bande aus- führlich ‚begründeten Individualitäts-Lehre und Grundformen-Lehre, auf welche ich in diesen Vorträgen nicht eingehen konnte, und von meiner im zweiten Bande enthaltenen mechanischen Begrün- a w 7 „3u8 I 3° Vorwort. dung des ursächlichen Zusammenhangs zwischen der individuellen und der paläontologischen Entwickelungs-Geschichte. Der Leser, welcher sich specieller für das natürliche System der Thiere, Pflanzen und Protisten, sowie für die darauf begründeten Stamm- bäume interessirt, findet darüher das Nähere in der systematischen Einleitung zum zweiten Bande der generellen Morphologie. So unvollkommen und mangelhaft diese Vorträge auch sind, so hoffe ich doch, dass sie dazu dienen werden, das segensreiche Licht der Entwickelungs-Lehre in weiteren Kreisen zu verbreiten. Möchte dadurch in vielen denkenden Köpfen die unbestimmte Ahnung zur klaren Gewissheit werden, dass unser Jahrhundert durch die endgültige Begründung der Entwickelungs-Theorie, und namentlich durch die Entdeckung des menschlichen Ursprungs, den bedeutendsten und ruhmvollsten Wendepunkt in der ganzen Entwickelungs-Geschichte der Menschheit bildet. Möchten dadurch viele Menschenfreunde zu der Ueberzeugung geführt werden, wie fruchtbringend und segensreich dieser grösste Fortschritt in der Erkenntniss auf die weitere fortschreitende Entwickelung des Menschengeschleehts einwirken wird, und an ihrem Theile werk- thätig zu seiner Ausbreitung beitragen. Möchten aber vor Allem dadurch recht viele Leser angeregt werden, tiefer in das innere Heiligthum der Natur einzudringen, und aus der nie versiegeuden Quelle der natürlichen Offenbarung mehr und mehr jene höchste Befriedigung des Verstandes durch wahre Natur-Erkenntniss, jenen reinsten Genuss des Gemüthes durch tiefes Naturverständ- niss, und jene sittliche Veredelung der Vernunft durch einfache Naturreligion schöpfen, welche auf keinem anderen Wege erlangt werden kann. Jena, am 18. August 1868. Ernst Haeckel. Vorwort zur achten Auflage. Der Zeitraum von zehn Jahren, welcher seit dem Erscheinen der letzten Auflage der „Natürlichen Schöpfungsgeschichte“ ver- flossen ist, umfasst eine lange Reihe von wichtigen Fortschritten auf allen darin behandelten Gebieten der Naturwissenschaft. Einerseits sind zahlreiche tüchtige Arbeiter in allen Theilen der Bio- logie bemüht gewesen, unsere empirischen Kenntnisse vom orga- nischen Leben zu erweitern und unser allgemeines Verständniss desselben abzurunden: andererseits haben die weitesten Kreise der Gebildeten denselben eine lebendige, früher ungeahnte Theil- nahme zugewendet. Vor Allem hat aber in diesem letzten Decennium die allgemeine Entwickelungslehre, und ihr wichtigster Theil, die Descendenz-Theorie, so überzeugende Beweisführung, so fruchtbare Anwendung und so allgemeine Anerkennung ge- funden, dass sie heute bereits als die bedeutungsvollste und sicherste Grundlage unseres gesammten Wissens von der leben- digen Natur gilt. Niemand kann diesen gewaltigen Umschwung unserer grund- legenden Natur-Anschauung tiefer empfinden, als ich. Denn als vor 23 Jahren meine „Generelle Morphologie“ und zwei Jahre später, als populärer Auszug eines Theiles derselben, die erste Auflage der Natürlichen Schöpfungsgeschichte erschien, stiess ich fast”allgemein auf den hartnäckigsten Widerstand. In dem fol- genden Decennium musste erst unter den heftigsten Kämpfen, XII Vorwort. Schritt für Schritt, das neue, von Jean Lamarck entdeckte, von Charles Darwin zugänglich gemachte Land der Entwicke- lungs-Lehre erobert und der „Berg von Vorurtheilen“, unter dem die Wahrheit begraben lag, abgetragen werden. Im letzten De- cennium wurde das eroberte Gebiet durch Hunderte fleissiger und tüchtiger Hände angebaut, und heute bereits ernten wir auf dem- selben reiche Früchte, deren Werth nicht überschätzt werden kann. Die gewaltige, alljährlich in erstaunlichem Maasse wachsende Litteratur über die Entwickelungs-Lehre und deren einzelne Zweige, erläutert am besten jenen merkwürdigen Umschwung der allgemeinen Anschauungen. Vor zwanzig Jahren bestand noch der grössere Theil derselben aus Schriften „Gegen Darwin“; heute sind dergleichen von kenntnissreichen und urtheilsfähigen Naturforschern überhaupt nicht mehr zu befürchten. Hingegen legt jetzt fast die ganze biologische Litteratur Zeugniss „Für Darwin“ ab, insofern fast alle zoologischen und botanischen, anatomischen und ontogenetischen Arbeiten in den phylogenetischen Grundsätzen unseres heutigen Transformismus wurzeln und von ihm aus ihre besten befruchtenden Gedanken ableiten. Unter diesen Umständen bot sich mir keine leichte Aufgabe, als nach Erschöpfung der siebenten Auflage dieses Buches der Wunsch, eine neue vorzubereiten, an mich herantrat. Als ich nach langem Zwischenraume das Buch wieder durchblätterte, schien mir Inhalt sowohl als Form desselben, die 1579 noch zeit- gemäss sein mochte, 1889 bereits veraltet. Unsere Zeit lebt rasch, und der gewaltige Fortschritt des modernen Geisteslebens in diesem Decennium wiegt mehr als ein Jahrhundert des Mittel- alters auf. Hätte ich alle die werthvollen, inzwischen gewonnenen Ergebnisse der Entwickelungs-Lehre in diese neue Auflage auf- nehmen und ihrer Bedeutung entsprechend ausführlich schildern wollen, so würde der Umfang des Buches um mehr als das Doppelte gewachsen sein. Auch war es mir unmöglich, die mannich- faltigen, inzwischen erschienenen und nach Hunderten zählen- Vorwort. RIM den Schriften über Darwinismus, für deren gütige Zusendung ich den freundlichen Verfassern bei dieser Gelegenheit herzlich danke, eingehend zu studiren und zu berücksichtigen. Denn die letzten zwölf Jahre hindurch war ich grösstentheils durch die umfang- reichen zoologischen Arbeiten für den Challenger-Report in An- spruch genommen (Radiolarien, Tiefsee-Medusen, Siphonophoren, Tiefsee-Hornschwämme, zusammen illustrirt durch 230 Tafeln). Auch fällt in diesen Zeitraum meine Reise nach Ceylon, über welche ich in den „Indischen Reisebriefen“ 1882 berichtet habe. Somit war ich durch die Umstände genöthigt, einerseits die wichtigsten inzwischen gewonnenen Fortschritte der Entwickelungs- Lehre in diese neue Auflage aufzunehmen, und ihre Form zeit- gemäss umzugestalten; anderseits aber doch die Masse des neu aufgenommenen Stoffes so weit zu verdichten und zu beschränken, dass der Umfang des Buches dadurch nicht allzu sehr vergrössert wurde. Die Zahl der Vorträge (ursprünglich zwanzig, in der letzten Auflage vierundzwanzig) ist jetzt auf dreissig erhöht worden. Ganz umgearbeitet (und wie ich hoffe, wesentlich verbessert) sind einerseits die Vorträge VIII—XV, welche den eigentlichen Darwinimus betreffen (Vererbung und Anpassung, Selection und Divergenz); anderseits die Vorträge XVII—XXVI, welche das von mir (1866) zuerst entworfene phylogenetische System der Organismen weiter ausführen (Protisten und Histonen, Stamm- bäume des Pflanzenreichs und Thierreichs.. Da der Umfang dieser achten Auflage (trotzdem vieles Unwesentliche in Wegfall kam) dadurch ziemlich bedeutend gewachsen ist, und für die be- quemere Handhabung vielen Lesern die Zweitheilung derselben erwünscht sein dürfte, sind dieser achten Auflage zwei besondere Theil-Titel angefügt; der erste Theil (Allgemeine Entwickelungs- Lehre) umfasst die Vorträge I—-XV; der zweite Theil (Allge- meine Stammes-Geschichte) die Vorträge XVI—XXX. Gern hätte ich einen vielfach ausgesprochenen Wunsch er- füllt und diese neue Auflage durch zahlreiche und gute Abbil- REV. Vorwort. dungen besser illustrirt. Indessen würde dadurch Umfang und Preis des Buches allzusehr gesteigert worden sein. Ausserdem besitzen wir fetzt so zahlreiche, vortrefflich illustrirte, populäre Werke über Naturgeschichte, dass ich auf diese (im Anhang ver- zeichneten) Schriften verweisen kann. Als besonders werthvolle Ergänzung und weitere Ausführung der „Natürlichen Schöpfungs- Geschichte“ möchte ich vor allen Anderen die vortreffliche, nach Inhalt und Form gleich ausgezeichnete und reich illustrirte neue Auflage von Carus Sterne’s „Werden -und Vergehen“ (Berlin 1586) empfehlen. Eine reiche Fülle der besten Abbildungen bietet die Fortsetzung des bekannten populären Prachtwerkes: „Brehm’s Thierleben“, worüber ich im vorletzten Vortrage (S. 770) Einiges gesagt habe. Einige der wichtigsten Ergebnisse aus meinem engeren Ar- beits-Gebiete (Gasträa-Theorie u. s. w.) habe ich durch sechs neue Tafeln illustrirt, welche dieser achten Auflage zugefügt sind. Vermehrt ist auch die Zahl der systematischen Tabellen und der Stammbäume, welche alle sorgfältig revidirt und zum grösseren Theil umgearbeitet wurden. Es wäre wünschenswerth, dass diese wesentlichen Verbesserungen auch Eingang in die Uebersetzungen “ finden möchten. Die der „Natürlichen Schöpfungs-Geschichte Zahl der Letzteren ist inzwischen von acht auf zwölf gestiegen; sie erschienen in nachstehender Reihenfolge: Polnisch, “ Dänisch, Russisch, Französisch, Serbisch, Englisch, Holländisch, Spanisch, Schwedisch, Portugiesisch, Malayisch, Japanisch. Möge diese stetig wachsende Theilnahme an den Ergebnissen der Entwickelungs-Lehre dazu beitragen, ihr Licht über immer weitere Kreise der Wissenschaft zu verbreiten und der Entwicke- lung des wahren Menschen-Wesens in bestem Sinne zu Gute kommen! Jena, am 18. August 1889. Ernst Haeckel. Inhalts-Verzeichniss. Seite Inhalts-Uebersicht ı V Vorwort zur.ersten Auflage... . VII Vorwort zur achten Auflage 3 TUR ENTER A RER N.) SAraNbHchnS: XI BEBrNatIrRtboethe, BO) EB EN EA REIN Erster Vortrag. Inhalt und Bedeutung der Abstammungs-Lehre oder Descendenz- Theorie 1 Allgemeine Bedeutung und wesentlicher Inhalt der von Darwin reformirten Abstammungs-Lehre oder Descendenz-Theorie. Besondere Bedeutung derselben für die Biologie (Zoologie und Botanik). Besondere Bedeutung derselben für die natürliche Entwickelungs-Geschichte des Menschengeschlechts. Die Abstammungs-Lehre als natürliche Schöpfungs- Geschichte. Begriff der Schöpfung. Wissen und Glauben. Schöpfungs- Geschichte und Entwickelungs-Geschichte. Zusammenhang der indivi- duellen und paläontologischen Entwickelungs-Geschichte. Unzweck- mässigkeits-Lehre oder Wissenschaft von den rudimentären Organen. Unnütze und überflüssige Einrichtungen im Organismus. Gegensatz der beiden grundverschiedenen Weltanschauungen, der monistischen (mecha- nischen, causalen) und der dualistischen (teleologischen, vitalen). Be- gründung der ersteren durch die Abstammungs-Lehre. Einheit der organischen und anorgischen Natur, und Gleichheit der wirkenden Ur- sachen in Beiden. Entscheidende Bedeutung der Abstammungs-Lehre für die einheitliche (monistische) Auffassung der ganzen Natur. Monistische Philosophie. /weiter Vortrag. Wissenschaftliche Berechtigung der Descendenz-Theorie. Schöpfungs- Geschichte nach Linne . IN EN ER RER LER TE FRE Die Abstammungs-Lehre oder Descendenz-Theorie als die einheit- liche Erklärung der organischen Natur-Erscheinungen durch natürliche DO wm xXVI Inhalts-Verzeichniss. wirkende Ursachen. Vergleichung derselben mit Newtons Gravitations- Theorie. Grenzen der wissenschaftlichen Erklärung und der mensch- lichen Erkenntfiss überhaupt. Alle Erkenntniss ursprünglich durch sinnliche Erfahrung bedingt, aposteriori. Uebergang der aposteriori- schen Erkenntnisse durch Vererbung in apriorische Erkenntnisse. Gegensatz der übernatürlichen Schöpfungs - Geschichten von Linne, Cuvier, Agassiz, und der natürlichen Entwickelungs-Theorien von La- marck, Goethe, Darwin. Zusammenhang der ersteren mit der monisti- schen (mechanischen), der letzteren mit der dualistischen (teleologischen) Weltanschauung. Monismus und Materialismus. Wissenschaftlicher und sittlicher Materialismus. Schöpfungs-Geschichte des Moses. Linne als Begründer der systematischen Naturbeschreibung und Artunterschei- dung. Linnes Classifieation und binäre Nomenclatur. Bedeutung des Speciesbegriffs bei Linne. Seine Schöpfungs-Geschichte. Linnes An- sicht von der Entstehung der Arten. Dritter Vortrag. Schöpfungs-Geschichte nach Cuvier und Agassiz . BR. Allgemeine theoretische Bedeutung des Species- Begriffs. a schied in der theoretischen und praetischen Bestimmung des Artbegriffs. Cuviers Definition der Species. Cuviers Verdienste als Begründer der vergleichenden Anatomie. Unterscheidung der vier Hauptformen (Typen oder Zweige) des Thierreichs durch Cuvier und Baer. Cuviers Ver- dienste um die Paläontologie. Seine Hypothese von den Revolutionen des Erdballs und den durch dieselben getrennten Schöpfungs-Perioden. Unbekannte, übernatürliche Ursachen dieser Revolutionen und der darauf folgenden Neuschöpfungen. Teleologisches Natursystem von Agassiz. Seine Vorstellungen vom Schöpfungs-Plane und dessen sechs Kategorien (Gruppenstufen des Systems). Agassiz’ Ansichten von der Erschaffung der Species. Grobe Vermenschlichung (Anthropomorphismus) des Schöpfers in der Schöpfungs-Hypotlıese von Agassiz. Innere Unhalt- barkeit derselben und Widersprüche mit den von Agassiz entdeckten wichtigen paläontologischen Gesetzen. Vierter Vortrag. Entwieckelungs-Theorie von Goethe und Oken RS oc Wissenschaftliche Unzulänglichkeit aller von einer Schöpfung der einzelnen Arten. Nothwendigkeit der entgegengesetzten Entwickelungs-Theorien. Geschichtlicher Ueberblick über die wichtig- sten Entwickelungs-Theorien. Griechische Philosophie. Die Bedeutung der Natur-Philosophie. Goethe. Seine Verdienste als Naturforscher. Seine Metamorphose der Pflanzen. Seine Wirbel-Theorie des Schädels. Seine Entdeckung des Zwischenkiefers beim Menschen. Goethe’s Theil- Seite 45 65 Inhalts-Verzeichniss. nahme an dem Streite zwischen Cuvier und Geoffroy S. Hilaire. Goethe’s Entdeckung der beiden organischen Bildungstriebe, des conservativen Specificationstriebes (der Vererbung) und des progressiven Umbildungs- triebes (der Anpassung). Goethe’s Ansicht von der gemeinsamen Ab- stammung aller Wirbelthiere mit Inbegriff des Menschen. Entwicke- lungs-Theorie von Gottfried Reinhold Treviranus. Seine monistische Natur-Auffassung. Oken. Seine Natur-Philosophie. Okens Vorstellung vom Urschleim (Protoplasma-Theorie) und von den Infusorien (Zellen- Theorie). Fünfter Vortrag. Entwickelungs-Theorie von Kant und Lamarck ......... Kant’s Verdienste um die Entwickelungs-Theorie. Seine’monistische Kosmologie und seine dualistische Biologie. Widerspruch von Mecha- nismus und Teleologie. Vergleichung der genealogischen Biologie mit der vergleichenden Sprachforschung. Ansichten zu Gunsten der Des- cendenz-Theorie von Leopold Buch, Baer, Schleiden, Unger, Schaff- hausen, Vietor Carus, Büchner. Die französische Natur-Philosophie. Lamarck’s Philosophie zoologique. Lamarck’s monistisches (mechani- sches) Natur-System. Seine Ansichten von der Wechselwirkung der beiden organischen Bildungskräfte, der Vererbung und Anpassung. Lamarck’s Ansicht von der Entwickelung des Menschengeschlechts aus affenartigen Säugethieren. Vertheidigung der Descendenz-Theorie durch Geoffroy S. Hilaire, Naudin, Lecog. Die englische Natur-Philosophie. Ansichten zu Gunsten der Descendenz-Theorie von Erasmus Darwin, W. Herbert, Grant, Freke, Herbert Spencer, Hooker, Huxley. Doppeltes Verdienst von Charles Darwin. Sechster Vortrag. Entwickelungs-Theorie von Lyell und Darwin... .2.2.2.2.. Charles Lyell’s Grundsätze der Geologie. Seine natürliche Ent- wickelungs-Geschichte der Erde. Entstehung der grössten Wirkungen durch Summirung der kleinsten Ursachen. Unbegrenzte Länge der geologischen Zeit- Räume. Lyell’s Widerlegung der Cuvier’schen Schöpfungs-Geschichte. Begründung des ununterbrochenen Zusammen- hangs der geschichtlichen Entwickelung durch Lyell und Darwin. Bio- graphische Notizen über Charles Darwin. Seine wissenschaftlichen Werke. Seine Korallenriff-Theorie. Entwickelung der Selections- Theorie. Ein Brief von Darwin. Gleichzeitige Veröffentlichung der Selections-Theorie von Charles Darwin und Alfred Wallace. Darwin’s Studium der Hausthiere und Culturpflanzen. Andreas Wagner’s An- sicht von der besonderen Schöpfung der Cultur-Organismen für den Menschen. Der Baum des Erkenntnisses im Paradies. Vergleichung Haeckel, Natürl. Schöpfungs-Gesch. 8. Aufl. b XV Seite 89 111 XVII Inhalts-Verzeichniss. der wilden und der Cultur-Organismen. Darwin’s Studium der Haus- tauben. Bedeutung der Taubenzucht. Gemeinsame Abstammung aller Taubenrassen. Siebenter Vortrag. Die Züchtungs-Lehre oder Seleetions-Theorie. (Der Darwinismus.) Darwinismus (Seleetions-Theorie) und Lamarckismus (Descendenz- Theorie). Der Vorgang der künstlichen Züchtung: Auslese (Selection) der verschiedenen Einzelwesen zur Nachzucht. Die wirkenden Ursachen der Umbildung: Abänderung, mit der Ernährung zusammenhängend, und Vererbung, mit der Fortpflanzung zusammenhängend. Mechanische Natur dieser beiden physiologischen Funetionen. Der Vorgang der natürlichen Züchtung: Auslese (Selection) durch den Kampf um’s Da- sein. Malthus’ Bevölkerungs-Theorie. Missverhältniss zwischen der Zahl der möglichen (potentiellen) und der wirklichen (actuellen) Indivi- duen jeder Organismen-Art. Allgemeiner Wettkampf um die Existenz. Umbildende und züchtende Kraft dieses Kampfes um’s Dasein. Ver- gleichung der natürlichen und der künstlichen Züchtung. Selections- Prineip bei Kant und Wells. Zuchtwahl im Menschenleben. Medici- nische und clericale Züchtung. Achter Vortrag. Vererbung. und; Fortpflanmung. +... 1.1 = 22: #0 10,0 au Allgemeinheit der Erblichkeit und es Vererbung. Auffallende Be sondere Aeusserungen derselben. Menschen mit vier, sechs oder sieben Fingern und Zehen. Stachelschwein-Menschen. Vererbung von Krank- heiten, namentlich von Geistes-Krankeiten. Erbsünde. Erbliche Mo- narchie. Erbadel. Erbliche Talente und Seelen-Eigenschaften. Ma- terielle Ursachen der Vererbung. Zusammenhang der Vererbung mit der Fortpflanzung. Urzeugung und Fortpflanzung. Ungeschlechtliche oder monogone Fortpflanzung. Fortpflanzung durch Selbsttheilung. Moneren und Amoeben. Fortpflanzung durch Knospenbildung, durch Keim-Knospenbildung und durch Keim-Zellenbildung. Geschlechtliche oder amphigone Fortpflanzung. Zwitterbildung oder Hermaphroditis- mus. Geschlechtstrennung oder Gonochorismus. Jungfräuliche Zeugung oder Parthenogenesis. Materielle Uebertragung der Eigenschaften bei- der Eltern auf das Kind bei der geschlechtlichen Fortpflanzung. Neunter Vortrag. Vererbungs-Gesetze und Vererbungs-Theorien . . . . 2 2 2.. Unterschied der Vererbung bei der geschlechtlichen und bei der ungeschlechtlichen Fortpflanzung. Unterscheidung der erhaltenden und Seite 133 157 178 Inhalts -Verzeichniss. fortschreitenden Vererbung. Gesetze der erhaltenden oder conservativen Erblichkeit: Vererbung ererbter Charaktere. Ununterbrochene oder con- tinuirliche Vererbung. Unterbrochene oder latente Vererbung... Gene- rations-Wechsel. Rückschlag. Verwilderung. Geschlechtliche oder sexuelle Vererbung. Secundäre Sexual-Charaktere. Gemischte oder amphigone Vererbung. Bastardzeugung. Abgekürzte oder vereinfachte Vererbung. Gesetze der fortschreitenden oder progressiven Erblichkeit: Vererbung erworbener Charaktere. Angepasste oder erworbene Ver- erbung. Befestigte oder constituirte Vererbung. Gleichzeitliche (homo- chrone) Vererbung. Gleichörtliche (homotope) Vererbung. Molekulare Vererbungs-Theorien. Pangenesis (Darwin). Perigenesis (Haecke!). Idioplasma (Nägeli). Keimplasma (Weismann). Intracellulare Pange- nesis (Vries). Zehnter Vortrag. Anpassung und Ernährung. Anpassungs-Gesetze . . » 2.2... Anpassung (Adaptation) und Veränderlichkeit (Variation). Zusam- menhang der Anpassung mit der Ernährung (Stoffwechsel und Wachs- thum). Unterscheidung der indireeten und directen Anpassung. Ge- setze der indirecten oder potentiellen Anpassung. Individuelle An- passung. Monströse oder sprungweise Anpassung. Geschlechtliche oder sexuelle Anpassung. (Gesetze der directen oder actuellen An- passung. Allgemeine oder universelle Anpassung. Gehäufte oder cumu- lative Anpassung. Gehäufte Einwirkung der äusseren Existenzbedin- gungen und gehäufte Gegenwirkung des Organismus. Der freie Wille. Gebrauch und Nichtgebrauch der Organe. Uebung und Gewohnheit. Functionelle Anpassung. Wechselbezügliche oder correlative Anpassung. Wechselbeziehungen der Entwickelung. Correlation der Organe. Er- klärung der indirecten oder potentiellen Anpassung durch die Corre- lation der Geschlechtsorgane und der übrigen Körpertheile. Nachäffung oder mimetische Anpassung (Mimiery). Abweichende oder divergente Anpassung. Unbeschränkte oder unendliche Anpassung. Elfter Vortrag. Die natürliche Züchtung durch den Kampf um’s Dasein. Cellular- Selection und Personal-Selection . . . - -. . 2222202 .. Wechselwirkung der beiden organischen Bildungstriebe, der Ver- erbung und Anpassung. Natürliche und künstliche Züchtung. Kampf um’s Dasein oder Wettkampf um die Lebensbedürfnisse. Missverhält- niss zwischen der Zahl der möglichen (potentiellen) und der Zahl der wirklichen (actuellen) Individuen. Verwickelte Wechselbeziehungen I} b* XIX Seite 207 238 DER Inhalts -Verzeichniss. aller benachbarten Organismen. Wirkungsweise der natürlichen Züch- tung. Gleichfarbige Zuchtwahl als Ursache der sympathischen Fär- bungen. Geschlechtliche Zuchtwahl als Ursache der secundären Sexual- Charactere. Der Kampf der Theile im Organismus (nach Roux). Fune- tionelle Selbstgestaltung der zweckmässigen Structur. Teleologische Mechanik. Cellular-Seleetion (Protisten) und Personal-Seleetion (Histo- nen). Zuchtwahl der Zellen und der Gewebe. Das Selections-Prineip bei Empedocles. Mechanische Entstehung des Zweckmässigen aus dem Unzweckmässigen. Philosophische Tragweite des Darwinismus. Zwölfter Vortrag. Arbeitstheilung und Formspaltung. Divergenz der Species. Fort- bildung und Rückbildunug .......... . Arbeitstheilung (Ergonomie) und Formspaltung (Polo Physiologische Divergenz und morphologische Differenzirung, beide nothwendig durch die Selection bedingt. Uebergang der Varietäten in Species. Begriff der Art oder Species. Bastard-Arten. Personal-Di- vergenz und Cellular-Divergenz. Differenzirung der Gewebe. Primäre und secundäre Gewebe. Siphonophoren. Arbeitswechsel (Metergie). Angleichung (Convergenz). Fortschritt und Vervollkommnung. Ent- wickelungs-Gesetze der Mehschheit. Verhältniss der Fortbildung zur Divergenz. Centralisation als Fortschritt. Rückbildung. Entstehung der rudimentären Organe durch Nichtgebrauch und Abgewöhnung. Un- zweckmässigkeits-Lehre oder Dysteleologie. Dreizehnter Vortrag. Keimes-Geschichte und Stammes-Geschichte . .. 2.2.2... Allgemeine Bedeutung der Keimes-Geschichte (Ontogenie). Mängel unserer heutigen Bildung. Thatsachen der individuellen Entwickelung. Uebereinstimmung der Keimung beim Menschen und den Wirbelthieren. Das Ei des Menschen. Befruchtung. Unsterblichkeit. Eifurchung. Bildung der Keimblätter. Gastrulation. Keimes-Geschichte des Cen- tral-Nervensystems, der Gliedmaassen, der Kiemenbogen und des Schwanzes. Ursächlicher Zusammenhang zwischen Keimes-Geschichte (Ontogenie) und Stammes-Geschichte (Phylogenie). Das biogenetische Grund-Gesetz. Auszugs - Entwickelung (Palingenesis) und Störungs- Entwickelung (Cenogenesis). Stufenleiter der vergleichenden Anatomie. Beziehung derselben zur paläontologischen und embryologischen Ent- wickelungs-Reihe. Seite 261 289 Inhalts -Verzeichniss. Vierzehnter Vortrag. Wanderung und Verbreitung der Organismen. Die bie ne und die Eiszeit der Erde. ..... A Chorologische Thatsachen und Disae hen. take Entdtehkng der meisten Arten an einem einzigen Orte: „Schöpfungs-Mittelpunkte“. Ausbreitung durch Wanderung. Active und passive Wanderungen der Thiere und Pflanzen. Fliegende Thiere. Analogien zwischen Vögeln und Insecten. Fledermäuse. Transportmittel. Transport der Keime durch Wasser und Wind. Beständige Veränderung der Verbreitungs- Bezirke durch Hebungen und Senkungen des Bodens. Chorologische Bedeutung der geologischen Vorgänge. Einfluss des Klima-Wechsels. Eiszeit oder Glacial-Periode. Ihre Bedeutung für die Chorologie. Be- deutung der Wanderungen für die Entstehung neuer Arten. Isolirung der Kolonisten. Wagner’s „Migrations-Gesetz“. Verhältniss der Mi- grations-Theorie zur Selections-Theorie. Uebereinstimmung ihrer Fol- gerungen mit der Descendenz-Theorie. Fünfzehnter Vortrag. Entwiekelung des Weltalls und der Erde. Urzengung. Kohlenstoff- Theorie. Plastiden-Theorie EHEN ee a A Entwickelungs-Geschichte der Erde. Kant’s Entwickelungs-Theorie des Weltalls oder die kosmologische Gas-Theorie. Entwickelung. der Sonnen, Planeten und Monde. Erste Entstehung des Wassers. Ver- gleichung der Organismen und der Anorgane. Organische und anor- gische Stoffe. Dichtigkeits-Grade oder Aggregat-Zustände. Eiweiss- artige Kohlenstoff-Verbindungen. Plasson-Körper. Organische und an- orgische Formen. Krystalle und Moneren (strukturlose Organismen ohne Organe). Stereometrische Grund-Formen der Krystalle und der Organismen. Organische und anorgische Kräfte. Lebenskraft. Wachs- thum und Anpassung bei Krystallen und bei Organismen. Bildungs- kräfte der Krystalle. Einheit der organischen und anorgischen Natur. Urzeugung oder Archigonie. Autogonie und Plasmogonie. Entstehung der Moneren durch Urzeugung. “Entstehung der Zellen aus Moneren. Zellen-Theorie. Plastiden-Theorie. Plastiden oder Bildnerinnen. Cy- toden und Zellen. Vier verschiedene Arten von Plastiden. Sechzehnter Vortrag. Schöpfungs-Perioden und Schöpfungs-Urkunden . a Reform der Systematik durch die Descendenz-Theorie. Das natür- liche System als’ Stammbaum. Palüontologische Urkunden des Stamm- XXI Seite 316 940 Byal XXI Inhalts-Verzeichniss. baumes. Die Versteinerungen als Denkmünzen der Schöpfung. Ab- lagerung der neptunischen Schichten und Einschluss der organischen Reste. Eintheilung der organischen Erd-Geschichte in fünf Haupt- Perioden: Zeitalter der Tang-Wälder, Farn-Wälder, Nadel-Wälder, Laub-Wälder und Cultur-Wälder. System der neptunischen Schichten. Unermessliche Dauer der während ihrer Bildung verflossenen Zeit- räume. Ablagerung der Schichten nur während der Senkung, nicht während der Hebung des Bodens. Andere Lücken der Schöpfungs-Ur- kunde. Metamorphischer Zustand der ältesten neptunischen Schichten. Geringe Ausdehnung der paläontologischen Erfahrungen. Geringer Bruchtheil der versteinerungsfähigen Organismen und organischen Kör- pertheile. Seltenheit vieler versteinerten Arten. Mangel fossiler Zwischen-Formen. Die Schöpfungs-Urkunden der Ontogenie und der vergleichenden Anatomie. Siebzehnter Vortrag. Phylogenetisches System der Organismen. Protisten und Histonen Specielle Durchführung der Descendenz-Theorie in dem natürlichen System der Organismen. Construction der Stammbäume. Neuere Fort- schritte der Phylogenie. Abstammung aller mehrzelligen Organismen von einzelligen. Abstammung der Zellen von Moneren. Begriff der organischen Stämme oder Phylen. Zahl der Stämme des Thierreichs und des Pflanzenreichs. Einheitliche oder monophyletische und viel- heitliche oder polyphyletische Descendenz-Hypothese. Das Reich der Protisten oder Zellinge (einzellige Organismen). Gegensatz zum Reiche der Histonen oder Webinge (vielzellige Thiere und Pflanzen). Grenzen zwischen Thierreich und Pflanzenreich. Urpflanzen (Proto- Seite 401 phyta) und Urthiere (Protozoa). Monobien und Coenobien. Challenger- , Resultate. Geschichte der Radiolarien. System der organischen Reiche. Achtzehnter Vortrag. Stammes-Geschichte des Protistenreichs. . . . - .. 22.2... Anfangs-Fragen. Grundsätze für die Phylogenie des Protisten- Reiches. Die ältesten Wurzeln des Stammbaumes: Moneren. Phyto- moneren als Lebens-Anfänge. Probionten. Vielfach wiederholte Ur- zeugung von Probien. Zoomoneren (Raub-Moneren). Bacterien (soge- nannte Spaltpilze). Chromaceen (Chroococceen und Nostochinen). Phytarchen und Zoarchen. Hauptgruppen von einzelligen Organismen. Diatomeen. Cosmarien. Palmellarien. Volvocinen. Xanthelleen. Caleoeyten. Siphoneen. Amoebinen (Lobosen). Gregarinen. Geissel- eshwärmer (Flagellaten).. Flimmerkugeln (Catallacten).. Infusorien, 423 Inhalts-Verzeichniss. XXI Die Zellseele der Ciliaten. Acineten. Wurzelfüsser (Rhizopoden), Pilzthiere (Mycetozoa). Sonnenthierchen (Heliozoa). Kammerlinge (Thala- maria). Strahlinge (Radiolaria). Sedimente der Tiefsee. Neunzehnter Vortrag. Stammes-Geschichte des Pflanzenreichs . . . » 2... 222.2... Das natürliche System des Pflanzenreichs. Eintheilung des Pflan- zenreichs in sechs Hauptelassen und achtzehn Classen. Unterreich der Blumenlosen (Cryptogamen). Stamm-Gruppe der Thallus-Pflanzen. Ab- stammung der Metaphyten von Protophyten. Tange oder Algen (Ur- tange, Grüntange, Brauntange, Rothtange, Mostange). Pilze und Flech- ten. Symbiose. Stamm-Gruppe der Vorkeim-Pflanzen (Mesophyten oder Prothallophyten). Mose oder Muscinen (Leber-Mose, Laub-Mose). Farne oder Filieinen (Laub-Farne, Schaft-Farne, Wasser-Farne, Schup- pen-Farne). Unterreich der Blumen-Pflanzen (Phanerogamen). Nackt- samige oder Gymnospermen. Palm-Farne (Cycadeen). Nadelhölzer (Coniferen). Meningos (Gnetaceen). Decksamige oder Angiospermen. Monocotylen. Dicotylen. Kelchblüthige -(Apetalen). Sternblüthige (Choripetalen). Glockenblüthige (Gamopetalen). Die historische Stufen- folge der Hauptgruppen des Pflanzenreichs als Beweis für den Trans- formismus. Zwanzigster Vortrag. Phylogenetische Classification des Thierreichs. Gastraea-Theorie . Das natürliche System des Thierreichs. Aeltere Systeme von Linne und Lamarck. Die vier Typen von Baer und Cuvier. Die acht Typen der neueren Zoologie. Ihre phylogenetische Bedeutung. Die Philosophie der Kalkschwämme, die Homologie der Keimblätter, und die Gastraea-Theorie. Einheit der Stämme oder Phylen. Abstammung aller Metazoen von der Gastraea. Die fünf ersten Bildungsstufen des einzelligen Thierkörpers. Die fünf ersten Keimstufen: Stammzelle (Cytula). Maulbeerkeim (Morula). Blasenkeim (Blastula).. Haubenkeim (Depula). Becherkeim (Gastrula).. Die entsprechenden fünf ältesten Stammformen (Cytaea, Moraea, Blastaea, Depaea, Gastraea). Die Hohl- kugel als Urform des Thierkörpers (Baer). Darmhöhle und Leibes- höhle. Coelom- Theorie. Pseudocoel und Enterocoel. Die beiden Hauptgruppen der Metazoen: I. Coelenterien oder Coeleranten (ohne Leibeshöhle). II. Coelomarien oder Bilateraten (mit Leibeshöhle). Einundzwanzigster Vortrag. Stammes-Geschichte der Niederthiere und Wurmthiere. ... . . Phylogenie der Coelenterien oder Coelenteraten: Gastraeaden Seite 487 Sll XXIV Inhalts-Verzeichniss. (Gastraemonen, Cyemarien und Physemarien). Spongien. Ihre Organi- sation. Homologie der Geisselkammer und der Gastraea. Skeletbil- dungen der Schwämme. Die drei.Classen des Spongien - Stammes: Kittschwämme (Malthospongien), Kieselschwämme (Silieispongien), Kalk- schwämme (Caleispongien). Ihre gemeinsame Stamm-Form: Olynthus. Ammoconiden. Stamm der Nesselthiere (Cnidarien oder Acalephen). Ihre Organisation. Abstammung aller Nesselthiere von einfachsten Polypen (Hydra). Hydropolypen und Seyhopolypen. Polyphyletischer Ursprung der Medusen und der Siphonophoren. Ctenophoren. Koral- len. Stamm der Plattenthiere (Platodes): die drei Classen der Strudel- würmer (Turbellarien), Saugwürmer (Trematoden) und Bandwürmer‘ (Cestoden). Radiale und bilaterale Grund-Form. Nephridien. Phylo- genie der Coelomarien oder Bilateraten: Metazoen mit Leibeshöhle, Blut und After. Abstammung der fünf höheren Thier-Stämme von Wurmthieren (Helminthen). Die vier Hauptelassen und zehn Classen der Helminthen. Zweiundzwanzigster Vortrag. Stammes-Geschichte der Weichthiere und Sternthiere ...... Stamm der Weichthiere oder Mollusken. Organisation derselben. Stamm - Verwandtschaft der drei Hauptclassen. Stammgruppe der Schnecken (Cochlides). Entstehung der Muscheln (Acephala) durch Rückbildung des Kopfes. Entwickelung der Kracken (Cephalopoda) durch weitere Ausbildung des Kopfes und seiner Arme. — Stamm der Sternthiere oder Echinodermen. Organisation derselben. Zweiseitig-fünf- strahlige Grundform. Wassercanal-System. Ontogenie. Hypothesen über die Phylogenie der Echinodermen. Pentastraea-Hypothese (1866). Ableitung aller Sternthiere von Seesternen, und dieser von Glieder- würmern (Panzerwürmer oder Phracthelminthen). Die drei Haupt- classen der Echinodermen. Astrozoen (Seesterne und Seestrahlen). Pelmatozoen (Seelilien, Seeknospen und Seeäpfel). Echinozoen (See- igel und Seegurken). Pentactaea-Hypothese von Semon (1888). Phy- logenetische Bedeutung der gemeinsamen ontogenetischen Larven-Form: Pentactula. Dreiundzwanzigster Vortrag. Stammes-Geschichte der Gliederthiere. . . . :. 2.2.2... Vier Classen der Gliederthiere von Cuvier. Spätere Trennung der Anneliden von den Arthropoden. Die drei Hauptclassen der Anneliden, Crustaceen und Tracheaten. Gemeinsame Merkmale derselben. Ab- stammung derselben von einer Stammform. Stammgruppe der Anne- liden oder Ringelthiere (Egel und Borstenwürmer). Hauptelasse der Krustenthiere oder Crustaceen, Eintheilung in zwei divergente Classen: Seite 966 Inhalts-Verzeichniss. Krebsthiere (Caridonia) und Schildthiere (Aspidonia). Abstammung der Caridonien von Archicariden. Nauplius. Verwandtschaft der Aspido- nien und Arachniden. Hauptelasse der Luftrohrthiere (Tracheata). Vier Classen derselben: Protracheaten (Peripatus), Tausendfüsser (My- riapoden), Spinnen (Arachniden) und Inseeten. Organisation und Stammbaum der Inseeten. Eintheilung derselben in vier Legionen nach den Mundtheilen. Flügellose ältere Inseeten (Thysanura). Geflügelte jüngere Insecten (Pterygonia). Insecten mit beissenden, leckenden, stechenden und schlürfenden Mundtheilen. Historische Stammfolge der Insecten. Vierundzwanzigster Vortrag. Stammes-@eschichte der Chordathiere (Mantelthiere und Wirbel- Be Be N et ala a are el au Be Die Schöpfungs-Urkunden der Wirbelthiere (Vergleichende Anato- mie, Embryologie und Paläontologie). Das natürliche System der Wir- belthiere. Die vier Classen der Wirbelthiere von Linne und Lamarck. Vermehrung derselben auf acht Classen. Hauptelasse der Rohrherzen oder Schädellosen (Lanzetthiere). Blutsverwandtschaft der Schädel- losen mit den Mantelthieren. Uebereinstimmung in der embryonalen Entwickelung des Amphioxus und der Ascidien. Ursprung des Wirbel- thier-Stammes aus der Würmergruppe. Einheitliche Abstammung der Chordathiere. Ihr Kiemendarm. Beziehung zu den Enteropneusten (Eichelwurm oder Balanoglossus), und zu den Schnurwürmern (Nemer- tina). Divergente Entwickelung der Mantelthiere und Wirbelthiere. Die drei Classen der Mantelthiere (Tunicata): Copelaten, Ascidien und Thalidien. Hauptelasse der Unpaarnasen oder Rundmäuler (Inger und Lampreten). Hauptelasse der Anamnien (Ichthyoten oder Amnionlosen). Fische (Urfische, Schmelzfische, Knochenfische). Lurchfische oder Dipneusten. Einlunger (Monopneumones) und Zweilunger (Dipneu- mones). Fünfundzwanzigster Vortrag. Stammes-Geschichte der Amphibien und Amnioten. ... 2... Fünfzahl der Finger (oder Pentadactylie) bei den vier höheren Wirbelthier-Classen (Amphibien und Amnioten). Ihre Bedeutung für das Decimal-System. Ihre Entstehung aus der polydactylen Fischflosse. Gliederung der fünfzehigen Extremität in drei Hauptabschnitte. Lurche oder Amphibien. Panzerlurche (Stegocephalen und Peromelen). Nackt- lurche (Urodelen und Anuren). Hauptelasse der Amnioten oder Am- nion-Thiere. Bildung des Amnion und der Allantois. Verlust der Kiemen. Protamnion (in der permischen Periode). Spaltung des Am- nioten-Stammes in zwei Aeste (Sauropsiden und Mammalien). Reptilien, AXV Seite 994 620 XXVI Inhalts-Verzeichniss. Stammgruppe der Tocosaurier (Ur-Eidechsen). Seedrachen (Plesiosau- ren und Ichthyosauren), Eidechsen, Schlangen und Croeodile, Schild- kröten (Chelonier). Flugdrachen (Pterosaurier.. Drachen und Lind- würmer (Dinosaurier). Abstammung der Vögel von vogelbeinigen Sau- riern (Ornithoscelides). Die Ordnungen der Vögel. Urvögel, Zahnvögel, Straussvögel, Kielvögel. Fürbringer’s Vogel-System und stereometrische Stammbäume. Sechsundzwanzigster Vortrag. Stammes-Geschichte der Säugethiere . . . ». 2 22 2 2 2 2 0. System der Säugethiere nach Linne und nach Blainville. Drei Unterclassen der Säugethiere (Ornithodelphien, Didelphien, Monodel- phien). Ornithodelphien oder Monotremen. Eierlegende Säugethiere. Schnabelthiere (Ornithostomen) und Ursäuger (Promammalien). Didel- phien oder Marsupialien. Pflanzenfressende und fleischfressende Beutel- thiere (Phytophaga und Zoophaga). Monodelphien oder Placentalien (Placentalthiere). Bedeutung der Placenta. Paläontologische Ent- deekungen der Neuzeit in Europa und Nordamerica; tertiäre Pla- cental-Fauna. Vollständige Stammbäume. Sechs Legionen und zwan- zig Ordnungen der Placentalen. Ihr typisches Gebiss. Zahnarme (Eden- tata). Walthiere (Cetaceen und Sirenen). Hufthiere. Stammhufer. Unpaarhufer. Paarhufer. Rüsselthiere. Platthufer. Nagethiere. Die vier Ordnungen der Raubthiere (Creodonten, Insectenfresser, Fleisch- fresser und Robben). Die Legion der Primaten: Halbaffen, Flederthiere, Affen und Menschen. Siebenundzwanzigster Vortrag. Stammes-Geschichte des Menschen . .... 2.222000. Die Anwendung der Descendenz-Theorie auf den Menschen. Un- ermessliche Bedeutung und logische Nothwendigkeit derselben. Stellung des Menschen im natürlichen System der Thiere, insbesondere unter den discoplacentalen Säugethieren. Unberechtigte Trennung der Vier- händer und Zweihänder. Berechtigte Trennung der Halbaffen von den Affen. Stellung des Menschen in der Ordnung der Affen. Schmal- nasen (Affen der alten Welt) und Plattnasen (amerikanische Affen). Unterschiede beider Gruppen. Phylogenetische Reduction des Gebisses. Entstehung des Menschen aus Schmalnasen. Menschenaffen oder An- thropoiden. Afrikanische Menschenaffen (Gorilla und Schimpanse). Asiatische Menschenaffen (Orang und Gibbon). Vergleichung der ver- schiedenen Menschenaffen und der verschiedenen Menschenrassen. Fossile Affen-Reste.. Uebersicht der Ahnenreihe des Menschen (in 25 Stufen). Wirbellose Ahnen (9 Stufen) und Wirbelthier-Ahnen (16 Stufen), Seite 647 680 Inhalts-Verzeichniss. XXVII Achtundzwanzigster Vortrag. Wanderung und Verbreitung des Menschengeschlechts. Menschen- arten und Menschenrassen . a A 20 Alter des Menschengeschlechts. Ursachen der Entstehung dessel- ben. Der Ursprung der menschlichen Sprache. Lautsprache und Be- griffssprache. Sing-Affen. Einstämmiger (monophyletischer) und viel- stämmiger (polypbyletischer) Ursprung des Menschengeschlechts. Ab- stammung der Menschen von vielen Paaren. Classification der Men- schenrassen. Schädelmessung. System der zwölf Menschenarten. Wollhaarige Menschen oder Ulotrichen. Büschelhaarige (Papuas, Hottentotten). Vlieshaarige (Kaffern, Neger). Schlichthaarige Menschen oder Lissotrichen. Straffhaarige (Malayen, Mongolen, Arktiker, Ameri- kaner). Lockenhaarige (Australier, Dravidas, Nubier, Mittelländer). Bevölkerungszahlen. Urheimath des Menschen (Südasien oder Lemurien). Beschaffenheit des Urmenschen. Der Traum des Urmenschen. Zahl der Ursprachen (Monoglottonen und Polyglottonen). Divergenz und Wanderung des Menschengeschlechts. Geographische Verbreitung der Menschenarten. Neunundzwanzigster Vortrag. Einwände gegen die Wahrheit der Descendenz-Theorie Einwände gegen die Abstammungs-Lehre. Einwände des lonbens und der Vernunft. Unermessliche Länge der geologischen Zeiträume. Uebergangsformen zwischen den verwandten Species. Abhängigkeit der Formbeständigkeit von der Vererbung, und des Formwechsels von der Anpassung. Teleologische Einwände. Entstehung zweckmässiger und sehr zusammengesetzter Organisations-Einrichtungen. Stufenweise Entwickelung der Instinete und Seelenthätigkeiten. Entstehung der apriorischen Erkenntnisse aus aposteriorischen. Erfordernisse für das richtige Verständniss der Abstammungs-Lehre. Nothwendige Wechsel- wirkung der .Empirie und Philosophie. Der anthropocentrische Stand- punkt der sogenannten exacten Anthropologie; im Gegensatze zum phylogenetischen Standpunkte der vergleichenden Anthropologie (auf zoologischer Basis). Praetische Einwände gegen die Folgen der Ab- stammungs-Lehre. Dreissigster Vortrag. Beweise für die Wahrheit der Descendenz-Theorie Zehn Gruppen biologischer Thatsachen als Beweise für die Ab stammungs-Lehre: Thatsachen der Paläontologie, Ontogenie, Morpho- . logie, Tectologie, Systematik, Dysteleologie, Physiologie, Psychologie, Seite 71 3 DD RRVIUT Inhalts-Verzeichniss. Chorologie, Oekologie. Mechanisch-causale Erklärung dieser zehn Er- scheinungs-Gruppen durch die Descendenz-Theorie. Innerer ursäch- licher Zusammenhang derselben. Directer Beweis der Selections-Theo- rie. Ihr Verhältniss zur Pithecoiden-Theorie. Induetion und Deduc- tion. Beweise für die Abstammung des Menschen vom Affen: Zoolo- “ gische Thatsachen. Stufenweise Entwickelung des menschlichen Geistes, im Zusammenhang mit dem Körper. Menschenseele und Thierseele. Blick in die Zukunft: Sieg der monistischen Philosophie. Verzeichniss der im Texte angeführten Schriften . .. ..... Erklärunp ner Taten... 0 ee nn). 2 Taf. I. Lebensgeschichte eines einfachsten Organismus, eines Moneres (Zrolomyza aurankaca). 2-2 we. - mania 5 Te : Taf. II und III. Keime oder Embryonen von vier Wirbelthieren (Sehildkrote, Huhn, Hund, Mensch)... 2 2... Lese Taf. IV. Hand von neun verschiedenen Säugethieren . ..... Taf. V. Gastrula-Bildung von der Teichschnecke und dem Pfeil- WILD de a ne le ae 1 Be Pe Taf. VI, Gasträaden der Gegenwart und nächste Verwandte Taf. VII. Gruppe von Pflanzenthieren im Mittelmeere ...... Taf. VII und IX. Generationswechsel der Sternthiere . .... Taf. X und XI. Entwickelungs-Geschichte der Krebsthiere oder Taf. XII und XIII. Entwickelungs-Geschichte der Aseidie und des Taf. XIV und XV. Grundformen von Protisten (Taf. XIV Urpflan- zen. Da Urthiere)e mn. en ei erh: RN REN Eee Taf. XVI. Tiefsee-Radiolarien der Challenger-Expedition. . . . . Taf. XVII. "Farnwald der Steinkohlenzeit ".. 2 2 Taf. XVII und XIX. Nervensystem der Metazoen-Stämme Taf. XX. Hypothetische Skizze des monophyletischen Ursprungs und der Verbreitung der zwölf Menschen-Species über die Brds re e TREE E e Bepister) Luc 8'5 ar RR ee Seite Die Natur. Natur! Wir sind von ihr umgeben und umschlungen — unver- mögend aus ihr herauszutreten, und unvermögend, tiefer in sie hinein zu kommen. Ungebeten und ungewarnt nimmt sie uns in den Kreis- lauf ihres Tanzes auf und treibt sich mit uns fort, bis wir ermüdet sind und ihrem Arme entfallen. Sie schafft ewig neue Gestalten; was da ist, war noch nie; was war, kommt nicht wieder: Alles ist neu und doch immer das Alte. Sie scheint alles auf Individualität angelegt zu haben, und macht sich Nichts aus den Individuen. Sie baut immer und zerstört immer, und ihre Werkstätte ist unzugänglich. Sie lebt in lauter Kindern; und die Mutter, wo ist sie? Sie ist die einzige Künstlerin: aus dem simpelsten Stoffe zu den grössten Con- trasten: ohne Schein der Anstrengung zu der grössten Vollendung; zur genauesten Bestimmtheit, immer mit etwas Weichem überzogen. Jedes ihrer Werke hat ein eigenes Wesen, jede ihrer Erscheinungen den iso- lirtesten Begriff, und doch macht alles Eins aus. Es ist ein ewiges Leben, Werden und Bewegen in ihr, und doch rückt sie nicht weiter. Sie verwandelt sich ewig, und ist kein Moment Stillstehen in ihr. Für’s Bleiben hat sie keinen Begriff, und ihren Fluch hat sie an’s Stillstehen gehängt. Sie ist fest: ihr Tritt ist ge- messen, ihre Ausnahmen selten, ihre Gesetze unwandelbar. Sie lässt jedes Kind an ihr künsteln, jeden Thoren über sie richten, tausende stumpf über sie hingehen und nichts sehen, und hat an allen ihre Freude und findet bei allen ihre Rechnung. Man gehorcht ihren Gesetzen, auch wenn man ihnen widerstrebt; ınan wirkt mit ihr, auch wenn man gegen sie wirken will. Sie macht EKEKERE Die Natur. Alles, was sie giebt, zur Wohlthat; denn sie macht es erst unentbehr- lich. Sie säumt, dass man sie verlange; sie eilt, dass man sie nicht satt werde. Sie hat keine Sprache noch Rede, aber sie schafft Zungen und Herzen, durch die sie fühlt und spricht. Ihre Krone ist die Liebe; nur durch sie kommt man ihr nahe. Sie macht Klüfte zwischen allen We- sen, und Alles will sie verschlingen. Sie hat alles isolirt, um alles zu- sammen zu ziehen. Durch ein paar Züge aus dem Becher der Liebe hält sie für ein Leben voll Mühe schadlos. Sie ist alles. Sie belohnt sich selbst und bestraft sich selbst, er- freut und quält sich selbst. Sie ist rauh und gelinde, lieblich und schrecklich, kKraftlos und allgewaltig. Alles ist immer da in ihr. Ver- gangenheit und Zukunft kennt sie nicht. Gegenwart ist ihre Ewigkeit. Sie ist gütig. Ich preise sie mit allen ihren Werken. Sie ist weise und still. Man reisst ihr keine Erklärung vom Leibe, trutzt ihr kein Geschenk ab, dass sie nicht freiwillig giebt. Sie ist listig, aber zu gutem Ziele, und am besten ist’s, ihre List nicht zu merken. Sie ist ganz, und doch immer unvollendet. So wie sie’s treibt, kann sie’s immer treiben. Jedem erscheint sie in einer eigenen Gestalt. Sie verbirgt sich in tausend Namen und Termen, und ist immer dieselbe. Sie hat mich hereingestellt, sie wird mich auch herausführen. Ich vertraue mich ihr. Sie mag mit mir schalten; sie wird ihr Werk nicht hassen. Ich sprach nicht von ihr: nein, was wahr ist und was falsch ist, alles hat sie gesprochen. Alles ist ihre Schuld, alles ist ihr Verdienst. Goethe (1780). Der Natürlichen Schöpfungs-Geschichte Erster Theil: Allgemeine Entwickelungs-Lehre. (Iransformismus und Darwinismus). I—XV. Vortrag. je» | par’) 2 N arb N ’ d v ke, a = . % 208% ‚a ” RIP TER Pr, BR Ds TR s A E E Er De) TE RER oh EN E = 2 r & 11 Ä Br 1 ‘ pr cf % “ j 5 „ B Ar Ma 2 5 i 1 s u) Ei r} P% wi; 9 | % deze j we) EIIERT N Da; % are TIER TE 6 OT u een Lat Das AU RE er P: Ti Er} } nn ' j vi ; = Pi E \ S ai D m e De 2 EI ’ \ h . Erster Vortrae. Inhalt und Bedeutung der Abstammungs-Lehre oder Descendenz - Theorie. Allgemeine Bedeutung und wesentlicher Inhalt der von Darwin refor- mirten Abstammungs-Lehre oder Descendenz-Theorie. Besondere Bedeutung derselben für die Biologie (Zoologie und Botanik). Besondere Bedeutung derselben für die natürliche Entwickelungs-Geschichte des Menschengeschlechts. Die Abstammungs-Lehre als natürliche Schöpfungs - Geschichte. Begriff der Schöpfung. Wissen und Glauben. Schöpfungs-Geschichte und Entwickelungs- Geschichte. Zusammenhang der individuellen und paläontologischen Ent- wickelungs-Geschichte. Unzweckmässigkeits-Lehre oder Wissenschaft von den rudimentären Organen. Unnütze und überflüssige Einrichtungen im Organismus. Gegensatz der beiden grundverschiedenen Weltanschauungen, der monistischen (mechanischen, eausalen) und der dualistischen (teleologi- schen, vitalen). Begründung der ersteren durch die Abstammungs -Lehre. Einheit der organischen und anorgischen Natur, und Gleichheit der wir- kenden Ursachen in Beiden. Entscheidende Bedeutung der Abstammungs- Lehre für die einheitliche (monistische) Auffassung der ganzen Natur. Mo- nistische Philosophie. Meine Herren! Die geistige Bewegung, zu welcher der eng- lische Naturforscher Charles Darwin vor dreissig Jahren durch sein berühmtes Werk „über die Entstehung der Arten“') den Anstoss gab, hat während dieses kurzen Zeitraums eine beispiellose Tiefe und Ausdehnung gewonnen. Allerdings ist die in jenem Werke dargestellte naturwissenschaftliche Theorie (gewöhnlich kurzweg die Darwin’sche Theorie oder der Darwinismus genannt) nur ein Bruchtheil einer viel umfassenderen Wissenschaft, nämlich der universalen Entwickelungs-Lehre, welche ihre unermessliche Bedeutung über das ganze Gebiet aller menschlichen Haeckel, Natürl. Schöpfungs-Gesch. 8. Aufl. 1 2 Allgemeine Bedeutung der Abstammungs-Lehre. I: _ Erkenntniss erstreckt. Allein die Art und Weise, in welcher Darwin die letztere durch die erstere fest begründet hat, ist so überzeugend, und die entscheidende Wendung, welche durch die nothwendigen Folgeschlüsse jener Theorie in der gesammten Weltanschauung der Menschheit angebahnt worden ist, muss jedem tiefer denkenden Menschen so gewaltig erscheinen, dass man ihre allgemeine Bedeutung nicht hoch genug anschlagen kann. Ohne Zweifel muss diese ungeheuere Erweiterung unseres mensch- lichen Gesichtskreises unter allen den zahlreichen und grossartigen wissenschaftlichen Fortschritten unserer Zeit als der bei weitem folgenreichste und wichtigste angesehen werden. Wenn man unser Jahrhundert mit Recht das Zeitalter der Naturwissenschaften nennt, wenn man mit Stolz auf die unermess- lich bedeutenden Fortschritte in allen Zweigen derselben blickt, so pflegt man «dabei gewöhnlich weniger an die Erweiterung un- serer allgemeinen Naturerkenntniss, als vielmehr an die unmittel- baren practischen Erfolge jener Fortschritte zu denken. Man erwägt dabei die völlige und unendlich folgenreiche Umgestaltung des menschlichen Verkehrs, welche durch das entwickelte Ma- schinenwesen, dureh die Eisenbahnen, Dampfschilfe, Telegraphen, Telephone und andere Erfindungen der Physik hervorgebracht worden ist. Oder man denkt an den mächtigen Einfluss, welchen die Chemie in der Heilkunst, in der Landwirthschaft, in allen Künsten und Gewerben gewonnen hat. Wie hoch Sie aber auch diese Einwirkung der neueren Naturwissenschaft auf das practische Leben anschlagen mögen, so muss dieselbe, von einem höheren und allgemeineren Standpunkt aus gewürdigt, doch hinter dem ungeheuren Einfluss zurückstehen, welchen die theoretischen Fort- schritte der heutigen Naturwissenschalt auf das gesammte Er- kenntniss-Gebiet des Menschen, auf seine ganze Weltanschauung und Geistesbildung nothwendig ausüben. Denken Sie nur an den unermesslichen Umschwung aller unserer theoretischen Anschauun- gen, welchen wir der allgemeinen Anwendung des Mikroskops verdanken. Denken Sie allein an die Zellen-Theorie, die uns die scheinbare Einheit des menschlichen Organismus als das zusammen- gesetzte Resultat aus der staatlichen Verbindung von Milliarden I. Allgemeine Bedeutung der Abstammungs-Lehre. 3 elementarer Lebenseinheiten, der Zellen, nachweist. Oder erwägen Sie die ungeheure Erweiterung unseres theoretischen Gesichts- kreises, welche wir der Spectral-Analyse, der Lehre von der Wärme-Mechanik und von der Erhaltung der Kraft verdanken. Unter allen diesen bewunderungswürdigen theoretischen Fort- schritten nimmt aber jedenfalls unsere heutige Entwiekelungs- Lehre bei weitem den höchsten Rang ein. Jeder von Ihnen wird den Namen Darwin gehört haben. Aber die Meisten werden wahrscheinlich nur unvollkommene Vorstellungen von dem eigentlichen Werthe seiner Lehre besitzen. Denn wenn man Alles vergleicht, was seit dem Erscheinen seines epochemachenden Hauptwerks über dasselbe geschrieben worden ist, so muss demjenigen, der sich nicht näher mit den organischen Naturwissenschaften befasst hat, der nicht in die inneren Ge- heimnisse der Zoologie und Botanik eingedrungen ist, der Werth jener Theorie sehr zweifelhaft erscheinen. Die Beurtheilung der- selben ist voll von Widersprüchen und Missverständnissen. Daher darf es uns nicht Wunder nehmen, dass selbst jetzt, dreissig Jahre nach dem Erscheinen von Darwins Werk, dasselbe noch nicht die volle Bedeutung erlangt hat, welche ihm von Rechts- wegen gebührt, und welche es jedenfalls früher oder später erlangen wird. Die meisten von den zahllosen Schriften, welche für und gegen den Darwinismus während dieses Zeitraums ver- öffentlicht wurden, lassen den erforderlichen Grad von biologischer, und besonders von zoologischer Bildung vermissen. Obwohl jetzt alle bedeutenden Naturforscher der Gegenwart zu den Anhängern jener Theorie gehören, haben doch nur wenige derselben Geltung und Verständniss in weiteren Kreisen zu verschaffen gesucht. Daher rühren die befremdenden Widersprüche und die seltsamen Urtheile, die man noch heute vielfach über den Darwinismus hören kann. Gerade dieser Umstand hat mich vorzugsweise bestimmt, die Darwin’sche Theorie und die damit zusammen- hängenden weiteren Lehren zum (regenstand dieser allgemein verständlichen Vorträge zu machen. Ich halte es für die Pflicht der Naturforscher, dass sie nicht allein in dem engeren Kreise ihrer Fachwissenschaft auf Verbesserungen und Entdeckungen [* 4 Wesentlicher Inhalt der Abstammungs-Lehre. T: sinnen, dass sie sich nicht allein in das Studium des Einzelnen mit Liebe und Sorgfalt vertiefen, sondern dass sie auch die wichtigen, allgemeinen Ergebnisse ihrer besonderen Studien für (las Ganze nutzbar machen, und dass sie naturwissenschaftliche Bildung in weiten Kreisen verbreiten helfen. Der höchste Triumph des menschlichen Geistes, die wahre Erkenntniss der allgemeinsten Naturgesetze, darf nicht das Privateigenthum einer privilegirten Gelehrtenkaste bleiben. sondern muss (Gemeingut der ganzen gebildeten Menschheit werden. Die Theorie, welche durch Darwin an die Spitze unserer Natur-Erkenntniss gestellt worden ist, pflegt man gewöhnlich als Abstammunes-Lehre oder Descendenz-Theorie zu bezeich- nen. Andere nennen sie Umbildungs-Lehre oder Transmutations- Theorie oder auch kurz: Transformismus. Beide Bezeichnungen sind richtige. Denn diese Lehre behauptet, dass alle verschie- denen Organismen (d. h. alle Thierarten und Pflanzenarten, welche jemals auf der Erde gelebt haben, und noch jetzt leben) von einer einzigen oder von wenigen höchst einfachen Stammformen abstammen, und dass sie sich aus diesen auf dem natürlichen Weee allmählicher Umbildung langsam entwickelt haben. Obwohl diese Entwickelungs- Theorie schon im Anfange unseres Jahrhunderts von verschiedenen grossen Naturforschern, insbesondere von Lamarck”)und Goethe?) aufgestellt und vertheidigt wurde, hat sie doch erst im Jahre 1859 durch Darwin ihre vollständige Ausbildung und ihre ur- sächliche Begründung erfahren. Dies ist der Grund, weshalb sie oft ausschliesslich (obwohl nicht ganz richtige) als Darwins Theorie bezeichnet wird. Der unschätzbare Werth der Abstammungs-Lehre erscheint in verschiedenem Lichte, je nachdem Sie bloss deren nähere Bedeutung für die organische Naturwissenschaft, oder aber ihren weiteren Einfluss auf die gesammte Welterkenntniss des Men- schen in Betracht ziehen. Die organische Naturwissenschaft oder die Biologie, welche als Zoologie die Thiere, als Botanik die Pflanzen zum Gegenstand ihrer Erkenntniss hat, wird durch die Abstammungs-Lehre von Grund aus umgestaltet. Denn durch 1% Bedeutung der Abstammungs-Lehre für die Biologie. 5 die Descendenz-Theorie lernen wir die wahren wirkenden Ur- sachen der organischen Form-Erscheinungen erkennen, während die bisherige Thier- und Pflanzenkunde sich überwiegend mit der Kenntniss ihrer Thatsachen beschäftigte. Man kann daher auch die Abstammungs-Lehre als die mechanische Erklärung der organischen Form-Erscheinungen oder als „die Lehre von den wahren Ursachen in der organischen Natur“ bezeichnen '”). Da ich nicht voraussetzen kann, dass Ihnen Allen die Aus- drücke „organische und anorgische Natur“ geläufig sind, und da uns die Gegenüberstellung dieser beiderlei Naturkörper in der Folge noch vielfach beschäftigen wird, so muss ich ein paar Worte zur Verständigung darüber vorausschicken. Orga- nismen oder organische Naturkörper nennen wir alle Lebewesen oder belebten Körper, also alle Pflanzen und Thiere, den Menschen mit inbegriffen. weil bei ihnen fast immer eine Zusammensetzung aus verschiedenartigen Theilen (Werkzeugen oder „Organen“) nachzuweisen ist: diese Organe müssen zu- sammenwirken, um die Lebenserscheinungen hervorzubringen. Eine solche Zusammensetzung vermissen wir dagegen bei den Anorganen oder anorgischen Naturkörpern, den sogenann- ten todten oder unbelebten Körpern, den Mineralien oder Gesteinen, dem Wasser, der atmosphärischen Luft u. s. w. Die Organismen enthalten stets eiweissartige Kohlenstoff-Verbindungen in weichem oder „festllüssigem * Zustande, während diese den Anorganen stets fehlen. Auf diesem wichtigen Unterschiede beruht die Ein- theilung der gesammten Naturwissenschaft in zwei grosse Haupt- Abtheilungen, in die Biologie oder Wissenschaft von den Organismen (Anthropologie, Zoologie und Botanik) und die An- orgologie oder Abiologie, die Wissenschaft von den Anörganen (Mineralogie, Geologie, Meteorologie u. s. w.). Die unvergleichliche Bedeutung der Abstammungs-Lehre für die Biologie liegt also vorzugsweise darin, dass sie uns die Ent- stehung der organischen Formen auf mechanischem Wege erklärt und deren wirkende Ursachen nachweist. So hoch man aber auch mit Recht dieses Verdienst der Descendenz-'Theorie an- schlagen mag, so tritt dasselbe doch fast zurück vor der unermess- 6 Bedeutung der Abstammungs-Lehre für die Anthropologie. 1% lichen Wichtigkeit, welche eine einzige nothwendige Folgerung derselben für sich allein in Anspruch nimmt. Diese unvermeid- liche Folgerung ist die Lehre von der thierischen Ab- stammung des Menschengeschlechts. Die Bestimmung der Stellung des Menschen in der Natur und seiner Beziehungen zur Gesammtheit der Dinge, diese Frage aller Fragen für die Menschheit, wie sie Huxley”’) mit Recht nennt, wird durch jene Erkenntniss der thierischen Abstammung des Menschengeschlechts endgültig gelöst. Wir gelangen also durch den Transformismus oder die Descendenz-Theorie zum ersten Male in die Lage, eine natürliche Entwickelungs- Geschichte des Menschengeschlechts wissenschaftlich begrün- den zu können. Sowohl alle Vertheidiger, als alle denkenden Gegner Darwins haben anerkannt, dass die Abstammung des Menschengeschlechts zunächst von affenartigen Säugethieren, wei- terhin aber von niederen Wirbelthieren, mit Nothwendigkeit aus seiner Theorie folgt. Allerdings hat Darwin diese wichtigste von allen Folgerun- gen seiner Lehre nicht sofort selbst ausgesprochen. In seinem Werke „von der Entstehung der Arten“ ist die thierische Ab- stammung des Menschen nicht erörtert. Der eben so vorsichtige als kühne Naturforscher ging damals absichtlich mit Stillschweigen darüber hinweg, weil er voraussah, dass dieser bedeutendste von allen Folgeschlüssen der Abstammungs-Lehre zugleich das grösste Hinderniss für die Verbreitung und Anerkennung derselben sein werde. (rewiss hätte Darwins Buch von Anfang an noch weit mehr Widerspruch und Aergerniss erregt, wenn sogleich diese wichtigste Consequenz darin klar ausgesprochen worden wäre. Erst zwölf Jahre später, in dem 1871 erschienenen Werke über „die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zucht- wahl“ °°) hat Darwin jenen weitreichendsten Folgeschluss offen anerkannt und ausdrücklich seine volle Uebereinstimmung mit den Naturforschern erklärt, welche denselben inzwischen schon selbst gezogen hatten. Offenbar ist die Tragweite dieser Folge- rung ganz unermesslich, und keine Wissenschaft wird sich den Consequenzen derselben entziehen können. Die Anthropologie rra., RL Die Abstamimungs-Lehre als natürliche Schöpfungs-Geschichte. T oder die Wissenschaft vom Menschen, und in Folge dessen auch die ganze Philosophie wird in allen einzelnen Zweigen dadurch von Grund aus umgestaltet. Es wird erst die spätere Aulgabe meiner Vorträge sein, diesen besonderen Punkt zu erörtern. Ich werde die Lehre von der thierischen Abstammung des Menschen erst behandeln, nach- dem ich Ihnen Darwins Theorie in ihrer allgemeinen Begrün- dung und Bedeutung vorgetragen habe. Um es mit einem Satze auszudrücken, so ist jene bedeutungsvolle, aber die meisten Menschen von vorn herein abstossende Folgerung nichts weiter als ein besonderer Deductions-Schluss. den wir aus dem sicher begründeten allgemeinen Inductions-Gesetze der Descendenz-Theorie nach den strengen Geboten der unerbittlichen Logik nothwendig ziehen müssen. Vielleicht ist nichts geeigneter, Ihnen die ganze nnd volle Bedeutung der Abstammungs-Lehre mit zwei Worten klar zu machen, als die Bezeichnung derselben mit dem Ausdruck: „Natürliche Schöpfungs-Geschichte“. Ich habe daher auch selbst diese Bezeichnung für die folgenden Vorträge gewählt. Jedoch ist dieselbe nur in einem gewissen Sinne richtig; denn streng genommen schliesst der Ausdruck „natürliche Schöpfungs- Geschichte“ einen inneren Widerspruch, eine contradietio in ad- jeeto ein. Lassen Sie uns, um dies zu verstehen, einen Augenblick den zweideutigen Begriff der Schöpfung etwas näher ins Auge fassen. Wenn man unter Schöpfung die Entstehung eines Körpers durch eine schaffende Gewalt oder Kraft versteht, so kann man dabei entweder an die Entstehung seines Stoffes (der körperlichen Materie) oder an die Entstehung seiner Form (der körperlichen Gestalt) denken. Die Schöpfung im ersteren Sinne, als die Entstehung der Materie, geht uns hier gar nichts an. Dieser Vorgang, wenn er überhaupt jemals stattgefunden hat, ist gänzlich der mensch- lichen Erkenntniss entzogen; er kann daher auch niemals Gegen- stand naturwissenschaftlicher Erforschung sein. Die Naturwissen- schaft hält die Materie für ewig und unvergänglich, weil durch 8 Begriff der Schöpfung. Wissen und Glauben. I. die Erfahrung noch niemals das Entstehen oder Vergehen auch nur des kleinsten Theilchens der Materie nachgewiesen worden ist. Da wo ein Naturkörper zu verschwinden scheint, wie z. B. beim Verbrennen, beim Verwesen, beim Verdunsten u. s. w., da ändert er nur seine Form, seinen physikalischen Aggregatzustand oder seine chemische Verbindungsweise. Ebenso beruht die Ent- stehung eines neuen Naturkörpers, z. B. eines Krystalles, eines Pilzes, eines Infusoriums, nur darauf, dass verschiedene Stofftheil- chen, welche vorher in einer gewissen Form oder Verbindungs- weise existirten, in Folge von veränderten Existenz-Bedingungen eine neue Form oder Verbindungsweise annehmen. Aber noch niemals ist der Fall beobachtet worden, dass auch nur das kleinste Stofftheilchen aus der Welt verschwunden, oder nur ein Atom zu der bereits vorhandenen Masse hinzugekommen wäre. Der Natur- forscher kann sich daher ein Entstehen der Materie eben so wenig als ein Vergehen derselben vorstellen; er betrachtet die in der Welt bestehende Quantität der Materie als eine gegebene feste Thatsache. Fühlt Jemand das Bedürfniss, sich die Entstehung dieser Materie als die Wirkung einer übernatürlichen Schöpfungs- thätigkeit, einer ausserhalb der Materie stehenden schöpferischen Kraft vorzustellen, so haben wir nichts dagegen. Aber wir müssen bemerken, dass damit auch nicht das Geringste für eine wissen- schaftliche Naturkenntniss gewonnen ist. Eine solche Vorstellung von einer immateriellen Kraft, welche die Materie erst schafft, ist ein Glaubensartikel, welcher mit der menschlichen Wissenschaft gar nichts zu thun hat. Wo der Glaube anfängt, hört die Wissenschaft auf. Beide Thätigkeiten des menschlichen Geistes sind scharf von einander zu halten. Der Glaube hat seinen Ur- sprung in der dichtenden Einbildungskraft, das Wissen dagegen in dem erkennenden Verstande des Menschen. Die Wissenschaft hat die segenbringenden Früchte von dem Baume der Erkenntniss zu pflücken, unbekümmert darum, ob dadurch die dichterischen Einbildungen der Glaubenschaft beeinträchtig werden, oder nicht. Wenn also die Naturwissenschaft sich die „natürliche Schöp- fungs-Geschichte“ zu ihrer höchsten, schwersten und lohnendsten Aufgabe macht, so kann sie den Begriff der Schöpfung nur in der I: Schöpfuugs-Geschichte und Entwickelungs-Geschichte. 19) zweiten, oben angeführten Bedeutung verstehen, als die Entstehung der Form der Naturkörper. In diesem Sinne kann man die Geologie die Schöpfungs-Geschichte der Erde nennen; denn sie sucht die Entstehung der geformten anorgischon Erdoberfläche und die mannichfaltigen geschichtlichen Veränderungen in der Gestalt der festen Erdrinde zu erforschen. Ebenso kann man die Ent- wickelungs-Geschichte der Thiere und Pflanzen, welche die Ent- stehung der belebten Formen und den mannichfaltigen historischen Wechsel der thierischen und pflanzlichen Gestalten untersucht, die Schöpfungs-Geschichte der Organismen nennen. Da jedoch in den Begriff der Schöpfung sich immer leicht die unwissen- schaftliche Vorstellung von einem ausserhalb der Materie stehenden und dieselbe umbildenden Schöpfer einschleicht, so wird es in Zukunft wohl besser sein, denselben durch die strengere Bezeich- nung der Entwickelung zu ersetzen. Der hohe Werth, welchen die Entwickelungs-Geschichte für das wissenschaftliche Verständniss der Thier- und Pflanzen- formen besitzt, ist seit einem halben Jahrhundert so allgemein anerkannt, dass man ohne sie keinen sicheren Schritt in der or- ganischen Morphologie oder Formenlehre thun kann. Jedoch hat man fast immer unter Entwickelungs-Geschichte nur einen Theil dieser Wissenschaft, nämlich diejenige der organischen Individuen oder Einzelwesen verstanden, die sogenannte Embryologie, rich- tiger und umfassender. OÖntogenie genannt‘). Ausser dieser giebt es aber auch noch eine Entwickelungs-Geschichte der organischen Arten, Classen und Stämme (Phylen); und diese steht zu der ersteren in den wichtigsten Beziehungen. Das Material dafür lie- fert die Versteinerungs-Kunde oder Paläontologie. Diese lehrt uns, dass jedes organische Phylum, jeder Stamm des Thier- und Pflanzenreichs, während der verschiedenen Perioden der Erd- Geschichte durch eine Reihe von ganz verschiedenen Classen und Arten vertreten wird. So ist z. B. der Stamm der Wirbelthiere durch die Classen der Fische, Amphibien, Reptilien, Vögel und Säugethiere vertreten und jede dieser Classen zu verschiedenen Zeiten durch ganz verschiedene Arten. Diese paläontologische Entwickelungs-Geschichte der Organismen kann man als Stammes- 10 Individuelle und paläontologische Entwickelungs-Geschichte. I. Geschichte oder Phylogenie bezeichnen: sie steht in den wich- tigsten und merkwürdigsten Beziehungen zu dem andern Zweige der organischen Entwickelungs-Geschichte, zur Keimes-Geschichte oder Ontogenie. Die letztere läuft der ersteren im Grossen und (ranzen parallel. Um es kurz mit einem Satze zu sagen, so ist die individuelle Entwickelungs-Geschichte eine schnelle, durch die Gesetze der Vererbung und Anpassung bedingte Wiederholung der langsamen paläontologischen Entwickelungs-Geschichte; die Onto- genie ist ein kurzer Auszug oder eine Rekapitulation der Phylo- genie'). Da ich Ihnen dieses höchst interessante und bedeutsame Na- turgesetz später noch ausführlicher zu erläutern habe, so wollen wir uns hier nicht weiter dabei aufhalten. Nur sei bemerkt, dass dasselbe einzig und allein durch die Abstammungs-Lehre erklärt und in seinen Ursachen verstanden wird; ohne dieselbe bleibt es ganz unverständlich und unerklärlich. Die Descendenz- Theorie zeigt uns zugleich, warum überhaupt die einzelnen Thiere und Pflanzen sich entwickeln müssen, warum dieselben nicht gleich‘ in fertiger und entwickelter Form ins Leben treten. Keine über- natürliche Schöpfungs-Geschichte vermag uns das grosse Räthsel der organischen Entwickelung irgendwie zu erklären. Ebenso wie auf diese hochwichtige Frage giebt uns der Transformismus auch auf alle andern allgemeinen biologischen Fragen befriedigende Antworten, und zwar sind diese Antworten rein mechanisch-cau- saler Natur; sie weisen lediglich natürliche, physikalisch-chemische Kräfte als die Ursachen von Erscheinungen nach, die man früher gewohnt war, der unmittelbaren Einwirkung übernatürlicher, schöp- ferischer Kräfte zuzuschreiben. Mithin entfernt der Transformis- ınus aus allen (tebietstheilen der Botanik und Zoologie, und na- mentlich auch aus dem wichtigsten Theile der letzteren, aus der Anthropologie, den Wunderglauben; er lüftet den mystischen, Schleier des Wunderbaren und Uebernatürlichen, mit welchem man bisher die verwickelten Erscheinungen dieser natürlichen Er- kenntniss-Gebiete zu verhüllen liebte. Das unklare Nebelbild mythologischer Dichtung kann vor dem klaren Sonnenlichte natur- wissenschaftlicher Erkenntniss nicht länger bestehen. ee LE Rudimentäre oder unzweckmässige Organe. 11 Von ganz besonderem Interesse sind unter jenen biologischen Erscheinungen diejenigen, welche die gewöhnliche Annahme von der Entstehung eines jedes Organismus durch eine zweckmässig bauende Schöpferkraft widerlegen. Nichts hat in dieser Beziehung der früheren Naturforschung so grosse Schwierigkeiten verursacht, als die Deutung der sogenannten „rudimentären Organe“, der- jenigen Theile im Thier- und Pflanzenkörper, welche eigentlich ohne Leistung, ohne physiologische Bedeutung, und dennoch for- mell vorhanden sind. Diese Theile verdienen das allerhöchste Interesse, obwohl die meisten Leute wenig oder nichts davon - wissen. Fast jeder höher entwickelte Organismus, fast jedes Thier und jede Pflanze, besitzt neben den scheinbar zweckmässigen Ein- richtungen seiner Organisation andere Einrichtungen, die durchaus keinen Zweck, keine Function in dessen Leben haben können. Beispiele davon finden sich überall. Bei den Embryonen mancher Wiederkäuer, unter Andern bei unserem gewöhnlichen Rindvieh, stehen Schneidezähne im Zwischenkiefer der oberen Kinnlade, welehe niemals zum Durchbruch gelangen, also auch keinen Zweck haben. Die Embryonen mancher Walfische, welche späterhin die bekannten Barten statt der Zähne besitzen, tragen, so lange sie noch nicht geboren sind und keine Nahrung zu sich nehmen, dennoch Zähne in ihren Kiefern; auch dieses Gebiss tritt ‚niemals in Thätigkeit. Ferner besitzen die meisten höheren Thiere Muskeln, die nie zur Anwendung kommen; selbst der Mensch besitzt solche rudimentäre Muskeln. Die Meisten von uns sind nicht fähig, ihre Ohren willkürlich zu bewegen, obwohl die Mus- keln für diese Bewegung vorhanden sind; aber einzelnen Personen, die sich andauernd Mühe geben diese Muskeln zu üben, ist es in der That gelungen, ihre Ohren wieder in Bewegung zu setzen. In diesen noch jetzt vorhandenen, aber verkümmerten Organen, welche dem vollständigen Verschwinden entgegen gehen, ist es noch möglich, durch besondere Uebung, durch andauernden Ein- 02 fluss der Willensthätigkeit des Nervensystems, die beinahe er- loschene Thätigkeit wieder zu beleben. Dagegen vermögen wir dies nicht mehr in den kleinen rudimentären Ohrmuskeln, welche noch am Knorpel unserer Ohrmuschel vorkommen; diese bleiben 12 Rudimentäre oder unzweckmässige Organe. E immer völlig wirkungslos. Bei unseren langöhrigen Vorfahren aus der Tertiärzeit, Affen. Halbaffen und Beutelthieren, welche gleich den meisten anderen Säugethieren ihre grosse Ohrmuschel frei und lebhaft bewegten, waren jene Muskeln viel stärker ent- wickelt und von grosser Bedeutung. So haben in gleicher Weise auch viele Spielarten der Hunde und Kaninchen, deren wilde Vorfahren ihre steifen Ohren vielseitig bewegten, unter dem Ein- flusse des Culturlebens sich jenes „Ohrenspitzen“ abgewöhnt; sie haben dadurch verkümmerte Ohrmuskeln und schlaff herabhän- gende Ohren bekommen. Auch noch an anderen Stellen seines Körpers besitzt der Mensch solche rudimentäre Organe, welche durchaus von keiner Bedeutung für das Leben sind und niemals functioniren. Eines der merkwürdigsten, obwohl unscheinbarsten Organe der Art ist die kleine halbmondförmige Falte, welche wir am inneren Winkel unseres Auges, nahe der Nasenwurzel besitzen, die sogenannte Plica semilunaris. Diese unbedeutende Hautfalte bietet für unser Auge gar keinen Nutzen; sie ist nur der ganz verkümmerte Rest eines dritten, inneren Augenlides, welches neben dem oberen und unteren Augenlide bei anderen Säugethieren, bei Vögeln und Rep- tilien sehr entwickelt ist. Ja sogar schon unsere uralten Vor- fahren aus der Silurzeit, die Urfische, scheinen dies dritte Augenlid, die sogenannte Nickhaut, besessen zu haben. Denn viele von ihren nächsten Verwandten, die in wenig veränderter Form noch heute fortleben, viele Haifische nämlich, besitzen eine sehr starke Niekhaut, und diese kann vom inneren Augenwinkel her über den ganzen Augapfel hinübergezogen werden. Zu den schlagendsten Beispielen von rudimentären Organen gehören die Augen, welche nicht sehen. Solche finden sich bei sehr vielen Thieren, welche im Dunkeln, z. B. in Höhlen, unter der Erde leben. Die Augen sind hier oft wirklich in ausgebil- detem Zustande vorhanden; aber sie sind von dicker, undurch- sichtiger Haut bedeckt, so dass kein Lichtstrahl in sie hineinfallen kann, mithin können sie auch niemals sehen. Solche Augen ohne Gesichtsfunction besitzen z. B. mehrere Arten von unter- irdisch lebenden Maulwürfen und Blindmäusen, von Schlangen DE Ik Rudimentäre oder unzweckmässige Organe. 13 und Eidechsen, von Amphibien und Fischen; ferner zahlreiche wirbellose Thiere, die im Dunkeln ihr Leben zubringen: viele Käfer, Krebsthiere, Schnecken, Würmer u. s. w. Eine Fülle der interessantesten Beispiele von rudimentären Organen liefert die vergleichende Osteologie oder Skeletlehre der Wirbelthiere, einer der anziehendsten Zweige der vergleichenden Anatomie. Bei den allermeisten Wirbelthieren finden wir zwei Paar Gliedmaassen am Rumpf, ein Paar Vorderbeine und ein Paar Hinterbeine. Sehr häufig ist jedoch das eine oder das andere Paar derselben verkümmert, seltener beide, wie bei den Schlangen und einigen aalartigen Fischen. Aber einige Schlangen, z. B. die Riesenschlangen (Boa, Python) haben hinten noch einige unnütze Knochenstückchen im Leibe, welche die Reste (der verloren ge- sangenen Hinterbeine sind. Ebenso haben die walfischartigen Säugethiere (Cetaceen), welche nur entwickelte Vorderbeine (Brust- flossen) besitzen, hinten im Fleische noch ein Paar ganz über- flüssige Knochen, «die Ueberbleibsel der verkümmerten Hinterbeine. Dasselbe gilt von vielen echten Fischen, bei denen in gleicher Weise die Hinterbeine (Bauchflossen) verloren gegangen sind. Umgekehrt besitzen unsere Blindschleiehen (Anguis) und einige andere Eidechsen inwendig ein vollständiges Schultergerüst, obwohl die Vorderbeine, zu deren Befestigung dasselbe dient, nicht mehr vorhanden sind. Ferner finden sich bei verschiedenen Wirbel- thieren die einzelnen Knochen der beiden Beinpaare in allen verschiedenen Stufen der Verkümmerung, und oft die rückgebil- deten Knochen und die zugehörigen Muskeln stückweise erhalten, ohne doch irgendwie eine Verrichtung ausführen zu können. Das Instrument ist wohl noch da, aber es kann nicht mehr spielen. Fast ganz allgemein finden Sie ferner rudimentäre Organe in den Pflanzenblüthen vor, indem der eine oder der andere Theil der männlichen Fortpflanzungs-Organe (der Staubfäden und Staub- beutel), oder der weiblichen Fortpflanzungs-Organe (Griffel, Frucht- knoten u. s. w.) mehr oder weniger verkümmert oder „fehl- geschlagen“ (abortirt) ist. Auch hier können Sie bei verschiedenen, nahe verwandten Pflanzenarten das Organ in allen Graden der Rückbildung verfolgen. ‘So z. B. ist die grosse natürliche Familie 14 Rudimentäre oder unzweckmässige Organe. IE der Jippenblüthigen Pflanzen (Labiaten), zu welcher Melisse, Pfeffermünze, Majoran, Gundelrebe, Thymian u. s. w. gehören, dadurch ausgezeichnet, dass die rachenförmige zweilippige Blumen- krone zwei lange und zwei kurze Staubfäden enthält. Allein bei vielen einzelnen Pflanzen dieser Familie, z. B. bei verschie- denen Salbeiarten und beim Rosmarin, ist nur das eine Paar der Staubfäden ausgebildet, und das andere Paar ist mehr oder weniger verkümmert, oft ganz verschwunden. Bisweilen sind die Staubfäden vorhanden, aber ohne Staubbeutel, so dass sie keinen Nutzen haben können. Seltener findet sich sogar noch das Rudi- ment oder der verkümmerte Rest eines fünften Staubfadens, ein physiologisch (für die Lebensverrichtung) ganz nutzloses, aber morphologisch (für die Erkenntniss der Form und der natürlichen Verwandtschaft) äusserst werthvolles Organ. In meiner generellen Morphologie der Organismen‘) habe ich in dem Abschnitt von der „Unzweckmässigkeits-Lehre oder Dysteleologie“, noch eine grosse Anzahl von anderen Beispielen angeführt. Keine biologische Erscheinung hat wohl jemals die Zoologen und Botaniker in grössere Verlegenheit versetzt als diese rudi- mentären oder abortiven (verkümmerten) Organe. Es sind Werkzeuge ausser Dienst, Körpertheile, welche da sind, ohne etwas zu leisten, zweckmässig eingerichtet, ohne ihren Zweck in Wirklichkeit zu erfüllen. Wenn man die Versuche früherer Naturforscher zur Erklärung dieses Räthsels betrachtet, kann man sich in der That kaum eines Lächelns über ihre seltsamen Vor- stellungen erwehren. Ausser Stande, eine wirkliche Erklärung zu finden, kamen Einige z.B. zu dem Endresultate, dass der Schöpfer „der Symmetrie wegen“ diese Organe angelegt habe. Nach der Meinung Anderer musste es dem Schöpfer unpassend oder unanständig erscheinen, dass diese Organe bei denjenigen Organismen, bei denen sie nicht leistungsfähig sind und ihrer sanzen Lebensweise nach nicht sein können, völlig fehlten, wäh- rend die nächsten Verwandten sie besässen; und zum Ersatz für die mangelnde Function verlieh er ihnen wenigstens die äussere Ausstattung der leeren Form. Sind doch auch die uniformirten Civilbeamten bei Hofe oft mit einem unschuldigen Degen aus- ee ee ee u 1. Verkümmerung der Organe durch Nichtgebrauch. 15 gestattet, den sie niemals aus der Scheide ziehen. Ich glaube aber kaum, dass Sie von einer solchen Erklärung befriedigt sein werden. Nun wird gerade diese allgemein verbreitete und räthselhafte Erscheinung der rudimentären Organe, an welcher alle übrigen Erklärungsversuche scheitern, vollkommen erklärt, und zwar in der einfachsten und einleuchtendsten Weise erklärt «durch Dar- wins Theorie von der Vererbung und von der Anpassung. Wir können die wichtigen Gesetze der Vererbung und Anpassung an den Hausthieren und Culturpflanzen, welche wir künstlich züchten, empirisch verfolgen, und es ist bereits eine Reihe solcher Gesetze festgestellt worden. Ohne jetzt auf diese einzugehen, will ich nur vorausschicken, (dass einige davon auf mechanischem Wege die Entstehung der rudimentären Organe vollkommen er- klären, so dass wir das Auftreten derselben als einen ganz natürlichen Process ansehen müssen, bedingt durch den Nicht- gebrauch der Organe. Durch Anpassung an besondere Lebensbedingungen sind die früher thätigen und wirklich arbei- tenden Organe allmählich nicht mehr gebraucht worden und ausser Dienst getreten. Im Folge der mangelnden Uebung sind sie mehr und mehr verkümmert, trotzdem aber immer noch durch Vererbung von einer Generation auf die andere übertragen worden, bis sie endlich grösstentheils verschwanden. Wenn wir nun annehmen, dass alle oben angeführten Wirbelthiere von einem einzigen gemeinsamen Stammvater abstammen, welcher zwei sehende Augen und zwei wohl entwickelte Beinpaare besass, so erklärt sich ganz einfach der verschiedene Grad der Verküm- merung und Rückbildung dieser Organe bei solchen Nachkommen desselben, welche diese Theile nieht mehr gebrauchen konnten. Ebenso erklärt sich vollständig der verschiedene Ausbildungsgrad der ursprünglich (in der Blüthenknospe) angelegten fünf Staub- fäden bei den Lippenblüthen, wenn wir annehmen, dass alle Pflanzen dieser Familie von einem gemeinsamen, mit fünf Staub- fäden ausgestatteten Stammvater abstammen. Ich habe Ihnen die Erscheinung der rudimentären Organe schon jetzt etwas ausführlicher vorgeführt. weil dieselbe von der 16 Gegensatz der beiden grundverschiedenen Weltanschauungen. % allergrössten allgemeinen Bedeutung ist; denn sie führt uns auf die grossen, allgemeinen, tiefliegenden Grundfragen der Philosophie und der Naturwissenschaft hin, für deren Lösung die Descendenz- Theorie nunmehr der unentbehrliche Leitstern geworden ist. Sobald wir nämlich, dieser Theorie entsprechend, die ausschliess- liche Wirksamkeit physikalisch-chemischer Ursachen ebenso in der lebenden (organischen) Körperwelt, wie in der sogenannten leblosen (anorgischen) Natur anerkennen, so räumen wir damit jener Weltanschauung die ausschliessliche Herrschaft ein, welche man mit dem Namen der mechanischen bezeichnen kann, im Gregensatze zu der hergebrachten teleologischen Auffassung. Wenn Sie die Weltanschauungen der verschiedenen Völker und Zeiten mit einander vergleichend zusammenstellen, können Sie dieselben schliesslich alle in zwei gegenüberstehende Gruppen bringen: eine causale oder mechanische und eine teleologische oder vitalistische. Die letztere war in der Biologie bisher allgemein herrschend. Man sah danach das Thierreich und das Pflanzenreich als Producte einer zweckmässig wirkenden, schöpfe- rischen Thätigkeit an. Bei dem Anblick jedes Organismus schien sich zunächst unabweislich die Ueberzeugung aufzudrängen, dass eine so künstliche Maschine, ein so verwickelter Bewegungs- Apparat, wie es der Organismus ist, nur durch eine zweckthätige Schöpferkraft hervorgebracht werden könne; durch eine Thätig- keit, welche analog, obwohl unendlich viel vollkommener ist, als die Thätiekeit des Menschen bei der Construction seiner Ma- schinen. Wie erhaben man auch die früheren Vorstellungen des Schöpfers und seiner schöpferischen Thätigkeit steigern, wie sehr man sie aller menschlichen Analogie entkleiden mag, so bleibt doch im letzten Grunde bei der teleologischen Naturauffassung dieser Vergleich unabweislich und nothwendig. Man muss sich im Grunde dann immer den Schöpfer selbst als einen Organismus vorstellen, als ein Wesen, welches ähnlich dem Menschen, wenn auch in unendlich vollkommenerer Form, über seine bildende Thätigkeit nachdenkt, den Plan der Maschinen entwirft, und dann mittelst Anwendung geeigneter Materialien diese Maschinen zweckentsprechend ausführt. Alle diese Vorstellungen leiden data 7S Mechanische und teleologische Weltanschauung. 17 nothwendig an der Grundschwäche des Anthropomorphismus oder der Vermenschlichung. Stets werden dabei, wie hoch man sich auch den Schöpfer vorstellen mag, demselben die menschlichen Eigenschaften beigelegt, einen Plan zu entwerfen und danach den Organismus zweckmässig zu construiren. Das wird auch von derjenigen Schule, welche Darwins Lehre am schroff- sten gegenüber steht, und welche unter den Naturforschern ihren bedeutendsten Vertreter in Louis Agassiz gefunden hat, ganz klar ausgesprochen. Das berühmte Werk von Agassiz, (Essay on classification), welches dem Darwinschen Werke vollkommen entgegengesetzt ist und fast gleichzeitig erschien, hat ganz folge- richtig jene absurden anthropomorphischen Vorstellungen vom Schöpfer bis zum höchsten Grade ausgebildet. Was nun überhaupt jene vielgerühmte Zweckmässigkeit in der Natur betrifft, so ist sie nur für Denjenigen vorhanden, welcher die Erscheinnngen im Thier- und Pflanzenleben durch- aus oberflächlich betrachtet. Schon die rudimentären Organe mussten dieser beliebten Lehre einen harten Stoss versetzen. Jeder aber, der tiefer in die Organisation und Lebensweise der ver- schiedenen Thiere und Pflanzen eindringt, der sich mit der Wech- selwirkung der Lebenserscheinungen und der sogenannten „Oeco- nomie der Natur“ vertrauter macht, muss sie nothwendig fallen lassen. Die vielgepriesene Weisheit und Zweckmässigkeit existirt eben so wenig, als die vielgerühmte „Allgüte des Schöpfers“. Diese optimistischen Anschauungen haben leider eben so wenig wirkliche Begründung, als die beliebte Redensart von der „sitt- lichen Weltordnung“, welche durch die ganze Völkergeschichte in ironischer Weise illustrirt wird. Im Mittelalter ist dafür die „sittliche“ Herrschaft der christlichen Päpste und ihrer frommen, vom Blute zahlloser Menschenopfer dampfenden Inquisition nicht weniger bezeichnend, als in der Gegenwart der herrschende Mili- tarismus mit seinem „sittlichen“ Apparate von Zündnadeln und anderen raffınirten Mordwaften; oder der Pauperismus als untrenn- barer Anhang unserer verfeinerten Cultur. Wenn Sie das Zusammenleben und die gegenseitigen Bezie- hungen der Pflanzen und der Thiere (mit Inbegriff der Men- Haeckel, Natürl. Schöpfungs-Gesch. $. Aufl. u 18 Unzweckmässigkeit und Unfriede in der Natur. RR schen) näher betrachten, so finden sie überall und zu jeder Zeit das Gegentheil von jenem gemüthlichen und friedlichen Beisam- mensein, welches die Güte des Schöpfers den Geschöpfen hätte bereiten müssen; vielmehr sehen Sie überall einen schonungslosen, höchst erbitterten Kampf Aller gegen Alle. Nirgends in der Natur, wohin Sie auch Ihre Blicke lenken mögen, ist jener idyl- lische, von den Dichtern besungene Friede vorhanden, — viel- mehr überall Kampf, Streben nach Selbsterhaltung, nach Vernich- tung der direeten Gegner und nach Vernichtung des Nächsten. Leidenschaft und Selbstsucht, bewusst oder unbewusst, bleibt über- all die Triebfeder des Lebens. Das bekannte Dichterwort: „Die Natur ist vollkommen überall, Wo der Mensch nieht hinkommt mit seiner Qual“ ist schön, aber leider nicht wahr. Vielmehr bildet auch in dieser Beziehung der Mensch keine Ausnahme von der übrigen Thier- welt. Die Betrachtungen, welche wir bei der Lehre vom „Kampf um’s Dasein“ anzustellen haben, werden diese Behauptung zur Genüge rechtfertigen. Darwin hat gerade dieses wichtige Ver- hältniss in seiner hohen und allgemeinen Bedeutung uns erst recht klar vor Augen gestellt, und derjenige Abschnitt seiner Lehre, welchen er selbst den „Kampf um’s Dasein“ nennt, ist einer ihrer wichtigsten Theile. Wenn wir also jener vitalistischen oder teleologischen Be- trachtung der lebendigen Natur, welche die Thier- und Pflanzen- formen als Producte eines gütigen und weisen Schöpfers oder einer zweckmässig thätigen schöpferischen Naturkraft ansieht, durchaus entgegenzutreten gezwungen sind, so müssen wir uns entschieden jene Weltanschauung aneignen, welche man die mechanische oder causale nennt. Man kann sie auch als die monistische oder einheitliche bezeichnen, im Gegensatz zu der zwiespältigen oder dualistischen Anschauung, welche in jener teleologischen Weltauffassung nothwendig enthalten ist. Die mechanische Naturbetrachtung ist seit Jahrzehnten auf ge- wissen Gebieten der Naturwissenschaft so sehr eingebürgert, dass hier über die entgegengesetzte kein Wort mehr verloren wird. Es fällt keinem Physiker oder Chemiker, keinem Mineralogen oder a TER r Monistische Anorgologie und dualistische Biologie. 19 Astronomen mehr ein, in den Erscheinungen, welche ihm auf seinem wissenschaftlichen Gebiete fortwährend vor Augen kom- men, die Wirksamkeit eines zweckmässig thätigen Schöpfers zu erblicken oder aufzusuchen. Man betrachtet jene Erscheinungen vielmehr allgemein und ohne Widerspruch als die nothwendigen und unabänderlichen Wirkungen der physikalischen und chemi- schen Kräfte, welehe an dem Stoffe oder der Materie haften; und insofern ist diese Anschauung rein „materialistisch“, in einem gewissen Sinne dieses vieldeutigen Wortes. Wenn der Physiker die Bewegungserscheinungen der Electrieität oder des’ Magnetis- mus, den Fall eines Körpers oder die Schwingungen der Licht- wellen zu erklären sucht, so ist er bei dieser Arbeit durchaus davon entfernt, das Eingreifen einer übernatürlichen schöpferischen Kraft anzunehmen. Im dieser Beziehung befand sich bisher die Biologie, als die Wissenschaft von den sogenannten „belebten“ Naturkörpern, in vollem Gegensatz zu jenen vorher genannten anorgischen Naturwissenschaften (der Anorgologie). Zwar hat die neuere Physiologie, die Lehre von den Bewegungserscheinungen im 'Thier- und Pflanzenkörper, den mechanischen Standpunkt der letzteren vollkommen angenommen; allein die Morphologie, die Wissenschaft von der Gestaltung der Thiere und Pflanzen, schien dadurch gar nicht berührt zu werden. Die Morphologen behan- delten nach wie vor, im Gegensatze zu jener mechanischen Be- trachtung der Leistungen, die Formen der Thiere und Pflanzen als Erscheinungen, die durchaus nicht mechanisch erklärbar seien, die vielmehr nothwendig einer höheren, übernatürlichen, zweck- mässig thätigen Schöpferkraft ihren Ursprung verdanken müssen. Dabei war es ganz gleichgültig, ob man diese Schöpferkraft als persönlichen Gott anbetete, oder ob man sie Lebenskraft (vis vitalis) oder Endursache (causa finalis) nannte. In allen Fällen flüchtete man hier, um es mit einem Worte zu sagen, zum Wun- der als der Erklärung. Man warf sich einer mystischen Glau- bensdichtung in die Arme, und verliess somit das sichere Gebiet |naturwissenschaftlicher Erkenntniss. | Alles nun, was vor Darwin geschehen ist, um eine natür- liche, mechanische Aufiassung von der Entstehung der Thier- und 2 20 Einheit der lebendigen und leblosen Natur. T Pflanzenformen zu begründen, vermochte diese nicht zum Durch- bruch und zu allgemeiner Anerkennung zu bringen. Dies gelang erst Darwins Lehre, und hierin liegt ein unermessliches Ver- dienst derselben. Denn wir werden dadurch zu der Ueberzeu- gung von der Einheit der organischen und der anorgi- schen Natur geführt. Auch derjenige Theil der Naturwissen- schaft, welcher bisher am längsten und am hartnäckigsten sich einer mechanischen Auffassung und Erklärung widersetzte, die Lehre vom Bau der lebendigen Formen, von der Bedeutung und Entstehung derselben, wird dadurch mit allen übrigen naturwis- senschaftlichen Lehren auf einen und denselben Weg der Voll- endung gebracht. Die Einheit aller Naturerscheinungen wird dadurch endgültig festgestellt. Diese Einheit der ganzen Natur, die Beseelung aller Materie, die Untrennbarkeit der geistigen Kraft und des körperlichen Stof- fes hat Goethe mit den Worten behauptet: „die Materie kann nie ohne Geist, der Geist nie ohne Materie existiren und wirk- sam sein“. Von den grossen monistischen Philosophen aller Zei- ten sind diese obersten Grundsätze der mechanischen Weltan- schauung vertreten worden. Schon Demokritos von Abdera, der unsterbliche Begründer der Atomenlehre, sprach dieselben fast ein halbes Jahrtausend vor Christus klar aus, ganz vorzüg- lich aber der erhabene Spinoza und der grosse Dominikaner- mönch Giordano Bruno. Der letztere wurde dafür am 17. Fe- bruar 1600 in Rom von der christlichen Inquisition auf dem Scheiterhaufen verbrannt, an demselben Tage, an welchem 36 Jahre früher sein grosser Landsmann und Kampfgenosse Galilei ge- boren wurde. Auf dem Campo di Fiori in Rom, wo jener Schei- terhaufen stand, hat kürzlich das freie neuerstandene Italien dem grossen monistischen Märtyrer ein Denkmal enthüllt (am 9. Juni 1889); ein beredtes Zeichen des gewaltigen Umschwungs der Zeit! Durch die Descendenz-Theorie wird es uns zum erstenmal möglich, die monistische Lehre von der Einheit der Natur fest zu begründen; danach bietet eine mechanisch -causale Erklärung auch der verwickeltsten organischen Erscheinungen, z. B. der Ent- stehung und Einrichtung der Sinnesorgane, in der That nicht N r Endgültige Begründung der monistischen Auffassung. 21 mehr prineipielle Schwierigkeiten für das allgemeine Verständniss, als die mechanische Erklärung irgend welcher physikalischen Processe, wie z. B. der Erdbeben, des Erd-Magnetismus, der Meeres - Strömungen u. s. w. Wir gelangen dadurch zu der äusserst wichtigen Ueberzeugung, dass alle Naturkörper, die wir kennen, gleichmässig belebt sind, dass der Gegensatz, welchen man zwischen lebendiger und todter Körperwelt auf- stellte, im Grunde nicht existirt. Wenn ein Stein, frei in die Luft geworfen, nach bestimmten Gesetzen zur Erde fällt, oder wenn in einer Salzlösung sich ein Krystall bildet, oder wenn Schwefel und Quecksilber sich zu Zinnober verbinden, so sind diese Erscheinungen nicht mehr und nicht minder mechanische Lebens-Erscheinungen, als das Wachsthum und das Blühen der Pflanzen, als die Fortpflanzung und die Sinnesthätigkeit der Thiere, als die Empfindung und die Gedankenbildung des Men- schen. Die Naturkräfte treten dabei nur in verschiedenen Ver- bindungen und Formen auf, bald einfacher, bald zusammenge- setzter. (rebundene Spannkräfte werden frei und gehen in leben- dige Kräfte über, oder umgekehrt. In dieser Herstellung der einheitlichen oder monistischen Naturauffassung liegt das höchste und allgemeinste Verdienst unserer neuen, die Krone der heutigen Naturwissenschaft bildenden Entwickelungs-Lehre. Zweiter Vortrag. Wissenschaftliche Berechtigung der Descendenz- Theorie. Schöpfungs-Geschichte nach Linne. Die Abstammungslehre oder Descendenz-Theorie als die einheitliche Erklärung der organischen Natur-Erscheinungen durch natürliche wirkende Ursachen. Vergleichung derselben mit Newtons Gravitations-Theorie. Grenzen der wissenschafilichen Erklärung und der menschlichen Erkenntniss überhaupt. Alle Erkenntniss ursprünglich durch sinnliche Erfahrung bedingt, aposteriori. Uebergang der aposteriorischen Erkenntnisse durch Vererbung in apriorische Erkenntnisse. Gegensatz der übernatürlichen Schöpfungs-Geschichten von Linne, Cuvier, Agassiz, und der natürlichen Entwickelungs-Theorien von Lamarck, Goethe, Darwin. Zusammenhang der ersteren mit der monistischen (mechanischen), der letzteren mit der dualistischen (teleologischen) Welt- anschauung. Monismus und Materialismus. Wissenschaftlicher und sittlicher Materialismus. Schöpfungs-Geschichte des Moses. Linne als Begründer der systematischen Naturbeschreibung und Artunterscheidung. Linnes Classifi- cation und binäre Nomenclatur. Bedeutung des Speeies-Begriffs bei Linne. Seine Schöpfungs-Geschichte. Linnes Ansicht von der Entstehung der Arten. Meine Herren! Der Werth einer jeden naturwissenschaft- lichen Theorie wird sowohl durch die Anzahl und das Gewicht der zu erklärenden Gegenstände gemessen, als auch durch die Einfachheit und Allgemeinheit der bewirkenden Ursachen oder der wahren Erklärungsgründe. Je grösser einerseits die Anzahl, je wichtiger die Bedeutung der durch die Theorie zu erklärenden Erscheinungen ist, und je einfacher andrerseits, je allgemeiner die Ursachen sind, welche die Theorie zur Erklärung in Anspruch nimmt, desto höher ist ihr wissenschaftlicher Werth, desto sicherer bedienen wir uns ihrer Leitung, desto mehr sind wir verpflichtet zu ihrer Annahme. TI. Vergleichung von Darwins und Newtons Theorie. 23 Denken Sie z. B. an diejenige Theorie, welche bisher als der grösste Erwerb des menschlichen Geistes galt, an die Gra- vitationstheorie, welche der Engländer Newton vor 200 Jahren in seinen mathematischen Prineipien der Naturphilosophie be- gründete. Hier finden Sie das zu erklärende Object so gross ge- nommen als Sie es nur denken können. Er unternahm es, die Bewegungs-Erscheinungen der Planeten und den Bau des Weltge- bäudes auf mathematische Gesetze zurückzuführen. Als die höchst einfache Ursache dieser verwickelten Bewegungs-Erscheinungen be- gründete Newton das Gesetz der Schwere oder der Massenan- ziehung, dasselbe, welches die Ursache des Falles der Körper, der Adhäsion, der Cohäsion und vieler anderen Erscheinun- gen ist. Wenn Sie nun den gleichen Massstab an die Theorie Dar- wins anlegen, so müssen Sie zu dem Schluss kommen, dass diese ebenfalls zu den grössten Eroberungen des menschlichen Geistes gehört, und dass sie sich unmittelbar neben die Gravitations- Theorie Newtons stellen kann. Vielleicht erscheint Ihnen dieser Ausspruch übertrieben oder wenigstens sehr gewagt; ich hoffe Sie aber im Verlauf dieser Vorträge zu überzeugen, dass diese Schätzung nicht zu hoch gegriffen ist. In der vorigen Stunde wurden bereits einige der wichtigsten und allgemeinsten Erschei- nungen aus der organischen Natur namhaft gemacht, welche durch _ Darwins Theorie erklärt werden. Dahin gehören vor Allen die Formveränderungen bei der individuellen Entwickelung der Organismen, äusserst mannichfaltige und verwickelte Erschei- nungen, welche bisher einer mechanischen Erklärung, d. h. einer Zurückführung auf wirkende Ursachen die grössten Schwierigkei- ten in den Weg legten. Wir haben die rudimentären Organe erwähnt, jene ausserordentlich merkwürdigen Einrichtungen in den Thier- und Pflanzenkörpern, welche keinen Zweck haben, welche jede teleologische, jede nach einem Endzweck des Organis- mus suchende Erklärung vollständig widerlegen. Es liesse sich noch eine grosse Anzahl von anderen Erscheinungen anführen, die nicht minder wichtig sind, die bisher nicht minder räthsel- haft erschienen, und die in der einfachsten Weise durch die von 24 Erklärungsgebiet der Descendenz-Theorie. 1I. Darwin reformirte Abstammungs-Lehre erklärt werden. Ich er- wähne vorläufig noch die Erscheinungen, welche uns die geo- graphische Verbreitung der Thier- und Pflanzenarten auf der Oberfläche unseres Planeten, sowie die geologische Ver- theilung der ausgestorbenen und versteinerten Organis- men in den verschiedenen Schichten der Erdrinde darbietet. Auch diese wichtigen paläontologischen und geographischen Ge- setze, welche wir bisher nur als Thatsachen kannten, werden durch die Abstammungslehre in ihren wirkenden Ursachen er- kannt. Dasselbe gilt ferner von allen allgemeinen Gesetzen der vergleichenden Anatomie, insbesondere von dem grossen Ge- setze der Arbeitstheilung oder Sonderung (Polymorphis- mus oder Differenzirung); dieses Gesetz ist ebenso in der ganzen menschlichen Gesellschaft, wie in der Organisation des einzelnen Thier- und Pflanzenkörpers die wichtigste gestaltende Ursache, diejenige Ursache, welche ebenso eine immer grössere Mannich- faltigkeit, wie eine fortschreitende Entwickelung der organischen Formen bedingt. In gleicher Weise, wie dieses bisher nur als Thatsache erkannte Gesetz der Arbeitstheilung, wird auch das Gesetz der fortschreitenden Entwickelung oder das Gesetz des Fortschritts, welches wir ebenso in der Geschichte der Völ- ker, wie in der Geschichte der Thiere und Pflanzen überall wir- ken sehen, in seinem Ursprung durch die Abstammungs-Lehre er- klärt. Und wenn Sie endlich Ihre Blicke auf das grosse Ganze der organischen Natur richten, wenn Sie vergleichend alle grossen Erscheinungsgruppen dieses ungeheuren Lebensgebietes zusammen- fassen, so stellt sich Ihnen dasselbe im Lichte der Abstammungs- Lehre nicht mehr als das künstlich ausgedachte Werk eines plan- mässig bauenden Schöpfers dar, sondern als die nothwendige Folge wirkender Ursachen, welche in der chemischen Zusammen- setzung der Materie selbst und in ihren physikalischen Eigen- schaften liegen. Man kann also im weitesten Umfang behaupten (und ich hoffe diese Behauptung im Verlaufe meiner Vorträge zu recht- fertigen), dass die Abstammungs-Lehre uns zum ersten Male in die Lage versetzt, die Gesammtheit aller organischen Naturerschei- 1. Erklärungsgründe der Descendenz- Theorie. ph) nungen auf ein einziges Gesetz zurückzuführen, eine einzige wir- kende Ursache für das unendlich verwickelte Getriebe dieser gan- zen reichen Erscheinungswelt aufzufinden. In dieser Beziehung stellt sie sich ebenbürtig Newtons Gravitations-Theorie an die Seite; ja sie erhebt sich vielleicht noch über dieselbe! Aber ‘auch die Erklärungsgründe sind hier nicht minder ein- fach, wie dort. Es sind nicht neue, bisher unbekannte Eigen- schaften des Stoffes, welche Darwin zur Erklärung dieser höchst verwickelten Erscheinungswelt herbeizieht; es sind nicht etwa Entdeckungen neuer Verbindungs-Verhältnisse der Materie, oder neuer Organisationskräfte derselben; sondern es ist lediglich die ausserordentlich geistvolle Verbindung, die synthetische Zusam- menfassung und denkende Vergleichung einer Anzahl längst be- kannter Thatsachen, durch welche er das „heilige Räthsel“ der lebendigen Formenwelt löst. Die erste Rolle spielt dabei die Er- wägung der Wechselbeziehungen, welche zwischen zwei allgemei- nen Lebensthätigkeiten der Organismen bestehen, den Functionen der Vererbung und der Anpassung. Lediglich durch Erwä- gung des Wechselverhältnisses zwischen diesen beiden Lebens- thätigkeiten oder physiologischen Funetionen der Organismen, sowie ferner durch Erwägung der gegenseitigen Beziehungen, welche alle an einem und demselben Orte zusammenlebenden Thiere und Pflanzen nothwendig zu einander besitzen — lediglich durch richtige Würdigung dieser einfachen Thatsachen, und durch die geschickte Verbindung derselben ist es Darwin möglich gewor- den, in denselben die wahren wirkenden Ursachen (causae efficien- tes) für die unendlich verwickelten Gestaltungen der organischen Natur zu finden. Wir sind nun verpflichtet, diese Theorie auf jeden Fall an- zunehmen und so lange zu behaupten, bis sich eine bessere findet, die es unternimmt, die gleiche Fülle von Thatsachen ebenso ein- fach zu erklären. Bisher entbehrten wir einer solchen Theorie vollständig. Zwar war der Grundgedanke nicht neu, dass alle verschiedenen Thier- und Pflanzenformen von einigen wenigen oder sogar von einer einzigen höchst einfachen Grundform ab- stammen müssen. Dieser Gedanke war längst ausgesprochen und 26 Verpflichtung zu allgemeiner Annahme der Descendenz-Theorie. ]J, zuerst von dem grossen Lamarck”’) im Anfang unseres Jahr- hunderts bestimmt formulirt worden. Allein Lamarck sprach doch eigentlich bloss die Hypothese der gemeinsamen Abstam- mung aus, ohne sie durch Erläuterung der wirkenden Ursachen genügend zu begründen. Und gerade in dem Nachweis dieser Ursachen liegt der ausserordentliche Fortschritt, welchen Darwin über Lamarcks Theorie hinaus gethan hat. Er fand in der physiologischen Vererbungs- und Anpassungs-Fähigkeit der orga- nischen Materie die wahre Ursache jenes genealogischen Verhält- nisses auf. Auch konnte der geistvolle Lamarck noch nicht über das gewaltige Material biologischer Thatsachen gebieten, welches durch die emsigen zoologischen und botanischen For- schungen der letzten achtzig Jahre angesammelt und von Dar- win zu einem überwältigenden Beweis-Apparat verwerthet wurde. Die Theorie Darwins ist also nicht, wie seine Gegner häufig behaupten, eine beliebige, aus der Luft gegriffene, bodenlose Hy- pothese. Es liegt nicht im Belieben der einzelnen Zoologen und Botaniker, ob sie dieselbe als erklärende Theorie annehmen wol- len oder nicht. Vielmehr sind sie dazu gezwungen und ver- pflichtet nach dem allgemeinen, in den Naturwissenschaften über- haupt gültigen Grundsatze, dass wir zur Erklärung der Erschei- nungen jede mit den wirklichen Thatsachen vereinbare, wenn auch nur schwach begründete Theorie so lange annehmen und beibehalten müssen, bis sie durch eine bessere ersetzt wird. Wenn wir dies nicht thun, so verzichten wir auf eine wissenschaftliche Erklärung der Erscheinungen, und das ist in der That der Standpunkt, den Viele noch gegenwärtig einnehmen. Sie betrach- ten das ganze Gebiet der belebten Natur als ein vollkommenes Räthsel und halten die Entstehung der Thier- und Pflanzenarten, die Erscheinungen ihrer Entwickelung und Verwandtschaft für ganz unerklärlich, für ein Wunder; sie wollen von einem wahren Verständniss derselben überhaupt nichts wissen. Diejenigen Gegner Darwins, welche nicht geradezu in dieser Weise auf eine biologische Erklärung verzichten wollen, pflegen freilich zu sagen: „Darwins Lehre von dem gemeinschaftlichen Ursprung der verschiedenartigen Organismen ist nur eine Hypo- D ee ee ee ee PERF \ 77 DT. Unentbehrlichkeit der Descendenz - Theorie in der Biologie. 27 these; wir stellen ihr eine andere entgegen, die Hypothese, dass die einzelnen Thier- und Pflanzenarten nicht durch Abstammung sich auseinander entwickelt haben, sondern dass sie unabhängig von einander durch ein noch unentdecktes Naturgesetz entstan- den sind.“ So lange aber nicht gezeigt wird, wie diese Entste- hung zu denken ist, und was das für ein „Naturgesetz“ ist, so lange nicht einmal wahrscheinliche Erklärungsgründe geltend gemacht werden können, welche für eine unabhängige Entstehung der Thier- und Pflanzenarten sprechen, so lange ist diese Gegen- hypothese in der That keine Hypothese, sondern eine leere, nichts- sagende Redensart. Auch verdient Darwins Theorie nicht den Namen einer Hypothese. Denn eine wissenschaftliche Hypothese ist eine Annahme, welche sich auf unbekannte, bisher noch nicht durch die sinnliche Erfahrung wahrgenommene Eigenschaften oder Bewegungs-Erscheinungen der Naturkörper stützt. Darwins Lehre aber nimmt keine derartigen unbekannten Verhältnisse an; sie gründet sich auf längst anerkannte allgemeine Eigenschaften der Organismen. Aber die ausserordentliche geistvolle, umfassende Verbineung einer Menge bisher vereinzelt dagestandener Erschei- nungen verleiht dieser Theorie ihren hohen inneren Werth. Mit ihrer Hülfe vermögen wir für die Gesammtheit aller uns bekann- ten morphologischen Erscheinungen in der Thier- und Pflanzen- welt eine bewirkende Ursache nachzuweisen; und zwar ist diese wahre Ursache immer ein und dieselbe, nämlich die Wechsel- wirkung der Anpassung und Vererbung. Diese ist aber ein phy- siologisches Verhältniss, und als solches durch physikalisch- chemische oder mechanische Ursachen bedingt. Aus diesen Grün- den ist die Annahme der durch Darwin mechanisch begründeten Abstammungs-Lehre für die gesammte Zoologie und Botanik eine zwingende und unabweisbare Nothwendigkeit. Da nach meiner Ansicht also die unermessliche Bedeutung unserer neuen Entwickelungs-Lehre darin liegt, dass sie die bisher nieht erklärten organischen Formerscheinungen mecha- nisch erklärt, so ist es wohl nothwendig, hier gleich noch ein Wort über den vieldeutigen Begriff der Erklärung einzuschal- ten. Häufig wird dem Transformismus entgegengehalten, dass er 28 Grenzen der Erklärung und der Erkenntuiss. IE allerdings jene Erscheinungen durch die Vererbung und Anpas- sung vollkommen erkläre, dass dadurch aber nicht diese Eigen- schaften der organischen Materie selbst erklärt werden, dass wir nicht zu den letzten Gründen gelangen. Dieser Einwurf ist ganz richtig; allein er gilt in dieser Weise von allen Erscheinungen. Wir gelangen nirgends zu einer Erkenntniss der letzten Gründe. Die Entstehung jedes einfachen Salzkrystalles, den wir beim Abdampfen einer Mutterlauge erhalten, ist uns im letzten Grunde nicht minder räthselhaft, und an sich nicht minder un- begreiflich, als die Entstehung jedes Thieres, das sich aus einer einfachen Eizelle entwickelt. Bei Erklärung der einfachsten phy- sikalischen oder chemischen Erscheinungen, z. B. des Falles eines Steins oder der Bildung einer chemischen Verbindung gelangen wir durch Auffindung der wirkenden Ursachen, z. B. der Schwer- kraft oder der chemischen Verwandtschaft, zu anderen weiter zu- rückliegenden Erscheinungen, die an und für sich Räthsel sind. Das liegt in der Beschränktheit oder Relativität unseres Erkennt- niss-Vermögens. Wir dürfen niemals vergessen, dass die mensch- liche Erkenntniss-Fähigkeit allerdings absolut beschränkt ist und nur eine relative Ausdehnung besitzt. Sie ist zunächst schon beschränkt durch die Beschaffenheit unserer Sinne und unseres Gehirns. Ursprünglich stammt alle Erkenntniss aus der sinnlichen Wahrnehmung. Man führt wohl dieser gegenüber die angeborene, a priori gegebene Erkenntniss des Menschen an; indessen kön- nen wir mit Hülfe der Descendenz-Theorie nachweisen, dass die sogenannten apriorischen Erkenntnisse anfänglich a posteriori erwor- ben, in ihren letzten Gründen durch Erfahrungen bedingt sind. Erkenntnisse, welche ursprünglich auf rein sinnlichen Wahrneh- mungen beruhen, welche aber dann eine Reihe von Generationen hindurch erhalten und vererbt werden, treten bei den jüngeren Generationen angeboren auf; ebenso wie die sogenannten Instincte der Thiere. Von unseren uralten thierischen Voreltern sind alle sogenannten „Erkenntnisse a priori* ursprünglich a posteriori ge- fasst worden und erst durch Vererbung allmählich zu apriori- schen geworden; sie beruhen in letzter Instanz auf Erfahrun- II. Erkenntnisse aposteriori und apriori. 29 gen. Die Gesetze der Vererbung und Anpassung erklären uns, wie die Erkenntnisse a priori ursprünglich aus Erkenntnissen a posteriori sich entwickelt haben. Die sinnliche Erfahrung ist die ursprüngliche Quelle aller Erkenntnisse. Schon aus diesem Grunde bleibt alle unsere Wissenschaft beschränkt, und niemals vermögen wir die letzten Gründe irgend einer Erscheinung zu erfassen. Die Krystallisationskraft, die Schwerkraft und die chemische Verwandtschaft bleiben uns, an und für sich, eben so unbegreiflich, wie die Anpassung und die Vererbung, wie der Wille und das Bewusstsein. Wenn uns nun die heutige Descendenz-Theorie die Gesammt- heit aller vorhin zusammengefassten Erscheinungen aus einem einzigen Gesichtspunkt erklärt, wenn sie eine und dieselbe Be- schaffenheit des Organismus als die wirkende Ursache nachweist, so leistet sie vorläufig Alles, was wir verlangen können. Ausser- dem lässt sich aber auch mit gutem Grunde hoffen, dass wir die letzten, von Darwin gefundenen Ursachen, nämlich die Eigenschaf- ten der Erblichkeit und der Anpassungsfähigkeit, noch weiter werden erklären lernen; dass wir z. B. dahin gelangen werden, die Mole- kular-Verhältnisse in der Zusammensetzung der Eiweissstoffe als die weiter zurückliegenden, einfachen Gründe jener Erscheinungen aufzudecken. Freilich ist in der nächsten Zukunft hierzu noch keine Aussicht, und wir begnügen uns vorläufig mit jener Zurück- führung, wie wir uns in der Newton’schen Theorie mit der Zu- rückführung der Planeten-Bewegungen auf die Schwerkraft be- gnügen. Die Schwerkraft selbst ist uns ebenfalls ein Räthsel, an sich nicht erkennbar. Bevor wir nun an unsere Hauptaufgabe, an die eingehende Erörterung der Abstammungs-Lehre und der aus ihr sich ergeben- den Folgerungen herantreten, lassen Sie uns einen geschichtlichen Rückblick auf die wichtigsten und verbreitetsten von denjenigen Ansichten werfen, welche sich die Menschen vor Darwin über die organische Schöpfung, über die Entstehung der mannichfaltigen Thier- und Pflanzenarten gebildet hatten. Es liegt dabei keines- wegs in meiner Absicht, Sie mit einem vergleichenden Ueberblick über alle die zahlreichen Schöpfungs-Dichtungen der verschiedenen 30 Natürliche und übernatürliche Schöpfungs-Geschichten. TE Völker zu unterhalten. So interessant und lohnend diese Auf- gabe, sowohl in ethnographischer als in culturhistorischer Bezie- hung, auch wäre, so würde uns dieselbe doch hier viel zu weit führen. Auch trägt die übergrosse Mehrzahl aller dieser Schöp- fungssagen zu sehr das Gepräge willkürlicher Dichtung und des Mangels eingehender Naturbetrachtung, als dass dieselben für eine naturwissenschaftliche Behandlung der Schöpfungs-Geschichte von Interesse wären. Ich werde daher von den nicht wissenschaftlich begründeten Schöpfungs-Geschichten bloss die mosaische hervor- heben, wegen des beispiellosen Einflusses, den diese morgenlän- dische Sage in der abendländischen Culturwelt gewonnen hat. Dann werde ich sogleich zu den wissenschaftlich formulirten Schöpfungs-Hypothesen übergehen, welche erst nach Beginn des verflossenen Jahrhunderts, mit Linne, ihren Anfang nahmen. Alle verschiedenen Vorstellungen, welche sich die Menschen jemals von der Entstehung der verschiedenen Thier- und Pflanzen- arten gemacht haben, lassen sich füglich in zwei entgegengesetzte Gruppen bringen, in natürliche und übernatürliche Schöpfungs” Geschichten. Diese beiden Gruppen entsprechen im Grossen und Ganzen den beiden verschiedenen Hauptformen der menschlichen Weltan- schauung, welche wir vorher als monistisch@ (einheitliche) und dualistische (zwiespältige) Naturauffassung gegenüber gestellt haben. Die gewöhnliche dualistische oder teleologische (vitale) Welt- anschauung muss die organische Natur als das zweckmässig aus- geführte Product eines planvoll wirkenden Schöpfers ansehen. Sie muss in jeder einzelnen Thier- und Pflanzenart einen „ver- körperten Schöpfungs-Gedanken“ erblicken, den materiellen Aus- druck einer zweckmässig thätigen Endursache oder einer zweck- thätigen Ursache (causa finalis). Sie muss nothwendig über- natürliche (nicht mechanische) Vorgänge für die Entstehung der Organismen in Anspruch nehmen. Wir dürfen sie daher mit Recht als übernatürliche Schöpfungs-Geschichte bezeichnen. Von allen hierher gehörigen teleologischen Schöpfungs-Geschichten gewann diejenige des Moses den grössten Einfluss, da sie durch so bedeutende Naturforscher, wie Linne, selbst in der Natur- > TI. Natürliche und übernatürliche Schöpfungs-Geschichten. 31 wissenschaft allgemeinen Eingang fand. Auch die Schöpfungs- Ansichten von Cuvier und Agassiz, und überhaupt von den meisten älteren Naturforschern gehören in diese dualistische Gruppe. Die von Darwin ausgebildete Entwicklungs-Theorie dagegen, welche wir hier als natürliche Schöpfungs-Geschichte zu be- handeln haben, und welche bereits von Goethe und Lamarck angebahnt wurde, muss bei folgerichtiger Durchführung schliesslich nothwendig zu der monistischen oder mechanischen (causalen) Weltanschauung hinleiten. Im Gegensatze zu jener dualistischen oder teleologischen Naturauffassung betrachtet dieselbe die Formen der organischen Naturkörper, ebenso wie diejenigen der anorgi- schen, als die nothwendigen Producte natürlicher Kräfte. Sie er- blickt in den einzelnen Thier- und Pflanzenarten nicht verkörperte Gedanken des persönlichen Schöpfers, sondern den zeitweiligen Ausdruck eines mechanischen Entwickelungs-Ganges der Materie, den Ausdruck einer nothwendig wirkenden Ursache oder einer mechanischen Ursache (causa efficiens). Wo der teleologische Dualismus in den Schöpfungs-Wundern die willkürlichen Einfälle eines launenhaften Schöpfers aufsucht, da findet der causale Mo- nismus in den Entwickelungs-Processen die nothwendigen Wir- kungen ewiger und “unabänderlicher Naturgesetze. Man hat diesen, hier von uns vertretenen Monismus auch oft für identisch mit dem Materialismus erklärt. Da man demgemäss auch den Darwinismus und überhaupt die ganze Entwickelungs-Theorie als „materialistisch“ bezeichnet hat, so kann ich nicht umhin, schon hier mich von vornherein gegen die Zweideutigkeit dieser Bezeichnung und gegen die Arglist, mit welcher dieselbe von mehreren Seiten zur Entstellung unserer Lehre benutzt wird, ausdrücklich zu verwahren. Unter dem Stichwort „Materialismus“ werden sehr allge- mein zwei gänzlich verschiedene Dinge mit einander verwechselt und vermengt, die im Grunde gar Nichts mit einander zu thun haben, nämlich der naturwissenschaftliche und der sittliche Ma- terialismus. Der sogenannte naturwissenschaftliche Ma- terialismus ist in gewissem Sinne mit unserem Monismus 32 Monismus und Materialismus. IR identisch. Denn er behauptet im Grunde weiter nichts, als dass Alles in der Welt mit natürlichen Dingen zugeht, dass jede Wirkung ihre Ursache und jede Ursache ihre Wirkung hat. Er stellt also über die Gesammtheit aller uns erkennbaren Erschei- nungen das mechanische Causal-Gesetz, oder das Gesetz von dem nothwendigen Zusammenhang von Ursache und Wirkung. Dagegen verwirft er entschieden jeden Wunderglauben und jede wie immer geartete Vorstellung von übernatürlichen Vorgängen. Für ihn giebt es daher eigentlich in dem ganzen Gebiete mensch- licher Erkenntniss nirgends mehr eine wahre Metaphysik, sondern überall nur Physik. Für ihn ist der unzertrennliche Zusammen- hang von Stoff, Form und Kraft selbstverständlich. Dieser wissen- schaftliche Materialismus ist auf dem ganzen grossen Gebiete der anorgischen Naturwissenschaft, in der Physik und Chemie, in der Mineralogie und Geologie, längst so allgemein anerkannt, dass kein Mensch mehr seine alleinige Berechtigung in Zweifel zieht. Ganz anders verhält es sich jedoch in der Biologie, in der orga- nischen Naturwissenschaft, wo man die Geltung desselben noch fortwährend von vielen Seiten her bestreitet, ihm aber nichts Anderes, als das metaphysische Gespenst der Lebenskraft, oder gar nur theologische Dogmen, entgegenhalten kann. Wenn wir nun aber den Beweis führen können, dass die ganze erkennbare Natur nur Eine ist, dass dieselben „ewigen, ehernen, grossen Gesetze“ in dem Leben der Thiere und Pflanzen, wie in dem Wachsthum der Krystalle und in der Triebkraft des Wasser- dampfes thätig sind, so werden wir auch auf dem gesammten Gebiete der Biologie, in der Zoologie wie in der Botanik, überall mit demselben Rechte den monistischen oder mechanischen Stand- punkt festhalten, mag man denselben nun als „Materialismus“ verdächtigen oder nicht. In diesem Sinne ist die ganze exacte Naturwissenschaft, und an ihrer Spitze das Causal-Gesetz, rein „materialistisch“. Man könnte sie aber mit demselben Rechte auch rein „spiritualistisch“ nennen, wenn man nur consequent die einheitliche Betrachtung für alle Erscheinungen ohne Aus- nahme durchführt. Denn eben durch diese consequente Ein- heit gestaltet sich unser heutiger Monismus zur Versöhnung von äh II. Wissenschaftlicher und sittlicher Materjalismus. 33 Idealismus und Realismus, zur Ausgleichung des einseitigen Spi- ritualismus und Materialismus. Ganz etwas Anderes als dieser naturwissenschaftliche ist der sittliche oder ethische Materialismus, der mit dem ersteren gar Nichts gemein hat. Dieser „eigentliche“ Materialismus ver- folgt in seiner practischen Lebensrichtung kein anderes Ziel, als den möglichst raffinirten Sinnengenuss. Er schwelgt in dem traurigen Wahne, dass der rein sinnliche Genuss dem Menschen wahre Befriedigung geben könne, und indem er diese in keiner Form der Sinnenlust finden kann, stürzt er sich schmachtend von einer zur andern. Die tiefe Wahrheit, dass der eigentliche Werth des Lebens nicht im materiellen Genuss, sondern in der sittlichen That, und dass die wahre Glückseligkeit nicht in äusse- ren Glücksgütern, sondern nur in tugendhaftem Lebenswandel beruht, bleibt jenem ethischen Materialismus unbekannt. Daher sucht man denselben auch vergebens bei solchen Naturforschern und Philosophen, deren höchster Genuss der geistige Naturgenuss und deren höchstes Ziel die Erkenntniss der Naturgesetze ist. Diesen Materialismus muss man in den Palästen der Kirchen- fürsten und bei allen jenen Heuchlern suchen, welche unter der äusseren Maske frommer Gottesverehrung nur hierarchische Ty- rannei und materielle Ausbeutung ihrer Mitmenschen erstreben. Stumpf für den unendlichen Adel der sogenannten „rohen Ma- terie“ und der aus ihr entspringenden herrlichen Erscheinungs- welt, unempfindlich für die unerschöpflichen Reize der Natur, wie ohne Kenntniss von ihren Gesetzen, verketzern dieselben die ganze Naturwissenschaft und die aus ihr entspringende Bildung als sündlichen Materialismus, während sie selbst dem letzteren in der widerlichsten Gestalt fröhnen. Nicht allein die ganze Geschichte der „unfehlbaren“ Päpste mit ihrer endlosen Kette von gräulichen Verbrechen, sondern auch die widerwärtige Sitten- Geschichte der Orthodoxie in allen Religionsformen liefert hierfür genügende Beweise. Um nun in Zukunft die übliche Verwechselung dieses ganz verwerflichen sittlichen Materialismus mit unserem naturphiloso- phischen Materialismus zu vermeiden, und um überhaupt das Haeckel, Natürl, Schöpfungs-Gesch. 3. Aufl, 5 34 Materialismus und Mechanismus. II. einseitige Missverständniss des letzteren zu beseitigen, halten wir es für nöthig, denselben entweder Monismus oder Causalismus zu nennen. Das Prineip dieses Monismus ist dasselbe, was Kant das „Prineip des Mechanismus“ nennt; und Kant erklärt ausdrücklich, dass es ohne dasselbe überhaupt keine Natur- wissenschaft geben könne. Dieses Prineip ist von unserer „natürlichen Schöpfungs-Geschichte“ ganz untrennbar, und kenn- zeichnet dieselbe gegenüber dem teleologischen Wunderglauben der übernatürlichen Schöpfungs-Geschichte. Lassen Sie uns nun zunächst einen Bliek auf die wichtigste von allen übernatürlichen Schöpfungs-Geschichten werfen, diejenige des Moses, wie sie uns durch die alte Geschichts- und Gesetzes- Urkunde des jüdischen Volkes, durch die Bibel, überliefert wor- den ist. Bekanntlich ist die mosaische Schöpfungs-Geschichte, wie sie im ersten Capitel der Genesis den Eingang zum alten Testament bildet, in der ganzen jüdischen und christlichen Cultur- welt bis auf den heutigen Tag fast allgemein in Geltung geblieben. Dieser ausserordentliche Erfolg erklärt sich nicht allein aus der engen Verbindung derselben mit den jüdischen und christlichen Glaubenslehren, sondern auch aus dem einfachen und natürlichen ldeengang, welcher dieselbe durchzieht, und welcher vortheilhatt gegen die bunte Schöpfungs-Mythologie der meisten anderen Völker des Alterthums absticht. Zuerst schaflt Gott der Herr die Erde als anorgischen Weltkörper. Dann scheidet er Licht und Finsterniss, darauf Wasser und Festland. Nun erst ist die Erde für Organismen bewohnbar geworden und es werden zu- nächst die Pflanzen, später erst die Thiere erschaffen, und zwar von den letzteren zuerst die Bewohner des Wassers und der Luft, später erst die Bewohner des Festlandes. Endlich zuletzt von allen Organismen schaflt Gott den Menschen, sich selbst zum Ebenbilde und zum Beherrscher der Erde. Zwei grosse und wichtige Grundgedanken der natürlichen Entwickelungslehre treten uns in dieser Schöpfungs-Hypothese des Moses mit überraschender Klarheit und Einfachheit entgegen, der Gedanke der Sonderung oder Differenzirung, und der Gedanke der fortschreitenden Entwickelung oder Vervollkomm- 1. . Schöpfungs-Geschiehte des Moses. 35 nung. Obwohl Moses diese grossen Gesetze der organischen Entwickelung, die wir später als nothwendige Folgerungen der Abstammungs-Lehre nachweisen werden, als die unmittelbare Bil- dungs-Thätigkeit eines gestaltenden Schöpfers ansieht, kann man doch darin den erhabeneren Gedanken einer fortschreitenden Entwickelung und Differenzirung der ursprünglich einfachen Ma- terie finden. Wir können daher dem grossartigen Naturverständniss des jüdischen Gesetzgebers und der einfach natürlichen Fassung seiner Schöpfungs-Hypothese unsere gerechte und. aufrichtige Be- wunderung zollen, ohne darin eine sogenannte „göttliche Ofien- barung“ zu erblicken. Dass sie dies nicht sein kann, geht einfach schon daraus hervor, dass darin zwei grosse Grundirrthü- mer behauptet werden, nämlich erstens der geocentrische Irrthum, dass die Erde der feste Mittelpunkt der ganzen Welt sei, um welchen sich Sonne, Mond und Sterne bewegen; und zweitens der anthropocentrische Irrthum, dass der Mensch das vorbedachte Endziel der irdischen Schöpfung, und nur für seinen Dienst die ganze übrige Natur geschaffen sei. Der erstere Iırthum wurde durch Copernicus’ Weltsystem im Beginn des sechszehnten, der letztere durch Lamarcks Abstammungs-Lehre im Beginn des neunzehnten Jahrhunderts vernichtet. Trotzdem durch Copernicus bereits der geocentrische Irr- thum der mosaischen Schöpfungs-Geschichte nachgewiesen und damit die Autorität derselben als einer absolut vollkommenen göttlichen Offenbarung aufgehoben wurde, erhielt sich dieselbe dennoch bis auf den heutigen Tag in solchem Ansehen, dass sie in weiten Kreisen das Haupthinderniss für die Annahme einer natürlichen Entwickelungs- Theorie bildet. Bekanntlich haben selbst viele Naturforscher noch in unserem Jahrhundert versucht, dieselbe mit den Ergebnissen der neueren Naturwissenschaft, ins- besondere der Geologie, in Einklang zu bringen; so hat man z.B. die sieben Schöpfungstage des Moses als sieben grosse geologi- sche Perioden gedeutet. Indessen sind alle diese künstlichen Deutungsversuche so vollkommen verfehlt, dass sie hier keiner Widerlegung bedürfen. Die Bibel ist kein naturwissenschaftliches Werk, sondern eine Geschichts-, Gesetzes- und Religions-Urkunde 36 Schöpfungs-Geschichte des Moses. IE des jüdischen Volkes, deren hoher culturgeschichtlicher Werth dadurch nicht geschmälert wird, dass sie in allen naturwissen- schaftlichen Fragen ohne jede massgebende Bedeutung und voll von groben Irrthümern ist. Wir können nun einen grossen Sprung von mehr als drei Jahrtausenden machen, von Moses, welcher ungefähr um das Jahr 1480. vor Christus starb, bis auf Linne, welcher 1707 nach Christus geboren wurde. Während dieses ganzen Zeitraums wurde keine Schöpfungs-Geschichte aufgestellt, welche eine bleibende Bedeutung gewann, oder deren nähere Betrachtung an diesem Örte von Interesse wäre. Insbesondere während der letzten 1500 Jahre, als das Christenthum die Weltherrschaft gewann, blieb die mit dessen Glaubens-Lehren verknüpfte mosaische Schöpfungs- Geschichte so allgemein herrschend, dass erst das neunzehnte Jahrhundert sich entschieden dagegen aufzulehnen wagte. Selbst der grosse schwedische Naturforscher Linne, der Begründer der neueren Naturgeschichte, schloss sich in seinem Natursystem auf das Engste an die Schöpfungs-Geschichte des Moses an. Der ausserordentliche Fortschritt, welchen Karl Linne in den sogenannten beschreibenden Naturwissenschaften that, besteht bekanntlich in der Aufstellung eines Systems der Thier- und Pflanzenarten: er führte dasselbe in so folgerichtiger und logisch vollendeter Form durch, dass es bis auf den heutigen Tag in vielen Beziehungen die Richtschnur für alle folgenden, mit den Formen der Thiere und Pflanzen sich beschäftigenden Natur- forscher geblieben ist. Obgleich das „Systema naturae* von Linne (1735 erschienen) ein künstliches war, obgleich er für die Classification der Thier- und Pflanzen-Arten nur einzelne Merk- male als Eintheilungs-Grundlagen anwendete, hat dennoch dieses System sich den grössten Erfolg errungen: erstens durch seine consequente Durchführung, und zweitens durch seine ungemein wichtig gewordene Benennungsweise der. Naturkörper,. auf welche. wir. hier nothwendig einen. Blick werfen müssen. Nachdem man nämlich vor Linne sich vergeblich abgemüht hatte, in das un- endliche Chaos der schon damals bekannten verschiedenen Thier- und Pflanzen-Formen durch irgend eine passende Namengebung IT. Linne’s zweifache Art der organischen Benennung. 37 und Zusammenstellung Licht zu bringen, gelang es Linne durch Aufstellung der sogenannten „binären Nomencelatur“ mit einem glücklichen Griff diese wichtige und schwierige Aufgabe zu lösen. Die binäre Nomenelatur oder die zweifache Benennung ‚wie sie Linne zuerst aufstellte, wird noch heutigen Tages ganz allgemein von allen Zoologen und Botanikern angewendet und wird sich unzweifelhaft sehr lange noch in gleicher Geltung erhalten. Sie besteht darin, dass jede Thier- und Pflanzenart mit zwei Namen bezeichnet wird, welche sich ähnlich verhalten, wie Tauf- und Familien-Namen der menschlichen Individuen. Der besondere Name, welcher dem menschlichen Taufnamen entspricht, drückt den Begriff der Art (Species) aus; er dient zur gemeinschaftlichen Bezeichnung aller thierischen oder pflanzlichen Einzelwesen, welche in allen wesentlichen Formeigenschaften sich gleich sind, und sich nur durch ganz untergeordnete Merkmale unterscheiden. Der all- gemeinere Name dagegen, welcher dem menschlichen Familien- namen entspricht, drückt den Begriff der Gattung ((renus) aus: er dient zur gemeinschaftlichen Bezeichnung aller nächst ähnlichen Arten oder Species. Der allgemeinere, umfassende Genusname wird nach Linne’s allgemein gültiger Benennungsweise voran- gesetzt; der besondere, untergeordnete Speciesname folgt ihm nach. So z. B. heisst die Hauskatze Felis domestica, die wilde Katze Felis catus, der Panther Felis pardus, der Jaguar Felis onca, der Tiger Felis tigris, der Löwe Felis leo; alle sechs Raubthierarten sind verschiedene Species eines und desselben Genus: Fels. Oder, um ein Beispiel aus der Pflanzenwelt hinzuzufügen, so heisst nach Linne’s Benennung die Fichte Pinus abies, die Tanne Pi- nus picea, die Lärche Pinus larix, die Pinie Pinus pinea, die Zirbelkiefer Pinus cembra, die Ceder Pinus cedrus, die gewöhnliche Kiefer Pinus silvestris; alle sieben Nadelholzarten sind verschie- dene Species eines und desselben Genus: Pinus. Vielleicht scheint Ihnen dieser von Linne herbeigeführte Fort- schritt in der practischen Unterscheidung und Benennung der viel- gestaltigen Organismen nur von untergeordneter Wichtigkeit zu sein. Allein in Wirklichkeit war er von der allergrössten Be- deutung, und zwar sowohl in practischer als in theoretischer Be- 38 Practische und theoretische Bedeutung der binären Nomenelatur. ]T, ziehung. Denn es wurde nun erst möglich, die Unmasse der ver- schiedenartigen organischen Formen nach dem grösseren oder geringeren Grade ihrer Aehnlichkeit zusammenzustellen und über- sichtlich in dem Fachwerk des Systems zu ordnen. Die Registratur dieses Fachwerks machte Linne dadurch noch übersichtlicher, dass er die nächstähnlichen Gattungen (Genera) in sogenannte Ordnungen (Ordines) zusammenstellte, und dass er die nächstähn- lichen Ordnungen in noch umfassenderen Hauptabtheilungen, den Classen (Classes) vereinigte. Es zerfiel also zunächst jedes der beiden organischen Reiche nach Linne in eine geringe Anzahl von Classen: das Pflanzenreich in 24 Classen, das Thierreich in 6 Classen. Jede Classe enthielt wieder mehrere Ordnungen. Jede einzelne Ordnung konnte eine Mehrzahl von Gattungen und jede einzelne Gattung wiederum mehrere Arten enthalten. Der practische Nutzen, welchen Linne’s binäre Nomen- elatur sofort für eine übersichtliche systematische Unterscheidung, Benennung, Anordnung und Eintheilung der organischen Formen- welt hatte, war unschätzbar; nicht minder bedeutungsvoll aber war der unberechenbare theoretische Einfluss, welchen dieselbe alsbald auf die gesammte allgemeine Beurtheilung der organischen Formen, und ganz besonders auf die Schöpfungs-Geschichte gewann. Noch heute drehen sich alle die wichtigen Grundfragen, welche wir vorher kurz berührten, zuletzt um die Entscheidung der schein- bar sehr abgelegenen und unwichtigen Vorfrage, was denn eigent- lich die Art oder Species ist? Noch heute kann der Begriff der organischen Species als der Angelpunkt der ganzen Schöpfungsfrage bezeichnet werden, als der streitige Mittelpunkt, um dessen verschiedene Auffassung alle Darwinisten und Anti- darwinisten kämpfen. Nach der Meinung Darwins und seiner Anhänger sind die verschiedenen Species einer und derselben Gattung von Thieren und Pflanzen weiter nichts, als verschiedenartig entwickelte Ab- kömmlinge einer und derselben ursprünglichen Stammform. Die verschiedenen vorhin genannten Nadelholz-Arten würden demnach von einer einzigen ursprünglichen Pinus-Form abstammen. Ebenso würden alle oben angeführten Katzenarten aus einer einzigen ge- is en ee rt A A ea De a 1 N ee AL N I — 1. Bedeutung des Species-Begriffs bei Linne. 39 meinsamen Felis-Form ihren Ursprung ableiten, dem Stammvater der ganzen Gattung. Weiterhin müssten dann aber, der Abstam- mungs-Lehre entsprechend, auch alle verschiedenen Gattungen einer und derselben Ordnung von einer einzigen gemeinschaftlichen Urform abstammen, und ebenso endlich alle Ordnungen einer Classe von einer einzigen Stammform. Nach der entgegengesetzen Vorstellung der Gegner Darwins sind dagegen alle Thier- und Pflanzen-Species ganz unabhängig von einander, und nur die Einzelwesen oder Individuen einer jeden Species stammen von einer einzigen gemeinsamen Stammes form ab. Fragen wir sie nun aber, wie sie sich denn diese ur- sprünglichen Stammformen der einzelnen Arten entstanden den- ken. so antworten sie uns mit einem Sprung in das Unbegreif- liche: „Diese sind als solche geschaffen worden“. Linne selbst bestimmte den Begriff der Species bereits in dieser Weise, indem er sagte: „Es giebt soviel verschiedene Ar- ten, als im Anfang verschiedene Formen von dem unendlichen Wesen erschaffen worden sind“. („Species tot sunt diversae, quot diversas formas ab initio creavit infinitum ens.“) Er schloss sich also in dieser Beziehung aufs Engste an die mosaische Schöpfungs- Geschichte an, welche ja ebenfalls die Pflanzen und Thiere „ein jegliches nach seiner Art“ erschaffen werden lässt. Näher hier- auf eingehend, meinte Linne, dass ursprünglich von jeder Thier- und Pflanzenart entweder ein einzelnes Individuum oder ein Pär- chen seschaffen worden sei: und zwar ein Pärchen, oder wie Moses sagt: „ein Männlein und ein Fräulein“ von jenen Arten, welche getrennte (seschlechter haben: für jene Arten dagegen, bei welchen jedes Individuum beiderlei Geschlechtsorgane in sich vereinigt (Hermaphroditen oder Zwitter) wie z. B. die Regen- würmer, die Blutegel, die Garten- und Weinbergsschnecken, sowie die grosse Mehrzahl der Gewächse, meinte Linne,. es sei hinrei- chend, wenn ein einzelnes Individuum erschaffen worden sei. Linne schloss sich weiterhin an die mosaische Legende auch in Betreff der Sündfluth an; er glaubte, dass bei dieser grossen all- gemeinen Ueberschwemmung alle vorhandenen Organismen er- tränkt worden seien, bis auf jene wenigen Individuen von jeder 40 Linne’s Schöpfungs -Geschichte. Tl Art (sieben Paar von den Vögeln und von dem reinen Vieh, ein Paar von dem unreinen Vieh), welche in der Arche Noah ge- rettet und nach beendigter Sündfluth auf dem Ararat an das Land gesetzt wurden. Die geographische Schwierigkeit des Zu- sammenlebens der verschiedensten Thiere und Pflanzen suchte er sich dadurch zu erklären: der Ararat in Armenien, in einem warmen Klima gelegen und bis über 16,000 Fuss Höhe aufstei- gend, vereinigt in sich die Bedingungen für den zeitweiligen ge- meinsamen Aufenthalt auch solcher Thiere, die in verschiedenen Zonen leben. Es konnten zunächst also die an das Polarklima gewöhnten Thiere auf den kalten Gebirgsrücken hinaufklettern, die an das warme Klima gewöhnten an den Fuss hinabgehen, und die Bewohner der gemässigten Zone in der Mitte der Berg- höhe sich aufhalten. Von hier aus war die Möglichkeit gegeben, sich über die Erde nach Norden und Süden zu verbreiten. Wir brauchen wohl kaum zu bemerken, dass diese naive Schöpfungs-Hypothese Linne's, welche sich offenbar möglichst eng an den herrschenden Bibelglauben anzuschliessen sucht, keiner ernstlichen Widerlegung bedarf. Wenn man die sonstige Klar- heit des scharfsinnigen Linne erwägt, darf man vielleicht zwei- feln, dass er selbst daran glaubte. Was die gleichzeitige Abstam- mung aller Individuen einer jeden Species von je einem Elternpaare (oder bei den hermaphroditischen Arten von je einem Stamm- zwitter) betrifft, so ist sie offenbar ganz unhaltbar; denn abge- sehen von anderen Gründen, würden schon in den ersten Tagen nach geschehener Schöpfung die wenigen Raubthiere ausgereicht haben, sämmtlichen Pflanzenfressern den Garaus zu machen, wie die pflanzenfressenden Thiere die wenigen Individuen der verschiedenen Pflanzenarten hätten zerstören müssen. Ein solches Gleichgewicht in der Oeconomie der Natur, wie es gegenwärtig existirt, konnte unmöglich stattfinden, wenn von jeder Art nur ein Individuum oder nur ein Paar ursprünglich und gleichzeitig geschaffen wurde. Wie wenig übrigens Linne auf diese unhaltbare Schöpfungs- Hypothese Gewicht legte, geht unter Anderem daraus hervor, dass er die Bastarderzeugung (Hybridismus) als eine Quelle der Entstehung neuer Arten anerkannte. Er nahm an, dass eine IT‘ Linne’s Ansicht von der Entstehung der Arten. 4] grosse Anzahl von selbstständigen neuen Species auf diesem Wege, durch geschlechtliche Vermischung zweier verschiedener Species, entstanden sei. In der That kommen solche Bastarde (Hybridae) durchaus nicht selten in der Natur vor; es ist jetzt erwiesen, dass eine grosse Anzahl von Arten z. B. aus den Gattungen der Brombeere (Rubus), des Wollkrauts (Verbascum), der Weide (Salix), der Distel (Cirsium) Bastarde von verschiedenen Arten dieser Gattungen sind. Ebenso kennen wir Bastarde von Hasen und Kaninchen (zwei Species der Gattung Lepus), ferner Bastarde verschiedener Arten der Hundegattung (Canis), der Hirschgattung (Cervus) u. s. w., welche als selbstständige Arten sich fortzupflan- zen im Stande sind. Ja, wir sind sogar aus vielen wichtigen Gründen zu der Annahme berechtigt, dass die Bastardzeugung eine sehr ergiebige Quelle für die Entstehung neuer Arten bildet; und diese Quelle ist ganz unabhängig von der natürlichen Züchtung, durch welche nach Darwins Ansicht die meisten Species entstanden sind. Wahrscheinlich sind sehr zahl- reiche Thier- und Pflanzen-Formen, die wir heute als sogenannte „gute Arten“ in unseren systematischen Registern aufführen, weiter Nichts, als fruchtbare Bastarde, welche ganz zufällig durch die gelegentliche Vermischung der Geschlechtsproduete von zwei verschiedenen Arten entstanden sind. Namentlich ist diese Annahme für die Wasserthiere und Wasserpflanzen gerechtfertigt. Wenn man bedenkt, welche Massen von verschiedenartigen Sa- menzellen und Eizellen im Wasser beständig zusammentreffen, so erscheint dadurch der Bastardzeugung der weiteste Spielraum geöffnet. Es ist gewiss sehr bemerkenswerth, dass Linne bereits die physiologische (also mechanische) Entstehung von neuen Species auf diesem Wege der Bastardzeugung behauptete. Offenbar steht dieselbe in unvereinbarem Gegensatze zu der übernatürlichen Ent- stehung der anderen Species durch Schöpfung, welche er der mosaischen Schöpfungs-Geschichte gemäss annahm. Die eine Ab- theilung der Species würde demnach durch dualistische (teleolo- gische) Schöpfung, die andere durch monistische (mechanische) Entwickelung entstanden sein. 42 Autorität von Linne's Schöpfungs - Geschichte. IT Das grosse und wohlverdiente Ansehen, welches sich Linne durch seine systematische Classification und durch seine übrigen Verdienste um die Biologie erworben hatte, war offenbar die Ur- sache, dass auch seine Schöpfungs-Ansichten das ganze vorige Jahr- hundert hindurch unangefochten in voller und ganz allgemeiner Geltung blieben. Wenn nicht die ganze systematische Zoologie und Botanik die von ihm eingeführte Unterscheidung, Classi- fication und Benennung der Arten und den damit verbundenen dogmatischen Species-Begriff mehr oder minder unverändert bei- behalten hätte, würde man nicht begreifen, dass seine Vorstel- lung von einer selbstständigen Schöpfung der einzelnen Species bis vor Kurzem ihre Herrschaft behaupten konnte. Denn je mehr sich unsere Kenntnisse vom Bau und von der Entwickelung der Organismen erweiterten, desto unhaltbarer wurde jene Vorstel- lung. Nur durch die grosse Autorität Linne’s und durch seine Anlehnung an den herrschenden Bibel-Glauben war die Erhaltung seiner Schöpfungs-Hypothese bis auf unsere Zeit möglich. ne Dritter Vortrag. Schöpfungs-Geschichte nach Cuvier und Agassiz, Allgemeine theoretische Bedeutung des Species-Begriffs. Unterschied in der theoretischen und practischen Bestimmung des Artbegrifis. Cuviers De- finition der Species. Cuviers Verdienste als Begründer der vergleichenden Anatomie. Unterscheidung der vier Hauptformen (Typen oder Zweige) des Thierreichs durch Cuvier und Baer. Cuviers Verdienste um die Paläontologie. Seine Hypothese von den Revolutionen des Erdballs und den durch dieselben getrennten Schöpfungs-Perioden. Unbekannte, übernatürliche Ursachen die- ser Revolutionen und der darauf folgenden Neuschöpfungen. Teleologisches Natursystem von Agassiz. Seine Vorstellungen vom Schöpfungs -Plane und dessen sechs Kategorien (Gruppenstufen des Systems). Agassiz’ Ansichten von der Erschaffung der Species. Grobe Vermenschlichung (Anthropomer- phismus) des Schöpfers in der Schöpfungs-Hypothese von Agassiz. Innere Unhaltbarkeit derselben und Widersprüche mit den von Agassiz entdeckten wichtigen paläontologischen Gesetzen. i Meine Herren! Der entscheidende Schwerpunkt in dem Meinungskampfe, der von den Naturforschern über die Entstehung der Organismen, über ihre Schöpfung oder Entwickelung geführt wird, liegt in den Vorstellungen, welche man sich von dem Wesen der Art oder Species macht. Entweder hält man mit Linne die verschiedenen Arten für selbstständige, von einander unab- hängige Schöpfungsformen, oder man nimmt mit Darwin deren Blutsverwandtschaft an. Wenn man Linne’s Ansicht theilt und die verschiedenen organischen Species unabhängig von einander entstehen lässt, so kann man sich diese Entstehung nur als eine übernatürliche Schöpfung denken ; man muss entweder für jedes einzelne organische Individuum einen besonderen Schöpfungsact annehmen (wozu sich wohl kein Naturforscher entschliessen wird), 44 Allgemeine theoretische Bedeutung des Species-Begrifls. Il. oder man muss alle Individuen einer jeden Art von einem ein- zigen Individuum oder von einem einzigen Stammpaare ableiten, welches nicht auf natürlichem Wege entstanden, sondern durch den Machtspruch eines Schöpfers in das Dasein gerufen ist. Da- mit verlässt man aber das sichere Gebiet vernunftgemässer Natur- Erkenntniss und flüchtet sich in das mythologische Reich des Wunderglaubens. Wenn man dagegen mit Darwin die Formen-Aehnlichkeit der verschiedenen Arten auf wirkliche Blutsverwandtschaft bezieht, so muss man alle verschiedenen Species der Thier- und Pflanzen- welt als veränderte Nachkommen einer einzigen oder einiger wenigen, höchst einfachen, ursprünglichen Stammformen betrach- ten. Durch diese Anschauung gewinnt das natürliche System der Organismen (die baumartig verzweigte Anordnung und Ein- theilung derselben in Classen, Ordnungen, Familien, Gattungen und Arten) die Bedeutung eines wirklichen Stammbaums, dessen Wurzel durch jene uralten längst verschwundenen Stammformen gebildet wird. Eine wirklich naturgemässe und folgerichtige Betrachtung der Organismen kann aber auch für diese einfachsten ursprünglichen Stammformen keinen übernatürlichen Schöpfungs- act annehmen, sondern nur eine Entstehung durch Urzeugung (Archigonie oder Generatio spontanea). Durch Darwins Ansicht von dem Wesen der Species gelangen wir daher zu einer natürlichen Entwickelungs-Theorie, durch Linne’s Auffas- sung des Artbegriffs dagegen zu einem übernatürlichen Schöpfungs-Dogma. Die meisten Naturforscher nach Linne, (dessen grosse Ver- dienste um die unterscheidende und beschreibende Naturwissen- schaft ihm das höchste Ansehen gewannen, traten in seine Fusstapfen:; ohne weiter über die Entstehung der Organismen nachzudenken, nahmen sie in dem Sinne Linne’s eine selbst- ständige Schöplung der einzelnen Arten an, in Uebereinstimmung mit dem mosaischen Schöpfungs-Bericht. Die Grundlage ihrer Species-Auffassung bildete Linne’s Ausspruch: „Es giebt so viele Arten, als ursprünglich verschiedene Formen erschaffen worden sind.“ Jedoch müssen wir hier, ohne näher auf die Begriffs- a ee ÜE e t vw We, III. Gegensatz d. theoretischen u. practischen Bestimmung des Artbegriffs, 45 bestimmung der Species einzugehen, sogleich bemerken, dass alle Zoologen und Botaniker in der systematischen Praxis, bei der practischen Unterscheidung und Benennung der Thier- und Pflanzen-Arten, sich nicht im Geringsten um jene angenommene Schöpfung ihrer elterlichen Stammformen kümmerten, und auch wirklich nicht kümmern konnten. In dieser Beziehung macht einer unserer ersten Zoologen, der geistvolle Fritz Müller, folgende trefiende Bemerkung: „Wie es in christlichen Landen eine Katechismus-Moral giebt. die Jeder im Munde führt, Niemand zu befolgen sich verpflichtet hält, oder von anderen befolgt zu sehen erwartet, so hat auch die Zoologie ihre Dogmen, die man eben so allgemein bekennt, als in der Praxis verläugnet.“ („Für Darwin“, S. 711)'%. Ein solches vernunftwidriges, aber gerade darum mächtiges Dogma, und zwar das mächtigste von allen, war bis vor Kurzem das Linne’sche Species-Dogma. Obwohl die allermeisten Naturforscher demselben blindlines sich unter- warfen, waren sie doch natürlich niemals in der Lage, die Ab- stammung aller zu einer Art gehörigen Individuen von jener gemeinsamen, ursprünglich erschaffenen Stammform der Art nach- weisen zu können. Vielmehr bedienten sich sowohl die Zoologen als die Botaniker in ihrer systematischen Praxis ausschliesslich der Formähnlichkeit, um die verschiedenen Arten zu unter- scheiden und zu benennen. Sie stellten in eine Art oder Species alle organischen Einzelwesen, die einander in der Formbildung ‘sehr ähnlich oder fast gleich waren, und die sich nur durch sehr unbedeutende Formenunterschiede von einander trennen liessen. Dagegen betrachteten sie als verschiedene Arten diejenigen Indi- viduen, welche wesentlichere oder auffallendere Unterschiede in ihrer Körpergestaltung darboten. Natürlich war aber damit der grössten Willkür in der ‚systematischen Artunterscheidung Thür und Thor geöffnet. Denn da niemals alle Individuen einer Species in allen Stücken völlig gleich sind, vielmehr jede Art mehr oder weniger abändert (variirt), so. vermochte Niemand zu sagen, welcher Grad der Abänderung eine wirklich „gute Art“, welcher Grad. bloss eine Spielart oder Rasse (Varietät) bezeichne. Nothwendig musste diese dogmatische Auffassung des Species- 46 Cuviers Definition der Species. III. Begriffes und die damit verbundene Willkür zu den unlösbarsten Widersprüchen und zu den unhaltbarsten Annahmen führen. Dies zeigt sich deutlich schon bei demjenigen Naturforscher, welcher nächst Linne den grössten Einfluss auf die Ausbildung der Thierkunde gewann, bei dem berühmten George Cuvier (geb. 1769). Er schloss sich in seiner Auffassung und Bestim- mung des Species-Begrifis im Ganzen an Linne an, und theilte seine Vorstellung von einer unabhängigen Erschaffung der ein- zelnen Arten. Die Unveränderlichkeit derselben hielt Cuvier für so wichtig, dass er sich bis zu dem thörichten Ausspruche verstieg: „die Beständigkeit der Species ist eine nothwendige Bedingung für die Existenz der wissenschaftlichen Naturgeschichte.*“. Da Linne’s Definition der Species ihm nicht genügte, machte er den Versuch, eine genauere und für die systematische Praxis mehr verwerthbare Begrifis-Bestimmung derselben zu geben, und zwar in folgender Definition: „Zu einer Art gehören alle diejeni- gen Individuen der Thiere und der Pflanzen, welche entweder von einander oder von gemeinsamen Stammeltern bewiesener- massen abstammen, oder ‘welche diesen so ähnlich sind, als die letzteren unter sich.“ Cuvier dachte sich in dieser Beziehung ungefähr Folgendes: „Bei denjenigen organischen Individuen, von denen wir wissen, sie stammen von einer und derselben Elternform ab, bei denen also ihre gemeinsame Abstammung empirisch erwiesen ist, leidet es keinen Zweifel, dass sie zu einer Art gehören, mögen dieselben nun wenig oder viel von einander abweichen, mögen sie fast gleich oder sehr ungleich sein. Ebenso gehören dann aber zu dieser Art auch alle diejenigen Individuen, welche von den letz- teren (den aus gemeinsamem Stamm empirisch abgeleiteten) nicht mehr verschieden sind, als diese unter sich von einander ab- weichen.“ Bei näherer Betrachtung dieser Species-Definition Cuviers zeigt sich sofort, dass dieselbe weder theoretisch befrie- digend, noch practisch anwendbar ist. Cuvier fing mit dieser Definition bereits an, sich in dem Kreise herum zu drehen, in welchem tast alle folgenden Definitionen der Species im Sinne ihrer Unveränderlichkeit sich bewegt haben. i | | A IH. Cuvier als Begründer der vergleichenden Anatomie. 47 Bei der ausserordentlichen Bedeutung, welche George Cuvier für die organische Naturwissenschaft gewonnen hat, angesichts der fast unbeschränkten Alleinherrschaft, welche seine Ansichten während der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts in der Thierkunde ausübten, erscheint es an dieser Stelle angemessen, seinen Ein- fluss noch etwas näher zu beleuchten. ‘Es ist dies um so nöthiger, als wir in Cuvier den bedeutendsten (Gegner der Abstammungs- Lehre und der monistischen Natur-Aufiassung zu bekämpfen haben. Unter den vielen und grossen Verdiensten Cuviers stehen obenan diejenigen, welche er sich als Gründer der vergleichen- den Anatomie erwarb. Während Linne die Unterscheidung der Arten, Gattungen, Ordnungen und Classen meistens auf äussere Charaktere, auf einzelne, leicht auffindbare Merkmale in der Zahl, Grösse, Lage und Gestalt einzelner Körpertheile gründete, drang Cuvier viel tiefer in das Wesen der Organisation ein. Er wies grosse und durchgreifende Verschiedenheiten in dem inneren Bau der Thiere als die wesentliche Grundlage einer wissenschaftlichen Erkenntniss und Ülassification derselben nach. Er unterschied natürliche Familien in den Thierclassen und er gründete auf deren vergleichende Anatomie sein natürliches System des Thier- reichs. Der Fortschritt von dem künstlichen System Linne’s zu dem natürlichen System Cuviers war ausserordentlich bedeutend. Linne hatte sämmtliche Thiere in eine einzige Reihe geordnet, welche er in sechs Classen eintheilte, zwei wirbellose und vier Wirbelthierclassen. Er unterschied dieselben künstlich nach der Beschaffenheit des Blutes und des Herzens. Cuvier dagegen zeigte, dass man im Thierreich vier grosse natürliche Haupt- abtheilungen unterscheiden müsse, welche er Hauptformen, Ge- neralpläne oder Zweige des Thierreichs nannte. Diese Embranche- ments sind: 1) die Wirbelthiere (Vertebrata), 2) die Gliederthiere (Artieulata), 3) die Weichthiere (Mollusca) und 4) die Strahl- thiere (Radiata). Cuvier wies ferner nach, dass in jedem dieser vier Zweige ein eigenthümlicher Bauplan oder Typus erkennbar sei, welcher denselben von jedem der drei andern Zweige unter- scheidet. Bei den Wirbelthieren ist derselbe durch die Beschaffen- 48 Unterscheidung der vier Hauptformen oder Typen des Thierreichs. ]II. heit des inneren Skelets oder Knochen-Gerüstes, sowie durch den Bau und die Lage des Rückenmarks, abgesehen von vielen ande- ren Eigenthümlichkeiten, bestimmt ausgedrückt. Die Gliederthiere werden durch ihr Bauchmark und ihr Rückenherz charakterisirt. Für die Weichthiere ist die sackartige. ungegliederte Körperform bezeichnend. Die Strahlthiere endlich unterscheiden sich von den drei anderen Hauptformen durch die Zusammensetzung ihres Körpers aus vier oder mehreren, strahlenförmig vereinigten Haupt- abschnitten (Parameren). Man pflegt gewöhnlich die Unterscheidung dieser vier thie- rischen Hauptformen, welche ungemein fruchtbar für die weitere Entwickelung der Zoologie wurde, Cuvier allein zuzuschreiben. Indessen wurde derselbe Gedanke fast gleichzeitig, und unabhängig von Cuvier, von einem der grössten deutschen Naturforscher aus- gesprochen, von Baer. welcher um die Entwickelungs-Geschichte der Thiere sich die hervorragendsten Verdienste erwarb. Baer zeigte, dass man auch in der Entwickelungsweise der Thiere vier verschiedene Hauptformen oder Typen unterscheiden müsse’). Diese entsprechen den vier thierischen Bauplänen, welche Cuvier auf Grund der vergleichenden Anatomie unterschieden hatte. So z. B. stimmt die individuelle Entwickelung aller Wirbelthiere aus dem Ei in ihren Grundzügen von Anfang an so sehr überein, dass man die Keimanlagen oder Embryonen der verschiedenen Wirbel- thiere (z. B. der Reptilien, Vögel und Säugethiere) in der frühesten Zeit gar nicht unterscheiden kann. Erst im weiteren Verlaufe der Entwickelung treten allmählich die tieferen Formunterschiede auf, welche jene verschiedenen Classen und deren Ordnungen von einander trennen. Ebenso ist die Körperanlage, welche sich bei der individuellen Entwickelung der Gliederthiere (Insekten, Spinnen, Krebse) ausbildet, von Anfang an bei allen Gliederthieren im Wesentlichen gleich, dagegen verschieden von derjenigen aller Wirbelthiere. Dasselbe gilt mit gewissen Einschränkungen von den Weichthieren und von den Strahlthieren. Weder Baer, welcher auf dem Wege der individuellen Ent- wickelungs-Geschichte (oder Ontogenie), noch Cuvier, welcher auf dem Wege der vergleichenden Anatomie zur Unterscheidung Be a Pe ee rt Er ai BEL. Stammverwandtschaft aller Thiere eines Typus. 49 der vier thierischen Typen oder Hauptformen gelangte, erkannte ‚die wahre Ursache dieses typischen Unterschiedes. Diese wird uns nur durch die Abstammungs-Lehre enthüllt. Die wunderbare und wirklich überraschende Aehnlichkeit in der inneren Organi- sation, in den anatomischen Structur-Verhältnissen, und die noch merkwürdigere Uebereinstimmung in der individuellen Entwickelung bei allen Thieren, welche zu einem und demselben Typus, z. B. zu dem Zweige der Wirbelthiere gehören, erklärt sich in der ein- fachsten Weise durch die Annahme einer gemeinsamen Abstam- mung derselben von einer einzigen Stammform. Entschliesst man sich nicht zu dieser Annahme, so bleibt jene durchgreifende Ueber- einstimmung der verschiedensten Wirbelthiere im inneren Bau und in der Entwickelungsweise vollkommen unerklärlich. Sie kann nur durch die Vererbung erklärt werden. Nächst der vergleichenden Anatomie der Thiere und der durch diese neu begründeten systematischen Zoologie, war es besonders die Versteinerungskunde oder Paläontologie, um welche sich Cuvier die grössten Verdienste erwarb. Wir müssen dieser um so mehr gedenken, als gerade die paläontologischen und die damit verbundenen geologischen Ansichten Cuviers in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts sich fast allgemein im höchsten An- sehen erhielten, und der Entwickelung der natürlichen Schöpfungs- Geschichte die grössten Hindernisse entgegenstellten. Die Versteinerungen oder Petrefacten, deren wissen- schaftliche Kenntniss Cuvier im Anfange unseres Jahrhunderts in umfassendstem Masse förderte und für die Wirbelthiere ganz neu begründete, spielen in der „natürlichen Schöpfungs-Geschichte“ eine hervorragende Rolle. Denn diese in versteinertem Zustande uns erhaltenen Reste und Abdrücke von ausgestorbenen Thieren und Pflanzen sind die wahren „Denkmünzen der Schöpfung“, die untrüglichen und unanfechtbaren Urkunden, welche für eine wahrhaftige Geschichte der Organismen die unerschütterliche Grundlage bilden. Alle versteinerten oder fossilen Reste und Ab- drücke berichten uns von der Gestalt und dem Bau solcher Thiere und Pflanzen, welche entweder die Urahnen und die Voreltern der jetzt lebenden Organismen sind, oder aber ausgestorbene Seiten- Haeckel, Natürl. Schöpfungs-Gesch. 8. Aufl. 4 50 Frühere Ansichten von der Natur der Versteinerungen. II. linien, die sich von einem gemeinsamen Stamme mit den jetzt lebenden Organismen früher oder später abgezweigt haben. Diese unschätzbar werthvollen Urkunden der Schöpfungs-Ge- schichte haben sehr lange Zeit hindurch eine höchst untergeordnete Rolle in der Wissenschaft gespielt. Allerdings wurde die wahre Natur derselben schon mehr als ein halbes Jahrtausend vor Christus ganz richtig erkannt, und zwar von dem grossen griechischen Philosophen Xenophanes von Kolophon, demselben, welcher die sogenannte eleatische Philosophie begründete und zum ersten Male mit überzeugender Schärfe den Beweis führte, dass alle Vor- stellungen von persönlichen Göttern nur auf mehr oder weniger grobe Anthropomorphismen (Vermenschlichungen) hinauslaufen. Xenophanes stellte zum ersten Male die Behauptung auf, dass die fossilen Abdrücke von Thieren und Pflanzen wirkliche Reste von vormals lebenden Geschöpfen seien, und dass die Berge, in deren (restein man sie findet, früher unter Wasser gestanden haben müssten. Aber obschon auch andere grosse Philosophen des Alter- thums, und unter diesen namentlich Aristoteles, jene richtige Erkenntniss theilten, blieb dennoch während des rohen Mittelalters allgemein, und bei vielen Naturforschern selbst noch im vorigen Jahrhundert, die Ansicht herrschend, dass die Versteinerungen sogenannte Naturspiele seien (Lusus naturae), oder Producte einer unbekannten Bildungskraft der Natur, eines Gestaltungstriebes (Nisus formativus, Vis plastica). Ueber das Wesen und die Thätig- keit dieser räthselhaften und mystischen Bildungskraft machte man sich die abenteuerlichsten Vorstellungen. Einige glaubten, dass (diese bildende Schöpfungskraft, dieselbe, der sie auch die Ent- stehung der lebenden Thier- und Pflanzenarten zuschrieben, zahl- reiche Versuche gemacht habe, Organismen verschiedener Form zu schaffen; diese Versuche seien aber nur theilweise gelungen, häufig fehlgeschlagen, und solche missglückte Versuche seien die Versteinerungen. Nach Anderen sollten die Petrefacten durch den Einfluss der Sterne im Innern der Erde entstehen. Andere machten sich eine noch gröbere Vorstellung, dass nämlich der Schöpfer zunächst aus mineralischen Substanzen, z. B. aus Kalk oder Thon, vorläufige Modelle von denjenigen Pflanzen- und Thier- PEN. _ II. Frühere Ansichten von der Natur der Versteinerungen. 51 formen gemacht habe, die er später in organischer Substanz aus- führte, und denen er seinen lebendigen Odem einhauchte; die Petrefacten seien solche rohe, anorgische Modelle. Selbst noch im vorigen Jahrhundert waren solche rohe Ansichten verbreitet, und es wurde z. B. eine besondere „Samenluft“ (Aura seminalis) angenommen, welche mit dem Wasser in die Erde dringe und durch Befruchtung der Gesteine die Petrefacten, das „Steinfleisch“ (Caro fossilis) bilde. Sie sehen, es dauerte gewaltig lange, ehe die einfache und naturgemässe Vorstellung zur Geltung gelangte, dass die Verstei- nerungen wirklich nichts Anderes seien, als das, was schon der einfache Augenschein lehrt: die unverweslichen Ueberbleibsel von gestorbenen Organismen. Zwar wagte der berühmte Maler Leo- nardo da Vinci schon im fünfzehnten Jahrhundert zu behaupten, dass der aus dem Wasser beständig sich absetzende Schlamm die Ursache der Versteinerungen sei, indem er die auf dem Boden der Gewässer liegenden unverweslichen Kalkschalen der Muscheln und Schnecken umschliesse, und allmählich zu festem Gestein erhärte. Das Gleiche behauptete auch im sechzehnten Jahrhundert ein Pariser Töpfer, Palissy, welcher sich durch seine Porzellan- erfindung berühmt machte. Allein die sogenannten „Gelehrten von Fach“ waren weit entfernt, diese richtigen Aussprüche des einfachen gesunden Menschenverstandes zu würdigen, und erst gegen das Ende des vorigen Jahrhunderts, während der Begründung der neptunistischen Geologie durch Werner, gewannen dieselben allgemeine Geltung. Die Begründung der strengeren wissenschaftlichen Paläonto- logie fällt jedoch erst in den Anfang unseres Jahrhunderts, als Cuvier seine classischen Untersuchungen über die versteinerten Wirbelthiere, und sein grosser Gegner Lamarck seine bahn- brechenden Forschungen über die fossilen wirbellosen Thiere, namentlich die versteinerten Schnecken und Muscheln, veröffent- lichte. In seinem berühmten Werke „über die fossilen Knochen“ der Wirbelthiere, insbesondere der Säugethiere und Reptilien, ge- langte Cuvier bereits zur Erkenntniss einiger sehr wichtigen, allgemeinen, paläontologischen Gesetze, welche für die Schöpfungs- ls 52 Begründung der Paläontologie oder Versteinerungskunde, III. ud Geschichte grosse Bedeutung gewannen. Dahin gehört vor Allen der Satz, dass die ausgestorbenen Thierarten, deren Ueberbleibsel wir in den verschiedenen, über einander liegenden Schichten der Erdrinde versteinert vorfinden, sich um so auflallender von den jetzt noch lebenden verwandten Thierarten unterscheiden, je tiefer jene Erdschichten liegen, d. h. je früher die Thiere in der Vorzeit lebten. In der That finden wir bei jedem senkrechten Durch- schnitt der geschichteten Erdrinde, dass (die verschiedenen, aus dem Wasser in bestimmter historischer Reihenfolge abgesetzten Erdschiehten durch verschiedene Petrefacten charakterisirt sind; und wir finden ferner, dass diese ausgestorbenen Organismen den- jenigen der Gegenwart um so ähnlicher werden, je weiter wir in der Schichtenfolge aufwärts steigen, d. h. je jünger die Periode der Erdgeschichte war, in der sie lebten, starben, und von den ab- gelagerten und erhärtenden Schlammschichten umschlossen wurden. So wichtig diese allgemeine Wahrnehmung Cuviers einer- seits war, so wurde sie doch andrerseits für ihn die Quelle eines folgenschweren Irrthums. Denn indem er die charakteristischen Versteinerungen jeder einzelnen grösseren Schichtengruppe, welche während eines Hauptabschnittes der Erdgeschichte abgelagert wurde, für gänzlich verschieden von denen der darüber und der darunter liegenden Schichtengruppe hielt, glaubte er irrthümlich, dass nie- mals eine und dieselbe Thierart in zwei auf einander folgenden Schichtengruppen sich vorfinde. So gelangte er zu der falschen, für die meisten nachfolgenden Naturforscher massgebenden Vor- stellung, dass eine Reihe von ganz verschiedenen Schöpfungs- Perioden auf einander gefolgt sei. Jede Periode sollte ihre ganz besondere Thier- und Pflanzenwelt, eine ihr eigenthümliche, spe- cifische Fauna und Flora besessen haben. Cuvier stellte sich vor, dass die ganze Geschichte der Erde seit der Zeit, seit welcher überhaupt lebende Wesen auf der Erdrinde auftraten, in eine Anzahl vollkommen getrennter Perioden oder Hauptabschnitte zerfalle, und dass die einzelnen Perioden durch eigenthümliche Umwälzungen unbekannter Natur, sogenannte Revolutionen (Kata- klysmen oder Katastrophen) von einander geschieden seien. Jede Revolution hatte zunächst die gänzliche Vernichtung der damals ET a mm ur mn ’”) III. Cuviers Hypothese von den getrennten Perioden der Erdgeschichte. 53 lebenden Thier- und Pflanzenwelt zur Folge, und nach ihrer Been- dieung fand eine vollständig neue Schöpfung der organischen Formen statt. Eine neue Welt von Thieren und Pflanzen, durch-\ weg specifisch verschieden von denen der vorhergehenden Ge-/ schichts-Periode, wurde mit einem Male in das Leben gerufen. Diese bevölkerte nun wieder eine Reihe von Jahrtausenden hin- durch den Erdball, bis sie plötzlich durch den Eintritt einer neuen Revolution zu Grunde ging. Von dem Wesen und den Ursachen dieser Revolutionen sagte Cuvier ausdrücklich, dass man sich keine Vorstellung darüber machen könne, und dass die jetzt wirksamen Kräfte der Natur zu einer Erklärung derselben nicht ausreichten. Als natürliche Kräfte oder mechanische Agentien, welche in der Gegenwart be- ständig, obwohl langsam, an einer Umgestaltung der Erdoberfläche arbeiten, führt Cuvier vier wirkende Ursachen auf: erstens den Regen, welcher die steilen Gebirgsabhänge abspült und Schutt an deren Fuss anhäuft; zweitens die fliessenden Gewässer, welche diesen Schutt fortführen und als Schlamm im stehenden Wasser absetzen; drittens das Meer, dessen Brandung die steilen Küstenränder abnagt, und an flachen Küstensäumen Dünen auf- wirft; und endlich viertens die Vulkane, welche die Schichten der erhärteten Erdrinde durchbrechen und in die Höhe heben, und welche ihre Auswurfsproducte aufhäufen und umherstreuen. Während Cuvier die beständige langsame Umbildung der gegen- wärtigen Erdoberfläche durch diese vier mächtigen Ursachen an- erkennt, behauptet er gleichzeitig, dass dieselben nicht ausgereicht haben könnten, um die Erdrevolutionen der Vorzeit auszuführen, und dass man den anatomischen Bau der ganzen Erdrinde nicht durch die nothwendige Wirkung jener mechanischen Agentien erklären könne: vielmehr müssten jene wunderbaren, grosse Um- wälzungen der ganzen Erdoberfläche durch eigenthümliche, uns gänzlich unbekannte Ursachen bewirkt worden sein; der gewöhn- liche Entwickelungsfaden sei durch diese Revolutionen völlig zer- rissen, der Gang der Natur verändert. Diese Ansichten legte Cuvier in einem besonderen, auch ins Deutsche übersetzten Buche nieder: „Ueber die Revolutionen 54 Cuviers Hypothese von den Revolutionen der Erdoberfläche. IH. der Erdoberfläche, und die Veränderungen, welche sie im Thier- reich hervorgebracht haben“. Sie erhielten sich lange Zeit hin- durch in allgemeiner Geltung und wurden das grösste Hinderniss für die Entwickelung einer natürlichen Schöpfungs-Geschichte. Denn wenn wirklich solche, Alles vernichtende Katastrophen existirt hatten, so war natürlich eine Continuität der Arten-Ent- wickelung, ein zusammenhängender Faden der organischen Erd- Geschichte gar nicht anzunehmen, und man musste dann seine Zuflucht zu der Wirksamkeit übernatürlicher Kräfte, zum Eingriff von Wundern in den natürlichen Gang der Dinge nehmen. Nur durch Wunder konnten die Revolutionen der Erde herbeigeführt sein, und nur durch Wunder konnte nach deren Aufhören, am Anfange jeder neuen Periode, eine neue Thier- und Pflanzenwelt geschaffen sein. Für das Wunder hat aber die Naturwissenschaft nirgends einen Platz, sofern man unter Wunder einen Eingriff übernatürlicher Kräfte in den natürlichen Entwickelungsgang der Materie versteht. Die grosse Autorität, welche sich Linne durch die syste- matische Unterscheidung und Benennung der organischen Arten gewonnen, hatte bei seinen Nachfolgern zu einer völligen Verknöche- rung des dovmatischen Speciesbegrifis, und zu einem wahren Missbrauche der systematischen Artunterscheidung geführt; ebenso wurden die grossen Verdienste, welche sich Cuvier um Kennt- niss und Unterscheidung der ausgestorbenen Arten erworben hatte, die Ursache einer allgemeinen Annahme seiner Revolutions- oder Katastrophen-Lehre, und der damit verbundenen grundfalschen Schöpfungs-Ansichten. In Folge dessen hielten während der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts die meisten Zoologen und Botaniker an der Ansicht fest, dass eine Reihe unabhängiger Perioden der organischen Erdgeschichte existirt habe; jede Periode sei durch eine bestimmte, ihr ganz eigenthümliche Bevölkerung von Thier- und Pflanzenarten ausgezeichnet gewesen; diese sei am Ende der Periode durch eine allgemeine Revolution vernichtet, und nach dem Aufhören der letzteren wiederum eine neue, speeifisch ver- schiedene Thier- und Pflanzenwelt erschaffen worden. Zwar mach- ten schon frühzeitig einzelne selbstständig denkende Köpfe, vor II. Cuviers Hypothese von den Revolutionen der Erdoberfläche. 55 Allen der grosse Naturphilosoph Lamarck, eine Reihe von ge- wichtigen Gründen geltend, welche diese Katastrophen - Theorie Cuviers widerlegten, und welche vielmehr auf eine ganz zusam- menhängende und ununterbrochene Entwickelungs-Geschichte der gesammten organischen Erdbevölkerung aller Zeiten hinwiesen. Sie behaupteten, dass die Thier- und Pflanzenarten der einzelnen Perioden ‘von denen der nächst vorhergehenden Periode abstam- men und nur die veränderten Nachkommen der letzteren seien. Indessen der grossen Autorität Cuviers gegenüber vermochte da- mals diese richtige Ansicht noch nicht durchzudringen. Ja selbst nachdem durch Lyells 1830 erschienene, classische „Prineipien der Geologie“ die Katastrophen-Lehre Cuviers aus dem Gebiete der Geologie gänzlich verdrängt worden war, blieb seine Ansicht von der specifischen Verschiedenheit der verschiedenen organi- schen Schöpfungen trotzdem auf dem Gebiete der Paläontologie noch vielfach in Geltung. Durch einen seltsamen Zufall geschah es vor dreissig Jahren, dass fast zu derselben Zeit, als Cuviers Schöpfungs-Geschichte durch Darwins Werk ihren Todesstoss erhielt, ein anderer be- rühmter Naturforscher den Versuch unternahm, dieselbe von Neuem zu begründen, und in schrofister Form als Theil eines teleologisch-theologischen Natursystems durchzuführen. Der Schwei- zer Geologe Louis Agassiz nämlich, welcher durch seine von Schimper und Charpentier entlehnten Gletscher- und Eiszeit- Theorien einen hohen Ruf erlangt hat, und welcher eine Reihe von Jahren in Nordamerika lebte (gestorben 1873), begann 1858 die Veröffentlichung eines grossartig angelegten Werkes, welches den Titel führt: „Beiträge zur Naturgeschichte der vereinigten Staaten von Nordamerika“. Der erste Band dieser Naturge- schichte, welche durch den Patriotismus der Nordamerikaner eine für ein so grosses und kostspieliges Werk unerhörte Verbreitung erhielt, führt den Titel: „Ein Versuch über Classification“ Agassiz erläutert in diesem Versuche nicht allein das natürliche System der Organismen und die verschiedenen darauf abzielen- den Classifications-Versuche der Naturforscher, sondern auch alle allgemeinen biologischen Verhältnisse, welche darauf Bezug haben. 56 Teleologisches Natursystem von Agassiz. III. Die Entwickelung der Organismen, und zwar sowohl die embryo- logische als die paläontologische, die Thatsachen der verglei- chenden Anatomie, sodann die allgemeine Oeconomie der Natur, die geographische und topographische Verbreitung der Thiere und Pflanzen, kurz fast alle allgemeinen Erscheinungsreihen der orga- nischen Natur, kommen in dem Classifications- Versuche von Agassiz zur Besprechung; sie werden sämmtlich in einem Sinne und von einem Standpunkte aus erläutert, welcher demjenigen Darwins auf das Schrofiste gegenübersteht. Das Hauptverdienst Darwins besteht darin, natürliche Ursachen für die Entstehung der Thier- und Pflanzenarten nach- zuweisen, und somit die mechanische oder monistische Weltan- schauung auch auf diesem schwierigsten Gebiete der Schöpfungs- Geschichte geltend zu machen. Agassiz hingegen ist überall bestrebt, jeden mechanischen Vorgang aus diesem ganzen Gebiete völlig auszuschliessen und überall den übernatürlichen Ein- griff eines persönlichen Schöpfers an die Stelle der natürlichen Kräfte der Materie zu setzen, mithin eine entschieden teleologische oder dualistische Weltanschauung zur Geltung zu bringen. Schon aus diesem Grunde ist es gewiss angemessen, wenn ich hier auf die biologischen Ansichten von Agassiz, und insbesondere auf seine Schöpfungs-Vorstellungen, etwas näher eingehe. Dies lohnt sich um so mehr, als kein anderes Werk unserer Geg- ner jene wichtigen allgemeinen Grundfragen mit gleicher Aus- führlichkeit behandelt, und als zugleich die völlige Unhaltbar- keit ihrer dualistischen Weltanschauung sich daraus auf das Klarste ergiebt. Die organische Art oder Species, deren verschiedenartige Auffassung wir oben als den eigentlichen -Angelpunkt der entge- gengesetzten Schöpfungs-Ansichten bezeichnet haben, wird von Agassiz, ebenso wie von Cuvier und Linne, als eine in allen wesentlichen Merkmalen unveränderliche Gestalt angesehen; zwar können die Arten innerhalb enger Grenzen abändern oder vari- ivren, aber nur in unwesentlichen, niemals in wesentlichen Eigen- thümlichkeiten. Niemals können aus den Abänderungen oder Varietäten einer Art wirklich neue Species hervorgehen. Keine BEL, Agassiz’ Ansichten von der Art oder Species. 517 von allen organischen Arten stammt also jemals von einer an- deren ab, vielmehr ist jede einzelne für sich von Gott geschaf- fen worden. Jede einzelne Thierart ist, wie sich Agassiz aus- drückt, ein verkörperter Schöpfungs-Gedanke Gottes. Durch die paläontologischen Erfahrungen wissen wir, dass die Zeitdauer der einzelnen organischen Arten eine höchst un- gleiche ist, und dass viele Species unverändert durch mehrere aufeinander folgende Perioden der Erdgeschichte hindurchgehen, während Andere nur einen kleinen Bruchtheil einer solchen Pe- riode durchlebten. In schroffem Gegensatze zu dieser Thatsache behauptet Agassiz, dass niemals eine und dieselbe Species in zwei verschiedene Perioden vorkomme, dass vielmehr jede ein- zelne Periode durch eine ganz eigenthümliche, ihr ausschliesslich angehörige Bevölkerung von Thier- und. Pflanzenarten charakteri- sirt sei. Er theilt ferner Cuviers Ansicht, dass durch die grossen ‚und allgemeinen Revolutionen der Erdoberfläche, am Ende einer jeden Periode, deren ganze Bevölkerung vernichtet, und nach deren Untergang eine neue, davon specifisch verschiedene geschaf- fen wurde. Diese Neuschöpfung lässt Agassiz in der Weise geschehen, dass jedesmal die gesammte Erdbevölkerung in ihrer durehschnittlichen Individuenzahl und in den der Oeconomie der Natur entsprechenden Wechselbeziehungen der einzelnen Arten vom Schöpfer als Ganzes plötzlich in die Welt gesetzt worden sei. Hiermit tritt er einem der bestbegründeten und wichtigsten Gesetze der Thier- und Pflanzengeographie entgegen, dem (Gesetze nämlich, dass jede Species einen einzigen ursprünglichen Ent- stehungsort oder einen sogenannten Schöpfungs-Mittelpunkt besitzt, von dem aus sie sich über ihren Bezirk allmählich verbreitet hat. Statt dessen lässt Agassiz jede Species an verschiedenen Stellen der Erdoberfläche und sogleich in einer grösseren Anzahl von In- dividuen geschaffen werden. Das natürliche System der Organismen, dessen ver- schiedene über einander geordnete Gruppenstufen oder Kategorien, die Zweige, Classen, Ordnungen, Familien, Gattungen und Arten, wir der Abstammungs-Lehre gemäss als verschiedene Aeste und Zweige des gemeinschaftlichen organischen Stammbaumes 58 Agassiz’ Ansichten vom natürlichen Systeme der Organismen. III. betrachten, ist nach Agassiz der unmittelbare Ausdruck des göttlichen Schöpfungsplanes; indem der Naturforscher das natür- liche System erforscht, denkt er die Schöpfungs-Gedanken Gottes nach. Hierin findet Agassiz den kräftigsten Beweis dafür, dass der Mensch das Ebenbild und Kind Gottes ist. Die verschiedenen Gruppenstufen oder Kategorien des natürlichen Systems ent- sprechen den verschiedenen Stufen der Ausbildung, welche der göttliche Schöpfungsplan erlangt hatte. Beim Entwurf und bei der Ausführung dieses Planes vertiefte sich der Schöpfer, von allgemeinsten Schöpfungsideen ausgehend, immer mehr in die besonderen Einzelheiten. Was also z. B. das Thierreich betrifft, so hatte Gott bei dessen Schöpfung zunächst vier grundverschie- dene Ideen vom Thierkörper, welche er in dem verschiedenen Bauplane der vier grossen Hauptformen, Typen oder Zweige des Thierreichs verkörperte, in den Wirbelthieren, Gliederthieren, Weichthieren und Strahlthieren. Indem nun der Schöpfer dar- über nachdachte, in welcher Art und Weise er diese vier ver- schiedenen Baupläne mannichfaltig ausführen könne, schuf er zunächst innerhalb jeder der vier Hauptformen mehrere verschie- dene Classen, z. B. in der Wirbelthierform die Classen der Säuge- thiere, Vögel, Reptilien, Amphibien und Fische. Weiterhin ver- tiefte sich dann Gott in die einzelnen Classen und brachte durch verschiedene Abstufungen im Bau jeder Classe deren einzelne Ordnungen hervor. Durch weitere Variation der Ordnungsform erschuf er die natürlichen Familien. Indem der Schöpfer ferner in jeder Familie die letzten Structur-Eigenthümliehkeiten einzelner Theile variirte, entstanden die Gattungen oder Genera. Endlich zuletzt ging Gott im weiteren Ausdenken seines Schöpfungsplanes so sehr ins Einzelne, dass die einzelnen Arten oder Species ins Leben traten. Diese sind also die verkörperten Schöpfungs- Gedanken der speciellsten Art. Zu bedauern ist dabei nur, dass der Schöpfer diese seine speciellsten und am tiefsten durch- gedachten „Schöpfungs-Gedanken“ in so sehr unklarer und lockerer Form ausdrückte und ihnen einen so verschwommenen Stempel aufprägte, eine so freie Variations-Erlaubniss mitgab, dass kein einziger Naturforscher im Stande ist, die „guten“ von den RE, “ II. Agassiz’ Ansichten vom Schöpfungsplane. 59 „schlechten Arten“, die echten „Species“ von den Spielarten, Varietäten, Rassen u. s. w. scharf zu unterscheiden. Sie sehen, der Schöpfer verfährt nach Agassiz’ Vorstellung beim Hervorbringen der organischen Formen genau ebenso wie ein menschlicher Baukünstler, der sich die Aufgabe gestellt hat, möglichst viel verschiedene Bauwerke, zu möglichst mannich- faltigen Zwecken, in möglichst abweichendem Style, in möglichst verschiedenen Graden der Einfachheit, Pracht, Grösse und Voll- kommenheit auszudenken und auszuführen. Dieser Architekt würde zunächst vielleicht für alle diese Gebäude vier verschiedene Style anwenden, etwa den gothischen, byzantinischen, maurischen und chinesischen Styl. In jedem dieser Style würde er einc Anzahl von Kirchen, Palästen, Kasernen, Gefängnissen und Wohn- häusern bauen. Jede dieser verschiedenen Gebäudeformen würde er in roheren und vollkommneren, in grösseren und kleineren, in einfachen und prächtigen Arten ausführen u.s. w. Jedoch wäre der menschliche Architekt vielleicht noch besser als der göttliche Schöpfer gestellt, insofern ihm in der Anzahl der Grup- penstufen alle Freiheit gelassen wäre. Der Schöpfer dagegen darf sich nach Agassiz immer nur innerhalb der genannten sechs Gruppenstufen oder Kategorien bewegen, innerhalb der Art, Gat- tung, Familie, Ordnung, Classe und Typus. Mehr als diese sechs Kategorien giebt es für ihn nicht. Wenn Sie in Agassiz’ Werk über die Ölassification selbst die weitere Ausführung und Begründung dieser seltsamen An- sichten lesen, so werden Sie kaum begreifen, wie man mit allem Anschein wissenschaftlichen Ernstes die Vermenschlichung (den Anthropomorphismus) des göttlichen Schöpfers so weit treiben, und eben durch die Ausführung im Einzeinen bis zum verkehr- testen Unsinn ausmalen kann. In dieser ganzen Vorstellungsreihe ist der Schöpfer weiter nichts als ein allmächtiger Mensch, der, von Langeweile geplagt, sich mit dem Ausdenken und Aufbauen möglichst mannichfaltiger Spielzeuge, der organischen Arten, be- lustig. Nachdem er sich mit denselben eine Reihe von Jahr- tausenden hindurch unterhalten, wird er ihrer überdrüssig; er vernichtet sie durch eine allgemeine Revolution der Erdoberfläche, 60 Agassiz’ Ansichten vom Schöpfer und von der Schöpfung. IH. indem er das ganze unnütze Spielzeug in Haufen zusammenwirft; dann ruft er, um sich mit etwas Neuem und Besserem die Zeit zu vertreiben, eine neue und vollkommnere Thier- und Pflanzen- welt ins Leben. Um jedoch nicht die Mühe der ganzen Schöpfungs- Arbeit von vorn anzufangen, behält er immer den einmal aus- gedachten Schöpfungsplan im Grossen und Ganzen bei, und schafft nur Jauter neue Arten, oder höchstens neue Gattungen, viel seltener neue Familien, Ordnungen oder gar Classen. Zu einem neuen Typus oder Style bringt er es nie. Dabei bleibt er immer streng innerhalb jener sechs Kategorien oder Gruppenstufen. Nachdem der Schöpfer so nach Agassiz’ Ansicht Millionen von Jahrtausenden hindurch sich mit dem Aufbauen und Zer- stören einer Reihe: verschiedener Schöpfungen unterhalten hatte, kömmt er endlich zuletzt — obwohl sehr spät! — auf den guten (redanken, sich seinesgleichen zu erschaffen, und er formt den Menschen nach seinem Ebenbilde! Hiermit ist das Endziel aller Schöpfungs-Geschichte erreicht und die Reihe der Erdrevolutionen abgeschlossen. Der Mensch, das Kind und Ebenbild Gottes, giebt demselben so viel zu thun, macht ihm so viel Vergnügen und Mühe, dass er nun niemals mehr Langeweile hat, und keine neue Schöpfung mehr eintreten zu lassen braucht. Wenn man einmal in der Weise, wie Agassiz, dem Schöpfer durchaus menschliche Attribute und Eigenschaften beilegt, und sein Schöpfungswerk durchaus analog einer menschlichen Schöpfungs- Thätigkeit be- trachtet, so ist man nothwendig auch zur Annahme dieser ganz absurden Consequenzen gezwungen. Die vielen inneren Widersprüche und die auflallenden Ver- kehrtheiten der Schöpfungs- Ansichten von Agassiz, welche ihn nothwendig zu dem entschiedensten Widerstand gegen die Ab- stammungs-Lehre führten, müssen um so mehr unser Erstaunen erregen, als derselbe durch seine früheren naturwissenschaftlichen Arbeiten in vieler Beziehung thatsächlich Darwin vorgearbeitet hat, insbesondere durch seine Thätigkeit auf dem paläontologischen Gebiete. Unter den zahlreichen Untersuchungen, welche der jungen Paläontologie schnell die allgemeine Theilnahme erwarben, schliessen sich diejenigen von Agassiz, namentlich das berühmte BP LAN en en ia; u a, u SE BEE HT. Paläontologische Entwickelungs-Geschichte von Agassiz. 61 Werk „über die fossilen Fische“, zunächst ebenbürtig an die grundlegenden Arbeiten von Cuvier an. Nicht allein haben die versteinerten Fische, mit denen uns Agassiz bekannt machte, eine ausserordentlich hohe Bedeutung für das Verständniss der ganzen Wirbelthier-Gruppe und ihrer geschichtlichen Entwicke- lung gewonnen; sondern wir sind dadurch auch zur sicheren Erkenntniss wichtiger allgemeiner Entwickelungs-Gesetze gelangt. Insbesondere hat Agassız mit besonderem Nachdruck auf den merkwürdigen Parallelismus zwischen der embryonalen und der paläontologischen Entwickelung, zwischen der Öntogonie und Phylogenie hingewiesen. Diese bedeutungsvolle Uebereinstimmung, welche bereits die ältere Naturphilosophie erkannte, habe ich schon vorhin (S. 10) als eine der stärksten Stützen für die Ab- stammungs-Lehre in Anspruch genommen. Niemand hatte vorher so bestimmt, wie es Agassiz that, hervorgehoben, dass von den Wirbelthieren zuerst nur Fische allein existirt haben, dass erst später Amphibien auftraten, und dass erst in noch viel späterer Zeit Vögel und Säugethiere erschienen; dass ferner von den Säugethieren, ebenso wie von den Fischen, anfangs unvollkomm- nere, niedere Ordnungen, später erst vollkommnere und höhere auftraten. Agassiz zeigte mithin, dass die paläontologische Entwickelung der ganzen Wirbelthier-Gruppe nicht allein der embryonalen parallel sei, sondern auch der systematischen Ent- wickelung, d. h. der Stufenleiter, welche wir überall im System von den niederen zu den höheren Classen, Ordnungen u. s. w. aufsteigend erblicken. Zuerst erschienen in der Erdgeschichte nur niedere, später erst höhere Formen. Diese wichtige That- sache erklärt sich, ebenso wie die Uebereinstimmung der embryo- nalen und paläontologischen Entwickelung, ganz einfach und natürlich aus der Abstammungs-Lehre, während sie ohne diese ganz unerklärlich ist. Dasselbe gilt ferner von dem grossen Gesetze der fort- schreitenden Entwickelung, von dem historischen Fortschritt der Organisation, welcher sowohl im Grossen und Ganzen in der geschichtlichen Aufeinanderfolge aller Organismen sichtbar ist, als in der besonderen Vervollkommnung einzelner Theile des 62 Paläontologische Entwickelungs-Gesetze von Agassiz. IH. Thierkörpers. So z. B. erhielt das Skelet der Wirbelthiere, ihr Knochengerüst, erst langsam, allmählich und stufenweis den hohen Grad von Vollkommenheit, welchen es jetzt beim Menschen und den anderen höheren Wirbethieren besitzt. Dieser von Agassiz thatsächlich anerkannte Fortschritt folgt aber mit Nothwendigkeit aus der von Darwin begründeten Züchtungs-Lehre, welche die wirkenden Ursachen desselben nachweist. Wenn diese Lehre richtig ist, so muss nothwendig die Vollkommenheit und Mannich- faltigkeit der Thier- und Pflanzenarten im Laufe der organischen Erdgeschichte stufenweise zunehmen, und konnte erst in neuester Zeit ihre höchste Ausbildung erlangen. Alle so eben angeführten, und noch einige andere allgemeine Entwickelungs-Gesetze, welche von Agassiz ausdrücklich an- erkannt und mit Recht stark betont werden, sogar von ihm selbst zum Theil erst aufgestellt wurden, sind, wie Sie später sehen werden, nur durch die Abstammungs-Lehre erklärbar; sie bleiben ohne dieselbe völlig unbegreiflich. Nur die von Darwin ent- wickelte Wechselwirkung der Vererbung und Anpassung kann die wahre Ursache derselben sein. Dagegen stehen sie alle in schroffem und unvereinbarem Gegensatz mit der vorher bespro- chenen Schöpfungs-Hypothese von Agassiz, und mit allen Vor- stellungen von der zweckmässigen Werkthätigkeit eines persön- lichen Schöpfers. Will man im Ernst durch die letztere jene merkwürdigen Erscheinungen und ihren inneren Zusammenhang erklären, so verirrt man sich nothwendig zu der Annahme, dass auch der Schöpfer selbst sich mit der organischen Natur, die er schuf und umbildete, entwickelt habe. Man kann sich dann nicht mehr von der Vorstellung los machen, dass der Schöpfer selbst nach Art des menschlichen Organismus seine Pläne entworfen, verbessert und endlich unter vielen Abänderungen ausgeführt habe. „Es wächst der Mensch mit seinen höher'n Zwecken.“ Wenn es nach der Ehrfurcht, mit der Agassiz auf jeder Seite vom Schöpfer spricht, scheinen könnte, dass wir dadurch zur erhabensten Vorstellung von seinem Wirken in der Natur gelan- gen, so findet in Wahrheit das Gregentheil statt. Der göttliche Schöpfer wird dadurch zu einem idealisirten Menschen erniedrigt, A TE ne > iu 2 1 Ari er tt A Ir, Anthropomorphismus von Agassiz' Schöpfungs-Geschichte. 63 zu einem in der Entwickelung fortschreitenden Organismus. Gott ist im Grunde nach dieser niedrigen Vorstellung weiter Nichts, als ein „gasförmiges Wirbelthier“. Bei der weiten Verbreitung und dem hohen Ansehen, welches sich Agassiz’ Werk erworben hat, und welches in Anbetracht der früheren wissenschaftlichen Verdienste des Verfassers wohl gerechtfertigt ist, glaubte ich es Ihnen schuldig zu sein, die gänzliche Unhaltbarkeit seiner allgemeinen Ansichten hier kurz hervorzuheben. Sofern dies Werk eine naturwissenschaftliche Schöpfungs-Geschichte sein will, ist dasselbe unzweifelhaft gänzlich verfehlt. Es hat aber hohen Werth, als der einzige ausführliche und mit wissenschaftlichen Beweisgründen geschmückte Versuch, den in neuerer Zeit ein hervorragender Naturforscher zur Be- gründung einer teleologischen oder dualistischen Schöpfungs- Ge- schichte unternommen hat. Die innere Unmöglichkeit einer solchen wird dadurch klar vor Jedermanns Augen gelegt. Kein (regner von Agassiz hätte vermocht, die von ihm entwickelte dualistische Anschauung von der organischen Natur und ihrer Entstehung so schlagend zu widerlegen, als dies ihm selbst durch die überall hervortretenden inneren Widersprüche gelungen ist. Die Gegner der monistischen oder mechanischen Weltan- schauung haben das Werk von Agassiz mit Freuden begrüsst und erblicken darin eine vollendete Beweisführung für die un- mittelbare Schöpfungs-Thätigkeit eines persönlichen Gottes. Allein sie übersehen dabei, dass dieser persönliche Schöpfer bloss ein mit menschlichen Attributen ausgerüsteter, idealisirter Organismus ist. Diese niedere dualistische Gottesvorstellung entspricht einer niederen thierischen Entwickelungs-Stufe des menschlichen Orga- nismus. Der höher entwickelte Mensch der Gegenwart ist be- fähigt und berechtigt zu jener unendlich edleren und erhabeneren Gottesvorstellung, welche allein mit der monistischen Weltanschau- ung verträglich ist, und welche Gottes Geist und Kraft in allen Erscheinungen ohne Ausnahme erblickt. Diese monistische Gottes- idee, welcher die Zukunft gehört, hat schon Giordano Bruno einst mit den Worten ausgesprochen: „Ein Geist findet sich in allen Dingen, und es ist kein Körper so klein, dass er nicht 64 Dualistische und monistische Gottesvorstellung. IIE% einen Theil der göttlichen Substanz in sich enthielte, wodurch er beseelt wird.“ Diese veredelte (Gottesidee liegt derjenigen Religion zu Grunde, in deren Sinne die edelsten Geister des Alterthums wie der Neuzeit gedacht und gelebt haben, dem Pantheismus;z und sie ist es, von welcher Goethe sagt: „Gewiss es giebt keine schönere Gottes- Verehrung, als diejenige, welche kein Bild bedarf, welche aus dem Wechselgespräch mit der Natur in unserem Busen entspringt.“ Durch sie gelangen wir zu der erhabenen pantheistischen Vorstellung von der Einheit Gottes und der Natur. Vierter Vortrag. Entwickelungs-Theorie nach Goethe und Oken. Wissenschaftliche Unzulänglichkeit aller Vorstellungen von einer Schöpfung der einzelnen Arten. Nothwendigkeit der entgegengesetzten Entwickelungs- Theorien. Geschichtlicher Ueberblick über die wichtigsten Entwickelungs- Theorien. Griechische Philosophie. Die Bedeutung der Natur-Philosophie. Goethe. Seine Verdienste als Naturforscher. Seine Metamorphose der Pflanzen. Seine Wirbel-Theorie des Schädels. Seine Entdeckung des Zwischenkiefers beim Menschen. Goethe’s Theilnahme an dem Streite zwischen Cuvier und Geoffroy S. Hilaire. Goethe’s Entdeckung der beiden organischen Bildungs- triebe, des conservativen Specificationstriebes (der Vererbung) und des pro- gressiven Umbildungstriebes (der Anpassung). Goethe’s Ansicht von der gemeinsamen Abstammung aller Wirbelthiere mit Inbegriff des Menschen. Entwickelungs-Theorie von Gottfried Reinhold Treviranus. Seine monistische Natur-Auffassung. Oken. Seine Natur-Philosophie. Okens Vorstellung vom Urschleim (Protoplasma-Theorie) und von den Infusorien (Zellen-Theorie). Meine Herren! Alle verschiedenen Vorstellungen, welche wir uns über eine selbstständige, von einander unabhängige Entste- hung der einzelnen organischen Arten durch Schöpfung machen können, laufen, folgerichtig durchdacht, auf einen sogenannten Anthropomorphismus hinaus; sie müssen nothwendig zu einer Vermenschlichung des Schöpfers führen, wie wir in dem letzten Vortrage bereits gezeigt haben. Es wird da der Schöpfer selbst zu einem Organismus, der sich einen Plan entwirft, diesen Plan durchdenkt und verändert, und schliesslich die Geschöpfe nach diesem Plane ausführt, wie ein menschlicher Architekt sein Bau- werk. Wenn selbst so hervorragende Naturforscher wie Linne, Cuvier und Agassiz, die Hauptvertreter der dualistischen Schöpfungs-Hypothese, zu keiner genügenderen Ansicht gelangen Haeckel, Natürl. Schöpfungs-Gesch. 8. Aufl, D 66 Wissenschaftliche Unzulänglichkeit aller Schöpfungsvorstellungen. ]V, konnten, so wird daraus am besten die Unzulänglichkeit aller derjenigen Vorstellungen hervorgehen, welche die Mannichfaltig- keit der organischen Natur aus einer solchen Schöpfung der ein- zelnen Arten ableiten wollen. Zwar haben einige Naturforscher, welche das wissenschaftlich Unbefriedigende dieser Vorstellungen einsahen, versucht, den Begriff des persönlichen Schöpfers durch denjenigen einer unbewusst wirkenden schöpferischen Naturkraft zu ersetzen; indessen ist dieser Ausdruck oflenbar eine blosse umschreibende Redensart, sobald nicht näher gezeigt wird, worin diese Naturkraft besteht, und wie sie wirkt. Daher haben auch diese letzteren Versuche durchaus keine Geltung in der Wissen- schaft errungen. Vielmehr hat man sich genöthigt gesehen, so- bald man eine selbstständige Entstehung der verschiedenen Thier- und Pflanzen-Formen annahm, immer auf ebenso viele Schöpfungs- acte zurückzugreifen, d. h. auf Wunder, auf übernatürliche Ein- griffe des Schöpfers in den natürlichen Gang der Dinge, der im übrigen ohne seine Mitwirkung abläuft. Nun haben allerdings verschiedene teleologische Naturforscher, welche die wissenschaftliche Unzulässigkeit einer übernatürlichen „Schöpfung“ fühlten, die letztere noch dadurch zu retten ge- sucht, dass sie unter Schöpfung „Nichts weiter als eine uns un- bekannte, unfassbare Weise der Entstehung“ verstanden wissen wollten. Dieser sophistischen Ausflucht schneidet der treffliche Fritz Müller mit folgender schlagenden Gegenbemerkung jeden Rettungspfad ab: „Es soll dadurch nur in verblüniter Weise das verschämte Geständniss ausgesprochen werden, dass man über die Entstehung der Arten „gar keine Meinung habe“ und haben wolle. Nach dieser Erklärung des Wortes würde man ebensowohl von der Schöpfung der Cholera und der Syphilis, von der Schöpfung einer Feuersbrunst und eines Eisenbahnunglücks, wie von der Schöpfung des Menschen reden können.“ (Jenaische Zeitschrift f. M. u. N. V.B. $. 272.) Gegenüber nun dieser vollständigen wissenschaftlichen Unzu- lässigkeit aller Schöpfungs-Hypothesen sind wir gezwungen, zu den entgegengesetzten Entwickelungs-Theorien unsere Zu- flucht zu nelımen, wenn wir uns überhaupt eine vernünftige Vor- IV. Wissenschaftliche Unentbehrlichkeit der Entwickelungs-Theorien. 67 stellung von der Entstehung der Organismen machen wollen. Wir sind gezwungen und verpflichtet dazu, selbst wenn diese Ent- wickelungs-Lehren nur einen Schimmer von Wahrscheinlichkeit auf eine mechanische, natürliche Entstehung der Thier- und Pflanzen- Arten fallen lassen; um so mehr aber, wenn dieselben, wie Sie sehen werden, eben so einfach und klar, als vollständig und um- fassend die gesammten Thatsachen erklären. Diese Entwickelungs- Theorien sind keineswegs, wie noch oft fälschlich angegeben wird, willkürliche Einfälle, oder beliebige Erzeugnisse der Einbildungs- kraft, welche nur die Entstehung dieses oder jenes einzelnen Or- ganismus annähernd zu erklären versuchen; sondern sie sind streng wissenschaftlich begründete Theorien, welche von einem festen und klaren Standpunkte aus die Gesammtheit der orga- nischen Natur-Erscheinungen, und insbesondere die Entstehung der organischen Species auf das Einfachste erklären, und als die notlı- wendigen Folgen mechanischer Natur-Vorgänge nachweisen. Wie ich bereits im zweiten Vortrage Ihnen zeigte, fallen diese Entwickelungs-Theorien naturgemäss mit derjenigen allgemeinen Weltanschauung zusammen, welche man gewöhnlich als die ein- heitliche oder monistische, häufig auch als die mechanische oder causale zu bezeichnen pflegt, weil sie nur mechanische oder nothwendig wirkende Ursachen (causae eflicientes) zur Er- klärung der Natur-Erscheinungen in Anspruch nimmt. Ebenso fallen auf der anderen Seite die von uns bereits betrachteten übernatürlichen Schöpfungs-Hypothesen mit derjenigen, völlig ent- gegengesetzten Weltauffassung zusammen, welche man im Gegen- satz zur ersteren die zwiespältige oder dualistische, oft auch die teleologische oder vitale nennt, weil sie die organischen Natur-Erscheinungen aus der Wirksamkeit zweckthätiger oder zweckmässig wirkender Ursachen (causae finales) ableitet. Gerade in diesem tiefen inneren Zusammenhang der verschiedenen Schöpfungs-Theorien mit den höchsten Fragen der Philosophie liegt für uns die Anreizung zu ihrer eingehenden Betrachtung. Der Grundgedanke aller natürlichen Entwickelungs-Theorien ist die allmähliche Entwickelung aller (auch der voll- kommensten) Organismen aus einem einzigen oder aus sehr .% {9} 68 Grundgedanken der Entwickelungs-Theorien. IV. wenigen, ganz einfachen und ganz unvollkommenen Urwesen, welche nicht durch übernatürliche Schöpfung, sondern durch Ur- zeugung oder Archigonie (Generatio spontanea) aus anorgischer Materie entstanden. Eigentlich sind in diesem Grundgedanken zwei verschiedene Vorstellungen verbunden, welche aber in tiefem inneren Zusammenhang stehen, nämlich erstens die Vorstellung der Urzeugung oder Archigonie der ursprünglichen Stammwesen, und zweitens die Vorstellung der fortschreitenden Entwickelung der verschiedenen Organismen-Arten aus jenen einfachsten Stamm- wesen. Diese beiden wichtigen. mechanischen Vorstellungen sind die unzertrennlichen Grundgedanken jeder streng wissenschaftlich durchgeführten Entwickelungs- Theorie. Weil dieselbe eine Ab- stammung der verschiedenen Thier- und Pflanzen-Arten von ein- fachsten gemeinsamen Stammarten behauptet, konnten wir sie auch als Abstammungs-Lehre (Descendenz-Theorie), und weil damit zugleich eine Umbildung der Arten verbunden ist, als Umbildungs-Lehre (Transmutations-Theorie) oder Transformis- mus bezeichnen. Während übernatürliche Schöpfungs-Geschichten schon vor vielen Jahrtausenden, in jener unvordenklichen Urzeit entstanden sein müssen, als der Mensch, eben erst aus dem Affenzustande sich entwickelnd, zum ersten Male anfing, eingehender über sich selbst und über die Entstehung der ihn umgebenden Körperwelt nachzudenken, so sind dagegen die natürlichen Entwickelungs- Theorien nothwendig viel jüngeren Ursprungs. Wir können diesen erst bei gereifteren Cultur-Völkern begegnen, denen durch philo- sophische Bildung die Nothwendigkeit einer natürlichen Ursachen- Erkenntniss klar geworden war; und auch bei diesen dürfen wir zunächst nur von einzelnen bevorzugten Naturen erwarten, dass sie den Ursprung der Erscheinungswelt eben so wie deren Ent- - wickelungsgang, als die nothwendige Folge von mechanischen, natürlich wirkenden Ursachen erkannten. Bei keinem Volke waren diese Vorbedingungen für die Entstehung einer natürlichen Entwickelungs-Theorie jemals so vorhanden, wie bei den Griechen des classischen Alterthums. Diesen fehlte aber auf der anderen Seite zu sehr die nähere Bekanntschaft mit den Thatsachen der IV. Entwickelungs-Theorie des Aristoteles. 69 Natur-Vorgänge und ihren Formen, und somit die erfahrungs- mässige Grundlage für eine weitere Durchbildung der Entwicke- lungs-Lehre. Die exacte Natur-Forschung und die überall auf empirischer Basis begründete Natur-Erkenntniss war ja dem Alter- thum ebenso wie dem Mittelalter fast ganz unbekannt und ist erst eine Errungenschaft der neueren Zeit. Wir haben daher auch hier keine nähere Veranlassung, auf die natürlichen Ent- wickelungs-Theorien der verschiedenen griechischen Weltweisen einzugehen, da denselben zu sehr die erfahrungsmässige Kennt- niss sowohl von der organischen als von der anorgischen Natur abging. Nur das wollen wir hier hervorheben, dass schon im sie- benten Jahrhundert vor Christus die Häupter der Ionischen Natur- Philosophie, die drei Milesier Thales, Anaximenes und Ana- ximander, namentlich aber der letztere, wichtige Grundsätze unseres heutigen Monismus aufstellten. Sie lehrten bereits ein einheitliches Natur-Gesetz als Urgrund der mannichfaltigen Er- scheinungen, die Einheit der gesammten Natur und den bestän- digen Wechsel der Formen. Anaximander lässt die lebenden Wesen im Wasser durch den Einfluss der Sonnenwärme entstehen und nimmt an, dass der Mensch sich aus fischartigen Thieren entwickelt habe. Aber auch später finden wir in der Natur- Philosophie des Heraklit und Empedocles, wie in den natur- wissenschaftlichen Schriften des Demokritos und Aristoteles vielfach Anklänge an Vorstellungen, die wir zu den Grundpfeilern der heutigen Entwickelungs-Lehre rechnen. Empedocles zeigt, wie Zweckmässiges aus Unzweckmässigem hervorgehen kann'‘). Aristoteles nimmt die Urzeugung als die natürliche Entstehungs- art der niederen organischen Wesen an. Er lässt z. B. Motten aus Wolle, Flöhe aus faulem Mist, Milben aus feuchtem Holz entstehen u. s. w. Der Grundgedanke der Entwickelungs-Theorie, dass die ver- schiedenen Thier- und Pflanzen-Arten sich aus gemeinsamen Stamm- arten durch Umbildung entwickelt haben, konnte natürlich erst klar ausgesprochen werden, nachdem die Arten oder Species selbst genauer bekannt geworden, und nachdem auch schon die ausge- 70 Bedeutung der Natur-Philosophie. IV. storbenen Species neben den lebenden in Betracht gezogen und eingehender mit letzteren verglichen worden waren. Dies geschah erst gegen Ende des vorigen und im Beginn unseres Jahrhunderts. Erst im Jahre 1801 sprach der grosse Lamarck die Prineipien der Entwickelungs-Lehre aus, welche er 1809 in seiner elassischen „Philosophie zoologique“ weiter ausführte?). Während Lamarck und sein Landsmann Geoffroy S. Hilaire in Frankreich den Ansichten Cuviers gegenüber traten und eine natürliche Ent- wickelung der organischen Species durch Umbildung und Abstam- mung behaupteten, vertraten in Deutschland Goethe und Oken dieselbe Richtung und legten hier selbstständig die ersten Keime der Entwickelungs-Theorie. Da man gewöhnlich alle diese Natur- forscher als „Natur-Philosophen“ zu bezeichnen pflegt, und da diese Bezeichnung in einem gewissen Sinne ganz richtig ist, so erscheint es wohl angemessen, hier einige Worte über die rich- tige Würdigung der Natur-Philosophie vorauszuschicken. Während man in England schon seit langer Zeit Natur-Wissen- schaft und Philosophie in die engste Verbindung bringt und jeden von allgemeinen Gesichtspunkten geleiteten Natur-Forscher einen „Natur-Philosophen“ nennt, wird dagegen in Deutschland schon seit mehr als einem halben Jahrhundert die Natur-Wissenschaft streng von der Philosophie geschieden, und die naturgemässe Ver- schmelzung beider zu einer wahren „Natur-Philosophie* wird nur von Wenigen anerkannt. An dieser Verkennung sind die phan- tastischen Ausschreitungen der früheren deutschen Natur-Philo- sophen, Okens, Schellings u. s. w. Schuld, welche glaubten, die Natur-Gesetze aus ihrem Kopfe construiren zu können, ohne auf dem Boden der thatsächlichen Erfahrung stehen bleiben zu müssen. Als sich diese Anmassungen in ihrer ganzen Leerheit herausgestellt hatten, schlugen die Natur-Forscher unter der „Na- tion von Denkern“ in das gerade Gegentheil um, und glaubten, das hohe Ziel der Wissenschaft, die Erkenntniss der Wahrheit, auf dem Wege der nackten sinnlichen Erfahrung ohne jede phi- losophische Gedankenarbeit erreichen zu können. Von nun an, besonders seit dem Jahre 1530, machte sich bei den meisten Natur-Forschern eine starke Abneigung gegen jede allgemeinere, Be EERTRR IN. Empirie und Philosophie. r&! philosophische Betrachtung der Natur geltend. Man fand nun das eigentliche Ziel der Natur-Wissenschaft in der Erkenntniss des Einzelnen; in der Biologie schien dasselbe erreicht, wenn man mit Hülfe der feinsten Instrumente und Beobachtungsmittel die Formen und die Lebenserscheinungen aller einzelnen Organismen ganz genau erkannt haben würde. Zwar gab es immerhin unter diesen streng empirischen oder sogenannten exakten Natur-Forschern Einzelne, welche sich über diesen beschränkten Standpunkt er- hoben und das letzte Ziel in einer Erkenntniss allgemeiner Orga- nisations-Gesetze finden wollten. Indessen die grosse Mehrzahl der Zoologen und Botaniker im letzten halben Jahrhundert wollte von solchen allgemeinen Gesetzen Nichts wissen; \ sie gestand höchstens zu,) dass vielleicht in ganz entfernter Zukunft, wenn man einmal am Ende aller empirischen Erkenntniss angelangt sein würde, wenn alle einzelnen Thiere und Pflanzen vollständig untersucht worden seien, solche Gesetze aufgestellt werden könnten. Wenn man die wichtigsten Fortschritte, die der menschliche Geist in der Erkenntniss der Wahrheit gemacht hat, zusammen- fassend vergleicht, so erkennt man bald, dass es stets philoso- phische Gedanken-Operationen sind, durch welche diese Fort- schritte erzielt wurden. Die vorhergehende sinnliche Erfahrung und die dadurch gewonnene Kenntniss des Einzelnen kann nur die feste Grundlage für jene allgemeinen Gesetze liefern. Empirie und Philosophie stehen daher keineswegs in so ausschliessendem Gegensatz zu einander, wie bisher von den Meisten angenommen wurde; sie ergänzen sich vielmehr nothwendig. Der Philosoph, welchem der unumstössliche Boden der sinnlichen Erfahrung, der empirischen Kenntniss fehlt, gelangt in seinen allgemeinen Spe- eulationen sehr leicht zu Fehlschlüssen, welche selbst ein mässig gebildeter Natur-Forscher sofort widerlegen kann. Andrerseits können die rein empirischen Natur-Forscher, die sich nicht um philosophische Zusammenfassung ihrer sinnlichen Wahrnehmungen bemühen und nicht nach allgemeinen Erkenntnissen streben, die Wissenschaft nur in sehr geringem Masse fördern; der Haupt- werth ihrer mühsam gewonnenen Einzelkenntnisse liest in den ‘ allgemeinen Resultaten, welche später umfassendere Geister aus 12 Empirie und Philosophie. : "IE = denselben ziehen. Bei einem allgemeinen Ueberblick über den Entwickelungsgang der Biologie seit Linne finden Sie leicht, wie dies Baer ausgeführt hat, ein beständiges Schwanken zwischen diesen beiden Richtungen, ein Ueberwiegen einmal der empi- rischen (sogenannten exacten) und dann wieder der philoso- phischen (speculativen) Richtung. So hatte sich schon zu Ende des vorigen Jahrhunderts, im (Gregensatz gegen Linne’s rein empirische Schule, eine naturphilosophische Reaction erhoben, deren bewegende Geister, Kant, Lamarck, Geoffroy 8. Hi- laire, Goethe und Oken, durch ihre Gedankenarbeit Lieht und Ordnung in das Chaos des aufgehäuften empirischen Rohmaterials zu bringen suchten. Gegenüber den vielfachen Irrthümern und den zu weit gehenden Speculationen dieser Natur-Philosophen trat dann Cuvier auf, welcher eine zweite, rein empirische Periode herbeiführte. Diese erreichte ihre einseitigste Entwickelung wäh- rend der Jahre 1830—1360, und nun folgte ein zweiter philo- sophischer Rückschlag, durch Darwin's Werk veranlasst Man fing nun in den letzten dreissig Jahren wieder an, sich zur Er- kenntniss der allgemeinen Natur-Gesetze hinzuwenden, denen doch schliesslich alle Erfahrungs-Kenntnisse nur als Grundlage dienen, und durch welche letztere erst ihren wahren Werth erlangen. Durch die Gedanken- Arbeit der Philosophie wird die Natur-Kunde erst zur wahren Wissenschaft, zur „Natur-Philosophie“. Unter den grossen Natur-Philosophen, denen wir die erste Begründung einer organischen Entwickelungs-Theorie verdanken, und welche neben Charles Darwin als die Urheber der Um- bildungslehre glänzen, stehen obenan Jean Lamarck und Wolf- sang Goethe. Ich wende mich zunächst zu unserm unvergleich- lichen Goethe, welcher von Allen uns Deutschen am nächsten steht. Bevor ich jedoch seine besonderen Verdienste um die Ent- wickelungs-Theorie erläutere, scheint es mir passend, Einiges über seine Bedeutung als Natur-Forscher überhaupt zu sagen, da diese gewöhnlich sehr verkannt wird. Gewiss die meisten unter Ihnen verehren Goethe nur als Diehter und Menschen; nur Wenige werden eine Vorstellung von dem hohen Werth haben, den seine naturwissenschaftlichen Ar- Ev. Goethe’s Verdienste als Naturforscher. 13 beiten besitzen, von dem Riesenschritt, mit dem er seiner Zeit vorauseilte, — so vorauseilte, dass eben die meisten Natur-Forscher der damaligen Zeit ihm nicht nachkommen konnten. Das Miss- geschick, dass seine naturphilosophischen Verdienste von seinen Zeitgenossen verkannt wurden, hat Goethe oft schmerzlich em- - pfunden. An verschiedenen Stellen seiner naturwissenschaftlichen Schriften beklagt er sich bitter über die beschränkten Fachleute, welche seine Arbeiten nicht zu würdigen verstehen, welche den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen, und welche sich nicht da- zu erheben können, aus dem Wust des Einzelnen allgemeine Natur-Gesetze herauszufinden. Nur zu gerecht ist sein Vorwurf: „Der Philosoph wird gar bald entdecken, dass sich die Beobachter selten zu einem Standpunkt erheben, von welchem sie so viele bedeutend bezügliche Gegenstände übersehen können.“ Wesent- lich allerdings wurde diese Verkennung verschuldet durch den falschen Weg, auf welchen Goethe in seiner Farben-Lehre gerieth. Die Farben-Lehre, die er selbst als das Lieblingskind seiner Musse E _ bezeichnet, ist in ihren Grundlagen durchaus verfehlt, so viel Schönes sie auch im Einzelnen enthalten mag. Die exacte ma- thematische Methode, mittelst welcher man allein zunächst in den anorgischen Natur-Wissenschaften, in der Physik vor Allem, Schritt für Schritt auf unumstösslich fester Basis weiter bauen kann, war Goethe durchaus zuwider. Er liess sich in der Ver- werfung derselben nicht allein zu grossen Ungerechtigkeiten gegen die hervorragendsten Physiker hinreissen, sondern auch auf Irrwege verleiten, die seinen übrigen werthvollen Arbeiten sehr geschadet haben. Ganz Anderes in den organischen Natur-Wissen- schaften, in welchen wir nur selten im Stande sind, von Anfang an gleich auf der unumstösslich festen mathematischen Basis vor- zugehen; hier sind wir meistens gezwungen, wegen der unendlich schwierigen und verwickelten Natur der Aufgabe, uns zunächst - Induetionsschlüsse zu bilden; d h. wir müssen aus zahlreichen einzelnen Beobachtungen, die doch nicht ganz vollständig sind, ein allgemeines Gesetz zu begründen suchen. Die denkende _ Vergleichung der verwandten Erscheinungsreihen, die Com- _ bination ist hier das wichtigste Forschungs-Instrument, und 74 Goethe’s Metamorphose der Pflanzen. IV? diese wurde von Goethe mit ebenso viel Glück als bewusster Werth-Erkenntniss bei seinen naturphilosophischen Arbeiten an- gewandt. Von den Schriften Goethe’s, die sich auf die organische Natur beziehen, ist am berühmtesten die Metamorphose der Pflanzen geworden, welche 1790 erschien; ein Werk, welches bereits den Grundgedanken der Entwickelungs-Theorie deutlich erkennen lässt. Denn Goethe war darin bemüht, ein einziges Grundorgan nachzuweisen, durch dessen unendlich mannichfaltige Ausbildung und Umbildung man sich den ganzen Formenreich- thum der Pflanzenwelt entstanden denken könne; dieses Grund- organ fand er im Blatt. Wenn damals schon die Anwendung des Mikroskops eine allgemeine gewesen wäre, wenn Goethe den Bau der Organismen mit dem Mikroskop durchforscht hätte, so würde er noch weiter gegangen sein, und das Blatt bereits als ein Vielfaches von individuellen Theilen niederer Ordnung, von Zellen, erkannt haben. Er würde dann nicht das Blatt, sondern die Zelle als das eigentliche Grundorgan aufgestellt haben, durch dessen Vermehrung, Umbildung und Verbindung (Synthese) zu- nächst das Blatt entsteht; sowie weiterhin durch Umbildung, Va- riation und Zusammensetzung der Blätter alle die mannichfaltigen Schönheiten in Form und Farbe entstehen, welche wir ebenso an den echten Ernährungsblättern, wie an den Fortpflanzungs- blättern oder den Blüthentheilen der Pflanzen bewundern. In- dessen schon jener Grundgedanke war durchaus richtig. Goethe zeigte darin, dass man, um das Ganze der Erscheinung zu‘ er- fassen, erstens vergleichen und dann zweitens einen einfachen Typus, eine einfache Grundform, ein Thema gewissermassen suchen müsse, von dem alle übrigen Gestalten nur die unendlich mannichfaltigen Variationen seien. Etwas Achnliches, wie er hier in der Metamorphose der Pflanzen leistete, gab er dann für die Wirbelthiere in seiner be- rühmten Wirbel-Theorie des Schädels. Goethe zeigte zuerst, unabhängig von Oken, welcher fast gleichzeitig auf denselben Gedanken kam, dass der Schädel des Menschen und aller anderen Wirbelthiere, zunächst der Säugethiere, Nichts weiter sei als das u ee re u int rn A TE A u a a IV. Goethe’s Wirbel-Theorie des Schädels. 75 umgewandelte vorderste Stück der Wirbelsäule oder des Rückgrats. Die Knochenkapsel des Schädels erscheint danach aus mehreren Knochenringen zusammengesetzt, welche den Wirbeln des Rück- grats ursprünglich gleichwerthig sind. Allerdings ist diese Idee kürzlich durch die scharfsinnigen Untersuchungen von Gegen- baur’) sehr bedeutend modifieirt worden. Dennoch gehörte sie in jener Zeit zu den grössten Fortschritten der vergleichenden Anatomie und wurde für das Verständniss des Wirbelthierbaues eine der ersten Grundlagen. Wenn zwei Körpertheile, die auf den ersten Blick so verschieden aussehen, wie der Hirnschädel und die Wirbelsäule, sich als ursprünglich gleichartige, aus einer und derselben Grundlage hervorgebildete Theile nachweisen liessen, so war damit eine höchst schwierige Aufgabe gelöst. Auch hier begegnet uns wieder der Gedanke des einheitlichen Typus, der Gedanke eines einzigen Themas, dass nur in den verschiedenen Arten und in den Theilen der einzelnen Arten unendlich variirt wird. ‘ Aber nicht bloss um die Erkenntniss solcher weitgreifenden Gesetze war Goethe eifrig bemüht, sondern auch mit zahlreichen einzelnen, namentlich vergleichend-anatomischen Untersuchungen, oft lange Zeit hindurch lebhaft beschäftigt. Unter diesen ist viel- leicht keine interessanter, als die Entdeckung des Zwischen- kiefers beim Menschen. Da diese in mehrfacher Beziehung von Bedeutung für die Entwickelungs-Theorie ist, so erlaube ich mir, Ihnen dieselbe kurz hier darzulegen. Bei sämmtlichen Säuge- ‚thieren finden sich in der oberen Kinnlade zwei Knochenstückchen, welche in der Mittellinie des Gesichts, unterhalb der Nase, sich berühren, und in der Mitte zwischen den beiden Hälften des eigentlichen Oberkiefer-Knochens gelegen sind. Dieses Knochen- paar, welches die vier oberen Schneidezähne trägt, ist bei den meisten Säugethieren ohne Weiteres leicht zu erkennen; beim Menschen dagegen war es zu jener Zeit nicht bekannt, und be- rühmte vergleichende Anatomen legten sogar auf diesen Mangel des Zwischenkiefers einen sehr grossen Werth, indem sie denselben als einen Hauptunterschied zwischen Menschen und Affen ansahen; der Mangel des Zwischenkiefers wurde seltsamer Weise als der 16 Goethe’s Entdeckung des Zwischenkiefers beim Menschen. IV. menschlichste aller menschlichen Charaktere hervorgehoben. Nun wollte es Goethe durchaus nicht in den Kopf, dass der Mensch, der in allen übrigen körperlichen Beziehungen offenbar nur ein hoch entwickeltes Säugethier sei, diesen Knochen entbehren solle. Er zog aus der allgemeinen Verbreitung des Zwischenkiefers bei sämmtlichen Säugethieren den besonderen Schluss, dass derselbe auch beim Menschen vorkommen müsse, und er hatte keine Ruhe, bis er bei Vergleichung einer grossen Anzahl von Schädeln wirklich den Zwischenkiefer auffand. Bei einzelnen Individuen ist derselbe die ganze Lebenszeit hindurch erhalten, während er gewöhnlich frühzeitig mit dem benachbarten Oberkiefer ver- wächst und nur bei sehr jugendlichen Menschenschädeln als selbstständiger Knochen nachzuweisen ist. Auch bei einigen Affen findet frühzeitig Verwachsung statt. Bei menschlichen Embryonen kann man ihn leicht nachweisen. Der Zwischenkiefer ist also beim Menschen in der That vorhanden, und Goethe gebührt der Ruhm, diese in vielfacher Beziehung wichtige Thatsache zuerst entdeckt zu haben, und zwar gegen den Widerspruch der wichtigsten Fach-Autoritäten, z. B. des berühmten Anatomen Peter Camper. Besonders interessant ist dabei der Weg, auf dem er zu dieser Feststellung gelangte; es ist der Doppelweg, auf dem wir beständig in den organischen Naturwissenschaften fortschreiten, der Weg der Induction und Deduction. Die Induction ist ein Schluss aus zahlreichen einzelnen beobachteten Fällen auf ein allgemeines Gesetz; die Deduction dagegen ist ein Rückschluss aus diesem allgemeinen Gesetz auf einen einzelnen, noch nicht wirklich beobachteten Fall. Aus den damals gesammelten empirischen Kenntnissen ging der Inductionsschluss hervor, dass sämmtliche Säuge- thiere den Zwischenkiefer besitzen. Goethe zog daraus den Deduetionsschluss, dass der Mensch, in allen übrigen Be- ziehungen seiner Organisation nicht wesentlich von den Säuge- thieren verschieden, auch diesen Zwischenkiefer besitzen müsse; und letzterer fand sich in der That bei eingehender Untersuchung. Es wurde der Deductionsschluss durch die nachfolgende Er- fahrung bestätigt oder verificirt. ae Yu Bi ee N ETF Hr De BE en Der IV. Goethe’s Theilnahme an der Natur-Philosophie. 17 Schon diese wenigen Züge mögen Ihnen den hohen Werth vor Augen führen, den wir Goethe’s biologischen Forschungen, zuschreiben müssen. Leider sind die meisten seiner darauf be- züglichen Arbeiten so versteckt in seinen gesammelten Werken und die wichtigsten Beobachtungen und Bemerkungen so zerstreut in zahlreichen einzelnen Aufsätzen, die andere Themata be- handeln, dass es schwer ist, sie herauszufinden. Auch ist bis- weilen eine vortreffliche, wahrhaft wissenschaftliche Bemerkung so eng mit einem Haufen von unbrauchbaren Speculationen ver- knüpft, dass letztere der ersteren grossen Eintrag thun. Das ausserordentliche Interesse Goethe’s für die organische Natur-Forschung offenbart sich ganz besonders in der lebendigen Theilnahme, mit welcher er noch in seinen letzten Lebensjahren den in Frankreich ausgebrochenen Streit zwischen Cuvier und Geoffroy S. Hilaire verfolgte. Goethe hat selbst eine inter- essante Darstellung dieses merkwürdigen Streites und seiner allgemeinen Bedeutung, sowie eine trefiliche Charakteristik der beiden grossen Gegner in einer besonderen Abhandlung gegeben, welche er erst wenige Tage vor seinem Tode, im März 1832, vollendete. Diese Abhandlung führt den Titel: „Principes de Philosophie zoologique par Mr. Geofiroy de Saint-Hilaire“; sie ist Goethe’s letzte Arbeit, und bildet in der Gesammt-Ausgabe seiner Werke deren Schluss. Der Streit selbst war in mehr- facher Beziehung von höchstem Interesse. Er drehte sich wesent- lieh um die Berechtigung der Entwickelungs-Theorie. Dabei wurde er im Schoosse der französischen Academie von beiden Gegnern mit einer persönlichen Leidenschaftlichkeit geführt, welche in den würdevollen Sitzungen jener gelehrten Körperschaft fast unerhört war, und welche bewies, dass beide Natur-Forscher für ihre heiligsten und tiefsten Ueberzeugungen kämpften. Am 22. Februar 1830 fand der erste Confliet statt, welchem bald mehrere folgten, der heftigste am 30. Juli 1830. Geoffroy als das Haupt der französischen Natur-Philosophen vertrat die natür- liche Entwickelungs-Theorie und die einheitliche (monistische) Natur-Auffassung. Er behauptete die Veränderlichkeit der orga- nischen Species, die gemeinschaftliche Abstammung der einzelnen 73 Streit zwischen Cuvier und Geoffroy S. Hilaire. IV. Arten von gemeinsamen Stammformen, und die Einheit der Organisation, oder die Einheit des Bauplanes, wie man sich damals ausdrückte. Cuvier war der entschiedenste Gegner dieser Anschauungen, wie es ja nach dem, was Sie gehört haben, nicht anders sein konnte. Er versuchte zu zeigen, dass die Natur-Philosophen kein Recht hätten, auf Grund des damals vor- liegenden empirischen Materials so weitgehende Schlüsse zu ziehen, und dass die behauptete Einheit der Organisation oder des Bauplanes der Organismen nicht existire. Er vertrat die teleologische (dualistische) Natur-Auflassung und behauptete, dass „die Unveränderlichkeit der Species eine nothwendige Be- dingung für die Existenz der wissenschaftlichen Naturgeschichte sei“. Cuvier hatte den grossen Vortheil vor seinem Gegner voraus, für seine Behauptungen lauter unmittelbar vor Augen liegende Beweisgründe vorbringen zu können, welche allerdings nur aus dem Zusammenhang gerissene einzelne Thatsachen waren. Geoffroy dagegen war nicht im Stande, den von ihm verfochtenen allgemeinen Zusammenhang der einzelnen Er- scheinungen mit so greifbaren Einzelheiten belegen zu können. Daher behielt Cuvier in den Augen der Mehrheit den Sieg, und entschied für die folgenden drei Jahrzehnte die Niederlage der Natur-Philosophie und die Herrschaft der streng empirischen Richtung. Goethe dagegen nahm natürlich entschieden für (reoffroy Partei. Wie lebhaft ihn noch in seinem 81. Jahre dieser grosse Kampf beschäftigte, mag folgende, von Soret erzählte Anekdote bezeugen: „Montag, 2. August 1530. Die Nachrichten von der begonnenen Juli-Revolution gelangten heute nach Weimar und setzten Alles in Aufregung. Ich ginge im Laufe des Nach- mittags zu Goethe. „Nun?“ rief er mir entgegen, „was denken Sie von dieser grossen Begebenheit? Der Vulcan ist zum Ausbruch gekommen; alles steht in Flammen, und es ist nicht ferner eine Verhandlung bei geschlossenen Thüren!“ Eine furchtbare Geschichte! erwiderte ich. Aber was liess sich bei den bekannten Zuständen und bei einem solchen Ministerium anders erwarten, als dass man mit der Vertreibung j IV. Streit zwischen Cuvier und Geoffroy S. Hilaire. 79 der bisherigen königlichen Familie endigen würde. „Wir scheinen uns nicht zu verstehen, mein Allerbester,* erwiderte Goethe. „Ich rede gar nicht von jenen Leuten; es handelt sich bei mir um ganz andere Dinge. Ich rede von dem in der Academie zum öffentlichen Ausbruche gekommenen, für die Wissenschaft so höchst bedeutenden Streite zwischen Cuvier und Geoffroy de S. Hilaire.“ Diese Aeusserung Goethe’s war mir so un- erwartet, dass ich nicht wusste, was ich sagen sollte, und dass ich während einiger Minuten einen vollständigen Stillstand in meinen Gedanken verspürte. „Die Sache ist von der höchsten Bedeutung, Begriff davon machen, was ich bei der Nachricht von der Sitzung “ fuhr Goethe fort, „und Sie können sich keinen des 19. Juli empfinde. Wir haben jetzt an Geoffroy de Saint Hilaire einen mächtigen Alliirten auf die Dauer. Ich sehe aber zugleich daraus, wie gross die Theilnahme der französischen wissenschaftlichen Welt an dieser Angelegenheit sein muss, indem trotz der furchtbaren politischen Aufregung, die Sitzung des 19. Juli dennoch bei einem gefüllten Hause stattfand. Das Beste aber ist, dass die von Geoffroy in Frankreich eingeführte syn- thetische Behandlungsweise der Natur jetzt nicht mehr rück- gängig zu machen ist. Diese Angelegenheit ist durch die freien Diseussionen in der Academie, und zwar in Gegenwart eines grossen Publicums jetzt öffentlich geworden, sie lässt sich nicht mehr an geheime Ausschüsse verweisen und bei geschlossenen Thüren abthun und unterdrücken. Von den zahlreichen interessanten und bedeutenden Sätzen, in welchen sich Goethe klar über seine Auffassung der orga- nischen Natur und ihrer beständigen Entwickelung ausspricht, habe ich in meiner generellen Morphologie der Organismen *) eine Auswahl als Leitworte an den Eingang der einzelnen Bücher und Capitel gesetzt. Hier führe ich Ihnen zunächst eine Stelle aus dem Gedichte an, welches die Ueberschrift trägt: „die Meta- morphose der Thiere“ (1519). „Alle Glieder bilden sich aus nach ew’gen Gesetzen, „Und die seltenste Form bewahrt im Geheimen das Urbild. „Also bestimmt die Gestalt die Lebensweise des Thieres, 80 Goethe’s Entdeckung der beiden organischen Bildungs-Triebe. IV. „Und die Weise zu leben, sie wirkt auf alle Gestalten „Mächtig zurück. So zeiget sich fest die geordnete Bildung, „Welche zum Wechsel sich neigt durch äusserlich wirkende Wesen.“ Schon hier ist der Gegensatz zwischen zwei verschie- denen organischen Bildungskräften angedeutet, welche sich gegenüber stehen, und durch ihre Wechselwirkung die Form des Organismus bestimmen; einerseits ein gemeinsames inneres, fest sich erhaltendes Urbild, welches den verschiedensten Gestalten zu Grunde liegt; andrerseits der äusserlich wirkende Einfluss der Umgebung und der Lebensweise, welcher umbildend auf das Ur- bild einwirkt. Noch bestimmter tritt dieser Gegensatz in fol- gendem Ausspruch hervor. „Eine innere ursprüngliche Gemeinschaft liegt aller Organi- sation zu Grunde; die Verschiedenheit der Gestalten dagegen ent- springt aus den nothwendigen Beziehungs-Verhältnissen zur Aussenwelt, und man darf daher eine ursprüngliche, gleichzeitige Verschiedenheit und eine unaufhaltsam fortschreitende Umbildung mit Recht annehmen, um die ebenso constanten als abweichenden Erscheinungen begreifen zu können.“ Das „Urbild“ oder der „Typus“, welcher als „innere ur- sprüngliche Gemeinschaft“ allen organischen Formen zu Grunde liegt, ist die innere Bildungskraft, welche die ursprüngliche Bildungsrichtung erhält und durch Vererbung fortpflanzt. Die „unaufhaltsam fortschreitende Umbildung“ dagegen, welche „aus den nothwendigen Beziehungs-Verhältnissen zur Aussenwelt ent- springt“, bewirkt als äussere Bildungskraft, durch Anpas- sung an die umgebenden Lebensbedingungen, die unendliche „Verschiedenheit der Gestalten“. Den inneren Bildungstrieb der Vererbung, welcher die Einheit des Urbildes erhält, nennt Goethe an einer anderen Stelle die Centripetalkraft des Or- ganismus, seinen Specificationstrieb; im Gegensatz dazu nennt er den äusseren Bildungstrieb der Anpassung, welcher die Mannichfaltiekeit der organischen Gestalten hervorbringt, die Centrilugalkraft des Organismus, seinen Variationstrieb. Die betreffende Stelle, in welcher er ganz klar das „Gegengewicht“ dieser beiden äusserst wichtigen organischen Bildungskräfte be- gs ı AT rent IV. Die Speeifieation (Vererbung) und die Metamorphose (Anpassung). 81 zeichnet, lautet folgendermassen: „Die Idee der Metamorphose ist gleich der Vis centrifuga und würde sich ins Unendliche ver- lieren, wäre ihr nicht ein Gegengewicht zugegeben: ich meine den Specificationstrieb, das zähe Beharrlichkeitsvermögen dessen, was einmal zur Wirklichkeit gekommen, eine Vis centri- peta, welcher in ihrem tiefsten Grunde keine Aeusserlichkeit etwas anhaben kann.“ Unter Metamorphose versteht Goethe nicht allein, wie es heutzutage gewöhnlich aufgefasst wird, die Form-Veränderungen, welche das organische Individuum während seiner individuellen Entwickelung erleidet, sondern im weiteren Sinne überhaupt die Umbildung der organischen Formen. Die „Idee «der Meta- morphose“ ist beinahe gleichbedeutend mit unserer „Entwickelungs- Theorie“. Dies ergiebt sich unter Anderem auch aus folgendem Ausspruch: „Der Triumph der physiologischen Metamorphose zeigt sich da, wo das Ganze sich in Familien, Familien sich in Geschlechter, Geschlechter in Sippen, und diese wieder in andere Mannichfaltigkeiten bis zur Individualität scheiden, sondern und umbilden. Ganz ins Unendliche geht dieses Geschäft der Natur; sie kann nicht ruhen, noch beharren, aber auch nicht Alles, was sie hervorbrachte, bewahren und erhalten. Aus dem Samen ent- wickeln sich immer abweichende, die Verhältnisse ihrer Theile zu einander verändert bestimmende Pflanzen.“ In den beiden organischen Bildungstrieben, in dem conser- vativen, centripetalen, innerlichen Bildungstriebe der Vererbung oder der Specification einerseits, in dem progressiven, centri- fugalen, äusserlichen Bildungstriebe der Anpassung oder der Metamorphose andererseits, hatte Goethe bereits die beiden grossen mechanischen Naturkräfte entdeckt, welche die wirkenden Ursachen der organischen Gestaltungen sind. Diese tiefe bio- logische Erkenntniss musste ihn naturgemäss zu dem Grund- Gredanken der Abstammungs-Lehre führen, zu der Vorstellung, dass die formverwandten organischen Arten wirklich blutsverwandt sind, und dass dieselben von gemeinsamen ursprünglichen Stamm- Formen abstammen. Für die wichtigste von allen Thiergruppen, die Haupt-Abtheilung der Wirbelthiere, drückt dies Goethe in Haeckel, Natürl. Schöpfungs-Gesch. 8. Aufl. 6 82 Goethe’s Ansicht von der Blutsverwandtschaft aller Wirbelthiere. IV, ui folgendem merkwürdigen Satz aus (17961): „Dies also hätten wir gewonnen, ungescheut behaupten zu dürfen, dass alle voll- kommneren organischen Naturen, worunter wir Fische, Amphibien, Vögel, Säugethiere und an der Spitze der letzten den Menschen sehen, alle nach einem Urbilde geformt seien, das nur in seinen sehr beständigen Theilen mehr oder weniger hin- und herweicht, und sich noch täglich durch Fortpflanzung aus- und umbildet.“ Dieser Satz ist in mehrfacher Beziehung von Interesse. Die Theorie, dass „alle vollkommneren organischen Naturen“, d.h. alle Wirbelthiere, von einem gemeinsamen Urbilde abstammen, dass sie aus diesem durch Fortpflanzung (Vererbung) und Um- bildung (Anpassung) entstanden sind, ist daraus deutlich zu entnehmen. Besonders interessant aber ist, dass Goethe auch hier für den Menschen keine Ausnahme gestattet, ihn vielmehr ausdrücklich in den Stamm der übrigen Wirbelthiere hineinzieht. Die wichtigste specielle Folgerung der Abstammungs-Lehre, dass der Mensch von anderen Wirbelthieren abstammt, lässt sich hier im Keime erkennen °). Noch klarer spricht Goethe diese überaus wichtige Grund- Idee an einer anderen Stelle (1807) in folgenden Worten aus: „Wenn man Pflanzen und Thiere in ihrem unvollkommensten Zustande betrachtet, so sind sie kaum zu unterscheiden. So viel aber können wir sagen, dass die aus einer kaum zu sondernden Verwandtschaft als Pflanzen und Thiere nach und nach hervor- tretenden Geschöpfe nach zwei entgegengesetzten Seiten sich vervollkommnen, so dass die Pflanze sich zuletzt im Baume dauernd und starr, das Thier im Menschen zur höchsten Beweg- lichkeit und Freiheit sich verherrlicht.“ In diesem merkwürdigen Satze ist nicht allein das genealogische Verwandtschafts-Verhält- niss des Pflanzenreichs zum Thierreiche höchst treffend beurtheilt, sondern auch bereits der Kern der einheitlichen oder monophy- letischen Descendenz-Hypothese enthalten, deren Bedeutung ich Ihnen später auseinander zu setzen habe. (Vergl. über Goethe’s Transformismus namentlich Kalischer’s Schrift”). Zu derselben Zeit. als Goethe in dieser Weise die Grundzüge der Descendenz-Theorie entwarf, finden wir bereits einen anderen a u N IV. Goethe’s monophyletische Descendenz-Hypothese. 83 deutschen Natur-Philosophen angelegentlich mit derselben be- schäftigt, nämlich Gottfried Reinhold Treviranus aus Bremen (geb. 1776, gest. 1837). Wie zuerst Wilhelm Focke in Bremen gezeigt hat, entwickelte Treviranus schon in dem frühesten seiner grösseren Werke, in der „Biologie oder Philo- sophie der lebenden Natur“, bereits ganz im Anfange unseres Jahrhunderts, monistische Ansichten von der Einheit der Natur und von dem genealogischen Zusammenhang der Organismen- Arten, die ganz unserem jetzigen Standpunkte entsprechen. In den drei ersten Bänden der Biologie, die 1802, 1803 und 1805 erschienen, also schon mehrere Jahre vor den Hauptwerken von Oken und Lamarck, finden sich zahlreiche Stellen, welche in dieser Beziehung von Interesse sind. Ich will nur einige der wichtigsten hier anführen. Ueber die Hauptfrage unserer Theorie, über den Ursprung der organischen Species, spricht sich Treviranus folgendermassen aus: „Jede Form des Lebens kann durch physische Kräfte auf doppelte Art hervorgebracht sein: entweder durch Entstehung aus formloser Materie, oder durch Abänderung der Form bei dauernder Gestaltung. Im letzteren Falle kann die Ursache dieser Abänderung entweder in der Einwirkung eines ungleich- artigen männlichen Zeugungs-Stoffes auf den weiblichen Keim, oder in dem erst nach der Erzeugung stattfindenden Einflusse anderer Potenzen liegen. — In jedem lebenden Wesen liegt die Fähigkeit zu einer endlosen Mannichfaltigkeit der Gestaltungen; jedes besitzt das Vermögen, seine Organisation den Veränderungen der äusseren Welt anzupassen, und dieses durch den Wechsel des Universums in Thätigkeit gesetzte Vermögen ist es, was die einfachen Zoophyten der Vorwelt zu immer höheren Stufen der Organisation gesteigert und eine zahllose Mannichfaltigkeit in die lebende Natur gebracht hat.“ Unter Zoophyten versteht hier Treviranus die Organis- men niedersten Ranges und einfachster Beschaffenheit, insbesondere jene neutralen zwischen Thier und Pflanze in der Mitte stehenden Urwesen, die im Ganzen unseren Protisten entsprechen. „Diese Zoophyten“, sagt er an einer anderen Stelle, „sind die Urformen, > S4 Entwickelungs-Theorie von Treviranus. 1 aus welchen alle Organismen der höheren Classen durch all- mähliche Entwickelung entstanden sind. Wir sind ferner der Meinung, dass jede Art, wie jedes Individuum, gewisse Perioden des Wachsthums, der Blüthe und des Absterbens hat, dass aber ihr Absterben nicht Auflösung, wie bei dem Individuum, sondern Degeneration ist. Und hieraus scheint uns zu folgen, dass es nicht, wie man gewöhnlich annimmt, die grossen Katastrophen der Erde sind, was die Thiere der Vorwelt vertilet hat, sondern dass Viele diese überlebt haben, und dass sie vielmehr des- wegen aus der jetzigen Natur verschwunden sind, weil die Arten, zu welchen sie gehörten, den Kreislauf ihres Daseins vollendet haben und in andere Gattungen übergegangen sind.“ Wenn Treviranus an diesen und anderen Stellen Dege- neration als die wichtigste Ursache der Umbildung der Thier- und Pflanzen-Arten ansieht, so versteht er darunter nicht „Ent- artung“ oder Degeneration in dem heute gebräuchlichen Sinne. Vielmehr ist seine „Degeneration“ ganz dasselbe, was wir heute Anpassung oder Abänderung durch den äusseren Bildungs- trieb nennen. Dass Treviranus diese Umbildung der organischen Species durch Anpassung, und ihre Erhaltung durch Vererbung, die ganze Mannichfaltigkeit der organischen Formen aber durch die Wechselwirkung von Anpassung oder Vererbung erklärte, seht auch aus mehreren anderen Stellen klar hervor. Wie tief er dabei die gegenseitige Abhängigkeit aller lebenden Wesen von einander, und überhaupt den universalen Causalnexus, d.h. den einheitlichen ursächlichen Zusammenhang zwischen allen Gliedern und Theilen des Welt-Alls erfasste, zeigt unter andern noch folgender Satz der Biologie: „Das lebende Individuum ist abhängig von der Art, die Art von dem Geschlechte, dieses von der ganzen lebenden Natur, und die letztere von dem Organis- mus der Erde. Das Individuum besitzt zwar ein eigenthümliches Leben und bildet insofern eine eigene Welt. Aber eben weil das Leben desselben beschränkt ist, so macht es doch zugleich auch ein Organ in dem allgemeinen Organismus aus. Jeder lebende Körper besteht durch das Universum; aber das Universum besteht auch gegenseitig durch ihn.“ a U 2 TE De; IV. Monistische Natur-Anschauung von Treviranus. 85 Dass dieser grossartigen mechanischen Auffassung des Uni- versums zufolge Treviranus auch für den Menschen keine privilegirte Ausnahme-Stellung in der Natur zuliess, vielmehr die allmähliche Entwickelung desselben aus niederen Thier-Formen annahm, ist bei einem so tief und klar denkenden Natur-Philo- sophen selbstverständlich. Und eben so selbstverständlich ist es andererseits, dass er keine Kluft zwischen“ organischer und an- orgischer Natur anerkannte, vielmehr die absolute Einheit in der Organisation des ganzen Welt-Gebäudes behauptete. Dies bezeugt namentlich der folgende Satz: „Jede Untersuchung über den Einfluss der gesammten Natur auf die lebende Welt muss von dem Grundsatze ausgehen, dass alle lebenden Gestalten Producte physischer, noch in jetzigen Zeiten stattfindender, und nur dem Grade oder der Richtung nach veränderter Ein- flüsse sind.“ Hiermit ist, wie Treviranus selbst sagt, „das Grund-Problem der Biologie gelöst“, und, fügen wir hinzu, in rein monistischem oder mechanischem Sinne gelöst. Als der bedeutendste der deutschen Natur-Philosophen gilt gewöhnlich weder Treviranus, noch Goethe, sondern Lorenz Oken, welcher bei Begründung der Wirbel-Theorie des Schädels als Nebenbuhler Goethe’s auftrat und Diesem nicht gerade freundlich gesinnt war. Bei der sehr verschiedenen Natur der beiden grossen Männer, welche eine Zeit lang in nachbarschaft- licher Nähe lebten, konnten sie sich doch gegenseitig nicht wohl anziehen. Oken’s Lehrbuch der Natur-Philosophie, eines der bedeutendsten Erzeugnisse der damaligen naturphilosophischen Schule in Deutschland, erschien 1809, in demselben Jahre, in welchem auch Lamarck’s fundamentales Werk, die „Philosophie zoologique“ erschien. Schon 1802 hatte Oken einen „Grundriss der Natur-Philosophie“* veröffentlicht. Wie schon früher an- gedeutet wurde, finden wir bei Oken, versteckt unter einer Fülle von irrigen, zum Theil sehr abenteuerlichen und phan- tastischen Vorstellungen, eine Anzahl von werthvollen und tiefen Gedanken. Einige von diesen Ideen haben erst in neuerer Zeit, viele Jahre nachdem sie von ihm ausgesprochen wurden, all- mählich wissenschaftliche Geltung erlangt. Hier mögen nur zwei s6 Natur-Philosophie von Öken. IV; von diesen, fast prophetisch ausgesprochenen Gedanken erwähnt werden; beide stehen zu der Entwickelungs-Theorie in der innig- sten Beziehung. Eine der wichtigsten Theorien Oken’s, welche früherhin sehr verschrieen, und namentlich von den sogenannten exacten Empirikern auf das stärkste bekämpft wurde, ist die Idee, dass die Lebens-Erscheinungen aller Organismen von einem gemein- schaftlichen chemischen Substrate ausgehen , gewissermassen einem allgemeinen, einfachen „Lebensstoff“, welchen er mit dem Namen „Urschleim“ belegte. Er dachte sich darunter, wie der Name sagt, eine schleimartige Substanz, eine Eiweiss-Ver- bindung, die in festflüssigem Aggregat-Zustande befindlich ist, und das Vermögen besitzt, durch Anpassung an verschiedene Existenz-Bedingungen der Aussenwelt, und in Wechsel-Wirkung mit deren Materie, die verschiedensten Formen hervorzubringen. Nun brauchen Sie bloss das Wort Urschleim in das Wort Pro- toplasma oder Zellstoff umzusetzen, um zu einer der grössten Errungenschaften zu gelangen, welche wir den mikroskopischen Forschungen der letzten Decennien, insbesondere denjenigen von Max Schultze, verdanken. Durch diese Untersuchungen hat sich herausgestellt, dass in allen lebendigen Naturkörpern ohne Ausnahme eine gewisse Menge einer schleimigen, eiweissartigen Materie in festflüssigem Dichtigkeitszustande sich vorfindet, und (lass diese stickstoffhaltige Kohlenstoff-Verbindung ausschliesslich der ursprüngliche Träger und Bewirker aller Lebens-Erscheinungen und aller organischen Formbildung ist. Alle anderen Stoffe, welche ausserdem noch im Organismus vorkommen, werden erst von diesem activen Lebensstoff gebildet, oder von aussen auf- genommen. Das organische Ei, die ursprüngliche Zelle, aus welcher sich jedes Thier und jede Pflanze zuerst entwickelt, besteht wesentlich nur aus einem runden Klümpchen solcher eiweissartigen Materie. Auch der Eidotter ist nur Eiweiss, mit Fettkörnchen gemengt. Oken hatte also wirklich Recht, indem er, mehr ahnend als wissend, den Satz aussprach: „Alles Organische ist aus Schleim hervorgegangen, ist Nichts als ver- schieden gestalteter Schleim. Dieser Urschleim ist im Meere im ET ETTL DBIEPEDRER, Te 0 PEN EEE Senne Ve Urschleim-Theorie und Infusorien-Theorie von Oken. S7 Verfolge der Pianeten-Entwickelung aus anorganischer Materie entstanden.“ An die Urschleim-Theorie Oken’s, welche wesentlich mit der neuerlich erst fest begründeten, äusserst wichtigen Protoplas- ma-Theorie zusammenfällt, schliesst sich eine andere, eben so grossartige Idee desselben Natur-Philosophen eng an. Oken be- hauptete nämlich sehon 1809, dass der durch Urzeugung im Meere entstehende Urschleim alsbald die Form von mikroskopisch kleinen Bläschen annehme, welche er Mile oder Infusorien nannte. „Die organische Welt hat’ zu ihrer Basis eine Unendlichkeit von solchen Bläschen.“ Die Bläschen entstehen aus den ursprünglichen festflüssigen Urschleimkugeln dadurch, dass die Peripherie derselben sich verdichtet. Die einfachsten Organismen sind einfache solche Bläschen oder Infusorien. Jeder höhere Organismus, jedes Thier und jede Pflanze vollkommnerer Art ist weiter Nichts als „eine Zusammenhäufung (Synthesis) von solchen infusorialen Bläschen, die durch verschiedene Combinationen sich verschieden gestalten und so zu höheren Organismen aufwachsen“. Sie brauchen nun wiederum das Wort Bläschen oder Infusorium nur durch das Wort Zelle zu ersetzen, um zu einer der grössten biologischen Theorien unseres Jahrhunderts, zur Zellen-Theorie, zu gelangen. Schleiden und Schwann haben zuerst im Jahre 1838 den em- pirischen Beweis geliefert, dass alle Organismen entweder einfache Zellen oder Zusammenhäufungen (Synthesen) von solchen Zellen sind; und die neuere Protoplasma-Theorie hat nachgewiesen, dass der wesentlichste (und bisweilen der einzige!) Bestandtheil der echten Zelle das Protoplasma (der Urschleim) ist. Die Eigen- schaften, die Oken seinen Infusorien zuschreibt, sind eben die Eigenschaften der Zellen, die Eigenschaften der elementaren Indi- viduen, durch deren Zusammenhäufung, Verbindung und mannich- faltige Ausbildung die höheren Organismen entstanden sind. Diese beiden, ausserordentlich fruchtbaren Gedanken Oken’s wurden wegen der absurden Form, in der er sie aussprach, nur wenig berücksichtigt, oder gänzlich verkannt; und es war einer viel späteren Zeit vorbehalten, dieselben durch die Erfahrung zu begründen. Im engsten Zusammenhang mit diesen Vorstellungen 88 Entwickelungs-Theorie von Oken. IV. standen auch andere Grundsätze seiner Entwickelungs-Lehre. Vom Ursprung des Menschengeschlechts sagte er: „Der Mensch ist ent- wickelt, nicht erschaffen.“ So viele willkürliche Verkehrtheiten und ausschweifende Phantasiesprünge sich auch in Oken’s Natur- Philosophie finden mögen, so können sie uns doch. nicht hindern, diesen grossen und ihrer Zeit weit vorauseilenden Ideen unsere gerechte Bewunderung zu zollen. So viel geht aus den angeführten Behauptungen Goethe’s und Oken’s, und aus den demnächst, zu erörternden Ansichten Lamarck’s und Geoffroy’s mit Sicherheit hervor, dass in den ersten Decennien unseres Jahrhun- derts Niemand der natürlichen, durch Darwin neu begründeten Entwickelungs-Theorie so nahe kam, als die vielverschrieene Na- tur-Philosophie. Fünfter Vortrag. Entwiekelungs-Theorie von Kant und Lamarck. Kant's Verdienste um die Entwickelungs-Theorie. Seine monistische Kosmologie und seine dualistische Biologie. Widerspruch von Mechanismus und Teleologie. Vergleichung der genealogischen Biologie mit der verglei- chenden Sprachforschung. Ansichten zu Gunsten der Descendenz-Theorie von Leopold Buch, Baer, Schleiden, Unger, Schaffhausen, Vietor Carus, Büch- ner. Die französische Natur-Philosophie. Lamarck’s Philosophie zoologique. Lamarck’s monistisches (mechanisches) Natur-System. Seine Ansichten von der Wechselwirkung der beiden organischen Bildungskräfte, der Vererbung und Anpassung. Lamarck’s Ansicht von der Entwickelung des Menschen- geschlechts aus affenartigen Säugethieren. Vertheidigung der Descendenz- Theorie durch Geoffroy S. Hilaire, Naudin, Lecoq. Die englische Natur- Philosophie. Ansichten zu Gunsten der Descendenz-Theorie von Erasmus Darwin, W. Herbert, Grant, Freke, Herbert Spencer, Hooker, Huxley. Dop- peltes Verdienst von Charles Darwin. Meine Herren! Die teleologische Natur-Betrachtung, welche die Erscheinungen in der organischen Welt durch die zweck- mässige Thätigkeit eines persönlichen Schöpfers oder einer zweck- thätigen Endursache erklärt, führt nothwendig zuletzt zu ganz unhaltbaren Widersprüchen und Folgerungen. Diese zwiespältige, dualistische Natur-Auffassung steht zu der überall wahrnehmbaren Einheit und Einfachheit der obersten Natur-Gesetze im entschie- densten Gegensatz. Die Philosophen, welche dieser Teleologie huldigen, müssen nothwendiger Weise zwei grundverschiedene Naturen annehmen: eine anorgische Natur, welche durch mechanisch wirkende Ursachen (causae efficientes), und eine organische Natur, welche im Gegensatze zu ersterer durch zweckmässig thätige Ursachen (causae finales) erklärt werden muss. (Vergl. S. 31.) 90 Kant's monistische Anorgologie. Ki Dieser Dualismus tritt uns auffallend entgegen, wenn wir die Naturanschauung eines der grössten deutschen Philosophen, Kant's, betrachten, und die Vorstellungen in’s Auge fassen, welche er sich von der Entstehung der Organismen bildete. Eine nähere Betrachtung dieser Vorstellungen ist hier schon deshalb geboten, weil wir in Immanuel Kant einen der wenigen Phi- losophen verehren, welche eine gediegene naturwissenschaftliche Bildung mit einer ausserordentlichen Klarheit und Tiefe der Spe- eulation verbinden. Der Königsberger Philosoph erwarb sich nicht bloss durch Begründung der kritischen Philosophie den höchsten Ruhm unter den speculativen Philosophen, sondern auch durch seine mechanische Kosmogenie einen glänzenden Namen unter den Natur-Forschern. Schon im Jahre 1755 machte er in seiner „allgemeinen Natur-Geschichte und Theorie des Himmels”’’)* den kühnen Versuch, „die Verfassung und den mechanischen Ursprung des ganzen Weltgebäudes nach Newton’schen Grundsätzen abzu- handeln“, und mit Ausschluss aller Wunder aus dem natürlichen Entwickelungsgange der Materie mechanisch zu erklären. Diese Kantische Kosmogenie, welche wir nachher (im XIII. Vortrage) kurz erörtern werden, wurde späterhin von dem französischen Mathematiker Laplace und von dem englischen Astronomen Herschel ausführlicher begründet; sie erfreut sich noch heute einer fast allgemeinen Anerkennung. Schon allein wegen dieses wichtigen Werkes, in welchem exactes physikalisches Wissen mit der geistvollsten Speculation gepaart ist, verdient Kant den Ehrennamen eines Natur-Philosophen im besten und reinsten Sinne des Wortes. Nun findet sich aber in verschiedenen Schriften von Imma- nuel Kant, namentlich aus den jüngeren Jahren (von 1755 bis 1775) eine Anzahl von höchst wichtigen Aussprüchen zerstreut, welche uns dazu berechtigen, Kant neben Lamarck und Goethe als den ersten und .bedeutendsten Vorläufer Darwin’s hervorzuheben. Professor Fritz Schultze in Dresden hat sich das grosse Verdienst erworben, diese wichtigen, aber sehr versteckten und wenig bekannten Stellen aus den Werken des grossen Königsberger Philosophen zu sammeln und kritisch zu a A en a an * a Ta nl La aaa nd DU An 2 LE a id une Ds ul Er EEE EEE TESTING an Den > Dual aa in a TR Kant’s dualistische Biologie. 9] erläutern. (Fritz Schultze, „Kant und Darwin, ein Beitrag zur Geschichte der Entwickelungs-Lehre“ Jena, 1875.) Es geht daraus hervor, dass Kant bereits mit voller Klarheit den grossen Gedanken der Natur-Einheit (S. 52, 46) und der allumfassenden einheitlichen Entwickelung erfasst hatte. Nicht allein be- hauptet er in Folge dessen die Abstammung der verschiedenen Organismen von gemeinsamen Stammformen (Descendenz-Theorie!), die „Abartung von dem Urbilde der Stammgattung durch natür- liche Wanderungen“ (Migrations-Theorie! S. 65); sondern er nimmt auch an (schon 1771!) „dass die ursprüngliche Gangart des Menschen die vierfüssige gewesen ist, dass die zweifüssige sich erst allmählich entwickelt und dass der Mensch erst allmählich sein Haupt über seine alten Kameraden, die Thiere, so stolz er- hoben hat“ (a. a. 0. S.47—50). Ja Kant ist sogar der Erste, der das Prineip des „Kampfes um’s Dasein“ und der „Seleetions- Theorie“ entdeckt hat, wie wir nachher noch sehen werden (a. Bao, 25,56, 57, 61,140 u..s. w.): Wir würden daher unbedingt in der Geschichte der Ent- wickelungs-Lehre unserem gewaltigen Königsberger Philosophen den ersten Platz einräumen müssen, wenn nicht leider diese be- wunderungswürdigen monistischen Ideen des jungen Kant später durch den überwältigenden Einfluss der dualistischen christlichen Weltanschauung ganz zurückgedrängt worden wären. An ihre Stelle treten in den späteren Schriften Kant’s theils ganz un- haltbare dualistische Vorstellungen, theils unklares Schwanken zwischen ersteren und letzteren. Wenn Sie Kant’s Kritik der teleologischen Urtheilskraft, sein angesehenstes biologisches Werk, lesen, so gewahren Sie, dass er sich bei Betrachtung der orga- nischen Natur wesentlich immer auf dem teleologischen oder dualistischen Standpunkt erhält, während er für die anorgische Natur unbedingt und ohne Rückhalt die mechanische oder moni- stische Erklärungs-Methode annimmt. Er behauptet, dass sich im Gebiete der anorgischen Natur sämmtliche Erscheinungen aus me- chanischen Ursachen, aus den bewegenden Kräften der Materie selbst erklären lassen, im Gebiete der organischen Natur dagegen nicht. In der gesammten Anorgologie (in der Geologie und Mi- 23 Kant's dualistische Biologie. V. neralogie, in der Meteorologie und Astronomie, in der Physik und Chemie der anorganischen Naturkörper) sollen alle Erscheinungen bloss durch Mechanismus (causa efficiens), ohne Dazwischen- kunft eines Endzweckes erklärbar sein. In der gesammten Bio- logie dagegen, in der Botanik, Zoologie und Anthropologie, soll der Mechanismus nicht ausreichend sein, uns alle Erscheinungen zu erklären: vielmehr können wir dieselben nur durch Annahme einer zweckmässig wirkenden Endursache (causa finalis) be- greifen. An mehreren Stellen hebt Kant ausdrücklich hervor, dass man, von einem streng naturwissenschaftlich-philosophischen Standpunkt aus, für alle Erscheinungen ohne Ausnahme eine mechanische Erklärungsweise fordern müsse, und dass der Me- chanismus allein eine wirkliche Erklärung einschliesse. Zugleich meint er aber, dass gegenüber den belebten Natur- körpern, den Thieren und Pflanzen, unser menschliches Erkennt- niss-Vermögen beschränkt sei, und nicht ausreiche, um hinter die eigentliche wirksame Ursache der organischen Vorgänge, insbeson- dere der Entstehung der organischen Formen, zu gelangen. Die Befugniss der menschlichen Vernunft zur mechanischen Erklä- rung aller Erscheinungen sei unbeschränkt, aber ihr Vermögen dazu begrenzt, indem man die organische Natur nur teleologisch betrachten könne. Abweichend von diesem dualistischen Standpunkt behauptet Kant wieder an anderen Stellen die Nothwendigkeit einer genea- logischen Auffassung des organischen Systems, wenn man über- haupt zu einem wissenschaftlichen Verständniss desselben gelangen wolle. Die wichtigste und merkwürdigste von diesen Stellen findet sich in der „Methoden-Lehre der teleologischen Urtheilskraft“ ($ 79), welche 1790 in der „Kritik der Urtheilskraft“ erschien. Bei dem ausserordentlichen Interesse, welches diese Stelle sowohl für die Beurtheilung der Kantischen Philosophie, als für die Geschichte der Descendenz-Theorie besitzt, erlaube ich mir, Ihnen dieselbe hier wörtlich mitzutheilen. „Es ist rühmlich, mittelst einer comparativen Anatomie die \ grosse Schöpfung organisirter Naturen durchzugehen, um zu sehen: ob sich daran nicht etwas einem System Aehnliches, und zwar er,“ Kant’s genealogische Entwickelungs-Theorie. 93 . ia) fo] o dem Erzeugungs-Princip nach, vorfinde, ohne dass wir nöthig haben, beim blossen Beurtheilungs-Prineip, welches für die Ein- sieht ihrer Erzeugung keinen Aufschluss giebt, stehen zu bleiben, und muthlos allen Anspruch auf Natureinsicht in diesem Felde aufzugeben. Die Uebereinkunft so vieler Thiergattungen in einem gewissen gemeinsamen Schema, das nicht allein in ihrem Knochen- bau, sondern auch in der Anordnung der übrigen Theile zum Grunde zu liegen scheint, wo bewunderungswürdige Einfalt des Grundrisses durch Verkürzung einer und Verlängerung anderer, durch Entwickelung dieser und Auswickelung jener Theile, eine so grosse Mannichfaltigkeit von Species hat hervorbringen können, lässt einen obgleich schwachen Strahl von Hoffnung ins Gemüth fallen, dass hier wohl Etwas mit dem Prineip des Mechanis- mus der Natur, ohne das es ohnedies keine Naturwissenschaft geben kann, auszurichten sein möchte. Diese Analogie der For- men, sofern sie bei aller Verschiedenheit einem gemeinschaft- lichen Urbilde gemäss erzeugt zu sein scheinen, verstärkt die Vermuthung einer wirklichen Verwandtschaft derselben in der Erzeugung von einer gemeinschaftlichen Urmutter durch die stufenartige Annäherung einer Thiergattung zur anderen, von derjenigen an, in welcher das Prineip der Zwecke am meisten bewährt zu sein scheint, nämlich dem Menschen, bis zum Polyp, von diesem sogar bis zu Mosen und Flechten, und end- lich zu der niedrigsten uns merklichen Stufe der Natur, zur rohen Materie: aus welcher und ihren Kräften nach mecha- nischen Gesetzen (gleich denen, danach sie in Krystall- Erzeugungen wirkt) die ganze Technik der Natur, die uns in organisirten Wesen so unbegreiflich ist, dass wir uns dazu ein anderes Princip zu denken genöthigt glauben, abzustammen scheint. Hier steht es nun dem Archäologen der Natur frei, aus den übrig gebliebenen Spuren ihrer ältesten Revolutionen, nach allem ihm bekannten oder gemuthmassten Mechanismen derselben, jene grosse Familie von Geschöpfen (denn so müsste man sie sich vorstellen, wenn die genannte, durchgängig zusammenhängende Verwandtschaft einen Grund haben soll) ent- springen zu lassen.“ | 94 Kant’s genealogische Entwickelungs-Theorie. Y. Man muss darüber erstaunen, wie tief und klar der grosse Denker hier die innere Nothwendigkeit der Abstammungs-Lehre erkannte, und sie als den einzig möglichen Weg zur Erklärung der organischen Natur durch mechanische Gesetze, d. h. zu einer wahrhaft wissenschaftlichen Erkenntniss bezeichnete. Sobald man indessen diese Stelle im Zusammenhang mit dem übrigen Ge- dankengang der „Kritik der Urtheilskraft“ betrachtet, und an- deren geradezu widersprechenden Stellen gegenüber hält, zeigt sich deutlich, dass Kant in diesen und einigen ähnlichen Sätzen über sich selbst hinausging und seinen in der Biologie gewöhn- lich eingenommenen teleologischen Standpunkt verliess. Selbst unmittelbar auf jenen wörtlich angeführten, bewunderungswürdigen Satz folgt ein Zusatz, welcher demselben die Spitze abbricht. Nachdem Kant so eben ganz richtig die „Entstehung der orga- nischen Formen aus der rohen Materie nach mechanischen Ge- setzen (gleich denen der Krystall-Erzeugung)*, sowie eine stufen- weise Entwickelung der verschiedenen Species durch Abstam- mung von einer gemeinschaftlichen Urmutter behauptet hat, fügt er hinzu: „Allein er (der Archäolog der Natur, d. h. der Paläon- tolog) muss gleichwohl zu dem Ende dieser allgemeinen Mutter eine auf alle diese Geschöpfe zweckmässig gestellte Organisation beilegen, widrigenfalls die Zweckform der Producte des Thier- und Pflanzen-Reichs ihrer Möglichkeit nach gar nicht zu denken ist.“ Offenbar hebt dieser Zusatz den wichtigsten Grundgedanken des vorhergehenden Satzes, dass durch die Descendenz-Theorie eine rein mechanische Erklärung der organischen Natur möglich werde, vollständig wieder auf. Und dass diese teleologische Be- trachtung der organischen Natur bei Kant vorherrschte, zeigt schon die Ueberschrift des merkwürdigen $ 79, welcher jene beiden widersprechenden Sätze enthält: „Von der nothwendigen Unterordnung des Princips des Mechanismus unter das teleologische in Erklärung eines Dinges als Naturzweck.“ Am schärfsten spricht sich Kant gegen die mechanische Er- klärung der organischen Natur in folgender Stelle aus ($ 74): „Es ist ganz gewiss, dass wir die organisirten Wesen und deren innere Möglichkeit nach bloss mechanischen Principien der Natur —_ V. Kant’s dualistische Biologie. 95 nicht einmal zureichend kennen lernen, viel weniger uns erklären können, und zwar so gewiss, dass man dreist sagen kann: Es ist für Menschen ungereimt, auch nur einen solchen Anschlag zu fassen, oder zu hoffen, dass noch etwa dereinst ein Newton auf- stehen könne, der auch nur die Erzeugung eines Grashalms nach Natur-Gesetzen, die keine Absicht geordnet hat, begreillich machen werde, sondern man muss diese Einsicht dem Menschen schlech- terdings absprechen.“ Nun ist aber dieser unmögliche Newton siebenzig Jahre später in Darwin wirklich erschienen, und seine Seleetions-Theorie hat die Aufgabe thatsächlich gelöst, die Kant für absolut unlösbar hielt. Im Anschluss an Kant und an die deutschen Natur-Philo- sophen, mit deren Entwickelungs-Theorie wir uns im vorher- gehenden Vortrage beschäftigt haben, erscheint es gerechtfertigt, jetzt noch kurz einiger anderer deutscher Natur-Forscher und Phi- losophen zu gedenken, welche im Laufe unseres Jahrhunderts mehr oder minder bestimmt gegen die herrschenden teleologischen Schöpfungs-Vorstellungen sich auflehnten, und den mechanischen Grundgedanken der Abstammungs-Lehre geltend machten. Bald waren es mehr allgemeine philosophische Betrachtungen, bald mehr besondere empirische Wahrnehmungen, welche diese den- kenden Männer auf die Vorstellung brachten, dass die einzelnen organischen Species von gemeinsamen Stamm-Formen abstammen müssten. Unter ihnen will ich zunächst den grossen deutschen Geologen Leopold Buch hervorheben. Wichtige Beobachtungen über die geographische Verbreitung der Pflanzen führten ihn in seiner trefflichen „physikalischen Beschreibung der canarischen Inseln“ zu folgendem merkwürdigen Ausspruch: „Die Individuen der Gattungen auf Continenten breiten sich aus, entfernen sich weit, bilden durch Verschiedenheit der Stand- örter, Nahrung und Boden Varietäten, welche, in ihrer Entfer- nung nie von anderen Varietäten gekreuzt und dadurch zum Haupt-Typus zurückgebracht, endlich constant und zur eignen Art werden. Dann erreichen sie vielleicht auf anderen Wegen auf das Neue die ebenfalls veränderte vorige Varietät, beide nun als sehr verschiedene und sich nicht wieder mit einander ver- 96 Genealogische Ansichten von Leopold Buch. V. mischende Arten. Nicht so auf Inseln. Gewöhnlich in enge Thäler, oder in den Bezirk schmaler Zonen gebannt, können sich die Individuen erreichen und jede gesuchte Fixirung einer Varie- tät wieder zerstören. Es ist dies ungefähr so, wie Sonderbar- keiten oder Fehler der Sprache zuerst durch das Haupt einer Familie, dann durch Verbreitung dieser selbst, über einen ganzen Distriet einheimisch werden. Ist dieser abgesondert und isolirt, und bringt nicht die stete Verbindung mit andern die Sprache auf ihre vorherige Reinheit zurück, so wird aus dieser Abwei- chung ein Dialect. Verbinden natürliche Hindernisse, Wälder, Verfassung, Regierung, die Bewohner des abweichenden Distriets noch enger, und trennen sie sich noch schärfer von den Nach- barn, so fixirt sich der Dialect, und es wird eine völlig verschie- dene Sprache.“ (Uebersicht der Flora auf den Canarien, S. 133.) Sie sehen, dass Buch hier auf den Grundgedanken der Ab- stammungs-Lehre durch die Erscheinungen der Pflanzen-Geo- graphie geführt wird, ein biologisches Gebiet, welches in der That eine Masse von Beweisen zu Gunsten derselben liefert. Darwin hat diese Beweise in zwei besonderen Capiteln seines Haupt- werkes (dem elften und zwölften) ausführlich erörtert. Buch’s Bemerkung ist aber auch deshalb von Interesse, weil sie uns auf die äusserst lehrreiche Vergleichung der verschiedenen Sprach- Zweige und der Organismen-Arten führt, eine Vergleichung, welche sowohl für die vergleichende Sprach-Wissenschaft, als für die vergleichende Thier- und Pflanzen-Kunde vom grössten Nutzen ist. Gleichwie z. B. die verschiedenen Dialecte, Mundarten, Sprach-Aeste und Sprach-Zweige der deutschen, slavischen, grie- chisch-lateinischen und iranisch-indischen Grund-Sprache von einer einzigen gemeinschaftlichen indogermanischen Ur-Sprache ab- stammen, und gleichwie sich deren Unterschiede durch die Anpassung, ihre gemeinsamen Grundcharaktere durch die Vererbung erklären, so stammen auch die verschiedenen Arten, Gattungen, Familien, Ordnungen und Classen der Wirbelthiere von einer einzigen gemeinschaftlichen Wirbelthier-Form ab; auch hier ist die Anpassung die Ursache der Verschiedenheiten, die Vererbung die Ursache des gemeinsamen Grundcharakters. Dieser nn, V, Genealogische Ansichten von Schleicher, Baer, Schleiden. 97 interessante Parallelismus in der divergenten Entwickelung der Sprach-Formen und der Organismen-Formen ist in sehr einleuch- tender Weise von einem unserer ersten vergleichenden Sprach- Forscher, von dem genialen August Schleicher erörtert worden; derselbe hat namentlich den Stammbaum der indogermanischen Sprachen in der scharfsinnigsten Weise phylogenetisch entwickelt‘). Von anderen hervorragenden deutschen Naturforschern, die sich mehr oder minder bestimmt für die Descendenz-Theorie aus- sprachen, und die auf ganz verschiedenen Wegen zu derselben hingeführt wurden, habe ich zunächst Carl Ernst Baer zu nennen, den grossen Reformator der thierischen Entwickelungs-Geschichte. In einem 1834 gehaltenen Vortrage, betitelt: „Das allgemeinste Gesetz der Natur in aller Entwickelung“, erläutert derselbe vor- trefflich, dass nur eine ganz kindische Natur-Betrachtung die or- ganischen Arten als bleibende und unveränderliche Typen ansehen könne, und dass im Gegentheil dieselben nur vorübergehende Zeu- gungs-Reihen sein können, die durch Umbildung aus gemeinsamen Stamm-Formen sich entwickelt haben. Dieselbe Ansicht begründete Baer später (1859) durch die Gesetze der geographischen Verbrei- tung der Organismen. J. M. Schleiden, welcher vor fünfzig Jahren in Jena durch seine streng empirisch-philosophische und wahrhaft wissenschaft- liche Methode eine neue Epoche für die Pflanzenkunde begründete, erläuterte in seinen Grundzügen der wissenschaftlichen Botanik die philosophische Bedeutung des organischen Species-Begrifls; er nahm an, dass derselbe nur in dem allgemeinen Gesetze der Speeification seinen subjectiven Ursprung habe’). Die ver- schiedenen Pflanzen-Arten sind nur die specifieirten Producte der Pflanzen-Bildungstriebe, welche durch die verschiedenen Combi- nationen der Grundkräfte der organischen Materie entstehen. Der ausgezeichnete Wiener Botaniker Franz Unger wurde durch seine gründlichen und umfassenden Untersuchungen über die ausgestorbenen Pflanzen-Arten zu einer paläontologischen Ent- wickelungs-Geschichte des Pflanzen-Reichs geführt, welche den Grundgedanken der Abstammungs-Lehre klar ausspricht. In seinem „Versuch einer Geschichte der Pflanzenwelt“ (1852) behauptet er Haeckel, Natürl. Schöpfungs-Gesch. 3. Aufl. 7 98 Genealogische Ansichten von Unger, Vietor Carus, Büchner. V. die Abstammung aller verschiedenen Pflanzen-Arten von einigen wenigen Stamm-Formen, und vielleicht von einer einzigen Urpflanze, einer einfachsten Pflanzen-Zelle. Er zeigt, dass diese Anschauungs- weise von dem genetischen Zusammenhang aller Pflanzen-Formen nicht nur physiologisch nothwendig, sondern auch empirisch be- gründet sei®). In der Einleitung zu dem 1853 erschienenen „System der thie- rischen Morphologie“ von Vietor Carus steht folgender Ausspruch: „Die in den ältesten geologischen Lagern begrabenen Organismen sind als die Urahnen zu betrachten, aus denen durch fortgesetzte Zeugung und Accommodation an progressiv sehr verschiedene Lebens- Verhältnisse der Formen-Reichthum der jetzigen Schöpfung entstand.“ In demselben Jahre (1853) erklärte sich der Bonner Anthro- pologe Schaaffhausen in einem Aufsatze „über Beständigkeit und Umwandlung der Arten“ entschieden zu Gunsten der Descendenz- Theorie. Die lebenden Pflanzen- und Thier-Arten sind nach ihm die umgebildeten Nachkommen der ausgestorbenen Species, aus denen sie durch allmähliche Abänderung entstanden sind. Das Auseinanderweichen (die Divergenz oder Sonderung) der nächst- verwandten Arten geschieht durch Zerstörung der verbindenden Zwischenstufen. Auch für den thierischen Ursprung des Menschen- geschlechts und seine allmähliche Entwickelung aus affenähnlichen Thieren, die wichtigste Consequenz der Abstammungs-Lehre, sprach sich Schaaffhausen (1857) aus. Endlich ist von deutschen Natur-Philosophen noch besonders Louis Büchner hervorzuheben, welcher in seinem berühmten Buche „Kraft und Stoff“ 1855 ebenfalls die Grundzüge der De- scendenz-Theorie selbstständig entwickelte, und zwar vorzüglich auf Grund der unwiderleglichen empirischen Zeugnisse, welche uns die paläontologische und die individuelle Entwickelung der Organismen, sowie ihre vergleichende Anatomie, und der Paral- lelismus dieser Entwickelungs-Reihen liefert. Büchner zeigte sehr einleuchtend, dass schon hieraus eine Entwickelung der ver- schiedenen organischen Species aus gemeinsamen Stammformen nothwendig folge, und dass die Entstehung dieser ursprünglichen Stammformen nur durch Urzeugung denkbar sei'"). ELBE WELLE EEE SB ZERO N N EEE EEE V., Genealogische Ansichten von Jean Lamarck. 99 An der Spitze der französischen Natur-Philosophie steht Jean Lamarck, welcher in der Geschichte der Abstammungs- Lehre neben Darwin und Goethe den ersten Platz einnimmt. Ihm wird der unsterbliche Ruhm bleiben, zum ersten Male die Descendenz-Theorie als selbstständige wissenschaftliche Theorie ersten Ranges durchgeführt und als die naturphilosophische Grund- lage der ganzen Biologie festgestellt zu haben. Obwohl Lamarck bereits 1744 geboren wurde, begann er doch mit Veröffentlichung seiner Theorie erst im Beginn unseres Jahrhunderts, im Jahre 1801, und begründete dieselbe erst ausführlicher 1809, in seiner classischen „Philosophie zoologique“?). Dieses bewunderungswür- dige Werk ist die erste zusammenhängende und streng bis zu allen Consequenzen durchgeführte Darstellung der Abstammungs- Lehre. Durch die rein mechanische Betrachtungsweise der orga- nischen Natur und die streng philosophische Begründung von deren Nothwendigkeit erhebt sich Lamarck’s Werk weit über die vorherrschend dualistischen Anschauungen seiner Zeit, und bis auf Darwin’s Werk, welches gerade ein halbes Jahrhundert später erschien, finden wir kein zweites, welches wir in dieser Beziehung der Philosophie zoologique an die Seite setzen könnten. Wie weit dieselbe ihrer Zeit vorauseilte, geht wohl am besten daraus hervor, dass sie von den Meisten gar nicht verstanden und fünfzig Jahre hindurch todtgeschwiegen wurde. Lamarck’s grösster Gegner, Cuvier, erwähnt in seinem Bericht über die Fortschritte der Naturwissenschaften, in welchem die unbedeu- tendsten anatomischen Untersuchungen Aufnahme fanden, dieses epochemachende Werk mit keinem Worte. Auch Goethe, wel- cher sich so lebhaft für die französische Natur-Philosophie, für „die Gedanken der verwandten Geister jenseits des Rheins“, ın- teressirte, gedenkt Lamarck’s nirgends und scheint die Philo- sophie zoologique gar nicht gekannt zu haben. Den hohen Ruf, welchen Lamarck sich als Naturforscher erwarb, verdankt der- selbe nicht seinem höchst bedeutenden allgemeinen Werke, son- dern zahlreichen speciellen Arbeiten über niedere Thiere, insbe- sondere Mollusken, sowie einer ausgezeichneten „Natur-Geschichte der wirbellosen Thiere“, welche 1815—1822 in sieben Bänden mx ( 100 Lamarek’s zoologische Philosophie. vs erschien. Der erste Band dieses berühmten Werkes (1815) ent- hält in der allgemeinen Einleitung ebenfalls eine ausführliche Darstellung seiner Abstammungs-Lehre. Von der ungemeinen Bedeutung der Philosophie zoologique kann ich Ihnen vielleicht keine bessere Vorstellung geben, als wenn ich hier daraus einige der wichtigsten Sätze wörtlich anführe: „Die systematischen Eintheilungen, die Classen, Ordnungen, Familien, Gattungen und Arten, sowie deren Benennungen, sind willkürliche Kunsterzeugnisse des Menschen. Die Arten oder Species der Organismen sind von ungleichem Alter, nach einander entwickelt und zeigen nur relative, zeitweilige Beständigkeit; aus Varietäten gehen Arten hervor. Die Verschiedenheit in den Lebensbedingungen wirkt verändernd auf die Organisation, die allgemeine Form und die Theile der Thiere ein, ebenso der Ge- brauch oder Nichtgebrauch der Organe. Im ersten Anfang sind nur die allereinfachsten und niedrigsten Thiere und Pflanzen ent- standen und erst zuletzt diejenigen von der höchst zusammenge- setzten Organisation. Der Entwickelungsgang der Erde und ihrer organischen Bevölkerung war ganz continuirlich, nicht durch ge- waltsame Revolutionen unterbrochen. Das Leben ist nur ein physikalisches Phänomen. Alle Lebens-Erscheinungen beruhen auf mechanischen, auf physikalischen und chemischen Ursachen, die in der Beschaffenheit der organischen Materie selbst liegen. Die einfachsten Thiere und die einfachsten Pflanzen, welche auf der tiefsten Stufe der Organisations-Leiter stehen, sind entstanden und entstehen noch heute durch Urzeugung (Generatio spontanea). Alle lebendigen Naturkörper oder Organismen sind denselben Naturgesetzen wie die leblosen Naturkörper oder die Anorgane unterworfen. Die Ideen und Thätigkeiten des Verstandes sind Bewegungs-Erscheinungen des Centralnervensystems. Der Wille ist in Wahrheit niemals frei. Die Vernunft ist nur ein höherer Grad von Entwickelung und Verbindung der Urtheile.“ Das sind nun in der That erstaunlich külne, grossartige und weitreichende Ansichten, welche Lamarck vor achtzig Jahren in diesen Sätzen niederlegte, und zwar zu einer Zeit, in welcher deren Begründung durch massenhafte Thatsachen nicht V, Lamarck’s monistische Entwickelungs-Theorie. 101 entfernt so, wie heutzutage, möglich war. Sie sehen, dass Lamarck’'s Werk eigentlich ein vollständiges, streng monistisches (mechanisches) Natur-System ist, dass alle wichtigen allgemeinen Grundsätze der monistischen Biologie bereits von ihm vertreten werden: Die Einheit der wirkenden Ursachen in der organischen und anorgischen Natur, der letzte Grund dieser Ursachen in den chemischen und physikalischen Eigenschaften der Materie, der Mangel einer besonderen Lebenskraft oder einer organischen End-Ursache; die Abstammung aller Organismen von einigen wenigen, höchst einfachen Stamm-Formen oder Urwesen, welche durch Urzeugung aus anorgischer Materie entstanden sind; der zusammenhängende Verlauf der ganzen Erd-Geschichte, der Mangel der gewaltsamen und totalen Erd-Revolutionen, und überhaupt die Undenkbarkeit jedes Wunders, jedes übernatürlichen Eingrifts in den natürlichen Weltlauf. Dass Lamarck’s bewunderungswürdige Geistesthat fast gar keine Anerkennung fand, liest theils in der ungeheuren Weite des Riesenschritts, mit welchem er dem folgenden halben Jahr- hundert vorauseilte, theils aber auch in der mangelhaften empi- rischen Begründung derselben, und in der oft etwas einseitigen Art seiner Beweisführung. Als die nächsten mechanischen Ursachen, welche die beständige Umbildung der organischen Formen be- wirken, erkennt Lamarck ganz richtig die Verhältnisse der Anpassung an, während er die Form-Aehnlichkeit der ver- schiedenenen Arten, Gattungen, Familien u. s. w. mit vollem Rechte auf ihre Bluts-Verwandtschaft zurückführt, also durch die Vererbung erklärt. Die Anpassung besteht nach ihm darin, dass die beständige langsame Veränderung der Aussenwelt eine entsprechende Veränderung in den Thätigkeiten und dadurch auch weiter in den Formen der Organismen bewirkt. Das grösste Gewicht legt er dabei auf die Wirkung der Gewohnheit, auf den Gebrauch und Nichtgebrauch der Organe. Allerdings ist diese, wie Sie später sehen werden, für die Umbildung der orga- nischen Formen von der höchsten Bedeutung. Allein in der Weise, wie Lamarck hieraus allein oder doch vorwiegend die Veränderung der Formen erklären wollte, ist das meistens doch 102 Lamarck’s Ansicht von der Anpassung und der Vererbung. v3 nicht möglich. Er sagt z. B., dass der lange Hals der Giraffe entstanden sei durch das beständige Hinaufrecken des Halses nach hohen Bäumen, und das Bestreben die Blätter von deren Aesten zu pflücken; da die Giraffe meistens in trockenen Ge- genden lebt, wo nur das Laub der Bäume ihr Nahrung gewährt, war sie zu dieser Thätigkeit gezwungen. Ebenso sind die langen Zungen der Spechte, Colibris und Ameisen-Fresser durch die Gewohnheit entstanden, ihre Nahrung aus engen, schmalen und tiefen Spalten oder Canälen herauszuholen. Die Schwimm-Häute zwischen den Zehen der Schwimm-Füsse bei Fröschen und an- deren Wasser-Thieren sind lediglich durch das fortwährende Bemühen zu schwimmen, durch das Schlagen der Füsse in das Wasser, durch die Schwimm - Bewegungen selbst entstanden. Durch Vererbung auf die Nachkommen wurden diese Gewohn- heiten befestigt und durch weitere Ausbildung derselben schliess- lich die Organe ganz umgebildet. So richtig im Ganzen dieser Grundgedanke ist, so legt doch Lamarck zu ausschliesslich das Gewicht auf die Gewohnheit (Gebrauch und Nichtgebrauch der Organe), allerdings eine der wichtigsten, aber nicht die ° einzige Ursache der Form-Veränderung. Dies kann uns jedoch nicht hindern, anzuerkennen, dass Lamarck die Wechselwirkung der beiden organischen Bildungstriebe, der Anpassung und Ver- erbung, ganz richtig begriff. Nur fehlte ihm dabei das äusserst wichtige Prineip der „natürlichen Züchtung im Kampfe um das Dasein“, welches Darwin erst 50 Jahre später aufstellte. Als ein besonderes Verdienst Lamarck’s ist nun noch hervorzuheben, dass er bereits versuchte, die Entwickelung des Menschen-Geschlechts aus anderen, zunächst aflen- artigen Säugethieren darzuthun. Auch hier war es wieder in erster Linie die Gewohnheit, der er den umbildenden, veredeln- den Einfluss zuschrieb. Er nahm also an, dass die niedersten, ursprünglichen Urmenschen entstanden seien aus den menschen- ähnlichen Affen, indem die letzteren sich angewöhnt hätten, aufrecht zu gehen. Die Erhebung des Rumpfes, das beständige Streben, sich aufrecht zu erhalten, führte zunächst zu einer Um- bildung der Gliedmassen, zu einer stärkeren Differenzirung oder V. Lamarck’s Ansicht vom Ursprung des Menschen. 103 Sonderung der vorderen und hinteren Extremitäten, welche mit becht als einer der wesentlichsten Unterschiede zwischen Menschen und Affen gilt. Hinten entwickelten sich Waden und platte Fuss- sohlen, vorn Greifarme und Hände. Der aufrechte Gang hatte zunächst eine freiere Umschau über die Umgebung zur Folge, und damit einen bedeutenden Fortschritt in der geistigen Ent- wickelung. Die Menschen-Affen erlangten dadurch bald ein ‚grosses Uebergewicht über die anderen Affen und weiterhin über- haupt über die umgebenden Organismen. Um die Herrschaft über diese zu behaupten, thaten sie sich in Gesellschaften zu- saminen, und es entwickelte sich, wie bei allen gesellig lebenden Thieren, das Bedürfniss einer Mittheilung ihrer Bestrebungen und Gedanken. So entsand das Bedürfniss der Sprache, deren anfangs rohe, ungegliederte Laute bald mehr und mehr in Verbindung gesetzt, ausgebildet und artikulirt wurden. Die Entwickelung der artikulirten Sprache war nun wieder der stärkste Hebel für eine weiter fortschreitende Entwickelung des Organismus und vor Allem des Gehirns, und so verwandelten sich allmählich und langsam die Affenmenschen in echte Menschen. Die wirkliche Abstammung der niedersten und rohesten Urmenschen von den höchst entwickelten Affen. wurde also von Lamarck bereits auf das Bestimmteste behauptet, und durch eine Reihe der wichtig- tigsten Beweisgründe unterstützt. Als der bedeutendste der französichen Natur-Philosophen gilt gewöhnlich nicht Lamarck, sondern Etienne Geoffroy St. Hilaire (der Aeltere), geb. 1771, derjenige, für welchen auch (roethe sich besonders interessirte, und den wir oben bereits als den entschiedensten Gegner Cuvier’s kennen gelernt haben. Er entwickelte seine Ideen von der Umbildung der organischen Species bereits gegen .Ende des vorigen Jahrhunderts, veröffent- lichte dieselben aber erst im Jahre 1828, und vertheidigte sie dann in den folgenden Jahren, besonders 1830, tapfer gegen Cuvier. Geoffroy S. Hilaire nahm im Wesentlichen die Descendenz-Theorie Lamarck’s an, glaubte jedoch, dass die Umbildung der Thier- und Pflanzen-Arten weniger durch die eigene Thätigkeit des Organismus, (durch Gewohnheit, Uebung, 104 Entwickelungs-Theorie von Geoffroy S. Hilaire. V / Gebrauch oder Nichtgebrauch der Organe bewirkt werde, als vielmehr durch den „Monde ambiant“, d.h. durch die Bee Veränderung der Aussenwelt, insbesondere der Atmosphäre. E fasst den Organismus gegenüber den Lebens-Bedingungen de Aussenwelt mehr passiv oder leidend auf, Lamarck dagege mehr activ oder handelnd. Geoffroy glaubt z. B., dass bloss durch Verminderung der Kohlensäure in der Atmosphäre aus eidechsenartigen Reptilien die Vögel entstanden seien, indem. durch den grösseren Sauerstoff-Gehalt der Athmungs-Process leb- hafter und energischer wurde. Dadurch entstand eine höhere Blut-Temperatur, eine gesteigerte Nerven- und Muskel-Thätigkeit, aus den Schuppen der Reptilien wurden die Federn der Vögel u.s. w. Auch dieser Vorstellung liegt ein richtiger Gedanke zu Grunde. Aber wenn auch gewiss die Veränderung der Atmo- sphäre, wie die Veränderung jeder anderen äusseren Existenz- Bedingung auf den Organismus direct oder indirect umgestaltend einwirkt, so ist dennoch diese einzelne Ursache an sich viel zu unbedeutend, um ihr solche Wirkungen zuzuschreiben. Sie ist selbst unbedeutender, als die von Lamarck zu einseitig betonte Uebung und Gewohnheit. Das Haupt-Verdienst von Geoffroy besteht darin, dem mächtigen Einflusse von Cuvier gegenüber die einheitliche Natur-Anschauung, die Einheit der organischen Form-Bildung und den tiefen genealogischen Zusammenhang der verschiedenen organischen Gestalten geltend gemacht zu haben. Die berühmten Streitigkeiten zwischen den beiden grossen Gegnern in der Pariser Academie, insbesondere die beiden heftigen Con- fliette am 22. Februar und am 19. Juli 1830, an denen Goethe den lebendigsten Antheil nahm, habe ich bereits in dem vorher- gehenden Vortrage erwähnt (8. 77, 78). Damals blieb Cuvier der anerkannte Sieger, und seit jener Zeit ist in Frankreich Wenig für die weitere Entwickelung der Abstammungs-Lehre, und für den Ausbau einer monistischen Entwickelungs-Theorie geschehen. Offenbar ist dies vorzugsweise dem hinderlichen Ein- flusse zuzuschreiben, welchen Cuvier’s grosse Autorität ausübte. In keinem wissenschaftlich gebildeten Lande Europa’s hat Darwin’s Lehre zunächst so wenig gewirkt und ist so wenig verstanden r V. Anhänger der Descendenz-Theorie in England. 105 worden, wie in Frankreich. Die Academie der Wissenschaften in Paris hat sogar den Vorschlag, Darwin zu ihrem Mitgliede zu ernennen, mehrmals verworfen, ehe sie sich selbst dieser höchsten Ehre für würdig erklärte. Unter den neueren franzö- sichen Naturforschern (vor Darwin!) sind nur noch zwei an- gesehene Botaniker hervorzuheben, Naudin (1852) und Lecoq (1854), welche sich zu Gunsten der Veränderlichkeit und Um- bildung der Arten auszusprechen wagten. Nachdem wir die älteren Verdienste der deutschen und französischen Natur-Philosophie um die Begründung der Ab- stammungs-Lehre erörtert haben, wenden wir uns zu England, welches seit dem Jahre 1859 der eigentliche Ausgangs-Heerd für die weitere Ausbildung und die definitive Feststellung der Ent- wickelungs-Theorie geworden ist. Im Anfange unseres Jahr- hunderts haben die Engländer an der festländischen Natur-Philo- sophie und an deren bedeutendstem Fortschritte, der Descendenz- Theorie, nur wenig Antheil genommen. Fast der einzige ältere englische Naturforscher, den wir hier zu nennen haben, ist Erasmus Darwin, der Grossvater des Reformators der Descen- denz-Theorie. Er veröffentlichte im Jahre 1794 unter dem Titel „Zoonomia“ ein naturphilosophisches Werk, in welchem er ganz ähnliche Ansichten, wie Goethe und Lamarck, ausspricht, ohne jedoch von diesen Männern damals irgend Etwas gewusst zu haben. Die Descendenz-Theorie lag schon damals gleichsam in der Luft. Auch Erasmus Darwin legt grosses Gewicht auf die Umgestaltung der Thier- und Pflanzen-Arten durch ihre eigene Lebens-Thätigkeit durch die Angewöhnung an veränderte Existenz- Bedingungen u. s. w. Sodann spricht sich im Jahre 1822 W. Herbert dahin aus, dass die Arten oder Species der Thiere und Pflanzen Nichts weiter seien, als beständig gewordene Varietäten oder Spiel-Arten. Ebenso erklärte 1826 Grant in Edinburg, dass neue Arten durch fortdauernde Umbildung aus bestehenden Arten hervorgehen. 1841 behauptete Freke, dass alle organischen Wesen von einer einzigen Urform abstammen müssten. Ausführ- licher und in sehr klarer philosophischer Form bewies 1852 Herbert Spencer die Nothwendigkeit der Abstammungs-Lehre 106 Anhänger der Descendenz-Theorie in England. vu und begründete dieselbe näher in seinem 1858 erschienenen vortrefflichen „Essays“ und in den später veröffentlichten „Prin- ciples of Biology“ °°). Derselbe hat zugleich das grosse Verdienst, die Entwickelungs-Theorie auf die Psychologie angewandt und gezeigt zu haben, dass auch die Seelen-Thätigkeiten und die Greistes-Kräfte nur stufenweise erworben und allmählich entwickelt werden konnten. Endlich ist noch hervorzuheben, dass 1359 der Erste unter den englischen Zoologen, Huxley, die Descendenz- Theorie als die einzige Schöpfungs-Hypothese bezeichnete, welche mit der wissenschaftlichen Physiologie vereinbar sei. In dem- selben Jahre erschien die „Einleitung in die Tasmanische Flora“, worin der berühmte engliche Botaniker Hooker die Descendenz- Theorie annimmt und durch wichtige eigene Beobachtungen unterstützt. Sämmtliche Naturforscher und Philosophen, welche Sie in dieser kurzen historischen Uebersicht als Anhänger der Entwicke- lungs-Theorie kennen gelernt haben, gelangten im besten Falle zu der Anschauung, dass alle verschiedenen Thier- und Pflanzen- Arten, die zu irgend einer Zeit auf der Erde gelebt haben und noch jetzt leben, die allmählich veränderten und umgebildeten Nachkommen von einer einzigen, oder von einigen wenigen, ur- sprünglichen, höchst einfachen Stamm-Formen sind; und dass letz- tere einst durch Urzeugung (Generatio spontanea) aus anorgischer Materie entstanden. Aber keiner von jenen Natur-Philosophen gelangte dazu, diesen Grund-Gedanken der Abstammungs-Lehre ursächlich zu begründen, und die Umbildung der organischen Species durch den wahren Nachweis ihrer mechanischen Ursachen wirklich zu erklären. Diese schwierigste Aufgabe vermochte erst Charles Darwin zu lösen, und hierin liegt die weite Kluft, ‘welche denselben von seinen Vorgängern trennt. Das ausserordentliche Verdienst Darwin’s ist nach meiner Ansicht ein doppeltes: er hat erstens die Abstammungs-Lehre, deren Grund-Gedanken schon Goethe und Lamarck klar aus- sprachen, viel umfassender entwickelt, viel eingehender verfolgt und viel strenger im Zusammenhang durchgeführt, als alle seine Vorgänger; und er hat zweitens eine neue Theorie aufgestellt, V. Doppeltes Verdienst von Üharles Darwin. 107 welche uns die natürlichen Ursachen der organischen Entwicke- lung, die wahren, bewirkenden Ursachen der organischen Form- Bildung, der Veränderungen und Umformungen der Thier- und Pflanzen-Arten enthüllt. Das ist die Theorie von der natürlichen Züchtung (Selectio naturalis). Um die Bedeutung dieses doppelten Verdienstes richtig zu würdigen, muss man bedenken, dass fast die gesammte Biologie vor Darwin den entgegengesetzten Anschauungen huldigte, und dass fast bei allen Zoologen und Botanikern die absolute Selbst- ständigkeit der organischen Species als selbstverständliche Vor- aussetzung aller Form-Betrachtungen galt. Das falsche Dogma von der Beständigkeit und unabhängigen Erschaffung der einzel- nen Arten hatte eine so hohe Autorität und eine so allgemeine Geltung gewonnen, und wurde ausserdem durch den trügenden Augenschein bei oberflächlicher Betrachtung so sehr begünstigt, dass wahrlich kein geringer Grad von Muth, Kraft und Verstand dazu gehörte, sich reformatorisch dagegen zu erheben und das künstlich darauf errichtete Lehr-Gebäude zu zertrümmern. Ausser- dem brachte uns aber Darwin noch den neuen und höchst wichtigen Grund-Gedanken der „natürlichen Züchtung“. Man muss diese beiden Punkte scharf unterscheiden, — freilich geschieht es häufig nicht, — man muss scharf unter- scheiden erstens die Abstammungs-Lehre oder Descendenz- Theorie von Lamarck, welche bloss behauptet, dass alle Thier- und Pflanzen-Arten von gemeinsamen, einfachsten, spontan entstandenen Urformen abstammen — und zweitens die Züch- tungs-Lehre oder Selections-Theorie von Darwin, welche uns zeigt, warum diese fortschreitende Umbildung der organischen Gestalten stattfand, welche mechanisch wirkenden Ursachen die ununterbrochene Neubildung und die immer wachsende Mannich- faltigkeit der Thiere und Pflanzen bedingen. Eine volle und gerechte Würdigung kann Darwin’s un- sterbliches Verdienst erst später erwarten, wenn die Entwickelungs- Theorie, nach Ueberwindung aller entgegengesetzten Schöpfungs- Theorien, als das oberste Erklärungs-Princip der Anthropologie, und dadurch aller anderen Wissenschaften, anerkannt sein wird. 108 Doppeltes Verdienst von Charles Darwin. N. Gegenwärtig, wo in dem heiss entbrannten Kampfe um die Wahrheit Darwin’s Name den Anhängern der natürlichen Ent- wickelungs-Theorie als Losung dient, wird sein Verdienst oft in entgegengesetzter Richtung verkannt. Die Einen sind nicht selten ebenso geneigt, es zu überschätzen, als die Anderen es herabzu- setzen. Ueberschätzt wird Darwin's Verdienst, wenn man ihn als den Begründer der Descendenz-Theorie oder gar der gesammten Entwickelungs-Lehre bezeichnet. Wie Sie aus der historischen Darstellung dieses und der vorhergehenden Vorträge bereits ent- nommen haben, ist die Entwiekelungs-Theorie als solche nicht neu; alle Natur-Philosophen, welche sich nicht dem blinden Dogma einer übernatürlichen Schöpfung gebunden überliefern wollten, mussten eine natürliche Entwickelung annehmen. Aber auch die Descendenz-Theorie, als der umfassende biologische Theil der universalen Entwickelungs-Lehre, wurde von Lamarck bereits so klar ausgesprochen, und bis zu den wichtigsten Con- sequenzen ausgeführt, dass wir ihn als den eigentlichen Begründer derselben verehren müssen. Daher darf nicht die Descendenz- Theorie als Darwinismus bezeichnet werden, sondern nur die Selections-Theorie. Unterschätzt wird Darwin’s Verdienst natürlich von allen seinen Gegnern. Doch kann man von wissenschaftlichen Gegnern desselben, die durch gründliche biologische Bildung zur Ab- gabe eines Urtheils berechtigt wären, eigentlich nicht mehr reden. Denn unter allen gegen Darwin und die Descendenz-Theorie veröffentlichten Schriften kann mit Ausnahme derjenigen von Agassiz keine einzige Anspruch überhaupt auf Berücksichtigung, geschweige denn Widerlegung erheben; so offenbar sind sie alle entweder ohne gründliche Kenntniss der biologischen Thatsachen, oder ohne klares philosophisches Verständniss derselben ge- schrieben. Um die Angriffe von Theologen und anderen Laien aber, die überhaupt Nichts von der Natur wissen, brauchen sich die Natur-Forscher nicht weiter zu kümmern. Der berühmteste und entschiedenste wissenschaftliche Gegner Darwin’s war Louis Agassiz. Er verwarf überhaupt die ganze V. Agassiz’s Opposition gegen den Darwinismus. 109 Entwickelungs-Theorie. Seine principielle Opposition verdient Beachtung, wenn auch nur als philosophische Curiosität. In der 1869 in Paris erschienenen französischen Uebersetzung seines vor- her von uns betrachteten „Essay on classification“ °) hat Agassiz seinen schon früher vielfach geäusserten (regensatz gegen den „Darwinismus“ in die entschiedenste Form gebracht. Er hat dieser Uebersetzung einen besonderen, 16 Seiten langen Abschnitt angehängt, welcher den Titel führt: „Le Darwinisme. Classi- fication de Haeckel.“ In diesem sonderbaren Capitel stehen die wunderlichsten Dinge zu lesen, wie z. B.: „Die Darwin’sche Idee ist eine Conception a priori. — Der Darwinismus ist eine Travestie der Thatsachen. — Der Darwinismus schliesst fast die ganze Masse der erworbenen Kenntnisse aus, um nur das zurück- zubehalten und sich zu assimiliren, was seiner Doctrin dienen kann!“ Das heisst denn doch die ganze Sachlage vollständig auf den Kopf stellen! Der Biologe, der die Thatsachen kennt, muss über den Muth erstaunen, mit dem Agassiz solche Sätze ausspricht, Sätze, an denen kein wahrer Buchstabe ist, und die er selbst nicht glauben kann! Die unerschütterliche Stärke der Descendenz- Theorie liegt gerade darin, dass sämmtliche biologische That- sachen eben nur durch sie erklärbar sind, ohne sie dagegen un- verständliche Wunder bleiben. Alle unsere „erworbenen Kennt- nisse“ in der vergleichenden Anatomie und Physiologie, in der Embryologie und Paläontologie, in der Lehre von der geogra- phischen und topographischen Verbreitung der Organismen u. s. w., sie alle sind unwiderlegliche Zeugnisse für die Wahrheit der Descendenz-Theorie. Mit Louis Agassiz ist im December 1873 der letzte Gegner des Darwinismus in’s Grab gestiegen, der überhaupt wissenschaft- liche Beachtung verdiente. Seine letzte Schrift (erst nach seinem Tode in dem „Atlantic Monthly“ vom Januar 1874 erschienen) behandelt die „Entwickelung und Permanenz des Typus“; sie ist speciell gegen Darwin’s Ideen und gegen meine phylogenetischen Theorien gerichtet. Allein der eigentliche Kern der Sache wird darin gar nicht berührt. Die ausserordentliche Schwäche dieses 110 Agassiz’s Opposition gegen den Darwinismus. vo letzten Versuches beweist deutlicher, als alles Andere, dass das Arsenal unserer Gegner völlig erschöpft ist. E Ich habe in meiner generellen Morphologie’) und besonders im sechsten Buche derselben (in der generellen Phylogenie) den „Essay on classification* von Agassiz in allen wesentlichen Punkten eingehend widerlegt. In meinem 24sten Capitel habe ich demjenigen Abschnitte, den er selbst für den wichtigsten hielt (über die Gruppenstufen oder Kategorien des Systems) eine sehr ausführliche und streng wissenschaftliche Erörterung gewidmet; ich glaube gezeigt zu haben, dass dieser ganze Abschnitt ein reines Luftschloss, ohne jede Spur von realer Begründung ist. Agassiz hat sich aber wohl gehütet, auf diese Widerlegung irgendwie einzugehen; er war auch nicht im Stande, irgend etwas Stichhaltiges dagegen vorzubringen. Er kämpfte nicht mit Be- ; weisgründen, sondern mit Phrasen! Eine derartige Gegnerschaft wird aber den vollständigen Sieg der Entwickelungs-Theorie nicht aufhalten, sondern nur beschleunigen! E Sechster Vortrag. Entwickelungs- Theorie von Lyell und Darwin. Charles Lyell’s Grundsätze der Geologie. Seine natürliche Entwickelungs- Geschichte der Erde. Entstehung der grössten Wirkungen durch Summirung der kleinsten Ursachen. Unbegrenzte Länge der geologischen Zeit- Räume. Lyell’s Widerlegung der Cuvier’'schen Schöpfungs-Geschichte. Begründung des ununterbrochenen Zusammenhangs der geschichtlichen Entwiekelung durch Lyell und Darwin. Biographische Notizen über Charles Darwin. Seine wis- senschaftlichen Werke. Seine Korallenriff-Theorie. Entwickelung der Selec- tions-Theorie. Ein Brief von Darwin. Gleichzeitige Veröffentlichung der Selections-Theorie von Charles Darwin und Alfred Wallace. Darwin’s Studium der Hausthiere und Culturpflanzen. Andreas Wagner’s Ansicht von der be- sonderen Schöpfung der Cultur-Organismen für den Menschen. Der Baum des Erkenntnisses im Paradies. Vergleichung der wilden und der Cultur- Organismen. Darwin’s Studium der Haustauben. Bedeutung der Taubenzucht. Gemeinsame Abstammung aller Taubenrassen. Meine Herren! In den letzten drei Jahrzehnten, welche vor dem Erscheinen von Darwin’s Werk verflossen, vom Jahre 1830 bis 1859, blieben in den organischen Natur-Wissenschaften die Schöpfungs-Vorstellungen Cuvier’s herrschend. Man bequemte sich zu der unwissenschaftlichen Annahme, dass im Verlaufe der Erd-Geschichte eine Reihe von unerklärlichen Erd-Revolutionen periodisch die ganze Thier- und Pflanzen-Welt vernichtet habe, und dass am Ende jeder Revolution, beim Beginne einer neuen Periode, eine neue, vermehrte und verbesserte Auflage der orga- nischen Bevölkerung erschienen sei. Freilich war die Anzah- dieser Schöpfungs-Auflagen durchaus streitig und in Wahrheit gar nicht festzustellen; auch wiesen die zahlreichen Fortschritte, welche in allen Gebieten der Zoologie und Botanik während dieser 419 Nachhaltiger Einfluss von Cuvier's Schöpfungs-Hypothese. VI. x Zeit gemacht wurden, immer dringender auf die Unhaltbarkeit jener bodenlosen Hypothese Cuvier’s, und auf die Wahrheit der natürlichen Entwickelungs-Theorie Lamarck’s hin: allein trotz- dem blieb die erstere fast allgemein bei den Biologen in Geltung. Dies ist vor Allem der hohen Autorität zuzuschreiben, welche sich Cuvier erworben hatte; hier zeigt sich wieder schlagend, wie schädlich der Glaube an eine bestimmte Autorität dem Ent- wickelungs-Leben der Menschen wird — die Autorität von der Goethe einmal treffend sagt: dass sie im Einzelnen verewigt, was einzeln vorübergehen sollte, dass sie ablehnt und an sich vorübergehen lässt, was festgehalten werden sollte, und dass sie hauptsächlich Schuld ist, wenn die Menschheit nicht vom Flecke kommt. Ausser dem grossen Gewicht von Cuvier’s Autorität war auch die gewaltige Macht der menschlichen Trägheit hinderlich, welche sich nur schwer entschliesst, von dem breitgetretenen Wege der alltäglichen Vorstellungen abzugehen und neue, noch nicht bequem gebahnte Pfade zu betreten; durch sie lässt es sich be- greifen, dass Lamarck’s Descendenz-Theorie erst 1359 zur Gel- tung gelangte, nachdem Darwin ihr ein neues Fundament ge- geben hatte. Der empfängliche Boden für dieselbe war längst vorbereitet, ganz besonders durch das Verdienst eines anderen englischen Naturforschers, des 1375 gestorbenen Charles Lyell; auf seine hohe Bedeutung für die „natürliche Schöpfungs-Ge- schichte“ müssen wir hier nothwendig einen Blick werfen. Unter dem Titel: Grundsätze der Geologie (Prineiples of geology)'') veröffentlichte Charles Lyell 1830 ein classisches Werk, welches die Entwickelungs-Geschichte der Erde von Grund aus umgestaltete; es reformirte dieselbe in ähnlicher Weise wie 30 Jahre später Darwin’s Werk die Biologie. Lyell’s epoche- machendes Buch, welches Cuvier’s Schöpfungs-Hypothese an der Wurzel zerstörte, erschien in demselbeu Jahre, in welchem Cuvier | seine grossen Triumphe über die Natur-Philosophie feierte, und seine Oberherrschaft über das morphologische Gebiet auf drei Jahrzehnte hinaus befestigte. Cuvier hatte durch seine künst- liche Schöpfungs-Hypothese und die damit verbundene Kata- VI. Lyell’s natürliche Entwickelungs-Geschichte der Erde. 113 strophen-Theorie einer natürlichen Entwickelungs-Theorie geradezu den Weg verlegt und den Faden der natürlichen Erklärung ab- geschnitten. Lyell brach derselben wieder freie Bahn, und führte einleuchtend den geologischen Beweis, dass jene dualistischen Vorstellungen Cuvier’s ebensowohl ganz unbegründet, als auch ganz überflüssig seien. Diejenigen Veränderungen der Erdober- fläche, welche noch jetzt unter unsern Augen vor sich gehen, er- klären nach Lyell vollkommen hinreichend Alles, was wir von der Entwickelung der Erdrinde überhaupt wissen; es ist daher vollständig überflüssig und unnütz, in räthselhaften Revolutionen die unerklärlichen Ursachen dafür zu suchen. Man braucht weiter Nichts zu Hülfe zu nehmen als ausserordentlich lange Zeiträume, um die Entstehung des Baues der Erdrinde auf die einfachste und natürlichste Weise aus denselben Ursachen zu er- klären, welche noch heutzutage wirksam sind. Viele Geologen hatten sich früher gedacht, dass die höchsten Gebirgsketten der Erde ihren Ursprung nur ungeheuren, einen grossen Theil der Erd-Oberfläche umgestaltenden Revolutionen, insbesondere co- lossalen vulkanischen Ausbrüchen verdanken könnten. Solche Bergketten z. B. wie die Alpen, oder wie die Cordilleren, sollten auf einmal aus dem feuerflüssigen Erd-Innern durch einen unge- heuren Spalt der weit geborstenen Erdrinde emporgestiegen sein. Lyell zeigte dagegen, dass wir uns die Entwickelung solcher ungeheuren Gebirgsketten ganz natürlich aus denselben langsamen, unmerklichen Hebungen und Senkungen der Erd-Oberfläche er- klären können, die noch jetzt fortwährend vor sich gehen, und deren Ursachen keineswegs wunderbar sind. Wenn diese Sen- kungen und Hebungen auch vielleicht im Jahrhundert nur ein paar Zoll oder höchstens einige Fuss betragen, so können sie doch bei einer Dauer von einigen Jahr-Millionen vollständig genügen, um die höchsten Gebirgsketten hervortreten zu lassen. Auch die meteorologische Thätigkeit der Atmosphäre, die Wirksamkeit des Regens und des Schnees, ferner die Brandung der Küste, welche an und für sich nur unbedeutend zu wirken scheinen, müssen die grössten Veränderungen hervorbringen, wenn man nur hin- länglich grosse Zeiträume für ihre Wirksamkeit in Anspruch Haeckel, Natürl. Schöpfungs-Gesch. 8. Aufl, S 114 Entstehung der grössten Wirkungen durch die kleinsten Ursachen. VI, nimmt. Die Summirung der kleinsten Ursachen bringt die grössten Wirkungen hervor. Der Wassertropfen höhlt den Stein aus. Auf die unermessliche Länge der geologischen Zeit-Räume, welche hierzu erforderlich sind, müssen wir nothwendig später noch einmal zurückommen; denn auch für Darwin’s Theorie, ebenso wie für diejenige Lyell’s, bleibt die Annahme unge- heurer Zeit-Maasse ganz unentbehrlich. Wenn die Erde und ihre Organismen sich wirklich auf natürlichem Wege entwickelt haben, so muss diese langsame und allmähliche Entwickelung jedenfalls eine Zeit-Dauer in Anspruch genommen haben, deren Vorstellung unser Fassungs-Vermögen gänzlich übersteigt. Da Viele aber gerade hierin eine Haupt-Schwierigkeit jener Ent- wickelungs-Theorien erblicken, so will ich jetzt schon voraus- greifend bemerken, dass wir nicht einen einzigen vernünftigen Grund haben, irgend wie uns die hierzu erforderliche Zeit be- schränkt zu denken. Wenn nicht allein viele Laien, sondern selbst hervorragende Naturforscher, als Haupt-Einwand gegen diese Theorien geltend machen, dass dieselben zu lange Zeit- Räume in Anspruch nähmen, so ist dieser Einwand kaum zu begreifen. Denn es ist durchaus nicht einzusehen, was uns in der Annahme derselben irgendwie beschränken sollte. Wir wissen längst schon aus dem Bau und der Dicke der geschichteten Erdrinde, dass die Entstehung derselben, der Absatz der nep- tunischen Gesteine aus dem Wasser, allermindestens mehrere Millionen Jahre gedauert haben muss. Ob wir aber hypothetisch für diesen Process zehn Millionen oder zehntausend Billionen Jahre annehmen, ist vom Standpunkte der strengsten Natur- Philosophie gänzlich gleichgültig. Vor uns und hinter uns liegt die Ewigkeit. Wenn sich bei Vielen gegen die Annahme von so ungeheuren Zeiträumen das Gefühl sträubt, so ist das die Folge der falschen Vorstellungen, welche uns von frühester Jugend an über die angeblich kurze, nur wenige Jahrtausende umfassende Geschichte der Erde eingeprägt werden. Wie Albert Lange in seiner vortreffllichen Geschichte des Materialismus'?) schlagend beweist, ist es vom streng kritischen Standpunkte aus jeder VI. Unbegrenzte Länge der geologischen Zeit-Räume. 115 naturwissenschaftlichen Hypothese viel eher erlaubt, die Zeit- Räume zu gross, als zu klein anzunehmen. Jeder Entwickelungs- Vorgang lässt sich um so eher begreifen, je längere Zeit er dauert. Ein kurzer und beschränkter Zeit-Raum für denselben ist von vornherein das Unwahrscheinlichste. Wir haben hier nicht Zeit, auf Lyell’s vorzügliches Werk näher einzugehen, und wollen daher bloss das wichtigste Resultat desselben hervorheben, dass es nämlich Cuvier’s Schöpfungs- Geschichte mit ihren mythischen Revolutionen gründlich wider- legte; an ihre Stelle trat einfach die beständige Umbildung der Erd-Rinde durch die fortdauernde Thätigkeit der noch jetzt auf die Erd-Öberfläche wirkenden Kräfte, die Thätigkeit des Wassers und des vulkanischen Erd-Innern. Lyell wies also einen con- tinuirlichen, ununterbrochenen Zusammenhang der ganzen Erd- Geschichte nach, und er bewies denselben so unwiderleglich, er begründete so einleuchtend die Herrschaft der „existing causes“, der noch heute wirksamen, dauernden Ursachen in der Umbil- dung der Erd-Rinde, dass in kurzer Zeit die Geologie Cuvier's Hypothese vollkommen aufgab. Nun ist es aber merkwürdig, dass die Paläontologie, die Wissenschaft von den Versteinerungen, soweit sie von den Bo- tanikern und Zoologen betrieben wurde, von diesem grossen Fortschritt der Geologie scheinbar unberührt blieb. Die Biologie nahm fortwährend noch jene: wiederholte neue Schöpfung der gesammten Thier- und Pflanzen-Bevölkerung im Beginne jeder neuen Periode der Erd-Geschichte an, obwohl diese Hypothese von den einzelnen, schubweise in die Welt gesetzten Schöpfungen ohne die Annahme der Revolutionen reiner Unsinn wurde und gar keinen Halt mehr hatte. Offenbar ist es vollkommen un- gereimt, eine besondere neue Schöpfung der ganzen Thier- und Pflanzen-Welt zu bestimmten Zeit-Abschnitten anzunehmen, ohne dass die Erd-Rinde selbst dabei irgend eine beträchtliche allge- meine Umwälzung erfährt. Trotzdem also jene Vorstellung auf das Engste mit der Katastrophen-Theorie Cuvier’s zusammenhing, blieb sie dennoch herrschend, nachdem die letztere bereits zer- stört war. 116 Innerer Zusan menhang von L,yell’s und Darwin’s Theorie. VI: Es war nun dem grossen englischen Natur-Forscher Charles ' Darwin vorbehalten, diesen Zwiespalt völlig zu beseitigen; er bewies klar, dass auch die Lebewelt der Erde eine ebenso con- tinuirlich zusammenhängende Geschichte hat, wie die anoregische Rinde der Erde; dass auch die Thiere und Pflanzen ebenso all- mählich durch Umwandlung oder Transformation auseinander hervorgegangen sind, wie die wechselnden Formen der Erd-Rinde, der Continente und der sie umschliessenden und trennenden Meere aus früheren, ganz davon verschiedenen Formen entstanden sind. Wir können in dieser Beziehung wohl sagen; dass Darwin auf dem Gebiete der Zoologie und Botanik «den gleichen Fort- schritt herbeiführte, wie Lyell, sein grosser Landsmann, auf dem Gebiete der Geologie. Durch beide wurde der ununter- brochene Zusammenhang der geschichtlichen Entwicke- lung bewiesen, und eine allmähliche Umänderung der verschie- denen auf einander folgenden Zustände dargethan. Das besondere Verdienst Darwin's ist nun, wie bereits in dem vorigen Vortrage bemerkt wurde, ein doppeltes. Er hat erstens die von Lamarek und Goethe aufgestellte Descendenz- Theorie in viel umfassenderer Weise als Ganzes behandelt und im Zusammenhang durchgeführt, als es von allen seinen Vor- gängern geschehen war. Zweitens aber hat er dieser Abstammungs- Lehre durch seine, ihm eigenthümliche Züchtungs- Lehre (die Selections-Theorie) das causale Fundament gegeben, d. h. er hat die wirkenden Ursachen der Veränderungen nachgewiesen, welche von der Abstammungs-Lehre nur als Thatsachen be- hauptet werden. Die von Lamarck 1809 in die Biologie ein- geführte Descendenz-Theorie behauptet, dass alle verschiedenen Thier- und Pflanzen-Arten von einer einzigen oder einigen we- nigen, höchst einfachen, spontan entstandenen Urformen ab- stammen. Die von Darwin 1859 begründete Seleetions-Theorie zeigt uns, warum dies der Fall sein musste, sie weist uns die wirkenden Ursachen so nach, wie es Kant nur wünschen konnte; Darwin ist in der That auf dem Gebiete der organischen Natur- Wissenschaft der neue Newton geworden, dessen Kommen Kant prophetisch verneinen zu können glaubte. (Verel. S. 95). mE Biographische Notizen über Charles Darwin. 147 Ehe wir nun an Darwin’s Theorie herantreten, wollen wir Einiges über die Persönlichkeit dieses grossen Naturforschers vorausschicken, über sein Leben und die Wege, auf denen er zur Aufstellung seiner Lehre gelangte. Seine ausführliche Lebens- Geschichte (in drei Bänden) ist 1887 von einem seiner Söhne, Francis Darwin, herausgegeben worden’'). Charles Robert Darwin ist am 12. Februar 1809 zu Shrewsbury am Severn- Fluss geboren, und am 19. April 1882 auf seinem Landgute Down in Kent, 73 Jahre alt, gestorben. Im siebzehnten Jahre (1825) bezog er die Universität Edinburg, und zwei Jahre später Christ’s College zu Cambridge. Kaum 22 Jahre alt, wurde er 1831 zur Theilnahme an einer wissenschaftlichen Expedition be- rufen, welche von den Engländern ausgeschickt wurde, vorzüglich um die Süd-Spitze Süd-Amerikas genauer zu erforschen und ver- schiedene Punkte der Südsee zu untersuchen. Diese Expedition hatte, gleich vielen anderen, rühmlichen, von England ausge- rüsteten Forschungs-Reisen, sowohl wissenschaftliche, als auch practische, auf die Schifffahrt bezügliche Aufgaben zu erfüllen. Das Schiff, von Capitän Fitzroy commandirt, führte in treffend symbolischer Weise den Namen „Beagle“ oder Spürhund. Die Reise des Beagle, welche fünf Jahre dauerte, wurde für Darwin's ganze Entwickelung von der grössten Bedeutung: Schon im ersten Jahre, als er zum ersten Mal den Boden Süd-Amerikas betrat, keimte in ihm der Gedanke der Abstammungs-Lehre auf, den er dann späterhin zu so vollendeter Blüthe entwickelte. Die Reise selbst hat Darwin in einem von Dieffenbach in das Deutsche übersetzten Werke beschrieben; sie ist sehr anziehend geschildert und wirft ein helles Licht auf die vielseitigen Talente des jungen Naturforschers'”). In dieser Reise-Beschreibung tritt Ihnen nicht allein die liebenswürdige Persönlichkeit Darwin's in sehr an- ziehender Weise entgegen, sondern Sie können auch vielfach die Spuren der Wege erkennen, auf denen er zu seinen Vorstellungen gelangte. Als Resultat dieser Reise erschien zunächst ein grosses wissenschaftliches Reise-Werk, an dessen zoologischem und geologi- schem Theil sich Darwin bedeutend betheiligte; ferner eine ausge- zeichnete Arbeit desselben über die Bildung der Korallen-Riffe, welche 118 Darwin’s Theorie von der Entstehung der Korallenriffe. Vu allein genügt haben würde, seinen Namen mit bleibendem Ruhme zu krönen. Bekanntlich bestehen die Inseln der Südsee grössten- theils aus Korallen-Riffen oder sind von solchen umgeben. Die verschiedenen merkwürdigen Formen derselben und ihr Verhält- niss zu den nicht aus Korallen gebildeten Inseln vermochte man sich früher nicht befriedigend zu erklären. Erst Darwin war es vorbehalten, diese schwierige Aufgabe zu lösen, indem er ausser der aufbauenden Thätigkeit der Korallen-Thiere auch geo- logische Hebungen und Senkungen des Meeres-Bodens für- die Entstehung der verschiedenen Riff-Gestalten in Anspruch nahm. Darwin’s Theorie von der Entstehung der Korallen-Rifle ist, ebenso wie seine spätere Theorie von der Entstehung der or- ganischen Arten, eine Theorie, welche die Erscheinungen voll- kommen erklärt, und dafür nur die einfachsten natürlichen Ur- sachen in Anspruch nimmt, ohne sich hypothetisch auf irgend welche unbekannten Vorgänge zu beziehen. Unter den übrigen früheren Arbeiten Darwin’s ist noch seine ausgezeichnete Mono- graphie der Cirripedien hervorzuheben, einer merkwürdigen Classe von See-Thieren, welche im äusseren Ansehen den Muscheln gleichen und von Cuvier in der That für zweischalige Mollusken gehalten wurden, während dieselben in Wahrheit zu den Krebs- Thieren (Crustaceen) gehören. Nach der Rückehr von seiner grossen Reise lebte Darwin sechs Jahre (von 1836—1842) theils in London, theils in Cam- bridge. Im Winter 1839 verheirathete er sich mit seiner Cousine Emma Wedgewood. Die ausserordentlichen Strapazen, denen er während der fünfjährigen Reise des Beagle ausgesetzt war, hatten seine Gesundheit dergestalt zerrüttet, dass er sich bald aus dem un- ruhigen Treiben Londons zurückziehen musste. Er kaufte sich im Herbst 1842 ein Landgut in dem kleinen Dorfe Down in der Nähe von Bromley in Kent (mit der Eisenbahn kaum eine Stunde von London entfernt). Hier verbrachte er in stiller Zurückgezogenheit vierzig Jahre, bis zum Ende seines Lebens unermüdlich mit wissen- schaftlicher Arbeit beschäftigt. Die Abgeschiedenheit von dem unruhigen Getreibe der grossen Weltstadt, der stille Verkehr mit der einsamen Natur, und das glückliche Leben im Schoosse seiner VI. Ein Brief von Darwin. 119 Familie, erhielten seine Lust und Kraft zur Arbeit stets frisch, trotz seiner schwächlichen Gesundheit. Unbehelligt durch die verschiedenen Geschäfte, welche in London seine Kräfte zer- splittert haben würden, konnte er seine ganze Thätigkeit auf das Studium des grossen Problems concentriren, auf welches er durch jene Reise hingelenkt worden war. Um Ihnen zu zeigen, welche Wahrnehmungen während seiner Welt-Umsegelung vorzüglich den Grundgedanken der Selections-Theorie in ihm anregten, und in welcher Weise er denselben dann weiter entwickelte, erlauben Sie mir, Ihnen eine Stelle aus einem Briefe mitzutheilen, welchen Darwin am 8. October 1864 an mich richtete: „In Süd-Amerika traten mir besonders drei COlassen von Erscheinungen sehr lebhaft vor die Seele: Erstens die Art und Weise, in welcher nahe verwandte Species einander ver- treten und ersetzen, wenn man von Norden nach Süden geht; — Zweitens die nahe Verwandtschaft derjenigen Species, welche die Süd-Amerika nahe gelegenen Inseln bewohnen, und derjenigen Species, welche diesem Festland eigenthümlich sind; dies setzte mich in tiefes Erstaunen, besonders die Verschiedenheit der- jenigen Species, welche die nahe gelegenen Inseln des Galopagos- Archipels bewohnen; — Drittens die nahe Beziehung der leben- den zahnlosen Säugethiere (Edentata) und Nagethiere (Rodentia) zu den ausgestorbenen Arten. Ich werde niemals mein Erstaunen vergessen, als ich ein riesengrosses Panzerstück ausgrub, ähnlich demjenigen eines lebenden Gürtel-Thieres. „Als ich über diese Thatsachen nachdachte und einige ähn- liche Erscheinungen damit verglich, schien es mir wahrscheinlich, dass nahe verwandte Species von einer gemeinsamen Stammform abstammen könnten. Aber einige Jahre lang konnte ich nicht begreifen, wie eine jede Form so ausgezeichnet ihren besonderen Lebens - Verhältnissen angepasst werden konnte. Ich begann darauf systematisch die Hausthiere und die Garten-Pflanzen zu studiren, und sah nach einiger Zeit deutlich ein, dass die wichtigste umbildende Kraft in des Menschen Zuceht-Wahlver- mögen liege, in seiner Benutzung auserlesener Individuen zur Nachzucht.. Dadurch, dass ich vielfach die Lebensweise und 120 Entwickelung der Selections-Theorie. VR Sitten der Thiere studirt hatte, war ich darauf vorbereitet, den Kampf ums Dasein richtig zu würdigen; und meine geologischen Arbeiten gaben mir eine Vorstellung von der ungeheuren Länge der verflossenen Zeiträume. Als ich dann durch einen glück- lichen Zufall das Buch von Malthus „über die Bevölkerung“ las, tauchte der Gedanke der natürlichen Züchtung in mir auf. Unter allen den untergeordneten Punkten war der letzte, den ich schätzen lernte, die Bedeutung und Ursache des Divergenz- Prineips.“ Während der Musse und Zurückgezogenheit, in der Darwin nach der Rückkehr von seiner Reise lebte, beschäftigte er sich, wie aus dieser Mittheilung hervorgeht, zunächst vorzugsweise mit dem Studium der Organismen im Cultur-Zustande, der Haus- Thiere und Garten-Pflanzen. Unzweifelhaft war dies der nächste und richtigste Weg, um zur Selections-Theorie zu gelangen. Wie in allen seinen Arbeiten, verfuhr Darwin dabei äusserst sorg- fältig und genau. Er hat mit bewunderungswürdiger Vorsicht und Selbst-Verleugnung vom Jahre 1837—1858, also 21 Jahre lang, über diese Sache Nichts veröffentlicht, selbst nicht eine vor- läufige Skizze seiner Theorie, welche er schon 1844 niederge- schrieben hatte. Er wollte immer noch mehr sicher begründete empirische Beweise sammeln, um so die Theorie ganz vollständig, auf möglichst breiter Erfahrungs-Grundlage festgestellt, mittheilen zu können. Dieses Streben nach möglichster Vervollkommnung barg in sich die Gefahr, dass die Theorie überhaupt niemals ver- öffentlicht würde. Zum Glück wurde Darwin aber darin durch einen Landsmann gestört, welcher unabhängig von ihm die Selec- tions-Theorie sich ausgedacht und aufgestellt hatte; dieser sen- dete 1858 die Grundzüge derselben an Darwin selbst ein mit der Bitte, sie an Lyell zur Veröffentlichung in einem englischen Journale zu übergeben. Dieser Engländer war Alfred Wallace, einer der kühnsten und verdientesten naturwissenschaftlichen Reisenden der neueren Zeit?‘). Viele Jahre war Wallace allein in den Wildnissen von Süd-Amerika und in den Urwäldern des indischen Archipels umhergestreift; und bei diesem unmittelbaren und umfassenden Studium der reichsten und interessantesten vol Selections-Theorie von Charles Darwin und Alfred Wallace. 121 Natur, mit einer höchst mannichfaltigen Thier- und Pflanzen- Welt, war er genau zu denselben allgemeinen Anschauungen über die Entstehung der organischen Arten wie Darwin gelangt. Lyell und Hooker, welche Beide Darwin’s Arbeit seit langer Zeit kannten, veranlassten ihn nun, einen kurzen Auszug aus seinen Manuscripten gleichzeitig mit dem eingesandten Manuseript von Wallace zu veröffentlichen, was auch im August 1853 im „Journal of the Linnean Society“ geschah. Im November 1859 erschien dann das epochemachende Werk Darwin’s „Ueber die Entstehung der Arten“, in welchem die Selections-Theorie ausführlich begründet ist. Jedoch bezeich- nete Darwin selbst dieses Buch, von welchem 1872 die sechste Auflage und bereits 1360 eine deutsche Uebersetzung von Bronn erschien'), nur als einen vorläufigen Auszug aus einem grösseren und ausführlicheren Werke, welches in umfassender empirischer Beweisführung eine Masse von Thatsachen zu Gunsten seiner Theorie enthalten sollte. Der erste Theil dieses von Darwin in Aussicht gestellten Hauptwerkes erschien 1868 unter dem Titel: „Das Variiren der Thiere und Pflanzen im Zustande der Domesti- cation*; er wurde gleich den späteren Schriften, von Victor Carus ins Deutsche übersetzt''). Er enthält eine reiche Fülle der trefflichsten Belege für die ausserordentlichen Veränderungen der organischen Formen, welche der Mensch durch seine Cultur und künstliche Züchtung hervorbringen kann. So sehr wir auch Darwin für diesen Ueberfluss an beweisenden Thatsachen ver- bunden sind, so theilen wir doch keineswegs die Meinung jener Naturforscher, welche glauben, dass durch diese weiteren Aus- führungen die Selections-Theorie eigentlich erst fest begründet werden musste. Nach unserer Ansicht enthält bereits Darwin ’s erstes, 1859 erschienenes Werk diese Begründung in völlig aus- reichendem Maasse. Die wunangreifbare Stärke seiner Theorie liegt nicht in der Unmasse von einzelnen Thatsachen, welche man als Beweise dafür anführen kann, sondern in dem harmo- nischen Zusammenhang aller grossen und allgemeinen Erschei- nungs-Reihen der organischen Natur; sie alle legen übereinstim- mend für die Wahrheit der Selections-Theorie Zeugniss ab. 123 Darwin’s Studium der Hausthiere und Cultur-Pflanzen. VI. Den wichtigsten Folge-Schluss der Descendenz-Theorie, die Abstammung des Menschen-Geschlechts von anderen Säugethieren, musste Darwin natürlich bald ziehen, nachdem er sich von der Wahrheit der ersteren überzeugt hatte. Allein in seinem Haupt- werke ging er absichtlich darauf nicht ein. Erst nachdem dieser bedeutungsvolle Schluss von anderen Naturforschern entschieden als nothwendige Consequenz der Abstammungs-Lehre festgestellt war, hat Darwin denselben ausdrücklich anerkannt, und damit „die Krönung seines Gebäudes“ vollzogen. Dies geschah in dem höchst interessanten, erst 1571 erschienen Werke über „die Ab- stammung des Menschen und die geschlechtliche Zucht-Wahl* (ebenfalls von Vietor Carus in das Deutsche übersetzt)'*). Als ein Nachtrag zu diesem Buche kann das geistreiche physiogno- mische Werk angesehen werden, welches Darwin 1872 „über den Ausdruck der Gemüths-Bewegungen bei dem Menschen und den Thieren“ veröffentlicht hat*”). Von der grössten Bedeutung für die Begründung der Selec- tions-Theorie war das eingehende Studium, welches Darwin den Haus-Thieren und Cultur-Pflanzen widmete. Die unendlich mannichfaltigen Form - Veränderungen, welche der Mensch an diesen domesticirten Organismen durch künstliche Züchtung er- zeugt hat, sind für das richtige Verständniss der Thier- und Pflanzen-Formen von der allergrössten Wichtigkeit; und dennoch ist ihr Studium in kaum glaublicher Weise von den Zoologen und Botanikern bis in die neueste Zeit vernachlässigt worden. Nicht allein dieke Bände, sondern ganze Bibliotheken sind mit Beschreibungen der einzelnen Arten oder Species angefüllt worden, und mit höchst kindischen Streitigkeiten darüber, ob diese Species gute oder ziemlich gute, schlechte oder ziemlich schlechte Arten seien; ohne dass dem Artbegriff selbst darin zu Leibe gegangen ist. Die wichtigste Vorfrage, was denn eigentlich eine Species sei, wurde dabei nicht berührt. Wenn die Naturforscher, statt auf jene unnützen Spielereien Zeit zu verwenden, die Cultur-Organismen gehörig studirt und nicht die einzelnen todten Formen, sondern die Umbildung der lebendigen Gestalten in das Auge gefasst hätten, so würden sie nicht so lange in den Fesseln des Cuvier’- Il: Andreas Wagner und der Baum des ürkenntnisses. 123 schen Dogmas befangen gewesen sein. Weil nun aber diese Cultur-Organismen gerade der dogmatischen Auffassung von der Beharrlichkeit der Art, von der Constanz der Species so äusserst unbequem sind, so hat man sich grossen Theils absichtlich nicht um dieselben bekümmert; vielfach ist sogar, selbst von berühm- ten Naturforschern, der Gedanke ausgesprochen worden, diese Cultur-Organismen, die Haus-Thiere und Garten-Pflanzen, seien Kunst-Producte des Menschen; ihre Bildung und Umbildung könne gar nicht über das Wesen der Species und über die Ent- stehung der Formen bei den wilden, im Natur-Zustande lebenden Arten entscheiden. Diese verkehrte Auffassung ging so weit, dass z. B. ein Münchener Zoologe, Andreas Wagner, alles Ernstes die lächer- liche Behauptung aufstellte: Die Thiere und Pflanzen im wilden Zustande sind vom Schöpfer als bestimmt unterschiedene und unveränderliche Arten erschaffen worden; allein bei den Haus- Thieren und Cultur-Pflanzen war dies deshalb nicht nöthig, weil er dieselben von vornherein für den Gebrauch des Menschen ein- richtete. Der Schöpfer machte also den Menschen aus einem Erden-Kloss, blies ihm lebendigen Odem in seine Nase und schuf dann für ihn die verschiedenen nützlichen Haus-Thiere und Garten- Pflanzen, bei denen er sich in der That die Mühe der Species- Unterscheidung sparen konnte. Ob der Baum des Erkennt- nisses im Paradies-Garten eine „gute“ wilde Species, oder als Cultur-Pflanze überhaupt „keine Species“ war, erfahren wir leider durch Andreas Wagner nicht. Da der Baum des Er- kenntnisses vom Schöpfer mitten in den Paradies-Garten gesetzt wurde, möchte man eher glauben, dass er eine höchst bevorzugte Cultur-Pflanze, also überhaupt keine Species war. Da aber andrerseits die Früchte vom Baume des Erkenntnisses dem Men- schen verboten waren, und viele Menschen, wie Wagner’s eigenes Beispiel klar zeigt, niemals von diesen Früchten genossen haben, so ist er offenbar nicht für den Gebrauch des Menschen erschaffen, also wahrscheinlich eine wirkliche Species! Wie Schade, dass uns Wagner über diese wichtige und schwierige Frage nicht belehrt hat! 124 Vergleichung der wilden und der ceultivirten Organismen. vB _ Wie lächerlich Ihnen diese Ansicht auch vorkommen mag, so ist dieselbe doch nur ein folgerichtiger Auswuchs einer falschen, in der That aber weit verbreiteten Ansicht von dem besonderen Wesen der Cultur-Organismen, und Sie können bisweilen von ganz angesehenen Naturforschern ähnliche Einwürfe hören. Ge- gen diese grundfalsche Auffassung muss ich mich von vorn- herein ganz bestimmt wenden; sie ist ebenso verkehrt, wie die Ansicht mancher Aerzte, welche behaupten, die Krankheiten seien künstliche Erzeugnisse der Cultur, keine Natur-Erscheinungen. Es hat viel Mühe gekostet, dieses Vorurtheil zu bekämpfen; erst in neuerer Zeit ist die Ansicht zur allgemeinen Anerkennung gelangt, dass die Krankheiten weiter nichts sind, als natürliche Veränderungen des Organismus, wirklich natürliche Lebens-Er- scheinungen, hervorgebracht durch veränderte, abnorme Existenz- Bedingungen. Die Krankheit ist also nicht, wie die älteren Aerzte oft sagten, ein Leben ausserhalb der Natur (vita praeter naturam), sondern ein natürliches Leben unter bestimmten, schädlichen, den Körper mit Gefahr bedrohenden Bedingungen. Gleicherweise sind auch die Cultur-Organismen nicht künstliche Producte des Men- schen, sondern sie sind Natur-Produete, welche unter eigenthüm- lichen Lebens-Bedingungen entstanden. Der Mensch vermag durch seine Cultur niemals unmittelbar eine neue organische Form zu erzeugen; sondern er kann nur die Organismen unter neuen Lebens-Bedingungen züchten, welche umbildend auf sie einwirken. Alle Hausthiere und alle Garten-Pflanzen stammen ursprünglich von wilden Arten ab, welche erst durch die Cultur allmählich umgebildet worden sind. Die eingehende Vergleichung der Cultur-Formen (Rassen und Spielarten) mit den wilden, nicht durch Cultur veränderten Or- ganismen (Arten und Varietäten) ist für die Seleetions-Theorie von der grössten Wichtigkeit. Was Ihnen bei dieser Verglei-. chung zunächst am Meisten auffällt, das ist die kurze Zeit, in welcher der Mensch im Stande ist, eine neue Form hervorzu- bringen, und die auffallende Verschiedenheit der Gestalt, durch welche diese vom Menschen producirte Form von der ursprüng- lichen Stamm-Form abweichen kann. Die wilden Thiere und VI. Vergleichung der wilden und der eultivirten Organismen. 125 Pflanzen, im freien Zustande, erscheinen Jahr aus, Jahr ein dem sammelnden Zoologen und Botaniker annähernd in derselben Form, so dass eben hieraus das falsche Dogma der Species-Öonstanz entstehen konnte. Hingegen zeigen uns «die Hausthiere und die Garten-Pflanzen oft innerhalb weniger Jahre die grössten Verän- derungen. Die Vervollkommnung, welche die Züchtungs-Kunst der Gärtner und der Landwirthe erreicht hat, gestattet jetzt in sehr kurzer Zeit, in wenigen Jahren, eine ganz neue Thier- oder Pflanzen-Form willkürlich zu schaffen. Man braucht zu diesem Zwecke bloss den Organismus unter dem Einflusse der besonderen Bedingungen zu erhalten und fortzupflanzen, welche neue Bil- dungen zu erzeugen im Stande sind; und man kann schon nach Verlauf von wenigen Generationen neue Arten erhalten, welche von der Stamm-Form in viel höherem Grade abweichen, als die sogenannten guten Arten im wilden Zustande von einander ver- schieden sind. Diese Thatsache ist äusserst wichtig und kann nicht genug hervorgehoben werden. Zwar wird noch oft be- hauptet, die Cultur-Formen, «die von einer und derselben Form abstammen, seien nicht so sehr von einander verschieden, wie die wilden Thier- und Pflanzen-Arten unter sich. Allein das ist nicht ‘wahr. Wenn man nur unbefangen Vergleiche anstellt, so über- zeugt man sich leicht vom Gegentheil. Eine Menge von Rassen oder Spiel-Arten, die wir in einer kurzen Reihe von Jahren von einer einzigen Cultur-Form abgeleitet haben, sind in viel höherem Grade von einander unterschieden, als sogenannte gute Arten („bonae species“) oder selbst verschiedene Gattungen einer Fa- milie im wilden Zustande. Um diese äusserst wichtige Thatsache möglichst fest empi- risch zu begründen, beschloss Darwin, eine einzelne Gruppe von Hausthieren eingehend in dem ganzen Umfang ihrer Formen- Mannichfaltigkeit zu studiren. Er wählte dazu dieHaus-Tauben, weil diese in mehrfacher Beziehung dafür sanz besonders geeignet sind. Er hielt sich lange Zeit hindurch auf seinem Gute alle möglichen Rassen und Spiel-Arten von Tauben, welche er be- kommen konnte, und wurde mit reichlichen Zusendungen aus allen Weltgesenden unterstützt. Ferner liess er sich in zwei 126 Auffallende Verschiedenheit der Tauben-Rassen. VI. Londoner Tauben-Clubs aufnehmen, welche die Züchtung der ver- schiedenen Tauben-Formen mit wahrhaft künstlerischer Virtuo- sität und unermüdlicher Leidenschaft betreiben. Endlich setzte er sich noch mit einigen der berühmtesten Tauben-Liebhaber in Verbindung. So stand ihm das reichste empirische Material zur Verfügung. Die Kunst und Liebhaberei der Tauben-Züchtung ist uralt. Schon mehr als 3000 Jahre vor Christus wurde sie von den Aegyptern betrieben. Die Römer der Kaiserzeit gaben ungeheure Summen dafür aus und führten genaue Stammbaum-Register über ihre Abstammung, ebenso wie die Araber über ihre Pferde und die mecklenburgischen Edelleute über ihre eigenen Ahnen sehr sorgfältige genealogische Register führen. Auch in Asien war die Tauben-Zucht eine uralte Liebhaberei der reichen Fürsten, und zur Hofhaltung des Akber Khan, um das Jahr 1600, gehörten mehr als 20,000 Tauben. So entwickelten sich denn im Laufe mehrerer Jahrtausende, und in Folge der mannichfaltigen Züch- tungs-Methoden, welche in den verschiedensten Weltgegenden ge- übt wurden, aus einer einzigen ursprünglich gezähmten Stamm- Form eine ungeheure Menge verschiedenartiger Rassen und Spiel- Arten; ihre extremen Formen sind ausserordentlich verschieden. Eine der auflallendsten Tauben-Rassen ist die bekannte Pfauen-Taube, bei der sich der Schwanz ähnlich entwickelt wie beim Truthahn und eine Anzahl von 50—40 radartig gestellten Federn trägt; während die anderen Tauben eine viel geringere Anzahl von Schwanzfedern, fast immer 12, besitzen. Hierbei mag erwähnt werden, dass die Anzahl der Schwanzfedern bei den Vögeln als systematisches Merkmal von den Natur-Forschern sehr hoch geschätzt wird, so dass man ganze Ordnungen danach unterscheiden könnte. So besitzen z. B. die Singvögel fast ohne Ausnahme 12 Schwanzfedern, die Schrillvögel (Strisores) 10 u. s. w. Besonders ausgezeichnet sind ferner mehrere Tauben-Rassen durch einen Busch von Nackenfedern, welcher eine Art Perrücke bildet: andere durch abenteuerliche Umbildung des Schnabels und der Füsse, durch eigenthümliche, oft sehr auffallende Verzierungen, z. B. Hautlappen, die sich am Kopf entwickeln; durch einen Wok Gemeinsame Abstammung aller Tauben-Rassen. 19 grossen Kropf, welcher eine starke Hervortreibung der Speiseröhre am Hals bildet u.s. w. Merkwürdie sind auch die sonderbaren Gewohnheiten, welche viele Tauben erworben haben, z. B. die Lach-Tauben und die Trommel-Tauben in ihren musikalischen Leistungen, die Brief-Tauben in ihrem topographischen Instinct. Die Purzel-Tauben haben die seltsame Gewohnheit, nachdem sie in grosser Schaar in die Luft gestiegen sind, sich zu überschlagen und aus der Luft wie todt herabzufallen. Die Sitten und Ge- wohnheiten dieser unendlich verschiedenen Tauben-Rassen, die Form, Grösse und Färbung der einzelnen Körpertheile, die Pro- portionen derselben unter einander, sind in erstaunlich hohem Maasse von einander verschieden, in viel höherem Maasse, als es bei den sogenannten guten Arten oder selbst bei ganz verschie- denen Gattungen unter den wilden Tauben der Fall ist. Und, was das Wichtigste ist, es beschränken sich jene Unterschiede nicht bloss auf die Bildung der äusserlichen Form, sondern er- strecken sich selbst auf die wichtigsten innerlichen Theile; es kommen sogar sehr bedeutende Abänderungen des Skelets und der Muskulatur vor. So finden sich z. B. grosse Verschieden- heiten in der Zahl der Wirbel und Rippen, in der Grösse und Form der Lücken im Brustbein, in der Form und Grösse des Gabelbeins, des Unterkiefers, der Gesichtsknochen u. s. w. Kurz das knöcherne Skelet, das die Morphologen für einen sehr bestän- digen Körpertheil halten, zeigt sich so sehr verändert, dass man viele Tauben-Rassen als besondere Gattungen aufführen könnte. Zweifelsohne würde dies geschehen, wenn man alle diese ver- schiedenen Formen getrennt in wildem Natur-Zustande auffände. Wie weit die Verschiedenheit der Tauben-Rassen geht, zeigt am Besten der Umstand, dass fast alle Tauben-Züchter einstimmig der Ansicht sind, jede eigenthümliche oder besonders ausgezeich- nete Tauben-Rasse müsse von einer besonderen wilden Stamm-Art abstammen. Freilich nimmt Jeder eine verschiedene Zahl von Stamm-Arten an. Und dennoch hat Darwin mit überzeugenden Scharfsinn den schwierigen Beweis geführt, dass dieselben ohne Ausnahme sämmtlich von einer einzigen wilden Stamm-Art, der blauen Fels-Taube (Columba livia) abstammen müssen. In gleicher 128 Gemeinsame Abstammung aller Kaninchen-Rassen. VB PA Weise lässt sich bei den meisten übrigen Haus-Thieren und bei den meisten Cultur-Pflanzen der Beweis führen, dass alle ver- schiedenen Rassen Nachkommen einer einzigen ursprünglichen wilden Art sind, die vom Menschen in den Cultur-Zustand über- geführt wurde. Ein ähnliches Beispiel, wie die Haus-Taube, liefert unter den Säugethieren unser zahmes Kaninchen. Alle Zoologen ohne Ausnahme halten es schon seit langer Zeit für erwiesen, dass alle Rassen und Spiel-Arten desselben von dem gewöhnlichen wilden Kaninchen, also von einer einzigen Stamm-Art, abstammen. Und dennoch sind die extremsten Formen dieser Rassen in einem ganz erstaunlichen Grade von einander verschieden; jeder Zoo- loge, welcher dieselben in wildem Zustande anträfe, würde sie unbedenklich nicht allein für ganz verschiedene „gute Species“, sondern sogar für Arten von ganz verschiedenen Gattungen der Leporiden-Familie erklären. Nicht nur ist die Färbung, Haar- länge und sonstige Beschaffenheit des Pelzes bei den verschie- denen zahmen Kaninchen-Rassen ausserordentlich mannichfaltig und in den extremen Gegensätzen äusserst abweichend, sondern auch, was noch viel wichtiger ist, die typische Form des Skelets und seiner einzelnen Theile, besonders die Form des Schädels und des für die Systematik so wichtigen Gebisses, ferner das rela- tive‘ Längenverhältniss der Ohren, der Beine u.s. w. In allen diesen Beziehungen weichen die Rassen des zahmen Kaninchens unbestritten viel weiter von einander ab, als alle die verschiedenen Formen von wilden Kaninchen und Hasen, die als anerkannt „gute Species“ der Gattung Lepus über die ganze Erde zerstreut sind. Und dennoch behaupten Angesichts dieser klaren Thatsache die Gegner der Entwickelungs-Theorie, dass die letzteren, die wilden Arten, nicht von einer gemeinsamen Stamm-Form abstammen können, während sie dies bei den ersteren, den zahmen Rassen, ohne Weiteres zugeben. Mit Gegnern, welche so absichtlich ihre Augen vor dem sonnenklaren Lichte der Wahrheit verschliessen, lässt sich dann freilich nicht weiter streiten. Während so für die Haus-Taube, für das zahme Kaninchen, für das Pferd u. s. w. trotz der merkwürdigen Verschiedenheit Areale Cultivirte Rassen und wilde Species. 129 ihrer Spiel-Arten die Abstammung von einer einzigen wilden so- genannten „Species“ gesichert erscheint, so ist es dagegen für andere Hausthiere, namentlich die Hunde, Schweine und Rinder, allerdings wahrscheinlicher, dass die mannichfaltigen Rassen der- selben von mehreren wilden Stamm-Arten abzuleiten sind, welche sich nachträglich im Cultur-Zustande mit einander vermischt haben. Indessen ist die Zahl dieser ursprünglichen wilden Stamm-Arten immer gering und viel kleiner als die Zahl der aus ihrer Ver- mischung und Züchtung hervorgegangenen Cultur-Formen. Natür- lich stammen auch jene ersteren ursprünglich von einer einzigen gemeinsamen Stamm-Form der ganzen Gattung ab. Auf keinen Fall aber stammt jede besondere Cultur-Rasse von einer eigenen wilden Art ab. Im Gegensatz hierzu behaupten fast alle Landwirthe und Gärtner mit der grössten Bestimmtheit, dass jede einzelne, von ihnen gezüchtete Rasse von einer besonderen wilden Stamm-Art abstammen müsse, weil sie die Unterschiede der Rassen scharf erkennen, die Vererbung ihrer Eigenschaften sehr hochschätzen, und nicht bedenken, dass dieselben erst durch langsame Häufung kleiner, kaum merklicher Abänderungen entstanden sind. Auch in dieser Beziehung ist die Vergleichung der Cultur-Rassen mit den wilden Species äusserst lehrreich. Von vielen Seiten, und namentlich von den Gegnern der Entwickelungs-Theorie, ist die grösste Mühe aufgewendet worden, irgend ein morphologisches oder physiologisches Merkmal, irgend eine charakteristische Eigenschaft aufzufinden, durch welche man die künstlich gezüchteten, cultivirten „Rassen“ von den natürlich entstandenen, wilden „Arten“ scharf und durchgreifend trennen könne. Alle diese Versuche sind gänzlich fehlgeschlagen und haben nur mit um so grösserer Sicherheit zu dem entgegengesetzten Resultate geführt; sie haben klar gelehrt, dass eine solche Tren- nung gar nicht möglich ist. Ich habe dieses Verhältniss in mei- ner Kritik des Species-Begriffes ausführlich erörtert und durch Beispiele erläutert. (Gen. Morph. Il, 323—364.) Nur eine Seite dieser Frage mag hier noch kurz berührt werden, weil dieselbe nicht allein von den Gegnern, sondern selbst Haeckel, Natürl. Schöpfungs-Gesch. 8. Aufl. 19) 130 Bastardzeugung zwischen Rassen und Arten. VI. von einigen der bedeutendsten Anhänger des Darwinismus, z. B. von Huxley '’), als eine der schwächsten Seiten desselben ange-. sehen worden ist, nämlich das Verhältniss der Bastardzeugung oder des Hybridismus. Zwischen cultivirten Rassen und wilden Arten sollte der Unterschied bestehen, dass die ersteren der Er- zeugung fruchtbarer Bastarde fähig sein sollten, die letzteren nicht. Je zwei verschiedene cultivirte Rassen oder wilde Varie- täten einer Species sollten in allen Fällen die Fähigkeit besitzen, mit einander Bastarde zu erzeugen, welche sich unter einander oder mit einer ihrer Eltern-Formen fruchtbar vermischen und fortpflanzen könnten. Dagegen sollten zwei wirklich ver- schiedene Species, zwei cultivirte oder wilde Arten einer Gat- tung, niemals die Fähigkeit besitzen, mit einander Bastarde zu zeugen, die unter einander oder mit einer der elterlichen Arten sich fruchtbar kreuzen könnten. Was zunächst die erste Behauptung betrifft, so wird sie ein- fach durch die Thatsache widerlegt, dass es Organismen giebt, die sich mit ihren nachweisbaren Vorfahren überhaupt nicht mehr vermischen, also auch keine fruchtbare Nachkommenschaft erzeu- sen können. So paart sich z. B. unser ceultivirtes Meerschwein- chen nicht mehr mit seinem wilden brasilianischen Stammvater. Umgekehrt geht die Hauskatze von Paraguay, welche von unserer europäischen Hauskatze abstammt, keine Verbindung mehr mit dieser ein. Zwischen verschiedenen Rassen unserer Haushunde, 2. B. zwischen den grossen Neufundländern und den zwerghaften Schoosshündcehen, ist schon aus einfachen mechanischen Gründen eine Paarung unmöglich. Ein besonderes interessantes Beispiel aber bietet das Porto-Santo-Kaninchen dar (Lepus Huxleyi). Auf der kleinen Insel Porto-Santo bei Madeira wurden im Jahre 1419 einige Kaninchen ausgesetzt, die an Bord eines Schiffes von einem zahmen spanischen Kaninchen geboren worden waren. Diese Thierchen vermehrten sich in kurzer Zeit, da keine Raubthiere dort waren, so massenhaft, dass sie zur Landplage wurden und sogar eine dortige Colonie zur Aufhebung zwangen. Noch gegen- wärtig bewohnen sie die Insel in Menge, haben sich aber im Laufe von 450 Jahren zu einer ganz eigenthümlichen Spiel-Art — N I Darwin’s Hasen-Kaninchen und andere Bastarde. 131 oder wenn man will „guten Art“ — entwickelt, ausgezeichnet durch eigenthümliche Färbung, rattenähnliche Form, geringe Grösse, nächtliche Lebensweise und ausserordentliche Wildheit. Das Wichtigste jedoch ist, dass sich diese neue Art, die ich Lepus Huxleyi nenne, fit dem europäischen Kaninchen, von dem sie abstammt, nicht mehr kreuzt und keine Bastarde mehr damit erzeugt. Auf der andern Seite kennen wir jetzt zahlreiche Beispiele von fruchtbaren echten Bastarden, d. h. von Mischlingen, die aus der Kreuzung von zwei ganz verschiedenen Arten hervorgegangen sind, und trotzdem sowohl unter einander, als auch mit einer ihrer Stamm-Arten sich fortpflanzen. Den Botanikern sind solche „Bastard-Arten“ (Species hybridae) längst in Menge bekannt, z. B. aus den Gattungen der Distel (Cirsium), des Goldregen (Cy- tisus), der Brombeere (Rubus) u.s. w. Aber auch unter den Thieren sind dieselben keineswegs selten, und vielleicht sogar sehr häufig. Man kennt fruchtbare Bastarde, die aus der Kreu- zung von zwei verschiedenen Arten einer Gattung entstanden sind, aus mehreren Gattungen der Schmetterlings-Ordnung (Zy- gaena, Saturnia), der Karpfen-Familie, der Finken, Hühner, Hunde, Katzen u.s.w. Zu den interessantesten gehört das Hasen-Kaninchen (Lepus Darwinii), der Bastard von unsern einheimischen Hasen und Kaninchen, welcher in Frankreich schon seit 1550 zu gastronomischen Zwecken in vielen Generationen gezüchtet worden ist. Ich besitze selbst durch die Güte des Professor Conrad, welcher diese Züchtungs-Versuche auf seinem Gute wiederholt hat, solche Bastarde, welche aus reiner Inzucht hervorgegangen sind, d. h. deren beide Eltern selbst Bastarde von einem Hasenvater und einer Kaninchenmutter sind. Der so er- zeugte Halbblut-Bastard, welchen ich Darwin zu Ehren benannt habe, scheint sich in reiner Inzucht so gut wie jede „echte Spe- cies“ durch viele Generationen fortzupflanzen. Obwohl im Ganzen mehr seiner Kaninchenmutter ähnlich, besitzt derselbe doch in der Bildung der Ohren und der Hinterbeine bestimmte Eigen- schaften seines Hasenvaters. Das Fleisch schmeckt vortrefflich, mehr hasenartig, obwohl die Farbe mehr kaninchenartig ist. Nun G* 132 Darwin’s Hasen-Kaninchen und andere Bastarde. VE sind aber Hase (Lepus timidus) und Kaninchen (Lepus eunieulus) zwei so verschiedene Species der Gattung Lepus, dass kein Syste- matiker sie als Varietäten einer Art betrachten wird. Auch haben beide Arten so verschiedene Lebensweise und im wilden Zustande so grosse Abneigung gegen einander, dass sie sich aus freien Stücken nicht vermischen. Wenn man jedoch die neuge- borenen Jungen beider Arten zusammen aufzieht, so kommt diese Abneigung nicht zur Entwickelung; sie vermischen sich mit ein- ander und erzeugen den Lepus Darwinii. Ein anderes ausgezeichnetes Beispiel von Kreuzung verschie- dener Arten (wobei die beiden Species sogar verschiedenen Gat- tungen angehören!) liefern die fruchtbaren Bastarde von Schafen und Ziegen, die in Chile seit langer Zeit zu industriellen Zwecken gezogen werden. Welche unwesentlichen Umstände bei der ge- schlechtlichen Vermischung die Fruchtbarkeit der verschiedenen Arten bedingen, das zeigt der Umstand, dass Ziegenböcke und Schafe bei ihrer Vermischung fruchtbare Bastarde erzeugen, wäh- rend Schafbock und Ziege sich überhaupt selten paaren, und dann ohne Erfolg. So sind also die Erscheinungen des Hybridismus, auf welche man irrthümlicherweise ein ganz übertriebenes Ge- wicht gelegt hat, für den Species-Begriff gänzlich bedeutungslos. Die Bastard-Zeugung setzt uns eben so wenig, als irgend eine andere Erscheinung, in den Stand, die cultivirten Rassen von den wilden Arten durchgreifend zu unterscheiden. Dieser Umstand . ist aber von der grössten Bedeutung für die Selections-Theorie. _ Siebenter Vortrag. Die Züchtungs-Lehre oder Selections-Theorie. (Der Darwinismus.) Darwinismus (Seleetions-Theorie) und Lamarckismus (Descendenz-Theorie), Der Vorgang der künstlichen Züchtung: Auslese (Selection) der verschiedenen Einzelwesen zur Nachzucht. Die wirkenden Ursachen der Umbildung: Abän- derung, mit der Ernährung zusammenhängend, und Vererbung, mit der Fort- pflanzung zusammenhängend. Mechanische Natur dieser beiden physiologi- schen Funetionen. Der Vorgang der natürlichen Züchtung: Auslese (Selec- tion) durch den Kampf um’s Dasein. Malthus’ Bevölkerungs-Theorie. Miss- verhältniss zwischen der Zahl der möglichen (potentiellen) und der wirklichen (actuellen) Individuen jeder Organismen-Art. Allgemeiner Wettkampf um die Existenz. Umbildende und züchtende Kraft dieses Kampfes um’s Dasein. Vergleichung der natürlichen und der künstlichen Züchtung. Selections- Prineip bei Kant und Wells. Zuchtwahl im Menschenleben. Medieinische und clericale Züchtung. Meine Herren! Wenn heutzutage häufig die gesammte Ent- wickelungs-Lehre, mit der wir uns in diesen Vorträgen beschäf- tigen, als Darwinismus bezeichnet wird, so geschieht dies eigent- lich nicht mit Recht. Denn wie Sie aus der geschichtlichen Einleitung der letzten Vorträge gesehen haben werden, ist schon zu Anfang unseres Jahrhunderts der wichtigste Theil der orga- nischen Entwickelungs-Theorie, nämlich die Abstammungs-Lehre oder Descendenz-Theorie, ganz deutlich ausgesprochen, und ins- besondere durch Lamarck in die Naturwissenschaft eingeführt worden. Man könnte daher diesen Theil der Entwickelungs- Theorie, welcher die gemeinsame Abstammung aller Thier- und Pflanzen-Arten von einfachsten gemeinsamen Stamm-Formen be- hauptet, seinem verdientesten Begründer zu Ehren mit vollem 134 Darwinismus und Lamarckismus. VI. Rechte Lamarckismus nennen, wenn man einmal an den Na- men eines einzelnen hervorragenden Naturforschers das Verdienst knüpfen will, eine solche Grund-Lehre zuerst durchgeführt zu haben. Dagegen würden wir mit Recht als Darwinismus die Seleetions- Theorie oder Züchtungs-Lehre zu bezeichnen haben, denjenigen Theil der Entwickelungs-Theorie, welcher uns zeigt, auf welchem Wege und warum die verschiedenen Organismen- Arten aus jenen einfachsten Stamm-Formen sich entwickelt haben. Diese Seleetions-Theorie oder der Darwinismus im eigent- lichen Sinne beruht wesentlich (wie bereits in dem letzten Vor- trage angedeutet wurde) auf der Vergleichung derjenigen Thätig- keit, welche der Mensch bei der Züchtung der Hausthiere und Garten-Pflanzen ausübt, mit denjenigen Vorgängen, welche in der freien Natur, ausserhalb des Cultur-Zustandes, zur Entstehung neuer Arten und neuer Gattungen führen. Wir müssen uns, um diese letzten Vorgänge zu verstehen, also zunächst zur künstlichen Züchtung des Menschen wenden, wie es auch von Darwin selbst geschehen ist. Wir müssen untersuchen, welche Erfolge der Mensch durch seine künstliche Züchtung erzielt, und welche Mit- tel er anwendet, um diese Erfolge hervorzubringen; und dann müssen wir uns fragen: „Giebt es in der Natur ähnliche Kräfte, ähnlich wirkende Ursachen, wie sie der Mensch hier anwendet?“ Was nun zunächst die künstliche Züchtung betrifft, so gehen wir von der zuletzt erörterten Thatsache aus, dass deren Producte in nicht seltenen Fällen viel mehr von einander ver- schieden sind, als die Erzeugnisse der natürlichen Züchtung. In der That weichen die Rassen oder Spiel-Arten oft in viel höherem Grade und in viel wichtigeren Eigenschaften von einander ab, als es viele sogenannte „gute Arten“ oder Species, ja bisweilen sogar mehr, als es sogenannte „gute Gattungen“ im Naturzu- stande thun. Vergleichen Sie z. B. die verschiedenen Aepfel-Sor- ten, welche die Gartenkunst von einer und derselben ursprüng- | lichen Apfel-Form gezogen hat, oder vergleichen Sie die verschiede- nen Pferde-Rassen, welche die Thier-Züchter aus einer und derselben ursprünglichen Form des Pferdes abgeleitet haben, so finden Sie leicht, dass die Unterschiede der am meisten verschiedenen For- VI. Verfahren bei der künstlichen Züchtung. 135 men ausserordentlich bedeutend sind, viel bedeutender, als di» sogenannten „specifischen Unterschiede“, welche die Zoolo- gen und Botaniker bei Vergleichung der wilden Arten anwenden, um dadurch verschiedene sogenannte „gute Arten“ zu unter- scheiden. Wodurch bringt nun der Mensch diese ausserordentliche Ver- schiedenheit oder Divergenz mehrerer Formen hervor, die erwie- senermaassen von einer und derselben Stamm-Form abstammen? Lassen Sie uns zur Beantwortung dieser Frage einen Gärtner verfolgen, der eine neue durch besonders schöne Blumenfarbe ausgezeichnete Pflanzen-Form züchten will. Derselbe wird zunächst unter einer grossen Anzahl von Pflanzen, welche Sämlinge einer und derselben Pflanze sind, eine Auswahl oder Selection treffen. Er wird diejenigen Pflanzen heraussuchen, welche die ihm er- wünschte Blüthenfarbe am meisten ausgeprägt zeigen. Gerade die Blüthenfarbe ist ein sehr veränderlicher Gegenstand. Zum Beispiel zeigen Pflanzen, welche in der Regel eine weisse Blüthe besitzen, sehr häufig Abweichungen in’s Blaue oder Rothe hinein. Wenn nun der Gärtner eine solche, gewöhnlich weiss blühende Pflanze in rother Farbe zu erhalten wünscht, so wird er sehr sorgfältig unter den mancherlei verschiedenen Abkömmlingen einer und derselben Samen-Pflanze diejenigen heraussuchen, die am deutlichsten einen rothen Anflug zeigen; diese wird er ausschliess- lich aussäen, um neue Individuen derselben Art zu erzielen. Er wird die übrigen Samen-Pflanzen, die weisse oder weniger deut- lich rothe Farbe zeigen, ausfallen lassen und nicht weiter culti- viren. Ausschliesslich diejenigen Pflanzen, deren Blüthen das stärkste Roth zeigen, wird er fortpflanzen, und die Samen, welche diese auserlesenen Pflanzen bringen, wieder aussäen. Die Blü- then von den Samen-Pflanzen dieser zweiten Generation werden durchschnittlich schon mehr röthlich gefärbt sein. Unter diesen wird der Gärtner wiederum diejenigen sorgfältig herauslesen, die das Rothe am deutlichsten ausgeprägt haben. Wenn eine solche Auslese durch eine Reihe von sechs oder zehn Generationen hin- durch geschieht, wenn immer mit grosser Sorgfalt diejenige Blüthe ausgesucht wird, die das tiefste Roth zeigt, so wird der 136 Verfahren bei der künstlichen Züchtung. VII. Gärtner schliesslich die gewünschte Pflanze mit rein rother Blü thenfarbe bekommen. / Ebenso verfährt der Landwirth, welcher eine besondere Thier- Rasse züchten will, also z. B. eine Schaf-Sorte, welche sich durch besonders feine Wolle auszeichnet. Die einfache, bei der Ver- vollkommnung der Wolle angewandte Kunst besteht darin, dass der Landwirth mit der grössten Sorgfalt und Ausdauer unter der ganzen Schafheerde diejenigen Individuen aussucht, welche die feinste Wolle haben. Diese allein werden zur Nachzucht ver- wandt, und unter der Nachkommenschaft dieser Auserwählten werden abermals diejenigen herausgesucht, die sich durch die beste Wolle auszeichnen u. s. f. Wenn diese sorgfältige Auslese eine Reihe von Generationen hindurch fortgesetzt wird, so zeigen die auserlesenen Zuchtschafe schliesslich eine sehr feine Wolle, welche sehr auffallend, und zwar nach dem Wunsche und zu Gunsten des Züchters, von der Wolle des ursprünglichen Stamm- vaters verschieden ist. Die Unterschiede der einzelnen Individuen, auf die es bei dieser künstlichen Auslese ankommt, sind sehr klein. Ein ge- wöhnlicher ungeübter Mensch ist nieht im Stande, die ungemein feinen Unterschiede der Einzelwesen zu erkennen, welche ein ge- übter Züchter auf den ersten Blick wahrnimmt. Das Geschäft des Züchters ist keine leichte Kunst; dasselbe erfordert einen ausserordentlich scharfen Blick, eine grosse Geduld, eine äusserst sorgsame Behandlungsweise der zu züchtenden Organismen. Bei jeder einzelnen Generation fallen die Unterschiede der Individuen dem Laien vielleicht gar nicht in das Auge; aber durch die Häu- fung dieser feinen Unterschiede während einer Reihe von Gene- rationen wird die Abweichung von der Stamm-Form zuletzt sehr bedeutend. Sie wird so auffallend, dass endlich die künstlich erzeugte Form von der ursprünglichen Stamm-Form in weit höhe- rem Grade abweichen kann, als zwei sogenannte gute Arten im Natur-Zustande thun. Die Züchtungskunst ist jetzt so weit gedie- hen, dass der Mensch oft willkürlich bestimmte Eigenthümlich- keiten bei den cultivirten Arten der Thiere und Pflanzen erzeu- gen kann. Man kann an die geübtesten Züchter bestimmte Auf- VI. Zuchtwahl-Vermögen des Menschen. 1571 träge geben, und z. B. sagen: Ich wünsche diese Pflanzen-Art, oder diese Tauben-Rasse, in der und der Farbe, mit der und der Zeichnung zu haben. Wo die Züchtung so vervollkommnet ist, wie in England, sind die Gärtner und Landwirthe häufig im Stande, innerhalb einer bestimmten Zeitdauer, nach Verlauf einer Anzahl von Generationen, das verlangte Resultat auf Bestellung zu liefern. Einer der erfahrensten englischen Züchter, Sir John Sebright, konnte sagen „er wolle eine ihm aufgegebene Feder in drei Jahren hervorbringen, er bedürfe aber sechs Jahre, um eine gewünschte Form des Kopfes und Schnabels zu erlangen“. Bei der Zucht der Merinoschafe in Sachsen werden die Thiere dreimal wiederholt neben einander auf Tische gelegt und auf das Sorgfältigste vergleichend studirt. Jedesmal werden nur die besten Schafe, mit der feinsten Wolle, ausgelesen, so dass zuletzt von einer grossen Menge nur einzelne wenige, aber ganz auserlesen feine Thiere übrig bleiben. Nur diese letzten werden zur Nach- zucht verwandt. Es sind also eigentlich ungemein einfache Ur- sachen, mittelst welcher die künstliche Züchtung zuletzt grosse Wirkungen hervorbringt; und diese grossen Wirkungen werden nur erzielt durch Summirung der einzelnen an sich sehr unbedeuten- den Unterschiede, welche die fortwährend wiederholte Auslese oder Selection vergrössert. Ehe wir nun zur Vergleichung dieser künstlichen Züchtung mit der natürlichen übergehen, wollen wir uns klar machen, welche natürlichen Eigenschaften und Kräfte der Organismen der künstliche Züchter oder Cultivateur benutzt. Man kann alle ver- schiedenen, hierbei in das Spiel kommenden Kräfte schliesslich auf zwei physiologische Grund-Eigenschaften des Organismus zu- rückführen die sämmtlichen Thieren und Pflanzen gemeinschaft- lich sind, und die mit den beiden Thätigkeiten der Fortpflan- zung und Ernährung auf das Innigste zusammenhängen. Diese beiden Grund-Eigenschaften sind die Erblichkeit oder die Fähig- keit der Vererbung, und die Veränderlichkeit oder die Fä- higkeit der Anpassung. Der Züchter geht von der Thatsache aus, dass alle Individuen einer und derselben Art verschieden sind, wenn auch in sehr geringem Grade; eine Thatsache, die 138 Individuelle Unterschiede aller Organismen. VI. sowohl von den Organismen im wilden wie im Culturzustande gilt. Wenn Sie sich in einem Walde umsehen, der nur aus einer einzigen Baumart, z. B. Buche, besteht, werden Sie ganz gewiss im ganzen Walde nicht zwei Bäume dieser Art finden, die ab- solut gleich sind, die in der Form der Verästelung, in der Zahl der Zweige und Blätter, der Blüthen und Früchte, sich vollkom- men gleichen. Es finden sich individuelle Unterschiede überall, gerade so wie bei den Menschen. Es giebt nicht zwei Menschen, welche absolut identisch sind, vollkommen gleich in Grösse, Ge- sichtsbildung, Zahl der Haare, Temperament, Charakter u. s. w. Ganz dasselbe gilt aber auch von den Einzelwesen aller verschie- denen Thier- und Pflanzen-Arten. Bei den meisten Organismen erscheinen allerdings die Unterschiede für den Laien sehr gering- fügig. Es kommt aber hierbei wesentlich auf die Uebung in der Erkenntniss dieser oft sehr feinen Form-Charaktere an. Ein Schaf- hirt z. B. kennt in seiner Heerde jedes einzelne Individuum bloss durch genaue Beobachtung der Eigenschaften, während ein Laie nicht im Stande ist, alle die verschiedenen Individuen einer und derselben Heerde zu unterscheiden. Die Thatsache der individuellen Verschiedenheit ist die äusserst wichtige Grundlage, auf welche sich das ganze Züch- tungsvermögen des Menschen gründet. Wenn nicht überall jene individuellen Unterschiede wären, so könnte er nicht aus einer und derselben Stamm-Form eine Masse verschiedener Spiel-Arten oder Rassen erziehen. Nun ist aber in der That diese Erschei- nung ganz allgemein. Wir müssen nothwendig dieselbe auch da voraussetzen, wo wir mit unseren groben sinnlichen Hülfsmitteln nicht im Stande sind, die Unterschiede zu erkennen. Bei den höheren Pflanzen, bei den Phanerogamen oder Blüthenpflanzen, wo die einzelnen individuellen Stöcke so zahlreiche Unterschiede in der Zahl der Aeste und Blätter, in der Bildung des Stammes und der Aeste zeigen, können wir fast immer jene Differenzen leicht wahrnehmen. Aber bei den niederen Pflanzen, z. B. Mo- sen, Algen, Pilzen, und bei den meisten Thieren, namentlich den niederen Thieren, ist dies nicht der Fall. Die individuelle Unter- scheidung aller Einzelwesen einer Art ist hier meistens äusserst vi. Anpassung und Ernährung. 139 schwierig oder ganz unmöglich. Es liegt jedoch kein Grund vor, bloss denjenigen Organismen eine individuelle Verschiedenheit zuzuschreiben, bei denen wir sie sogleich erkennen können. Viel- mehr können wir dieselbe mit voller Sicherheit als allgemeine Eigenschaft aller Organismen annehmen. Wir dürfen dies um so mehr, da wir im Stande sind, die Veränderlichkeit der Indi- viduen auf die mechanischen Verhältnisse der Ernährung zu- rückzuführen. Wir können allein durch verschiedene Ernährung auffallende individuelle Unterschiede da hervorbringen, wo sie unter nicht veränderten Ernährungs-Verhältnissen nicht wahrzuneh- men sein würden. Die vielen verwickelten Bedingungen der Ernäh- rung sind aber niemals bei zwei Individuen einer Art absolut gleich. Ebenso nun, wie wir die Veränderlichkeit oder Anpassungs- fähigkeit in ursächlichem Zusammenhang mit den allgemeinen Ernährungs-Verhältnissen der Thiere und Pflanzen sehen, ebenso finden wir die zweite fundamentale Lebenserscheinung, mit der wir es hier zu thun haben, nämlich die Vererbungsfähigkeit oder Erblichkeit, in unmittelbarem Zusammenhang mit den Erscheinungen der Fortpflanzung. Nachdem der Landwirth und der Gärtner bei der künstlichen Züchtung die bevorzugten Individuen ausgesucht, also die Veränderlichkeit benutzt hat, sucht er die veränderten Formen durch Vererbung festzuhalten und aus- zubilden. Er geht von der allgemeinen Thatsache aus, dass die Kinder ihren Eltern ähnlich sind: „Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm“. Diese Erscheinung der Erblichkeit ist bisher in sehr geringem Maasse wissenschaftlich untersucht worden; das mag zum Theil daran liegen, dass die Erscheinung zu alltäglich ist. Jedermann findet es ganz natürlich, dass eine jede Art ihres Gleichen erzeugt, dass nicht plötzlich ein Pferd eine Gans oder eine Gans einen Frosch erzeugt. Man ist gewöhnt, diese alltäg- lichen Vorgänge der Erbliehkeit als selbstverständlich anzusehen. Nun ist aber diese Erscheinung nicht so selbstverständlich ein- fach, wie sie auf den ersten Blick erscheint; namentlich wird “sehr häufig bei Betrachtung der Erblichkeit übersehen, dass die verschiedenen Nachkommen eines und desselben Elternpaares in der That niemals einander ganz gleich, auch niemals absolut 140 Vererbung und Fortpflanzung. VII gleich den Eltern, sondern immer ein wenig verschieden sind. Wir können den Grundsatz der Erblichkeit nicht dahin formu- liren: „Gleiches erzeugt Gleiches“, sondern wir müssen ihn viel- mehr bedingter dahin aussprechen: „Aehnliches erzeugt Aehn- liches“. Der Gärtner wie der Landwirth benutzt in dieser Bezie- hung die Thatsache der Vererbung im weitesten Umfang, und zwar mit besonderer Rücksicht darauf, dass nicht allein diejeni- gen Eigenschaften von den Organismen vererbt werden, die sie bereits von den Eltern ererbt haben, sondern auch diejenigen, die sie selbst erworben haben. Das ist ein höchst wichtiger Punkt, auf den sehr Viel ankommt. Der Organismus vermag nicht allein auf seine Nachkommen diejenigen Eigenschaften, diejenige Gestalt, Farbe, Grösse zu übertragen, die er selbst von seinen Eltern er- erbt hat; er vermag auch Abänderungen dieser Eigenschaften zu vererben, die er erst während seines Lebens durch den Einfluss äusserer Umstände, des Klimas, der Nahrung, der Erziehung u. s. w. erworben hat. Das sind die beiden Grund-Eigenschaften der Thiere und Pflanzen, welche die Züchter benutzen, um neue Formen zu er- zeugen. So ausserordentlich einfach das theoretische Prineip der Züchtung ist, so schwierig und ungeheuer verwickelt ist im Ein- zelnen die practische Verwerthung dieses einfachen Prineips. Der denkende, planmässig arbeitende Züchter muss die Kunst ver- stehen, die allgemeine Wechselwirkung zwischen den beiden Grund-Eigenschaften der Erblichkeit und Veränderlichkeit richtig in jedem einzelnen Falle zu verwerthen. Wenn wir nun die eigentliche Natur jener beiden wichtigen Lebens-Eigenschaften untersuchen, so finden wir, dass’wir sie, gleich allen physiologischen Functionen, auf physikalische und chemische Ursachen zurückführen können; auf Eigenschaften und Bewegungs- Erscheinungen der materiellen Theilchen, aus denen der Körper der Thiere und Pflanzen besteht. Wie wir später bei einer ge- naueren Betrachtung dieser beiden Functionen zu begründen haben werden, ist ganz allgemein ausgedrückt die Vererbung wesent- lich bedingt durch die materielle Continuität, durch die theilweise stoffliche Gleichheit des erzeugenden und des gezeugten Organis- VII. Mechanische Natur der Erblichkeit und Veränderlichkeit. 141 mus, der Eltern und des Kindes. Bei jedem Zeugungs-Acte wird eine gewisse Menge von Protoplasma oder eiweissartiger Materie, das Keimplasma, von den Eltern auf das Kind übertragen; un(d mit diesem Protoplasma wird zugleich die demselben individuell eigenthümliche Molekular- Bewegung übertragen. Diese molekularen Bewegungs-Erscheinungen des Protoplasma, welche die Lebens-Erscheinungen hervorrufen und als die wahre Ursache derselben wirken, sind aber bei allen lebenden Individuen mehr oder weniger verschieden; sie sind unendlich mannichfaltig. Anderseits ist die Anpassung oder Abänderung lediglich die Folge der materiellen Einwirkungen, welche die Materie des Organismus durch die denselben umgebende Materie erfährt, in der weitesten Bedeutung des Wortes durch die Lebens-Bedingungen. Die äusseren Einwirkungen der letzteren werden vermittelt durch die molekularen Ernährungs-Vorgänge in den einzelnen Körper- theilen. Bei jedem Anpassungs-Acte wird im ganzen Individuum oder in einem Theile desselben die individuelle, jedem Theile eigen- thümliche Molekular-Bewegung des Protoplasma durch mechanische, durch physikalische oder chemische Einwirkungen anderer Körper gestört oder verändert. Es werden also die angeborenen, ererbten Lebens-Bewegungen des Plasma, die molekularen Bewegungs- Erscheinungen der kleinsten eiweissartigen Körpertheilchen da- durch mehr oder weniger modifieirtt. Die Erscheinung der An- passung oder Abänderung beruht mithin auf der materiellen Ein- wirkung, welche der Organismus durch seine Umgebung oder seine. Existenz-Bedingungen erleidet, während die Vererbung in der theilweisen Identität des zeugenden und des erzeugten Or- ganismus begründet ist. Das sind die eigentlichen, einfachen, mechanischen Grundlagen des künstlichen Züchtungs-Processes. Darwin frug sich nun: Kommt ein ähnlicher Züchtungs- Process in der Natur vor, und giebt es in der Natur Kräfte, welche die Thätigkeit des Menschen bei der künstlichen Züchtung ersetzen können? Giebt es ein natürliches Verhältniss unter den wilden Thieren und Pflanzen, welches züchtend wirken kann, welches auslesend wirkt in ähnlicher Weise, wie bei der künst- lichen Zuchtwahl oder Züchtung der planmässige Wille des 142 Darwin’s Theorie vom Kampfe um’s Dasein. VII. Menschen eine Auswahl übt? Auf die Entdeckung eines solchen Verhältnisses kam hier alles an und sie gelang Darwin in so befriedigender Weise, dass wir eben deshalb seine Züchtungs- Lehre oder Seleetions-Theorie als vollkommen ausreichend be- trachten, um die Entstehung der wilden Thier- und Pflanzen- Arten mechanisch zu erklären. Dasjenige Verhältniss, welches im freien Natur-Zustande züchtend und umbildend auf die Formen der Thiere und Pflanzen einwirkt, bezeichnet Darwin mit dem Ausdruck: „Kampf um’s Dasein“ (Struggle for life). Der „Kampf um’s Dasein“ ist rasch ein Stichwort des Tages geworden. Trotzdem ist diese Bezeichnung vielleicht in mancher Beziehung nicht ganz glücklich gewählt, und würde wohl schärfer gefasst werden können als „Mitbewerbung um die noth- wendigen Existenz-Bedürfnisse“. Man hat nämlich unter dem „Kampfe um das Dasein“ manche Verhältnisse begriffen, die eigentlich im strengen Sinne nicht hierher gehören. Zu der Idee des „Struggle for life“ gelangte Darwin, wie aus dem im letzten Vortrage mitgetheilten Briefe ersichtlich ist, durch das Studium des Buches von Malthus „über die Bedingungen und die Folgen der Volks-Vermehrung“. In diesem wichtigen Werke wurde der Beweis geführt, dass die Zahl der Menschen im Ganzen durch- schnittlich in geometrischer Progression wächst, während die Menge ihrer Nahrungs-Mittel nur in arithmetischer Progression zunimmt. Aus diesem Missverhältnisse entspringen eine Masse von Uebelständen in der menschlichen Gesellschaft, welche einen bestän- digen Wettkampf der Menschen um die Erlangung der nothwendigen, aber nicht für Alle ausreichenden Unterhalts-Mittel veranlassen. Darwin’s Theorie vom Kampfe um das Dasein ist gewisser- maassen eine allgemeine Anwendung der Bevölkerungs-Theorie von Malthus auf die Gesammtheit der organischen Natur. Sie geht von der Erwägung aus, dass die Zahl der möglichen or- ganischen Individuen, welche aus den erzeugten Keimen hervor- gehen könnten, viel grösser ist, als die Zahl der wirklichen In- dividuen, welche thatsächlich gleichzeitig auf der Erd-Oberfläche leben. Die Zahl der möglichen oder potentiellen Individuen wird uns gegeben durch die Zahl der Eier und der ungeschlecht- VI. Darwin’s Theorie vom Kampfe um’s Dasein. 143 lichen Keime, welche die Organismen erzeugen. Die Zahl dieser Keime, aus deren jedem unter günstigen Verhältnissen ein Individuum entstehen könnte, ist unendlich grösser, als die Zahl der wirklichen oder actuellen Individuen, d.h. derjenigen, welche wirklich aus diesen Keimen entstehen, zur vollen Reife gelangen und sich fortpflanzen. Die bei weitem grösste Zahl aller Keime geht in der frühesten Lebenszeit zu Grunde, und es sind immer nur einzelne bevorzugte Organismen, welche sich ausbilden können, welche namentlich die erste Jugendzeit glück- lich überstehen und schliesslich zur Fortpflanzung gelangen. Diese wichtige Thatsache wird einfach bewiesen durch die Ver- gleichung der Eierzahl bei den einzelnen Arten mit der Zahl der Individuen, die von diesen Arten existiren. Diese Zahlen- Verhältnisse zeigen die auffallendsten Widersprüche. Es giebt z. B. Hühner-Arten, welche sehr zahlreiche Eier legen, und die dennoch zu den seltensten Vögeln gehören; aber derjenige Vogel, der der gemeinste von allen sein soll, der Eissturm-Vogel (Procellaria glacialis), legt nur ein einziges Ei. Ebenso ist das Verhältniss bei anderen Thieren. Es giebt viele, sehr seltene, wirbellose Thiere, welche eine ungeheure Masse von Eiern legen; und wieder andere, die nur sehr wenige Eier produciren und doch zu den gemeinsten Thieren gehören. Denken Sie z. B. an das Verhält- niss, welches sich bei den menschlichen Bandwürmern findet. Jeder Bandwurm erzeugt binnen kurzer Zeit Millionen von Eiern, während der Mensch, der den Bandwurm beherbergt, eine viel geringere Zahl Eier in sich bildet; und dennoch ist glücklicher Weise die Zahl der Bandwürmer viel geringer, als die der Men- schen. Unter den Pflanzen sind viele prachtvolle Orchideen, die Tausende von Samen erzeugen, sehr selten, und einige asterähn- liche Compositen, die nur wenige Samen bilden, äusserst gemein. Diese wichtige Thatsache liesse sich noch durch eine un- geheure Masse anderer Beispiele erläutern. Offenbar bedingt nicht die Zahl der wirklich vorhandenen Keime die Zahl der später ins Leben tretenden und sich am Leben erhaltenden Individuen. Die Zahl dieser letzteren wird vielmehr durch ganz andere Ver- hältnisse bedingt, zumal durch die Wechsel-Beziehungen, in 144 Ursachen des Kampfes um’s Dasein. VII. denen sich jeder Organismus zu seiner organischen, wie anorgischen Umgebung befindet. Jeder Organismus kämpft von Anbeginn seiner Existenz an mit einer Anzahl von feindlichen Einflüssen, er kämpft mit Thieren, welche von diesem Organismus leben, denen er als natürliche Nahrung dient, mit Raubthieren und mit Schmarotzer-Thieren; er kämpft mit anorgischen Einflüssen der verschiedensten Art, mit Temperatur, Witterung und anderen Umständen; er kämpft aber (und das ist viel wichtiger!) vor allem mit den ihm ähnlichsten, gleichartigen Organismen. Jedes Individuum einer jeden Thier- und Pflanzen-Art ist im heftigsten Wettstreit mit den anderen Individuen derselben Art begriffen, die mit ihm an demselben Orte leben. Die Mittel zum Lebens- Unterhalt sind in der Oeconomie der Natur nirgends in Fülle ausgestreut, vielmehr im Ganzen sehr beschränkt, und nicht ent- fernt für die Masse von Individuen ausreichend, die sich aus den Keimen entwickeln könnte. Daher müssen bei den meisten Thier- und Pflanzen-Arten die jugendlichen Individuen es sich recht sauer werden lassen, um die nöthigen Mittel zum Lebens- Unterhalte zu erlangen. Nothwendiger Weise entwickelt sich daraus ein Wettkampf zwischen denselben um die Erlangung dieser unentbehrlichen Existenz-Bedingungen. Dieser grosse Wettkampf um die Lebens-Bedürfnisse findet überall und jederzeit statt, ebenso bei den Menschen und Thieren, wie bei den Pflanzen, obgleich bei diesen auf den ersten Blick das Wechsel-Verhältniss nicht so klar am Tage zu liegen scheint. Wenn ein kleines Ackerfeld übermässig reichlich mit’ Weizen besäet ist, so kann von den zahlreichen jungen Weizen-Pflanzen (vielleicht von einigen Tausenden), die auf einem ganz beschränkten Raume emporkeimen, nur ein ganz kleiner Bruchtheil sich am Leben erhalten. Da findet ein Wettkampf um den Bodenraum statt, den jede Pflanze zur Befestigung ihrer Wurzel braucht; ein Wett- kampf um Sonnenlicht und Feuchtigkeit. Ebenso finden Sie bei jeder Thier-Art, dass alle Individuen einer und derselben Art mit einander um die Erlangung der unentbehrlichen Lebens-Be- dingungen im weiteren Sinne des Worts kämpfen. Allen sind sie gleich unentbehrlich; aber nur wenigen werden sie wirklich VII. Allgemeinheit des Kampfes um’s Dasein. 145 zu Theil. Alle sind berufen; aber wenige sind auserwählt! Die Thatsache des grossen Wettkampfes ist ganz allgemein. Sie brauchen bloss Ihren Blick auf die menschliche Gesellschaft zu lenken, in der ja überall, in allen verschiedenen Fächern der menschlichen Thätigkeit, dieser Wettkampf ebenfalls existirt. Auch hier werden die Verhältnisse des Wettkampfes wesentlich durch die freie Concurrenz der verschiedenen Arbeiter einer und derselben Classe bestimmt. Auch hier, wie überall, schlägt dieser Wettkampf zum Vortheil der Sache aus, zum Vortheil der Arbeit, welche der Gegenstand der Concurrenz ist. Je grösser und all- gemeiner der Wettkampf oder die Concurrenz, desto schneller häufen sich die Verbesserungen und Erfindungen auf diesem Arbeits-Gebiete, desto mehr vervollkommnen sich die Arbeiter. Nun ist offenbar die Stellung der verschiedenen Individuen in diesem Kampfe um das Dasein ganz ungleich. Ausgehend wieder von der thatsächlichen Ungleichheit der Individuen, müssen wir überall nothwendig annehmen, dass nicht alle Individuen einer und derselben Art gleich günstige Aussichten haben. Schon von vornherein sind dieselben durch ihre verschiedenen Kräfte und Fähigkeiten verschieden im Wettkampfe gestellt, abgesehen davon, dass die Existenz-Bedingungen an jedem Punkt der Erd- Oberfläche verschieden sind und verschieden einwirken. Offenbar waltet hier ein unendlich verwickeltes Getriebe von Einwirkungen, die im Vereine mit der ursprünglichen Ungleichheit der Indivi- duen während des bestehenden Wettkampfes um die Erlangung der Existenz-Bedingungen einzelne Individuen bevorzugen, andere benachtheiligen. Die bevorzugten Individuen werden über die anderen den Sieg erlangen, und während die letzteren in mehr oder weniger früher Zeit zu Grunde gehen, ohne Nachkommen zu hinterlassen, werden die ersteren allein jene überleben können und schliesslich zur Fortpflanzung gelangen. Indem also voraus- sichtlich oder doch vorwiegend die im Kampfe um das Dasein begünstigten Einzel-Wesen zur Fortpflanzung gelangen, werden wir (schon allein in Folge dieses Verhältnisses) in der nächsten Generation, die von dieser erzeugt wird, Unterschiede von der vorher- gehenden wahrnehmen. Es werden schon die Individuen dieser Haeckel, Natürl. Schöpfungs-Gesch. 8. Aufl. 10 146 Züchtende Wirkung des Kampfes um’s Dasein. v1. zweiten Generation, wenn auch nicht alle, doch zum Theil, durch Vererbung den individuellen Vortheil überkommen haben, durch welchen ihre Eltern über deren Nebenbuhler den Sieg davon trugen. Nun wird aber — und das ist ein sehr wichtiges Vererbungs- Gesetz — wenn eine Reihe von Generationen hindurch eine solche Uebertragung eines günstigen Charakters stattfindet, der- selbe nicht einfach in der ursprünglichen Weise übertragen, sondern er wird fortwährend gehäuft und gestärkt; schliesslich gelangt er in einer späteren Generation zu einer Stärke, welche diese Generation schon sehr wesentlich von der ursprünglichen Stamm- Form unterscheidet. Lassen Sie uns zum Beispiel eine Anzahl von Pflanzen einer und derselben Art betrachten, die an einem sehr trocknen Standort zusammenwachsen; sie haben direet mit dem Mangel an Wasser zu kämpfen und dann noch einen Wettkampf unter einander um die Erlangung des Wassers zu bestehen. Da die Haare der Blätter für die Aufnahme von Feuchtigkeit aus der Luft sehr nützlich sind, und da die Behaarung der Blätter sehr veränderlich ist, so werden an diesem ungünstigen Standorte die Individuen mit den dichtest behaarten Blättern bevorzugt sein. Diese werden allein aushalten, während die anderen, mit kahleren Blättern, zu Grunde gehen; die behaarteren werden sich fortpflanzen, und die Abkömmlinge derselben werden sich durch- schnittlich durch dichte und starke Behaarung mehr auszeichnen, als es bei den Individuen der ersten Generation der Fall war. Geht dieser Process, verbunden mit anderen Wachsthums-Verände- rungen, an einem und demselben Orte mehrere Generationen fort, so entsteht schliesslich eine solche Häufung der neu erworbenen Eigenschaften, dass die Pflanze uns als eine ganz neue Art erscheint. Dabei ist zu berücksichtigen, dass in Folge der Wechsel- Beziehungen aller Theile jedes Organismus zu einander in der Regel nicht ein einzelner Theil sich verändern kann, ohne zu- gleich Aenderungen in anderen Theilen nach sich zu ziehen. Wenn also im letzten Beispiel die Zahl der Haare auf den Blättern bedeutend zunimmt, so wird dadurch anderen Theilen eine ge- wisse Menge von Nahrungs-Material entzogen; das Material, wel- ches zur Blüthen-Bildung oder Samen-Bildung verwendet werden v1. Umbildende Wirkung des Kampfes um's Dasein. 147 könnte, wird verringert, und es wird dann die geringere Grösse der Blüthe oder des Samens die mittelbare oder indirecte Folge des Kampfes um’s Dasein werden, welcher zunächst nur eine Veränderung der Blätter bewirkte. Der Kampf um das Dasein wirkt also in diesem Falle züchtend und umbildend. Das Ringen der verschiedenen Individuen um die Erlangung der nothwendigen Existenz-Bedingungen, oder im weitesten Sinne gefasst, die Wechsel- Beziehungen der Organismen zu ihrer gesammten Umgebung, be- wirken Form- Veränderungen wie sie im Cultur-Zustande durch die Thätigkeit des züchtenden Menschen hervorgebracht werden. Auf den ersten Blick wird Ihnen dieser Gedanke vielleicht sehr unbedeutend und kleinlich erscheinen, und Sie werden nicht geneigt sein, der Thätigkeit jenes Verhältnisses ein solches Ge- wicht einzuräumen, wie dieselbe in der That besitzt. Ich muss mir daher vorbehalten, in einem späteren Vortrage an weiteren Beispielen das ungeheuer weit reichende Umgestaltungs-Vermögen der natürlichen Züchtung Ihnen vor Augen zu führen. Vorläufig beschränke ich mich darauf, nochmals die beiden Vorgänge der künstlichen und natürlichen Züchtung neben einander zu stellen und Uebereinstimmung und Unterschied in beiden Züchtungs- Processen scharf gegen einander zu halten. Natürliche sowohl als künstliche Züchtung sind ganz einfache, natürliche, mechanische Lebens - Verhältnisse, welche auf der Wechsel-Wirkung zweier allgemeiner Lebens-Thätigkeiten oder physiologischer Functionen beruhen, nämlich der Anpassung und der Vererbung; diese beiden Functionen sind als solche wieder auf physikalische und chemische Eigenschaften der orga- nischen Materie zurückzuführen. Ein Unterschied beider Züch- tungs-Formen besteht darin, dass bei der künstlichen Züchtung der Wille des Menschen planmässig die Auswahl oder Auslese betreibt, während bei der natürlichen Züchtung der Kampf um das Dasein (jenes allgemeine Wechsel-Verhältniss der Organismen) planlos wirkt, aber übrigens ganz dasselbe Resultat erzeugt, nämlich eine Auswahl oder Selection besonders gearteter Indivi- duen zur Nachzucht. Die Veränderungen, welche durch die Züchtung hervorgebracht werden, schlagen bei der künstlichen 10* 145 Vergleich der natürlichen und künstlichen Züchtung. YIR Züchtung zum Vortheil des züchtenden Menschen aus, bei der natürlichen Züchtung dagegen zum Vortheil des gezüchteten Organismus selbst, wie es in der Natur der Sache liegt. Das sind die wesentlichsten Unterschiede und Ueberein- stimmungen zwischen beiderlei Züchtungs-Arten. Dann ist aber noch zu berücksichtigen, dass ein weiterer Unterschied in der Zeitdauer besteht, welche für den Züchtungs-Process in beiderlei Arten erforderlich ist. Der Mensch vermag bei der künstlichen Zucht-Wahl in viel kürzerer Zeit sehr bedeutende Veränderungen hervorzubringen, während bei der natürlichen Zucht-Wahl Aehn- liches erst in viel längerer Zeit zu Stande gebracht wird. Das beruht darauf, dass der Mensch die Auslese viel sorgfältiger be- treiben kann. Der Mensch kann unter einer grossen Anzahl von Individuen mit der grössten Sorgfalt einzelne herauslesen, die übrigen ganz fallen lassen, und bloss die bevorzugten zur Fort- pflanzung verwenden, während das bei der natürlichen Zucht- Wahl nieht der Fall ist. Da werden sich eine Zeit lang neben den bevorzugten, zuerst zur Fortpflanzung gelangenden Individuen auch noch einzelne oder viele von den übrigen, weniger aus- gezeichneten Individuen fortpflanzen. Ferner ist der Mensch im Stande, die Kreuzung zwischen der ursprünglichen und der neuen Form zu verhüten, die bei der natürlichen Züchtung oft nicht zu vermeiden ist. Wenn aber eine solche Kreuzung, d. h. eine ge- schlechtliche Verbindung der neuen Abart mit der ursprünglichen Stamm-Form stattfindet, so schlägt die dadurch erzeugte Nach- kommenschaft leicht in die letztere zurück. Bei der natürlichen Züchtung kann eine solche Kreuzung nur dann sicher vermieden werden, wenn die neue Abart sich durch Wanderung von der alten Stamm-Form absondert und isolirt. Die natürliche Züchtung wirkt daher sehr viel langsamer; sie erfordert viel längere Zeiträume, als der künstliche Züchtungs- Process. Aber eine wesentliche Folge dieses Unterschiedes ist, dass dann auch das Product der künstlichen Zucht-Wahl viel leichter wieder verschwindet und die neu erzeugte Form in die ältere zurückschlägt, während das bei der natürlichen Züchtung nicht der Fall ist. Die neuen Arten oder Species, welche aus F- | VII. Vergleich der natürlichen und künstlichen Züchtung. 149 der natürlichen Züchtung entstehen, erhalten sich viel constanter, schlagen viel weniger leicht in die Stamm-Form zurück, als es bei den künstlichen Züchtungs-Producten der Fall ist, und sie erhalten sich auch demgemäss eine viel längere Zeit hindurch beständig, als die künstlichen Rassen, die der Mensch erzeugt. Aber das sind nur untergeordnete Unterschiede, die sich durch die ver- schiedenen Bedingungen der natürlichen und der künstlichen Auslese erklären, und die auch wesentlich nur die Zeitdauer be- treffen. Das Wesen und die Mittel der Form-Veränderung sind bei der künstlichen und natürlichen Züchtung ganz dieselben. Die gedankenlosen und unwissenden Geener Darwin’s werden nicht müde zu behaupten, dass seine Selections-Theorie eine bodenlose Vermuthung oder wenigstens eine Hypothese sei, welche erst bewiesen werden müsse. Dass diese Behauptung vollkommen unbegründet ist, können Sie schon aus den so eben erörterten Grundzügen der Züchtungs-Lehre selbst entnehmen. Darwin nimmt als wirkende Ursachen für die Umbildung der organischen Gestalten keinerlei unbekannte Naturkräfte oder hypo- thetische Verhältnisse an, sondern einzig und allein die allgemein bekannten Lebens-Thätigkeiten aller Organismen, welche wir als Vererbung und Anpassung bezeichnen. Jeder physiologisch gebildete Naturforscher weiss, dass diese beiden Functionen unmittelbar mit den Thätigkeiten der Fortpflanzung und Ernäh- rung zusammenhängen, und gleich allen anderen Lebens-Erschei- nungen mechanische Natur-Processe sind, d.h. auf molekularen Bewegungs-Erscheinungen der organischen Materie beruhen. Dass die Wechsel-Wirkung dieser beiden Functionen an einer bestän- digen langsamen Umbildung der organischen Formen arbeitet, und dass diese zur Entstehung neuer Arten führt, wird mit Noth- wendigkeit durch den Kampf um’s Dasein bedingt. Dieser ist aber eben so wenig ein hypothetisches oder des Beweises be- dürftiges Verhältniss, als jene Wechsel-Wirkung der Vererbung und Anpassung. Vielmehr ist der Kampf um’s Dasein eine mathematische Nothwendigkeit, welche aus dem Missverhältniss zwischen der beschränkten Zahl der Stellen im Natur-Haushalt und der übermässigen Zahl der organischen Keime entspringt. 150 Mathematische Nothwendigkeit der natürlichen Züchtung. VI Durch die activen und passiven Wanderungen der Thiere und Pflanzen, welche überall und zu jeder Zeit stattfinden, wird ausserdem noch die Entstehung neuer Arten in hohem Maasse begünstigt und gefördert. Die Entstehung neuer Species durch die natürliche Züchtung, oder was dasselbe ist, durch die Wechsel-Wirkung der Vererbung und "Anpassung im Kampfe um’s Dasein, ist mithin eine mathematische Natur-Noth- wendigkeit, welche keines weiteren Beweises bedarf. Wer auch bei dem gegenwärtigen Zustande unseres Wissens immer noch nach Beweisen für die Selections-Theorie verlangt, der beweist dadurch nur, dass er entweder dieselbe nicht vollständig versteht, oder mit den biologischen Thatsachen, mit dem empiri- schen Wissensschatz der Anthropologie, Zoologie und Botanik nicht hinreichend vertraut ist. Wie fast jede grosse und bahnbrechende Idee, so hat auch Darwin’s Selections-Theorie schon in früherer Zeit ihre Vor- läufer gehabt; und zwar ist es wieder unser grosser Königsberger Philosoph Immanuel Kant, bei dem wir schon ein Jahrhundert vor Darwin die ersten Keime jener Theorie vorfinden. Wie Fritz Schultze in seiner früher (S. 90) hervorgehobenen Schrift über „Kant und Darwin“ (1875) zuerst gezeigt hat, erhebt sich Kant schon um das Jahr 1757 (also mehr als hundert Jahre vor dem Erscheinen von Darwin’s Hauptwerk) in seiner „phy- sischen Geographie“ zu verschiedenen Aussprüchen, „in denen sowohl der Gedanke einer Entwickelungs-Geschichte der organi- schen Arten, als auch der Hinweis auf die Wichtigkeit der Zucht-Wahl, der Anpassung und der Vererbung deutlich niedergelegt sind“; so z. B. in folgendem Satze: „Es ist aus der Verschiedenheit der Kost, der Luft und der Erziehung zu erklä- ren, warum einige Hühner ganz weiss werden; und wenn man unter den vielen Küchlein, die von denselben Eltern geboren werden, nur die aussucht, die weiss sind, und sie zusammen- thut, bekommt man endlich eine weisse Rasse, die nicht leicht anders ausschlägt.*“ Ferner sagt er in der Abhandlung „von den verschiedenen Rassen der Menschen“ (1775): „Auf der Möglich- keit, durch sorgfältige Aussonderung der ausartenden Ge- ” VII. Keime der Selections-Theorie bei Kant. 151 burten von den einschlagenden endlich einen dauerhaften Fa- milien-Schlag zu errichten, beruht die Meinung, einen von Natur edlen Schlag Menschen zu ziehen, worin Verstand, Tüch- “ Und wie wichtig tigkeit und Rechtschaffenheit erblich wären. dabei für Kant das Prineip des „Kampfes um’s Dasein“ war, geht u. A. aus folgender Stelle der „pragmatischen Anthropologie“ hervor: „Die Natur hat den Keim der Zwietracht in die Men- schen-Gattung gelegt, und diese ist das Mittel, die Perfectioni- rung des Menschen durch fortschreitende Cultur zu bewirken. Der innere oder äussere Krieg ist die Triebfeder, aus dem rohen Natur-Zustande in den bürgerlichen überzugehen, als ein Maschinen-Wesen, wo die einander entgegenstrebenden Kräfte zwar durch Reibung einander Abbruch thun, aber doch durch den Stoss oder Zug anderer Triebfedern im Gange erhalten werden.“ *”) Nächst diesen ältesten Spuren der Selections-Theorie bei Kant finden wir die ersten Andeutungen derselben in einer 1818 erschienenen (bereits 1813 vor der Royal Society gelesenen) Ab- handlung von Dr. W. C. Wells, betitelt: „Nachricht über eine Frau der weissen Rasse, deren Haut zum Theil der eines Negers gleicht.“ Der Verfasser derselben führt an, dass Neger und Mulatten sich durch Immunität gegen gewisse Tropen-Krankheiten vor der weissen Rasse auszeichnen. Bei dieser Gelegenheit be- merkt er, dass alle Thiere bis zu einem gewissen Grade abzu- ändern streben, dass die Landwirthe durch Benutzung dieser Eigenschaft und durch Zucht-Wahl ihre Haus-Thiere veredeln, und fährt dann fort: „Was aber im letzten Falle durch Kunst geschieht, scheint mit gleicher Wirksamkeit, wenn auch langsamer, bei der Bildung der Menschen-Rassen, die für die von ihnen be- wohnten Gegenden eingerichtet sind, durch die Natur zu ge- schehen. Unter den zufälligen Varietäten von Menschen, die unter den wenigen und zerstreuten Einwohnern der mittleren Gegenden von Afrika auftreten, werden einige besser als andere die Krank- heiten des Landes überstehen. In Folge davon wird sich diese Rasse vermehren, während die anderen abnehmen, und zwar nicht bloss weil sie unfähig sind, die Erkrankungen zu über- stehen, sondern weil sie nicht im Stande sind, mit ihren kräf- 152 Andeutung der Selections-Theorie von Wells. Vi. tigeren Nachbarn zu concurriren. Ich nehme als ausgemacht an, dass die Farbe dieser kräftigeren Rasse dunkel sein wird. Da aber die Neigung Varietäten zu bilden noch besteht, so wird sich eine immer dunklere Rasse im Laufe der Zeit ausbilden; und da’ die dunkelste am besten für das Klima passt, so wird diese zu- letzt in ihrer Heimath, wenn nicht die einzige, doch die herr- schende werden.“ | Obwohl in diesem Aufsatze von, Wells das Princip der natürlichen Züchtung deutlich ausgesprochen und anerkannt ist, so wird es doch bloss in sehr beschränkter Ausdehnung auf die Entstehung der Menschen-Rassen angewendet und nicht weiter für den Ursprung der Thier- und Pflanzen-Arten ver- werthet. Das hohe Verdienst Darwin’s, die Selections-Theorie selbstständig ausgebildet und zur vollen und verdienten Geltung gebracht zu haben, wird durch jene früheren verborgen ge- bliebenen Bemerkungen von Kant und von Wells eben so wenig geschmälert, als durch einige fragmentarische Bemerkungen über natürliche Züchtung von Patrick Matthew, die in einem 1531 erschienenen Buche über „Schifls-Bauholz und Baum-Cultur“ versteckt sind. Auch der berühmte Reisende Afred Wallace, der unabhängig von Darwin die Selections-Theorie ausgebildet und 1858 gleichzeitig mit dessen erster Mittheilung veröffentlicht hatte, steht sowohl hinsichtlich der tiefen Auffassung, als der ausgedehnten Anwendung derselben, weit hinter seinem grösseren und älteren Landsmanne zurück. Darwin hat durch seine höchst umfassende und geniale Ausbildung der ganzen Lehre sich ge- rechten Anspruch erworben, die Theorie mit seinem Namen ver- bunden zu sehen. Wenn die natürliche Züchtung, wie wir behaupten, die wichtigste unter den bewirkenden Ursachen ist, welche die wun- dervolle Mannichfaltigkeit des organischen Lebens auf der Erde hervorgebracht haben, so müssen auch die interessanten Erschei- nungen des Menschenlebens zum grössten Theile aus dersel- ben Ursache erklärbar sein. Denn der Mensch ist ja nur ein höher entwickeltes Wirbelthier, und alle Seiten des Menschen- lebens finden ihre Parallelen, oder richtiger ihre niederen Ent- VI. Natürliche und künstliche Züchtung im Menschenleben. 153 wickelungszustände, im Thierreiche vorgebildet. Die Völkerge- schichte oder die sogenannte „Welt-Geschichte“* muss dann grösstentheils durch „natürliche Züchtung“ erklärbar sein, muss ein physikalisch-chemischer Process sein, der auf der Wech- sel-Wirkung der Anpassung und Vererbung in dem Kampfe der Menschen um’s Dasein beruht. Und das ist in der That der Fall. Indessen ist nicht nur die natürliche, sondern auch die künstliche Züchtung vielfach in der Welt-Geschichte wirksam. Ein ausgezeichnetes Beispiel von künstlicher Züchtung der Menschen in grossem Maassstabe liefern die alten Spartaner, bei denen auf Grund eines besonderen Gesetzes schon die neu- geborenen Kinder einer sorgfältigen Musterung und Auslese unter- worfen werden mussten. Alle schwächlichen, kränklichen oder mit irgend einem körperlichen Gebrechen behafteten Kinder wur- den getödtet. Nur die vollkommen gesunden und kräftigen Kin- der durften am Leben bleiben, und sie allein gelangten später zur Fortpflanzung. Dadurch wurde die spartanische Rasse nicht allein beständig in auserlesener Kraft und Tüchtigkeit erhalten, sondern mit jeder Generation wurde ihre körperliche Vollkom- menheit gesteigert. Gewiss verdankt das Volk von Sparta dieser künstlichen Auslese oder Züchtung zum grossen Theil seinen sel- tenen Grad von männlicher Kraft und rauher Heldentugend. Auch manche Stämme unter den rothen Indianern Nord- Amerika’s, die gegenwärtig im Kampfe um’s Dasein den über- mächtigen Eindringlingen der weissen Rasse trotz der tapfersten Gegenwehr erliegen, verdanken ihren besonderen Grad von Kör- perstärke und kriegerischer Tapferkeit einer ähnlichen sorgfälti- gen Auslese der neugeborenen Kinder. Auch hier werden alle schwachen oder mit irgend einem Fehler behafteten Kinder sofort getödtet und nur die vollkommen kräftigen Individuen bleiben am Leben und pflanzen die Rasse fort. Dass durch diese künst- liche Züchtung die Rasse im Laufe zahlreicher Generationen be- deutend gekräftigt wird, ist an sich nicht zu bezweifeln und wird durch viele bekannte Thatsachen genügend bewiesen. Das Gegentheil von der künstlichen Züchtung der wilden Roth- häute und der alten Spartaner bildet die individuelle Auslese, 154 Spartanische Züchtung. Medieinische Züchtung. VI. (er welche in unseren modernen Cultur-Staaten durch die vervoll- kommnete Heilkunde der Neuzeit ausgeübt wird. Denn obwohl immer noch wenig im Stande, innere Krankheiten wirklich zu heilen, besitzt und übt dieselbe doch mehr als früher die Kunst, schleichende, chronische Krankheiten auf lange Jahre hinauszu- ziehen. Gerade solche verheerende Uebel, wie Schwindsucht, Scrophel-Krankheit, Syphilis, ferner viele Formen der Geistes-Krank- heiten, sind in besonderem Maasse erblich und werden von den siechen Eltern auf einen Theil ihrer Kinder oder gar auf die ganze Nachkommenschaft übertragen. Je länger nun die kranken Eltern mit Hülfe der ärztlichen Kunst ihre sieche Existenz hin- ausziehen, desto zahlreichere Nachkommenschaft kann von ihnen die unheilbaren Uebel erben, desto mehr Individuen werden dann auch wieder in der folgenden Generation, Dank jener künstlichen „medieinischen Züchtung“, von ihren Eltern mit dem schlei- chenden Erbübel angesteckt. Viel gefährlicher und verheerender als diese medieinische ist die elericale Züchtung, jener höchst folgenschwere Selections- Process, der von jeder mächtigen und einheitlich organisirten Hierarchie ausgeübt wird. In allen Staaten, in welchen ein sol- cher centralisirter Clerus seinen verderblichen Einfluss auf die Erziehung der Jugend, auf das Familienwesen und somit auf die wichtigsten Grundlagen des ganzen Volkslebens Jahrhunderte hin- durch ausgeübt hat, sind die traurigen Folgen der demoralisiren- den „elericalen Selection“ deutlich im Verfalle der gesammten Bildung und Sitte sichtbar. Man denke nur an Spanien, an das „allerchristlichste* Land Europa’s! Bei der römisch-katholischen Kirche, deren höchste Machtentfaltung im Mittelalter mit dem tiefsten Sinken der wissenschaftlichen Forschung und der allge- meinen Sittlichkeit zusammenfällt, ist das ganz besonders offen- bar. Denn hier sind die Priester durch die raffinirt-unmoralische Einrichtung des Cölibats gezwungen, sich in das innerste Heilig- thum des Familienlebens einzudrängen; und indem sie hier be- sondere Fruchtbarkeit entwickeln, vererben sie ihre unsittlichen Charakterzüge auf eine unverhältnissmässig zahlreiche Nachkom- menschaft. Mächtig unterstützt wurde dieser katholische Züch- UT VII. Clericale Züchtung. Einfluss der Todesstrafe. 155 tungs- Process durch die Inquisition, welche alle edleren und besseren Charaktere sorgfältig aus dem Wege räumte. Auf der anderen Seite ist hervorzuheben, dass andere For- men der künstlichen Züchtung im Culturleben der Menschheit auch einen sehr günstigen Einfluss ausüben. Wie sehr das bei vielen Verhältnissen unserer vorgeschrittenen Civilisation und namentlich der verbesserten Schulbildung und Erziehung der Fall ist, liegt auf der Hand. Direct wohlthätig wirkt als künstlicher Selections-Process auch die Todesstrafe. Zwar wird von Vielen gegenwärtig noch die Abschaffung der Todesstrafe als eine „libe- rale Maassregel“ gepriesen, und im Namen einer falschen „Hu- manität“ eine Reihe der albernsten Gründe dafür geltend ge- macht. Allein in Wahrheit ist die Todesstrafe für die grosse Menge der unverbesserlichen Verbrecher und Taugenichtse nicht nur die gerechte Vergeltung, sondern auch eine grosse Wohlthat für den besseren Theil der Menschheit; dieselbe Wohlthat, welche für das Gedeihen eines wohl cultivirten Gartens die Ausrottung des wuchernden Unkrauts ist. Wie durch sorgfältiges Ausjäten des Unkrauts nur Licht, Luft und Bodenraum für die edlen Nutz- Pflanzen gewonnen wird, so würde durch unnachsichtliche Aus- rottung aller unverbesserlichen Verbrecher nicht allein dem bes- seren Theile der Menschheit der „Kampf um’s Dasein“ sehr er- leichtert, sondern auch ein vortheilhafter künstlicher Züchtungs- Process ausgeübt werden; denn es würde dadurch jenem entarteten Auswurfe der Menschheit die Möglichkeit benommen, seine ver- derblichen Eigenschaften durch Vererbung zu übertragen. Gegen den verderblichen Einfluss vieler künstlichen Züch- tungs-Processe finden wir glücklicher Weise ein heilsames Gegen- gewicht in dem überall waltenden und unüberwindlichen Einflusse der viel stärkeren natürlichen Züchtung. Denn diese ist überall auch im Menschenleben, wie im Thier- und Pflanzenleben, das wichtigste umgestaltende Princip und der kräftigste Hebel des Fortschritts und der Vervollkommnung. Der Kampf um’s Dasein oder die „Concurrenz*“ bringt es mit sich, dass im Grossen und Ganzen der Bessere, weil der Vollkommnere, über den Schwächeren und Unvollkommneren siegt. Im Menschenleben 156 Fortschritt der Menschheit durch natürliche Züchtung. VII aber wird dieser Kampf um’s Dasein immer mehr zu einem Kampfe des Geistes werden, nicht zu einem Kampfe der Mord- waffen. Dasjenige Organ, welches beim Menschen vor allen an- deren durch den veredelnden Einfluss der natürlichen Zuchtwahl vervollkommnet wird, ist das Gehirn. Der Mensch mit dem vollkommensten Verstande bleibt zuletzt Sieger und vererbt auf seine Nachkommen die Eigenschaften des Gehirns, die ihm zum Sieg verholfen hatten. So dürfen wir denn mit Fug und Recht hoffen, dass trotz aller Anstrengungen der rückwärts strebenden (rewalten der Fortschritt des Menschen-Geschlechts zur freien Bil- dung — und dadurch zur möglichsten Vervollkommnung — unter dem segensreichen Einflusse der natürlichen Züchtung immer mehr und mehr zur Wahrheit werden wird. - VE WE Wi . Achter Vortrag. Vererbung und Fortpflanzung. Allgemeinheit der Erblichkeit und der Vererbung. Auffallende besondere Aeusserungen derselben. Menschen mit vier, sechs oder sieben Fingern und Zehen. Stachelschwein-Menschen. Vererbung von Krankheiten, namentlich von Geistes-Krankheiten. Erbsünde. Erbliche Monarchie. Erbadel. Erb- liche Talente und Seelen-Eigenschaften. Materielle Ursachen der Vererbung. Zusammenhang der Vererbung mit der Fortpflanzung. Urzeugung und Fort- pflanzung. Ungeschlechtliche oder monogone Fortpflanzung. Fortpflanzung durch Selbsttheilung. Moneren und Amoeben. Fortpflanzung durch Knos- penbildung, durch Keim-Knospenbildung und durch Keim- Zellenbildung. Geschlechtliche oder amphigone Fortpflanzung. Zwitterbildung oder Herma- phroditismus. Geschlechtstrennung oder Gonochorismus. Jungfräuliche Zeu- sung oder Parthenogenesis. Materielle Uebertragung der Eigenschaften beider Eltern auf das Kind bei der geschlechtlichen Fortpflanzung. Meine Herren! Als die formbildende Naturkraft, welche die verschiedenen Gestalten der Thier- und Pflanzen-Arten erzeugt, haben Sie in dem letzten Vortrage nach Darwin’s Theorie die natürliche Züchtung kennen gelernt. Wir verstanden unter diesem Ausdruck die allgemeine Wechsel-Wirkung, welche im Kampfe um das Dasein zwischen der Erblichkeit und der Ver- änderlichkeit der Organismen stattfindet; zwischen zwei physio- logischen Functionen, welche allen Thieren und Pflanzen eigen- thümlich sind, und welche sich auf andere Lebens-Thätigkeiten, auf die Functionen der Fortpflanzung und Ernährung zurückführen lassen. Alle die verschiedenen Formen der Organismen, welche man gewöhnlich geneigt ist als Producte einer zweckmässig thä- tigen Schöpferkraft anzusehen, konnten wir nach jener Züchtungs- Theorie auffassen als die nothwendigen Producte der zwecklos 158 Erblichkeit und Vererbung. VII. wirkenden natürlichen Züchtung, entstanden durch die unbewusste Wechsel-Wirkung zwischen jenen beiden Eigenschaften der Verän- derlichkeit und der Erblichkeit. Bei der ausserordentlichen Wich- tigkeit, welche diesen Lebens-Eigenschaften der Organismen dem- gemäss zukommt, müssen wir zunächst dieselben etwas näher in das Auge fassen, und wir wollen uns heute mit der Vererbung beschäftigen. Genau genommen müssen wir unterscheiden zwischen der Erblichkeit und der Vererbung. Die Erblichkeit ist die Ver- erbungskraft, die Fähigkeit der Organismen, ihre Eigenschaften auf ihre Nachkommen durch die Fortpflanzung zu übertragen. Die Vererbung oder Heredität dagegen bezeichnet die wirkliche Ausübung dieser Fähigkeit, die thatsächlich stattfindende Ueber- tragung. Erblichkeit und Vererbung sind so alleemeine, alltägliche Erscheinungen, dass die meisten Menschen dieselben überhaupt nicht beachten, und dass die wenigsten geneigt sind, besondere Reflexionen über den Werth und die Bedeutung dieser Lebens- Erscheinungen anzustellen. Man findet es allgemein ganz natür- lich und selbstverständlich, dass jeder Organismus seines Gleichen erzeugt, und dass die Kinder den Eltern im Ganzen wie im Ein- zelnen ähnlich sind. Gewöhnlich pflegt man die Erblichkeit nur in jenen Fällen hervorzuheben und zu besprechen, wo sie eine besondere Eigenthümlichkeit betrifft, die an einem menschlichen Individuum, ohne ererbt zu sein, zum ersten Male auftrat und von diesem auf seine Nachkommen übertragen wurde. In beson- ders auffallendem Grade zeigt sich so die Vererbung bei bestimm- ten Krankheiten und bei ganz ungewöhnlichen, monströsen Ab- weichungen von der gewöhnlichen Körperbildung. Unter diesen Fällen von Vererbung monströser Abänderungen sind besonders lehrreich diejenigen, welche eine abnorme Vermeh- rung oder Verminderung der Fünfzahl der menschlichen Finger und Zehen betreffen. Nicht selten kommen menschliche Familien vor, in denen mehrere Generationen hindurch sechs Finger an jeder Hand oder sechs Zehen an jedem Fusse beobachtet werden. Sel- tener sind Beispiele von Siebenzahl oder von Vierzahl der Finger _— VIII. Menschen mit vier, sechs oder sieben Fingern und Zehen. 159 und Zehen. Die ungewöhnliche Bildung geht immer zuerst von einem einzigen Individuum aus, welches aus unbekannten Ursachen mit einem Ueberschuss über die gewöhnliche Fünfzahl der Finger und Zehen geboren wird und diesen durch Vererbung auf einen Theil seiner Nachkommen überträgt. In einer und derselben Fa- milie kann man die Sechszahl der Finger und Zehen nun drei, vier und mehr Generationen hindurch verfolgen. In einer spani- schen Familie waren nicht weniger als vierzig Individuen durch diese Ueberzahl ausgezeichnet. In allen Fällen ist die Vererbung der sechsten überzähligen Zehe oder des sechsten Fingers nicht bleibend und durchgreifend, weil die sechsfingerigen Menschen sich immer wieder mit fünffingerigen vermischen. Würde eine sechs- fingerige Familie sich in reiner Inzucht fortpflanzen, würden sechsfingerige Männer immer nur sechsfingerige Frauen heirathen, so könnte durch Fixirung dieses Charakters eine besondere sechs- fingerige Menschenart entstehen. Da aber die sechsfingerigen Männer immer fünffingerige Frauen heirathen, und umgekehrt, so zeigt ihre Nachkommenschaft meistens sehr gemischte Zahlen- Verhältnisse und schlägt schliesslich nach Verlauf einiger Gene- rationen wieder in die normale Fünfzahl zurück. So können 2. B. von 8 Kindern eines sechsfingerigen Vaters und einer fünf- fingerigen Mutter 2 Kinder an allen Händen und Füssen 6 Finger und 6 Zehen haben, 4 Kinder gemischte Zahlen-Verhältnisse und 2 Kinder überall die gewöhnliche Fünfzahl. In einer spanischen Familie hatten sämmtliche Kinder bis auf das jüngste an Hän- den und Füssen die Sechszahl; nur das jüngste hatte überall fünf Finger und Zehen, und der sechsfingerige Vater des Kindes wollte dieses letzte daher nicht als das seinige anerkennen. Sehr auffallend zeigt sich ferner die Vererbungskraft in der Bildung und Färbung der menschlichen Haut und Haare. Es ist allbekannt, wie genau in vielen menschlichen Familien eine eigen- thümliche Beschaffenheit des Hautsystems, z. B. eine besonders weiche oder spröde Haut, eine auffallende Ueppigkeit des Haar- wuchses, eine besondere Farbe und Grösse der Augen u. s. w. viele Generationen hindurch forterbt. Ebenso werden besondere locale Auswüchse und Flecke der Haut, sogenannte Muttermale, 160 Vererbung bei Stachelschwein-Menschen mit monströser Haut. VIII. Leberflecke und andere Pigment-Anhäufungen, die an bestimmten Stellen vorkommen, gar nicht selten mehrere Generationen hin- durch so genau vererbt, dass sie bei den Nachkommen an den- selben Stellen sich zeigen, an denen sie bei den Eltern vor- handen waren. Besonders berühmt geworden sind die Stachel- schwein-Menschen aus der Familie Lambert, welche im vorigen Jahrhundert in London lebte. Edward Lambert, der 1717 geboren wurde, zeichnete sich durch eine ganz ungewöhnliche und mon- ströse Bildung der Haut aus. Der ganze Körper war mit einer zolldicken hornartigen Kruste bedeckt, welche sich in Form zahl- reicher stachelförmiger und schuppenförmiger Fortsätze (bis über einen Zoll lang) erhob. Diese monströse Bildung der Oberhaut oder Epidermis vererbte Lambert auf seine Söhne und Enkel, aber nicht auf die Enkelinnen. Die Uebertragung blieb also hier in der männlichen Linie, wie es auch sonst oft der Fall ist. Ebenso vererbt sich übermässige Fett-Entwickelung an gewissen Körperstellen oft nur innerhalb der weiblichen Linie. Wie genau sich die charakteristische Gesichts-Bildung erblich überträgt, braucht wohl kaum erinnert zu werden: bald bleibt dieselbe in der männ- lichen, bald innerhalb der weiblichen Linie; bald vermischt sie sich in beiden Linien. Sehr lehrreich und allbekannt sind ferner die Vererbungs- Erscheinungen pathologischer Zustände, besonders gewisser mensch- licher Krankheits - Formen. Bekanntlich werden insbesondere Krankheiten der Athmungs-Organe, der Drüsen und des Nerven- Systems leicht erblich übertragen. Sehr häufig tritt plötzlich in einer sonst gesunden Familie eine derselben bisher unbekannte Erkrankung auf; sie wird erworben durch äussere Ursachen, durch krankmachende Lebens - Bedingungen. Diese Krankheit, welche bei einem einzelnen Individuum durch äussere Ursachen hervorgerufen wurde, pflanzt sich von letzterem auf seine Nach- kommen fort, und diese haben nun alle oder zum Theil an der- selben Krankheit zu leiden. Bei Lungen-Krankheiten ist dieses traurige Verhältniss der Erblichkeit allbekannt, ebenso bei Leber- Krankheiten, bei Syphilis, lei Geistes-Krankheiten. Diese letz- teren sind von ganz besonderem Interesse. Ebenso wie gewisse SI Fr war £ Fu 1 2 Gap wi cc ee Zu ee a a Le U > VI. Materielle Vererbung geistiger Eigenschaften. 161 Charakterzüge des Menschen, Stolz, Ehrgeiz, Leichtsinn u. s. w. streng durch die Vererbung auf die Nachkommenschaft über- tragen werden, so gilt das auch von den besonderen, abnormen Aeusserungen der Seelenthätigkeit, welche man als fixe Ideen, Schwermuth, Blödsinn und überhaupt als Geistes-Krankheiten be- zeichnet. Es zeigt sich hier deutlich und unwiderleglich, dass die Seele des Menschen. ebenso wie die Seele der Thiere, eine rein mechanische Thätigkeit, eine Summe von molekularen Bewegungs- Erscheinungen der Gehirntheilchen ist, und dass sie mit ihrem Substrate, ebenso wie jede andere Körper-Eigenschaft, durch die Fortpflanzung materiell übertragen, d. h. vererbt wird. Diese äusserst wichtige und unleugbare Thatsache erregt, wenn man sie ausspricht, gewöhnlich grosses Aergerniss, und doch wird sie eigentlich stillschweigend allgemein anerkannt. Denn worauf beruhen die Vorstellungen von der „Erb-Sünde*, der „Erb- Weisheit“, dem „Erb-Adel“ u. s. w. anders, als auf der Ueberzeu- gung, dass die menschliche Geistes-Beschaffenheit durch die Fortpflanzung — also durch einen rein materiellen Vorgang! — körperlich von den Eltern auf die Nachkommen übertragen wird? — Die Anerkennung dieser grossen Bedeutung der Erb- lichkeit äussert sich in einer Menge von menschlichen Einrich- tungen, wie z. B. in der Kasten-Eintheilung vieler Völker in Krieger-Kasten, Priester-Kasten, Arbeiter-Kasten u. s. w. Offenbar beruht ursprünglich die Einrichtung solcher Kasten auf der Vor- stellung von der hohen Wichtigkeit erblicher Vorzüge, welche gewissen Familien beiwohnten, und von denen man voraussetzte, dass sie immer wieder von den Eltern auf die Nachkommen über- tragen werden würden. Die Einrichtung des erblichen Adels und der erblichen Monarchie ist auf die Vorstellung einer solchen Vererbung besonderer Tugenden zurückzuführen. Allerdings sind es leider nicht nur die Tugenden, sondern auch die Laster, welche durch Vererbung übertragen und gehäuft werden; und wenn Sie in der Welt-Geschichte die verschiedenen Individuen der einzelnen Dynastien vergleichen, so werden Sie zwar überall eine grosse Anzahl von Beweisen für die Erblichkeit auffinden können, aber oft weniger für die Erblichkeit der Tugenden, als der entgegen- Haeckel, Natürl. Schöpfungs-Gesch. $. Aufl. 19 162 Materielle Vererbung geistiger Eigenschaften. VII. gesetzten Eigenschaften. Denken Sie z. B. nur an die römischen Kaiser, an die Julier und die Claudier, oder an die Bourbonen in Frankreich, Spanien und Italien! In der That dürfte kaum irgendwo eine solche Fülle von schlagenden Beispielen für die merkwürdige Vererbung der fein- sten körperlichen und geistigen Züge gefunden werden, als in der (Geschichte der regierenden Häuser in den erblichen Monarchien. (sanz besonders gilt dies mit Bezug auf die vorher erwähnten, in ungewöhnlichem Maasse erblichen Geistes-Krankheiten. Schon der berühmte Irrenarzt Esquirol wies nach, dass die Zahl der Gei- steskranken in den regierenden Häusern zu ihrer Anzahl in der gewöhnlichen Bevölkerung sich verhält, wie 60 zu 1, d. h. dass (reistes-Krankheit in den bevorzugten Familien der regierenden Häuser sechzig mal so häufig vorkommt, als in der gewöhnlichen Menschheit. Würde eine gleiche genaue Statistik auch für den erblichen Adel durchgeführt, so dürfte sich leicht herausstellen, dass auch dieser ein ungleich grösseres Contingent von Geistes- kranken stellt, als die nichtadelige Menschheit. Diese Erschei- nung wird uns kaum mehr wundern, wenn wir bedenken, welchen Nachtheil sich meistens diese privilegirten Kasten durch ihre unnatürliche einseitige Erziehung und durch ihre künstliche Ab- sperrung von der übrigen Menschheit selbst zufügen. Manche dunkle Schattenseiten der menschlichen Natur werden dadurch besonders entwickelt, gleichsam künstlich gezüchtet, und pflanzen sich nun nach den Vererbungs-Gesetzen mit immer verstärkter Kraft und Einseitigkeit durch die Reihe der Generationen fort. Wie sich in der Generations-Folge mancher Dynastien die edle Vorliebe für Wissenschaft und Kunst, in anderen das Pflicht- gefühl des tugendhaften Herrschers, als des ersten Staatsdieners, durch viele Generationen erblich überträgt und erhält, wie da- gegen in anderen Dynastien Jahrhunderte hindurch eine beson- dere Neigung für sinnlichen Lebensgenuss, oder für das Kriegs- handwerk, oder für rohe Gewaltthätigkeiten vererbt wird, ist aus der Völker-Geschichte Ihnen hinreichend bekannt. Ebenso vererben sich in manchen Familien viele Generationen hindurch ganz be- stimmte Anlagen für einzelne Geistes-Thätigkeiten, z. B. Dicht- P\ 20 ni ER v WET FE, uch Ken u WE VIII. Materielle Vererbung geistiger Eigenschaften. 163 kunst, Tonkunst, bildende Kunst, Mathematik, Naturforschung, Philosophie u. s. w. In der Familie Bach hat es nicht weniger als zweiundzwanzig hervorragende musikalische Talente gegeben. Natürlich beruht die Vererbung solcher Seelen -Eigenthümlichkei- ten, wie die Vererbung der Geistes-Eigenschaften überhaupt, auf dem materiellen Vorgang der Zeugung. Auch hier ist die Le- bens-Erscheinung, die Kraft-Aeusserung, unmittelbar (wie überall in der Natur) verbunden mit verschiedenen Mischungs- Verhält- nissen des Stoffes. Die Mischung und Molekular-Bewegung des Stoffes ist es, welche bei der Zeugung übertragen wird. Bevor wir nun die verschiedenen, zum Theil sehr interessan- ten und bedeutenden Gesetze der Vererbung näher untersuchen, wollen wir über die eigentliche Natur dieses Vorganges uns ver- ständigen. Man pflegt vielfach die Erblichkeits-Erscheinungen als etwas ganz Räthselhaftes anzusehen, als eigenthümliche Vorgänge, welche durch die Natur-Wissenschaft nicht ergründet, in ihren Ur- sachen und eigentlichem Wesen nicht erfasst werden könnten. Man pflegt gerade hier sehr allgemein übernatürliche Einwirkun- gen anzunehmen. Es lässt sich aber schon jetzt, bei dem heu- tigen Zustande der Physiologie, mit vollkommener Sicherheit nachweisen, dass alle Erblichkeits-Erscheinungen durchaus natür- liche Vorgänge sind, dass sie durch mechanische Ursachen be- wirkt werden, und dass sie auf materiellen Bewegungs-Erscheinun- sen im Körper der Organismen beruhen, welche wir als Theil- erscheinungen der Fortpflanzung betrachten können. Alle Erb- lichkeits-Erscheinungen und Vererbungs-Gesetze lassen sich auf die materiellen Vorgänge der Fortpflanzung zurückführen. Jeder einzelne Organismus, jedes lebendige Individuum ver- dankt sein Dasein entweder einem Acte der elternlosen Zeu- sung oder Urzeugung (Generatio spontanea, Archigonia), oder einem Acte der elterlichen Zeugung oder Fortpflanzung (Ge- neratio parentalis, Tocogonia). Auf die Urzeugung oder Archi- gonie, durch welche bloss Organismen der allereinfachsten Art, Moneren, entstehen können, werden wir in einem späteren Vor- trage zurückkommen. Jetzt haben wir uns nur mit der Fort- pflanzung oder Tocogonie zu beschäftigen, deren nähere Betrach- ir 164 Zusammenhang der Vererbung mit der Fortpflanzung. VII. tung für das Verständniss der Vererbung von der grössten Wich- tigkeit ist. Die Meisten von Ihnen werden von den Fortpflan- zungs-Erscheinungen wahrscheinlich nur diejenigen kennen, welche Sie allgemein bei den höheren Pflanzen und Thieren beobachten, die Vorgänge der geschlechtlichen Fortpflanzung oder der Amphi- gonie. Viel weniger allgemein bekannt sind die Vorgänge der ungeschlechtlichen Fortpflanzung oder der Monogonie. Gerade diese sind aber bei weitem mehr als die vorhergehenden geeig- net, ein erklärendes Licht auf die Natur der mit der Fortpflan- zung zusammenhängenden Vererbung zu werfen. Aus diesem Grunde ersuche ich Sie, jetzt zunächst bloss die Erscheinungen der ungeschlechtlichen oder monogonen Fort- pflanzung (Monogonia) in das Auge zu fassen. Diese tritt in mannichfach verschiedener Form auf, als Selbsttheilung, Knospen- Bildung und Keimzellen- oder Sporen-Bildung. Am lehrreichsten ist es hier, zunächst die Fortpflanzung bei den einfachsten Orga- nismen zu betrachten, welche wir kennen, und auf welche wir später bei der Frage von der Urzeugung zurückkommen müssen. Diese allereinfachsten uns bis jetzt bekannten, und zugleich die denkbar einfachsten Organismen sind die wasserbewohnenden Moneren: sehr kleine lebendige Körperchen, welche eigentlich streng genommen den Namen des Organismus gar nicht ver- dienen. Denn die Bezeichnung „Organismus“ für die lebenden Wesen beruht auf der Vorstellung, dass jeder belebte Naturkör- per aus Organen zusammengesetzt ist, aus verschiedenartigen Theilen, die als Werkzeuge, ähnlich den verschiedenen Theilen einer künstlichen Maschine, in einander greifen und zusammen- wirken, um die Thätigkeit des Ganzen hervorzubringen. Nun haben wir aber in den Moneren seit fünfundzwanzig Jahren kleine Organismen kennen gelernt, welche in der That nicht aus Organen zusammengesetzt sind, sondern ganz und gar aus einer structurlosen gleichartigen Materie bestehen, aus homogenem Plasma. Der ganze Körper dieser Moneren ist zeitlebens weiter Nichts, als ein bewegliches Schleimklümpchen ohne beständige Form, ein kleines lebendiges Stück einer eiweissartigen Kohlen- stoff-Verbindung. Wir nehmen an, dass diese gleichartige Masse ; a 2, Der um a gt er ee" j £ j | m, ET Sue SEE VIM. Organismen ohne Organe. Moneren. 165 eine sehr verwickelte feine Molekular-Structur besitzt; allein ana- tomisch oder mikroskopisch nachweisbar ist dieselbe nicht. Ein- fachere, unvollkommnere Organismen sind gar nicht denkbar'°). Die ersten vollständigen Beobachtungen über die Natur- Geschichte eines Moneres (Protogenes primordialis) habe ich 1564 bei Nizza angestellt. Andere sehr merkwürdige Moneren habe ich später (1866) auf der canarischen Insel Lanzarote und (1867) an der Meerenge von Gibraltar beobachtet. Die vollständige Le- bens-Geschichte eines dieser canarischen Moneren, der orangerothen Protomyxa aurantica, ist auf Tafel I (S. 165) dargestellt und in deren Erklärung beschrieben (im Anhang). Auch in der Nord- see, an der norwegischen Küste bei Bergen, habe ich (1869) einige eigenthümliche Moneren aufgefunden. Ein interessantes Moner des süssen Wassers hat Cienkowski unter dem Namen Vampyrella beschrieben, ein anderes Sorokin unter dem Na- men Gloidium, ein drittes Leidy als Biomyxa, ein viertes Mereschkowski als Haeckelina u. s. w. Neuerdings sind solche echte, kernlose Moneren auch von zahlreichen anderen Naturfor- schern (Gruber, Trinchese, Maggi, Bütschli u. s. w.) be- obachtet worden. Ich lege deshalb auf diese vielseitige Bestäti- gung meiner oft angezweifelten Entdeckung grossen Werth, weil der Nachweis kernloser Plastiden für mehrere Grundfragen unserer Entwickelungs-Lehre höchst bedeutungsvoll ist. In der That be- steht ihr Körper einzig und allein aus structurlosem Plasma oder Protoplasma, d. h. aus derselben eiweissartigen Koh- lenstoff-Verbindung, welche in unendlich vielen Modificatio- nen als der wesentlichste und nie fehlende Träger der Lebens- Erscheinungen in allen Organismen sich findet. Eine ausführ- lichere Beschreibung und Abbildung jener Moneren habe ich 1870 in meiner „Monographie der Moneren“ gegeben, aus der auch Tafel I copirt ist'°). Im Ruhezustande erscheinen die meisten Moneren als kleine Schleimkügelchen, für das unbewaffnete Auge nicht sichtbar oder eben sichtbar, höchstens von der Grösse eines Stecknadelkopfes. Wenn das Moner sich bewegt, bilden sich an der Oberfläche der kleinen Schleimkugel formlose fingerartige Fortsätze oder sehr 166 Formen und Lebens-Erscheinungen der Moneren. VIN. feine strahlende Fäden, sogenannte Scheinfüsse oder Pseudopodien. Diese Scheinfüsse sind einfache, unmittelbare Fortsetzungen der structurlosen eiweissartigen Masse, aus der der ganze Körper be- steht. Wir sind nicht im Stande, verschiedenartige Theile in demselben wahrzunehmen, und wir können den direeten Beweis für die absolute Einfachheit der festflüssigen Eiweissmasse da- durch führen, dass wir die Nahrungs-Aufnahme der Moneren unter dem Mikroskope verfolgen. Wenn kleine Körperchen, die zur Ernährung derselben tauglich sind, z. B. kleine Theilchen von zerstörten organischen Körpern oder mikroskopische Pflänzehen und Infusions-Thierchen, zufällig in Berührung mit den Moneren kommen, so bleiben sie an der klebrigen Oberfläche des festflüs- sigen Schleimklümpchens hängen, erzeugen hier einen Reiz, wel- cher stärkeren Zufluss der schleimigen Körpermasse zur Folge hat und werden endlich ganz von dieser umschlossen, oder sie werden durch Verschiebungen der einzelnen Eiweiss-Theilchen des Moneren-Körpers in diesen hineingezogen und dort verdaut, durch einfache Diffusion (Endosmose) ausgezogen. Ebenso einfach wie die Ernährung ist die Fortpflanzung dieser Urwesen, die man eigentlich weder Thiere noch Pflanzen nennen kann. Alle Moneren pflanzen sich nur auf dem unge- schlechtlichen Wege fort, durch Monogonie; und zwar im ein- fachsten Falle durch diejenige Art der Spaltung, welche wir an Fig. 1. Fortpflanzung eines einfachsten Organismus, eines Moneres, durch Selbsttheilung. A. Das ganze Moner, eine Protamoeba. B. Dieselbe zerfällt durch eine mittlere Einschnürung in zwei Hälften. €. Jede der beiden Hälf- ten hat sich von der andern getrennt und stellt nun ein selbstständiges In- dividuum dar. VII. Fortpflanzung der Moneren durch Selbsttheilung. 167 die Spitze der verschiedenen Fortpflanzungs-Formen stellen, durch Selbstheilung. Wenn ein solches Klümpchen, z. B. eine Prota- moeba oder ein Protogenes, eine gewisse Grösse durch Aufnahme fremder Eiweissmaterie erhalten hat, so zerfällt es in zwei Stücke; es bildet sich eine Einschnürung, welche ringförmig herumgeht, und schliesslich zur Trennung der beiden Hälften führt. (Verg]. Fig. 1.) Jede Hälfte rundet sich alsbald ab und erscheint nun als ein selbstständiges Individuum, welches das einfache Spiel der Lebens-Erscheinungen, Ernährung und Fortpflanzung, von Neuem beginnt. Indem die abgetrennte Hälfte allmählich durch Wachs- thum wieder ersetzt wird, erhebt diese Regeneration den Theil zum Werth des Ganzen. Bei anderen Moneren (Vampyrella und Gloidium) zerfällt der Körper bei der Fortpflanzung nicht in zwei, sondern in vier gleiche Stücke, und bei noch anderen (Protomonas, Protomyxa, Myxastrum) sogleich in eine grosse Anzahl von klei- nen Schleimkügelchen, deren jedes durch einfaches Wachsthum dem elterlichen Körper wieder gleich wird (Tafel I). Es zeigt sich hier deutlich, dass der Vorgang der Fortpflanzung weiter Nichts ist als ein Wachsthum des Organismus über sein individuelles Maass hinaus. Die einfache Fortpflanzungs-Weise der Moneren durch Selbst- theilung ist eigentlich die allgemeinste und weitest verbreitete von allen verschiedenen Fortpflanzungs-Arten; denn durch densel- ben einfachen Process der Theilung pflanzen sich auch die Zel- len fort, diejenigen einfachen organischen Individuen, welche in sehr grosser Zahl den Körper der allermeisten Organismen, den menschlichen Körper nicht ausgenommen, zusammensetzen. Ab- gesehen von den Organismen niedersten Ranges, welche noch nicht einmal den Formwerth einer Zelle haben (Moneren), oder zeitlebens eine einfache Zelle darstellen (wie die meisten Pro- tisten) ist der Körper jedes organischen Individuums aus einer grossen Anzahl von Zellen zusammengesetzt. Jede organische Zelle ist bis zu einem gewissen Grade ein selbstständiger Orga- nismus, ein sogenannter „Elementar -Organismus“ oder ein „In- dividuum erster Ordnung“. Jeder höhere Organismus ist gewis- sermaassen eine Gesellschaft oder ‘ein Staat von solchen vielge- ( \ / 168 Ungeschlechtliche Fortpflanzung der organischen Zellen. VI. staltigen, durch Arbeitstheilung mannichfaltig ausgebildeten Ble- mentar-Individuen‘'). Ursprünglich ist jede organische Zelle auch nur ein einfaches Schleimklümpchen, gleich einem Moner, jedoch von diesem dadurch verschieden, dass die gleichartige Eiweiss- Masse in zwei verschiedene Bestandtheile sich gesondert hat: ein inneres, festeres Eiweiss-Körperchen, den Zellkern (Nucleus), und einen äusseren, weicheren Eiweiss-Körper, den Zellschleim (Pro- toplasma). Ausserdem bilden viele Zellen späterhin noch einen dritten (jedoch häufig fehlenden) Formbestandtheil, indem sie sich einkapseln, eine äussere Hülle oder Zellhaut (Membrana) ausschwitzen. Alle übrigen Formbestandtheile, die sonst noch in den Zellen vorkommen, sind von untergeordneter Bedeutung und interessiren uns hier nicht. Ursprünglich ist auch jeder mehrzellige Organismus eine ein- fache Zelle; er wird dadurch mehrzellig, dass jene Zelle sich durch Theilung fortpflanzt, und dass die so entstehenden neuen Zellen-Individuen beisammen bleiben und durch Arbeitstheilung eine Gemeinde oder einen Staat bilden. Die Formen und Le- benserscheinungen aller mehrzelligen Organismen sind lediglich die Wirkung oder der Ausdruck der gesammten Formen und Le- benserscheinungen aller einzelnen sie zusammensetzenden Zellen. Das Ei, aus welchem sich die meisten Thiere und Pflanzen ent- wickeln, ist eine einfache Zelle. Die einzelligen Organismen, d. h. diejenigen, welche zeit- lebens den Formwerth einer einzigen Zelle beibehalten, z. B. die Amoeben (Fig. 2), pflanzen sich in der Regel auf die einfachste Weise durch Theilung fort. Dieser Process unterscheidet sich von der vorher bei den Moneren beschriebenen Selbsttheilung nur dadurch, dass zunächst aus dem festeren Zellkern (Nucleus) sich zwei neue Kerne bilden. Die beiden jungen Kerne entfernen sich von einander und wirken nun wie zwei verschiedene Anziehungs- Mittelpunkte auf die umgebende weichere Eiweiss-Masse, den Zell- schleim (Protoplasma). Dadurch zerfällt schliesslich auch dieser in zwei Hälften, und es sind nun zwei neue Zellen vorhanden, welche der Mutter-Zelle gleich sind. War die Zelle von einer Membran umgeben, so theilt sich diese entweder nicht, wie bei F Aria. ee ee a ie eier ee ee RR Lebensgeschichte eines einjuchsten Organismus. | | NW orehmann se. Hneckel, del. Protomyxa auranliacı. In ER VIM. Fortpflanzung der einzelligen Amoeben durch Theilung. 169 Fig. 2. Fortpflanzung eines einzelligen Organismus, einer Amoeba sphae- rococcus, durch Selbsttheilung. A. Die eingekapselte Amoeba, eine einfache kugelige Zelle, bestehend aus einem Protoplasma-Klumpen (ec), welcher einen Kern (db) und ein Kernkörperchen (a) einschliesst und von einer Zellhaut oder Kapsel umgeben ist. B. Die freie Amoeba, welche die Cyste oder Zell- haut gesprengt und verlassen hat. C. Dieselbe beginnt sich zu tbeilen, in- dem ihr Kern in zwei Kerne zerfällt und der Zellschleim zwischen beiden sich einschnürt. D. Die Theilung ist vollendet, indem auch der Zellschleim vollständig in zwei Hälften zerfallen ist (Da und Db). der Eifurchung (Fig. 3, 4), oder sie folgt passiv der activen Ein- schnürung des Protoplasma, oder es wird von jeder jungen Zelle eine neue Haut ausgeschwitzt. Ganz ebenso wie die selbstständigen einzelligen Organismen, z. B. Amoeba (Fig. 2) pflanzen sich nun auch die unselbststän- digen Zellen fort, welche in Gemeinden oder Staaten vereinigt bleiben und so den Körper der höheren Organismen zusammen- setzen. Ebenso vermehrt sich auch durch einfache Theilung die Zelle, mit welcher die meisten Thiere und Pflanzen ihre indivi- duelle Existenz beginnen, nämlich das Ei. Wenn sich aus einem Ei ein Thier, z. B. ein Säugethier (Fig. 3, 4) entwickelt, so be- Fig. 3. Ei eines Säugethieres (eine einfache Zelle. «a Kernkörperchen oder Nucleolus (soge- nannter Keimfleck des Eies); 5 Kern oder Nucleus (sogenanntes Keimbläschen des Eies); ce Zellschleim oder Protoplasma (sogenannter Dotter des Eies); d Zellhaut oder Membrana (Dotterhaut) des Eies, beim Säugethier wegen ihrer Durchsichtigkeit Membrana pellueida genannt. 170 Beginnende Entwickelung des Säugethier-Eies. VIM. Fig. 4. Erster Beginn der Entwiekelung des Säugethier-Eies, sogenannte „Eifurehung“ (Fortpflanzung der Ei-Zelle durch wiederholte Selbsttheilung). Fig. 44. Das Ei zerfällt durch Bildung der ersten Furche in zwei Zellen. Fig. 4B. Diese zerfallen durch Halbirung in 4 Zellen. Fig. 40. Diese letz teren sind in 8 Zellen zerfallen. Fig. 4D. Durch fortgesetzte Theilung ist ein kugeliger Haufen von zahlreichen Zellen entstanden. einnt dieser Entwickelungs-Process stets damit, dass die einfache Ei-Zelle (Fig. 3) durch fortgesetzte Selbsttheilung einen Zellenhau- fen bildet (Fig. 4). Die äussere Hülle oder Zellhaut des kuge- licen Eies bleibt ungetheilt. Zuerst zerfällt nach Eintritt der Be- [ruchtung der Zellenkern des Eies durch Selbsttheilung in zwei Kerne, dann folgt der Zellschleim (der Dotter des Eies) nach (Fig. 4A). In gleicher Weise zerfallen durch die fortgesetzte Selbsttheilung die zwei Zellen in vier (Fig. 4B), diese in acht (Fig. 4C), in sechzehn, zweiunddreissig u. s. w., und es entsteht schliesslich ein kugeliger Haufe von sehr zahlreichen kleinen Zel- len (Fig. 4D). Diese bauen nun durch weitere Vermehrung und ungleichartige Ausbildung (Arbeitstheilung) allmählich den zu- sammengesetzten mehrzelligen Organismus auf. Jeder von uns hat im Beginne seiner individuellen Entwickelung denselben, in Fig. 4 dargestellten Process durchgemacht. Das in Fig. 3 abge- bildete Säugethier-Ei und die in Fig. 4 dargestellte Entwickelung desselben könnte eben so gut vom Menschen, als vom Affen, vom Hunde, vom Pferde oder von irgend einem anderen placentalen Säugethier herrühren. Wenn Sie nun zunächst nur diese einfachste Form der Fort- pflanzung, die Selbsttheilunng, betrachten, so werden Sie es ge- wiss nicht wunderbar finden, dass die Theilungs-Producte des ursprünglichen Organismus dieselben Eigenschaften besitzen, wie SE a VII. Ungeschlechtliche Fortpflanzung dureh Selbsttheilung. 171 das elterliche Individuum. Sie sind ja Theilhälften des elterlichen Organismus, und da die Materie, der Plasma-Stoff, in beiden Hälften derselbe ist, da die beiden jungen Individuen gleich viel und gleich beschaffene Materie von dem elterlichen Individuum überkommen haben, so müssen natürlich auch die Lebens-Erschei- nungen, die physiologischen Eigenschaften, in den beiden Kindern dieselben sein. In der That sind in jeder Beziehung, sowohl hinsichtlich ihrer Form und ihres Stoffes, als hinsichtlich ihrer Lebens-Erscheinungen, die beiden Tochter-Zellen nicht von einander und von der Mutter-Zelle zu unterscheiden. Sie haben von ihr die gleiche Natur geerbt. Nun findet sich aber dieselbe einfache Fortpflanzung durch Theilung nicht bloss bei den einfachen Zellen, sondern auch bei höher stehenden mehrzelligen Organismen, z. B. bei den Korallen- Thieren. Viele derselben, welche schon einen höheren Grad von Zusammensetzung und Organisation zeigen, pflanzen sich dennoch einfach durch Theilung fort. Hier zerfällt der ganze Organismus mit allen seinen Organen in zwei gleiche Hälften, sobald er durch Wachsthum ein gewisses Maass der Grösse erreicht hat. Jede Hälfte ergänzt sich alsbald wieder durch Wachsthum zu einem vollständigen Individuum. Auch hier finden Sie es gewiss selbst- verständlich, dass die beiden Theilungs-Producte die Eigenschaften des elterlichen Organismus theilen, da sie ja selbst Substanz- hälften desselben sind. An die Fortpflanzung durch Theilung schliesst sich zunächst die Fortpflanzung durch Knospen-Bildung an. Diese Art der Monogonie ist ausserordentlich weit verbreitet. Sie findet sich sowohl bei den einfachen Zellen (obwohl seltener), als auch bei den aus vielen Zellen zusammengesetzten höheren Organismen. Ganz allgemein verbreitet ist die Knospen-Bildung im Pflanzen- Reich, seltener im Thier-Reich. Jedoch kommt sie auch hier in dem Stamme der Pflanzen-Thiere, insbesondere bei den Korallen und bei einem grossen Theile der Medusen sehr häufig vor, ferner auch bei einem Theil der Würmer (Platt-Würmern, Ringel-Wür- mern, Moosthieren) und bei den Mantelthieren. Die meisten verzweigten Thier-Stöcke, welche auch äusserlich den verzweigten 12 Ungeschlechtliche Fortpflanzung durch Knospen-Bildung. VIT. Pflanzen-Stöcken so ähnlich sind, entstehen gleich diesen durch Knospen-Bildung. Die Fortpflanzung durch Knospen-Bildung (Gemmatio) ist von der Fortpflanzung durch Theilung wesentlich verschieden. Die beiden durch Knospung neu erzeugten Organismen sind nicht von gleichem Alter und daher anfänglich auch nicht von gleichem Wertbe, wie es bei der Theilung der Fall ist. Bei der letzteren können wir offenbar keines der beiden neu erzeugten Individuen als das elterliche, als das erzeugende ansehen, weil beide ja glei- chen Antheil an der Zusammensetzung des ursprünglichen, elter- lichen Individuums haben. Wenn dagegen ein Organismus eine Knospe treibt, so ist die letztere das Kind des ersteren. Beide Individuen sind von ungleichem Alter und daher zunächst auch von ungleicher Grösse und ungleichem Formenwerth. Wenn z.B. eine Zelle durch Knospen Bildung sich fortpflanzt, so sehen wir nicht, dass die Zelle in zwei gleiche Hälften zerfällt, sondern es bildet sich an einer Stelle eine Hervorragung, welche grösser und grösser wird, und welche sich mehr oder weniger von der elter- lichen Zelle absondert und nun selbstständig wächst. Ebenso be- merken wir bei der Knospen-Bildung einer Pflanze oder eines Thieres, dass an einer Stelle des ausgebildeten Individuums eine kleine locale Wucherung entsteht, welche grösser und grösser wird, und ebenfalls durch selbstständiges Wachsthum sich mehr oder weniger von dem elterlichen Organismus absondert. Die Knospe kann später, nachdem sie eine gewisse Grösse erlangt hat, ent- weder vollkommen von dem Eltern-Individuum sich ablösen, oder sie kann mit diesem im Zusammenhang bleiben und einen Stock bilden, dabei aber doch ganz selbstständig weiter leben. Während das Wachsthum, welches die Fortpflanzung einleitet, bei der Thei- lung ein totales ist und den ganzen Körper betrifft, ist dasselbe dagegen bei der Knospen-Bildung ein partielles und betrifit nur einen Theil des elterlichen Organismus. Aber auch hier behält die Knospe, das neu erzeugte Individuum, welches mit dem elter- lichen Organismus so lange im unmittelbarsten Zusammenhang steht und aus diesem hervorgeht, dessen wesentliche Eigenschaf- ten und ursprüngliche Bildungsrichtung bei. a at VIII. Ungeschlechtliche Fortpflanzung durch Keimknospen-Bildung. 173 An die Knospen-Bildung schliesst sich unmittelbar eine dritte Art der ungeschlechtlichen Fortpflanzung an, diejenige durch Keimknospen-Bildung (Polysporogonia). Bei niederen unvoll- kommenen Organismen, so bei sehr vielen Cryptogamen, unter den Thieren insbesondere bei den Pflanzenthieren und Würmern, sondert sich in einem aus vielen Zellen zusammengesetzten In- dividuum eine kleine Zellen-Gruppe von den umgebenden Zellen ab, und nun wächst diese kleine isolirte Zellen-Gruppe allmäh- lich zu einem Individuum heran, welches dem elterlichen ähn- lich wird und früher oder später aus diesem heraustritt. So ent- stehen z. B. im Körper der Saug-Würmer (Trematoden) oft zahl- reiche, aus vielen Zellen zusammengesetzte Körperchen, Keim- Knospen oder Polysporen, welche sich schon frühzeitig ganz von dem Eltern-Körper absondern und diesen verlassen, nachdem sie einen gewissen Grad selbstständiger Ausbildung erreicht haben. Offenbar ist die Keimknospen-Bildung von der echten Knos- pen-Bildung nur wenig verschieden. Andrerseits aber berührt sie sich mit einer vierten Form der ungeschlechtlichen Fortpflanzung, welche beinahe schon zur geschlechtlichen Zeugung hinüberführt, nämlich mit der Keimzellen-Bildung (Monosporogonia), oft auch schlechtweg Sporen-Bildung (Sporogonia) genannt. Hier ist es nicht mehr eine Zellen-Gruppe, sondern eine einzelne Zelle, welche sich im Innern des zeugenden Organismus von den um- gebenden Zellen absondert, und sich erst weiter entwickelt, nach- dem sie aus jenem ausgetreten ist. Nachdem diese Keimzelle oder Monospore (gewöhnlich kurzweg Spore genannt) das Eltern- Individuum verlassen hat, vermehrt sie sich durch Theilung und bildet so einen vielzelligen Organismus, welcher durch Wachsthum und allmähliche Ausbildung die erblichen Eigenschaften des elter- lichen Organismus wieder erlangt. So geschieht es sehr häufig bei den niederen Pflanzen. | Obwohl die Keimzellen-Bildung der Keimknospen -Bildung sehr nahe steht, entfernt sie sich doch offenbar von dieser, wie von den vorher angeführten anderen Formen der ungeschlecht- lichen Fortpflanzung sehr wesentlich dadurch, dass nur ein ganz kleiner Theil des zeugenden Organismus die Fortpflanzung und 174 Fortpflanzung durch Keimzellen-Bildung oder Sporen-Bildung. VIII. somit auch die Vererbung vermittelt. Bei der Selbsttheilung, wo der ganze Organismus in zwei Hälften zerfällt, bei der Knospen- Bildung, wo ein ansehnlicher und bereits mehr oder minder ent- wickelter Körpertheil von dem zeugenden Individuum sich abson- dert, finden wir es sehr begreiflich, dass Formen und Lebens- Erscheinungen in dem zeugenden und erzeugten Organismus die- selben sind. Viel schwieriger ist schon bei der Keimknospen- Bildung, und noch schwerer bei der Keimzellen-Bildung zu begreifen, wie dieser ganz‘ kleine, ganz unentwickelte Körper- Theil, diese Zellen-Gruppe oder einzelne Zelle nicht bloss gewisse elterliche Eigenschaften unmittelbar mit in ihre selbstständige Existenz hinübernimmt, sondern auch nach ihrer Trennung vom elterlichen Individuum sich zu einem vielzelligen Körper ent- wickelt, und in diesem die Formen und die Lebens-Erscheinungen des ursprünglichen, zeugenden Organismus wieder zu Tage treten lässt. Diese letzte Form der monogonen Fortpflanzung, die Keim- zellen- oder Sporen-Bildung, führt uns hierdurch bereits unmittel- bar zu der am schwierigsten zu erklärenden Form der Fortpflan- zung, zur geschlechtlichen Zeugung, hinüber. Die geschlechtliche (amphigone oder sexuelle) Zeu- eung (Amphigonia) ist die gewöhnliche Fortpflanzungs-Art bei allen höheren Thieren und Pflanzen. Offenbar hat sich die- selbe im Verlaufe der Erd-Geschichte erst später aus der un- geschlechtlichen Fortpflanzung, und zwar zunächst aus der Keim- zellen-Bildung entwickelt. In den frühesten Perioden der orga- nischen Erd-Geschichte pflanzten sich alle Organismen nur auf ungeschlechtlichem Wege fort, wie es gegenwärtig noch zahlreiche niedere Organismen thun, insbesondere viele von jenen einzelligen Wesen, welche auf der niedrigsten Stufe der Organisation stehen, welche man weder als Thiere noch als Pflanzen mit vollem Rechte betrachten kann, und welche man daher am besten als Urwesen oder Protisten aus dem Thier- und Pflanzen-Reich ausscheidet. Indessen erfolgt bei vielen Protisten die Ver- mehrung durch Theilung oder Sporen-Bildung erst dann, wenn (die Verschmelzung von zwei individuellen Zellen vorausgegangen ist. Diese Conjugation oder Copulation ist der Anfang der ge- VII. Geschlechtliche Fortpflanzung oder Amphigonie. 175 schlechtlichen Fortpflanzung, welche bei den höheren Thieren und Pflanzen gegenwärtig die Vermehrung der Individuen in der Regel allein vermittelt. Während bei allen vorhin erwähnten Haupt-Formen der un- geschlechtlichen Fortpflanzung, bei der Theilung, Knospen-Bildung, Keimknospen-Bildung und Keimzellen-Bildung, die abgesonderte Zelle oder Zellen-Gruppe für sich allein im Stande ist, sich zu einem neuen Individuum auszubilden, so muss dieselbe bei der geschlechtlichen Fortpflanzung erst durch einen anderen Zeugungs- Stoff befruchtet werden. Zwei verschiedene Zellen, die männ- liche Samen-Zelle (Sperma) und die weibliche Ei-Zelle müssen mit einander verschmelzen; und aus der neuen durch diese (o- pulation entstandenen Zelle (der Stamm-Zelle, Cytula) ent- wickelt sich der vielzellige Organismus. Diese beiden verschie- denen Zeugungs-Elemente, der männliche Samen und das weib- liche Ei, werden entweder von einem und demselben Individuum erzeugt (Zwitter-Bildung, Hermaphroditismus) oder von zwei ver- schiedenen Individuen (Geschlechts-Trennung, Gonochorismus). Die einfachere und niedere Form der geschlechtlichen Fort- pflanzung ist die Zwitter-Bildung (Hermaphroditismus). Sie findet sich bei der grossen Mehrzahl der Pflanzen, aber nur bei einer grossen Minderzahl der Thiere, z. B. bei den Garten- Schnecken, Blut-Egeln, Regen- Würmern und vielen anderen Würmern. Jedes einzelne Individuum erzeugt als Zwitter (Hermaphroditus) in sich beiderlei Geschlechts-Stoffe, Eier und Samen. Bei den meisten höheren Pflanzen enthält jede Blüthe sowohl die männlichen Organe (Staubfäden und Staubbeutel) als die weiblichen Organe (Griffel und Fruchtknoten). Die Garten- Schnecke erzeugt an einer Stelle ihrer Geschlechts-Drüse Eier, an einer anderen Sperma. Der Blut-Egel hat ein Paar Eier-Stöcke und neun Paar Samen-Drüsen. Viele Zwitter können sich selbst befruchten; bei anderen ist eine Copulation und gegenseitige Befruchtung zweier Individuen nothwendig, um die Eier zur Ent- wickelung zu veranlassen. Durch diese Wechsel-Kreuzung werden die Nachtheile der Inzucht vermieden. Das ist schon der Ueber- gang zur Geschlechts-Trennung. 176 Zwitter-Bildung und Geschlechts-Trennung. VIII. Die Geschlechts-Trennung (Gonorchorismus) ist die höhere und verwickeltere von beiden Arten der geschlechtlichen Zeugung. Sie ist gegenwärtig die allgemeine Fortpflanzungs-Art der höheren Thiere, findet sich dagegen nur bei einer geringeren Anzahl von Pflanzen (z. B. manchen Wasser-Pflanzen: Hydrocharis, Vallis- neria; und Bäumen: Weiden, Pappeln). Jedes organische In- dividuum als Nicht-Zwitter (Gonochoristus) erzeugt in sich nur einen von beiden Zeugungs-Stoffen, entweder männlichen oder weiblichen. Die weiblichen Individuen bilden sowohl bei den Thieren, als bei den Pflanzen Eier oder Ei-Zellen. Die Eier der Pflanzen werden gewöhnlich bei den Blüthen-Pflanzen (Phanerogamen) „Embryo-Bläschen“, bei den Blüthenlosen (Crypto- gamen) „Befruchtungs-Kugeln“ genannt. Die männlichen Indi- viduen sondern bei den Thieren den befruchtenden Samen (Sperma) ab, bei den Pflanzen dem Sperma entsprechende Körperchen (Pollen-Körner oder Blüthen-Staub bei den Phane- rogamen; bei den Cryptogamen ein Sperma, welches gleich dem- jenigen der -meisten Thiere aus lebhaft beweglichen, in einer Flüssigkeit schwimmenden Geissel-Zellen besteht, den Zoospermien, Spermatozoen oder Sperma-Zellen). Eine interessante Uebergangs-Form von der geschlechtlichen Zeugung zu der (nächststehenden) ungeschlechtlichen Keimzellen- Bildung bietet die sogenannte jungfräuliche Zeugung dar (Parthenogenesis). Diese ist in neuerer Zeit bei den Insecten, besonders durch Siebold’s verdienstvolle Untersuchungen, viel- fach nachgewiesen worden; Keimzellen, die sonst den gewöhn- lichen Ei-Zellen ganz ähnlich erscheinen und ebenso entstehen, können sich zu neuen Individuen entwickeln, ohne des befruch- tenden Samens zu bedürfen. Die merkwürdigsten und lehr- reichsten von den verschiedenen parthenogenetischen Erscheinungen bieten uns diejenigen Fälle, in denen dieselben Keimzellen, je nachdem sie befruchtet werden oder nicht, verschiedene Individuen erzeugen. Bei unseren gewöhnlichen Honig-Bienen entsteht aus den Eiern der Königin ein männliches Individuum (eine Drohne), wenn das Ei nicht befruchtet wird; ein weibliches (eine Königin oder Arbeiterin), wenn das Ei befruchtet wird. Es zeigt sich VI. Jungfräuliche Zeugung oder Parthenogenesis. har hier deutlich, dass in der That eine tiefe Kluft zwischen ge- schlechtlicher und geschlechtsloser Zeugung nicht existirt, dass beide Formen vielmehr unmittelbar zusammenhängen. Uebrigens ist die Parthenogenesis der Insecten keine ursprüngliche, primäre Erscheinung, vielmehr erst secundär durch Ausfall des männlichen (Geschlechts entstanden; aus irgend einem Grunde sind die Männ- chen überflüssig geworden! Jedenfalls ist sowohl bei Pflanzen als bei Thieren die ge- schlechtliche Zeugung, die als ein so wunderbarer Vorgang er- scheint, erst in späterer Zeit aus der älteren ungeschlechtlichen Zeugung hervorgegangen. In beiden Fällen ist die Vererbung eine nothwendige Theilerscheinung der Fortpflanzung. Die Ver- schmelzung von zwei gleichartigen Zellen, welche bei zahlreichen Protisten die ungeschlechtliche Vermehrung durch Theilung oder Sporen-Bildung einleitet (— bald als vorübergehende Conju- sation, bald als bleibende Copulation —) ist der erste Schritt zur Amphigonie. Der zweite Schritt ist die ungleichartige Aus- bildung oder Divergenz der beiden Zellen, ihre Arbeits-Theilung und Form-Spaltung. Die kleinere und beweglichere Zelle gestal- tet sich zur männlichen Sperma-Zelle, die grössere und trägere Zelle hingegen zur weiblichen Ei-Zelle. Beide übertragen bei ihrer Verschmelzung ihre besonderen Eigenschaften erblich auf das gemeinsame Product. Diese Vererbung wird uns begreiflich, wenn wir die ganze Kette der angeführten Fortpflanzungs-Er- scheinungen vergleichend im Zusammenhang überblicken. Haeckel, Natürl. Schöpfungs-Gesch. 8. Auf. : 12 Neunter Vortrag. Vererbungs-Gesetze und Vererbungs-Theorien. Unterschied der Vererbung bei der geschlechtlichen und bei der unge- schlechtlichen Fortpflanzung. Unterscheidung der erhaltenden und fortschrei- tenden Vererbung. Gesetze der erhaltenden oder eonservativen Erblichkeit: Vererbung ererbter Charaktere. Ununterbrochene oder eontinuirliche Verer- bung. Unterbrochene oder latente Vererbung. Generations-Wechsel. Rück- schlag. Verwilderung. Geschlechtliche oder sexuelle Vererbung. Secundäre Sexual-Charaktere. Gemischte oder amphigone Vererbung. Bastardzeugung. Abgekürzte oder vereinfachte Vererbung. Gesetze der fortschreitenden oder progressiven Erblichkeit: Vererbung erworbener Charaktere. Angepasste oder erworbene Vererbung. Befestigte oder constituirte Vererbung. Gleichzeitliche (homochrone) Vererbung. Gleichörtliche (homotope) Vererbung. Molekulare Vererbungs-Theorien. Pangenesis (Darwin). Perigenesis (Haeckel). Idioplasma (Nägeli). Keimplasma (Weismann). Intracellulare Pangenesis (Vries). Meine Herren! Zu den wichtigsten Fortschritten, welche unsere heutige Entwickelungs-Lehre seit dreissig Jahren in die allgemeine Naturgeschichte eingeführt hat, gehört sicher das tiefere Verständniss der beiden grossen organischen Gestaltungs- kräfte, der Vererbung einerseits, der Anpassung anderseits. Ihre vielfach verwickelte Wechselwirkung reicht aus, um unter den stets wechselnden Verhältnissen des Kampfes um’s Dasein die ganze Mannichfaltigkeit der organischen Formenwelt hervor- zubringen. Die ältere Natur-Philosophie, im Anfange unseres Jahrhunderts, erkannte zwar auch schon die hohe Bedeutung dieser Wechselwirkung, vermochte aber in den räthselvollen Charakter der beiden gestaltenden „Bildungstriebe“ nicht tiefer einzudringen. Jetzt hingegen, wo die grossartigen Fort- schritte der Morphologie und Physiologie, der Histologie und ee u u. A a hen De Be 2 re ”> 1 Physiologisches Wesen der Vererbungs-Vorgänge. 179 Ontogenie, uns einen viel tieferen Einblick in ihr wahres Wesen gestatten, erkennen wir in ihnen echte physiologische Func- tionen, d. h. allgemeine Lebensthätigkeiten der Orga- nismen selbst; und wie alle anderen Lebensthätiekeiten, be- ruhen auch die beiden fundamentalen Gestaltungskräfte zuletzt auf physikalischen und chemischen Verhältnissen. Allerdings erscheinen diese bisweilen äusserst verwickelt, lassen sich aber doch im Grunde auf einfache, mechanische Ursachen, auf An- ziehungs- und Abstossungs-Verhältnisse der Stofftheil- chen, der Molekeln und Atome zurückführen. Wie ich zuerst in meiner generellen Morphologie (1866) eingehend zu zeigen versuchte, ergiebt sich das Verständniss der Vererbung aus den verwickelten Erscheinungen der Fort- pflanzung, während die Erscheinungen der Anpassung aus den elementaren Verhältnissen der Ernährung sich erklären; insbesondere aus den trophischen Reizen, welche einerseits der unmittelbare Einfluss der äusseren Existenz-Bedingungen, ander- seits die eigene Thätigkeit der Organe und der sie zusammen- setzenden Zellen ausübt. Im letzten Vortrage hatte ich zu zeigen versucht, dass bei allen verschiedenen Formen der Fortpflanzung (— und also auch der Vererbung —) das Wesentlichste immer die Ablösung eines Theiles des elterlichen Organismus und die Befähigung desselben zur individuellen, selbstständigen Existenz ist. In allen Fällen dürfen wir daher von vornherein schon erwarten, dass die kindlichen Individuen dieselben Lebens-Erscheinungen und Form-Eigenschaften erlangen werden, welche die elterlichen Individuen besitzen; denn sie sind ja „Fleisch und Bein der Eltern“! Immer ist es nur eine grössere oder geringere Quantität von der elterlichen Materie, und zwar von dem eiweissartigen Plasma oder Zell-Körper, welche auf das kindliche Individuum übergeht. Mit der Materie werden aber auch deren Lebens-Eigenschaften, die molekularen Bewegungen des Plasma, übertragen, welche sich dann in ihrer Form äussern. Wenn Sie sich die angeführte Kette von ver- schiedenen Fortpflanzungs-Formen in ihrem Zusammenhange vor Augen stellen, so verliert die Vererbung durch geschlechtliche 12% 180 Vererbung durch geschlechtliche Fortpflanzung. RG Zeugung sehr Viel von dem Räthselhaften und Wunderbaren, das sie auf den ersten Blick für den Laien besitzt. Anfänglich erscheint es freilich höchst wunderbar, dass bei der geschlecht- lichen Fortpflanzung des Menschen, wie aller höheren Thiere, das kleine Ei, eine winzige, für das blosse Auge oft nicht sicht- bare Zelle, im Stande ist, alle Eigenschaften des mütterlichen Organismus auf den kindlichen zu übertragen; und nicht weniger räthselhaft muss es erscheinen, dass zugleich die wesentlichen Eigenschaften des väterlichen Organismus auf den kindlichen übertragen werden vermittelst des männlichen Sperma, welches die Ei-Zelle befruchtete; vermittelst einer einzigen von jenen feinen Geissel-Zellen oder Zoospermien, welche in der schleimigen Masse des Samens sich umherbewegen. Sobald Sie aber jene zusammenhängende Stufenleiter der verschiedenen Fortpflanzungs- Arten vergleichen, bei welcher der kindliche Organismus als überschüssiges Wachsthums-Produet des Eltern-Individuums sich immer mehr von ersterem absondert und immer frühzeitiger die selbstständige Laufbahn betritt; sobald Sie zugleich erwägen, dass auch das Wachsthum und die Ausbildung jedes höheren Organismus bloss auf der Vermehrung der ihn zusammensetzen- den Zellen, auf der einfachen Fortpflanzung durch Theilung be- ruht, so wird es Ihnen klar, dass alle diese merkwürdigen Vor- gänge in eine Reihe gehören. Das Leben jedes organischen Individuums ist Nichts weiter, als eine zusammenhängende Kette von sehr verwickelten materiel- len Bewegungs-Erscheinungen. Diese Bewegungen sind als Ver- änderungen in der Lage und Zusammensetzung der Molekeln zu denken, der kleinsten (aus Atomen in höchst mannichfaltiger Weise zusammengesetzten) Theilchen der belebten Materie. Die speci- fisch bestimmte Richtung dieser gleichartigen, anhaltenden, im- manenten Lebensbewegung wird in jedem Organismus durch die chemische Mischung des eiweissartigen Zeugungsstoflfes be- dingt, welcher ihm den Ursprung gab. Bei dem Menschen, wie bei den höheren Thieren, welche geschlechtlich sich fortpflanzen, beginnt die individuelle Lebensbewegung in dem Momente, in welchem die Ei-Zelle von der Samen-Zelle befruchtet wird, in wel- SUTPmeuE Ws \ nie un nn. Zu 2 ee ee ee Me en ah Br u ee ee ren a ru IX. Vererbung durch geschlechtliche Fortpflanzung. 181 chem beide Zeugungsstoffe sich thatsächlich vermischen; von da an wird nun die Richtung der Lebensbewegung durch die speci- fische, oder richtiger individuelle Beschaffenheit sowohl des Sa- mens als des Eies bestimmt. Ueber die rein mechanische, ma- terielle Natur dieses Vorganges kann kein Zweifel sein. Aber staunend und bewundernd müssen wir hier vor der unendlich verwickelten Molekular - Structur der eiweissartigen Materie still stehen. Staunen müssen wir über die unleugbare Thatsache, dass die einfache Ei-Zelle der Mutter, der einzige Samenfaden oder die flimmernde Sperma-Zelle des Vaters, so genau die molekulare in- dividuelle Lebensbewegung im Plasma dieser beiden Individuen auf das Kind überträgt, dass nachher die feinsten körperlichen und geistigen Eigenthümlichkeiten der beiden Eltern an diesem wieder in die lebendige Erscheinung treten. Hier stehen wir vor einer mechanischen Naturerscheinung, von welcher Virchow, der berühmte Begründer der „Cellular- Pathologie“, mit vollem Rechte sagt: „Wenn der Naturforscher dem Gebrauche der Geschichtschreiber und Kanzelredner zu fol- gen liebte, ungeheure und in ihrer Art einzige Erscheinungen mit dem hohlen Gepränge schwerer und tönender Worte zu über- ziehen, so wäre hier der Ort dazu; denn wir sind an eines der grossen Mysterien der thierischen Natur getreten, welche die Stel- lung des Thieres gegenüber der ganzen übrigen Erscheinungswelt enthalteu. Die Frage von der Zellen-Bildung, die Frage von der Erregung anhaltender gleichartiger Bewegung, endlich die Fragen von der Selbstständigkeit des Nervensystems und der Seele — das sind die grossen Aufgaben, an denen der Menschengeist seine Kraft misst. Die Beziehung des Mannes und des Weibes zur Ei-Zelle zu erkennen, heisst fast so viel, als alle jene Mysterien lösen. Die Entstehung und Entwickelung der Ei-Zelle im mütter- lichen Körper, die Uebertragung körperlicher und geistiger Eigen- thümlichkeiten des Vaters durch den Samen auf dieselbe, be- rühren alle Fragen, welche der Menschengeist je über des Men- schen Sein aufgeworfen hat.“ Und, fügen wir hinzu, sie lösen diese höchsten Fragen mittelst der Descendenz-Theorie in rein me- chanischem, rein monistischem Sinne! 182 Vererbung durch geschlechtliche und ungeschlechtliche Fortpflanzung IX, Dass also auch bei der geschlechtlichen Fortpflanzung des Menschen und aller höheren Organismen die Vererbung, ein rein mechanischer Vorgang, unmittelbar durch den materiellen Zu- sammenhang des zeugenden und des gezeugten Organismus be- dingt ist, ebenso wie bei der einfachsten ungeschlechtlichen Fort- pflanzung der niederen Organismen, darüber kann kein Zweifel mehr sein. Doch will ich Sie bei dieser Gelegenheit sogleich auf einen wichtigen Unterschied aufmerksam machen, welchen die Vererbung bei der geschlechtlichen und bei der ungeschlechtlichen Fortpflanzung darbietet. Längst bekannt ist die Thatsache, dass die individuellen Eigenthümlichkeiten des zeugenden Organismus viel genauer durch die ungeschlechtliche als durch die geschlecht- liche Fortpflanzung auf das erzeugte Individuum übertragen wer- den. Die Gärtner machen von dieser Thatsache schon lange viel- fach Gebrauch. Wenn z. B. von einer Baumart mit steifen, auf- recht stehenden Aesten zufällig ein einzelnes Individuum herab- hängende Zweige bekömmt, so kann der Gärtner in der Regel diese Eigenthümlichkeit nicht durch geschlechtliche, sondern nur durch ungeschlechtliche Fortpflanzung vererben. Die von einem solchen Trauerbaum abgeschnittenen Zweige, als Stecklinge ge- pflanzt, bilden späterhin Bäume, welche ebenfalls hängende Aeste haben, wie z. B. die Trauerweiden, Trauerbuchen. Samen- pflanzen dagegen, welche man aus den Samen eines solchen Trauerbaumes zieht, erhalten in der Regel wieder die ursprüng- liche, steife und aufrechte Zweigform der Voreltern. In sehr auffallender Weise kann man dasselbe auch an den sogenannten „Blutbäumen“ wahrnehmen, d. h. Spielarten von Bäumen, welche sich durch rothe oder rothbraune Farbe der Blätter auszeichnen. Abkömmlinge von solchen Blutbäumen (z. B. Blutbuchen), welche man durch ungeschlechtliche Fortpflanzung, durch Stecklinge er- zeugt, zeigen die eigenthümliche Farbe und Beschaffenheit der Blätter, welche das elterliche Individuum auszeichnet, während andere, aus den Samen der Blutbäume gezogene Individuen in die grüne Blattfarbe zurückschlagen. Dieser Unterschied in der Vererbung wird Ihnen sehr natür- lich vorkommen, sobald Sie erwägen, dass der materielle Zusam- ö f IX. Vererbung durch geschlechtliche und ungeschlechtliche Fortpflanzung. 183 menhang zwischen zeugenden und erzeugten Individuen bei der ungeschlechtlichen Fortpflanzung viel inniger ist und viel länger dauert, als bei der geschlechtlichen. Die individuelle Richtung der molekularen Lebensbewegung kann sich daher bei der unge- schlechtlichen Fortpflanzung viel länger und gründlicher in dem kindlichen Organismus befestigen und viel strenger vererben. Alle diese Erscheinungen im Zusammenhang betrachtet bezeugen klar, dass die Vererbung der körperlichen und geistigen Eigenschaften ein rein materieller, mechanischer Vorgang ist. Durch die Fort- pflanzung wird eine grössere oder geringere Quantität eiweissarti- ger Stofftheilchen, und damit zugleich die diesen Plasma-Molekeln anhaftende individuelle Bewegungsform vom elterlichen Organis- mus auf den kindlichen übertragen. Indem diese Bewegungsform sich beständig erhält, müssen auch die feineren Eigenthümlich- keiten, die am elterlichen Organismus haften, früher oder später am kindlichen Organismus wieder erscheinen. Die wichtigste Aufgabe der Vererbungs-Physiologie würde es nun sein, tiefer in die Erkenntniss dieser molekularen Bewegungs- Vorgänge einzudringen, und die damit verknüpften physikalisch- chemischen Vorgänge genauer, und womöglich experimentell, zu untersuchen. Indessen ist diese Aufgabe so ausserordentlich schwierig, dass nicht einmal eine von den bisher aufgestellten molekularen Vererbungs-Theorien genügend erscheint. Bevor wir auf diese eingehen, erscheint es zweckmässig, noch erst einen Blick auf die verschiedenen Aeusserungsweisen der Erblichkeit zu werfen, welche man vielleicht schon jetzt als „Vererbungs- Gesetze“ aufstellen kann. Leider ist auch für diesen so ausser- ordentlich wichtigen Gegenstand sowohl in der Zoologie, als auch in der Botanik, bisher nur sehr Wenig geschehen, und nament- lich die eigentlichen Physiologen haben sich darum fast gar nicht gekümmert. Fast Alles, was man von den verschiedenen Verer- bungs-Gesetzen weiss, beruht auf den Erfahrungen der Landwirthe ‚und der Gärtner. Daher ist es nicht zu verwundern, dass im Ganzen diese äusserst interessanten und wichtigen Erscheinungen nicht mit der wünschenswerthen wissenschaftlichen Schärfe unter- sucht und in die Form von physiologischen Gesetzen gebracht 134 Unterscheidung der erhaltenden und fortschreitenden Vererbung. ]X. worden sind. Was ich Ihnen demnach im Folgenden von den verschiedenen Vererbungs-Gesetzen mittheilen werde, sind nur einige vorläufige Bruchstücke, herausgenommen aus dem unend- lich reichen Schatze, welcher für die Erkenntniss hier offen liegt. Wir können zunächst alle verschiedenen Erblichkeits-Erschei- nungen in zwei Gruppen bringen, welche wir als Vererbung er- erbter Charaktere und Vererbung erworbener Charaktere unter- scheiden; und wir können die erstere als die erhaltende (con- servative) Vererbung, die zweite als die fortschreitende (pro- gressive) Vererbung bezeichnen. Diese Unterscheidung beruht auf der äusserst wichtigen Thatsache, dass die Einzel-Wesen einer jeden Art von Thieren und Pflanzen nicht allein diejenigen Ei- genschaften auf ihre Nachkommen vererben können, welche sie selbst von ihren Vorfahren ererbt haben, sondern auch die indi- viduellen Eigenschaften, die sie erst während ihres Lebens erwor- ben haben. Diese letzteren werden durch die fortschreitende, die ersteren durch die erhaltende Erblichkeit übertragen. Zu- nächst haben wir nun hier die Erscheinungen der eonservati- ven oder erhaltenden Vererbung zu untersuchen; d.h. der Vererbung solcher Eigenschaften, welche der betreflende Organis- mus von seinen Eltern oder Vorfahren schon erhalten hat. Unter den Erscheinungen der conservativen Vererbung tritt uns zunächst als das allgemeinste Gesetz dasjenige entgegen, welches wir das Gesetz der ununterbrochenen oder conti- nuirlichen Vererbung nennen können. Dasselbe hat unter den höheren Thieren und Pflanzen so allgemeine Gültigkeit, dass der Laie zunächst seine Wirksamkeit überschätzen und es für das einzige, allein maassgebende Vererbungs - Gesetz halten dürfte. Dieses Gesetz drückt einfach die Thatsache aus, dass bei den meisten Thier- und Pflanzen-Arten jede Generation im Ganzen der andern gleich ist, dass die Eltern ebenso den Gross-Eltern, wie den Kindern ähnlich sind. „Gleiches erzeugt Gleiches“, sagt man gewöhnlich, richtiger aber: „Aehnliches erzeugt Aehnliches“. Denn in der That sind die Nachkommen oder Descendenten eines jeden Organismus demselben niemals in allen Stücken absolut gleich, sondern immer nur in einem mehr oder weniger hohen ——;— Ze Dee u. Aeiue | ET a 0 IX Ununterbrochene oder continuirliche Vererbung. 185 Grade ähnlich. Dieses Gesetz ist so allgemein bekannt, dass ich keine Beispiele anzuführen brauche. In einem gewissen Gegensatze zu demselben steht das Ge- setz der unterbrochenen oder latenten Vererbung, welche man auch als abwechselnde oder alternirende Vererbung bezeich- nen könnte. Dieses wichtige Gesetz erscheint hauptsächlich in Wirksamkeit bei vielen niederen Thieren und Pflanzen, und äussert sich hier im Gegensatz zu’ dem ersteren darin, dass die Kinder den Eltern nicht gleich, sondern sehr unähnlich sind, und dass erst die dritte oder eine spätere Greneration der ersten wie- der ähnlich wird. Die Enkel sind den Gross-Eltern gleich, den Eltern aber ganz unähnlich. Diese merkwürdige Erscheinung tritt bekanntermaassen in geringerem Grade auch in den menschlichen Familien sehr häufig auf. Zweifelsohne wird Jeder von Ihnen einzelne Familienglieder kennen, welche in dieser oder jener Ei- genthümlichkeit vielmehr dem Grossvater oder der Grossmutter, als dem Vater oder der Mutter gleichen. Bald sind es körper- liche Eigenschaften, z. B. Gesichtszüge, Haarfarbe, Körpergrösse, bald geistige Eigenheiten, z. B. Temperament, Energie, Verstand, welche in dieser Art sprungweise vererbt werden. Ebenso wie beim Menschen können Sie diese Thatsache bei den Hausthieren beobachten. Bei den am meisten veränderlichen Hausthieren, beim Hund, Pferd, Rind, machen die Thierzüchter sehr häufig die Erfahrung, dass ihr Züchtungsproduct mehr dem grosselter- lichen, als dem elterlichen Organismus ähnlich ist. Wollen Sie dies Gesetz allgemein ausdrücken und die Reihe der Generationen mit den Buchstaben des Alphabets bezeichnen, so wird A=(= mer B=D=F u. ®. f. Noch viel auffallender als bei höheren, tritt uns bei den niederen Thieren und Pflanzen diese merkwürdige Thatsache entgegen, und zwar in dem berühmten Phänomen des Gene- rations-Wechsels (Metagenesis). Hier finden wir sehr häufig z. B. unter den Plattwürmern, Mantelthieren, Pflanzenthieren, ferner unter den Cryptogamen (Farnen und Mosen), dass das organische Individuum bei der Fortpflanzung zunächst eine Form erzeugt, die gänzlich von der Elternform verschieden ist, und 186 Unterbrochene oder latente Vererbung. Generations-Wechsel. IX, dass erst die Nachkommen dieser (reneration der ersteren wieder ähnlich werden. Dieser regelmässige Generations-Wechsel wurde 1819 von dem Dichter Chamisso auf seiner Welt-Umsegelung bei den Salpen entdeckt, eylindrischen und glasartig durchsich- tigen Mantelthieren, welche an der Oberfläche des Meeres schwimmen. Hier erzeugt die grössere Generation, welche als Einsiedler lebt und ein hufeisenförmiges Auge besitzt, auf unge- schlechtlichem Wege (durch Künospen-Bildung) eine gänzlich ver- schiedene kleinere Generation. Die Individuen dieser zweiten kleineren Generation leben in Ketten vereinigt und besitzen ein kegelförmiges Auge. Jedes Individuum einer solchen Kette er- zeugt auf geschlechtlichem Wege (als Zwitter) wiederum einen geschlechtslosen Einsiedler der ersten, grösseren Generation. Es sind also hier bei den Salpen immer die erste, dritte, fünfte Generation, und ebenso die zweite, vierte, sechste Generation einander ganz ähnlich. Nun ist es aber nicht immer bloss eine Generation, die so überschlagen wird, sondern in anderen Fällen auch mehrere, so dass also die erste Generation der vierten und siebenten u. s. w. gleicht, die zweite der fünften und achten, die dritte der sechsten und neunten, und so weiter fort. Drei in dieser Weise verschiedene Generationen wechseln z. B. bei den zierlichen Seetönnchen (Doliolum) mit einander ab, kleinen Mantelthieren, welche den Salpen nahe verwandt sind. Hier ist A=D=6, femer B=E=H, und C=F=]1. Bei den Blattläusen folgt auf jede geschlechtliche Generation eine Reihe von acht bis zehn bis zwölf ungeschlechtlichen Generationen, die unter sich ähnlich und von der geschlechtlichen verschieden sind. Dann tritt erst wieder eine geschlechtliche Generation auf, die der längst verschwundenen gleich ist. Wenn Sie dieses merkwürdige Gesetz der latenten oder unterbrochenen Vererbung weiter verfolgen und alle dahin ge- hörigen Erscheinungen zusammenfassen, so können Sie auch die bekannten Erscheinungen des Rückschlags darunter begreifen. Unter Rückschlag oder Atavismus versteht man die allen Thier- Züchtern bekannte merkwürdige Thatsache, dass bisweilen ein- zelne Thiere eine Form annehmen, welche schon seit vielen Ge- Ale Pe u ac nn Ba a Se a rer 0. ee u .IX. Rückschlag oder Atavismus. 187 nerationen nicht vorhanden war und einer längst entschwundenen Generation angehört. Eines der merkwürdigsten hierher gehörigen Beispiele ist die Thatsache, dass bei einzelnen Pferden bisweilen ganz charakteristische dunkle Streifen auftreten, ähnlich denen des Zebra, Quagga und anderer wilder Pferde-Arten Afrika’s. Hauspferde von den verschiedensten Rassen und von allen Farben zeigen bisweilen solche dunkle Streifen, z. B. einen Längsstreifen des Rückens, Querstreifen der Schultern und der Beine u. s. w. Die plötzliche Erscheinung dieser Streifen lässt sich nur erklären als eine Wirkung der latenten Vererbung, als ein Rückschlag in die längst verschwundene uralte gemeinsame Stammform aller Pferde-Arten, welche zweifelsohne gleich den Zebras, Quaggas u. s. w. gestreift war. Ebenso erscheinen auch bei anderen Haus- thieren oft plötzlich gewisse Eigenschaften wieder, welche ihre längst ausgestorbenen wilden Stamm-Eltern auszeichneten. Auch unter den Pflanzen kann man den Rückschlag sehr häufig beob- achten. Sie kennen wohl alle das wilde gelbe Löwenmaul (Linaria vulgaris), eine auf unseren Aeckern und Wegen sehr gemeine Pflanze. Die rachenförmige gelbe Blüthe derselben enthält zwei lange und zwei kurze Staubfäden. Bisweilen aber erscheint eine einzelne Blüthe (Peloria), welche trichterförmig und ganz regelmässig aus fünf einzelnen gleichen Abschnitten zusammen- gesetzt ist, mit fünf gleichartigen Staubfäden. Diese Peloria können wir nur erklären als einen Rückschlag in die längst ent- schwundene uralte gemeinsame Stammform aller derjenigen Pflanzen, welche gleich dem Löwenmaul eine rachenförmige zwei- lippige Blüthe mit zwei langen und zwei kurzen Staubfäden be- sitzen. Jene Stammform besass gleich der Peloria eine regel- mässige fünftheilige Blüthe mit fünf gleichen, später erst all- mählich ungleich werdenden Staubfäden. (Vergl. oben S. 14, 16.) Alle solche Rückschläge sind unter das Gesetz der unterbrochenen oder latenten Vererbung zu bringen, wenn gleich die Zahl der Generationen, die übersprungen wird, ganz ungeheuer gross sein kann. Wenn Kulturpflanzen oder Hausthiere verwildern, wenn sie den Bedingungen des Culturlebens entzogen werden, so gehen sie 188 Rückschlag. Geschlechtliche oder sexuelle Vererbung. 1% Veränderungen ein, welche nicht bloss als Anpassung an die neuerworbene Lebensweise erscheinen, sondern auch theilweise als Rückschlag in die uralte Stammform, aus welcher die Cultur- formen erzogen worden sind. So kann man die verschiedenen Sorten des Kohls, die ungemein in ihrer Form verschieden sind, durch absichtliche Verwilderung allmählich auf die ursprüngliche Stammform zurückführen. Ebenso schlagen die verwilderten Hunde, Pferde, Rinder u. s. w. oft mehr oder weniger in eine längst ausgestorbene Generation zurück. Es kann eine erstaun- lich lange Reihe von Generationen verfliessen, ehe diese latente Vererbungskraft erlischt. Als ein drittes Gesetz der erhaltenden oder conservativen Vererbung können wir das Gesetz der geschlechtlichen oder sexuellen Vererbung bezeichnen, nach welchem jedes Geschlecht auf seine Nachkommen desselben Geschlechts Eigenthümlichkeiten überträgt, welche es nicht auf die Nachkommen des andern Ge- schlechts vererbt. Die sogenannten „secundären Sexual-Charaktere*“, welche in mehrfacher Beziehung von ausserordentlichem Interesse sind, liefern für dieses Gesetz überall zahlreiche Beispiele. Als untergeordnete oder secundäre Sexual-Charaktere bezeichnet man solche Eigenthümlichkeiten des einen der beiden Geschlechter, welche nicht unmittelbar mit den Geschlechts-Organen selbst zu- sammenhängen. Solche Charaktere, welche bloss dem männlichen Geschlecht zukommen, sind z. B. das Geweih des Hirsches, die Mähne des Löwen, der Sporn des Hahns. Hierher gehört auch der menschliche Bart, eine Zierde, welche gewöhnlich dem weib- lichen Geschlecht versagt ist. Achnliche Charaktere, welche bloss das weibliche Geschlecht auszeichnen, sind z. B. die entwickelten Brüste mit den Milchdrüsen der weiblichen Säugethiere, der Beutel der weiblichen Beutelthiere. Auch Körpergrösse und Haut- färbung ist bei den weiblichen Thieren vieler Arten abweichend. Alle diese secundären Geschlechts-Eigenschaften werden, ebenso wie die Geschlechts-Organe selbst, vom männlichen Organismus nur auf den männlichen vererbt, nicht auf den weiblichen und umgekehrt. Die entgegengesetzten Thatsachen sind Ausnahmen von der Regel. 2 Zu u in Be Das A u ei ee ee ee | | IX: Gemischte oder amphigone Vererbung. 189 Ein viertes hierher gehöriges Vererbungs-Gesetz steht in ge- wissem Sinne im Widerspruch mit dem letzterwähnten, und be- schränkt dasselbe, nämlich das Gesetz der gemischten oder beiderseitigen (amphigonen) Vererbung. Dieses Gesetz sagt aus, dass ein jedes organische Individuum, welches auf geschlecht- lichem Wege erzeugt wird, von beiden Eltern Eigenthümlich- keiten annimmt, sowohl vom Vater als von der Mutter. Diese Thatsache, dass von jedem der beiden Geschlechter persönliche Eigenschaften auf alle, sowohl männliche als weibliche Kinder übergehen, ist sehr wichtige. Goethe drückt sie von sich selbst in dem hübschen Verse aus: „Vom Vater hab’ ich die Statur, des Lebens ernstes Führen, „Vom Mütterchen die Frohnatur und Lust zu fabuliren.“ Diese Erscheinung wird Ihnen allen so bekannt sein, dass ich hier darauf nicht näher einzugehen brauche. Durch den ver- schiedenen Antheil ihres Charakters, welchen Vater und Mutter auf ihre Kinder vererben, werden vorzüglich die individuellen Verschiedenheiten der Geschwister bedingt. Dabei finden wir bekanntlich sehr häufig eine kreuzweise Vererbung der beiden Geschlechter, so dass der Sohn mehr der Mutter gleicht, hingegen die Tochter dem Vater. Diese grössere Aehnlichkeit mit dem Elter des anderen Geschlechts zeigt sich oft auffallend nicht allein in der äusseren Körperform und besonders der Gesichtsbildung, sondern auch in den feineren Charakterzügen der Seele, mithin der molekularen Gehirn-Structur. Eine ganz ausserordentliche Bedeutung hat neuerdings der amphigonen Vererbung Weismann zugeschrieben, indem er sie bei allen vielzelligen Organismen (Metazo@n und Metaphyten) als die allgemeine Ursache der individuellen Variabilität betrachtet. Diese einseitige Auffassung hängt zusammen mit der eigenthüm- lichen Theorie von der Continuität des Keim-Plasma, welche dieser Naturforscher allzu sehr überschätzt; in Folge dessen leugnet er die Vererbung erworbener Eigenschaften überhaupt ganz (vergl. unten S. 192 u. f.). Unter dieses Gesetz der gemischten oder amphigonen Verer- bung gehört auch die sehr wichtige und interessante Erscheinung 190 Bastardzeugung oder Hybridismus. IX: der Bastard-Zeugug (Hybridismus). Richtig gewürdigt, ge- nügt sie allein schon vollständig, um das herrschende Dogma von der Constanz der Arten zu widerlegen. Pflanzen sowohl als Thiere, welche zwei ganz verschiedenen Species angehören, können sich mit einander geschlechtlich vermischen und eine Nachkommen- schaft erzeugen, die in vielen Fällen sich selbst wieder fortpflan- zen kann, und zwar entweder (häufiger) durch Vermischung mit einem der beiden Stamm-Eltern, oder aber (seltener) durch reine Inzucht, indem Bastard sich mit Bastard vermischt. Das letz- tere ist z. B. bei den Bastarden von Hasen und Kaninchen fest- gestellt (Lepus Darwinii, S. 131). Allbekannt sind die Bastarde zwischen Pferd und Esel, zwei ganz verschiedenen Arten einer Gattung (Equus). Diese Bastarde sind verschieden, je nachdem der Vater oder die Mutter zu der einen oder zu der anderen Art, : zum Pferd oder zum Esel gehört. Das Maulthier (Mulus), wel- ches von einer Pferdestute und einem Eselhengst erzeugt ist, hat ganz andere Eigenschaften als der Maulesel (Hinnus), der Bastard vom Pferdehenest und der Eselstute. 1 en ı jedem Fall ist der Bastard (Hybrida), der aus der Kreuzung zweier verschiedener Arten erzeugte Organismus, eine Mischform, welche Eigenschaften von beiden Eltern angenommen hat; allein die Eigenschaften des Bastards sind ganz verschieden, je nach der Form der Kreuzung. So zeigen auch die Mulatten-Kinder, welche von einem Europäer mit einer Negerin erzeugt werden, eine andere Mischung der Charaktere, als diejenigen Bastarde, welche ein Neger mit einer Europäerin erzeugt. Bei diesen Erscheinungen der Bastard-Zeu- gung sind wir (wie bei den anderen vorher erwähnten Verer- bungs-Gesetzen) jetzt noch nicht im Stande, die bewirkenden Ur- sachen im Einzelnen nachzuweisen. Aber kein Naturforscher zweifelt daran, dass die Ursachen hier überall rein mechanisch, in der Natur der organischen Materie selbst begründet sind. Wenn wir feinere Untersuchungs-Mittel als unsere groben Sinnes-Organe und deren ungenügende Hülfsmittel hätten, so würden wir jene Ursachen erkennen, und auf die chemischen und physikalischen Eigenschaften der plasmatischen Materie, auf ihre verwickelte Molekular-Structur zurückführen können. I* Abgekürzte oder vereinfachte Vererbung. 191 Als ein fünftes Gesetz müssen wir nun unter den Erschei- nungen der conservativen oder erhaltenden Vererbung noch das Gesetz der abgekürzten oder vereinfachten Vererbung anführen. Dieses Gesetz ist sehr wichtig für die Keimes-Geschichte oder Ontogenie, d.h. für die Entwickelungs-Geschichte der organi- schen Individuen. Wie ich bereits im ersten Vortrage (8. 10) erwähnte und später noch ausführlich zu erläutern habe, ist die Ontogenie oder die Entwickelungs-Geschichte der Individuen weiter nichts als eine kurze und schnelle, durch die Gesetze der Vererbung und Anpassung bedingte Wiederholung der Phylo- genie, d.h. der paläontologischen Entwickelungs-Geschichte des ganzen organischen Stammes oder Phylum, zu welchem der be- treffiende Organismus gehört. Wenn Sie z.B. die individuelle Entwickelung des Menschen, des Affen, oder irgend eines anderen höheren Säugethieres innerhalb des Mutterleibes vom Ei an ver- folgen, so finden Sie, dass der aus dem Ei entstehende Keim oder Embryo eine Reihe von sehr verschiedenen Formen durch- läuft, welche im Ganzen übereinstimmt oder wenigstens parallel ist mit der Formenreihe, welche die historische Vorfahrenkette der höheren Säugethiere uns darbietet. Zu diesen Vorfahren ge- hören gewisse Fische, Amphibien, Beutelthiere u.s.w Allein der Parallelismus oder die Uebereinstimmung dieser beiden Ent- wickelungsreihen ist niemals ganz vollständig. Vielmehr sind in der Ontogenie immer Lücken und Sprünge, welche dem Ausfall einzelner Stadien der Phylogenie entsprechen. Wie Fritz Müller in seiner ausgezeichneten Schrift „Für Darwin“'‘) an dem Bei- spiel der Crustaceen oder Krebse vortrefflich erläutert hat, „wird die in der individuellen Entwickelungs- Geschichte erhaltene ge- schichtliche Urkunde allmählich verwischt, indem die Entwicke- lung einen immer geraderen Weg vom Ei zum fertigen Thiere einschlägt“. Diese Verwischung oder Abkürzung wird durch das Gesetz der abgekürzten Vererbung bedingt; es ist von grosser Be- deutung für das Verständniss der Embryologie und erklärt die wichtige Thatsache, dass nicht alle Entwickelungs-Formen, welche unsere Stamm-Eltern durchlaufen haben, in der Formenreihe unserer eigenen individuellen Entwickelung noch sichtbar sind, 192 Gesetze der fortschreitenden oder progressiven Vererbung. 16.4: Den bisher erörterten Gesetzen der erhaltenden oder conser- vativen Vererbung stehen gegenüber die Vererbungs-Erscheinungen der zweiten Reihe, die Gesetze der fortschreitenden oder progressiven Vererbung. Sie beruhen, wie erwähnt, darauf, dass der Organismus nicht allein diejenigen Eigenschaften auf seine Nachkommen überträgt, die er bereits von den Voreltern ererbt hat, sondern auch eine Anzahl von denjenigen individuellen Eigenthümlichkeiten, welche er selbst erst während seines Lebens erworben hat. Die Anpassung verbindet sich hier bereits mit der Vererbung und wirkt mit ihr zusammen. Die grundlegende Bedeutung, welche die Vererbung er- worbener Eigenschaften für die Abstammungs-Lehre besitzt, ist bereits im Anfange unseres Jahrhunderts von Lamarck und von Darwin's Grossvater Erasmus klar erkannt worden. So- wohl die neuen Eigenschaften, welche im Organismus durch den Einfluss der äusseren Existenz-Bedingungen, als diejenigen, welche durch seine eigenen Lebens-Thätigkeiten (Gebrauch oder Nicht- sebrauch der Organe) entstehen, können durch Vererbung auf die Nachkommen übertragen werden, und somit die ursprüngliche Gestaltung mehr oder weniger verändern. Einige neuere Autoren haben freilich das Gewicht dieser bedeutungsvollen Erscheinung sehr gering angeschlagen, und schliesslich hat sogar August Weis- mann sie ganz geleugnet. Er behauptet, dass „bis jetzt noch keine Thatsache vorliegt, welche wirklich bewiese, dass erwor- bene Eigenschaften vererbt werden können“, und dass „nur solche Charaktere auf die folgende Generation übertragen werden können, welche der Anlage nach schon im Keim enthalten waren“. Weis- mann verlangt neue und überzeugende Beweise für die Vererbung von Anpassungen, und vergisst dabei, dass derartige Beweise sei- ner eigenen, entgegengesetzten Hypothese vollständig fehlen, ja in dem gewünschten Sinne wohl überhaupt nicht zu liefern sind. Nach meiner eigenen Ueberzeugung, wie nach derjenigen vieler anderen Transformisten, besitzt hingegen die directe Verer- bung von neuen Anpassungen, im Sinne von Lamarck, die grösste Bedeutung, und Tausende von Beweisen dafür liefert die verglei- chende Anatomie und Ontogenie, Physiologie und Pathologie. ee a N EEE a nn . u Ei El ee De I u u en Ze IX. Gesetze der fortschreitenden oder progressiven Vererbung. 193 Für Tausende von speciellen Einrichtungen bleibt ohne jene An- nahme die Entstehung rein unbegreiflich; so z.B. für die functio- nelle und mimetische Anpassung, für die Instinete (erbliche psy- chische Gewohnheiten) u.s. w. Bezüglich der Vererbung von patho- logischen Veränderungen sind namentlich die Gründe, welche Virchow gegen Weismann geltend macht, beachtenswerth. Unter den wichtigen Erscheinungen der fortschreitenden oder progressiven Vererbung können wir an die Spitze als das allge- meinste das Gesetz der angepassten oder erworbenen Ver- erbung stellen. Dasselbe besagt eigentlich weiter Nichts, als was ich eben schon aussprach, dass unter bestimmten Umständen der Organismus fähig ist, Eigenschaften auf seine Nachkommen zu vererben, welche er selbst erst während seines Lebens durch Anpassung erworben hat. Am deutlichsten zeigt sich diese Er- scheinung natürlich dann, wenn die neu erworbene Eigenthüm- lichkeit die ererbte Form bedeutend abändert. Das war in den Beispielen der Fall, welche ich Ihnen in dem vorigen Vortrage von der Vererbung überhaupt angeführt habe, bei den Menschen mit sechs Fingern und Zehen, den Stachelschwein-Menschen, den Blutbuchen, Trauerweiden u. s. w. Auch die Vererbung er- worbener Krankheiten, z. B. der Schwindsucht, des Wahnsinns, beweist dies Gesetz sehr auffällig, binismus. Albinos oder Kakerlaken nennt man solche Indivi- duen, welche sich durch Mangel der Farbstoffe oder Pigmente in der Haut auszeichnen. Solche kommen bei Menschen, Thieren ebenso die Vererbung des Al- und Pflanzen sehr verbreitet vor. Bei Thieren, welche eine be- stimmte dunkle Farbe haben, werden nicht selten einzelne Indi- viduen geboren, welche der Farbe gänzlich entbehren, und bei den mit Augen versehenen Thieren ist dieser Pigmentmangel auch auf die Augen ausgedehnt, so dass die gewöhnlich lebhaft oder dunkel gefärbte Regenbogenhaut, die Iris des Auges farblos ist, aber wegen der durchschimmernden Blutgefässe roth erscheint. Bei manchen Thieren, z. B. den Kaninchen, Mäusen, sind solche Albinos mit weissem Fell und rothen Augen so beliebt, dass man sie in grosser Menge als besondere Rasse fortpflanzt. Dies wäre nicht möglich ohne das Gesetz der angepassten Vererbung. Haeckel, Natürl. Schöpfungs-Gesch. 8. Aull. 13 194 Angepasste oder erworbene Vererbung. IX; Welche von einem Organismus erworbenen Abänderungen sich auf seine Nachkommen übertragen werden, welche nicht, ist von vornherein nicht zu bestimmen, und wir kennen leider die bestimmten Bedingungen nicht, unter denen die Vererbung er- folgt. Wir wissen nur im Allgemeinen, dass gewisse erworbene Eigenschaften sich viel leichter vererben als andere, z. B. als die durch Verwundung entstehenden Verstümmelungen. Diese letz- teren werden in der Regel nicht erblich übertragen; sonst müssten die Descendenten von Menschen, die ihre Arme oder Beine ver- loren haben, auch mit dem Mangel des entsprechenden Armes oder Beines geboren werden. Ausnahmen sind aber auch hier vorhanden, und man hat z. B. eine schwanzlose Hunderasse da- durch gezogen, dass man mehrere Generationen hindurch beiden Geschlechtern des Hundes consequent den Schwanz abschnitt. Vor einigen Jahren kam hier in der Nähe von Jena auf einem Gute der Fall vor, dass beim unvorsichtigen Zuschlagen des Stallthores einem Zuchtstier der Schwanz an der Wurzel abgequetscht wurde, und die von diesem Stiere erzeugten Kälber wurden sämmtlich schwanzlos geboren. Neuerdings sind bestätigende Beobachtungen über dieselbe Erscheinung bei Hunden, Katzen und Mäusen von fünf verschiedenen Beobachtern mitgetheilt worden. Allerdings scheinen dies seltene Ausnahmen zu sein. Es ist aber sehr wichtig, die Thatsache festzustellen, dass unter gewissen uns unbekannten Bedingungen auch gewaltsame Veränderungen bisweilen erblich übertragen werden, in gleicher Weise wie viele Krankheiten. In sehr vielen Fällen ist die Abänderung, welche durch an- gepasste Vererbung übertragen und erhalten wird, angeboren, so bei dem vorher erwähnten Albinismus. Dann beruht die Ab- änderung auf derjenigen Form der Anpassung, welche wir die indirecte oder potentielle nennen. Ein sehr auffallendes Beispiel dafür liefert das hornlose Rindvieh von Paraguay in Südamerika. Daselbst wird eine besondere Rindviehrasse gezogen, die ganz der Hörner entbehrt. Sie stammt von einem einzigen Stiere ab, wel- cher im Jahre 1770 von einem gewöhnlichen gehörnten Eltern- paare geboren wurde, und bei welchem der Mangel der Hörner, durch irgend welche unbekannte Ursache veranlasst worden war. | | IX. Befestigte oder constituirte Vererbung. 195 Alle Nachkommen dieses Stieres, welche er mit einer gehörnten Kuh erzeugte, entbehrten der Hörner vollständig. Man fand diese Eigenschaft vortheilhaft, und indem man die ungehörnten Rinder unter einander fortpflanzte, erhielt man eine hornlose Rindvieh- rasse, welche gegenwärtig die gehörnten Rinder in Paraguay fast verdrängt hat. Ein ähnliches Beispiel liefern die nordamerika- nischen ÖOtterschafe. Im Jahre 1791 lebte in Massachusetts in Nordamerika ein Landwirth, Seth Wright mit Namen. In sei- ner wohlgebildeten Schafheerde wurde auf einmal ein Lamm ge- boren, welches einen auffallend langen Leib und ganz kurze und krumme Beine hatte. Es konnte daher keine grosse Sprünge machen und namentlich nicht über den Zaun in des Nachbars Garten springen, eine Eigenschaft, welche dem Besitzer wegen der Abgrenzung des dortigen Gebietes durch Hecken sehr vor- theilhaft erschien. Er kam also auf den Gedanken, diese Eigen- schaft auf die Nachkommen zu übertragen, und in der That er- zeugte er durch Kreuzung dieses Schafbocks mit wohlgebildeten Mutter-Schafen eine ganze Rasse von Schafen, die alle die Eigen- schaften des Vaters hatten, kurze und gekrümmte Beine und einen langen Leib. Sie konnten alle nicht über die Hecken sprin- gen und wurden deshalb in Massachusetts damals sehr beliebt und verbreitet. Ein zweites Gesetz, welches ebenfalls unter die Reihe der progressiven oder fortschreitenden Vererbung gehört, können wir das Gesetz der befestigten oder constituirten Vererbung nennen. Dennoch werden Eigenschaften, die von einem Organis- mus während seines individuellen Lebens erworben wurden, um so sicherer auf seine Nachkommen erblich übertragen, je längere Zeit hindurch die Ursachen jener Abänderung einwirkten; und diese Abänderung wird um so sicherer Eigenthum auch aller fol- genden Generationen, je längere Zeit hindurch auch auf diese die abändernde Ursache einwirkt. Die durch Anpassung oder Ab- änderung neu erworbene Eigenschaft muss in der Regel erst bis zu einem gewissen Grade befestigt oder constituirt sein, ehe mit Wahrscheinlichkeit darauf zu rechnen ist, dass sich dieselbe auch auf die Nachkommenschaft erblich überträgt. In dieser Bezie- 13* 196 Gleichzeitliche oder homochrone Vererbung. 1 hung verhält sich die Vererbung ähnlich wie die Anpassung. Je längere Zeit hindurch eine neu erworbene Eigenschaft bereits durch Vererbung übertragen ist, desto sicherer wird sie auch in den kommenden Generationen sich erhalten. Wenn also z. B. ein Gärtner durch methodische Behandlung eine neue Aepfelsorte gezüchtet hat, so kann er um so sicherer darauf rechnen, die er- wünschte Eigenthümlichkeit dieser Sorte zu erhalten, je länger er dieselbe bereits vererbt hat. Dasselbe zeigt sich deutlich in der Vererbung von Krankheiten. Je länger bereits in einer Familie Schwindsucht oder Wahnsinn erblich ist, desto tiefer gewurzelt ist das Uebel, desto wahrscheinlicher werden auch alle folgenden Generationen davon ergriffen werden. Endlich können wir die Betrachtung der Erblichkeits-Erschei- nungen schliessen mit den beiden ungemein wichtigen Gesetzen der gleichörtlichen und der gleichzeitlichen Vererbung. Wir ver- stehen darunter die Thatsache, dass Veränderungen, welche von einem Organismus während seines Lebens erworben und erblich auf seine Nachkommen übertragen wurden, bei diesen an dersel- ben Stelle des Körpers hervortreten, an welcher der elterliche Organismus zuerst von ihnen betroffen wurde, und dass sie bei den Nachkommen auch im gleichen Lebensalter erscheinen, wie bei dem ersteren. Das Gesetz der gleichzeitlichen oder homochronen Vererbung, welches Darwin das Gesetz der „Vererbung in cor- respondirendem Lebensalter“ nennt, lässt sich wiederum sehr deutlich an der Vererbung von Krankheiten nachweisen, zumal von solchen, die wegen ihrer Erblichkeit sehr verderblich wer- den. Diese treten im kindlichen Organismus in der Regel zu einer Zeit auf, welche derjenigen entspricht, in welcher der elter- liche Organismus die Krankheit erwarb. Erbliche Erkrankungen der Lunge, der Leber, der Zähne, des Gehirns, der Haut u. s. w. erscheinen bei den Nachkommen gewöhnlich in der gleichen Zeit oder nur wenig früher, als sie beim elterlichen Organismus ein- traten oder von diesem überhaupt erworben wurden. Das Kalb bekommt seine Hörner in demselben Lebensalter wie seine El- tern. Ebenso erhält das junge Hirschkalb sein Geweih in der- EX: Gleichörtliche oder homotope Vererbung. 197 selben Lebenzeit, in welcher es bei seinem Vater und Grossvater hervorgesprosst war. Bei jeder der verschiedenen Weinsorten reifen die Trauben zur selben Zeit, wie bei ihren Voreltern. Be- kanntlich ist diese Reifzeit bei den verschiedenen Sorten sehr verschieden; da aber alle von einer einzigen Art abstammen, ist diese Verschiedenheit von den Stamm-Eltern der einzelnen Sorten erst erworben worden und hat sich dann erblich fortgepflanzt. Das Gesetz der gleichörtlichen oder homotopen Ver- erbung endlich, welches mit dem letzterwähnten Gesetze im eng- sten Zusammenhange steht, und welches man auch „das Gesetz der Vererbung an correspondirender Körperstelle“ nennen könnte, lässt sich wiederum in pathologischen Erblichkeitsfällen sehr deut- lich erkennen. Grosse Muttermale z. B. oder Pigment-Anhäufun- gen an einzelnen Hautstellen, ebenso Geschwülste der Haut, er- scheinen oft Generationen hindurch nicht allein in demselben Le- bensalter, sondern auch an derselben Stelle der Haut. Ebenso ist übermässige Fettentwickelung an einzelnen Körperstellen erb- lich. Eigentlich aber sind für dieses Gesetz, wie für das vorige, zahllose Beispiele überall in der Embryologie zu finden. Sowohl das Gesetz der gleichzeitlichen als das Gesetz der gleich- örtlichen Vererbung sind Grund-Gesetze der Embryolo- gie oder Ontogenie. Denn wir erklären uns durch diese Ge- setze die merkwürdige Thatsache, dass die verschiedenen auf ein- ander folgenden Formzustände während der individuellen Ent- wickelung in allen Generationen einer und derselben Art stets in derselben Reihenfolge auftreten, und dass die Umbildungen des Körpers immer an denselben Stellen erfolgen. Diese schein- bar einfache und selbstverständliche Erscheinung ist doch über- aus wunderbar und merkwürdige; wir können die näheren Ur- sachen derselben nicht erklären, aber mit Sicherheit behaupten, dass sie auf der unmittelbaren Uebertragung der organischen Ma- terie vom elterlichen auf den kindlichen Organismus beruhen, wie wir es im Vorigen für den Vererbungs-Process im Allgemei- nen aus den Thatsachen der Fortpflanzung nachgewiesen haben. Die verschiedenen Gesetze der erhaltenden und der fort- schreitenden Vererbung, welche ich zuerst im XIX. Capitel 198 Molekular-Hypothesen der Vererbung. TR meiner „Generellen Morphologie“ aufgestellt, und vorstehend kurz erörtert habe, wirken in der mannichfaltigsten Weise mit einander und durch einander, und daraus ergiebt sich ihre ausser- ordentliche Bedeutung für den Transformismus, zugleich aber auch die grosse Schwierigkeit, theoretisch tiefer in das Wesen dieser physiologischen Vorgänge einzudringen. Zwar sind seit Darwin mehrfach verschiedene Versuche gemacht worden, zu ihrer Erklärung molekulare Hypothesen aufzustellen; aber keine dieser so- genannten „Vererbungs-Theorien“ hat das darüber liegende Dunkel befriedigend aufgehellt und sich allgemeine Anerkennung erworben. Wenn wir schliesslich noch einen Blick auf diese, neuerdings viel besprochenen Vererbungs-Theorien werfen, so müssen wir vor Allem im Sinne behalten, dass dieselben sämmtlich nur den Werth von provisorischen Molekular-Hypothesen besitzen; sie lassen sich weder morphologisch durch mikroskopische oder anatomische Beobachtung begründen, noch physiologisch durch physikalische und chemische Versuche. Das Plasma oder die eiweissartige Materie der Zellen, welche allein die Vererbung vermittelt (— sowohl das Karyoplasma des Zell-Kerns, als das Protoplasma des Zell-Leibes —) besitzt jedenfalls eine äusserst verwickelte feinere Molekular-Structur; d.h. die kleineren und kleinsten Theilchen, welche das Plasma zusammensetzen, sind nach höchst complieirten Gesetzen gruppenweise geordnet. Aber leider sind unsere mikroskopischen Hülfsmittel viel zu schwach, um uns in diese Anordnung irgend einen Einblick zu gestatten; und ebenso wenig ist bisher die Physik und Chemie im Stande gewesen, eine befriedigende physiologische Vorstellung von der molekularen Zusammensetzung und Umbildung des Plasma zu gewinnen. Alle Ansichten, welche darüber aufgestellt und in den folgenden Vererbungs-Theorien erörtert sind, beruhen auf reiner Muthmaassung und sind — strenggenommen — metaphysische Speculationen. Wir betrachten sie nach der Reihenfolge ihres Erscheinens, die Pangenesis-Theorie (Darwin, 1868), die Perige- nesis-Theorie (Haeckel, 1876), die Idioplasma-Theorie (Naegeli, 1884), die Keimplasma-Theorie (Weismann, 1885), die Theorie der intracellularen Pangenesis (Vries, 1889). ee AL Aa a a a TE m u nn ln u ML dm lid un 2 Ba SB u EZ A ‚an fhiteie oe a Mer ee. he ee ee ee ee ee hei MT ee OT ml Aceı IX: Pangenesis-Hypothese von Darwin. 199 I. Die Pangenesis-Theorie, wurde 1868 von Darwin in seinem inhaltreichen Werke über „das Variiren der Thiere und Pflanzen im Zustande der Domestication“ aufgestellt und 1875 in der zweiten Auflage desselben (im 27. Capitel) weiter aus- geführt. Darwin nimmt an, dass alle Zellen des Organismus (als Lebens-Einheiten) sich nicht allein durch Theilung vermehren und differenziren, sondern auch kleinste Körnchen abgeben, welche sich in allen Theilen des Körpers zerstreuen; diese unermesslich kleinen Körnchen nennt er Keimchen oder Gemmulae; sie sammeln sich in den Geschlechts-Elementen und setzen in der nächsten Generation das neue Wesen zusammen; aber sie können auch in schlummerndem Zustande an künftige Generationen über- liefert und dann erst entwickelt werden. Auch kann jede Zelle während ihrer ganzen Entwickelungs-Dauer Körnchen abgeben; und diese Körnchen besitzen in schlummerndem Zustande eine gegenseitige Verwandtschaft, welche zu ihrer Anhäufung in den Geschlechts-Elementen führt. Diese „provisorische Hypothese“ der Pangenesis, wie sie Darwin selbst vorsichtig bezeichnet, scheint mir unter den zahl- reichen weittragenden Theorien des grossen Meisters die schwächste und haltloseste zu sein. Ich habe sie von Anfang an für ver- fehlt gehalten, und in der sogleich zu erwähnenden Schrift über Perigenesis (S. 32—72) ausführlich die Gründe entwickelt, welche mir ihre Annahme unmöglich machen. Sie scheint mir unver- einbar mit den fundamentalsten Thatsachen der Histologie und ÖOntogenie; sowohl der Aufbau der Gewebe aus den Zellen, als die Entstehung der differenzirten Zellen aus den Keimblättern, und deren Entwickelung aus der befruchteten Eizelle, scheinen mir in unlösbarem Widerspruch mit der Pangenesis-Hypothese zu stehen; consequent ausgeführt, leitet dieselbe zu der Praefor- mations-Theorie von Haller u. A. Dasselbe gilt auch von der Modification, welche W. K. Brooks derselben 1883 in seinem Werke über das Vererbungs-Gesetz gegeben hat. Seine Pan- genesis unterscheidet sich von derjenigen Darwin’s wesentlich nur durch eine Annahme; die Zellen sollen die Keimchen oder Gemmulae nicht beständig abwerfen, sondern nur dann, wenn 200 Perigenesis-Hypothese von Haeckel. Te sie unter neue ungewohnte Bedingungen gerathen. Auch soll die männliche Samen-Zelle viel mehr mit Gemmulae angefüllt sein, als die weibliche Ei-Zelle; daher soll jene mehr das pro- gressive, diese das conservative Element bei der Fortpflanzung und Vererbung darstellen. II. Die Perigenesis-Theorie wurde von mir 1876 in / einer Abhandlung „über die Wellenzeugung der Lebenstheilchen, oder die Perigenesis der Plastidule“ begründet und als ein „Ppro- visorischer Versuch zur mechanischen Erklärung der elementaren Entwickelungs-Vorgänge* und besonders der Ver- erbung bezeichnet (im Ill. Hefte meiner „Gesammelten popu- lären Vorträge, Bonn, 1879, p. 25—80). Die Perigenesis-Hypo- these sucht das Wesen der Vererbung durch ein einfaches me- chanisches Prineip zu erklären, nämlich durch das bekannte Princip der übertragenen Bewegung. Ich nehme an, dass bei jedem Fortpflanzungs-Vorgang nicht allein die besondere chemische Zusammensetzung das Plasson oder Plasma vom Zeu- genden auf das Erzeugte übertragen wird, sondern auch die beson- dere Form der Molekular-Bewegung, welche mit seiner physikalisch- chemischen Natur verknüpft ist. In Uebereinstimmung mit den Grundsätzen der heutigen Histologie und Histogenie nehme ich an, dass nur jenes Plasma (entweder das Karyoplasma des Zell- Kerns, oder das Cytoplasma des Zell-Leibes) der ursprüngliche Träger aller activen Lebens-Thätigkeit, also auch der Vererbung und Fortpflanzung ist. Dieses Plasma oder Plasson ist bei allen Plastiden (sowohl den kernlosen Cytoden als der echten kern- haltigen Zellen) aus Plastidulen oder Plasma-Molekülen zu- sammengesetzt; und diese sind „wahrscheinlich stets von Wasser- hüllen umgeben; die grössere oder geringere Dicke dieser Wasser- hüllen, welche zugleich die benachbarten Plastidule scheiden und verbinden, bedingt den weicheren oder festeren Zustand des ge- quollenen Plasson“ (a. a. 0. $.48). „Die Vererbung ist Ueber- tragung der Plastidul-Bewegung, die Anpassung hingegen Ab- änderung derselben“ (S. 55). Man kann sich diese Bewegung im Grossen und Ganzen unter dem Bilde einer verzweigten Wellen- Bewegung vorstellen. Bei allen Protisten oder einzelligen IX: Generationsfolge oder Strophogenesis. 201 Organismen (Protophyten und Protozoen) verläuft diese perio- dische Massen-Bewegung in verhältnissmässig einfacher Form, während sie sich bei allen Histonen oder vielzelligen Lebe- Wesen (Metaphyten und Metazoen) mit einer Wechselzeugung der Plastiden und einer Arbeits-Theilung der Plastidule ver- bindet; diese hatte ich schon 1866 im 17. Capitel der generellen Morphologie als Generationsfolge oder Strophogenesis erläu- tert (Bd. II, S. 104). Die monistische Philosophie wird die Perigenesis-Hypothese um so eher als Grundlage einer mechanischen Vererbungs-Theorie annehmen dürfen, als ich zugleich die Plastidule als beseelte Moleküle (ähnlich den „Monaden“ von Leibnitz) betrachte und annehme, dass die Bewegungen derselben (Anziehung und Ab- stossung) ebenso mit Empfindungen (Lust und Unlust) verknüpft sind, wie die Bewegungen der Atome, aus welchen sie zusammen- gesetzt sind. Ohne die Annahme einer derartigen niederen (un- bewussten) Empfindung und Willens-Bewegung in aller Materie bleiben mir die einfachsten chemischen und physikalischen Pro- cesse unverständlich; beruht doch auf ihrer Annahme die ganze Vorstellung von der Wahl-Verwandtschaft, oder der chemi- schen Affinität (a. a. 0. S. 49). Die Plastidule unterscheiden sich aber von allen anderen Molekülen durch die Fähigkeit der Re- production oder des Gedächtnisses. Wie schon 1870 der Physiologe Ewald Hering in seiner ausgezeichneten Abhandlung „über das Gedächtniss, als eine allgemeine Function der organi- sirten Materie“ gezeigt hat, bleiben uns ohne die Annahme eines solehen (unbewussten) Gedächtnisses die wichtigsten Lebens- Erscheinungen, und vor allen diejenigen der Fortpflanzung und Vererbung, ganz unerklärlich (S. 51). Mit Bezug darauf kann man auch „die Erblichkeit als das Gedächtniss der Plastidule und die Variabilität als die Fassungskraft der Plastidule“ bezeichnen 812). Il. Die Idioplasma-Theorie ist 1884 von Carl Naegeli in seinem umfangreichen Werke: Mechanisch-physiologische Theorie der Abstammungs-Lehre aufgestellt worden. Dieser ausgezeich- nete Botaniker betrachtet als wesentlichen Factor der Vererbung 202 Idioplasma-Hypothese von Naegeli. IX: und als Träger der erblichen Anlagen das Idioplasma, d.h. nur jenen Theil des Plasma oder Plasson, welcher als Keim alle erblichen Anlagen überträgt, im Gegensatze zum blossen Ernäh- rungs-Plasma. Die kleinsten Theile desselben, welche durch ihre eigenthümliche Zusammenordnung die Beschaffenheit des Idio- plasma bestimmen, nennt Naegeli Micellen; sie entsprechen im Wesentlichen meinen Plastidulen und werden als umgeben von Wasserhüllen gedacht. Die specifische Natur des Idioplasma, welches meinem Plasson analog ist, soll nun „in der Configura- tion des Querschnitts von Strängen paralleler Micell-Reihen be- stehen“. Die Idioplasma-Stränge sind durch den ganzen Orga- nismus in Gestalt eines grossen zusammenhängenden (unsicht- baren) Netzwerkes ansgespannt. Dieses verändert sich von Ge- neration zu Generation aus inneren Ursachen, während es dem Einflusse der äusseren Existenz-Bedingungen gar nicht oder nur in sehr geringem Maasse unterworfen ist. Daher haben auch äussere Ursachen (insbesondere Veränderungen des Klimas, der Nahrung, der Umgebung u. s. w.) keinen oder nur sehr un- bedeutenden Einfluss auf die Umbildung der Arten. Vielmehr wird diese durch ein inneres eigenthümliches Vervollkomm- nungs-Princip geleitet. Dieses bewirkt die Umformung der kleineren oder grösseren Formen-Gruppen in einer bestimmten fortschreitenden Richtung, dabei übt die Selection nur eine ganz geringe oder gar keine Wirkung aus. Wie man sieht, führt Naegeli zur Erklärung der Verer- bung und der organischen Entwickelung ein rein teleologi- sches Princip in die Biologie wieder ein. Sein „inneres Ver- vollkommnungs-Princip“, das die ganze Entwickelung bedingt, ist nichts Anderes als die alte Lebenskraft in neuer Form, ein y statt eines x; und diese unbekannte Grösse wird uns dadurch nicht begreiflicher, dass sie Naegeli als eine immanente Eigen- schaft seines Idioplasma hinstellt. Schwer begreiflich ist, wie ein so scharfsinniger Naturforscher (— der sich selbst für einen streng exacten Physiologen hält —) sich über das wahre Wesen seiner naturphilosophischen Molekular-Hypothese so vollkommen täuschen konnte. Er verwirft sowohl die Pangenesis Darwin’s IX. Keimplasma-Hypothese von Weismann. 203 als meine Perigenesis vollständig, und erklärt sie für „Producte der Naturphilosophie, und als solche so gut wie jedes andere aus der gleichen Quelle erflossene Product.“ Er merkt dabei nicht, dass von seiner eigenen Hypothese ganz dasselbe gilt, und dass man von ihm mit denselben Worten sagen könnte: „Ihr Feh- ler ist wie bei jeder natur-philosophischen Lehre der, dass sie ihre Ahnungen als Thatsachen ausgiebt, und für dieselben un- passende naturwissenschaftliche Bezeichnungen braucht, und in unberechtigter Weise naturwissenschaftliche Bedeutung in An- spruch nimmt“ (a. a. O0. S. 81). Ganz dasselbe gilt auch von dem metaphysischen letzten Abschnitt seines Werkes: „Kräfte und Gestaltungen im molekularen Gebiet“, und insbesondere von seiner Hypothese der Isagitaet (S. 807). Kein exacter Physiker erkennt in denselben etwas Anderes als phantasiereiche meta- physische Speculationen. Abgesehen von seiner ganz unbewiese- nen Vererbungs-Theorie und vielen davon ausgehenden Irrthü- mern, enthält übrigens Naegeli’s Werk eine Anzahl von sehr werthvollen Beiträgen zur Theorie der Abstammungs-Lehre, leider nur nicht ihre „mechanisch-physiologische Begründung“. Vor- trefflich sind insbesondere die Capitel über Phylogenetische Ent- wickelungs-Geschichte und Generationswechsel (VII, VIIT), über Morphologie und Systematik als phylogenetische Wissenschaften (IX), und Urzeugung (II). Viele darin enthaltenen Ausführun- gen decken sich mit denjenigen, welche ich zuerst 1866 in mei- ner generellen Morphologie entwickelt hatte. IV. Die Keimplasma-Theorie wurde 1885 von August Weismann begründet, in einer Abhandlung über „die Continuität des Keimplasma’s als Grundlage einer Theorie der Vererbung.“ Diese Theorie stimmt mit den beiden vorhergehenden in der An- nahme überein, dass die unmittelbare Ursache der individuellen Entwickelung und die materielle Grundlage der Vererbung in den Molekülen der plasmatischen Keimsubstanz zu suchen ist, ent- weder im Kerne oder im Protoplasma der Fortpflanzungszellen. Während aber meine Perigenesis - Hypothese das mechanische Prineip der übertragenen Bewegung auf die Plasma-Moleküle oder Plastidule anwendet und deren Richtung durch Anpassung ab- 204 Keimplasma-Hypothese von Weismann. IX ändern lässt; während ferner Naegeli eine innere unbekannte Vervollkommnungs-Tendenz, als rein teleologisches Princip, in seine Idioplasma-Moleküle oder Micellen hineinlegt und diese sich zu netzförmigen Strängen verbinden lässt, erblickt Weis- mann die eigentliche Ursache der Vererbung in der Continuität des Keimplasma, und diejenige der Abänderung in der Mischung der beiden verschiedenen Keim-Plasmen bei der geschlechtlichen Zeugung. Er nimmt an, dass im Organismus zwei vollkommen getrennte Plasma-Arten neben’ einander existiren, das Keimplasma als Zeugungsstoff, und das somatische Plasma. als die Substanz, aus der sich alle Gewebe des Körpers entwickeln (— schon früher von Rauber als Germinal-Theil und Personal-Theil des Indivi- duums unterschieden —). Weismann behauptet ferner, dass bei jeder Fortpflanzung ein Theil des elterlichen Keimplasma nicht zum Aufbau des kindlichen Organismns verwendet wird, sondern unverändert zurückbleibt und für die Bildung der Keim- zellen der folgenden Generation verbraucht wird. Auf dieser ununterbrochenen Continuität des Keimplasma, durch die ganze Reihe der Generationen, beruht die Vererbung; hingegen die Anpassung oder Variation auf der individuellen Verschieden- heit der beiden Keimplasma-Arten (des weiblichen Eiplasma und männlichen Spermplasma) welche beim sexuellen Zeugungs-Process vermischt werden. Als eine wichtige Consequenz seiner Theorie betrachtet Weismann die Annahme, dass erworbene Eigenschaf- ten nicht vererbt werden können. Er verwirft also das wesent- lichste Prineip der älteren Lamarck’schen Descendenz-Theorie, während er dem Darwin’schen Selections-Prineip die weiteste Wirksamkeit zugesteht. Die vielen morphologischen und physiologischen Gründe, welche gegen die Keimplasma-Lehre von Weismann sprechen, sind bereits von Virchow, Kölliker, Detmer, Eimer, Her- bert Spencer u. A. ausführlich dargelegt worden. Indem ich mich ihnen anschliesse, möchte ich noch besonders hervorheben, dass die permanente Trennung der beiden Plasma-Arten in den Keim-Zellen nicht nur nicht durch mikroskopische Untersuchung bewiesen wird, sondern durch die Thatsachen der Eifurchung und in DA 3 IX; Intracellulare Pangenesis von Vries. 205 Gastrulation höchst unwahrscheinlich gemacht wird. Ausserdem wird dadurch Weismann genöthigt, innere unbekannte Ursachen für die Entwickelung seines Keim-Plasma anzunehmen, welche ebenso metaphysisch und teleologisch sind wie das innere Ver- vollkommnungs-Prineip im Idioplasma von Naegeli; nur der Name der unbekannten Ursache ist verschieden. Indem schliesslich Weis- mann nur die Erblichkeit der indirecten oder potentiellen Varia- tion anerkennt, die Vererbung der directen oder actuellen An- passung hingegen ganz verwirft, verzichtet er nach meiner Ueber- zeugung auf eine mechanische Erklärung der wichtigsten Trans- formations- Erscheinungen. V. Die Theorie der intracellularen Pangenesis (1889) ist kürzlich von dem Botaniker Hugo de Vries erörtert worden, in unmittelbarem Anschluss an Darwin’s Hypothese (S. 199), aber mit dem wesentlichen Unterschiede, dass der von ihm an- genommene Keimchen-Transport durch den Körper wegfällt. Vries nimmt einen solchen Transport nur innerhalb jeder ein- zelnen Zelle an; er giebt eine genauere Definition den Keimchen oder Gemmulae (welche er Pangene nennt) und nimmt an, dass jede einzelne erbliche Anlage an einen solchen stofflichen Träger, an ein unsichtbares Pangen, gebunden ist. Das ganze lebendige Protoplasma ist nur aus Pangenen zusammengesetzt und im Zellen-Kerne sind alle Arten von Pangenen des betreffenden Individuums vertreten. Die lesenswerthe Abhandlung von Vries ist vortrefflich ge- schrieben und enthält viele lehrreiche Gedanken über Vererbung. Allein eine wirkliche Erklärung derselben, oder auch nur eine fassbare Vorstellung ihres Molekular-Processes, giebt sie ebenso- wenig, als eine der vier vorhergehenden Hypothesen. Die „ein- zelnen erblichen Anlagen“ führen wieder zur Praeformations- Theorie zurück. Auch bietet der Bau und die Entwickelung der thierischen Gewebe ihrer Annahme unüberwindliche Schwierig- keiten, welche dem Botaniker Vries bei Betrachtung der viel ein- facheren und relativ selbstständigen Pflanzenzelle nicht aufstiessen. Ausser den angeführten fünf Vererbungs-Theorien sind neuer- dings auch noch von anderen Naturforschern Versuche zu einer 206 Zellkern als Organ der Vererbung. ib. Erklärung dieser wunderbaren Erscheinungen gemacht worden. Diese stellen aber entweder nur untergeordnete Modificationen von einer jener fünf Hypothesen dar, oder sie entfernen sich so sehr von den bekannten Grundlagen unserer empirischen Kennt- nisse, dass wir sie nicht hervorzuheben brauchen. Die weitere Frage, ob bei der Fortpflanzung bloss der Kern der Zellen, oder auch ihr Protoplasma Träger der erblichen Eigenschaften ist, wird jetzt meistens zu Gunsten des ersteren bejaht. Ich hatte schon 1866 in meiner Generellen Morphologie (Bd. 1, S. 288) be- hauptet, „dass der innere Kern die Vererbung der erblichen Charaktere, das äussere Plasma dagegen die Anpassung an die Verhältnisse der Aussenwelt zu besorgen hat“. Neuerdings sind namentlich durch die ausgezeichneten Untersuchungen der Gebrü- der Hertwig, E. Strasburger und Anderen sehr überzeugende Wahrscheinlichkeits-Gründe für diese Ansicht geliefert worden. Unsere Kenntniss von der Vererbung und Fortpflanzung ist durch diese und zahlreiche andere Untersuchungen in den letzten drei Decennien ausserordentlich gefördert worden. Freilich er- klärt uns keine von den fünf angeführten Molekular-Hypothesen das Räthsel dieser wunderbaren Vorgänge vollständig; eher haben sie dazu gedient, uns die ausserordentliche Verwickelung der hier stattfindenden unsichtbaren Processe, und unsere Unfähigkeit, sie zu begreifen, uns zum klaren Bewusstsein zu bringen. Aber trotzdem haben wir dadurch die früheren mystischen Vorstellungen über ihre Natur abgestreift, und allgemein die Ueberzeugung ge- wonnen, dass es sich dabei um physiologische Funcetionen handelt, um Lebensthätigkeiten der Zellen, welche gleich allen andern Lebens-Erscheinungen auf chemisch-physikalische Processe zurückzuführen, mithin mechanisch zu erklären sind. | | Zehnter Vortrag. Anpassung und Ernährung. Anpassungs-Gesetze. Anpassung (Adaptation) und Veränderlichkeit (Variation). Zusammen- hang der Anpassung mit der Ernährung (Stoffwechsel und Wachsthum). Unterscheidung der indireeten und direeten Anpassung. Gesetze der indirecten oder potentiellen Anpassung. Individuelle Anpassung. Monströse oder sprung- „ weise Anpassung. Geschlechtliche oder sexuelle Anpassung. Gesetze der direeten oder actuellen Anpassung. Allgemeine oder universelle Anpassung. Gehäufte oder eumulative Anpassung. Gehäufte Einwirkung der äusseren Existenzbedingungen und gehäufte Gegenwirkung des Organismus. Der freie Wille. Gebrauch und Nichtgebrauch der Organe. Uebung und Gewohnheit. Functionelle Anpassung. Wechselbezügliche oder correlative Anpassung. Wechselbeziehungen der Entwickelung. Correlation der Organe. Erklärung der indireeten oder potentiellen Anpassung durch die Correlation der Ge- schlechtsorgane und der übrigen Körpertheile. Nachäffung oder mimetische Anpassung (Mimiery). Abweichende oder divergente Anpassung. Unbe- schränkte oder unendliche Anpassung. Meine Herren! Nachdem wir in den beiden letzten Vorträgen die wichtigsten Gesetze und Theorien der Vererbung erörtert haben, wenden wir uns nunmehr zu der zweiten grossen Reihe von Erscheinungen, welche bei der natürlichen Züchtung in Be- tracht kommen, nämlich zu denen der Anpassung oder Abän- derung. Diese Erscheinungen stehen, im Grossen und Ganzen betrachtet, in einem gewissen Gegensatze zu den Vererbungs- Erscheinungen, und die Schwierigkeit, welche die Betrachtung beider darbietet, besteht zunächst darin, dass beide sich auf das Vollständigste durchkreuzen und verweben. Daher sind wir nur selten im Stande, bei den Form-Veränderungen, die unter unsern Augen geschehen, mit Sicherheit zu sagen, wieviel davon auf die Vererbung, wieviel auf die Abänderung zu beziehen ist. Alle 208 Anpassung und Veränderlichkeit. Ra Form-Charaktere, durch welche sich die Organismen unterschei- den, sind entweder durch die Vererbung oder durch die Anpas- sung verursacht; da aber beide Functionen beständig in Wechsel- wirkung. zu einander stehen, ist es für den Systematiker ausser- ordentlich schwer, den Antheil jeder der beiden Functionen an der speciellen Bildung der einzelnen Formen zu erkennen. Dies ist gegenwärtig um so schwieriger, als man sich noch kaum der ungeheuren Bedeutung dieser Thatsache bewusst geworden ist, und als die meisten Naturforscher die Theorie der Anpassung ebenso wie der Vererbung vernachlässigt haben. Die vorher auf- gestellten Vererbungs-Gesetze, wie die sogleich anzuführenden Ge- setze der Anpassung, bilden wahrscheinlich nur einen Bruchtheil der vorhandenen, meist noch nicht untersuchten Erscheinungen dieses Gebietes; und da jedes dieser Gesetze mit jedem anderen in Wechselbeziehung treten kann, so geht daraus die unendliche Verwickelung von physiologischen Thätigkeiten hervor, die bei der Formbildung der Organismen in der That wirksam sind. Was nun die Erscheinung der Abänderung oder Anpassung im Allgemeinen betrifft, so müssen wir dieselbe, ebenso wie die Thatsache der Vererbung, als eine ganz allgemeine physiologische Grundeigenschaft aller Organismen ohne Ausnahme hinstellen, als eine Lebensäusserung, welche von dem Begriffe des Organismus gar nicht zu trennen ist. Streng genommen müssen wir auch hier, wie bei der Vererbung, zwischen der Anpassung selbst und der Anpassungsfähigkeit unterscheiden. Unter Anpassung (Adap- tatio) oder Abänderung (Variatio) verstehen wir die That- sache, dass der Organismus in Folge von Einwirkungen der um-. gebenden Aussenwelt gewisse neue Eigenthümlichkeiten in seiner Lebensthätigkeit, Mischung und Form annimmt, welche er nicht von seinen Eltern geerbt hat; diese erworbenen individuellen Eigenschaften stehen den ererbten gegenüber, welche seine Eltern und Voreltern auf ihn übertragen haben. Dagegen nennen wir Anpassungs-Fähigkeit (Adaptabilitas) oder Veränderlichkeit (Variabilitas) die allen Organismen inne wohnende Fähigkeit, derartige neue Eigenschaften unter dem Einflusse der Aussenwelt zu erwerben. iXE. Anpassung und Veränderlichkeit. 209 Die unleugbare Thatsache der organischen Anpassung oder Abänderung ist allbekannt und an tausend uns umgebenden Er- scheinungen jeden Augenblick wahrzunehmen. Allein gerade des- halb, weil die Erscheinungen der Abänderung durch äussere Ein- flüsse selbstverständlich erscheinen, hat man dieselben bisher noch fast gar nicht einer genaueren wissenschaftlichen Unter- suchung unterzogen. Es gehören dahin alle Erscheinungen, welche wir als die Folgen der Angewöhnung und Abgewöhnung, der Uebung und Nichtübung betrachten, oder als Folgen der Dressur, der Erziehung, der Acclimatisation, der Gymnastik u. s. w. Auch viele bleibende Veränderungen durch krankmachende Ursachen, viele Krankheiten sind weiter nichts als gefährliche Anpassungen des Organismus an verderbliche Lebensbedingungen. Bei den Cultur-Pflanzen und Hausthieren tritt die Erscheinung der Ab- änderung so auffallend und mächtig hervor, dass eben darauf der Thierzüchter und Gärtner seine ganze Thätigkeit gründet, oder vielmehr auf die Wechselbeziehung, in welche er diese Erschei- nungen mit denen der Vererbung setzt. Ebenso ist von den Pflanzen und Thieren im wilden Zustande allbekannt, dass sie abändern oder variiren. Jede systematische Bearbeitung einer Thier- oder Pflanzen-Gruppe müsste, wenn sie ganz vollständig und erschöpfend sein wollte, bei jeder einzelnen Art eine Menge von Abänderungen anführen, welche mehr oder weniger von der herrschenden oder typischen Hauptform der Species abweichen. In der That finden Sie in jedem genauer gearbeiteten systema- tischen Specialwerk bei den meisten Arten eine Anzahl von solchen Variationen und Umbildungen angeführt, welche bald als individuelle Abweichungen, bald als sogenannte Spielarten, Ras- sen, Varietäten, Abarten oder Unterarten bezeichnet werden. Oft entfernen sich dieselben ausserordentlich weit von der Stamm- art, und doch sind sie lediglich durch die Anpassung des Orga- nismus an die äusseren Lebensbedingungen entstanden. Wenn wir nun zunächst die allgemeinen Ursachen dieser Anpassungs-Erscheinungen zu begründen suchen, so kommen wir zu dem Resultate, dass dieselben in Wirklichkeit so einfach sind, als die Ursachen der Erblichkeits-Erscheinungen. Wie wir für Haeckel, Natürl. Schöpfungs-Gesch. 8. Aull. 14 210 Anpassung und Veränderlichkeit. x (die Vererbungs-Thatsachen die Fortpflanzung als allgemeine Grund- ursache nachwiesen, die Uebertragung der elterlichen Materie auf den kindlichen Körper, so können wir für die Thatsachen der Anpassung oder Abänderung, die physiologische Thätigkeit der Ernährung oder des Stoffwechsels als die allgemeine Grund- ursache hinstellen. Wenn ich hier die „Ernährung“ als Grund- ursache der Abänderung und Anpassung anführe, so nehme ich dieses Wort im weitesten Sinne, und verstehe darunter die ge- sammten trophischen Veränderungen, welche der Organis- mus in allen seinen Theilen durch die Einflüsse der ihn umge- benden Aussenwelt erleidet. Es gehört also zur Ernährung nicht allein die Aufnahme der wirklich nährenden Stoffe und der Ein- fluss der verschiedenartigen Nahrung; sondern auch z. B. die Einwirkung, welche das Wasser und die Atmosphäre, das Son- nenlicht und die Temperatur auf die chemisch-physikalische Be- schaffenheit des Körpers ausüben; kurz der Einfluss aller der- jenigen meteorologischen Erscheinungen, welche man unter dem Begriff „Klima“ zusammenfasst. Auch der mittelbare und un- mittelbare Einfluss der Bodenbeschaffenheit und des Wohnorts gehört hierher, ferner der äusserst wichtige und vielseitige Ein- fluss, welchen die umgebenden Organismen, die Freunde und Nachbarn, die Feinde und Räuber, die Schmarotzer oder Para- siten u. s. w. auf jedes Thier und auf jede Pflanze ausüben. Alle diese und noch viele andere höchst wichtige Einwirkungen, welche alle die Gewebe des Organismus mehr oder weniger in ihrer ma- teriellen Zusammensetzung verändern, müssen hier beim Stoff- wechsel in Betracht gezogen werden. Demgemäss wird die An- passung die Folge aller jener materiellen Veränderungen sein, welche die äusseren Existenz-Bedingungen in der Ernährung der Elementartheile, die Einflüsse der umgebenden Aussen- welt im Stoffwechsel und im Wachsthum des Organismus hervorbringen. Wie sehr jeder Organismus von seiner gesammten äusseren Umgebung abhängt und durch deren Wechsel verändert wird, ist Ihnen Allen im Allgemeinen bekannt. Denken Sie bloss daran, wie die menschliche Thatkraft von der Temperatur der Luft ab- De eh a Dachau u St chat da en ee Sat are ee ee EEE m RE Zusammenhang der Anpassung und der Ernährung. 2a hängig ist, oder die Gemüthsstimmung von der Farbe des Him- mels. Je nachdem der Himmel wolkenlos und sonnig ist, oder mit trüben, schweren Wolken bedeckt, ist unsere Stimmung hei- ter oder trübe. Wie anders empfinden und denken wir im Walde während einer stürmischen Winternacht und während eines hei- tern Sommertages! Alle diese verschiedenen Stimmungen unserer Seele beruhen auf rein materiellen Veränderungen unseres Ge- hirns, auf molekularen Plasma-Bewegungen, welche mittelst der Sinne durch die verschiedene Einwirkung des Lichtes, der Wärme, der Feuchtigkeit u. s. w. hervorgebracht werden. „Wir sind ein Spiel von jedem Druck der Luft!“ Nicht minder wichtig und tiefgreifend sind die Einwirkun- gen, welche unser Geist und unser Körper durch die verschiedene Qualität und Quantität der Nahrungsmittel im engeren Sinne er- fährt. Unsere Geistesarbeit, die Thätigkeit unseres Verstandes und unserer Phantasie ist gänzlich verschieden, je nachdem wir vor und während derselben Thee und Kaffee, oder Wein und Bier genossen haben. Unsere Stimmungen, Wünsche und Gefühle sind ganz anders, wenn wir hungern und wenn wir gesättigt sind. Der Nationalcharakter der Engländer und der Gauchos in Süd- amerika, welche vorzugsweise von Fleisch, von stickstoffreicher Nahrung leben, ist gänzlich verschieden von demjenigen der kar- toffelessenden Irländer und der reisessenden Chinesen, welche vorwiegend stickstofflose Nahrung geniessen. Auch lagern die letzteren viel mehr Fett ab, als die ersteren. Hier wie überall gehen die Veränderungen des Geistes mit entsprechenden Umbil- dungen des Körpers Hand in Hand; beide sind durch rein ma- terielle Ursachen bedingt. Ganz ebenso wie der Mensch, werden aber auch alle anderen Organismen durch die verschiedenen Ein- flüsse der Ernährung abgeändert und umgebildet. Ihnen allen ist bekannt, dass wir willkürlich die Form, Grösse, Farbe u. s. w. bei unseren Cultur-Pflanzen und Hausthieren durch Veränderung der Nahrung abändern können, dass wir z. B. einer Pflanze ganz bestimmte Eigenschaften nehmen oder geben können, je nachdem wir sie einem grösseren oder geringeren Grade von Sonnenlicht und Feuchtigkeit aussetzen. Da diese Erscheinungen ganz allge- 14* 212 Unterscheidung der indireeten und directen Anpassung. Br mein verbreitet und bekannt sind, und wir sogleich zur Betrach- . tung der verschiedenen Anpassungs-Gesetze übergehen werden, wollen wir uns hier nicht länger bei den allgemeinen Thatsachen der Abänderung aufhalten. Gleichwie die verschiedenen Vererbungs-Gesetze sich natur- gemäss in die beiden Reihen der conservativen und der progres- siven Vererbung sondern lassen, so kann man unter den Anpas- sungs-Gesetzen ebenfalls zwei verschiedene Reihen unterscheiden, nämlich erstens die Reihe der indirecten oder mittelbaren, und zweitens die Reihe der directen oder unmittelbaren Anpassungs- (iesetze. Letztere kann man auch als actuelle, erstere als poten- tielle Anpassungs-Gesetze bezeichnen. Die erste Reihe, welche die Erscheinungen der unmittelbaren oder indireeten (potentiellen) Anpassung umfasst, ist im Ganzen bis jetzt sehr wenig berücksichtigt worden, und es bleibt das Verdienst Darwin's, auf diese Reihe von Veränderungen ganz besonders hingewiesen zu haben. In jüngster Zeit hat namentlich August Weismann dieselben sehr eingehend untersucht, und ihnen zuletzt, als einzig erblichen Abartungen, eine so ausschliess- liche Geltung zugeschrieben, dass er die Vererbung von direeten Anpassungen überhaupt leugnet. Es ist etwas schwierig, diesen (regenstand gehörig klar darzustellen; ich werde versuchen, Ihnen denselben nachher durch Beispiele deutlich zu machen. Ganz all- gemein ausgedrückt besteht die indirecte oder potentielle An- passung in der Thatsache, dass gewisse Veränderungen im Orga- nismus, welche durch den Einfluss der Nahrung (im weitesten Sinne) und überhaupt der äusseren Existenz-Bedingungen bewirkt werden, nicht in der individuellen Form-Beschaffenheit des betrof- fenen Organismus selbst, sondern in derjenigen seiner Nachkom- men sich äussern und in die Erscheinung treten. So wird na- mentlich bei den Organismen, welche sich auf geschlechtlichem Wege fortpflanzen, das Reproductions-System oder der Geschlechts- Apparat oft durch äussere Wirkungen, welche im Uebrigen den Organismus wenig berühren, dergestalt beeinflusst, dass die Nach- kommenschaft desselben eine ganz veränderte Bildung zeigt. Sehr auffällig kann man das an den künstlich erzeugten Monstrositäten X. Unterscheidung der indireeten und direeten Anpassung. 215 sehen. Man kann Monstrositäten oder Missgeburten dadurch er- zeugen, dass man den elterlichen Organismus einer bestimmten, ausserordentlichen Lebensbedingung unterwirft. Diese unge- wohnte Lebensbedingung erzeugt aber nicht eine Veränderung des Organismus selbst, sondern eine Veränderung seiner Nach- kommen. Man kann das nicht als Vererbung bezeichnen, weil ja nicht eine im elterlichen Organismus vorhandene Eigenschaft als solche erblich auf die Nachkommen übertragen wird. Viel- mehr tritt eine Abänderung, welche den elterlichen Organismus betraf, aber nicht wahrnehmbar affieirte, erst in der eigenthüm- lichen Bildung seiner Nachkommen wirksam zu Tage. Bloss der Anstoss zu dieser neuen Bildung wird durch das Ei der Mutter oder durch den Samenfaden des Vaters bei der Fortpflanzung über- tragen. Die Neubildung ist im elterlichen Organismus bloss der Möglichkeit nach (potentia) vorhanden; im kindlichen wird sie zur Wirklichkeit (actu). Indem man diese sehr wichtige und sehr allgemeine Erschei- nung bisher ganz vernachlässigt hatte, war man geneigt, alle wahr- nehmbaren Abänderungen und Umbildungen der organischen For- men als Anpassungs-Erscheinungen der zweiten Reihe zu betrachten, derjenigen der unmittelbaren oder directen (actuellen) Anpassung. Das Wesen dieser Anpassungs-Gesetze liegt darin, dass die den Organismus betreffende Veränderung (in der Ernährung u. s. w.) bereits in dessen eigener Umbildung und nicht erst in derjenigen seiner Nachkommen sich äussert. Hierher gehören alle die be- kannten Erscheinungen, bei denen wir den umgestaltenden Einfluss des Klimas, der Nahrung, der Erziehung, Dressur u. s. w. unmit- telbar an ‘den betroffenen Individuen selbst in seiner Wirkung verfolgen können. Wie die beiden Erscheinungs-Reihen der conservativen und der progressiven Vererbung trotz ihres prineipiellen Unterschiedes vielfach in einander greifen und sich gegenseitig modifieiren, viel- fach zusammenwirken und sich durchkreuzen, so gilt das in noch höherem Maasse von den beiden entgegengesetzten und doch innig zusammenhängenden Erscheinungs-Reihen der indirecten und der directen Anpassung. Einige Naturforscher, namentlich Darwin, 214 Unterscheidung der indireeten und directen Anpassung. “ Carl Vogt und Weismann, schreiben den indirecten oder po- tentiellen Anpassungen eine viel bedeutendere oder selbst eine fast ausschliessliche Wirksamkeit zu. Die Mehrzahl der Natur- forscher aber war bisher geneigt, umgekehrt das Hauptgewicht auf die Wirkung der directen oder actuellen Anpassungen zu legen, oder auch diese allein gelten zu lassen, im Anschlusse an die Lehren von Lamarck. Eigentlich ist dieser Streit vorläufig ziem- lich unnütz. Nur selten sind wir in der Lage, im einzelnen Ab- änderungs-Falle beurtheilen zu können, wie viel davon auf Rech- nung der directen, wieviel auf Rechnung der indirecten Anpassung kömmt. Wir kennen im Ganzen diese ausserordentlich wichtigen und verwickelten Verhältnisse noch viel zu wenig, und können daher nur im Allgemeinen die Behauptung aufstellen, dass die Umbildung der organischen Formen entweder bloss der directen, oder bloss der indireeten, oder endlich drittens dem Zusammen- wirken der directen und der indirecten Anpassung zuzuschreiben ist. Die Physiologie der Ernährung wird die wichtige Aufgabe zu lösen haben, die verschiedenen Wirkungen dieser Abänderungen näher (— womöglich experimentell —) zu untersuchen, und auf ihre elementaren Ursachen, auf die physikalisch-chemischen Vorgänge im Stoffwechsel und im Wachsthum der Organe zurückzuführen. Lassen Sie uns nun etwas näher die verschiedenen Erschei- nungs-Formen der Variation betrachten, welche man vorläufig als „Gesetze der Anpassung“ unterscheiden kann. Zunächst wen- den wir uns zu den Abänderungen der ersten Reihe, der indi- recten oder potentiellen Anpassung. Wenn diese merk- würdigen Erscheinungen auch noch sehr dunkel in ihrem Wesen und sehr wenig erforscht in ihren elementaren Ursachen sind, so steht doch allgemein und unzweifelhaft die Thatsache fest, dass alle organischen Individuen Umbildungen erleiden und neue For- men annehmen können in Folge von Ernährungs-Veränderungen, welche nicht sie selbst, sondern ihren elterlichen Organismus be- trafen. Der umgestaltende Einfluss der äusseren Existenz-Bedin- gungen, des Klimas, der Nahrung etc. äussert hier seine Wirkung nicht direct, in der Umbildung des Organismus selbst, sondern indirect, in derjenigen seiner Nachkommen. 5.2 Gesetze der indirecten Anpassung. Individuelle Anpassung. 215 Als das oberste und allgemeinste von den Gesetzen der in- directen Abänderung können wir das Gesetz der individuel- len Anpassung hinstellen, nämlich den wichtigen Satz, dass alle organischen Individuen von Anbeginn ihrer individuellen Existenz an ungleich, wenn auch oft höchst ähnlich sind. Zum Be- weise dieses Satzes können wir zunächst auf die Thatsache hin- weisen, dass beim Menschen allgemein alle Geschwister, alle Kinder eines Elternpaares von Geburt an ungleich sind. Es wird Niemand behaupten, dass zwei Geschwister bei der Geburt noch vollkommen gleich sind, dass die Grösse aller einzelnen Körper- theile, die Zahl der Kopfhaare, der Oberhaut-Zellen, der Blut- Zellen in beiden Geschwistern ganz gleich sei, dass beide dieselben Anlagen und Talente mit auf die Welt gebracht haben. Ganz besonders beweisend für dieses Gesetz der individuellen Verschie- denheit ist aber die Thatsache, dass bei denjenigen Thieren, welche mehrere Junge werfen, z. B. bei den Hunden und Katzen, alle Jungen eines jeden Wurfes von einander verschieden sind, bald durch geringere, bald durch auffallendere Differenzen in der Grösse, Färbung, Länge der einzelnen Körpertheile, Stärke u. s. w. Nun gilt aber dieses Gesetz ganz allgemein. Alle organischen Individuen sind von Anfang an durch gewisse, wenn auch oft höchst feine Unterschiede ausgezeichnet, und die Ursache dieser individuellen Unterschiede, wenn auch im Einzelnen uns gewöhn- lich ganz unbekannt, liegt theilweise oder ausschliesslich in ge- wissen Einwirkungen, welche die Fortpflanzungs-Organe des elter- lichen Organismus erfahren haben. Manche Naturforscher betrachten die individuelle Variation als die wichtigste oder selbst die -ausschliessliche Ursache der Transformation; so namentlich August Weisman, welcher sie als die unmittelbare Folge der geschlechtlichen Fortpflanzung hin- stellt. Die amphigone Vererbung bewirkt nach ihm unmittelbar die individuelle Anpassung. So hoch wir auch ihren Werth schätzen mögen, so können wir ihr doch nicht diese ausschliess- liche Bedeutung zugestehen. Weniger wichtig und allgemein, als dieses Gesetz der indi- viduellen Abänderung, ist ein zweites Gesetz der indirecten An- 216 Monströse oder sprungweise Anpassung. x. passung, welches wir das Gesetz der monströsen oder sprungweisen Anpassung nennen wollen. Hier sind die Ab- weichungen des kindlichen Organismus von der elterlichen Form so auffallend, dass wir sie in der Regel als Missgeburten oder Monstrositäten bezeichnen können. Diese werden in vielen Fällen, wie es durch Experimente nachgewiesen ist, dadurch erzeugt, dass man den elterlichen Organismus einer bestimmten Behandlung unterwirft, in eigenthümliche Ernährungs- Verhältnisse versetzt, z. B. Luft und Licht ihm entzieht oder andere auf seine Ernäh- rung mächtig einwirkende Einflüsse in bestimmter Weise abändert. Die neue Existenz-Bedingung bewirkt eine starke und auffallende Abänderung der Gestalt, aber nicht an dem unmittelbar davon betroffenen Organismus, sondern erst an dessen Nachkommen- schaft. Die Art und Weise dieser Einwirkung im Einzelnen zu erkennen, ist uns auch hier nicht möglich, und wir können nur ganz im Allgemeinen den ursächlichen Zusammenhang zwischen der monströsen Bildung des Kindes und einer gewissen Verän- derung in den Existenz-Bedingungen seiner Eltern, sowie deren Einfluss äuf die Fortpflanzungs-Organe der letzteren, feststellen. In diese Reihe der monströsen oder sprungweisen Abänderungen gehören wahrscheinlich die früher erwähnten Erscheinungen des Albinismus, sowie die einzelnen Fälle von Menschen mit sechs Fingern und Zehen, von ungehörnten Rindern, sowie von Schafen und Ziegen mit vier oder sechs Hörnern. Wahrscheinlich ver- dankt in allen diesen Fällen die monströse Abänderung ihre Ent- stehung einer Ursache, welche zunächst nur das Reproductions- System des elterlichen Organismus, das Ei der Mutter oder das Sperma des Vaters afficirte. Als eine dritte eigenthümliche Aeusserung der indirecten Anpassung können wir das Gesetz der geschlechtlichen oder sexuellen Anpassung bezeichnen. So nennen wir die merkwürdige Thatsache, dass bestimmte Einflüsse, welche auf die männlichen Fortpflanzungs-Organe einwirken, nur in der Form- bildung der männlichen Nachkommen, und ebenso andere Ein- flüsse, welche die weiblichen Geschlechts-Organe betreffen, nur in der Gestalt-Veränderung der weiblichen Nachkommen ihre Wir- see Me he X. Geschlechtliche Anpassung. Ursachen der indireeten Anpassung. 217 kung äussern. Diese merkwürdige Erscheinung ist noch sehr dunkel und wenig beachtet, wahrscheinlich aber von grosser Be- deutung für die Entstehung der früher betrachteten „secundären Sexual-Charaktere“. Alle die angeführten Erscheinungen der geschlechtlichen, der ‘ sprungweisen und der individuellen Anpassung, welche wir als „Gesetze der indirecten oder mittelbaren (potentiellen) Anpas- sung“ zusammenfassen können, sind uns in ihrem eigentlichen Wesen, in ihrem tieferen ursächlichen Zusammenhang noch äusserst wenig bekannt. Nur soviel lässt sich schon jetzt mit Sicherheit behaupten, dass sehr zahlreiche und wichtige Umbil- dungen der organischen Formen diesem Vorgange ihre Entstehung verdanken. Viele und auffallende Form-Veränderungen sind ledig- lich bedingt durch Ursachen, welche zunächst nur auf die Er- nährung des elterlichen Organismus und dadurch auf dessen Fort- pflanzungs-Organe einwirkten. Offenbar sind hierbei die wichtigen Wechselbeziehungen, in denen die Geschlechts-Organe zu den übrigen Körpertheilen stehen, von der grössten Bedeutung. Von diesen werden wir sogleich bei dem Gesetze der wechselbezüg- lichen Anpassung noch mehr zu sagen haben. Wie mächtig überhaupt Veränderungen in den Lebensbedingungen, in der Er- nährung auf die Fortpflanzung der Organismen einwirken, beweist allein schon die merkwürdige Thatsache, dass zahlreiche wilde Thiere, die wir in unseren zoologischen Gärten halten, und ebenso viele in unsere botanischen Gärten verpflanzte exotische Ge- wächse nicht mehr im Stande sind, sich fortzupflanzen, so z. B. die meisten Raubvögel, Papageien und Affen. Auch der Elephant und die bärenartigen Raubthiere werfen in der Gefangenschaft fast niemals Junge. Ebenso werden viele Pflanzen im Culturzu- stande unfruchtbar. Es erfolgt zwar die Verbindung der beiden Geschlechter, aber keine Befruchtung oder keine Entwicklung der befruchteten Keime. Hieraus ergiebt sich unzweifelhaft, dass die durch den Culturzustand veränderte Ernährungsweise die Fort- pflanzungs-Fähigkeit gänzlich aufzuheben, also den grössten Ein- fluss auf die Geschlechts-Organe auszuüben im Stande ist. Ebenso können andere Anpassungen oder Ernährungs-Veränderungen des 8 Gesetze der directen Anpassung. RE elterlichen Organismus zwar nicht den gänzlichen Ausfall der Nachkommenschaft, wohl aber bedeutende Umbildungen in deren Form veranlassen. Viel bekannter als die Erscheinungen der indirecten oder potentiellen Anpassung sind diejenigen der directen oder actu- ellen Anpassung, zu deren näherer Betrachtung wir uns jetzt wenden. Es gehören hierher alle diejenigen Abänderungen der Organismen, welche man als die Folgen der Uebung, Gewohnheit, Dressur, Erziehung u. s. w. betrachtet, ebenso diejenigen Umbil- dungen der organischen Formen, welche unmittelbar durch den Einfluss der Nahrung, des Klimas und anderer äusserer Existenz- bedingungen bewirkt werden. Wie schon vorher bemerkt, tritt hier bei der directen oder unmittelbaren Anpassung der umbil- dende Einfluss der äusseren Ursache unmittelbar in der Form oder Structur des betroffenen Organismus selbst, und nicht erst in derjenigen seiner Nachkommenschaft wirksam zu Tage. Unter den verschiedenen Gesetzen der directen oder actuel- len Anpassung können wir als das oberste und umfassendste das Gesetz der allgemeinen oder universellen Anpassung an die Spitze stellen. Dasselbe lässt sich kurz in dem Satze aus- sprechen: „Alle organischen Individuen werden im Laufe ihres Lebens durch Anpassung an verschiedene Lebensbedingungen ein- ander ungleich, obwohl die Individuen einer und derselben Art sich meistens sehr ähnlich bleiben.“ Eine gewisse Ungleichheit der organischen Individuen wurde, wie Sie sahen, schon durch das Gesetz der individuellen (indireeten) Anpassung bedingt. Allein diese ursprüngliche Ungleichheit der Einzelwesen wird späterhin dadurch noch gesteigert, dass jedes Individuum sich während seines selbstständigen Lebens seinen eigenthümlichen Existenzbedingungen unterwirft und anpasst. Alle verschiedenen Einzelwesen einer jeden Art, so ähnlich sie in ihren ersten Le- bensstadien auch sein mögen, werden im weiteren Verlaufe der Existenz einander mehr oder minder ungleich. In- geringeren oder bedeutenderen Eigenthümlichkeiten entfernen sie sich von einander, und das ist eine natürliche Folge der verschiedenen Bedingungen, unter denen alle Individuen leben. Es giebt nicht IKE: Allgemeine oder universelle Anpassung. 219 zwei einzelne Wesen irgend einer Art, die unter ganz gleichen äusseren Umständen ihr Leben vollbringen. Die Lebensbedin- gungen der Nahrung, der Feuchtigkeit, der Luft, des Lichtes, ferner die Lebensbedingungen der Gesellschaft, die Wechselbezie- hungen zu den umgebenden Individuen derselben Art und an- derer Arten, sind bei allen Einzelwesen verschieden; diese Ver- schiedenheit wirkt zunächst auf die Functionen, weiterhin auf die Formen jedes einzelnen Organismus umbildend ein. Wenn Geschwister einer menschlichen Familie schon von Anfang an gewisse individuelle Ungleichheiten zeigen, die wir als Folge der individuellen (indirecten) Anpassung betrachten kön- nen, so erscheinen uns dieselben noch weit mehr verschieden in späterer Lebenszeit, wo die einzelnen Geschwister verschiedene Erfahrungen durchgemacht, und sich verschiedenen Lebensverhält- nissen angepasst haben. Die ursprünglich angelegte Verschieden- heit des individuellen Entwickelungsganges wird offenbar um so grösser, je länger das Leben dauert, je mehr verschiedenartige äussere Bedingungen auf die einzelnen Individuen Einfluss erlan- gen. Das können Sie am einfachsten an den Menschen selbst, sowie an den Hausthieren und Cultur-Pflanzen nachweisen, bei denen Sie willkürlich die Lebensbedingungen modifieiren können. Zwei Brüder, von denen der eine zum Arbeiter, der andere zum Priester erzogen wird, entwickeln sich in körperlicher und gei- stiger Beziehung ganz verschieden; ebenso zwei Hunde eines und desselben Wurfes, von denen der eine zum Jagdhund, der andere zum Kettenhund erzogen wird. Dasselbe gilt aber auch von den organischen Individuen im Naturzustande. Wenn Sie z. B. in einem Kiefern- oder in einem Buchenwalde, der bloss aus Bäu- men einer einzigen Art besteht, sorgfältig alle Bäume mit ein- ander vergleichen, so finden Sie immer, dass von allen hundert oder tausend Bäumen nicht zwei Individuen in der Grösse des Stammes und der einzelnen Theile, in der Zahl der Zweige, Blät- ter, Früchte u. s. w. völlig übereinstimmen. Ueberall finden Sie individuelle Ungleichheiten, welche zum Theil wenigstens bloss die Folge der verschiedenen Lebensbedingungen sind, unter denen sich alle Bäume entwickelten. Freilich lässt sich niemals mit 220 Gehäufte oder cumulative Anpassung. Ru Bestimmtheit sagen, wie viel von dieser Ungleichheit aller Ein- zelwesen jeder Art ursprünglich (dureh die indireete individuelle Anpassung bedingt), wie viel davon erworben (durch die directe universelle Anpassung bewirkt) sein mag. i Nicht minder wichtig und allgemein als die universelle An- passung ist eine zweite Erscheinungsreihe der direeten Anpassung, welche wir das Gesetz der gehäuften oder cumulativen Anpassung nennen können. Unter diesem Namen fasse ich eine grosse Anzahl von sehr wichtigen Erscheinungen zusammen, die man gewöhnlich in zwei ganz verschiedene Gruppen bringt. Man unterscheidet in der Regel erstens solche Veränderungen der Organismen, welche unmittelbar durch den anhaltenden Ein- fluss äusserer Bedingungen (durch die dauernde Einwirkung der Nahrung, des Klimas, der Umgebung u. s. w.) erzeugt werden, und zweitens solche Veränderungen, welche mittelbar durch Gewohnheit und Uebung, durch Angewöhnung an bestimmte Le- bensbedingungen, durch Gebrauch oder Nichtgebrauch der Organe entstehen. Diese letzteren Einflüsse sind insbesondere von La- marck als wichtige Ursachen der Umbildung der organischen Formen hervorgehoben, während man die ersteren schon sehr lange in weiteren Kreisen als solche anerkannt hat. Die scharfe Unterscheidung, welche man zwischen diesen beiden Gruppen der gehäuften oder cumulativen Anpassung ge- wöhnlich macht, und welche auch Darwin noch sehr hervorhebt, verschwindet, sobald man eingehender und tiefer über das eigent- liche Wesen und den ursächlichen Grund der beiden scheinbar sehr verschiedenen Anpassungsreihen nachdenkt. Man gelangt dann zu der Ueberzeugung, dass man es in beiden Fällen immer mit zwei verschiedenen wirkenden Ursachen zu thun hat, nämlich einerseits mit der äusseren Einwirkung oder Action der an- passend wirkenden Lebensbedingung, und andrerseits mit der inneren Gegenwirkung oder Reaction des Organismus, wel- cher sich jener Lebensbedingung unterwirft und anpasst. Wenn man die gehäufte Anpassung in ersterer Hinsicht für sich be- trachtet, indem man die umbildenden Wirkungen der andauern- (len äusseren Existenzbedingungen auf diese letzteren allein be- 2.6 Einwirkung der Umgebung und Gegenwirkung des Organismus. 22] zieht, so legt man einseitig das Hauptgewicht auf die äussere Einwirkung, und man vernachlässigt die nothwendig eintretende innere Gegenwirkung des Organismus. Wenn man umgekehrt die gehäufte Anpassung einseitig in der zweiten Richtung ver- folgt, indem man die umbildende Selbstthätigkeit des Organis- mus, seine Gegenwirkung gegen den äusseren Einfluss, seine Ver- änderung durch Uebung, Gewohnheit, Gebrauch oder Nichtge- brauch der Organe hervorhebt, so vergisst man, dass diese Ge- genwirkung oder Reaction erst durch die Einwirkung der äusseren Existenzbedingung hervorgerufen wird. Es ist also nur ein Un- terschied der Betrachtungsweise, auf welchem die Unterscheidung jener beiden verschiedenen Gruppen beruht, und ich glaube, dass man sie mit vollem Rechte zusammenfassen kann. Das Wesent- lichste bei diesen gehäuften Anpassungs-Erscheinungen ist immer, dass die Veränderung des Organismus, welche zunächst in seiner Function und weiterhin in seiner Formbildung sich äussert, ent- weder durch lange andauernde oder durch oft wiederholte Ein- wirkungen einer äusseren Ursache veranlasst wird. Die kleinste Ursache kann durch Häufung oder Cumulation ihrer Wirkung die grössten Erfolge erzielen. Die Beispiele für diese Art der directen Anpassung sind unendlich zahlreich. Wo Sie nur hineingreifen in das Leben der Thiere und Pflanzen, finden Sie überall einleuchtende und über- zeugende Veränderungen dieser Art vor Augen. Wir wollen hier zunächst einige durch die Nahrung selbst unmittelbar bedingte Anpassungs-Erscheinungen hervorheben. Jeder von Ihnen weiss, dass man die Hausthiere, die man für gewisse Zwecke züchtet, verschieden umbilden kann durch die verschiedene Quantität und Qualität der Nahrung, welche man ihnen darreicht. Wenn der Landwirth bei der Schafzucht feine Wolle erzeugen will, so giebt er den Schafen anderes Futter, als wenn er gutes Fleisch oder reichliches Fett erzielen will. Die auserlesenen Rennpferde und Luxuspferde erhalten besseres Futter, als die schweren Lastpferde und Karrengaule. Die Körperform des Menschen selbst, der Grad der Fettablagerung z. B., ist ganz verschieden nach der Nahrung. Bei stickstoffreicher Kost wird wenig, bei stickstoffarmer Kost 222 Gehäufte oder cumulative Anpassung. x ad viel Fett abgelagert. Leute, die mit Hülfe der neuerdings belieb- ten Banting-Kur mager werden wollen, essen nur Fleisch und Eier, kein Brod, keine Kartoffeln. Welche bedeutenden Ver- änderungen man an Cultur-Pflanzen, lediglich durch verän- derte Quantität und Qualität der Nahrung hervorbringen kann, ist allbekannt. Dieselbe Pflanze erhält ein ganz anderes Aus- sehen, wenn man sie an einem trockenen, warmen Ort dem Son- nenlicht ausgesetzt hält, oder wenn man sie an einer kühlen, feuchten Stelle im Schatten hält. Viele Pflanzen bekommen, wenn man sie an den Meeresstrand versetzt, nach einiger Zeit dicke, fleischige Blätter; und dieselben Pflanzen, an ausnehmend trockene und heisse Standorte versetzt, bekommen dünne, be- haarte Blätter. Alle diese Formveränderungen entstehen unmit- telbar durch den gehäuften Einfluss der veränderten Nahrung. Aber nicht nur die Quantität und Qualität der Nahrungsmit- tel wirkt mächtig verändernd und umbildend auf den Organis- mus ein, sondern auch alle anderen äusseren Existenzbedingun- gen, vor Allen die nächste organische Umgebung, die Gesellschaft von freundlichen oder feindlichen Organismen. Ein und derselbe Baum entwickelt sich ganz anders an einem offenen Standort, wo er von allen Seiten frei steht, als im Walde, wo er sich den Umgebungen anpassen muss, wo er ringsum von den nächsten Nachbarn gedrängt und zum Emporschiessen gezwungen wird. Im ersten Fall wird die Krone weit ausgebreitet, im letzten dehnt sich der Stamm in die Höhe und die Krone bleibt klein und ge- drungen. Wie mächtig alle diese Umstände, wie mächtig der feindliche oder freundliche Einfluss der umgebenden Organismen, der Parasiten u. s. w. auf jedes Thier und jede Pflanze einwir- ken, ist so bekannt, dass eine Anführung weiterer Beispiele über- flüssig erscheint. Die Veränderung der Form, die Umbildung, welche dadurch bewirkt wird, ist niemals bloss die unmittelbare Folge des äusseren Einflusses, sondern muss immer zurückgeführt werden auf die entsprechende Gegenwirkung, auf die Selbstthätig- keit des Organismus, die man als Angewöhnung, Uebung, Ge- brauch oder Nichtgebrauch der Organe bezeichnet. Dass man diese letzteren Erscheinungen in der Regel getrennt von der | h Bi Das Dogma von der Freiheit des Willens. 223 ud ersteren betrachtet, liegt erstens an der schon hervorgehobenen einseitigen Betrachtungsweise, und dann zweitens daran, dass man sich eine ganz falsche Vorstellung von dem Wesen und dem Einfluss der Willensthätigkeit bei den Thieren gebildet hatte. Die Thätigkeit des Willens, welche der Angewöhnung, der Uebung, dem Gebrauch oder Nichtgebrauch der Organe bei den Thieren zu Grunde liegt, ist gleich jeder anderen Thätigkeit der thierischen Seele durch materielle Vorgänge im Central -Nerven- system bedingt, durch eigenthümliche Bewegungen, welche von der eiweissartigen Materie der Ganglien-Zellen und der mit ihnen verbundenen Nerven-Fasern ausgehen. Der Wille der höheren Thiere ist in dieser Beziehung, ebenso wie die übrigen Geistes- thätigkeiten, von demjenigen des Menschen nur quantitativ (nicht qualitativ) verschieden. Der Wille des Thieres, wie des Men- schen ist niemals frei. Das weitverbreitete Dogma von der Frei- heit des Willens ist naturwissenschaftlich durchaus nicht haltbar. Jeder Physiologe, der die Erscheinungen der Willensthätigkeit bei Menschen und Thieren naturwissenschaftlich untersucht, kommt mit Nothwendigkeit zu der Ueberzeugung, dass der Wille eigent- lich niemals frei, sondern stets durch äussere oder innere Einflüsse bedingt ist. Diese Einflüsse sind grösstentheils Vor- stellungen, die entweder durch Anpassung oder durch Vererbung erworben, und auf eine von diesen beiden physiologischen Func- tionen zurückführbar sind. Sobald man seine eigene Willensthä- tigkeit streng untersucht, ohne das herkömmliche Vorurtheil von der Freiheit des Willens, so wird man gewahr, dass jede schein- bar freie Willenshandlung durch vorhergehende Vorstellungen be- wirkt wird, die entweder in ererbten oder in anderweitig erworbenen Vorstellungen wurzeln, und in letzter Linie also wie- derum durch Anpassungs- oder Vererbungsgesetze bedingt sind. Dasselbe gilt von der Willensthätigkeit aller Thiere. Sobald man diese eingehend im Zusammenhang mit ihrer Lebensweise be- trachtet, und in ihrer Beziehung zu den Veränderungen, welche die Lebensweise durch die äusseren Bedingungen erfährt, so über- zeugt man sich alsbald, dass eine andere Auffassung nicht mög- lich ist. Daher müssen auch die Veränderungen der Willensbe- 294 Gehäufte oder cumulatiwe Anpassung. .% de wegung, welche aus veränderter Ernährung folgen, und welche als Uebung, Gewohnheit u. s. w. umbildend wirken, unter jene materiellen Vorgänge der gehäuften Anpassung gerechnet werden. Indem sich der thierische Wille den veränderten Existenz- Bedingungen durch andauernde Gewöhnung, Uebung u. s. w. an- passt, vermag er die bedeutendsten Umbildungen der organischen Formen zu bewirken. Mannichfaltige Beispiele hierfür sind überall im Thierleben zu finden. So verkümmern z. B. bei den Haus- thieren manche Organe, indem sie in Folge der veränderten Lebensweise ausser Thätigkeit treten. Die Enten und Hühner, welche im wilden Zustande ausgezeichnet fliegen, verlernen diese Bewegung mehr oder weniger im Cultur-Zustande. Sie gewöhnen sich daran, mehr ihre Beine, als ihre Flügel zu gebrauchen, und in Folge davon werden die dabei gebrauchten Theile der Musku- latur und des Skelets in ihrer Ausbildung und Form wesentlich verändert. Für die verschiedenen Rassen der Hausente. welche alle von der wilden Ente (Anas boschas) abstammen, hat dies Darwin durch eine sehr sorgfältige vergleichende Messung und Wägung der betreffenden Skelettheile nachgewiesen. Die Knochen dies Flügels sind bei der Hausente schwächer, die Knochen des Beines dagegen umgekehrt stärker entwickelt, als bei der wilden Ente. Bei den Straussen und anderen Laufvögeln, welche sich das Fliegen gänzlich abgewöhnt haben, ist in Folge dessen der Flügel ganz verkümmert, zu einem völlig „rudimentären Organ“ herabgesunken (S. 10). Bei vielen Hausthieren, insbesondere bei vielen Rassen von Hunden und Kaninchen, bemerken Sie ferner, dass dieselben durch den Cultur-Zustand herabhängende Ohren bekommen haben. Dies ist einfach eine Folge des verminderten Gebrauchs der Ohrmuskeln. Im wilden Zustande müssen diese Thiere ihre Ohren gehörig anstrengen, um einen nahenden Feind zu bemerken, und es hat sich dadurch ein starker Muskel-Apparat entwickelt, welcher die äusseren Ohren in aufrechter Stellung er- hält, und nach allen Richtungen dreht. Im Cultur-Zustande haben dieselben Thiere nicht mehr nöthig, so aufmerksam zu lauschen; sie spitzen und drehen die Ohren nur wenig; die Ohrmuskeln | X. Umbildung durch Gewohnheit, Uebung und Gebrauch der Organe. 225 kommen ausser Gebrauch, verkümmern allmählich, und die Ohren sinken nun schlaff herab oder werden rudimentär. Wie in diesen Fällen die Function und dadurch auch die Form des Organs durch Nichtgebrauch rückgebildet wird, so wird dieselbe andrerseits durch stärkeren Gebrauch mehr entwickelt. Dies tritt uns besonders deutlich entgegen, wenn wir das Gehirn und die dadurch bewirkten Seelen-Thätiekeiten bei den wilden Thieren und den Hausthieren, welche von ihnen abstammen, ver- gleichen. Insbesondere der Hund und das Pferd, welche in so erstaunlichem Maasse durch die Cultur veredelt sind, zeigen im Vergleiche mit ihren wilden Stamm-Verwandten einen ausseror- dentlichen Grad von Ausbildung der Geistes-Thätigkeit, und offen- bar ist die damit zusammenhängende Umbildung des Gehirns grösstentheils durch die andauernde Uebung bedingt. Allbekannt ist es ferner, wie schnell und mächtig die Muskeln durch anhal- tende Uebung wachsen und ihre Form verändern. Vergleichen Sie z. B. Arme und Beine eines geübten Turners mit denjenigen eines unbeweglichen Stubensitzers. Wie mächtig äussere Einflüsse die Gewohnheiten der Thiere, ihre Lebensweise beeinflussen und dadurch weiterhin auch ihre Form umbilden, zeigen sehr auffallend manche Beispiele von Am- phibien und Reptilien. Unsere häufigste einheimische Schlange, die Ringelnatter, legt Eier, welche zu ihrer Entwickelung noch drei Wochen brauchen. Wenn man sie aber in Gefangenschaft hält und in den Käfig keinen Sand streut, so lest sie die Eier nicht ab, sondern behält sie bei sich, so lange bis die Jungen entwickelt sind. Der Unterschied zwischen lebendig gebären- den Thieren und solchen, die Eier legen, scheinbar so wichtig, wird hier einfach durch die Veränderung des Bodens, auf welchem das Thier lebt, verwischt. Ausserordentlich interessant sind in dieser Beziehung auch die Wasser-Molche oder Tritonen, welche man gezwungen hat, ‚ihre ursprünglichen Kiemen beizubehalten. Die Tritonen, Am- phibien, welche den Fröschen nahe verwandt sind, besitzen gleich diesen in ihrer Jugend äussere Athmungs-Organe, Kiemen, mit welchen sie, im Wasser lebend, Wasser athmen. Später tritt bei Haeckel, Natürl. Schöpfungs-Gesch. 38. Aufl. 15 226 Gehäufte oder eumulative Anpassung. Re ul den Tritonen eine Metamorphose ein, wie bei den Fröschen. Sie gehen auf das Land, verlieren die Kiemen und gewöhnen sich an das Lungenathmen. Wenn man sie nun daran verhindert, indem man sie in einem geschlossenen Wasserbecken hält, so verlieren sie die Kiemen nicht. Diese bleiben vielmehr bestehen, und der Wasser-Molch verharrt zeitlebens auf jener niederen Ausbildungs- Stufe, welche seine tiefer stehenden Verwandten, die Kiemen- Molche oder Sozobranchien niemals überschreiten. Der Wasser- Molch erreicht seine volle Grösse, wird geschlechtsreif und pflanzt sich fort, ohne die Kiemen zu verlieren. Grosses Aufsehen erregte unter den Zoologen vor einigen Jahrzehnten der Axolotl (Siredon pisciformis), ein dem Triton nahe verwandter Kiemen-Molch aus Mexico, welchen man schon seit langer Zeit kennt und im Pariser Pflanzen-Garten im Grossen ge- züchtet hat. Dieses Thier hat auch äussere Kiemen, wie die jugend- liche Larve des Wasser-Molchs, behält aber dieselben gleich allen anderen Sozobranchien zeitlebens bei. Für gewöhnlich bleibt dieser Kiemen-Molch mit seinen Wasser- Athmungsorganen im Wasser und pflanzt sich hier auch fort. Nun krochen aber plötz- lich im Pflanzen-Garten unter Hunderten dieser Thiere eine ge- ringe Anzahl aus dem Wasser auf das Land, verloren ihre Kie- men und verwandelten sich in eine kiemenlose Molchform, welche von einer nordamerikanischen Tritonen -Gattung (Amblystoma) nicht mehr zu unterscheiden ist und nur noch durch Lungen athmet. In diesem letzten höchst merkwürdigen Falle können wir unmittelbar den grossen Sprung von einem wasserathmenden zu einem luftathmenden Thiere verfolgen, einen Sprung, der aller- dings bei der individuellen Entwickelungs-Geschichte der Frösche und Salamander in jedem Frühling beobachtet werden kann.. Ebenso aber, wie jeder einzelne Frosch und jeder einzelne Sala- mander aus dem ursprünglich kiemenathmenden Amphibium spä- terhin in ein lJungenathmendes sich verwandelt, so ist auch die ganze Gruppe der Frösche und Salamander ursprünglich aus kie- menathmenden, dem Siredon verwandten Thieren entstanden. Die Sozobranchien sind noch bis auf den heutigen Tag auf jener nie- drigen Stufe stehen geblieben. Die Ontogenie erläutert auch hier Dr Te IX, Functionelle Anpassung. 327 die Phylogenie, die Entwickelungs-Geschichte der Individuen die- jenige der ganzen Gruppe (S. 10). In unmittelbarem Anschluss an die Erscheinungen der ge- häuften oder eumulativen Anpassung, und theilweise unter dem- selben Begriff, stehen die wichtigen Veränderungen der Organi- sation, welche neuerdings als funetionelle Anpassungen von Wilhelm Roux sehr eingehend und klar erläutert worden sind. Seine Schrift über „den Kampf der Theile im Organismus“ (1851) ist eines der wichtigsten neueren Erzeugnisse der umfang- reichen Darwinistischen Literatur. Im Anschluss an Lamarck geht Roux von den morphologischen Wirkungen der physiolo- gischen Functionen oder Lebensthätigkeiten aus. Er weist nach, in wie hohem Maasse die Uebung der Organe dieselben stärkt, der Nichtgebrauch sie schwächt; erstere bewirkt Hypertrophie und Wachsthum der Organe, letzterer Atrophie und Verkümme- rung derselben. Mit Recht legt er grosses Gewicht auf die un- zweifelhafte Vererbung dieser erworbenen Veränderungen, und betont die differenzirende und gestaltende Wirkung der functio- nellen Reize. Besonders wichtig aber sind die Erörterungen über die tiefgehenden unmittelbaren Veränderungen, welche die ver- mehrte oder verminderte Uebung der Organe in den Geweben bewirkt, die sie zusammensetzen, und in den Zellen, welche die Gewebe aufbauen. Auf diese bedeutungsvollen Veränderungen hatte ich schon 1366 in meiner generellen Morphologie hingewie- sen, als ich alle Anpassungen auf die Ernährung, als phy- siologische Grundthätigkeit, zurückzuführen versuchte (Bd. II, S. 193). Roux führt dieselben weiter aus und erläutert einge- hend die trophische Wirkung der functionellen Reize für die activ und passiv wirkenden Theile. Er zeigt an der feineren Structur der Knochen und Muskeln, der Drüsen und Blutgefässe, wie deren höchst zweckmässige Einrichtung unmittelbar durch die trophische Einwirkung der functionellen Reize entstehen kann. Daraus ergiebt sich klar, wie die denkbar höchste Vollkommen- heit der Organisation unmittelbar durch die Lebensthätigkeit der Organismen selbst bewirkt werden kann, als eine teleologische Mechanik, welche keinen bewussten Zweck oder sogenannten 15° 328 Wechselbezügliche oder correlative Anpassung. x Bauplan voraussetzt. Zugleich zeigt sich aber auch, wie die neuen zweckmässigen Einrichtungen durch Vererbung direct über- tragen werden können, ohne dass dabei nothwendig Züchtung oder Selection stattfinden muss. \ In engem Zusammenhang mit den‘ beiden vorhergehenden Erscheinungsreihen, den cumulativen und funetionellen Anpassun- gen, steht das Gesetz der wechselbezüglichen oder corre- lativen Anpassung. Nach diesem wichtigen Gesetze werden durch die actuelle Anpassung nicht nur diejenigen Theile des Organismus abgeändert, welche unmittelbar durch die äussere Einwirkung betroffen werden, sondern auch andere, nicht unmit- telbar davon berührte Theile. Dies ist eine Folge des organi- schen Zusammenhanges, und namentlich der einheitlichen Ernäh- rungsverhältnisse, welche zwischen allen 'Theilen jedes Organis- mus bestehen. Wenn z. B. bei einer Pflanze durch Versetzung an einen trockenen Standort die Behaarung der Blätter zunimmt, so wirkt diese Veränderung auf die Ernährung anderer Theile zurück und kann eine Verkürzung der Stengelelieder und somit eine gedrungenere Form der ganzen Pflanze zur Folge haben. Bei einigen Rassen von Schweinen und Hunden, z. B. bei dem türkischen Hunde, welche durch Anpassung an ein wärmeres Klima ihre Behaarung mehr oder weniger verloren, wurde zu- gleich das Gebiss zurückgebildet. So zeigen auch die Walfische und die Edentaten (Schuppenthiere, Gürtelthiere etc.), welche sich durch ihre eigenthümliche Hautbedeckung am meisten von den übrigen Säugethieren entfernt haben, die grössten Abweichungen in der Bildung des Gebisses. Ferner bekommen solche Rassen von Hausthieren (z. B. Rindern, Schweinen), bei denen sich die Beine verkürzen, in der Regel auch einen kurzen und gedrun- genen Kopf. So zeichnen sich u. a. die Tauben-Rassen, welche die längsten Beine haben, zugleich auch durch die längsten Schnä- bel aus. Dieselbe Wechselbeziehung zwischen der Länge der Beine und des Schnabels zeigt sich ganz allgemein in der Ord- nung der Stelzvögel (Grallatores), beim Storch, Kranich, der Schnepfe u. s. w. Die Wechselbeziehungen, welche in dieser Weise zwischen verschiedenen Theilen des Organismus bestehen, ie un ee ee ee u a nn 8 Wechselbeziehungen der Körpertheile. 229 sind äusserst merkwürdig, und im Einzelnen ihrer Ursache nach uns unbekannt. Im Allgemeinen können wir natürlich sagen: die Ernährungs-Veränderungen, die einen einzelnen Theil betref- fen, müssen nothwendig auf die übrigen Theile zurückwirken, weil die Ernährung eines jeden Organismus eine zusammenhän- sende, centralisirte Thätigkeit ist. Allein warum nun gerade dieser oder jener Theil in solcher merkwürdigen Wechselbeziehung zu einem andern steht, ist uns in den meisten Fällen unbekannt. Wir kennen eine grosse Anzahl solcher Wechselbeziehungen in der Bildung, namentlich bei den früher bereits erwähnten Abänderungen der Thiere und Pflanzen, die sich durch Pigment- mangel auszeichnen, den Albinos oder Kakerlaken. Der Mangel des gewöhnlichen Farbstoffs bedingt hier gewisse Veränderungen in der Bildung anderer Theile, z. B. des Muskelsystems, des Knochensystems, also organischer Systeme, die zunächst gar nicht mit dem Systeme der äusseren Haut zusammenhängen. Sehr häufig sind diese schwächer entwickelt und daher der ganze Kör- perbau zarter und schwächer, als bei den gefärbten Thieren der- selben Art. Ebenso werden auch die Sinnes-Organe und das Nerven- system durch diesen Pigmentmangel eigenthümlich afficirt. Weisse Katzen mit blauen Augen sind fast immer taub. Die Schimmel zeichnen sich vor den gefärbten Pferden durch die besondere Nei- gung zur Bildung sarcomatöser Geschwülste aus. Auch beim Menschen ist der Grad der Pigmententwickelung in der äusseren Haut vom grössten Einflusse auf die Empfänglichkeit des Orga- nismus für gewisse Krankheiten, so dass z. B. Europäer mit dunkler Hautfarbe, schwarzen Haaren und braunen Augen sich leichter in den Tropen-Gegenden acclimatisiren und viel weniger den dort herrschenden Krankheiten (Leber-Entzündungen, gel- bem Fieber u. s. w.) unterworfen sind, als Europäer mit hel- ler Hautfarbe, blonden Haaren und blauen Augen. (Vergl. oben Miells,, Ss. 151) Vorzugsweise merkwürdig sind unter diesen Wechselbezie- hungen der Bildung verschiedener Organe diejenigen, welche zwischen den Geschlechts-Organen und den übrigen Theilen des Körpers bestehen. Keine Veränderung eines Theiles wirkt so 230 Wechselbeziehungen der Geschlechts-Organe und des Körpers. X, mächtig zurück auf die übrigen Körpertheile, als eine bestimmte Behandlung der Geschlechts-Organe. Die Landwirthe, welche bei Schweinen, Schafen u. s. w. reichliche Fettbildung erzielen wol- len, entfernen die Geschlechts-Organe durch Herausschneiden (Ca- stration), und zwar geschieht dies bei Thieren beiderlei Ge- schlechts. In Folge davon tritt übermässige Fett-Entwickelung ein. Dasselbe thut auch seine Heiligkeit, der „unfehlbare“ Papst, bei den Castraten, welche in der Peterskirche zu Ehren Gottes singen müssen. Diese Unglücklichen werden in früher Jugend castrirt, damit sie ihre hohen Knabenstimmen beibehalten. In Folge dieser Verstümmelung der Genitalien bleibt der Kehlkopf auf der jugendlichen Entwickelungsstufe stehen. Zugleich bleibt die Muskulatur des ganzen Körpers schwach entwickelt, während sich unter der Haut reichliche Fettmengen ansammeln. Aber auch auf die Ausbildung des Central-Nervensystems, der Willens- Energie u. s. w. wirkt jene Verstümmelung mächtig zurück; und es ist bekannt, dass die menschlichen Castraten oder Eunuchen ebenso wie die castrirten männlichen Hausthiere des bestimmten psychischen Charakters, welcher das männliche Geschlecht aus- zeichnet, gänzlich entbehren. Der Mann ist eben Leib und Seele nach nur Mann durch seine männliche Generations-Drüse. Diese äusserst wichtigen und einflussreichen Wechselbezie- hungen zwischen den Geschlechts - Organen und den übrigen Körpertheilen, vor allem dem Gehirn, finden sich in gleicher Weise bei beiden Geschlechtern. Das lässt sich schon von vorn- herein deshalb erwarten, weil bei den meisten Thieren die bei- derlei Organe aus gleicher Grundlage sich entwickeln. Beim Menschen, wie bei allen übrigen Wirbelthieren, ist die ursprüng- liche Anlage der Geschlechts-Drüse oder Gonade dieselbe. An einer und derselben Stelle der Leibeshöhle entstehen aus ihrem Epithel die Zellen, aus deren wiederholter Theilung später beim Weibchen die Eizellen, beim Männchen die Samenzellen hervor- gehen. In jungen Embryonen (— wie sie z. B. auf Taf. II, III, abgebildet sind —) lässt sich das Geschlecht nicht unterscheiden. Erst allmählich entstehen im Laufe der embryonalen Entwicke- lung (beim Menschen in der neunten „Woche seines Embryo- en ee Se Me eier X. Wechselbezügliche oder correlative Anpassung. 231” Lebens) die Unterschiede der beiden Geschlechter, indem die Go- nade sich beim Weibe zum Eierstock, beim Manne zur Samen- drüse entwickelt. Jede Veränderung des weiblichen Eierstocks äussert eine nicht minder bedeutende Rückwirkung auf den ge- sammten weiblichen Organismus, wie jede Veränderung des Testi- kels auf den männlichen Organismus. Die Wichtigkeit dieser Wechselbeziehung hat Virchow in seinem vortrefflichen Aufsatz „das Weib und die Zelle“ mit folgenden Worten ausgesprochen: „Das Weib ist eben Weib nur durch seine Generations-Drüse; ‚alle Eigenthümlichkeiten seines Körpers und Geistes oder seiner Ernährung und Nerventhätigkeit: die süsse Zartheit und Run- dung der Glieder bei der eigenthümlichen Ausbildung des Beckens, die Entwickelung der Brüste bei dem Stehenbleiben der Stimm- Organe, jener schöne Schmuck des Kopfhaares bei dem kaum merklichen, weichen Flaum der übrigen Haut, und dann wie- derum diese Tiefe des Gefühls, diese Wahrheit der unmittelbaren Anschauung, diese Sanftmuth, Hingebung und Treue — kurz, Alles, was wir an dem wahren Weibe Weibliches bewundern und verehren, ist nur eine Dependenz des Eierstocks. Man nehme den Eierstock hinweg, und das Mannweib in seiner hässlichsten Halbheit steht vor uns.“ Dieselbe innige Correlation oder Wechselbeziehung zwischen den Geschlechts-Organen und den übrigen Körpertheilen findet sich auch bei den Pflanzen eben so allgemein wie bei den Thieren vor. Wenn man bei einer Gartenpflanze reichlichere Früchte zu erzielen wünscht, beschränkt man den Blätterwuchs durch Ab- schneiden eines Theils der Blätter. Wünscht man umgekehrt eine Zierpflanze mit einer Fülle von grossen und schönen Blättern zu erhalten, so verhindert man die Blüthen- und Frucht-Bildung durch Abschneiden der Blüthen-Knospen. In beiden Fällen ent- wickelt sich das eine Organ-System auf Kosten des anderen. So ziehen auch die meisten Abänderungen der vegetativen Blattbil- dung bei den wilden Pflanzen eine entsprechende Umbildung in den generativen Blüthentheilen nach sich. Die hohe Bedeutung dieser „Compensation der Entwickelung“, dieser „Correlation der Theile“ ist bereits von Goethe, von Geoffroy 8. Hilaire und 232 Erklärung der indirecten oder potentiellen Anpassung. x von anderen Natur-Philosophen hervorgehoben worden. Sie beruht wesentlich darauf, dass die directe oder actuelle Anpassung keinen einzigen Körpertheil wesentlich verändern kann, ohne zugleich auf den ganzen Organismus einzuwirken. Die correlative Anpassung der Fortpflanzungs-Organe und der übrigen Körpertheile verdient deshalb eine ganz besondere Berück- sichtigung, weil sie vor Allem geeignet ist, ein erklärendes Licht auf die vorher betrachteten dunkeln und räthselhaften Erschei- nungen der indireeten oder potentiellen Anpassung zu werfen. Denn ebenso wie jede Veränderung der Geschlechts-Organe mächtig auf den übrigen Körper zurückwirkt, so muss natürlich umgekehrt auch jede eingreifende Veränderung eines anderen Körpertheils mehr oder weniger auf die Generations-Örgane zurückwirken. Diese Rückwirkung wird sich aber erst in der Bildung der Nach- kommenschaft, welche aus den veränderten (Generationstheilen entsteht, wahrnehmbar äussern. Gerade jene merkwürdigen, aber unmerklichen und an sich ungeheuer geringfügigen Veränderungen des Genitalsystems, der Eier und des Sperma, welche durch solche Wechselbeziehungen hervorgebracht werden, sind vom grössten Einflusse auf die Bildung der Nachkommenschaft, und alle vorher erwähnten Erscheinungen der indireeten oder potentiellen An- passung können schliesslich auf diese wechselbezügliche Anpassung zurückgeführt werden. Eine weitere Reihe von ausgezeichneten Beispielen der corre- lativen Anpassung liefern die verschiedenen Thiere und Pflanzen, welche durch das Schmarotzerleben oder den Parasitismus rück- gebildet sind. Keine andere Veränderung der Lebensweise wirkt so bedeutend auf die Formbildung der Organismen ein, wie die Angewöhnung an das Schmarotzerleben. Pflanzen verlieren da- durch ihre grünen Blätter, wie z. B. unsere einheimischen Schma- rotzerpflanzen: Orobanche, Lathraea, Monotropa. Thiere, welche ursprünglich selbstständig und frei gelebt haben, dann aber eine parasitische Lebensweise auf andern Thieren oder auf Pflanzen annehmen, geben zunächst die Thätigkeit ihrer Bewegungs-Organe und ihrer Sinnes-OÖrgane auf. Der Verlust der Thätigkeit zieht aber den Verlust der Organe, durch welche sie bewirkt wurde, “ 9° EEE RE W276 VRR 1 ii ee ee se ee eier ei ee x Mimetische Anpassung. 235 nach sich, und so finden wir z. B. viele Krebsthiere oder Crusta- ceen, die in der Jugend einen ziemlich hohen Organisationsgrad, Beine, Fühlhörner und Augen besassen, im Alter als Parasiten vollkommen degenerirt wieder, ohne Augen, ohne Bewegungs- Werkzeuge und ohne Fühlhörner. Aus der munteren, beweglichen Jugendform ist ein unförmlicher, unbeweglicher Klumpen gewor- den. Nur die nöthigsten Ernährungs- und Fortpflanzungs-Organe sind noch in Thätigkeit. Der ganze übrige Körper ist rückge- bildet. Offenbar sind diese tiefgreifenden Umbildungen grossen- theils directe Folgen der functionellen oder cumulativen Anpassung, des Nichtgebrauchs und der mangelnden Uebung der Organe; aber zum anderen Theile kommen dieselben sicher auch auf Rechnung der wechselbezüglichen oder correlativen Anpassung. (Vergl. Taf. X BEL RI) A EZ Eine besonders interessante Reihe von Veränderungen, welche vielfach mit den vorhergehenden Gesetzen der direeten Anpassung verknüpft sind, bildet die mimetische Anpassung, oder die nachäffende Variation, die gewöhnlich sogenannte „Mimiery“ oder Nachäffung. Sie findet sich unter den Landthieren na- mentlich bei den Insecten, unter den Wasserthieren bei den Krebsen. In diesen beiden Thierklassen giebt es zahlreiche Arten, welche anderen, ganz verschiedenen Ordnungen oder Fa- milien angehörigen Arten zum Verwechseln ähnlich sind. Beson- ders dienen als Vorbilder der Nachäffung solche Insecten (z. B. Schmetterlinge oder deren Raupen), welche wegen auffallend übler Eigenschaften von anderen Insecten gemieden oder gefürchtet werden, z. B. wegen unschmackhaften Fleisches, üblen Geruches, Bewaffnung mit Stacheln, Dornen u. dgl. mehr. Schmetterlinge und Raupen von mehreren ganz verschiedenen Familien haben so durch mimetische Anpassung dieselbe Form, Färbung und Zeichnung erworben, wie diejenigen anderer Familien, welche wegen ihres Geruches oder Geschmackes, wegen ihrer abschrecken- den Gestalt oder Bewaffnung gemieden werden. Besonders ge- fürchtet sind unter den Insecten allgemein die Bienen und Wespen wegen ihres Giftstachels. Daher giebt es Insecten von nicht weniger als fünf oder sechs ganz verschiedenen Ordnungen, welche 234 Abweichende oder divergente Abweichung. D. allmählich durch natürliche Züchtung den Wespen zum Ver- wechseln ähnlich geworden sind: Schmetterlinge (Sesia), Borken- käfer (Odontocera), ferner zahlreiche Dipteren (Fliegen und Mücken), verschiedene Heuschrecken (Orthopteren), Halbflügler (Hemipteren) und Andere. Die abschreckende Aehnlichkeit mit Wespen ist allen diesen verschiedenen Insecten von grösstem Nutzen, weil sie sie vor ihren zahlreichen Feinden und Verfolgern schützt. So sind auch zahlreiche unschuldige Schlangen allmäh- lich gewissen Giftschlangen höchst ähnlich geworden und haben deren Form, Färbung und Zeichnung nachgeahmt; so z. B. unsere harmlose Bergnatter (Coronella laevis) die der giftigen Kreuzotter (Vipera berus). Da schützende Aehnlichkeit auch in vielen anderen Fällen (z. B. bei der gleichfarbigen Zuchtwahl) die Ur- sache auffallender Umbildungen ist, so kann auch bei dieser mi- metische Anpassung in weiterem Sinne angenommen werden. Zu den direeten Anpassungen gehört auch das Gesetz der abweichenden oder divergenten Anpassung. Wir verstehen darunter die Erscheinung, dass ursprünglich gleichartig angelegte Theile sich durch den Einfluss äusserer Bedingungen in verschie- dener Weise ausbilden. Dieses Anpassungs-Gesetz ist ungemein wichtig für die Erklärung der Arbeitstheilung oder des Polymor- phismus. An uns selbst können wir es sehr leicht erkennen, z. B. in der Thätigkeit unserer beiden Hände. Die rechte Hand wird meistens von uns an ganz andere Arbeiten gewöhnt, als die linke; es entsteht in Folge der abweichenden Beschäftigung auch eine verschiedene Bildung der beiden Hände. Die rechte Hand, welche man gewöhnlich viel mehr braucht, als die linke, zeigt stärker entwickelte Nerven, Muskeln und Knochen. Dasselbe gilt auch vom ganzen Arm. Knochen und Fleisch des rechten Arms sind bei den meisten Menschen in Folge stärkeren Gebrauchs stärker und schwerer als die des linken Arms. Da nun aber der bevorzugte (Grebrauch des rechten Arms bei unserer mittel- ländischen Menschen-Rasse schon seit Jahrtausenden eingebürgert und vererbt ist, so ist auch die stärkere Form und Grösse des rechten Arms bereits erblich geworden. Der holländische Natur- forscher P. Harting hat durch Messung und Wägung an Neu- u u a nl u a El m lm U LLLLLLÖLUULUUUU LU UUUUUUU nn... >.4 Unbeschränkte oder unendliche Anpassung. 235 geborenen gezeigt, dass auch bei diesen bereits der rechte Arm den linken übertrifft. Nach demselben Gesetze der divergenten Anpassung sind auch häufig die beiden Augen verschieden entwickelt. Wenn man sich z. B. als Naturforscher gewöhnt, immer nur mit dem einen Auge (am besten mit dem linken) zu mikroskopiren, und mit dem andern nicht, so erlangt das eine Auge eine ganz andere Be- schaffenheit, als das andere, und diese Arbeitstheilung ist von grossem Vortheil. Das eine Auge wird kurzsichtiger, geeignet für das Sehen in die Nähe, das andere Auge weitsichtiger, schärfer für. den Blick in die Ferne. Wenn man dagegen abwechselnd mit beiden Augen mikroskopirt, so erlangt man nicht auf dem einen Auge den Grad der Kurzsichtigkeit, auf dem andern den Grad der Weitsichtigkeit, welchen man durch zweckmässige Ver- theilung dieser verschiedenen Gesichts-Functionen auf beide Augen erreicht. Zunächst wird auch hier wieder durch die Gewohnheit die Function, die Thätigkeit der ursprünglich gleich gebildeten Organe ungleich, divergent; allein die Function wirkt wiederum auf die Form und die innere Structur des Organs zurück. Unter den Pflanzen können wir die abweichende oder diver- gente Anpassung besonders bei den Schlinggewächsen sehr leicht wahrnehmen. Aeste einer und derselben Schlingpflanze, welche ursprünglich gleichartig angelegt sind, erhalten eine ganz ver- schiedene Form und Ausdehnung, einen ganz verschiedenen Krüm- mungsgrad und Durchmesser der Spiralwindung, je nachdem sie um einen dünneren oder dickeren Stab sich herumwinden. Ebenso ist auch die abweichende Veränderung der Formen ursprünglich gleich angelegter Theile, welche divergent nach verschiedenen Richtungen unter abweichenden äusseren Bedingungen sich ent- wickeln, in vielen anderen Fällen deutlich nachweisbar. Indem diese abweichende Anpassung mit der fortschreitenden Vererbung in Wechselwirkung tritt, wird sie die Ursache der Arbeitstheilung und Formspaltung der verschiedenen Organe. Ein achtes und letztes Anpassungs-Gesetz können wir als das Gesetz der unbeschränkten oder unendlichen Anpassung bezeichnen. Wir wollen damit einfach ausdrücken, dass uns keine 236 Unbeschränkte oder unendliche Anpassung. . Grenze für die Veränderung der organischen Formen durch den Einfluss der äusseren Existenz-Bedingungen bekannt ist. Wir können von keinem einzigen Theil des Organismus behaupten, dass er nicht mehr veränderlich sei, dass, wenn man ihn unter neue äussere Bedingungen brächte, er durch diese nicht verändert werden würde. Noch niemals hat sich in der Erfahrung eine Grenze für die Abänderung nachweisen lassen. Wenn z.B. ein Organ durch Nichtgebrauch degenerirt, so geht diese Degeneration schliesslich bis zum vollständigen Schwunde des Organs fort, wie es bei den Augen vieler Thiere der Fall ist. Andrerseits können wir durch fortwährende Uebung, Gewohnheit und immer gestei- gerten Gebrauch eines Organs dasselbe in einem Maasse vervoll- kommnen, wie wir es von vornherein für unmöglich gehalten haben würden. Wenn man die uncivilisirten Wilden . mit den Cultur-Völkern vergleicht, so findet man bei jenen eine Ausbildung der Sinnes-Organe, Gesicht, Geruch, Gehör, von der die Cultur- Völker keine Ahnung haben. Umgekehrt ist bei den höheren Cultur-Völkern das Gehirn, die Geistesthätigkeit in einem Grade entwickelt, von welchem die Wilden keine Vorstellung besitzen. Allerdings scheint für jeden Organismus eine Grenze der An- passungs-Fähigkeit durch den Typus seines Stammes oder Phylum gegeben zu sein, d. h. durch die wesentlichen Grund-Eigenschaften dieses Stammes, welche von dem gemeinsamen Stammvater des- selben ererbt sind und sich durch conservative Vererbung auf alle Descendenten desselben übertragen. So kann z. B. niemals ein Wirbelthier statt des charakteristischen Rückenmarks der Wirbel- thiere das Bauchmark der Gliederthiere sich erwerben. Allein innerhalb der erblichen Grundform, innerhalb dieses unveräusser- lichen Typus, ist der Grad der Anpassungs-Fähigkeit unbeschränkt. Die Biegsamkeit und Flüssigkeit der organischen Form äussert sich innerhalb desselben frei nach allen Richtungen hin, und in ganz unbeschränktem Umfang. Es giebt aber einzelne Thiere, wie z.B. die durch Parasitismus rückgebildeten Krebsthiere und Würmer, welche selbst jene Grenze des Typus zu überspringen scheinen, und durch erstaunlich weit gehende Degeneration alle wesentlichen Charaktere ihres Stammes eingebüsst haben. na Grenzen des Naturerkennens. 23 Die Anpassungs-Fähigkeit des Menschen selbst besteht, wie bei allen anderen Thieren, ebenfalls unbegrenzt, und da sich dieselbe beim Menschen vor Allem in der Umbildung des Gehirns äussert, so lässt sich durchaus keine Grenze der Erkenntniss setzen, welche der Mensch bei weiter fortschreitender Geistesbildung nicht würde überschreiten können. Auch der menschliche Geist geniesst also nach dem Gesetze der unbeschränkten Anpassung eine un- endliche Perspective für seine Vervollkommnung in der Zukunft. Aus dieser Erwägung ergiebt sich die Grundlosigkeit des be- kannten „Ignorabimus“, welches der Berliner Physiologe Du Bois-Reymond 1873 in seiner berühmten Rede „über die ‘ dem Fortschritte der Wissenschaft Grenzen des Naturerkennens‘ unberechtigter Weise entgegen gehalten hat. Ich habe gegen dieses berüchtigte „Ignorabimus“, das der klerikale Obscurantismus zu seinem Losungswort erhoben hat, schon im Vorworte zu meiner Anthropogente (1574) Protest eingelest°“), und nicht minder in meiner Schrift über „Freie Wissenschaft und freie Lehre“ °'). Diese Bemerkungen genügen wohl, um die Tragweite der Anpassungs-Erscheinungen hervorzuheben und ihnen das grösste Gewicht zuzuschreiben. Die Anpassungs-Gesetze sind von ebenso srosser Bedeutung, wie die Vererbungs-Gesetze. Alle Anpassungs- Erscheinungen lassen sich in letzter Linie zurückführen auf die Ernährungs-Verhältnisse des Organismus, in gleicher Weise wie die Vererbungs-Erscheinungen in den Fortpflanzungs-Verhältnissen begründet sind; diese aber sowohl als jene sind weiter zurück- zuführen auf chemische und physikalische Gründe, also auf mecha- nische Ursachen. Lediglich durch die Wechselwirkung derselben entstehen nach Darwin’s Selections- Theorie die Umbildungen der Organismen, welche die künstliche Züchtung im Cultur-Zu- stande, die natürliche Züchtung im Natur-Zustande hervorbringt. Elfter Vortrag. Die natürliche Züchtung durch den Kampf um’s Dasein. Cellular-Seleetion und Personal-Selection. Wechselwirkung der beiden organischen Bildungstriebe, der Vererbung und Anpassung. Natürliche und künstliche Züchtung. Kampf um’s Dasein oder Wettkampf um die Lebensbedürfnisse. Missverhältniss zwischen der Zahl der möglichen (potentiellen) und der Zahl der wirklichen (actuellen) Individuen. Verwickelte Wechselbeziehungen aller benachbarten Organismen. Wirkungsweise der natürlichen Züchtung. Gleichfarbige Zuchtwahl als Ur- Eu a ra tn sache der sympathischen Färbungen. Geschlechtliche Zuchtwahl als Ursache der seeundären Sexual-Charaktere. Der Kampf der Theile im Organismus (nach Roux). Functionelle Selbstgestaltung der zweckmässigen Struetur. Teleologische Mechanik. Cellular-Seleetion (Protisten) und Personal-Selection (Histonen). Zuchtwahl der Zellen und der Gewebe. Das Selections-Prineip bei Empedoeles. Mechanische Entstehung des Zweckmässigen aus dem Un- zweckmässigen. Philosophische Tragweite des Darwinismus. Meine Herren! Um zu einem richtigen Verständniss des Darwinismus zu gelangen, ist es vor Allem nothwendig, die beiden organischen Functionen genau in das Auge zu fassen, die wir in den letzten Vorträgen betrachtet haben, die Vererbung und Anpassung. Wenn man nicht einerseits die rein mecha- nische Natur dieser beiden physiologischen Thätigkeiten und die 2 mannichfaltige Wirkung ihrer verschiedenen (resetze in’s Auge fasst, | und wenn man nicht andrerseits erwägt, wie verwickelt die Wechsel- | wirkung dieser verschiedenen Vererbungs- und Anpassungs-Gesetze nothwendig sein muss, so wird man nicht begreifen, dass diese | beiden Functionen für sich allein die ganze Mannichfaltigkeit der Thier- und Pflanzen-Formen sollen erzeugt haben; und doch ist das in der That der Fall. Wir sind wenigstens bis jetzt nicht XI. Die beiden organischen Bildungskräfte Vererbung und Anpassung. 239 im Stande gewesen, andere formbildende Ursachen aufzufinden, als diese beiden: und wenn wir die nothwendige und unendlich verwickelte Wechselwirkung der Vererbung und Anpassung richtig verstehen, so haben wir auch gar nicht mehr nöthig, noch nach anderen unbekannten Ursachen der Umbildung der organischen Gestalten zu suchen. Jene beiden Grundursachen erscheinen uns dann völlig genügend. Schon früher, lange bevor Darwin seine Selections-Theorie aufstellte, nahmen einige Naturforscher, insbesondere Goethe, als Ursache der organischen Formen-Mannichfaltigkeit die Wechsel- wirkung zweier verschiedener Bildungstriebe an, eines conserva- tiven oder erhaltenden, und eines umbildenden oder fortschreiten- den Bildungstriebes. Ersteren nannte Goethe den centripetalen oder Speeifications-Trieb, letzteren den centrifugalen oder den Trieb der Metamorphose (8. S1). Diese beiden Triebe entsprechen vollständig den beiden Functionen der Vererbung und der An- passung. Die Vererbung ist die centripetale oder innere Bildungskraft; durch sie werden die organischen Formen in ihrer Art erhalten, die Nachkommen den Eltern gleich gestaltet, und Generationen hindurch immer Gleichartiges erzeugt. Die Anpassung dagegen, welche der Vererbung entgegenwirkt, ist die centrifugale oder äussere Bildungskraft; durch die veränderlichen Einflüsse der Aussenwelt werden die organischen Formen umgebildet, neue Formen aus den vorhandenen geschaffen, und die Constanz der Species, die Beständigkeit der Art, schliess- lich aufgehoben. Je nachdem die Vererbung oder die Anpassung das Uebergewicht erhält, bleibt die Species-Form beständig oder sie bildet sich in eine neue Art um. Der in jedem Augen- blick stattfindende Grad der Formbeständigkeit bei den verschiedenen Thier- und Pflanzen-Arten ist einfach das nothwendige Resultat des augenblicklichen Ueber- gewichts, welches die eine dieser beiden Bildungskräfte oder physiologischen Functionen über die andere er- langt hat. Wenn wir nun zurückkehren zu der Betrachtung des Züch- tungs-Vorganges, der Auslese oder Selection, die wir bereits im 240 Künstliche und natürliche Züchtung. XI siebenten Vortrag in ihren Grundzügen untersuchten, so werden wir jetzt um so klarer und bestimmter erkennen, dass sowohl die künstliche als die natürliche Züchtung einzig und allein auf der Wechselwirkung dieser beiden formbildenden Kräfte oder Funetionen beruhen. Wenn Sie die Thätigkeit des künstlichen Züchters, des Landwirths oder Gärtners, scharf in’s Auge fassen, so erkennen Sie, dass nur jene beiden Bildungskräfte von ihm zur Hervorbringung neuer Formen benutzt werden. Die ganze Wirkung der künstlichen Zuchtwahl beruht eben nur auf einer denkenden und vernünftigen Anwendung der Vererbungs- und Anpassungs-Gesetze, auf einer kunstvollen und planmässigen Be- nutzung und Regulirung derselben. Dabei ist der vervollkomm- nete menschliche Wille die auslesende, züchtende Kraft. Ganz ähnlich verhält sich die natürliche Züchtung. Auch diese benutzt bloss jene beiden organischen Bildungskräfte, die physiologischen Funetionen der Anpassung und Vererbung, um die verschiedenen Arten oder Species hervorzubringen. Dasjenige züchtende Princip aber, diejenige auslesende Kraft, welche bei der künstlichen Züchtung durch den planmässig wirkenden und bewussten Willen des Menschen vertreten wird, ist bei der natürlichen Züchtung der planlos wirkende und unbewusste Kampf um’s Dasein. Was wir unter „Kampf um’s Dasein“ verstehen, haben wir im siebenten Vortrage bereits auseinander- gesetzt. Gerade die Erkenntniss seiner Bedeutung ist eines der grössten Verdienste Darwin’s. Da aber dieses Verhältniss sehr häufig unvollkommen oder falsch verstanden wird, ist es noth- wendig, dasselbe jetzt noch näher in’s Auge zu fassen, und an einigen Beispielen die Wirksamkeit des Kampfes um’s Dasein und seinen Antheil an der natürlichen Züchtung zu erläutern. Wir gingen bei der Betrachtung des Kampfes um’s Dasein von der Thatsache aus, dass die Zahl der Keime, welche alle Thiere und Pflanzen erzeugen, unendlich viel grösser ist, als die Zahl der Individuen, welche wirklich in das Leben treten und sich längere oder kürzere Zeit am Leben erhalten können. Die meisten Organismen erzeugen während ihres Lebens Tausende oder Millio- nen von Keimen, aus deren jedem sich unter günstigen Umstän- aM. Kampf um’s Dasein. 241 den ein neues Individuum entwickeln könnte. Bei den meisten Thieren und Pflanzen sind diese Keime echte Eier, d.h. Zellen, welche zu ihrer weiteren Entwicklung der geschlechtlichen Befruchtung bedürfen. Dagegen pflanzen sich viele Protisten, viele von jenen einzelligen niedersten Organismen, welche weder echte Thiere noch Pflanzen sind, bloss ungeschlechtlich fort; ihre Keimzellen oder Sporen bedürfen keiner Befruchtung. In allen Fällen steht die Zahl sowohl dieser ungeschlechtlichen als jener geschlecht- lichen Keime in gar keinem Verhältniss zu der relativ geringen Zahl der wirklich lebenden Individuen. Im Grossen und Ganzen genommen bleibt die Zahl der lebenden Thiere und Pflanzen auf unserer Erde durchschnittlich fast dieselbe. Die Zahl der Stellen im Naturhaushalt ist beschränkt, und an den meisten Punkten der Erdoberfläche sind diese Stellen immer annähernd besetzt. Gewiss finden überall in jedem Jahre Schwankungen in der absoluten und in der relativen Individuen- zahl aller Arten statt. Allein im Grossen und Ganzen genommen werden diese Schwankungen nur geringe Bedeutung haben gegenüber der Thatsache, dass die Gesammtzahl aller Individuen durch- schnittlich beinahe constant bleibt. Der Wechsel, der überall stattfindet, besteht darin, dass in einem Jahre diese und im an- deren Jahre jene Reihe von Thieren und Pflanzen überwiegt, und dass in jedem Jahre der Kampf um’s Dasein dieses Verhält- niss wieder etwas anders gestaltet. Jede einzelne Art von Thieren und Pflanzen würde in kurzer Zeit die ganze Erdoberfläche dicht bevölkert haben, wenn sie nicht mit einer Menge von Feinden und feindlichen Einflüssen zu kämpfen hätte. Schon Linne berechnete, dass, wenn eine einjährige Pflanze nur zwei Samen hervorbrächte (und es giebt keine, die so wenig erzeugt), sie in 20 Jahren schon eine Million Individuen geliefert haben würde. Darwin berechnete vom Ele- phanten, der sich am langsamsten von allen Thieren zu ver- mehren scheint, dass in 500 Jahren die Nachkommenschaft eines einzigen Paares bereits 15 Millionen Individuen betragen würde, vorausgesetzt, dass jeder Elephant während der Zeit seiner Frucht- barkeit (vom 30. bis 90. Jahre) nur drei Paar Junge erzeugte. Haeckel, Natürl. Schöpfungs-Gesch. 8. Aufl. 16 242 Zahlenverhältniss der möglichen und wirklichen Individuen. XT. Ebenso würde die Zahl der Menschen, wenn man die mittlere Fortpflanzungs-Zahl zu Grunde legt, und wenn keine Hindernisse der natürlichen Vermehrung im Wege stünden, bereits in 25 Jahren sich verdoppelt haben. In jedem Jahrhundert würde die Gesammt- zahl der menschlichen Bevölkerung um das sechszehnfache ge- stiegen sein. Nun wächst aber bekanntlich die Gesammtzahl der Menschen nur sehr langsam und die Zunahme der Bevölkerung ist in verschiedenen Gegenden verschieden. Während europäische Stämme sich über den ganzen Erdball ausbreiten, gehen andere Stämme zu Grunde; ja sogar ganze Arten oder Species des Menschengeschlechts gehen mit jedem Jahre mehr ihrem völligen Aussterben entgegen. Dies gilt namentlich von den Rothhäuten Amerikas und ebenso von den schwarzbraunen Eingeborenen Australiens. Selbst wenn diese Völker sich reichlicher fortpflanzten, als die weisse Menschenart Europas, würden sie dennoch früher oder später der letzteren im Kampfe um’s Dasein erliegen. Von allen menschlichen Individuen aber, ebenso wie von allen übrigen Organismen, geht bei weitem die überwiegende Mehrzahl in der frühesten Lebenszeit zu Grunde. Von der ungeheuren Masse von Keimen, die jede Art erzeugt, gelangen nur sehr wenige wirklich zur Entwickelung, und von diesen wenigen ist es wieder nur ein ganz kleiner Bruchtheil, welcher das Alter erreicht, in dem er sich fortpflanzen kann. (Vergl. S. 145.) Aus diesem Missverhältniss zwischen der ungeheuren Ueber- zahl der organischen Keime und der geringen Anzahl von aus- erwählten Individuen, die wirklich neben und mit einander fort- bestehen können, folgt mit Nothwendigkeit jener allgemeine Kampf um’s Dasein, jenes beständige Ringen um die Existenz, jener unaufhörliche Wettkampf um die Lebensbedürfnisse, von welchem ich Ihnen bereits im siebenten Vortrage ein Bild entwarf. Jener Kampf um’s Dasein ist es, welcher die natürliche Zuchtwahl ausübt, welcher die Wechselwirkung der Vererbung und An- passung züchtend benutzt und dadurch an einer beständigen Um- bildung aller organischen Formen arbeitet. Immer werden in jenem Kampf um die Erlangung der nothwendigen Existenz- Bedingungen diejenigen Individuen ihre Nebenbuhler besiegen, XI. Ursachen und Folgen des Kampfes um’s Dasein. 243 welche irgend eine individuelle Begünstigung, irgend eine vortheil- hafte Eigenschaft besitzen, die ihren Mitbewerbern fehlt. Freilich können wir nur in den wenigsten Fällen, nur bei näher bekannten Thieren und Pflanzen, uns eine ungefähre Vor- stellung von der unendlich complieirten Wechselwirkung der zahl- reichen Verhältnisse machen, welche alle hierbei in Frage kommen. Denken Sie nur daran, wie unendlich mannichfaltig und ver- wickelt die Beziehungen jedes einzelnen Menschen zu den übri- gen und überhaupt zu der ihn umgebenden Aussenwelt sind. Aehnliche Beziehungen walten aber auch zwischen allen Thieren und Pflanzen, die an einem Orte mit einander leben. Alle wirken gegenseitig, activ oder passiv, auf einander ein. Jedes Thier kämpft, wie jede Pflanze, direct mit einer Anzahl von Feinden, insbesondere mit Raubthieren und Parasiten. Die zusammen- stehenden Pflanzen kämpfen mit einander um den Bodenraum, den ihre Wurzeln bedürfen, um die nothwendige Menge von Licht, Luft, Feuchtigkeit u. s. w. Ebenso ringen die Thiere eines jeden Bezirks mit einander um ihre Nahrung, Wohnung u.s. w. In diesem äusserst lebhaften und verwickelten Kampf wird jeder noch so kleine persönliche Vorzug, jeder individuelle Vortheil möglicher- weise den Ausschlag zu Gunsten seines Besitzers geben. Dieses bevorzugte einzelne Individuum bleibt im Kampfe Sieger und pflanzt sich fort, während seine Mitbewerber zu Grunde gehen, ehe sie zur Fortpflanzung gelangen. Der persönliche Vorzug, welcher ihm den Sieg verlieh, wird auf seine Nachkommen ver- erbt, und kann durch weitere Befestigung und Vervollkommnung die Ursache zur Bildung einer neuen Art werden. Die unendlich verwickelten Wechselbeziehungen, welche zwi- schen den Organismen eines jeden Bezirks bestehen, und welche als die eigentlichen Bedingungen des Kampfes um’s Dasein an- gesehen werden müssen, sind uns grösstentheils unbekannt und meistens auch sehr schwierig zu erforschen. Nur in einzelnen Fällen haben wir dieselben bisher zu einem gewissen Grade ver- folgen können, so z. B. in dem von Darwin angeführten Bei- spiel von den Beziehungen der Katzen zum rothen Klee in Eng- land. Die rothe Kleeart (Trifolium pratense), welche in England 16° 244 Verwickelte Wechselbeziehungen aller benachbarten Organismen. XT, eines der vorzüglichsten Futterkräuter für das Rindvieh bildet, bedarf, um zur Samenbildung zu gelangen, des Besuchs der Hum- meln. Indem diese Insecten den Honig aus dem Grunde der Kleeblüthe saugen, bringen sie den Blüthenstaub mit der Narbe in Berührung und vermitteln so die Befruchtung der Blüthe, welche ohne sie niemals erfolgt. Darwin hat durch Versuche gezeigt, dass rother Klee, den man von dem Besuche der Hum- meln absperrt, keinen einzigen Samen liefert. Die Zahl der Hummeln ist bedingt durch die Zahl ihrer Feinde, unter denen die Feldmäuse die verderblichsten sind. Je mehr die Feldmäuse überhand nehmen, desto weniger wird der Klee befruchtet. Die Zahl der Feldmäuse ist wiederum von der Zahl ihrer Feinde ab- hängig, zu denen namentlich die Katzen gehören. Daher giebt es in der Nähe der Dörfer und Städte, wo viele Katzen gehal- ten werden, besonders viel Hummeln. Eine grosse Zahl von Katzen ist also offenbar von grossem Vortheil für die Befruchtung des Klees.. Man kann nun, wie es von Karl Vogt geschehen ist, an dieses Beispiel noch weitere Erwägungen anknüpfen. Denn das Rindvieh, welches sich von dem rothen Klee nährt, ist eine der wichtigsten Grundlagen des Wohlstandes von England. Die Engländer conserviren ihre körperlichen und geistigen Kräfte vor- zugsweise dadurch, dass sie sich grösstentheils von trefflichem Fleisch, namentlich ausgezeichnetem Rostbeaf und Beafsteak näh- ren. Dieser vorzüglichen Fleischnahrung verdanken die Britten zum grossen Theil das Uebergewicht ihres Gehirns und Geistes über die anderen Nationen. Offenbar ist dieses aber indirect ab- hängig von den Katzen, welche die Feldmäuse verfolgen. Man kann auch mit Huxley auf die alten Jungfern zurückgehen, welche vorzugsweise die Katzen hegen und pflegen und somit für die Befruchtung des Klees und den Wohlstand Englands von hoher Wichtigkeit sind. An diesem Beispiel können Sie erken- nen, dass, je weiter man dasselbe verfolgt, desto grösser der Kreis der Wirkungen und der Wechselbeziehungen wird. Man kann aber mit Bestimmtheit behaupten, dass bei jeder Pflanze und bei jedem Thiere eine Masse solcher Wechselbeziehungen existiren. Nur sind wir selten im Stande, die Kette derselben RT. Wechselnde Bedingungen des Kampfes um's Dasein. 245 so herzustellen, und im Zusammenhang zu übersehen, wie es hier wenigstens annähernd der Fall ist. Ein anderes merkwürdiges Beispiel von wichtigen Wechsel- beziehungen ist nach Darwin folgendes: In Paraguay finden sich keine verwilderten Rinder und Pferde, wie in den benachbarten Theilen Süd-Amerikas, nördlich und südlich von Paraguay. Die- ser auffallende Umstand erklärt sich einfach dadurch, dass in diesem Lande eine kleine Fliege sehr häufig ist, welche die Ge- wohnheit hat, ihre Eier in den Nabel der neugeborenen Rinder und Pferde zu legen. Die neugeborenen Thiere sterben in Folge dieses Eingriffs, und jene kleine gefürchtete Fliege ist also die Ursache, dass die Rinder und Pferde in diesem Distriet niemals verwildern. Angenommen, dass durch irgend einen insectenfres- senden Vogel jene Fliege zerstört würde, so würden in Paraguay ebenso wie in den benachbarten Theilen Süd-Amerikas diese grossen Säugethiere massenhaft verwildern, und da dieselben eine Menge von bestimmten Pflanzenarten verzehren, würde die ganze Flora, und in Folge davon wiederum die ganze Fauna dieses Landes eine andere werden. Dass dadurch zugleich auch die ganze Oekonomie und somit der Charakter der menschlichen Bevölkerung sich ändern würde, braucht nicht erst gesagt zu werden. Aehnliches gilt von der Tse-Tse-Fliege in Africa. So kann das Gedeihen oder selbst die Existenz ganzer Völ- kerschaften durch eine einzige kleine, an sich höchst unbedeu- tende Thier- oder Pflanzen-Form indirect bedingt werden. Es giebt kleine oceanische Inseln, deren menschliche Bewohner we- sentlich nur von einer Palmenart leben. Die Befruchtung dieser Palme wird vorzüglich durch Insecten vermittelt, die den Blü- thenstaub von den männlichen auf die weiblichen Palmbäume übertragen. Die Existenz dieser nützlichen Insecten wird durch insectenfressende Vögel gefährdet, die ihrerseits wieder von Raub- vögeln verfolgt werden. Die Raubvögel aber unterliegen oft dem Angriffe einer kleinen parasitischen Milbe, die sich zu Millionen in ihrem Federkleide entwickelt. Dieser kleine gefährliche Pa- rasit kann wiederum durch parasitische Pilze getödtet werden. Pilze, Raubvögel und Insecten würden in diesem Falle das Ge- 246 Wechselnde Bedingungen des Kampfes um’s Dasein. x1. deihen der Palmen und somit der Menschen begünstigen, Vogel- milben und insectenfressende Vögel dagegen gefährden. Interessante Beispiele für die Veränderung der Wechselbe- ziehungen im Kampf um’s Dasein liefern auch jene isolirten und von Menschen unbewohnten oceanischen Inseln, auf denen zu verschiedenen Malen von Seefahrern Ziegen oder Schweine aus- gesetzt wurden. Diese Thiere verwilderten und nahmen an Zahl aus Mangel an Feinden bald so übermässig zu, dass die ganze übrige Thier- und Pflanzen-Bevölkerung darunter litt, und dass schliesslich die Insel beinahe verödete, weil den zu massenhaft sich vermehrenden grossen Säugethieren die hinreichende Nahrung fehlte. In einigen Fällen wurden auf einer solchen von Ziegen oder Schweinen übervölkerten Insel später von anderen Seefah- rern ein Paar Hunde ausgesetzt, die sich in diesem Futterüber- fluss sehr wohl befanden, sich wieder sehr rasch vermehrten und furehtbar unter den Heerden aufräumten, so dass nach einer An- zahl von Jahren den Hunden selbst das Futter fehlte, und auch sie beinahe ausstarben. So wechselt beständig in der Oekonomie der Natur das Gleichgewicht der Arten, je nachdem die eine oder andere Art sich auf Kosten der übrigen vermehrt. In den meisten Fällen sind freilich die Beziehungen der ver- schiedenen Thier- und Pflanzenarten zu einander viel zu verwickelt, als dass wir ihnen nachkommen könnten, und ich überlasse es Ihrem eigenen Nachdenken, sich auszumalen, welches unendlich verwickelte Getriebe an jeder Stelle der Erde in Folge dieses Kampfes stattfinden muss. In letzter Instanz sind die Trieb- federn, welche den Kampf bedingen, und welche den Kampf an allen verschiedenen Stellen verschieden gestalten und modificiren, die Triebfedern der Selbsterhaltung, und zwar sowohl der Erhal- tungstrieb der Individuen (Ernährungstrieb), als der Erhaltungs- trieb der Arten (Fortpflanzungstrieb). Diese beiden Grundtriebe der organischen Selbsterhaltung sind es, von denen sogar Schil- ler, der Idealist (nicht Goethe, der Realist!) sagt: „Einstweilen bis den Bau der Welt „Philosophie zusammenhält, „Erhält sich ihr Getriebe „Durch Hunger und durch Liebe,“ 2 3. Triebfedern des Kampfes um's Dasein: Hunger und Liebe. 247 Diese beiden mächtigen Grundtriebe sind es, welche durch ihre verschiedene Ausbildung in den verschiedenen Arten den Kampf um’s Dasein so ungemein mannichfaltig gestalten, und welche den Erscheinungen der Vererbung und Anpassung zu Grunde liegen. Wir konnten alle Vererbung auf die Fortpflan- zung, alle Anpassung auf die Ernährung als die materielle Grund- ursache zurückführen. Der Kampf um’s Dasein wirkt bei der natürlichen Züchtung ebenso züchtend oder auslesend, wie der Wille des Menschen bei der künstlichen Züchtung. Aber dieser wirkt planmässig und bewusst, jener planlos und unbewusst. Dieser wichtige Unter- schied zwischen der künstlichen und natürlichen Züchtung ver- dient besondere Beachtung. Denn wir lernen hierdurch verste- hen, warum zweckmässige Einrichtungen ebenso durch zwecklos wirkende mechanische Ursachen, wie durch zweckmässig thätige Endursachen erzeugt werden .kön- nen. Die Produkte der natürlichen Züchtung sind ebenso und noch mehr zweckmässig eingerichtet, wie die Kunstprodukte des Menschen, und dennoch verdanken sie ihre Entstehung nicht einer zweckmässig thätigen Schöpferkraft, sondern einem unbe- wusst und planlos wirkenden mechanischen Verhältniss. Wenn man nicht tiefer über die Wechselwirkung der Vererbung und Anpassung unter dem Einfluss des Kampfes um’s Dasein nach- gedacht hat, so kann man nicht solche Erfolge von diesem natür- lichen Züchtungsprozess erwarten, wie derselbe in der That lie- fert. Es ist daher wohl angemessen, hier ein Paar besonders einleuchtende Beispiele von der Wirsamkeit der natürlichen Züch- tung anzuführen. Lassen Sie uns zunächst die von Darwin hervorgehobene sleichfarbige Zuchtwahl oder die sogenannte „sympathische Farbenwahl“ der Thiere betrachten. Schon frühere Naturforscher haben es sonderbar gefunden, dass zahlreiche Thiere im Grossen und Ganzen dieselbe Färbung zeigen wie der Wohnort, oder die Umgebung, in der sie sich beständig aufhalten. So sind z. B. die Blattläuse und viele andere auf Blättern lebende Insecten srün gefärbt. Die Wüstenbewohner: Springmäuse, Wüstenfüchse, 248 Gleichfarbige Zuchtwahl als Ursache der sympathischen Färbungen. XJ, Gazellen, Löwen u. s. w. sind meist gelb oder gelblichbraun ge- färbt, wie der Sand der Wüste. Die Polarthiere, welche auf Eis und Schnee leben, sind weiss oder grau, wie Eis und Schnee. Viele von diesen ändern ihre Färbung im Sommer und Winter. Im Sommer, wenn der Schnee theilweis vergeht, wird das Fell dieser Polarthiere graubraun oder schwärzlich wie der nackte Erd- boden, während es im Winter wieder weiss wird. Schmetterlinge und Kolibris, welche die bunten, glänzenden Blüthen umschwe- ben, gleichen diesen in der Färbung. Darwin erklärt nun diese auffallende Thatsache ganz einfach dadurch, dass eine solche Fär- bung, die mit der des Wohnortes übereinstimmt, den betreffenden Thieren von grösstem Nutzen ist. Wenn diese Thiere Raubthiere sind, so werden sie sich dem Gegenstand ihres Appetits viel sicherer und unbemerkter nähern können, und ebenso werden die von ihnen verfolgten Thiere viel leichter entfliehen können, wenn sie sich in der Färbung möglichst wenig von ihrer Umgebung unterscheiden. Wenn also ursprünglich eine Thierart in allen Farben variirte, so werden diejenigen Individuen, deren Farbe am meisten derjenigen ihrer Umgebung glich, im Kampf um’s Dasein am meisten begünstigt gewesen sein. Sie blieben unbe- merkter, erhielten sich und pflanzten sich fort, während die an- ders gefärbten Individuen oder Spielarten ausstarben. Aus derselben gleichfarbigen Zuchtwahl habe ich in meiner „generellen Morphologie“ versucht, die merkwürdige Wasserähn- lichkeit der pelagischen Glasthiere zu erklären, die wunderbare Thatsache, dass die Mehrzahl der pelagischen Thiere, d. h. derer, welche an der Oberfläche der offenen See leben, bläulich oder ganz farblos und glasartig durchsichtig ist, wie das Wasser selbst. Solche farblose, glasartige Thiere kommen in den verschiedensten Klassen vor. Es gehören dahin unter den Fischen die Helmich- thyiden, durch deren glashellen Körper hindurch man die Schrift eines Buches lesen kann; unter den Weichthieren die Flossen- Schnecken und Kiel-Schnecken; unter den Würmern die Alciope und Sagitta; unter den Mantelthieren die Salpen und Seetönn- chen; ferner sehr zahlreiche pelagische Krebsthiere (Crustaceen) und der grösste Theil der Medusen (Schirm-Quallen, Kamm- | XI. Gleichfarbige Zuchtwahl als Ursache der sympathischen Färbungen. 249 Quallen u. s. w.). Alle diese pelagischen Thiere, welche an der Oberfläche des offenen Meeres schwimmen, sind glasartig durch- sichtig und farblos, wie das Wasser selbst, während ihre nächsten - Verwandten, die auf dem Grunde des Meeres leben, gefärbt und undurchsichtig wie die Landbewohner sind. Auch diese merk- würdige Thatsache lässt sich ebenso wie die sympathische Fär- bung der Landbewohner durch die natürliche Züchtung erklären. Unter den Voreltern der pelagischen Glasthiere, welche einen verschiedenen Grad von Farblosigkeit und Durchsichtigkeit zeig- ten, werden diejenigen, welche am meisten farblos und durch- sichtig waren, offenbar in dem lebhaften Kampf um’s Dasein, der an der Meeres-Oberfläche stattfindet, am meisten begünstigt gewesen sein. Sie konnten sich ihrer Beute am leichtesten un- bemerkt nähern, und wurden selbst von ihren Feinden am we- nigsten bemerkt. So konnten sie sich leichter erhalten und fort- pflanzen, als ihre mehr gefärbten und undurchsichtigen Verwandten; schliesslich erreichte dann, durch gehäufte Anpassung und Verer- bung, durch natürliche Auslese im Laufe vieler Generationen, der Körper denjenigen Grad von glasartiger Durchsichtigkeit und Farb- losigkeit, den wir gegenwärtig an den zahlreichen pelagischen Glas- thieren bewundern. | Nicht minder interessant und lehrreich, als die gleichfarbige Zuchtwahl, ist diejenige Art der natürlichen Züchtung, welche Darwin die sexuelle oder geschlechtliche Zuchtwahl nennt; durch sie wird besonders die Entstehung der sogenannten „secundären Sexual-Charaktere“ erklärt. Wir haben diese unter- geordneten Geschlechts-Charaktere, die in so vieler Beziehung lehrreich sind, schon früher erwähnt; wir verstanden darunter solche Eigenthümlichkeiten der Thiere und Pflanzen, welche bloss einem der beiden Geschlechter zukommen, und welche nicht in unmittelbarer Beziehung zu der Fortpflanzungs-Thätigkeit selbst stehen. (Vergl. oben S. 188.) Solche secundäre Geschlechts-Charak- tere kommen in grosser Mannichfaltigkeit bei höheren Thieren vor. Sie wissen Alle, wie auffallend sich bei vielen Vögeln und Schmet- terlingen die beiden Geschlechter durch Grösse und Färbung un- terscheiden. Meistens ist hier das Männchen das grössere und 250 Geschlechtliche Zuchtwahl und secundäre Sexual-Charaktere. xtE schönere Geschlecht. Oft besitzt dasselbe besondere Zierrathe oder Waffen, wie z. B. der Sporn und Federkragen des Hahns, das Geweih der männlichen Hirsche und Rehe u.s. w. Alle diese Eigenthümlichkeiten des einen Geschlechts haben mit der Fort- pflanzung selbst, welche durch die „primären Sexual-Charaktere*, die eigentlichen Geschlechts-Organe, vermittelt wird, unmittelbar Nichts zu thun. Die Entstehung dieser merkwürdigen „secundären Sexual- Charaktere“ erklärt nun Darwin einfach durch die Auslese oder Selection, welche bei der Fortpflanzung der Thiere geschieht. Bei den meisten Thieren ist die Zahl der Individuen beiderlei Geschlechts mehr oder weniger ungleich; entweder ist die Zahl der weiblichen oder die der männlichen Individuen grösser, und wenn die Fortpflanzungs-Zeit herannaht, findet in der Regel ein Kampf zwischen den betreffenden Nebenbuhlern um Erlangung der Thiere des anderen Geschlechts statt. Es ist bekannt, mit welcher Kraft und Heftigkeit gerade bei den höchsten Thieren, bei den Säugethieren und Vögeln, besonders bei den in Polygamie lebenden, dieser Kampf gefochten wird. Bei den Hühner-Vögeln, wo auf einen Hahn zahlreiche Hennen kommen, findet zur Erlan- gung eines möglichst grossen Harems ein lebhafter Kampf zwischen den mitbewerbenden Hähnen statt. Dasselbe gilt von vielen Wie- derkäuern. Bei den Hirschen und Rehen z. B. entstehen zur Zeit der Fortpflanzung gefährliche Kämpfe zwischen den Männchen um den Besitz der Weibchen. Der secundäre Sexual-Charakter, welcher hier die Männchen auszeichnet, das Geweih der Hirsche und Rehe, das den Weibchen fehlt, ist nach Darwin die Folge jenes Kampfes. Hier ist also nicht, wie beim Kampf um die individuelle Existenz, die Selbsterhaltung, sondern die Erhaltung der Art, die Fortpflanzung, das Motiv und die bestimmende Ur- sache des Kampfes. Es giebt eine ganze Menge von Waffen, die in dieser Weise von den Thieren erworben wurden, sowohl pas- sive Schutzwaffen als active Angriffswaffen. Eine solche Schutz- waffe ist zweifelsohne die Mähne des Löwen, die dem Weibchen abgeht; sie ist bei den Bissen, die die männlichen Löwen sich am Halse beizubringen suchen, wenn sie um die Weibchen käm- rl Geschleehtliche Zuchtwahl und secundäre Sexual-Charaktere. . 251 pfen, ein tüchtiges Schutzmittel; und daher sind die mit der stärk- sten Mähne versehenen Männchen in dem sexuellen Kampfe am Meisten begünstigt. Eine ähnliche Schutzwaffe ist die Wamme des Stiers und der Federkragen des Hahns. Active Angrifiswaffen sind dagegen das Geweih des Hirsches, der Hauzahn des Ebers, der Sporn des Hahns und der entwickelte Oberkiefer des männ- lichen Hirschkäfers; alles Instrumente, welche beim Kampfe der Männchen um die Weibchen zur Vernichtung oder Vertreibung der Nebenbuhler dienen. In den letzterwähnten Fällen sind es die unmittelbaren Ver- nichtungs- Kämpfe der Nebenbuhler, welche die Entstehung des secundären Sexual-Charakters bedingen. Ausser diesen unmittel- baren Vernichtungs-Kämpfen sind aber bei der geschlechtlichen Auslese auch die mehr mittelbaren Wettkämpfe von grosser Wich- tigkeit, welche auf die Nebenbuhler nicht minder umbildend ein- wirken. Diese bestehen vorzugsweise darin, dass das werbende Geschlecht dem anderen zu gefallen sucht: durch äusseren Putz, durch Schönheit, oder durch eine melodische Stimme. Unzweifel- haft ist die schöne Stimme der Singvögel wesentlich auf diesem Wege entstanden. Bei vielen Vögeln findet ein wirklicher Sän- gerkrieg zwischen den Männchen statt, die um den Besitz der Weibchen kämpfen. Von mehreren Singvögeln weiss man, dass zur Zeit der Fortpflanzung die Männchen sich zahlreich vor den Weibchen versammeln und vor ihnen ihren Gesang erschallen lassen, und dass dann die Weibchen denjenigen Sänger, welcher ihnen am besten gefällt, zu ihrem Gemahl erwählen. Bei anderen Singvögeln lassen die einzelnen Männchen in der Einsamkeit des Waldes ihren Gesang ertönen, um die Weibchen anzulocken, und diese folgen dem anziehendsten Locktone. Ein ähnlicher musi- kalischer Wettkampf, der allerdings weniger melodisch ist, findet bei den Cikaden und Heuschrecken statt. Bei den Cikaden hat das Männchen am Unterleib zwei trommelartige Instrumente und erzeugt damit die scharfen zirpenden Töne, welche die alten Griechen seltsamer Weise als schöne Musik priesen. Bei den Heuschrecken bringen die Männchen, theils indem sie die Hinter- schenkel wie Violinbogen an den Flügeldecken reiben, theils durch 252 Musikalische Zuchtwahl im Kampf um die Fortpflanzung. XI. Reiben der Flügeldecken an einander, Töne hervor, die für uns allerdings nicht melodisch sind, die aber den weiblichen Heu- schrecken so gut gefallen, dass sie die am besten geigenden Männchen sich aussuchen. Bei anderen Insecten und Vögeln ist es nicht der Gesang oder überhaupt die musikalische Leistung, sondern der Putz oder die Schönheit des einen Geschlechts, welches das andere anzieht. So finden wir, dass bei den meisten Hühnervögeln die Hähne durch Hautlappen auf dem Kopfe sich auszeichnen, oder durch einen schönen Schweif, den sie radartig ausbreiten, wie z. B. der Pfau und der Truthahn. Auch der prachtvolle Schweif des Paradiesvogels ist eine ausschliessliche Zierde des männlichen (Geschlechts. Ebenso zeichnen sich bei sehr vielen anderen Vögeln und bei sehr vielen Inseeten, namentlich Schmetter- lingen, die Männchen durch besondere Farben oder andere Zierden vor den Weibchen aus. Offenbar sind dieselben Produkte der sexuellen Züchtung. Da den Weibchen diese Reize und Ver- zierungen fehlen, so müssen wir schliessen, dass dieselben von den Männchen im Wettkampf um die Weibehen erst allmählig erworben worden sind, wobei die Weibchen auslesend wirkten. Die Anwendung dieses interessanten Schlusses auf die mensch- liche Gesellschaft können Sie sich selbst leicht im Einzelnen aus- malen. Offenbar sind auch hier dieselben Ursachen bei der Aus- bildung der secundären Sexual-Charaktere wirksam gewesen. Eben- sowohl die Vorzüge, welche den Mann, als diejenigen, welche das Weib auszeichnen, verdanken ihren Ursprung ganz gewiss grösstentheils der sexuellen Auslese des anderen Geschlechts. Im Alterthum und im Mittelalter, besonders in der romantischen Ritterzeit, waren es die unmittelbaren Vernichtungs-Kämpfe, die Turniere und Duelle, welche die Brautwahl vermittelten! der Stärkere führte die Braut heim. In neuerer Zeit dagegen sind die mittelbaren Wettkämpfe der Nebenbuhler beliebter, welche mittelst musikalischer Leistungen, Spiel und Gesang, oder mittelst körperlicher Reize, natürlicher Schönheit oder künstlichen Putzes, in unseren sogenannten „feinen“ und „hocheivilisirten * Gesellschaften ausgekämpft werden. Bei weitem am Wichtigsten XE Psychische Zuchtwahl im Kampf um die Fortpflanzung. 253 aber von diesen verschiedenen Formen der Geschlechtswahl des Menschen ist die am meisten veredelte Form derselben, nämlich die psychische Auslese, bei welcher die geistigen Vorzüge des einen Geschlechts bestimmend auf die Wahl des anderen einwirken. Indem der am höchsten veredelte Kulturmensch sich bei der Wahl der Lebensgefährtin Generationen hindurch von den Seelenvorzügen derselben leiten liess, und diese auf die Nachkommenschaft vererbte, half er mehr, als durch vieles Andere, die tiefe Kluft schaffen, welche ihn gegenwärtig von den rohesten Naturvölkern und von unseren gemeinsamen thierischen Voreltern trennt. Ueberhaupt ist die Rolle, welche die gesteigerte sexuelle Zuchtwahl, und ebenso die Rolle, welche die vorge- geschrittene Arbeitstheilung zwischen beiden Geschlechtern beim Menschen spielt, höchst bedeutend; und ich glaube, dass hierin eine der mächtigsten Ursachen zu suchen ist, welche die phyloge- netische Entstehung und die historische Entwickelung des Menschen- geschlechts bewirkten. Darwin hat in seinem 1871 erschienenen, höchst interessanten Werke über „die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl“'°) diesen Gegenstand in der geistreichsten Weise erörtert und durch die merkwürdigsten Bei- spiele erläutert. Die ausserordentlich hohe Bedeutung, welche der Kampf um’s Dasein und die durch ihn bewirkte natürliche Zuchtwahl für die Entwickelung der organischen Welt besitzen, ist im Ver- laufe der letzten drei Jahrzehnte, seit Darwin’s Entdeckung der- selben, immer mehr anerkannt worden. Allein gewöhnlich denkt man dabei nur an die Lebens- und Bildungs-Verhältnisse der selbstständigen Einzelwesen. Nicht weniger wichtig aber, ja im Grunde noch von viel höherer und allgemeinerer Bedeutung, ist der Kampf um’s Dasein, welcher überall und jederzeit zwischen allen Form-Bestandtheilen dieser Einzelwesen stattfindet; die Um- bildung dieser letzteren ist ja eigentlich erst das Gesammt-Ergebniss aus der besonderen Entwickelung aller ihrer Bestandtheile. Darwin selbst ist auf diese elementaren Structur-Umbildungen nicht näher eingegangen. Die erste umfassende Darstellung und kritische Beleuchtung derselben hat 1881 Professor Wilhelm 254 Functionelle Selbstgestaltung der zweckmässigen Struetur. xXE ui Roux in Breslau gegeben, in "seinem ausgezeichneten Werke: „Der Kampf der Theile im Organismus, ein Beitrag zur Vervollständigung der mechanischen Zweckmässigkeits-Lehre“ ?°). Ich halte diese Schrift für einen der wichtigsten Beiträge zur Entwickelungs-Lehre, welche seit Darwin’s Hauptwerk (1859) erschienen sind und für eine der wesentlichsten Ergänzungen seiner Selections-Theorie. Im ersten Abschnitt erörtert Roux die functionelle Anpassung der einzelnen Organe und die Erb- lichkeit ihrer Wirkungen, insbesondere die functionelle Selbst- gestaltung der zweckmässigen Structur, als eine noth- wendige Wirkung des vermehrten oder verminderten Gebrauches (vergl. oben S. 227). Im zweiten Abschnitt wird der Kampf der Theile im Organismus selbst näher untersucht, und ge- zeigt, wie aus der Ungleichheit der Theile, aus den ungleichen Verhältnissen ihrer Thätigkeit und Ernährung, ihres Stoffwechsels und Wachsthums, nothwendig von selbst ein Kampf derselben um’s Dasein folgen muss; und zwar gilt dies ganz ebenso von den einzelnen Organen und den sie zusammensetzenden Geweben, als von den einzelnen Zellen, welche die Organe zusammensetzen, und schliesslich selbst von den activen Molekeln, welche das Plasma der Zellen und ihrer Kerne zusammensetzen (Plastidulen . oder Micellen). Von grösster Bedeutung ist hierbei die Wechsel- Beziehung zwischen der Arbeitsleistung (oder physiologischen Function) jedes einzelnen Theiles und seiner Ernährung; indem jeder functionelle Reiz auf den Stoffwechsel des thätigen Theiles zurückwirkt und somit eine „trophische Wirkung“ ausübt, bewirkt er zugleich Veränderungen in seiner Form und Structur (oder morphologische Differenzirungen). Es lässt sich somit, wie ich schon 1866 in meiner generellen Morphologie behauptet hatte, die Anpassung im weitesten Sinne auf die Lebensthätigkeit der Ernährung zurückführen. An zahlreichen einleuchtenden Beispielen weist Roux nach, wie durch verstärkte Thätigkeit die besondere Leistungsfähigkeit der Organe erhöht, durch verminderte Arbeit umgekehrt herab- gesetzt wird (im Sinne von Lamarck), und wie ferner durch die Einwirkung functioneller Reize das Zweckmässige in IH. 2 Cellular-Selection und Personal-Selection. 355 höchst denkbarer Vollkommenheit direet mechanisch hervorgebracht und gestaltet wird, ohne dass irgend eine zweckthätige Endursache dabei in’s Spiel kommt. So erklärt sich höchst einfach die bewunderungswürdige und höchst zweck- mässige Vollkommenheit im feineren Bau der Knochen, der Muskeln, der Blutgefässe u. s. w. Die feinen Stützbälkchen der Knochen verlaufen in der Richtung des stärksten Druckes und Zuges und erreichen so mit der geringsten Menge von Material die höchste Stützkraft; die feinen Fasern der Muskeln, welche das Fleisch zusammensetzen, verlaufen nur in der Richtung, in welcher ihre Zusammenziehung stattfindet; und wenn musku- löse Röhren (z. B. der Darm, die Blutgefässe) sich in zwei Rich- tungen zusammenziehen, der Länge und der Quere nach, so ordnen sich die Muskelfasern bloss in diesen beiden Richtungen. Ebenso ist aber auch die feinere Structur der Nerven, der Blutgefässe, der Drüsen u. s. w. auf das Zweckmässigste ihrer Thätigkeit an- gepasst. Rein mechanisch betrachtet, erscheinen ihre Structur- Verhältnisse als Einrichtungen von denkbar vollkommenster Zweckmässigkeit, und dennoch sind dieselben ohne vorbe- dachten Zweck entstanden, vielmehr rein mechanisch durch die eigene Thätigkeit der Organe selbst, unter Vermittelung ihrer functionellen Reize, hervorgebracht worden. Das bedeutungsvolle Princip der functionellen Selbstgestal- tung des Zweckmässigen, welches Roux so scharfsinnig erläutert hat, zeigt uns demnach wie die thatsächlich bestehende Zweck- mässigkeit im inneren Körperbau auf teleologische Mechanik zurückzuführen ist. Aber auch diese kann wieder weiterhin durch das Selections-Princip erklärt werden; nicht im Sinne Dar- win’s, dass der Kampf um’s Dasein zwischen den selbstständigen Einzelwesen sie hervorruft, sondern im Sinne von Roux, wonach derselbe beständig zwischen allen Theilen des einzelnen Organis- mus selbst wirksam ist. Man könnte demnach die Zuchtwahl der Zellen, wie sie nach Roux überall in den Geweben stattfindet, auch als Cellular- Selection bezeichnen, im Gegensatze zur Personal-Selection, wie sie Darwin zuerst zwischen den selbstständigen Einzelwesen 256 Cellular-Seleetion und Personal-Selection. XR nachgewiesen hat. Die erstere würde sich zur letzteren ebenso verhalten, wie Virchow’s Cellular-Pathologie zur Personal-Patho- logie, oder wie die von 'mir aufgestellte Cellular-Psychologie zur Personal-Psychologie. (Vgl. meinen Vortrag über „Zellseelen und Seelenzellen“)°°”). Der Schlüssel für das richtige Verständniss dieses Verhältnisses liegt in der Zellentheorie, und in den weit- greifenden Fortschritten, welche diese grundlegende Theorie seit einem halben Jahrhundert (und namentlich in den letzten De- cennien) gemacht hat. Wir betrachten jetzt allgemein die orga- nischen Zellen nicht mehr als todte Bausteine, sondern als leben- dige „Elementar-Organismen“, als Plastiden oder „Bildnerinnen“. Selbstständige Einzelwesen, und zwar ebensowohl morphologisch (hinsichtlich des Körperbaues) wie physiologisch (hinsichtlich der Lebensthätigkeit) sind ursprünglich alle Zellen. Es besteht aber trotzdem ein grosser Unterschied zwischen den einzelligen Orga- nismen (Protisten) und den vielzelligen (Histonen). Bei den Protisten oder den einzelligen Lebensformen (Urpflanzen und Urthieren) bildet eine einzige Zelle für sich zeitlebens den ganzen Organismus. Bei den Histonen hingegen, den vielzelligen Thieren und Pflanzen, besteht der Organismus nur im Beginne seiner Existenz aus einer einzigen Zelle; sobald diese sich zu entwickeln beginnt, vermehrt sie sich durch wiederholte Theilung, und die zahlreichen daraus entstandenen Zellen setzen die Ge- webe und Organe zusammen. In diesen sind die gesellig verbun- denen Zellen von einander und vom Ganzen abhängig, und zwar um so mehr, je höher das Ganze entwickelt, je stärker es cen- tralisirt ist. Mithin verhält sich das einzellige Protist zum viel- zelligen und gewebebildenden Histonen ähnlich, wie der ein- zelne Mensch zum Staat. Der vielzellige Organismus ist ein Zellenstaat, und seine. einzelnen Zellen sind die Staatsbürger (vergl. den VIII. und XVII. Vortrag). Wie nun demgemäss alle Lebens-Thätigkeiten in den beiden Hauptgruppen der Einzelligen und der Vielzelligen gewisse prin- cipielle Verschiedenheiten zeigen, so gilt dasselbe auch von ihrer Thätigkeit im Kampfe um’s Dasein, von der Wechselwirkung der Vererbung und der Anpassung, welche dabei züchtend wirkt, ie an nn ne uni ln u ul 2 nn 2 ld 2 a a a EZ a a ln un nn 2 un RT Molekular-Selection innerhalb der Zellen. 357 Die Einzelligen oder Protisten zeigen ein einfaches (oder tro- phisches) Wachsthum, durch Zell-Vergrösserung; sie vermehren sich grösstentheils ungeschlechtlich (durch Theilung oder Sporen- Bildung); die Vererbung wird daher durch den Kern der einen Zelle vermittelt, welche zugleich der ganze Organismus ist. Die Vielzelligen oder Histonen hingegen besitzen ein zusammengesetztes (oder numerisches) Wachsthum, durch Zell - Vermehrung; sie pflanzen sich geschlechtlich fort (durch Vermischung von Ei-Zelle und Sperma-Zelle); die Vererbung wird daher nur durch die Kerne dieser beiden Geschlechts-Zellen vermittelt, während alle übrigen Gewebe-Zellen dabei nicht betheiligt sind. Aber innerhalb der Gewebe vermehren sich auch die sie zusammensetzenden Zellen beständig; und die Gewebe-Bildung selbst wird durch jene bedeutungsvolle Cellular - Selection bestimmt. Die tüchtigsten Zellen in jedem Gewebe, welche ihre Arbeit am besten erfüllen, verlangen und erhalten dafür auch den besten Theil des Nahrungs- Saftes; sie entziehen ihn den schwächeren und untüchtigeren Zellen; die ersteren wachsen und vermehren sich durch Theilung, während die letzteren früher oder später zu Grunde gehen müssen. Der Kampf um’s Dasein zwischen den Gewebe-Zellen der vielzelligen Organismen, muss demnach als die wichtigste Trieb- feder für die fortschreitende Entwickelung und Differenzirung ihrer Gewebe und Organe angesehen werden. Bei den Einzelligen hingegen nimmt der Kampf um’s Dasein und die durch ihn be- wirkte natürliche Zuchtwahl eine wesentlich verschiedene Form an. Denn hier kommt es ja überhaupt noch nicht zur Gewebe- Bildung; die Gestaltung der unabhängigen und selbstständig blei- benden Zelle wird theils unmittelbar durch die Einwirkung der äusseren Existenz-Bedingungen bestimmt, theils durch die Gegen- wirkung, welche die Plastidule oder Micellen, die activ lebens- thätigen Plasma-Molekeln der Zelle ausüben. Auch zwischen diesen letzteren dürfen wir einen beständigen Kampf um’s Dasein annehmen, und Roux hat gezeigt, welche hohe Bedeutung dem- selben für den Stoflwechsel und die Ernährung, somit auch für die Anpassung und- Gestaltung des Elementar-Organismus zuzu- schreiben ist. Allein diese Molekular-Selection ist eben so Haeckel, Natürl. Schöpfungs-Gesch. 8. Aufl. 17 258 Ableitung des Zweckmässigen aus dem Unzweckmässigen. a: hypothetisch, und eben so wenig direct nachweisbar, wie die Molekular-Structur, welche wir (in irgend einer Form) für das Plasma annehmen müssen. Als Hypothese ist dieselbe un- entbehrlich, und zwar ebensowohl für die unabhängigen einzelligen Protisten, wie für die abhängigen Gewebe-Zellen der Histonen. Je tiefer wir neuerdings in diese elementaren Verhält- nisse des organischen Lebens eingedrungen sind, und je mehr wir die verwickelten Wechsel - Beziehungen desselben kennen gelernt haben, desto höher haben wir den Werth der Selections- Theorie schätzen gelernt, desto grösser erscheint uns die philo- sophische That Darwin’s. Denn indem dieser grosse Natur- Philosoph die natürliche Züchtung durch den Kampf um’s Dasein begründete, entdeckte er nicht nur die wichtigste Ursache der organischen Formen-Bildung und Umbildung, sondern er beant- wortete zugleich endgültig eines der grössten philosophischen käthsel, die Frage nämlich: Wie können zweckmässige Ein- richtungen mechanisch entstehen, ohne zweckthätige Ursachen? Die naturgemässe Beantwortung dieser schwierigen Grund- frage hatte schon im fünften Jahrhundert vor Christus ein grosser griechischer Naturphilosoph versucht, Empedocles aus Agrigent. Nach ihm sind die zweckmässigen Gestalten der Thiere und Pflanzen, wie wir sie jetzt kennen, erst allmählich entstanden, und zwar durch den beständigen Kampf der widerstreitenden Naturkräfte; die jetzt lebenden Formen sind übrig geblieben aus einer ungeheuer grossen Zahl von ausgestorbenen Formen, und zwar deshalb, weil sie für jenen Kampf am vortheilhaftesten ge- artet, und darum am lebensfähigsten waren. Einerseits betont Empedocles zuerst ganz besonders die Zweckmässigkeit im Körperbau der Lebewesen, andrerseits aber hebt er zugleich. her- vor, dass man zur Erklärung derselben kein besonderes „Zweck- mässigkeits-Prineip“ aufstellen dürfe, sondern dass sie rein me- chanisch durch das Wechselspiel der Naturkräfte entstanden sei. Mit Recht sagt daher Fritz Schultze') in seiner Schilderung der griechischen Naturphilosophie: „den grossen Gedanken einer Theorie der Ableitung des Zweckmässigen aus dem Un- | u XI. Empedocles und Darwin. 259 zweckmässigen zuerst gefasst zu haben, ist das strahlende Verdienst des Empedocles, und wenn wir bedenken, dass seine beiden Grundprineipien, Liebe und Hass, die Keimformen zu den modernen Grundkräften der Anziehung und der Abstossung sind, so werden wir diesem alten Forscher in der That unsere Be- wunderung und Anerkennung nicht versagen können.“ So darf also mit Beziehung auf die Lösung dieser hochwich- tigen Frage Empedocles als der älteste Vorläufer Darwin’s angesehen werden. Obgleich aber auch andere Naturphilosophen des classischen Alterthums, insbesondere Lucretius, ihre hohe Bedeutung anerkannten, gerieth dieselbe doch späterhin ganz in Vergessenheit. Konnte doch selbst Kant — wie schon früher (S. 95) erwähnt, — dieselbe so wenig würdigen, dass er sogar die Hoffnung, jene Frage jemals lösen zu können, für ungereimt erklärte. „Man muss diese Einsicht dem Menschen schlechter- dings absprechen.“ Indem Charles Darwin durch seine Selections-Theorie that- sächlich jene schwierigste Grundfrage löste, ist er — ich wieder- hole es — der neue Newton geworden, dessen einstiges Kom- men Kant. für immer verneinen zu können glaubte. Zwar haben kurzsichtige Naturforscher diesen Vergleich neuerdings für über- trieben erklärt und lächerlich gemacht, damit aber nur gezeigt, wie wenig sie die philosophische Tragweite des Darwinismus zu würdigen im Stande sind. Denn die Aufgaben sowohl wie die Mittel zu ihrer mechanischen Beantwortung waren bei der Gra- vitations-Theorie von Newton ungleich einfacher, als bei der Selections-Theorie von Darwin. Desshalb leuchtet auch die natürliche Wahrheit der ersten jedem Gebildeten unmittelbar ein, während für das volle Verständniss der letzeren eine gründ- liche naturwissenschaftliche Vorbildung erforderlich ist. Beide haben aber ein gleich hohes Verdienst, indem sie den übernatür- lichen Zweckbegriff und den damit verknüpften Wunderglauben aus unserem Erkenntniss-Gebiete verdrängten, Newton aus dem der anorgischen, Darwin aus dem der organischen Natur. Die speculative Philosophie der neuesten Zeit überzeugt sich täglich mehr von der Nothwendigkeit, aus dem icarischen Wol- 17 260 Das Prineip der teleologischen Mechanik. IE kenfluge der „reinen Speculation“ auf den festen Boden der em- pirischen Natur-Erkenntniss zurückzukehren, und insbesondere die bedeutungsvollen biologischen Fortschritte des letzten Men- schenalters in sich aufzunehmen. So sind namentlich Wundt, Fritz Schultze, G. H. Schneider, B. v. Carneri, Spitzer u. A. neuerdings eifrig bemüht, die philosophische Bedeutung des Transformismus zu würdigen und die wichtigsten Folgerungen aus dem Darwinismus zu ziehen. Die monistische Philosophie von Herbert Spencer), Jacob Moleschott°°), Ludwig Büch- ner'") u. A. ruht auf ihrem Fundamente. Welche Bedeutung in jener Beziehung vor Allen das Selections-Prineip besitzt, und wie dadurch „die Teleologie in der Auffassung der Organismen-Welt“ in ein ganz neues Licht gesetzt wird, hat insbesondere Hugo Spitzer in Gratz gezeigt?‘). Seine „Beiträge zur Descendenz- Theorie und zur Methodologie der Naturwissenschaft“ (1886) sind bisher die eingehendsten Versuche, die philosophische Bedeutung des Darwinismus richtig zu würdigen. Indem der letztere den übernatürlichen und dualistischen „transcendenten Zweckbegrifl“ beseitigt, setzt er an seine Stelle das natürliche und monistische Prineip der „teleologischen Mechanik“. u Zwölfter Vortrag. Arbeitstheilung und Formspaltung. Divergenz der Species. Fortbildung und Rückbildung. Arbeitstheilung (Ergonomie) und Formspaltung (Polymorphismus). Phy- siologische Divergenz und morphologische Differenzirung, beide nothwendig durch die Selection bedingt. Uebergang der Varietäten in Species. Begriff der Art oder Species. Bastard-Arten. Personal-Divergenz und Cellular- Divergenz. Differenzirung der Gewebe. Primäre und secundäre Gewebe. Siphonophoren. Arbeitswechsel (Metergie). Angleichung (Convergenz). Fort- schritt und Vervollkommnung. Entwickelungs-Gesetze der Menschheit. Ver- hältniss der Fortbildung zur Divergenz. Centralisation als Fortschritt. Rück- bildung. Entstehung der rudimentären Organe durch Nichtgebrauch und Ab- gewöhnung. Unzweckmässigkeits-Lehre oder Dysteleologie. Meine Herren! Wenn Sie die geschichtliche Entwickelung der organischen Welt im Grossen und Ganzen betrachten, so tre- ten Ihnen als allgemeinste Erscheinungen zunächst zwei grosse (resetze entgegen, das Divergenz-Gesetz und das Fortschritts-Gesetz. Das Prineip der Divergenz oder Sonderung lehrt uns zunächst als Thatsache, auf Grund der Versteinerungs - Kunde, dass die Mannichfaltigkeit und Verschiedenheit der Lebensformen auf unse- rem Erdball von der ältesten Zeit bis zur Gegenwart beständig zugenommen hat. Das zweite Princip, das des Fortschritts oder der Vervollkommnung, lehrt uns auf Grund derselben paläon- tologischen Urkunden, dass diese Divergenz im Grossen und Gan- zen mit einem stetigen Fortschritt, mit einer zunehmenden Voll- kommenheit der Organisation verknüpft gewesen ist. Für beide Gesetze liegt der Grund zunächst grösstentheils in der physiolo- gischen Arbeitstheilung der Organismen (Ergonomie) und in 262 Nothwendige Folgen der natürlichen Züchtung. XI der damit verknüpften morphologischen Sonderung oder Form- spaltung (Polymorphismus). Nachdem man auf Grund sehr ausgedehnter paläontologischer Untersuchungen die allgemeine Geltung dieser beiden grossen historischen Prineipien erkannt hatte, glaubte man ihre Ursache zunächst in einem zweckmässigen Schöpfungsplan, oder unmittel- bar in einem übernatürlichen Endzweck suchen zu müssen. Es sollte in dem zweckmässigen Plane des Schöpfers gelegen haben, die Formen der Thiere und Pflanzen im Laufe der Zeit immer mannichfaltiger auszubilden und immer vollkommener zu gestal- ten. Wir werden offenbar einen grossen Schritt in der Erkennt- niss der Natur thun, wenn wir diese teleologische und anthro- pomorphe Vorstellung zurückweisen, und die beiden Gesetze der Arbeitstheilung und Vervollkommnung als nothwendige Fol- gen der natürlichen Züchtung im Kampfe um’s Dasein nachwei- sen können. Das erste grosse Gesetz, welches unmittelbar und mit Noth- wendigkeit aus der natürlichen Züchtung folgt, ist dasjenige der Sonderung oder Differenzirung; dieselbe wird auch häufig als Arbeitstheilung (Ergonomie) oder Formspaltung (Poly- morphismus) bezeichnet, ersteres in physiologischem, letzteres in morphologischem Sinne. Darwin nennt dieses allgemeine Prineip Divergenz des Charakters. Wir verstehen darunter die allge- meine Neigung aller organischen Formen, sich in immer höherem Grade ungleichartig auszubilden und von dem gemeinsamen Urbilde zu entfernen. Die Ursache dieser allgemeinen Neigung zur Sonderung und der dadurch bewirkten Hervorbildung ungleichartiger Formen aus gleichartiger Grundlage istnach Darwin einfach im Kampf um’s Dasein zu suchen; dieser muss zwischen je zwei Organismen um so heftiger entbrennen, je näher sich dieselben in jeder Beziehung stehen, je gleichartiger sie sind. Eigentlich ist dies wichtige Verhältniss äusserst einfach; es wird aber ge- wöhnlich gar nicht genügend in’s Auge gefasst. Jedem von Ihnen wird einleuchten, dass auf einem Acker von bestimmter Grösse neben den Kornpflanzen, die dort ausge- säet sind, eine grosse Anzahl von Unkräutern existiren können, XI. Gesetz der Arbeitstheilung oder Ergonomie. 263 und zwar an Stellen, welche nicht von den Kornpflanzen einge- nommen werden könnten. Die trockeneren, sterileren Stellen des Bodens, auf denen keine Kornpflanze gedeihen würde, können noch zum Unterhalt von Unkraut verschiedener Art dienen; und zwar werden davon um so mehr verschiedene Arten und Indi- viduen neben einander existiren können, je besser die verschie- den Unkrautarten geeignet sind, sich den verschiedenen Stellen des Ackerbodens anzupassen. Ebenso ist es mit den Thieren. Offenbar können in einem und demselben beschränkten Bezirk eine viel grössere Anzahl von thierischen Individuen zusammen- leben, wenn dieselben von mannichfach verschiedener Natur, als wenn sie alle gleich sind. Es giebt Bäume (wie z. B. die Eiche), auf welchen ein paar Hundert verschiedene Insecten-Arten neben einander leben. Die einen nähren sich von den Früchten des Baumes, die anderen von den Blüthen, die dritten von den Blät- tern, noch andere von der Rinde, der Wurzel u. s. f. Es wäre sanz unmöglich, dass die gleiche Zahl von Individuen auf die- sem Baume lebte, wenn alle von einer Art wären, wenn z. B. alle nur von der Rinde oder nur von den Blättern lebten. Ganz dasselbe ist in der menschlichen Gesellschaft der Fall. In einer und derselben kleinen Stadt kann eine bestimmte Anzahl von Handwerkern nur leben, ‘wenn dieselben verschiedene Geschäfte betreiben. Die Arbeitstheilung, welche sowohl der ganzen Gemeinde, als auch dem einzelnen Arbeiter den grössten Nutzen bringt, ist eine unmittelbare Folge des Kampfes um’s Dasein, der natürlichen Züchtung; denn dieser Kampf ist um so leichter zu bestehen, je mehr sich die Thätigkeit und somit auch die Form der verschiedenen Individuen von einander entfernt. Natürlich wirkt die verschiedene Thätigkeit oder Function umbildend auf die Form und Structur zurück; die physiologische Arbeits- theilung (oder Ergonomie) bedingt nothwendig die morpholo- gische Formspaltung, den Polymorphismus oder die Differen- zirung, die „Divergenz des Charakters“ °”). Anderseits ist nun zu erwägen, dass alle Thier- und Pflanzen- Arten veränderlich sind, und die Fähigkeit besitzen, sich an ver- schiedenen Orten den localen Verhältnissen anzupassen. Die 264 Gesetz der Formspaltung oder des Polymorphismus. AI Spiel-Arten, Varietäten oder Rassen einer jeden Species werden sich den Anpassungs-Gesetzen gemäss um so mehr von der ur- sprünglichen Stammart entfernen, je verschiedenartiger die neuen Verhältnisse sind, denen sie sich anpassen. Wenn wir nun diese von einer gemeinsamen Grundform ausgehenden Varietäten uns in Form eines verzweigten Strahlen-Büschels vorstellen, so werden diejenigen Spiel-Arten am besten neben einander existiren und sich fortpflanzen können, welche am weitesten von einander entfernt sind, welche an den Enden der Reihe oder auf entgegengesetzten Seiten des Büschels stehen. Die in der Mitte stehenden Ueber- gangsformen dagegen haben den schwierigsten Stand im Kampfe um’s Dasein. Die nothwendigen Lebens-Bedürfnisse sind bei den extremen, am weitesten auseinander gehenden Spiel-Arten am meisten verschieden, und daher werden diese in dem allgemeinen Kampfe um’s Dasein am wenigsten in ernstlichen Conflict ge- rathen. Die vermittelnden Zwischenformen dagegen, welche sich am wenigsten von der ursprünglichen Stammform entfernt haben, theilen mehr oder minder dieselben Lebens-Bedürfnisse; daher werden sie in der Mitbewerbung um dieselben am meisten zu kämpfen haben und am gefährlichsten bedroht sein. Wenn also zahlreiche Varietäten oder Spiel- Arten einer Species auf einem und demselben Fleck der Erde mit einander leben, so können viel eher die am meisten abweichenden Formen, neben einander fort bestehen, als die vermittelnden Zwischen- formen. Denn diese letzteren haben mit jedem der verschiedenen Extreme zu kämpfen und werden auf die Dauer den feindlichen Einflüssen nicht widerstehen können, welche die ersteren siegreich überwinden. Diese allein erhalten sich, pflanzen sich fort und sind nun nicht mehr durch vermittelnde Uebergangsformen mit der ursprünglichen Stammform verbunden. So entstehen aus Varietäten „gute Arten“. Der Kampf um’s Dasein begünstigt nothwendig die allgemeine Divergenz oder das Auseinandergehen der organischen Formen, die beständige Neigung der Organismen, neue Arten zu bilden. Diese beruht nicht auf einer mystischen Eigenschaft, auf einem unbekannten Bildungstrieb der Organismen, sondern auf der Wechselwirkung der Vererbung und Anpassung ee RLE-. Entstehung neuer Arten aus Varietäten durch Divergenz. 265 im Kampfe um’s Dasein. Indem von den Varietäten einer jeden Species die vermittelnden Zwischenformen erlöschen und die Uebergangsglieder aussterben, geht der Divergenz-Process noth- wendig immer weiter, und bildet in den Extremen Gestalten aus, die wir als neue Arten unterscheiden. Obgleich alle Naturforscher die Variabilität oder Veränder- lichkeit der Thier- und Pflanzen-Arten zugeben müssen, haben doch die meisten früher bestritten, dass die Abänderung oder Umbildung der organischen Formen die ursprüngliche Grenze des Species-Charakters überschreite. Unsere Gegner halten an dem Satze fest: „Soweit auch eine Art in Varietäten-Büschel aus ein- ander gehen mag, so sind die Spiel-Arten oder Varietäten der- selben doch niemals in dem Grade von einander unterschieden, wie zwei wirkliche gute Arten.“ Diese Behauptung wird noch oft von Darwin's Gegnern an die Spitze ihrer Beweisführung gestellt; sie ist aber vollkommen unhaltbar und unbegründet. Dies wird Ihnen sofort klar, sobald Sie kritisch die verschiedenen Versuche vergleichen, den Begriff der Species oder Art festzustellen. Was eigentlich eine „echte oder gute Art“ („bona species“) sei, diese Frage vermag kein Naturforscher zu beantworten, ob- gleich jeder Systematiker täglich diese Ausdrücke gebraucht, und trotzdem ganze Bibliotheken über die Frage geschrieben worden sind, ob diese oder jene beobachtete Form eine Species oder Varietät, eine wirklich gute oder schlechte Art sei. Die am meisten verbreitete Antwort auf diese Frage war folgende: „Zu einer Art gehören alle Individuen, die in allen wesentlichen Merkmalen übereinstimmen. Wesentliche Species-Charaktere sind aber solche, welche beständig oder constant sind, welche niemals abändern oder varliren.“ Sobald nun aber der Fall eintrat, dass ein constantes, bisher für wesentlich gehaltenes Merkmal dennoch abänderte, so sagte man: „Dieses Merkmal ist für die Art nicht wesentlich gewesen, denn wesentliche Charaktere varliren nicht.“ Man bewegte sich also in einem offenbaren Zirkelschluss, und die Naivetät ist wirklich erstaunlich, mit der diese Kreisbewegung der Art-Definition in Tausenden von Büchern als unumstössliche Wahrheit hingestellt und immer noch wiederholt wird, 266 Entstehung neuer Arten durch Bastard-Zeugung. Xır Ebenso wie dieser, so sind auch alle übrigen Versuche, welche man zu einer festen und logischen Begrifis-Bestimmung der organischen „Species“ gemacht hat, völlig fruchtlos und ver- geblich gewesen. Der Natur der Sache nach kann es nicht anders sein. Der Begriff der Species ist ebenso gut relativ, und nicht absolut wie der Begriff der Varietät, Gattung, Familie, Ordnung, Klasse u.s. w. Wie Lamarck schon 1809 hervorhob, sind alle diese Begriffe subjectiv und künstlich. Ich habe dies in der Kritik des Species-Begriffs in meiner generellen Morphologie theo- retisch nachgewiesen (Gen. Morph. II, 323—364). Praktisch habe ich den Beweis dafür in meinem „System der Kalk-Schwämme* geliefert (1872). Bei diesen merkwürdigen Thieren, wie bei den Spongien überhaupt (auch beim Badeschwamm), erscheint die übliche Species-Unterscheidung völlig willkürlich. Ebenso willkürlich und widernatürlich waren bisher die Ansichten über das Verhältniss der Species zur Bastard- Zeugung. Früher galt es als Dogma, dass zwei sogenannte gute Arten niemals mit einander Bastarde zeugen könnten, welche sich als solche fortpflanzten. Man berief sich dabei fast immer auf die Bastarde von Pferd und Esel, die Maulthiere und Maul- esel, die in der That nur selten sich fortpflanzen können. Allein solche unfruchtbare Bastarde sind, wie sich herausgestellt hat, seltene Ausnahmen, und in der Mehrzahl der Fälle sind Bastarde zweier ganz verschiedenen Arten fruchtbar und können sich fort- pflanzen. In vielen Fällen ist ihre Fruchtbarkeit sogar grösser als diejenige der reinen Stamm-Arten. Fast immer können sie mit einer der beiden Eltern-Arten, bisweilen aber auch rein unter sich, mit Erfolg fruchtbar sich vermischen. Daraus können aber nach dem „Gesetze der gemischten Vererbung“ ganz neue Formen entstehen (vergl. oben S. 190). In der That ist so die Bastard-Zeugung eine Quelle der Entstehung neuer Arten, verschieden von der bisher be- trachteten Quelle der natürlichen Züchtung. Schon früher habe ich gelegentlich solche Bastard-Arten (Species hybridäe) ange- führt, insbesondere das Hasen-Kaninchen (Lepus Darwinii), welches aus der Kreuzung von Hasen-Männchen mit Kaninchen- We. ee en En Alf. Bastard-Zeugung vieler Meeresbewohner. 267 Weibchen entsprungen ist, das Ziegen-Schaf (Capra ovina), welches aus der Paarung des Ziegenbocks mit dem weiblichen Schafe entstanden ist, ferner verschiedene Arten der Disteln (Cirsium), der Brombeeren (Rubus) u. s. w. (8. 130— 132). Wahrscheinlich sind sehr viele wilde Species auf diesem Wege entstanden, wie auch Linne schon annahm. Ganz besonders erscheint diese Annahme für viele niedere Seepflanzen und See- thiere gerechtfertigt, deren reife Geschlechts-Producte einfach in das Wasser entleert werden. Ihr Zusammentreffen und ihre Be- fruchtung bleibt dem Zufall überlassen; dabei kommt die lebhafte Beweglichkeit der meisten frei schwimmenden Samen-Zellen sehr in Betracht. Nun wissen wir durch viele Erfahrungen und Ver- suche, dass die Befruchtung der Ei-Zellen bei Kreuzung von zwei nahe verwandten Arten oft leichter gelingt, als bei zwei Indivi- duen derselben Art. Mithin ist es sehr wahrscheinlich, dass bei der zufälligen Begegnung zahlloser Samen-Zellen und Ei-Zellen von nahe verwandten Meeres-Bewohnern mehr Bastarde entstehen als reine Inzucht-Producte; und da die ersteren überdies oft fruchtbarer sind, als die letzteren, können sie leicht diese im Kampf um’s Dasein verdrängen und neue Arten bilden. Neuer- dings hat vor Allen Weismann die hohe Bedeutung der ge- schlechtlichen Vermischung für die Umbildung der Arten betont. Jedenfalls aber beweisen die Bastard-Arten, die sich so gut wie reine Arten erhalten und fortpflanzen, dass die Bastard-Zeugung nicht dazu dienen kann, den Begriff der Species irgendwie zu charakterisiren. Dass die vielen vergeblichen Versuche, den Species-Begriff theo- retisch festzustellen, mit der praktischen Species-Unterscheidung gar Nichts zu thun haben, wurde schon früher angeführt (S. 45). Die verschiedenartige praktische Verwerthung des Species-Begriffs in der systematischen Zoologie und Botanik, ist sehr lehrreich für die Erkenntniss der menschlichen Thorheit. Die bei weitem überwiegende Mehrzahl der Zoologen und Botaniker war bisher bei Unterscheidung und Beschreibung der verschiedenen Thier- und Pflanzen-Formen vor Allem bestrebt, die verwandten Formen als „gute Species“ scharf zu trennen. Allein eine scharfe und 268 Varietäten sind beginnende Species. xXIE folgerichtige Unterscheidung solcher „echten und guten Arten“ zeigte sich fast nirgends möglich. Es giebt nicht zwei Zoologen, nicht zwei Botaniker, welche in allen Fällen darüber einig wären, welche von den nahe ver- wandten Formen einer Gattung gute Arten seien und welche nicht. Alle Autoren haben darüber verschiedene Ansichten. Bei der Gattung Hieracium z. B., einer der gemeinsten deutschen Pflanzen-Gattungen, hat man über 300 Arten in Deutschland allein unterschieden. Der Botaniker Fries lässt davon aber nur 106, Koch nur 52 als „gute Arten“ gelten, und Andere nehmen deren kaum 20 an." Ebenso gross sind die Differenzen bei den Brombeer-Arten (Rubus). Wo der eine Botaniker über hundert Arten macht, nimmt der zweite bloss etwa die Hälfte, ein dritter nur fünf bis sechs oder noch weniger Arten an. Die Vögel Deutschlands kennt man seit längerer Zeit sehr genau. Bech- stein hat in seiner sorgfältigen Naturgeschichte der deutschen Vögel 367 Arten unterschieden, L. Reichenbach 379, Meyer und Wolf 406, und der vogelkundige Pastor Brehm sogar mehr als 900 verschiedene Arten. Von den Kalk-Schwämmen habe ich selbst in meiner Monographie dieser höchst veränderlichen Pflanzen-Thiere gezeigt, dass man darunter nach Belieben 3 Arten oder 21 oder 111 oder 2839 oder 591 Species unterscheiden kann °”). Da in dieser Monographie die Unmöglichkeit „gute Arten“ in hergebrachtem Sinne zu unterscheiden, auf Grund fünfjähriger senauester Beobachtungen eines sehr vollständigen Materials ein- leuchtend nachgewiesen ist, kann sie wohl als „ein Versuch zur analytischen Lösung des Problems von der Entstehung der Arten“ angesehen werden. Kein anderer ähnlicher Versuch ist bisher in solcher Vollständigkeit unternommen worden. Sie sehen also, dass die grösste Willkür hier wie in jedem anderen Gebiete der zoologischen und botanischen Systematik herrscht, und der Natur der Sache nach herrschen muss. Denn es ist ganz unmöglich, Varietäten, Spiel-Arten und Rassen von den sogenannten „guten Arten“ scharf zu unterscheiden. Varie- täten sind beginnende Arten. Aus der Variabilität oder Anpassungsfähigkeit der Arten folgt mit Nothwendigkeit unter KIT: Personal-Divergenz und Cellular-Divergenz. 269 dem Einflusse des Kampfes um’s Dasein die immer weiter gehende Sonderung oder Differenzirung der Spiel-Arten, die beständige Divergenz der neuen Formen; indem diese durch Erblichkeit eine Anzahl von Generationen hindurch constant erhalten werden, während die vermittelnden Zwischen-Formen aussterben, bilden sie selbstständige „neue Arten“. Die Entstehung neuer Species durch die Arbeitstheilung oder Sonderung, Divergenz oder Diffe- renzirung der Varietäten, ist mithin eine nothwendige Folge der natürlichen Zuchtwahl. Dass die beständige Neigung der organischen Formen zur Sonderung oder Formspaltung in dieser Weise mit Nothwendig- keit aus der natürlichen Züchtung folgen muss, hat Darwin zuerst klar erkannt, und im vierten Capitel seines Hauptwerks überzeugend bewiesen. Er wendet jedoch sein Divergenz-Princip, ebenso wie sein Seleetions-Prineip, hauptsächlich nur auf die selbstständig lebenden Einzelwesen an, und bemüht sich zu zeigen, wie die Abänderungen der Individuen durch Zuchtwahl und Formspaltung zur Entstehung neuer Arten führen. Nun haben wir aber schon im letzten Vortrage gesehen, dass das Selections- Princip noch viel weitere und allgemeinere Geltung besitzt, indem auch alle einzelnen Theile im Organismus, und vor Allen die Zellen, durch Zuchtwahl umgebildet werden. Wie nun so .die Cellular-Selection als ein höchst bedeutender Umbildungs- Vorgang neben der Personal-Selection erscheint, so gilt dasselbe auch vom Divergenz-Prineip. Die Formspaltung der Einzelwesen oder Per- sonen, welche zur Bildung neuer Arten führt, — oder kurz: die Personal-Divergenz — findet ihre elementare Begründung erst in der Differenzirung der Zellen, welche die einzelne Person zusammensetzen, in der Gellular-Divergenz. Die Gewebe-Lehre der Thiere und Pflanzen (— oder die Histologie —) hat auf Grund der Zellen-Theorie schon längst erkannt, dass eine der wichtigsten Erscheinungen in der Ent- wickelung der Histonen (— oder der vielzelligen Organismen —) die sogenannte „Differenzirung oder Sonderung der Gewebe“ ist. Man versteht darunter ganz allgemein die Thatsache, die bei der Entwickelung jedes vielzelligen Einzelwesens zuerst in’s 270 Divergenz der Zellen. x Auge fällt: dass aus gleichartigen Zellen ungleichartige Gewebe, hervorgehen. Aus den gleichartigen Zellen der Keimblätter z. B. (bei allen Metozoen oder vielzelligen Thieren) entwickeln sich divergent die verschiedenartigen Zellen, welche die Hautdecke, die Drüsen, das Bindegewebe, die Muskeln, die Nerven u. s. w. zusammensetzen. Dabei überzeugen wir uns zugleich, dass die ursprüngliche Gewebs-Form im Thierkörper eine einfache Zellen- schicht, oder ein Epithelium ist; schon die zuerst gebildete Keimhaut (Blastoderma) ist ein solches Epithelium (vergl. Taf. V, Fig. 5, 6). Indem durch Einstülpung der Blastula (Fig. 7) die Gastrula (Fig. S) entsteht, sondert sich die einfache Keimhaut in.die beiden sogenannten „primären Keimblätter“, Hautblatt und Darmblatt (Exoderm, e; und Entoderm, ©). Aus den letzteren gehen dann durch weitere Sonderung die vier secundären Keim- blätter hervor (ebenfalls einfache Epithelien, Fig. 9), und aus diesen weiterhin alle verschiedenen Gewebe. Diese letzteren sind mithin alle als „secundäre Gewebe“ zu bezeichnen, gegenüber dem pri- mären Gewebe des Epithelium, aus dem sie entstanden sind. Dieser ganze wichtige Vorgang nun, die sogenannte „Difle- renzirung der Gewebe“, ist im Grunde nichts anderes, als eine Divergenz der Zellen, welche die Gewebe zusammensetzen. Das physiologische Wesen derselben beruht auf Arbeitstheilung der Zellen; ihr morphologisches Ergebniss ist die Formspaltung der Zellen, oder die ungleiche Gestaltung der ursprünglich gleich- artigen Zellen. Aber sowohl diese Formspaltung (Polymorphismus), als jene Arbeitstheilung (Ergonomie), sind selbst die nothwendige Folge der Cellular-Selection, oder jenes „Kampfes der Theile im Organismus“, welchen zuerst Roux in seiner vollen Bedeutung gewürdigt hat (vergl. S. 254). Welche ausserordentliche Bedeutung die Arbeitstheilung und die damit verknüpfte Formspaltung für die verschiedensten Seiten des organischen Lebens besitzt, habe ich in meinem Vor- trage „über Arbeitstheilung in Natur- und Menschen -Leben “ °°) erörtert. Dabei habe ich als ganz besonders einleuchtendes Bei- spiel die Organisation der Staatsquallen oder Siphonophoren näher erläutert. Das sind schwimmende Medusen-Staaten, die XI. Arbeitstheilung der Siphonophoren. Pe äusserlich einem schönen Blumenstocke gleichen; die einzelnen Blätter, Blüthen und Früchte dieses Blumenstockes, meistens so durchsichtig wie buntes Glas, und dabei im höchsten Grade empfindlich und beweglich, erscheinen auf den ersten Blick nur als Organe einer Person, oder eines einzelnen, eigenthümlich zusammengesetzten Pflanzenthieres. In der That aber ist jedes dieser scheinbaren Organe ursprünglich eine Meduse oder Qualle, ein Einzelthier von dem Form-Werthe einer Person. Durch Anpassung an verschiedene Lebens-Aufgaben sind diese Personen und ihre Organe allmählich in der merkwürdigsten Weise um- “gebildet worden; und da alle mit ihrem ursprünglichen Mutter- thiere, dem centralen Stamme des Stockes, in beständiger Ver- bindung bleiben, da auch die Ernährung des ganzen socialen Verbandes einheitlich ist, so erscheinen die zahlreichen Einzel- thiere eben nur als Organe eines einzigen Individuums. Die verschiedenen Formen dieser Siphonophoren, welche ich in meiner Monographie dieser höchst interessanten Thier-Klasse (1885) systematisch beschrieben und verglichen habe, bieten aber nicht allein eine Fülle lehrreicher Beispiele für die Arbeits- theilung und die Formspaltung, sondern auch für eine wichtige, daran sich anschliessende Erscheinung, den Arbeitswechsel oder Functionswechsel (Metergie). Indem die ursprünglich gleich- artigen Medusen, welche den Siphonophoren-Stock zusammen- setzen, sich an verschiedene Thätigkeiten gewöhnen und dem entsprechend ihre Form ändern, müssen auch die einzelnen Organe der Medusen-Person ihre ursprüngliche Thätigkeit häufig wechseln. So gestaltet sich z. B. das ursprünglighe Schwimm- Organ der Meduse, ihr Muskelschirm, bei den einen zu einer eigenthümlichen muskulösen Schwimmglocke, bei den anderen zu einer luftgefüllten Schwimmblase, bei einer dritten Gruppe zu einem schützenden Deckschilde, bei einer vierten zu einer kapselförmigen Mantelhülle, u.s. w. Das ursprüngliche einfache Magenrohr der Meduse verwandelt sich bei den einen in einen mächtigen zusammengesetzten Drüsen-Magen (Siphon), bei den anderen in ein empfindliches Sinnes-Werkzeug (Palpon), bei den männlichen Thieren in eine Samenkapsel (Androphore), bei den ID 13 Arbeitswechsel oder Metergie. xm weiblichen in eine Eierkapsel (Gynophore), u. s. w. Die Sipho- nophoren lehren uns demnach, wie der Arbeitswechsel unmittel- bar mit der Arbeitstheilung selbst verknüpft ist, ohne dass man deshalb ein besonderes „Princip des Functions-Wechsels“ auf- zustellen braucht. Viele der wichtigsten Veränderungen in der organischen Welt, sogar die Entstehung ganzer Thierklassen, lassen sich ursprüng- lich auf den Arbeitswechsel oder die Metergie eines einzelnen Organes zurückführen. So sind z. B. die Amphibien aus den Fischen dadurch entstanden, dass die Schwimmblase der letzteren (ein hydrostatisches Organ) zur Lunge wurde und die Arbeit des Gaswechsels oder der Athmung übernahm; der Uebergang vom Wasserleben zum Landleben gab dazu die erste Veranlassung. Die Vögel sind aus eidechsenartigdn Reptilien dadurch entstanden, dass die fliegende Ortsbewegung an die Stelle der kriechenden trat; die Vorderbeine der letzteren verwandelten sich in die Flügel der ersteren. Für die Entstehung der Säugethiere aus reptilienartigen Stamm-Formen war vielleicht die wichtigste Ur- sache der Arbeitswechsel der Hautdrüsen an der Bauchseite; indem diese ausscheidenden Drüsen (Talg- und Schweiss-Drüsen) sich in Milchdrüsen verwandelten und somit zum wichtigsten Ernährungs-Organ des Neugeborenen wurden, veranlassten sie eine Reihe der bedeutungsvollsten Veränderungen; die erste Ge- legenheits-Ursache dafür ist wahrscheinlich die Gewohnheit der Neugeborenen gewesen, an der Bauchhaut ihrer Mutter zu lecken; der dadurch ausgeübte Ernährungs-Reiz führte zunächst (quanti- tativ) zur Vergrösserung der Hautdrüsen und weiterhin (qualitativ) zu ihrer Verwandlung in die bedeutungsvollen Milchdrüsen; die Fälle eulturgeschichtlicher Probleme, welche sich (namentlich in der Kunst) an den weiblichen Busen knüpft, ist phylogenetisch auf jenen Vorgang zurückzuführen. Auch für die Entstehung des Menschen-Geschlechts ist der Arbeitswechsel von grosser Be- deutung gewesen, insbesondere die Arbeitstheilung der vorderen und hinteren Gliedmaassen, und die damit verknüpfte Metergie der ersteren; während bei den kletternden Affen (oder Vierhändern) alle vier Gliedmaassen in Form und Funetion ähnlich bleiben, se ee ee Me nn 4 IF: Angleichung oder Convergenz. 273 gestaltet sich beim aufrecht gehenden Menschen die vordere Gliedmaasse zum greifenden Arm, die hintern zum wandelnden Bein. Die Divergenz zwischen ersterem und letzterem führte zur Ausbildung der menschlichen Hand, jenes unschätzbaren Kunst- Organs, dessen mannichfaltiger Arbeitswechsel beim Maler und Bildhauer, beim Clavierspieler und Techniker, beim Arzte und Chirurgen zur Quelle der erstaunlichsten Leistungen geworden ist; sogar die Arbeitstheilung und der Arbeitswechsel der einzelnen Finger spielt ja hier bekanntlich eine wichtige Rolle. Eine Reihe von wichtigen Erscheinungen, welche zur Diver- senz oder Sonderung scheinbar im Gegensatze stehen, bietet uns die sogenannte Convergenz oder Angleichung. Während die divergente Züchtung durch Anpassung an verschiedene Lebens- Bedingungen und Thätigkeiten aus gleichen Formen zuletzt ganz verschiedene gestaltet, bewirkt umgekehrt die convergente Züch- tung, dass ursprünglich ganz verschiedene Formen durch An- passung an gleiche Existenz-Bedingungen und Functionen zuletzt höchst ähnlich werden. So sind z. B. manche Fische und Wal- fische äusserlich höchst ähnlich, obgleich ihr innerer Bau ganz verschieden ist. Die warmblütigen Walfische sind echte Säuge- thiere, welche durch Anpassung an die Lebensweise der Fische deren Form angenommen haben; sie stammen aber ab von land- bewohnenden Säugethieren, und zwar die pflanzenfressenden Sirenen wahrscheinlich von Hufthieren, die fleischfressenden Del- phine und Bartenwale von Raubthieren. In diesen beiden Gruppen hat die convergente Züchtung nicht nur die äussere Gestalt, son- dern auch die innere Structur so ähnlich gestaltet, dass man sie früher in einer Ordnung vereinigte. Ein anderes auffallendes Beispiel von Convergenz des Cha- racters, oder von Angleichung der Form, liefert die Medusen- Klasse. Diese scheinbar einheitliche Thier-Klasse besteht aus zwei ganz verschiedenen Stämmen, wie ich in meiner Mono- graphie derselben (1881) nachgewiesen habe. Die kleineren und zierlicheren Schleierquallen (Craspedoten oder Hydromedusen ) stammen ab von Hydropolypen; die grösseren und prächtigeren Haeckel, Natürl. Schöpfungs-Gesch. 8. Aufl. 18 £ Gi GA 2714 Gesetz des Fortschritts oder der Vervollkommnung. XIR Lappenquallen (Acraspeden oder Scyphomedusen) stammen ab von Scyphopolypen; auch die Art der Entwickelung ist in beiden Stämmen ganz verschieden, und zwar ebenso in ontogenetischem wie in phylogenetischem Sinne. Trotzdem sind schliesslich die Medusen beider Stämme, durch Anpassung an gleiche Lebens- weise und gleiche Organ-Thätigkeit so ähnlich geworden, dass man sie oft kaum unterscheiden kann. Viel zahlreicher und auffallender noch sind die Beispiele für diese täuschenden Anpassungs-Aehnlichkeiten im Pflanzenreiche. So zeichnen sich z. B. viele Wasserpflanzen durch grosse, kahle, flache, rundliche Blätter aus, welche auf der Oberfläche der Teiche schwimmen; die echten Seerosen (Nymphaeaceen) gleichen darin vielen Potameen, Butomeen, Alismaceen, Gentianeen u. s. w., ob- gleich diese ganz verschiedenen Familien angehören. Auch viele Schmarotzer-Pflanzen, welche von weit entfernten Familien ab- stammen, werden oft höchst ähnlich, z. B. viele Orchideen, Cytineen, Lippenblüther, Winden u. s. w. Die Anpassung an die gleiche parasitische Lebensweise bewirkt bei allen in gleicher Weise das Verschwinden der grünen Blätter, eine eigenthüm- lich fleischige Entwickelung des Stengels, der Blüthen u. s. w. Schon oft hat diese täuschende, durch convergente Züchtung be- wirkte Aehnlichkeit zu grossen Irrthümern in der systematischen Classification verleitet. Alle Erscheinungen der Convergenz oder Angleichung erklären sich demnach ganz einfach aus der Wirksamkeit der natürlichen Zuchtwahl, ebenso wie diejenigen der Divergenz oder Sonderung. Dasselbe gilt nun auch von einer weiteren bedeutungsvollen Er- scheinungs-Reihe, derjenigen desFortschritts(Progressus) oder der Vervollkommnung (Teleosis). Auch dieses grosse und wichtige Gesetz ist gleich dem Divergenz - Gesetze längst thatsächlich durch die paläontologische Erfahrung festgestellt worden, ehe uns Dar- win’s Selections- Theorie den Schlüssel zu seiner ursächlichen Erklärung lieferte. Die meisten umfassenden Paläontologen haben das Fortschritts-Gesetz als allgemeinstes Resultat ihrer Unter- suchungen über die Versteinerungen und deren historische Reihen- folge hingestellt; so namentlich der verdienstvolle Bronn in Du an a E ‘ | “ } 1 XI: Gesetz des Fortschritts oder der Vervollkommnung. 275 seinen vortrefflichen Untersuchungen über die Gestaltungs-Gesetze und Entwickelungs-Gesetze der Organismen '”). Die allgemeinen Resultate, zu welchen Bronn bezüglich des Differenzirungs- und Fortschritts-Gesetzes auf rein empirischem Wege, durch ausser- ordentlich fleissige und sorgfältige Untersuchungen gekommen ist, erscheinen uns heute als glänzende Bestätigungen der Selections- Theorie. Das Gesetz des Fortschritts oder der Vervollkommnung con- statirt auf Grund der paläontologischen Erfahrung die äusserst wichtige Thatsache, dass zu allen Zeiten des organischen Lebens auf der Erde eine beständige Zunahme in der Vollkommenheit der organischen Bildungen stattgefunden hat. Seit jener unvor- denklichen Zeit, in welcher das Leben auf unserem Planeten mit der Urzeugung von Moneren begann, haben sich die Organismen aller Gruppen beständig im Ganzen wie im Einzelnen vervoll- kommnet und höher ausgebildet. Die stetig zunehmende Man- nichfaltigkeit der Lebensformen war stets zugleich von Fort- bildung ihrer Organisation begleitet. Je tiefer Sie in die Schichten der Erde hinabsteigen, in welchen die Reste der aus- gestorbenen Thiere und Pflanzen begraben liegen, je älter die letzteren mithin sind, desto einförmiger, einfacher und unvoll- kommener sind ihre Gestalten. Dies. gilt sowohl von den Orga- nismen im Grossen und Ganzen, als von jeder einzelnen grösseren oder kleineren Gruppe derselben, abgesehen natürlich von jenen Ausnahmen, die durch Rückbildung einzelner Formen entstehen. Zur Bestätigung dieses Gesetzes will ich Ihnen hier wieder nur die wichtigste von allen Thier-Gruppen, den Stamm der Wirbelthiere, anführen. Die ältesten fossilen Wirbelthier-Reste, welche wir kennen, gehören der tiefstehenden Fisch-Klasse an. Auf diese folgten späterhin die vollkommneren Amphibien, dann die Reptilien, und endlich in noch viel späterer Zeit die höchst- organisirten Wirbelthier-Klassen, die Vögel und Säugethiere. Von den letzteren erschienen zuerst nur die niedrigsten und unvoll- kommensten Formen, ohne Placenta, die Beutelthiere, und viel später wiederum die vollkommneren Säugethiere, mit Placenta. Auch von diesen traten zuerst nur niedere, später höhere Formen 15* 276 Gesetz des Fortschritts oder der Vervollkommnung. Xi auf, und erst in der jüngeren Tertiär-Zeit entwickelte sich aus den letzteren allmählich der Mensch. Verfolgen Sie die historische Entwickelung des Pflanzen- Reichs, so finden Sie hier dasselbe Gesetz bestätigt. Auch von den Pflanzen existirte anfänglich bloss die niedrigste und unvoll- kommenste Klasse, diejenige der Algen oder Tange. Auf diese folgte später die Gruppe der farnkrautartigen Pflanzen oder Fili- einen. Aber noch existirten keine Blüthen-Pflanzen oder Phane- rogamen. Diese begannen erst später mit den Gymnospermen (Nadelhölzern und Cycadeen), welche in ihrer ganzen Bildung tief unter den übrigen Blüthen-Pflanzen (Angiospermen) stehen, und den Uebergang von den Filicinen zu den Angiospermen ver- mitteln. Diese letzteren entwickelten sich wiederum viel später, und zwar traten auch hier anfangs bloss kronenlose Blüthen- Pflanzen auf (Monocotyledonen und Monochlamydeen), später erst kronenblüthige (Dichlamydeen). Endlich gingen unter diesen wieder die niederen Diapetalen den höheren Gamopetalen voraus. Diese ganze Reihenfolge ist ein unwiderleglicher Beweis für das Gesetz der fortschreitenden Entwickelung. Fragen wir nun, wodurch diese Thatsache bedingt ist, so kommen wir wiederum, gerade so wie bei der Thatsache der Dif- ferenzirung, auf die natürliche Züchtung im Kampf um das Da- sein zurück. Wenn Sie die ganze Bedeutung der natürlichen Züchtung, und insbesondere die verwickelte Wechselwirkung der verschiedenen Vererbungs- und Anpassungs-Gesetze, sich lebhaft vor Augen stellen, so werden Sie als die nächste nothwendige Folge nicht allein die Divergenz des Charakters, sondern auch die Vervollkommnung desselben erkennen. Wir sehen ganz dasselbe in der Geschichte des menschlichen Geschlechts. Auch hier ist es natürlich und nothwendig, dass die fortschreitende Arbeits- theilung beständig die Menschheit fördert, und in jedem einzelnen Zweige der menschlichen Thätigkeit zu neuen Erfindungen und Verbesserungen antreibt. Im Grossen und Ganzen beruht ja der Fortschritt selbst auf der Differenzirung und ist daher gleich dieser eine unmittelbare Folge der natürlichen Züchtung durch den Kampf um’s Dasein. XII. Differenzirung in der Entwickelung der Menschheit. 277 Wenn der Mensch seine Stellung in der Natur richtig begreifen und sein Verhältniss zu der erkennbaren Erscheinungs- Welt na- turgemäss erfassen will, so ist es durchaus nothwendig, ganz objec- tiv die Naturgeschichte des Menschen mit derjenigen der übrigen Organismen, und besonders der Thiere zu vergleichen. Wir haben bereits früher gesehen, dass die wichtigen physiologischen Gesetze . der Vererbung und der Anpassung in ganz gleicher Weise für den menschlichen Organismus, wie für die Thiere und Pflanzen ihre Geltung haben, und hier wie dort in beständiger Wechsel- wirkung mit einander stehen. Daher wirkt auch die natürliche Züchtung durch den Kampf um’s Dasein ebenso in der mensch- lichen Gesellschaft, wie im Leben der Thiere und Pflanzen um- gestaltend ein, und ruft hier wie dort immer neue Formen hervor. Ganz besonders wichtig ist diese Vergleichung der menschlichen und der thierischen Verhältnisse, wenn man die grossen Gesetze der Divergenz und des Fortschritts als die unmittelbaren und nothwendigen Folgen der natürlichen Züchtung im Kampf um’s Dasein nachweisen will. Ein vergleichender Ueberblick über die Völker-Geschichte oder die sogenannte „Welt-Geschichte“ zeigt Ihnen zunächst als allge- meinstes Resultat eine beständig zunehmende Mannichfaltig- keit der menschlichen Thätigkeit, im einzelnen Menschenleben sowohl als im Familien- und Staatenleben. Diese Differenzirung oder Sonderung, diese stetig zunehmende Divergenz des mensch- lichen Charakters und der menschlichen Lebensform, wird durch die immer weiter gehende und tiefer greifende Arbeitstheilung der Individuen hervorgebracht. Während die ältesten und nie- drigsten Stufen der menschlichen Kultur uns überall nahezu die- selben rohen und einfachen Verhältnisse vor Augen führen, be- merken wir in jeder folgenden Periode der Geschichte eine grössere Mannichfaltigkeit in Sitten, Gebräuchen und Einrichtungen bei den verschiedenen Nationen. Die zunehmende Arbeitstheilung bedingt eine entsprechende Formspaltung, eine beständig sich stei- gernde Mannichfaltigkeit der Formen in jeder Beziehung. Das spricht sich selbst in der menschlichen Gesichts-Bildung aus. Unter den niedersten Volksstämmen gleichen sich die meisten Indivi- 278 Fortschritt in der Entwickelung der Menschheit. XI. duen so sehr, dass die europäischen Reisenden dieselben oft gar nicht unterscheiden können. Mit zunehmender Kultur differen- zirt sich die Physiognomie der Individuen in entsprechendem Grade. Endlich bei den höchst entwickelten Kultur-Völkern geht die Divergenz der Gesichts-Bildung bei allen stammverwandten Individuen so weit, dass wir nur selten in die Verlegenheit kom- men, zwei Gesichter gänzlich mit einander zu verwechseln. Als zweites oberstes Grund-Gesetz tritt uns in der Völker- Geschichte das grosse Gesetz des Fortschritts oder der Vervoll- kommnung entgegen. Im Grossen und Ganzen ist die Geschichte der Menschheit die Geschichte ihrer fortschreitenden Ent- wickelung. Freilich kommen überall und zu jeder Zeit Rück- schritte im Einzelnen vor, oder es werden schiefe Bahnen des Fortschritts eingeschlagen, welche nur einer einseitigen und äusser- lichen Vervollkommnung entgegenführen, und dabei von dem höheren Ziele der inneren und werthvolleren Veredelung sich mehr und mehr entfernen. Allein im Grossen und Ganzen ist und bleibt die Entwickelungs-Bewegung der ganzen Menschheit eine fortschreitende, indem der Mensch sich immer weiter von seinen affenartigen Vorfahren entfernt und immer mehr seinen selbstgesteckten idealen Zielen nähert. Gegen die Bedeutung des Fortschritts-Gesetzes in der Kultur- Geschichte wird bisweilen der mächtige Rückschritt geltend ge- macht, welchen das dunkle Mittelalter gegenüber dem strahlenden Glanze des classischen Alterthums darbietet. Allein abgesehen von den verhängnissvollen inneren und äusseren Ursachen, welche den beklagenswerthen Untergang des letzteren herbeiführen muss- ten, erklärt sich der Rückschritt des Mittelalters grösstentheils aus der Naturverachtung, welche das Christenthum predigte, und aus der Gewaltherrschaft über alles freie Geistesleben, welche dessen allmächtige Hierarchie ausübte. Im Stillen entwickelten sich dennoch auch in dieser düsteren Periode der Kultur-Geschichte viele Keime der Wiedergeburt, die nach der Reformation sich zu neuen Kultur-Blüthen entfalteten. Ausserdem kann aber der Zeit- raum von kaum einem Jahrtausend, welcher die dunkelste Zeit des Mittelalters umfasst, in den Augen des Naturforschers nur RUHT: Fortschritt in der Entwickelung der Menschheit. 279 als eine kurze Zeitspanne gelten, verglichen mit den vielen hun- derttausend Jahren, welche nach den neuesten urgeschichtlichen Forschungen bereits seit dem Auftreten des Menschen-Geschlechts verflossen sind. Wenn Sie nun erkennen wollen, durch welche Ursachen eigentlich diese beiden grossen Entwickelungs-Gesetze der Mensch- heit, das Sonderungs-Gesetz und das Fortschritts-Gesetz bedingt sind, so müssen Sie dieselben mit den entsprechenden Entwicke- lungs-Gesetzen der Thierheit vergleichen. Sie werden dann bei tieferem Eingehen nothwendig zu dem Schlusse kommen, dass so- wohl die Erscheinungen wie ihre Ursachen in beiden Fällen ganz dieselben sind. Ebenso in dem Entwickelungs-Gange der Men- schenwelt, wie in demjenigen der Thierwelt, sind die beiden Grund-Gesetze der Differenzirung und Vervollkommnung lediglich durch rein mechanische Ursachen bedingt, lediglich die nothwen- digen Folgen der natürlichen Zuchtwahl im Kampf um’s Dasein. Vielleicht hat sich Ihnen bei der vorhergehenden Betrach- tung die Frage aufgedrängt: „Sind nicht diese beiden Gesetze identisch? Ist nicht immer der Fortschritt nothwendig mit der Divergenz verbunden?“ Diese Frage ist oft bejaht worden, und Carl Ernst Baer z. B/, einer der grössten Forscher im Gebiete der Entwickelungs-Geschichte, hat als eines der obersten Gesetze, die den: Bildungsgang des werdenden Thierkörpers beherrschen, den Satz ausgesprochen: „Der Grad der Ausbildung (oder Ver- vollkommnung) besteht in der Stufe der Sonderung (oder Dif- ferenzirung) der Theile“?). So richtig dieser Satz im Ganzen ist, so hat er dennoch keine allgemeine Gültigkeit. Vielmehr zeigt sich in vielen einzelnen Fällen, dass Divergenz und Fort- schritt keineswegs durchweg zusammenfallen. Nicht jeder Fort- schritt ist eine Differenzirung, und nicht jede Differen- zirung ist ein Fortschritt. Was zunächst die Vervollkommnung oder Fortbildung be- trifft, so hat man schon früher, durch rein anatomische Betrach- tungen geleitet, das Gesetz aufgestellt, dass allerdings die Ver- vollkommnung des Organismus grösstentheils auf der Arbeitsthei- lung der einzelnen Organe und Körpertheile beruht, dass es je- 280 Fortschritt ohne Differenzirung. xTR doch auch andere organische Umbildungen giebt, welche einen, Fortschritt in der Organisation bedingen. Eine solche ist beson-' ders die Zahlverminderung gleichartiger Theile. Verglei- chen Sie z. B. die niederen krebsartigen Gliederthiere, welche sehr zahlreiche Beinpaare besitzen, und die Tausendfüsse (Myra- poden), mit den Spinnen, die stets nur vier Beinpaare, und mit den Insecten, die stets nur drei Beinpaare besitzen. Hier finden Sie dieses Gesetz, wie durch zahlreiche ähnliche Beispiele, be- stätigt. Die Zahlreduction der Beinpaare ist ein Fortschritt in der Organisation der Gliederthiere. Ebenso ist die Zahlreducetion der gleichartigen Wirbelabschnitte des Rumpfes bei den Wirbel- thieren ein Fortschritt in deren Organisation. Die Fische und Am- phibien mit einer sehr grossen Anzahl von gleichartigen Wirbeln sind schon deshalb unvollkommener und niedriger als die Vögel und Säugethiere, bei denen die Wirbel nicht nur im Ganzen viel mehr differenzirt, sondern auch die Zahl der gleichartigen Wir- hel viel geringer ist. Nach demselben Gesetze der Zahlvermin- derung sind ferner die Blüthen mit zahlreichen Staubfäden unvoll- kommener als die Blüthen der verwandten Pflanzen mit einer geringen Staubfädenzahl u. s. w. Wenn also ursprünglich eine sehr grosse Anzahl von gleichartigen Theilen im Körper vorhan- den war, und wenn diese Zahl im Laufe zahlreicher Generatio- nen allmählich abnahm, so war diese Umbildung eine Vervoll- kommnung. Ein anderes wichtiges Fortschritts-Gesetz, welches von der Differenzirung ganz unabhängig, ja sogar dieser gewissermaassen entgegengesetzt erscheint, ist das Gesetz der Centralisation. Im Allgemeinen ist der ganze Organismus um so vollkommener, je einheitlicher er organisirt ist, je mehr die Theile dem Ganzen untergeordnet, je mehr die Functionen und ihre Organe centrali- sirt sind. So ist z. B. das Blutgefäss-System da am vollkom- mensten, wo ein centralisirtes Herz existirt. Ebenso ist die zu- sammengedrängte Markmasse, welche das Rückenmark der Wir- belthiere und das Bauchmark der höheren Gliederthiere bildet, vollkommener, als die decentralisirte Ganglien-Kette der niederen Gliederthiere uud das zerstreute Ganglien-System der Weichthiere. RI Differenzirung ohne Fortschritt. 281 Der Medusen-Staat der Siphonophoren, ebenso wie der mensch- liche Kultur-Staat, ist um so leistungsfähiger und vollkommener, je stärker er centralisirt ist. Indessen darf man dabei nicht ver- gessen, dass der Begriff der Vollkommenheit nur relativ, nicht absolut ist. Bei der Schwierigkeit, welche die Erläuterung der verwickelten Fortschrittsgesetze im Einzelnen hat, kann ich hier nicht näher darauf eingehen, und muss Sie bezüglich derselben auf Bronn’s treffliche „Morphologische Studien“ und auf meine generelle Morphologie verweisen (Gen. Morph. I, 370, 550; II, 257 — 266). Während also einerseits Fortschritts-Erscheinungen ganz un- abhängig von der Divergenz auftreten, so begegnen wir andrer- seits sehr häufig Differenzirungen, welche keine Vervollkomm- nungen, sondern vielmehr das Gegentheil, Rückbildung sind. Es ist leicht einzusehen, dass die Umbildungen, welche jede Thier- und Pflanzenart erleidet, nicht immer Verbesserungen sein kön- nen. Vielmehr sind viele Differenzirungs-Erscheinungen zwar von unmittelbarem Vortheil für den Organismus, aber insofern schäd- lich, als sie die allgemeine Leistungsfähigkeit desselben beein- trächtigen. Häufig findet ein Rückschritt zu einfacheren Lebens- bedingungen und durch Anpassung an dieselben eine Differen- zirung in rückschreitender Richtung statt. Wenn z. B. Organis- men, die bisher frei lebten, sich an das parasitische Leben gewöhnen, so bilden sie sich dadurch zurück. Solche Thiere, die bisher ein wohlentwickeltes Nervensystem und scharfe Sinnes- organe, sowie freie Bewegung besassen, verlieren dieselben, wenn sie sich an parasitische Lebensweise gewöhnen; sie bilden sich dadurch mehr oder minder zurück. Hier ist, für sich betrachtet, die Differenzirung ein Rückschritt, obwohl sie für den parasiti- schen Organismus selbst von Vortheil ist. Im Kampf um’s Da- sein würde ein solches Thier, das sich gewöhnt hat, auf Kosten Anderer zu leben, durch Beibehaltung seiner Augen und Bewe- sungswerkzeuge, die ihm nichts mehr nützen, nur an Material verlieren; und wenn es diese Organe einbüsst, so kommt dafür eine Masse von Ernährungsmaterial, das zur Erhaltung dieser Theile verwandt wurde, anderen Theilen zu Gute. Im Kampf 2832 Rudimentäre oder verkümmerte Organe. XIiE um’s Dasein zwischen den verschiedenen Parasiten werden daher diejenigen, welche am wenigsten Ansprüche machen, im Vortheil vor den anderen sein, und dies begünstigt ihre Rückbildung. Ebenso wie in diesem Falle mit den ganzen Organismen, so verhält es sich auch mit den Körpertheilen des einzelnen Orga- nismus. Auch eine Differenzirung dieser Theile, welche zu einer theilweisen Rückbildung, und schliesslich selbst zum Verlust ein- zelner Organe führt, ist an sich betrachtet ein Rückschritt, kann aber für den Organismus im Kampf um’s Dasein von Vortheil sein. Man kämpft leichter und besser, wenn man unnützes Ge- päck fortwirft. Daher begegnen wir überall im entwickelteren Thier- und Pflanzenkörper Divergenz-Processen, welche wesent- lich die Rückbildung und schliesslich den Verlust einzelner Theile bewirken. Hier tritt uns nun vor Allen die höchst wichtige und lehrreiche Erscheinungsreihe der rudimentären oder verküm- merten Organe entgegen. Sie erinnern sich, dass ich schon im ersten Vortrage diese ausserordentlich merkwürdige Erscheinungsreihe als eine der wich- tigsten in theoretischer Beziehung hervorgehoben habe, als einen der schlagendsten Beweisgründe für die Wahrheit der Abstam- mungs-Lehre. Wir bezeichneten als rudimentäre oder „fehlge- schlagene“ Organe solche Theile des Körpers, die für einen be- stimmten Zweck eingerichtet und dennoch ganz zwecklos sind. Ich erinnere Sie an die Augen derjenigen Thiere, welche in Höh- len oder unter der Erde im Dunkeln leben, und daher niemals ihre Augen gebrauchen können. Bei diesen Thieren finden wir unter der Haut versteckt wirkliche Augen, oft gerade so gebildet wie die Augen der wirklich sehenden Thiere; und dennoch func- tioniren diese Augen niemals, und können nicht functioniren, schon einfach aus dem Grunde, weil dieselben von dem undurch- sichtigen Felle überzogen sind und daher kein Lichtstrahl in sie hineinfällt (vergl. oben S. 13). Bei den Vorfahren dieser Thiere, welche frei am Tageslichte lebten, waren die Augen wohl ent- wickelt, von der durchsichtigen Hornhaut überzogen und dienten wirklich zum Sehen. Aber als sie sich nach und nach an unter- irdische Lebensweise gewöhnten, sich dem Tageslicht entzogen XH. Rudimentäre Flügel vieler Vögel und Insecten. 283 und ihre Augen nicht mehr brauchten, wurden dieselben rück- gebildet und zum Sehen untauglich. Sehr anschauliche Beispiele von rudimentären Organen sind ferner die Flügel von Thieren, welche nicht fliegen können, z. B. unter den Vögeln die Flügel der straussartigen Laufvögel, (Strauss, Casuar u. s. w.). Diese Vögel haben sich das Fliegen abge- wöhnt und haben dadurch den Gebrauch der Flügel verloren, während sich dagegen durch Angewöhnung an schnelles Laufen die Beine ausserordentlich entwickelt haben. Aber trotzdem sind die Flügel noch da, obwohl in verkümmerter Form. Sehr häufig finden sich solche verkümmerte Flügel in der Klasse der Insec- ten, von denen die meisten fliegen können. Aus vergleichend anatomischen und anderen Gründen können wir mit Sicherheit den Schluss ziehen, dass alle jetzt lebenden Insecten (alle Heu- schrecken, Käfer, Bienen, Wanzen, Fliegen, Schmetterlinge u. s. w.) von einer einzigen gemeinsamen Elternform, einem Stamminsect abstammen, welches zwei entwickelte Flügelpaare und drei Bein- paare besass. Nun giebt es aber sehr zahlreiche Insecten, bei denen entweder eines oder beide Flügelpaare mehr oder minder rückgebildet, und viele, bei denen sie sogar völlig verschwunden sind. In der ganzen Ordnung der Fliegen oder Dipteren z. B. ist das hintere Flügelpaar, bei den Drehflüglern oder Strepsip- teren dagegen das vordere Flügelpaar verkümmert oder fast ganz verloren. Ausserdem finden Sie in jeder Insecten-Ordnung ein- zelne Gattungen oder Arten, bei denen die Flügel mehr oder minder rückgebildet oder verschwunden sind. Insbesondere ist letzteres bei Parasiten der Fall. Oft sind die Weibchen flügellos während die Männchen geflügelt sind, z. B. bei den Leuchtkäfern oder Johanniskäfern (Lampyris), bei den Strepsipteren u. s. w. Offenbar ist diese theilweise oder gänzliche Rückbildung der Insectenflügel durch natürliche Züchtung im Kampf um’s Dasein entstanden. Denn. wir finden die Insecten vorzugsweise dort ohne Flügel, wo das Fliegen ihnen nutzlos oder sogar ent- schieden schädlich sein würde. Wenn z. B. Insecten, welche Inseln bewohnen, viel und gut fliegen, so kann es leicht vor- kommen, dass sie beim Fliegen durch den Wind in das Meer 284 Rudimentäre oder verkümmerte Flügel vieler Insecten. xM geweht werden. Nun ist aber thatsächlich immer das Flugver- mögen individuell verschieden entwickelte Also haben die schlechtfliegenden Individuen einen Vorzug vor den gutfliegenden; sie werden weniger leicht in das Meer geweht, und bleiben länger am Leben als die gutfliegenden Individuen derselben Art. Im Ver- laufe vieler Generationen muss durch die Wirksamkeit der natür- lichen Züchtung dieser Umstand nothwendig zu einer vollständigen Verkümmerung der Flügel führen. Wir hätten uns diesen Schluss rein theoretisch entwickeln können und finden ihn nun durch viele Beobachtungen bestätigt. In der That ist auf isolirt gele- genen Inseln das Verhältniss der flügellosen Insecten zu den mit Flügeln versehenen ganz auffallend gross, viel grösser als bei den Insecten des Festlandes. So sind z.B. nach Wollaston von den 550 Käfer-Arten, welche die Insel Madeira bewohnen, 200 flügellos oder mit so unvollkommenen Flügeln versehen, dass sie nicht mehr fliegen können; und von 29 Gattungen, welche jener Insel ausschliesslich eigenthümlich sind, enthalten nicht weniger als 23 nur solche Arten. Offenbar ist dieser merkwürdige Um- stand nicht durch die besondere Weisheit des Schöpfers zu er- klären, sondern durch die natürliche Züchtung; der erbliche Nichtgebrauch der Flügel, die Abgewöhnung des Fliegens im Kampfe mit den gefährlichen Winden, hat hier den trägeren Käfern einen grossen Vortheil im Kampfe um’s Dasein gewährt. Bei anderen flügellosen Insecten war der Flügelmangel wieder aus anderen Gründen vortheilhaft. An sich betrachtet ist der Ver- lust der Flügel ein Rückschritt; aber für den Organismus unter diesen besonderen Lebens-Verhältnissen ist er ein grosser Vortheil im Kampf um’s Dasein. Von anderen rudimentären Organen will ich hier noch bei- spielsweise die Lungen der Schlangen und der schlangenartigen Eidechsen erwähnen. Alle Wirbelthiere, welche Lungen besitzen, Amphibien, Reptilien, Vögel und Säugethiere, haben ein Paar Lungen, eine rechte und eine linke. Wenn aber der Körper sich ausserordentlich verdünnt und in die Länge streckt, wie bei den Schlangen und schlangenartigen Eidechsen, so hat die eine Lunge neben der andern nicht mehr Platz, und es ist für den [3 RIEF Rudimentäre Organe des Menschen. 285 Mechanismus der Athmung ein oflenbarer Vortheil, wenn nur eine Lunge entwickelt ist. Eine einzige grosse Lunge leistet hier mehr, als zwei kleine neben einander, und daher finden wir bei diesen Thieren fast durchgängig die rechte oder die linke Lunge allein ausgebildet. Die andere ist ganz verkümmert, obwohl als unnützes Rudiment vorhanden. Aus anderen Gründen ist fast bei allen Vögeln der rechte Eierstock verkümmert und ohne Function ; der linke Eierstock allein ist entwickelt und liefert alle Eier. — ‚Dass auch der Mensch solche ganz unnütze und überflüssige rudimentäre Organe besitzt, habe ich bereits im ersten Vortrage erwähnt, und damals die Muskeln, welche die Ohren bewegen, als solche angeführt. Ausserdem gehört hierher das merkwürdige Rudiment des Schwanzes, welches der Mensch in seinen drei bis fünf Schwanzwirbeln besitzt, und welches beim menschlichen Embryo während der beiden ersten Monate der Entwickelung noch frei hervorsteht. (Vgl. Taf. II und III.) Späterhin verbirgt es sich vollständig im Fleische. Dieses verkümmerte Schwänzchen des Menschen ist ein unwiderleglicher Zeuge für die unleugbare Thatsache, dass er von geschwänzten Voreltern abstammt. Beim Weibe ist das Schwänzchen gewöhnlich um einen Wirbel länger, als beim Manne; häufig sind am weiblichen Steissbein fünf ein- zelne Wirbel deutlich zu unterscheiden, am männlichen meistens nur vier. Auf früheren Stufen der Keimbildung ist ihre Zahl noch grösser. Auch rudimentäre Muskeln sind am Schwanze des Menschen noch vorhanden, welche denselben vormals bewegten. Die schwanzlosen Menschenaffen (Gorilla, Schimpanse, Orang, Gibbon) verhalten sich auch in dieser Beziehung ganz wie der Mensch. Ein anderes rudimentäres Organ des Menschen, welches aber bloss dem Manne zukommt, und welches ebenso bei sämmtlichen männlichen Säugethieren sich findet, sind die Milchdrüsen an der Brust. Bekanntlich sind diese in der Regel bloss beim weiblichen Geschlecht in Thätigkeit. Indessen kennt man von verschiedenen Säugethieren, namentlich vom Menschen, vom Schafe und von der Ziege, einzelne Fälle, in denen die Milch- drüsen auch beim männlichen Geschlechte wohl entwickelt waren 286 Unschätzbare philosophische Bedeutung der rudimentären Organe. XJJI. und Milch zur Ernährung des Jungen lieferten. Humboldt traf im südamerikanischen Urwald einen einsamen Ansiedler, dessen Frau im Wochenbett gestorben war. In der Verzweiflung hatte er das neugeborene Kind an seine Brust gelegt; und durch den andauernden Reiz, den dessen fortgesetzte Saugbewegungen auf die rudimentäre Milchdrüse ausübten, war deren erloschene Thätigkeit wieder in’s Leben getreten. Einen ähnlichen interessanten Fall bieten die früher schon erwähnten rudimentären Muskeln der menschlichen Ohrmuschel; gewöhnlich ist ihre frühere Thätigkeit ganz erloschen; aber trotz- dem können sie von einzelnen Personen in Folge andauernder Uebung noch zur Bewegung der Ohren verwendet werden. (S. 12.) Ueberhaupt sind die rudimentären Organe bei verschiedenen In- dividuen derselben Art oft sehr verschieden entwickelt, bei den einen ziemlich gross, bei den anderen sehr klein. Dieser Um- stand ist für ihre Erklärung sehr wichtig, ebenso wie der andere Umstand, dass sie allgemein bei den Embryonen, oder überhaupt in sehr früher Lebenszeit, viel grösser und stärker im Verhält- niss zum übrigen Körper sind, als bei den ausgebildeten und erwachsenen Organismen. Insbesondere ist dies leicht nachzu- weisen an den rudimentären Geschlechts-Organen der Pflanzen (Staubfäden und Griffeln), welche ich früher bereits angeführt habe. Diese sind verhältnissmässig viel grösser in der jungen Blüthenknospe als in der entwickelten Blüthe. Schon damals (S. 14) bemerkte ich, dass die rudimentären oder verkümmerten Organe zu den stärksten Stützen der moni- stischen oder mechanistischen Weltanschauung gehören. Wenn die Gegner derselben, die Dualisten und Teleologen, das ungeheure Gewicht dieser Thatsachen begriffen, müssten sie dadurch allein schon bekehrt werden. Die lächerlichen Erklärungs-Versuche derselben, dass die rudimentären Organe vom Schöpfer „der Symmetrie halber“ oder „zur formalen Ausstattung“ oder „aus Rücksicht auf seinen allgemeinen Schöpfungsplan“ den Organis- men verliehen seien, beweisen zur Genüge die völlige Ohnmacht jener verkehrten Weltanschauung. Ich muss hier wiederholen, wenn wir auch gar Nichts von den übrigen Entwickelungs- dass, XIE Rückbildung und Fortbildung durch Selection. 287 Erscheinungen wüssten, wir ganz allein schon auf Grund der rudimentären Organe die Descendenz-Theorie für wahr halten müssten. Kein Gegner derselben hat vermocht, auch nur einen schwachen Schimmer von einer annehmbaren Erklärung auf diese äusserst merkwürdigen und bedeutenden Erscheinungen fallen zu lassen. Es giebt beinahe keine irgend höher entwickelte Thier- oder Pflanzenform, die nicht irgend welche rudimentäre Organe hätte, und fast immer lässt sich nachweisen, dass dieselben Pro- dukte der natürlichen Züchtung sind, dass sie durch Nichtge- brauch oder durch Abgewöhnung verkümmert sind. Die Erscheinungen dieser Rückbildung verhalten sich ge- rade umgekehrt wie diejenigen der Fortbildung, welche wir bei der Entstehung neuer Organe durch Angewöhnung an be- sondere Lebens-Bedingungen und durch den Gebrauch noch unent- wickelter Theile wahrnehmen. Zwar wird häufig von unsern Gegnern behauptet, dass die Entstehung ganz neuer Theile ganz und gar nicht durch die Descendenz-Theorie zu erklären sei. Indessen bietet diese Erklärung für denjenigen, der vergleichend- anatomische und physiologische Kenntnisse besitzt, gewöhnlich keine Schwierigkeit. Jeder, der mit der vergleichenden Anatomie und Entwickelungs-Geschichte vertraut ist, findet in der Entste- hung ganz neuer Organe ebenso wenig Unbegreifliches, als hier auf der anderen Seite in dem völligen Schwunde der rudimen- tären Organe. Das Vergehen der letzteren ist an sich betrachtet das Gegentheil vom Entstehen der ersteren. Beide Processe sind Differenzirungs-Erscheinungen, die wir gleich allen übrigen ganz einfach und mechanisch aus der Wirksamkeit der natürlichen Züchtung im Kampf um das Dasein erklären können. Wenn wir das erste Auftreten neuer Organe genauer in’s Auge fassen, so bemerken wir meistens weiter Nichts, als das stärkere Wachsthum eines Theiles an einem bereits bestehenden Organe. Indem aber dieser Theil nach den Gesetzen der Arbeitstheilung und des Arbeitswechsels andere Functionen übernimmt, wird als- bald die Formspaltung sichtbar, welche nach dem Selections- Prineip allmählich zur Ausbildung eines neuen Organs führt. Diese Fortbildung wird ebenso durch die physiologischen Gesetze 288 Unzweckmässigkeits-Lehre oder Dysteleologie. X des Wachsthums und der Ernährung bestimmt, wie im umge- kehrten Falle die Rückbildung bei den rudimentären Organen. Die allgemeine Bedeutung der verkümmerten oder rudimen- tären Organe für wichtige Grundfragen der Naturphilosophie kann nicht hoch genug angeschlagen werden. (Vergl. das XIX. Capitel meiner Gener. Morphol. X. p. 266.) Es lässt sich darauf eine besondere „Unzweckmässigkeits-Lehre“ gründen, als Gegen- stück gegen die alte landläufige „Zweckmässigkeits-Lehre“. Wäh- rend uns diese letztere, die dualistische Teleologie, schliesslich zum übernatürlichen Dogma und Wunderglauben führt, gewin- nen wir durch die erstere, die monistische Dysteleologie, ein festes Fundament für unsere mechanische Natur-Erklärung; sie führt uns durch die „teleologische Mechanik“ zum reinen Monismus. (XIV. Vortrag.) Dreizehnter Vortrag. Keimes-Geschichte und Stammes-Geschichte. Allgemeine Bedeutung der Keimes-Geschichte (Ontogenie). Mängel un- serer heutigen Bildung. Thatsachen der individuellen Entwickelung. Ueber- einstimmung der Keimung beim Menschen und den Wirbelthieren. Das Ei des Menschen. Befruchtung. Unsterblichkeit. Eifurchung. Bildung der Keimblätter.. Gastrulation. Keimes-Geschichte des Central- Nervensystems, der Gliedmaassen, der Kiemenbogen und des Schwanzes. Ursächlicher Zu- sammenhang zwischen Keimes-Geschichte (Ontogenie) und Stammes-Geschichte (Phylogenie). Das biogenetische Grund-Gesetz. Auszugs-Entwickelung (Pa- lingenesis) und Störungs-Entwickelung (Cenogenesis). Stufenleiter der ver- gleichenden Anatomie. Beziehung derselben zur paläontologischen und em- bryologischen Entwickelungs-Reihe. Meine Herren! Die weiten Kreise der Gebildeten, welche heutzutage unseren Entwickelungs-Lehren ein mehr oder weniger lebhaftes Interesse entgegenbringen, kennen leider die Thatsachen der organischen Entwickelung aus eigener Anschauung fast gar nicht. Der Mensch selbst wird, gleich den übrigen Säugethieren, in bereits entwickelter Form geboren. Das Hühnchen schlüpft, gleich den übrigen Vögeln, in fertiger, entwickelter Form aus dem Ei. Aber die wunderbaren Vorgänge, durch welche diese fertigen Thierformen entstehen, sind den Meisten ganz unbekannt. Und doch liegt in diesen wenig beachteten Vorgängen eine Quelle der Erkenntniss verborgen, welche von keiner anderen an allgemei- ner Bedeutung übertroffen wird. Denn hier liegt die Entwicke- lung als greifbare Thatsache vor unseren Augen, und wir brauchen bloss eine Anzahl Hühner-Eier in die Brutmaschine zu legen, und ihre Ausbildung drei Wochen lang aufmerksam mit Haeckel, Natürl. Schöpfungs-Gesch. 8. Aufl. 19 290 Die Thatsachen der individuellen Entwickelung. XI dem Mikroskope zu verfolgen, um das Wunder zu verstehen, durch welches sich aus einer einzigen einfachen Zelle ein hoch- organisirter Vogel entwickelt. Schritt für Schritt können wir diese wunderbare Verwandlung mit Augen verfolgen; und Schritt für Schritt können wir nachweisen, wie ein Organ sich aus dem andern entwickelt. Schon aus diesem Grunde, weil auf diesem Gebiete allein die Thatsachen der Entwickelung uns in greifbarer Wirklichkeit vor Augen treten, halte ich es für unerlässlich, Ihre besondere Aufmerksamkeit auf jene unendlich wichtigen und interessanten Vorgänge hinzulenken, auf die Ontogenesis oder die indivi- duelle Entwickelung der Organismen; und ganz vorzüglich auf die Keimes-Geschichte der Wirbelthiere, mit Ein- schluss des Menschen. Ich möchte diese ausserordentlich merk- würdigen und lehrreichen Erscheinungen, deren ausführliche Dar- stellung Sie in meiner „Anthropogenie“ °°) finden, ganz besonders Ihrem eingehendsten Nachdenken empfehlen; denn einerseits ge- hören dieselben zu den stärksten Stützen der Descendenz-Theorie und der monistischen Weltanschauung überhaupt; anderer- seits sind sie bisher nur von Wenigen entsprechend ihrer uner- messlichen allgemeinen Bedeutung gewürdigt worden. Man muss in der That erstaunen, wenn man die tiefe Un- kenntniss erwägt, welche noch gegenwärtig in den weitesten Kreisen über die Thatsachen der individuellen Entwickelung des Menschen und der Organismen überhaupt herrscht. Diese Thatsachen, deren allgemeine Bedeutung man gar nicht hoch genug anschlagen kann, wurden in ihren wichtigsten Grundzügen schon vor mehr als einem Jahrhundert, im Jahre 1759, von dem grossen deutschen Naturforscher Caspar Friedrich Wolff in seiner classischen „Theoria generationis“ festgestellt. Aber gleichwie Lamarck’s 1509 begründete Descendenz-Theorie ein halbes Jahrhundert hin- durch schlummerte und erst 1859 durch Darwin zu neuem un- sterblichem Leben erweckt wurde, so blieb auch Wolff’s Theorie der Epigenesis fast ein halbes Jahrhundert hindurch unbekannt. Erst nachdem Oken 1806 seine Entwickelungs-Geschichte des Darmkanals veröffentlicht und Meckel 1812 Wolff’s Arbeit über nn KM XII. Bedeutung der individuellen Entwickelungs-Geschichte. 291 denselben Gegenstand in’s Deutsche übersetzt hatte, wurde Wolff’s Theorie allgemeiner bekannt und bildete seitdem die Grundlage aller folgenden Untersuchungen über individuelle Entwickelungs- Geschichte. Das Studium der Keimes-Geschichte nahm nun einen mächtigen Aufschwung, und bald erschienen die classischen Un- tersuchungen der beiden Freunde Christian Pander (1817) und Carl Ernst Baer (1819). Insbesondere wurden durch Baer’s epochemachende „Entwickelungs-Geschichte der Thiere“ ?°) die bedeutendsten, die Ontogenie der Wirbelthiere betreffenden That- sachen durch so vortreffliche Beobachtungen festgestellt, und durch so vorzügliche philosophische Reflexionen erläutert, dass sie für das Verständniss dieser wichtigsten Thiergruppe, zu welcher ja auch der Mensch gehört, die unentbehrliche Grundlage wurde. Jene Thatsachen würden für sich allein schon ausreichen, die Frage von der Stellung -des Menschen in der Natur und somit das höchste aller Probleme zu lösen. Betrachten Sie aufmerksam und vergleichend die acht Figuren, welche auf den nachstehenden Tafeln II und III abgebildet sind, und Sie werden erkennen, dass man die philosophische Bedeutung der Embryologie nicht hoch genug anschlagen kann. (Siehe S. 304, 305.) Nun darf man wohl fragen: Was wissen unsere sogenannten „gebildeten“ Kreise, die auf die hohe Kultur des neunzehnten Jahrhunderts sich so Viel einbilden, von diesen wichtigsten bio- logischen Thatsachen, von diesen unentbehrlichen Grundlagen für das Verständniss ihres eigenen Organismus? Was wissen unsere speculativen Philosophen und Theologen davon, welche durch reine Speculationen oder durch göttliche Inspirationen das Verständniss des menschlichen Organismus gewinnen zu können meinen? Ja, was wissen selbst die meisten Naturforscher davon, viele soge- nannte „Zoologen“ (mit Einschluss der Entomologen!) nicht aus- genommen? Die Antwort auf diese Frage fällt sehr beschämend aus, und wir müssen wohl oder übel eingestehen, dass jene unschätzbaren Thatsachen der menschlichen Keimes-Geschichte noch heute den Meisten ganz unbekannt sind. Selbst von Vielen, welche sie kennen, werden sie doch keineswegs in gebührender Weise gewürdigt. 197 292 Mängel unserer heutigen Bildung. XI. Hierbei werden wir deutlich gewahr, auf welchem schiefen und einseitigen Wege sich die vielgerühmte Bildung des neunzehnten Jahrhunderts noch gegenwärtig befindet. Unwissenheit und Aber- glauben sind die Grundlagen, auf denen sich die meisten Menschen das Verständniss ihres eigenen Organismus und seiner Beziehungen zur Gesammtheit der Dinge aufbauen, und jene handgreiflichen Thatsachen der Entwickelungs-Geschichte, welche das Licht der Wahrheit darüber verbreiten könnten, werden ignorirt. Die Hauptschuld an dieser bedauerlichen und unheilvollen Thatsache trifft unstreitig unsere höhere Schulbildung, vor allen die sogenannte „classische Gymnasialbildung“. Tief be- fangen in der Scholastik des Mittelalters, kann diese sich immer noch nicht entschliessen, die ungeheuren Fortschritte, welche die Naturerkenntniss in unserem Jahrhundert gemacht hat, in sich aufzunehmen. Immer noch gilt als Hauptaufgabe nicht die um- fassende Kenntniss der Natur, von der wir selbst einen Theil bilden, und der heutigen Kulturwelt, in der wir leben; sondern vielmehr die genaueste Kenntniss der alten Staaten-Geschichte, und vor allen der lateinischen und griechischen Grammatik. Gewiss ist die gründliche Kenntniss des classischen Alterthums ein höchst wichtiger und unentbehrlicher Bestandtheil unsrer höheren Bildung; allein das liebevolle Verständniss desselben verdanken wir in viel höherem Grade den Malern und Bildhauern, den epischen und dramatischen Dichtern, als den classischen Philologen und den gefürchteten Grammatikern. Um aber jene Dichter zu geniessen und zu verstehen, brauchen wir sie ebenso wenig im Urtext zu lesen als die Bibel. Der ungeheure Auf- wand von Zeit und Arbeitskraft, welchen der luxuriöse Sport der classischen Grammatik erfordert, würde unendlich zweck- mässiger auf das Studium des wundervollen Erscheinungs-Gebiets verwendet, welches uns die Riesen-Fortschritte der Naturkunde, insbesondere der Geologie, Biologie und Anthropologie, im letzten halben Jahrhundert erst zugänglich gemacht haben. Leider wird aber das Missverhältniss zwischen der täglich sich erweiternden Erkenntniss der realen Welt, und dem be- schränkten Standpunkte unserer sogenannten idealen Jugend- ee Cr VO cn a er ee de - — IOTLE. Unkenntniss der ontogenetischen Thatsachen. 293 bildung von Tag zu Tage grösser. Gerade diejenigen Gebildeten, welche im practischen Kulturleben die einflussreichste Rolle spielen, die Theologen und Juristen, und ebenso die bevorzugten Lehrer, die Philologen und Historiker, wissen von den wichtigsten Er- scheinungen der wirklich existirenden Welt und von der wahren Natur-Geschichte am Wenigsten. Der Bau und die Entstehung unseres Erd-Körpers, wie unseres eigenen menschlichen Körpers, durch die erstaunlichen Fortschritte der modernen Geologie und Anthropologie zu einem der interessantesten Wissens-Objecte er- hoben, bleibt den Meisten unbekannt. Von dem menschlichen Ei und seiner Entwickelung zu sprechen, gilt entweder als eine lächerliche Fabel oder als eine grobe Unanständigkeit. Und doch offenbart uns dieselbe eine Reihe von wirklich erkannten That- sachen, welche von keinen anderen im weiten Gebiete der mensch- lichen Erkenntniss an allgemeinem Interesse und an hoher Be- deutung übertroffen werden. Allerdings sind diese bedeutungsvollen Thatsachen nicht geeignet, Wohlgefallen bei denjenigen zu erregen, welche einen durchgreifenden Unterschied zwischen dem Menschen und der übrigen Natur annehmen und namentlich den thierischen Ur- sprung des Menschen-Geschlechts nicht zugeben wollen. Insbe- sondere müssen bei denjenigen Völkern, bei denen in Folge von falscher Auffassung der Erblichkeits-Gesetze eine erbliche Kasten- Eintheilung existirt, die Mitglieder der herrschenden privilegirten Kasten dadurch sehr unangenehm berührt werden. Bekanntlich geht heute noch in vielen Kultur-Ländern die erbliche Abstufung der Stände so weit, dass z. B. der Adel ganz anderer Natur, als der Bürgerstand zu sein glaubt, und dass Edelleute, welche ein entehrendes Verbrechen begehen, zur Strafe dafür aus der Adels- kaste ausgestossen und in die Pariakaste des „gemeinen“ Bürger- standes hinabgeschleudert werden. Was sollen diese Edelleute noch von dem Vollblut, das in ihren privilegirten Adern rollt, denken, wenn sie erfahren, dass alle menschlichen Embryonen, adelige ebenso wie bürgerliche, während der ersten beiden Monate der Entwickelung von den geschwänzten Embryonen des Hundes und anderer Säugethiere kaum zu unterscheiden sind? 294 Das Ei des Menschen. XI. Da die Absicht dieser Vorträge lediglich ist, die allgemeine Erkenntniss der natürlichen Wahrheiten zu fördern, und eine naturgemässe Anschauung von den Beziehungen des Menschen zur übrigen Natur in weiteren Kreisen zu verbreiten, so werden Sie es hier gewiss gerechtfertigt finden, wenn ich jene weit ver- breiteten Vorurtheile von einer privilegirten Ausnahme-Stellung des Menschen in der Schöpfung nicht berücksichtige. Vielmehr werde ich Ihnen einfach die embryologischen Thatsachen vor- führen, aus denen Sie selbst sich die Schlüsse von der Grund- losigkeit jener Vorurtheile bilden können. Ich möchte Sie um so mehr bitten, über diese Thatsachen der Keimes-Geschichte eingehend nachzudenken, als es meine feste Ueberzeugung ist, dass die allgemeine Kenntniss derselben nur die intellectuelle Veredelung und somit die geistige Vervollkommnung des Menschen- Geschlechts fördern kann. Aus dem unendlich reichen und interessanten Erfahrungs- Material, das uns die Keimes-Geschichte der Wirbelthiere bietet, will ich zunächst einige Thatsachen hervorheben, welche sowohl für die Descendenz-Theorie im Allgemeinen, als für deren An- wendung auf den Menschen von der höchsten Bedeutung sind. Der Mensch ist im Beginn seiner individuellen Existenz ein ein- faches Ei, eine einzige kleine Zelle, so gut wie jeder andere thierische Organismus, welcher auf dem Wege der geschlecht- lichen Zeugung entsteht. Das menschliche Ei ist wesentlich dem- jenigen aller anderen Säugethiere gleich, und namentlich von dem Ei der höheren Säugethiere absolut nicht zu unterscheiden. Das in Fig.5 abgebildete Ei könnte ebenso gut vom Menschen oder vom Affen, als vom Hunde, vom Pferde oder irgend einem anderen höheren Säugethiere herrühren. Nicht allein die Form und Structur, sondern auch die Grösse des Eies ist bei den meisten Säugethieren dieselbe wie beim Menschen, nämlich un- gefähr '/,, Durchmesser, der 120ste Theil eines Zolles, so dass man das Ei unter günstigen Umständen mit blossem Auge eben als ein feines Pünktchen wahrnehmen kann. Die Unterschiede, welche zwischen den Eiern der verschiedenen Säugethiere und Menschen wirklich vorhanden sind, bestehen nicht in der Form- BE ei ie RT: Zusammensetzung des Säugethier-Eies. 295 Bildung, sondern in der chemischen Mischung, in der molekularen Zusammensetzung der eiweissartigen Kohlenstoff-Verbindung, aus welcher das Ei wesentlich besteht. Diese feinen individuellen Unterschiede aller Eier, besonders in der Molekular-Structur des Kernes, beruhen wahrscheinlich auf der indirecten oder poten- tiellen Anpassung (und zwar speciell auf dem Gesetze der indi- viduellen Anpassung); sie sind zwar für die ausserordentlich groben Erkenntnissmittel des Menschen nicht direct sinnlich wahrnehmbar, aber durch wohlbegründete indirecte Schlüsse als die ersten Ursachen des ursprünglichen Unterschiedes aller Individuen erkennbar. Fig. 5. Fig.5. Das Ei des Menschen, hundertmal ver- grössert. a Kernkörperchen oder Nucleolus (soge- nannter Keimfleck des Eies); 5 Kern oder Nucleus (so- genanntes Keimbläschen des Eies); ce Zellstoff oder Protoplasma (sogenannter Dotter des Eies); d Zell- haut oder Membrana (Dotterhaut des Eies, beim Säuge- thier wegen ihrer Durchsichtigkeit Zona pellucida genannt). Die Eier der anderen Säugethiere haben ganz dieselbe einfache Form. Das Ei des Menschen ist, wie das aller anderen Säuge- thiere, ein kugeliges Bläschen, welches alle wesentlichen Bestand- theile einer einfachen organischen Zelle enthält (Fig. 5). Der wesentlichste Theil desselben ist der schleimartige Zellstoff oder das Protoplasma (c), welches beim Ei „Dotter“ genannt wird, und der davon umschlossene Zellenkern oder Nucleus (b), welcher hier den besonderen Namen des „Keim-Bläschens“ führt. Dies letztere ist ein zartes, glashelles Eiweiss-Kügelchen von ungefähr '/so Durchmesser, und umschliesst noch ein viel kleineres, scharf abgegrenztes rundes Körnchen (a), das Kern-Körperchen oder- den Nucleolus der Zelle (beim Ei „Keimfleck“ genannt). Nach aussen ist die kugelige Ei-Zelle des Säugethiers durch eine dicke, glasartige Haut, die Zellen-Membran oder Dotterhaut, abge- schlossen, welche hier den besonderen Namen der Zona pellucida führt (d). Die Eier vieler niederen Thiere (z. B. vieler Medusen) sind dagegen nackte Zellen, ohne jede äussere Hülle. 296 Befruchtung und Entwickelung des Säugethier-Eies. XII® Sobald das Ei (Ovulum) des Säugethieres seinen vollen Reifegrad erlangt hat, tritt dasselbe aus dem Eierstock des Weibes, in dem es entstand, heraus, und gelangt in den Eileiter, und durch diese enge Röhre in den weiteren Keim-Behälter oder Frucht-Behälter (Uterus). Wird inzwischen das Ei durch den entgegenkommenden männlichen Samen (Sperma) befruchtet, so entwickelt es sich in diesem Behälter weiter zum Keim (Embryon), und verlässt denselben nicht eher, als bis der Keim vollkommen ausgebildet und fähig ist, als junges Säugethier durch den Ge- burtsact in die Welt zu treten. Der Vorgang der Befruchtung, früher für eine der räthsel- haftesten und wunderbarsten Erscheinungen gehalten, ist uns durch die grossen Erkenntniss-Fortschritte des letzten Jahrzehnts vollkommen klar und verständlich geworden, Dank vor Allen den ausgezeichneten Untersuchungen der Gebrüder Oscar und Richard Hertwig°‘), von Eduard Strasburger, Bütschli und vielen Anderen. Wir wissen jetzt, dass die Befruchtung des Eies, als das Wesentlichste der geschlechtlichen Zeugung, weiter Nichts ist, als eine Verschmelzung von zwei verschiedenen Zellen, der väterlichen Sperma-Zelle und der mütterlichen Ei- Zelle. Von den Tausenden beweglicher kleiner Geisselzellen, welche sich in einem Tröpfehen männlicher Samen-Flüssigkeit fin- den, dringt eine einzige in die weibliche Ei-Zelle ein und ver- schmilzt mit ihr vollständig. Bei dieser Verschmelzung der bei- den Geschlechts-Zellen ist die Hauptsache die Copulation der beiden Zellkerne. Der männliche Sperma-Kern verschmilzt mit dem weiblichen Ei-Kern, und so entsteht der neue Stamm- kern, der Nucleus der neuen Stammzelle (Cytula). Schon vor 23 Jahren hatte ich in meiner Generellen Morpho- logie (Bd. I, S. 288) die Bedeutung der beiden activen Zell- Bestandtheile dahin bestimmt, „dass der innere Kern die Ver- erbung der erblichen Charaktere, das äussere Plasma (oder Cytoplasma) dagegen die Anpassung an die Verhältnisse der Aussenwelt zu besorgen hat“. Dieser Satz ist durch die zahlreichen sorgfältigen Untersuchungen der neuesten Zeit voll- inhaltlich bestätigt worden. Der männliche Sperma-Kern u ne er A m ge u. EG u - A a XII. Dogma der persönlichen Unsterblichkeit. 297 überträgt bei der Befruchtung die erblichen Eigenschaften des Vaters, während der weibliche Ei-Kern die Vererbung der Eigenthümlichkeiten der Mutter besorgt. Die Stammzelle (Cytula) oder die sogenannte „befruchtete Ei-Zelle* (— oft auch unpassend „erste Furchungszelle“ ge- nannt —) ist demnach ein ganz neues Wesen. Denn wie ihre Substanz ein materielles Mischungs-Product von der väter- lichen Samen-Zelle und der mütterlichen Ei-Zelle ist, so sind auch die davon untrennbaren Lebens-Eigenschaften gemischt aus den physiologischen Eigenthümlichkeiten beider Eltern. Die individuelle Mischung des Charakters, welchen jedes Kind von beiden Eltern geerbt hat, ist zurückzuführen auf die Vermischung der beiden Kern-Massen im Augenblicke der Befruchtung. Mit diesem wichtigsten Augenblicke beginnt auch erst die lebendige Existenz des Individuums, und nicht etwa mit der Geburt, welche beim Menschen erst neun Monate später eintritt. Die allgemeine Bedeutung dieser höchst interessanten Vor- gänge ist bisher nicht entfernt in dem Maasse gewürdigt worden, wie sie es verdient. Um nur eine ihrer wichtigsten Folgerungen hier anzudeuten, so werfen sie ein ganz neues Licht auf die wichtige Frage von der Unsterblichkeit. Das Dogma von der persönlichen Unsterblichkeit des Menschen war zwar schon seit einem. halben Jahrhundert durch die grossen Fortschritte der vergleichenden Physiologie und Ontogenie, der vergleichenden Psychologie und Psychiatrie, gründlich widerlegt worden. In- dessen konnten immer noch einige Zweifel darüber entstehen, ob nicht wenigstens ein Theil unsers Seelenlebens vom Gehirn un- abhängig und auf die Thätigkeit einer immateriellen „Seele* zu- rückzuführen sei. Seitdem wir aber den Vorgang der Befruch- tung ganz genau kennen, seitdem wir wissen, dass selbst die feinsten Seelen-Eigenschaften beider Eltern durch den Befruch- tungs-Act auf das Kind erblich übertragen werden, und dass diese Vererbung lediglich auf der Verschmelzung der beiden copuliren- den Zell-Kerne beruht, sind alle jene Zweifel hinfällig geworden. Es muss nun vollkommen widersinnig erscheinen, noch von einer Unsterblichkeit der menschlichen Person zu sprechen, seit wir 298 Dogma der persönlichen Unsterblichkeit. XII. wissen, dass diese Person, mit allen ihren individuellen Eigen- schaften des Körpers und Geistes, erst durch den Befruchtungs- Act entstanden ist, also einen endlichen Anfang ihres Daseins hat. Wie kann diese Person ein ewiges Leben ohne Ende haben? Die menschliche Person, wie jedes andere vielzellige Einzel-Thier, ist nur eine vorübergehende Erscheinungs-Form des organischen Lebens. Mit ihrem Tode hört die Kette ihrer Lebens- thätigkeiten ebenso vollständig auf, wie sie mit dem Befruch- tungs-Act ihren Anfang genommen hat. Die Formveränderungen und Umbildungen, welche das be- fruchtete Ei innerhalb des Keim-Behälters durchhlaufen muss, ehe es die Gestalt des jungen Säugethieres annimmt, sind äusserst merkwürdig; sie verlaufen vom Anfang an beim Menschen ganz ebenso wie bei den übrigen Säugethieren. Zunächst benimmt sich das befruchtete Säugethier-Ei gerade so, wie ein einzelliger Organismus, welcher sich auf seine Hand selbstständig fortpflanzen und vermehren will, z. B. eine Amoebe (vergl. Fig. 2, S. 169). Die einfache Ei-Zelle zerfällt nämlich durch den Process der Zellen- Theilung, welchen ich Ihnen bereits früher heschrieben habe, in zwei Zellen. (Fig. 6 A.) Fig. 6. Erster Beginn der Entwickelung des Säugethier-Eies, sogenannte „Ei-Furehung“ (Vermehrung der Ei-Zelle durch wiederholte Selbsttheilung). 4A. Das Ei zerfällt durch Bildung der ersten Furche in zwei Zellen. B. Diese zerfallen durch Halbirung in vier Zellen. €. Diese letzteren sind in acht Zellen zerfallen. D. Durch fortgesetzte Theilung ist ein kugeliger Haufen von zahl- reichen Zellen entstanden, die Brombeer-Form oder der Maulbeer-Keim (Morula). Derselbe Vorgang der Zellen-Theilung wiederholt sich nun mehrmals hinter einander. In der gleichen Weise entstehen aus zwei Zellen (Fig. 6A) vier (Fig. 6B); aus vier werden acht KUN. Wiederholte Theilung oder Furchung des Säugethiereies. 299 (Fig. 60), aus acht sechszehn, aus diesen zweiunddreissig u. Ss. w. Jedesmal geht die Theilung des Zellkerns oder Nucleus derjenigen des Zellstoffs oder Protoplasma vorher. Weil die Theilung des letzteren immer mit der Bildung einer oberflächlichen ringförmigen Furche beginnt, nennt man den ganzen Vorgang gewöhnlich die Furchung des Eies, und die Producte desselben, die kleinen, durch fortgesetzte Zwei-Theilung entstehenden Zellen die Fur- chungs-Kugeln (Blastomeren). Indessen ist der ganze Vorgang weiter Nichts als eine einfache, oft wiederholte Zellen-Theilung, und die Produkte desselben sind echte, nackte Zellen. Schliess- lich entsteht aus der fortgesetzten Theilung oder „Furchung“ des Säugethier-Eies der sogenannte Maulbeer-Keim (Morula), eine maulbeerförmige oder brombeerförmige Kugel, welche aus sehr zahlreichen kleinen Kugeln, nackten kernhaltigen Zellen zusammen- gesetzt ist (Fig. 6D). Diese Zellen sind die Bausteine, aus denen sich der Leib des jungen Säugethiers aufbaut. Jeder von uns war einmal eine solche einfache, brombeerförmige, aus lauter kleinen Zellen zusammengesetzte Kugel, eine Morula. Die weitere Entwickelung des kugeligen Zellenhaufens, welcher den jungen Säugethier-Körper jetzt präsentirt, besteht zunächst darin, dass derselbe sich in eine kugelige Blase verwandelt, indem im Inneren sich Flüssigkeit ansammelt. Diese Blase nennt man Keim-Blase (Blastula oder Vesicula blastodermica). Die Wand derselben ist anfangs aus lauter gleichartigen Zellen zusammen- gesetzt. Bald aber entsteht an einer Stelle der Wand eine scheibenförmige Verdickung, indem sich hier die Zellen rasch vermehren; und diese Verdickung ist nun die Anlage für den eigentlichen Leib des Keimes oder Embryo, während der übrige Theil der Keim-Blase bloss zur Ernährung des Embryo verwendet wird. Die verdickte Scheibe der Embryonalanlage nimmt bald eine länglich runde und dann, indem rechter und linker Seiten- rand ausgeschweift werden, eine sohlenförmige oder bisquitförmige Gestalt an (Fig. 7, Seite 304). In diesem Stadium der Entwicke- lung, in der ersten Anlage des Keims oder Embryo, sind nicht allein alle Säugethiere mit Inbegriff des Menschen, sondern sogar alle Wirbelthiere überhaupt, alle Säugethiere, Vögel, Reptilien, 300 Bildung und Bedeutung der vier Keimblätter. xmE Amphibien und Fische im Wesentlichen noch gleich; theils kann man sie gar nicht, theils nur durch ihre Grösse oder durch un- wesentliche Form-Differenzen, sowie durch die Bildung der Ei-Hüllen und des Dotter-Anhangs von einander unterscheiden. Bei Allen besteht der ganze Leib aus weiter nichts, als aus zwei dünnen Schichten oder Lagen von einfachen Zellen; diese liegen wie zwei runde dünne Blätter über einander und heissen daher die „pri- mären Keimblätter“. Das äussere oder obere Keimblatt ist das Hautblatt (Exoderma), das innere oder untere hingegen das Darmblatt (Entoderma). Die Keimform des Thierleibes, welche in dieser Weise bloss aus den beiden primären Keimblättern besteht, ist allen viel- zelligen Thieren (oder Metazoen) gemeinsam, und daher von der grössten Bedeutung. Ich habe die allgemeine Verbreitung dieser zweiblättrigen Keimform bei allen Metazoen, und die daraus fol- gende „Homologie der beiden primären Keimblätter“, zuerst 1872 in meiner Monographie der Kalk-Schwämme °°) behauptet, und dann in meinen „Studien zur Gasträa-Theorie* '°) die ausführlichen Beweise dafür geliefert. Da diese bedeutungsvolle Keimform in ihrer ursprünglichen reinen Gestalt (Taf. V, Fig. 8, 18; Taf. XII, Fig. A4, B4) einem doppelwandigen Becher gleicht, nannte ich sie Becherkeim (Gastrula) und den Vorgang ihrer Bildung Gastrulation. Ich werde dieselbe später (im XX. Vortrage) näher besprechen. Schon damals (1872, a. a. 0. Bd. I, S. 467) schloss ich aus der merkwürdigen Uebereinstimmung der Gastrula bei allen vielzelligen Thieren, dass alle diese Metazoen (— ent- sprechend dem biogenetischen Grundgesetze —) von einer einzigen gemeinsamen Stammform ursprünglich abstammen müssten; und diese hypothetische Stammform, im Wesentlichen der becher- förmigen Gastrula gleichgebildet, ist die Gasträa. Die Gastrula der Säugethiere, ebenso wie diejenige vieler anderer höherer Thiere, hat in Folge der eigenthümlichen Be- dingungen, unter denen sie sich entwickelt, die ursprüngliche Becherform verloren und die schon beschriebene Scheibenform angenommen. Allein diese Keimscheibe (Discogastrula) ist nur eine secundäre Abänderung oder Modification des ursprünglichen x. Bildung und Bedeutung der vier Keimblätter. 301 Becherkeims. Wie bei diesem letzteren, so zerfallen auch bei der ersteren die beiden primären Keimblätter später in die vier secundären Keimblätter. Auch diese bestehen aus weiter Nichts, als aus gleichartigen Zellen; jedes hat aber eine andere Bedeutung für den Aufbau des Wirbelthier-Körpers. Aus dem oberen oder äusseren Keimblatt entsteht bloss die äussere Ober- haut (Epidermis) nebst den Centraltheilen des Nervensystems (Rückenmark und Gehirn); aus dem unteren oder inneren Blatt entsteht bloss die innere zarte Haut (Epithelium), welche den ganzen Darmkanal vom Schlund bis zum After, nebst allen seinen Anhangsdrüsen (Lunge, Leber, Speicheldrüsen u. s. w.) auskleidet; aus den zwischen jenen gelegenen mittleren beiden Keimblättern entstehen alle übrigen Organe. (Vergl. über die Vorgänge der Keimes-Entwickelung beim Menschen und bei den Thieren meine „Anthropogenie* °°) und meine „Studien zur Gasträa-Theorie“ '°). Die Vorgänge nun, durch welche aus so einfachem Bau- material, aus den vier einfachen, nur aus Zellen zusammenge- setzten Keimblättern, die verschiedenartigen und höchst verwickelt zusammengesetzten Theile des reifen Wirbelthier-Körpers entstehen, sind erstens wiederholte Theilungen und dadurch Vermehrung der Zellen, zweitens Arbeits-Theilung oder Differenzirung dieser Zellen, drittens ungleiches Wachsthum der Zellen-Gruppen, und viertens Verbindung der verschiedenartig ausgebildeten oder differenzirten Zellen zur Bildung der verschiedenen Organe. So entsteht der stufenweise Fortschritt oder die Vervollkommnung, welche in der Ausbildung des embryonalen Leibes Schritt für Schritt zu ver- folgen ist. Die einfachen Embryonal-Zellen, welchen den Wirbel- thier-Körper zusammensetzen wollen, verhalten sich wie Bürger, welche einen Staat gründen wollen. Die einen ergreifen diese, die anderen jene Thätigkeit, und bilden dieselbe zum Besten des Ganzen aus. Durch diese Arbeits-Theilung und Form-Spaltung, sowie durch die damit im Zusammenhang stehende Vervollkomm- nung (den organischen Fortschritt), wird es dem ganzen Staate möglich, Leistungen zu vollziehen, welche dem einzelnen Indivi- duum unmöglich wären. Der ganze Wirbelthier-Körper, wie jeder andere mehrzellige Organismus, ist somit ein republikanischer 302 Vergleichung des mehrzelligen Organismus mit einem Staate. XIII. Zellenstaat; er kann daher organische Functionen vollziehen, welche die einzelne Zelle als Einsiedler (z. B. eine Amoebe oder eine einzellige Pflanze) niemals leisten könnte °°). Es wird keinem vernünftigen Menschen einfallen, in den zweckmässigen Einrichtungen, welche zum Wohle des Ganzen und der Einzelnen in jedem menschlichen Staate getroffen sind, die planvolle Thätigkeit eines persönlichen überirdischen Schöpfers zu suchen. Vielmehr weiss Jedermann, dass jene zweckmässigen Örganisations-Einrichtungen des Staates die Folge von dem Zu- sammenwirken der einzelnen Bürger und ihrer Regierung, sowie von deren Anpassung an die Existenzbedingungen der Aussen- welt sind. Ganz ebenso müssen wir aber auch den mehrzelligen Organismus beurtheilen. Auch in diesem sind alle zweckmässigen Einrichtungen lediglich die natürliche und nothwendige Folge des Zusammenwirkens, der Differenzirung und Vervollkommnung der einzelnen Staatsbürger, der Zellen; und nicht etwa die künst- lichen Einrichtungen eines zweckmässig thätigen Schöpfers. Wenn Sie diesen Vergleich recht erwägen und weiter verfolgen, wird Ihnen deutlich die Verkehrtheit jener dualistischen Naturanschau- ung klar werden, welche in der Zweckmässigkeit der Organisation die Wirkung eines schöpferischen Bauplans sucht. Lassen Sie uns nun die individuelle Entwickelung des Wirbel- thier-Körpers noch einige Schritte weiter verfolgen, und sehen, was die Staatsbürger dieses embryonalen Organismus zunächst anfangen. In der Mittellinie der geigenförmigen Scheibe, (Fig. 7, S. 304), welche aus den vier zelligen Keimblättern zusammengesetzt ist, entsteht eine gerade feine Furche, die sogenannte „Primitiv- rinne“; durch diese wird der geigenförmige Leib in zwei gleiche Seitenhälften abgetheilt, ein rechtes und ein linkes Gegenstück oder Antimer. Beiderseits jener Rinne oder Furche erhebt sich das obere oder äussere Keimblatt in Form einer Längsfalte, und beide Falten wachsen dann über der Rinne in der Mittel- linie zusammen und bilden so, ein cylindrisches Rohr. Dieses Rohr heisst das Markrohr oder Medullarrohr, weil es die Anlage des Central-Nervensystems, des Rückenmarks (Medulla spinalis) ist. Anfangs ist dasselbe vorn und hinten zugespitzt, und so RIM. Entstehung des Rückenmarks der Wirbelthiere. 303 bleibt dasselbe bei den niedersten Wirbelthieren, den gehirnlosen und schädellosen Lanzetthieren (Amphioxus) zeitlebens. Bei allen übrigen Wirbelthieren aber, die wir von letzteren als Schädel- thiere oder Kranioten unterscheiden, wird alsbald ein Unterschied zwischen vorderem und hinterem Ende des Medullarrohrs sicht- bar, indem das erstere sich aufbläht und in eine rundliche Blase, die Anlage des Gehirns verwandelt. Bei allen Kranioten, d. h. bei allen mit Schädel und Gehirn versehenen Wirbelthieren, zerfällt das Gehirn, welches anfangs bloss die blasenförmige Auftreibung vom vorderen Ende des Rückenmarks ist, bald in fünf hinter einander liegende Blasen, indem sich vier oberflächliche quere Einschnürungen bilden. Diese fünf Hirnblasen, aus denen sich späterhin alle verschiedenen Theile des so verwickelt gebauten Gehirns hervorbilden, sind an dem in Fig. 7 abgebildeten Embryo in ihrer ursprünglichen An- lage zu erblicken. Es ist ganz gleich, ob wir den Embryo eines Hundes, eines Huhnes, einer Schildkröte oder irgend eines anderen höheren Wirbelthieres betrachten. Denn die Embryonen der verschiedenen Schädelthiere (mindestens der drei höheren Klassen, der Reptilien, Vögel und Säugethiere) sind in dem, Fig. 7 dar- gestellten Stadium entweder noch gar nicht oder nur durch ganz unwesentliche Merkmale zu unterscheiden. Die ganze Körperform ist noch höchst einfach, eine dünne, blattförmige Scheibe. Ge- sicht, Beine, Eingeweide u. s. w. fehlen noch gänzlich. Aber die fünf Hirnblasen sind schon deutlich von einander abgesetzt. Die erste Blase, das Vorderhirn (v) ist insofern die wich- tigste, als sie vorzugsweise die sogenannten grossen Hemi- sphären, oder die Halbkugeln des grossen Gehirns bildet, des- jenigen Theiles, welcher der Sitz der höheren Geistesthätigkeiten ist. Je höher diese letzteren sich bei dem Wirbelthier entwickeln, desto mehr wachsen die beiden Seitenhälften des Vorderhirns oder die grossen Hemisphären auf Kosten der vier übrigen Blasen und legen sich von vorn und oben her über die anderen herüber. Beim Menschen, wo sie verhältnissmässig am stärksten entwickelt sind, entsprechend der höheren Geistesentwickelung, bedecken sie später die übrigen Theile von oben her fast ganz. (Vergl. Taf. II 304 Entstehung des Gehirns der Wirbelthiere. XII Fig. 7. Embryo eines Säugethieres oder Vo- gels, in dem soeben die fünf Hirnblasen angelegt sind. v Vorderhirn. z Zwischenhirn. m Mittel- hirn. A Hinterhirn. n Nachhirn. p Rückenmark. a Augenblasen. » Urwirbel. d Rückenstrang oder Chorda. und III.) Die zweite Blase, das Zwischen- hirn (z) bildet besonders denjenigen Gehirn- theil, welchen man Sehhügel nennt, und steht in der nächsten Beziehung zu den Au- sen (a), welche als zwei Blasen rechts und links aus dem Vorderhirn hervorwachsen und später am Boden des Zwischenhirns liegen. Die dritte Blase, das Mittelhirn (m) geht grösstentheils in der Bildung der sogenannten Vierhügel auf, eines hoch- gewölbten Gehirntheiles, welcher besonders bei den Reptilien und bei den Vögeln stark ausgebildet ist (Fig. E, F, Taf. ID), während er bei den Säuge- thieren viel mehr zurücktritt (Fig. G, H, Taf. II). Die vierte Blase, das Hinterhirn (h) bildet die sogenannten kleinen Hemisphären oder die Halbkugeln nebst dem Mitteltheil des kleinen Gehirns (Cerebellum), einen Gehirntheil, über dessen Bedeutung man die widersprechendsten Vermuthungen hegt, der aber vorzugsweise die Coordination der Bewegungen zu regeln scheint. Endlich die fünfte Blase, das Nachhirn (n), bildet sich zu demjenigen sehr wichtigen Theile des Central-Nerven- systems aus, welchen man das Nackenmark oder das ver- längerte Mark (Medulla oblongata) nennt. Es ist das Central- Organ der Athem-Bewegungen und anderer wichtiger Functionen, und seine Verletzung führt sofort den Tod herbei, während man die grossen Hemisphären des Vorderhirns (oder das Organ der „Seele“ im engeren Sinne) stückweise abtragen und zuletzt ganz vernichten kann, ohne dass das Wirbelthier deshalb stirbt; nur seine höheren Geistesthätigkeiten schwinden dadurch. heime oder Embryen v. Vorderhirn: x. Amwischenhirm. m. Mittelhirn: hHinterhirn.. n. Nachhirn: w. Wirbel. r Kückenmark. belthteren. [A N VON DVLET Se mann Wioro) terbein Liemenbogen. s Schwan. N ; A; bh.Hı 4 lea. 1ge. e. 0. Ohr. I; bv. Dorderbein. na_Nase. a Äu XIII. Bildung und Bedeutung der fünf Hirnblasen der Wirbelthiere. 305 Diese fünf Hirnblasen sind ursprünglich bei allen Wirbel- thieren, die überhaupt ein Gehirn besitzen, gleichmässig angelegt, und bilden sich erst allmählich bei den verschiedenen Gruppen so verschiedenartig aus, dass es nachher sehr schwierig ist, in den ganz entwickelten Gehirnen die gleichen Theile wieder zu er- kennen. In dem frühen Entwickelungs-Stadium, welches in Fig. 7 dargestellt ist, erscheint es noch ganz unmöglich, die Embryonen der verschiedenen Säugethiere, Vögel und Reptilien von einander zu unterscheiden. Wenn Sie dagegen die viel weiter entwickelten Embryonen auf Taf. II und III mit einander vergleichen, werden Sie schon deutlich die ungleichartige Ausbildung erkennen, und namentlich wahrnehmen, dass das Gehirn der beiden Säugethiere (G) und (H) schon stark von dem«der Vögel (F) und Reptilien (E) abweicht. Bei letzteren beiden zeigt bereits das Mittelhirn, bei den ersteren dagegen das Vorderhirn sein Uebergewicht. Aber auch noch in diesem Stadium ist das Gehirn des Vogels (F) von dem der Schildkröte (E) kaum verschieden, und ebenso ist das Gehirn des Hundes (G) demjenigen des Menschen (H) jetzt noch fast gleich. Wenn Sie dagegen die Gehirne dieser vier Wirbel- thiere im ausgebildeten Zustande mit einander vergleichen, so finden Sie dieselben in allen anatomischen Einzelheiten so sehr verschieden, dass Sie nicht einen Augenblick darüber in Zweifel sein können, welchem Thiere jedes Gehirn angehört. Ich habe Ihnen hier die ursprüngliche Gleichheit und die erst allmählich eintretende und dann immer wachsende Sonde- rung oder Differenzirung des Embryo bei den verschiedenen Wirbelthieren speciell an dem Beispiele des Gehirns erläutert, weil gerade dieses Organ der Seelen-Thätigkeit von ganz beson- derem Interesse ist. Ich hätte aber eben so gut das Herz oder die Gliedmaassen, kurz jeden anderen Körpertheil statt dessen anführen können; immer wiederholt sich hier dasselbe Schöpfungs- Wunder: nämlich die Thatsache, dass alle Theile ursprünglich bei den verschiedenen Wirbelthieren gleich sind, und dass erst allmählich ihre Verschiedenheiten sich ausbilden. In meinen Vor- trägen über „Entwickelungs-Geschichte des Menschen“ °“) finden Sie den Beweis für jedes einzelne Organ geführt. Haeckel, Natürl. Schöpfungs-Gesch. 8. Aufl. 20 306 Entwickelung der Extremitäten der Wirbelthiere. xmM Es giebt gewiss wenige Körpertheile, welche so verschieder artig ausgebildet sind, wie die Gliedmaassen oder Extremi täten der verschiedenen Wirbelthiere.. (Vergl. unten Taf. T\ und deren Erklärung im Anhang.) Nun bitte ich Sie, in Fig... —H auf Taf. II und Il die vorderen Extremitäten (b v) de verschiedenen Embryonen mit einander zu vergleichen, und. Si werden kaum im Stande sein, irgend welche bedeutende Unie schiede zwischen dem Arm des Menschen (H b v), dem Flüg«ı des Vogels (Fb v), dem schlanken Vorderbein des Hundes (G b v und dem plumpen Vorderbein der Schildkröte (E b v) zu erkenneı Eben so wenig werden Sie bei Vergleichung der hinteren Extr« mität (b h) in diesen Figuren herausfinden, wodurch das Bei des Menschen (H b h) und des Vogels (F bh), das Hinterbei des Hundes (G b h) und der Schildkröte (E bh) sich unter scheiden. Vordere sowohl als hintere Extremitäten sind jetz noch kurze und breite Platten, an deren Endausbreitung di Anlagen der fünf Zehen noch durch eine Schwimmhaut verbur den sind. In einem noch früheren Stadium (Fig. A—D) sind di fünf Zehen noch nicht einmal angelegt, und es ist ganz unmög lich, auch nur vordere und hintere Gliedmaassen zu unterscheider Diese sowohl als jene sind nichts als ganz einfache, rundlich Fortsätze, welche aus der Seite des Rumpfes hervorgespross sind. In dem frühen Stadium, welches Fig. 7 darstellt, fehle dieselben überhaupt noch ganz, und der ganze Embryo ist ei einfacher Rumpf ohne eine Spur von Gliedmaassen. An den auf Taf. II und III dargestellten Embryonen au der vierten Woche der Entwickelung (Fig. A—D), in denen $i jetzt wohl noch keine Spur des erwachsenen Thieres werden eı kennen können, möchte ich Sie noch besonders aufmerksaı machen auf eine äusserst wichtige Bildung, welche allen Wirbe thieren ursprünglich gemeinsam ist, welche aber späterhin zu de verschiedensten Organen umgebildet wird. Sie kennen gewis alle die Kiemenbogen der Fische, jene knöchernen Bogeı welche zu drei oder vier hinter einander auf jeder Seite de Halses liegen, und welche die Athmungs-Organe der Fische, di Kiemen, tragen (Doppelreihen von rothen Blättchen, welche lz Arco 2 AA» Gastrulation oder Gastrulabilduns, 23 00H 010 Rablu.Hertwig. 1-10. Teichschnecke (Lymnaeus). 11-20, Pfeilwurm (Sasiıtta). Lith Anstv A6iltsch Jena XII. Entwickelung der Kiemenbogen. Schwanz des Menschen. 307 Volk „Fischohren“ nennt). Diese Kiemenbogen und die dazwischen befindlichen Kiemenspalten sind beim Menschen (D) und beim Hunde (C), beim Huhne (B) und bei der Schildkröte (A) ur- sprünglich ganz eben so vorhanden, wie bei allen übrigen Wirbel- thieren. (In Fig. A—D sind die drei Kiemenbogen der rechten Halsseite mit den Buchstaben k 1, k2, k 3 bezeichnet.) Allein nur bei den Fischen bleiben dieselben in der ursprünglichen An- lage bestehen und bilden sich zu Athmungs-Organen aus. Bei den übrigen Wirbelthieren werden dieselben theils zur Bildung des Gesichts, theils zur Bildung des Gehör-Organs verwendet. Endlich will ich nicht verfehlen, Sie bei Vergleichung der auf Taf. II und III abgebildeten Embryonen nochmals auf das Schwänzchen des Menschen (s) aufmerksam zu machen, welches derselbe mit allen übrigen Wirbelthieren in der ursprüng- lichen Anlage theilt. Die Auffindung „geschwänzter Menschen“ wurde lange Zeit von vielen Monisten mit Sehnsucht erwartet, um darauf eine nähere Verwandtschaft des Menschen mit den übrigen Säugethieren begründen zu können. Und eben so hoben ihre dualistischen Gegner oft mit Stolz hervor, dass der gänzliche Mangel des Schwanzes einen der wichtigsten körperlichen Unter- schiede zwischen dem Menschen und den Thieren ‚bilde, wobei sie nicht an die vielen schwanzlosen Thiere dachten, die es wirk- lich giebt. Nun besitzt aber der Mensch in den ersten Monaten der Entwickelung eben so gut einen wirklichen Schwanz, wie die nächstverwandten schwanzlosen Affen (Orang, Schimpanse, Gorilla) und wie die Wirbelthiere überhaupt. Während derselbe aber bei den meisten, z. B. beim Hunde (Fig. C, G), im Laufe der Ent- wickelung immer länger wird, bildet er sich beim Menschen (Fig. D, H) und bei den ungeschwänzten Säugethieren von einem gewissen Zeitpunkt der Entwickelung an zurück und verwächst zuletzt völlige. Indessen ist auch beim ausgebildeten Menschen der Rest des Schwanzes als verkümmertes oder rudimentäres Organ noch in den drei bis fünf Schwanzwirbeln (Vertebrae cocceygeae) zu erkennen, welche das hintere oder untere Ende der Wirbelsäule bilden; ein untrügliches Zeugniss der Abstammung von geschwänzten Ahnen (S. 285). 20* 308 Die Keimes-Geschichte als Auszug der Stammes-Geschichte. XIII. Die meisten Menschen wollen noch gegenwärtig die wich- tigste Folgerung der Descendenz-Theorie, die paläontologische Entwickelung des Menschen aus affenähnlichen und weiterhin aus niederen Säugethieren nicht anerkennen, und halten eine solche Umbildung der organischen Form für unmöglich. Ich frage Sie aber, sind die Erscheinungen der individuellen Entwickelung des Menschen, von denen ich Ihnen hier die Grundzüge vorgeführt habe, etwa weniger wunderbar? Ist es nicht im höchsten Grade merkwürdig, dass alle Wirbelthiere aus den verschiedensten Klassen, Fische, Amphibien, Reptilien, Vögel und Säugethiere, in den ersten Zeiten ihrer embryonalen Entwickelung geradezu nicht zu unterscheiden sind; und dass selbst viel später noch, in einer Zeit, wo bereits Reptilien und Vögel sich deutlich von den Säugethieren unterscheiden, Hund und Mensch noch beinahe identisch sind? Fürwahr, wenn man jene beiden Entwickelungs- Reihen mit einander vergleicht, und sich fragt, welche von beiden wunderbarer ist, so muss uns die Ontogenie oder die kurze und schnelle Entwickelungs-Geschichte des Individuums viel räthselhafter erscheinen, als die Phylogenie oder die lange und langsame Entwickelungs-Geschichte des Stammes. Denn eine und dieselbe grossartige Form-Wandelung und Umbildung wird von der letzteren im Lauf von vielen tausend Jahren, von der ersteren dagegen im Laufe weniger Wochen oder Monate vollbracht. Offen- bar ist diese überaus schnelle und auffallende Umbildung des In- dividuums in der Ontogenesis, welche wir thatsächlich durch directe Beobachtung feststellen können, an sich viel wunderbarer, viel erstaunlicher, als die entsprechende, aber viel langsamere und allmählichere Umbildung, welche die lange Vorfahren-Kette des- selben Individuums in der Phylogenesis durchgemacht hat. Beide Reihen der organischen Entwickelung, die Ontogenesis des Individuums, und die Phylogenesis des Stammes, zu welchem dasselbe gehört, stehen im innigsten ursächlichen Zusammenhange. Die Keimes-Geschichte ist ein Auszug der Stammes- Geschichte, oder mit anderen Worten: die Ontogenie ist eine Recapitulation der Phylogenie. Ich habe diese Theorie, welche ich für äusserst wichtig halte, im zweiten Bande meiner gene- XIII. Ursächlicher Zusammenhang der Ontogenesis und Phylogenesis. 309 rellen Morphologie‘) ausführlich zu begründen versucht und in meiner „Anthropogenie“°°) am Menschen selbst durchgeführt. Wie ich dort an jedem einzelnen Organ-System des Menschen nachwies, ist die OÖntogenesis, oder die Entwickelung des Individuums, eine kurze und schnelle, durch die Ge- setze der Vererbung und Anpassung bedingte Wieder- holung (Recapitulation) der Phylogenesis oder der Ent- wickelung des zugehörigen Stammes, d.h. der Vorfahren, welche die Ahnenkette des betreffenden Individuums bilden. Dieser fundamentale Satz ist das wichtigste allgemeine Gesetz der organischen Entwickelung, das biogen etische Grundgesetz. (Vergl. meine „Studien zur Gasträa-Theorie*, 1877, S. 70.) Die Uebereinstimmung vieler Keim-Formen höherer Thiere mit den entwickelten Formen von ‚stammverwandten niederen Thieren, ist so auffallend, dass sie schon der älteren Natur- Philosophie nicht entging; Oken, Treviranus u. A. wiesen schon im Anfang unseres Jahrhunderts darauf hin. Meckel sprach schon 1821 von einer „Gleichung zwischen der Entwicke- lung des Embryo und der Thierreihe*. Baer erläuterte schon 1525 kritisch die Frage, wie weit innerhalb eines Typus oder Stammes, (z. B. der Wirbelthiere), die Keim-Formen der höheren Thiere die bleibenden Formen der niederen durchlaufen. Allein von einem wirklichen Verständniss dieser wunderbaren Gleichung konnte natürlich so lange nicht die Rede sein, als die Abstam- mungs-Lehre noch nicht zur Anerkennung gelangt war. Als dann endlich Darwin 1859 diese Anerkennung durchsetzte, wies er auch im XIV. Capitel seines Hauptwerks kurz auf die grosse Bedeutung der Embryologie hin. Eingehend und mit voller Klar- heit hat aber dieselbe zuerst Fritz Müller an dem Beispiele der Krebs - Klasse erläutert, in seiner vorzüglichen Schrift „Für Darwin“ '®). Ich selbst habe dann seiner Theorie eine schärfere Fassung in der Form meines „biogenetischen Grundgesetzes“ ge- geben, und sie in den Studien zur Gasträa-Theorie, sowie in der Anthropogenie weiter ausgeführt. In dem innigen Zusammenhange der Keimes- und Stammes- Geschichte erblicke ich einen der wichtigsten und unwiderleg- 310 Parallelismus der Keimes- und der Stammes-Entwickelung XIII. lichsten Beweise der Descendenz-Theorie. Es vermag Niemand diese Erscheinungen zu begreifen, wenn er nicht auf die Ver- erbungs- und Anpassungs-Gesetze zurückgeht; durch diese erst sind sie erklärlich. Ganz besonders verdienen dabei die Gesetze unsere Beachtung, welche wir früher als die Gesetze der ab- gekürzten, der gleichzeitlichen und der gleichörtlichen Vererbung erläutert haben. Indem sich ein so hochstehender und verwickelter Organismus, wie der des Menschen oder eines anderen Säugethieres, von jener einfachen Zellen-Stufe an auf- wärts erhebt, indem er fortschreitet in seiner Differenzirung und Vervollkommnung, durchläuft er dieselbe Reihe von Umbildungen, welche seine thierischen Ahnen vor undenklichen Zeiten, während ungeheurer Zeiträume durchlaufen haben. Schon früher habe ich auf diesen äusserst wichtigen Parallelismus der individuellen und Stammes-Entwickelung hingewiesen (S. 10). Gewisse, sehr frühe und tief stehende Entwickelungs-Stadien des Menschen und der höheren Wirbelthiere überhaupt entsprechen durchaus gewissen Bildungen, welche zeitlebens bei niederen Fischen fortdauern. Es folgt dann eine Umbildung des fischähnlichen Körpers zu einem amphibienartigen. Viel später erst entwickelt sich aus diesem der Säugethier-Körper mit seinen bestimmten Charakteren, und man kann hier wieder in den auf einander folgenden Entwicke- lungs-Stadien eine Reihe von Stufen fortschreitender Umbildung erkennen, welche offenbar den Verschiedenheiten verschiedener Säugethier-Ordnungen und Familien entsprechen. In derselben Reihenfolge sehen wir aber auch die Vorfahren des Menschen und der höheren Säugethiere in der Erd-Geschichte nach ein- ander auftreten: zuerst Fische, dann Amphibien, später niedere und zuletzt erst höhere Säugethiere. So läuft die embryonale Entwickelung des Individuums durchaus parallel der paläontolo- gischen Entwickelung des ganzen zugehörigen Stammes; und diese äusserst interessante und wichtige Erscheinung ist einzig und allein durch die Wechselwirkung der Vererbungs- und Anpassungs- Gesetze zu erklären. Um übrigens das biogonetische Grundgesetz richtig zu ver- stehen und anzuwenden, muss man bedenken, dass die erbliche XIII. Auszugs-Entwickelung und Störungs-Entwickelung. 311 Wiederholung der ursprünglichen Stammformen-Kette durch die entsprechende und parallele Keimformen-Kette nur selten (oder strenggenommen niemals!) ganz vollständig ist. Denn die wech- selnden Existenz-Bedingungen üben ihre Wirkung auf jede einzelne Keimform ebenso aus, wie auf den entwickelten Organismus. Ausserdem wirkt das Gesetz der abgekürzten Vererbung (S. 191) beständig auf eine Vereinfachung des ursprünglichen Entwicke- lungsganges hin. Andererseits kann aber der Keim durch An- passung an neue Lebens-Verhältnisse (z. B. Bildung schützender Hüllen) neue Formen gewinnen, welche dem ursprünglichen, durch Vererbung übertragenen Bilde der Stammform fehlten. So muss denn nothwendig das Bild der Keimform (besonders der späteren Keimungsstufen) mehr oder weniger von dem ur- sprünglichen Bilde der entsprechenden Stammform abweichen, und zwar um so mehr, je höher der Organismus entwickelt ist. Demnach zerfallen eigentlich alle Erscheinungen der Kei- mung oder der individuellen Entwickelung (Ontogenesis) in zwei verschiedene Gruppen: Die erste Gruppe umfasst die Ur-Ent- wickelung oder Auszugs-Entwickelung (Palingenesis) und führt uns noch heute jene uralten Bildungs-Verhältnisse vor Augen, welche durch Vererbung von den ursprünglichen Stammformen übertragen worden sind (so z. B. beim menschlichen Embryo die Kiemenbogen, die Chorda, der Schwanz u. s. w.). Die zweite Gruppe hingegen enthält die Störungs-Entwickelung oder Fälschungs-Entwickelung (Cenogenesis) und trübt das ursprüng- liche Bild des Entwickelungs-Ganges durch Einführung neuer, fremder Bildungen, welche den älteren Stammformen fehlten und erst durch Anpassung an die besonderen Bedingungen ihrer individuellen Entwickelung von den Keimformen erworben wurden (so z. B. beim menschlichen Embryo die Ei-Hüllen, der Dottersack, die Placenta u. s. w.). h Jede kritische Untersuchung und Verwerthung der individuellen Entwickelung wird daher vor Allem zu unterscheiden haben, wie viel von den embryologischen Thatsachen palingenetische Documente sind (zur Auszugs-Geschichte gehörig) — wieviel anderseits cenogenetische Abänderungen jener Documente 312 Parallele der individuellen und systematischen Entwickelung. XIII. (der Störungs-Geschichte angehörig). Je mehr in der Keimes- Geschichte jedes Organismus durch Vererbung die ursprüngliche Palingenie erhalten ist, desto treuer ist das Bild, welches uns dieselbe von der Stammes-Geschichte desselben entwirft; je mehr anderseits durch Anpassung der Keimformen die Cenogenie störend eingewirkt hat, desto mehr wird jenes Bild verwischt oder entstellt. Der wichtige Parallelismus der paläontologischen und der in- dividuellen Entwickelungsreihe lenkt nun unsere Aufmerksamkeit noch auf eine dritte Entwickelungsreihe, welche zu diesen beiden in den innigsten Beziehungen steht und denselben ebenfalls im Ganzen parallel läuft. Das ist nämlich diejenige Stufenleiter von For- men, welche das Untersuchungs-Objeet der vergleichenden Anatomie bildet, und welche wir kurz die systematische Entwickelung nennen wollen. Wir verstehen darunter die Kette von verschiedenartigen, aber doch verwandten und zusam- menhängenden Formen, welche zu irgend einer Zeit der Erdge- schichte, also z. B. in der Gegenwart, neben einander existi- ren. Indem die vergleichende Anatomie die verschiedenen aus- gebildeten Formen der entwickelten Organismen mit einander vergleicht, sucht sie das gemeinsame Urbild zu erkennen, welches den mannichfaltigen Formen der verwandten Arten, Gattungen, Klassen u. s. w. zu Grunde liegt, und welches durch deren Dif- ferenzirung nur mehr oder minder versteckt wird. Sie sucht die Stufenleiter des Fortschritts festzustellen, welche durch den ver- schiedenen Vervollkommnungsgrad der divergenten Zweige des Stammes bedingt ist. Um bei dem angeführten Beispiele zu blei- ben, so zeigt uns die vergleichende Anatomie, wie die einzelnen Organe und ÖOrgan-Systeme des Wirbelthier-Stammes in den ver- schiedenen Klassen, Familien und Arten desselben sich ungleich- artig entwickelt, differenzirt und vervollkommnet haben. Sie er- klärt uns, in welchen Beziehungen die Reihenfolge der Wirbel- thier-Klassen von den Fischen aufwärts durch die Amphibien zu den Säugethieren, und hier wieder von den niederen zu den höheren Säugethier-Ordnungen, eine aufsteigende Stufenleiter bil- det. Welches klare Licht die Erkenntniss dieser stufenweisen XIII. Parallele der individuellen und systematischen Entwickelung. 313 Entwickelung der Organe verbreitet, können Sie aus den verglei- chend-anatomischen Arbeiten von Goethe, Meckel, Cuvier, Johannes Müller, Gegenbaur, Huxley, Fürbringer u. A. sehen; die letzteren haben durch Anwendung der Descendenz- Theorie dieser Wissenschaft eine ganz neue Gestalt gegeben. Die Stufenleiter der ausgebildeten Formen, welche die ver- gleichende Anatomie in den verschiedenen Divergenz- und Fort- schritts-Stufen des organischen Systems nachweist, und welche wir die systematische Entwickelungsreihe nannten, entspricht einem Theile der paläontologischen Entwickelungsreihe; sie be- trachtet das anatomische Resultat der letzteren in der Gegenwart; und sie ist zugleich parallel der individuellen Entwickelungsreihe; diese selbst ist wiederum der paläontologischen parallel. Die mannichfaltige Differenzirung und der ungleiche Grad von Vervollkommnung, welchen die vergleichende Anatomie in der Entwickelungsreihe des Systems nachweist, ist wesentlich be- dingt durch die zunehmende Mannichfaltigkeit der Existenzbedin- gungen, denen sich die verschiedenen Gruppen im Kampf um das Dasein anpassten, und durch den verschiedenen Grad von Schnelligkeit und Vollständigkeit, mit welchem diese Anpassung geschah. Die conservativen Gruppen, welche die ererbten Eigen- thümlichkeiten am zähesten festhielten, blieben in Folge dessen auf der tiefsten Entwickelungsstufe stehen. Die am schnellsten und vielseitigsten fortschreitenden Gruppen, welche sich‘ den ver- vollkommneten Existenzbedingungen am bereitwilligsten anpass- ten, erreichten selbst den höchsten Vollkommenheitsgrad. Je weiter sich die organische Welt im Laufe der Erdgeschichte ent- wickelte, desto grösser musste die Divergenz der niederen conser- vativen und der höheren progressiven Gruppen werden, wie das ja eben so auch aus der Völkergeschichte ersichtlich ist. Hier- aus erklärt sich auch die historische Thatsache, dass die voll- kommensten Thier- und Pflanzen-Gruppen sich in verhältniss- mässig kurzer Zeit zu sehr bedeutender Höhe entwickelt haben, während die niedrigsten, conservativsten Gruppen durch alle Zei- ten hindurch auf der ursprünglichen Stufe stehen geblieben, oder nur sehr langsam und allmählich etwas fortgeschritten sind. 314 Niedere conservative und höhere progressive Gruppen. XII Auch die Ahnenreihe des Menschen zeigt dieses Verhältniss deutlich. Die Haifische der Jetztzeit stehen den Ur-Fischen, welche zu den ältesten Wirbelthier-Ahnen des Menschen gehören, noch sehr nahe, ebenso die heutigen niedersten Amphibien (Kie- menmolche und Salamander) den Amphibien, welche sich aus jenen zunächst entwickelten. Und eben so sind unter den spä- teren Vorfahren des Menschen die Monotremen und Beutelthiere, die ältesten Säugethiere, zugleich die unvollkommensten Thiere dieser Klasse die heute noch leben. Die uns bekannten Gesetze der Vererbung und Anpassung genügen vollständig, um diese äusserst wichtige und interessante Erscheinung zu erklären, die man kurz als den Parallelismus der individuellen, der paläontologischen und der systematischen Entwickelung, des betreffenden Fortschrittes und der betreffenden Differen- zirung bezeichnen kann. Kein Gegner der Descendenz-Theorie ist im Stande gewesen, für diese höchst wunderbare Thatsache eine Erklärung zu liefern, während sie sich nach der Descendenz- Theorie aus den Gesetzen der Vererbung und Anpassung vollkom- men erklärt. Wenn Sie diesen Parallelismus der drei organischen Ent- wickelungsreihen schärfer in’s Auge fassen, so müssen sie noch folgende nähere Bestimmung hinzufügen. Die Ontogenie oder die individuelle Entwickelungsgeschichte jedes Organismus (Em- bryologie und Metamorphologie) bildet eine einfache, unver- zweigte oder leiterförmige Kette von Formen; und eben so der- jenige Theil der Phylogenie, welcher die paläontologische Ent- wickelungsgeschichte der directen Vorfahren jedes individuel- len Organismus enthält. Dagegen bildet die ganze Phylogenie, welche uns ‘in dem natürlichen System jedes organischen Stammes oder Phylum entgegentritt, und welche die paläontolo- gische Entwickelung aller Zweige dieses Stammes untersucht, eine verzweigte oder baumförmige Entwickelungsreihe, einen wirklichen Stammbaum. Untersuchen Sie vergleichend die ent- wickelten Zweige dieses Stammbaums in der Gegenwart, und stel- len Sie dieselben nach dem Grade ihrer Differenzirung und Ver- vollkommnung zusammen, so erhalten Sie die systematische ' RT. Parallelismus der drei organischen Entwickelungsreihen. 315 Stufenleiter der vergleichenden Anatomie. Genau genom- men ist also diese letztere nur ein Theil der ganzen Phylogenie und auch nur theilweise der Ontogenie parallel; die Ontogenie selbst ist nur einem Theile der Phylogenie parallel. In neuerer Zeit ist vielfach darüber gestritten worden, welche von jenen drei grossen Entwickelungs-Reihen die höchste Bedeu- tung für den Transformismus und für die Erkenntniss der Stamm- Verwandtschaft besitze. Dieser Streit ist überflüssige; denn im Allgemeinen sind alle drei von gleich hohem Werthe; im Einzelnen aber muss der phylogenetische Forscher für jeden besonderen Fall kritisch untersuchen, ob er den Thatsachen der Palaeontologie, oder der Ontogenie, oder der vergleichenden Anatomie grössere Wichtigkeit beimessen soll. - Alle im Vorhergehenden erläuterten Erscheinungen der orga- nischen Entwickelung, insbesondere dieser dreifache genealogische Parallelismus, und die Differenzirungs- und Fortschritts-Gesetze, welche in jeder dieser drei organischen Entwickelungsreihen sicht- bar sind, liefern äusserst wichtige Belege für die Wahrheit der Descendenz-Theorie. Denn sie sind nur durch diese zu erklären, während die Gegner derselben auch nicht die Spur einer Erklä- rung dafür aufbringen können. Ohne die Abstammungs-Lehre lässt sich die Thatsache der organischen Entwickelung über- haupt nicht begreifen. Wir würden daher gezwungen sein, auf Grund derselben Lamarck’s Abstammungs-Theorie anzunehmen, auch wenn wir nicht Darwin’s Züchtungs-Theorie besässen. Vierzehnter Vortrag. Wanderung und Verbreitung der Organismen. Die Chorologie und die Eiszeit der Erde. Chorologische Thatsachen und Ursachen. Einmalige Entstehung der meisten Arten an einem einzigen Orte: „Schöpfungs-Mittelpunkte“. Ausbrei- tung durch Wanderung. Active und passive Wanderungen der Thiere und Pflanzen. Fliegende Thiere. Analogien zwischen Vögeln und Insecten. Fledermäuse. Transportmittel. Transport der Keime durch Wasser und Wind. Beständige Veränderung der Verbreitungs-Bezirke durch Hebungen und Senkungen des Bodens. Chorologische Bedeutung der geologischen Vor- gänge. Einfluss des Klima-Wechsels. Eiszeit oder Glacial-Periode. Ihre Bedeutung für die Chorologie. Bedeutung der Wanderungen für die Ent- stehung neuer Arten. Isolirung derKolonisten. Wagner's „Migrations-Gesetz“. Verhältniss der Migrations-Theorie zur Selections-Theorie. Uebereinstimmung ihrer Folgerungen mit der Descendenz-Theorie. Meine Herren! Wie ich schon zu wiederholten Malen hervor- gehoben habe, wie aber nie genug betont werden kann, liegt der eigentliche Werth und die unüberwindliche Stärke der Descendenz- Theorie nicht darin, dass sie uns diese oder jene einzelne That- sache erläutert, sondern darin, dass sie uns die Gesammtheit der biologischen Erscheinungen erklärt, dass sie uns alle botanischen und zoologischen Erscheinungsreihen in ihrem inneren Zusammenhange verständlich macht. Daher wird jeder denkende Forscher um so fester und tiefer von ihrer Wahrheit durch- drungen, je mehr er seinen Blick von einzelnen biologischen. Wahrnehmungen zu einer allgemeinen Betrachtung des Gesammt- gebietes des Thier- und Pflanzen-Lebens erhebt. Lassen Sie uns I e en nn DOIV.. Chorologische Thatsachen und Ursachen. 317 nun jetzt, von diesem umfassenden Standpunkt aus, ein grosses biologisches Gebiet überblicken, dessen mannichfaltige und ver- wickelte Erscheinungen besonders einfach und lichtvoll durch die Descendenz-Theorie erklärt werden. Ich meine die Chorologie oder die Lehre von der räumlichen Verbreitung der Orga- nismen über die Erd-Oberfläche. Darunter verstehe ich nicht nur die geographische Verbreitung der Thier- und Pflanzen-Arten über die verschiedenen Erdtheile und deren Pro- vinzen, über Festländer und Inseln, Meere und Flüsse; sondern auch die topographische Verbreitung derselben und ihre Ver- theilung in verticaler Richtung, ihr Hinaufsteigen auf die Höhen der Gebirge, ihr Hinabsteigen in die Tiefen des Oceans. Wie Ihnen bekannt sein wird, haben die sonderbarenchoro- logischen Erscheinungsreihen, welche die horizontale Verbreitung der Organismen über die Erdtheile, und ihre verticale Verbreitung in Höhen und Tiefen darbieten, schon seit längerer Zeit allge- meines Interesse erweckt. Insbesondere haben Alexander Hum- boldt, Frederick Schouw und Griesebach die Geographie der Pflanzen, Berghaus, Schmarda und Wallace die Geo- graphie der Thiere in weiterem Umfange behandelt. Aber ob- wohl diese und manche andere Naturforscher unsere Kenntnisse von der Verbreitung der Thier- und Pflanzen - Formen vielfach gefördert und uns ein weites Gebiet des Wissens voll wunder- barer und interessanter Erscheinungen zugänglich gemacht haben, so blieb doch die ganze Chorologie immer nur ein zerstreutes Wissen von einer Masse einzelner Thatsachen. Eine Wissen- schaft konnte man sie nicht nennen, so lange uns die wirken- den Ursachen zur Erklärung dieser Thatsachen fehlten. Diese Ursachen hat uns erst die mit der Selections-Theorie eng ver- bundene Migrations-Theorie, die Lehre von den Wanderungen der Thier- und Pflanzen - Arten, enthüllt, und erst seit Darwin können wir von einer selbstständigen chorologischen Wissen- schaft reden. Nächst Darwin haben namentlich Wallace und Moriz Wagner dieselbe gefördert. Der erste Naturforscher, welcher den Grundgedanken der Migrations-Theorie klar erfasste und ihre Bedeutung für die Ent- 318 Umbildung der Arten durch Wanderung. xXIW stehung neuer Arten richtig erkannte, war der berühmte deutsche Geologe Leopold Buch. In seiner „physikalischen Beschreibung der canarischen Inseln“ gelangte er schon 1825, also 34 Jahre vor dem Erscheinen von Darwin’s Werk, zu den merkwürdigen Sätzen, welche ich Ihnen bereits früher wörtlich angeführt habe (im V. Vortrage, S. 95). In diesen sind Wanderung, Ausbreitung und räumliche Sonderung der Abarten als die drei bedeutungsvollen äusseren Ursachen hingestellt, welche die Umbildung der Arten bewirken; ihr Einfluss genügt, um durch innere Wechselwirkung der Veränderlichkeit und der Erblichkeit neue Species hervor- zubringen. Dabei erörtert Buch vorzüglich auf Grund seiner eigenen, sehr ausgedehnten Beobachtungen auf grossen Reisen, -die hohe Bedeutung, welche die räumliche Sonderung der ausgewanderten Thiere und Pflanzen auf isolirten Inseln besitzt. Leider hat der geistvolle Geologe damals diesen wichtigen Ge- danken nicht weiter ausgeführt und nicht einmal seinen Freund Alexander Humboldt von seiner Bedeutung überzeugen können. Wagner hat aber in seinem Aufsatze über Leopold Buch und Charles Darwin (1883) mit Recht hervorgehoben, dass der Erstere mit Hinsicht auf die Migrations-Theorie als der bedeutendste Vorläufer des Letzteren gelten muss °'). Wenn man die gesammten Erscheinungen der geographischen und topographischen Verbreitung der Organismen an und für sich betrachtet, ohne Rücksicht auf die allmähliche Entwickelung der Arten, und wenn man zugleich, dem herkömmlichen Aberglauben folgend, die einzelnen Thier- und Pflanzen-Arten als selbstständig erschaffene und von einander unabhängige Formen betrachtet, so bleibt nichts anderes übrig, als jene Erscheinungen wie eine bunte Sammlung von unbegreiflichen und unerklärlichen Wundern an- zustaunen. Sobald man aber diesen niederen Standpunkt ver- lässt und mit der Annahme einer Stammverwandtschaft der verschiedenen Species sich zur Höhe der Entwickelungs-Theorie erhebt, so fällt sogleich ein vollständig erklärendes Licht auf jenes mystische Wundergebiet; man überzeugt sich alsdann, dass alle jene chorologischen Thatsachen ganz einfach und leicht aus der Annahme einer gemeinsamen Abstammung INIRV“ Einmalige Entstehung jeder Art an einem Orte. 319 der Arten, in Verbindnng mit ihrer passiven und activen Wan- derung begreiflich werden. Der wichtigstegg&rundsatz, von dem wir in der Chorologie ausgehen müssen, und von dessen Wahrheit uns jede tiefere Be- trachtung der Selections-Theorie überzeugt, ist, dass in der Regel jede Thier- und Pflanzen-Art nur einmal im Lauf der Zeit und nur an einem Orte der Erde, an ihrem sogenannten „Schöpfungs- mittelpunkte“, durch natürliche Züchtung entstanden ist. Ich theile diese Ansicht Darwin’s unbedingt in Bezug auf die grosse Mehr- zahl der höheren und vollkommenen Organismen; sie gilt von den allermeisten Thieren und Pflanzen, bei denen die Arbeitstheilung und Formspaltung der sie zusammensetzenden Zellen und Organe einen gewissen Grad erreicht hat. Denn es ist ganz unglaublich, oder könnte doch nur durch einen höchst seltenen Zufall ge- schehen, dass alle die mannichfaltigen und verwickelten Um- stände, alle die verschiedenen Bedingungen des Kampfes um’s Dasein, die bei der Entstehung einer neuen Art durch natürliche Züchtung wirksam sind, genau in derselben Vereinigung und Ver- bindung mehr als einmal in der Erdgeschichte, oder gleichzeitig an mehreren verschiedenen Punkten der Erdoberfläche zusammen gewirkt haben. Dagegen halte ich es für sehr wahrscheinlich, dass gewisse höchst unvollkommene Organismen vom einfachsten Bau, also Species von höchst indifferenter Natur, wie z. B. viele einzellige Protisten (Algen sowohl als Amoeben und Infusorien), nament- lich aber die einfachsten von allen, die Moneren, mehrmals oder gleichzeitig an mehreren Stellen der Erde entstanden seien. Denn die wenigen einfachen Bedingungen, durch welche ihre specifische Gestalt im Kampfe um’s Dasein umgebildet wurde, können sich wohl öfter im Laufe der Zeit, oder unabhängig von einander an verschiedenen Stellen der Erde wiederholt haben. Ferner können auch diejenigen höheren specifischen Formen, welche nicht durch natürliche Züchtung, sondern durch Bastardzeugung entstanden sind, die früher erwähnten Bastardarten (S. 131, 267), wiederholt an verschiedenen Orten in gleicher Form neu entstanden sein. Da uns jedoch diese verhältnissmässig geringe Anzahl von Orga- 320 Die Schöpfungs-Mittelpunkte oder Ur-Heimathen. XIV. nismen hier vorläufig noch nicht näher interessirt, so können wir in chorologischer Beziehung von ihnen absehen, und brauchen bloss die Verbreitung der grossen Mehrz der Thier- und Pflanzen-Arten in Betracht zu ziehen, bei denen die einmalige Entstehung jeder Species an einem einzigen Orte, an ihrem sogenannten „Schöpfungs-Mittelpunkte“, aus vielen wich- tigen Gründen als hinreichend gesichert angesehen werden kann. Jede Thier- und Pflanzen-Art hat nun von Anbeginn ihrer Existenz an das Streben besessen, sich über die beschränkte Lo- calität ihrer Entstehung, über die Schranken ihres „Schöpfungs- Mittelpunktes oder Entstehungs - Centrums“, besser gesagt ihrer Ur-Heimath oder ihres Ursprungs-Ortes hinaus weit aus- zubreiten. Das ist eine nothwendige Folge der früher erörterten Bevölkerungs- und Uebervölkerungs - Verhältnisse (S. 142, 241). Je stärker eine Thier- oder Pflanzen - Art sich vermehrt, desto weniger reicht ihr beschränkter Ursprungs - Ort für ihren Unter- halt aus, desto heftiger wird der Kampf um’s Dasein, desto rascher tritt eine Uebervölkerung der Heimath und in Folge dessen Auswanderung ein. Diese Wanderungen sind allen Orga- nismen gemeinsam und sie sind die eigentliche Ursache der weiten Verbreitung der verschiedenen Organismen-Arten über die Erd- Oberfläche. Wie die Menschen aus den übervölkerten Staaten, so wandern Thiere und Pflanzen allgemein aus ihrer übervölkerten Ur-Heimath aus. Auf die hohe Bedeutung dieser sehr interessanten Wande- rungen der Organismen haben schon früher viele ausgezeichnete Naturforscher, insbesondere Leopold Buch, Lyell, Schleiden u. A. wiederholt aufmerksam gemacht. Die Transportmittel, durch welche dieselben geschehen, sind äusserst mannichfaltig. Darwin hat dieselben im elften und zwölften Capitel seines ‘ ausschliesslich Werks, welche der „geographischen Verbreitung‘ gewidmet sind, vortrefllich erörtert. Die Transportmittel sind theils active, theils passive; d.h. der Organismus bewerkstelligt seine Wanderungen theils durch freie Ortsbewegungen, die von ihm selbst ausgehen, theils durch Bewegungen anderer Natur- körper, an denen er sich nicht selbstthätig betheiligt. XIV. Active Wanderungen der fliegenden Thiere. 321 Die activen Wanderungen spielen selbstverständlich die grösste Rolle bei den frei beweglichen Thieren. Je freier die Bewegung eines Thieres nach allen Richtungen hin durch seine Organisation erlaubt ist, desto leichter kann diese Thierart wan- dern, und desto rascher sich über die Erde ausbreiten. Am meisten begünstigt sind in dieser Beziehung natürlich die flie- senden Thiere, und insbesondere unter den Wirbelthieren die Vögel, unter den Gliederthieren die Insecten. Leichter als alle anderen Thiere konnten sich diese beiden Klassen alsbald nach ihrer Entstehung über die ganze Erde verbreiten, und daraus er- klärt sich auch zum Theil die ungemeine innere Einförmigkeit, welche diese beiden grossen Thierklassen vor allen anderen aus- zeichnet. Denn obwohl dieselben eine ausserordentliche Anzahl von verschiedenen Arten enthalten, und obwohl die Insectenklasse allein mehr verschiedene Species besitzen soll, als alle übrigen Thierklassen zusammengenommen, so stimmen dennoch alle diese unzähligen Insectenarten, und ebenso andererseits die verschie- denen Vögelarten, in allen wesentlichen Eigenthümlichkeiten ihrer Organisation ganz auffallend überein. Daher kann man sowohl in der Klasse der Insecten, als in derjenigen der Vögel, nur eine sehr geringe Anzahl von grösseren natürlichen Gruppen oder „Ordnungen“ unterscheiden, und diese wenigen Ordnungen weichen im inneren Bau nur sehr wenig von einander ab. Die arten- reichen Vögelordnungen sind lange nicht so weit von einander verschieden, wie die viel weniger artenreichen Ordnungen der Säugethier-Klasse; und die an Genera- und Species-Formen äusserst reichen Insecten stehen sich im inneren Bau viel näher, als die viel kleineren Ordnungen der Krebsklasse. Die durchgehende Parallele zwischen den Vögeln und den Insecten ist auch in dieser systematischen Beziehung sehr interessant; die grösste Bedeutung ihres Formen-Reichthums für die wissenschaftliche Morphologie liest darin, dass sie uns zeigen, wie innerhalb des engsten anatomischen Spielraums, und ohne tiefere Veränderungen der wesentlichen inneren Organisation, die grösste Mannichfaltig- keit der äusseren Körperform sich ausbilden kann. Offenbar liegt der Grund dafür in der fliegenden Lebensweise und in der freiesten Haeckel, Natürl. Schöpfungs-Gesch. 8. Aufl. 21 322 Active Wanderungen der Thiere und Pflanzen. XIV. Ortsbewegung. In Folge dessen haben sich Vögel sowohl als In- secten sehr rasch über die ganze Erdoberfläche verbreitet, haben an allen möglichen, anderen Thieren unzugänglichen Localitäten sich angesiedelt, und nun durch oberflächliche Anpassung an zahllose bestimmte Localverhältnisse ihre specifische Form viel- fach modificirt. Unter den fliegenden Wirbelthieren sind ausserdem von ganz besonderem Interesse für die Chorologie auch die Fledermäuse. Denn keine einzige Insel, welche mehr als dreihundert Seemeilen vom nächsten Festlande entfernt ist, besitzt andere eingeborene Land-Säugethiere. Hingegen sind zahlreiche Fledermaus-Arten auf jenen isolirten Inseln zu finden, und viele einzelne Inseln oder Inselgruppen sind durch den Besitz ganz besonderer Arten, oder selbst eigenthümlicher Gattungen von Fledermäusen ausge- zeichnet. Diese merkwürdige Thatsache erklärt sich höchst ein- fach durch die Theorie der Selection und Migration, während sie ohne dieselbe ein unverständliches Wunder bleibt. Land-Säuge- thiere, welche nicht fliegen können, sind nicht im Stande, weite Meeres-Strecken zu durchwandern und abgelegene Inseln zu er- reichen. Das ist nur den Fledermäusen möglich, welche anhaltend fliegen und ausserdem leicht durch Stürme Hunderte von Meilen weit verschlagen werden können. Auf eine entfernte Insel ver- schlagen, werden sie sich den ganz verschiedenen Existenz-Be- dingungen derselben anpassen müssen; und ihre Nachkommen werden früher oder später sich in neue Arten oder selbst neue Gattungsformen umbilden. Nächst den fliegenden Thieren haben natürlich am raschesten und weitesten sich diejenigen ausgebreitet, die nächstdem am besten wandern konnten, die besten Läufer unter den Landbe- wohnern,” die besten Schwimmer unter den Wasserbewohnern. Das Vermögen derartiger activer Wanderungen ist aber nicht bloss auf diejenigen Thiere beschränkt, welche ihr ganzes Leben hindurch sich freier Ortsbewegung erfreuen. Denn auch die fest- sitzenden Thiere, wie z. B. die Korallen, die Röhrenwürmer, die Seescheiden, die Seelilien, die Moosthiere, die Rankenkrebse und viele andere niedere Thiere, die auf Seepflanzen, Steinen u. dgl. IRIVz Passive Wanderungen der Thiere und Pflanzen. 323 festgewachsen sind, geniessen doch in ihrer Jugend wenigstens freie Ortsbewegung. Sie alle wandern, ehe sie sich festsetzen. Gewöhnlich ist der erste frei bewegliche Jugendzustand derselben eine flimmernde Larve, ein rundliches Körperchen, welches mittelst eines Kleides von beweglichen Flimmerhaaren im Wasser umher- schwärmt. Alle diese schwimmenden Flimmerlarven niederer Thiere haben sich ursprünglich aus derselben gemeinsamen Keim- form entwickelt, aus der Gastrula (Taf. V, Fig. 8, 15); auch diese ist durch ein bewegliches Flimmerkleid ursprünglich zu weiter Ausbreitung befähigt. Aber nicht auf die Thiere allein ist das Vermögen der freien - Ortsbewegung und somit auch der activen Wanderung beschränkt, sondern selbst viele Pflanzen erfreuen sich desselben. Viele niedere Wasserpflanzen, insbesondere aus der Tangklasse, schwimmen in ihrer ersten Jugend, gleich den eben erwähnten niederen Thieren, mittelst beweglicher Flimmerhaare, entweder einer schwingenden Geissel oder eines zitternden Wimperpelzes, frei im Wasser um- her und setzen sich erst später fest. Selbst bei vielen höheren Pflanzen, die wir als kriechende und kletternde bezeichnen, können wir von einer activen Wanderung sprechen. Der langgestreckte Stengel oder Wurzelstock derselben kriecht oder klettert während seines langen Wachsthums nach neuen Standorten und erobert sich mittelst seiner weitverzweigten Aeste einen neuen Wohnort, indem er sich durch Knospen befestigt, und neue Kolonien von anderen Individuen seiner Art hervorruft. So einflussreich nun aber auch diese activen Wanderungen der meisten Thiere und vieler Pflanzen sind, so würden sie allein doch bei weitem nicht ausreichen, uns die Chorologie der Organis- men zu erklären. Vielmehr sind bei weitem wichtiger und von ungleich grösserer Wirkung, wenigstens für die meisten Pflanzen und für viele Thiere, von jeher die passiven Wanderungen gewesen. Solche passive Ortsveränderungen werden durch äusserst mannichfaltige Ursachen hervorgebracht. Luft und Wasser in ihrer ewigen Bewegung, Wind und Wellen in ihrer mannich- faltigen Strömung spielen dabei die grösste Rolle. Der Wind hebt allerorten und allerzeiten leichte Organismen, kleine Thiere und 21% 2394 Transport durch Wasser und schwimmende Eisberge. XIV. En Pflanzen, namentlich aber die jugendlichen Keime derselben, Thiereier und Pflanzensamen, in die Höhe, und führt sie weithin über Land und Meer. Wo dieselben in das Wasser fallen, werden sie von Strömungen oder Wellen erfasst und nach anderen Orten hingeführt. Wie weit in vielen Fällen Baumstämme, hartschalige Früchte und andere schwer verwesliche Pflanzentheile durch den Lauf der Flüsse und durch die Strömungen des Meeres von ihrer ursprünglichen Heimath weggeführt werden, ist aus zahlreichen Beispielen bekannt. Palmenstämme aus Westindien werden durch den Golfstrom nach den britischen und norwegischen Küsten ge- bracht. Alle grossen Ströme führen Treibholz aus den Gebirgen und oft Alpenpflanzen aus ihrer Quellen-Heimath in die Ebenen hinab und weiter bis zu ihrer Ausmündung in das Meer. Zwischen dem Wurzelwerk dieser fortgetriebenen Pflanzen, zwischen dem Gezweige der fortgeschwemmten Baumstämme sitzen oft zahlreiche Bewohner derselben, welche an der passiven Wanderung Theil nehmen müssen. Die Baumrinde ist mit Moos, Flechten und parasitischen Insecten bedeckt. Andere Insecten, Spinnen u. dergl., selbst kleine Reptilien und Säugethiere, sitzen geborgen in dem hohlen Stamme oder halten sich fest an den Zweigen. In der Erde, die zwischen die Wurzelfasern eingeklemmt ist, in dem Staube, welcher in den Rindenspalten festsitzt, befinden sich zahl- lose Keime von kleineren Thieren und Pflanzen. Landet nun der fortgetriebene Stamm glücklich an einer fremden Küste oder einer fernen Insel, so können die Gäste, welche an der unfreiwilligen Reise Theil nehmen mussten, ihr Fahrzeug verlassen und sich in dem neuen Vaterlande ansiedeln. Eine seltsame besondere Form dieses Wassertransportes ver- mitteln die schwimmenden Eisberge, die sich alljährlich von dem ewigen Eise der Polarmeere ablösen. Obwohl jene kalten Zonen im Ganzen sehr spärlich bevölkert sind, so können doch manche von ihren Bewohnern, die sich zufällig auf einem Eisberge während seiner Ablösung befanden, mit demselben von den Strömungen fortgeführt und an wärmeren Küsten gelandet werden. So ist schon oft mit abgelösten Eisblöcken des nördlichen Eismeeres eine ganze kleine Bevölkerung von Thieren und Pflanzen nach den a XIV. Transport durch Wirbelwinde und Stürme. 325 nördlichen Küsten von Europa und Amerika geführt worden. Ja sogar einzelne Eisfüchse und Eisbären sind so lebend nach Is- land, Norwegen und den britischen Inseln gelangt. Keine geringere Bedeutung als der Wassertransport besitzt für die passiven Wanderungen der Lufttransport. Der Staub, der unsere Strassen und Dächer bedeckt, die Erdkruste, welche auf trockenen Feldern und ausgetrockneten Wasserbecken sich be- findet, die leichte Humusdecke des Waldbodens, kurz die ganze Oberfläche des trockenen Landes enthält Millionen von kleinen Organismen und von Keimen derselben. Viele von diesen kleinen Thieren und Pflanzen können ohne Schaden vollständig austrocknen und erwachen wieder zum Leben, sobald sie befeuchtet werden. Jeder Windstoss hebt mit dem Staube unzählige solche kleine Lebewesen in die Höhe und führt sie oft meilenweit nach anderen Orten hin. Aber auch grössere Organismen, und namentlich Keime von solchen, können oft weite passive Luftreisen machen. Bei vielen Pflanzen sind die Samenkörner mit leichten Federkronen versehen, die wie Fallschirme wirken und ihr Schweben in der Luft erleichtern, ihr Niederfallen erschweren. Spinnen machen auf ihrem leichten Fadengespinnste, dem sogenannten „fliegenden Weiber-Sommer“, meilenweite Luftreisen. Junge Frösche werden durch Wirbelwinde oft zu Tausenden in die Luft erhoben und fallen als sogenannter „Froschregen* an einem entfernten Orte nieder. Vögel und Insecten können durch Stürme über den halben Erdkreis weggeführt werden. Sie fallen in den vereinigten Staaten nieder, nachdem sie sich in England erhoben hatten. In Kalifornien aufgeflogen, kommen sie in China erst wieder zur Ruhe. Mit den Vögeln und Insecten können aber wieder viele andere Organismen die Reise von einem Continent zum andern machen. Selbstverständlich wandern mit allen Organismen die auf ihnen wohnenden Parasiten, deren Zahl Legion ist: die Flöhe, Läuse, Milben, Pilze u. s. w. In der Erde, die oft zwischen den Zehen der Vögel beim Auffliegen hängen bleibt, sitzen wiederum kleine Thiere und Pflanzen oder Keime von solchen. Und so kann die freiwillige oder unfreiwillige Wanderung eines einzigen grösseren Organismus eine kleine Flora oder Fauna mit vielen 326 Chorologische Bedeutung der geologischen Vorgänge. XIV. verschiedenen Arten unter günstigen Umständen aus einem Welt- theil in den andern hinüber führen. Ausser den angegebenen Transportmitteln giebt es nun auch noch viele andere, welche die Verbreitung der Thier- und Pflanzen- Arten über weite Strecken der Erdoberfläche, und insbesondere die allgemeine Verbreitung der sogenannten kosmopolitischen Species erklären. Doch würden wir uns hieraus allein bei weitem nicht alle chorologischen Thatsachen erklären können. Wie kommt es z. B., dass viele Süsswasserbewohner in zahlreichen, weit von einander getrennten und ganz gesonderten Flussgebieten oder Seen leben? Wie kommt es, dass viele Gebirgsbewohner, die in der Ebene gar nicht existiren können, auf gänzlich getrennten und weit entfernten Gebirgsketten gefunden werden? Dass jene Süsswasserbewohner die zwischen ihren Wassergebieten liegenden Landstrecken, dass diese Gebirgsbewohner die zwischen ihren Ge- birgsheimathen liegenden Ebenen in irgend einer Weise activ oder passiv durchwandert hätten, ist schwer anzunehmen und in vielen Fällen gar nicht denkbar. Hier kommt uns nun als mächtiger Bundesgenosse die Geologie zur Hülfe. Sie löst uns jene schwierigen Räthsel vollständig. Die Entwickelungs-Geschichte der Erde zeigt uns, dass die Vertheilung von Land und Wasser an ihrer Oberfläche sich in ewigem und ununterbrochenem Wechsel befindet. Ueberall finden in Folge von geologischen Veränderungen des Erdinnern, vorzugs- weise aber durch ausgedehnte Faltenbildung der oberflächlichen Erdrinde, Hebungen und Senkungen des Bodens statt, bald hier bald dort stärker vortretend oder nachlassend. Wenn die- selben auch so langsam geschehen, dass sie im Laufe des Jahr- hunderts die Meeresküste nur um wenige Zolle, oder selbst nur um ein paar Linien heben oder senken, so bewirken sie doch im Laufe langer Zeiträume erstaunliche Resultate. Und an langen, an unermesslich langen Zeiträumen hat es in der Erdgeschichte niemals gefehlt. Im Laufe der vielen Millionen Jahre, seit schon organisches Leben auf der Erde existirt, haben Land und Meer sich beständig um die Herrschaft gestritten. Küstenländer und Inseln sind unter Meer versunken, und neue sind aus seinem IRIV, Geologische Veränderung der geographischen Grenzen. 327 Schoosse emporgestiegen. Seen und Meere sind langsam gehoben worden und ausgetrocknet, und neue Wasserbecken sind durch Senkung des Bodens entstanden. Halbinseln wurden zu Inseln, indem die schmale Landzunge, die sie mit dem Festlande ver- band, unter Wasser sank. Die Inseln eines Archipelagus wurden zu Spitzen einer zusammenhängenden Gebirgskette, wenn der ganze Boden ihres Meeres bedeutend gehoben wurde. So war einst das Mittelmeer ein Binnensee, als noch an Stelle der Gibraltarstrasse Afrika durch eine Landenge mit Spa- rien zusammenhing. England hat mit dem europäischen Fest- lande selbst während der neueren Erdgeschichte, als schon Men- schen existirten, wiederholt zusammengehangen und ist wieder- holt davon getrennt worden. Ja sogar Europa und Nordamerika haben unmittelbar in Zusammenhang gestanden. Die Sunda-See gehörte früher zum indischen Continent, und die zahllosen klei- nen Inseln, die heute in derselben zerstreut liegen, waren bloss die höchsten Kuppen der Gebirge jenes Continentes. Der indische Ocean existirte in Form eines Continents, der von den Sunda- Inseln längs des südlichen Asiens sich bis zur Ostküste von Afrika erstreckte. Dieser einstige grosse Continent, den der Eng- länder Sclater wegen der für ihn charakteristischen Halbaffen Lemuria genannt hat, ist vielleicht die Wiege des Menschenge- schlechts gewesen, das aus anthropoiden Affen sich hervorbildete. Ganz besonders interessant aber ist der wichtige Nachweis, welchen Alfred Wallace°‘) mit Hülfe chorologischer Thatsachen geführt hat, dass der heutige malayische Archipel eigentlich aus zwei ganz verschiedenen Abtheilungen besteht. Die westliche Abtheilung, der indo-malayische Archipel, umfasst die grossen Inseln Borneo, Java und Sumatra, und hing früher durch Malakka mit dem asiatischen Festlande und wahrscheinlich auch mit dem eben genannten Lemurien zusammen. Die östliche Abtheilung dagegen, der austral-malayische Archipel, Celebes, die Molukken, Neuguinea, die Salomons-Inseln u. s. w. umfassend, stand früher- hin mit Australien in unmittelbarem Zusammenhang. Beide Ab- theilungen waren vormals zwei durch eine Meerenge getrennte Continente, sind aber jetzt grösstentheils unter den Meeresspiegel 328 Chorologische Bedeutung der geologischen Vorgänge. XIV. versunken. Die Lage jener früheren Meerenge, deren Südende zwischen Bali und Lombok hindurch geht, hat Wallace bloss auf Grund seiner genauen chorologischen Beobachtungen in der scharfsinnigsten Weise fest zu bestimmen vermocht. Noch heute bildet diese tiefe Meerenge, obwohl nur 15 Seemeilen breit, eine scharfe Grenze zwischen den beiden kleinen Inseln Bali und Lom- bok; die Thierwelt des ersteren gehört zu Hinter-Indien, diejenige des letzteren zu Australien. So haben, seitdem tropfbar-flüssiges Wasser auf der Erde existirt, die Grenzen von Wasser und Land sich in ewigem Wechsel verändert, und man kann behaupten, dass die Umrisse der Con- tinente und Inseln nicht eine Stunde, ja nicht eine Minute hin- durch sich jemals gleich geblieben sind. Denn ewig und ununter- brochen nagt die Brandung an dem Saume der Küsten; und was das Land an diesen Stellen beständig an Ausdehnung verliert, das gewinnt es an anderen Stellen durch Anhäufung von Schlamm, der sich zu festem Gestein verdichtet und wieder über den Mee- resspiegel als neues Land sich erhebt. Nichts kann irriger sein, als die Vorstellung von einem festen und unveränderlichen Um- risse unserer Continente, wie sie uns in früher Jugend schon durch unseren mangelhaften, der geologischen Basis entbehrenden geo- graphischen Unterricht eingeprägt wird. Nun brauche ich Sie wohl kaum noch darauf aufmerksam zu machen, wie äusserst wichtig von jeher diese geolo- sischen Veränderungen der Erdoberfläche für die Wan- derungen der Organismen und in Folge dessen für ihre Chorologie gewesen sein müssen. Wir lernen dadurch begrei- fen, wie dieselben oder ganz nahe verwandte Thier- und Pflanzen- Arten auf verschiedenen Inseln vorkommen können, obwohl sie nicht das Wasser zwischen denselben durchwandern können, und wie andere, das Süsswasser bewohnende Arten in verschiedenen geschlossenen Seebecken wohnen können, obgleich sie nicht das Land zwischen denselben zu überschreiten vermögen. Jene In- seln waren früher Bergspitzen eines zusammenhängenden Festlan- des, und diese Seen standen einstmals in unmittelbarem Zusam- menhang. Durch geologische Senkungen wurden die ersteren, XIV. Chorologische Bedeutung des irdischen Klimawechsels. 329 durch Hebungen die letzteren getrennt. Wenn wir nun ferner be- denken, wie oft und wie ungleichmässig an den verschiedenen Stellen der Erde solche wechselnde Hebungen und Senkungen stattfanden und in Folge dessen die Grenzen der geographischen Verbreitungs-Bezirke der Arten sich veränderten, wenn wir be- denken, wie ausserordentlich mannichfaltig dadurch die activen und passiven Wanderungen der Organismen beeinflusst werden mussten, so lernen wir vollständig die bunte Mannichfaltigkeit des Bildes begreifen, welches uns gegenwärtig die Vertheilung der Thier- und Pflanzen-Arten darbietet. Noch ein anderer wichtiger Factor ist aber hier hervorzu- heben, der ebenfalls für die volle Erklärung jenes bunten geogra- phischen Bildes von grosser Bedeutung ist, und manche sehr dunkle Thatsachen aufhellt, die wir ohne ihn nicht begreifen wür- den. Das ist nämlich der allmähliche Klima- Wechsel, welcher während des langen Verlaufs der organischen Erdgeschichte statt- gefunden hat. Wie wir schon im vorhergehenden Vortrage ge- sehen haben, muss beim Beginne des organischen Lebens auf der Erde allgemein eine viel höhere und gleichmässigere Temperatur geherrscht haben, als gegenwärtig stattfindet. Die Zonen - Unter- schiede, die jetzt sehr auffallend hervortreten, fehlten damals noch gänzlich. Wahrscheinlich viele Millionen Jahre hindurch herrschte auf der ganzen Erde ein Klima, welches dem heissesten Tropen- klima der Jetztzeit nahe stand oder dasselbe noch übertraf. Der höchste Norden, bis zu welchem der Mensch jetzt vorgedrungen ist, war damals mit Palmen und anderen Tropengewächsen be- deckt, deren versteinerte Reste wir noch jetzt dort finden. Sehr langsam und allmählich nahm späterhin die Temperatur ab; aber immer noch blieben die Pole so warm, dass die ganze Erdober- fläche für Organismen bewohnbar war. Erst in einer verhältniss- mässig sehr jungen Periode der Erdgeschichte, nämlich im Be- ginn der Tertiärzeit, erfolgte, wie es scheint, die erste wahrnehm- bare Abkühlung der Erdrinde von den beiden Polen her, und somit die erste Differenzirung oder Sonderung verschiedener Tem- peratur-Gürtel oder klimatischer Zonen. Die langsame und all- mähliche Abnahme der Temperatur bildete sich nun innerhalb 330 Die Eiszeit oder Glacial-Periode. XIVve der Tertiärperiode immer weiter aus, bis zuletzt an beiden Polen der Erde das erste Eis entstand. Wie wichtig dieser Klima-Wechsel für die geographische Ver- breitung der Organismen und für die Entstehung zahlreicher neuer Arten werden musste, braucht kaum ausgeführt zu werden. Die Thier- und Pflanzen-Arten, die bis zur Tertiärzeit hin überall auf der Erde bis zu den Polen ein angenehmes tropisches Klima gefunden hatten, waren nunmehr gezwungen, entweder sich der eindringenden Kälte anzupassen oder vor derselben zu fliehen. Diejenigen Species, welche sich anpassten und an die sinkende Temperatur gewöhnten, wurden durch diese Acclimatisation selbst unter dem Einflusse der natürlichen Züchtung in neue Arten um- gewandelt. Die anderen Arten, welche vor der Kälte flohen, mussten auswandern und in den niederen Breiten ein milderes Klima suchen. Dadurch mussten die bisherigen Verbreitungs- Bezirke der Arten gewaltig verändert werden. Nun blieb aber in dem letzten grossen Abschnitte der Erd- geschichte, in der auf die Tertiärzeit folgenden Quartär-Periode (oder in der Diluvial-Zeit) die Wärme-Abnahme der Erde von den Polen her keineswegs stehen. Vielmehr sank die Tempera- tur nun tiefer und tiefer, ja selbst weit unter dem heutigen Grad herab. Das nördliche “und mittlere Asien, Europa und Nord- Amerika bedeckte sich vom Nordpol her in grosser Ausdehnung mit einer zusammenhängenden Eisdecke, welche in unserem Erd- theile bis gegen die Alpen gereicht zu haben scheint. In ähn- licher Weise drang auch vom Südpol her die Kälte vor, und ‚überzog einen grossen, jetzt eisfreien Theil der südlichen Halb- kugel mit einer starren Eisdecke. So blieb zwischen diesen ge- waltigen lebentödtenden Eiscontinenten nur noch ein schmaler Gürtel übrig, auf welchen das Leben der organischen Welt sich zurückziehen konnte. Diese Periode, während welcher der Mensch bereits existirte, und welche den ersten Hauptabschnitt der so- genannte Diluvial-Zeit bildet, ist jetzt allgemein unter dem Na- men der Eiszeit oder Glacial-Periode bekannt und berühmt. Der erste Naturforscher, der den Gedanken der Eiszeit klar erfasste und mit Hülfe der sogenannten Wanderblöcke oder er- u XIV. Chorologische Bedeutung der Glacial-Periode. 31 ratischen Steinblöcke, sowie der „Gletscher-Schliffe“ die grosse Ausdehnung der früheren Vergletscherung von Mittel-Europa nach- wies, war der geistvolle Karl Schimper. Von ihm angeregt, und durch die selbstständigen Untersuchungen des ausgezeichne- ten Geologen Charpentier bedeutend gefördert, unternahm es später der Schweizer Naturforscher Louis Agassiz, die Theorie von der Eiszeit weiter auszuführen. In England machte sich be- sonders der Geologe Forbes um sie verdient, und verwerthete sie auch bereits für die Theorie von den Wanderungen und der dadurch bedingten geographischen Verbreitung der Arten. Agassiz hingegen schadete späterhin der Theorie durch einseitige Ueber- treibung, indem er, der Katastrophen-Theorie Cuvier’s zu Liebe, durch die plötzlich hereinbrechende Kälte der Eiszeit und die da- mit verbundene „Revolution“ den gänzlichen Untergang der da- mals lebenden Schöpfung erklären wollte. s Auf die Eiszeit selbst und die scharfsinnigen Untersuchungen über ihre Grenzen näher einzugehen, habe ich hier keine Ver- anlassung, und kann um so mehr darauf verzichten, als die ganze neuere geologische Literatur davon voll ist. Sie finden eine aus- führliche Erörterung derselben vorzüglich in den Werken von Cotta°'), Lyell°°), Zittel’”) u.s. w. Für uns ist hier nur das hohe Gewicht von Bedeutung, welches sie für die Erklärung der schwierigsten chorologischen Probleme besitzt, und welehes von Darwin sehr richtig erkannt wurde. Es kann nämlich keinem Zweifel unterliegen, ‚dass diese Vergletscherung der heutzutage gemässigten Zonen einen ausser- ordentlich bedeutenden Einfluss auf die geographische und topo- graphische Vertheilung der Organismen ausüben und dieselbe gänzlich umgestalten musste. Während die Kälte langsam von den Polen her gegen den Aequator vorrückte und Land und Meer mit einer zusammenhängenden Eisdecke überzog, musste sie natürlich die ganze lebende Organismen-Welt vor sich her treiben. Thiere und Pflanzen mussten auswandern, wenn sie nicht erfrieren wollten. Da nun aber zu jener Zeit vermuthlich die gemässigte und die Tropenzone nicht weniger dicht als gegenwärtig mit Pflanzen und Thieren bevölkert gewesen sein wird, so muss sich 332 Chorologische Bedeutung (er Glacial-Periode. KIVE zwischen diesen und den von den Polen her kommenden Ein- dringlingen ein furchtbarer Kampf um’s Dasein erhoben haben. In diesem Kampfe, der jedenfalls viele Jahrtausende dauerte, werden viele Arten zu Grunde gegangen, viele Arten abgeändert und zu neuen Species umgebildet worden sein. Die bisherigen Verbreitungs-Bezirke der Arten aber mussten völlig verändert werden. Und dieser Kampf muss auch dann noch fortgedauert haben, ja er muss von Neuem entbrannt, und in neuen Formen weiter geführt worden sein, als die Eiszeit ihren Höhepunkt über- schritten hatte, und als nunmehr in der postglacialen Periode die Temperatur wieder zunahm und die Organismen nach den Polen hin zurückzuwandern begannen. Jedenfalls ist dieser gewaltige Klimawechsel, mag man sonst demselben eine grössere oder eine geringere Bedeutung zu- schreiben, eines derjenigen Ereignisse in der Erd-Geschichte, die am bedeutendsten auf die Vertheilung der organischen Formen eingewirkt haben. Namentlich wird aber ein sehr wichtiges und schwieriges chorologisches Verhätniss dadurch in der einfachsten Weise erklärt: das ist die specifische Uebereinstimmung vieler unserer Alpenbewohner mit vielen Bewohnern der Polarländer. Es giebt eine grosse Anzahl von ausgezeichneten Thier- und Pflanzen-Formen, die diesen beiden, weit getrennten Erdgegenden gemeinsam sind und nirgends in dem weiten, ebenen Zwischen- raume zwischen beiden gefunden werden. Eine Wanderung der- selben von den Polarländern nach den Alpenhöhen oder umge- kehrt wäre unter den gegenwärtigen klimatischen Verhältnissen undenkbar oder doch- höchstens nur in wenigen seltenen Fällen anzunehmen. Eine solche Wanderung konnte aber stattfinden, ja sie musste stattfinden während des allmählichen Eintrittes und Rückzuges der Eiszeit. Da die Vergletscherung von Nord-Europa bis gegen unsere Alpenkette vordrang, so werden die derselben folgenden Polarbewohner, Gentianen und Saxifragen, Eisfüchse und Schneehasen, damals unser deutsches Vaterland und über- haupt Mittel-Europa bevölkert haben. Als nun die Temperatur wieder zunahm, zog sich nur ein Theil dieser arktischen Bevölke- rung mit dem zurückweichenden Eise in die Polarzone wieder XIV. Entstehung neuer Arten durch Wanderung. 333 zurück. Ein anderer Theil derselben stieg statt dessen an den Bergen der Alpenkette in die Höhe und fand hier das ihm zusagende kalte Klima. So erklärt sich ganz einfach jene räthselhafte chorologische Erscheinung. Wir haben die Lehre von den Wanderungen der Organismen oder die Migrations-Theorie bisher vorzüglich insofern ver- folgt, als sie uns die Ausstrahlung jeder Thier- und Pflanzen-Art von einer einzigen Urheimath, von einem Ursprungs-Orte oder „Schöpfungs-Mittelpunkte* aus erklärt, und ihre Ausbreitung über einen grösseren oder geringeren Theil der Erdoberfläche erläutert. Nun sind aber die Wanderungen der Thiere und Pflanzen für die Entwickelungs-Theorie auch noch ausserdem deshalb von grosser Bedeutung, weil wir darin ein sehr wichtiges Hülfsmittel für die Entstehung neuer Arten erblicken müssen. Wenn Thiere und Pflanzen auswandern, so treffen sie, ebenso wie auswandernde Menschen, in der neuen Heimath Verhältnisse an, die mehr oder weniger von den gewohnten, (renerationen hindurch ererbten, Existenz-Bedingungen verschieden sind. Diesen neuen, ungewohnten Lebensbedingungen müssen sich die Aus- wanderer entweder fügen und anpassen, oder sie gehen zu Grunde. Durch die Anpassung selbst wird aber ihr eigenthümlicher, speci- fischer Charakter verändert, um so mehr, je grösser der Unter- schied zwischen der neuen und der alten Heimath ist. Das neue Klima, die neue Nahrung, vor Allem aber die neue Nachbar- schaft anderer Thiere und Pflanzen wirkt auf den ererbten Charakter der eingewanderten Species umbildend ein, und wenn dieselbe nicht zäh genug ist, diesen Einflüssen zu widerstehen, so muss früher oder später eine neue Art daraus hervorgehen. In den meisten Fällen wird diese Umformung der eingewander- ten Species unter dem Einflusse des veränderten Kampfes um’s Dasein so rasch vor sich gehen, dass schon nach wenigen Gene- rationen eine neue Art daraus entstanden ist. Von besonderer Bedeutung ist in dieser Beziehung die Wanderung für alle Gonochoristen, d.h. für alle Organismen mit getrennten Geschlechtern. Denn bei diesen wird die Ent- stehung neuer Arten durch natürliche Züchtung immer dadurch 354 Entstehung neuer Arten durch Wanderung. XIV. erschwert oder verzögert, dass sich die variirenden Abkömmlinge gelegentlich wieder mit der unveränderten Stamm-Form geschlecht- lich vermischen, und so durch Kreuzung in die ursprüngliche Form zurückschlagen. Wenn dagegen solche Abarten ausge- wandert sind, wenn sie durch weite Entfernungen oder durch Schranken der Wanderung, durch Meere, Gebirge u. s. w. von der alten Heimath getrennt sind, so ist die Gefahr einer Ver- mischung mit der Stamm-Form aufgehoben, und die Isolirung der ausgewanderten Form, die durch Anpassung in eine neue Art übergeht, verhindert ihre Kreuzung und dadurch ihren Rück- schlag in die Stamm-Form. Diese Bedeutung der Wanderung für die Isolirung der neu entstehenden Arten und die Verhütung baldiger Rückkehr in die Stamm-Formen wurde vorzüglich von dem geistreichen Reisenden Moritz Wagner in München hervorgehoben; theils in einem besonderen Schriftehen über „Die Darwin’sche Theorie und das Migrations-Gesetz der Organismen“, theils in mehreren Aufsätzen, ‘“ und „Ausland“ erschienen sind. Kürzlich welche im „Kosmos‘ (1839) sind dieselben in einem Bande gesammelt worden, unter dem Titel: „Die Entstehung der Arten durch räumliche Sonde- rung“°®). Wagner hat aus seiner eigenen reichen Erfahrung eine grosse Anzahl von treffenden Beispielen gesammelt, welche die von Darwin im elften und zwölften Kapitel seines Buches gegebene Migrations-Theorie bestätigen, und welche ganz besonders den Nutzen der völligen Isolirung der ausgewanderten Organismen für die Entstehung neuer Species erörtern. Wagner fasst die einfachen Ursachen, „welche die Form räumlich abgegrenzt und in ihrer typischen Verschiedenheit begründet haben“ in fol- genden drei Sätzen zusammen: „1. Je grösser die Summe der Veränderungen in den bisherigen Lebensbedingungen ist, welche emigrirende Individuen bei Einwanderung in einem neuen Gebiete finden, desto intensiver muss die jedem Organismus innewohnende Variabilität sich äussern. 2. Je weniger diese gesteigerte individuelle Veränderlichkeit der Organismen im ruhigen Fortbildungs-Process durch die Vermischung zahlreicher nachrückender Einwanderer der gleichen Art gestört wird, desto häufiger wird der Natur . Moritz Wagner’s Migrations-Gesetz. B (>) o° 3 durch Summirung und Vererbung der neuen Merkmale die Bil- dung einer neuen Varietät (Abart oder Rasse), d.i. einer be- ginnenden Art, gelingen. 3. Je vortheilhafter für die Abart, die in den einzelnen Organen erlittenen Veränderungen sind, je besser letztere den umgebenden Verhältnissen sich anpassen, und je länger die ungestörte Züchtung einer beginnenden Varietät von Colonisten in einem neuen Territorium ohne Mischung mit nach- rückenden Einwanderern derselben Art fortdauert, desto häufiger wird aus der Abart eine neue Art entstehen.“ Diesen drei Sätzen von Moritz Wagner kann Jeder bei- stimmen. Für vollkommen irrig müssen wir dagegen seine Vor- stellung halten, dass die Wanderung und die darauf folgende Isolirung der ausgewanderten Individuen eine nothwendige Be- dingung für die Entstehung neuer Arten sei. Wagner sagt: „Ohne eine lange Zeit dauernde Trennung der Colonisten von ihren früheren Artgenossen kann die Bildung einer neuen Rasse nicht gelingen, kann die Zuchtwahl überhaupt nicht stattfinden. Unbeschränkte Kreuzung, ungehinderte geschlechtliche Vermischung aller Individuen einer Species wird stets Gleichförmigkeit erzeugen und Varietäten, deren Merkmale nicht durch eine Reihe von Generationen fixirt worden sind, wieder in den Urschlag zurück- stossen.“ Diesen Satz, in welchem Wagner selbst das Haupt-Resultat seiner Arbeit zusammenfasst, würde er nur in dem Falle über- haupt vertheidigen können, wenn alle Organismen getrennten Geschlechts wären, wenn jede Entstehung neuer Individuen nur durch Vermischung männlicher und weiblicher Individuen mög- lich wäre. Das ist nun aber durchaus nicht der Fall. Merk- würdiger Weise sagt Wagener gar Nichts von den zahlreichen Zwittern oder Hermaphroditen, die, im Besitz von beiderlei Ge- schlechts-Organen, der Selbstbefruchtung fähig sind; und ebenso Nichts von den zahllosen Organismen, die überhaupt noch nicht geschlechtlich differenzirt sind. Nun hat es aber seit frühester Zeit der organischen Erd- Geschichte tausende von Organismen-Arten gegeben, und giebt deren tausende noch heute, bei denen noch gar kein Geschlechts- 336 Moritz Wagner’s Migrations-Gesetz. DAL Unterschied, überhaupt noch gar keine geschlechtliche Fort- pflanzung vorkommt, und die sich ausschliesslich auf ungeschlecht- lichem Wege, durch Theilung, Knospung, Sporen-Bildung u. s. w. fortpflanzen. Die grosse Masse der Protisten, die Moneren, Amoeben, Myxomyceten, Rhizopoden, Infusorien u. s. w., kurz fast alle die niederen Organismen, die wir in dem zwischen Thier- und Pflanzenreich stehenden Protistenreich aufführen wer- den, pflanzen sich ausschliesslich auf ungeschlechtlichem Wege fort! Und zu diesem gehört eine der formenreichsten Organismen-Klassen, ja sogar in gewisser Beziehung die formen- reichste von allen, indem alle möglichen geometrischen Grund- Formen in ihr verkörpert sind. Das ist die wunderbare Klasse der Rhizopoden oder Wurzelfüsser, welche die kalkschaligen Thalamophoren und die kieselschaligen Radiolarien umfasst. (Vergl. den XVII. und XVII. Vortrag. Auf alle diese ungeschlechtlichen Organismen würde also selbstverständlich die Waener’sche Theorie gar nicht anwendbar sein. Dasselbe würde aber ferner auch von allen jenen Zwittern oder Hermaphroditen gelten, bei denen jedes Individuum, im Besitze von männlichen und weiblichen Organen, der Selbstbe- fruchtung fähig ist. Das ist z. B. bei den Strudelwürmern, Saug- würmern und Bandwürmern, wie überhaupt bei sehr vielen Würmern der Fall, ferner bei den festsitzenden Rankenkrebsen (Cirripedien), bei den wichtigen Mantelthieren, den wirbellosen Verwandten der Wirbelthiere, und bei sehr vielen anderen Orga- nismen aus verschiedenen Gruppen. Zahlreiche Arten derselben sind durch natürliche Züchtung entstanden, ohne dass eine „Kreuzung“ der entstehenden Species mit ihrer Stammform über- haupt möglich war. Wie ich schon im achten Vortrage Ihnen zeigte, ist die Ent- stehung der beiden Geschlechter und somit die ganze geschlecht- liche Fortpflanzung überhaupt als ein Vorgang aufzufassen, der erst in späterer Zeit der organischen Erd-Geschichte in Folge von Differenzirung oder Arbeits-Theilung eingetreten ist. Die ältesten Organismen der Erde können sich jedenfalls nur auf dem einfachsten ungeschlechtlichen Wege fortgepflanzt haben. Selbst RIV Moritz Wagner’s Migrations-Gesetz. 337 jetzt noch vermehren sich fast alle Protisten, ebenso wie alle die zahllosen Zellen-Formen, welche den Körper der höheren Organis- nen zusammensetzen, nur durch ungeschlechtliche Zeugung. Und doch entstehen hier überall durch Differenzirung in Folge von natürlicher Züchtung „neue Arten“. Aber selbst wenn wir bloss die Thier- und Pflanzen - Arten mit getrennten Geschlechtern hier in Betracht ziehen wollten, so würden wir doch auch für diese Wagner’s Hauptsatz, dass „die Migration der Organismen und deren Colonie-Bildung die noth- wendige Bedingung der natürlichen Zuchtwahl seien“, bestreiten müssen. Schon August Weismann hat in seiner Schrift „Ueber den Einfluss der Isolirung auf die Artbildung“ jenen Satz hinreichend widerlegt und gezeigt, dass auch in einem und demselben Wohnbezirke eine Species sich in mehrere Arten durch natürliche Züchtung spalten kann. Indem ich mich diesen Bemerkungen anschliesse, möchte ich aber noch besonders den hohen Werth nochmals hervorheben, den die physiologische Arbeitstheilung und die damit verknüpfte morphologische Formspaltung besitzt, und zwar ebensowohl für die Umbildung des ganzen Organismus, als der einzelnen ihn zusammensetzenden Zellen. Sowohl jene Personal-Divergenz, als diese Cellular-Diver- genz sind nothwendige Folgen der natürlichen Züchtung (S. 269). Alle die verschiedenen Zellen-Arten, die den Körper der höheren Organismen zusammensetzen, die Nerven-Zellen, Muskel -Zellen, Drüsen-Zellen u. s. w., alle diese „guten Arten“ von Plastiden, diese „bonae species“ von Elementar-Organismen, sind bloss durch Arbeitstheilung in Folge von natürlicher Züchtung entstanden, trotzdem sie nicht nur niemals räumlich isolirt, sondern sogar seit ihrer Entstehung immer im engsten räumlichen Verbande neben einander existirt haben. Dasselbe aber, was von diesen Elementar-Organismen oder „Individuen erster Ordnung“ gilt, das gilt auch von den ganzen Histonen, oder von den vielzelligen Organismen höherer Ordnung, die als „gute Arten“ erst später aus ihrer Zusammensetzung entstanden sind ®”). Gewiss bleibt die Ansicht von Leopold Buch, von Darwin und Wallace richtig, dass die Wanderung der Organismen und Haeckel, Natürl. Schöpfungs-Gesch. 8. Aufl. 22 338 Moritz Wagner’s Migrations-Gesetz. XV ihre Isolirung in der neuen Heimath (oder die Separation), eine sehr günstige und vortheilhafte Bedingung für die Entstehung neuer Arten ist; dass sie aber dafür eine nothwendige Be- dingung sei, und dass ohne dieselbe keine neuen Arten entstehen können, wie Wagner behauptet, können wir nicht zugeben. Wenn Wagner diese Ansicht, „dass die Migration die noth- wendige Bedingung der natürlichen Zuchtwahl sei“, als ein be- sonderes „Migrationsgesetz“ aufstellt, so halten wir dasselbe durch die angeführten Thatsachen für widerlegt. Die Separation durch Migration ist nur ein besonderer Fall von Selection. Die Theorie von der „Entstehung der Arten durch räumliche Sonderung“ kann nicht, wie Wagner meint, Darwin’s Lehre von ihrer Entstehung durch „natürliche Zuchtwahl“ verdrängen und ersetzen; denn die erstere bildet einen Bestandtheil und eine Folgerung der letzteren. Wir haben überdies schon früher gezeigt, dass eigentlich die Entstehung neuer Arten durch natürliche Züchtung eine mathematische und logische Nothwendig- keit ist, welche ohne Weiteres aus der einfachen Verbindung von drei grossen Thatsachen folgt. Diese drei fundamentalen That- sachen sind: der Kampf um’s Dasein, die Anpassungsfähigkeit und die Vererbungsfähigkeit der Organismen. Auf die zahlreichen interessanten Erscheinungen, welche die geographische und topographische Verbreitung der Organismen- Arten im Einzelnen darbietet, und welche sich vollständig aus der Theorie der Selection und Migration erklären, können wir hier nicht eingehen. Näheres darüber enthalten die angeführten Schriften von Darwin, Wallace und Moritz Wagner. Die wichtige Lehre von den Verbreitungsschranken, den Flüssen, Meeren und Gebirgen, ist dort vortreffllich erörtert und durch zahlreiche Bei- spiele erläutert. Nur drei Erscheinungen mögen wegen ihrer be- sonderen Bedeutung hier nochmals hervorgehoben werden. Das ist erstens die nahe Form-Verwandtschaft, die auffallende „Familien- ähnlichkeit“, welche zwischen den charakteristischen Localformen jedes Erdtheils und ihren ausgestorbenen, fossilen Vorfahren in demselben Erdtheil existirt; — zweitens die nicht minder auf- fallende „Familien- Aehnlichkeit“, zwischen den Bewohnern von RIV. Bedeutung der Chorologie für die Descendenz-Theorie. 339 Inselgruppen und denjenigen des nächst angrenzenden Festlandes, von welchem aus die Inseln bevölkert wurden; überhaupt der ganz eigenthümliche Charakter, welchen die Flora und Fauna der Inseln in ihrer Zusammensetzung zeigt; — und endlich drittens die „Familien - Aehnlichkeit“ zwischen den stammverwandten Gruppen jedes zusammenhängenden Bezirkes, auch wenn dieselben unter den verschiedensten klimatischen und localen Bedingungen leben. Diese drei Klassen von Erscheinungen waren es, welche in dem jugendlichen Darwin 1832 zuerst den Gedanken der Descendenz-Theorie anregten (S. 119). -Alle diese von Darwin, Wallace und Wagner angeführten chorologischen Thatsachen, namentlich die merkwürdigen Er- scheinungen der beschränkten Local-Faunen und Floren, die Ver- hältnisse der Insel-Bewohner zu den Festland-Bevölkerungen, die weite Verbreitung der sogenannten „kosmopolitischen Species“, die nahe Verwandtschaft localer Species der Gegenwart mit den ausgestorbenen Arten desselben beschränkten Gebietes, die nach- weisliche Ausstrahlung jeder Art von einem einzigen Schöpfungs- mittelpunkte — alle diese und alle übrigen Erscheinungen, welche uns die geographische und topographische Verbreitung der Orga- nismen darbietet, erklären sich einfach und vollständig aus der Selections- und Migrations - Theorie, während sie ohne dieselbe überhaupt nicht zu begreifen sind. Wir erblicken daher in allen diesen Erscheinungsreihen eben so viele gewichtige Beweise für die Wahrheit der Descendenz-Theorie. Fünfzehnter Vortrag. Entwickelung des Weltalls und der Erde. Urzeugung. Kohlenstoff- Theorie. Plastiden - Theorie. Entwickelungs-Geschichte der Erde. Kant’s Entwickelungs-Theorie des Weltalls oder die kosmologische Gas-Theorie. Entwickelung ‘der Sonnen, Planeten und Monde. Erste Entstehung des Wassers. Vergleichung der Organismen und der Anorgane. Organische und anorgische Stoffe. Dichtig- keits-Grade oder Aggregat-Zustände. Eiweissartige Kohlenstoff-Verbindungen. Plasson-Körper. Organische und anorgische Formen. Krystalle und Moneren (strukturlose Organismen ohne Organe). Stereometrische Grund-Formen der Krystalle und der Organismen. Organische und anorgische Kräfte. Lebens- kraft. Wachsthum und Anpassung bei Krystallen und bei Organismen. Bildungskräfte der Krystalle. Einheit der organischen und anorgischen Natur. Urzeugung oder Archigonie. Autogonie und Plasmogonie. Entstehung der Moneren durch Urzeugung. Entstehung der Zellen aus Moneren. Zellen- Theorie. Plastiden-Theorie. Plastiden oder Bildnerinnen. Cytoden und Zellen. Vier verschiedene Arten von Plastiden. Meine Herren! Durch unsere bisherigen Betrachtungen haben wir vorzugsweise die Frage zu beantworten versucht, durch welche Ursachen neue Arten von Thieren und Pflanzen aus bestehenden Arten hervorgegangen sind. Wir haben diese Frage dahin be- antwortet, dass einerseits die Bastardzeugung, andererseits die natürliche Züchtung im Kampf um’s Dasein, die Wechselwirkung der Vererbungs- und Anpassungs-Gesetze, völlig genügend ist, um die unendliche Mannichfaltigkeit der verschiedenen, scheinbar zweckmässig nach einem Bauplane organisirten Thiere und Pflanzen mechanisch zu erzeugen. Inzwischen wird sich Ihnen schon wieder- holt die Frage aufgedrängt haben: Wie entstanden die ersten Organismen, oder der eine ursprüngliche Stamm - Organismus, von welchem wir alle übrigen ableiten? | KON. Entstehung der ersten Organismen. 341 Diese Frage hat Lamarck”?) durch die Hypothese der Ur- zeugung oder Archigonie beantwortet. Darwin dagegen geht über dieselbe hinweg, indem er ausdrücklich hervorhebt, dass er „Niehts mit dem Ursprung der geistigen Grundkräfte, noch mit dem des Lebens selbst zu schaffen habe“. Am Schlusse seines Werkes spricht er sich darüber bestimmter in folgenden Worten aus: „Ich nehme an, dass wahrscheinlich alle organischen Wesen, die jemals auf dieser Erde gelebt, von irgend einer Urform ab- stammen, welcher das Leben zuerst vom Schöpfer eingehaucht worden ist.“ Ausserdem beruft sich Darwin zur Beruhigung Derjenigen, welche in der Descendenz-Theorie den Untergang der ganzen „sittlichen Welt-Ordnung“ erblicken, auf einen berühmten Schriftsteller und Geistlichen, welcher ihm geschrieben hatte: „Er habe allmählich einsehen gelernt, dass es eine ebenso er- habene Vorstellung von der Gottheit sei, zu glauben, dass sie nur einige wenige, der Selbstentwickelung in andere und nothwendige Formen fähige Urtypen geschaffen, als dass sie immer wieder neue Schöpfungsakte nöthig gehabt habe, um die Lücken auszu- füllen, welche durch die Wirkung ihrer eigenen Gesetze entstanden seien.“ Diejenigen, denen der Glaube an eine übernatürliche Schöpfung ein Gemüths-Bedürfniss ist, können sich bei dieser Vorstellung beruhigen. Sie können jenen Glauben mit der Descendenz - Theorie vereinbaren: denn sie müssen in der Er- schaffung eines einzigen ursprünglichen Organismus, der die Fähig- keit besass alle übrigen durch Vererbung und Anpassung aus sich zu entwickeln, wirklich weit mehr Erfindungskraft und Weisheit des Schöpfers bewundern, als in der unabhängigen Erschaffung der verschiedenen Arten. Wenn wir uns in dieser Weise die Entstehung der ersten irdischen Organismen, von denen alle übrigen abstammen, durch die zweckmässige und planvolle Thätigkeit eines persönlichen Schöpfers erklären wollten, so würden wir damit auf eine wissen- schaftliche Erkenntniss derselben verzichten, und aus dem Ge- biete der wahren Wissenschaft auf das gänzlich getrennte Gebiet der dichtenden Glaubenschaft hinübertreten. Wir würden durch die Annahme eines übernatürlichen Schöpfungs-Aktes einen Sprung 342 Feste Rinde und feuerflüssiger Kern des Erdballs. RoVA in das Unbegreifliche thun. Ehe wir uns zu diesem letzten Schritte entschliessen und damit auf eine wissenschaftliche Er- kenntniss jenes Vorgangs verzichten, sind wir jedenfalls zu dem Versuche verpflichtet, denselben durch eine mechanische Hypo- these zu beleuchten. Wir müssen jedenfalls untersuchen, ob denn wirklich jener Vorgang so wunderbar ist, oder ob wir uns eine haltbare Vorstellung von einer ganz natürlichen Erstehung jenes ersten Stamm Organismus machen können. Auf das Wunder der „Schöpfung“ würden wir dann gänzlich verzichten können. Zu diesem Zwecke müssen wir zunächst etwas weiter aus- holen und die natürliche Schöpfungs-Geschichte der Erde sowohl als des ganzen Weltalls in ihren allgemeinen Grundzügen be- trachten. Bekanntlich leiten wir aus dem Bau der Erde, wie wir ihn gegenwärtig kennen, die wichtige und bis jetzt noch nicht widerlegte Vorstellung ab, dass das Innere unserer Erde sich in einem feurig-flüssigen Zustande befindet; die feste aus verschiede- nen Schichten zusammengesetze Rinde, auf deren Oberfläche die Organismen leben, bildet nur eine sehr dünne Kruste oder Schale um den feurig-flüssigen Kern. Zu dieser Anschauung sind wir durch verschiedene übereinstimmende Erfahrungen und Schlüsse gelangt. Zunächst spricht dafür die Erfahrung, dass die Tempe- ratur der Erdrinde nach dem Innern hin stetig zunimmt. Je tiefer wir hinabsteigen, desto höher steigt die Wärme des Erd- bodens, und zwar in dem Verhältniss, dass auf jede 100 Fuss Tiefe die Temperatur ungefähr um einen Grad zunimmt. In einer Tiefe von 6 Meilen würde demnach bereits eine Hitze von 1500° herrschen, hinreichend, um die meisten festen Stoffe unse- rer Erdrinde in geschmolzenem, feuerflüssigem Zustande zu er- halten. Diese Tiefe ist aber erst der 286ste Theil des ganzen Erddurchmessers (1717 Meilen). Wir wissen ferner, dass Quellen, die aus beträchtlicher Tiefe hervorkommen, eine sehr hohe Tem- peratur besitzen, und zum Theil selbst das Wasser im kochenden Zustande an die Oberfläche befördern. Sehr wichtige Zeugen sind endlich die vulkanischen Erscheinungen, das Hervorbrechen feuer- flüssiger Gesteinsmassen durch einzelne berstende Stellen der Erd- rinde hindurch. Die gluthflüssigen, soeben dem Erdinneren ent- RV. Vormaliger geschmolzener Zustand des ganzen Erdballs. 343 stiegenen Lavaströme zeigen eine Temperatur von 2000” und darüber. Alle diese Erscheinungen führen uns mit grosser Sicher- heit zu der wichtigen Annahme, dass die feste Erdrinde, vergleich- bar der dünnen Schale eines Apfels, nur einen ganz geringen Bruch- theil von dem ganzen Durchmesser der Erdkugel bildet, und dass diese sich noch heute grösstentheils in geschmolzenem oder feuer- flüssigem Zustande befindet. Wenn wir nun auf Grund dieser Annahme über die einstige Entwickelungs-Geschichte des Erdballs nachdenken, so werden wir folgerichtig noch einen Schritt weiter geführt, nämlich zu der Annahme, dass in früherer Zeit die ganze Erde ein feurig- flüssiger Ball, und dass die Bildung einer dünnen erstarrten Rinde auf der Oberfläche dieses Balles erst ein späterer Vorgang war. Erst allmählich, durch Ausstrahlung der inneren Gluthitze in den kalten Weltraum, verdichtete sich die Oberfläche des slühenden Erdballs zu einer dünnen Rinde. Dass die Temperatur der Erde früher allgemein eine viel höhere war, wird durch viele Erscheinungen bezeugt. Unter Anderem spricht dafür die gleich- mässige Vertheilung der Organismen in früheren Zeiten der Erd- Geschichte. Während bekanntlich jetzt den verschiedenen Erd- zonen und ihren örtlichen Temperaturen verschiedene Bevölke- rungen von Thieren und Pflanzen entsprechen, war dies früher entschieden nicht der Fall, und wir sehen aus der Vertheilung der Versteinerungen in den älteren Zeiträumen, dass erst sehr spät, in einer verhältnissmässig neuen Zeit der organischen Erd- ‘ Geschichte (im Beginn der sogenannten cänolithischen oder Tertiär- zeit), eine Sonderung der Zonen und dem entsprechend auch ihrer organischen Bevölkerung stattfand. Während der ungeheuer langen Primär- und Secundärzeit lebten tropische Pflanzen, welche einen sehr hohen Temperaturgrad bedürfen, nicht allein in der heutigen heissen Zone unter dem Aequator, sondern auch in der heutigen gemässigten und kalten Zone. Auch viele andere Er- scheinungen haben eine allmähliche Abnahme der Temperatur des Erdkörpers im Ganzen, und insbesondere eine erst spät ein- getretene Abkühlung der Erdrinde von den Polen her kennen gelehrt. In seinen ausgezeichneten „Untersuchungen über die 344 Kant’s Entwickelungs-Theorie des Weltalls. Ku Entwickelungs-Gesetze der organischen Welt“ hat Bronn'”) die zahlreichen geologischen und paläontologischen Beweise dafür zu- sammengestellt. Auf diese Erscheinungen einerseits und auf die mathematisch- astronomischen Erkenntnisse vom Bau des Weltgebäudes anderer- seits gründet sich nun die Theorie, dass die ganze Erde vor un- denklicher Zeit, lange vor der ersten Entstehung von Organismen auf derselben, ein feuerflüssiger Ball war. Diese Theorie aber steht wiederum in Uebereinstimmung mit der grossartigen Theorie von der Entstehung des Welt-Gebäudes und speciell unseres Planetensystems, welche auf Grund von mathematischen und astronomischen Thatsachen 1755 unser kritischer Philosoph Kant?”) aufstellte, und welche später die berühmten Mathematiker La- place und Herschel ausführlicher begründeten. Diese mecha- nische Kosmogenie oder Entwickelungs - Theorie des Weltalls steht noch heute in fast allgemeiner Geltung; sie ist durch keine bessere ersetzt worden, und Mathematiker, Astronomen und Geo- logen haben dieselbe durch mannichfaltige Beweise immer fester zu stützen versucht. Die Kosmogenie Kant’s behauptet, dass das ganze Welt- all in unvordenklichen Zeiten ein gasförmiges Chaos bildete. Alle Materien, welche auf der Erde und anderen Weltkörpern gegenwärtig in verschiedenen Dichtigkeitszuständen, in festem, fest-flüssigem, tropfbar-flüssigem und elastisch-füssigem oder gas- förmigem Aggregatzustande sich gesondert finden, bildeten ur- sprünglich zusammen eine einzige gleichartige, den Weltraum gleichmässig erfüllende Masse, welche in Folge eines ausserordent- lich hohen Temperaturgrades in gasförmigem oder luftförmigem, äusserst dünnem Zustande sich befand. Die Millionen von Welt- körpern, welche gegenwärtig auf die verschiedenen Sonnensysteme vertheilt sind, existirten damals noch nicht. Sie entstanden erst in Folge einer allgemeinen Drehbewegung oder Rotation, bei welcher sich eine Anzahl von festeren Massengruppen mehr als die übrige gasförmige Masse verdichteten, und nun auf letztere als Anziehungsmittelpunkte wirkten. So entstand eine Scheidung des chaotischen Ur-Nebels oder Welt-Gases in’ eine Anzahl von DROV- Entwickelung der Sonnen, Planeten und Monde. 345 rotirenden, mehr und mehr sich verdichtenden Nebelbällen. Auch unser Sonnensystem war ein solcher riesiger gasförmiger Dunst- ball, dessen Theilchen sich sämmtlich um einen gemeinsamen Mittelpunkt, den Sonnenkern, herumdrehten. Der Nebelball selbst nahm durch die Rotationsbewegung, gleich allen übrigen, eine Sphäroid-Form oder abgeplattete Kugel-Gestalt an. Während die Centripetalkraft die rotirenden Theilchen immer näher an den festen Mittelpunkt des Nebelballs heranzog, und so diesen mehr und mehr verdichtete, war umgekehrt die Centri- fugalkraft bestrebt, die peripherischen Theilchen immer weiter von jenem zu entfernen und sie abzuschleudern. An dem Aequa- torialrande der an beiden Polen abgeplatteten Kugel war diese Centrifugalkraft am stärksten, und sobald sie bei weitergehender Verdichtung das Uebergewicht über die Centripetalkraft erlangte, löste sich hier eine ringförmige Nebelmasse von dem rotirenden Balle ab. Diese Nebelringe zeichneten die Bahnen der zukünf- tigen Planeten vor. Allmählich verdichtete sich die Nebelmasse des Ringes zu einem Planeten, der sich um seine eigene Axe drehte und zugleich um den Centralkörper rotirte. In ganz gleicher Weise aber wurden von dem Aequator der Planeten- masse, sobald die Centrifugalkraft wieder das Uebergewicht über die Centripetalkraft gewann, neue Nebelringe abgeschleudert, welche in gleicher Weise um die Planeten sich bewegten, wie diese um die Sonne. Auch diese Nebelringe verdichteten sich wieder zu rotirenden Bällen. So entstanden die Monde, von denen nur einer um die Erde, aber vier um den Jupiter, sechs um den Uranus sich bewegen. Der Ring des Saturnus stellt uns noch heute einen Mond auf jenem früheren Entwickelungsstadium dar. Indem bei immer weiter schreitender Abkühlung sich diese einfachen Vorgänge der Verdichtung und Abschleuderung vielfach wiederholten, entstanden die verschiedenen Sonnensysteme, die Planeten, welche sich rotirend um ihre centrale Sonne, und die Trabanten oder Monde, welche sich drehend um ihren Planeten bewegen. Der anfängliche gasförmige Zustand der rotirenden Weltkörper ging allmählich durch fortschreitende Abkühlung und Verdichtung 346 Kant’s komologische Gas-Theorie. XV in den feurigflüssigen oder geschmolzenen Aggregatzustand über. Durch den Verdichtungsvorgang selbst wurden grosse Mengen von Wärme frei, und so gestalteten sich die rotirenden Sonnen, Pla- neten und Monde bald zu glühenden Feuerbällen, gleich riesigen geschmolzenen Metalltropfen, welche Licht und Wärme ausstrahlten, Durch den damit verbundenen Wärmeverlust verdichtete sich wiederum die geschmolzene Masse an der Oberfläche der feuer- flüssigen Bälle und so entstand eine dünne feste Rinde, welche einen feurigflüssigen Kern umschloss. In allen diesen Beziehungen wird sich unsere mütterliche Erde nicht wesentlich verschieden von den übrigen Weltkörpern verhalten haben. Der besondere Zweck dieser Vorträge gestattet uns nicht, die „natürliche Schöpfungs-Geschichte des Weltalls“ mit seinen verschiedenen Sonnen-Systemen und Planeten-Systemen im Einzelnen zu verfolgen und durch alle verschiedenen astronomischen und geologischen Beweismittel mathematisch zu begründen. Ich begnüge mich daher mit den eben angeführten Grundzügen der- selben und verweise Sie bezüglich des Näheren auf Kant’s „All- gemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels“ ?”), sowie auf das treflliche Werk von Carus Sterne, „Werden und Ver- gehen“?”). Nur die Bemerkung will ich noch hinzufügen, dass diese bewunderungswürdige Theorie, welche man auch die kos- mologische Gas-Theorie genannt hat, mit allen uns bis jetzt bekannten allgemeinen Erscheinungsreihen in bestem Einklang steht. Ferner ist dieselbe rein mechanisch oder monistisch; sie nimmt ausschliesslich die ureigenen Kräfte der ewigen Materie für sich in Anspruch, und schliesst jeden übernatürlichen Vor- gang, jede zweckmässige und bewusste Thätigkeit eines persön- lichen Schöpfers vollständig aus. Kant’s kosmologische Gas-Theorie nimmt daher in der Anorgologie, und insbesondere in der Geo- logie, eine ähnliche herrschende Stellung ein, und krönt in ähnlicher Weise unsere Gesammterkenntniss, wie Lamarck’s bio- logische Descendenz-Theorie in der ganzen Biologie, und nament- lich in der Anthropologie. Beide stützen sich ausschliesslich auf mechanische oder bewusstlose Ursachen (Causae efficientes), nirgends auf zweckthätige oder bewusste Ursachen (Causae KV. Unendlichkeit und Ewigkeit des Welltalls. 347 finales). (Vergl. oben S. 39—92.) Beide erfüllen somit alle An- forderungen einer wissenschaftlichen Theorie und werden so lange in Geltung bleiben, bis sie durch bessere ersetzt werden. Allerdings will ich andererseits nicht verhehlen, dass der grossartigen Kosmogenie Kant’s einige Schwächen anhaften, welche uns nicht gestatten, ihr dasselbe unbedingte Vertrauen zu schenken, wie Lamarck’s Descendenz-Theorie. Grosse Schwierigkeiten ver- schiedener Art hat die Vorstellung des uranfänglichen gasförmigen Chaos, das den ganzen Weltraum erfüllte. Eine grössere und ungelöste Schwierigkeit aber liegt darin, dass die kosmologische Gas-Theorie uns gar keinen Anhaltepunkt liefert für die Erklärung des ersten Anstosses, der die Rotationsbewegung in dem gaser- füllten Weltraum verursachte. Beim Suchen nach einem solchen Anstoss werden wir unwillkürlich zu der falschen Frage nach dem „ersten Anfang“ verführt. Einen ersten Anfang können wir uns aber für die ewigen Bewegungserscheinungen des Weltalls eben so wenig denken, als ein schliessliches Ende. Das Weltall ist nach Raum und Zeit unbeschränkt und un- ermesslich. Es ist ewig und es ist unendlich. Aber auch für die ununterbrochene und ewige Bewegung, in welcher sich alle Theilchen des Weltalls beständig befinden, können wir uns keinen Anfang und kein Ende denken. Die grossen Gesetze von der Erhaltung der Kraft’“) und von der Erhaltung des Stoffes, die Grundlagen unserer ganzen Naturanschauung, lassen keine andere Vorstellung zu. Die Welt, soweit sie dem Erkenntniss- vermögen des Menschen zugänglich ist, erscheint als eine zu- sammenhängende Kette von materiellen Bewegungserscheinungen, mit einem fortwährenden Wechsel der Formen verknüpft. Jede Form, als das zeitweilige Resultat einer Summe von Bewegungs- erscheinungen, ist als solches vergänglich und von beschränkter Dauer. Aber in dem beständigen Wechsel der Formen bleibt die Materie und die davon untrennbare Kraft ewig und unzer- störbar; dies ist die wahre Unsterblichkeit. Wenn nun auch Kant’s kosmologische Gas-Theorie nicht im Stande ist, die Entwickelungs-Geschichte des ganzen Weltalls in befriedigender Weise über jenen Zustand des gasförmigen Chaos 348 Entstehung und Umbildung der Erdrinde. Kal hinaus aufzuklären, und wenn auch ausserdem noch mancherlei Bedenken, namentlich von chemischer und geologischer Seite her, - sich gegen sie aufwerfen lassen, so müssen wir ihr doch ander- seits das grosse Verdienst lassen, den ganzen Bau des unserer Beobachtung zugänglichen Weltgebäudes, die „Anatomie“ der Sonnen-Systeme und speciell unseres Planeten-Systems, vortrefflich durch ihre Entwickelungs-Geschichte zu erklären. Vielleicht war diese Entwickelung in der That eine ganz andere; vielleicht ent- standen die Planeten, und also auch unsere Erde, durch Aggre- gation aus zahllosen kleinen, im Weltraum zerstreuten Meteoriten ? Eine solche Theorie ist u. A. von Radenhausen, dem geist- reichen Verfasser der treffllichen Werke „Isis“ und „Osiris“ auf- gestellt worden’). Aber meines Erachtens bieten diese und ähn- liche Kosmogenien noch grössere Schwierigkeiten, als diejenige von Kant. Nach diesem allgemeinen Blick auf die monistische Kos- mogenie oder die „natürliche Entwickelungs-Geschichte des Welt- alls“ lassen Sie uns zu einem winzigen Bruchtheil desselben zu- rückkehren, zu unserer mütterlichen Erde. Wir hatten dieselbe im Zustande einer feurigflüssigen, an beiden Polen abgeplatteten Kugel verlassen, deren Oberfläche sich durch Abkühlung zu einer ganz dünnen festen Rinde verdichtet hatte. Die erste Erstarrungs- kruste wird die ganze Oberfläche des Erdsphäroids als eine zu- sammenhängende, glatte, dünne Schale gleichmässig überzogen haben. Bald aber wurde dieselbe uneben und höckerig. Indem nämlich bei fortschreitender Abkühlung der feuerflüssige Kern sich mehr und mehr verdichtete und zusammenzog, und so der ganze Erddurchmesser sich verkleinerte, musste die dünne, starre Rinde, welche der weicheren Kernmasse nicht nachfolgen konnte, über derselben vielfach sich runzeln, Falten bilden und zusammenbrechen. Es würde zwischen beiden ein leerer Raum entstanden sein, wenn nicht der äussere Athmosphärendruck die zerbrechliche Rinde nach innen hinein getrieben hätte. Andere Unebenheiten entstanden wahrscheinlich dadurch, dass an ver- schiedenen Stellen die abgekühlte Rinde durch den Erstarrungs- process selbst sich zusammenzog und Sprünge oder Risse bekam. IXIVE Erste Entstehung der Berge und des Wassers. 349 Der feuerflüssige Kern quoll von Neuem durch diese Sprünge hervor und erstarrte abermals. So entstanden schon frühzeitig mancherlei Erhöhungen und Vertiefungen, die ersten Grundlagen der Festländer und Meeresbecken, der Berge und der Thäler. Nachdem die Temperatur des abgekühlten Erdbalis bis auf einen gewissen Grad gesunken war, erfolgte ein sehr wichtiger neuer Vorgang, nämlich die erste Entstehung des Wassers. Das Wasser war bisher nur in Dampflorm in der den Erdball umgebenden Atmosphäre vorhanden gewesen. Offenbar konnte das Wasser sich erst zu tropfbar-flüssigem Zustande verdichten, nachdem die Temperatur der Atmosphäre bis auf 99°C. gesunken war. Nun begann die weitere Umbildung der Erdrinde durch die Kraft des Wassers. Indem dasselbe beständig in Form von Regen niederfiel, hierbei die Erhöhungen der Erdrinde abspülte, die Vertiefungen durch den abgespülten Schlamm ausfüllte, und diesen schichtenweise ablagerte, bewirkte es die ausserordentlich wichtigen neptunischen Umbildungen der Erdrinde. Seit- dem dauerte die Sediment-Bildung beständig fort, und führte zur Entstehung der mächtigen geschichteten Gebirgsmassen, oder Sedi- ment-Gesteine, auf welche wir im nächsten Vortrage noch einen näheren Blick werfen werden. Erst nachdem die Erdrinde so weit abgekühlt war, dass das Wasser sich zu tropfbarer Form verdichtet hatte, erst als die bis dahin trockene Erdkruste zum ersten Male von flüssigem Wasser bedeckt wurde, konnte die Entstehung der ersten Organis- men erfolgen. Denn alle Thiere und alle Pflanzen, alle Organis- men überhaupt, bestehen zum grossen Theile oder zum grössten Theile aus tropfbar-flüssigem Wasser, welches mit anderen Materien in eigenthümlicher Weise sich verbindet, und diese in fest-flüssigen Aggregatzustand versetzt. Wir können also aus diesen allge- meinen Grundzügen der anorgischen Erd-Geschichte zunächst die wichtige Thatsache folgern, dass zu irgend einer bestimmten Zeit das organische Leben auf der Erde seinen Anfang hatte, dass die irdischen Organismen nicht von jeher existirten, sondern in irgend einem Zeitpunkte zum ersten Mal entstanden. Diese Thatsache ist von grösster Bedeutung. 350 Urzeugung. Vergleichung der Organismen und Anorgane. xy? Wie haben wir uns nun diese Entstehung der ersten Organismen zu denken? Hier ist derjenige Punkt, an welchem die meisten Naturforscher noch heutzutage geneigt sind, den Ver- such einer natürlichen Erklärung aufzugeben, und zu dem Wun- der einer unbegreiflichen Schöpfung zu flüchten. Mit diesem Schritte treten sie, wie schon vorher bemerkt wurde, ausserhalb des Gebietes der naturwissenschaftlichen Erkenntniss und verzich- ten auf jede weitere Einsicht in den nothwendigen Zusammen- hang der Natur-Geschichte. Ehe wir muthlos diesen letzten Schritt thun, ehe wir an der Möglichkeit jeder Erkenntniss dieses wich- tigen Vorganges verzweifeln, wollen wir wenigstens einen Versuch machen, denselben zu begreifen. Lassen Sie uns sehen, ob denn wirklich die Entstehung eines ersten Organismus aus anorgischem Stoffe, die Entstehung eines lebendigen Körpers aus sogenannter lebloser Materie etwas ganz Undenkbares, ausserhalb aller be- kannten Erfahrung Stehendes sei? Lassen Sie uns mit einem Worte die Frage von der Urzeugung oder Archigonie unter- suchen! Vor allem ist hierbei erforderlich, sich die hauptsäch- lichsten Eigenschaften der beiden Haupt-Gruppen von Naturkör- pern, der sogenannten leblosen oder anorgischen und der beleb- ten oder organischen Körper klar zu machen, und das Gemein- same einerseits, das Unterscheidende beider Gruppen andrerseits festzustellen. Auf diese Vergleichung der Organismen und Anorgane müssen wir hier um so mehr eingehen, als sie ge- wöhnlich sehr vernachlässigt wird, und als sie doch zu einem richtigen, einheitlichen Verständniss der Gesammtnatur ganz noth- wendig ist. Am zweckmässigsten wird es hierbei sein, die drei Grundeigenschaften jedes Naturkörpers, Stoff, Form und Kraft, ge- sondert zu betrachten. Beginnen wir zunächst mit dem Stoff. Durch die Chemie sind wir dahin gelangt, sämmtliche uns bekannte Körper in eine geringe Anzahl von Elementen oder Grundstoffen zu zerlegen; solche nicht weiter zerlegbare Körper sind z. B. Kohlenstoff, Sauerstoff, Stickstoff, Schwefel, ferner die verschiedenen Metalle: Kalium, Natrium, Eisen, Gold u. s. w. Man zählt jetzt 64—66 solcher Elemente oder Grundstofle. Die Mehrzahl derselben ist ziemlich unwichtig und selten, nur die XV. Elemente und Ur-Elemente: Masse und Aether. 551 Minderzahl ist allgemeiner verbreitet und setzt nicht allein die meisten Anorgane, sondern auch sämmtliche Organismen zusam- men. Vergleichen wir nun diejenigen Elemente, welche den Kör- per der Organismen aufbauen, mit denjenigen, welche in den Anorganen sich finden, so haben wir zunächst die höchst wich- tige Thatsache hervorzuheben, dass im Thier- und Pflanzenkörper kein Grundstoff vorkommt, der nicht auch ausserhalb desselben in der leblosen Natur zu finden wäre. Es giebt keine beson- deren organischen Elemente oder Grundstoffe. Beiläufig bemerkt, ist es höchst wahrscheinlich, dass alle diese sogenannten „Elemente“ nur verschiedene Ver- bindungs-Formen von zwei.verschiedenen Urelementen sind: Masse und Aether; die Massen-Atome Träger der An- ziehung („Lust“); die Aether-Atome Träger der Abstossung („Unlust“). Die Unterschiede unserer heutigen „Elemente“ be- ruhen wahrscheinlich nur darauf, dass die Massen-Atome in ver- schiedener Zahl und Anordnung zusammengesetzt, oder durch die Aether- Atome in verschiedener Weise getrennt sind. Die gruppenweise Verwandtschaft der Elemente legt uns diese Vermuthung sehr nahe, wenn auch unsere unvollkommene Chemie bisher nicht im Stande gewesen ist, dieselbe experimentell zu be- gründen. Die chemischen und physikalischen Unterschiede, welche zwischen den Organismen und den Anorganen existiren, haben also ihren materiellen Grund nicht in einer verschiedenen Natur der sie zusammensetzenden Grundstoffe, sondern in der ver- schiedenen Art und Weise, in welcher die letzteren zu chemi- schen Verbindungen zusammengesetzt sind. Diese verschiedene Verbindungsweise bedingt zunächst gewisse physikalische Eigen- thümlichkeiten, insbesondere in der Dichtigkeit der Materie, welche auf den ersten Blick eine tiefe Kluft zwischen beiden Körpergruppen zu begründen scheinen. Die geformten anorgi- schen oder leblosen Naturkörper, die Krystalle und die amorphen Gesteine, befinden sich in einem Dichtigkeitszustande, den wir den festen nennen, und den wir dem tropfbar-flüssigen Dichtig- keitszustande des Wassers und dem gasförmigen Dichtigkeitszu- 352 Dichtigkeits-Zustände der Organismen und Anorgane. XV. stande der Luft entgegensetzen. Es ist Ihnen bekannt, dass diese drei verschiedenen Dichtigkeitsgrade oder Aggregatzustände der Anorgane durchaus nicht den verschiedenen Elementen eigenthümlich, sondern die Folgen eines bestimmten Temperatur- Grades sind. Jeder anorgische feste Körper, z. B. Blei, kann durch Erhöhung der Temperatur zunächst in den tropfbar-flüssigen oder geschmolzenen, und durch weitere Erhitzung in den gas- förmigen oder elastisch-füssigen Zustand versetzt werden. Ebenso kann jeder gasförmige Körper, z. B. Kohlensäure, durch gehörige Erniedrigung der Temperatur zunächst in den tropfbar-flüssigen und weiterhin in den festen Dichtigkeits-Zustand übergeführt werden. Im Gegensatze zu diesen drei Dichtigkeits-Zuständen der An- organe befindet sich der lebendige Körper aller Organismen, Thiere sowohl als Pflanzen, in einem ganz eigenthümlichen, vier- ten Aggregatzustande. Dieser ist weder fest, wie Gestein, noch tropfbar-flüssig, wie Wasser, vielmehr hält er zwischen diesen beiden Zuständen die Mitte, und kann daher als der fest-flüssige oder gequollene Aggregat-Zustand bezeichnet werden. In allen lebenden Körpern ohne Ausnahme ist eine gewisse Menge Wasser mit fester Materie in ganz eigenthümlicher Art und Weise verbunden, und eben durch diese charakteristische Verbindung des Wassers mit der organischen Materie entsteht jener weiche, weder feste noch flüssige, Aggregat-Zustand, welcher für die me- chanische Erklärung der Lebenserscheinungen von der grössten Bedeutung ist. Die Ursache desselben liegt wesentlich in den physikalischen und chemischen Eigenschaften eines einzigen Grund- stofls, des Kohlenstoffs. Von allen Elementen ist der Kohlenstoff für uns bei weitem das wichtigste und interessanteste, weil bei allen uns bekannten Thier- und Pflanzen-Körpern dieser Grundstoff die grösste Rolle spielt. Er ist dasjenige Element, welches durch seine eigenthüm- liche Neigung zur Bildung verwickelter Verbindungen mit den andern Elementen die grösste Mannichfaltigkeit in der chemischen Zusammensetzung, und daher auch in den Formen und Lebens- Eigenschaften der Thier- und Pflanzen-Körper hervorruft. Der KSV Homogene Zustände der Organismen und Anorgane. 355 Kohlenstoff zeichnet sich ganz besonders dadurch aus, dass er sich mit den andern Elementen in unendlich mannichfaltigen Zahlen- und Gewichts- Verhältnissen verbinden kann. Zunächst entstehen durch Verbindung des Kohlenstoffs mit drei andern Elementen, dem Sauerstoff, Wasserstoff und Stickstoff (zu denen sich meist auch noch Schwefel und häufig Phosphor gesellt), jene äusserst wichtigen Verbindungen, welche wir als das erste und unentbehrlichste Substrat aller Lebens-Erscheinungen kennen ge- lernt haben, die eiweissartigen Verbindungen oder Albumin-Körper (Proteinstoffe). Unter diesen sind wieder die wichtigsten die Plasson-Körper.oder „Plasma-Verbindungen“ (Karyoplasma und Protoplasma). Schon früher (S. 164) haben wir in den Moneren Organismen der aller einfachsten Art kennen gelernt, deren gan- zer Körper in vollkommen ausgebildetem Zustande aus weiter Nichts besteht, als aus einem Plasson-Stückchen oder einem fest-flüssigen eiweissartigen Plasma-Klümpchen; gerade diese einfachsten Organismen sind für die Lehre von der ersten Ent- stehung des Lebens von der allergrössten Bedeutung. Aber auch die meisten übrigen Organismen sind zu einer gewissen Zeit ihrer Existenz, wenigstens in der ersten Zeit ihres Lebens, als Ei-Zellen oder Keim-Zellen, im Wesentlichen weiter Nichts als einfache Klümpchen eines solchen eiweissartigen Bildungsstoffes, des Zell- schleimes oder Protoplasma. Sie sind dann.von den Mone- ren nur dadurch verschieden, dass im Innern des eiweissartigen Körperchens sich der Zell-Kern (Nucleus) von dem umgebenden Zell-Stoff (Cytoplasma) gesondert hat. Wie wir schon früher zeigten, sind Zellen von ganz einfacher Beschaffenheit die Staats- bürger, welche durch ihr Zusammenwirken und ihre Sonderung den Körper auch der vollkommensten Organismen, einen repu- blikanischen Zellen-Staat, aufbauen (S. 256). Die entwickelten Formen und Lebens-Erscheinungen des letzteren werden lediglich durch die Thätigkeit jener eiweissartigen Plastiden zu Stande gebracht, der wahren „Bildnerinnen“ des Lebens. Es darf als einer der grössten Triumphe der neueren Biolo- gie, insbesondere der Gewebe-Lehre, angesehen werden, dass wir jetzt im Stande sind, das Wunder der Lebens-Erscheinungen auf diese Haeckel, Natürl. Schöpfungs-Gesch. 8. Aufl. 2, 354 Bedeutung der eiweissartigen Kohlenstoff-Verbindungen. RW Stoffe zurückzuführen, dass wir die unendlich mannichfalti- gen und verwickelten, physikalischen und chemischen Eigenschaften der eiweissartigen Plasson-Körper als die eigentliche Ursache der organischen oder Lebens-Er- scheinungen nachgewiesen haben. Alle verschiedenen Formen der Organismen sind zunächst und unmittelbar das Resultat der Zusammensetzung aus verschiedenen Formen von Zellen. Die un- endlich mannichfaltigen Verschiedenheiten in der Form, Grösse und Zusammensetzung der Zellen sind aber erst allmählich durch die Arbeitstheilung und die Formspaltung der Plastidule oder Micellen entstanden; durch die Molekular-Selection jener einfachen gleichartigen Plasson-Körnchen, welche ursprünglich allein den Leib der Plastiden bildeten. Daraus folgt mit Noth- wendiekeit, dass auch die Grund-Erscheinungen des organischen Lebens, Ernährung und Fortpflanzung, ebenso in ihren höchst zusammengesetzten wie in ihren einfachsten Aeusserungen, auf die materielle Zusammensetzung jenes eiweissartigen Bildungs- stoffles, des Plasson, zurückzuführen sind. Aus jenen beiden Fundamental-Functionen haben sich aber die übrigen Lebensthätig- keiten erst allmählich hervorgebildet. So hat denn gegenwärtig die allgemeine Erklärung des organischen Lebens für uns nicht mehr Schwierigkeit, als die Er- klärung der physikalischen Eigenschaften der anorgischen Kör- per. Alle Lebens-Erscheinungen und Gestaltungs-Processe der Organismen sind eben so unmittelbar durch die chemische Zu- sammensetzung und die physikalischen Kräfte der organischen Materie bedingt, wie die Lebens - Erscheinungen der anorgischen Krystalle, d. h. die Vorgänge ihres Wachsthums und ihrer speci- fischen Formbildung, die unmittelbaren Folgen ihrer chemischen Zusammensetzung und ihres physikalischen Zustandes sind. Die letzten Ursachen bleiben uns freilich in beiden Fällen gleich verborgen. Wenn Gold und Kupfer im tesseralen, Wismuth und Antimon im hexagonalen, Jod und Schwefel im rhombischen Krystallsystem krystallisiren, so ist uns dies im Grunde nicht mehr und nicht weniger räthselhaft, als jeder elementare Vorgang der organischen Formbildung, jede Selbstgestaltung der organi- XV. Form-Bildung der Organismen und Anorgane. 355 schen Zelle. Auch in dieser Beziehung können wir gegenwärtig den fundamentalen Unterschied zwischen organischen und anor- gischen Körpern nicht mehr festhalten, von welchem man frü- her allgemein überzeugt war. Betrachten wir zweitens die Uebereinstimmungen und Unter- schiede, welche die Formbildung der organischen und anor- gischen Naturkörper uns darbietet. Als Hauptunterschied in die- ser Beziehung sah man früher die einfache Structur der letzteren, den zusammengesetzten Bau der ersteren an. Der Körper aller Organismen sollte aus ungleichartigen oder heterogenen Theilen zusammengesetzt sein, aus Werkzeugen oder Organen, welche zum Zweck des Lebens zusammenwirken. Dagegen sollten auch die vollkommensten Anorgane, die Krystalle, durch und durch aus gleichartiger oder homogener Materie bestehen. Dieser Un- terschied erscheint im Princip allerdings sehr wesentlich. Allein er hat alle Bedeutung verloren, seit wir vor 25 Jahren die höchst merkwürdigen und wichtigen Moneren kennen gelernt haben '°). Der ganze lebendige Körper dieser einfachsten von allen Orga- nismen ist nur ein fest-flüssiges, formloses und structurloses Plasson-Klümpchen; vergleichbar einem Krystall, der aus einer einzigen anorgischen Verbindung, z. B. einem Metallsalze, oder einer sehr zusammengesetzten Kieselerde-Verbindung besteht. Frei- lich nehmen wir an, dass auch im homogenen Plasma des ein- fachsten Moneres eine sehr verwickelte Molekular-Structur besteht; allein diese ist weder anatomisch noch mikroskopisch nachweisbar; und ausserdem muss dieselbe eben so gut bei vie- len Krystallen vorausgesetzt werden. Ebenso wie in der inneren Structur oder Zusammensetzung, hat man auch in der äusseren Form durchgreifende Unterschiede zwischen den Organismen und Anorganen finden wollen, insbe- sondere in der mathematisch bestimmbaren Krystallform der letz- teren. Allerdings ist die Krystallisation vorzugsweise eine Eigen- schaft der sogenannten Anorgane. Die Krystalle werden begrenzt von ebenen Flächen, welche in geraden Linien und unter be- stimmten messbaren Winkeln zusammenstossen. Die Thier- und Pflanzen-Form ‚dagegen scheint auf den ersten Blick keine der- DE % ie 356 Bewegungs-Erscheinungen der Organismen und Anorgane. XVn artige geometrische Bestimmung zuzulassen. Sie ist meistens von gebogenen Flächen und krummen Linien begrenzt, welche unter veränderlichen Winkeln zusammenstossen. Allein wir haben in neuerer Zeit in den Radiolarien und in vielen anderen Proti- sten eine grosse Anzahl von niederen Organismen kennen gelernt, bei denen der Körper in gleicher Weise, wie bei den Krystallen, auf eine mathematisch bestimmbare Grundform sich zurückführen lässt; auch hier ist die Gestalt im Ganzen wie im Einzelnen durch geometrisch bestimmbare Flächen, Kanten und Winkel be- grenzt. In meiner allgemeinen Grundformenlehre oder Pro- morphologie habe ich hierfür die ausführlichen Beweise gelie- fert, und zugleich ein allgemeines Formen-System aufgestellt, dessen ideale stereometrische Grundformen eben so gut die rea- len Formen der anorgischen Krystalle wie der organischen Indi- viduen erklären (Gener. Morphol. I, 375—574). Ausserdem giebt es übrigens auch vollkommen amorphe Organismen, wie die Moneren, Amöben u. s. w., welche jeden Augenblick ihre Ge- stalt wechseln, und bei denen man eben so wenig eine bestimmte Grundform nachweisen kann, als es bei den formlosen oder amor- phen Anorganen, bei den nicht krystallisirten Gesteinen, Nieder- schlägen u. s. w. der Fall ist. Wir sind also nicht im Stande, irgend einen principiellen Unterschied in der äusseren Form oder in der inneren Structur der Anorgane und Organismen auf- zufinden. Wenden wir uns drittens an die Kräfte oder an die Be- wegungs-Erscheinungen dieser beiden verschiedenen Körper- Gruppen. Hier stossen wir auf die grössten Schwierigkeiten. Die Lebens-Erscheinungen, wie sie die meisten Menschen nur von hoch ausgebildeten Organismen, von vollkommneren Thieren und Pflanzen kennen, erscheinen so räthselhaft, so wunderbar, so eigenthümlich, dass die Meisten der bestimmten Ansicht sind, in der anorgischen Natur komme gar nichts Aehnliches oder nur entfernt damit Vergleichbares vor. Man nennt ja eben deshalb die Organismen belebte und die Anorgane leblose Naturkörper. Daher erhielt sich bis in unser Jahrhundert hinein, selbst in der Wissenschaft, die sich mit der Erforschung der Lebens-Erschei- XV. Kohlenstoff-Verbindungen als Ursachen der Lebenskraft. 357 nungen beschäftigt, in der Physiologie, die irrthümliche Ansicht, dass die physikalischen und chemischen Eigenschaften der Materie nicht zur Erklärung der Lebens-Erscheinungen ausreichten. Heut- zutage darf diese Ansicht durch die Fortschritte der Biologie als völlig überwunden angesehen werden. In der exacten Physiologie wenigstens hat sie nirgends mehr eine Stätte. Es fällt heutzutage keinem Physiologen mehr ein, irgend welche Lebens-Erscheinungen als das Resultat einer wunderbaren Lebenskraft aufzufassen, einer besonderen zweckmässig thätigen Kraft, welche ausserhalb der Materie steht, und welche die physikalisch-chemischen Kräfte gewissermassen nur zeitweilig in ihren Dienst nimmt. Die heutige Physiologie ist zu der streng monistischen Ueberzeugung gelangt, dass sämmtliche Lebens-Thätigkeiten, und vor allen die beiden Grund-Erscheinungen der Ernährung und Fortpflanzung, rein physikalisch-chemische Vorgänge sind, ebenso unmittelbar von der materiellen Beschaffenheit des Organismus abhängig, wie alle physikalischen und chemischen Eigenschaften oder Kräfte eines jeden Krystalles lediglich durch seine materielle Zusammen- setzung bedingt werden. Da nun derjenige Grundstoff, welcher die eigenthümliche materielle Zusammensetzung der Organismen bedingt, der Kohlenstoff ist, so müssen wir alle Lebens-Erschei- nungen, und vor allen die beiden Grund-Functionen der Er- nährung und Fortpflanzung, in letzter Linie auf die Eigenschaften des Kohlenstoffs zurückführen. Lediglich die eigenthüm- lichen, chemisch-physikalischen Eigenschaften des Kohlenstoffs, und namentlich der festflüssige Aggregat- zustand und die leichte Zersetzbarkeit der höchst zu- sammengesetzten eiweissartigen Kohlenstoff-Verbin- dungen, sind die mechanischen Ursachen jener eigen- thümlichen Bewegungs-Erscheinungen, durch welche sich die Organismen von den Anorganen unterscheiden, und die man im engeren Sinne das „Leben“ zu nennen pflegt. Um diese „Kohlenstoff-Theorie“, welche ich im zweiten Buche meiner generellen Morphologie ausführlich begründet habe, richtig zu würdigen, ist es vor Allem nöthig, diejenigen Be- 358 Wachsthum und Anpassung bei Krystallen und bei Organismen. XV, wegungs-Erscheinungen scharf in’s Auge zu fassen, welche beiden Gruppen von Naturkörpern gemeinsam sind. Unter diesen steht obanan das Wachsthum. Wenn Sie irgend eine anorgische Salzlösung langsam verdampfen lassen, so bilden sich darin Salz- Krystalle, welche bei weiter gehender Verdunstung des Wassers langsam an Grösse zunehmen. Dieses Wachsthum erfolgt dadurch, dass immer neue Theilchen aus dem flüssigen Aggregat-Zustande in den festen übergehen und sich an den bereits gebildeten festen Krystallkern nach bestimmten Gesetzen anlagern. Durch solche Anlagerung oder Apposition der Theilchen entstehen die mathe- matisch bestimmten Krystall-Formen. Ebenso durch Aufnahme neuer Theilchen geschieht auch das Wachsthum der Organismen. Der Unterschied ist nur der, dass beim Wachsthum der Organis- men in Folge ihres fest-flüssigen Aggregat-Zustandes die neu aufgenommenen Theilchen in’s Innere des Organismus vor- rücken (Intussusception), während die Anorgane nur durch Apposition, durch Ansatz neuer, gleichartiger Materie von aussen her zunehmen. Indess ist dieser wichtige Unterschied des Wachs- thums durch Intussusception und durch Apposition augenschein- lich nur die nothwendige und unmittelbare Folge des verschiede- nen Dichtigkeits-Zustandes oder Aggregat-Zustandes der Organismen und der Anorgane. Ich kann hier an dieser Stelle leider nicht näher die mancherlei höchst interessanten Parallelen und Aehnlichkeiten verfolgen, welche sich zwischen der Bildung der vollkommensten Anorgane, der Krystalle, und der Bildung der einfachsten Or- ganismen, der Moneren und der nächst verwandten Protisten- Formen, vorfinden. Ich muss Sie in dieser Beziehung auf die eingehende Vergleichung der Organismen und der Anor- gane verweisen, welche ich im fünften Kapitel meiner generellen Morphologie durchgeführt habe (Gen. Morph. I, 111 bis 166). Dort habe ich ausführlich bewiesen, dass durchgreifende Unterschiede zwischen den organischen und anorganischen Naturkörpern weder in Bezug auf Form und Structur, noch in Bezug auf Stoff und Kraft existiren; dass die wirklich vorhandenen Unterschiede von der eigenthümlichen Natur des Kohlenstoffs abhängen, und XV. Aeussere und innere Bildungskraft der Organismen’und Anorgane. 359 dass keine unübersteigliche Kluft zwischen der organischen und der anorgischen Natur existirt. Besonders einleuchtend erkennen Sie diese höchst wichtige Thatsache, wenn Sie die Entstehung der Formen bei den Krystallen und bei den einfachsten organischen Individuen ver- eleichend untersuchen. Auch bei der Bildung der Krystall- Individuen treten zweierlei verschiedene, einander entgegenwirkende Bildungstriebe in Wirksamkeit. Die innere Gestaltungskraft oder der innere Bildungstrieb, welcher der Erblichkeit der Orga- nismen entspricht, ist bei dem Krystalle der unmittelbare Aus- fluss seiner materiellen Constitution oder seiner chemischen Zu- sammensetsung. Die Form des Krystalles, soweit sie durch diesen inneren, ureigenen Bildungstrieb bestimmt wird, ist das Resultat der specifisch bestimmten Art und Weise, in welcher sich die kleinsten Theilchen der krystallisirenden Materie nach verschie- denen Richtungen hin gesetzmässig an einander lagern. Jener selbstständigen inneren Bildungskraft, welche der Materie selbst unmittelbar anhaftet, wirkt eine zweite formbildende Kraft geradezu entgegen. Diese äussere Gestaltungskraft oder den äusseren Bildungstrieb können wir bei den Krystallen ebenso gut wie bei den Organismen als Anpassung bezeichnen. Jedes Krystall- Individuum muss sich während seiner Entstehung ganz ebenso wie jedes organische Individuum den umgebenden Einflüssen und Existenz-Bedingungen der Aussenwelt unterwerfen und anpassen. In der That ist die Form und Grösse eines jeden Krystalles ab- hängig von seiner gesammten Umgebung, z.B. von dem Gefäss, in welchem die Krystallisation stattfindet, von der Temperatur und von dem Luftdruck, unter welchem der Krystall sich bildet, von der Anwesenheit oder Abwesenheit ungleichartiger Körper u.s. w. Die Form jedes einzelnen Krystalles ist daher ebenso wie die Form jedes einzelnen Organismus das Resultat der Gegen- wirkung zweier einander gegenüber stehender Factoren, des inneren Bildungstriebes, der durch die chemische Constitution der eigenen Materie gegeben ist, und des äusseren Bildungs- triebes, welcher durch die Einwirkung der umgebenden Materie bedingt ist. Beide in Wechselwirkung stehende Gestaltungskräfte 360 Einheit der organischen und anorgischen Natur. WW sind im Organismus ebenso wie im Krystall rein mechanischer Natur, unmittelbar an dem Stoffe des Körpers haftend. Wenn man das Wachsthum und die Gestaltung der Organismen als einen „Lebens-Process“ bezeichnet, so kann man dasselbe eben- so gut von dem sich bildenden Krystall behaupten. Die teleo- logische Natur-Betrachtung, welche in den organischen Formen zweckmässig eingerichtete Schöpfungs-Maschinen erblickt, muss folgerichtiger Weise dieselben auch in den Krystall-Formen an- erkennen. Die Unterschiede, welche sich zwischen den einfachsten organischen Individuen und den anorgischen Krystallen vor- finden, sind durch den festen Aggregat-Zustand der letzteren, durch den fest-flüssigen Zustand der ersteren bedingt. Im Uebrigen sind die bewirkenden Ursachen der Form in beiden vollständig dieselben. Ganz besonders klar drängt sich Ihnen diese Ueberzeugung auf, wenn Sie die höchst merkwürdigen Er. scheinungen von dem Wachsthum, der Anpassung und der „Wechsel-Beziehung oder Correlation der Theile“ bei den ent- stehenden Krystallen mit den entsprechenden Erscheinungen bei der Entstehung der einfachsten organischen Individuen (Moneren und Zellen) vergleichen. Die Analogie zwischen Beiden ist so gross, dass wirklich keine scharfe Grenze zu ziehen ist. In meiner generellen Morphologie habe ich hierfür eine An- zahl von schlagenden Thatsachen angeführt (Gen. Morph. I, 146, 156, 158). Wenn Sie diese „Einheit der organischen und anor- gischen Natur“, diese wesentliche Uebereinstimmung der Or- ganismen und Anorgane in Stoff, Form und Kraft, sich lebhaft vor Augen halten, wenn Sie sich erinnern, dass wir nicht im Stande sind, irgend welche fundamentalen Unterschiede zwischen diesen beiderlei Körper-Gruppen festzustellen (wie sie früherhin allgemein angenommen wurden), so verliert die Frage von der Urzeugung sehr viel von der Schwierigkeit, welche sie auf den ersten Blick zu haben scheint. Die Entstehung des ersten Orga- nismus aus anorgischer Materie erscheint uns dann viel leichter denkbar und viel verständlicher, als es bisher der Fall war; denn jene künstliche absolute Scheidewand zwischen organischer und NV; Urzeugung oder Archigonie. Autogonie und Plasmogonie. 361 anorgischer Natur, zwischeu belebten und leblosen Naturkörpern ist jetzt beseitigt. Bei der Frage von der Urzeugung oder Archigonie, die wir jetzt bestimmter beantworten können, erinnern Sie sich zu- nächst daran, dass wir unter diesem Begriff ganz allgemein die elternlose Zeugung eines organischen Individuums, die Entstehung eines Organismus unabhängig von einem elterlichen oder zeugenden Organismus verstehen. In diesem Sinne haben wir früher die Urzeugung (Archigonia) der Elternzeugung oder Fortpflanzung (Tocogonia) entgegengesetzt (S. 163). Bei dieser letzteren entsteht das organische Individuum dadurch, dass ein grösserer oder geringerer Theil von einem bereits bestehenden Organismus sich ablöst und selbstständig weiter wächst (Gen. Morph. II, 32). Von der Urzeugung, welche man auch oft als freiwillige oder ursprüngliche Zeugung bezeichnet (Generatio spontanea, aequivoca, primaria ete.), müssen wir zunächst zwei wesentlich verschiedene Arten unterscheiden, nämlich die Autogonie und die Plasmogonie. Unter Autogonie verstehen wir die Ent- stehung eines einfachsten organischen Individuums in einer an- orgischen Bildungs-Flüssigkeit, d.h. in einer Flüssigkeit, welche die zur Zusammensetzung des Organismus erforderlichen Grundstoffe in einfachen und beständigen Verbindungen gelöst enthält (z. B. Kohlensäure, Ammoniak, binäre Salze u. s. w.); Plasmogonie dagegen nennen wir die Urzeugung dann, wenn der Organismus in einer organischen Bildungs-Flüssigkeit entsteht, d. h. in einer Flüssigkeit, welche jene erforderlichen Grundstoffe in Form von verwickelten und lockeren Kohlenstofl- Verbindungen gelöst enthält (z. B. Eiweiss, Fett, Kohlen-Hydraten etc.) (Gen. Morph. I, 174; II, 33). Der Vorgang der Autogonie sowohl als der Plasmogonie ist bis jetzt noch nicht direct mit voller Sicherheit beobachtet. In älterer und neuerer Zeit hat man über die Möglichkeit oder Wirklichkeit der Urzeugung sehr zahlreiche und zum Theil auch interessante Versuche angestellt. Allein diese Experimente be- ziehen sich fast sämmtlich nicht auf die Autogonie, sondern auf 362 Beweiskraft der Versuche über Urzeugung. Ray die Plasmogonie, auf die Entstehung eines Organismus aus bereits gebildeter organischer Materie. Offenbar hat aber für unsere Schöpfungs-Geschichte dieser letztere Vorgang nur ein unter- geordnetes Interesse. Es kommt für uns vielmehr darauf an, die Frage zu lösen: „Giebt es eine Autogonie? Ist es möglich, dass ein Organismus nicht aus vorgebildeter organischer, sondern aus rein anorgischer Materie entsteht?“ Daher können wir hier auch ruhig alle jene zahlreichen Experimente, welche sich nur auf die Plasmogonie beziehen, und in den letzten Jahrzehnten mit besonderem Eifer betrieben worden sind, bei Seite lassen; zumal sie meist ein negatives Resultat hatten. Angenommen auch, es würde dadurch die Wirklichkeit der Plasmogonie streng bewiesen, so wäre damit noch nicht die Autogonie erklärt. Die Versuche über Autogonie haben bis jetzt ebenfalls kein sicheres positives Resultat geliefert. Jedoch müssen wir uns von vorn herein auf das bestimmteste dagegen verwahren, dass durch diese Experimente die Unmöglichkeit der Urzeugung über- haupt nachgewiesen sei. Die allermeisten Naturforscher, welche bestrebt waren, diese Frage experimentell zu entscheiden, und welche bei Anwendung aller möglichen Vorsichtsmaassregeln unter ganz bestimmten Verhältnissen keine Organismen entstehen sahen, stellten auf Grund dieser negativen Resultate sofort die Behaup- tung auf: „Es ist überhaupt unmöglich, dass Organismen von selbst, ohne elterliche Zeugung, entstehen.“ Diese leichtfertige und unüberlegte Behauptung stützten sie einfach und allein auf das negative Resultat ihrer Experimente, welche doch weiter Nichts beweisen konnten, als dass unter diesen oder jenen, höchst künst- lichen Verhältnissen, wie sie durch die Experimentatoren geschaffen wurden, kein Organismus sich bildete. Man kann auf keinen Fall aus jenen Versuchen, welche meistens unter den unnatür- lichsten Bedingungen in höchst künstlicher Weise angestellt wurden, den Schluss ziehen, dass die Urzeugung überhaupt un- möglich sei. Die Unmöglichkeit der Urzeugung kann überhaupt niemals bewiesen werden. Denn wie können wir wissen, dass in jener ältesten unvordenklichen Urzeit nicht ganz andere XV. Entstehung organischer Verbindungen ausserhalb der Organismen. 363 Bedingungen, als gegenwärtig, existirten, und dass diese eine Autogonie ermöglichten? Ja, wir können sogar mit voller Sicher- heit positiv behaupten, dass die allgemeinen Lebens-Bedingungen der Primordialzeit gänzlich von denen der Gegenwart verschieden gewesen sein müssen. Denken Sie allein an die Thatsache, dass die ungeheuren Massen von Kohlenstoff, welche wir gegenwärtig in den primären Steinkohlengebirgen abgelagert finden, erst durch die Thätigkeit des Pflanzenlebens in feste Form gebracht wurden; sie sind die mächtig zusammengepressten und verdichteten Ueber- reste von zahllosen Pflanzenleichen, die sich im Laufe vieler Millionen Jahre anhäuften. Allein zu der Zeit, als auf der ab- gekühlten Erdrinde, nach der Entstehung des tropfbar-flüssigen Wassers, zum ersten Male Organismen durch Urzeugung sich bil- deten, waren jene unermesslichen Kohlenstoffquantitäten in ganz anderer Form vorhanden, wahrscheinlich grösstentheils in Form von Kohlensäure in der Atmosphäre vertheilt. Die ganze Zu- sammensetzung der Atmosphäre war also ausserordentlich von der jetzigen verschieden. Ferner waren, wie sich aus chemischen, physikalischen und geologischen Gründen schliessen lässt, der Dichtigkeitszustand und die elektrischen Verhältnisse der Atmo- sphäre ganz andere. Ebenso war auch jedenfalls die chemische und physikalische Beschaffenheit des Urmeeres, welches damals als eine ununterbrochene Wasserhülle die ganze Erdoberfläche im Zusammenhang bedeckte, ganz eigenthümlich. Temperatur, Dich- tigkeit, Salzgehalt u. s. w. müssen sehr von denen der jetzigen Meere verschieden gewesen sein. Es bleibt also auf jeden Fall für uns, wenn wir auch sonst Nichts weiter davon wissen, die Annahme wenigstens nicht bestreitbar, dass zu jener Zeit unter ganz anderen Bedingungen eine Urzeugung möglich gewesen sei, die heutzutage vielleicht nicht mehr möglich ist. Nun kommt aber dazu, dass durch die neueren Fortschritte der Chemie und Physiologie das Räthselhafte und Wunderbare, das zunächst der viel bestrittene und doch nothwendige Vorgang der Urzeugung an sich zu haben scheint, grösstentheils oder eigentlich ganz zerstört worden ist. ‘Es ist kaum sechzig Jahre her, dass sämmtliche Chemiker behaupteten, wir seien nicht im 364 Bedeutung der Moneren für die Urzeugung. xyz Stande, irgend eine zusammengesetzte Kohlenstoffverbindung oder eine sogenannte „organische Verbindung“ künstlich in unseren Laboratorien herzustellen. Nur die mystische „Lebenskraft“ sollte diese Verbindungen zu Stande bringen können. Als daher 1828 Wöhler in Göttingen zum ersten Male dieses Dogma thatsäch- lich widerlegte, und auf künstlichem Wege aus rein anorgischen Körpern (Cyan- und Ammoniak-Verbindungen) den rein „organi- schen“ Harnstoff darstellte, war man im höchsten Grade erstaunt und überrascht. In der neueren Zeit ist es nun durch die Fort- schritte der synthetischen Chemie gelungen, derartige „organische“ Kohlenstoff-Verbindungen rein künstlich in grosser Mannichfaltig- keit in unseren Laboratorien aus anorgischen Substanzen herzu- stellen, z. B. Alkohol, Essigsäure, Ameisensäure u. s. w. Selbst viele höchst verwickelte Kohlenstoff-Verbindungen werden jetzt künstlich zusammengesetzt, so dass alle Aussicht vorhanden ist, auch die am meisten zusammengesetzten und zugleich die wich- tigsten von allen, die Eiweiss-Verbindungen der Plasson-Körper, früher oder später künstlich in unseren chemischen Werkstätten zu erzeugen. Dadurch ist aber die tiefe Kluft zwischen organischen und anorgischen Körpern, die man früher allgemein festhielt, grösstentheils oder eigentlich ganz beseitigt, und für die Vor- stellung der Urzeugung der Weg gebahnt. Von noch grösserer, ja von der allergrössten Wichtigkeit für die Hypothese der Urzeugung sind endlich die höchst merkwürdigen Moneren, jene schon vorher mehrfach erwähnten Lebewesen, welche nicht nur die einfachsten beobachteten, sondern auch über- haupt die denkbar einfachsten von allen Organismen sind '*). Schon früher, als wir die einfachsten Erscheinungen der Fort- pflanzung und Vererbung untersuchten, habe ich Ihnen diese wunderbaren „Organismen ohne Organe“ beschrieben. Wir kennen jetzt schon acht oder zehn verschiedene Gattungen solcher Moneren, von denen einige im süssen Wasser, andere im Meere leben (vergl. oben S. 164—167, sowie Taf. I und deren Erklärung unten im Anhang). In vollkommen ausgebildetem und frei be- weglichem Zustande stellen sie sämmtlich weiter Nichts dar, als ein structurloses Klümpchen einer eiweissartigen Kohlenstofl-Ver- DU: Entstehung der Moneren durch Urzeugung. 365 bindung. Nur durch die Art der Fortpflanzung und Entwickelung, sowie der Nahrungsaufnahme, sind die einzelnen Gattungen und Arten ein wenig verschieden. Durch die Entdeckung dieser Or- ganismen, die von der allergrössten Bedeutung ist, verliert die Annahme einer Urzeugung den grössten Theil ihrer Schwierig- keiten. Denn da denselben noch jede Organisation, jeder Unter- schied ungleichartiger Theile fehlt, da alle Lebens-Erscheinungen von einer und derselben gleichartigen und formlosen Materie voll- zogen werden, so können wir uns ihre Entstehung durch Urzeu- sung sehr wohl denken. Geschieht dieselbe durch Plasmogonie, ist bereits lebensfähiges Plasma vorhanden, so braucht dasselbe bloss sich zu individualisiren, in gleicher Weise, wie bei der Krystallbildung sich die Mutterlauge der Krystalle individualisirt. Geschieht dagegen die Urzeugung der Moneren durch wahre Auto- gonie, so ist dazu noch erforderlich, dass vorher jenes lebens- fähige Plasson, jener Urschleim, aus einfacheren Kohlenstoff-Ver- bindungen sich bildet. Jedenfalls muss ursprünglich die Auto- gonie der Plasmogonie vorhergegangen sein. Da wir jetzt im Stande sind, in unseren chemischen Laborato- rien ähnliche zusammengesetzte Kohlenstoff-Verbindungen künstlich herzustellen, so liegt durchaus kein Grund für die Annahme vor, dass nicht auch in der freien Natur sich Verhältnisse finden, unter denen ähnliche Verbindungen entstehen können. Sobald man früherhin die Vorstellung der Urzeugung zu fassen suchte, scheiterte man an der organologischen Zusammensetzung auch der einfachsten Organismen, welche man damals kannte. Erst seitdem wir mit den höchst wichtigen Moneren bekannt geworden sind, ist jene Hauptschwierigkeit gelöst. Denn in den structurlosen Plasma-Körpern der Moneren haben wir Organismen kennen gelernt, welche gar nicht aus Organen zusammengesetzt sind, welche bloss aus einer einzigen, chemisch gleichartig zusammengesetzten Masse bestehen, und dennoch wachsen, sich ernähren und fortpflanzen. Die Hypothese der Urzeugung hat dadurch denjenigen Grad von Wahrscheinlichkeit gewonnen, welcher sie berechtigt, die Lücke zwischen Kant’s Kosmogenie und Lamarck’s Descendenz-Theorie auszufüllen. 366 Entstehung der Zellen aus Moneren. XV. Nur solche homogene, noch gar nicht differenzirte Organis- men, welche in ihrer gleichartigen molekularen Zusammensetzung den anorgischen Krystallen gleichstehen, konnten durch Urzeugung entstehen, und konnten die Ureltern aller übrigen Organismen werden. Bei der weiteren Entwickelung derselben haben wir als den wichtigsten Vorgang zunächst die Bildung eines Kernes (Nucleus) in dem structurlosen Plasson-Klümpchen anzusehen. Diese können wir uns physikalisch als Verdichtung der innersten, centralen Eiweiss-Theilchen vorstellen, womit eine chemische Ver- änderung derselben Hand in Hand ging. Die dichtere centrale Masse, welche anfangs allmählich in das peripherische Plasma überging, sonderte sich später ganz von diesem ab und bildete so ein selbstständiges rundes, chemisch etwas verschiedenes Eiweiss- Körperchen, den Kern. Durch diesen Vorgang ist aber bereits aus dem Moner eine Zelle geworden. Dass nun die weitere Entwickelung aller übrigen Organismen aus einer solchen Zelle keine Schwierigkeit hat, wird aus den bisherigen Vorträgen klar geworden sein. Denn jedes Thier und jede Pflanze ist im Be- ginn des individuellen Lebens eine einfache Zelle. Der Mensch so gut wie jedes andere Thier ist anfangs weiter Nichts, als eine einfache Ei-Zelle, eine Plasma-Kugel mit Kern (S. 295, Fig. 5). Aehnlich wie der Kern der organischen Zellen durch Son- derung aus der centralen Masse der ursprünglich gleichartigen Plasma-Klümpchen entstand, bildete sich die erste Zellhaut oder Membran an deren Oberfläche. Auch diesen einfachen aber höchst wichtigen Vorgang können wir, wie schon oben be- merkt, entweder durch einen chemischen Niederschlag oder eine physikalische Verdichtung in der oberflächlichsten Rindenschicht erklären, oder auch durch eine Ausscheidung. Eine der ersten Anpas- sungsthätigkeiten, welche die durch Urzeugung entstandenen Mo- neren ausübten, wird die Verdichtung einer äusseren Rinden- schicht gewesen sein, welche als schützende Hülle das weichere Innere gegen die angreifenden Einflüsse der Aussenwelt abschloss. War aber erst durch Verdichtung der homogenen Moneren im Inneren ein Zellenkern, an der Oberfläche eine Zellhaut entstan- den, so waren damit alle die fundamentalen Formen der Bau- NOV: Zellen-Theorie und Plastiden-Theorie. 367 steine gegeben, aus denen durch unendlich mannichfaltige Zu- sammensetzung sich erfahrungsgemäss der Körper sämmtlicher höheren Organismen aufbaut. Wie schon früher erwähnt, beruht unser ganzes Verständ- niss des Organismus wesentlich auf der von Schleiden und Schwann im Jahre 1335 aufgestellten Zellentheorie. Danach ist jeder Organismus entweder eine einfache Zelle oder eine Ge- meinde, ein Staat von eng verbundenen Zellen. Die gesammten Formen und Lebens-Erscheinungen eines jeden vielzelligen Orga- nismus sind das Gesammtresultat der Formen und Lebens-Er- scheinungen aller einzelnen ihn zusammensetzenden Zellen. In Folge der neueren Fortschritte der Zellen-Lehre ist es nöthig ge- worden, die Elementar-Organismen oder die organischen „Indi- viduen erster Ordnung“, welche man gewöhnlich als „Zellen“ bezeichnet, mit dem allgemeineren und passenderen Namen der Bildnerinnen oder Plastiden zu belegen. Wir unterscheiden unter diesen Bildnerinnen zwei Hauptgruppen, nämlich Cytoden und echte Zellen. Die Oytoden sind kernlose Plasmastücke, gleich den Moneren (S. 166, Fig. 1). Die Zellen dagegen sind Plasmastücke, welche einen Kern oder Nucleus enthalten (S. 169, Fig. 2). Jede dieser beiden Haupt-Formen von Plastiden zerfällt wieder in zwei untergeordnete Form-Gruppen, je nachdem sie eine äussere Umhüllung (Haut, Schale oder Membran) besitzt oder nicht. Wir können demnach allgemein folgende vier verschie- dene Plastiden-Arten unterscheiden: 1.’ Urcytoden (S. 166, Fig. 1A); 2. Hüllcytoden; 3. Urzellen (S. 169, Fig. 2B); 4. Hüllzellen (S. 169, Fig. 2A). Was das Verhältniss dieser vier Plastiden-Formen zur Ur- zeugung betrifft, so ist folgendes das Wahrscheinlichste: 1. die Ureytoden (Gymnocytoda), nackte Plasmastücke ohne Kern, gleich den heute noch lebenden Moneren, sind die einzigen Pla- stiden, welche unmittelbar durch Urzeugung entstanden; 2. die Hüllcytoden (Lepocytoda), Plasmastücke ohne Kern, welche von einer Hülle (Membran oder Schale) umgeben sind, entstanden aus den Urcytoden entweder durch Verdichtung der oberfläch- lichsten Plasmaschichten oder durch Ausscheidung einer Hülle; 368 . Die Plastiden-Theorie und die Urzeugungs-HNypothese. mE 3. Die Urzellen (Gymnocyta) oder nackte Zellen, Plasmastücke mit Kern, aber ohne Hülle, entstanden aus den Urcytoden durch Verdichtung der innersten Plasma-Theile zu einem Kerne oder Nucleus, durch Differenzirung von centralem Kerne und peri- pherem Zellstoff; 4. die Hüllzellen (Lepocyta) oder Hautzellen, Plasma-Stücke mit Kern und mit äusserer Hülle (Membran oder Schale), entstanden entweder aus den Hülleytoden durch Bildung eines Kernes oder aus den Urzellen durch Bildung einer Mem- bran. Alle übrigen Formen von Bildnerinnen oder Plastiden, welche ausserdem noch vorkommen, sind erst nachträglich durch Gellular-Selection, durch Abstammung mit Anpassung, durch Differenzirung und Umbildung aus jenen vier Grund-Formen ent- standen (8. 255). Diese Plastiden-Theorie, diese Ableitung aller verschie- denen Plastiden-Formen (und somit auch aller aus ihnen zusam- mengesetzten Organismen) von den Moneren, bringt einfachen und natürlichen Zusammenhang in die gesammte Entwickelungs- Theorie. Die Entstehung der ersten Moneren durch Urzeugung er- scheint uns als ein einfacher und nothwendiger Vorgang in dem Entwickelungs-Process des Erdkörpers. Ich gebe zu, dass dieser Vorgang, so lange er noch nicht direct beobachtet oder durch das Experiment wiederholt ist, eine reine Hypothese bleibt. Allein ich wiederhole, dass diese Hypothese für den ganzen Zusammen- hang der natürlichen Schöpfungsgeschichte unentbehrlich ist, dass sie an sich durchaus nichts Gezwungenes und Wunderbares mehr hat, und dass sie keinesfalls positiv widerlegt werden kann. Ausser- dem würde auch der Vorgang der Urzeugung, selbst wenn er alltäglich und stündlich noch heute stattfände, auf jeden Fall äusserst schwierig zu beobachten, ja mit un- trüglicher Sicherheit als solcher überhaupt kaum festzustellen sein. Diese Ansicht theilt auch der scharfsinnige Naegeli, welchen in seinem vortrefflichen Capitel über Urzeugung den Satz aufstellt: „Die Urzeugung leugnen heisst das Wunder verkünden.“ Der Natürlichen Schöpfungs-Geschichte Zweiter Theil: Allgemeine Stammes-Geschichte. (Phylogenie und Anthropogenie). XVI—XXX. Vortrag. Haeckel, Natürl. Schöpfungs-Gesch. 8. Aull. 9A Sechzehnter Vortras. Schöpfungs-Perioden und Schöpfungs-Urkunden. Reform der Systematik durch die Descendenz-Theorie. Das natürliche System als Stammbaum. Paläontologische Urkunden des Stammbaumes. Die Versteinerungen als Denkmünzen der Schöpfung. Ablagerung der neptuni- schen Schichten und Einschluss der organischen Reste. Eintheilung der or- ganischen Erd-Geschichte in fünf Haupt-Perioden: Zeitalter der Tang-Wälder, Farn-Wälder, Nadel-Wälder, Laub-Wälder und Cultur-Wälder. System der neptunischen Schichten. Unermessliche Dauer der während ihrer Bildung verflossenen Zeiträume. Ablagerung der Schichten nur während der Senkung, nicht während der Hebung des Bodens. Andere Lücken der Schöpfungs- Urkunde. Metamorphischer Zustand der ältesten neptunischen Schichten. Geringe Ausdehnung der paläontologischen Erfahrungen. Geringer Bruch- theil der versteinerungsfähigen Organismen und organischen Körpertheile. Seltenheit vieler versteinerten Arten. Mangel fossiler Zwischen-Formen. Die Schöpfungs-Urkunden der Ontogenie und der vergleichenden Anatomie. Meine Herren! Die geschichtliche Auffassung des organischen Lebens, welche die Abstammungs-Lehre in die biologischen Wissen- schaften eingeführt hat, fördert nächst der Anthropologie keinen anderen Wissenschaftszweig so sehr, als den beschreibenden Theil der Naturgeschichte, die systematische Zoologie und Botanik. Die meisten Naturforscher, die sich bisher mit der Systematik der Thiere und Pflanzen beschäftigten, sammelten, benannten und ord- neten die verschiedenen Arten dieser Naturkörper mit einem ähnlichen Interesse, wie die Alterthumsforscher und Ethnographen die Waffen und Geräthschaften der verschiedenen Völker sammeln. Viele erhoben sich selbst nicht über denjenigen Grad der Wissbe- gierde, mit dem man Wappen, Briefmarken undähnliche Curiositäten zu sammeln, zu etikettiren und zu ordnen pflegt. In ähnlicher Weise 24* 372 Das natürliche System als Stammbaum der Organismen. xyEe wie diese Sammler an der Formen-Mannichfaltigkeit, Schönheit oder Seltsamkeit der Wappen, Briefmarken u. s. w. ihre Freude finden, und dabei die erfinderische Bildungskunst der Menschen bewundern, in ähnlicher Weise ergötzten sich die meisten Natur- forscher an den mannichfaltigen Formen der Thiere und Pflanzen, und erstaunten über die reiche Phantasie des Schöpfers, über seine unermüdliche Schöpfungsthätigkeit und über die seltsame Laune, in welcher er neben so vielen schönen und nützlichen Organismen auch eine Anzahl hässlicher und unnützer Formen gebildet habe. Diese kindliche Behandlung der systematischen Zoologie und Botanik wird durch die Abstammungs-Lehre gründlich vernichtet. An die Stelle des oberflächlichen und spielenden Interesses, mit welchem die Meisten bisher die organischen Gestalten betrachte- ten, tritt das weit höhere Interesse des erkennenden Verstandes, welcher in der Form-Verwandtschaft der Organismen ihre wahre Stamm-Verwandtschaft erblickt. Das natürliche System der Thiere und Pflanzen, welches man früher ent- weder nur als Namenregister zur übersichtlichen Ordnung der verschiedenen Formen oder als Sachregister zum kurzen Ausdruck ihres Aehnlichkeits-Grades schätzte, erhält durch die Abstammungs- Lehre den ungleich höheren Werth eines wahren Stammbaumes der Organismen. Diese Stammtafel soll uns den genealogischen Zusammenhang der kleineren und grösseren Gruppen enthüllen. Sie soll zu zeigen versuchen, in welcher Weise die verschiedenen Klassen, Ordnungen, Familien, Gattungen und Arten des Thier- und Pflanzenreichs den verschiedenen Zweigen, Aesten und Ast- gruppen ihres Stammbaums entsprechen. Jede weitere und höher stehende Kategorie oder Gruppenstufe des Systems (z. B. Klasse, Ordnung) umfasst eine Anzahl von grösseren und stärkeren Zwei- sen des Stammbaums, jede engere und tiefer stehende Kategorie (z. B. Gattung, Art) nur eine kleinere und schwächere Gruppe von Aestchen. Nur wenn wir in dieser Weise das natürliche System als Stammbaum betrachten, können wir den wahren Werth desselben erkennen. Dieser genealogischen Auffassung des organischen Systems gehört ohne Zweifel allein die Zukunft. Auf sie gestützt, können VI. Paläontologische Urkunden des Stammbaumes. 373 wir uns jetzt zu einer der wesentlichsten, aber auch schwierigsten Aufgaben der „natürlichen Schöpfungsgeschichte* wenden, näm- lich zur wirklichen Construction der organischen Stammbäume. Lassen Sie uns sehen, wie weit wir vielleicht schon jetzt im Stande sind, alle verschiedenen organischen Formen als die diver- senten Nachkommen einer einzigen oder einiger wenigen gemein- schaftlichen Stamm-Formen nachzuweisen. Wie können wir uns aber den wirklichen Stammbaum der thierischen und pflanzlichen Formen-Gruppen aus den dürftigen und fragmentarischen, bis jetzt darüber gewonnenen Erfahrungen construiren? Die Antwort hierauf liest schon zum Theil in demjenigen, was wir früher über den Paral- lelismus der drei Entwickelungs-Reihen bemerkt haben, über den wichtigen ursächlichen Zusammenhang, welcher die paläontologi- sche Entwickelung der ganzen organischen Stämme mit der em- bryologischen Entwickelung der Individuen und mit der systema- tischen Entwickelung der Gruppen-Stufen verbindet. Zunächst werden wir uns zur Lösung dieser schwierigen Aufgabe an die Paläontologie oder Versteinerungskunde zu wenden haben. Denn wenn wirklich die Descendenz- Theorie wahr ist, wenn wirklich die versteinerten Reste der vormals lebenden Thiere und Pflanzen von den ausgestorbenen Urahnen und Vorfahren der jetzigen Organismen herrühren, so müsste uns eigentlich ohne Weiteres die Kenntniss und Verglei- chung der Versteinerungen den Stammbaum der Organismen auf- decken. So einfach und einleuchtend dies nach dem theoretisch entwickelten Prinzip erscheint, so ausserordentlich schwierig und verwickelt gestaltet sich die Aufgabe, wenn man sie wirklich in Angriff nimmt. Ihre practische Lösung würde schon sehr schwie- rig sein, wenn die Versteinerungen einigermaassen vollständig erhalten wären. Das ist aber keineswegs der Fall. Vielmehr ist die handgreifliche Schöpfungs-Urkunde, welche in den Versteine- rungen begraben liest, über alle Maassen unvollständig. Daher erscheint es jetzt vor Allem nothwendig, diese Urkunde kritisch zu prüfen, und den Werth, welchen die Versteinerungen für die Entwickelungs-Geschichte der organischen Stämme besitzen, zu bestimmen. Da wir die allgemeine Bedeutung der Versteinerun- 374 Ablagerung der versteinerungsführenden Erdschichten. XVI. sen als „Denkmünzen der Schöpfung“ bereits früher erörtert haben, als wir Cuvier’s Verdienste um die Petrefacten- Kunde betrachteten (S. 49), so können wir jetzt sogleich zur Untersuchung der Bedingungen und Verhältnisse übergehen, unter denen die organischen Körperreste versteinert und in mehr oder weniger kenntlicher Form erhalten wurden. In der Regel finden wir Versteinerungen oder Petrefacten nur in denjenigen Gesteinen eingeschlossen, welche schichtenweise als Schlamm im Wasser abgelagert wurden, und welche man des- halb neptunische, geschichtete oder sedimentäre Gesteine nennt. Die Ablagerung solcher Schichten konnte natürlich erst beginnen, nachdem im Verlaufe der Erdgeschichte die Verdichtung des Wasserdampfes zu tropfbar-flüssigem Wasser erfolgt war. Seit diesem Zeitpunkt, welchen wir im letzten Vortrage bereits be- trachtet hatten, begann nicht allein das organische Leben auf der Erde, sondern auch eine ununterbrochene und höchst wichtige Umgestaltung der erstarrten anorgischen Erdrinde. Das Wasser begann seitdem jene ausserordentlich wichtige mechanische Wirk- samkeit, durch welche die Erdoberfläche fortwährend, wenn auch langsam, umgestaltet wird. Ich darf wohl als bekannt voraus- setzen, welchen ausserordentlich bedeutenden Einfluss in dieser Beziehung noch jetzt das Wasser in jedem Augenblick ausübt. Indem es als Regen niederfällt, die obersten Schichten der Erd- rinde durchsickert und von den Erhöhungen in die Vertiefungen herabfliesst, löst es verschiedene mineralische Bestandtheile des Bodens chemisch auf und spült mechanisch die locker zusammen- hängenden Theilchen ab. An den Bergen herabfliessend führt das Wasser den Schutt derselben in die Ebene und lagert ihn als Schlamm im stehenden Wasser ab. So arbeitet es beständig an einer Erniedrigung der Berge und Ausfüllung der Thäler. Ebenso arbeitet die Brandung des Meeres ununterbrochen an der Zerstörung der Küsten und an der Auffüllung des Meerbodens durch die herabgeschlämmten Trümmer. So würde schon die Thätigkeit des Wassers allein, wenn sie nicht durch andere Um- stände wieder aufgewogen würde, mit der Zeit die ganze Erde nivelliren. Es kann keinem Zweifel unterliegen, dass die Ge- MV]. Ablagerung der versteinerungsführenden Erdschichten. 3 birgsmassen, welche alljährlich als Schlamm dem Meere zugeführt werden und sich auf dessen Boden absetzen, so bedeutend sind, dass im Verlauf einer längeren oder kürzeren Periode, vielleicht von wenigen Millionen Jahren, die Erdoberfläche vollkommen ge- ebnet und von einer zusammenhängenden Wasserschale umschlos- sen werden würde. Dass dies nicht geschieht, verdanken wir der fortdauernden vulkanischen Gegenwirkung des feurig-flüssigen Erd- inneren. : Diese Reaction des geschmolzenen Kerns gegen die feste Rinde bedingt ununterbrochen wechselnde Hebungen und Senkun- gen an den verschiedensten Stellen der Erdoberfläche. Meistens geschehen diese Hebungen und Senkungen sehr langsam; allein indem sie Jahrtausende hindurch fortdauern, bringen sie durch Summirung der kleinen Einzelwirkungen nicht minder grossartige Resultate hervor, wie die entgegenwirkende und nivellirende Thä- tigkeit des Wassers. Indem die Hebungen und Senkungen der verschiedenen Erd- theile im Laufe von Jahrmillionen vielfach mit einander wechseln, kömmt bald dieser bald jener Theil der Erdoberfläche über oder unter den Spiegel des Meeres. Beispiele dafür habe ich schon früher angeführt (S. 327). Es giebt wahrscheinlich keinen Ober- flächentheil der Erdrinde, der nicht in Folge dessen schon wieder- holt über oder unter dem Meeresspiegel gewesen wäre. Durch diesen vielfachen Wechsel erklärt sich die Mannichfaltigkeit und die verschiedenartige Zusammensetzung der zahlreichen neptuni- schen Gesteinschichten, welche sich an den meisten Stellen in beträchtlicher Dieke über einander abgelagert haben. In den ver- schiedenen Geschichts- Perioden, während deren die Ablagerung statt fand, lebte eine mannichfach verschiedene Bevölkerung von Thieren und Pflanzen. Wenn die Leichen derselben auf den Boden der Gewässer herabsanken, drückten sie ihre Körperform in dem weichen Schlamme ab, und unverwesliche Theile, harte Knochen, Zähne, Schalen u. s. w. wurden unzerstört in demselben eingeschlossen. Sie blieben in dem Schlamm, der sich zu neptu- nischem Gestein verdichtete, erhalten, und dienen nun als Verstei- nerungen zur Charakterik der betreffenden Schichten. Durch sorg- fältige Vergleichung der verschiedenen über einander gelagerten 376 Eintheilung der Erd-Geschichte in geologische Perioden. RW Schichten und der in ihnen enthaltenen Versteinerungen ist es so möglich geworden, sowohl das relative Alter der Schichten und Schichten-Gruppen zu bestimmen, als auch die Haupt-Momente der Phylogenie oder der Entwickelungs-Geschichte der Thier- und Pflanzen-Stämme empirisch festzustellen. Die verschiedenen über einander abgelagerten Schichten der neptunischen Gesteine, welche in sehr mannichfaltiger Weise aus Kalk, Thon und Sand zusammengesetzt sind, haben die Geologen gruppenweise in ein ideales System zusammengestellt, welches dem ganzen Zusammenhange der organischen Erdgeschichte entspricht, d.h. desjenigen Theiles der Erdgeschichte, während dessen organisches Leben existirte. Wie’ die sogenannte „Welt- geschichte“ in grössere oder kleinere Perioden zerfällt, welche durch den zeitweiligen Entwickelungs-Zustand der bedeutendsten Völker charakterisirt und durch hervorragende Ereignisse von ein- ander abgegrenzt werden, so theilen wir auch die unendlich län- gere organische Erdgeschichte in eine Reihe von grösseren oder kleineren Perioden ein. Jede dieser Perioden ist durch eine cha- rakteristische Flora und Fauna, durch die besonders starke Ent- wickelung einer bestimmten Pflanzen- oder Thier-Gruppe ausge- zeichnet, und jede ist von der vorhergehenden und folgenden Periode durch einen auffallenden theilweisen Wechsel in der Zu- sammensetzung der Thier- und Pflanzen-Bevölkerung getrennt. Für die nachfolgende Uebersicht des historischen Entwicke- lungsganges, den die grossen Thier- und Pflanzen-Stämme genom- men haben, ist es nothwendig, zunächst hier die systematische Classification der neptunischen Schichten-Gruppen und der den- selben entsprechenden grösseren und kleineren Geschichts-Perioden anzugeben. Wie Sie sogleich sehen werden, sind wir im Stande, die ganze Masse der übereinanderliegenden Sedimentgesteine in fünf oberste Haupt-Gruppen oder Terrains, jedes Terrain in mehrere untergeordnete Schichten-Gruppen oder Systeme, und jedes System von Schichten wiederum in noch kleinere Gruppen oder Formationen einzutheilen; endlich kann auch jede For- mation wieder in Etagen oder Unter-Formationen, und jede von diesen wiederum in noch kleinere Lagen, Bänke u. s. w. geschieden wir ER XVI. Geologische Classification der neptunischen Schichten-Gruppen. 377 werden. Jedes der fünf grossen Terrains wurde während eines grossen Hauptabschnittes der Erdgeschichte, während eines Zeit- alters, abgelagert; jedes System während einer kürzeren Periode, jede Formation während einer noch kürzeren Epoche u. s. w. In- dem wir so die Zeiträume der organischen Erdgeschichte und die während derselben abgelagerten neptunischen und versteinerungs- führenden Erdschichten in ein gegliedertes System bringen, ver- fahren wir genau wie die Historiker, welche die Völkergeschichte in die drei Haupt-Abschnitte des Alterthums, des Mittelalters und der Neuzeit, und jeden dieser Abschnitte wieder in unter- geordnete Perioden und Epochen eintheilen. Wie aber der Histo- riker durch diese scharfe systematische Eintheilung und durch die bestimmte Abgrenzung der Perioden durch einzelne Jahreszahlen nur die Uebersicht erleichtern und keineswegs den ununterbroche- nen Zusammenhang der Ereignisse und der Völker-Entwickelung leugnen will, so gilt ganz dasselbe auch von unserer systemati- schen Eintheilung, Specification oder Classification der organischen Erdgeschichte. Auch hier geht der rothe Faden der zusammen- hängenden Entwickelung überall ununterbrochen hindurch. Wir verwahren uns also ausdrücklich gegen die Anschauung, als woll- ten wir durch unsere scharfe Abgrenzung der grösseren und klei- neren Schichten-Gruppen und der ihnen entsprechenden Zeiträume irgendwie an Cuvier’s Lehre von den Erd-Revolutionen und von den wiederholten Neuschöpfungen der organischen Bevölkerung anknüpfen. Dass diese irrige Lehre durch Lyell längst gründ- lich widerlegt ist, habe ich Ihnen bereits früher gezeigt. (Vergl. ».113:) Die fünfgrossen Haupt-Abschnitte der organischen Erdgeschichte oder der paläontologischen Entwickelungs-Geschichte bezeichnen wir als primordiales, primäres, secundäres, tertiäres und quartäres Zeitalter. Jedes ist durch die vorwiegende Entwickelung bestimm- ter Thier- und Pflanzen-Gruppen in demselben bestimmt charak- terisirt, und wir könnten demnach auch die fünf Zeitalter einer- seits .durch die natürlichen Haupt-Gruppen des Pflanzenreichs, andererseits durch die verschiedenen Classen des Wirbelthier- Stammes anschaulich bezeichnen. Dann wäre das erste oder 375 Die fünf Zeitalter der organischen Erd-Geschichte. KEVIR primordiale Zeitalter dasjenige der Tange und Schädellosen, das zweite oder primäre Zeitalter das der Farne und Fische, das dritte oder secundäre Zeitalter das der Nadel-Wälder und Schlei- cher, das vierte oder tertiäre Zeitalter das der Laub-Wälder und Säugethiere, endlich das fünfte oder quartäre Zeitalter dasjenige dles Menschen und seiner Cultur. Die Abschnitte oder Perioden, welche wir in jedem der fünf Zeitalter unterscheiden (S. 282), werden durch die verschiedenen Systeme von Schichten bestimmt, in die jedes der fünf grossen Terrains zerfällt(S.283). Lassen Sie uns jetzt noch einen flüchtigen Blick auf die Reihe dieser Systeme und zugleich auf die Bevölkerung der fünf grossen Zeitalter werfen. Den ersten und längsten Haupt-Abschnitt der organischen Erdgeschichte bildet die Primordialzeit oder das Zeitalter der Tang-Wälder, das auch das archolithische oder archozoische Zeitalter genannt werden kann. Es umfasst den ungeheuren Zeit- raum von der ersten Ur-Zeugung, von der Entstehung des ersten irdischen Organismus, bis zum Ende der silurischen Schichtenbil- dung. Während dieses unermesslichen Zeitraums, welcher wahr- scheinlich viel länger war, als alle übrigen vier Zeiträume zusam- mengenommen, Jlagerten sich die drei mächtigsten von allen neptunischen Schichten-Systemen ab, nämlich zu unterst das lau- rentische, darüber das cambrische und darüber das siluri- sche System. Die ungefähre Dieke oder Mächtigkeit dieser drei Systeme zusammengenommen beträgt siebzigtausend Fuss. Davon kommen ungefähr 30,000 auf das laurentische, 18,000 auf das cambrische und 22,000 auf das silurische System. Die durch- schnittlighe Mächtigkeit aller vier übrigen Terrains, des primären, secundären, tertiären und quartären zusammengenommen, mag dagegen etwa höchstens 60,000 Fuss betragen, und schon hieraus, abgesehen von vielen anderen Gründen, ergiebt sich, dass die Dauer der Primordialzeit wahrscheinlich viel länger war, als die Dauer der folgenden Zeitalter bis zur Gegenwart zusammengenom- men. Viele Millionen von Jahrhunderten müssen zur Ablagerung solcher Schichtenmassen erforderlich gewesen sein. Leider befindet sich der bei weitem grösste Theil der primordialen Schichten- Gruppen in dem sogleich zu erörternden metamorphischen Zu- KVI Primordialzeit oder Zeitalter der Tang-Wälder. 379 stande, und dadurch sind die in ihnen enthaltenden Versteine- rungen, die ältesten und wichtigsten von allen, grösstentheils zerstört und unkenntlich geworden. Nur in einem Theile der cambrischen und silurischen Schichten sind Petrefacte in grösserer Menge und in kenntlichem Zustande erhalten worden. Als die älteste von allen deutlich erhaltenen Versteinerungen gilt das „kanadische Morgenwesen“ (Eozoon canadense), dessen organische Natur (als Polythalamie) freilich noch zweifelhaft ist und vielfach bestritten wird. Dasselbe ist in den untersten laurentischen Schichten (in der Ottawa-Formation, am Lorenzo-Strome) gefun- den worden. Trotzdem die primordialen oder archolithischen Versteinerun- gen uns nur zum bei weitem kleinsten Theile in kenntlichem Zustande erhalten sind, besitzen dieselben dennoch den Werth unschätzbarer Documente für diese älteste und dunkelste Zeit der organischen Erdgeschichte. Zunächst scheint daraus hervorzugehen, dass während dieses ganzen ungeheuren Zeitraums fast nur Wasser- bewohner existirten. Wenigstens sind bis jetzt unter allen archo- lithischen Petrefakten nur sehr wenige gefunden worden, welche man mit Sicherheit auf landbewohnende Organismen beziehen kann: die ältesten von diesen sind einige silurische Farne und Skorpione. Fast alle Pflanzenreste, die wir aus der Primordial- zeit besitzen, gehören zu der niedrigsten von allen Pflanzen- Gruppen, zu der im Wasser lebenden Classe der Tange oder Algen. Diese bildeten in dem warmen Ur-Meere der Primor- dialzeit mächtige Wälder, von deren Formenreichthum und Dich- tigkeit uns noch heutigen Tages ihre Epigonen, die Tang-Wälder des atlantischen Sargasso - Meeres, eine ungefähre Vorstellung geben mögen. Die colossalen Tang-Wälder der archolithischen Zeit ersetzten damals die noch gänzlich fehlende Wald-Vegetation des Festlandes. Gleich den Pflanzen lebten auch fast alle Thiere, von denen man Reste in den archolithischen Schichten gefunden hat, im Wasser. Von den Gliederfüssern finden sich nur Krebs- thiere und einzelne Skorpione, noch keine Insecten. Von den Wirbelthieren sind nur sehr wenige Fischreste bekannt, welche sich in der jüngsten von allen primordialen Schichten, in der 3850 Primärzeit oder Zeitalter der Farn- Wälder. XVi. oberen Silurformation vorfinden. Dagegen müssen Würmer und kopflose Wirbelthiere (Schädellose oder Akranier), die Ahnen der Fische, massenhaft während der Primordialzeit gelebt haben. Daher können wir sie sowohl nach den Schädellosen als nach den Tangen benennen. Die Primärzeit oder das Zeitalter der Farn-Wälder, der zweite Hauptabschnitt der organischen Erdgeschichte, welchen man auch das paläolithische oder paläozoische Zeitalter nennt, dauerte vom Ende der silurischen Schichtenbildung bis zum Ende der permischen Schichtenbildung. Auch dieser Zeitraum war von sehr langer Dauer und zerfällt wiederum in drei Perioden, wäh- rend deren sich drei mächtige Schichtensysteme ablagerten, näm- lich zu unterst das devonische System oder der alte rothe Sand- stein, darüber das carbonische oder Steinkohlensystem, und darüber das permische System oder der neue rothe Sandstein und der Zechstein. Die durchschnittliche Dicke dieser drei Sy- steme zusammengenommen mag etwa 42,000 Fuss betragen, woraus sich schon die ungeheure Länge der für ihre Bildung erforderlichen Zeiträume ergiebt. Die devonischen und permischen Formationen sind vorzüglich reich an Fischresten, sowohl an Urfischen, als an Schmelzfischen. Aber noch fehlen in der primären Zeit gänzlich die Knochenfische. In der Steinkohle finden sich schon verschiedene Reste von land- bewohnenden Thieren, und zwar sowohl Gliederthieren (Spinnen und Inseeten) als Wirbelthieren (Amphibien). Im permischen System kommen zu den Amphibien noch die höher entwickelten Schlei- cher oder Reptilien, und zwar unseren Eidechsen nahverwandte Formen (Proterosaurus ete.). Trotzdem können wir das primäre Zeitalter das der Fische nennen, weil diese wenigen Amphibien und Reptilien ganz gegen die ungeheure Menge der paläolithi- schen Fische zurücktreten. Ebenso wie die Fische unter den Wirbelthieren, so herrschten unter den Pflanzen während dieses Zeitraums die Farnpflanzen oder Filicinen vor, und zwar sowohl echte Farnkräuter und Farnbäume (Laubfarne oder Phyllopteriden) als Schaftfarne (Calamophyten) und Schuppenfarne (Lepidophyten). Diese landbewohnenden Farne oder Filiecinen bildeten die Haupt- BRUT. Secundärzeit oder Zeitalter der Nadel-Wälder. 381 masse der dichten paläolithischen Insel-Wälder, deren fossile Reste uns in den ungeheuer mächtigen Steinkohlenlagern des carbonischen Systems und in den schwächeren Kohlenlagern des devonischen und permischen Systems erhalten sind. Sie berech- tigen uns, die Primärzeit eben sowohl das Zeitalter der Farne, als das der Fische zu nennen. Der dritte grosse Hauptabschnitt der paläontologischen Ent- wickelungs-Geschichte wird durch die Secundärzeit oder das Zeitalter der Nadel-Wälder gebildet, welches auch das me- solithische oder mesozoische Zeitalter genannt wird. Es reicht vom Ende der permischen Schichtenbildung bis zum Ende der Kreide-Schichtenbildung, und zerfällt abermals in drei grosse Perioden. Die während dessen abgelagerten Schichtensysteme sind zu unterst das Trias-System, in der Mitte das Jura-System, und zu oberst das Kreide-System. Die durchschnittliche Dicke dieser drei Systeme zusammengenommen bleibt schon weit hinter derjenigen der primären Systeme zurück und beträgt im Ganzen nur ungefähr 15,000 Fuss. Die Secundärzeit wird demnach wahr- scheinlich nicht halb so lang als die Primärzeit gewesen sein. Wie in der Primärzeit die Fische, so herrschen in der Secun- därzeit die Schleicher oder Reptilien über alle übrigen Wir- belthiere vor. Zwar entstanden während dieses Zeitraums die ersten Vögel und Säugethiere; auch lebten damals die riesigen Labyrinthodonten; und zu den zahlreich vorhandenen Urfischen und Schmelzfischen der älteren Zeit gesellten sich die ersten echten Knochenfische. Aber die charakteristische und überwiegende Wirbelthier-Classe der Secundärzeit bildeten die höchst mannich- faltig entwickelten Reptilien. Neben solchen Schleichern, welche den heute noch lebenden Eidechsen, Krokodilen und Schildkröten nahe standen, wimmelte es in der mesolitischen Zeit überall von abenteuerlich gestalteten Drachen. Insbesondere sind die merk- würdigen fliegenden Eidechsen oder Pterosaurier, die schwimmen- den Seedrachen oder Halisaurier, und die kolossalen Landdrachen oder Dinosaurier der Secundärzeit eigenthümlich, da sie weder vorher noch nachher lebten. Man kann demgemäss die Secun- därzeit das Zeitalter der Schleicher oder Reptilien nennen. 382 VE Uebersicht der paläontologischen Perioden oder der grösseren Zeitabschnitte T DD & der organischen Erd-Geschichte. Erster Zeitraum: Archolithisches Zeitalter. Primordial-Zeit, (Zeitalter der Schädellosen und der-Tang- Wälder.) Aeltere Archolith-Zeit oder Laurentische Periode. Mittlere Archolith-Zeit . Cambrische Periode. Neuere Archolith-Zeit - Silurische Periode. Zweiter Zeitraum: Paläolithisches Zeitalter. Primär-Zeit. (Zeitalter der Fische und der Farn-Wälder.) Aeltere Paläolith-Zeit oder Devonische Periode. Mittlere Paläolith-Zeit - Steinkohlen-Periode. Neuere Paläolith-Zeit - Permische Periode. Dritter Zeitraum: Mesolithisches Zeitalter. Secundär-Zeit. (Zeitalter der Reptilien und der Nadel-Wälder.) Aeltere Mesolith-Zeit oder Trias-Periode. Mittlere Mesolith-Zeit - Jura-Periode. Neuere Mesolith-Zeit - Kreide-Periode. Vierter Zeitraum: Caenolithisehes Zeitalter. Tertiär-Zeit. (Zeitalter der Säugethiere und der Laub-Wälder.) Aeltere Caenolith-Zeit oder Eoceaene Periode. Mittlere Caenolith-Zeit - Miocaene Periode. Neuere Caenolith-Zeit - Pliocaene Periode. '. Fünfter Zeitraum: Anthropolithisches Zeitalter. Quartär-Zeit. (Zeitalter der Menschen und der Cultur-Wälder.) Aeltere Anthropolith-Zeit oder Eiszeit. Glaciale Periode. Mittlere Anthropolith-Zeit - Postglaciale Periode. Neuere Anthropolith-Zeit - Cultur-Periode. (Die Cultur-Periode ist die historische Zeit oder die Periode der Ueber- lieferungen.) XVl 383 Uebersicht der paläontologischen Formationen oder der versteinerungsführen- den Schichten der Erdrinde. Synonyme Terrains Systeme | Formationen der Formationen V. Anthropolithi- XIV. Recent 36. Praesent Oberalluviale sche I (Alluvium) 135. Recent Unteralluviale anthropozoische XIII. Pleistocaen;,s4. Postglacial Oberdiluviale (quartäre) Schiehtengruppen IV. Caenolithische) XI. Pliocaen Terrains (Neutertiär) oder XI. Miocaen caenozoische (Mitteltertiär) (tertiäre) an Schichtengruppen (Alttertiär) (Diluvium) 35. Glacial Unterdiluviale Arvern Oberpliocaene . Subapennin Unterpliocaene Falun Obermiocaene . Limburg Untermiocaene . Gyps Obereocaene 7. Grobkalk Mitteleocaene . Londonthon Untereocaene J \ J \ | \ j | | Bi Weisskreide Oberkreide wm co m [W = [CEO CHI an 5 [80] {or} Rekreide 24. Grünsand Mittelkreide IH. Mesolithische 3. Neocom Unterkreide Terrains oder mesozoische (secundäre) Schiehtengruppen >) 22. Wealden Wälderformation 1. Portland Oberoolith VL a. 0. Oxford Mitteloolith 19. Bath Unteroolith 18. Lias Liasformation 17. Keuper Obertrias VII. Trias. 16. Muschelkalk Mitteltrias 15. Buntsand Untertrias II. Paläolithische| YI- Permisches [14. Zechstein Oberpermische (Dyas) \13. Neurothsand Unterpermische V. Carbonischesf12. Kohlensand Obercarbonische (Steinkohle) 11. Kohlenkalk Untercarbonische Terrains oder _ paläozoische har 10. Pilton Oberdevonische 9. Ifracombe Mitteldevonische . Linton Unterdevonische . Ludlow Obersilurische . Landovery Mittelsilurische . Landeilo Untersilurische Potsdam Öbereambrische . Longmynd Untercambrische Labrador Öberlaurentische . Ottawa Unterlaurentische (primäre) Schichtengruppen Devoni sches] ak, l. Archolithische Terrains oder archozoische (primordiale) Schiehtengruppen II. Gambrisches mm oP U nn Io I. Laurentisches I ER III. Silurisches Re a \ j \ 354 Tertiärzeit oder Zeitalter der Laub-Wälder. XVR Andere nennen sie das Zeitalter der Nadel-Wälder, genauer der Gymnospermen oder Nacktsamen-Pflanzen. Denn diese Pflanzen-Gruppe, vorzugsweise durch die beiden wichtigen Classen der Nadelhölzer oder Coniferen und der Farnpalmen oder Cyca- deen vertreten, setzte während der Secundärzeit ganz überwie- gend den Bestand der Wälder zusammen. Die farnartigen Pflan- zen traten dagegen zurück und die Laubhölzer entwickelten sich erst gegen Ende des Zeitalters, in der Kreidezeit. Viel kürzer und weniger eigenthümlich als diese drei ersten Zeitalter war der vierte Hauptabschnitt der organischen Erd- eeschichte, die Tertiärzeit oder das Zeitalter der Laub- Wälder. Dieser Zeitraum, welcher auch caenolithisches oder »aenozoisches Zeitalter heisst, erstreckte sich vom Ende der Kreide- schiehtenbildung bis zum Ende der pliocaenen Schichtenbildung. Die während dessen abgelagerten Schichten erreichen nur unge- fähr eine mittlere Mächtigkeit von 3000 Fuss und bleiben dem- nach weit hinter den drei ersten Terrains zurück. Auch sind die drei Systeme, welche man in dem tertiären Terrain unterscheidet, nur schwer von einander zu trennen. Das älteste derselben heisst eocaenes oder alttertiäres, das mittlere miocaenes oder mitteltertiäres und das jüngste pliocaenes oder neutertiäres System. Die gesammte Bevölkerung der Tertiärzeit nähert sich im Ganzen und im Einzelnen schon viel mehr derjenigen der Gegen- wart, als es in den vorhergehenden Zeitaltern der Fall war. Unter den Wirbelthieren überwiegt von nun an die Classe der Säugethiere bei weitem alle übrigen. Ebenso herrscht in der Pflanzenwelt die formenreiche Gruppe der Decksamen-Pflanzen oder Angiospermen vor, deren Laubhölzer die charakteristischen Laub-Wälder der Tertiärzeit bildeten. Die Abtheilung der Angiospermen besteht aus den beiden Classen der Einkeimblätt- rigen oder Monocotyledonen und der Zweikeimblättrigen oder Dieotyledonen. Zwar hatten sich Angiospermen aus beiden Classen schon in der Kreidezeit gezeigt, und Säugethiere traten schon im letzten Abschnitt der Triaszeit auf. Allein beide Grup- pen, Säugethiere und Decksamen-Pflanzen, erreichen ihre eigent- DVI Quartärzeit oder Zeitalter der Cultur-Wälder. 385 liche Entwickelung und Oberherrschaft erst in der Tertiärzeit, so dass man diese mit vollem Rechte danach benennen kann. Den fünften und letzten Hauptabschnitt der organischen Erd- geschichte bildet die Quartärzeit oder Culturzeit, derjenige, gegen die Länge der vier übrigen Zeitalter verschwindend kurze Zeitraum, den wir gewöhnlich in komischer Selbstüberhebung die „Weltgeschichte“ zu nennen pflegen. Da die Ausbildung des Menschen und seiner Cultur, welche mächtiger als alle früheren Vorgänge auf die organische Welt umgestaltend einwirkte, dieses Zeitalter charakterisirt, so könnte man dasselbe auch die Men- schenzeit, das anthropolithische oder anthropozoische Zeitalter nennen. Es könnte allenfalls auch das Zeitalter der Cultur- Wälder heissen, weil selbst auf den niederen Stufen der mensch- lichen Cultur ihr umgestaltender Einfluss sich bereits in der Be- nutzung der Wälder und ihrer Erzeugnisse, und somit auch in der Physiognomie der Landschaft bemerkbar macht. Geologisch wird der Beginn dieses Zeitalters, welches bis zur Gegenwart reicht, durch das Ende der pliocaenen Schichten -Ablagerung be- grenzt. Die neptunischen Schichten, welche während des verhältniss- mässig kurzen quartären Zeitraums abgelagert wurden, sind an den verschiedenen Stellen der Erde von sehr verschiedener, meist aber von sehr geringer Dicke. Man bringt dieselben in zwei ver- schiedene Systeme, von denen man das ältere als diluvial- oder pleistocaen, das neuere als alluvial oder recent bezeichnet. Das Diluvial-System zerfällt selbst wieder in zwei Formationen, in die älteren glacialen und die neueren postglacialen Bil- dungen. Während der älteren Diluvialzeit nämlich fand jene ausserordentlich merkwürdige Erniedrigung der Erd-Temperatur statt, welche zu einer ausgedehnten Vergletscherung der gemässig- ten Zonen führte. Die hohe Bedeutung, welche diese „Eiszeit“ oder Glacial-Periode für die geographische und topographische Verbreitung der Organismen gewonnen hat, wurde bereits früher auseinandergesetzt (S. 330). Auch die auf die Eiszeit folgende „Nacheiszeit“, die post-glaciale Periode oder die neuere Dilu- vialzeit, während welcher die Temperatur wiederum stieg und Haeckel, Natürl. Schöpfungs-Gesch. 8. Aull, 25 386 Glaciale und postglaciale Periode. KNIE das Eis sich nach den Polen zurückzog, war für die gegenwär- tige Gestaltung der chronologischen Verhältnisse höchst bedeu- tungsvoll. Der biologische Charakter der Quartärzeit liegt wesentlich in der Entwickelung und Ausbreitung des menschlichen Organismus und seiner Cultur. Weit mehr als jeder andere Organismus hat der Mensch umgestaltend, zerstörend und neubildend auf die Thier- und Pflanzenbevölkerung der Erde eingewirkt. Aus diesem Grunde, — nicht weil wir dem Menschen im Uebrigen eine privilegirte Ausnahmestellung in der Natur einräumen, — können wir mit vollem Rechte die Ausbreitung des Menschen und seiner Cultur als Beginn eines besonderen letzten Hauptabschnitts der organischen Erdgeschichte bezeichnen. Wahrscheinlich fand allerdings die körperliche Entwickelung des Urmenschen aus menschenähnlichen Affen bereits in der jüngeren oder pliocaenen, vielleicht sogar schon in der mittleren oder miocaenen Tertiärzeit statt. Allein die eigentliche Entwickelung der menschlichen Sprache, welche wir als den wichtigsten Hebel für die Ausbildung der eigenthüm- lichen Vorzüge des Menschen und seiner Herrschaft über die übrigen Organismen betrachten, fällt wahrscheinlich erst in jenen Zeitraum, welchen man aus geologischen Gründen als pleistocaene oder diluviale Zeit von der vorhergehenden Pliocaenperiode trennt. Jedenfalls ist derjenige Zeitraum, welcher seit der Entwickelung der menschlichen Sprache bis zur Gegenwart verfloss, mag der- selbe auch viele Jahrtausende und vielleicht Hunderttausende von Jahren in Anspruch genommen haben, verschwindend gering gegen die unermessliche Länge der Zeiträume, welche vom Beginn des organischen Lebens auf der Erde bis zur Entstehung des Menschen- geschlechts verflossen. Die vorstehende tabellarische Uebersicht zeigt Ihnen rechts (S. 383) die Reihenfolge der paläontologischen Terrains, Systeme und Formationen, d. h. der grösseren und kleineren neptunischen Schichtengruppen, welche Versteinerungen einschliessen, von den obersten oder alluvialen bis zu den untersten oder laurentischen Ablagerungen hinab. Die links gegenüberstehende Tabelle (S. 332) führt Ihnen die historische Eintheilung der entsprechenden Zeit- XUVT. Relative Länge der fünf geologischen Zeitalter. 387 räume vor, der grösseren und kleineren paläontologischen Perioden, und zwar in umgekehrter Reihenfolge, von der ältesten laurentischen bis auf die jüngste quartäre Zeit hinauf. (Vergl. auch S. 390.) Man hat viele Versuche angestellt, die Zahl der Jahrtausende, welche diese Zeiträume zusammensetzen, annähernd zu berechnen. Man verglich die Dicke der Schlammschichten, welche erfahrungs- gemäss während eines Jahrhunderts sich absetzen, und welche nur wenige Linien oder Zolle betragen, mit der gesammten Dicke der geschichteten Gesteinsmassen, deren ideales System wir soeben überblickt haben. Diese Dicke mag im Ganzen durchschnittlich ungefähr 130,000 Fuss betragen, und hiervon kommen 70,000 auf das primordiale oder archolithische, 42,000 auf das primäre oder paläolithische, 15,000 auf das secundäre oder mesolithische und endlich nur 3000 auf das tertiäre oder caenolithische Terrain. Die sehr geringe und nicht annähernd bestimmbare durchschnitt- liche Dicke des quartären oder anthropolitischen Terrains kommt dabei gar nicht in Betracht. Man kann sie höchstens durchschnitt- lich auf 500—700 Fuss anschlagen. Selbstverständlich haben aber alle diese Maassangaben nur einen ganz durchschnittlichen und an- nähernden Werth, und sollen nur dazu dienen, das relative Maass- verhältniss der Schichten-Systeme und der ihnen entsprechenden Zeitabschnitte ganz ungefähr zu überblicken. Auch werden die Maasse sehr verschieden abgeschätzt. Wenn man nun die gesammte Zeit der organischen Erdge- schichte, d.h. den ganzen Zeitraum seit Beginn des Lebens auf der Erde bis auf den heutigen Tag, in hundert gleiche Theile theilt, und wenn man dann, dem angegebenen durchschnittlichen Dickenverhältniss der Schichten-Systeme entsprechend, die relative Zeitdauer der fünf Haupt-Abschnitte oder Zeitalter nach Procenten berechnet, so ergiebt sich folgendes Resultat. (Vergl. S. 390.) 17% zcholithische:oder Brimordialzeit/. 1 ar suker sch 283:6 HU. Paläolithische oder Primärzeit . . . 2. .2..2..2...821 DIl2 = Mesolithische ‘oder ‚Secundärzeit 2 72. udn 5 NE Caenalithische oder; Terkärzeit c aun et Bias 253 -V. Anthropolithische oder Quartärzeit. . . 2 .2.......08 Summ a 100,0 JA=® dr 3838 Relative Dicke der fünf geschichteten Terrains. XV Es beträgt demnach die Länge des archolithischen Zeitraums, während dessen fast noch keine landbewohnende Thiere und Pflan- zen existirten, mehr als die Hälfte, mehr als 53 Procent, dagegen die Länge des anthropolithischen Zeitraums, während dessen der Mensch existirte, kaum ein halbes Procent von der ganzen Länge der organischen Erdgeschichte. Es ist aber ganz unmöglich, die Länge dieser Zeiträume auch nur annähernd nach Jahren zu be- rechnen. Die Dicke der Schlammschichten, welche während eines Jahr- hunderts sich in der Gegenwart ablagern, und welche man als Basis für diese Berechnung benutzen wollte, ist an den verschie- denen Stellen der Erde unter den ganz verschiedenen Bedingungen, unter denen überall die Ablagerung stattfindet, natürlich ganz verschieden. Sie ist sehr gering auf dem Boden des hohen Meeres, in den Betten breiter Flüsse mit kurzem Laufe, und in Landseen, welche sehr dürftige Zuflüsse erhalten. Sie ist verhältnissmässig bedeutend an Meeresküsten mit starker Brandung, am Ausfluss grosser Ströme mit langem Lauf und in Landseen mit starken Zuflüssen. An der Mündung des Missisippi, welcher sehr bedeu- tende Schlammmassen mit sich fortführt, würden in 100,000 Jahren wohl etwa 600 Fuss abgelagert werden. Auf dem Grunde des offenen Meeres, weit von den Küsten entfernt, werden sich während dieses langen Zeitraums nur wenige Fuss Schlamm absetzen. Selbst an den Küsten, wo verhältnissmässig viel Schlamm abge- lagert wird, mag die Dicke der dadurch während eines Jahrhun- derts gebildeten Schichten, wenn sie nachher sich zu festem Ge- steine verdichtet haben, doch nur. wenige Zolle oder Linien be- tragen. Jedenfalls aber bleiben alle auf diese Verhältnisse ge- gründeten Berechnungen ganz unsicher, und wir können uns auch nicht einmal annähernd die ungeheure Länge der Zeiträume vor- stellen, welche zur Bildung jener neptunischen Schichten-Systeme erforderlich waren. Nur relative, nicht absolute Zeitmaasse sind hier anwendbar. Man wiirde übrigens auch vollkommen fehl gehen, wenn man die Mächtigkeit jener Schichten-Systeme allein als Maassstab für die inzwischen wirklich verflossene Zeit der Erdgeschichte be- a nn NVT. Unmessbare Länge der organischen Erd-Geschichte. 389 trachten wollte. Denn Hebungen und Senkungen der Erdrinde haben beständig mit einander gewechselt, und aller Wahrschein- lichkeit nach entspricht der mineralogische und paläontologische Unterschied, den man zwischen je zwei auf einanderfolgenden Schichten-Systemen und zwischen je zwei Formationen derselben wahrnimmt, einem beträchtlichen Zwischenraum von vielen Jahr- tausenden, während dessen die betreffende Stelle der Erdrinde über das Wasser gehoben war. Erst nach Ablauf dieser Zwischen- zeit, als eine neue Senkung diese Stelle wieder unter Wasser brachte, fand die Ablagerung einer neuen Bodenschicht statt. Da aber inzwischen die anorgischen und organischen Verhältnisse an diesem Orte eine beträchtliche Umbildung erfahren hatten, musste die neugebildete Schlammschicht aus verschiedenen Bodenbestand- theilen zusammengesetzt sein und ganz verschiedene Versteine- rungen- einschliessen. Die auffallenden Unterschiede, die zwischen den Versteine- rungen zweier übereinander liegenden Schichten so häufig statt- finden, sind einfach und leicht nur durch die Annahme zu er- klären, dass derselbe Punkt der Erdoberfläche wiederholten Senkungen und Hebungen ausgesetzt wurde. Noch gegen- wärtig finden solche Hebungen und Senkungen, welche man der Reaction des feuer-flüssigen Erdkerns gegen die erstarrte Rinde zuschreibt, in weiter Ausdehnung statt. So steigt z. B. die Küste von Schweden und ein Theil von der Westküste Süd-Amerikas beständig langsam empor, während die Küste von Holland und ein Theil von der Ostküste Süd- Amerikas allmählich untersinkt. Das Steigen wie das Sinken ge- schieht nur sehr langsam und beträgt im Jahrhundert bald nur einige Linien, bald einige Zoll oder höchsten einige Fuss. Wenn aber diese Bewegung Hunderte von Jahrtausenden hindurch un- unterbrochen andauert, kann sie die höchsten Gebirge bilden. Offenbar haben ähnliche Hebungen und Senkungen, wie sie an jenen Stellen noch heute zu messen sind, während des ganzen Verlaufes der organischen Erdgeschichte ununterbrochen an ver- schiedenen Stellen mit einander gewechselt. Das ergiebt sich mit Sicherheit aus der geographischen Verbreitung der Organismen. 390 Relative Dicke der fünf geschichteten Terrains. xXVI. IV. Caenolithische Schichten-Systeme Eocaen, Miocaen, Pliocaen. | 3000 Fuss. IX. Kreide-System. VIII. Jura-System. VII. Trias-System. Ill. Mesolithische Schichten-Systeme. | Ablagerungen der Secundärzeit. | Circa 15,000 Fuss. Permisches System. | II. Paläolithische Schrchten-Sysieme yon V. Steinkohlen- Ablagerungen | System. | der Primär-Zeit. Circa 42,000 Fuss. IV Darens System. | I. Archo- III. Silurisches || | | lithische System. | Schiehten- Circa 22,000 Fuss. | Systeme. Tabelle II. Cambrisches BEER Ablagerungen a zur Uebersicht der = 7 Kr B x Dystem. neptunischen verstei- a nerungsführenden < Circa 18,000 Fuss. Schichten-Systeme | | | | : Primordial- | der Erdrinde ee Be 0 | | mit Bezug auf ihre zeit verhältnissmässige ; I. Laurentisches durchschnittliche | De | ‚IrCe \ Dicke. | System. | (130,000 2 | 70,000 Fuss. Cirea 30,000 Fuss. eirca. | nn 5 N en RVT Wechsel der Senkungs-Zeiträume und Hebungs-Zeiträume. 391 (Vergl. 326.) Nun ist es aber für die Beurtheilung unserer palä- ontologischen Schöpfungs-Urkunde ausserordentlich wichtig, sich klar zu machen, dass bleibende Schichten sich bloss während lang- samer Senkung des Bodens unter Wasser ablagern können, nicht aber während andauernder Hebung. Wenn der Boden langsam mehr und mehr unter den Meeresspiegel versinkt, so gelangen die abgelagerten Schlammschichten in immer tieferes und ruhigeres Wasser, wo sie sich ungestört zu Gestein verdichten können. Wenn sich dagegen umgekehrt der Boden langsam hebt, so kom- men die soeben abgelagerten Schlammschichten, welche Reste von Pflanzen und Thieren umschliessen, sogleich wieder in den Bereich des Wogenspiels, und werden durch die Kraft der Brandung als- bald nebst den eingeschlossenen organischen Resten zerstört. Aus diesem einfachen, aber sehr gewichtigen Grunde können also nur während einer andauernden Senkung des Bodens sich reichlichere Schichten ablagern, in denen die organischen Reste erhalten blei- ben. Wenn je zwei verschiedene über einander liegende Forma- tionen oder Schichten mithin zwei verschiedenen Senkungsperio- den entsprechen, so müssen wir zwischen diesen letzteren einen langen Zeitraum der Hebung annehmen, von dem wir gar nichts wissen, weil uns keine fossilen Reste von den damals lebenden Thieren und Pflanzen aufbewahrt werden konnten. Offenbar ver- dienen aber diese spurlos dahingegangenen Hebungszeiträume nicht geringere Berücksichtigung als die damit abwechselnden Senkungszeiträume, von deren organischer Bevölkerung uns die versteinerungsführenden Schichten eine ungefähre Vorstellung geben. Wahrscheinlich waren die ersteren durchschnittlich von nicht geringerer Dauer als die letzteren; für diese Annahme sprechen viele gewichtige Gründe. Schon hieraus ergiebt sich, wie unvollständig unsere Urkunde nothwendig sein muss, um so mehr, da sich theoretisch erweisen lässt, dass gerade während der Hebungszeiträume das Thier- und Pflanzenleben an Mannichfaltigkeit zunehmen musste. Denn in- dem neue Strecken Landes über das Wasser gehoben werden, bilden sich neue Inseln. Jede neue Insel ist aber ein neuer Schöpfungs-Mittelpunkt, weil die zufällig dorthin verschlagenen 392 Versteinerungslose Hebungs-Zeiträume. XV Thiere und Pflanzen auf dem neuen Boden im Kampf um’s Da- sein reiche Grelegenheit finden, sich eigenthümlich zu entwickelu und neue Arten zu bilden. Die Bildung neuer Arten hat offen- bar während dieser Zwischenzeiten, aus denen uns leider keine Versteinerungen erhalten bleiben konnten, vorzugsweise stattge- funden; umgekehrt gab die langsame Senkung des Bodens eher Gelegenheit zum Aussterben zahlreicher Arten und zu einem Rück- schritt in der Artenbildung. Auch die Zwischenformen zwischen den alten und den neu sich bildenden Species werden vorzugsweise während jener Hebungszeiträume gelebt haben und konnten daher ebenfalls keine fossilen Reste hinterlassen. Zu den sehr bedeutenden und empfindlichen Lücken der palä- ontologischen Schöpfungsurkunde, welche durch die Hebungszeit- räume bedingt werden, kommen nun leider noch viele andere Um- stände hinzu, welche den hohen Werth derselben ausserordentlich verringern. Dahin gehört vor Allen der metamorphische Zu- stand der ältesten Schichten-Gruppen, gerade derjenigen, welche die Reste der ältesten Flora und Fauna, der Stammformen aller folgenden Organismen enthalten, und dadurch von ganz be- sonderem Interesse sein würden. Gerade diese Gesteine, und zwar der grössere Theil der primordialen oder archolithischen Schichten, fast das ganze laurentische und ein grosser Theil des cambrischen Systems, enthalten gar keine kenntlichen Reste mehr, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil diese Schichten durch den Ein- fluss des feuer-flüssigen Erdinnern nachträglich wieder verändert oder metamorphosirt wurden. Durch die Hitze des glühenden Erdkerns sind diese tiefsten neptunischen Rindenschichten in ihrer ursprünglichen Schichten-Structur gänzlich umgewandelt und in einen krystallinischen Zustand übergeführt worden. Dabei ging aber die Form der darin eingeschlossenen organischen Reste ganz verloren. Nur hie und da wurde sie durch einen glücklichen Zufall erhalten, wie es bei Manchen der ältesten bekannten Petre- facten, aus den untersten cambrischen und laurentischen Schichten, der Fall ist. Jedoch können wir aus den Lagern von krystalli- nischer Kohle (Graphit) und krystallinischem Kalk (Marmor), welche sich in den metamorphischen Gesteinen eingelagert finden, XVI. Metamorphischer Zustand der ältesten neptunischen Schichten. 395 mit Sicherheit auf die frühere Anwesenheit von versteinerten Pflan- zen- und Thierresten in denselben schliessen. Ausserordentlich unvollständig wird unsere Schöpfungs-Ur- kunde durch den Umstand, dass erst ein sehr kleiner Theil der Erdoberfläche genauer geologisch untersucht ist, vorzugsweise Europa und Nord-Amerika: auch von Süd-Amerika und Ost-Indien sind einzelne Stellen der Erdrinde aufgeschlossen; der grösste Theil derselben ist uns aber unbekannt. Dasselbe gilt vom grössten Theil Asiens, des umfangreichsten aller Welttheile; auch von Afrika (ausgenommen das Kap der guten Hoffnung und die Mittel- meerküste) und von Australien wissen wir nur sehr Wenig. Im Ganzen ist wohl kaum der hundertste Theil der gesammten Erd- oberfläche gründlich paläontologisch erforscht. Wir können daher wohl hoffen, bei weiterer Ausbreitung der geologischen Unter- suchungen, denen namentlich die Anlage von Eisenbahnen und Bergwerken sehr zu Hilfe kommen wird, noch einen grossen Theil wichtiger Versteinerungen aufzufinden. Ein Fingerzeig dafür ist uns durch die merkwürdigen Versteinerungen gegeben, die man an den wenigen genauer untersuchten Punkten von Afrika und Asien, in den Kapgegenden und am Himalaya, aufgefunden hat. Eine Reihe von ganz neuen und sehr eigenthümlichen Thierformen ist uns dadurch bekannt geworden. Freilich müssen wir andrer- seits erwägen, dass der ausgedehnte Boden der jetzigen Meere vorläufig für die paläontologischen Forschungen fast unzugänglich ist; den grössten Theil der hier seit uralten Zeiten begrabenen Versteinerungen werden wir entweder niemals oder erst nach Ver- lauf vieler Jahrtausende kennen lernen, wenn durch allmähliche Hebungen der gegenwärtige Meeresboden mehr zu Tage getreten sein wird. Wenn Sie bedenken, dass die ganze Erdoberfläche zu ungefähr drei Fünftheilen aus Wasser und nur zu zwei Fünf- theilen aus Festland besteht, so können Sie ermessen, dass auch in dieser Beziehung die paläontologische Urkunde eine ungeheure Lücke enthält. Nun kommen aber noch eine Reihe von Schwierigkeiten für die Paläontologie hinzu, welche in der Natur der Organismen selbst begründet sind. Vor allen ist hier hervorzuheben, dass in 394 Geringe Ausdehnung der paläontologischen Erfahrungen. XVPß der Regel nur harte und feste Körpertheile der Organismen auf den Boden des Meeres und der süssen Gewässer gelangen und hier in Schlamm eingeschlossen und versteinert werden können. Es sind also namentlich die Knochen und Zähne der Wirbelthiere, die Kalkschalen der Weichthiere, die Chitinskelete der Glieder- thiere, die Kalkskelete der Sternthiere und Corallen, ferner die holzigen, festen Theile der Pflanzen, die einer solchen Versteine- rung fähig sind. Die weichen und zarten Theile dagegen, welche bei den allermeisten Organismen den bei weitem grössten Theil des Körpers bilden, gelangen nur sehr selten unter so günstigen Verhältnissen in den Schlamm, dass sie versteinern, oder dass ihre äusser Form deutlich in dem erhärteten Schlamme sich ab- drückt. Nun bedenken Sie, dass ganze grosse Classen von Orga- nismen, wie z. B. die Medusen, die nackten Mollusken, welche keine Schale haben, ein grosser Theil der Gliederthiere, fast alle Würmer und selbst die niedersten Wirbelthiere gar keine festen und harten, versteinerungsfähigen Körpertheile besitzen. Ebenso sind gerade die wichtigsten Pflanzentheile, die Blüthen, meistens so weich und zart, dass sie sich nicht in kenntlicher Form conser- viren können. Von allen diesen wichtigen Lebensformen werden wir naturgemäss auch gar keine versteinerten Reste zu finden er- warten können. Ferner sind die Embryonen und Jugendzustände fast aller Organismen so weich und zart, dass sie gar nicht ver- steinerungsfähig sind. Was wir also von Versteinerungen in den neptunischen Schichten-Systemen der Erdrinde vorfinden, das sind im Verhältniss zum Ganzen nur wenige Formen, und meistens nur einzelne Bruchstücke. Sodann ist zu berücksichtigen, dass die Meerbewohner in einem viel höheren Grade Aussicht haben, ihre todten Körper in den ab- gelagerten Schlammschichten versteinert zu erhalten, als die Be- wohner der süssen Gewässer und des Festlandes. Die das Land bewohnenden Organismen können in der Regel nur dann ver- steinert werden, wenn ihre Leichen zufällig ins Wasser fallen und auf dem Boden in erhärtenden Schlamm-Schichten begraben wer- den, was von mancherlei Bedingungen abhängig ist. Daher kann es uns nicht Wunder nehmen, dass die bei weitem grösste Mehr- XVI. Geringer Bruchtheil der versteinerungsfähigen Organismen. 39 zahl der Versteinerungen Organismen angehört, die im Meere lebten, und dass von den Landhbewohnern verhältnissmässig nur sehr wenige im fossilen Zustande erhalten sind. Welche Zufällig- keiten hierbei in’s Spiel kommen, mag Ihnen allein der Umstand beweisen, dass man von vielen fossilen Säugethieren, insbesondere von fast allen Säugethieren der Secundärzeit, weiter Nichts kennt, als den Unterkiefer. Dieser Knochen ist erstens verhältnissmässig fest und löst sich zweitens sehr leicht von dem todten Cadaver, das auf dem Wasser schwimmt, ab. Während die Leiche vom Wasser fortgetrieben und zerstört wird, fällt der Unterkiefer auf den Grund des Wassers hinab und wird hier vom Schlamm um- schlossen. Daraus erklärt sich allein die merkwürdige Thatsache, dass in einer Kalkschicht des Jurasystems bei Oxford in England, in den Schiefern von Stonestield, bis jetzt bloss die Unterkiefer von zahlreichen Beutelthieren gefunden worden sind, den ältesten Säugethieren, welche wir kennen. Von dem ganzen übrigen Kör- per derselben war auch nicht ein Knochen mehr vorhanden. Die „exacten“ Gegner der Entwickelungstheorie würden nach der bei ihnen gebräuchlichen Logik hieraus den Schluss ziehen müssen, dass der Unterkiefer der einzige Knochen im Leibe jener merk- würdigen Thiere war. Für die kritische Würdigung der vielen unbedeutenden Zu- fälle, die unsere Kenntniss der Versteinerungen in der bedeutend- sten Weise beeinflussen, sind ferner auch die Fussspuren sehr lehrreich, welche sich in grosser Menge in verschiedenen ausge- dehnten Sandsteinlagern, z. B. in dem rothen Sandstein von Con- necticut in Nordamerika, finden. Diese Fusstritte rühren offenbar von Wirbelthieren, wahrscheinlich von Reptilien her, von deren Körper selbst uns nicht die geringste Spur erhalten geblieben ist. Die Abdrücke, welche ihre Füsse im Schlamm hinterlassen haben, verrathen uns allein die vormalige Existenz von diesen uns sonst ganz unbekannten Thieren. Welche Zufälligkeiten ausserdem noch die Grenzen unserer paläontologischen Kenntnisse bestimmen, können Sie daraus er- messen, dass man von sehr vielen wichtigen Versteinerungen nur ein einziges oder nur ein paar Exemplare kennt. Es sind noch 396 Mangelhaftigkeit der paläontologischen Schöpfungs-Urkunde. XYVI, nicht dreissig Jahre her, seit wir mit dem unvollständigen Ab- druck eines Vogels aus dem Jurasystem bekannt wurden, dessen Kenntniss für die Phylogenie der ganzen Vögelclasse von der allergrössten Wichtigkeit ist. Alle bisher bekannten Vögel stellten eine sehr einförmig organisirte Gruppe dar, und zeigten keine auf- fallenden Uebergangsbildungen zu anderen Wirbelthierclassen, auch nicht zu den nächstverwandten Reptilien. Jener fossile Vogel aus dem Jura dagegen (Archaeopterya®) besass keinen gewöhnlichen Vogelschwanz, sondern einen Eidechsenschwanz, und bestätigte dadurch die aus anderen Gründen vermuthete Abstammung der Vögel von den Eidechsen. Durch dieses einzige Petrefact wurde also nicht nur unsere Kenntniss von dem Alter der Vogelclasse, sondern auch von ihrer Blutsverwandtschaft mit den Reptilien wesentlich erweitert. Eben so sind unsere Kenntnisse von anderen Thiergruppen oft durch die zufällige Entdeckung einer einzigen Versteinerung wesentlich umgestaltet worden. Da wir aber wirklich von vielen wichtigen Petrefacten nur. sehr we- nige Exemplare oder nur Bruchstücke kennen, so muss auch aus diesem Grunde die paläontologische Urkunde höchst unvollstän- dig sein. Eine weitere und sehr empfindliche Lücke derselben ist durch den Umstand bedingt, dass die Zwischen-Formen, welche die verschiedenen Arten verbinden, in der Regel nicht erhalten sind, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil dieselben (nach dem Princip der Divergenz des Charakters) im Kampfe um’s Dasein ungünstiger gestellt waren, als die am meisten divergirenden Varietäten, die sich aus einer und derselben Stamm-Form ent- wickelten. Die Zwischenglieder sind im Ganzen immer rasch ausgestorben und haben sich nur selten vollständig erhalten. Die am stärksten divergirenden Formen dagegen konnten sich längere Zeit hindurch als selbstständige Arten am Leben erhalten, sich‘ in zahlreichen Individuen ausbreiten und demnach auch leichter versteinert werden. Dadurch ist jedoch nicht ausgeschlossen, dass nicht in vielen Fällen auch die verbindenden Zwischen-Formen der Arten sich so vollständig versteinert erhielten, dass sie noch gegenwärtig die systematischen Paläontologen in die grösste Ver- RT. Ursachen des Mangels fossiler Zwischen-Formen. 397 legenheit versetzen und endlose Streitigkeiten über die ganz will- kürlichen Grenzen der Species hervorrufen. Ein ausgezeichnetes Beispiel der Art liefert die berühmte vielgestaltige Süsswasser-Schnecke aus dem Stubenthal bei Stein- heim in Würtembere, welche bald als Paludina, bald als Valvata, bald als Planorbis multiformis beschrieben worden ist. Die schnee- weissen Schalen dieser kleinen Schnecke setzen mehr als die Hälfte von der ganzen Masse eines tertiären Kalkhügels zusam- men, und offenbaren dabei an dieser einen Localität eine solche wunderbare Formen- Manichfaltigkeit, dass man die am meisten divergirenden Extreme als wenigstens zwanzig ganz verschiedene Arten beschreiben und diese sogar in vier ganz verschiedene Gattungen versetzen könnte. Aber alle diese extremen Formen sind durch so massenhafte verbindende Zwischenformen verknüpft. und diese liegen so gesetzmässig über und neben einander, dass Hilgendorf daraus auf das Klarste den Stammbaum der ganzen Formen-Gruppe entwickeln konnte. Ebenso finden sich bei sehr vielen anderen fossilen Arten (z. B. vielen Ammoniten, Terebra- teln, Seeigeln, Seelilien u. s. w.) die verknüpfenden Zwischen-For- men in solcher Masse, dass sie die „fossilen Specieskrämer“ zur Verzweiflung bringen. Wenn Sie nun alle vorher angeführten Verhältnisse erwägen, so werden Sie sich nicht darüber wundern, dass die paläontolo- gische Schöpfungs-Urkunde ganz ausserordentlich lückenhaft und unvollständig ist. Aber dennoch haben die wirklich gefundenen Versteinerungen den grössten Werth. Ihre Bedeutung für die natürliche Schöpfungs-Geschichte ist nicht geringer als die Bedeu- tung, welche die berühmte Inschrift von Rosette und das Decret von Kanopus für die Völkergeschichte, für die Archäologie und Philologie besitzen. Wie es durch diese beiden uralten Inschrif- ten möglich wurde, die Geschichte des alten Egyptens ausseror- dentlich zu erweitern, und die ganze Hieroglyphenschrift zu ent- ziffern, so genügen uns in vielen Fällen einzelne Knochen eines Thieres oder unvollständige Abdrücke einer niederen Thier- oder Pflanzenform, um die wichtigsten Anhaltspunkte für die Geschichte einer ganzen Gruppe und die Erkenntniss ihres Stammbaums zu 398 Unvollkommenheit der paläontologischen Schöpfungs-Urkunde XV]. gewinnen. Ein paar kleine Backzähne, die in der Keuper-For- mation der Trias gefunden wurden, haben für sich allein den sicheren Beweis geliefert, dass schon in der Triaszeit Säugethiere existirten. | Von der Unvollkommenheit des geologischen Schöpfungs- berichtes sagt Darwin, in Uebereinstimmung mit Lyell, dem berühmten, kürzlich verstorbenen Geologen: „Der natürliche Schöp- fungsbericht, wie ihn die Paläontologie liefert, ist eine Geschichte der Erde, unvollständig erhalten und in wechselnden Dialecten geschrieben, wovon aber nur der letzte, bloss auf einige Theile der Erdoberfläche sich beziehende Band bis auf uns gekommen ist. Doch auch von diesem Bande ist nur hie und da ein kurzes Capitel erhalten, und von jeder Seite sind nur da und dort einige Zeilen übrig. Jedes Wort der langsam wechselnden Sprache die- ser Beschreibung, mehr oder weniger verschieden in der ununter- brochenen Reihenfolge der einzelnen Abschnitte, mag den anschei- nend plötzlich wechselnden Lebensformen entsprechen, welche in den unmittelbar auf einander liegenden Schichten unserer weit von einander getrennten Formationen begraben liegen.“ Wenn Sie diese ausserordentliche Unvollständigkeit der pa- läontologischen Urkunde sich beständig vor Augen halten, so wird es Ihnen nicht wunderbar erscheinen, dass wir noch auf so viele unsichere Hypothesen angewiesen sind, indem wir wirklich den Stammbaum der verschiedenen organischen Gruppen entwerfen wollen. Jedoch besitzen wir elücklicher Weise ausser den Ver- steinerungen auch noch andere historische Urkunden; und diese sind in vielen Fällen von nicht geringerem und in den meisten sogar von viel höherem Werthe als die Petrefacten. Die bei weitem wichtigste von diesen anderen Schöpfungs- Urkunden ist ohne Zweifel die Ontogenie oder Keimes-Geschichte; denn sie wiederholt uns kurz in grossen, markigen Zügen das Bild der Stammes-Geschichte oder Phylogenie (vergl. oben S. 309). Allerdings ist die Skizze, welche uns die Ontogenie der Organismen von ihrer Phylogenie giebt, in den meisten Fällen mehr oder weniger verwischt, und zwar um so mehr, je mehr die Anpassung im Laufe der Zeit das Uebergewicht über die Verer- RNIT. Schöpfungs-Urkunden der Ontogenie. 399 bung erlangt hat, und je mächtiger das Gesetz der abgekürzten Vererbung und das Gesetz der wechselbezüglichen Anpassung ein- gewirkt haben. Allein dadurch wird der hohe Werth nicht ver- mindert, welchen die wirklich treu erhaltenen Züge jener Skizze besitzen. Besonders für die Erkenntniss der frühesten paläontologischen Entwickelungs-Zustände ist die On- togenie von ganz unschätzbarem Werthe, weil gerade von den ältesten Entwickelungs- Zuständen der Stämme und Qlassen uns gar keine versteinerten Reste erhalten worden sind und auch schon wegen der weichen und zarten Körper-Beschaffenheit der- selben nicht erhalten bleiben konnten. Keine Versteinerung könnte uns von der unschätzbar wichtigen Thatsache berichten, welche die Ontogenie uns erzählt, dass die ältesten gemeinsamen Vor- fahren aller verschiedenen Thier- und Pflanzen-Arten ganz ein- fache Zellen, gleich den Eiern waren. Keine Versteinerung könnte uns die unendlich werthvolle, durch die Ontogenie festgestellte Thatsache beweisen, dass durch einfache Vermehrung, Gemeinde- bildung und Arbeitstheilung jener Zellen die unendlich mannich- faltigen Körperformen der vielzelligen Organismen entstanden. Allein schon die (Gastrulation (S. 300) ist eine der wichtigsten Stammes-Urkunden. So hilft uns die Ontogenie über viele und grosse Lücken der Paläontologie hinweg. Zu den unschätzbaren Schöpfungs-Urkunden der Paläontologie und Ontogenie gesellen sich nun drittens die nicht minder wich- tigen Zeugnisse für die Blutsverwandtschaft der Organismen, welche uns die vergleichende Anatomie liefert. Wenn äusser- lich sehr verschiedene Organismen in ihrem inneren Bau nahe- zu übereinstimmen, so können wir daraus mit voller Sicherheit schliessen, dass diese Uebereinstimmung ihren Grund in der Vererbung, jene Ungleichheit dagegen ihren Grund in der Anpassung hat. Be- trachten Sie z. B. vergleichend die Hände oder Vorderpfoten der neun verschiedenen Säugethiere, welche auf der nachstehenden Tafel IV abgebildet sind, und bei denen das knöcherne Skelet- Gerüst im Innern der Hand und der fünf Finger sichtbar ist. Ueberall finden sich bei der verschiedensten äusseren Form die- selben Knochen in derselben Zahl, Lagerung und Verbindung wieder. 400 Schöpfungs-Urkunden der vergleichenden Anatomie. XVI. Dass die Hand des Menschen (Fig. 1) von derjenigen seiner nächsten Verwandten, des Gorilla (Fig. 2) und des Orang (Fig. 5), sehr wenig verschieden ist, wird vielleicht sehr natürlich erscheinen. Wenn aber auch die Vorderpfote des Hundes (Fig.4), sowie die Brustflosse (die Hand) des Seehundes (Fig.5) und des Delphins (Fig. 6) ganz denselben wesentlichen Bau zeigt, so wird (lies schon mehr überraschen. Und noch wunderbarer wird es Ihnen vorkommen, dass auch der Flügel der Fledermaus (Fig. 7), die Grabschaufel des Maulwurfs (Fig. 8) und der Vorderfuss des unvollkommensten aller Säugethiere, des Schnabelthiers (Fig. 9) ganz aus denselben Knochen ‚zusammengesetzt ist. Nur die Grösse und Form der Knochen ist vielfach geändert. Die Zahl und die Art ihrer Anordnung und Verbindung ist dieselbe geblieben. (Vergl. auch die Erklärung der Taf. IV im Anhang.) Es ist ganz undenkbar, dass irgend eine andere Ursache, als die gemeinschaft- liche Vererbung von gemeinsamen Stamm-Eltern diese wunderbare Homologie oder Gleichheit im wesentlichen inneren Bau bei so verschiedener äusserer Form verursacht habe. Und wenn Sie nun im System von den Säugethieren weiter hinuntersteigen, und fin- den, dass sogar bei den Vögeln die Flügel, bei den Reptilien und Amphibien die Vorderfüsse, wesentlich in derselben Weise aus (denselben Knochen zusammengesetzt sind, wie die Arme des Men- schen und die Vorderbeine der übrigen Säugethiere, so können Sie schon daraus auf die gemeinsame Abstammung aller dieser Wir- belthiere mit voller Sicherheit schliessen. Der Grad der inneren Form-Verwandtschaft enthüllt Ihnen hier, wie überall, den Grad der wahren Stamm-Verwandtschaft. I. Mensch.2. vorilla.3. Orang. 4. Hund. 5.Seehund. 6. Delnhin.: /. Pledermaus. 6. Maulwurf. 3Schnabelthier: Siebzehnter Vortrae. Phylogenetisches System der Organismen. Protisten und Histonen. Speeielle Durchführung der Descendenz-Theorie in dem natürlichen System der Organismen. Construction: der Stammbäume. Neuere Fortschritte der Phylogenie. Abstammung aller mehrzelligen Organismen von einzelligen. Abstammung der Zellen von Moneren. Begriff der organischen Stämme oder Phylen. Zahl der Stämme des Thierreichs und des Pflanzenreichs. Einheit- liche oder monophyletische und vielheitliche oder polyphyletische Descendenz- Hypothese. Das Rejeh der Protisten oder Zellinge (einzellige Organismen). Gegensatz zum Reiche der Histonen oder Webinge (vielzellige Thiere und Pflanzen). Grenzen zwischen Thierreich und Pflanzenreich. Urpflanzen (Protophyta) und Urthiere (Protozoa). Monobien und Coenobien. Challenger- Resultate. Geschichte der Radiolarien. System der organischen Reiche. Meine Herren! Durch die denkende Vergleichung der indivi- duellen und paläontologischen Entwickelung, sowie durch die ver- gleichende Anatomie der Organismen, durch die vergleichende Betrachtung ihrer entwickelten Form-Verhältnisse, gelangen wir zur Erkenntniss ihrer stufenweis verschiedenen Form-Verwandt- schaft. Dadurch gewinnen wir aber zugleich einen Einblick in ihre wahre Stamm-Verwandtschaft; denn diese ist ja nach der Descendenz-Theorie der eigentliche Grund der Form-Verwandt- schaft. Wenn wir also die empirischen Resultate der Embryologie, Paläontologie und Anatomie zusammenstellen, kritisch vergleichen, und zur gegenseitigen Ergänzung benutzen, dürfen wir hoffen, uns der Erkenntniss des natürlichen Systems, und somit auch des Stammbaums der Organismen zu nähern. Allerdings bleibt unser menschliches Wissen, wie überall, so ganz besonders hier, Haeckel, Natürl. Schöpfungs-Gesch. 8. Aufl. 26 402 Specielle Durchführung der Descendenz-Theorie. xVirE nur Stückwerk, schon wegen der ausserordentlichen Unvollständig- keit und Lückenhaftigkeit der empirischen Schöpfungs- Urkunden. Indessen dürfen wir uns dadurch nicht abschrecken lassen, jene höchste Aufgabe der Biologie in Angriff zu nehmen. Lassen Sie uns vielmehr sehen, wie weit es schon jetzt möglich ist, trotz des unvollkommenen Zustandes unserer embryologischen, paläon- tologischen und anatomischen Kenntnisse, eine annähernde Hypothese von dem verwandtschaftlichen Zusammenhang der Organismen aufzustellen. Darwin giebt uns in seinen Werken auf diese speciellen Fragen der Descendenz-Theorie keine Antwort. Er äussert nur gelegentlich seine Vermuthung, „dass die Thiere von höchstens vier oder fünf, und die Pflanzen von eben so vielen oder noch weniger Stamm-Arten herrühren“. Da aber auch diese wenigen Hauptformen noch Spuren von verwandtschaftlicher Verkettung zeigen, und da selbst Pflanzen- und Thierreich durch vermittelnde Uebergangs-Formen verbunden sind, so gelangt er weiterhin zu der Annahme, „dass wahrscheinlich alle organischen Wesen, die jemals auf dieser Erde gelebt, von irgend einer Urform ab- stammen“. Ich habe 1866 in der systematischen Einleitung zu meiner allgemeinen Entwickelungs-Geschichte (im zweiten Bande der gene- rellen Morphologie) eine Anzahl von hypothetischen Stammtafeln für die grösseren Organismen-Gruppen aufgestellt, und damit that- sächlich den ersten Versuch gemacht, die Stammbäume der Organismen in der Weise, wie es die Entwickelungs-Theorie erfordert, wirklich zu construiren. Dabei war ich mir der ausser- ordentlichen Schwierigkeiten dieser wichtigen Aufgabe vollkommen bewusst. Indem ich trotz aller abschreckenden Hindernisse die- selbe dennoch in Angriff nahm, beanspruchte ich weiter Nichts, als den ersten Versuch gemacht und zu weiteren und besseren Versuchen angeregt zu haben. Die meisten Zoologen und Bota- niker sind von diesem Anfang wenig befriedigt gewesen, und am wenigsten natürlich in dem engen Specialgebiete, in welchem ein Jeder besonders arbeitet. Allein wenn irgendwo, so ist gewiss hier das Tadeln viel leichter als das Bessermachen. xvi. Construction der Stammbäume. 403 In den 23 Jahren, welche seit dem Erscheinen der „Gene- rellen Morphologie“ verflossen sind, ist sehr Viel geschehen, um den dort entworfenen Grundriss der Phylogenie auszuführen. Zwar erhoben sich anfänglich viele Stimmen, welche nicht nur jene ersten Entwürfe für ganz verfehlt, sondern die phylogene- tische Forschung und die damit verknüpfte Construction hypo- thetischer Stammbäume überhaupt für unwissenschaftlich, ja sogar für unmöglich erklärten. Du Bois-Reymond suchte sie lächer- lich zu machen, indem er sie mit den philologischen Forschungen über die Stammbäume der homerischen Helden verglich. Aber die Freude unserer Gegner über diese und ähnliche, namentlich von Physiologen ausgehende Angriffe war nur von kurzer Dauer; denn bald regte sich überall in erfreulichster Weise der phyloge- netische Forschungstrieb. Jeder denkende Morphologe, der eine grössere oder kleinere Gruppe des Thierreichs systematisch bear- beitete, wurde durch die Erkenntniss ihrer Form-Verwandtschaft von selbst zu der Frage nach ihrer Stamm-Verwandtschaft hingeführt; und in vielen Fällen ergaben sich die Grundzüge derselben mit so viel Klarheit, dass man sich eine vollkommene Vorstellung von der Entstehung und stufenweisen Entwickelung dieser Thier- Gruppe machen konnte; so z. B. bei den Hufthieren, Haifischen, Krebsthieren, Ammoniten, Seeigeln, Seelilien u. s. w. Ich selbst habe in meinen Monographien der Radiolarien, Kalkschwämme, Medusen und Siphonophoren zu zeigen versucht, wie weit es möglich ist, den Stammbaum einer formenreichen Thier-Gruppe auf Grund der bekannten Urkunden zu ermitteln. Gleich allen anderen wissenschaftlichen Hypothesen, welche zur Erklärung der Thatsachen dienen, werden auch meine genealogischen Hypothesen ‚s0 lange auf Berücksichtigung Anspruch machen dürfen, bis sie durch bessere ersetzt werden. Hoffentlich wird dieser Ersatz recht bald geschehen, und ich wünschte Nichts mehr, als dass mein erster Versuch recht viele Naturforscher anregen möchte, wenigstens auf dem engen, ihnen genau bekannten Specialgebiete des Thier- oder Pflanzenreichs die genaueren Stammbäume für einzelne Gruppen aufzustellen. Durch zahlreiche derartige Versuche wird unsere genealogische Erkennt- 26” 404 Gegenseitige Ergänzung der Schöpfungs-Urkunden. xVII: niss im Laufe der Zeit langsam fortschreiten, und mehr und mehr der Vollendung näher kommen, obwohl mit Bestimmtheit voraus- zusehen ist, dass ein vollendeter Stammbaum niemals wird er- reicht werden. Es fehlen uns und werden uns immer fehlen die unerlässlichen paläontologischen Grundlagen. Die ältesten Ur- kunden werden uns ewig verschlossen bleiben aus den früher bereits angeführten Ursachen. Die ältesten, durch Urzeugung entstandenen Organismen, die Stamm-Eltern aller folgenden, müssen wir uns nothwendig als Moneren denken, als einfache weiche structurlose Plasma-Klümpchen, ohne jede bestimmte Form, ohne irgend welche harte und geformte Theile. Diese und ihre nächsten Abkömmlinge waren daher der Erhaltung im versteinerten Zustande durchaus nicht fähig. Ebenso fehlt uns aber aus den im letzten Vortrage ausführlich erörterten Gründen der bei weitem grösste Theil von den zahllosen paläontologischen Documenten, die zur sicheren Durchführung der Stammes-Geschichte oder Phy- logenie und zur wahren Erkenntniss der organischen Stammbäume eigentlich erforderlich wären. Wenn wir daher das Wagniss ihrer hypothetischen Construction dennoch unternehmen, so sind wir vor Allem auf die Unterstützung der beiden anderen Urkunden- Reihen hingewiesen, welche das paläontologische Archiv in wesent- lichster Weise ergänzen, der vergleichenden Anatomie und Keimes- Geschichte. Wenn wir nun diese höchst werthvollen Urkunden gehörig denkend und vergleichend zu Rathe ziehen, und vom allgemeinsten Standpunkt der Zellen-Theorie einen umfassenden Blick auf die Gesammtheit der Lebens-Formen werfen, so begegnen wir zunächst einer höchst wichtigen Thatsache: Die niedersten und einfachsten Lebens-Formen, die sogenannten Ur-Pflanzen und Ur-Thiere, be- stehen zeitlebens nur aus einer einfachen Zelle; sie sind perma- nent einzellig. Hingegen sind die meisten Organismen, insbe- sondere alle höheren Thiere und Pflanzen vielzellig, aus einer Vielzahl von eng verbundenen Zellen zusammengesetzt; sie nehmen ihren Ursprung aus einem Ei und dieses Ei ist bei den Thieren ebenso wie bei den Pflanzen eine einzige ganz einfache Zelle: ein Klümpchen einer Eiweiss-Verbindung, in welchem ein anderer XVII. Abstammung aller mehrzelligen Organismen von einzelligen. 405 eiweissartiger Körper, der Zellkern, eingeschlossen ist. Diese kernhaltige Zelle wächst und vergrössert sich. Durch Theilung bildet sich ein Zellen-Häufchen, und aus diesem entstehen durch Arbeitstheilung in der früher beschriebenen Weise die vielfach verschiedenen Formen, welche die ausgebildeten Thier- und Pflan- zen-Arten uns vor Augen führen. (Vergl. S. 298.) Dieser unend- lich wichtige Vorgang, welchen wir alltäglich bei der embryolo- gischen Entwickelung jedes thierischen und pflanzlichen Indivi- duums mit unseren Augen Schritt für Schritt unmittelbar verfol- gen können, und welchen wir in der Regel durchaus nicht mit der verdienten Ehrfucht betrachten, belehrt uns sicherer und voll- ständiger, als alle Versteinerungen es thun könnten, über die ur- sprüngliche paläontologische Entwickelung aller mehrzelligen Orga- nismen, aller höheren Thiere und Pflanzen. Denn da die On- togenie oder die Keimes-Geschichte jedes einzelnen Individuums nur ein kurzer Auszug seiner Phylogenie oder Stammes-Geschichte ist, eine Recapitulation der paläontologischen Entwickelung seiner Vorfahrenkette, so können wir daraus zunächst mit voller Sicher- heit den eben so einfachen als bedeutenden Schluss ziehen, dass alle mehrzelligen Thiere und Pflanzen ursprünglich von einzelligen Organismen abstammen. Die uralten primordialen Vorfahren des Menschen so gut wie aller anderen Thiere und aller aus vielen Zellen zusammengesetzten Pflanzen waren einfache, isolirt lebende Zellen. Dieses unschätz- bare Geheimniss des organischen Stammbaumes wird uns durch die Ei-Zelle der Thiere und Pflanzen mit untrüglicher Sicherheit verrathen. Wenn die Gegner der Descendenz-Theorie uns ent- gegenhalten, es sei wunderbar und unbegreiflich, dass ein äusserst complicirter vielzelliger Organismus aus einem einfachen einzelli- sen Organismus im Laufe der Zeit hervorgegangen sei, so ent- gegnen wir einfach, dass wir dieses unglaubliche Wunder jeden Augenblick nachweisen und mit unseren Augen verfolgen können. Denn die Embryologie der Thiere und Pflanzen führt uns in kür- zester Zeit denselben Vorgang greifbar vor Augen, welcher im Laufe ungeheurer Zeiträume bei der Entstehung des ganzen Stammes ursprünglich stattgefunden hat. 406 Abstammung aller mehrzelligen Organismen von einzelligen. XVII. Auf Grund der keimesgeschichtlichen Urkunden können wir also mit voller Sicherheit behaupten, dass alle mehrzelligen Or- sanismen eben so gut wie alle einzelligen ursprünglich von ein- fachen Zellen abstammen; hieran würde sich sehr natürlich der Schluss reihen, dass die älteste Wurzel des Thier- und Pflanzen- reichs gemeinsam ist, eine einfachste Zelle. Denn die ver- schiedenen uralten „Urzellen“, aus denen sich die wenigen verschiedenen Hauptgruppen, die „Stämme“ oder Phylen des Thier- und Pflanzenreichs entwickelt haben, können ihre Verschiedenheit selbst erst erworben haben, und können selbst von einer gemein- samen „Urstamm-Zelle“ abstammen. Wo kommen aber jene wenigen „Urzellen“ oder diese eine „Urstamm-Zelle“ her? Zur Beantwortung dieser genealogischen Grundfrage müssen wir auf die früher erörterte Plastiden-Theorie und die Urzeugungs-Hypo- these zurückgreifen. (S. 368.) Wie wir damals zeigten, können wir uns durch Urzeugung unmittelbar nicht Zellen entstanden denken, sondern nur Mo- neren, Urwesen der denkbar einfachsten Art, gleich den noch jetzt lebenden Protamoeben, Protomyxen u. s. w. Nur solche structurlose Plasma-Körperchen, deren ganzer eiweissartiger Leib so gleichartig in sich wie ein anorgischer Krystall ist, und den- noch die beiden organischen Grundfunetionen der Ernährung und Fortpflanzung vollzieht, konnten unmittelbar im Beginn der lauren- tischen Zeit aus anorgischer Materie durch Autogonie entstehen. Während einige Moneren auf der ursprünglichen einfachen Bil- dungsstufe verharrten, bildeten sich andere allmählich zu Zellen um, indem der innere Kern des Plasma-Leibes sich von dem äusseren Zellschleim sonderte. Andererseits bildete sich durch Differenzirung der äussersten Zellschleimschicht sowohl um ein- fache (kernlose) Cytoden, als um nackte (aber kernhaltige) Zellen eine äussere Hülle (Membran oder Schale). Durch diese beiden Sonderungsvorgänge in dem einfachen Urschleim des Moneren- Leibes, durch die Bildung eines Kerns im Innern, einer Hülle an der äusseren Oberfläche des Plasma-Körpers, entstanden aus den ursprünglichen einfachsten Cytoden, den Moneren, jene vier ver- schiedenen Arten von Plastiden oder Individuen erster Ordnung, RIUTT. Abstammung der Zellen von Moneren. 407 aus denen weiterhin alle übrigen Organismen durch Difleren- zirung und Zusammensetzung sich entwickeln konnten. (8. 368). Jedenfalls sind die Moneren die Urquellen alles Lebens. Hier wird sich Ihnen nun zunächst die Frage aufdrängen: Stammen alle organischen Cytoden und Zellen, und mithin auch jene Urzellen, welche wir vorher als die Stamm-Eltern der weni- gen grossen Haupt-Gruppen des Thier- und Pflanzenreichs be- trachtet haben, von einer einzigen ursprünglichen Moneren-Form ab, oder giebt es mehrere verschiedene organische Stämme, deren jeder von einer eigenthümlichen selbstständig durch Urzeugung entstandenen Moneren-Art abzuleiten ist. Mit anderen Worten: Ist die ganze organische Welt gemeinsamen Ursprungs, oder verdankt sie mehrfachen Urzeugungs-Acten ihre Entstehung? Diese genealogische Grundfrage scheint auf den ersten Blick ein ausserordentliches Gewicht zu haben. Indessen werden Sie bei näherer Betrachtung bald sehen, dass sie dasselbe nicht besitzt, vielmehr im Grunde von untergeordneter Bedeu- tung und polyphyletisch zu beantworten ist. Hier müssen wir nun zunächst den Begriff des organi- schen Stammes feststellen. Wir verstehen unter Stamm oder Phylum die Gesammtheit aller derjenigen Organismen, deren Abstammung von einer gemeinsamen Stamm-Form aus anatomi- schen und entwickelungsgeschichtlichen Gründen nicht zweifelhaft sein kann, oder doch wenigstens in hohem Maasse wahrscheinlich ist. Unsere Stämme oder Phylen fallen also wesentlich dem Be- griffe nach mit jenen wenigen „grossen Classen“ oder „Haupt- Classen“ zusammen, von denen auch Darwin glaubt, dass eine jede nur blutsverwandte Organismen enthält, und von denen er sowohl im Thierreich als im Pflanzenreich nur sehr wenige, in jedem Reiche etwa vier bis fünf annimmt. Im Thierreich würden diese Stämme im Wesentlichen mit jenen vier bis acht Haupt- abtheilungen zusammenfallen, welche die Zoologen seit Baer und Cuvier als „Haupt-Formen, General-Pläne, Zweige oder Kreise“ des Thierreichs unterscheiden. (Vergl. S. 48.) Baer und Cuvier unterschieden deren nur vier, nämlich 1. die Wirbelthiere (Vertebrata); 2. die Gliederthiere (Artieulata); 3. die Weich- 408 Begriff der organischen Stämme oder Phylen. XvI. thiere (Mollusca) und 4. die Strahlthiere (Radiata). Gegen- wärtig unterscheidet man gewöhnlich acht, indem man die drei ersten Haupt-Classen oder Kreise beibehält, die vierte aber (Strahl- thiere) in fünf Zweige auflöst; diese sind die Mantelthiere (Tunicata), Sternthiere (Echinoderma), Wurmthiere (Hel- minthes), Pflanzenthiere (Zoophyta) und Urthiere (Protozoa). Innerhalb jedes dieser acht Stämme zeigen alle dazu gehörigen Thiere trotz grosser Mannichfaltigkeit der äusseren Form dennoch im inneren Bau so zahlreiche und wichtige gemeinsame Grund- züge, dass wir ihre Stamm-Verwandtschaft vorläufig mit grosser Wahrscheinlichkeit annehmen können. Dasselbe gilt auch von den sechs grossen Haupt-Classen, welche die neuere Botanik im Pflanzenreiche unterscheidet, näm- lich 1. die Blumenpflanzen (Phanerogamae); 2. die Farne (Filieinae); 3. die Mose (Museinae); 4. die Flechten (Zichenes); 5. die Pilze (Fungi) und 6. die Tange (Algae). Die letzten drei Gruppen zeigen selbst wiederum unter sich so nahe Beziehun- gen, dass man sie als Thalluspflanzen (Thallophyta) den drei ersten Haupt-Classen gegenüber stellen, und somit die Zahl der Phylen oder Haupt-Gruppen des Pflanzenreichs auf vier beschrän- ken könnte. Auch Mose und Farne könnte man als Prothallus- pflanzen (Prothallota) zusammenfassen und dadurch die Zahl der Pflanzenstämme auf drei erniedrigen: Blumenpflanzen, Pro- thalluspflanzen und Thalluspflanzen. Wir wollen aber dieser Ein- theilung gleich die ausdrückliche Bemerkung hinzufügen, dass die morphologischen und phylogenetischen Beziehungen der sechs Stämme des Pflanzenreichs ganz andere sind, als diejenigen der acht Stämme des Thierreichs. Gewichtige Thatsachen der vergleichenden Anatomie und Ent- wickelungs-Geschichte legen sowohl im Thierreich als im Pflanzen- reich die Vermuthung nahe, dass auch diese wenigen Haupt-Classen oder Stämme unter sich wiederum stammverwandt sind. Wir werden nachher sehen, in wie verschiedener Weise dieser phylo- genetische Zusammenhang der Stämme im Thierreich einerseits, im Pflanzenreiche andererseits zu denken ist. Man könnte selbst noch einen Schritt weiter gehen und mit Darwin annehmen, dass VIE: Zahl der Stämme des Thierreichs und des Pflanzenreichs. 409 die beiden Stammbäume des Thier- und Pflanzenreichs an ihrer tiefsten Wurzel zusammenhängen; dann würden entweder die niedersten und ältesten Thiere und Pflanzen von einem einzigen gemeinsamen Urwesen, oder die ersteren von den letzteren ab- stammen. Natürlich könnte nach unserer Ansicht dieser gemein- same Urorganismus nur ein einfachstes durch Urzeugung ent- standenes Moner sein. Vorsichtiger werden wir vorläufig jedenfalls verfahren, wenn wir diesen letzten Schritt noch vermeiden, und wahre Stamm- Verwandtschaft nur innerhalb jedes Stammes oder Phylum an- nehmen, wo sie durch die Thatsachen der vergleichenden Ana- tomie, Ontogenie und Paläontologie ziemlich sicher gestellt wird. Aber schon jetzt können wir bei dieser Gelegenheit darauf hin- weisen, dass zwei verschiedene Grund-Formen der genealogischen Hypothesen möglich sind, und dass alle verschiedenen Unter- suchungen der Descendenz-Theorie über den Ursprung der organi- schen Formen-Gruppen sich künftig entweder mehr in der einen oder mehr in der andern von diesen beiden Richtungen bewegen werden. Die einheitliche (einstämmige oder monophyle- tische) Abstammungs-Hypothese wird bestrebt sein, den ersten Ursprung sowohl aller einzelnen Organismen-Gruppen als auch der Gesammtheit derselben auf eine einzige gemeinsame, durch Urzeugung entstandene Moneren-Art zurückzuführen. Die viel- heitliche (vielstämmige oder polyphyletische) Descendenz- Hypothese dagegen wird annehmen, dass mehrere verschiedene Moneren-Arten durch Urzeugung entstanden sind, und dass diese mehreren verschiedenen Haupt-Classen (Stämmen oder Phylen) den Ursprung gegeben haben. Im Grunde ist der scheinbar sehr bedeutende Gegensatz zwischen diesen beiden Hypothesen nur von geringer Wichtigkeit. Denn beide, sowohl die einheitliche oder monophyletische, als die vielheitliche oder polyphyletische Descen- denz-Hypothese, müssen nothwendig auf Moneren als auf die älteste Wurzel des einen oder der vielen organischen Stämme zurückgehen. Da aber der ganze Körper aller Moneren nur aus einer einfachen, structurlosen und formlosen Plasson-Masse, einer eiweissartigen Kohlenstoff-Verbindung besteht, so können die Un- 410 Monophyletische und polyphyletische Hypothesen. XVIl. terschiede der verschiedenen Moneren nur chemischer Natur sein und nur in einer verschiedenen molekularen Zusammensetzung jener schleimartigen Plasma-Verbindung bestehen. Diese feinen und verwickelten Mischungs-Verschiedenheiten der unendlich man- nichfaltig zusammengesetzten Eiweiss-Verbindungen sind aber vor- läufig für die rohen und groben Erkenntnissmittel des Menschen gar nicht erkennbar, und daher auch für unsere vorliegende Auf- gabe zunächst von weiter keinem Interesse. Die Frage von dem einheitlichen oder vielheitlichen Ursprung wird sich auch innerhalb jedes einzelnen Stammes immer wieder- holen, wo es sich um den Ursprung einer kleineren oder grösseren Gruppe handelt. Im Pflanzenreiche z. B. werden die einen Bo- taniker mehr geneigt sein, die sämmtlichen Blumen-Pflanzen von einer einzigen Farn-Form abzuleiten, während die andern die Vor- stellung vorziehen werden, dass mehrere verschiedene Phanero- gamen-Gruppen aus mehreren verschiedenen Farn-Gruppen hervor- gegangen sind. Ebenso werden im Thierreiche die einen Zoologen mehr zu Gunsten der Annahme sein, dass sämmtliche placentale Säugethiere von einer einzigen Beutelthier-Form abstammen, die andern dagegen mehr zu Gunsten der entgegengesetzten Annahme, dass mehrere verschiedene Gruppen von Placental-Thieren aus mehreren verschiedenen Beutelthier-Gruppen hervorgegangen sind. Was das Menschen-Geschlecht selbst betrifft, so werden die Einen den Ursprung desselben aus einer einzigen Affen-Form vorziehen, während die Andern sich mehr zu der Vorstellung neigen werden, dass mehrere verschiedene Menschen-Arten unabhängig von ein- ander aus mehreren verschiedenen Affen-Arten entstanden sind. Ohne uns hier schon bestimmt für die eine oder die andere Auf- fassung auszusprechen, wollen wir dennoch die Bemerkung nicht unterdrücken, dass im Allgemeinen für die höchsten und höheren Formen-Gruppen die einstämmigen oder mono- phyletischen Descendenz-Hypothesen mehr innere Wahr- scheinlichkeit besitzen, dagegen für die niederen und nie- dersten Abtheilungen die vielstämmigen oder polyphy- jetischen Abstammungs-Hypothesen. Das gilt sowohl für das Thierreich wie für das Pflanzenreich. RUHT. Monophyletische und polyphyletische Descendenz. 411 Der früher erörterte chorologische Satz von dem einfachen „Schöpfungs-Mittelpunkte“ oder der einzigen Urheimath der meisten Species führt zu der Annahme, dass auch die Stamm-Form einer jeden grösseren und kleineren natürlichen Gruppe nur einmal im Laufe der Zeit und nur an einem Orte der Erde entstanden ist. Für alle einigermaassen differenzirten und höher entwickelten Classen und Classen-Gruppen des Thier- und Pflanzenreichs darf man diese einfache Stammeswurzel, diesen monophyletischen Ur- sprung als gesichert annehmen (vergl. S. 313). Für die einfachen Organismen niedersten Ranges gilt dies aber nicht. Vielmehr wird wahrscheinlich die entwickelte Descendenz-Theorie der Zu- kunft den polyphyletischen Ursprung für viele niedere und unvoll- kommene Gruppen der beiden organischen Reiche nachweisen (vergl. meinen Aufsatz über „Einstämmigen und vielstämmigen Ursprung“ im „Kosmos“ Bd. IV, 1879). Auf der anderen Seite sprechen wieder manche Thatsachen für einen ursprünglichen Zu- sammenhang der ältesten Stamm-Wurzeln. Man kann daher vorläufig immerhin (— als heuristische Hypothese! —) für das Thierreich einerseits, für das Pflanzenreich andererseits eine ein- stämmige oder monophyletische Descendenz annehmen. Um diese schwierigen Fragen der Stammes-Geschichte richtig zu beurtheilen, und um sich ihrer Lösung mit Sicherheit nähern zu können, muss man vor Allem ein wichtiges Verhältniss im Auge behalten, nämlich den bedeutungsvollen Unterschied in der Entwickelung der einzelligen und der vielzelligen Organismen. Dieser Unterschied ist bisher viel zu wenig gewürdigt worden, ob- wohl er die grösste Wichtigkeit, sowohl in morphologischer als physiologischer Beziehung besitzt. Denn der bleibend einzellige Organismus verhält sich zum höher entwickelten vielzelligen ganz ähnlich, wie die einzelne menschliche Person zum Staate. Nur durch die innige Verbindung vieler Zellen zu einem Ganzen, durch ihre Arbeitstheilung und Formspaltung, wird jene höhere Entfaltung der Lebensthätigkeiten und Formbildungen möglich, welche wir bei den vielzelligen Thieren und Pflanzen bewundern. Bei den einzelligen Lebensformen vermissen wir dieselbe; sie bleiben stets auf einer viel niederen Stufe stehen. 412 Abstammung der Histonen von Protisten. XVIE Aus diesen und anderen Gründen habe ich schon früher vor- geschlagen, die ganze organische Körperwelt zunächst in zwei Haupt-Gruppen einzutheilen: Protisten und Histonen. Die Pro- tisten oder Einzelligen behalten entweder zeitlebens ihre volle Selbstständigkeit als einfache Zellen bei (Zremobia), oder sie bil- den durch Gesellung nur lockere Zellhorden (Coenobia), aber niemals wirkliche Gewebe. Die Histonen oder Vielzelligen hingegen sind nur im Beginn ihrer Existenz einzellig; bald ent- stehen durch wiederholte Theilung der Stamm-Zelle organisirte Zell-Verbände und aus diesen Gewebe (Hista); die einfachste Form des Gewebes ist bei den Pflanzen der Thallus, bei den Thieren die Keimhaut oder das Blastoderma. Aus den Thatsachen der vergleichenden Keimesgeschichte dürfen wir mit voller Sicherheit den Schluss ziehen, dass alle Histonen ursprünglich von Protisten abstammen; alle vielzelligen Thiere sowohl, wie alle vielzelligen Pflanzen müssen natürlich ursprünglich aus einzelligen Vorfahren entstanden sein; denn noch heute entwickelt sich thatsächlich jeder einzelne viel- zellige Organismus aus einer einzelligen Keimform (Cytula, S. 297). Diese „Stamm-Zelle* ist nach dem biogenetischen Grundgesetze die erbliche Wiederholung der „Urzelle“, der ursprünglichen historischen Ahnenform oder des einzelligen Vorfahren. Daraus folgt aber keineswegs, dass alle uns bekannten Protisten zu den Vorfahren der Histonen gehören; im Gegentheil! Nur ein sehr kleiner Bruchtheil der ersteren darf in den Stammbaum der letz- teren einbezogen werden. Die überwiegende Mehrzahl aller Protisten gehört selbstständigen Stämmen an, welche weder zum Pflanzenreiche noch zum Thierreiche in direeter phylogene- tischer Beziehung stehen. Durch die ausgedehnten mikroskopischen Untersuchungen des letzten halben Jahrhunderts sind wir mit einer wunderbaren Welt des sogenannten „unsichtbaren Lebens“ bekannt geworden. Das verbesserte Mikroskop hat uns viele Tausende von Arten kleinster Lebewesen kennen gelehrt, welche dem unbewaffneten Auge verborgen waren, und welche trotzdem durch die Mannichfaltigkeit ihrer zierlichen Gestalten, wie ihrer einfachen Lebens-Erscheinun- xXVvi. Gegensatz der Histonen und Protisten. 415 gen unser höchstes Interesse erregen. Die erste umfassende Darstel- lung derselben gab 1838 der berühmte Berliner Mikrologe Gottfried Ehrenberg in seinem grossen Werke: „Die Infusions-Thierchen als vollkommene Organismen“. Dieses Werk enthält die Beschrei- bung und Abbildung zahlreicher mikroskopischer Organismen aus den verschiedensten Classen, von ganz ungleicher Organisation. Ehrenberg war durch seine Untersuchungen zu der irrthümlichen Ueberzeugung gelangt, dass ihr Körper allgemein eine sehr voll- kommene Zusammensetzung aus verschiedenen Organen besitze, ähnlich dem der höheren Thiere; er gründete auf diesen Irrthum „das ihm eigene Princip überall gleich vollendeter Organisation“. In der That besteht diese aber nicht; und die Mehrzahl seiner sogenannten „Infusions-Thierchen“ sind einzellige Protisten. In demselben Jahre, 1838, in welchem Ehrenberg sein grosses Infusorien-Werk veröffentlichte, begründete Schwann seine Zellen-Theorie, deren eifrigster Gegner der erstere bis zu seinem Tode (1576) geblieben ist. Als grösster Fortschritt ergab sich aus der Zellen-Theorie zunächst die Erkenntniss, dass alle ver- schiedenen Gewebe des Thier- und Pflanzen-Körpers aus einem und demselben Form-Elemente zusammengesetzt seien, aus der einfachen Zelle. Sowohl die Stengel und Blätter, die Blüthen und Früchte der Pflanzen, als die Nerven und Muskeln, die Decken- und Binde-Gewebe der Thiere, sind Anhäufungen von Milliarden mikroskopischer Zellen; ihre verschiedene Beschaffenheit beruht lediglich auf der verschiedenen Anordnung und Zusam- mensetzung, Arbeitstheilung und Formspaltung der constituirenden Zellen. In den einfacheren Geweben der Pflanzen bewahren diese Zellen, als Bausteine der Gewebe, eine grössere Selbstständigkeit und werden gewöhnlich von einer festen Haut oder Membran umhüllt; diese fehlt dagegen den meisten Zellen der thierischen Gewebe, welche eine höhere Ausbildung erreichen. Zahlreiche mikroskopische Lebensformen, welche Ehrenberg als hoch organisirte Infusions-Thierchen beschrieben hatte, wur- den schon bald darauf als einfache, selbstständig lebende Zellen erkannt; und 1848 wurde dieser Nachweis von Siebold sogar für die Wimperthierchen (Ciliata) und Wurzelfüssler (Rhizopoda) 414 Grenzen zwischen Thierreich und Pflanzenreich. xvn. geführt, welche man allgemein für hoch organisirte Thiere ge- halten hatte; er gründete für sie die besondere Hauptklasse der einzelligen Ur-Thiere (Protozoa). Indessen dauerte es immerhin noch ziemlich lange, ehe diese bedeutungsvolle Erkenntniss sich allgemeine Anerkennung erwarb. Erst nachdem unsere Kenntniss vom Zellenleben sich weiter ausgebildet hatte, und nachdem ich (1572) die echten vielzelligen Thiere als Metazoen den einzel- ligen Protozoen gegenüber gestellt hatte, wurde die Grundver- schiedenheit beider Reiche allgemein anerkannt. Je mehr wir nun aber durch ausgedehnte Untersuchungen von der Natur der einzelligen Organismen kennen lernten, und je weiter der grosse von ihnen gebildete Formenkreis sich aus- dehnte, desto stärker wurden die Zweifel, ob denn wirklich alle diese sogenannten „Ur-Thiere* als echte Thiere zu betrachten seien? Viele von ihnen schienen eher einfachste Pflanzen zu sein, und manche Gruppen waren so unmittelbar durch Uebergangs- Formen mit echten vielzelligen Pflanzen (Algen) verknüpft, dass man sie als einzellige Pflanzen betrachten konnte. Niemand aber vermochte eine scharfe Grenze zwischen diesen „Ur-Pflan- zen“ (Protophyta) und jenen „Ur-Thieren“ (Protozoa) zu finden. Und doch musste eine solche Grenze gefunden und abgesteckt werden, wenn überhaupt eine Grenze zwischen Thierreich und Pflanzenreich, sowie eine klare Begriffsbestimmung dieser beiden grossen Reiche der organischen Welt erhalten werden sollte. Durch vielfache Versuche, diese schwierigen und wichtigen Fragen zu lösen, entstanden vor dreissig Jahren — kurz vor und nach dem Erscheinen von Darwin’s Hauptwerk (1859) — eine grosse Anzahl von interessanten Abhandlungen. In diesen be- mühten sich Zoologen und Botaniker, Anatomen und Physiologen, Embryologen und Systematiker, irgend eine bestimmte Grenze zwischen Thierreich und Pflanzenreich festzustellen. So leicht und sicher diese Grenzbestimmung bei Vergleichung der höheren Thiere und Pflanzen erscheint, so schwierig, ja unmög- lich gestaltet sie sich bei den niederen und unvollkommenen Organismen. Alle Merkmale im Körperbau und den Lebens- Erscheinungen, welche die höheren und vollkommenen Thiere IRVIT, Begründung des Protistenreiches. 415 und Pflanzen in so auffallenden Gegensatz stellen, erscheinen ver- wischt oder gemischt bei vielen niederen und einfachen Lebens- formen. Insbesondere zeigen viele einzellige Organismen ent- weder einen so indifferenten Charakter, oder eine solche Mischung von animalen und vegetalen Eigenschaften, dass es rein willkür- lich erscheint, ob man sie zum Thierreich oder zum Pflanzenreich stellen will. Gestützt auf diese Erwägungen, sowie auf die anerkannte Erfolglosigkeit jener Grenzbemühungen, versuchte ich 1866 in meiner „Generellen Morphologie“ die Lösung der Frage auf einem anderen Wege. Das zweite Buch jenes Werkes enthält ausführ- liche „allgemeine Untersuchungen über die Natur und erste Ent- stehung der Organismen, ihr Verhältniss zu den Anorganen, und ihre Eintheilung in Thiere und Pflanzen“ (Band I, S. 111— 238). Ich schlug dort vor, ein besonderes „Reich der Protisten“ für alle jene niederen Lebensformen zu gründen, welche weder als echte Thiere noch als echte Pflanzen gelten können. Als wesentlichen Charakter dieses Protisten-Reiches stellte ich in den Vorder- grund: „die allgemeine bleibende Selbstständigkeit der Pla- stiden, oder der Individuen erster Ordnung (Zellen oder Cytoden), sowie den damit verknüpften Mangel der Gewebe. Der ganze entwickelte Organismus der Protisten bildet gewöhnlich nur eine einzige Plastide, eine Monobie (bald eine kernlose Cytode, bald eine kernhaltige Zelle); seltener entstehen durch wiederholte Theilung der Zelle und lockere Verbindung der Theil- producte sogenannte Zellhorden oder Coenobien (auch Zell- colonien oder Plastidenstöckchen gennannt). Aber niemals ent- wickeln sich aus denselben die festen Zell-Verbände, welche wir Gewebe nennen, und welche den vielzelligen Organismus der echten Thiere und Pflanzen aufbauen. Die .formenreichen Classen, welche das Protistenreich zusam- mensetzen, habe ich später in verschiedenen Schriften eingehender geschildert, und zum Theil in etwas veränderter Anordnung und Begrenzung aufgeführt, so namentlich in meinen Studien über Moneren, Infusorien und Radiolarien, sowie in meiner Gastraea- Theorie (1875). Eine kleinere Abhandlung über „Das Protisten- 416 Ergebnisse der Challenger-Expedition. xvi. reich“, erschien 1578 im „Kosmos“ und enthält „eine populäre Uebersicht über das Formen-Gebiet der niedersten Lebewesen“. Indessen kann das kurze, jener Abhandlung angehängte System der Protisten, — gleich ähnlichen späteren Versuchen anderer Naturforscher — nur als ein vorläufiger Versuch zur systemati- schen Lösung jener schwierigen Fragen gelten; und dasselbe gilt von der verbesserten Form dieses Systems, welche ich hier so- gleich folgen lassen werde. Es werden noch viele andere Ver- suche, von verschiedenen Gesichtspunkten aus, gemacht werden müssen, ehe wir befriedigende Klarheit über die systematische Anordnung der Protisten-Classen und die ihr zu Grunde liegende phylogenetische Verwandtschaft erlangen werden. Jedenfalls ist durch die bisherigen Versuche schon sehr viel erreicht worden, so namentlich die wichtige Ueberzeugung, dass grosse und formenreiche Protisten-Classen (so z. B. die Diatomeen, Mycetozoen, Rhizopoden, Ciliaten) selbstständige Entwickelungs- reihen einzelliger Lebensformen darstellen, ganz unabhängig von den echten, vielzelligen Thieren und Pflanzen. Wenn man früher die Bacterien und Mycetozoen mit Pilzen, die Siphoneen mit Mosen, die Thalamarien mit Mollusken, die Radiolarien mit Echinodermen, die Ciliaten mit Würmern verglich, und wenn man nahe Ver- wandtschafts-Beziehungen zwischen diesen gänzlich verschiedenen Classen aufzufinden sich bemühte, so sind jetzt dagegen solche falsche Vergleiche nicht mehr möglich. Die überraschenden Entdeckungen der letzten Decennien, vor allen die grossartigen Ergebnisse der Challenger-Expedition, haben uns auserdem in mehreren selbstständigen Protisten-Classen einen Reichthum an merkwürdigen neuen Lebensformen offenbart, von dem man früher keine Ahnung hatte. Die Abgründe des Oceans, insbesondere die ausgedehnten Tiefsee-Becken zwischen 6000 und 9000 Meter, galten noch vor dreissig Jahren für leblose Einöden, von keinem lebendigen Wesen bewohnt. Die vierjährigen Tiefsee-Forschungen der englischen Challenger-Expedition, geleitet von Sir Wyville Thomson und Dr. John Murray (1873—1876), haben das Gegentheil gelehrt. Jene Abgründe sind bevölkert von vielen Tausend Arten wunderbarer Protisten, welche durch die nusf. xvi. Geschichte der Radiolarien. 417 unglaubliche Zierlichkeit und Mannichfaltigkeit ihrer einzelligen Körperbildung alles bisher Bekannte übertreffen; sie öffen uns eine neue Welt der Forschung und Erkenntniss, und erweitern unsere biologischen Anschauungen in früher ungeahnter Weise. Das grosse Werk über die Challenger-Reise, von der englischen Regie- rung mit beispielloser Freigebigkeit ausgestattet und veröffentlicht, enthält jetzt schon über dreissig grosse Folio-Bände, mit vielen tausend Tafeln. Mehrere Hunderte derselben stellen nur einzellige neue Lebensformen des Protistenreichs dar. Als Beispiel für die überraschende, dadurch gewonnene Er- weiterung unseres morphologischen Gesichtskreises führe ich hier die Radiolarien an, die zierlichste und formenreichste von allen Protisten-Classen. Taf. XV und XVI zeigen ein paar Dutzend verschiedene Formen derselben. Die ersten beiden Arten dieser kieselschaligen See-Rhizopoden wurden 18354 von Meyen beschrie- ben. Später (1847) entdeckte Ehrenberg gegen dreihundert fossile Arten derselben in dem Gestein der Antillen-Insel Barba- dos; er kannte aber bloss ihre zierlichen gitterartig durchbrochenen Kieselschalen, während ihre Organisation ihm unbekannt blieb. Diese wurde erst 1555 von dem grossen Berliner Biologen Jo- hannes Müller in seinem letzten Werke beschrieben; er unter- schied 50, lebend von ihm im Mittelmeer beobachtete Arten und vertbeilte diese auf 20 Gattungen. Ich selbst setzte unmittelbar nach seinem Tode die Untersuchungen meines unvergesslichen Meisters in Messina fort, und gab 1862 in meiner Monographie der Radiolarien die Beschreibung und Abbildung von 144 neuen Arten. Mit anderen neuen Formen derselben machte uns sodann 1579 Richard Hertwig bekannt, welcher auch zuerst über- zeugend nachwies, dass ihr ganzer Organismus, trotz seiner wun- derbaren Zusammensetzung, eine einzige Zelle bilde. Die Tief- see-Lothungen des „Challenger“ ergaben sodann, dass ausgedehnte Gebiete des tiefen Ocean-Bodens mit „Radiolarien-Schlamm * bedeckt sind, einem feinen kreideähnlichen Pulver, welches fast allein aus Milliarden solcher zierlichen Kieselschalen besteht; viele Tausende davon gehen auf ein Gramm. In der systematischen Beschreibung dieser „Challenger-Radiolarien“, welche ich 1387 gab Haeckel, Natürl. Schöpfungs-Gesch. 98. Aufl, ar _ 418 Monophyletisches und polyphyletisches Protisten-System. XVII. (drei Bände, mit 140 Tafeln), unterschied ich 4 Legionen, 20 Ord- nungen, 85 Familien, 739 Gattungen, und 4318 Arten. (Veregl. meine „Allgemeine Naturgeschichte der Radiolarien“, Berlin 1887.) Aehnlich wie das System der Radiolarien, ist auch das System der Diatomeen und der Thalamarien (oder Foraminiferen) durch die grossartigen Entdeckungen der Challenger-Expedition in er- staunlichem Maasse gewachsen. Viele werthvolle Beiträge dazu sind ausserdem durch den emsigen Bienenfleiss zahlreicher jün- serer Naturforscher geliefert worden. Nicht minder werthvoll aber als diese quantitative Erweiterung unserer Protisten-Kenntnisse, ist die qualitative Vertiefung des allgemeinen Verständnisses, welche wir denselben verdanken. Unsere Anschauungen von der ersten Entwickelung des organischen Lebens, von der Bedeutung der einzelligen Organisation, von den Beziehungen der Protisten zu den Histonen u. s. w. sind dadurch in vielfacher Richtung ge- klärt und befestigt worden. Einerseits ist die Wahrscheinlichkeit vom polyphyletischen Ursprung des Protisten-Reiches, von einer unabhängigen Entwickelung zahlreicher einzelner Stämme von einzelligen Organismen, immer einleuchtender geworden; anderer- seits ist für zahlreiche Arten einer einzigen Protisten-Classe der monophyletische Ursprung, die Ableitung von einer einzigen gemeinsamen Stamm-Form, mit grosser Wahrscheinlichkeit dar- gethan worden. So habe ich z. B. gezeigt, dass alle 4318 Radio- larien-Arten nur Modificationen von 4 ursprünglichen Typen dar- stellen, und dass auch diese 4 Urformen sich phylogenetisch durch Divergenz von einer einfachen kugeligen Zelle ableiten lassen (Actissa, Taf. XVI, Fig. 1). Vergl. Taf. XV und XVI, S. 448. Auch die Zellen-Theorie ist durch diese neueren Protisten- Forschungen mächtig gefördert worden. Die Entdeckung der Mo- neren hat uns die Hypothese der Urzeugung annehmbar gemacht, und gelehrt, dass die ursprünglichste Lebensform die Cytode ist, nicht die Zelle; die kernhaltige Zelle hat sich erst secundär aus der kernlosen Cytode entwickelt. Die winzigen Bacterien, eben- falls zu den Moneren zu rechnen, haben uns gezeigt, dass die kleinsten und unscheinbarsten Lebens-Formen die grösste und eingreifendste Rolle im Kampf um’s Dasein spielen; Hundert- XVvi. Prineipien der phylogenetischen Classification. 419 tausende von Menschenleben erliegen alljährlich den Angriffen der Bacillen der Tuberculose, der Cholera, des Typhus, verschiedener Infections-Fieber u. s. w. Die Syneytien, oder die riesengrossen vielkernigen Zellen, führen uns die erstaunliche Höhe der Organi- sation vor Augen, welche die einzelne Zelle für sich erreichen kann; die Siphoneen-Zelle wird ähnlich einer Blumenpflanze, mit Wurzel, Stengel und Blättern (Fig. 1%); die Polythalamien-Zelle wird ähnlich einem Weichthier, mit viglkammeriger kalkiger Nau- tilus-Schale. Die Zellhorden oder Coenobien der socialen Pro- tisten (Volvocinen, Catallacten u. s. w.) belehren uns darüber, wie der vielzellige Organismus ursprünglich aus dem einzelligen ent- standen ist; sie bilden den Uebergang zu den Histonen mit ihren Geweben. Mit Rücksicht auf diese wichtigen Fortschritte der Plastiden-Theorie lassen sich jetzt folgende fünf Entwickelungs- stufen des organischen Lebens klar unterscheiden: 1. Die Cytode. 2. Die Zelle. 3. Das Syneytium. 4. Das Coenobium. 5. Das Histon. (Vergl. S. 422. Für die phylogenetische Classification der ganzen organischen Welt ergiebt sich aus den vorhergegangenen Betrachtungen ein verschiedenes System, je nachdem man den physiologischen oder den morphologischen Standpunkt als entscheidend betrachtet. Wenn man die physiologischen Gegensätze im Stoffwechsel als entscheidend ansieht, so kann man die althergebrachte Ein- theilung ‘in Pflanzenreich und Thierreich beibehalten (S. 421). Wenn man hingegen die morphologischen Unterschiede im Körperbau als wichtiger hervorhebt, so muss man in erster Linie die Einzelligen den Vielzelligen gegenüberstellen; die einfachen Protisten und die zusammengesetzten Histonen erscheinen dann als die beiden Haupt-Reiche der organischen Welt (S. 420). In jedem dieser Haupt-Reiche kann man dann wieder zwei Reiche unterscheiden, eines mit Phytoplasma und pflanzlichem Stoff- wechsel, das andere mit Zooplasma und thierischem Stoffwechsel. Dabei darf man aber nicht vergessen, dass die grosse Mehrzahl der einzelligen Organismen zu selbstständigen Entwickelungsreihen gehören, zu Phylen eines neutralen -Protisten-Reiches. 27* XV. System der organischen Welt auf morphologischer Basis. Eintheilung der Organismen in Protisten (Zellinge) und Histonen (Webinge) auf Grund ihres Körperbaues und ihrer Zellbildung. Erstes organisches Reich: Einzellige: Protista. Zweites organise hes Reich: Vielzellige: Histones. Organismen, welche meistens zeit- lebens einzellig bleiben (Mhobia), seltener durch , wiederholte Theilung lockere Zellhorden bilden (Coenobia); aber niemals echte Gewebe. Fort- pflanzung meistens ungeschlecht- lich (Monogonie). L———. Unterreiche der Protisten: A. Urpfianzen. Protophyta. A. Character: Einzellige Orga- nismen mit vege- talem Stoffwechsel (Reduction und Synthese) — vergl. S. 421, I. Hauptgruppen: I. Phytarcha. Kernlose Pla- stiden (Cytoden). II. Diatomea. Einzellige Pflan- zen mit zweiklap- | piger Kieselschale. III. Cosmaria. Einzellige Pflan- zen mit zweispal- tiger Cellulose- Hülle. IV. Palmellaria. Einzellige Pflan- zen mit Schwärm- sporen. V. Siphonea. Einzellige Pflan- zen mit Pseudo- Cormus. B. Urthiere. Protozoa. B. Character: Einzellige Orga- nismen mit ani- malem Stoffwech- sel (Öxydationund Analyse) — vergl. S. 421, 11. Hauptgruppen: I. Zoarcha. Cytoden. (Kern- lose Plastiden.) II. Cytarcha. Einfachste ein- zellieeThiere,ohne Flimmer - Bewe- sung (Lobosa). III. Infusoria. Einzellige Thiere mit Flimmer - Be- wegung. IV. Rhizopoda. Einzellige Thiere mit Wurzelfüss- chen (Pseudopo- dien). Imm—ssps ak yzdu ss III I[[[I(I Organismen, welche nur im Be- ginne der Existenz einzellig, später vielzellig sind, und stets durch feste Verbindung der associirten Zellen Gewebe bilden (Histobia). Fort- pflanzung meistens geschlechtlich (Amphigonie). Unterreiche der Histonen: C. Gewebpflanzen. Metaphyta. C. Character: Vielzellige Or- sanismen mit ve- getalem Stoffwech- sel (Reduction und Synthese) — vergl. ‚S. 421, 1. Hauptgruppen: I. Thallophyta mit Thallus (Thallus-Pflanzen). II. Mesophyta (Prothallota) mit Prothallium (Mittel-Pflanzen). III. Anthophyta (Phanerogamae) mit Blumen (Blumen-Pflanzen). D. Gewebthiere. Metazoa. D. Character: Vielzellige Or- ganismen mit ani- malem Stoffwechsel (Oxydation und’ Analyse) — vergl. S. 421, 11. l.Hauptgruppe: Coelenteria. Gewebethiere ohne Leibeshöhle (stets ohne After). II. Hauptgruppe: Coelomaria. Gewebethiere mit Leibeshöhle (mei- stens mit After). II. A. Pseudo- coelia mit Spalt- Leibes- höhle(ohneCoelom- taschen). B. Entero- eoelia I. mit wahrer Leibes- höhle, aus zwei Coelomtaschen ent- standen. XVII. 421 System der organischen Welt auf physiologischer Basis. Sintheilung der Organismen in Pflanzen und Thiere, auf Grund ihrer Lebensthätigkeiten, insbesondere ihres Stoflwechsels. Erstes organisches Reich: Zweites organisches Reich: Pflanzen: Plantae. Thiere: Animalia. Reduetions-OÖrganismen (mit Oxydations-OÖrganismen (mit chemisch - synthetischer Fune-[chemisch-analytischer Funetion) tion) verwandeln die lebendige Kraft | verwandeln die Spannkräfte organi- des Sonnenlichts in die chemische |seher Verbindungen in die lebendige Spannkraft organischer Verbindungen, | Kraft der Wärme und der Bewegung insbesondere Eiweisskörper (Plasson). | (Muskel- und Nerven-Thätigkeit). Auf- Ausscheidung von Sauerstoff, Aufnahme | nahme von Sauerstoff, Ausscheidung von Kohlensäure und Ammoniak. von Kohlensäure und Ammoniak. Unterreiche der Pflanzen: . gr Unterreiche der Thiere: A. Urpflanzen. 6. Gewebpflanzen. B. Urthiere. D. Gewebthiere. Protophyta. Metaphyta. Protozoa. Metazoa. A. Character: | C. Character: B. Character: | D. Character: (Vergl. S. 420, A). | (Vergl. S. 420, C). | (Vergl. S. 420, B). | (Vergl. S. 420, D). Hauptgruppen:; Hauptgruppen:|Hauptgruppen:) Hauptgruppen: I. Phytarcha. I. Thallophyta. I. Zoarcha. I. Coelenteria. 1. Probiontes. (Thallus-Pflanzen) | 1. Zoomonera. (Niederthiere.) 2. Chromaceae. 1. Algae. 2. Bacteria. 1. Gastraeades. I. Diatomea. | 2- Fungi. II. Cytarcha. 2. ae BEN. a E 3. Cnidaria. 3. Coceochromia. | ]I. Mesophyta. 3. Lobosa. pas 4. Placochromia. | (Mittel-Pflanzen) | + Aregarinae. k II. Coelomaria. III. Cosmaria. (Prothallota.) III. Infusoria. RER 5. Closterieae. 5. Muscinae. 5. Flagellata. ide bene) 6. Desmidieae. 4. Filicinae. 6. Catallacta. | 9 a ® 7 Ciliat: on sca. Iv. Palmellaria. | Ill. Anthophyta. g. . 7. Bohinodera. 7. Protococceae. | (Blumen-Pflanzen) 2 1 u S. Artieulata. 8. Xanthelleae. (Phanerogamae.) IV. Rhizopoda. | 9. Tunicata. . 5. Gymnospermae.| 9. Mycetozoa. 10. Vertebrata. V. Siphonea. 6. Angiospermae. | 10. Heliozoa. ). Botrydieae. 6A. Monocotylae. | 11. Thalamaria. 10. Caulerpeae. 6B. Dieotylae. 12. Radiolaria. N.B. Ueber die.besondere Organisation der einzelnen Protozoen- Gruppen und die historische Entwiekelung unserer Kenntniss derselben ist die neueste umfassende Darstellung derselben von Bütsehli, inBronn's „Classen und Ordnungen des Thierreichs“, zu vergleichen. Tabellarische Uebersicht über die fünf ersten Stufen des organischen Lebens, mit Rüchsicht auf die analoge Entwickelung der Zelle im Pflanzen- reich und Thierreich. XV. Lebens-Stufe: Form-Character: | Vegetale Gruppe: | Animale Gruppe: I. Erste Stufe des organischen Lebens: Cytoda. Kernlose Pla- stiden. II. Zweite Stufe des organischen Lebens: Monocyta. Einzeln lebende einkernige Zellen. (Monobia.) II. Dritte Stufe des organischen Lebens: Syncytia. Einzeln lebende vielkernige Zellen. (Plasmodia.) IV. Vierte Stufe des organischen Lebens: Coenobia. Zellhorden, oder einfache (remein- den von einzelligen Organismen. V. Fünfte Stufe des organischen Lebens: Histones. Zell-Gewebe bil- dende Organismen. Moneren. Der ganze ent- wickelte Körper besteht aus einer einfachen Cytode (einer kernlosen Plastide). Monocyten. Der ganze ent- wickelte Körper Jbesteht aus einer einzigen kernhalti- gen Zelle. (Einzel- lige Örganismenim strengsten Sinne.) Der ganze Kör- per besteht aus einer einzigen co- lossalen Zelle, wel- che in ihrem vo- luminösen Körper | Syncytien. zahlreiche Kerne einschliesst. Coenobien. Der ganze Kör- per besteht aus einer lockeren Ge- sellschaft von ein- zelligen Wesen, bildet aber noch keine festen Ge- webe. Histonen. Der ganze Kör- per besteht aus einem oder meh- reren (weweben, aus einem geform- ten Verbande vie- ler Zellen, N Phytomoneren. Probionten. (Die ersten Lebens- | | | | E | Anfänge, oder Probien.) Chromaceen. (Chroococcaceen und Nostochineen). Einzellige Pflanzen. Solitäre Formen der Diatomeen, Cosmarieen (Ülo- sterien) und Pal- ınelleen. Vegetale Syncytien. Siphoneen (Coe- loblasten). Botrydieae. Codiaceae. Caulerpaceae. Vegetale Coenobien. Sociale Formen der Diatomeen, Cosmarieen (Des- midiaceen) und Palmelleen. Metaphyten. Gewebe-Pflanzen. I. Thallophyta. (Thallus-Pflanzen) II. Cormophyta. (Stockpflanzen) Zoomoneren. Lobomoneren. Rhizomoneren. Bacterien. (Sphaerobacterien und Rhabdo- bacterien.) Einzellige Thiere. Monocystiden. Monaeineten. Solitäre Formen der Rhizopoden und Infusorien (Viele Flagellaten, die meisten Ciliaten.) Animale Syncytien. Mycetozoen (Myxo- myceten). Actino- sphaerium. Viel- kernige Polytha- lamien. Animale Coenobien. Polyeystiden, und Sociale Ciliaten (Carchesien). Sy- nacineten. Die meisten Flagella- ten. Catallacten. Polyeyttarien. Metazoen. Gewebe-Thiere. I. Coelenteria (ohne Leibeshöhle). ll. Coelomaria (mit Leibeshöhle). Achtzehnter Vortrag. Stammes-Geschichte des Protisten-Reiches. Anfangs-Fragen. Grundsätze für die Phylogenie des Protisten-Reiches. Die ältesten Wurzeln des Stammbaumes: Moneren. Phytomoneren als Lebens- Anfänge. Probionten. Vielfach wiederholte Urzeugung von Probien. Zoo- moneren (Raub-Moneren). Bacterien (sogenannte Spaltpilze). Chromaceen (Chroococceen und Nostochinen). Phytarchen und Zoarchen. Hauptgruppen von einzelligen Organismen. Diatomeen. Cosmarien. Palmellarien. Volvo- einen. Xanthelleen. Caleocyten. Siphoneen. Amoebinen (Lobosen). Gre- garinen. Geisselschwärmer (Flagellaten). Flimmerkugeln (Catallacten). Infu- sorien. Die Zellseele der Ciliaten. Acineten. Wurzelfüsser (Rhizopoden). Pilzthiere (Mycetozoa). Sonnenthierchen (Heliozoa). Kammerlinge (Thala- maria). Strahlinge (Radiolaria). Sedimente der Tiefsee. Meine Herren! Das alte Sprichwort: „Aller Anfang ist schwer“! gilt auch von der Wissenschaft, und ganz besonders von einer so jugendlichen Wissenschaft, wie unsere Stammes- Geschichte oder Phylogenie ist. Die gewaltigen Fortschritte der- selben in den letzten zwanzig Jahren, herbeigeführt durch die vereinten eifrigen Forschungen zahlreicher ausgezeichneter Mor- phologen, haben uns in erfreulichster Weise über den Ursprung und die Entwickelung vieler Thier- und Pflanzen-Gruppen aufge- klärt; aber sie haben nur wenig dazu beigetragen, uns sichere Vorstellungen über den Ursprung der ältesten Stamm-Gruppen zu verschaffen, und über die Bildung jener einfachsten Urwesen, von denen wir alle Uebrigen ableiten müssen. Der Anfang des orga- nischen Lebens auf unserer Erde, der Anfang der ältesten Urwesen oder Protisten, der Anfang ihrer Umbildung zu höheren Lebens- Formen, der Anfang der characteristischen Organisation in diesen 424 Grundsätze der Protisten-Phylogenie. XVII: höheren Gruppen — diese und ähnliche Anfangs-Fragen sind in der That sehr schwierig zu beantworten, und sie gelten selbst heute noch vielen Naturforschern als unlösbare Räthsel. Nun glaube ich aber durch unsere früheren Betrachtungen, und besonders durch die Untersuchungen der letzten Vorträge, Sie hinreichend davon überzeugt zu haben, dass die muthlose Verzichtleistung auf Lösung dieser Räthsel nicht gerechtfertigt ist. Schwierig und dunkel sind jene Ursprungs-Fragen allerdings; aber die erstaunlichen Fortschritte der biologischen Forschung in den letzten beiden Decennien, die grossartigen Entdeckungen der ver- gleichenden Anatomie und Physiologie, Ontogenie und Paläonto- logie, vor Allem aber die tiefere Erkenntniss des Zellen-Lebens und der Protisten-Organisation, haben uns viele neue und mäch- tige Hülfsmittel zu ihrer Beantwortung an die Hand gegeben. In manchen grossen und formenreichen Protisten-Gruppen wie z. B. den Radiolarien und Thalamarien, den Diatomeen und Cosmarieen, lassen sich bereits die Stamm-Verwandtschaften der verschiedenen Formen-Gruppen befriedigend erkennen, und viele derselben auf gemeinsame einfache Stamm-Formen zurückzuführen. Aber auch über die Bedeutung und Entstehung dieser Stamm-Formen, über den Anfang ihrer historischen Entwickelung, können wir uns zum Theil schon ganz befriedigende Vorstellungen bilden. Wir können mit voller Sicherheit schon jetzt gewisse leitende Grundsätze, als allgemeine Richtschnur für die Untersuchung des Protisten- Stammbaums aufstellen. \ Als solche fundamentale Grundsätze für die Phylogenie des Protisten-Reiches dürfen wir schon heute folgende an die Spitze stellen: 1. Die grosse Mehrzahl der Protisten besitzen in entwickeltem Zustande eine Organisation, welche unter den Be- griff einer einzigen Zelle fällt. 2. Wenn diese Organisation auch oft verhältnissmässig verwickelt ist, und den einfachen Zellen- Character zu überschreiten scheint, so lässt sie sich dennoch auf eigenthümliche Umbildungen einer einfachen Zelle zurückführen. 3. Diese einfache Urzelle stellt wesentlich nur ein lebendiges Plasma-Klümpchen dar, mit zwei verschiedenen, wenn auch nahe verwandten, Bestandtheilen, dem inneren Zellkern (Caryoplasma) RRVLLT. Grundsätze der Protisten-Phylogenie. 425 und dem äusseren Zellleib (Cytoplasma). 4. Die allgemeinen Lebensthätigkeiten vertheilen sich auf diese beiden activen Ur- Bestandtheile der Zelle in der Weise, dass der innere Zellkern die Function der Fortpflanzung und Vererbung, der äussere Zellleib die Arbeit der Ernährung und Anpassung übernimmt. 5. Alle übrigen Form-Bestandtheile des einzelligen Protisten-Kör- pers, insbesondere die mannichfaltigen Skelet- und Schalen-Bil- dungen, sind passive Plasma-Producte, erst secundär aus der Wechselwirkung jener beiden activen Ur-Bestandtheile hervor- gegangen. 6. In physiologischer Beziehung ist das Cytoplasma der Protisten entweder Phytoplasma (synthetisches oder Reductions- Plasma, mit vegetalem Stoffwechsel), oder Zooplasma (analy- tisches oder Oxydations-Plasma, mit animalem Stoflwechsel, S. 421); das erstere characterisirt die Urpflanzen (Protophyta); das letztere die Urthiere (Protozoa). 7. Ursprünglich ist das Zooplasma aus Phytoplasma durch Arbeitswechsel entstanden, da nur dieses letztere im Stande ist, unmittelbar aus anorgischen Verbindungen unter dem Einflusse des Sonnenlichts zu entstehen. 8. Diejenigen Protisten, welche in entwickeltem Zustande vielzellig sind (Zell- horden oder Coenobia) sind ursprünglich aus einzelligen Stamm- Formen hervorgegangen, durch wiederholte Theilung der letzteren und bleibende Vereinigung der Theil-Producte. 9. Alle einzelligen Protisten müssen ursprünglich von kernlosen Cytoden abge- leitet werden (Phytarchen und Zoarchen); die einfachsten von diesen sind die Moneren (Phytomoneren mit Phytoplasma und Zoomoneren mit Zooplasma); Zellkern und Zellleib sind die ersten Sonderungs-Producte des einfachen Plasson (oder des kern- losen Moneren-Plasma). 10. Die ältesten Moneren, welche die ursprünglichsten Stamm-Formen aller übrigen Moneren darstellen, sind durch Urzeugung (Autogonie) aus anorgischen Verbindungen entstanden. (XV. Vortrag.) 11. Die beiden Reiche der Histonen, der vielzelligen und gewebebildenden Organismen, (Thierreich und Pflanzenreich) haben sich ursprünglich aus dem Protisten-Reiche ent- wickelt. 12. Diegrosse Mehrzahl der Protisten steht zu diesen Stamm- Formen der Histonen in keiner direeten Verwandschaft, sondern ge- hört zu unabhängigen, polyphyletischen Protisten-Stämmen. 426 Organismen ohne Organe. xvim. In diesen zwölf Grundsätzen sind die wichtigsten Anschau- ungen enthalten, welche uns bei der Stammes-Geschichte des Protisten-Reiches leiten müssen; gestützt auf diese Prineipien, und auf unsere früheren Betrachtungen über allgemeine Phylogenie und deren Urkunden, können wir uns unmittelbar zur Betrach- tung der ersteren wenden. Dabei werden wir nicht, von physio- logischen Erwägungen geleitet, Urpflanzen und Urthiere getrennt aufführen (S. 421), sondern vielmehr, auf morphologische Ver- gleichungen gestützt, die historische Entwickelung des Protisten- Reiches als Ganzes in’s Auge fassen. Den ersten Anfang wird die Stammes-Geschichte der Protisten, wie die der organischen Welt überhaupt, jedenfalls mit den Mo- neren machen müssen, jenen wunderbaren „Organismen ohne Organe“, welche wir bereits im VIII. und XVI. Vortrage be- trachtet haben (vergl. oben S. 164—168). Wie wir dort schen uns überzeugten, sind diese merkwürdigen Moneren nicht nur die einfachsten von allen beobachteten Lebensformen, sondern über- haupt die denkbar einfachsten Organismen; denn ihr ganzer entwickelter Körper ist blos ein einfaches weiches Plasson- Körnchen, ein Stückchen von lebendigem Plasma, an welchem wir weder mikroskopisch noch mikrochemisch irgend welche innere Structur, irgend welche Zusammensetzung aus verschiedenen Be- standtheilen entdecken können. Bald ist dieses lebendige Plasson- Klümpchen kugelig, bald von unbestimmter und wechselnder Form. Es ist reizbar, empfindlich und beweglich, wie jeder andere Organismus; es ernährt sich und pflanzt sich fort (durch Theilung); und dennoch fehlen besondere Organe für diese Lebens- thätigkeiten. Indem ich hier nochmals die vollkommene Einfachheit des Moneren-Körpers betone, will ich dabei zugleich daran erinnern, dass dadurch keineswegs eine sehr zusammengesetzte Molekular-Structur desselben ausgeschlossen ist, eine ver- wickelte Zusammensetzung aus organisirten Molekül-Gruppen und Molekülen (Plastidulen oder Micellen). Im Gegentheil dürfen wir eine solche, aus allgemeinen Gründen, theoretisch mit voller Sicherheit annehmen, allein empirisch nachweisbar, durch das XVIH. Phytomoneren und Zoomoneren. 497 Mikroskop wahrnehmbar, ist dieselbe nicht. Ein Theil der Mo- neren, wie z. B. die auf Taf. I (S. 167) abgebildete Protomywxa, ebenso einige Formen von Diomyxa und Protamoeba (5. 431) sind von beträchtlicher Grösse, und dennoch sind wir auch mit Hülfe der stärksten Vergrösserung nicht im Stande, irgend welche be- stimmten Structur-Verhältnisse in ihrem homogenen durchsichtigen Plasma-Körper wahrzunehmen. Wir dürfen also annehmen, dass derselbe aus lauter gleichartigen Plasson-Molekeln (Plastidulen oder Micellen) zusammengesetzt und dass diese durch Wasser- hüllen getrennt sind. Wie alle Molekeln, sind auch diese viel zu klein, um selbst mit Hülfe unserer stärksten Mikroskope erkannt zu werden. Mit Beziehung auf den Stoffwechsel der Moneren, und zugleich mit Rücksicht auf ihre Bedeutung als „Lebens Anfänge“, müssen wir zwei verschiedene Classen dieser einfachsten Urwesen unterscheiden: P’hytomonera und Zoomonera. Die Phytomo- neren sind aus P’hytoplasma gebildet, besitzen also die Fähig- keit, Plasson aus anorgischen Verbindungen synthetisch herzu- stellen, und die lebendige Kraft des Sonnenlichtes in die chemische Spannkraft organischer Verbindungen überzuführen. Die Zoomo- neren hingegen bestehen aus Zooplasma und besitzen jene assi- milirende Fähigkeit nicht; sie ernähren sich durch Aufnahme von Plasma aus anderen Organismen und verwandeln die darin ent- haltenen Spannkräfte wieder in die lebendige Kraft der Wärme und der mechanischen Bewegung. Zu diesen Zoomoneren (mit animalem Stoffwechsel) gehören wahrscheinlich die meisten bisher beschriebenen Moneren-Formen (S. 164—168); zu den Phyto- moneren hingegen gehören die ältesten und ursprünglichsten von allen Organismen, die Probionten. Probionten (oder Protobien) nennen wir jene einfachsten Lebensformen, welche einerseits vermöge der vollkommenen Ein- fachheit ihres Plasson-Körpers, andererseits vermöge ihres vegetalen Stoffwechsels, als die ältesten Urquellen alles Lebens angesehen werden müssen. Die beste Darstellung derselben hat Naegeli in seinem grossen, schon früher besprochenen Werke, „Mechanisch- physiologische Theorie der Abstammungs-Lehre“ gegeben (vergl, 428 Die Probionten und die Urzeugung. xXVYıI® oben S. 201). Er definirt sie als sehr kleine lebendige Plasma- Körnchen, welche beim Process der Urzeugung (— in dem oben S. 561 erörterten Sinne —) unmittelbar durch „Micellar-Organi- sation“ aus den spontan entstandenen Albuminaten oder Eiweiss- Verbindungen hervorgehen. Er unterscheidet „in der einleitenden Periode, welche zwischen der anorgischen Natur und den uns be- kannten niedrigsten Organismen sich befindet, zwei Stufen. Die erste Stufe besteht in der Synthese der Eiweiss-Verbindungen, und in der Organisation derselben zu Micellen (— oder Plasti- dulen —); die zweite Stufe besteht in der Fortbildung der pri- mordialen Plasma-Masse bis zu den uns bekannten einfachsten Organismen“ (a. a. 8.90). Naegeli meint, dass diese Probien oder Probionten zu klein seien, um selbst mit Hülfe unserer stärksten Mikroskope gesehen zu werden. Indessen ist nicht ein- zusehen, warum nicht diese Probionten durch einfaches Wachs- thum (gleich wachsenden Krystallen) eine viel beträchtlichere Grösse allmählich erlangen könnten. Ich vermuthe, dass die grösseren Formen bei stärkeren Vergrösserungen deutlich sichtbar sind und ohne scharfe Grenze in die verhältnissmässig schon sehr grossen Zoomoneren übergehen. Vielleicht sind zahlreiche kleinste Plasma-Körnchen, wie sie uns überall im süssen und salzigen Wasser frei begegnen, selbstständige Probionten. Wir pflegen sie für abgelöste Plasma-Körnchen von zerstörten und sich zersetzen- den Thier- und Pflanzen-Leichen zu halten. Allein ein strenger Beweis dafür fehlt in der Regel. Und wer will uns beweisen, dass diese Probien nicht erst kürzlich durch Urzeugung entstan- den sind? Die Erörterungen über Urzeugung, welche Naegeli (a. a. 0. S. 52—101) an seine Darstellung der Probien knüpft, gehören zu den besten und scharfsinnigsten Bemerkungen über diese hoch- wichtige Frage. Ich stimme ihm vollkommen bei, wenn er dieses interessante Kapitel mit folgenden Worten beginnt: „Die Ent- stehung des Organischen aus dem Unorganischen ist in erster Linie nicht eine Frage der Erfahrung und des Experimentes, son- dern eine aus dem Gesetze der Erhaltung von Kraft und Stoff folgende Thatsache. Wenn in der materiellen Welt Alles in EVIIE. Die Probionten und die Urzeugung. 429 ursächlichem Zusammenhange steht, wenn alle Erscheinungen auf natürlichem Wege vor sich gehen, so müssen auch die Organismen, die aus den nämlichen Stoffen sich aufbauen und schliesslich wieder in dieselben Stoffe zerfallen, aus denen die unorganische Natur besteht, in ihren Uranfängen aus unorganischen Verbin- dungen entspringen. Die Urzeugung leugnen heisst das Wunder verkünden.“ Ueber diese wichtige und unstreitig richtige Auf- fassung des Lebens-Ursprungs sollten die zahlreichen Naturforscher gründlich nachdenken, welche aus dogmatischem Vorurtheil immer noch Gegner der Urzeugung in jeglicher Form sind. Als ich vor 23 Jahren die Urzeugung in der hier definirten Form (— der Autogonie —) als eine unentbehrliche Hypothese der allgemeinen Entwickelungs-Lehre begründete, wurde sie fast allgemein verworfen. Damals herrschte noch der berühmte Satz von Virchow: „Omnis cellula e cellula“ (Jede Zelle ist aus einer Zelle hervorgegangen). Er galt als Parallele zu dem altberühmten Satze von Harvey: „Ommne vivum ev oco* (Alles Lebendige ist aus einem Ei entstanden). Beide Sätze haben Geltung für die grosse Mehrzahl der Organismen. Beide Sätze werden aber zu falschen Dogmen, wenn man ihnen ganz allgemeine Geltung zu- schreiben will. Denn für die niedersten Lebens-Formen gelten sie nicht, und können sie nicht gelten. Eine vernünftige Erwägung aller hier in Betracht kommenden Verhältnisse führt uns zu der Ueberzeugung, dass die ältesten Zellen nicht von Zellen abstam- men, sondern von kernlosen Cytoden, von Moneren; und diese Moneren, insbesondere die ältesten Probionten, können ur- sprünglich nur durch Urzeugung, in dem früher definirten Sinne entstanden sein. Wie ich schon früher anführte, und wie auch Naegeli an- nimmt, ist es sehr wahrscheinlich, dass derartige Urzeugungs-Akte sich sehr oft wiederholt haben, nämlich jedesmal dann, wenn die dazu erforderlichen Bedingungen in der anorgischen Natur vorhanden waren. Vielleicht finden sie noch heute alltäglich statt, ohne dass wir im Stande sind, sie mit unseren ungenügenden Hilfsmitteln direet zu beobachten. Jene Bedingungen sind uns noch ganz unbekannt; und die spontane Entstehung von winzigen 430 Die Moneren und die Urzeugung. xVIl. Probionten, Plasson-Körnchen, die selbst bei stärkster Vergrösserung kaum sichtbar sind, dürfte selbst unter den günstigsten Verhält- nissen kaum zu beweisen sein. Den heute noch lebenden Moneren gegenüber finden wir uns aber in folgende Alternative versetzt: Entweder stammen dieselben wirklich direet von den zuerst ent- standenen (oder „erschaffenen“) ältesten Moneren ab, und dann müssten sie sich schon viele Millionen Jahre hindurch unverändert fortgepflanzt und in der ursprünglichen Form einfacher Plasma- stückchen erhalten haben. Oder die heutigen Moneren sind erst viel später im Laufe der organischen Erdgeschichte durch wieder- holte Urzeugungs-Acte entstanden, und dann kann die Urzeugung eben so gut noch heute stattfinden; sie kann sich unendlich oft wiederholen. Offenbar hat die letztere Annahme viel mehr Wahr- scheinlichkeit für sich als die erstere. Wenn Sie die Hypothese der Urzeugung nicht annehmen, so müssen Sie in der That an diesem einzigen Punkte der Entwickelungs-Theorie zum Wunder einer übernatürlichen Schöpfung Ihre Zuflucht nehmen. Der Schöpfer muss dann den ersten Organismus oder die wenigen ersten Organismen, von denen alle übrigen abstammen, jedenfalls einfachste Moneren oder Ur- cytoden, als solche geschaffen und ihnen die Fähigkeit beigelegt haben, sich in mechanischer Weise weiter zu entwickeln. Ich überlasse es einem Jeden von Ihnen, zwischen dieser Wunder- Vorstellung und der Hypothese der Urzeugung zu wählen. Mir scheint die Vorstellung, dass der Schöpfer an diesem einzigen Punkte willkürlich in den gesetzmässigen Entwickelungsgang der Materie eingegriffen habe, der im Uebrigen ganz ohne seine Mit- wirkung verläuft, ebenso unbefriedigend für das gläubige Gemüth, wie für den wissenschaftlichen Verstand zu sein. Nehmen wir dagegen für die Entstehung der ersten Organismen die Hypo- these der Urzeugung an, welche aus den oben erörterten Grün- den, insbesondere durch die Entdeckung der Moneren, ihre frühere Schwierigkeit verloren hat, so gelangen wir zur Herstellung eines ununterbrochenen natürlichen Zusammenhanges zwischen der Ent- wickelung der Erde und der von ihr geborenen Organismen; wir erkennen dann auch in dem letzten noch zweifelhaften Punkte VII. Probionten und Zoomoneren. 43 die Einheit der gesammten Natur und die Einheit ihrer Entwickelungs-Gesetze. Aus den Probionten, oder den ursprünglichsten Phyto- moneren, sind durch Aenderung des Stoffwechsels die Zoomo- neren entstanden, oder diejenigen Moneren, welche nicht selbst zu assimiliren oder Plasma synthetisch zu bilden im Stande sind, sondern bereits gebildetes Plasma von anderen Organismen zu ihrer Ernährung aufnehmen müssen. Dazu gehören wahrscheinlich die meisten Moneren welche wir früher beschrieben haben (Prota- moeba, Protogenes, Protomyza etc). Diese animalen „Raub-Mo- Fig. 8. Protamoeba primitiva, ein Moner des süssen Wassers, stark vergrössert. A. Das ganze Moner mit seinen formwechselnden Fortsätzen. B. Dasselbe beginnt sich in zwei Hälften zu theilen. €. Die Trennung der beiden Hälften ist vollständig geworden und jede stellt nun ein selbststän- diges Individuum dar. neren“ fanden es bequemer, ihre Nahrung direct von ihren vege- talen Schwestern zu beziehen, als selbst sich der Mühe der Plasma- Synthese zu unterziehen. Eine solche Aenderung des Stoffwechsels musste die wichtigsten Folgen nach sich ziehen; physiologisch betrachtet, war damit die Ableitung des Thierreichs aus dem Pflanzenreiche gegeben. Sie hat an sich durchaus nichts Räthsel- haftes; denn selbst zahlreiche höhere Pflanzen haben dieselbe principielle Aenderung vollzogen und ihr synthetisches Phytoplasma in analytisches Zooplasma verwandelt; alle jene Parasiten nämlich, welche ihr Plasma direct von anderen Gewächsen auf- nahmen, die bekannten der grünen Blätter entbehrenden Schmarotzer-Pflanzen aus den Gruppen der Orchideen, Oroban- cheen, Cuscuteen, Cytineen u. s. w. Sie alle stammen nachweislich 432 Bacterien (Mikrokokken und Baeillen). XV. von höheren, grünblättrigen Pflanzen ab, welche einen geradezu entgegengesetzten Stoffwechsel besassen. (Vergl. oben S. 271). Dieselbe, prineipiell so wichtige Veränderung, welche in diesen verschiedenen Gruppen sich oft wiederholt vollzog, dieselbe fand zum ersten Male statt, als sich Zoomoneren aus Phytomoneren entwickelten. Zu den Zoomoneren müssen wir als besondere Gruppe auch die Bacterien rechnen, jene höchst merkwürdigen kleinen Orga- nismen, die gegenwärtig in der Mediein eine ausserordentlich wichtige Rolle spielen, als Erzeuger vieler Krankheiten, der Fäul- niss, der Gährung u.s.w. Bald sind dieselben kugelig (Sphaero- bacteria, 2. B. Micrococeus), bald stäbchenartig (Rhabdobacteria, 2. B. Baeillus). Die meisten Bacterien sind von so winziger Grösse, dass man sie erst mit Hülfe der stärksten Vergrösserung sieht, viele erst dann, wenn sie gefärbt worden sind. Ein ein- ziges Wassertröpfehen aus einer faulen Flüssigkeit kann Milliarden derselben enthalten. Viele zeigen eine eigenthümliche zitternde Bewegung, weshalb man sie auch Zitterlinge genannt hat( Fibriones). Der ganze winzige Körper der Bacterien besteht aus einem homo- genen Plasma-Stückchen, wie bei allen Moneren. Da ein Zellkern nicht vorhanden ist, dürfen sie nicht als Zellen bezeichnet werden; vielmehr sind sie einfache Cytoden. Ihre Vermehrung geschieht einfach durch Theilung. Viele der gefährlichsten Krankheiten (Cholera, Tubereulose, Milzbrand, Aussatz etc.) werden durch be- sondere Bacterien-Arten hervorgerufen; in kürzester Zeit können diese winzigen Protisten durch massenhafte Entwickelung, zum Theil durch Erzeugung eines besonderen Giftes, die Gewebe des menschlichen Körpers zerstören und den Tod herbeiführen. In vielen Lehrbüchern werden die Bacterien noch heute als einzel- lige Pflanzen aufgeführt, obgleich sie weder eine Zelle bilden noch pflanzlichen Stoffwechsel haben. Gewöhnlich nennt man sie Spalt- pilze (Schizomycetes), obwohl sie keinen einzigen Charakter der echten Pilze besitzen. Mit den Bacterien vereinigen viele Botaniker die Gruppe der Chromaceen (oder Öyanophyceen) und bilden daraus die unna- türliche Classe der sogenannten Spaltalgen (Schizophyta). Das XVII. Chromaceen (Chrookokken und Nostochinen). 433 Gemeinsame beider Gruppen ist die Vermehrung durch einfache Theilung und der Mangel des Zellkerns; mithin bilden auch die Chromaceen keine echten Zellen, sondern nur Cytoden. Ihr Stoffwechsel ist pflanzlich (Plasma - bildend), nicht wie bei den Bacterien thierisch (Plasma-verzehrend). Während das Zooplasma der letzteren farblos ist, erscheint das Phytoplasma der ersteren durch eigenthümliche Farbstoffe (Phycoeyan) blaugrün oder span- grün gefärbt. Da eine besondere Membran die kernlosen Plasti- den umschliesst, müssen wir sie als Lepocytoden bezeichnen (vergl. S. 367). Viele Chromaceen führen eigenthümliche Bewe- gungen aus. Bei den Chroococceae trennen sich die beiden Cyto- den, welche bei der Fortpflanzung durch Theilung entstehen, alsbald von einander, während sie bei den Nostochineae sich fadenförmig an einander reihen. In beiden Gruppen der Chromaceen scheiden die Cytoden oft Gallertmassen aus, in welchen sie gesellig verei- nigt bleiben (Coenobien). Sie kommen überall massenhaft im Wasser und auf feuchtem Boden vor. Die bisher betrachteten Protisten, sowohl die Phytarchen (mit vegetalem Stoffwechsel und Phytoplasma) als die Zoarchen (mit animalem Stoffwechsel und Zooplasma) stimmen alle in einem höchst wichtigen Merkmal überein: sie besitzen noch keinen Zell- kern und dürfen daher auch nicht als „Zellen“ bezeichnet werden. Die Sonderung des Plasson im Zellkern (Karyoplasma) und Zellstoff (Protoplasma) tritt erst auf der zweiten Stufe des Pro- tisten-Reiches auf, bei den wirklich Einzelligen. Unter diesen können wir im Allgemeinen drei Gruppen unterscheiden, deren gegenseitige Verwandtschafts - Beziehungen sehr verwickelt sind. Eine erste Gruppe bilden die sogenannten „einzelligen Pflanzen“, mit Phytoplasma und vegetalem Stoffwechsel (Plasma - bildend oder „plasmogene“), die Diatomeen, Cosmarien, Palmelleen und Siphoneen. Zur zweiten Gruppe gehören die eigentlichen „ein- zelligen Thiere“*, mit Zooplasma und animalem Stoffwechsel (Plasma-verzehrend oder „plasmophage“), die meisten Infusions- Thiere (insbesondere Ciliaten und Acineten) und Rhizopoden (na- mentlich Thalamarien und Radiolarien). Aber bei vielen anderen Protisten ist der entscheidende Charakter des Stoffwechsels nicht Haeckel, Natürl. Schöpfungs-Gesch. 8. Aufl. 28 434 Diatomeen (mit zweiklappiger Kieselschale.) XVII ausgesprochen, oder er ist in so sonderbarer Weise mit entgegen- gesetzten morphologischen Merkmalen verbunden, dass ein uner- ledigter Streit darüber fortdauert, ob man sie als „Urpflanzen“ oder „Urthiere“ betrachten soll. Zu dieser dritten Gruppe, den „neutralen Moneren“, gehören z. B. die Flagellaten, Lobosen, Gre- garinen, Diatomeen und Mycetozoen. Die Diatomeen (Taf. XIV, Fig. 2. 3) bilden eine ganz selbst- ständige, äusserst formenreiche Classe des Protisten-Reiches, aus- gezeichnet durch eine eigenthümliche zweiklappige Kieselschale. Sie bevölkern in ungeheuren Massen und in einer unendlichen Mannichfaltigkeit der zierlichsten Formen das Meer und die süssen (iewässer. Die meisten Diatomeen sind mikroskopisch kleine Zellen, welche entweder einzeln (Fig. 13) oder in grosser Menge Fig. 15. Navieula hippocampus (stark vergrössert). In der Mitte der kieselschaligen Zelle ist der Zellenkern (Nucleus) nebst seinen Kernkörperchen (Nucleolus) sichtbar. vereinigt leben. Viele sind festgewachsen; die meisten aber bewegen sich in eigenthümlicher Weise rutschend, schwimmend oder kriechend umher. Ihr weicher Zellenleib ist durch einen charakteristischen Farbstoff bräunlich gelb gefärbt, und wird stets von einer festen und starren Kieselschale um- schlossen; diese ist durch eine sehr regelmässige, meistens symmetrische Bildung und sehr feine Sculptur ausgezeichnet; sie entwickelt sich in den zierlich- sten und mannichfaltigsten Formen. Die Kieselhülle besteht eigentlich aus zwei Hälften, die nur locker zusammenhängen und sich verhalten wie eine Schachtel und ihr Deckel. In der Fuge zwischen beiden, vielleicht auch in einer besonderen Längslinie der Schale, finden sich eine oder ein paar Spalten, wodurch der eingeschlossene weiche Zellenleib mit der Aussenwelt communi- eirt. Die Kieselschalen finden sich massenhaft versteinert vor und setzen manche Gesteine, z. B. den Biliner Polirschiefer und das schwedische Bergmehl, vorwiegend zusammen. Die Fortpflanzung der Diatomeen erfolgt einfach durch Theilung. Dabei schieben DRAVTIIN Cosmarien (Closterieen und Desmidieen). 435 sich die beiden Klappen der schachtelförmigen Kieselzelle ausein- ander; und nachdem das Protoplasma der Theilung des Kernes in zwei gleiche Hälften gefolgt ist, sondert jede Hälfte eine neue Klappe ab, welche sich zu einer der alten Schalen -Hälften wie die Schachtel zu ihrem Deckel füst. Enger als die Diatomeen schliessen sich an das Pflanzenreich die ähnlichen Cosmarien an (Taf. XIV, Fig. 4—8), einzellige Protisten, welche sich ebenfalls durch die zierliche und regel- mässige Gestalt ihrer zweiseitigen symmetrischen Hülle auszeich- nen. Diese besteht aber nicht aus einer zweiklappigen Kiesel- Fig. 18. Euastrum rota, eine einzellige Cosmarie stark vergrössert. Der ganze zier- liche sternförmige Körper hat den Formwerth einer einzigen Zelle. In der Mitte derselben liegt der Kern nebst Kern- körperchen. schale, sondern aus einer zweiseitigen, meistens durch einen mittleren Einschnitt in zwei Lap- pen getheilten Cellulose- Membran. Oft besitzt dieselbe eine sehr zier- liche Sternform, oder bil- det strahlenförmige Lappen; anderemale ist die Cosmarien -Zelle regelmässig dreieckig, kreuzförmig, halbmondförmig u. s. w. Die Fortpflanzung erfolgt einfach durch Theilung in der Mittel- Ebene; jede Hälfte ergänzt sich alsbald wieder durch Bildung einer neuen Hälfte. Meistens geht der Theilung (wie bei den Gregarinen) Copulation oder Verschmelzung von zwei gleichen Zellen voraus. > Io) Die grosse Mehrzahl der Cosmarien lebt isolirt, überall verbreitet im süssen Wasser (Closterieae), einige jedoch leben gesellig und bilden Coenobien in Form von Ketten (Desmidieae); diese Ketten- p/ Form oder Zellreihe führt hinüber zur Gruppe der Zygnemeen Pt ys oder Conjugaten, vielzelligen Algen mit fadenförmigen Thallus. IQ= 2E 436 Palmellarien und Xanthelleen. XVIH. An die Cosmarien schliessen sich eng die Palmellarien an (Palmellaceae); eine grosse Gruppe von „einzelligen Algen“, welche ebenfalls zu den Stamm-Gruppen der „vielzelligen Algen“ gehört; in ähnlicher Weise wie die Cosmarien (Desmidieen) als Stamm- Gruppe der Zygnemeen, sind die Palmellarien als die ursprüngliche Stamm-Gruppe der Conferveae (oder der vielzelligen grünen „Wasserfäden“) zu betrachten. Auch die Palmellarien-Zellen leben bald einzeln als Einsiedler (Eremobien), bald gesellig ver- bunden in gallertigen Zellhorden (Coenobien). Es gehören dahin die Protococceen und Pleurococceen; viele Botaniker stellen dazu auch die Pandorinen und Volvocinen, welche dagegen von den meisten Zoologen als Flagellaten betrachtet und zu den Infusorien gerechnet werden. In frei beweglichem Zustande schwimmen diese neutralen Protisten mittelst einer (oder mehrerer) langer schwingender Geisseln umher und gleichen dann echten „Infusions- Thierchen“ („die Pflanze im Momente der Thierwerdung“*), Taf. XIV, Fig. 9, 10). Im ruhenden Zustande hingegen stellen sie kugelige oder rundliche Pflanzenzellen einfachster Art dar. Die Fortpflanzung geschieht bald durch einfache Theilung (Fig. 11—13), bald durch eine Copulation von zwei gleichartigen Zellen; indem diese ungleich werden, leiten sie die geschlechtliche Fortpflanzung ein. Zu den Palmellarien gehören wahrscheinlich auch die Xanthel- leen oder die sogenannten „gelben Zellen“, welche im Körper vieler niederen Thiere wohnen; nicht eigentlich als Schmarotzer, die ihre Nahrung aus letzteren entnehmen, sondern als Symbionten, die mit ihnen zu gegenseitigem Nutzen sich innig verbinden. Die betreffenden Wohnthiere (Würmer, Sternthiere, Pflanzenthiere aller Classen, Ra- diolarien, Fig. 16, S. 250) gewähren den eingeschlossenen Xanthellen (Zoowanthella) Schutz und Obdach; sie erhalten dafür von letzteren Plasma und Stärkemehl, welche diese unter dem Einflusse des Sonnen- lichtes erzeugen. Die „gelben Zellen“ haben meistens einfache Kugel- form und pflanzen sich durch Theilung fort (Taf. XV. Fig. 11—135). Entfernt man die Xanthellen aus dem Körper ihrer Wohnthiere, so scheiden sie Gallerte aus und gehen in einen Palmellen-Zustand über. Bringt man sie aber in viel Wasser, so verwandeln sie sich in Flagellaten, in einzellige „Schwärmsporen mit zwei Geisseln“. xVvIl. Labyrinthuleen und Calcocyteen. 457 Mit den Xanthelleen hängen vielleicht auch die Labyrin- thuleen zusammen, welche an Pfählen in Seewasser leben. Sie erscheinen als spindelförmige, meistens dottergelb gefärbte Zellen, welche bald in diehten Haufen zu Klumpen vereinigt sitzen, bald in höchst eigenthümlicher Weise sich umherbewegen. Sie bilden Fig. 14. Labyrinthula macroeystis (stark vergrössert). Unten eine Gruppe von zusammengehäuften Zellen, von denen sich links eine soeben abtrennt: oben zwei einzelne Zellen, welche in dem starren netzförmigen Gerüste ihrer „Fadenbahn“ umherrutschen. dann in noch unerklärter Weise ein netzförmiges Gerüst von laby- rinthisch verschlungenen Strän- gen, und in der starren „Faden- bahn“ dieses Gerüstes rutschen sie umher. Der Gestalt nach würde man die Zellen der La- byrinthuleen für einfachste Pflanzen, der Bewegung nach für ein- fachste Thiere halten. Eine merkwürdige, noch wenig bekannte Gruppe von Pro- tisten sind die Caleocyteen oder die „einzelligen Kalkalgen“. Die Zelle, wahrscheinlich aus Phytoplasma gebildet, nimmt hier so viel kohlensauren Kalk in sich auf, dass sie einem anorgischen Kalkkörperchen oder einer Coneretion gleicht. Bald bilden die- selben einfache runde Scheibehen (Discolithen), bald Doppel- scheibehen, ähnlich einem Hemdknöpfchen (Cyatholithen). Die kleinen Kugeln, welche aus vielen solchen verbundenen Scheib- chen sich zusammensetzen, die Coceosphaeren, sind vielleicht Coe- nobien der ersteren; ebenso die zierlichen Rhabdosphaeren, Kalk- Kugeln mit Radialstacheln, die von polygonalen Tafeln der Ober- fläche ausgehen (Taf. XIV, Fig. 1). Massenhaft finden sich diese kleinen Calcocyteen sowohl an der Oberfläche und auf dem Boden der tropischen Meere, als auch fossil in der Kreide. (Vergl. dar- über Wyville-Thomson, The Atlantic, 1877, Vol. I, S. 222). 438 Siphoneen (Einzellige Riesenpflanzen). XVII Eine ganz eigenthümliche Klasse von „Urpflanzen“ bilden die Siphoneen, deren ansehnlicher Körper in wunderbarer Weise die Formen mancher höheren Pflanzen nachahmt. Einige von diesen Siphoneen erreichen eine Grösse von mehreren Fussen und gleichen einem zierlichen Mose (Bryopsis) oder einem Bärlappe oder gar einer vollkommenen Blüthenpflanze mit Stengel, Wurzeln und Blättern (Caulerpa, Fig. 17). Und dennoch besteht dieser ganze grosse und vielfach äusserlich differenzirte Körper innerlich aus einem ganz einfachen Schlauche, der nur den Formwerth einer Fig. 17. Caulerpa dentieulata, eine Siphonee in natürlicher Grösse. Die ganze verzweigte Urpflanze, welche aus einem kriechenden Stengel mit Wurzelfaser-Büscheln und gezähnten Laubblättern zu bestehen scheint, ist in Wirklichkeit nur eine einzige Zelle, einzigen Zelle besitzt. Zahlreiche kleine Zellkerne sind in dem Phytoplasma vertheilt, welches die Innenwand des riesigen Cellu- lose-Schlauches auskleidet. Einige pflanzen sich bloss ungeschlecht- lich fort (Caulerpa ete.); andere geschlechtlich (Vaucheria ete.). XV. Lobosen oder Amoebinen. 439 Diese wunderbaren Siphoneen, Vaucherien und Caulerpen zeigen uns, wie weit es die einzelne Zelle als ein einfachstes Individuum erster Ordnung durch fortgesetzte Anpassung an die Verhältnisse der Aussenwelt bringen kann. Die meisten sind Bewohner der wärme- ren Meere; indessen finden sich einige Gattungen auch im süssen Wasser (Vaucheria) oder sogar auf feuchter Erde (Botrydium). Während die bisher betrachteten Protisten von den meisten Naturforschern als „Urpflanzen“ angesehen sind, werden die einzelligen Organismen, zu denen wir uns jetzt wenden, gewöhn- lich als „Urthiere * beschrieben, insbesondere die grossen Klassen der Infusorien und Rhizopoden. Als die einfachsten und indiffe- rentesten Formen dieser Hauptgruppe treten uns hier zunächst die Amoebinen oder Lappinge entgegen (Lobosa). Zu diesen gehören die nackten Amoeben (@Gymnolobosa) und die beschalten Arcellen (Thecolobosa). Die gewöhnlichen Amoeben sind der Typus der einfachen, kernhaltigen, aber noch formlosen Zelle. Ganz ähnliche, nackte, kernhaltige Zellen kommen überall im An- fange der Entwickelung sowohl bei echten Pflanzen, als bei echten Thieren vor. Die Fortpflanzungszellen z. B. von manchen Algen (Sporen und Eier) existiren längere oder kürzere Zeit im Wasser in Form von nackten, kernhaltigen Zellen, die von einfachen Amoeben und von den nackten Eiern mancher Thiere (z. B. der Schwämme, Siphonophoren und Medusen) geradezu nicht zu unter- scheiden sind. (Vergl. die Abbildung vom nackten Ei des Blasen- tangs im XIX. Vortrag.) Viele nackte einfache Zellen, gleichviel ob sie aus dem Thier- oder Pflanzenkörper kommen, sind von einer selbstständigen Amoebe nicht wesentlich verschieden. Denn die letztere ist selbst Nichts weiter als eine einfache Urzelle, ein nacktes Klümpchen von Protoplasma, welches einen Kern ent- hält. Die Zusammenziehungsfähigkeit oder Contraetilität dieses Protoplasma aber, welche die freie Amoebe im Ausstrecken und Einziehen formwechselnder Fortsätze zeigt, ist eine allgemeine Lebenseigenschaft des organischen Plasson eben sowohl in den thierischen wie in den pflanzlichen Plastiden. Wenn eine frei bewegliche, ihre Form beständig ändernde Amoebe in den Ruhe- zustand übergeht, so zieht sie sich kugelig zusammen und um- 440 Amoebinen oder Lobosen. XV. giebt sich mit einer ausgeschwitzten Membran. Dann ist sie der Form nach eben so wenig von einem thierischen Ei als von einer einfachen kugeligen Pflanzenzelle zu unterscheiden (Fig. 10A). Nackte kernhaltige Zellen, gleich den in Fig. 10B abgebil- deten, welche in beständigem Wechsel formlose fingerähnliche Fortsätze ausstrecken und wieder einziehen, und welche man des- halb als Amoeben bezeichnet, finden sich vielfach und sehr weit verbreitet im süssen Wasser und im Meere, ja sogar auf dem Lande kriechend vor. Dieselben nehmen ihre Nahrung in gleicher Weise auf, wie es früher (S. 166) von den Protamoeben beschrie- ben wurde. Bisweilen kann man ihre Fortpflanzung durch Thei- lung (Fig. 10C, D) beobachten, die ich bereits in einem früheren Fig. 10. Amoeba sphaerococcus (eine Amoebenform des süssen Wassers ohne contractile Blase) stark vergrössert. A. Die eingekapselte Amoebe im Ruhezustand, bestehend aus einem kugeligen Plasmaklumpen (ce), welcher einen Kern (5) nebst Kernkörperchen (a) einschliesst. Die einfache Zelle ist von einer Öyste oder Zellenmembran (d) umschlossen. 2. Die freie Amoebe, welche die Cyste oder Zellhaut gesprengt und verlassen hat. €. Dieselbe beginnt sich zu theilen, indem ihr Kern in zwei Kerne zerfällt und der Zell- schleim zwischen beiden sich einschnürt. D. Die Theilung ist vollendet, in- dem auch das Protoplasma vollständig in zwei Hälften zerfallen ist (Da und Db). Vortrage Ihnen geschildert habe (S. 168). Viele von diesen form- losen Amoeben sind neuerdings als jugendliche Entwickelungszu- stände von anderen Protisten (namentlich den Myxomyceten) oder als abgelöste Zellen von niederen Thieren und Pflanzen erkannt worden. Die farblosen Blutzellen der Thiere, z. B. auch die im menschlichen Blute, sind von Amoeben nicht zu unterscheiden. Sie können gleich diesen feste Körperchen in ihr Inneres auf- nehmen, wie ich zuerst 1859 durch Fütterung derselben mit fein- a LA as par XV. Gregarinen oder Sporozoen. 441 zertheilten Farbstoffen nachgewiesen habe. Viele derartige fressende „Wander-Zellen“ (oder Phagocyten) spielen eine grosse Rolle im Stoffwechsel höherer Thiere, auch in manchen Krankheiten des Menschen. Andere Amoeben dagegen (wie die in Fig. 10 zu sein, in- [4 abgebildeten) scheinen selbstständige „gute Species‘ dem sie sich viele Generationen hindurch unverändert fortpflanzen. Ausser den eigentlichen oder nackten Amoeben (Gymmnolobosa), finden wir weitverbreitet, besonders im süssen Wasser, auch be- schalte Amoeben (Thecolobosa), deren nackter Protoplasmaleib theilweise durch eine feste Schale (Arcella) oder selbst durch ein aus Steinchen zusammengeklebtes Gehäuse (Diyflugia) geschützt ist. Oft hat diese Schale eine sehr zierliche Bildung; bei Qua- drula z. B. ist sie aus quadratischen Plättchen zusammengesetzt. An die Lobosen schliessen wir die Gregarinen an (Gre- garinae oder Sporozoa). Das sind einzellige, ziemlich grosse Pro- tisten, welche schmarotzend im Darme und in der Leibeshöhle vieler Thiere leben, sich wurmähnlich bewegen und zusammen- ziehen, und früher irrthümlich zu den Würmern gestellt wurden. Von den Amoeben unterscheiden sich die Gregarinen durch den Mangel der veränderlichen Fortsätze und durch eine dicke struc- turlose Hülle oder Membran, die ihren Zellenleib umschliesst. Man kann sie als Amoeben auflassen, welche sich an parasitische Lebensweise gewöhnt und in Folge dessen mit einer ausgeschwitz- ten Hülle umgeben haben. Bald bleiben die Gregarinen einfache Zellen, bald legen sie sich zu Ketten von zwei oder drei Zellen an einander. Bei der Fortpflanzung ziehen sie sich kugelig zu- sammen, der Kern löst sich im Protoplasma auf und letzteres zerfällt in zahlreiche kleine Kügelchen oder Sporen. Diese um- geben sich mit spindelförmigen Hüllen und werden so zu soge- nannten Psorospermien (oder Pseudo-Navicellen). Später schlüpft aus der Hülle ein kleines Moner heraus, welches sich durch Neu- bildung eines Kerns in eine Amoebe verwandelt. Indem letztere wächst und sich mit einer Hülle umgiebt, wird sie zur Gregarine. Eine sehr merkwürdige Protisten-Classe bilden die Geissel- schwärmer oder Geissler (Flagellata, Fig. 11). Gleich den Lobosen sind sie interessant durch ihre indifferente Natur und 442 Flagellaten oder Geisselschwärmer. XVIT8 ihren neutralen Charakter, so dass sie von den Zoologen meistens für einzellige Thiere, von den Botanikern für einzellige Pflanzen erklärt werden. In der That zeigen sie gleich nahe und wichtige Beziehungen zum Pflanzenreich wie zum Thierreich. Einige Flagellaten sind von den frei beweglichen Jugendzuständen echter Pflanzen, namentlich den Schwärmsporen vieler Tange, nicht zu unterscheiden, während andere sich scheinbar den echten Thieren anschliessen. Die einen sind grün und erzeugen Plasma (gleich Protophyten); die anderen, von derselben Form, sind farblos und verzehren Plasma (gleich Protozoen). Somit sind die Flagellaten in Wirklichkeit neutrale Protisten und stehen einerseits eben so nahe «den echten „Urpflanzen“ (Palmellarien) als andererseits den echten „Urthieren“ (Infusorien). Viele leben einzeln (Euglenen, Fig. 11), andere in Coenobien oder Colonien vereinigt (Volvoeinen). Ueberall sind sie massenhaft sowohl im süssen als im salzigen Fig. 11. Ein einzelner Geisselschwärmer (Euglena striata) stark vergrössert. Oben ist die fadenfürmige schwingende Geissel sichtbar, in der Mitte der runde Zellenkern mit seinem Kern- körperchen. Wasser zu finden. Ihr charakteristischer Körpertheil ist ein sehr beweglicher, einfacher oder mehrfacher, peitschenförmiger Anhang (Geissel oder Flagellum), mittelst dessen sie lebhaft im Wasser umherschwär- men. Die rothen oder grünen Euglenen und Astasien färben durch ihre ungeheuren Mengen im Frühjahr oft plötzlich das Wasser roth oder grün. Die einen Greissler (z. B. die Euglenen Fig. 11) besitzen einen nackten Zellenleib, wogegen derselbe bei den Panzergeisslern (Thecojlagellata) von einer Hülle umgeben ist. Die kieselschali- gen Peridinien (Dinojlagellata) besitzen ausserdem noch eine besondere Gürtel-Geissel. Die grössten und eigenthümlichsten Formen sind aber die Meerleuchten oder Blasengeissler (Cysto- agellata), welche im Dunkeln Licht ausstrahlen und oft in solcher Masse auftreten, dass die Meeresoberfläche meilenweit leuchtet, Eine von diesen Meeresleuchten (Leptodiscus medusoides) xVII. Catallacten oder Flimmerkugeln. 445 ahmt Form und Bewegungen einer wahren Meduse nach und ist trotzdem nur eine einfache schirmförmige Zelle. Eine sehr merkwürdige neue Protisten-Form, welche ich Flimmerkugel (Magosphaera) genannt habe, ist im September 1869 von mir an der norwegischen Küste entdeckt und in meinen biologischen Studien '’) eingehend geschildert worden (8. 137, Taf. V). Bei der Insel Gis-Oe in der Nähe von Bergen fing ich an der Oberfläche des Meeres schwimmende äusserst zierliche kleine Kugeln (Fig. 12), zusammengesetzt aus einer Anzahl von (unge- fähr 30—40) wimpernden birnförmigen Zellen, die mit ihren spitzigen Enden strahlenartig im Mittelpunkt der Kugel vereinigt waren. Nach einiger Zeit löste sich die Kugel auf. Die einzelnen Zellen schwammen selbstständig im Wasser umher, ähnlich ge- Fig. 12. Die norwegische Flimmerkugel (Magosphaera pla- nula) mittelst ihres Flimmerkleides umherschwimmend, von der Ober- fläche gesehen. wissen bewimperten Infusorien oderCiliaten. DieZellen senk- ten sich nachher zu Boden, zogen ihre Wimperhaare in den Leib zurück und gingen allmählich in die Form einer kriechenden Amoebe über (ähnlich Fig. 10B). Die letztere kapselte sich später ein (wie in Fig. 10A) und zerfiel dann durch fortgesetzte Zwei- theilung in eine grosse Anzahl von Zellen (ganz wie bei der Eifurchung, Fig. 6, S. 266). Die Zellen bedeckten sich mit Flim- merhärchen, durchbrachen die Kapselhülle und schwammen nun wieder in der Form einer wimpernden Kugel umher (Fig. 12). Da dieser wunderbare Organismus bald als einfache Amoebe, bald als einzelne bewimperte Zelle, bald als vielzellige Wimperkugel erscheint, ist er schwer in einer der anderen Protistenclassen unterzubringen und kann als Repräsentant einer neuen selbst- 444 Infusorien (Ciliaten und Acineten). XVII. ständigen Gruppe angesehen werden. Da dieselbe zwischen mehreren Protisten-Formen in der Mitte steht und dieselben mit einander verknüpft, kann sie den Namen der Vermittler oder Catallacten führen. | Einen ausgeprägt thierischen Character tragen die lebens- Erscheinungen in der grossen Classe der echten Infusions- Thierchen (/nfusoria) und ganz besonders in derjenigen Gruppe, welche jetzt gewöhnlich den Namen der „Wimper-Thierchen oder Wimperlinge* (Cliata) führt. Diese vielgestaltigen und interessanten kleinen Geschöpfe, welche in grossen Massen alle süssen und salzigen Gewässer bevölkern, zeigen uns, wie weit es die einzelne animale Zelle in ihrem Streben nach Vollkommen- heit bringen kann. Denn obgleich die Wimperlinge mit so leb- hafter willkürlicher Bewegung und mit so zarter sinnlicher Em- pfindung ausgestattet sind, dass sie früher allgemein für hoch- organisirte Thiere gehalten wurden, sind doch auch sie nur ein- fache Zellen. Die Oberfläche dieser verschiedenartig gestalteten Zellen ist mit zarten Wimperhärchen bedeckt, die sowohl die Ortsbewegung, wie die Empfindung und die Nahrungsaufnahme vermitteln. Im Inneren liest ein einfacher Zellkern. Theils pflanzen sie sich durch Theilung, theils durch Knospung oder Sporenbildung fort. Oft geht der Theilung Copulation oder eine Art geschlechtlicher Zeugung voraus. Bei keiner Gruppe von Protisten treten uns so deutlich und unleugbar die Aeusserungen des Seelenlebens der einzelnen Zelle entgegen, wie bei diesen einzelligen Wimperlingen, und deshalb sind sie für die monistische Lehre von der Zellseele von ganz besonderem In- teresse. (Vergl. meinen Aufsatz über „Zellseelen und Seelen- zellen“, Ges. Popul. Vorträge I. Heft.) °”). Als nächste Verwandte der Ciliaten und als eine besondere Infusorien-Classe werden gewöhnlich im System der Protisten an jene die Starrlinge oder Acineten angeschlossen (Acinetae). Im Gregensatze zu den geschmeidigen und lebhaft beweglichen Wim- perlingen sitzen diese einzelligen Starrlinge meistens im Wasser unbeweglich fest und strecken steife haarfeine Saugröhren aus, durch welche sie andere Infusorien aussaugen. Gleich den Cilia- XVII. Rhizopoden oder Sarkodinen. 445 ten vermehren sich auch die Acineten bald durch Theilung, bald durch Knospung oder Bildung von beweglichen Schwärmsporen. Während die Infusionsthiere hauptsächlich physiologisch von Interesse sind, als die Protisten mit höchst entwickelter Zellseele, finden wir dagegen die grösste Formen-Mannichfaltigkeit, und die reichste morphologische Divergenz, bei der letzten Gruppe des Protisten - Reiches ‚ den Wurzelfüssern (Rhizopoda oder Sarco- dina). Diese merkwürdigen „Urthiere“ bevölkern das Meer seit den ältesten Zeiten der organischen Erdgeschichte in einer ausser- ordentlichen Formen-Mannichfaltigkeit, theils auf dem Meeres- boden kriechend, theils in verschiedenen Tiefen schwebend, theils an der Oberfläche schwimmend. Nur wenige leben im süssen Wasser oder auf feuchter Erde. Die meisten besitzen feste, aus Kalkerde oder Kieselerde bestehende und höchst zierlich zusam- mengesetzte Schalen, welche in versteinertem Zustande sich vor- trefflich erhalten. Oft sind dieselben zu mächtigen Gebirgsmassen angehäuft, obwohl die einzelnen Individuen meistens klein und häufig für das blosse Auge kaum oder gar nicht sichtbar sind. Indessen erreichen Viele einen Durchmesser von einigen Linien oder selbst von ein paar Zollen. Ihren Namen führt die ganze Classe davon, dass ihr nackter schleimiger Leib an der ganzen Oberfläche Tausende von äusserst feinen Schleimfäden ausstrahlt, falschen Füsschen, Scheinfüsschen oder Pseudopodien, welche sich wurzelförmig verästeln, netzartig verbinden, und in beständigem Formwechsel gleich den einfacheren Schleimfüsschen der Amoe- boiden oder Lobosen befindlich sind. Diese veränderlichen Schein- füsschen dienen sowohl zur Ortsbewegung, als zur Nahrungs-Auf- nahme. Wir unterscheiden unter den Rhizopoden vier Classen: die Mycetozoen, Heliozoen, Thalamarien und Radiolarien. Die erste Rhizopoden-Classe bilden die merkwürdigen Pilz- thiere (Mycetozoa). Früher wurden dieselben allgemein für Pilze gehalten, und unter dem Namen „Schleimpilze“ (Myzxomycetes) n das Pflanzenreich gestellt. Erst der Botaniker De Bary ent- deckte ihre merkwürdige Ontogenie und zog daraus mit vollem Rechte den Schluss, dass sie gänzlich von den Pilzen verschieden und eher als niedere Thiere zu betrachten sind. Allerdings ist 446 Mycetozoen oder Myxomyceten. XV Fig. 15. Ein gestielter Fruchtkörper (Sporenblase, mit Sporen angefüllt) von einem Myxomyceten (Physa- rum albipes), schwach vergrössert. der reife Fruchtkörper derselben eine rundliche, oft mehrere Zoll grosse, mit feinem Sporen- pulver und weichen Flocken gefüllte Blase (Fig. 15), wie bei den bekannten Bovisten oder jauchpilzen (Gastromycetes). Allein aus den Keimkörnern oder Sporen derselben kommen nicht die charakteristischen Faden-Zellen oder Hyphen der echten Pilze hervor, sondern nackte Zellen, welche anfangs in Form von Geisselschwärmern umherschwimmen (Fig. 11), später nach Art der Amoeben umherkriechen (Fig. 10B) und end- lich mit anderen ihresgleichen zu grossen Schleimkörpern oder „Plasmodien“* zusammenfliessen. Das sind unregelmässige aus- sedehnte Netze von Protoplasma, welche in beständigem Wechsel ihre unregelmässige Form langsam ändern. Später ziehen sie sich auf einen runden Klumpen zusammen und verwandeln sich un- mittelbar in den blasenförmigen Fruchtkörper. Eines von diesen grossen Plasmodien, dasjenige von Aethalium septicum, kommt häufig bei uns im Sommer als sogenannte „Lohblüthe* vor, und durchzieht in Form einer schöngelben, oft mehrere Fuss breiten, salbenartigen Schleimmasse netzförmig die Lohhaufen und Loh- beete der Gerber. Die schleimigen frei kriechenden Jugendzustände dieser Pilzthiere, welche meistens auf faulenden Pflanzenstoflen, Baumrinden u. s. w. in feuchten Wäldern leben, beweisen deut- lich, dass sie zu den Rhizopoden und nicht zu den Pilzen gehören. Zu der zweiten Classe der Wurzelfüsser, den Sonnlingen (Heliozoa), gehört unter Anderen das sogenannte „Sonnenthier- chen“, welches sich in unseren süssen Gewässern sehr häufig findet. Schon im vorigen Jahrhundert wurde dasselbe von Pastor Eich- horn in Danzig beobachtet und nach ihm Actinosphaerium Eich- hornii getauft. Es erscheint dem blossen Auge als ein gallertiges graues Schleimkügelchen von der Grösse eines Stecknadelknopfes. Unter dem Mikroskope sieht man Tausende feiner Schleimfäden XVIN. Thalamarien oder Foraminiferen. 447 von dem centralen Plasmakörper ausstrahlen, und bemerkt, dass eine innere zellige Markschicht von der äusseren blasigen Rinden- schicht zu unterscheiden ist. Die erstere enthält zahlreiche Kerne. Die kleinere Actinophrys sol enthält nur einen einzigen Kern in ihrem Zellenleib. Manche Sonnlinge hüllen ihren Leib in eine zierliche kugelige Gitterschale (Ulathrulina). Von viel grösserem allgemeinen Interesse als die Heliozoen und Mycetozoen sind die beiden letzten Abtheilungen der Rhizo- poden, die formenreichen Classen der kalkschaligen Thalama- rien und der kieselschaligen Radiolarien. Die äusserst zierlich und mannichfaltig geformten Schalen dieser Wurzelfüsser bleiben nach dem Tode des einzelligen weichen Leibes auf dem Meeres- boden liegen und bedecken in ungeheuren Schlamm-Lagern zu- sammengehäuft den Boden der Tiefsee. Die grosse geologische Bedeutung dieser Protisten-Sedimente, des kalkigen „Globigerinen- Schlammes“ und des kieseligen „Radiolarien-Schlammes“ ist uns « erst durch die Entdeckungen des „Challenger“ seit einem Decen- nium klar geworden. Durch Versteinerung und spätere Hebung des Schlammes können mächtige Gebirgs-Massen entstehen. Schon um die Mitte des vorigen Jahrhunderts (seit 1731) wusste man, dass der Meeressand vieler Küsten aus Anhäufungen von sehr zierlichen kleinen Kalkschalen besteht. Wegen der auf- fallenden Aehnlichkeit mit den Kalkschalen von Schnecken und Tintenfischen (Nautilus) hielt man sie für die Gehäuse von win- zigen Mollusken. Erst viel später (1535) wies Dujardin nach, dass die lebendigen Bewohner dieser vielgestaltigen Schalen nicht hochorganisirte Thiere, sondern structurlose Schleimkörper sind, Klumpen von Sarcode oder Plasma, von deren Oberfläche feine Fäden ausstrahlen. Bald schliesst ihr einfacher Zellenleib nur einen grossen Kern ein, bald mehrere. Jetzt kennt man ihre Naturgeschichte sehr genau, und nennt die Classe gewöhnlich (sehr unpassend) Foraminifera, besser Thalamaria oder Thalamo- phora. Trotz ihrer einfachen Leibes-Beschaffenheit schwitzen diese kleinen Kammerlinge dennoch eine feste, meistens aus Kalkerde bestehende Schale aus, welche eine grosse Mannichfaltigkeit zier- licher Formbildung zeigt. Bei den älteren und einfacheren Tha- 448 Thalamarien (Monothalamien und Polythalamien). XVII. lamarien ist die Schale eine einfache, glockenförmige, röhrenför- mige oder schneckenhausförmige Kammer, aus deren Mündung ein Bündel von Schleimfäden hervortritt. Im Gegensatz zu diesen Einkammerlingen (Monothalamia) besitzen die Vielkammer- linge (Polythalamia), zu denen die grosse Mehrzahl gehört, ein Gehäuse, welches aus zahlreichen kleinen Kammern in sehr künst- licher Weise zusammengesetzt ist. Bald liegen diese?Kammern in einer Reihe hinter einander, bald in concentrischen Kreisen oder Spiralen ringförmig um einen Mittelpunkt herum, und dann oft in vielen Etagen übereinander, gleich den Logen eines grossen Amphitheaters. Diese Bildung besitzen z.B. die Nummuliten, deren linsenförmige Kalkschalen, zu Milliarden angehäuft, an der Mittel- meer-Küste ganze Gebirge zusammensetzen. Die Steine, aus denen die egyptischen Pyramiden aufgebaut sind, bestehen aus solchem Nummulitenkalk. In den meisten Fällen sind die Schalenkam- mern der Polythalamien in einer Spirallinie um einander ge- wunden. Die Kammern stehen mit einander durch Gänge und Thüren in Verbindung, gleich den Zimmern eines grossen Palastes, und sind nach aussen gewöhnlich durch zahlreiche kleine Fenster geöffnet, aus denen der schleimige Körper formwechselnde Schein- füsschen ausstrecken kann. Und dennoch, trotz des ausserordent- lich verwickelten und zierlichen Baues dieses Kalklabyrinthes, trotz der unendlichen Mannichfaltigkeit in dem Bau und der Ver- zierung seiner zahlreichen Kammern, trotz der Regelmässigkeit und Eleganz ihrer Ausführung, ist dieser ganze künstliche Palast (las ausgeschwitzte Product einer vollkommen formlosen und struc- turlosen Schleimmasse! Fürwahr, wenn nicht schon die ganze neuere Anatomie der thierischen und pflanzlielren Gewebe unsere Plastiden-Theorie stützte, wenn nicht alle allgemeinen Resultate der- selben übereinstimmend bekräftigten, dass das ganze Wunder der Lebens-Erscheinungen und Lebens-Formen auf die active Thätig- keit des formlosen Plasma zurückzuführen ist, die Polythalamien allein schon müssten unserer Theorie den Sieg verleihen. Denn hier können wir in jedem Augenblick die wunderbare, aber un- leugbare, zuerst von Dujardin und Max Schultze festgestellte Thatsache durch das Mikroskop nachweisen, dass der formlose Tiefsee -Radiolarien des Challenger. Zaf A A bıltsch File. | Grundformen von Urpfl \ von Urpflanzen (Protophyten) > Lith.Anst.v. A.Giltsch, Jena, Grundformen von Urthieren (Protozoen). nz Id, y AGiltsch, Je Lith.Anstx. KVItL. Radiolarien oder Strahlinge. 449 Schleim des eiweissartigen Plasmakörpers die zierlichsten, regel- nässigsten und verwickeltsten Bildungen auszuscheiden vermag. Dies ist einfach eine Folge von Vererbung und Anpassung; wir lernen dadurch verstehen, wie derselbe „Urschleim“, dasselbe Protoplasma, im Körper der Thiere und Pflanzen die verschieden- sten und complicirtesten Zellen-Formen erzeugen kann. Eine höhere Entwickelungsstufe erreicht der einzellige Or- sanismus in der letzten Protisten-Klasse, bei den wunderbaren Strahlingen (Radiolaria, Taf. XV und XVI). Hier sondert sich der Zellkörper in eine innere Öentral-Kapsel (mit Kern) und eine äussere Gallerthülle (Calymma). Die kugelige, scheibenförmige oder längliche „Central-Kapsel“ ist in eine schleimige Plasma- Schicht eingehüllt, von welcher überall Tausende von höchst feinen Fäden, die verästelten und zusammenfliessenden Scheinfüsschen, ausstrahlen. Dazwischen sind zahlreiche gelbe Zellen zerstreut, welche Stärkemehlkörner enthalten; die symbiotischen Xanthellen, welche wir oben bei den Palmellarien erwähnt haben. (Vergl. S. 436 und Fig. 16,1.) Die meisten Radiolarien besitzen ein sehr entwickeltes Skelet aus Kieselerde, ausgezeichnet durch eine wunderbare Fülle der zierlichsten und seltsamsten Formen (Vergl. Taf. XV und XVI nebst Erklärung.) Bald bildet dieses Kiesel- skelet eine einfache Gitterkugel (Fig. 16,5), bald ein künstliches System von mehreren concentrischen Gitterkugeln, welche in ein- ander geschachtelt und durch radiale Stäbe verbunden sind (Spumellaria). Meistens strahlen zierliche, oft baumförmig ver- zweigte Stacheln von der Oberfläche der Kugeln aus. Andere- male besteht das ganze Skelet bloss aus einem Nadelstern und ist dann meistens aus zwanzig, nach einem bestimmten mathe- matischen Gesetze vertheilten und in einem gemeinsamen Mittel- punkte vereinigten Stacheln zusammengesetzt (Acantharia). Bei noch anderen Radiolarien bildet das Skelet zierliche vielkammerige Gehäuse wie bei den Polythalamien (Nassellaria). Manche be- sitzen sogar eine zweiklappige, zierlich gegitterte Muschelschale (Phaeodaria). Es giebt keine andere Gruppe von Organismen, welche eine solche Fülle der verschiedenartigsten Grundformen und eine so geometrische Regelmässigkeit, verbunden mit der Haeckel, Natürl. Schöpfungs-Gesch. 8. Aufl. 29 450 Radiolarien oder Strahlinge. XVINM. zierlichsten Architektonik, in ihren Skeletbildungen entwickelte. Eine der einfachsten Formen ist die Cyrtidosphaera echinoides vom Nizza (Fig. 16). Das Skelet besteht aus einer hier bloss einfachen Fig. 16. Cyrtidosphaera echinoides, 400 mal vergrössert. ce. Kugelige Centralkapsel. s. Gitterförmig durchbrochene Kieselschale. a. Radiale Stacheln, welche von derselben ausstrahlen. p. Pseudopodien oder Scheinfüsschen, welche von der die Centralkapsel umgebenden Schleimhülle ausstrahlen. l. Kugelige gelbe Zellen, welche dazwischen gestreut sind, und Amylumkörner enthalten (Zooxanthellen, S. 436). Gitterkugel (s), welche kurze radiale Stacheln (a) trägt, und welche die Centralkapsel (ec) locker umschliesst. Von der Schleimhülle, welche die letztere umgiebt, strahlen sehr zahlreiche und feine Scheinfüsschen (p) aus, welche links zum Theil zurückgezogen und in eine klumpige Schleimmasse verschmolzen sind. Dazwischen sind viele Xanthellen oder symbiotische „gelbe Zellen“ zerstreut, Rev IE Radiolarien oder Strahlinge. 451 Die Lebens-Erscheinungen der Radiolarien sind nicht weniger interessant, als der wunderbare Formen-Reichthum ihrer zierlichen Kieselschalen. Die Nahrungs-Aufnahme erfolgt überall durch die zusammenfliessenden und rückziehbaren Scheinfüsschen. Viele Arten strahlen im Dunkeln ein intensives Licht aus; diese Phos- phorescenz geht von Fettkugeln aus, welche in der Central-Kapsel enthalten sind. Die Fortpflanzung wird durch Schwärmsporen vermittelt, durch bewegliche Geisselzellen, welche in der Central- Kapsel entstehen. „Das allgemeine centrale Lebens-Princip, wel- ches man gewöhnlich als Seele bezeichnet, und welches als all- gemeiner Regulator sämmtlicher Lebensthätigkeiten erscheint, tritt bei den Radiolarien in derselben einfachsten Form auf, wie bei allen übrigen einzelligen Protisten, als „Zellseele“. (Vergl. meine Allgemeine Natur-Geschichte der Radiolarien, Berlin, 1387, S. 108—122). Einige Tausend zierlicher Radiolarien von mannichfaltigster Form sind in meiner Monographie dieser Klasse und im Challenger- Report abgebildet (S. oben S. 417). Milliarden derselben leben theils an der Oberfläche des Meeres, theils schwebend in den ver- schiedensten Tiefen desselben. Die denkwürdigen und epoche- machenden Entdeckungen der Challenger-Expedition haben vor wenigen Jahren die überraschende Thatsache ergeben, dass der Schlamm des Meeresbodens oft gerade in den tiefsten Abgründen, (— bis zu 27,000 Fuss hinab!) grösstentheils aus Radiolarien be- steht. Neuerdings hat Dr. Rüst nachgewiesen, dass auch viele Gesteine (z. B. Opale und Feuersteine) aus zusammengebackenen fossilen Radiolarien-Schalen bestehen. Bisweilen finden sich ihre versteinerten Schalen in solchen Massen angehäuft, dass sie ganze Berge zusammensetzen, z. B. die Nikobareninseln bei Hinterindien und die Insel Barbados in den Antillen. So bewährt sich in dieser wundervollen Protisten-Klasse das alte Sprichwort: „Die Natur ist im Kleinsten am Grössten“ (Natura in minimis mazxima). — 99° 452 System der Protophyten. XV. Systematische Uebersicht über das Reich der Urpflanzen. Protista | Einzellige Organismen mit Phy- Protophyta. : SE < e \ puyıa vegetalia. | toplasma (Reductions-Plasma). Klassen | Klassen- Ordnungen Au iel i | Character. aen ur I A. Phytomo- | I. Phytarcha. er ae Probiontes. _ Archibion. ee ohne . erde Iai ellKern s (Phytoeytoda). ns ee | 2. Chroococceae. Chroococeus. EEE \ 3. Nostochineae. Nostoc. lulose-Membran. i Zelle mit | II. Diatomeae. J piger Kieselschale;} 1. Coocochromia. Melosira (Auxosporeae.) | durch Theilung |]2. Placochromia. Navieula. sich fortpflanzend. Zelle mit zweispal- tiger Öellulose- Hülle, durch Thei- lung sich fort- pflanzend. Zelle mit ee] III. Cosmariae. | (Desmidieae.) Closteriaceae. KEuastrum. 2. Desmidinceae. Desmidium. RO (meistens kugeliger . oder rundlicher) | 1. Protocoeceae. Protococeus. IV. Palmellariae. ) eilulose-Hülle, J 2. Xanthelleae. Zoozanthella. (Palmellaceae.) durch Schwärm- | 3. Calcocyteae. Rhabdosphaera. sporen sich fort- pflanzend. Zelle sehr gross, a die Gestalt höherer y er 2 V. Siphoneae. Pe I. Botrydiaceae. Botrydium. 2. Codiaceae. Codium. -ölchen Kernen 1 Caulerpaceae. Caulerpa. (Coeloblastae.) FR mit |’ (Pseudocormus.) XVil. System der Protozoen. 453 Systematische Uebersicht über das Reich der Urthiere. Protista | Einzellige Organismen mit Zoo- Protozoa. ER = Sen Te animalia.]) \ plasma (Oxydations-Plasma). Hauptklassen. Klassen. | Ordnungen. Beispiel. I | | 1. Zoomonera. 1. Lobomonera. Protamoeba. I. Zoarcha. mit Pseudopodien\ 2. Rhizomonera. Protomyxa, Urthiere ohne Zellkern (Zoocytoda), 2. Bacteria. f 1. Sphaerobacteria. Micrococeus. ohne Pseudopodien\ 2. Rhabdobaeteria. Bacillus. 3. Lobosa | (Amoebina) l. Gymnolobosa. Amoeba. Zelle mit Lappen-} 2. Thecolobosa. Arcella. füsschen. 4. Gregarinae | (Sporozoa) ic II. Cytarcha. Einfachste ein- zellige Thiere mit oder ohne Lappen- - : M Monoeystida. Monoeystis. en. Zelle ohne le Polyeystida. Didymophyes. füsschen 5. Flagellata 5 Mastigiata. Euglena. (Mastigophora) Catallacta. Magosphaera. III. Infusoria. (Geisslinge) 3. Dinoflagellata. Peridinium. Infusions- Zelle mit Geissel. 14. Cystoflagellata. Noctiluca. 1. Holotricha. Paramaeeium. 2. Heterotricha. Stentor. 3. Hypotricha. Euplotes. 4. Peritricha. Vorticella. thierchen. Einzellige Thiere mit Flimmerbe- wegung (mit Geisseln oder 6. Ciliata (Wimperlinge) Zelle mit Wimpern. 7. Acinetae Flimmerhaaren). (Suctoria) l. Monacinetae. Podophrya. Zelle mit Saug- | 2. Synaeinetae. Dendrosoma. röhren. Lo ) 1. Physareae. Aethalium. a 2. Lycogaleae. Lyeogala. mit Sporenblase. Aphrothoraca. Actinophrys. . Chalarothoraca. Acanthocystis. 3. Desmothoraca. Hedriocystis. . Monostegia. Gromia. . Polystegia. Miliola. . Monothalamia. Zagena. Polythalamia. Polystomella. IV. Rhizopoda. (Sarcodina.) Wurzelfüssler. Einzellige Thiere mitWurzelfüsschen oder Pseudopodien (Retieularia). . Heliozoa a Marksubstanz. 10. Thalamaria (Foraminifera) ohneÜentralkapsel. nm Pe m — DE ——— De EEE TE — ._— {1 — _—— nn u— — | —— m nn Se Power ww- Spumellaria. Haliomma. 11. Radiolaria . Acantharia. Dorataspis. mit Centralkapsel. | 3. Nassellaria. Podocyrtis. . Phaeodoria. Aulosphaera. 454 Stammbaum der organischen Welt. XVII. Pflanzenreich. Thierreich. | Gewebpflanzen (Metaphyta) Gewebthiere (Metazoa) Decksamige Wirbelthiere (Angiospermae) (Vertebrata) | Mantelthiere Nacktsamige Gliederthiere , (TZunicata) (Gymnospermae) (Artieulata) u— ans Sternthiere Weichthiere eines) ee (Mollusca) Flechten Kae Mose (Liehenes) | (Maeenn) Wurmthiere | (Helminthes) Brauntange | Mostange ur } (Fucoidea) (Characeae) FOSHESrURISTh (Coelenteria) Rothtange — Pilze | | (Florideae) Grüntange = TE P | (Conferveae) (Fungi) Urdarmthiere u ey (Gastraeada) | a — Urpflanzen (Protophyta) (Einzellige Urpflanzen) mn Phytomonera Chromaceae | — | Urthiere (Protozoa) Siphoneae Diatomeae Infusoria Rhizopoda Ciliata Radiolaria Palmelleae | Cosmariae Ko | Aeci- Heliozoa | netae Flagel- Thala-|Mycetozoa | lata maria ZZ —— | Protococceae Lobosa (Amoebina) (Einzellige Urthiere) en Zoomonera Bacteria Monera Protistenreich (Protophyten und Protozoen). FR: Neunzehnter Vortrag. Stammes-Geschichte des Pflanzenreichs. Das natürliche System des Pflanzenreichs. Eintheilung des Pflanzenreichs in sechs Hauptelassen und achtzehn Classen. Unterreich der Blumenlosen (Cryptogamen). Stamm-Gruppe der Thallus-Pflanzen. Abstammung der Meta- phyten von Protophyten. Tange oder Algen (Urtange, Grüntange, Braun- tange, Rothtange, Mostange). Pilze und Flechten. Symbiose. Stamm- Gruppe der Vorkeim-Pflanzen (Mesophyten oder Prothallophyten). Mose oder Muscinen (Leber-Mose, Laub-Mose). Farne oder Filicinen (Laub-Farne, Schaft- Farne, Wasser-Farne, Schuppen-Farne). Unterreich der Blumen - Pflanzen (Phanerogamen). Nacktsamige oder Gymnospermen. Palm-Farne (Öycadeen). Nadelhölzer (Coniferen). Meningos (Gnetaceen). Decksamige oder Angio- spermen. Monocotylen. Dieotylen. Kelchblüthige (Apetalen). Sternblüthige (Choripetalen). Glockenblüthige (Gamopetalen). Die historische Stufenfolge der Hauptgruppen des Pflanzenreichs als Beweis für den Transformismus. Meine Herren! Jeder Versuch, den wir zur Erkenntniss des Stammbaums irgend einer kleineren oder grösseren Gruppe von stammverwandten Organismen unternehmen, hat sich zunächst an das bestehende „natürliche System“ dieser Gruppe anzulehnen. Denn obgleich das natürliche System der Protisten, Pflanzen und Thiere niemals endgültig festgestellt werden, vielmehr immer nur einen mehr oder weniger annähernden Grad von Erkenntniss der wahren Stamm-Verwandtschaft erreichen wird, so wird es nichts- destoweniger jederzeit die hohe Bedeutung eines hypothetischen Stammbaums behalten. Allerdings wollen die meisten Zoologen, Protistiker und Botaniker durch ihr „natürliches System“ nur im Lapidarstyl die subjectiven Anschauungen ausdrücken, die ein jeder von ihnen von der objectiven „Form-Verwandtschaft“ 456 Das natürliche System des Pflanzenreichs. XI der Organismen besitzt. Allein die wahre Form-Verwandtschaft ist ja im Grunde, wie Sie gesehen haben, nur die nothwendige Folge der wirklichen „Stamm-Verwandtschaft“, bedingt durch die Gesetze der Vererbung und Anpassung. Daher wird jeder Morphologe, welcher unsere Erkenntniss des natürlichen Systems fördert, gleichzeitig, er mag wollen oder nicht, auch unsere Er- kenntniss des Stammbaumes fördern. Je mehr das natürliche System seinen Namen wirklich verdient, je fester es sich auf die übereinstimmenden Resultate der vergleichenden Anatomie, Onto- genie und Paläontologie gründet, desto sicherer dürfen wir das- selbe als den annähernden Ausdruck des wahren Stammbaums betrachten. Indem wir nun zunächst die Stammes-Geschichte des Pflanzen- reichs untersuchen, “werden wir, jenem Grundsatze gemäss, vor Allem einen Blick auf das natürliche System des Pflanzen- reichs zu werfen haben. Dasselbe ist heutzutage von den meisten Botanikern im Wesentlichen übereinstimmend angenommen, wenn auch im Einzelnen mit mehr oder minder unbedeutenden Abän- derungen. Danach zerfällt zunächst die ganze Masse aller Pflan- zenformen in zwei Hauptgruppen. Diese obersten Haupt-Abthei- lungen oder Unterreiche sind noch dieselben, welche bereits vor 150 Jahren Carl Linne, der Begründer der systematischen Natur- Geschichte, unterschied, und welche er Üryptogamen oder Ge- heimblühende und Phanerogamen oder Offenblühende nannte. Die letzteren theilte Linne in seinem künstlichen Pflanzen-System nach der verschiedenen Zahl, Bildung und Verbindung der Staub- gefässe, sowie nach der Vertheilung der Geschlechts-Organe, in 23 verschiedene Classen, und diesen fügte er dann als 24ste und letzte Classe die Uryptogamen an. Die Oryptogamen, die geheimblühenden oder blumenlosen Pflanzen, welche früherhin nur wenig beobachtet wurden, haben durch die eingehenden Forschungen der Neuzeit eine so grosse Mannichfaltigkeit der Formen und eine so tiefe Verschiedenheit im gröberen und feineren Bau offenbart, dass wir unter denselben nicht weniger als dreizehn verschiedene Classen unterscheiden müssen, während wir die Zahl der Classen unter den Blüthen- NIX. Sechs Hauptelassen und achtzehn Classen des Pflanzenreichs. 457 Pflanzen oder Phanerogamen auf fünf beschränken können. Diese achtzehn Classen des Pflanzenreichs aber gruppiren sich naturgemäss wiederum dergestalt, dass wir im Ganzen sechs Haupt-Classen oder Cladome (d. h. Aeste) des Pflanzenreichs unterscheiden können. Zwei von diesen sechs Haupt-Classen fallen auf die Blüthen-Pflanzen, vier dagegen auf die Blüthenlosen. Wie sich jene achtzehn Classen auf diese sechs Haupt-Classen, und die letzteren auf die Haupt-Abtheilungen des Pflanzenreichs vertheilen, zeigt die nachstehende Tabelle (S. 462). Das Unterreich der Cryptogamen oder Blumenlosen kann man zunächst naturgemäss in zwei. Haupt-Abtheilungen oder Stamm-Gruppen zerlegen, welche sich in ihrem inneren Bau und in ihrer äusseren Form sehr wesentlich unterscheiden, nämlich die Thallus-Pflanzen und die Vorkeim-Pflanzen. Die Stamm-Gruppe der Thallus-Pflanzen umfasst die beiden grossen Haupt-Classen der Algen, welche im Wasser leben, und der Pilze, welche ausserhalb des Wassers, auf der Erde und auf verwesenden or- ganischen Körpern u. s. w. wachsen. Die Stamm-Gruppe der Vor- keim-Pflanzen dagegen enthält die beiden formenreichen Haupt- Classen der Mose und Farne. Alle Thallus-Pflanzen oder Thallophyten sind sofort daran zu erkennen, dass man an ihrem Körper die beiden mor- phologischen Grundorgane der übrigen Pflanzen, Stengel und Blät- ter, noch nicht unterscheiden kann. Vielmehr ist der ganze Leib aller Algen und aller Pilze eine aus einfachen Zellen zusammen- gesetzte Masse, welche man als Laubkörper oder Thallus be- zeichnet. Dieser Thallus ist noch nicht in Axorgane (Stengel und Wurzel) und Blattorgane differenzirt. Hierdurch, sowie durch viele andere Eigenthümlichkeiten, stehen die Thallophyten im Gegensatz zu allen übrigen Pflanzen, den beiden Haupt-Gruppen der Prothallus-Pflanzen und der Blüthen-Pflanzen; man hat des- halb auch häufig die letzteren beiden als Stock-Pflanzen oder Cormophyten zusammengefasst. Das Verhältniss dieser drei Stamm-Gruppen zu einander, entsprechend jenen beiden ver- schiedenen Auffassungen, macht Ihnen nachstehende Uebersicht deutlich: 458 Thalluspflanzen und Stockpflanzen. XI A. Thallus-Pflanzen \ 1. Thalluspflanzen I. Blumenlose (Thallophyta). | (Thallophyta). (EryptogEnan, B. Vorkeim-Pflanzen a II. Stockpflanzen. II. Blumenpflanzen [ C. Blumen-Pflanzen. (Cormophyta). (Phanerogamae). \ (Phanerogamae). Die Stock-Pflanzen oder Cormophyten, in deren Organi- sation bereits der Unterschied von Axorganen (Stengel und Wur- zel) und Blattorganen entwickelt ist, bilden gegenwärtig und schon seit sehr langer Zeit die Hauptmasse der Pflanzenwelt. Allein so war es nicht immer. Vielmehr fehlten die Stock-Pflanzen, und zwar nicht allein die Blumen-Pflanzen, sondern auch die Pro- thallus-Pflanzen, noch fast ganz während jenes unermesslich lan- sen Zeitraums, welcher als das archozoische oder primordiale Zeitalter den Beginn und den ersten Haupt-Abschnitt der organi- schen Erdgeschichte bildet. Sie erinnern sich, dass während dieses Zeitraums sich die laurentischen, cambrischen und silurischen Schiehten-Systeme ablagerten, deren Dicke zusammengenommen ungefähr 70,000 Fuss beträgt. Da nun die Dicke aller darüber liegenden jüngeren Schichten, von den devonischen bis zu den Ablagerungen der Gegenwart, zusammen nur ungefähr 60,000 Fuss erreicht, so konnten wir hieraus schon den auch aus anderen Gründen wahrscheinlichen Schluss ziehen, dass jenes archolithische oder primordiale Zeitalter eine längere Dauer besass, als die ganze darauf folgende Zeit bis zur Gegenwart. Während dieses ganzen unermesslichen Zeitraums, der vielleicht viele Millionen von Jahr- hunderten umschloss, scheint das Pflanzenleben auf unserer Erde fast ausschliesslich durch die Stamm-Gruppe der Thallus-Pflanzen, und zwar besonders durch die Haupt-Ciasse der wasserbewohnen- den Thallus-Pflanzen, durch die Tange oder Algen, vertreten ge- wesen zu sein. Wenigstens gehören fast alle versteinerten Pflan- zenreste, welche wir mit Sicherheit aus der Primordialzeit kennen, dieser Haupt-Classe an. Indessen sind neuerdings doch einzelne Reste von Landbewohnern (Farnen und Skorpionen) im silurischen System entdeckt worden, Da auch fast alle Thierreste dieses MIX; . Hauptelasse der Tange oder Algen. 459 ungeheuren Zeitraums wasserbewohnenden Thieren angehören, so schliessen wir daraus, dass während seines grösseren Theiles land- bewohnende Organismen noch nicht existirten. Schon aus diesen Gründen muss die erste und unvollkom- menste Haupt-Classe des Pflanzenreichs, die Abtheilung der Tange oder Algen, für uns von ganz besonderer Bedeutung sein. Dazu kommt noch das hohe Interesse, welches uns diese Haupt-Classe auch in anderer Hinsicht gewährt. Trotz ihrer höchst einfachen Zusammensetzung aus gleichartigen oder nur wenig differenzirten Zellen zeigen die Tange dennoch eine ausserordentliche Mannich- faltigkeit verschiedener Formen. Einerseits gehören dazu die ein- fachsten und unvollkommensten aller Gewächse, andrerseits sehr entwickelte und eigenthümliche Gestalten. Ebenso wie in der Vollkommenheit und Mannichfaltigkeit ihrer äusseren Formbildung unterscheiden sich die verschiedenen Algengruppen auch in der Körpergrösse. Auf der tiefsten Stufe finden wir winzig kleine Grüntange und Wasserfäden; auf der höchsten Stufe riesenmässige Makrocysten, welche eine Länge von 300400 Fuss erreichen; sie gehören zu den längsten von allen Gestalten des Pflanzenreichs. Vielleicht ist auch ein grosser Theil der Steinkohlen aus Tangen entstanden. Und wenn nicht aus diesen Gründen, so müssten die Algen schon deshalb unsere besondere Aufmerksamkeit erregen, weil sie die Anfänge des Pflanzenlebens bilden und die ältesten Stamm-Formen aller übrigen Pflanzen-Gruppen enthalten. Die meisten Bewohner des Binnenlandes können sich nur eine sehr unvollkommene Vorstellung von dieser höchst interessanten Haupt-Classe des Pflanzenreichs machen, weil sie davon nur die verhältnissmässig kleinen und einfachen Vertreter im süssen Wasser kennen. Die schleimigen grünen Wasserfäden und Wasserflocken in unseren Teichen und Brunnentrogen, die hellgrünen Schleim- Ueberzüge auf allerlei Holzwerk, welches längere Zeit mit Wasser in Berührung war, die gelbgrünen schaumigen Schleimdecken auf den Tümpeln unserer Dörfer, die grünen Haarbüscheln gleichen- den Fadenmassen, welche überall im stehenden und fliessenden Süsswasser vorkommen, sind grösstentheils aus verschiedenen Tang- Arten zusammengesetzt. Unvergleichlich grossartiger erscheint die 460 Ausdehnung der untermeerischen Tang-Wälder. X Algen-ÜUlasse Denjenigen, welche die Meeresküste besucht haben, welche an den Küsten von Helgoland und von Schleswig-Holstein die ungeheuren Massen ausgeworfenen Seetangs bewundert, oder an den Felsenufern des Mittelmeeres die zierlich gestalfete und lebhaft gefärbte Tangvegetation auf dem Meeresboden selbst durch die klare blaue Fluth hindurch erblickt haben. Und den- noch geben selbst diese formenreichen untermeerischen Algen- wälder der europäischen Küsten nur eine schwache Vorstellung von den kolossalen Sargassowäldern des atlantischen Oceans, jenen ungeheuren Tangbänken, welche einen Flächenraum von ungefähr 40,000 Quadratmeilen bedecken, und welche dem Columbus auf soiner Entdeckungsreise die Nähe des Festlandes vorspiegelten. Aehnliche, aber weit ausgedehntere Tangwälder wuchsen in dem primordialen Urmeere wahrscheinlich in dichten Massen, und wie zahllose Generationen dieser archolithischen Tange über einander hinstarben, bezeugen unter Anderen die mächtigen silurischen Alaunschiefer Schwedens, deren eigenthümliche Zusammensetzung wesentlich von jenen untermeerischen Algenmassen herrühren soll. Nach der Ansicht einiger Geologen ist sogar ein grosser Theil der Steinkohlenflötze aus den zusammengehäuften Pflanzenleichen der Tangwälder im Meere entstanden. Wir unterscheiden in der Haupt-Classe der Tange oder Algen fünf verschiedene Classen, nämlich: 1. Urtange oder Zygnemaceen, 2. Grüntange oder Conferveen, 3. Brauntange oder Fucoideen, 4. Rothtange oder Florideen und 5. Mostange oder Characeen. Die meisten Botaniker stellen an den Anfang die Gruppe der Urpflanzen (Protophyta), jene einfachsten und unvollkommen- sten von allen Pflanzen, welche wir schon früher als vegetale Protisten aufgeführt haben (im XVII. und XVII. Vortrag; vergl. S. 420 und 435). Unzweifelhaft gehören zu diesen Protophyten jene ältesten pflanzlichen Organismen, welche allen übrigen Pflan- zen den Ursprung gegeben haben. Allein aus den dort angege- benen Gründen erscheint es zweckmässiger, diese „einzelligen Pflanzen“ im Prineip den gewebebildenden vielzelligen Pflanzen, dem Metaphyten gegenüberzustellen. (Vergl. oben S. 256). Die Thatsache, dass beide Haupt-Gruppen unmittelbar, und zwar durch er DIRE Urtange (Zygnemaceen). Grüntange (Conferven). 461 mehrfache Uebergangs-Formen, verbunden sind, kann uns in dieser Auffassung nicht beirren. Sie beweist nur auf’s Neue die Wahr- heit der Descendenz-Theorie, und zeigt uns den phylogenetischen 14 Weg, auf welchem „Gewebe-Pflanzen*“ aus „einzelligen Algen“ hervorgegangen sind. Diese Abstammung der Metaphyten von Protophyten ist sicher polyphyletisch; d. h. es haben verschiedene Gruppen von vielzelligen Thallus-Pflanzen (Algen) aus mehreren verschie- denen Gruppen von einzelligen Urpflanzen, unabhängig von ein- ander, sich entwickelt. So entstanden insbesondere die Urtange (Zygnemaceae) aus den früher betrachteten zierlichen Cosmarien (Closterien und Desmidiaceen); beide stimmen überein in der eigenthümlichen Chlorophyll-Bildung und Copulation, und werden deshalb als „Conjugaten“ zusammengefasst. Andererseits sind wahrscheinlich die gewöhnlichen grünen Wasserfäden (Confervaceae) und die nahe verwandten blattförmigen Wassersalate (Ulvaceae) aus einer Gruppe der Siphoneen, oder aus einer älteren, beiden gemeinsamen Stamm-Gruppe der Palmellarien hervorgegangen. Diese und die nächstverwandten Algen-Gruppen werden jetzt gewöhnlich als Grüntange (Chlorophyceae oder Conferveae) zusammengefasst. Sie sind sämmtlich lebhaft grün gefärbt, und zwar durch denselben Farbstoff, das Blattgrün oder Chlorophyll, welches auch die Blätter aller höheren Gewächse grün färbt. Zu dieser Classe gehören ausser einer grossen Anzahl von niederen Seetangen die allermeisten Algen des süssen Wassers, die gemeinen Wasserfäden oder Conferven, der hellgrüne Wassersalat oder die Ulven, welche einem sehr dünnen und langen Salatblatte gleichen, ferner zahlreiche mikroskopisch kleine Tange, welche in djchter Masse zusammengehäuft einen hellgrünen schleimigen Ueberzug über allerlei im Wasser liegende Gegenstände, Holz, Steine u. s. w. bilden, sich aber durch die Zusammensetzung und Differenzirung ihres Körpers bereits über die einfachen Urpflanzen erheben. Da die Grüntange, gleich den Urtangen, meistens einen sehr weichen Körper besitzen, waren sie nur sehr selten der Versteinerung fähig. Wahrscheinlich sind aber diese beiden Algen-Classen be- reits während der Primordial-Zeit sehr reich entwickelt gewesen. 462 Systematische Uebersicht der sechs Hauptelassen und achtzehn Classen des Pflanzenreichs. XIX. Stammgru | ! nt n | Haupteclassen | cı q Systematischer ee ‚ oder Gladome des Pf seapn Fi Name Pflanzenreichs | anzenreichs | EUER | der Classen | l. Urtange l. Zygnemaceae 2. Grüntange 2. Conferveae Tanzı 3. Brauntange 9. Fucoideae L gae el (Phycophyfta). 4. Rothtange 4. Florideae Pflanzen. Thallota 5. Mostange d. Characeae (Thallophyta). Vor en Pilanzen. Prothallota (Mesophyta). (. Blumen- Pflanzen. Phanerogamae (Anthophyta). Me a Mose. a re (Inophyta). I. (Bryophyta). IV. Farne. Filieinae (Pteridophyta). RLREN, Gymnospermae. V1. Decksamer. ‚Angiospermae. Museinae. Mr I | Is fe Schwammpilze 7. Flechten Lebermose 9. Laubmose 10. Laubfarne ll. Wasserfarne 17 a 15 . Schuppenfarne Schaftfarne . Farnpalmen >. Nadelhölzer 6. Meningos . Einkeimblättrige 8. Zweikeimblättrige 6. Mycetes 7. Lichenes S. Hepaticae (Thallobrya) 9. Frondosae (Phyllobrya) . Pteridinae (Filices) 11. Rhizocarpeae (Hydropterides) 12. Calamariae (Equisetinae) . Selagineae (Lycopodinae) . Cyeadeae . Coniferae . Gnetaceae . Monoeotylae . Dieotylae KIX: Monophyletischer Stammbaum des Pflanzenreichs. 465 . Gamopetalae Choripetalae MonocoTYLAE Abietineae Dichlamydeae | | | | Taxodineae : ® Monochlamydeae Cupressineae | DIcoTYLAE TEE Angiospermae . Araucarlae ErORT (GNETACEAE ÜYCADEAE Taxaceae | ET m u ÜONIFERAE l Gymnospermae SELAGINEAE Calamariae Rhizocarpeae Ophioglosseae [nn 1 PTERIDINAE Filieinae FRONDOoSAE | | mm m m m m HEPATICAE Museinae ÜHARACEAE Lichenes i 2 m en Fueoideae | | Florideae Conferveae | Mycetes m nn Zu no Algae Fungi Protophyta | | | Monera 464 Braun-Tange (Fucoideen oder Phäophyceen). Ks Beide werden schon in laureftischer Zeit die süssen und salzigen Gewässer der Erde in der grössten Mannichfaltigkeit bevölkert haben. In der Classe der Brauntange oder Schwarztange (Fucoideae oder Phaeophyceae), erreicht die Haupt-Classe der Algen ihren höchsten Entwickelungsgrad, wenigstens in Bezug auf die körperliche Grösse. Die charakteristische Farbe der Fucoideen ist meist ein mehr oder minder dunkles Braun, bald mehr in Oliven- grün und Gelbgrün, bald mehr in Braunroth und Schwarz über- gehend. Hierher gehören die grössten aller Tange, welche zugleich die längsten von allen Pflanzen sind; unter diesen kolossalen Riesentangen erreicht z. B. Maeroeystis pyrifera an der californischen Küste eine Länge von 400 Fuss. Aber auch unter unseren ein- heimischen Tangen gehören die ansehnlichsten Formen zu dieser Gruppe, so namentlich der stattliche Zuckertang (Laminaria), dessen schleimige olivengrüne Thallus-Körper, riesigen Blättern von 10—15 Fuss Länge, '/,—1 Fuss Breite gleichend, in grossen Massen an der Küste der Nord- und Ostsee ausgeworfen werden. Sehr gemein ist in unseren Meeren der Blasentang (Fucus vesi- culosus), dessen mehrfach gabelförmig gespaltenes Laub durch viele eingeschlossene Luftblasen (wie bei vielen anderen Braun- tangen) auf dem Wasser schwimmend erhalten wird. Im atlan- tischen Ocean bildet der freischwimmende Sargassotang (Sargassum bacciferum) die ungeheuren schwimmenden Bänke des Sargasso- meeres. Obwohl jedes Individuum von diesen grossen Tangbäumen aus vielen Millionen von Zellen zusammengesetzt ist, besteht es dennoch im Beginne seiner Existenz, gleich allen höheren Pflanzen, aus einer einzigen Zelle, einem einfachen Ei. Dieses Ei ist z. B. bei unserm gemeinen Blasentang eine nackte, hüllenlose Zelle, und ist als solche den nackten Eiern niederer Seethiere, z. B. der Medusen, zum Verwechseln ähnlich (Fig. 19). Nur die verschie- dene chemische Zusammensetzung und Molekular-Structur des Plasma bedingt die specifisch verschiedene Entwickelung. Fucoideen oder Brauntange haben wahrscheinlich zum grössten Theile wäh- rend der Primordialzeit die charakteristischen Tangwälder dieses endlosen Zeitraums zusammengesetzt. Die versteinerten Reste, welche uns von denselben (vorzüglich aus der silurischen Zeit) EX? Rothtange (Florideen oder Rhodophyceen). 465 Fig. 19. Das Ei des gemeinen Blasentang (Fucus vesiculosus), eine einfache nackte Zelle, stark vergrössert. In der Mitte der nackten Pro- toplasma-Kugel schimmert der helle Kern hindurch. erhalten sind, können uns allerdings nur eine schwache Vorstellung davon geben, weil die Formen dieser Tange, gleich den meisten anderen, sich nur schlecht zur Er- haltung im fossilen Zustande eignen. Jedoch ist vielleicht, wie schon bemerkt, ein grosser Theil der Steinkohle aus demselben zusammengesetzt. Weniger bedeutend ist die vierte Classe der Tange, diejenige der Rosentange oder Rothtange (Florideae oder Rhodophyceae). Zwar entfaltet auch diese Classe einen grossen Reichthum ver- schiedener Formen. Allein die meisten derselben sind von viel geringerer Grösse als die Brauntange. Uebrigens stehen sie den letzteren an Vollkommenheit und Differenzirung der äusseren Form keineswegs nach, übertreffen dieselben vielmehr in mancher Beziehung. Hierher gehören die schönsten und zierlichsten aller Tange, welche sowohl durch die feine Fiederung und Zertheilung ihres Laubkörpers, wie durch reine und zarte rothe Färbung zu den reizendsten Pflanzen gehören. Die charakteristische rothe Farbe ist bald ein tiefes Purpur-, bald ein brennendes Scharlach-, bald ein zartes Rosenroth, und geht einerseits in violette und purpurblaue, andererseits in braune und grüne Tinten in bewun- derungswürdiger Pracht über. Wer einmal eines unserer nordischen Seebäder besucht hat, wird gewiss schon mit Staunen die reizen- den Formen dieser Florideen betrachtet haben, welche auf weissem Papier, zierlich angetrocknet, vielfach zum Verkaufe geboten wer- den. Die meisten Rothtange sind leider so zart, dass sie gar nicht der Versteinerung fähig sind, so die prachtvollen Ptiloten, Plocamien, Delesserien u. s. w. Doch giebt es einzelne” Formen, wie die Chondrien und Sphärococcen, welche einen härteren, oft fast knorpelharten Thallus besitzen; von diesen sind uns auch manche versteinerte Reste, namentlich aus den silurischen, devo- nischen und Kohlenschichten, später besonders aus dem Jura, er- Haeckel, Natürl. Schöpfungs-Gesch. 8. Aufl. 30 466 Stammbaum der Tange oder Algen. XIX. halten worden. Wahrscheinlich nahm auch diese formenreiche Classe an der Zusammensetzung der archolithischen Tangflora einen sehr wesentlichen Antheil. Die fünfte und letzte Classe unter den Algen bilden die Mostange (Characeae). Hierher gehören die tangartigen Arm- leuchter-Pflanzen (Chara) und Glanz-Mose (Nitella), welche mit ihren grünen, fadenförmigen, quirlartig von gabelspaltigen Aesten umstellten Stengeln in unseren Teichen und Tümpeln oft dichte Bänke bilden. Einerseits nähern sich die Characeen im anatomi- schen Bau, besonders der Fortpflanzungs-Organe, den Mosen und werden diesen neuerdings unmittelbar angereiht. Andrerseits stehen sie durch viele Eigenschaften tief unter den echten Mosen und schliessen sich vielmehr den Grüntangen oder Conferveen an. Man könnte sie daher wohl als übrig gebliebene und eigenthüm- lich ausgebildete Abkömmlinge von jenen Grüntangen betrachten, aus denen sich die wahren Mose entwickelt haben. Durch manche Eigenthümlichkeiten sind übrigens die Characeen so sehr von allen übrigen Pflanzen verschieden, dass viele Botaniker sie als eine besondere Haupt-Abtheilung des Pflanzenreichs betrachten. Was die Verwandschafts- Verhältnisse der verschiedenen Tang- Classen zu einander und zu den übrigen Pflanzen betrifft, so bil- den jedenfalls die früher beschriebenen Urpflanzen (Protophyta) die gemeinsame Wurzel des Stammbaums, nicht allein für die verschiedenen Tang-Classen, sondern für das ganze Pflanzenreich. Im Beginn des organischen Lebens können durch Urzeugung zu- nächst nur Probionten entstanden sein, Körnchen von Phyto- plasma, oder nackte vegetabilische Moneren. Vermuthlich schon im Beginn der laurentischen Periode entwickelten sich aus diesen zunächst Hülleytoden, indem der nackte, structurlose Plasmaleib der Moneren sich an der Oberfläche krustenartig verdichtete oder eine Hülle ausschwitzte. Späterhin werden dann aus diesen Hüll- eytoden echte Pflanzen-Zellen geworden sein, indem im Innern sich ein Kern oder Nucleus von dem umgebenden Zellstoff oder Cytoplasma sonderte. Wahrscheinlich bilden unsere heutigen ein- zelligen Algen (Cosmarien, Palmellarien u. s. w.) nur einen kleinen Ueberrest des vielgestaltigen Urpflanzen-Reichs, das jene UIER?, Hauptelasse der Fadenpflanzen oder Inophyten. 467 laurentischen Meere bevölkerte. Die drei Classen der Grüntange, Brauntange und Rothtange sind vielleicht drei gesonderte Stämme, welche unabhängig von einander aus der gemeinsamen Wurzel- gruppe der Protophyten entstanden sind und sich dann (ein jeder in seiner Art) weiter entwickelt und vielfach in Ordnungen und Familien verzweigt haben. Die Brauntange und Rothtange haben keine nähere Stamm-Verwandtschaft zu den übrigen Classen des Pflanzenreichs. Diese letzteren sind vielmehr aus den Grüntangen entstanden. Wahrscheinlich sind einerseits die Mose (aus welchen später die Farne sich entwickelten) aus einer Gruppe der Grün- tange hervorgegangen; die Pilze anderseits können direct von Protophyten abstammen. Die Phanerogamen haben sich jedenfalls erst viel später aus den Farnen entwickelt (Vergl. S. 463). Als zweite Hauptelasse des Pflanzenreichs haben wir oben die Pilze (Zunge) oder Faden-Pflanzen (/nophyta) angeführt. Wir verstehen darunter die beiden naheverwandten Classen der eigentlichen Pilze (Mycetes) und der Flechten (LZichenes). Beide Classen unterscheiden sich von den übrigen Gewebe-Pflanzen durch die Zusammensetzung ihres weichen Körpers aus einem dichten Geflecht von sehr langen, vielfach verschlungenen, eigenthümlichen Fadenzellen, den sogenannten Hyphen. Sowohl die Structur und das Wachsthum dieser chlorophylifreien Hyphen, wie die Art der Fortpflanzung, sind wesentlich verschieden von denjenigen der übrigen Metaphyten. Die eigentlichen Pilze (Fungi oder Mycetes) werden irrthüm- lich oft Schwämme genannt und daher mit den echten thierischen Schwämmen oder Spongien verwechselt. Zu diesen stehen sie aber in gar keiner Beziehung. Hingegen besitzen sie zum Theil nahe Verwandtschafts-Beziehungen zu den niedersten Algen; ins- besondere sind die Tangpilze oder Phycomyceten (die Sa- prolegnieen und Peronosporeen) eigentlich nur durch den Mangel des Blattgrüns oder Chorophylis. von den früher beschriebenen Siphoneen (den Vaucherien und Caulerpen) verschieden. An- drerseits aber haben alle eigentlichen Pilze viel Eigenthümliches und weichen namentlich durch ihre Ernährungsweise auffallend von den meisten übrigen Pflanzen ab. Die übrigen Pflanzen leben DYacı .) 468 Pilze (Fungi). XIe erösstentheils von anorgischer Nahrung, von einfachen Verbindun- gen, welche sie zu verwickelteren zusammensetzen; sie erzeugen Protoplasma durch Zusammensetzung von Wasser, Kohlensäure und Ammoniak. Sie athmen Kohlensäure ein und Sauerstoff aus. Die Pilze dagegen leben, gleich den Thieren, von organischer Nahrung, von Plasma -Körpern und von anderen verwickelten Kohlenstoff- Verbindungen, welche sie von anderen Organismen entnehmen und zersetzen. Sie athmen Sauerstoff ein und Kohlen- säure aus, wie die Thiere. Auch bilden sie niemals das Blatt- grün oder Chlorophyll, welches für die meisten übrigen Pflanzen so charakteristisch ist. Eben so erzeugen sie synthetisch weder Plasma noch Stärkemehl. Daher haben schon wiederholt hervor- ragende Botaniker den Vorschlag gemacht, die Pilze ganz aus dem Pflanzenreiche zu entfernen und als ein besonderes drittes Reich zwischen Thier- und Pflanzenreich zu setzen. Die bereits ange- deutete nahe Verwandtschaft der Phycomyceten und Siphoneen (besonders der Saprolegnieen und Vaucherien) lässt daran denken, dass ein Theil der Pilze von letzteren abstammt. Durch Anpas- sung an parasitische Lebensweise verwandelte sich das Phyto- plasma der Alge in das Zooplasma des Pilzes; und diese Aende- rung des Stoffwechsels hatte die wichtigsten weiteren Umbildungen zur Folge. Wahrscheinlich sind verschiedene Pilz-Gruppen poly- phyletisch aus verschiedenen Protophyten-Gruppen entstanden. Eine der merkwürdigsten Pflanzen-Gruppen bilden in phylo- genetischer Beziehung die Flechten (Lichenes). Die überraschen- den Entdeckungen der letzten Decennien haben nämlich gelehrt, dass jede Flechte eigentlich aus zwei ganz verschiedenen Pflanzen zusammengesetzt ist, aus einer niederen Algenform (Nostochaceae, Chroococcaceae) und aus einer parasitischen Pilzform (Ascomy- cetes); die letztere schmarotzt auf der ersteren und lebt von den assimilirten Stoffen, welche diese bereitet. Die Alge hingegen erhält Schutz und Wohnung von ihrem parasitischen Freunde. Das Verhältniss ist daher zu gegenseitigem Nutzen, und wird rich- tiger als Zusammenleben (Symbiosis) bezeichnet. Solche Sym- bionten kommen auch in vielen anderen Classen vor (vel.S.436). Die grünen, chlorophyllhaltigen Zellen (Gonidien), welche man in AIR. Flechten (Lichenes). 469 jeder Flechte findet, gehören der Alge an. Die farblosen Fäden (Hyphen) dagegen, welche dicht verwebt die Hauptmasse des Flechtenkörpers bilden, gehören dem schmarotzenden Pilze an. Immer aber sind beide Pflanzen-Formen, Pilz und Alge, die man doch als Angehörige zweier ganz verschiedener Classen betrachtet, so fest mit einander verbunden und so innig durchwachsen, dass Jedermann die Flechte als einen einheitlichen Organismus be- trachtet. Auch hat jede Flechte ihre besondere Art und Wachs- thums-Form. Die meisten Flechten bilden mehr oder weniger unansehn- liche, formlose oder unregelmässig zerrissene, krustenartige Ueber- züge auf Steinen, Baumrinden u.s. w. Die Farbe derselben wech- selt in allen möglichen Abstufungen vom reinsten Weiss, durch Gelb, Roth, Grün, Braun, bis zum dunkelsten Schwarz. Wichtig sind viele Flechten in der Oeconomie der Natur dadurch, dass sie sich auf den trockensten und unfruchtbarsten Orten, inbeson- dere auf dem nackten Gestein, ansiedeln können, auf welchem keine andere Pflanze leben kann. Die harte, schwarze Lava, welche in vulkanischen Gegenden viele Quadratmeilen Boden be- deckt, und welche oft Jahrhunderte lang jeder Pflanzen -Ansiede- lung den hartnäckigsten Widerstand leistet, wird zuerst immer von Flechten bewältigt. Weisse oder graue Steinflechten (Stereo- caulon) sind es, welche auf den ödesten und todtesten Lavafeldern mit der Urbarmachung des nackten Felsenbodens beginnen und denselben für die nachfolgende höhere Vegetation erobern. Ihre absterbenden Leiber bilden die erste Dammerde, in welcher nach- her Mose, Farne und Blüthen-Pflanzen festen Fuss fassen können. Auch gegen klimatische Unbilden sind die zähen Flechten unem- pfindlicher als alle anderen Pflanzen. Daher überziehen ihre trockenen Krusten die nackten Felsen noch in den höchsten, grossentheils mit ewigem Schnee bedeckten Gebirgshöhen, in denen keine andere Pflanze mehr ausdauern kann. Die zweite grosse Haupt-Abtheilung des Pflanzenreichs bildet die formenreiche Gruppe der Vorkeim-Pflanzen oder Prothal- lus-Pflanzen (Prothallota oder Prothallophyte); von Anderen als phyllogonische Cryptogamen bezeichnet (im Gegensatz zu den 470 Prothalluspflanzen (Mose und Farne). Bl) Thallus-Pflanzen oder thallogonischen Uryptogamen). Man könnte sie auch Mittel-Pflanzen nennen (Mesophyta), weil sie in mor- phologischer und phylogenetischer Beziehung eine Mittelstellung zwischen den niederen Thallus-Pflanzen und den höheren Büthen- Pflanzen einnehmen. Dieses Gebiet umfasst die beiden Haupt- Classen der Mose und Farne. Hier begegnen wir bereits allge- mein (wenige der untersten Stufen ausgenommen) der Sonderung des Pflanzenkörpers in zwei verschiedene Grund-Organe: Axen- Organe (oder Stengel und Wurzel) und Blätter (oder Seiten-Organe). Hierin gleichen die Prothallus-Pflanzen bereits den Blüthen-Pflan- zen, weshalb man sie neuerdings auch häufig mit diesen als Stock-Pflanzen (Cormophyta) zusammenfasst. Andererseits glei- chen die Mose und Farne den Thallus-Pflanzen durch den Mangel der Blumenbildung und der Samenbildung; und daher stellte sie Linne mit diesen als Cryptogamen zusammen, im Gegensatze zu den samenbildenden Pflanzen oder Blumen-Pflanzen (den Phane- rogamen oder Anthophyten). Unter dem Namen „Prothallus- Pflanzen“ vereinigen wir die nächstverwandten Mose und Farne deshalb, weil bei Beiden sich ein sehr eigenthümlicher und charakteristischer Generationswechsel in der individuellen Entwickelung findet. Jede Art nämlich tritt in zwei verschiedenen Generationen auf, von denen man die eine gewöhnlich als Vorkeim oder Prothallium bezeichnet, die andere dagegen als den eigentlichen Stock oder Cormus des Moses oder des Farns betrachtet. Die erste und ursprüngliche Generation, der Vorkeim oder Prothallus (auch das Prothallium oder Protonema genannt), steht noch auf jener niederen Stufe der Formbildung, welche alle Thallus-Pflanzen zeitlebens zeigen, d.h. es simd Stengel und Blatt-Organe noch nicht gesondert und der ganze zellige Körper des Vorkeims stellt einen einfachen Thallus dar. Die zweite und vollkommenere Generation der Mose und Farne dagegen, der Stock oder Cormus, bildet einen viel höher organisirten Körper, welcher wie bei den Blumen-Pflanzen in Sten- gel und Blatt gesondert ist; ausgenommen sind die niedersten Mose, bei welchen auch diese Generation noch auf der niederen Stufe der ursprünglichen Thallusbildung stehen bleibt. Mit Aus- ee m NIX. Charakterischer Generationswechsel der Prothalluspflanzen. 471 nahme dieser letzteren erzeugt allgemein bei den Mosen und Far- nen die erste Generation, der thallusförmige Vorkeim, eine stock- förmige zweite Generation mit Stengel und Blättern; diese erzeugt wiederum den Thallus der ersten Generation u. s. w. Es ist also, wie bei dem gewöhnlichen einfachen Generationswechsel der Thiere, die erste Generation der dritten, fünften u. s. w., die zweite dagegen der vierten, sechsten u. s. w. gleich. (Vergl. oben 3.185.) Von den beiden Haupt-Classen der Prothallus-Pflanzen stehen die Mose im Allgemeinen auf einer viel tieferen Stufe der Aus- bildung, als die Farne, und vermitteln durch ihre niedersten For- men (namentlich in anatomischer Beziehung) den Uebergang von den Thallus-Pflanzen und speciell von den Algen zu den Farnen. Der genealogische Zusammenhang der Mose und Farne, welcher dadurch angedeutet wird, lässt sich jedoch nur zwischen den un- vollkommensten Formen beider Haupt-Classen nachweisen. Die vollkommneren und höheren Gruppen der Mose und Farne stehen in keiner näheren Beziehung zu einander und entwickeln sich nach entgegengesetzten Richtungen hin. Jedenfalls sind die Mose direet aus Thallus-Pflanzen und zwar wahrscheinlich aus Grün- tangen oder Chlorophyceen entstanden. Die Farne dagegen stam- men wahrscheinlich von ausgestorbenen unbekannten Museinen ab, die den niedrigsten der heutigen Lebermose sehr nahe standen. Für die Schöpfungs-Geschichte sind die Farne von weit höherer Bedeutung als die Mose. Die Haupt-Classe der Mose (Muscinae oder Bryophyta) ent- hält die niederen und unvollkommneren Pflanzen der Mesophyten- Gruppe, welche noch gefässlos sind. Meistens ist ihr Körper so zart und vergänglich, dass er sich nur sehr schlecht zur kennt- lichen Erhaltung in versteinertem Zustande eignet. Daher sind die fossilen Reste von allen Mos-Classen selten und unbedeutend. Vermuthlich haben sich die Mose schon in sehr früher Zeit aus den Thallus-Pflanzen, und zwar aus den Grüntangen entwickelt. Der Vorkeim vieler Mose wiederholt noch heute die Form des grünen Wasserfadens, der Conferve. Wasser bewohnende Ueber- gangsformen von Conferven zu Mosen gab es wahrscheinlich schon 472 Hauptelasse der Mose oder Museinen. XIX. in der Primordialzeit und landbewohnende in der Silurzeit. Die Mose der Gegenwart, aus deren stufenweis verschiedener Ausbil- dung die vergleichende Anatomie Einiges auf ihre Stammes-Ge- schichte schliessen kann, zerfallen in zwei verschiedene Ulassen, nämlich in die Lebermose und die Laubmose. Die erstere und ältere Classe der Mose, welche sich unmittel- bar an die Grüntange oder Conferveen anreiht, bilden die Leber- mose (Hepaticae oder Thallobrya). Die hierher gehörigen Mose sind meistens kleine und unansehnliche, aber zierliche Pflänzchen. Die niedersten Formen derselben besitzen noch in beiden Gene- rationen einen einfachen Thallus, wie die Thallus-Pflanzen, so z. B. die Riceien und Marchantien. Die höheren Lebermose da- gegen, die Jungermannien und Verwandte, beginnen allmählich Stengel und Blatt zu sondern, und die höchsten schliessen sich unmittelbar an die Laubmose an. Die Lebermose zeigen durch diese Uebergangs-Bildung ihre direete Abstammung von den Thallo- phyten, und zwar von den Grüntangen an. Diejenigen Mose, welche der Laie gewöhnlich allein kennt, und welche auch in der That den hauptsächlichsten Bestandtheil der ganzen Haupt-Classe bilden, gehören zur zweiten Classe, den Laubmosen (Frondosae oder Phyllobrya). Unter die Laubmose gehören die meisten jener zierlichen Pflänzchen, die zu dichten Gruppen vereinigt den seidenglänzenden Mosteppich unserer Wäl- der bilden, oder auch in Gemeinschaft mit Lebermosen und Flech- ten die Rinde der Bäume überziehen. Als Wasserbehälter, welche die Feuchtigkeit sorgfältig aufbewahren, sind sie für die Oecono- mie der Natur von der grössten Wichtigkeit. Wo der Mensch schonungslos die Wälder abholzt und ausrodet, da verschwinden mit den Bäumen auch die Laubmose, welche ihre Rinde bedecken oder im Schutze ihres Schattens den Boden bekleiden und die Lücken zwischen den grösseren Gewächsen ausfüllen. Mit den Laubmosen verschwinden aber die nützlichen Wasserbehälter, welche Regen und Thau sammeln und für die Zeit der Trockniss aufbewahren. Das ganze Klima wird verschlechtert. Es entsteht eine trostlose Dürre des Bodens, welche das Aufkommen jeder ergiebigen Vegetation vereitelt. In dem grössten Theile Süd- SADRE Lebermose und Laubmose. 475 Europas, in Griechenland, Italien, Sicilien, Spanien sind durch die rücksichtslose Ausrodung der Wälder die Mose vernichtet und da- durch der Boden seiner nützlichsten Feuchtigkeits-Vorräthe beraubt worden; die vormals blühendsten und üppigsten Landstriche sind in dürre, öde Wüsten verwandelt. Leider nimmt auch in Deutsch- land neuerdings diese rohe Barbarei zu unserem grössten Schaden immer mehr überhand. Wahrscheinlich haben die kleinen Laub- mose jene ausserordentlich wichtige Rolle schon seit sehr langer Zeit, vielleicht seit Beginn der Primärzeit gespielt. Da aber ihre zarten Leiber ebenso wenig wie die der übrigen Mose für die deutliche Erhaltung im fossilen Zustande geeignet sind, so kann uns hierüber die Paläontologie keine Auskunft geben. Weit mehr als von den Mosen wissen wir durch die Ver- steinerungskunde von den Farnen. Diese zweite Haupt-Ulasse der Vorkeim-Pflanzen hat eine ausserordentliche Bedeutung für die Geschichte der Pflanzenwelt gehabt. Die Farne, oder genauer ausgedrückt, die „farnartigen Pflanzen“ (Filicinae oder Pteri- dophyta, auch „Gefäss-Cryptogamen“ genannt), bilden während eines ausserordentlich langen Zeitraums, nämlich während des ganzen primären oder paläolithischen Zeitalters, die Hauptmasse der Pflanzenwelt, so dass wir dasselbe geradezu als das Zeitalter der Farnwälder bezeichnen konnten. Nachdem schon in der silurischen Zeit einige landbewohnende Farne aufgetreten waren (Eopteris), überwogen während der Ablagerung der devonischen, carbonischen und permischen Schichten, die farnartigen Pflanzen so sehr alle übrigen, dass jene Benennung dieses Zeitalters in der That gerechtfertigt ist. In den genannten Schichten-Systemen, vor allen aber in den ungeheuer mächtigen Steinkohlenflötzen der carbonischen oder Steinkohlenzeit, finden wir so zahlreiche und zum Theil wohl erhaltene Reste von Farnen, dass wir uns daraus ein ziemlich lebendiges Bild von der ganz eigenthümlichen Landflora des paläolithischen Zeitalters machen können. Im Jahre 1855 betrug die Gesammtzahl der damals bekannten paläolithi- schen Pflanzen-Arten ungefähr Eintausend, und unter diesen be- fanden sich nicht weniger als 572 farnartige Pflanzen. Unter den übrigen 128 Arten befanden sich 77 Gymnospermen (Nadelhölzer 474 Hauptelasse der Farne oder Filieinen. KIERE und Palmfarne), 40 Thallus-Pflanzen (grösstentheils Tange) und gegen 20 nicht sicher bestimmbare Cormophyten. Wie schon bemerkt, haben sich die Farne wahrscheinlich aus niederen Lebermosen hervorgebildet, und zwar während der silu- rischen Periode. In ihrer Organisation erheben sich die Farne bereits bedeutend über die Mose und schliessen sich in ihren höheren Formen schon an die Blumen-Pflanzen an. Während bei den Mosen noch ebenso wie bei den Thallus-Pflanzen der ganze Körper aus ziemlich gleichartigen, wenig oder nicht differenzirten Zellen zusammengesetzt ist, entwickeln sich im Gewebe der Farne bereits jene eigenthümlich differenzirten Zellenstränge, welche man als Pflanzengefässe und Gefässbündel bezeichnet, und welche auch bei den Blumen-Pflanzen allgemein vorkommen. Daher vereinigt man wohl auch die Farne als „Gefäss-Cryptogamen“ mit den Phanerogamen, und stellt diese „Gefäss-Pflanzen“ den „Zellen- Pflanzen“ gegenüber, d. h. den „Zellen-Uryptogamen“ (Mosen und Thallus-Pflanzen). Dieser hochwichtige Fortschritt in der Pflan- zen-OÖrganisation, die Bildung der Gefässe und Gefässbündel, fand demnach erst in der silurischen Zeit statt. (Vergl. Taf. XVII und deren Erklärung unten im Anhang.) Die Haupt-Classe der Farne oder Filicinen zerfällt in vier verschiedene Classen, nämlich 1. die Laubfarne oder Pteridinen, 2. die Wasserfarne oder Rhizocarpeen, 3. die Schaftfarne oder Calamarien und 4. die Schuppenfarne oder Selagineen. Die bei weitem wichtigste und formenreichste von diesen vier Classen, der Haupt-Bestandtheil der paläolithischen Wälder, sind die Laub- farne, und demnächst die Schuppenfarne. Dagegen traten die Schaftfarne schon damals mehr gegen diese beiden Classen zurück, und von den Wasserfarnen wissen wir nicht einmal mit Bestimmt- heit, ob sie damals schon lebten. Wir können uns nur schwer eine Vorstellung von dem ganz eigenthümlichen Charakter jener düsteren paläolithischen Farnwälder bilden, in denen der ganze bunte Blumenreichthum unserer gegenwärtigen Flora noch völlig fehlte, und welche noch von keinem Vogel, von keinem Säugethier belebt wurden. (Vergl. Taf. XVIL.) Von Blumen- Pflanzen existirten damals nur die niedersten Classen, die Nackt- XIX. Laubfarne oder Pteridinen. 475 NT « samigen oder Gymnospermen (Nadelhölzer und Farnpalmen), mit ganz unscheinbaren, Archegonien ähnlichen Blüthen. Als die Stamm-Gruppe der Farne, die sich zunächst aus den Lebermosen entwickelt hat, ist die Classe der Farne im engeren Sinne, der Laubfarne oder Wedelfarne, zu betrachten (Fllices oder Pteridinae, auch Phyllopterides genannt). In der gegenwär- tigen Flora unserer gemässigten Zonen spielt diese Classe nur eine untergeordnete Rolle, da sie hier meistens nur durch die niedrigen stammlosen Farnkräuter vertreten ist. In der heissen Zone dagegen, namentlich in den feuchten, dampfenden Wäldern der Tropengegenden, erhebt sie sich noch heutigentags zu der wunder- vollen Bildung der hochstämmigen, palmenähnlichen Farnbäume. Diese schönen Baumfarne der Gegenwart, Hauptzierden unserer Grewächshäuser, können uns aber nur eine schwache Vorstellung von den stattlichen und prachtvollen Laubfarnen der Primärzeit geben, deren mächtige Stämme damals dichtgedrängt ganze Wälder zusammensetzten. Man findet diese Stämme namentlich in den Steinkohlenflötzen der Carbonzeit massenhaft über einander gehäuft, und dazwischen vortrefflich erhaltene Abdrücke von den zierlichen Wedeln oder Blättern, welche in schirmartig ausgebreitetem Busche den Gipfel des Stammes krönten. Die einfache oder mehrfache Zusammensetzung und Fiederung dieser Wedel, der zierliche Ver- lauf der verästelten Nerven oder Gefässbündel in ihrem zarten Laube, ist an den Abdrücken der paläolithischen Farnwedel noch so deutlich zu erkennen, wie an den Farnwedeln der Jetztzeit. Bei vielen kann man selbst die Fruchthäufchen, welche auf der Unterfläche der Wedel vertheilt sind, ganz deutlich nachweisen. Nach der Steinkohlenzeit nahm das Uebergewicht der Laubfarne bereits ab, und schon gegen Ende der Secundärzeit spielten sie eine fast eben so untergeordnete Rolle wie in der Gegenwart. Aus den Laubfarnen oder Pteridinen scheinen sich als drei divergirende Aeste die Calamarien, Ophioglosseen und Rhizocar- peen entwickelt zu haben (vergl. S.465). Von diesen drei Gruppen sind auf der niedersten Stufe die Schaftfarne stehen geblieben (Calamariae, auch Equisetinae oder Calamophyta genannt). Sie umfassen drei verschiedene Ordnungen, von denen nur eine noch 476 Schaftfarne oder Calamarien. RE gegenwärtig lebt, nämlich die Schafthalme oder Schachtel- halme (Equisetaceae). Die beiden anderen Ordnungen, die Riesen- halme (Calamiteae) und die Sternblatthalme (Asterophylliteae), sind längst ausgestorben. Alle Schaftfarne zeichnen sich durch einen hohlen und gegliederten Schaft, Stengel oder Stamm aus, an welchem Aeste und Blätter, wenn sie vorhanden sind, quirl- förmig um die Stengelglieder herumstehen. Die hohlen Stengel- glieder sind durch Querscheidewände von einander getrennt. Bei den Schafthalmen und Calamiten ist die Oberfläche von längsver- laufenden parallelen Rippen durchzogen, wie bei einer cannellirten Säule, und die Oberhaut enthält so viel Kieselerde, dass sie zum Scheuern und Poliren verwendet werden kann. Bei den Stern- blatthalmen oder Asterophylliten waren die sternförmig in Quirle gestellten Blätter stärker entwickelt als bei den beiden anderen Ordnungen. In der Gegenwart leben von den Schaftfarnen nur noch die unansehnlichen Schafthalme oder Equisetum-Arten un- serer Sümpfe und Wiesen, während die Gruppe in der ganzen Primär- und Secundärzeit durch mächtige Bäume aus der Gattung Equisetites vertreten war. Ein Ueberrest dieser riesigen Schaft- bäume lebt noch heute bei Quito in Süd-Amerika (Zquisetum giganteum). Zu den nächsten Verwandten derselben gehören die ausgestorbenen Riesenhalme (Calumites), deren starke Stämme gegen O0 Fuss Höhe erreichten. Die Ordnung der Sternblatthalme (Asterophyllites) dagegen enthielt kleinere, zierliche Pflanzen von sehr eigenthümlicher Form, und blieb ausschliesslich auf die Pri- märzeit beschränkt. (Vergl. Taf. XVII, linke Seite.) Am wenigsten bekannt von allen Farnen ist uns die Ge- schichte der dritten Classe, der Wasserfarne (Rhrzocanpeae oder IHIydropterides). In ihrem Bau schliessen sich diese im süssen Wasser lebenden Farne einerseits an die Laubfarne, andrerseits an die Schuppenfarne an. Es gehören hierher die wenig bekannten Mosfarne (Salvinia), Kleefarne (Marsilea) und Pillenfarne (Prlu- laria) in den süssen Gewässern unserer Heimath, ferner die grössere schwimmende Azolla der Tropenteiche. Die meisten Wasserfarne sind von zarter Beschaffenheit und deshalb wenig zur Versteine- rung geeignet. Daher mag es wohl rühren, dass ihre fossilen NUDR Zungenfarne oder Ophioglosseen. 477 ' Reste so selten sind, und dass die ältesten derselben, die wir kennen, im Jura gefunden wurden. Wahrscheinlich ist aber die Classe viel älter und hat sich bereits während der paläolithischen Zeit aus anderen Farnen durch Anpassung an das Wasserleben entwickelt. Als eine besondere Farn-Classe werden jetzt bisweilen die Zungenfarne (Ophioglosseae oder Glossopterides) betrachtet. Ge- wöhnlich werden diese Farne, zu welchen von unseren einheimi- schen Gattungen ausser dem Ophioglossum auch das Botrychium gehört, nur als eine kleine Unterabtheilung der Laubfarne ange- sehen. Sie verdienen aber deshalb besonders hervorgehoben zu werden, weil sie eine wichtige, phylogenetisch vermittelnde Zwi- schenform zwischen den Pteridinen und Lycopodinen darstellen und demnach auch zu den directen Vorfahren der Blumen-Pflanzen zu rechnen sind. Die letzte und höchst entwickelte Farn-Classe bilden die Schuppenfarne (Lycopodinae, auch Lepidophyta oder Selagineae genannt). Wie die Zungenfarne aus den Laubfarnen, so sind später die Schuppenfarne aus den Zungenfarnen entstanden. Die Selagineen entwickelten sich höher als alle übrigen Farne und bilden bereits den Uebergang zu den Blumen-Pflanzen, die sich aus ihnen zunächst hervorgebildet haben. Nächst den Wedelfarnen waren sie am meisten an der Zusammensetzung der paläolithischen Farnwälder betheiligt. Auch diese Classe enthält, gleichwie die Classe der Schaftfarne, drei nahe verwandte, aber doch mehrfach verschiedene Ordnungen, von denen nur noch eine am Leben, die beiden anderen aber bereits gegen Ende der Steinkohlenzeit ausgestorben sind. Die heute noch lebenden Schuppenfarne ge- hören zur Ordnung der Bärlappe (Zycopodiaceae). Es sind meistens kleine und zierliche, mosähnliche Pflänzchen, deren zarter, in vielen Windungen schlangenartig auf dem Boden kriechender und verästelter Stengel dicht von schuppenähnlichen und sich deckenden Blättchen eingehüllt ist. Die zierlichen Zyeopodium- Ranken unserer Wälder, welche die Gebirgsreisenden um ihre Hüte winden, werden Ihnen Allen bekannt sein, ebenso die noch zartere Selaginella, welche als sogenanntes „Rankenmos“ den 478 Schuppenfarne oder Selagineen. KR Boden unserer Gewächshäuser mit dichtem Teppich ziert. Die grössten Bärlappe der Gegenwart leben auf den Sunda-Inseln und erheben sich dort zu Stämmen von einem halben Fuss Dicke und 25 Fuss Höhe. Aber in der Primärzeit und Secundärzeit waren noch grössere Bäume dieser Gruppe weit verbreitet; und die ältesten derselben gehören vielleicht zu den Stammeltern der Nadelhölzer (Zyeopodites). Die mächtigste Entwickelung erreichte jedoch die Classe der Schuppenfarne während der Primärzeit nicht in den Bärlappbäumen, sondern in den beiden Ordnungen der Schuppenbäume (Lepi- dodendreae) und der Siegelbäume (Sigillarieae). Beide Ord- nungen treten schon in der Devonzeit mit einzelnen Arten auf, erreichen jedoch ihre massenhafte und erstaunliche Ausbildung erst in der Steinkohlenzeit, und sterben bereits gegen Ende der- selben oder in der darauf folgenden permischen Periode wieder aus. Die Schuppenbäume oder Lepidodendren waren wahrschein- lich den Bärlappen noch näher verwandt, als die Siegelbäume. Sie erhoben sich zu prachtvollen. unverästelten und gerade auf- steisenden Stämmen, die sich am Gipfel nach Art eines Kron- leuchters gabelspaltig in zahlreiche Aeste theilten. Diese trugen eine Krone von Schuppenblättern und waren gleich dem Stamm in zierlichen Spirallinien von den Narben oder Ansatzstellen der abgefallenen Blätter bedeckt. (Taf. XVII, rechts oben.) Man kennt Schuppenbäume von 40-60 Fuss Länge und 12—15 Fuss Durchmesser am Wurzelende. Einzelne Stämme waren mehr als hundert Fuss lang. Noch viel massenhafter finden sich in der Steinkohle die nicht minder hohen, aber schlankeren Stämme der merkwürdigen Siegelbäume oder Sigillarien angehäuft; sie setzen an manchen Orten hauptsächlich die Steinkohlenflötze zusammen. Ihre Wurzelstöcke hat man früher als eine ganz besondere Pflan- zenform (Stigmaria) beschrieben. Die Siegelbäume sind in vieler Beziehung den Schuppenbäumen sehr ähnlich, weichen jedoch durch ihren anatomischen Bau schon mehrfach von diesen und von den Farnen überhaupt ab. “Sie erscheinen auch den aus- gestorbenen devonischen Lycopterideen verwandt, welche charak- teristische Eigenschaften der Bärlappe nnd der Laubfarne in sich XIX. Blumen-Pflanzen oder Phanerogamen. 479 vereinigten, und welche nach den wichtigen phylogenetischen Un- tersuchungen von Strasburger als die hypothetische Stamm-Form der Blumen-Pflanzen zu betrachten sind. Aus den dichten Farnwäldern der Primärzeit, welche vor- zugsweise aus Laubfarnen, Schuppenbäumen und Siegelbäumen zusammengesetzt sind, treten wir in die nicht minder charak- teristischen Nadelwälder der Secundärzeit hinüber. Damit treten wir aber zugleich aus dem Bereiche der blumenlosen und samen- losen Pflanzen oder Uryptogamen in die zweite Haupt-Abtheilung des Pflanzenreichs ein, in das Unterreich der samenbildenden Pflanzen, der Blumenpflanzen oder Phanerogamen (neuer- dings oft auch Anthophyta oder Spermaphyta genannt). Diese formenreiche Abtheilung, welche die Hauptmasse der jetzt leben- den Pflanzenwelt, und namentlich die grosse Mehrzahl der land- bewohnenden Pflanzen enthält, ist jedenfalls viel jüngeren Alters, als die Abtheilung der Cryptogamen. Denn sie kann erst im Laufe des paläolithischen Zeitalters aus dieser letzteren sich ent- wickelt haben. Mit voller Gewissheit können wir behaupten, dass während des ganzen archolithischen Zeitalters, also während der ersten und längeren Hälfte der organischen Erdgeschichte, noch gar keine Blumen-Pflanzen existirten; erst während der Primärzeit haben sie sich aus farnartigen Cryptogamen entwickelt. Die ana- tomische und embryologische Verwandtschaft der Phanerogamen mit diesen letzteren ist so innig, dass wir daraus mit Sicherheit auch auf ihren genealogischen Zusammenhang, ihre wirkliche Stamm-Verwandtschaft schliessen können. Die Blumen-Pflanzen können unmittelbar weder aus Thallus-Pflanzen noch aus Mosen, sondern nur aus Farnen oder Pteridophyten entstanden sein. Höchst wahrscheinlich sind die Schuppenfarne oder Selagineen, und zwar die vorher genannten Lycopterideen (der heutigen Sela- ginella sehr nahe stehend), die unmittelbaren Vorfahren der Phane- rogamen gewesen. Schon seit langer Zeit hat man auf Grund des inneren anato- mischen Baues und der embryologischen Entwickelung das Unter- reich der Phanerogamen in zwei grosse Haupt-Classen eingetheilt, in die Nacktsamigen oder Gymnospermen und in die Deck- 480 Nacktsamige oder Gymnospermen. x samigen oder Angiospermen. Diese letzteren sind in jeder Beziehung vollkommener und höher organisirt als die ersteren, und haben sich erst später, im Laufe der Secundärzeit, aus jenen entwickelt. Die Gymnospermen bilden sowohl anatomisch als embryologisch die vermittelnde Uebergangs-Gruppe von den Farnen zu den Angiospermen. In der charakteristischen Bildung der Archegonien (oder der weiblichen Geschlechts-Organe) stimmen die drei Haupt-Classen der Gymnospermen, Farne und Mose so auffallend überein, dass Manche sie neuerdings in einer Gruppe vereinigen, den Archegoniaten. Die niedere und ältere von den beiden Haupt-Classen der Blumen-Pflanzen, die der Nacktsamigen (@ymnospermae) er- reichte ihre mannichfaltigste Ausbildung und weiteste Verbreitung während der mesolithischen oder Secundärzeit. Sie ist für dieses Zeitalter nicht minder charakteristisch, wie die Farngruppe für das vorhergehende primäre, und wie die Angiospermen-Gruppe für das nachfolgende tertiäre Zeitalter. Wir konnten daher die Secundärzeit auch als den Zeitraum der Gymnospermen, oder nach ihren bedeutendsten Vertretern als das Zeitalter der Nadel- hölzer bezeichnen. Die Nacktsamigen zerfallen in drei Classen, die Coniferen, Cycadeen und Gnetaceen. Wir finden versteinerte Reste derselben bereits im devonischen System vor, und müssen daraus schliessen, dass der Uebergang von Schuppenfarnen in Gymnospermen schon im ersten Abschnitt des paläozoischen Zeit- alters erfolgt ist. Immerhin spielen die Nacktsamigen während der ganzen folgenden Primärzeit nur eine sehr untergeordnete Rolle und gewinnen die Herrschaft über die Farne erst im Beginn der Secundärzeit. Von den drei Classen der Gymnospermen steht diejenige der Farnpalmen (Cycadeae) auf der niedersten Stufe und schliesst sich, wie schon der Name sagt, unmittelbar an die Farne an, so dass sie früher selbst von manchen Botanikern mit dieser Gruppe in Systeme vereinigt wurde. In der äusseren Gestalt gleichen sie sowohl den Palmen als den Farnbäumen oder baumartigen Laub- farnen, und tragen eine aus Fiederblättern zusammengesetzte Krone, welche entweder auf einem dicken niedrigen Strunke oder Farnwald der Steinkohlenzeit Irrj dd I Belesch E.Hueckel del XKX. Farnpalme oder Cycadeen. 481 auf einem schlanken, einfachen, säulenförmigen Stamme sitzt. In der Gegenwart ist diese einst formenreiche Classe nur noch durch wenige, in der heissen Zone lebende, Formen dürftig vertreten, durch die niedrigen Zapfenfarne (Zamia), die dickstämmigen Brod- farne (Zncephalartos), und die schlankstämmigen Rollfarne (Oycas). Man findet sie häufig in unseren Treibhäusern, wo sie gewöhnlich mit Palmen verwechselt werden. Eine viel grössere Formen- Mannichfaltigkeit als die lebenden bieten uns die ausgestorbenen und versteinerten Zapfenfarne, welche namentlich in der Mitte der Secundärzeit (während der Juraperiode) in grösster Masse auf- traten und damals vorzugsweise den Charakter der Wälder be- stimmten. In grösserer Formen-Mannichfaltigkeit als die Classe der Palm- farne hat sich bis auf unsere Zeit der andere Zweig der Gymno- spermen - Gruppe erhalten, die Classe der Nadelhölzer oder Zapfenbäume (Coniferae). Noch gegenwärtig spielen die dazu ge- hörigen Cypressen, Wachholder und Lebensbäume (Thuja), die Taxus- und Ginkobäume (Salisburya), die Araucarien und Cedern, vor allen aber die formenreiche Gattung Pinus mit ihren zahl- reichen und bedeutenden Arten, den verschiedenen Kiefern, Pinien, Tannen, Fichten, Lärchen u. s. w. in den verschiedensten Gegen- den der Erde eine höchst bedeutende Rolle; sie setzen ausgedehnte Waldgebiete fast allein zusammen. Doch erscheint diese Ent- wickelung der Nadelhölzer schwach im Vergleiche zu der ganz überwiegenden Herrschaft, welche sich die Classe während der älteren Secundärzeit, in der Triasperiode, über die übrigen Pflan- zen erworben hatte. Damals bildeten mächtige Zapfenbäume in verhältnissmässig wenigen Gattungen und Arten, aber in unge- heuren Massen von Individuen beisammen stehend, den Haupt- bestandtheil der mesolithischen Wälder. Sie rechtfertigen die Benennung der Secundärzeit als des „Zeitalters der Nadel-Wäl- der“, obwohl die Coniferen schon in der Jurazeit von den Cyca- deen überflügelt wurden. Die Stamm-Gruppe der Coniferen spaltete sich schon früh- zeitig in zwei Aeste, in die Araucarien einerseits, die Taxa- ceen oder Eibenbäume andererseits. Von den ersteren stammt Haeckel, Natürl. Schöpfungs-Gesch. 8. Aufl. 31 482 Nadelhölzer oder Coniferen. UDX; die Hauptmasse der Nadelhölzer ab. Aus den letzteren hingegen entwickelte sich die dritte Classe der Gymnospermen, die Menin- &os oder Gmetaceae. Diese kleine, aber sehr interessante Classe enthält nur drei verschiedene Gattungen: Gnetum, Welwitschia und Ephedra; sie ist von grosser Bedeutung als die unmittelbare Uebergangs-Gruppe von den Coniferen zu den Angiospermen, und zwar speciell zu den Dicotylen. Aus den Nadel-Wäldern der mesolithischen oder Secundärzeit treten wir in die Laub-Wälder der caenolithischen oder Tertiär- zeit hinüber und gelangen dadurch zur Betrachtung der sechsten und letzten Haupt-Classe des Pflanzenreichs, der Decksamigen (Angiospermae). Die ersten sicheren Versteinerungen von Deck- samigen finden wir in den Schichten des Kreidesystems, und zwar kommen hier neben einander Reste von den beiden (lassen vor, in welche man die Haupt-Classe der Angiospermen allgemein ein- theilt, nämlich Einkeimblättrige oder Monocotylen und Zweikeimblättrige oder Dicotylen. Indessen ist die ganze Gruppe wahrscheinlich älteren Ursprungs und schon während der Trias-Periode entstanden. Wir kennen nämlich eine Anzahl von zweifelhaften und nicht sicher bestimmbaren fossilen Pflanzenresten aus der Jurazeit und aus der Triaszeit. welche von manchen Bo- tanikern bereits für Angiospermen, von anderen dagegen für Gymnospermen gehalten werden. Was die beiden Classen der Decksamigen betrifit, Monocotylen und Dicotylen, so haben sich höchst wahrscheinlich zunächst aus den Gnetaceen die Dicotylen, hingegen die Monocotylen erst später aus einer Seitenlinie oder einem Zweige der Dicotylen entwickelt. Die Classe der Einkeimblättrigen oder Einsamenlap- pigen (Monocotylae oder Monocotyledones, auch Endogenae ge- nannt) umfasst diejenigen Blumen-Pflanzen, deren Samen nur ein einziges Keimblatt oder einen sogenannten Samenlappen (Coty- ledon) besitzt. Jeder Blattkreis ihrer Blume enthält in der grossen Mehrzahl der Fälle drei Blätter, und es ist sehr wahrscheinlich, dass die gemeinsame Mutter-Pflanze aller Monocotylen eine regel- mässige und dreizählige Blüthe besass. Die Blätter sind meistens einfach, von einfachen, graden Gefässbündeln oder sogenannten Fe u Fr nr ET XIX. Einkeimblättrige oder Monocotylen. 483 „Nerven“ durchzogen. Zu dieser Classe gehören die umfangreichen Familien der Binsen und Gräser, die Lilien und Schwertlilien, Orchideen und Dioscoreen, ferner eine Anzahl einheimischer Wasser-Pflanzen, die Wasserlinsen, Rohrkolben, Seegräser u. s. w., und endlich die prachtvollen, höchst entwickelten Familien der Aroi- deen und Pandaneen, der Bananen und Palmen., Im Ganzen ist die Monocotylen-Classe trotz aller Formen-Mannichfaltigkeit, die sie in der Tertiärzeit und in der Gegenwart entwickelt hat, viel einförmiger organisirt, als die Dieotylen-Classe, und auch ihre geschichtliche Entwickelung bietet ein viel geringeres Interesse. Versteinerte Reste sind selten gut erhalten. Jedenfalls existirten sie bereits in der Kreidezeit, vielleicht schon in der Trias-Periode. Viel grösseres historisches und anatomisches Interesse bietet in der Entwickelung ihrer untergeordneten Gruppen die zweite Classe der Decksamigen, die Zweikeimblättrigen oder Zwei- samenlappigen (Dicotylae oder Dicotyledones, auch Exogenae benannt). Die Blumen-Pflanzen dieser Classe besitzen, wie ihr Name sagt, gewöhnlich zwei Samenlappen oder Keimblätter (Coty- ledonen). Die Grundzahl in der Zusammensetzung ihrer Blüthe ist gewöhnlich nicht drei, wie bei den meisten Monocotylen, son- dern vier oder fünf, oder ein Vielfaches davon. Ferner sind ihre Blätter gewöhnlich höher differenzirt und mehr zusammengesetzt, als die der Monocotylen, und von gekrümmten, verästelten Gefäss- bündeln oder „Adern“ durchzogen. Zu dieser Classe gehören die meisten Laubbäume, und da dieselbe in der Tertiärzeit schon ebenso wie in der Gegenwart das Uebergewicht über die Gymno- spermen und Farne besass, so konnten wir das caenolithische Zeit- alter auch als das der Laub-Wälder bezeichnen. Obwohl die Mehrzahl der Dicotylen zu den höchsten und voll- kommensten Pflanzen gehört, so schliesst sich doch die niederste Abtheilung derselben unmittelbar an die Gymnospermen, und zwar an die Gnetaceen an. Bei den niederen Dicotylen ist, wie bei den Monocotylen, Kelch und Blumenkrone noch nicht gesondert. Man nennt sie daher Kelehblüthige (Monochlamydeae oder Ape- talae). Diese Unter-Classe ist wahrscheinlich als die Stamm-Gruppe der Angiospermen anzusehen und existirte schon während der 31* 484 Zweikeimblättrige oder Dicotylen. XIX Trias- oder Jurazeit. Es gehören dahin die meisten kätzchen- tragenden Laubbäume: die Birken und Erlen, Weiden und Pap- peln, Buchen und Eichen, ferner die nesselartigen Pflanzen: Nes- seln, Hanf und Hopfen, Feigen, Maulbeeren und Rüstern, endlich die wolfsmilchartigen, lorbeerartigen, amaranthartigen Pflanzen u.s. w. Erst später, in der Kreidezeit, erscheint die zweite und voll- kommnere Unter-Classe der Dicotylen, die Gruppe der Kronen- blüthigen (Dichlamydeae oder Corollijlorae). Diese entstanden aus den Kelchblüthigen dadurch, dass sich die einfache Blüthen- hülle der letzteren in Kelch und Krone differenzirte. Die Unter- Classe der Kronenblüthigen zerfällt wiederum in zwei grosse Haupt- Abtheilungen oder Legionen, deren jede eine grosse Menge von verschiedenen Ordnungen, Familien, Gattungen und Arten enthält. Die erste Legion führt den Namen der Sternblüthigen oder Chori- petalen, die zweite den Namen der Glockenblüthigen oder Gamo- petalen. Die tiefer stehende und unvollkommnere von den beiden Le- gionen der Kronenblüthigen sind die Sternblüthigen (Choripe- talae oder Polypetalae). Hierher gehören die umfangreichen Fami- lien der Doldenblüthigen oder Umbelliferen, der Kreuzblüthigen oder Cruciferen, ferner die Ranunculaceen und Crassulaceen, Was- serrosen und Cistrosen, Malven und Geranien, und neben vielen anderen namentlich noch die grossen Abtheilungen der Rosen- blüthigen (welche ausser den Rosen die meisten unserer Obstbäume umfassen), und der Schmetterlingsblüthigen (welche unter anderen die Wicken, Bohnen, Klee, Ginster, Acacien und Mimosen ent- halten). Bei allen diesen Choripetalen bleiben die Blumenblätter getrennt und verwachsen nicht mit einander, wie es bei den Ga- mopetalen der Fall ist. Die letzteren haben sich erst in der Ter- tiärzeit aus den Choripetalen entwickelt, während diese schon in der Kreidezeit neben den Kelchblüthigen auftraten. Die höchste und vollkommenste Gruppe des Pflanzenreichs bildet die zweite Abtheilung der Kronenblüthigen, die Legion der Glockenblüthigen (Gamopetalae oder Monopetalae). Hier ver- wachsen die Blumenblätter, welche bei den übrigen Blumenpflan- zen meistens ganz getrennt bleiben, regelmässsig zu einer mehr BRUKE: Zweikeimblättrige oder Dieotylen. 485 oder weniger glocken-, trichter- oder röhrenförmigen Krone. Es gehören hierher unter anderen die Glockenblumen und Winden, Primeln und Haidekräuter, Gentianen und Loniceren, ferner die Familie der Oelbaumartigen (Oelbaum, Liguster, Flieder und Esche) und endlich neben vielen anderen Familien die umfangreichen Abtheilungen der Lippenblüthigen (Labiaten) und der Zusammen- gesetztblüthigen (Compositen). In diesen letzteren erreicht die Differenzirung und Vervollkommnung der Phanerogamenblüthe ihren höchsten Grad, und wir müssen sie daher als die vollkom- mensten von allen an die Spitze des Pflanzenreichs stellen. Dem entsprechend tritt die Legion der Glockenblüthigen oder Gamo- petalen am spätesten von allen Haupt-Gruppen des Pflanzenreichs in der organischen Erdgeschichte auf, nämlich erst in der caeno- lithischen oder Tertiärzeit. Selbst in der älteren Tertiärzeit ist sie noch sehr selten, nimmt erst in der mittleren langsam zu und erreicht erst in der neueren Tertiärzeit und in der Quartärzeit ihre volle Ausbildung. Wenn Sie nun, in der Gegenwart angelangt, nochmals die ganze geschichtliche Entwickelung des Pflanzenreichs überblicken, so werden sie nicht umhin können, darin lediglich eine grossartige Bestätigung der Descendenz-Theorie zu finden. Die beiden grossen Grundgesetze der organischen Ent- wickelung, die wir als die nothwendigen Folgen der natürlichen Züchtung im Kampf um’s Dasein nachgewiesen haben, die Gesetze der Differenzirung und der Vervollkommnung, machen sich in der Entwickelung der grösseren und kleineren Gruppen des natürlichen Pflanzensystems überall geltend. In jeder grösseren und kleineren Periode der organischen Erdgeschichte nimmt das Pflanzenreich sowohl an Mannichfaltigkeit, als an Vollkommenheit zu. Während des grössten Theiles der langen Primordialzeit existirt nur die niederste und unvollkommenste Haupt-Classe, die der Algen. Erst gegen Ende derselben gesellen sich zu ihnen die höheren und vollkommneren Cryptogamen, insbesondere die Haupt-Classe der Farne. Schon während der devonischen Periode beginnen sich aus letzteren die Phanerogamen zu entwickeln, anfänglich jedoch nur die niedere Haupt-Classe der Nacktsamigen (Gymnospermae). 486 Rückblick auf die geschichtliche Entwiekelung des Pflanzenreichs. XIX, Erst während der Secundärzeit geht aus den Gymnospermen die höhere Classe der Decksamigen oder Angiospermen hervor. Auch von diesen sind anfänglich nur die niederen, kronenlosen Gruppen, die Monocotylen und die Apetalen vorhanden. Erst während der Kreidezeit entwickeln sich aus letzteren die höheren Kronenblüthigen. Aber auch diese höchste Abtheilung ist in der Kreidezeit nur durch die tiefer stehenden Sternblüthigen oder Choripetalen vertreten, und ganz zuletzt erst, in der Tertiär- zeit, gehen aus diesen die höher stehenden Glockenblüthigen oder Gamopetalen hervor, die vollkommensten von allen Blumen- Pflanzen. So erhob sich in jedem jüngeren Abschnitt der orga- nischen Erdgeschichte das Pflanzenreich stufenweise zu einem höheren Grade der Vollkommenheit und der Mannichfaltigkeit. Die specielle Phylogenie der Ordnungen und Familien, die Erkenntniss der Stamm-Verwandtschaft der grösseren und kleineren Gruppen in jeder Classe, bietet im Pflanzenreiche einer- seits viel grössere Schwierigkeiten, anderseits ein weit geringeres Interesse als im Thierreiche. In letzterem liefert die mannich- faltige Arbeitstheilung und Formspaltung der Organe, die Diffe- renzirung der (rewebe, die weite Divergenz der zahlreichen Classen, der vergleichenden Morphologie ein unerschöpfliches Gebiet voll der interessantesten Probleme. Die morphologische Differenzirung des Pflanzenreiches ist damit gar nicht zu vergleichen. Denn auch bei den höheren Pflanzen ist der Körperbau verhältniss- mässig höchst einfach und der Gestaltungskreis einförmig. Alle die zahllosen Formen der Angiospermen erscheinen nur als Va- riationen eines einzigen Themas, und weichen in geringerem Grade von einander ab, als die mannichfaltigen Formen einer ein- zigen Tbhier-Classe, der Insecten-Ulasse. Zwanzigster Vortrag. Phylogenetische Classification des Thierreichs. Gastraea-Theorie. Das natürliche System des Thierreichs. Aeltere Systeme von Linne und Lamarck. Die vier Typen von Baer und Cuvier. Die acht Typen der neue- ren Zoologie. Ihre phylogenetische Bedeutung. Die Philosophie der Kalk- schwämme, die Homologie der Keimblätter, und die Gastraea-Theorie. Ein- heit der Stämme oder Phylen. Abstammung aller Metazoen von der Gastraea. Die fünf ersten Bildungsstufen des einzelligen Thierkörpers. Die fünf ersten Keimstufen: Stammzelle (Cytula). Maulbeerkeim(Morula). Blasenkeim (Blastula). Haubenkeim (Depula). Becherkeim (Gastrula). Die entsprechenden fünf ältesten Stammformen (Cytaea, Moraea, Blastaea, Depaea, Gastraea). Die Hohlkugel als Urform des Thierkörpers (Baer). Darmhöhle und Leibeshöhle. Coelom-Theorie. Pseudocoel und Enterocoel. Die beiden Hauptgruppen der Metazoen: I. Coelenterien oder Coelenteraten (ohne Leibeshöhle). II. Coelo- marien oder Bilateraten (mit Leibeshöhle). Meine Herren! Das natürliche System der Organismen, wel- ches wir ebenso im Thierreich wie im Pflanzenreich zunächst als Leitfaden für unsere genealogischen Untersuchungen benutzen müssen, ist hier wie dort erst neueren Ursprungs, und wesentlich durch die Fortschritte unseres Jahrhunderts in der vergleichenden Anatomie und Ontogenie bedingt. Die Classifications-Versuche des vorigen Jahrhunderts bewegten sich fast sämmtlich noch in der Bahn des künstlichen Systems, welches zuerst Karl Linne (1755) in strengerer Form aufgestellt hatte. Das künstliche Sy- stem unterscheidet sich von dem natürlichen wesentlich dadurch, dass es nicht die gesammte Organisation und die innere, auf der Stamm-Verwandtschaft beruhende Form-Verwandtschaft zur Grund- lage der Eintheilung macht, sondern nur einzelne und dazu meist 488 Natürliches und künstliches System des Thierreichs. 6.8 noch äusserliche, leicht in die Augen fallende Merkmale. So un- terschied Linne seine 24 Classen des Pflanzenreichs wesentlich nach der Zahl, Bildung und Verbindung der Staubgefässe. Ebenso unterschied derselbe im Thierreiche sechs Classen wesentlich nach der Beschaffenheit des Herzens und des Blutes. Diese sechs Classen waren: 1. die Säugethiere; 2. die Vögel; 3. die Amphi- bien; 4. die Fische; 5. die Insecten und 6. die Würmer. Diese sechs Thierelassen Linne’s sind aber keineswegs von gleichem Werthe, und es war schon ein wichtiger Fortschritt, als Lamarck zu Ende des vorigen Jahrhunderts die vier ersten Classen als Wirbelthiere (Vertebrata) zusammenfasste, und die- sen die übrigen Thiere, die Inseeten und Würmer Linne’s, als eine zweite Haupt-Abtheilung, als Wirbellose (Invertebrata) gegenüberstellte. Eigentlich griff Lamarck damit auf den Vater der Naturgeschichte, auf Aristoteles zurück, welcher diese bei- den Haupt-Gruppen bereits unterschieden, und die ersteren Blut- thiere (Enaema), die letzteren Blutlose (Anaema), genannt hatte. In dem System des Thierreichs, welches Lamarck 1801 veröffentlichte, unterschied er bereits elf Classen; davon kommen vier auf die Wirbelthiere (Säugethiere, Vögel, Amphibien, Fische), und sieben auf die Wirbellosen (Mollusken, Crusta- ceen, Arachniden, Insecten, Würmer, Strahlthiere, Polypen). Mit Ausnahme der beiden letzten Classen, welche niedere Thiere von sehr verschiedener Organisation enthalten, waren die übrigen Classen von Lamarck sehr natürliche Haupt-Gruppen; der grosse Vorläufer Darwin’s war somit zugleich der erste Zoologe, wel- cher das bis dahin allein gültige System Linne’s nach Verlauf von 66 Jahren wesentlich verbesserte und umgestaltete. Den nächsten grossen Fortschritt zum natürlichen System des Thierreichs thaten einige Decennien später zwei der verdienst- vollsten Zoologen, George Cuvier und Carl Ernst Baer. Wie schon früher erwähnt wurde, stellten dieselben fast gleichzeitig (1517), und unabhängig von einander, die Behauptung auf, dass mehrere grundverschiedene Haupt-Gruppen im Thierreich zu un- terscheiden seien, von denen jede einen ganz eigenthümlichen Bauplan oder Typus besitze. In jeder dieser Haupt-Abtheilungen N. Die vier Typen des Thierreichs von Cuvier und Baer. 489 giebt es eine baumförmig verzweigte Stufenleiter von sehr ein fachen und unvollkommenen bis zu höchst zusammengesetzten und entwickelten Formen. Der Ausbildungsgrad innerhalb eines jeden Typus ist ganz unabhängig von dem eigenthümlichen Bauplan, der dem Typus als besonderer Charakter zu Grunde liegt. Dieser „Typus“ wird durch das eigenthümliche Lagerungs- Verhältniss der wichtigsten Körpertheile und die Verbindungs- weise der Organe bestimmt. Der Ausbildungsgrad dagegen ist abhängig von der mehr oder weniger weitgehenden Arbeitsthei- lung und Formspaltung der Organe. Diese ausserordentlich wich- tige und fruchtbare Idee begründete Baer (1528) auf die indi- viduelle Entwickelungs-Geschichte der Thiere, während Cuvier sich bloss an die Resultate der vergleichenden Anatomie hielt. Doch erkannte weder dieser noch jener die wahre Ursache jenes merkwürdigen Verhältnisses. Diese wird uns erst durch die De- scendenz-Theorie enthüllt. Sie zeigt uns, dass der gemeinsame Typus oder Bauplan durch die Vererbung, der Grad der Aus- bildung oder Sonderung dagegen durch die Anpassung be- dingt ist. Cuvier hatte schon 1812 im Thierreiche vier verschiedene Typen oder Baupläne unterschieden und dasselbe dem entsprechend in vier grosse Haupt -Abtheilungen, Zweige oder Kreise einge- theilt (vergl. oben S.47). Die erste von diesen wird durch die Wirbelthiere (Vertebrata) gebildet, die vier ersten Classen Linne’s umfassend: die Säugethiere, Vögel, Amphibien und Fische. Den zweiten Typus bilden die Gliederthiere (Artieulata), welche den Insecten Linne’s entsprechen, also die eigentlichen Insecten und Tausendfüsse, die Spinnen und Krebse, ausserdem aber auch die gegliederten Würmer oder Anneliden. Die dritte Haupt -Abtheilung umfasst die Weichthiere (Mollusca): die Kracken, Schnecken, Muscheln, und einige verwandte Gruppen. Der vierte und letzte Kreis des Thierreichs endlich ist aus den verschiedenen Strahlthieren (Radiata) zusammengesetzt, welche sich auf den ersten Blick von den drei vorhergehenden Typen durch ihre „strahlige“, blumenähnliche Körperform unterscheiden. Während nämlich bei den Weichthieren, Gliederthieren und Wir- 490 Die acht thierischen Typen der neueren Zoologie. BD. belthieren der Körper aus zwei symmetrisch-gleichen Seitenhälften besteht, aus zwei Gegenstücken oder Antimeren, von denen das eine das Spiegelbild des anderen darstellt, so ist dagegen bei den sogenannten Strahlthieren der Körper aus mehr als zwei, gewöhn- lich vier, fünf oder sechs Gegenstücken zusammengesetzt, welche wie bei einer Blume um eine gemeinsame Hauptaxe gruppirt sind. So auffallend dieser Unterschied zunächst auch erscheint, so ist er doch im Grunde nur untergeordnet, und keineswegs hat die „Strahlform“ bei allen „Strahlthieren“ dieselbe Bedeutung. Die Aufstellung dieser vier natürlichen Haupt-Gruppen (Typen oder Kreise des Thierreichs) durch Cuvier und Baer war der grösste Fortschritt in der Classification der Thiere seit Linne. Die drei Gruppen der Wirbelthiere, Gliederthiere und Weich- thiere sind so naturgemäss, dass sie noch heutzutage in wenig verändertem Umfang beibehalten werden. Dagegen musste die ganz unnatürliche Vereinigung der Strahlthiere bei genauerer Er- kenntniss alsbald aufgelöst werden. Zuerst wies Leuckart 1848 nach, dass darunter zwei grundverschiedene Typen vermischt seien, nämlich einerseits die Sternthiere (Zchinoderma): die Seesterne, Seelilien, Seeigel und Seegurken; andererseits die Pflanzenthiere (Coelenterata oder Zoophyta): die Schwämme, Polypen, Korallen, Schirmquallen und Kammquallen. Schon vorher (1845) hatte der ausgezeichnete Münchener Zoologe Siebold die Infusionsthierchen oder Infusorien mit den Wurzelfüssern oder Rhizopoden in einer besonderen Haupt-Abthei- lung als Urthiere (Protozoa) vereinigt, und ihren Charakter als einzelliger Thiere hervorgehoben. Dadurch stieg die Zahl der thierischen Typen oder Kreise auf sechs. Später wurde dieselbe noch dadurch um einen siebenten Typus vermehrt, dass die neue- ren Zoologen die Haupt-Abtheilung der Gliederthiere oder Articu- laten in zwei Gruppen trennten, einerseits die mit gegliederten Beinen versehenen Gliederfüsser (Arthropoda), welche den Insecten im Sinne Linne’s entsprechen, nämlich die eigentlichen (sechsbeinigen) Insecten, die Tausendfüsse, Spinnen und Krebse; andrerseits die fusslosen oder mit ungegliederten Füssen versehe- nen Würmer (Vermes). Diese letzteren umfassen nur die eigent- N, Verwandtschaften der acht thierischen Stämme. 491 lichen Würmer (die Rundwürmer, Plattwürmer u. s. w.); sie ent- sprechen daher keineswegs den Würmern im Sinne Linne's, welcher dazu auch noch die Weichthiere, Strahlthiere und viele andere niedere Thiere gerechnet hatte. Endlich wurden neuer- dings auch die Mantelthiere (Tunicata), die früher bald zu den Weichthieren, bald zu den Würmern gestellt wurden, als eine selbstständige, achte Haupt-Gruppe des Thierreiehs anerkannt. So wäre denn nach der Anschauung der neueren Zoologen, welche in den meisten Hand- und Lehrbüchern der gegenwärtigen Thierkunde vertreten wird, das Thierreich aus acht Typen oder obersten, ganz verschiedenen Haupt-Abtheilungen zusammenge- setzt, jede durch einen charakteristischen, ihr ganz eigenthüm- lichen sogenannten Bauplan ausgezeichnet, und von jeder anderen völlig verschieden. In dem natürlichen System des Thierreichs, welches ich Ihnen jetzt als den wahrscheinlichen Stammbaum desselben entwickeln werde, schliesse ich mich im Grossen und Ganzen dieser üblichen Eintheilung an, jedoch nicht ohne einige Modificationen, welche ich in Betreff der Genealogie für sehr wich- tig halte, und welche unmittelbar durch unsere historische Auf- fassung der thierischen Formbildung bedingt sind. Schon vor zwanzig Jahren war ich durch meine Unter- suchungen über vergleichende Entwickelungs-Geschichte zu der Ueberzeugung gelangt, dass die acht Stämme des Thier- reichs keineswegs äquivalente Haupt-Gruppen, sondern von ganz verschiedener morphologischer und phylogenetischer Be- deutung sind. Die acht thierischen Stämme oder Typen dürfen daher nicht, wie es noch heute vielfach geschieht, einfach in einer Reihe hinter einander aufgeführt und beschrieben werden, son- dern sie müssen wieder in verschiedene übergeordnete Haupt- Gruppen zusammengestellt und deren wahrscheinliche Stamm- verwandtschaft kritisch in Betracht gezogen werden. Für diese kritisch-phylogenetische Betrachtung darf ausschliesslich weder die vergleichende Anatomie, noch die vergleichende On- togenie maassgebend sein, sondern diese beiden grossen Schöp- fungs-Urkunden müssen in umfassender Weise zusammengestellt und mit morphologischem Urtheil zur gegenseitigen Ergänzung 492 Philosophie der Kalkschwämme. KXe benutzt werden; ausserdem muss auch daneben die dritte Schöp- fungs-Urkunde, die Paläontologie, beständig im Auge behalten werden. Indem ich, von diesen Grundsätzen ausgehend, die phyloge- netischen Beziehungen der acht Thier- Stämme untersuchte und mich bestrebte, den ersten (1566 in der „Generellen Morpholo- gie“ erschienenen) Entwurf einer phylogenetischen Classi- fication zu verbessern, gelangte ich zu einer neuen, wesentlich veränderten Auffassung des Thiersystems. Die Grundzüge der- selben veröffentlichte ich 1872 in meiner „Philosophie der Kalkschwämme“ (im vierten Abschnitte der Monographie der Caleispongien, Bd. I, S. 465). Diese merkwürdige Classe von See- thieren ist durch eine ganz ausserordentliche Unbeständigkeit der Körperform ausgezeichnet, so dass man sogenannte „gute Arten“, d.h. „relativ constante Species“, in gewöhnlichem Sinne über- haupt nicht unterscheiden kann (vergl. oben S. 268). Fünf Jahre hindurch untersuchte ich an einem ausserordentlich reichen und vollständigen Material alle Verhältnisse ihrer Formbildung und Entwickelung auf das Genaueste; ich wurde dadurch in den Stand gesetzt, alle Arten dieser Classe (— deren man nach Be- lieben 111 oder 289 oder 591 unterscheiden kann —) auf eine einzige gemeinsame Stammform zurückzuführen, den Olynthus. Mit einigem Rechte durfte ich daher wohl meine Monographie der Kalkschwämme — den ersten Versuch eines durchgeführten phylogenetischen Systems einer formenreichen Classe — zu- gleich als einen „Versuch zur analytischen Lösung des Problems von der Entstehung der Arten“ bezeichnen. Jene merkwürdige Stammform der Kalkschwämme, Olyn- thus, (Taf. VI), ist seitdem auch als die phylogenetische Grund- form aller übrigen Spongien nachgewiesen worden und wird jetzt allgemein als die gemeinschaftliche Stammform der ganzen Schwamm-Classe betrachtet. Indem ich nun den Olynthus, als einfachen, aus zwei Zellenschichten zusammengesetzten Schlauch, mit der ähnlichen zweiblättrigen Keimform der Metazoen, der Gastrula verglich (8.300), gelangte ich zu der Ueberzeugung, dass der erstere auf einer sehr tiefen Bildungsstufe stehen bleibe, ER Grundzüge der Gastraea-Theerie. 493 welche von allen übrigen Gewebe-Thieren in früher Jugend vor- übergehend durchlaufen wird. Dieser Jugendzustand, die Ga- strula, war bis dahin in sehr verschiedener Weise aufgefasst, und in den divergenten Stämmen des Thierreichs als eine gänzlich verschiedene Keimform angesehen worden. Im Gegensatz zu dieser allgemein herrschenden Ansicht versuchte ich zu zeigen, dass die auffallenden Unterschiede der Keimformen von untergeordneter Bedeutung und nur Modificationen einer und derselben Urform, einer primären Gastrula sind. Daraus schloss ich weiter nach dem biogenetischen Grundgesetze, auf eine entsprechende gemein- same Stammform aller vielzelligen Thiere, die Gastraea. Das Capitel über „die Keimblätter-Theorie und den Stammbaum des Thierreichs“, welches in der „Philosophie der Kalkschwämme“ steht, und welches zum ersten Male die Homologie der bei- den primären Keimblätter bei allen Metazoen behauptet, schliesst mit folgendem Satze: „Aus dieser Identität der Gastrula bei Repräsentanten der verschiedensten Thierstämme, von den Spongien bis zu den Vertebraten, schliesse ich nach dem biogene- tischen Grundgesetze auf eine gemeinsame Descendenz der animalen Phylen von einer einzigen unbekannten Stammform, welche im Wesentlichen der Gastrula gleichgebildet war: „Gastraea“ (a. a. 0. 1872, Bd.I, S. 467). In dem „Stammbaum des Thierreichs“, welcher diesem Satze vorangeht (S. 465), leitete ich die fünf höheren Thier-Stämme (Vertebraten, Mollusken, Tunicaten, Arthropoden und Echinoder- men) von der gemeinsamen Stamm-Gruppe der Coelomaten ab, von den „Würmern mit Leibeshöhle“. Von diesen nahm ich an, dass sie ursprünglich aus Acoelomien oder Platoden entstan- den seien, „Würmern ohne Leibeshöhle“. Für diese letzteren aber und für die Pflanzen-Thiere glaubte ich eine directe Abstammung von der hypothetischen Gastraea annehmen zu dürfen. Diese Grundzüge der Gastraea-Theorie, welche zuerst in der Monographie der Kalkschwämme mitgetheilt wurden, führte ich im folgenden Jahre weiter aus in meinen Studien „Zur Mor- phologie der Infusorien“ (Jena. Zeitschr. 1873, Bd. VII, 8. 560). Die ausführliche Begründung derselben, sowie ihre Anwendung 494 Phylogenetische Einheit der Thier-Typen. KR auf die wichtigsten phylogenetischen und morphologischen Pro- bleme, ist enthalten in meinen „Studien zur Gastraea-Theorie“ (1873—1877). Ihre erste Bestätigung erhält sie durch den aus- gezeichneten englischen Zoologen Ray-Lankester, welcher (1875) selbstständig zu ähnlichen Anschauungen gelangt war. Auch der erste vergleichende Anatom der Gegenwart, Carl Ge- senbaur, verlieh ihr durch seine Zustimmung die werthvollste Unterstützung. Hertwig, Rabl, Selenka, Balfour, Rückert, Hatschek, und viele andere Embryologen lieferten weitere Be- weise dafür. Obgleich vielfach angefochten, hat sich doch die Gastraea-Theorie in den wesentlichsten Punkten als richtig bewährt und ist heute von den meisten Zoologen als brauchbare Grundlage des heutigen phylogenetischen Thier-Systems anerkannt worden. Als eine der wichtigsten systematischen Consequenzen ergab sich zunächst die vollständige Trennung der einzelligen Proto- zoen von den übrigen vielzelligen Thieren, die ich ihnen als Metazoen gegenüberstellte (vergl. oben S. 414). Weiterhin unter- schied ich unter den Metazoen zunächst zwei Haupt-Gruppen. Die beiden niederen Stämme (Coelenteraten und Acoelomien) haben weder Blut noch Leibeshöhle; diese kommen nur den fünf höheren Stämmen zu. Unter letzteren aber stellen die Coelomaten (oder die Würmer mit Leibeshöhle) die gemeinsame Stamm-Gruppe dar, aus welcher sich die höheren typischen Thier-Stämme diver- gent entwickelt haben. Was nun zunächst die phylogenetische Einheit der grossen Stämme des Thierreichs betrifft, so dürfen wir schon jetzt mit befriedigender Sicherheit aus zahlreichen Thatsachen der verglei- chenden Anatomie und Ontogenie auf die gemeinsame Abstam- mung aller derjenigen Thiere schliessen, die zu einem sogenann- ten „Typus“ gehören. Denn trotz aller Mannichfaltigkeit in der äusseren Form, welche innerhalb jedes dieser Typen sich ent- wickelt, ist dennoch die Grundlage des inneren Baues, das we- sentliche Lagerungs-Verhältniss der Körpertheile, welches den Typus bestimmt, so constant, bei allen Gliedern jedes Typus so übereinstimmend, dass man dieselben eben wegen dieser inneren Form-Verwandtschaft im natürlichen System in einer einzigen RER Polyphyletische und monophyletische Abstammung. 495 Haupt-Gruppe vereinigen muss. Daraus folgt aber unmittelbar, dass diese Vereinigung auch im Stammbaum des Thierreichs statt- finden darf. Denn die wahre Ursache jener innigen Form-Ver- wandtschaft kann nur durch Vererbung bedingt sein, ist also wirkliche Stamm-Verwandtschaft. Wir können demnach vorläufig an dem wichtigen Satz festhalten, dass alle Thiere, welche zu einem und demselben Kreis oder Typus gehören, von einer und derselben ursprünglichen Stamm- Form abstammen. Mit anderen Worten, der Begriff des Kreises oder Typus, wie er in der Zoologie seit Baer und Cuvier für die wenigen ober- sten Haupt-Gruppen des Thierreichs gebräuchlich ist, fällt zusam- men mit dem Begriff des Stammes oder Phylum, wie ihn die Descendenz- Theorie für die Gesammtheit derjenigen Organismen anwendet, welche höchst wahrscheinlich stammverwandt sind und eine gemeinsame ursprüngliche Wurzel besitzen. An diese wichtige Erkenntniss schliesst sich nun zunächst als ein zweites phylogenetisches Problem die Frage an: Wo kom- men die einzelnen Thier-Stämme her? Sind die ursprünglichen Stamm-Formen derselben ganz selbstständigen Ursprungs, oder sind auch sie unter einander in entfernterem Grade blutsver- wandt? Anfänglich könnte man geneigt sein, diese Frage in polyphyletischem Sinne zu beantworten, und für jeden grossen Thier-Stamm mindestens eine selbstständinge und von den an- deren gänzlich unabhängige Stamm-Form anzunehmen. Allein bei eingehendem Nachdenken über dieses schwierige Problem gelangt man doch schliesslich zu der monophyletischen Ueberzeugung, dass auch die einfachen Stamm-Formen ganz unten an der Wur- zel zusammenhängen, dass auch sie wieder von einer einzigen, gemeinsamen Urform abzuleiten sind. Wenn man von den ein- zelligen Protisten ganz absieht und bloss die Abstammung der vielzelligen Histonen vergleichend untersucht, so gewinnt auch im Thierreich, wie im Pflanzenreich, bei näherer Be- trachtung die einstämmige oder monophyletische Descen- denz-Hypothese, gestützt auf die Gastraea-Theorie, das Uebergewicht über die entgegengesetzte, vielstämmige oder polyphyletische Hypothese. 496 Aelteste einzellige Stamm-Formen des Thierreichs. et Vor Allem und in erster Linie ist es die vergleichende Keimes-Geschichte oder Ontogenie, welche uns zu dieser monophyletischen Ueberzeugung führt. Der Zoologe, welcher die individuelle Entwickelungs-Geschichte der Thiere denkend ver- gleicht und die Bedeutung des biogenetischen Grundgesetzes be- griffen hat (S. 361), wird sich der Ueberzeugung nicht verschliessen, dass auch für alle Metazoen-Stämme eine gemeinsame Wurzel-Form angenommen werden kann. Auf Grund der vergleichenden Onto- genie können wir alle Thiere mit Inbegriff des Menschen auf eine einzige gemeinsame Stamm-Form zurückführen. Aus den onto- genetischen Thatsachen ergiebt sich die nachstehende phylo- genetische Hypothese, welche ich in meinen „Studien zur Gastraea- Theorie“ '°) und in der „Anthropogenie“ °°) näher erläutert habe. Die erste und wichtigste Erscheinung, welche uns die ver- gleichende Keimes-Geschichte lehrt, ist die Thatsache, dass jedes vielzellige Thier sich aus einer einfachen Zelle entwickelt. Diese erste Zelle ist die Cytula, die Stamm-Zelle oder die sogenannte „erste Furchungskugel“. (Fig. 20B, S. 504.) Wir haben ihre Entstehung aus der befruchteten Eizelle, sowie die Bedeutung des Befruchtungs-Aktes schon friiher betrachtet (S. 296). Der onto- genetischen Cytula entsprechend dürfen wir als gemeinsame phy- logenetische Stamm-Form des ganzen Thierreichs die einfache thierische Zelle oder das einzellige Urthier ansehen; in ein- fachster Form tritt uns dasselbe noch heute in den Amoeben der Gegenwart lebendig vor Augen. Gleich diesen einfachen noch jetzt lebenden Amoeben, und gleich den nackten, davon nicht zu un- terscheidenden Eizellen vieler niederen Thiere (z. B. der Schwämme, Taf. VI, S. 520, Fig. 4, 16), waren auch jene uralten Stamm- Amoeben noch ganz einfache nackte Zellen; sie haben sich wahr- scheinlich mittelst formwechselnder Fortsätze kriechend in dem laurentischen Urmeere umherbewegt und auf dieselbe Weise, wie die heutigen Amoeben, ernährt und durch Theilung fortgepflanzt (vergl. S. 169 und 380). Die Existenz dieser einzelligen, einer Amoebe gleichen Stamm-Form des ganzen Thierreichs wird un- widerleglich durch die höchst wichtige Thatsache bewiesen, dass das befruchtete Ei aller Thiere, vom Schwamm und vom RX, Aelteste vielzellige Stamm-Formen des Thierreichs. 497 Wurm bis zur Ameise und zum Menschen hinauf eine einfache Zelle ist. Die reifen Eier der verschiedenen Thiere zeigen oft sehr verschiedene Gestalt, je nachdem sie von mannichfaltigen geformten Hüllen umschlossen oder mit Nahrungsdotter belastet sind. Allein die jugendlichen Eizellen sind noch nackt und mem- branlos, von einfachster Beschaffenheit, und bisweilen kriechen sie selbst gleich einer Amoebe im Körper umher, so z. B. bei Schwämmen; sie sind hier sogar früher für parasitische Amoeben gehalten worden. Die hypothetische gemeinsame einzellige Stamm-Form des Thierreichs, deren einstmalige Existenz durch die Cytula be- wiesen wird, können wir als Cytaea oder „Urstamm-Zelle“ unterscheiden. (S. 406.) Die Frage nach der ursprünglichen Herkunft dieser Cytaea haben wir schon früher beantwortet, als wir zeigten, dass die ältesten Stamm-Formen aller einzelligen Wesen — also auch der Cytaea — nur einfachste Moneren gewesen sein können ($. 406, 426 etc.). Man dürfte demnach erwarten, dass auch in der Öntogenie der kernlose Moneren-Zustand dem kernhaltigen einzelligen Zu- stande vorausgeht. In der That glaubte man bis vor Kurzem, dass im Beginne der individuellen Entwickelung ein kernloses Stadium auftritt (Monerula); die Cytula sollte aus diesem erst wieder durch Neubildung eines Kernes entstehen. Indessen die wichtigen neueren früher schon besprochenen Beobachtungen über Befruchtung (S. 296) haben diese Annahme widerlegt. Es scheint, dass das Monerula-Stadium durch abgekürzte Vererbung verloren gegangen ist (S. 191). Aus dem einzelligen Zustande entwickelte sich zunächst der einfachste vielzellige Zustand, nämlich ein Haufen oder eine kleine Gemeinde von einfachen, gleichartigen Zellen, eine Zell- horde (Coenobium). Noch jetzt entsteht bei der ontogenetischen Entwickelung jeder thierischen Eizelle durch wiederholte Theilung derselben (durch die sogenannte „Eifurchung“) zunächst ein kugeliger Haufen von gleichartigen nackten Zellen (vergl. Fig. 6, S. 298, und Fig. 20C, D, E, S. 504). Wir nannten diesen Zellen- haufen wegen seiner Aehnlichkeit mit einer Maulbeere oder Brom- Haeckel, Natürl. Schöpfungs-Gesch. 3. Aufl. 32 498 Aelteste vielzellige Stamm-Formen des Thierreichs. Re beere das Maulbeer-Stadium oder den Maulbeer-Keim (Morula). In allen verschiedenen Thier-Stämmen kehrt dieser Morula-Körper in ähnlicher einfacher Gestalt wieder, und gerade aus diesem wichtigen Umstande können wir nach dem biogene- tischen Grundgesetze mit der grössten Sicherheit schliessen, dass auch die älteste vielzellige Stamm-Form des Thierreichs einer solchen Morula glich, und einen einfachen Haufen von lauter amoebenartigen, unter sich gleichen Urzellen darstellte. Wir wollen diese älteste Amoeben-Gesellschaft, diese einfachste Thier- zellen-Gemeinde, welche durch die Morula recapitulirt wird, Moraea oder Synamoebium nennen. Unter den verschiedenen, heute noch lebenden Coenobien von Protozoen können namentlich die einfachen Zellhorden von Lobosen und Flagellaten damit ver- glichen werden. (Vergl. Taf. V, Fig. 3—5, und 13—15). Aus dem Synamoebium entwickelte sich weiterhin in früher laurentischer Urzeit eine dritte Stamm-Form des Thierreichs, welche die Gestalt einer Hohlkugel hatte, und die wir daher Kugelblase (Dlastaea) nennen wollen. Diese Blastaea ent- stand aus der Moraea dadurch, dass im Inneren des kugeligen Zellenhaufens sich Flüssigkeit oder Gallerte ansammelte. Dadurch wurden die sämmtlichen gleichartigen Zellen an die Oberfläche gedrängt und bildeten nunmehr als einfache Zellenschicht die dünne Wand einer kugeligen Blase. Die amoeboiden Fortsätze der Zellen begannen sich rascher und regelmässiger zu bewegen und verwandelten sich in bleibende Flimmerhaare. “Durch die Flimmerbewegung dieser letzteren wurde der ganze vielzellige Körper in kräftigere und schnellere Bewegung versetzt, und ging aus der kriechenden in die schwimmende Ortsbewegung über. Auf diese uralten phylogenetischen Vorgänge dürfen wir aus sicheren ontogenetischen Thatsachen schliessen. Denn in ganz derselben Weise geht noch gegenwärtig bei der Keimung niederer Thiere aus den verschiedensten Thier-Stämmen die Morula in eine flimmernde Larvenform über, welche bald Blastula, bald „Blastosphaera* oder Blasenkeim genannt wird. (Fig. 20F,G, S. 504.) Diese Blastula ist ein blasenförmiger kugeliger Körper, welcher mittelst Flimmerbewegung im Wasser umherschwimmt. XX. Die Hohlkugel als Urform des Thierreichs. 499 Die dünne Wand der kugeligen mit Flüssigkeit gefüllten Blase besteht aus einer einzigen Schicht von gleichartigen flimmernden Zellen, der sogenannten Keimhaut (Blastoderma, Taf. V, Fig. 6k, 16k). Der kugelige Hohlraum, welchen die Keimhaut allseitig und gleichmässig umschliesst, heisst Keimhöhle (Blastocoeloma, b). Die hohe Bedeutung der Blastula, als einer uralten gemein- samen Stamm-Form des Thierreichs, wurde schon vor 60 Jahren von dem genialen Embryologen Baer mit prophetischem Blicke vorausgesehen. In seiner classischen „Entwickelungs-Geschichte der Thiere“* stellt er den kühnen Satz auf: „Beim ersten Auftreten sind vielleicht alle Thiere gleich und nur hohle Kugeln“; und er erläutert diesen Satz mit folgenden Worten (Bd. I, S. 223): „Je weiter wir in der Entwickelung zurück- gehen, um desto mehr finden wir auch in sehr verschiedenen Thieren eine Uebereinstimmung. Wir werden hierdurch zu der Frage geführt: Ob nicht im Beginne der Entwickelung alle Thiere im Wesentlichen sich gleich sind, und ob nicht für Alle eine gemeinsame Urform besteht? — Da der Keim das unausgebildete Thier selbst ist, so kann man nicht ohne Grund behaupten, dass die einfache Blasenform die gemeinschaftliche Grund- form ist, aus der sich alle Thiere nicht nur der Idee nach, son- dern historisch entwickeln.“ Dieser merkwürdige Lehrsatz, welcher erst nach einem halben Jahrhundert fest empirisch begründet wurde, erscheint uns heute um so bewunderungswürdiger, als Baer damals (1828) nicht entfernt im Stande war, denselben glaubwürdig zu beweisen; er selbst hatte nur sehr wenige Keim- blasen gesehen; und die grundlegende Zellentheorie wurde erst zehn Jahre später geboren! Unsere hypothetische Annahme, dass die heutige Blastula-Keim- form die erbliche Wiederholung einer Blastaea-Stammform darstellt, wird unmittelbar durch die Thatsache glaubwürdig, dass noch heute ganz ähnliche Formen existiren, so namentlich verschiedene Volvocinen und die früher beschriebenen Catallacten (Magosphaera, S. 443). Die bekannteste von diesen ist das gemeine „Kugel- thierchen“ (Volvox globator), ein Coenobium aus der Klasse der Geisselschwärmer (Flagellata, S. 442). Der kugelige Gallertkörper V)% Im 500 Blastula und Gastrula. ww desselben trägt an der Oberfläche eine einfache Lage von Geissel- Zellen, durch deren schwingende Geisseln er im Wasser schwim- mend umhergetrieben wird. Beim reifen Kugel-Thierchen tritt eine sexuelle Arbeitstheilung ein, indem einzelne dieser Zellen sich in Eizellen, andere in Sperma-Zellen verwandeln. Bei den ähnlichen Catallacten hingegen löst sich die kugelige Zellhorde späterhin auf, ohne dass es zu jener geschlechtlichen Fortpflanzung kömmt. Jede einzelne Zelle lebt dann auf ihre Hand weiter (in Amoeben-Form), wächst durch Nahrungs-Aufnahme und kapselt sich ein. Innerhalb der kugeligen Kapsel vermehrt sich der ein- zellige Organismus durch wiederholte Theilung (wie bei der Ei- furchung), und bildet endlich wieder eine Flimmerkugel, gleich der Blastula. Aus der Blastula entwickelt sich bei Thieren aller Stämme weiterhin zunächst jene ausserordentlich wichtige und interessante Thierform, welche ich in meiner Monographie der Kalkschwämme mit dem Namen Becherkeim oder Gastrula (d. h. Magenlarve oder Darmlarve) belegt habe (Fig. 20 I, K, S. 504). Diese (Gastrula gleicht äusserlich der Blastula, unterscheidet sich aber wesentlich dadurch von ihr, dass ihr innerer Hohlraum sich durch eine Mündung nach aussen öffnet und dass die Zellenwand des- selben nicht einschichtig, sondern zweischichtig ist. Die Gastrula entsteht aus der Blastula dadurch, dass die Wand der letzteren in das Innere eingestülpt wird (Fig. 20 H). Zuletzt berührt die eingestülpte Hälfte der Blase die andere Hälfte und der ursprüng- liche Hohlraum (die „Keimhöhle*) verschwindet. Der wichtige, durch die Einstülpung entstandene Hohlraum ist der Urdarm oder „Urmagen* (Progaster oder Archenteron), die erste Anlage des ernährenden Darmcanals; seine Oeffnung ist der Urmund (Prostoma oder Blastoporus), die erste Mundöffnung. Die beiden Zellenschichten der Darmwand, welche zugleich die Körperwand der hohlen Gastrula ist, sind die beiden primären Keimblätter: Hautblatt (Exoderma) und Darmblatt (Zntoderma). Die höchst wichtige Larvenform der Gastrula kehrt in derselben Ge- stalt in der Ontogenese von Thieren aller Stämme wieder: bei den Schwämmen, Medusen, Korallen, Würmern, Mantelthieren. XX. Keimhöhle und Urdarmhöhle. 501 Sternthieren, Weichthieren, ja sogar bei den niedersten Wirbel- thieren (Amphiowus, vergl. Taf. XII, Fig. B4; Ascidia, ebenda- selbst Fig. A4). Auf Taf. V ist die Gastrulation unserer gewöhn- lichen Teichschnecke (ZLymmaeus, Fig. 1—10) nach den Beob- achtungen von Carl Rabl, sowie die Gastrulabildung eines Pfeil- wurms (Sagztta) nach den Untersuchungen von Gegenbaur und Hertwig dargestellt (Fig. 11—20). Fig. 8 und 18 zeigen die ent- wickelte Gastrula beider Thiere im Längsschnitt. Eine interessante Zwischen-Stufe zwischen der Blastula (Fig. 20 F,G) und der Gastrula (K, 1) bildet der halb. eingestülpte Zustand der ersteren (Fig. 20H; Taf. V, Fig. 7 und 17). Wir können denselben als Haubenkeim oder Depula bezeichnen. Da die Entstehung der Gastrula aus der Blastula durch Einstülpung der letzteren (Invagination) neuerdings durch zahlreiche verschiedene Beobachter als die ursprüngliche Bil- dungs-Art der ersteren erkannt worden ist, so dürfen wir an- nehmen, dass auch diesem ontogenetischen Zustande eine be- stimmte Ahnen-Form entspricht; auch dieser Zustand des Keimes kann nach unserem Entwickelungs-Grundgesetze durch Vererbung erklärt werden, als erbliche Wiederholung eines entsprechenden phylogenetischen Zustandes; wir wollen letzteren Depaea nennen (Depos = Becher). Auf diesem Zwischen-Zustand existiren neben einander zwei Höhlen im Keime; die ursprüngliche Keimhöhle (Blastocoel, b), in Rückbildung begriffen, und die Urdarmhöhle (Progoster, a), in Fortbildung begriffen. Letztere dehnt sich immer weiter aus auf Kosten der ersteren; doch bleibt bei manchen Metazoen ein Rest der Keimhöhle bestehen und kann eine falsche Leibeshöhle bilden (Pseudocoel). Aus der ontogenetischen Verbreitung der Gastrula bei den verschiedensten Thier-Classen, von den Pflanzen-Thieren bis zu den Wirbel-Thieren hinauf, können wir nach dem biogenetischen Grund-Gesetze mit Sicherheit den wichtigen Schluss ziehen, dass während der laurentischen Periode eine gemeinsame Stamm- Form der Metazoen-Stämme existirte, welche im Wesentlichen der Gastrula gleichgebildet war, unsere G@astraea. Diese Gastraea besass einen ganz einfachen, kugeligen, eiförmigen oder länglich 502 Die fünf ältesten Stamm-Formen des Thierreichs. 0x; runden Körper, der eine einfache Höhle von gleicher Gestalt, den Urdarm, umschloss; an einem Pole der Längsaxe öffnete sich der Urdarm durch einen Mund, der zur Nahrungs-Aufnahme diente. Die Körperwand (und zugleich Darmwand) bestand aus zwei Zellen-Schichten oder „Keimblättern“: Entoderm oder Darm- blatt, und Exoderm oder Hautblatt; durch die Flimmerbe- wegung des letzteren schwamm die Gastraea frei umher. Auch bei denjenigen höheren Thieren, bei denen die ursprüngliche Gastrula-Form in der Keimes-Geschichte durch gefälschte oder ab- gekürzte Vererbung (S. 190) verloren gegangen ist, hat sich den- noch die Zusammensetzung des Gastraea-Körpers auf diejenige Keim-Form vererbt, die zunächst aus der Morula entsteht. Diese Keim-Form ist hier eine runde Scheibe, die auf einem kugeligen „Nahrungsdotter* aufliest und aus zwei Zellenlagen oder Blättern besteht. Die äussere Zellenschicht, das animale oder neurale Keim-Blatt (Epiblast) entspricht dem Exoderm der Gastraea; aus ihr entwickelt sich die äussere Oberhaut (Epidermis) mit ihren Drüsen und Anhängen, so wie das Central-Nervensystem. Die innere Zellenschicht, das vegetative oder gastrale Keim- Blatt (Hypoblast) ist ursprünglich das Entoderm der Gastraea; aus ihr entwickelt sich die ernährende innere Haut (Epithelium) des Darmcanals und seiner Drüsen. (Vergl. meine „Anthropo- genie* °°), Vortrag XVI.) Drei verschiedene Grundgedanken erscheinen in unserer Gastraea-Theorie maassgebend: erstens dass die beiden pri- mären Keim-Blätter bei allen Metazoen homolog oder ursprünglich gleichbedeutend sind; zweitens dass die von ihnen umschlossene Höhle, der Urdarm, als ursprüngliches Ernährungs-Organ, das phylogenetisch älteste Organ der Metazoen ist; und drittens, dass demgemäss als älteste gemeinsame Stamm-Form der Metazoen eine uralte, längst ausgestorbene Gastraea anzusehen ist, die im Wesentlichen der einfachsten Form der heutigen Gastrula gleich- gebildet war. Eine sehr starke Stütze erhält diese Gastraea- Theorie durch die Thatsache, dass noch heute mehrere niedere Thiere existiren, welche dem hypothetischen Urbilde der Gastraea im Wesentlichen entsprechen (Taf.VI). Das bekannteste und in- XX. Die fünf ältesten Stamm-Formen des Thierreichs. 503 teressanteste von diesen Thieren ist unser gemeiner Süsswasser- Polyp (Hydra). Sehen wir ab von geringen Veränderungen in der Zusammensetzung des Hautblattes, sowie von einem einfachen Tentakelkranz, der secundär um den Mund hervorgesprosst ist, so erscheint uns die Hydra im Wesentlichen als eine perma- nente Gastraea; sie wird in diesem einfachsten Zustande ge- schlechtsreif und pflanzt sich fort, indem aus dem Hautblatt am vorderen Theile Sperma-Zellen, am hinteren Theile Eizellen ent- stehen. Eine andere, wenig vom Urbilde der Gastraea entfernte Thier-Form ist der Olynthus, die oben erwähnte Stamm-Form der Schwämme; eine dritte, nahe verwandte Gruppe bilden die Physemarien (Prophysema), eine vierte die Orthonectiden (Rhopalura). Vergl. Taf. VI, S. 520; und den folgenden Vortrag. Wir hätten demnach durch die vergleichende Keimes-Ge- schichte für unsere Hypothese von der monophyletischen Descen- denz des Thierreichs bereits fünf primordiale Entwickelungsstufen gewonnen: 1) die Amoebe; 2) die Moraea; 3) die Blastaea; 4) die Depaea und 5) die Gastraea. Die einstmalige Existenz dieser fünf ältesten, auf einander folgenden Stamm-Formen, welche im laurentischen Zeitalter gelebt haben müssen, folet unmittelbar aus dem biogenetischen Grundgesetz, aus dem Parallelismus und dem mechanischen Causalzusammenhang der Keimes- und Stammes- Geschichte (vgl. S. 309). Die vier ersten Formstufen (die ani- malen Amoeben. Moraea, Depaea und Blastaea) würden ihrer ein- fachen Beschaffenheit wegen noch zu den Protisten zu rechnen oder als eigentliche Urthiere (Protozoa) an letztere anzuschliessen sein. Mit der fünften Formstufe hingegen, mit der Gastraea, beginnt das eigentliche Thierreich und damit eine weit höhere Organisation. Ihre beiden Keimblätter bilden die ersten (Gewebe, die ursprüngliche Grundlage für alle Organe der Metazoen. Die phylogenetische Ableitung der verschiedenen Thier- Stämme aus der gemeinsamen Stamm-Form der Gastraea er- scheint in mancher Beziehung sehr klar und einfach, in anderer Beziehung hingegen sehr schwierig und verwickelt. Alle urtheils- fähigen Zoologen stimmen jetzt in der Annahme überein, dass alle höheren Thier-Gruppen ursprünglich von niederen abstammen. 504 Die fünf ersten Bildungsstufen des Thierkörpers. NR C Fig. 20. Keimung einer Koralle (Monoxenia Darwinii). A.Befruchtete Eizelle (Kernnichtsichtbar). B.Stammzelle Cytula.) C,D. Theilung der Stammzelle. E.Mo- rula. F, G. Blastula. H. Depula. I,K. Gastrula. (Fig.G,H undI im Durchschnitt). XX. Parallelismus der Ontogenese und Phylogenese. 505 Formwerth der fünf ersten | Entwickelungsstufen des Thierkörpers, verglichen in der individuellen und phyletischen Entwickelung Erste Entwickelungs- Stufe Eine einfache Zelle (Eine kernhaltige Plastide) Zweite. Entwickelungs- Stufe Eine solide Gemeinde (ein dichtes Aggregat) von gleichartigen einfachen Zellen (Coenobium). Dritte Entwickelungs- Stufe Eine kugelige oder eiför- mige, mit Flüssigkeit ge- füllte Blase, deren dünne Wand aus einer einzigen Schicht von gleichartigen flimmernden Zellen besteht Vierte Entwickelungs- Stufe Ein haubenförmiger Körper mit zwei getrennten Zell- schichten und zwei Höhlen (Blastocoel und Pro- gaster) Fünfte Entwickelungs- Stufe Ein kugeliger oder eiför- wiger Körper miteinfacher Darmhöhle und Mund- öffnung: Darmwand aus gesetzt: aussen Exoderm (Hautblatt, Dermalblatt); innen Entoderm (Darmblatt, Gastralblatt) zwei Blättern zusammen- Ontogenesis. Die fünf ersten Stufen der Keimes- Entwickelung 1% | Cytula | Stammzelle oder „Erste | Furchungskugel“ Fig. 20B. | 2. Morula (Maulbeerkeim) Kugeliger Haufen von | gleichartigen „Furehungskugeln*“ Fig. 20E. 5} Js Blastula (Blasenkeim) Hohle blasenförmige Larve (oder Embryo), deren einfache Wand aus einer einzigen Zellenschicht besteht. Fig. 20F, G 4. Depula (Hanbenkeim) Haubenförmige Larve mit Keimhöhle (Bla- stocoel) und Urdarm (Progaster). („wastrula invaginata“). Fig. 20H. r d. Gastrula (Becherkeim) Vielzellige Larve mit Urdarm und Urmund; Darmwand zweiblättrig | (Ursprüngliche ge- | meinsame Keimform der Darmthiere). Fig. 201, K ' geselligen gleichartigen ı Hohles blasenförmiges | Phylogenesis. Die fünf ersten Stufen der Stammes- | Entwickelung 13 (ytaea Urstammzelle. (Aelteste animale Amoebe). | > Moraea (Synamoebium oder Awmoebenstock) Ael- teste Coenobien von Zellen (Amoeben). D) Jr Blastaea (Flimmerschwärmer) Urthier, dessen dünne ı Wand aus einer ein- zigen flimmernien Zellenschicht besteht. 4. Depaea Zwischenform zwischen Blastaea und Gastraea, durch Einstülpung der Ersteren entstanden. (Gastraea invaginata) 5; Gastraea Vielzelliges Darmthier | mit Darm und Mund: | Darmwand zweiblättrig (Ursprüngliche ge- meinsame Stammform aller echten Thiere: Darmthiere oder NMetazoa). 506 Gastraea-Theorie und Coelom-Theorie. X Die niedersten und ältesten unter allen Metazoen sind die ein- fachsten Coelenteraten (Hydra, Olynthus, Gastraea). Auch nimmt man allgemein an, dass alle verschiedenen Organe der höheren Thiere ursprünglich aus den beiden einfachen Keim- blättern der Gastraea entstanden sind. Aber auf welchen Wegen jene höheren Stämme aus diesen niedersten Metazoen hervor- gegangen sind, wie die allgemeinen Verwandtschafts-Beziehungen derselben aufzufassen, und wie namentlich die erste Entstehung der einzelnen Organe aus den Keimblättern zu deuten ist, darüber gehen die Ansichten noch weit auseinander. Schon in meiner Monographie der Kalkschwämme, und ausführlicher in den Studien zur Gastraea-Theorie, hatte ich darauf hingewiesen, dass der wich- tigste Unterschied in der Organisation der niederen und höheren Thiere darauf beruht, dass bei den letzteren eine Leibeshöhle (Coeloma) und ein Blutsystem entwickelt ist, bei den ersteren hingegen noch fehlt. Darauf hin vereinigte ich als niedere Thier- Stämme die Pflanzen-Thiere (Coelenterata) und die Würmer ohne Leibeshöhle (Acoelomi). Diesen „blutlosen Thieren“ (Anaemaria) stellte ich gegenüber alle höheren Thier-Stämme als „Blutthiere“ (Haemataria), alle ausgerüstet mit einer Leibeshöhle, und die allermeisten auch mit einem Blutgefäss-System. Als Stamm- Gruppe dieser Haematarien (ursprünglich abgeleitet von Acoelo- mien) betrachtete ich die „Würmer mit Leibeshöhle* (Coelomati), und von diesen leitete ich als divergirende Zweige die vier höhe- ren Typen ab, die Stämme der Weichthiere, Sternthiere, Glieder- thiere und Wirbelthiere (Kalkschwämme, Bd. I, S 465; Gastraea- Theorie, Heft I, S. 54, 55). Die wichtige Frage von dem Ursprung und der systemati- schen Bedeutung der Leibeshöhle ist seitdem in einer grossen Reihe von Schriften ausführlich erörtert worden, am eingehend- sten und klarsten von den Gebrüdern Hertwig in ihren „Studien zur Blätter- Theorie“. Das vierte Heft dieser Studien ist „Die Coelom-Theorie, Versuch einer Erklärung des mittleren Keim- blattes“ (Jena 1881). Sie unterscheiden darin drei Haupt-Grup- pen der Metazoen: I. die Coelenteraten (Pflanzen-Thiere oder Zoophyten), ohne jede Leibeshöhle, bloss mit Darmhöhle; II. die EX, Coelenterien oder Niederthiere. 507 Pseudocoelien, mit einem Pseudocoel oder einer „falschen Lei- beshöhle“, entstanden durch Spaltbildung im mittleren Keimblatt, zwischen innerem und äusserem Keimblatt (Mollusken und Pla- thelminthen, Räderthierchen und Mosthierchen); Ill. die Entero- coelien, mit einer „wahren Leibeshöhle“ (Enterocoel), entstanden aus ein paar Taschen, welche seitlich aus dem Urdarm hervor- wachsen und sich von ihm abschnüren; so bei den meisten Wür- mern (Coelelminthen), den Sternthieren, Gliederthieren und Wir- belthieren. Die Goelom-Therorie der Gebrüder Hertwig enthält zahl- reiche vortreffliche Erörterungen über die Verwandtschafts- Bezie- hungen der grossen Thier-Stämme und schien eine Zeit lang viele Räthsel derselben sehr einfach zu erklären. Allein in neuerer Zeit sind die Hauptsätze derselben, insbesondere die Unterschei- dung des Pseudocoels und Enterocoels, sowie deren systematische Verwerthung, von verschiedenen Seiten aus hart angegriffen wor- den, und es scheint dass sie in ihrem ganzen Umfang nicht auf- recht zu erhalten sind. Ich ziehe es daher vor, hier zunächst nur jene beiden Haupt-Gruppen von Metazoen zu unterscheiden, welche ich schon früher als Anaemarien und Haematarien gegen- übergestellt hatte; als passendere Bezeichnung wähle ich für erstere Coelenteria (Niederthiere), für letztere Coelomaria (Ober- thiere). Die Coelenterien oder Niederthiere (— oder die (oelen- terata im weitesten Sinne —) werden von den meisten Zoologen nur als ein einziger Stamm aufgefasst. Ohne die Einheit des Stammes zu bezweifeln, halte ich es doch für richtiger, und be- sonders für die phylogenetische Classification vortheilhafter, diesen Typus in vier verschiedene Phylen, von sehr divergenter Organi- sation, aufzulösen: Die niederste und älteste von diesen Gruppen, die Wurzel des ganzen Metazoen-Reiches, bildet die Stamm- Gruppe der Gasfraeades oder Stamm-Thiere; in der Haupt- sache permanente Gastraea-Formen. Aus diesen haben sich wahr- scheinlich als drei divergente Stämme entwickelt: 1. dieSchwamm- thiere (Spongiae), 2. die Nesselthiere (Cnidaria) und 3. die Plattenthiere (Platodes). 508 Phylogenetisches System des Thierreichs. XX. Uebersicht über die zehn Stämme der Metazoen, mit Angabe ihrer characteristischen Merkmale. I. Coelenteria (Coelenterata, Zoophyta, Anaemaria) Metazoen ohne Leibes- höhle, ohne Blut, oyee After-Oeffnung. Skins Gliederung, Typisches Bone Eigen- (Phylen). Grundform. Nerven-Centrum heiten. Körper bloss aus 1. Gastraeades Stammthiere Keine Gliederung, 2. Spongiae Keine Gliederung, Schwammthiere Grundform ganz irrerulär. 3. Cnidaria Nesselthiere Keine Gliederung, | Grundform strahlig. 4. Platodes Plattenthiere | jene Gliederung, Grundform zwei- seitie. Grundform einaxig. Kein Nerven- Fer beiden Keim- blättern gebildet. Mikroskopische Hautporen zur Systeın. Kein Nerven- System. Nahrungs - Auf- nahme. Nervensystem Mikroskopische T bald fehlend, ringförmig. Einfacher Hirn- knoten und zwei bald | Nessel-Organe in der Oberhaut. Ein Paar Nephri- dien oder Ur- nieren-Canäle. | Uvı x br | Längsfäden. IL. Coelomaria (Bilaterata, Bilateria, Haemataria) Maren mit Leibeshöhle, meistens mit Blut und mit After- Oeffnung- | Keine Gliederung, 5. Helminthes f i Grundform zwei- Wurmthiere | ER seitig. Keine Gliederung, 6. Mollusca | Grundform et Weichthiere | a Aeussere Glieide- 7. Echinoderma | rung, Sternthiere | Grundform fünf- strahlig. Aeussere Gliede- 8. Articulata rung, Gliederthiere Grundform zwei- seitig. Keine Gliederung, Grundform zwei- 9. Tunicata Mantelthiere seitig. Innere Gliederung, Grundform zwei- seitig. 10. Vertebrata Wirbelthiere | | | | ae ; Mangel der posi- Einfacher Hirn- e tiven Merkmale der knoten oder übrigen Coelo- Schlundring. j marien. Doppelter Schlund-/ Dorsal- Mantel mit ring mit drei ? Kalkschale. Ven- Knoten-Paaren. traler Muskelfuss. | | | | | Ventrales Ambulacral- fünfstrahliges |) System. Verkalkte Sternmark. Lederhaut. Segmentirtes ERTRA NT Cutieulares Chitin- aucamark mit Skelet der Haut. | Schlundring. | | | | | Ä Cellulose - Mantel Hirnknoten. N 3 ; aus Bindegewebe. (Rückgebildetes Ki : n k (iemendarm. Rückenmark.) Endostyl. Entwickeltes Chorda oderWirbel- Rückenmark (und ! säule. Kiemendarm. meistens Gehirn). Ventral-Herz. XX. Monophyletischer Stammbaum des Thierreichs. Echinoderma (Sternthiere) Echinozoa Astrozoa (Theco- (Antho- stellae) stellae) | Pelma- tozoa (Pecto- stellae) — Pentactaea Rotatoria (Archel- minthes) Coelomaria near : Coelenteria } Spongiae (Schwammthiere) Metaspongiae Protospongiae Ölynthus | — Physemaria ee N, N Grenze | zwischen Bilateraten und Coelenteraten Strongylaria (Nemathel- | minthes) —— u | Helminthe Vertebrata (Wirbelthiere) Amniota Articulata (Gliederthiere) Tracheata | Grustacea nz rt Annelida Entero- pneusta (a nt Nemer- Gastro- tina tricha Anamnia Cylostoma Acrania | ——— un Mollusca Cephalopoda (Teuthodes) Tunicata (Mantelthiere) Thali- | diae | Acephala | (Con- , chades) I} Ascidiae u Copelata Gastropoda (Cochlides) Proso- | pygia (Brachel- —minthes) | s (Wnrmthiere) Platodes (Plattenthiere) Cestoda Trematoda Turbellaria —— e Gastraeades Gastraea Hydrozoa | | [ Bilaterata Coelenterata Cnidaria (Nesselthiere) Seyphozoa | — nn u | Hydra sÜyemaria | (Weichthiere) I 510 Coelomarien oder Oberthiere. x: Aus dem Stamm der Plattenthiere ist vermuthlich die zweite Haupt-Abtheilung der Metazoen hervorgegangen, die grosse Gruppe der Coelomarien oder Oberthiere (Dilaterata). Unter diesen schliesst sich die niederste Gruppe, der Stamm der Wurmthiere (Helminthes), unmittelbar an die Platoden an. Aus dem Haupt- Stamme der Helminthen sind wahrscheinlich vier verschiedene Stämme, unabhängig von einander hervorgegangen, die Weich- thiere (Mollusca), die Sternthiere (Zehinoderma), die Glie- derthiere (Articulata) und die Chordathiere (Chordonia); die letzteren haben sich frühzeitig in zwei sehr divergirende Stämme gespalten: die Mantelthiere (Tunicata) und die Wirbelthiere (Vertebrata). Die wichtigsten Unterschiede in der typischen Organisation dieser zehn Metazoen-Stämme sind in der tabellarischen Ueber- sicht auf S. 508 kurz angegeben. Wie der phylogenetische Zu- sammenhang derselben bei dem gegenwärtigen unvollkommenen Zustande unserer Kenntnisse ungefähr naturgemäss gedacht werden kann, soll der gegenüber stehende hypothetische Stammbaum (S. 509) erläutern. Ich wiederhole jedoch für denselben, wie auch für alle folgenden Stammbäume, ausdrücklich die Bemerkung, dass sie der Natur der Sache nach nur einen provisorischen Werth haben können. Diejenigen Naturforscher jedoch, welche tiefer in die Stammes-Geschichte der Organismen eindringen, werden sich bald überzeugen, dass die Stammbäume als heuristische Hy- pothesen einen sehr hohen Werth besitzen, und dass sie für eine klare Beantwortung der verwickelten phylogenetischen Fragen unentbehrlich sind. Taf. XVII. Nervensystem der Thierstämme. z a: (6 9 nn YA Y/ ‚A ® BR a re = D i SS 2 7 A e th S_lö > | es NE) = ee: STERN. EN mn en \ IND TREREENRN INNERN J Nervensvstem der Thierstämme. F a s ii R Fu hi ’ * « { x ee‘ [7 e * N u ü D . “ . % + u Er in u * . 5 v r 0) ch U Ä fi - Tu Einundzwanzigster Vortrag. Stammes-Geschichte der Niederthiere und Wurmithiere. Phylogenie der Coelenterien oder Coelenteraten: Gastraeaden (Gastraemo- nen, Cyemarien und Physemarien). Spongien. Ihre Organisation. Homologie der Geisselkammer und der Gastraea. Skeletbildungen der Schwämme. Die drei Classen des Spongien-Stammes: Kittschwämme (Malthospongien), Kiesel- schwämme (Silieispongien), Kalkschwämme (Caleispongien). Ihre gemeinsame Stamm-Form: Olynthus. Ammoconiden. Stamm der Nesselthiere (Unidarien oder Acalephen. Ihre Organisation. Abstammung aller Nesselthiere von einfachsten Polypen (Hydra). Hydropolypen und Seyphopolypen. Polyphyle- tischer Ursprung der Medusen und der Siphonophoren. Ctenophoren. Ko- rallen. Stamm der Plattenthiere (Platodes): die drei Classen der Strudel- würmer (Turbellarien), Saugwürmer (Trematoden) und Bandwürmer (Cestoden). Radiale und bilaterale Grund-Form. Nephridien. Phylogenie der Coelomarien oder Bilateraten: Metazoen mit Leibeshöhle, Blut und After. Abstammung der fünf höheren Thier-Stämme von Wurmthieren (Helminthen). Die vier Hauptelassen und zehn Classen der Helminthen. Meine Herren! Indem wir den schwierigen Versuch unter- nehmen, die Grundzüge einer allgemeinen Stammes-Geschichte des Thierreichs zu entwerfen, stützen wir uns zunächst auf die Unter- scheidung der zehn grossen Stämme oder Phylen der Metazoen (Vergl. S. 508). Dadurch, dass wir die wichtigsten Unterschiede in der Entwickelung und im Körperbau derselben von allgemein- sten Gesichtspunkten aus vergleichend betrachteten, wurden wir in den Stand gesetzt, sie zunächst auf zwei grosse Haupt-Gruppen zu vertheilen, die Niederthiere oder Coelenterien, und Oberthiere oder Coelomarien. Die Coelenterien (oder „Coelenterata“ im weitesten Sinne) besitzen keine Leibeshöhle und kein Blut; ihr Darm besitzt nur eine einzige Oeffnung, den Mund, aber keinen 512 Gastraeaden oder Urdarmthiere. XXE After. Hingegen besitzen die Coelomarien (oder „Bilaterata“) eine vom Darm getrennte Leibeshöhle, und gewöhnlich auch Blut und Blutgefässe; meistens besitzt auch der Darm zwei äussere Oeffnungen, Mund und After; jedoch ist der After nicht selten durch Rückbildung verschwunden. Es kann keinem Zweifel un- terliegen, dass von diesen beiden Haupt-Gruppen der Metazoen die einfacher gebauten Coelenterien die älteren und ursprüng- licheren sind. Erst später können sich aus diesen die Coelomarien entwickelt haben, und zwar in erster Linie durch Bildung einer Leibeshöhle (Coeloma); weiterhin durch Entwickelung eines Afters und eines Blutgefäss-Systems. Die Haupt-Gruppe der Coelenterien oder Coelenteraten (früher vielfach als Pflanzenthiere oder Zoophyten bezeichnet) setzt sich aus vier verschiedenen grösseren Gruppen oder Phylen zusammen; diese vier Stämme sind: 1. die Urdarmthiere (Gastrae- ades); 2. die Schwämme (Spongiae); 3. die Nesselthiere (Onidaria), und 4. die Plattenthiere (Platodes). Die drei letzteren Haupt-Classen haben sich wahrscheinlich unabhängig von einander aus der ersten Gruppe, den Gastraeaden entwickelt. Die erste Haupt-Gruppe der Coelenterien, die Abtheilung der Urdarmthiere (Gastraeades), ist aus den früher angeführten Gründen als die gemeinsame ursprüngliche Stamm-Gruppe aller Metazoen zu betrachten. Denn bei allen echten Thieren oder Metazoen beginnt ja die individuelle Entwickelung des Kör- pers mit der Bildung einer wahren Gastrula. Aus dieser höchst wichtigen Thatsache müssen wir nach dem biogenetischen Grund- Gesetze den Schluss ziehen, dass die gemeinsame, uralte, längst ausgestorbene Stamm-Form des Thierreichs, die Gastraea, jener Gastrula im Wesentlichen gleich gebildet war: ein einfacher, läng- lich runder, eiförmiger oder becherförmiger Körper mit einer Axe, dessen Magenhöhle durch einen Mund nach aussen geöffnet und dessen Wand aus zwei einfachen Zellen-Schichten, den beiden primären Keim-Blättern, zusammengesetzt war (Fig. 20 I,K, S. 504). Diese beiden einfachen Zell-Schichten bildeten zugleich die ersten wirklichen Gewebe des Thierkörpers, einschichtige Decken oder Epithelien. Alle anderen Gewebe des höher ent- EXT, Cyemarien (Orthonectiden und Dieyemiden). 515 wickelten Thierkörpers, Stützgewebe, Muskeln und Nerven, sind als „seeundäre Gewebe“ zu betrachten, weil sie erst später aus jenen primären Epithelien sich entwickelt haben. Ein- zelne Zellen der letzteren wurden schon bei den Gastraeaden zur Fortpflanzung verwendet, und entwickelten sich entweder zu weib- lichen (Eizellen) oder männlichen (Spermazellen). Es ist sehr wahrscheinlich, dass die älteste Stamm-Gruppe der Metazoen im laurentischen Urmeere durch viele verschiedene Gastraeaden vertreten war, und dass diese mittelst ihrer Flimmer- decke frei umherschwammen, bewimperten Infusorien oder Ciliaten ähnlich. Wie bei vielen der letzteren (insbesondere den Tintin- noiden) wird sich vermuthlich ihr zarter, gastrula-gleicher Kör- per durch Bildung einer umhüllenden Schale geschützt haben. Es ist sogar möglich, dass Viele von den kleinen rundlichen, ei- förmigen und kegelförmigen Schalen, die man schon in den ältesten neptunischen Formationen findet, und die man bald Rhizopoden, bald Pteropoden und anderen Thieren zuschreibt, ursprünglich Gastraeaden angehört haben. Wir wollen diese älteste hypothetische Stamm-Gruppe der Metazoen vorläufig als Gastraemonen unterscheiden. Ausser diesen hypothetischen Gastraemonen gehören aber zur Gruppe der Gastraeaden zwei kleine noch lebende Classen von einfachsten Metazoen, die Cyemarien und Physemarien. Die Classe der Cyemarien besteht aus kleinen, schwimmenden Seethieren, welche in der Leibeshöhle von Stern-Thieren und in der Nieren- höhle von Weichthieren schmarotzend leben. Sie können als ein- fachste Metazoen angesehen werden, welche die ursprüngliche Organisation der Gastraea zeitlebens beibehalten haben; nament- lich gilt das von den merkwürdigen Orthoneetiden (Rhopalura). Ihr eiförmiger oder spindelförmiger Körper (Taf. VI, Fig.9, 10, S.520) ist einaxig (mit kreisrundem Querschnitt) und aus zwei Zellschichten zusammengesetzt. Die Flimmerhaare der äusseren Zellschicht (des Exoderms oder animalen Keimblattes) dienen zur Schwimm- bewegung; die Zellen der inneren Masse (des Entoderms oder vegetativen Keimblattes) bilden Eier und Spermazellen, und zwar entstehen beiderlei Geschlechtszellen in verschieden gestalteten Haeckel, Natürl. Schöpfungs-Gesch. 8. Aufl. 35 514 Physemarien und Gastraeaden. ARE Individuen (gonochoristischen Personen). Bei den nahe verwandten Dieyemiden (Diceyema) wird das Entoderm durch eine einzige grosse Uentral-Zelle vertreten, ähnlich wie vorübergehend bei man- chen Gastrula-Formen. Eine zweite, heute noch lebende Gastraeaden-Classe wird durch die merkwürdigen Physemarien gebildet (Prophysema und Gastrophysema; Taf. VI, Fig. 6—8, S. 520). Eine genaue Beschreibung dieser Physemarien, welche mehrfach mit ähnlichen Rhizopoden (Haliphysema) verwechselt worden sind, habe ich in meinen „Studien zur Gastraea-Theorie“ gegeben (Ill. Die Physema- rien, Gastraeaden der Gegenwart. Taf. IX—AIV. 1876.)'). Es sind einfache becherförmige Schläuche von 1—3 Millimeter Länge, die auf dem Meeresboden festsitzen. Eine kurze, an der Mundöffnung befindliche Geisselspirale strudelt die Nahrung in die einfache Magenhöhle hinein, deren Wand aus zwei Zellen-Schichten, den beiden primären Keimblättern besteht. Das äussere Keimblatt oder Exoderma bildet ein Skelet aus Sandkörnchen und anderen fremden Körpern; das innere Keimblatt ist ein Geissel-Epithel, das zur Ernährung dient; einzelne Zellen des letzteren verwan- deln sich in Eizellen, andere in Sperma-Zellen. Aus dem be- fruchteten Ei entsteht eine Gastrula, welche eine Zeit lang um- herschwimmt, dann sich festsetzt und wieder in ein Physemarium auswächst. Diesen Physemarien noch sehr nahe stehen die einfachsten Formen der ächten Schwämme oder Schwammthiere, Spongiae oder Porifera. Sie unterscheiden sich wesentlich nur dadurch, dass die Magenwand von zahlreichen feinen Hautlöchern oder Poren durchbohrt ist. Durch diese Hautporen tritt der ernährende Wasserstrom in die Magenhöhle ein; er wird durch die Mund- öffnung (Osculum) ausgestossen. Alle Schwämme (— nicht zu verwechseln mit den Pilzen, S. 417 —) leben im Meere, mit ein- ziger Ausnahme des Süsswasser-Schwammes (Spongilla). Lange Zeit galten diese Thiere für Pflanzen, später für Protisten; in vielen Lehrbüchern werden sie noch jetzt zu den Urthieren ge- rechnet. Seitdem ich jedoch die Entwickelung derselben aus der Gastrula und den Aufbau ihres Körpers aus zwei Keimblättern EXT. Organisation der Spongien. 515 (wie bei allen höheren Thieren) nachgewiesen habe, erscheint ihre nahe Verwandtschaft mit den Physemarien und Nessel-Thieren endgültig begründet. Insbesondere hat der Olynthus, den ich als die gemeinsame Stamm-Form der Schwämme betrachte, hier- über sicheren Aufschluss gegeben (Taf. VI, Fig. 1—5, S. 520). Aus einem einfachen dünnwandigen Schlauche, ähnlich dem Olynthus, entwickeln sich die verschiedenen Schwamm-Formen durch Ver- diekung der Magenwand und Entwickelung eines Canalsystems in derselben. Die charakteristische Keim-Form der Olynthula, welche aus der Gastrula der Spongien zunächst entsteht, wiederholt uns noch heute das erbliche Bild jenes hypothetischen Urschwammes (Archolynthus). Dasselbe gleicht einem Prophysema, dessen dünne Becherwand von zahlreichen feinen Poren durchbrochen ist. Der artenreiche Stamm der Spongien zeichnet sich vor allen anderen Thierklassen durch die vollkommene Unregelmässigkeit der äusseren Körper-Form und die ursprüngliche Einfachheit des inneren Baues und der Gewebe-Bildung aus. Fast alle Schwämme sitzen auf dem Meeresboden fest, in Gestalt von unregelmässigen Knollen und Klumpen, dünnen Krusten, verzweigten Büschen u.s.w. Selten ist die Gestalt regelmässig eylindrisch, becher- förmig oder selbst pilzförmig. Die Grösse der kleineren Arten beträgt nur wenige Centimeter, während die grössten bisweilen über einen Meter Durchmesser erreichen. Die einen sind sehr weich, gallertig oder bröckelig, die anderen ziemlich fest, kaut- schukartig, manche knorpelig oder selbst steinhart. Der Durchschnitt des Spongien-Körpers zeigt uns stets ein mehr oder weniger entwickeltes, mit Wasser gefülltes Canal- System. Dasselbe mündet an der Oberfläche durch zahllose feine Hautporen, während die grösseren Canäle des Inneren entweder in einen centralen Hohlraum oder in mehrere grössere Höh- lungen sich öffnen; jede von diesen mündet in der Regel nach aussen durch eine Hauptöfinung (Osculum). Der Wasserstrom, welcher durch die feinen Haut-Poren aufgesaust wird und die Nahrungsmittel (mikroskopische Theilchen von Pflanzen- und Thier-Leichen, Protisten u. dergl.) in den Körper einführt, tritt durch jene Oeffnungen wieder aus. Gewöhnlich sind im Laufe 53* , Homolosie der Geisselkammer und der Gastraea. X ) © Ps . ” der Canäle zahllose rundliche Geisselkammern angebracht; die schwingenden Bewegungen der Geisselzellen, welche sie ausklei- den, erhalten den Wasserstrom in Bewegung. Jede Geissel- kammer ist als einfachstes Schwamm-Individuum auf- zufassen, gleichwerthig einer Gastrula. Der ganze Schwamm kann daher als eine Gastraea-Cormus angesehen werden, als ein Stock, welcher aus vielen kleinen Gastraea-Personen zusammen- gesetzt ist, ähnlich einem Hydropolypen-Stock. Diese Auffassung erklärt auch die auffallende Unregelmässigkeit der äusseren Ge- stalt, die sich bei den meisten Thier-Stöcken wiederfindet. Sinnes-Organe, Nerven und Muskeln fehlen den Schwämmen, wie denn auch die Lebensthätiekeit dieser niedersten Metazoen auf einer sehr tiefen Stufe stehen bleibt. Empfindung und Be- wegung (Zusammenziehung auf Reize) ist bei den Meisten kaum wahrnehmbar. Die Fortpflanzung erfolgt durch amoebenartige Eizellen und befruchtende Samenzellen, welche in der dichten Körpermasse sich entwickeln. Letztere besteht aus Bindegewebe verschiedener Art und meistens aus zerstreuten Skelettheilen, welche in dasselbe eingelagert sind. Diese Gewebe und die bei- derlei Geschlechtszellen gehen aus dem Exoderm oder dem äusse- ren Keimblatte der Gastrula hervor, während das innere Keim- blatt (Entoderm) die Geisselzellen liefert. Die Skelettheile, welche die verschiedene Festigkeit des Schwammes bedingen, zeigen höchst mannichfaltige Gestalt und Zusammensetzung. Man kann danach unter den Spongien drei Classen unterscheiden: Kittschwämme (Malthospongiae), Kieselschwämme (Sileispongiae) und Kalk- schwämme (Caleispongiae). Die erste Classe, die Kittschwämme (Malthospongiae) bil- den kein Mineral-Skelet; sie erzeugen weder Kieselnadeln, noch Kalknadeln. Bei der ersten Ordnung derselben, den Gallert- schwämmen (Mywospongiae) fehlt überhaupt ein Skelet, oder ein festes Körpergerüst ganz (Halisarca, Chondrosia). Bei der zweiten Ordnung, den Sandschwämmen (Psammospongiae), wird dasselbe ersetzt durch Massen von Sand oder anderen fremden Körpern, welche vom Meeresboden aufgenommen werden (so bei den merkwürdigen, vom „Challenger“ entdeckten und kürzlich u a An ch ee ee A ee Si re ee Fe RXIE Sandschwämme, Hornschwämme, Kieselschwämme. 517 von mir beschriebenen „Tiefsee-Keratosen“: Ammoconiden, Psam- miniden und Stannomiden). Die dritte Ordnung der Malthospon- gien bildet die grosse und wichtige Gruppe der Hornschwämme (Ceraspongiae), deren weicher Körper durch ein festes, faseriges Skelet gestützt wird. Dieses Faser-Skelet besteht aus einem Ge- rüste von sogenannten „Hornfasern“, aus einer schwer zerstör- baren und sehr elastischen organischen Substanz. Am reinsten und gleichmässigsten ist dieses Hornfaser-Geflecht bei unserem gewöhnlichen Badeschwamme (Zuspongia offieinalis), dessen ge- reinigtes Skelet wir täglich zum Waschen benutzen. Der lebende Badeschwamm bildet einen fleischigen, schwarzbraunen Klumpen, dessen inneres Fasergerüst erst auf dem Durchschnitt sichtbar wird. Bei anderen Hornschwämmen werden Sandkörner und an- dere fremde Körper bei der Bildung der Hornfasern in diesen abgelagert, bei anderen Kieselnadeln. An diese letzteren schliessen sich unmittelbar die eigentlichen Kieselschwämme an (Sileispongiae). Bei diesen besteht das Skelet ganz oder grösstentheils aus Kieselnadeln, bald mit, bald ohne Hornsubstanz. Dahin gehört die grosse Gruppe der Hali- chondrien, sowie der Süsswasser-Schwamm (Spongilla). Eine be- sondere Abtheilung derselben bilden die schönen Glas-Schwämme (Hyalospongiae oder Hexactinellae). Ihr Skelet besteht aus sechs- strahligen Kieselnadeln, welche oft zu einem äusserst zierlichen Gitterwerke verflochten sind, so namentlich bei dem berühmten „Venus-Blumenkorb“ (Zupleetella). Durch dreistrahlige oder vier- strahlige Kieselnadeln sind die Rinden-Schwämme oder Anker- Schwämme ausgezeichnet (P’hloeospongiae). Die Systematik dieser, wie der vorhergehenden Kiesel-Schwämme, ist von besonderem Interesse für die Descendenz-Theorie, wie zuerst Oscar Schmidt, einer der besten Kenner dieser Thier-Gruppe, nachgewiesen hat. Kaum irgendwo lässt sich die unbegrenzte Biegsamkeit der Spe- eies-Form und ihr Verhältniss zur Anpassung und Vererbung so einleuchtend Schritt für Schritt verfolgen; kaum irgendwo lässt sich die Species so schwer abgrenzen und definiren. In noch höherem Maasse als von der grossen Classe der Kie- sel-Schwämme gilt dieser Satz von der kleinen, aber höchst inter- 518 Kalkschwämme oder Caleispongien. RAR essanten Classe der Kalk-Schwämme (Caleispongiae). Die sechzig Tafeln Abbildungen, welche meine Monographie dieser Classe begleiten, erläutern die ausserordentliche Form-Biegsamkeit dieser kleinen Spongien, bei denen man von „guten Arten“ im Sinne der gewöhnlichen Systematik überhaupt nicht sprechen kann. Hier giebt es nur schwankende Formen-Reihen, welche ihre Spe- cies-Form nicht einmal auf die nächsten Nachkommen rein ver- erben, sondern durch Anpassung an untergeordnete äussere Exi- stenz-Bedingungen unaufhörlich abändern. Hier kommt es sogar häufig vor, dass aus einem und demselben Stocke verschiedene Arten hervorwachsen, welche in dem üblichen Systeme zu meh- reren ganz verschiedenen Gattungen gehören; so z. B. bei der merk- würdigen Ascometra. Die ganze äussere Körpergestalt ist bei den Kalk-Schwämmen noch viel biegsamer und flüssiger als bei den Kiesel-Schwämmen; sie unterscheiden sich von diesen durch den Besitz von Kalknadeln, die ein zierliches Skelet bilden. Mit der grössten Sicherheit lässt sich aus der vergleichenden Anatomie und Ontogenie der Kalk-Schwämme die gemeinsame Stamm-Form der ganzen Gruppe der schlauchförmige Caleolynthus (Taf. VI, Fig. 3—5, S. 520). Das ist ein einfacher Olynthus, dessen dünne, poröse read durch eingelagerte Kalknadeln gestützt wird. Aus diesem Caleolynthus, der der Gastraea noch sehr nahe steht, hat sich zunächst die Ordnung der Asconiden entwickelt; die beiden anderen Ordnungen der Kalk-Schwämme, die Leuco- niden und Syconiden, sind erst später als divergirende Zweige aus jenen hervorgegangen. Innerhalb dieser Ordnungen lässt sich wiederum die Descendenz der einzelnen Formen Schritt für Schritt verfolgen. So bestätigen die Kalk-Schwämme in jeder Beziehung den schon früher von mir ausgesprochenen Satz: „Die ganze Naturgeschichte der Spongien ist eine zusammenhängende und schlagende Beweisführung für Darwin.“ °°) In jüngster Zeit ist es mir geglückt, auch unter den vorher erwähnten Psammospongien oder Sand-Schwämmen der Tiefsee, einige unscheinbar kleine Formen zu entdecken, welche der ge- meinsamen Spongien-Stammform, dem Olynthus noch sehr nahe stehen. Das sind die Ammoconiden, welche von der Challenger- En XXI: Ölynthus (Ammolynthus und Caleolynthus). 519 Expedition im tropischen Ocean, aus Tiefen zwischen 2000 und 3000 Meter gehoben wurden. Die einfachste Form unter diesen Ammoconiden ist der merkwürdige Ammolynthus (Taf. VI, Fig. 1,2). Sein eiförmiger oder urnenförmiger Körper ist ein ein- facher dünnwandiger Schlauch mit poröser Wand. Er gleicht dem Caleolynthus (Fig. 3), welchen ich zuerst 1872 in der Monographie der Kalk-Schwämme (auf Taf. I, Fig. 1) abgebildet hatte. Die feinen Kalknadeln aber, welche das Exoderm oder Hautblatt des Calco- Iynthus stützen, sind beim Ammolynthus durch die zierlichen Kieselschalen von mannichfaltigen Radiolarien ersetzt, welche der kleine Schwamm aus dem Radiolarien-Schlamm des Tiefsee-Bodens | aufgenommen hat (Fig. 1,2,x). Eine andere Art von Ammolynthus setzt statt dessen ihr Skelet aus den Kalkschalen des Globigerinen- Schlammes zusammen. Zwischen diesen fremden Skelet-Bestand- theilen findet man im Hautblatt zerstreut die amoebenähnlichen weiblichen Eizellen und die Geissel-Zellen des männlichen Samens. Das Darmblatt oder Entoderm des Ammolynthus, wird, wie beim Caleolynthus, durch eine einfache Schicht von Geissel-Zellen ge- bildet, welche die Urdarmhöhle auskleidet. Beide Spongien stehen somit in ihrer einfachen Körperbildung der Gastraea noch ganz nahe. Einige andere Ammoconiden, welche vom „Challenger“ an anderen Stellen des Tiefsee-Bodens (theils im Pacifik, theils .im Atlantik) entdeckt wurden, unterscheiden sich von dem ganz ein- fachen Ammolynthus durch ihre verästelte Gestalt. Ammosolenia bildet zierliche Büsche (gleich ZLewecosolenia), mit cylindrischen Aesten, deren jeder eine endständige Mundöffnung hat. Bei Ammo- conia verwachsen die Aeste und bilden ein lockeres Geflecht (wie bei Auloplegma). Jeder Ast des verzweigten Körpers hat den Werth einer Gastraea (ähnlich dem „Köpfchen“ eines Hydro- polypen-Stockes). Diese verschiedenen Formen von Ammo- coniden entsprechen ganz den characteristischen Haupt-Formen der Asconiden unter den Kalk-Schwämmen. In beiden Ordnun- gen werden die gewöhnlichen rundlichen Geisselkammern der Spongien durch cylindrische Röhren ersetzt. Dieser Unterschied im Bau ist sehr wichtig und kann dem Structur-Unterschied der 520 Protospongien und Metaspongien. RE tubulösen und acinösen Drüsen verglichen werden. Vielleicht würde es demnach am richtigsten sein, den ganzen Stamm der Spongien in zwei Classen einzutheilen; die erste Classe würden die Röhren-Schwämme bilden (Protospongiae), mit röhrenförmigen oder tubulösen Gastral-Individuen (Ammoconidae und Asconidae); die zweite Classe würde alle übrigen Spongien umfassen, die Kammer-Schwämme (Metaspongiae), mit bläschenförmigen oder acinösen Gastral-Individuen, den sogenannten „Geissel-Kammern“. Diese könnten dann wieder eingetheilt werden in Malthospongien (ohne selbstgebildete Mineral-Nadeln), Silieispongien (mit Kiesel- Nadeln) und Caleispongien (mit Kalk-Nadeln). Phylogenetisch würden die Metaspongien von den Protospongien abzuleiten sein, da der Olynthus selbst zu diesen letzteren - gehört. Eine viel höhere Stufe der Organisation als die Schwämme erreicht der grosse Stamm der Nesselthiere (ÜUnidariae oder Acalephae). Die zahlreichen schönen Formen der schwimmenden Medusen und Siphonophoren, der festsitzenden Korallen und Polypen, welche die wahre Blumen-Welt des Meeres bilden, offenbaren uns eine Reihe der interessantesten Entwickelungs- stufen des thierischen Körperbaues. Trotzdem stehen die nieder- sten Formen des vielverästelten Stammes (/ydra, Taf. VI, Fig. 11 bis 16) noch sehr nahe dem Olynthus und der Gastraea, somit der Wurzel des ganzen Metazoen-Reiches. Als die gemeinsame Stamm- Form der ganzen Gruppe ist die längst ausgestorbene Archydra zu betrachten, ein kleiner mariner „Urpolyp“, welcher in dem ge- meinen noch heute lebenden Süsswasser-Polypen (Hydra) einen nahen, wenig veränderten Verwandten hinterlassen hat. Die Archydra war den Physemarien (Fig. 6,7) und den einfachsten Spon- gien (Fig. 1—5) wahrscheinlich sehr nahe verwandt, unterschied sich aber von ihnen wesentlich durch den Besitz von Tentakeln und Nesselorganen, und den Mangel der Hautporen. Aus der Archydra entwickelten sich zunächst die verschiedenen Hydroid- Polypen, von denen einige zu den Stamm-Formen der Korallen, andere zu den Stamm-Formen der Medusen wurden. Aus ver- schiedenen Zweigen der letzteren entwickelten sich später die Siphonophoren und vielleicht auch die Ctenophoren. Bw Bl ) 2. 2 20 EHaeckel del. LithAnstv.AGiltsch Jena 1,2. Ammolynthus, 3-5. Calcolynthus, 6-8.Prophysema, 9,10. Rhopalura, 11-16. Hydra. EXT. Nesselthiere oder Akalephen. 521 Die Nessel-Thiere unterscheiden sich von den Schwämmen, mit denen sie in der charakteristischen Bildung des ernährenden Canal-Systems wesentlich übereinstimmen, einerseits durch den Mangel der Hautporen, andererseits durch die Bildung eines Ten- takelkranzes und durch den beständigen Besitz der Nessel- organe. Das sind kleine, mit Gift gefüllte Bläschen, welche in erosser Anzahl, meist zu vielen Millionen, in der Haut der Nessel- Thiere vertheilt sind. Sie dienen als Waffen, theilweise auch als Haft-Organe, indem sie bei Berührung aus der Haut hervortreten und ihren giftigen Inhalt entleeren. Als die älteste und niederste unter den fünf Classen der Nessel-Thiere ist diejenige der kleinen Polypen (Hydrusae) zu betrachten. Sie unterscheiden sich von einem Physemarium oder einer festsitzenden Gastraea wesentlich nur durch ihre Nessel- organe und durch einen Kranz von Fühlern oder Tentakeln, der den Mund umgiebt. Wenige leben isolirt als einzelne Personen; die meisten bilden durch Knospung Stöckchen, die aus vielen Personen zusammengesetzt sind. Solche finden sich überall auf dem Meeresboden festgewachsen und gleichen zierlichen Bäumchen. Die niedersten und einfachsten Angehörigen dieser Klasse sind die kleinen Süsswasser-Polypen, (Hydra und Cordylophora). Wir können sie als die wenig veränderten Nachkommen jener uralten Urpolypen (Archydrae) ansehen, welche während der Primordialzeit der ganzen Abtheilung der Nessel-Thiere den Ur- sprung gaben. Der merkwürdige, überall in unseren Teichen verbreitete Süsswasser-Polyp (Hydra, Taf. VI, Fig. 11—16) gehört wegen seines einfachen typischen Baues und wegen seiner grossen Theilungsfähigkeit zu den interessantesten niederen Thieren. Die zweite Classe der Nessel-Thiere bilden die schönen Schirmquallen oder Medusen (Medusae). (Taf. VII, Fig. bis 12.) Sie sind in allen Meeren verbreitet und erscheinen oft an der Oberfläche schwimmend in ungeheuren Schwärmen. Die meisten Schirmquallen haben die Form einer Glas-Glocke, eines gallertigen Hutpilzes- oder eines Regenschirms, von dessen Rand viele zarte und lange Fangfäden herabhängen. Sie gehören zu den schönsten und interessantesten Bewohnern des Meeres. SH IV IV System der Coelenterien oder Niederthiere. xXX% Systematische Uebersicht über die Stämme und Classen der Coelenterien oder Niederthiere. Gattungs- | ya z f | Stämme der | Character der | Classen der | ; om ta | Namen als Coelenterien. | vier Stämme. | Coelenterien. Beispiele. 1. Gastraemones Gastraea Hautporen, ohne Coelenterien ohne | Tentakeln, ohne | 2. Cyemaria Rhopalura I. Urdarmthiere Gastraeades Nesselorgane. Grundform einaxiel ” Physemaria Prophysema Coelenterien mit (1. Kittschwämme ( Ammolynthus Hautporen, ohne Malthospongiae | Euspongia Tentakeln, ohne J 2. Kieselschwämme [ Spongilla Silieispongiae | Euplectella 3. Kalkschwämme | Ascon PERL | Sycon II. Schwämme Spongiae (oder Porifera) Nesselorgane. Grundform einaxig oder irregulär . Urpolypen [ Hydra Hydropolypi | Millepora Hautporen, mit 2. Schleierquallen ([ Codonium Tentakeln, mit Craspedotae | Geryonia Nesselorganen, . 9. Staatsquallen j Porpita TEE Kayssitklore De Asse & | nie \ Pay BI ) Grundform strahlig|= 4. Kammquallen [ Cydippe Cuidaria oder en Gtenophorae N Beroe na) (mit 4, 6, 8 oder ). Becherpolypen [ Scyphostoma _ Serphpalyi | Spongicola . Korallen | Eucorallium Anthozoa \ Madrepora 7. Lappenquallen [ Periphylla Acraspedae | Aurelia Coelenterien obne Se I mehr Kreuzaxen, und einer ungleich- poligen verticalen. Hauptaxe) unlE ba Sopmmamı Hautporen (meist ohne Tentakeln, IV. Plattenthiere | oft mit Nessel- . Strudelwürmer j Vortex Turbellaria | Planaria Platodes organen), mit Saugwürmer [ Distoma (oder Plathel- Nierencanälen. Trematoda \ Polystoma umher) Grundform zwei- 3. Bandwürmer [ Caryophyllaeus hälftig oder bila- teral - symme- trisch Cestoda | Taenia [ Seelonieriön = KL Stammbaum der Coelenterien oder Niederthiere. 523 Platodes (Plattenthiere) (Plathelminthes) Cestoda Ötenophorae (Bandwürmer) (Kammquallen) | I ?. Trematoda (Saugwürmer) | Turbellaria x ' Dendrocoela . Cnidaria (Nesselthiere) Spongiae (Schwammthiere) a NEE (Porifera) Siphono- Silieispongiae vg i A Re \ ) (Staats- Acraspedae Kalle | : quallen) (Seyphomedusae) all 2 | spongiae Caleispongiae | | | Cera- Syconidae | | spongiae | Craspe- Turbellaria » dotae Psammo- | Leuconidae Rhabdocoela (Hydro- spongiae medusae) « mn em | Hydro- Coralla AR nidae coralla (Antho- 4 208) Ammoconidae Hydro- | | Caleolynthus | u. | | u — — Ammolynthus Hydropolypi Scyphopolypi Strudelwürmer | Turbellaria | —— aA 0 mn 2 Olynthus (Gastraedis) Hydra (Archolynthus) | (Archydra) | | m |[———————— Gastraeades Physemaria (Gastraemon) Üyemaria (Prophysema) (Rhopalura) | | | | | | | | | Gastraea 524 System der Nesselthiere oder Cnidarien. Systematische Uebersicht XXI. über die Classen und Ordnungen der Nesselthiere (Cnidaria). Classen Legionen Ian der der | we Ba Nesselthiere Nesselthiere | Nesselthiere | TE T: l. Hydropolypen f 1. Hydrariae Hydra Polypen | Hydropolypi \ 2. Sertulariae Plumularia Hydrusae | 2. Korallpolypen f 3. Milleporidae Millepora Hydrocoralla Kuda: Stylasteridae Stylaster 3. Schleierquallen | 5. Anthomedusae Codonium Craspedotae ) 6. Leptomedusae Aequorea (Aphacellae) | 7. Trachymedusae Aglaura ET SEN “8. Narcomedusae Aegina Medusae 4. Lappenquallen | a a Acraspedae 10. Peromedusae Periphylla (Phacellotoe) | ll. Cubomedusae Üharybdea 12. Discomedusae Aurelia 5. Scheiben-Staats- [ Discalia quallen | 15. Disconectae Porpita Disconanthae Velella Pkänkaguati h 14. Calyeoneetae Diphyes Siphonophorae | 6. Röhren-Staats- | 15. Physonectae _Physophora ‚quallen 16. Auronectae Rhodalia Siphonanihas | 17. Cystonectae Physalia | 7. Weitmündige | 18. Beroidhe Bere Eurystomae \ Kammguallen Al 19. Saccatae Cydippe Ctenophorae | Inu | 20. Lobatae Eucharis er Laı. Taeniatae Öestum 9. Becher-Korallen [ 22. Scyphostomida Seyphostoma Scyphopolypi 123. Spongicolida Stephanoseyphus 10. Vierstrahlige | 24. Corallarcha Procorallium & Karallen | 25. Rugosa Stauria Ri Tetracoralla er 1 26. Aleyonida Aleyonium Korallen 11. Achtstrahlige be Tubulosa Tubipora Anthozoa Korallen [> Gorgonida Eueorallium Oetocoralla 29. Pennatulida Pennatula 1 gechsstranlise Er Antipatharia Antipathes ns ° 4) 31. Actiniaria Actinia ale je Perforata Madrepora 39. Eporosa Astraea XXI. Gtenophorae ___ ___ Tubulariae | — Stenostomae Craspedotae (Hydromedusae) — m Eurystomae Trachomedusae um {u Anthomedusae Narcomedusae Lepto- medusae Campanariae —— Sertulariae | Hydrocoralla mn mn Hydrozoa Hydropolypi Stammbaum der Nesseltkiere oder Unidarien. 52: Siphonophorae Acraspedae Siphonanthae (Seyphomedusae) Discomedusae Diseonanthae | Rhizostomae | Gubomedusae | I N | Semostomae Peromedusae ('annostomae mm nm ce v Stauromedusae (Tessera) Coralla (Anthozoa) nn Madreporaria Aleyonaria Spongi- Actiniaria eola Cornularia Rugosa mn — Scypbostoma Procoralla N Scyphozoa Scyphopolypi — Hydraria (Archydra) Gastraea 526 Polyphyletischer Ursprung der Medusen. xxr Einige Medusen erreichen eine ansehnliche Grösse, bis zu einem Meter Durchmesser, und ein Gewicht von 20 Kgr. Dabet be- steht aber ihr durchsichtiger, glasartiger Körper nur aus 3—6 Pro- centen (oft kaum aus einem Procent) thierischer Substanz, aus 94—99 Procent Seewasser. Ihre merkwürdige Lebens-Geschichte, insbesondere der verwickelte Generationswechsel der Polypen und Medusen, liefert uns sehr wichtige Zeugnisse für die Wahrheit der Abstammungs-Lehre. Denn aus den Eiern der Medusen ent- stehen meistens nicht wieder Medusen, sondern vielmehr Polypen der vorigen Classe (Tubularien und Campanarien). Diese letzteren aber treiben Knospen, die sich ablösen und zu Medusen werden. Wie nun durch diesen „Generationswechsel*“ noch jetzt täglich Medusen aus Polypen entstehen, so ist auch ursprünglich phylo- genetisch die frei schwimmende Medusen-Form aus der festsitzen- den Polypen-Form hervorgegangen. Die genauere Untersuchung der Medusen, über welche ich 1579 eine Monographie (mit 72 Tafeln in Farbendruck) veröffent- licht habe, hat ergeben, dass diese formenreiche Thier-Gruppe polyphyletischen Ursprungs ist; mehrere verschiedene Gruppen von Schirmquallen sind — ganz unabhängig von einander — aus mehreren verschiedenen Gruppen von festsitzenden Polypen ent- standen. Schon der uralte Grund-Stamm der Polypen-Gruppe, die Wurzel des ganzen Nesselthier-Stammes, hat sich frühzeitig in zwei Hauptlinien gespalten: Hydropolypen und Scyphopolypen. Die niederen und einfacher gebauten Hydropolypen (— oder Glockenpolypen —) behielten die einfache Magenhöhle der Stamm- Form und der Gastraea bei. Hingegen entwickelten sich bei den Scyphopolypen (— oder Becherpolypen —) an der Innenseite der Magenwand vorspringende Leisten, durch welche deren peri- pherischer Hohlraum in mehrere (ursprünglich vier) radiale Taschen getheilt wurde. Aus diesen Magenleisten oder Taeniolen wuchsen später innere Magenfäden, die beweglichen Gastral-Filamente hervor. Diesen beiden Hauptlinien des Polypen-Stammes entsprechen zwei ganz verschiedene Haupt-Gruppen von Medusen, und zwar sind die letzteren auf verschiedene Weise aus den ersteren ent- standen, wie auch noch heute ihr Generationswechsel verschieden er >25 KT: Abstammung der Medusen von Polypen. 927 ist. Die kleinen und zarten Schleierquallen (Hydromedusae oder Üraspedotae) entstehen durch laterale Knospung aus Hydro- polypen. Hingegen entwickeln sich die grossen und prächtigen Lappenquallen (Scyphomedusae oder Acraspedae) durch termi- nale Knospung aus Scyphopolypen. In beiden Fällen entsteht das characteristische Schwimm-Organ der Meduse, der muskulöse Schirm oder die Umbrella, aus der Mundscheibe des Polypen. Die Anpassung an die freischwimmende Lebensweise, und die damit verknüpfte, höhere und vielseitige Thätigkeit der Organe bewirkt aber bei der Meduse eine viel vollkommnere Ausbildung derselben; sie erhebt sich in ihrer ganzen Organisation hoch über ihre niedere Stamm-Form, den Polypen. Die Meduse erwirbt nicht allein ein verwickeltes Canalsystem zur Ernährung, sondern auch ein Nervensystem und höhere Sinnesorgane, Augen und Gehör- bläschen; diese fehlen noch ihren Polypen-Ahnen. Wer, wie ich, viele Jahre hindurch die Naturgeschichte der herrlichen Medusen, und ihren Generations-Wechsel mit den fest- sitzenden Polypen studirt hat, der kann daraus allein schon die feste Ueberzeugung von der Wahrheit der Abstammungs-Lehre gewinnen. Denn nur durch sie erklären sich die zahlreichen wundervollen Erscheinungen derselben in einfachster Weise, wäh- rend sie ohne die Descendenz-Theorie völlig unerklärlich bleiben. Dabei ist noch besonders hervorzuheben, dass wir hier ein höchst klares Beispiel von sogenannter Convergenz der Formen finden, d.h. von der Entwickelung ähnlicher Formen aus verschiedenen Stamm-Wurzeln. (Vergl. oben S. 275.) Gewisse Hydromedusen (Narcomedusen) sind manchen Scyphomedusen (Cannostomen) in der ganzen Organisation so ähnlich, dass sie früher in einer Gruppe vereinigt wurden. Und dennoch lässt sich jetzt leicht nachweisen, dass Beide ganz verschiedenen Ursprungs sind. Die Anpassung an dieselben Existenz-Bedingungen und die gleiche Lebensweise hat hier mehrere Male höchst ähnliche Lebens-Formen hervorgerufen, trotzdem gewisse, durch Vererbung übertragene innere Eigenthümlichkeiten den getrennten Ursprung derselben be- weisen. Den Hydromedusen fehlen stets die inneren Magenfäden oder Gastral-Filamente, welche die Scyphomedusen stets besitzen. 528 Der Medusen-Staat der Siphonophoren. XXE Auch die Abstammung der übrigen Nessel-Thiere lässt sich jetzt grösstentheils klar übersehen. Aus beiden Hauptzweigen des Stammes haben sich mehrere Classen entwickelt. Die Staats- quallen (Siphonophorae) — und wahrscheinlich auch die Kamm- quallen (Ütenophorae) — sind aus der Abtheilung der Hydro- medusen hervorgegangen, stammen also ursprünglich von Hydro- polypen ab. Hingegen sind die Stamm-Formen der Corallen, ebenso wie diejenigen der Sceyphomedusen, unter den Scyphopolypen zu suchen. Eine der schönsten und merkwürdigsten Classen des ganzen Thierreichs — ja vielleicht die herrlichste von allen — wird von den wenig bekannten Staatsquallen (Siphonophorae) gebildet. Das sind schwimmende Stöcke von Hydromedusen, deren zarte Schönheit und Anmuth der Bewegungen nicht weniger anziehend ist, als ihre höchst merkwürdige Organisation. Man vergleicht sie am besten mit schwimmenden Blumenstöcken, deren zierliche Blätter, Blüthen und Früchte aus buntem Glase gefertigt sind. Dabei sind aber alle diese Körpertheile höchst empfindlich und beweglich. Bei der leisesten Berührung zieht sich der prächtig entfaltete Stock auf einen kleinen Klumpen zusammen. Die ge- nauere Untersuchung hat gelehrt, dass jeder Siphonophoren-Stock aus einer grossen Zahl von verschiedenen medusenartigen Personen zusammengesetzt ist. Jede dieser Medusen hat durch Anpassung an eine bestimmte Lebensthätigkeit eine besondere Form ange- nommen; die einen wirken als Schwimmblasen, die anderen als Schwimmglocken; eine dritte Gruppe von Personen, die Siphonen, nehmen nur Nahrung auf und verdauen sie; eine vierte Gruppe, die Palponen, haben wesentlich die Bedeutung von empfindlichen Sinnesorganen; zwei andere Gruppen von Personen, Männchen und Weibchen, ‚haben sich ausschliesslich mit der Fortpflanzung zu beschäftigen, die ersteren produciren Sperma, die letzteren Eier. So haben dann in Folge fortgeschrittener Arbeitstheilung und mannichfachen Arbeitswechsels (8. 271) die verschie- denen Personen des Siphonophoren-Stockes in ähnlicher Weise sich ganz verschieden ausgebildet, und wirken in ähnlicher Weise zum einheitlichen Leben des ganzen Stockes zusammen, wie bei RI. Entwickelung der Siphonophoren. 529 den höheren Thieren die verschiedenen Organe einer einzigen Person, oder wie die Stände im menschlichen Staate. In meinem Aufsatze über „Arbeitstheilung in Natur- und Menschenleben“ habe ich diese höchst interessanten Verhältnisse und ihre weit- reichende allgemeine Bedeutung, eingehend erörtert ’”). Während meines Aufenthaltes auf den canarischen Inseln (1866) hatte ich eingehend die Entwickelungs-Geschichte der Siphonophoren studirt, und darauf gestützt den Beweis geführt, dass aus dem Ei dieser Thiere sich eine einfache Medusen-Person entwickelt; diese Hydromedusen-Larve erzeugt durch Knospung die zahlreichen Personen des Stockes. Die Arbeitstheilung, — oder die Anpassung an getheilte Functionen — durch welche dieselben verschiedene Formen annehmen, ist bereits von den Vorfahren der heutigen Staatsquallen durch Vererbung über- tragen. Ausgedehntere Untersuchungen über die Natur-Geschichte der Siphonophoren, welche ich in den letzten Jahren, und wäh- rend meines Aufenthaltes auf Ceylon (1881) anstellte, haben mich in der Erkenntniss dieser höchst merkwürdigen Verhältnisse noch bedeutend weiter geführt. Es hat sich ergeben, dass auch diese Nesselthier-Classe polyphyletischen Ursprungs ist; mindestens zwei verschiedene Haupt-Gruppen von Siphonophoren haben sich — unabhängig von einander — aus mehreren verschiedenen Gruppen von Hydromedusen entwickelt. Die Disconanthen (Discalia, Porpita, Velella) stammen wahrscheinlich von Tracho- medusen ab; die Personen des Stockes entwickeln sich hier durch Knospung aus dem Schirm der ursprünglichen Meduse (Pectyllide?). Hingegen stammen die Siphonanthen (Circalia, Rhodalia, Phy- salia) sicher von Anthomedusen ab; die Personen ihres Stockes entwickeln sich durch Knospung aus dem Magenrohr der ursprüng- lichen Meduse (Euphyside!). Die nähere Begründung dieser Auf- fassung enthält mein System der Siphonophoren, und der aus- führliche Report über die Challenger - Siphonophoren, welcher (illustrirt durch 50 Farbendruck-Tafeln) kürzlich erschienen ist (1888). Während die Abstammung der Siphonophoren demnach jetzt klar zu Tage liest, ist dieselbe dagegen noch ganz dunkel und Haeckel, Natürl. Schöpfungs-Gesch. 8. Aufl. 3 530 Kammquallen oder Ctenophoren. RE zweifelhaft bei einer anderen Classe von Nesselthieren, den Kamm- quallen (Ütenophorae). Diese Quallen, welche oft auch Rippen- quallen oder Gurkenquallen genannt werden, besitzen einen gurken- förmigen Körper, welcher, gleich dem Körper der meisten Schirm- quallen, krystallhell und durchsichtig wie geschliflenes Glas ist. Ausgezeichnet sind die Kammquallen oder Rippenquallen durch ihre eigenthümlichen Bewegungsorgane, nämlich acht Reihen von rudernden Wimperblättchen, die wie acht Rippen von einem Ende der Längsaxe (vom Munde) zum entgegengesetzten Ende verlaufen. Die innere Organisation der Utenophoren ist sehr eigenthümlich; einerseits gleicht sie in vielen wichtigen Punkten derjenigen ge- wisser Hydromedusen (Cladonemidae), andererseits derjenigen der nachher zu besprechenden Strudelwürmer (Turbellaria). Mit bei- den Classen ist sie anscheinend durch Zwischenformen verbunden, mit den ersteren durch Ütenaria, mit den letzteren durch Üteno- plana. Demnach sind gegenwärtig die einen Zoologen mehr ge- neigt, sie von den Hydromedusen, die anderen sie von den Tur- bellarien phylogenetisch abzuleiten. Nach einer dritten Ansicht würden sie verbindende Zwischen-Formen zwjschen den ersteren und den letzteren sein. Es ist jedoch auch hier möglich, dass die auffallenden Aehnlichkeiten nicht auf gemeinsamer Abstam- mung von einer Stamm-Gruppe beruhen, sondern die Folgen von Angleichung oder Convergenz der Form sind. Erst spätere ge- nauere Untersuchungen können uns über die Phylogenie der Ctenophoren aufklären. Die letzte Classe von Nesselthieren sind die schönen Korallen (Coralla). Auch diese stammen, gleich allen anderen Cnidarien, ursprünglich von einfachen Polypen oder Hydrusen ab. Die Korallenthiere leben ausschliesslich im Meere und sind namentlich in den wärmeren Meeren durch eine Fülle von zierlichen und bunten blumenähnlichen Gestalten vertreten. Sie heissen daher auch Blumenthiere (Anthozoa). Die meisten sind auf dem Meeresboden festgewachsen und enthalten ein inneres Kalkgerüste. Indessen kann der Körper auch ganz weich und skeletlos sein; so bei den Seerosen (Actinia), welche unsere Aquarien zieren. Viele Stein-Korallen erzeugen durch fortgesetztes Wachsthum so RX. Blumenthiere oder Korallen. 531 gewaltige Stöcke, dass ihre Kalkgerüste die Grundlage - ganzer Inseln bilden; so die berühmten Korallen-Riffe und Atolle der Südsee, über deren merkwürdige Formen wir erst durch Darwin '®) aufgeklärt worden sind. Die Radialstücke oder Parameren, d. h. die gleichartigen Haupt-Abschnitte des Körpers, welche strahlen- förmig vertheilt um die mittlere Hauptaxe des Körpers herum- stehen, sind bei den Korallen bald zu vier, bald zu sechs, bald zu acht vorhanden. Danach unterscheiden wir als drei Legionen die vierzähligen (Tetracoralla), die sechszähligen (Hexa- coralla) und die achtzähligen Korallen (Octocoralla). Die vier- zähligen Tetra-Korallen (Ruyosa) gehören zu den ältesten versteinerten Pflanzen-Thieren und finden sich zahlreich schon im silurischen System. Zu dieser Gruppe gehört wahrscheinlich die gemeinsame Stamm-Form der ganzen Ülasse. Aus einfachen Tetra-Korallen (mit vier Magentaschen) haben sich wahrscheinlich als zwei divergirende Hauptäste die beiden anderen Legionen ent- wickelt; die achtzähligen Octo-Korallen durch Verdoppelung der vier Parameren (oder Zweitheilung der vier Magentaschen); die sechszähligsen Hexa-Korallen durch Divergenz der beiden Kreuzaxen, indem die Parameren der einen einfach blieben, die der anderen sich verdoppelten. Zu den Octo-Korallen (oder Aleyonarien) gehört die bekannte rothe Edel-Koralle (Zucorallium) und unsere nordische Kork-Koralle (Aleyonium). Zu den Hexa- Korallen (oder Zoantharien) gehören die weichen Actinien und die Hauptmasse der Stein-Korallen. Den vierten und letzten Stamm der Coelenterier bilden die Plattenthiere (Pflatodes), vielfach auch als Plattwürmer (Plathelminthes) bezeichnet. Dieser interessante und wichtige Stamm enthält drei verschiedene Classen: 1. die frei lebenden mit Flimmerhaaren bedeckten Strudelwürmer (Türbellaria); 2. die parasitischen nackthäutigsen Saugwürmer (Trematoda), und 3. die parasitischen darmlosen Bandwürmer (Cestoda). Alle drei Classen sind nächstverwandt, wie die wesentliche Ueber- einstimmung im erblichen inneren Bau ihres blattförmigen Kör- pers ergiebt. Sie unterscheiden sich durch Merkmale, welche offenbar durch Anpassung an verschiedene Lebensweise erworben 34* 532 Plattenthiere oder Platoden. DORL: sind. Die gemeinsame Stamm-Gruppe bilden die Strudelwür- mer, welche grösstentheils im Meere leben, Viele auch im süssen Wasser, Wenige auch auf dem Festlande (in feuchten Tropen- Wäldern). Die einfachsten Formen dieser Turbellarien schliessen sich noch eng an die Gastraeaden und Cnidarien an. Durch An- passung an schmarotzende Lebensweise sind aus den Strudelwür- mern die Saugwürmer hervorgegangen; sie haben dabei das ursprüngliche Flimmerkleid verloren, dafür aber Haftwerkzeuge erworben (Saugnäpfe und Klammerhaken). Die Bandwürmer haben letztere von ihren Vorfahren, den Saugwürmern, ererbt, haben aber den Darmcanal derselben verloren; durch ihren Auf- enthalt im Darm und in den Geweben anderer Thiere ist das ernährende Darmrohr überflüssig geworden; die Aufnahme des ernährenden Saftes aus der Umgebung erfolgt unmittelbar durch die Haut. In drei sehr wichtigen Merkmalen stimmen alle Platoden mit den übrigen Coelenterien überein, und unterscheiden sich von den Wurmthieren oder Helminthen, mit denen sie gewöhnlich vereinigt werden. Erstens besitzen die Plattenthiere keine Leibeshöhle, zweitens kein Blut und drittens keine Afteröffnung. Der Mangel dieser drei wichtigen, für die höhere Ernährungs-Thätigkeit so bedeutungsvollen Einrichtungen muss bei den Plattenthieren als ein ursprünglicher angesehen werden, wie bei den übrigen Coelenteraten. Ich habe daher schon 1572 (in der „Philosophie der Kalk-Schwämme“, S. 465) die Pla- toden als Acoelomi („Würmer ohne Leibeshöhle“) von den Coelomati (oder den echten „Würmern mit Leibeshöhle*) abge- trennt und als eine viel tiefer stehende Gruppe mit den Zoophy- ten (oder Coelenteraten) vereinigt. Auf der anderen Seite unterscheiden sich die Platoden von den übrigen Coelenterien und schliessen sich an die Helminthen an durch ihre zweiseitige Grund-Form, sowie durch den Besitz von ein Paar Urnieren oder Nephridien. Die zweiseitige oder dipleure Grund-Form (— „der bilateral-symmetrische Typus“ —), welche wir auch bei den höheren Thier-Stämmen allgemein wie- derfinden, erscheint aus mehreren Gründen so bedeutend, dass BROXIT: Bilaterien oder zweihälftige Thiere. 533 wir diese letzteren sämmtlich als Bilateria, d. h. „zweiseitige oder zweihälftige Thiere“, den „Strahlthieren oder Radiaten“ ge- genüber stellen können. Bei allen diesen Bilaterien — d.h. also bei allen Wurmthieren, Weichthieren, Sternthieren, Glieder- thieren, Mantelthieren und Wirbelthieren — besteht der Körper ursprünglich, wie beim Menschen, aus zwei Seitenhälften (Gegenstücken oder Antimeren), welche symmetrisch gleich sind. Die rechte Hälfte oder das rechte Antimer ist das Gegenstück der linken. In beiden Hälften finden sich dieselben Organe, in derselben Verbindung und in gleicher relativer, aber entgegen- gesetzter absoluter Lagerung. Daher wird bei allen diesen Bila- terien (— im Gegensatze zu den Pflanzen-Thieren —) die Lage- rung aller Körpertheile durch drei Riehtaxen oder Euthynen bestimmt: Längsaxe, Pfeilaxe und Queraxe. Die Längsaxe oder Hauptaxe geht der Länge nach durch den Körper der Person hin- durch, vom vorderen „Mundpol“ zum hinteren „Gegenmundpol“. Die Pfeilaxe oder Dickenaxe (Dorsoventralaxe) geht von oben nach unten, vom Rückenpol zum Bauchpol. Die Queraxe oder Sei- tenaxe endlich (Lateralaxe) geht quer durch den Körper hindurch, vom rechten zum linken Pol. Diese letztere Axe ist gleichpolig, ährend die beiden ersteren ungleichpolig sind. Daher finden wir bei allen Bilaterien oder zweihälftigen Thieren ursprünglich den Gegensatz von Rechts und Links, von Rücken und Bauch, während dieser Gegensatz den meisten Pflanzen-Thieren oder Coe- lenterien noch fehlt. Die tiefe Kluft, welche dadurch zwischen den Coelenterien und Bilaterien besteht, geht vielleicht bis zur gemeinsamen Stamm-Form der Gastraea hinab. In diesem Falle müsste man annehmen, dass die Stamm-Formen der Pla- toden, unabhängig von denjenigen der Cnidarien, aus Gastraeaden hervorgegangen sind, und dass die zweiseitigen Formen der Nes- selthiere sich erst secundär entwickelt haben. Offenbar steht dieser wichtige Unterschied der Grund-Form in ursächlichem Zusammenhang mit der ursprünglichen Bewe- gungsweise der Thiere. Die ältesten Formen der Pflanzen- Thiere oder Coelenterien setzten sich fest auf dem Meeresboden, oder sie bewegten sich frei schwimmend im Meere, ohne be- 534 Coelenterien und Bilaterien. xXE stimmte Richtung. Sie behielten in Folge dessen die einaxige Grund-Form bei, wie sie ursprünglich ihre Stamm-Form, die ein- axige Gastraea (Gastraea monawonia) besass; oder sie erwarben eine kreuzaxige, strahlige oder radiale Grund-Form, wie die mei- sten Nesselthiere. Die zweiseitigen Thiere oder Bilaterien hin- sesen bewegten sich von Anfang an, schwimmend im Meere oder kriechend auf dem Meeresboden, in einer bestimmten Rich- tung, die sich gleich blieb. Dadurch wurde der ursprünglich einaxige Körper ihrer Gastraea-Ahnen zweiseitig, und schon die älteste gemeinsame Stamm-Form der Platoden und Helminthen muss diese zweiseitige Grund-Form erworben haben; schon sie besass jene charakteristischen drei Richtaxen und war somit eine zweiseitige oder richtaxige Gastraea (Gastraea dipleura). Von den übrigen Coelenterien unterscheiden sich die Platten- thiere ferner sehr auffallend durch die Beschaffenheit des wichtig- sten aller Organe, des Seelen-Organs oder Central-Nerven- systems. Dasselbe hat hier allgemein die ursprüngliche Beschaf- fenheit beibehalten, wie wir sie bei der ältesten Stamm-Gruppe der Bilaterien voraussetzen müssen. Es ist ein sogenanntes Ur- hirn (Protoganglion), ein einfacher Nervenknoten, von welchem symmetrisch seitliche Fäden ausstrahlen; wegen seiner Lage ober- halb des Mundes oder Schlundes wird er auch oft als „Ober- schlundknoten“ (Ganglion suprapharyngeum) bezeichnet. Dieses Urhirn hat sich ursprünglich aus einer dorsalen Scheitelplatte, an der Aussenfläche des Hautblattes der Gastraea dipleura, oberhalb des Mundes entwickelt. Auch bei den meisten Wurmthieren be- hält dieses Urhirn noch dieselbe ursprüngliche einfache Beschaffen- heit wie bei den Plattenthieren; nur bei wenigen Gruppen hat es sich weiter entwickelt und bildet einen sogenannten Schlundring. Unter den Nesselthieren zeigt nur eine Classe ein ähnliches ein- faches Nerven-Centrum; das sind die sonderbaren oben erwähnten Rippenquallen (Ütenophorae); da dieselben auch in anderen Beziehungen sich den Platoden nähern, und sogar durch unmit- telbare Zwischen-Formen mit denselben verknüpft erscheinen, nehmen manche Zoologen jetzt einen directen phylogenetischen Zusammenhang beider Gruppen an, vielleicht mit Recht. BOX Rohrnieren oder Nephridien. 535 Eine sehr wichtige Einrichtung des Thierkörpers tritt uns bei den Platoden zum ersten Male und ganz allgemein entgegen; das sind die Rohrnieren oder Nephridien, häufig auch als „Wassergefässe oder Exeretions-Organe“ bezeichnet. Sie dienen zur Ausscheidung unbrauchbarer Säfte aus dem Körper und ent- sprechen somit den Harn-Organen oder Nieren höherer Thiere. Da sie den Cnidarien und Spongien ganz allgemein fehlen, hin- gegen den Platoden allgemein zukommen, dürfen wir annehmen, dass sie bei den älteren Stamm-Formen dieses Phylum zuerst aufgetreten sind. Von den Platoden haben sie sich auf die Hel- minthen, und von diesen auf die höheren Thier-Stämme vererbt. Wahrscheinlich sind die Nephridien ursprünglich nur vergrösserte Hautdrüsen. Sie erscheinen bei den Platoden gewöhnlich als ein paar einfache Röhren oder verästelte Canäle, welche beiderseits des Darms liegen und an einer Stelle nach aussen münden. Indem wir nun das weite Reich der Coelenterien oder Coe- lenteraten verlassen, treten wir in das zweite grosse Reich der Metazoen hinüber, in das formenreiche Gebiet der Coelomarien oder Bilateraten. Wie schon mehrfach hervorgehoben wurde, unterscheiden sich dieselben von den ersteren vor Allem durch den Besitz einer Leibeshöhle (Coeloma); eines Hohlraums, wel- cher vom Darm ganz abgetrennt ist und einen Theil desselben umschliesst. Ferner besitzen fast alle Coelomarien (mit Ausnahme weniger entarteter Gruppen) Blut, und die meisten auch beson- dere Blutgefässe. Endlich besitzt bei den meisten Coelomarien der Darm zwei Oeffnungen, eine Mund- und eine After-Veffnung; in den verschiedenen Gruppen, in welchen der After fehlt, ist er offenbar durch Rückbildung verloren gegangen. Aus vielen gewichtigen Gründen dürfen wir annehmen, dass die Coelomarien von Coelenterien abstammen, und zwar von dem zuletzt besprochenen vierten Stamme derselben, den Platoden; unter diesen werden die heutigen Turbellarien den ausgestorbenen Stamm-Formen der Coelomarien am nächsten stehen. Von den Ersteren haben die Letzteren durch Vererbung bereits die zweiseitige Grund-Form des Körpers erhalten, welche zur Vereinigung derselben als Bilaterien oder Bilateraten be- 536 Stamm der Wurmthiere oder Helminthen. Xu rechtigt (s. oben S. 535). Ferner hat jene unbekannte Stamm- Form, oder das Zwischenglied zwischen Turbellarien und Coelo- marien, von ersteren noch andere wichtige Erbstücke übernommen, nämlich das Urhirn (oder den oberen Schlund - Nervenknoten) und ein paar Nephridien oder Rohrnieren. Die sechs höheren Stämme des Thierreichs, welche unser Unterreich der Coelomarien bilden, werden jetzt phylogenetisch fast allgemein so aufgefasst, wie ich sie zuerst vor zwanzig Jah- ren gruppirt habe; d. h. man betrachtet den Stamm der Wurm- thiere (Helminthes) als die gemeinsame Stamm-Gruppe, aus welcher sich die fünf höheren Stamm-Typen entwickelt haben. Die letzteren erscheinen noch heute mit den ersteren so vielfach durch Uebergangs-Formen und durch innige ontogenetische Bezie- hungen verknüpft, dass jene Auffassung fast allgemein angenom- men ist. Hingegen gehen die Ansichten der Zoologen darüber noch weit auseinander, wie die engeren Verwandtschafts-Beziehun- gen der fünf höheren Thier-Stämme unter sich zu denken sind. Nach meiner Ansicht ist es das Wahrscheinlichste, dass diesel- ben, unabhängig von einander, aus verschiedenen Zweigen des grossen Helminthen-Stammes entstanden sind, ungefähr in der Weise, wie es der hypothetische Stammbaum auf S. 509 zeigt. Der Stamm der Wurmthiere (Helminthes, oft auch schlecht- weg Würmer, Vermes oder Verminosa genannt) ist aus den an- geführten Gründen von ganz besonderem Interesse; denn er ist einerseits die Wurzel-Gruppe der Coelomarier, welche aus den Platoden hervorgegangen ist, und anderseits die gemeinsame Stamm-Gruppe, aus welcher sich die fünf höheren Thier-Stämme entwickelt haben. Ich fasse hier das Gebiet dieses wichtigen Stammes viel enger, als es gewöhnlich geschieht; einerseits scheide ich die Platoden aus, welche ich zu den Coelenterien stelle; an- derseits trenne ich die Anneliden ab, welche ich zu den Articu- laten rechne. Dadurch wird die Möglichkeit gegeben, die schwie- rige Stamm-Gruppe der Helminthen schärfer zu definiren, und sie durch bestimmte Merkmale abzugrenzen. Von den tiefer ste- henden Platoden einerseits unterscheiden sich die Wurmthiere durch den Besitz der Leibeshöhle, des Blutes und des Afters; XXI. Stamm der Wurmthiere oder Helminthen. 537 von den fünf höheren Thier-Stämmen anderseits unterscheiden sie sich durch den Mangel der positiven Charaktere, welche jeden der letzteren auszeichnen (vergl. 8.508). Insbesondere sind alle hier als Helminthen vereinigte Thiere ungegliederte Bila- teraten, mit einfachem Hirnknoten oder Schlundring; es fehlt ihnen allgemein die Mantelbildung und Radula der Mollusken, das Ambulacral-System und Sternmark der Echinodermen, das gegliederte Bauchmark der Articulaten, die Chorda und das Me- dullar-Rohr der Tunicaten und Vertebraten. Die zehn Classen, welche ich hier im Stamme der Helmin- then unterscheide, können in vier Cladome oder Haupt-Classen zusammengestellt werden: 1. Radwürmer (Rotatoria); 2. Rund- würmer (Strongylaria); 3. Rüsselwürmer (Rhynchocoela) und 4. Armwürmer (Prosopygia). Wie man sich die dunkle Phylogenie dieser Gruppen annähernd etwa vorstellen kann, zeigt der Stamm- baum auf S.509. Wir wollen die Classen hier nur ganz kurz namhaft machen, da ihre Verwandtschaft und Abstammung uns heutzutage noch sehr verwickelt und dunkel erscheint. Erst zahl- reichere und genauere Untersuchungen über die Keimesgeschichte der Helminthen werden uns künftig einmal auch über ihre Stam- mesgeschichte besser aufklären. Das erste Cladom der Helminthen bilden die Räderthiere im weiteren Sinne (Rotatoria). Man kann sie auch als Urwür- mer (Archelminthes) bezeichnen, weil zu ihnen wahrscheinlich die ausgestorbene gemeinsame Stamm-Form der Wurmthiere ge- hört. Diesen „Urwurm“ (Prothelmis), abgeleitet von einfachsten rhabdocoelen Turbellarien, stellen wir uns vor als einen ganz einfachen ungegliederten Wurm mit Flimmerhaut, dessen einfacher Darm - Canal Mund und After besitzt; über dem Munde ein ein- facher oder paariger Hirnknoten („Scheitelplatte“); in die ein- fache Leibeshöhle münden ein paar Nephridien. Diesem hypo- thetischen Urwurm sehr nahe scheinen die heutigen Ichthydinen zu stehen (Gastrotricha), kleine Süsswasser-Bewohner. Nahe ver- wandt erscheint ferner die Trochophora, die bedeutungsvolle Larven-Form, welche in vielfachen Modificationen ontogenetisch bei sehr verschiedenen Classen von Coelomarien auftritt, wahr- 538 Radwürmer und Rundwürmer. XCXIR scheinlich der erbliche Ueberrest einer entsprechenden phylogene- tischen Stamm-Gruppe (Trochozoa). Etwas höher entwickelt er- scheinen bereits die eigentlichen Räderthierchen (im engeren Sinne), die Rotifera. Sie sind sehr klein, zum Theil mikrosko- pisch, weshalb sie früher irrthümlich mit den echten Infusorien als „Infusionsthierchen“ vereinigt wurden. Besonders im süssen Wasser sind sie sehr verbreitet und schwimmen mittelst eines eigenthümlichen Flimmer -Apparates, des sogenannten „Räder- Organs“ umher. Dieses Räder-Organ kehrt in Gestalt von „Flim- merschnüren, Wimpersegeln*“ u. s. w. sowohl bei den Larven oder Jugend-Formen vieler anderen Helminthen, als auch bei den jungen Larven der höheren Thier- Stämme wieder. Die uralten Stamm-Formen derselben, die sich zunächst aus den Wurmthieren entwickelten, besitzen daher vielleicht nahe phylogenetische Be- ziehungen zu den Räderthieren. Andere Zoologen fassen hingegen diese Gruppe als eine rückgebildete auf und legen jener Aehn- lichkeit der verschiedenen „Räder-Organe“ keine palingenetische Bedeutung bei. Das zweite Cladom der Helminthen enthält die umfangreiche Abtheilung der Rundwürmer (Strongylaria oder Nematelminthes), ausgezeichnet durch ihre derbe, nicht flimmernde Haut, durch drehrunde und langgestreckte, eylindrische Gestalt, und sehr ein- fachen Körperbau. Sie leben zum grössten Theil als Schmarotzer im Inneren anderer Thiere und Pflanzen, sehr verbreitet. Von menschlichen Parasiten gehören dahin namentlich die berüchtigten Trichinen, die Spulwürmer (Ascaris), Peitschenwürmer (Tricho- cephalus), Fadenwürmer (Flaria) u. s. w. Ausser den eigentlichen Rundwürmern oder Fadenwürmern (Nematoda) gehören zu die- ser Haupt-Klasse auch noch die parasitischen Gordiaceen, die ihren Darmcanal theilweise, und die Acanthocephalen, die denselben durch ihr Schmarotzerthum ganz verloren haben (ähn- lich den Bandwürmern). Auch die sonderbaren Pfeilwürmer (Chaetognathi), welche in grossen Mengen an der Meeresoberfläche schwimmen, werden oft dazu gerechnet; sie stehen aber doch durch ihren eigenthümlichen Bau ziemlich isolirt und zeigen bereits Merkmale höherer Organisation. Die Entstehung der Leibeshöhle XXL Rüsselwürmer und Armwürmer. 539 aus einem Paar Coelom-Taschen, welche aus dem Urdarm her- vorwachsen und sich von ihm abschnüren, ist bei diesen Pfeil- würmern oder Sagitten sehr klar zu beobachten (Vergl. S. 300, Fat V, Fie. 19,20). Als eine sehr alte und phylogenetisch wichtige Gruppe ist die dritte Hauptelasse der Helminthen zu betrachten, das Cladom der Rüsselwürmer (Ahynchocoela oder Rhynchelminthes). Das- selbe umfasst die Nemertinen und Enteropneusten, zwei ziemlich verschiedene Classen, die aber beide sich durch eigenthümliche küsselbildungen, sowie durch merkwürdige Verwandtschafts-Be- ziehungen zu den Sternthieren und den Chordonien (Mantel- thieren und Wirbelthieren) auszeichnen. Die Classe der Schnur- würmer (Nemertina) enthält zahlreiche, grösstentheils im Meere lebende Würmer von langgestreckter und abgeplatteter, oft band- förmiger Gestalt. Sie wurden früher zu den Platoden gerechnet, erheben sich aber weit über diese Coelenterien durch den Besitz von Blutcanälen und einer Afteröffnung. Die Classe der Eichel- würmer (Enteropneusta) enthält nur eine einzige, aber höchst merk- würdige Wurmgattung, den im Meeressande vergrabenen Dalano- glossus. Durch seinen merkwürdigen Kiemendarm erscheint der- selbe als ältester Ueberrest derjenigen Helminthen, von denen die Chordathiere (Tunicaten und Vertebraten) abzuleiten sind. Das vierte und letzte Cladom der Helminthen wird durch die Armwürmer (Prosopygia oder Brachelminthes) gebildet. Dasselbe setzt sich aus vier Classen zusammen, welche alle in der charakteristischen Bildung des Darmes und in dem Besitze von Tentakeln oder Mundarmen übereinstimmen. Zwei von diesen vier Klassen (Bryozoen und Brachiopoden) wurden früher irrthüm- lich zu den Weichthieren gestellt und sehr unpassend als Mollus- coida bezeichnet. Die Mosthiere (Dryozoa) bilden eine formen- reiche Klasse, deren zierliche Stöcke (grösstentheils im Meere lebend) Polypenstücken sehr ähnlich sind. Die marinen Spiral- kiemer (Drachiopoda) besitzen eine zweiklappige muschelähn- liche Kalkschale; dieselben finden sich massenhaft versteinert schon in den ältesten petrefactenführenden Gebirgsmassen und sind von grosser Wichtigkeit für die Geologie als „Leitmuscheln“. 540 System der Wurmthiere oder Helminthen. xxXr Systematische Uebersicht über die Cladome und Classen der Helminthen. | ae en | an de |” Besonders 5 \ Bemerkungen, anpassen. Helminthen. 8 | Beispiele. I. Cladom: Trochozoa Radwürmer . Gastrotrichen Rotatoria Ichthydina (Archelminthes) | 3. Räderthierchen Rotifera 4. Fadenwürmer II. Cladom: Nematoda Rundwürmer - Kratzwärmer en Acanthocephala N . Pfeilwürmer Chaetognathi 7. Schnurwürmer ee ürmer Nemerti Rhynchocoela Kr m Ina Rl h ichelwürmer ee Enteropneusta minthes) . Mosthierchen Bry0ozoa IV. Cladom: 0. Spiralkiemer Armwürmer Brachiopoda Prosopygia (Brachel- indes) Phoronea . Spritzwürmer Sipunculea . | ‚ 5 =] l. Prothelminthen f Prothelmis . Hufeisenwürmer | Actinotrocha Haut zart, mit Flimmer - Organen. Darm einfach, ge- rade. After hinten. (Phylogenetische Beziehungen zu Platoden) | Trochosphaera [ Chaetonotus | Ichthydium [ Philodina | Hydatina [ Trichina | Asearis Flimmer-Organe. Darm einfach, ge- rade. After hinten. (Phylogenetische 3eziehungen zu Gliederthieren) [ Eehinorhynehus \ Acanthocephalus [ Sagitta \ Spadella Haut weich, mit Flimmer - Decke. Darm gerade, vorn mit Rüsselbildung. After hinten. (Phy- logenetische Bezie- hungen zu Chorda- thieren) Haut weich, meist | in Schalen oder | Haut derb, ohne [ Polia | Nemertes Tornaria \ Balanoglossus [ Loxosoma \ Flustra [ Lingula | Terebratula Röhren einge- schlossen. Darm hufeisenförmig gekrümmt. After neben dem Mund. Tentakeln oder Arme rings um den Mund. (Phylogene- tische Beziehungen zu Weichthieren) \ Phoronis Sipunculus Priapulus oXT Phylogenie der Wurmthiere oder Helminthen. 541 i ylog Die beiden anderen Klassen, welche neuerdings Arnold Lang in seinem trefflichen Lehrbuche der vergleichenden Anatomie mit den beiden ersteren als „Prosopygien“ vereinigt hat, sind die marinen Hufeisenwürmer (Phoronea) und Spritzwürmer (Sipuneulea); früher wurden diese bald an die Sternthiere bald an die Gliederthiere angeschlossen. Der grosse und formenreiche Stamm der Wurmthiere galt bisher als die gefürchtete „Rumpelkammer der Zoologie“, in welcher alle wenig bekannten und sonst nicht unterzubringenden niederen Thiere zusammengeworfen wurden. Indessen gewinnt derselbe bedeutend an morphologischer Klarheit und an phylo- genetischem Interesse, wenn wir sein Gebiet in der hier darge- legten Weise schärfer begrenzen. Es bleiben dann, nach Aus- schluss der Platoden einerseits und der Anneliden andererseits, die vier angeführten Cladome übrig, welche in den wichtigsten morphologischen Charakteren übereinstimmen. In dieser Begren- zung erscheint der Stamm der Helminthen als eine hochinteressante Zwischengruppe, ein verknüpfendes Bindeglied zwischen den Coelenterien (Platoden) einerseits und den höheren Thierstämmen andererseits. Die letzteren sind divergirend aus dem vielver- zweigten Stamme der Würmer hervorgewachsen, während seine Wurzel im Stamme der Platoden zu suchen ist. Bei Beurtheilung der Helminthen-Phylogenie ist besondere Vorsicht und kritische Zurückhaltung desshalb nothwendig, weil für die meisten Classen paläontologische Documente fast ganz fehlen. Wir sind daher fast ausschliesslich auf die Urkunden der vergleichenden Anatomie und Ontogenie angewiesen; und deren Ergebnisse scheinen sich hier oft zu widersprechen. Auch sind die Lücken zwischen vielen einzelnen Classen und Familien oft sehr gross. Alle lebenden Helminthen-Gruppen erscheinen nur als einzelne kleine Zweige eines mächtigen Baumes, der in grauer Primordial-Zeit viele mächtige und sprossenreiche Aeste entwickelt hatte. Der bei weitem grösste Theil derselben ist längst abge- storben, ohne uns irgend eine Spur ihres Daseins zu hinterlassen. /Zweiundzwanzigster Vortrag. Stammes-Geschichte der Weichthiere und Sternthiere. Stamm der Weichthiere oder Mollusken. Organisation derselben. Stamm- Verwandtschaft der drei Hauptelassen. Stammgruppe der Schnecken (Coch- lides). Entstehung der Muscheln (Acephala) durch Rückbildung des Kopfes. Entwickelung der Kracken (Cephalopoda) durch weitere Ausbildung des Kopfes und seiner Arme. — Stamm der Sternthiere oder Echinodermen. Organisation derselben. Zweiseitig-fünfstrahlige Grundform. Wassercanal-System. On- togenie. Hypothesen über die Phylogenie der Echinodermen. Pentastraea- Hypothese (1866). Ableitung aller Sternthiere von Seesternen, und dieser von Gliederwürmern (Panzerwürmer oder Phraethelminthen). Die drei Haupt- classen der Echinodermen. Astrozoen (Seesterne und Seestrahlen). Pelma- tozoen (Seelilien, Seeknospen und Seeäpfel). Echinozoen (Seeigel und See- gurken). Pentaetaea-Hypothese von Semon (1888). Phylogenetische Bedeutung der gemeinsamen ontogenetischen Larven-Form: Pentaetula. Meine Herren! Die grossen natürlichen Hauptgruppen des Thierreichs, welche wir als Stämme oder Phylen unterschieden haben, besitzen sehr verschiedene Bedeutung für unsere Phylogenie oder Stammes-Geschichte. Dieselben lassen sich weder in einzige Stufenreihe über einander ordnen, noch als ganz unabhängige Phylen, noch als gleichwerthige Zweige eines einzigen Stamm- baums betrachten. Vielmehr stellt sich, wie wir in den letzten Vorträgen gesehen haben, die Gastraea als die gemeinsame Stammform aller Metazoen heraus. Diese uralte Gastraea-Stamm- form, deren frühere Existenz noch heute durch die Gastrula- Keimform der verschiedensten Thiere handgreiflich bewiesen wird, hat zunächst eine Anzahl verschiedener Gastraeaden erzeugt; und diese müssen wir ihrer primitiven Organisation nach als ein- fachste Coelenterien oder Pflanzenthiere betrachten. Aus Wlr XXU. Weichthiere oder Mollusken. 543 den Gastraeaden haben sich später die übrigen Niederthiere, einerseits die Spongien und Nesselthiere, andererseits die Platten- thiere (Platodes) entwickelt. Aus letzteren sind die Wurm- thiere (Helminthes) hervorgegangen. Diesen vielgestaltigen und weitverzweigten Stamm müssen wir wiederum als die gemeinsame Stammgruppe betrachten, aus welcher (an ganz verschiedenen Zweigen) die übrigen Stämme, die höheren Phylen des Thier- reichs, hervorgesprosst sind (vergl. den hypothetischen Stammbaum S. 509). Welche Reihenfolge wir bei Betrachtung der höheren Stämme des Thierreichs einschlagen, ist an sich ganz gleichgültig. Denn unter sich haben diese Phylen gar keine näheren verwandtschaft- lichen Beziehungen; sie haben sich vielmehr von ganz verschie- denen Aesten der Würmergruppe abgezweigt. Als den unvoll- kommensten, am tiefsten stehenden von diesen Stämmen, wenig- stens in Bezug auf die morphologische Ausbildung, kann man den Stamm der Weichthiere (Mollusca) betrachten. Dieser Stamm enthält drei Hauptclassen oder Cladome, die Schnecken (Cochlides), die Muscheln (Conchades) und die Kracken ( Teuthodes). Die Schnecken bilden die Hauptmasse und die Stammgruppe des Mollusken-Stammes. Aus ihnen sind die Muscheln durch Rückbildung, die Kracken durch Fortbildung hervorgegangen. Charakteristisch für alle Weichthiere ist der ungegliederte sackförmige Körper, dessen muskulöse Bauchfläche einen verschie- den gestalteten, meist sohlenförmigen und zum Kriechen dienen- den Fuss bildet, während die Haut der gewölbten Rückenfläche sich ringsum in Gestalt einer mantelartigen Falte, des sogenannten Mantels, abhebt. DieGrundform des Körpers, durch Vererbung von den Wurmahnen übertragen, ist bilateral oder zweiseitig- symmetrisch; doch entwickelt sich häufig eine auffallende Asym- metrie, so dass die rechte Körperhälfte viel stärker als die linke erscheint; oder umgekehrt. Zwischen Fussrand und Mantelrand ist ursprünglich eine Höhle vorhanden, in der die zur Athmung dienenden Kiemen liegen (Mantelhöhble oder Kiemenhöhle). Nirgends begegnen wir hier der ausgeprägten Gliederung des Körpers, der Articulation oder Metamerenbildung, welche bei den 544 Organisation der Weichthiere oder Mollusken. XXIE drei Stämmen der Sternthiere, Gliederthiere und Wirbelthiere die wesentlichste Ursache der höheren Formentwickelung und Ver- vollkommnung wird. Vielmehr stellt bei allen Weichthieren, bei allen Muscheln, Schnecken u. s. w. der ganze Körper einen ein- fachen ungegliederten Sack dar, in dessen Höhle die Einge- weide liegen. Nur der vorderste Theil des Körpers setzt sich als Kopf mehr oder minder deutlich vom ungegliederten Rumpfe ab. Bei den meisten Schnecken ist dieser Kopf mässig entwickelt und trägt ein paar Augen und ein paar Fühler oder Tentakeln, sowie den Mund mit Kiefer und Gebiss, eine Zunge mit vielzähniger Reibeplatte. Bei den Muscheln ist der Kopf rückgebildet, bei den Kracken dagegen sehr hoch entwickelt. Das Nervensystem der Weichthiere ist sehr charakteristisch und besteht ursprünglich aus einem Schlundring, von welchem zwei paar kräftige Seitennerven abgehen (Amphineura). Ge- wöhnlich aber sind diese so entwickelt, dass ein oberes Urhirn oder ein Gehirnknoten durch einen vorderen Schlundring mit einem unten gelegenen Fussknoten und durch einen hinteren Schlund- ring mit einem hinten gelegenen Kiemenknoten verbunden ist. Bei der grossen Mehrzahl der Weichthiere ist der weiche sack- förmige Körper von einer Kalkschale oder einem Kalkgehäuse geschützt, einer erhärteten Ausscheidung des Mantels. Ursprüng- lich ist diese Schale oder „Conchylie“ ein flacher, den Rücken deckender Schild oder Napf. Bei den meisten Schnecken und Kracken wächst sie in eine spiral gewundene Röhre aus und bildet das bekannte „Schneckenhaus“. Bei den Muscheln aber zerfällt sie in zwei seitliche Klappen, die auf dem Rücken durch ein „Schlossband“ zusammenhängen. Wegen dieser festen Kalkschalen werden die Weichthiere auch Schalthiere (Conchylia) genannt (Ostracoderma des Aristoteles). Trotzdem dieselben massenhaft in allen neptunischen Schichten sich versteinert finden, sagen sie uns dennoch nicht viel über die geschichtliche Entwickelung des Stammes aus. Denn diese fällt grösstentheils in die ältere Pri- mordialzeit. Selbst schon in den silurischen Schichten finden wir alle drei Hauptelassen der Weichthiere neben einander versteinert vor, und dies beweist deutlich, in Uebereinstimmung mit vielen = Me Eu ET u Fe XXI. Stammes-Geschichte der Weichthiere. 545 anderen Zeugnissen, dass der Weichthier-Stamm damals schon eine mächtige Ausbildung erreicht hatte, als die höheren Stämme, namentlich Gliederthiere und Wirbelthiere, kaum über den Be- ginn ihrer historischen Entwickelung hinaus waren. In den darauf folgenden Zeitaltern, besonders zunächst im primären und weiter- hin im secundären Zeitraum, dehnten sich diese höheren, geglie- ‘derten Thier-Stämme mehr und mehr auf Kosten der ungeglieder- ten Mollusken und Würmer aus; diese waren ihnen im Kampfe um das Dasein nicht gewachsen und mussten dem entsprechend mehr und mehr abnehmen. Die jetzt noch lebenden Weichthiere und Würmer sind nur als ein verhältnissmässig, schwacher Rest von der mächtigen Fauna zu betrachten, welche in primordialer und primärer Zeit über die anderen Stämme ganz überwiegend herrschte. Die grosse Mehrzahl der heutigen Mollusken lebt im Meere, eine viel geringere Zahl im süssen Wasser; Bewohner des Festlandes sind nur die Lungenschnecken. In keinem Thierstamm zeigt sich deutlicher, als in dem der Mollusken, wie verschieden der Werth ist, welchen die Versteine- rungen für die Geologie und für die Phylogenie besitzen. Für die Geologie sind die verschiedenen Arten der versteinerten Weichthierschalen von der grössten Bedeutung, weil dieselben als „Leitmuscheln“ vortrefiliche Dienste zur Characteristik der verschiedenen Schichtengruppen und ihres relativen Alters leisten. Für die Stammes-Geschichte der Mollusken dagegen besitzen sie meistens nur geringen Werth, weil sie einerseits Körpertheile von ganz untergeordneter morphologischer Bedeutung sind, und weil andererseits die eigentliche Entwickelung des Stammes in die ältere Primordialzeit fällt, aus welcher uns keine deutlichen Ver- steinerungen erhalten sind. Viele Schnecken mit ähnlicher Schalen- bildung haben eine sehr verschiedene innere Organisation, und umgekehrt. Wenn wir daher den Stammbaum der Mollusken construiren wollen, so sind wir vorzugsweise auf die Urkunden der vergleichenden Anatomie und Keimes-Geschichte angewiesen, aus denen sich etwa Folgendes ergiebt. Als die eigentliche Haupt- oder Stammgruppe der Mollusken haben wir die Hauptelasse der Schnecken (Cochlides) anzusehen, Haeckel, Natürl. Schöpfungs-Gesch. 8. Aufl. 3 System der Weichthiere oder Mollusken. Systematische Uebersicht über die Classen und Ordnungen der Weichthiere (Mollusca). XXI. | Classen Ordnungen | Unterordnungen | Gattungs- der der der namen als Weichthiere. | Weichthiere. | Weichthiere. Beispiele. l. Urschnecken f 1. Procochlides Procochlis Procochlids |\ 2. Neomenida Neomenia ee 2, Platten- Promollusca | schnecken | 3. Placophora Chiton Amphineura a ee [ #. Chiastoneura Fissurella = REN * 9. Orthoneura Murex u Prosobranchia | r 20 = 6. Heteropoda Carinaria = 7. Tectibranchia Aplysia = 4. Hinterkiemeı E95 r > 8 an Bea an | 8. Nudibranchia Doris - Gastropoda >; 9. Saccoglossa Elysia 5. Lungen- 10. Branchio- schnecken | pneusta Lymnnaus Pulmonata | IR Nephropneusta Helix II. [ 6. Schaufel- [ Schaufelschnecken schnecken 12. Dentalida Dentalium Scaphopoda \ Scaphopoda | 7. Muscheln ohne ir Palaeoconchae Arca Athemröhren | 14. Monomyaria Östrea ; Asiphonia 15. Najades Unio & Ren r R Y $ = 8. Muscheln mit 716. Disiphonia Tellina R= Acephala F [ a i = Athemröhren 17. Gamosiphonia Solen 3 Siphoniata | 18. Inclusa Teredo SEINEN | 9. Sackschnecken | |9, Entoconchida Entoconcha aaa | Saccomorpha . \ je 10. Flossen- bes Propteropoda Conularia & ee schnecken 21. Thecosomata Hyalaea E Pteropoda Pteropoda | 22. Gymnosomata Clio 5 VI. . Vierkiemige | 23. Proteuthides Orthoceras r en Zw: \ z Polyolenae Nautilus = Cephalopoda 12. Zweikiemige 13 Decolenae Sepia Dibranchia 26. Octolenae Octopus 547 SOX IE Stammbaum der Weichthiere oder Mollusken. | Gephalopoda Kracken a Dibranchia gun s Zweikiemer Prosobranchia Vorderkiemer Pulmonata Lungenschnecken L Pteropoda )pistho- En Flossenschnecken ı Hinterkiemer a Tetrabranchia Vierkiemer Scaphopoda Schaufelschnecken mn Acephala Saccomorpha Placophora Muscheln Sacksehnecken Plattenschnecken Sipböniata (Entoconcha) (Chitonida) Siphomuscheln Asiphonia : i Neomenida Sipholose Mondschnecken er... v — Cochlides Schnecken Urschnecken Procuchlides Urweichthiere Promollusca Wurmthiere Helminthes Plattenthiere Platodes Gastraea 548 Stammgruppe der Schnecken. XXI. Aus ihr haben sich wahrscheinlich die Muscheln durch rück- schreitende, die Kracken umgekehrt durch fortschreitende Umbil- dung entwickelt; erstere haben den Kopf verloren, letztere den- selben höher ausgebildet. Die Hauptclasse der Schnecken zer- fällt in mehrere formenreiche Classen; trotz sehr verschiedenartiger und mannigfaltiger Ausbildung erscheinen dieselben dennoch durch ihre gemeinsame Jugendform als nächstverwandte Abkömmlinge einer uralten gemeinsamen Stammform. Diese hypothetische, seit Millionen von Jahren ausgestorbene Stammform, die Ur- schnecke (Procochlis) können wir uns als eine Zwischenform zwischen den niedersten heute noch lebenden Schnecken (Amphi- neura) und ungegliederten Helminthen vorstellen. In ihrer On- togenie wird bereits die interessante Segellarve (Veliger) auf- getreten sein, welche heute noch in der Keimes-Geschichte der meisten Mollusken vorübergehend erscheint. Ihren Namen trägt die Segellarve von einem grossen flimmernden zweilappigen „Segel“ oder „Räder-Organ* (Velum), welches auf der Stirnfläche des jungen Weichthieres erscheint, während den Rücken eine kleine napfförmige Schale deckt. Sie lässt sich unmittelbar von der Trochophora der Helminthen ableiten. Als älteste Weichthiere der Gegenwart, welche der gemein- samen Stammform aller Mollusken am nächsten stehen, können entweder die wurmähnlichen Neomeniden (Neomenia, Chaeto- derma), oder die nahe verwandten Placophoren (Chiton) ange- sehen werden. Diese letzteren, die Plattenschnecken (Placo- phora), werden jetzt meistens als eine besondere Classe betrachtet, ausgezeichnet dadurch, dass die Rückenschale in acht hinter ein- ander gelegene Kalkplatten zerfällt. In der primitiven Beschaffen- heit des inneren Körperbaues stehen ihnen unter den übrigen Schnecken am nächsten die paarkiemigen Schnecken (Zeugo- branchia), welche zur grossen Classe der Sohlenschnecken (Gastropoda) gerechnet werden. Ihr Fuss ist eine platte Sohle, auf der die Schnecke kriecht, wie von unseren gewöhnlichen Land- schnecken allbekannt ist. Unter den Sohlenschnecken werden als drei Hauptabtheilungen die Vorderkiemer, Hinterkiemer und Lungenschnecken unterschieden. Bei den Vorderkiemern (Proso- OU Wunderschnecken und Muscheln. 549 branchia) liegt die Kieme vor, bei den Hinterkiemern (Opistho- branchia) hinter dem Herzen. Bei den Lungenschnecken (Pul- monata), zu denen die gewöhnlichen Weinbergschnecken (Helix) und Gartenschnecken (Limax) gehören, hat sich die Kiemenhöhle durch Anpassung an Luftathmung in eine Lungenhöhle verwandelt. Diese Lungenschnecken sind die einzigen Mollusken, welche den ursprünglichen Wasseraufenthalt verlassen und sich an das Land- leben angepasst haben. Eine der merkwürdigsten Weichthier-Formen ist die Wun- derschnecke (Entoconcha mirabilis), welche die besondere (lasse der Sackschnecken (Saccomorpha) bildet. Diese Wunder- schnecke entdeckte der grosse Berliner Zoologe Johannes Müller in der Bucht von Muggia bei Triest. Sie ist in entwickeltem Zustande ein einfacher Sack oder Schlauch, welcher mit Eiern und Sperma angefüllt und an den Darm einer Seegurke (Synapta) angeheftet gefunden wird. Nimmermehr würde man auf die Ver- muthung gekommen sein, dass dieser einfache Eierschlauch eine umgewandelte Schnecke wäre, wenn nicht aus den Eiern sich junge Schnecken entwickelten, die ganz den Segellarven (Veliger) gewöhnlicher Kiemenschnecken (Natica) gleichen und ein Flimmer- segel nebst Schale besitzen. Offenbar ist hier durch Anpassung an die schmarotzende Lebensweise die Schnecke so entartet, dass sie nach und nach alle Organe, bis auf die Haut und die Ge- schlechts-Organe verloren hat. Unter den Weichthieren steht dieser Fall einzig da, während er unter den Krebsthieren bei den Sackkrebsen (Saceulina) sich sehr oft wiederholt. Die Keimes- Geschichte allein giebt uns bei diesen völlig rückgebildeten Schma- rotzern Aufschluss über ihre Herkunft und Stammes-Geschichte. Wahrscheinlich ebenfalls durch Rückbildung, die jedoch vorzugsweise nur den Kopf betroffen hat, sind aus einer Gruppe der Schnecken die Muscheln (Conchades) entstanden. Wegen dieses Kopfmangels werden die Muscheln oft auch Kopflose ge- nannt (Acephala), oder wegen ihrer blattförmigen Kiemen Blatt- kiemer (Lamellibranchia),; Andere nennen sie wegen ihres beil- förmig zugeschärften Fusses Beilfüsser (Pelecypoda), oder wegen ihrer zweiklappigen Schale Zweiklapper (Bivalva). Alle Muscheln 550 Flossenschnecken oder Pteropoden. X haben den Kopf verloren und damit auch die Kiefern und die characteristische, mit Zähnen besetzte Reibeplatte der Zunge (Radula), die bei allen übrigen Mollusken (— die entarteten Wunderschnecken ausgenommen —) sich findet. Als die Ursache dieser weitgehenden Rückbildung ist wahrscheinlich die Anpassung an die festsitzende Lebensweise anzusehen; noch heute sitzen viele Muscheln am Meeresboden fest, theils mit der Schale ange- wachsen (Austern), theils mittelst des Byssus, eines eigenthüm- lichen, aus einer Fussdrüse vorwachsenden Faserbüschels (Mies- muscheln, Riesenmuscheln). Auch die beiden Augen des Kopfes haben alle Muscheln eingebüsst; zum Ersatz dafür haben sich jedoch manche Muschelthiere eine grosse Anzahl von neuen Augen angeschafft, die in einer langen Reihe an beiden Rändern ihres weiten Mantels sitzen. Die ursprünglich einfache Rückenschale der Schnecken ist bei den Muscheln in drei Stücke zerfallen, in zwei Seitenklappen und ein längs des Rückens verlaufendes „Schlossband“, welches beide Klappen in einem „Schlosse“ oder Gelenke vereinigt und zusammenhält. Unsere phylogenetische Hypothese, dass die Muscheln durch Rückbildung und Verlust des Kopfes aus einer Schnecken- Gruppe entstanden sind, wird sowohl durch die vergleichende Anatomie und Keimes-Geschichte bestätigt, als auch durch den Umstand, dass noch heute eine verbindende Zwischenform zwischen Beiden existirt; das ist die Gattung Dentalium, welche die be- sondere Classe der Schaufelschnecken (Scaphopoda) bildet. An sie schliessen sich nahe die Bohrmuscheln an, die nebst den Messermuscheln und Venusmuscheln zur Ordnung der Siphoniaten gehören. Bei diesen Siphoniaten finden sich entwickelte Athem- röhren, welche der Ordnung der Asiphonien fehlen. Zu letzteren sehören die Austern und Perlmuttermuscheln, sowie unsere ge- wöhnlichen Teichmuscheln oder Najaden. Eine eigenthümliche Molluskenclasse bilden die Flossen- schnecken oder Flossenkracken (Pteropoda), nächtliche Seethiere, welche in grossen Schwärmen die Meere bevölkern, eine Haupt- nahrung der Walfische. Mittelst zweier grosser, am Kopfe stehen- der Flossenlappen oder Flügel (entstanden durch Umbildung des BRIT. Kopffüssler oder Cephalopoden. Al vordersten Fusstheils) flattern sie im Meere umher, wie „See- Schmetterlinge“. Sie bilden in mancher Beziehung den Ueber- gang von den Schnecken zu den Kracken (Teuthoda) und wer- den von einigen Zoologen mit ihnen vereinigt. Die Hauptmasse dieser letzteren bildet die merkwürdige, schon von Aristoteles vielfach untersuchte Classe der Tintenfische oder Kopffüssler (Cephalopoda). Auch diese leben sämmtlich schwimmend im Meere. Durch ihre beträchtliche Grösse und vollkommnere Orga- nisation, namentlich die hohe Entwickelung des grossen Kopfes, erheben sie sich bedeutend über die Schnecken, obwohl sie un- zweifelhaft von diesen abstammen. Sie zeichnen sich vor den Schnecken durch acht, zehn oder mehr lange Arme aus, welche im Kranze den Mund umgeben und eigenthümliche Kopfglied- maassen darstellen (gleich den „Kopfkegeln“ der Flossenschnecken). Die Kracken, welche noch jetzt in unseren Meeren leben, die Sepien, Kalmare, Argonautenboote und Perlboote, sind nur dürf- tige Reste von der formenreichen Schaar, welche diese Classe in den Meeren der primordialen, primären und secundären Zeit bil- dete. Die zahlreichen versteinerten Ammonshörner (Ammonites), Perlboote (Nautilus) und Donnerkeile (Belemnites) legen noch heutzutage von jenem längst erloschenen Glanze des Stammes Zeugniss ab. Die meisten dieser ausgestorbenen Kracken gehören zur Legion der Vierkiemigen (Tetrabranchia), von denen heute nur noch das sonderbare Perlboot lebt (Nautilus). Alle übrigen Cephalopoden der Gegenwart sind Zweikiemige (Drbranchia). Die verschiedenen Ordnungen, welche man unter den Mollusken- Classen unterscheidet, und deren systematische Reihenfolge Ihnen die vorstehende Tabelle (S. 546) anführt, liefern in ihrer histori- schen und ihrer entsprechenden systematischen Entwickelung mannichfache Beweise für die Gültigkeit des Fortschrittsgesetzes. Da jedoch diese untergeordneten Mollusken-Gruppen an sich weiter von keinem besonderen Interesse sind, verweise ich Sie auf die gegenüberstehende Skizze ihres Stammbaums (S. 547) und wende mich sogleich weiter zur Betrachtung des Sternthier-Stammes. Zum Stamme der Sternthiere oder Stachelhäuter (Echino- derma oder Estrellae) gehören die Seesterne, Seestrahlen, See- 552 Fünfstrahlige Grundform der Sternthiere. RKe knospen, Seelilien, Seeäpfel, Seeigel und Seegurken (vergl. Taf. IX, sowie die Uebersicht der Classen auf S. 564 und ihres Stamm- baums auf S. 565). Sie bilden eine der interessantesten und dennoch wenigst bekannten Abtheilungen des Thierreichs. Alle Sternthiere leben im Meere, in dessen Oeconomie sie eine wich- tige Rolle spielen. Jeder der einmal einige Wochen an der See war, wird wenigstens zwei Formen derselben, die Seesterne und Seeigel, gesehen haben. Wegen ihrer sehr eigenthümlichen Orga- nisation sind die Sternthiere als ein ganz selbstständiger Stamm des Thierreichs zu betrachten, und namentlich gänzlich von den Nesselthieren oder Akalephen zu trennen, mit denen sie früher irrthümlich als Strahlthiere oder Radiaten zusammengefasst wurden. Alle Echinodermen sind ausgezeichnet durch die Vereini- gung von mehreren ganz eigenthümlichen Bau-Verhältnissen des Körpers, und entfernen sich dadurch weit von allen anderen Thier-Stämmen. Als solche morphologischen Haupt-Charactere betrachten wir die fünfstrahlig-symmetrische Grund-Form, das Kalk-Skelet der Lederhaut, das fünfstrahlige Sternmark des Ner- ven-Systems, und vor Allem das Wassercanal-System. Schon bei oberflächlicher Betrachtung der äusseren Gestalt fallen alle Stern- thiere durch ihre fünfstrahlig-symmetrische Grund-Form auf (Taf. IX). Fast immer ist der Körper aus fünf Strahltheilen oder Parameren zusammengesetzt, welche rings um die Haupt- axe des Körpers sternförmig herum stehen und sich in dieser Axe berühren. Nur bei einigen Seestern-Arten steigt die Zahl dieser Strahltheile über fünf hinaus, auf 6—9, 10—12, oder selbst 20—40; und in diesem Falle ist die Zahl der Strahltheile bei den verschiedenen Individuen der Species meist nicht beständig, sondern wechselnd. Die fünf Parameren selbst besitzen einen zweiseitig-symmetrischen und gegliederten Körperbau, aus zwei symmetrischen Hälften oder Antimeren zusammengesetzt, ähnlich einem Ringelwurm. _ Bald sind alle fünf Stücke von gleicher Bil- dung, bald in der Weise differenzirt, dass der ganze fünfstrah- lige Körper selbst wieder bilateral, und aus zwei Antimeren zu- sammengesetzt erscheint, mit einer senkrechten, ihn halbirenden Mittel-Ebene. Dann liegt ein unpaares Paramer in dieser Mittel- XXI. Organisation der Sternthiere. 553 Ebene, während die vier anderen sich paarweise auf die beiden Hälften vertheilen, jederseits ein vorderes und ein hinteres. Im inneren Körperbau ist ganz allgemein eine Andeutung dieser bi- lateren Symmetrie ausgesprochen; und da sie schon in frühester Jugend allgemein auftritt, muss sie als uralte Erwerbung gelten. Das eigenthümliche fünfstrahlige Haut-Skelet der Echinoder- men entsteht durch Verkalkung der Lederhaut, durch Ab- lagerung von zierlichen mikroskopischen Kalkstäbchen im Binde- gewebe des Corium; meistens verbinden sich diese Stäbchen zu Gitter-Platten; und bei Vielen entstehen daraus grosse Panzer- Platten, welche sich in sehr characteristischer Lagerung zu einem festen Gehäuse, ähnlich einer äusseren Kalkschale, zusammen- setzen. Ebenso characteristisch ist ferner für die Sternthiere di& be- sondere Form ihres Central-Nervensystems. Wie sich die Wurm- thiere durch ihr einfaches Urhirn auszeichnen, die Weichthiere durch ihren Doppel-Schlundring, die Gliederthiere durch ihr Bauch- mark und die Wirbelthiere durch ihr Rückenmark, so hesitzen die Sternthiere ihr eigenthümliches Sternmark, einen Mund- ring, von dessen Ecken in jeden Strahltheil ein Bauchmark aus- strahlt (in der Regel also fünf). Dieser Nervenstrahl verläuft, gleich dem Bauchmark der Gliederthiere, an der Bauchseite jedes gegliederten Strahltheils oder Parameres bis an dessen Ende. Von allen anderen Thieren unterscheiden sich ferner die Echinodermen durch ihr eigenthümliches Ambulacral-System, einen höchst merkwürdigen Bewegungs-Apparat. Dieser besteht aus einem verwickelten System von Canälen oder Röhren, die von aussen mit Seewasser gefüllt werden. Das Seewasser wird in dieser Wasserleitung theils durch schlagende Wimperhaare, theils durch Zusammenziehungen der muskulösen Röhrenwände selbst, die Gummischläuchen vergleichbar sind, fortbewegt. Aus den Röhren wird das Wasser in sehr zahlreiche hohle Füsschen hineingepresst, welche dadurch prall ausgedehnt und nun zum Gehen und zum Ansaugen benutzt werden. Jedes Füsschen steht mit einem inneren Bläschen in Verbindung. Will das Stern- thier kriechen, so presst es Wasser aus dem Bläschen in das 554 Phylogenetische Hypothesen über die Sternthiere. XXI Füsschen hinein. Schon in früher Jugend entwickeln sich um den Mund herum fünf Arme, welche vom Wassergefäss-Ring des Mun- des aus gefüllt werden. Auch Fühler, Kiemen und andere Or- gane werden vom Ambulacral-System versorgt. Ausserdem besitzen alle Sternthiere einen gut entwickelten Darmcanal, eine Leibeshöhle und ein Blutgefäss-System, sehr entwickelte Muskeln, getrennte (selten vereinigte) Geschlechter u.s.w. Kurz im Ganzen erscheinen sie morphologisch als sehr hochorganisirte Thiere, während sie physiologisch, und besonders bezüglich ihrer Seelenthätigkeit, auf einer sehr tiefen Stufe stehen. Höchst eigenthümlich ist ihre Keimesgeschichte, von den Einen als Generations - Wechsel, von den Anderen als Metamorphose aufgefasst. Sie wirft ein merkwürdiges Licht auf die Stammes- Geschichte dieser wunderbaren Thiere. Innerhalb der einzelnen Classen ist diese ziemlich klar, da uns zahlreiche, vorzüglich er- haltene Versteinerungen über die historische Entwickelung der kleineren und grösseren Gruppen aufklären. Aber die Stamm- Verwandtschaft der Classen, sowie ihr gemeinsamer Ursprung aus einer älteren Urform, ist eine äusserst schwierige, freilich auch höchst interessante Aufgabe der Phylogenie. Zur Lösung dieser Aufgabe sind seit zwanzig Jahren, und besonders in den letzten Jahren, mehrfach verschiedene Versuche gemacht worden; keiner jedoch mit entscheidendem Erfolge. Zwei von diesen Hypothesen über die Stammes-Geschichte der Echinodermen sollen hier kurz geschildert und gegenüber ge- stellt werden, weil sie von entgegengesetzten Ausgangspunkten den Versuch einer umfassenden Lösung jenes Problems unter- nehmen. Wir wollen die ältere kurz als die Pentastraea-Hypo- these bezeichnen, die jüngere als die Pentactaea-Hypothese. Die erstere geht von den höchst decentralisirten Seesternen aus (Taf. IX, Fig. A) und betrachtet die höchst centralisirten See- gurken (Fig. D) als jüngste Bildungsstufe; die letztere Hypothese gerade umgekehrt. Beide Hypothesen — wie auch alle übrigen Versuche — stimmen in der Annahme überein, dass die Echino- dermen von Helminthen abstammen, und zwar von zwei- seitig symmetrischen Würmern mit Darmcanal und Leibeshöhle, ee SE nn Di XXI. Entstehung der Sternthiere aus Stöcken von Würmern. HD letztere aus ein paar Darmtaschen oder Coelom-Säcken entstanden. Aber wie diese Entstehung zu denken ist, und welche Urkunden der Stammes Geschichte dabei maassgebend sein sollen, darüber gehen die Ansichten weit auseinander. Die ältere oder Pentastraea-Hypothese ist 1366 von mir in der „Generellen Morphologie“ begründet worden (Bd.Il, Taf. IV, S.LXI— LXXVID. Danach wäre als die älteste und ursprüng- liche Gruppe der Sternthiere, die Stammgruppe des ganzen Phy- lum, die Classe der Seesterne (Asterida) zu betrachten. Dafür spricht ausser zahlreichen und wichtigen Beweisgründen der ver- gleichenden Anatomie und Entwickelungs-Geschichte insbesondere die hier noch unbeständige und wechselnde Zahl der Strahltheile oder Parameren, welche bei allen übrigen Echinodermen aus- nahmslos auf fünf fixirt ist. Jeder Seestern besteht aus einer mittleren kleinen Körperscheibe, an deren Umkreis in einer Ebene fünf oder mehr lange gegliederte Arme befestigt sind. Jeder Arm des Seesterns entspricht in seiner ganzen Orga- nisation wesentlich einem gegliederten Wurm, vergleich- bar manchen Ringelwürmern oder Anneliden. Ich betrachtete daher den Seestern als einen echten Stock oder Cormus von fünf oder mehr gegliederten Würmern, welche einst durch sternförmige Knospenbildung aus einem centralen Mutter- Wurme entstanden sind. Von diesem letzteren haben die stern- förmig verbundenen Geschwister die gemeinschaftliche Mundöfl- nung und die gemeinsame Verdauungshöhle (Magen) übernommen, die in der mittleren Körperscheibe liegen. Das verwachsene Ende, welches in die gemeinsame Mittelscheibe mündet, würde dem Hinterende der ursprünglich selbstständigen Würmer entsprechen. In ganz ähnlicher Weise sind auch bei Thieren ans anderen Stämmen bisweilen mehrere Individuen zur Bildung eines stern- förmigen Stockes vereinigt. Das ist namentlich bei den Botryl- liden der Fall, zusammengesetzten Seescheiden oder Ascidien, aus dem Stamme der Mantelthiere (Tunicaten). Auch hier sind die einzelnen Personen mit ihrem hinteren Ende verwachsen, und haben sich hier eine gemeinsame Auswurfsöffnung, eine Central- kloake gebildet, während am vorderen Ende noch jede Person 556 Die Seesterne als sternförmige Würmerstöcke. BOUNK ihre eigene Mundöffnung besitzt. Bei den Seesternen würde die letztere im Laufe der historischen Stockentwickelung zugewachsen sein, während sich die Centralkloake zu einem gemeinsamen Mund für den ganzen Stock ausbildete. Die Seesterne würden demnach Würmerstöcke sein, welche sich durch sternförmige Knospenbildung aus echten geglie- derten Würmern entwickelt haben. Diese Hypothese scheint auch durch die vergleichende Anatomie und Ontogenie der geglie- derten Seesterne und der gegliederten Würmer gestützt zu wer- den. Unter den letzteren gleichen in Bezug auf den inneren Bau die vielgliedrigen Ringelwürmer (Annelida), die wir zu den Gliederthieren stellen, den einzelnen Armen oder Strahltheilen der Seesterne, d. h. den ursprünglichen Einzelwürmern. Jeder der fünf Arme des Seesterns ist aus einer-grossen Anzahl hinter ein- ander liegender gleichartiger Glieder oder Metameren kettenartig zusammengesetzt, ebenso wie jeder gegliederte Wurm und jeder Krebs. Wie bei diesen letzteren, so verläuft auch bei den erste- ren in der Mittellinie des Bauchtheils ein centraler Nervenstrang, das Bauchmark. An jedem Metamere sind ein paar ungeglie- derte Füsse und ausserdem meistens ein oder mehrere Stacheln an- gebracht, ähnlich wie bei vielen Ringelwürmern. Auch vermag der abgetrennte Seestern-Arm ein selbstständiges Leben zu führen. Bei manchen Seestern-Arten (Ophidiaster, Linckia, Brisingia ete.) sind sogar die abgelösten Arme im Stande, durch sternförmige Knospenbildung den ganzen Seestern, die mittlere Scheibe nebst den übrigen Armen, neu zu bilden. Das sind die sogenannten „Kometenformen“ der Seesterne. (Vergl. Zeitschr. für wissensch. Zoologie, Bd. XXX, Suppl. 1878.) Wichtige Beweise für die Wahrheit der Pentastraea-Hypothese scheint ferner die Ontogenie oder die Keimes-Geschichte der Echinodermen zu liefern. Die höchst merkwürdigen Thatsachen dieser Ontogenie entdeckte erst im Jahre 1848 der grosse Berliner Zoologe Johannes Müller. Einige der wichtigsten ontogeneti- schen Verhältnisse sind auf Taf. VIII und IX vergleichend dar- gestellt. (Vergl. die nähere Erklärung derselben unten im An- hang.) Fig. A auf Taf. IX zeigt Ihnen einen gewöhnlichen See- RI. Generationswechsel der Sternthiere. 557 stern (Uraster), Fig. B eine Seelilie (Comatula), Fig. Ü einen See- igel (Eehinus) und Fig. D eine Seegurke (Synapta). Trotz der ausserordentlichen Formverschiedenheit, welche diese vier Stern- thiere zeigen, ist dennoch der Anfang der Entwickelung bei allen ganz 'gleich. Aus dem Ei (Taf. VIII, Fig. AI—D1) entwickelt sich eine Gastrula, und aus dieser eine Thierform, welche gänz- lich von dem ausgebildeten Sternthiere verschieden, dagegen den bewimperten Larven gewisser Wurmthiere höchst ähnlich ist. Die sonderbare Thierform heisst Dipleurula (Fig. A3—D4). Sie wird von den Einen als „Larve“, von den Andern als „Amme“ der Sternthiere betrachtet. Sie ist sehr klein, durchsichtig, schwimmt mittelst einer Wimperschnur im Meere umher, und besitzt einen einfachen Darm mit Mund und After. Beide Oeflnungen liegen in der Mittelebene des zweiseitigen Körpers und ebenso das Me- senterium. Aus dem Darm wachsen seitlich ein paar Coelom- Taschen heraus, die Anlagen der Leibeshöhle. Demnach ist die Dipleurula stets aus zwei symmetrisch gleichen Körperhälften, aus einem „Antimeren-Paar“, zusammengesetzt. Das erwachsene Sternthier dagegen, welches vielmals (oft mehr als hundertmal) grösser und ganz undurchsichtig ist, kriecht auf dem Grunde des Meeres und ist stets aus mindestens fünf gleichen Stücken (aus fünf Paar Antimeren) strahlig zusammengesetzt. Taf. VIII zeigt die Entwickelung der Ammen oder Larven von den auf Taf. IX ab- gebildeten vier Sternthieren. Das ausgebildete Sternthier entsteht nun durch einen sehr merkwürdigen Knospungs-Process im Innern der Amme, von welcher dasselbe nur einen Theil des Körpers, insbesondere Magen und Leibeshöhle beibehält. Die Amme oder die sogenannte „Larve“ der Echinodermen kann demnach als ein solitärer Wurm aufgefasst werden, welcher durch innere Knospung eine zweite Generation in Form eines Stockes von fünf sternförmig verbundenen Würmern erzeugt. Der ganze Process ist nach dieser Auffassung echter Generationswechsel oder Metagenesis, keine „Metamorphose“, wie gewöhnlich gesagt wird. Denn nur durch wirkliche Ver- mehrung, nicht durch blosse Verwandlung, können aus einem Antimeren-Paar (oder aus einem „Paramer“) deren fünf entstehen. 558 Abstammung der Seesterne von gegliederten Panzerwürmern. XXII. Ein ähnlicher Generationswechsel findet sich auch noch bei anderen Würmern, nämlich bei einigen Sternwürmern (Sipunculiden) und Schnurwürmern (Nemertinen). Erinnern wir uns nun des biogene- tischen Grundgesetzes (S. 309) und beziehen wir die ÖOntogenie der Echinodermen auf ihre Phylogenie, so dürfen wir annehmen, dass die älteren Stammformen der Sternthiere bilaterale Würmer mit Leibeshöhle waren, welche sich an festsitzende Lebensweise anpassten und durch Knospung fünfstrahlige Stöcke bildeten. Ausser den angeführten Gründen scheinen auch noch andere Thatsachen (besonders aus der vergleichenden Anatomie der Echino- dermen) Zeugniss für die Richtigkeit der Pentastraea-Hypothese abzulegen. Ich hatte diese Stammhypothese 1866 aufgestellt, ohne eine Ahnung davon zu haben, dass auch noch versteinerte Gliedwürmer existiren, welche jenen hypothetisch vorausgesetzten Stammformen zu entsprechen scheinen. Solche sind aber bald darauf wirklich bekannt geworden. In einer Abhandlung „über ein Aequivalent der takonischen Schiefer Nordamerikas in Deutsch- land“ beschrieben 1567 Geinitz und Liebe eine Anzahl von gegliederten silurischen Würmern, welche den von mir gemachten Voraussetzungen entsprechen. Diese merkwürdigen Würmer kommen in den silurischen Dachschiefern von Wurzbach im reussischen Oberlande zahlreich und in vortrefflich erhaltenem Zustande vor. Sie haben den Bau eines gegliederten Seestern- arms, und müssen offenbar einen festen Hautpanzer, ein viel härteres und festeres Hautskelet besessen haben, als es sonst bei den Würmern vorkommt. Die Zahl der Körperglieder oder Meta- meren ist sehr beträchtlich, so dass die Würmer bei einer Breite von '/,—'/, Zoll eine Länge von 2—3 Fuss und mehr erreichen. Die vortrefflich erhaltenen Abdrücke, namentlich von Phyllodoeites thuringiacus und Crossopodia Henrici, gleichen auffallend den skeletirten Armen mancher gegliederten Seesterne (Colasteriae). Ich bezeichnete diese uralte Würmergruppe, zu welcher vielleicht die Stammformen der Seesterne gehört haben, als Panzerwürmer (Phracthelminthes). Das phylogenetische System des formenreichen Stern- thier-Stammes würde nach der Pentastraea-Hypothese zunächst in SONNE Seesterne, Seestrahlen, Seelilien. 559 drei Hauptelassen und sechs Classen zerfallen. Da die Classe der Seesterne (Asterida) die ursprüngliche Form des sternförmigen Wurmstockes am getreuesten erhalten hat, und da ihnen noch die innere Öentralisation der übrigen Sternthiere grösstentheils fehlt, so würde sie als die gemeinsame älteste Wurzelgruppe des ganzen Stammes anzusehen sein. Die ähnlichen Seestrahlen (Ophiurae) stehen den Seesternen im Ganzen noch sehr nahe; doch ist die centrale Scheibe schon scharf von den fünf langen Armen abgesetzt. Bei den Seesternen besitzt noch jeder Arm die vollständige Wurm-Organisation, während das bei den Seestrahlen nicht mehr der Fall ist. Doch sind noch heute beide Classen durch Uebergangs-Formen verbunden; beide zusammen bilden die Haupt- classe der Arm-Sternthiere (Anthostellae oder Asterozoa). Als zweite Hauptelasse trennen wir die Kelch-Sternthiere (Pectostellae oder Pelmatozoa). Dahin gehören drei verschiedene Classen, die Seelilien (COrinoidea, Taf. IX, Fig. B), die See- knospen (Blastoidea) und die Seeäpfel (Cystoidea). Die beiden letzten Classen sind uralt und längst ausgestorben; wir kennen nur ihre versteinerten Panzer aus den archolithischen und paläo- lithischen Formationen. Auch die Seelilien sind grösstentheils ausgestorben; doch leben noch heute viele Epigonen derselben, besonders in der Tiefsee. Alle drei Classen von Pectostellen sind dadurch ausgezeichnet, dass sie die freie Ortsbewegung der übrigen Sternthiere aufgegeben, sich festgesetzt, und dann einen mehr oder minder langen Stiel entwickelt haben. Dadurch sind sie in vielen Beziehungen stark rückgebildet worden. Einige Seelilien lösen sich jedoch späterhin von ihrem Stiele wieder ab, so z. B. die Comateln, Fig. B auf Taf. VIII und IX. Die dritte Hauptelasse der Echinodermen bilden die Kapsel- Sternthiere (Thecostellae oder Echinozoa); die beiden Classen der Seeigel und Seegurken. Hier sind stets die gegliederten Arme nicht mehr als selbstständige Körpertheile erkennbar, vielmehr durch weitgehende Centralisation des Stockes vollkommen in der Bildung der gemeinsamen aufgeblasenen Mittelscheibe aufgegangen, so dass diese jetzt als eine einfache armlose Kapsel oder ein wurmähnlicher eylindrischer Schlauch erscheint. Der ursprüng- 560 Seeigel und Seegurken. xXxIE liche Individuenstock ist scheinbar dadurch wieder zum Formwerth eines einfachen Individuums, einer einzelnen Person, herabgesunken. In mehrfacher Beziehung schliesst sich an die Seesterne zunächst die formenreiche Classe der Seeigel (Echinida) an. Sie führt ihren Namen von den zahlreichen, oft sehr grossen Stacheln, welche die feste, aus Kalkplatten zierlich zusammengesetzte Schale be- decken (Fig. C, Taf. VII und IX). Die Schale selbst hat die Grundform einer fünfseitigen Pyramide. Die einzelnen Abthei- lungen der Seeigel bestätigen in ihrer historischen Aufeinander- folge, eben so wie die einzelnen versteinert erhaltenen Gruppen der Seelilien und Seesterne, in ausgezeichneter Weise die Gesetze des Fortschritts und der Differenzirung. Während uns die Ge- schichte dieser Sternthier-Classen durch die zahlreichen und vor- trefflich erhaltenen Versteinerungen sehr genau erzählt wird, wissen wir dagegen von der geschichtlichen Entwickelung der letzten Classe, der Seegurken (Holothuriae), fast Nichts. Aeusser- lich zeigen diese sonderbaren gurkenförmigen Sternthiere eine trügerische Aehnlichkeit mit Würmern (Fig. D, Taf. VIII und IX). Die Skeletbildung der Haut ist hier sehr unvollkommen und daher konnten keine deutlichen Reste von ihrem langgestreckten walzen- förmigen wurmähnlichen Körper in fossilem Zustande erhalten bleiben. Die Pentastraea-Hypothese zieht aus der vergleichenden Anatomie und Ontogenie der Holothurien den Schluss, dass die- selben wahrscheinlich aus einer Abtheilung der Seeigel durch Er- weichung und Rückbildung des Hautskelets entstanden sind. Sie würden somit als die jüngste und die am meisten veränderte Classe des Sternthier-Stammes anzusehen sein. Zu ähnlichen Anschauungen ist auch neuerdings Otto Hamann durch seine eingehenden Untersuchungen über die Histologie der Echinodermen gelangt. Zwanzig Jahre hindurch blieb meine Pentastraea-Hypothese der einzige umfassende Versuch, die Stammes-Geschichte der Echinodermen monophyletisch zu begründen und die Stammver- wandtschaft ihrer Classen durch gleichmässige Berücksichtigung aller drei Schöpfungs-Urkunden, der vergleichenden Anatomie, Ontogenie und Paläontologie aufzuklären. Während dieses Zeit- EXIT: Pentactaea als Stammform der Echinodermen. 561 raums wurden alle drei Urkunden durch die eingehenden Unter- suchungen zahlreicher Naturforscher ausserordentlich bereichert, und durch eine Fülle von überraschenden Entdeckungen ein ganz neues Licht auf jene schwierigen Aufgaben der Phylogenie ge- worfen. Diese führten allmählich zu einer ganz verschiedenen Auffassung der Sternthier-Organisation, und in den letzten Jahren zu mehrfachen Versuchen, dieselbe phylogenetisch aufzuklären. Der umfassendste dieser Versuche, und derjenige, welcher bei dem gegenwärtigen Stande unserer Kenntniss wohl der Wahrheit am nächsten zu kommen scheint, wurde von Richard Semon unter- nommen, in seiner gedankenreichen Schrift über „Die Entwicke- lung der Synapta digitata und die Stammes-Geschichte der Echino- dermen“ (Jena, 1538). Zu ganz ähnlichen Resultaten gelangten auch die beiden Sarasin, in ihrer sehönen Abhandlung „über die Anatomie der Echinothuriden und die Phylogenie der Echino- dermen“ (Wiesbaden, 1888). Die Pentactaea-Hypothese von Semon stimmt mit mei- ner Pentastraea-Hypothese in der Annahme überein, dass alle Echinodermen monophyletisch von einer gemeinsamen uralten Stammform abzuleiten sind, und dass diese Stammform ein dipleures Wurmthier war, mit bilateral-symmetrischer Grund- form, einfachem Darmcanal und ein paar Coelom-Taschen. Semon nimmt aber an, dass die verschiedenen Classen der Sternthiere divergent, unabhängig von einander, aus dieser gemeinsamen Stammform (Pentactaea) sich entwickelt haben. In der Ontogenie aller Sternthiere findet sich übereinstimmend ein wichtiges Larven- Stadium (Pentactula), welches nach dem biogenetischen Grund- gesetze die erbliche Bildung der hypothetischen Pentactaea wieder- holt. Die verschiedenen Larven-Formen, welche Taf. VIII dar- stellt, convergiren gegen diese bilaterale Pentactula, während sich die weiteren Entwickelungsformen der verschiedenen Classen divergirend aus derselben hervorbilden. Die mediane Lage des Darms, der durch ein Dorsal-Mesenterium an die Leibeswand ge- heftet ist, sowie die beiden aus ihm hervorgewachsenen Coelom- Taschen, bekunden unzweifelhaft die bilaterale Symmetrie der Pentactula-Larve und ihre Abstammung von alten Helminthen. Haeckel, Natürl. Schöpfungs-Gesch. 3. Aufl. 36 562 System der Sternthiere oder Echinodermen. Systematische Uebersicht XXI. über die Classen und Ordnungen der Sternthiere (Echinoderma). Hauptelassen der Sternthiere. Classen | Ordnungen der der Sternthiere. Sternthiere. | Gattungsnamen | als Beispiele. 1. Erste Haupt- klasse: Thecostellae (Echinozoa) Kapsel-Sternthiere 1. Zweite Haupt- klasse: Pectostellae (Pelmatozoa) Kelch-Sternthiere II. Dritte Haupt- klasse: Anthostellae (Asterozoa) Blumen- Sternthiere Füsschen 1 Seegurken Apodia llolothuriae (Seytoderma n \OCy ) Füsschen Eupodia Palechinida II. Seeigel Ecehinida c Metechinida En stoideen Ill. Seeäpfel Pleurocystida Cystoidea (nur fossil) en dee Sphaeronitida stoideen IV. Seeknospen Dysblastoida Blastoidea sg 8. Regelmässige (nur fossil) I > => Blastoideen Eublastoida Palacrinida V. Seelilien . Crinoidea — u ). Jüngere See- lilien Neocrinida ll. Einfache See- strahlen Ophiantheae L— nn L——_ —— —_— — — En VI. Seestrahlen Ophinrae . Aestige See- strahlen Euryaleae le . Aeltere See- sterne ) | l VII. Seesterne Palasteriae ) 3 Asterida 14. Neuere See- sterne Colasteriae l. Seegurken ohne 2. Seegurken mit 3. Aeltere Seeizel F reiseitivoe ('v- . Zweiseitige C'y 6. Kugelige Cystoi- 7. Zweiseitige Bla- $ Synapta \ Molpadia f Pentacta \ Elpidia f Melonites L Proteehinus 4. Jüngere Seeigel f Sphaerechinus L Spalangus f Trochoeystites \ Pleuroeystites f Sphaeronites \ Fechinosphaerites $ Codonaster \ Fleutheroerinus f Pentremites \ Elaeaerinus 9, Aeltere Seelilien f Rhodocrinus \ Cyathoerinus f Rhizoerinus \ Comatula f Ophiolepis \ Ophioderma j Astroporpa t Astrophytum f Palaeuster \ Zepidaster $ Astropecten \ Ophidiaster Y BR: i n ch Narr \ EN N = ER R Äh hu re a2 3 ER FRE IE. RL f A Er f h . ie 5 ’ {} 2 “ . u ra, r r =) fi - y / . \ j Pr “ 2 _ « A, rd r D Sternthiere. Erste Generation: Wurm_ Person Var: IH Sternthiere. weite Generation : Närmer.Storl: Var X A. Uraster. B. Coratula. l. Echinus. D. Synapıta. Haccd da RXTII. Stammbaum der Sternthiere oder Eehinodermen. 563 | Echinida Asterida Seeigel Seesterne Metechinida Colasteriae | Ophiurae ' Holothuriae Seestrahlen Seegurken Euryaleae | Eupodia Palechinida Palasteriae Crinoidea ; ( i 2 Be : 8 Jphiantheae Seelilien Apodia Neoerinida Er en mm um Blastoidea Cystoidea Seeknospen Seeäpfel Eublastoida | Sphaeronitida Palacrinida Dysblastoida Pleuroeystida Anthostellae Thecostellae Asterozoen Ale ia Le Ed ee Eehinozoen | Pectostellae | Pelmatozoen Pentactaea Helminthes | Platodes Gastraea 36* 564 n Ursprung der Echinodermen. XxKIE Anderseits aber deutet gleichzeitig ein Kranz von fünf Primär- Tentakeln, welcher sich um den Mund entwickelt, sowie fünf in dieselben hineinlaufenden Wassergefässe (ausgehend von einem Mundring) die fünfstrahlige Organisation an, welche in ihrer weiteren Entwickelung so bedeutungsvoll für den Stamm der Sternthiere sich gestaltet. (Vergl. S. 510, Taf. XVIII, Fie. 4, 5). Die typische Grundform der Pentactula ist daher die pentamphi- pleure, oder die fünfstrahlig-symmetrische Grundform. Die Ursache der fünfstrahligen Grundform ist in der An- passung an die festsitzende Lebensweise zu suchen. Die ältere freischwimmende Helminthen-Stammform, welche noch heute die Dipleurula (Taf. VIII) durch Vererbung wiederholt, setzte sich später am Meeresboden fest. Sie verwandelte sich in die Pen- tactaea und wird durch einen, der Mundöflnung entgegengesetzten Stiel am Meeresboden befestigt gewesen sein. Dieser ursprüng- liche Stiel hat sich auf die meisten Pectostellen vererbt, während die Anthostellen und Thecostellen sich wieder vom Stiele abge- löst und die verlorene freie Ortsbewegung wieder gewonnen haben. Auch andere Würmer, (z. B. Loxosoma unter den Bryozoen) ent- wickeln einen Kranz von radialen Tentakeln um die Mundöflnung, während das entgegengesetzte Körperende durch einen Stiel am Meeresboden befestigt wird. Die Synapten, oder die einfachsten Holothurien, von deren Ontogenie Semon ausgegangen ist, sind nach ihm die ursprüng- lichsten und ältesten unter allen lebenden Sternthieren, diejenigen, welche die wichtigsten Züge der Pentactaea-Organisation am ge- treuesten durch Vererbung erhalten haben. Nach der Pentastraea- Hypothese hingegen würden sie als die jüngsten, durch Rückbil- dung entstellten und durch Anpassung am meisten veränderten Zweige des Stammes anzusehen sein. Die Seesterne hingegen, und insbesondere die Kometen-Formen (mit höchster Selbststän- digkeit der fünf Arme), welche nach dieser Hypothese die ältesten und ursprünglichsten Formen des Stammes darstellten, würden nach der Pentactaea-Hypothese gerade umgekehrt als die jüngsten, durch Decentralisation am stärksten veränderten Zweige desselben anzusehen sein. RRII. Werth der phylogenetischen Methoden. 565 Die Vergleichung dieser beiden Hypothesen, sowie mehrfacher anderer Versuche, welche neuerdings zur Aufklärung des Stern- thier-Stammbaums unternommen worden sind, kann leider hier nicht weiter ausgeführt werden, weil sie eine specielle Kenntniss der höchst verwickelten Verhältnisse in der vergleichenden Ana- tomie und Ontogenie dieses wunderbaren Thierstammes voraus- setzt. Sie ist aber nicht allein an sich höchst interessant, son- dern auch sehr lehrreich für die allgemeinen Ziele und Wege unserer heutigen Stammes-Geschichte. Wir können daraus ent- nehmen, wie hoch der Werth der phylogenetischen Methode für die Lösung schwieriger und verwickelter morphologischer Fragen ist. Auch wenn keine der verschiedenen Hypothesen über den Ursprung der Echinodermen ganz richtig ist, so haben dieselben doch sehr Viel dazu beigetragen das tiefe Dunkel zu erhellen, welches bisher über der schwierigen Erkenntniss dieses ganz eigen- thümlichen Thierstammes lagerte. Viele leitende Gesichtspunkte für die Verwandtschaften der verschiedenen Classen sind aufge- funden, und neue phylogenetische Beziehungen zwischen ihnen aufgedeckt worden. Billigerweise darf man nicht verlangen, dass jetzt schon die Phylogenie — vor 25 Jahren noch unbekannt — überall reife Früchte trage. Abe: neben zahlreichen, schon gezeitigten Früchten zeigt sie uns überall am Baume der Erkenntniss entfaltete Blüthen und hofinungsvolle Knospen: phylogenetische Fragen, deren allmähliche Lösung dem denkenden und forschenden Menschengeiste die interessanteste Arbeit und die schönsten Erfolge verspricht. Dreiundzwanzigster Vortrag. Stammes-Geschichte der Gliederthiere. Vier Classen der Gliederthiere von Cuvier. Spätere Trennung der Anne- liden von den Arthropoden. Die drei Hauptelassen der Anneliden, Crusta- ceen und Tracheaten. Gemeinsame Merkmale derselben. Abstammung der- selben von einer Stammform. Stammgruppe der Anneliden oder Ringel- thiere (Egel und Borstenwürmer). Hauptelasse der Krustenthiere oder Crusta- ceen. Eintheilung in zwei divergente Classen: Krebsthiere (Caridonia) und Schildthiere (Aspidonia). Abstammung der Caridonien von Archicariden. Nau- plius. Verwandtschaft der Aspidonien und Arachniden. Hauptelasse der Luftrohrthiere (Tracheata). Vier Classen derselben: Protracheaten (Peripatus), Tausendfüsser (Myriapoden), Spinnen (Arachniden) und Inseeten. Organi- sation und Stammbaum der Insecten. Eintheilung derselben in vier Legionen nach den Mundtheilen. Flügellose ältere Inseceten (Thysanura). Geflügelte jüngere Inseeten (Pterygonia). Inseeten mit beissenden, leckenden, stechen- den und schlürfenden Mundtheilen. Historische Stammfolge der Insecten. Meine Herren! Wenn wir von einem höheren Standpunkt aus die historische Entwicklung der verschiedenen Thierstämme vergleichend betrachten, so treten uns auffallende Unterschiede in der zeitlichen und räumlichen Entfaltung derselben entgegen. Auch die Zahl der kleineren und grösseren Formengruppen, in welche sich jeder Stamm spaltet, ist sehr verschieden, nicht allein in den einzelnen Perioden der organischen Erdgeschichte, sondern auch im Grossen und Ganzen genommen. Denn der Kampf um's Dasein bedingt überall und jederzeit höchst mannichfaltige Ver- hältnisse der Entwickelung; er züchtet daher auch die einzelnen Stämme in der verschiedensten Weise. Wollte man die Bedeu- tung jedes Stammes nach der Zahl seiner Arten beurtheilen, und als Maassstab die Mannichfaltigkeit der einzelnen, durch natür- XXI. Gliederthiere und Gliederfüssler. 567 liche Züchtung entstandenen Formen anwenden, so würde ein einziger Stamm allen anderen bei Weitem voranstehen; das ist der höchst entwickelte Stamm unter den wirbellosen Thieren, das Phylum der Gliederthiere (Artieulata). Unter diesem Namen fasste zuerst Cuvier 1817 vier Classen von wirbellosen Thieren zusammen, die sich alle durch die auf- fallende äussere Gliederung ihres Körpers und durch ein cha- racteristisches Nervensystem, ein Bauchmark mit Schlund- ring, auszeichnen. Jene vier Classen waren die Ringelwürmer (Annelida), die Krustenthiere (Crustacea), die Spinnen (Arachnida) und die Insecten (/nsecta). Die drei letzten Classen besitzen gegliederte Beine und ihre Leibesringe sind sehr un- gleichartig. Hingegen ist die Gliederung der Ringelwürmer mehr gleichartig, und sie haben entweder gar keine oder nur ungeglie- derte Beine. Deshalb wurden diese letzteren später gewöhnlich zu den fusslosen Würmern oder Wurmthieren gestellt; die an- deren Gliederthiere aber als besonderer Typus unter dem Namen Gliederfüssler (Arthropoda) zusammengefasst. Die neueren Zoologen unterschieden in diesem Typus nach dem Vorgange Bronn’s zwei Haupt-Gruppen, nämlich 1) die Krustenthiere (Orustacea), welche Wasser durch Kiemen athmen; und 2) die Luftrohrthiere (Tracheata), welche Luft durch Luftröhren ath- men. Die letzteren wurden in drei Classen getheilt, in Tausend- füsser (Myriapoda), Spinnen (Arachnida) und echte sechsbeinige Insecten (Insecta). Diese neuere, gegenwärtig übliche Auffassung und Einthei- lung der Gliederfüssler oder Arthropoden hat aber in neue- ster Zeit durch unsere bessere Erkenntniss ihrer Entwickelungs- geschichte wieder eine wesentliche Wendung erfahren. Die Kluft zwischen Crustaceen und Tracheaten hat sich immer mehr er- weitert, während die letzteren wieder den Anneliden viel näher gerückt sind. Entscheidend ist hier namentlich die Entdeckung des feineren Baues und der Entwickelung von einer uralten merk- würdigen Gliederthier-Form geworden, die bisher allgemein zu den Ringelwürmern gerechnet wurde. Das ist der interessante tausendfussähnliche Peripatus, der in feuchter Erde in den 568 Classen der Gliederthiere oder Artieulaten. XXIE heissen Erdtheilen lebt. Ein verdienstvoller Zoologe der berühm- ten Challenger-Expedition, Moseley, hat gezeigt, dass der Peri- patus wirkliche Luftröhren besitzt und so die unmittelbare Ver- bindung zwischen den Ringelwürmern und Luftrohrthieren her- stellt. In Folge dieser wichtigen Entdeckung, und in unbefangener vergleichender Würdigung der gesammten Organisation und Ent- wickelung halte ich es jetzt für das Richtigste, den Stamm oder Typus der Gliederfüssler (Arthropoda) aufzugeben und wieder zu der alten Auffassung der Gliederthiere (Artieulata) von Cuvier zurückzukehren. Mit Berücksichtigung der neueren wich- tigen Fortschritte in unserer Kenntniss ihres Körperbaues und ihrer Entwickelung unterscheide ich unter den Gliederthieren drei Haupt-Classen: 1. Anneliden, 2. Crustaceen und 3. Tracheaten. Die Ringelthiere (Annelida) zerfallen in zwei Classen: Egel (Hirudinea) und Borstenwürmer (Chaetopoda), erstere ohne Füsse, letztere mit ungegliederten Füssen. Die Krustenthiere (Oru- stacea) theile ich ebenfalls in zwei Classen: Krebsthiere (Caridonia) und Schildthiere (Asprdonia), erstere mit zwei Paar Fühlhörnern, letztere mit einem Paar. Die Luftrohrthiere endlich (Tra- cheata) müssen in vier Classen getheilt werden. Die erste Classe bilden die Urluftröhrer (Protracheata), von denen jetzt nur noch der Peripatus lebt, mit zahlreichen ungegliederten Beinpaaren; die zweite Classe die Tausendfüsser (Myriapoda) mit zahlreichen gegliederten Beinpaaren; die dritte Classe die Spinnen (Arachnıda) mit vier Beinpaaren, und die vierte Classe endlich die echten Inseeten (/nsecta) mit sechs Beinpaaren. Alle diese Gliederthiere oder Articulaten stimmen darin über- ein, dass ihr Körper ursprünglich aus einer grösseren Zahl (min- destens S—10, oft 20—50 und mehr) Gliedern zusammengesetzt ist, die in der Längsaxe hinter einander liegen und die wir Rumpfsegmente, Somiten, Ringe oder Metameren nennen. Aeusserlich tritt diese Gliederung meistens deutlich hervor, indem die Haut von einer festen Chitin-Hülle umgeben und diese zwischen je zwei Gliedern ringförmig eingeschnürt ist. Noch mehr aber spricht sich die Gliederung in der Wiederholung innerer RXIH. Organisation der Gliederthiere oder Articulaten. 569 Organe aus, indem z. B. auf jedes Glied oder Metamer ursprüng- lich ein Abschnitt des Gefässsystems, des Muskelsystems, des Nervensystems ete. kommt. Höchst characteristisch ist in dieser Beziehung vor allen die Bildung des centralen Nervensystems, welches stets ein Bauchmark mit Schlundring darstellt. Auf jedes Glied kommt nämlich ursprünglich ein Ganglien- Paar, und alle diese Nervenknoten sind durch Längesfäden zu einer lan- gen Kette verbunden, «ie auf der Bauchseite, unter dem Darm verläuft. Der vorderste Knoten dieser Kette, der „untere Schlund- knoten“, liegt im Kopfe, und ist durch einen ringförmigen, den Schlund umfassenden Strang, den „Schlundring“, mit dem „oberen Schlundknoten“, dem oberhalb gelegenen „Urhirn“, verbunden. Die drei Haupt-Classen der Gliederthiere lassen sich durch mancherlei Eigenthümlichkeiten ziemlich scharf unterscheiden. Die Ringelthiere sind namentlich ausgezeichnet durch ihre soge- nannten Schleifencanäle oder Nephridien; das sind lange ge- wundene Nierencanäle, die in jedem Gliede oder Metamer sich paarweise wiederholen. Die Luftrohrthiere anderseits sind scharf gekennzeichnet durch ihre merkwürdigen Luftröhren oder Tracheen, die bei keiner anderen Thierclasse wiederkehren. Die Krustenthiere besitzen weder die metamerischen Schleifen- canäle der Ringelthiere, noch die Tracheen der Luftrohrthiere; ihre Chitinhülle ist meistens sehr dick und hart, kalkhaltig und krustenartig. (Vergl. S. 510, Taf. XVIU, Fig. —11). Obwohl nun durch diese und andere Merkmale die drei Haupt-Classen der Gliederthiere ziemlich leicht und bestimmt zu unterscheiden sind, so erscheinen sie doch auf der anderen Seite wieder so nahe verwandt, dass wir sie in dem einen Stamme der Articulata vereinigen müssen. Unzweifelhaft wurzelt dieser Thierstamm ursprünglich in dem Stamme der Wurmthiere oder Helminthen. Einerseits erscheinen die Ringelthiere oder Anne- liden durch mehrfache Zwischenformen mit den Rundwürmern (Nematoda), vielleicht auch mit den Schnurwürmern (Nemer- tina) in Verbindung zu stehen. Anderseits stehen die Jugend- formen vieler Anneliden, insbesondere die sogenannten „Räder- Larven“ (Trochophora), in ihrer Organisation den kleinen Räder- 70 Systematische Uebersicht System der Gliederthiere. XXI. über die Classen und Ordnungen der Gliederthiere (Artieulata). Ohne segmentale Nephridien. 4. Kein Nauplius- . Edriophthalma . Podophthalma 1. Trilobita Hauptelassen Charactere (lassen Ordnungen (Cladome) der | der der der Gliederthiere. | (lassen. Gliederthiere. Gliederthiere. I. . Keine Beine. ( a Fl. Rhynchobdell i i si deren Saug- Es en Ringelthiere R \ Hirudinea \2. Gnathobdellea Annelida. näpfe. Mit segmentalen | 2. Zahlreiche hi ibn . Borsten- Oliroeh Nephridien. gegliederte Bein- würmer l = Ra sen Ohne Luftröhren. | paare oder Borsten. \ Chaetopoda \ 2. Polychaets Fi l. Branchiopoda Mr 2. Copepoda ll. EL a ERnuelE, rebsthiere) 3. Cirripeda Krustenthiere Zwei ‚Paar, Fühl- Caridoniu 4. Leptostraca (rustacea. hörngr. 5 Ohne Luftröhren. n Keim. Ein Paar Fühlhörner. Zahlreiche un- egliederte Bein- l paare. \ 9. or ge 6. Zahlreiche ge- gliederte Bein- \ yaare. Im. Luftrohrthiere | 7. Vier gegliederte| Tracheata. Beinpaare. Meist ohne seg- mentale Nephri- Mit Luft- röhren oder dien. racheen. 5. Drei gegliederte Beinpaare (und meistens zwei Paar Flügel) ä,Sckildthierali; 3 9.Urluftröhrerf, Protracheata \ | 6. Aspidonia füsser Myriapoda 7. Spinnen Arachnida 8. Insecten Insecta Tausend- Jun m nn on en, u) un I DO DD N Ne Eee) 2. > . Xiphosura Merostoma . Peripatida . Chilopoda . Diplopoda . Scorparia . Araneae . Acaria . Thysanura . Archiptera . Neuroptera . Strepsiptera . Orthoptera . Coleoptera . Hymenoptera . Hemiptera . Diptera 10. Lepidoptera ERTL, Stammbaum der Gliederthiere. | Luftrohrthiere e Tracheata Krustenthiere Pong rem Crustacea Insecta Schildthiere Aspidonia Krebsthiere Spinnen Caridonia | Arachnida Tausendfüsser | Myriapoda | | | | | nn, (mean? Ve fl | | | | Urkruster Urluftröhrer Procrustacea Protracheata Ringelthiere Annelida Egel Borstenwürmer Hirudinea Chaetopoda Urringelthiere Räderthiere Archannelida Rundwürmer Rotatoria Strongylaria | | | Trochozoa | | | Helminthes Platodes Gastraea By Ringelthiere oder Anneliden. xxIn thierchen (Rotatoria) sehr nahe. Auch unter anderen Hel- minthen giebt es interessante Formen, welche sich bereits der Organisation der Anneliden nähern. Die beiden Arthropoden- Classen aber, Urustaceen und Tracheaten, haben sich höchst wahrscheinlich als zwei divergente Haupt-Stämme, unabhängig von einander, aus älteren Anneliden hervorgebildet. Ob aber diese beiden Haupt-Classen aus einer und derselben Anneliden- Gruppe abzuleiten sind, oder ob sie von zwei oder drei verschie- denen Gruppen der Ringelthiere abstammen, das lässt sich zur Zeit nicht sicher entscheiden. Selbst für die einzelnen Classen, die wir unter den drei Haupt-Classen der Gliederthiere unter- scheiden, ist der einheitliche Ursprung nicht überall sicher fest- gestellt. Jedenfalls dürfen wir aber hier vorläufig alle Luft- rohrthiere als Nachkommen einer gemeinsamen Stammform be- trachten, ebenso alle Krebsthiere, ebenso alle Ringelthiere. Wie man sich ungefähr den phylogenetischen Zusammenhang derselben (S. 570) gegenwärtig vorstellen kann, zeigt der hypothetische Stammbaum auf S. 571. Die erste Hauptelasse der Gliederthiere bilden die Ringel- thiere (Annelida), häufig auch Ringelwürmer (Annulata) ge- nannt. Ihre Organisation ist im Allgemeinen einfacher und un- vollkommener, als diejenige der Crustaceen und Tracheaten. Ins- besondere sind die Glieder oder Segmente ihres Leibes meistens sehr gleichmässig ausgebildet (homonom): und ihre Beine sind nie so deutlich gegliedert, wie bei jenen beiden Arthropoden- Classen. Die Chitin-Decke ihres Körpers ist meistens zart und dünn, oft nur eine feine Cuticula. Characteristisch sind beson- ders die zahlreichen Rohrnieren oder Nephridien, von denen ein paar Paar an jedem Segment sich findet; diese „Segmental- Organe“ fehlen sowohl den Krustenthieren als den Luftrohrthieren; auch in anderen Beziehungen erscheinen diese letzteren als „höhere Gliederthiere“, obwohl der characteristische Typus des Körper- baues in allen drei Hauptelassen derselbe bleibt. Die grosse Mehrzahl der Ringekshiere lebt im Meere, eine kleine Zahl im süssen Wasser (z. B. Blutegel) und einzelne in der Erde (z. B. Regenwurm). Die formenreiche Hauptelasse zer- ERIIT. .. Krustenthiere oder Crustaceen. 575 fällt in zwei verschiedene (lassen, die Egel und Borstenwürmer. Die Egel (Hirudinea), zu denen der medieinische Blutegel und viele andere Parasiten gehören, besitzen keine Beine, dafür aber Saugnäpfe, durch die sie sich ansaugen. Die Borstenwürmer (Chaetopoda), die grösstentheils im Meere leben, haben dagegen meistens an jedem Gliede ein oder zwei Paar kurze, ungegliederte Beine, die mit Borstenbündeln bewaflnet sind. Andere Borsten- würmer, wie z. B. der Regenwurm und die Süsswasser-Schlängel, haben bloss Borstenbündel in der Haut, statt der Beine. Viele Anneliden leben in Hornröhren oder Kalkröhren eingeschlossen (Tubieolae), und diese finden sich auch versteinert vor; sonst sind Versteinerungen derselben nur selten und unbedeutend, wegen der sehr zarten und weichen Beschaffenheit des Körpers. Eine merkwürdige Ausnahme bilden die trefflich erhaltenen Ab- drücke der silurischen Panzerwürmer (Phraethelminthes, vergl. oben Die grosse Hauptelasse der Krustenthiere (Ürustacea) führt ihren Namen von der harten, krustenartigen Hautbedeckung, einem festen, oft verkalkten Chitin-Panzer. Die meisten Krusten- thiere leben im Meere, eine geringere Zahl im Süsswasser und sehr Wenige auf dem Lande. Wir theilen sie in zwei Classen ein: die Krebsthiere oder Caridonien, und die Schildthiere oder Aspidonien. Diese letzteren sind in der Gegenwart nur noch durch eine einzige lebende Gattung, den grossen Pfeilschwanz (Limulus) vertreten. Ausserdem aber gehören dahin eine Masse von ausgestorbenen Formen, die riesigen Gigantostraken oder Eurypteriden, sowie die uralte Gruppe der Trilobiten oder Palä- aden. Alle lebenden Crustaceen, mit einziger Ausnahme des Limulus, gehören zu der formenreichen Classe der Caridonien, oder der Crustaceen in engerem Sinne. Durch die ungeheuren Massen von Individuen, in denen sie alle süssen und salzigen Gewässer bevölkern, spielen sie eine höchst wichtige Rolle in der Oeconomie der Natur, ähnlich wie die Insecten auf dem Festlande. Die Crustaceen athmen durch Kiemen, niemals durch Luftröhren. wie die Tracheaten; sie theilen mit diesen den Besitz der geglie- derten Beine, wodurch sich Beide von den Anneliden unterschei- 974 ÖOntogenetische Bedeutung des 'Nauplius. XXI den. Die Nephridien der Ringelthiere sind bei den Krebsthieren entweder ganz verschwunden, oder in andere Organe umgewandelt. Die Classe der eigentlichen Krebsthiere (Caridonia) ist bei uns im Binnenlande durch den allbekannten Flusskrebs und zahl- reiche Formen von Asseln und Flohkrebsen vertreten, sowie durch viele sehr kleine Kiemenfüsse (Branchiopoden). Die letzteren (Daphniden, Cypriden, Cyclopiden u. s. w.) bevölkern in ungeheuren Massen unsere süssen Gewässer und sind sehr wichtig als Reiniger derselben und als Hauptnahrung vieler Fische (z. B. der Forellen). Aber ihr Formenreichthum und ihre oecologische Bedeutung wird bei weitem übertroffen von den meerbewohnenden Krebsthieren, unter denen wir mindestens neunzehn Ordnungen und über hun- dert Familien unterscheiden können. Die Keimes-Geschichte dieser Thiere ist ausserordentlich interessant, und verräth uns, eben so wie diejenige der Wirbelthiere, deutlich die wesentlichen Grund- züge ihrer Stammes-Geschichte. Fritz Müller hat in seiner ausgezeichneten, bereits angeführten Schrift „Für Darwin“ '") dieses merkwürdige Verhältniss vortrefflich erläutert. Die gemeinschaft- liche Keimform aller Krebse, welche sich bei den meisten noch heutzutage zunächst aus dem Ei entwickelt, ist ursprünglich eine und dieselbe: der sogenannte Nauplius (Taf. X, S. 578). Dieser merkwürdige Urkrebs stellt eine sehr einfache, scheinbar unge- sliederte Thierform dar, deren Körper meistens die Gestalt einer rundlichen, ovalen oder birnförmigen Scheibe hat, und auf seiner Bauchseite nur drei Beinpaare trägt. Von diesen ist das erste ungespalten, die beiden folgenden Paare gabelspaltig. Diese drei typischen Beinpaare bekunden die Zusammensetzung des Nauplius- Körpers aus drei Segmenten oder Rumpfeliedern. Die Leibeshöhle enthält einen einfachen Darmcanal, mit Mund und After. Vorn über dem Munde sitzt ein einfaches unpaares Auge. Trotzdem nun die verschiedenen Ordnungen der Krebs-Classe in dem Bau ihres Körpers und seiner Anhänge sich sehr weit von einander entfernen, bleibt dennoch ihre jugendliche Naupliusform immer im Wesentlichen dieselbe. Werfen Sie, um sich hiervon zu über- zeugen, einen vergleichenden Blick auf Taf. X und XI, deren nähere Erklärung unten im Anhange gegeben wird. Auf Taf. XI DEXTIT. Phylogenetische Bedeutung des Nauplius. 5 sehen Sie die ausgebildeten Repräsentanten von sechs verschie- denen Krebsordnungen, einen Blattfüsser (ZLimnetis, Fig. Ac), einen Rankenkrebs (Zepas, Fig. De), einen Wurzelkrebs Saceulina, Fig. Ec), einen Ruderkrebs (Cyelops, Fig. Be), eine Fischlaus (Lernaeocera, Fig. Ce) und endlich eine hoch organisirte Garnele (Peneus, Fig. Fe). Diese sechs Krebse weichen in der ganzen Körperform, in der Zahl und Bildung der Beine u. s. w., wie Sie sehen, sehr stark von einander ab. Wenn Sie dagegen die aus dem Ei geschlüpften frühesten Jugendformen oder „Nauplius“ dieser sechs verschiedenen Krebse betrachten, die auf Taf. X mit entsprechenden Buchstaben bezeichnet sind (Fig. An—En), werden Sie durch die grosse Uebereinstimmung dieser letzteren überrascht sein. Die verschiedenen Nauplius-Formen jener sechs Ordnungen unterscheiden sich nicht stärker, wie etwa sechs ver- schiedene „gute Species“ einer Gattung. Wir können daher mit Sicherheit auf eine gemeinsame Abstammung aller jener Ordnungen von einem gemeinsamen Urkrebse schliessen, der sich an die Anneliden anschloss, dessen Larve aber bereits dem heutigen Nauplius im Wesentlichen gleich gebildet war. Diese bedeu- tungsvolle, längst ausgestorbene Stammgruppe nennen wir Archi- cariden oder „Urkrebse“ Nachdem Fritz Müller (Desterro) in seiner geistreichen Schrift „Für Darwin“ die allgemeine Verbreitung der Nauplius- Keimform bei allen Krebsthieren, und ihre hohe Bedeutung für die monophyletische Descendenz dieser formenreichen Thier- classe nachgewiesen hatte, war man geneigt, in dem Nauplius selbst (Taf. X) das getreue, durch Vererbung erhaltene Urbild ihrer gemeinsamen Stammform zu erblicken. Ich selbst leitete in diesem Sinne (gleich den meisten Zoologen) alle verschiedenen Caridonien von einer Nauplius-gleichen Stammform ab, einem uralten Naupliaden. Indessen bedarf diese Vorstellung und die sie stützende Anwendung des biogenetischen Grundgesetzes einer gewissen Einschränkung, wie in neuester Zeit Arnold Lang (— der erste „Professor der Phylogenie“ —) in seinem ausge- zeichneten Lehrbuch der vergleichenden Anatomie gezeigt hat (Jena, 1889, S. 421). Die uralte (cambrische), längst ausgestorbene >76 Abstammung der Krebsthiere oder Caridonien. XXIR Stammform der Krebsthiere, unseren „Urkrebs oder Archicaris,“ müssen wir uns als ein vielgliederiges Annelid vorstellen, mit zahlreichen Beinpaaren, mit Bauchmark und Schlundring; als eine Zwischenform zwischen Polychaeten und Phyllo- poden. Der reine Nauplius, in seiner ursprünglichen einfachsten Form, ist die characteristische Larve dieses Urkrebses gewesen, und verhält sich daher zu den Caridonien ebenso, wie die Räder- larve (Trochophora) zu den Anneliden. Der Nauplius selbst ist aus einer Trochophora entstanden. Freilich ist anderseits zu be- denken, dass auch diese einfachen Larven selbst wieder eine hohe phylogenetische Bedeutung besitzen und ihren typischen Körper- bau von einer älteren ungegliederten Helminthen-Gruppe durch Vererbung erhalten haben. Wie man sich ungefähr die Abstammung der auf S. 578 auf- gezählten Krebs-Ordnungen von der gemeinsamen Stammgruppe der Urkrebse (Archicariden) gegenwärtig vorstellen kann, zeigt Ihnen der gegenüberstehende Stammbaum (S. 579). Aus der ursprünglich als selbstständige Gattung existirenden Archicaris- Form haben sich als divergente Zweige nach verschiedenen Rich- tungen hin die drei Legionen der niederen Krebse oder Ento- mostraca entwickelt, die Kiemenfüssigen (Dranchiopoda), Ruder- füssigen (Copepoda) und Rankenfüssigen (Cirripeda). Aber auch die drei Legionen der höheren Krebse oder Malacostraca, die Ur-Panzerkrebse (Leptostraca), die sitzäugigen Panzerkrebse (Edri- ophthalma) und die stieläugigen Panzerkrebse (Podophthalma) haben aus dem gemeinsamen Archicaris ihren Ursprung genommen. Die uralten ausgestorbenen Palaeocariden der cambrischen und silurischen Schichten (Ceratocaris) gehörten wahrscheinlich zu den Stammformen der Malacostraken. Noch heute bildet die Nebalia eine unmittelbare Uebergangsform von den Phyllopoden zu den Schizopoden, und repräsentirt einen Ueberrest von der gemein- samen Stammgruppe der stieläugigen und sitzäugigen Panzerkrebse. Jedoch hat sich hier die Keimform des Nauplius zunächst in eine andere Larvenform, die sogenannte Zoöa, umgewandelt, welche eine hohe phylogenetische Bedeutung besitzt. An die Stammgruppe der Leptostraca (Nebalia) schliesst sich Haeckel del A. Limnetis . Cyclops " Lernaeocera Lepas. " Sacculına 2 “ Feneus. lH FIR IR Lith.Anst.v. A.Giltsch, Jena En Be u ee eh D Taf XI. Erwachsene Form derselben sechs Krebsthiere. C. Lernaeocera D. Lepas A. Limnetis. B. Cyclops E. Sacculina FE Peneus. a Hasckel del. RRTIIT. Schildthiere oder Aspidonien. 577 zunächst die Ordhung der Spaltfüsser oder Schizopoden an (Mysis); denn diese hängen noch heutigen Tages durch die Nebalien un- mittelbar mit den Blattfüssern oder Phyllopoden zusammen. Die letzteren aber stehen von allen lebenden Krebsen der ursprüng- lichen Stammform des Nauplius am nächsten. Aus den Spalt- füssern haben sich als zwei divergente Zweige nach verschiedenen Riehtungen hin die stieläugigen und die sitzäugigen Panzerkrebse oder Malocostraken entwickelt; die ersteren hängen durch die Cumaceen (Cuma) und Garneelen (Peneus), die letzteren durch die Scheerenasseln (Anisopoda, Tanais) noch heute mit den Schi- zopoden zusammen. Zu den Stieläugigen gehört der Flusskrebs, der Hummer und die übrigen Langschwänze oder Makruren, aus denen sich erst später in der Kreidezeit durch Rückbildung des Schwanzes die kurzschwänzigen Krabben oder Brachyuren ent- wickelt haben. Die Sitzäugigen spalten sich in die beiden Zweige der Flohkrebse (Amphipoden) und der Asseln (Isopoden), zu welchen letzteren unsere gemeine Mauerassel und Kellerassel gehört. In der Keimes-Geschichte der Schildthiere (Aspidonia), der zweiten Crustaceen-Ulasse, finden wir nicht die characteristische Nauplius-Larve, welche mit Sicherheit auf eine gemeinsame Abstammung aller Krebsthiere oder Caridonien schliessen lässt. Auch haben die ersteren nur ein Paar, die letzteren da- gegen stets zwei Paar Fühlhörner oder Antennen. Auch die Gliederung des Leibes, sowie der innere Körperbau, zeigt man- cherlei auffallende Unterschiede. Trotzdem ist es wahrscheinlich, dass der Stammbaum beider Crustaceen-Classen doch unten an der Wurzel zusammenhängt. Andere Zoologen legen freilich auf jene Unterschiede so viel Gewicht, dass sie die Aspidonien ganz von den Crustaceen trennen, und sie mit den Spinnenthieren (Arachnida) vereinigen; unter den letzteren zeigen namentlich die Scorpione auffallende Aehnlichkeit mit den ersteren. Da nun fossile Scorpione schon im Silur vorkommen und die ältesten versteinerten Tracheaten sind, wäre immerhin ein ursprünglicher Stamm-Zusammenhang beider Gruppen denkbar. Allein den Aspidonien fehlen die Tracheen und die Malpighischen Röhren der Arachniden, welche diese mit den Tracheaten theilen. Haeckel, Natürl. Schöpfungs-Gesch. 8. Aufl. 37 578 System der Krustenthiere oder Crustaceen. xXoE Systematische Uebersicht über die Krustenthiere oder Urustaceen. Ordnungen Ein Classen Legionen der der | der Gattungsname Crustaceen. Crustaceen. | Crustaceen. | als Beispiel. | | ö l. Archicarides Archicaris I. Branchiopoda e ! 3 #r 2. Phyllopoda Limnetis Kiemenfüssige 4 i 3. Cladocera Daphnia Krebse z z 4. Ostracoda Cypris II. Copepoda 5. Eucopepoda Cyelops bt Ruderfüssige 6. Siphonostoma Lernaeocera Krebse 7. Branchiura Argulus \ IM. Cirripeda (Sparta i i O. ectostraca epas a ee Rankenfüsiige | 5 mımasrhalı Saccnl idonis 9, Rhizocephala Saeculina Caridonia Echo Mit zwei An- IV. Leptostraca j 10. Leptocarida Nebalia tennenpaaren, mit Ur-Panzerkrebse | 11. Palaeocarida _Ceratocaris Nauplius-Keim- form : 12. Amphipoda Gammarus V. Edriophthalma f SR! 13. Laemodipoda Caprella Sitzäugige . = j 14. Anisopoda Tanais Panzerkrebse B ; 15. Isopoda Oniseus 16. Cumacea Diastylis VI. Podophthalma 4 : BE 17. Schizopoda Mysis Stieläugige i Da 18. Stomatopoda Squilla Panzerkrebse 19. Decapoda Astacus I. vi. Trilobita i I 20. Palaeades Paradoxides Schildthiere Scheerenlose E Me Ko . . 21. Asaphades saphus Aspidonia Schildthiere H Mit einem An- tennenpaar, ohne VIII. Merostoma | 22 Nauplius-Keim- Scheerentragende E F i 23. Xiphosura Limulus form Schildthiere LT PT . Gigantostraca Pterygotus RRXTIT. Stammbaum der Krustenthiere oder Crustaceen. Brachyura Isopoda Anomura s | Laemodipoda Macrura Stomatopoda Decapoda i Schizopoda Amphipoda Cumacea | Se aegnaen nn Anisopoda | Edriophthalma mn Podophthalma | RR Schizopoda Gigantostraca Malacostraca Eurypterida Rhizocephala Xiphosura Siphonostoma | Nee Zn on, Pectostraca Merostoma nun Cirripeda Asaphades Nebalia Eucopepoda Belinura ee) Copepoda Palaeades Oladocera Re Palaeocarida ee Leptostraca 0 P ; coda Phyllopoda Ser Trilobita SE ER NEN ER u Branchiopoda | ————— nu —,—— Aspidonia Entomostraca Schildthiere Archicarida Caridonia Krebsthiere | Annelida Helminthes Platodes Gastraea 580 Luftrohrthiere oder Tracheaten. XXI Unter den uralten ausgestorbenen Aspidonien finden sich die grössten aller Gliederthiere, die silurischen und devonischen Merostomen (Kurypterida und Pterygotida). Einzelne von ihnen, Riesen-Scorpionen sehr ähnlich, erreichten eine Länge von mehr als zwei Meter; sie wurden früher zum Theil für versteinerte Fische gehalten. Diesen Riesenkrustern (Gigantostraca) nächstverwandt erscheinen unsere heutigen Molukkenkrebse oder Pfeilschwänze (Xiphosura), durch die einzige Gattung Limulus vertreten. Bei diesen „letzten Mohikanern*“ des mächtigen Aspi- donien-Stammes erreicht der schildförmige Körper auch eine Länge von mehr als einem Fuss; sie leben im Molukken-Meere und an der Ostküste von Nord-Amerika, und sind jetzt auch oft in unseren Aquarien zu finden, wo sie durch ihren Pfeilschwanz und ihre sonderbaren Schwimmbewegungen auffallen. Wahrscheinlich stam- men alle diese Aspidonien von den uralten Trilobiten ab (Palaeades und Asaphades); diese finden sich massenhaft ver- steinert schon im cambrischen und silurischen System; in der Steinkohle sterben sie bereits aus. Die dritte Hauptelasse der Gliederthiere bilden die Luft- rohrthiere (Tracheata); sie schliessen sich enger an die erste Hauptclasse, die Ringelthiere, an, und sind mit ihnen eng ver- knüpft durch die Protracheaten (Peripatus), die früher zu letzteren gerechnet wurden. Frühestens sind die Tracheaten gegen Ende des archolithischen Zeitraums entstanden, weil alle diese Thiere (im Gegensatz zu den wasserbewohnenden Krebsen) ur- sprünglich Landbewohner sind. Offenbar können sich diese Luft- athmer erst entwickelt haben, als im Verlaufe der silurischen Zeit das Landleben begann. Das älteste Tracheaten-Petrefact ist ein silurischer Scorpion (Eoscorpius); fossile Reste von Spinnen und Insecten sind bereits im devonischen System und in den Steinkohlenschichten gefunden worden. Ueber die Entstehung und Verwandtschaft der Tracheaten haben wir die wichtigsten Aufschlüsse erst kürzlich durch den merkwürdigen Peripatus erhalten, der zwar schon längere Zeit bekannt, aber erst durch die verdienstvollen Naturforscher der Challenger-Expedition genauer untersucht worden ist; namentlich XXI. Protracheaten oder Peripatiden. 981 hat Moseley durch Entdeckung seiner Luftröhren und seiner Ent- wickelung ihm seinen natürlichen Platz im System angewiesen. Früher wurde dieses merkwürdige Thier, welches in der heissen Zone auf der Erde kriechend lebt, zu den Ringelwürmern gerechnet und gleicht ihnen äusserlich in der eylindrischen Form des gleich- mässig geringelten Körpers. Dieser ist aus 20—30 Gliedern oder Metameren zusammengesetzt und trägt eben so viele kurze un- gegliederte Fusspaare mit Krallen. Auch besitzt der Peripatus noch zahlreiche Nephridien-Paare oder „Segmental-Nieren“, gleich den echten Anneliden. Sein Kopf ist wenig entwickelt. Ueberall in der Haut unregelmässig vertheilt finden sich zahlreiche sehr feine Luftlöcher, welche in enge, blind endigende Luftröhren- Büschel hineinführen. Das deutet darauf hin, dass bei diesen Peripatiden, die als einziges Ueberbleibsel der uralten Urluft- rohr-Thiere (Protracheata) zu betrachten sind, die characteristi- schen Luftathmungs-Organe aus Hautdrüsen von Anneliden entstanden waren, denen sie auch in der übrigen Organisation noch sehr nahe stehen. Bei den drei übrigen Classen der Tracheaten, bei den Myria- poden, Arachniden und Insecten sind die Luftröhren oder Tra- cheen nicht mehr unregelmässig über die ganze Haut in zahllosen kleinen Büscheln vertheilt, sondern vielmehr regelmässig in zwei Längsreihen von grösseren Büscheln geordnet. Diese münden jederseits durch eine Reihe von Luftlöchern nach aussen, durch welche die Luft in die blind geendigten Röhren eintritt. In jeder der beiden Längsreihen verbinden sich gewöhnlich die ursprünglich getrennten Büschel durch Verbindungsröhren oder Anastomosen, und durch stärkere Entwickelung und Ausweitung dieser letzteren entstehen zwei starke Längsstämme, die bei vielen Insecten als Haupttheil des Luftröhren-Systems erscheinen. Von den Protra- cheaten (Peripatus) unterscheiden sich die drei echten Tracheaten- Classen ferner allgemein durch zwei wichtige Merkmale: die Seg- mental-Nieren der ersteren sind bei den letzteren durch Rückbil- dung verloren gegangen, oder durch Arbeitsweehsel in andere Or- gane umgewandelt; und aus den ungegliederten Fussstummeln sind gegliederte Beine geworden (Taf. XVIII, Fig. 10, 11; S. 510). a [o 6) 1) Tausengfüsser oder Myriapoden. XXI Am nächsten an die Protracheaten oder Peripatiden schliessen sich von den übrigen Tracheaten die Tausendfüsser (Myriapoda) an, die gleich den ersteren an dunkeln, feuchten Orten, in und auf der Erde leben. Auch hier ist der Körper noch sehr ähnlich den Ringelthieren, aus einer grossen Anzahl von gleichmässig gebildeten Rumpfgliedern zusammengesetzt, von denen jedes ur- sprünglich ein Paar kurze, mit Krallen versehene Beine trägt (Taf. XVIII, Fig. 10). Bei der ersten Ordnung der Tausendfüsser, bei den Einfachfüssern (Chrlopoda) hat sich dieses ursprüngliche Verhältniss erhalten. Bei der zweiten Ordnung hingegen, bei den Doppelfüssern (Diplopoda) sind je zwei Körperringe oder Meta- meren mit einander paarweise verschmolzen, so dass jeder Ring scheinbar zwei Beinpaare trägt. Die Zahl derselben ist oft sehr gross, 60— 80, bei einigen selbst über hundert. Alle Beine sind deutlich gegliedert. Zu den Chilopoden gehört Scolopendra und Polyzonias, zu den Chilognathen hingegen Julus und @lomeris. Während bei den Protracheaten und Myriapoden die Zahl der Ringe und Beinpaare an dem langgestreckten wurmförmigen Körper stets sehr gross ist, erscheint sie dagegen sehr redueirt bei der dritten Tracheaten-Classe, den Spinnen (Arachnida). Gewöhnlich schreibt man ihnen zum Unterschiede von den stets sechsbeinigen Insecten vier Beinpaare zu. Wie jedoch die Scor- pionspinnen und die Geisselscorpione zu zeigen scheinen, sind eigentlich auch bei ihnen, wie bei den Insecten, nur drei echte Beinpaare vorhanden. Das scheinbar vierte Beinpaar der Spinnen (das vorderste) ist eigentlich ein Kieferpaar. Unter den heute noch lebenden Spinnen giebt es eine kleine Gruppe, welche wahr- scheinlich der gemeinsamen Stammform der ganzen Classe sehr nahe steht. Das ist die Ordnung der Scorpionspinnen oder Solifugen (Solpuga, Galeodes), von der mehrere grosse, wegen ihres giftigen Bisses sehr gefürchtete Arten in Afrika und Asien leben. Der Körper besteht hier, wie wir es bei dem gemeinsamen Stammvater der Spinnen und Insecten voraussetzen müssen, aus drei getrennten Abschnitten, einem Kopfe, welcher ein Paar An- tennen (umgewandelt in „Kieferfühler*) und zwei Paar Kiefer trägt, einer Brust, an deren drei Ringen drei echte Beinpaare be- XIII. Spinnenthiere oder Arachniden. 5983 festigt sind, und einem vieleliedrigen Hinterleibe. In der Gliede- rung des Leibes stehen demnach die Solifugen eigentlich den In- secten näher, als den übrigen Spinnen; nur ein Kieferpaar ist verloren gegangen. Auf Grund dieser gleichartigen morphologi- schen Gliederung darf man vielleicht annehmen, dass aus uralten silurischen Urspinnen, welche den heutigen Solifugen nahe ver- wandt waren, sich als drei divergente Zweige die Streckspinnen, Weberspinnen und Schneiderspinnen entwickelt haben (8. 587). Die Streckspinnen (Scorparia oder Arthrogastres) erscheinen als die älteren und ursprünglicheren Formen; die frühere Leihes- gliederung hat sich bei ihnen besser erhalten, als bei den Rund- spinnen. Die wichtigsten Formen dieser Unterelasse sind die Scorpione, welche durch die Phryniden oder Geisselscorpione mit den Solifugen verbunden werden. Versteinerte Scorpione (Eoscorpius) kommen einzeln schon im Silur vor, als die ältesten fossilen Reste von echten Luftrohrthieren; häufiger sind sie in der Steinkohle. Als ein rückgebildeter Seitenzweig der Scorparien erscheinen die kleinen Bücherscorpione, welche unsere Bibliotheken und Herbarien bewohnen. In der Mitte zwischen den Scorpionen und den Rundspinnen stehen die lJangbeinigen Schneiderspinnen (Oprliones), welche vielleicht aus einem besonderen Zweige der Solifugen entstanden sind. Die Pyenogoniden oder Spinnen- krebse und die Arktisken oder Bärwürmer, welche man gewöhn- lich noch jetzt unter den Spinnen aufführt, sind entweder ganz verkümmerte Arachniden (ohne Spur von Luftröhren), oder sie sind von dieser Classe auszuschliessen. Die ersteren sind vielleicht unter die Crustaceen, die letzteren unter die Ringelthiere zu stellen. Viel jüngeren Ursprungs als die Scorparien sind die Weber- spinnen (Araneae), die zweite Unterclasse der Arachniden; sie finden sich versteinert zuerst im Jura. Sie haben sich wahr- scheinlich aus einem Zweige der Solifugen dadurch entwickellt, dass die Leibesringe mehr oder weniger mit einander verschmol- zen. Bei den eigentlichen Weberspinnen, welche wir wegen ihrer feinen Webekünste bewundern, geht die Verschmelzung der Rumpf- glieder oder Metameren so weit, dass der Rumpf nur noch aus zwei Stücken besteht, einer Kopfbrust, welche die Kiefer und die 584 Verwandtschaft der Arachniden und Aspidonien. XXIT. vier Beinpaare trägt, und einem anhangslosen Hinterleib, an wel- chem die Spinnwarzen sitzen. Bei den Milben (Acaria), welche wahrscheinlich aus einem verkümmerten Seitenzweige der Weber- spinnen durch Entartung (insbesondere durch Schmarotzerleben) entstanden sind, verschmelzen sogar noch diese beiden Rumpf- stücke mit einander zu einer einzigen ungegliederten Masse. Entgegen der hier vertretenen Annahme, dass die Arachniden nahe Stamm-Verwandtschaft zu den Insecten besitzen, und sich gemeinsam mit diesen aus der älteren Classe der Myriapoden ent- wickelt haben (vielleicht auch aus zwei verschiedenen Gruppen dieser Classe), ist neuerdings eine ganz verschiedene Ansicht, na- mentlich von Ray-Lankester, vertreten worden. Hiernach würde die Uebereinstimmung in der Gliederung und dem Körperbau der Spinnen und Insecten nur scheinbar sein, durch Angleichung oder Convergenz bewirkt. Hingegen würden die Arachniden (und zunächst ihre Stamm-Gruppe, die Scorpione) die nächste Stamm- Verwandtschaft zu den Schildthieren oder Aspidonien besitzen, welche wir vorher als zweite Classe der Crustaceen aufgeführt haben (8.577). In der That ist manche Aehnlichkeit zwischen beiden Thierclassen auffallend gross. Es lässt sich aber dagegen einwenden, dass auch diese Aehnlichkeit nur durch Convergenz bewirkt sein kann (8. 275). Besonders aber ist zu betonen, dass die Arachniden in zwei sehr wichtigen Eigenthümlichkeiten mit den echten Tracheaten übereinstimmen, in dem Besitze der Luftröhren und der Malpi- shischen Röhren; die Aspidonien besitzen von beiden keine Spur. Bestünde wirklich eine directe phylogenetische Beziehung zwischen Aspidonien (Limulus, Eurypterus) und Arachniden (Scorpio, The- Iyphonus), so würde die wahrscheinlichste Hypothese die sein, dass sich die letzteren (ganz unabhängig von den drei übrigen Tra- cheaten-Classen) schon in silurischer Zeit aus den ersteren ent- wickelt hätten. Die Tracheen der Arachniden würden dann an- deren Ursprungs sein, als diejenigen der Myriapoden und Insecten. Die vierte und letzte Classe unter den tracheenathmenden Gliederthieren ist die der Insecten (Inseeta oder Hexapoda), die umfangreichste von allen Thierclassen, und nächst derjenigen der DSXUTTT. Flügel und Mundtheile der Insecten. 585 Säugethiere auch die wichtigste von allen. Trotzdem die Inseeten eine grössere Mannichfaltiskeit von Gattungen und Arten ent- wickeln, als die meisten übrigen Thiere zusammengenommen, sind das alles doch im Grunde nur oberflächliche Variationen eines einzigen Themas, welches in seinen wesentlichen Characteren sich ganz beständig erhält. Bei allen Insecten sind die drei Abschnitte des Rumpfes, Kopf, Brust und Hinterleib deutlich getrennt (Taf. XVII, Fig. 11, S. 510). Der Hinterleib oder das Abdomen trägt gar keine gegliederten Anhänge. Der mittlere Abschnitt, die Brust oder der Thorax, trägt auf der Bauchseite die drei Beinpaare, ausserdem noch bei den Meisten auf der Rücken- seite zwei Flügelpaare. Freilich sind bei sehr vielen Insecten eines oder beide Flügelpaare verkümmert, oder selbst ganz ver- schwunden. Allein die vergleichende Anatomie der Insecten zeigt uns deutlich, dass dieser Mangel meistens erst nachträglich durch Verkümmerung der Flügel entstanden ist, und dass fast alle jetzt lebenden Insecten von einem gemeinsamen Stamm-Insect abstam- men, welches drei Beinpaare und zwei Flügelpaare besass (vergl. S.283). Eine einzige Ausnahme bildet die Ordnung der Thysa- nuren (Campodina und Collembola). Bei diesen kleinen Insecten ist der Flügel-Mangel ein ursprünglicher; sie sind der letzte Rest einer älteren ungeflügelten Stammform, die unmittelbar aus den Myriapoden hervorging. Die Flügel, welche die Inseeten so aul- fallend vor den übrigen Gliederthieren auszeichnen, sind selbst- ständige Rücken-Gliedmaassen (dorsale Extremitäten) und entstan- den ursprünglich wahrscheinlich aus den blattförmigen Tracheen- kiemen, welche wir noch heute an den im Wasser lebenden Larven der Eintagsfliegen (Zphemera) beobachten. Der Kopf der Insecten trägt allgemein ausser den Augen ein Paar gegliederte Fühlhörner oder Antennen, und ausserdem auf jeder Seite des Mundes drei Kiefer. Diese drei Kiefer- paare, obgleich bei allen Insecten aus derselben ursprünglichen Grundlage entstanden, haben sich durch verschiedenartige Anpas_ sung bei den verschiedenen Ordnungen zu höchst mannichfaltigen und merkwürdigen Formen umgebildet, so dass man sie haupt- sächlich zur Unterscheidung der Haupt-Abtheilungen verwendet, 586 System der Luftrohrtbiere oder Tracheaten. xXXTIE Systematische Uebersicht über die Luftrohrthiere oder Tracheaten. Classen | Unterelassen Ordnungen |Gattungsnamen der Tracheaten. der Tracheaten. der Tracheaten. als Beispiele. I I. Urluftröhrer LAW urminsecten f IR Protracheata | Onychophora \ II. Tausendfüsser | Chilopoda \ Myriapoda III. Doppelfüsser f 3. Doppelfüsser j Julus Diplopoda \ Diplopoda \ Polydesmus 4. Seorpionspinnen f Solpuga Solifugae \ Galeodes 5. Geisselscorpione f Phrynus Phrynida \ Thelyphonus IV. Streekspinnen J] 6. Scorpione J Seorpio Scorparia Scorpioda \ Buthus 7. Bücherseorpione f Obisium Pseudoscorpioda | Chelifer III. Spinnen 8. Schneiderspinnenf Phalangium Arachnida Opilionida \ Opilio 9. Vierlunger f Mygale V. Weberspinnen | Tetrapneumones \ Cteniza Araneae | 10. Zweilunger f Epeira Dipneumones | Tegenaria ll. Rundmilben f Sarcoptes . Milben | Sphaeracara \ Demodex ee | 12. Streckmilben Linguatula Macracara Pentastoma 13. Flügellose j Campodea Thysanura \ Lepisma 14. Urflügler f Ephemera Archiptera \ Libellula 15. Netzflügler en EEE Dun Phryganea en ) 16. Fächerflügler Stylops ; RER Strepsiptera Xenos IV. Insecten en 17. Gradflügler f Locusta Inseeta Orthoptera \ Forfieula oder 18. Käfer Cieindela Hexapoda Coleoptera Melolontha 19. Hautflügler f Apis Hymenoptera \ Formica 20. Halbflügler f Aphis VIII. Saugende a \ Cimex en 21. Fliegen f Culex Re; Diptera \ Musca Sugenhe 22. Schmetterlinge f Bombyx Lepidoptera Papilio Il. Einfachfüsser f 2. Peripatiden Peripatida Einfachfüsser Chilopoda J Properipatus \ Peripatus f Seolopendra \ Geophilus PXTIT. Stammbaum der Luftrohrthiere oder Tracheaten. 587 Schmetterlinge Lepidoptera ' Fliegen mmen ER Hymenoptera eh N PferR | Fächerflügler Käfer Strepsiptera Halbflügler h & Hemiptera Gradflügler Colcoptera | ——mu un Orthoptera Netzflügler | | Neuroptera NORA RE ENTER | | Urfügler Archiptera Scorpione & ER IE Doppelfüsser Peorions Diplopoda Schneiderspinnen | Opilionida | R Milben Bücherseorpione as earın Pseudoscorpioda N | Einfachfüsser mn Chilopoda | Weberspinnen Geisselscorpione Insecten Araneae Phrynida AR | - S— Seorpionspinnen Tausendfüsser Solifugae Myriapoda Spinnen Arachnida Peripatus Onychophora oa Urluftröhrer Protracheata Annelida Helminthes Platodes Gastraea 588 Classifieation der Insecten. XXIH. Zunächst kann man als zwei Haupt-Abtheilungen der formen- reichen Classe Inseeten mit kauenden Mundtheilen (Masticantia) und Insecten mit saugenden Mundwerkzeugen (Sugentia) unter- scheiden. Bei genauerer Betrachtung kann man noch schärfer jede dieser beiden Abtheilungen in zwei Untergruppen vertheilen. Unter den Kau-Insecten oder Masticantien können wir die beissen- den und die leckenden unterscheiden. Zu den Beissenden (Mor- dentia) gehören die ältesten und ursprünglichsten Inseeten, die sechs Ordnungen der Flügellosen, Urflügler, Netzflügler, Fächer- flügler, Gradflügler und Käfer. Die Leckenden (Lambentia) werden bloss durch die eine Ordnung der Hautflügler gebildet. Unter den Saug-Insecten oder Sugentien können wir die beiden Gruppen der stechenden und schlürfenden unterscheiden. Zu den Stechenden (Pungentia) gehören die beiden Ordnungen der Halb- flügler und Fliegen, zu den Schlürfenden (Sorbentia) bloss die Schmetterlinge. Als die ältesten von allen Inseeten, und als diejenigen, welche der gemeinsamen Stammform der ganzen Classe am nächsten ste- hen, müssen wir die Ordnung der flügellosen Thysanura be- trachten; dazu gehören die kleinen Campodinen und Collem- bolen (Springschwänze, Gletscherflöhe, Zuckergäste und Silber- fischehen). Sie zeichnen sich durch ursprüngliche Einfachheit der Organisation vor allen übrigen Insecten aus, und der Flügel- mangel ist bei ihnen allein ursprünglich. Bei allen anderen flügellosen Inseeten (— wie sie zahlreich und in allen Ordnungen vorkommen —) ist derselbe hingegen erst nachträglich entstanden, durch Verkümmerung und Rückbildung der Flügel (vergl. S. 283). Ausserdem sind die Thysanuren noch dadurch sehr merkwür- dig, dass manche von ihnen (z.B. Campodea) noch rudimentäre Beine an den Hinterleibs-Ringen tragen, sich also direct an die Myriapoden, ihre Vorfahren, anschliessen. Auf Grund dieser wich- tigen Thatsachen kann man die ganze Insecten-Classe vom phylo- genetischen Gesichtspunkt aus zunächst in zwei historisch geschie- dene Unterclassen eintheilen, Apteronien und Pterygonien. Die ältere Unterelasse der Urflügellosen (Apteronia) ist heute nur noch durch die Thysanuren vertreten und umfasst ausser- BOXTITIT: Stammes-Geschichte der Insecten. 589 dem die ausgestorbenen directen Zwischenformen zwischen Tau- sendfüssern und Insecten. Die jüngere Unterclasse der Flügel- Inseeten (Pferygonia) hat sich erst später aus den ersteren ent- wickelt und umfasst alle übrigen Insecten. Unter den Pterygonien sind die ältesten die Mordentien, oder die Insecten mit beissenden Mundtheilen: und unter diesen steht der gemeinsamen Stammform Aller am nächsten die Ord- nung der Urflügler (Archiptera oder Pseudoneuroptera). Dahin gehören vor allen die Eintagslliegen (Zphemera), deren im Wasser lebende Larven uns wahrscheinlich noch heute in ihren blattför- migen Tracheenkiemen die Organe zeigen, aus denen die Insecten- flügel entstanden. Ferner gehören in diese Ordnung die bekann- ten Wasserjungfern oder Libellen, die Blasenfüsser (P’hysopoda), und die gefürchteten Termiten. Versteinerte Reste von Urflüg- lern finden sich einzeln schon im Devonischen System und in der Steinkohle. Unmittelbar hat sich wahrscheinlich aus den Urflüg- lern die Ordnung der Netzflügler (Neuroptera) entwickelt, welche sich von ihnen wesentlich nur durch die vollkommene Verwandlung unterscheiden. Es gehören dahin die Florfliegen (Planipennia) und die Schmetterlingsfliegen (Phryganida). Fossile Insecten, welche den Uebergang von den Urflüglern (Libellen) zu den Netzflüglern (Sialiden) vermitteln, kommen schon im De- von und in der Steinkohle vor (Dietyophlebia). Von den Neu- ropteren stammen wahrscheinlich die kleinen Fächerflügler ab (Strepsiptera), ausgezeichnet durch die Verkümmerung der Vor- derflügel und durch ihre merkwürdige parasitische Lebensweise (in Hymenopteren). Aus einem anderen Zweige der Urflügler hat sich wahr- scheinlich schon frühzeitig durch Differenzirung der beiden Flügel- paare die Ordnung der Gradflügler (Orthoptera) entwickelt. Diese Abtheilung besteht aus der formenreichen Gruppe der Scha- ben, Heuschrecken, Grylien u. s. w. (Ulonata), und aus der kleinen Gruppe der bekannten Ohrwürmer (Labicdura), welche durch die Kneifzange am hinteren Körperende ausgezeichnet sind. Sowohl von Schaben als von Gryllen und Heuschrecken kennt man Versteinerungen aus dem Devon und den der Steinkohle. 590 Stammes-Geschichte der Insecten. DOSUNL Auch die sechste und höchstentwiekelte Ordnung der beissen- den Insecten, die der Käfer (Coleoptera), kommt bereits in der Steinkohle versteinert vor. Diese ausserordentlich umfangreiche Ordnung, der bevorzugte Liebling der Insectenliebhaber und Samm- ler, zeigt am deutlichsten von allen, welche unendliche Formen- Mannichfaltigkeit sich durch Anpassung an verschiedene Lebens- verhätnisse äusserlich entwickeln kann, ohne dass deshalb der innere Bau und die Grundform des Körpers irgendwie wesentlich umgebildet wird. Wahrscheinlich haben sich die Käfer aus einem Zweige der Gradflügler entwickelt, von denen sie sich wesentlich nur durch ihre vollkommene Verwandlung unterscheiden. An diese sechs Ordnungen der beissenden Insecten schliesst sich nun zunächst die eine Ordnung der leckenden Insecten an, die interessante Gruppe der Immen oder Hautflügler (Hy- menoptera). Dahin gehören diejenigen Inseeten, welche sich durch ihre entwickelten Culturzustände, durch ihre weitgehende Arbeits- theilung, Gemeindebildung und Staatenbildung zu bewunderungs- würdiger Höhe des Geisteslebens, der intellectuellen Vollkommen- heit und der Characterstärke erhoben haben, und dadurch nicht allein die meisten Wirbellosen, sondern überhaupt die meisten Thiere übertreffen. Es sind das vor allen die Ameisen und die Bienen, sodann die Hummeln, Wespen, Blattwespen, Holzwespen, Schlupfwespen, Gallwespen u. s. w. Sie kommen zuerst verstei- nert im Jura vor, in grösserer Menge jedoch erst in den Tertiär- schichten. Wahrscheinlich haben sich die Hautflügler aus einem Zweige entweder der Urflügler oder der Netzflügler entwickelt. Von den beiden Ordnungen der stechenden Insecten, den Hemipteren und Dipteren, ist die ältere diejenige der Halb- flügler (Hemiptera), auch Schnabelkerfe (Rhynchota) genannt. Dahin gehören die drei Unterordnungen der Blattläuse (Homop- tera), der Wanzen (Heteroptera), und der Läuse (Pedieulina). Von ersteren beiden finden sich fossile Reste schon im Jura. Aber schon im permischen System kommt ein merkwürdiges In- sect vor (Eugereon), welches auf die Abstammung der Hemipteren von den Neuropteren hinzudeuten scheint. Vermuthlich sind von den drei Unterordnungen der Hemipteren die ältesten die Homop- XXIII. Stammes-Geschichte der Insecten. 591 teren, zu denen ausser den eigentlichen Blattläusen auch noch die Schildläuse, die Blattflöhe und die Zirpen oder Cicaden ge- hören. Aus zwei verschiedenen Zweigen der Homopteren werden sich die Läuse durch weitgehende Entartung (vorzüglich Verlust der Flügel), die Wanzen dagegen durch Vervollkommung (Son- derung der beiden Flügelpaare) entwickelt haben. Viele von ihnen (wie die Bettwanzen) haben die Flügel verloren. Die zweite Ordnung der stechenden Insecten, die Fliegen oder Zweiflügler (Diptera) finden sich zwar auch schon im Jura versteinert neben den Halbflüglern vor; allein dieselben haben sich doch wahrscheinlich erst nachträglich aus den Hemip- teren durch Rückbildung der Hinterflügel entwickelt. Nur die Vorderflügel sind bei den Dipteren vollständig geblieben. Die Hauptmasse dieser Ordnung bilden die langgestreckten Mücken (Nemocera) und die gedrungenen eigentlichen Fliegen (Drachycera), von denen die ersteren wohl älter sind. Doch finden sich von Beiden schon Reste im Jura vor. Durch Degeneration in Folge von Parasitismus haben sich aus ihnen wahrscheinlich die beiden kleinen Gruppen der puppengebärenden Lausfliegen (Pupipara) und der springenden Flöhe (Aphaniptera) entwickelt. Die zehnte und letzte Insectenordnung, und zugleich die ein- zige mit wirklich schlürfenden Mundtheilen, sind die Schmetterlinge (Lepidoptera). Viese Ordnung erscheint in meh- reren morphologischen Beziehungen als die vollkommenste Abthei- lung der Insecten und hat sich demgemäss auch erst am spä- testen entwickelt. Man kennt nämlich von dieser Ordnung Ver- steinerungen nur aus der Tertiärzeit, während die drei vorher- gehenden Ordnungen bis zum Jura, die beissenden Ordnungen da- gegen bis zur Steinkohle oder zum Devon hinaufreichen. Die nahe Verwandtschaft einiger Motten ( Tineae) und Eulen (Noctuae) mit einigen Schmetterlingsfliegen (Phryganida) macht es wahrschein- lich, dass sich die Schmetterlinge aus dieser Gruppe, also aus der Ordnung der Netzflügler oder Neuropteren entwickelt haben. Wie Sie sehen, bestätigt Ihnen die ganze Geschichte der In- sectenclasse und weiterhin auch die Geschichte des ganzen Glie- derthier-Stammes wesentlich die grossen Gesetze der Differenzirung 592 Stammbaum und Geschichte der Gliederthiere. xXxuE und Vervollkommnung, welche wir nach Darwin’s Selections- Theorie als die nothwendigen Folgen der natürlichen Züchtung anerkennen müssen. Der ganze formenreiche Stamm beginnt in archolithischer Zeit mit niederen, wasserbewohnenden Ringelthie- ren, welche aus einer älteren Gruppe von ungegliederten Wurm- thieren hervorgingen. Aus solchen alten noch unvollkommen ge- gliederten Würmern, welche die Anlage des characteristischen Bauchmarks erwarben, entwickelten sich die Stammformen der heutigen Ringelthiere oder Anneliden. Diese waren anfangs noch fusslos wie die Egel; später erwarben sie Fussstummel mit Borsten wie die Borstenwürmer. Ebenfalls schon im archolithi- schen Zeitalter, und zwar in der cambrischen Periode, entwickel- ten sich daneben die Krustenthiere oder Crustaceen. Von diesen sind die Schildthiere, und namentlich die Trilobiten, durch zahlreiche Versteinerungen bereits im devonischen und silurischen, ja sogar schon im cambrischen System vertreten. Ebenso alt sind auch die Urkrebse oder Archicariden und die aus ihnen hervorgegangenen Leptocariden und Palaeocariden. Jünger als die wasserathmenden Ringelthiere und Krusten- thiere sind die luftathmenden Luftrohrthiere oder Trachea- ten. Allerdings finden sich einzelne Scorpione schon im Silur; und in die silurische Periode ist also wohl auch die Entstehung der gemeinsamen Stammform aller Tracheaten zu setzen, welche wahrscheinlich dem heutigen Peripatus sehr nahe stand. Aus solchen Protracheaten entwickelten sich während der silurischen und devonischen Zeit die Stammformen der Tausendfüsser, Spinnen und Insecten, die schon im Devon und in der Stein- kohle versteinert sich finden. Von den Insecten existirten lange Zeit hindurch nur die sechs beissenden Ordnungen; zunächst flügellose Thysanuren, dann Urflügler, welche wahrscheinlich die gemeinsame Stammgruppe der anderen bilden. Erst viel später entwickelten sich aus den beissenden Insecten, welche die ur- sprüngliche Form der drei Kieferpaare am reinsten bewahrten, als drei divergente Zweige die leckenden, stechenden und schlürfenden Inseeten. Wie diese Ordnungen in der Erdgeschichte auf einander folgen, zeigt Ihnen nochmals übersichtlich die nachstehende Tabelle. SIT. Stammbaum und Geschichte der Insecten. 593 Tabellarische Uebersicht über die historische Reihenfolge im paläontologischen Auftreten der zehn Insecten-Ordnungen. 1. Flügellose H M. 1. in der 6. Käfer ga“. Br | Steinkohle Coleoptera L A): Thysanura ARE: 2. Urflügler f M.1. Zuerst Archiptera NA. A. | versteinert 3. Netzflügler NEE im A. I. Beissende ER Fi l ) Neuroptera ji Jan dal Devon Inseeten Insecten B R 2 4. Gradflügler } ML mit Mordentia Orthoptera \ AD: kauenden ee Ic 5. Fächerflügler ( M. ©. £ Mundtheilen. el Zuerst Masticantia Strepsipterca \ A. D. | versteinert II. Lecekende A 2 7. Hautflügler (MC. Insecten | Hymenoptera \ INTERN Lambentia Zuerst 8. Halbflüsler MIR steiner B. Il. Stechende | N { Hl BErSVernerE intera A i Inseeten Insecten 9 Ar AR E, ( a 9. Fliegen M. ©. mit Pungentia | 2 J Diptera (N A». D: en Vo Schlürfena Zuerst 3 ’. Schlürfende S Mundtheilen. [10.Schmetterlingey M. c.| no F Inseeten N versteinert Sugentia. N | Lepidoptera L A. A. ) Sorbentia im Tertiär Anmerkung: Bei den zehn einzelnen Ordnungen der Insecten ist zu- gleich der Unterschied in der Metamorphose oder Verwandlung und in der Flügelbildung durch folgende Buchstaben angegeben: M. I. — Unvollstän- dige Metamorphose. M. €. — Vollständige Metamorphose (Vergl. Gen. Morph. II, S. XCIX). A. A. = -Gleichartige Flügel (Vorder- und Hinter- flügel im Bau und Gewebe nicht oder nur wenig verschieden. A.D. — Ungleichartige Flügel (Vorder- und Hinterflügel durch starke Differenzirung im Bau und Gewebe sehr verschieden). A. 0. — Ursprünglicher Mangel der Flügel (nur bei der ersten und ältesten Inseeten-Ordnung, den T’hysanura). Haeckel, Natürl. Schöpfungs-Gesch. $. Aufl. 33 Vierundzwanzigster Vortrag. Stammes-Geschichte der Chordathiere (Mantelthiere und Wirbelthiere). Die Schöpfungs-Urkunden der Wirbelthiere (Vergleichende Anatomie, Embryologie und Paläontologie). Das natürliche System der Wirbelthiere. Die vier Classen der Wirbelthiere von Linne und Lamarck. Vermehrung derselben auf acht Classen. Hauptelasse der Rohrherzen oder Schädellosen (Lanzetthiere). Blutsverwandtschaft der Schädellosen mit den Mantelthieren. Uebereinstimmung in der embryonalen Entwickelung des Amphioxus und der Aseidien. Ursprung des Wirbelthier-Stammes aus der Würmergruppe. Einheitliche Abstammung der Chordathiere. Ihr Kiemendarm. Beziehung zu den Enteropneusten (Eichelwurm oder Balanoglossus), und zu den Schnurwür- mern (Nemertlina). Divergente Entwickelung der Mantelthiere und Wirbelthiere. Die drei Classen der Mantelthiere (Tunicata): Copelaten, Asceidien und Thali- dien. Hauptelasse der Unpaarnasen oder Rundmäuler (Inger und Lampreten). Hauptelasse der Anamnien (Ichthyoten oder Amnionlosen). Fische (Urfische, Schmelzfische, Knochenfische). Lurchfische oder Dipneusten. Einlunger (Monopneumones) und Zweilunger (Dipneumones). Meine Herren! Unter den natürlichen Hauptgruppen der Organismen, welche wir wegen der Blutsverwandtschaft aller darin vereinigten Arten als Stämme oder Phylen bezeichnen, ist keine einzige von so hervorragender und überwiegender Bedeutung, als der Stamm der Wirbelthiere. Denn nach dem übereinstimmen- den Urtheil aller Zoologen ist auch der Mensch ein Glied dieses Stammes und kann seiner ganzen Organisation und Entwickelung nach unmöglich von den übrigen Wirbelthieren getrennt werden. Wir hatten aus der individuellen Entwickelungs-Geschichte des Menschen schon früher die unbestreitbare Thatsache kennen ge- lernt, dass derselbe in seiner Entwickelung aus dem Ei anfänglich nn XV. Die Schöpfungs-Urkunden der Wirbelthicre. 595 nicht von den übrigen Wirbelthieren, und namentlich den Säuge- thieren, verschieden ist; daraus müssen wir nothwendig mit Be- ziehung auf seine paläontologische Entwickelungs-Geschichte schliessen, dass das Menschengeschlecht sich historisch wirklich aus niederen Wirbelthieren entwickelt hat, und dass dasselbe zu- nächst von den Säugethieren abstammt. Nächst diesem Umstande wird aber auch das vielseitige höhere Interesse, das die Wirbel- thiere in anderer Beziehung vor den übrigen Organismen in An- spruch nehmen, es rechtfertigen, dass wir den Stammbaum der Wirbelthiere und dessen Ausdruck, das natürliche System, hier besonders genau untersuchen. Glücklicherweise sind die Schöpfungs-Urkunden, welche uns bei der Aufstellung der Stammbäume immer leiten müssen, grade für diesen wichtigen Thierstamm, aus dem unser eigenes Geschlecht entsprossen ist, besonders vollständig. Durch Cuvier ist schon im Anfange unseres Jahrhunderts die vergleichende Anatoinie und Paläontologie, durch Baer die Keimes-Geschichte der Wirbelthiere zu einer sehr hohen Ausbildung gelangt. Späterhin haben vor- züglich die vergleichend-anatomischen Untersuchungen von Jo- hannes Müller und Rathke, und in neuester Zeit diejenigen von Gegenbaur und Huxley, unsere Erkenntniss von den natür- lichen Verwandtschaftsverhältnissen der verschiedenen Wirbelthier- Gruppen bedeutend gefördert. Insbesondere haben die classischen Arbeiten von Gegenbaur, welche überall von dem Grundgedanken der Descendenz-Theorie durchdrungen sind, den Beweis geführt, dass das vergleichend-anatomische Material, wie bei allen übrigen Thieren, so ganz besonders im Wirbelthier-Stamm, erst durch die Anwendung der Abstammungs-Lehre seine wahre Bedeutung und Geltung erhält. Auch hier, wie überall, sind die Analogien auf die Anpassung, die Homologien auf die Vererbung zurück- zuführen. So sehen wir z. B., dass die homologen Gliedmaassen der verschiedensten Wirbelthiere trotz ihrer ausserordentlich un- gleichen äusseren Form dennoch wesentlich denselben inneren Bau besitzen; wir sehen, dass dem Arme des Menschen und des Affen, dem Flügel der Fledermaus und des Vogels, der Brustflosse der Walfische und der Seedrachen, den Vorderbeinen der Hufthiere 38” 596 Die Schöpfungs-Urkunden der Wirbelthiere. XXIV. und der Frösche immer dieselben Knochen, in derselben characte- ristischen Lagerung, Gliederung und Verbindung zu Grunde liegen. Diese wunderbare Uebereinstimmung oder Homologie können wir nur durch die gemeinsame Vererbung von einer einzigen Stammform erklären. Die auffallenden Unterschiede dieser homologen Körper- theile dagegen rühren von der Anpassung an verschiedene Exi- stenzbedingungen und Thätigkeiten her (vergl. Taf. IV, S. 400). Ebenso wie die vergleichende Anatomie ist auch die Onto- genie oder die individuelle Entwickelungs-Geschichte für den Stamm- baum der Wirbelthiere von ganz besonderer Wichtigkeit. Die ersten aus dem Ei entstehenden Entwickelungs-Zustände sind bei allen Wirbelthieren im Wesentlichen ganz gleich, und behalten um so länger ihre Uebereinstimmung, je näher sich die betreffen- den ausgebildeten Wirbelthier-Formen im natürlichen System, d. h. im Stammbaum, stehen. Wie weit diese Uebereinstimmung der Keimformen oder Embryonen selbst bei den höchst entwickelten Wirbelthieren noch jetzt geht, das habe ich Ihnen schon früher gelegentlich erläutert (vergl. S.239— 311). Die wesentliche Ueber- einstimmung in Form und Bau, welche z. B. zwischen den Em- bryonen des Menschen und des Hundes, des Vogels und der Schildkröte selbst noch in den auf Taf. II und III dargestellten Entwickelungszuständen besteht, ist eine Thatsache von unermess- licher Bedeutung und liefert uns die wichtigsten Anhaltspunkte zur Construction des Stammbaums. Endlich sind auch die paläontologischen Schöpfungs-Urkunden grade bei den Wirbelthieren von ganz besonderem Werthe. Denn die versteinerten Wirbelthierreste gehören grösstentheils dem knöchernen Skelete dieser Thiere an, einem Organsysteme, welches für das Verständniss ihres Organismus von der grössten Bedeutung ist. Allerdings ist auch hier, wie überall, die Versteinerungs- Urkunde äusserst unvollständig und lückenhaft. Allein immerhin sind uns von den ausgestorbenen Wirbelthieren wichtigere Reste im versteinerten Zustande erhalten, als von den meisten anderen Thiergruppen, und einzelne Trümmer geben oft die bedeutendsten Fingerzeige über das Verwandtschaftsverhältniss und die historische Aufeinanderfolge der verschiedenen Gruppen. BIXIV. Die vier Classen der Wirbelthiere von Linne. 597 Die Bezeichnung Wirbelthiere (Vertebrata) rührt, wie ich schon früher erwähnte, von dem grossen Lamarck her, welcher zuerst gegen Ende des vorigen Jahrhunderts unter diesem Namen die vier oberen Thierclassen Linne’s zusammenfasste: die Säuge- thiere, Vögel, Amphibien und Fische. Die beiden niederen Classen Linne’s, die Insecten und Würmer, stellte Lamarck den Wirbel- thieren als Wirbellose gegenüber (Invertebrata, später auch häufig Evertebrata genannt). Die Eintheilung der Wirbelthiere in die vier genannten Classen wurde auch von Cuvier und seinen Nachfolgern, und in Folge dessen von vielen Zoologen noch bis auf die Gegenwart festge- halten. Aber schon 1818 erkannte der ausgezeichnete Anatom Blainville aus der vergleichenden Anatomie, und fast gleich- zeitig unser grosser Embryologe Baer aus der Ontogenie der Wir- belthiere, dass Linne’s Classe der Amphibien eine unnatürliche Vereinigung von zwei ganz verschiedenen Classen sei. Diese bei- den Classen trennte 1520 Merrem als zwei Hauptgruppen der Amphibien unter den Namen der Pholidoten und der Batrachier. Die Batrachier, welche heutzutage gewöhnlich als Amphibien (im engeren Sinne!) bezeichnet werden, umfassen die Frösche, Salamander, Kiemenmolche, Cäcilien und die ausgestorbenen Stegocephalen. Sie schliessen sich in ihrer ganzen Organisation eng an die Fische an. Die Pholidoten oder Reptilien dagegen sind viel näher den Vögeln verwandt. Es gehören dahin die Ei- dechsen, Schlangen, Krokodile und Schildkröten, und die vielge- staltigen Formengrußpen der mesolithischen Drachen und See- drachen, der fliegenden Reptilien u. s. w. Im Anschluss an diese naturgemässe Scheidung der Amphibien in zwei Classen theilte man nun den ganzen Stamm der Wirbel- thiere in zwei Hauptgruppen. Die erste Hauptgruppe, die Fische und Amphibien, athmen entweder zeitlebens oder doch in der Jugend durch Kiemen, und werden daher als Kiemenwirbel- thiere bezeichnet (Branchiata oder Anallantoidia). Die zweite Hauptgruppe dagegen, Reptilien, Vögel und Säugethiere, athmen zu keiner Zeit ihres Lebens durch Kiemen, sondern ausschliesslich durch Lungen, und heissen deshalb auch passend kiemenlose oder 598 Eintheilung der Wirbelthiere in acht Classen. Xxova ne Lungenwirbelthiere (Ebranchiata oder Allantoidia). So richtig diese Unterscheidung auch ist, so können wir doch bei derselben nicht stehen bleiben, wenn wir zu einem wahren natürlichen System des Wirbelthierstammes, und zu einem naturgemässen Verständniss seines Stammbaums gelangen wollen. Vielmehr müssen wir dann, wie ich in meiner generellen Morphologie ge- zeigt habe, noch drei weitere Wirbelthier-Classen unterscheiden, indem wir die bisherige Fischelasse in vier verschiedene Classen auflösen (Gen. Morph. Bd. II, Taf. VII, S. CXVI—CLX). Die erste und niederste von diesen Classen wird durch die Schädellosen (Acrania) oder Rohrherzen (Leptocardia) gebil- det, von denen heutzutage nur noch ein einziger Repräsentant lebt, das merkwürdige Lanzetthierchen (Amphiowus lanceolatus). Als zweite Classe schliessen sich an diese zunächst die Unpaar- nasen (NMonorhina) oder Rundmäuler (Üyelostoma) an, zu denen die Inger (Myxinoiden) und die Lampreten (Petromyzonten) ge- hören. Die dritte Classe erst würden die echten Fische (Pisces) bilden und an diese würden sich als vierte Classe die Lurch- fische (Dipneusta) anschliessen: Uebergangsformen von den Fischen zu den Amphibien. Durch diese Unterscheidung, welche, wie Sie gleich sehen werden, für die Genealogie der Wirbelthiere sehr wichtig ist, wird die ursprüngliche Vierzahl der Wirbelthier- Classen auf das Doppelte gesteigert. Diese acht Classen der Wirbelthiere sind aber keineswegs von gleichem genealogischen Werthe. Vielmehr müssen wir dieselben aus wichtigen Gründen auf vier verschiedeffe Hauptelassen ver- theilen. Zunächst können wir die drei höchsten Classen, die Säugethiere, Vögel und Schleicher als eine natürliche Hauptelasse unter dem Namen der Amnionthiere (Amniota) zusammenfassen. Diesen stellen sich naturgemäss als eine zweite Hauptelasse die Amnionlosen (Anamnia) oder Fischthiere (Ichthyota) gegen- über, nämlich die drei Classen der Lurche, Lurchfische und Fische. Die genannten sechs (lassen, sowohl die Fischthiere als die Am- nionthiere, stimmen unter sich in zahlreichen wichtigen Merkmalen überein, und unterscheiden sich dadurch von den beiden niedersten Classen (den Unpaarnasen und Rohrherzen). Wir vereinigen sie IR IV. Systematische Uebersicht der acht Wirbelthierelassen. 599 daher in der natürlichen Hauptgruppe der Paarnasen (Amphi- rhina) oder Kiefermäuler (Gnathostoma). Endlich sind diese Paarnasen wiederum viel näher den Rundmäulern oder Unpaar- nasen, als den Schädellosen oder Rohrherzen verwandt. Wir können daher mit vollem Rechte die Paarnasen mit den Unpaar- nasen in einer obersten Hauptgruppe zusammenstellen und diese als Schädelthiere (Craniota) oder Centralherzen (Pachycardia) der einzigen Classe der Schädellosen oder Rohrherzen gegenüber- stellen. Durch diese, von mir in der generellen Morphologie vor- geschlagene Classification der Wirbelthiere wird es möglich, die wichtigsten genealogischen Beziehungen ihrer acht Classen einfach und klar zu übersehen. Das systematische Verhältniss dieser Gruppen zu einander lässt sich durch folgende Uebersicht kurz ausdrücken: A. Schädellose (Acrania) l. Rohrherzen 1. Leptocardia a. Unpaarnasen Kerr RL pe MH [ \ 2. Rundmäuler 2. Cyelostoma B. Monorhina Schädelthiere en ER Ir (Graniota) ee \ a: [ d. Fise — d. iScos Me ose 4. Lurchfische 4. Dipneusta oder Bi Anamnia | 3 5 re Amphi- j (Zehthyota) 5. Lurche 5. Amphibia Centralherzen rhna rn [ 6. Schleicher 6. Reptilia (Pachycardia) Ei ne 7. Vögel 7. Aves ! Amniota | 8. Säugethiere 8. Mammalia Auf der niedrigsten Organisationsstufe von allen uns bekannten Wirbelthieren steht der einzige noch lebende Vertreter der ersten Classe, das Lanzetfischehen oder Lanzetthierchen (Amphr- owus lanceolatus; Taf. XIII, Fig. B). Dieses höchst interessante und wichtige Thierchen, welches über die älteren Wurzeln unseres Stammbaumes ein überraschendes Licht verbreitet, ist offenbar „der letzte Mohikaner,“ der letzte überlebende Repräsentant einer formenreichen niederen Wirbelthier-Classe, welche während der Primordialzeit sehr entwickelt war, uns aber leider wegen des Mangels aller festen Skelettheile gar keine versteinerten Reste hinterlassen konnte. Das kleine Lanzetfischehen lebt heute noch 600 Schädellose. Lanzetthierchen oder Amphioxus. XRUVe weitverbreitet in verschiedenen Meeren, z. B. in der Ostsee, Nord- see, im Mittelmeere, gewöhnlich auf flachem Grunde im Sand ver- graben. Der Körper hat, wie der Name sagt, die Gestalt eines schmalen, an beiden Enden zugespitzten, lanzetförmigen Blattes. Erwachsen ist dasselbe etwa zwei Zoll lang, und röthlich schim- mernd, halb durchsichtig. Aeusserlich hat das Lanzetthierchen so wenig Aehnlichkeit mit einem Wirbelthier, dass sein erster Ent- decker, Pallas, es für eine unvollkommene Nachtschnecke hielt. Beine besitzt es nicht, und ebensowenig Kopf, Schädel und Gehirn. Das vordere Körperende ist äusserlich von dem hinteren fast nur durch die Mundöffnung zu unterscheiden. Aber dennoch besitzt der Amphioxus in seinem inneren Bau die wichtigsten Merkmale, durch welche sich alle Wirbelthiere von allen Wirbellosen unter- scheiden, vor allen den Axenstab und das Rückenmark. Der Axenstab (Chorda dorsalis) ist ein cylindrischer, vorn und hinten zugespitzter, gerader Knorpelstab, welcher die centrale Axe des inneren Skelets und die Grundlage der Wirbelsäule bildet. Un- mittelbar über diesem Axenstabe, auf der Rückenseite desselben, liegt das Rückenmark (Medulla spinalis), ebenfalls ursprünglich ein gerader, vorn und hinten zugespitzter, inwendig aber hohler Strang, welcher das Hauptstück und Centrum des Nervensystems bei allen Wirbelthieren bildet (Taf. XIX, Fig. 21—23). Bei allen Wirbelthieren ohne Ausnahme, auch den Menschen mit inbegriffen, werden diese wichtigsten Körpertheile während der embryonalen Entwickelung aus dem Ei ursprünglich in derselben einfachsten Form angelegt, welche sie beim Amphioxus ®eitlebens behalten. Erst später entwickelt sich durch Auftreibung des vorderen Endes aus dem Rückenmark das Gehirn, und aus der Chordascheide der das Gehirn umschliessende Schädel. Da bei dem Amphioxus diese beiden wichtigen Organe gar nicht zur Entwickelung gelangen, so können wir die durch ihn vertretene Thierclasse mit Recht als Schädellose (Acrania) bezeichnen, im Gegensatze zu allen übri- gen, den Schädelthieren (ÜUraniota). Gewöhnlich werden die Schädellosen Rohrherzen oder Röhrenherzen (Leptocardia) genannt, weil ein centralisirtes Herz noch fehlt, und das Blut durch die Zusammenziehungen der röhrenförmigen Blutgefässe Wagenschieber sc. Ascidia (A) und Amphioxus (B) Taf A Wagenschreber sc ) 4 DIOE >, RN XXIV. Stammverwandtschaft der Schädellosen und Seescheiden. 601 selbst im Körper umhergetrieben wird. Die Sahädelthiere, welche dagegen ein centralisirtes, beutelförmiges Herz besitzen, müssten dann im Gegensatz dazu Beutelherzen oder Gentralherzen (Pachycardia) genannt werden. Offenbar haben sich die Schädelthiere oder Centralherzen erst in späterer Primordialzeit aus Schädellosen oder Rohrherzen, welche dem Amphioxus nahe standen, allmählich entwickelt. Darüber lässt uns die Keimes-Geschichte der Schädelthiere nicht in Zweifel. Wo stammen nun aber diese Schädellosen selbst her? Diese wichtige Frage ist erst in der letzten Zeit ihrer Lösung näher gerückt worden. Aus den 1867 veröffentlichten Untersuchungen von Kowalewsky über die individuelle Entwickelung des Am- phioxus und derfestsitzenden Seescheiden (Ascidiae) aus dem Stamme der Mantelthiere (Tunicata) hat sich die überraschende That- sache ergeben, dass die Keimes-Geschichte dieser beiden ganz ver- schiedenen Thierformen in ihrer ersten Jugend merkwürdig über- einstimmt. Die frei umherschwimmenden Larven der Ascidien (Taf. XII, Fig. A) entwickeln die unzweifelhafte Anlage zum Rückenmark (Fig. 5g) und zum Axenstab-(Fig. De) und zwar ganz in derselben Weise, wie der Amphioxus (Taf. XI, Fig. B). Aller- dings bilden sie diese wichtigsten Organe des Wirbelthier-Körpers späterhin nicht weiter aus. Vielmehr gehen sie eine rückschrei- tende Verwandlung ein, setzen sich auf dem Meeresboden fest, und wachsen zu unförmlichen Klumpen aus, in denen man kaum noch bei äusserer Betrachtung ein Thier vermuthet (Taf. XII, Fig. A). Allein das Rückenmark, als die Anlage des Central- nervensystems, und der Axenstab, als die erste Grundlage der Wirbelsäule, sind so wichtige, den Wirbelthieren so ausschliesslich eigenthümliche Organe, dass wir daraus sicher auf die wirkliche Stamm-Verwandtschaft der Wirbelthiere mit den Mantel- thieren schliessen können. Natürlich wollen wir damit nicht sagen, dass die Wirbelthiere von den Mantelthieren abstammen, sondern nur, dass beide Gruppen aus gemeinsamer Wurzel ent- sprossen sind, und dass die Mantelthiere von allen Wirbellosen diejenigen sind, welche die nächste Blutsverwandtschaft zu den Wirbelthieren besitzen. Offenbar haben sich während der Primor- 602 Chordatbiere oder Chordonien. X dialzeit die echten Wirbelthiere aus wurmartigen Chordathieren (Chordonia) fortschreitend entwickelt, aus welchen nach einer an- deren, rückschreitenden Richtung hin die entarteten Mantelthiere hervorgingen. Vergl. die nähere Erklärung von Taf. XII und XIII im Anhang; sowie die ausführliche Darstellung des Amphioxus und der Ascidie im XIII. und XIV. Vortrage meiner Anthropogenie °°). Die grosse Gruppe der Chordathiere (Chordonia oder Chor- data), in welcher ich alle mit Chorda und Rückenmark versehenen Thiere vereinigt habe, wird dem entsprechend neuerdings als eine einheitliche Hauptgruppe der Coelomarien betrachtet. Die Wurzel derselben wird als eine gemeinsame angesehen und tief unten im Stamme der Helminthen gesucht (vergl. S. 539); denn man kann nicht annehmen, dass eine so eigenthümliche und ver- wickelte Einrichtung des Körperbaues mehrmals, unabhängig von einander entstanden sei. Die grosse monophyletische Gruppe selbst aber betrachten wir als einen Doppelstamm, da wir durch die beträchtliche Divergenz der Entwickelung zu der Ueberzeugung geführt werden, dass Manthelthiere und Wirbelthiere schon sehr frühzeitig oberhalb der gemeinsamen Stammwurzel sich getrennt haben, die ersteren langsam rückschreitend, die letzteren mächtig fortschreitend in der typischen Entwickelung. Die gemeinschaftlichen Grund-Charactere, in welchen alle Mantelthiere und Wirbelthiere übereinstimmen, und durch welche sich Beide von allen anderen Thieren durchgreifend unterscheiden, beschränken sich keineswegs auf den Besitz der Chorda und des Rückenmarks. Vielmehr gesellen sich dazu noch mehrere andere, nicht minder wichtige Merkmale. Das bedeutungsvollste von diesen ist der Kiemendarm, d.h. die Umbildung des Vorder- darms zu einem gegitterten, von Spalten durchbrochenen und zum Athmen dienenden Kiemenkorbe. Das Wasser, welches ursprüng- lich zur Athmung dient, tritt durch die Mundöffnung ein und durch die Kiemenspalten wieder aus. Unten in der Mitte des Kiemendarms liegt eine sehr characteristische Flimmerrinne, die „Hypobranchial-Rinne“ mit dem „Endostyl“. Bei den Mantelthieren und Schädellosen dient dieselbe als Drüsen-Canal und Sinnes- Organ; bei den Schädelthieren hingegen wird daraus die Schild- IRRUV: Abstammung der Chordonien von Helminthen. 603 drüse, jene vor dem Kehlkopf gelegene Drüse, welche krankhaft vergrössert beim Menschen den „Kropf“ oder Struma bildet. Eine ähnliche Einrichtung, und zwar die ursprünglichere Einrichtung des Kiemendarms, findet sich nur noch bei einem einzigen wirbel- losen Thiere, bei dem merkwürdigen Eichelwurm (Dalanoglossus). Da derselbe auch noch andere Spuren von Stammverwandtschaft mit den Chordonien zeigt, dürfen wir ihn als letzten Ueberrest einer uralten Würmerclasse betrachten, von der auch alle Chorda- thiere abstammen. Diese Classe hat Gegenbaur treffend als Darmathmer (Znteropneusta) bezeichnet. Der Stammbaum aller dieser darmathmenden Thiere, sowohl der Enteropneusten als der Chordonien, ist jedenfalls auf eine tiefer stehende Gruppe von Wurmthieren zurückzuführen; wahr- scheinlich stehen unter allen heute noch lebenden Helminthen die merkwürdigen Schnurwürmer (Nemertina) jener ausgestor- benen Stammgruppe am nächsten; ich habe deshalb in dem früher aufgestellten System der Helminthen die beiden Classen der En- teropneusten und Nemertinen in der Hauptelasse der Rüssel- würmer (Rhynchocoela) zusammengestellt (S. 539). Die älteren Vorfahren dieser Hauptelasse sind wieder unter den Platten- thieren (Platodes) zu suchen, wie sich aus der nahen Verwandt- schaft der letzteren mit den Nemertinen ergiebt. Die gemeinsame Stammform aller Chordathiere, welche dem Balanoglossus nächst verwandt war, ist längst ausgestorben. Wir wollen diese hypothetische Stammgruppe, die wahrscheinlich schon in laurentischer oder cambrischer Urzeit lebte, als Urchorda- thiere (Prochordata oder Prochordonia) bezeichnen. Als zwei divergirende Stämme gingen aus derselben einerseits die ältesten Mantelthiere (Copelata), anderseits die ältesten Wirbelthiere (Pro- vertebrata) hervor. Allen diesen ältesten Chordathieren waren folgende Eigenschaften gemeinsam: 1. ein einfacher Chordastab in der Längsaxe des langgestreckten, zweiseitig-symmetrischen Kör- pers; 2. ein Rückenmark oder Medullar-Rohr oberhalb der Chorda, auf der Rückenseite; 3. ein Darmrohr mit Mund und After, unter- halb der Chorda, auf der Bauchseite; 4. Kiemenspalten im Vor- derdarm; 5. eine ventrale Kiemenrinne (oder Hypobranchial-Rinne) 604 Mantelthiere oder Tunicaten. XATIWE in der Bauchlinie des Kiemendarms; 6. ein paar Coelomtaschen, zu beiden Seiten des Magendarms (oder Mitteldarms); 7. paarige Nephridien (oder Rohrnieren), welche innen in die Coelomhöhle, aussen durch die Leibeswand mündeten; 8. ein einfaches Bauch- herz, hinter den Kiemenspalten, an der Bauchseite des Vorderdarms. (Taf. XIX, Fig. 19—23). Diese gemeinsamen Character-Eigen- schaften der Urchordathiere wurden zum grösseren Theile durch Vererbung auf die beiden divergirenden Stämme der Tunicaten und Vertebraten übertragen, während sie zum kleineren Theile in jedem der beiden Stämme eigenthümlich umgebildet, theils fortschreitend, theils rückschreitend modifieirt wurden. Bei den Mantelthieren wurde insbesondere der Kiemendarm übermässig aus- gebildet, hingegen das dorsale Nervenrohr rückgebildet, ausserdem eine eigenthümliche äussere Mantelhülle entwickelt. Bei den Wirbelthieren umgekehrt wurde das Rückenmark und die Muskel- gliederung des Körpers höher ausgebildet, hingegen der Kiemen- darm rückgebildet, ausserdem aus der Chorda-Scheide ein eigen- thümliches Innen-Skelet entwickelt. Der Stamm der Mantelthiere (Tunicata) wurde früher bald zu den Mollusken, bald zu den Helminthen gestellt. Gegen- wärtig wird er mit Recht als eine wichtige selbstständige Haupt- gruppe der Coelomarien betrachtet und zunächst an die Wirbel- thiere angeschlossen. Alle Mantelthiere leben im Meere, wo die einen auf dem Boden festsitzen, die anderen frei umherschwimmen. Bei allen besitzt der ungegliederte Körper die Gestalt eines ein- fachen tonnenförmigen Sackes, welcher von einem dicken, oft knorpelähnlichen Mantel eng umschlossen ist. Dieser Mantel (Tunica) besteht aus derselben stickstofflosen Kohlenstoffverbin- dung, welche im Pflanzenreich als „Cellulose“ eine so grosse Rolle spielt und den grössten Theil der pflanzlichen Zellmembranen und somit auch des Holzes bildet. Auch in histologischer Beziehung ist der Mantel sehr merkwürdig; er besitzt die Structur des Binde- gewebes, obwohl er ursprünglich von der Oberhaut an ihrer Aussenfläche abgeschieden ist. Der grösste Theil des sackförmigen Mantelraumes (oft mehr als drei Viertel) wird von dem mächtigen Kiemendarm eingenommen. Unter demselben liegt das einfache BOXTV. Copelaten, Aseidien und Thalidien. 605 spindelförmige Herz, dessen Pulsation merkwürdiger Weise bestän- dig ihre Richtung wechselt; in bestimmten Zwischenräumen ab- wechselnd zieht sich das Herz bald in der Richtung von hinten nach vorn, bald umgekehrt zusammen. Die verschiedenen, ziemlich weit divergirenden Familien des Tunicaten-Stammes können wir auf drei Classen vertheilen, die Copelaten, Ascidien und Thalidien. Die erste und niederste Olasse bilden die kleinen Appendicarien (Copelata); sie haben die Gestalt und Bewegung von Kaulquappen, und schwimmen frei im Meere umher mittelst eines Ruderschwanzes, in dessen Mitte die permanente Chorda dorsalis liegt (Taf. XIX, Fig. 19). Bei der zweiten Classe, den Seescheiden oder Ascidien, ist der Ruderschwanz nur in früher Ju- gend zu finden, bei der frei schwimmenden Larve (Taf. XII, Fig. A5); später wirft ihn dieselbe ab; sie setzt sich fest und verkümmert in eigenthümlicher Weise. Bei der dritten Classe, den Salpaceen oder Thalidien (Salpa, Doliolum) ist der Ruderschwanz ganz verschwun- den; die Thiere bewegen sich schwimmend, indem sie Wasser in ihren tonnenförmigen Körper aufnehmen und wieder ausstossen. Die beiden Classen der Ascidien und Thalidien haben sich offenbar divergent aus einer gemeinsamen älteren Gruppe von ausgestorbenen Tunicaten entwickelt, von welchen die heutigen Copelaten (Appendicaria, Oecopleura) den letzten Ueberrest dar- stellen. Da diese letzteren die nächste Verwandtschaft zu den Urwirbelthieren besitzen, kann man sie auch mit diesen in der Stammgruppe der Prochordonia zusammenfassen. Von der Or- ganisation der Urwirbelthiere selbst, oder der Provertebrata, giebt uns noch heute der Amphioxus ein ziemlich getreues Bild. Doch ist bei der Beurtheilung der vergleichenden Anatomie dieser ältesten Chordathiere zu berücksichtigen, dass das Lanzetthierchen in manchen Beziehungen beträchtliche Rückbildungen, durch An- passung an seine eigenthümliche Lebensweise, erlitten hat. Als solche secundäre Erscheinungen niedriger Organisation, durch Degeneration entstanden, betrachten wir z. B. den Mangel des ventralen Herzens, der Nieren, der Gehörbläschen. Aber in den weitaus meisten und wichtigsten Beziehungen ist die niedere Or- ganisation des Amphioxus als eine primäre zu betrachten, als 606 Unpaarnasen oder Rundmäuler. XRUVa ein unschätzbares Urbild der „Provertebrata“, welches durch Ver- erbung uns bis heute erhalten geblieben ist. Aus den Schädellosen hat sich zunächst eine zweite niedere Classe von Wirbelthieren entwickelt, welche noch tief unter den Fischen steht, und welche in der Gegenwart nur durch die Inger (Myxinoiden) und Lampreten (Petromyzonten) vertreten wird. Auch diese Classe konnte wegen des Mangels aller festen Körper- theile leider eben so wenig als die Schädellosen’ versteinerte Reste hinterlassen. Aus ihrer ganzen Organisation und Keimes Geschichte geht aber deutlich hervor, dass sie eine sehr wichtige Mittelstufe zwischen den Schädellosen und den Fischen darstellt, und dass die wenigen noch lebenden Glieder derselben nur die letzten überlebenden Reste von einer gegen Ende der Primordialzeit ver- muthlich reich entwickelten Thiergruppe sind. Wegen des kiefer- losen, kreisrunden, zum Saugen verwendeten Maules, das die Inger und Lampreten besitzen, wird die ganze Classe gewöhnlich Rund- mäuler (CÜyelostoma) genannt. Man kann sie auch Unpaar- nasen (Monorhina) nennen; denn alle Cyclostomen besitzen ein einfaches unpaares Nasenrohr, während bei allen übrigen Wirbel- thieren (wieder mit Ausnahme des Amphioxus) die Nase aus zwei paarigen Seitenhälften, einer rechten und linken Nase, besteht. Wir konnten deshalb diese letzteren (Anamnien und Amnioten) auch als Paarnasen (Amphirhina) zusammenfassen. Die Paar- nasen besitzen sämmtlich ein ausgebildetes Kieferskelet (Oberkiefer und Unterkiefer), während dieses den Unpaarnasen ganz fehlt. Auch abgesehen von der eigenthümlichen Nasenbildung und dem Mangel der Kieferbildung unterscheiden sich die Unpaar- nasen von den Paarnasen noch durch viele andere Eigenthüm- lichkeiten. So fehlt ihnen namentlich ganz das wichtige sympa- thische Nervennetz der letzteren. Von der Schwimmblase und den beiden Beinpaaren, welche ursprünglich bei den Paarnasen in der ersten Anlage vorhanden sind, fehlt den Unpaarnasen (ebenso wie den Schädellosen) noch jede Spur. Es ist daher gewiss ganz gerechtfertigt, wenn wir sowohl die Monorhinen als die Schädel- losen gänzlich von den Fischen trennen, mit denen sie bis jetzt irrthümlich vereinigt waren. Uebrigens sind bei den Rundmäu- BROKITV.. Monorhinen oder Cyelostomen. 607 lern, ebenso wie beim Lanzetthierchen, nicht alle unvollkommenen und einfachen Einrichtungen im Körperbau als ursprüngliche, durch Vererbung von den Chordonier-Ahnen übertragene, zu betrachten; vielmehr ist ein Theil derselben wahrscheinlich erst später, durch Anpassung an die besondere Lebensweise dieser niedersten Wirbel- thiere entstanden, also als Folge von Rückbildung aufzufassen. Die erste genauere Kenntniss der Monorhinen oder Oyclosto- men verdanken wir dem genialen Berliner Zoologen Johannes Müller, dessen classisches Werk über die „vergleichende Ana- tomie der Myxinoiden“ die Grundlage unserer neueren Ansichten über den Bau der Wirbelthiere bildet. Er unterschied unter den Cyelostomen zwei verschiedene Gruppen, welchen wir den Werth von Unterclassen geben: Myxinoiden und Petromyzonten. Die erste Unterclasse sind die Inger oder Schleimfische (Hyperotreta oder My.xvinoida). Sie leben im Meere schmarotzend auf Fischen, in deren Haut sie sich einbohren (Mywine, Bdello- stoma). Im Gehörorgan besitzen sie nur einen Ringcanal, und ihr unpaares Nasenrohr durchbohrt den Gaumen. Höher ent- wickelt ist die zweite Unterclasse, die Lampreten oder Pricken (Hyperoartia oder Petromyzontia). Hierher gehören die allbekann- ten Flusspricken oder Neunaugen unserer Flüsse (Petromyzon flu- viatılis), deren Bekanntschaft Sie wohl Alle im marinirten Zu- stande schon gemacht haben. Im Meere werden dieselben durch die mehrmals grösseren Seepricken oder die eigentlichen Lam- preten (Petromyzon marinus) vertreten. Bei diesen Unpaarnasen durchbohrt das Nasenrohr den Gaumen nicht, und im Gehörorgan finden sich zwei Ringcanäle. Auch sie besitzen einen runden Saugmund mit Hornzähnen, durch den sie sich, Blutegeln ähnlich, an Fischen ansaugen. Diese parasitische Lebensweise der Cyelo- stomen ist offenbar die Ursache mancher Rückbildung in ihrer Organisation; allein die meisten Unterschiede derselben von den Fischen sind als ursprüngliche, von der älteren Stammgruppe ererbte aufzufassen. Die Ansicht einzelner Zoologen, dass die Cyelostomen und Acranier degenerirte Fische seien, wird durch keine einzige Thatsache der vergleichenden Anatomie und Onto- genie gestützt. 608 System der Wirbelthiere oder Vertebraten. XraW Systematische Uebersicht über die Hauptelassen, Classen und Unterelassen der Wirbelthiere. (Gen. Morph. Bd. II, Taf. VII, S. CXVI—CLX.) I. Schädellose (Acrania) oder Rohrherzen (Leptocardia) Wirbelthiere ohne Kopf, ohne Schädel und. Gehirn, ohne centralisirtes Herz. Urwirbelthiere 1. Provertebrata 1. Schädellose I. Rohrherzen f 1. l 2. Lanzetthiere 2. Amphioxida Acrania Leptocardia II. Schädelthiere (Craniota) oder Centralherzen (Pachycardia) Wirbelthiere mit Kopf, mit Schädel und Gehirn, mit centralisirtem Herzen. Hauptelassen Classen | Unterclassen | Systematischer der der der Name der Schädelthiere Schädelthiere Schädelthiere Unterelassen 3. Inger oder ö. Hyperotreta 2. Unpaarnasen In. Rundmänuler Monorhina | Oyclostoma Schleimfische (Myxinoida) 4. Lampreten 4. Hyperoartia . Kloakenthiere 22. Monotrema . Beutelthiere 23. Marsupialia +. Placentalthiere 24. Placentalia fe) R) 0 1. Kielvögel 21. Carinatae VII. Säugethiere[: 22 {3} 4 Mammalia | oder Pricken (Petromyzontia) III. Fische [ 9. Urfische >. Selaehii re 6. Schmelzfische 6. Ganoides Pisces | 7. Knochenfische 7. Teleostei IV. Lurebhfi schef 8. Einlunger 8. Monopneu- 3. Amnionlose Di | mones E ıpneusta | 9. Zweilunger 9. Dipneumones Anamnia 2 10. Panzerlurche 10. Stegocephala V. Lurche In. Schlangen- ll. Gymnophiona IN lurche Amphibia I Schwanzlurche 12. Urodela 13. Froschlurche 13. Batrachia bey. h hi Land-Reptilien 14. Geosauria VI. Schleicher 15. See-Reptilien 15. Halisauria Reptilia [8 Schildkröten 16. Chelonia 17. Flug-Reptilien 17. Pterosauria 4. Amnionthiere VIL Vögel | 18. Urvögel 18. Saururae & ‘ "UUTE J19. Zahnvögel 19. Odontornithes Amniota Er E . Straussvögel 20. Ratitae a XXIV. Stammbaum der Wirbelthiere oder Vertebraten. 609 8. Säugethiere Mummalia 7. Vögel (Aves) | 6. SEhTeher Renee) Zweilunger Dipneumones. Zetreer eu, Proreptilia (Protamnia) Amnionthiere (Amniota) Einlunger Monopneumones Kammfische 5. Lurche Ctenodipterini Amphibia Knochenfische Teleostei nn nun 4. Lurchfische Dipneusta m nn om Schmelzfische (Ganoides ) Pricken Petromyzontes Urfische Selachit 3. Fische (Pisces) Inger Myzinoida | Kiefermäuler We SE ) Gnathostoma 2. Rundmäuler Cyelostoma N re) Schädelthiere (Craniota) Mantelthiere Ren Tunicata L en _— eptocardia Thalidiae Aseidiae Urwirbelthiere | Provertebrata — m | Copelata Schädellose (Acrania) | Wirbelthiere (Vertebrata) Eichelwürmer Ennteropneusta | Chordathiere (Chordonia) | Wurmthiere (Helminthes) | Plattenthiere (Platodes ) Gastraea Haeckel, Natürl. Schöpfungs-Gesch. 98. Aufl. 39 610 Paarnasen oder Kiefermäuler. xx Alle Wirbelthiere, welche jetzt noch leben, mit Ausnahme der eben betrachteten Rundmäuler und des Amphioxus, gehören zu derjenigen Hauptgruppe, welche wir als Paarnasen (Amphi- rhina) oder Kiefermäuler (Gnathostoma) bezeichnen. Alle diese Thiere besitzen eine aus zwei paarigen Seitenhälften bestehende Nase, ein Kieferskelet, ein sympathisches Nervennetz und drei Ringcanäle im Gehörorgan. Alle Paarnasen besitzen ferner ur- sprünglich eine blasenförmige Ausstülpung des Schlundes, welche sich bei den Fischen zur Schwimmblase, bei den übrigen Kiefer- mäulern zur Lunge entwickelt hat. Endlich ist ursprünglich bei allen Paarnasen die Anlage zu zwei Paar Extremitäten oder Glied- maassen vorhanden, ein Paar Vorderbeine oder Brustflossen und ein Paar Hinterbeine oder Bauchflossen. Allerdings ist bisweilen das eine Beinpaar (z. B. bei den Aalen und Walfischen) oder beide Beinpaare (z. B. bei den Caecilien und Schlangen) verküm- mert oder verloren gegangen; aber selbst in diesen Fällen ist wenigstens die Spur ihrer ursprünglichen Anlage in früher Em- bryonalzeit zu finden, oder es bleiben unnütze Reste derselben als rudimentäre Organe durch das ganze Leben bestehen (vergl. S.13, 283 und 510, Taf. XIX, Fig. 21—23). Aus allen diesen wichtigen Anzeichen können wir mit voller Sicherheit schliessen, dass sämmtliche Kiefermäuler von einer einzigen gemeinschaftlichen Stammform abstammen, welche wäh- rend der Primordialzeit direct oder indirect sich aus den Rund- mäulern entwickelt hatte. Diese Stammform muss die eben an- geführten Organe, namentlich auch die Anlage zur Schwimmblase und zu zwei Beinpaaren oder Flossenpaaren besessen haben. Von allen jetzt lebenden Gnathostomen besitzen offenbar die nieder- sten Formen der Haifische die nächste Verwandtschaft mit jener längst ausgestorbenen, unbekannten, hypothetischen Stammgruppe, welche wir als Stamm-Paarnasen oder Vorfische (Proselachit) bezeichnen können. Wir dürfen daher die Gruppe der Urfische oder Selachier, in deren Rahmen diese Proselachier hineinge- passt haben, als die Stammgruppe nicht allein für die Fisch- classe, sondern für die ganze Hauptelasse der Paarnasen betrach- ten. Den sicheren Beweis dafür liefern die „Untersuchungen zur XXIV. Drei Unterelassen der Fische. 611 vergleichenden Anatomie der Wirbelthiere“ von Carl Gegen- baur, welche sich ebenso durch die sorgfältigste Beobachtung, wie durch die scharfsinnigste Reflexion auszeichnen. Die Classe der Fische (Pisces), mit welcher wir demgemäss die Reihe der Gnathostomen beginnen, unterscheidet sich von den übrigen fünf Classen dieser Reihe vorzüglich dadurch, dass die Schwimmblase niemals zur Lunge entwickelt, vielmehr nur als hydrostatischer Apparat thätig ist. In Uebereinstimmung damit finden wir den Umstand, dass die Nase bei den Fischen durch zwei blinde Gruben vorn auf der Schnauze gebildet wird, welche niemals den Gaumen durchbohren und also nicht in die Rachen- höhle münden. Dagegen sind die beiden Nasenhöhlen bei den übrigen sechs Classen der Kiefermäuler zu Luftwegen umgebildet, welche den Gaumen durchbohren und so den Lungen Luft zu- führen. Die echten Fische (nach Ausschluss der Dipneusten) sind demnach die einzigen Paarnasen, welche ausschliesslich durch Kie- men und niemals durch Lungen athmen. Sie leben dem ent- sprechend alle im Wasser, und ihre beiden Beinpaare haben die ursprüngliche Form von rudernden Flossen beibehalten. Ihr Herz, in eine Vorkammer und in eine Kammer getheilt, enthält nur venöses oder carbonisches Blut, wie bei den Cyclostomen. Aus den Körper-Venen in das Herz geführt, wird das Blut von dort unmittelbar in die Kiemen getrieben (Ichthyocardia, S. 618). Die echten Fische werden gegenwärtig in drei verschiedene Unterelassen eingetheilt, in die Urfische, Schmelzfische und Knochenfische. Die ältesten Fische, welche die ursprüngliche Form am getreuesten bewahrt haben, sind die Urfische (Selachii). Davon leben heutzutage noch die Haifische (Squalacei) und Rochen (Rajacei), welche man als Quermäuler (Plagiostomi) zusammen- fasst, sowie die seltsamen und abenteuerlich gestalteten Seekatzen oder Chimären (Holocephali). Aber diese Urfische der Gegen- wart, welche in allen Meeren vorkommen, sind nur schwache Reste von der gestaltenreichen und herrschenden Thiergruppe, welche die Selachier in früheren Zeiten der Erdgeschichte, und namentlich während der paläolithischen Zeit, bildeten. Leider besitzen alle Urfische ein knorpeliges, niemals vollständig ver- 39* Legionen und Ordnungen der Fische. Systematische Uebersicht XXIV. der sieben Legionen und fünfzehn Ordnungen der Fischelasse. Legionen Unterelassen Ordnungen Beispiele der der der aus den Fischelasse. Fischelasse. Fischelasse. Ordnungen. l. Haifische Stachelhai, A I. Quermäuler | Squalacei Menschenhai Urfi j h Plagiostomi | 2. Rochen Stachelrochen, Dar 2 Rajacei Zitterrochen Selachii RAN a II. Seekatzen f 3. Seekatzen Chimären, Ka- Holocephali \ Chimaeracei lorrhynchen | 4. Schildkröten- Osalkalen \ 'ephalaspiden, III. Gepanzerte fische - 3 Pteraspiden Schmelzfische ° Placodermi - Tabuliferi | 5. Störfische Löffelstör, Stör, Sturiones Hausen 6. Schindellose Rhombolepiden B. Efuleri Pflasterzähner Schmelzfische IV. Eckschuppige 7. Schindelflossige Paläonisken, Sehmelzfische, : E Ganoides Fulerati Knochenhechte Rhombiferi i a 8. Fahnenflossige Afrikanischer Semaeopteri Flösselhecht V. Rund- 9. Quastenflosser Holoptychier, schuppige | Orossopterygü Coelacanthiden Schmelzfische | 10. Häringsganoiden Coceolepiden, Oycliferi Amiades Leptolepiden Ma S x: ll. Häringsartige Häringe, Lachse, Hachermiiiinft: Thrissogenes Karpfen, Welse AR SER: Aale, Schl S 2 wimmblase in atage en; Ennchelygenes aale, Zitteraale R Physostomi 13. Reihenkiemer Barsche, Lipp- Knochenfische VII. Knochen- i ne Be n pP Teleostei j h Stichobranchü fische, Dorsche fische ohne Luft- we ! 14. Heftkiefer Kofferfische, ee DA: hi Igelfisch Schwimmblase we See Physochsti 15. Büschelkiemer Seenadeln, Lophobranchü Seepferdehen XXIV. Stammbaum der amnionlosen Schädelthiere. 613 Anura Plectognathi zer | Salamandrina Lophobranchii | Et 1. ee] Labyrinthodonta Cryptobranchia Stichobranchii | Physoelisti EEE Perennibranchia Stegocephala Lissamphibia Enchelygenes Phractamphibia a Thrissogenes Amphibia Physostomi Teleostei Semaeopteri Dipneumones Fulerati Thrissopides RT Ctenodipterini CHR er Amiades Efuleri - Rhombiferi Zipneusk uzeu Crossopterygii (?) Sturiones Cephalaspides Cyeliferi | m Placodermi Tabuliferi Ganoides Rajacei öqnalacei | Chimaeracei Holocephali Plagiostomi | Selachi Pisces Amphirhina Cyclostoma Monorhina | Craniota Acrania 614 Urfische oder Selachier. XXIV. knöchertes Skelet, welches der Versteinerung nur wenig oder gar nicht fähig ist. Die einzigen harten Körpertheile, welche in fos- silem Zustande sich erhalten konnten, sind die Zähne und die Flossenstacheln. Diese finden sich aber in solcher Menge, Man- nichfaltigkeit und Grösse in den älteren Formationen vor, dass wir daraus mit Sicherheit auf eine höchst beträchtliche Entwicke- lung der Urfische in jener altersgrauen Vorzeit schliessen können. Sie finden sich sogar schon in den silurischen Schichten, welche von anderen Wirbelthieren nur wenige Reste von Schmelzfischen einschliessen. Von den drei Ordnungen der Urfische sind die bei weitem wichtigsten und interessantesten die Haifische, welche wahrscheinlich unter allen lebenden Paarnasen der ursprünglichen Stammform der ganzen Gruppe, den Proselachiern, am nächsten stehen. Aus diesen Proselachiern, welche von echten Haifischen wohl nur wenig verschieden waren, haben sich wahrscheinlich nach einer Richtung hin die heutigen Urfische und Holocephalen, nach einer anderen Richtung hin die Schmelzfische, die Dipneusten und die höher aufsteigenden Amphibien entwickelt. Die Schmelzfische (@anoxdes) stehen in anatomischer Be- ziehung vollständig in der Mitte zwischen den Urfischen einer- seits und den Knochenfischen andrerseits. In vielen Merkmalen stimmen sie mit jenen, in vielen anderen mit diesen überein. Wir ziehen daraus den Schluss, dass sie auch genealogisch den Uebergang von den Urfischen zu den Knochenfischen vermittelten. In noch höherem Maasse als die Urfische sind auch die Ganoiden heutzutage grösstentheils ausgestorben, wogegen sie während der ganzen paläolithischen und mesolithischen Zeit in grosser Man- nichfaltigkeit und Masse entwickelt waren. Nach der verschie- denen Form der äusseren Hautbedeckung theilt man die Schmelz- fische in drei Legionen: Gepanzerte, Eckschuppige und Rund- schuppige. Die gepanzerten Schmelzfische (Tabuliferi) sind die ältesten und schliessen sich unmittelbar an die Selachier an, aus denen sie entsprungen sind. Fossile Reste von ihnen finden sich, obwohl selten, bereits im oberen Silur vor (Pteraspis luden- sis aus den Ludlowschichten). Riesige, gegen 30 Fuss lange Ar- ten derselben, mit mächtigen Knochentafeln gepanzert, finden sich XXIV. Schmelzfische oder Ganoiden. 815 namentlich im devonischen System. Heute aber lebt von dieser Legion nur noch die kleine Ordnung der Störfische (Sturiones), nämlich die Löffelstöre (Spatularides) und die Störe (Accipense- rides); zu diesen gehört u. A. der Hausen, welcher uns den Fisch- leim oder die Hausenblase liefert, der Stör und Sterlet, deren Eier wir als Caviar verzehren u.s. w. Aus den gepanzerten Schmelzfischen haben sich wahrscheinlich als zwei divergente Zweige die eckschuppigen und die rundschuppigen entwickelt. Die eckschuppigen Schmelzfische (Rhombiferi), welche man durch ihre viereckigen oder rhombischen Schuppen auf den ersten Blick von allen anderen Fischen unterscheiden kann, sind heut- zutage nur noch durch wenige Ueberbleibsel vertreten, nämlich durch den Flösselhecht (Polypterus) in afrikanischen Flüssen (vor- züglich im Nil), und durch den Knochenhecht (ZLepidosteus) in amerikanischen Flüssen. Aber während der paläolithischen und der ersten Hälfte der mesolithischen Zeit bildete diese Legion die Hauptmasse der Fische. Weniger formenreich war die dritte Legion, die rundschuppigen Schmelzfische (Üychiferi), welche vorzugsweise während der Devonzeit und Steinkohlenzeit lebten. Jedoch war diese Legion, von der heute nur noch der Kahlhecht (Amia) in nordamerikanischen Flüssen übrig ist, insofern sehr interessant, als zu derselben zwei wichtige Uebergangs-Gruppen gehören; einerseits die Quastenflosser (Crossopterygü), welche sich an die Dipneusten anschliessen; anderseits die Härings- Ganoiden (Amiades und Leptolepides), aus welchen sich die dritte Unterclasse der Fische, die der Knochenfische, entwickelte. Die Knochenfische (Teleostei) bilden in der Gegenwart die Hauptmasse der Fischelasse. Es gehören dahin die allermeisten Seefische, und alle unsere Süsswasserfische, mit Ausnahme der eben erwähnten Schmelzfische. Wie zahlreiche Versteinerungen deutlich beweisen, ist diese Classe erst um die Mitte des meso- lithischen Zeitalters aus den Schmelzfischen, und zwar aus den rundschuppigen oder Cycliferen entstanden. Die Thrissopiden der Jurazeit ( Thrissops, Leptolepis, Tharsis), welche unseren heutigen Häringen am nächsten stehen, sind wahrscheinlich die ältesten von allen Knochenfischen, und unmittelbar aus den rundschuppi- 616 Knochenfische oder Teleostier. BONIV- gen Schmelzfischen, welche der heutigen Amia nahe standen, her- vorgegangen. Bei den älteren Knochenfischen, den Physostomen, war ebenso wie bei den Ganoiden die Schwimmblase noch zeit- lebens durch einen bleibenden Luftgang (eine Art Luftröhre) mit dem Schlunde in Verbindung. Das ist auch heute noch bei den zu dieser Gruppe gehörigen Häringen, Lachsen, Karpfen, Welsen, Aalen u. s. w. der Fall. Während der Kreidezeit trat aber bei einigen Physostomen eine Verwachsung, ein Verschluss jenes Luft- ganges ein, und dadurch wurde die Schwimmblase völlig von dem Schlunde abgeschnürt. So entstand die zweite Legion der Knochen- fische, die der Physoklisten, welche erst während der Tertiär- zeit ihre eigentliche Ausbildung erreichte, und bald an Mannich- faltigkeit bei weitem die Physostomen übertraf. Es gehören hier- her die meisten Seefische der Gegenwart, namentlich die umfang- reichen Familien der Dorsche, Schollen, Thunfische, Lippfische, Umberfische u. s. w., ferner die Heftkiemer (Kofferfische und Igel- fische) und die Büschelkiemer (Seenadeln und Seepferdchen). Da- gegen sind unter unseren Flussfischen nur wenige Physoklisten, z. B. der Barsch und der Stichling; die grosse Mehrzahl der Fluss- fische sind Physostomen. Zwischen den echten Fischen und den Amphibien mitten inne steht die merkwürdige Classe der Lurchfische oder Dop- pelathmer (Dipneusta, Dipnoi oder Protopteri). Davon leben heute nur noch wenige Repräsentanten, nämlich der amerikanische Molchfisch (Lepidosiren paradoxa) im Gebiete des Amazonen- stroms, und der afrikanische Molchfisch (Protopterus annectens) in verschiedenen Gegenden Afrikas. Ein dritter grosser Molch- fisch (Ceratodus Forsteri) ist 1570 in Australien entdeckt worden. Während der trockenen Jahreszeit, im Sommer, vergraben sich diese seltsamen Thiere in dem eintrocknenden Schlamm in ein Nest von Blättern, und athmen dann Luft durch Lungen, wie die Amphibien. Während der nassen Jahreszeit aber, im Winter, leben sie in Flüssen und Sümpfen, und athmen Wasser durch Kiemen, gleich den Fischen. Aeusserlich gleichen sie gewöhn- lichen Fischen, und sind wie diese mit runden Schuppen bedeckt; auch in manchen Eigenthümlichkeiten ihres inneren Baues, des NEE RTV: Lurchfische oder Dipneusten. 617 Skelets, der Extremitäten etc. gleichen sie mehr den Fischen, als den Amphibien. In anderen Merkmalen dagegen stimmen sie mehr mit den letzteren überein, vor allen. in der Bildung der Lungen, der Nase und des Herzens. Aus diesen Gründen herrscht unter den Zoologen ein ewiger Streit darüber, ob die Lurchfische eigentlich Fische oder Amphibien seien. In der That sind sie wegen der vollständigen Mischung des Characters weder das eine noch das andere, und werden wohl am richtigsten als eine be- sondere Wirbelthier-Classe aufgefasst, welche den Uebergang zwi- schen jenen beiden Classen vermittelt. Wenn man die Dipneusten, wie es jetzt meistens geschieht, zu den Fischen stellt, so verliert man für die klare Definition dieser Classe die wichtigsten Merkmale, die typische Bildung des Fischherzens und den Mangel der Lunge. Unter den heute noch lebenden Dipneusten besitzt Cerato- dus eine einfache unpaare Lunge (Monopneumones), während Pro- topterus und Lepidosiren ein Paar Lungen haben (Dipneumones). Auch in anderen Beziehungen zeigt Ceratodus Spuren von höherem Alter, als die beiden anderen. Alle drei Gattungen sind jeden- falls uralt, und die letzten überlebenden Reste einer vormals formenreichen Gruppe. Wohlerhaltene fossile Abdrücke derselben, namentlich die sehr characteristischen Zähne von Ceratodus, Üteno- dus, Dipterus und verwandten Gattungen, sind neuerdings häu- figer in paläozoischen Formationen, im Devon und der Steinkohle, wie auch später gefunden worden. Man fasst diese fossilen Dipneusten in der Gruppe der Ctenodipterina zusammen (Üteno- dinen und Dipterinen). Sie schliessen sich einerseits unmittelbar an die Quastenflosser (Urossopterygia) unter den Ganoiden an, andererseits an die Chimaeren (Holocephala) unter den Urfischen. Wahrscheinlich sind dieselben, wie der heute noch lebende Cera- todus, mit einer unpaaren Lunge versehen gewesen, entstanden aus der Schwimmblase jener alten Ganoiden. Erst später werden aus diesen Monopneumonen die jüngeren Dipneumonen hervor- gegangen sein, indem sich die einfache Lunge in ein paar Lungen- säcke spaltete. Diese letzteren wurden dann die Stammväter der Amphibien, indem sich ihre vielstrahligen Fischflossen in fünf- zehige Kriech-Füsse verwandelten. (Vergl. den folgenden Vortrag.) 6185 Herzbildung und Fussbildung der Wirbelthiere. XXIV. Uebersicht über die acht Wirbelthier-Classen mit Bezug auf die Herzbildung und Fussbildung. Herzbildung der Wirbelthiere. der Wirbelthiere. Acht Classen Unterelassen der Wirbelthiere. ‚der Wirbelthiere. Fussbildung I. Hauptgruppe: Rohrherzen. Leptocardia. Kaltblütige Wir- fachem oder ein- kammerigem Her- zen, gefüllt mit car- bonischem Blut. ll. Hauptgruppe: Fischherzen. Ichthyocardia. Kaltblütige Wirbel- thiere mitzweikam- merigem Herzen (1 Vorkammer und 1 Hauptkammer). Herzblut carbo- nisch. III. Hauptgruppe: Lurchherzen. Amphicardia. Kaltblütige Wirbel- 1 Hauptkammer). Herzblut gemischt. IV. Hauptgruppe: Warmherzen. Thermocardia. Warmblütige Wir- belthiere mit vier- kammerigem und zweitheiligem Her- zen (2 Vorkammern und 2 Hauptkam- mern). — Linkes Herz mit oxydi- schem, rechtes mit carbonischem Blut. belthiere mit } thiere mit dreikam- . merigem Herzen (2 Vorkammern und 1 . Schädellose | Aerania E 3. Rundmäuler CGyelostoma 12 3. Fische Pisces i | . Lurchfische Dipneusta [’ 1 5. Lurche | Amphibia ie 6. Sehleicher Reptilia 1 1. Vögel Aves 2 8. Säuger Mammalia 18 . Urwirbelthiere Provertebrata Amphioxinen Cephalochorda Urschädelthiere Procraniota 3eutelkiemer Marsipobranchu . Urfische Selachü 2. Schmelzfische Ganoides 3. Knochenfische Teleostei . Einlunger Monopneumones . Zweilunger Dipneumones . Panzerlurche Phractamphibia 2. Nacktlurche Lissamphibia . Land-Reptilien Geosauria 2. See-Reptilien Hydrosauria 3. Schildkröten Chelonia . Flug-Reptilien Pterosauria . Eidechsen- schwänzige Saururae 2. Vogelschwän- zige Ornithurae . Gabelthiere Monotrema 2. Beutelthiere Marsupialia 3. Placentalthiere Placentalhia I. Hauptgruppe: Vertebrata adactylia (impinnata). Wirbelthiere ohne paarige Glied- maassen. II. Hauptgruppe: Vertebrata polydaetylia (pinnifera). Ursprünglich zwei paar Flossen, jede mit vielen Fingern oder Flossen- strahlen. III. Hauptgruppe: Vertebrata pentadactylia (pentanomia ). Ursprünglich zwei paar Beine, jedes mit Drei - Gliede- rung (Oberschen- kel, Unterschenkel, Fuss), und mit fünf Fingern oder Zehen an jedem Fuss. ; Verwandlung des Wirbelthier-Herzens. 619 Fr {=} Die wichtigste innere Veränderung, welche mit der Verwand- lung der Schwimmblase in die Lunge sich verknüpfte, war die Theilung der Herzvorkammer in zwei Vorkammern. Während das Fischherz bloss venöses oder carbonisches Blut enthielt (Zchthyo- cardia), trat dazu nun aus den Lungen noch arterielles oder oxy- disches Blut; beide Blutarten mischten sich in der Kammer des Herzens. Durch diesen sehr wichtigen Fortschritt der Organisation entfernen sich die Dipneusten von ihren Vorfahren, den Fischen, und bilden unmittelbar den phylogenetischen Uebergang zu den Amphibien. Auch bei den Reptilien besteht noch dieselbe Herz- bildung, so dass man diese drei Classen unter dem Begriffe der Am- phicardia vereinigen kann. Erst bei den höchsten beiden Wirbel- thier-Classen, den Vögeln und Säugethieren, theilt sich das ganze Herz in zwei getrennte Hälften; die rechte Hälfte enthält nur venöses, die linke nur arterielles Blut; diese beiden Classen sind daher warmblütig (Thermocardia, S. 618). Das Herz des Embryo durchläuft bei jedem dieser höheren Wirbelthiere noch heute dieselbe Stufenreihe der Verwandlung, welche das Herz ihrer Vorfahren im Laufe der grossen paläonto- logischen Zeiträume langsam durchmessen hat. Auch unser mensch- liches Herz entwickelt sich in derselben Weise und liefert so seinerseits einen neuen Beweis für unsere Vertebraten-Abstammung und für das biogenetische Grundgesetz. Fünfundzwanzigster Vortrag. Stammes-Geschichte der Amphibien und Amnioten. Fünfzahl der Finger (oder Pentadactylie) bei den vier höheren Wirbel- thier-Classen (Amphibien und Amnioten). Ihre Bedeutung für das Deeimal- System. Ihre Entstehung aus der polydactylen Fischflosse. Gliederung der fünfzehigen Extremität in drei Hauptabschnitte. Lurche oder Amphibien. Panzerlurche (Stegocephalen und Peromelen). Nacktlurche (Urodelen und Anuren). Hauptelasse der Amnioten oder Amnion-Thiere. Bildung des Am- nion und der Allantois. Verlust der Kiemen. Protamnion (in der permischen Periode). Spaltung des Amnioten-Stammes in zwei Aeste (Sauropsiden und Mammalien). Reptilien. Stammgruppe der Tocosaurier (Ur-Eidechsen). See- drachen (Plesiosauren und Ichthyosauren) Eidechsen, Schlangen und Crocodile. Schildkröten (Chelonier). Flugdrachen (Pterosaurier). Drachen und Lind- würmer (Dinosaurier). Abstammung der Vögel von vogelbeinigen Sauriern (Ornithoscelides). Die Ordnungen der Vögel. Urvögel, Zahnvögel, Strauss- vögel, Kielvögel. Fürbringer’s Vogel-System und stereometrische Stamm- bäume. Meine Herren! Die bekannte Erscheinung, dass kleine Ur- sachen oft unverhältnissmässig grosse Wirkungen hervorbringen, findet auch in der Stammes-Geschichte der Thiere allenthalben ihre Bestätigung. Kleine und an sich unbedeutende Veränderungen der Organisation, welche eine Thierform durch Anpassung an bestimmte neue Lebens-Bedingungen erwirbt, können derselben im Kampf um’s Dasein zum grössten Vortheil gereichen; und in- dem dieselben durch Vererbung auf eine lange Reihe von Gene- rationen übertragen werden, können sie die weitreichendsten Wir- kungen hervorbringen. Sehr häufig vermögen wir den praktischen, durch Anpassung bewirkten Vortheil einer neuen Einrichtung im Körperbau nicht einzusehen; aber die Thatsache, dass sich die- BEXV. Ursprung des Deeimal-Systems. 621 selbe auf grosse Gruppen divergenter Nachkommen constant ver- erbt, bezeugt hinreichend ihre hohe phylogenetische Bedeutung. Einem auffallenden Beispiele dieser Art begegnen wir in der Stammes-Geschichte der Wirbelthiere an dem historischen Wende- punkte, bei welchem wir jetzt angelangt sind. Die niederen Vertebraten, deren Phylogenie wir bisher betrachteten, lebten im Wasser, athmeten durch Kiemen und bewegten sich durch Flossen; bei allen Fischen sind die zwei Flossen-Paare ursprünglich viel- zehige Gliedmaassen, polydactyl. Die höheren Wirbelthiere hin- gegen, zu denen wir uns jetzt wenden, leben grösstentheils auf dem Lande, athmen Luft durch Lungen und besitzen zwei Paar Gliedmaassen, welche fünfzehig sind, pentadactyl. Der Ueber- gang vom Wasserleben der Fische zum Landleben der höheren Wirbelthiere, welcher schon von den Dipneusten begonnen wurde, ruft zunächst bei den Amphibien die wichtigsten Veränderungen in den Organen der Athmung und des Blutkreislaufs hervor. Er bewirkt aber gleichzeitig auch Veränderungen im Bau der Glied- maassen, welche später die grösste Bedeutung erlangen. Eine von diesen Veränderungen, die Verminderung der zahlreichen Flossenstrahlen in jeder Flosse auf fünf, erscheint an sich sehr unbedeutend und gleichgültig; und dennoch wird heute ein wich- tiger Theil unseres menschlichen Cultur-Lebens von diesem zu- fälligen Reductions-Process beherrscht. Das Decimal-System, welches unsere ganze Zeitrechnung bestimmt, und welches neuerdings auch in Münze, Maass und Gewicht überall durchgeführt wird, verdankt bekanntlich seinen Ursprung der Zähl-Methode der Wilden, nach den zehn Fingern beider Hände. Allein der älteste Ursprung dieser bedeutungs- vollen Zehnzahl liegt viele Millionen Jahre zurück, in der Stein- kohlenzeit, vielleicht sogar in der devonischen Periode. In dieser paläozoischen Urzeit entstanden die ersten fünfzehigen Wirbel- thiere, die ältesten Amphibien; und diese übertrugen durch Ver- erbung die Fünfzahl der Zehen auf ihre Nachkommen; der höchst entwickelte ihrer Epigonen, der Mensch, hat diese Fünfzahl getreu conservirt, und in seinem Decimal-System hat sie die weit- reichendste practische Verwerthung gefunden. ni 622 Ursprung des Deeimal-Systems. XRVE Wenn die alten Stamm-Amphibien der Steinkohlenzeit von ihren nächsten Vorfahren, den vielfingerigen Dipneusten, noch einen Finger mehr an jeder Extremität geerbt, und statt fünf Fingern sechs durch Vererbung auf ihre Nachkommen bis zum Menschen übertragen hätten, so würden sie damit der Menschheit einen unschätzbaren Dienst geleistet haben. Wir würden dann heute statt unseres Decimal-Systems das ungleich praktischere Duo- decimal-System besitzen, dessen Grundzahl, zwölf, durch zwei, drei, vier, sechs theilbar ist, während zehn nur durch zwei und fünf theilbar ist. Auch für viele Künste, z. B. das Clavierspiel, für viele technische Thätigkeiten und medieinische Operationen würden sechs Finger an jeder Hand viel practischer sein, als fünf. Nur wenig hat gefehlt, und wir würden uns dieser grossen Vor- theile erfreuen. Einzelne uralte Amphibien aus jener Stammgruppe haben noch sechs Finger besessen, und in der Reptilien-Ördnung der Seedrachen (Halisauria) hat sich diese Zahl erblich erhalten. Vielleicht ist sogar das gelegentliche Auftreten von sechs Fingern beim Menschen (S. 159) als ein Rückschlag in jene uralte Ein- richtung aufzufassen. Allein das sind nur einzelne Ausnahmen; im Ganzen muss die Fünfzahl der Finger oder die Pentadactylie, gewisse, uns nicht erkennbare Vortheile im Kampf ums Dasein gewährt haben. Denn schon in der Steinkohlenzeit wurde sie bei den Amphibien constant und befestigte sich durch Vererbung bis auf den heutigen Tag. Wenn zahlreiche höhere Wirbelthiere weniger als fünf Zehen an jedem Fusse besitzen, so liegt nach- weislich Rückbildung der ursprünglichen Fünfzahl vor. Die Entstehung des fünfzehigen Amphibien-Fusses aus der vielzehigen Flosse der Dipneusten und Fische ist ausserdem mit einer Reihe der wichtigsten Umbildungen im Knochenbau der Gliedmaassen verknüpft. Diese sind von solcher Bedeutung für die Körperform und Lebensweise der vier höheren Wirbelthier-Classen, dass man dieselben in einer natürlichen phylogenetischen Haupt- gruppe vereinigen kann, den Pentanomen oder Pentadactylien. Die Stammgruppe derselben bildet die Amphibien-Classe; aus dieser sind erst später die Amnioten hervorgegangen, die drei Classen der Reptilien, Vögel und Säugethiere. Die Amphibien A XXV. Pentadaetylie und Polydactylie. 623 repräsentiren die niederen und älteren, die Amnioten hingegen die höheren und jüngeren Linien des Pentanomen-Stammes. Bei allen diesen Pentanomen, schon von den ältesten Am- phibien angefangen, finden wir ursprünglich jene characteristische allgemeine Gliederung der beiden Extremitäten-Paare, welche unser eigener menschlicher Organismus noch heute besitzt und als Erb- stück von jenen uralten Vorfahren erhalten hat. Ueberall gliedert sich zunächst die Gliedmaasse in drei Hauptabschnitte; vorn Ober- arm, Unterarm und Hand, hinten Oberschenkel, Unterschenkel und Fuss. Ueberall besteht ursprünglich das Skelet des ersten Abschnitts aus einem grossen Röhren-Knochen, dasjenige des zwei- ten aus zwei, und dasjenige des dritten aus sehr zahlreichen kleineren Knochen, welche wieder in drei Gruppen zusammenge- stellt sind: Fusswurzel (Tarsus), Mittelfuss (Metatarsus) und die fünf Finger. Das Gliedmaassen-Skelet des Salamanders und Frosches zeigt uns schon dieselbe typische Bildung, wie dasjenige des Affen und Menschen. Wie diese pentadactyle Extremität der Pentanomen ursprünglich durch Differenzirung aus der polydac- tylen oder vielzehigen Fisch-Flosse der Dipneusten entstanden ist, hat Carl Gegenbaur in einer Reihe von ausgezeichneten Arbeiten gezeigt. Die ältesten ‘Amphibien, welchen wir als den ersten fünf- zehigen Ahnen unseres Stammes ganz besonderes Interesse schulden, sind die Panzerlurche der Steinkohlenzeit, die Stegocephalen. Zahlreiche und zum grossen Theile vortrefflich erhaltene Abdrücke derselben sind neuerdings im carbonischen und permischen System, wie in der Trias gefunden worden. Von dem merkwürdigen Branchiosaurus amblystomus fand Credner im Plauen’schen Grunde bei Dresden (in unter-permischen Kalkstein eingeschlossen) über tausend, zum Theil vorzüglich erhaltene Exemplare, so dass er die Anatomie und Ontogenie dieses Panzerlurches sehr voll- ständig herstellen konnte. Noch näher als diese Mikrosaurier, stehen der gemeinsamen Stammform der Amphibien die uralten Schmelzköpfe (Ganocephala), von denen namentlich der Arche- gosaurus aus der Steinkohle von Saarbrücken schon länger be- kannt ist. In der characteristischen Bildung der Zähne und der. 624 Panzerlurche oder Phraetamphibien. XV En Knochentafeln, welche den molchähnlichen Körper bedecken, schliessen sich diese Panzerlurche unmittelbar an die fossilen Dipneusten (Ctenodina) und Ganoiden (Ürossopterygia) an, ihre wahrscheinlichen Vorfahren. Anderseits gingen später aus ihnen die riesigen Wickelzähner (Labyrinthodonta) hervor, schon im permischen System durch Zygosaurus, später aber vorzüglich in der Trias durch Mastodonsaurus, Trematosaurus, Capitosaurus u. s. w. vertreten. Diese furchtbaren Raubthiere scheinen in der Körperform zwischen den Krokodilen, Salamandern und Fröschen in der Mitte gestanden zu haben, waren aber den beiden letzteren mehr durch ihren inneren Bau verwandt, während sie durch die feste Panzerbedeckung mit starken Knochentafeln den ersteren glichen. Schon gegen Ende der Triaszeit scheinen diese gepan- zerten Riesenlurche ausgestorben zu sein. Aus der ganzen folgen- den Zeit kennen wir keine Versteinerungen, welche wir mit Sicher- heit Stegocephalen zuschreiben könnten. Während die meisten paläozoischen Panzerlurche zwei paar fünfzehige Beine und einen mehr oder minder entwickelten Schwanz besitzen, wurden diese Theile bei einigen Formen dieser Gruppe rückgebildet. Diese merkwürdigen Aistopoden (Dol- chosoma, Ophiderpeton) nehmen Schlangenform an und gehören vielleicht zu den Vorfahren der heute noch lebenden Blindwühlen oder Coecilien (Gymnophiona). Das sind wurmförmige Amphi- bien ohne Schwanz und Gliedmaassen, welche gleich Regen- würmern in der Erde der Tropen leben. Ihre geringelte Haut schliesst kleine knöcherne Fisch-Schuppen ein, das letzte Ueber- bleibsel des festen Knochenpanzers, durch welchen die meisten Stegocephalen geschützt waren. Man kann sie letzteren als Pero- melen gegenüberstellen. Beide Ordnungen zusammen bilden die Unterklasse der Panzerlurche (Phractamphibia). Alle übrigen, uns bekannten Amphibien gehören zur zweiten Unterclasse, den Nacktlurchen (Zissamphibia). Diese entstan- den wahrscheinlich schon während des paläozoischen Zeitalters, obgleich wir fossile Reste derselben erst aus der Kreide- und Tertiärzeit kennen. Sie unterscheiden sich von den Panzerlurchen durch ihre nackte, glatte, schlüpfrige Haut, ohne Schuppenpanzer. xXXV. Legionen und Ordnungen der Amphibien. Systematische Uebersicht über die Legionen und Ordnungen der Lurche oder Amphibien. Subelassen. Legionen. | Ordnungen. hr ante, Erste Legion: l. Ganocephalen f Archegosaurus Sehuppenlurche Archegosauria | Eryops Stegocephala Il (Archamphibia) 2. Labyrinthodonten j Labyrinthodon Erste Unter- | Eidechsen ähnlich, Mastodonsauria | Trematosaurus classe der geschwänzt, meist } Amphibien: ae schwachen 3. Lepospondylen j Branchiosaurus Panzerlurche, Eledinaassen Microsauria | Ceraterpeton Phractamphibia. Haut gepanzert oder beschuppt, mit Knochen- Plättchen. 1. Zweite Unter- elasse der Amphibien: Nacktlurche, Lissamphibia. Haut nackt und glatt, ohne Knochen- Plättchen. Haeckel, Natürl. Schöpfungs-Gesch. Zweite Legion: Sehldngenlurche Peromela (Pseudophidia) Schlangen ähnlich, fusslos und schwanzlos Dritte Legion: Schwanzlurche Urodela (Caudata) Salamander ähn- lich, mit langem Schwanze und schwachen Glied- maassen Vierte Legion: Froschlurche Anura (Batrachia oder Keaudata) Frosch ähnlich, ohne Schwanz, starken Glied- maassen (— als Larven ge- schwänzte Kaul- quappen —) mit | | | | | | oa 10. 8. Aufl. . Procoeecilien Aistopoda . Coeeilien Gymnophiona . Fischlurche Perennibranchia . Derotremen Cryptobranchia . Salamandrinen Cadueibranchia Aglossa Kröten Bufonacea . Laubkröten Callulacea . Frösche Ranacea . Laubfrösche Hylacea [ Dolichosoma \ Ophiderpeton j Epierium \ Siphonops | Proteus | Siren [ Menopoma \ Amphiuma | Triton | Salamandra . ZungenloseKröten( Pipa | Dactylethra N j Bufo \ Phryniseus j Callula \ Hylaplesia ' Rana Bombinator | Hyla Hylodes 40 626 Nacktlurche oder Lissamphibien. XxVe Durch Rückbildung und Verlust der knöchernen Panzerbedeckung haben sich die Lissamphibien aus einem Zweige der Phract- amphibien entwickelt. Gewöhnlich werden die Nacktlurche in zwei Ordnungen getheilt: Geschwänzte (Urodela) und Schwanz- lose (Anura). Die Schwanzlurche (Urodela) zerfallen wieder in drei Gruppen, welche noch heutzutage in ihrer individuellen Ent- wickelung sehr deutlich den historischen Entwickelungsgang der ganzen Unterclasse wiederholen. Die ältesten Formen sind die Kiemenlurche (Perennibranchia), welche zeitlebens auf der ur- sprünglichen Stammform der Nacktlurche stehen bleiben und einen langen Schwanz nebst wasserathmenden Kiemen beibehalten. Sie stehen am nächsten den Stegocephalen und Dipneusten, von denen sie sich aber schon äusserlich durch den Mangel des Schuppen- kleides unterscheiden. Die meisten Kiemenlurche leben in Nord- amerika, unter anderen Siren und der früher erwähnte Axolotl (Siredon, vergl. oben S. 226). In Europa ist diese Ordnung nur durch eine Form vertreten, durch den berühmten Olm (Proteus anguineus), welcher die Adelsberger Grotte und andere Höhlen Krains bewohnt und durch den Aufenthalt im Dunkeln rudimen- täre Augen bekommen hat, die nicht mehr sehen können (s. oben S. 13,282). Aus den Kiemenlurchen hat sich durch Verlust der äusseren Kiemen die Ordnung der Derotremen entwickelt (Urypto- branchia). Dazu gehört das grösste von allen lebenden Amphibien, der Riesen-Salamander von Japan (Uryptobranchus, über ein Meter lang). Aus diesen sind dann die Salamandrinen entstanden, zu welchen unser schwarzer, gelbgefleckter Landsalamander (Sala- mandra maculosa) und unsere flinken Wassermolche ( Triton) ge- hören. Diese letzteren verlieren die Kiemen, welche ihre Larven in der Jugend besitzen, ganz. Aber bisweilen conserviren die Tritonen auch die Kiemen und bleiben demnach auf der Stufe der Kiemenlurche stehen, wenn man sie nämlich zwingt, beständig im Wasser zu bleiben (vergl. oben S. 225). Die dritte Ordnung, die Schwanzlosen oder Froschlurche (Anura oder Batrachia), verlieren bei der Metamorphose nicht nur die Kiemen, durch welche sie in früher Jugend (als sogenannte „Kaulquappen“) Wasser athmen, sondern auch den Schwanz, mit dem sie herum- RXV. Wasserhaut oder Amnion. 627 schwimmen. Sie durchlaufen also während ihrer Keimes-Geschichte den Entwickelungsgang der ganzen Unterclasse, indem sie zuerst Kiemenlurche, dann Derotremen, später Salamandrinen und zuletzt Froschlurche sind. Offenbar ergiebt sich daraus, dass die Frosch- lurche sich erst später aus den Schwanzlurchen, wie diese selbst aus den Kiemenlurchen entwickelt haben. Die wunderbare Ver- wandlung der bekannten Kaulquappen in Frösche, welche wir in jedem Frühjahr innerhalb weniger Wochen unmittelbar beobachten können, wiederholt uns so nach dem biogenetischen Grundgesetze einen historischen Process, welcher zu den wichtigsten in der Stammes-Geschichte der Wirbelthiere gehört. Indem wir nun von den Amphibien zu der nächsten Wirbel- thierclasse, den Reptilien, übergehen, bemerken wir eine sehr be- deutende Vervollkommnung in der stufenweise fortschreitenden Organisation der Wirbelthiere. Alle bisher betrachteten Paarnasen oder Amphirhinen, die Fische, Dipneusten und Amphibien, stim- men in einer Anzahl von wichtigen Charakteren überein, durch welche sie sich von den drei noch übrigen Wirbelthier-Classen, den Reptilien, Vögeln und Säugethieren, sehr wesentlich unter- scheiden. Bei diesen letzteren bildet sich während der embryo- nalen Entwickelung rings um den Embryo eine von seinem Nabel auswachsende besondere zarte Hülle, die Wasserhaut oder das Amnion, welche mit dem Fruchtwasser oder Amnionwasser ge- füllt ist, und in diesem den Embryo oder den Keim blasenförmig umschliesst. Wegen dieser sehr wichtigen und charakteristischen Bildung können wir jene drei höchst entwickelten Wirbelthier- Classen als Amnionthiere (Amnmiota) zusammenfassen. Den drei soeben betrachteten Classen der Paarnasen dagegen fehlt das Amnion, eben so wie allen niederen Wirbelthieren (Unpaarnasen und Schädellosen) vollständig; wir konnten daher diese Ichthyoten jenen als Amnionlose (Anamnia) entgegensetzen. Die Bildung der Wasserhaut oder des Amnion, durch welche sich die Reptilien, Vögel und Säugethiere von allen anderen Wirbelthieren unterscheiden, ist offenbar ein höchst wichtiger Vor- gang in der Ontogenie und der ihr entsprechenden Phylogenie der Wirbelthiere. Er fällt zusammen mit einer Reihe von an- 40° 628 Amnionthiere oder Amnioten. ET. deren Vorgängen, welche wesentlich die höhere Entwickelung der Amnionthiere bestimmten. Dahin gehört vor allen der gänz- liche Verlust der Kiemen, dessenwegen man schon früher die Amnioten als Kiemenlose (Ebdranchiata) allen übrigen Wirbel- thieren als Kiemenathmenden (Dranchiata) entgegengesetzt hatte. Bei allen bisher betrachteten Wirbelthieren fanden sich athmende Kiemen entweder zeitlebens, oder doch wenigstens, wie bei Fröschen und Molchen, in früher Jugend. Bei den Reptilien, Vögeln und Säugethieren dagegen kommen zu keiner Zeit des Lebens wirklich athmende Kiemen vor; die Kiemenbogen, welche auch hier durch Vererbung erhalten sind, gestalten sich im Laufe der Keimesgeschichte zu ganz anderen Gebilden, zu Theilen des Kieferapparates und des Gehörorgans (vergl. oben S.306). Alle Amnionthiere besitzen im Gehörorgan eine sogenannte „Schnecke“ und ein dieser entsprechendes „rundes Fenster“, welche den Am- nionlosen fehlen. Bei diesen letzteren liegt der Schädel des Em- bryo in der gradlinigen Fortsetzung der Wirbelsäule. Bei den Amnionthieren dagegen erscheint die Schädelbasis von der Bauch- seite her eingeknickt, so dass der Kopf auf die Brust herabsinkt (Taf. III, Fig. C, D,G, H). Auch entwickeln sich erst bei den Amnioten die Thränenorgane im Auge. Endlich besitzen alle Amnionthiere eine Allantois, ein Ernährungs-Organ des Embryo, welches sich aus der Harnblase der Amphibien entwickelt hat. Wann fand nun im Laufe der organischen Erdgeschichte die- ser wichtige Vorgang statt? Wann entwickelte sich aus einem Zweige der Amnionlosen (und zwar jedenfalls aus einem Zweige der Amphibien) der gemeinsame Stammvater aller Amnionthiere? Auf diese Frage geben uns die versteinerten Wirbelthierreste zwar keine ganz bestimmte, aber doch eine annähernde Antwort. Die ältesten fossilen Vertebraten-Reste, die wir mit Sicherheit auf Amnioten beziehen können, sind Skelete einiger Reptilien aus dem permischen System (Proterosaurus, Parasaurus, Spheno- saurus und einige andere). Diese Reptilien scheinen zu den äl- testen Amnionthieren zu gehören und unseren gewöhnlichen Ei- dechsen sehr nahe zu stehen. Alle übrigen versteinerten Reste, welche wir bis jetzt von Amnionthieren kennen, gehören der IEXV, Entwickelung der Amnionthiere. 629 Secundärzeit, Tertiärzeit und Quartärzeit an. Freilich kennen wir von jenen ältesten permischen Eidechsen bloss das Skelet. Da wir nun von den entscheidenden Merkmalen der Weichtheile Nichts wissen, so ist es wohl möglich, dass dieselben noch amnionlose Thiere waren, welche den Amphibien näher als den Reptilien standen, vielleicht auch zu den Uebergangsformen zwischen beiden Classen gehörten. Anderseits finden sich unzwei- felhafte Amnionthiere bereits in der Trias versteinert vor, und zwar von sehr verschiedenen Gruppen. Wahrscheinlich fand daher eine mannichfaltigere phylogenetische Entwickelung und Ausbrei- tung der Amnioten-Hauptelasse erst in der Triaszeit, im Be- einn des mesolithischen Zeitalters statt, während die älte- sten Stammformen derselben in der permischen Periode, vielleicht selbst schon in der Steinkohlen-Periode lebten. Wie wir schon früher sahen, ist offenbar gerade jener Zeitraum einer der wich- tigsten Wendepunkte in der organischen Erdgeschichte. An die Stelle der paläolithischen Farn-Wälder traten damals die Nadel- Wälder der Trias. In vielen Abtheilungen der wirbellosen Thiere traten wichtige Umgestaltungen ein: aus den getäfelten Seelilien (Palaeriniden) entwickelten sich die gegliederten (Neocriniden). Die Metechiniden oder die Seeigel mit zwanzig Plattenreihen tra- ten an die Stelle der paläolithischen Palechiniden, der Seeigel mit mehr als zwanzig Plattenreihen. Die Cystoideen, Blastoideen, Trilobiten und andere characteristische wirbellose Thiergruppen der Primärzeit waren so eben ausgestorben. Kein Wunder, wenn die umgestaltenden Anpassungs-Verhältnisse im Beginn der Trias- zeit auch auf den Wirbelthier-Stamm mächtig einwirkten und eine reiche Formen -Entwickelung der Amnionthiere veranlassten. Andere Zoologen, wie namentlich Huxley, sind dagegen der Ansicht, dass eine mannichfaltige Entwickelung der Reptilien- Classe schon in der permischen Periode stattfand und dass mit- hin ihre erste Entstehung in eine noch frühere Zeit zu setzen ist. In der That sprechen manche Gründe für diese Annahme. Je- doch haben sich die angeblichen Reptilien-Reste, die man früher im Steinkohlensystem oder gar im devonischen Systeme gefunden zu haben glaubte, später entweder nicht als Reptilienreste oder 630 Schleicher oder Reptilien. XV als viel jüngeren Alters (meistens der Trias angehörig) heraus- gestellt, so z. B. das Telerpeton elginense aus der Trias. Die gemeinsame hypothetische Stammform aller Amnion- thiere, welche wir als Protamnion oder Proreptil bezeichnen können, und welche möglicherweise dem fossilen Proterosaurus nahe verwandt war, stand vermuthlich im Ganzen hinsichtlich ihrer äusseren Körperform und inneren Organisation in der Mitte zwischen den Salamandern und Eidechsen. Ihr langgestreck- ter Körper hatte einen kurzen Hals, langen Schwanz, und vier kurze fünfzehige Beine. Die Haut war beschuppt oder mit klei- nen Knochentäfelchen bedeckt, wie bei ihren Urahnen, den älte- ren Stegocephalen (Akerosauria). Ihre Nachkommenschaft spaltete sich schon frühzeitig in zwei verschiedene Linien, von denen die eine die gemeinsame Stammform der Sauropsiden (der Reptilien und Vögel), die andere die Stammform der Säuge- thiere enthielt. Die Schleicher (Reptilia oder Pholidota, auch Sauria im weitesten Sinne genannt) bleiben von allen drei Classen der Am- nionthiere auf der tiefsten Bildungsstufe stehen und entfernen sich am wenigsten von ihren Stammvätern, den Amphibien. 'Da- her wurden sie früher allgemein zu diesen gerechnet, obwohl sie in ihrer ganzen Organisation viel näher den Vögeln als den Am- phibien verwandt sind. Gegenwärtig leben von den Reptilien nur noch vier Ordnungen, nämlich die Eidechsen, Schlangen, Crocodile und Schildkröten. Diese bilden aber nur noch einen schwachen Rest von der ungemein mannichfaltig und bedeutend entwickelten Reptilienschaar, welche während der mesolithischen oder Secundärzeit lebte und damals alle anderen Wirbelthier- Classen beherrschte. Die ausnehmende Entwickelung der Repti- lien während der Secundärzeit ist so characteristisch, dass wir diese danach eben so gut, wie nach den Gymnospermen, benennen konnten (8.381). Von den 40 Familien. welche die nachstehende Tabelle Ihnen vorführt, gehören 22, und von den neun Ordnun- gen gehören fünf ausschliesslich der Secundärzeit an. Diese meso- lithischen Gruppen sind durch ein + bezeichnet. Mit einziger Ausnahme der Schlangen, die erst tertiär erscheinen, finden sich BRUXEV. Reptilien der Secundärzeit. 631 alle Ordnungen schon im Jura oder der Trias versteinert vor; die ältesten, die Tocosaurier, schon im permischen System. “ Die grossartigen paläontologischen Entdeckungen der beiden letzten Decennien, vor Allen diejenigen der beiden unermüdlichen nordamerikanischen Paläontologen Cope und Marsh, haben uns mit einer erstaunlich formenreichen Fauna von mesolithischen Reptilien bekannt gemacht. Zum grossen Theil erscheinen die- selben als selbstständige, ganz eigenthümlich entwickelte Ordnun- gen und Familien des Reptilien-Stammes („speeialisirte Typen“), zum anderen Theil als höchst werthvolle phylogenetische Bindeglieder, welche diese gestaltenreiche Classe theils mit ihrer . Stammgruppe, den Phractamphibien unmittelbar verknüpfen, theils ihre Stammverwandtschaft mit den Vögeln und Säugethieren er- läutern, den beiden höchsten, aus verschiedenen Reptilien-Zweigen hervorgegangenen Wirbelthier-Classen. Viele von diesen ausge- storbenen Reptilien der Secundär-Zeit besassen die abenteuerlich- sten Gestalten und übertrafen an Seltsamkeit der Bildung die phantastischen Fabelwesen, mit welchen die Phantasie eines „Höl- len-Breughel“ — oder in unserer Zeit eines Arnold Boecklin — die Unterwelt bevölkerte. Es befanden sich darunter die gröss- ten lJandbewohnenden Thiere aller Zeiten; viele dieser „Drachen“ hatten über 50 Fuss, einzelne über 100 Fuss Länge. Die grössten (Dinosaurier) waren Pflanzenfresser mit winzig kleinem Gehirn und müssen höchst stupide Colosse gewesen sein. Sie waren durch mächtige Schuppenpanzer, manche auch durch Stacheln und Sporen, gegen die Angriffe der riesigen Fleischfresser ge- schützt, welche mit einem furchtbaren Gebiss bewaffnet waren. Zur Zeit ist es nicht möglich, einen klaren Einblick in die verwickelten Verwandtschafts-Verhältnisse dieser wunderbaren Rep- tilien-Fauna zu gewinnen; um so weniger, als noch alljährlich ihre Zahl durch neue überraschende Entdeckungen beträchtlich vermehrt wird. Auch gehen noch heute die Ansichten selbst der besten Kenner über ihre gegenseitigen phylogenetischen Beziehun- gen weit auseinander. Will man die neun Hauptgruppen, welche auf S. 636 aufgezählt und in dem provisorischen Stammbaum (S. 637) hypothetisch geordnet sind, in wenige grosse Haupt- 632 Stammreptilien oder Tokosaurier. XXVE Abtheilungen zusammenfassen, so könnten folgende vier Unter- classen der Reptilien unterschieden werden: 1. @eosauria, Land- Reptilien (Tocosaurier, Eidechsen, Schlangen, Theriosaurier und Dinosaurier; 2. Hydrosauria, See-Reptilien (Halisaurier und Crocodile); 3. Chelonia, Schildkröten, und 4. Pterosauria, Flug-Reptilien. Die erste Ordnung der Reptilien, die der Stammschlei- cher (Tocosauria) ,, umfasst die ältesten und niedrigsten Formen sowohl der Reptilien, als überhaupt aller Amnionthiere. Wir fassen daher in dieser Gruppe vorläufig drei Familien zusammen: die Protamnioten, Proreptilien und Proterosaurier. Die erste Familie bilden die hypothetischen Uramnioten (Protamniota), die wir aus den oben angeführten Gründen als die gemeinsamen Stamm- formen aller Amnionthiere ansehen müssen. Es befanden sich darunter die merkwürdigen Uebergangsformen von gewissen sala- manderähnlichen Amphibien (Stegocephalen) zu jenen ältesten eidechsen-ähnlichen Reptilien, die zuerst den Besitz von Amnion und Allantois erwarben. Diese Protamnioten haben spätestens in der permischen Periode, vielleicht schon in der vorhergehenden Stein- kohlenzeit existirt. Sie bilden die gemeinsame Wurzel, auf welche einerseits die ältesten Stammformen der Säugethiere (Promam- malia), anderseits diejenigen der Vögel und eigentlichen Reptilien (Proreptilia) zurückzuführen sind. Zu diesen letzteren kann man die merkwürdige‘ gepanzerte Vogel-Eidechse rechnen, welche im Keuper bei Stuttgart gefunden wurde (Aötosaurus ferratus). Dieselbe vereinigt in sich Merkmale der verschiedensten Rep- tilien-Ordnungen, und zugleich der Vögel. Den Proreptilien wahrscheinlich nahe verwandt waren die Ureidechsen oder Pro- terosaurier, die ältesten fossilen Reptilien, die wir bis jetzt kennen, und die schon im permischen System versteinert vor- kommen (Proterosaurus, Parasaurus, Sphenosaurus ete.). Der älte- ste bekannte Abdruck dieser wichtigen Proterosauria, die unseren gewöhnlichen Eidechsen und namentlich den Monitoren sehr ähn- lich waren, ist der thüringer Proterosaurus Speneri, der schon 1710 im Kupferschiefer von Eisenach entdeckt und von dem Ber- liner Arzte Spener zuerst beschrieben wurde. RKYV. Stammbaum der Reptilien. 633 Aus den Tocosauriern, die als die gemeinsame Stamm- gruppe aller Amnionthiere von besonderer Bedeutung sind, haben sich wahrscheinlich schon während der permischen Periode man- nichfaltige divergirende Zweige von Reptilien entwickelt, welche dann in der folgenden Trias-Periode zu höherer Ausbildung und in :der Jura-Zeit zu voller Blüthe gelangten. Ueber den verwandt- schaftlichen Zusammenhang derselben kann man sich bei dem gegenwärtigen Zustande unserer Kenntnisse ungefähr diejenige vorläufige Hypothese bilden, deren einfachster Ausdruck der Stammbaum auf S. 637 ist. Als die conservativste und am wenig- sten veränderte Ordnung ist wohl diejenige der eigentlichen Ei- dechsen (Autosauria oder Lacertilia) zu betrachten. Aus einem Zweige derselben entwickelten sich später die Schlangen (Ophrdia). Andere Zweige des Reptilien-Stammes, die direct oder indirect aus den Tokosauriern hervoreingen, sind die Crocodile und Schild- kröten. Zwei verschiedene Gruppen von Reptilien lernten fliegen und wurden Luftbewohner, einerseits die Flugeidechsen (Ftero- sauria), anderseits die Vögel; letztere stammen von den Orni- thosceliden ab, einem Zweige der Dinosaurier. Aus einer ganz anderen Gruppe, den Theriosauriern, gingen die Stammformen der Säugethiere hervor. Endlich bilden eine ganz besondere Gruppe die Seedrachen (Halisauria), deren Stellung unter den Reptilien überhaupt noch zweifelhaft ist. Die Wirbelthiere, die wir unter dem Namen der Seedrachen (Halisauria oder Enaliosauria) zusammenfassen, sind schon längst (schon seit der Kreidezeit) ausgestorben. Als furchtbare Raub- thiere bevölkerten sie die mesolithischen Meere in grossen Mengen und in höchst sonderbaren Formen, zum Theil von 30—40 Fuss Länge. Sehr zahlreiche und vortrefflich erhaltene Versteinerungen und Abdrücke, sowohl von ganzen Seedrachen als von einzelnen Theilen derselben, haben uns mit ihrem Körperbau bekannt gemacht. Gewöhnlich werden dieselben jetzt zu den Reptilien gestellt, während einige Anatomen ihnen einen viel tieferen Rang, in unmittelbarem Anschluss an die Fische, anweisen. Die neueren Untersuchungen von Gegenbaur, welche vor allem die maassgebende Bildung der Gliedmaassen in das rechte Licht setzen, scheinen nämlich 634 Seedrachen oder Halisaurier. XXaVE zu dem überraschenden Resultate zu führen, dass die Seedrachen eine isolirt stehende Gruppe bilden, ziemlich weit entfernt sowohl von den Reptilien und Amphibien, als von den eigentlichen Fischen. Die Skeletbildung ihrer vier Beine, welche zu kurzen, breiten Ruderflossen umgeformt sind (ähnlich wie bei den Fischen und Walfischen), scheint zu beweisen, dass sich die Halisaurier früher als die Amphibien von dem Wirbelthier-Stamme abgezweigt haben. Denn die Amphibien sowohl als die drei höheren Wirbelthier- Classen stammen alle von einer gemeinsamen Stammform ab, welche an jedem Beine nur fünf Zehen oder Finger besass. Die Seedrachen dagegen besitzen (entweder deutlich entwickelt oder doch in der Anlage des Fussskelets ausgeprägt) mehr als fünf Finger, wie die Urfische. Indessen kann diese Ueberzahl der Finger vielleicht auch secundär aus der pentadactylen Stammform durch Rückschlag entstanden sein. Unzweifelhaft haben die Hali- saurier Luft durch Lungen, wie die ähnlichen Delphine und die Dipneusten, geathmet, trotzdem sie beständig im Meere umher- schwammen. Sie haben sich nicht weiter in höhere Wirbelthiere fort- gesetzt, und bilden eine ausgestorbene Seitenlinie. Die genauer bekannten Seedrachen vertheilen sich auf vier, ziemlich stark von einander sich entfernende Familien, die Ur- drachen, Schlangendrachen, Fischdrachen und Schnabeldrachen. Die Urdrachen (Simosauria) sind die ältesten Seedrachen und lebten bloss während der Triasperiode. Besonders häufig findet man ihre Skelette im Muschelkalk, und zwar zahlreiche verschiedene Gat- tungen. Sie scheinen im Ganzen den Plesiosauren sehr ähnlich gewesen zu sein und werden daher wohl auch mit diesen zu einer Ordnung (Sauropterygia) vereinigt. Die Schlangendrachen (Plesiosauria) lebten zusammen mit den Ichthyosauren in der Jura- und Kreidezeit. Sie zeichneten sich durch einen ungemein langen und schlanken Hals aus, welcher oft länger als der ganze Körper war und einen kleinen Kopf mit kurzer Schnauze trug. Wenn sie den Hals gebogen aufrecht trugen, werden sie einem Schwane ähnlich gewesen sein; aber statt der Flügel und Beine hatten sie zwei Paar kurze, platte, ovale Ruderflossen. Ganz anders war die Körperform der Fischdrachen (/chthyo- XXV. Eidechsen, Schlangen, Crocodile. 635 sauria), welche auch wohl als Fischflosser (/chthyopterygia) den beiden vorigen Familien entgegengesetzt werden. Sie besassen einen sehr langgestreekten Fischrumpf und einen schweren Kopf mit verlängerter platter Schnauze, dagegen einen sehr kurzen Hals. Sie werden äusserlich gewissen Delphinen sehr ähnlich gewesen sein. Der Schwanz ist bei ihnen sehr lang, bei den vorigen dagegen sehr kurz. Auch die beiden Paar Ruderflossen sind breiter und zeigen einen wesentlich anderen Bau. Die echten Ichthyosaurier haben furchtbare Zähne in den Kiefern; diese sind verloren gegangen bei den nordamerikanischen Schnabeldrachen (Sauranodontia). Vielleicht haben sich die Fischdrachen und die Schlangendrachen als zwei divergente Zweige aus den Urdrachen entwickelt. Vielleicht haben aber auch die Simosaurier bloss den Plesiosauriern den Ursprung gegeben, während die Ichthyosaurier sich tiefer unten von dem gemeinsamen Stamme abgezweigt haben. Die Sauranodonten stammen von Ichthyosauriern ab. Unter den vier Reptilien-Ordnungen, welche gegenwärtig noch leben, und welche schon seit Beginn der Tertiärzeit allein die Classe vertreten haben, schliessen sich die Eidechsen (Autosauria oder Lacertilia) offenbar am nächsten an die ausgestorbenen Stammreptilien an, besonders durch die schon genannten Moni- toren. Aus einem Zweige der Eidechsenordnung hat sich die Ab- theilung der Schlangen (Ophrdia) entwickelt, und zwar durch Rückbildung der vier Beine und Lockerung des Kiefergerüstes. Die Riesenschlangen besitzen noch heute Ueberreste von den rück- gebildeten Hinterbeinen. Die Entstehung der Schlangen fällt wahrscheinlich erst in den Beginn der Tertiärzeit. Wenigstens kennt man versteinerte Schlangen bis jetzt bloss aus tertiären Schichten. Viel früher sind die Crocodile (Crocodilia) entstan- den, von denen die ältesten, die Thecodonten oder Belodonten schon in der Trias, die Teleosaurier massenhaft versteinert schon im Jura gefunden werden; die jetzt allein noch lebenden Gaviale und Allisatoren dagegen kommen erst in den Kreide- und Tertiär- schichten fossil vor. Die Crocodile schliessen sich durch ihre älte- sten Formen unmittelbar an einen Zweig der fossilen Tocosaurier an; ihre Phylogenie lässt sich schrittweise deutlich verfolgen. 636 System der Schleicher oder Reptilien. Systematische Uebersicht der Ordnungen und Familien der Reptilien. (Die mit einem + bezeichneten Gruppen sind in der Seceundärzeit ausgestorben.) Familien Ordnungen | Familien | Ein der | der | der ‚ Gattungsname | | 5 Reptilien | Reptilien Reptilien als Beispiel I. [ l. Uramnioten l. Protamniota ri Protamnion Stammreptilien) 2. Urschleicher 2. Proreptilia r Adtosaurus Tocosauria + \ 3. Ureidechsen 3. Proterosauria 7 Proterosaurus 4. Geckonen 4. Ascalabotae Platydactylus 5. Monitoren 5. Monitores Monitor II. 6. Lacertinen 6. Lacertina Lacerta Eidechsen 7. Wirtelechsen 7. Chaleidia Zonurus Aufosauri 8. Seineoiden 8. Sceincoidea Anguis ILOBAUFIG 9. Mosasaurier 9. Mosasauria j Mosasaurus 10. Ringeleidechsen 10. Glyptoderma Amphisbaena 11. Chamaeleonen 11. Vermilingues Chamaeleo IH 12. Nattern 12. Aglyphodonta Coluber z 13. Baumschlangen o. Opisthoglypha Dipsas Schlangen +14. Giftnattern 14. Proteroglypha Hydrophis re - z. J gıyI !ydrop Ophidia 15. Ottern 15. Solenoglypha Vipera 16. Wurmschlangen 16. Opoterodonta Typhlops IV. 17. Theceodonten 17. Theeodontia + Belodon Crneodile 18. Teleosaurier 18. Teleosauria T Teleosaurus ee nv Gaviale 19. Gaviales Gavialis Croeodilia (20. Alligatoren 20. Alligatores Alligator V. [55° Seeschildkröten 21. Thalassita Chelone - = 22. Flussschildkröten 22. Potamita Trionyx Schildkröten |23; Sumpfschildkröten. 23. Elodita. Emys Chelonia (24. Landschildkröten 24. Chersita Testudo VI. (25. Urdrachen $25. Simosauria r Simosaurus Seedrachen |26; Schlangendrachen 126. Plesiosauria 7 Plesiosaurus s : jo: Fischdrachen $27. Ichthyosauria + lchthyosaurus Halisauria + (928. Schnabeldrachen 128. Sauranodontia + Sauranodon 29. Langschwänzige 29. Dimorphodontia T Dimorpodon vn. [® Flugeidechsen 30. Rhampho- 7 Rhampho- Anautaeken 3l.K hwänzi ol Be li Tr ie pP Ben den F . Kurzschwänzige E . Pterodaetyli_ erodactylus ar 32. Flugeidechsen 32. Pteranodontia 7 Pteranodon VII. 5 Zwergdrachen 39. Nanosauria j Nanosaurus Drachen >4. Riesendrachen 34. Harpagosauria j Megalosaurus Di - 15: Elephantendrachen 55. Titanosauria 7 Iguanodon inosauria 7 (36, Vogeleidechsen 36. Ornithoscelides + Compsogna- thus 37. Pelycosaurier 37. Pelycosauria 7 Pelycosaurus IX. [>s: Rüsseleidechsen 88. Rhyncho- Rhyncho- ee) |» Hundszähner 39 a T er H . Jr Sza DJ. a 40. Cryptodontia + Udenodon | BROXIV: Stammbaum der Sauropsiden (Reptilien und Vögel). 637 ee] Vögel Mammalia Aves Straussvögel ra REN Kielvögel Ratitae Crocodile Carinatae | Croeodilia | - . Alligatores | Zahnvögel | " | Diontozaiihen, N _ Säugerreptilien | | | | Theriosauria | 0 Sr en. Cynodontia | Flugd | DW u ur Fingädrachen | Urvögel Pterosanria an az Saururae Pteranodontia | | | Compsognathi | Teleosauria —— | | =, I > 1 | | Pterodactylia Schildkröten Ornithoscelides Chelonia | | Chersita Harpagosauria | Rhamphorhynchi | | ae Titanosauria I en] Belodontia | Anomodontia | | | | | ee Elodita in, Drachen Dinosauria | Proerocodilia a Potamita | Seedrachen Halisauria Schlangen Sauranodontia al | Plesiosauria | | Thalassita I r | | | N | Ichthyosanria | 3 | Sp TE re en) | | Eidechsen | Simosauria | Autosauria 2 (Lacertilia) | Pelyeosauria | | | Rhynehocephalia 219 | |: | Kl ge Ü Be! = Stammreptilien Tocosauria | | Uramnioten Protamnion 638 Schildkröten und Flugdrachen. NIX Am meisten isolirt unter den vier lebenden Reptilien-Ord- nungen steht die merkwürdige Gruppe der Schildkröten (Che- lonia). Diese sonderbaren Thiere kommen zuerst versteinert im Jura vor. Sie nähern sich durch einige Charactere den Amphibien, durch andere den Crocodilen, und durch gewisse Eigenthümlich- keiten sogar den Vögeln, so dass ihr wahrer Platz im Stamm- baum der Reptilien unsicher ist. Wahrscheinlich liegt er tief unten an der Wurzel. Höchst auffallend ist die Aehnlichkeit, welche ihre Embryonen selbst noch in späteren Stadien der On- togenesis mit denjenigen der Vögel zeigen (vergl. Taf. II und III). Von den vier Unterordnungen der Schildkröten sind die ältesten die Seeschildkröten (Thalassita). Aus diesen haben sich später die Flussschildkröten (Potamita) und aus diesen wiederum in weiterer Folge die Sumpfschildkröten (Elodita) entwickelt. End- lich noch viel später, erst in der Tertiärzeit, treten die Land- schildkröten (Chersita) auf. Die Entwickelung des characteristi- schen Knochenpanzers in der Haut schreitet von der ersten bis zur letzten Unterordnung stufenweise fort, und gleichzeitig die eigenthümliche Umbildung des Kopfes und der Beine. Unter den fünf interessanten Ordnungen der ausgestorbenen Reptilien ist die abweichendste und sonderbarste diejenige der Flugdrachen oder Flugreptilien Pferosauria); fliegende Ei- dechsen, bei denen der ausserordentlich verlängerte fünfte Finger der Hand als Stütze einer gewaltigen Flughaut diente. Sie flogen in der Secundärzeit wahrscheinlich in ähnlicher Weise umher, wie jetzt die Fledermäuse. Die kleinsten Flugeidechsen hatten ungefähr die Grösse eines Sperlings. Die grössten Pterosaurier aber, mit einer Klafterweite der Flügel von mehr als 3 Meter und einer Rumpflänge von 2 Meter, übertrafen die grössten jetzt leben- den fliegenden Vögel (Condor und Albatros) bedeutend an Um- fang. Sie waren wirkliche fliegende Drachen mit furchtbarem Gebiss. Die älteren Pterosaurier (Dimorphodontia und Rham- phorhynchi) hatten einen langen Schwanz; die jüngeren (Piero- dactylia und Pteranodontia) hatten denselben rückgebildet; die colossalen Pteranodontien hatten auch das Gebiss verloren; eine interessante Parallele zu den Vögeln. Ihre versteinerten Reste, BEKV. Drachen oder Dinosaurier. 639 namentlich die langschwänzigen Rhamphorhynchen und die kurz- schwänzigen Pterodactylen, finden sich zahlreich in allen Schichten der Jura- und Kreidezeit, aber nur in diesen vor. Nicht minder merkwürdig und für das mesolithische Zeit- alter characteristisch war die formenreiche Gruppe der Drachen oder Lindwürmer (Dinosauria). Das sind zum grossen Theil colossale Reptilien, welche eine Länge von 60—80 Fuss und eine Höhe von 20 bis 30 Fuss erreichten, die grössten Landbewohner, welche jemals unser Erdball getragen hat. Sie lebten ausschliess- lich in der Secundärzeit, beginnen mit der unteren Trias und hören mit der oberen Kreide wieder auf. Die meisten Reste der- selben finden sich im Jura und in der unteren Kreide, nament- lich in der Wälderformation. Die Mehrzahl waren furchtbare Raubthiere (Megalosaurus von 20— 30, Pelorosaurus von 40 bis 60 Fuss Länge). Iguanodon jedoch und viele Andere lebten von Pflanzennahrung und spielten in den Wäldern der Kreidezeit wahrscheinlich eine ähnliche Rolle, wie die ebenso schwerfälligen, aber kleineren Elephanten, Flusspferde und Nashörner der Gegen- wart. Zu diesen colossalen Pflanzenfressern gehört das grösste aller bekannten Landthiere, der ungeheure Atlasdrache (Atlanto- saurus), der eine Länge von 115 Fuss bei einer Höhe von 30 Fuss erreichte; er kann zum Frühstück einen ganzen Baum verspeist haben. Seine Wirbel hatten über einen Fuss Durchmesser. Dieses erstaunliche Ungeheuer ist 1377 in den Kreideschichten von Colorado in Nordamerika von dem berühmten Paläontologen Marsh entdeckt worden, dem wir auch die Entdeckung vieler anderer höchst interessanter fossiler Wirbelthiere verdanken; die- selben befinden sich in der unvergleichlichen paläontologischen Sammlung von Yale College in New Haven (Connecticut). Neben jenen Riesen finden sich aber auch viel kleinere Formen unter den Dinosauriern, bis zur Grösse einer Katze und einer Eidechse herab. Morphologisch sind sie vor Allem interessant durch den Knochenbau ihrer Gliedmaassen, namentlich des Schultergürtels und Beckengürtels. Denn bei einem Zweige der Dinosaurier führt derselbe allmählich zu der characteristischen Bildung dieser Theile bei den Vögeln hinüber, weshalb Huxley diesen Zweig geradezu 640 Säugereptilien oder Theriosaurier. xx Vogelbeinige (Ornithoscelides) nannte. Im engeren Sinne ge- bührt dieser Name dem merkwürdigen Compsognathus aus dem Jura von Solenhofen, der unmittelbar zu den Vögeln hinüberführt. Wie die Dinosaurier zu den Vögeln, so bilden die Säuger- reptilien (Theriosauria oder Theriomorpha) die Uebergangsgruppe von den Uramnioten zu den Säugethieren. Der verdienstvolle amerikanische Paläontologe Cope, dem wir ebenfalls viele der wichtigsten fossilen Vertebratenfunde verdanken, hat kürzlich ge- zeigt, dass diese Theriosaurier (meistens der Trias angehörig) durch eine lange Reihe von Zwischenformen von den Tocosauriern zu den Säugethieren, und zunächst zu den Monotremen hinüber- führen. Das geht deutlich aus dem Bau ihrer Gliedmaassen, namentlich des Schultergürtels und Beckengürtels hervor. Die ältesten Theriosaurier sind die Pelycosauria; obgleich sie schon Landbewohner waren, besassen sie doch statt der gegliederten Wirbelsäule noch eine einfache Chorda. Später folgen auf sie die Anomodontia, die theils wenige grosse Hundszähne besassen (Oynodontia), theils die Zähne ganz verloren hatten (Oryptodontia). Aus einer Gruppe der Theriosaurier entwickelten sich wahrschein- lich während der Triasperiode die Stammformen der Säugethiere, die Promammalien. Die Classe der Vögel (Aves) ist, wie schon bemerkt, durch ihren inneren Bau und durch ihre embryonale Entwickelung den Reptilien so nahe verwandt, dass sie ohne allen Zweifel aus einem Zweige dieser Classe wirklich ihren Ursprung genommen hat. Wie Ihnen allein schon ein Blick auf Taf. II und III zeigt, sind die Embryonen der Vögel zu einer Zeit, in der sie bereits sehr wesentlich von den Embryonen der Säugethiere verschieden er- scheinen, von denen der Schildkröten und anderer Reptilien noch kaum zu unterscheiden. Die Dotterfurchung ist bei. den Vögeln und Reptilien partiell, bei den Säugethieren total. Die rothen Blutzellen der ersteren besitzen einen Kern, die der letzteren da- gegen nicht. Die Haare der Säugethiere entwickeln sich in an- derer Weise, als die Federn der Vögel und die Schuppen der Reptilien. Die verschiedenen Knochen, welche den Unterkiefer ursprünglich zusammensetzen, bleiben bei den letzteren getrennt, RXV. Stammes-Geschichte der Vögel. . 641 während sie bei den Säugethieren verschmelzen. Auch fehlt diesen letzteren das Quadratbein der ersteren. Während bei den Säuge- thieren (wie bei den Amphibien) die Verbindung zwischen dem Schädel und dem ersten Halswirbel durch zwei Gelenkhöcker oder Condylen geschieht, sind diese dagegen bei den Vögeln und Rep- tilien zu einem einzigen verschmolzen. Daher fasst Huxley die beiden letzteren Classen mit vollem Rechte in einer Gruppe als Sauropsida zusammen und stellt diesen die Säugethiere gegenüber. Die Abzweigung der Vögel von den Reptilien fänd wahr- scheinlich während der Triasperiode statt. Die ältesten fossilen Vogelreste sind im oberen Jura gefunden worden (Archaeopterya). Aber schon in der Triaszeit lebten verschiedene Dinosaurier, die in mehrfacher Hinsicht den Uebergang von den Tocosauriern zu den Stammvätern der Vögel, den hypothetischen Protornithen, zu bilden scheinen. Zu diesen merkwürdigen Uebergangsformen gehört namentlich der schon erwähnte Compsognathus aus dem Jura von Solenhofen. Die grosse Mehrzahl der Vögel erscheint, trotz aller Mannich- faltigkeit in der Färbung des schönen Federkleides und in der Bildung des Schnabels und der Füsse, höchst einförmig organisirt, in ähnlicher Weise, wie die Insectenclasse. Den äusseren Existenz- bedingungen hat sich die Vogelform auf das Vielfältigste ange- passt, ohne dabei irgend wesentlich von dem streng erblichen Typus der characteristischen inneren Bildung abzuweichen. Die sogenannten „Ordnungen“ der Vögel unterscheiden sich daher in viel geringerem Grade von einander, als die verschiedenen Ord- nungen der Reptilien oder der Säugethiere. Im Ganzen unter- scheiden wir vorläufig hier nur vier Ordnungen von Vögeln: 1) die Urvögel (Saururae); 2) die Zahnvögel (Odontornithes); 3) die Straussvögel (Ratitae) und 4) die Kielvögel (Carinatae). Die drei letzteren kann man in der Subelasse der Vogelschwän- zigen (Ornithurae) zusammenfassen, während die erste allein die ältere Subelasse der Eidechsenschwänzigen vertritt (Saurwrae, Gener. Morphol. 1866, Bd. ID). Die erste Ordnung, die Urvögel (Saururae) sind bis jetzt bloss durch eine einzige und noch dazu unvollständig erhaltene Haeckel, Natürl. Schöpfungs-Gesch. 8. Aufl. 41 642 Urvögel und Zahnvögel. KXRVE fossile Art bekannt, welche aber als die älteste und dabei sehr eigenthümliche Vogelversteinerung eine sehr hohe Bedeutung be- ansprucht. Das ist der Urgreif oder die Archaeopteryx lithogra- phica, welche bis jetzt erst in zwei Exemplaren im lithographischen Schiefer von Solenhofen, im oberen Jura von Baiern, gefunden wurde; das erste Stück 1361, das zweite 1877. Wir dürfen ihn als einen nahen Verwandten der hypothetischen Protornis be- trachten, der gemeinsamen Stammform aller Vögel. Dieser merk- würdige Vogel scheint im Ganzen Grösse und Wuchs eines starken Raben gehabt zu haben, wie namentlich die wohl erhaltenen Beine zeigen; Kopf und Brust fehlen leider zum grössten Theil. Ein Schnabel-Fragment enthält kleine Zähne. Die Flügelbildung weicht schon etwas von derjenigen der anderen Vögel ab, noch viel mehr aber der Schwanz. Bei allen übrigen Vögeln ist der Schwanz sehr kurz, aus wenigen kurzen Wirbeln zusammengesetzt. Die letzten derselben sind zu einer dünnen, senkrecht stehenden Knochenplatte verwachsen, an welcher sich die Steuerfedern des Schwanzes fächerförmig ansetzen. Die Archäopteryx dagegen hat einen langen Schwanz, wie die Eidechsen, aus zahlreichen (20) langen und dünnen Wirbeln zusammengesetzt; und an jedem Wirbel sitzen zweizeilig ein Paar starke Steuerfedern, so dass der ganze Schwanz regelmässig gefiedert erscheint. Dieselbe Bildung der Schwanzwirbelsäule zeigt sich bei den Embryonen der übrigen Vögel vorübergehend, so dass offenbar der Schwanz der Archä- opteryx die ursprüngliche, von den Reptilien ererbte Form des Vogelschwanzes darstellt. Wahrscheinlich lebten ähnliche Urvögel mit Eidechsenschwanz um die mittlere Seeundärzeit in grosser Menge; der Zufall hat uns aber erst diesen einen Rest bis jetzt enthüllt. Eine zweite, ebenfalls ausgestorbene Vogel-Ordnung bilden die merkwürdigen Zahnvögel (Odontornithes), welche Marsh in der Kreide von Nord-Amerika entdeckt hat. Sie hatten bereits den kurzen Fächerschwanz der gewöhnlichen Kielvögel, aber im Schnabel trugen sie noch zahlreiche Zähne, wie die Urvögel. Zum Theil waren sie sehr gross. Hesperornis, der einem schwimmen- den und fleischfressenden Straussvogel glich, erreichte über 2 Meter Länge. Diese Form schliesst sich eng an die folgende Ordnung BEXV. Straussvögel und Kielvögel. 643 die Ratiten an, während andere Zahnvögel (Ichthyornis) mehr den Carinaten (Schwimmvögeln) verwandt sind. Die dritte Ordnung, die Straussvögel (Ratitae), auch Lauf- vögel (Cursores) genannt, sind gegenwärtig nur noch durch wenige lebende Arten vertreten, durch den zweizehigen afrikani- schen Strauss, die dreizehigen amerikanischen und neuholländi- schen Strausse, die indischen Casuare, und die vierzehigen Kiwis oder Apteryx von Neuseeland. Auch die ausgestorbenen Riesen- vögel von Madagaskar (Aepyornis) und von Neuseeland (Dinor- nis), welche viel grösser waren als die jetzt lebenden grössten Strausse, gehören zu dieser Gruppe. Wahrscheinlich sind die straussartigen Vögel durch Abgewöhnung des Fliegens, durch die damit verbundene Rückbildung der Flugmuskeln und des den- selben zum Ansatz dienenden Brustbeinkammes, und durch ent- sprechend stärkere Ausbildung der Hinterbeine zum Laufen, aus verschiedenen Zweigen der kielbrüstigen Vögel entstanden. Sie bilden demnach eine polyphyletische Gruppe. Weniger wahr- scheinlich ist eine andere, namentlich von Huxley vertretene Ansicht; hiernach würden die Straussvögel nicht von Flugvögeln abstammen, sondern nächste Verwandte der Dinosaurier, nament- lich des Compsognathus sein; sie stünden dann den Urvögeln näher als die Kielvögel. Zu den Kielvögeln (Carinatae) gehören alle jetzt lebenden Vögel, mit Ausnahme der straussartigen oder Ratiten. Sie haben sich wahrscheinlich in der zweiten Hälfte der Secundärzeit, in der Jurazeit oder in der Kreidezeit, aus den fiederschwänzigen Urvögeln durch Verwachsung der hinteren Schwanzwirbel und Verkürzung des Schwanzes entwickelt. Aus der Secundärzeit kennt man von ihnen nur sehr wenige Reste, und zwar nur aus dem letzten Abschnitt derselben, aus der Kreide. Diese Reste gehören mehreren Schwimmvögeln und Stelzvögeln an. Alle übrigen bis jetzt bekannten versteinerten Vogelreste sind in den Tertiärschichten gefunden. Da alle diese Kielvögel unter sich sehr nahe verwandt sind und durch mannichfaltige Beziehungen viel- fach verknüpft erscheinen, so ist ihre Stammes-Geschichte sehr schwierig zu enträthseln. 41* 644 Fürbringer’s Stereometrische Stammbäume. xy In neuester Zeit hat Max Fürbringer in einem grossen Werke: Untersuchungen zur Morphologie und Systematik der Vögel (1558), mit vorzüglichem Geschick den schwierigen Ver- such unternommen, die verwickelten Verwandtschafts-Beziehungen der ganzen Vogel-Classe phylogenetisch aufzuklären. Er gelangt auf Grund höchst sorgfältiger und umfassender Untersuchungen zu der Ueberzeugung, dass die ganze Classe monophyletisch ist, und von einer alten (wahrscheinlich der Trias- oder Perm- Periode angehörigen) Gruppe von Urvögeln abstammt. Als ein- ziger bekannter Ueberrest dieser Stammgruppe ist die Archae- opterya lithographica aus dem Jura zu betrachten. Die Ordnungen der Zahnvögel und der Straussvögel sind nach Fürbringer beide polyphyletisch, und stammen von verschiedenen Abtheilungen fliegender Vögel oder Carinaten ab. Letztere theilt er in vier verschiedene Ordnungen: Pelargornithes (die Raubvögel und die meisten Schwimmvögel), Charadriornithes (die Mehrzahl der Stelz- vögel), Alectorornithes (die meisten Hühner-Vögel) und Coracor- nithes (die Masse der Kletter-, Schrei- und Sing-Vögel). Unter den Ratiten unterscheidet er als drei verschiedene Ordnungen die Casuare (Hippaleetryornithes), die amerikanischen Strausse (Rheor- nithes) und den afrikanischen Strauss (Struthiornithes). Die kritische und umsichtige Art, mit welcher Fürbringer das massenhaft angehäufte Material der Vögel-Morphologie phylo- genetisch bearbeitet und zur Begründung seines neuen Systems verwerthet hat, kann als mustergültig hingestellt werden. Auch hat dieser ausgezeichnete Anatom zum ersten Male stereome- trische Stammbäume aufgestellt (S. 1119 und 1569, sowie Taf. XXVII—XXX seines Werkes). Er bringt hier das Bild des körperlichen Stammbaums graphisch zur vollen Anschauung, in- dem er mehrere verticale Ansichten (von verschiedenen Seiten) durch horizontale planimetrische Projectionen ergänzt. Die un- vollkommene Form, in welcher ich selbst in meiner generellen Morphologie 1866 die ersten Entwürfe der systematischen Stamm- bäume veröffentlichte und in den verschiedenen Auflagen der „Natürlichen Schöpfungs-Geschichte* zu verbessern bestrebt war, musste schon deshalb sehr ungenügend bleiben, weil dieselben EXV. Ordnungen und Familien der Vögel. 645 Systematische Uebersicht über die Ordnungen und Familien der Vögel. Ordnungen Charactere | rn Familien | Eine Gattung Gen Se der Vögel | als Beispiel er Vöge als Beispie Vögel. Ordnungen Eli = | - Zähne im Schnabel Langer Eidechsen- Saururae Brustbein mit Kiel Zähne im Schnabel Kurzer Büschelschwanz. ei Odontornithes (gebüschelt) Brustbein ohne Kiel ns | | | | ı schwanz (gefiedert) | 9, Protornithes Archaeopteryges 3. Hesperornithes 4. Ichthyornithes Keine Zähne im | a ner de IH. Schnabel 6. Dinornithes Straussvögel 4 Kurzer Büschelschwanz\ 7. Casuaridae Ratitae gebüschelt) 8. Rheidae Brustbein ohne Kiel | De hrardss 10. Dromaeognathae 11. Spheniscidae 12. Pygopodes 15. Longipennes 414. Steganopodae 15. Lamellirostres Keine Zähne im 16. Ciconariae Schnabel IT. Grallae Kurzer Fächer- 13. Base Carinatae schwanz (gefächert) Brustbein mit Kiel 19. Gyrantes 20. Passerinae 21. Macrochires 22. Picariae 23. Coceyges 24 Psittacidae 25. Raptatores Protornis fr Archaeopteryx f Hesperornis f Ichthyornis f Apteryx Dinornis Casuarius Rhea Struthio Tinamus Aptenodytes Colymbus Larus Pelecanus Cygnus Ardea Scolopax Gallus Columba Fringilla Öypselus Picus Rhamphastus Psittacus Aquila 646 Stereometrische Stammbäume. xXV \ nur in einer verticalen Ebene projieirt sind. Die stereometrische Form des Stammbaums, welche Fürbringer hier zuerst versucht, bedeutet einen grossen Fortschritt der phylogenetischen Erkennt- niss und Darstellung. Jeder Naturforscher, welcher in die ver- wickelte Stammes-Geschichte einer grösseren oder kleineren Formen- Gruppe einen klaren Einblick gewinnen will, wird seinem Beispiel folgen müssen; und indem er „das mannichfache Gewirr der phy- logenetischen Entwickelungsbahnen graphisch von verschiedenen Seiten darstellt,“ die verticalen Ansichten durch horizontale Pro- jectionen (— oder „Querschnitte des Stammbaums“ —) ergänzt, eine weit klarere Vorstellung von den wahren Verwandtschafts- Beziehungen gewinnen, als es sonst möglich ist. Der stereome- trische Stammbaum ist allerdings viel schwieriger herzustellen, als der bisher gebräuchliche planimetrische Stammbaum; er ist aber auch von viel höherem intellectuellem Werthe, und bildet das Ziel für die fortschreitende Phylogenie der Zukunft. Sechsundzwanzigster Vortrag. Stammes-Geschichte der Säugethiere. System der Säugethiere nach Linne und nach Blainville. Drei Unter- elassen der Säugethiere (Ornithodelphien, Didelphien, Monodelphien). Orni- thodelphien oder Monotremen. Eierlegende Säugethiere. Schnabelthiere (Or- nithostomen) und Ursäuger (Promammalien). Didelphien oder Marsupialien. Pflanzenfressende und fleischfressende Beutelthiere (Phytophaga und Zoophaga). Monodelphien oder Placentalien (Placentalthiere). Bedeutung der Placenta. Paläontologische Entdeckungen der Neuzeit in Europa und Nardamerica; tertiäre Placental-Fauna. Vollständige Stammbäume. Sechs Legionen und zwanzig Ordnungen der Placentalen. Ihr typisches Gebiss. Zahnarme (Eden- tata). Walthbiere (Cetaceen und Sirenen). Hufthiere. Stammhufer. Unpaar- hufer. Paarhufer. Rüsselthiere. Platthufer. Nagethiere. Die vier Ordnungen der Raubthiere (Creodonten, Insectenfresser, Fleischfresser und Robben). Die Legion der Primaten: Halbaffen, Flederthiere, Affen und Menschen. Meine Herren! Es giebt nur wenige Ansichten in der Syste- matik der Organismen, über welche die Naturforscher von jeher einig gewesen sind. Zu diesen wenigen unbestrittenen Punkten gehört die bevorzugte Stellung der Säugethier-Classe an der Spitze des Thierreichs. Der Grund dieses Privilegiums liegt theils in dem besonderen Interesse, dem mannichfaltigen Nutzen und dem vielen Vergnügen, das in der That die Säugethiere mehr als alle anderen Thiere bem Menschen darbieten; theils und noch mehr aber in dem Umstande, dass der Mensch selbst ein Glied dieser Classe ist. Denn wie verschiedenartig auch sonst die Stellung des Menschen in der Natur und im System der Thiere beurtheilt worden ist, niemals ist je ein Naturforscher darüber in Zweifel gewesen, dass der Mensch, mindestens rein morphologisch be- trachtet, zur Classe der Säugethiere gehöre. Daraus folgt aber 648 System der Säugethiere nach Linne und nach Blainville.e. XXVI. für uns ohne Weiteres der höchst bedeutende Schluss, dass der Mensch auch seiner Blutsverwandtschaft nach ein Glied dieser Thierclasse ist, und aus längst ausgestorbenen Säugethier-Formen sich historisch entwickelt hat. Dieser Umstand allein schon wird es rechtfertigen, dass wir hier der Stammes-Geschichte der Säuge- thiere unsere besondere Aufmerksamkeit zuwenden. Lassen Sie uns zu diesem Zwecke wieder zunächst das System dieser Thier- classe untersuchen. Von den älteren Naturforschern wurden die Säugethiere mit vorzüglicher Rücksicht auf die Bildung des Gebisses und der Füsse in eine Reihe von 8—16 Ordnungen eingetheilt. Auf der tiefsten Stufe dieser Reihe standen die Walfische, welche durch ihre fisch- ähnliche Körpergestalt sich am meisten vom Menschen, der höch- sten Stufe, zu entfernen schienen. So unterschied Linne folgende acht Ordnnngen: 1. Cete (Wale); 2. Belluae (Flusspferde und Pferde); 3. Pecora (Wiederkäuer); 4. @lires (Nagethiere und Nashorn); 5. Bestiae (Insectenfresser, Beutelthiere und verschiedene Andere); 6. Ferae (Raubthiere); 7. Bruta (Zahnarme und Ele- phanten); 8. Primates (Fledermäuse, Halbaflen, Affen und Men- schen). Nicht viel über diese Classification von Linne erhob sich diejenige von Cuvier, welche für die meisten folgenden Zoologen maassgebend wurde. Cuvier unterschied folgende acht Ordnungen: 1. Cetacea (Wale); 2. Ruminantia (Wiederkäuer); 3. Pachyderma (Hufthiere nach Ausschluss der Wiederkäuer); 4. Edentata (Zahn- arme); 5. Rodentia (Nagethiere); 6. Carnassia (Beutelthiere, Raubthiere, Inseetenfresser und Flederthiere); 7. Quadrumana (Halbaffen und Affen); 8. Bimana (Menschen). Den bedeutendsten Fortschritt in der Classification der Säuge- thiere that schon 1816 der ausgezeichnete, bereits vorher erwähnte Anatom Blainville, welcher zuerst mit tiefem Blick die drei natürlichen Hauptgruppen oder Unterclassen der Säugethiere er- kannte und sie nach der Bildung ihrer Fortpflanzungsorgane als Ornithodelphien, Didelphien und Monodelphien unter- schied. Da diese Eintheilung heutzutage mit Recht bei allen wissenschaftlichen Zoologen wegen ihrer tiefen Begründung durch | die Entwickelungs-Geschichte als die beste gilt, so wollen wir a Unterschiede der drei Unterelassen der Säugethiere. 649 XXVI. derselben auch hier folgen. Die Unterschiede, welche diese drei Subelassen der Wirbelthiere von einander trennen, sind so man- nichfaltig und so wichtig, dass sie in der That drei verschiedenen historischen Entwickelungsstufen der Classe entsprechen. Es er- scheint daher zweckmässig, dieselben vorläufig hier in folgender Uebersicht zusammenzustellen: Gabelthiere | Beutelthiere |Placentalthiere oder | oder oder 3 Gabler Beutler Placentner Drei Unterelassen der - Säugethi Monotrema Marsupialia Placentalia äugethiere = (Prototheria | (Metatheria (Eutheria oder oder | oder '‘Ornithodelphia) Didelphia) Monodelphia) 1. Fortpflanzung eierlegend lebendig ge- lebendig ge- bärend bärend 2. Eier gross, dotter- klein, ohne klein, ohne reich, mit Schale Schale Schale 3. Zitzen oder Milch- ‚ fehlend vorhanden vorhanden warzen 4. Placenta oder Mutter- fehlend fehlend | vorhanden kuchen 9. Kloakenbildung bleibend embryonal | embryonal 6. Beutelknochen vorhanden vorhanden fehlend 7. Schlüsselbeine (Clavi- | verwachsen nicht nicht culae) mit dem Brust- verwachsen verwachsen bein verwachsen 8. Rabenbeine (Cora- völlig ausge ganz ganz eoidea) bildet rückgebildet rückgebildet 9. Schwielenkörper des | nicht entwickelt |nicht entwickelt | stark entwickelt Gehirns 10. Bluttemperatur niedrig hoch hoch (2527C) | (82—36° C.) (35—40° C.) Der Umfang der drei Subelassen der Säuger ist äusserst ver- schieden. Von der ersten und niedersten, den Monotremen oder Gabelthieren, kennen wir nur zwei noch lebende Gattungen, die Schnabelthiere Australiens. Die zweite Unterklasse, welche 650 Sehnabelthiere (Ornithostomen). Stammsäuger (Promammalien). XXVI. einen mittleren Rang in der historischen und morphologischen Entwickelung einnimmt, wird ausschliesslich durch die Marsu- pialen oder Beutelthiere gebildet; zahlreiche Formen derselben leben noch heute in Australien, und einige in Amerika. Alle übrigen Mammalien, die Hauptmasse der ganzen formenreichen Classe, gehören zur dritten Subelasse, den Placentalen oder Pla- centalthieren. Diese letzteren sind es, welche seit Beginn der Tertiärzeit die Herrschaft im Wirbelthier-Stamm sich angeeignet, und eine solche Menge von interessanten und wichtigen Thier- formen erzeugt haben, dass wir danach das ganze caenozoische Zeitalter als das der Säugethiere bezeichnen konnten. Die erste Unterelasse bilden die Gabler oder Gabelthiere, oft auch Kloakenthiere oder Zitzenlose genannt (Mono- trema, Ornithodelphia oder Prototheria). Sie sind heute nur noch durch zwei lebende Säuger-Gattungen vertreten, die auf Neuholland und die benachbarten Inseln (Neu-Guinea und Vandiemensland) beschränkt sind: das wegen seines Vogelschnabels sehr bekannte Wasserschnabelthier (Ornithorhynchus paradoxus) und das weniger bekannte, igelähnliche Landschnabelthier (Kchidna hystrie und zwei verwandte Arten). Diese beiden seltsamen Thiere, welche man in der Ordnung der Schnabelthiere (Orni- thostoma) zusammenfasst, sind offenbar die letzten überlebenden Reste einer vormals formenreichen Thiergruppe, welche in der älteren Secundärzeit allein die Säugethier-Classe vertrat, und aus der sich erst später, wahrscheinlich in der Trias- oder Jura- Periode die zweite Unterelasse, die Didelphien, entwickelte. Lei- der sind uns von dieser ältesten Stammgruppe der Säugethiere, welche wir als Stammsäuger (Promammalia) bezeichnen wollen, bis jetzt noch keine fossilen Reste mit voller Sicherheit bekannt. Doch gehören dazu möglicherweise die ältesten bekannten von allen versteinerten Säugethieren, namentlich der Microlestes anti- quus, von dem man bis jetzt allerdings nur einige kleine Back- zähne kennt. Diese sind in den obersten Schichten der Trias, im Keuper, und zwar zuerst (1547) in Deutschland (bei Degerloch unweit Stuttgart), später auch (1858) in England (bei Frome) gefunden worden. Aehnliche Zähne sind neuerdings auch in der EEE DET n ”, i ” xXXVl. Kloakenthiere (Monotremen oder Ornithodelphien). 651 nordamerikanischen Trias gefunden und als Dromatherium syl- vestre beschrieben. Diese merkwürdigen Zähne, aus deren charac- teristischer Form man auf ein insectenfressendes Säugethier schliessen kann, sind die einzigen Reste von Säugethieren, welche man bis jetzt in den älteren Secundärschichten, in der Trias, ge- funden hat. Vielleicht gehören aber ausser diesen auch noch manche andere, im Jura und in der Kreide gefundene Säugethier- zähne, welche jetzt gewöhnlich Beutelthieren zugeschrieben wer- den, eigentlich Promammalien an. Bei dem Mangel der charac- teristischen Weichtheile lässt sich dies nicht sicher unterscheiden. Jedenfalls müssen dem Auftreten der Beutelthiere zahl- reiche, mit entwickeltem Gebiss und mit einer Kloake versehene Monotremen vorausgegangen sein. Ornithodelphien wurden die Monotremen von Blainville deshalb genannt, weil sie in der Bildung der Fortpflanzungs-Organe auffallend mit den Vögeln und Reptilien übereinstimmen; offenbar beruht diese wichtige Aehnlichkeit auf Vererbung von einer ge- meinsamen uralten Stammgruppe, den Protamnien oder Pro- reptilien.. Auf Grund derselben, und insbesondere aus dem Bau der weiblichen Organe, hatte Lamarck schon 1809 geschlossen, dass die Schnabelthiere nicht lebendige Junge gebären, gleich den übrigen Säugern, sondern Eier legen, gleich den Sauropsiden. Diese Vermuthung wurde erst 75 Jahre später durch unmittelbare Beobachtung bestätigt. Erst im Jahre 1384 entdeckten Haacke und Caldwell fast gleichzeitig und unabhängig von einander, dass die Monotremen grosse, dotterreiche und weichschalige Eier ablegen, ähnlich den Reptilien. Ornithorhynchus verbirgt sein Ei in einer Erdhöhle, Echidna in einer Bruttasche am Bauche. Die jungen, aus dem Ei ausgeschlüpften Monotremen saugen nicht die Milch ihrer Mutter gleich den übrigen Säugern; sondern sie lecken den nahrhaften Schweiss ihrer Mutter; nach der interessanten Entdeckung von Gegenbaur wird hier die ernährende Flüssigkeit von den vergrösserten Schweissdrüsen der Mammartasche geliefert; während die Milch der Beutler und Placentner von den Talg- drüsen derselben gebildet wird; diese beiden Subelassen allein besitzen auch wirkliche Zitzen oder Saugwarzen zum Säugen 652 Kloakenthiere (Monotremen oder Ornithodelphien). xXXVE (— daher,, Zitzenthiere oder Mastozoa* —); den Monotremen fehlen dieselben noch ganz (— daher „Zitzenlose oder Amasta* —). Die Bezeichnung „Kloakenthiere“ (Monotrema) im weiteren Sinne haben die Ornithodelphien wegen der Kloake erhalten, durch deren Besitz sie sich von allen anderen Säugethieren unter- scheiden und dagegen mit den Vögeln, Reptilien, Amphibien, überhaupt mit den niederen Wirbelthieren übereinstimmen. Die Kloakenbildung besteht darin, dass der letzte Abschnitt des Darm- canals die Mündungen des Urogenitalapparates, d. h. der ver- einigten Harn- und Geschlechtsorgane, aufnimmt, während diese bei allen übrigen Säugethieren (Didelphien sowohl als Mono- delphien) getrennt vom Mastdarm ausmünden. Jedoch ist auch bei diesen in der ersten Zeit des Embryolebens die Kloakenbildung vorhanden, und erst später (beim Menschen gegen die zwölfte Woche der Entwickelung) tritt die Trennung der beiden Mün- dungsöffnungen ein. „G@abelthiere“ hat man die Kloakenthiere genannt, weil die starken Schlüsselbeine mittelst des Brustbeins mit einander in der Mitte zu einem Knochenstück verwachsen sind, ähnlich dem bekannten „Gabelbein“ der Vögel. Bei den übrigen Säugethieren bleiben die beiden Schlüsselbeine vorn völlig getrennt und verwachsen nicht mit dem Brustbein. Ebenso sind auch die hinter den Schlüsselbeinen liegenden Rabenbeine oder Korakoidknochen bei den Gabelthieren viel stärker als bei den übrigen Säugethieren entwickelt und verbinden sich als ein paar selbständige starke Knochen mit dem Brustbein; bei den Beutlern und Placentnern hingegen sind dieselben ganz rückgebildet, bald verschwunden, bald mit dem Schulterblatt verwachsen und nur als kurze Fortsätze desselben noch sichtbar. Auch in vielen anderen Characteren, namentlich in der Bil- dung des Gehörlabyrinthes und des Gehirns, schliessen sich die Schnabelthiere näher den übrigen Wirbelthieren als den Säuge- thieren an, so dass man sie selbst als eine besondere Classe von diesen hat trennen wollen. So ist z. B. die Bluttemperatur (25°) bedeutend niedriger als bei den übrigen Säugern (35—40°). Hin- gegen zeigen sie durch den Bau ihres Herzens und der Aorta, namentlich aber auch durch die characteristische Behaarung der XV. Kloakenthiere (Monotremen oder Örnithodelphien). 653 Haut, den Bau der Wirbelsäule und des Schädels ete. deutlich, dass sie im System noch zu den Säugern zu stellen sind, wenn auch mit wichtigen Anklängen an die Stammgruppe der uralten Proreptilien. Die auffallende Schnabelbildung der beiden noch lebenden Schnabelthiere, welche mit Verkümmerung der Zähne ver- bunden ist, muss offenbar nicht als wesentliches Merkmal der ganzen Unterclasse der Kloakenthiere, sondern als ein zufälliger Anpassungs-Character angesehen werden; derselbe unterscheidet die letzten Reste der Classe von der ausgestorbenen Hauptgruppe eben so, wie die Bildung eines ebenfalls zahnlosen Rüssels manche Zahnarme (z. B. die Ameisenfresser) vor den übrigen Placental- thieren auszeichnet. Wahrscheinlich haben die Stammformen unserer heutigen Schnabelthiere ihre Zähne aus ähnlichen Gründen verloren, wie die heutigen Vögel, welche ursprünglich von Zahn- vögeln abstammen. Die unbekannten ausgestorbenen Stamm- Säugethiere oder Promammalien, die in der Triaszeit lebten, und von denen die beiden heutigen Schnabelthiere nur einen einzelnen, verkümmerten und einseitig ausgebildeten Ast darstellen, besassen jedenfalls ein zahnreiches und sehr entwickeltes Gebiss, gleich den Theriosauriern, von denen sie abstammen, und gleich den Beutelthieren, die sich zunächst aus ihnen entwickelten. Die Beutelthiere oder Beutler (Didelphia oder Marsu- pialia, von Huxley Metatheria genannt) bilden die zweite von den drei Unterclassen der Säugethiere; sie vermittelt in jeder Hinsicht, sowohl in anatomischer und embryologischer, als in genealogischer ' und historischer Beziehung, den Uebergang zwischen den beiden anderen, den Gabelthieren und Placentalthieren. Zwar leben von dieser Gruppe noch jetzt zahlreiche Vertreter, namentlich die all- bekannten Känguruhs, Beutelratten und Beutelhunde. Allein im Ganzen geht offenbar auch diese Unterclasse, gleich der vorher- gehenden, ihrem völligen Aussterben entgegen, und die noch lebenden Glieder derselben sind die letzten überlebenden Reste einer. grossen und formenreichen Gruppe, welche während der mittleren und jüngeren Secundärzeit vorzugsweise die Säugethier- Ülasse vertrat. Wahrscheinlich haben sich die Beutelthiere schon 694 Beutelthiere oder Marsupialien. XXVpR zu Anfang oder um die Mitte der mesolithischen Zeit, während der Trias- oder Juraperiode, aus einem Zweige der Monotremen entwickelt. Später, im Beginn oder gegen Ende der Kreidezeit sing wiederum aus den Beutelthieren die Gruppe der Placental- thiere hervor, welchen die ersteren dann bald im Kampfe um’s Dasein unterlagen. Alle fossilen Reste von Säugethieren, welche wir aus der Secundärzeit kennen, scheinen entweder Beutelthieren oder zum Theil auch Gabelthieren anzugehören. Damals waren Beutelthiere über die ganze Erde verbreitet. Selbst in Europa (England, Frankreich) finden wir wohl erhaltene Reste derselben. Dagegen sind die letzten Ausläufer der Unterclasse, welche jetzt noch leben, auf ein sehr enges Verbreitungsgebiet beschränkt, nämlich auf Neuholland, auf den australischen und einen kleinen Theil des asiatischen Archipelagus. Einige wenige Formen (aus der Familie der Beutelratten) leben auch noch in Amerika; hin- gegen existirt in der Gegenwart kein einziges Beutelthier mehr auf dem Festlande von Asien, in Afrika und Europa. Die Beutelthiere führen ihren Namen von der bei den meisten wohl entwickelten beutelförmigen Tasche (Marsupium), welche sich an der Bauchseite der weiblichen Thiere vorfindet, und in welcher die Mutter ihre Jungen noch eine geraume Zeit lang nach der Geburt umherträgt. Dieser Beutel wird durch zwei characteristische Beutelknochen gestützt, welche auch den Schnabel- thieren zukommen, den Placentalthieren dagegen fehlen. Das junge Beutelthier wird in viel unvollkommener Gestalt geboren, als das junge Placentalthier, und erreicht erst, nachdem es einige Zeit im Beutel sich entwickelt hat, denjenigen Grad der Ausbil- dung, welchen das letztere schon gleich bei seiner Geburt besitzt. Bei dem Riesenkänguruh, welches Mannshöhe erreicht, ist das neugeborene Junge, das kaum einen Monat von der Mutter im Fruchtbehälter getragen wurde, nicht mehr als zolllang; dasselbe erreicht seine wesentliche Ausbildung erst nachher in dem Beutel der Mutter, wo es gegen neun Monate, an der Zitze der Milch- drüse festgesaugt, hängen bleibt. Die verschiedenen Abtheilungen, welche man gewöhnlich als sogenannte Familien in der Unterelasse der Beutelthiere unter- ” ERBEN RRVI. Pflanzenfressende Beutelthiere. 655 scheidet, verdienen eigentlich den Rang von selbstständigen Ord- nungen, da sie sich in der mannichfaltigen Differenzirung des Gebisses und der Gliedmaassen in ähnlicher Weise, wenn auch nicht so scharf, von einander unterscheiden, wie die verschiedenen Ordnungen der Placentalthiere. Zum Theil entsprechen sie den letzteren vollkommen. Offenbar hat die Anpassung an ähnliche Lebensverhältnisse in den beiden Unterclassen der Marsupialien und Placentalien entsprechende Umbildungen der ursprünglichen Grundform bewirkt; ein Beweis für die Macht der Angleichung oder Convergenz (S. 273). Man kann demnach ungefähr acht Ordnungen von Beutelthieren unterscheiden, von denen die eine Hälfte die Hauptgruppe oder Legion der pflanzenfressenden, die andere Hälfte die Legion der fleischfressenden Marsupialen bildet. Von beiden Legionen finden sich (falls man nicht auch den vorher erwähnten Mikrolestes und das Dromatherium der Trias hierher ziehen will) die ältesten fossilen Reste im Jura vor, und zwar in den Schiefern von Stonesfield, bei Oxford in Eng- land. Diese Schiefer gehören der Bathformation oder dem unteren Oolith an, derjenigen Schichtengruppe, welche unmittelbar über dem Lias, der ältesten Jurabildung, liegt (vergl. S. 383). Aller- dings bestehen die Beutelthierreste, welche in den Schiefern von Stonesfield gefunden wurden, und ebenso diejenigen, welche man später in den Purbeckschichten fand, nur aus Unterkiefern (vergl. S. 395). Allein glücklicherweise gehört gerade der Unterkiefer zu den am meisten characteristischen Skelettheilen der Beutel- thiere. Er zeichnet sich nämlich durch einen hakenförmigen Fort- satz des nach unten und hinten gekehrten Unterkieferwinkels aus, welcher weder den Placentalthieren, noch den (heute lebenden) Schnabelthieren zukömmt, und wir können aus der Anwesenheit dieses Fortsatzes an den Unterkiefern von Stonesfield schliessen, dass sie Beutelthieren angehört haben. Die erste und ältere Legion der Marsupialen, welche von einem Zweige der Prommalien abstammt, bilden die fleisch- fressenden Beutelthiere (Zoophaga). Sie umfasst vier ver- schiedene Hauptgruppen oder Ordnungen. Die älteste von diesen ist die der Urbeutler oder insectenfressenden Beutelthiere (Pro- 656 Fleischfressende Beutelthiere. XXVE didelphia). Zu dieser gehören wahrscheinlich die Stammformen der ganzen Legion, und vielleicht auch der ganzen Unterclasse. Wenigstens gehören alle stonesfielder Unterkiefer (mit Ausnahme von Plagiaulax und Stereognathus) insectenfressenden Beutelthieren an, welche in dem jetzt noch lebenden Myrmecobius ihren nächsten Verwandten besitzen. Doch war bei einem Theile jener oolithi- schen Urbeutler die Zahl der Zähne grösser, als bei den meisten übrigen Säugethieren. Denn jede Unterkieferhälfte von Thyla- cotherium enthielt 16 Zähne (3 Schneidezähne, 1 Eckzahn, 6 falsche und 6 wahre Backzähne). Wenn in dem unbekannten Oberkiefer eben so viel Zähne sassen, so hatte T’hylacotherium nicht weniger als 64 Zähne, gerade doppelt so viel als der Mensch. Die Ur- beutler entsprechen im Ganzen den Insectenfressern unter den Placentalthieren, zu denen Igel, Maulwurf und Spitzmaus gehören. Eine zweite Ordnung, die sich wahrscheinlich aus einem Zweige der ersteren entwickelt hat, sind die Rüsselbeutler oder zahn- armen Beutelthiere (Kdentula), welche durch die rüsselförmig verlängerte Schnauze, das verkümmerte Gebiss und die demselben entsprechende Lebensweise an die Zahnarmen oder Edentaten unter den Placentalien, insbesondere an die Ameisenfresser, er- innern (Tarsipes). Andrerseits gleichen die Beutelmarder oder Raubbeutelthiere (Creophaga) durch Lebensweise und Bildung des Gebisses den eigentlichen Raubthieren oder Carnivoren unter den Placentalthieren. Es gehören dahin der Beutelmarder (Dasyurus) und der Beutelwolf (Thylacinus) von Neuholland. Obwohl letz- terer die Grösse des Wolfes erreicht, ist er doch ein Zwerg gegen die ausgestorbenen Beutellöwen Australiens ( Thylacoleo), welche mindestens von der Grösse des Löwen waren und Reisszähne von mehr als zwei Zoll Länge besassen. Die vierte fleischfressende Ordnung bilden die Handbeutler oder die affenfüssigen Beu- telthiere (Pedimana), welche in den wärmeren Gegenden von Amerika leben. Sie finden sich häufig in zoologischen Gärten, namentlich verschiedene Arten der Gattung Didelphys, unter dem Namen der Beutelratten, Buschratten oder Opossum bekannt. An ihren Hinterfüssen kann der Daumen unmittelbar den vier übrigen Zehen entgegengesetzt werden, wie bei einer Hand, und 4 2 XXVI. Pflanzenfressende Beutelthiere. 657 sie schliessen sich dadurch unmittelbar an die Halbaflen oder Prosimien unter den Placentalthieren an. Es wäre möglich, dass diese letzteren wirklich den Handbeutlern nächstverwandt sind und aus längst ausgestorbenen Vorfahren derselben sich entwickelt haben. Von der zweiten Marsupialen-Legion, den pflanzenfressen- den Beutelthieren (Phytophaga) kennt man bis jetzt aus dem Jura nur wenige Versteinerungen, darunter den Stereognathus oolithieus aus den Schiefern von Stonesfield (unterer Oolith) und den Plagiaulaxw Becklesii aus den mittleren Purbeckschichten (oberer Oolith). Dagegen finden sich in Neuholland versteinerte Reste von riesigen ausgestorbenen pflanzenfressenden Beutelthieren der Diluvialzeit (Diprotodon und Nototherium), welche weit grösser als die grössten jetzt noch lebenden Marsupialien waren. Dipro- todon australis, dessen Schädel allein drei Fuss lang ist, übertraf das Flusspferd oder den Hippopotamus, dem es im Ganzen an schwerfälligem und plumpem Körperbau glich, noch an Grösse. Man kann diese ausgestorbene Gruppe, welche wahrscheinlich den riesigen placentalen Hufthieren der Gegenwart, den Flusspferden und Rhinoceros, entspricht, wohl als Beutelhufer (Barypoda) bezeichnen. Diesen sehr nahe steht die Ordnung der Känguruhs oder Beutelspringer (Macropoda). Sie entsprechen durch die sehr verkürzten Vorderbeine, die sehr verlängerten Hinterbeine und den sehr starken Schwanz, der als Springstange dient, den Springmäusen unter den Nagethieren. Durch ihr Gebiss erinnern sie dagegen an die Pferde, und durch ihre zusammengesetzte Magenbildung an die Wiederkäuer. Eine dritte Ordnung von pflanzenfressenden Beutelthieren gleicht durch ihr Gebiss den Nagethieren und durch ihre unterirdische Lebensweise noch be- sonders den Wühlmäusen. Wir können dieselben daher als Beutelnager oder wurzelfressende Beutelthiere (Rhizophaga) bezeichnen. Sie sind gegenwärtig nur noch durch das austra- lische Wombat (Phascolomys) vertreten. Eine vierte und letzte Ordnung von pflanzenfressenden Beutelthieren endlich bilden die Beutelmäuse oder früchtefressenden Beutelthiere (Carpophaga), welche in ihrer Lebensweise und Gestalt theils Haeckel, Natürl. Schöpfungs-Gesch. 8. Aufl. 4D Vz er 658 Placentalthiere oder Placentner. XXVL den Eichhörnchen, theils den Affen entsprechen (Phalangista, Phascolarctus); sie leben kletternd auf Bäumen. Die dritte und letzte Unterclasse der Säugethiere bilden die Placentalthiere oder Placentner (Monodelphia oder Placen- talia). Sie ist bei weitem die wichtigste, umfangreichste und voll- kommenste von den drei Unterelassen. Denn zu ihr gehören alle bekannten Säugethiere nach Ausschluss der Beutelthiere und Schnabelthiere. Auch der Mensch gehört dieser Unterelasse an und hat sich aus niederen Stufen derselben entwickelt. Alle Placentalthiere unterscheiden sich, wie ihr Name sagt, von den übrigen Säugethieren vor Allem durch den Besitz eines sogenann- ten Mutterkuchens oder Aderkuchens (Placenta). Das ist ein sehr eigenthümliches und merkwürdiges Organ, welches bei der Ernährung des im Mutterleibe sich entwickelnden Jungen eine höchst wichtige Rolle spielt. Es entwickelt sich aus der embryo- nalen Allantois, die bei den übrigen Amnioten in Gestalt einer blutgefässreichen Blase aus dem Darm des Embryo hervorragt. Die Placenta oder der Mutterkuchen (auch Nachgeburt genannt) ist ein weicher, schwammiger, rother Körper von sehr verschie- dener Form und Grösse, welcher zum grössten Theile aus einem unentwirrbaren (reflecht von Adern oder Blutgefässen besteht. Seine Bedeutung beruht auf dem Stoffaustausch des ernährenden Blutes zwischen dem mütterlichen Fruchtbehälter oder Uterus und dem Leibe des Keimes oder Embryo (s. oben S. 296). Weder bei den Beutelthieren, noch bei den Schnabelthieren ist dieses höchst wichtige Organ entwickelt. Von diesen beiden Unterelassen unter- scheiden sich aber auch ausserdem die Placentalthiere noch durch manche andere Eigenthümlichkeiten, so namentlich durch den Mangel der Beutelknochen, durch die höhere Ausbildung der inneren Geschlechtsorgane und durch die vollkommnere Entwicke- lung des Gehirns, namentlich des sogenannten Schwielenkörpers oder Balkens (corpus callosum), welcher als mittlere Commissur oder Querbrücke die beiden Halbkugeln des grossen Gehirns mit einander verbindet. Auch fehlt den Placentalien der eigenthüm- liche Hakenfortsatz des Unterkiefers, welcher die Beutelthiere auszeichnet. Wie in diesen anatomischen Beziehungen die Beutel- BEXVI. Paläontologische Entdeekungen der Neuzeit. 659 thiere zwischen den Gabelthieren und Placentalthieren in der Mitte stehen, zeigt die vorhergehende Zusammenstellung der wich- tigsten Charactere der drei Unterclassen (S. 649). Die Placentalthiere sind in weit höherem Maasse mannich- faltig differenzirt und vervollkommnet, als die Beutelthiere, und man hat daher dieselben längst in eine Anzahl von Ordnungen gebracht, die sich hauptsächlich durch die Bildung des Gebisses und der Füsse unterscheiden. Gewöhnlich werden jetzt in den zoologischen Lehrbüchern 10 — 12 solcher Placentner-Ordnungen aufgezählt, während man alle Beutelthiere in einer einzigen Ord- _ nung vereinigt, und ebenso auch alle Schnabelthiere. Allein durch die grossartigen paläontologischen Entdeckungen der beiden letzten Decennien sind unsere Anschauungen über Zahl, Umfang und Verwandtschaft dieser Ordnungen, sowie überhaupt über das System der Placentalthiere, gründlich umgestaltet worden. Die Untersuchungen von Rütimeyer über die Fauna der Pfahl- bauten und insbesondere die Phylogenie der Hufthiere, die Ent- deckung einer überraschend reichen miocaenen Placentalen-Fauna in Griechenland (bei Pikermi und Marathon) durch Gaudry, und einer noch wichtigeren eocaenen im südwestlichen Frankreich (bei Querey) durch Filhol, sowie zahlreiche kleinere Arbeiten anderer verdienstvoller Paläontologen in England, Deutschland, Frankreich nnd Italien, haben uns unzweifelhaft gelehrt, dass Europa während der Tertiär-Zeit von einer Fülle verschiedener Säugethier-Arten dicht bevölkert war, welche diejenige der reich- sten Tropen-Gegenden der Gegenwart übertrifft. Noch viel ein- greifender aber wurde das System der Placentalen durch die über- raschenden Entdeckungen umgestaltet, mit welchen im letzten Decennium die beiden berühmten Paläontologen von Nord-Ame- rika, Cope und Marsh, die Phylogenie der Säugethiere berei- cherten. Ihre bewunderungswürdigen Forschungen förderten dort eine neue Welt von tertiären Hufthieren, Raubthieren und ande- ren Placentnern — zum Theil Vertretern ganz neuer Ordnungen — zu Tage, gegen welche unsere heute lebende Fauna nur als ein schwacher Ueberrest erscheint. In Rücksicht auf die Zahl und Mannichfaltigkeit der ausgestorbenen Arten, die Grösse und 42* 660 Vollständiger Stammbaum des Pferdes. abenteuerliche Gestaltung vieler Formen, die Divergenz der klei- neren und grösseren Gruppen, vor Allen aber die Bedeutung ihrer phylogenetischen Beziehungen, gebührt dieser tertiären Placentalen- Fauna im „Zeitalter der Säugethiere* eine ebenso beherr- schende Stellung, wie den mesozoischen Sauriern im „Zeitalter der Reptilien“. Besonders hervorzuheben ist hier noch die seltene Vollstän- digkeit, mit welcher es gelungen ist, die Sammlung von vielen dieser tertiären Placentalen-Reste herzustellen. Dank der grossen Masse der oft zusammengeschwemmten Skelete, und der guten Erhaltung aller Knochentheile, kennen wir jetzt von vielen jener längst ausgestorbenen Hufthiere und Raubthiere das Knochen- gerüst so vollständig wie von unseren lebenden Zeitgenossen. Vor Allen aber ist es in vielen Fällen möglich geworden, auch die ganze Ahnen-Reihe, den unmittelbaren phylogenetischen Zusam- menhang der auseinander hervorgegangenen Gattungen, so voll- ständig herzustellen, dass ein completer paläontologischer Stammbaum greifbar vor uuseren Augen steht; so z. B. beim Pferde — dem mit Recht sogenannten „Parade-Pferde“ der paläontologisch begründeten Phylogenie. Was die Gegner der Descendenz-Theorie überhaupt als möglich bezweifelten, was die Vorsichtigen verlangten, was aber meistens wegen der bekannten „Unvollständigkeit des paläontologischen Schöpfungs-Berichtes“ leider nicht erreichbar ist — eine lückenlose Reihe von verstei- nerten transformirten Ahnen-Gattungen lebender Thiere — das ist hier bei vielen Placentalien-Gruppen zur erfreulichsten Wirk- lichkeit geworden. Natürlich reichen auch die vollständigsten paläontologischen Funde niemals aus, um uns eine ganz befriedigende Vorstellung von der Organisation ausgestorbener Thiere zu geben; denn mei- stens ist es ja nur das Skelet, das in versteinertem Zustande er- halten werden kann; und auf die Beschaffenheit anderer Theile, z. B.. des Gehirns, der Muskeln u.s. w. können wir bloss unvoll- ständige Schlüsse aus der Form des Knochengerüstes machen. Von der Bildung der meisten und wichtigsten Weichtheile (na- mentlich Herz, Eingeweide, Placenta u. s. w.) erfahren wir da- XXVl. Ursprung der Placentalthiere. 661 durch Nichts. Aber glücklicher Weise ist gerade bei den Säuge- thieren die Beschaffenheit der harten Skelet-Theile von solcher Bedeutung für die Erkenntniss der natürlichen Verwandtschaften, dass wir getrost die fossilen Placentalen der Tertiär-Zeit in das neue System der Säugethiere einreihen können. Die Verschieden- heiten in der Bildung der wichtigsten Skelet-Theile, einerseits des Schädels und Gebisses, anderseits der Gliedmaassen, erscheinon mir in dieser grossen Subelasse der Säuger so wichtig, dass ich hier nicht weniger als zwanzig Ordnungen von Placentnern unter- scheide. Dieselben lassen sich wieder in sechs grössere „Haupt- Ordnungen“ oder Legionen zasammenfassen (8.662). Unter diesen nehmen die Zahnarmen (Zdentata) und Walthiere (Ceto- morpha) die tiefste Stufe ein; die pflanzenfressenden Hufthiere (Ungulata) und Nagethiere (Rodentia) einen mittleren Rang; und die meist fleischfressenden Raubthiere (Carnassi«), darüber die Herrenthiere (Primates), stehen an der Spitze. Die wichtige Frage nach dem phylogenetischen Zusammen- hang dieser „Legionen“, oder der grossen Haupt-Abtheilungen der Placentalen, ist schwierig zu beantworten. Während wir uns über die Descendenz der Formen-Gruppen innerhalb jeder Ordnung, und meistens auch über die Stamm-Verwandtschaft der Ordnun- gen in jeder Legion, ziemlich befriedigende Vorstellungen bilden können, liegen dagegen die uralten Wurzeln der letzteren noch ganz im Dunkeln. Der eine Theil der Zoologen fasst die Pla- cental-Gruppe monophyletisch auf; d. h. er nimmt an, dass die Placenta aus der Allantois nur einmal entstanden ist, in einer Gruppe der Beutelthiere; und dass demnach das uralte, so entstandene, erste Placentalthier (Proplacentale) der gemein- same Stammvater aller übrigen geworden ist. Der andere Theil der Zoologen hingegen neigt mehr zu der polyphyletischen Vorstellung, dass jener wichtige Process, die Verwandlung der Allantois in die Placenta, sich mehrmals wiederholt hat, und dass demgemäss mehrere Stammgruppen von Placentalien aus meh- reren verschiedenen Ahnen-Reihen von Marsupialien entstanden. Für beide entgegengesetzte Hypothesen lassen sich Gründe an- führen; doch erscheint die letztere gegenwärtig wahrscheinlicher. 662 Legionen und Ordnungen der Säugethiere. XNIE Systematische Uebersicht über die 9 Legionen und 30 Ordnungen der Säugethiere. Legionen | Ordnungen Ordnungen | Beispiel | | .Promammalia Ursäuger f Prototherium I. Gabelthiere Monotrema \ [8 [ .Ornithostoma Schnabelthiere Ornithorhynchus ! 3. Prodidelphia Beutelahnent Phascolotherium II. Fleischfressende i i Bentelthi 4. Edentula Beutelrüssler Tarsipes utelthlere ; i & h | 5. Creophaga Beutelmarder Thylacinus Zoophaga i as 6.Pedimana Beutelratten Didelphys 7.Carpophaga Beutelmäuse Phalangista Il. Pflanzenfressende| _ ,,. 3 8. Rhizophaga Beutelnager Phascolomys Bentelthlare ] 9. Barypoda Beutelhufer Diprotodon Enrwpias 10. Macropoda Beutelspringer Halmaturus Iv. Zahnarme yll.Effodientia Scharrthiere Dasypus Edentata l12. Bradypoda Faulthiere Bradypus V. Walthiere 13. Cetacea Walfische Delphinus Cetomorpha \14. Sirenia Seerinder Halicore 15. Condylarthra Urhuferr Phenacodus E 16. Perissodacetyla Unpaarhufer Equus VI. Hufthiere E i a E i Sr 17. Artiodactyla Paarhufer Sus Ungulata | ’ = 18. Proboscidea Rüsselhufer Elephas 19. Hyracea Platthufer Hyrazx ’ 20. Tillodontia Hufnager r Tillotherium VII. Nagethiere | i ER ; 121. Toxodontia Pfeilnagerr Toxodon Rodentia | er \ . 22. Glirina Schneidenager Sciurus 25. Creodontia Urraubthierey Lepietis VIII. Raubthiere )24. Insectivora Inseetenfresser Erinaceus Carnassia 25. Carnivora Fleischfresser Canis 26. Pinnipedia Robben Phoca 27. Prosimiae Halbaffen Lemur IX. Herrenthiere J28. Chiroptera Flederthiere Vespertilio Primates m Simiae Affen Gorilla 30, Anthropi Menschen Homo ENXVI Stammbaum der Säugethiere. 663 Herrenthiere (Primates) Menschen Anthropi Hufihiere (Ungulata) | Raubthiere (Carnassia) u —— mm nm m U Elephanten Fleischfresser Proboscidea Menschenaffen Carnivora Anthropoides Robben Unpaarhufer Plattnasen | Pinnipedia Paarhufer Perissodactyla Platyrrhina Artiodaetyla Schmalnasen Fe ee Catarrhina Flederthiere__ _ Chiroptera Platthufer Hyracea | Nagethiere — Rodentia : Drhnier Glirina allen Condylarthra Inseetenfresser Simiae Insectivora Lemuren Lemures | h Halbaffen Urraubthiere Ne ai Toxodontia Prosimiae Creodontia Pflanzenfressende Fleischfressende Placentaithiere Placentalthiere zahnarme Walthiere Edentata | 8 —n Getacea m Faulthiere Scharrthiere Bradypoda Effodientia | | | Nm mm nn (m mumen — ] Placentalthiere Placentalia | | Sirenen Tillodontia | Sirenia | | | | "% | Pflanzenfressende Beutelthiere | Fleischfressende Beutelthiere Marsupialia botanophaga Marsupialia zoophaga € | | | Beutelthiere Marsupialia Scehnabelthiere Ornithostoma | | Stammsäuger (Promammalia) Gabelthiere (Monotrema) 664 Das typische Gebiss der Placentalien. XXVR Leider giebt nns die Paläontologie darüber bis heute noch gar keine sichere Auskunft. Aus der Kreide-Periode, in welche wahrscheinlich die Entstehung des Placentalen-Stammes fällt, sind uns bis jetzt nur sehr wenige und unbedeutende Mammalien-Reste bekannt geworden. Das Gebiss der Proplacentalien, der ältesten Stamm- formen aller Placentalthiere, bestand wahrscheinlich aus sehr zahl- reichen und gleichartigen Zähnen, von einfacher, schlank kegel- förmiger Gestalt, welche nicht gewechselt wurden; es glich dem Gebiss, welches wir noch heute bei Gürtelthieren und Delphinen, sowie bei älteren Reptilien (Eidechsen) finden, und wie wir es auch bei den Promammalien und den Stammformen der Beutel- thiere voraussetzen müssen. Aus dieser primitiven Gebissform entwickelte sich dann später eine bestimmte, sehr characteristische Zusammensetzung des (Grebisses, welche uns zuerst im Beginne der Tertiärzeit begegnet. Dieses „typische Placental-Gebiss“, von welchem sich alle verschiedenen Grebissformen der Placentner (ausgenommen Edentaten und Üetaceen) ableiten lassen, besteht aus 44 Zähnen; nämlich in jeder der vier Kieferhälften 3 Schneide- zähne, 1 Eckzahn, 4 Lückenzähne und 5 Backzähne (Gebiss-Formel: a Se sinne der Eocaen-Periode, sowohl bei ältesten Fleischfressern, als Da wir diese typische Gebiss-Formel schon im Be- bei ältesten Pflanzenfressern antreffen, dürfen wir annehmen, dass dieselbe von einer sehr alten (vielleicht noch der Kreide-Periode angehörigen) placentalen Urform auf die verschiedenen Ordnungen dieser Unterelasse vererbt wurde. Die Unterschiede der vier Zahnarten (anfangs kaum bemerkbar) traten mit der Differenzirung des Gebisses immer stärker hervor, und zugleich wurde die Zahl der Zähne allmählich reducirt. Als Ueberrest einer uralten Gruppe von Placentalen betrach- ten wir zunächst die Legion der Zahnarmen, Edentata. Das Gebiss bewahrt hier die vorher erwähnte einfachste Reptilien- Bildung; bald wenige, bald sehr zahlreiche (gegen hundert) stift- förmige Zähne von gleicher Gestalt, ohne eigentliche Wurzel; bei manchen (Ameisenfressern) sind sie ganz ausgefallen (wie bei Pe Ey) u. a A A ee u ET en en ee u di AXVI. Zahnarme (Edentata). Walthiere (Cetomorpha). 665 der Echidna). Auch durch die niedere Bildungsstufe des Gehirns und die eigenthümliche Hautbedeckung (Schuppen der Schuppen- thiere, Knochenpanzer der Gürtelthiere) erinnern die Edentaten vielfach an Reptilien. Die Legion umfasst zwei sehr verschiedene, vielleicht nicht nahe verwandte Ordnungen, die Scharrthiere und die Faulthiere. Die Ordnung der Scharrthiere (Zffodienta) be- steht aus den beiden Unterordnungen der Ameisenfresser (Ver- milinguia), zu denen auch die Schuppenthiere gehören, und der Gürtelthiere (Cingulata), die früher durch die riesigen Glypto- donten vertreten waren. Die Ordnung der Faulthiere (Drady- poda) besteht aus den beiden Unterordnungen der kleinen jetzt noch lebenden Zwergfaulthiere (Tardigrada) und der ausge- storbenen schwerfälligen Riesenfaulthiere (Gravigrada). Die ungeheuren versteinerten Reste dieser colossalen Pflanzenfresser deuten darauf: hin, dass die ganze Legion im Aussterben begriffen ist. Die nahen Beziehungen der noch heute lebenden Edentaten Südamerikas zu den ausgestorbenen Riesenformen in demselben Erdtheil, machten auf Darwin bei seinem ersten Besuche Süd- amerikas einen solchen Eindruck, dass sie schon damals den Grundgedanken der Descendenz-Theorie in ihm anregten (s. oben S. 219). Uebrigens ist die Genealogie gerade dieser merkwürdigen Legion sehr schwierig. Eine andere, ebenfalls sehr alte und sehr isolirt stehende Legion der Placentalen sind die Walthiere (Cetomorpha) oft auch Fisch-Säugethiere oder schlechtweg „Walfische“ genannt. Wegen ihrer fischähnlichen Gestalt wurden diese Wasserbewohner früher zu den Fischen gerechnet. Indessen beruht diese Fisch- Aehnlichkeit nur auf Convergenz, und ist durch Anpassung an gleiche Lebensweise hervorgebracht. Es unterliegt keinem Zweifel, dass alle Walthiere von landbewohnenden vierfüssigen Placental- thieren (wahrscheinlich in der Kreidezeit lebend) abstammen. Diese Abstammung ist aber eine zweifach verschiedene, indem die beiden Ordnungen der Legion, Cetaceen und Sirenen, obwohl äusserlich höchst ähnlich, doch im inneren Bau wesentlich ver- schieden sind; auch ihre Aehnlichkeit beruht auf Convergenz. Die Hauptmasse der Walthiere gehört zur Ordnung der 666 Cetaceen und Sirenen. Xu fleischfressenden Walfische (Cetacea). Zahlreiche Gattungen und Arten derselben leben noch heute in allen Meeren, einige auch in Flüssen (z. B. der „Ganges-Delphin“). Als Stammgruppe dieser Ordnung betrachten wir die Unterordnung der Zahnwale oder Delphine (Denticete). Meistens tragen sie in ihren Kiefern sehr zahlreiche und kleine Zähne von gleichartiger, einfach kegelför- miger Gestalt (ähnlich den Gürtelthieren). Sie stammen wahr- scheinlich von einer uralten Stammgruppe der Placentalen ab, die schon in der Secundärzeit lebte. Als zwei divergirende Aeste sind aus der Delphin-Gruppe zwei höhere Unterordnungen hervor- gegangen, einerseits die Zeuglodonten (Zeuglocete), anderseits die riesigen Bartenwale (Mysticete). Zu den letzteren gehören die grössten aller lebenden Thiere, die Riesenwale (Megaptera), welche über 100 Fuss Länge erreichen. Sie tragen im Maule statt der Zähne die bekannten Barten, aus denen das -Fischbein ge- macht wird. Aber ihre Embryonen zeigen im Kiefer eingeschlossen noch die Reste der kleinen Delphin-Zähne, als Zeichen ihrer Ab- stammung (Verel. S. 11). (ranz anderen Ursprungs sind die pflanzenfressenden Sirenen oder Seerinder (Sirenia). Von dieser Ordnung leben heute nur noch zwei Gattungen (Halicore im indischen und Manatus im atlantischen Ocean); beide mit wenigen Zähnen ausgestattet. Beide haben, gleich allen Cetaceen, einen spindelförmigen Fisch- körper mit dicker, fast nackter Haut, breiter horizontaler Schwanz- flosse, und ein paar fünfzehigen Brustflossen (Vorderbeinen). Dagegen sind die Hinterbeine (Bauchflossen) verloren gegangen und haben nur ein paar innere Knochen als Rudimente hinter- lassen. Allein einige alt-eocaene Sirenen (Prorastomus u. A.) be- sassen noch entwickelte fünfzehige Hinterbeine. Diese hatten 3 Leder Sala vergl. S. 664). Da diese pflanzenfressenden Sirenen im Bau des Schädels und der typischen Zahnbildung den ältesten eocaenen Hufthieren ganz nahe verwandt erscheinen, ist wohl nicht zu zweifeln, dass sie von diesen auch wirklich abstammen. Somit auch das typische Placental-Gebiss, mit 44 Zähnen ( bilden die Cetomorphen eine diphyletische Gruppe; die XXVl. Hufthiere oder Ungulaten. 667 fleischfressenden ‚Cetaceen und die pflanzenfressenden Sirenen sind zwei verschiedene Stämme, aus ganz verschiedenen Gruppen von vierfüssigen landbewohnenden Placentalien durch Anpassung an gleiche fischartige Lebensweise entstanden. Eine der wichtigsten und umfangreichsten Gruppen unter den Placentalen bildet die grosse Legion der Hufthiere (Ungulata). Sie gehören in vieler Beziehung zu den interessantesten Säuge- thieren und zeigen deutlich, wie uns das wahre Verständniss der natürlichen Verwandtschaft der Thiere niemals allein durch das Studium der noch lebenden Formen, sondern stets nur durch gleichmässige Berücksichtigung ihrer ausgestorbenen und verstei- nerten Stammverwandten erschlossen werden kann. Wenn man in herkömmlicher Weise allein die lebenden Hufthiere berück- sichtigt, so erscheint es ganz naturgemäss dieselben in drei gänz- lich verschiedene Ordnungen einzutheilen, nämlich 1. die Pferde oder Einhufer (Solidungula oder Equina); 2. die Wiederkäuer oder Zweihufer (Bisulca oder Ruminantie); und 3. die Dick- häuter oder Vielhufer (Multungula oder Pachyderma). Sobald man aber die ausgestorbenen Hufthiere der Tertiärzeit mit in Betracht zieht, von denen wir sehr zahlreiche und wichtige Reste besitzen, so zeigt sich bald, dass jene Eintheilung, namentlich aber die Begrenzung der Diekhäuter, eine ganz künstliche ist. Denn jene drei Gruppen sind nur abgeschnittene Aeste des Huf- thierstammbaums, welche durch ausgestorbene Zwischenformen auf das engste zusammenhängen. Die eine Hälfte der Diekhäuter, Nashorn, Tapir und Paläotherien zeigen sich auf das nächste mit den Pferden verwandt, und besitzen gleich diesen unpaarzehige Füsse. Die andere Hälfte der Dickhäuter dagegen, Schweine, Flusspferde und Anoplotherien, sind durch ihre paarzehigen Füsse viel enger mit den Wiederkäuern, als mit jenen ersteren verbun- den. Wir müssen daher zunächst als zwei natürliche Haupt- gruppen unter den Hufthieren die beiden Ordnungen der Paar- hufer (Artiodactyla) und der Unpaarhufer (Perissodactyla) unterscheiden; beide haben sich als zwei divergente Aeste aus der alttertiären Stammgruppe der Urhufthiere entwickelt (Con- dylarthra). Aus derselben Stammgruppe haben sich aber ausser- 668 Unpaarhufer oder Perissodaetylen XXVl dem auch zwei andere interessante Ordnungen entwickelt, welche den Nagethieren sich nähern; die Platthufer (Hyracea) und die Rüsselthiere (Proboscidea); zu letzteren gehören die Schreck- hörner, Dinotherien und Elephanten. Dank den grossartigen Fort- schritten der Paläontologie im jüngsten Decennium, können wir jetzt die Verwandtschafts-Beziehungen dieser fünf Hufthier-Ord- nungen und ihrer zahlreichen Familien sehr klar übersehen. Als gemeinsame Stammgruppe aller Hufthiere betrachten wir die Stammhufer (Condylarthra oder Protungulata). Diese älte- sten Ungulaten, im Eocaen von Nord-Amerika entdeckt, schliessen sich in der Bildung des Skelets und der Gliedmaassen, des Schä- dels und des Gebisses, an die ältesten Placentalien anderer Ord- nungen (besonders der Raubthiere) enger an als die übrigen Huf- thiere. Sie besitzen noch das volle typische Placental-Gebiss (S. 664) und die 44 Zähne desselben sind weniger differenzirt als bei allen übrigen Hufthieren. Dasselbe gilt auch von den fünf- zehigen Füssen, deren Zehen ziemlich gleichmässig entwickelt sind. Wahrscheinlich haben sich aus dieser uralten Stammgruppe als vier divergente Stämme die übrigen Ungulaten entwickelt. Die Periptychida führen zu den Artiodactyla hinüber, die Phenaco- dontida zu den Perissodactyla. Die Ordnung der Unpaarhufer (Perissodaetyla) umfasst die- jenigen Ungulaten, bei denen die mittlere (oder dritte) Zehe des Fusses stärker als die übrigen entwickelt ist, so dass sie die eigentliche Mitte des Hufes bildet. Man kann die Perissodactylen zunächst in zwei Unterordnungen theilen, in den Nashornstamm und den Pferdestamm. Der Nashornstamm kann auch als Section der Urtapire (Brontotapiri) bezeichnet werden. Es ge- hört dahin die uralte gemeinsame Stammgruppe aller Perissodac- tylen, welche schon in den ältesten eocaenen Schichten versteinert vorkommen, die Coryphodontia. An diese schliesst sich die Gruppe der Nashornthiere (Nasicornia) an. Ausser den leben- den Rhinoceros gehören dahin die merkwürdigen ausgestorbenen Familien der Brontotherida und Elasmotherida. Die zweite Unter- ordnung der Perissodactylen bildet der Pferdestamm, die Hippo- tapiri. Er umfasst wieder zwei nahe verwandte Gruppen (S. 670). > Zi u u re u 4 a 2, a VE - re 79 Er . XXVI. Ahnen-Reihe der Pferde. Stammbaumlinie der Pferde. [N.B. 669 Diese Tabelle zeigt, wie der einzehige Fuss der heutigen Pferde durch Rückbildung aus dem dreizehigen Fuss der miocenen Mittelpferde, und dieser aus dem fünfzehigen Fuss der ältesten eocenen Perissodac- tylen hervorgegangen ist. Alle Zwischenstufen sind amerika gefunden.] versteinert in Nord- Pferde - Gattung Tertiärschicht | Vorderbein Hinterbein Lebendes Pferd REDE zene 1 Zehe Zuaaüp Quartärzeit Ober-Pliocenes Pferd Pliohippus Ober-Pliocen 1 Hauptzehe und 2 Neben- zehen l Zehe und 2 Rudimente | | Unter-Pliocenes Protohippus (Hipparion) Pferd Unter-Pliocen 1 Hauptzehe und 2 Neben- zehen 1 Hauptzehe und 2 Neben- zehen Öber-Miocenes Pferd Miohippus (Anchitherium) Ober-Miocen 5 Zehen, mitt- lere grösser 5 Zehen, mitt- lerer grösser Unter-Miocenes Pferd Mesohippus Unter-Miocen 3 Zehen und 1 Rudiment 9 Zehen Ober-Eocenes Pferd - Ober-Eocen 4 Zehen 3 Zehen Orohippus Urpferd (Stammform der | Pferde) Mittel-Eocen | un und | 3 Zehen Eohippus Stammform der Pferde- Er . 3 5 Zehen, mitt- | 5 Zehen und H linie Unter-Eocen lere grösser 1 Rudiment 'yracotherium 2 a £ Stammform aller Unpaar- 5 Zehen, 5 Zehen, hufer UnterstesEocen | mittlere etwas | mittlere etwas | Coryphodon | grösser grösser Vor " Perisso- | 2 F en UnterstesEoceenı 5 Zehen | 5 Zehen en (und Kreide ?) fast gleich fast gleich 670 Ordnungen und Familien der Hufthiere. Systematische Uebersicht der Ordnungen und Familien der Hufthiere ( Ungulata). xXV1. (NB. Die ausgestorbenen Familien sind durch ein f bezeichnet.) Ordnungen Seetionen Familien |Systematischer Name der Hufthiere der Hufthiere | der Hufthiere II. Unpaarhufer Perissodaetyla . Paarhufer Artiodactyla II A. Urtapire 3. Urtapirthiere [Urunpaarhufer i [ l. Phenacodontida . Urhufthiere | odontid« Condylarthra | 2. Periptychida [f Ahnen der | Unpaarhufer | Ahnen der \ Paarhufer ki Phenacodon \F Anacodon [+ Periptychus \+ Zetodon 7 Coryphodontia Protapiri \ Lophiodonten 7 Lophiodontia Brontotapiri | 4. Nashornthiere [Brontotherien 7 Brontotherida Nasieornia | Nashörner Rhinocerata IR [ 5. Tapirthiere (Paläotherien 7 Palaeotherida ah ) Tapiromorpha \ Tapire Tapirida Tapirpferde 6. Pferdethiere Mittelpferde Anchitherida Bippotapirl | Hippomorpha \ Pferde Eguina III A. RN : Urpaarhufer tr Anoplotherida Schweinförmige | E28 a ne Bu r er } Pe... TE: ur een Suillida Hügelzähniee, | 8. Plumpthiere JSchweinpferde + Choeropotamida Bunodontia) Obesa | Flusspferde Hippopotamida 9. Urwiederkäuer | Oreodontien T Hyopotamida RER, “Dremotherien 7 Dremotherida Moschushirsche Tragulida UMB: Wiederkäuer Urkamele 7 Poebrotherida 10. Kamelthiere JAltkamele 7 Procamelida on Tylopoda Lamas Auchenida Ruminantia Kamele Camelida ; Our . ll. Hirschthiere Moschusthiere Mrz — | Sichelzähnige, Elaphida \ Hirsche Cervina = Selenodontia) IGiraffen Devera Gazellen Antilopina I>22H ohlhö rner Ziegen Caprina Cawieornia Ovina Rinder Bovina IV. Rüsselthiere | 15. Dinocerata Schreckhörner Dinoceras rneshlen 14. Dinotherida Kniekiefer Dinotherium | 15. Elephantida Elephanten Elephas v. Platthufer f , RENTE 1. | 16. Lamnungia Klippschliefer Hyrazx Hyracea RXVI. | Stammbaum der Huftkiere oder Ungulaten. 671 Wiederkäuer (Ruminantia) i Pferde | Rinder Giraffen Hippomorpha | Bovina Devexa Kamele | ’ je Camelida | Schafe Hirsche | Mos EN Pferd Ovina Öervina | Moschusthiere Equus : Mosehida Ziegen | u oO Gaprina 7 | Lamas | Urgiraffen Auchenida Im Sivatherida | Ben) | Pliohippus | Antilopen Altkamele | Antilopina ee) Procamelida | Hirschthiere Hohlhörner Elaphida ee Protohippus Cavieornia ee He Po&brotherida | > Kamelthiere — Tylopoda Miohippus Urhirsche | Dremotherida | Mesohippus Oreodontia Tapire | | Tapirida | sn | Orohippus Elephanten Lamatapire Mastc “ Macräauchenida Masto- | En Xiphodontia dontida | | Eohippus usspferde Ar P \ j | Oben Dis Dinocerata | | | therida Nashornpferde | | Schweine Elasmotherida | | Setigera | | Nas- Hyracotherium | Hyopo- ı hörner | Urpferde 2... tamida Nasi- |Bronto- | Urschweine Vregi cornia |therida Anthraco- | | | | | 2 2 „| mn, | therida Urwieder- | | .—— SEHE käuer Rüsselthiere | ea | Prorumi- Proboseidea | Kalasothen 192 | | nantia pe, Stammpaarhufer '..?... Stammunpaarhufer Anoplotherida | Coryphodontia | Platthufer | | Hyracea | A ER | 4 Periptychida | | Phenacodontida Condylarthra | 672 Paarhufer oder Artiodaetylen. "XXV1. Als die gemeinsame Stammgruppe der Tapirartigen und Pferde- artigen kann man die eocaenen Palaeotherien betrachten. Aus diesen haben sich einerseits die Tapire, anderseits die Pferde entwickelt. Von besonderem Interesse für die Stammes- Geschichte ist der Stammbaum der Pferde, weil man diesen in seltener Vollständigkeit durch zahlreiche fossile Beweisstücke Schritt für Schritt belegen kann, wie die vorstehende Tabelle zeigt (S. 669). Zwischen dem ältesten eocaenen fünfzehigen Cory- phodon und dem heutigen einzehigen Pferde sind alle fossilen Zwischenstufen versteinert in Amerika gefunden worden. Dies ist um so interessanter, als bekanntlich zur Zeit der. Ent- decekung von Amerika das Pferd in dieser seiner Urheimath aus- gestorben war. Die zweite Hauptgruppe der Hufthiere, die Ordnung der Paar- hufer (Artiodactyla) enthält diejenigen Hufthiere, bei denen die mittlere (dritte) und die vierte Zehe des Fusses nahezu gleich stark entwickelt sind, so dass die Theilungsebene zwischen bei- den die Mitte des ganzen Fusses bildet. Sie zerfällt in die beiden Unterordnungen der Schweineförmigen und der Wiederkäuer. Die Schweineförmigen (Choeromorpha) heissen auch Hügelzähner (Bunodentia). Dahin gehört zunächst der andere Zweig der Stammhufer, die Anoplotherien, welche wir als die gemein- same Stammform aller Paarhufer oder Artiodactylen betrachten (Dichobune ete.). Aus den Anoplotherien entsprangen als zwei divergente Zweige einerseits die Urschweine oder Anthrakotherien, welche zu den Schweinen und Flusspferden, andrerseits die Ur- wiederkäuer (Proruminantia), welche zu den Wiederkäuern hin- überführten (Sichelzähner, Selenodontia). Die Hyopotamiden und Xiphodontien sind die ältesten Wiederkäuer (Auminantia); an sie schliessen sich zunächst die Urhirsche oder Dremotherien an, denen unter den lebenden die Traguliden am nächsten stehen, und aus denen vielleicht als zwei divergente Zweige die Hirsch- förmigen (Elaphia) und die Hohlhörnigen (Cawicornia) sich entwickelt haben. Einen eigenthümlichen Seitenzweig der Hirsche bilden die Giraffen. Sehr vollständig bekannt ist der Stammbaum der Hohlhörnigen. Aus der Stammgruppe der Antilopen haben XXVI. Rüsselthiere und Platthufer. 673 sich einerseits die Ziegen und die nahe verwandten Schafe, ander- seits die Rinder entwickelt haben. Einen sehr eigenthümlichen, schon von der Wurzel des Wiederkäuer-Stammes abgezweigten Seitenast bilden die Kamelthiere (7ylopoda), deren Stamm- baum von den Po&brotherien aufwärts sich Schritt für Schritt verfolgen lässt, wie bei den Pferden. Wie sich diese zahlreichen Familien der Hufthiere unserer genealogischen Hypothese ent- sprechend gruppiren, zeigt Ihnen die vorstehende systematische Uebersicht (S. 670) und der entsprechende Stammbaum (8. 671). Eine besondere sehr merkwürdige Ordnung von Hufthieren wird durch den Elephanten und durch eine Anzahl verwandter ausgestorbener Riesenthiere gebildet; man nennt sie gewöhnlich Rüsselthiere (Proboscidea), weil sie meistens einen langen Rüssel tragen. Ihre Wurzel hat auch diese Ordnung zunächst wahrscheinlich in den Coryphodonten, und weiterhin in deren Vorfahren, den Phenacodonten. Die Gliedmaassen aller dieser Rüsselthiere schlagen eine wesentlich andere Entwickelung ein, als bei den langfingerigen Paarzehern und Unpaarzehern, die kurze Oberschenkel haben. Hier umgekehrt sind letzere lang, hingegen die Füsse kurz, meistens mit fünf gleichmässig entwickelten kurzen Zehen. Unsere heutigen Elephanten, die so isolirt in der Gegen- wart stehen, stammen von ausgestorbenen (miocaenen) Masto- donten ab. Einen anderen Zweig bilden die merkwürdigen Dino- therien. Wahrscheinlich gehören zum selben Stamm auch die riesigen Schreckhörner (Dinocerata), elephanten-ähnliche Thiere aus Nordamerika, welche auf dem schweren Kopfe drei Paar grosse Hörner trugen. Sehr wenig wissen wir von den Vorfahren und der Verwandt- schaft der letzten Hufer-Ordnung, der Platthufer (Hyracea oder Lamnungia). Diese kleinen, dichtbehaarten, kaninchen-ähnlichen Ungulaten gleichen im allgemeinen Skeletbau den Urhufthieren, in der Fussbildung den. Tapiren und in der Backzahnbildung dem Rhinoceros. Durch den Mangel der Eckzähne und die meisselför- migen Schneidezähne schliessen sie sich an die Nagethiere an. Gleich den Rüsselhufern nähern sich auch die Platthufer bereits sehr den letzteren und können als Abkömmlinge der uralten Haeckel, Natürl. Schöpfungs-Gesch. 8. Aufl. 43 674 Nagethiere und Raubthiere. XIV Placental-Gruppe angesehen werden, aus welcher einerseits die Hufthiere, anderseits die Nagethiere hervorgingen. Die Legion der Nagethiere (Rodentia) bildet in der Gegen- wart die bei weitem umfangreichste Hauptgruppe der Säuge- thiere, sowohl was die Zahl der lebenden Arten und Gattungen, als die Masse der Individuen betrifft. Allein alle lebenden Nage- thiere sind im wesentlichen inneren Bau nur sehr wenig verschie- den und erscheinen nur als mannichfache Variationen eines und desselben Themas. Insbesondere zeigt das Gebiss überall dieselbe characteristische Form: oben und unten ein paar meisselförmige wurzellose Schneidezähne, speciell zum Nagen harter Pflanzen- theile angepasst; dahinter, durch eine grosse Zahnlücke getrennt, wenige grosse schmelzfaltige Backzähne; keine Eckzähne. Ein ähnliches Gebiss wie die heute lebenden Schneidenager (@&- rina) besitzen auch zwei interessante ausgestorbene Ordnungen von Nagethieren, die Tillotherien (Tillodontia) und die Toxo- therien (Towodontia). Die Tillodontien, fossil im Eocen von Nord-Amerika, hatten Körperform und Grösse des Tapir; die Toxodontien, fossil im Diluvium von Süd-Amerika, glichen eher einem Rhinoceros. Beide Ordnungen vereinigen in sich Charac- tere der heutigen Nagethiere (Glirina), der Hufthiere (Condylar- thra) und der Zahnarmen (Zdentata). Wir dürfen sie daher als Wurzelsprossen desselben alten Placental-Stammes betrachten, aus welchem einerseits die Hufthiere, anderseits die Nagethiere ent- sprungen sind. In ähnlicher Weise, wie wir diese grossen Hauptgruppen der pflanzenfressenden Placentalen auf eine gemeinsame uralte, wahrscheinlich der Kreide-Periode angehörige Stammform zurück- führen können, ist das anderseits auch möglich bei dem formen- reichen Stamme der fleischfressenden Placentalthiere, oder der Raubthiere in weiterem Sinne (Carnassia). Wir vereinigen in dieser grossen Legion vier nahe verwandte Ordnungen: die uralten längst ausgestorbenen Urraubthiere (Creodonta), die kleinen Insectenfresser (Insectivora), die grossen Fleischfresser (Car- nivora) und die Seeraubthiere oder Robben (Pinnipedia). Von diesen vier Legionen ist die erste als die gemeinsame Stamm- NXVT. Urraubthiere und Insectenfresser. 675 gruppe zu betrachten, aus welcher die drei letzteren allmählich sich entwickelt haben. Die Stammordnung der Urraubthiere (Creodonta) ist neuer- dings durch zahlreiche eocaene Arten aus Europa und Nord-Amerika näher bekannt geworden; dieselben wurden hauptsächlich durch Cope und Filhol entdeckt und auf fünf verschiedene Familien vertheilt. Einige von diesen, die uralten Bärenhunde (Arctocyo- nida), schliessen sich noch eng an die Raubbeutler an (Oreophaga S. 656); andere (Leptictida) gehen in die heutigen Insectenfresser über (die Borstenigel, Centetida); wieder andere (z.B. die bären- grossen Synoplotherien) erscheinen den ältetesten Carnivoren (Bä- ren) nahe verwandt. Im Allgemeinen zeichnen sich alle diese Creodonten durch die schwache Ausprägung des Raubthier-Charac- ters aus, während sie anderseits sowohl der Stammgruppe der fleischfressenden Beutelthiere sehr nahe stehen, als auch den älte- sten Stammformen der Huf- und Nagethiere. Sie entsprechen also vollständig den phylogenetischen Ansprüchen, welche man an die uralte gemeinsame Stammgruppe aller Raubthiere stellen kann. Die Creodonten waren plumpe Sohlengänger mit fünfzehigen Plattfüssen und mit dem vollen typischen Placentalgebiss (S. 664); die 44 Zähne waren viel weniger differenzirt als bei den übrigen Carnassien. Die Ordnung der Insectenfresser (Insectivora) schliesst sich aufs engste an ihre Stammgruppe, die Creödonten an, und hat von diesen viele niedere Organisations - Verhältnisse durch Vererbung beibehalten. Unter den heute lebenden Raubthieren erscheint sie phylogenetisch als die älteste; namentlich hat der Igel viele Merkmale niederer und ursprünglicher Organisation ge- treu conservirt. Auch die Spitzmäuse und Maulwürfe bleiben auf einer tiefen Stufe stehen. Alle sind Sohlengänger mit fünf- zehigen Plattfüssen und die meisten zeichnen sich durch vollstän- diges Placental-Gebiss aus, mit kleinen Eckzähnen und vielen spitz- höckerigen Backzähnen. Viel formenreicher und mannichfaltiger entwickelt ist die Ordnung der eigentlichen Fleischfresser (Carnivora) oder der „Landraubthiere* im engeren Sinne. Bei diesen differenzirt sich 43* 676 Land-Raubthiere und See-Raubthiere. TIUE das Raubthier-Gebiss in sehr characteristischer Weise, indem vorn die 4 grossen Eckzähne, hinten aber 4 eigenthümliche „Reiss- zähne oder Fleischzähne“ (je einer in jeder Kieferhälfte) stark hervortreten. Dieser Fleischzahn ist ein besonders ausgebildeter Backzahn, dessen grosse und scharfkantige, meist zackige Krone sich dem Zerreissen des Fleisches speciell angepasst hat. Je mehr der Raubthier-Character sich rein entwickelt hat (am meisten bei den höchst stehenden Katzen), desto grösser sind im Verhältniss der Eckzahn und der Reisszahn, desto schwächer die übrigen Zähne. Je weniger umgekehrt der Carnivoren-Character ausge- sprochen ist, desto weniger sind jene 8 Hauptzähne differenzirt, desto gleichartiger alle Zähne; am meisten bei der Bären-Familie, die sich eng an die Stammgruppe der Creodonten anschliesst. Aus einer uralten gemeinsamen Stammgruppe, welche zwischen Bären, Hunden_und Viverren in der Mitte stand, haben sich divergent die verschiedenen Familien der heutigen Fleischfresser entwickelt; zahlreiche tertiäre Versteinerungen erläutern ihre Stammesgeschichte.e Hand in Hand mit der Differenzirung des Gebisses ging die Umbildung der fünfzehigen Füsse; je schneller der Lauf der Carnivoren wurde, desto schlanker ihre Beine, desto kleiner ihre Füsse. Aus den älteren Sohlengängern (Bären) ent- standen Halbsohlengänger (Viverren) und aus diesen reine Zehen- gänger (Hunde und Katzen). Am meisten hat sich von dem Stamme der Raubthiere die vierte und letzte Ordnung derselben entfernt, die See-Raub- thiere oder Robben (Pinnipedia). Dahin gehören die Seebären, Seelöwen, Seehunde, und’ als eigenthümlich angepasste Seiten- linie die Walrosse oder Walrobben. Obwohl die See-Raubthiere äusserlich den Land-Raubthieren sehr unähnlich erscheinen, sind sie denselben dennoch durch ihren inneren Bau, ihr Gebiss und ihre eigenthümliche, gürtelförmige Placenta nächst verwandt und offenbar aus demselben Stamme entsprossen. Ihre älteren Vor- fahren sind unter den Creodonten zu suchen, ihre jüngeren viel- leicht unter den Marderartigen (Mustelina). Noch heute bilden unter den letzteren die Fischottern (Zutra) und noch mehr die Seeottern (Enhydris) eine unmittelbare Uebergangsform zu den N se Su EEE ME "Er m ERV]. Herrenthiere oder Primaten. 677 \ Robben, und zeigen uns deutlich, wie der Körper der Land- Raubthiere durch Anpassung an das Leben im Wasser robben- ähnlich umgebildet wird, und wie aus den Gangbeinen der er- steren die Ruderflossen der See-Raubthiere entstanden sind. Ebenso hat auch die Anpassung an die Fisch-Nahrung das Ge- biss in eigenthümlicher Weise umgebildet. An der Spitze aller Säugethiere, und somit des Thierreichs überhaupt, steht die letzte und höchstentwickelte Gruppe der Placentalthiere, die Legion der Herrenthiere (Primates). Unter diesem Namen vereinigte schon Linne vor mehr als einem Jahr- hundert die vier Gruppen der Fledermäuse, Halbaffen, Affen und Menschen (,„Vespertilio, Lemur, Simia, Homo“). Alle vier Ord- nungen stimmen in einer Anzahl von besonderen anatomischen Merk- malen überein, durch welche sie sich von allen übrigen Placen- talthieren unterscheiden. Wir schliessen daraus, dass alle Primaten aus einem und demselben Stamme entsprungen sind, und dessen Wurzel ist höchst wahrscheinlich bei den Creodonten zu suchen, derselben uralten Placental-Gruppe, aus welcher auch die Raub- thiere entsprossen sind. Auch die lebenden Insectenfresser, als älteste Ordnung der letzteren, zeigen noch vielfache nahe Be- ziehungen zu den Primaten, besonders zu den Flederthieren (Chiroptera) und zu den Halbaffen (Prosömiae). Anderseits er- scheinen diese letzteren eng mit den Affen (Simiae) verknüpft, aus deren Stamme die Menschen (Anthropi) schon während der Tertiär-Zeit hervorgegangen sind. Die Halbaffen (Prosimiae) oder Lemuren (Lemurina) wurden früher allgemein mit den Affen in einer und derselben Ordnung vereinigt, die man nach Blumenbach als Vierhänder (Quadrumana) bezeichnete. Indessen habe ich sie schon in der „Generellen Morphologie“ (1866) gänzlich von ‚diesen abgetrennt; nicht allein deshalb, weil sie von allen Affen viel mehr abwei- chen, als die verschiedensten Affen von einander, sondern auch, weil sie die interessantesten Uebergangsformen zu den übrigen Ordnungen der Primaten enthalten. Ich schliesse daraus, dass die wenigen jetzt noch lebenden Halbaffen, welche überdies unter sich sehr verschieden sind, die letzten überlebenden Reste von einer 678 Halbaffen oder Lemuren. XXVE fast ausgestorbenen, einstmals formenreichen Stammgruppe dar- stellen, aus welcher sich ein grosser Theil der höheren Placen- talen als divergente Zweige entwickelt haben. Die alte Stamm- gruppe der Halbaflen selbst hat sich wahrscheinlich aus Creodon- ten oder noch älteren „Proplacentnern“ entwickelt; vielleicht aber auch direct aus den Ahnen der Handbeutler oder affenfüssigen Beutelthiere (Pedimana), welche in der Umbildung ihrer Hinter- füsse zu einer Greifhand ihnen auffallend gleichen. Die uralten (wahrscheinlich in der Kreide-Periode entstandenen) Stammformen selbst sind natürlich längst ausgestorben, ebenso die allermeisten Uebergangsformen zwischen denselben und den übrigen Placen- talen-Ordnungen. Aber einzelne Reste der letzteren haben sich in den noch heute lebenden Halbaffen erhalten. Unter diesen bildet das merkwürdige Fingerthier von Madagaskar (Chiromys madagascariensis) den Rest der Leptodactylen-Gruppe und den Uebergang zu den Nagethieren. Der seltsame Pelzflatterer der Süd- see-Inseln und Sunda-Inseln (Galeopithecus), das einzige Ueber- bleibsel der Ptenopleuren-Gruppe, ist eine vollkommene Zwischen- stufe zwischen den Halbaffen und Flederthieren. Die Langfüsser (Tarsius, Otolienus) bilden den letzten Rest eines Stammzweiges (Maerotarsi), der zu den Insectenfressern hinüberführt. Die Kurz- füsser endlich (Brachytarsi) vermitteln den Anschluss an die echten Affen. Zu den Kurzfüssern gehören die langschwänzigen Maki (Lemur), und die kurzschwänzigen Indri (ZLichanotus) und Lori (Stenops), von denen namentlich die letzteren sich den ver- muthlichen Vorfahren des Menschen unter den Halbaffen sehr nahe anzuschliessen scheinen. Sowohl die Kurzfüsser als die Lang- füsser leben weit zerstreut auf den Inseln des südlichen Asiens und Afrikas, namentlich auf Madagaskar, einige auch auf dem afri- kanischen Festlande. Alle führen eine einsame, nächtliche Lebens- weise und klettern auf Bäumen umher. An die Halbaffen schliesst sich zunächst die merkwürdige Ordnung der fliegenden Säugethiere oder Flederthiere an (Chiroptera). Sie hat sich durch Anpassung an fliegende Lebens- weise in ähnlicher Weise auffallend umgebildet, wie die See- Raubthiere durch Anpassung an schwimmende Lebensweise. Wahr- Di de MAT Dr ee BAVI. Flederthiere und Affen. 679 scheinlich hat auch diese Ordnung ihre Wurzel in den Creodonten, zugleich mit den Halbaffen, mit denen sie noch heute durch die Pelzflatterer (Galeopitheeus) eng verbunden ist. Die Bildung der Flughaut, welche zwischen dem Rumpf und den Gliedmaassen sich ausspannt, hat in dieser Ordnung der Säugethiere ihre höchste Vollkommenheit erreicht; Ansätze dazu finden sich aber auch in anderen Ordnungen, bei den fliegenden Beutelthieren und den fliegenden Eichhörnchen. Von den beiden Unterordnungen der Flederthiere sind vermuthlich die insectenfressenden oder Fleder- mäuse (Nyeterides) die älteren; erst später haben sich aus diesen die früchtefressenden oder Flederhunde (Prerocynes) entwickelt. Als letzte Säugethier-Ordnung hätten wir nun endlich noch die echten Affen (Simiae) zu besprechen. Da aber im zoologi- schen Systeme diese Ordnung dem Menschengeschlecht nächst verwandt ist, und da dasselbe sich aus einem Zweige dieser Ord- nung ohne allen Zweifel historisch entwickelt hat, so wollen wir die genauere Untersuchung ihres Stammbaums und ihrer Geschichte einem besonderen Vortrage vorbehalten. Die Urkunden, welche diese vielbesprochene „Abstammung des Menschen vom Affen“ historisch begründen, sind dieselben, wie in allen an- deren Theilen der Stammesgeschichte, die Zeugnisse der ver- gleichenden Anatomie, Ontogenie und Paläontologie. Diese maass- gebenden Urkunden reden aber in diesem wichtigsten Capitel der Phylogenie eine viele klarere, viel verständlichere, viel unzwei- deutigere Sprache, als in zahlreichen anderen Capiteln unserer Wissenschaft zu finden ist. Siebenundzwanzigster Vortrag. Stammes-Geschichte des Menschen. Die Anwendung der Descendenz-Theorie auf den Menschen. Unermess- liche Bedeutung und logische Nothwendigkeit derselben. Stellung des Men- schen im natürlichen System der Thiere, insbesondere unter den discopla- centalen Säugethieren. Unberechtigte Trennung der Vierhänder und Zwei- händer. Berechtigte Trennung der Halbaffen von den Affen. Stellung des Menschen in der Ordnung der Affen. Schmalnasen (Affen der alten Welt) und Plattnasen (amerikanische Affen). Unterschiede beider Gruppen. Phylo- genetische Reduction des Gebisses. Entstehung des Menschen aus Schmal- nasen. Menschenaffen oder Anthropoiden. Afrikanische Menschenaffen (Go- rilla und Schimpanse). Asiatische Menschenaffen (Orang und Gibbon). Ver- gleichung der verschiedenen Menschenaffen und der verschiedenen Menschen- rassen. Fossile Affen-Reste. Uebersicht der Ahnenreihe des Menschen (in 35 Stufen). Wirbellose Ahnen (9 Stufen) und Wirbelthier-Ahnen (16 Stufen). Meine Herren! Von allen einzelnen Fragen, welche durch die Abstammungslehre beantwortet werden, von allen besonderen Folgerungen, die wir aus derselben ziehen müssen, ist keine ein- zige von solcher Bedeutung, als die Anwendung dieser Lehre auf den Menschen selbst. Wie ich schon im Beginn dieser Vorträge (S. 6) hervorgehoben habe, müssen wir aus dem allgemeinen In- ductions-Gesetze der Descendenztheorie mit der unerbittlichen Noth- wendigkeit strengster Logik den besonderen Deductions-Schluss ziehen, dass der Mensch sich aus niederen Wirbelthieren, und zu- nächst aus affenartigen Säugethieren allmählich und schrittweise entwickelt hat. Dass diese Lehre ein unzertrennlicher Bestand- theil der Abstammungs-Lehre, und somit auch der allgemeinen Entwickelungs-Theorie überhaupt ist, das wird ebenso von allen denkenden Anhängern, wie von allen folgerichtig schliessenden Gegnern derselben anerkannt. RR VII Geocentrische und authropocentrische Welt-Ansicht. 681 Wenn diese Lehre aber wahr ist, so wird die Erkenntniss vom thierischen Ursprung und Stammbaum des Menschengeschlechts nothwendig tiefer, als jeder andere Fortschritt des menschlichen Geistes, in die Beurtheilung aller menschlichen Verhältnisse und zunächst in das Getriebe aller menschlichen Wissenschaften ein- greifen. Sie muss früher oder später eine vollständige Umwäl- zung in der ganzen Weltanschauung der Menschheit hervorbringen. Ich bin der festen Ueberzeugung, dass man in Zukunft diesen unermesslichen Fortschritt in der Erkenntniss als Beginn einer neuen Entwickelungs-Periode der Menschheit feiern wird. Er lässt sich nur vergleichen mit dem Schritte des Copernicus, der zum ersten Male klar auszusprechen wagte, dass die Sonne sich nicht um die Erde bewege, sondern die Erde um die Sonne. Ebenso wie durch das Weltsystem des Copernicus und seiner Nach- folger die geocentrische Weltanschauung des Menschen um- gestossen wurde, die falsche Ansicht, dass die Erde der Mittel- punkt der Welt sei, und dass sich die ganze übrige Welt um die Erde drehe, ebenso wird durch die, schon von Lamarck ver- suchte Anwendung der Descendenz-Theorie auf den Menschen die anthropocentrische Weltanschauung umgestossen, der eitle Wahn, dass der Mensch der Mittelpunkt der irdischen Natur und das ganze Getriebe derselben nur dazu da sei, um dem Menschen zu dienen. In gleicher Weise, wie das Weltsystem des Coper- nicus durch Newton’s Gravitations-Theorie mechanisch begrün- det wurde, sehen wir später die Descendenz-Theorie des Lamarck durch Darwin’s Selections-Theorie ihre ursächliche Begründung erlangen. Ich habe diesen in mehrfacher Hinsicht lehrreichen Vergleich in meinen Vorträgen „über die Entstehung und den Stammbaum des Menschengeschlechts“ weiter ausgeführt °°). Um nun diese äusserst wichtige Anwendung der Abstam- mungs-Lehre auf den Menschen mit der unentbehrlichen Unpar- teilichkeit und Objectivität durchzuführen, muss ich Sie vor Allem bitten, sich (für kurze Zeit wenigstens) aller hergebrachten und allgemein üblichen Vorstellungen über die „Schöpfung des Men- schen“ zu entäussern, und die tief eingewurzelten Vorurtheile ab- zustreifen, welche uns über diesen Punkt schon in frühester 682 Stellung des Menschen im Thierreiche. xXXv1M. Jugend eingepflanzt werden. Wenn sie dies nicht thun, können Sie nicht objectiv das Gewicht der wissenschaftlichen Beweisgründe würdigen, welche ich Ihnen für die thierische Abstammung des Menschen, für seine Entstehung aus affenähnlichen Säugethieren anführen werde. Wir können hierbei nichts besseres thun, als mit Huxley uns vorzustellen, dass wir Bewohner eines anderen Planeten wären, die bei Gelegenheit einer wissenschaftlichen Welt- reise auf die Erde gekommen wären, und da ein sonderbares zweibeiniges Säugethier, Mensch genannt, in grosser Anzahl über die ganze Erde verbreitet, angetroffen hätten. Um dasselbe zoo- logisch zu untersuchen, hätten wir eine Anzahl von Individuen desselben, in verschiedenem Alter und aus verschiedenen Ländern, gleich den anderen auf der Erde gesammelten Thieren in ein grosses Fass mit Weingeist gepackt, und nähmen nun nach unserer Rückkehr auf den heimischen Planeten ganz objectiv die ver- gleichende Anatomie aller dieser erdbewohnenden Thiere vor. Da wir gar kein persönliches Interesse an dem, von uns selbst gänz- lich verschiedenen Menschen hätten, so würden wir ihn ebenso unbefangen und objectiv wie die übrigen Thiere der Erde unter- suchen und beurtheilen. Dabei würden wir uns selbstverständlich zunächst aller Ansichten und Muthmaassungen über die Natur seiner Seele enthalten oder über die „geistige Seite seines Wesens“, wie man es gewöhnlich nennt. Wir beschäftigen uns vielmehr zunächst nur mit der körperlichen Seite und derjenigen natürlichen Auffassung derselben, welche uns durch die Entwickelungs-Ge- schichte an die Hand gegeben wird. Offenbar müssen wir hier zunächst, um die Stellung des Menschen unter den übrigen Organismen der Erde richtig zu be- stimmen, wieder den unentbehrlichen Leitfaden des natürlichen Systems in die Hand nehmen. Wir müssen möglichst scharf und genau die Stellung zu bestimmen suchen, welche dem Men- schen im natürlichen System der Thiere zukömmt. Dann können wir, wenn überhaupt die Descendenz-Theorie richtig ist, aus der Stellung im System wiederum auf die wirkliche Stammverwandt- schaft zurückschliessen und den Grad der Blutsverwandtschaft bestim- men, durch welchen der Mensch mit den menschenähnlichen Thieren BNVI. Stellung des Menschen im Thierreiche. 683 zusammenhängt. Der hypothetische Stammbaum des Menschen- geschlechts wird sich uns dann als das Endresultat dieser verglei- chend-anatomischen und systematischen Untersuchung ganz von selbst ergeben. Wenn Sie nun auf Grund der vergleichenden Anatomie und Ontogenie die Stellung des Menschen in dem natürlichen System \der Thiere aufsuchen, mit welchem wir uns in den vorhergehenden Vorträgen beschäftigten, so tritt Ihnen zunächst die unumstössliche Thatsache entgegen, dass der Mensch dem Stamm oder Phylum der Wirbelthiere angehört. Alle körperlichen Eigenthümlich- keiten, durch welche sich alle Wirbelthiere so auffallend von allen Wirbellosen unterscheiden, besitzt auch der Mensch. Eben so wenig ist es jemals zweifelhaft gewesen, dass unter allen Wirbel- thieren die Säugethiere dem Menschen am nächsten stehen, und dass er alle characteristischen Merkmale besitzt, durch welche sich die Säugethiere vor allen übrigen Wirbelthieren auszeichnen. Wenn Sie dann weiterhin die drei verschiedenen Hauptgruppen oder Unterclassen der Süugethiere in’s Auge fassen, deren gegen- seitiges Verhältniss wir im letzten Vortrage erörterten, so kann nicht der geringste Zweifel darüber obwalten, dass der Mensch zu den Placentalthieren gehört, und alle die wichtigen Eigenthüm- lichkeiten mit den übrigen Placentalien theilt, durch welche sich diese von den Beutelthieren und von den Gabelthieren unter- scheiden. Die formenreiche Unterclasse der Placentalthiere hatten wir in sechs grosse Hauptgruppen oder Legionen getheilt; die letzte von diesen nannten wir die Legion der Herrenthiere (Primates), weil sie den Menschen und die Affen umfasst, und ausserdem deren nächste Verwandte, die Halbaffen und Fledermäuse. Die nahe Stammverwandtschaft dieser Ordnungen, welche schon vor 150 Jahren den scharfsichtigen Linne zu ihrer Vereinigung in der Primaten-Gruppe geführt hatte, erscheint fest begründet durch wichtige Eigenheiten ihres Körperbaues und ihrer Entwickelung, insbesondere durch die eigenthümliche Beschaffenheit ihrer schei- benförmigen deciduaten Placenta (Discoplacentalia). Wie aber Jeder von Ihnen weiss, steht unter jenen Primaten-Ordnun- gen diejenige der Affen dem Menschen in jeder körperlichen Be- 684 Zweihänder und Vierhänder. xXXVIM. ziehung weit näher, als die übrigen. Es kann sich daher nur noch um die Frage handeln, ob man im System der Säugethiere den Menschen geradezu in die Ordnung der echten Affen einreihen, oder ob man ihn neben und über derselben als Vertreter einer besonderen Ordnung der Primaten betrachten soll. Die Auflösung der Linne’schen Primaten-Ordnung wurde zu- erst von dem Göttinger Anatomen Blumenbach versucht; er trennte den Menschen als eine besondere Ordnung unter dem Namen Dimana oder Zweihänder, indem er ihm die vereinigten Affen und Halbaffen unter dem Namen Quadrumana oder Vier- händer entgegensetzte. Diese Eintheilung wurde auch von Cuvier und demnach von den allermeisten folgenden Zoologen angenom- men. Erst 1863 zeigte Huxley in seinen vortreffllichen „Zeug- nissen für die Stellung des Menschen in der Natur“ ?”), dass die- selbe auf falschen Ansichten beruhe, und dass die angeblichen „Vierhänder“ (Affen und Halbaffen) eben so gut „Zweihänder“ sind, wie der Mensch selbst. Der Unterschied des Fusses von der Hand beruht nicht auf der physiologischen Eigenthüm- lichkeit, dass die erste Zehe oder der Daumen den vier übrigen Fingern oder Zehen an der Hand entgegenstellbar ist, am Fusse dagegen nicht. Denn es giebt wilde Völkerstämme, welche die erste oder grosse Zehe den vier übrigen am Fusse ebenso gegen- über stellen können, wie an der Hand. Sie können also ihren „Greiffuss“ ebenso gut als eine sogenannte „Hinterhand“ benutzen, wie die Affen. Die chinesischen Bootsleute rudern, die bengali- schen Handwerker weben mit dieser Hinterhand. Die Neger, bei denen die grosse Zehe besonders stark und frei beweglich ist, umfassen damit die Zweige, wenn sie auf Bäume klettern, gerade wie die „vierhändigen“ Affen. Ja selbst die neugeborenen Kinder der höchstentwickelten Menschenrassen greifen in den ersten Mo- naten ihres Lebens noch eben so geschickt mit der „Hinterhand“, wie mit der „Vorderhand“, und halten einen hingereichten Löffel eben so fest mit der grossen Zehe, wie mit dem Daumen! Auf der anderen Seite differenziren sich aber bei den höheren Affen, namentlich beim Gorilla, Hand und Fuss schon ganz ähnlich wie beim Menschen (vergl. Taf. IV, S. 400). XVII. Verwandtschaft des Menschen und Affen. 685 Der wesentliche Unterschied von Hand und Fuss ist also nicht ein physiologischer, sondern ein morphologischer, und ist durch den characteristischen Bau des knöchernen Skelets und der sich daran ansetzenden Muskeln bedingt. Die Fusswurzel- knochen sind wesentlich anders angeordnet, als die Handwurzel- knochen, und den Fuss bewegen drei besondere Muskeln, welche der Hand fehlen (ein kurzer Beugemuskel, ein kurzer Streckmuskel und ein langer Wadenbeinmuskel). In allen diesen Beziehungen verhalten sich die Affen und Halbaffen genau so wie der Mensch, und es war daher vollkommen unrichtig, wenn man den Menschen von den ersteren als eine besondere Ordnung auf Grund seiner stärkeren Differenzirung von Hand und Fuss trennen wollte. Ebenso verhält es sich aber auch mit allen übrigen körperlichen Merkmalen, durch welche man etwa versuchen wollte, den Men- schen von den Affen zu trennen, mit der relativen Länge der Gliedmaassen, dem Bau des Schädels, des Gehirns u. s. w. In allen diesen Beziehungen ohne Ausnahme sind die Unterschiede zwischen dem Menschen und den höheren Affen geringer, als die entsprechen- den Unterschiede zwischen den höheren und den niederen Affen. Auf Grund der sorgfältigsten und genauesten anatomischen Vergleichungen kam demnach Huxley zu folgendem, äusserst wichtigem Schlusse: „Wir mögen daher ein System von Organen vornehmen, welches wir wollen, die Vergleichung ihrer Modifi- cationen in der Affenreihe führt uns zu einem und demselben Resultute: dass die anatomischen Verschiedenheiten, welche den Menschen vom Gorilla und Schimpanse scheiden, nichtso gross sind, als die, welche den Gorilla von den niedrigeren Affen trennen.“ Demgemäss vereinigt Huxley, streng der systematischen Logik folgend, Menschen, Affen und Halbaffen in einer einzigen Ordnung, Primates, und theilt diese in folgende sieben Familien „von ungefähr gleichem systematischen Werthe“: 1. Anthropini (der Mensch). 2. Catarhini (echte Affen der alten Welt). 3. Platyrhini (echte Affen Ameri- kas). 4. Arctopitheci (Krallenaffen Amerikas). 5. Lemurini (kurz- füssige und langfüssige Halbaffen). 6. Chiromyini (Fingerthiere). 7. Galeopitheeini (Pelzflatterer). (Vergl. den XXVI. Vortrag, 8. 677.) 636 der Familien und Gattungen der Affen. Familien und Gattungen der Affen. Systematische Uebersicht XXVI. Seetionen der Affen Familien der Affen Gattungen oder Genera der Affen Systematischer Name der Genera I. Affen der neuen Welt er) oder ,oder platinasige Alten (IE E Affen (Platyrhinae), A. Platyrhinen mit Krallen Arectopitheca B. Platyrhinen mit Kuppennägeln | Dysmopitheca I. Seidenaffen Hapalida II. Plattnasen mit Schlappschwanz Gymnura oder Aphyocera III. Plattnasen mit Greifschwanz Anetura oder Labidocerca | IR 9. 4. 3. 6. 2 8. . Pinselaffe 1, . Löwenaffe 2. Eichhornaffe 3. Springaffe 4 Nachtaffe 5 Schweifaffe 6 Rollaffe 1 Klammeraffe 8 Wollaffe 9 Brüllaffe 10 Midas Jacchus Chrysothrix . Callithrix . Nyetipithecus . Pithecia Cebus . Ateles . Lagothrix . Mycetes ll. Affen der alten Welt (Heoptiheca) oder schmalnasige Affen (Catarhinae). C. Hundsköpfige Affen oder geschwänzte Catarhinen Cynopitheca (oder Menocerca) D. Menschen- köpfige Affen oder schwanzlose _ Catarhinen Anthropo- morpha (oder Lipocerca) IV. Geschwänzte Catarhinen mit Backentaschen Ascoparea /. Geschwänzte Catarhinen ohne Backentaschen Anasca VI. Schwanzlose Menschenaffen Anthropoides VII. Menschen Anthropini Il. Pavian 11. Cynocephalus 12. Makako 12. Inuus 13. Meerkatze 13. Cercopithecus 14. Schlankaffe 14. Semnopithecus 15. Stummelaffe 15. Colobus 16. Nasenaffe 16. Nasalis 17. Gibbon 17. Hylobates 18. Orang 18. Satyrus 9. Schimpanse 19. Troglodytes 20. Gorilla 20. Gorilla 21. Affenmensch 21. Pithecanthro- (sprachloser pus Mensch) (Alalus) 22. Sprechender 22. Homo Mensch BRWNII. Stammbaum der Affen mit Inbegriff der Menschen. 687 Schlichthaarige Menschen Lissotriches Wollhaarige Menschen Ulotriches | mn m Sprachlose Menschen (Alali) oder Affenmenschen (Pithecanthropi) Gorilla Gorilla Orang Schimpanse Satyrus a, | Gibbon Hylobates ———— | Afrikanische | A nrun Asiatische Menschenaffen Menschenaffen Nasenaffe Anthropoides Nasalis Schlankaffe i Semnopithecus Seidenaffen Arctopitheca | Greifschwänzer Meerkatze | Anetura Cercopithecus Pan Cynocephalus Schlappschwänzer Gymnura Geschwänzte Schmalnasen ’ Plattnasen Cynopitheca Platyrhinae Schmalnasen Catarhinae Affen Simiae Halbaffen Prosimiae 688 Schmalnasige und plattnasige Affen. XxXXVIM. Wenn wir aber das natürliche System und demgemäss den Stammbaum der Primaten ganz naturgemäss auffassen wollen, so müssen wir noch einen Schritt weiter gehen, und die Halbaffen oder Prosimien (die drei letzten Familien Huxley’s) gänzlich von den echten Affen oder Simien (den vier ersten Familien) trennen. Denn wie ich schon in meiner generellen Morphologie zeigte, unterscheiden sich die Halbaffen in vielen und wichtigen Beziehungen von den echten Affen und schliessen sich in ihren einzelnen Formen vielmehr den verschiedenen anderen Ordnungen der Discoplacentalien an. Am nächsten stehen sie den Insecten- fressern, und sind wahrscheinlich mit diesen aus der uralten eocaenen Stammgruppe der Creodonten abzuleiten. Anderseits sind die heutigen Halbaffen wahrscheinlich als Reste der gemein- samen Stammgruppe zu betrachten, aus welcher sich die anderen Ordnungen der Primaten als divergente Zweige entwickelt haben. Der Mensch aber kann anatomisch und phylogenetisch nicht von der Ordnung der echten Affen oder Simien getrennt werden, da er den höheren echten Affen in jeder Beziehung näher steht, als diese den niederen echten Affen. | Die echten Affen (Simiae) werden allgemein in zwei ganz natürliche Hauptgruppen getheilt, nämlich in die Affen der neuen Welt (amerikanische Affen) und in die Affen der alten Welt, welche in Asien und Afrika einheimisch sind, und früher auch in Europa vertreten waren. Diese beiden Abtheilungen unterscheiden sich namentlich in der Bildung der Nase und man hat sie danach benannt. Die amerikanischen Affen haben plattgedrückte Nasen, so dass die Nasenlöcher nach aussen stehen, nicht nach unten; sie heissen deshalb Plattnasen (Platyrhinae). Dagegen haben die Affen der alten Welt eine schmale Nasenscheide- wand und die Nasenlöcher sehen nach unten, wie beim Menschen; man nennt sie deshalb Schmalnasen (Catarhinae). Ferner ist das Gebiss, welches bekanntlich bei der Classification der Säuge- thiere eine hervorragende Rolle spielt, in beiden Gruppen charac- teristisch verschieden. Alle Catarhinen oder Affen der alten Welt haben ganz dasselbe Gebiss, wie der Mensch, nämlich in jedem Kiefer, oben und unten, vier Schneidezähne, dann jederseits einen RRVm. Schmalnasige und plattnasige Affen. 689 Eckzahn und fünf Backzähne, von denen zwei Lückenzähne und und drei Mahlzähne sind, zusammen 32 Zähne. Dagegen alle Affen der neuen Welt, alle Platyrhinen, besitzen vier Backzähne mehr, nämlich drei Lückenzähne und drei Mahlzähne jederseits oben und unten. Sie haben also zusammen 36 Zähne. Nur eine kleine Gruppe bildet davon eine Ausnahme, nämlich die Krallen- affen (Arctopitheci), bei denen der dritte Mahlzahn verkümmert, und die demnach in jeder Kieferhälfte drei Lückenzähne und zwei Mahlzähne haben. Sie unterscheiden sich von den übrigen Pla- tyrhinen auch dadurch, dass sie an den Fingern der Hände und den Zehen der Füsse Krallen tragen, und keine Nägel, wie der Mensch und die übrigen Aflen. Diese kleine Gruppe südameri- kanischer Affen, zu welcher unter anderen die bekannten nied- lichen Pinseläffehen (Midas) und Löwenäffchen (Jacchus) gehören, ist wohl nur als ein alter, eigenthümlich entwickelter Seitenzweig der Platyrhinen aufzufassen, welcher in jeder Kieferhälfte einen Mahlzahn verloren hat. Fragen wir nun, welche Resultate aus diesem System der Affen für den Stammbaum derselben folgen, so ergiebt sich daraus unmittelbar, dass sich alle Affen der neuen Welt aus einem Stamme entwickelt haben, weil sie alle das characteristische Ge- biss und die Nasenbildung der Platyrhinen besitzen. Eben so folet daraus, dass alle Affen der alten Welt abstammen müssen von einer und derselben gemeinschaftlichen Stammform, welche die Nasenbildung und das Gebiss aller jetzt lebenden Catarhinen besass. Ferner ist es sehr wahrscheinlich, dass beide Affenstiämme von einer gemeinsamen uralten Stammgruppe abstammen, und dass diese unter den Halbaffen, bei den Lemuren zu suchen ist. Die vergleichende Morphologie des Placental-Gebisses, welche neuerdings namentlich ein Berliner Zahnarzt, Baume, in seinen gedankenreichen „Odontologischen Forschungen“ (1882) vor- trefflich erläutert hat, dient auch hier wieder als sicherste Richt- schnur. Wir dürfen aus dem Bau und der Entwickelung des Prima- ten-Gebisses mit Sicherheit den Schluss ziehen, dass alle „Herren- thiere“, Menschen und Affen ebenso wie die Halbaffen, ursprüng- lich von einer älteren eocaenen Stammform abstammen, welche Haeckel, Natürl. Schöpfungs-Gesch. 8. Aufl. 44 690 Entstehung des Menschen aus schmalnasigen Affen. xXXVIR das volle typische Placental-Gebiss von 44 Zähnen besass, nämlich in jeder Kieferhälfte (oben und unten) 11 Zähne: 3 Schneidezähne, 1 Eckzahn, 4 Lückenzähne, 3 Mahlzähne = >. > ER (vergl. 3, S. 664). Indem in jeder Kieferhälfte ein Schneidezahn und ein Lückenzahn durch Rückbildung verloren ging, entstand daraus das N i a ee) : ; Ba Gebiss der Platyrhinen: mal 5 36. Aus diesem primä- ren Affen-Gebiss entstand dasjenige der Arctopitheken durch Verlust eines Mahlzahns, dasjenige der Catarhinen durch Verlust eines Lückenzahns, erstere mit 2.1.3.2, letztere mit 2.1.2.3 in jeder Kieferhälfte. Hiernach würde der Schluss gestattet sein, dass die Platyrhinen (und speciell die Gymnuren, Chrysothrix u.s. w.) die älteste Gruppe unter den heute lebenden Affen sind, die Ueberreste der Stammgruppe, aus welcher sich die anderen Affen divergent entwickelten. Indessen sprechen auch einige Gründe für die Ansicht neuerer Zoologen, wonach die beiden Affenstäimme unabhängig von einander in beiden Erdtheilen aus Halbaffen sich entwickelt haben. Gleichviel ob man diese letztere, diphyletische, oder jene erstere, monophyletische Descendenz der Affen für wahrschein- licher hält, so folgt jedenfalls aus ihrer vergleichenden Morpho- logie der unendlich wichtige Schluss, welcher sowohl für die Ab- stammung des Menschen, als auch für seine Verbreitung über die Erdoberfläche die grösste Bedeutung besitzt, dass der Mensch sich aus den Catarhinen entwickelt hat. Denn wir sind nicht im Stande, einen zoologischen Character aufzufinden, der den Menschen von den nächstverwandten Affen der alten Welt in einem höheren Grade unterschiede, als die entferntesten Formen dieser Gruppe unter sich verschieden sind. Es ist dies das wichtigste Resultat der sehr genauen vergleichend-anatomischen Untersuchun- gen Huxley’s, welches nicht genug berücksichtigt werden kann. In jeder Beziehung sind die anatomischen Unterschiede zwischen dem Menschen und den menschenähnlichsten Catarhinen (Orang, Go- rilla, Schimpanse) geringer, als die anatomischen Unterschiede zwi- schen diesen und den niedrigsten, tiefst stehenden Catarhinen, insbe- XXV1. Schwanzlose Menschenaffen oder Anthropoiden. 691 sondere den hundeähnlichen Pavianen. Dieses höchst bedeutsame Resultat ergiebt sich aus einer unbefangenen anatomischen Verglei- chung der verschiedenen Formen von Catarhinen als unzweifelhaft. Wenn wir also überhaupt, der Descendenz-Theorie ent- sprechend, das natürliche System der Thiere als Leitfaden unserer Betrachtung anerkennen, und darauf unseren Stammbaum begrün- den, so müssen wir nothwendig zu dem unabweislichen Schlusse kommen, dass das Menschengeschlecht ein Aestchen der Catarhinengruppe ist und sich aus längst ausgestorbenen Affen dieser Gruppe in der alten Welt entwickelt hat. Einige Anhänger der Descendenz-Theorie haben gemeint, dass die amerikanischen Menschen sich unabhängig von denen der alten Welt aus amerikanischen Affen entwickelt hätten. Diese Hypo- these halte ich für vollkommen irrthümlich. Denn die völlige Uebereinstimmung aller Menschen mit den Catarhinen in Bezug auf die characteristische Bildung der Nase und des Gebisses beweist deutlich, dass sie eines Ursprungs sind, und sich aus einer gemeinsamen Wurzel erst entwickelt haben, nachdem die Platyrhinen oder amerikanischen Affen sich bereits von dieser längst abgezweigt hatten. Die amerikanischen Ureinwohner sind vielmehr, wie auch zahlreiche ethnographische Thatsachen beweisen, aus Asien, und theilweise vielleicht auch aus Polynesien (oder selbst aus Europa) eingewandert. Einer genaueren Feststellung des menschlichen Stammbaums stehen gegenwärtig noch grosse Schwierigkeiten entgegen. Nur das lässt sich noch weiterhin behaupten, dass die nächsten Stamm- eitern des Menschengeschlechts „menschenköpfige Affen“ oder Anthropoiden waren, von Anderen als schwanzlose Cata- rhinen (Lipocerca) bezeichnet; ähnlich (aber nicht gleich) den heute noch lebenden Menschenaffen. Offenbar haben sich diese erst ziemlich spät aus den Cynopitheken oder „hundsköpfigen Affen“, oder den geschwänzten ÜOatarhinen (Menocerca), als der ursprünglicheren Affenform, entwickelt. Von jenen schwanz- losen Catarhinen, die jetzt auch häufig Menschenaffen oder Anthropoiden genannt werden, leben heutzutage noch vier ver- schiedene Gattungen mit ungefähr einem Dutzend verschiedener 44° 692 Vergleichung der Menschenaffen und der Menschen. NXXVI. Arten. Der grösste Menschenaffe ist der berühmte Gorilla (Gorilla gina oder Troglodytes gorilla), welcher den Menschen an Grösse und Stärke übertrifft, in der Tropenzone des westlichen Afrika einheimisch ist und am Flusse Gaboon erst 1547 von dem Missio- när Savage entdeckt wurde. Diesem schliesst sich als nächster Verwandter der längst bekannte Schimpanse an (Troglodytes niger oder Pongo troglodytes), ebenfalls im westlichen und cen- tralen Afrika einheimisch, aber bedeutend kleiner als der Gorilla. Der dritte von den drei grossen menschenähnlichen Affen ist der auf Borneo und anderen Sunda-Inseln einheimische Orang oder Orang-Utang, von welchem man neuerdings zwei nahe verwandte Arten unterscheidet, den grossen Orang (Satyrus orang oder Pithecus satyrus) und den kleinen Orang (Satyrus morio oder Pithecus morio). Endlich lebt noch im südlichen Asien die Gat- tung Gibbon (Hylobates), von welcher man 4—S verschiedene Arten unterscheidet. Sie sind bedeutend kleiner als die drei erst- genannten Anthropoiden und entfernen sich in den meisten Merk- malen schon weiter vom Menschen. Die schwanzlosen Menschenaffen haben neuerdings, namentlich seit «ler genaueren Bekanntschaft mit dem Gorilla und seit ihrer Verknüpfung mit der Anwendung der Descendenz-Theorie auf den Menschen ein so allgemeines Interesse erregt, und eine solche Fluth von Schriften hervorgerufen, dass ich hier keine Veranlassung finde, näher auf dieselben einzugehen. Was ihre Beziehungen zum Menschen betrifft, so finden Sie dieselben in den trefflichen Schriften von Huxley”), Carl Vogt”) und Büchner®°) aus- führlich erörtert, am besten in der Schrift von Robert Hart- mann über „Die menschenähnlichen Affen und ihre Organisation im Vergleich zur menschlichen“ (1853). Dieser Anatom giebt der nahen Bluts-Verwandtschaft noch schärferen Ausdruck, indem er die Primaten in zwei Familien trennt: I. Primarii (Menschen und Anthropomorphen); II. Eigentliche Affen (Catarhinen und Platyrhinen). Als das wichtigste allgemeine Resultat aus ihrer allseitigen Vergleichung mit dem Menschen ergiebt sich, dass jeder von den vier Menschenaffen dem Menschen in einer oder einigen Beziehungen näher steht, als die übrigen, dass aber keiner als der | | RXVII. Abstammung der Menschen von Menschenaffen. 693 absolut in jeder Beziehung menschenähnlichste bezeichnet werden kann. Der Orang steht dem Menschen am nächsten in Bezug auf die Gehirnbildung, der Schimpanse durch wichtige Eigenthümlich- keiten der Schädelbildung, der Gorilla hinsichtlich der Ausbildung der Füsse und Hände, und der Gibbon endlich in der Bildung des Brustkastens. Es ergiebt sich also aus der sorgfältigen vergleichenden Ana- tomie der Anthropoiden ein ganz ähnliches Resultat, wie es Weis- bach aus der statistischen Zusammenstellung und denkenden Vergleichung der sehr zahlreichen und sorgfältigen Körpermessungen erhalten hat, die Scherzer und Schwarz während der Reise der österreichischen Fregatte Novara um die Erde an Individuen verschiedener Menschenrassen angestellt haben. Weisbach fasst das Endresultat seiner gründlichen Untersuchungen in folgenden Worten zusammen: „Die Affenähnlichkeit des Menschen concentrirt sich keineswegs bei einem oder dem anderen Volke, sondern vertheilt sich derart auf die einzelnen Körperabschnitte bei den verschiedenen Völkern, dass jedes mit irgend einem Erb- stücke dieser Verwandtschaft, freilich das eine mehr, das andere weniger, bedacht ist, und selbst wir Europäer durchaus nicht beanspruchen dürfen, dieser Verwandtschaft vollständig fremd zu sein.“ (Novara-Reise, Anthropolog. Theil.) Ausdrücklich will ich hier noch hervorheben, was eigentlich freilich selbstverständlich ist, dass kein einziger von allen jetzt lebenden Affen, und also auch keiner von den ge- nannten Menschenaffen der Stammvater des Menschen- geschlechts sein kann. Von denkenden Anhängern der Des- cendenz-Theorie ist diese Meinung auch niemals behauptet, wohl aber von ihren gedankenlosen Gegnern ihnen untergeschoben wor- den. Die affenartigen Stammeltern des Menschen- geschlechts sind längst ausgestorben. Vielleicht werden wir ihre versteinerten Gebeine noch dereinst theilweis in Tertiär- gesteinen des südlichen Asiens oder Afrikas auffinden. Jeden- falls werden dieselben im zoologischen System in der Gruppe der schwanzlosen Schmalnasen (Catarhina lipocerca) oder Anthro- poiden untergebracht werden müssen. 694 Menschenaffen der Tertiär-Zeit. XRVE Fossile Affen-Reste sind bis jetzt im Ganzen wenig be- kannt, besonders im Vergleich zu den reichen Versteinerungs- Massen der Raubthiere und Hufthiere, denen wir so wichtige Auf- schlüsse über die Phylogenie dieser Legionen verdanken. Die Petrefacten-Armuth der Primaten erklärt sich leicht aus der Le- bensweise und Verbreitung dieser Thiere. Glücklicher Weise wird sie aufgewogen durch die überaus reichhaltigen und bedeutungs- vollen Aufschlüsse, welche wir in dieser höchststehenden Legion der vergleichenden Anatomie und Ontogenie verdanken. Uebrigens steht so viel schon jetzt fest, dass die Affen-Ordnung während der Tertiär-Zeit durch viele ausgestorbene (zum Theil schon eo- caene und miocaene) Formen vertreten war, auch in Europa. Unter diesen befanden sich grosse Menschen-Affen (Dryopithe- cus Fontani, Pliopithecus antiquus), welche in der Kieferbildung dem Menschen bedeutend näher standen als alle heute lebenden Anthropoiden. Weitere paläontologische Entdeckungen werden uns hoffentlich bald noch näher über diese „anthropomorphen“ Ahnen unterrichten. Die genealogischen Hypothesen, zu welchen uns die Anwen- dung der Descendenz- Theorie auf den Menschen in den letzten Vorträgen bis hierher geführt hat, ergeben sich für jeden klar und consequent denkenden Menschen unmittelbar aus den That- sachen der vergleichenden Anatomie, Ontogenie und Paläontolo- gie. Natürlich kann unsere Phylogenie nur ganz im Allgemeinen die Grundzüge des menschlichen Stammbaums andeuten, und sie läuft um so mehr Gefahr des Irrthums, je strenger sie im Ein- zelnen auf die uns bekannten besonderen Thierformen bezogen wird. Indessen lassen sich doch schon jetzt mindestens die nach- stehend aufgeführten fünfundzwanzig Ahnenstufen des Menschen mit annähernder Sicherheit unterscheiden. Von diesen gehören sechzehn Stufen zu den Wirbelthieren, neun Stufen zu den wir- bellosen Vorfahren des Menschen. Thierische Ahnenreihe oder Vorfahrenkette des Menschen. (Vergl. den XXIV.—XXVlI. Vortrag, sowie Taf. XVII, XIX und S. 509, 609). Erste Hälfte der menschlichen Vorfahrenkette: Wirbellose Ahnen des Menschen. Erste Ahnen-Stufe: Strueturlose Urthiere (Monera). Die ältesten Vorfahren des Menschen wie aller anderen Orga- nismen waren lebendige Wesen der denkbar einfachsten Art, Organismen ohne Organe, gleich den heute noch lebenden Moneren. Sie bestanden aus einem ganz einfachen, durch und durch gleichartigen, structurlosen und formlosen Klümpchen einer schleimartigen oder eiweissartigen Materie (Plasson), wie die heute noch lebende Protamoeba primitiva (vergl. S. 166, Fig. 1). Der Formwerth dieser ältesten menschlichen Urahnen war noch nicht einmal demjenigen einer Zelle gleich, sondern nur dem einer Cytode (vergl. S. 367). Denn wie bei allen Moneren waren Protoplasma und Zellenkern noch nicht gesondert. Die ersten von diesen Moneren entstanden im Beginn der laurentischen Periode durch Urzeugung oder Archigonie aus sogenannten „an- orgischen Verbindungen“, aus einfachen Verbindungen von Kohlen- stoff, Sauerstoff, Wasserstoff und Stickstoff. Die Annahme einer solchen Urzeugung, einer mechanischen Entstehung der ersten Organismen aus anorgischer Materie, haben wir im dreizehnten Vortrage als eine nothwendige und berechtigte Hypothese nachgewiesen (vergl. S. 361 und 429). Zweite Ahnen-Stufe: Einzellige Urthiere (Amoebina). Die zweite Ahnenstufe des Menschen, wie aller höheren Thiere und Pflanzen, wird durch eine einfache Zelle gebildet, d.h. 696 Thierische Ahnenreihe des Menschen. XxXxvi. ein Stückchen Protoplasma, das einen Kern umschliesst. Aehn- liche „einzellige Organismen“ leben noch heute in grosser Menge. Unter diesen werden die-gewöhnlichen, einfachen Amoeben (S. 169, Fig. 2) von jenen Urahnen nicht wesentlich verschieden gewesen sein. Der Formwerth jeder Amoebe ist wesentlich gleich demjenigen, welchen das Ei des Menschen, und ebenso das Ei aller anderen Thiere, noch heute besitzt (vergl. S. 169, Fig. 3). Die nackten Eizellen der Schwämme und Polypen (Taf. VI, Fig. 6, 16), kriechen gleich Amoeben umher und sind von diesen nicht zu unterscheiden. Die Eizelle des Menschen, welche gleich der der meisten anderen Thiere von einer Membran umschlossen ist, gleicht einer eingekapselten Amoebe. Die ersten einzelligen Thiere dieser Art entstanden aus Moneren durch Differenzirung des inneren Kerns und des äusseren Protoplasma, und lebten schon in frühester Primordialzeit. Den unumstösslichen Beweis, dass solche einzellige Urthiere als directe Vorfahren des Menschen wirklich existirten, liefert gemäss des biogenetischen Grundgesetzes (5.309) die Thatsache, dass das Ei des Menschen weiter nichts als eine einfache Zelle ist. (Vergl. S. 497 und 505.) Dritte Ahnen-Stufe: Zellhorden (Moraeada). Um uns von der Organisation derjenigen Vorfahren des Men- schen, die sich zunächst aus den einzelligen Urthieren entwickel- ten, eine ungefähre Vorstellung zu machen, müssen wir diejeni- sen Veränderungen verfolgen, welche das menschliche Ei im Beginn der individuellen Entwickelung erleidet. Gerade hier leitet uns die Keimes-Geschichte mit grösster Sicherheit auf die Spur der Stammes-Geschichte. Nun haben wir schon früher gesehen, dass das Ei des Menschen (ebenso wie das aller anderen Säugethiere) nach erfolgter Befruchtung durch wiederholte Selbsttheilung in einen Haufen ‚von einfachen und gleichartigen Zellen zerfällt (S. 298, Fig. 6; S.504, Fig. C—E; Taf. V, S. 300, Fig. 14, 11—14). Alle diese „Furchungskugeln“ sind anfänglich ein- ander gleich, ohne Hülle, nackte, kernhaltige Zellen. Bei vielen Thieren führen dieselben Bewegungen nach Art der Amoeben , } { } / Ä % r ah eh Br FT et a XXVI. Thierische Ahnenreihe des Menschen. 697 aus. Dieser ontogenetische Entwickelungszustand, den wir wegen seiner Maulbeerform Morula nannten (S. 498) führt den siche- ren Beweis, dass in früher Primordialzeit Vorfahren des Men- schen existirten, welche den Formwerth eines Coenobiums besassen, eines Haufens von gleichartigen, locker verbundenen Zellen. Man kann diese „Zellhorden“ entweder als Amoeben- Gemeinden (Synamoebia) oder als Maulbeer-Kugeln (Moraea) bezeichnen (vergl. S. 505). Solche Moraeaden entstanden aus den einzelligen Urthieren der zweiten Stufe durch wiederholte Selbsttheilung und bleibende Vereinigung dieser Theilungsproducte. Vierte Ahnen-Stufe: Flimmer-Hohlkugeln (Blastaeada). Aus der Morula oder der „Maulbeerkugel“ entwickelt sich im Laufe der Keimung bei sehr vielen Thieren ein merkwürdiger Keimzustand, welchen zuerst Baer entdeckt und mit dem Namen Keimblase oder Keimhautblase belegt hat (Dlastula oder Vesi- cula blastodermica, S. 498, 504, Fig. F, @). Das ist eine mit Flüs- sigkeit gefüllte Hohlkugel, deren dünne Wand aus einer einzigen Zellenschicht besteht (der Keimhaut oder Blasto- derma, Taf. V, S. 300, Fig. 6, 16). Indem sich im Inneren der Morula Gallerte oder Flüssigkeit ansammelt, werden die Zellen sämmtlich nach der Peripherie gedrängt. Bei den meisten nie- deren Thieren, aber auch noch bei dem niedersten Wirbelthiere, dem Lanzetthiere oder Amphioxus, nennt man diese Keimform Flimmerblase (Dlastula oder Blastosphaera), weil die an der Oberfläche gelegenen gleichartigen Zellen haarfeine Fortsätze oder Flimmerhaare ausstrecken, welche sich schlagend im Wasser be- wegen, und dadurch den ganzen Körper rotirend umhertreiben. Beim Menschen, wie bei allen Säugethieren, entsteht zwar auch heute noch aus der Morula dieselbe Keimhautblase, jedoch ohne Flimmerhaare; diese sind durch Anpassung verloren gegangen. Aber die wesentlich gleiche Bildung der Blastoderm-Hohl- kugel, die sich vielfach durch Vererbung erhalten hat, deutet auf eine ebenso gebildete uralte Stammform, die wir Flimmer- Hohlkugel (Blastaea) nennen können. Unsere heutigen „Kugel- thierchen“ (Volvocinen und Catallacten, S. 443, Fig. 12) geben uns 698 Thierische Ahnenreihe des Menschen. XxxVH: noch jetzt ein Bild von diesen „Hohlkugel-Ahnen“. Die Blastaea war eine einfache, mit Wasser oder Gallerte gefüllte Hohlkugel, deren Wand eine einzige Schicht Flimmerzellen bildete. Den sicheren Beweis dafür liefert der Amphioxus, welcher einerseits dem Menschen blutsverwandt ist, andrerseits aber noch das Sta- dium der ursprünglichen Blastula bis heute conservirt hat. Fünfte Ahnen-Stufe: Urdarmthiere (Gastraeada). Im Laufe der individuellen Entwickelung entsteht sowohl beim Amphioxus, wie bei den verschiedensten niederen Thieren aus der Blastula zunächst die äusserst wichtige Larvenform, welche wir Darmlarve oder Gastrula genannt haben (S. 504, I, K; Taf. V, S. 300, Fig. Ss und 15). Bei allen übrigen Metazoen exi- stirt ebenfalls noch heute eine zweiblättrige Keimform, welche auf jene zurückführbar ist. Nach dem biogenetischen (rundgesetze beweist diese Gastrula die frühere Existenz einer ebenso gebauten selbstständigen Urthier-Form, welche wir Urdarmthier oder Gastraea nannten (S. 501, 512). Solche „Gastraeaden“ müssen schon während der älteren Primordialzeit existirt und unter ihnen müssen sich auch Vorfahren des Menschen befunden haben. Den sicheren Beweis dafür liefert der Amphioxus, welcher trotz seiner Blutsverwandtschaft mit dem Menschen noch heute das Stadium der ursprünglichen Gastrula mit einfacher Darmanlage und zweiblättriger Darmwand durchläuft (vergl. Taf. XII, Fig. B4). Sechste Ahnen-Stufe: Plattenthiere (Platoda). Die menschlichen Vorfahren der sechsten Stufe, die aus den Gastraeaden der fünften Stufe hervorgingen, waren Plattenthiere einfachster Art. Diese Platoden standen wahrscheinlich unter allen heute noch lebenden Metazoen den Strudelwürmern oder Turbellarien am nächsten (S. 522, 531). Von ihren Vorfahren, den Gastraeaden, unterschieden sie sich schon äusserlich durch die zweiseitige Grundform (8. 533). Sie waren gleich den heutigen Strudelwürmern auf der ganzen Körperoberfläche mit Wimpern überzogen und besassen einen einfachen Körper von länglichrun- der Gestalt ohne alle Anhänge. Eine wahre Leibeshöhle (Coelom), BEXVII. Thierische Ahnenreihe des Menschen. 699 sowie After-Oeffnung und Blut waren noch nicht vorhanden. Die ältesten Platoden entstanden schon in früher Primordialzeit aus den Gastraeaden durch Bildung eines mittleren Keimblattes oder Muskelblattes, sowie durch weitere Differenzirung der inneren Körpertheile zu verschiedenen Organen; insbesondere die erste Bildung eines Nervensystems, der einfachsten Sinnesorgane, der einfachsten Organe für Ausscheidung (ein Paar Rohr-Nieren) und Fortpflanzung (Geschlechtsorgane). Der Beweis dafür, dass auch menschliche Vorfahren von ähnlicher Bildung existirten, ist in dem Umstande zu suchen, dass uns die vergleichende Anatomie und Ontogenie auf bilaterale Coelenterien als auf die ge- meinsame Stammgruppe nicht nur aller Helminthen, sondern auch der höheren Thierstämme, hinweist. Diesen uralten längst aus- gestorbenen Platoden stehen aber von allen uns bekannten Thieren die Turbellarien (und zwar die einfachsten Rhabdocoelen) am nächsten. (8.510, Taf. XIX, Fig. 12; S. 531, 535.) Siebente Ahnen-Stufe: Schnurwürmer (Nemertina). An die Platoden-Ahnen, welche wahrscheinlich während der laurentischen Periode durch eine lange Reihe von allmählich fort- schreitenden Turbellarien-Formen vertreten waren, schliesst sich unmittelbar als siebente Stufe unseres Stammbaums die Gruppe der Schnurwürmer an (Nemertina, S. 539). Sie erscheinen im anatomischen Bau den Plattenthieren noch so nahe verwandt, dass man sie früher geradezu mit ihnen vereinigte. Sie unterscheiden sich aber von ihnen sehr wesentlich durch den Besitz eines Afters und eines einfachsten Blutgefäss-Systems, zweier bedeutungsvoller neuer Einrichtungen, die den Coelenterien noch ganz fehlen. Auch beginnt bei ihnen die Anlage der Leibeshöhle, welche die Coelo- marien von den Coelenterien scheidet. Manche Zoologen finden ausserdem in der Organisation der Nemertinen, z. B. in der Bil- dung des Nervensystems und Darms, die ersten Andeutungen der späteren Chordonien-Bildung. Aber auch abgesehen von diesen, vielleicht wichtigen Beziehungen, müssen wir einfache Wurm- thiere (Helminthes) als eine nothwendige Zwischenstufe zwischen den Platoden der sechsten und den Enteropneusten der achten 700 Thierische Ahnenreihe des Menschen. xXVI. Stufe ansehen. Unter den heute noch lebenden Helminthen — dem dürftigen Ueberreste eines reich verzweigten Stammes —, scheinen die Nemertinen und die Ichthydinen (Taf. XIX, Fig. 13) jener ausgestorbenen Zwischenstufe am nächsten zu stehen. Achte Ahnen-Stufe: Eichelwürmer (Enteropneusta). Zwischen den Nemertinen der siebenten und den Prochor- donien der neunten Stufe hat wahrscheinlich während der lauren- tischen Periode eine lange Reihe von Wurmthieren existirt, welche allmählich von der einfachen Organisation der ersteren zu der besonderen Bildung der letzteren hinüber führte. Der wichtigste Fortschritt ihrer Organisation bestand in der Bildung des Kiemen- darms, in der Verwandlung eines Vorderdarm-Theils in einen characteristischen „Kiemenkorb mit Flimmerrinne“. Einen solchen besitzt unter den Helminthen nur eine einzige, noch lebende Wurmform, der merkwürdige Eichelwurm (Balanoglossus). Da derselbe auch noch in anderen Beziehungen sich den Chordonien nähert, hingegen von den anderen Wurmthieren entfernt, dürfen wir ihn mit grosser Wahrscheinlichkeit als einen letzten isolirten Ueberrest jener wichtigen Zwischengruppe zwischen siebenter und neunter Stufe betrachten, der Darmkiemen-Würmer (Zntero- pneusta, 8. 539, 605). Neunte Ahnen-Stufe: Urehordathiere (Prochordonia). An die Ahnen-Stufe der Enteropneusten müssen wir in un- serem Stammbaum unmittelbar diejenige der Prochordonien oder „Urchordathiere“ anschliessen, d. h. die längst ausgestorbene gemeinsame Stammgruppe- der Mantelthiere und Wirbel- thiere. 8. 605). Unter den heute noch lebenden Coeloma- rien sind die merkwürdigen Copelaten (Appendicaria) sowie die Larven der degenerirten Ascidien die nächsten Verwandten dieser höchst merkwürdigen Würmer, welche die tiefe Kluft zwi- schen Wirbellosen und Wirbelthieren überbrückten. Dass solche Prochordonien-Ahnen des Menschen während der Primordialzeit wirklich existirten, dafür liefert den sicheren Beweis die höchst merkwürdige und wichtige Uebereinstimmung, welche die Keimes- XXVl. Thierische Ahnenreihe des Menschen. 201 Geschichte des Amphioxus und der Ascidien darbietet. (Vergl. Taf. XII und XIII, ferner S. 475, 526 ete.) Aus dieser Tihatsache lässt sich die frühere Existenz von Chordathieren erschliessen, welche von allen heute uns bekannten Bilateraten den Appendi- carien und den Larven der einfachen Seescheiden (Aseidia, Phallusia) am nächsten standen. Sie entwickelten sich aus den Helminthen der achten Stufe durch Ausbildung eines Rückenmarks und durch Bildung eines darunter gelegenen Axenstabes (Chorda dorsalıs). Gerade die Lagerung dieses centralen Axenstabes, zwischen dem Rückenmark auf der Rückenseite und dem Darmrohr auf der Bauchseite, ist für sämmtliche Wirbelthiere mit Inbegriff des Menschen höchst characteristisch, ebenso aber auch für die Ur- formen der Mantelthiere (Tunicata); für die Copelaten oder Appendicarien, und für die Aseidien-Larven. Der Formwerth dieser neunten Stufe entspricht ungefähr demjenigen, welchen die genannten Larven der einfachen Seescheiden zu der Zeit besitzen, wo sie die Anlage des Rückenmarks und des Axenstabes entwickelt zeigen. (Vergl. Taf. XII, Fig. A5; und Taf. XIX, Fig. 19, 20; sowie die Erklärung dieser Figuren unten im Anhang.) Zweite Hälfte der menschlichen Vorfahrenkette: Wirbelthier-Ahnen des Menschen. Zehnte Ahnen-Stufe: Sehädellose (Acrania). Die Reihe der menschlichen Vorfahren, welche wir ihrer ganzen Organisation nach bereits als Wirbelthiere betrachten müssen, beginnt mit Schädellosen oder Acraniern, von deren Be- schaffenheit uns das heute noch lebende Lanzetthierchen (Am- phiowus lanceolatus, Taf. Xld B, XIII B) eine entfernte Vorstellung giebt. Indem dieses Thierchen durch seine frühesten Embryonal- zustände ganz mit den Ascidien übereinstimmt, durch seine wei- tere Entwickelung sich aber als echtes Wirbelthier zeigt, ver- mittelt es von Seiten der Wirbelthiere den unmittelbaren Zusam- menhang mit den Wirbellosen. Vermuthlich sind die mensch- lichen Vorfahren der zehnten Stufe in vielen Beziehungen von 102 Tbierische Ahnenreihe des Menschen. XXVIE dem Amphioxus, als dem letzten überlebenden und theilweise degenerirten Reste der Schädellosen, ziemlich verschieden gewesen; aber sie müssen ihm doch in den wesentlichsten Eigenthümlich- keiten, in dem Mangel von Schädel und Gehirn geglichen haben. Schädellose von solcher Bildung, aus denen die Schädelthiere erst später sich entwickelten, waren die hypothetischen Urwirbel- thiere (P’rovertebrata, S. 605). Sie lebten während der Primor- dialzeit und entstanden aus den ungegliederten Prochordonien der neunten Stufe durch Gliederung des Rumpfes (Bildung von Metameren oder Rumpfsegmenten), sowie durch weitere Differen- zirung aller Organe. Wahrscheinlich begann mit dieser Stufe auch die Trennung der beiden Geschlechter (Gonochorismus), wäh- rend die vorher genannten wirbellosen Ahnen noch Zwitterbildung (Hermaphroditismus) besessen zu haben scheinen (vergl. S. 176). Den sicheren Beweis für die frühere Existenz solcher schädel- losen und gehirnlosen Ahnen des Menschen liefert die vergleichende Anatomie und Ontogenie des Amphioxus und der Cranioten. (Verel. S. 599—606, sowie S. 509 und 609.) Elfte Ahnen-Stufe: Rundmäuler (Cyclostoma). Aus den schädellosen Vorfahren des Menschen gingen zu- nächst Schädelthiere oder Cranioten von der unvollkommen- sten Beschaffenheit hervor. Unter allen heute noch lebenden Schädelthieren nimmt die tiefste Stufe die Classe der Rund- mäuler oder Cyclostomen ein, die Inger (Myxinoiden) und Lampreten (Petromyzonten). Aus der inneren Organisation dieser Unpaarnasen oder Monorhinen können wir uns ein unge- fähres Bild von der Beschaffenheit der menschlichen Ahnen der elften Stufe machen. Wie bei jenen ersteren, so wird auch bei diesen letzteren Schädel und Gehirn noch von der einfachsten Form gewesen sein, und viele wichtige Organe, wie z. B. Schwimm- blase, innere Kiemenbogen, Kieferskelet und beide Beinpaare, noch völlig gefehlt haben. Jedoch sind die Beutelkiemen und das runde Saugmaul der Cyclostomen wohl als Anpassungs-Charac- tere zu betrachten, welche bei der entsprechenden Ahnenstufe nicht vorhanden waren. Die Unpaarnasen entstanden während DERVIT:. Thierische Ahnenreihe des Menschen. 103 der Primordialzeit aus den Schädellosen dadurch, dass das vordere Ende des Rückenmarks sich zum Gehirn umbildete und rings um dieses letztere sich ein Schädel aus der Chorda-Scheide entwickelte. Der sichere Beweis, dass solche kieferlose Vorfahren des Men- schen existirten, liegt in der „vergleichenden Anatomie der Myxi- noiden“. (8. 606—610.) Zwölfte Ahnen-Stufe: Urfische (Selachii). Die Urfisch-Ahnen zeigten unter allen uns bekannten Wirbel- thieren wahrscheinlich die meiste Aehnlichkeit mit den heute noch lebenden Haifischen (Squalacei, S. 610—614). Sie entstanden aus Unpaarnasen durch Theilung der unpaaren Nase in zwei paarige Seitenhälften, durch Bildung innerer echter Kiemenbogen, eines Kieferskelets, einer Schwimmblase und zweier Beinpaare (Brust- flossen oder Vorderbeine, und Bauchflossen oder Hinterbeine). Die innere Organisation dieser ältesten Kiefermäuler (@natho- stoma) wird im Ganzen derjenigen der niedersten uns bekannten Haifische entsprochen haben; doch war die Schwimmblase, die bei diesen nur als Rudiment noch existirt, wahrscheinlich stärker entwickelt. Sie lebten bereits in der Silurzeit, wie sich aus den fossilen silurischen Haifisch-Resten (Zähnen und Flossenstacheln) ergiebt. Den sicheren Beweis, dass die silurischen Ahnen des Menschen und aller anderen Gnathostomen den Selachiern nächst verwandt waren, liefert die vergleichende Anatomie derselben. Dreizehnte Ahnen-Stufe: Schmelzfische (Ganoides). Den ältesten Urfischen sehr eng verbunden erscheint ein Theil der sogenannten Schmelzfische (@anoides). Diese Unter- classe der Fische war bekanntlich im paläozoischen Zeitalter durch äusserst zahlreiche und mannichfaltige Formen vertreten, während heute nur noch vereinzelte Reste derselben existiren (8. 614). Unter sich sind die verschiedenen Gruppen der Ganoiden sehr verschieden. Die einen erscheinen als sehr alte Typen, nahe ver- wandt den Selachiern (so der heutige Stör und Sterlett). Andere wieder gehören zu den höchst entwickelten Fischen (Lepidosteus, Polypterus). Eine Gruppe bildet ‚unmittelbar den Uebergang zu 704 Thierische Ahnenreihe des Menschen. ON; den Knochenfischen (Leptolepiden). Eine andere Gruppe enthält vielleicht Bestandtheile der directen menschlichen Ahnen-Reihe. Das sind die merkwürdigen Quastenflosser (Ürossopterygüi, S. 615). Sie sind so nahe den Lurchfischen (Dipneusta) verwandt, dass manche Zoologen sie geradezu mit diesen vereinigen. Da sie durch bedeutende Fortschritte in der Skeletbildung (sowohl des Schädels als der Flossen) in der That eine Zwischenstufe zwischen Selachiern und Dipneusten zu bilden scheinen, können wir mit Wahrscheinlichkeit annehmen, dass auch silurische und devonische Ganoiden zu den menschlichen Ahnen gehören (Taf. XIX, Fig. 21). Vierzehnte Ahnen-Stufe: Lurchfische (Dipneusta). Unsere vierzehnte Ahnenstufe wird durch Wirbelthiere ge- bildet, welche wahrscheinlich viel Aehnlichkeit mit den heute noch lebenden Molchfischen (Ceratodus, Protopterus, Lepidosiren, S. 616) besessen haben. Sie entstanden aus den Schmelz- fischen (wahrscheinlich in der Devon-Periode, im Beginn der Pri- märzeit) durch Anpassung an das Landleben und Umbildung der Schwimmblase zu einer luftathmenden Lunge, sowie der Nasen- sruben (welche nunmehr in die Mundhöhle mündeten) zu Luft- wegen. Mit dieser Stufe begann die Reihe der durch Lungen luftathmenden Vorfahren des Menschen. Ihre Organisation wird in mancher Hinsicht derjenigen des heutigen Ceratodus und Protopterus entsprochen haben, jedoch auch mannichfach ver- schieden gewesen sein. Sie lebten wohl schon im Beginn der devonischen Zeit. Den Beweis für ihre Existenz führt die ver- sleichende Anatomie, indem sie in den Dipneusten ein Mittelglied zwischen den Ganoiden und Amphibien nachweist. Man kann diese vierzehnte Ahnenstufe auch in zwei zerlegen: die älteren Lurchfische (Monopneumones) besassen noch eine unpaare, ein- fache Lunge, gleich Ceratodus; bei den jüngeren Dipneusten hin- gegen war dieselbe in zwei Lungen getheilt (Dipneumones). Fünfzehnte Ahnen-Stufe: Kiemenlurche (Stegocephala). Aus denjenigen Lurchfischen, welche wir als die Stammformen aller lungenathmenden Wirbelthiere betrachten, entwickelte sich ERVI. Thierische Ahnenreihe des Menschen. 105 als wichtigste Hauptlinie die Classe der Lurche oder Amphibien (S. 620—625). Mit ihnen begann die fünfzehige Fussbildung, die Pentadactylie, die sich von da auf die höheren Wirbelthiere und zuletzt auch auf den Menschen vererbte (S. 400). Unsere ältesten Vorfahren aus der Amphibien-Classe waren kiementragende Schuppenlurche (Stegosauria), wahrscheinlich aus den Gruppen der Archegosaurier und Branchiosaurier. Sie behielten neben den Lungen noch zeitlebens bleibende Kiemen, ähnlich dem heute noch lebenden Proteus und Axolotl| (8. 626). Sie entstanden aus den Dipneusten durch Umbildung der rudernden Fischflossen zu fünfzehigen Beinen, und durch höhere Differenzirung verschie- dener Organe, namentlich der Wirbelsäule. Jedenfalls existirten sie um die Mitte der paläolithischen oder Primärzeit, vielleicht schon in der devonischen Periode. Denn zahlreiche Stegosaurier finden sich fossil schon in der Steinkohle. Den Beweis dafür, dass derartige Kiemenlurche zu unsern directen Vorfahren ge- hörten, liefert die vergleichende Anatomie und ÖOntogenie der Amphibien und Amnioten. (XAV. Vortrag). Sechzehnte Ahnen-Stufe: Sehwanzlurche (Salamandrina). Auf unsere amphibischen Vorfahren, die zeitlebens ihre Kie- men behielten, folgten späterhin andere Amphibien, welche durch Metamorphose im späteren Alter die in der Jugend noch vorhan- denen Kiemen verloren, aber den Schwanz behielten, ähnlich den heutigen Salamandern und Molchen (Tritonen, vergl. S. 626). Sie entstanden aus den Kiemenlurchen dadurch, dass sie sich daran gewöhnten, nur noch in der Jugend durch Kiemen, im späteren Alter aber bloss durch Lungen zu athmen. Wahrschein- lich lebten sie schon in der zweiten Hälfte der Primärzeit, wäh- rend der permischen Periode, vielleicht schon während der Stein- kohlenzeit. Der Beweis für ihre damalige Existenz liest darin, dass die Schwanzlurche ein nothwendiges Mittelglied zwischen der vorigen und der folgenden Stufe bilden. Siebzehnte Ahnen-Stufe: Proreptilien (Protamnia). Als Protamnion haben wir früher die gemeinsame Stamm- form der drei höheren Wirbelthierelassen bezeichnet, aus welcher Haeckel, Natürl. Schöpfungs-Gesch. 8. Aufl. 45 706 Thierische Ahnenreihe des Menschen. XXVH: als zwei divergente Zweige die Proreptilien einerseits, die Pro- mammalien andrerseits sich entwickelten (8. 632). Man könnte jedoch diese Ahnenstufe selbst auch als Proreptilien bezeichnen, da sie im System zu den Reptilien gehörte. Sie entstand aus unbekannten Schwanzlurchen durch gänzlichen Verlust der Kiemen, Bildung des Amnion, der Schnecke und des runden Fensters im Gehörorgan, und der Thränenorgane. Ihre Entstehung fällt spä- testens in den letzten Abschnitt der Primärzeit, in die permische Periode, vielleicht schon in die Steinkohlenzeit. Unter den be- kannten fossilen Wirbelthieren stehen ihnen am nächsten die permischen Stammreptilien (Proterosauria), unter den leben- den die Eidechsen (Hatteria ete.). Der sichere Beweis für ihre einstmalige Existenz liegt in der vergleichenden. Anatomie und Ontogenie der Amnionthiere. Denn alle Reptilien, Vögel und Säugethiere mit Inbegriff des Menschen stimmen in so zahlreichen wichtigen Eigenthümlichkeiten überein, dass sie mit voller Sicher- heit.als Descendenten einer einzigen gemeinsamen Stammform, des Protamnion, zu erkennen sind. Achtzehnte Ahnen-Stufe: Säuger-Reptilien (Theriosauria). Zwischen den Proreptilien oder Protamnien — als der ältesten gemeinsamen Stammgruppe aller Amnioten — und den Promammalien — als gemeinsamer Stammgruppe der Säuge- thiere — muss eine Reihe von ausgestorbenen Reptilien liegen, welche die stufenweise Umbildung der Reptilien-Form in die Mammalien-Form vermittelten. Diese Umbildung betraf einerseits hauptsächlich das Skelet (Schädel, Wirbelsäule, Schultergürtel, Beckeneürtel), anderseits das Gehirn und Herz. Da die ältesten Säuger schon zu Ende der Trias erscheinen, muss jene wichtige Umbildung wahrscheinlich schon im Beginn dieser Periode, oder in der vorhergehenden permischen Periode stattgefunden haben. Unter den zahlreichen fossilen Reptilien dieser Zeit sind es nament- lich die Theriosaurier, welche mit mehr oder minder Wahr- scheinlichkeit auf Säugethier-Ahnen zu beziehen sind. (Vergl. S. 640.) Viele von diesen Säuger-Reptilien, namentlich Pely- cosaurier und Rhynchocephalen, zeigen Eigenthümlichkeiten im KRRVIL Thierische Ahnenreihe des Menschen. 107 Skelet-Bau, welche die vergleichende Anatomie als wichtige Be- weise für jenen Uebergang deuten darf. Neunzehnte Ahnen-Stufe: Stammsäuger (Promammalia). Unter unseren Vorfahren von der neunzehnten bis zur vier- undzwanzigsten Stufe wird uns bereits heimischer zu Muthe. Sie gehören alle der grossen und wohlbekannten Classe der Säuge- thiere an, deren Grenzen auch wir selbst bis jetzt noch nicht überschritten haben. Die gemeinsame, längst ausgestorbene und unbekannte Stammform aller Säugethiere, die wir als Promam- male bezeichneten, stand jedenfalls im inneren Körperbau unter allen jetzt noch lebenden Thieren dieser Classe den Schnabel- thieren oder Ornithostomen am nächsten (Ornithorhynchus, Echidna, S. 650). Jedoch war sie von letzteren durch vollstän- dige Bezahnung des Gebisses verschieden. Die Schnabelbildung der heutigen Schnabelthiere ist jedenfalls als ein später entstan- dener Anpassungscharacter zu betrachten. Die Promammalien entstanden aus Theriosauriern wahrscheinlich erst im Beginn der Secundärzeit, in der Trias-Periode, durch mancherlei Fortschritte in der inneren Organisation, sowie durch Umbildung der Epider- mis-Schuppen zu Haaren, und Bildung einer. Milchdrüse, welche Milch zur Ernährung der Jungen lieferte. Der sichere Beweis dafür, dass die Promammalien, als die gemeinsamen Stammformen aller Säugethiere, auch zu unseren Ahnen gehörten, liegt in der vergleichenden Anatomie und Ontogenie der Säugethiere und des Menschen. (Vergl. S. 663 und 680). Zwanzigste Ahnen-Stufe: Beutelthiere (Marsupialia). Die drei Unterclassen der Säugethiere stehen, wie wir früher sahen, der Art im Zusammenhang, dass die Beutelthiere sowohl in anatomischer, als auch in ontogenetischer und phylogenetischer Beziehung den unmittelbaren Uebergang zwischen den Monotremen und Placentalthieren vermitteln (S. 653). Daher müssen sich auch Vorfahren des Menschen unter den Beutelthieren befunden haben. Sie entstanden aus den Monotremen, zu denen auch die Stammsäuger oder Promammalien gehörten, durch Trennung 45* 108 Thierische Ahnenreihe des Menschen. XxXviIE der Kloake in Mastdarm und Urogenital-Sinus, durch Bildung einer Brustwarze an der Milchdrüse, und durch theilweise Rückbildung der Rabenbeine (S. 652). Die ältesten Beutelthiere lebten jedenfalls bereits in der Jura-Periode (vielleicht schon in der Trias-Zeit) und durchliefen eine Reihe von Stufen, welche die Entstehung der Placentalien während der Kreide-Periode vorbereiteten. Den sicheren Beweis für unsere Abstammung von Beutelthieren, welche den heute noch lebenden Beutelratten oder Opossum im wesentlichen inneren Bau nahe standen, liefert die vergleichende Anatomie und Ontogenie der Säugethiere. (Vergl. S. 649). Einundzwanzigste Ahnen-Stufe: Halbaffen (Prosimiae). Eine der wichtigsten und interessantesten Ordnungen unter den Säugethieren bildet, wie wir schon früher sahen, die kleine Gruppe der Halbaflen. Sie enthält wahrscheinlich die unmittel- baren Stammformen der echten Affen, und somit auch des Men- schen. Unsere Halbaffen-Ahnen besassen vermuthlich nur ziem- lich entfernte äussere Aehnlichkeit mit den heute noch lebenden kurzfüssigen Halbaffen (Drachytarsi), namentlich den Maki, Indri und Lori (S. 678). Sie entstanden (wahrscheinlich in der Kreide- Periode, vielleicht erst im Beginn der caenolithischen oder Tertiär- zeit) aus unbekannten, den Beutelratten verwandten Beutelthieren durch Bildung einer Placenta, Verlust des Beutels und der Beutel- knochen, und stärkere Entwickelung des Schwielenkörpers im Gehirn. Vielleicht haben sich die Halbaffen aber aus einem Zweige der Creodonten entwickelt, welche gegenwärtig als älteste gemeinsame Stammgruppe der freischfressenden Placentalen be- trachtet wird. Der sichere Beweis, dass die echten Affen, und somit auch unser eigenes Geschlecht, direct von den Halbaffen herkommen, ist in der vergleichenden Anatomie und Öntogenie der Beutelthiere und Placentalthiere zu suchen. (S. 649). Zweiundzwanzigste Ahnen-Stufe: Hundsköpfige Affen (Cynopitheca). Unter den beiden Abtheilungen der echten Affen, die sich aus den Halbaffen entwickelten, besitzt nur diejenige der Schmal- nasen oder Catarhinen nähere Blutsverwandtschaft mit dem Men- RRV]T. Thierische Ahnenreihe des Menschen. 7109 schen. Unsere älteren Vorfahren aus dieser Gruppe waren viel- leicht ähnlich den heute noch lebenden Nasenaffen und Schlank- affen (Semnopitheeus), mit demselben Gebiss und derselben Schmal- nase wie der Mensch; aber noch mit dichtbehaartem Körper und einem langen Schwanze (S. 691). Diese Cynopitheken oder geschwänzten schmalnasigen Affen (Catarhina menocerca) entstanden aus den Halbaffen durch Umbildung des Gebisses und Verwandlung der Krallen an den Zehen in Nägel, wahr- scheinlich schon in der älteren Tertiärzeit. Der sichere Beweis für unsere Abstammung von geschwänzten Catarhinen liegt in der vergleichenden Anatomie und Ontogenie der Affen und Menschen (Vergl. S. 686— 690). Dreiundzwanzigste Ahnen-Stufe: Menschenaffen (Anthropoides). Unter allen heute noch lebenden Affen stehen dem Menschen am nächsten die grossen schwanzlosen Schmalnasen, der Orang und Gibbon in Asien, der Gorilla und Schimpanse in Afrika. Diese Menschenaffen oder Anthropoiden entstanden wahrscheinlich während der mittleren Tertiärzeit, in der miocaenen Periode. Sie entwickelten sich aus den geschwänzten Catarhinen der vori- gen Stufe, mit denen sie im Wesentlichen übereinstimmen, durch Verlust des Schwanzes, theilweisen Verlust der Behaarung und überwiegende Entwickelung des Gehirntheiles über den Gesichts- theil des Schädels. Directe Vorfahren des Menschen sind unter den heutigen Anthropoiden nicht mehr zu suchen, wohl aber unter den unbekannten ausgestorbenen Menschenaffen der Miocaen- zeit (S. 694). Den sicheren Beweis für die frühere Existenz der- selben liefert die vergleichende Anatomie der Menschenaffen und der Menschen. (8. 685, 691—693.) Vierundzwanzigste Ahnen-Stufe: Affenmenschen (Pithecanthropi). Obwohl die vorhergehende Ahnenstufe den echten Menschen bereits so nahe steht, dass man kaum noch eine vermittelnde Zwischenstufe anzunehmen braucht, können wir als eine solche dennoch die sprachlosen Urmenschen (Alal) betrachten. Diese Affenmenschen oder Pithekanthropen lebten wahrscheinlich 7110 Thierische Ahnenreihe des Menschen. ONE erst gegen Ende der Tertiärzeit. Sie entstanden aus den Men- schenaffen oder Anthropoiden durch die vollständige Angewöhnung an den aufrechten Gang und dieser entsprechende stärkere Diffe- renzirung der beiden Beinpaare. Die „Vorderhand“ der Anthro- poiden wurde bei ihnen zur Menschenhand, die „Hirterhand“ da- gegen zum Gangfuss. Obgleich diese Affenmenschen so nicht bloss durch ihre äussere Körperbildung, sondern auch durch ihre innere Geistesentwickelung dem eigentlichen Menschen schon viel näher als die Menschenaffen gestanden haben werden, fehlte ihnen dennoch das eigentliche Hauptmerkmal des Menschen, die arti- eulirte menschliche Wortsprache und die damit verbundene Ent- wickelung des höheren Selbstbewusstseins und der Begriffsbildung. Der sichere Beweis, dass solche sprachlose Urmenschen oder Affenmenschen dem sprechenden Menschen vorausgegangen sein müssen, ergiebt sich für den denkenden Menschen aus der vergleichenden Sprachforschung (aus der „vergleichenden Ana- tomie“ der Sprache), und namentlich aus der Entwickelungs- Geschichte der Sprache, sowohl bei jedem Kinde („glottische Ontogenese*), als bei jedem Volke („glottische Phylogenese“) (Vergl. S. 717—120). Fünfundzwanzigste Ahnen-Stufe: Menschen (Homines). Die echten Menschen entwickelten sich aus den Affen- menschen der vorhergehenden Stufe durch die allmähliche Aus- bildung der thierischen Lautsprache zur gegliederten oder articu- lirten Wortsprache. Mit der Entwickelung dieser Function ging natürlich diejenige ihrer Organe, die höhere Differenzirung des Kehlkopfs und des Gehirns, Hand in Hand. Der Uebergang von den sprachlosen Affenmenschen zu den echten oder sprechenden Menschen erfolgte spätestens im Beginn der Quartärzeit oder der Diluvial-Periode, wahrscheinlich aber schon früher, in der jüngeren Tertiärzeit. Da nach der übereinstimmenden Ansicht der meisten bedeutenden Sprachforscher nicht alle menschlichen Sprachen von einer gemeinsamen Ursprache abzuleiten sind, so dürfen wir einen mehrfachen Ursprung der Sprache und dem entsprechend auch einen mehrfachen Uebergang von den sprachlosen Affenmenschen xXVvM. Thierische Ahnenreihe des Menschen. zul zu den echten, sprechenden Menschen mit grosser Wahrscheinlich- keit annehmen. (Vergl. unten S. 717—720.) Mit Bezug auf die früher erläuterten natürlichen Hauptab- theilungen des Thier-Systems kann man die vorstehend ange- führten 25 Hauptstufen unserer Vorfahren-Kette auf folgende drei grössere Gruppen vertheilen: I. Urthier-Ahnen (1. und 2. ein- zellige, 5. und 4. vielzellige Protozoen); Il. Wirbellose Ahnen (5—9); HI. Wirbelthier-Ahnen (10—16 niedere, 17—25 höhere Wirbelthier-Ahnen). Die chronologische, mehr oder minder wahrscheinliche Vertheilung derselben auf die verschiedenen Haupt- Perioden der Erdgeschichte stellen wir in folgender Uebersicht nochmals zusammen. (Vergl. Cap. XV—XIX meiner „Anthro- pogenie“, III. Aufl. 1877.) Die grossartigen Entdeckungen der neueren Paläontologie, namentlich derjenigen der Wirbelthiere, berechtigen uns zu der Hoffnung, dass durch weitere Fortschritte derselben die Erkennt- niss unserer thierischen Ahnenreihe noch sehr bedeutend vervoll- kommnet werden wird. Doch -wird vermuthlich die Mehrzahl der angeführten Ahnen-Stufen in der hier angenommenen Reihenfolge bestehen bleiben. Ihre Zahl wird um so mehr zunehmen, und es werden um so mehr verbindende Zwischenglieder zwischen jenen Hauptstufen sich nachweisen lassen, je tiefere Einsicht die Fortschritte der vergleichenden Anatomie und Ontogenie uns in diesen wichtigsten und interessantesten Theil der Phylogenie ge- statten werden. 7112 Thierische Ahnen-Reihe des Menschen. XXVNH. Vorfahren-Reihe des menschlichen Stammbaums. NB. Die Linie M—N bedeutet die Grenze zwischen den Wirbellosen und Wirbelthier- Ahnen. Lebende : 4 e 25 faspieläten der & : en A Bee thierischen Ahnen-Reihe a ir PT ae des Menschen. Ahnen. I. Reihe: 1. Moneren Monera 1. Protamoeba Erstes Zeit- [| Ahnen aus der] 2. Einzellige Protozoa 2. Amoeba ee ne Gruppe der 3. Vielzellige Moraeada 3. Morula nisch ur. | 4. Hohlkugeln Blastaeada * "olvor. Ma- 52 : en (Protozoa) 5 gosphaera Erdge- 5. Urdarm- 5 e schichte: * "thiere Gastrannden 9 Bann Archozoische II. Reihe: b. Platten- Platodes 6. Rhabdoevela oder Ahnen aus der IN Primordial- | Gruppe der ) “ eh Nemertina 7. Nemertina Zei wirbellose ie a2 = men Entero- 8. Balanoglos- A. Laurent. Metazoen darm- pneusta vr B. Cambrisch| (Evertebrata) | _ Würmer i 9. Ur-Chorda- Prochor- (‘, Silurisel eh 9. Copelata 4 thiere donia u N III. Reihe: 10. Sch: ll Acrania- 10. Amphioxus Bin f Ahnen aus derf 11. Rundmäuler Cyclostoma 11. Petromyzon ’eriode \ Gruppe der } 12. Urfische Selachii 12. Squali (Haie Bern | ysderen [13 Schme- Gannits 18. Surio 61 Ss oe \ (Ichthyopsiden) | 14. Lurchfische Dipneusta 14. Ceratodus 2) Carbon | ö 15. Kiemen- Stegosauria 15. Proteus(Olm) =) (Stein- IV. Reihe: lurche i SZ] kohle) | Ahnen aus den| 16- nt Urodels. Sana Per- Klassen der ) 17. Prorep- Protamnia 17. Lacertalia en | Amphibien tilien (Eidechsen) und Reptilien | 18. Säugerep- Therio- . Periode | tilien sauria 18. Hatteria Be Promam- ‚0 n.,; & | Trias | 19. Ursäuger (MOM 19, Eehidna = ura 20. Beutel- 1: 20. Didelphys &| Kreide thiere Marsuplalin (Beutelratte) Zi YV. Reihe: 21. Halbaffen Prosimiae 21. Stenops ; chwanz- : 22. ithe- | Aeeseee u Gynopitheca Ba = Tertiär Klasse der |23. Menschen- Anthro- 23. Gorilla, > Zeit Säugethiere Affen poides Orang ; 24. Affen- : 24. Hylobates = Menschen Alali (Sing-Affe) = Quartär { 25. Sprechende Homo 25. Austral- Ne- ZU Zeit Menschen ger-Hottentotten _ Achtundzwanzigster Vortrag. Wanderung und Verbreitung des Menschengeschlechts. Menschenarten und Menschenrassen.. Alter des Menschengeschlechts. Ursachen der Entstehung desselben. Der Ursprung der menschlichen Sprache. Lautsprache und Begriffsprache. Sing-Affen. Einstämmiger (monophyletischer) und vielstämmiger (polyphyle- tischer) Ursprung des Menschengeschlechts. Abstammung der Menschen von vielen Paaren. Classification der Menschenrassen. Schädelmessung. System der zwölf Menschenarten. Wollhaarige Menschen oder Ulotrichen. Büschel- haarige (Papuas, Hottentotten). Vlieshaarige (Kaffern, Neger). Schlichthaa- rige Menschen oder Lissotrichen. Straffhaarige (Malayen, Mongolen, Arktiker, Amerikaner). Lockenhaarige (Australier, Dravidas, Nubier, Mittelländer). Bevölkerungszahlen. Urheimath des Menschen (Südasien oder Lemurien). Beschaffenheit des Urmenschen. Der Traum des Urmenschen. Zahl der Ursprachen (Monoglottonen und Polyglottonen). Divergenz und Wanderung des Menschengeschlechts. Geographische Verbreitung der Menschenarten. Meine Herren! Der reiche Schatz von Kenntnissen, welchen wir in der vergleichenden Anatomie und Entwickelungsgeschichte der Wirbelthiere besitzen, gestattet uns schon jetzt, die wichtig- sten Grundzüge des menschlichen Stammbaums in der Weise fest- zustellen, wie es in den letzten Vorträgen geschehen ist. Dessen ungeachtet dürfen Sie aber nicht erwarten, die menschliche Stam- mesgeschichte oder Phylogenie, die fortan die tiefste Grundlage der Anthropologie und somit auch aller anderen Wissenschaften bilden wird, in allen Einzelheiten jetzt schon befriedigend über- sehen zu können. Vielmehr muss der Ausbau dieser wichtigsten Wissenschaft, zu der wir nun den ersten Grund legen können, den genaueren und eingehenderen Forschungen der Zukunft vor- behalten bleiben. Das gilt auch von denjenigen speciellen Ver- 714 Zeitraum der Entstehung des Menschengeschlechts. RXVR hältnissen der menschlichen Phylogenie, auf welche wir jetzt schliesslich noch einen flüchtigen Blick werfen wollen, nämlich von den Fragen nach Zeit und Ort der Entstehung des Menschen- geschlechts, sowie der verschiedenen Arten und Rassen, in welche sich dasselbe differenzirt hat. Was zunächst den langen Zeitraum der Erdgeschichte be- trifft, innerhalb dessen langsam und allmählich die Umbildung der menschenähnlichsten Affen zu den affenähnlichsten Menschen statt fand, so lässt sich dieser natürlich nicht nach Jahren, auch nicht nach Jahrhunderten bestimmen. Nur das können wir aus den, in den letzten Vorträgen angeführten Gründen mit voller Sicherheit behaupten, dass der Mensch jedenfalls von placentalen Säugethieren abstammt. Da aber von diesen Placentalthieren versteinerte Reste nur in den tertiären Gesteinen gefunden wer- den, so kann auch das Menschengeschlecht frühestens innerhalb der Tertiärzeit aus den vervollkommeten Menschenaffen sich ent- wickelt haben. Das Wahrscheinlichste ist, dass dieser wichtigste Vorgang in der irdischen Schöpfungsgeschichte gegen Ende der Tertiärzeit stattfand, also in der pliocaenen, vielleicht schon in der miocaenen Periode, vielleicht aber auch erst im Beginn der Diluvialzeit. Jedenfalls lebte der Mensch als solcher in Mit- teleuropa schon während der Diluvialzeit, gleichzeitig mit vielen grossen, längst ausgestorbenen Säugethieren, namentlich dem dilu- vialen Elephanten oder Mammuth (Zlephas primigenius), dem wollhaarigen Nashorn (Rhinoceros tichorhinus), dem Riesenhirsch (Cervus euryceros), dem Höhlenbär (Ursus spelaeus), der Höhlen- hyäne (Hyaena spelaea), dem Höhlentiger (Felis spelaea) etc. Die Resultate, welche die neuere Geologie und Archäologie über diesen fossilen Menschen der Diluvialzeit und seine thierischen Zeitgenossen an das Licht gefördert hat, sind vom höchsten In- teresse. Da aber eine eingehende Betrachtung derselben den uns gesteckten Raum bei weitem überschreiten würde, so begnüge ich mich hier damit, ihre hohe Bedeutung im Allgemeinen hervorzu- heben, und verweise Sie bezüglich des Besonderen auf die zahl- reichen Schriften, welche in neuester Zeit über die Urgeschichte des Menschen erschienen sind, namentlich auf die vortrefflichen RX VIE. Zeitraum der Entstehung des Menschengeschlechts. 7115 Werke. von Charles Lyell’®), John Lubbock '"), L. Büchner’), Paul Topinard‘®), Carus Sterne’‘) u. s. w. Die zahlreichen interessanten Entdeckungen, mit denen uns die ausgedehnten Untersuchungen der letzten Decennien über die Urgeschichte des Menschengeschlechts beschenkt haben, stellen die wichtige (auch aus vielen anderen Gründen schon längst wahr- scheinliche) Thatsache ausser Zweifel, dass die Existenz des Menschengeschlechts als solchen jedenfalls auf mehr als zwan- zigtausend Jahre zurückgeht. Wahrscheinlich sind aber seitdem mehr als hunderttausend Jahre, vielleicht viele Hunderte von Jahrtausenden verflossen, und es muss im Gegensatz dazu sehr komisch erscheinen, wenn noch heute unsere Kalender die „Erschaffung der Welt nach Calvisius“ vor 5333 Jahren geschehen lassen. Mögen Sie nun den Zeitraum, während dessen das Menschen- geschlecht bereits als solches existirte und sich über die Erde verbreitete, auf zwanzigtausend, oder auf hunderttausend, oder auf viele hunderttausend Jahre anschlagen, jedenfalls ist derselbe verschwindend gering gegen die unfassbare Länge der Zeiträume, welche für die stufenweise Entwickelung der langen Ahnenkette des Menschen erforderlich waren. Das geht schon hervor aus der sehr geringen Dicke, welche alle diluvialen Ablagerungen im Ver- hältniss zu den tertiären, und diese wiederum im Verhältniss zu den vorhergegangen besitzen (vergl. 8.387). Aber auch die un- endlich lange Reihe der schrittweise sich langsam entwickelnden Thiergestalten, von dem einfachsten Moner bis zur Gastraea, vom Platoden bis zum Amphioxus, vom Cyelostom bis zum Urfisch, vom Schmelzfisch bis zum Proreptil, vom Theriosaurier bis zum ersten Säugethiere, und von diesem wiederum bis zum Menschen. erheischt zu ihrer historischen Entwickelung eine Reihenfolge von Zeiträumen, die wahrscheinlich viele Millionen von Jahrtausenden umfassen (vergl. S. 114). Diejenigen Entwickelungs-Vorgänge, welche zunächst die Ent- stehung der affenähnlichsten Menschen aus den menschenähnlich- sten Affen veranlassten, sind in zwei Anpassungs -Thätigkeiten der letzteren zu suchen, welche vor allen anderen die Hebel zur 716 Entwickelung des Menschen aus dem Affen. XIXOVIENTE Menschwerdung waren: der aufrechte Gang und die geglie- derte Sprache. Diese beiden physiologischen Functionen entstanden nothwendig zugleich mit zwei entsprechenden mor- phologischen Umbildungen, mit denen sie in der engsten Wechselwirkung stehen, nämlich Differenzirung der beiden Gliedmaassenpaare und Differenzirung des Kehlkopfs. Die wichtige Vervollkommnung dieser Organe und ihrer Functio- nen musste aber drittens nothwendig auf die Differenzirung des Gehirns und der davon abhängenden Seelenthätig- keiten mächtig zurückwirken, und damit war der Weg für die unendliche Laufbahn eröffnet, in welcher sich seitdem der Mensch fortschreitend entwickelt, und seine thierischen Vorfahren so weit überflügelt hat. Als den ersten und ältesten Fortschritt von diesen drei mäch- tigen Entwickelungs-Processen im menschlichen Organ;smus haben wir wohl die höhere Differenzirung und Vervollkomm- nung der Extremitäten hervorzuheben, welche durch die Ge- wöhnune an den aufrechten Gang herbeigeführt wurde. In- dem die Vorderfüsse unserer Affen-Ahnen immer ausschliesslicher die Function des Greifens und Betastens, die Hinterfüsse dagegen immer andauernder die Funetion des Auftretens und Gehens über- nahmen und beibehielten, bildete sich jener Gegensatz zwischen Hand und Fuss aus, welcher zwar dem Menschen nicht aus- schliesslich eigenthümlich, aber doch viel stärker bei ihm ent- wickelt ist, als bei den menschenäbnlichsten Affen. Diese Diffe- renzirung der vorderen und hinteren Extremität war aber nicht allein für ihre eigene Ausbildung und Vervollkommnung höchst vortheilhaft, sondern sie hatte zugleich eine ganze Reihe von sehr wichtigen Veränderungen in der übrigen Körperbildung im Ge- folge. Die ganze Wirbelsäule, namentlich aber Brustkorb, Becken- gürtel und Schultergiirtel, sowie die dazu gehörige Muskulatur, erlitten dadurch diejenigen Umbildungen, durch welche sich der menschliche Körper von demjenigen der menschenähnlichsten Affen unterscheidet. Wahrscheinlich vollzogen sich diese Umbildungen schon lange vor Entstehung der gegliederten Sprache, und es existirte das Menschengeschlecht schon geraume Zeit mit seinem ROXY IIT. Entwickelung des Menschen aus dem Affen. RT aufrechten Gange und der dadurch herbeigeführten characteristi- schen menschlichen Körperform, ehe sich die eigentliche Ausbil- dung der menschlichen Sprache und damit der zweite und wich- tigere Theil der Menschwerdung vollzog. Wir können daher wohl mit Recht als eine besondere (24ste) Stufe unserer menschlichen Ahnenreihe den sprachlosen Menschen (Alalus) oder Alfenmenschen (Pithecanthropus) unterscheiden, welcher zwar körperlich dem Menschen in allen wesentlichen Merkmalen schon gleichgebildet. aber noch ohne den Besitz der gegliederten Wortsprache war (S. 709). Die Entstehung der gegliederten Wortsprache, und die damit verbundene höhere Differenzirung und Vervoll- kommnung des Kehlkopfs haben wir erst als die spätere, zweite und wichtigste Stufe in dem Entwickelungs-Vorgang der Menschwerdung zu betrachten. Sie war es ohne Zweifel, welche vor allem die tiefe Kluft zwischen Mensch und Thier schaffen half, und welche zunächst auch die bedeutendsten Fortschritte in der Seelenthätigkeit und der damit verbundenen Vervollkomm- nung des Gehirns veranlasste. Allerdings existirt eine Sprache als Mittheilung von Empfindungen, Bestrebungen und Gedanken auch bei sehr vielen Thieren, theils als Gebärdensprache oder Zeichensprache, theils als Tastsprache oder Berührungssprache, theils als Lautsprache oder Tonsprache. Allein eine wirkliche Wortsprache oder Begrifissprache, eine sogenannte „gegliederte oder artieulirte* Sprache, welche die Laute durch Abstraction zu Worten umbildet und die Worte zu Sätzen verbindet, ist, so viel wir wissen, fast ausschliessliches Eigenthum des Menschen. Nur der Gesang der Vögel ist eine ähnliche physiologische Leistung. Die Sprachen der Säugethiere, wie z. B. das Bellen des Hundes, das nächtliche „steinerweichende Lied“ der Katzen, das Wiehern des Pferdes, das Trompeten des Elephanten u. s. w., sind bloss Interjeetions-Sprachen, d. h. vereinzelte Ausrufe, welche gewisse Gefühle oder Wünsche des Säugethiers mittheilen. Bei gesellig lebenden Säugern können diese Ausdrücke ihres Empfin- dungs- und Willens-Vermögens auch noch weitere Bedeutung er- langen, als Befehle, Warnungen, Hilfsrufe u.s. w. Auch kann 113 Ursprung der menschlichen Sprache. XXVTE ihre Wirkung durch die Geberden-Sprache wesentlich verstärkt werden. Obgleich nun die meisten dieser Interjections-Sprachen oder Laut-Sprachen noch tief unter der gegliederten „Begriff- Sprache“ des Menschen stehen, müssen wir dennoch in den erste- ren die phylogenetische Vorstufe zur letzteren sehen, ebenso wie in der Ton-Sprache der singenden Vögel. Diese Annahme wird durch die merkwürdige Thatsache unterstützt, dass es ausser dem Menschen noch ein zweites singendes Säugethier giebt, und dass dieses zur Familie der Menschen-Affen gehört. Ein indischer Gibbon (Hylobates agilis) singt in vollkommen reinen und klangvollen Tönen die Tonleiter einer Octave auf- und ab- wärts, und die Töne dieser Scala liegen genau um einen halben Ton auseinander. Dieser indische „Sing-Affe“ steht über den amerikanischen Brüll-Affen ungefähr eben so hoch, wie die Nach- tigall über der Krähe. Mehr als alles Andere musste die Entstehung der mensch- lichen Sprache veredelnd und umbildend auf das menschliche Seelenleben und somit auf das Gehirn einwirken. Die höhere Differenzirung und Vervollkommnung des Gehirns, und des Geisteslebens als der höchsten Function des Gehirns, entwickelte sich in unmittelbarer Wechselwirkung mit seiner Aeusserung durch die Sprache. Daher konnten die bedeutendsten Vertreter der vergleichenden Sprachforschung in der Entwickelung der menschlichen Sprache mit Recht den wichtigsten Scheidungs- Process des Menschen von seinen thierischen Vorfahren erblicken. Dies hat namentlich August Schleicher in seinem Schriftehen „Ueber die Bedeutung der Sprache für die Naturgeschichte des Menschen“ hervorgehoben‘). In diesem Verhältniss ist einer der engsten Berührungspunkte zwischen der vergleichenden Zoologie und der vergleichenden Sprachkunde gegeben, und hier stellt die Entwickelungs-Theorie für die letztere die Aufgabe, den Ursprung der Sprache Schritt für Schritt zu verfolgen. Diese ebenso in- teressante als wichtige Aufgabe ist in neuester Zeit von mehreren Seiten mit Glück in Angriff genommen worden, so insbesondere von Lazarus Geiger und Wilhelm Bleek°’), welcher seit vielen Jahren in Südafrika mit dem Studium der Sprachen der XXVIIT. Einheitlicher oder vielheitlicher Ursprung des Menschen. 7119 niedersten Menschenrassen beschäftigt und dadurch besonders zur Lösung dieser Frage befähigt war. Wie sich die verschiedenen Sprachformen, gleich allen anderen organischen Formen und Func- tionen, durch den Process der natürlichen Züchtung entwickelt, und in viele Arten und Abarten zersplittert haben, hat vorzüg- lich August Schleicher der Seleetions-Theorie entsprechend erörtert‘). Den Process der Sprachbildung selbst hier weiter zu verfol- sen, haben wir keinen Raum, und ich verweise Sie in dieser Be- ziehung namentlich auf die wichtige, eben erwähnte Schrift von Wilhelm Bleek „über den Ursprung der Sprache“ °°). Dieser ausgezeichnete Sprachforscher sprach in einem an mich gerichteten Briefe die Ansicht aus, dass alle verschiedenen menschlichen Sprachen einen einheitlichen oder monophyletischen Ursprung haben. „Sie alle besitzen wahre Pronomina und die davon abhängende Eintheilung der Redetheile.. Nun aber zeigt die Geschichte der Sprachentwickelung uns klar, wie der Besitz der wahren Pronomina durch Anpassung erworben ist, und dies in einer Weise, die unmöglich mehr als einmal stattgefunden haben kann.“ Dagegen sind andere berühmte Sprachforscher der Ansicht, dass die menschliche Sprache einen vielheitlichen oder polyphyletischen Ursprung hat. So behauptet nament- lich Schleicher, eine der ersten Autoritäten auf diesem Gebiete, dass „schon die ersten Anfänge der Sprache, im Laute sowohl als nach den Begriffen und Anschauungen, welche lautlich reflectirt wurden, und ferner nach ihrer Entwickelungsfähigkeit, verschieden gewesen sein müssen. Denn es ist positiv unmöglich, alle Sprachen auf eine und dieselbe Ursprache zurückzuführen. Vielmehr ergeben sich der vorurtheilsfreien Forschung eben so viele Ursprachen, als sich Sprachstämme unterscheiden lassen“. Eben so nehmen auch Friedrich Müller'?) und andere bedeutende Linguisten eine selbstständige und unabhängige Entstehung der Sprachstämme und ihrer Ursprachen an. Bekanntlich entsprechen aber die Grenzen dieser Sprachstämme und ihrer Verzweigungen keineswegs den Grenzen der verschiedenen Menschenarten oder sogenannten „Rassen“, welche wir auf Grund körperlicher Charactere im Men- 7120 Abstammung der Menschen von einem Paare. XXNIME schengeschlecht unterscheiden. Hierin, sowie in den verwickelten Verhältnissen der Rassenmischung und der vielfältigen Bastard- bildung, liegt die grosse Schwierigkeit, welche die weitere Ver- folgung des menschlichen Stammbaums in seine einzelnen Zweige, die Arten, Rassen, Abarten u. s. w., darbietet. Trotz dieser grossen und bedenklichen Schwierigkeiten können wir nicht umhin, hier noch einen flüchtigen Blick auf diese wei- tere Verzweigung des menschlichen Stammbaums zu werfen und dabei die viel besprochene Frage vom einheitlichen oder vielheit- lichen Ursprung des Menschengeschlechts, seinen Arten oder Rassen, vom Standpunkte der Descendenz-Theorie aus zu be- leuchten. Bekanntlich stehen sich in dieser Frage seit langer Zeit zwei grosse Parteien gegenüber, die Monophyleten und Poly- phyleten. Die Monophyleten (oder Monogenisten) behaupten den einheitlichen Ursprung. und die Blutsverwandtschaft aller Menschenarten. Die Polyphyleten (oder Polygenisten) dagegen sind der Ansicht, dass die verschiedenen Menschenarten oder Rassen selbstständigen Ursprungs sind. Nach den vorhergehenden genea- logischen Untersuchungen kann es Ihnen nicht zweifelhaft sein, dass im weiteren Sinne jedenfalls die monophyletische An- sicht die richtige ist. Denn vorausgesetzt auch, dass die Umbil- dung menschenähnlicher Affen zu Menschen mehrmals stattgefun- den hätte, so würden doch jene Aflen selbst durch den einheit- lichen Stammbaum der ganzen Aflfenordnung, oder mindestens der Catarhinen, wiederum zusammenhängen. Es könnte sich daher immer nur um einen näheren oder entfernteren Grad der eigent- lichen Blutsverwandtschaft handeln. Im engeren Sinne könnte dagegen die polyphyletische Anschauung insofern Recht be- halten, als die verschiedenen Ursprachen sich vielleicht ganz un- abhängig von einander entwickelt haben. Wenn man also die Entstehung der gegliederten Wortsprache als den eigentlichen Hauptakt der Menschwerdung ansieht, wenn man ferner einen vielheitlichen Ursprung der Sprache annimmt und wenn man zu- gleich die Arten des Menschengeschlechts nach ihrem Sprach- stamme unterscheiden will, so könnte man sagen, dass die ver- schiedenen Menschen-Arten unabhängig von einander entstanden 'ı, xXxVvil. Abstammung der Menschen von vielen Paaren. 121 ad seien, indem verschiedene Zweige der aus den Affen unmittelbar entstandenen sprachlosen Urmenschen sich selbstständig ihre Ur- sprachen bildeten. Immerhin würden natürlich auch diese an ihre Wurzel entweder weiter oben oder tiefer unten wieder zusammen- hängen und also doch schliesslich alle von einem gemeinsamen Urstamme abzuleiten sein. Wenn wir nun an dieser letzteren Ueberzeugung allerdings festhalten, und wenn wir aus vielen Gründen der Ansicht sind, dass die verschiedenen Species der Urmenschen alle von einer gemeinsamen Affenmenschen-Form abstammen, so wollen wir da- mit natürlich nicht sagen, dass „alle Menschen von einem Paare abstammen“. Diese letztere Annahme, welche unsere moderne indogermanische Bildung aus dem semitischen Mythus der mosaischen Schöpfungs-Geschichte herübergenommen hat, ist auf keinen Fall haltbar. Der ganze berühmte Streit, ob das Menschen- geschlecht von einem Paar abstammt oder nicht, beruht auf einer vollkommen falschen Fragestellung. Er ist ebenso sinnlos, wie der Streit, ob alle Jagdhunde oder alle Rennpferde von einem Paare abstammen. Mit demselben Rechte könnte man fragen, ob alle Deutschen oder alle Engländer „von einem Paare abstam- men“ u.s. w. Ein „erstes Menschenpaar“ oder ein „erster Mensch“ hat überhaupt niemals existirt, so wenig es jemals ein erstes Paar oder ein erstes Individuum von Engländern, Deutschen, Rennpferden oder Jagdhunden gegeben hat. Immer erfolgt natür- lich die Entstehung einer neuen Art aus einer bestehenden Art in der Weise, dass eine lange Kette von vielen verschiedenen In- dividuen an dem langsamen Umbildungsprocess betheiligt ist. Angenommen, dass wir alle die verschiedenen Paare von Menschen- affen und Affenmenschen neben einander vor uns hätten, die zu der wahren Vorfahren-Kette des Menschengeschlechts gehören, so würde es doch ganz unmöglich sein, ohne die grösste Willkür eines von diesen Affenmenschen-Paaren als „das erste Paar“ zu bezeichnen. Ebensowenig kann man auch jede der zwölf Menschen- rassen oder Species, die wir sogleich betrachten wollen, von einem „ersten Paare“, im Sinne der Schöpfungs-Mythen ableiten. Die Schwierigkeiten, denen wir bei der Classification der ver- Haeckel, Natürl. Schöpfungs-Gesch. 8. Aufl. 46 122 Eintheilung der Menschen-Rassen. xXVHE schiedenen Menschenrassen oder Menschenarten begeenen, sind ganz dieselben, welche uns die Systematik der Thier- und Pflan- zenarten bereitet. Hier wie dort sind die scheinbar ganz ver- schiedenen Formen doch meistens durch eine Kette von vermit- telnden Uebergangsformen mit einander verknüpft. Hier wie dort kann der Streit, was Art oder Species, und was Rasse oder Varietät ist, niemals entschieden werden. Bekanntlich nahm man seit Blumenbach an, dass das Menschengeschlecht in fünf Rassen oder Varietäten zerfalle, nämlich: 1) die äthiopische oder schwarze Rasse (afrikanische Neger); 2) die malayische oder braune Rasse (Malayen, Polynesier und Australier); 3) die monologische oder gelbe Rasse (die Hauptbevölkerung Asiens und die Eskimos Nordamerikas); 4) die amerikanische oder rothe Rasse (die Ur- einwohner Amerikas); und 5) die kaukasische oder weisse Rasse (Europäer, Nordafrikaner und Südwest-Asiaten). Diese fünf Men- schenrassen sollten alle, der jüdischen Schöpfungssage entsprechend, „von einem Paare“, Adam und Eva, abstammen, und demgemäss nur Varietäten einer Art oder Species sein. Indessen kann bei unbefangener Vergleichung kein Zweifel darüber existiren, dass die Unterschiede dieser fünf Rassen eben so gross und noch grösser sind, als die „specifischen Unterschiede“, auf deren Grund die Zoologen und Botaniker anerkannt gute Thier- und Pflanzen- arten („bonae species“) unterscheiden. Mit Recht behauptet daher der treffliche Paläontologe Quenstedt: „Wenn Neger und Kau- kasier Schnecken wären, so würden die Zoologen mit allgemeiner Uebereinstimmung sie für zwei ganz vortreffliche Species ausgeben, die nimmermehr durch allmähliche Abweichung von einem Paare entstanden sein könnten.“ Die Merkmale, durch welche man gewöhnlich die Menschen- rassen unterscheidet, sind theils der Haarbildung, theils der Haut- farbe, theils der Schädelbildung entnommen. In letzterer Bezie- hung unterscheidet man als zwei extreme Formen Langköpfe und Kurzköpfe. Bei den Langköpfen (Dolichocephali), deren stärkste Ausbildung sich bei den Negern und Australiern findet, ist der Schädel langgestreckt, schmal, von rechts nach links zusammen- gedrückt. Bei den Kurzköpfen (Brachycephali) dagegen ist der SAVIT. Langköpfige und kurzköpfige Menschen. 123 Schädel umgekehrt von vorn nach hinten zusammengedrückt, kurz und breit, wie es namentlich bei den Mongolen in die Augen springt. Die zwischen beiden Extremen in der Mitte stehenden Mittelköpfe (Mesocephali) sind namentlich bei den Amerikanern vorherrschend. In jeder dieser drei Gruppen kommen Schief- zähnige (Prognathi) vor, bei denen die Kiefer, wie bei der thierischen Schnauze, stark vorspringen und die Vorderzähne da- her schief nach vorn gerichtet sind, und Gradzähnige (Ortho- gnathi), bei denen die Kiefer wenig vorspringen und die Vorder- zähne senkrecht stehen. Man hat in den letzten dreissig Jahren sehr viel Mühe und Zeit an die genaueste Untersuchung und Messung der Schädelformen gewendet, ohne dass diese durch ent- sprechende Resultate belohnt worden wäre. Denn innerhalb einer einzigen Species, wie z. B. der mittelländischen, kann die Schädel- form so varliren, dass man in derselben extreme Gegensätze findet. Ausserdem wurde die nutzlose Danaiden-Arbeit dieser sogenannten „exacten Craniometrie“* grösstentheils von Anthropologen ver- richtet, denen die unentbehrlichen Vorkenntnisse in der verglei- chenden Anatomie des Wirbelthier-Schädels fehlten. Viel bessere Anhaltpunkte für die Classification der menschlichen Species liefert die Beschaffenheit der Behaarung und der Sprache, besonders die typische Bildung des Kopfhaars, weil diese sich viel strenger als die Schädelform vererbt. Für die verwickelte Frage von der Stammverwandtschaft der grösseren und kleineren „Rassen“-Gruppen sind vor Allem die neueren Ergebnisse der vergleichenden Sprachforschung maassgebend. Daher ist in der neuesten vortrefflichen Bearbei- tung der Menschenrassen, welcher der Wiener Sprachforscher Friedrich Müller in seiner ausgezeichneten Ethnographie ‘”) gegeben hat, die Sprache mit Recht in den Vordergrund gestellt. Demnächst ist aber auch die Beschaffenheit des Kopfhaares von grosser Bedeutung. Obwohl an sich allerdings ein untergeordneter morphologischer Character, scheint sie sich dennoch im Ganzen streng innerhalb der Rasse zu vererben. Von den zwölf Menschen- Species, die wir unterscheiden (S. 726), zeichnen sich die vier niederen Arten durch die wollige Beschaffenheit der Kopfhaare 46* 124 Wollhaarige und schlichthaarige Menschen. XXVIl. aus; jedes Haar ist bandartig abgeplattet und erscheint daher auf dem Querschnitt elliptisch oder länglich rund. Wir können diese vier Arten von Wollharigen (Ulotriches) in zwei Gruppen brin- gen, in Büschelhaarige und Vliesshaarige. Bei den Büschel- haarigen Lophocomi), den Papuas und Hottentotten, wachsen die Kopfhaare, ungleichmässig vertheilt, in kleinen Büscheln. Bei den Vliesshaarigen (Kriocomi) dagegen, den Kaffern und Negern, sind die Wollhaare gleichmässig über die ganze Kopfhaut ver- theilt. Alle Ulotrichen oder Wollhaarigen sind schiefzähnig und langköpfig. Die Farbe der Haut, des Haares und der Augen ist stets sehr dunkel. Alle sind Bewohner der südlichen Erdhälfte; nur in Afrika überschreiten sie den Aequator. Im Allgemeinen stehen sie auf einer viel tieferen Entwickelungsstufe und den Affen viel näher, als die meisten Lissotrichen oder Schlichthaarigen. Einer wahren inneren Cultur und einer höheren geistigen Durch- bildung sind die Ulotrichen unfähig, auch unter so günstigen An- passungsbedingungen, wie sie ihnen jetzt in den vereinigten Staaten Nordamerikas geboten werden. Kein wollhaariges Volk hat jemals eine bedeutende „Geschichte“ gehabt. Bei den acht höheren Menschen-Arten, die wir als Schlicht- haarige (Lissotriches) zusammenfassen, ist das Kopfhaar niemals eigentlich wollig, auch wenn es bei einzelnen Individuen sich stark kräuselt. Jedes einzelne Haar ist nämlich eylindrisch (nicht bandförmig) und daher auf dem Querschnitt kreisrund (nicht | länglich rund). Auch die acht lissotrichen Species können wir auf zwei Gruppen vertheilen: Straffhaarige und Lockenhaarige. Zu den Straffhaarigen (Kuthycomi), bei denen das Kopfhaar ganz glatt und straff, nicht gekräuselt ist, gehören die Malayen, Mongolen, Arktiker und Amerikaner. Zu den Lockenhaarigen (Euplocami) dagegen, bei denen das Kopfhaar mehr oder weniger lockig und auch der Bart mehr als bei allen anderen Arten ent- wickelt ist, gehören die Australier, Dravidas, Nubier und Mittel- länder. (Vergl. Taf. XX am Ende.) Bevor wir nun den Versuch wagen, die phyletische Divergenz des Menschengeschlechts und den genealogischen Zusammenhang seiner verschiedenen Arten hypothetisch zu beleuchten, wollen wir de Se We 2 XXVI. Wollhaarige und schlichthaarige Menschen. 7125 eine kurze Schilderung der zwölf genannten Species und ihrer Verbreitung vorausschicken. Um die geographische Verbreitung derselben klar zu übersehen, müssen wir uns um drei oder vier Jahrhunderte zurückversetzen, in die Zeit, wo die indische Insel- welt und Amerika eben erst entdeckt war, und wo die gegen- wärtige vielfache Mischung der Species, insbesondere die Ueber- fluthung durch die indogermanische Rasse, noch nicht so vorge- schritten war. Auf diese Zeit bezieht sich unsere Taf. XX (am Ende). Wir beginnen, von den niedersten Stufen aufsteigend, mit den wollhaarigen Menschen (Ulotriches), welche sämmtlich dunkelfarbige prognathe Dolichocephalen sind. , Unter den jetzt noch lebenden Menschenarten steht der ur- sprünglichen Stammform der wollhaarigen Menschen am nächsten vielleicht der Papua (Homo papua). Diese Species bewohnt gegenwärtig nur noch die grosse Insel Neuguinea und den östlich davon gelegenen Archipel von Melanesien (die Salomons-Inseln, Neu-Kaledonien, die neuen Hebriden u. s. w.). Zerstreute Reste derselben finden sich aber auch noch im Innern der Halbinsel Malacca, sowie auf vielen anderen Inseln des grossen pacifischen Archipels; meistens in den unzugänglichen gebirgigen Theilen des Innern, so namentlich auf den Philippinen. Auch die kürzlich ausgestorbenen Tasmanier oder die Bevölkerung von Vandiemsland gehörte zu dieser Art. Aus diesen und anderen Umständen geht hervor, dass die Papuas früher einen viel weiteren Verbreitungs- bezirk im Südosten Asiens besassen. Sie wurden aus diesem durch die Malayen verdrängt, und nach Osten fortgeschoben. Alle Papuas sind von schwarzer oder mehr schokoladenbrauner Haut- farbe. Bald spielt diese mehr in das Bräunliche, bald mehr in das Schiefergraue. Die krausen Haare wachsen in Büscheln, sind spiralig gewunden, und oft über einen Fuss lang, so dass sie eine mächtige, weit abstehende wollige Perrücke bilden. Das Gesicht zeigt unter einer schmalen, eingedrückten Stirn eine grosse aufgestülpte Nase, und dicke, aufgeworfene Lippen. Durch ihre eigenthümliche Haarbildung und Sprache unter- scheiden sich die Papuas auffallend von ihren schlichthaarigen Nachbarn, sowohl von den Malayen, als von den Australiern, 726 System der Menschen-Rassen. XXVuE Systematische Uebersicht der 12 Menschen-Arten und ihrer 36 Rassen. (Vergl. Taf. XX.) Species | Rasse Heimath Einwand: rung von = 1. Negritos Malacca, Philippinen Westen S 1. Papua 2. Neuguineer Neuguinea Westen = Homo 3. Melanesier Melanesien Nordwesten Ss DAplE 4. Tasmanier Vandiemensland Nordosten ai | 2. Hottentotte Y 5. Hottentotten Capland Nordosten - H. hottentottus\ 6. Buschmänner Capland Nordosten 13 3. Kaffer 7. Zulukaffern Oestliches Südafrika Norden ] Homo | 8. Beschuanen Centrales Südafrika Nordosten S cafer 9. Congokaflern Westliches Südafrika Osten i= N X Tibu-Neger Tibu-Land Südosten | ur )11. Sudan-Neger Sudan Osten Pi be Senegambier Senegambien Osten niger 18. DR Ele Osten Bi Malaye Is Se Sunda- Archipel) we Homo 15. Polynesier Pacifischer Archipel Westen malayus Lie. Madagassen Madagascar Osten a. 6. Mongole Rs Indochinesen Babe China : Süden E en 18. Koreo-Japaner Corea, Japan Südwesten & mongolus je Altajer Mittelasien, Nordasien Süden = \20. Uralier Nordwestasien, Nord- Südosten En europa, Ungarn as| 7. Arktiker (21. Hyperborier Nordöstliches Asien Südwesten ji H. aretieus |22. Eskimos Nördlichstes Amerika Westen 23. Nordamerikaner Nordamerika Nordwesten . ja 24. Mittelamerikaner Mittelamerika Norden meicanns 25. Südamerikaner Südamerika Norden 26. Patagonier Südlichstes Amerika Norden 9. Australier (27. Nordaustralier Nordaustralien Norden H. australis ae Südaustralier Südaustralien Norden E “ Dravida (29. Tamilen Vorder-Indien Norden <| H. dravida Ex Todas Nilgerri Norden =) 1. Nubier en Dongolesen Nubien Osten = H. nuba 32. Fulater Fula-Land (Mittelafrika) Osten ei| 12. Mittel- (33. Kaukasier Kaukasus Südosten Mm länder 34. Basken Nördlichstes Spanien Süden? = Homo 85. Hamosemiten Arabien, Nordafrika ete. Osten mediterraneus \36. Indogermanen Südwestasien,Europaetc.Südosten XXVIH. Stammbaum der zwölf Menschen - Arten 127 Japaner Magyaren | Finnen | Chinesen Koreaner Sn Koreojapaner. Siamesen Samojeden u Indochinesen 8. Amerikaner m ner’ . | Uralier Eskimos | | mn nme Tataren Kalmücken | Hyperboräer Tungusen 1. Arktiker mn | Madagassen | Polynesier Altajer | } an Sundanesier Tamilen Nm nn un 6. Mongolen >, Malayen Euthycomi 4. Neger 1. Papuas | Australier 3. Kaffern 5 | |Hottentotten et —— Lophocomi Ulotriches Lissotriches Urmenschen Protanthropi | Affen-Menschen. Alali Hamosemiten | | Basken | | | Tibetaner \ Z 12. Mittelländer —_—{[— 10. Dravidas —— nn — | | De nned Eriocomi NEREEER Euplocami u [um ————— |——o Wollhaarige Schlichthaarige Indogermanen | | | | Kaukasier | I Fulater Dongolesen | ll. Nubier Todas 28 Papuas und Hottentotten. XXX Vanie Auch andere Unterschiede der Papuas sind so wesentlich, dass man sie als eine ganz besondere Species betrachten muss. Den Papuas durch ähnlichen büscheligen Haarwuchs verwandt, obwohl physiognomisch und räumlich weit von ihnen geschieden, sind die Hottentotten (Homo hottentottus). Sie bewohnen aus- schliesslich das südlichste Afrika, das Kapland und die nächstan- grenzenden Theile, und sind hier von Nordosten her eingewan- dert. Gleich den Papuas, nahmen auch die Hottentotten früher einen viel grösseren Raum (wahrscheinlich das ganze östliche Afrika) ein und gehen jetzt ihrem Aussterben entgegen. Ausser den eigentlichen Hottentotten, von denen jetzt nur noch die beiden Stämme der Koraka (im östlichen Kapland) und der Namaka (im westlichen Kapland) existiren, gehören hierher auch die Busch- männer (im gebirgigen Innern des Kaplandes). Bei allen diesen Hottentotten wächst das krause Haar ebenso in getrennten, spiralig gewundenen Büscheln, wie bei den Papuas, ähnlich einer Bürste. Beide Species stimmen auch darin überein, dass sich im Gesäss des weiblichen Geschlechts eine besondere Neigung zur Anhäufung grosser Fettmassen zeigt (Steatopygie). Die Hautfarbe der Hotten- totten ist aber viel heller, gelblich braun oder selbst graugelb. Das sehr platte und breite Gesicht zeichnet sich durch kleine Stirn und Nase, aber grosse Nasenlöcher aus. Der Mund ist sehr breit, mit grossen Lippen, das Kinn schmal und spitz. Die Sprache ist durch viele ganz eigenthümliche Schnalzlaute ausge- zeichnet. Die nächsten Nachbarn der Hottentotten sind die Kaffern (Homo cafer). Diese kraushaarige Menschenart unterscheidet sich jedoch von den Hottentotten und Papuas dadurch, dass das wol- lige Haar nicht büschelweise vertheilt ist, sondern als dichtes Vliess den Kopf bedeckt (wie bei den Negern). Freilich ist die- ser Unterschied nicht streng durchgreifend. Die Farbe der Haut durchläuft alle Abstufungen von dem gelblichen Braun der Hot- tentotten bis zu dem Braunschwarz oder reinen Schwarz des ech- ten Negers. Während man früher der Kaffernrasse einen sehr engen Verbreitungskreis anwies und sie meist nur als eine Va- rietät des echten Negers betrachtete, zählt man dagegen jetzt zu XXVM. Kaffern und Neger. 729 dieser Species fast die gesammte Bevölkerung des äquatorialen Afrika von 20 Grad südlicher bis 4 Grad nördlicher Breite, mit- hin alle Südafrikaner mit Ausschluss der Hottentotten. Insbeson- dere gehören dahin an der Ostküste die Zulu-, Zambesi- und Mosambik-Völker, im Inneren die grosse Völkerfamilie der Be- schuanen oder Setschuanen, und an der Westküste die Herrero- und Congo-Stämme. Auch sie sind, wie die Hottentotten, von Nordosten her eingewandert. Von den Sudan-Negern, mit denen man die Kaffern gewöhnlich vereinigte, unterscheiden sie sich sehr wesentlich durch die Schädelbildung und die Sprache. Das Gesicht ist lang und schmal, die Stirn hoch und gewölbt, die Nase vorspringend, oft gebogen, die Lippen nicht so stark auf- geworfen und das Kinn spitz. Die mannichfaltigen Sprachen der verschiedenen Kaffern-Stämme lassen sich alle von einer ausge- storbenen Ursprache, der Bantu-Sprache, ableiten. Die Gruppe der Sudanier oder der echten „Neger“ im engeren Sinne (Homo niger), umfasst nach Ausschluss der Kaffern, Hottentotten und Nubier, nur noch die Tibus im östlichen Theile der Sahara, die Sudan-Völker oder Sudaner, welche zunächst im Süden dieser grossen Wüste wohnen, und die Bevölkerung der westafrikanischen Küstenländer, von der Mündung des Senegal im Norden, bis unterhalb der Nigermündung im Süden (Sene- gambier und Nigritier). Die echten Neger sind demnach zwischen den Aequator und den nördlichen Wendekreis eingeschlossen, und haben diesen letzteren nur mit einem kleinen Theile der Tibu- Rasse im Osten überschritten. Innerhalb dieser Zone hat die Neger-Art sich von Osten her ausgebreitet. Die Hautfarbe der echten Neger ist stets ein mehr oder minder reines Schwarz. Die Haut ist sammetartig anzufühlen, und durch eine eigenthüm-. liche übelriechende Ausdünstung ausgezeichnet. Während die Neger in der wolligen Behaarung des Kopfes mit den Kaffern übereinstimmen, unterscheiden sie sich von ihnen nicht unwesent- lich durch die Gesichtsbildung. Die Stirn ist flacher und niedri- ger, die Nase breit und diek, nicht vorspringend, die Lippon stark wulstig aufgetrieben, nnd das Kinn sehr kurz. Ausgezeich- net sind ferner die echten Neger durch sehr dünne Waden und 7130 Schlichthaarige Menschen. Malayen. xXVIM. sehr lange Arme. Schon sehr frühzeitig muss sich diese Men- schen-Species in viele einzelne Stämme zersplittert haben, da ihre zahlreichen und sehr verschiedenen Sprachen sich kaum auf eine Ursprache zurückführen lassen. Den vier eben betrachteten wollhaarigen Menschen-Arten stehen nun als anderer Hauptzweig der Gattung die schlicht- haarigen (Homines lissotriches) gegenüber. Von den acht Arten dieser letzteren lassen sich vier Species als Straffhaarige (Eu- thycomi) und vier Species als Lockenhaarige (Euplocami) zu- sammenfassen. Wir betrachten zunächst die ersteren, zu denen die Urbevölkerung von dem grössten Theile Asiens und von ganz Amerika gehört. Eine genealogisch wichtige, obwohl nicht umfangreiche Men- schen-Species bilden die Malayen (Homo malayus), die braune Menschenrasse der früheren Ethnographie. Eine ausgestorbene, süd- asiatische Menschen-Art, welche den heutigen Malayen sehr nahe stand, ist wahrscheinlich als die gemeinsame Stammform dieser und der folgenden höheren Menschen-Arten anzusehen. Wir wollen diese hypothethische Stammart als Urmalayen oder Pro- malayen bezeichnen. Die heutigen Malayen zerfallen in zwei weit zerstreute Rassen, in die Sundanesier, welche Malacca und die Sunda-Inseln (Sumatra, Java, Borneo etc.) sowie die Philip- pinen bevölkern, und die Polynesier, welche über den grössten Theil des pacifischen Archipels ausgebreitet sind. Die nördliche Grenze ihres weiten Verbreitungsbezirks wird östlich von den Sandwich-Inseln (Hawai), westlich von den Marianen-Inseln (La- dronen) gebildet; die südliche Grenze dagegen östlich von dem Mangareva-Archipel, westlich von Neuseeland. Ein weit nach Westen verschlagener einzelner Zweig der Sundanesier sind die Bewohner von Madagaskar. Diese weite pelagische Verbreitung der Malayen erklärt sich aus ihrer besonderen Neigung für das Schifferleben. Als ihre Urheimath ist der südöstliche Theil des asiatischen Festlandes zu betrachten, von wo aus sie sich nach Osten und Süden verbreiteten und die Papuas vor sich her dräng- ten. In der körperlichen Bildung stehen die Malayen unter den übrigen Arten den Mongolen am nächsten, ziemlich nahe aber XXVM. Malayen. Mongolen. 731 auch den lockigen Mittelländern. Der Schädel ist meist kurz- köpfig, seltener mittelköpfig, und sehr selten langköpfig. Das Haar ist schlicht und straff, oft jedoch etwas gelockt. Die Haut- farbe ist braun, bald mehr gelblich oder zimmetbraun, bald mehr röthlich oder kupferbraun, seltener dunkelbraun. In der Gesichts- bildung stehen die Malayen zum grossen Theil in der Mitte zwischen den Mongolen und Mittelländern. Oft sind sie von letz- teren kaum zu unterscheiden. Das Gesicht ist meist breit, mit vorspringender Nase und dicken Lippen, die Augen nicht so eng- geschlitzt und schief, wie bei den Mongolen. Alle Malayen und Polynesier bezeugen ihre nahe Stammverwandtschaft durch ihre Sprache, welche sich zwar schon frühzeitig in viele kleine Zweige zersplitterte, aber doch immer von einer gemeinsamen, ganz eigen- thümlichen Ursprache ableitbar ist. Die individuenreichste von allen Menschen-Arten bildet neben dem mittelländischen der mongolische Mensch (Homo mongo- licus). Dahin gehören die Bewohner des asiatischen Festlandes, mit Ausnahme der Hyperboräer im Norden, der wenigen Malayen im Südosten (Malacca), der Dravidas in Vorderindien, und der Mittelländer im Südwesten. In Europa ist diese Menschen -Art durch die Finnen und Lappen im Norden, sowie durch einen Theil der Türken vertreten. Die Hautfarbe der Mongolen ist stets durch den gelben Grundton ausgezeichnet, bald heller erb- sengelb oder selbst weisslich, bald dunkler braungelb. Das Haar ist immer straff und schwarz. Die Schädelform ist bei der grossen Mehrzahl entschieden kurzköpfig (namentlich bei den Kalmücken, Baschkiren u. s. w.), häufig auch mittelköpfig (Tataren, Chinesen u. s. w.). Dagegen kommen echte Langköpfe unter ihnen gar nicht vor. In der runden Gesichtsbildung sind die schmalgeschlitzten, oft schief geneigten Augen auffallend, die stark vorstehenden Backenknochen, breite Nase und dicke Lippen. Die Sprache aller Mongolen lässt sich wahrscheinlich auf eine gemeinsame Ursprache zurückführen. Doch stehen sich als zwei früh getrennte Haupt- zweige die einsilbigen Sprachen der indo-chinesischen Rasse und die mehrsilbigen Sprachen der übrigen mongolischen Rassen gegen- über. Zu dem einsilbigen oder monosyllaben Stamme der Indo- 732 Mongolen. Arktiker. Amerikaner. XXVI. chinesen gehören die Tibetaner, Birmanen, Siamesen und Chinesen. Die übrigen, die vielsilbigen oder polysyllaben Mongolen zerfallen in drei Rassen, nämlich 1) die Koreo-Japaner (Koreaner und Ja- panesen); 2) die Altajer (Tataren, Türken, Kirgisen, Kalmücken, Burjäten, Tungusen); und 3) die Uralier (Samojeden, Finnen). Von den Finnen stammt ursprünglich auch die magyarische Be- völkerung Ungarns ab. Als eine Abzweigung der mongolischen Menschen-Art ist der Polarmensch (Homo arcticus) zu betrachten. Wir fassen unter dieser Bezeichnung die Bewohner der arktischen Polarländer in beiden Hemisphären zusammen, die Eskimos (und Grönländer) in Nordamerika, und die Hyperboräer im nordöstlichen Asien (Jukagiren, Tschuktschen, Kurjäken und Kamtschadalen). Durch Anpassung an das Polarklima ist diese Menschenform so eigen- thümlich umgebildet, dass man sie wohl als Vertreter einer be- sonderen Species betrachten kann. Ihre Statur ist niedrig und untersetzt, die Schädelform mittelköpfig oder sogar langköpfig, die Augen eng und schief geschlitzt, wie bei den Mongolen, auch die Backenknochen vorstehend und der Mund breit. Das Haar ist straff und schwarz. Die Hautfarbe ist heller oder dunkler bräun- lich, bald fast weisslich oder mehr gelb, wie bei den Mongolen, bald mehr röthlich, wie bei den Amerikanern. Die Sprachen der Polarmenschen sind noch wenig bekannt, jedoch sowohl von den mongolischen, als von den amerikanischen verschieden. Wahr- scheinlich sind die Arktiker als zurückgebliebene und eigenthüm- lich angepasste Zweige jenes Mongolen-Stammes zu betrachten, der aus dem nordöstlichen Asien nach Nordamerika hinüberwan- derte und diesen Erdtheil bevölkerte. Zur Zeit der Entdeckung Amerikas war dieser Erdtheil (von den Eskimos abgesehen) nur von einer einzigen Menschenart be- völkert, den Rothhäuten oder Amerikanern (Homo americanus). Unter allen übrigen Menschenarten sind ihr die beiden vorigen am nächsten verwandt. Insbesondere ist die Schädelform meistens der Mittelkopf, selten Kurzkopf oder Langkopf. Die Stirn ist breit und sehr niedrig, die Nase gross, vortretend und oft gebo- gen, die Backenknochen vortretend, die Lippen eher dünn, als RRVII. Amerikaner. 133 dick. Das Haar ist schwarz und straff. Die Hautfarbe ist durch rothen Grundton ausgezeichnet, welcher jedoch bald rein kupfer- roth oder heller röthlich, bald mehr dunkler rothbraun, gelbbraun oder olivenbraun wird. Die zahlreichen Sprachen der verschie- denen amerikanischen Rassen und Stämme sind ausserordentlich verschieden, aber doch in der ursprünglichen Anlage wesentlich übereinstimmend. Wahrscheinlich ist Amerika zuerst vom nord- östlichen Asien her bevölkert worden, von demselben Mongolen- Stamme, von dem auch die Arktiker (Hyperboräer und Eskimos), sich abgezweigt haben. Zuerst breitete sich dieser Stamm in Nordamerika aus und wanderte erst von da aus über die -Land- enge von Central- Amerika hinunter nach Südamerika, in dessen südlichster Spitze die Species durch Anpassung an sehr ungün- stige Existenz-Bedingungen eine starke Rückbildung erfuhr. Wahr- scheinlich sind aber von Westen her ausser Mongolen auch Poly- nesier, durch Stürme verschlagen, in Amerika eingewandert und haben sich mit diesen vermischt. Jedenfalls sind die Ureinwoh- ner Amerikas aus der alten Welt herübergekommen, und keines- wegs, wie Einige meinten, aus amerikanischen Affen entstanden. Catarhinen oder schmalnasige Affen haben zu keiner Zeit in Amerika existirt. Die vier Menschen-Species, welche wir nun noch unterschei- den, die Australier, Dravidas, Nubier und Mittelländer, stimmen in mancherlei Eigenthümlichkeiten überein, welche eine nähere Verwandtschaft derselben zu begründen scheinen und sie von den vorhergehenden unterscheiden. Dahin gehört vor Allen die Ent- wickelung eines starken Barthaares, welches allen übrigen Species entweder ganz fehlt oder nur sehr spärlich auftritt. Das Haupt- haar ist gewöhnlich nicht so straff und glatt, wie bei den vier vorhergehenden Arten, sondern meistens mehr oder weniger ge- lockt. Auch andere Charactere scheinen dafür zu sprechen, dass wir dieselben in einer Hauptgruppe, den Lockenhaarigen (Euplocami), vereinigen können. Aus der gemeinsamen Stamm- form der Euplocamen, deren Urheimath wir im südlichen Asien suchen, sind wahrscheinlich zunächst zwei divergente Zweige ent- standen, von denen sich der eine nach Südosten, der andere nach 134 Australier und Dravidas. XXVHR Nordwesten gewendet hat. Reste des ersteren sind die Australier und die Dravidas. Aus dem letzteren hingegen sind die Nubier und Mittelländer hervorgegangen. Auf der tiefsten Stufe unter allen lockenhaarigen Menschen, und in mancher Beziehung unter allen noch lebenden Menschen- Arten, stehen die Australier oder Australneger (Homo austra- lis). Diese Species scheint ausschliesslich auf die grosse Insel Australien beschränkt zu sein. Sie gleicht dem echten afrikani- schen Neger durch die schwarze oder schwarzbraune und übel- riechende Haut, durch die stark schiefzähnige und langköpfige Schädelform, die zurücktretende Stirn, breite Nase und dick auf- geworfene Lippen, sowie durch den fast gänzlichen Mangel der Waden. Dagegen unterscheiden sich die Australneger sowohl von den echten Negern, als von ihren nächsten Nachbarn, den Papuas, durch viel schwächeren, feineren Knochenbau, und namentlich durch die Bildung des schwarzen Kopfhaares; dieses ist nicht wollig-kraus, sondern wellig oder lockig, bald fast schlicht, bald deutlich gelockt. Die sehr tiefe körperliche und geistige Ausbil- dungsstufe der Australier ist zum Theil vielleicht nicht ursprüng- lich, sondern durch Rückbildung, durch Anpassung an die sehr ungünstigen Existenz-Bedingungen Australiens entstanden. Wahr- scheinlich sind die Australneger, als ein sehr früh abgezweigter Ast der Euplocamen, von Norden oder Nordwesten her in ihre gegenwärtige Heimath eingewandert. Vielleicht sind sie den Dravidas näher verwandt als alle übrigen noch lebenden Rassen. Die ganz eigenthümliche Sprache der Australier zersplittert sich in sehr zahlreiche kleine Zweige, die in eine nördliche und in eine südliche Abtheilung sich gruppiren. Unmittelbar schliesst sich an die Australneger zunächst die merkwürdige Art der Dravida an (Homo dravida). Gegen- wärtig ist diese uralte Species nur noch durch die Dekhan-Völker im südlichen Theile Vorder-Indiens und durch die benachbarten Bewohner der Gebirge des nordöstlichen Ceylon vertreten. Früher aber scheint dieselbe ganz Vorderindien eingenommen und auch noch weiter sich ausgedehnt zu haben. Sie zeigt einerseits Ver- wandtschafts-Beziehungen zu den Australiern und Malayen, ander- er rn er RRVII. Dravidas. Nubier. 135 seits zu den Mongolen und Mittelländern. Die Hautfarbe ist ein lichteres oder dunkleres Braun, bei einigen Stämmen mehr gelb- braun, bei vielen schwarzbraun. Das Haupthaar ist, wie bei den Mittelländern, mehr oder weniger gelockt, weder ganz glatt, wie bei den Euthycomen, noch wollig, wie bei den Ulotrichen. Auch durch den ausgezeichnet starken Bartwuchs gleichen sie den Mittelländern. Ihre ovale Gesichtsbildung scheint theils derjenigen der Malayen, theils derjenigen der Mittelländer am nächsten ver- wandt zu sein. Gewöhnlich ist die Stirn hoch, die Nase vor- springend, schmal, die Lippen wenig aufgeworfen. Während meines Aufenthaltes auf Ceylon (im Winter 1881/82) hatte ich, besonders in den Pflanzungen des Hochlandes der Insel, Gelegen- heit, sehr zahlreiche Dravidas aus dem Stamme der Tamilen zu sehen; ich war überrascht von dem ausgeprägten Typus dieser selbstständigen schwarzbraunen Menschen-Art; die fast eben so weit entfernt ist in Gesichtsbildung und Körperbau von den zimmt- braunen Singhalesen (Ariern), wie von den wollhaarigen Negern, zu denen sie gar keine Beziehung besitzen. Einen sehr merk- würdigen Stamm der Dravida-Art (vielleicht eine selbstständige Rasse) bilden die Toda’s im Nilagiri-Gebirge; ihr schwarzer Oberkörper ist sehr stark behaart (wie bei den Ainos in Japan), und ihre Augenbrauen-Bogen springen sehr stark über die flache Stirn vor, ähnlich wie beim „Neanderthal - Schädel.“ Vielleicht sind in den Todas’ und in anderen dravidischen Bergvölkern Vorder- Indiens Ueberreste einer uralten Menschen-Rasse erhalten, die dem Urmenschen noch sehr nahe stand. Die Sprache der Dravida ist gegenwärtig stark mit indogermanischen Elementen vermischt, scheint aber ursprünglich von einer ganz eigenthümlichen Ursprache abzustammen. Nicht weniger Schwierigkeiten als die Dravida-Species, hat den Ethnographen der Nubier (Homo nuba) verursacht, unter welchem Namen wir nicht nur die eigentlichen Nubier (Schan- gallas oder Dongolesen), sondern auch die ganz nahe verwandten Fulas, Fulben oder Fellatas begreifen. Die eigentlichen Nubier bewohnen die oberen Nil-Länder (Dongola, Schangalla, Barabra, Kordofan); die Fulas oder Fellatas dagegen sind von da aus weit 736 Mittelländer oder Kaukasier. XVII nach Westen gewandert und bewohnen jetzt einen breiten Strich im Süden der westlichen Sahara, eingekeilt zwischen die Sudaner im Norden und die Nigritier im Süden. Gewöhnlich werden die Nuba- und Fula-Völker entweder zu den Negern oder zu den hamitischen Völkern (also Mittelländern) gerechnet, unterscheiden sich aber von Beiden so wesentlich, dass man sie als eine beson- dere Art betrachten darf. Wahrscheinlich nahm dieselbe früher einen grossen Theil des nordöstlichen Afrika ein. Die Hautfarbe der Nuba- und Fula-Völker ist gelbbraun oder rothbraun, häufig selbst kupferroth, seltener dunkelbraun bis schwarz. Das Haar ist nicht wollig, sondern nur lockig, oft sogar fast ganz schlicht; die Haarfarbe ist dunkelbraun oder schwarz. Der Bartwuchs ist viel stärker als bei den Negern entwickelt. Die’ ovale, oft edle Gesichtsbildung nähert sich viel mehr dem mittelländischen als dem Neger-Typus. Die Stirn ist hoch und breit, die Nase vor- springend und nicht platt gedrückt, die Lippen nicht so stark aufgeworfen wie beim Neger. Vielleicht stammen die alten Egypter von dieser Rasse ab. Die Sprachen der nubischen Völker scheinen mit denjenigen der echten Neger gar keine Verwandtschaft zu besitzen. An die Spitze aller Menschenarten hat man von jeher als die höchst entwickelte und vollkommenste den kaukasischen oder mittelländischen Menschen (Homo mediterraneus) gestellt. Gewöhnlich wird diese Form als „kaukasische Rasse“ bezeichnet. Da jedoch grade der kaukasische Zweig unter allen Rassen dieser Species der wenigst bedeutende ist, so ziehen wir die von Friedrich Müller vorgeschlagene, viel passendere Bezeichnung des Mediterran-Menschen oder Mittelländers vor. Denn die wich- tigsten Rassen dieser Species, welche zugleich die bedeutendsten Factoren der sogenannten „Weltgeschichte“ sind, haben sich an den Gestaden des Mittelmeeres zu ihrer ersten Blüthe entwickelt. Der frühere Verbreitungsbezirk dieser Art wird durch die Be- zeichnung der „indo-atlantischen“ Species ausgedrückt, während dieselbe gegenwärtig sich über die ganze Erde verbreitet und die meisten übrigen Menschen-Species im Kampfe um’s Dasein über- windet. In körperlicher, wie. in geistiger Beziehung kann sich XXVMI. Mittelländer. Basken und Kaukasier. 137 keine andere Menschenart mit der mittelländischen messen. Sie allein hat (abgesehen von der mongolischen Species) eigentlich „Geschichte“ gemacht. Sie allein hat jene Blüthe der Cultur entwickelt, welche den Menschen über die ganze Natur zu erheben scheint. Die Charactere, durch welche sich der mittelländische Mensch von den anderen Arten des Geschlechts unterscheidet, sind allbe- kannt. Unter den äusseren Kennzeichen tritt die helle Hautfarbe in den Vordergrund; jedoch zeigt diese alle Abstufungen von reinem Weiss oder Röthlich weiss, durch Gelb und Gelbbraun, bis zum Olivenbraunen oder selbst Dunkelbraunen. Der Haar- wuchs ist meistens stark, das Haupthaar mehr oder weniger lockig, das Barthaar stärker, als bei allen übrigen Arten. Die Schädel- form zeigt einen grossen Breitengrad der Entwickelung; über- wiegend sind im Ganzen wohl die Mittelköpfe; aber auch Lang- köpfe und Kurzköpfe sind weit verbreitet. Der Körperbau im Ganzen erreicht nur bei dieser einzigen Menschenart jenes Eben- maass aller Theile und jene gleichmässige Entwickelung, welche wir als den Typus vollendeter menschlicher Schönheit bezeichnen. Die Sprachen aller Rassen dieser Species lassen sich bis jetzt noch nicht auf eine einzige gemeinsame Ursprache zurückführen; viel- mehr sind mindestens vier verschiedene Ursprachen anzunehmen. Dem entsprechend sind auch vier verschiedene, nur unten an der Wurzel zusammenhängende Rassen innerhalb dieser einen Species zu unterscheiden. Zwei von diesen Rassen, die Basken und Kau- kasier, existiren nur noch in geringen Ueberbleibseln. Die Basken, welche früher ganz Spanien und Südfrankreich bevölkerten, leben jetzt nur noch in einem schmalen Striche, an der nördlichen Küste Spaniens, im Grunde der Bucht von Biscaya. Die Reste der kau- kasischen Rasse (die Daghestaner, Tscherkessen, Mingrelier und Georgier) sind jetzt auf das Gebirgsland des Kaukasus zurückge- drängt. Sowohl die Sprache der Kaukasier, als die der Basken ist durchaus eigenthümlich und lässt sich weder auf die hamo- semitische noch auf die indogermanische Ursprache zurückführen. Auch die Sprachen der beiden Hauptrassen der mediterranen Species, die hamosemitische und indogermanische, lassen sich kaum auf einen gemeinsamen Stamm zurückführen, und daher müssen Haeckel, Natürl. Schöpfungs-Gesch. 8. Aufl. 41 138 Hamosemiten und Indogermanen. XXVIM. diese beiden Rassen schon sehr früh sich von einander getrennt haben. Hamosemiten und Indogermanen hängen höchstens unten an der Wurzel zusammen. Die hamosemitische Rasse spaltete sich ebenfalls schon sehr früh in zwei divergirende Zweige, den hamitischen Zweig (in Egypten) und den semitischen Zweig (in Arabien). Der egyptische oder afrikanische Zweig, die Hamiten genannt, umfasst die alte Bevölkerung Egyptens, ferner die grosse Gruppe der Lybier und Berber, welche Nordafrika inne haben und früher auch die canarischen Inseln bewohnten, und endlich die Gruppe der Altnubier oder Aethiopier (Bedscha, Galla, Danakil, Somali und andere Völker), welche das ganze nordöst- liche Küstenland von Afrika bis zum Aequator herab bevölkern. Der arabische oder asiatische Zweig dagegen, die Semiten umfassend, spaltet sich in zwei Hauptäste: Araber (Südsemiten) und Urjuden (Nordsemiten). Der arabische Hauptast enthält die Bewohner der grossen arabischen Halbinsel, die uralte Familie der eigentlichen Araber („Urtypus des Semiten“), die Abessinier und Mauren. Zum urjüdischen Hauptast gehören die ausgestor- benen Mesopotamier (Assyrier, Babylonier, Urphönicier), die Ara- mäer (Syrier, Chaldäer, Samariter) und sodann die höchst ent- wickelte Semiten-Gruppe, die Bewohner von Palästina: die Phöni- cier und die eigentlichen Juden oder Hebräer. Die indogermanische Rasse endlich, welche alle übrigen Menschenrassen in der geistigen Entwickelung weit überflügelt hat, spaltete sich gleich der semitischen sehr früh schon in zwei diver- gente Zweige, den ario-romanischen und slavo-germani- schen Zweig. Aus dem ersteren gingen einerseits die Arier (Inder und Iraner), andrerseits die Gräcoromanen (Griechen und Albanesen, Italer und Kelten) hervor. Aus dem slavo-ger- manischen Zweige entwickelten sich einerseits die Slaven (russische und bulgarische, cechische und baltische Stämme), andrerseits die Germanen (Scandinavier und Deutsche, Nieder- länder und Angelsachsen). Wie sich die weitere Verzweigung der indogermanischen Rasse auf Grund der vergleichenden Sprach- forschung im Einzelnen genau verfolgen lässt, hat August Schlei- cher in sehr anschaulicher Form genealogisch entwickelt °). xXXVM. Die Menschen-Arten im Kampfe ums Dasein. 139 Die Gesammtzahl der menschlichen Individuen, welche gegen- wärtig leben, beträgt zwischen 1300 und 1400 Millionen. Auf der nachstehenden tabellarischen Uebersicht sind 1350 Millionen als Mittel angenommen. Davon kommen nach ungefährer Schätzung, soweit solche überhaupt möglich ist, nur etwa 150 Millionen auf die wollhaarigen, dagegen 1200 Millionen auf die schlichthaarigen Menschen. Die beiden höchst entwickelten Species, Mongolen und Mittelländer, übertreffen an Individuenmasse bei weitem alle übri- gen Menschenarten, indem auf jede derselben allein ungefähr 550 Millionen kommen (vgl. Friedrich Müller Ethnographie S. XXX). Natürlich wechselt das Zahlenverhältniss der zwölf Species mit jedem Jahre, und zwar nach dem von Darwin ent- wickelten Gesetze, dass im Kampfe um’s Dasein die höher ent- wickelten, begünstigteren und grösseren Formengruppen die be- stimmte Neigung und die sichere Aussicht haben, sich immer mehr auf Kosten der niederen, zurückgebliebenen und kleineren Gruppen auszubreiten. So hat die mittelländische Species, und innerhalb derselben die indogermanische Rasse, vermöge ihrer höheren Gehirnentwickelung alle übrigen Rassen und Arten im Kampfe um’s Dasein überflügelt, und spannt schon jetzt das Netz ihrer Herrschaft über die ganze Erdkugel aus. Erfolgreich con- eurriren kann mit den Mittelländern, wenigstens in gewisser Be- ziehung, nur die mongolische Species. Innerhalb der Tropen- gegenden sind die Neger (Sudanier und Kaffern), die Nubier und die Malayen, durch ihre bessere Anpassungsfähigkeit an das heisse Klima, ebenso in den Polargegenden die Arktiker durch ihr kaltes Klima vor dem Andringen der Indogermanen einigermaassen ge- schützt. Dagegen werden die übrigen Rassen, die ohnehin sehr zusammengeschmolzen sind, den übermächtigen Mittelländern im Kampf ums Dasein früher oder später gänzlich erliegen. Zum grossen Theil werden sie schon durch die sogenannten „Segnungen der Civilisation“ aufgerieben; zum anderen Theil durch direkte Kämpfe und durch geschlechtliche Vermischung. Schon jetzt gehen die Amerikaner und Australier mit raschen Schritten ihrer völligen Ausrottung entgegen, und dasselbe gilt auch von den Dravidas, Papuas und Hottentotten. 47* 740 Species-Einheit der Menschen-Gattung. XYTE Für die phylogenetische Classification der Menschen- Rassen und die Erkenntniss ihrer verwickelten Verwandtschafts- Beziehungen sind zwei wichtige Verhältnisse noch besonders in’s Auge zu fassen: erstens die unzähligen Kreuzungen und Bastard-Bildungen, welche bei der geschlechtlichen Mischung der verschiedenen Menschen-Rassen, gefördert durch ihre vielfachen Wanderungen, seit mehr als zwanzig Jahrtausenden stattgefunden haben; und zweitens die besondere Begünstigung der Formspaltung oder morphologischen Divergenz, welche die uralte Domesti- cation, oder die Anpassung an die besonderen Bedingungen des Cultur-Lebens hervorgebracht hat. In beiden Beziehungen verhält sich das Menschengeschlecht sehr ähnlich wie unsere, seit vielen Jahrtausenden domesticirten Hausthiere, insbesondere der Hund. Rein morphologisch betrachtet, d. h. bloss gestützt auf die kritische Vergleichung der mannichfachen Unterschiede im Kör- perbau, der äusseren Gestalt, der Skeletbildung u. s. w. kann es keinem Zweifel unterliegen, dass die unzähligen Rassen und Spiel- arten unseres Haushundes in viel höherem Maasse von einander verschieden sind, als die differenten Genera und Species, welche der Zoologe im System der Hunde-Familie unterscheidet. Und dennoch werden sie meist nur als Abarten einer einzigen „Spe- cies“: Canis familiaris betrachtet. In gleicher Weise halten auch die meisten Anthropologen dogmatisch an der sogenannten „Art-Einheit“ aller Menschen-Rassen fest und vereinigen sie in einer „Species“: Homo sapiens. Der unbefangene kritische For- scher aber, welcher dieselben genau vergleicht, kann sich der Ueberzeugung nicht verschliessen, dass ihre morphologischen Un- terschiede viel bedeutender sind, als diejenigen, durch welche sich im zoologischen System z.B. die verschiedenen Species der Bären, oder der Wölfe, oder der Katzen unterscheiden. Ja sogar die morphologischen Unterschiede zwischen zwei allgemein anerkannten Genera, z. B. Schaf (Ovis) und Ziege (Capra), sind viel unbe- deutender, als diejenigen zwischen einem Papua und einem Es- kimo, oder zwischen einem Hottentotten und einem Germanen. Vortreffliche Ausführungen über diese Frage enthält die kürzlich erschienene Anthropologie von Paul Topinard‘*). XXVIN. Genera der Menschen-Familie. 741 Die geschichtliche Betrachtung des zoologischen Systems zeigt uns, dass unsere fortschreitende Kenntniss der Thierformen stets zu einer immer weitergehenden Spaltung der Gruppen führt. Verwandte Arten, die bei Linne in einer Gattung, bei Cuvier in einer Familie vereinigt waren, bilden jetzt eine umfangreiche Ordnung mit mehreren Familien und vielen Gattungen. Dem entsprechend wird auch das zoologische System der Säugethiere früher oder später die heute gewöhnlich als „Rassen“ betrach- teten Formengruppen als „Species“ auflassen, und die Gattung Homo in mehrere Genera (oder zunächst Subgenera) auflösen. Zunächst könnte man dann als zwei Gattungen den Wollhaar- Mensch (Ulanthropos) und den Schlichthaar-Mensch (Zissan- thropos) trennen; zu ersterer Gattung würden unsere vier erstge- "nannten, zur zweiten die acht letztgenannten Arten gehören. Noch naturgemässer und practischer ist es vielleicht, die vier Genera zu unterscheiden, welche die nachstehende Tabelle zeigt: 1. Lophocomus, 2. Eriocomus, 3. Euthycomus, 4. Euplocamus. Indem wir uns nun zu der eben so interessanten als schwie- rigen Frage von dem verwandtschaftlichen Zusammenhang, den Wanderungen und der Urheimath der zwölf Menschen- arten wenden, will ich im Voraus bemerken, dass bei dem gegen- wärtigen unvollkommenen Zustande unserer anthropologischen Kenntnisse jede Antwort auf diese Frage nur als eine provisorische Hypothese gelten kann. Es verhält sich damit nicht anders, als mit jeder genealogischen Hypothese, die wir uns auf Grund des „natürlichen Systems“ von dem Ursprung ver- wandter Thier- und Pflanzenarten machen können. Durch die nothwendige Unsicherheit dieser speciellen Descendenz- Hypothe- sen wird aber die absolute Sicherheit der generellen Descendenz- Theorie in keinem Falle erschüttert. Der Mensch stammt jeden- falls von Catarhinen oder schmalnasigen Affen ab, mag man nun mit den Polyphyleten jede Menschenart in ihrer Urheimath aus einer besonderen Affenart entstanden sein lassen, oder mag man mit den Monophyleten annehmen, dass alle Menschenarten erst durch Differenzirung aus einer einzigen Species von Urmensch (Homo primigenius) entstanden sind. 142 Genera und Species der Menschen-Familie. XXVIE System der zwölf Menschen-Arten, vertheilt auf vier Gattungen. =7 Vier Genera. Kopf Haar. Horm: ir | Zwölf Species. Schädel- Haut- 1. Lophocomus hottentottus Süd-Afriea 2. Lophocomus papua Neu-Guinea Melanesien Grundton gelbbraun wollig- büschelig, mit länglich. elliptischem Querschnitt, schwarz Schief- zähnige Langköpfe (dolichoce- phal und prognath) I. Lophocomus Buschhaar- Mensch (Homo papuoides) Grundton braun- schwarz een ou |" wolligfilzig, : Schief- | Ernie 3. Eriocomus cafer Süd-Africa 4. Eriocomus niger Sudan-Neger Central-Africa Vliesshaar- mit ellip- Lanskönte schwarz p oder Mensch tischem (dolie hoce- schwa (Homo negroides) Querschnitt, phal und ann schwarz ; prognath) meistens Kurzköpfe Grundton (brachyce- braun Sundanesien phal), viele = Polynesien | 5. Euthycomus | malayus straff, ae mit Mittelköpfe Erundion | 6. Euthycomus IH. Euthycomus \ mongolus Straffhaar- Mensch (Homo mongo- loides) (mesoce- £ gelb Asien 7. Euthycomus arcticus Hyperboraea phal) kreisrundem meistens Querschnitt, Grundton | Mittelköpfe gelb schwarz (mesoce- phal), viele Kurzköpfe . Euthycomus americanus America Grundton g kupferroth | bis roth- braun 9. Euplocamus (brachyce- pas) Schief- zähnige Langköpfe lockig oder | (dolichoce- Grundton australis a Australien oder han. | 10. Euplocamus wellig, mit | phal und ya dravida IV. Euplocamus rognath) _— Vorder-Indien Lockenhaar- rundlichem | 7# 11. Eupl sch Querschnitt, meistens Grundton | j ans Mittelköpfe (mesoce- phal), viele Langköpfe, andere Kurzköpfe von sehr Nordost-Afriea Grundton ; 12. Euplocamus hell (röth- mediterraneus lich weiss | West-Asien rothbraun | (Homo eranoides) verschie- dener Farbe oder bräun- Nord-Africa lich) Europa m | Inn XXVM. Urheimath des Menschen (Paradies). 743 Aus vielen und wichtigen Gründen halten wir diese letztere, monophyletische Hypothese für die richtigere, und nehmen dem- nach vorläufig für das Menschengeschlecht eine einzige Ur- heimath an, in der dasselbe sich aus einer längst ausgestorbenen anthropoiden Affenart entwickelt hat. Von den jetzt existirenden fünf Welttheilen kann weder Australien, noch Amerika, noch Europa diese Urheimath oder das sogenannte „Paradies“, die „Wiege des Menschengeschlechts“, sein. Vielmehr deuten die meisten Anzeichen auf das südliche Asien. Ausser dem süd- lichen Asien könnte von den gegenwärtigen Festländern nur noch Afrika in Frage kommen. Ausserdem schienen bis vor Kurzem eine Menge von Anzeichen (besonders chorologische Thatsachen) darauf hinzudeuten, dass die Urheimath des Menschen ein jetzt unter den Spiegel des indischen Oceans versunkener Continent sei, welcher sich im Süden des jetzigen Asiens (und wahrscheinlich mit ihm in directem Zusammenhang) einerseits östlich bis nach Hinterindien und den Sunda-Inseln, andrerseits westlich bis nach Madagaskar und dem südöstlichen Afrika erstreckte. Wir haben schon früher erwähnt, dass viele Thatsachen der Thier- und Pflanzen-Geographie die frühere Existenz eines solchen südindi- schen Continents sehr wahrscheinlich machen (vergl. 8. 327). Derselbe ist von dem Engländer Sclater wegen der für ihn charakteristischen Halbaffen Lemuria genannt worden. Wenn wir dieses Lemurien als Urheimath annehmen wollten, so liesse sich daraus am leichtesten die geographische Verbreitung der divergirenden Menschenarten durch Wanderung erklären. Indessen sind in neuester Zeit gegen diese, auch von mir früher vertretene Hypothese so erhebliche Bedenken, besonders von geologischer Seite, geltend gemacht worden, dass wir sie vorläufig wohl besser aufgeben. In diesem Falle bleibt unter den verschiedenen Erdtheilen, in denen man das „Paradies“ oder den Entstehungs-Ort der Men- schen-Gattung suchen könnte, als bei weitem wahrscheinlichster Süd-Asien übrig, und zwar der westliche Theil desselben, Vorder-Indien. Historische Ereignisse und prähistorische Funde, anthropologische Beziehungen und ethnographische Mischungen, 144 Körper-Beschaffenheit des Urmenschen. xXVIH. paläontologische Entdeckungen und pithekologische Vergleichungen machen es in hohem Grade wahrscheinlich, dass Vorder-Indien und die angrenzenden Gebiete (insbesondere auch der Süd-Abhang der Himalaya-Kette) während der pliocenen oder jüngsten Tertiär-Periode der Schauplatz grossartiger Umgestaltungen und Wanderungen in der organischen Welt war. Ganz besonders scheint von diesen Umbildungs-Processen die Säugethier-Classe, und in der- selben die höchste Gruppe, die der Primaten, betroffen worden zu sein. Noch heute leben in den Gebirgen Vorder-Indiens verschie- dene wilde Stämme, die unter den lebenden Menschen-Rassen eine der tiefsten Stufen einnehmen; so z. B. die Toda’s und an- dere Dravida-Stämme, die Huxley mit Recht an die Austral- Neger anschliesst. Vielleicht sind diese dem längst ausgestorbenen „Urmenschen“ am nächsten verwandt. Allerdings sind von unserem hypothetischen „Urmenschen“ (Protanthropos atavus — oder Homo primigenius) bisher noch keine fossilen Reste gefunden worden. Aber bei der ausser- ordentlichen Aehnlichkeit im Körperbau, welche sich zwischen den niedersten Menschenrassen und den höchsten Menschenaffen selbst jetzt noch erhalten hat, bedarf es nur geringer Einbildungskraft, um sich zwischen Beiden eine vermittelnde Zwischenform und in dieser ein ungefähres Bild von dem muthmaasslichen Urmenschen oder Affenmenschen vorzustellen. Die Schädelform desselben wird wahrscheinlich sehr langköpfig und schiefzähnig gewesen sein, die Hautfarbe dunkel, bräunlich oder schwärzlich. Die Behaarung des ganzen Körpers wird dichter als bei allen jetzt lebenden Menschenarten gewesen sein, die Arme im Verhältniss länger und stärker, die Beine dagegen kürzer und dünner, mit ganz unent- wickelten Waden; der Gang mit stark eingebogenen Knieen. Im Uebrigen wird man, einen monophyletischen Ursprung des Menschen annehmend, die Uebergangs-Bildung des Protanthropos im Ganzen als Zwischenform zwischen südasiatischen Menschen- Affen und niedersten Euplocamen-Rassen sich vorstellen können. Zieht man dagegen die diphyletische Hypothese vor, so liessen sich wohl manche Gründe für die Ansicht beibringen, dass der lissotriche Urmensch (als Stammform der acht schlichthaarigen XXVIN. Der Traum vom Urmenschen. 745 Arten) aus südasiatischen Anthropoiden, hingegen der ulotriche Urmensch (als Stammform der vier wollhaarigen Arten) aus cen- tral-afrikanischen Menschen-Affen hervorgegangen sei. Einer der wenigen, jetzt noch übrigen, namhaften Gegner der Affen-Abstammungslöhre, Virchow, hat neuerdings erklärt, dass der Urmensch oder Protanthropos überhaupt kein Gegenstand ernster wissenschaftlicher Forschung, sondern nur im Traume vorstellbar sei. Dieses geflügelte Wort hat bedenkliche Aehnlich- keit mit einem anderen, welches ein sehr kenntnissreicher Zoologe vor dreissig Jahren aussprach; er nannte die eben geborene Dar- win’sche Theorie den „Traum eines Mittagsschläfchens“. Dieselbe Anschauung wurde zwei Decennien hindurch von den meisten Koryphäen der Berliner und der Pariser Academie der Wissenschaften erfolgreich vertreten. Trotzdem ist heute aus jenem „Traum“ ein lebendiger „Baum“ geworden, der viel- verzweigte Baum der phylogenetischen Wissenschaften; ein „Baum der Erkenntniss“, welcher für alle biologischen Zweige bereits die herrlichsten Früchte getragen hat und deren jedes Jahr mehr trägt. Hand in Hand mit der Umbildung der Gliedmaassen wird bei der allmählichen Entwickelung des Protanthropos oder Ur- menschen auch diejenige des Gehirns und des Kehlkopfs gegangen sein. Wenn die eigentlich menschliche Sprache, d. h. die arti- eulirte Begriffssprache, monophyletisch oder einheitlichen Ur- sprungs ist (wie Bleek, Geiger u. A. annehmen), so wird der Affenmensch die ersten Anfänge derselben bereits besessen haben. Wenn sie dagegen polyphyletisch oder vielheitlichen Ursprungs ist (wie Schleicher, F. Müller u. A. behaupten), so wird der Affenmensch noch sprachlos (Alalus) gewesen sein und seine Nachkommen werden die Sprache erst erworben haben, nachdem bereits die Divergenz der Urmenschenart in verschiedene Species erfolgt war. Die Zahl der Ursprachen ist aber noch beträchtlich grösser, als die Zahl der vorher betrachteten Menschenarten, Denn es ist noch nicht gelungen, die vier Ursprachen der mittel- ländischen Species, das Baskische, Kaukasische, Hamosemitische und Indogermanische, auf eine einzige Ursprache zurückzuführen. 746 Polyglottone und monoglottone Menschen-Arten. XXVieE Ebensowenig lassen sich die verschiedenen Negersprachen von einer gemeinsamen Ursprache ableiten. Diese beiden Species, Mittelländer und Neger, sind daher jedenfalls polyglottone. Da- gegen ist die malayische Menschenart monoglottonisch; alle ihre polynesischen und sundanesischen- Dialecte und Sprachen lassen sich von einer gemeinsamen, längst untergegangenen Ur- sprache ableiten. Eben so monoglottone sind die übrigen Men- schenarten: die Mongolen, Arktiker, Amerikaner, Nubier, Dravi- das, Australier, Papuas, Hottentotten und Kaffern (vgl. S. 749). Uebrigens sprechen viele wichtige Gründe für die Annahme, dass schliesslich doch auch alle jene „Ursprachen“ sich noch werden auf eine einzige gemeinsame Wurzelsprache zurück- führen lassen. Aus dem sprachlosen Urmenschen, den wir als die gemein- same Stammart aller übrigen Species ansehen, entwickelten sich zunächst wahrscheinlich durch natürliche Züchtung verschiedene uns unbekannte, jetzt längst ausgestorbene Menschenarten, die noch auf der Stufe des sprachlosen Affenmenschen (Alalus oder Pithecanthropus) stehen blieben. Zwei von diesen Species, eine wollhaarige und eine schlichthaarige Art, welche am stärksten divergirten und daher im Kampfe um’s Dasein über die andern den Sieg davon trugen, wurden die Stammformen der übrigen Men- schenarten. Der Hauptzweig der wollhaarigen Menschen (Ülotriches) breitete sich zunächst bloss auf der südlichen Erdhälfte aus, und wanderte hier theils nach Osten, theils nach Westen. Ueberreste des östlichen Zweiges sind die Papuas in Neuguinea und Mela- nesien, welche früher viel weiter westlich (in Hinterindien und Sudanesien) verbreitet waren, und erst später durch die Malayen nach Osten gedrängt wurden. Wenig veränderte Ueberreste des westlichen Zweiges sind die Hottentotten, welche in ihre jetzige Heimath von Nordosten aus eingewandert sind. Vielleicht während dieser Wanderung zweigten sich von ihnen die Neger (Kaffern und Sudanier) ab. Wahrscheinlich sind aber diese Eriocomen aus einem andern Zweige des Ulotrichen-Stammes hervorgegangen. Der zweite und entwickelungsfähigere Hauptzweig der Ur- XXVII. Wanderung und Ausbreitung der Menschen-Arten. 147 menschen-Art, die schliehthaarigen Menschen (Lissotriches), haben uns vielleicht einen wenig veränderten, nach Südosten ge- geflüchteten Rest ihrer gemeinsamen Stammform in den aflen- artigen Australiern hinterlassen. Ueberreste eines anderen sind möglicherweise die Todas und einige andere Bergstämme der Dravida-Art. Diesen letzteren sehr nahe standen vielleicht die südasiatischen Urmalayen oder Promalayen, mit welchem Namen wir vorher die ausgestorbene hypothetische Stammform der übrigen schlichthaarigen Menschenarten bezeichnet haben. Aus die- ser unbekannten gemeinsamen Stammform scheinen sich als drei divergirende Zweige die eigentlichen Malayen, die Mongolen und die Euplocamen entwickelt zu haben. Die ersten breiteten sich nach Osten, die zweiten nach Norden, die dritten nach Westen hin aus. Die Urheimath oder der „Schöpfungsmittelpunkt“ der Ma- layen ist im südöstlichen Theile des asiatischen Festlandes zu suchen oder vielleicht in einem ausgedehnteren Continent, der früher bestand, als noch Hinterindien mit dem Sunda-Archipel oder selbst mit Vorder-Indien unmittelbar zusammenhing. Von da aus breiteten sich die Malayen nach Südosten über den Sunda- Archipel bis Buro hin aus, streiften dann, die Papuas vor sich hertreibend, nach Osten zu den Samoa- und Tonga-Inseln hin, und zerstreuten sich endlich von hier aus nach und nach über die ganze Inselwelt des südlichen pacifischen Oceans, bis nach den Sandwich-Inseln im Norden, den Mangareven im Osten und Neuseeland im Süden. Ein einzelner Zweig, weit nach Westen verschlagen, bevölkerte Madagaskar. Der zweite Hauptzweig der Urmalayen, die Mongolen, brei- tete sich zunächst ebenfalls in Südasien aus und bevölkerte all- mählich, von da aus nach Osten, Norden und Nordwesten aus- strahlend, den grössten Theil des asiatischen Festlandes.. Von den vier Hauptrassen der mongolischen Species sind wahrschein- lich die Indochinesen als die Stammgruppe zu betrachten, aus der sich erst als divergirende Zweige die übrigen Rassen, Koreo- Japaner und Ural-Altajer später entwickelten. Aus dem Westen Asiens wanderten die Mongolen vielfach nach Europa hinüber, wo noch jetzt die Finnen und Lappen im nördlichen Russland 748 Geographische Verbreitung der Menschen-Arten. XxVH®e und Skandinavien, sowie ein Theil der Magyaren in Ungarn und der Osmanen in der Türkei, die mongolische Species vertreten. Andrerseits wanderte aus dem nordöstlichen Asien, welches vormals vermuthlich durch eine breite Landbrücke mit Nord- amerika zusammenhing, ein Zweig der Mongolen in diesen Erd- theil hinüber. Als ein Ast dieses Zweiges, welcher durch An- passung an die ungünstigen Existenzbedingungen des Polarklimas eigenthümlich rückgebildet wurde, sind die Arktiker oder Polar- menschen zu betrachten, die Hyperboräer im nordöstlichen Asien, die Eskimos im nördlichsten Amerika. Die Hauptmasse der mon- golischen Einwanderer aber wanderte nach Süden, und breitete sich allmählich über ganz Amerika aus, zunächst über das nörd- liche, später über das südliche Amerika. Der vierte und wichtigste Hauptzweig der Menschen-Gattung, die Lockenvölker oder Euplocamen, haben uns vielleicht in den heutigen Australiern und Dravidas diejenige Menschenform hinter- lassen, die sich am wenigsten von der gemeinsamen Stammform der Euplocamen entfernt hat. Die Hauptmasse der letzteren, die mittelländische Species, wanderte von ihrer Urheimath (Hindo- stan?) aus nach Westen und bevölkerte die Küstenländer des Mittelmeeres, das südwestliche Asien, Nordafrika und Europa. Als eine Abzweigung der semitischen Urvölker im nordöstlichen Afrika sind möglicherweise die Nubier zu betrachten, welche weit durch Mittelafrika hindurch bis fast zu dessen Westküste hinüber- wanderten. Die divergirenden Zweige der indogermanischen Rasse haben sich am weitesten von der gemeinsamen Stammform des Affenmenschen entfernt. Von den beiden Hauptzweigen dieser Rasse hat im classischen Alterthum und im Mittelalter der roma- nische Zweig (die graeco-italo-keltische Gruppe), in der Gegenwart aber der germanische Zweig im Wettlaufe der Culturentwickelung die anderen Zweige überflügelt. Die germanische Rasse im nordwestlichen Europa und in Nord-Amerika ist es, welche jetzt vor allen Anderen ihr Culturnetz um den ganzen Erdball spannt, und welche im Ausbau der monistischen Entwickelungslehre das Fundament für eine neue Periode der wissenschaftlichen Denk- weise, wie überhaupt der höheren geistigen Entwickelung legt. XXV1l. Statistik der Menschen-Arten. 149 Systematische Uebersicht der zwoelf Menschen-Species. NB. Die Columne A giebt die ungefähre Bevölkerungszahl in Millionen an. Die Columne B deutet das phyletische Entwickelungsstadium der Spe- eies an, und zwar bedeutet: Pr = Fortschreitende Ausbreitung; Co — Un- gefähres Gleichbleiben; Re — Rückbildung und Aussterben. Die Columne C giebt das Verhältniss der Ursprache an; Mn (Monoglottonisch) bedeutet eine einfache Ursprache: Pl (Polyglottonisch) eine mehrfache Ursprache der Species. Tribus. Menschen-Speeies. A B Ü | Heimath. [ Neuguinea und Me- Büschelhaarige 1. Papua 2| Re | Mn lanesien, Philip- Lophocomi | pinen, Malakka (ca. 2 Millionen) - S Südliches Afrika 2. Hottentotte /oo | Re | Mn \ (Capland) Dez (zwischen 3 - ö. Kaffer 20) Pr | Mor 73098, Bround Vliesshaarige 50 N- Br.) Eriocomi ; B5 . ran Mittelafrika (zwi- (ea. 150 Millionen) 4. Neger 1350| Pr Pl l schen dem Aequa- \ tor und 50° N. Br.) Me, Sunda- 5. Malaye 30| Co | Mn nesien, Polynesien | und Madagascar won zum grössten , 6. Mongele 350er. Mn Theile, und nörd- Straffhaarige | liches Europa Euthycomi Nordöstli Ja (gegen 600 5 2 ordöst iches Asien Millionen) 7. Arktiker Us | Co | Mn? und nördlichstes Amerika Kr Amerika mit £ Ausnahme des D) 5. Amerikaner 12| Re | Mn nördlichsten Theiles 9. Australier ha: Re. | Mn Australien : f Südasien (Vorder- 10. Dravida 34| Co | Mn were re 11. Nubier U AB ul \ und Fulaland) (gegen 600 Inallen Welttheilen, Millionen) von Südasien aus - E z R zunächst nach 12. Mittelländer | 550| Pr | Pl Norden uns Südeuropa ge- wandert In allen Welttheilen, 13. Bastarde der 9 PEeep vorwiegend jedoch Arten z in Amerika und Asien Summa | 1360 150 Stammbaum der semitischen Rasse. XXVIme Mauren Juden (Koraner) Phönieier Tigrer Hebräer Harraren Ngne. Kanaaniten a | (Palästiner) | [m — Ina» ayı . Abessinier Babylonieı Samariter Ekilier | Urphönieier Chaldäer | savyr | Himjariten | | EeNIT Syrer Südaraber Nordaraber Mesopotamier Bu | (ausgestorben) | Araber (Südsemiten) Urjuden (Nordsemiten) | | Tr EEE Semiten (Semiten im engeren Sinne) m m 7 Guanchen Schuluhs Kieeer | I A vr Fr Tunesonen Marokkaner | | | m Kabylen Tripolitaner Tuarik BEER ER] (Imoscharh) Berber (Amazirh) Galla | Somali N nt \apeöye..l TR Lybier & esceh Danakil | Neuegypter RUE Kopten Altnubier Sn — Altegypter Semiten Hamiten Hamosemiten (Semiten im weiteren Sinne) XXVI. Stammbaum der indogermanische n Rasse. 751 Angelsachsen Litauer Altpreussen Letten N — — Baltiker — Sachser | Sorben Polen | | Cechen Skandinavier Goten Urgermanen Westslaven Russen Südslaven el Sücdostslaven Romanen Latein — u Slaven | — _ Slavoletten — Slavogermanen ! —— — Italer | Albanesen | = ® Urthraeier Iraner —— Gräcoro | m nn om nn Arioromanen Indogermanen ‚ai Plattdeutsche S—— —. Niederdeutsche Griechen Hochdeutsche Niederländer | Altsachsen Friesen | 1 | DS Deutsche | Altbritten Altschotten Irländer Galler ur 2 Galen | | u |— Britannier Kelten Italokelten — manen Neunundzwanzigster Vortrag. Einwände gegen die Wahrheit der Descendenz-Theorie. Einwände gegen die Abstammungs-Lehre. Einwände des Glaubens und der Vernunft. Unermessliche Länge der geologischen Zeiträume. Uebergangs- formen zwischen den verwandten Species. Abhängigkeit der Formbeständig- keit von der Vererbung, und des Formwechsels von der Anpassung. Teleo- logische Einwände. Entstehung zweckmässiger und sehr zusammengesetzter Organisations-Einrichtungen. Stufenweise Entwickelung der Instinete und Seelenthätigkeiten. Entstehung der apriorischen Erkenntnisse aus aposterio- rischen. Erfordernisse für das richtige Verständniss der Abstammungs-Lehre. Nothwendige Wechselwirkung der Empirie und Philosophie. Der anthropo- centrische Standpunkt der sogenannten exacten Anthropologie; im Gegensatz zum phylogenetischen Standpunkte der vergleichenden Anthropologie (auf zoologischer Basis). Practische Einwände gegen die Folgen der Abstammungs- Lehre. Meine Herren! Wenn ich einerseits vielleicht hoffen darf, Ihnen durch diese Vorträge die Abstammungs-Lehre mehr oder weniger wahrscheinlich gemacht und Einige von Ihnen selbst von ihrer unerschütterlichen Wahrheit überzeugt zu haben, so ver- hehle ich mir andrerseits keineswegs, dass die Meisten von Ihnen im Laufe unserer Erörterungen eine Masse von mehr oder weni- ger begründeten Einwänden gegen dieselbe erhoben haben werden. Es erscheint mir daher jetzt, am Schlusse unserer Betrachtungen, durchaus nothwendig, wenigstens die wichtigsten derselben zu widerlegen, und zugleich auf der anderen Seite die überzeugenden Beweisgründe nochmals hervorzuheben, welche für die Wahrheit der Entwickelungs-Lehre Zeugniss ablegen. Die Einwürfe, welche man gegen die Abstammungs-Lehre überhaupt erhebt, zerfallen in zwei grosse Gruppen, Einwände des BAIX. Wissen und Glauben. 1553 Glaubens und Einwände der Vernunft. Mit den Einwendungen der ersten Gruppe, die in den unendlich mannichfaltigen Glau- bens-Vorstellungen der menschlichen Individuen ihren Ursprung haben, brauche ich mich hier durchaus nicht zu befassen. Denn, wie ich bereits im Anfang dieser Vorträge bemerkte, hat die Wissenschaft, als das objective Ergebniss der sinnlichen Erfahrung und des Erkenntniss-Strebens der menschlichen Vernunft, Nichts mit den subjeetiven Vorstellungen des Glaubens zu thun, welche von einzelnen Menschen als unmittelbare Eingebungen oder Offen- barungen des Schöpfers gepredigt und dann von der unselbst- ständigen Menge geglaubt werden. Dieser bei den verschiedenen Völkern höchst verschiedenartige Glaube, der vom „Aberglauben“ nicht verschieden ist, fängt bekanntlich erst da an, wo die Wis- senschaft aufhört. Die Naturwissenschaft betrachtet denselben nach dem Grundsatze Friedrichs des Grossen, „dass Jeder auf seine Facon selig werden kann“, und nur da tritt sie nothwendig in Confliet mit besonderen Glaubens-Vorstellungen, wo dieselben der freien Forschung eine Grenze und der menschlichen Erkenntniss ein Ziel setzen wollen, über welches dieselbe nicht hinaus dürfe. Das ist nun allerdings gewiss hier im stärksten Maasse der Fall; denn die Entwickelungs-Lehre hat sich zur Aufgabe das höchste wissenschaftliche Problem gesetzt: das Problem der Schöpfung, des Werdens der Dinge, und insbesondere des Werdens der orga- nischen Formen, an ihrer Spitze des Menschen. Hier ist es nun jedenfalls eben so das gute Recht, wie die heilige Pflicht der freien Forschung, keinerlei menschliche Autorität zu scheuen, und muthig den Schleier vom Bilde des Schöpfers zu lüften, unbe- kümmert, welche natürliche Wahrheit darunter verborgen sein mag. Die göttliche Offenbarung, welche wir als die einzig wahre anerkennen, steht überall in der Natur geschrieben, und jedem Menschen mit gesunden Sinnen und gesunder Vernunft steht es frei, in diesem heiligen Tempel der Natur durch eigenes Forschen und selbstständiges Erkennen der untrüglichen Offenbarung theil- haftig zu werden. Wenn wir demgemäss hier alle Einwürfe gegen die Abstam- mungs-Lehre unberücksichtigt lassen können, die etwa von den Haeckel, Natürl. Schöpfungs-Gesch. 8. Aufl. 48 754 Unermesslich lange Zeiträume der organischen Erd-Geschichte. XXIX. Priestern der verschiedenen Glaubens-Religionen erhoben werden könnten, so werden wir dagegen nicht umhin können, die wich- tigsten von denjenigen Einwänden zu widerlegen, welche mehr oder weniger wissenschaftlich begründet erscheinen, und von denen man zugestehen muss, dass man durch sie auf den ersten Blick in gewissem Grade eingenommen und von der Annahme der Ab- stammungs-Lehre zurückgeschreckt werden kann. Unter diesen Einwänden erscheint Vielen als der wichtigste derjenige, welcher die Zeitlänge betrifft. Wir sind nicht gewohnt, mit so unge- heuren Zeitmaassen umzugehen, wie sie für die Schöpfungs-Ge- schichte erforderlich sind. Es wurde früher bereits erwähnt, dass wir die Zeiträume, in welchen die Arten durch allmähliche Um- bildung entstanden sind, nicht nach einzelnen Jahrtausenden be- rechnen müssen, sondern nach Hunderten und nach Millionen von Jahrtausenden. Allein schon die Dicke der geschichteten Erdrinde, die Erwägung der ungeheuren Zeiträume, welche zu ihrer Ablagerung aus dem Wasser erforderlich waren, und der zwischen diesen Senkungs- Zeiträumen verflossenen Hebungs -Zeit- räume, beweisen uns -die unermessliche Zeitdauer der organischen Erdgeschichte, welche unser menschliches Fassungsvermögen gänz- lich übersteigt. Wir sind hier in derselben Lage, wie in der Astronomie betreffs des unendlichen Raumes. Wie wir die Ent- fernungen der verschiedenen Planetensysteme nicht nach Meilen, sondern nach Siriusweiten berechnen, von denen jede wieder Mil- lionen Meilen einschliesst, so müssen wir in der organischen Erd- geschichte nicht nach Jahrtausenden, sondern nach paläontologi- schen oder geologischen Perioden rechnen, von denen jede viele hundert Jahrtausende, und manche vielleicht Millionen oder selbst Milliarden von Jahrtausenden umfasst. Es ist sehr gleichgültig, wie hoch man annähernd die uner- messliche Länge dieser geologischen Zeiträume schätzen mag, weil wir in der That nicht im Stande sind, mittelst unserer beschränk- ten Einbildungskraft uns eine wirkliche Anschauung von densel- ben zu bilden, und weil wir auch keine sichere mathematische Basis wie in der Astronomie besitzen, um nur die ungefähre Länge des Maassstabes irgendwie in Zahlen festzustellen. Nur XXIX. Unermesslich lange Zeiträume der organischen Erd-Geschichte. 755 dagegen müssen wir uns auf das Bestimmteste verwahren, dass wir in dieser ausserordentlichen, unsere Vorstellungskraft voll- ständig übersteigenden Länge der Zeiträume irgend einen Grund gegen die Entwickelungs-Lehre sehen könnten. Wie ich Ihnen bereits in einem früheren Vortrage auseinandersetzte, ist es im Gegentheil vom kritischen Standpunkte der strengsten Philosophie geboten, diese Schöpfungs-Perioden möglichst lang vorauszusetzen; wir laufen um so weniger Gefahr, uns in dieser Beziehung in un- wahrscheinliche Hypothesen zu verlieren, je grösser wir die Zeit- räume für die organischen Entwickelungs-Vorgänge annehmen. Je länger wir z. B. die Permische Periode annehmen, desto eher können wir begreifen, wie innerhalb derselben die wichtigen Um- bildungen erfolgten, welche die Fauna und Flora der Steinkohlen- zeit so scharf von derjenigen der Triaszeit trennen. Die grosse Abneigung, welche die meisten Menschen gegen die Annahme so unermesslicher Zeiträume haben, rührt grösstentheils davon her, dass wir in der Jugend mit der Vorstellung gross gezogen wer- den, die ganze Erde sei nur einige tausend Jahre alt. Ausserdem ist das Menschenleben, welches höchstens den Werth eines Jahr- hunderts erreicht, eine verhältnissmässig kurze Zeitspanne, welche sich am wenigsten eignet, als Maasseinheit für jene geologischen Perioden zu gelten. Unser Leben ist ein einzelner Tropfen im Meere der Ewigkeit. Denken Sie nur im Vergleich damit an die fünfzig mal längere Lebensdauer mancher Bäume, z. B. der Drachen- bäume (Dracaena) und Affenbrodbäume (Adansonia), deren indi- viduelles Leben einen Zeitraum von fünftausend Jahren übersteigt; und denken Sie andrerseits an die Kürze des individuellen Lebens bei manchen niederen Thieren, z. B. bei den Infusorien, wo das Individuum als solches nur wenige Tage, oder selbst nur wenige Stunden lebt. Diese Vergleichung stellt uns die Relativität alles Zeitmaasses auf das Unmittelbarste vor Augen. Ganz gewiss müssen ungeheure, uns gar nicht vorstellbare Zeiträume ver- flossen sein, während die stufenweise historische Entwicke- lung des Thier- und Pflanzenreichs durch allmähliche Umbil- dung der Arten vor sich ging. Es liegt aber auch nicht ein einziger vernünftiger Grund vor, irgend eine bestimmte Grenze 45* 756 Uebergangsformen zwischen den organischen Arten. PELET für die Länge jener phyletischen Entwickelungs-Perioden anzu- nehmen; nur blindes Vorurtheil sträubt sich dagegen. Als zweiter gegen die Abstammungs-Lehre erhobener Ein- wand wird oft behauptet, dass man keine Uebergangsformen zwischen den verschiedenen Arten finden könne, während man diese doch eigentlich in Menge finden müsste. Dieser Einwurf ist zum Theil begründet, zum Theil aber auch nicht. Denn es existiren Uebergangsformen sowohl zwischen lebenden, als auch zwischen ausgestorbenen Arten in ausserordentlicher Menge, überall nämlich da, wo wir Gelegenheit haben, sehr zahlreiche Individuen von verwandten Arten vergleichend ins Auge zu fassen. Grade diejenigen sorgfältigsten Untersucher der einzelnen Species, von denen man jenen Einwurf häufig hört, grade diese finden sich in ihren speciellen Untersuchungsreihen beständig durch die in der That unlösbare Schwierigkeit aufgehalten, die einzelnen Arten scharf zu unterscheiden. In allen systematischen Werken, welche einigermaassen gründlich sind, begegnen Sie endlosen Klagen darüber, dass man hier und dort die Arten nicht unterscheiden könne, weil zu viele Uebergangsformen vorhanden seien. Daher bestimmt auch jeder Naturforscher den Umfang und die Zahl der einzelnen Arten anders, als die übrigen. Wie ich schon früher erwähnte (S. 265), nehmen in einer und derselben Organismen- Gruppe die einen Zoologen und Botaniker 10 Arten an, andere 20, andere hundert oder mehr, während noch andere Systematiker alle diese verschiedenen Formen nur als Spielarten oder Varie- täten einer einzigen „guten Species“ betrachten. Man findet in der That bei den meisten Formengruppen Uebergangsformen und Zwischenstufen zwischen den einzelnen Species in Hülle und Fülle. Bei vielen Arten fehlen freilich die Uebergangsformen wirk- lich. Dies erklärt sich indessen ganz einfach durch das Prinzip der Divergenz oder Sonderung, dessen Bedeutung ich Ihnen frü- her erläutert habe. Der Umstand, dass der Kampf um das Da- sein um so heftiger zwischen zwei verwandten Formen ist, je näher sie sich stehen, muss nothwendig das baldige Erlöschen der verbindenden Zwischenformen zwischen zwei divergenten Arten begünstigen. Wenn eine und dieselbe Species nach verschiedenen IE ra ta RRAIX. Uebergangsformen zwischen den organischen Arten. 157 Richtungen auseinandergehende Varietäten hervorbringt, die sich zu neuen Arten gestalten, so muss der Kampf zwischen diesen neuen Formen und der gemeinsamen Stammform um so lebhafter sein, je weniger sie sich von einander entfernen, dagegen um so weniger gefährlich, je stärker die Divergenz ist. Naturgemäss werden also die verbindenden Zwischenformen vorzugsweise und meistens sehr schnell aussterben, während die am meisten diver- genten Formen als getrennte „neue Arten“ übrig bleiben und sich fortpflanzen. Dem entsprechend finden wir auch keine Ueber- gangsformen mehr in solchen Gruppen, welche ganz im Ausster- ben begriffen sind, wie z. B. unter den Vögeln die Strausse, un- ter den Säugethieren die Elephanten, Giraffen, Camele, Zahn- armen und Schnabelthiere. Diese im Erlöschen begriffenen Formen- Gruppen erzeugen keine neuen Varietäten mehr, und naturgemäss sind hier die Arten sogenannte „gute“, d.h. scharf von einander geschiedene Species. In denjenigen Thiergruppen dagegen, wo noch die Entfaltung und der Fortschritt sich geltend macht, wo die existirenden Arten durch Bildung neuer Varietäten in viele neue Arten auseinandergehen, finden wir überall massenhaft Ueber- gangsformen vor, welche der Systematik die grössten Schwierig- keiten bereiten. Das ist z. B. unter den Vögeln bei den Finken der Fall, unter den Säugethieren bei den meisten Nagethieren (besonders den mäuse- und rattenartigen), bei einer Anzahl von Wiederkäuern und von echten Affen, insbesondere bei den südame- rikanischen Rollaffen (Cebus) und vielen Anderen. Die fortwäh- rende Entfaltung der Species durch Bildung neuer Varietäten er- zeugt hier eine Masse von Zwischenformen, welche die sogenannten - guten Arten verbinden, ihre Grenzen verwischen und ihre scharfe specifische Unterscheidung ganz illusorisch machen. Dass dennoch keine vollständige Verwirrung der Formen, kein allgemeines Chaos in der Bildung der Thier- und Pflanzen- Gestalten entsteht, hat einfach seinen Grund in dem Gegengewicht, welches gegenüber der Entstehung neuer Formen durch fortschrei- tende Anpassung, die erhaltende Macht der Vererbung aus- übt. Der Grad von Beharrlichkeit und Veränderlichkeit, den jede organische Form zeigt, ist lediglich bedingt durch den jeweiligen 758 Beständigkeit und Veränderlichkeit der organischen Species. XXIX. Zustand des Gleichgewichts zwischen diesen beiden sich entgegen- stehenden Funetionen. Die Vererbung ist die Ursache der Beständigkeit der Species; die Anpassung ist die Ur- sache der Abänderung der Art. Wenn also einige Natur- forscher sagen, offenbar müsste nach der Abstammungs-Lehre eine noch viel grössere Mannichfaltigkeit der Formen stattfinden, und andere umgekehrt, es müsste eine viel strengere Gleichheit der Formen sich zeigen, so unterschätzen die ersteren das Gewicht der Vererbung und die letzteren das Gewicht der Anpassung. Der Grad der Wechselwirkung zwischen der Vererbung und Anpassung bestimmt den Grad der Beständigkeit und Veränderlichkeit der organischen Species, den dieselbe in jedem gegebenen Zeitabschnitt besitzt. Ein weiterer Einwand gegen die Descendenz-Theorie, welcher besonders in den Augen vieler Philosophen ein grosses Gewicht besitzt, ist teleologischer Natur; er besteht darin, dass die Ent- stehung zweckmässig gebauter und planvoll wirkender Organe durch zwecklos oder mechanisch wirkende Ur- sachen nicht zu erklären sei. Dieser Einwurf erscheint nament- lich von Bedeutung bei Betrachtung derjenigen Organe, welche offenbar für einen ganz bestimmten Zweck so vortrefflich ange- passt sind, dass die scharfsinnigsten. Mechaniker nicht im Stande sein würden, ein vollkommneres Organ für diesen Zweck zu er- finden. Solche Organe sind vor allen die höheren Sinnesorgane der Thiere, Auge und Ohr. Wenn man bloss die Augen und Gehörwerkzeuge der höheren Thiere kennte, so würden dieselben uns in der That grosse und vielleicht unübersteigliche Schwierig- keiten verursachen. Wie könnte man sich erklären, dass allein durch die natürliche Züchtung jener ausserordentlich hohe und ganz bewunderungswürdige Grad der Vollkommenheit und der Zweckmässigkeit in jeder Beziehung erreicht wird, welchen wir bei den Augen und Ohren der höheren Thiere wahrnehmen? Zum Glück hilft uns aber hier die vergleichende Anatomie und Entwickelungs-Geschichte über alle Hindernisse hinweg. Denn wenn wir die stufenweise Vervollkommnung der Augen und Ohren Schritt für Schritt im Thierreich verfolgen, so finden wir XXIX. Mechanische Entstehung zweckmässiger Organisation. 159 eine solche allmähliche Stufenleiter der Ausbildung vor, dass wir auf das Schönste die Entwickelung der höchst complieirten Organe durch alle Grade der Vollkommenheit hindurch verfolgen können. So erscheint z. B. das Auge bei den niedersten Thieren als ein einfacher Farbstofifleck, der noch kein Bild von äusseren Gegen- ständen entwerfen, sondern höchstens den Unterschied der ver- schiedenen Lichtstrahlen wahrnehmen kann. Dann tritt zu diesem ein empfindender Nerv hinzu. Später entwickelt sich allmählich innerhalb jenes Pigmentflecks die erste Anlage der Linse, ein lichtbrechender Körper, der schon im Stande ist, die Lichtstrahlen zu concentriren und ein bestimmtes Bild zu entwerfen. Aber es fehlen noch alle die zusammengesetzten Apparate für Accommo- dation und Bewegung des Auges; die verschieden lichtbrechenden Medien, die hoch differenzirte Sehnervenhaut u. s. w., welche bei den höheren Thieren dieses Werkzeug so vollkommen gestalten. Von jenem einfachsten Organ bis zu diesem höchst vollkommenen Apparat zeigt uns die vergleichende Anatomie in ununterbroche- ner Stufenleiter alle möglichen Uebergänge, so dass wir die stufen- weise, allmähliche Entstehung auch eines solchen höchst complicir- ten Organes wohl verstehen können. Ebenso wie wir im Laufe der individuellen Entwickelung einen gleichen stufenweisen Fort- schritt in der Ausbildung des Organs unmittelbar verfolgen kön- nen, ebenso muss derselbe auch bei der geschichtlichen (phyle- tischen) Entstehung des Organs stattgefunden haben. Beiläufig bemerkt, ist übrigens in sehr vielen Fällen die Zweckmässigkeit der Organisation, welche die naiv-kindliche Naturbetrachtung überall finden will und als „Weisheit des Schöp- fers“ preist, nur scheinbar. Eine genauere anatomische und und physiologische Untersuchung lehrt uns in sehr vielen Fällen, dass selbst sehr hoch entwickelte und scheinbar sehr kunstgerecht construirte Organe an grossen mechanischen Mängeln leiden, wie dies z. B. für das menschliche Auge von Helmholtz, einem der genauesten Kenner desselben, nachgewiesen worden ist. Vollends aber, wenn wir die ganze Entwickelungsreihe verwandter Formen vergleichend ins Auge fassen, erkennen wir klar, wie die natür- liche Züchtung nach allen Richtungen planlos wirkend eine all- 7160 Mechanische Entstehung zweckmässiger Organisation. XXI mähliche Vervollkommnung langsam herbeiführt, aber erst nach vielen vergeblichen Versuchen zuletzt etwas halbwegs „Zweck- mässiges“ zufällig erreicht. Bei Betrachtung solcher höchst vollkommener Organe, die scheinbar von einem künstlerischen Schöpfer für ihre bestimmte Thätigkeit zweckmässig erfunden und construirt, in der That aber durch die zwecklose Thätigkeit der natürlichen Züchtung mecha- nisch entstanden sind, empfinden viele Menschen ähnliche Schwie- rigkeiten des naturgemässen Verständnisses, wie die rohen Natur- völker gegenüber den verwickelten Erzeugnissen unserer neuesten Maschinen-Baukunst. Die Wilden, welche zum erstenmal ein Linienschiff oder eine Locomotive sehen, halten diese Gegenstände für die Erzeugnisse übernatürlicher Wesen, und können nicht be- greifen, ‘dass der Mensch, ein Organismus ihres Gleichen, eine solche Maschine hervorgebracht habe. Auch die ungebildeten Menschen unserer eigenen Rasse sind nicht im Stande, einen so verwickelten Apparat in seiner eigentlichen Wirksamkeit zu begreifen und die rein mechanische Natur desselben zu verstehen. Die meisten Na- turforscher verhalten sich aber, wie Darwin sehr richtig‘ bemerkt, gegenüber den Formen der Organismen nicht anders, als jene Wilden dem Linienschiff oder der Locomotive gegenüber. Das naturgemässe Verständniss von der rein mechanischen Entstehung der organischen Formen kann hier nur durch eine gründliche all- gemeine biologische Bildung und durch die specielle Bekanntschaft mit der vergleichenden Anatomie und Entwickelungs-Geschichte gewonnen werden. Was aber in dieser wichtigen Frage die üblichen Einwände der speculativen Schul-Philosophie betrifft, so werden diese gerade durch die Selections-Theorie glänzend widerlegt. Das ist ja eben das grosse philosophische Verdienst Darwin’s, dass er uns im Sinne des Empedocles und in einfachster Weise die grosse Räthselfrage gelöst hat: „Wie können zweckmässige Ein- richtungen mechanisch entstehen, ohne zweckthätige Ursachen ?* Der Kampf um’s Dasein ist es, welcher unablässig und überall die natürliche Züchtung unbewusst ausübt, und durch die Wech- selwirkung der Vererbungs- und Anpassungs-Gesetze die organi- Du ee re ee ENIX. Entstehung der thierischen Geistesthätigkeit. 161 schen Formen zweckmässig umbildet. Gleich gross und bedeu- tungsvoll ist die mechanische Wirksamkeit dieses Selections-Prin- eips in der Umbildung der äusseren Gestalt und der inneren Structur der organischen Wesen. In der letzteren tritt es uns entgegen als „die functionelle Selbstgestaltung der zweckmässigen Structur“, wie sie zuerst Roux so scharfsinnig erläutert hat. (Vergl. S. 227, 254.) Dieses monistische, von Pflüger physiologisch begründete Prineip der „teleologischen Mechanik“ beseitigt endgültig den ‘alten „transcendenten Zweckbegriff“ unserer duali- stischen Schul-Philosophie, bisher das grösste speculative Hinder- niss einer gesunden Naturanschauung. (Vergl. oben S. 254—260.) Unter den übrigen gegen die Abstammungs-Lehre erhobenen Einwürfen will ich hier besonders noch einen hervorheben und widerlegen, der in den Augen vieler Laien ein grosses Gewicht besitzt: Wie soll man sich nach der Descendenz-Theorie die Gei- stesthätigkeit der Thiere und namentlich die specifischen Aeusserungen derselben, die sogenannten Instinete entstanden denken? Diesen schwierigen Gegenstand hat Darwin in einem be- sonderen Capitel seines Hauptwerkes (im siebenten) so ausführ- lich behandelt, dass ich Sie hierauf verweisen kann. Wir müs- sen die Instincte wesentlich als Gewohnheiten der Seele auffassen, welche durch Anpassung erworben und durch Vererbung auf viele Generationen übertragen und be- festigt worden sind. Die Instincte verhalten sich demgemäss ganz wie andere Gewohnheiten, welche nach den Gesetzen der gehäuften Anpassung und der befestigten Vererbung zur Entste- hung neuer Functionen und somit auch neuer Formen ihrer Or- gane führen. Hier wie überall geht die Wechselwirkung zwischen Function und Organ Hand in Hand. Wie alle Geistesfähigkeiten des Menschen stufenweise durch fortschreitende Anpassung des Gehirns erworben und durch dauernde Vererbung befestigt wur- den, so sind auch die Instinete der Thiere (— welche nur quanti- tativ, nicht qualitativ von jenen verschieden sind —) durch stufen- weise Vervollkommnung ihres Seelenorgans, des Central-Nerven- systems, durch Wechselwirkung der Anpassung und Vererbung entstanden. Die Instincte werden bekanntermaassen vererbt; allein 762 Entstehung der Instinete durch Vererbung von Anpassungen. XXIX. -_ auch die Erfahrungen, also neue Anpassungen der Thierseele, werden vererbt; und die Abrichtung der Hausthiere zu verschie- denen Seelenthätigkeiten, welche die wilden Thiere nicht im Stande sind auszuführen, beruht auf.der Möglichkeit der Seelen- Anpassung. Wir kennen jetzt schon eine lange Reihe von Bei- spielen dafür; solche Anpassungen, welche erblich durch eine Reihe von Generationen sich übertragen hatten, erscheinen schliess- lich als angeborene Instincete, und doch waren sie von den Vor- eltern der Thiere erst erworben. Hier ist die Dressur durch Vererbung in Instinet übergegangen. Die characteristi- schen Instinete der Jagdhunde, Vorstehhunde, Schweisshunde, Schäferhunde und anderer Hausthiere, welche sie mit auf die Welt bringen, sind ebenso wie die Naturinstincte der wilden Thiere von ihren Voreltern erst durch Anpassung erworben wor- den. Sie sind in dieser Beziehung den angeblichen „Erkennt- nissen a priori“ des Menschen zu vergleichen, die ursprünglich von unseren uralten Vorfahren (gleich allen anderen Erkenntnis- sen) „a posteriori“, durch sinnliche Erfahrung erworben wurden. Wie ich schon früher bemerkte, sind offenbar die „Erkennt- nisse a priori“ erst durch lange andauernde Vererbung vonerworbenen Gehirn-Anpassungen aus ursprünglich em- pirischen „Erkenntnissen a posteriori“ entstanden (8. 29). Die so eben besprochenen und widerlegten Einwände gegen die Descendenz-Theorie dürften wohl die wichtigsten sein, welche ihr entgegengehalten worden sind. Ich glaube Ihnen deren Grund- losigkeit genügend dargethan zu haben. Die zahlreichen übrigen Einwürfe, welche ausserdem noch gegen die Entwickelungslehre im Allgemeinen oder gegen den biologischen Theil derselben, die Abstammungslehre, im Besonderen erhoben worden sind, beruhen entweder auf einer solchen Unkenntniss der empirisch festgestellten Thatsachen, oder auf einem solchen Mangel an richtigem Ver- ständniss derselben, und an Fähigkeit, die daraus nothwendig sich ergebenden Folgeschlüsse zu ziehen, dass es wirklich nicht der Mühe lohnen würde, hier näher auf ihre Widerlegung einzu- gehen. Nur einige allgemeine Gesichtspunkte möchte ich Ihnen in dieser Beziehung noch mit einigen Worten nahe legen. NNIX. Erfordernisse für das Verständniss der Abstammungs-Lehre. 763 Zunächst ist hinsichtlich des ersterwähnten Punktes zu be- merken, dass, um die Abstammungslehre vollständig zu verstehen, und um sich ganz von ihrer unerschütterlichen Wahrheit zu über- zeugen, ein allgemeiner Ueberblick über die Gesammtheit des biologischen Erscheinungsgebietes unerlässlich ist. Die Descen- denz-Theorie ist eine biologische Theorie, und man darf daher mit Fug und Recht verlangen, dass diejenigen Leute, welche darüber ein gültiges Urtheil fällen wollen, den erforderlichen Grad biologischer Bildung besitzen. Dazu genügt es nicht, dass sie in diesem oder jenem (Gebiete der Zoologie oder Botanik, der Ana- tomie oder Physiologie, specielle Erfahrungskenntnisse besitzen. Vielmehr müssen sie nothwendig eine allgemeine Uebersicht der gesammten Erscheinungsreihen wenigstens in einem der organischen Reiche besitzen. Sie müssen wissen, welche allge- meinen Gesetze aus der vergleichenden Morphologie und Physio- logie der Organismen, insbesondere aus der vergleichenden Ana- tomie, aus der individuellen und paläontologischen Entwickelungs- Geschichte u. s. w. sich ergeben, und sie müssen eine Vorstellung von dem tiefen mechanischen, ursächlichen Zusammen- hang haben, in dem alle jene Erscheinungsreihen stehen. Selbst- verständlich ist dazu ein gewisser Grad allgemeiner Bildung und namentlich philosophischer Erziehung erforderlich, den leider heut- zutage viele Leute nicht für nöthig halten. Ohne die noth- wendige Verbindung von empirischen Kenntnissen und von philosophischem Verständniss der biologischen Er- scheinungen kann die unerschütterliche Ueber#eugung von der Wahrheit der Descendenz-Theorie nicht ge- wonnen werden. Nun bitte ich Sie, gegenüber dieser ersten Vorbedingung für das wahre Verständniss der Descendenz-Theorie, die bunte Menge von Leuten zu betrachten, die sich herausgenommen haben, über dieselbe mündlich oder schriftlich ein vernichtendes Urtheil zu fällen! Die meisten derselben sind Laien, welche die wichtigsten biologischen Erscheinungen entweder gar nicht kennen, oder doch keine Vorstellung von ihrer tieferen Bedeutung besitzen. Was würden Sie von einem Laien sagen, der über die Zellen-Theorie 764 Wechselwirkung zwischen Empirie und Philosophie. OD“ urtheilen wollte, ohne jemals Zellen gesehen zu haben, oder über die Wirbel-Theorie, ohne jemals vergleichende Anatomie getrieben zu haben? Und doch begegnen Sie solchen lächerlichen An- maassungen in der Geschichte der biologischen Descendenz-Theorie alle Tage! Sie hören Tausende von Laien und von Halbgebil- deten darüber ein entscheidendes Urtheil fällen, die weder von Botanik, noch von Zoologie, weder von vergleichender Anatomie, noch von Gewebelehre, weder von Paläontologie, noch von Em- bryologie Etwas wissen. Daher kommt es, dass, wie Huxley treffend sagt, die allermeisten gegen Darwin veröffentlichten Schriften das Papier nicht werth sind, auf dem sie geschrieben wurden. Sie könnten mir einwenden, dass ja unter den Gegnern der Descendenz-Theorie doch auch viele Naturforscher, und selbst manche berühmte Zoologen und Botaniker sind. Diese Gegner sind jedoch jetzt nahezu ausgestorben; die wenigen jetzt noch lebenden sind sämmtlich ältere Gelehrte, die in ganz entgegen- gesetzten Anschauungen alt geworden sind, und denen man nicht zumuthen kann, noch am Abend ihres Lebens sich einer Reform ihrer, zur festen Gewohnheit gewordenen, Weltanschauung zu unterziehen. Die Biologen der jungen Generation, welche seit Darwin’s Hauptwerk (1859) aufgewachsen, sind alle von der Wahrheit der Entwickelungslehre fest überzeugt. Sodann muss aber auch ausdrücklich hervorgehoben werden, dass nicht nur eine allgemeine Uebersicht des ganzen biologischen Erscheinungs- gebietes#sondern auch ein philosophisches Verständniss des- selben nothwendige Vorbedingungen für die volle Werthschätzung der Descendenz-Theorie sind. Nun sind aber gerade diese uner- lässlichen Vorbedingungen bei sehr vielen „Gelehrten“ keineswegs erfüllt. Die Unmasse von neuen empirischen Thatsachen, mit denen uns die riesigen Fortschritte der neueren Naturwissenschaft bekannt gemacht haben, hat eine vorherrschende Neigung für das specielle Studium einzelner Erscheinungen und kleiner engbe- grenzter Erfahrungsgebiete herbeigeführt. Darüber wird die Er- kenntniss der übrigen Theile und namentlich des grossen um- fassenden Naturganzen meist völlig vernachlässigt. Jeder, der > RAIX. Wechselwirkung zwischen Empirie und Philosophie. 7165 gesunde Augen und ein Mikroskop zum Beobachten, Fleiss und Geduld zum Sitzen hat, kann heutzutage durch mikroskopische „Entdeckungen“ eine gewisse Berühmtheit erlangen, ohne doch den Namen eines Naturforschers zu verdienen. Dieser gebührt in Wahrheit nur demjenigen, der nicht bloss die einzelnen Erschei- nungen zu kennen, sondern auch deren ursächlichen Zusammen- hang zu erkennen strebt. Noch heute untersuchen und beschreiben die meisten Paläon- tologen die Versteinerungen, ohne die wichtigsten Thatsachen der vergleichenden Anatomie und Embryologie zu kennen. Andrer- seits verfolgen viele Embryologen die Entwickelungs-Geschichte und Metamorphose des einzelnen organischen Individuums, ohne eine Ahnung von der paläontologischen Entwickelungs-Geschichte des ganzen zugehörigen Stammes zu haben, von welcher die Verstei- nerungen berichten. Und doch stehen diese beiden Zweige der organischen Entwickelungs-Geschichte, die Ontogenie oder die Ge- schichte des Individuums, und die Phylogenie oder die Geschichte des Stammes, im engsten ursächlichen Zusammenhang, und die eine ist ohne die andere gar nicht zu verstehen. Aehnlich steht es mit dem systematischen und dem anatomischen Theile der Biologie. Noch heute giebt es in der Zoologie und Botanik zahl- reiche Systematiker, welche in dem Irrthum arbeiten, durch blosse sorgfältige Untersuchung der äusseren und leicht zugänglichen Körperformen, ohne die tiefere Kenntniss ihres inneren Baues, das natürliche System der Thiere und Pflanzen construiren zu können. Andrerseits giebt es Anatomen und Histologen * welche das eigentliche Verständniss des Thier- und Pflanzenkörpers bloss durch die genaueste Erforschung des inneren Körperbaues einer einzelnen Species, ohne die vergleichende Betrachtung der ge- sammten Körperform bei allen verwandten Organismen, gewinnen zu können meinen. Und doch steht auch hier, wie überall, Inneres und Aeusseres, Vererbtes und Angepasstes in der eng- sten Wechselbeziehung; und das Einzelne kann nie ohne Ver- gleichung mit dem zugehörigen Ganzen wirklich verstanden wer- den. Jenen einseitigen Facharbeitern möchten wir daher mit Goethe zurufen: 766 Wechselwirkung zwischen Empirie und Philosophie. XXTIE. „Müsset im Naturbetrachten „Immer Eins wie Alles achten. „Nichts ist drinnen, Nichts ist draussen, „Denn was innen, das ist aussen.“ und weiterhin: „Natur hat weder Kern noch Schale, „Alles ist sie mit einem Male.“ Noch viel nachtheiliger aber, als jene einseitige Richtung, ist für das allgemeine Verständniss des Naturganzen der Mangel an philosophischer Bildung, durch welchen sich viele Natur- forscher der Gegenwart auszeichnen. Die vielfachen Verirrungen der früheren speeulativen Naturphilosophie, aus dem ersten Drittel unseres Jahrhunderts, haben bei den exacten empirischen Natur- forschern die ganze Philosophie in einen solchen Misseredit ge- bracht, dass dieselben in dem sonderbaren Wahne leben, das Ge- bäude der Naturwissenschaft aus blossen Thatsachen, ohne philo- sophische Verknüpfung derselben, aus blossen Kenntnissen, ohne Verständniss derselben, aufbauen zu können. Allerdings bleibt ein rein speculatives, absolut philosophisches Lehrgebäude, welches sich nicht um die unerlässliche Grundlage der empirischen That- sachen kümmert, ein Luftschloss das die erste beste Erfahrung über den Haufen wirft; besonders in Deutschland ist an solchen kein Mangel (z. B. Hegel). Anderseits aber bleibt ein rein empi- risches, nur aus Thatsachen zusammengesetztes Wissen ein wüster Steinhaufen, der nimmermehr den Namen eines Gebäudes ver- dienen wird. Muster der letzteren Gattung sind die ethnographi- schen Sammelwerke des bekannten „Ethnologen* Bastian; ein buntes Chaos von zusammengewürfelten Notizen, bei deren ord- nungsloser Aufzählung jeder leitende Gedanke sorgfältig vermieden ist. Die nackten, durch die Erfahrung festgestellten Thatsachen sind immer nur die rohen Bausteine, und ohne die denkende Verwerthung, ohne die philosophische Verknüpfung derselben kann keine Wissenschaft sich aufbauen. Wie ich Ihnen schon früher eindringlich vorzustellen versuchte, entsteht nur durch die innigste Wechselwirkung und gegenseitige Durchdrin- gung von Empirie und Philosophie das unerschütterliche Gebäude der wahren, monistischen Wissenschaft, oder was dasselbe ist, der Naturwissenschaft. XIX. Wechselwirkung zwischen Empirie und Philosophie. 167 Aus dieser beklagenswerthen Entfremdung der Naturforschung von der Philosophie, und aus dem rohen Empirismus, der heut- zutage leider von den meisten Naturforschern als „exacte Wissen- schaft“ gepriesen wird, entspringen jene seltsamen Quersprünge des Verstandes, jene groben Verstösse gegen die elementare Logik, jenes Unvermögen zu den einfachsten Schlussfolgerungen, denen Sie heutzutage auf allen Wegen der Naturwissenschaft, ganz be- sonders aber in der Zoologie und Botanik begegnen können. Hier rächt sich die Vernachlässigung der philosophischen Bildung und Schulung des Geistes unmittelbar auf das Empfindlichste. Es ist daher nicht zu verwundern, wenn Vielen jener rohen Empiriker auch die tiefe innere Wahrheit der Descendenz-Theorie gänzlich verschlossen bleibt. Wie das triviale Sprichwort sehr treffend sagt, „sehen sie den Wald vor lauter Bäumen nicht“. Nur durch allgemeinere philosophische Studien, durch Erweiterung des Ge- sichtskreises und namentlich durch strengere logische Erziehung des Verstandes kann diesem schlimmen Uebelstande auf die Dauer abgeholfen werden. Die auffallendsten und zahlreichsten Beispiele für diesen Man- gel gesunder Logik finden sich heute noch im Bereiche der soge- nannten „exacten Anthropologie“, und da diese junge Wissen- schaft einerseits sehr Viel für die Zukunft verspricht, anderseits die von ihr erhobenen Einwände gegen die Descendenz-Theorie gerade deren wichtigsten Folgeschluss, die „Affen-Abstammung des Menschen“ betreffen, so ist es wohl angemessen, hier diesel- ben noch etwas näher kritisch zu untersuchen. Als hervorragen- des Beispiel dieser Richtung wähle ich das grosse zweibändige, mit mehr als tausend Abbildungen illustrirte Werk von Johannes Ranke: „Der Mensch“. (Leipzig, 1887.) Den Standpunkt, von welchem dieser „exacte Anthropologe“ die Natur des Menschen beurtheilt und in seinem populär geschriebenen Werke dem ge- bildeten Publicum vorführt, kennzeichnet er selbst mit aller wün- schenswerthen Klarheit in seiner Vorrede in folgendem Satze: „Die Grundlage aller in diesem Buche enthaltenen Betrachtungen bildet der allgemein anerkannte Satz, dass in gesetzmässiger, d.h. logischer Weise die gesammte animale Welt in körperlicher Be- 168 Dogmen der exacten Anthropologie. Sr ziehung zu einer idealen Einheit zusammengeschlossen ist, an deren Spitze der Mensch steht. In diesem Sinne ist das Thier- reich der zergliederte Mensch und der Mensch das Paradigma des gesammten Thierreichs“. Neu ist dieser Grundsatz von Ranke, der nach seiner eigenen Angabe „die Grundlage aller anthropologischen Betrachtungen bildet“, nicht; es ist der uralte Standpunkt der anthropocen- _trischen Weltanschauung, wonach der Mensch Mittelpunkt und letzter Endzweck alles Erden-Lebens, und die übrige Natur nur dazu erschaffen ist, diesem „Herrn der Welt“ zu dienen (vergl. oben S. 35). Wie bekannt ist derselbe eng verknüpft mit dem geocentrischen Irrthum, dass die Erde der feste Mittel- punkt der Welt ist, um welchen sich Sonne, Mond und Sterne drehen; wer jener ersteren Anschauung huldigt, wird folgerichtiger Weise auch diese letztere, neuerlich noch vom Pastor Knak mit soviel Erfolg vertretene Ansicht theilen müssen. Nach unserer entgegengesetzten Ansicht ist die geocentrische Irrlehre durch Copernicus und Newton eben so bestimmt widerlegt, wie der anthropocentrische Irrthum durch Lamarck und Darwin. Neu und interessant ist aber an Ranke’s „grundlegendem“ Programm die Behauptung, dass dieser anthropocentrische Grund- satz ein „allgemein anerkannter Satz“ sei. In erster Linie müsste das jedenfalls von den Zoologen gelten; denn diese sind diejenigen Naturforscher, welche „das Thierreich“ zum Gegenstand ihres besonderen Fach-Studiums gemacht haben und daher das- selbe von Rechtswegen am Besten kennen müssen. Ich selbst bin seit nahezu dreissig Jahren als Lehrer der Zoologie thätig und glaube eine gewisse Uebersicht über „das Thierreich“ mir erworben zu haben; und da ich früher kurze Zeit Arzt war und durch eifriges sechsjähriges Studium der Mediein in die Natur- geschichte des Menschen tiefer einzudringen suchte, glaube ich auch nach dieser Richtung hin zu einem gewissen Urtheil in der „Anthropologie“ berechtigt zu sein. Ich behaupte nun, — und ich bin dabei der einmüthigen Zustimmung aller heutigen Zoologen sicher, — dass jener oberste, nach Ranke „allgemein anerkannte“ Grundsatz, vollkommen falsch ist, und dass sein gerades Gegen- RIX. Der Mensch und das Thierreich. 769 theil wahr ist. Weder ist „das Thierreich der zergliederte Mensch“, noch ist „der Mensch das Paradigma des gesammten Thierreichs“. Von den zehn Stämmen des Thierreichs (S. 508), deren Stammes-Geschichte wir früher untersucht haben, besitzen fünf (— und darunter die weitaus formenreichsten —) überhaupt gar keine Beziehung zum Menschen, nämlich die Spongien, Cnidarien, Mollusken, Echinodermen und Articulaten. Von den fünf übrigen besitzen vier nur insofern eine morphologische und phylogenetische Beziehung zum Menschen, als wahrscheinlich ein- zelne Formen jedes Stammes zu der Ahnen-Reihe des Menschen, oder doch zu deren nächsten Stammverwandten gehören; so die Gastraeaden, die ältesten Platoden, einige Gruppen unter den Helminthen, und die Copelaten unter den Tunicaten. Nur ein einziger Stamm des Thierreichs kann in gewissem Sinne als „der zergliederte Mensch“, und der Mensch als „Paradigma“ dieses Stammes gelten; das ist der Stamm der Wirbelthiere. Aber freilich ist diese Einheit nicht eine „ideale“, wie Ranke be- hauptet, sondern eine sehr „reale“, nämlich eine phylogene- tische; der Mensch ist ein einziger kleiner, sehr spät entwickelter Zweig des mächtigen Vertebraten-Stammes, dessen zahlreiche Aeste mit Tausenden verschiedener Zweige sich nach allen Rich- tungen hin selbstständig entwickelt haben, ohne dass die grosse Mehrzahl derselben irgend eine „ideale“ oder sonstige Beziehung zum Menschen besitzt. Das ist unsere heutige phylogenetische Grundanschauung vom Menschen, welche zu der von Ranke vertretenen anthro- pocentrischen in schneidendstem Gegensatze steht. Nur Eine von beiden kann wahr sein. Freilich schmeichelt die anthropocen- trische Weltanschauung der Eitelkeit und Einbildung des Menschen im höchsten Maasse; es ist daher nicht zu verwundern, dass diese längst veraltete, zuerst von Lamarck vor achtzig Jahren wider- legte Illusion auch heute noch bei unserem anthropologischen Publieum die dankbarste Aufnahme findet. Indem jene „exacten Anthropologen“, um die Wette mit Theologen und dualistischen Philosophen, dem Menschen seine „Stellung über der Natur“ in den glänzendsten Farben ausmalen, und die Kluft zwischen Haeckel, Natürl. Schöpfungs-Gesch. 8. Aufl. 49 170 Der Mensch und das Thierreich. 9.0. „Menschenreich“ und Thierreich als unausfüllbar darstellen, glei- chen sie jenen Schmeichlern an Fürstenhöfen, die in früheren Jahrhunderten mit bestem Erfolge die „göttliche Natur“ des Herrscher-Geschlechts, im Gegensatze zum profanen Volke, be- wiesen. Anders steht es freilich mit der Frage, ob jener oberste Grundsatz von Ranke und Genossen wahr ist, und ob er wissenschaft- lich bewiesen werden kann. Alle Zoologen der Gegenwart — und nur diese können in jener zoologischen Frage Richter sein — werden mit mir das Gegentheil behaupten, und bezeugen, dass jene „Grund- lage aller Betrachtungen“ von Ranke vollkommen unhaltbar ist. Aus diesem Verhältnisse lässt sich von vornherein ermessen, wie völlig schief in Ranke’s bilderreichem Werke das wahre Bild vom Menschen und seiner „Stellung in der Natur“ sich in allen Einzelheiten gestalten muss. Alle zoologischen Thatsachen, welche das wahre Licht darüber verbreiten könnten, und welche für jeden logisch denkenden die Abstammung des Menschen von einer Reihe anderer Wirbelthiere bezeugen, werden entweder ver- schwiegen, oder so entstellt, dass der unbefangene Leser das Gegen- theil der Wahrheit daraus schliessen muss. Alle Einzelheiten hingegen, welche der Entwickelungslehre Schwierigkeiten bereiten oder welche gegen die Affen-Abstammung des Menschen zu sprechen scheinen, werden eingehend erörtert und glänzend beleuchtet. Die zahlreichen Einwände, welche Ranke gegen die Descendenz-Theorie erhebt, lassen freilich meistens ebenso sehr die gesunde Logik wie die unentbehrlichen zoologischen Vorkenntnisse vermissen. Diese Beleuchtung von Ranke’s Werk über den Menschen und der energische Protest gegen seine anthropocentrische, völlig die Wahrheit entstellende Tendenz schien hier deshalb geboten, weil dasselbe vermöge seiner vortrefflichen Illustrationen und der reichen Sammlung darin enthaltener interessanter Thatsachen sich einen weiten Leserkreis erworben hat. Dasselbe bildet einen Theil der Fortsetzung von dem bekannten Prachtwerke „Brehm’s Thierleben“; der grössten und best illustrirten populären Natur- geschichte der Gegenwart. Es ist sehr zu bedauern, dass die Redaction dieses weitverbreiteten Prachtwerkes gerade seinen wich- tigsten Theil einem der eifrigsten Gegner der Entwickelungslehre een Kein a ID Der Mensch und das Thierreich. Fr! zur Bearbeitung übergeben hat. Dieser anthropologische Theil steht dadurch in einem auflallenden Gegensatze zu den übrigen Theilen, zu der ausgezeichneten „Völkerkunde“ von Friedrich Ratzel, dem ideenreichen „Pflanzenleben“ von A. Kerner, und der vortrefllichen „Erdgeschichte* von Melchior Neumayr. Während der denkende Leser in allen diesen vorzüglich illustrirten Werken an der Hand der Entwickelungs-Lehre auf das wahre Verständniss der Erscheinungen hingeführt wird, findet er in Ranke’s Werk über den Menschen das Gegentheil; eine reiche Sammlung von wunderbaren Einzelheiten, deren Ursachen nur durch übernatürliche Wunder erklärbar erscheinen. Wie anders sich die Ergebnisse der heutigen „exacten Anthro- pologie* im Lichte der Descendenz-Theorie ausnehmen, kann der vorurtheilsfreie Leser aus der vorzüglichen schon früher erwähnten Anthropologie von Paul Topinard°“) ersehen, sowie aus Hux- ley’s bekannten „Zeugnissen für die Stellung des Menschen in der Natur“’’), und der trefilichen kleinen Schrift von R. Wie- dersheim (18357): „Der Bau des Menschen als Zeugniss für seine Vergangenheit“ °®). Ich selbst habe in meiner Anthropogenie °°) den Beweis zu führen gesucht, dass das biogenetische Grundgesetz auch für den Menschen gilt; und dass das Menschen-Geschlecht eben so gewiss aus einer langen Reihe anderer Wirbelthiere durch allmähliche Umbildung entstanden ist, wie in der Keimesge- schichte des Menschen thatsächlich die allmähliche Umbildung der Eizelle zum Menschenkeim nach denselben Gesetzen erfolgt wie bei den übrigen Wirbelthieren. Nach meiner Ueberzeugung be- sitzen gerade diese ontogenetischen Thatsachen den höch- sten Werth, und alle dagegen erhobenen Einwände sind ebenso vergeblich und unhaltbar, wie die vorher beleuchteten übrigen Ein- wände gegen die Entwickelungs-Lehre. Eine Reihe von anderen, gegen die Descendenz-Theorie er- hobenen Einwänden ist nicht theoretischer, sondern practischer Natur; sie betreffen nicht die wissenschaftliche Wahrheit und Be- gründung derselben, sondern die practischen Folgen, welche man von ihrer Verbreitung für unsere Geistesbildung und unser Cultur-Leben befürchtet. Nicht Wenige sind der Ansicht, dass 49* ld Praktische Folgen der Descendenz-Theorie. XXIX. dadurch _ die festen Grundlagen des letzteren erschüttert und namentlich die Sittlichkeit gefährdet werde. Diese Befürchtungen sind dieselben, welche von jeher allen grossen Fortschritten der Wissenschaft entgegengehalten wurden. Von jeher gelten die Früchte „vom Baume der Erkenntniss“ für verboten; und von jeher haben die Priesterkasten, welche sich allein im Vollbesitze der Wahrheit wähnten, dieselbe sorgfältig gehütet, und sie selbst zu ihrem Vortheil, wie zum Nachtheil der übrigen Menschheit ausgebeutet. Als Copernicus vor 300 Jahren die geocentrische Irrlehre zerstörte und unser heutiges Welt-System begründete, erhob sich derselbe Sturm der Entrüstung und entsandte die Kirche dieselben Bannstrahlen, wie vor 30 Jahren, als Darwin dem anthropocentrischen Irrthum den letzten Boden entzog. Die Geschichte der Civilisation hat uns gelehrt, wie unbe- gründet solche Befürchtungen jederzeit waren. Die Entdeckung und Verbreitung jeder grossen Wahrheit hat natürlich den Unter- gang bestehender Irrthümer zur Folge; und je grösser das An- sehen der letzteren war, desto gefährlicher muss der Einfluss der ersteren erscheinen. Allein früher oder später wird es klar, dass jene gefürchtete Gefahr die segensreichsten Folgen herbeiführte. Für jede tiefe Wunde, welche der Fortschritt der Wissenschaft dem bestehenden Bildungs-Kreise schlägt, führt sie selbstzugleich das beste Heilmittel bei sich; und aus der Opferstätte einer gefallenen Wahr- heit erheben sich zehn neue und bessere Erkenntnisse. So dürfen wir es auch für sicher halten, dass der unver- gleichliche, durch die Descendenz-Theorie herbeigeführte Fortschritt unserer Natur-Erkenntniss früher oder später die segensreichsten Folgen für das practische Menschenleben haben wird. Aber selbst wenn diese Ueberzeugung nicht die von uns angenommene Sicherheit besässe, dürften wir daraus keinen Einwand gegen die Wahrheit derselben und gegen unsere Pflicht ihrer Förderung ent- nehmen. Denn die Aufgabe der Wissenschaft bleibt es, die natürliche Wahrheit um ihrer selbst willen zu erkennen, unbekümmert, welche practischen Folgen daraus der Menschen- geist ziehen möge. Zuletzt bleibt doch im Kampfe der Geister der Sieg dem Besten! Dreissigster Vortrag. Beweise für die Wahrheit der Descendenz- Theorie. Zehn Gruppen biologischer Thatsachen als Beweise für die Abstammungs- Lehre: Thatsachen der Paläontologie, Ontogenie, Morphologie, Teectologie, Systematik, Dysteleologie, Physiologie, Psychologie, Chorologie, Oekologie. Mechanisch-causale Erklärung dieser zehn Erscheinungs-Gruppen durch die Descendenz-Theorie. Innerer ursächlicher Zusammenhang derselben. Directer Beweis der Selections-Theorie. Ihr Verhältniss zur Pithecoiden -Theorie. Induetion und Deduction. Beweise für die Abstammnng des Menschen vom Affen: Zoologische Thatsachen. Stufenweise Entwickelung des menschlichen Geistes, im Zusammenhang mit dem Körper. Menschenseele und Thierseele. Blick in die Zukunft: Sieg der monistischen Philosophie. Meine Herren! Am Schlusse unserer Vorträge über Ent- wicklungs-Lehre angelangt, habe ich Ihnen im letzten Vortrage die wichtigsten dagegen erhobenen Einwände vorgeführt und zu widerlegen versucht. Es wird nun angemessen sein, nochmals einen Rückblick auf die dafür sprechenden Beweise zu werfen, und zu zeigen, wie diese in ihrer Gesammtheit ein unwiderleg- liches Zeugniss für die Wahrheit des Entwickelungs-Theorie, und insbesondere für ihren biologischen Theil, die Descendenz-Theorie bilden. Je mehr sich die Abstammungs-Lehre in den letzten Jahren allgemein Bahn gebrochen hat, je mehr sich alle wirklich denkenden jüngeren Naturforscher und alle wirklich biologisch gebildeten Philosophen von ihrer unumstösslichen Wahrheit über- zeugt baben, desto lauter haben die Gegner derselben nach that- sächlichen Beweisen dafür gerufen. Dieselben Leute, welche kurz nach dem Erscheinen von Darwin’s Werke dasselbe für ein „bodenloses Phantasiegebäude“, für eine „willkürliche Specula- 174 Beweise für die Wahrheit der Descendenz- Theorie. KR tion“, für einen „geistreichen Traum“ erklärten, dieselben sehen sich jetzt zu der Erklärung genöthigt, dass die Descendenz-Theorie allerdings eine wissenschaftliche „Hypothese“ sei, dass dieselbe aber erst noch „bewiesen“ werden müsse. Wenn diese Aeusserungen von Leuten geschehen, die nicht die erforderliche empirisch -philosophische Bildung, die nicht die nöthigen Kenntnisse in der vergleichenden Anatomie, Embryologie und Paläontologie besitzen, so lässt man sich das gefallen, und verweist sie auf die in jenen Wissenschaften niedergelegten Argu- mente. Wenn aber die gleichen Aeusserungen noch heute von anerkannten Naturforschern gethan werden, die doch von Rechts- wegen einen Ueberblick über das Gesammtgebiet ihrer Wissen- schaft besitzen sollten, oder die wirklich mit den Thatsachen jener genannten Wissenschaftsgebiete vertraut sind, dann weiss man in der That nicht, was man dazu sagen soll. Diejenigen, denen selbst der jetzt bereits gewonnene Schatz an empirischer Naturkenntniss nicht genügt, um darauf die Descendenz-Theorie sicher zu begründen, die werden auch durch keine andere, etwa noch später zu entdeckende Thatsache von ihrer Wahrheit sich überzeugen lassen. Offenbar können wir uns keine Verhältnisse vorstellen, welche stärkeres und vollgültigeres Zeugniss für die Wahrheit der Ab- stammungs-Lehre ablegen könnten, als es z.B. die bekannten Thatsachen der vergleichenden Anatomie und Ontogenie schon jetzt thun. Alle grossen Thatsachen-Gruppen und alle umfassenden Erscheinungsreihen der verschiedensten biologischen Gebiete können einzig und allein durch die Entwickelungs-Theorie mechanisch erklärt und ver- standen werden; ohne dieselbe bleiben sie gänzlich unerklärt und unbegriffen. Sie alle begründen in ihrem inneren ursäch- lichen Zusammenhang die Descendenz-Theorie als das grösste biologischelnductionsgesetz. Gerade in diesem inneren, einheit- lichen und mechanischen Causal-Nexus liegt ihre feste Macht. Die empirischen Fundamente dieses Inductionsgesetzes, die festen Grundpfeiler des Descendenz-Gebäudes, bilden die fol- senden zehn Gruppen von biologischen Thatsachen: XXX. Beweise für die Wahrheit der Descendenz-Theorie. AND 1) Die paläontologischen Thatsachen: Die Erscheinun- gen im Auftreten der Versteinerungen und die stufenweise histo- rische Reihenfolge der ausgestorbenen Arten und Artengruppen; die Erscheinungen des paläontologischen Artenwechsels und ins- besondere der fortschreitenden Differenzirung und Ver- vollkommnung der Thier- und Pflanzen-Gruppen in den auf einander folgenden Perioden der Erdgeschichte. Die mechani- sche Erklärung dieser paläontologischen Erscheinungen giebt die Stammesgeschichte oder Phylogenie. 2) Die ontogenetischen Thatsachen: Die Erscheinungen der Keimesgeschichte oder Ontogenie, der individuellen Entwickelungs-Geschichte der Organismen (Embryologie und Meta- morphologie); die stufenweisen Veränderungen in der allmäh- lichen Ausbildung des Keimes und seiner einzelnen Organe, na- mentlich die fortschreitende Differenzirung und Vervoll- kommnung der Organe und Körpertheile in den auf einander folgenden Perioden der individuellen Entwickelung. Die mecha- nische Erklärung dieser ontogenetischen Erscheinungen giebt das biogenetische Grundgesetz. 3) Die morphologischen Thatsachen: die Erscheinungen im Gebiete der vergleichenden Anatomie der Organismen; die wesentliche Uebereinstimmung des inneren Baues der verwand- ten Formen-Gruppen, trotz der grössten Verschiedenheit der äusse- ren Form bei den verschiedenen Arten. Die mechanische Erklärung dieser morphologischen Erscheinungen giebt die Des- cendenz-Theorie, indem sie die innere Uebereinstimmung des Baues von der Vererbung, die äussere Ungleichheit der Körper- form von der Anpassung ableitet. 4) Die tectologischen Thatsachen: Die Erscheinungen im Gebiete der Gewebelehre und der verwandten Zweige der Structurlehre; der gesetzmässige Aufbau des vielzelligen Organis- mus aus Zellen und aus Geweben, sowie aus Organen verschie- dener Ordnung. Die mechanische Erklärung dieser histolo- gischen Erscheinungen giebt die Zellen- Theorie, indem sie einerseits die bleibend einzellige Natur der Protisten nachweist, andrerseits von diesen die vielzelligen Histonen ableitet. 7176 Beweise für die Wahrheit der Descendenz-Theorie. DEN. 5) Die systematischen Thatsachen: Die Erscheinungen in der natürlichen Gruppirung aller verschiedenen Formen von Thieren und Pflanzen, ihre Vertheilung auf zahlreiche, kleinere und grössere, neben und über einander geordnete Gruppen; der formverwandtschaftliche Zusammenhang der Arten, Gattungen, Familien, Ordnungen, Classen u. s. w.; ganz besonders aber die baumförmig verzweigte Gestalt des natürlichen Sy- stems, welche aus einer naturgemässen Anordnung aller dieser Gruppenstufen oder Kategorien sich von selbst ergiebt. Die mechanische Erklärung dieser stufenweis verschiedenen Form- Verwandtschaft giebt die Annahme, dass sie Ausdruck der wirklichen Stamm-Verwandtschaft ist: die Baumform des natürlichen Systems ist nur als wirklicher Stammbaum der Organismen zu begreifen. 6) Die dysteleologischen Thatsachen: Die höchst in- teressanten Erscheinungen der verkümmerten und entarteten, zwecklosen und unthätigen Körpertheile, der abortiven oder rudi- mentären Organe; die Thatsache, dass in dem zweckmässig construirten Körper fast aller höheren Organismen sich solche zwecklose Körpertheile finden, eingerichtet für eine bestimmte Thätigkeit, aber unfähig, dieselbe auszuüben. Die mechani- sche Erklärung derselben giebt die Unzweckmässigkeits- Lehre oder Dysteleogie, einer der wichtigsten und interessan- testen Theile der Selections-Theorie; sie erklärt die Rückbildung und Verkümmerung der rudimentären Organe durch Mangel an Uebung und Nichtgebrauch. 7. Die physiologischen Thatsachen: Die Erscheinungen der Anpassung (Ernährung) und Vererbung (Fortpflanzung), im Zusammenhang mit dem Stoffwechsel und Wachsthum, der Bewegung und Empfindung der lebenden Wesen. Die mecha- nische Erklärung aller dieser Lebens-Erscheinungen giebt die vergleichende Physiologie, indem sie dieselben auf die Ge- setze der Physik und Chemie zurückführt. 8. Die psychologischen Thatsachen: Die Erscheinungen des Seelenlebens im weiteren und engeren Sinne, in der Zellseele der Protisten, wie in der Hirnseele der Histonen; die gesetz- RIKX. Beweise für die Wahrheit der Descendenz-Theorie. url mässigen Vorgänge der organischen Reizbarkeit in allen Zellen, der Willensthätigkeit und des Empfindungs-Lebens, das „Bewusst- sein“ nicht ausgeschlossen. Die mechanische Erklärung aller dieser „Seelenthätigkeiten“ giebt die monistische Psychologie, indem sie die Zellseele der Protisten als Grundlage annimmt und aus ihr nach den Grundsätzen der „Cellular-Psychologie“ die zusammengesetzten Seelen-Functionen der Histonen ableitet. 9. Die chorologischen Thatsachen: Die Erscheinungen in der räumlichen Verbreitung der organischen Species, ihre geographische und topographische Vertheilung über die Erdoberfläche; über die verschiedenen Provinzen der Erdtheile und in den differenten Klimaten; über die Höhen der Gebirge und die Tiefen des Meeres. Die mechanische Erklärung dieser chorologischen Erscheinungen giebt die Migrationstheorie, die Annahme, dass jede Organismenart von einem sogenannten „Schöpfungsmittelpunkte*“ (richtiger „Urheimath“ oder „Ursprungsort“ genannt) ausgeht, d. h. von einem einzigen Orte, an welchem dieselbe einmal entstand, und von dem aus sie sich durch active oder passive Wanderung verbreitete. 10. Die oecologischen Thatsachen: die höchst mannich- faltigen und verwickelten Erscheinungen, welche uns die Bezie- hungen der Organismen zur uhgebenden Aussenwelt, zu den organischen und anorgischen Existenzbedingungen dar- bieten; die sogenannte „Oeconomie der Natur“, die Wechsel- beziehungen aller Organismen, welche an einem und demselben Orte mit einander leben. Die mechanische Erklärung dieser oecologischen Erscheinungen giebt die Lehre von der Anpassung der Organismen an ihre Umgebung, ihrer Umbildung durch den Kampf um’s Dasein, durch den Parasitismus u. s. w. Während (diese Beziehungen der „Naturoeconomie* bei oberflächlicher Betrachtung als die weisen Einrichtungen eines planmässig wir- kenden Schöpfers erscheinen, zeigen sie sich bei tieferem Ein- gehen als die nothwendigen Folgen mechanischer Ursachen (An- passungen). Jeder unbefangene und urtheilsfähige Naturforscher, welcher sich in eines von diesen zehn grossen biologischen Erscheinungs 178 Begründung der Descendenz-Theorie durch die Selections-Theorie. XXX, Gebieten vertieft und die Fülle der Thatsachen durch natürliche Ursachen zu erklären sich bemüht, wird sich überzeugen, dass dies nur mit Hülfe der Descendenz-Theorie möglich ist; jene Thatsachen liefern also ebenso viele Beweise für die Wahrheit der letzteren. Noch viel einleuchtender aber wird diese durch die logische Verbindung jener verschiedenen Erscheinungs-Reihen, durch die Erkenntniss des mechanischen Causal-Zusammenhanges, welcher zwischen denselben besteht. Wir erinnern hier nur an den innigen Zusammenhang zwischen Paläontologie und Ontogenie, zwischen Morphologie und Systematik, zwischen Physiologie und Psychologie, zwischen Chorologie und Oecologie. Dabei betonen wir besonders, dass der-innere ursächliche Zusammenhang zwischen den Erscheinungen aller dieser biologi- schen Gebiete ein mechanischer ist, ebenso wie ihre Erklärung durch die Descendenz-Theorie eine mechanische ist; d.h. es kommen dabei bloss Werk-Ursachen in Frage (Causae effei- entes), keinerlei Zweck-Ursachen (Causae jinales). Sie Alle dienen daher ebenso zur festen Begründung der monistischen Philosophie, wie zur klaren Widerlegung der dualistischen Welt- anschauung. Auf Grund der angeführten grossartigen Zeugnisse würden wir Lamarck’s Descendenz-Theorie zur Erklärung der biologi- schen Phänomene selbst dann annehmen müssen, wenn wir nicht Darwin’s Selections-Theorie besässen. Nun kommt aber dazu, dass die erstere durch die letztere so vollständig direct bewiesen und durch mechanische Ursachen begründet wird, wie wir es nur verlangen können. Die Gesetze der Vererbung und der An- passung sind allgemein anerkannte physiologische Thatsachen; jene sind auf die Fortpflanzung, diese auf die Ernährung der Zellen zurückführbar. Andrerseits ist der Kampf um’s Da- sein eine biologische Thatsache, welche mit imnathematischer Nothwendigkeit aus dem allgemeinen Missverhältniss zwischen der Durchschnittszahl der organischen Individuen und der Ueber- zahl ihrer Keime folgt. Indem aber Anpassung und Vererbung im Kampf um’s Dasein sich in beständiger Wechselwirkung be- finden, folgt daraus unvermeidlich die natürliche Züchtung, XXX. Descendenz-Theorie und Pithecoiden-Theorie. 179 welche überall und beständig umbildend auf die organischen Arten einwirkt, und neue Arten durch Divergenz des Characters erzeugt. Besonders begünstigt wird ihre Wirksamkeit noch durch die überall stattfindenden activen und passiven Wanderungen der Organismen. Wenn wir diese Umstände recht in Erwägung ziehen, so erscheint uns die beständige und allmähliche Umbil- dung oder Transmutation der organischen Species als ein biolo- gischer Process, welcher nach dem Causalgesetz mit Nothwen- digkeit aus der eigenen Natur der Organismen und ihren gegen- seitigen Wechselbeziehungen folgen muss. Dass auch der Ursprung des Menschen aus diesem allge- meinen organischen Umbildungs-Vorgang erklärt werden muss, und dass er sich aus diesem ebenso einfach als natürlich erklärt, glaube ich Ihnen in den letzten Vorträgen hinreichend bewiesen zu haben. Ich kann aber hier nicht umhin, Sie nochmals auf den ganz unzertrennlichen Zusammenhang dieser sogenannten „Aftenlehre“ oder „Pithecoiden-Theorie“ mit der gesammten Descendenz-Theorie hinzuweisen. Wenn die letztere das grösste Inductionsgesetz der Biologie ist, so folgt daraus die erstere mit Nothwendigkeit, als das wichtigste Deductionsgesetz der- selben. Beide stehen und fallen mit einander. Da auf das richtige Verständniss dieses Satzes, den ich für höchst wich- tig halte und deshaib schon mehrmals hervorgehoben habe, hier Alles ankommt, so erlauben Sie mir, denselben jetzt noch an einigen Beispielen zu erläutern. Bei allen Säugethieren, die wir kennen, ist der Centraltheil des Nervensystems das Rückenmark und das Gehirn. Wir ziehen daraus den allgemeinen Inductionsschluss, dass alle Säuge- thiere ohne Ausnnahme, die ausgestorbenen und die uns noch unbekannten lebenden Arten, eben so gut wie die von uns unter- suchten Species, ein gleiches Gehirn und Rückenmark besitzen. Wenn nun irgendwo eine neue Säugethierart entdeckt wird, z. B. eine neue Beutelthierart, oder eine neue Affenart, so weiss jeder Zoologe von vorn herein, ohne den inneren Bau derselben unter- sucht zu haben, ganz bestimmt, dass diese Species ebenfalls ein Gehirn und ein Rückenmark besitzen muss. Keinem einzigen 7180 Induktions-Schlüsse und Deductions-Schlüsse. 2.9 Naturforscher fällt es ein, daran zu zweifeln, und etwa zu denken, dass das Centralnervensystem bei dieser neuen Säugethierart mög- licherweise aus einem Bauchmark mit Schlundring, wie bei den Gliederthieren, oder aus zerstreuten Knotenpaaren, wie bei den Weichthieren bestehen könnte. Jener ganz bestimmte und sichere Schluss, welcher doch auf gar keiner unmittelbaren Erfahrung beruht, ist ein Deduetionsschluss. Bei allen Säugethieren entwickelt sich ferner frühzeitig im Embryo eine blasenförmige Allantois. Nur beim Menschen war dieselbe bisher noch nicht beobachtet. Trotzdem habe ich in meiner 1874 erschienenen An- thropogenie °°) die Existenz derselben beim Menschen bestimmt behauptet, und wurde dafür der „Fälschung der Wissenschaft“ angeklagt. Erst ein Jahr später (1875) wurde die blasenförmige Allantois beim menschlichen Embryo wirklich beobachtet, und so meine auf Inducetion gegründete Deduction thatsächlich be- stätigt. Auf Grund desselben logischen Verfahrens entwickelte Goethe, wie ich in einem früheren Vortrage zeigte, aus der ver- gleichenden Anatomie der Säugethiere den allgemeinen Inductions- schluss, dass dieselben sämmtlich einen Zwischenkiefer besitzen, und zog daraus später den besonderen Deductionsschluss, dass auch der Mensch, der in allen übrigen Beziehungen nicht wesent- lich von den anderen Säugethieren verschieden sei, einen solchen Zwischenkiefer besitzen müsse. Er behauptete diesen Schluss, ohne den Zwischenkiefer des Menschen wirklich gesehen zu haben, und bewies dessen Existenz erst nachträglich durch die wirkliche Beobachtung (S. 76). Die Induction ist also ein logisches Schlussverfahren aus dem Besonderen auf das Allgemeine, aus vielen einzelnen Erfahrungen auf ein allgemeines Gesetz; die Deduction dagegen schliesst aus dem Allgemeinen auf das Besondere, aus einem allgemeinen Naturgesetze auf einen einzelnen Fall. So ist nun auch ohne allen Zweifel die Descendenz-Theorie ein durch alle genannten biologischen Erfahrungen empirisch begrün- detes grosses Inductionsgesetz, die Pithecoiden-Theorie dagegen, die Behauptung, dass der Mensch sich aus niederen, und zunächst aus affenartigen Säugethieren, entwickelt habe, ein ein- RR. Inductions-Gesetze und Deductions-Gesetze. sl zelnes Deductionsgesetz, welches mit jenem allgemeinen In- duetionsgesetze unzertrennlich verbunden ist. Der Stammbaum des Menschengeschlechts, dessen ungefähre Umrisse ich Ihnen im vorletzten Vortrage angedeutet und den ich in meiner Anthropogenie ausführlich begründet habe’), bleibt natürlich (gleich allen vorher erörterten Stammbäumen der Thiere und Pflanzen) in seinen Einzelheiten nur eine mehr oder weniger annähernde genealogische Hypothesen-Kette. Ich betrachte es als sicher, dass viele einzelne Annahmen in dieser Hypothesen-Kette falsch sind, und dass die fortschreitende Phylogenie des Menschen Viele von den 25 angenommenen Ahnen-Stufen später anders darstellen wird. Dies thut aber der Anwendung der Descendenz- Theorie auf den Menschen im Ganzen keinen Eintrag. Hier, wie bei allen Untersuchungen über die Abstammungs-Verhältnisse der Organismen, müssen Sie wohl unterscheiden zwischen der allge- meinen oder generellen Descendenz-Theorie, und der besonderen oder speciellen Descendenz-Hypothese. Die allgemeine Abstam- mungs-Theorie beansprucht volle und bleibende Geltung, weil sie durch alle vorher genannten allgemein biologischen Erschei- nungsreihen und durch deren inneren ursächlichen Zusammen- hang inductiv begründet wird. Jede besondere Abstammungs- Hypothese dagegen ist in ihrer speciellen Geltung durch den jeweiligen Zustand unserer biologischen Erkenntniss bedingt, und durch die Ausdehnung der objectiven empirischen Grundlage, auf welche wir durch subjective Schlüsse diese Hypothese deductiv gründen. Daher besitzen alle einzelnen Versuche zur Erkenntniss des Stammbaums irgend einer Organismengruppe immer nur einen zeitweiligen und bedingten Werth, und unsere specielle Hypothese darüber wird immer mehr vervollkommnet werden, je weiter wir in der vergleichenden Anatomie, Ontogenie und Paläontologie der betreffenden Gruppe fortschreiten. Je mehr wir uns dabei aber in genealogische Einzelheiten verlieren, je weiter wir die einzelnen Aeste und Zweige desStammbaums verfolgen, desto unsicherer wird, wegen der Unvollständigkeit der empirischen Grundlagen, unsere specielle Abstammungs-Hypothese. Dies thut jedoch der Sicherheit der generellen Abstammungs-Theorie keinen Abbruch. 182 Descendenz-Theorie und Descendenz-Hypothese. KNIE So erleidet es denn auch keinen Zweifel, dass wir die Ab- stammung des Menschen zunächst aus affenartigen, weiterhin aus niederen Säugethieren, und so immer weiter aus immer tieferen Stufen des Wirbelthierstammes, bis zu dessen tiefsten wirbellosen Wurzeln, ja bis zu einer einfachen Plastide hinunter, als allge- meine Theorie mit voller Sicherheit behaupten können und müssen. Dagegen wird die specielle Verfolgung des menschlichen Stammbaums, die nähere Bestimmung der uns bekannten Thier- formen, welche entweder wirklich zu den Vorfahren des Menschen gehörten oder diesen wenigstens nächststehende Blutsverwandte waren, stets eine mehr oder minder annähernde Descendenz- Hypothese bleiben. Diese läuft um so mehr Gefahr, sich von dem wirklichen Stammbaum zu entfernen, je näher sie demselben durch Aufsuchung der einzelnen Ahnenformen zu kommen sucht. Das ist mit Nothwendigkeit durch die ungeheure Lückenhaftig- keit unserer paläontologischen Kenntnisse bedingt, welche unter keinen Umständen jemals eine annähernde Vollständigkeit erreichen werden. Aus der denkenden Erwägung dieses wichtigen Verhältnisses ergiebt sich auch bereits die Antwort auf eine Frage, welche ge- wöhnlich zunächst bei Besprechung dieses Gegenstandes aufgeworfen wird, nämlich die Frage nach den wissenschaftlichen Beweisen für den thierischen Ursprung des Menschengeschlechts. Nicht allein die Gegner der Descendenz-Theorie, sondern auch viele Anhänger derselben, denen die gehörige philosophische Bil- dung mangelt, pflegen dabei vorzugsweise an einzelne Erfahrun- gen, an specielle empirische Fortschritte der Naturwissenschaft zu denken. Man erwartet, dass plötzlich die Entdeckung einer geschwänzten Menschenrasse, oder einer sprechenden Affen-Art, oder einer anderen lebenden oder fossilen Uebergangsform zwischen Menschen und Affen, die geringe, zwischen beiden bestehende Kluft noch mehr ausfüllen und somit die Abstammung des Menschen vom Affen empirisch „beweisen“ soll. Derartige ein- zelne Erfahrungen, und wären sie anscheinend noch so überzeu- gend und beweiskräftig, können aber niemals den gewünschten Beweis liefern. Gedankenlose oder mit den biologischen Er- KEX. Beweise für den thierischen Ursprung des Menschen. 153 scheinungs-Reihen unbekannte Leute werden jenen einzelnen Zeug- nissen immer dieselben Einwände entgegenhalten können, die sie unserer Theorie auch jetzt entgegenhalten. Die unumstössliche Sicherheit der Descendenz-Theorie, auch in ihrer Anwendung auf den Menschen, liegt vielmehr viel tiefer; sie kann niemals blos durch einzelne empirische Erfahrungen, sondern nur durch philosophische Vergleichung und Verwerthung unseres gesammten biologischen Erfahrungsschatzes in ihrem wah- ren inneren Werthe erkannt werden. Sie liegt eben darin, dass die Descendenz-Theorie als ein allgemeines Inductionsgesetz aus der vergleichenden Synthese aller organischen Naturerscheinun- gen, und insbesondere aus der dreifachen Parallele der verglei- chenden Anatomie, Ontogenie und Paläontologie mit Nothwendig- keit folgt. Die Pithecoiden-Theorie bleibt unter allen Umstän- den (ganz abgesehen von allen Einzelbeweisen) ein specieller Deductionsschluss, welcher wieder aus dem generellen Inductions- gesetze der Descendenz-Theorie mit derselben logischen Nothwendig- keit gefolgert werden muss. Auf das richtige Verständniss dieser philosophischen Be- sründung der Descendenz-Theorie und der mit ihr unzer- trennlich verbundenen Pithecoiden-Theorie kommt meiner Ansicht nach Alles an. Jeder unbefangene und vorurtheilsfreie Naturforscher, welcher gesundes Urtheil und die genügenden bio- logischen Vorkenntnisse besitzt, muss heute nothwendiger Weise zu demselben Schlusse gelangen: Wenn die Entwickelungs-Lehre überhaupt wahr ist, wenn die einzelnen Thier-Arten nicht „durch Wunder erschaffen“ sind, sondern auf natürlichem Wege sich aus niederen Formen entwickelt haben, dann kann auch der Mensch keine Ausnahme machen; dann ist auch der Mensch — seiner ganzen Organisation nach ein Säugethier — aus der Klasse der Säugethiere phylogenetisch hervorgegangen; und da unter allen Säugern die Affen die bei weitem menschenähnlichsten sind, da die Unterschiede im Körperbau des Menschen und der Menschen- Affen viel geringer sind, als diejenigen zwischen den letzteren und den niederen Affen, so steht heute unzweifelhaft der Satz fest: „der Mensch stammt vom Affen ab“. Dabei 184 Abstammung des Menschen vom Affen. 9.08% ist selbstverständlich keine einzige lebende Affenform als Stammvater des Menschen-Geschlechts anzusehen, sondern eine längst ausgestorbene Anthropoiden-Art, wie ich schon wiederholt ausdrücklich betont habe. Natürlieh bieten die zahlreichen Gegner der Descendenz- Theorie, und vor Allen die Theologen welche dadurch die Exi- stenz der Kirche gefährdet glauben, alle Kräfte auf, um jenen folgenschweren Satz zu widerlegen; und da wissenschaftliche Be- weisgründe dagegen nicht zu finden sind, werden wissenschaft- liche Autoritäten aufgeboten, um die verhasste „Irrlehre* zu vernichten. Unter diesen Autoritäten wird jetzt am häufigsten der berühmte Pathologe Rudolf Virchow angerufen. Derselbe hielt vor Jahren in Berlin einen vielbesprochenen Vortrag, der in dem Satze gipfelte: „Es ist ganz gewiss, dass der Mensch nicht vom Affen abstammt“. Da dieser Satz unzweifelhaft unsere Hauptfrage ebenso bestimmt verneint, wie wir sie beja- hen, und da derselbe bis auf den heutigen Tag immer und im- mer wieder als „gründliche Widerlesung der Affenlehre* eitirt wird, so ist es wohl angemessen, denselben hier noch etwas näher zu untersuchen und seine Beweisgründe zu prüfen. Der Begriff „Affe“ bezeichnet, wie Jedermann weiss, eine bestimmte Säugethier-Form, und zwar eine Gruppe, die aus zahlreichen ähnlichen Gattungen und Arten zusammengesetzt ist. Diese Gruppe wird von allen Zoologen einstimmig als eine na- türliche Ordnung der Säugethier-Classe angesehen und durch ganz bestimmte Merkmale scharf definirt (vergl. S. 685). Ebenso allgemein wird heute von allen Zoologen diese Aflen-Ordnung mit der durch den Menschen vertretenen Formen-Gruppe in der Ab- theilung der Primaten vereinigt, welche schon Linne’s Scharf- blick vor 150 Jahren aufgestellt hatte. Denn der Mensch ist nicht nur durch seine äussere Körperform den Affen bei weitem am ähnlichsten unter allen Thieren, sondern er gleicht ihnen auch in den wichtigsten Eigenthümlichkeiten des inneren Kör- perbaues, in der characteristischen Bildung des Schädels und Gehirns, des Gebisses und der Placenta, in der besonderen Bil- dung des Herzens, des Darmcanals, der männlichen und weiblichen IX. Abstammung des Menschen vom Affen. 7855 Organe u.s. w. Wohlgemerkt, ist der Mensch in allen diesen Beziehungen keinem der lebenden Affen völlig gleich (— so wenig Mittelländer und Neger, Mongolen und Papuas völlig gleich sind —); aber die Unterschiede zwischen dem Menschen und den höchsten Affen sind weit geringer, als diejenigen zwischen den letzteren und den niederen Affen. Dieses bedeutungsvolle „Huxley’sche Gesetz“ besteht noch heute unerschüttert in vollem Umfange, trotz aller Angriffe, welche unsere Gegner seit fünf und zwanzig Jahren dagegen gerichtet haben (S. 685). Ja, wie wir schon früher gezeigt haben, lässt dasselbe sogar innerhalb der Catarhinen- Gruppe noch eine viel schärfere Anwendung zu, indem der Mensch in jeder morphologischen Beziehung viel näher den Anthropoiden steht, als diese den Cynopitheken (S. 692). Aus diesem Grunde vereinigt sogar einer der besten Anthropomorphen-Kenner, Ro- bert Hartmann), diese Menschen-Affen mit den Menschen in einer Familie, und stellt ihnen alle anderen Affen, Üa- tarhinen und Platyrhinen, vereinigt gegenüber in einer zweiten Familie. Das sind zoologische Thatsachen, und diese Thatsachen besitzen die schwerwiegendste Bedeutung. Sie enthalten, verei- nigt mit den bekannten Thatsachen der vergleichen Onto- genie (S. 307), die vollgültigsen Beweise für die „Abstam- mung des Menschen vom Affen“, welche überhaupt denkbar sind. Wenn ihre Beweiskraft nicht genügt, dann müssen wir überhaupt auf eine vernunftgemässe Beantwortung jener „Frage aller Fra- gen“ verzichten. Die urtheilsfähigsten Zoologen der Gegenwart sind sogar übereinstimmend zu der Ueberzeugung gelangt, dass jene Frage verhältnissmässig klar und einfach zu beantworten ist, verglichen mit den viel schwierigeren phylogenetischen Fragen, welche z. B. den Ursprung des Elephanten, des Klippschliefers, der Halbaffen u. s. w. betreffen. Und doch zweifelt kein Zoologe mehr daran, dass alle diese Säugethiere von einer gemeinsamen Stamm- form abzuleiten sind. Angesichts dieser Sachlage dürfen wohl wir Zoologen, als die zunächst urtheilsberechtigten Sachkundigen, die Fragen stellen: „Wie können viele sogenannte Anthropologen noch heute be- Haeckel, Natürl. Schöpfungs-Gesch. 8. Aufl 50 7156 Abstammung des Menschen vom Affen. 8.0.3 haupten, dass keinerlei thatsächliche Beweise für „die Abstam- mung des Menschen vom Affen“ vorliegen? Wie können Vir- chow, Ranke und Genossen, die nicht Zoologen sind, in ihren alljährlich wiederkehrenden Reden auf anthropologischen und an- deren Congressen behaupten, dass jene „Pithecoiden-These“ eine leere Hypothese, eine unbewiesene Behauptung, ein naturphiloso- phischer Traum sei? Wie können diese Anthropologen noch heute nach „sicheren Beweisen“ jener These verlangen, wo diese Be- weise in aller erwünschter Klarheit vorliegen und von allen Zoo- logen einstimmig anerkannt sind? Was insbesondere die vieleitirten Aeusserungen von Virchow gegen die Pithecoiden-These betrifft, so haben sie sich in weiten Kreisen grosses Ansehen nur vermöge der hohen Autorität er- worben, welche dieser berühmte Naturforscher auf einem ganz anderen Gebiete besitzt. Seine „Cellular-Pathologie*, die scharf- sinnige Anwendung der Zellen-Theorie auf das ganze Gebiet der wissenschaftlichen Mediein, hat vor dreissig Jahren den grössten Fortschritt in dieser Wissenschaft herbeigeführt. Dieses grosse und bleibende Verdienst hat aber keinerlei Zusammenhang mit der rein ablehnenden und negativen Haltung, welche Virchow gegenüber der heutigen Entwickelungs-Lehre bedauerlicher Weise fortdauernd einnimmt. (Vergl. S. 745.) Wenn nun auch die „Affen-Abstammung des Menschen“ von zoologischer Seite nicht mehr bestritten werden kann, so wird ihr doch noch häufig entgegengehalten, dass sie nur für die kör- perliche, nicht für die geistige Entwickelung des Menschen Geltung haben könne. Da wir nun bisher uns bloss mit der er- steren beschäftigt haben, so ist es wohl nothwendig, hier auch noch auf die letztere einen Blick zu werfen, und zu zeigen, dass auch sie dem grossen allgemeinen Entwickelungs-Gesetze unter- worfen ist. Dabei ist es vor Allem nothwendig, sich in’s Ge- dächtniss zurückzurufen, wie überhaupt das Geistige vom Körper- lichen nie völlig geschieden werden kann, beide Seiten der Natur vielmehr unzertrennlich verbunden sind, und in der innigsten Wechselwirkung mit einander stehen. Wie schon Goethe klar aussprach, „kann die Materie nie ohne Geist, der Geist nie ohne RX, Stufenweise Entwickelung des menschlichen Seelenlebens. 187 Materie existiren und wirksam sein“. Der künstliche Zwiespalt, welchen die falsche dualistische und teleologische Philosophie der Vergangenheit zwischen Geist und Körper, zwischen Kraft und Stoff aufrecht erhielt, ist durch die Fortschritte der Naturerkennt- niss und namentlich der Entwickelungs-Lehre aufgelöst, und kann gegenüber der siegreichen mechanischen und monistischen Philo- sophie unserer Zeit nicht mehr bestehen. Wie demgemäss die Menschennatur in ihrer Stellung zur übrigen Welt aufgefasst wer- den muss, hat in neuerer Zeit besonders Radenhausen in seinen vortrefflichen Werken: „Isis“ und „Osiris“ ®®), sowie Carus Sterne in seiner vorzüglichen Entwickelungs - Geschichte des Weltsanzen: „Werden und Vergehen“ einleuchtend gezeigt ?*). Was nun speciell den Ursprung des menschlichen Geistes oder der Seele des Menschen betrifft, so nehmen wir zunächst an jedem menschlichen Individuum wahr, dass sich dieselbe von An- fang an schrittweise und allmählich entwickelt, ebenso wie der Körper. Wir sehen am neugeborenen Kinde, dass dasselbe weder selbstständiges Bewusstsein, noch überhaupt klare Vorstellungen besitzt. Diese entstehen erst allmählich, wenn mittelst der sinn- lichen Erfahrung die Erscheinungen der Aussenwelt auf das Cen- tral-Nervensystem einwirken. Aber noch entbehrt das kleine Kind aller jener differenzirten Seelenbewegungen, welche der erwachsene Mensch erst durch langjährige Erfahrung erwirbt. Aus dieser stufenweisen Entwickelung der Menschenseele in jedem einzelnen Individuum können wir nun, gemäss dem innigen ursächlichen Zusammenhang zwischen Keimes- und Stammes-Geschichte unmit- telbar auf die stufenweise Entwickelung der Menschenseele in der ganzen Menschheit und weiterhin in dem ganzen Wirbelthier- Stamme zurückschliessen. In unzertrennlicher Verbindung mit dem Körper hat auch der Geist des Menschen alle jene langsa- men Stufen der Entwickelung, alle jene einzelnen Schritte der Differenzirung und Vervollkommnung durchmessen müssen, von welchen Ihnen die hypothetische Ahnenreihe des Menschen im vorletzten Vortrage ein ungefähres Bild gegeben hat. Allerdings pflegt gerade diese Vorstellung bei den meisten Menschen, wenn sie zuerst mit der Entwickelungs-Lehre bekannt 50* 188 Vergleichung der Menschen- und Thier-Seele. KR werden, den grössten Anstoss zu erregen, weil sie am meisten den hergebrachten mythologischen Anschauungen und den durch ein Alter von Jahrtausenden geheiligten Vorurtheilen widerspricht. Allein eben so gut wie alle anderen Functionen der Organismen muss nothwendig auch die Menschenseele sich historisch ent- wickelt haben, und die vergleichende Seelenlehre oder die empi- rische Psychologie der Thiere zeigt uns klar, dass diese Entwicke- lung nur gedacht werden kann als eine stufenweise Hervorbildung aus der Wirbelthierseele, als eine allmähliche Differenzirung und Vervollkommnung, welche erst im Laufe vieler Jahrtausende zu dem herrlichen Triumph des Menschengeistes über seine niederen thierischen Ahnenstufen geführt hat. Hier, wie überall, ist die Untersuchung der Entwickelung und die Vergleichung der ver- wandten Erscheinungen der einzige Weg, um zur Erkenntniss der natürlichen Wahrheit zu gelangen. Wir müssen also vor Allem, wie wir es auch bei Untersuchung der körperlichen Entwickelung thaten, die höchsten thierischen Erscheinungen einerseits mit den niedersten thierischen, andrerseits mit den niedersten menschlichen Erscheinungen vergleichen. Das Endresultat dieser Vergleichung ist, dass zwisehen den höchst entwickelten Thierseelen und den tiefstentwickelten Menschenseelen nur ein ge- ringer quantitativer, aber kein qualitativer Unterschied existirt, und dass dieser Unterschied viel geringer ist, als der Unterschied zwischen den niedersten und höchsten Menschenseelen, oder als der Unterschied zwischen den höchsten und niedersten Thierseelen. Um sich von der Begründung dieses wichtigen Resultates zu überzeugen, muss man vor Allem das Geistesleben der wilden Naturvölker und der Kinder vergleichend studiren ’’). Auf der tiefsten Stufe menschlicher Geistesbildung stehen die Australier, einige Stämme der polynesischen Papuas, und in Afrika die Busch- männer, die Hottentotten und einige Stämme der Neger; im Amerika die Feuerländer. Die Sprache, der wichtigste Character des echten Menschen, ist bei ihnen auf der niedersten Stufe der Ausbildung stehen geblieben, und damit natürlich auch die Be- griffsbildung. Manche dieser wilden Stämme haben nicht einmal RX. Vergleichung der Menschen- und Thier-Seele. 189 eine Bezeichnung für Thier, Pflanze, Ton, Farbe und dergleichen einfachste Begriffe, wogegen sie für jede einzelne auffallende Thier- oder Pflanzenform, für jeden einzelnen Ton oder Farbe ein Wort besitzen. Es fehlen also selbst die nächstliegenden Abstractionen. In vielen solcher Sprachen giebt es bloss Zahlwörter für Eins, Zwei und Drei; keine australische Sprache zählt über vier. Diese Thatsache ist besonders merkwürdig; denn das Zählen bis Fünf, nach der Fingerzahl, scheint doch sehr nahe zu liegen. Sehr viele wilde Völker können nur bis zehn oder zwanzig zählen, während man einzelne sehr gescheidte Hunde dazu gebracht hat, bis vierzig und selbst über sechzig zu zählen. Und doch ist die Zahl der Anfang der Mathematik! Einzelne von den wildesten Stämmen im südlichen Asien und östlichen Afrika haben von der ersten Grundlage aller menschlichen Gesittung, vom Familienleben und der, Ehe, noch gar keinen Begriff. Sie leben in umherschweifen- den Heerden beisammen, welche in ihrer ganzen Lebensweise mehr Aehnlichkeit mit wilden Affenheerden, als mit eivilisirten Men- schen-Staaten besitzen. Alle Versuche, diese und viele andere Stämme der niederen Menschenarten der Cultur zugänglich zu machen, sind bisher gescheitert; es ist unmöglich, da menschliche Bildung pflanzen zu wollen, wo der nöthige Boden dazu, die menschliche Gehirnvervollkommnung, noch fehlt. Noch keiner von jenen Stämmen ist durch die Cultur veredelt worden; sie gehen nur rascher dadurch zu Grunde. Sie haben sich kaum über jene tiefste Stufe des Uebergangs vom Menschenaffen zum Affenmenschen erhoben, welche die Stammeltern der höheren Menschenarten schon seit Jahrtausenden überschritten haben '*). Betrachten Sie nun auf der anderen Seite die höchsten Ent- wickelungsstufen des Seelenlebens bei den höheren Wirbelthieren, namentlich Vögeln und Säugethieren. Wenn Sie in herkömm- licher Weise als die drei Hauptgruppen der verschiedenen Seelen- bewegungen das Empfinden, Wollen und Denken unterscheiden, so finden Sie, dass in jeder dieser Beziehungen die höchst ent- wickelten Vögel und Säugethiere jenen niedersten Menschenformen sich an die Seite stellen, oder sie selbst entschieden überflügeln. Der Wille ist bei den höheren Thieren ebenso entschieden und 790 Vergleichung der Menschen- und Thier-Seele. KERERE stark, wie bei charactervollen Menschen entwickelt. Hier wie dort ist er eigentlich niemals frei, sondern stets durch eine Kette von ursächlichen Vorstellungen bedingt (vergl. S. 212). Auch stufen sich die verschiedenen Grade des Willens, der Energie und der Leidenschaft bei den höheren Thieren ebenso mannichfaltig, als bei den Menschen ab. Die Empfindungen der höheren Thiere sind nicht weniger zart und warm, als die der Menschen. Die Treue and Anhänglichkeit des Hundes, die Mutterliebe der Löwin, die Gattenliebe und eheliche Treue der Tauben und der Inseparables ist sprüchwörtlich, und wie vielen Menschen könnte sie zum Muster dienen! Wenn man hier die Tugenden als „In- stinete“ zu bezeichnen pflegt, so verdienen sie beim Menschen sanz dieselbe Bezeichnung. Was endlich das Denken betrifft, dessen vergleichende Betrachtung zweifelsohne die meisten Schwie- rigkeiten bietet, so lässt sich doch schon aus der vergleichenden psychologischen Untersuchung, namentlich der eultivirten Haus- thiere, so viel mit Sicherheit entnehmen, dass die Vorgänge des Denkens hier nach denselben Gesetzen, wie bei uns, erfolgen. Ueberall liegen Erfahrungen den Vorstellungen zu Grunde und vermitteln die Erkenntniss des Zusammenhangs zwischen Ursache und Wirkung. Ueberall ist es, wie :beim Menschen, der Weg der Induction und Deduction, welcher die Thiere zur Bildung der Schlüsse führt. Offenbar stehen in allen diesen Beziehungen die höchst entwickelten Thiere, z. B. Hunde, Elephanten, dem Menschen viel näher als den niederen Thieren, obgleich sie durch eine lange Kette von allmählichen Zwischenstufen auch mit den letzteren verbunden sind. In Wundt’s trefilichen Vorlesungen über die Menschen- und Thierseele'®) und in Büchner’s „(eistesleben der Thiere“ °”) finden Sie dafür eine Menge von Belegen. Wenn Sie nun, nach beiden Richtungen hin vergleichend, die niedersten affenähnlichsten Menschen, die Australneger, Busch- männer, Andamanen u. s. w. einerseits mit diesen höchstentwickel- ten Thieren, z. B. Affen, Hunden, Elephanten, andrerseits mit den höchstentwickelten Menschen, einem Aristoteles, Newton, Spinoza, Kant, Lamarck, Goethe zusammenstellen, so wird Ihnen die Behauptung nicht mehr übertrieben erscheinen, dass DE Vergleichung der Menschen- und Thier-Seele. 791 das Seelenleben der höheren Säugethiere sich stufenweise zu dem- jenigen des Menschen entwickelt hat. Wenn Sie hier eine scharfe Grenze ziehen wollten, so müssten Sie dieselbe geradezu zwischen den höchstentwickelten Culturmenschen einerseits und den rohesten Naturmenschen andrerseits ziehen, und letztere mit den Thieren vereinigen. Das ist in der That die Ansicht vieler Reisender, welche jene niedersten Menschenrassen in ihrem Vaterlande an- dauernd beobachtet haben. So sagt z. B. ein vielgereister Eng- länder, welcher längere Zeit an der afrikanischen Westküste lebte: „den Neger halte ich für eine niedere Menschenart (Species) und kann mich nicht entschliessen, als „Mensch und Bruder“ auf ihn herabzuschauen, man müsste denn auch den Gorilla in die Familie aufnehmen“. Selbst viele christliche Missionäre, welche nach jahrelanger vergeblicher Arbeit von ihren fruchtlosen Civili- sationsbestrebungen bei den niedersten Völkern abstanden, fällen dasselbe harte Urtheil, und behaupten, dass man eher die bil- dungsfähigen Hausthiere, als diese unvernünftigen viehischen Men- schen zu einem gesitteten Culturleben erziehen könne. Der tüch- tige österreichische Missionär Morlang z. B., welcher ohne allen Erfolg viele Jahre hindurch die affenartigen Negerstämme am oberen Nil zu civilisiren suchte, sagt ausdrücklich, „dass unter solchen Wilden jede Mission durchaus nutzlos sei. Sie ständen weit unter den unvernünftigen Thieren; diese letzteren legten doch wenigstens Zeichen der Zuneigung gegen Diejenigen an den Tag, die freundlich gegen sie sind; während jene viehischen Ein- geborenen allen Gefühlen der Dankbarkeit völlig unzugänglich seien.“ Wenn nun aus diesen und vielen anderen Zeugnissen zuver- lässig hervorgeht, dass die geistigen Unterschiede zwischen den niedersten Menschen und den höchsten Thieren viel geringer sind, als diejenigen zwischen den niedersten und den höchsten Menschen, und wenn Sie damit die Thatsache zusammenhalten, dass bei jedem einzelnen Menschenkinde sich das Geistesleben aus dem tiefsten Zustande thierischer Bewusstlosigkeit heraus langsam, stufenweise und allmählich entwickelt, sollen wir dann noch daran Anstoss nehmen, dass auch der Geist des ganzen Menschen- ii» Dogma der persönlichen Unsterblichkeit. BROT. geschlechts sich in gleicher Art langsam und stufenweise historisch entwickelt hat? Und sollen wir in dieser Thatsache, dass die Menschenseele durch einen langen und langsamen Process der Differenzirung und Vervollkommnung sich ganz allmählich aus der Wirbelthierseele hervorgebildet hat, eine „Entwürdigung“ des menschlichen Geistes finden? Ich gestehe Ihnen offen, dass diese letztere Anschauung, welche gegenwärtig von vielen Menschen der Pithecoidentheorie entgegengehalten wird, mir ganz unbegreiflich ist. Sehr richtig sagt darüber Bernhard Cotta in seiner trefl- lichen Geologie der Gegenwart: „Unsere Vorfahren können uns sehr zur Ehre gereichen, viel besser noch aber ist es, wenn wir ihnen zur Ehre gereichen“ °'). Was das menschliche Seelen-Organ betrifft, das Gehirn, so ist durch die sorgfältigste empirische Beobachtung die Geltung des biogenetischen Grundgesetzes für seine Entwickelung endgültig festgestellt (vergl. oben S. 303— 309). Dasselbe gilt aber auch für seine Function, für die „Seelen-Thätigkeit“. Denn mit der stufenweisen Entwickelung jedes Organs geht diejenige seiner Function Hand in Hand. Der morphologischen Differen- zirung oder „Formspaltung“ der Gehirntheile entspricht ihre physiologische Sonderung oder „Arbeitstheilung“. Was man also im gewöhnlichen Leben kurzweg „Seele“ oder „Geist“ des Men- schen nennt, (— das „Bewusstsein“ mit inbegriffen —) ist nur die Summe der Thätigkeiten einer grossen Anzahl von Nerven- zellen, der Ganglien-Zellen, die das Gehirn zusammensetzen. Ohne die normale Zusammensetzung und Funetion der letzteren ist eine gesunde „Seele“ nicht denkbar. Allerdings ist diese Auf- fassung — eine der wichtigsten Grundlehren der heutigen exacten Physiologie — nicht vereinbar mit dem weitverbreiteten Glaubens- Satze von der „persönlichen Unsterblichkeit“ des Menschen. Allein dieses dualistische Dogma, welches uns bei niederen Men- schen-Rassen in den mannichfaltigsten Formen entgegentritt, ist ohnehin heute nicht mehr haltbar. Die bewunderungswürdigen Fortschritte der Experimental-Physiologie und der Psychiatrie, wie der vergleichenden Psychologie und Ontogenie, haben im Laufe des letzten halben Jahrhunderts Stein für Stein von dem mäch- Ih BOX. Dogma der persönlichen Unsterblichkeit. 7193 tigen Unterbau abgelöst, auf welchem jenes Dogma unerschütter- lich zu ruhen schien. Den letzten Halt hat dasselbe jedoch erst durch die grossartigen biologischen Entdeckungen der beiden letzten Decennien verloren, vor Allem durch die vollkommene Lüftung des Schleiers, der bisher das Greheimniss der Befruchtung verhüllte (vergl. S. 296). Wir wissen jetzt sicher und können die That- sache jeden Augenblick unter dem Mikroskop vorzeigen, dass der wunderbare Befruchtungs-Process weiter Nichts ist, als die Ver- schmelzung von zwei verschiedenen Zellen, die Copulation ihrer Kerne. Dabei überträgt der Kern der männlichen Spermazelle die individuellen Eigenschaften des Vaters, der Kern der weib- lichen Eizelle diejenigen der Mutter; die Vererbung von beiden Eltern ist durch die Verschmelzung der beiden Kerne bedingt, und mit dieser beginnt erst die Existenz des neuen Individuums, des Kindes. Es ist vernunftgemäss undenkbar, dass (dieses neue Wesen ein „ewiges Leben“ ohne Ende haben soll, während wir den endlichen Anfang seines Daseins durch unmittelbare Beobachtung haarscharf bestimmen können. Unsere Entwickelungs-Lehre erklärt ebenso die Entstehung der einzelnen menschlichen Person, wie den Ursprung des Men- schen-Geschlechts und den Lauf seiner historischen Entwickelung in der einzig natürlichen Weise. Wir erblicken in seiner stufen- weise aufsteigenden Entwickelung aus den niederen Wirbelthieren den höchsten Triumph der Menschennatur über die gesammte übrige Natur. Wir sind stolz darauf, unsere niederen thierischen Vorfahren so unendlich weit überflügelt zu haben, und entneh- men daraus die tröstliche Gewissheit, dass auch in Zukunft das Menschengeschlecht im Grossen und Ganzen die rahmvolle Bahn fortschreitender Entwickelung verfolgen, und eine immer höhere Stufe geistiger Vollkommenheit erklimmen wird. In diesem Sinne betrachtet, eröffnet uns die Descendenz-Theorie in ihrer Anwen- dung auf den Menschen die ermuthigendste Aussicht in die Zu- kunft, und entkräftet alle Befürchtungen, welche man ihrer Ver- breitung entgegengehalten hat. Schon jetzt lässt sich mit Bestimmtheit voraussehen, dass der vollständige Sieg unserer Entwickelungs-Lehre unermesslich 194 Die monistische Philosophie der Zukunft. 4.8 reiche Früchte tragen wird, Früchte, die in der ganzen Cultur- geschichte der Menschheit ohne Gleichen sind. Die nächste und unmittelbarste Folge desselben, die gänzliche Reform der Biolo- gie, wird nothwendig die noch wichtigere und folgenreichere Re- form der Anthropologie nach sich ziehen. Aus dieser neuen Menschenlehre wird sich eine neue Philosophie entwickeln, nicht gleich den meisten der bisherigen luftigen Systeme auf metaphysische Speculationen, sondern auf den realen Boden der vergleichenden Zoologie gegründet. Wie aber diese neue moni- stische Philosophie uns einerseits erst das wahre Verständniss der wirklichen Welt erschliesst, so wird sie andrerseits in ihrer segens- reichen Anwendung auf das practische Menschenleben uns einen neuen Weg der moralischen Vervollkommnung eröffnen. Mit ihrer Hülfe werden wir endlich anfangen, uns aus dem traurigen Zu- stande socialer Barbarei emporzuarbeiten, in welchem wir, trotz der vielgerühmten Civilisation unseres Jahrhunderts, immer noch versunken sind. Denn leider ist nur zu wahr, was der berühmte Alfred Wallace in dieser Beziehung am Schlusse seines Reise- werks°®) bemerkt: „Verglichen mit unseren erstaunlichen Fort- schritten in den physikalischen Wissenschaften und in ihrer prac- tischen Anwendung, bleibt unser System der Regierung, der adımi- nistrativen Justiz, der Nationalerziehung, und unsere ganze sociale und moralische Organisation in einem Zustande der Barbarei.“ Diese sociale und moralische Barbarei werden wir nimmer- mehr durch die gekünstelte und geschraubte Erziehung, durch den einseitigen und mangelhaften Unterricht, durch die innere Unwahrheit und den äusseren Aufputz unserer heutigen Civilisa- tion überwinden. Vielmehr ist dazu vor allem eine vollständige und aufrichtige Umkehr zur Natur und zu natürlichen Ver- hältnissen nothwendig. Diese Umkehr wird aber erst möglich, wenn der Mensch seine wahre „Stellung in der Natur“ erkennt und begreift. Dann wird sich der Mensch, wie Fritz Ratzel treffend bemerkt, „nicht länger als eine Ausnahme von den Na- turgesetzen betrachten, sondern wird endlich anfangen, das Gesetz- mässige in seinen eigenen Handlungen und Gedanken aufzusuchen, und streben, sein Leben den Naturgesetzen gemäss zu führen. ROT, Die monistische Natur-Religion der Zukunft. 19 Er wird dahin kommen, das Zusammenleben mit Seinesgleichen, d. h. die Familie und den Staat, nicht nach den Satzungen fer- ner Jahrhunderte, sondern nach den vernünftigen Prineipien einer naturgemässen Erkenntniss einzurichten. Politik, Moral, Rechts- srundsätze, welche jetzt noch aus allen möglichen Quellen ge- speist werden, werden nur den Naturgesetzen entsprechend zu gestalten sein. Das menschenwürdige Dasein, von welchem seit Jahrtausenden gefabelt wird, wird endlich zur Wahrheit werden.“ Die höchste Leistung des menschlichen Geistes ist die voll- kommene Erkenntniss, das entwickelte Menschenbewusstsein, und die daraus entspringende sittliche Thatkraft. „Erkenne Dich selbst!“ So riefen schon die Philosophen des Alterthums dem nach Veredelung strebenden Menschen zu. „Erkenne Dich selbst!“ So ruft die Entwickelungslehre nicht allein dem einzelnen mensch- lichen Individuum, sondern der ganzen Menschheit zu. Und wie die fortschreitende Selbsterkenntniss für jeden einzelnen Menschen der mächtigste Hebel zur sittlichen Vervollkommnung wird, so wird auch die Menschheit als Ganzes durch die Erkenntniss ihres wahren Ursprungs und ihrer wirklichen Stellung in der Natur auf eine höhere Bahn der moralischen Vollendung geleitet wer- den. Die einfache Naturreligion, welche sich auf das klare Wissen von der Natur und ihren unerschöpfiichen Offenbarungs- schatz gründet, wird zukünftig in weit höherem Masse veredelnd und vervollkommnend auf den Entwickelungsgang der Mensch- heit einwirken, als die mannichfaltigen Kirchenreligionen der ver- schiedenen Völker, welche auf dem blinden Glauben an die dun- keln Geheimnisse einer Priesterkaste und ihre mythologischen Offenbarungen beruhen. Die feste Grundlage jener Natur-Religion bildet die monistische Ueberzeugung von der Einheit aller Natur- Erscheinungen, der Einheit von Geist und Körper, von Kraft und Stoff, von Gott und Welt. Die verschiedenen Formen des Pantheismus, in denen die grössten Geister seit mehr als zwei Jahrtausenden ihre naturgemässe Weltanschauung niedergelest haben, sind nur verschiedene Ausdrucks-Weisen für jene Grund- gedanken des Monismus, 196 Die monistische Philosophie der Zukunft. WO Die monistische Naturreligion, die wir demnach für die wahre „Religion der Zukunft“ halten müssen, steht nicht, wie alle Kirchen-Religionen, in Widerspruch, sondern in Einklang mit der vernünftigen Natur-Erkenntniss. Während jene letzteren sämmtlich auf Täuschung und Aberglauben hinauslaufen, gründet sich die erstere auf Wahrheit und Wissen. Wie wenig aber die Unterwerfung der menschlichen Vernunft unter das Joch des Aberglaubens und die Entfremdung von der Natur im Stande ist, die Menschen besser und glücklicher zu machen, das zeigt dem Unbefangenen die Geschichte aller Kirchen-Religionen. Die so- genannte Blüthezeit des Mittelalters, in welcher das Christenthum seine Welt-Herrschaft entfaltete, war die Zeit der gröbsten Un- wissenheit, der widerlichsten Rohheit, der tiefsten Unsittlichkeit. Die Philosophie, die Fürstin unter den Wissenschaften, die schon ein halbes Jahrtausend vor Christus in Thales und Anaxi- mander, in Heraklit, Empedocles und Demokrit die Keime zur heutigen Entwickelungs-Lehre gelegt hatte, war durch die Aus- breitung der katholischen Dogmen und die Scheiternaufen ihrer Inquisition zum blinden Werkzeug des Kirchenglaubens gewor- den. Erst die mächtige Entwickelung der Naturwissenschaft im letzten Jahrhundert, hat der verirrten und herabgekommenen Philosophie wieder den verlorenen Weg zur Wahrheit gezeigt, und ihre Grundlage wird von jetzt an die monistische Entwicke- lungs-Lehre bleiben. Kommende Jahrhunderte werden unsere Zeit, welcher mit der wissenschaftlichen Begründung der Ent- wickelungs-Lehre der höchste Preis menschlicher Erkenntniss be- schieden war, als den Zeitpunkt feiern, mit welchem ein neues segensreiches Zeitalter der menschlichen Entwickelung beginnt, charakterisirt durch den Sieg des freien erkennenden Geistes über die Gewaltherrschaft der Autorität und durch den mächtig ver- edelnden Einfluss der monistischen Philosophie. Verzeichniss der im Texte mit Ziffern angeführten Schriften, deren Studium dem Leser zu empfehlen ist. l. Charles Darwin, On the Origin of Species by means of na- tural selection (or the preservation of favoured races in the struggle for life). London 1859. (VI Edition: 1872.) Ins Deutsche übersetzt von H.G. Bronn unter dem Titel: Charles Darwin, über die Entstehung der Arten im Thier- und Pflanzen-Reich durch natürliche Züchtung, oder Erhaltung der vervollkommneten Rassen im Kampfe um’s Dasein. Stuttgart 1860 (V. Auf- lage durchgesehen und berichtigt von Vietor Carus: 1872). 2. Jean Lamarck, Philosophie zoologique; ou exposition des eonsiderations relatives a l’histoire naturelle des animaux; a la diversite de leur organisation et des facultes, qu'ils en obtiennent; aux eauses physiques, qui maintiennent en eux la vie et donnent lieu aux mouvemens, qu’ils executent; enfin, a celles qui produisent, les unes le sentiment, et les autres l’intelli- gence de ceux qui en sont doues. 2 Tomes. Paris 1809. Nouvelle edition, revue et precedee d’une introduction biographique par Charles Martins. Paris 1873. Deutsche Uebersetzung von Arnold Lang (Jena 1879). 3. Wolfgang Goethe, Zur Morphologie: Bildung und Umbil- dung organischer Naturen. Die Metamorphose der Pflanzen (1790). Osteologie (1786). Vorträge über die drei ersten Capitel des Entwurfs einer allgemeinen Einleitung in die vergleichende Anatomie, ausgehend von der Osteologie (1786). Zur Naturwissenschaft im Allgemeinen (1780 — 1832). Vergl. Ernst Haeckel, die Naturanschauung von Darwin, Goethe und Lamarck. Jena 1882. 4. Ernst Haeckel, Generelle Morphologie der Organismen: Allgemeine Grundzüge der organischen Formenwissenschaft, mechanisch be- gründet durch die von Charles Darwin reformirte Descendenz-Theorie. I. Band: Allgemeine Anatomie der Organismen oder Wissenschaft von den entwickel. ten organischen Formen. II. Band: Allgemeine Entwickelungsgeschichte der Organismen oder Wissenschaft von den entstehenden organischen Formen. Berlin 1866. (Vergriffen.) 5. Carl Gegenbaur, Grundriss der vergleichenden Anatomie. Leipzig 1859 (II. umgearbeitete Auflage 1877). 798 Verzeichniss der im Texte mit Ziffern angeführten Schriften. 6. August Schleicher, Die Darwin’sche Theorie und die Sprach- wissenschaft. Weimar 18653. II. Aufl. 1873. Ueber die Bedeutung der Sprache für die Naturgeschichte des Menschen. . Weimar 1865. 7. M. J. Schleiden, Die Pflanze und ihr Leben. VI.. Aufl. Leipzig 1864. Ss. Franz Unger, Versuch einer Geschichte der Pflanzenwelt. Wien 1852. 9. S.Kalischer, Goethe’s Verhältniss zur Naturwissenschaft und seine Bedeutung in derselben. Berlin 1878.” 10. Louis Büchner, Kraft und Stoff. Empirisch-naturphilosophische Studien in allgemein verständlicher Darstellung. Frankfurt 1367 (IX. Auflage). ll. Charles Lyell, Prineiples of Geology. London 1830. (X. Edit. 1868.) Deutsch von B. Cotta. 12. Albert Lange, Geschichte des Materialismus und Kritik seiner 3edeutung in der Gegenwart. Iserlohn 1866. II. Aufl. 1875. 13. Charles Darwin, Naturwissenschaftliche Reisen. Deutsch von Ernst Dieffenbach. 2 Thle. Braunschweig 1844. 14. Charles Darwin, The variation of animals and plants under do- ınestication. 2. Voll. London 1868. Ins Deutsche übersetzt von Vietor Carus unter dem Titel: Das Variiren der Thiere und Pflanzen im Zustande der Domestication. 2 Bde. Stuttgart 1868. 15. Ernst Haeckel, Biologische Studien: TI. Heft: Studien über die Moneren und andere Protisten, nebst einer Rede über Entwickelungsgang und Aufgabe der Zoologie. Leipzig 1870. II. Heft: Studien zur Gasträa- Theorie. Jena 1877. 16. Fritz Müller, Für Darwin. Leipzig 1864. 17. Thomas Huxley, Ueber unsere Kenntniss von den Ursachen der Erscheinungen in der organischen Natur. Sechs Vorlesungen für Laien. Uebersetzt von Carl Vogt. Braunschweig 1865. 18. Fritz Schultze, Philosophie der Naturwissenschaft. I. Buch. Leipzig 1882. Ueber das Verhältniss der griechischen Naturphilosophie zur modernen Naturwissenschaft. Im „Kosmos“, Bd. III, 1872. 19. H. G. Bronn, Untersuchungen über die Entwickelungsgesetze der organischen Welt während der Bildungszeit unserer Erdoberfläche. Stutt- gart 1858. 20. Carl Ernst Baer, Ueber Entwiekelungsgeschichte der Thiere. Beobachtung und Reflexion. 2 Bde. 1828—1837. 21. Charles Darwin, Leben und Briefe, herausgegeben von seinem Sohne Franeis Darwin. Deutsch von Victor Carus. Stuttgart 1887. 22. Immanuel Kant, Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels, oder Versuch von der Verfassung und dem mechanischen Ur- sprunge des ganzen Weltgebäudes nach Newton’schen Grundsätzen abgehandelt. Königsberg 1755. 23. Wilhelm Roux, Der Kampf der Theile im Organismus, ein Beitrag zur Vervollständigung der mechanischen Zweckmässigkeitslehre, Leipzig 1881, Verzeichniss der im Texte mit Ziffern angeführten Schriften. 799 24. August Weismann, Studien zur Descendenz-Theorie. Leipzig. 1876. 25. Kosmos, Zeitschrift für einheitliche Weltanschauung auf Grund der Entwickelungslehre. Unter Mitwirkung’ von Charles Darwin und Ernst Haeckel herausgegeben von Ernst Krause. Band I—XI. 1877 bis 1886. 26. Carus Sterne (Ernst Krause), Werden und Vergehen. Eine Entwickelungsgeschichte des Naturganzen in gemeinverständlicher Fassung. Dritte Auflage (mit 500 Abbildungen). Berlin 1886. 27. Thomas Huxley, Zeugnisse für die Stellung des Menschen in der Natur. Drei Abhandlungen: Ueber die Naturgeschichte der menschen- ähnlichen Affen. Ueber die Beziehungen des Menschen zu den nächst- niederen Thieren. Ueber einige fossile menschliche Ueberreste. Braun- schweig 1863. 28. Hugo Spitzer, Beiträge zur Descendenz-Theorie und zur Metho- dologie der Naturwissenschaft. Graz 1886. 29. Ernst Haeckel, Ziele und Wege der heutigen Entwickelungsge- schichte. Jena 1875. 30. Charles Lyell, Das Alter des Menschengeschlechts auf der Erde und der Ursprung der Arten durch Abänderung, nebst einer Beschreibung der Eiszeit. Uebersetzt mit Zusätzen von Louis Büchner. Leipzig 1864. öl. Bernhard Cotta, Die Geologie der Gegenwart. Leipzig 1866. (IV. umgearbeitete Auflage. 1874.) 32. KarlZittel, Aus der Urzeit. Bilder aus der Schöpfungsgeschichte. München 1872. II. Aufl. 1875. Mit zahlreichen Holzschnitten. 33. C. Radenhausen, Isis. Der Mensch und die Welt. 4 Bde. Hamburg 1863. (II. Auflage 1871.) Osiris. Weltgesetze in der Erdge- schichte. 3 Bde. Hamburg 1874. 4. Ernst Haeckel, Indische Reisebriefe. II. Aufl. Berlin 1884. 55. Wilhelm Bleek, Ueber den Ursprung der Sprache. Herausge- geben mit einem Vorwort von Ernst Haeckel. Weimar 1868. 86. Alfred Russel Wallace, Der malayische Archipel. Deutsch von A.B. Meyer. 2 Bde. Braunschweig 1869. 37. Ernst Hacckel, Arabische Korallen. Ein Ausflug nach den Korallenbänken des rothen Meeres und ein Blick in das Leben der Korallen- thiere. Mit 5 Farbendrucktafeln und vielen Holzschnitten. Berlin 1876. 88. Hermann Helmholtz, Populäre wissenschaftliche Vorträge. Braunschweig. 1.—Ill. Heft. 1871—1878. 39. Alexander Humboldt, Ansichten der Natur. Stuttgart 1826. 40. Paul Lilienfeld, Gedanken über die Soeialwissenschaft der Zu- kunft. 3 Bde. Mitau 1877. 4l. Ernst Haeckel, Das Protistenreich. Eine populäre Uebersicht über das Formengebiet der niedersten Lebewesen. Mit 58 Holzschnitten. Leipzig 1878. 42. Friedrich Müller, Allgemeine Ethnographie. Wien 1873. 800 Verzeichniss der im Texte mit Ziffern angeführten Schriften. 45. Ludwig Büchner, Der Mensch und seine Stellung in der Natur, in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. II. Aufl. Leipzig 1872. 44. John Lubbock, Die vorgeschichtliche Zeit; erläutert durch die Ueberreste des Alterthums und die Sitten und Gebräuche der jetzigen Wilden. Deutsch von A. Passow. Jena 1874. 45. Friedrich Hellwald, Culturgeschichte in ihrer natürlichen Ent- wickelung bis zur Gegenwart. Augsburg 1875. II. Aufl. 1877. 46. Wilhelm Wundt, Vorlesungen über die Menschen- und Thier- seele. Leipzig 1869. 47. Fritz Schultze, Kant und Darwin. Ein Beitrag zur Geschichte der Entwickelungslehre. Jena 1875. 48. Charles Darwin, The descent of man, and selection in relation so sex. 2 Voll. London 1871. Ins Deutsche übersetzt von Vietor Carus unter dem Titel: „Die Abstammung des Menschen und die ge- schlechtliche Zuchtwahl“. 2 Bde. Stuttgart 1871. 49. Charles Darwin, The expression of the emotions in man and animals. London 1872. Deutsch von V. Carus unter dem Titel: Der Aus- (druck der Gemüthsbewegungen bei den Menschen und den Thieren. Stutt- gart 1872. 50. Ernst Haeckel, Die Kalkschwämme (Caleispongien oder Grantien). Eine Monographie in zwei Bänden Text und einem Atlas mit 60 Tafeln Ab- bildungen. I. Band (Genereller Theil), Biologie der Kalkschwämme. II. Bd (Specieller Theil). System der Kalkschwämme. III. Band (Illustrativer Theil). Atlas der Kalkschwämme. Berlin 1872. 5l. Ernst Haeckel, Freie Wissenschaft und freie Lehre. Eine Ent- gegenung auf Rudolf Virchow’s Rede über „Die Freiheit der Wissenschaft im modernen Staate*. Stuttgart 1878. 52. Hermann Müller, Die Befruchtung der Blumen durch Insecten. Leipzig 1875. 55. Friedrich Zöllner, Ueber die Natur der Kometen. Beiträge zur Geschichte und Theorie der Erkenntniss. Leipzig 1872. 54. Oskar Hertwig, Lehrbuch der Entwickelungsgeschichte des Menschen und der Wirbelthiere. Jena 1886. 55. David Friedrich Strauss, Der alte und der neue Glaube. Ein Bekenntniss. Bonn, VI. Auflage 1874. Gesammelte Schriften. 12 Bände. 1878. 56. Ernst Haeckel, Anthropogenie oder Entwickelungsgeschichte des Menschen. Gemeinverständliche wissenschaftliche Vorträge über die Grund- züge der menschlichen Keimes- und Stammesgeschichte. Mit 12 Tafeln, 210 Holzschnitten und 36 genetischen Tabellen. Leipzig 1874. 57. Ludwig Büchner, Aus dem Geistesleben der Thiere. II. Aufl. Berlin 1877. 58. Thomas Huxley, Reden und Aufsätze. Uebersetzt von Fritz Schultze. Berlin 1877. 59. Ernst Haeckel, Gesammelte populäre Vorträge aus dem Gebiete der Entwickelungslehre. Bonn. I. Heft 1878. II. Heft 1879. Verzeichniss der im Texte mit Ziffern angeführten Schriften. 801 60. Jacob Moleschott, Der Kreislauf des Lebens. III. Auflage. Mainz 1887. 61. Hugo de Vries, Intracellulare Pangenesis. Jena 1889. 62. B. Carneri, Sittlichkeit und Darwinismus. Drei Bücher Ethik. Wien 1871. — Der Mensch als Selbstzweck. Wien 1878. — Entwickelung und Glückseligkeit. Ethische Essays. Stuttgart 1886. 63. John Lubbock, Die Entstehung der Civilisation und der Urzu- stand des Menschengeschlechts, erläutert durch das innere und äussere Leben der Wilden. Deutsch von A. Passow. Jena 1875. 64. Moritz Wagner, Die Entstehung der Arten durch räumliche Sonderung. Basel 1889. 65. Herbert Spencer, System der synthetischen Philosophie. Deutsch von B. Vetter. Bd. II. Die Prineipien der Biologie. Stuttgart 1876. 66. Arnold Lang, Mittel und Wege phylogenetischer Erkenntniss. Jena 1837. 67. Robert Hartmann, Die menschenähnlichen Affen und ihre Or- ganisation im Vergleich zur menschlichen. Leipzig 1883. 68. Paul Topinard, Anthropologie. Uebersetzt von Richard Neu- hauss. Leipzig 1888. 69. R. Wiedersheim, Der Bau des Menschen als Zeugniss für seine Vergangenheit. Freiburg 1888. 70. Arnold Lang, Lehrbuch der vergleichenden Anatomie. Jena, 188). 71. Carl Naegeli, Mechanisch-physiologische Theorie der Abstam- mungslehre. München 1884. 72. Charles Darwin, Gesammelte Werke. Uebersetzt von Vietor Carus. 12 Bände. Stuttgart 1878. Haeckel, Natürl. Schöpfungs-Gesch. 8. Aufl. 51 Anhang. Erklärung der Tafeln. Tafel I (zwischen S. 168 und 169). Lebens-Geschichte eines einfachsten Organismus, eines Moneres (Proto- myxa aurantiaca). (Vergl. S. 165 und S. 379.) Tafel I ist eine verkleinerte Copie der Abbildungen, welche ich in meiner „Monographie der Moneren* (Biologische Studien, I. Heft, 1870; Taf. I) von der Entwickelungsgeschichte der Protomyxa aurantiaca gegeben habe. Dort findet sich auch die ausführliche Beschreibung dieses merkwürdigen Moneres (S. 11 bis 30). Ich habe diesen einfachsten Organismus im Januar 1867 während meines Aufenthaltes auf der eanarischen Insel Lanzerote ent- deckt; und zwar fand ich ihn festsitzend oder umherkriechend auf den weissen Kalkschalen eines kleinen Cephalopoden (S. 485), der Spirula Peronii, welche daselbst massenhaft auf der Meeresoberfläche schwimmen und an den Strand geworfen werden. Protomyxa aurantiaca zeichnet sich vor den übrigen Moneren durch die schöne und lebhafte orangerothe Farbe ihres ganz einfachen Körpers aus, der lediglich aus Plasson oder kernlosem Plasma besteht. Das vollkommen entwickelte Moner ist in Fig. 11 und 12 stark vergrössert dargestellt. Wenn dasselbe hungert (Fig. 11), strahlen von der Oberfläche des kugeligen Schleimkörperchens ringsum Massen von baum- förmig verästelten beweglichen Schleimfäden (Scheinfüsschen oder Pseudo- podien) aus. Wenn aber das Moner frisst (Fig. 12), treten diese Schleim- fäden vielfach mit einander in Verbindung, bilden veränderliche Netze und umspinnen die zur Nahrung dienenden fremden Körperchen, welche sie nach- her in die Mitte des Protomyxa-Körpers hineinziehen. So wird eben in Fig. 12 (oben rechts) ein kieselschaliger Geisselschwärmer (Peridinium) von den ausgestreckten Schleimfäden gefangen und nach der Mitte des Passonkügel- chens hingezogen, in welchem bereits mehrere halbverdaute kieselschalige Infusorien (Tintinnoiden) und Diatomeen (Isthmien) liegen. Wenn nun die Protomyxa genug gefressen hat und gewachsen ist, zieht sie ihre Schleim- fäden ein (Fig. 15) und zieht sich kugelig zusammen (Fig. 16 und Fig. 1). Anhang. Erklärung der Tafeln. 303 In diesem Ruhezustande schwitzt die Kugel eine gallertige structurlose Hülle aus (Fig. 2) und zerfällt nach einiger Zeit in eine grosse Anzahl kleiner Plassonkügelchen (Fig. 5). Diese Sporen fangen bald an, sich zu bewegen, nehmen Birnform an (Fig. 4), durchbrechen die gemeinsame Hülle (Fig. 5) und schwimmen nun mittelst eines haarfeinen, geisselförmigen Fortsatzes frei im Meere umher, wie Geisselschwärmer oder Flagellaten (S. 442, Fig. 11). Wenn sie nun eine Spirula-Schale oder einen anderen passenden Gegenstand antreffen, lassen sie sich auf diesem nieder, ziehen ihre Geissel ein und kriechen mittelst formwechselnder Fortsätze langsam auf demselben umher wie Protamoeben (Fig. 6, 7, 8). Gleich diesen nehmen sie Nahrung auf (Fig. 9, 10) und gehen entweder durch einfaches Wachsthum oder durch Verschmelzung (Fig. 13, 14), in die erwachsene Form über (Fig. 11, 12). Tafel II und III (zwischen S. 304 und 305). Keime oder Embryonen von vier verschiedenen Wirbelthieren. Schildkröte (A und E), Huhn (Bund F), Hund (C und G), Mensch (D und H). Fig. A—D stellt ein früheres, Fig. E—H ein späteres Stadium der Entwickelung dar. Alle acht Embryonen sind von der rechten Seite gesehen, den gewölbten Rücken nach links gewendet. Fig. A und B sind siebenmal, Fig. C und D fünfmal, Fig. E—H viermal vergrössert. Taf. II erläutert die ganz nahe Blutsverwandtschaft der Reptilien und Vögel, Taf. III dagegen diejenige des Menschen und der übrigen Säugethiere (vergl. auch Vortrag 22 u.s. w.). Eine genauere Darstellung der Embryonen von acht verschiedenen Wirbelthieren (Fisch, Salamander, Schildkröte, Huhn, Schwein, Rind, Kaninchen, Mensch) — auf drei verschiedenen Stufen der Ausbildung — enthält meine „Anthropogenie* II. Aufl. 1877, p. 290, AENVT VID). Tafel IV (zwischen S. 400 und 401). Hand oder Vorderfuss von neun verschiedenen Säugethieren. Diese Tafel soll die Bedeutung der vergleichenden Anatomie für die Phylogenie erläutern, indem sie nachweist, wie sich die innere Skelet- form der Gliedmassen durch Vererbung beständig erhält, trotzdem die äussere Form durch Anpassung ausserordentlich verändert wird. Die Knochen des Hand-Skelets sind weiss in das braune Fleisch und die Haut eingezeichnet, von denen sie umschlossen werden. Alle neun Hände sind genau in derselben Lage dargestellt, nämlich die Handwurzel (an welche sich oben der Arm ansetzen würde) nach oben gerichtet, die Fingerspitzen oder Zehenspitzen nach unten. Der Daumen oder die erste (grosse) Vorder- 51* 504 Anhang. Erklärung der Tafeln. zehe ist in jeder Figur links, der kleine Finger oder die fünfte Zehe da- gegen rechts am Rande der Hand sichtbar. Jede Hand besteht aus drei Theilen, nämlich I. der Handwurzel (Carpus), welche aus zwei Querreihen von kurzen Knochen zusammengesetzt ist (am oberen Rande der Hand): ll. der Mittelhand (Metacarpus), welche aus fünf langen und starken Knochen zusammengesetzt ist (in der Mitte der Hand, durch die Ziffern 1—5 bezeichnet); und III. den fünf Fingern oder Vorderzehen (Digiti), von denen jede wieder aus mehreren (meist 2—3) Zehengliedern (Pha- langes) besteht. Die Hand des Menschen (Fig. 1) steht ihrer ganzen Bil- dung nach in der Mitte zwischen derjenigen der beiden nächstverwandten grossen Menschenaffen, nämlich des Gorilla (Fig. 2) und des Orang (Fig. 3). Weiter entfernt sich davon schon die Vorderpfote des Hundes (Fig. 4) und noch viel mehr die Hand oder die Brustflosse des Seehundes (Fig. 5). Noch vollständiger als bei letzterem wird die Anpassung der Hand an die Schwimm-Bewegung und ihre Umbildung zur Ruderflosse beim Del- phin (Ziphius, Fig. 6). Während hier die in der Schwimmhaut ganz ver- steckten Finger und Mittelhandknochen kurz und stark bleiben, werden sie dagegen ausserordentlich lang und dünn bei der Fledermaus (Fig. 7), wo sich die Hand zum Flügel ausbildet. Den äussersten Gegensatz dazu bildet die Hand des Maulwurfs (Fig. 8), welche sich in eine kräftige Grab- schaufel umgewandelt hat, mit ausserordentlich verkürzten und verdickten Fingern. Viel ähnlicher als diese letzteren Formen (Fig. 5—8) ist der menschlichen Hand die Vorderpfote des niedrigsten und unvollkommensten aller Säugethiere, des australischen Schnabelthiers (Ornithorhynchus, Fig. 9), welches in seinem ganzen Bau unter allen bekannten Säugethieren der gemeinsamen ausgestorbenen Stammform dieser Classe am nächsten steht. Es hat sich also der Mensch in der Umbildung seiner Hand durch Anpassung weniger von dieser gemeinsamen Stammform entfernt, als die Fledermaus, der Maulwurf, der Delphin, der Seehund und viele andere Säugethiere. Tafel V (zwischen 8. 300 und 301). Gastrula-Bildung von der Teichschneeke und dem Pfeilwurm. Die Gastrulation, welche die fünf ersten Keimungs-Stufen der Metazoen umfasst, ist auf dieser Tafel in ihrer einfachsten und ursprünglichsten Form dargestellt, als Bildung der Archigastrula (Fig. 8 und 18); alle übrigen Keimungs-Formen sind als secundäre Modificationen dieser primären Form anzusehen. Fig. I—10 zeigt die Gastrula-Bildung von einem Weichthier, der gemeinen Teichschnecke (Zymnaeus), nach den Untersuchungen von Carl Rabl; Fig. 11—20 von einem Wurmthier, dem Pfeilwurm (Sagitta), nach den Beobachtungen von Gegenbaur und Hertwig. Die Buchstaben haben in allen Figuren dieselbe Bedeutung: k y Anhang. Erklärung der Tafeln. Ss05 a Urdarm (Progaster) k Keimhaut (Blastoderma) 0 Urmund (Prostoma) b Keimhöhle (Blastoeoeloma) e Hautblatt (Eetoderma) ce Leibeshöhle (Coeloma) i Darmblatt (Entoderma) p Hautfaserblatt (Parietal-Blatt). & Geschlechtszellen (Gonocyta) v Darmfaserblatt (Visceral-Blatt). Fig. 1 und I1, Stammzelle (Cytula) oder „befruchtete Eizelle“ (auch „erste Furchungskugel“ genannt). — Fig. 2 und 12, Zweitheilung der Cytula. — Fig. 3 und 13, Viertheilung derselben. — Fig. 4 und 14, Zerfall derselben in acht Furchungskugeln oder Blastomeren. — Fig. 5 und 15, Maulbeer- keim (Morula). — Fig.6 und 16, Blasenkeim (Blastula, Hohlkugel im Durechsehnitt). — Fig. 7 und 17, Haubenkeim (Depula), oder Einstülpung der Blastula. — Fig. 8 und 18, Becherkeim (Gastrula) im Durchschnitt. Fig. 9 und 19, Coelom-Larve (Coelomula) im Durehsehnitt. Fig. 10 und 20, Larve mit Mund und After. — Tafel VI (zwischen S. 520 und 521). Gastraeaden der Gegenwart und nächste Verwandte. Die Buchstaben bedeuten in allen Figuren dasselbe: a Urdarm (Progaster) u Eizellen o Urmund (Prostoma) p Hautporen (Dermal-Poren) e Hautblatt (Exoderma) x Fremdkörper (Xenophya), i Darmblatt (Entoderma) ein Skelet bedeutend. Fig. 1. Amsmolynthus prototypus. Ein Sandschwamm einfachster Art, aus der Tiefsee. (Skelet aus Radiolarien-Schalen.) Fig. 2. Querschnitt desselben Sandschwamms, in der untern Körper- Hälfte. Fig. 3. Calcolynthus primigenius. Ein Kalkschwamm einfachster Art. (Skelet aus dreistrahligen Kalknadeln.) Ein Stück aus der Körperwand ist entfernt, um innen die Eier zu zeigen. Fig. 4. Eine amoeboide Eizelle desselben Kalkschwamms. Fig. 5. Eine Geisselzelle desselben, aus dem Darmblatt. Fig. 6. Prophysema primordiale (— früher Haliphysema primordiale —), ein Physemarium einfachster Art, im Längsschnitt. Fig. 7. Querschnitt desselben Physemarium. Fig. 8. Drei Geisselzellen desselben, aus dem Darmblatt. Fig. 9. Rhopalura Giardii, eine freischwimmende Uyemarie aus der Classe der Orthonectiden. Fig. 10. Querschnitt derselben. Fig. 11. Der gemeine Süsswasser-Polyp (Hydra vulgaris) in ausgedehntem Zustand. Fig. 12. Derselbe, in stark zusammengezogenem Zustand. Fig. 13. Querschnitt derselben Hydra. Fig. 14. Eine Geisselzelle aus dem Darmblatt derselben. 306 Anhang. Erklärung der Tafeln. Fig. 15. Zwei Samenfäden (Geisselzellen) derselben. Fig. 16. Eine amoeboide Eizelle derselben Hydra. Tafel VII (zwischen S. 528 und 529). Eine Gruppe von Nesselthieren (Acalephae oder Cnidariae) aus dem Mittelmeere. In der oberen Hälfte der Tafel zeigt sich ein Schwarm von schwimmen- den Medusen und Ctenophoren, in der unteren Hälfte einige Büsche von Korallen und Polypen, auf dem Boden des Meeres festgewachsen. (Vergl. das System der Nesselthiere, S. 524, und gegenüber den Stammbaum der- selben, S. 525.) Unter den festsitzenden Pflanzenthieren auf dem Meeresboden tritt rechts unten ein grosser Korallenstock hervor (1), welcher der rothen Edelkoralle (Eucorallium) nahe verwandt ist und gleich dieser zur Gruppe der achtzähligen Rindenkorallen (Octocoralla Gorgonida), gehört; die einzelnen Individuen (oder Personen) des verzweigten Stockes haben die Form eines achtstrahligen Sterns, gebildet aus acht Fangarmen, die den Mund umgeben (Octocoralla, S. 524). Unmittelbar darunter und davor sitzt (ganz rechts unten) ein kleiner Busch von Hydropolypen (2) aus der Gruppe der Glockenpolypen oder Campanarien. Ein grösserer Stock der Hydropolypen (3), aus der Gruppe der Röhrenpolypen oder Tubularien, erhebt sich mit seinen langen dünnen Zweigen links gegenüber. An seiner Basis breitet sich ein Stock von Sandkorallen aus (Zoanthus, 4) mit stumpfen, fingerförmigen Aesten. Dahinter sitzt, links unten (5), eine sehr grosse Seerose (Actinia), eine einzelne Person aus der Abtheilung der sechszähligen Korallen (Hexacoralla, S. 551). Unten in der Mitte des Bodens (6) sitzt eine Seeanemone (Cereanthus). Endlich erhebt sich auf einem kleinen Hügel des Meeresbodens, rechts oberhalb der Koralle (1) eine festsitzende Becherqualle (Zucernaria). Ihr becherförmiger gestielter Körper (7) trägt am Rande acht kugelige Büschel von kleinen, geknöpften Fangarmen. Unter den schwimmenden Pflanzenthieren, welche die obere Hälfte der Tafel VII einehmen, sind vorzüglich die schönen Medusen wegen ihres Generationswechsels bemerkenswerth (vergl. S. 185). Unmittel- bar über der Lucernaria (7) schwimmt eine kleine Blumenqualle (Tiara), deren glockenförmiger Körper einen kuppelartigen Aufsatz von der Form einer päpstlichen Tiara trägt (8). Von der Glockenmündung hängt unten ein Kranz von sehr feinen und langen Fangfäden herab. Diese Tiara entwickelt sich aus Röhrenpolypen, welche der links unten sitzenden Tubularia (3) gleichen. Links neben dieser letzteren schwimmt eine grosse, aber sehr zarte Haarqualle (Aequorea). Ihr scheibenförmiger, flach gewölbter Körper zieht sich eben zusammen und presst Wasser aus der unten befindlichen Schirmhöhle aus (9.) Oben in der Mitte der Schirmhöhle hängt der Magen herab, dessen Mundöffnung von vier Mundlappen umgeben ist. Diese Aequorea ve De Da en > # Anhang. Erklärung der Tafeln. 807 stammt von einem kleinen Glockenpolypen ab, welcher der Campanaria (2) gleicht. Von einem ähnlichen Glockenpolypen stammt auch die kleine, flach gewölbte Mützenqualle (Eucope) ab, welche oben in der Mitte schwimmt (10). In diesen drei Fällen (8, 9, 10) entwickelt sich die frei schwimmende Meduse durch Knospenbildung aus festsitzenden Hydropolypen (2, 3); die letzteren aber entstehen aus den befruchteten Eiern der Meduse. Es wechselt mithin regelmässig die ungeschlechtliche, festsitzende Polypen-Generation (I, II, V u.s. w.) mit der geschlechtlichen, frei schwimmenden Medusen- Generation ab (II, IV, VI u. s. w.). Bei anderen Medusen hingegen ist die Entwickelung eine directe, indem aus den Eiern derselben wieder Medusen entstehen ; so bei den Rüsselquallen oder Geryoniden (Carmarina, Fig. 11) bei den Larvenquallen oder Aeginiden (Cunina, Fig. 12) und bei der Leucht- qualle (Pelagia, Fig. 14). Noch interessanter und lehrreicher, als diese merkwürdigen Verhältnisse, sind die Lebenserscheinungen der Staatsquallen oder Siphonophoren, mit ihrem wunderbaren Polymorphismus. Als ein Beispiel derselben ist auf Tafel VII die schöne Physophora (13) abgebildet. Dieser schwimmende Me- dusenstock wird an der Oberfläche des Meeres schwebend erhalten durch eine kleine, mit Luft gefüllte Schwimmblase, welche in der Abbildung über den Wasserspiegel vorragt. Unterhalb derselben ist eine Säule von vier Paar Schwimmglocken sichtbar, welche Wasser ausstossen und dadurch die ganze Colonie fortbewegen. Am unteren Ende dieser Schwimmglockensäule sitzt ein kronenförmiger Kranz von gekrümmten spindelförmigen Tastern oder Palponen, unter deren Schutz die übrigen Individuen des Stockes (fressende, fangende und zeugende Personen) versteckt sind. (Vergl. 8. 270 und 528). Endlich ist auch die letzte CGlasse der Pflanzenthiere, die Gruppe der Kammquallen (Ctenophora, S. 550) auf Tafel VII durch zwei Repräsen- tanten vertreten. Links in der Mitte, zwischen der Aequorea (9), der Phy- sophora (15) und der Cunina (12) windet sich schlangenartig ein breites, langes und dünnes Band, wie ein Gürtel (15). Das ist der herrliche grosse Venusgürtel des Mittelmeeres (Cestum), der in allen Regenbogenfarben schillert. Der eigentliche, in der Mitte des langen Bandes gelegene Körper des Thieres ist nur sehr klein, und ebenso gebaut, wie die Melonen- qualle (Cydippe), welche links oben schwebt (16). An dieser sind die acht charakteristischen Wimperrippen oder Flimmerkämme der Ötenophoren sicht- bar, sowie zwei lange Fangfäden. Tafel VIII und IX (zwischen S. 560 und 561). Entwickelungs- Geschichte der Sternthiere (Echinoderma). Die beiden Tafeln erläutern die eigenthümliche Ontogenie der Sternthiere, welche von den Einen als Metamorphose, von den Anderen als Gene- rationswechsel aufgefasst wird (S. 557). Die Seesterne (Asterida) sind durch Uraster (4), die Seelilien (Crinoida) durch Comatula (B), die See- 808 Anhang. Erklärung der Tafeln. igel (Echinida) durch Echinus (C) und die Seegurken (Holothuriae) durch Synapta (D) vertreten (vergl. S. 554—565). Die auf einander folgenden Stadien der Entwickelung sind durch die Ziffern 1—6 bezeichnet. Taf. VIII stellt die individuelle Entwickelung der Larven oder Ammen, der ersten, ungeschlechtlichen Generation dar. Diese Ammen haben den Formwerth einer einfachen, ungegliederten Wurmperson von zweiseitiger Grundform. Fig. 1 zeigt das Ei der vier Sternthiere, das in allen wesent- lichen Beziehungen mit dem Ei des Menschen und anderer Thiere überein- stimmt (vergl. S. 295, Fig 5). Das Protoplasma der Eizelle (der Dotter) ist von einer dicken, structurlosen Membran umschlossen, und enthält einen kugeligen Zellenkern (Nucleus), mit dunkelem Nucleolus. Aus dem befruch- teten Ei entwickelt sich zunächst in gewöhnlicher Weise die Gastrula Fig. 20, J. K. S. 504), und diese verwandelt sich in eine sehr einfache Amme, welche ungefähr die Gestalt eines einfachen Holzpantoffels hat (Fig. A2—D2). Der Rand der Pantoffelöffnung ist von einer flimmernden Wimperschnur umsäumt, durch deren Wimperbewegung die mikroskopisch kleine, durchsichtige Amme im Meere frei umherschwimmt. Diese Wimper- schnur ist in Fig. 2—4 auf Taf. VI durch den schmalen, abwechselnd hell und dunkel gestreiften Saum angedeutet. Die Amme bildet sich nun zu- nächst einen ganz einfachen Darmcanal zur Ernährung, mit Mund (0), Magen (m) und After (a). Späterhin werden die Windungen der Wimperschnur complieirter und es entstehen armartige Fortsätze (Fig. A bis D3). Bei den Seesternen (44) und den Seeigeln (C4) werden diese armartigen, von der Wimperschnur umsäumten Fortsätze schliesslich sehr lang. Bei den Seelilien dagegen (B3) und den Seewalzen (D4) verwandelt sich statt dessen die geschlossene anfangs in sich selbst ringförmig zurücklaufende Wimper- schnur in eine Reihe von (4—5) hinter einander gelegenen, getrennten Wimpergürteln. Im Inneren dieser sonderbaren Amme nun entwickelt sich durch innere Knospung rings um den Magen herum, die zweite Generation der Stern- thiere, welche späterhin geschlechtsreif wird. Diese zweite Generation, welche in entwickeltem Zustande auf Taf. IX abgebildet ist, zeichnet sich durch fünfstrahlige Grundform aus und gleicht einem Stock (Cormus), der aus fünf, sternförmig mit einem Ende verbundenen Würmern, zusammenge- setzt ist. Die zweite Generation eignet sich von der ersten, auf deren Kosten sie wächst, nur den Magen und einen kleinen Theil der übrigen Organe an, während Mund und After neu sich bilden. Die Wimperschnur und der Rest des Ammenkörpers gehen späterhin verloren. Anfänglich ist die zweite Generation (A5—D5) kleiner als die Amme, während sie später- hin durch Wachsthum mehr als hundertmal oder selbst tausendmal grösser wird. Taf. IX zeigt die entwickelten und geschlechtsreifen Thiere der zweiten Generation von der Mundseite, welche in natürlicher Stellung der Sternthiere (wenn sie auf dem Meeresboden kriechen) bei den Seesternen (46) und Seeigeln (C6) nach unten, bei den Seelilien (36) nach oben, und bei den Seegurkeu (D6) nach vorn gerichtet ist. In der Mitte gewahrt man bei Anhang. Erklärung der Tafeln. 09 allen vier Sternthieren die sternförmige, fünfstrahlige Mundöffnung. Bei den Seesternen (46) geht von deren Ecken eine mehrfache Reihe von Saug- füsschen in der Mitte der Unterseite jedes Armes bis zur Spitze hin. Bei den Seelinien (36) ist jeder Arm von der Basis an gespalten und gefiedert. Bei den Seeigeln (C6) sind die fünf Reihen der Saugfüsschen durch breitere Felder von Stacheln getrennt. Bei den Seegurken endlich (D6) sind äusser- lich an dem wurmähnlichen Körper bald die fünf Füsschenreihen, bald nur die den Mund umgebenden 5—15 (hier 10) gefiederten Mundarme sichtbar. (Vergl. Taf. X VIII, Fig. 4.) Tafel X und XI (zwischen S. 576 und 577). Entwickelungs-Geschichte der Krebsthiere (Crustacea). Die beiden Tafeln erläutern die Entwickelung der verschiedenen Cru- staceen aus der gemeinsamen Keimform des Nauplius. Auf Taf. XI sind sechs Krebsthiere aus sechs verschiedenen Ordnungen in vollkommen ent- wickeltem Zustande dargestellt, während auf Taf. X die naupliusartigen Jugendformen derselben abgebildet sind. Aus der wesentlichen Ueberein- stimmung dieser letzteren lässt sich mit voller Sicherheit auf Grund des biogenetischen Grundgesetzes (S. 309) die Abstammung aller verschiedenen Crustaceen von einer einzigen gemeinsamen Stammform behaupten, wie zuerst Fritz Müller'®) in seiner vorzüglichen Schrift „Für Darwin“ dargethan hat. Taf. X zeigt die Nauplius-Jugendformen von der Bauchseite, so dass die drei Beinpaare deutlich hervortreten, welche an dem kurzen ein- fachen Rumpfe ansitzen. Das erste von diesen Beinpaaren ist einfach und ungespalten, während das zweite und dritte Beinpaar gabelspaltig sind. Alle drei Paare sind mit steifen Borsten besetzt, welche bei der Ruderbe- wegung der Beine als Schwimmwerkzeuge dienen. In der Mitte des Körpers ist der ganz einfache, gerade Darmeanal sichtbar, welcher vorn einen Mund, hinten eine Afteröffnung besitzt. Vorn über dem Munde sitzt ein einfaches unpaares Auge. In allen diesen wesentlichen Eigenschaften der Organisation stimmen die sechs Nauplius-Formen ganz überein, während die sechs zuge- hörigen ausgebildeten Krebsformen (Taf. IX) äusserst verschiedenartig or- ganisirt sind. Die Unterschiede der sechs Nauplius-Formen beschränken sich auf ganz untergeordnete und unwesentliche Verhältnisse in der Körpergrösse und der Bildung der Hautdecke. Wenn man dieselben in ge- schlechtsreifem Zustande in dieser Form im Meere antreffen würde, so würde jeder Zoologe sie als sechs verschiedene Species eines Genus betrachten (vergl. S. 574— 577). Taf. XI stellt die ausgebildeten und geschlechtsreifen Krebsformen, die sich aus jenen sechs Nauplius-Formen entwickelt haben, von der rechten Seiten gesehen dar. Fig. Ac zeigt einen frei schwimmenden Süsswasser- krebs (Zimnetis brachyura) aus der Ordnung der Blattfüsser (Phyllopoda) schwach vergrössert. Unter allen jetzt noch lebenden Crustacen steht diese s10 Anhang. Erklärung der Tafeln. Ordnung, welche zur Legion der Kiemenfüsser (Branchiopoda) gehört, der ursprünglichen gemeinsamen Stammform am nächsten. Die Limnetis ist in eine zweiklappige Schale (wie eine Muschel) eingeschlossen. In unserer Fi- gur (welche nach Grube copirt ist), sieht man den Körper eines weiblichen Thieres in der linken Schale liegend; die rechte Schalenhälfte ist weggenom- men. Vorn hinter dem Auge sieht man die zwei Fühlhörner (Antennen) und dahinter die zwölf blattartigen Füsse der rechten Körperseite, hinten auf dem Rücken (unter der Schale) die Eier. Vorn oben ist das Thier mit der Schale verwachsen. Fig. Be stellt einen gemeinen, frei schwimmenden Süsswasserkrebs (Oyelops quadricornis) aus der Ordnung der Ruderkrebse (Eucopepoda) stark vergrössert dar. Vorn unter dem Auge sieht man die beiden Fühl- hörner der rechten Seite, von denen das vordere viel länger als das hintere ist. Dahinter folgen die Kiefer, und dann die vier Ruderbeine der rechten Seite, welche gabelspaltig sind. Hinter diesen sind die beiden grossen Eier- säcke am Grunde des Hinterleibes sichtbar. Fig. Ce ist ein schmarotzender Ruderkrebs (Zernaeocera esocina) aus der Ordnung der Fischläuse (Siphonostoma). Diese sonderbaren Krebse, welche man früher für Würmer hielt, sind durch Anpassung an das Schmarotzer- leben aus den frei schwimmenden Ruderkrebsen (Eucopepoda) entstanden und gehören mit ihnen zu derselben Legion (Copepoda). Indem sie sich an den Kiemen oder der Haut von Fischen oder an andern Krebsen festsetzten und von deren Körpersaft ernährten, büssten sie ihre Augen, Beine und andere Organe ein, und wuchsen zu unförmlichen ungegliederten Säcken aus, in denen man bei äusserer Betrachtung kaum noch ein Thier vermuthet. Nur die letzten Ueberbleibsel der fast ganz verloren gegangenen Beine er- halten sich noch auf der Bauchseite in Form von kurzen spitzen Borsten. Zwei von diesen vier rudimentäen Beinpaaren (das dritte und vierte) sind in unserer Figur (rechts) sichtbar. Oben am Kopf sieht man dicke, un- förmliche Anhänge, von denen die unteren gespalten sind. In der Mitte des Körpers sieht man den Darmcanal durchschimmern, der von einer dun- keln Fetthülle umgeben ist. Neben seinem hinteren Ende sieht man den Eileiter und die Kittdrüsen des weiblichen Geschlechtsapparats. Aeusser- lich hängen die beiden grossen Eiersäcke (wie bei Cyelops, Fig. B). Unsere Lernaeocera ist halb vom Rücken, halb von der rechten Seite gesehen und schwach vergrössert. Fig. De zeigt eine festsitzende sogenannte „Entenmuschel“ (Zepas ana- tifera), aus der Ordnung der Rankenkrebse (Cirripedia). Diese Krebse, über welche Darwin eine höchst sorgfältige Monographie geliefert hat, sind in eine zweiklappige Kalkschale, gleich den Muscheln, eingeschlossen, und wurden daher früher allgemein (sogar noch von Cuvier) für muschelartige Weichthiere oder Mollusken gehalten. Erst durch die Kenntniss ihrer On- togenie und ihrer Nauplius-Jugendform (Dn, Taf. VIII) wurde ihre Crustaceen- Natur festgestellt. Unsere Figur zeigt eine „Entenmuschel“ in natürlicher Grösse, von der rechten Seite. Die rechte Hälfte der zweiklappigen Schale | Anhang. Erklärung der Tafeln. 811 ist entfernt, so dass man den Körper in der linken Schalenhälfte liegen sieht. Von dem rudimentären Kopfe der Lepas geht ein langer fleischiger Stiel aus (in unserer Figur nach oben gekrümmt), mittelst dessen der Rankenkrebs an Felsen, Schiffen u. s. w. festgewachsen ist. Auf der Bauch- seite sitzen sechs Fusspaare. Jeder Fuss ist gabelig in zwei lange, mit Borsten besetzte, gekrümmte oder aufgerollte „Ranken“ gespalten. Ober- halb des letzten Fusspaares ragt nach hinten der dünne, eylindrische Schwanz vor. Fig. Ee stellt einen schmarotzenden Sackkrebs (Sacculina purpurea) aus der Ordnung der Wurzelkrebse (Ahizocephala) dar. Diese Parasiten haben sich durch Anpassung an das Schmarotzerleben in ähnlicher Weise aus den Rankenkrebsen (Fig. De) entwickelt, wie die Fischläuse (Ce) aus den frei schwimmenden Ruderkrebsen (Be). Jedoch ist die Verkümmerung durch die schmarotzende Lebensweise und die dadurch bedingte Rückbildung aller Organe hier noch viel weiter gegangen, als bei den meisten Fischläusen. Aus dem gegliederten, mit Beinen, Darm und Auge versehenen Krebse, der in seiner Jugend als Nauplius (#n, Taf. VIII) munter umherschwamm, ist ein unförmlicher ungegliederter Sack, eine rothe Wurst geworden, welche nur noch Geschlechtsorgane (Eier und Sperma) und ein Darmrudiment ent- hält. Die Beine und das Auge sind völlig verloren gegangen. Am hinteren Ende ist die Geschlechtsöffnung (die Mündung der Bruthöhle). Aus dem Munde aber ist ein dichtes Büschel von zahlreichen, baumförmig verzweigten Wurzelfasern hervorgewachsen. Diese breiten sich (wie die Wurzeln einer Pflanze im Erdboden) in dem weichen Hinterleibe des Einsiedlerkrebses (Pagurus) aus, an dem der Wurzelkrebs schmarotzend festsitzt, und aus welchem er seine Nahrung saugt. Unsere Figur (Fe), eine Copie nach Fritz Müller, ist schwach vergrössert und zeigt den ganzen wurstförmigen Sack- krebs mit allen Wurzelfasern, die aus dem Leibe des Wohnthieres heraus- gezogen sind. Fig. Fe ist eine Garneele (Peneus Mülleri) aus der Ordnung der Zehn- füsser (Decapoda), zu welcher auch unser Flusskrebs und sein nächster Ver- wandter, der Hummer, sowie die kurzschwänzigen Krabben gehören. Diese Ordnung enthält die grössten und gastronomisch wichtigsten Krebse, und gehört sammt den Maulfüssern und Spaltfüssern zur Legion der stieläugigen Panzerkrebse (Podophthalma). Unsere Garneele zeigt, ebenso wie unser Fluss- krebs, auf jeder Seite unterhalb des Auges vorn zwei lange Fühlhörner (das erste viel kürzer wie das zweite), dann drei Kiefer und drei Kieferfüsse, dann fünf sehr lange Beine (von denen bei Peneus die drei vorderen mit Scheeren versehen und das dritte das längste ist). Endlich sitzen an den 5 ersten Gliedern - des Hinterleibes noch 5 Paar Afterfüsse. Auch diese . Garneele, welche zu den höchst entwickelten und vollkommensten Krebsen ' gehört, entsteht nach Fritz Müller’s wichtiger Entdeckung aus einem Nauplius (#n, Taf. VIII) und beweist somit, dass auch die höheren Crustaceen sich aus derselben Nauplius-Form wie die niederen entwickelt haben (vergl. S. 574). 312 Anhang. Erklärung der Tafeln. Tafel XII und XIII (zwischen S. 600 und 601). Die Stamm-Verwandtschaft der Wirbelthiere und der Wirbellosen. (Vergl. S. 601 und 609.) Diese Stammverwandtschaft wird definitiv begründet durch Kowa- lewsky’s wichtige, von Kupffer bestätigte Entdeckung, dass die Ontogenie des niedersten Wirbelthieres, des Lanzetthieres oder Amphioxus, in ihren wesentlichen Grundzügen völlig übereinstimmt mit derjenigen der wirbellosen Seescheiden oder Aseidien, aus der Classe der Mantelthiere oder Tunicaten. Auf unsern beiden Tafeln ist die Ascidie mit A, der Amphioxus mit B be- zeichnet. Taf. XIII stellt diese beiden sehr verschiedenen Thierformen völlig entwickelt dar, und zwar von der linken Seite gesehen, das Mundende nach oben, das entgegengesetzte Ende nach unten gerichtet. Daher ist in beiden Figuren die Rückenseite nach rechts, die Bauchseite nach links ge- wendet. Beide Figuren sind schwach vergrössert, und die innere Organi- sation der Thiere ist durch die durchsichtige Haut hindurch deutlich sicht- bar. Die erwachsene Seescheide (Fig. A 6) sitzt unbeweglich auf den Meeres- boden festgewachsen auf und klammert sich an Steinen und dergl. mittelst besonderer Wurzeln (w) an, wie eine Pflanze. Der erwachsene Amphioxus dagegen (Fig. B6) schwimmt frei umher, wie ein Fischehen. Die Buchstaben bedeuten in beiden Figuren dasselbe, und zwar: « Mundöffnung. 5 Leibes- öffnung oder Porus abdominalis. ce Rückenstrang oder Chorda dorsalis. d Darm. e Eierstock. f Eileiter (vereinigt mit dem Samenleiter). g Rücken- mark. A Herz. i Blinddarm. % Kiemenkorb (Athemhöhle). Z Leibeshöhle. m Muskeln. n Testikel (bei der Seescheide mit dem Eierstock zu einer Zwitterdrüse vereinigt). o After. p Geschlechtsöffoung. g Reife entwickelte Embryonen in der Leibeshöhle der Ascidie. r Flossenstrahlen der Rücken- flosse von Amphioxus. s Schwanzflosse des Lanzetthieres. w Wurzeln der Aseidie. Taf. XII stellt die individuelle Entwiekelung der Aseidie (4) und des Amphioxus (B) in fünf verschiedenen Stadien dar (1—5). Fig. 1 ist das Ei, eine einfache Zelle wie das Ei des Menschen und aller anderen Thiere (Fig. Al das Ei der Seescheide, Fig. Bl das Ei des Lanzetthieres). Das Protoplasma der Eizelle (z) ist von einer Hülle umgeben, und enthält einen kugeligen Zellkern (y) mit Nucleolus (x). Wenn sich das Ei zu entwickeln beginnt, zerfällt die befruchtete Eizelle zunächst durch wiederholte Theilung in viele Zellen (Fig. 42, B2 vier, Fig. 45, B3 acht Zellen, u. s. w.). Aus dem kugeligen Zellhaufen (Morula) entsteht in gewöhnlicher Weise (S. 504) die Gastrula (44, B4). (Vergl. Taf. V.) Ihre Urdarmhöhle (d1) öffnet sich durch den Urmund (d4). Die Zellwand derselben, das Darmblatt (d2), ist durch den Rest der Keimhöhle (2) vom Hautblatt (f) getrennt. Fig. 45 zeigt die Larve der Ascidie, Fig. B5 diejenige des Amphioxus, von der lin- ken Seite gesehen, in etwas weiterer Entwickelung. Die Darmhöhle (d1) hat sich geschlossen. Die Rückenwand des Darms (d2) ist concav, die Bauch- wand (d3) convex gekrümmt. Oberhalb des Darmrohrs, auf dessen Rücken- Anhang. Erklärung der Tafeln. 813 seite, hat sich das Medullar-Rohr (g1), die Anlage des Rückenmarks, gebil- det, dessen Hohlraum jetzt noch vorn nach aussen mündet (92). Zwischen Rückenmark und Darm ist der Rückenstrang oder die Chorda dorsalis (c) entstanden, die Axe des inneren Skelets. Bei der Larve der Aseidie setzt sich diese Chorda (e) in den langen Ruderschwanz fort, ein Larvenorgan, welches später bei der Verwandlung abgeworfen wird. Jedoch giebt es auch jetzt noch einige sehr kleine Aseidien (Appendicaria), welche 'sich nicht ver- wandeln und festsetzen, sondern zeitlebens mittelst ihres Ruderschwanzes frei im Meere umherschwimmen. (Vergl. S. 605.) _ Die ontogenetischen Thatsachen, welche auf Taf. XII schematisch dar- gestellt sind, und welche erst 1867 bekannt wurden, beanspruchen die aller- grösste Bedeutung und können in der That nicht hoch genug geschätzt wer- den. Sie füllen die tiefe Kluft aus, welche in der Anschauung der früheren Zoologie zwischen den „Wirbelthieren* und den sogenannten „Wirbellosen“ bestand. Diese Kluft wurde allgemein für so bedeutend und für so unaus- füllbar gehalten, dass sogar angesehene und der Entwickelungs-Theorie nicht abgeneigte Zoologen darin eines der grössten Hindernisse für dieselbe er- blickten. Indem nun die Ontogenie des Amphioxus und der Ascidie dieses Hinderniss gänzlich aus dem Wege räumt, macht sie es uns zum ersten Male möglich, den Stammbaum des Menschen unter den Amphioxus hinab in den vielverzweigten Stamm der „wirbellosen*“ Würmer zu verfolgen, aus welchem auch die übrigen höheren Thierstäimme entsprungen sind. (Vergl. S. 539, 609 und 700.) Tafel XIV und XV (zwischen S. 436 und 437). Grundformen von Protisten. (Taf. XIV Urpflanzen, Taf. XV Urthiere). Diese beiden Tafeln erläutern die Erscheinung der Angleichung oder Convergenz (S. 275), die Entstehung ähnlicher Formen in ganz verschie- denen Gruppen, die nicht stammverwandt sind. Zugleich geben sie eine Uebersicht über die geometrische Regelmässigkeit der Grundformen, die bei sehr vielen Protisten sich findet. Tafel XIV Urpflanzen oder Protophyten (Diatomeen und Cosmarieen). Fig. 1. Rhabdosphaera Challengeri, eine vielstrahlige Calcocytee. Fig. 2. Biddulphia reticulata, eine zweistrahlige Diatomee. Fig. 3. Triceratium grunowianum, eine dreistrablige Diatomee. Fig. 4. Phycastrum quadriradiatum eine vierstrahlige Cosmariee. Fig. 5. Phycastrum quinqueradiatum, eine fünfstrahlige Cosmariee. Fig. 6. Micrasterias hexactinias, eine sechsstrahlige Cosmariee. Fig.7. Phycastrum dentieulatum, eine dreistrahlige Cosmariee. s14 sind, Anhang. Erklärung der Tafeln. g.8. Stictodiscus radfordianus, eine achtstrahlige Diatomee. .9. Amoeboider Zustand eines Protophyten. . 10. Uebergang desselben in einen Flagellaten-Zustand. .11—13. Eine einfachste einzellige Pflanze (Grüne Alge aus der Palmellarien-Gruppe) in Theilung begriffen. (Fig. 12 zweitheilig, Fig. 15 viertheilig). .14. Ein grüner (chlorophyllhaltiger) Geisselschwärmer (vegetaler Flagellat). g. 15. Viertheilung desselben, im Ruhezustand (Tetrasporen-Bildung). Tafel XV Urthiere (Protoza) aus der Classe der Radiolarien. Fig. 1. Oroscena Gegenbauri, eine vielstrahlige Phaeodarie. Fig. 2. Amphirhopalum echinatum, eine zweistrahlige Discoidee. Fig. 3. Hymeniastrum Euelidis, eine dreistrahlige Discoidee. Fig. 4. Histiastrum quadrigatum, eine vierstrahlige Discoidee. Fig. 5. Pentinastrum asteriscus, eine fünfstrahlige Discoidee. Fig. 6. Hexacolpus nivalis, eine sechsstrahlige Acantharie. Fig. 7. Hexapyle dodecantha, eine dreistrahlige Discoidee. Fig. 8. Heliosestrum medusinum, eine achtstrahlige Discoidee. Fig. 9. Amoeboider Zustand eines Protozoen. Fig. 10. Uebergang desselben in einen Flagellaten-Zustand. Fig. 11—13. Eine Xanthellee oder gelbe Zelle (Symbionten der Radio- Die Classe der Radiolarien zeigt viel grösseren Reichthum an verschie- denen und mannichfaltigen Grundformen, als irgend eine andere Classe der organischen Welt. Die Arten, welche auf Taf. XV und XVI abgebildet geben einige der wichtigsten typischen Formen wieder. Vergl. auch mein „Protistenreich“*, 1878, meine „Monographie der Radiolarien“, 1862, (mit Atlas von 35 Tafeln) und den Challenger-Report (1887) mit 140 Tafeln. Alle hier abgebildeten Formen sind dem blossen Auge unsichtbar und stark vergrössert. larien, aus der Palmellarien-Gruppe) in Theilung begriffen. (Fig. 12 zweitheilig, Fig. 13 viertheilig.) . 14. Ein farbloser (chlorophyllfreier) Geisselschwärmer (animaler Flagellat). g. 15. Viertheilung desselben, im Ruhezustand (Tetrasporen-Bildung). Tafel XVI (zwischen S. 448 und 449). Tiefsee-Radiolarien der britischen Challenger-Expedition. (Vergl. S. 417 und 449.) u 2 u En u An A a u u Anhang. Erklärung der Tafeln. 815 Fig. 1. Actissa primordialis (Ordnung der Colloideen). Eine kugelige Zelle (Centralkapsel) mit centralem Zellkern ist umgeben von mehreren kleinen „gelben Zellen“ und strahlt viele feine Fäden aus (Pseudopodien). Fig. 2. Hexancistra quadricuspis. (Ordnung der Sphaeroideen.) Eine Gitterkugel (Rindenschale) mit centraler Kugel (Markschale). 6 Stacheln (jeder mit 4 Spitzen) stehen in drei auf einander senkrechten Meridian- Ebenen. Fig. 3. Saturnulus planeta (Ordnung der Sphaeroideen) Eine Gitterkugel (Rindenschale) mit centraler Kugel (Markschale). Rings um die- selbe ein äquatorialer Kieselring, (mit ihr verbunden durch zwei, in einer Axe liegende Stäbe), ähnlich wie um den Planeten Saturn ein äquatorialer Nebelring. Fig. 4. Heliocladus furcatus (Ordnung der Discoideen). Eine linsen- förmige Gitterschale (Rindenschale) mit einer centralen Kugel (Markschale). Vom Aequator oder vom Rande der biconvexen Linse strahlen zahlreiche Kieselstacheln aus, die gabelförmig getheilt sind. Fig. 5. Tricanastrum Wyvülei (Ordnung der Discoideen). Von einer centralen kreisrunden Scheibe gehen vier, ein plattes rechtwinkliges Kreuz bildende Arme ab, deren jeder am Ende in drei Zacken gespalten ist. Feine Fäden (Pseudopodien) strahlen überall von der Centralkapsel aus. Fig. 6. Coelodendrum Challengeri (Ordnung der Phaedarien). Die kugelige Central-Kapsel ist von zwei gegenständigen (unverbundenen) Halb- kugeln eingeschlossen, deren jede drei baumförmig verästelte hohle Kiesel- röhren trägt. Aus der schwarzbraunen Pigmentmasse, welche die Central- Kapsel umhüllt, strahlen zahlreiche feine Fäden aus (Pseudopodien). Fig. 7. Acanthostephanus corona (Ordnung der Stephoideen). Drei stachelige Kieselreifen, welche in drei auf einander senkrechten Ebenen stehen, sind in der Weise verbunden, dass sie eine Dornenkrone bilden. Fig. 8. Cinelopyramis Murrayana (Ordnung der Gyrtoideen). Eine neunseitige Pyramide, deren neun Kanten durch viele horizontale Querstäbe verbunden sind. Ein äusserst feines Gitterwerk füllt die viereckigen Maschen aus, welche durch jene gebildet werden. Fig. 9. Euceeryphalus Huxleyi (Ordnung der Öyrtoideen). Eine flache kegelförmige Gitterschale mit köpfehenförmigem Aufsatz und vielen langen Kieselstacheln. Fig. 10. Dictyopodium Moseleyi (Ordnung der Cyrtoideen). Eine hohe kegelförmige Gitterschale mit 3 Gliedern, Gipfelstachel und 3 langen Füsschen, die am Ende gitterförmig durehbrochen sind. Fig. 11. Diploconus Saturni (Ordnung der Acantharien). Ein Doppel- kegel, gleich einer Sanduhr, dessen Axe ein starker, vierkantiger, an beiden Enden vorragender und zugespitzter Stachel bildet; von der Mitte gehen kleinere Stacheln ab. Fig. 12. Lithoptera Darwinii (Ordnung der Acantharien). In der Mitte eine kreuzförmige Centralkapsel mit vier Lappen. Das Kieselskelet besteht aus 20, nach Müller’s Gesetz vertheilten Stacheln, 16 kleineren und 816 Anhang. Erklärung der Tafeln. 4 grösseren; letztere liegen in der Aequatorial-Ebene und tragen am Ende 4 Gitterplatten, gleich Windmühlen-Flügeln. Tafel XVII (zwischen S. 480 und 481). Farnwald der Steinkohlenzeit. Diese hypothetische Skizze aus der Landschaft einer längst verflossenen Periode der Erdgeschiehte ist aus den zahlreichen und wohl erhaltenen Ver- steinerungen derselben in ähnlicher Weise combinirt und restaurirt, wie dies zuerst der geniale Botaniker Franz Unger in seinen schönen „Bildern zur Urwelt“, später Oswald Heer in seiner „Urwelt der Schweiz“, und viele Andere gethan haben. Die Pflanzen, welche diesen Urwald der Steinkohlen- zeit zusammensetzen, sind ganz überwiegend Prothalloten aus der Haupt- classe der Farne (Filicinae, S. 462, 475). Auf der linken Seite des Bildehens im Vordergrunde unten erheben sich die gekrümmten, armleuchter- artig getheilten und dicht mit Schuppenblättehen bedeckten Büsche einiger Bärlappe (Zycopodiaceae) aus der Classe der Schuppenfarne (Selagineae, S. 477). Hoch darüber empor ragen links die riesigen, blattlosen, cannellirten Säulen mehrerer nackter Schafthalme (Zquisetaceae), aus der Classe der Schaftfarne (Calamariae, S. 475); oben tragen sie einen zapfenähnlichen Sporenbehälter. Rechts dahinter sind die zierlichen, lärchenähnlichen, zu derselben Classe gehörigen, schlanken Stämme von Riesenhalmen (Calamtteae, S. 476) sichtbar, welche regelmässig zusammengesetzte Nadel-Quirle tragen. Gegenüber anf der rechten Seite des Bildchens werden alle anderen Pflanzen von den mächtigen, gabelig verzweigten und zierlich getäfelten Stämmen der Schuppenbäume (Zepidodendreae) überragt, einer der wichtig- sten und grossartigsten Entwickelungs-Formen der Schuppenfarne (Sela- gineae, S. 477). Ihre Gabeläste tragen palmenähnliche Blätterkronen, ihre Schuppenstämme sind theilweise mit schmarotzenden Laubfarnen bedeckt. Rechts unten treten verschiedene Farnkräuter mit gefiederten oder doppelt gefiederten Blättern in den Vordergrund, die jüngsten Blätter in der Mitte der Büsche sind noch eingerollt. Sie vertreten, ebenso wie die im Hinter- grunde durchschimmernden, palmähnlichen Farnbäume, die formenreiche Abtheilung der Laubfarne (Pierideae, S. 475). Endlich wird die Classe der Wasserfarne (Rhizocarpeae) durch eine Anzahl kleinerer Filieinen reprä- sentirt, welche unten am Rande des Wassers wachsen oder aus demselben hervorragen (S. 462, 476). Tafel XVII und XIX (zwischen S. 510 und 511). ' Nervensystem der Metazoen-Stämme. Alle Figuren sind mehr oder weniger schematisch gehalten; das Central- Nervensystem ist durch rothe Farbe bezeichnet. Anhang. Erklärung der Tafeln. 817 Die Buchstaben haben in allen Figuren dieselbe Bedeutung: a Auge. b Hörbläschen. ce Coelom (Leibeshöhle). d Darm. e Entoderm. f Fuss. 9 Gonade (Geschlechtsdrüse).. A Haut. i Entoderm. %k Kiemen. / Mantel. m Muskeln. n Nerven-Centrum. o Mund. p Schlund (Pharynx). g Schale. r Rohrnieren (Nephridien). s Sinnesorgane. t Tentakel (Fühler). « Chorda. ® Herzkammer (Ventrikel). w Herzvorkammer (Atrium). x Ampulle. y Nase. z After. Tafel XVIN. Niederthiere, Sternthiere und Gliederthiere. Fig. 1. Ein Gasträade (Gastraea, Prophysema) im Querschnitt. e Exo- derm (äusseres Keimblatt, vertritt die Stelle des Nervensystems). ? Ento- derm (inneres Keimblatt, umschliesst die Darmhöhle, d). Fig. 2. Ein Schwamm (Spongia) im Querschnitt. Viele Geissel- kammern (i), jede einer Gastraea (Fig. 1) gleichwerthig, sitzen an den Aesten von Canälen, welche in die Centralhöhle einmünden. Haut von Poren durch- brochen. Kein Nervensystem. Fig. 3. Eine Medusa (Zphyra) aus dem Stamme der Nesselthiere (Cnidaria). Untere Flächen-Ansicht. Das centrale Mundkreuz (0) bezeichnet die 4 Strahlen I. Ordnung (Perradien); die 4 Eierstöcke (g) die Strahlen II. Ordnung (/nterradien.. Am Rande 8 Fangfäden (t) in den Strahlen II. Ordnung (Adradien), ringsum der Nervenring (n) mit 8 Sinnesorganen (Ss). 4. Ein Seestern (Asterides) aus dem Stammte der Sternthiere (Eehinoderma). Untere Flächen-Ansicht. Der centrale Mund ist von einem fünfeckigen Nervenring umgeben, von dessen 5 Ecken ventrale (perradiale) Nervenstämme (n) in die fünf gegliederten Arme ausstrahlen. Zwischen diesen 5 paar interradiale. Geschlechtsdrüsen (9) An der Spitze jedes Arms ein Auge (a). Fig. 5. Querschnitt eines Seestern-Arms (Fig. 4). n Radial-Nerv. / Füsschen zusammenhängend mit Bläschen (x). c Leibeshöhle (Coelom)- Fig. 6. Querschnitt eines Rundwurms (Nematodes) aus dem Stamme der Wurmthiere (Helminthes). d Darm. c Leibeshöhle. m4 Vier Längs- muskeln. mi Ringmuskeln. nl Rücken-Nervenstamm. n2 Bauch-Nerven- stamm. r Rohrnieren (Seitencanäle, rechts und links). A Haut. Fig. 7. Ein Borstenwurm (Chaetopodes) aus dem Stamme der Ringel- thiere (Annelida). n Bauchmark. a Augen. f Fussstummeln (Parapodia). Fig. 8. Querschnitt eines Borstenwurms (Fig. 7). dDarm. n Bauch- mark. vl Rückengefäss. v2 Bauchgefäss.. ml Rückenmuskeln. m2 Bauch. muskeln. /1 Rückenfüsse. f2 Bauchfüsse. c Leibeshöhle. r Rohrnieren (Schleifencanäle). %& Kiemen. Fig. 9. Querschnitt durch die Brust des Flusskrebses (Astacus), aus dem Stamme der Krustenthiere (Crustacea). d Darm. n Bauchmark. 9 Geschlechtsdrüse. o Rückengefäss. ml Rückenmuskeln. m2 Bauch- muskeln. f Basis der Beine. % Kiemen. A Hautpanzer. Haeckel, Natürl. Schöpfungs-Gesch. 8. Aufl. ZU > En 815 Anhang. Erklärung der Tafeln. Fig. 10. Ein Tausendfuss (Scolopendra) aus dem Stamme der Luftrohr- thiere (Trachenta). n Bauchmark. f Gegliederte Füsse. t Fühlhörner (Antennen). Fig. 11. Eine Biene (4Apis) aus den Stamme der Luftrohrthiere (Tracheata). n Bauchmark. nl Hirn. n2 Schlundring. «a Augen. t Fühl- hörner. /1, f2, /3, die drei Beinpaare. f4, /5 die beiden Flügelpaare. Tafel XIX. Wurmthiere, Weichthiere und Wirbelthiere. Fig.12. Ein Strudelwurm (Turbellarium), aus dem Stamme der Platten- thiere (Platodes). d Darm. o Mund. n Hirnknoten (Ober-Schlundknoten). r Rohrnieren. Fig. 13. Ein Ichthydine (Chaetonotus) aus dem Stamme der Wurm- thiere (Helminthes). n Hirnknoten. o Mund. p Schlund. d Darm. z After. r Rohrnieren. Fig. 14. Ein Rundwurm (Nematodes) aus dem Stamme der Wurmthiere. d Darm. n Nervenstämme (vergl. Fig. 6). Fig. 15. Querschnitt durch einen Pfeilwurm (Sagitta) aus dem Stamme der Wurmthiere (Helminthes). d Darm. ce Leibeshöhle. m Längsmuskeln. h Haut. n Nervenknoten (Bauchknoten des Schlundrings). Fig. 16. Bauch-Ansicht einer Schnecke (Gastropoda) aus dem Stamme der Weichthiere (Mollusca). o Mund, umgeben vom Nervenschlundring (n). :t Tentakeln. a Augen. / Fuss. % Kiemen. 2 Mantel. Fig. 17. Querschnitt einer Schnecke (Fig. 15). g Schale. 2 Mantel. k Kieme, f Fuss. n Fuss-Nervenknoten. c Leibeshöhle.. dDarm. » Herz- kammer. w Herzvorkammer. Fig. 18. Querschnitt einer Muschel (Acephala) aus dem Stamme der Weichthiere (Mollusca). Buchstaben wie in voriger Figur. Fig. 19. Eine Appendiecarie (Copelata) aus dem Stamme der Mantel- thiere (Tunicata). o Mund. p Schlund. % Kiemenspalten. d Darm. m Muskeln. u Chorda. g Geschlechtsdrüsen (gl weibliche, 92 männliche). Fig. 20. Querschnitt einer Ascidien-Larve, aus dem Stamme der Mantelthiere (Tunicata). A Haut. m Muskeln. n Nervenrohr (dorsales Markrohr). « Chorda. d Darm. c Leibeshöhle. g Geschlechts-Drüsen. Fig. 21. Ein Fisch (Selachius) aus dem Stamme der Wirbelthiere (Vertebrata) n fünf Hirnblasen und Rückenmark. y Nase. a Auge. b Hörblase. k Kiemenspalten. fl Brustflossen. 2 Bauchflossen. Fig. 22. Ein Salamander (Amphibium) aus dem Stamme der Wirbel- thiere (Vertebrata). Buchstaben wie in Fig. 21. 7/1 Vorderfüsse. f2 Hinterfüsse. Fig. 23. Querschnitt eines Fisches (Fig. 20). Buchstaben wie in Fi- gur 20. g, Geschlechts-Drüsen. Anhang. Erklärung der Tafeln. 819 Tafel XX (am Ende des Buches). Hypothetische Skizze des monophyletischen Ursprungs und der Verbrei- tung der zwölf Menschen-Species von Süd-Asien aus über die Erde. Vergl. S. 726, sowie 742—749. Selbstverständlich beansprucht die hier graphisch skizzirte Hypothese nur einen ganz provisorischen Werth und hat lediglich den Zweck, zu zeigen, wie man sich bei dem gegenwärtigen unvollkommenen Zustande unserer anthropologischen Kenntnisse die Ausstrahlung der Menschenarten von einer einzigen Urheimath aus ungefähr denken kann. Als wahr- scheinliche Urheimath oder „Paradies“ ist hier das südwestliche Asien an- genommen; indessen ist es sehr möglich, dass die hypothetische „Wiege des Menschengeschlechts“ weiter östlich, südlich oder westlich lag. Künftige, namentlich vergleichend-anthropologische und paläontologische Forschungen werden uns hoffentlich in den Stand setzen, die vermuthliche Lage der menschlichen Urheimath genauer zu bestimmen, als es gegenwärtig mög- lich ist. Wenn man unserer monophyletischen Hypothese die polyphyletische vorzieht und annimmt, dass die verschiedenen Menschenarten aus mehreren verschiedenen anthropoiden Affenarten durch allmähliche Vervollkommnung entstanden sind, so scheint unter den vielen, hier möglichen Hypothesen am meisten Vertrauen diejenige zu verdienen, welche eine zweifache pitheeoide Wurzel des Menschengeschlechts annimmt, eine asia tische und eine afrikanische Wurzel. Es ist nämlich eine sehr bemer- kenswerthe Thatsache, dass die afrikanischen Menschenaffen (Gorilla und Schimpanse) sich durch eine entschieden langköpfige oder doli- chocephale Schädelform auszeichnen, ebenso wie die Afrika eigen- thümlichken Menschenarten (Hottentotten, Kaffern, Neger, Nubier). Auf der anderen Seite stimmen die asiatischen Menschenaffen (ins- besondere der kleine und grosse Orang) durch ihre deutlich kurzköpfige oder brachycephale Schädelform mit den vorzugsweise für Asien be- zeichnenden Menschenarten (Mongolen und Malayen) überein. Man könnte daher wohl versucht sein, diese letzteren (asiatische Menschenaffen und Ur- menschen) von einer gemeinsamen brachycephalen Affenform , die ersteren dagegen (afrikanische Menschenaffen und Urmenschen) von einer gemein- samen dolichocephalen Affenform abzuleiten. Auf jeden Fall bleiben das tropische Afrika und das südliche Asien (und zwischen beiden möglicherweise das sie früher verbindende Lemurien?) diejenigen Theile der Erde, welche bei der Frage von der Urheimath des Menschengeschlechts vor allen anderen in Betracht kommen. Entschieden ausgeschlossen sind bei dieser Frage dagegen Amerika und Australien, Auch Europa (welches übrigens nur eine begünstigte westliche Halbinsel von Asien ist) besitzt schwerlich für die „Paradies-Frage* Bedeutung. 52* 820 Anhang. Erklärung der Tafeln. Dass die Wanderungen der verschiedenen Menschenarten von ihrer Ur- heimath aus und ihre geographische Verbreitung auf unserer Taf. XX nur ganz im Allgemeinen und in den gröbsten Zügen angedeutet werden konn- ten, versteht sich von selbst. Die zahlreichen Kreuz- und Querwanderungen der vielen Zweige und Stämme, sowie ihre oft sehr einflussreichen Rück- wanderungen mussten dabei gänzlich unberücksichtigt bleiben. Um diese einigermaassen klar darzustellen, müssten erstens unsere Kenntnisse viel voll- ständiger sein und zweitens ein ganzer Atlas mit vielen verschiedenen Migrations-Tafeln angewendet werden. Unsere Taf. XX beansprucht weiter Nichts, als ganz im: Allgemeinen die ungefähre geographische Verbreitung der 12 Menschenarten so anzudeuten, wie sie im fünfzehnten Jahrhundert (vor der allgemeinen Ausbreitung der indogermanischen Rasse) bestand, und wie sie sich ungefähr mit unserer Descendenz-Hypothese in Einklang bringen lässt. Auf die geographischen Verbreitungsschranken (Gebirge, Wüsten, Flüsse, Meerengen u. s. w.) brauchte bei dieser allgemeinen Migrationsskizze im Einzelnen um so weniger ängstliche Rücksicht genommen zu werden, als diese in früheren Perioden der Erdgeschichte ganz andere Grössen und Formen hatten. Wenn die allmähliche Umbildung von catarhinen Affen in pithecoide Menschen während der Tertiärzeit in dem hypothetischen Lemurien stattfand, so müssen auch zu jener Zeit die Grenzen und Formen der heu- tigen Continente und Meere ganz andere gewesen sein. Auch der sehr mächtige Einfluss der Eiszeit wird für die chorologischen Fragen von der Wanderung und Verbreitung der Menschenarten grosse Bedeutung bean- spruchen, obwohl er sich im Einzelnen noch nicht näher bestimmen lässt. Ich verwahre mich also hier, wie bei meinen anderen Entwickelungshypo- thesen, ausdrücklich gegen jede dogmatische Deutung; sie sind weiter nichts als erste Versuche. u Register. Abänderung 208. Abessinier 750. Abstammungslehre 4, 68. Acalephen 520, 522, 524. Acineten 444, 453. Acoelomen 532. Acranier 599, 608. Adaptation 208. Aethiopier 738, 750. Affen 686, 688. Affenmenschen 709, 717. Agassiz (Louis) 56, 62, 108. Aggregat-Zustände 552. Ahnenreihe des Menschen 695, 712. Alalus 709, 717. Algen 459, 462. Alluvial-System 383, 385. Altajer 727, 752. Amasten 652. Amerikaner 726, 732. Amnionlose 608, 627. Amnionthiere 608, 627. Amnioten 608, 627. Amoeben (Amoebinen) 168, 440. Amphibien 620, 625. Amphicardier 618. Amphioxus 59. Amphirhinen 610. Anamnien 608, 627. Angiospermen 462, 482. Angleichung 273. Anneliden 570, 572. Anorgane 9, 390, 358. Anorgologie 5. Anpassung 80, 137, 205. — abweichende 234. — actuelle 218. — allgemeine 218. — correlative 228. — cumulative 220. — directe 218. — divergente 234. — funetionelle 227. — gehäufte 220. — geschlechtliche 216. — indirecte 214. — individuelle 214. — mittelbare 212. — mimetische 233. — monströse 216. — potentielle 214. — sexuelle 216. — sprungweise 216. — unbeschränkte 235. — unendliche 235. — universelle 218. — unmittelbare 218. — wechselbezügliche 228. Anpassungsgesetze 212. Anthozoen 530. Anthropocentrische 35, 768. Anthropoiden 686, 691. Anthropolithisches Zeitalter 382, 385. Anthropologie 7, 767. Anthropomorphen 686. Antbropomorphismus 17, 65. | Araber 758, 750. Weltanschauung 822 Arachniden 582, 586. Arbeitstheilung 261. Arbeitswechsel 271. Archelminthen 537, 540. Archigonie 361. Archolithisches Zeitalter 378, 382. Arier 738, 751. Aristoteles 50, 69. Arktiker 727, 732. Armwürmer 539, 540. Art-Begriff 37, 265. Arthropoden 567. Artieulaten 566, 570. Aseidien 605, 609. Aspidonien 577, 578. Asteriden 555, 562. Atavismus 186. Australier 726, 734. Auszugs-Entwickelung 311. Autogonie 361. Bacterien 432. Baer (Carl Ernst) 97, 291. Baer’s Abstammungs-Lehre 97. — Entwickelungs-Geschichte 291. — Thier-Typen 48, 488. Bandwürmer 523, 531. Basken 727, 737. Bastarde 190, 266. Bastardzeugung 41, 190, 266. Baum der Erkenntniss 123, 745. Becherkeim 500, 505. Befruchtung 2%. Berber 738, 750. Beutelthiere (Beutler) 653, 663. Bevölkerungszahlen 749. Bilaterien (Bilateraten) 508, 533. Bildnerinnen 256, 367. Bildungstriebe 80, 359. Biogenetisches Grundgesetz 309, 496. Biologie 5. Blasenkeim 498, 505. Blastaea (Blastula) 498, 505. Blastocoelom 499. Blastoderm 499. Blastoideen 559, 563. Register. Blumenlose 456, 458. Blumenpflanzen 462, 479. Blumenthiere 530. Brachiopoden 540. Bruno (Giordano) 20, 63. Bryozoen 540. Buch (Leopold) 95, 318. Büchner (Louis) 98, 692. Büschelhaarige Menschen 724, 749. Caenolithisches Zeitalter 382, 384. Caleispongien 492, 518. Caleoeyteen 437. Cambrisches System 378, 382. Carbonisches System 380, 382. Caridonien 574, 578. Carnassier 662, 674. Carnivoren 662, 675. Carus (Victor) 98. Catallacten 444. Catarhinen 686, 688. Causale Weltanschauung 16, 67. Causal-Gesetz 32. Cellular-Divergenz 269. Cellular-Pathologie 256. Cellular-Psychologie 777. Cellular-Seleetion 255. Cetaceen 662, 666. Cetomorphen 662, 665. Centralherzen 601, 608. Centralisation 280. Cenogenesis 311. Cephalopoden 547, 551. Challenger-Expedition 416. Chamisso (Adalbert) 186. Chelonier 636, 638. Chinesen 727, 731. Chiropteren 662, 678. Chordathiere 602, 609. Chordonien 602, 609. Chorologie 317. Chromaceen 432. Ciliaten 444. Cnidarien 520, 522, 524. Cochliden 547. Coelenterien 508, 512. Coelom-Theorie 507. Coelomarien 508, 535. CGoenobien 412, 497. Conchaden 546, 549. Coniferen 462, 480. Convergenz 273. Copelaten 605, 609. Copernicus 35, 768. Corallen 524, 530. Cormophyten 458. Correlation der Theile 231. Cosmarien 455. Cranioten 599, 609. Crinoiden 562. Crocodile 656. Crustaceen 573, 578. Cryptogamen 456, 458. Ctenophoren 524, 550. Cuvier (George) 46, 488. Cuvier's Kataklysmentheorie 53. — Paläontologie 49. — Revolutionslehre 53. — Schöpfungsgeschichte 54. — Speciesbegriff 46. — Streit mit Geoffroy 78. — Thiersystem 47. — Thiertypen 48, 488. Cyeadeen 462, 480. Cyelostomen 606, 608. Cyemarien 513, 522. Cytoden 367. Cytula 297, 497. Darwin (Charles) 117. Darwinismus 133. Darwin’s Korallentheorie 118. — Leben 117. — Pangenesis 199. — Reise 117. — Selections-Theorie 133. — Taubenstudium 125. — Werke 121. — Züchtungs-Lehre 139. Darwin (Erasmus) 105. Decimal-System 621. Decksamige 462, 482. Register. Deduction 76, 780. Demokritos 21. Depaea 501, 505. Depula 501, 509. Descendenz-Theorie 4, 64. Devonisches System 380, 383. Diatomeen 434. Dicke der Erdrinde 390. Dicotylen 462, 483. Didelphien 653, 663. Differenzirung 261. Diluvial-System 383, 385. Dipneusten 612, 616. Divergenz 261. Drachen (Dinosaurier) 636, 639. Dravida 726, 734. Dualistische Weltanschauung 15, Dysteleologie 14, 288, 776. Echiniden 560, 569. Echinodermen 551, 562. Egypter 750. Ei des Menschen 170, 295. Eidechsen 655, 696. Eier 169, 465, 505. Eifurehung (Eitheilune) 170, 299, Einheit der Natur 20, 360. Einheitliche 409. Einkeimblättrige 462, 482. Eiszeit 380. Elemente der Chemie 351. Elephant 671, 679. Empedocles 259. Endursache 20, 30. Entwickelungs-Geschichte 9, 289. Entwickelungs-Parallelen 314. Eocaen-System 383, 384. Erbadel 161, 293. Erblichkeit 158. Erbsünde 161. Erbweisheit 161. Eremobien 412. Ergonomie 261. Erkenntnisse aposteriori 29, 762. — apriori 29, 762. 823 67. 497. Abstammungshypothese 824 Erklärung der Erscheinungen 28. Ernährung 207, 210. Fälschungs-Entwickelung 311. Farne 462, 473. Farnpalmen 462, 480. Filieinen 462, 473. Fische 611, 612. Fischherzen 618. Flagellaten 442, 453. Flechten 462, 468. Flederthiere 662, 678. Fleischfresser 662, 675. Flimmerkugeln 444. Florideen 462, 465. Flugeidechsen (Flugreptilien) 636, 638. Formspaltung 262. Foraminiferen 447. Fortpflanzung 164. — amphigone 174. — geschlechtliche 174. jungfräuliche 176. monogone 164. sexuelle 174. ungeschlechtliche 164. Fortschritt 274. Fucoideen 462, 464. Fürbringer (Max) 644. Gabler (Gabelthiere) 649, 662. Ganoiden 612, 614. Gasträa-Theorie 493. Gasträaden 508, 512. Gasträmonen 513, 522. Gastrula 500, 505. Gattung 37. Gebiss der Säugethiere 664. Gegenbaur (Carl) 595, 622. Gehirnentwickelung 304. Geistige Entwickelung 761. Geissler (Geisselschwärmer) 442. Gemmation 172. Generationsfolge 201. (Grenerationswechsel 187, 526. Genus 37. Greocentrische Weltanschauung 35, 768. | Herrenthiere 662, 677. Register. Geoffroy S. Hilaire 77, 108. 7 Germanen 748, 751. Geschlechtstrennung 176. Gestaltungskräfte 80, 359. Gewebe-Lehre 269. Gibbon 687, 718. Glacial-Periode 330. Glauben 8, 753. Gliederthiere 566, 570. Gliederfüssler 567. Goethe (Wolfgang) 73. Goethe’s Abstammungs-Lehre 82. Bildungstrieb 80. Biologie SO. Entwickelungs-Lehre 82. Gottesidee 64. — Materialismus 24. Metamorphose 81. Naturanschauung 20. Naturforschung 73. Naturphilosophie 73. Pflanzen-Metamorphose 74. Speeificationstrieb 81. Wirbel-Theorie 74. Zwischenkieferfund 75. Gonochorismus 176. Gonochoristen 176. Gorilla 687, 692. Gottesvorstellung 64. Gradzähnige Menschen 723. Grant 106. Gregarinen 441. Griechen 751. Gymnasial-Bildung (Classische) 292. (ymnospermen 462, 480. Halbaffen 662, 677. Halisaurier 635, 686. Hamosemiten 750. Hasenkaninchen 131, 190. Hausthiere 122. Helminthen 508, 536. Herbert 106. Hermaphroditismus 175. Hermaphroditen 175. Herschel’s Kosmogenie 344. Hertwig 417, 507. Hirnblasen des Menschen 304. Histologie 269. Histonen 256, 412, 420. Holothurien 560, 562. Hooker 106. Hottentotten 726, 728. Hufthiere 667, 670. Huxley 106, 130, 685. Hybridismus 190, 245. Hyperboräer 727, 732. Japaner 726. Ichthyocardier 618. Ichthyoten 598, 599. Idioplasma-Theorie 201. Ignorabimus 237. Indochinesen 726. Indogermanen 726, 748. Induction 76, 780. Infusionsthiere (Infusorien) 444. Insecten 584, 586, 593. Insectenfresser 662, 675. Instinet 761. Intracellulare Pangenesis 205. Invertebraten 488. Iraner 738, 751. Juden 738, 750. Jura-System 381, 383. Kaffern 726, 728. Kalkschwämme 492, 518. Kammgquallen 524, 530. Kampf um’s Dasein 142, 240. Kant (Immanuel) 90. Kant’s Abstammungs-Lehre 93. — Erdbildungs-Theorie 90, 344. — Entwickelungs-Theorie 346. — Kosmogenie 346. — Kritik der Urtheilskraft 92. — Mechanismus 34, 92. — Naturphilosophie 90. — Selections-Theorie 151. Kaukasier 726, 736. Keimblätter 300, 502. Register. Keimhaut 499. Keimhöhle 499. Keimknospenbildung 175. Keimplasma-Theorie 203. Keimzellenbildung 173. Kiemenbogen des Menschen 306. Klima-Wechsel 329. Kloakenthiere 649, 662. Knochenfische 612, 615. Knospenbildung 172. Kohlenstoff 352, 357. Kohlenstoff-Theorie 357. Kopffüssler 547, 551. Korallen 524, 530. Koreo-Japaner 726. Kosmogenie 344. Kosmologische Gas-Theorie 346. Kracken 547, 551. Krebsthiere 574, 578. Kreide-System 381, 383. Krustenthiere 573, 578. Krystalle und Organismen 358. Kurzköpfe 722. Labyrinthuleen 437. Lamarck (Jean) 99. — Anthropologie 102, 681. — Naturphilosophie 99. Lamarckismus 134. Langköpfe 722. Lanzetthiere 599. Laplace’s Kosmogenie 344. Laubfarne 462, 474. Laubmose 462, 472. Laurentisches System 378, 382. Lebenskraft 20. Lebermose 462, 472. Lemurien 327, 743. Leonardo da Vinei 5l. Leptocardier 606, 618. Letzte Gründe 28. Lichenen 462, 468. Linne (Carl) 36. Linne’s Artenbenennung 37. '— Pflanzenclassen 456, 825 Lamarck’s Abstammungs-Lehre 100. 826 Linne’s Schöpfungs-Geschichte 40. — Speeciesbegriff 37. — System 36. — Thierclassen 488. Lissamphibien 625. Lissotrichen 724, 727. Lobosen 439, 453. j Lockenhaarige Menschen 726. Luftrohrthiere 580, 586. Lurche 620, 625. Lurchfische 616. Lurchherzen 618. Lyell (Charles) 112. Lyell’s Schöpfungs-Geschichte 114. Magosphära 444. Magyaren 727. Malayen 726, 750. Malthus’ Bevölkerungs-Theorie 142. Mammalien 647, 662. Mantelthiere 604, 609. Marsupialien 659, 669. Materialismus 31. Materie 20. Maulbeerkeim 498, 505. Mechanische Ursachen 31, 67. Mechanische Weltanschauung 16, 67. Mechanismus 34, 92. Medusen 521, 524. Menschenaffen 686, 691. Menschenarten 726, 742. Menschengattungen 742. Menschenrassen 726, 727. Menschenseele 297. Menschenspecies 726, 742. Mesolithisches Zeitalter 381, 382. Metagenesis 187. Metamorphismus der Erdschichten 392. Metamorphose 81. Metaphyten 420, 461. Metazoen 420, 508. Metergie 271. Micellen 202. Migrations-Gesetz 338. Migrations-Theorie 333. 120, Register. Miocaen-System 383, 384. Mittelköpfe 723. Mittelländer 726, 736. Molche 626. Molchfische 616. Molekular-Selection 257. Mollusken 543, 546. Moneren 164, 426. . Mongolen 726, 731. Monismus 31. Monistische Weltanschauung 18, 67. Monocotylen 462, 482. Monodelphien 658. Monoglottonen 746, 749. Monogonie 164. Monophyleten 409, 745. Monophyletische Hypothese 409. Monorhinen 606, 608. Monosporogonie 174. Monotremen 649, 662. Morphologie 20, 775. Morula (Moraea) 498, 505. Mose 462, 471. Moses’ Schöpfungsgeschichte 34. Mosthiere 540. Muscheln 546, 549. Müller (Friedrich) 719, 723. Müller (Fritz) 45, 66, 575. Müller (Johannes) 278, 607. Museinen 462. Myriapoden 582, 586. Mycetozoen (Myxomyceten) 445. Nacktlurche 625. Nacktsamige 462, 480. Nadelhölzer 462, 480. Naegeli 201, 368, 428. Nagethiere 662, 674. Naturphilosophie 70. Nauplius 574. Neger 726, 729. Nervensystem 508. Nesselthiere 520, 522, 524. Newton 23, 94. | Niehtzwitter 176, Register. Niederthiere 511, 522. Nubier 726, 735. Öberthiere 510. ° Oecologie 777. Offenbarung 753. Oken (Lorenz) 85. Öken’s Entwickelungsgeschichte 290. — Infusorientheorie 87. — Naturphilosophie 86. — Urschleimtheorie 86. Olynthus 492, 515. Ontogenesis 290, 309. Ontogenie 9, 290, 308. Ophiuren 569. Orang 687, 692. Organe 5. Organismen 5, 352, 360. Örthonectiden 512. Paarnasen 610. Pachycardier 601, 608. Paläolithisches Zeitalter 380, 382. Paläontologie 49, 378. Palingenesis 311. Palmellarien 436. Pander (Christian) 291. Pangenesis 199. Pantheismus 64. Panzerlurche 625. Papua 725, 726. Paradies 743. Parallelismus der Entwickelung 314. Parthenogenesis 177. Pentactäa-Hypothese 561. Pentadactylie 622. Pentanomen 623. Pentasträa-Hypothese 554. Perigenesis 200. Peripatus 580. Permisches System 383. Personal-Divergenz 269. Personal-Selection 255. Petrefacten 49, Pferde 660, 669. Pflanzenreich 455, 462. 827 Pflanzenthiere 512. Phanerogamen 458, 479. Philosophie 71, 766. Phraetamphibien 625. Phylogenie 10, 308. Phylogenesis 309. Phylum 407. Physemarien 514, 522. Physiologie 20, 776. Phytomoneren 427. Phytoplasma 425. Pilze 462, 467. Pithecantropus 709, 717. Pithecoidentheorie 779, 788. Placentalien (Placentner) 658, 669. Placentalthiere 658, 669. Plasma 166, 419. Plasmogonie 361. Plasson 364. Plastiden 256, 353, 367. Plastidentheorie 368, 415. Plastidule 200, 364. Plattnasige Affen 687, 690. Plattwürmer (Plathelminthen) 531. Plattenthiere (Platoden) 522, 531. Platyrhinen 690. Pleistocaen-System 883. Pliocaen-System 383. Polarmenschen 726. Polyglottonen 746, 749. Polymorphismus 262. Polysporogonie 173. Polyphyleten 409, 745. Polyphyletische Hypothese 409. Polynesier 726. Polypen 521, 524. Poriferen 514, 522. Primärzeit 380, 383. Primaten 662, 677. Primordialzeit 378, 382. Probien (Protobien) 427, Probionten 427. Prochordonien 603. Promammalien 650, Proreptilien 630, Prosimien 677, 828 Prosopygier 539, 540. Protamnien 630. Protamoeben 167, 431. Protanthropen 745. Prothallophyten 462, 469. Protisten 420, 423. Protomyxa 168. Protophyten 420, 452. Protoplasma 166, 295. Protozoen 420, 453. Protracheaten 581, 586. Psychologie 777. Register. Salamander 625. Säugethiere 647, 662. Saurier 630. Schaaffhausen 98. Schädellose 599, 608. Schädelthiere 599, 609. Schiefzähnige Menschen 723. Schildkröten 636, 638. Schildthiere 577, 578. Schimpanse 687, 692. Schlangen 635, 636. Schleicher 608, 630. Schleicher (August) 97, 718. Schleiden (J. M.) 97. Schlichthaarige Menschen 724, 727. Schmalnasige Affen 686, 688. Radiaten 489. Radiolarien 417, 449. Räderthiere 537, 540. Ranke’s Mensch 767. Rassen 129, 741. Raubthiere 662, 674. Recent-System 383. Reptilien 650, 696. Rhizopoden 445. Ringelthiere 570, 572. Rodentien 662, 674. Robben 662, 676. Rohrherzen 608, 618. Romanen 751. Roux (Wilhelm) 227, 254. Rudimentäre Augen 19. — Beine 13. — Flügel 283. — Griffel 14. — Lungen 284. — Milchdrüsen 285. — Muskeln 12. — Niekhaut 12. — Organe 282. — Schwänze 285. — Staubfäden 14. — Zähne 11. Rückbildung 281, 287. Rückschlag 186. Rundmäuler 606, 608. Rundwürmer 537, 540. Rüsselwürmer 539, 540. Schmelzfische 612, 614. Sehnabelthiere 653, 669. Schnecken 547, 548. Schöpfer 58, 64. Schöpfung 7. Schöpfungsmittelpunkt 320. Schwämme 514, 522. Schwammthiere 514, 522. Secundärzeit 381, 382. Seedrachen 633, 696. Seegurken 560, 562. Seeigel 560, 562. Seeknospen 559, 562. Seele 64, 297. Seelilien 559, 562. Seesterne 555, 562. Seestrahlen 559, 562. Selachier 611, 612. Selbsttheilung 171. Selections-Theorie 133. Semiten 750. Sexualcharaktere 188. Singaffe 718. Siphoneen 438. Siphonophoren 270, 528. Sirenen 662, 666. Slaven 751. Species 57, 244, ee nn Schwanz des Menschen 285, 307. Silurisches System 378, 383. Spencer (Herbert) 106. Sperma 176. Spinnen 582, 586. Spongien 5l4, 522. Sporenbildung 174. Sporogonie 174. Sprachbildung 717. Sprachen der Thiere 717. Staatsquallen 270, 528. Stamm 407. Stammbaum der — Affen 687. — Akalephen 525. — Amphibien 613. — Anamnien 613. — Anneliden 571. — Araber 750. — Arachniden 587. — Arier 751. — Artieulaten 571. — Aspidonien 579. — (atarhinen 687. — Cnidarien 525. — (Coelenterien 523. — Crustaceen 579. — Echinodermen 563. — Egypter 750. — Fische 613. — Germanen 751. — Gliederthiere 571. — Gräcoromanen 751. — Hamiten 750. — Helminthen 509. — Hufthiere 671. — Indogermanen 751. — Insecten 587. — Juden 648. — Krebsthiere 579. — Krustenthiere 579. — Luftrohrthiere 587. — Mammalien 663. — Menschenarten 727. — Menschengeschlechts 687. — Menschenrassen 727. — Mollusken 547. — Nesselthiere 525. Register. 829 Stammbaum der — Niederthiere 523. — Organismen 454. — Pferde 669. — Pflanzen 463. — Platyrhinen 687. — Reptilien 637. — Ringelthiere 571. — Säugethiere 663. — Sauropsiden 637. — Schildthiere 579. — Semiten 750. — Slaven 75l. — Spinnen 587. — Sternthiere 563. — Thiere 509. — Tracheaten 587. — Ungulaten 671. — Vertebraten 609. — Vögel 637. — Weichthiere 547. — Wirbelthiere 609. — Würmer 509. Stammsäuger 650. Stammzelle 297, 497. Steinkohlen-System 380, 383. Stereometrische Stammbäume 644. Sternthiere 551, 562. Stockpflanzen 458. { Störungs-Entwickelung 311. Straffhaarige Menschen 742, 749. Strahlinge 449. Strahlthiere 489. Strophogenesis 201. Strudelwürmer 523, 531. Synamoebien 697. Syneytien 422. System der — Affen 686. — Akalephen 524. — Arachniden 586. — Artieulaten 570. — Catarhinen 686. — Coelenteraten 522. — (Ürustaceen 578. — Ecehinodermen 562. 830 System der Systematische Entwickelung 314. Einzelligen 420. Erdschichten 383. Fische 612. Formationen 383. Geschichtsperioden 382. Gliederthiere 570. Helminthen 540. Histonen 420. Hufthiere 670. Insecten 586, 593. Krebse 578. Mammalien 662. Menschenahnen 695. Menschenarten 749. Menschenrassen 726. Menschenvorfahren 695. Metazoen 508. Mollusken 546. Nesselthiere 524. Niederthiere 522. Pflanzen 421, 462. Platyrhinen 686. Protisten 420. Protophyten 420. Protozoen 420. Reptilien 696. Säugethiere 662. Schleicher 636. Spinnen 586. Sternthiere 562. Thiere 421, 508. Tracheaten 586. Ungulaten 670. Vertebraten 608. Vielzelligen 420. Vögel 656. Weichthiere 546. Wirbelthiere 608. Würmer 540. Zeiträume 382. Tange 459, 462. Tataren 727. Tauben-Rassen 125. Register. Tausendfüsser 582, 586. Tectologie 775. Teleologische Mechanik 255, 260, 288. Teleologie 89, 260. Teleologische Weltanschauung 16, 67. Tertiärzeit 382, 384. Thalamophoren (Thalamarien) 447. Thalidien 605, 609. Thallophyten (Thalluspflanzen) 457. Thermocardier 618. Thierreich 487, 508. Tbierseele 761. Tocogonie 164. Tracheaten 580, 586. Transformismus 4, 64. Transmutationstheorie 4, 64. Treviranus 83. Trias-System 381, 383. Tunieaten 604, 609. Turbellarien 523, 531. Uebergangsformen 264, 756. Ulotrichen 724, 727. Umbildungs-Lehre 4, 64. Unger (Franz) 97. Ungulaten 667, 670. Unpaarnasen 606, 608. Unsterblichkeit (persönliche) 297, 792. Unzweckmässigkeit der Natur 18. Unzweckmässigkeits-Lehre 14, 288. Uralier 727, 792. Uramnioten 690. Urchordathiere 603. Urdarmthiere 508, 512. Urfische 611, 612. Urgeschichte des Menschen 745. Urluftröhrer 581, 586. Urheimath 320. Urmenschen 745. Urpflanzen 420, 452. Ursprung der Sprache 719. Ursprungs-Ort 320. Urthiere 420, 453. Urzeugung 428, 361. Register. Variabilität 208. Variation 208. Varietäten 269. Veränderlichkeit 208. Vererbung 157, 178, abgekürzte 191. amphigone 189. angepasste 193. befestigte 195. beiderseitige 189. conservative 184. eonstituirte 195. eontinuirliche 184. erhaltende 184. erworbene 193. fortschreitende 192. gemischte 189. geschlechtliche 188. gleichörtliche 197. gleichzeitliche 196. homochrone 196. homotope 197. latente 185. progressive 192. sexuelle 188. unterbrochene 185. ununterbrochene 184. vereinfachte 191. Vererbungs-Gesetze 183. Vererbungs-Theorien 198. Vergleichende Anatomie 312, 399. Vermenschlichung 17, 60. Versteinerungen 49. Vertebraten 594, 608. Vervollkommnung 274. Vielheitliche Abstammungshypothese 409. Virchow (Rudolf) 204, 231, 745, 784. Vitalistische Weltanschauung 16, 67. Vliesshaarige Menschen 724, 749. Vögel 640, 646. Vorfahren des Menschen 695, 712. Vries über Vererbung 205. Wagner (Moritz) 317, 338. Wagner (Andreas) 123. 831 Wallace (Alfred) 120 Wallace’s Chorologie 327. Wallace’s Seleetions-Theorie 120. Walthiere 662, 665. Wanderungen der Menschenarten 747. Wanderungen der Organismen 316. Warmherzen 618. Wechselbeziehung der Theile 216, 231. Weichthiere 543, 546. Weismann 192, 203, 337. Well’s Seleetions-Theorie 151. Wiedersheim 771. Willensfreiheit 100, 223. Wimperthierchen 444. Wirbellose 488. Wirbelthiere 594, 608. Wirbelthier-Classen 599. Wissen 8, 753. Wolff’s Entwickelungs-Theorie 290. Wollhaarige Menschen 724, 727. Wunder 20. Wunderglauben 10, 753. Wurzelfüsser 445. Würmer 536. Wurmthiere 508, 536. Zahl der Bevölkerung 749, Zahnarme 662, 664. Zahnformel der Säugethiere 664. Zeitlänge der Erdgeschichte 754. Zeiträume der Erdgeschichte 382, 714. Zellen 168, 413. Zellenkern 168. Zellentheilung 169. Zellentheorie 168, 413, 418. Zellhaut 168. Zellhorden 412, 422. Zellschleim 168. Zellseele 444, 777. Zeugung 164, 296. Zoologie 768. Zoomoneren 425, 431. Zooplasma 425. Züchtung, ästhetische 240, — clericale 154, 832 Züchtung, geschlechtliche 249. — gleichfarbige 247. — künstliche 135, 153, 227. — zmedicinische 154. — musikalische 238. — natürliche 156, 225. — psychische 253. Register. Züchtung, sexuelle 249. — spartanische 153. Zweckmässigkeit der Natur 17, 759. Zweckthätige Ursachen 31, 67. Zweikeimblättrige 462, 483. Zwitter 175. Zwitterbildung 175. Haeckel. Nat. Schöpflungsgeschichte, & Aufl Erste herrschende Menschen-Art: Zweite herrschende Menschen-Art: Mittelländer (12) nr? vrer Rassen Monsolen (6) mit vier Rassen: 12% /ndogermanen, 12° Basken, 6" Yndochinesen, 6° Koreojapaner, 12€ Kaukasier 2@Semiten. R- 6° Altajer, 64 Uralier. Norälicher H Valarlııais. Wn_ „liyperboraeer Eskimos % I ee ü Fer R dr LA ur ne 6° Zum n e Eh, Nord-Pacifischer Ocean. Ä ne Nord- I Japaner L q ie E AN ST “ \ UN Sr Atlantischer . ee ; 6° ord- 2 To N NY N Amerikaner Dcsan. / A Formiosa.J. Nendekteis des Nrebses. v ar Eee Fre ET Er Eee er BEHFNF | N ö 7) Marianen ;J. Sandwich J. xy, es e= Ss ulm ES / > : PhilippinenzJ ‚ Central-Amerikaner n on ’ en Be. 5./CaralinenJ 3 ° Inlgraves.J. Naaualan. EN —— Proeniz 4, & EEE, ’ Marquesas J. Süd- 5 Er IE Amerikaner.‘ > ahilid. >. 3° 7 > . 2 Mangarera J. = x 3 ven ” \Tongas Nenaieis Aos Stumbedis £ Tatedommer Var 5 ee > ÜSTE er | ln. Se Hottenoio Indischernekan. N 5 SüR- Pacifischer Oceapz — 2 — a 102 10. I 8. 6. | | y F ye A eh IN HIH EN | lm Tee PR) 15 \ het s Sl ı u 2 Mittelländer.- Dravidas. | Amerikaner. | Moneolen. tten. Tasmamer ER, Hypothetische Skizze as Süd- a ; u | & Sn des monophyletischen Ursprungs und der Y S Alone f | j Il Kr I Be | Verbreitung der 12 Menschen- Species von S | bier. ' Arktil | Süd-Asien aus über die Erde. | H \ Ih e Aeer al E.Haeckel del. Lith Anst.v. A.Giltsch, Jena% YN 4 } (i ae Bir ww y BUN ns Ra? 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