ee Die Familiengruppe der Katarrhinen (siehe Seite 555). Natürliche Schöpfungsgeſchichte. Gemeinverſtändliche wiſſenſchaftliche Vorträge über die Entwickelungslehre im Allgemeinen und diejenige von Darwin, Goethe und Lamarck im Beſonderen, über die Anwendung derſelben auf den Urſprung des Menſchen und andere damit zuſammenhängende Grundfragen der Naturwiſſenſchaft. * Von Dr. Eruſt Haeckel, Profeſſor an der Univerſitat Jena. iH A > 11729 EL) we‘ 1 uns Mit Tafeln, Holzſchnitten, ſyſtematiſchen MB enentosirien Tabellen. Berlin, 1868. Verlag von Georg Reimer. 42 * „Nach ewigen ehernen „Großen Geſetzen „Müſſen wir Alle „Unſeres Daſeins „Kreiſe vollenden!“ Goethe. BE, Vorwort. Die vorliegenden freien Vorträge über „natürliche Schöpfungs— geſchichte“ find im Winterſemeſter 186g vor einem aus Laien und Studirenden aller Facultäten zuſammengeſetzten Publikum hier von mir gehalten, und von zweien meiner Zuhörer, den Studirenden Hörn— lein und Römheld, ſtenographirt worden. Abgeſehen von den reda— ctionellen Veränderungen des ſtenographiſchen Manuſcripts, habe ich an mehreren Stellen Erörterungen weggelaſſen, welche für meinen engeren Zuhörerkreis von beſonderem Intereſſe waren, und dagegen an anderen Stellen Erläuterungen eingefügt, welche mir für den wei— teren Leſerkreis erforderlich ſchienen. Die Abkürzungen betreffen be— ſonders die erſte Hälfte, die Zuſätze dagegen die zweite Hälfte der Vor— träge. Der XV., XVI., XVII. und XVIII. Vortrag, welche urſprüng⸗ lich zuſammen nur zwei Vorträge bildeten, ſind gänzlich umgearbeitet und bedeutend erweitert worden. Die „natürliche Schöpfungsgeſchichte“, oder richtiger ausgedrückt: Die „natürliche Entwickelungslehre“, deren ſelbſtſtändige Förderung und weitere Verbreitung den Zweck dieſer Vorträge bildet, iſt ſeit nun bald zehn Jahren durch die große Geiſtesthat von Charles Darwin in ein neues Stadium ihrer Entwickelung getreten. Was frühere Anhänger derſelben nur unbeſtimmt andeuteten oder ohne Er— folg ausſprachen, was ſchon Wolfgang Goethe mit dem propheti— 2 IV Vorwort. ſchen Genius des Dichters, weit ſeiner Zeit vorauseilend, ahnte, was Jean Lamarck bereits, unverſtanden von ſeinen befangenen Zeit— genoſſen, zu einer klaren wiſſenſchaftlichen Theorie formte, das iſt durch das epochemachende Werk von Charles Darwin unver— äußerliches Erbgut der menſchlichen Erkenntniß und die erſte Grund— lage geworden, auf der alle wahre Wiſſenſchaft in Zukunft weiter bauen wird. „Entwickelung“ heißt von jetzt an das Zauberwort, durch das wir alle uns umgebenden Räthſel löſen, oder wenigſtens auf den Weg ihrer Löſung gelangen können. Aber wie Wenige haben dieſes Loſungswort wirklich verſtanden, und wie Wenigen iſt ſeine weltumgeſtaltende Bedeutung klar geworden! Befangen in der mythi— ſchen Tradition von Jahrtauſenden, und geblendet durch den falſchen Glanz mächtiger Autoritäten, haben ſelbſt hervorragende Männer der Wiſſenſchaft in dem Siege der Entwickelungstheorie nicht den größten Fortſchritt, ſondern einen gefährlichen Rückſchritt der Naturwiſſenſchaft erblickt, und namentlich den biologiſchen Theil derſelben, die Abſtam— mungslehre oder Deſcendenztheorie, unrichtiger beurtheilt, als der ge— ſunde Menſchenverſtand des gebildeten Laien. Dieſe Wahrnehmung vorzüglich war es, welche mich zur Ver— öffentlichung dieſer gemeinverſtändlichen wiſſenſchaftlichen Vorträge be— ſtimmte. Ich hoffe dadurch der Entwickelungslehre, welche ich für die größte Eroberung des menſchlichen Geiſtes halte, manchen An— hänger auch in jenen Kreiſen der Geſellſchaft zuzuführen, welche zu— nächſt nicht mit dem empiriſchen Material der Naturwiſſenſchaft, und der Biologie insbeſondere, näher vertraut, aber durch ihr Intereſſe an dem Naturganzen berechtigt, und durch ihren natürlichen Menſchen— verſtand befähigt ſind, die Entwickelungstheorie zu begreifen, und als Schlüſſel zum Verſtändniß der Erſcheinungswelt zu benutzen. Die Form der freien Vorträge, in welcher hier die Grundzüge der allge— meinen Entwickelungsgeſchichte behandelt ſind, hat mancherlei Nach— theile. Aber ihre Vorzüge, namentlich der freie und unmittelbare Verkehr zwiſchen dem Vortragenden und dem Zuhörer, überwiegen in meinen Augen die Nachtheile bedeutend. Vorwort. V Der lebhafte Kampf, welcher in den letzten Jahren um die Ent⸗ wickelungslehre entbrannt iſt, muß früher oder ſpäter nothwendig mit ihrer allgemeinen Anerkennung endigen. Dieſer glänzendſte Sieg des erkennenden Verſtandes über das blinde Vorurtheil, der höchſte Triumph, den der menſchliche Geiſt erringen konnte, wird ſicherlich mehr als alles Andere nicht allein zur geiſtigen Befreiung, ſondern auch zur ſittlichen Vervollkommnung der Menſchheit beitragen. Zwar haben nicht nur diejenigen engherzigen Leute, die als Angehörige einer bevorzugten Kaſte jede Verbreitung allgemeiner Bildung über⸗ haupt ſcheuen, ſondern auch wohlmeinende und edelgeſinnte Männer die Befürchtung ausgeſprochen, daß die allgemeine Verbreitung der Entwickelungstheorie die gefährlichſten moraliſchen und ſocialen Fol⸗ gen haben werde. Nur die feſte Ueberzeugung, daß dieſe Beſorgniß gänzlich unbegründet iſt, und daß im Gegentheil jeder große Fort⸗ ſchritt in der wahren Naturerkenntniß unmittelbar oder mittelbar auch eine entſprechende Vervollkommnung des ſittlichen Menſchenweſens herbeiführen muß, konnte mich dazu ermuthigen, die wichtigſten Grundzüge der Entwickelungstheorie in der hier vorliegenden Form einem weiteren Kreiſe zugänglich zu machen. Den wißbegierigen Leſer, welcher ſich genauer über die in dieſen Vorträgen behandelten Gegenſtände zu unterrichten wünſcht, verweiſe ich auf die im Texte mit Ziffern angeführten Schriften, welche am Schluſſe deſſelben im Zuſammenhang verzeichnet find. Bezüglich der— jenigen Beiträge zum Ausbau der Entwickelungslehre, welche mein Eigenthum ſind, verweiſe ich insbeſondere auf meine 1866 veröffent- lichte „Generelle Morphologie der Organismen“ (Erſter Band: All— gemeine Anatomie oder Wiſſenſchaft von den entwickelten Formen; Zweiter Band: Allgemeine Entwickelungsgeſchichte oder Wiſſenſchaft von den entſtehenden Formen). Dies gilt namentlich von meiner, im erſten Bande ausführlich begründeten Individualitätslehre und Grundformenlehre, auf welche ich in dieſen Vorträgen nicht eingehen konnte, und von meiner, im zweiten Bande enthaltenen mechaniſchen Begründung des urſächlichen Zuſammenhangs zwiſchen der indivi— VI Vorwort. duellen und der paläontologiſchen Entwickelungsgeſchichte. Der Leſer, welcher ſich ſpecieller für das natürliche Syſtem der Thiere, Pflanzen und Protiſten, ſowie für die darauf begründeten Stammbäume inter— eſſirt, findet darüber das Nähere in der ſyſtematiſchen Einleitung zum zweiten Bande der generellen Morphologie. Die entſprechenden Stel— len der letzteren, welche einzelne Gegenſtände dieſer freien Vorträge ausführlicher behandeln, ſind im Texte mit (Gen. Morph.) angeführt. So unvollkommen und mangelhaft dieſe Vorträge auch ſind, ſo hoffe ich doch, daß ſie dazu dienen werden, das ſegensreiche Licht der Entwickelungslehre in weiteren Kreiſen zu verbreiten. Möchte dadurch in vielen denkenden Köpfen die unbeſtimmte Ahnung zur klaren Ge— wißheit werden, daß unſer Jahrhundert durch die endgültige Begrün— dung der Entwickelungstheorie, und namentlich durch die Entdeckung des menſchlichen Urſprungs, den bedeutendſten und ruhmvollſten Wen— depunkt in der ganzen Entwickelungsgeſchichte der Menſchheit bildet. Möchten dadurch viele Menſchenfreunde zu der Ueberzeugung geführt werden, wie fruchtbringend und ſegensreich dieſer größte Fortſchritt in der Erkenntniß auf die weitere fortſchreitende Entwickelung des Men— ſchengeſchlechts einwirken wird, und an ihrem Theile werkthätig zu ſeiner Ausbreitung beitragen. Möchten aber vor Allem dadurch recht viele Leſer angeregt werden, tiefer in das innere Heiligthum der Na— tur einzudringen, und aus der nie verſiegenden Quelle der natürlichen Offenbarung mehr und mehr jene höchſte Befriedigung des Verſtan— des durch wahre Naturerkenntniß, jenen reinſten Genuß des Ge— müthes durch tiefes Naturverſtändniß, und jene ſittliche Veredelung der Vernunft durch einfache Naturreligion ſchöpfen, welche auf kei— nem anderen Wege erlangt werden kann. Jena, am 18ten Auguſt 1868. Ernſt Heinrich Haeckel. Inhalts verzeichniß. Erſter Vortrag. Inhalt und Bedeutung der Abſtammungslehre oder De⸗ ſeendenztheorie N Allgemeine Bedeutung und e Inhalt der von Darwin reformir⸗ ten Abſtammungslehre oder Deſcendenztheorie. Beſondere Bedeutung derſelben für die Biologie (Zoologie und Botanik), für die mechaniſche Erklärung der organiſchen Naturerſcheinungen. Beſondere Bedeutung derſelben für die An— thropologie, für die natürliche Entwickelungsgeſchichte des Menſchengeſchlechts. Die Abſtammungslehre als natürliche Schöpfungsgeſchichte. Begriff der Schö- pfung. Wiſſen und Glauben. Schöpfungsgeſchichte und Entwickelungsgeſchichte. Zuſammenhang der individuellen und paläontologiſchen Entwickelungsgeſchichte. Unzweckmäßigkeitslehre oder Wiſſenſchaft von den rudimentären Organen. Un⸗ nütze und überflüſſige Einrichtungen im Organismus. Gegenſatz der beiden grundverſchiedenen Weltanſchauungen, der moniſtiſchen (mechaniſchen, cauſa⸗ len) und der dualiſtiſchen (teleologiſchen, vitalen). Begründung der erſteren durch die Abſtammungslehre. Einheit der organiſchen und anorganiſchen Na⸗ tur, und Gleichheit der wirkenden Urſachen in Beiden. Bedeutung der Ab- ſtammungslehre für die einheitliche (moniſtiſche) Auffaſſung der ganzen Natur. Zweiter Vortrag. Wiſſenſchaftliche Berechtigung der Deſeendenztheorie. Schöpfungsgeſchichte nach Linné Die Abſtammungslehre oder Deſcendenztheorie als die einbeitfiche Eikli⸗ rung der organiſchen Naturerſcheinungen durch natürliche wirkende Urſachen. Vergleichung derſelben mit Newtons Gravitationstheorie. Zwingende Noth— wendigkeit ihrer Annahme und allgemeine Verpflichtung der Naturforſcher zu Seite 1 20 VIII Inhaltsverzeichniß. derſelben. Die Abſtammungslehre als feſtbegründete wiſſenſchaftliche Theorie. Mangel jeder anderen Erklärung der organiſchen Schöpfung. Grenzen der wiſſenſchaftlichen Erklärung und der menſchlichen Erkenntniß überhaupt. Alle Erkenntniß urſprünglich durch ſinnliche Erfahrung bedingt, apoſteriori, daher beſchränkt. Uebergang der apoſterioriſchen Erkenntniſſe durch Vererbung in aprioriſche Erkenntniſſe. Gegenſatz der übernatürlichen Schöpfungshypotheſen von Linné, Cuvier, Agaſſiz, und der natürlichen Entwickelungstheorien von La⸗ marck, Goethe, Darwin. Zuſammenhang der erſteren mit der moniſtiſchen (me⸗ chaniſchen), der letzteren mit der dualiſtiſchen (teleologiſchen) Weltanſchauung. Schöpfungsgeſchichte des Moſes. Ihre Vorzüge und Irrthümer. Linns als Begründer der ſyſtematiſchen Naturbeſchreibung und Artunterſcheidung. Lin⸗ né's Claſſification und binäre Nomenelatur. Bedeutung des Speciesbegriffs bei Linne. Seine Schöpfungsgeſchichte. Linnés Anſicht von der Entſtehung der Arten. Dritter Vortrag. Schöpfungsgeſchichte nach Cuvier und Agaſſiz Allgemeine theoretiſche Bedeutung des Speciesbegriffs. Unterſchied in der theoretiſchen und praktiſchen Beſtimmung des Artbegriffs. Cuvier's Definition der Species. Cuvier's Verdienſte als Begründer der vergleichenden Anatomie. Unterſcheidung der vier Hauptformen (Typen oder Zweige) des Thierreichs durch Cuvier und Bär. Cuviers Verdienſte um die Paläontologie. Seine Hypotheſe von den Revolutionen des Erdballs und den durch dieſelben getrenn⸗ ten Schöpfungsperioden. Unbekannte, übernatürliche Urſachen dieſer Revolu⸗ tionen und der darauf folgenden Neuſchöpfungen. Teleologiſches Naturſyſtem von Agaſſiz. Seine Vorſtellungen vom Schöpfungsplane und deſſen ſechs Ka⸗ tegorien (Gruppenſtufen des Syſtems). Agaſſiz' Anſichten von der Erſchaffung der Species. Grobe Vermenſchlichung (Anthropomorphismus) des Schöpfers in der Schöpfungshypotheſe von Agaſſiz. Innere Unhaltbarkeit derſelben und Widerſprüche mit den von Agaſſiz entdeckten wichtigen paläontologiſchen Ge⸗ ſetzen. Vierter Vortrag. Entwickelungstheorie von Goethe und DEen . Wiſſenſchaftliche Unzulänglichkeit aller Vorſtellungen von einer Schöpfung der einzelnen Arten. Nothwendigkeit der entgegengeſetzten Entwickelungstheo⸗ rien. Geſchichtlicher Ueberblick über die wichtigſten Entwickelungstheorien. Ari⸗ Seite 38 59 Inhaltsverzeichniß. ſtoteles. Seine Lehre von der Urzeugung. Die Bedeutung der Naturphilo— ſophie. Goethe. Seine Verdienſte als Naturforſcher. Seine Metamorphoſe der Pflanzen. Seine Wirbeltheorie des Schädels. Seine Entdeckung des Zwi— ſchenkiefers beim Menſchen. Goethe's Theilnahme an dem Streite zwiſchen Cuvier und Geoffroy S. Hilaire. Goethe's Entdeckung der beiden organiſchen Bildungstriebe, des konſervativen Specifikationstriebes (der Vererbung), und des progreſſiven Umbildungstriebes (der Anpaſſung). Goethe's Anſicht von der gemeinſamen Abſtammung aller Wirbelthiere mit Inbegriff des Menſchen. Oken. Seine Naturphiloſophie. Oken's Vorſtellung vom Urſchleim (Proto⸗ plasmatheorie). Oken's Vorſtellung von den Infuſorien (Zellentheorie). Oken's Entwickelungstheorie. Fünfter Vortrag. Entwickelungstheorie von Kant und Lamarck SR, Kant's dualiſtiſche Biologie. Seine Anficht von der Entftehung der An⸗ organe durch mechaniſche, der Organismen durch zweckthätige Urſachen. Wider⸗ ſpruch dieſer Anſicht mit ſeiner Hinneigung zur Abſtammungslehre. Kant's genealogiſche Entwickelungstheorie. Beſchränkung derſelben durch ſeine Teleo⸗ logie. Vergleichung der genealogiſchen Biologie mit der vergleichenden Sprach- forſchung. Anſichten zu Gunſten der Deſcendenztheorie von Leopold Buch, Bär, Schleiden, Unger, Schaaffhauſen, Victor Carus, Büchner. Die franzöſiſche Naturphiloſophie. Lamarck's Philoſophie zoologique. Lamarck's moniſtiſches (mechaniſches) Naturſyſtem. Seine Anſichten von der Wechſelwirkung der bei⸗ den organiſchen Bildungskräfte, der Vererbung und Anpaſſung. Lamarck's Anſicht von der Entwickelung des Menſchengeſchlechts aus affenartigen Säuge⸗ thieren. Vertheidigung der Deſcendenztheorie durch Geoffroy S. Hilaire, Nau⸗ din und Lecog. Die engliſche Naturphiloſophie. Anſichten zu Gunſten der Deſcendenztheorie von Erasmus Darwin, W. Herbert, Grant, Patrick Mat⸗ thew, Freke, Herbert Spencer, Huxley. Doppeltes Verdienſt von Charles Darwin. Sechſter Vortrag. Entwickelungstheorie von Lyell und Darwin Charles Lyell's Grundſätze der Geologie. Seine natürliche Entwickelungs⸗ geſchichte der Erde. Entſtehung der größten Wirkungen durch Summirung der kleinſten Urſachen. Entſtehung der Gebirge durch langſame, ſehr lange Zeit fortdauernde Hebungen und Senkungen des Erdbodens. Unbegrenzte Seite 80 99 X Inhaltsverzeichniß. Länge der geologiſchen Zeiträume. Lyell's Widerlegung der Cuvier'ſchen Schö⸗ pfungsgeſchichte. Begründung des ununterbrochenen Zuſammenhangs der ge⸗ ſchichtlichen Entwickelung durch Lyell und Darwin. Biographiſche Notizen über Charles Darwin. Seine wiſſenſchaftlichen Werke. Seine Korallenrifftheorie. Entwickelung der Selectionstheorie. Ein Brief von Darwin. Gleichzeitige Veröffentlichung der Selectionstheorie von Charles Darwin und Alfred Wal⸗ lace. Darwin's neueſtes Werk. Sein Studium der Hausthiere und Cultur⸗ pflanzen. Hohe Bedeutung dieſes Studiums. Andreas Wagner's Anſicht von der beſonderen Schöpfung der Culturorganismen für den Menſchen. Der Baum des Erkenntniſſes im Paradies. Vergleichung der wilden und der Cul⸗ turorganismen. Darwin's Studium der Haustauben. Bedeutung der Tau⸗ benzucht. Unendliche Verſchiedenheit der Taubenraſſen und gemeinſame Ab- ſtammung derſelben von einer einzigen Stammart. Siebenter Vortrag. Die Züchtungslehre oder Seleetionstheorie. (Der Darwi⸗ nismus) 8 8 Darwinismus e und ee eee, e, Der Vorgang der künſtlichen Züchtung: Ausleſe (Selection) der verſchiedenen Einzelweſen zur Nachzucht. Die wirkenden Urſachen der Umbildung: Abän⸗ derung, mit der Ernährung zuſammenhängend, und Vererbung, mit der Fort⸗ pflanzung zuſammenhängend. Mechaniſche Natur dieſer beiden phyſiologiſchen Functionen. Der Vorgang der natürlichen Züchtung: Ausleſe (Selection) durch den Kampf um's Daſein. Malthus' Bevölkerungstheorie. Mißverhält⸗ niß zwiſchen der Zahl der möglichen (potentiellen) und der wirklichen (actuel⸗ len) Individuen jeder Organismenart. Allgemeiner Wettkampf um die Exi⸗ ſtenz, oder Mitbewerbung um die Erlangung der nothwendigen Lebensbedürf⸗ niſſe. Umbildende und züchtende Kraft dieſes Kampfes um's Daſein. Ver⸗ gleichung der natürlichen und der künſtlichen Züchtung. Achter Vortrag. Vererbung und Fortpflanzung. . x Allgemeinheit der Erblichkeit und der Vererbung. Aufſalende Ae Aeußerungen derſelben. Menſchen mit vier, ſechs oder ſieben Fingern und Zehen. Stachelſchweinmenſchen. Vererbung von Krankheiten, namentlich von Geiſteskrankheiten. Erbſünde. Erbliche Monarchie. Erbadel. Erbliche Ta⸗ lente und Seeleneigenſchaften. Materielle Urſachen der Vererbung. Zuſam⸗ Seite 117 134 Inhaltsverzeichniß. menhang der Vererbung mit der Fortpflanzung. Urzeugung und Fortpflan⸗ zung. Ungeſchlechtliche oder monogone Fortpflanzung. Moneren. Fortpflan⸗ zung der Moneren und der Amoeben durch Selbſttheilung. Vermehrung der organiſchen Zellen und der Eier durch Selbſttheilung. Fortpflanzung der Ko⸗ rallen durch Theilung. Fortpflanzung durch Knospenbildung, durch Keim⸗ knospenbildung und durch Keimzellenbildung. Geſchlechtliche oder amphigone Fortpflanzung. Zwitterbildung oder Hermaphroditismus. Geſchlechtstrennung oder Gonochorismus. Jungfräuliche Zeugung oder Parthenogeneſis. Mate- rielle Uebertragung der Eigenſchaften beider Eltern auf das Kind bei der ge— ſchlechtlichen Fortpflanzung. Unterſchied der Vererbung bei der geſchlechtlichen und bei der ungeſchlechtlichen Fortpflanzung. Neunter Vortrag. Vererbungsgeſetze. Anpaſſung und Ernährung Unterſcheidung der erhaltenden und fortſchreitenden Vererbung. Geſetze der erhaltenden oder conſervativen Erblichkeit: Vererbung ererbter Charaktere. Ununterbrochene oder continuirliche Vererbung. Unterbrochene oder latente Ver⸗ erbung. Generationswechſel. Rückſchlag. Verwilderung. Geſchlechtliche oder ſexuelle Vererbung. Secundäre Sexualcharaktere. Gemiſchte oder amphigone Vererbung. Baſtardzeugung. Abgekürzte oder vereinfachte Vererbung. Ge⸗ ſetze der fortſchreitenden oder progreſſiven Erblichkeit: Vererbung erworbener Charactere. Angepaßte oder erworbene Vererbung. Befeſtigte oder conſtituirte Vererbung. Gleichzeitliche oder homochrone Vererbung. Gleichörtliche oder homotope Vererbung. Anpaſſung und Veränderlichkeit. Zuſammenhang der Anpaſſung und der Ernährung. Unterſcheidung der indirecten und directen Anpaſſung. Zehnter Vortrag. Anpaſſungsgeſetze ; . Geſetze der indirecten oder potentiellen Ynpaffung. Individuelle Aupaſ⸗ ſung. Monſtröſe oder ſprungweiſe Anpaſſung. Geſchlechtliche oder ſexuelle An⸗ paſſung. Geſetze der directen oder actuellen Anpaſſung. Allgemeine oder uni⸗ verſelle Anpaſſung. Gehäufte oder cumulative Anpaſſung. Gehäufte Einwir⸗ kung der äußeren Exiſtenzbedingungen und gehäufte Gegenwirkung des Orga⸗ nismus. Der freie Wille. Gebrauch und Nichtgebrauch der Organe. Uebung und Gewohnheit. Wechſelbezügliche oder correlative Anpaſſung. Wechſelbe⸗ ziehungen der Entwickelung. Correlation der Organe. Erklärung der indi— Seite 158 180 XI Inhaltsverzeichniß. recten oder potentiellen Anpaſſung durch die Correlation der Geſchlechtsorgane und der übrigen Körpertheile. Abweichende oder divergente Anpaſſung. Un⸗ beſchränkte oder unendliche Anpaſſung. Elfter Vortrag. Die natürliche Züchtung durch den Kampf um's Daſein. Arbeitstheilung und Fortſchritt Wechſelwirkung der beiden organiſchen Bildungstriebe, der N und Anpaſſung. Natürliche und künſtliche Züchtung. Kampf um's Daſein oder Wettkampf um die Lebensbedürfniſſe. Mißverhältniß zwiſchen der Zahl der möglichen (potentiellen) und der Zahl der wirklichen (actuellen) Individuen. Verwickelte Wechſelbeziehungen aller benachbarten Organismen. Wirkungsweiſe der natürlichen Züchtung. Gleichfarbige Zuchtwahl als Urſache der ſympathi⸗ ſchen Färbungen. Geſchlechtliche Zuchtwahl als Urſache der ſecundären Se- xualcharaktere. Geſetz der Sonderung oder Arbeitstheilung (Polymorphismus, Differenzirung, Divergenz des Charakters). Uebergang der Varietäten in Spe⸗ cies. Begriff der Species. Baſtardzeugung. Geſetz des Fortſchritts oder der Vervollkommnung (Progreſſus, Teleoſis). Zwölfter Vortrag. Entwickelungsgeſetze der organiſchen Stämme und Indi⸗ viduen. Phylogenie und Ontogenie 5 Entwickelungsgeſetze der Menſchheit: Differenzirung und Berunflfopum. nung. Mechaniſche Urſache dieſer beiden Grundgeſetze. Fortſchritt ohne Dif- ferenzirung und Differenzirung ohne Fortſchritt. Entſtehung der rudimentä⸗ ren Organe durch Nichtgebrauch und Abgewöhnung. Ontogeneſis oder indi⸗ viduelle Entwickelung der Organismen. Allgemeine Bedeutung derſelben. On⸗ togenie oder individuelle Entwickelungsgeſchichte der Wirbelthiere, mit Inbe⸗ griff des Menſchen. Eifurchung. Bildung der drei Keimblätter. Entwicke⸗ lungsgeſchichte des Centralnervenſyſtems, der Extremitäten, der Kiemenbogen und des Schwanzes bei den Wirbelthieren. Urſächlicher Zuſammenhang und Parallelismus der Ontogeneſis und Phylogeneſis, der individuellen und der Stammesentwickelung. Urſächlicher Zuſammenhang und Parallelismus der Phylogeneſis und der ſyſtematiſchen Entwickelung. Parallelismus der drei organiſchen Entwickelungsreihen. Seite 227 Inhaltsverzeichniß. Dreizehnter Vortrag. Entwickelungstheorie des Weltalls, der Erde und ihrer erſten Organismen. Urzeugung. Plaſtidentheorie Entwickelungsgeſchichte der Erde. Feſte Rinde und feuerflüſſiger Kern des Erdballs. Vormaliger geſchmolzener Zuſtand des ganzen Erdballs. Kant's Entwickelungstheorie des Weltalls oder die kosmologiſche Gastheorie. Entwicke⸗ lung der Sonnen, Planeten und Monde. Bildung der erſten Erſtarrungs⸗ kruſte der Erde. Erſte Entſtehung des Waſſers. Vergleichung der Organis⸗ men und Anorgane. Organiſche und anorganiſche Stoffe. Verbindungen der Elemente. Dichtigkeitsgrade oder Aggregatzuſtände. Eiweißartige Kohlenſtoff⸗ verbindungen. Organiſche und anorganische Formen. Kryſtalle und ſtructur⸗ loſe Organismen ohne Organe. Stereometriſche Grundformen der Kryſtalle und der Organismen. Organiſche und anorganiſche Kräfte. Lebenskraft. Wachsthum und Anpaſſung bei Kryſtallen und bei Organismen. Bildungs⸗ triebe der Kryſtalle. Einheit der organiſchen und anorganiſchen Natur. Ur⸗ zeugung oder Archigonie. Autogonie und Plasmogonie. Kritik der Urzeugung. Entſtehung der Moneren durch Urzeugung. Entſtehung der Zellen aus Mo⸗ neren. Zellentheorie. Plaſtidentheorie. Plaſtiden oder Bildnerinnen. Cyto⸗ den und Zellen. Vier verſchiedene Arten von Plaſtiden. Vierzehnter Vortrag. Schöpfungsperioden und Schöpfungsurfunden . 5 Reform der Syſtematik durch die Deſcendenztheorie. Das natürliche Sy- ſtem als Stammbaum. Paläontologiſche Urkunden des Stammbaumes. Die Verſteinerungen als Denkmünzen der Schöpfung. Ablagerung der neptuni⸗ ſchen Schichten und Einſchluß der organiſchen Reſte. Eintheilung der orga⸗ niſchen Erdgeſchichte in fünf Hauptperioden: Zeitalter der Tangwälder, Farn⸗ wälder, Nadelwälder, Laubwälder und Culturwälder. Syſtem der während⸗ deſſen abgelagerten neptuniſchen Schichten. Unermeßliche Dauer der während ihrer Bildung verfloſſenen Zeiträume. Ablagerung der Schichten nur während der Senkung, nicht während der Hebung des Bodens. Anteperioden. Andere Lücken der Schöpfungsurkunde. Metamorphiſcher Zuſtand der älteſten neptu⸗ niſchen Schichten. Geringe Ausdehnung der paläontologiſchen Erfahrungen. Geringer Bruchtheil der verſteinerungsfähigen Organismen und organiſchen Kör⸗ pertheile. Seltenheit vieler verſteinerten Arten. Mangel foſſiler Zwiſchenfor⸗ men. Die Schöpfungsurkunden der Ontogenie und der vergleichenden Anatomie. 288 XIV Inhaltsverzeichniß. Fünfzehnter Vortrag. Stammbaum und Geſchichte des Protiſtenreichs Specielle Durchführung der Deſcendenztheorie in dem natürlichen Syſtem der Organismen. Conſtruction der Stammbäume. Abſtammung aller mehr- zelligen Organismen von einzelligen. Abſtammung der Zellen von Moneren. Begriff der organiſchen Stämme oder Phylen. Zahl der Stämme des Thier⸗ reichs und des Pflanzenreichs. Einheitliche oder monophyletiſche und vielheit⸗ liche oder polyphyletiſche Deſcendenzhypotheſe. Vorzug der monophyletiſchen vor den polyphyletiſchen Anſchauungen. Das Reich der Protiſten oder Urweſen. Nothwendigkeit und Begründung ſeiner Annahme. Acht Klaſſen des Proti⸗ ſtenreichs. Moneren. Amöboiden oder Protoplaſten. Geißelſchwärmer oder Flagellaten. Schleimpilze oder Myxomyceten. Labyrinthläufer oder Labyrinthu⸗ leen. Kieſelzellen oder Diatomeen. Meerleuchten oder Noctiluken. Wurzelfüßer oder Rhizopoden. Bemerkungen zur allgemeinen Naturgeſchichte der Protiſten: Ihre Lebenserſcheinungen, chemiſche Zuſammenſetzung und Fortbildung (Indi⸗ vidualität und Grundform). Phylogenie und Stammbaum des Protiſtenreichs. Sechszehnter Vortrag. Stammbaum und Geſchichte des Pflanzenreichs Das natürliche Syſtem des Pflanzenreichs. Eintheilung des Pflanzen⸗ reichs in ſechs Hauptklaſſen und achtzehn Klaſſen. Unterreich der Blumenloſen (Cryptogamen). Stammgruppe der Thalluspflanzen. Tange oder Algen Ur- tange, Grüntange, Brauntange, Rothtange). Faſerpflanzen oder Inophyten (Flechten und Pilze). Stammgruppe der Prothalluspflanzen. Moſe oder Mus⸗ einen (Tangmoſe, Lebermoſe, Laubmoſe, Torfmoſe). Farne oder Filicinen (Schaftfarne, Laubfarne, Waſſerfarne, Schuppenfarne). Unterreich der Blu⸗ menpflanzen (Phanerogamen). Nacktſamige oder Gymnoſpermen. Palmfarne (Cycadeen). Nadelhölzer (Coniferen). Deckſamige oder Angioſpermen. Mo⸗ nocotylen. Dicotylen. Kelchblüthige (Apetalen). Sternblüthige (Diapetalen). Glockenblüthige (Gamopetalen). Monophyletiſcher und polyphyletiſcher Stamm⸗ baum des Pflanzenreichs. Siebzehnter Vortrag. Stammbaum und Geſchichte des Thierreichs. I. Stamm⸗ baum und Geſchichte der wirbelloſen Thiere 1 Das natürliche Syſtem des Thierreichs. Syſtem von Linne und Lamarck. Die vier Typen von Bär und Cuvier. Vermehrung derſelben auf ſechs Typen. Seite 316 348 Inhaltsverzeichniß. Genealogiſche Bedeutung der ſechs Typen als ſelbſtſtändiger Stämme des Thier⸗ reichs. Monophyletiſche und polyphyletiſche Deſcendenzhypotheſe des Thier⸗ reichs. Gemeinſamer Urſprung der fünf übrigen Thierſtämme aus dem Wür⸗ merſtamm. Eintheilung der ſechs Thierſtämme in 16 Hauptklaſſen und 32 Klaſ⸗ ſen. Stamm der Pflanzenthiere. Schwämme oder Spongien (Weichſchwämme, Hartſchwämme). Neſſelthiere oder Akalephen (Korallen, Schirmquallen, Kamm⸗ quallen). Stamm der Würmer. Urwürmer oder Archelminthen (Infuſorien). Weichwürmer oder Scoleciden (Plattwürmer, Rundwürmer). Sackwürmer oder Himategen (Mosthiere, Mantelthiere). Gliedwürmer oder Colelminthen (Sternwürmer, Ringelwürmer, Räderwürmer). Stamm der Weichthiere (Spi⸗ ralkiemer, Blattkiemer, Schnecken, Pulpen). Stamm der Sternthiere (See⸗ ſterne, Seelilien, Seeigel, Seewalzen). Stamm der Gliedfüßer. Krebſe (Gliederkrebſe, Panzerkrebſe). Spinnen (Streckſpinnen, Rundſpinnen). Tau⸗ ſendfüßer. Inſecten. Kauende und ſaugende Inſecten. Stammbaum und Geſchichte der acht Ordnungen der Inſecten. Achtzehnter Vortrag. Stammbaum und Geſchichte des Thierreichs. II. Stamm⸗ baum und Geſchichte der Wirbelthiere ; A Das natürliche Syſtem der Wirbelthiere. Die vier Klaſſen der Wirbel thiere von Linne und Lamarck. Vermehrung derſelben auf acht Klaſſen. Haupt⸗ klaſſe der Rohrherzen oder Schädelloſen (Lanzetthiere). Hauptklaſſe der Un⸗ paarnaſen oder Rundmäuler (Inger und Lampreten). Hauptklaſſe der An⸗ amnien oder Amnionloſen. Fiſche (Urfiſche, Schmelzfiſche, Knochenfiſche). Lurchfiſche. Lurche (Panzerlurche, Nacktlurche). Hauptklaſſe der Amnionthiere oder Amnioten. Reptilien (Stammſchleicher, Schwimmſchleicher, Schuppen⸗ ſchleicher, Drachenſchleicher, Schnabelſchleicher). Vögel (Fiederſchwänzige, Fä⸗ cherſchwänzige, Büſchelſchwänzige). Säugethiere (Kloakenthiere, Beutelthiere, Placentalthiere). Stammbaum und Geſchichte der Säugethierordnungen. Ueunzehnter Vortrag. Urſprung und Stammbaum des Menſchen Die Anwendung der Deſcendenztheorie auf den Menſchen. Logiſche Noth wendigkeit derſelben. Stellung des Menſchen im natürlichen Syſtem der Thiere, insbeſondere unter den discoplacentalen Säugethieren. Unberechtigte Trennung der Vierhänder und Zweihänder. Berechtigte Trennung der Halb- affen von den Affen. Stellung des Menſchen in der Ordnung der Affen. XV Seite 433 486 XVI Inhaltsverzeichniß. Schmalnaſen und Plattnaſen. Entſtehung des Menſchen aus Schmalnaſen. Menſchenaffen oder Anthropoiden. Vergleichung der verſchiedenen Menſchen⸗ affen und der verſchiedenen Menſchenraſſen. Zeit und Ort der Entſtehung des Menſchengeſchlechts. Ahnenreihe des Menſchen. Wirbelloſe Ahnen und Wirbelthier-Ahnen. Umbildung des Affen zum Menſchen durch Differenzi⸗ rung und Vervollkommnung der Gliedmaßen, des Kehlkopfs und des Gehirns. Stammbaum der zehn Menſchenarten. Zwanzigſter Vortrag. Einwände gegen und Beweiſe für die Wahrheit der De⸗ ſeendenztheorie. Einwände gegen die Abſtammungslehre. Einwände des Glaubens und der Vernunft. Unermeßliche Länge der für die Deſcendenztheorie exforderli- chen Zeiträume. Angeblicher und wirklicher Mangel von verbindenden Ueber⸗ gangsformen zwiſchen den verwandten Specien. Abhängigkeit der Formbe⸗ ſtändigkeit von der Vererbung, und des Formwechſels von der Anpaſſung. Entſtehung ſehr zuſammengeſetzter Organiſationseinrichtungen durch ſtufenweiſe Vervollkommnung. Stufenweiſe Entſtehung der Inſtinkte und Seelenthätig⸗ keiten. Entſtehung der aprioriſchen Erkenntniſſe aus apoſterioriſchen. Erfor⸗ derniſſe für das richtige Verſtändniß der Abſtammungslehre. Biologiſche Kennt⸗ niſſe und philoſophiſches Verſtändniß derſelben. Nothwendige Wechſelwirkung der Empirio und Philoſophie. Beweiſe für die Deſcendenztheorie. Innerer urſächlicher Zuſammenhang aller allgemeinen biologiſchen Erſcheinungsreihen, nur durch die Abſtammungslehre erklärbar, ohne dieſelbe unverſtändlich. Der directe Beweis der Selectionstheorie. Verhältniß der Deſcendenztheorie zur Anthropologie. Beweiſe für den thieriſchen Urſprung des Menſchen. Die Pi⸗ thekoidentheorie als untrennbarer Beſtandtheil der Deſcendenztheorie. Indu⸗ etion und Deduction. Stufenweiſe Entwickelung des menſchlichen Geiſtes. Körper und Geiſt. Menſchenſeele und Thierſeele. Blick in die Zukunft. Verzeichniß der im Texte mit Ziffern angeführten Schrif⸗ ten 2 Sd. Rule en Erklärung b Titelbildes A Erklärung der genealogiſchen Tafeln Regiſter Seite Erſter Vortrag. Inhalt und Bedeutung der Abſtammungslehre oder Deſcendenztheorie. 4 Allgemeine Bedeutung und weſentlicher Inhalt der von Darwin reformirten Abſtammungslehre oder Deſcendenztheorie. Beſondere Bedeutung derſelben für die Biologie (Zoologie und Botanik), für die mechaniſche Erklärung der organiſchen Na⸗ turerſcheinungen. Beſondere Bedeutung derſelben für die Anthropologie, für die na⸗ türliche Entwickelungsgeſchichte des Menſchengeſchlechts. Die Abſtammungslehre als natürliche Schöpfungsgeſchichte. Begriff der Schöpfung. Wiſſen und Glauben. Schöpfungsgeſchichte und Entwickelungsgeſchichte. Zuſammenhang der individuellen und paläontologiſchen Entwickelungsgeſchichte. Unzweckmäßigkeitslehre oder Wiſſen⸗ ſchaft von den rudimentären Organen. Unnütze und überflüſſige Einrichtungen im Organismus. Gegenſatz der beiden grundverſchiedenen Weltanſchauungen, der mo⸗ niſtiſchen (mechaniſchen, caufalen) und der dualiſtiſchen (teleologiſchen, vitalen). Be⸗ gründung der erſteren durch die Abſtammungslehre. Einheit der organiſchen und anorganiſchen Natur, und Gleichheit der wirkenden Urſachen in Beiden. Bedeutung der Abſtammungslehre für die einheitliche (moniſtiſche) Auffaſſung der ganzen Natur. Meine Herren! Die naturwiſſenſchaftliche Lehre, welche durch den engliſchen Naturforſcher Charles Darwin in den letzten Jahren einen hohen Ruf erlangt hat, und deren gemeinverſtändliche Darſtel— lung und Erläuterung die Aufgabe dieſer Vorträge iſt, verdient in vol— lem Maaße die allgemeinſte Theilnahme. Denn unter den zahlreichen und großartigen Fortſchritten, welche die Naturwiſſenſchaft in unſerer Zeit gemacht hat, muß dieſelbe, vom höchſten und allgemeinſten Ge— ſichtspunkt aus betrachtet, zweifelsohne als der bei Weitem folgen— reichſte und bedeutendſte angeſehen werden. Haeckel, Natürliche Schöpfungsgeſchichte. 1 [82 Allgemeine Bedeutung der Abſtammungslehre. Wenn man unſer Jahrhundert mit Recht das Zeitalter der Na- turwiſſenſchaften nennt, wenn man mit Stolz auf die unermeßlich bedeutenden Fortſchritte in allen Zweigen derſelben blickt, ſo pflegt man dabei gewöhnlich weniger an die Erweiterung unſerer allgemeinen Na— turerkenntniß, als vielmehr an die unmittelbaren praktiſchen Erfolge jener Fortſchritte zu denken. Man erwägt dabei die völlige und un— endlich folgenreiche Umgeſtaltung des menſchlichen Verkehrs, welche durch das entwickelte Maſchinenweſen, durch die Eiſenbahnen, Dampf⸗ ſchiffe, Telegraphen und andere Erfindungen der Phyſik hervor— gebracht worden iſt. Oder man denkt an den ungeheuren Einfluß, welchen die Chemie in der Heilkunſt, in der Landwirthſchaft, in allen Künſten und Gewerben gewonnen hat. Wie hoch Sie aber auch dieſen Einfluß der neueren Naturwiſſenſchaft auf das praktiſche Leben an— ſchlagen mögen, ſo muß derſelbe, von einem höheren und allgemeineren Standpunkt aus gewürdigt, doch unbedingt hinter dem ungeheuren Einfluß zurückſtehen, welchen die theoretiſchen Fortſchritte der heutigen Naturwiſſenſchaft auf die geſammte Erkenntniß des Menſchen, auf ſeine ganze Weltanſchauung und die Vervollkommnung ſeiner Bildung nothwendig gewinnen werden. Unter dieſen theoretiſchen Fortſchritten nimmt aber jedenfalls die von Darwin ausgebildete Theorie bei Weitem den höchſten Rang ein. Jeder von Ihnen wird den Namen Darwins gehört haben. Aber die Meiſten von Ihnen werden wahrſcheinlich nur unvollkommene Vorſtellungen von dem eigentlichen Werth ſeiner Lehre beſitzen. Denn wenn man Alles vergleicht, was ſeit dem Erſcheinen von Darwins epochemachendem Werk!) über daſſelbe geſchrieben worden iſt, ſo muß demjenigen der ſich nicht näher mit den organiſchen Naturwiſſenſchaf— ten befaßt hat, der nicht in die inneren Geheimniſſe der Zoologie und Botanik eingedrungen iſt, der Werth jener Theorie ſehr zweifelhaft er ſcheinen. Die Beurtheilung derſelben iſt fo widerſpruchsvoll, größten⸗ theils ſo mangelhaft, daß es uns nicht Wunder nehmen darf, wenn noch jetzt, neun Jahre nach dem Erſcheinen von Darwins Werk, das⸗ ſelbe nicht entfernt die Bedeutung erlangt hat, welche ihm von Rechts- Weſentlicher Inhalt der Abſtammungslehre. 3 wegen gebührt, und welche es jedenfalls früher oder ſpäter erlangen wird. Gerade dieſe Ungewißheit über den wahren Werth von Dar— wins Theorie iſt es, welche mich vorzugsweiſe beſtimmt, dieſelbe zum Gegenſtand dieſer allgemein verſtändlichen Darſtellung zu machen. Ich halte es für die Pflicht der Naturforſcher, daß ſie nicht allein in dem engeren Kreiſe, den ihre Fachwiſſenſchaft ihnen vorſchreibt, auf Verbeſſerungen und Entdeckungen ſinnen, daß ſie ſich nicht allein in das Studium des Einzelnen mit Liebe und Sorgfalt vertiefen, ſondern daß ſie auch die wichtigen, allgemeinen Reſultate ihrer beſonderen Studien für das Ganze nutzbar machen, und daß ſie naturwiſſen— ſchaftliche Bildung im ganzen Volke verbreiten helfen. Der höchſte Triumph des menſchlichen Geiſtes, die wahre Erkenntniß der allge— meinſten Naturgeſetze, darf nicht das Privateigenthum einer privile— girten Gelehrtenkaſte bleiben, ſondern muß Gemeingut der ganzen Menſchheit werden. Die Theorie, welche durch Darwin an die Spitze unſerer Na— turerkenntniß geſtellt worden iſt, pflegt man gewöhnlich als Abſtam— mungslehre oder Deſcendenztheorie zu bezeichnen. Ans dere nennen fie Um bildungslehre oder Transmutations— theorie. Beide Bezeichnungen ſind richtig. Denn dieſe Lehre be— hauptet, daß alle verſchiedenen Organismen (d. h. alle Thier- arten und alle Pflanzenarten, welche jemals auf der Erde gelebt haben, und noch jetzt leben), von einer einzigen oder von wenigen höchſt einfachen Stammformen abſtammen, und daß ſie ſich aus dieſen auf dem natürlichen Wege allmählicher Umbildung entwickelt haben. Obwohl dieſe Entwickelungs— theorie ſchon im Anfange unſeres Jahrhunderts von verſchiedenen großen Naturforſchern, insbeſondere von Lamarcks) und Goethes), aufgeſtellt und vertheidigt wurde, hat ſie doch erſt vor neun Jahren durch Darwin ihre vollſtändige Ausbildung und ihre urſächliche Be— gründung erfahren, und das iſt der Grund, weshalb ſie jetzt gewöhn— lich ausſchließlich (obwohl nicht ganz richtig) als Darwins Theorie bezeichnet wird. 1 * 4 Bedeutung der Abſtammungslehre für die Biologie. Der hohe und wirklich unſchätzbare Werth der Abſtammungslehre erſcheint in einem verſchiedenen Lichte, je nachdem Sie bloß deren nä— here Bedeutung für die organiſche Naturwiſſenſchaft, oder aber ihren weiteren Einfluß auf die geſammte Welterkenntniß des Menſchen in Betracht ziehen. Die organiſche Naturwiſſenſchaft oder die Biologie, welche als Zoologie die Thiere, als Botanik die Pflanzen zum Ge⸗ genſtand ihrer Erkenntniß hat, wird durch die Abſtammungslehre von Grund aus umgeſtaltet uud neu begründet. Denn die Deſcendenz— theorie macht uns mit den wirkenden Urſachen der organiſchen Formerſcheinungen bekannt, während die bisherige Thier- und Pflan⸗ zenkunde ſich bloß mit den Thatſachen dieſer Erſcheinungen beſchäf— tigte. Man kann daher auch die Abſtammungslehre als die mecha— niſche Erklärung der organiſchen Formerſcheinungen, oder als „die Lehre von den wahren Urſachen in der organiſchen Na= tur“ bezeichnen. Da ich nicht vorausſetzen kann, daß Ihnen Allen die Ausdrücke „organiſche und anorganiſche Natur“ geläufig ſind, und da uns die Gegenüberſtellung dieſer beiderlei Naturkörper in der Folge noch vielfach beſchäftigen wird, ſo muß ich ein paar Worte zur Ver— ſtändigung darüber vorausſchicken. Organismen oder organi— ſche Naturkörper nennen wir alle Lebeweſen oder belebten Körper, alſo alle Pflanzen und Thiere, den Menſchen mit inbegriffen, weil bei ihnen faſt immer eine Zuſammenſetzung aus verſchiedenartigen Theilen (Werkzeugen oder „Organen“) nachzuweiſen iſt, welche zuſam— menwirken, um die Lebenserſcheinungen hervorzubringen. Eine ſolche Zuſammenſetzung vermiſſen wir dagegen bei den Anorganen oder anorganiſchen Naturkörpern, den ſogenannten todten oder unbe— lebten Körpern, den Mineralien oder Geſteinen, dem Waſſer, der atmo- ſphäriſchen Luft u. ſ. w. Die Organismen enthalten ſtets eiweißartige Kohlenſtoffverbindungen in feſtflüſſigem Aggregatzuſtande, während dieſe den Anorganen ſtets fehlen. Auf dieſem wichtigen Unterſchiede beruht die Eintheilung der geſammten Naturwiſſenſchaft in zwei große Hauptabtheilungen, die Biologie oder Wiſſenſchaft von den Orga— Bedeutung der Abſtammungslehre für die Anthropologie. 5 nismen (Zoologie und Botanik), und die Anorganologie oder Wiſſenſchaft von den Anorganen (Mineralogie und Meteorologie). Der unſchätzbare Werth der Abſtammungslehre für die Biologie liegt alſo, wie bemerkt, darin, daß ſie uns die Entſtehung der organi— ſchen Formen auf mechaniſchem Wege erklärt, und deren wirkende Ur— ſachen nachweiſt. So hoch man aber auch mit Recht dieſes Verdienſt der Deſcendenztheorie anſchlagen mag, ſo tritt daſſelbe doch faſt zurück vor der unermeßlichen Bedeutung, welche eine einzige nothwendige Folgerung derſelben für ſich allein in Anſpruch nimmt. Dieſe noth- wendige und unvermeidliche Folgerung iſt die Lehre von der thieriſchen Abſtammung des Menſchengeſchlechts. Die Beſtimmung der Stellung des Menſchen in der Natur und ſeiner Beziehungen zur Geſammtheit der Dinge, dieſe Frage aller Fragen für die Menſchheit, wie fie Huxley mit Recht nennt, wird durch jene Erkenntniß der thieriſchen Abſtammung des Menſchenge— ſchlechts endgültig gelöſt. Wir gelangen alſo in Folge der von Dar— win reformirten Deſcendenztheorie zum erſten Male in die Lage, eine natürliche Entwickelungsgeſchichte des Menſchenge— ſchlechts wiſſenſchaftlich begründen zu können. Sowohl alle Ver— theidiger, als alle denkenden Gegner Darwins haben anerkannt, daß die Abſtammung des Menſchengeſchlechts zunächſt von affenartigen Säugethieren, weiterhin aber von niederen Wirbelthieren, mit Noth- wendigkeit aus ſeiner Theorie folgt. Allerdings hat Darwin dieſe wichtigſte von allen Folgerungen ſeiner Lehre nicht ſelbſt ausgeſprochen. In ſeinem ganzen Buche fin— det ſich kein Wort von der thieriſchen Abſtammung des Menſchen. Offenbar ging der eben fo vorſichtige als kühne Naturforſcher abficht- lich mit Stillſchweigen darüber hinweg, weil er vorausſah, daß dieſer bedeutendſte von allen Folgeſchlüſſen der Abſtammungslehre zugleich das bedeutendſte Hinderniß für die Verbreitung und Anerkennung derſelben ſein werde. Gewiß hätte Darwins Buch von Anfang an noch weit mehr Widerſpruch und Aergerniß erregt, wenn ſogleich dieſe wichtigſte Konſequenz darin klar ausgeſprochen worden wäre. 6 Die Abſtammungslehre als natürliche Schöpfungsgeſchichte. Jetzt dagegen, wo die Deſcendenztheorie bereits auf unerſchütterlich feſten Füßen ſteht und faſt alle denkenden Naturforſcher von allgemei— nerer Bildung und weiterem Blick offen oder ſtillſchweigend dieſelbe aner- kannt haben, wird uns Nichts mehr hindern können, auch jenen äußerſt bedeutſamen Folgeſchluß derſelben offen zu erörtern, und die ſegens— reichen Wirkungen, welche er auf die fortſchreitende Entwickelung des Menſchengeſchlechts ausüben wird, in Betracht zu ziehen. Offenbar iſt die Tragweite dieſer Folgerung ganz unermeßlich, und keine Wiſſenſchaft wird ſich den Konſequenzen derſelben entziehen können. Die Anthropologie oder die Wiſſenſchaft vom Menſchen wird in allen einzelnen Zweigen dadurch von Grund aus umgeſtaltet. Es wird erſt die ſpätere Aufgabe meiner Vorträge ſein, dieſen beſonderen Punkt zu erörtern. Ich werde die Lehre von der thieriſchen Abſtammung des Menſchen erſt behandeln, nachdem ich Ihnen Dar— wins Theorie in ihrer allgemeinen Begründung und Bedeutung vor— getragen habe. Um es mit einem Worte auszudrücken, ſo iſt jene äußerſt bedeutende, aber die meiſten Menſchen von vorn herein abſto— ßende Folgerung nichts weiter als ein beſonderer Deduktionsſchluß, den wir aus dem allgemeinen Induktionsgeſetz der Deſcendenz— theorie ziehen müſſen. Vielleicht iſt Nichts geeigneter, Ihnen die ganze und volle Bedeu— tung der Abſtammungslehre mit zwei Worten klar zu machen, als die Bezeichnung derſelben mit dem Ausdruck: „Natürliche Schöpfungs— geſchichte.“ Ich habe daher auch ſelbſt dieſe Bezeichnung für die folgenden Vorträge gewählt. Jedoch iſt dieſelbe nur in einem gewiſſen Sinne richtig, und es iſt zu berückſichtigen, daß, ſtreng genommen, der Ausdruck „natürliche Schöpfungsgeſchichte“ einen inneren Wider— ſpruch, eine „Contradictio in adjecto“ einſchließt. Laſſen Sie uns, um dies zu verſtehen, einen Augenblick den Be— griff der Schöpfung etwas näher ins Auge faſſen. Wenn man un— ter Schöpfung die Entſtehung eines Körpers durch eine ſchaf— fende Gewalt oder Kraft verſteht, ſo kann man dabei entweder an die Entſtehung ſeines Stoffes (der körperlichen Materie) Begriff der Schöpfung. Willen und Glauben. 7 oder an die Entſtehung feiner Form (der körperlichen Geftalt) denken. ö Die Schöpfung im erſteren Sinne, als die Entſtehung der Materie, geht uns hier gar nichts an. Dieſer Vorgang, wenn er überhaupt jemals ſtattgefunden hat, iſt gänzlich der menſchlichen Er— kenntniß entzogen, und kann daher auch niemals Gegenſtand natur— wiſſenſchaftlicher Erforſchung ſein. Die Naturwiſſenſchaft hält die Materie für ewig und unvergänglich, weil durch die Erfahrung noch niemals das Entſtehen und Vergehen auch nur des kleinſten Theilchens der Materie nachgewieſen worden iſt. Da wo ein Naturkörper zu verſchwinden ſcheint, wie z. B. beim Verbrennen, beim Verweſen, beim Verdunſten u. ſ. w., da ändert er nur feine Form, feinen phyſikali⸗ ſchen Aggregatzuſtand oder ſeine chemiſche Verbindungsweiſe. Aber noch niemals iſt ein Fall beobachtet worden, daß auch nur das kleinſte Stofftheilchen aus der Welt verſchwunden, oder nur ein Atom zu der bereits vorhandenen Maſſe hinzugekommen iſt. Der Naturforſcher kann ſich daher ein Entſtehen der Materie eben ſo wenig als ein Vergehen derſelben vorſtellen, und betrachtet deshalb die in der Welt beſtehende Quantität der Materie als eine gegebene Thatſache. Fühlt Jemand das Bedürfniß, ſich die Entſtehung dieſer Materie als die Wirkung einer übernatürlichen Schöpfungsthätigkeit, einer außerhalb der Ma- terie ſtehenden ſchöpferiſchen Kraft vorzuſtellen, ſo haben wir Nichts dagegen. Aber wir müſſen bemerken, daß damit auch nicht das Ge— ringſte für eine wiſſenſchaftliche Naturerkenntniß gewonnen iſt. Eine ſolche Vorſtellung von einer immateriellen Kraft, welche die Materie erſt ſchafft, iſt ein Glaubensartikel, welcher mit der menſchlichen Wiſſen— ſchaft gar nichts zu thun hat. Wo der Glaube anfängt, hört die Wiſſenſchaft auf. Beide Thätigkeiten des menſchlichen Gei— ſtes ſind ſcharf von einander zu halten. Der Glaube hat ſeinen Ur— ſprung in der dichtenden Einbildungskraft, das Wiſſen dagegen in dem erkennenden Verſtande des Menſchen. Die Wiſſenſchaft hat die ſegenbringenden Früchte von dem Baume der Erkenntniß zu pflücken, 8 Schöpfungsgeſchichte und Entwickelungsgeſchichte. unbekümmert darum, ob dieſe Eroberungen die dichteriſchen Einbil— dungen der Glaubenſchaft beeinträchtigen oder nicht. Wenn alſo die Naturwiſſenſchaft ſich die „natürliche Schöpfungs⸗ geſchichte“ zu ihrer höchſten, ſchwerſten und lohnendſten Aufgabe macht, ſo kann ſie den Begriff der Schöpfung nur in der zweiten, oben ange— führten Bedeutung verſtehen, als die Entſtehung der Form der Naturkörper. In dieſer Beziehung kann man die Geologie, welche die Entſtehung der geformten anorganiſchen Erdoberfläche und die man- nichfaltigen geſchichtlichen Veränderungen in der Geſtalt der feſten Erd— rinde zu erforſchen ſtrebt, die Schöpfungsgeſchichte der Erde nennen. Ebenſo kann man die Entwickelungsgeſchichte der Thiere und Pflanzen, welche die Entſtehung der belebten Formen, und den mannichfaltigen hiſtoriſchen Wechſel der thieriſchen und pflanzlichen Geſtalten unterſucht, die Schöpfungsgeſchichte der Organismen nennen. Da jedoch leicht in den Begriff der Schöpfung, auch wenn er in dieſem Sinne ge— braucht wird, ſich die unwiſſenſchaftliche Vorſtellung von einem außer— halb der Materie ſtehenden und dieſelbe umbildenden Schöpfer ein— ſchleicht, ſo wird es in Zukunft wohl beſſer ſein, denſelben durch die ſtrengere Bezeichnung der Entwickelungsgeſchichte zu erſetzen. Der hohe Werth, welchen die Entwickelungsgeſchichte für das wiſſenſchaftliche Verſtändniß der Thier- und Pflanzenformen beſitzt, iſt jetzt ſeit mehreren Jahrzehnten ſo allgemein anerkannt, daß man ohne ſie keinen ſicheren Schritt in der organiſchen Morphologie oder Formenlehre thun kann. Jedoch hat man faſt immer unter Entwicke— lungsgeſchichte nur einen Theil dieſer Wiſſenſchaft, nämlich diejenige der organiſchen Individuen oder Einzelweſen verſtanden, welche ge— wöhnlich Embryologie, richtiger und umfaſſender aber Ontogenie genannt wird. Außer dieſer giebt es aber auch noch eine Entwicke— lungsgeſchichte der organiſchen Arten, Klaſſen und Stämme (Phylen), welche zu der erſteren in den wichtigſten Beziehungen ſteht. Das Material dafür liefert uns die Verſteinerungskunde oder Paläontologie, welche uns zeigt, daß jeder Stamm (Phylum) von Thieren und Pflan— zen während der verſchiedenen Perioden der Erdgeſchichte durch eine Individuelle und paläontologiſche Eutwickelungsgeſchichte. 9 Reihe von ganz verſchiedenen Klaſſen und Arten vertreten war. So war z. B. der Stamm der Wirbelthiere durch die Klaſſen der Fiſche, Amphibien, Reptilien, Vögel und Säugethiere vertreten, und jede dieſer Klaſſen zu verſchiedenen Zeiten durch ganz verſchiedene Arten. Dieſe paläontologiſche Entwickelungsgeſchichte der Organismen, welche man als Stammesgeſchichte oder Phylogenie bezeichnen kann, ſteht in den wichtigſten und merkwürdigſten Beziehungen zu dem andern Zweige der organiſchen Entwickelungsgeſchichte, derjenigen der In— dividuen oder der Ontogenie. Die letztere läuft der erſteren im Gro— ßen und Ganzen parallel. Um es kurz mit einem Satze zu ſagen, ſo iſt die individuelle Entwickelungsgeſchichte oder die Ontogenie eine kurze und ſchnelle, durch die Geſetze der Vererbung und Anpaſſung bedingte Wiederholung oder Rekapitulation der paläontologiſchen Ent— wickelungsgeſchichte oder der Phylogenie. Da ich Ihnen dieſe höchſt intereſſante und bedeutſame Thatſache ſpäter noch ausführlicher zu erläutern habe, ſo will ich mich hier nicht dabei weiter aufhalten, und nur hervorheben, daß dieſelbe einzig und allein durch die Abſtammungslehre erklärt und in ihren Urſachen ver— ſtanden wird, während ſie ohne dieſelbe gänzlich unverſtändlich und unerklärlich bleibt. Die Deſcendenztheorie erklärt uns dabei zugleich, warum überhaupt die einzelnen Thiere und Pflanzen ſich entwickeln müſſen, warum dieſelben nicht gleich in fertiger und entwickelter Form ins Leben treten. Keine übernatürliche Schöpfungsgeſchichte vermag uns das große Räthſel der organiſchen Entwickelung irgendwie zu er— klären. Ebenſo wie auf dieſe hochwichtige Frage giebt uns Darwins Theorie auch auf alle anderen allgemeinen biologiſchen Fragen voll— kommen befriedigende Antworten, und zwar immer Antworten, welche rein mechaniſch⸗cauſaler Natur find, welche lediglich natürliche, phyſi— kaliſch⸗chemiſche Kräfte als die Urſachen von Erſcheinungen nachweiſen, welche man früher gewohnt war, der unmittelbaren Einwirkung über— natürlicher, ſchöpferiſcher Kräfte zuzuſchreiben. Von ganz beſonderem Intereſſe ſind von dieſen allgemeinen biolo— giſchen Phänomenen diejenigen, welche ganz unvereinbar ſind mit der 10 Rudimeutäre oder unzweckmäßige Organe. gewöhnlichen Annahme, daß jeder Organismus das Produkt einer zweckmäßig bauenden Schöpferkraft ſei. Nichts hat in dieſer Bezie— hung der früheren Naturforſchung ſo große Schwierigkeiten verurſacht, als die Deutung der ſogenannten „rudimentären Organe“, derje- nigen Theile im Thier- und Pflanzenkörper, welche eigentlich ohne Lei— ſtung, ohne phyſiologiſche Bedeutung, und dennoch formell vorhanden ſind. Dieſe Theile erregen das allerhöchſte Intereſſe, obwohl ſie den mei— ſten Laien gar nicht oder nur wenig bekannt ſind. Faſt jeder Organismus, faſt jedes Thier und jede Pflanze, beſitzt neben den ſcheinbar äußerſt zweckmäßigen Einrichtungen ſeiner Geſammtorganiſation, eine Reihe von Einrichtungen, deren Zweck durchaus nicht einzuſehen iſt. Beiſpiele davon finden ſich überall. Bei den Embryonen mancher Wiederkäuer, unter Andern bei unſerm gewöhnlichen Rindvieh, ſte— hen Schneidezähne im Zwiſchenkiefer der oberen Kinnlade, welche nie— mals zum Durchbruch gelangen, alſo auch keinen Zweck haben. Die Embryonen mancher Wallfiſche, welche ſpäterhin die bekannten Bar— ten ſtatt der Zähne beſitzen, tragen, ſo lange ſie noch nicht geboren ſind und keine Nahrung zu ſich nehmen, dennoch Zähne in ihrem Kiefer; auch dieſes Gebiß tritt niemals in Thätigkeit. Ferner beſitzen die meiſten höheren Thiere Muskeln, die nie zur Anwendung kommen; ſelbſt der Menſch beſitzt ſolche rudimentäre Muskeln. Die Meiſten von uns ſind nicht fähig, ihre Ohren willkürlich zu bewegen, obwohl die Muskeln für dieſe Bewegung vorhanden ſind, und obwohl es ein— zelnen Perſonen, die ſich andauernd Mühe geben, dieſe Muskeln zu üben, in der That gelingt, ihre Ohren zu bewegen. In dieſen noch jetzt vorhandenen, aber verkümmerten Organen, welche dem vollſtändigen Verſchwinden entgegen gehen, iſt es noch möglich, durch beſondere Uebung, durch andauernden Einfluß der Willensthätigkeit des Nerven— ſyſtems, die beinah erloſchene Thätigkeit wieder zu beleben. Auch noch an anderen Stellen feines Körpers beſitzt der Menſch ſolche rudimen— täre Organe, welche durchaus von keiner Bedeutung für das Leben ſind und niemals funktioniren. Zu den ſchlagendſten Beiſpielen von rudimentären Organen gehö- Rudimentäxe oder unzweckmäßige Organe. 11 ren die Augen, welche nicht ſehen. Solche finden ſich bei ſehr vielen Thieren, welche im Dunkeln: z. B. in Höhlen, unter der Erde leben. Die Augen ſind hier oft wirklich in ausgebildetem Zuſtande vorhanden; aber ſie ſind von der Haut bedeckt, ſo daß kein Lichtſtrahl in ſie hin⸗ einfallen kann, und ſie alſo auch niemals ſehen können. Solche Augen ohne Geſichtsfunktion beſitzen z. B. mehrere Arten von unterir⸗ diſch lebenden Maulwürfen und Blindmäuſen, von Schlangen und Eidechſen, von Amphibien Proteus, Caecilia) und von Fiſchen; ferner zahlreiche wirbelloſe Thiere, die im Dunkeln ihr Leben zubringen: viele Käfer, Krebsthiere, Schnecken, Würmer u. ſ. w. Eine Fülle der intereſſanteſten Beiſpiele von rudimentären Orga— nen liefert die vergleichende Oſteologie oder Skeletlehre der Wirbelthiere, einer der anziehendſten Zweige der vergleichenden Anatomie. Bei den allermeiſten Wirbelthieren finden wir zwei Paar Gliedmaaßen am Rumpf, ein Paar Vorderbeine und ein Paar Hinterbeine. Sehr häufig iſt jedoch das eine oder das andere Paar derſelben verkümmert, ſeltener beide, wie bei den Schlangen und einigen aalartigen Fiſchen. Aber einige Schlangen, z. B. die Rieſenſchlangen (Boa, Python) ha— ben hinten noch einige unnütze Knochenſtückchen im Leibe, welche die Reſte der verloren gegangenen Hinterbeine ſind. Ebenſo haben die wallfiſchartigen Säugethiere (Cetaceen), welche nur entwickelte Vor⸗ derbeine (Bruſtfloſſen) beſitzen, hinten im Fleiſche noch ein Paar ganz überflüſſige Knochen, welche ebenfalls Ueberbleibſel der verkümmerten Hinterbeine ſind. Daſſelbe gilt von vielen echten Fiſchen, bei denen in gleicher Weiſe die Hinterbeine (Bauchfloſſen) verloren gegangen ſind. Umgekehrt beſitzen unſere Blindſchleichen (Anguis) und einige andere Eidechſen inwendig ein vollſtändiges Schultergerüſte, obwohl die Vor— derbeine, zu deren Befeſtigung daſſelbe dient, nicht mehr vorhanden ſind. Ferner finden ſich bei verſchiedenen Wirbelthieren die einzelnen Knochen der beiden Beinpaare in allen verſchiedenen Stufen der Verkümmerung, und oft die rückgebildeten Knochen und die zugehöri— gen Muskeln ſtückweiſe erhalten, ohne doch irgendwie eine Verrichtung 12 Rudimentäre oder unzweckmäßige Organe. ausführen zu können. Das Inſtrument iſt noch da, aber es kann nicht mehr ſpielen. Faſt ganz allgemein finden Sie ferner rudimentäre Organe in den Pflanzenblüthen vor, indem der eine oder der andere Theil der männli— chen Fortpflanzungsorgane (der Staubfäden und Staubbeutel), oder der weiblichen Fortpflanzungsorgane (Griffel, Fruchtknoten u. ſ. w.) mehr oder weniger verkümmert oder „fehlgeſchlagen“ (abortirt) iſt. Auch hier können Sie bei verſchiedenen, nahe verwandten Pflanzenarten das Organ in allen Graden der Rückbildung verfolgen. So z. B. iſt die große natürliche Familie der lippenblüthigen Pflanzen (Labiaten), zu welcher Meliſſe, Pfefferminze, Majoran, Gundelrebe, Thymian u. ſ. w. gehören, dadurch ausgezeichnet, daß die rachenförmige, zweilippige Blu— menkrone zwei lange und zwei kurze Staubfäden enthält. Allein bei vielen einzelnen Pflanzen dieſer Familie, z. B. bei verſchiedenen Salbei— arten und beim Rosmarin, iſt nur das eine Paar der Staubfäden aus— gebildet, und das andere Paar iſt mehr oder weniger verkümmert, oft „ganz verſchwunden. Bisweilen find die Staubfäden vorhanden, aber ohne Staubbeutel, ſo daß ſie ganz unnütz ſind. Seltener aber findet ſich ſogar noch das Rudiment oder der verkümmerte Reſt eines fünften Staubfadens, ein phyſiologiſch (für die Lebensverrichtung) ganz nutz— loſes, aber morphologiſch (für die Erkenntniß der Form und der na— türlichen Verwandtſchaft) äußerſt werthvolles Organ. In meiner ge— nerellen Morphologie der Organismen“) habe ich in dem Abſchnitt von der „Unzweckmäßigkeitslehre oder Dyſteleologie“ noch eine große Anzahl von anderen derartigen Beiſpielen angeführt (Gen. Morph. II., 266). Keine biologiſche Erſcheinung hat wohl jemals die Zoologen und Botaniker in größere Verlegenheit verſetzt als dieſe rudimentären, oder abortiven (verkümmerten) Organe. Es ſind Werkzeuge außer Dienſt, Körpertheile, welche da ſind, ohne etwas zu leiſten, zweckmä— ßig eingerichtet, ohne ihren Zweck in Wirklichkeit zu erfüllen. Wenn man die Verſuche betrachtet, welche die früheren Naturforſcher zur Erklärung dieſes Räthſels machten, kann man ſich in der That kaum Verkümmerung der Organe durch Nichtgebrauch. 13 eines Lächelns über die ſeltſamen Vorſtellungen, zu denen ſie geführt wurden, erwehren. Außer Stande, eine wirkliche Erklärung zu finden, kam man z. B. zu dem Endreſultate, daß der Schöpfer „der Sym— metrie wegen“ dieſe Organe angelegt habe; oder man nahm an, es ſei dem Schöpfer unpaſſend oder unverſtändig erſchienen, daß dieſe Organe bei denjenigen Organismen, bei denen ſie nicht leiſtungsfähig ſind, und ihrer ganzen Lebensweiſe nach nicht ſein können, völlig fehlten, während die nächſten Verwandten ſie beſäßen, und zum Erſatz für die mangelnde Funktion habe er ihnen wenigſtens die äußere Aus— ſtattung der leeren Form verliehen; ungefähr ſo, wie die uniformir— ten Civilbeamten bei Hofe mit einem unſchuldigen Degen ausgeſtattet ſind, den ſie niemals aus der Scheide ziehen. Ich glaube aber kaum, daß Sie von einer ſolchen Erklärung befriedigt ſein werden. Nun wird gerade dieſe allgemein verbreitete und räthſelhafte Er— ſcheinung der rudimentären Organe, an welcher alle übrigen Erklä— rungsverſuche ſcheitern, vollkommen erklärt, und zwar in der einfach- ſten und einleuchtendſten Weiſe erklärt durch Darwins Theorie von der Vererbung und von der Anpaſſung. Wir können die wich— tigen Geſetze der Vererbung und Anpaſſung an den Hausthieren und Kulturpflanzen, welche wir künſtlich züchten, verfolgen, und es iſt be— reits eine Reihe ſolcher Vererbungsgeſetze feſtgeſtellt worden. Ohne jetzt auf dieſe einzugehen, will ich nur vorausſchicken, daß einige da- von auf mechaniſchem Wege die Entſtehung der rudimentären Organe vollkommen erklären, ſo daß wir das Auftreten derſelben als einen ganz natürlichen Prozeß anſehen müſſen, bedingt durch den Nichtgebrauch der Organe. Durch Anpaſſung an beſondere Lebensbedingun— gen ſind die früher thätigen und wirklich arbeitenden Organe allmählich nicht mehr gebraucht worden und außer Dienſt getreten. In Folge der mangelnden Uebung ſind ſie mehr und mehr ſchwächer geworden, trotz— dem aber immer noch durch Vererbung von einer Generation auf die andere übertragen worden, bis ſie endlich größtentheils oder ganz verſchwanden. Wenn wir annehmen, daß alle oben angeführten Wir- belthiere von einem einzigen gemeinſamen Stammvater abſtammen, * 14 Gegenſatz der beiden grundverſchiedenen Weltanſchauungen. welcher zwei ſehende Augen und zwei wohl entwickelte Beinpaare beſaß, ſo erklärt ſich ganz einfach der verſchiedene Grad der Verküm— merung und Rückbildung dieſer Organe bei ſolchen Nachkommen des— ſelben, welche dieſe Theile nicht mehr gebrauchen konnten. Ebenſo erklärt ſich vollſtändig der verſchiedene Ausbildungsgrad der urſprüng— lich (in der Blüthenknospe) angelegten fünf Staubfäden bei den La— biaten, wenn wir annehmen, daß alle Pflanzen dieſer Familie von einem gemeinſamen, mit fünf Staubfäden ausgeſtatteten Stammva⸗ ter abſtammen. Ich habe Ihnen die Erſcheinung der rudimentären Organe ſchon jetzt etwas ausführlicher vorgeführt, weil dieſelbe von der allergrößten allgemeinen Bedeutung iſt, und weil ſie uns auf die großen, allge— meinen, tiefliegenden Grundfragen der Philoſophie und der Natur— wiſſenſchaft hinführt, für deren Löſung Darwin's Theorie nun— mehr der unentbehrliche Leitſtern geworden iſt. Sobald wir nämlich, dieſer Theorie entſprechend, die ausſchließliche Wirkſamkeit phyſikaliſch— chemiſcher Urſachen ebenſo in der lebenden (organiſchen) Körperwelt, wie in der ſogenannten lebloſen (anorganiſchen) Natur anerkennen, ſo räumen wir damit jener Weltanſchauung die ausſchließliche Herr— ſchaft ein, welche man mit dem Namen der mechaniſchen bezeichnen kann, und welche gegenüberſteht der teleologiſchen Auffaſſung. Wenn Sie alle Weltanſchauungsformen der verſchiedenen Völker und Zeiten mit einander vergleichend zuſammenſtellen, können Sie dieſelben ſchließlich alle in zwei ſchroff gegenüberſtehende Gruppen bringen: eine caufale oder mechaniſtiſche und eine teleologiſche oder vitaliſtiſche. Die letztere war in der Biologie bisher allgemein herrſchend. Man ſah danach das Thierreich und das Pflanzenreich als Produkte einer zweckmäßig wirkſamen, ſchöpferiſchen Thätigkeit an. Bei dem Anblick jedes Organismus ſchien ſich zunächſt unabweislich die Ueberzeugung aufzudrängen, daß eine ſo künſtliche Maſchine, ein ſo verwickelter Bewegungs-Apparat, wie es der Organismus iſt, nur hervorgebracht werden könne durch eine Thätigkeit, welche analog, ob— wohl unendlich viel vollkommener iſt, als die Thätigkeit des Menſchen Mechaniſche oder canfale und teleologiſche oder vitale Weltanſchauung. 15 bei der Konſtruktion feiner Maſchinen. Wie erhaben man auch die früheren Vorſtellungen des Schöpfers und ſeiner ſchöpferiſchen Thätig— keit faſſen, wie ſehr man ſie aller menſchlichen Analogie entkleiden mag, ſo bleibt doch im letzten Grunde bei der teleologiſchen Naturauf— faſſung dieſe Analogie unabweislich und nothwendig. Man muß ſich im Grunde dann immer den Schöpfer ſelbſt als einen Organismus vorſtellen, als ein Weſen, welches, analog dem Menſchen, wenn auch in unendlich vollkommnerer Form, über ſeine bildende Thätigkeit nach— denkt, den Plan der Maſchinen entwirft, und dann mittelſt Anwendung geeigneter Materialien dieſe Maſchinen zweckentſprechend ausführt. Alle dieſe Vorſtellungen leiden nothwendig an der Grundſchwäche des Anthropomorphismus oder der Vermenſchlichung. Es werden dabei, wie hoch man ſich auch den Schöpfer vorſtellen mag, demſelben die menſchlichen Attribute beigelegt, einen Plan zu entwerfen und danach den Organismus zweckmäßig zu conſtruiren. Das wird auch von derjenigen Anſchauung, welche Darwins Lehre am ſchroff— ſten gegenüber ſteht, und welche unter den Naturforſchern ihren bedeu— tendſten Vertreter in Ag aſſiz gefunden hat, ganz klar ausgeſprochen. Das berühmte Werk (Essay on classification) von Agaſſiz, welches dem Darwinſchen Werke vollkommen entgegengeſetzt iſt, und faſt gleichzeitig erſchien, hat ganz folgerichtig jene anthropomorphiſchen Vorſtellungen vom Schöpfer bis zum höchſten Grade ausgebildet. Ich werde Gelegenheit haben, auf dieſelben noch wiederholt zurückzu— kommen, weil ſie in der That nicht weniger zu Gunſten unſerer Lehre ſprechen, als alle poſitiven Beweiſe, welche wir dafür beibringen werden. Was jene Zweckmäßigkeit in der Natur betrifft, ſo iſt ſie überhaupt nur vorhanden für denjenigen, welcher die Erſcheinun— gen im Thier- und Pflanzenleben durchaus oberflächlich betrachtet. Schon jene rudimentären Organe mußten dieſer Lehre einen harten Stoß verſetzen. Jeder aber, der tiefer in die Organiſation und Lebens— weiſe der verſchiedenen Thiere und Pflanzen eindringt, der ſich mit der Wechſelwirkung der Lebenserſcheinungen und der ſogenannten „Oeko— 16 Unzweckmäßigkeit und Unfriede in der Natur. nomie der Natur“ vertrauter macht, kommt nothwendig zu der An— ſchauung, daß dieſe Zweckmäßigkeit leider nicht exiſtirt, ſo wenig als etwa die vielgerühmte Allgüte des Schöpfers. Wenn Sie das Zu— ſammenleben und die gegenſeitigen Beziehungen der Pflanzen und der Thiere (mit Inbegriff des Menſchen) näher betrachten, ſo finden Sie überall und zu jeder Zeit das Gegentheil von jenem gemüthlichen und friedlichen Beiſammenſein, welches die Güte des Schöpfers den Geſchöpfen hätte bereiten müſſen, vielmehr finden Sie überall einen ſchonungsloſen, höchſt erbitterten Kampf Aller gegen Alle. Nirgends in der Natur, wohin Sie auch Ihre Blicke lenken mögen, iſt jener idylliſche, von den Dichtern beſungene Friede vorhanden, — vielmehr überall Kampf, Streben nach Vernichtung des Nächſten und nach Vernichtung der direkten Gegner. Leidenſchaft und Selbſtſucht, bewußt oder unbewußt, iſt überall die Triebfeder des Lebens. Das bekannte Dichterwort: „Die Natur iſt vollkommen überall, Wo der Menſch nicht hinkommt mit ſeiner Qual“ iſt ſchön, aber leider nicht wahr. Vielmehr bildet auch in dieſer Be— ziehung der Menſch keine Ausnahme von der übrigen Thierwelt. Die Betrachtungen, welche wir bei der Lehre vom „Kampf ums Da— ſein“ anzuſtellen haben, werden dieſe Behauptung zur Genüge recht— fertigen. Es war auch Darwin, welcher gerade dieſen wichtigen Punkt in ſeiner hohen und allgemeinen Bedeutung recht klar vor Augen ſtellte, und derjenige Abſchnitt ſeiner Lehre, welchen er ſelbſt den „Kampf ums Daſein“ nennt, iſt einer der wichtigſten Theile derſelben. Wenn wir alſo jener vitaliſtiſchen oder teleologiſchen Betrachtung der lebendigen Natur, welche die Thier- und Pflanzenformen als Pro- dukte eines gütigen und zweckmäßig thätigen Schöpfers oder einer zweckmäßig thätigen ſchöpferiſchen Naturkraft anſieht, durchaus ent— gegenzutreten gezwungen ſind, ſo müſſen wir uns entſchieden jene Welt— anſchauung aneignen, welche man die mechaniſche oder caufale nennt. Man kann fie auch als die moniſtiſche oder einheitliche bezeichnen, im Gegenſatz zu der zwieſpältigen oder dualiſti— Moniſtiſche Anorganologie und dualiſtiſche Biologie. 17 ſchen Anſchauung, welche in jener teleologiſchen Weltauffaſſung noth— wendig enthalten iſt. Die mechaniſche Naturbetrachtung iſt ſeit Jahr— zehnten auf gewiſſen Gebieten der Naturwiſſenſchaft ſo ſehr eingebür— gert, daß hier über die entgegengeſetzte kein Wort mehr verloren wird. Es fällt keinem Phyſiker oder Chemiker, keinem Mineralogen oder Aſtronomen mehr ein, in den Erſcheinungen, welche ihm auf ſeinem wiſ— ſenſchaftlichen Gebiete fortwährend vor Augen kommen, die Wirkſam— keit eines zweckmäßig thätigen Schöpfers vorzufinden oder aufzuſuchen. Man betrachtet die Erſcheinungen, welche auf jenen Gebieten zu Tage treten, allgemein und ohne Widerſpruch als die nothwendigen und un— abänderlichen Wirkungen der phyſikaliſchen und chemiſchen Kräfte, welche an dem Stoffe oder der Materie haften und inſofern iſt dieſe Anſchauung rein materialiſtiſch, in einem gewiſſen Sinne dieſes viel— deutigen Wortes. Wenn der Phyſiker die Bewegungserſcheinungen der Elektricität oder des Magnetismus, den Fall eines ſchweren Körpers oder die Schwingungen der Lichtwellen verfolgt, ſo iſt er bei dieſer Arbeit durchaus davon entfernt, das Eingreifen einer übernatürlichen ſchöpferiſchen Kraft anzunehmen. In dieſer Beziehung befand ſich bisher die Biologie als die Wiſſenſchaft von den ſogenannten „bele b— ten“ Naturkörpern, in großem Gegenſatz zu jenen vorher genannten anorganiſchen Naturwiſſenſchaften (der Anorganologie). Zwar hat die neuere Phyſiologie, die Lehre von den Bewegungserſcheinungen der Thier⸗ und Pflanzenkörper, den mechaniſchen Standpunkt der letzteren vollkommen angenommen; allein die Morphologie, die Wiſſenſchaft von den Formen der Thiere und der Pflanzen, ſchien dadurch gar nicht berührt zu werden. Die Morphologen behandelten nach wie vor, und größtentheils noch heutzutage, im Gegenſatz zu jener mechani— ſchen Betrachtung der Leiſtungen, die Formen der Thiere und Pflan- zen als etwas, was durchaus nicht mechaniſch erklärbar ſei, was noth— wendig einer höheren, übernatürlichen, zweckmäßig thätigen Schöpfer kraft ſeinen Urſprung verdanken müſſe. Dabei war es ganz gleichgül— tig, ob man dieſe Schöpferkraft als perſönlichen Gott anbetete, oder Haeckel, Natürliche Schöpfungsgeſchichte. 2 18 Einheit der organiſchen und anorganiſchen Natur. ob man ſie Lebenskraft (vis vitalis) oder Endurſache (causa finalis) nannte. In allen Fällen flüchtete man hier, um es mit einem Worte zu ſagen, zum Wunder als der Erklärung. Man warf ſich einer Glaubensdichtung in die Arme, welche als ſolche auf dem Gebiete na— turwiſſenſchaftlicher Erkenntniß durchaus keine Geltung haben kann. Alles nun, was vor Darwin geſchehen iſt, um eine natürliche, mechaniſche Auffaſſung von der Entſtehung der Thier- und Pflanzen- formen zu begründen, vermochte dieſe nicht zum Durchbruch und zu allgemeinerer Anerkennung zu bringen. Dies gelang erſt Darwins Lehre, und hierin liegt ein unermeßliches Verdienſt derſelben. Denn es wird dadurch die Anſicht von der Einheit der organiſchen und der anorganiſchen Natur feſt begründet; und derjenige. Theil der Naturwiſſenſchaft, welcher bisher am längſten und am hart— näckigſten ſich einer mechaniſchen Auffaſſung und Erklärung widerſetzte, die Lehre vom Bau der lebendigen Formen, von der Bedeutung und dem Entſtehen derſelben, wird dadurch mit allen übrigen naturwiſſen— ſchaftlichen Lehren auf einen und denſelben Weg der Vollendung ge— bracht. Es wird die Einheit aller Naturerſcheinungen dadurch end— gültig feſtgeſtellt. Dieſe Einheit der ganzen Natur, die Beſeelung aller Materie, die Untrennbarkeit der geiſtigen Kraft und des körperlichen Stoffes hat Goethe mit den Worten behauptet: „die Materie kann nie ohne Geiſt, der Geiſt nie ohne Materie exiſtiren und wirkſam fein“. Von den großen moniſtiſchen Philoſophen aller Zeiten ſind dieſe oberſten Grundſätze der mechaniſchen Weltanſchauung vertreten worden. Schon Demokritus von Abdera, der unſterbliche Begründer der Atomen— lehre, ſprach dieſelben faſt ein halbes Jahrtauſend vor Chriſtus klar aus, ganz vorzüglich aber der große Dominikanermönch Giordano Bruno. Dieſer wurde dafür am 17. Februar 1600 in Rom von der chriſtlichen Inquiſition auf dem Scheiterhaufen verbrannt, an demſel—⸗ ben Tage, an welchem 36 Jahre früher ſein großer Landsmann und Kampfesgenoſſe Galilei geboren wurde. Solche Männer, die für eine große Idee leben und ſterben, pflegt man „Materialiſten“ zu nen⸗ Endgültige Begründung der moniſtiſchen Naturauffaſſung. 19 nen, ihre Gegner aber, deren Beweisgründe Tortur und Scheiter— haufen ſind, „Idealiſten“. Durch Darwins Lehre wird es uns zum erſtenmal möglich, dieſe Einheit der Natur ſo zu begründen, daß eine mechaniſch-cauſale Erklärung auch der verwickeltſten organiſchen Erſcheinungen z. B. der Entſtehung und Einrichtung der Sinnesorgane, in der That nicht mehr Schwierigkeiten für das allgemeine Verſtändniß hat, als die me— chaniſche Erklärung irgend eines phyſikaliſchen Prozeſſes, wie es z. B. in der Meteorologie die Richtung des Windes oder die Strömungen des Meeres ſind. Wir gelangen dadurch zu der äußerſt wichtigen Ueberzeugung, daß alle Naturkörper, die wir kennen, gleich— mäßig belebt ſind, daß der Gegenſatz, welchen man zwiſchen leben— diger und todter Körperwelt aufſtellte, nicht exiſtirt. Wenn ein Stein, frei in die Luft geworfen, nach beſtimmten Geſetzen zur Erde fällt, oder wenn in einer Salzlöſung ſich ein Kryſtall bildet, ſo iſt dieſe Er— ſcheinung nicht mehr und nicht minder eine mechaniſche Lebenserſchei— nung, als das Wachsthum oder das Blühen der Pflanzen, als die Fortpflanzung oder die Sinnesthätigkeit der Thiere, als die Empfin— dung oder die Gedankenbildung des Menſchen In dieſer Herſtel— lung der einheitlichen oder moniſtiſchen Naturauffaſ— ſung liegt das höchſte und allgemeinſte Verdienſt der von Darwin reformirten Abſtammungslehre. Zweiter Vortrag. Wiſſenſchaftliche Berechtigung der Deſcendenztheorie. Schöpfungsgeſchichte nach Linne. Die Abſtammungslehre oder Deſcendenztheorie als die einheitliche Erklärung der organiſchen Naturerſcheinungen durch natürliche wirkende Urſachen. Vergleichung derſelben mit Newtons Gravitationstheorie. Zwingende Nothwendigkeit ihrer Annahme und allgemeine Verpflichtung der Naturforſcher zu derſelben. Die Abſtammungslehre als feſtbegründete wiſſenſchaftliche Theorie. Mangel jeder anderen Erklärung der or⸗ ganiſchen Schöpfung. Grenzen der wiſſenſchaftlichen Erklärung und der menſchlichen Erkenntniß überhaupt. Alle Erkenntniß urſprünglich durch ſinnliche Erfahrung bedingt, apoſteriori, daher beſchränkt. Uebergang der apoſterioriſchen Erkenntniſſe durch Vererbung in aprioriſche Erkenntniſſe. Gegenſatz der übernatürlichen Schö⸗ pfungshypotheſen von Linné, Cuvier, Agaſſiz, und der natürlichen Entwickelungstheo⸗ rien von Lamarck, Göthe, Darwin. Zuſammenhang der erſteren mit der moniſtiſchen (mechaniſchen), der letzteren mit der dualiſtiſchen (teleologiſchen) Weltanſchauung. Schöpfungsgeſchichte des Moſes. Ihre Vorzüge und Irrthümer. Linné als Begrün⸗ der der ſyſtematiſchen Naturbeſchreibung und Artunterſcheidung. Linnes Claſſification und binäre Nomenclatur. Bedeutung des Speciesbegriffs bei Linné. Seine Schö⸗ pfungsgeſchichte. Linnés Anſicht von der Entſtehung der Arten. Meine Herren! Der Werth, den jede naturwiſſenſchaftliche Theo— rie beſitzt, wird ſowohl durch die Anzahl und das Gewicht der zu er— klärenden Gegenſtände gemeſſen, als auch durch die Einfachheit und Allgemeinheit der Urſachen, welche als Erklärungsgründe benutzt wer— Vergleichung von Darwins und Newtons Theorie. 21 den. Je größer einerſeits die Anzahl, je wichtiger die Bedeutung der durch die Theorie zu erklärenden Erſcheinungen iſt, und je einfacher andrerſeits, je allgemeiner die Urſachen ſind, welche die Theorie zur Erklärung in Anſpruch nimmt, deſto höher iſt ihr wiſſenſchaftlicher Werth, deſto ſicherer bedienen wir uns ihrer Leitung, deſto mehr ſind wir verpflichtet zu ihrer Annahme, Denken Sie z. B. an diejenige Theorie, welche bisher als der größte Erwerb des menſchlichen Geiſtes galt, an die Gravitations⸗ theorie, welche der Engländer Newton vor 200 Jahren in ſeinen mathematiſchen Principien der Naturphiloſophie begründete. Hier fin⸗ den Sie das zu erklärende Objekt ſo groß genommen als Sie es nur denken können. Er unternahm es, die Bewegungserſcheinungen der Planeten und den Bau des Weltgebäudes auf mathematiſche Geſetze zurückzuführen. Als die höchſt einfache Urſache dieſer verwickelten Bewegungserſcheinungen begründete Newton das Geſetz der Schwere oder der Maſſenanziehung, daſſelbe, welches die Urſache des Falles der Körper, der Adhäſion, der Cohäſion und vieler anderen Erſchei— nungen iſt. Wenn Sie nun den gleichen Maßſtab an die Theorie Darwins anlegen, ſo müſſen Sie zu dem Schluß kommen, daß dieſe ebenfalls zu den größten Eroberungen des menſchlichen Geiſtes gehört, und daß ſie ſich unmittelbar neben die Gravitationstheorie Newtons ſtellen kann. Vielleicht erſcheint Ihnen dieſer Ausſpruch übertrieben oder wer nigſtens ſehr gewagt; ich hoffe Sie aber im Verlauf dieſer Vorträge zu überzeugen, daß dieſe Schätzung nicht zu hoch gegriffen iſt. In der vorigen Stunde wurden bereits einige der wichtigſten und allgemein- ſten Erſcheinungen aus der organiſchen Natur namhaft gemacht, welche durch Darwins Theorie erklärt werden. Dahin gehören vor Allen die Formveränderungen, welche die individuelle Entwickelung der Organismen begleiten, äußerſt mannichfaltige und verwickelte Er- ſcheinungen, welche bisher einer mechaniſchen Erklärung, d. h. einer Zurückführung auf wirkende Urſachen die größten Schwierigkeiten in den Weg legten. Wir haben die rudimentären Organe erwähnt, 22 Erklärungsgebiet der Defcendenztheorie. jene außerordentlich merkwürdigen Einrichtungen in den Thier- und Pflanzenkörpern, welche keinen Zweck haben, welche jeder teleologi— ſchen, jeder nach einem Endzweck des Organismus ſuchenden Erklä— rung vollſtändig widerſprechen. Es ließe ſich noch eine große Anzahl von anderen Erſcheinungen anführen, die nicht minder wichtig ſind, die bisher nicht minder räthſelhaft erſchienen, und die in der einfachſten Weiſe durch die von Darwin reformirte Abſtammungslehre erklärt werden. Ich erwähne vorläufig noch die Erſcheinungen, welche uns die geographiſche Verbreitung der Thier- und Pflan— zenarten auf der Oberfläche unſeres Planeten, ſowie die geologi— ſche Vertheilung der ausgeſtorbenen und verſteinerten Organismen in den verſchiedenen Schichten der Erdrinde darbietet. Auch dieſe wichtigen paläontologiſchen und geographiſchen Geſetze, wel— che wir bisher nur als Thatſachen kannten, werden durch die Abſtam— mungslehre in ihren wirkenden Urſachen erkannt. Daſſelbe gilt fer- ner von allen allgemeinen Geſetzen der vergleichenden Anatomie, insbeſondere von dem großen Geſetze der Arbeitstheilung oder Sonderung (Polymorphismus oder Differenzirung), einem Geſetze welches ebenſo in der ganzen menſchlichen Geſellſchaft, wie in der Or— ganiſation des einzelnen Thier- und Pflanzenkörpers die wichtigſte geſtaltende Urſache iſt, diejenige Urſache, welche ebenſo eine immer größere Mannichfaltigkeit, wie eine fortſchreitende Entwickelung der organiſchen Formen bedingt. In gleicher Weiſe, wie dieſes bisher nur als That— ſache erkannte Geſetz der Arbeitstheilung, wird auch das Geſetz der fortſchreitenden Entwickelung, oder das Geſetz des Fortſchritts, welches wir ebenſo in der Geſchichte der Völker, wie in der Geſchichte der Thiere und Pflanzen überall wirkſam wahrnehmen, in feinem Ur- ſprung durch die Abſtammungslehre erklärt. Und wenn Sie endlich Ihre Blicke auf das große Ganze der organiſchen Natur richten, wenn Sie vergleichend alle einzelnen großen Erſcheinungsgruppen dieſes un— geheuren Lebensgebietes zuſammenfaſſen, ſo ſtellt ſich Ihnen daſſelbe im Lichte der Abſtammungslehre nicht mehr als das künſtlich ausge— dachte Werk eines planmäßig bauenden Schöpfers dar, ſondern als Erklärungsgründe der Deſcendenztheorie. 23 die nothwendige Folge wirkender Urſachen, welche in der chemiſchen Zuſammenſetzung der Materie ſelbſt liegen. Man kann alſo im weiteſten Umfang behaupten, und ich werde dieſe Behauptung im Verlaufe meiner Vorträge rechtfertigen, daß die Abſtammungslehre wie fie durch Darwin ausgebildet wurde der erſte Verſuch iſt, die Geſammtheit aller organiſchen Naturerſcheinungen auf ein einziges Geſetz zurückzuführen, eine einzige wirkende Urſache für das unendlich verwickelte Getriebe dieſer ganzen reichen Erſcheinungswelt aufzufinden. In dieſer Beziehung ftellt fie ſich ebenbürtig Newtons Gravitationstheorie an die Seite. Aber auch die Erklärungsgründe ſind hier nicht minder einfach, wie dort. Es ſind nicht neue, bisher unbekannte Eigenſchaften des Stoffes, welche Darwin zur Erklärung dieſer höchſt verwickelten Er- ſcheinungswelt herbeizieht; es ſind nicht etwa Entdeckungen neuer Verbindungsverhältniſſe der Materien, oder neuer Organiſations- kräfte derſelben; ſondern es iſt lediglich die außerordentlich geiftvolle Verbindung, die ſynthetiſche Zuſammenfaſſung und denkende Verglei— chung einer Anzahl längſt bekannter Thatſachen, durch welche Dar⸗ win das „heilige Räthſel“ der lebendigen Formenwelt löſt. Die erſte Rolle ſpielt dabei die Erwägung der Wechſelbeziehungen, welche zwi— ſchen zwei allgemeinen Eigenſchaften der Organismen beſtehen, den Eigenſchaften der Vererbung und der Anpaſſung. Lediglich durch Erwägung des Wechſelverhältniſſes zwiſchen dieſen beiden Lebens— thätigkeiten oder phyſiologiſchen Funktionen der Organismen, ſowie ferner durch Erwägung der gegenſeitigen Beziehungen, welche alle an einem und demſelben Ort zuſammenlebenden Thiere und Pflanzen nothwendig zu einander beſitzen — lediglich durch Würdigung dieſer einfachen Thatſachen, und durch die geiſtvolle Verbindung derſelben iſt es Darwin möglich geworden, in denſelben die wirkenden Urfa- chen (ecausae efficientes) für die unendlich verwickelte Geſtaltenwelt der organiſchen Natur zu finden. Wir find nun verpflichtet, dieſe Theorie auf jeden Fall anzuneh— men und fo lange zu behaupten, bis ſich eine beſſere findet, die es un— 24 Verpflichtung zu allgemeiner Annahme der Deſcendenztheorie. ternimmt, die gleiche Fülle von Thatſachen ebenſo einfach zu erklären. Bisher entbehrten wir einer ſolchen Theorie vollſtändig. Zwar war der Grundgedanke nicht neu, daß alle verſchiedenen Thier- und Pflanzen⸗ formen von einigen wenigen oder ſogar von einer einzigen höchſt ein— ſachen Grundform abſtammen müſſen. Dieſer Gedanke war längſt aus- geſprochen und zuerſtvon Lamarck 2) im Anfang unſeres Jahrhunderts beſtimmt formulirt worden. Allein Lamarck ſprach doch eigentlich bloß die Hypotheſe der gemeinſamen Abſtammung aus, ohne ſie durch Erläu— terung der wirkenden Urſachen zu begründen. Und gerade in dem Nachweis dieſer Urſachen liegt der außerordentliche Fortſchritt, welchen Darwin über Lamarcks Theorie hinaus gethan hat. Er fand in den phyſiologiſchen Vererbungs- und Anpaſſungseigenſchaften der or— ganiſchen Materie die wahre Urſache jenes genealogiſchen Verhält— niſſes auf. Die Theorie Darwins iſt alſo nicht, wie es ſeine Gegner häufig darftellen, eine beliebige, aus der Luft gegriffene, bodenloſe Hypotheſe. Es liegt nicht im Belieben der einzelnen Zoologen und Botaniker, ob ſie dieſelbe als erklärende Theorie annehmen wollen oder nicht. Viel— mehr ſind ſie dazu gezwungen und verpflichtet nach dem allgemeinen, in den Naturwiſſenſchaften überhaupt gültigen Grundſatze, daß wir zur Erklärung der Erſcheinungen jede mit den wirklichen Thatſachen vereinbare, wenn auch nur ſchwach begründete Theorie ſo lange an— nehmen und beibehalten müſſen, bis ſie durch eine beſſere erſetzt wird. Wenn wir dies nicht thun, fo verzichten wir auf eine wiſſenſchaftliche Erklärung der Erſcheinungen, und das iſt in der That der Standpunkt, den viele Biologen noch gegenwärtig einnehmen. Sie betrachten das ganze Gebiet der belebten Natur als ein vollkommenes Räthſel und halten die Entſtehung der Thier- und Pflanzenarten, die Erſcheinungen ihrer Entwickelung und Verwandtſchaft für ganz uner- klärlich, für ein Wunder. Diejenigen Gegner Darwins, welche nicht geradezu in dieſer Weiſe auf eine biologiſche Erklärung verzichten wollen, pflegen freilich zu ſagen: „Darwins Lehre von dem gemeinſchaftlichen Urſprung der Unentbehrlichkeit der Defcendenztheorie in der Biologie. 25 verſchiedenartigen Organismen iſt nur eine Hypotheſe; wir ſtellen ihr eine andere entgegen, die Hypotheſe, daß die einzelnen Thier- und Pflanzenarten nicht durch Abſtammung ſich auseinander entwickelt ha— ben, ſondern daß ſie unabhängig von einander durch ein noch unent— decktes Naturgeſetz entſtanden ſind.“ So lange aber nicht gezeigt wird, wie dieſe Entſtehung zu denken iſt, und was das für ein „Naturgeſetz“ iſt, ſo lange nicht einmal wahrſcheinliche Erklärungsgründe gel— tend gemacht werden können, welche für eine unabhängige Entſtehung der Thier- und Pflanzenarten ſprechen, ſo lange iſt dieſe Gegenhypo— theſe in der That keine Hypotheſe, ſondern eine leere, nichtsſagende Redensart. Auch verdient Darwins Theorie nicht den Namen einer Hypotheſe. Denn eine wiſſenſchaftliche Hypotheſe iſt eine Annahme, welche ſich auf unbekannte, bisher noch nicht durch die ſinnliche Er— fahrung wahrgenommene Eigenſchaften oder Bewegungserſcheinungen der Naturkörper ſtützt. Darwins Lehre aber nimmt keine derarti— gen unbekannten Verhältniſſe an; ſie gründet ſich auf längſt anerkannte allgemeine Eigenſchaften der Organismen, und es iſt, wie bemerkt, die außerordentliche geiſtvolle, umfaſſende Verbindung einer Menge bisher vereinzelt dageſtandener Erſcheinungen, welche dieſer Theorie ihren außerordentlich hohen inneren Werth gibt. Wir gelangen durch ſie zum erſten Mal in die Lage, für die Geſammtheit aller uns be— kannten morphologiſchen Erſcheinungen in der Thier- und Pflanzen- welt eine bewirkende Urſache nachzuweiſen; und zwar iſt dieſe wahre Urſache immer eine und dieſelbe, nämlich die Wechſelwirkung der An— paſſung und der Vererbung, alſo ein phyſiologiſches, d. h. ein phyſi— kaliſch⸗chemiſches oder ein mechaniſches Verhältniß. Aus dieſen Grün— den iſt die Annahme der durch Darwin mechaniſch begründeten Ab— ſtammungslehre für die geſammte Zoologie und Botanik eine zwin— gende und unabweisbare Noth wendigkeit. Da nach meiner Anſicht alſo die unermeßliche Bedeutung von Darwins Lehre darin liegt, daß ſie die bisher nicht erklärten or— ganiſchen Formerſcheinungen mechaniſch erklärt, ſo iſt es wohl nothwendig, hier gleich noch ein Wort über den vieldeutigen 26 Grenzen der Erklärung und der Erfenntniß. Begriff der Erklärung einzuſchalten. Es wird ſehr häufig Dar- wins Theorie entgegengehalten, daß ſie allerdings jene Erſcheinun— gen durch die Vererbung und Anpaſſung vollkommen erkläre, daß dadurch aber nicht dieſe Eigenſchaften der organiſchen Materie ſelbſt erklärt werden, daß wir nicht zu den letzten Gründen gelangen. Die⸗ ſer Einwurf iſt ganz richtig; allein er gilt in gleicher Weiſe von al⸗ len Erſcheinungen. Wir gelangen nirgends zu einer Erkenntniß der letzten Gründe. Bei Erklärung der einfachſten phyſikaliſchen oder chemiſchen Erſcheinungen, z. B. bei dem Fallen eines Steins oder bei der Bildung einer chemiſchen Verbindung gelangen wir durch Auffindung und Feſtſtellung der wirkenden Urſachen, z. B. der Schwer⸗ kraft oder der chemiſchen Verwandtſchaft, zu anderen weiter zurücklie⸗ genden Erſcheinungen, die an und für ſich Räthſel ſind. Es liegt das in der Beſchänktheit oder Relativität unſeres Erkenntnißvermö⸗ gens. Wir dürfen niemals vergeſſen, daß die menſchliche Erkennt⸗ nißfähigkeit allerdings abſolut beſchränkt iſt und nur eine relative Aus- dehnung beſitzt. Sie iſt zunächſt ſchon beſchränkt durch die Beichaf- fenheit unſerer Sinne und unſeres Gehirns. Urſprünglich ſtammt alle Erkenntniß aus der ſinnlichen Wahr⸗ nehmung. Man führt wohl dieſer gegenüber die angeborene, a priori entſtehende Erkenntniß des Menſchen an; indeſſen werden Sie ſehen, daß ſich die ſogenannte aprioriſche Erkenntniß durch Darwins Lehre nachweiſen läßt als a posteriori erworbene, in ihren letzten Gründen durch die Erfahrungen bedingt. Erkenntniſſe, welche urſprünglich auf rein empirischen Wahrnehmungen beruhen, alſo rein ſinnliche Erfah— rungen ſind, welche aber dann eine Reihe von Generationen hindurch vererbt werden, treten bei der jüngſten Generation ſcheinbar als un- abhängige, angeborene, aprioriſche auf. Von unſeren uralten thie⸗ riſchen Voreltern find alle ſogenannten „Erkenntniſſe a priori“ ur⸗ ſprünglich a posteriori gefaßt worden und erſt durch Vererbung all— mählich zu aprioriſchen geworden. Sie beruhen in letzter Inſtanz auf Erfahrungen, und wir können durch die Geſetze der Vererbung und Anpaſſung beſtimmt nachweiſen, daß in der Art, wie es gewöhnlich Erkenntniſſe apoſteriori und apriori. 27 geſchieht, Erkenntniſſe a priori den Erkenntniſſen a posteriori nicht entgegen zu ftellen find. Vielmehr iſt die ſinnliche Erfahrung die ur⸗ ſprüngliche Quelle aller Erkenntniſſe. Schon aus dieſem Grunde iſt alle unſere Wiſſenſchaft nur beſchränkt, und niemals vermögen wir die letzten Gründe irgend einer Erſcheinung zu erfaſſen. Die Schwerkraft und die chemiſche Verwandtſchaft bleiben uns, an und für fi), eben fo unbegreiflich, wie die Anpaſſung und die Vererbung. Wenn uns nun die Theorie Darwins die Gefammtheit aller vorhin in einem kurzen Ueberblick zuſammengefaßten Erſcheinungen aus einem einzigen Geſichtspunkt erklärt, wenn ſie eine und dieſelbe Beſchaffenheit des Organismus als die wirkende Urſache nachweiſt, ſo leiſtet ſie vorläufig Alles, was wir verlangen können. Außerdem läßt ſich aber auch mit gutem Grunde hoffen, daß wir die letzten Gründe, zu welchen Darwin gelangt, nämlich die Eigenſchaften der Erblichkeit und der Anpaſſungsfähigkeit, noch weiter werden er— klären lernen, und daß wir z. B. dahin gelangen werden, die Mole— kularverhältniſſe in der Zuſammenſetzung der Eiweißſtoffe als die wei— ter zurückliegenden, einfachen Gründe jener Erſcheinungen aufzude— cken. Freilich iſt in der nächſten Zukunft hierzu noch keine Ausſicht, und wir begnügen uns vorläufig mit jener Zurückführung, wie wir uns in der Newton' ſchen Theorie mit der Zurückführung der Pla- netenbewegungen auf die Schwerkraft begnügen. Die Schwerkraft ſelbſt iſt uns ebenfalls ein Räthſel, an ſich nicht erkennbar. Bevor wir nun an unſere Hauptaufgabe, an die eingehende Er- örterung der Abſtammungslehre und der aus ihr ſich ergebenden Fol— gerungen herantreten, laffen Sie uns einen geſchichtlichen Rückblick auf die wichtigſten und verbreitetſten von denjenigen Anſichten werfen, welche ſich die Menſchen vor Darwin über die organiſche Schöpfung, über die Entſtehung der mannigfaltigen Thier- und Pflanzenarten ge— bildet hatten. Es liegt dabei keineswegs in meiner Abſicht, Sie mit einem vergleichenden Ueberblick über alle die zahlreichen Schöpfungs— dichtungen der verſchiedenen Menſchen-Arten,-Raſſen und-Stämme zu unterhalten. So intereſſant und lohnend dieſe Aufgabe, ſowohl in 28 Uoebernatürliche Schöpfungsgeſchichte und dualiſtiſche Weltanschauung. ethnographiſcher als in culturhiſtoriſcher Beziehung, auch wäre, fo würde uns dieſelbe doch hier viel zu weit führen. Auch zeigt die über— große Mehrzahl aller dieſer Schöpfungsſagen zu ſehr das Gepräge willkürlicher Dichtung, und den Mangel eingehender Naturbetrach— tung, als daß dieſelben für eine naturwiſſenſchaftliche Behandlung der Schöpfungsgeſchichte von Intereſſe wären. Ich werde daher von den nicht wiſſenſchaftlich begründeten Schöpfungsgeſchichten bloß die moſaiſche hervorheben, wegen des beiſpielloſen Einfluſſes, den ſie in der abendländiſchen Culturwelt gewonnen, und dann werde ich ſo— gleich zu den wiſſenſchaftlich formulirten Schöpfungshypotheſen über- gehen, welche erſt nach Beginn des verfloſſenen Jahrhunderts, mit Linné, ihren Anfang nahmen. Alle verſchiedenen Vorſtellungen, welche ſich die Menſchen jemals von der Entſtehung der verſchiedenen Thier⸗ und Pflanzenarten ge macht haben, laſſen ſich füglich in zwei große, entgegengeſetzte Grup- pen bringen, in natürliche und übernatürliche Schöpfungsgeſchichten. Dieſe beiden Gruppen entſprechen im Großen und Ganzen den beiden verſchiedenen Hauptformen der menſchlichen Weltanſchauung, welche wir vorher als moniſtiſche (einheitliche) und dualiſtiſche (zwie— ſpältige) Naturauffaſſung gegenüber geſtellt haben. Die gewöhnliche dualiſtiſche oder teleologiſche (vitale) Weltanſchauung muß die organiſche Natur als das zweckmäßig ausgeführte Product eines plan— voll wirkenden Schöpfers anſehen. Sie muß in jeder einzelnen Thier⸗ und Pflanzenart einen „verkörperten Schöpfungsgedanken“ erblicken, den materiellen Ausdruck einer zweckmäßig thätigen Endurſache oder einer zweckthätigen Urſache (causa finalis). Sie muß nothwen⸗ dig übernatürliche (nicht mechaniſche) Vorgänge für die Entſtehung der Organismen in Anſpruch nehmen. Wir dürfen ſie daher mit Recht als übernatürliche Schöpfungsgeſchichte bezeichnen. Von allen hierher gehörigen teleologiſchen Schöpfungsgeſchichten ge— wann diejenige des Moſes ſich den größten Einfluß, da ſie durch ſo bedeutende Naturforſcher, wie Linné, ſelbſt in der Naturwiſſenſchaft allgemeinen Eingang fand. Auch die Schöpfungsanſichten von Cu— Natürliche Schöpfungsgeſchichte und moniſtiſche Weltanſchauung. 29 vier und Agaſſiz, und überhaupt von der großen Mehrzahl der Naturforſcher ſowohl als der Laien gehören in dieſe Gruppe. Die von Darwin ausgebildete Entwickelungstheorie dagegen, welche wir hier als natürliche Schöpfungsgeſchichte zu behan— deln haben, und welche bereits von Goethe und Lamarck aufgeſtellt wurde, muß, wenn fie folgerichtig durchgeführt wird, ſchließlich nothwen⸗ dig zu der moniſtiſchen oder mechaniſchen (caufalen) Weltanſchau— ung hinführen. Im Gegenſatz zu jener dualiſtiſchen oder teleologiſchen Naturauffaſſung betrachtet dieſelbe die Formen der organiſchen Natur— körper, ebenſo wie diejenigen der anorganiſchen, als die nothwendigen Produkte natürlicher Kräfte. Sie erblickt in den einzelnen Thier- und Pflanzenarten nicht verkörperte Gedanken des perſönlichen Schöpfers, ſondern den zeitweiligen Ausdruck eines mechaniſchen Entwickelungs— ganges der Materie, den Ausdruck einer nothwendig wirkenden Urs ſache oder einer mechaniſchen Urſache (causa efficiens). Sie braucht alſo niemals übernatürliche und daher für uns unbegreifliche Eingriffe des Schöpfers in den natürlichen Gang der Dinge zu Hülfe zu rufen. Ihr gehört die Zukunft. Laſſen Sie uns nun zunächſt einen Blick auf die wichtigſte von allen übernatürlichen Schöpfungsgeſchichten werfen, diejenige des Mo⸗ ſes, wie ſie uns durch die alte Geſchichts- und Geſetzesurkunde des jüdiſchen Volkes, durch die Bibel, überliefert worden iſt. Bes kanntlich iſt die moſaiſche Schöpfungsgeſchichte, wie fie im erſten Ca— pitel der Genesis den Eingang zum alten Teſtament bildet, in der ganzen jüdiſchen und chriſtlichen Kulturwelt bis auf den heutigen Tag in allgemeiner Geltung geblieben. Dieſer außerordentliche Erfolg er— klärt ſich nicht allein aus der engen Verbindung derſelben mit den jü- diſchen und chriſtlichen Glaubenslehren, ſondern auch aus dem wahr— haft großartigen, einfachen und natürlichen Ideengang, welcher die— ſelbe durchzieht, und welcher vortheilhaft gegen die bunte Schöpfungs— mythologie der meiſten anderen Völker des Alterthums abſticht. Zu⸗ erſt ſchafft Gott der Herr die Erde als anorganiſchen Weltkörper. Dann ſcheidet er Licht und Finſterniß, darauf Waſſer und Feſtland. 30 Schöpfungsgeſchichte des Moſes. Nun erſt iſt die Erde für Organismen bewohnbar geworden und es werden zunächſt die Pflanzen, ſpäter erſt die Thiere erſchaffen, und zwar von den letzteren zuerſt die Bewohner des Waſſers und der Luft, ſpäter erſt die Bewohner des Feſtlands. Endlich zuletzt von allen Or— ganismen ſchafft Gott den Menſchen, ſich ſelbſt zum Ebenbilde und zum Beherrſcher der Erde. Zwei große und wichtige Grundgedanken der natürlichen Entwi— ckelungstheorie treten uns in dieſer Schöpfungshypotheſe des Moſes mit überraſchender Klarheit und Einfachheit entgegen, der Gedanke der Sonderung oder Differenzirung, und der Gedanke der fort— ſchreitenden Entwickelung oder Vervollkommnung. Obwohl Mo— ſes dieſe großen Geſetze der organiſchen Entwickelung, die wir ſpäter als nothwendige Folgerungen der Abſtammungslehre nachweiſen wer— den, als die unmittelbare Bildungsthätigkeit eines geſtaltenden Schöpfers anſieht, liegt doch darin der erhabnere Gedanke einer fortſchreitenden Entwickelung und Differenzirung der urſprünglich einfachen Materie verborgen. Wir können daher dem großartigen Naturverſtändniß des jüdiſchen Geſetzgebers und der einfach natürlichen Faſſung ſeiner Schö— pfungshypotheſe unſere gerechte und aufrichtige Bewunderung zollen, ohne darin gradezu eine göttliche Offenbarung zu erblicken. Daß ſie dies nicht ſein kann, geht einfach ſchon daraus hervor, daß darin zwei große Grundirrthümer behauptet werden, nämlich erſtens der geo— eentriſche Irrthum, daß die Erde der feſte Mittelpunkt der ganzen Welt ſei, um welchen ſich Sonne, Mond und Sterne bewegen; und zweitens der anthropocentriſche Irrthum, daß der Menſch das vorbedachte Endziel der irdiſchen Schöpfung ſei, für deſſen Dienſt die ganze übrige Natur nur geſchaffen ſei. Der erſtere Irrthum wurde durch Kopernikus' Weltſyſtem im Beginn des ſechszehnten, der letztere durch Lamarck's Abſtammungslehre im Beginn des neun⸗ zehnten Jahrhunderts vernichtet. Trotzdem durch Kopernikus bereits der geocentriſche Irr⸗ thum der moſaiſchen Schöpfungsgeſchichte nachgewieſen und damit die Autorität derſelben als einer abſolut vollkommenen göttlichen Of⸗ Schöpfungsgeſchichte des Moſes. 31 fenbarung aufgehoben wurde, erhielt ſich dieſelbe dennoch bis auf den heutigen Tag in ſolchem Anſehen, daß fie in weiten Kreiſen das Haupt— hinderniß für die Annahme einer natürlichen Entwickelungstheorie bil- det. Bekanntlich haben ſelbſt viele Naturforſcher noch in unſerem Jahrhundert verſucht, dieſelbe mit den Ergebniſſen der neueren Na— turwiſſenſchaft, insbeſondere der Geologie, in Einklang zu bringen, und z. B. die ſieben Schöpfungstage des Moſes als ſieben große geologiſche Perioden gedeutet. Indeſſen find alle dieſe künſtlichen Deu— tungsverſuche ſo vollkommen verfehlt, daß ſie hier keiner Widerlegung bedürfen. Die Bibel iſt kein naturwiſſenſchaftliches Werk, ſondern eine Geſchichts-, Geſetzes- und Religionsurkunde des jüdiſchen Vol— kes, deren außerordentlich hoher Werth dadurch nicht geſchmälert wird, daß ſie in allen naturwiſſenſchaftlichen Fragen ohne maßgebende Be— deutung und voll von Irrthümern iſt. Wir können nun einen großen Sprung von mehr als drei Jahr— tauſenden machen, von Moſes, welcher ungefähr um das Jahr 1480 vor Chriſtus ſtarb, bis auf Linné, welcher 1707 nach Chriſtus geboren wurde. Während dieſes ganzen Zeitraums wurde keine Schö— pfungsgeſchichte aufgeſtellt, welche eine bleibende Bedeutung gewann, oder deren nähere Betrachtung an dieſem Orte von Intereſſe wäre. Insbeſondere während der letzten 1500 Jahre, als das Chriſtenthum die Weltherrſchaft gewann, blieb die mit deſſen Glaubenslehren ver— knüpfte moſaiſche Schöpfungsgeſchichte ſo allgemein herrſchend, daß erſt das neunzehnte Jahrhundert ſich entſchieden dagegen aufzulehnen wagte. Selbſt der große ſchwediſche Naturforſcher Linné, der Be— gründer der neueren Naturgeſchichte, ſchloß ſich in ſeinem Naturſyſtem auf das Engſte an die Schöpfungsgeſchichte des Moſes an. Der außerordentliche Fortſchritt, welchen Karl Linné in den ſogenannten beſchreibenden Naturwiſſenſchaften that, beſteht befannt- lich in der Aufſtellung eines Syſtems der Thier- und Pflanzenar⸗ ten, welches er in fo folgerichtiger und logiſch vollendeter Form durch- führte, daß es bis auf den heutigen Tag in vielen Beziehungen die Richtſchnur für alle folgenden, mit den Formen der Thiere und Pflan⸗ 32 Linné's zweifache Benennung der organiſchen Arten. zen ſich beſchäftigenden Naturforſcher geblieben iſt. Obgleich das Sy— ſtem Linné's ein künſtliches war, obgleich er für die Klaſſifikation der Thier⸗ und Pflanzenarten nur einzelne Theile als Eintheilungsgrund— lagen hervorſuchte und anwendete, hat dennoch dieſes Syſtem ſich den größten Erfolg errungen, erſtens durch feine konſequente Durchfüh— rung, und zweitens durch ſeine ungemein wichtig gewordene Benen— nungsweiſe der Naturkörper, auf welche wir hier nothwendig ſogleich einen Blick werfen müſſen. Nachdem man nämlich vor Lin ns ſich vergeblich abgemüht hatte. in das unendliche Chaos der ſchon damals bekannten verſchiedenen Thier- und Pflanzenformen durch irgend eine paſſende Namengebung und Zuſammenſtellung Licht zu bringen, ge— lang es Linné durch Aufſtellung der ſogenannten „binären No— menklatur“ mit einem glücklichen Griff dieſe wichtige und ſchwierige Aufgabe zu löſen. Die binäre Nomenklatur oder die zweifache Be nennung, wie fie Lin ns zuerſt aufſtellte, wird noch heutigen Tages ganz allgemein von allen Zoologen und Botanikern angewendet und wird ſich unzweifelhaft ſehr lange noch in gleicher Geltung erhalten. Sie beſteht darin, daß jede Thier- und Pflanzenart mit zwei Namen be⸗ zeichnet wird, welche ſich ähnlich verhalten, wie Tauf- und Familien- namen der menſchlichen Individuen. Der beſondere Name, welcher dem menſchlichen Taufnamen entſpricht, und welcher den Begriff der Art (Species) ausdrückt, dient zur gemeinſchaftlichen Bezeichnung aller thieriſchen oder pflanzlichen Einzelweſen, welche in allen weſent— lichen Formeigenſchaften ſich gleich ſind, und ſich nur durch ganz un— tergeordnete Merkmale unterſcheiden. Der allgemeinere Name dage— gen, welcher dem menſchlichen Familiennamen entſpricht, und wel- cher den Begriff der Gattung (Genus) ausdrückt, dient zur gemein- ſchaftlichen Bezeichnung aller nächſt ähnlichen Arten oder Species. Der allgemeinere, umfaſſende Genusname wird nach Lin né's all- gemein gültiger Benennungsweiſe vorangeſetzt; der befondere, unter⸗ geordnete Speciesname folgt ihm nach. So z. B. heißt die Haus— katze Felis domestica, die wilde Katze Felis catus, der Panther Fe- lis pardus, der Jaguar Felis onca, der Tiger Felis tigris, der Praktiſche und theoretiſche Bedeutung der binären Nomenklatur. 33 Löwe Felis leo; alle ſechs Raubthierarten ſind verſchiedene Species eines und deſſelben Genus: Felis. Oder, um ein Beiſpiel aus der Pflanzenwelt hinzuzufügen, ſo heißt nach Linné's Benennung die Fichte Pinus abies, die Tanne Pinus picea, die Lärche Pinus la- rix, die Pinie Pinus pinea, die Zirbelkiefer Pinus cembra, das Knieholz Pinus mughus, die gewöhnliche Kiefer Pinus silvestris; alle ſieben Nadelholzarten find verſchiedene Species eines und deſſel⸗ ben Genus: Pinus. Vielleicht ſcheint Ihnen dieſer von Linné herbeigeführte Fort— ſchritt in der praktiſchen Unterſcheidung und Benennung der vielgeftal- tigen Organismen nur von untergeordneter Wichtigkeit zu fein. Al⸗ lein in Wirklichkeit war er von der allergrößten Bedeutung, und zwar ſowohl in praktiſcher als in theoretiſcher Beziehung. Denn es wurde nun erſt möglich, die Unmaſſe der verſchiedenartigen organiſchen For— men nach dem größeren oder geringeren Grade ihrer Aehnlichkeit zu— ſammenzuſtellen und überſichtlich in das Fachwerk des Syſtems zu ordnen. Die Regiſtratur dieſes Fachwerks machte Linné dadurch noch überſichtlicher, daß er die nächſtähnlichen Gattungen (Genera) in ſo⸗ genannte Ordnungen (Ordines) zuſammenſtellte, und daß er die nächſt⸗ ähnlichen Ordnungen in noch umfaſſenderen Hauptabtheilungen, den Klaſſen (Classes) vereinigte. Es zerfiel alſo zunächſt jedes der beiden organiſchen Reiche nach Linné in eine geringe Anzahl von Klaſſen; das Pflanzenreich in 24 Klaſſen, das Thierreich in 6 Klaſſen. Jede Klaſſe enthielt wieder mehrere Ordnungen. Jede einzelne Ordnung konnte eine Mehrzahl von Gattungen und jede einzelne Gattung wie⸗ derum mehrere Arten enthalten. Nicht minder bedeutend aber, als der unſchätzbare praktiſche Nutzen, welcher Linn é's binäre Nomenclatur fofort für eine über⸗ ſichtliche ſyſtematiſche Unterſcheidung, Benennung, Anordnung und Eintheilung der organiſchen Formenwelt hatte, war der unberechen— bare theoretiſche Einfluß, welchen dieſelbe alsbald auf die geſammte allgemeine Beurtheilung der organiſchen Formen, und ganz beſonders auf die Schöpfungsgeſchichte gewann. Noch heute drehen ſich alle Haeckel, Natürliche Schöpfungsgeſchichte. 3 34 Bedeutung des Speciesbegriffs bei Linne. die wichtigen Grundfragen, welche wir vorher kurz erörterten, zuletzt um die Entſcheidung der ſcheinbar ſehr abgelegenen und unwichtigen Vorfrage, was denn eigentlich die Art oder Speeies iſt? Noch heute kann der Begriff der organiſchen Species als der Angelpunkt der ganzen Schöpfungsfrage bezeichnet werden, als der ſtreitige Mittelpunkt, um deſſen verſchiedene Auffaſſung ſich alle Darwiniſten und Antidarwiniſten herumſchlagen. Nach der Meinung Darwins und ſeiner Anhänger find die ver— ſchiedenen Species einer und derſelben Gattung von Thieren und Pflanzen weiter nichts, als verſchiedenartig entwickelte Abkömmlinge einer und derſelben urſprünglichen Stammform. Die verſchiedenen | vorhin genannten Nadelholzarten würden demnach von einer einzigen urſprünglichen Pinusform abſtammen. Ebenſo würden alle oben an⸗ geführten Katzenarten aus einer einzigen gemeinſamen Felisform ih⸗ ren Urſprung ableiten, dem Stammvater der ganzen Gattung. Weis terhin müßten dann aber, der Abſtammungslehre entſprechend, auch alle verſchiedenen Gattungen einer und derſelben Ordnung von einer einzigen gemeinſchaftlichen Urform abſtammen, und ebenſo endlich alle Ordnungen einer Klaſſe von einer einzigen Stammform. Nach der entgegengeſetzten Vorſtellung der Gegner Darwins find dagegen alle Thier- uud Pflanzenſpezies ganz unabhängig von einander, und nur die Einzelweſen oder Individuen einer jeden Spe— cies ſtammen von einer einzigen gemeinſamen Stammform ab. Fra⸗ gen wir fie nun aber, wie fie ſich denn dieſe urſprünglichen Stamm⸗ formen der einzelnen Arten entſtanden denken, ſo antworten ſie uns mit einem Sprung in das Unbegreifliche: „fie find als ſolche geſchaf⸗ fen worden.“ Linnä ſelbſt beſtimmte den Begriff der Species bereits in dieſer Weiſe, indem er ſagte: „Es gibt ſoviel verſchiedene Arten, als im Anfang verſchiedene Formen von dem unendlichen Weſen erſchaffen worden ſind.“ („Species tot sunt diversae, quot diversas for- mas ab initio creavit infinitum ens.“) Er ſchloß ſich alſo in die= ſer Beziehung aufs Engſte an die moſaiſche Schöpfungsgeſchichte an, Linné's Schöpfungsgeſchichte. 35 welche ja ebenfalls die Pflanzen und Thiere „ein jegliches nach ſeiner Art“ erſchaffen werden läßt. Näher hierauf eingehend, meinte Lin— ne, daß urſprünglich von jeder Thier- und Pflanzenart entweder ein einzelnes Individuum oder ein Pärchen geſchaffen worden ſei; und zwar ein Pärchen, oder wie Moſes ſagt: „ein Männlein und ein Fräulein“ von jenen Arten, welche getrennte Geſchlechter haben; für jene Arten dagegen, bei welchen jedes Individuum beiderlei Geſchlechts— organe in ſich vereinigt (Hermaphroditen oder Zwitter), wie z. B. die Regenwürmer, die Garten- und Weinbergsſchnecken, ſowie die große Mehrzahl der Gewächſe, meinte Linné, ſei es hinreichend, wenn ein einzelnes Individuum erſchaffen worden ſei. Linné ſchloß ſich wei- terhin an die moſaiſche Legende auch in Betreff der Sündfluth an, indem er annahm, daß bei dieſer großen allgemeinen Ueberſchwem— mung alle vorhandenen Organismen ertränkt worden ſeien, bis auf jene wenigen Individuen von jeder Art (ſieben Paar von den Vögeln und von dem reinen Vieh, ein Paar von dem unreinen Vieh), welche in der Arche Noah gerettet und nach beendigter Sündfluth auf dem Ararat an das Land geſetzt wurden. Die geographiſche Schwierig— keit des Zuſammenlebens der verſchiedenſten Thiere und Pflanzen ſuchte er ſich dadurch zu erklären: der Ararat in Armenien, in einem warmen Klima gelegen, und bis über 16,000 Fuß Höhe aufſteigend, vereinigt in ſich die Bedingungen für den zeitweiligen gemeinſamen Aufenthalt auch ſolcher Thiere, die in verſchiedenen Zonen leben. Es konnten zunächſt alſo die an das Polarklima gewöhnten Thiere auf den kalten Gebirgsrücken hinaufklettern, die an das warme Klima ge— wöhnten an den Fuß hinabgehen, und die Bewohner der gemäßigten Zone in der Mitte der Berghöhe ſich aufhalten. Von hier aus war die Möglichkeit gegeben, ſich über die Erde nach Norden und Süden zu verbreiten. Es iſt wohl kaum nöthig zu bemerken, daß dieſe Schöpfungs⸗ hypotheſe Linné's, welche ſich offenbar möglichſt eng an den herr— ſchenden Bibelglauben anzuſchließen ſuchte, keiner ernſtlichen Widerle⸗ gung bedarf. Wenn man die ſonſtige Klarheit des ſcharfſinnigen 3 * 36 Linné's Anſicht von der Entſtehung der Arten. Linné erwägt, darf man vielleicht zweifeln, daß er ſelbſt daran glaubte. Was die gleichzeitige Abſtammung aller Individuen einer jeden Species von je einem Elternpaare (oder bei den hermaphrodi- tiſchen Arten von je einem Stammzwitter) betrifft, fo iſt fie offenbar ganz unhaltbar, denn abgeſehen von anderen Gründen, würden ſchon in den erſten Tagen nach geſchehener Schöpfung die wenigen Raub- thiere ausgereicht haben, ſämmtlichen Pflanzenfreſſern den Garaus zu machen, wie die pflanzenfreſſenden Thiere die wenigen Individuen der verſchiedenen Pflanzenarten hätten zerſtören müſſen. Ein ſolches Gleich- gewicht in der Oekonomie der Natur, wie es gegenwärtig exiſtirt, konnte unmöglich ſtattfinden, wenn von jeder Art nur ein Individuum oder nur ein Paar urſprünglich und gleichzeitig geſchaffen wurde. Wie wenig übrigens Linné auf dieſe unhaltbare Schöpfungs⸗ hypotheſe Gewicht legte, geht unter Anderen daraus hervor, daß er die Baſtardzeugung (Hybridismus) als eine Quelle der Entſte— hung neuer Arten anerkannte. Er nahm an, daß eine große Anzahl von ſelbſtſtändigen neuen Species auf dieſem Wege, durch geſchlecht— liche Vermiſchung zweier verſchiedener Species, entſtanden ſei. In der That kommen ſolche Baſtarde (Hybridae) durchaus nicht ſelten in der Natur vor, und es iſt jetzt erwieſen, daß eine große Anzahl von Arten z. B. aus den Gattungen der Brombeere (Rubus), des Woll⸗ krauts (Verbascum), der Weide (Salix), der Diſtel (Cirsium) Ba⸗ ſtarde von verſchiedenen Arten dieſer Gattungen find. Ebenſo ken⸗ nen wir Baſtarde von Haſen und Kaninchen (zwei Species der Gat— tung Lepus), ferner Baſtarde verſchiedener Arten der Hundegattung (Canis) ꝛc., welche ſich als ſelbſtſtändige Arten fortzupflanzen im Stande ſind. Es iſt gewiß ſehr bemerkenswerth, daß Linns bereits die phy⸗ ſiologiſche (alſo mechaniſche) Entſtehung von neuen Species auf die— ſem Wege der Baſtardzeugung behauptete. Offenbar ſteht dieſelbe in unvereinbarem Gegenſatz mit der übernatürlichen Entſtehung der anderen Species durch Schöpfung, welche er der moſaiſchen Schö— pfungsgeſchichte gemäß annahm. Die eine Abtheilung der Species Autorität von Linne’s Schöpfungsgeſchichte. 37 würde demnach durch dualiſtiſche (teleologiſche) Schöpfung, die andere durch moniſtiſche (mechaniſche) Entwickelung entſtanden ſein. Das große und wohlverdiente Anſehen, welches ſich Linné durch feine ſyſtematiſche Klaſſifikation und durch feine übrigen Ber- dienſte um die Biologie erworben hatte, war offenbar die Urſache, daß auch ſeine Schöpfungsanſichten das ganze vorige Jahrhundert hindurch unangefochten in voller und ganz allgemeiner Geltung blie— ben. Wenn nicht die ganze ſyſtematiſche Zoologie und Botanik die von Linns eingeführte Unterſcheidung, Klaſſifikation und Benennung der Arten, und den damit verbundenen dogmatiſchen Speciesbegriff mehr oder minder unverändert beibehalten hätte, würde man nicht begreifen, daß ſeine Vorſtellung von einer ſelbſtſtändigen Schöpfung der einzelnen Species ſelbſt bis auf den heutigen Tag ihre Herrſchaft behaupten konnte. Nur durch die große Autorität Linné's war die Erhaltung ſeiner Schöpfungshypotheſe bis auf unſere Zeit möglich. Dritter Vortrag. Schöpfungsgeſchichte nach Cuvier und Agaſſiz. Allgemeine theoretiſche Bedeutung des Speciesbegriffs. Unterſchied in der theo⸗ retiſchen und praktiſchen Beſtimmung des Artbegriffs. Cuviers Definition der Spe⸗ cies. Cuviers Verdienſte als Begründer der vergleichenden Anatomie. Unterſchei⸗ dung der vier Hauptformen (Typen oder Zweige) des Thierreichs durch Cuvier und Bär. Cuviers Verdienſte um die Paläontologie. Seine Hypotheſe von den Revo⸗ lutionen des Erdballs und den durch dieſelben getrennten Schöpfungsperioden. Un⸗ bekannte, übernatürliche Urſachen dieſer Revolutionen und der darauf folgenden Neuſchöpfungen. Teleologiſches Naturſyſtem von Agaſſiz. Seine Vorſtellungen vom Schöpfungsplane und deſſen ſechs Kategorien (Gruppenſtufen des Syſtems). Agaſ⸗ ſiz' Anſichten von der Erſchaffung der Species. Grobe Vermenſchlichung (Anthro⸗ pomorphismus) des Schöpfers in der Schöpfungshypotheſe von Agaſſiz. Innere Unhaltbarkeit derſelben und Widerſprüche mit den von Agaſſiz entdeckten wichtigen paläontologiſchen Geſetzen. Meine Herren! Der entſcheidende Schwerpunkt in dem Mei- nungskampf, der von den Naturforſchern über die Entſtehung der Organismen, über ihre Schöpfung oder Entwickelung geführt wird, liegt in den Vorſtellungen, welche man ſich von dem Weſen der Art oder Species macht. Entweder hält man mit Linnä die verſchie— denen Arten für ſelbſtſtändige, von einander unabhängige Schöpfungs— formen, oder man nimmt mit Darwin deren Blutsverwandſchaft an. Wenn man Linné's Anſicht theilt (welche wir in dem letzten Allgemeine theoretiſche Bedeutung des Speciesbegriffs. 39 Vortrag auseinanderſetzten), daß die verſchiedenen organiſchen Spe— cies unabhängig von einander entſtanden ſind, daß ſie keine Bluts— verwandtſchaft haben, fo iſt man zu der Annahme gezwungen, daß die ſelben ſelbſtſtändig erſchaffen ſind; man muß entweder für jedes ein— zelne organiſche Individuum einen beſonderen Schöpfungsakt anneh— men (wozu ſich wohl kein Naturforſcher entſchließen wird), oder man muß alle Individuen einer jeden Art von einem einzigen Individuum oder von einem einzigen Stammpaare ableiten, welches nicht auf na— türlichem Wege entſtanden, ſondern durch den Machtſpruch eines Schö— pfers in das Daſein gerufen iſt. Wenn man dagegen mit Darwin die Formenähnlichkeit der verſchiedenen Arten auf wirkliche Blutsver— wandtſchaft bezieht, ſo muß man alle verſchiedenen Species der Thier— und Pflanzenwelt als veränderte Nachkommen einer einzigen oder ei— niger wenigen, höchſt einfachen, urſprünglichen Stammformen be— trachten. Durch dieſe Anſchauung gewinnt das natürliche Syſtem der Organismen (die baumartig verzweigte Anordnung und Einthei— lung derſelben in Klaſſen, Ordnungen, Familien, Gattungen und Arten) die Bedeutung eines wirklichen Stammbaums, deſſen Wurzel durch jene uralten längſt verſchwundenen Stammformen gebildet wird. Eine wirklich naturgemäße und folgerichtige Betrachtung der Orga— nismen kann aber auch für dieſe einfachſten urſprünglichen Stamm— formen keinen übernatürlichen Schöpfungsakt annehmen, ſondern nur eine Entſtehung durch Urzeug ung (Archigonie oder Generatio spon- tanea). Durch Darwins Anſicht von dem Weſen der Species gelangen wir daher zu einer natürlichen Entwickelungstheo— rie, durch Linné's Auffaſſung des Artbegriffs dagegen zu einem übernatürlichen Schöpfungsdogma. Die meiſten Naturforſcher nach Linné, deſſen große Verdienſte um die unterſcheidende und beſchreibende Naturwiſſenſchaft ihm das höchſte Anſehen gewannen, traten in ſeine Fußtapfen, und ohne weiter über die Entſtehung der Organiſation nachzudenken, nah⸗ men fie in dem Sinne Linné's eine ſelbſtſtändige Schöpfung der ein— zelnen Arten an, in Uebereinſtimmung mit dem moſaiſchen Schö— 40 Gegenſatz der theoretiſchen und praktiſchen Beſtimmung des Artbegriffs. pfungsbericht. Die Grundlage ihrer Speciesauffaſſung bildete Lin- né's Ausſpruch: „Es gibt ſo viele Arten, als urſprünglich verſchie— dene Formen erſchaffen worden ſind.“ Jedoch müſſen wir hier, ohne näher auf die Begriffsbeſtimmung der Species einzugehen, ſogleich bemerken, daß alle Zoologen und Botaniker in der ſyſtematiſchen Praxis, bei der praktiſchen Unterſcheidung und Benennung der Thier- und Pflanzenarten, ſich nicht im Geringſten um jene angenommene Schöpfung ihrer elterlichen Stammformen kümmerten, und auch wirk⸗ lich nicht kümmern konnten. Denn natürlich waren fie niemals in der Lage, die Abſtammung aller zu einer Art gehörigen Individuen von jener gemeinſamen, urſprünglich erſchaffenen Stammform der Art nachweiſen zu können. Vielmehr bedienten ſich ſowohl die Zoologen als die Botaniker in ihrer ſyſtematiſchen Praxis ausſchließlich der Form⸗ ähnlichkeit, um die verſchiedenen Arten zu unterſcheiden und zu benen- nen. Sie ſtellten in eine Art oder Species alle organiſchen Einzel- weſen, die einander in der Formbildung ſehr ähnlich oder faſt gleich waren, und die ſich nur durch ſehr unbedeutende Formunterſchiede von einander trennen ließen. Dagegen betrachteten ſie als verſchie— dene Arten diejenigen Individuen, welche weſentlichere oder auffallen⸗ dere Unterſchiede in ihrer Körpergeſtaltung darboten. Natürlich war aber damit der größten Willkür in der ſyſtematiſchen Artunterſchei⸗ dung Thür und Thor geöffnet. Denn da niemals alle Individuen ei⸗ ner Species in allen Stücken völlig gleich ſind, vielmehr jede Art mehr oder weniger abändert (varürt), ſo vermochte Niemand zu ſa⸗ gen, welcher Grad der Abänderung eine wirkliche „gute Art“, welcher Grad bloß eine Spielart oder Raſſe (Varietät) bezeichne. Nothwendig mußte dieſe dogmatiſche Auffaſſung des Speciesbe⸗ griffs und die damit verbundene Willkür zu den unlösbarſten Wi⸗ derſprüchen und zu den unhaltbarſten Annahmen führen. Dies zeigt ſich deutlich ſchon bei demjenigen Naturforſcher, welcher nächſt Linné den größten Einfluß auf die Ausbildung der Thierkunde gewann, bei dem berühmten Cuvier (geb. 1769). Er ſchloß ſich in ſeiner Auffaſſung und Beſtimmung des Speciesbegriffs im Ganzen an Linné Cuviers Definition der Species. 41 an, und theilte ſeine Vorſtellung von einer unabhängigen Erſchaffung der einzelnen Arten. Die Unveränderlichkeit derſelben hielt Cu⸗ vier für fo wichtig, daß er ſich bis zu dem thörichten Ausſpruche ver- ſtieg: „die Beſtändigkeit der Species iſt eine nothwendige Bedingung für die Exiſtenz der wiſſenſchaftlichen Naturgeſchichte!“ Da Linné's Definition der Species ihm nicht genügte, machte er den Verſuch, eine genauere und für die ſyſtematiſche Praxis mehr verwerthbare Bes griffsbeſtimmung derſelben zu geben, und zwar in folgender Defini⸗ tion: „Zu einer Art gehören alle diejenigen Individuen der Thiere oder Pflanzen, welche entweder von einander oder von gemeinſamen Stammeltern bewieſenermaßen abſtammen, oder welche dieſen ſo ähn— lich ſind, als die letzteren unter ſich.“ Cuvier dachte ſich alſo in dieſer Beziehung Folgendes: „Bei denjenigen organiſchen Individuen, von denen wir wiſſen, ſie ſtam⸗ men von einer und derſelben Elternform ab, bei denen alſo ihre ge— meinſame Abſtammung empiriſch erwieſen iſt, leidet es keinen Zwei⸗ fel, daß ſie zu einer Art gehören, mögen dieſelben nun wenig oder viel von einander abweichen, mögen ſie faſt gleich oder ſehr ungleich ſein. Ebenſo gehören dann aber zu dieſer Art auch alle diejenigen Individuen, welche von den letzteren (den aus gemeinfamem Stamm empiriſch abgeleiteten) nicht mehr verſchieden ſind, als dieſe unter ſich von einander abweichen. Bei näherer Betrachtung dieſer Spe⸗ ciesdefinition Cuviers zeigt ſich ſofort, daß dieſelbe weder theore— tiſch befriedigend, noch praktiſch anwendbar iſt. Cuvier fing mit dieſer Definition bereits an, ſich in dem Kreiſe herum zu drehen, in welchem faſt alle folgenden Definitionen der Species im Sinne ihrer Unveränderlichkeit ſich bewegt haben. Bei der außerordentlichen Bedeutung, welche George Cuvier für die organiſche Naturwiſſenſchaft gewonnen hat, angeſichts der faſt unbeſchränkten Alleinherrſchaft, welche ſeine Anſichten während der erften Hälfte unſers Jahrhunderts in der Thierkunde ausübten, er- ſcheint es an dieſer Stelle angemeſſen, ſeinen Einfluß noch etwas näher zu beleuchten. Es iſt dies um ſo nöthiger, als wir in Cu vier 42 Cuviers Verdienſte um die vergleichende Anatomie und Syſtematik. den bedeutendſten Gegner der Abſtammungslehre und der durch ſie begründeten einheitlichen (moniſtiſchen) Naturauffaſſung zu bekämpfen haben. Unter den vielen und großen Verdienſten Cuviers ſtehen obenan diejenigen, welche er ſich als Gründer der vergleichenden Ana— tomie erwarb. Während Linné die Unterſcheidung der Arten, Gattungen, Ordnungen und Klaſſen meiſtens auf äußere Charaktere, auf einzelne, leicht auffindbare Merkmale in der Zahl, Größe, Lage und Geſtalt einzelner organiſcher Theile des Körpers gründete, drang Cuvier viel tiefer in das Weſen der Organiſation ein. Er wies große und durchgreifende Verſchiedenheiten in dem inneren Bau der Thiere als die weſentliche Grundlage einer wiſſenſchaftlichen Erkennt⸗ niß und Klaſſifikation derſelben nach. Er unterſchied natürliche Fami⸗ lien im Thierreich, und er gründete auf deren vergleichende Anatomie ſein natürliches Syſtem des Thierreichs. Der Fortſchritt von dem künſtlichen Syſtem Linné 's zu dem natürlichen Syſtem Cu viers war außerordentlich bedeutend. Linné hatte ſämmtliche Thiere in eine einzige Reihe geordnet, welche er in ſechs Klaſſen eintheilte, zwei wirbelloſe und vier Wirbelthierklaſſen. Er unterſchied dieſelben künſtlich nach der Beſchaffenheit des Blutes und des Herzens. Cuvier dagegen zeigte, daß man im Thierreich vier große natürliche Hauptabtheilungen unterſcheiden müſſe, welche er Hauptformen oder Generalpläne oder Zweige des Thierreichs (Em— branchements) nannte, nämlich 1) die Wirbelthiere (Vertebrata), 2) die Gliederthiere (Articulata), 3) die Weichthiere (Mollusca), und 4) die Strahlthiere (Radiata). Er wies ferner nach, daß in je— dem dieſer vier Zweige ein eigenthümlicher Bauplan oder Typus er- kennbar ſei, welcher dieſen Zweig von jedem der drei andern Zweige unterſcheidet. Bei den Wirbelthieren iſt derſelbe durch die Beſchaffen⸗ heit des Skelets oder Knochengerüſtes, ſowie durch den Bau und die Lage des Rückenmarks, abgeſehen von vielen anderen Eigenthüm— lichkeiten, beſtimmt ausgedrückt. Die Gliederthiere werden durch ihr Bauchmark und ihr Rückenherz charakteriſirt. Für die Weichthiere iſt Unterſcheidung der vier Hauptformen oder Typen des Thierreichs. 43 die ſackartige, ungegliederte Körperform bezeichnend. Die Strahl⸗ thiere endlich unterſcheiden ſich von den drei anderen Hauptformen durch die Zuſammenſetzung ihres Körpers aus vier oder mehreren, ſtrahlenförmig in einem gemeinſamen Mittelkörper vereinigten Haupt⸗ abſchnitten (Antimeren). Man pflegt gewöhnlich die Unterſcheidung dieſer vier thieriſchen Hauptformen, welche ungemein fruchtbar für die weitere Entwickelung der Zoologie wurde, Cuvier allein zuzuſchreiben. Indeſſen wurde derſelbe Gedanke faſt gleichzeitig, und unabhängig von Cuvier, von einem der größten, noch lebenden Naturforſcher ausgeſprochen, von Bär, welcher um die Entwickelungsgeſchichte der Thiere ſich die her— vorragendſten Verdienſte erwarb. Bär zeigte, daß man auch in der Entwickelungsweiſe der Thiere vier verſchiedene Hauptformen oder Ty— pen unterſcheiden müſſe. Dieſe entſprechen den vier thieriſchen Bau— plänen, welche Cuvier auf Grund der vergleichenden Anatomie un— terſchieden hatte. So z. B. ſtimmt die individuelle Entwickelung aller Wirbelthiere in ihren Grundzügen von Anfang an ſo ſehr überein, daß man die Keimanlagen oder Embryonen der verſchiedenen Wirbel— thiere (z. B. der Reptilien, Vögel und Säugethiere) in der früheſten Zeit gar nicht unterſcheiden kann. Erſt im weiteren Verlaufe der Entwickelung treten allmählich die tieferen Formunterſchiede auf, welche jene verſchiedenen Klaſſen und deren Ordnungen von einander tren— nen. Ebenſo iſt die Körperanlage, welche ſich bei der individuellen Entwickelung der Gliederthiere (Inſekten, Spinnen, Krebſe) ausbil⸗ det, von Anfang an bei allen Gliederthieren gleich, dagegen verſchie— den von derjenigen aller Wirbelthiere. Daſſelbe gilt mit gewiſſen Einſchränkungen von den Weichthieren und den Strahlthieren. Weder Bär, welcher auf dem Wege der individuellen Entwicke— lungsgeſchichte (oder Embryologie), noch Cuvier, welcher auf dem Wege der vergleichenden Anatomie zur Unterſcheidung der vier thieri— ſchen Typen oder Hauptformen gelangte, erkannten die wahre Urſache dieſes typiſchen Unterſchiedes. Dieſe wird uns nur durch die Abſtam— mungslehre enthüllt. Die wunderbare und wirklich überraſchende 44 Cuviers Verdienſte um die Paläontologie. Aehnlichkeit in der inneren Organiſation, in den anatomiſchen Struk— turverhältniſſen, und die noch merkwürdigere Uebereinſtimmung in der embryonalen Entwickelung bei allen Thieren, welche zu einem und demſelben Typus, z. B. zu dem Zweige der Wirbelthiere, gehören, erklärt ſich in der einfachſten Weiſe durch die Annahme einer gemein⸗ ſamen Abſtammung derſelben von einer einzigen Stammform. Alle Wirbelthiere müſſen von einer einzigen urſprünglichen Wirbelthierform nothwendig abſtammen. Entſchließt man ſich nicht zu dieſer Annah- me, ſo bleibt jene typiſche und durchgreifende Uebereinſtimmung der verſchiedenſten Wirbelthiere im inneren Bau und in der Entwide- lungsweiſe vollkommen unerklärlich. Sie kann nur durch die Ver— erbung erklärt werden. Nächſt der vergleichenden Anatomie der Thiere, und der durch dieſe neu begründeten ſyſtematiſchen Zoologie, war es beſonders die Verſteinerungskunde oder Paläontologie, um welche ſich Cuvier die größten Verdienſte erwarb. Wir müſſen dieſer um ſo mehr gedenken, als gerade die paläontologiſchen und die damit ver- bundenen geologiſchen Anſichten Cuviers in der erſten Hälfte unſeres Jahrhunderts ſich faſt allgemein im höchſten Anſehen erhielten, und der Entwickelung der natürlichen Schöpfungsgeſchichte die größten Hinderniſſe entgegenſtellten. Die Verſteinerungen oder Petrefakten, deren wiſſen⸗ ſchaftliche Kenntniß Cuvier im Anfange unſeres Jahrhunderts im umfaſſendſten Maße förderte und für die Wirbelthiere ganz neu be- gründete, ſpielen in der „natürlichen Schöpfungsgeſchichte“ eine der wichtigſten Rollen. Denn dieſe in verſteinertem Zuſtande uns erhal- tenen Reſte und Abdrücke von ausgeſtorbenen Thieren und Pflanzen find die wahren „Denkmünzen der Schöpfung“, die untrügli- chen und unanfechtbaren Urkunden, welche unſere wahrhaftige Ge- ſchichte der Organismen auf unerſchütterlicher Grundlage feſtſtellen. Alle verſteinerten oder foſſilen Reſte und Abdrücke berichten uns von der Geſtalt und dem Bau ſolcher Thiere und Pflanzen, welche ent- weder die Urahnen und die Voreltern der jetzt lebenden Organismen Frühere Anfichten von der Natur der Verſteinerungen. 45 ſind, oder aber ausgeſtorbene Seitenlinien, die ſich von einem ge⸗ meinſamen Stamm mit den jetzt lebenden Organismen abgezweigt haben. Dieſe unſchätzbar werthvollen Urkunden der Schöpfungsge⸗ ſchichte haben ſehr lange Zeit hindurch eine höchſt untergeordnete Rolle in der Wiſſenſchaft geſpielt. Obgleich bereits der große Naturfor— ſcher des Alterthums, Ariſtoteles, ſowie viele Philoſophen die⸗ ſes klaſſiſchen Zeitraums, richtig die wahre Natur der Petrefakten, als wirklicher organiſcher Körperreſte, beurtheilten, blieb dennoch während des Mittelalters allgemein, und bei vielen Naturforſchern ſelbſt noch im vorigen Jahrhundert, die Anſicht herrſchend, daß die Verſteinerungen ſogenannte Naturſpiele feien (Lusus naturae), oder Produkte einer unbekannten Bildungskraft der Natur, eines Geſtal⸗ tungstriebes (Nisus formativus, Vis plastica). Ueber das Weſen und die Thätigkeit dieſer räthſelhaften und myſtiſchen Bildungskraft machte man ſich die abenteuerlichſten Vorſtellungen. Einige glaubten, daß dieſe bildende Schöpfungskraft, dieſelbe, der ſie auch die Entſtehung der lebenden Thier- und Pflanzenarten zuſchrieben, zahlreiche Verſuche gemacht habe, Organismen verſchiedener Form zu ſchaffen; dieſe Verſuche ſeien aber nur theilweife gelungen, häufig fehlgeſchlagen, und ſolche mißglückte Verſuche ſeien die Verſteinerungen. Nach Ande- ren ſollten die Petrefakten durch den Einfluß der Sterne im Inneren der Erde entſtehen. Andere machten ſich noch eine gröbere Vorſtel— lung, daß nämlich der Schöpfer zunächſt aus mineraliſchen Subſtan⸗ zen, z. B. aus Gyps oder Thon, vorläufige Modelle von denjenigen Pflanzen ⸗ und Thierformen gemacht habe, die er ſpäter in organifcher Subſtanz ausführte, und denen er ſeinen lebendigen Odem einhauchte; die Petrefakten ſeien ſolche rohe, anorganiſche Modelle. Selbſt noch im vorigen Jahrhundert waren ſolche rohe Anſichten verbreitet, und es wurde z. B. eine beſondere „Samenluft“ (Aura seminalis) angenom-= men, welche mit dem Waſſer in die Erde dringe und durch Befruchtung der Gefteine die Petrefakten, das „Steinfleiſch“ (Caro fossilis) bilde. Sie ſehen, es dauerte gewaltig lange, ehe die einfache und na= turgemäße Vorſtellung zur Geltung gelangte, daß die Verſteinerungen 46 Begründung der Paläontologie oder Verſteinerungskunde. wirklich nichts Anderes ſeien, als das, was ſchon der einfache Au— genſchein lehrt: die unverweslichen Ueberbleibſel von geſtorbenen Or- ganismen. Zwar wagte der berühmte Maler Leonardo da Vinci ſchon im fünfzehnten Jahrhundert zu behaupten, daß der aus dem Waſſer beſtändig ſich abſetzende Schlamm die Urſache der Verſteine— rungen ſei, indem er die auf dem Boden der Gewäſſer liegenden un— verweslichen Kalkſchalen der Muſcheln und Schnecken umſchließe, und allmählich zu feſtem Geſtein erhärte. Das Gleiche behauptete auch im ſechszehnten Jahrhundert ein Pariſer Töpfer, Paliſſy, welcher ſich durch ſeine Porzellanerfindung berühmt machte. Allein die ſoge— nannten „Gelehrten von Fach“ waren weit entfernt, dieſe wichtigen Ausſprüche des einfachen geſunden Menſchenverſtandes zu würdigen, und erſt gegen das Ende des vorigen Jahrhunderts, während der Begründung der neptuniſtiſchen Geologie durch Werner, gewannen dieſelben allgemeine Geltung. Die Begründung der ſtrengeren wiſſenſchaftlichen Paläontologie fällt jedoch erſt in den Anfang unſeres Jahrhunderts, als Cuvier ſeine klaſſiſchen Unterſuchungen über die verſteinerten Wirbelthiere, und fein großer Gegner Lamarck feine bahnbrechenden Forſchungen über die foſſilen wirbelloſen Thiere, namentlich die verſteinerten Schne— cken und Muſcheln, veröffentlichte. In ſeinem unſterblichen Werke „über die foſſilen Knochen“ der Wirbelthiere, insbeſondere der Säu— gethiere und Reptilien, gelangte Cuvier bereits zur Erkenntniß eini— ger ſehr wichtigen und allgemeinen paläontologiſchen Geſetze, welche für die Schöpfungsgeſchichte große Bedeutung gewannen. Dahin ge— hört vor Allen der Satz, daß die ausgeſtorbenen Thierarten, deren Ueberbleibſel wir in den verſchiedenen, über einander liegenden Schich— ten der Erdrinde verſteinert vorfinden, ſich um ſo auffallender von den jetzt noch lebenden, verwandten Thierarten unterſcheiden, je tiefer jene Erdſchichten liegen, d. h. je früher die Thiere in der Vorzeit lebten. In der That findet man bei jedem ſenkrechten Durchſchnitt der geſchich— teten Erdrinde, daß die verſchiedenen, aus dem Waſſer in beſtimm— ter hiſtoriſcher Reihenfolge abgeſetzten Erdſchichten durch verſchiedene Cuviers Hypotheſe von den getrennten Perioden der Erdgeſchichte. 47 Petrefakten charakteriſirt ſind, und daß dieſe ausgeſtorbenen Organis— men denjenigen der Gegenwart um ſo ähnlicher werden, je weiter wir in der Schichtenfolge aufwärts ſteigen, d. h. je jünger die Periode der Erdgeſchichte war, in der ſie lebten, ſtarben, und von den abge— lagerten und erhärtenden Schlammſchichten umſchloſſen wurden. So wichtig dieſe allgemeine Wahrnehmung Cu viers einerſeits war, ſo wurde ſie doch andrerſeits für ihn die Quelle eines folgen— ſchweren Irrthums. Denn indem er die charakteriſtiſchen Verſteinerun— gen jeder einzelnen größeren Schichtengruppe, welche während eines Hauptabſchnitts der Erdgeſchichte abgelagert wurde, für gänzlich ver— ſchieden von denen der darüber und der darunter liegenden Schichten— gruppe hielt, indem er irrthümlich glaubte, daß niemals eine und dieſelbe Thierart in zwei aufeinander folgenden Schichtengruppen ſich vorfinde, gelangte er zu der falſchen Vorſtellung, welche für die mei— ſten nachfolgenden Naturforſcher maßgebend wurde, daß eine Reihe von ganz verſchiedenen Schöpfungsperioden aufeinander gefolgt ſei, und daß jede Periode ihre ganz beſondere Thier- und Pflanzenwelt, eine ihr eigenthümliche, fpecififhe Fauna und Flora beſeſſen habe. Er ſtellte ſich vor, daß die ganze Geſchichte der Erdrinde ſeit der Zeit, ſeit welcher überhaupt lebende Weſen auf der Erdrinde auftraten, in eine Anzahl vollkommen getrennter Perioden oder Hauptabſchnitte zer— falle, und daß die einzelnen Perioden durch eigenthümliche Umwäl— zungen unbekannter Natur, ſogenannte Revolutionen (Kataklysmen oder Kataſtrophen) von einander geſchieden ſeien. Jede Revolution hatte zunächſt die vollkommene Vernichtung der damals lebenden Thier⸗ und Pflanzenwelt zur Folge, und nach ihrer Beendigung fand eine vollſtändig neue Schöpfung der organiſchen Formen ſtatt. Eine neue Welt von Thieren und Pflanzen, durchweg ſpecifiſch verſchieden von denen der vorhergehenden Geſchichtsperiode, wurde mit einem Male in das Leben gerufen, und bevölkerte nun wieder eine Reihe von Jahrtauſenden hindurch den Erdball, bis ſie plötzlich durch den Eintritt einer neuen Revolution zu Grunde ging. Von dem Weſen und den Urſachen dieſer Revolutionen ſagte Cu— 48 Cuviers Hypotheſe von den Revolutionen der Erdoberfläche. vier ausdrücklich, daß man ſich keine Vorſtellung darüber machen könne, und daß die jetzt wirkſamen Kräfte der Natur zu einer Erklä— rung derſelben nicht ausreichten. Als natürliche Kräfte oder mecha— niſche Agentien, welche in der Gegenwart beſtändig, obwohl lang— ſam, an einer Umgeſtaltung der Erdoberfläche arbeiten, führt Cu— vier vier wirkende Urſachen auf: erſtens den Regen, welcher die ſtei— len Gebirgsabhänge abſpült und Schutt an deren Fuß anhäuft; zwei- tens die fließenden Gewäſſer, welche dieſen Schutt fortführen und als Schlamm im ſtehenden Waſſer abſetzen; drittens das Meer, deſſen Brandung die ſteilen Küſtenränder abnagt, und an flachen Kü— ſtenſäumen Dünen aufwirft; und endlich viertens die Vulkane, welche die Schichten der erhärteten Erdrinde durchbrechen und in die Höhe heben, und welche ihre Auswurfsprodukte aufhäufen und um— herftreuen. Während Cuvier die beſtändige langſame Umbildung der gegenwärtigen Erdoberfläche durch dieſe vier mächtigen Urſachen anerkennt, behauptet er gleichzeitig, daß dieſelben nicht ausgereicht haben könnten, um die Erdrevolutionen der Vorzeit auszuführen, und daß man den anatomiſchen Bau der ganzen Erdrinde nicht durch die nothwendige Wirkung jener mechaniſchen Agentien erklären könne: vielmehr müßten jene wunderbaren, großen Umwälzungen der gan— zen Erdoberfläche durch ganz eigenthümliche, uns gänzlich unbekannte Urſachen bewirkt worden ſein; der gewöhnliche Entwickelungsfaden ſei durch dieſe Revolutionen zerriſſen, der Gang der Natur verändert. Dieſe Anſichten legte Cuvier in einem beſonderen, auch ins Deutſche überſetzten Buche nieder: „Ueber die Revolutionen der Erd— oberfläche, und die Veränderungen, welche ſie im Thierreich hervor— gebracht haben“. Sie erhielten ſich lange Zeit hindurch in allgemeiner Geltung, und wurden das größte Hinderniß für die Entwickelung einer natürlichen Schöpfungsgeſchichte. Denn wenn wirklich ſolche, Alles vernichtende Revolutionen exiſtirt hatten, ſo war natürlich eine Conti⸗ nuität der Artenentwickelung, ein zuſammenhängender Faden der or- ganiſchen Erdgeſchichte gar nicht anzunehmen, und man mußte dann ſeine Zuflucht zu der Wirkſamkeit übernatürlicher Kräfte, zum Cuviers Hypotheſe von den Revolutionen der Erdoberfläche. 49 Eingriff von Wundern in den natürlichen Gang der Dinge nehmen. Nur durch Wunder konnten die Revolutionen der Erde herbeigeführt ſein, und nur durch Wunder konnte nach deren Aufhören, am Anfange jeder neuen Periode, eine neue Thier- und Pflanzenwelt geſchaffen ſein. Für das Wunder hat aber die Naturwiſſenſchaft nirgends einen Platz, ſofern man unter Wunder einen Eingriff übernatürlicher Kräfte in den natürlichen Entwickelungsgang der Materie verſteht. Ebenſo wie die große Autorität, welche ſich Linn durch die ſyſtematiſche Unterſcheidung und Benennung der organiſchen Arten gewonnen hatte, bei ſeinen Nachfolgern zu einer völligen Verknöcherung des dogmatiſchen Speciesbegriffs, und zu einem wahren Mißbrauche der ſyſtematiſchen Artunterſcheidung führte; ebenſo wurden die großen Verdienſte, welche ſich Cuvier um Kenntniß und Unterſcheidung der ausgeſtorbenen Arten erworben hatte, die Urſache einer allgemeinen Annahme ſeiner Revolutions- oder Kataklysmenlehre, und der damit verbundenen grundfalſchen Schöpfungsanſichten. In Folge deſſen hielten während der erſten Hälfte unſeres Jahrhunderts die meiſten Zoologen und Botaniker an der Anſicht feſt, daß eine Reihe unab— hängiger Perioden der organiſchen Erdgeſchichte exiſtirt habe; jede Periode ſei durch eine beſtimmte, ihr ganz eigenthümliche Bevölkerung von Thier⸗ und Pflanzenarten ausgezeichnet geweſen; dieſe ſei am Ende der Periode durch eine allgemeine Revolution vernichtet, und nach dem Aufhören der letzteren wiederum eine neue, ſpezifiſch ver— ſchiedene Thier- und Pflanzenwelt erſchaffen worden. Zwar machten ſchon frühzeitig einzelne ſelbſtſtändig denkende Köpfe, vor Allen der große Naturphiloſoph Lamarck, eine Reihe von gewichtigen Grün— den geltend, welche dieſe Kataklysmentheorie Cuviers widerlegten, und welche vielmehr auf eine einzige zuſammenhängende und ununter⸗ brochene Entwickelungsgeſchichte der geſammten organiſchen Erdbe— völkerung aller Zeiten hinwieſen. Sie behaupteten, daß die Thier- und Pflanzenarten der einzelnen Perioden von denen der nächſt vor- hergehenden Periode abſtammen und nur die veränderten Nachkommen der erſteren ſeien. Indeſſen der großen Autorität Cuviers gegen- Haeckel, Natürliche Schöpfungsgeſchichte. 4 50 Teleologiſches Naturſyſtem von Agaſſiz. über vermochte damals dieſe richtige Anſicht noch nicht durchzudringen⸗ Ja ſelbſt nachdem durch Lyells 1830 erſchienene, claſſiſche Principien der Geologie die Kataklysmenlehre Cu viers aus dem Gebiete der Geologie gänzlich verdrängt worden war, blieb ſeine Anſicht von der ſpecifiſchen Verſchiedenheit der verſchiedenen organiſchen Schöpfungen auf dem Gebiete der Paläontologie noch vielfach in Geltung. (Gen. Morph. II., 312.) Durch einen ſeltſamen Zufall geſchah es vor zehn Jahren, daß faſt zu derſelben Zeit, als Cuviers Schöpfungsgeſchichte durch Darwins Werk ihren Todesſtoß erhielt, ein anderer berühmter Naturforſcher den Verſuch unternahm, dieſelbe von Neuem zu begründen, und in ſchroffſter Form als Theil eines teleologiſch-theologiſchen Naturſyſtems durchzufüh— ren. Der Schweizer Geologe Louis Agaſſiz nämlich, welcher durch ſeine Gletſcher- und Eiszeittheorien einen ſo hohen Ruf erlangt hat, und welcher ſeit einer Reihe von Jahren in Nordamerika lebt, begann 1858 die Veröffentlichung eines höchſt großartig angelegten Werks, welches den Titel führt: „Beiträge zur Naturgeſchichte der vereinigten Staaten von Nordamerika“). Der erſte Band dieſer Naturgeſchichte, welche durch den Patriotismus der Nordamerikaner eine für ein ſo großes und koſtſpieliges Werk unerhörte Verbreitung erhielt, führt den Titel: „Ein Verſuch über Klaſſifikation“. Agaſſiz erläutert in dieſem Verſuche nicht allein das natürliche Syſtem der Organismen und die verſchiedenen darauf abzielenden Klaſſifikationsverſuche der Naturförſcher, ſondern auch alle allgemeinen biologiſchen Verhältniſſe welche darauf Bezug haben. Die Entwickelungsgeſchichte der Orga- nismen, und zwar ſowohl die embryologiſche als die paläontologiſche, ferner die allgemeinen Reſultate der vergleichenden Anatomie, ſodann die allgemeine Oekonomie der Natur, die geographiſche und topo— graphiſche Verbreitung der Thiere und Pflanzen, kurz faſt alle allge meine Erſcheinungsreihen der organiſchen Natur, kommen in dem Klaſ— ſifikationsverſuche von Agaſſiz zur Beſprechung, und werden ſämmt⸗ lich in einem Sinne und von einem Standpunkte aus erläutert, wel⸗ cher demjenigen Darwins auf das Schroffſte gegenüberſteht. Wäh⸗ Agaſſiz' Anſichten von der Art oder Species. 51 rend das Hauptverdienſt Darwins darin beſteht, natürliche Urſachen für die Entſtehung der Thier- und Pflanzenarten nachzuweiſen, und ſomit die mechaniſche oder moniſtiſche Weltanſchauung auch auf dieſem ſchwierigſten Gebiete der Schöpfungsgeſchichte geltend zu machen, iſt Agaſſiz im Gegentheil überall beſtrebt, jeden mechaniſchen Vorgang aus dieſem ganzen Gebiete völlig auszuſchließen und überall den über— natürlichen Eingriff eines perſönlichen Schöpfers an die Stelle der natürlichen Kräfte der Materie zu ſetzen, mithin eine entſchieden teleo- logiſche oder dualiſtiſche Weltanſchauung zur Geltung zu bringen. Schon aus dieſem Grunde werden Sie es gewiß angemeſſen finden, wenn ich hier auf die biologiſchen Anſichten von Agaſſiz, und ing- beſondere auf feine Schöpfungsvorſtellungen etwas näher eingehe, um ſo mehr, als kein anderes Werk unſerer Gegner jene wichtigen allgemeinen Grundfragen mit gleicher Ausführlichkeit behandelt, und als zugleich die völlige Unhaltbarkeit ihrer dualiſtiſchen Weltanſchauung ſich daraus auf das Klarſte ergiebt. Die organiſche Art oder Species, deren verſchiedenartige Auffaſſung wir oben als den eigentlichen Angelpunkt der entgegen- geſetzten Schöpfungsanſichten bezeichnet haben, wird von A gaſſiz, ebenſo wie von Cuvier und Linné, als eine in allen weſentlichen Merkmalen unveränderliche Geſtalt angeſehen; zwar können die Arten innerhalb enger Grenzen abändern oder variiren, aber nur in unwe— ſentlichen, niemals in weſentlichen Eigenthümlichkeiten. Niemals kön⸗ nen aus den Abänderungen oder Varietäten einer Art wirkliche neue Species hervorgehen. Keine von allen organiſchen Arten ſtammt alſo jemals von einer anderen ab; vielmehr iſt jede einzelne für ſich von Gott geſchaffen worden. Jede einzelne Thierart iſt, wie ſich Agaſſiz ausdrückt, ein verkörperter Schöpfungsgedanke Gottes. In ſchroffem Gegenſatz zu der durch die paläontologiſche Erfah— rung feſtgeſtellten Thatſache, daß die Zeitdauer der einzelnen organi- ſchen Arten eine höchſt ungleiche iſt, und daß manche Species unver- ändert durch mehrere auf einanderfolgende Perioden der Erdgeſchichte hindurchgehen, während Andere nur einen kleinen Bruchtheil einer 4 * 52 Agaſſiz' Anſichten vom natürlichen Syſtem der Organismen. ſolchen Periode durchlebten, hehauptet Agaſſiz, daß niemals eine und dieſelbe Species in zwei verſchiedenen Perioden vorkomme, und daß vielmehr jede einzelne Periode durch eine ganz eigenthümliche, ihr ausſchließlich angehörige Bevölkerung von Thier- und Pflanzenarten charakteriſirt ſei. Er theilt ferner Cuviers Anſicht, daß durch die großen und allgemeinen Revolutionen der Erdoberfläche, welche je zwei auf einander folgende Perioden trennten, jene ganze Bevölke⸗ rung vernichtet und nach deren Untergang eine neue, davon ſpeeifiſch verſchiedene geſchaffen wurde. Dieſe Neuſchöpfung läßt Ag aſſiz in der Weiſe geſchehen, daß jedesmal die geſammte Erdbevölkerung in ihrer durchſchnittlichen Individuenzahl und in den der Oekonomie der Natur entſprechenden Wechſelbeziehungen der einzelnen Arten vom Schöpfer als Ganzes plötzlich in die Welt geſetzt worden ſei. Hiermit tritt er einem der beſtbegründeten und wichtigſten Geſetze der Thier— und Pflanzengeographie entgegen, dem Geſetze nämlich, daß jede Species einen einzigen urſprünglichen Entſtehungsort oder einen foge- nannten Schöpfungsmittelpunkt beſitzt, von dem aus ſie ſich über die übrige Erde allmählich verbreitet hat. Statt deſſen läßt Agaſſiz jede Species an verſchiedenen Stellen der Erdoberfläche und ſogleich in einer größeren Anzahl von Individuen geſchaffen werden. Das natürliche Syſtem der Organismen, deſſen ver- ſchiedene über einander geordnete Gruppenſtufen oder Kategorien, die Zweige, Klaſſen, Ordnungen, Familien, Gattungen und Arten, wir der Abſtammungslehre gemäß als verſchiedene Aeſte und Zweige des gemeinſchaftlichen organ iſchen Stammbaumes betrachten, iſt nach Agaſſiz der unmittelbare Ausdruck des göttlichen Schöpfungsplanes, und indem der Naturforſcher das natürliche Syſtem erforſcht, denkt er die Schöpfungsgedanken Gottes nach. Hierin findet Agaſſiz den kräf— tigſten Beweis dafür, daß der Menſch das Ebenbild und Kind Gottes iſt. Die verſchiedenen Gruppenſtufen oder Kategorien des natürlichen Syſtems entſprechen den verſchiedenen Stufen der Ausbildung, welche der göttliche Schöpfungsplan erlangt hatte. Beim Entwurfe und bei der Ausführung dieſes Planes vertiefte ſich der Schöpfer, von all⸗ Agaſſiz' Auſichten vom Schöpfungsplane. 53 gemeinſten Schöpfungsideen ausgehend, immer mehr in die beſonde— ren Einzelheiten. Was alſo z. B. das Thierreich betrifft, ſo hatte Gott bei deſſen Schöpfung zunächſt vier grundverſchiedene Ideen vom Thierkörper, welche er in dem verſchiedenen Bauplane der vier großen Hauptformen, Typen oder Zweige des Thierreichs verkörperte, in den Wirbelthieren, Gliederthieren, Weichthieren und Strahlthieren. In⸗ dem nun der Schöpfer darüber nachdachte, in welcher Art und Weiſe er dieſe vier verſchiedenen Baupläne mannichfaltig ausführen könne, ſchuf er zunächſt innerhalb jeder der vier Hauptformen mehrere ver— ſchiedene Klaſſen, z. B. in der Wirbelthierform die Klaſſen der Säuge- thiere, Vögel, Reptilien, Amphibien und Fiſche. Weiterhin vertiefte ſich dann Gott in die einzelnen Klaſſen und brachte durch verſchiedene Abſtufungen, im Bau jeder Klaſſe deren einzelne Ordnungen hervor. Durch weitere Variation der Ordnungsform erſchuf er die natürlichen Familien. Indem der Schöpfer ferner in jeder Familie die letzten Struc- tureigenthümlichkeiten einzelner Theile varürte, entſtanden die Gattun⸗ gen oder Genera. Endlich zuletzt ging Gott im weiteren Ausdenken ſeines Schöpfungsplanes ſo ſehr ins Einzelne, daß die einzelnen Arten oder Species ins Leben traten. Dieſe ſind alſo die verkörperten Schöpfungsgedanken der ſpeciellſten Art. (Gen. Morph. II., 374.) Sie ſehen, der Schöpfer verfährt nach Agaſſiz' Vorſtellung beim Hervorbringen der organiſchen Formen genau ebenſo wie ein menſchli— cher Baukünſtler, der ſich die Aufgabe geſtellt hat, möglichſt viel ver- ſchiedene Bauwerke, zu möglichſt mannichfaltigen Zwecken, in mög— lichſt abweichendem Style, in möglichſt verſchiedenen Graden der Ein- fachheit, Pracht, Größe und Vollkommenheit auszudenken und auszu— führen. Dieſer Architect würde zunächſt vielleicht für alle dieſe Gebäude vier verſchiedene Style anwenden, etwa den gothiſchen, byzantiniſchen, chineſiſchen und Roccocoſtyl. In jedem dieſer Style würde er eine Anzahl von Kirchen, Paläſten, Kaſernen, Gefängniſſen und Wohn— häuſern bauen. Jede dieſer verſchiedenen Gebäudeformen würde er in roheren und vollkommneren, in größeren und kleineren, in einfachen und prächtigen Arten ausführen u. ſ. w. Inſofern wäre jedoch der 54 Agaſſiz' Anſichten vom Schöpfer und von der Schöpfung. menſchliche Architekt vielleicht noch beſſer als der göttliche Schöpfer daran, daß ihm in der Anzahl der Gruppenſtufen alle Freiheit gelaſſen wäre. Der Schöpfer dagegen darf ſich nach Agaſſiz immer nur in— nerhalb der genannten ſechs Gruppenſtufen oder Kategorien bewegen, innerhalb der Art, Gattung, Familie, Ordnung, Klaſſe und Typus. Mehr als dieſe ſechs Kategorien giebt es für ihn nicht. Wenn Sie in Agaſſiz' Werk über die Klaſſifikation ſelbſt die weitere Ausführung und Begründung dieſer ſeltſamen Anſichten leſen, — und ich kann Ihnen dies nur empfehlen, — ſo werden Sie kaum begreifen, wie man mit allem Anſchein wiſſenſchaftlichen Ernſtes die Vermenſchlichung (den Anthropomorphismus) des göttli— chen Schöpfers ſo weit treiben, und eben durch die Ausführung im Einzelnen bis zum verkehrteſten Unſinn ausmalen kann. In dieſer ganzen Vorſtellungsreihe iſt der Schöpfer weiter nichts als ein allmäch— tiger Menſch, der von Langerweile geplagt, ſich mit dem Ausdenken und Aufbauen möglichſt mannichfaltiger Spielzeuge, der organiſchen Arten, beluſtigt. Nachdem er ſich mit denſelben eine Reihe von Jahr— tauſenden hindurch unterhalten, werden ſie ihm langweilig; er ver— nichtet ſie durch eine allgemeine Revolution der Erdoberfläche, indem er das ganze unnütze Spielzeug in Haufen zuſammenwirft, und ruft nun, um ſich an etwas Neuem und Beſſerem die Zeit zu vertreiben, eine neue und vollkommnere Thier- und Pflanzenwelt ins Leben. Um jedoch nicht die Mühe der ganzen Schöpfungsarbeit von vorn anzu- fangen, behält er immer den einmal ausgedachten Schöpfungsplan im Großen und Ganzen bei, und ſchafft nur lauter neue Arten, oder höchſtens neue Gattungen, viel ſeltener neue Familien, Ordnungen oder gar Klaſſen. Zu einem neuen Typus oder Style bringt er es nie. Dabei bleibt er immer ſtreng innerhalb jener ſechs Kategorien. Nachdem der Schöpfer ſo nach Agaſſiz' Anſicht ſich Millionen von Jahrtauſenden hindurch mit dem Aufbauen und Zerſtören einer Reihe verſchiedener Schöpfungen unterhalten hatte, kömmt er endlich zuletzt — obwohl ſehr ſpät! — auf den guten Gedanken, ſich ſeines— gleichen zu erſchaffen, und er formt den Menſchen nach feinem Eben- Paläontologiſche Entwickelungsgeſetze von Agaſſiz. 55 bilde! Hiermit iſt das Endziel aller Schöpfungsgeſchichte erreicht und die Reihe der Erdrevolutionen abgeſchloſſen. Der Menſch, das Kind und Ebenbild Gottes, giebt demſelben ſo viel zu thun, macht ihm ſo viel Vergnügen und Mühe, daß er nun niemals mehr Langeweile hat, und keine neue Schöpfung mehr eintreten zu laſſen braucht. Sie ſe— hen offenbar, wenn man einmal in der Weiſe, wie Agaſſiz, dem Schöpfer durchaus menſchliche Attribute und Eigenſchaften beilegt, und ſein Schöpfungswerk durchaus analog einer menſchlichen Schöpfungs— thätigkeit betrachtet, ſo iſt man nothwendig auch zur Annahme dieſer ganz abſurden Konſequenzen gezwungen. Die vielen inneren Widerſprüche und die auffallenden Verkehrt— heiten der Schöpfungsanſichten von Agaffiz, welche ihn nothwendig zu dem entſchiedenſten Widerſtand gegen die Abſtammungslehre führ⸗ ten, müſſen aber um ſo mehr unſer Erſtaunen erregen, als vielleicht (in mancher Beziehung wenigſtens) kein anderer Naturforſcher der neuern Zeit ſo ſehr thatſächlich Darwin vorgearbeitet hat, insbeſon— dere durch ſeine Thätigkeit auf dem paläontologiſchen Gebiete. Unter den zahlreichen Unterſuchungen über Verſteinerungen, welche der jun— gen Paläontologie ſchnell die allgemeine Theilnahme erwarben, ſchlie— ßen ſich diejenigen von Agaſſiz, namentlich das berühmte Werk „über die foſſilen Fiſche“, zunächſt ebenbürtig an die grundlegenden Arbeiten von Cuvier an. Nicht allein haben die verſteinerten Fiſche, mit de— nen uns Agaſſiz bekannt machte, eine außerordentlich hohe Bedeu— tung für das Verſtändniß der ganzen Wirbelthiergruppe und ihrer ge— ſchichtlichen Entwickelung gewonnen; ſondern wir ſind dadurch auch zur ſicheren Erkenntniß wichtiger allgemeiner Entwickelungsgeſetze ge— langt, die zum Theil von Agaſſiz zuerſt entdeckt wurden. Insbe— ſondere hat derſelbe zuerſt den merkwürdigen Parallelismus zwiſchen der embryonalen und der paläontologiſchen Entwickelung, zwiſchen der Ontogenie und Phylogenie hervorgehoben, eine Uebereinſtimmung, welche ich ſchon vorher (S. 9) als eine der ſtärkſten Stützen für die Abftam- mungslehre in Anſpruch genommen habe. Niemand hatte vorher ſo beſtimmt, wie es Agaffiz that, hervorgehoben, daß von den Wirbel- 56 Paläontologiſche Entwickelungsgeſetze von Agaſſiz. thieren zuerſt nur Fiſche allein exiſtirt haben, daß erſt ſpäter Amphi⸗ bien auftraten, und daß erſt in noch viel ſpäterer Zeit Vögel und Säu— gethiere erſchienen; daß ferner von den Säugethieren, ebenſo wie von den Fiſchen, anfangs unvollkommnere, niedere Ordnungen, ſpäter erſt vollkommnere und höhere auftraten. Agaſſiz zeigte mithin, daß die paläontologiſche Entwickelung der ganzen Wirbelthiergruppe nicht allein der embryonalen parallel ſei, ſondern auch der ſyſtematiſchen Entwicke⸗ lung, d. h. der Stufenleiter, welche wir überall im Syſtem von den niede- ren zu den höheren Klaſſen, Ordnungen u. ſ. w. aufſteigend erblicken. Zuerſt erſchienen in der Erdgeſchichte nur niedere, ſpäter erſt höhere For⸗ men. Dieſe wichtige Thatſache erklärt ſich, ebenſo wie die Uebereinſtim— mung der embryonalen und paläontologiſchen Entwickelung, ganz ein- fach und natürlich aus der Abſtammungslehre, während fie ohne dieſe ganz unerklärlich iſt. Daſſelbe gilt ferner auch von dem großen Geſetz der fortſchreitenden Entwickelung, von dem hiſtoriſchen Fortſchritt der Organiſation, welcher ſowohl im Großen und Ganzen in der ge— ſchichtlichen Aufeinanderfolge aller Organismen ſichtbar iſt, als in der beſonderen Vervollkommnung einzelner Theile des Thierkörpers. So z. B. erhielt das Skelet der Wirbelthiere, ihr Knochengerüſt, erſt langſam, allmählich und ſtufenweis den hohen Grad von Vollkommenheit, welchen es jetzt beim Menſchen und den anderen höheren Wirbelthieren beſtitzt. Dieſer von Agaſſiz thatſächlich anerkannte Fortſchritt folgt aber mit Nothwendigkeit aus der von Darwin begründeten Züchtungslehre, welche die wirkenden Urſachen deſſelben nachweiſt. Wenn dieſe Lehre richtig iſt, fo mußte nothwendig die Vollkommenheit und Mannich⸗ faltigkeit der Thier- und Pflanzenarten im Laufe der organiſchen Erdge— ſchichte ſtufenweiſe zunehmen, und konnte erſt in neueſter Zeit ihre höchſte Ausbildung erlangen. Alle ſo eben angeführten, nebſt einigen anderen allgemeinen Ent⸗ wickelungsgeſetzen, welche von Agaſſiz ausdrücklich anerkannt und mit Recht ſtark betont werden, welche ſogar von ihm ſelbſt zum Theil erſt aufgeſtellt wurden, ſind, wie Sie ſpäter ſehen werden, nur durch die Abſtammungslehre erklärbar und bleiben ohne dieſelbe völlig un- Anthropomorphismus von Agaſſiz' Schöpfungsgeſchichte. 57 begreiflich. Nur die von Darwin entwickelte Wechſelwirkung der Vererbung und Anpaſſung kann die wahre Urſache derſelben ſein. Dagegen ſtehen ſie alle in ſchroffem und unvereinbarem Gegenſatz mit der vorher beſprochenen Schöpfungshypotheſe von Agaſſiz, und mit allen Vorſtellungen von der zweckmäßigen Werkthätigkeit eines perſönlichen Schöpfers. Will man im Ernſt durch die letztere jene merkwürdigen Erſcheinungen und ihren inneren Zuſammenhang er— klären, ſo verirrt man ſich nothwendig zu der Annahme, daß auch der Schöpfer ſelbſt ſich mit der organiſchen Natur, die er ſchuf und um— bildete, entwickelt habe. Man kann ſich dann nicht mehr von der Bor- ſtellung los machen, daß der Schöpfer ſelbſt nach Art des menſchlichen Organismus ſeine Pläne entworfen, verbeſſert und endlich unter vielen Abänderungen ausgeführt habe. „Es wächſt der Menſch mit ſeinen höher'n Zwecken“. Dieſe Gottes unwürdige Vorſtellung müſſen wir dann nothwendig auf ihn übertragen. Wenn es nach der Ehrfurcht, mit der Agaſſiz auf jeder Seite vom Schöpfer ſpricht, ſcheinen könnte, daß wir dadurch zur erhabenſten Vorſtellung von ſeinem Wirken in der Natur gelangen, ſo findet in Wahrheit das Gegentheil ſtatt. Der göttliche Schöpfer wird dadurch zu einem idealiſirten Menſchen ernie- drigt, zu einem in der Entwickelung fortſchreitenden Organismus. Bei der weiten Verbreitung und dem hohen Anſehen, welches ſich Agaſſiz' Werk erworben hat, und welches in Anbetracht der an— deren hohen wiſſenſchaftlichen Verdienſte des geiſtvollen Verfaſſers gewiß gerechtfertigt iſt, glaubte ich es Ihnen ſchuldig zu ſein, hier dieſe ſchwachen Seiten deſſelben ſtark hervorzuheben. Sofern dies Werk eine naturwiſſenſchaftliche Schöpfungsgeſchichte ſein will, iſt daſſelbe unzweifelhaft gänzlich verfehlt. Es hat aber außerordentlichen Werth, als der einzige, ausführliche und mit wiſſenſchaftlichen Beweisgründen geſchmückte Verſuch, den in neuerer Zeit ein hervorragender Natur— forſcher zur Begründung einer teleologiſchen oder dualiſtiſchen Schö— pfungsgeſchichte unternommen hat. Die innere Unmöglichkeit einer ſolchen wird dadurch klar vor Jedermanns Augen gelegt. Kein Gegner von Agaſſiz hätte vermocht, die von ihm entwickelte dua— 58 Dualiſtiſche und moniſtiſche Gottesvorſtellung. liſtſche Anſchauung der organiſchen Natur und ihrer Entſtehung fo ſchlagend zu widerlegen, als ihm dies ſelbſt durch die überall hervor— tretenden inneren Widerſprüche gelungen iſt. Sollten Sie bei dem Leſen von Darwins Werk zweifelhaft werden über den Werth ſeiner Lehre zur Erklärung dieſer oder jener allgemeinen Erſcheinungsreihe, jo brauchen Sie bloß in dem Werke von Agaſſiz den entgegenge— ſetzten Erklärungsverſuch zu vergleichen, um ſofort die Unmöglichkeit des letzteren, die Nothwendigkeit der erſteren zu erkennen. Die Gegner der moniſtiſchen oder mechaniſchen Weltanſchauung haben das Werk von Agaſſiz mit Freuden begrüßt und erblicken darin eine vollendete Beweisführung für die unmittelbare Schöpfungs— thätigkeit eines perſönlichen Gottes. Allein ſie überſehen dabei, daß dieſer perſönliche Schöpfer bloß ein mit menſchlichen Attributen ausge— rüſteter, idealiſirter Organismus iſt. Dieſe niedere dualiſtiſche Gottes— vorſtellung entſpricht einer niederen thieriſchen Entwickelungsſtufe des menſchlichen Organismus. Der höher entwickelte Menſch der Gegen— wart iſt befähigt und berechtigt zu jener unendlich edleren und erha— beneren Gottesvorſtellung, welche allein mit der moniſtiſchen Weltan— ſchauung verträglich iſt, und welche Gottes Geiſt und Kraft in allen Erſcheinungen ohne Ausnahme erblickt. Dieſe moniſtiſche Gottesidee, welcher die Zukunft gehört, hat ſchon Giordano Bruno (S. 18) mit den Worten ausgeſprochen: „Ein Geiſt findet ſich in allen Din— gen, und es iſt kein Körper ſo klein, daß er nicht einen Theil der gött— lichen Subſtanz in ſich enthielte, wodurch er beſeelt wird“. Dieſe veredelte Gottesidee iſt es, von welcher Goethe ſagt: „Gewiß es giebt keine ſchönere Gottesverehrung, als diejenige, welche kein Bild bedarf welche aus dem Wechſelgeſpräch mit der Natur in unferem Bu— ſen entſpringt“. Durch ſie werden wir zu der edelſten und erhabenſten Vorſtellung geführt, welcher der Menſch fähig iſt, zu der Vorſtellung von der Einheit Gottes und der Natur. Vierter Vortrag. Entwidelungstheorie von Goethe und Ofen, Wiſſenſchaftliche Unzulänglichkeit aller Vorſtellungen von einer Schöpfung der einzelnen Arten. Nothwendigkeit der entgegengeſetzten Entwickelungstheorien. Ge⸗ ſchichtlicher Ueberblick über die wichtigſten Entwickelungstheorien. Ariſtoteles. Seine Lehre von der Urzeugung. Die Bedeutung der Naturphiloſophie. Goethe. Seine Verdienſte als Naturforſcher. Seine Metamorphoſe der Pflanzen. Seine Wirbel⸗ theorie des Schädels. Seine Entdeckung des Zwiſchenkiefers beim Menſchen. Goe⸗ thes Theilnahme an dem Streite zwiſchen Cuvier und Geoffroy S. Hilaire. Goe⸗ thes Entdeckung der beiden organiſchen Bildungstriebe, des konſervativen Specifika⸗ tionstriebes (der Vererbung), und des progreſſiven Umbildungstriebes (der Anpaſ⸗ ſung). Goethes Anſicht von der gemeinſamen Abſtammung aller Wirbelthiere mit Inbegriff des Menſchen. Oken. Seine Naturphiloſophie. Okens Vorſtellung vom Urſchleim (Protoplasmatheorie). Okens Vorſtellung von den Infuſorien (Zellentheo⸗ rie). Okens Entwickelungstheorie. f Meine Herren! Alle verſchiedenen Vorſtellungen, welche wir uns über eine ſelbſtſtändige, von einander unabhängige Entſtehung der einzelnen organiſchen Arten durch Schöpfung machen können, laufen, folgerichtig durchdacht, auf einen ſogenannten Anthropo— morphismus, d. h. auf eine Vermenſchlichung des Schöpfers hinaus, wie wir in dem letzten Vortrage bereits gezeigt haben. Es wird da der Schöpfer zu einem Organismus, der ſich einen Plan ent— wirft, dieſen Plan durchdenkt und verändert, und ſchließlich die Ge— 60 Wiſſenſchaftliche Unzulänglichkeit aller Schöpfungsvorſtellungen. ſchöpfe nach dieſem Plane ausführt, wie ein menſchlicher Architekt fein Bauwerk. Wenn ſelbſt fo hervorragende Naturforſcher wie Lin- né, Cuvier und Agaſſiz, die Hauptvertreter der dualiſtiſchen Schöpfungshypotheſe, zu keiner genügenderen Vorſtellung gelangen konnten, ſo wird daraus am beſten die Unzulänglichkeit aller derje— nigen Vorſtellungen hervorgehen, welche die Mannichfaltigkeit der organiſchen Natur aus einer ſolchen Schöpfung der einzelnen Arten ableiten wollen. Es haben zwar einige Naturforſcher, welche das wiſſenſchaftlich ganz Unbefriedigende dieſer Vorſtellung einſahen, ver— ſucht, den Begriff des perſönlichen Schöpfers durch denjenigen einer unbewußt wirkenden ſchöpferiſchen Naturkraft zu erſetzen; indeſſen iſt dieſer Ausdruck offenbar eine bloße umſchreibende Redensart, ſobald nicht näher gezeigt wird, worin dieſe Naturkraft beſteht, und wie ſie wirkt. Daher haben auch dieſe letzteren Verſuche durchaus keine Gel— tung in der Wiſſenſchaft errungen. Vielmehr hat man ſich genöthigt geſehen, ſobald man eine ſelbſtſtändige Entſtehung der verſchiedenen Thier- und Pflanzenformen annahm, immer auf ebenſo viele Schö— pfungsakte zurückzugreifen, d. h. auf übernatürliche Eingriffe des Schö— pfers in den Gang der Dinge, der im Uebrigen ohne ſeine Mitwir— kung abläuft. Gegenüber nun dieſer vollſtändigen wiſſenſchaftlichen Unzuläng⸗ lichkeit aller Schöpfungshypotheſen ſind wir gezwungen, zu den entge— gengeſetzten Entwickelungstheorien der Organismen unſere Zu— flucht zu nehmen, wenn wir uns überhaupt eine wiſſenſchaftliche Bor- ſtellung von der Entſtehung der Organismen machen wollen. Wir ſind gezwungen und verpflichtet dazu, ſelbſt wenn dieſe Entwickelungs⸗ theorien nur einen Schimmer von Wahrſcheinlichkeit auf eine mecha— niſche, natürliche Entſtehung der Thier- und Pflanzenarten fallen laf- ſen; um ſo mehr aber, wenn, wie Sie ſehen werden, dieſe Theorien eben ſo einfach und klar, als vollſtändig und umfaſſend die geſammten Thatſachen erklären. Dieſe Entwickelungstheorien ſind keineswegs, wie ſie oft fälſchlich angeſehen werden, willkürliche Einfälle, oder be- liebige Erzeugniſſe der Einbildungskraft, welche nur die Entſtehung Wiſſenſchaftliche Nothwendigkeit der Entwickelungstheorien. 61 dieſes oder jenes einzelnen Organismus annähernd zu erklären ver— mögen; ſondern fie find ſtreng wiſſenſchaftlich begründete Theorien, welche von einem feſten und klaren Standpunkte aus die Geſammt— heit der organiſchen Naturerſcheinungen, und insbeſondere die Entſte— hung der organiſchen Species auf das Einfachſte erklären, und als die nothwendigen Folgen mechaniſcher Naturvorgänge nachweiſen. Wie ich bereits im zweiten Vortrage Ihnen zeigte, fallen dieſe Entwickelungstheorien naturgemäß mit derjenigen allgemeinen Welt- anſchauung zuſammen, welche man gewöhnlich als die einheitliche oder moniſtiſche, häufig auch als die mechaniſche oder cauſale zu be— zeichnen pflegt, weil ſie nur mechaniſche oder nothwendig wir— kende Urſachen (causae efficientes) zur Erklärung der Naturer- ſcheinungen in Anſpruch nimmt. Ebenſo fallen auf der anderen Seite die von uns bereits betrachteten übernatürlichen Schöpfungshypothe— ſen mit derjenigen, völlig entgegengeſetzten Weltanſchauung zuſam— men, welche man im Gegenſatz zur erſteren die zwieſpältige oder du a— liſtiſche, oft auch die teleologiſche oder vitale nennt, weil fie die organiſchen Naturerſcheinungen aus der Wirkſamkeit zweckthätiger oder zweckmäßig wirkender Urſach en (causae finales) ableitet. Ge⸗ rade in dieſem tiefen inneren Zuſammenhang der verſchiedenen Schö— pfungstheorien mit den höchſten Fragen der Philoſophie liegt für uns die Anreizung zu ihrer eingehenden Betrachtung. Der Grundgedanke, welcher allen natürlichen Entwickelungs— theorien nothwendig zu Grunde liegen muß, iſt derjenige einer all» mählichen Entwickelung aller (auch der vollkommenſten) Organismen aus einem einzigen oder aus ſehr wenigen, ganz einfachen und ganz unvollkommenen Urweſen, welche nicht durch übernatürliche Schöpfung, ſondern durch Urzeugung oder Archi— gonie (Generatio spontanea) aus anorganiſcher Materie entſtanden. Eigentlich find in dieſem Grundgedanken zwei verſchiedene Vorſtellun— gen verbunden, welche aber in tiefem inneren Zuſammenhang ſtehen, nämlich erſtens die Vorſtellung der Urzeugung oder Archigonie der ur— ſprünglichen Stammweſen, und zweitens die Vorſtellung der fortſchrei— 62 Entſtehung der Eutwickelungstheorien. tenden Entwickelung der verſchiedenen Organismenarten aus jenen einfachſten Stammweſen. Dieſe beiden wichtigen mechaniſchen Vor— ſtellungen find die unzertrennlichen Grundgedanken jeder ſtreng wiſſen— ſchaftlich durchgeführten Entwickelungstheorie. Weil dieſelbe eine Ab— ſtammung der verſchiedenen Thier- und Pflanzenarten von einfachſten gemeinſamen Stammarten behauptet, konnten wir fie auch als Ab- ſtammungslehre (Deſcendenztheorie), und weil damit zugleich eine Umbildung der Arten verbunden ift, als Umbild ungslehre (Trans— mutationstheorie) bezeichnen. Während übernatürliche Schöpfungsgeſchichten ſchon vor vielen Jahrtauſenden, in jener unvordenklichen Urzeit entſtanden ſein müſ— ſen, als der Menſch, eben erſt aus dem Affenzuſtande ſich entwickelnd, zum erſten Male anfing, eingehender über ſich ſelbſt und über die Ent— ſtehung der ihn umgebenden Körperwelt nachzudenken, ſo ſind dage— gen die natürlichen Entwickelungstheorien nothwendig viel jüngeren Urſprungs. Wir können dieſen erſt bei gereifteren Culturvölkern be— gegnen, denen durch philoſophiſche Bildung die Nothwendigkeit einer natürlichen Urſachenerkenntniß klar geworden war; und auch bei die— ſen dürfen wir zunächſt nur von einzelnen bevorzugten Naturen erwar⸗ ten, daß fie den Urſprung der Erſcheinungswelt ebenfo wie deren Ent- wickelungsgang, als die nothwendige Folge von mechaniſchen, natür⸗ lich wirkenden Urſachen erkannten. Bei keinem Volke waren dieſe Vor⸗ bedingungen für die Entſtehung einer natürlichen Entwickelungs⸗ theorie jemals fo vorhanden, wie bei den Griechen des klaſſiſchen Al— terthums. Dieſen fehlte aber auf der anderen Seite zu ſehr die nä— here Bekanntſchaft mit den Thatſachen der Naturvorgänge und ihren Formen, und fomit die erfahrungsmäßige Grundlage für eine wei- tere Durchbildung der Entwickelungstheorie. Die exakte Naturfor⸗ ſchung und die überall auf empiriſcher Baſis begründete Naturerkennt⸗ niß war ja dem Alterthum ebenſo wie dem Mittelalter faſt ganz unbe- kannt und iſt erſt eine Errungenſchaft der neuern Zeit. Wir haben daher auch hier keine nähere Veranlaſſung, auf die natürlichen Ent- wickelungstheorien der verſchiedenen griechiſchen Weltweiſen einzuge— Entwickelungstheorie des Ariſtoteles. 63 hen, da denſelben zu ſehr die erfahrungsmäßige Kenntniß ſowohl von der organiſchen als von der anorganiſchen Natur abging, und ſie ſich demgemäß faſt immer nur in luftigen Speculationen verirrten. Nur einen Mann müſſen wir hier ausnahmsweiſe hervorheben, den größten und den einzigen wahrhaft großen Naturforſcher des Al— terthums und des Mittelalters, einen der erhabenſten Genien aller Zei— ten: Ariſtoteles. Wie derſelbe in empiriſch-philoſophiſcher Na— turerkenntniß, und insbeſondere im Verſtändniß der organiſchen Na— tur, während eines Zeitraums von mehr als zweitauſend Jahren ein— zig daſteht, beweiſen uns die koſtbaren Reſte ſeiner nur theilweis er— haltenen Werke. Auch von einer natürlichen Entwickelungstheorie fin— den ſich in denſelben mehrfache Spuren vor. Ariſtoteles nimmt mit voller Beſtimmtheit die Urzeugung als die natürliche Entſtehungs— art der niederen organiſchen Weſen an. Er läßt Thiere und Pflan- zen aus der Materie ſelbſt durch deren ureigene Kraft entſtehen, ſo z. B. Motten aus Wolle, Flöhe aus faulem Miſt, Milben aus feuch— tem Holz u. ſ. w. Da ihm jedoch die Unterſcheidung der organiſchen Species, welche erſt mehr als zweitauſend Jahre ſpäter Lin né gelang, unbekannt war, konnte er über deren genealogiſches Verhältniß ſich wohl noch keine Vorſtellungen bilden, Der Grundgedanke der Entwickelungstheorie, daß die verſchiede— nen Thier- und Pflanzenarten ſich aus gemeinſamen Stammarten durch Umbildung entwickelt haben, konnte natürlich erſt klar ausge— ſprochen werden, nachdem die Arten oder Species ſelbſt genauer be— kannt geworden, und nachdem auch ſchon die ausgeſtorbenen Species neben den lebenden in Betracht gezogen und eingehender mit letzteren verglichen worden waren. Dies geſchah erſt gegen Ende des vorigen und im Beginn unſeres Jahrhunderts. Erſt im Jahre 1801 ſprach der große Lamarck die Entwickelungstheorie aus, welche er 1809 in ſeiner klaſſiſchen „Philosophie zoologique“ weiter ausführte. Wäh— rend Lamarck und ſein Landsmann Geoffroy S. Hilaire in Frankreich den Anſichten Cuviers gegenüber traten und eine natür— liche Entwickelung der organiſchen Species durch Umbildung und Ab— 64 Bedeutung der Naturphiloſophie. ſtammung behaupteten, vertraten gleichzeitig in Deutſchland Goe— the und Oken dieſelbe Richtung und halfen die Entwickelungstheorie begründen. Da man gewöhnlich alle dieſe Naturforſcher als „Na— turphiloſophen“ zu bezeichnen pflegt, und da dieſe vieldeutige Be— zeichnung in einem gewiſſen Sinne ganz richtig iſt, ſo erſcheint es mir zunächſt angemeſſen, hier einige Worte über die richtige Würdigung der Naturphiloſophie vorauszuſchicken. Während man in England ſchon ſeit langer Zeit die Begriffe Naturwiſſenſchaft und Philoſophie faſt als gleichbedeutend anſieht, und mit vollem Recht jeden wahrhaft wiſſenſchaftlich arbeitenden Natur- forſcher einen Naturphiloſophen nennt, wird dagegen in Deutſchland ſchon ſeit mehr als einem halben Jahrhundert die Naturwiſſenſchaft ſtreng von der Philoſophie geſchieden, und die naturgemäße Verbin— dung beider zu einer wahren „Naturphiloſophie“ wird nur von We— nigen anerkannt. An dieſer Verkennung ſind die phantaſtiſchen Aus— ſchreitungen der früheren deutſchen Naturphiloſophen, Okens, Schel— lings u. ſ. w. Schuld, welche glaubten, die Naturgeſetze aus ihrem Kopfe konſtruiren zu können, ohne überall auf dem Boden der that— ſächlichen Erfahrung ſtehen bleiben zu müſſen. Als ſich dieſe Anma— ßungen in ihrer ganzen Leerheit herausgeſtellt hatten, ſchlugen die Naturforſcher unter der „Nation von Denkern“ in das gerade Gegen— theil um, und glaubten, das hohe Ziel der Wiſſenſchaft, die Erfennt- niß der Wahrheit, auf dem Wege der nackten ſinnlichen Erfahrung, ohne jede philoſophiſche Gedankenarbeit erreichen zu können. Von nun an, beſonders ſeit dem Jahre 1830, machte ſich bei den meiſten Naturforſchern eine ſtarke Abneigung gegen jede allgemeinere, philo— ſophiſche Betrachtung der Natur geltend. Man fand nun das eigent— liche Ziel der Naturwiſſenſchaft in der Erkenntniß des Einzelnen und glaubte daſſelbe in der Biologie erreicht, wenn man mit Hülfe der feinſten Inſtrumente und Beobachtungsmittel die Formen und die Le— benserſcheinungen aller einzelnen Organismen ganz genau erkannt ha— ben würde. Zwar gab es immerhin unter dieſen ſtreng empiriſchen oder ſogenannten exakten Naturforſchern zahlreiche, welche ſich über Empirie und Philoſophie. 65 dieſen beſchränkten Standpunkt erhoben und das letzte Ziel in einer Erkenntniß allgemeiner Organiſationsgeſetze finden wollten. Indeſſen die große Mehrzahl der Zoologen und Botaniker in den letzten drei bis vier Decennien wollte von ſolchen allgemeinen Geſetzen Nichts wiſ— ſen; ſie geſtanden höchſtens zu, daß vielleicht in ganz entfernter Zu— kunft, wenn man einmal am Ende aller empiriſchen Erkenntniß an— gelangt ſein würde, wenn alle einzelnen Thiere und Pflanzen voll— ſtändig unterſucht worden ſeien, man daran denken könne, allgemeine biologiſche Geſetze zu entdecken. Wenn Sie die wichtigſten Fortſchritte, die der menſchliche Geiſt in der Erkenntniß der Wahrheit gemacht hat, zuſammenfaſſend ver— gleichen, ſo werden Sie bald ſehen, daß es ſtets philoſophiſche Ge— dankenoperationen ſind, durch welche dieſe Fortſchritte erzielt wurden, und daß jene, allerdings nothwendig vorhergehende ſinnliche Erfah— rung und die dadurch gewonnene Kenntniß des Einzelnen nur die Grundlage für jene allgemeinen Geſetze liefern. Empirie und Philo— ſophie ſtehen daher keineswegs in ſo ausſchließendem Gegenſatz zu einander, wie es bisher von den Meiſten angenommen wurde; ſie ergänzen ſich vielmehr nothwendig. Der Philoſoph, welchem der un— umſtößliche Boden der ſinnlichen Erfahrung, der empiriſchen Kennt— niß fehlt, gelangt in ſeinen allgemeinen Speculationen ſehr leicht zu Fehlſchlüſſen, welche ſelbſt ein mäßig gebildeter Naturforſcher ſofort wi— derlegen kann. Andrerſeits können die rein empiriſchen Naturfor- ſcher, die ſich nicht um philoſophiſche Zuſammenfaſſung ihrer ſinnli— chen Wahrnehmungen bemühen, und nicht nach allgemeinen Erkennt— niſſen ſtreben, die Wiſſenſchaft nur in ſehr geringem Maße fördern, und der Hauptwerth ihrer mühſam gewonnenen Einzelkenntniſſe liegt in den allgemeinen Reſultaten, welche ſpäter umfaſſendere Geiſter aus denſelben ziehen. Bei einem allgemeinen Ueberblick über den Entwi— ckelungsgang der Biologie ſeit Linné finden Sie leicht, wie dies Bär ausgeführt hat, ein beſtändiges Schwanken zwiſchen dieſen beiden Richtungen, ein Ueberwiegen einmal der empiriſchen (ſogenannten exakten) und dann wieder der philoſophiſchen (ſpeculativen) Richtung. Haeckel, Natürliche Schöpfungsgeſchichte. 5 66 Empirie und Philoſophie. So hatte ſich ſchon zu Ende des vorigen Jahrhunderts, im Gegenſatz gegen Linn é's rein empiriſche Schule, eine naturphiloſophiſche Re— action erhoben, deren bewegende Geiſter, Lamarck, Geoffroy S. Hilaire, Goethe und Oken, durch ihre Gedankenarbeit Licht und Ordnung in das Chaos des aufgehäuften empiriſchen Rohmate⸗ rials brachten. Gegenüber den vielfachen Irrthümern und den zu weit gehenden Spekulationen dieſer Naturphiloſophen trat dann Cu— vier auf, welcher eine zweite, rein empiriſche Periode herbeiführte. Dieſe erreichte ihre einſeitigſte Entwickelung während der Jahre 1830 — 1860, und nun folgte ein zweiter philoſophiſcher Rückſchlag, durch Darwins Werk veranlaßt. Man fing nun in unſerm Decennium wieder an, ſich zur Erkenntniß der allgemeinen Naturgeſetze hinzuwen— den, denen doch ſchließlich alle einzelnen Erfahrungskenntniſſe nur als Grundlage dienen, und durch welche letztere erſt Werth erlangen. Durch die Philoſophie wird die Naturkunde erſt zur wahren Wiſſen— ſchaft, zur „Naturphiloſophie“ (Gen. Morph. I, 63—108). Unter den großen Naturphiloſophen, denen wir die erſte Be— gründung einer organiſchen Entwickelungstheorie verdanken, und welche neben Charles Darwin als die Urheber der Abſtammungs— lehre glänzen, ſtehen obenan Jean Lamarck und Wolfgang Goethe. Jedes der drei großen Kulturländer der Neuzeit, Deutſch— land, England und Frankreich, hat einen geiſtvollen Naturforſcher zur Löſung dieſer hohen Aufgabe entſandt. Ich wende mich zunächſt zu unſerm theuren Goethe, welcher von Allen uns Deutſchen am nächſten ſteht. Bevor ich Ihnen jedoch ſeine beſonderen Verdienſte um die Entwickelungstheorie erläutere, ſcheint es mir paſſend, Eini— ges über ſeine Bedeutung als Naturforſcher überhaupt zu ſagen, da dieſelbe gewöhnlich ſehr verkannt wird. Gewiß die Meiſten unter Ihnen verehren Goethe nur als Dich— ter und Menſchen; nur Wenige werden eine Vorſtellung von dem ho— hen Werth haben, den ſeine naturwiſſenſchaftlichen Arbeiten beſitzen, von dem Rieſenſchritt, mit dem er ſeiner Zeit vorauseilte, — ſo vor— auseilte, daß eben die meiſten Naturforſcher der damaligen Zeit ihm Goethe's Verdienſte als Naturforſcher. 67 nicht nachkommen konnten. Das Mißgeſchick, daß feine naturphilo— ſophiſchen Verdienſte von ſeinen Zeitgenoſſen verkannt wurden, hat Goethe beſtändig tief berührt. An verſchiedenen Stellen ſeiner na— turwiſſenſchaftlichen Schriften beklagt er ſich bitter über die beſchränk— ten Fachleute, welche ſeine Arbeiten nicht zu würdigen verſtehen, welche den Wald vor lauter Bäumen nicht ſehen, und welche ſich nicht dazu erheben können, aus dem Wuſt des Einzelnen allgemeine Naturgeſetze herauszufinden. Nur zu gerecht iſt ſein Vorwurf: „Der Philoſoph wird gar bald entdecken, daß ſich die Beobachter ſelten zu einem Stand— punkte erheben, von welchem ſie ſo viele bedeutend bezügliche Gegen— ſtände überſehen können.“ Weſentlich allerdings wurde dieſe Verken— nung verſchuldet durch den falſchen Weg, auf welchen Goethe in ſeiner Farbenlehre gerieth. Die Farbenlehre, die er ſelbſt als das Lieblingskind ſeiner Muße bezeichnet, iſt in ihren Grundlagen durch— aus verfehlt, ſoviel Schönes ſie auch im Einzelnen enthalten mag. Die exakte mathematiſche Methode, mittelſt welcher man allein zu— nächſt in den anorganiſchen Naturwiſſenſchaften, in der Phyſik vor Allem, Schritt für Schritt auf unumſtößlich feſter Baſis weiter bauen kann, war Goethe durchaus zuwider. Er ließ ſich in der Verwer— fung derſelben nicht allein zu großen Ungerechtigkeiten gegen die her— vorragendſten Phyſiker hinreißen, ſondern auch auf Irrwege verleiten, die ſeinen übrigen werthvollen Arbeiten ſehr geſchadet haben. Ganz etwas Anderes iſt es in den organiſchen Naturwiſſenſchaften, in welchen wir nur ſelten im Stande ſind, von Anfang an gleich auf der unumſtößlich feſten, mathematiſchen Baſis vorzugehen, vielmehr gezwungen ſind, wegen der unendlich ſchwierigen und verwickelten Natur der Aufgabe, uns zunächſt Induktionsſchlüſſe zu bilden; d. h. wir müſſen aus zahlreichen einzelnen Beobachtungen, die doch nicht ganz vollſtändig ſind, ein allgemeines Geſetz zu begründen ſuchen. Die Vergleichung der verwandten Erſcheinungsreihen, die Combina— tion iſt hier das wichtigſte Forſchungsinſtrument, und dieſe wurde von Goethe mit ebenſoviel Glück als bewußter Wertherkenntniß bei ſeinen naturphiloſophiſchen Arbeiten angewandt. 5 * 68 Goethe's Metamorphoſe der Pflanzen. Von den Schriften Goethe's, die ſich auf die organiſche Natur beziehen, iſt am berühmteſten die Metamorphoſe der Pflan— zen geworden, welche 1790 erſchien; ein Werk, welches inſofern den Grundgedanken der Entwickelungstheorie deutlich erkennen läßt, als Goethe darin bemüht war, ein einziges Grundorgan nachzuweiſen, durch deſſen unendlich mannichfaltige Ausbildung und Umbildung man ſich den ganzen Formenreichthum der Pflanzenwelt entſtanden denken könne; dieſes Grundorgan fand er im Blatt. Wenn damals ſchon die Anwendung des Mikroſkops eine allgemeine geweſen wäre, wenn Goethe den Bau der Organismen mit dem Mikroſkop durchforſcht hätte, ſo würde er noch weiter gegangen ſein, und das Blatt bereits als ein Vielfaches von individuellen Theilen niederer Ordnung, von Zellen, erkannt haben. Er würde dann nicht das Blatt, ſondern die Zelle als das eigentliche Grundorgan aufgeſtellt haben, durch deſ— ſen Vermehrung, Umbildung und Verbindung (Syntheſe) zunächſt das Blatt entſteht; ſowie weiterhin durch Umbildung, Variation und Zuſammenſetzung der Blätter alle die mannichfaltigen Schönheiten in Form und Farbe entſtehen, welche wir ebenſo an den echten Er— nährungsblättern, wie an den Fortpflanzungsblättern oder den Blü— thentheilen der Pflanzen bewundern. Indeſſen ſchon dieſer Grundge— danke war durchaus richtig. Goethe zeigte darin, daß man, um das Ganze der Erſcheinung zu erfaſſen, erſtens vergleichen und dann zweitens einen einfachen Typus, eine einfache Grundform, ein Thema gewiſſermaßen ſuchen müſſe, von dem alle übrigen Geſtalten nur die unendlich mannichfaltigen Variationen ſeien. Etwas Aehnliches, wie er hier in der Metamorphoſe der Pflanzen leiſtete, gab er dann für die Wirbelthiere in ſeiner berühmten Wir— beltheorie des Schädels. Goethe zeigte zuerſt, unabhängig von Oken, welcher faſt gleichzeitig auf denſelben Gedanken kam, daß der Schädel des Menſchen und aller anderen Wirbelthiere, zunächſt der Säugethiere, Nichts weiter ſei als eine Knochenkapſel, zuſammenge— ſetzt aus denſelben Stücken, aus denen auch das Rückgrat oder die Wirbelſäule zuſammengeſetzt iſt, aus Wirbeln. Die Wirbel des Schä— Goethe's Wirbeltheorie des Schädels. 69 dels ſind gleich denen des Rückgrats hinter einander gelegene Knochen— ringe, welche am Kopfe nur eigenthümlich umgebildet und geſondert (differenzirt) find. Auch dieſe Grundidee war außerordentlich wichtig. Sie gehörte in jener Zeit zu den größten Fortſchritten der vergleichen— den Anatomie, und war nicht allein für das Verſtändniß des Wir— belthierbaues eine der erſten Grundlagen, ſondern erklärte zugleich viele einzelne Erſcheinungen. Wenn zwei Körpertheile, die auf den erſten Blick ſo verſchieden ausſehen, wie der Hirnſchädel und die Wir— belſäule, ſich als urſprünglich gleichartige, aus einer und derſelben Grundlage hervorgebildete Theile nachweiſen ließen, ſo war damit eine der ſchwierigſten naturphiloſophiſchen Aufgaben gelöſt. Auch hier wieder war es der Gedanke des einheitlichen Typus, der Gedanke des einzigen Themas, das nur in den verſchiedenen Arten und in den Theilen der einzelnen Arten unendlich varürt wird, den wir als einen außerordentlich großen Fortſchritt begrüßen müſſen. Es waren aber nicht bloß ſolche weitgreifende Geſetze, um de— ren Erkenntniß ſich Goethe bemühte, ſondern es waren auch zahl— reiche einzelne, namentlich vergleichend-anatomiſche Unterſuchungen, die ihn lange Zeit hindurch aufs lebhafteſte beſchäftigten. Unter die- ſen iſt vielleicht keine intereſſanter, als die Entdeckung des Zwi— ſchenkiefers beim Menſchen. Da dieſe in mehrfacher Beziehung von Intereſſe für die Entwickelungstheorie iſt, ſo erlaube ich mir, Ih— nen dieſelbe kurz hier darzulegen. Es exiſtiren bei ſämmtlichen Säu— gethieren in der oberen Kinnlade zwei Knochenſtückchen, welche in der Mittellinie des Geſichts, unterhalb der Naſe, ſich berühren, und in der Mitte zwiſchen den beiden Hälften des eigentlichen Oberkieferkno— chens gelegen ſind. Dieſes Knochenpaar, welches die vier oberen Schneidezähne trägt, iſt bei den meiſten Säugethieren ohne Weiteres ſehr leicht zu erkennen; beim Menſchen dagegen war es zu jener Zeit nicht bekannt, und berühmte vergleichende Anatomen legten ſogar auf dieſen Mangel des Zwiſchenkiefers einen ſehr großen Werth, indem ſie denſelben als Hauptunterſchied zwiſchen Menſchen und Affen anſa— hen; es wurde der Mangel des Zwiſchenkiefers ſeltſamer Weiſe als 70 Goethe's Entdeckung des Zwiſchenkiefers beim Menſchen. der menſchlichſte aller menſchlichen Charaktere hervorgehoben. Nun wollte es Goethe durchaus nicht in den Kopf, daß der Menſch, der in allen übrigen körperlichen Beziehungen offenbar nur ein höher ent— wickeltes Säugethier ſei, dieſen Zwiſchenkiefer entbehren ſolle. Er behauptete a priori als eine Deduction aus dem allgemeinen Induc⸗ tionsgeſetz des Zwiſchenkiefers bei den Säugethieren, daß derſelbe auch beim Menſchen vorkommen müſſe; und er hatte keine Ruhe, bis er bei Vergleichung einer großen Anzahl von Schädeln wirklich den Zwiſchenkiefer auffand. Bei einzelnen Individuen iſt derſelbe die ganze Lebenszeit hindurch erhalten, während er gewöhnlich früh— zeitig mit dem benachbarten Oberkiefer verwächſt, und nur bei ſehr jugendlichen Menſchenſchädeln als ſelbſtſtändiger Knochen nachzuweiſen iſt. Bei den menſchlichen Embryonen kann man ihn jetzt jeden Au— genblick vorzeigen. Es iſt der Zwiſchenkiefer alſo beim Menſchen in der That vorhanden, und es gebührt Goethe der große Ruhm, dieſe in vielfacher Beziehung wichtige Thatſache zuerſt feſtgeſtellt zu ha— ben, und zwar gegen den Widerſpruch der wichtigſten Fachautoritäten, z. B. des berühmten Anatomen Peter Camper. Beſonders inter— eſſant iſt dabei der Weg, auf dem er zu dieſer Feſtſtellung gelangte; es iſt der Weg, auf dem wir beſtändig in den organifchen Naturwiſ— ſenſchaften fortſchreiten, der Weg der Induction und Deduction. Die Induction iſt ein Schluß aus zahlreichen einzelnen beobachteten Fällen auf ein allgemeines Geſetz; die Deduction dagegen iſt ein Rückſchluß aus dieſem allgemeinen Geſetz auf einen einzelnen, noch nicht wirklich beobachteten Fall. Aus den damals geſammelten em— piriſchen Kenntniſſen ging der Inductionsſchluß hervor, daß ſämmt— liche Säugethiere den Zwiſchenkiefer beſitzen. Goethe zog daraus den Deductionsſchluß, daß der Menſch, der in allen übrigen Beziehungen ſeiner Organiſation nicht weſentlich von den Säugethieren verſchieden ſei, auch dieſen Zwiſchenkiefer beſitzen müſſe; und er fand ſich in der That bei eingehender Uuterfuhung Es wurde der Deductionsſchluß durch die nachfolgende Erfahrung beſtätigt oder verificirt. Schon dieſe wenigen Züge mögen Ihnen den hohen Werth vor Goethe's Theilnahme an der Naturphiloſophie. 71 Augen führen, den wir Göthe's biologiſchen Forſchungen zuſchrei— ben müſſen. Leider ſind die meiſten ſeiner darauf bezüglichen Arbei— ten ſo verſteckt in ſeinen ſämmtlichen Werken, und die wichtigſten Be— obachtungen und Bemerkungen ſo zerſtreut in zahlreichen einzelnen Aufſätzen, die andere Themata behandeln, daß es ſchwer iſt, ſie her— auszufinden. Auch iſt bisweilen eine vortreffliche, wahrhaft wiſſen— ſchaftliche Bemerkung fo eng mit einem Haufen unbrauchbarer natur— philoſophiſcher Phantaſiegebilde verknüpft, daß letztere der erſteren gro— ßen Eintrag thun. Für das außerordentliche Intereſſe, welches Goethe für die or— ganiſche Naturforſchung hegte, iſt vielleicht Nichts bezeichnender, als die lebendige Theilnahme, mit welcher er noch in ſeinen letzten Le— bensjahren den in Frankreich ausgebrochenen Streit zwiſchen Cuvier und Geoffroy S. Hilaire verfolgte. Goethe hat eine intereſ— ſante Darſtellung dieſes merkwürdigen Streites und ſeiner allgemei— nen Bedeutung, ſowie eine treffliche Charakteriſtik der beiden großen Gegner in einer beſonderen Abhandlung gegeben, welche er erſt we— nige Tage vor feinem Tode, im März 1832, vollendete. Dieſe Ab- handlung führt den Titel: „Principes de Philosophie zoologique par Mr. Geoffroy de Saint-Hilaire“; fie iſt Goethe's letztes Werk, und bildet in der Geſammtausgabe ſeiner Werke deren Schluß. Der Streit ſelbſt war in mehrfacher Beziehung von höchſtem Intereſſe. Er drehte ſich weſentlich um die Berechtigung der Entwickelungstheorie. Dabei wurde er im Schooße der franzöſiſchen Akademie von beiden Gegnern mit einer perſönlichen Leidenſchaftlichkeit geführt, welche in den würdevollen Sitzungen jener gelehrten Körperſchaft faſt unerhört war, und welche bewies, daß beide Naturforſcher für ihre heiligſten und tief— ſten Ueberzeugungen kämpften. Am 22 ſten Februar 1830 fand der er— ſte Konflikt ſtatt, welchem bald mehrere andere folgten, der heftigſte am 19. Juli 1830. Geoffroy als das Haupt der franzöſiſchen Natur- philoſophen vertrat die natürliche Entwickelungstheorie und die ein— heitliche (moniſtiſche) Naturauffaſſung. Er behauptete die Veränder— lichkeit der organiſchen Species, die gemeinſchaftliche Abſtammung der 72 Streit zwiſchen Cuvier und Geoffroy S. Hilaire. einzelnen Arten von gemeinſamen Stammformen, und die Einheit der Organiſation, oder die Einheit des Bauplanes, wie man ſich da⸗ mals ausdrückte. Cuvier war der entſchiedenſte Gegner dieſer An— ſchauungen, wie es ja nach dem, was Sie gehört haben, nicht an— ders ſein konnte. Er verſuchte zu zeigen, daß die Naturphiloſophen kein Recht hätten, auf Grund des damals vorliegenden empiriſchen Materials ſo weitgehende Schlüſſe zu ziehen, und daß die behauptete Einheit der Organiſation oder des Bauplanes der Organismen nicht exiſtire. Er vertrat die teleologiſche (dualiſtiſche) Naturauffaſſung und behauptete, daß „die Unveränderlichkeit der Species eine nothwendige Bedingung für die Exiſtenz der wiſſenſchaftlichen Naturgeſchichte ſei.“ Cuvier hatte den großen Vortheil vor ſeinem Gegner voraus, für ſeine Behauptungen lauter unmittelbar vor Augen liegende Beweis— gründe vorbringen zu können, welche allerdings nur aus dem Zu— ſammenhang geriſſene einzelne Thatſachen waren. Geoffroy dage— gen war nicht im Stande, den von ihm verfochtenen höheren allge— meinen Zuſammenhang der einzelnen Erſcheinungen mit ſo greifbaren Einzelheiten belegen zu können. Daher behielt Cuvier in den Au— gen der Mehrheit den Sieg, und entſchied für die folgenden drei Jahr— zehnte die Niederlage der Naturphiloſophie und die Herrſchaft der ſtreng empiriſchen Richtung. Goethe dagegen nahm natürlich ent— ſchieden fürn Geoffroy Partei. Wie lebhaft ihn noch in feinem Siſten Jahre dieſer große Kampf beſchäftigte, mag folgende, von Soret erzählte Anekdote bezeugen: „Montag, 2. Auguſt 1830. Die Nachrichten von der begonne— nen Julirevolution gelangten heute nach Weimar und ſetzten Al— les in Aufregung. Ich ging im Laufe des Nachmittags zu Goethe. „Nun? rief er mir entgegen, was denken Sie von dieſer großen Begebenheit? Der Vulkan iſt zum Ausbruch gekommen; alles ſteht in Flammen, und es iſt nicht ferner eine Verhandlung bei geſchloſſe— nen Thüren!“ Eine furchtbare Geſchichte! erwiderte ich. Aber was ließ ſich bei den bekannten Zuſtänden und bei einem ſolchen Miniſterium anderes erwarten, als daß man mit der Vertreibung der bisherigen Streit zwiſchen Cuvier und Geoffroy S. Hilaire. 73 königlichen Familie endigen würde. „Wir ſcheinen uns nicht zu ver— ſtehen, mein Allerbeſter, erwiderte Goethe. Ich rede gar nicht von jenen Leuten; es handelt ſich bei mir um ganz andere Dinge. Ich rede von dem in der Akademie zum öffentlichen Ausbruch gekom— menen, für die Wiſſenſchaft ſo höchſt bedeutenden Streite zwiſchen Cuvier und Geoffroy de S. Hilaire.“ Dieſe Aeußerung Goe— the's war mir fo unerwartet, daß ich nicht wußte, was ich ſagen ſoll— te, und daß ich während einiger Minuten einen völligen Stillſtand in meinen Gedanken verſpürte. „Die Sache iſt von der höchſten Bedeu— tung, fuhr Goethe fort, und Sie können ſich keinen Begriff davon machen, was ich bei der Nachricht von der Sitzung des 19. Juli em— pfinde. Wir haben jetzt an Geoffroy de Saint Hilaire einen mächtigen Alliirten auf die Dauer. Ich ſehe aber zugleich daraus, wie groß die Theilnahme der franzöſiſchen wiſſenſchaftlichen Welt in dieſer Angelegenheit ſein muß, indem trotz der furchtbaren politiſchen Aufre— gung, die Sitzung des 19. Juli dennoch bei einem gefüllten Hauſe ſtattfand. Das Beſte aber iſt, daß die von Geoffroy in Frankreich eingeführte ſynthetiſche Behandlungsweiſe der Natur jetzt nicht mehr rückgängig zu machen iſt. Die Angelegenheit iſt durch die freien Dis— kuſſionen in der Akademie, und zwar in Gegenwart eines großen Pu— blikums, jetzt öffentlich geworden, ſie läßt ſich nicht mehr an geheime Ausſchüſſe verweiſen und bei geſchloſſenen Thüren abthun und unter— drücken“. Von den zahlreichen intereſſanten und bedeutenden Sätzen, in welchen ſich Goethe klar über ſeine Auffaſſung der organiſchen Na— tur und ihrer beſtändigen Entwickelung ausſpricht, habe ich in meiner generellen Morphologie der Organismen?) eine Auswahl als Leit— worte an den Eingang der einzelnen Bücher und Kapitel geſetzt. Hier führe ich Ihnen zunächſt eine Stelle aus dem Gedichte an, welches die Ueberſchrift trägt: „die Metamorphoſe der Thiere“ (1819). „Alle Glieder bilden ſich aus nach ew'gen Geſetzen, „Und die ſeltenſte Form bewahrt im Geheimen das Urbild. „Alſo beſtimmt die Geſtalt die Lebensweiſe des Thieres, 74 Goethe's Entdeckung der beiden organischen Bildungstriebe. „Und die Weiſe zu leben, ſie wirkt auf alle Geſtalten „Mächtig zurück. So zeiget ſich feſt die geordnete Bildung, „Welche zum Wechſel ſich neigt durch äußerlich wirkende Weſen.“ Schon hier iſt der Gegenſatz zwiſchen zwei verſchiede— nen organiſchen Bildungstrieben angedeutet, welche ſich ge— genüber ſtehen, und durch ihre Wechſelwirkung die Form des Organismus beſtimmen; einerſeits ein gemeinſames inneres, feſt ſich erhaltendes Urbild, welches den verſchiedenſten Geſtalten zu Grunde liegt; andrerſeits der äußerlich wirkende Einfluß der Umgebung und der Lebensweiſe, welcher umbildend auf das Urbild einwirkt. Noch beſtimmter tritt dieſer Gegenſatz in folgendem Ausſpruch hervor: „Eine innere urſprüngliche Gemeinſchaft liegt aller Organiſation zu Grunde; die Verſchiedenheit der Geſtalten dagegen entſpringt aus den nothwendigen Beziehungsverhältniſſen zur Außenwelt, und man darf daher eine urſprüngliche, gleichzeitige Verſchiedenheit und eine un— aufhaltſam fortſchreitende Umbildung mit Recht annehmen, um die eben ſo konſtanten als abweichenden Erſcheinungen begreifen zu kön— nen.“ Das „Urbild“ oder der „Typus“, welcher als „innere urſprüng— liche Gemeinſchaft“ allen organiſchen Formen zu Grunde liegt, iſt der innere Bildungstrieb, welcher die urſprüngliche Bildungsrichtung erhält und durch Vererbung fortpflanzt. Die „unaufhaltſam fortſchreitende Umbildung“ dagegen, welche „aus den nothwendigen Beziehungsverhältniſſen zur Außenwelt entſpringt“, bewirkt als äuße— rer Bildungstrieb, durch Anpaſſung an die umgebenden Le— bensbedingungen, die unendliche „Verſchiedenheit der Geſtalten“. (Gen. Morph. I., 154; IL, 224). Den inneren Bildungstrieb der Vererbung, welcher die Einheit des Urbildes erhält, nennt Goethe an einer anderen Stelle die Centripetalkraft des Organis- mus, feinen Specifikationstrieb; im Gegenſatz dazu nennt er den äuße— ren Bildungstrieb der Anpaſſung, welcher die Mannichfaltigkeit der organiſchen Geſtalten hervorbringt, die Centrifugalkraft des Organismus, ſeinen Variationstrieb. Die betreffende Stelle, in wel— Die Specifikation (Vererbung) und die Metamorphoje (Aupaſſuug). 75 cher Goethe ganz klar das „Gegengewicht“ dieſer beiden äußerſt wich⸗ tigen organiſchen Bildungstriebe bezeichnet, lautet folgendermaßen: „Die Idee der Metamorphoſe iſt gleich der Vis centrikuga und würde ſich ins Unendliche verlieren, wäre ihr nicht ein Gegengewicht zugegeben: ich meine den Specifikationstrieb, das zähe Beharr— lichkeitsvermögen deſſen, was einmal zur Wirklichkeit gekommen, eine Vis centripeta, welcher in ihrem tiefſten Grunde keine Aeußerlichkeit etwas anhaben kann“. Unter Metamorphoſe verſteht Goethe nicht allein, wie es heutzutage gewöhnlich verſtanden wird, die Formveränderungen, welche das organiſche Individuum während ſeiner individuellen Entwickelung erleidet, ſondern in weiterem Sinne überhaupt die Umbildung der organiſchen Formen. Die „Idee der Metamorphoſe“ iſt bei⸗ nahe gleichbedeutend mit unferer „Entwickelungstheorie“. Dies zeigt ſich unter Anderm auch in folgendem Ausſpruch: „Der Triumph der phyſiologiſchen Metamorphoſe zeigt ſich da, wo das Ganze ſich in Fa— milien, Familien ſich in Geſchlechter, Geſchlechter in Sippen, und dieſe wieder in andere Mannichfaltigkeiten bis zur Individualität ſcheiden, ſondern und umbilden. Ganz ins Unendliche geht dieſes Geſchäft der Natur; ſie kann nicht ruhen, noch beharren, aber auch nicht Alles, was fie hervorbrachte, bewahren und erhalten. Aus den Samen ent wickeln ſich immer abweichende, die Verhältniſſe ihrer Theile zu ein— ander verändert beſtimmende Pflanzen“. In den beiden organiſchen Bildungstrieben, in dem konſerva— tiven, centripetalen, innerlichen Bildungstriebe der Vererbung oder der Specifikation einerſeits, in dem progreſſiven, centrifugalen, äußer— lichen Bildungstriebe der Anpaſſung oder der Metamorphoſe andrer— ſeits, hatte Goethe bereits die beiden großen mechaniſchen Naturkräfte entdeckt, welche die wirkenden Urſachen der organiſchen Geſtalten ſind. Dieſe tiefe biologiſche Erkenntniß mußte ihn naturgemäß zu dem Grundgedanken der Abſtammungslehre führen, zu der Vorſtellung, daß die formverwandten organiſchen Arten wirklich blutsverwandt ſind, und daß dieſelben von gemeinſamen urſprünglichen Stammfor— 76 Goethe's Anſicht von der Blutsverwandtſchaft aller Wirbelthiere. men abſtammen. Für die wichtigſte von allen Thiergruppen, die Hauptabtheilung der Wirbelthiere, drückt dies Goethe in folgendem merkwürdigen Satze aus (17961): „Dies alſo hätten wir gewonnen ungeſcheut behaupten zu dürfen, daß alle vollkommneren organiſchen Naturen, worunter wir Fiſche, Amphibien, Vögel, Säugethiere und an der Spitze der letzten den Menſchen ſehen, alle nach einem Urbilde ge— formt ſeien, das nur in ſeinen ſehr beſtändigen Theilen mehr oder we— niger hin- und herweicht, und ſich noch täglich durch Fortpflanzung aus⸗ und umbildet“. Dieſer Satz iſt in mehrfacher Beziehung von Intereſſe. Die Theorie, daß „alle vollkommneren organiſchen Naturen“, d. h. alle Wirbelthiere, von einem gemeinſamen Urbilde abſtammen, daß ſie aus dieſem durch Fortpflanzung (Vererbung) und Umbildung (An⸗ paſſung) entſtanden ſind, iſt darin deutlich zu erkennen. Beſonders intereſſant aber iſt es dabei, daß Goethe auch hier für den Menſchen keine Ausnahme geſtattet, ihn vielmehr ausdrücklich in den Stamm der übrigen Wirbelthiere hineinzieht. Die wichtigſte ſpecielle Folge— rung der Abſtammungslehre, daß der Menſch von anderen Wirbel— thieren abſtammt, läßt ſich hier im Keime erkennen 3). Als der bedeutendſte der deutſchen Naturphiloſophen gilt gewöhn— lich nicht Wolfgang Goethe ſondern Lorenz Oken, welcher bei Begründung der Wirbeltheorie des Schädels als Nebenbuhler Goethe's auftrat und dieſem nicht gerade freundlich geſinnt war. Bei der ſehr verſchiedenen Natur der beiden großen Männer, welche eine Zeit lang in nachbarſchaftlicher Nähe lebten, konnten ſie ſich doch gegenſeitig nicht wohl anziehen. Oken's Lehrbuch der Naturphiloſophie, welches als das bedeutendſte Erzeugniß der damaligen naturphiloſophiſchen Schule in Deutſchland bezeichnet werden kann, erſchien 1809, in dem— ſelben Jahre, in welchem auch Lamarck's fundamentales Werk, die „Philosophie zoologique“ erſchien. Schon 1802 hatte Oken einen „Grundriß der Naturphiloſophie“ veröffentlicht. Wie ſchon früher an— gedeutet wurde, finden wir bei Oken, verſteckt unter einer Fülle von irrigen, zum Theil ſehr abenteuerlichen und phantaſtiſchen Vorſtellungen, „ Oken's Vorſtellung vom Urſchleim (Protoplasmatheorie). 77 eine Anzahl von werthvollen und tiefen Gedanken. Einige von dieſen Ideen haben erſt in neuerer Zeit, viele Jahre nachdem ſie von ihm ausgeſprochen wurden, allmählich wiſſenſchaftliche Geltung erlangt. Ich will Ihnen hier von dieſen, faſt prophetiſch ausgeſprochenen Ge— danken nur zwei anführen, welche zugleich zu der Entwickelungsthe— orie in der innigſten Beziehung ſtehen. Eine der wichtigſten Theorien Oken's, welche früherhin ſehr verſchrieen, und namentlich von den ſogenannten exakten Empirikern auf das ſtärkſte bekämpft wurde, iſt die Idee, daß die Lebenserſchei— nungen aller Organismen von einem gemeinſchaftlichen chemiſchen Subſtrate ausgehen, gewiſſermaßen einem allgemeinen, einfachen „Le— bensſtoff“, welchen er mit dem Namen „Urſchleim“ belegte. Er dachte ſich darunter, wie der Name ſagt, eine ſchleimartige Subſtanz, eine Eiweißverbindung, die in feſtflüſſigem Aggregatzuſtande befind— lich iſt, und das Vermögen beſitzt, durch Anpaſſung an verſchiedene Exiſtenzbedingungen der Außenwelt, und in Wechſelwirkung mit deren Materie, die verſchiedenſten Formen hervorzubringen. Nun brauchen Sie bloß das Wort Urſchleim in das Wort Protoplasma oder Zellſt off umzuſetzen, um zu einer der größten Errungenſchaften zu gelangen, welche wir den mikroſkopiſchen Forſchungen der letzten ſieben Jahre, insbeſondere denjenigen von Max Schultze, verdanken. Durch dieſe Unterſuchungen hat ſich herausgeſtellt, daß in allen leben— digen Naturkörpern ohne Ausnahme eine gewiſſe Menge einer ſchlei— migen, eiweißartigen Materie in feſtflüſſigem Dichtigkeitszuſtande ſich vorfindet, und daß dieſe ſtickſtoffhaltige Kohlenſtoffverbindung aus— ſchließlich der urſprüngliche Träger und Bewirker aller Lebenserſchei— nungen und aller organiſchen Formbildung iſt. Alle anderen Stoffe, welche außerdem noch im Organismus vorkommen, werden erſt von dieſem activen Lebensſtoff gebildet, oder von außen aufgenommen. Das organiſche Ei, die urſprüngliche Zelle, aus welcher faſt jedes Thier und jede Pflanze zuerſt entſteht, beſteht weſentlich nur aus einem runden Klümpchen ſolcher eiweißartigen Materie. Auch der Eidotter iſt nur Eiweiß, mit Fettkörnchen gemengt. Oken hatte alſo wirklich 78 Oken's Vorſtellung von den Infuſorien (Zellentheorie). Recht, indem er mehr ahnend, als wiſſend den Satz ausſprach: „Alles Organiſche iſt aus Schleim hervorgegangen, iſt Nichts als verſchieden geſtalteter Schleim. Dieſer Urſchleim iſt im Meere im Verfolge der Planeten-Entwickelung aus anorganiſcher Materie entſtanden.“ Mit der Urſchleimtheorie Oken' s, welche weſentlich mit der neuerlichſt erſt feſt begründeten, äußerſt wichtigen Protoplas ma— theorie zuſammenfällt, ſteht eine andere, eben ſo großartige Idee deſſelben Naturphiloſophen in engem Zuſammenhang. Oken be— hauptete nämlich ſchon 1809, daß der durch Urzeugung im Meere entſtehende Urſchleim alsbald die Form von mikroſkopiſch kleinen Bläs— chen annehme, welche er Mile oder Infuſorien nannte. „Die organiſche Welt hat zu ihrer Baſis eine Unendlichkeit von ſolchen Bläschen.“ Die Bläschen entſtehen aus den urſprünglichen feſtflüſſi— gen Urſchleimkugeln dadurch, daß die Peripherie derſelben ſich verdich— tet. Die einfachſten Organismen ſind einfache ſolche Bläschen oder Infuſorien. Jeder höhere Organismus, jedes Thier und jede Pflanze vollkommnerer Art iſt weiter Nichts als „eine Zuſammenhäufung (Syn— theſis) von ſolchen infuſorialen Bläschen, die durch verſchiedene Com— binationen ſich verſchieden geſtalten und ſo zu höheren Organismen aufwachſen“. Sie brauchen nun wiederum das Wort Bläschen oder Infuſorium nur durch das Wort Zelle zu erſetzen, um zu einer der größten biologiſchen Theorien unſeres Jahrhunderts, zur Zellen— theorie zu gelangen. Schleiden und Schwann haben zuerſt vor dreißig Jahren den empiriſchen Beweis geliefert, daß alle Orga— nismen entweder einfache Zellen oder Zuſammenhäufungen (Syntheſen) von ſolchen Zellen ſind; und die neuere Protoplasmatheorie hat nach— gewieſen, daß der weſentlichſte (und bisweilen der einzige!) Beſtand— theil der echten Zelle das Protoplasma (der Urſchleim) iſt. Die Eigenſchaften, die Oken ſeinen Infuſorien zuſchreibt, ſind eben die Eigenſchaften der Zellen, die Eigenſchaften der elementaren Indivi— duen, durch deren Zuſammenhäufung, Verbindung und mannichfal- tige Ausbildung der Bau und die Lebenserſcheinungen der höheren Organismen allein zu Stande kommen. Oken's Entwickelungstheorie. 79 Dieſe beiden, außerordentlich fruchtbaren Gedanken Oken's wur— den wegen der abſurden Form, in der er ſie ausſprach, nur wenig be— rückſichtigt, oder gänzlich verkannt; und es war einer viel ſpäteren Zeit vorbehalten, dieſelben durch die Erfahrung zu begründen. Im engſten Zuſammenhang mit dieſen Vorſtellungen ſtand natürlich auch die Annahme einer Abſtammung der einzelnen Thier- und Pflanzen— arten von gemeinſamen Stammformen und einer allmählichen, ſtufen— weiſen Entwickelung der höheren Organismen aus den niederen. Dieſe wurde von Oken ausdrücklich behauptet, obwohl er dieſe Behaup— tung nicht näher begründete und auch nicht im Einzelnen ausführte. Auch vom Menſchen behauptete Oken ſeine Entwickelung aus niede— ren Organismen: „Der Menſch iſt entwickelt, nicht erſchaffen“. Eine Schöpfung der Organismen, als einen übernatürlichen Eingriff des Schöpfers in den natürlichen Entwickelungsgang der Materie, mußte er als denkender Philoſoph ſelbſtverſtändlich leugnen. So viele will— kürliche Verkehrtheiten und ausſchweifende Phantaſieſprünge ſich auch in Oken's Naturphiloſophie finden mögen, ſo können ſie uns doch nicht hindern, dieſen großen und ihrer Zeit weit vorauseilenden Ideen unſere gerechte Bewunderung zu zollen. So viel geht aus den ange— führten Behauptungen Goethe's und Oken's, und aus den dem— nächſt zu erörternden Anſichten Lamarck's und Geoffroy's mit Si— cherheit hervor, daß in den erſten Decennien unſeres Jahrhunderts Niemand der natürlichen, durch Darwin neu begründeten Entwicke— lungstheorie ſo nahe kam, als die vielverſchrieene Naturphiloſophie. Fünfter Vortrag. Entwidelungstheorie von Kant und Lamarck. Kant's dualiſtiſche Biologie. Seine Anſicht von der Entſtehung der Anorgane durch mechaniſche, der Organismen durch zweckthätige Urſachen. Widerſpruch dieſer Anſicht mit ſeiner Hinneigung zur Abſtammungslehre. Kant's genealogiſche Ent⸗ wickelungstheorie. Beſchränkung derſelben durch ſeine Teleologie. Vergleichung der genealogiſchen Biologie mit der vergleichenden Sprachforſchung. Anſichten zu Gun⸗ ſten der Deſcendenztheorie von Leopold Buch, Bär, Schleiden, Unger, Schaafhauſen, Victor Carus, Büchner. Die franzöſiſche Naturphiloſophie. Lamarcks Philoſophie zoologique. Lamarck's moniſtiſches (mechaniſches) Naturſyſtem. Seine Anſichten von der Wechſelwirkung der beiden organiſchen Bildungskräfte, der Vererbung und An⸗ paſſung. Lamarck's Anſicht von der Entwickelung des Menſchengeſchlechts aus affen⸗ artigen Säugethieren. Vertheidigung der Deſcendenztheorie durch Geoffroy S. Hi⸗ laire, Naudin und Lecog. Die engliſche Naturphiloſophie. Anſichten zu Gunſten der Deſcendenztheorie von Erasmus Darwin, W. Herbert, Grant, Patrick Matthew, Freke, Herbert Spencer, Huxley. Doppeltes Verdienſt von Charles Darwin. Meine Herren! Die teleologiſche Naturbetrachtung, welche die Erſcheinungen in der organiſchen Welt durch die zweckmäßige Thätig— keit eines perſönlichen Schöpfers oder einer zweckthätigen Endurſache erklärt, führt nothwendig in ihren letzten Konſequenzen entweder zu ganz unhaltbaren Widerſprüchen, oder zu einer zwieſpältigen (duali— ſtiſchen) Naturauffaſſung, welche zu der überall wahrnehmbaren Ein— heit und Einfachheit der oberſten Naturgeſetze im entſchiedenſten Wi— Kant's dualiſtiſche Biologie. 81 derſpruch ſteht. Die Philoſophen, welche jener Teleologie huldigen, müſſen nothwendiger Weiſe zwei grundverſchiedene Naturen annehmen: eine anorganiſche Natur, welche durch mechaniſch wirkende Ur— ſachen (causae efficientes), und eine organiſche Natur, welche durch zweckmäßig thätige Urſachen (causae finales) erklärt wer- den muß. (Vergl. S. 28.) Dieſer Dualismus tritt uns auffallend entgegen, wenn wir die Naturanſchauung des größten deutſchen Philoſophen, Kant' s, betrach— ten, und die Vorſtellungen ins Auge faſſen, welche er ſich von der Entſtehung der Organismen bildete. Eine nähere Betrachtung dieſer Vorſtellungen iſt hier ſchon deshalb geboten, weil wir in Kant einen der wenigen Philoſophen verehren, welche eine gediegene naturwiſſen— ſchaftliche Bildung mit einer außerordentlichen Klarheit und Tiefe der Speculation verbinden. Der Königsberger Philoſoph erwarb ſich nicht bloß durch Begründung der kritiſchen Philoſophie den höchſten Ruhm un- ter den ſpeculativen Philoſophen, ſondern auch durch ſeine Naturgeſchichte des Himmels einen glänzenden Namen unter den Naturforſchern. Gleichzeitig mit dem franzöſiſchen Mathematiker Laplace, und unab— hängig von demſelben, begründete er eine mechaniſche Theorie von der Entſtehung des Weltgebäudes, auf welche wir ſpäter zurückkommen werden. Kant war alſo Naturphiloſoph im beſten und reinſten Sinne des Wortes. Wenn Sie Kant's Kritik der teleologiſchen Urtheilskraft, fein be- deutendſtes biologiſches Werk, leſen, ſo gewahren Sie, daß er ſich bei Betrachtung der organiſchen Natur weſentlich immer auf dem teleolo— giſchen oder dualiſtiſchen Standpunkt erhält, während er für die an- organiſche Natur unbedingt und ohne Rückhalt die mechaniſche oder moniſtiſche Erklärungsmethode annimmt. Er behauptet, daß ſich im Gebiete der anorganiſchen Natur ſämmtliche Erſcheinungen aus me— chaniſchen Urſachen, aus den bewegenden Kräften der Materie ſelbſt erklären laſſen, im Gebiete der organiſchen Natur dagegen nicht. In der geſammten Anorganologie (in der Geologie und Mineralogie, in der Meteorologie und Aſtronomie, in der Phyſik und Chemie der Haeckel Natürliche Schöpfung sgeſchichte. 6 82 Kant's dualiſtiſche Biologie. anorganiſchen Naturkörper) ſollen alle Erſcheinungen blos durch Me— chanismus (causa efficiens), ohne Dazwiſchenkunft eines End— zweckes erklärbar ſein. In der geſammten Biologie dagegen, in der Botanik, Zoologie und Anthropologie, ſoll der Mechanismus nicht ausreichend ſein, uns alle Erſcheinungen zu erklären; vielmehr können wir dieſelben nur durch Annahme einer zweckmäßig wirkenden End— urſache (causa finalis) begreifen. An mehreren Stellen hebt Kant ausdrücklich hervor, daß man, von einem ſtreng naturwiſſenſchaft⸗ lich-philoſophiſchen Standpunkt aus, für alle Erſcheinungen ohne Ausnahme eine mechaniſche Erklärungsweiſe fordern müſſe, und daß der Mechanismus allein eine wirkliche Erklärung ein⸗ ſchließe. Zugleich meint er aber, daß gegenüber den belebten Naturkör— pern, den Thieren und Pflanzen, unſer menſchliches Erkenntnißver— mögen beſchränkt ſei, und nicht ausreiche, um hinter die eigentliche wirkſame Urſache der organiſchen Vorgänge, insbeſondere der Ent— ſtehung der organiſchen Formen, zu gelangen. Die Befugniß der menſchlichen Vernunft zur mechaniſchen Erklärung aller Erſcheinun— gen ſei unbeſchränkt, aber ihr Vermögen dazu begrenzt, indem man die organiſche Natur nur teleologiſch betrachten könne. Nun ſind aber einige Stellen ſehr merkwürdig, in denen Kant auffallend von dieſer Anſchauung abweicht, und mehr oder minder beſtimmt den Grundgedanken der Abſtammungslehre ausſpricht. Er behauptet da ſogar die Nothwendigkeit einer genealogiſchen Auffaſſung des organiſchen Syſtems, wenn man überhaupt zu einem wiſſenſchaft⸗ lichen Verſtändniß deſſelben gelangen wolle. Die wichtigſte und merk⸗ würdigſte von dieſen Stellen ſindet ſich in der „Methodenlehre der te— leologiſchen Urtheilskraft“ (§. 79), welche 1790 in der „Kritik der Ur⸗ theilskraft“ erſchien. Bei dem außerordentlichen Intereſſe, welches dieſe Stelle ſowohl für die Beurtheilung der Kantiſchen Philoſophie, als für die Geſchichte der Deſcendenztheorie beſitzt, erlaube ich mir, Ihnen dieſelbe hier wörtlich mitzutheilen. „Es iſt rühmlich, mittelſt einer komparativen Anatomie die große Schöpfung organiſirter Naturen durchzugehen, um zu ſehen: ob ſich Kant's genealogiſche Entwickelungstheorie. 83 daran nicht etwas einem Syſtem Aehnliches, und zwar dem Erzeu— gungsprineip nach, vorfinde, ohne daß wir nöthig haben, beim bloßen Beurtheilungsprincip, welches für die Einſicht ihrer Erzeugung keinen Aufſchluß giebt, ſtehen zu bleiben, und muthlos allen Anſpruch auf Natureinſicht in dieſem Felde aufzugeben. Die Uebereinkunft ſo vieler Thiergattungen in einem gewiſſen gemeinſamen Schema, das nicht allein in ihrem Knochenbau, ſondern auch in der Anordnung der übrigen Theile zum Grunde zu liegen ſcheint, wo bewunderungs— würdige Einfalt des Grundriſſes durch Verkürzung einer und Verlän— gerung anderer, durch Einwickelung dieſer und Auswickelung jener Theile, eine ſo große Mannichfaltigkeit von Species hat hervorbringen können, läßt einen obgleich ſchwachen Strahl von Hoffnung ins Gemüth fallen, daß hier wohl Etwas mit dem Princip des Mechanismus der Natur, ohne das es ohnedies keine Naturwiſſenſchaft geben kann, auszurichten ſein möchte. Dieſe Analogie der Formen, ſo fern ſie bei aller Verſchiedenheit einem gemeinſchaftlichen Urbilde gemäß er— zeugt zu ſein ſcheinen, verſtärkt die Vermuthung einer wirklichen Verwandtſchaft derſelben in der Erzeugung von einer gemeinſchaft— lichen Urmutter durch die ſtufenartige Annäherung einer Thiergattung zur anderen, von derjenigen an, in welcher das Princip der Zwecke am meiſten bewährt zu ſein ſcheint, nämlich dem Menſchen, bis zum Polyp, von dieſem ſogar bis zu Mooſen und Flechten, und endlich zu der niedrigſten uns merklichen Stufe der Natur, zur rohen Materie: aus welcher und ihren Kräften nach mechaniſchen Geſetzen (gleich denen, danach ſie in Kryſtallerzeugungen wirkt) die ganze Technik der Natur, die uns in organiſirten Weſen ſo unbegreiflich iſt, daß wir uns dazu ein anderes Princip zu denken ge— nöthigt glauben, abzuſtammen ſcheint. Hier ſteht es nun dem Ar— chäologen der Natur frei, aus den übrig gebliebenen Spuren ihrer älteſten Revolutionen, nach allen ihm bekannten oder gemuthmaßten Mechanismen derſelben, jene große Familie von Geſchöpfen (denn fo müßte man ſie ſich vorſtellen, wenn die genannte, durchgän— 6 * 84 Kant's genealogiſche Entwickelungstheorie. gig zuſammenhängende Verwandtſchaft einen Grund haben ſoll) ent— ſpringen zu laſſen“. Wenn Sie dieſe merkwürdige Stelle aus Kant's Kritik der teleo- logiſchen Urtheilskraft herausnehmen und einzeln für ſich betrachten, ſo müſſen Sie darüber erſtaunen, wie tief und klar der große Denker ſchon damals (1790!) die innere Nothwendigkeit der Abſtammungs⸗ lehre erkannte, und ſie als den einzig möglichen Weg zur Erklärung der organiſchen Natur durch mechaniſche Geſetze, d. h. zu einer wahr— haft wiſſenſchaftlichen Erkenntniß bezeichnete. Auf Grund dieſer einen Stelle könnte man Kant geradezu neben Goethe und Lamarck als einen der erſten Begründer der Abſtammungslehre bezeichnen, und dieſer Umſtand dürfte bei dem hohen Anſehn, in welchem Kant's kritiſche Philoſophie mit vollem Rechte ſteht, vielleicht geeignet ſein, manchen Philoſophen zu Gunſten derſelben umzuſtimmen. Sobald Sie indeſſen dieſe Stelle im Zuſammenhang mit dem übrigen Gedanfen- gang der „Kritik der Urtheilskraft“ betrachten, und anderen geradezu widerſprechenden Stellen gegenüber halten, zeigt ſich Ihnen deutlich, daß Kant in dieſen und einigen ähnlichen (aber ſchwächeren) Sätzen über ſich ſelbſt hinausging und ſeinen in der Biologie gewöhnlich ein— genommenen teleologiſchen Standpunkt verließ. Selbſt unmittelbar auf jenen wörtlich angeführten, bewunderungs⸗ würdigen Satz folgt ein Zuſatz, welcher demſelben die Spitze abbricht. Nachdem Kant ſo eben ganz richtig die „Entſtehung der organiſchen Formen aus der rohen Materie nach mechaniſchen Geſetzen (gleich de— nen der Kryſtallerzeugung)“, ſowie eine ſtufenweiſe Entwickelung der verſchiedenen Species durch Abſtammung von einer gemeinſchaftlichen Urmutter behauptet hatte, fügte er hinzu: „Allein er (der Archäolog der Natur, d. h. der Paläontolog) muß gleichwohl zu dem Ende dieſer allgemeinen Mutter eine auf alle dieſe Geſchöpfe zweckmäßig geſtellte Organiſation beilegen, widrigenfalls die Zweckform der Producte des Thier⸗ und Pflanzenreichs ihrer Möglichkeit nach gar nicht zu denken iſt“. Offenbar hebt dieſer Zuſatz den wichtigſten Grundgedanken des vorhergehenden Satzes, daß durch die Deſcendenztheorie eine rein me— Kaut's dualiſtiſche Biologie. 85 chaniſche Erklärung der organiſchen Natur möglich werde, vollſtändig wieder auf. Und daß dieſe teleologiſche Betrachtung der organiſchen Natur bei Kant die herrſchende war, zeigt ſchon die Ueberſchrift des merkwürdigen §. 79, welcher jene beiden widerſprechenden Sätze ent— hält: „Von der nothwendigen Unterordnung des Princips des Mechanismus unter das teleologiſche in Erklärung eines Dinges als Naturzweck“. Am ſchärfſten ſpricht ſich Kant gegen die mechaniſche Erklärung der organiſchen Natur in folgender Stelle aus ($. 74): „Es iſt ganz gewiß, daß wir die organiſirten Weſen und deren innere Möglichkeit nach bloß mechaniſchen Principien der Natur nicht einmal zureichend kennen lernen, viel weniger uns erklären können, und zwar ſo gewiß, daß man dreiſt ſagen kann: Es iſt für Menſchen ungereimt, auch nur einen ſolchen Anſchlag zu faſſen, oder zu hoffen, daß noch etwa der— einſt ein Newton aufſtehen könne, der auch nur die Erzeugung eines Grashalms nach Naturgeſetzen, die keine Abſicht geordnet hat, be— greiflich machen werde, ſondern man muß dieſe Einſicht dem Menſchen ſchlechterdings abſprechen“. Nun iſt aber dieſer unmögliche Newton ſiebenzig Jahre ſpäter in Darwin wirklich erſchienen, und ſeine Se— lectionstheorie hat die Aufgabe thatſächlich gelöſt, deren Löſung Kant für abſolut undenkbar erklärt hatte! Im Anſchluß an Kant und an die deutſchen Naturphiloſophen, mit deren Entwickelungstheorien wir uns im vorhergehenden Vor— trage beſchäftigt haben, erſcheint es gerechtfertigt, jetzt noch kurz eini— ger anderer deutſcher Naturforſcher und Philoſophen zu gedenken, welche im Laufe unſeres Jahrhunderts mehr oder minder beſtimmt gegen die herrſchenden teleologiſchen Schöpfungsvorſtellungen ſich auflehnten, und den mechaniſchen Grundgedanken der Abſtammungslehre geltend machten. Bald waren es mehr allgemeine philoſophiſche Betrachtun— gen, bald mehr beſondere empiriſche Wahrnehmungen, welche dieſe denkenden Männer auf die Vorſtellung brachten, daß die einzelnen organiſchen Species von gemeinſamen Stammformen abſtammen müßten. Unter ihnen will ich zunächſt den großen deutſchen Geologen 86 Genealogiſche Anſichten von Leopold Buch. Leopold Buch hervorheben. Wichtige Beobachtungen über die geographiſche Verbreitung der Pflanzen führten ihn in ſeiner trefflichen „phyſikaliſchen Beſchreibung der canariſchen Inſeln“ zu folgendem merkwürdigen Ausſpruch: „Die Individuen der Gattungen auf Continenten breiten ſich aus, entfernen ſich weit, bilden durch Verſchiedenheit der Standörter, Nah- rung und Boden Varietäten, welche, in ihrer Entfernung nie von anderen Varietäten gekreuzt und dadurch zum Haupttypus zurückgebracht, end- lich conſtant und zur eignen Art werden. Dann erreichen fie viel- leicht auf anderen Wegen auf das Neue die ebenfalls veränderte vorige Varietät, beide nun als ſehr verſchiedene und ſich nicht wieder mit ein— ander vermiſchende Arten. Nicht ſo auf Inſeln. Gewöhnlich in enge Thäler, oder in den Bezirk ſchmaler Zonen gebannt, können ſich die Individuen erreichen und jede geſuchte Fixirung einer Varietät wieder zerſtören. Es iſt dies ungefähr ſo, wie Sonderbarkeiten oder Fehler der Sprache zuerſt durch das Haupt einer Familie, dann durch Ver— breitung dieſer ſelbſt, über einen ganzen Diſtrikt einheimiſch werden. Iſt dieſer abgeſondert und iſolirt, und bringt nicht die ſtete Verbin- dung mit andern die Sprache auf ihre vorige Reinheit zurück, ſo wird aus dieſer Abweichung ein Dialekt. Verbinden natürliche Hinderniſſe, Wälder, Verfaſſung, Regierung die Bewohner des abweichenden Diſtrikts noch enger, und trennen ſie ſie noch ſchärfer von den Nach— barn, jo fixirt ſich der Dialekt, und es wird eine völlig verſchiedene Sprache.“ (Ueberſicht der Flora auf den Canarien, S. 133). Sie ſehen, daß Buch hier auf den Grundgedanken der Abſtam— mungslehre durch die Erſcheinungen der Pflanzengeographie geführt wird, ein biologiſches Gebiet, welches in der That eine Maſſe von Bewei- ſen zu Gunſten derſelben liefert. Darwin hat dieſe Beweiſe in zwei be— ſonderen Kapiteln ſeines Werkes (dem elften und zwölften) ausführlich erörtert. Buch's Bemerkung iſt aber auch deshalb von Intereſſe, weil ſie uns auf die äußerſt lehrreiche Vergleichung der verſchiedenen Sprachzweige und der Organismenarten führt, eine Vergleichung, welche ſowohl für die vergleichende Sprachwiſſenſchaft, als für die Genealogiſche Anfichten von Bär und Schleiden. 87 vergleichende Thier- und Pflanzenkunde vom größten Nutzen iſt. Gleichwie z. B. die verſchiedenen Dialecte, Mundarten, Sprachäſte und Sprachzweige der deutſchen, ſlaviſchen, griechiſch-lateiniſchen und iraniſch-indiſchen Grundſprache von einer einzigen gemeinſchaftlichen in— dogermaniſchen Urſprache abſtammen, und gleichwie ſich deren Unter— ſchiede durch die Anpaſſung, ihre gemeinſamen Grundcharaktere durch die Vererbung erklären, ſo ſtammen auch die verſchiedenen Ar— ten, Gattungen, Familien, Ordnungen und Klaſſen der Wirbelthiere von einer einzigen gemeinſchaftlichen Wirbelthierform ab; auch hier iſt die Anpaſſung die Urſache der Verſchiedenheiten, die Vererbung die Ur— ſache des gemeinſamen Grundcharakters. Einer unſerer erſten verglei— chenden Sprachforſcher, Auguſt Schleicher hat dieſen Parallelis— mus vortrefflich erörtert 6). Von anderen hervorragenden deutſchen Naturforſchern, die ſich mehr oder minder beſtimmt für die Deſcendenztheorie ausſprachen, und die auf ganz verſchiedenen Wegen zu derſelben hingeführt wurden, habe ich zunächſt Carl Ernſt Bär zu nennen, den großen Refor— mator der thieriſchen Entwickelungsgeſchichte. In einem 1834 gehal— tenen Vortrage, betitelt: „Das allgemeinſte Geſetz der Natur in aller Entwickelung“ erläutert derſelbe vortrefflich, daß nur eine ganz kindi— ſche Naturbetrachtung die organiſchen Arten als bleibende und unver— änderliche Typen anſehen könne, und daß im Gegentheil dieſelben nur vorübergehende Zeugungsreihen ſein können, die durch Umbildung aus gemeinſamen Stammformen ſich entwickelt haben. Dieſelbe An— ſicht begründete Bär ſpäter (1859) durch die Geſetze der geographiſchen Verbreitung der Organismen. J. M. Schleiden, welcher vor 25 Jahren hier in Jena durch feine ſtreng empiriſch-philoſophiſche und wahrhaft wiſſenſchaftliche Me— thode eine neue Epoche für die Pflanzenkunde begründete, erläuterte in feinen bahnbrechenden Grundzügen der wiſſenſchaftlichen Botanik?) die philoſophiſche Bedeutung des organiſchen Speciesbegriffes, und zeigte, daß derſelbe nur in dem allgemeinen Geſetze der Specifi— cation ſeinen ſubjectiven Urſprung habe. Die verſchiedenen Pflan— 88 Genealogiſche Anſichten von Unger, Victor Carus, Schaaffhauſen. zenarten ſind nur die ſpecificirten Producte der Pflanzenbildungstriebe, welche durch die verſchiedenen Combinationen der Grundkräfte der organiſchen Materie entſtehen. Der ausgezeichnete Wiener Botaniker F. Unger wurde durch feine gründlichen und umfaſſenden Unterſuchungen über die ausgeſtor— benen Pflanzenarten zu einer paläontologiſchen Entwickelungsgeſchichte des Pflanzenreichs geführt, welche den Grundgedanken der Abſtam— mungslehre klar ausſpricht. In ſeinem „Verſuch einer Geſchichte der Pflanzenwelt“ (1852) behauptet er die Abſtammung aller verſchiede— nen Pflanzenarten von einigen wenigen Stammformen, und vielleicht von einer einzigen Urpflanze, einer einfachſten Pflanzenzelle. Er zeigt, daß dieſe Anſchauungsweiſe von dem genetiſchen Zuſammenhang aller Pflanzenformen nicht nur phyſiologiſch nothwendig, ſondern auch empiriſch begründet ſei s). Victor Carus in Leipzig that in der Einleitung zu ſeinem 1853 erſchienenen trefflichen „Syſtem der thieriſchen Morphologie“ 9), welches die allgemeinen Bildungsgeſetze des Thierkörpers durch die vergleichende Anatomie und Entwickelungsgeſchichte philoſophiſch zu begründen verſucht, folgenden Ausſpruch: „Die in den älteſten geolo— giſchen Lagern begrabenen Organismen ſind als die Urahnen zu be— trachten, aus denen durch fortgeſetzte Zeugung und Akkommodation an progreſſiv ſehr verſchiedene Lebensverhältniſſe der Formenreichthum der jetzigen Schöpfung entſtand“. In demſelben Jahre (1853) erklärte ſich der verdiente Anthropo- loge Schaaffhauſen in einem Aufſatze „über Beſtändigkeit und Umwandlung der Arten“ entſchieden zu Gunſten der Deſcendenztheo— rie. Die lebenden Pflanzen- und Thierarten find nach ihm die um— gebildeten Nachkommen der ausgeſtorbenen Species, aus denen ſie durch allmähliche Umbildung entſtanden ſind. Das Auseinanderwei— chen (die Divergenz oder Sonderung) der nächſtverwandten Arten geſchieht durch Zerſtörung der verbindenden Zwiſchenſtufen. Auch für den thieriſchen Urſprung des Menſchengeſchlechts und ſeine all— mähliche Entwickelung aus affenähnlichen Thieren, die wichtigſte Con⸗ Genealogiſche Anfichten von Louis Büchner. 89 ſequenz der Abſtammungslehre, ſprach ſich Schaffhauſen (1857) ſchon mit Beſtimmtheit aus. Endlich iſt von deutſchen Naturphiloſophen noch Louis Büch— ner hervorzuheben, welcher in ſeinem weitverbreiteten, allgemein ver— ſtändlichen Buche „Kraft und Stoff“ 1855 ebenfalls die Grundzüge der Deſcendenztheorie ſelbſtſtändig entwickelte, und zwar vorzüglich auf Grund der unwiderleglichen empiriſchen Zeugniſſe, welche uns die pa— läontologiſche und die individuelle Entwickelung der Organismen, ſo— wie ihre vergleichende Anatomie, und der Parallelismus dieſer Ent— wickelungsreihen liefert. Büch ner zeigte ſehr einleuchtend, daß ſchon hieraus eine Entſtehung der verſchiedenen organiſchen Species aus gemeinſamen Stammformen nothwendig folge, und daß die Entſte— hung dieſer urſprünglichen Stammformen nur durch Urzeugung denk— bar ſei! e). Von den deutſchen Naturphiloſophen wenden wir uns nun zu den franzöſiſchen, welche ebenfalls ſeit dem Beginne unſeres Jahrhun— derts die Entwickelungstheorie vertraten. An der Spitze der franzöſiſchen Naturphiloſophie ſteht Jean Lamarck, welcher in der Geſchichte der Abſtammungslehre neben Darwin und Goethe den erſten Platz einnimmt. Ihm wird der unſterbliche Ruhm bleiben, zum erſten Male die Deſcendenztheo— rie als ſelbſtſtändige wiſſenſchaftliche Theorie erſten Ranges durchge— führt und als die naturphiloſophiſche Grundlage der ganzen Biologie feſtgeſtellt zu haben. Obwohl Lamarck bereits 1744 geboren wur— de, begann er doch mit Veröffentlichung ſeiner Theorie erſt im Beginn unſeres Jahrhunderts, im Jahre 1801, und begründete dieſelbe erſt ausführlicher 1809, in ſeiner klaſſiſchen „Philosophie zoologique“ 2). Dieſes bewunderungswürdige Werk iſt die erſte zuſammenhängende und ſtreng bis zu allen Conſequenzen durchgeführte Darſtellung der Abſtammungslehre. Durch die rein mechaniſche Betrachtungsweiſe der organiſchen Natur und die ſtreng philoſophiſche Begründung von de— ren Nothwendigkeit erhebt ſich Lamarck's Werk weit über die vor— herrſchend dualiſtiſchen Anſchauungen feiner Zeit, und bis auf Dar— 90 Lamarck's zoologiſche Philoſophie. win 's Werk, welches gerade ein halbes Jahrhundert ſpäter erſchien, finden wir kein zweites, welches wir der Philosophie zoologique an die Seite ſetzen könnten. Wie weit dieſelbe ihrer Zeit vorauseilte, geht wohl am beſten daraus hervor, daß ſie von den Meiſten gar nicht verſtanden und fünfzig Jahre hindurch todtgeſchwiegen wurde. Lamarck's größter Gegner, Cuvier, erwähnt in ſeinem Bericht über die Fortſchritte der Naturwiſſenſchaften, in welchem die unbedeu— tendſten anatomiſchen Unterſuchungen Aufnahme fanden, dieſes epo— chemachende Werk mit keinem Worte. Auch Goethe, welcher ſich ſo lebhaft für die franzöſiſche Naturphiloſophie, für „die Gedanken der verwandten Geiſter jenſeits des Rheins“, intereſſirte, gedenkt La— marck's nirgends, und ſcheint die Philosophie zoologique gar nicht gekannt zu haben. Den hohen Ruf, welchen Lamarck ſich als Na⸗ turforſcher erwarb, verdankt derſelbe nicht ſeinem höchſt bedeutenden allgemeinen Werke, ſondern zahlreichen ſpeciellen Arbeiten über nie dere Thiere, insbeſondere Mollusken, ſowie einer ausgezeichneten „Na— turgeſchichte der wirbelloſen Thiere“, welche 1815 —- 1822 in ſieben Bänden erſchien. Der erſte Band dieſes berühmten Werkes (1815) enthält in der allgemeinen Einleitung ebenfalls eine ausführliche Dar— ſtellung ſeiner Abſtammungslehre. Von der ungemeinen Bedeutung der Philosophie zoologique kann ich Ihnen vielleicht keine beſſere Vorſtellung geben, als wenn ich Ihnen daraus einige der wichtigſten Sätze wörtlich anführe: „Die ſyſtematiſchen Eintheilungen, die Klaſſen, Ordnungen, Fa⸗ milien, Gattungen und Arten, ſowie deren Benennung ſind willkür— liche Kunſterzeugniſſe des Menſchen. Die Arten oder Species der Or— ganismen ſind von ungleichem Alter, nach einander entwickelt und zeigen nur eine relative, zeitweilige Beſtändigkeit; aus Varietäten ge- hen Arten hervor. Die Verſchiedenheit in den Lebensbedingungen wirkt verändernd auf die Organiſation, die allgemeine Form und die Theile der Thiere ein, ebenſo der Gebrauch oder Nichtgebrauch der Organe. Im erſten Anfang ſind nur die allereinfachſten und niedrig— ſten Thiere und Pflanzen entſtanden und erſt zuletzt diejenigen von Lamarck's moniſtiſche Eutwickelungstheorie. 91 der höchſt zuſammengeſetzten Organiſation. Der Entwickelungsgang der Erde und ihrer organiſchen Bevölkerung war ganz continuirlich, nicht durch gewaltſame Revolutionen unterbrochen. Das Leben iſt nur ein phyſikaliſches Phänomen. Alle Lebenserſcheinungen beruhen auf mechaniſchen, auf phyſikaliſchen und chemiſchen Urſachen, die in der Beſchaffenheit der organiſchen Materie ſelbſt liegen. Die einfach— ſten Thiere und die einfachſten Pflanzen, welche auf der tiefſten Stufe der Organiſationsleiter ſtehen, ſind entſtanden und entſtehen noch heute durch Urzeugung (Generatio spontanea). Alle lebendigen Naturkörper oder Organismen ſind denſelben Naturgeſetzen, wie die lebloſen Naturkörper oder die Anorgane unterworfen. Die Ideen und Thätigkeiten des Verſtandes ſind Bewegungserſcheinungen des Cen— tralnervenſyſtems. Der Wille iſt in Wahrheit niemals frei. Die Ver— nunft iſt nur ein höherer Grad von Entwickelung und Verbindung der Urtheile.“ Das ſind nun in der That erſtaunlich kühne, großartige und weitreichende Anſichten, welche Lamarck vor 60 Jahren in dieſen Sätzen niederlegte, und zwar zu einer Zeit, in welcher deren Begrün— dung durch maſſenhafte Thatſachen nicht entfernt ſo, wie heutzutage, möglich war. Sie ſehen, daß Lamarck's Werk eigentlich ein voll— ſtändiges, ſtreng moniſtiſches (mechaniſches) Naturſyſtem iſt, daß alle wichtigen allgemeinen Grundſätze der moniſtiſchen Biologie bereits von ihm vertreten werden: Die Einheit der wirkenden Urſachen in der or— ganiſchen und anorganiſchen Natur, der letzte Grund dieſer Urſachen in den chemiſchen und phyſikaliſchen Eigenſchaften der Materie, der Mangel einer beſonderen Lebenskraft oder einer organiſchen Endur- ſache; die Abſtammung aller Organismen von einigen wenigen, höchſt einfachen Stammformen oder Urweſen, welche durch Urzeugung aus anorganiſchen Materien entſtanden ſind; der zuſammenhängende Ver— lauf der ganzen Erdgeſchichte, und der Mangel der gewaltſamen und totalen Erdrevolutionen, und überhaupt die Undenkbarkeit jedes Wun- ders, jedes übernatürlichen Eingriffs in den natürlichen Entwickelungs— gang der Materie. 92 Lamarck's Anſicht von der Aupaſſung und der Vererbung. Daß Lamarck's bewunderungswürdige Geiſtesthat faſt gar keine Anerkennung fand, liegt theils in der ungeheuren Weite des Rieſenſchritts, mit welchem er dem folgenden halben Jahrhundert vor⸗ auseilte, theils aber auch in der mangelhaften empiriſchen Begrün- dung derſelben, und in der oft etwas einſeitigen Art ſeiner Beweis— führung. Als die nächſten mechaniſchen Urſachen, welche die beftän- dige Umbildung der organiſchen Formen bewirken, erkennt Lamarck ganz richtig die Verhältniſſe der Anpaſſung an, während er die Formähnlichkeit der verſchiedenen Arten, Gattungen, Familien u. ſ. w. mit vollem Rechte auf ihre Blutsverwandtſchaft zurückführt, alſo durch die Vererbung erklärt. Die Anpaſſung beſteht nach ihm da— rin, daß die beſtändige langſame Veränderung der Außenwelt eine entſprechende Veränderung in den Thätigkeiten und dadurch auch wei— ter in den Formen der Organismen bewirkt. Das größte Gewicht legt er dabei auf die Wirkung der Gewohnheit, auf den Gebrauch und Nichtgebrauch der Organe. Allerdings iſt dieſer, wie Sie ſpäter ſehen werden, für die Umbildung der organiſchen Formen von der höchſten Bedeutung. Allein in der Weiſe, wie Lamarck hieraus al— lein oder doch vorwiegend die Veränderung der Formen erklären woll- te, iſt das meiſtens doch nicht möglich. Er ſagt z. B., daß der lange Hals der Giraffe entſtanden ſei durch das beſtändige Hinaufrecken des Halſes nach hohen Bäumen, und das Beſtreben, die Blätter von de- ren Aeſten zu pflücken; da die Giraffe meiſtens in trockenen Gegenden lebt, wo nur das Laub der Bäume ihr Nahrung gewährt, war ſie zu dieſer Thätigkeit gezwungen. Ebenſo find die langen Zungen der Spechte, Colibris und Ameiſenfreſſer durch die Gewohnheit entſtan— den, ihre Nahrung aus engen, ſchmalen und tiefen Spalten oder Ka- nälen herauszuholen. Die Schwimmhäute zwiſchen den Zehen der Schwimmfüße bei Fröſchen und anderen Waſſerthieren ſind lediglich durch das fortwährende Bemühen zu ſchwimmen, durch das Schla— gen der Füße in das Waſſer, durch die Schwimmbewegungen ſelbſt entſtanden. Durch Vererbung auf die Nachkommen wurden dieſe Gewohnheiten befeſtigt und durch weitere Ausbildung derſelben ſchließ— Lamarck's Anſicht von der Entwickelung des Menſchengeſchlechts. 93 lich die Organe ganz umgebildet. So richtig im Ganzen dieſer Grund— gedanke iſt, ſo legt doch Lamarck zu ausſchließlich das Gewicht auf die Gewohnheit (Gebrauch und Nichtgebrauch der Organe), aller— dings eine der wichtigſten, aber nicht die einzige Urſache der Form— veränderung. Dies kann uns jedoch nicht hindern, anzuerkennen, daß Lamarck die Wechſelwirkung der beiden organiſchen Bildungs triebe, der Anpaſſung und Vererbung, ganz richtig begriff. Nur fehlte ihm dabei das äußerſt wichtige Princip der „natürlichen Züch— tung im Kampfe um das Daſein“, mit welchem Darwin uns erſt 50 Jahre ſpäter bekannt machte. Als ein beſonderes Verdienſt Lamarck's iſt nun noch hervorzu— heben, daß er bereits verſuchte, die Entwickelung des Men— ſchengeſchlechts aus anderen, zunächſt affenartigen Säugethieren darzuthun. Auch hier war es wieder in erſter Linie die Gewohnheit, der er den umbildenden, veredelnden Einfluß zuſchrieb. Er nahm alſo an, daß die niederſten, urſprünglichſten Urmenſchen entſtanden ſeien aus den menſchenähnlichſten Affen, indem die letzteren ſich an— gewöhnt hätten, aufrecht zu gehen. Die Erhebung des Rumpfes, das beſtändige Streben, ſich aufrecht zu erhalten, führte zunächſt zu einer Umbildung der Gliedmaßen, zu einer ſtärkeren Differenzirung oder Sonderung der vorderen und hinteren Extremitäten, welche mit Recht als einer der weſentlichſten Unterſchiede zwiſchen Menſchen und Affen gilt. Hinten entwickelten ſich Waden und platte Fußſohlen, vorn Greifarme und Hände. Der aufrechte Gang hatte zunächſt eine freiere Umſchau über die Umgebung zur Folge, und damit einen be— deutenden Fortſchritt in der geiſtigen Entwickelung. Die Menfchen- affen erlangten dadurch bald ein großes Uebergewicht über die ande— ren Affen, und weiterhin überhaupt über die umgebenden Organismen. Um die Herrſchaft über dieſe zu behaupten, thaten ſie ſich in Geſell— ſchaften zuſammen, und es entwickelte ſich, wie bei allen geſellig le— benden Thieren, das Bedürfniß einer Mittheilung ihrer Beſtrebungen und Gedanken. So entſtand das Bedürfniß der Sprache, deren an— fangs rohe, ungegliederte Laute bald mehr und mehr in Verbindung 94 Naturphiloſophie von Geoffroy S. Hilaire. geſetzt, ausgebildet und artikulirt wurden. Die Entwickelung der ar- tikulirten Sprache war nun wieder der ſtärkſte Hebel für eine weiter fortſchreitende Entwickelung des Organismus und vor Allem des Ge— hirns, und ſo verwandelten ſich allmählich und langſam die Affen— menſchen in echte Menſchen. Die wirkliche Abſtammung der nieder— ſten und roheſten Urmenſchen von den höchſt entwickelten Affen wurde alſo von Lamarck bereits auf das beſtimmteſte behauptet, und durch eine Reihe der wichtigſten Beweisgründe unterſtützt. Als der bedeutendſte der franzöſiſchen Naturphiloſophen gilt ge— wöhnlich nicht Lamarck, ſondern Etienne Geoffroy St. Hi— laire (der Aeltere), geb. 1771, derjenige, für welchen auch Goe— the ſich beſonders intereſſirte, und den wir oben bereits als den ent— ſchiedenſten Gegner Cuvier's kennen gelernt haben. Er entwickelte ſeine Ideen von der Umbildung der organiſchen Species bereits gegen Ende des vorigen Jahrhunderts, veröffentlichte dieſelben aber erſt im Jahre 1828, und vertheidigte ſie dann in den folgenden Jahren, be— ſonders 1830, tapfer gegen Cuvier. Geoffroy S. Hilaire nahm im Weſentlichen die Deſcendenztheorie Lamarck's an, glaubte jedoch, daß die Umbildung der Thier- und Pflanzenarten weniger durch die eigene Thätigkeit des Organismus, (durch Gewohnheit, Uebung, Ge— brauch oder Nichtgebrauch der Organe) bewirkt werde, als vielmehr durch den „Monde ambiant“, d. h. durch die beſtändige Verände⸗ rung der Außenwelt, insbeſondere der Atmoſphäre. Er faßt den Or⸗ ganismus gegenüber den Lebensbedingungen der Außenwelt mehr paſſiv oder leidend auf, Lamarck dagegen mehr activ oder handelnd. Geoffroy glaubt z. B., daß bloß durch Verminderung der Kohlen— ſäure in der Atmoſphäre aus eidechſenartigen Reptilien die Vögel ent⸗ ſtanden ſeien, indem durch den größeren Sauerſtoffgehalt der Ath- mungsprozeß lebhafter und energiſcher wurde. Dadurch entſtand eine höhere Bluttemperatur, eine gefteigerte Nerven- und Muskelthä⸗ tigkeit, aus den Schuppen der Reptilien wurden die Federn der Vö— gel u. ſ. w. Auch dieſer Vorſtellung liegt ein richtiger Gedanke zu Grunde. Aber wenn auch gewiß die Veränderung der Atmoſphäre Entwickelungstheorie von Geoffroy S. Hilaire. 95 wie die Veränderung jeder andern äußern Exiſtenzbedingung, auf den Organismus direkt oder indirekt umgeſtaltend einwirkt, ſo iſt dennoch dieſe einzelne Urſache an ſich viel zu unbedeutend, um ihr ſolche Wir— kungen zuzuſchreiben. Sie iſt ſelbſt unbedeutender, als die von La— marck zu einſeitig betonte Uebung und Gewohnheit. Das Haupt- verdienſt von Geoffroy beſteht darin, dem mächtigen Einfluſſe von Cuvier gegenüber die einheitliche Naturanſchauung, die Einheit der organiſchen Formbildung und den tiefen genealogiſchen Zuſammen— hang der verſchiedenen organiſchen Geſtalten geltend gemacht zu ha— ben. Die berühmten Streitigkeiten zwiſchen den beiden großen Geg— nern in der Pariſer Akademie, insbeſondere die heftigen Conflicte am 22 ſten Februar und am 19. Juli 1830, an denen Goethe den le— bendigſten Antheil nahm, habe ich bereits in dem vorhergehenden Vor— trage erwähnt (S. 72, 73). Damals blieb Cuvier der anerkannte Sieger, und ſeit jener Zeit iſt in Frankreich ſehr Wenig oder eigentlich Nichts mehr für die weitere Entwickelung der Abſtammungslehre, für den Ausbau einer moniſtiſchen Entwickelungstheorie geſchehen. Of— fenbar iſt dies vorzugsweiſe dem hinderlichen Einfluſſe zuzuſchreiben, welchen Cuvier's große Autorität ausübte. Noch heute find die mei— ſten franzöſiſchen Naturforſcher Schüler und blinde Anhänger Cu vi— er's. In keinem wiſſenſchaftlich gebildeten Lande Europa's hat Dar— win's Lehre ſo wenig gewirkt und iſt ſie ſo wenig verſtanden worden, wie in Frankreich, ſo daß wir auf die franzöſiſchen Naturforſcher im weitern Verlauf unſerer Betrachtungen uns gar nicht mehr zu bezie— hen brauchen. Höchſtens könnten wir von den neuern franzöſiſchen Naturforſchern noch zwei angeſehene Botaniker hervorheben, Nau— din (1852) und Lecoq (1854), welche ſich zu Gunſten der Verän— derlichkeit und Umbildung der Arten auszuſprechen wagten. Nachdem wir nun die älteren Verdienſte der deutſchen und fran— zöſiſchen Naturphiloſophie um die Begründung der Abſtammungslehre erörtert haben, wenden wir uns zu dem dritten (und in ſehr vielen Beziehungen dem erſten!) großen Kulturlande Europas, zu dem freien England, welches in den letzten zehn Jahren der Hauptſitz und 96 Anhänger der Defcendenztheorie in England. der eigentliche Ausgangsheerd für die weitere Ausbildung und die de— finitive Feſtſtellung der Entwickelungstheorie geworden iſt. Im An— fange unſeres Jahrhunderts haben die Engländer, welche ſonſt im- mer fo lebendig an jedem großen wiſſenſchaftlichen Fortſchritt der Menſchheit Theil nehmen, und die ewigen Wahrheiten der Natur— wiſſenſchaft in erſter Linie fördern, an der feſtländiſchen Naturphilo- ſophie und an deren bedeutendſtem Fortſchritt, der Deſcendenztheorie, nur wenig Antheil gewonnen. Faſt der einzige ältere engliſche Naturforſcher, den wir hier zu nennen haben, iſt Erasmus Dar— win, der Großvater des Reformators der Deſcendenztheorie. Er ver— öffentlichte im Jahre 1794 unter dem Titel „Zoonomia“ ein na⸗ turphiloſophiſches Werk, in welchem er ganz ähnliche Anſichten, wie Goethe und Lamarck ausſpricht, ohne jedoch von dieſen Män— nern damals irgend Etwas gewußt zu haben. Die Deſcendenztheorie lag offenbar ſchon damals in der Luft. Auch Erasmus Darwin legt großes Gewicht auf die Umgeſtaltung der Thier- und Pflanzen- arten durch ihre eigene Lebensthätigkeit, durch die Angewöhnung an veränderte Exiſtenzbedingungen u. ſ. w. Sodann ſpricht ſich im Jahre 1822 W. Herbert dahin aus, daß die Arten oder Species der Thiere und Pflanzen Nichts weiter ſeien, als beftändig gewordene Va⸗ rietäten oder Spielarten. Ebenſo erklärte 1826 Grant in Edinburg, als er die Fortpflanzungsorgane der Schwämme entdeckte, daß neue Arten durch fortdauernde Umbildung aus beſtehenden Arten hervor— gehen. Schon 1831 ſprach Patrik Matthew Anſichten über die Entſtehung der Arten aus, welche Charles Darwin's Züchtungs— theorie ſehr nahe kamen, aber damals gar nicht beachtet wurden. 1851 behauptete Freke, daß alle organiſchen Weſen von einer ein— zigen Urform abſtammen müßten. Ausführlicher und in ſehr klarer philoſophiſcher Form bewies 1852 Herbert Spencer die Nothwen— digkeit der Abſtammungslehre und begründete dieſelbe näher in feinen 1858 erſchienenen vortrefflichen „Essays“ und in den ſpäter veröf- fentlichten „Principles of Biology“. Derſelbe hat zugleich das große Verdienſt, die Entwickelungstheorie auf die Pſychologie angewandt Doppeltes Verdienſt von Charles Darwin. 97 und gezeigt zu haben, daß auch die Seelenthätigkeiten und die Geiſtes— kräfte nur ſtufenweiſe erworben und allmählich entwickelt werden konn— ten. Endlich iſt noch hervorzuheben, daß 1859 der Erſte unter den engliſchen Zoologen, Huxley, die Deſcendenztheorie als die einzige Schöpfungshypotheſe bezeichnete, welche mit der wiſſenſchaftlichen Phyſiologie vereinbar ſei. Sämmtliche Naturforſcher und Philoſophen, welche Sie in die— ſer kurzen hiſtoriſchen Ueberſicht als Anhänger der Entwickelungstheo— rie kennen gelernt haben, gelangten im beſten Falle zu der Anſchau— ung, daß alle verſchiedenen Thier- und Pflanzenarten, die zu irgend einer Zeit auf der Erde gelebt haben und jetzt noch leben, die allmäh— lich veränderten und umgebildeten Nachkommen ſind von einer einzigen, oder von einigen wenigen, urſprünglichen, höchſt einfachen Stamm— formen, welche letztere einſt durch Urzeugung (Generatio spontanea) aus anorganiſcher Materie entſtanden. Aber Keiner von jenen Natur- philoſophen gelangte dazu, dieſen Grundgedanken der Abſtammungs— lehre urſächlich zu begründen, und die Umbildung der organiſchen Species durch den wahren Nachweis ihrer mechaniſchen Urſachen wirk— lich zu erklären. Dieſe ſchwierigſte Aufgabe vermochte erſt Charles Darwin zu löſen, und hierin liegt die weite Kluft, welche denſelben von ſeinen Vorgängern trennt. Das außerordentliche Verdienſt Charles Darwin's iſt nach meiner Anſicht ein doppeltes: er hat erſtens die Abſtammungslehre, deren Grundgedanken ſchon Goethe und Lamarck klar ausſprachen, viel umfaſſender entwickelt, viel eingehender nach allen Seiten verfolgt, und viel ſtrenger im Zuſammenhang durchgeführt, als alle feine Vor— gänger; und er hat zweitens eine neue Theorie aufgeſtellt, welche uns die natürlichen Urſachen der organiſchen Entwickelung, die wirkenden Urſachen (Causae efficientes) der organiſchen Formbildung, der Veränderungen und Umformungen der Thier- und Pflanzenarten ent- hüllt. Dieſe Theorie iſt es, welche wir die Züchtungslehre oder Se— lectionstheorie, oder genauer die Theorie von der natürlichen Züchtung (Selectio naturalis) nennen. Haeckel, Natürliche Schöpfungsgeſchichte. 7 98 Doppeltes Verdienſt von Charles Darwin. Wenn Sie bedenken, daß (abgeſehen von den wenigen vorher angeführten Ausnahmen) die geſammte Biologie vor Darwin den entgegengeſetzten Anſchauungen huldigte, und daß faſt bei allen Zoo— logen und Botanikern die abſolute Selbſtſtändigkeit der organiſchen Species als ſelbſtverſtändliche Vorausſetzung aller Formbetrachtungen galt, fo werden Sie jenes doppelte Verdienſt Darwin's gewiß nicht gering anſchlagen. Das falſche Dogma von der Beſtändigkeit und unabhängigen Erſchaffung der einzelnen Arten hatte eine fo hohe Au— torität und eine ſo allgemeine Geltung gewonnen, und wurde außer⸗ dem durch den trügenden Augenſchein bei oberflächlicher Betrachtung ſo ſehr begünſtigt, daß wahrlich kein geringer Grad von Muth, Kraft und Verſtand dazu gehörte, ſich reformatoriſch gegen jenes allmäch—⸗ tige Dogma zu erheben und das künſtlich darauf errichtete Lehrgebäude zu zertrümmern. Außerdem brachten aber Darwin und Wallace noch den neuen und höchſt wichtigen Grundgedanken der „natürlichen Züchtung“ zu Lamarck's und Goethe's Abſtammungslehre hinzu. Man muß dieſe beiden Punkte ſcharf unterſcheiden, — freilich geſchieht es gewöhnlich nicht, — man muß ſcharf unterſcheiden erſtens die Abſtammungslehre oder Deſcendenztheorie von Lamarck, welche bloß behauptet, daß alle Thier- und Pflanzenarten von ge⸗ meinſamen, einfachſten, ſpontan entſtandenen Urformen abſtammen — und zweitens die Züchtungslehre oder Selectionstheorie von Darwin, welche uns zeigt, warum dieſe fortſchreitende Umbildung der organiſchen Geſtalten ſtattfand, welche mechaniſch wirkenden Ur— ſachen die ununterbrochene Neubildung und immer größere Mannich— faltigkeit der Thiere und Pflanzen bedingen. Sechſter Vortrag. Entwickelungstheorie von Lyell und Darwin. Charles Lyell's Grundſätze der Geologie. Seine natürliche Entwickelungsge⸗ ſchichte der Erde. Entſtehung der größten Wirkungen durch Summirung der klein⸗ ſten Urſachen. Entſtehung der Gebirge durch langſame, ſehr lange Zeit fortdauernde Hebungen und Senkungen des Erdbodens. Unbegrenzte Länge der geologiſchen Zeit⸗ räume. Lyell's Widerlegung der Cuvierſchen Schöpfungsgeſchichte. Begründung des ununterbrochenen Zuſammenhangs der geſchichtlichen Entwickelung durch Lyell und Darwin. Biographiſche Notizen über Charles Darwin. Seine wiſſenſchaftlichen Werke. Seine Korallenrifftheorie. Entwickelung der Selectionstheorie. Ein Brief von Darwin. Gleichzeitige Veröffentlichung der Selectionstheorie von Charles Dar⸗ win und Alfred Wallace. Darwin's neueſtes Werk. Sein Studium der Haus⸗ thiere und Culturpflanzen. Hohe Bedeutung dieſes Studiums. Andreas Wagner's Anſicht von der beſonderen Schöpfung der Culturorganismen für den Menſchen. Der Baum des Erkenntniſſes im Paradies. Vergleichung der wilden und der Cultur⸗ organismen. Darwin's Studium der Haustauben. Bedeutung der Taubenzucht. Unendliche Verſchiedenheit der Taubenraſſen und gemeinſame Abſtammung derſel⸗ ben von einer einzigen Stammart. Meine Herren! In den letzten drei Jahrzehnten, welche vor dem Erſcheinen von Darwin’ s Werk verfloſſen, vom Jahre 1830—1859, blieben in den organiſchen Naturwiſſenſchaften die Schöpfungsvor⸗ ſtellungen durchaus herrſchend, welche von Cu vier eingeführt waren. Man bequemte ſich zu der unwiſſenſchaftlichen Annahme, daß im Ver⸗ 7 * 100 Nachhaltiger Einfluß von Cuvier's Schöpfungshypotheſe. laufe der Erdgeſchichte eine Reihe von unerklärlichen Erdrevolutionen periodiſch die ganze Thier- und Pflanzenwelt vernichtet habe, und daß am Ende jeder Revolution, beim Beginn einer neuen Periode, eine neue, vermehrte und verbeſſerte Auflage der organiſchen Bevölke⸗ rung erſchienen ſei. Trotzdem die Anzahl dieſer Schöpfungsauflagen durchaus ſtreitig und in Wahrheit gar nicht feſtzuſtellen war, trotzdem die zahlreichen Fortſchritte, welche in allen Gebieten der Zoologie und Botanik während dieſer Zeit gemacht wurden, auf die Unhaltbarkeit jener bodenloſen Hypotheſe Cuvier's und auf die Wahrheit der natürlichen Entwickelungstheorie Lamarck' s immer dringender hin— wieſen, blieb dennoch die erſtere faſt allgemein bei den Biologen in Geltung. Dies iſt vor Allem der hohen Autorität zuzuſchreiben, welche ſich Cuvier erworben hatte, und es zeigt ſich hier wieder ſchlagend, wie ſchädlich der Glaube an eine beſtimmte Autorität dem Entwickelungsleben der Menſchheit wird, die Autorität, von der Goe— the einmal treffend ſagt; daß ſie im Einzelnen verewigt, was einzeln vorübergehen ſollte, daß ſie ablehnt und an ſich vorübergehen läßt, was feſtgehalten werden ſollte, und daß ſie hauptſächlich Schuld iſt, wenn die Menſchheit nicht vom Flecke kommt. Nur durch das große Gewicht von Cuvier' s Autorität, und durch die gewaltige Macht der menſchlichen Trägheit, welche ſich ſchwer entſchließt, von dem breitgetretenen Wege der alltäglichen Vorſtellun⸗ gen abzugehen, und neue, noch nicht bequem gebahnte Pfade zu be— treten, läßt es ſich begreifen, daß Lamarck's Deſcendenztheorie erſt 1859 zur Geltung gelangte, nachdem Darwin ihr ein neues Fun— dament gegeben hatte. Der empfängliche Boden für dieſelbe war längſt vorbereitet, ganz beſonders durch das Verdienſt eines anderen engliſchen Naturforſchers, Charles Lyell, auf deſſen hohe Bedeu— tung für die „natürliche Schöpfungsgeſchichte“ wir hier nothwendig einen Blick werfen müſſen. Unter dem Titel: Grundſätze der Geologie (Principles of geology) 1) veröffentlichte Charles Lyell 1830 ein Werk, welches die Geologie, die Entwickelungsgeſchichte der Erde, von Grund aus Lyell's natürliche Entwickelungsgeſchichte der Erde. 101 umgeſtaltete, und dieſelbe in ähnlicher Weiſe reformirte, wie 30 Jahre ſpäter Darwin 's Werk die Biologie. Lyell's epochemachendes Buch, welches Cuvier' s Schöpfungshypotheſe an der Wurzel zer— ſtörte, erſchien in demſelben Jahre, in welchem Cu vier ſeine großen Triumphe über die Naturphiloſophie feierte, und ſeine Oberherrſchaft über das morphologiſche Gebiet auf drei Jahrzehnte hinaus befeſtigte. Während Cuvier durch ſeine künſtliche Schöpfungshypotheſe und die damit verbundene Revolutionstheorie einer natürlichen Entwicke⸗ lungstheorie geradezu den Weg verlegte und den Faden der natürli— chen Erklärung abſchnitt, brach Lyell derſelben wieder freie Bahn, und führte einleuchtend den geologiſchen Beweis, daß jene dualiſtiſchen Vorſtellungen Cuvier's ebenſowohl ganz unbegründet, als auch ganz überflüſſig ſeien. Er wies nach, daß diejenigen Veränderungen der Erdoberfläche, welche noch jetzt unter unſern Augen vor ſich gehen, vollkommen hinreichend ſeien, Alles zu erklären, was wir von der Entwickelung der Erdrinde überhaupt wiſſen, und daß es vollſtändig überflüſſig und unnütz ſei, in räthſelhaften Revolutionen die unerklär⸗ lichen Urſachen dafür zu ſuchen. Er zeigte, daß man weiter Nichts zu Hülfe zu nehmen brauche, als außerordentlich lange Zeiträume, um die Entſtehung des Baues der Erdrinde auf die einfachſte und natür- lichſte Weiſe aus denſelben Urſachen zu erklären, welche noch heutzu— tage wirkſam ſind. Viele Geologen hatten ſich früher gedacht, daß die höchſten Gebirgsketten, welche auf der Erdoberfläche hervortreten, ihren Urſprung nur ungeheuren, einen großen Theil der Erdober— fläche umgeſtaltenden Revolutionen, insbeſondere coloſſalen vulkani⸗ ſchen Ausbrüchen verdanken könnten. Solche Bergketten z. B. wie die Alpen, oder wie die Cordilleren, ſollten auf einmal aus dem feuer⸗ flüſſigen Erdinnern durch einen ungeheuren Spalt der weit geborſte— nen Erdrinde emporgeſtiegen ſein. Lyell zeigte dagegen, daß wir uns die Entwickelung ſolcher ungeheurer Gebirgsketten aus denſelben langſamen, unmerklichen Hebungen der Erdoberfläche erklären können, die noch jetzt fortwährend vor ſich gehen, und deren Urſachen keines— wegs wunderbar ſind. Dieſe Hebungen und Senkungen, wenn auch 102 Entſtehung der größten Wirkungen durch die kleinſten Urſachen. langſam und unmerklich vor ſich gehend, können die größten Er⸗ folge erreichen, wenn fie nur einen hinlänglich großen Zeitraum hin⸗ durch ihre Wirkſamkeit entfalten. Es iſt bekannt, daß an zahlreichen Stellen der Erde noch jetzt eine beſtändige langſame Senkung der Küſte ſich nachweiſen läßt, ebenſo wie an anderen Stellen eine He- bung; Senkungen und Hebungen, die vielleicht im Jahrhundert nur ein paar Zoll oder höchſtens einige Fuß betragen. Sobald dieſe He— bungen Millionen oder Milliarden von Jahren andauern, ſo genü— gen dieſelben vollſtändig, um die höchſten Gebirgsketten hervortreten zu laſſen, ohne daß dazu jene räthſelhaften und unbegreiflichen Revo— lutionen nöthig wären. Auch die meteorologiſche Thätigkeit der At⸗ moſphäre, die Wirkſamkeit des Regens und des Schnees, ferner die Brandung der Küſte, welche an und für ſich nur unbedeutend zu wir: ken ſcheinen, müſſen die größten Veränderungen hervorbringen, wenn man nur hinlänglich große Zeiträume für deren Wirkſamkeit in An⸗ ſpruch nimmt. Die Summirung der kleinſten Urſachen bringt die größten Wirkungen hervor. Der Waſſertropfen höhlt den Stein aus. Auf die unermeßliche Länge der geologiſchen Zeiträume, welche hierzu erforderlich ſind, müſſen wir nothwendig ſpäter noch einmal zurückkommen, da, wie Sie ſehen werden, auch für Dar— win 's Theorie, ebenſo wie für diejenige Lyell's, die Annahme ganz ungeheurer Zeitmaaße abſolut unentbehrlich iſt. Wenn die Erde und ihre Organismen ſich wirklich auf natürlichem Wege entwickelt haben, ſo muß dieſe langſame und allmähliche Entwickelung jedenfalls eine Zeitdauer in Anſpruch genommen haben, deren Vorſtellung unfer Faf- ſungsvermögen gänzlich überſteigt. Da Viele aber gerade hierin eine Hauptſchwierigkeit jener Entwickelungstheorien erblicken, ſo will ich hier ſchon von vornherein bemerken, daß wir nicht einen einzigen vernünf⸗ tigen Grund haben, irgend wie uns die hierzu erforderliche Zeit bes ſchränkt zu denken. Wenn nicht allein viele Laien, ſondern ſelbſt her⸗ vorragende Naturforſcher, z. B. Liebig, als Haupteinwand gegen dieſe Theorien einwerfen, daß dieſelben willkürlich zu lange Zeiträume in Anſpruch nähmen, ſo iſt dieſer Einwand kaum zu begreifen. Denn Unbegrenzte Länge der geologiſchen Zeiträume. 103 es iſt abſolut nicht einzuſehen, was uns in der Annahme derſelben ir— gendwie beſchränken ſollte. Wir wiſſen längſt allein ſchon aus dem Bau der geſchichteten Erdrinde, daß die Entſtehung derſelben, der Abſatz der geſchichteten Steine aus dem Waſſer, allermindeſtens meh- rere Millionen Jahre gedauert haben muß. Ob wir aber hypothe— tiſch für dieſen Prozeß zehn Millionen oder zehntauſend Billionen Jahre annehmen, iſt vom Standpunkte der ſtrengſten Naturphiloſo⸗ phie gänzlich gleichgültig. Vor uns und hinter uns liegt die Ewig⸗ keit. Wenn ſich bei Vielen gegen die Annahme von ſo ungeheuren Zeiträumen das Gefühl ſträubt, fo iſt das die Folge der falſchen Vor— ſtellungen, welche uns von früheſter Jugend an über die verhältniß— mäßig kurze, nur wenige Jahrtauſende umfaſſende Geſchichte der Erde eingeprägt werden. Wie Albert Lange in feiner Geſchichte des Ma- terialismus ! 2) Liebig gegenüber ſchlagend beweiſt, iſt es vom ſtreng kritiſch-philoſophiſchen Standpunkte aus jeder naturwiſſenſchaftli⸗ chen Hypotheſe viel eher erlaubt, die Zeiträume zu groß, als zu klein anzunehmen. Jeder Entwickelungsvorgang läßt ſich um ſo eher be— greifen, je längere Zeit er dauert. Ein kurzer und beſchränkter Zeit— raum für denſelben iſt von vornherein das Unwahrſcheinlichſte. Jene angebliche Schwierigkeit wird uns daher in keinem Falle etwas zu ſchaf— fen machen. Ich habe hier nicht Zeit, auf Lyell' s vorzügliches Werk näher einzugehen, und will daher bloß das wichtigſte Reſultat deſſelben Ih- nen mittheilen, daß es nämlich Cuvier's Schöpfungsgeſchichte mit ihren mythiſchen Revolutionen gründlich widerlegte, und an deren Stelle einfach die beſtändige langſame Umbildung der Erdrinde durch die fortdauernde Thätigkeit der noch jetzt auf die Erdoberfläche wir- kenden Kräfte ſetzte, die Thätigkeit des Waſſers und des vulkaniſchen Erdinnern. Lyell wies alſo einen continuirlichen, ununterbrochenen Zuſammenhang der ganzen Erdgeſchichte nach, und er bewies den— ſelben ſo unwiderleglich, er begründete ſo einleuchtend die Herrſchaft der „existing causes“, der noch heute wirkſamen, dauernden Urfa- 104 Innerer Zuſammenhang von Lyell's und Darwin's Theorie. chen in der Umbildung der Erdrinde, daß in kurzer Zeit die Geolo- gie Cuvier's Hypotheſe vollkommen aufgab. Nun iſt es aber merkwürdig, daß die Paläontologie, die Wiſſen⸗ ſchaft von den Verſteinerungen, ſoweit ſie von den Botanikern und Zoologen getrieben wurde, von dieſem großen Fortſchritt der Geolo- gie ſcheinbar unberührt blieb. Die Biologie nahm fortwährend noch jene wiederholte neue Schöpfung der geſammten Thier- und Pflan⸗ zenbevölkerung am Beginne jeder neuen Periode der Erdgeſchichte an, obwohl dieſe Hypotheſe von den einzelnen, ſchubweiſe in die Welt ge— festen Schöpfungen ohne die Annahme der Revolutionen reiner Un- ſinn wurde und gar keinen Halt mehr hatte. Offenbar iſt es voll- kommen ungereimt, eine beſondere neue Schöpfung der ganzen Thier- und Pflanzenwelt zu beſtimmten Zeitabſchnitten anzunehmen, ohne daß die Erdrinde ſelbſt dabei irgend eine beträchtliche allgemeine Um- wälzung erfährt. Trotzdem alſo jene Vorſtellung auf das Engſte mit der Kataſtrophentheorie Cuvier' s zuſammenhängt, blieb fie den- noch herrſchend, nachdem die letztere bereits zerſtört war. Es war nun dem großen engliſchen Naturforſcher Charles Darwin vorbehalten, dieſen Zwieſpalt völlig zu beſeitigen und zu zeigen, daß auch die Lebewelt der Erde eine ebenſo continuirlich zu— ſammenhängende Geſchichte hat, wie die unorganiſche Rinde der Erde; daß auch die Thiere und Pflanzen ebenſo allmählich durch Umwand— lung (Transmutation) auseinander hervorgegangen ſind, wie die wech— ſelnden Formen der Erdrinde, der Continente und der ſie umſchließen⸗ den und trennenden Meere aus früheren, ganz davon verſchiedenen Formen hervorgegangen ſind. Wir können in dieſer Beziehung wohl ſagen, daß Darwin auf dem Gebiete der Zoologie und Botanik den gleichen Fortſchritt herbeiführte, wie Lyell, ſein großer Landsmann, auf dem Gebiete der Geologie. Durch Beide wurde der ununterbro- chene Zuſammenhang der geſchichtlichen Entwickelung bewieſen, und eine allmähliche Umänderung der verſchiedenen auf einander n Zuſtände dargethan. Das beſondere Verdienſt Darwin's iſt nun, wie bereits in dem Biographiſche Notizen über Charles Darwin. 105 vorigen Vortrage bemerkt worden iſt, ein doppeltes. Er hat erſtens die von Lamarck und Goethe aufgeſtellte Deſcendenztheorie in viel umfaſſenderer Weiſe als Ganzes behandelt und im Zuſammenhang durchgeführt, als es von allen ſeinen Vorgängern geſchehen war. Zwei⸗ tens aber hat er dieſer Abſtammungslehre durch ſeine, ihm eigenthüm⸗ liche Züchtungslehre (die Selectionstheorie) das caufale Fundament ge- geben, d. h. er hat die wirkenden Urſachen der Veränderungen nachgewieſen, welche von der Abſtammungslehre nur als Thatſachen behauptet werden. Die von Lamarck 1809 in die Biologie einge: führte Deſcendenztheorie behauptet, daß alle verſchiedenen Thier- und Pflanzenarten von einer einzigen oder einigen wenigen, höchſt einfa- chen, ſpontan entſtandenen Urformen abſtammen. Die von Dar— win 1859 begründete Selectionstheorie zeigt uns, warum dies der Fall ſein mußte, ſie weiſt uns die wirkenden Urſachen ſo nach, wie es nur Kant wünſchen konnte, und Darwin iſt in der That auf dem Gebiete der organiſchen Naturwiſſenſchaft der Newton geworden, deſſen Kommen Kant prophetifch verneinen zu können glaubte. Ehe Sie nun an Darwin's Theorie herantreten, wird es Ih— nen vielleicht von Intereſſe fein, Einiges über die Perſönlichkeit dieſes großen Naturforſchers zu hören, über fein Leben und die Wege auf de— nen er zur Aufſtellung ſeiner Lehre gelangte. Charles Darwin iſt geboren im Jahr 1808, alſo jetzt ſechzig Jahre alt. Bereits in ſeinem 24. Lebensjahre, 1832, wurde er zur Theilnahme an einer wiſſen— ſchaftlichen Expedition berufen, welche von den Engländern ausge— ſchickt wurde, vorzüglich um die Südſpitze Südamerika's genauer zu erforſchen und verſchiedene Punkte der Südſee zu unterſuchen. Dieſe Expedition hatte, gleich vielen anderen, rühmlichen, von England ausge— rüſteten Forſchungsreiſen, ſowohl wiſſenſchaftliche, als auch practifche, auf die Schifffahrt bezügliche Aufgaben zu erfüllen. Das Schiff führte in treffend ſymboliſcher Weiſe den Namen „Beagle“ oder Spürhund. Die Reiſe des Beagle, welche fünf Jahre dauerte, wurde für Dar— win's ganze Entwickelung von der größten Bedeutung, und ſchon im erſten Jahre, als er zum erſtenmal den Boden Südamerika's betrat, 106 Darwin's Theorie von der Entſtehung der Korallenriffe. keimte in ihm der Gedanke der Abſtammungslehre auf, den er dann ſpäterhin zu ſo vollendeter Blüthe entwickelte. Die Reiſe ſelbſt hat Darwin in einem von Dieffenbach in das Deutſche überſetzten Werke beſchrieben, welches ſehr anziehend geſchrieben iſt, und deſſen Lectüre ich Ihnen angelegentlich empfehle 13). In dieſer Reiſebeſchrei⸗ bung, welche ſich weit über den gewöhnlichen Durchſchnitt erhebt, tritt Ihnen nicht allein die liebenswürdige Perſönlichkeit Dar win's in ſehr anziehender Weiſe entgegen, ſondern Sie können auch vielfach die Spu⸗ ren der Wege erkennen, auf denen er zu ſeinen Vorſtellungen gelangte. Als Reſultat dieſer Reiſe erſchien zunächſt ein großes wiſſenſchaftliches Reiſewerk, an deſſen zoologiſchem und geologiſchem Theil ſich Darwin bedeutend betheiligte, und ferner eine ausgezeichnete Arbeit deſſelben über die Bildung der Korallenriffe, welche allein genügt haben würde, Darwin's Namen mit bleibendem Ruhme zu krönen. Es wird Ihnen bekannt ſein, daß die Inſeln der Südſee größtentheils aus Korallen— riffen beſtehen oder von ſolchen umgeben ſind. Die verſchiedenen merkwürdigen Formen derſelben und ihr Verhältniß zu den nicht aus Korallen gebildeten Inſeln vermochte man ſich früher nicht befriedi- gend zu erklären. Erſt Darwin war es vorbehalten dieſe ſchwierige Aufgabe zu löſen, indem er außer der aufbauenden Thätigkeit der Korallenthiere auch geologiſche Hebungen und Senkungen des Meeres⸗ bodens für die Entſtehung der verſchiedenen Riffgeſtalten in Anſpruch nahm. Darwin's Theorie von der Entſtehung der Korallenriffe ift, ebenſo wie ſeine ſpätere Theorie von der Entſtehung der organiſchen Arten, eine Theorie, welche die Erſcheinungen vollkommen erklärt, und dafür nur die einfachſten natürlichen Urſachen in Anſpruch nimmt, ohne ſich hypothetiſch auf irgend welche unbekannten Vorgänge zu beziehen. Unter den übrigen Arbeiten Darwin's iſt noch feine aus⸗ gezeichnete Monographie der Cirrhipedien hervorzuheben, einer merf- würdigen Klaſſe von Seethieren, welche im äußeren Anſehen den Mu⸗ ſcheln gleichen und von Cuvier in der That für zweiſchalige Mollus⸗ ken gehalten wurden, während dieſelben in Wahrheit zu den Krebs— thieren (Cruſtaceen) gehören. Ein Brief von Darwin. f 107 Die außerordentlichen Strapatzen, denen Darwin während der fünfjährigen Reiſe des Beagle ausgeſetzt war, hatten ſeine Geſundheit dergeſtalt zerrüttet, daß er ſich nach ſeiner Rückkehr aus dem unruhigen Treiben London's zurückziehen mußte, und ſeitdem in ſtiller Zurückge⸗ zogenheit auf ſeinem Gute Down, in der Nähe von Bromley in Kent (mit der Eiſenbahn kaum eine Stunde von London entfernt), wohnte. Dieſe Abgeſchiedenheit von dem unruhigen Getreibe der großen Weltſtadt wurde jedenfalls äußerſt ſegensreich für Darwin, und es iſt wahrſcheinlich, daß wir ihr theilweiſe mit die Entſtehung der Selectionstheorie verdanken. Unbehelligt durch die verſchiedenen Geſchäfte, welche in London ſeine Kräfte zerſplittert haben würden, konnte er feine ganze Thätigkeit auf das Studium des großen Pro- blems concentriren, auf welches er durch jene Reiſe hingelenkt worden war. Um Ihnen zu zeigen, welche Wahrnehmungen während ſeiner Weltumſegelung vorzüglich den Grundgedanken der Selectionstheo— rie in ihm anregten, und in welcher Weiſe er denſelben dann weiter entwickelte, erlauben Sie mir, Ihnen eine Stelle aus einem Briefe mitzutheilen, welchen Darwin am 8. October 1864 an mich richtete: „In Südamerika traten mir beſonders drei Klaſſen von Erſcheinungen ſehr lebhaft vor die Seele: Erſtens die Art und Weiſe, in welcher nahe verwandte Species einander vertreten und er- ſetzen, wenn man von Norden nach Süden geht; — Zweitens die nahe Verwandtſchaft derjenigen Species, welche die Südamerika nahe gelegenen Inſeln bewohnen, und derjenigen Species, welche dieſem Feſtland eigenthümlich find; dies ſetzte mich in tiefes Erſtaunen, be— ſonders die Verſchiedenheit derjenigen Species, welche die nahe gele— genen Inſeln des Galopagosarchipels bewohnen; — Drittens die nahe Beziehung der lebenden zahnloſen Säugethiere (Edentata) und Nagethiere (Rodentia) zu den ausgeſtorbenen Arten. Ich werde nie— mals mein Erſtaunen vergeſſen, als ich ein rieſengroßes Panzerſtück ausgrub, ähnlich demjenigen eines lebenden Gürtelthiers. „Als ich über dieſe Thatſachen nachdachte und einige ähnliche Er— 108 Entwickelung der Selectionstheorie. ſcheinungen damit verglich, ſchien es mir wahrſcheinlich, daß nahe verwandte Species von einer gemeinſamen Stammform abſtammen könnten. Aber einige Jahre lang konnte ich nicht begreifen, wie eine jede Form fo ausgezeichnet ihren beſonderen Lebensverhältniſſen ange⸗ paßt werden konnte. Ich begann darauf ſyſtematiſch die Hausthiere und die Gartenpflanzen zu ſtudiren, und ſah nach einiger Zeit deutlich ein, daß die wichtigſte umbildende Kraft in des Menſchen Zuchtwahl⸗ vermögen liege, in feiner Benutzung auserleſener Individuen zur Nach— zucht. Dadurch daß ich vielfach die Lebensweiſe und Sitten der Thiere ſtudirt hatte, war ich darauf vorbereitet, den Kampf um's Daſein rich- tig zu würdigen; und meine geologiſchen Arbeiten gaben mir eine Vorſtellung von der ungeheuren Länge der verfloſſenen Zeiträume. Als ich dann durch einen glücklichen Zufall das Buch von Malthus „über die Bevölkerung“ las, tauchte der Gedanke der natürlichen Züch⸗ tung in mir auf. Unter allen den untergeordneten Punkten war der letzte, den ich ſchätzen lernte, die Bedeutung und Urſache des Di— vergenzprinzips“. Während der Muße und Zurückgezogenheit, in der Darwin nach der Rückkehr von ſeiner Reiſe lebte, beſchäftigte er ſich, wie aus dieſer Mittheilung hervorgeht, zunächſt vorzugsweiſe mit dem Studi⸗ um der Organismen im Culturzuſtande, der Hausthiere und Garten⸗ pflanzen. Unzweifelhaft war dies der nächſte und richtigſte Weg, um zur Selectionstheorie zu gelangen. Wie in allen ſeinen Arbeiten, verfuhr Darwin dabei äußerſt ſorgfältig und genau. Er hat vom Jahre 1837 — 1858, alſo 21 Jahre lang, über dieſe Sache Nichts veröffentlicht, ſelbſt nicht eine vorläufige Skizze ſeiner Theorie, welche er ſchon 1844 niedergeſchrieben hatte. Er wollte immer noch mehr ſicher begründete empiriſche Beweiſe ſammeln, um ſo die Theorie ganz vollſtändig, auf möglichſt breiter Erfahrungsgrundlage feſtgeſtellt, ver⸗ öffentlichen zu können. Zum Glück wurde er in dieſem Streben nach möglichſter Vervollkommnung, welches vielleicht dazu geführt haben würde, die Theorie überhaupt nicht zu veröffentlichen, durch einen Landsmann geſtört, welcher unabhängig von Darwin die Selections— Selectionstheorie von Charles Darwin und Alfred Wallace. 109 theorie ſich ausgedacht und aufgeſtellt hatte, und welcher 1858 die Grundzüge derſelben an Darwin ſelbſt einſendete, mit der Bitte, dieſelben an Lyell zur Veröffentlichung in einem engliſchen Journal zu übergeben. Dieſer Engländer iſt Alfred Wallace, einer der kühn— ſten und verdienteſten naturwiſſenſchaftlichen Reiſenden der neueren Zeit. Jahre lang war Wallace allein in den Wildniſſen der Sundainſeln, in den dichten Urwäldern des indiſchen Archipels umhergeſtreift, und bei dieſem unmittelbaren und umfaſſenden Studium eines der reichſten und intereſſanteſten Erdſtücke mit feiner höchſt mannichfaltigen Thier und Pflanzenwelt war er genau zu denſelben allgemeinen Anſchauun— gen über die Entſtehung der organiſchen Arten, wie Darwin ge— langt. Lyell und Hooker, welche Beide Darwin's Arbeit ſeit langer Zeit kannten, veranlaßten ihn nun, einen kurzen Auszug aus ſeinen Manuſcripten gleichzeitig mit dem eingeſandten Manufeript von Walla ee zu veröffentlichen, was auch im Auguſt 1858 im „Journal of the Linnean Society“ geſchah. Im November 1859 erſchien dann das epochemachende Werk Darwin's „Ueber die Entſtehung der Arten,“ in welchem die Selec- tionstheorie ausführlich begründet iſt. Jedoch bezeichnet Darwin ſelbſt dieſes Buch, von welchem 1866 die vierte Auflage und 1860 eine deutſche Ueberſetzung von Bronn erſchien !), nur als einen vor— läufigen Auszug aus einem größeren und ausführlicheren Werke, wel— ches in umfaſſender empiriſcher Beweisführung eine Maſſe von That- ſachen zu Gunſten ſeiner Theorie enthalten ſoll. Der erſte Theil dieſes von Darwin in Ausſicht geſtellten Hauptwerkes iſt vor Kurzem un⸗ ter dem Titel: „Das VBarüren der Thiere und Pflanzen im Zuftande der Domeſtication“ erſchienen und von Victor Carus ins Deut— ſche überſetzt worden 4). Er enthält eine reiche Fülle von den treff— lichſten Belegen für die außerordentlichen Veränderungen der orga- niſchen Formen, welche der Menſch durch ſeine Cultur und künſtliche Züchtung hervorbringen kann. So ſehr wir auch Darwin für dieſen Ueberfluß an beweiſenden Thatſachen verbunden ſind, ſo theilen wir doch keineswegs die Meinung jener Naturforſcher, welche glauben, daß 110 Darwin's Studium der Hausthiere und Culturpflanzen. durch dieſe weiteren Ausführungen die Selectionstheorie eigentlich erſt feſt begründet werden müſſe. Nach unſerer Anſicht enthält bereits Darwin's erſtes, 1859 erſchienenes Werk, dieſe Begründung in völlig ausreichendem Maaße. Die unangreifbare Stärke ſeiner The⸗ orie liegt nicht in der Unmaſſe von einzelnen Thatſachen, welche man als Beweis dafür anführen kann, ſondern in dem harmoniſchen Zu⸗ ſammenhang aller großen und allgemeinen Erſcheinungsreihen der or⸗ ganiſchen Natur, welche übereinſtimmend für die Wahrheit der Selec- tionstheorie Zeugniß ablegen. Von der größten Bedeutung für die Begründung der Selections— theorie war das eingehende Studium, welches Darwin den Haus— thieren und Culturpflanzen widmete. Die unendlich tiefen und mannichfaltigen Formveränderungen, welche der Menſch an dieſen do= meſticirten Organismen durch künſtliche Züchtung erzeugt hat, ſind für das richtige Verſtändniß der Thier- und Pflanzenformen von der aller⸗ größten Wichtigkeit, und dennoch iſt in kaum glaublicher Weiſe dieſes Studium von den Zoologen und Botanikern bis in die neueſte Zeit in der gröbſten Weiſe vernachläſſigt worden. Es ſind nicht allein dicke Bände, ſondern ganze Bibliotheken vollgeſchrieben worden mit den unnützeſten Beſchreibungen der einzelnen Arten oder Species, angefüllt mit höchſt kindiſchen Streitigkeiten darüber, ob dieſe Species gute oder ziemlich gute, ſchlechte oder ziemlich ſchlechte Arten ſeien, ohne daß dem Artbegriff ſelbſt darin zu Leibe gegangen iſt. Wenn die Natur⸗ forſcher, ſtatt auf dieſe ganz unnützen Spielereien ihre Zeit zu verwen⸗ den, die Culturorganismen gehörig ſtudirt und nicht die einzelnen todten Formen ſondern die Umbildung der lebendigen Geſtalten in das Auge gefaßt hätten, ſo würde man nicht ſo lange in den Feſſeln des Cuvier 'ſchen Dogmas befangen geweſen fein. Weil nun aber dieſe Culturorganismen gerade der dogmatiſchen Auffaſſung von der Beharrlichkeit der Art, von der Conſtanz der Species ſo äußerſt unbe⸗ quem ſind, ſo hat man ſich großen Theils abſichtlich nicht um dieſelben bekümmert und es iſt ſogar vielfach, ſelbſt von berühmten Naturforſchern der Gedanke ausgeſprochen worden, dieſe Culturorganismen, die Haus⸗ Andreas Wagner und der Baum des Erkennniſſes. 111 thiere und Gartenpflänzen, ſeien Kunftproducte des Menſchen, und deren Bildung und Umbildung könne gar Nichts über das Weſen der Bildung und über die Entſtehung der Formen bei den wilden, im Na⸗ turzuſtande lebenden Arten entſcheiden. Dieſe verkehrte Auffaſſung ging ſo weit, daß z. B. ein Münche⸗ ner Zoologe, Andreas Wagner, alles Ernſtes die lächerliche Be— hauptung aufſtellte: Die Thiere und Pflanzen im wilden Zuſtande ſind vom Schöpfer als beſtimmt unterſchiedene und unveränderliche Arten erſchaffen worden; allein bei den Hausthieren und Culturpflanzen war dies deshalb nicht nöthig, weil er dieſelben von vornherein für den Gebrauch des Menſchen einrichtete. Der Schöpfer machte alſo den Menſchen aus einem Erdenkloß, blies ihm lebendigen Odem in ſeine Naſe und ſchuf dann für ihn die verſchiedenen nützlichen Hausthiere und Gartenpflanzen, bei denen er ſich in der That die Mühe der Speciesunterſcheidung ſparen konnte. Ob der Baum des Erkennt- niſſes im Paradiesgarten eine „gute“ wilde Species, oder als Culturpflanze überhaupt „keine Species“ war, erfahren wir leider durch Andreas Wagner nicht. Da der Baum des Erkenntniſſes vom Schöpfer mitten in den Paradiesgarten geſetzt wurde, möchte man eher glauben, daß er eine höchſt bevorzugte Culturpflanze, alſo überhaupt keine Species war. Da aber andrerſeits die Früchte vom Baume des Erkenntniſſes dem Menſchen verboten waren, und viele Menſchen, wie Wagner's eigenes Beifpiel klar zeigt, niemals von die⸗ ſen Früchten gegeſſen haben, ſo iſt er offenbar nicht für den Gebrauch des Menſchen erſchaffen und alſo wahrſcheinlich eine wirkliche Spe— cies! Wie Schade daß uns Wagner über dieſe wichtige und ſchwie— rige Frage nicht belehrt hat! So lächerlich Ihnen nun dieſe Anſicht auch vorkommen mag, ſo iſt dieſelbe doch nur ein folgerichtiger Auswuchs einer falſchen, in der That aber weit verbreiteten Anſicht von dem beſonderen Weſen der Culturorganismen, und Sie können bisweilen von ganz angeſehenen Naturforſchern ähnliche Einwürfe hören. Gegen dieſe grundfalſche Auffaſſung muß ich mich von vornherein ganz beſtimmt wenden. Es 112 Vergleichung der wilden und der cultivirten Organismen. iſt dieſelbe Verkehrtheit, wie ſie die Aerzte begehen, welche behaupten, die Krankheiten ſeien künſtliche Erzeugniſſe, keine Naturerſcheinungen. Es hat viele Mühe gekoſtet, dieſes Vorurtheil zu bekämpfen; und erſt in neuerer Zeit iſt die Anſicht zur allgemeinen Anerkennung gelangt, daß die Krankheiten Nichts ſind, als natürliche Veränderungen des Organismus, wirklich natürliche Lebenserſcheinungen, die nur hervor⸗ gebracht werden durch veränderte, abnorme Exiſtenzbedingungen. Es iſt die Krankheit alſo nicht, wie die älteren Aerzte ſagten, ein Leben außerhalb der Natur (Vita praeter naturam), ſondern ein natür⸗ liches Leben unter beſtimmten, krank machenden, den Körper mit Ge— fahr bedrohenden Bedingungen. Ganz ebenſo ſind die Culturerzeug⸗ niſſe nicht künſtliche Producte des Menſchen, ſondern fie find Natur- producte, welche unter eigenthümlichen Lebensbedingungen entſtanden ſind. Der Menſch vermag durch ſeine Cultur niemals unmittelbar eine neue organiſche Form zu erzeugen; ſondern er kann nur die Or⸗ ganismen unter neuen Lebeusbedingungen züchten, welche umbildend auf ſie einwirken. Alle Hausthiere und alle Gartenpflanzen ſtammen urſprünglich von wilden Arten ab, welche erſt durch die eigenthümli⸗ chen Lebensbedingungen der Cultur umgebildet wurden. Die eingehende Vergleichung der Culturformen (Raſſen und Spielarten) mit den wilden, nicht durch Cultur veränderten Organis⸗ men (Arten und Varietäten) iſt für die Selectionstheorie von der größten Wichtigkeit. Was Ihnen bei dieſer Vergleichung zunächſt am Meiſten auffällt, das iſt die ungewöhnlich kurze Zeit, in welcher der Menſch im Stande iſt, eine neue Form hervorzubringen, und der un⸗ gewöhnliche hohe Grad, in welchem dieſe vom Menſchen producirte Form von der urſprünglichen Stammform abweichen kann; während die wilden Thiere und die Pflanzen im wilden Zuſtande Jahr aus, Jahr ein dem ſammelnden Zoologen und Botaniker annähernd in der- ſelben Form erſcheinen, ſo daß eben hieraus das falſche Dogma der Speciesconſtanz entſtehen konnte. So zeigen uns die Hausthiere und die Gartenpflanzen innerhalb weniger Jahre die größten Veränderun⸗ gen. Die Vervollkommnung, welche die Züchtungskunſt der Gärtner Vergleichung der wilden und der cultivirten Organismen. 113 und der Landwirthe erreicht hat, geſtattet es jetzt in ſehr kurzer Zeit, in wenigen Jahren, eine ganz neue Thier- oder Pflanzenform will— kürlich zu ſchaffen. Man braucht zu dieſem Zwecke bloß den Organis— mus unter dem Einfluſſe der beſonderen Bedingungen zu erhalten und fortzupflanzen, welche neue Bildungen zu erzeugen im Stande ſind; und man kann ſchon nach Verlauf von wenigen Generationen neue Arten erhalten, welche von der Stammform in viel höherem Grade abweichen, als die ſogenannten guten Arten im wilden Zuſtande von einander verſchieden ſind. Dieſe Thatſache iſt äußerſt wichtig und kann nicht genug hervorgehoben werden. Es iſt nicht wahr, wenn behauptet wird, die Culturformen, die von einer und derſelben Form abſtammen, ſeien nicht ſo ſehr von einander verſchieden, wie die wil— den Thier⸗ und Pflanzenarten unter ſich. Wenn man nur unbe— fangen Vergleiche anſtellt, ſo läßt ſich ſehr leicht erkennen, daß eine Menge von Raſſen oder Spielarten, die wir in einer kurzen Reihe von Jahren von einer einzigen Culturform abgeleitet haben, in höherem Grade von einander unterſchieden ſind, als ſogenannte gute Species oder ſelbſt verſchiedene Gattungen (Genera) einer Familie im wilden Zuſtande ſich unterſcheiden. Um dieſe äußerſt wichtige Thatſache möglichſt ſeſ empiriſch zu begründen, beſchloß Darwin eine einzelne Gruppe von Hausthieren ſpeciell in dem ganzen Umfang ihrer Formenmannichfaltigkeit zu ftu- diren, und er wählte dazu die Haustauben, welche in mehrfacher Beziehung für dieſen Zweck ganz beſonders geeignet ſind. Er hielt ſich lange Zeit hindurch auf ſeinem Gute alle möglichen Raſſen und Spielarten von Tauben, welche er bekommen konnte, und wurde mit reichlichen Zuſendungen aus allen Weltgegenden unterſtützt. Ferner ließ er ſich in zwei Londoner Taubenklubs aufnehmen, welche die Züchtung der verſchiedenen Taubenformen mit wahrhaft Fünftleri- ſcher Virtuoſität und unermüdlicher Leidenſchaft betreiben. End— lich ſetzte er ſich noch mit Einigen der berühmteſten Taubenliebhaber in Verbindung. So ſtand ihm das reichſte empiriſche Material zur Verfügung. Haeckel, Natürliche Schöpfungsgeſchichte. 8 114 Auffallende Verſchiedenheit der Taubenraſſen. Die Kunſt und Liebhaberei der Taubenzüchtung iſt uralt. Schon mehr als 3000 Jahre vor Chriſtus wurde ſie von den Aegyptern be— trieben. Die Römer der Kaiſerzeit gaben ungeheure Summen da— für aus, und führten genaue Stammbaumregiſter über ihre Ab— ſtammung, ebenſo wie die Araber über ihre Pferde und die mecklenbur— giſchen Edelleute über ihre eigenen Ahnen ſehr ſorgfältige genealogiſche Regiſter führen. Auch in Aſien war die Taubenzucht eine uralte Lieb— haberei der reichen Fürſten, und zur Hofhaltung des Akber Khan, um das Jahr 1600, gehörten mehr als 20,000 Tauben. So ent— wickelten ſich denn im Laufe mehrerer Jahrtauſende, und in Folge der mannichfaltigen Züchtungsmethoden, welche in den verſchiedenſten Weltgegenden geübt wurden, aus einer einzigen urſprünglich gezähmten Stammform eine ungeheure Menge verſchiedenartiger Raſſen und Spielarten, welche in ihren extremen Formen ganz außerordentlich von einander verſchieden ſind, und ſich oft durch ſehr auffallende Eigen— thümlichkeiten auszeichnen. Eine der auffallendſten Taubenraſſen iſt die bekannte Pfauen⸗ taube, bei der ſich der Schwanz ähnlich entwickelt wie beim Pfau, und eine Anzahl von 30—40 radartig geſtellten Federn trägt; während die anderen Tauben eine viel geringere Anzahl von Schwanzfedern, faſt immer 12, beſitzen. Hierbei mag erwähnt werden, daß die Anzahl der Schwanzfedern bei den Vögeln als ſyſtematiſches Merkmal von den Naturforſchern ſehr hoch geſchätzt wird, ſo daß man ganze Ordnungen danach unterſcheidet, So beſitzen z. B. die Singvögel faſt ohne Aus— nahme 12 Schwanzfedern, die Schrillvögel (Strisores) 10 u. ſ. w. Beſonders ausgezeichnet ſind ferner mehrere Taubenraſſen durch einen Buſch von Nackenfedern, welcher eine Art Perrücke bildet, andere durch abenteuerliche Umbildung des Schnabels und der Füße, durch eigen— thümliche, oft ſehr auffallende Verzierungen, z. B. Hautlappen, die ſich am Kopf entwickeln; durch einen großen Kropf, welcher eine ſtarke Hervortreibung der Speiſeröhre am Hals bildet u. ſ. w. Merk— würdig ſind auch die ſonderbaren Gewohnheiten, die viele Tauben ſich erworben haben, z. B. die Lachtauben, die Trommeltauben in ihren Gemeinſame Abſtammung aller Tanbenraſſen. 115 muſikaliſchen Leiſtungen, die Brieftauben in ihrem topographiſchen Inſtinet. Die Purzeltauben haben die ſeltſame Gewohnheit, nach— dem ſie in großer Schaar in die Luft geſtiegen ſind, ſich zu über— ſchlagen und aus der Luft wie todt herabzufallen. Die Sitten und Gewohnheiten dieſer unendlich verſchiedenen Taubenraſſen, die Form, Größe und Färbung der einzelnen Körpertheile, die Proportionen der— ſelben unter einander, ſind in erſtaunlich hohem Maaße von einander verſchieden, in viel höherem Maaße, als es bei ſogenannten guten Arten oder ſelbſt bei ganz verſchiedenen Gattungen unter den wilden Tauben der Fall iſt. Und, was das Wichtigſte iſt, es beſchränken ſich jene Unterſchiede nicht bloß auf die Bildung der äußerlichen Form, ſon— dern erſtrecken ſich ſelbſt auf die wichtigſten innerlichen Theile; es kommen ſelbſt ſehr bedeutende Abänderungen des Skelets und der Muskulatur vor. So finden ſich z. B. große Verſchiedenheiten in der Zahl der Wirbel und Rippen, in der Größe und Form der Lücken im Bruſtbein, in der Form und Größe des Gabelbeins, des Unterkiefers, der Geſichtsknochen u. ſ. w. Kurz das knöcherne Skelet, das die— Morphologen für einen ſehr beſtändigen Körpertheil halten, welcher niemals in dem Grade, wie die äußeren Theile, variire, zeigt ſich fo ſehr verändert, daß man viele Taubenraſſen als beſondere Gattungen oder Familien im Vögelſyſteme aufführen könnte. Zweifelsohne würde dies geſchehen, wenn man alle dieſe verſchiedenen Formen in wildem Naturzuſtande auffände. Wie weit die Verſchiedenheit der Taubenraſſen geht, zeigt am Beſten der Umſtand, daß alle Taubenzüchter einſtimmig der Anſicht ſind, jede eigenthümliche oder beſonders ausgezeichnete Taubenraſſe müſſe von einer beſonderen wilden Stammart abſtammen. Freilich nimmt Jeder eine verſchiedene Zahl von Stammarten an. Und dennoch hat Darwin mit überzeugendem Scharffinn den ſchwierigen Beweis geführt, daß dieſelben ohne Ausnahme ſämmtlich von einer einzigen wilden Stammart, der blauen Felstaube (Columba livia) abſtammen müſſen. In gleicher Weiſe läßt ſich bei den meiſten übri— gen Hausthieren und bei den meiſten Culturpflanzen der Beweis 8 * 116 Abſtammung der zahlreichen Culturraſſen von wenigen wilden Arten. führen, daß alle verſchiedenen Raſſen Nachkommen einer einzigen ur⸗ ſprünglichen wilden Art ſind, die vom Menſchen in den Culturzuſtand übergeführt wurde. Für einige Hausthiere, namentlich die Hunde, Schweine und Rinder, ift es allerdings wahrſcheinlicher, daß die man- nichfaltigen Raſſen derſelben von mehreren wilden Stammarten ab- zuleiten find, welche ſich nachträglich im Culturzuſtande mit einan- der vermiſcht haben. Indeſſen ift die Zahl dieſer urſprünglichen wil⸗ den Stammarten immer viel geringer, als die Zahl der aus ihrer Vermiſchung und Züchtung hervorgegangenen Culturformen, und na= türlich ſtammen auch jene erſteren urſprünglich von einer einzigen ge— meinſamen Stammform der ganzen Gattung ab. Auf keinen Fall ſtammt jede beſondere Culturraſſe von einer eigenen wilden Art ab. Im Gegenſatz hierzu behaupten faſt alle Landwirthe und Gärt⸗ ner mit der größten Beſtimmtheit, daß jede einzelne, von ihnen gezüchtete Raſſe von einer beſonderen wilden Stammart abſtammen müſſe, weil ſie die Unterſchiede der Raſſen ſcharf erkennen, die Ver⸗ erbung ihrer Eigenſchaften ſehr hochſchätzen, und nicht bedenken, daß diefelben erſt durch langſame Häufung kleiner, kaum merklicher Abän- derungen entſtanden ſind. Auch in dieſer Beziehung iſt die Verglei⸗ chung der Culturraſſen mit den wilden Species äußerſt lehrreich. Die Entſtehungsart iſt in beiden Fällen dieſelbe. Siebenter Vortrag. Die Züchtungslehre oder Selectionstheorie. (Der Darwinismus.) Darwinismus (Selectionstheorie) und Lamarckismus (Deſcendenztheorie). Der Vorgang der künſtlichen Züchtung: Ausleſe (Selection) der verſchiedenen Einzelwe⸗ ſen zur Nachzucht. Die wirkenden Urſachen der Umbildung: Abänderung, mit der Ernährung zuſammenhängend, und Vererbung, mit der Fortpflanzung zuſammen⸗ hängend. Mechaniſche Natur dieſer beiden phyſiologiſchen Functionen. Der Vor⸗ gang der natürlichen Züchtung: Ausleſe (Selection) durch den Kampf um's Daſein. Malthus' Bevölkerungstheorie. Mißverhältniß zwiſchen der Zahl der möglichen (potentiellen) und der wirklichen (actuellen) Individuen jeder Organismenart. All⸗ gemeiner Wettkampf um die Exiſtenz, oder Mitbewerbung um die Erlangung der nothwendigen Lebensbedürfniſſe. Umbildende und züchtende Kraft dieſes Kampfes um's Daſein. Vergleichung der natürlichen und der künſtlichen Züchtung. Meine Herren! Wenn heutzutage häufig die geſammte Entwide- lungstheorie, mit der wir uns in dieſen Vorträgen beſchäftigen, als Darwinismus bezeichnet wird, ſo geſchieht dies eigentlich nicht mit Recht. Denn wie Sie aus der geſchichtlichen Einleitung der letzten Vorträge geſehen haben werden, iſt ſchon zu Anfang unſeres Jahr— hunderts die wichtigſte Grundlage der Entwickelungstheorie, nämlich die Abſtammungslehre, oder Deſcendenztheorie, deutlich ausgeſpro— chen, und insbeſondere durch Lamarck in die Naturwiſſenſchaft ein— geführt worden. Man könnte daher dieſen Theil der Entwickelungs⸗ 118 Darwinismus und Lamarckismus. theorie, welcher die gemeinſame Abſtammung aller Thier- und Pflan- zenarten von einfachſten gemeinſamen Stammformen behauptet, ſeinem verdienteſten Begründer zu Ehren mit vollem Rechte Lamarckismus nennen, wenn man einmal an den Namen eines einzelnen hervorra- genden Naturforſchers das Verdienſt knüpfen will, eine ſolche Grund— lehre zuerſt durchgeführt zu haben. Dagegen würden wir mit Recht als Darwinismus die Selectionstheorie oder Züchtungslehre zu bezeichnen haben, denjenigen Theil der Entwickelungstheorie, welcher uns zeigt, auf welchem Wege und warum die verſchiedenen Orga— nismenarten aus jenen einfachſten Stammformen ſich entwickelt haben (Gen. Morph. II, 166). | Dieſe Züchtungslehre oder Selectionstheorie, der Darwinismus im eigentlichen Sinne, zu deſſen Betrachtung wir uns jetzt wenden, beruht weſentlich (wie es bereits in dem letzten Vortrage angedeutet wurde) auf der Vergleichung derjenigen Thätigkeit, welche der Menſch bei der Züchtung der Hausthiere und Gartenpflanzen ausübt, mit denjenigen Vorgängen, welche in der freien Natur, außerhalb des Kulturzuſtandes, zur Entſtehung neuer Arten und neuer Gattungen führen. Wir müſſen uns, um dieſe letzten Vorgänge zu verſtehen, alſo zunächſt zur künſtlichen Züchtung des Menſchen wenden, wie es auch von Darwin ſelbſt geſchehen iſt. Wir müſſen unterſuchen, welche Erfolge der Menſch durch ſeine künſtliche Züchtung erzielt, und welche Mittel er anwendet, um dieſe Erfolge hervorzubringen; und dann müſſen wir uns fragen: „Giebt es in der Natur ähnliche Kräfte, ähnliche wirkende Urſachen, wie ſie der Menſch hier anwendet?“ Was nun zunächſt die künſtliche Züchtung betrifft, ſo gehen wir von der Thatſache aus, die zuletzt erörtert wurde, daß deren Pro— ducte in nicht ſeltenen Fällen viel mehr von einander verſchieden ſind, als die Erzeugniſſe der natürlichen Züchtung. In der That weichen die Raſſen oder Spielarten oft in höherem Grade von einander ab, als es viele ſogenannte „gute Arten“ oder Species, ja bisweilen ſo— gar mehr, als es ſogenannte „gute Gattungen“ im Naturzuſtande thun. Vergleichen Sie z. B. die verſchiedenen Aepfelſorten, welche Vorgang der künſtlichen Züchtung. 119 die Gartenkunſt von einer und derſelben urſprünglichen Apfelform ge— zogen hat, oder vergleichen Sie die verſchiedenen Pferderaſſen, welche die Thierzüchter aus einer und derſelben urſprünglichen Form des Pferdes abgeleitet haben, ſo finden Sie leicht, daß die Unterſchiede der am meiſten verſchiedenen Formen ganz außerordentlich bedeutend ſind, viel bedeutender, als die Unterſchiede, welche von den Zoologen und Botanikern bei Vergleichung der wilden Arten angewandt wer— den, um darauf hin verſchiedene ſogenannte „gute Arten“ zu unter— ſcheiden. Wodurch bringt nun der Menſch dieſe außerordentliche Verſchie— denheit oder Divergenz mehrerer Formen hervor, die erwieſenermaßen von einer und derſelben Stammform abſtammen? Laſſen Sie uns zur Beantwortung dieſer Frage einen Gärtner verfolgen, der bemüht iſt, eine neue Pflanzenform zu züchten, die ſich durch eine ſchöne Blu— menfarbe auszeichnet. Derſelbe wird zunächſt unter einer großen An— zahl von Pflanzen, welche Sämlinge einer nnd derſelben Pflanze find, eine Auswahl oder Selection treffen. Er wird diejenigen Pflanzen herausſuchen, welche die ihm erwünſchte Blüthenfarbe am meiſten ausgeprägt zeigen. Gerade die Blüthenfarbe iſt ein ſehr veränder— licher Gegenſtand. Zum Beiſpiel zeigen Pflanzen, welche in der Re— gel eine weiße Blüthe beſitzen, ſehr häufig Abweichungen in's Blaue oder Rothe hinein. Geſetzt nun, der Gärtner wünſcht eine ſolche, ge— wöhnlich weiß blühende Pflanze in rother Farbe zu erhalten, ſo würde er ſehr ſorgfältig unter den mancherlei verſchiedenen Individuen, die Abkömmlinge einer und derſelben Samenpflanze ſind, diejenigen her— ausſuchen, die am deutlichſten einen rothen Anflug zeigen, und dieſe ausſchließlich ausſäen, um neue Individuen derſelben Art zu erzielen. Er würde die übrigen Samenpflanzen, die weiße oder weniger deut— lich rothe Farbe zeigen, ausfallen laſſen und nicht weiter cultiviren. Ausſchließlich die einzelnen Pflanzen, deren Blüthen das ſtärkſte Roth zeigen, würde er fortpflanzen und die Samen, welche dieſe auserleſe— nen Pflanzen bringen, würde er wieder ausſäen. Von den Samen— pflanzen dieſer zweiten Generation würde er wiederum diejenigen ſorg— 120 Vorgang der künſtlichen Züchtung. fältig herausleſen, die das Rothe, das nun der größte Theil der Sa— menpflanzen zeigen würde, am deutlichſten ausgeprägt haben. Wenn eine ſolche Ausleſe durch eine Reihe von ſechs oder zehn Generationen hindurch geſchieht, wenn immer mit großer Sorgfalt diejenige Blüthe ausgeſucht wird, die das tiefſte Roth zeigt, ſo wird der Gärtner in der ſechſten oder zehnten Generation eine Pflanze von rein rother Farbe bekommen, wie ſie ihm erwünſcht war. Ebenſo verfährt der Landwirth, welcher eine beſondere Thierraſſe züchten will, alſo z. B. eine Schafſorte, welche ſich durch beſonders feine Wolle auszeichnet. Das einzige Verfahren, welches bei der Ver— vollkommnung der Wolle angewandt wird, beſteht darin, daß der Landwirth mit der größten Sorgfalt und Ausdauer unter der ganzen Schafherde diejenigen Individuen ausſucht, die die feinſte Wolle ha— ben. Dieſe allein werden zur Nachzucht verwandt, und unter der Nachkommenſchaft dieſer Auserwählten werden abermals diejenigen herausgeſucht, die ſich durch die feinſte Wolle auszeichnen u. ſ. f. Wenn dieſe ſorgfältige Ausleſe eine Reihe von Generationen hindurch fortgeſetzt wird, ſo zeichnen ſich zuletzt die auserleſenen Zuchtſchafe durch eine Wolle aus, welche ſehr auffallend, und zwar nach dem Wunſche und zu Gunſten des Züchters, von der Wolle des urſprüng⸗ lichen Stammvaters verſchieden iſt. Die Unterſchiede der einzelnen Individuen, auf die es bei dieſer künſtlichen Ausleſe ankommt, ſind ſehr klein. Es iſt ein gewöhnlicher Menſch nicht im Stande, die ungemein feinen Unterſchiede der Einzel— weſen zu erkennen, welche ein geübter Züchter auf den erſten Blick wahrnimmt. Das Geſchäft des Züchters iſt keine leichte Kunſt; daſ— ſelbe erfordert einen außerordentlich ſcharfen Blick, eine große Geduld, eine äußerſt ſorgſame Behandlungsweiſe der zu züchtenden Organis— men. Bei jeder einzelnen Generation ſind die Unterſchiede der Indi— viduen dem Laien vielleicht gar nicht in das Auge fallend; aber durch die Häufung dieſer feinen Unterſchiede während einer Reihe von Ge— nerationen wird die Abweichung von der Stammform zuletzt ſehr be— deutend. Sie wird ſo auffallend, daß endlich die künſtlich erzeugte Vorgang der künſtlichen Züchtung. 121 Form von der urſprünglichen Stammform in weit höherem Grade abweichen kann, als zwei ſogenannte gute Arten im Naturzuſtande thun. Die Züchtungskunſt ift jetzt ſo weit gediehen, daß der Menſch oft willkürlich beſtimmte Eigenthümlichkeiten bei den cultivirten Arten der Thiere und Pflanzen erzeugen kann. Man kann an die geübte— ſten Gärtner und Landwirthe beſtimmte Aufträge geben, und z. B. ſagen: Ich wünſche dieſe Pflanzenart in der und der Farbe mit der und der Zeichnung zu haben. Wo die Züchtung ſo vervollkommnet iſt, wie in England, ſind die Gärtner und Landwirthe im Stande, innerhalb einer beſtimmten Zeitdauer, nach Verlauf einer Anzahl von Generationen, das verlangte Reſultat auf Beſtellung zu liefern. Einer der erfahrenſten engliſchen Züchter, Sir John Sebright, konnte ſagen „er wolle eine ihm aufgegebene Feder in drei Jahren hervor— bringen, er bedürfe aber ſechs Jahre, um eine gewünſchte Form des Kopfes und Schnabels zu erlangen“. Bei der Zucht der Merinoſchafe in Sachſen werden die Thiere dreimal wiederholt neben einander auf Tiſche gelegt und auf das Sorgfältigſte vergleichend ſtudirt. Jedes⸗ mal werden nur die beſten Schafe, mit der feinſten Wolle ausgeleſen, ſo daß zuletzt von einer großen Menge nur einzelne wenige, aber ganz auserleſen feine Thiere übrig bleiben. Nur dieſe letzten werden zur Nachzucht verwandt. Es ſind alſo, wie Sie ſehen, ungemein einfache Urſachen, mittelſt welcher die künſtliche Züchtung zuletzt große Wirkun⸗ gen hervorbringt, und dieſe großen Wirkungen werden nur erzielt durch Summirung der einzelnen an ſich ſehr unbedeutenden Unter— ſchiede, die durch fortwährend wiederholte Ausleſe oder Selection vergrößert werden. Ehe wir nun zur Vergleichung dieſer künſtlichen Züchtung mit der natürlichen übergehen, wollen wir uns klar machen, welche na— türlichen Eigenſchaften der Organismen der künſtliche Züchter oder Cultivateur benutzt. Man kann alle verſchiedenen Eigenſchaften, die hierbei in das Spiel kommen, ſchließlich zurückführen auf zwei phy— ſiologiſche Grundeigenſchaften des Organismus, die ſämmtlichen Thie— ren und Pflanzen gemeinſchaftlich ſind, und die mit den beiden Thä— 122 Veränderlichkeit oder Anpaſſungsfähigkeit. tigkeiten der Fortpflanzung und Ernährung auf das Innigſte zuſammenhängen. Dieſe beiden Grundeigenſchaften ſind die Erblich— keit oder die Fähigkeit der Vererbung und die Veränderlich— keit oder die Fähigkeit der Anpaſſung. Der Züchter geht aus von der Thatſache, daß alle Individuen einer und derſelben Art verſchie— den ſind, wenn auch in ſehr geringem Grade, eine Thatſache, die ſo— wohl von den Organismen im wilden wie im Culturzuſtande gilt. Wenn Sie ſich in einem Walde umſehen, der nur aus einer einzigen Baumart, z. B. Buche, beſteht, werden Sie ganz gewiß im ganzen Walde nicht zwei Bäume dieſer Art finden, die abſolut gleich ſind, die in der Form der Veräſtelung, in der Zahl der Zweige und Blätter ſich vollkommen gleichen. Es finden ſich individuelle Unterſchiede überall, gerade ſo wie bei dem Menſchen. Es giebt nicht zwei Men— ſchen, welche abſolut identiſch ſind, vollkommen gleich in Größe, Ge— ſichtsbildung, Zahl der Haare, Temperament, Charakter u. ſ. w. Ganz daſſelbe gilt aber auch von den Einzelweſen aller verſchiedenen Thier- und Pflanzenarten. Bei den meiſten Organismen erſcheinen allerdings die Unterſchiede für den Laien ſehr geringfügig. Es kommt aber hierbei weſentlich an auf die Uebung in der Erkenntniß dieſer oft ſehr feinen Formcharaktere. Ein Schafhirt z. B. kennt in ſeiner Herde jedes einzelne Individuum bloß durch genaue Beobachtung der Eigen— ſchaften, während ein Laie oft nicht im Stande iſt, die verſchiedenen Individuen einer und derſelben Herde zu unterſcheiden. Die That— ſache der individuellen Verſchiedenheit iſt die äußerſt wichtige Grund— lage, auf welche ſich das ganze Züchtungsvermögen des Menſchen gründet. Wenn nicht jene individuellen Unterſchiede wären, ſo könnte er nicht aus einer und derſelben Stammform eine Maſſe verſchiede— ner Spielarten oder Raſſen erziehen. Es iſt von vornherein feſtzuhal⸗ ten, daß dieſe Erſcheinung eine ganz allgemeine iſt, und daß wir noth— wendig dieſelbe auch da vorausſetzen müſſen, wo wir mit unſeren ſinnlichen Hülfsmitteln nicht im Stande ſind, die Unterſchiede zu er— kennen. Wir können bei den höheren Pflanzen, bei den Phaneroga— men oder Blüthenpflanzen, wo die einzelnen individuellen Stöcke ſo Erblichkeit oder Vererbungsfähigkeit. 123 zahlreiche Unterſchiede in der Zahl der Aeſte und Blätter zeigen, faſt immer dieſe Unterſchiede leicht wahrnehmen. Aber bei den meiſten Thieren iſt dies nicht der Fall, namentlich bei den niederen Thieren. Es liegt jedoch kein Grund vor, bloß denjenigen Organismen eine individuelle Verſchiedenheit zuzuſchreiben, bei denen wir ſie ſogleich erkennen können. Vielmehr können wir dieſelbe mit voller Sicher— heit als allgemeine Eigenſchaft aller Organismen annehmen, und wir können dies um ſo mehr, da wir im Stande ſind, die Veränderlichkeit der Individuen zurückzuführen auf die mechaniſchen Verhältniſſe der Ernährung, da wir zeigen können, daß wir durch Beeinfluſſung der Ernährung im Stande ſind, auffallende individuelle Unterſchiede da hervorzubringen, wo ſie unter nicht veränderten Ernährungsver— hältniſſen nicht wahrzunehmen ſein würden. Ebenſo nun, wie wir die Veränderlichkeit oder die Anpaſſungs— fähigkeit in urſächlichem Zuſammenhang mit den allgemeinen Ernäh— rungsverhältniſſen der Thiere und Pflanzen ſehen, ſo finden wir die zweite fundamentale Lebenserſcheinung, mit der wir es hier zu thun haben, nämlich die Vererbungsfähigkeit oder Erblichkeit, in unmittelbarem Zuſammenhang mit den Erſcheinungen der Fort— pflanzung. Das zweite, was der Landwirth und der Gärtner bei der künſtlichen Züchtung thut, nachdem er ausgeſucht, alſo die Ver— änderlichkeit angewandt hat, iſt, daß er die veränderten Formen feſt— zuhalten und auszubilden ſucht durch die Vererbung. Er geht aus von der allgemeinen Thatſache, daß die Kinder ihren Eltern ähnlich ſind: „Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.“ Dieſe Erſcheinung der Erblichkeit iſt bisher in ſehr geringem Maaße wiſſenſchaftlich unter— ſucht worden, was zum Theil daran liegen mag, daß die Erſcheinung eine zu alltägliche iſt. Jedermann findet es natürlich, daß eine jede Art ihres Gleichen erzeugt, daß nicht plötzlich ein Pferd eine Gans oder eine Gans einen Froſch erzeugt. Man iſt gewöhnt, dieſe alltäg— lichen Vorgänge der Erblichkeit als ſelbſtverſtändlich anzuſehen. Nun iſt aber dieſe Erſcheinung nicht ſo ſelbſtverſtändlich einfach, wie ſie auf den erſten Blick erſcheint und namentlich wird ſehr häufig bei der Be— 194 Wechſelwirkung der Erblichkeit und Veränderlichkeit. trachtung der Erblichkeit überſehen, daß die verſchiedenen Nachkom— men, die von einem und demſelben Elternpaar herſtammen, in der That auch niemals abſolut gleich den Eltern, ſondern immer ein we— nig verſchieden ſind. Wir können den Grundſatz der Erblichkeit nicht dahin formuliren: „Gleiches erzeugt Gleiches“, ſondern wir müſſen ihn vielmehr bedingter dahin ausſprechen: „Aehnliches erzeugt Aehn— liches.“ Der Gärtner wie der Landwirth benutzt in dieſer Beziehung die Thatſache der Vererbung im weiteſten Umfang, und zwar mit be— ſonderer Rückſicht darauf, daß nicht allein diejenigen Eigenſchaften von den Organismen vererbt werden, die ſie bereits von den Eltern ererbt haben, ſondern auch diejenigen, die ſie ſelbſt erworben haben. Das iſt ein wichtiger Punkt, auf den ſehr viel ankommt. Der Or⸗ ganismus vermag nicht allein auf feine Nachkommen diejenigen Ei⸗ genſchaften, diejenige Geſtalt, Farbe, Größe zu übertragen, die er ſelbſt von ſeinen Eltern ererbt hat; er vermag auch Abänderungen dieſer Eigenſchaften zu vererben, die er erſt während ſeines Lebens durch Einfluß äußerer Umſtände, des Klimas, der Nahrung u. ſ. w. erworben hat. Das ſind die beiden Grundeigenſchaften der Thiere und Pflan— zen, welche die Züchter benutzen, um neue Formen zu erzeugen. So außerordentlich einfach das Prinzip der Züchtung iſt, ſo ſchwierig und ungeheuer verwickelt iſt im Einzelnen die practiſche Verwerthung die— ſes einfachen Princips. Der denkende, planmäßig arbeitende Züchter muß die Kunſt verſtehen, die allgemeine Wechſelwirkung zwiſchen den beiden Grundeigenſchaften der Erblichkeit und der Veränderlichkeit richtig in jedem einzelnen Falle zu verwerthen. Wenn wir nun die eigentliche Natur jener beiden wichtigen Le— benseigenſchaften unterſuchen, ſo finden wir, daß wir ſie, gleich allen phyſiologiſchen Functionen, zurückführen können auf phyſikaliſche und chemiſche Urſachen, auf Eigenſchaften und Bewegungserſcheinungen der Materien, aus denen der Körper der Thiere und Pflanzen beſteht. Wie wir ſpäter bei einer genaueren Betrachtung dieſer beiden Func— tionen zu begründen haben werden, iſt ganz allgemein ausgedrückt die Mechaniſche Natur der Erblichkeit und Veränderlichkeit. 125 Vererbung weſentlich bedingt durch die materielle Continuität, durch die theilweiſe ſtoffliche Gleichheit des erzeugenden und des ge— zeugten Organismus, des Kindes und der Eltern. Andrerſeits iſt die Anpaſſung oder Abänderung lediglich die Folge der materiellen Einwirkungen, welche die Materie des Organismus durch die denſel— ben umgebende Materie erfährt, in der weiteſten Bedeutung des Worts durch die Lebensbedingungen. Die Erſcheinung der Anpaſſung, oder Abänderung beruht alſo auf der materiellen Wechſelwirkung des Or— ganismus und ſeiner Umgebung oder ſeiner Exiſtenzbedingungen, wäh— rend die Vererbung in der theilweiſen Identität des zeugenden und des erzeugten Organismus begründet iſt. Das ſind alſo die eigent— lichen, einfachen, mechaniſchen Grundlagen des künſtlichen Züchtungs— proceſſes. Darwin frug ſich nun: Kommt ein ähnlicher Züchtungsproceß in der Natur vor, und giebt es in der Natur Kräfte, welche die Thä— tigkeit des Menſchen bei der künſtlichen Züchtung erſetzen können? Giebt es ein natürliches Verhältniß unter den wilden Thieren und Pflanzen, welches züchtend wirken kann, welches ausleſend wirkt in ähnlicher Weiſe, wie bei, der künſtlichen Zuchtwahl oder Züchtung der planmäßige Wille des Menſchen eine Auswahl übt? Auf die Entdeckung eines ſolchen Verhältniſſes kam hier alles an und ſie gelang Darwin in ſo befriedigender Weiſe, daß wir eben deshalb ſeine Züchtungslehre oder Selectionstheorie als vollkommen ausreichend betrachten, um die Entſtehung der wilden Thier- und Pflanzenarten mechaniſch zu erklären. Dasjenige Verhältniß, welches im freien Na- turzuſtande züchtend und umbildend auf die Formen der Thiere und Pflanzen einwirkt, bezeichnet Darwin mit dem Ausdruck: „Kampf um's Daſein“ (Struggle for life). Die Bezeichnung „Kampf um's Daſein“ iſt vielleicht in mancher Beziehung nicht ganz glücklich gewählt, und würde wohl ſchärfer ge- faßt werden können als „Mitbewerbung um die nothwendi— gen Exiſtenzbedürfniſſe“. Man hat nämlich unter dem „Kam⸗ pfe um das Daſein“ manche Verhältniſſe begriffen, die eigentlich im 126 Darwin's Theorie vom Kampfe um's Daſein. ſtrengen Sinne nicht hierher gehören. Zu der Idee des „Struggle for life“ gelangte Darwin, wie aus dem in der letzten Stunde mitge— theilten Briefe erſichtlich iſt, durch das Studium des Buches von Mal— thus „über die Bedingung und die Folgen der Volksvermehrung.“ In dieſem wichtigen Werke wurde der Beweis geführt, daß die Zahl der Menſchen im Ganzen durchſchnittlich in geometriſcher Progreſſion wächſt, während die Menge ihrer Nahrungsmittel nur in arithme— thiſcher Progreſſion zunimmt. Aus dieſem Mißverhältniſſe entſprin— gen eine Maſſe von Uebelſtänden in der menſchlichen Geſellſchaft, welche einen beſtändigen Wettkampf der Menſchen um die Erlangung der nothwendigen, aber nicht für Alle ausreichenden Unterhaltsmittel veranlaſſen. Darwin's Theorie vom Kampfe um das Daſein iſt gewiſſer— maßen eine allgemeine Anwendung der Bevölkerungstheorie von Mal— thus auf die Geſammtheit der organiſchen Natur. Sie geht von der Erwägung aus, daß die Zahl der möglichen organiſchen Indivi— duen, welche aus den erzeugten Keimen hervorgehen könnten, viel größer iſt, als die Zahl der wirklichen Individuen, welche that— ſächlich gleichzeitig auf der Erdoberfläche leben; die Zahl der mögli— chen oder potentiellen Individuen wird uns gegeben durch die Zahl der Eier und der ungeſchlechtlichen Keime, welche die Organismen er— zeugen. Die Zahl dieſer Keime, aus deren jedem unter günſtigen Verhältniſſen ein Individuum entſtehen könnte, iſt ſehr viel größer, als die Zahl der wirklichen oder actuellen Individuen, d. h. derjeni— gen, welche wirklich aus dieſen Keimen entſtehen, zum Leben gelan— gen und ſich fortpflanzen. Die bei weitem größte Zahl aller Keime geht in der früheſten Lebenszeit zu Grunde, und es ſind immer nur einzelne bevorzugte Organismen, welche ſich ausbilden können, welche namentlich die erſte Jugendzeit glücklich überſtehen und ſchließlich zur Fortpflanzung gelangen. Dieſe wichtige Thatſache wird einfach bewie— ſen durch die Vergleichung der Eierzahl bei den einzelnen Arten mit der Zahl der Individuen, die von dieſen Arten leben. Dieſe Jah- lenverhältniſſe zeigen die auffallendſten Widerſprüche. Es giebt z. B. Darwin's Theorie vom Kampfe um's Daſein. 127 Hühnerarten, welche ſehr zahlreiche Eier legen, und die dennoch zu den ſelteſten Vögeln gehören; und derjenige Vogel, der der gemein— ſte von allen ſein ſoll, der Eisſturmvogel (Procellaria glacialis) legt nur ein einziges Ei. Ebenſo iſt das Verhältniß bei anderen Thieren. Es giebt viele, ſehr ſeltene, wirbelloſe Thiere, welche eine ungeheure Maſſe von Eiern legen; und wieder andere, die nur ſehr wenige Eier produciren und doch zu den gemeinſten Thieren gehören. Denken Sie z. B. an das Verhältniß, welches ſich bei den menſchlichen Band— würmern findet. Jeder Bandwurm erzeugt binnen kurzer Zeit Mil- lionen von Eiern, während der Menſch, der den Bandwurm beher— bergt, eine viel geringere Zahl Eier in ſich bildet; und dennoch iſt glück— licher Weiſe die Zahl der Bandwürmer viel geringer, als die der Men⸗ ſchen. Ebenſo ſind unter den Pflanzen viele prachtvolle Orchideen, die Tauſende von Samen erzeugen, ſehr ſelten, und einige aſter— ähnliche Pflanzen (Compoſiten), die nur wenige Samen bilden, äu— ßerſt gemein. Dieſe wichtige Thatſache ließe ſich noch durch eine ungeheure Maſſe anderer Beiſpiele erläutern. Es bedingt alſo offenbar nicht die Zahl der wirklich vorhandenen Keime die Zahl der ſpäter in's Leben treten— den und ſich am Leben erhaltenden Individuen, ſondern es iſt viel— mehr die Zahl dieſer letzteren durch ganz andere Verhältniſſe bedingt, zumal durch die Wechſelbeziehungen, in denen ſich der Organismus zu ſeiner organiſchen, wie anorganiſchen Umgebung befindet. Jeder Organismus kämpft von Anbeginn ſeiner Exiſtenz an mit einer An— zahl von feindlichen Einflüſſen; er kämpft mit Thieren, welche von dieſem Organismus leben, denen er als natürliche Nahrung dient, mit Raubthieren und mit Schmarotzerthieren; er kämpft mit anorganiſchen Einflüſſen der verſchiedenſten Art, mit Temperatur, Witterung und anderen Umſtänden, er kämpft aber (und das iſt viel wichtiger!) vor allem mit den ihm ähnlichſten, gleichartigen Organismen. Jedes In— dividuum einer jeden Thier- oder Pflanzenart iſt im heftigſten Wett ſtreit mit den andern Individuen derſelben Art begriffen, die mit ihm an demſelben Orte leben. Die Mittel zum Lebensunterhalt ſind in 198 Darwin's Theorie vom Kampfe um's Daſein. der Oekonomie der Natur nirgends in Fülle ausgeſtreut, vielmehr im Ganzen ſehr beſchränkt, und nicht entfernt für die Maſſe von In- dividuen ausreichend, die ſich aus den Keimen entwickeln könnte. Da— her müſſen bei den meiſten Thier- und Pflanzenarten die jugendlichen Individuen es ſich ſehr ſauer werden laſſen, um zu den nöthigen Mit- teln des Lebensunterhaltes zu gelangen; und es findet alſo nothwen— diger Weiſe ein Wettkampf zwiſchen denſelben um die Erlangung die- ſer unentbehrlichen Exiſtenzbedingungen ſtatt. Dieſer große Wettkampf um die Lebensbedürfniſſe findet überall und jederzeit ſtatt, ebenſo bei den Menſchen und Thieren, wie bei den Pflanzen, bei welchen auf den erſten Blick dies Verhältniß nicht ſo klar am Tage zu liegen ſcheint. Wenn Sie ein Feld betrachten, welches ſehr reichlich mit Weizen beſäet iſt, ſo kann von den zahlreichen jun— gen Weizenpflanzen (vielleicht von einigen Tauſenden), die auf eis nem ganz beſchränkten Raume emporkeimen, nur ein ganz kleiner Bruchtheil ſich am Leben erhalten. Es findet da ein Wettkampf ſtatt um den Bodenraum, den jede Pflanze braucht, um ihre Wur— zel zu befeſtigen, ein Wettkampf um Sonnenlicht und Feuchtig— keit. Und ebenſo finden Sie bei jeder Thierart, daß alle Indivi— duen einer und derſelben Art mit einander ſtreiten um die Erlangung der unentbehrlichen Lebensmittel, der Exiſtenzbedingungen im weite— ſten Sinne des Worts. Allen ſind ſie gleich unentbehrlich; aber nur wenigen werden ſie wirklich zu Theil. Alle ſind berufen; aber wenige ſind auserwählt! Die Thatſache des großen Wettkampfes iſt ganz allgemein. Sie brauchen bloß Ihren Blick auf die menſchliche Geſell— ſchaft zu lenken, in der ja überall, in allen verſchiedenen Fächern der menſchlichen Thätigkeit dieſer Wettkampf ebenfalls exiſtirt, und in wel⸗ cher auch die freie Concurrenz der verſchiedenen Arbeiter einer und der— ſelben Klaſſe weſentlich die Verhältniſſe des Wettkampfes regelt. Hier wie überall ſchlägt dieſer Wettkampf zum Vortheil der Sache aus, zum Vortheil der Arbeit, welche Gegenſtand der Concurrenz iſt. Je grö— ßer und allgemeiner der Wettkampf oder die Concurrenz, deſto ſchneller Züchtende Wirkung des Kampfes um's Dafein 129 häufen ſich die Verbeſſerungen und Erfindungen auf dieſem Arbeits— gebiete, deſto mehr vervollkommnen ſich die Arbeiter. Nun iſt offenbar die Stellung der verſchiedenen Individuen in die— ſem Kampfe um das Daſein ganz ungleich. Ausgehend wieder von der thatſächlichen Ungleichheit der Individuen, müſſen wir überall nothwendig annehmen, daß nicht alle Individuen einer und derſelben Art gleich günſtige Ausſichten haben. Schon von vornherein ſind die— ſelben durch ihre verſchiedenen Kräfte und Fähigkeiten verſchieden im Wettkampfe geſtellt, abgeſehen davon, daß die Exiſtenzbedingungen an jedem Punkt der Erdoberfläche verſchieden ſind und verſchieden einwirken. Offenbar waltet hier ein unendlich verwickeltes Getriebe von Einwirkungen, die im Vereine mit der urſprünglichen Ungleichheit der Individuen während des beſtehenden Wettkampfes um die Er⸗ langung der Exiſtenzbedingungen einzelne Individuen bevorzugen, andere benachtheiligen. Die bevorzugten Individuen werden über die andern den Sieg erlangen, und während die letzteren in mehr oder weniger früher Zeit zu Grunde gehen, ohne Nachkommen zu hinter laſſen, werden die erſteren allein jene überleben können und ſchließlich zur Fortpflanzung gelangen. Indem alſo ausſchließlich oder doch vor— wiegend die im Kampfe um das Daſein begünſtigten Einzelweſen zur Fortpflanzung gelangen, werden wir (ſchon allein in Folge dieſes Ver— hältniſſes) in der nächſten Generation, die von dieſer erzeugt wird, Unterſchiede von der vorhergehenden wahrnehmen. Es werden ſchon die Individuen dieſer zweiten Generation, wenn auch nicht alle, doch zum Theile, durch Vererbung den individuellen Vortheil überkommen haben, durch welchen ihre Eltern über deren Nebenbuhler den Sieg davon trugen. Nun wird aber — und das iſt ein ſehr wichtiges Vererbungs— geſetz — wenn eine Reihe von Generationen hindurch eine ſolche Uebertragung eines günſtigen Characters ſtattfindet, derſelbe nicht einfach in der urſprünglichen Weiſe übertragen, ſondern er wird fort— während gehäuft und geſtärkt, und er gelangt ſchließlich in einer letzten Generation zu einer Stärke, welche dieſe Generation ſchon ſehr we— Haeckel, Natürliche Schöpfungsgeſchichte. 9 130 Umbildende Wirkung des Kampfes um's Dafein. ſentlich von der urſprünglichen Stammform unterſcheidet. Laſſen Sie uns zum Beiſpiel eine Anzahl von Pflanzen einer und derſelben Art betrachten, die an einem ſehr trockenen Standort zuſammenwachſen. Da die Haare der Blätter für die Aufnahme von Feuchtigkeit aus der Luft ſehr nützlich ſind, und da die Behaarung der Blätter ſehr verän— derlich iſt, ſo werden an dieſem ungünſtigen Standorte, wo die Pflan— zen direct mit dem Mangel an Waſſer kämpfen und dann noch einen Wettkampf unter einander um die Erlangung des Waſſers beſtehen, die Individuen mit den dichteſt behaarten Blättern bevorzugt ſein. Dieſe werden allein aushalten, während die andern, mit kahleren Blättern, zu Grunde gehen; die behaarteren werden ſich fortpflanzen und die Abkömmlinge derſelben werden ſich durchſchnittlich durch dichte und ſtarke Behaarung mehr auszeichnen als es bei den Individuen der erſten Generation der Fall war. Geht dieſer Prozeß an einem und demſelben Orte mehrere Generationen fort, ſo entſteht ſchließlich eine ſolche Häufung des Characters, eine ſolche Vermehrung der Haare auf der Blattoberfläche, daß eine ganz neue Art vorzuliegen ſcheint. Dabei iſt zu berückſichtigen, daß in Folge der Wechſelbezie— hungen aller Theile jedes Organismus zu einander in der Regel nicht ein einzelner Theil ſich verändern kann, ohne zugleich Aenderungen in andern Theilen nach ſich zu ziehen. Wenn alſo im letzten Beiſpiel die Zahl der Haare auf den Blättern bedeutend zunimmt, ſo wird dadurch wahrſcheinlich Nahrungsmaterial andern Theilen entzogen; das Material, welches zur Blüthenbildung oder vielleicht Samenbil— dung verwendet werden könnte, wird verringert, und es wird dann al— ſo die geringere Größe der Blüthe oder des Samens die mittelbare oder indirecte Folge des Kampfes um's Daſein werden, welcher zunächſt nur eine Veränderung der Blätter bewirkte. Es wirkt alſo in dieſem Falle der Kampf um das Daſein züchtend und umbildend. Das Rin— gen der verſchiedenen Individuen um die Erlangung der nothwendigen Exiſtenzbedingungen, oder im weiteſten Sinne gefaßt, die Wechſelbe— ziehungen der Organismen mit ihrer geſammten Umgebung, bewirken Vergleichung der natürlichen und der künſtlichen Züchtung. 131 Formveränderungen, wie ſie im Culturzuſtande durch die Thätigkeit des züchtenden Menſchen hervorgebracht werden. Es wird Ihnen auf den erſten Blick dieſer Gedanke vielleicht ſehr unbedeutend und kleinlich erſcheinen, und Sie werden nicht geneigt fein der Thätigkeit jenes Verhältniſſes ein ſolches Gewicht einzuräumen, wie daſſelbe in der That beſitzt. Ich muß mir daher vorbehalten, in einem ſpätern Vortrage an weiteren Beiſpielen das ungeheuer weit reichende Umgeſtaltungsvermögen der natürlichen Züchtung Ihnen vor Augen zu führen. Vorläufig beſchränke ich mich darauf, Ihnen nochmals die beiden Vorgänge der künſtlichen und natürlichen Züch— tung neben einander zu ſtellen und Uebereinſtimmung und Unterſchied in beiden Züchtungsprozeſſen ſcharf gegen einander zu halten. Natürliche ſowohl, als künſtliche Züchtung ſind ganz einfache, natürliche, mechaniſche Lebensverhältniſſe, welche auf der Wech ſel— wirkung zweier phyſiologiſcher Functionen beruhen, nämlich der An— paſſung und der Vererbung, Functionen, die als ſolche wieder auf phyſikaliſche und chemiſche Eigenſchaften der organiſchen Materie zurückzuführen ſind. Ein Unterſchied beider Züchtungsformen beſteht darin, daß bei der künſtlichen Züchtung der Wille des Menſchen planmäßig die Auswahl oder Ausleſe betreibt, während bei der na— türlichen Züchtung der Kampf um das Daſein (jenes allgemeine Wechſelverhältniß der Organismen) planlos wirkt, aber übrigens ganz daſſelbe Reſultat erzeugt, nämlich eine Auswahl oder Selection beſonders gearteter Individuen zur Nachzucht. Die Veränderungen, welche durch die Züchtung hervorgebracht werden, ſchlagen bei der künſtlichen Züchtung zum Vortheil des züchtenden Menſchen aus, bei der natürlichen Züchtung dagegen zum Vortheil des gezüchteten Organismus ſelbſt, wie es in der Natur der Sache liegt. Das ſind die weſentlichſten Unterſchiede und Uebereinſtimmungen zwiſchen beiderlei Züchtungsarten. Es iſt dann aber ferner noch zu berückſichtigen, daß ein weiterer Unterſchied in der Zeitdauer beſteht, welche für den Züchtungsprozeß der beiderlei Arten erforderlich iſt. Der Menſch vermag bei der künſtlichen Zuchtwahl in viel kürzerer 9 * 132 Vergleichung der natürlichen und der künſtlichen Züchtung. Zeit ſehr bedeutende Veränderungen hervorzubringen, während bei der natürlichen Zuchtwahl Aehnliches erſt in viel längerer Zeit zu Stande gebracht wird. Das beruht darauf, daß der Menſch die Ausleſe viel forgfältiger betreiben kann. Der Menſch kann unter einer großen Anzahl von Individuen mit der größten Sorgfalt Einzelne herausle— ſen, die übrigen ganz fallen laſſen, und bloß die Bevorzugten zur Fortpflanzung verwenden, während das bei der natürlichen Zuchtwahl nicht der Fall iſt. Da werden ſich neben den bevorzugten, zuerſt zur Fortpflanzung gelangenden Individuen, auch noch Einzelne oder Viele von den übrigen, weniger ausgezeichneten Individuen, neben den erſtern fortpflanzen. Ferner iſt der Menſch im Stande, die Kreu— zung zu verhüten zwiſchen der urſprünglichen und der neuen Form, die bei der natürlichen Züchtung oft nicht zu vermeiden iſt. Die natür— liche Züchtung wirkt daher ſehr viel langſamer; ſie erfordert viel längere Zeiträume, als der künſtliche Züchtungsprozeß. Aber eine weſentliche Folge dieſes Unterſchiedes iſt, daß dann auch das Product der künſtli— chen Zuchtwahl viel leichter wieder verſchwindet, und die neu erzeugte Form in die ältere zurückſchlägt, während das bei der natürlichen Züch- tung nicht der Fall iſt. Die neuen Arten der Species, welche aus der natürlichen Züchtung entſtehen, erhalten ſich viel conſtanter, ſchlagen viel weniger leicht in die Stammform zurück, als es bei den künſtli— chen Züchtungsproducten der Fall iſt, und ſie erhalten auch demge— mäß ſich eine viel längere Zeit hindurch beſtändig, als die künſtlichen Raſſen, die der Menſch erzeugt. Aber das ſind nur untergeordnete Unterſchiede, die ſich durch die verſchiedenen Bedingungen der natür— lichen und der künſtlichen Ausleſe erklären, und die auch weſentlich nur die Zeitdauer betreffen. Das Weſen der Formveränderung, und die Mittel, durch welche ſie erzeugt wird, ſind bei der künſtlichen und natürlichen Züchtung ganz dieſelben. (Gen. Morph. II., 248). Die gedankenloſen und beſchränkten Gegner Darwin's werden nicht müde zu behaupten, daß ſeine Selectionstheorie eine bodenloſe Vermuthung, oder wenigſtens eine Hypotheſe ſei, welche erſt bewieſen werden müſſe. Daß dieſe Behauptung vollkommen unbegründet iſt, Mathematiſche Nothwendigkeit der natürlichen Züchtung. 133 können Sie ſchon aus den fo eben erörterten Grundzügen der Züch— tungslehre ſelbſt entnehmen. Darwin nimmt als wirkende Urſachen für die Umbildung der organiſchen Geſtalten keinerlei unbekannte Na- turkräfte oder hypothetiſche Verhältniſſe an, ſondern einzig und allein die allgemein bekannten Lebensthätigkeiten aller Organismen, welche wir als Vererbung und Anpaſſung bezeichnen. Jeder phyſio— logiſch gebildete Naturforſcher weiß, daß dieſe beiden Functionen un— mittelbar mit den Thätigkeiten der Fortpflanzung und Ernährung zu— ſammenhängen, und gleich allen anderen Lebenserſcheinungen mecha— niſche Naturprozeſſe find, d. h. auf Bewegungserſcheinungen der or— ganiſchen Materie beruhen. Daß die Wechſelwirkung dieſer beiden Functionen an einer beſtändigen langſamen Umbildung der organiſchen Formen arbeitet, und daß dieſe zur Entſtehung neuer Arten führt, wird mit Nothwendigkeit durch den Kampf um's Daſein bedingt. Dieſer iſt aber ebenſo wenig ein hypothetiſches oder des Beweiſes be— dürftiges Verhältniß, als jene Wechſelwirkung der Vererbung und An— paſſung. Vielmehr iſt der Kampf um's Daſein eine mathematiſche Nothwendigkeit, welche aus dem Mißverhältniß zwiſchen der beſchränk— ten Zahl der Stellen im Naturhaushalt und der übermäßigen Zahl der organiſchen Keime entſpringt. Die Entſtehung neuer Arten durch die natürliche Züchtung, oder was daſſelbe iſt, durch die Wechſel— wirkung der Vererbung und Anpaſſung im Kampfe um's Daſein, iſt mithin eine mathematiſche Naturnothwendigkeit, welche keines weiteren Beweiſes bedarf. Die natürliche Züchtung benutzt, wie Sie ſehen, die ein— fachſten mechaniſchen Mittel, um die mannnichfaltige Umbildung der Arten hervorzubringen. Ich kann nicht erwarten, daß Ihnen ſchon jetzt die mächtige Wirkſamkeit dieſes einfachen Vorganges, der durch die Geſetze der Vererbung und Anpaſſung, ſowie durch den Kampf um das Daſein bedingt iſt, hinlänglich einleuchtet; um dieſelbe richtig zu würdigen, iſt zunächſt eine eingehende Betrachtung der beiden wich— tigen Erſcheinungsreihen der Vererbung und der Anpaſſung erfor— derlich. Achter Vortrag. Vererbung und Fortpflanzung. Allgemeinheit der Erblichkeit und der Vererbung. Auffallende beſondere Aeuße⸗ rungen derſelben. Menſchen mit vier, ſechs oder ſieben Fingern und Zehen. Sta⸗ chelſchweinmenſchen. Vererbung von Krankheiten, namentlich von Geiſteskrankheiten. Erbſünde. Erbliche Monarchie. Erbadel. Erbliche Talente und Seeleneigenjchaf- ten. Materielle Urſachen der Vererbung. Zuſammenhang der Vererbung mit der Fortpflanzung. Urzeugung und Fortpflanzung. Ungeſchlechtliche oder monogone Fortpflanzung. Moneren. Fortpflanzung der Moneren und der Amoeben durch Selbſttheilung. Vermehrung der organiſchen Zellen und der Eier durch Selbftthei- lung. Fortpflanzung der Korallen durch Theilung. Fortpflanzung durch Knospen⸗ bildung, durch Keimknospenbildung und durch Keimzellenbildung. Geſchlechtliche oder amphigone Fortpflanzung. Zwitterbildung oder Hermaphroditismus. Ge⸗ ſchlechtstrennung oder Gonochorismus. Jungfräuliche Zeugung oder Parthenoge⸗ neſis. Materielle Uebertragung der Eigenſchaften beider Eltern auf das Kind bei der geſchlechtlichen Fortpflanzung. Unterſchied der Vererbung bei der geſchlechtlichen und bei der ungeſchlechtlichen Fortpflanzung. Meine Herren! Als die formbildende Naturkraft, welche die ver— ſchiedenen Geſtalten der Thier- und Pflanzenarten erzeugt, haben Sie in dem letzten Vortrage nach Darwin's Theorie die natürliche Züchtung kennen gelernt. Wir verſtanden unter dieſem Ausdruck die allgemeine Wechſelwirkung, welche im Kampfe um das Daſein zwiſchen der Erblichkeit und der Veränderlichkeit der Orga— Erblichkeit und Vererbung. 135 nismen ſtattfindet; zwiſchen zwei phyſiologiſchen Functionen, welche allen Thieren und Pflanzen eigenthümlich ſind, und welche ſich auf andere Lebensthätigkeiten, auf die Functionen der Fortpflanzung und Ernährung zurückführen laſſen. Alle die verſchiedenen Formen der Organismen, welche man gewöhnlich geneigt iſt, als Producte einer zweckmäßig thätigen Schöpferkraft anzuſehen, konnten wir nach jener Züchtungstheorie auffaſſen als die nothwendigen Producte der zweck— los wirkenden natürlichen Züchtung, der unbewußten Wechſelwirkung zwiſchen jenen beiden Eigenſchaften der Veränderlichkeit und der Erb— lichkeit. Bei der außerordentlichen Wichtigkeit, welche dieſen Lebens— eigenſchaften der Organismen demgemäß zukommt, müſſen wir zus nächſt dieſelben etwas näher in das Auge faſſen, und wir wollen uns heute mit der Erblichkeit und der Vererbung beſchäftigen (Gen. Morph. 19 194). Genau genommen müſſen wir unterſcheiden zwiſchen der Erb— lichkeit und der Vererbung. Die Erblichkeit (Atavismus) iſt die Vererbungskraft, die Fähigkeit der Organismen, ihre Eigenſchaf— ten auf ihre Nachkommen durch die Fortpflanzung zu übertragen. Die Vererbung (Hereditas) dagegen bezeichnet die wirkliche Aus— übung dieſer Fähigkeit, die thatſächlich ſtattfindende Uebertragung. Erblichkeit und Vererbung ſind ſo allgemeine, alltägliche Erſchei— nungen, daß die meiſten Menſchen dieſelben überhaupt nicht beachten, und daß die wenigſten geneigt ſind, beſondere Reflexionen über den Werth und die Bedeutung dieſer Lebenserſcheinungen anzuſtellen. Man findet es allgemein ganz natürlich und ſelbſtverſtändlich, daß jeder Organismus ſeines Gleichen erzeugt, und daß die Kinder den Eltern im Ganzen wie im Einzelnen ähnlich ſind. Gewöhnlich pflegt man die Erblichkeit nur in jenen Fällen hervorzuheben und zu beſpre— chen, wo ſie eine beſondere Eigenthümlichkeit betrifft, die an einem menſchlichen Individuum, ohne ererbt zu ſein, zum erſten Male auf— trat und von dieſem auf ſeine Nachkommen übertragen wurde. In beſonders auffallendem Grade zeigt ſich ſo die Vererbung bei beſtimm— 136 Menſchen mit vier, ſechs oder fieben Fingern und Zehen. ten Krankheiten und bei ganz ungewöhnlichen und unregelmäßigen (monſtröſen) Abweichungen von der gewöhnlichen Körperbildung. Unter dieſen Fällen von Vererbung monſtröſer Abänderungen ſind beſonders lehrreich diejenigen, welche eine abnorme Vermehrung oder Verminderung der Fünfzahl der menſchlichen Finger und Zehen betreffen. Es kommen nicht ſelten menſchliche Familien vor, in denen mehrere Generationen hindurch 6 Finger an jeder Hand oder 6 Zehen an jedem Fuße beobachtet werden. Seltener find die Beiſpiele von Sie⸗ benzahl oder von Vierzahl der Finger und Zehen, die ebenfalls Gene⸗ rationen hindurch vererbt wird. In dieſen Fällen geht die unge— wöhnliche Bildung immer zuerſt von einem einzigen Individuum aus, welches aus unbekannten Urſachen mit einem Ueberſchuß über die ge— wöhnliche Fünfzahl der Finger und Zehen geboren wird und dieſen durch Vererbung auf einen Theil ſeiner Nachkommen überträgt. In einer und derſelben Familie kann man die Sechszahl der Finger und Zehen durch drei, vier und mehr Generationen hindurch verfolgen. In einer ſpaniſchen Familie waren nicht weniger als 40 Individuen durch dieſe Ueberzahl ausgezeichnet. In allen Fällen iſt die Verer⸗ bung der ſechſten überzähligen Zehe oder des ſechſten Fingers nicht bleibend und durchgreifend, weil die ſechsfingerigen Menſchen ſich immer wieder mit fünffingerigen vermiſchen. Würde eine ſechsfinge⸗ rige Familie ſich in reiner Inzucht fortpflanzen, würden ſechsfingerige Männer immer nur ſechsfingerige Frauen heirathen, ſo würde durch Fixirung dieſes Characters eine beſondere ſechsfingerige Menſchenart entſtehen. Da aber die ſechsfingerigen Männer immer fünffingerige Frauen heirathen, und umgekehrt, ſo zeigt ihre Nachkommenſchaft meiſtens ſehr gemiſchte Zahlenverhältniſſe und ſchlägt ſchließlich nach Verlauf einiger Generationen wieder in die normale Fünfzahl zurück. So können z. B. von 8 Kindern eines ſechsfingerigen Vaters und einer fünffingerigen Mutter 3 Kinder an allen Händen und Füßen 6 Finger und 6 Zehen haben, 3 Kinder auf der einen Seite 5, auf der andern 6, und zwei Kinder überall die gewöhnliche Fünfzahl. In einer ſpa— niſchen Familie hatten ſämmtliche Kinder bis auf das Jüngſte an Stachelſchweinmenſchen mit monſtröſer Haut. 137 Händen und Füßen die Sechszahl; nur das Jüngſte hatte überall fünf Finger und Zehen, und der ſechsfingerige Vater des Kindes wollte dieſes letzte daher nicht als das ſeinige anerkennen. Sehr auffallend zeigt ſich ferner die Vererbungskraft in der Bil⸗ dung und Färbung der menſchlichen Haut und Haare. Es iſt allbe⸗ kannt, wie genau in vielen menſchlichen Familien eine eigenthümliche Beſchaffenheit des Hautſyſtems, z. B. eine beſonders weiche oder ſpröde Haut, eine beſondere Ueppigkeit des Haarwuchſes, eine beſondere Farbe und Größe der Augen u. ſ. w. viele Generationen hindurch forterbt. Ebenſo werden beſondere locale Auswüchſe und Flecke der Haut, ſogenannte Muttermale, Leberflecke und andere Pigmentan- häufungen, die an beſtimmten Stellen vorkommen, gar nicht ſelten mehrere Generationen hindurch fo genau vererbt, daß fie bei den Nach— kommen an denſelben Stellen ſich zeigen, an denen ſie bei den Eltern vorhanden waren. Beſonders berühmt geworden ſind die Stachel— ſchweinmenſchen aus der Familie Lambert, welche im vorigen Jahr— hundert in London lebte. Edward Lambert, der 1717 geboren wurde, zeichnete ſich durch eine ganz ungewöhnliche und monſtröſe Bildung der Haut aus. Der ganze Körper war mit einer zolldicken hornarti— gen Kruſte bedeckt, welche ſich in Form zahlreicher ſtachelförmiger und ſchuppenförmiger Fortſätze (bis über einen Zoll lang) erhob. Dieſe monſtröſe Bildung der Oberhaut oder Epidermis vererbte Lambert auf feine Söhne und Enkel, aber nicht auf die Enkelinnen. Die Ueber— tragung blieb alſo hier in der männlichen Linie, wie es auch ſonſt oft der Fall iſt. Ebenſo vererbt ſich übermäßige Fettentwickelung an gewiſſen Körperſtellen oft nur innerhalb der weiblichen Linie. Wie genau ſich die charakteriſtiſche Geſichtsbildung erblich überträgt, braucht wohl kaum erinnert zu werden; bald bleibt dieſelbe innerhalb der männlichen, bald innerhalb der weiblichen Linie; bald vermiſcht ſie ſich in beiden Linien. a Sehr lehrreich und allbekannt ſind ferner die Vererbungserſchei— nungen pathologiſcher Zuſtände, beſonders der menſchlichen Krankheits- formen. Es ſind insbeſondere bekanntlich Krankheiten der Athmungs— 138 Materielle Vererbung geiſtiger Eigenſchaften. organe und des Nervenſyſtems, welche ſich ſehr leicht erblich übertragen. Sehr häufig tritt plötzlich in einer ſonſt geſunden Familie eine derſelben bisher unbekannte Erkrankung auf; ſie wird erworben durch äußere Urſachen, durch krankmachende Lebensbedingungen. Dieſe Krankheit, welche bei einem einzelnen Individuum durch äußere Urſachen bewirkt wurde, pflanzt ſich von dieſem auf ſeine Nachkommen fort, und dieſe haben nun alle oder zum Theil an derſelben Krankheit zu leiden. Bei Lungenkrankheiten, z. B. Schwindſucht, iſt dieſes traurige Verhältniß der Erblichkeit allbekannt, ebenſo bei Leberkrankheiten, bei Geiſtes— krankheiten. Dieſe letzteren ſind von ganz beſonderem Intereſſe. Ebenſo wie beſondere Characterzüge des Menſchen, Stolz, Ehrgeiz, Dummheit, Leichtſinn u. ſ. w. ſtreng durch die Vererbung auf die Nachkommenſchaft übertragen werden, ſo gilt das auch von den be— ſonderen, abnormen Aeußerungen der Seelenthätigkeit, welche man als fire Ideen, Schwermuth, Blödſinn und überhaupt als Geiftes- krankheiten bezeichnet. Es zeigt ſich hier deutlich und unwiderleglich, daß die Seele des Menſchen, ebenſo wie die Seele der Thiere, eine rein mechaniſche Thätigkeit, eine phyſiologiſche Bewegungserſcheinung der Gehirntheilchen iſt, und daß ſie mit ihrem Subſtrate, ebenſo wie jede andere Körpereigenſchaft, durch die Fortpflanzung materiell über- tragen, vererbt wird. Dieſe äußerſt wichtige und unleugbare Thatſache erregt, wenn man ſie ausſpricht, gewöhnlich großes Aergerniß, und doch wird ſie eigent— lich ſtillſchweigend allgemein anerkannt. Denn worauf beruhen die Vorſtellungen von der „Erbſünde“, der „Erbweisheit“, dem „Erb— adel“ u. ſ. w. Anders, als auf der Ueberzeugung, daß die menſchliche Geiſtesbeſchaffenheit durch die Fortpflanzung — alſo durch einen rein materiellen Vorgang! — körperlich von den Eltern auf die Nachkommen übertragen wird? — Die Anerkennung dieſer gro— ßen Bedeutung der Erblichkeit äußert ſich in einer Menge von menſch— lichen Einrichtungen, wie z. B. in der Kaſteneintheilung vieler Völker in Kriegerkaſten, Prieſterkaſten, Arbeiterkaſten u. ſ. w. Offenbar be— ruht urſprünglich die Einrichtung ſolcher Kaſten auf der Vorſtellung Materielle Vererbung geiftiger Eigenfchaften. 139 von der hohen Wichtigkeit erblicher Vorzüge, welche gewiſſen Familien beiwohnten, und von denen man vorausſetzte, daß ſie immer wieder von den Eltern auf die Nachkommen übertragen werden würden. Die Einrichtung des erblichen Adels und der erblichen Monarchie iſt zwei⸗ felsohne auf die Vorſtellung einer ſolchen Vererbung beſonderer Tu— genden zurückzuführen. Allerdings ſind es leider nicht nur die Tu⸗ genden, ſondern auch die Laſter, welche vererbt werden, und wenn Sie in der Weltgeſchichte die verſchiedenen Individuen der einzelnen Dy- naſtien vergleichen, ſo werden Sie zwar überall eine große Anzahl von Beweiſen für die Erblichkeit auffinden können, aber weniger für die Erblichkeit der Tugenden, als der entgegengeſetzten Eigenſchaften. Denken Sie z. B. nur an die römiſchen Kaiſer, an die Julier und die Claudier, oder an die Bourbonen in Frankreich, Spanien und Italien! In der That dürfte kaum irgendwo eine ſolche Fülle von ſchla— genden Beiſpielen für die merkwürdige Vererbung der feinſten körper⸗ lichen und geiſtigen Züge gefunden werden, als in der Geſchichte der regierenden Häufer in den erblichen Monarchien. Ganz beſonders gilt dies mit Bezug auf die vorher erwähnten Geiſteskrankheiten. Gerade in regierenden Familien ſind Geiſteskrankheiten in ungewöhnlichem Maße erblich. Schon der berühmte Irrenarzt Esquirol wies nach, daß das Verhältniß der Geiſteskranken in den regierenden Häuſern gegenüber denjenigen in der gewöhnlichen Bevölkerung ſich verhält, wie 60 : 1, d. h. daß Geiſteskrankheit in den bevorzugten Familien der regierenden Häuſer ſechzig mal ſo häufig vorkommt, als in der gewöhnlichen Menſchheit. Würde eine gleiche genaue Statiſtik auch für den erblichen Adel durchgeführt, ſo dürfte ſich leicht herausſtellen, daß auch dieſer ein ungleich größeres Contingent von Geiſteskranken ſtellt, als die gemeine, nichtadelige Menſchheit. Dieſe Erſcheinung wird uns kaum mehr wundern, wenn wir bedenken, welchen Nach- theil ſich dieſe privilegirten Kaſten ſelbſt durch ihre unnatürliche einſei— tige Erziehung und durch ihre künſtliche Abſperrung von der übrigen Menſchheit zufügen. Es werden dadurch manche dunkle Schatten— 140 Materielle Vererbung geiftiger Eigenschaften, ſeiten der menſchlichen Natur beſonders entwickelt, gleichſam künſtlich gezüchtet, und pflanzen ſich nun nach den Vererbungsgeſetzen mit immer verſtärkter Kraft und Einſeitigkeit durch die Reihe der Gene— rationen fort. Wie ſich in der Generationsfolge mancher Dynaſtien, z. B. der ſächſiſch-thüringiſchen Fürſten, der Medicäer, die edle Vorliebe für die höchſten menſchlichen Thätigkeiten, für Wiſſenſchaft und Kunſt, und in Folge deſſen die ſchönſte Lichtſeite der menſchlichen Natur, humaner Eifer für Freiheit, Wohlſtand und Bildung des ganzen Volkes durch viele Generationen erblich überträgt und erhält, wie dagegen in vielen anderen Dynaſtien Jahrhunderte hindurch eine beſondere Neigung für das Kriegshandwerk, für Unterdrückung der menſchlichen Freiheit und für andere rohe Gewaltthätigkeiten vererbt wird, iſt aus der Völ— kergeſchichte Ihnen hinreichend bekannt. Ebenſo vererben ſich in manchen Familien viele Generationen hindurch ganz beſtimmte Fähig— keiten für einzelne Geiſtesthätigkeiten, z. B. Mathematik, Dichtkunſt, Tonkunſt, bildende Kunſt, Medien, Naturforſchung, Philoſophie u. ſ. w. In der Familie Bach hat es nicht weniger als 22 hervor- ragende muſikaliſche Talente gegeben. Natürlich beruht die Verer— bung ſolcher Geiſteseigenthümlichkeiten, wie die Vererbung der Geiftes- eigenſchaften überhaupt, auf dem materiellen Vorgang der Zeugung. Es iſt hier die Lebenserſcheinung, die Kraftäußerung unmittelbar (wie überall in der Natur) verbunden mit beſtimmten Miſchungsverhält⸗ niſſen des Stoffes, und die Miſchung des Stoffes iſt es, welche bei der Zeugung übertragen wird. Bevor wir nun die verſchiedenen und zum Theil ſehr intereſſanten und bedeutenden Geſetze der Vererbung näher unterſuchen, wollen wir über die eigentliche Natur dieſes Vorganges uns verſtändigen. Man pflegt vielfach die Erblichkeitserſcheinungen als etwas ganz Näthfelhaf- tes anzuſehen, als eigenthümliche Vorgänge, welche durch die Natur- wiſſenſchaft nicht ergründet, in ihren Urſachen und eigentlichem Weſen nicht erfaßt werden könnten. Man pflegt gerade hier ſehr allgemein übernatürliche Einwirkungen anzunehmen. Es läßt ſich aber ſchon Zuſammenhang der Vererbung mit der Fortpflanzung. 141 jetzt, bei dem heutigen Zuſtande der Phyſiologie, mit vollkommner Sicherheit nachweiſen, daß alle Erblichkeitserſcheinungen durchaus na— türliche Vorgänge ſind, daß ſie durch mechaniſche Urſachen bewirkt werden, und daß ſie auf materiellen Bewegungserſcheinungen im Körper der Organismen beruhen, welche wir als Theilerſcheinungen der Fortpflanzung betrachten können. Alle Erblichkeitserſcheinungen und Vererbungsgeſetze laſſen ſich auf die materiellen Vorgänge der Fortpflanzung zurückführen. Jeder einzelne Organismus, jedes lebendige Individuum ver— dankt ſein Daſein entweder einem Acte der elternloſen Zeugung oder Urzeugung (Generatio spontanea, Archigonia), oder einem Acte der elterlichen Zeugung oder Fortpflanzung (Gene- ratio parentalis, Tocogonia). Auf die Urzeugung oder Archigonie werden wir in einem ſpäteren Vortrage zurückkommen. Jetzt haben wir uns nur mit der Fortpflanzung oder Tocogonie zu beſchäftigen, deren nähere Betrachtung für das Verſtändniß der Vererbung von der größten Wichtigkeit iſt. Die Meiſten von Ihnen werden von den Fortpflanzungserſcheinungen wahrſcheinlich nur diejenigen kennen, wel— che Sie allgemein bei den höheren Pflanzen und Thieren beobachten, die Vorgänge der geſchlechtlichen Fortpflanzung oder der Amphigonie. Viel weniger allgemein bekannt find die Vorgänge der ungeſchlechtli— chen Fortpflanzung oder der Monogonie. Gerade dieſe ſind aber bei weitem mehr als die vorhergehenden geeignet, ein erklärendes Licht auf die Natur der mit der Fortpflanzung zuſammenhängenden Ver⸗ erbung zu werfen. Aus dieſem Grunde erſuche ich Sie, jetzt zunächſt bloß die Er— ſcheinungen der ungeſchlechtlichen oder monogonen Fort— pflanzung (Monogonia) in das Auge zu faſſen. Dieſe tritt in mannichfach verſchiedener Form auf, als Selbſttheilung, Knospenbil— dung und Keimzellen- oder Sporenbildung (Gen. Morph. II., 36 — 58). Am lehrreichſten iſt es hier, zunächſt die Fortpflanzung bei den einfachſten Organismen zu betrachten, welche wir kennen, und auf welche wir ſpäter bei der Frage von der Urzeugung zurückkommen 142 Moneren, die einfachſten aller Organismen. müſſen. Dieſe allereinfachſten uns bis jetzt bekannten, und zugleich die denkbar einfachſten Organismen ſind die Moneren: ſehr kleine lebendige Körperchen, welche eigentlich ſtreng genommen den Namen des Organismus gar nicht verdienen. Denn die Bezeichnung „Orga— nismus“ für die lebenden Weſen beruht auf der Vorſtellung, daß jeder belebte Naturkörper aus Organen zuſammengeſetzt iſt, aus verſchieden— artigen Theilen, die als Werkzeuge, ähnlich den verſchiedenen Theilen einer künſtlichen Maſchine, in einander greifen und zuſammenwirken, um die Thätigkeit des Ganzen hervorzubringen. Nun haben wir aber in den Moneren während der letzten Jahre Organismen kennen ge— lernt, welche in der That nicht aus Organen zuſammengeſetzt ſind, ſon— dern ganz und gar aus einer ſtructurloſen, einfachen, gleichartigen Ma⸗ terie beſtehen. (Vergl. Fig. 1. auf S. 144). Der ganze Körper dieſer Moneren iſt zeitlebens weiter Nichts, als ein formloſes bewegliches Schleimklümpchen, das aus einer eiweißartigen Kohlenſtoffverbindung beſteht. Einfachere, unvollkommnere Organismen ſind gar nicht denkbar. Die Moneren leben zum Theil im Süßwaſſer (Protamoeba, Protomo- nas, Vampyrella), zum Theil im Meere (Protogenes, Protomyxa, Myx- astrum) 15). Im Ruhezuſtande erſcheint jedes Moner als ein kleines Schleimkügelchen, für das unbewaffnete Auge nicht ſichtbar oder eben ſichtbar, höchſtens von der Größe eines Stecknadelkopfes. Wenn das Moner ſich bewegt, bilden ſich an der Oberfläche der kleinen Schleim— kugel formloſe fingerartige Fortſätze oder ſehr feine ſtrahlende Fäden, ſogenannte Scheinfüße oder Pſeudopodien. Dieſe Scheinfüße find einfache, unmittelbare Fortſetzungen der eiweißartigen ſchleimigen Maſſe, aus der der ganze Körper beſteht. Bei der ſtärkſten Vergrö— ßerung, mit unſeren ſchärfſten Inſtrumenten unterſucht, ſtellt der ge— ſammte Körper der Moneren immer nur eine ſtructurloſe, vollkommen gleichartige Maſſe dar. Wir ſind nicht im Stande, verſchiedenartige Theile in demſelben wahrzunehmen, und wir können den directen Be— weis für die abſolute Einfachheit der feſtflüſſigen Eiweißmaſſe dadurch führen, daß wir die Nahrungsaufnahme der Moneren verfolgen. Wenn kleine Körperchen, die zur Ernährung derſelben tauglich ſind, Ungeſchlechtliche Fortpflanzung der Moneren. 143 z. B. kleine Theilchen von zerſtörten organiſchen Körpern, oder mi— kroſkopiſche Pflänzchen und Infuſionsthierchen, zufällig in Berührung mit den Moneren kommen, ſo bleiben ſie an der klebrigen Oberfläche des feſtflüſſigen Schleimklümpchens hängen, erzeugen hier einen Reiz, welcher ſtärkeren Zufluß der ſchleimigen Körpermaſſe zur Folge hat, und werden endlich ganz von dieſer umſchloſſen; oder ſie werden durch Verſchiebungen der einzelnen Eiweißtheilchen des Monerenkörpers in dieſen hineingezogen und dort verdaut, durch einfache Diffuſion (Endos— moſe) ausgeſogen. Ebenſo einfach wie die Ernährung, iſt die Fortpflan— zung dieſer Urweſen, die man eigentlich weder Thiere noch Pflanzen nennen kann. Alle Moneren pflanzen ſich nur auf dem ungeſchlecht— lichen Wege fort, durch Monogonie; und zwar im einfachſten Falle durch diejenige Art der Monogonie, welche wir an die Spitze der ver— ſchiedenen Fortpflanzungsformen ſtellen, durch Selbſttheilung. Wenn ein ſolches Klümpchen, z. B. eine Protamoeba oder ein Protogenes, eine gewiſſe Größe durch Aufnahme fremder Eiweißmaterie erhalten hat, ſo zerfällt es in zwei Stücke; es bildet ſich eine Einſchnürung, welche ringförmig herumgeht, und ſchließlich zur Trennung der beiden Hälften führt. (Vergl. Fig.! auf nächſter Seite). Jede Hälfte rundet ſich alsbald ab und erſcheint nun als ein ſelbſtſtändiges Individuum, welches das einfache Spiel der Lebenserſcheinungen, Ernährung und Fortpflanzung, von Neuem beginnt. Bei anderen Moneren (Vam- pyrella) zerfällt der Körper bei der Fortpflanzung nicht in zwei, ſon— dern in vier gleiche Stücke, und bei noch anderen (Protomonas, Pro- tomyxa, Myxastrum) ſogleich in eine große Anzahl von kleinen Schleimkügelchen, deren jedes durch einfaches Wachsthum dem elter— lichen Körper wieder gleich wird. Es zeigt ſich hier deutlich, daß der Vorgang der Fortpflanzung weiter Nichts iſt, als ein Wachsthum des Organismus über ſein individuelles Maaß hinaus. 5 Die einfache Fortpflanzungsweiſe der Moneren durch Selbſtthei— lung iſt eigentlich die allgemeinſte und weiteſt verbreitete von allen ver— ſchiedenen Fortpflanzungsarten; denn durch denſelben einfachen Prozeß 144 Ungeſchlechtliche Fortpflanzung der organischen Zellen. der Theilung pflanzen fih auch die Zellen fort, diejenigen einfa- chen organiſchen Individuen, welche in ſehr großer Zahl den Körper der allermeiſten Organismen, den menſchlichen Körper nicht ausge— nommen, zuſammenſetzen. Abgeſehen von den Organismen niederſten Fig. 1. Fortpflanzung eines einfachſten Organismus, eines Moneres, durch Selbſttheilung. 4. Das ganze Moner, eine Protamoeba. B. Dieſelbe zerfällt durch eine mittlere Einſchnürung in zwei Hälften. C. Jede der beiden Hälften hat ſich von der andern getrennt und ſtellt nun ein ſelbſtſtändiges Individuum dar. Ranges, welche noch nicht einmal den Formwerth einer Zelle haben (Moneren), oder zeitlebens eine einfache Zelle darſtellen (viele Pro- tiſten und einzellige Pflanzen), iſt der Körper jedes organiſchen Indi⸗ viduums aus einer großen Anzahl von Zellen zuſammengeſetzt. Jede organiſche Zelle iſt bis zu einem gewiſſen Grade ein ſelbſtſtändiger Organismus, ein ſogenannter „Elementarorganismus“ oder ein „In— dividuum erſter Ordnung“. Jeder höhere Organismus iſt gewiſſer⸗ maßen eine Geſellſchaft oder ein Staat von ſolchen vielgeſtaltigen, durch Arbeitstheilung mannichfaltig ausgebildeten Elementarindivi⸗ duen. Urſprünglich iſt jede organiſche Zelle auch nur ein einfaches Schleimklümpchen, gleich einem Moner, jedoch von dieſem dadurch verſchieden, daß die gleichartige Eiweißmaſſe in zwei verſchiedene Be— ſtandtheile ſich geſondert hat: ein inneres, feſteres Eiweißkörperchen, den Zellenkern (Nucleus), und einen äußeren, weicheren Eiweiß— körper, den Zellſt off (Protoplasma). Außerdem bilden viele Zellen ſpäterhin noch einen dritten (jedoch häufig fehlenden) Formbeſtandtheil, indem fie ſich einkapſeln, eine äußere Hülle oder Zellhaut (Membra- na) ausſchwitzen. Alle übrigen Formbeſtandtheile, die ſonſt noch an Ungeſchlechtliche Fortpflanzung der organischen Zellen. 145 den Zellen vorkommen, ſind von untergeordneter Bedeutung und in— tereſſiren uns hier weiter nicht. Urſprünglich iſt auch jeder mehrzellige Organismus eine einfache Zelle, und er wird erſt dadurch mehrzellig, daß jene Zelle ſich durch Theilung fortpflanzt, und daß die ſo entſtehenden neuen Zellenindi— viduen beiſammen bleiben und durch Arbeitstheilung eine Gemeinde oder einen Staat bilden. Die Formen und Lebenserſcheinungen aller mehrzelligen Organismen ſind lediglich die Wirkung oder der Aus— druck der geſammten Formen und Lebenserſcheinungen aller einzelnen ſie zuſammenſetzenden Zellen. Das Ei, aus welchem ſich die meiſten Thiere entwickeln, iſt eine einfache Zelle, ebenſo das ſogenannte Keimbläschen oder Embryobläschen, aus welchem ſich die meiſten Pflanzen entwickeln. Die einzelligen Organismen, d. h. diejenigen, welche zeitlebens den Formwerth einer einzigen Zelle beibehalten, z. B. die Amo eben (Fig. 2), pflanzen ſich in der Regel auf die einfachſte Weiſe durch Fig. 2. Fortpflanzung eines einzelligen Organismus, einer Amoeba, durch Selbſttheilung. 4. die eingekapſelte Amoeba, eine einfache kugelige Zelle, beſtehend aus einem Protoplasmaklumpen (5), welcher einen Kern (a) einſchließt, und von einer Zellhaut oder Kapſel umgeben iſt. B. Die freie Amoeba, welche die Cyſte oder Zellhaut geſprengt und verlaſſen hat. C. Dieſelbe beginnt ſich zu theilen, indem ihr Kern in zwei Kerne zerfällt und der Zellſtoff zwiſchen beiden ſich einſchnürt. D. Die Theilung iſt vollendet, indem auch der Zellſtoff vollſtändig in zwei Hälften zer⸗ fallen iſt (Da und Ds). Theilung fort. Dieſer Prozeß unterſcheidet ſich von der vorher bei den Moneren beſchriebenen Selbſttheilung nur dadurch, daß zunächſt der feſtere Zellkern (Nucleus) durch Einſchnürung in zwei Hälften zerfällt. Die beiden jungen Kerne entfernen ſich von einander und wirken nun Haeckel, Natürliche Schöpfungsgeſchichte. 10 146 Ungeſchlechtliche Fortpflanzung durch Theilung. wie zwei verſchiedene Anziehungsmittelpunkte auf die umgebende wei⸗ chere Eiweißmaſſe, den Zellſtoff (Protoplasma). Dadurch zerfällt ſchließlich auch dieſer in zwei Hälften, und es ſind nun zwei neue Zellen vorhanden, welche der Mutterzelle gleich ſind. War die Zelle von einer Membran umgeben, ſo theilt ſich dieſe entweder nicht, wie bei der Eifurchung (Fig. 3, 4), oder fie folgt paſſiv der activen Einſchnü⸗ rung des Protoplasma, oder es wird von jeder jungen Zelle eine neue Haut ausgeſchwitzt. Ganz ebenfo wie die ſelbſtſtändigen einzelligen Organismen, z. B. Amoeba (Fig. 2), pflanzen fi nun auch die unſelbſtſtändigen Zellen fort, welche in Gemeinden oder Staaten vereinigt bleiben und ſo den Körper der höheren Organismen zuſammenſetzen. Ebenſo vermehren ſich auch durch einfache Theilung die Zellen, welche als Eier den meiſten Thieren, als Embryobläschen den meiſten Pflanzen den Urſprung geben. Wenn ſich aus einem Ei ein Thier, z. B.ein Säugethier (Fig. 3, 4) entwickelt, Fig. 3. Ei eines Säugethieres leine einfache Zelle). a Kernkörperchen oder Nucleolus (ſogenannter 5 Keimfleck des Eies); 5 Kern oder Nucleus (ſogenann⸗ tes Keimbläschen des Eies); e Zellſtoff oder Proto- plasma (ſogenannter Dotter des Eies); 4 Zellhaut oder Membrana (Dotterhaut des Eies, beim Säuge⸗ thier wegen ihrer Durchſichtigkeit Membrana pellueida genannt. Fig. 4. Erſter Beginn der Entwickelung des Säugethiereies, ſogenannte „Ei⸗ furchung“ (Fortpflanzung der Eizelle durch wiederholte Selbſttheilung). Fig. 4 4. Das Ei zerfällt durch Bildung der erſten Furche in zwei Zellen. Fig 4 B. Dieſe zerfallen durch Halbirung in 4 Zellen. Fig. 4 C. Dieſe letzteren ſind in 8 Zellen zerfallen. Fig. 4 D. Durch fortgeſetzte Theilung iſt ein kugeliger Hau⸗ fen von zahlreichen Zellen entſtanden. Ungeſchlechtliche Fortpflanzung durch Theilung. 147 ſo beginnt dieſer Entwickelungsprozeß ſtets damit, daß die einfache Eizelle (Fig. 3) durch fortgeſetzte Selbſttheilung einen Zellenhaufen bildet (Fig. 4). Die äußere Hülle oder Zellhaut des kugeligen Eies bleibt ungetheilt. Zuerſt zerfällt der Zellenkern des Eies (das ſogenannte Keimbläschen) durch Selbſttheilung in zwei Kerne, dann folgt der Zellſtoff (der Dotter des Eies) nach (Fig. 4 A). In gleicher Weiſe zerfallen durch die fortgeſetzte Selbſttheilung die zwei Zellen in vier (Fig. 4 B), dieſe in acht (Fig. 4 0), in ſechzehn, zweiunddreißig u. ſ. w., und es entſteht ſchließlich ein kugeliger Haufe von ſehr zahlreichen kleinen Zellen (Fig. 4 P), die nun durch weitere Vermehrung und ungleichartige Ausbil— dung (Arbeitstheilung) allmählich den zuſammengeſetzten mehrzelligen Organismus aufbauen. Jeder von uns hat im Beginne feiner indi viduellen Entwickelung denſelben, in Fig. 4 dargeſtellten Prozeß durch⸗ gemacht. Das in Fig. 3 abgebildete Säugethierei und die in Fig. 4 dargeſtellte Entwickelung deſſelben könnte eben ſo gut vom Menſchen, als vom Affen, vom Hunde oder irgend einem anderen placentalen Säugethier herrühren. Wenn Sie nun zunächſt nur diefe einfachſte Form der Fortpflan- zung, die Selbſttheilung betrachten, ſo werden Sie es gewiß nicht wunderbar finden, daß die Theilproducte des urſprünglichen Orga— nismus dieſelben Eigenſchaften beſitzen, wie das elterliche Indivi— duum. Sie ſind ja Theilhälften des elterlichen Organismus, und da die Materie, der Stoff in beiden Hälften derſelbe iſt, da die beiden jungen Individuen gleich viel und gleich beſchaffene Materie von dem elterlichen Individuum überkommen haben, ſo finden Sie es gewiß na— türlich, daß auch die Lebenserſcheinungen, die phyſiologiſchen Eigen- ſchaften in den beiden Kindern dieſelben ſind. In der That ſind in jeder Beziehung, ſowohl hinſichtlich ihrer Form und ihres Stoffes, als hinſichtlich ihrer Lebenserſcheinungen, die beiden Tochterzellen (wenig— ſtens im Anfang) nicht von einander und von der Mutterzelle zu un— terſcheiden. Sie haben von ihr die gleiche Natur geerbt. Nun findet ſich aber dieſelbe einfache Fortpflanzung durch Thei— lung nicht bloß bei den einfachen Zellen, ſondern auch bei höher ſte— 10 * 148 Ungeſchlechtliche Fortpflanzung durch Knospenbildung. henden mehrzelligen Organismen, z. B. bei den Korallenthieren. Viele derſelben, welche ſchon einen höheren Grad von Zuſammenſetzung und Organiſation zeigen, pflanzen ſich dennoch einfach durch Theilung fort. Hier zerfällt der ganze Organismus mit allen ſeinen Organen in zwei gleiche Hälften, ſobald er durch Wachsthum ein gewiſſes Maß der Größe erreicht hat. Jede Hälfte ergänzt ſich alsbald wieder durch Wachsthum zu einem vollſtändigen Individuum. Auch hier finden Sie es gewiß ſelbſtverſtändlich, daß die beiden Theilproducte die Eigenſchaften des elterlichen Organismus theilen, da ſie ja ſelbſt Subſtanzhälften deſſelben ſind. Die Vererbung aller Eigenſchaften der urſprünglichen Koralle auf ihre beiden, durch Wachsthum ſich er— gänzenden Hälften, hat gewiß nichts Befremdendes. An die Fortpflanzung durch Theilung ſchließt ſich zunächſt die Fortpflanzung durch Knospenbildung an. Dieſe Art der Mo⸗ nogonie iſt außerordentlich weit verbreitet. Sie findet ſich ſowohl bei den einfachen Zellen (obwohl ſeltener), als auch bei den aus vielen Zellen zuſammengeſetzten höheren Organismen. Ganz allgemein verbreitet iſt die Knospenbildung im Pflanzenreich, ſeltener im Thierreich. Jedoch kommt ſie auch hier in dem Stamme der Pflanzenthiere, insbeſondere bei den Korallen und bei einem großen Theile der Hydromeduſen ſehr häufig vor, ferner auch bei einem Theile der Würmer (Plattwürmern, Ringelwürmern, Moosthieren und Mantelthieren). Alle verzweigten Thierſtöcke, welche auch äußerlich den verzweigten Pflanzenſtöcken ſo ähnlich ſind, entſtehen gleich dieſen durch Knospenbildung. Die Fortpflanzung durch Knospenbildung (Gemmatio) unter ſcheidet ſich von der Fortpflanzung durch Theilung weſentlich dadurch, daß die beiden, durch Knospung neu erzeugten Organismen nicht von gleichem Alter, und daher anfänglich auch nicht von gleichem Werthe ſind, wie es bei der Theilung der Fall iſt. Bei der letzteren können wir offenbar keines der beiden neu erzeugten Individuen als das elter⸗ liche, als das erzeugende anſehen, weil beide ja gleichen Antheil an der Zuſammenſetzung des urſprünglichen, elterlichen Individuums haben. Wenn dagegen ein Organismus eine Knospe treibt, ſo iſt Ungeſchlechtliche Fortpflanzung durch Keimknospenbildung. 149 die letztere das Kind des erſteren. Beide Individuen ſind von un— gleichem Alter und daher zunächſt auch von ungleicher Größe und un— gleichem Formwerth. Wenn z. B. eine Zelle durch Knospenbildung ſich fortpflanzt, fo ſehen wir nicht, daß die Zelle in zwei gleiche Hälf⸗ ten zerfällt, ſondern es bildet ſich an einer Stelle eine Hervorragung, welche größer und größer wird, und welche ſich mehr oder weniger von der elterlichen Zelle abſondert und nun ſelbſtſtändig wächſt. Ebenſo bemerken wir bei der Knospenbildung einer Pflanze oder eines Thie— res, daß an einer Stelle des ausgebildeten Individuums eine kleine locale Wucherung entſteht, welche größer und größer wird, und eben— falls durch ſelbſtſtändiges Wachsthum ſich mehr oder weniger von dem elterlichen Organismus abſondert. Die Knospe kann, nachdem ſie eine gewiſſe Größe erlangt hat, entweder vollkommen von dem El⸗ ternindividuum ſich ablöſen, oder fie kann mit dieſem im Zuſammen⸗ hang bleiben und einen Stock bilden, dabei aber doch ganz ſelbſtſtän— dig weiter leben. Während das Wachsthum, welches die Fortpflan⸗ zung einleitet, bei der Theilung ein totales iſt und den ganzen Körper betrifft, ift daſſelbe dagegen bei der Knospenbildung ein partielles und betrifft nur einen Theil des elterlichen Organismus. Aber auch hier werden Sie es wieder ſehr natürlich finden, daß die Knospe, das neu erzeugte Individuum, welches mit dem elterlichen Organismus ſo lange im unmittelbarſten Zuſammenhang ſteht und aus dieſem hervorgeht, dieſelben Eigenſchaften zeigt, wie der letztere. Denn auch die Knospe iſt urſprünglich ein Theil des Leibes, von dem ſie erzeugt wurde, und Sie können ſich nicht darüber wundern, daß dieſelbe die urſprünglich eingeſchlagene Bildungsrichtung verfolgt und alle weſentlichen Eigen— ſchaften durch Vererbung von dem Elternindividuum überkömmt. An die Knospenbildung ſchließt ſich unmittelbar eine dritte Art der ungeſchlechtlichen Fortpflanzung an, diejenige durch Keimknos— penbildung (Polysporogonia). Bei niederen, unvollkommenen Organismen, unter den Thieren insbeſondere bei den Pflanzenthieren und Würmern, finden Sie ſehr häufig, daß im Innern eines aus vielen Zellen zuſammengeſetzten Individuums eine kleine Zellengruppe 150 Ungeſchlechtliche Fortpflanzung durch Keimzellenbildung. von den umgebenden Zellen ſich abſondert, und daß dieſe kleine iſolirte Zellengruppe allmählich zu einem Individuum heranwächſt, welches dem elterlichen ähnlich wird, und früher oder ſpäter aus dieſem her— austritt. So entſtehen z. B. im Körper der Saugwürmer (Tremato⸗ den) oft zahlreiche, aus vielen Zellen zuſammengeſetzte Körperchen, Keimknospen oder Polyſporen, welche ſich ſchon frühzeitig ganz von dem Elternkörper abſondern und dieſen verlaſſen, nachdem ſie einen gewiſſen Grad ſelbſtſtändiger Ausbildung erreicht haben. Auch hier vererben ſich die ſpecifiſchen Eigenſchaften des zeugenden Indivi— duums auf die Keimknospen, obwohl dieſe ſich viel früher abſondern und ſelbſtſtändig wachſen, als es bei den Knospen der Fall iſt. Offenbar iſt die Keimknospenbildung von der echten Knospen— bildung nur wenig verſchieden. Andrerſeits aber berührt ſie ſich mit einer vierten Form der ungeſchlechtlichen Fortpflanzung, welche beinahe ſchon zur geſchlechtlichen Zeugung hinüberführt, nämlich mit der Keimzellenbildung (Monosporogonia), welche auch oft ſchlecht— weg die Sporenbildung (Sporogonia) genannt wird. Hier iſt es nicht mehr eine Zellengruppe, ſondern eine einzelne Zelle, welche ſich im Innern des zeugenden Organismus von den umgebenden Zellen ab- ſondert, und ſich erſt weiter entwickelt, nachdem fie aus jenem ausge— treten iſt. Nachdem dieſe Keimzelle oder Monoſpore (gewöhnlich kurzweg Spore genannt) das Elternindividuum verlaſſen hat, ver- mehrt ſie ſich durch Theilung und bildet ſo einen vielzelligen Organis— mus, welcher durch Wachsthum und allmähliche Ausbildung die erb— lichen Eigenſchaften des elterlichen Organismus erlangt. So geſchieht es ſehr allgemein bei den niederen Pflanzen (Kryptogamen). Obwohl die Keimzellenbildung der Keimknospenbildung ſehr nahe ſteht, entfernt fie ſich doch offenbar von dieſer, wie von den vorher ange- führten anderen Formen der ungeſchlechtlichen Fortpflanzung ſehr weſent— lich dadurch, daß nur ein ganz kleiner Theil des zeugenden Organismus die Fortpflanzung und ſomit auch die Vererbung vermittelt. Bei der Selbſttheilung, wo der ganze Organismus in zwei Hälften zerfällt, bei der Knospenbildung und Keimknospenbildung, wo ein anſehnlicher und Geſchlechtliche Fortpflanzung oder Amphigonie. 151 bereits mehr oder minder entwickelter Körpertheil von dem zeugenden Individuum ſich abſondert, finden wir es ſehr begreiflich, daß For— men und Lebenserſcheinungen in dem zeugenden und dem erzeugten Organismus dieſelben find. Viel ſchwieriger ift es ſchon bei der Keim— zellenbildung zu begreifen, wie dieſer ganz kleine, ganz unentwickelte Körpertheil, dieſe einzelne Zelle, nicht bloß gewiſſe elterliche Eigen— ſchaften unmittelbar mit in ihre ſelbſtſtändige Exiſtenz hinübernimmt, ſondern auch nach ihrer Trennung vom elterlichen Individuum ſich zu einem mehrzelligen Körper entwickelt, und in dieſem die Formen und die Lebenserſcheinungen des urſprünglichen, zeugenden Organismus wieder zu Tage treten läßt. Dieſe letzte Form der monogenen Fort— pflanzung, die Keimzellen- oder Sporenbildung, führt uns hierdurch bereits unmittelbar zu der am ſchwierigſten zu erklärenden Form der Fortpflanzung, zur geſchlechtlichen Zeugung, hinüber. Die geſchlechtliche ((amphigone oder ſexuelle) Zeu— gung (Amphigonia) iſt die gewöhnliche Fortpflanzungsart bei allen höheren Thieren und Pflanzen. Offenbar hat ſich dieſelbe erſt ſehr ſpät im Verlaufe der Erdgeſchichte aus der ungeſchlechtlichen Fortpflan— zung, und zwar zunächſt aus der Keimzellenbildung entwickelt. In den früheſten Perioden der organiſchen Erdgeſchichte pflanzten ſich alle Organismen nur auf ungeſchlechtlichem Wege fort, wie es gegenwär— tig noch zahlreiche niedere Organismen thun, insbeſondere diejenigen, welche auf der niedrigſten Stufe der Organiſation ſtehen, welche man weder als Thiere noch als Pflanzen mit vollem Rechte betrachten kann, und welche man daher am beſten als Urweſen oder Protiſten aus dem Thier- und Pflanzenreich ausſcheidet. Allein bei den höheren Thieren und Pflanzen erfolgt gegenwärtig die Vermehrung der In— dividuen in der Regel auf dem Wege der geſchlechtlichen Fortpflan— zung, und bei der Wichtigkeit dieſer hervorragenden Erſcheinung müſſen wir dieſelbe hier näher in's Auge faſſen. Während bei allen vorhin erwähnten Hauptformen der ungeſchlecht— lichen Fortpflanzung, bei der Theilung, Knospenbildung, Keimknos— penbildung und Keimzellenbildung, die abgeſonderte Zelle oder Zellen— 152 Zwitterbildung und Geſchlechtstrennung. gruppe für ſich allein im Stande war, ſich zu einem neuen Individuum auszubilden, ſo muß dieſelbe dagegen bei der geſchlechtlichen Fort— pflanzung erſt durch einen anderen Zeugungsſtoff befruchtet werden. Der befruchtende männliche Samen muß ſich erſt mit der weiblichen Keimzelle, dem Ei, vermiſchen, ehe ſich dieſes zu einem neuen Indi⸗ viduum entwickeln kann. Dieſe beiden verſchiedenen Zeugungsſtoffe, der männliche Samen und das weibliche Ei, werden entweder von einem und demſelben Individuum erzeugt (Hermaphroditismus) oder von zwei verſchiedenen Individuen (Gonochorismus) (Gen. Morph. II., 58 — 59). Die einfachere Form der geſchlechtlichen Fortpflanzung iſt die Zwitterbildung (Hermaphroditismus). Sie findet ſich bei der großen Mehrzahl der Pflanzen, aber nur bei einer großen Minder— zahl der Thiere, z. B. bei den Gartenſchnecken, Blutegeln, Regen- würmern und vielen andern Würmern. Jedes einzelne Individuum erzeugt als Zwitter (Hermaphroditus) in ſich beiderlei Geſchlechts— ſtoffe, Eier und Samen. Bei den meiſten höheren Pflanzen enthält jede Blüthe ſowohl die männlichen Organe (Staubfäden und Staub— beutel) als die weiblichen Organe (Griffel und Fruchtknoten). Jede Gartenſchnecke erzeugt an einer Stelle ihrer Geſchlechtsdrüſe Eier, an einer andern Samen. Viele Zwitter können ſich ſelbſt befruchten; bei anderen dagegen iſt eine Copulation und gegenſeitige Befruchtung zweier Zwitter nothwendig, um die Eier zur Entwickelung zu veran- laſſen. Dieſer letztere Fall iſt offenbar ſchon der Uebergang zur Ge— ſchlechtstrennung. Die Geſchlechtstrennung (Gonochorismus), die verwickel⸗ tere von beiden Arten der geſchlechtlichen Zeugung, hat ſich offenbar erſt in einer viel ſpäteren Zeit der organiſchen Erdgeſchichte aus der Zwit— terbildung entwickelt. Sie iſt gegenwärtig die allgemeine Fortpflan⸗ zungsart der höheren Thiere, findet ſich dagegen nur bei einer ge— ringeren Anzahl von Pflanzen (z. B. manchen Waſſerpflanzen, Hydro- charis, Vallisneria) und Bäumen (Weiden, Pappeln). Jedes or- ganiſche Individuum als Nichtzwitter (Gonochoristus) erzeugt in Jungfräuliche Zeugung oder Parthenogeneſis. 153 ſich nur einen von beiden Zeugungsſtoffen, entweder männlichen oder weiblichen. Die weiblichen Individuen bilden bei den Thieren Eier, bei den Pflanzen den Eiern entſprechende Zellen (Embryo— bläschen bei den Phanerogamen, Archegoniumcentralzellen bei den höheren Kryptogamen). Die männlichen Individuen ſondern bei den Thieren den befruchtenden Samen (Sperma) ab, bei den Pflanzen dem Sperma entſprechende Körperchen (Pollenkörner oder Blüthen— ſtaub bei den Phanerogamen, bei den Kryptogamen ein Sperma, welches gleich demjenigen der meiſten Thiere aus lebhaft beweglichen, in einer Flüſſigkeit ſchwimmenden Fäden beſteht). Eine intereſſante Uebergangsform von der geſchlechtlichen Zeu— gung zu der (diefer nächſtſtehenden) ungeſchlechtlichen Keimzellenbil— dung bietet die ſogenannte jungfräuliche Zeugung (Partheno- genesis) dar, welche bei den Inſecten in neuerer Zeit vielfach beob— achtet worden iſt. Hier werden Keimzellen, die ſonſt den Eizellen ganz ähnlich erſcheinen und ebenſo gebildet werden, fähig, zu neuen Individuen ſich zu entwickeln, ohne des befruchtenden Samens zu bedürfen. Die merkwürdigſten und lehrreichſten von den verſchie— denen parthenogenetiſchen Erſcheinungen bieten uns diejenigen Fälle, in denen dieſelben Keimzellen, je nachdem ſie befruchtet werden oder nicht, verſchiedene Individuen erzeugen. Bei unſeren gewöhnlichen Honigbienen entſteht aus den Eiern der Königin ein männliches In— dividuum, wenn das Ei nicht befruchtet wird, ein weibliches, wenn das Ei befruchtet wird, eine Erſcheinung, die ſchon dem Ariſtoteles bekannt geweſen zu ſein ſcheint, die aber neuerdings erſt wieder voll— kommen feſtgeſtellt wurde. Es zeigt ſich hier deutlich, daß in der That eine tiefe Kluft zwiſchen geſchlechtlicher und geſchlechtsloſer Zeu— gung nicht exiſtirt, daß beide Formen vielmehr unmittelbar zuſammen— hängen. Offenbar iſt die geſchlechtliche Zeugung, die als ein fo wun— derbarer, räthſelhafter Vorgang erſcheint, erſt in ſehr ſpäter Zeit aus gewiſſen Formen der ungeſchlechtlichen Zeugung hervorgegangen. Wenn wir aber bei der letzteren die Vererbung als eine nothwendige 154 Vererbung durch geſchlechtliche Fortpflanzung. Theilerſcheinung der Fortpflanzung betrachten müſſen, ſo werden wir das auch bei der erſteren können. In allen verſchiedenen Fällen der Fortpflanzung iſt das Weſentliche dieſes Vorgangs immer die Ablöſung eines Theiles des elterlichen Or— ganismus und die Befähigung deſſelben zur individuellen, ſelbſtſtändigen Exiſtenz. In allen Fällen dürfen wir daher von vornherein ſchon erwar— ten, daß die kindlichen Individuen, die ja, wie man ſich ausdrückt, Fleiſch und Bein der Eltern ſind, zugleich immer dieſelben Lebenserſcheinungen und Formeigenſchaften erlangen werden, welche die elterlichen Individuen beſitzen. Immer iſt es nur eine größere oder geringere Quantität der el— terlichen Materie, welche auf das kindliche Individuum übergeht. Mit der Materie werden aber auch deren Lebenseigenſchaften übertragen, welche ſich dann in ihrer Form äußern. Wenn Sie ſich die angeführte Kette von verſchiedenen Fortpflanzungsformen in ihrem Zuſammenhange vor Augen ſtellen, ſo verliert die Vererbung durch geſchlechtliche Zeu— gung ſehr Viel von dem Räthſelhaften und Wunderbaren, das ſie auf den erſten Blick für den Laien beſitzt. Es erſcheint anfänglich höchſt wunderbar, daß bei der geſchlechtlichen Fortpflanzung des Menſchen, wie aller höheren Thiere, das kleine Ei, eine für das bloße Auge oft kaum ſichtbare Zelle (beim Menſchen und den anderen Säugethieren nur von 1 Linie Durchmeſſer) im Stande iſt, alle Eigenſchaften des mütterlichen Organismus auf den kindlichen zu übertragen; und nicht weniger räthſelhaft muß es erſcheinen, daß zugleich die weſentlichen Eigenſchaften des väterlichen Organismus auf den kindlichen über— tragen werden vermittelſt des männlichen Sperma, welches die Eizelle befruchtete, vermittelſt einer ſchleimigen Maſſe, in der unendlich feine Eiweißfäden, die Samenfäden, ſich umherbewegen. Sobald Sie aber jene zuſammenhängende Stufenleiter der verſchiedenen Fortpflanzungs— arten vergleichen, bei welcher der kindliche Organismus als überſchüſ— ſiges Wachsthumsproduct des Elternindividuums ſich immer mehr von erſterem abſondert, und immer frühzeitiger die ſelbſtſtändige Laufbahn betritt; ſobald Sie zugleich erwägen, daß auch das Wachsthum und die Ausbildung jedes höheren Organismus bloß auf der Vermehrung Vererbung durch geſchlechtliche Fortpflanzung. 155 der ihn zuſammenſetzenden Zellen, auf der einfachen Fortpflanzung durch Theilung beruht, ſo wird es Ihnen klar, daß alle dieſe merk— würdigen Vorgänge in eine Reihe gehören, und daß überall die Uebertragung eines Theiles der elterlichen Materie auf den kindlichen Organismus einzig und allein die Urſache der Vererbung, die mecha— niſche Urſache der Uebertragung auch der Formen und Lebenser— ſcheinungen vom zeugenden auf den erzeugten Organismus iſt. Das Leben jedes organiſchen Individuums iſt Nichts weiter, als eine zuſammenhängende Kette von ſehr verwickelten materiellen Bewe— gungserſcheinungen. Die ſpecifiſch beſtimmte Richtung dieſer gleich— artigen, anhaltenden, immanenten Lebensbewegung wird in jedem Or— ganismus durch die materielle Beſchaffenheit, durch die chemiſche Miſchung des eiweißartigen Zeugungsſtoffes bedingt, welcher ihm den Urſprung gab. Bei dem Menſchen, wie bei den höheren Thieren, welche geſchlechtlich ſich fortpflanzen, beginnt die individuelle Lebens— bewegung in dem Momente, in welchem die Eizelle von den Sa— menfäden des Sperma befruchtet wird, in welchem beide Zeugungs— ſtoffe ſich thatſächlich vermiſchen, und hier wird nun die Richtung der Lebensbewegung durch die ſpecifiſche, oder richtiger individuelle Be— ſchaffenheit ſowohl des Samens als des Eies beſtimmt. Ueber die rein mechaniſche, materielle Natur dieſes Vorgangs kann kein Zwei— fel ſein. Aber ſtaunend und bewundernd müſſen wir hier vor der unendlichen, für uns unfaßbaren Feinheit der eiweißartigen Materie ſtill ſtehen. Staunen müſſen wir über die unleugbare Thatſache, daß die einfache Eizelle der Mutter, der einzige Samenfaden des Vaters die individuelle Lebensbewegung dieſer beiden Individuen ſo genau auf das Kind überträgt, daß nachher die feinſten körperlichen und geiſtigen Eigenthümlichkeiten der beiden Eltern an dieſem wieder zum Vorſchein kommen. Hier ſtehen wir vor einer mechaniſchen Naturerſcheinung, von welcher Virchow, der geiſtvolle Begründer der „Cellularpathologie“, mit vollem Rechte ſagt: „Wenn der Naturforſcher dem Gebrauche der Geſchichtſchreiber und Kanzelredner zu folgen liebte, ungeheure und 156 Vererbung durch geſchlechtliche und ungeſchlechtliche Fortpflanzung. in ihrer Art einzige Erſcheinungen mit dem hohlen Gepränge ſchwerer und tönender Worte zu überziehen, ſo wäre hier der Ort dazu; denn wir ſind an eines der großen Myſterien der thieriſchen Natur getreten, welche die Stellung des Thieres gegenüber der ganzen übrigen Er— ſcheinungswelt enthalten. Die Frage von der Zellenbildung, die Frage von der Erregung anhaltender gleichartiger Bewegung, endlich die Fragen von der Selbſtſtändigkeit des Nervenſyſtems und der Seele — das ſind die großen Aufgaben, an denen der Menſchengeiſt ſeine Kraft mißt. Die Beziehung des Mannes und des Weibes zur Eizelle zu er— kennen, heißt faſt fo viel, als alle jene Myſterien löſen. Die Entfte- hung und Entwickelung der Eizelle im mütterlichen Körper, die Ueber⸗ tragung körperlicher und geiſtiger Eigenthümlichkeiten des Vaters durch den Samen auf dieſelbe, berühren alle Fragen, welche der Menſchen— geiſt je über des Menſchen Sein aufgeworfen hat 12).“ Und, fügen wir hinzu, ſie löſen dieſe höchſten Fragen mittelſt der Deſcendenztheorie in rein mechaniſchem, rein moniſtiſchem Sinne! Daß alſo auch bei der geſchlechtlichen Fortpflanzung des Men— ſchen und aller höheren Organismen die Vererbung, ein rein mechani— ſcher Vorgang, unmittelbar durch den materiellen Zuſammenhang des zeugenden und des gezeugten Organismus bedingt iſt, ebenſo wie bei der einfachſten ungeſchlechtlichen Fortpflanzung der niederen Organis— men, darüber kann kein Zweifel mehr ſein. Doch will ich Sie bei dieſer Gelegenheit ſogleich auf einen wichtigen Unterſchied aufmerkſam machen, welchen die Vererbung bei der geſchlechtlichen und bei der un— geſchlechtlichen Fortpflanzung darbietet. Es iſt eine längſt bekannte Thatſache, daß die individuellen Eigenthümlichkeiten des zeugenden Organismus viel genauer durch die ungeſchlechtliche als durch die ge— ſchlechtliche Fortpflanzung auf das erzeugte Individuum übertragen werden. Die Gärtner machen von dieſer Thatſache ſchon lange vielfach Gebrauch. Wenn z. B. in einem Garten zufällig ein einzelnes Indi- viduum von einer Baumart, welche ſonſt ſteife, aufrecht ſtehende Aeſte und Zweige trägt, herabhängende Zweige bekömmt, ſo kann der Gärtner in der Regel dieſe Eigenthümlichkeit nicht durch geſchlechtliche, Unterſchied der geſchlechtlichen und ungeſchlechtlichen Vererbung. 157 ſondern nur durch ungeſchlechtliche Fortpflanzung vererben. Die von einem ſolchen Trauerbaum abgeſchnittenen Zweige, als Stecklinge ge— pflanzt, bilden ſpäterhin Bäume, welche ebenfalls hängende Aeſte haben, wie z. B. die Trauerweiden, Trauerbuchen. Samenpflanzen dagegen, welche man aus den Samen eines ſolchen Trauerbaumes zieht, erhalten in der Regel wieder die urſprüngliche, ſteife und auf⸗ rechte Zweigform der Voreltern. In ſehr auffallender Weiſe kann man daſſelbe auch an den ſogenannten „Blutbäumen“ wahrnehmen, d. h. Spielarten von Bäumen, welche ſich durch rothe oder rothbraune Farbe der Blätter auszeichnen. Abkömmlinge von ſolchen Blutbäu— men (3. B. Blutbuchen), welche man durch ungeſchlechtliche Fortpflan⸗ zung, durch Stecklinge von Knospen und Zweigen erzeugt, zeigen die eigenthümliche Farbe und Beſchaffenheit der Blätter, welche das elter⸗ liche Individuum auszeichnet, während andere, aus den Samen der Blutbäume gezogene Individuen in die grüne Blattfarbe zurückſchlagen. Dieſer Unterſchied in der Vererbung wird Ihnen ſehr natürlich vorkommen, ſobald Sie erwägen, daß der materielle Zuſammenhang zwiſchen zeugenden und erzeugten Individuen bei der ungeſchlechtlichen Fortpflanzung viel inniger iſt und viel länger dauert, als bei der ge— ſchlechtlichen. Auch geht bei der letzteren ein viel kleineres Stück der elterlichen Materie auf den kindlichen Organismus über, als bei der erſteren. Die individuelle Richtung der Lebensbewegung kann ſich daher bei der ungeſchlechtlichen Fortpflanzung viel länger und gründ— licher in dem kindlichen Organismus befeſtigen, und viel ſtrenger ver- erben. Alle dieſe Erſcheinungen im Zuſammenhang betrachtet bezeugen klar, daß die Vererbung der körperlichen und geiſtigen Eigenſchaften ein rein materieller, mechaniſcher Vorgang iſt, und daß die Uebertra— gung eines größern oder geringern Stofftheilchens vom elterlichen Or— ganismus auf den kindlichen die einzige Urſache der Aehnlichkeit zwi— ſchen Beiden iſt. Sie erklären uns hinlänglich, warum auch die feine— ren Eigenthümlichkeiten, die an der Materie des elterlichen Organis— mus haften, früher oder ſpäter an der Materie des kindlichen Or— ganismus wieder erſcheinen. Neunter Vortrag. Vererbungsgeſetze. Aupaſſung und Ernährung. Unterſcheidung der erhaltenden und fortſchreitenden Vererbung. Geſetze der erhaltenden oder conſervativen Erblichkeit: Vererbung ererbter Charaktere. Unun⸗ terbrochene oder continuirliche Vererbung. Unterbrochene oder latente Vererbung. Generationswechſel. Rückſchlag. Verwilderung. Geſchlechtliche oder ſexuelle Ver⸗ erbung. Secundäre Sexualcharaktere. Gemiſchte oder amphigone Vererbung. Ba⸗ ſtardzeugung. Abgekürzte oder vereinfachte Vererbung. Geſetze der fortſchreitenden oder progreſſiven Erblichkeit: Vererbung erworbener Charactere. Angepaßte oder erworbene Vererbung. Befeſtigte oder conſtituirte Vererbung. Gleichzeitliche oder homochrone Vererbung. Gleichörtliche oder homotope Vererbung. Anpaſſung und Veränderlichkeit. Zuſammenhang der Anpaſſung und der Ernährung. Unterſchei⸗ dung der indiveeten und directen Anpaſſung. Meine Herren! Von den beiden allgemeinen Lebensthätigkeiten der Organismen, der Anpaſſung und der Vererbung, welche in ihrer Wechſelwirkung die verſchiedenen Organismenarten hervorbringen, haben wir im letzten Vortrage die Vererbung betrachtet und wir haben verſucht, dieſe in ihren Wirkungen fo räthſelhafte Lebensthätigkeit zu⸗ rückzuführen auf eine andere phyſiologiſche Function der Organismen, auf die Fortpflanzung. Dieſe beruht ihrerſeits wieder, wie alle an— deren Lebenserſcheinungen der Thiere und Pflanzen, auf phyſikaliſchen und chemiſchen Verhältniſſen, welche allerdings bisweilen äußerſt ver— wickelt erſcheinen, dennoch aber im Grunde auf einfache, mechaniſche Unterſcheidung der erhaltenden und fortſchreitenden Vererbung. 159 Urſachen, auf Anziehungs- und Abſtoßungsverhältniſſe der Stoff— theilchen, auf Bewegungserſcheinungen der Materie zurückzufüh— ren ſind. Bevor wir nun zur zweiten, der Vererbung entgegenwirkenden Function, der Erſcheinung der Anpaſſung oder Abänderung übergehen, erſcheint es zweckmäßig, zuvor noch einen Blick auf die verſchiedenen Aeußerungsweiſen der Erblichkeit zu werfen, welche man vielleicht ſchon jetzt als „Vererbungsgeſetze“ aufſtellen kann. Leider iſt für dieſen ſo außerordentlich wichtigen Gegenſtand ſowohl in der Zoolo— gie, als auch in der Botanik, bisher nur ſehr Wenig geſchehen, und faſt Alles, was man von den verſchiedenen Vererbungsgeſetzen weiß, beruht auf den Erfahrungen der Landwirthe und der Gärtner. Daher iſt es nicht zu verwundern, daß im Ganzen dieſe äußerſt intereſſanten und wichtigen Erſcheinungen nicht mit der wünſchenswerthen wiſſenſchaft— lichen Schärfe unterſucht und in die Form von naturwiſſenſchaftlichen Geſetzen gebracht worden ſind. Was ich Ihnen demnach im Folgen— den von den verſchiedenen Vererbungsgeſetzen mittheilen werde, ſind nur einige Bruchſtücke, die vorläufig aus dem unendlich reichen Schatz, welcher für die Erkenntniß hier offen liegt, herausgenommen werden. Wir können zunächſt alle verſchiedenen Erblichkeitserſcheinungen in zwei Gruppen bringen, welche wir als Vererbung ererbter Cha— ractere und Vererbung erworbener Charactere unterſcheiden; und wir können die erſtere als die erhaltende (confervative) Vererbung, die zweite als die fortſchreitende (progreſſive) Vererbung bezeich— nen. Dieſe Unterſcheidung beruht auf der äußerſt wichtigen Thatſache, daß die Einzelweſen einer jeden Art von Thieren und Pflanzen nicht allein diejenigen Eigenſchaften auf ihre Nachkommen vererben können, welche ſie ſelbſt von ihren Vorfahren ererbt haben, ſondern auch die eigenthümlichen, individuellen Eigenſchaften, die ſie erſt während ihres Lebens erworben haben. Dieſe letzteren werden durch die fortſchrei— tende, die erſteren durch die erhaltende Erblichkeit übertragen. Zu— nächſt haben wir nun hier die Erſcheinungen der conſervativen oder erhaltenden Vererbung zu unterſuchen, d. h. der Berer- 160 Ununterbrochene oder continuirliche Vererbung. bung ſolcher Eigenſchaften, welcher der betreffende Organismus ſelbſt von ſeinen Eltern oder Vorfahren ſchon erhalten hat (Gen. Morph. II, 180). Unter den Erſcheinungen der conſervativen Vererbung tritt uns zunächſt als das allgemeinſte Geſetz dasjenige entgegen, welches wir das Geſetz der ununterbrochenen oder continuirlichen Vererbung nennen können. Daſſelbe hat unter den höheren Thie— ren und Pflanzen ſo allgemeine Gültigkeit, daß der Laie zunächſt ſeine Wirkſamkeit überſchätzen und es für das einzige, allein maßge⸗ bende Vererbungsgeſetz halten dürfte. Es beſteht dieſes Geſetz einfach darin, daß innerhalb der meiſten Thier- oder Pflanzenarten jede Ge- neration im Ganzen der andern gleich iſt, daß die Eltern ebenſo den Großeltern, wie den Kindern ähnlich ſind. „Gleiches erzeugt Glei— ches“, ſagt man gewöhnlich, richtiger aber: „Aehnliches erzeugt Aehn— liches“. Denn in der That ſind die Nachkommen oder Deſcendenten eines jeden Organismus demſelben niemals in allen Stücken abſolut gleich, ſondern immer nur in einem mehr oder weniger hohen Grade ähnlich. Dieſes Geſetz iſt ſo allgemein bekannt, daß ich keine Bei— ſpiele dafür anzuführen brauche. In einem gewiſſen Gegenſatze zu demſelben ſteht das Geſetz der unterbrochenen oder latenten Vererbung, welche man auch als abwechſelnde oder alternirende Vererbung bezeichnen könnte. Dieſes wichtige Geſetz erſcheint hauptſächlich in Wirkſamkeit bei vielen niederen Thieren und Pflanzen, und äußert ſich hier, im Gegenſatz zu dem erſteren, darin, daß die Kinder den Eltern nicht gleich, ſondern ſehr unähnlich ſind, und daß erſt die dritte oder eine ſpätere Generation der erſten wieder ähnlich wird. Die Enkel ſind den Großeltern gleich, den Eltern aber ganz unähnlich. Es iſt das eine merkwürdige Erſcheinung, welche bekanntermaßen in geringerem Grade auch in den menſchlichen Familien ſehr häufig auftritt. Zwei⸗ felsohne wird Jeder von Ihnen einzelne Familienglieder kennen, welche in dieſer oder jener Eigenthümlichkeit viel mehr dem Großvater oder der Großmutter, als dem Vater oder der Mutter gleichen. Bald ſind Unterbrochene oder latente Vererbung. Generationswechſel. 161 es körperliche Eigenſchaften, z. B. Geſichtszüge, Haarfarbe, Körper— größe, bald geiſtige Eigenheiten, z. B. Temperament, Energie, Verſtand, welche in dieſer Art ſprungweiſe vererbt werden. Ebenſo wie beim Menſchen können Sie dieſe Thatſache bei den Hausthieren beobachten. Bei den am meiſten veränderlichen Hausthieren, beim Hund, Pferd, Rindes, machen die Thierzüchter ſehr häufig die Erfah— rung, daß ihr Züchtungsproduct mehr dem großelterlichen, als dem elterlichen Organismus ähnlich iſt. Wollen Sie dies Geſetz allgemein ausdrücken, und die Reihe der Generationen mit den Buchſtaben des Alphabets bezeichnen, fo wird A=C=E, ferner BD F u. ſ. f. Noch viel auffallender, als bei den höheren, tritt Ihnen bei den niederen Thieren und Pflanzen dieſe ſehr merkwürdige Thatſache ent— gegen, und zwar in dem berühmten Phänomen des Generation 8- wechſels (Metagenesis). Hier finden Sie ſehr häufig z. B. unter den Plattwürmern, Mantelthieren, Pflanzenthieren (Coelenteraten), ferner unter den Farrnkräutern und Mooſen, daß das organiſche In— dividuum bei der Fortpflanzung zunächſt eine Form erzeugt, die gänz— lich von der Elternform verſchieden iſt, und daß erſt die Nachkommen dieſer Generation der erſten wieder ähnlich werden. Dieſer regelmä— ßige Generationswechſel wurde 1819 von dem Dichter Chamiſſo auf feiner Weltumſegelung bei den Salpen entdeckt, cylindriſchen und glasartig durchſichtigen Mantelthieren, welche an der Oberfläche des Meeres ſchwimmen. Hier erzeugt die größere Generation, welche als Einſiedler lebt und ein hufeiſenförmiges Auge beſitzt, auf unge— ſchlechtlſchem Wege (durch Knospenbildung) eine gänzlich verſchiedene kleinere Generation. Die Individuen dieſer zweiten kleineren Gene- ration leben in Ketten vereinigt und beſitzen ein kegelförmiges Auge. Jedes Individuum einer ſolchen Kette erzeugt auf geſchlechtlichem Wege (als Zwitter) wiederum einen geſchlechtsloſen Einſiedler der erſten, grö— ßeren Generation. Es iſt alſo hier bei den Salpen immer die erſte, dritte, fünfte Generation, und ebenſo die zweite, vierte, ſechste Ge— neration einander ganz ähnlich. Nun iſt es aber nicht immer bloß eine Generation, die ſo überſchlagen wird, ſondern in andern Fällen Haeckel, Natürliche Schöpfungsgeſchichte. 11 162 Generationswechſel. Rückſchlag oder Atavismus. auch mehrere, ſo daß alſo die erſte Generation der vierten, ſiebenten u. ſ. w. gleicht, die zweite der fünften und achten, die dritte der ſechs— ten und neunten, und ſo weiter fort. Drei in dieſer Weiſe verſchie— dene Generationen wechſeln z. B. bei den zierlichen Seetönnchen (Doliolum) mit einander ab, kleinen Mantelthieren, welche den Salpen nahe verwandt find. Hier ft AD =, ferner B=E=H, und CSF =I. Bei den Blattläuſen folgt auf jede geſchlechtliche Generation eine Reihe von acht bis zehn bis zwölf ungeſchlechtlichen Generationen, die unter ſich ähnlich und von der geſchlechtlichen ver— ſchieden ſind. Dann tritt erſt wieder eine geſchlechtliche Generation auf, die der längſt verſchwundenen gleich iſt. 8 Wenn Sie dieſes merkwürdige Geſetz der latenten oder unterbro— chenen Vererbung weiter verfolgen und alle dahin gehörigen Erſchei— nungen zuſammenfaſſen, fo können Sie auch die bekannten Erſchei— nungen des Rückſchlags darunter begreifen. Unter Rückſchlag oder Atavismus im engeren Sinne — im weiteren Sinne nennt man überhaupt die Erblichkeit Atavismus — verſteht man die allen Thierzüchtern bekannte merkwürdige Thatſache, daß bisweilen einzelne Thiere eine Form annehmen, welche ſchon ſeit vielen Generationen nicht vorhanden war, welche einer längſt entſchwundenen Generation angehört. Eines der merkwürdigſten hierher gehörigen Beiſpiele iſt die Thatſache, daß bei einzelnen Pferden bisweilen ganz characteriſti— ſche dunkle Streifen auftreten, ähnlich denen des Zebra, Quagga und anderer wilden Pferdearten Africas. Hauspferde von den ver— ſchiedenſten Raſſen und von allen Farben zeigen bisweilen ſolche dunkle Streifen, z. B. einen Längsſtreifen des Rückens, Querſtreifen der Schultern und der Beine u. ſ. w. Die plötzliche Erſcheinung dieſer Streifen läßt ſich nur erklären als eine Wirkung der latenten Vererbung. als ein Rückſchlag in die längſt verſchwundene uralte gemeinſame Stammform aller Pferdearten, welche zweifelsohne gleich den Zebras, Quaggas u. ſ. w. geſtreift war. Ebenſo erſcheinen auch bei andern Hausthieren oft plötzlich gewiſſe Eigenſchaften wieder, welche ihre längſt ausgeſtorbenen wilden Stammeltern auszeichneten. Auch unter Rückſchlag oder Atavismus. Affenmenſchen oder Mikrocephalen. 163 den Pflanzen kann man den Rückſchlag ſehr häufig beobachten. Sie kennen wohl Alle das wilde gelbe Löwenmaul (Linaria vulgaris), eine auf unſern Aeckern und Wegen ſehr gemeine Pflanze. Die rachen— förmige gelbe Blüthe derſelben enthält zwei lange und zwei kurze Staubfäden. Bisweilen aber erſcheint eine einzelne Blüthe (Peloria), welche trichterförmig und ganz regelmäßig aus fünf einzelnen gleichen Abſchnitten zuſammengeſetzt iſt, mit fünf gleichartigen Staubfäden. Dieſe Peloria können wir nur erklären als einen Rückſchlag in die längſt entſchwundene uralte gemeinſame Stammform aller derjenigen Pflanzen, welche gleich dem Löwenmaul eine rachenförmige zweilippige Blüthe mit zwei langen und zwei kurzen Staubfäden beſitzen. Jene Stammform beſaß gleich der Peloria eine regelmäßige fünftheilige Blüthe mit fünf gleichen, ſpäter erſt allmählich ungleich werdenden Staubfäden (Vergl. oben S. 12, 14). Alle ſolche Rückſchläge ſind unter das Geſetz der unterbrochenen oder latenten Vererbung zu bringen; wenn gleich die Zahl der Generationen, die überſprungen wird, ganz ungeheuer groß ſein kann. Das iſt auch bei den Rückſchlägen des Menſchen der Fall, z. B. bei den kürzlich von Carl Vogt unter ſuchten Affen menſchen (Microcephali). Dieſe Mißgeburten, von denen man ſchon gegen fünfzig genauer kennt, find Hemmungsbildun— gen, bei denen zwar der Körper ſonſt gut entwickelt iſt, aber das Ge— hirn und der Gehirnſchädel auf der niederen Stufe unſerer uralten Voreltern, der Affen, ſtehen geblieben iſt. Demgemäß ſind auch die Seelenerſcheinungen der Affenmenſchen, welche von ganz geſunden Eltern erzeugt ſind, nicht denen der Menſchen, ſondern der Affen gleich. Es find, zum Theil wenigſtens, Rückſchläge in die längſt aus⸗ geſtorbene affenartige Stammform des Menſchen. Wenn Culturpflanzen oder Hausthiere verwildern, wenn ſie den Bedingungen des Culturlebens entzogen werden, ſo gehen ſie Ver— änderungen ein, welche nicht als bloße Anpaſſung an die neuerwor⸗ bene Lebensweiſe erſcheinen, ſondern als Rückſchlag in die uralte Stammform, aus welcher die Culturformen erzogen worden ſind. So kann man die verſchiedenen Sorten des Kohls, die ungemein in 11 * 164 Geſchlechtliche oder exuelle Vererbung. Secundäre Sexualcharaktere. ihrer Form verſchieden ſind, durch abſichtliche Verwilderung allmählich auf die urſprüngliche Stammform zurückführen. Ebenſo ſchlagen die verwildernden Hunde, Pferde, Rinder u. ſ. w. oft mehr oder weni⸗ ger in die längſt ausgeſtorbene Generation zurück. Es kann eine er— ſtaunlich lange Reihe von Generationen verfließen, ehe dieſe latente Vererbungskraft erliſcht. Als ein drittes Geſetz der erhaltenden oder conſervativen Verer— bung können wir das Geſetz der geſchlechtlichen oder ſexu— ellen Vererbung bezeichnen, nach welchem jedes Geſchlecht auf ſeine Nachkommen deſſelben Geſchlechts Eigenthümlichkeiten überträgt, welche es nicht auf die Nachkommen des andern Geſchlechts vererbt. Die ſogenannten „ſecundären Sexualcharaktere“, welche in mehrfacher Beziehung von außerordentlichem Intereſſe ſind, liefern für dieſes Geſetz überall zahlreiche Beiſpiele. Als untergeordnete oder ſecundäre Sexualcharaktere bezeichnet man ſolche Eigenthümlichkeiten des einen der beiden Geſchlechter, welche nicht unmittelbar mit den Geſchlechts⸗ organen ſelbſt zuſammenhängen. Solche Charaktere, welche bloß dem männlichen Geſchlecht zukommen, ſind z. B. das Geweih des Hirſches, die Mähne des Löwen, der Sporn des Hahns. Hierher gehört auch der menſchliche Bart, eine Zierde, welche gewöhnlich dem weiblichen Geſchlecht verſagt iſt. Aehnliche Charaktere, welche bloß das weib— liche Geſchlecht auszeichnen, ſind z. B. die entwickelten Brüſte mit den Milchdrüſen der weiblichen Säugethiere, der Beutel der weiblichen Beutelthiere. Auch Körpergröße und Hautfärbung iſt bei den weib— lichen Thieren vieler Arten abweichend. Alle dieſe ſecundären Ge- ſchlechtseigenſchaften werden, ebenſo wie die Geſchlechtsorgane ſelbſt, vom männlichen Organismus nur auf den männlichen vererbt, und nicht auf den weiblichen, und umgekehrt. Die entgegengeſetzten That⸗ ſachen ſind Ausnahmen von der Regel. Ein viertes hierher gehöriges Vererbungsgeſetz ſteht in gewiſſem Sinne im Widerſpruch mit dem letzterwähnten, und beſchränkt daſſelbe, nämlich das Geſetz der gemiſchten oder beiderſeitigen (amphigonen) Vererbung. Dieſes Geſetz ſagt aus, daß ein Gemiſchte oder amphigone Vererbung. Baſtardzeugung. 165 jedes organiſche Individuum, welches auf geſchlechtlichem Wege er- zeugt wird, von beiden Eltern Eigenthümlichkeiten annimmt, ſowohl vom Vater als von der Mutter. Dieſe Thatſache, daß von jedem der beiden Geſchlechter perſönliche Eigenſchaften auf alle, ſowohl männliche als weibliche Kinder übergehen, iſt ſehr wichtig. Goethe drückt ſie von ſich ſelbſt in dem hübſchen Verſe aus: „Vom Vater hab ich die Statur, des Lebens ernſtes Führen, „Vom Mütterchen die Frohnatur und Luſt zu fabuliren.“ Dieſe Erſcheinung wird Ihnen allen ſo bekannt ſein, daß ich hier darauf nicht weiter einzugehen brauche. Durch den verſchiedenen Antheil ihres Charakters, welchen Vater und Mutter auf ihre Kinder vererben, werden vorzüglich die individuellen Verſchiedenheiten der Geſchwiſter bedingt. Unter dieſes Geſetz der gemiſchten oder amphigonen Vererbung ge— hört auch die ſehr wichtige und intereſſante Erſcheinung der Ba— ſtardzeugung (Hybridismus). Richtig gewürdigt, genügt ſie allein ſchon vollſtändig, um das herrſchende Dogma von der Conſtanz der Arten zu widerlegen. Pflanzen ſowohl als Thiere, welche zwei ganz verſchiedenen Species angehören, können ſich mit einander geſchlecht— lich vermiſchen und eine Nachkommenſchaft erzeugen, die in vielen Fällen ſich ſelbſt wieder fortpflanzen kann, und zwar entweder (häufi⸗ ger) durch Vermiſchung mit einem der beiden Stammeltern, oder aber (ſeltener) durch reine Inzucht, indem Baſtard ſich mit Baſtard ver- miſcht. Das letztere iſt z. B. bei den Baſtarden von Haſen und Ka— ninchen feſtgeſtellt. Allbekannt ſind die Baſtarde zwiſchen Pferd und Eſel, zwei ganz verſchiedenen Arten einer Gattung (Equus). Dieſe Baſtarde ſind verſchieden, je nachdem der Vater oder die Mutter zu der einen oder zu der andern Art, zum Pferd oder zum Eſel gehört. Das Maulthier (Mulus), welches von einer Pferdeſtute und einem Eſelhengſt erzeugt iſt, hat ganz andere Eigenſchaften als der Maul— efel (Hinnus), der Baſtard vom Pferdehengſt und der Eſelsſtute. In jedem Fall iſt der Baſtard (Hybrida), der aus der Kreuzung zweier verſchiedener Arten erzeugte Organismus, eine Miſchform, 166 Baſtardzeugung. Abgekürzte oder vereinfachte Vererbung. welche Eigenſchaften von beiden Eltern angenommen hat; allein die Eigenſchaften des Baſtards ſind ganz verſchieden, je nach der Form der Kreuzung. So zeigen auch die Mulattenkinder, welche von einem Europäer mit einer Negerin erzeugt werden, eine andere Miſchung der Charactere, als diejenigen Baſtarde, welche ein Neger mit einer Eu— ropäerin erzeugt. Bei dieſen Erſcheinungen der Baſtardzeugung ſind wir wie bei den anderen vorher erwähnten Vererbungsgeſetzen jetzt noch nicht im Stande, die mechaniſchen Urſachen im Einzelnen nach— zuweiſen. Aber kein Naturforſcher zweifelt daran, daß die Urſachen hier überall rein mechaniſch, in der Natur der organiſchen Materie ſelbſt begründet ſind. Wenn wir feinere Unterſuchungsmittel als un— ſere groben Sinnesorgane und deren Hülfsmittel hätten, ſo würden wir jene mechaniſchen Urſachen erkennen, und ſicherlich auf die chemi— ſchen und phyſikaliſchen Eigenſchaften der Materie, aus welcher der Organismus beſteht, zurückführen können. Als ein fünftes Geſetz müſſen wir nun unter den Erſcheinungen der conſervativen oder erhaltenden Vererbung noch das Geſetz der abgekürzten oder vereinfachten Vererbung anführen. Daſſelbe iſt ſehr wichtig für die Embryologie oder Ontogenie, d. h. für die Entwickelungsgeſchichte der organiſchen Individuen. Wie ich bereits im erſten Vortrage (S. 9) erwähnte und ſpäter noch ausführ- lich zu erläutern habe, iſt die Ontogenie oder die Entwidelungs- geſchichte der Individuen weiter nichts als eine kurze und ſchnelle, durch die Geſetze der Vererbung und Anpaſſung bedingte Wieder— holung der Phylogenie, d.h. der paläontologiſchen Entwickelungs— geſchichte des ganzen organiſchen Stammes oder Phylum, zu wel- chem der betreffende Organismus gehört. Wenn Sie z. B. die indi- viduelle Entwickelung des Menſchen, des Affen, oder irgend eines anderen höheren Säugethieres innerhalb des Mutterleibes vom Ei an verfolgen, ſo finden Sie, daß der aus dem Ei entſtehende Keim oder Embryo eine Reihe von ſehr verſchiedenen Formen durchläuft, welche im Ganzen übereinſtimmt oder wenigſtens parallel iſt mit der Formenreihe, welche die hiſtoriſche Vorfahrenkette der höheren Säuge— Geſetze der fortſchreitenden oder progreſſiven Vererbung. 167 thiere uns darbietet. Zu dieſen Vorfahren gehören gewiſſe Fiſche, Amphibien, Beutelthiere u. ſ. w. Allein der Parallelismus oder die Uebereinſtimmung dieſer beiden Entwickelungsreihen iſt niemals ganz vollſtändig. Vielmehr ſind in der Ontogenie immer Lücken und Sprünge, welche dem Ausfall einzelner Stadien der Phylogenie ent— ſprechen. Wie Fritz Müller in ſeiner ausgezeichneten Schrift „Für Darwin“ 16) an dem Beiſpiel der Cruſtaceen oder Krebſe vortrefflich erläutert hat „wird die in der individuellen Entwickelungs— geſchichte erhaltene geſchichtliche Urkunde allmählich verwiſcht, indem die Entwickelung einen immer geraderen Weg vom Ei zum fertigen Thiere einſchlägt.“ Dieſe Verwiſchung oder Abkürzung wird durch das Geſetz der abgekürzten Vererbung bedingt, und ich will daſſelbe hier deshalb beſonders hervorheben, weil es von großer Bedeutung für das Verſtändniß der Embryologie iſt, und die anfangs befrem— dende Thatſache erklärt, daß nicht alle Entwickelungsformen, welche unſere Stammeltern durchlaufen haben, in der Formenreihe unſerer eigenen individuellen Entwickelung noch ſichtbar ſind. Den bisher erörterten Geſetzen der erhaltenden oder conſerva— tiven Vererbung ſtehen nun gegenüber die Vererbungserſcheinungen der zweiten Reihe, die Geſetze der fortſchreitenden oder pro— greſſiven Vererbung. Sie beruhen, wie erwähnt, darauf, daß der Organismus nicht allein diejenigen Eigenſchaften auf ſeine Nach— kommen überträgt, die er bereits von den Voreltern ererbt hat, ſondern auch eine Anzahl von denjenigen individuellen Eigenthümlichkeiten, welche er ſelbſt erſt während ſeines Lebens erworben hat. Die Anpaſſung verbindet ſich hier bereits mit der Vererbung. (Gen. Morph. II, 186). Unter dieſen wichtigen Erſcheinungen der fortſchreitenden oder progreſſiven Vererbung können wir an die Spitze als das allgemeinſte das Geſetz der angepaßten oder erworbenen Verer— bung ſtellen. Daſſelbe beſagt eigentlich weiter Nichts, als was ich eben ſchon ausſprach, daß unter beſtimmten Umſtänden der Organis— mus fähig iſt, alle Eigenſchaften auf ſeine Nachkommen zu vererben, welche er ſelbſt erſt während ſeines Lebens durch Anpaſſung erworben 168 Angepaßte oder erworbene Vererbung. hat. Am deutlichſten zeigt ſich dieſe Erſcheinung natürlich dann, wenn die neu erworbene Eigenthümlichkeit die ererbte Form bedeutend ab- ändert. Das war in den Beiſpielen der Fall, welche ich Ihnen in dem vorigen Vortrage von der Vererbung überhaupt angeführt habe, bei den Menſchen mit ſechs Fingern und Zehen, den Stachelſchwein— menſchen, den Blutbuchen, Trauerweiden u. ſ. w. Auch die Verer⸗ bung erworbener Krankheiten, z. B. der Schwindſucht, des Wahn— ſinns, beweiſt dies Geſetz ſehr auffällig, ebenſo die Vererbung des Albinismus. Albinos oder Kakerlaken nennt man ſolche Individuen, welche ſich durch Mangel der Farbſtoffe oder Pigmente in der Haut auszeichnen. Solche kommen bei Menſchen, Thieren und Pflanzen ſehr verbreitet vor. Bei Thieren, welche eine beſtimmte dunkle Farbe haben, werden nicht ſelten einzelne Individuen geboren, welche der Farbe gänzlich entbehren, und bei den mit Augen verſehenen Thieren iſt dieſer Pigmentmangel auch auf die Augen ausgedehnt, ſo daß die gewöhnlich lebhaft oder dunkel gefärbte Regenbogenhaut oder Iris des Auges farblos iſt, aber wegen der durchſchimmernden Blutgefäße roth erſcheint. Bei manchen Thieren, z. B. den Kaninchen, Mäuſen, ſind ſolche Albinos mit weißem Fell und rothen Augen ſo beliebt, daß man ſie in großer Menge als beſondere Raſſe hält und fortpflanzt. Dies wäre nicht möglich ohne das Geſetz der angepaßten Berer- bung. Welche von einem Organismus erworbene Abänderungen ſich auf ſeine Nachkommen übertragen werden, welche nicht, iſt von vorn— herein nicht zu beſtimmen, und wir kennen leider die beſtimmten Be- dingungen nicht, unter denen die Vererbung erfolgt. Wir wiſſen nur im Allgemeinen, daß gewiſſe erworbene Eigenſchaften ſich viel leichter vererben als andere, z. B. als die durch Verwundung entſtehenden Verſtümmelungen. Dieſe letzteren werden in der Regel nicht erblich übertragen; ſonſt müßten die Descendenten von Menſchen, die ihre Arme oder Beine verloren haben, auch mit dem Mangel des entſpre— chenden Armes oder Beines geboren werden. Ausnahmen ſind aber auch hier vorhanden, und man hat z. B. eine ſchwanzloſe Hunderaſſe Angepaßte oder erworbene Vererbung. 169 dadurch gezogen, daß man mehrere Generationen hindurch beiden Ge— ſchlechtern des Hundes conſequent den Schwanz abſchnitt. Noch vor einigen Jahren kam hier in der Nähe von Jena auf einem Gute der Fall vor, daß beim unvorſichtigen Zuſchlagen des Stallthores einem Zuchtſtier der Schwanz an der Wurzel abgequetſcht wurde, und die von dieſem Stiere erzeugten Kälber wurden ſämmtlich ſchwanzlos geboren. Das iſt allerdings eine Ausnahme. Es iſt aber ſehr wichtig, die Thatſache feſtzuſtellen, daß unter gewiſſen uns unbekann— ten Bedingungen auch ſolche gewaltſame Veränderungen erblich über— tragen werden, in gleicher Weiſe wie es bei Krankheiten ſehr allge— mein der Fall iſt. In ſehr vielen Fällen iſt die Abänderung, welche durch angepaßte Vererbung übertragen und erhalten wird, angeboren, ſo bei dem vor— her erwähnten Albinismus. Dann beruht die Abänderung auf der— jenigen Form der Anpaſſung, welche wir die indirecte oder potentielle nennen. Ein ſehr auffallendes Beiſpiel dafür liefert das hornloſe Rindvieh von Paraguay in Südamerika. Daſelbſt wird eine beſon— dere Rindviehraſſe gezogen, die ganz der Hörner entbehrt, abſtammend von einem einzigen Stiere, welcher im Jahre 1770 von einem ge— wöhnlichen gehörnten Elternpaare geboren wurde, und bei welchem der Mangel der Hörner durch irgendwelche unbekannte Urſache ver— anlaßt worden war. Alle Nachkommen dieſes Stieres, welche er mit einer gehörnten Kuh erzeugte, entbehrten der Hörner vollſtändig. Man fand dieſe Eigenſchaft vortheilhaft, und indem man die unge— hörnten Rinder unter einander fortpflanzte, erhielt man eine hornloſe Rindviehraſſe, welche gegenwärtig die gehörnten Rinder in Paraguay faſt verdrängt hat. Ein ähnliches Beiſpiel liefern die nordamerifani- ſchen Otterſchafe. Im Jahre 1791 lebte in Maſſachuſetts in Nord— amerika ein Landwirth, Seth Wright mit Namen. In ſeiner wohlgebildeten Schafheerde wurde auf einmal ein Lamm geboren, welches einen auffallend langen Leib und ganz kurze und krumme Beine hatte. Es konnte daher keine großen Sprünge machen und na— mentlich nicht über den Zaun in des Nachbars Garten ſpringen; eine 170 Befeſtigte oder conſtituirte Vererbung. Eigenſchaft, welche dem Beſitzer wegen der Abgrenzung des dortigen Gebiets durch Hecken ſehr vortheilhaft erſchien. Er kam alſo auf den Gedanken, dieſe Eigenſchaft auf die Nachkommen zu übertragen, und in der That erzeugte er durch Kreuzung dieſes Schafbocks mit wohlge— bildeten Mutterſchafen eine ganze Raſſe von Schafen, die alle die Ei— genſchaften des Vaters hatten, kurze und gekrümmte Beine und einen langen Leib. Sie konnten alle nicht über die Hecken ſpringen, und wur— den deshalb damals in Maſſachuſetts ſehr beliebt und weit verbreitet. Ein zweites Geſetz, welches ebenfalls unter die Reihe der pro— greſſiven oder fortſchreitenden Vererbung gehört, können wir das Geſetz der befeſtigten oder conſtituirten Vererbung nennen, daſſelbe äußert ſich darin, daß Eigenſchaften, die von einem Organismus während ſeines individuellen Lebens erworben wurden, um ſo ſicherer auf ſeine Nachkommen erblich übertragen werden, je längere Zeit hindurch die Urſachen jener Abänderung einwirken, und daß dieſe Abänderung um ſo ſicherer Eigenthum auch aller folgenden Generationen wird, je längere Zeit hindurch auch auf dieſe die ab— ändernde Urſache einwirkt. Die durch Anpaſſung oder Abänderung neu erworbene Eigenſchaft muß in der Regel erſt bis zu einem ge— wiſſen Grade befeſtigt oder conſtituirt ſein, ehe mit Wahrſcheinlichkeit darauf zu rechnen iſt, daß ſich dieſelbe auch auf die Nachfommen- haft erblich überträgt. Es verhält ſich in dieſer Beziehung die Verer—⸗ bung ähnlich wie die Anpaſſung. Je längere Zeit hindurch eine neuer- worbene Eigenſchaft bereits durch Vererbung übertragen iſt, deſto ſiche— rer wird ſie auch in den kommenden Generationen ſich erhalten. Wenn alſo z. B. ein Gärtner durch methodiſche Behandlung eine neue Aepfel— ſorte gezüchtet hat, ſo kann er um ſo ſicherer darauf rechnen, die er— wünſchte Eigenthümlichkeit dieſer Sorte zu erhalten, je länger er dieſelbe bereits vererbt hat. Daſſelbe zeigt ſich deutlich in der Vererbung von Krankheiten. Je länger bereits in einer Familie Schwindſucht oder Wahnſinn erblich iſt, deſto tiefer gewurzelt iſt das Uebel, deſto wahrſchein⸗ licher werden auch alle folgenden Generationen davon ergriffen werden. Endlich können wir die Betrachtung der Erblichkeitserſcheinungen Gleichzeitliche oder homochrone Vererbung. 171 ſchließen mit den beiden ungemein wichtigen Geſetzen der gleichört— lichen und der gleichzeitlichen Vererbung. Wir verſtehen darunter die Thatſache, daß Veränderungen, welche von einem Organismus wäh— rend ſeines Lebens erworben und erblich auf ſeine Nachkommen über— tragen wurden, bei dieſen an derſelben Stelle des Körpers hervor⸗ treten, an welcher der elterliche Organismus zuerſt von ihnen betrof— fen wurde, und daß ſie bei den Nachkommen auch im gleichen Lebens— alter erſcheinen, wie bei dem erſteren. Das Geſetz der gleichzeitlichen oder homochronen Vererbung, welches Darwin das Geſetz der „Vererbung in correſpondirendem Lebensalter“ nennt, läßt ſich wiederum ſehr deut— lich an der Vererbung von Krankheiten nachweiſen, zumal von ſol— chen, die wegen ihrer Erblichkeit ſehr verderblich werden. Dieſe treten im kindlichen Organismus in der Regel zu einer Zeit auf, welche der— jenigen entſpricht, in welcher der elterliche Organismus die Krankheit erwarb. Erbliche Erkrankungen der Lunge, der Leber, der Zähne, des Gehirns, der Haut u. ſ. w. erſcheinen bei den Nachkommen ge— wöhnlich in der gleichen Zeit oder nur wenig früher, als ſie beim elterlichen Organismus eintraten, oder von dieſem überhaupt erwor⸗ ben wurden. Das Kalb bekommt ſeine Hörner in demſelben Lebens— alter wie ſeine Eltern. Ebenſo erhält das junge Hirſchkalb ſein Ge— weih in derſelben Lebenszeit, in welcher es bei ſeinem Vater und Groß— vater hervorgeſproßt war. Bei jeder der verſchiedenen Weinſorten reifen die Trauben zur ſelben Zeit, wie bei ihren Voreltern. Bekannt⸗ lich iſt dieſe Reifezeit bei den verſchiedenen Sorten ſehr verſchieden; da aber alle von einer einzigen Art abſtammen, iſt dieſe Verſchiedenheit von den Stammeltern der einzelnen Sorten erſt erworben worden und hat ſich dann erblich fortgepflanzt. Das Geſetz der gleichörtlichen oder homotopen Vererbung endlich, welches mit dem letzterwähnten Geſetze im engſten Zuſammenhange fteht, und welches man auch „das Geſetz der Vererbung an correſpondirender Körperſtelle“ nennen könnte, läßt ſich wiederum in pathologiſchen Erblichkeitsfällen ſehr deutlich erkennen. Große Mut— 172 Gleichörtliche oder homotope Vererbung. termaale z. B. oder Pigmentanhäufungen an einzelnen Hautſtellen, ebenſo Geſchwülſte der Haut, erſcheinen oft Generationen hindurch nicht allein in demſelben Lebensalter, ſondern auch an derſelben Stelle der Haut. Ebenſo iſt übermäßige Fettentwickelung an einzelnen Kör⸗ perſtellen erblich. Eigentlich aber ſind für dieſes Geſetz, wie für das vorige, zahlloſe Beiſpiele überall in der Embryologie zu finden. So— wohl das Geſetz der gleichzeitlichen als das Geſetz der gleichörtlichen Vererbung find Grundgeſetze der Em— bryologie oder Ontogenie. Denn wir erklären uns durch dieſe Geſetze die merkwürdige Thatſache, daß die verſchiedenen auf einander folgenden Formzuſtände während der individuellen Entwickelung in allen Generationen einer und derſelben Art ſtets in derſelben Reihen— folge auftreten, und daß die Umbildungen des Körpers immer an den— ſelben Stellen erfolgen. Dieſe ſcheinbar einfache und felbftverftänd- liche Erſcheinung iſt doch überaus wunderbar und merkwürdig; wir können die näheren Urſachen derſelben nicht erklären, aber mit Sicher- heit behaupten, daß fie auf der unmittelbaren Uebertragung der orga— niſchen Materie vom elterlichen auf den kindlichen Organismus be— ruhen, wie wir es im Vorigen für den Vererbungsprozeß im Allge- meinen aus den Thatſachen der Fortpflanzung nachgewieſen haben. Nachdem wir ſo die wichtigſten Vererbungsgeſetze hervorgehoben haben, wenden wir uns zur zweiten Reihe der Erſcheinungen, welche bei der natürlichen Züchtung in Betracht kommen, nämlich zu denen der Anpaſſung oder Abänderung. Dieſe Erſcheinungen ſtehen, im Großen und Ganzen betrachtet, in einem gewiſſen Gegenſatze zu den Vererbungserſcheinungen, und die Schwierigkeit, welche die Betrach— tung beider darbietet, beſteht zunächſt darin, daß beide ſich auf das Vollſtändigſte durchkreuzen und verweben. Daher ſind wir nur ſelten im Stande, bei den Formveränderungen, die unter unſern Augen geſchehen, mit Sicherheit zu ſagen, wieviel davon auf die Vererbung, wieviel auf die Abänderung zu beziehen iſt. Alle Formcharaktere, durch welche ſich die Organismen unterſcheiden, ſind entweder durch die Vererbung oder durch die Anpaſſung verurſacht; da aber beide Anpaſſung und Veränderlichkeit. i 173 Functionen beftändig in Wechſelwirkung zu einander ſtehen, ift es für den Syſtematiker außerordentlich ſchwer, den Antheil jeder der beiden Functionen an der ſpeciellen Bildung der einzelnen Form zu erkennen. Dies iſt gegenwärtig um ſo ſchwieriger, als man ſich noch kaum der ungeheuren Bedeutung dieſer Thatſache bewußt geworden iſt, und als die meiſten Naturforſcher die Theorie der Anpaſſung ebenſo wie die der Vererbung vernachläſſigt haben. Die ſoeben aufgeſtellten Vererbungs— geſetze, wie die ſogleich anzuführenden Geſetze der Anpaſſung, bilden gewiß nur einen kleinen Bruchtheil der vorhandenen, meiſt noch nicht unterſuchten Erſcheinungen dieſes Gebietes; und da jedes dieſer Ge— ſetze mit jedem anderen in Wechſelbeziehung treten kann, ſo geht da— raus die unendliche Verwickelung von phyſiologiſchen Thätigkeiten her— vor, die bei der Formbildung der Organismen in der That wirk— ſam ſind. Was nun die Erſcheinung der Abänderung oder Anpaſſung im Allgemeinen betrifft, ſo müſſen wir dieſelbe, ebenſo wie die Thatſache der Vererbung, als eine ganz allgemeine phyſiologiſche Grundeigen— ſchaft aller Organismen ohne Ausnahme hinſtellen, als eine Lebens— äußerung, welche von dem Begriffe des Organismus gar nicht zu trennen iſt. Streng genommen müſſen wir auch hier, wie bei der Vererbung, unterſcheiden zwiſchen der Anpaſſung ſelbſt und der An— paſſungsfähigkeit. Unter Anpaſſung (Adaptatio) oder Abän— derung (Variatio) verſtehen wir die Thatſache, daß der Orga— nismus in Folge von Einwirkungen der umgebenden Außenwelt ge- wiſſe neue Eigenthümlichkeiten in ſeiner Lebensthätigkeit, Miſchung und Form annimmt, welche er nicht von ſeinen Eltern geerbt hat; dieſe erworbenen individuellen Eigenſchaften ſtehen den ererbten ge— genüber, welche ſeine Eltern und Voreltern auf ihn übertragen haben. Dagegen nennen wir Anpaſſungsfähigkeit (Adaptabilitas) oder Veränderlichkeit (Variabilitas) die allen Organismen inne wohnende Fähigkeit, derartige neue Eigenſchaften unter dem Ein— fluſſe der Außenwelt zu erwerben. (Gen. Morph. II, 191). Die unleugbare Thatſache der organiſchen Anpaſſung oder Ab— 174 Anpaſſung und Veränderlichkeit. änderung iſt allbekannt, und an tauſend uns umgebenden Erſcheinun— gen jeden Augenblick wahrzunehmen. Allein gerade deshalb, weil die Erſcheinungen der Abänderung durch äußere Einflüſſe felbftver- ſtändlich erſcheinen, hat man dieſelben bisher noch faſt gar nicht einer genaueren phyſiologiſchen wiſſenſchaftlichen Unterſuchung unterzogen. Es gehören dahin alle Erſcheinungen, welche wir als die Folgen der Angewöhnung und Abgewöhnung, der Uebung und Nichtübung bes trachten, oder als die Folgen der Dreſſur, der Erziehung, der Ae— climatiſation, der Gymnaſtik u. ſ. w. Auch die Veränderungen durch krankmachende Urſachen, die Krankheiten ſelbſt ſind zum größten Theil weiter nichts als Anpaſſungen des Organismus an beſtimmte Lebensbedingungen. Bei den Culturpflanzen und Hausthieren tritt die Erſcheinung der Abänderung ſo auffallend und mächtig hervor, daß eben darauf der Thierzüchter und Gärtner ſeine ganze Thätigkeit gründet, oder vielmehr auf die Wechſelbeziehung, in welche er dieſe Erſcheinungen mit denen der Vererbung ſetzt. Ebenſo iſt es bei den Pflanzen und Thieren im wilden Zuſtande allbekannt, daß ſie abän— dern oder varüren. Jede ſyſtematiſche Bearbeitung einer Thier- oder Pflanzengruppe müßte, wenn ſie ganz vollſtändig und erſchöpfend ſein wollte, bei jeder einzelnen Art eine Menge von Abänderungen anführen, welche mehr oder weniger von der herrſchenden oder typi— ſchen Hauptform der Species abweichen. In der That finden Sie in jedem genauer gearbeiteten ſyſtematiſchen Specialwerk faſt bei jeder Art eine Anzahl von ſolchen Variationen oder Umbildungen angeführt, welche bald als individuelle Abweichungen, bald als ſogenannte Spielarten, Raſſen, Varietäten, Abarten oder Unterarten bezeichnet werden, und welche oft außerordentlich weit ſich von der Stammart entfernen, lediglich durch die Anpaſſung des Organismus an die äu— ßern Lebensbedingungen. Wenn wir nun zunächſt die allgemeinen Urſachen dieſer Anpaſ— ſungserſcheinungen zu ergründen ſuchen, ſo kommen wir zu dem Re— ſultat, daß dieſelben in Wirklichkeit ſo einfach ſind, als die Urſachen der Erblichkeitserſcheinungen. Wie wir für die Vererbungsthatſachen Zuſammenhang der Anpaſſung und der Ernährung. 175 die Fortpflanzung als allgemeine Grundurſache nachwieſen, die Ueber— tragung der elterlichen Materie auf den kindlichen Körper, ſo können wir für die Thatſachen der Anpaſſung oder Abänderung als die allge— meine Grundurſache die phyſiologiſche Thätigkeit der Ernährung oder des Stoff wechſels hinſtellen. Wenn ich Ihnen hier die „Er— nährung“ als Grundurſache der Abänderung und Anpaſſung anführe, ſo nehme ich dieſes Wort im weiteſten Sinne, und verſtehe darunter faſt die geſammten materiellen Wechſelbeziehungen, welche der Orga— nismus in allen ſeinen Theilen zu der ihn umgebenden Außenwelt beſitzt. Es gehört alſo zur Ernährung nicht allein die Aufnahme der wirklich nährenden Stoffe und der Einfluß der verſchiedenartigen Nah— rung, ſondern auch z. B. die Einwirkung des Waſſers und der Ath— moſphäre, der Einfluß des Sonnenlichts, der Temperatur und aller derjenigen meteorologiſchen Erſcheinungen, welche man unter dem Begriff „Klima“ zuſammenfaßt. Auch der mittelbare und unmittel— bare Einfluß der Bodenbeſchaffenheit und des Wohnorts gehört hier— her, ferner der äußerſt wichtige und vielſeitige Einfluß, welchen die umgebenden Organismen, die Freunde und Nachbarn, die Feinde und Räuber, die Schmarotzer oder Paraſiten u. |. w. auf jedes Thier und auf jede Pflanze ausüben. Alle dieſe und noch viele andere höchſt wichtige Einwirkungen, welche alle den Organismus mehr oder we— niger zu verändern im Stande ſind, müſſen hier bei der Ernährung in Betracht gezogen werden. In dieſem weiteſten Sinne iſt alfo die Er—⸗ nährung durch ſämmtliche Wechſelbeziehungen des Or— ganismus zu der ihn umgebenden Außenwelt bedingt. Dieſe Beziehungen find natürlich ſtets ganz materielle, und die Verän- derungen, welche aus dieſen Wechſelbeziehungen durch die Anpaſſung folgen, beruhen wieder auf rein mechaniſchen, d. h. phyſikaliſchen und chemiſchen Urſachen. Wie ſehr jeder Organismus von feiner geſammten äußern Umge⸗ bung abhängt und durch deren Wechſel verändert wird, iſt Ihnen Allen im Allgemeinen bekannt. Denken Sie bloß daran, wie die menſchliche Thatkraft von der Temperatur der Luft abhängig iſt, oder 176 Zuſammenhang der Anpaſſung und der Ernährung. die Gemüthsſtimmung von der Farbe des Himmels. Je nachdem der Himmel wolkenlos und ſonnig iſt, oder mit trüben, ſchweren Wol- ken bedeckt, iſt unſere Stimmung heiter oder trübe. Wie anders empfinden und denken wir im Walde während einer ſtürmiſchen Win- ternacht und während eines heiteren Sommertages! Alle dieſe ver— ſchiedenen Stimmungen unſerer Seele beruhen auf rein materiellen Veränderungen unſeres Gehirns, welche mittelſt der Sinne durch die verſchiedene Einwirkung des Lichts, der Wärme, der Feuchtigkeit u. ſ. w. hervorgebracht werden. „Wir ſind ein Spiel von jedem Druck der Luft!“ Nicht minder wichtig und tiefgreifend ſind die Einwirkungen, welche unſer Geiſt und unſer Körper durch die verſchiedene Qualität und Quantität der Nahrungsmittel im engeren Sinne erfährt. Un⸗ ſere Geiſtesarbeit, die Thätigkeit unſeres Verſtandes und unſerer Phan— taſie iſt gänzlich verſchieden, je nachdem wir vor und während der— ſelben Thee und Kaffee, oder Wein und Bier genoſſen haben. Unſere Stimmungen, Wünſche und Gefühle ſind ganz anders, wenn wir hungern und wenn wir geſättigt find. Der Nationalcharakter der Eng- länder und der Gauchos in Südamerika, welche vorzugsweiſe von Fleiſch, von ſtickſtoffreicher Nahrung leben, iſt gänzlich verſchieden von demjenigen der kartoffeleſſenden Irländer und der reiseſſenden Chine— ſen, welche vorwiegend ſtickſtoffloſe Nahrung genießen. Auch lagern die letzteren viel mehr Fett ab, als die erſteren. Hier wie überall ge— hen die Veränderungen des Geiſtes mit entſprechenden Umbildungen des Körpers Hand in Hand; beide ſind durch rein materielle Urſachen bedingt. Ganz ebenſo wie der Menſch, werden aber auch alle anderen Organismen durch die verſchiedenen Einflüſſe der Ernährung abge— ändert und umgebildet. Ihnen Allen iſt bekannt, daß wir ganz will— kürlich die Form, Größe, Farbe u. ſ. w. bei unſeren Culturpflanzen und Hausthieren durch Veränderung der Nahrung abändern können, daß wir z. B. einer Pflanze ganz beſtimmte Eigenſchaften nehmen oder geben können, je nachdem wir ſie einem größeren oder geringeren Grade von Sonnenlicht und Feuchtigkeit ausſetzen. Da dieſe Erſchei⸗ Unterſcheidung der indireeten und directen Anpaſſung. 177 nungen ganz allgemein verbreitet und bekannt ſind, und wir ſogleich zur Betrachtung der verſchiedenen Anpaſſungsgeſetze übergehen wer— den, wollen wir uns hier nicht länger bei den allgemeinen Thatſachen der Abänderung aufhalten. Gleichwie die verſchiedenen Vererbungsgeſetze ſich naturgemäß in die beiden Reihen der conſervativen und der progreſſiven Vererbung ſondern laſſen, ſo kann man unter den Anpaſſungsgeſetzen ebenfalls zwei verſchiedene Reihen unterſcheiden, nämlich erſtens die Reihe der in directen oder mittelbaren, und zweitens die Reihe der directen oder unmittelbaren Anpaſſungsgeſetze. Letztere kann man auch als actuelle, erſtere als potentielle Anpaſſungsgeſetze bezeichnen. Die erſte Reihe, welche die Erſcheinungen der unmittelbaren oder indirecten (potentiellen) Anpaſſung umfaßt, iſt im Ganzen bis jetzt ſehr wenig berückſichtigt worden, und es bleibt das Verdienſt Darwin's, auf dieſe Reihe von Veränderungen ganz beſonders hin— gewieſen zu haben. Es iſt etwas ſchwierig, dieſen Gegenſtand gehö— rig klar darzuſtellen; ich werde verſuchen, Ihnen denſelben nachher durch Beiſpiele deutlich zu machen. Ganz allgemein ausgedrückt beſteht die indirecte oder potentielle Anpaſſung in der Thatſache, daß gewiſſe Veränderungen des Organismus, welche durch den Einfluß der Nahrung (im weiteſten Sinne) und überhaupt der äußeren Exi⸗ ſtenzbedingungen bewirkt werden, nicht in der individuellen Formbe⸗ ſchaffenheit des betroffenen Organismus ſelbſt, ſondern in derjenigen ſeiner Nachkommen ſich äußern und in die Erſcheinung treten. So wird namentlich bei den Organismen, welche ſich auf geſchlechtlichem Wege fortpflanzen, das Reproductionsſyſtem oder der Geſchlechts— apparat oft durch äußere Wirkungen, welche im Uebrigen den Orga— nismus wenig berühren, dergeſtalt beeinflußt, daß die Nachkommen⸗ ſchaft deſſelben eine ganz veränderte Bildung zeigt. Sehr auffällig kann man das an den künſtlich erzeugten Monſtroſitäten ſehen. Man kann Monſtroſitäten oder Mißgeburten dadurch erzeugen, daß man den elterlichen Organismus einer beſtimmten, außerordentlichen Le— bensbedingung unterwirft. Dieſe ungewohnte Lebensbedingung er— Haeckel, Natürliche Schöpfungsgeſchichte. 12 178 Unterſcheidung der indireeten und direeten Anpaſſung. zeugt aber nicht eine Veränderung des Organismus ſelbſt, ſondern eine Veränderung ſeiner Nachkommen. Man kann das nicht als Vererbung bezeichnen, weil ja nicht eine im elterlichen Organismus vorhandene Eigenſchaft als ſolche erblich auf die Nachkommen übertragen wird. Viel⸗ mehr tritt eine Abänderung, welche den elterlichen Organismus betraf, aber nicht wahrnehmbar afficirte, erſt in der eigenthümlichen Bildung ſeiner Nachkommen wirkſam und offen zu Tage. Bloß der Anſtoß zu dieſer neuen, eigenthümlichen Bildung wird durch das Ei der Mutter oder durch den Samenfaden des Vaters bei der Fortpflanzung übertragen. Die Neubil- dung iſt im elterlichen Organismus bloß der Möglichkeit nach (po— tentia) vorhanden; im kindlichen wird fie zur Wirklichkeit (actu). Während man dieſe ſehr wichtige und ſehr allgemeine Erſcheinung bisher ganz vernachläſſigt hatte, war man geneigt, alle wahrnehm— baren Abänderungen und Umbildungen der organiſchen Formen als Anpaſſungserſcheinungen der zweiten Reihe zu betrachten, der— jenigen der unmittelbaren oder directen (actuellen) Anpaſſung. Das Weſen dieſer Anpaſſungsgeſetze liegt darin, daß die den Orga— nismus betreffende Veränderung (in der Ernährung u. ſ. w.) bereits in deſſen eigener Umbildung und nicht erſt in derjenigen feiner Nach⸗ kommen ſich äußert. Hierher gehören alle die bekannten Erſcheinun— gen, bei denen wir den umgeſtaltenden Einfluß des Klimas, der Nah⸗ rung, der Erziehung, Dreſſur u. ſ. w. unmittelbar an den betroffenen Individuen ſelbſt in ſeiner Wirkung verfolgen können. Wie die beiden Erſcheinungsreihen der conſervativen und der progreſſiven Vererbung trotz ihres principiellen Unterſchiedes vielfach in einander greifen und ſich gegenſeitig modificiren, vielfach zuſam— menwirken und ſich durchkreuzen, ſo gilt das in noch höherem Maße von den beiden entgegengeſetzten und doch innig zuſammenhängenden Erſcheinungsreihen der indirecten und der directen Anpaſſung. Einige Naturforſcher, namentlich Darwin und Carl Vogt, ſchreiben den indirecten oder potentiellen Anpaſſungen eine viel bedeutendere oder ſelbſt eine faſt ausſchließliche Wirkſamkeit zu. Die Mehrzahl der Na⸗ turforſcher aber war bisher geneigt, umgekehrt das Hauptgewicht auf Umbildung durd) indireete und directe Anpaſſung. 179 die Wirkung der directen oder actuellen Anpaſſungen zu legen. Ich halte dieſen Streit vorläufig für ziemlich unnütz. Nur ſelten ſind wir in der Lage, im einzelnen Abänderungsfalle beurtheilen zu können, wieviel davon auf Rechnung der directen, wieviel auf Rechnung der indirecten Anpaſſung kömmt. Wir kennen im Ganzen dieſe außeror— dentlich wichtigen und verwickelten Verhältniſſe noch viel zu wenig, und können daher nur im Allgemeinen die Behauptung aufſtellen, daß die Umbildung und Neubildung der organiſchen Formen entwe- der bloß der directen, oder bloß der indirecten, oder endlich drittens dem Zuſammenwirken der directen und der indirecten Anpaſſung zuzuſchreiben iſt. 12 Behnter Vortrag. Anpaſſungsgeſetze. Geſetze der indirecten oder potentiellen Anpaſſung. Individuelle Anpaſſung. Monſtröſe oder ſprungweiſe Anpaſſung. Geſchlechtliche oder ſexuelle Anpaſſung. Geſetze der directen oder actuellen Anpaſſung. Allgemeine oder univerſelle Anpaſ⸗ fung. Gehäufte oder cumulative Anpaſſung. Gehäufte Einwirkung der äußeren Exiſtenzbedingungen und gehäufte Gegenwirkung des Organismus. Der freie Wille. Gebrauch und Nichtgebrauch der Organe. Uebung und Gewohnheit. Wechſelbe⸗ zügliche oder correlative Anpaſſung. Wechſelbeziehungen der Entwickelung. Corre⸗ lation der Organe. Erklärung der indirecten oder potentiellen Anpaſſung durch die Correlation der Geſchlechtsorgane und der übrigen Körpertheile. Abweichende oder divergente Anpaſſung. Unbeſchränkte oder unendliche Anpaſſung. Meine Herren! Die Erſcheinungen der Anpaſſung oder Abände— rung, welche in Verbindung und in Wechſelwirkung mit den Verer- bungserſcheinungen die ganze unendliche Mannichfaltigkeit der Thier— und Pflanzenformen hervorbringen, hatten wir im letzten Vortrage in zwei verſchiedene Gruppen gebracht, erſtens die Reihe der indirecten oder potentiellen und zweitens die Reihe der directen oder actuellen Anpaſſungen. Wir wenden uns nun heute zu einer näheren Betrach— tung der verſchiedenen allgemeinen Geſetze, welche wir unter dieſen beiden Reihen von Abänderungserſcheinungen zu erkennen im Stande ſind. Laſſen Sie uns zunächſt die merkwürdigen Erſcheinungen der indirecten oder mittelbaren Abänderung in's Auge faſſen. Geſetze der indireeten Anpaſſung. Individuelle Anpaſſung. 181 Die indirecte oder potentielle Anpaſſung äußerte ſich, wie Sie ſich erinnern werden, in der auffallenden und äußerſt wichtigen Thatſache, daß die organiſchen Individuen Umbildungen erleiden und neue Formen annehmen in Folge von Ernährungsveränderungen, welche nicht ſie ſelbſt, ſondern ihren elterlichen Organismus betrafen. Der umgeſtaltende Einfluß der äußeren Exiſtenzbedingungen, des Kli⸗ mas, der Nahrung ꝛc. äußert bier feine Wirkung nicht direct, in der Umbildung des Organismus ſelbſt, ſondern indirect, in derjenigen ſei⸗ ner Nachkommen (Gen. Morph. II., 202). Als das oberſte und allgemeinſte von den Geſetzen der indirecten Abänderung können wir das Geſetz der individuellen An— paſſung hinſtellen, nämlich den wichtigen Satz, daß alle organiſchen Individuen von Anbeginn ihrer individuellen Exiſtenz an ungleich, wenn auch oft höchſt ähnlich ſind. Zum Beweis dieſes Satzes können wir zunächſt auf die Thatſache hinweiſen, daß beim Menſchen allge⸗ mein alle Geſchwiſter, alle Kinder eines Elternpaares von Geburt an ungleich ſind. Es wird Niemand behaupten, daß zwei Geſchwiſter von der Geburt an vollkommen gleich find, daß die Größe aller einzel⸗ nen Körpertheile, die Zahl der Kopfhaare, der Oberhautzellen, der Blutzellen in beiden Geſchwiſtern ganz gleich ſei, daß beide dieſelben Anlagen und Talente mit auf die Welt gebracht haben. Ganz beſon⸗ ders beweiſend für dieſes Geſetz der individuellen Verſchiedenheit iſt aber die Thatſache, daß bei denjenigen Thieren, welche mehrere Junge werfen, z. B. bei den Hunden und Katzen, alle Jungen eines jeden Wurfes von einander verſchieden ſind, bald durch geringere, bald durch auffallendere Differenzen in der Größe, Färbung, Länge der einzel⸗ nen Körpertheile, Stärke u. ſ. w. Nun gilt aber dieſes Geſetz ganz allgemein. Alle organiſchen Individuen ſind von Anfang an durch ge— wiſſe, wenn auch oft höchſt feine Unterſchiede ausgezeichnet und die Ur— ſache dieſer individuellen Unterſchiede, wenn auch im Einzelnen uns gewöhnlich ganz unbekannt, liegt theilweiſe oder ausſchließlich in ge— wiſſen Einwirkungen, welche die Fortpflanzungsorgane des elterli— chen Organismus erfahren haben. 182 Monſtröſe oder ſprungweiſe Anpaſſung. Weniger wichtig und allgemein, als dieſes Geſetz der indivi— duellen Abänderung, iſt ein zweites Geſetz der indirgeten Anpaſſung, welches wir das Geſetz der monſtröſen oder ſprungweiſen Anpaſſung nennen wollen. Hier find die Abweichungen des kind⸗ lichen Organismus von der elterlichen Form ſo auffallend, daß wir ſie in der Regel als Mißgeburten oder Monſtroſitäten bezeichnen kön⸗ nen. Dieſe werden in vielen Fällen, wie es durch Experimente nach— gewieſen iſt, dadurch erzeugt, daß man den elterlichen Organismus einer beſtimmten Behandlung unterwirft, in eigenthümliche Ernäh⸗ rungsverhältniſſe verſetzt, z. B. Luft und Licht ihm entzieht oder andere auf ſeine Ernährung mächtig einwirkende Einflüſſe in beſtimmter Weiſe abändert. Die neue Exiſtenzbedingung bewirkt eine ſtarke und auffal- lende Abänderung der Geſtalt, aber nicht an dem unmittelbar davon betroffenen Organismus, ſondern erſt an deſſen Nachkommenſchaft. Die Art und Weiſe dieſer Einwirkung im Einzelnen zu erkennen, iſt uns auch hier nicht möglich, und wir können nur ganz im Allgemei⸗ nen den urſächlichen Zuſammenhang zwiſchen der monſtröſen Bil- dung des Kindes und einer gewiſſen Veränderung in den Eriftenzbe- dingungen ſeiner Eltern, ſowie deren Einfluß auf die Fortpflanzungs⸗ organe der letzteren, feſtſtellen. In dieſe Reihe der monſtröſen oder ſprungweiſen Abänderungen gehören wahrſcheinlich die früher erwähn- ten Erſcheinungen des Albinismus, ſowie die einzelnen Fälle von Menſchen mit ſechs Fingern und Zehen, von ungehörnten Rindern, ſo⸗ wie von Schafen und Ziegen mit vier oder ſechs Hörnern. Wahr⸗ ſcheinlich verdankt in allen dieſen Fällen die monſtröſe Abänderung ihre erſte Entſtehung einer Urſache, welche zunächſt nur das Repro— ductionsſyſtem des elterlichen Organismus afficirte. Als eine dritte eigenthümliche Aeußerung der indirecten Anpaſſung können wir das Geſetz der geſchlechtlichen oder ſexuellen Anpaſſung bezeichnen. So nennen wir die merkwürdige Thatſache, daß beſtimmte Einflüſſe, welche auf die männlichen Fortpflanzungs⸗ organe einwirken, nur in der Formbildung der männlichen Nachkom— men, und ebenſo andere Einflüſſe, welche die weiblichen Geſchlechts— Geſchlechtliche Anpaſſung. Urſachen der indirecten Anpaſſung. 183 organe betreffen, nur in der Geſtaltenveränderung der weiblichen Nach⸗ kommen ihre Wirkung äußern. Dieſe Erſcheinung iſt noch ſehr dunkel und wenig beachtet, wahrſcheinlich aber von großer Bedeutung für die Entſtehung der früher betrachteten „ſecundären Sexualcharaktere“. Alle die angeführten Erſcheinungen der geſchlechtlichen, der ſprungweiſen und der individuellen Anpaſſung, welche wir als „Ge— ſetze der indirecten oder mittelbaren (potentiellen) Anpaſſung“, zuſam⸗ menfaſſen können, ſind uns in ihrem eigentlichen Weſen, in ihrem tieferen urſächlichen Zuſammenhang noch äußerſt wenig bekannt. Nur ſo viel läßt ſich ſchon jetzt mit Sicherheit behaupten, daß ſehr zahlreiche und wichtige Umbildungen der organiſchen Formen dieſem Vorgange ihre Entſtehung verdanken. Viele und auffallende Formveränderungen find lediglich bedingt durch Urſachen, welche zunächſt nur auf die Er- nährung des elterlichen Organismus und zwar auf deſſen Fortpflan— zungsorgane einwirkten. Offenbar ſind hierbei die wichtigen Wechſel— beziehungen, in denen die Geſchlechtsorgane zu den übrigen Körper- theilen ſtehen, von der größten Bedeutung. Von dieſen werden wir ſogleich bei dem Geſetze der wechſelbezüglichen Anpaſſung noch mehr zu ſagen haben. Wie mächtig überhaupt Veränderungen in den Lebens— bedingungen, in der Ernährung auf die Fortpflanzung der Organis— men einwirken, beweiſt allein ſchon die merkwürdige Thatſache, daß zahlreiche wilde Thiere, die wir in unſeren zoologiſchen Gärten halten, und ebenſo viele in unſere botaniſchen Gärten verpflanzte exotiſche Gewächſe nicht mehr im Stande ſind, ſich fortzupflanzen, ſo z. B. die meiſten Raubvögel, Papageyen und Affen. Auch der Elephant und die bärenartigen Raubthiere werfen in der Gefangenſchaft faſt niemals Junge. Ebenſo werden viele Pflanzen im Culturzuſtand unfruchtbar. Es erfolgt zwar die Verbindung der beiden Geſchlechter, aber keine Befruchtung oder keine Entwickelung der befruchteten Keime. Hieraus ergiebt ſich unzweifelhaft, daß die durch den Culturzuſtand veränderte Ernährungsweiſe die Fortpflanzungsfähigkeit gänzlich aufzuheben, alſo den größten Einfluß auf die Geſchlechtsorgane auszuüben im Stande iſt. Ebenſo können andere Anpaſſungen oder Ernährungsverände— 184 Geſetze der direeten Anpaſſung. rungen des elterlichen Organismus zwar nicht den gänzlichen Ausfall der Nachkommenſchaft, wohl aber bedeutende Umbildungen in deren Form veranlaſſen. Viel bekannter als die Erſcheinungen der indirecten oder poten- tiellen Anpaſſung ſind diejenigen der directen oder actuellen Anpaſſung, zu deren näherer Betrachtung wir uns jetzt wenden. Es gehören hierher alle diejenigen Abänderungen der Organismen, welche man als die Folgen der Uebung, Gewohnheit, Dreſſur, Erzie- hung u. ſ. w. betrachtet, ebenſo diejenigen Umbildungen der organi⸗ ſchen Formen, welche unmittelbar durch den Einfluß der Nahrung, des Klimas und anderer äußerer Exiſtenzbedingungen bewirkt werden. Wie ſchon vorher bemerkt, tritt hier bei der directen oder unmittelbaren Anpaſſung der umbildende Einfluß der äußeren Urſache unmittelbar in der Form des betroffenen Organismus ſelbſt, und nicht erſt in derjenigen ſeiner Nachkommenſchaft zu Tage (Gen. Morph. II., 207). Unter den verſchiedenen Geſetzen der directen oder actuellen An— paſſung können wir als das oberſte und umfaſſendſte das Geſetz der allgemeinen oder univerſellen Anpaſſung an die Spitze ſtellen. Daſſelbe läßt ſich kurz in dem Satze ausſprechen: „Alle organiſche Individuen werden im Laufe ihres Lebens durch Anpaſſung an verſchiedene Lebensbedingungen einander ungleich, obwohl die In— dividuen einer und derſelben Art ſich meiſtens ſehr ähnlich bleiben.“ Eine gewiſſe Ungleichheit der organiſchen Individuen wurde, wie Sie ſahen, ſchon durch das Geſetz der individuellen (indirecten) Anpaſſung bedingt. Allein dieſe urſprüngliche Ungleichheit der Einzelweſen wird ſpäterhin dadurch noch geſteigert, daß jedes Individuum ſich während ſeines ſelbſtſtändigen Lebens ſeinen eigenthümlichen Exiſtenzbedingun⸗ gen unterwirft und anpaßt. Alle verſchiedenen Einzelweſen einer jeden Art, ſo ähnlich ſie in ihren erſten Lebensſtadien auch ſein mögen, wer⸗ den im weiteren Verlaufe der Exiſtenz einander mehr oder minder ungleich. In geringeren oder bedeutenderen Eigenthümlichkeiten ent= fernen ſie ſich von einander, und das iſt eine natürliche Folge der ver— ſchiedenen Bedingungen, unter denen alle Individuen leben. Es gibt Allgemeine oder univerſelle Anpaſſung. 185 nicht zwei einzelne Weſen irgend einer Art, die unter ganz gleichen äußeren Umſtänden ihr Leben vollbringen. Die Lebensbedingungen der Nahrung, der Feuchtigkeit, der Luft, des Lichts, ferner die Lebens— bedingungen der Geſellſchaft, die Wechſelbeziehungen zu den umgeben- den Individuen derſelben Art und anderer Arten, ſind bei allen Ein— zelweſen verſchieden; und dieſe Verſchiedenheit wirkt zunächſt auf die Functionen, weiterhin auf die Formen jedes einzelnen Organismus um— bildend ein. Wenn Geſchwiſter einer menſchlichen Familie ſchon von Anfang an gewiſſe individuelle Ungleichheiten zeigen, die wir als Folge der individuellen (indirecten) Anpaſſung betrachten können, fo erſcheinen uns dieſelben noch weit mehr verſchieden in ſpäterer Lebenszeit, wo die einzelnen Geſchwiſter verſchiedene Erfahrungen durchgemacht, und ſich verſchiedenen Lebensverhältniſſen angepaßt haben. Die urſprünglich angelegte Verſchiedenheit des individuellen Entwickelungsganges wird offenbar um ſo größer, je länger das Leben dauert, je mehr verſchie— denartige äußere Bedingungen auf die einzelnen Individuen Einfluß erlangen. Das können Sie am einfachſten an den Menſchen ſelbſt, ſowie an den Hausthieren und Culturpflanzen nachweiſen, bei denen Sie willkührlich die Lebensbedingungen modificiren können. Zwei Brüder, von denen der eine zum Arbeiter, der andere zum Prieſter | erzogen wird, entwickeln ſich in körperlicher und geiftiger Beziehung ganz verſchieden; ebenſo zwei Hunde eines und deſſelben Wurfes, von denen der eine zum Jagdhund, der andere zum Kettenhund er— zogen wird. Daſſelbe gilt aber auch von den organiſchen Individuen im Naturzuſtande. Wenn Sie z. B. in einem Kiefern- oder in einem Buchenwalde, der bloß aus Bäumen einer einzigen Art beſteht, ſorg— fältig alle Bäume mit einander vergleichen, ſo finden Sie allemal, daß von allen hundert oder tauſend Bäumen nicht zwei Individuen in der Größe des Stammes und der einzelnen Theile, in der Zahl der Zweige, Blätter, Früchte u. ſ. w. völlig übereinſtimmen. Ueberall finden Sie individuelle Ungleichheiten, welche zum Theil wenigſtens bloß die Folge der verſchiedenen Lebensbedingungen ſind, unter denen ſich alle Bäume entwickelten. Freilich läßt ſich niemals mit Beſtimmt— 186 Gehäufte oder cumulative Anpaſſung. heit ſagen, wieviel von dieſer Ungleichheit aller Einzelweſen jeder Art urſprünglich (durch die indirecte individuelle Anpaſſung bedingt), wie⸗ viel davon erworben (durch die directe univerſelle Anpaſſung be⸗ wirkt) iſt. | Nicht minder wichtig und allgemein als die univerfelle Anpaſſung iſt eine zweite Erſcheinungsreihe der directen Anpaſſung, welche wir das Geſetz der gehäuften oder cumulativen Anpaſ— fung nennen können. Unter dieſem Namen faſſe ich eine große An- zahl von ſehr wichtigen Erſcheinungen zuſammen, die man gewöhn— lich in zwei ganz verſchiedene Gruppen bringt. Man unterſcheidet in der Regel erſtens ſolche Veränderungen der Organismen, welche un- mittelbar durch den anhaltenden Einfluß äußerer Bedingungen (durch die dauernde Einwirkung der Nahrung, des Klimas, der Umgebung u. ſ. w.) erzeugt werden, und zweitens ſolche Veränderungen, welche durch Gewohnheit und Uebung, durch Angewöhnung an beſtimmte Lebensbedingungen, durch Gebrauch oder Nichtgebrauch der Organe entſtehen. Dieſe letzteren Einflüſſe ſind insbeſondere von Lamarck als wichtige Urſachen der Umbildung der organiſchen Formen hervor— gehoben, während man die erſteren ſchon ſehr lange in weiteren Kreiſen als ſolche anerkannt hat. Die ſcharfe Unterſcheidung, welche man zwiſchen dieſen beiden Gruppen der gehäuften oder cumulativen Anpaſſung gewöhnlich macht, und welche auch Darwin noch ſehr hervorhebt, verſchwindet, ſo— bald man eingehender und tiefer über das eigentliche Weſen und den urſächlichen Grund der beiden ſcheinbar ſehr verſchiedenen Anpafjungs- reihen nachdenkt. Man gelangt dann zu der Ueberzeugung, daß man es in beiden Fällen immer mit zwei verſchiedenen wirkenden Urſachen zu thun hat, nämlich einerſeits mit der äußeren Einwirkung oder Action der anpaſſend' wirkenden Lebensbedingung, und andrer— ſeits mit der inneren Gegen wirkung oder Reaction des Orga— nismus, welcher ſich jener Lebensbedingung unterwirft und anpaßt. Wenn man die gehäufte Anpaſſung in erſterer Hinſicht für ſich be— trachtet, indem man die umbildenden Wirkungen der andauernden Einwirkung der Umgebung und Gegenwirkung des Organismus. 187 äußeren Griftenzbedingungen auf dieſe letzteren allein bezieht, fo legt man einſeitig das Hauptgewicht auf die äußere Einwirkung, und man vernachläſſigt die nothwendig eintretende innere Gegenwirkung des Organismus. Wenn man umgekehrt die gehäufte Anpaſſung ein— ſeitig in der zweiten Richtung verfolgt, indem man die umbildende Selbſtthätigkeit des Organismus, ſeine Gegenwirkung gegen den äußeren Einfluß, ſeine Veränderung durch Uebung, Gewohnheit, Ge— brauch oder Nichtgebrauch der Organe hervorhebt, ſo vergißt man, daß dieſe Gegenwirkung oder Reaction erſt durch die Einwirkung der äuße— ren Exiſtenzbedingung hervorgerufen wird. Es iſt alſo nur ein Unter⸗ ſchied der Betrachtungsweiſe, auf welchem die Unterſcheidung jener beiden verſchiedenen Gruppen beruht, und ich glaube, daß man ſie mit vollem Rechte zuſammenfaſſen kann. Das Weſentlichſte bei dieſen gehäuften Anpaſſungserſcheinungen iſt immer, daß die Veränderung des Organismus, welche zunächſt in ſeiner Function und weiterhin in ſeiner Formbildung ſich äußert, entweder durch lange andauernde oder durch wiederholte Einwirkungen einer äußeren Urſache veranlaßt wird. Die neue äußere Exiſtenzbedingung, welche umbildend wirkt, muß entweder lange Zeit hindurch oder oft wiederholt auf den Orga— nismus einwirken. Die kleinſte Urſache kann durch Häufung oder Cumulation ihrer Wirkung die größten Erfolge erzielen. Die Beiſpiele für dieſe Art der directen Anpaſſung ſind unendlich zahlreich. Wo Sie nur hineingreifen in das Leben der Thiere und Pflanzen, finden Sie überall einleuchtende und überzeugende Verän⸗ derungen dieſer Art vor Augen. Wir wollen hier zunächſt einige durch die Nahrung ſelbſt unmittelbar bedingte Anpaſſungserſcheinungen her- vorheben. Jeder von Ihnen weiß, daß man die Hausthiere, die man für gewiſſe Zwecke züchtet, verſchieden umbilden kann durch die verſchiedene Quantität und Qualität der Nahrung, welche man ihnen darreicht. Wenn der Landwirth bei der Schafzucht feine Wolle er— zeugen will, ſo giebt er den Schafen anderes Futter, als wenn er gutes Fleiſch oder reichliches Fett erzielen will. Die auserleſenen Renn- pferde und Luxuspferde erhalten beſſeres Futter als die ſchweren Laſt— 188 Gehäufte oder eumulative Anpaſſung. pferde und Karrengaule. Die Körperform des Menſchen ſelbſt, der Grad der Fettablagerung z. B., iſt ganz verſchieden nach der Nah- rung. Bei ſtickſtoffreicher Koſt wird wenig, bei ſtickſtoffarmer Koſt viel Fett abgelagert. Leute, die nach der neuerdings beliebten Ban- ting⸗Cur mager werden wollen, eſſen nur Fleiſch und Eier, kein Brod, keine Kartoffeln. Welche bedeutenden Veränderungen man an Cul⸗ turpflanzen hervorbringen kann, lediglich durch veränderte Quantität und Qualität der Nahrung, iſt allbekannt. Dieſelbe Pflanze erhält ein ganz anderes Ausſehen, wenn man fie an einem trockenen, war⸗ men Ort dem Sonnenlicht ausgeſetzt hält, oder wenn man ſie an einer kühlen, feuchten Stelle im Schatten hält. Viele Pflanzen be— kommen, wenn man ſie an den Meeresſtrand verſetzt, nach einiger Zeit dicke, fleiſchige Blätter, und dieſelben Pflanzen, an ausnehmend trockene und heiße Standorte verſetzt, bekommen behaarte Blätter. Alle dieſe Formveränderungen entſtehen unmittelbar durch den ge— häuften Einfluß der veränderten Nahrung. Aber nicht nur die Quantität und Qualität der Nahrungsmittel wirkt mächtig verändernd und umbildend auf den Organismus ein, ſondern auch alle anderen äußeren Exiſtenzbedingungen, vor Allen die nächſte organiſche Umgebung, die Geſellſchaft von freundlichen oder feindlichen Organismen. Ein und daſſelbe Pferd oder Rind ent— wickelt ſich ganz anders, wenn es das Jahr hindurch im Stalle ſteht, als wenn es den Sommer über frei in Wald und Wieſe umherſtreift. Ein und derſelbe Baum entwickelt ſich ganz verſchieden an einem offe— nen Standort, wo er von allen Seiten frei ſteht, als im Walde, wo er ſich den Umgebungen anpaſſen muß, wo er von den nächſten Nach- barn gedrängt und zum Emporſchießen gezwungen wird. Im erſten Fall wird die Krone weit ausgebreitet, im letzten dehnt ſich der Stamm in die Höhe und die Krone bleibt klein und gedrungen. Wie mächtig alle dieſe Umſtände, wie mächtig der feindliche oder freund— liche Einfluß der umgebenden Organismen, der Paraſiten u. |. w. auf jedes Thier und jede Pflanze einwirken, iſt ſo bekannt, daß eine Anführung weiterer Beiſpiele überflüſſig erſcheint. Die Veränderung Das Dogma von der Freiheit des Willens. 189 der Form, die Umbildung, welche dadurch bewirkt wird, iſt niemals bloß die unmittelbare Folge des äußeren Einfluſſes, ſondern muß immer zurückgeführt werden auf die entſprechende Gegenwirkung, auf die Selbſtthätigkeit des Organismus, die man als Angewöhnung, Uebung, Gebrauch oder Nichtgebrauch der Organe bezeichnet. Daß man dieſe letzteren Erſcheinungen in der Regel getrennt von der erſte— ren betrachtete, liegt erſtens an der ſchon hervorgehobenen einſeitigen Betrachtungsweiſe, und dann zweitens daran, daß man ſich eine ganz falſche Vorſtellung von dem Einfluß der Willensthätigkeit bei den Thieren gebildet hatte. Die Thätigkeit des Willens, welche der Angewöhnung, der Ue— bung, dem Gebrauch oder Nichtgebrauch der Organe bei den Thie— ren zu Grunde liegt, ift gleich jeder anderen Thätigkeit der thieriſchen Seele durch materielle Vorgänge im Centralnervenſyſtem bedingt, durch eigenthümliche Bewegungen, welche von der eiweißartigen Ma— terie der Ganglienzellen und der mit ihnen verbundenen Nervenfaſern ausgehen. Der Wille der höheren Thiere iſt in dieſer Beziehung, ebenſo wie die übrigen Geiſtesthätigkeiten, von denjenigen des Men- ſchen nur quantitativ (nicht qnalitativ) verſchieden. Der Wille des Thieres, wie des Menſchen iſt niemals frei. Das weitverbreitete Dogma von der Freiheit des Willens iſt naturwiſſenſchaftlich durch— aus nicht haltbar. Jeder Phyſiologe, der die Erſcheinungen der Willensthätigkeit bei Menſchen und Thieren naturwiſſenſchaftlich unter- ſucht, kommt mit Nothwendigkeit zu der Ueberzeugung, daß der Wille eigentlich niemals frei, ſondern ſtets durch äußere oder innere Einflüſſe bedingt iſt. Dieſe Einflüſſe ſind größtentheils Vorſtellungen, die entweder durch Anpaſſung oder durch Vererbung erworben, und auf eine von dieſen beiden phyſiologiſchen Functionen zurückführbar find. Sobald man feine eigene Willensthätigfeit ſtreng unterſucht, ohne das herkömmliche Vorurtheil von der Freiheit des Willens, ſo wird man gewahr, daß jede ſcheinbar freie Willenshandlung bewirkt wird durch vorhergehende Vorſtellungen, die entweder in ererbten oder in anderweitig erworbenen Vorſtellungen wurzeln, und in letzter 190 Gehäufte oder cumulative Anpaſſung. Linie alſo wiederum durch Anpaſſungs- oder Vererbungsgeſetze be— dingt ſind. Daſſelbe gilt von der Willensthätigkeit aller Thiere. So⸗ bald man dieſe eingehend im Zuſammenhang mit ihrer Lebensweiſe betrachtet, und in ihrer Beziehung zu den Veränderungen, welche die Lebensweiſe durch die äußeren Bedingungen erfährt, ſo überzeugt man ſich alsbald, daß eine andere Auffaſſung nicht möglich iſt. Da- her müſſen auch die Veränderungen der Willensbewegung, welche aus veränderter Ernährung folgen, und welche als Uebung, Gewohn- heit u. ſ. w. umbildend wirken, unter jene materiellen Vorgänge der gehäuften Anpaſſung gerechnet werden. d Indem ſich der thieriſche Wille den veränderten Exiſtenzbedin⸗ gungen durch andauernde Gewöhnung, Uebung u. ſ. w. anpaßt, vermag er die bedeutendſten Umbildungen der organiſchen Formen zu bewirken. Mannigfaltige Beiſpiele hierfür ſind überall im Thierleben zu finden. So verkümmern z. B. bei den Hausthieren manche Or⸗ gane, indem fie in Folge der veränderten Lebensweiſe außer Thätig⸗ keit treten. Die Enten und Hühner, welche im wilden Zuſtande aus— gezeichnet fliegen, verlernen dieſe Bewegung mehr oder weniger im Culturzuſtande. Sie gewöhnen ſich daran, mehr ihre Beine, als ihre Flügel zu gebrauchen, und in Folge davon werden die dabei gebrauch- ten Theile der Muskulatur und des Skelets in ihrer Ausbildung und Form weſentlich verändert. Für die verſchiedenen Raſſen der Haus⸗ ente, welche alle von der wilden Ente (Anas boschas) abſtammen, hat dies Darwin dutch eine ſehr ſorgfältige vergleichende Meſſung und Wägung der betreffenden Skelettheile nachgewieſen. Die Knochen des Flügels ſind bei der Hausente ſchwächer, die Knochen des Beines dagegen umgekehrt ſtärker entwickelt, als bei der wilden Ente. Bei den Straußen und anderen Laufvögeln, welche ſich das Fliegen gänzlich abgewöhnt haben, iſt in Folge deſſen der Flügel ganz verkümmert, zu einem völlig „rudimentären Organ“ herabgeſunken (S. 10). Bei vielen Hausthieren, insbeſondere bei vielen Raſſen von Hunden und Kaninchen bemerken Sie ferner, daß dieſelben durch den Culturzuſtand herabhängende Ohren bekommen haben. Dies iſt ein⸗ Umbildung durch Gewohnheit, Uebung und Gebrauch der Organe. 191 fach eine Folge des verminderten Gebrauchs der Ohrmuskeln. Im wilden Zuſtande müſſen dieſe Thiere ihre Ohren gehörig anſtrengen, um einen nahenden Feind zu bemerken, und es hat ſich dadurch ein ſtarker Muskelapparat entwickelt, welcher die äußeren Ohren in auf— rechter Stellung erhält, und nach allen Richtungen dreht. Im Cul-⸗ turzuſtande haben dieſelben Thiere nicht mehr nöthig ſo aufmerkſam zu lauſchen; ſie ſpitzen und drehen die Ohren nur wenig; die Ohr— muskeln kommen außer Gebrauch, verkümmern allmählich, und die Ohren ſinken nun ſchlaff herab, oder ſie werden ſelbſt ganz rudi— mentär (Vergl. oben S. 10). Wie in dieſen Fällen die Function und dadurch auch die Form des Organs durch Nichtgebrauch rückgebildet wird, ſo wird dieſelbe andrerſeits durch ſtärkeren Gebrauch mehr entwickelt. Dies tritt uns beſonders deutlich entgegen, wenn wir das Gehirn und die dadurch bewirkten Seelenthätigkeiten bei den wilden Thieren und den Haus- thieren, welche von ihnen abſtammen, vergleichen. Insbeſondere der Hund und das Pferd, welche in ſo erſtaunlichem Maße durch die Cultur veredelt find, zeigen im Vergleiche mit ihren wilden Stamm- verwandten einen außerordentlichen Grad von Ausbildung der Geiſtes— thätigkeit, und offenbar iſt die damit zuſammenhängende Umbildung des Gehirns größtentheils durch die andauernde Uebung bedingt. All» bekannt iſt es ferner, wie ſchnell und mächtig die Muskeln durch anhal- tende Uebung wachſen und ihre Form verändern. Vergleichen Sie 3. B. Arme und Beine eines geübten Turners mit denjenigen eines unbeweglichen Stubenſitzers. Wie mächtig äußere Einflüſſe die Gewohnheiten der Thiere, ihre Lebensweiſe beeinfluſſen und dadurch weiterhin auch ihre Form um— bilden, zeigen ſehr auffallend manche Beiſpiele von Amphibien und Reptilien. Unſere häufigſte einheimiſche Schlange, die Ringelnatter, legt Eier, welche zu ihrer Entwickelung noch drei Wochen brauchen. Wenn man ſie aber in Gefangenſchaft hält und in den Käfig keinen Sand ſtreut, ſo legt ſie die Eier nicht ab, ſondern behält ſie bei ſich, ſo lange bis die Jungen entwickelt ſind. Der Unterſchied zwiſchen lebendig 192 Gehäufte oder cumulative Anpaſſung. gebärenden Thieren und ſolchen, die Eier legen, wird hier einfach durch die Veränderung des Bodens, auf welchem das Thier lebt, verwiſcht. Außerordentlich intereſſant find in dieſer Beziehung auch die Waſ— ſermolche oder Tritonen, welche man gezwungen hat, ihre urſprüng⸗ lichen Kiemen beizubehalten. Die Tritonen, Amphibien, welche den Fröſchen nahe verwandt ſind, beſitzen gleich dieſen in ihrer Jugend äußere Athmungsorgane, Kiemen, mit welchen ſie, im Waſſer le— bend, Waſſer athmen. Später tritt bei den Tritonen eine Metamor⸗ phoſe ein, wie bei den Fröſchen. Sie gehen auf das Land, verlieren die Kiemen und gewöhnen ſich an das Lungenathmen. Wenn man ſie nun daran verhindert, indem man ſie in einem geſchloſſenen Waſ— ſerbecken hält, ſo verlieren ſie die Kiemen nicht. Dieſe bleiben vielmehr beſtehen, und der Waſſermolch verharrt zeitlebens auf jener niederen Ausbildungsſtufe, welche bei ſeinen tiefer ſtehenden Verwandten, den Kiemenmolchen oder Sozobranchien normal iſt. Der Waſſermolch erreicht ſeine volle Größe, wird geſchlechtsreif und pflanzt ſich fort, ohne die Kiemen zu verlieren. Großes Aufſehen erregte unter den Zoologen vor Kurzem der Axolotel (Siredon pisciformis), ein dem Triton nahe verwandter Kiemenmolch aus Mexico, welchen man ſchon ſeit langer Zeit kennt, und in den letzten Jahren im Pariſer Pflanzengarten im Großen ge— züchtet hat. Dieſes Thier hat auch äußere Kiemen, wie der Waſſer⸗ molch, behält aber dieſelben gleich allen anderen Sozobranchien zeitlebens bei. Für gewöhnlich bleibt dieſer Kiemenmolch mit ſeinen Waſſerathmungsorganen im Waſſer und pflanzt ſich hier auch fort. Nun krochen aber plötzlich im Pflanzengarten unter Hunderten dieſer Thiere eine geringe Anzahl aus dem Waſſer auf das Land, verloren ihre Kiemen, und verwandelten ſich in eine kiemenloſe Molchform, welche von einer nordamerikaniſchen Tritonengattung (Ambystoma) nicht mehr zu unterſcheiden iſt, und nur noch durch Lungen athmet. In dieſem letzten, höchſt merkwürdigen Falle können wir unmittelbar den großen Sprung von einem waſſerathmenden zu einem: luftath- menden Thiere verfolgen, ein Sprung, der allerdings bei der indivi⸗ Wechſelbezügliche oder correlative Anpaſſung. 193 duellen Entwickelungsgeſchichte der Fröſche und Salamander in jedem Frühling beobachtet werden kann. Ebenſo aber, wie jeder einzelne Froſch und jeder einzelne Salamander aus dem urſprünglich kiemen— athmenden Amphibium ſpäterhin in ein lungenathmendes ſich ver— wandelt, ſo iſt auch die ganze Gruppe der Fröſche und Salamander urſprünglich aus kiemenathmenden, dem Siredon verwandten Thie— ren entſtanden. Die Sozobranchien ſind noch bis auf den heutigen Tag auf jener niederen Stufe ſtehen geblieben. Die Ontogenie erläu— tert auch hier die Phylogenie, die Entwickelungsgeſchichte der Indivi— duen diejenige der ganzen Gruppe (S. 9). An die gehäufte oder cumulative Anpaſſung ſchließt ſich als eine dritte Erſcheinung der directen oder actuellen Anpaſſung das Ge— ſetz der wechſelbezüglichen oder correlativen Anpaſ— ſung an. Nach dieſem wichtigen Geſetze werden durch die actuelle Anpaſſung nicht nur diejenigen Theile des Organismus abgeändert, welche unmittelbar durch die äußere Einwirkung betroffen werden, ſondern auch andere, nicht unmittelbar davon berührte Theile. Dies iſt eine Folge des organiſchen Zuſammenhangs, und namentlich der einheitlichen Ernährungsverhältniſſe, welche zwiſchen allen Theilen jedes Organismus beſtehen. Wenn z. B. bei einer Pflanze durch Verſetzung an einen trocknen Standort die Behaarung der Blätter zu— nimmt, ſo wirkt dieſe Veränderung auf die Ernährung anderer Theile zurück, und kann eine Verkürzung der Stengelglieder und ſomit eine gedrungenere Form der ganzen Pflanze zur Folge haben. Bei einigen Raſſen von Schweinen und Hunden, z. B. bei dem türkiſchen Hunde, welche durch Anpaſſung an ein wärmeres Klima ihre Behaarung mehr oder weniger verloren, wurde zugleich das Gebiß rückgebildet. So zeigen auch die Walfiſche und die Edentaten (Schuppenthiere, Gürtelthiere ꝛc.), welche ſich durch ihre eigenthümliche Hautbedeckung am meiſten von den übrigen Säugethieren entfernt haben, die größ— ten Abweichungen in der Bildung des Gebiſſes. Ferner bekommen ſolche Raſſen von Hausthieren (3. B. Rindern, Schweinen), bei denen ſich die Beine verkürzen, in der Regel auch einen kurzen und gedrun— Haeckel, Natürliche Schöpfungsgeſchichte. 13 194 Wechſelbezügliche oder correlative Anpaſſung. genen Kopf. So zeichnen ſich u. a. die Taubenraſſen, welche die längſten Beine haben, zugleich auch durch die längſten Schnäbel aus. Dieſelbe Wechſelbeziehung zwiſchen der Länge der Beine und des Schnabels zeigt ſich ganz allgemein in der Ordnung der Stelzvögel (Grallatores), beim Storch, Kranich, der Schnepfe u. ſ. w. Die Wechſelbeziehun— gen, welche in dieſer Weiſe zwiſchen verſchiedenen Theilen des Orga— nismus beſtehen, ſind äußerſt merkwürdig, und im Einzelnen ihrer Urſache nach uns unbekannt. Im Allgemeinen können wir natürlich ſagen: die Ernährungsveränderungen, die einen einzelnen Theil be— treffen, müſſen nothwendig auf die übrigen Theile zurückwirken, weil die Ernährung eines jeden Organismus eine zuſammenhängende, cen— traliſirte Thätigkeit iſt. Allein warum nun gerade dieſer oder jener Theil in dieſer merkwürdigen Wechſelbeziehung zu einem andern ſteht, iſt uns in den meiſten Fällen ganz unbekannt. Es ſind eine große Anzahl ſolcher Wechſelbeziehungen in der Bildung bekannt, namentlich bei den neulich ſchon erwähnten Abänderungen der Thiere und Pflan— zen, die ſich durch Pigmentmangel auszeichnen, den Albinos oder Kakerlaken. Der Mangel des gewöhnlich vorhandenen Farbeſtoffs be— dingt hier gewöhnlich auch gewiſſe Veränderungen in der Bildung anderer Theile, z. B. des Muskelſyſtems, des Knochenſyſtems, alſo organiſcher Syſteme, die zunächſt gar nicht mit dem Syſtem der äu— ßeren Haut zuſammenhängen. Sehr häufig ſind dieſe ſchwächer ent— wickelt und daher der ganze Körperbau zarter und ſchwächer, als bei den gefärbten Thieren derſelben Art. Ebenſo werden auch die Sinnes— organe und das Nervenſyſtem durch dieſen Pigmentmangel eigenthüm— lich afficirt. Katzen mit blauen Augen find jederzeit taub. Die Schim- mel zeichnen ſich vor den gefärbten Pferden durch die beſondere Nei— gung zur Bildung ſarkomatöſer Geſchwülſte aus. Auch beim Menſchen iſt der Grad der Pigmententwickelung in der äußeren Haut vom größ- ten Einfluſſe auf die Empfänglichkeit des Organismus für gewiſſe Krankheiten, ſo daß z. B. Europäer mit dunkler Hautfarbe, ſchwarzen Haaren und braunen Augen, ſich leichter in den Tropengegenden ak— klimatiſiren, und viel weniger den dort herrſchenden Krankheiten (Le⸗ Wechſelbeziehungen der Geſchlechtsorgane und der übrigen Körpertheile. 195 berentzündungen, gelbem Fieber u. ſ. w.) unterworfen ſind, als Eu— ropäer mit heller Hautfarbe, blondem Haar und blauen Augen. Dieſe letztern ſind viel mehr, als die Individuen von dunkler Com— plexion, den klimatiſchen Einflüſſen der Tropengegenden ausgeſetzt. Vorzugsweiſe merkwürdig ſind unter dieſen Wechſelbeziehungen der Bildung verſchiedener Organe diejenigen, welche zwiſchen den Ge— ſchlechtsorganen und den übrigen Theilen des Körpers beſtehen. Keine Veränderung eines Theiles wirkt ſo mächtig zurück auf die übrigen Körpertheile, als eine beſtimmte Behandlung der Geſchlechtsorgane. Die Landwirthe, welche bei Schweinen, Schafen u. ſ. w. reichliche Fettbildung erzielen wollen, entfernen die Geſchlechtsorgane durch Herausſchneiden (Caſtration), und zwar geſchieht dies bei Thieren beiderlei Geſchlechts. In Folge davon tritt eine übermäßige Fett— entwickelung ein. Daſſelbe thut auch ſeine Heiligkeit, der Papſt, bei den Caſtraten, welche in der Peterskirche zu Ehren Gottes ſingen müſſen. Dieſe Unglücklichen werden in früher Jugend caſtrirt, da- mit fie ihre hohen Knabenſtimmen beibehalten. In Folge dieſer Ber- ſtümmelung der Genitalien bleibt der Kehlkopf auf der jugendlichen Entwickelungsſtufe ſtehen. Zugleich bleibt die Muskulatur des ganzen Körpers ſchwach entwickelt, während ſich unter der Haut reichliche Fettmengen anſammeln. Aber auch auf die Ausbildung des Central— nervenſyſtems, der Willensenergie u. ſ. w. wirkt jene Verſtümmelung mächtig zurück, und es iſt bekannt, daß die menſchlichen Caſtraten oder Eunuchen ebenſo wie die caſtrirten männlichen Hausthiere, des beſtimmten pſychiſchen Charakters, welcher das männliche Geſchlecht auszeichnet, gänzlich entbehren. Der Mann iſt eben Leib und Seele nach nur Mann durch feine männliche Generationsdrüfe. Dieſe äußerſt wichtigen und einflußreichen Wechſelbeziehungen zwiſchen den Geſchlechtsorganen und den übrigen Körpertheilen, vor allen dem Gehirn, finden ſich in gleicher Weiſe bei beiden Geſchlech— tern. Es läßt ſich dies ſchon von vornherein deshalb erwarten, weil bei den meiſten Thieren die beiderlei Organe aus gleicher Grundlage ſich entwickeln und anfänglich nicht verſchieden ſind. Beim Menſchen, 13 * 196 Wechſelbezügliche oder correlative Anpaſſung. wie bei allen übrigen Wirbelthieren, ſind in der urſprünglichen Anlage des Keims die männlichen und weiblichen Organe völlig gleich, und erſt allmählich entſtehen im Laufe der embryonalen Entwickelung (beim Menſchen in der neunten Woche ſeines Embryolebens) die Unterſchiede der beiden Geſchlechter, indem eine und dieſelbe Sexualdrüſe beim Weibe zum Eierſtock, beim Manne zum Teſtikel wird. Jede Verän⸗ derung des weiblichen Eierſtocks äußert daher eine nicht minder bedeu— tende Rückwirkung auf den geſammten weiblichen Organismus, wie jede Veränderung des Teſtikels auf den männlichen Organismus. Die Wichtigkeit dieſer Wechſelbeziehung hat Virchow in ſeinem vor— trefflichen Aufſatz „das Weib und die Zelle“ mit folgenden Worten ausgeſprochen: „Das Weib iſt eben Weib nur durch ſeine Genera— tionsdrüſe; alle Eigenthümlichkeiten ſeines Körpers und Geiſtes oder ſeiner Ernährung und Nerventhätigkeit: die ſüße Zartheit und Run⸗ dung der Glieder bei der eigenthümlichen Ausbildung des Beckens, die Entwickelung der Brüſte bei dem Stehenbleiben der Stimmorgane, jener ſchöne Schmuck des Kopfhaares bei dem kaum merklichen, wei— chen Flaum der übrigen Haut, und dann wiederum dieſe Tiefe des Gefühls, dieſe Wahrheit der unmittelbaren Anſchauung, dieſe Sanftmuth, Hingebung und Treue — kurz, Alles was wir an dem wahren Weibe Weibliches bewundern und verehren, iſt nur eine De— pendenz des Eierſtocks. Man nehme den Eierſtock hinweg, und das Mannweib in ſeiner häßlichſten Halbheit ſteht vor uns.“ Dieſelbe innige Correlation oder Wechſelbeziehung zwiſchen den Geſchlechtsorganen und den übrigen Körpertheilen findet ſich auch bei den Pflanzen eben ſo allgemein wie bei den Thieren vor. Wenn man bei einer Gartenpflanze reichlichere Früchte zu erzielen wünſcht, be— ſchränkt man den Blätterwuchs durch Abſchneiden eines Theils der Blätter. Wünſcht man umgekehrt eine Zierpflanze mit einer Fülle von großen und ſchönen Blättern zu erhalten, ſo verhindert man die Blüthen- und Fruchtbildung durch Abſchneiden der Blüthenknospen. In beiden Fällen entwickelt ſich das eine Organſyſtem auf Koſten des anderen. So ziehen auch die meiſten Abänderungen der vegetativen Erklärung der indirecten oder potentiellen Anpaſſung. 197 Blattbildung bei den wilden Pflanzen eine entſprechende Umbildung in den generativen Blüthentheilen nach ſich. Die hohe Bedeutung dieſer „Compenſation der Entwickelung“, diefer „Correlation der Theile“ iſt bereits von Goethe, von Geoffroy S. Hilaire und von anderen Naturphiloſophen hervorgehoben worden. Sie beruht weſent— lich darauf, daß die directe oder actuelle Anpaſſung keinen einzigen Körpertheil weſentlich verändern kann, ohne zugleich auf den ganzen Organismus einzuwirken. ö Die correlative Anpaſſung der Fortpflanzungsorgane und der übrigen Körpertheile verdient deshalb eine ganz beſondere Berückſichti⸗ gung, weil fie vor allen geeignet iſt, ein erklärendes Licht auf die vor— her betrachteten dunkeln und räthſelhaften Erſcheinungen der indirecten oder potentiellen Anpaſſung zu werfen. Denn ebenſo wie jede Ver- änderung der Geſchlechtsorgane mächtig auf den übrigen Körper zu— rückwirkt, fo muß natürlich umgekehrt auch jede eingreifende Verände— rung eines anderen Körpertheils mehr oder weniger auf die Gene— rationsorgane zurückwirken. Dieſe Rückwirkung wird ſich aber erſt in der Bildung der Nachkommenſchaft, welche aus den veränderten Generationstheilen entſteht, wahrnehmbar äußern. Gerade jene merk⸗ würdigen, aber unmerklichen und an ſich ungeheuer geringfügigen Veränderungen des Genitalſyſtems, der Eier und des Sperma, welche durch ſolche Wechſelbeziehungen hervorgebracht werden, ſind vom größten Einfluſſe auf die Bildung der Nachkommenſchaft, und alle vorher erwähnten Erſcheinungen der indirecten oder potentiellen An— paſſungen können ſchließlich auf dieſe wechſelbezügliche Anpaſſung zu— rückgeführt werden. Eine weitere Reihe von ausgezeichneten Beiſpielen der correlati- ven Anpaſſung liefern die verſchiedenen Thiere und Pflanzen, welche durch das Schmarotzerleben oder den Paraſitismns rückgebildet find. Keine andere Veränderung der Lebensweiſe wirkt ſo bedeutend auf die Formbildung der Organismen ein, wie die Angewöhnung an das Schmarotzerleben. Pflanzen verlieren dadurch ihre grünen Blätter, wie z. B. unſere einheimiſchen Schmarotzerpflanzen: Orobanche, La- 198 Wechſelbezügliche oder correlative Anpaſſung. thraea, Monotropa. Thiere, welche urſprünglich ſelbſtſtändig und frei gelebt haben, dann aber eine paraſitiſche Lebensweiſe auf andern Thieren oder auf Pflanzen annehmen, geben zunächſt die Thätigkeit ihrer Bewegungsorgane und ihrer Sinnesorgane auf. Der Verluſt der Thätigkeit zieht aber den Verluſt der Organe, durch welche ſie be— wirkt wurde, nach ſich, und ſo finden wir z. B. viele Krebsthiere oder Cruſtaceen, die in der Jugend einen ziemlich hohen Organiſations⸗ grad, Beine, Fühlhörner und Augen beſaßen, im Alter als Para⸗ ſiten vollkommen degenerirt wieder, ohne Augen, ohne Bewegungs— werkzeuge und ohne Fühlhörner. Aus der munteren, beweglichen Jugendform iſt ein unförmlicher, unbeweglicher Klumpen geworden. Nur die nöthigſten Ernährungs- und Fortpflanzungsorgane ſind noch in Thätigkeit. Der ganze übrige Körper iſt rückgebildet. Offenbar ſind dieſe tiefgreifenden Umbildungen großentheils directe Folgen der gehäuften oder cumulativen Anpaſſung, des Nichtgebrauchs und der mangelnden Uebung der Organe; aber zum großen Theile kommen dieſelben ſicher auch auf Rechnung der wechſelbezüglichen oder correla— tiven Anpaſſung. Ein ſiebentes Anpaſſungsgeſetz, das vierte in der Gruppe der directen Anpaſſungen, iſt das Geſetz der abweichenden oder divergenten Anpaſſung. Wir verſtehen darunter die Erſchei— nung, daß urſprünglich gleichartig angelegte Theile ſich durch den Einfluß äußerer Bedingungen in verſchiedener Weiſe ausbilden. Dieſes Anpaſſungsgeſetz iſt ungemein wichtig für die Erklärung der Arbeits theilung oder des Polymorphismus. An uns ſelbſt können wir es ſehr leicht erkennen, z. B. in der Thätigkeit unſerer beiden Hände. Die rechte Hand wird gewöhnlich von uns an ganz andere Arbeiten gewöhnt, als die linke; es entſteht in Folge der abweichenden Be— ſchäftigung auch eine verſchiedene Bildung der beiden Hände. Die rechte Hand, welche man gewöhnlich viel mehr braucht, als die linke, zeigt ſtärker entwickelte Nerven, Muskeln und Knochen. Ebenſo findet man häufig die beiden Augen nach dieſem Geſetze verſchieden entwi— ckelt. Wenn man ſich z. B. als Naturforſcher gewöhnt, immer nur mit Abweichende oder divergente Anpaſſung. 199 dem einen Auge (am beſten mit dem linken) zu mikroſkopiren, und mit dem anderen nicht, ſo erlangt das eine eine ganz andere Beſchaf— fenheit, als das andere, und dieſe Arbeitstheilung iſt von großem Vortheil. Das eine Auge wird dann kurzſichtiger, geeigneter für das Sehen in die Nähe, das andere Auge weitſichtiger, ſchärfer für den Blick in die Ferne. Wenn man dagegen abwechſelnd mit beiden Augen mikroſkopirt, ſo erlangt man nicht auf dem einen Auge den Grad der Kurzſichtigkeit, auf dem andern den Grad der Weitſichtigkeit, welchen man durch eine weiſe Vertheilung dieſer verſchiedenen Geſichts— functionen auf beide Augen erreicht. Zunächſt wird auch hier wieder durch die Gewohnheit die Func— tion, die Thätigkeit der urſprünglich gleich gebildeten Organe ungleich, divergent; allein die Function wirkt wiederum auf die Form des Or— gans zurück, und daher finden wir bei einer längeren Dauer jenes Ein— fluſſes eine Veränderung in den feineren Formbeſtandtheilen und in den Wachsthumsverhältniſſen der abweichenden Theile, die zuletzt auch in gröberen Umriſſen erkennbar wird. Bei Handarbeitern z. B. welche zu gewiſſen Zwecken faſt beſtändig bloß den rechten Arm gebrauchen, wird dieſer allmählich weit ſtärker als der linke, was ſich auch durch Maß und Gewicht nachweiſen läßt. Der Unterſchied in der Function hat alſo hier umbildend auf die Form zurückgewirkt. Unter den Pflanzen können wir die abweichende oder divergente Anpaſſung beſonders bei den Schlinggewächſen ſehr leicht wahrnehmen. Aeſte einer und derſelben Schlingpflanze, welche urſprünglich gleich— artig angelegt ſind, erhalten eine ganz verſchiedene Form und Aus— dehnung, einen ganz verſchiedenen Krümmungsgrad und Durchmeſſer der Spiralwindung, je nachdem ſie um einen dünneren oder dicke— ren Stab ſich herumwinden. Ebenſo iſt auch die abweichende Verände— rung der Formen urſprünglich gleich angelegter Theile, welche divergent nach verſchiedenen Richtungen unter abweichenden äußeren Bedin— gungen ſich entwickeln, in vielen anderen Erſcheinungen der Form— bildung bei Thieren und Pflanzen deutlich nachweisbar. Indem dieſe abweichende oder divergente Anpaſſung mit der fortſchreitenden 200 Unbeſchränkte oder unendliche Anpaſſung. Vererbung in Wechſelwirkung tritt, wird ſie die Urſache der Arbeits— theilung der verſchiedenen Organe. Ein achtes und letztes Anpaſſungsgeſetz können wir als das Geſetz der unbeſchränkten oder unendlichen Anpaſ— ſung bezeichnen. Wir wollen damit einfach ausdrücken, daß uns keine Grenze für die Veränderung der organiſchen Formen durch den Einfluß der äußeren Exiſtenzbedingungen bekannt iſt. Wir können von keinem einzigen Theil des Organismus behaupten, daß er nicht mehr veränderlich ſei, daß, wenn man ihn unter neue äußere Be— dingungen brächte, er durch dieſe nicht verändert werden würde. Noch niemals hat ſich in der Erfahrung eine Grenze für die Abänderung nachweiſen laſſen. Wenn z. B. ein Organ durch Nichtgebrauch dege— nerirt, ſo geht dieſe Degeneration ſchließlich bis zum vollſtändigen Schwunde des Organs fort, wie es bei den Augen vieler Thiere der Fall iſt. Andrerſeits können wir durch fortwährende Uebung, Ge— wohnheit, und immer geſteigerten Gebrauch eines Organs daſſelbe in einem Maße vervollkommnen, wie wir es von vornherein für un— möglich gehalten haben würden. Wenn man die unciviliſirten Wilden mit den Culturvölkern vergleicht, fo findet man bei jenen eine Aus— bildung der Sinnesorgane, Geſicht, Geruch, Gehör, von der die Culturvölker keine Ahnung haben. Umgekehrt iſt bei den höheren Culturvölkern das Gehirn, die Geiſtesthätigkeit in einem Grade ent- wickelt, von welchem die rohen Wilden keine Vorſtellung beſitzen. In beiden Fällen läßt ſich der weiter gehenden Ausbildung durch gehäufte Anpaſſung keine Grenze ſetzen. Allerdings ſcheint für jeden Organismus eine Grenze der An— paſſungsfähigkeit durch den Typus ſeines Stammes oder Phylum ge— geben zu ſein, d. h. durch die weſentlichen Grundeigenſchaften dieſes Stammes, welche von dem gemeinſamen Stammvater deſſelben er- erbt ſind und ſich durch conſervative Vererbung auf alle Deſcendenten deſſelben übertragen. So kann z. B. niemals ein Wirbelthier ſtatt des charakteriſtiſchen Rückenmarks der Wirbelthiere das Bauchmark der Gliederthiere ſich erwerben. Allein innerhalb dieſer erblichen Unbeſchränkte oder unendliche Anpaſſung. 201 Grundform, innerhalb dieſes unveräußerlichen Typus, iſt der Grad der Anpaſſungsfähigkeit unbeſchränkt. Die Biegſamkeit und Flüſſig— keit der organiſchen Form äußert ſich innerhalb deſſelben frei nach allen Richtungen hin, und in ganz unbeſchränktem Umfang. Es giebt aber einzelne Thiere, wie z. B. die durch Paraſitismus rückgebildeten Krebsthiere und Würmer, welche ſelbſt jene Grenze des Typus zu überſpringen ſcheinen, und durch erſtaunlich weit gehende Degenera— tion faſt alle weſentlichen Charaktere ihres Stammes eingebüßt haben. Was die Anpaſſungsfähigkeit des Menſchen betrifft, ſo iſt dieſelbe, wie bei allen anderen Thieren, ebenfalls unbegrenzt, und da ſich die— ſelbe beim Menſchen vor allen in der Umbildung des Gehirns äußert, ſo läßt ſich durchaus keine Grenze der Erkenntniß ſetzen, welche der Menſch bei weiter fortſchreitender Geiſtesbildung nicht würde über— ſchreiten können. Auch der menſchliche Geiſt genießt nach dem Geſetze der unbeſchränkten Anpaſſung eine unendliche Perſpective für ſeine Vervollkommnung in der Zukunft. Dieſe Bemerkungen genügen wohl, um die Tragweite der An— paſſungserſcheinungen hervorzuheben, und ihnen das Gewicht zuzu— ſchreiben, welches ich von vornherein für dieſelben in Anſpruch ge— nommen habe. Die Anpaſſungsgeſetze, die Thatſachen der Verän— derung durch den Einfluß äußerer Bedingungen, ſind von ebenſo großer Bedeutung, wie die Vererbungsgeſetze. Alle Anpaſſungser⸗ ſcheinungen laſſen ſich in letzter Linie zurückführen auf die Ernährungs— verhältniſſe des Organismus, in gleicher Weiſe wie die Vererbungs— erſcheinungen in den Fortpflanzungsverhältniſſen begründet ſind; dieſe aber ſowohl als jene ſind weiter zurückzuführen auf chemiſche und phyſikaliſche Gründe, alſo auf mechaniſche Urſachen. Lediglich durch die Wechſelwirkung derſelben entſtehen nach Darwin's Selections— theorie die neuen Formen der Organismen, die Umbildungen, welche die künſtliche Züchtung im Culturzuſtande, die natürliche Züchtung im Naturzuſtande hervorbringt. Elfter Vortrag. Die natürliche Züchtung durch den Kampf um's Daſein. Arbeitstheilung und Fortſchritt. Wechselwirkung der beiden organiſchen Bildungstriebe, der Vererbung und An⸗ paſſung. Natürliche und künſtliche Züchtung. Kampf um's Daſein oder Wettkampf um die Lebensbedürfniſſe. Mißverhältniß zwiſchen der Zahl der möglichen (poten⸗ tiellen) und der Zahl der wirklichen (actuellen) Individuen. Verwickelte Wechſel⸗ beziehungen aller benachbarten Organismen. Wirkungsweiſe der natürlichen Züch⸗ tung. Gleichfarbige Zuchtwahl als Urſache der ſympathiſchen Färbungen. Ge⸗ ſchlechtliche Zuchtwahl als Urſache der ſecundären Sexualcharaktere. Geſetz der Son⸗ derung oder Arbeitstheilung (Polymorphismus, Differenzirung, Divergenz des Cha- rakters). Uebergang der Varietäten in Species. Begriff der Species. Baſtard⸗ zeugung. Geſetz des Fortſchritts oder der Vervollkommnung (Progreſſus, Teleoſis). Meine Herren! Um zu einem richtigen Verſtändniß des Dar— winismus zu gelangen, iſt es vor Allem nothwendig, die beiden organiſchen Functionen genau in das Auge zu faſſen, die wir in den letzten Vorträgen betrachtet haben, die Vererbung und Anpaſ— ſung. Wenn man nicht einerſeits die rein mechaniſche Natur dieſer beiden phyſiologiſchen Thätigkeiten und die mannichfaltige Wirkung ihrer verſchiedenen Geſetze in's Auge faßt, und wenn man nicht an— wdrerfeit8 erwägt, wie verwickelt die Wechſelwirkung dieſer verſchie— denen Vererbungs- und Anpaſſungsgeſetze nothwendig ſein muß, ſo wird man nicht begreifen, daß dieſe beiden Functionen für ſich allein Die beiden organischen Bildungstriebe: Vererbung und Anpaſſung. 203 die ganze Mannichfaltigkeit der Thier- und Pflanzenformen ſollen er⸗ zeugen können; und doch iſt das in der That der Fall. Wir ſind wenigſtens bis jetzt nicht im Stande geweſen, andere formbildende Urſachen aufzufinden, als dieſe beiden; und wenn wir die nothwen— dige und unendlich verwickelte Wechſelwirkung der Vererbung und An⸗ paſſung richtig verſtehen, ſo haben wir auch gar nicht mehr nöthig, noch nach anderen unbekannten Urſachen der Umbildung der organi— ſchen Geſtalten zu ſuchen. Jene beiden Grundurſachen erſcheinen uns dann völlig genügend. Schon früher, lange bevor Darwin ſeine Selectionstheorie aufſtellte, nahmen einige Naturforſcher, insbeſondere Goethe, als Urſache der organiſchen Formenmannichfaltigkeit die Wechſelwirkung zweier verſchiedener Bildungstriebe an, eines conſervativen oder er— haltenden, und eines umbildenden oder fortſchreitenden Bildungstrie— bes. Erſteren nannte Goethe den centripetalen oder Specifications— trieb, letzteren den centrifugalen oder den Trieb der Metamorphoſe (S. 74). Dieſe beiden Triebe entſprechen vollſtändig den beiden Func— tionen der Vererbung und der Anpaſſung. Die Vererbung iſt der centripetale oder innere Bildungstrieb, welcher beſtrebt iſt die organiſche Form in ihrer Art zu erhalten, die Nachkommen den Eltern gleich zu geſtalten, und Generationen hindurch immer Gleich— artiges zu erzeugen. Die Anpaſſung dagegen, welche der Verer— bung entgegenwirkt, iſt der centrifugale oder äußere Bil— dungstrieb, welcher beſtändig beftrebt iſt, durch die veränderlichen Einflüſſe der Außenwelt die organiſche Form umzubilden, neue For— men aus den vorhergehenden zu ſchaffen und die Conſtanz der Spe— ties, die Beſtändigkeit der Art gänzlich aufzuheben. Je nachdem die Vererbung oder die Anpaſſung das Uebergewicht im Kampfe erhält, bleibt die Speciesform beſtändig oder ſie bildet ſich in eine neue Art um. Der in jedem Augenblick ſtattfindende Grad der Formbeſtändig— keit bei den verſchiedenen Thier- und Pflanzenarten iſt einfach das nothwendige Reſultat des augenblicklichen Uebergewichts, welches jeder 204 Künſtliche und natürliche Züchtung. dieſer beiden Bildungstriebe (oder phyſiologiſchen Functionen) über den anderen erlangt hat. Wenn wir nun zurückkehren zu der Betrachtung des Züchtungs— vorgangs, der Ausleſe oder Selection, die wir bereits im ſiebenten Bor- trag (S. 118) in ihren Grundzügen unterſuchten, ſo werden wir jetzt um ſo klarer und beſtimmter erkennen, daß ſowohl die künſtliche als die natürliche Züchtung einzig und allein auf der Wechſelwirkung dieſer beiden Functionen oder Bildungstriebe beruhen. Wenn Sie die Thätig— keit des künſtlichen Züchters, des Landwirths oder Gärtners, ſcharf in's Auge faſſen, ſo erkennen Sie, daß nur jene beiden Bildungstriebe von ihm zur Hervorbringung neuer Formen benutzt werden. Die ganze Kunſt der künſtlichen Zuchtwahl beruht eben nur auf einer denkenden und vernünftigen Anwendung der Vererbungs- und Anpaſſungsgeſetze, auf einer kunſtvollen und planmäßigen Benutzung und Regulirung derſelben. Dabei iſt der vervollkommnete menſchliche Wille die aus— leſende, züchtende Kraft. Ganz ähnlich verhält ſich die natürliche Züchtung. Auch dieſe benutzt bloß jene beiden organiſchen Bildungstriebe, jene phyſiologi⸗ ſchen Grundeigenſchaften der Anpaſſung und Vererbung, um die ver— ſchiedenen Arten oder Species hervorzubringen. Dasjenige züchtende Princip aber, diejenige ausleſende Kraft, welche bei der künſtlich en Züchtung durch den planmäßig wirkenden und bewußten Willen des Menſchen vertreten wird, iſt bei der natürlichen Züchtung der planlos wirkende und unbewußte Kampf um's Daſein. Was wir unter „Kampf um's Daſein“ verſtehen, haben wir im ſiebenten Bor- trage bereits auseinandergeſetzt. Es iſt gerade die Erkenntniß dieſes äußerſt wichtigen Verhältniſſes eines der größten Verdienſte Dar— win 's. Da aber dieſes Verhältniß ſehr häufig unvollkommen oder falſch verſtanden wird, iſt es nothwendig, daſſelbe jetzt noch näher in's Auge zu faſſen, und an einigen Beiſpielen die Wirkſamkeit des Kampfes um's Daſein, die Thätigkeit der natürlichen Züchtung durch den Kampf um's Daſein zu erläutern. (Gen. Morph. II., 231). Kampf ums Daſein. 205 Wir gingen bei der Betrachtung des Kampfes um's Daſein von der Thatſache aus, daß die Zahl der Keime, welche alle Thiere und Pflanzen erzeugen, unendlich viel größer iſt, als die Zahl der Individuen, welche wirklich in das Leben treten und ſich längere oder kürzere Zeit am Leben erhalten können. Die meiſten Organismen erzeugen während ihres Lebens Tauſende oder Millionen von Keimen, aus deren jedem ſich unter günſtigen Umſtänden ein neues Individuum entwickeln könnte. Bei den meiſten Thieren ſind dieſe Keime Eier, bei den mei— ſten Pflanzen den Eiern entſprechende Zellen (Embryobläschen), welche zu ihrer weiteren Entwickelung der geſchlechtlichen Befruchtung bedürfen. Dagegen bei den Protiſten, niederſten Organismen, welche weder Thiere noch Pflanzen find, und welche ſich bloß ungeſchlechtlich fort— pflanzen, bedürfen die Keimzellen oder Sporen keiner Befruchtung. In allen Fällen ſteht nun die Zahl ſowohl dieſer ungeſchlechtlichen als jener geſchlechtlichen Keime in gar keinem Verhältniß zu der Zahl der wirklich lebenden Individuen. Im Großen und Ganzen genommen bleibt die Zahl der leben— den Thiere und Pflanzen auf unſerer Erde durchſchnittlich immer die— ſelbe. Die Zahl der Stellen im Naturhaushalt iſt beſchränkt, und an den meiſten Punkten der Erdoberfläche ſind dieſe Stellen immer an— nähernd beſetzt. Gewiß finden überall in jedem Jahre Schwankungen in der abſoluten und in der relativen Individuenzahl aller Arten ſtatt. Allein im Großen und Ganzen genommen werden dieſe Schwankun— gen nur geringe Bedeutung haben gegenüber der Thatſache, daß die Geſammtzahl aller Individuen durchſchnittlich beinahe conſtant bleibt. Der Wechſel, der überall ſtattfindet, beſteht darin, daß in einem Jahre dieſe und im andern Jahre jene Reihe von Thieren und Pflan— zen überwiegt, und daß in jedem Jahre der Kampf um's Daſein dieſes Verhältniß wieder etwas anders geſtaltet. Jede einzelne Art von Thieren und Pflanzen würde in kurzer Zeit die ganze Erdoberfläche dicht bevölkert haben, wenn ſie nicht mit einer Menge von Feinden und feindlichen Einflüſſen zu kämpfen hätte. Schon Lin ns berechnete, daß wenn eine einjährige Pflanze nur zwei 206 Zahlenverhältniß der möglichen und wirklichen Individuen. Samen hervorbrächte (und es gibt keine, die ſo wenig erzeugt), ſie in 20 Jahren ſchon eine Million Individuen geliefert haben würde. Darwin berechnete vom Elephanten, der ſich am langſamſten von allen Thieren zu vermehren ſcheint, daß in 500 Jahren die Nachkom⸗ menſchaft eines einzigen Paares bereits 15 Millionen Individuen be— tragen würde, vorausgeſetzt, daß jeder Elephant während der Zeit ſeiner Fruchtbarkeit (vom 30. bis 90. Jahre) nur 3 Paar Junge er⸗ zeugte. Ebenſo würde die Zahl der Menſchen, wenn man die mittlere Fortpflanzungszahl zu Grunde legt, und wenn keine Hinderniſſe der natürlichen Vermehrung im Wege ſtünden, bereits in 25 Jahren ſich verdoppelt haben. In jedem Jahrhundert würde die Geſammtzahl der menſchlichen Bevölkerung um das ſechszehnfache geſtiegen ſein. Nun wiſſen Sie aber, daß die Geſammtzahl der Menſchen nur ſehr lang— ſam wächſt, und daß die Zunahme der Bevölkerung in verſchiedenen Gegenden ſehr verſchieden iſt. Während europäiſche Stämme ſich über den ganzen Erdball ausbreiten, gehen andere Stämme, ja ſogar ganze Arten oder Species des Menſchengeſchlechts mit jedem Jahre mehr ihrem völligen Ausſterben entgegen. Dies gilt namentlich von den Rothhäuten Amerikas und von den Alfurus, den ſchwarzbraunen Ein- geborenen Auſtraliens. Selbſt wenn dieſe Völker ſich reichlicher fort— pflanzten, als die weiße Menſchenart Europas, würden ſie dennoch früher oder ſpäter der letzteren im Kampfe um's Daſein erliegen. Von allen Menſchenarten aber, ebenſo wie von allen übrigen Organismen, geht bei weitem die überwiegende Mehrzahl in der früheſten Lebenszeit zu Grunde. Von der ungeheuren Maſſe von Keimen, die jede Art erzeugt, gelangen nur ſehr wenige wirklich zur Entwickelung, und von dieſen wenigen iſt es wieder nur ein ganz kleiner Bruchtheil, welcher das Alter erreicht, in dem er ſich fortpflanzen kann (Vergl. S. 127). Aus dieſem Mißverhältniß zwiſchen der ungeheuren Ueberzahl der organiſchen Keime und der geringen Anzahl von auserwählten In— dividuen, die wirklich neben und mit einander fortbeſtehen können, folgt mit Nothwendigkeit jener allgemeine Kampf um's Daſein, jenes beſtändige Ringen um die Exiſtenz, jener unaufhörliche Wettkampf Urſachen und Folgen des Kampfes um's Dafein. 207 um die Lebensbedürfniſſe, von welchem ich Ihnen bereits im ſiebenten Vortrage ein Bild entwarf. Jener Kampf um's Daſein iſt es, welcher die natürliche Züchtung veranlaßt, welcher die Wechſelwirkung der Vererbungs- und Anpaſſungserſcheinungen züchtend benutzt und da— durch an einer beſtändigen Umbildung aller organiſchen Formen ar— beitet. Immer werden in jenem Kampf um die Erlangung der noth— wendigen Exiſtenzbedingungen diejenigen Individuen ihre Nebenbuhler beſiegen, welche irgend eine individuelle Begünſtigung, eine vortheil— hafte Eigenſchaft beſitzen, die ihren Mitbewerbern fehlt. Freilich können wir nur in den wenigſten Fällen, bei uns näher bekannten Thieren und Pflanzen, uns eine ungefähre Vorſtellung von der un— endlich complicirten Wechſelwirkung der zahlreichen Verhältniſſe ma— chen, welche alle hierbei in Frage kommen. Denken Sie nur daran, wie unendlich mannichfaltig und verwickelt die Beziehungen jedes ein— zelnen Menſchen zu den übrigen und überhaupt zu der ihn umgeben— den Außenwelt ſind. Aehnliche Beziehungen walten aber auch zwi— ſchen allen Thieren und Pflanzen, die an einem Orte mit einander le— ben. Alle wirken gegenſeitig, activ oder paſſiv, auf einander ein. Jedes Thier, jede Pflanze kämpft direct mit einer Anzahl von Feinden, welche denſelben nachſtellen, mit Raubthieren, paraſitiſchen Thieren u. ſ. w. Die zuſammenſtehenden Pflanzen kämpfen mit einander um den Bodenraum, den ihre Wurzeln bedürfen, um die nothwendige Menge von Licht, Luft, Feuchtigkeit u. ſ. w. Ebenſo ringen die Thiere eines jeden Bezirks mit einander um ihre Nahrung, Wohnung u. ſ. w. Es wird in dieſem äußerſt lebhaften und verwickelten Kampf jeder noch ſo kleine perſönliche Vorzug, jeder individuelle Vortheil möglicherweiſe den Ausſchlag geben können, zu Gunſten ſeines Be— ſitzers. Dieſes bevorzugte einzelne Individuum bleibt im Kampfe Sieger und pflanzt ſich fort, während ſeine Mitbewerber zu Grunde gehen, ehe ſie zur Fortpflanzung gelangen. Der perſönliche Vorzug, welcher ihm den Sieg verlieh, wird auf ſeine Nachkommen vererbt, und kann durch weitere Ausbildung die Urſache zur Bildung einer neuen Art werden. 208 Verwickelte Wechſelbeziehungen aller benachbarten Organismen. Die unendlich verwickelten Wechſelbeziehungen, welche zwiſchen den Organismen eines jeden Bezirks beſtehen, und welche als die eigentlichen Bedingungen des Kampfes um's Daſein angeſehen werden müſſen, ſind uns größtentheils unbekannt und meiſtens auch ſehr ſchwie— rig zu erforſchen. Nur in einzelnen Fällen haben wir dieſelben bisher bis zu einem gewiſſen Grade verfolgen können, ſo z. B. in dem von Darwin angeführten Beiſpiel von den Beziehungen der Katzen zum rothen Klee in England. Die rothe Kleeart (Trifolium pratense), welche in England eines der vorzüglichſten Futterkräuter für das Rind— vieh bildet, bedarf, um zur Samenbildung zu gelangen, des Beſuchs der Hummeln. Indem dieſe Inſecten den Honig aus dem Grunde der Kleeblüthe ſaugen, bringen fie den Blüthenſtaub mit der Narbe in Be- rührung und vermitteln ſo die Befruchtung der Blüthe, welche ohne fie niemals erfolgt. Darwin hat durch Verſuche gezeigt, daß rother Klee, den man von dem Beſuche der Hummeln abſperrt, keinen einzi— gen Samen liefert. Die Zahl der Hummeln iſt bedingt durch die Zahl ihrer Feinde, unter denen die Feldmäuſe die verderblichſten ſind. Je mehr die Feldmäuſe überhand nehmen, deſto weniger wird der Klee befruchtet. Die Zahl der Feldmäuſe iſt wiederum von der Zahl ihrer Feinde abhängig, zu denen namentlich die Katzen gehören. Da— her giebt es in der Nähe der Dörfer und Städte, wo viel Katzen ge— halten werden, beſonders viel Hummeln. Eine große Zahl von Katzen iſt alſo offenbar von großem Vortheil für die Befruchtung des Klees. Man kann nun, wie es von Karl Vogt geſchehen iſt, dieſes Beiſpiel noch weiter verfolgen, wenn man erwägt, daß das Rindvieh, welches ſich von dem rothen Klee nährt, eine der wichtigſten Grundlagen des Wohlſtands von England iſt. Die Engländer conſerviren ihre körper- lichen und geiſtigen Kräfte vorzugsweiſe dadurch, daß ſie ſich größten— theils von trefflichem Fleiſch, namentlich ausgezeichnetem Roſtbeaf und Beafſteak nähren. Dieſer vorzüglichen Fleiſchnahrung verdanken die Britten zum großen Theil das Uebergewicht ihres Gehirns und Geiſtes über die anderen Nationen. Offenbar iſt dieſes aber indirect abhängig von den Katzen, welche die Feldmäuſe verfolgen. Man kann auch Wechſelnde Bedingungen des Kampfes um's Daſein. 209 mit Huxley auf die alten Jungfern zurückgehen, welche vorzugsweiſe die Katzen hegen und pflegen, und ſomit für die Befruchtung des Klees und den Wohlſtand Englands von größter Wichtigkeit ſind. An dieſem Beiſpiel können Sie erkennen, daß, je weiter man das— ſelbe verfolgt, deſto größer der Kreis der Wirkungen und der Wechſel— beziehungen wird. Man kann aber mit Beſtimmtheit behaupten, daß bei jeder Pflanze und bei jedem Thiere eine Maſſe ſolcher Wechſelbe— ziehungen exiſtiren. Nur ſind wir ſelten im Stande, die Kette derſel— ben ſo herzuſtellen, wie es hier der Fall iſt. Ein anderes merkwürdiges Beiſpiel von wichtigen Wechſelbezie— hungen iſt nach Darwin folgendes: In Paraguay finden ſich keine verwilderten Rinder und Pferde, wie in den benachbarten Theilen Südamerikas, nördlich und ſüdlich von Paraguay. Dieſer auffal— lende Umſtand erklärt ſich einfach dadurch, daß in dieſem Lande eine kleine Fliege ſehr häufig iſt, welche die Gewohnheit hat, ihre Eier in den Nabel der neugeborenen Rinder und Pferde zu legen. Die neu— geborenen Thiere ſterben in Folge dieſes Eingriffs, und jene kleine gefürchtete Fliege iſt alſo die Urſache, daß die Rinder und Pferde in dieſem Diſtrict niemals verwildern. Angenommen, daß durch irgend einen inſectenfreſſenden Vogel jene Fliege zerſtört würde, ſo würden in Paraguay ebenſo wie in den benachbarten Theilen Südamerikas dieſe großen Säugethiere maſſenhaft verwildern, und da dieſelben eine Menge von beſtimmten Pflanzenarten verzehren, würde die ganze Ylo- ra, und in Folge davon wiederum die ganze Fauna dieſes Landes eine andere werden. Intereſſante Beiſpiele für die Veränderung der Wechſelbeziehun— gen im Kampf um's Daſein liefern auch jene iſolirten Inſeln der Südſee, auf denen zu verſchiedenen Malen von Seefahrern Ziegen oder Schweine ausgeſetzt wurden. Dieſe Thiere verwilderten und nahmen aus Mangel an Feinden an Zahl bald ſo übermäßig zu, daß die ganze übrige Thier- und Pflanzenbevölkerung darunter litt, und daß ſchließlich die Inſel beinahe ausſtarb, weil den zu maſſenhaft ſich vermehrenden großen Säugethieren die hinreichende Nahrung fehlte. Haeckel, Natürliche Schöpfungsgeſchichte. 14 210 Triebfedern des Kampfes um's Daſein: Hunger und Liebe. In einigen Fällen wurden auf einer ſolchen von Ziegen oder Schwei— nen übervölkerten Inſel ſpäter von anderen Seefahrern ein Paar Hunde ausgeſetzt, die ſich in dieſem Futterüberfluß ſehr wohl befan— den, ſich wieder ſehr raſch vermehrten und furchtbar unter den Heer— den aufräumten, ſo daß nach einer Anzahl von Jahren den Hunden ſelbſt das Futter fehlte, und auch ſie beinahe ausſtarben. So wechſelt beſtändig in der Oekonomie der Natur das Gleichgewicht der Arten, je nachdem die eine oder andere Art ſich auf Koſten der übrigen ver- mehrt. In den meiſten Fällen find freilich die Beziehungen der ver— ſchiedenen Thier- und Pflanzenarten zu einander viel zu verwickelt, als daß wir ihnen nachkommen könnten, und ich überlaſſe es Ihrem eige— nen Nachdenken, ſich auszumalen, welches unendlich verwickelte Ge— triebe an jeder Stelle der Erde in Folge dieſes Kampfes ſtattfinden muß. In letzter Inſtanz find die Triebfedern, welche den Kampf be⸗ dingen, und welche den Kampf an allen verſchiedenen Stellen verſchie— den geſtalten und modificiren, die Triebfedern der Selbſterhaltung, und zwar ſowohl der Erhaltungstrieb der Individuen (Ernährungstrieb), als der Erhaltungstrieb der Arten (Fortpflanzungstrieb). Dieſe bei- den Grundtriebe der organiſchen Selbſterhaltung ſind es, von denen der Dichter ſagt: „So lange bis den Bau der Welt „Philoſophie zuſammenhält, „Erhält ſich ihr Getriebe „Durch Hunger und durch Liebe.“ Dieſe beiden mächtigen Grundtriebe ſind es, welche durch ihre verſchiedene Ausbildung in den verſchiedenen Arten den Kampf um's Daſein ſo ungemein mannichfaltig geſtalten, und welche den Erſchei— nungen der Vererbung und Anpaſſung zu Grunde liegen. Wir konn— ten alle Vererbung auf die Fortpflanzung, alle Anpaſſung auf die Er— nährung als die materielle Grundurſache zurückführen. Der Kampf um das Daſein wirkt bei der natürlichen Züchtung ebenſo züchtend oder ausleſend, wie der Wille des Menſchen bei der künſtlichen Züchtung. Aber dieſer wirkt planmäßig und bewußt, jener planlos und Gleichfarbige Zuchtwahl als Urſache der ſympathiſchen Färbungen. 211 unbewußt. Dieſer wichtige Unterſchied zwiſchen der künſtlichen und na— türlichen Züchtung verdient beſondere Beachtung. Denn wir lernen hier— durch verſtehen, warum zweckmäßige Einrichtungen ebenſo durch zweck— los wirkende mechaniſche Urſachen, wie durch zweckmäßig thätige Endur— ſachen erzeugt werden können. Die Producte der natürlichen Züch— tung ſind ebenſo zweckmäßig eingerichtet, wie die Kunſtproducte des Menſchen, und dennoch verdanken ſie ihre Entſtehung nicht einer zweckmäßig thätigen Schöpferkraft, ſondern einem unbewußt und plan— los wirkenden mechaniſchen Verhältniß. Wenn man nicht tiefer über die Wechſelwirkung der Vererbung und Anpaſſung unter dem Ein— fluß des Kampfes um's Daſein nachgedacht hat, ſo iſt man zunächſt nicht geneigt, ſolche Erfolge von dieſem natürlichen Züchtungsproceß zu erwarten, wie derſelbe in der That liefert. Es iſt daher wohl an— gemeſſen, hier ein Paar Beiſpiele von der or der natürlichen Züchtung anzuführen. Laſſen Sie uns zunächſt die von Darwin hervorgehobene gleichfarbige Zuchtwahl oder die ſogenannte „ſympathiſche Far— benwahl“ der Thiere betrachten. Schon frühere Naturforſcher haben es ſonderbar gefunden, daß zahlreiche Thiere im Großen und Ganzen dieſelbe Färbung zeigen wie der Wohnort, oder die Umgebung, in der ſie ſich beſtändig aufhalten. So ſind z. B. die Blattläuſe und viele andere auf Blättern lebende Inſecten grün gefärbt. Die Wüſtenbe— wohner, Springmäuſe, Wüſtenfüchſe, Gazellen, Löwen u. ſ. w. ſind meiſt gelb oder gelblichbraun gefärbt, wie der Sand der Wüſte. Die Polarthiere, welche auf Eis und Schnee leben, ſind weiß oder grau, wie Eis und Schnee. Viele von dieſen ändern ihre Färbung im Sommer und Winter. Im Sommer, wenn der Schnee theilweis ver- geht, wird das Fell dieſer Polarthiere graubraun oder ſchwärzlich wie der nackte Erdboden, während es im Winter wieder weiß wird. Schmetterlinge und Colibris, welche die bunten, glänzenden Blüthen umſchweben, gleichen dieſen in der Färbung. Darwin erklärt nun dieſe auffallende Thatſache ganz einfach dadurch, daß eine ſolche Fär⸗ bung, die übereinſtimmt mit der des Wohnortes, den betreffenden 14 * 212 Gleichfarbige Zuchtwahl als Urſache der ſympathiſchen Färbungen. Thieren von größtem Nutzen iſt. Wenn dieſe Thiere Raubthiere ſind, ſo werden ſie ſich dem Gegenſtand ihres Appetits viel ſicherer und un— bemerkter nähern können, und ebenſo werden die von ihnen verfolgten Thiere viel leichter entfliehen können, wenn ſie ſich in der Färbung möglichſt wenig von ihrer Umgebung unterſcheiden. Wenn alſo ur— ſprünglich eine Thierart in allen Farben varürte, ſo werden diejenigen Individuen, deren Farbe am meiſten derjenigen ihrer Umgebung glich, im Kampf um's Daſein am meiſten begünſtigt geweſen ſein. Sie blieben unbemerkter, erhielten ſich und pflanzten ſich fort, während die anders gefärbten Individuen oder Spielarten ausſtarben. Aus derſelben gleichfarbigen Zuchtwahl läßt ſich wohl auch die merkwürdige Waſſerähnlichkeit der pelagiſchen Glasthiere erklären, die wunderbare Thatſache, daß die Mehrzahl der pelagiſchen Thiere, d. h. derer, welche an der Oberfläche der offenen See leben, bläulich oder ganz farblos, und glasartig durchſichtig iſt, wie das Waſſer ſelbſt. Solche farbloſe, glasartige Thiere kommen in den verſchiedenſten Klaſſen vor. Es gehören dahin unter den Fiſchen die Helmichthyiden, durch deren glashellen Körper hindurch man die Schrift eines Buches leſen kann; unter den Weichthieren die Floſſenſchnecken und Kielſchnecken; un⸗ ter den Würmern die Salpen, Alciope und Sagitta; ferner ſehr zahl- reiche pelagiſche Krebsthiere (Cruſtaceen) und der größte Theil der Me- duſen (Schirmquallen, Kammquallen u. ſ. w.) Alle dieſe pelagiſchen Thiere, welche an der Oberfläche des offenen Meeres ſchwimmen, ſind glasartig durchſichtig und farblos, wie das Waſſer ſelbſt, während ihre nächſten Verwandten, die auf dem Grunde des Meeres leben, gefärbt und undurchſichtig wie die Landbewohner ſind. Auch dieſe merkwürdige Thatſache läßt ſich ebenſo wie die ſympathiſche Fär⸗ bung der Landbewohner durch die natürliche Züchtung erklären. Un⸗ ter den Voreltern der pelagiſchen Glasthiere, welche einen verſchiede— nen Grad von Farbloſigkeit und Durchſichtigkeit zeigten, werden die- jenigen, welche am meiſten farblos und durchſichtig waren, offenbar in dem lebhaften Kampf um's Daſein, der an der Meeresoberfläche ſtattfindet, am meiſten begünſtigt geweſen fein. Sie konnten ſich Geſchlechtliche Zuchtwahl als Urſache der ſecundären Sexualcharaktere. 213 ihrer Beute am leichteſten unbemerkt nähern, und wurden ſelbſt von ihren Feinden am wenigſten bemerkt. So konnten ſie ſich leichter er— halten und fortpflanzen, als ihre mehr gefärbten und undurchſichtigen Verwandten, und ſchließlich erreichte durch gehäufte Anpaſſung und Vererbung, durch natürliche Ausleſe im Laufe vieler Generationen der Körper denjenigen Grad von glasartiger Durchſichtigkeit und Farb— loſigkeit, den wir gegenwärtig an den pelagiſchen Glasthieren be— wundern (Gen. Morph. II, 242). Nicht minder intereſſant und lehrreich, als die gleichfarbige Zucht— wahl, iſt diejenige Art der natürlichen Züchtung, welche Darwin die feruelle oder geſchechtliche Zuchtwahl nennt, und welche beſon— ders die Entſtehung der ſogenannten „ſecundären Sexualcharaktere“ erklärt. Wir haben dieſe untergeordneten Geſchlechtscharaktere, die in ſo vieler Beziehung lehrreich ſind, ſchon früher erwähnt, und verſtanden darunter ſolche Eigenthümlichkeiten der Thiere und Pflanzen, welche bloß einem der beiden Geſchlechter zukommen, und welche nicht in unmittel— barer Beziehung zu der Fortpflanzungsthätigkeit ſelbſt ſtehen. (Vergl. oben S. 164). Solche ſecundäre Geſchlechtscharaktere kommen in großer Mannichfaltigkeit bei den Thieren vor. Sie wiſſen Alle, wie auffallend ſich bei vielen Vögeln und Schmetterlingen die beiden Ge— ſchlechter durch Größe und Färbung unterſcheiden. Meiſt iſt hier das Männchen das größere und ſchönere Geſchlecht. Oft beſitzt daſſelbe beſondere Zierrathe oder Waffen, wie z. B. das Geweih der männlichen Hirſche und Rehe, der Sporn und Federkragen des Hahns u. ſ. w. Alle dieſe Eigenthümlichkeiten der beiden Geſchlechter ha— ben mit der Fortpflanzung ſelbſt, welche durch die „primären Sexual— charaktere,“ die eigentlichen Geſchlechtsorgane, vermittelt wird, unmit— telbar Nichts zu thun. Die Entſtehung dieſer merkwürdigen „ſecundären Sexualcha— raktere“ erklärt nun Darwin einfach durch eine Ausleſe oder Se— lection, welche bei der Fortpflanzung der Thiere geſchieht. Bei den meiſten Thieren iſt die Zahl der Individuen beiderlei Geſchlechts mehr oder weniger ungleich; entweder iſt die Zahl der weiblichen oder die 214 Entſtehung der ſecundären Sexualcharaktere durch geſchlechtliche Zuchtwahl. der männlichen Individuen größer, und wenn die Fortpflanzungszeit herannaht, findet in der Regel ein Kampf zwiſchen den betreffenden Nebenbuhlern um Erlangung der Thiere des anderen Geſchlechts ſtatt. Es iſt bekannt, mit welcher Kraft und Heftigkeit gerade bei den höch— ſten Thieren, bei den Säugethieren und Vögeln, beſonders bei den in Polygamie lebenden dieſer Kampf gefochten wird. Bei den Hühner- vögeln, wo auf einen Hahn zahlreiche Hennen kommen, findet zur Erlangung eines möglichſt großen Harems ein lebhafter Kampf zwiſchen den mitbewerbenden Hähnen ſtatt. Daſſelbe gilt von vielen Wieder- käuern. Bei den Hirſchen und Rehen z. B. entſtehen zur Zeit der Fort— pflanzung gefährliche Kämpfe zwiſchen den Männchen um den Beſitz der Weibchen. Der ſecundäre Sexualcharakter, welcher hier die Männ- chen auszeichnet, das Geweih der Hirſche und Rehe, das den Weibchen fehlt, iſt nach Darwin die Folge jenes Kampfes. Hier iſt alſo nicht, wie beim Kampfe um die individuelle Exiſtenz, die Selbſterhaltung, ſondern die Erhaltung der Art, die Fortpflanzung, das Motiv und die beſtimmende Urſache des Kampfes. Es giebt eine ganze Menge von Waffen, die in dieſer Weiſe von den Thieren erworben wurden, ſowohl paſſive Schutzwaffen als active Angriffswaffen. Eine ſolche Schutzwaffe iſt zweifelsohne die Mähne des Löwen, die dem Weib- chen abgeht; ſie iſt bei den Biſſen, die die männlichen Löwen ſich am Halſe beizubringen ſuchen, wenn ſie um die Weibchen kämpfen, ein tüchtiges Schutzmittel; und daher ſind die mit der ſtärkſten Mähne verſehenen Männchen in dem ſexuellen Kampfe am Meiſten begünſtigt. Eine ähnliche Schutzwaffe iſt die Wamme des Stiers und der Feder— kragen des Hahns. Active Angriffswaffen ſind dagegen das Geweih des Hirſches, der Hauzahn des Ebers, der Sporn des Hahns und der entwickelte Oberkiefer des männlichen Hirſchkäfers; alles Inſtru— mente, welche beim Kampfe der Männchen um die Weibchen zur Ver— nichtung oder Vertreibung der Nebenbuhler dienen. In den letzterwähnten Fällen ſind es die unmittelbaren Vernich— tungskämpfe der Nebenbuhler, welche die Entſtehung des ſecundären Sexualcharakters bedingen. Außer dieſen unmittelbaren Vernichtungs⸗ Muſikaliſche Zuchtwahl im Kampf um die Fortpflanzung. 215 kämpfen ſind aber bei der geſchlechtlichen Ausleſe auch die mehr mit— telbaren Wettkämpfe von großer Wichtigkeit, welche auf die Neben— buhler nicht minder umbildend einwirken. Dieſe beſtehen vorzugs⸗ weiſe darin, daß das werbende Geſchlecht dem anderen zu gefallen ſucht, durch äußeren Putz, durch Schönheit, oder durch eine melodiſche Stimme. Darwin meint, daß die ſchöne Stimme der Singvögel weſentlich auf dieſem Wege entſtanden iſt. Bei vielen Vögeln findet ein wirklicher Sängerkrieg ſtatt zwiſchen den Männchen, die um den Beſitz der Weibchen kämpfen. Von mehreren Singvögeln weiß man, daß zur Zeit der Fortpflanzung die Männchen ſich zahlreich vor den Weibchen verſammeln und vor ihnen ihren Geſang erſchallen laſſen, und daß dann die Weibchen denjenigen Sänger, welcher ihnen am beſten gefällt, zu ihrem Gemahl erwählen. Bei anderen Singvögeln laſſen die einzelnen Männchen in der Einſamkeit des Waldes ihren Geſang ertönen, um die Weibchen anzulocken, und dieſe folgen dem anziehendſten Locktone. Ein ähnlicher muſikaliſcher Wettkampf, der allerdings weniger melodiſch iſt, findet bei den Cikaden und Heu— ſchrecken ſtat.. Bei den Cikaden hat das Männchen am Unterleib zwei trommelartige Inſtrumente und erzeugt damit die ſcharfen zir— penden Töne, welche die alten Griechen ſeltſamer Weiſe als ſchöne Muſik prieſen. Bei den Heuſchrecken bringen die Männchen, theils indem ſie die Hinterſchenkel wie Violinbogen an den Flügeldecken rei— ben, theils durch Reiben der Flügeldecken an einander Töne hervor, die für uns allerdings nicht melodiſch ſind, die aber den weiblichen Heuſchrecken ſo gefallen, daß ſie die am beſten geigenden Männchen ſich ausſuchen. Bei anderen Inſecten und Vögeln iſt es nicht der Geſang oder überhaupt die muſikaliſche Leiſtung, ſondern der Putz oder die Schön— heit des einen Geſchlechts, welche das andere anzieht. So finden wir, daß bei den meiſten Hühnervögeln die Hähne durch Hautlappen auf dem Kopfe ſich auszeichnen, oder durch einen ſchönen Schweif, den ſie radartig ausbreiten, wie z. B. der Pfau und der Truthahn. Auch der prachtvolle Schweif des Paradiesvogels iſt eine ausſchließliche 216 Aeſthetiſche und pſychiſche Zuchtwahl im Kampf um die Fortpflanzung. Zierde des männlichen Geſchlechts. Ebenſo zeichnen ſich bei ſehr vielen anderen Vögeln und bei ſehr vielen Inſecten, namentlich Schmetterlingen, die Männchen durch beſondere Farben oder andere Zierden vor den Weibchen aus. Offenbar ſind dieſelben Producte der feruellen Züchtung. Da den Weibchen dieſe Reize und Verzie⸗ rungen fehlen, fo müſſen wir ſchließen, daß dieſelben von den Männ⸗ chen im Wettkampf um die Weibchen erſt mühſam erworben worden ſind, wobei die Weibchen ausleſend wirkten. Die Anwendung dieſes intereſſanten Schluſſes auf die menſchliche Geſellſchaft können Sie ſich ſelbſt leicht im Einzelnen ausmalen. Of— fenbar ſind auch hier dieſelben Urſachen bei der Ausbildung der ſecun— dären Sexualcharaktere wirkſam geweſen. Ebenſowohl die Vorzüge, welche den Mann, als diejenigen, welche das Weib auszeichnen, ver- danken ihren Urſprung ganz gewiß größtentheils der ſexuellen Ausleſe des anderen Geſchlechts. Im Alterthum und im Mittelalter, beſonders in der romantiſchen Ritterzeit, waren es die unmittelbaren Vernich— tungskämpfe, die Turniere und Duelle, welche die Brautwahl ver— mittelten; der Stärkere führte die Braut heim. In neuerer Zeit da— gegen ſind die mittelbaren Wettkämpfe der Nebenbuhler beliebter, welche mittelſt muſikaliſcher Leiſtungen, Spiel und Geſang, oder mit— telſt körperlicher Reize, natürlicher Schönheit oder künſtlichen Putzes, in unferen ſogenannten „feinen“ und „hochciviliſirten“ Geſellſchaften ausgekämpft werden. Bei weitem am Wichtigſten aber von dieſen ver- ſchiedenen Formen der Geſchlechtswahl des Menſchen iſt die am mei— ſten veredelte Form derſelben, nämlich die pſychiſche Ausleſe, bei welcher die geiſtigen Vorzüge des einen Geſchlechts beſtimmend auf die Wahl des anderen einwirken. Indem der am höchſten ver— edelte Culturmenſch ſich bei der Wahl der Lebensgefährtin Generatio- nen hindurch von den Seelenvorzügen derſelben leiten ließ, und dieſe auf die Nachkommenſchaft vererbte, half er mehr, als durch vieles Andere, die tiefe Kluft ſchaffen, welche ihn gegenwärtig von den ro— heſten Naturvölkern und von unſeren gemeinſamen thieriſchen Vor- eltern trennt (Gen. Morph. II, 247). Nothwendige Folgen der natürlichen Züchtung. 217 Im Anſchluß an dieſe Betrachtung der natürlichen Züchtung laſ— ſen Sie uns nun einen Blick auf die unmittelbaren Folgen werfen, welche aus deren Thätigkeit ſich ergeben. Unter dieſen Folgen treten uns zunächſt zwei äußerſt wichtige organiſche Grundgeſetze entgegen, welche man ſchon lange empiriſch in der Biologie feſtgeſtellt hatte, näm⸗ lich das Geſetz der Arbeitstheilung oder Differenzirung und das Geſetz des Fortſchritts oder der Vervollkommnung. Dieſe beiden Grundgeſetze laſſen ſich durch die Selectionstheorie als nothwendige Folgen der natürlichen Züchtung im Kampf um's Daſein erklären. Wir haben dieſen Proceß ſelbſt als mechaniſch nachgewieſen und gezeigt, daß die Vererbung materiell durch die Fortpflanzung, die Anpaſſung materiell durch die Ernährung bedingt iſt, und daß beide Functionen auf mechaniſche, alſo phyſikaliſche und chemiſche Urſa— chen zurückzuführen ſind. Wie von der natürlichen Züchtung ſelbſt, ſo gilt dies auch von jenen beiden großen Erſcheinungen, mit denen wir uns jetzt zu beſchäftigen haben, von den Geſetzen der Divergenz und des Fortſchritts. Man war früher, als man in der geſchichtlichen Entwicke— lung, in der individuellen Entwickelung und in der vergleichenden Anato— mie der Thiere und Pflanzen durch die Erfahrung dieſe beiden Geſetze kennen lernte, geneigt, dieſelben wieder auf eine unmittelbare ſchöpfe— riſche Einwirkung zurückzuführen. Es ſollte in dem zweckmäßigen Plane des Schöpfers gelegen haben, die Formen der Thiere und Pflanzen im Laufe der Zeit immer mannichfaltiger auszubilden und immer vollkommener zu geſtalten. Wir werden offenbar einen großen Schritt in der Erkenntniß der Natur thun, wenn wir dieſe teleologiſche und anthropomorphe Vorſtellung zurückweiſen, und die beiden Geſetze der Arbeitstheilung und Vervollkommnung als nothwendige Folgen der natürlichen Züchtung im Kampfe um's Daſein nachweiſen können. Das erſte große Geſetz, welches unmittelbar und mit Nothwen— digkeit aus der natürlichen Züchtung folgt, iſt dasjenige der Sonde— rung oder Differenzirung, welche man auch häufig als Ar— beitstheilung oder Polymorphismus bezeichnet, und welche Darwin als Divergenz des Charakters erläutert. (Gen. 918 Geſetz der Sonderung oder Arbeitstheilung. Morph. II., 249). Wir verſtehen darunter die allgemeine Neigung aller organiſchen Individuen, ſich in immer höherem Grade ungleich— artig auszubilden und von dem gemeinſamen Urbilde zu entfernen. Die Urſache dieſer allgemeinen Neigung zur Sonderung und der da— durch bewirkten Hervorbildung ungleichartiger Formen aus gleichartiger Grundlage iſt nach Darwin einfach auf den Umſtand zurückführen, daß der Kampf um's Daſein zwiſchen je zwei Organismen um fo heftiger entbrennt, je näher ſich dieſe Indi- viduen in jeder Beziehung ſtehen, je gleichartiger ſie ſind. Dies iſt ein ungemein wichtiges und eigentlich äußerſt einfaches Verhältniß, wel— ches aber gewöhnlich gar nicht gehörig in's Auge gefaßt wird. Es wird Jedem von Ihnen einleuchten, daß auf einem Acker von beſtimmter Größe neben den Kornpflanzen, die dort ausge— ſäet ſind, eine große Anzahl von Unkräutern exiſtiren können, und zwar an Stellen, welche nicht von den Kornpflanzen eingenommen werden könnten. Die trockneren, ſterileren Stellen des Bodens, auf denen keine Kornpflanze gedeihen würde, können noch zum Unterhalt von Unkraut verſchiedener Art dienen; und zwar werden davon um ſo mehr verſchiedene Arten und Individuen neben einander exiſtiren können, je beſſer die verſchiedenen Unkrautarten geeignet ſind, ſich den verſchie— denen Stellen des Ackerbodens anzupaſſen. Ebenſo iſt es mit den Thieren. Offenbar können in einem und demſelben beſchränkten Bezirk eine viel größere Anzahl von thieriſchen Individuen zuſammenleben, wenn dieſelben von mannichfach verſchiedener Natur, als wenn ſie alle gleich ſind. Es giebt Bäume (wie z. B. die Eiche), auf welchen ein paar Hundert verſchiedene Inſectenarten neben einander leben. Die einen näh— ren ſich von den Früchten des Baumes, die anderen von den Blättern, noch andere von der Rinde, der Wurzel u. ſ. f. Es wäre ganz unmöglich, daß die gleiche Zahl von Individuen auf dieſem Baume lebte, wenn alle von einer Art wären, wenn z. B. alle nur von der Rinde oder nur von den Blättern lebten. Ganz daſſelbe iſt in der menſchlichen Geſell— ſchaft der Fall. In einer und derſelben kleinen Stadt kann eine be— ſtimmte Anzahl von Handwerkern nur leben, wenn dieſelben verſchie— Geſetz der Sonderung oder Arbeitstheilung. 219 dene Geſchäfte betreiben. Wenn hier in Jena ebenſo viel Schuſter exiſtiren wollten, als Schuſter, Schneider, Tiſchler, Buchbinder u. ſ. w. zuſammengenommen da ſind, ſo würde bald der größte Theil der— ſelben zu Grunde gehen. Offenbar können hier um ſo mehr Indi— viduen neben einander exiſtiren, je verſchiedenartiger ihre Beſchäfti— gung iſt. Die Arbeitstheilung, welche ſowohl der ganzen Gemeinde, als auch dem einzelnen Arbeiter den größten Nutzen bringt, iſt eine unmittelbare Folge des Kampfes um's Daſein, der natürlichen Züch— tung; denn dieſer Kampf iſt um ſo leichter zu beſtehen, je mehr ſich die Thätigkeit und ſomit auch die Form der verſchiedenen Individuen von einander entfernt. Natürlich wirkt die verſchiedene Function umbildend auf die Form zurück, und die phyſiologiſche Arbeitsthei— lung bedingt nothwendig die morphologiſche Differenzirung. Nun bitte ich Sie wieder zu erwägen, daß alle Thier- und Pflan- zenarten veränderlich find, und die Fähigkeit beſitzen, ſich an verſchie— denen Orten den localen Verhältniſſen anzupaſſen. Die Spielarten, Varietäten oder Raſſen einer jeden Species werden ſich den Anpaſ— ſungsgeſetzen gemäß um ſo mehr von der urſprünglichen Stammart entfernen, je verſchiedenartiger die neuen Verhältniſſe ſind, denen ſie ſich anpaſſen. Wenn wir nun dieſe von einer gemeinſamen Grund— form ausgehenden Varietäten uns in Form eines verzweigten Strah— lenbüſchels vorſtellen, fo werden diejenigen Spielarten am beſten ne— ben einander exiſtiren und ſich fortpflanzen können, welche am wei— teſten von einander entfernt ſind, welche an den Enden der Reihe oder auf entgegengeſetzten Seiten des Büſchels ſtehen. Die in der Mitte ſtehenden Uebergangsformen dagegen haben den ſchwierigſten Stand im Kampfe um's Daſein. Die nothwendigen Lebensbedürf— niſſe find bei den extremen, am weiteſten aus einandergehenden Spiel— arten am meiſten verſchieden, und daher werden dieſe in dem allgemei- nen Kampfe um's Daſein am wenigſten in ernſtlichen Conflict ge— rathen. Die vermittelnden Zwiſchenformen dagegen, welche ſich am wenigſten von der urſprünglichen Stammform entfernt haben, theilen mehr oder minder dieſelben Lebensbedürfniſſe, und daher werden ſie 220 Entſtehung der Arten aus Varietäten durch Divergenz. in der Mitbewerbung um dieſelben am meiſten zu kämpfen haben und am gefährlichſten bedroht ſein. Wenn alſo zahlreiche Varietäten oder Spielarten einer Species auf einem und demſelben Fleck der Erde mit einander leben, ſo können viel eher die Extreme, die am meiſten abwei⸗ chenden Formen, neben einander fort beſtehen, als die vermittelnden Zwiſchenformen, welche mit jedem der verſchiedenen Extreme zu käm⸗ pfen haben. Die letzteren werden auf die Dauer den feindlichen Ein» flüſſen nicht widerſtehen können, welche die erſteren ſiegreich überwin⸗ den. Dieſe allein erhalten ſich, pflanzen ſich fort, und ſind nun nicht mehr durch vermittelnde Uebergangsformen mit der urſprünglichen Stammart verbunden. So entſtehen aus Varietäten „gute Arten.“ Der Kampf um's Daſein begünſtigt nothwendig die allgemeine Di— vergenz oder das Auseinandergehen der organiſchen Formen, die be— ſtändige Neigung der Organismen, neue Arten zu bilden. Dieſe be— ruht nicht auf einer myſtiſchen Eigenſchaft, auf einem unbekannten Bildungstrieb der Organismen, ſondern auf der Wechſelwirkung der Vererbung und Anpaſſung im Kampfe um's Daſein. Indem von den Varietäten einer jeden Species die vermittelnden Zwiſchenformen erlöſchen und die Uebergangsglieder ausſterben, geht der Divergenz- proceß immer weiter, und bildet in den Extremen Geſtalten aus, die wir als neue Arten unterſcheiden. Obgleich alle Naturforſcher die Variabilität oder Veränderlichkeit aller Thier- und Pflanzenarten zugeben müſſen, haben doch die mei- ſten bisher beſtritten, daß die Abänderung oder Umbildung der orga= niſchen Form die urſprüngliche Grenze des Speziescharakters über- ſchreite. Unſere Gegner halten an dem Satze feſt: „Soweit auch eine Art in Varietätenbüſchel aus einander gehen mag, ſo ſind die Spiel— arten oder Varietäten derſelben doch niemals in dem Grade von ein— ander unterſchieden, wie zwei wirkliche gute Arten.“ Dieſe Behaup⸗ tung, die gewöhnlich von Darwin's Gegnern an die Spitze ihrer Beweisführung geſtellt wird, iſt vollkommen unhaltbar und unbe— gründet. Dies wird Ihnen ſofort klar, ſobald Sie kritiſch die ver— ſchiedenen Verſuche vergleichen, den Begriff der Species oder Begriffsbeſtimmung der Art oder Species. 221 Art feſtzuſtellen. Was eigentlich eine „echte oder gute Species“ ſei, dieſe Frage vermag kein Naturforſcher zu beantworten, trotzdem ganze Bi— bliotheken über die Frage geſchrieben worden ſind, ob dieſe oder jene beobachtete Form eine Species oder Varietät, eine wirklich gute oder ſchlechte Art ſei. Die verhältnißmäßig beſte und vernünftigſte Ant- wort auf dieſe Frage war noch immer folgende: „Zu einer Art gehören alle Individuen, die in allen weſentlichen Merkmalen übereinſtimmen. Weſentliche Speciescharaktere ſind aber ſolche, welche beſtändig oder conſtant find, und niemals abändern oder variiren.“ Sobald nun aber der Fall eintrat, daß ein Merkmal, das man bisher für weſent— lich hielt, dennoch abänderte, ſo ſagte man: „Dieſes Merkmal iſt für die Art nicht weſentlich geweſen, denn weſentliche Charaktere variiren nicht.“ Man bewegte ſich alſo in einem offenbaren Zirkelſchluß, und die Naivität iſt wirklich erſtaunlich, mit der dieſe Kreisbewegung der Artdefinition in Tauſenden von Büchern als unumſtößliche Wahrheit hingeſtellt und immer noch wiederholt wird. Ebenſo wie dieſer, ſo ſind auch alle übrigen Verſuche, welche man zu einer feſten und logiſchen Begriffsbeſtimmung der organiſchen „Spe— cies“ gemacht hat, völlig fruchtlos und vergeblich geweſen. Der Natur der Sache nach kann es nicht anders ſein. Der Begriff der Species iſt ebenſo gut relativ, und nicht abſolut, wie der Begriff der Varietät, Gattung, Familie, Ordnung, Claſſe u. ſ. w. Ich habe dies in meiner Kritik des Speciesbegriffs in meiner generellen Morphologie ausführ- lich nachgewieſen (Gen. Morph. II. 323 — 364). Ich will mit dieſer unerquicklichen Erörterung hier keine Zeit verlieren, und nur noch ein paar Worte über das Verhältniß der Species zur Baſtard— zeugung ſagen. Früher galt es als Dogma, daß zwei gute Arten niemals mit einander Baſtarde zeugen könnten, welche ſich als ſolche fortpflanzten. Man berief ſich dabei faſt immer auf die Baſtarde von Pferd und Eſel, die Maulthiere und Mauleſel, die in der That ſelten oder faſt niemals ihre Art fortpflanzen können. Allein ſolche un— fruchtbare Baſtarde ſind, wie ſich herausgeſtellt hat, ſeltene Ausnah— men, und in der Mehrzahl der Fälle ſind Baſtarde zweier ganz ver— 222 Verhältniß der Species zur Baſtardzeugnng. ſchiedenen Arten fruchtbar und können ſich fortpflanzen. Faſt immer können ſie mit einer der beiden Elternarten, bisweilen aber auch rein unter ſich fruchtbar ſich vermiſchen. Daraus können aber nach dem „Geſetze der gemiſchten Vererbung“ (S. 165) ganz neue Formen ent- ſtehen. In der That iſt fo die Baſtardzeugung eine Quelle der Ent- ſtehung neuer Arten, verſchieden von der bisher betrachteten Quelle der natürlichen Züchtung. Da im Ganzen dieſe Erſcheinungen noch dunkel und die meiſten Beobachtungen noch ſehr lückenhaft ſind, ſo wollen wir uns bei denſelben hier nicht weiter aufhalten. Nur ein paar Beiſpiele von neuen Arten, welche durch Baſtardzeugung oder Hybridismus entftanden find, will ich anführen. Zu den intereffanteften gehört das Haſen-Kaninchen (Lepus Darwinii), der Baſtard vom Hafen und Kaninchen, welcher in Frankreich ſchon ſeit 1850 zu ga= ſtronomiſchen Zwecken in vielen Generationen gezüchtet worden iſt. Ich beſitze ſelbſt durch die Güte des Herrn Dr. Conrad, welcher dieſe Züchtungsverſuche auf feinem Gute wiederholt hat, ſolche Ba— ſtarde, welche aus reiner Inzucht hervorgegangen ſind, d. h. deren beide Eltern ſelbſt Baſtarde eines Haſenvaters und einer Kaninchen— mutter find 17). Nun find aber Haſe und Kaninchen zwei jo ver— ſchiedene Species der Gattung Lepus, daß kein Syſtematiker ſie als Varietäten eines Genus anerkennen wird. Man kennt ferner fruchtbare Baſtarde von Schafen und Ziegen, die in Chile ſeit langer Zeit zu induſtriellen Zwecken gezogen werden. Welche unweſentliche Um— ſtände bei der geſchlechtlichen Vermiſchung die Fruchtbarkeit der ver— ſchiedenen Arten bedingen, das zeigt der Umſtand, daß Ziegenböcke und Schafe bei ihrer Vermiſchung fruchtbare Baſtarde erzeugen, wäh— rend Schafbock und Ziege ſich überhaupt ſelten paaren, und dann ohne Erfolg. So ſind alſo die Erſcheinungen des Hybridismus, auf welche man irrthümlicherweiſe ein ganz übertriebenes Gewicht gelegt hat, für den Speciesbegriff von durchaus untergeordneter Bedeutung, ſo daß wir bei ihnen nicht länger zu verweilen brauchen. Daß die vielen vergeblichen Verſuche, den Speciesbegriff theore— tiſch feſtzuſtellen, mit der praktiſchen Speciesunterſcheidung gar Nichts Unmöglichkeit der Unterſcheidung von Art und Varietät. 223 zu thun haben, wurde ſchon früher angeführt (S. 40). Die ver⸗ ſchiedenartige praktiſche Verwerthung des Speciesbegriffes, wie ſie ſich in der ſyſtematiſchen Zoologie und Botanik durchgeführt findet, iſt ſehr lehrreich für die Erkenntniß der menſchlichen Thorheit. Die bei weitem überwiegende Mehrzahl der Zoologen und Botaniker war bisher bei Unterſcheidung und Beſchreibung der verſchiedenen Thier— und Pflanzenformen vor Allem beſtrebt, die verwandten Formen als „gute Species“ ſcharf zu trennen. Allein eine ſcharfe und folgerichtige Unterſcheidung ſolcher „echten oder guten Arten“ zeigte ſich nirgends möglich. Es giebt nicht zwei Zoologen, nicht zwei Botaniker, welche in allen Fällen darüber einig wären, welche von den nahe verwand— ten Formen einer Gattung gute Arten ſeien und welche nicht. Alle Autoren haben darüber verſchiedene Anſichten. Bei der Gattung Hieracium z. B., einer der gemeinſten deutſchen Pflanzengattungen, hat man über 300 Arten in Deutſchland allein unterſchieden. Der Botaniker Fries läßt davon aber nur 106, Koch nur 52 als „gute Arten“ gelten, und Andere nehmen deren kaum 20 an. Eben ſo groß ſind die Differenzen bei den Brombeerarten (Rubus). Wo der eine Botaniker über hundert Arten macht, nimmt der zweite bloß etwa die Hälfte, ein dritter nur fünf bis ſechs oder noch weniger Arten an. Die Vögel Deutſchlands kennt man ſeit längerer Zeit ſehr genau. Bechſtein hat in ſeiner ſorgfältigen Naturgeſchichte der deutſchen Vögel 367 Arten unterſchieden, L. Reichenbach 379, Meyer und Wolff 406, und Paſtor Brehm ſogar mehr als 900 ver— ſchiedene Arten. Sie ſehen alſo, daß die größte Willkür hier wie in jedem an— deren Gebiete der zoologiſchen und botaniſchen Syſtematik herrſcht, und der Natur der Sache nach herrſchen muß. Denn es iſt ganz unmög— lich, Varietäten, Spielarten und Raſſen von den ſogenannten „guten Arten“ ſcharf zu unterſcheiden. Varietäten ſind beginnende Arten. Aus der Variabilität oder Anpaſſungsfähigkeit der Arten folgt mit Nothwendigkeit unter dem Einfluſſe des Kampfes um's Da⸗ ſein die immer weiter gehende Sonderung oder Differenzirung der 224 Geſetz des Fortſchritts oder der Vervollkommnung. Spielarten, die beſtändige Divergenz der neuen Formen, und indem dieſe durch Erblichkeit eine Anzahl von Generationen hindurch conſtant erhalten werden, während die vermittelnden Zwiſchenformen ausſterben, bilden ſie ſelbſtſtändige „neue Arten“. Die Entſtehung neuer Species durch die Arbeitstheilung oder Sonderung, Divergenz oder Differen— zirung der Varietäten, iſt mithin eine nothwendige Folge der natürlichen Züchtung. Daſſelbe gilt nun auch von dem zweiten großen Geſetze, welches wir unmittelbar aus der natürlichen Züchtung ableiten, und welches dem Divergenzgeſetze zwar ſehr nahe verwandt aber keineswegs damit identiſch iſt, nämlich von dem Geſetze des Fortſchritts (Progres- sus) oder der Vervollkommnung (Teleosis). (Gen. Morph. II, 257). Auch dieſes große und wichtige Geſetz ift gleich dem Diffe- renzirungsgeſetze längſt empiriſch durch die paläontologiſche Erfahrung feſtgeſtellt worden, ehe und Darwin's Selectionstheorie den Schlüſ— ſel zu ſeiner urſächlichen Erklärung lieferte. Die meiſten ausgezeichneten Paläontologen haben das Fortſchrittsgeſetz als allgemeinſtes Reſultat ihrer Unterſuchungen über die Verſteinerungen und deren hiſtoriſche Reihenfolge hingeſtellt, ſo namentlich der verdienſtvolle Bronn, deſ— fen Unterſuchungen über die Geſtaltungsgeſetze ns) und Entwickelungs— geſetze ne) der Organismen, obwohl wenig gewürdigt, dennoch vortreff— lich ſind, und die allgemeinſte Beachtung verdienen. Die allgemeinen Reſultate, zu welchen Bronn bezüglich des Differenzirungs- und Fortſchrittsgeſetzes auf rein empiriſchem Wege, durch außerordentlich fleißige, mühſame und ſorgfältige Unterſuchungen gekommen iſt, ſind glänzende Beſtätigungen für die Wahrheit dieſer beiden großen Ge— ſetze, die wir als nothwendige Folgerungen aus der Selectionstheorie ableiten müſſen. Das Geſetz des Fortſchritts oder der Vervollkommnung conſta⸗ tirt auf Grund der paläontologiſchen Erfahrung die äußerſt wichtige Thatſache, daß zu allen Zeiten des organiſchen Lebens auf der Erde eine beſtändige Zunahme in der Vollkommenheit der organiſchen Bil— dungen ſtattgefunden hat. Seit jener unvordenklichen Zeit, in welcher Geſetz des Fortſchritts oder der Vervollkommnung. 225 das Leben auf unſerem Planeten mit der Urzeugung von Moneren begann, haben ſich die Organismen aller Gruppen beſtändig im Ganzen wie im Einzelnen vervollkommnet und höher ausgebildet. Die ſtetig zunehmende Mannichfaltigkeit der Lebensformen war ſtets zugleich vom Fortſchritt in der Organiſation begleitet. Je tiefer Sie in die Schichten der Erde hinabſteigen, in welchen die Reſte der aus— geftorbenen Thiere und Pflanzen begraben liegen, je älter die letzteren mithin ſind, deſto einförmiger, einfacher und unvollkommener ſind ihre Geſtalten. Dies gilt ſowohl von den Organismen im Großen und Ganzen, als von jeder einzelnen größeren oder kleineren Gruppe derſelben, abgeſehen natürlich von jenen Ausnahmen, die durch Rückbildung einzelner Formen entſtehen, und die wir nachher be— ſprechen werden. Zur Beſtätigung dieſes Geſetzes will ich Ihnen hier wieder nur die wichtigſte von allen Thiergruppen, den Stamm der Wirbelthiere anführen. Die älteften foſſilen Wirbelthierreſte, welche wir kennen, gehören der tiefſtehenden Fiſchelaſſe an. Auf dieſe folgten ſpäterhin die vollkommneren Amphibien, dann die Reptilien, und endlich in noch viel ſpäterer Zeit die höchſtorganiſirten Wirbelthierclaſſen, die Vögel und Säugethiere. Von den letzteren erſchienen zuerſt nur die niedrigſten und unvollkommenſten Formen, ohne Placenta, die Beu— telthiere, und viel ſpäter wiederum die vollkommneren Säugethiere, mit Placenta. Auch von dieſen traten zuerſt nur niedere, ſpäter hö— here Formen auf, und erſt in der jüngeren Tertiärzeit entwickelte ſich aus den letzteren allmählich der Menſch. Verfolgen Sie die hiſtoriſche Entwickelung des Pflanzenreichs, ſo finden Sie hier daſſelbe Geſetz beſtätigt. Auch von den Pflanzen exi— ſtirte anfänglich bloß die niedrigſte und unvollkommenſte Claſſe, die- jenige der Algen oder Tange. Auf dieſe folgte ſpäter die Gruppe der farrnkrautartigen Pflanzen oder Filieinen (Farrne, Schafthalme, Schuppenpflanzen u. ſ. w.). Aber noch exiſtirten keine Blüthen— pflanzen oder Phanerogamen. Dieſe begannen erſt ſpäter mit den Gymnoſpermen (Nadelhölzern und Cycadeen), welche in ihrer gan— Haeckel, Natürliche Schöpfungsgeſchichte. 15 226 Geſetz des Fortſchritts oder der Vervollkommnung. zen Bildung tief unter den übrigen Blüthenpflanzen (Angioſpermen) ſtehen, und den Uebergang von jenen farrnkrautartigen Pflanzen zu den Angioſpermen vermitteln. Dieſe letzteren entwickelten ſich wiederum viel ſpäter, und zwar waren auch hier anfangs bloß kronenloſe Blü- thenpflanzen (Monocotyledonen und Monochlamydeen), ſpäter erſt kronenblüthige (Dichlamydeen) vorhanden. Endlich gingen unter dieſen wieder die niederen Polypetalen den höheren Gamopetalen vor⸗ aus. Dieſe ganze Reihenfolge iſt ein unwiderleglicher und handgreif— licher Beweis für das große Geſetz der fortſchreitenden Entwickelung der Organismen, welches von denkenden Paläontologen als empiri— ſche Thatſache auch längſt anerkannt iſt. Fragen wir nun, wodurch dieſe Thatſache bedingt iſt, ſo kommen wir wiederum, gerade ſo wie bei der Thatſache der Differenzirung, auf die natürliche Züchtung im Kampf um das Daſein zurück. Wenn Sie noch einmal den ganzen Vorgang der natürlichen Züchtung, wie er durch die verwickelte Wechſelwirkung der verſchiedenen Vererbungs— und Anpaſſungsgeſetze ſich geſtaltet, ſich vor Augen ſtellen, ſo wer— den Sie als die nächſte nothwendige Folge nicht allein die Divergenz des Charakters, ſondern auch die Vervollkommnung deſſelben erken— nen. Es iſt eine Naturnothwendigkeit, daß die beſtändige Zunahme der Arbeitstheilung oder Differenzirung im Großen und Ganzen zu— gleich einen Fortſchritt der Organiſation, eine Vervollkommnung der organiſchen Formen in ſich ſchließt. Wir ſehen ganz daſſelbe in der Geſchichte des menſchlichen Geſchlechts. Auch hier iſt es natürlich und nothwendig, daß die fortſchreitende Arbeitstheilung beſtändig die Menſchheit fördert, und in jedem einzelnen Zweige der menſchlichen Thätigkeit zu neuen Erfindungen und Verbeſſerungen antreibt. Im Großen und Ganzen beruht der Fortſchritt ſelbſt auf der Differenzi⸗ rung und iſt daher gleich dieſer eine unmittelbare Folge der natürlichen Züchtung durch den Kampf um's Daſein. Bwölfter Vortrag. Eutwickelungsgeſetze der organiſchen Stämme und Individuen. Phylogenie und Ontogenie. Entwickelungsgeſetze der Menſchheit: Differenzirung und Vervollkommnung. Mechaniſche Urſache dieſer beiden Grundgeſetze. Fortſchritt ohne Differenzirung und Differenzirung ohne Fortſchritt. Entſtehung der rudimentären Organe durch Nicht- gebrauch und Abgewöhnung. Ontogenefis oder individuelle Entwickelung der Orga⸗ nismen. Allgemeine Bedeutung derſelben. Ontogenie oder individuelle Entwicke⸗ lungsgeſchichte der Wirbelthiere, mit Inbegriff des Menſchen. Eifurchung. Bildung der drei Keimblätter. Entwickelungsgeſchichte des Centralnervenſyſtems, der Extre⸗ mitäten, der Kiemenbogen und des Schwanzes bei den Wirbelthieren. Urſächlicher Zuſammenhang und Parallelismus der Ontogeneſis und Phylogeneſis, der indivi⸗ duellen und der Stammesentwickelung. Urſächlicher Zunſammenhang und Parallelis- mus der Phylogeneſis und der ſyſtematiſchen Entwickelung. Parallelismus der drei organiſchen Entwickelungsreihen. Meine Herren! Wenn der Menſch ſeine Stellung in der Natur begreifen und fein Verhältniß zu der für ihn erkennbaren Erſcheinungs— welt naturgemäß erfaſſen will, ſo iſt es durchaus nothwendig, daß er objectiv die menſchlichen Erſcheinungen mit den außermenſchlichen vergleicht, und vor allen mit den thieriſchen Erſcheinungen. Wir haben bereits früher geſehen, daß die ungemein wichtigen phyſiologi— ſchen Geſetze der Vererbung und der Anpaſſung in ganz gleicher Weiſe für den menſchlichen Organismus, wie für das Reich der 153 228 Differenzirung in der Entwickelung der Menſchheit. Thiere und Pflanzen ihre Geltung haben, und hier wie dort in Wech— ſelwirkung mit einander ſtehen. Daher wirkt auch die natürliche Züch— tung durch den Kampf um's Daſein ebenſo in der menſchlichen Geſell— ſchaft, wie im Leben der Thiere und Pflanzen umgeſtaltend ein, und ruft hier wie dort immer neue Formen hervor. Ganz beſonders wichtig iſt dieſe Vergleichung der menſchlichen und der thieriſchen Umbildungs— phänomene bei Betrachtung des Divergenzgeſetzes und des Fortſchritts— geſetzes, der beiden Grundgeſetze, die wir am Ende des letzten Vor— trags als unmittelbare und nothwendige Folgen der natürlichen Züch— tung im Kampf um's Daſein nachgewieſen haben. Ein vergleichender Ueberblick über die Völkergeſchichte oder die ſogenannte „Weltgeſchichte“ zeigt Ihnen zunächſt als allgemeinſtes Reſultat eine beſtändig zunehmende Mannichfaltigkeit der menſchlichen Thätigkeit, im einzelnen Menſchenleben ſowohl als im Familien- und Staatenleben. Dieſe Differenzirung oder Sonderung, dieſe ſtetig zunehmende Divergenz des menſchlichen Charakters und der menſchlichen Lebensform wird hervorgebracht durch die immer weiter gehende und tiefer greifende Arbeitstheilung der Individuen. Während die älteſten und niedrigſten Stufen der menſchlichen Cultur uns überall nahezu dieſelben rohen und einfachen Verhältniſſe vor Augen führen, bemerken wir in jeder folgenden Periode der Geſchichte eine größere Mannichfaltigkeit in Sitten, Gebräuchen und Einrich—⸗ tungen bei den verſchiedenen Nationen. Die zunehmende Arbeits- theilung bedingt eine ſteigende Mannichfaltigkeit der Formen in jeder Beziehung. Das ſpricht ſich ſelbſt in der menſchlichen Geſichtsbildung aus. Unter den niederſten Volksſtämmen gleichen ſich die meiſten Individuen fo ſehr, daß die europäiſchen Reiſenden dieſelben gewöhn— lich gar nicht unterſcheiden können. Mit zunehmender Cultur diffe⸗ renzirt ſich die Phyſiognomie der Individuen. Endlich bei den höchſt entwickelten Culturvölkern, bei Engländern und Deutſchen, geht die Divergenz der Geſichtsbildung bei allen ſtammverwandten Individuen ſo weit, daß wir nur ſelten in die Verlegenheit kommen, zwei Geſichter gänzlich mit einander zu verwechſeln. Fortſchritt in der Entwickelung der Menſchheit. 229 Als zweites oberſtes Grundgeſetz tritt uns in der Völkergeſchichte das große Geſetz des Fortſchritts oder der Vervollkommnung entgegen. Im Großen und Ganzen iſt die Geſchichte der Menſchheit die Ge— ſchichte ihrer fortſchreitenden Entwickelung. Freilich kommen überall und zu jeder Zeit Rückſchritte im Einzelnen vor, oder es werden ſchiefe Bahnen des Fortſchritts eingeſchlagen, welche nur einer einſeitigen und äußerlichen Vervollkommnung entgegenführen, und dabei von dem höheren Ziele der inneren und werthvolleren Ver— vollkommnung ſich mehr und mehr entfernen. Allein im Großen und Ganzen ift und bleibt die Entwickelungsbewegung der ganzen Menſch— heit eine fortſchreitende, indem der Menſch ſich immer weiter von ſei— nen affenartigen Vorfahren entfernt und immer mehr feinen ſelbſtge— ſteckten idealen Zielen nähert. Wenn Sie nun erkennen wollen, durch welche Urſachen eigent— lich dieſe beiden großen Entwickelungsgeſetze der Menſchheit, das Di— vergenzgeſetz und das Fortſchrittsgeſetz bedingt ſind, ſo müſſen Sie dieſelben mit den entſprechenden Entwickelungsgeſetzen der Thierheit vergleichen, und Sie werden bei tieferem Eingehen nothwendig zu dem Schluſſe kommen, daß ſowohl die Erſcheinungen wie ihre Ur— ſachen in beiden Fällen ganz dieſelben find. Ebenſo in dem Entwicke— lungsgange der Menſchenwelt wie in demjenigen der Thierwelt ſind die beiden Grundgeſetze der Differenzirung und Vervollkommnung le— diglich durch rein mechaniſche Urſachen bedingt, lediglich die nothwen— digen Folgen der natürlichen Züchtung im Kampf um's Daſein. Vielleicht hat ſich Ihnen bei der vorhergehenden Betrachtung die Frage aufgedrängt: „Sind nicht dieſe beiden Geſetze identiſch? Iſt nicht immer der Fortſchritt nothwendig mit der Divergenz verbunden?“ Dieſe Frage iſt oft bejaht worden, und Carl Ernſt Bär z. B., einer der größten Forſcher im Gebiete der Entwickelungsgeſchichte, hat als eines der oberſten Geſetze in der Ontogeneſis des Thierkörpers den Satz ausgeſprochen: „Der Grad der Ausbildung (oder Vervollkomm— nung) beſteht in der Stufe der Sonderung (oder Differenzirung) der Theile“ 20). So richtig dieſer Satz im Ganzen iſt, ſo hat er dennoch 230 Fortſchritt ohne Differenzirung. keine allgemeine Gültigkeit. Vielmehr zeigt ſich in vielen einzelnen Fällen, daß Divergenz und Fortſchritt keineswegs durchweg zuſam— menfallen. Es iſt nicht jeder Fortſchritt eine Differen- zirung, und es iſt nicht jede Differenzirung ein Fort— ſchritt. Was zunächſt die Vervollkommnung oder den Fortſchritt betrifft, fo hat man ſchon früher, durch rein anatomiſche Betrachtungen ge= leitet, das Geſetz aufgeſtellt, daß allerdings die Vervollkommnung des Organismus größtentheils auf der Arbeitstheilung der einzelnen Organe und Körpertheile beruht, daß es jedoch auch andere organi— ſche Umbildungen gibt, welche einen Fortſchritt in der Organiſation bedingen. Eine ſolche iſt beſonders die Zahlverminderung gleichartiger Theile. Wenn Sie z. B. die niederen krebsartigen Gliederthiere, welche ſehr zahlreiche Beinpaare beſitzen, vergleichen mit den Spinnen, die ſtets nur vier Beinpaare, und mit den Inſecten, die ſtets nur drei Beinpaare beſitzen, ſo finden Sie dieſes Geſetz, für welches eine Maſſe von Beiſpielen ſich anführen läßt, beſtätigt. Die Zahlreduction der Beinpaare iſt ein Fortſchritt in der Organiſation der Gliederthiere. Ebenſo iſt die Zahlreduction der gleichartigen Wirbel— abſchnitte des Rumpfes bei den Wirbelthieren ein Fortſchritt in deren Organiſation. Die Fiſche und Amphibien mit einer ſehr großen An⸗ zahl von gleichartigen Wirbeln find ſchon deshalb un vollkommener und niedriger als die Vögel und Säugethiere, bei denen die Wirbel nicht nur im Ganzen viel mehr differenzirt, ſondern auch die Zahl der gleichartigen Wirbel viel geringer iſt. Nach demſelben Geſetze der Zahlverminderung find ferner die Blüthen mit zahlreichen Staub⸗ fäden unvollkommener als die Blüthen der verwandten Pflanzen mit einer geringen Staubfädenzahl u. ſ. w. Wenn alſo urſprünglich eine ſehr große Anzahl von gleichartigen Theilen im Körper vorhanden war, und wenn dieſe Zahl im Laufe zahlreicher Generationen allmäh⸗ lich abnahm, ſo war dieſe Umbildung eine Vervollkommnung. Ein anderes Fortſchrittsgeſetz, welches von der Differenzirung ganz unabhängig, ja ſogar dieſer gewiſſermaßen entgegengeſetzt er— Differenzirung ohne Fortſchritt. 231 ſcheint, iſt das Geſetz der Centraliſation. Im Allgemeinen iſt der ganze Organismus um fo vollkommener, je einheitlicher er orga— niſirt iſt, je mehr die Theile dem Ganzen untergeordnet, je mehr die Functionen und ihre Organe centraliſirt find. So iſt z. B. das Blut— gefäßſyſtem da am vollkommenſten, wo ein eentraliſirtes Herz da iſt. Ebenſo iſt die zuſammengedrängte Markmaſſe, welche das Rücken⸗ mark der Wirbelthiere und das Bauchmark der höheren Gliederthiere bildet, vollkommener, als die decentraliſirte Ganglienkette der niede— ren Gliederthiere und das zerſtreute Ganglienſyſtem der Weichthiere. Bei der Schwierigkeit, welche die Erläuterung dieſer verwickelten Fort— ſchrittsgeſetze im Einzelnen hat, kann ich hier nicht näher darauf ein— gehen, und muß Sie bezüglich derſelben auf Bronn’s treffliche „Mor— phologiſche Studien“ 1s) und auf meine generelle Morphologie ver- weiſen (I, 370, 550; II, 257266). Während Sie hier Fortſchrittserſcheinungen kennen lernten, die ganz unabhängig von der Divergenz ſind, ſo begegnen Sie andrer— ſeits ſehr häufig Differenzirungen, welche keine Vervollkommnungen, ſondern vielmehr das Gegentheil, Rückſchritte find. Es iſt leicht ein- zuſehen, daß die Umbildungen, welche jede Thier- und Pflanzenart erleidet, nicht immer Verbeſſerungen ſein können. Vielmehr ſind viele Differenzirungserſcheinungen, welche von unmittelbarem Vortheil für den Organismus find, inſofern ſchädlich, als fie die allgemeine Lei⸗ ſtungsfähigkeit deſſelben beeinträchtigen. Häufig findet ein Rückſchritt zu einfacheren Lebensbedingungen und durch Anpaſſung an dieſelben eine Differenzirung in rückſchreitender Richtung ſtatt. Wenn z. B. Organismen, die bisher frei lebten, ſich an das paraſitiſche Leben ge— wöhnen, ſo bilden ſie ſich dadurch zurück. Solche Thiere, die bisher ein wohlentwickeltes Nervenſyſtem und ſcharfe Sinnesorgane, ſowie freie Bewegung beſaßen, verlieren dieſelben, wenn ſie ſich an para— ſitiſche Lebensweiſe gewöhnen; ſie bilden ſich dadurch mehr oder min— der zurück. Hier iſt, für ſich betrachtet, die Differenzirung ein Rück— ſchritt, obwohl fie für den paraſitiſchen Organismus ſelbſt von Vor— theil it. Im Kampf um's Daſein würde ein ſolches Thier, das ſich 232 Audimentäre oder verkümmerte Organe. gewöhnt hat, auf Koften Anderer zu leben, durch Beibehaltung feiner Augen und Bewegungswerkzeuge, die ihm nichts mehr nützen, nur an Material verlieren; und wenn es dieſe Organe einbüßt, fo kommt da— für eine Maſſe von Ernährungsmaterial, das zur Erhaltung dieſer Theile verwandt wurde, anderen Theilen zu Gute. Im Kampf um's Daſein zwiſchen den verſchiedenen Paraſiten werden daher diejenigen, welche am wenigſten Anſprüche machen, im Vortheil vor den anderen ſein, und dies begünſtigt ihre Rückbildung. Ebenſo wie in dieſem Falle mit den ganzen Organismen, ſo verhält es ſich auch mit den Körpertheilen des einzelnen Organismus. Auch eine Differenzirung dieſer Theile, welche zu einer theilweiſen Rückbildung, und ſchließlich ſelbſt zum Verluſt einzelner Organe führt, iſt an ſich betrachtet ein Rückſchritt, kann aber für den Organismus im Kampf um's Daſein von Vortheil ſein. Man kämpft leichter und beſſer, wenn man unnützes Gepäck fortwirft. Daher begegnen wir überall im entwickelteren Thier- und Pflanzenkörper Divergenzpro- ceſſen, welche weſentlich die Rückbildung und ſchließlich den Verluſt einzelner Theile bewirken. Hier tritt uns nun vor Allen die höchſt wichtige und lehrreiche Erſcheinungsreihe der rudimentären oder verkümmerten Organe entgegen. Sie erinnern ſich, daß ich ſchon im erſten Vortrage dieſe außer- ordentlich merkwürdige Erſcheinungsreihe als eine der wichtigſten in theoretiſcher Beziehung hervorgehoben habe, als einen der ſchlagend— ſten Beweisgründe für die Wahrheit der Abſtammungslehre. Wir bezeichneten als rudimentäre Organe ſolche Theile des Körpers, die für einen beſtimmten Zweck eingerichtet und dennoch ohne Function ſind. Ich erinnere Sie an die Augen derjenigen Thiere, welche in Höhlen oder unter der Erde im Dunkeln leben, und daher niemals ihre Au— gen gebrauchen können. Bei dieſen Thieren finden wir unter der Haut verſteckt wirkliche Augen, oft gerade ſo gebildet wie die Augen der wirklich ſehenden Thiere; und dennoch functioniren dieſe Augen niemals, und können nicht functioniren, ſchon einfach aus dem Grunde, weil dieſelben von dem undurchſichtigen Felle überzogen ſind und da— Rudimentäre Flügel vieler Vögel und Inſecten. 233 her kein Lichtſtrahl in ſie hineinfällt (vergl. oben S. 11). Bei den Vorfahren dieſer Thiere, welche frei am Tageslichte lebten, waren die Augen wohl entwickelt, von der durchſichtigen Hornhaut überzogen und dienten wirklich zum Sehen. Aber als ſie ſich nach und nach an unterirdiſche Lebensweiſe gewöhnten, ſich dem Tageslicht entzogen und ihre Augen nicht mehr brauchten, wurden dieſelben rückgebildet. Sehr anſchauliche Beiſpiele von rudimentären Organen ſind fer⸗ ner die Flügel von Thieren, welche nicht fliegen können, z. B. unter den Vögeln die Flügel der ſtraußartigen Laufvögel, (Strauß, Ca⸗ ſuar u. ſ. w.), bei welchen ſich die Beine außerordentlich entwickelt ha⸗ ben. Dieſe Vögel haben ſich das Fliegen abgewöhnt und haben da— durch den Gebrauch der Flügel verloren; allein die Flügel ſind noch da, obwohl in verkümmerter Form. Sehr häufig finden Sie ſolche verkümmerte Flügel in der Klaſſe der Inſecten, von denen die meiſten fliegen können. Aus vergleichend anatomiſchen und anderen Grün— den können wir mit Sicherheit den Schluß ziehen, daß alle jetzt leben— den Inſecten (alle Netzflügler, Heuſchrecken, Käfer, Bienen, Wanzen, Fliegen, Schmetterlinge u. ſ. w.) von einer einzigen gemeinſamen El— ternform, einem Stamminſect abſtammen, welches zwei entwickelte Flügelpaare und drei Beinpaare beſaß. Nun giebt es aber ſehr zahl— reiche Inſecten, bei denen entweder eines oder beide Flügelpaare mehr oder minder rückgebildet, und viele, bei denen ſie ſogar völlig ver— ſchwunden ſind. In der ganzen Ordnung der Fliegen oder Dipteren z. B. ift das hintere Flügelpaar, bei den Drehflüglern oder Strepſipte⸗ ren dagegen das vordere Flügelpaar verkümmert oder ganz verſchwun— den. Außerdem finden Sie in jeder Inſectenordnung einzelne Gat— tungen oder Arten, bei denen die Flügel mehr oder minder rüdgebil- det oder verſchwunden ſind. Insbeſondere iſt letzteres bei Paraſiten der Fall. Oft ſind die Weibchen flügellos, während die Männchen geflügelt find, z. B. bei den Leuchtkäfern oder Johanniskäfern (La m- pyris), bei den Strepſipteren u. ſ. w. Offenbar iſt dieſe theilweiſe oder gänzliche Rückbildung der Inſectenflügel durch natürliche Züch— tung im Kampf um's Daſein entſtanden. Denn wir finden die In— 234 Rudimentäre oder verkümmerte Flügel vieler Inſecten. ſecten vorzugsweiſe dort ohne Flügel, wo das Fliegen ihnen nutzlos oder ſogar entſchieden ſchädlich ſein würde. Wenn z. B. Inſecten, welche Inſeln bewohnen, viel und gut fliegen, fo kann es leicht vor- kommen, daß ſie beim Fliegen durch den Wind in das Meer geweht werden, und wenn (wie es immer der Fall iſt) das Flugvermögen individuell verſchieden entwickelt ift, fo haben die ſchlechtfliegenden In— dividuen einen Vorzug vor den gutfliegenden; ſie werden weniger leicht in das Meer geweht, und bleiben länger am Leben als die gutfliegen— den Individuen derſelben Art. Im Verlaufe vieler Generationen muß durch die Wirkſamkeit der natürlichen Züchtung dieſer Umſtand noth— wendig zu einer vollſtändigen Verkümmerung der Flügel führen. Wenn man ſich dieſen Schluß rein theoretiſch entwickelt hätte, ſo könnte man nur befriedigt ſein, thatſächlich denſelben bewahrheitet zu finden. In der That iſt auf iſolirt gelegenen Inſeln das Verhältniß der flügello— ſen Inſecten zu den mit Flügeln verſehenen ganz auffallend groß, viel größer als bei den Inſecten des Feſtlandes. So find z. B. nach Wol⸗ lafton von den 550 Käferarten, welche die Inſel Madeira bewoh— nen, 200 flügellos oder mit ſo unvollkommenen Flügeln verſehen, daß ſie nicht mehr fliegen können; und von 29 Gattungen, welche jener Inſel ausſchließlich eigenthümlich ſind, enthalten nicht weniger als 23 nur ſolche Arten. Offenbar iſt dieſer merkwürdige Umſtand nicht durch die beſondere Weisheit des Schöpfers zu erklären, ſondern durch die natürliche Züchtung, indem hier der erbliche Nichtgebrauch der Flügel, die Abgewöhnung des Fliegens im Kampf mit den gefährlichen Win- den, den fauleren Käfern einen großen Vortheil im Kampf um's Da- fein gewährte. Bei anderen flügelloſen Inſecten war der Flügelman— gel aus anderen Gründen vortheilhaft. An ſich betrachtet iſt der Ver— luſt der Flügel ein Rückſchritt; aber für den Organismus unter dieſen beſonderen Lebensverhältniſſen iſt er ein Fortſchritt, ein Vortheil im Kampf um's Daſein. Von anderen rudimentären Organen will ich hier noch beiſpiels— weiſe die Lungen der Schlangen und der ſchlangenartigen Eidechſen erwähnen. Alle Wirbelthiere, welche Lungen beſitzen, Amphibien, Rudimentäre Organe des Menſchen. 235 Reptilien, Vögel und Säugethiere, haben ein Paar Lungen, eine rechte und eine linke. Da aber, wo der Körper ſich außerordentlich verdünnt und in die Länge ſtreckt, wie bei den Schlangen und ſchlangenartigen Eidechſen, hat die eine Lunge neben der anderen nicht mehr Platz, und es iſt für den Mechanismus der Athmung ein offen⸗ barer Vortheil, wenn nur eine Lunge entwickelt iſt. Eine einzige große Lunge leiſtet hier mehr, als zwei kleine neben einander, und daher finden wir bei dieſen Thieren faſt durchgängig die rechte oder die linke Lunge allein ausgebildet. Die andere iſt ganz verkümmert, obwohl als unnützes Rudiment vorhanden. Ebenſo iſt bei allen Vögeln der rechte Eierſtock verkümmert und ohne Function; der linke Eierſtock allein iſt entwickelt und liefert alle Eier. Daß auch der Menſch ſolche ganz unnütze und überflüſſige rudi⸗ mentäre Organe beſitzt, habe ich bereits im erſten Vortrage erwähnt, und damals die Muskeln, welche die Ohren bewegen, als ſolche an— geführt. Außerdem gehört hierher das Rudiment des Schwanzes, welches der Menſch in feinen 3—5 Schwanzwirbeln beſitzt, und wel— ches beim menſchlichen Embryo während der beiden erſten Monate der Entwickelung noch frei hervorſteht (Vgl. S. 240 b, c, Fig. Bs und Ds). Späterhin verwächſt es vollſtändig. Dieſes verkümmerte Schwänzchen des Menſchen iſt ein unwiderleglicher Zeuge für die unleugbare That— ſache, daß er von geſchwänzten Voreltern abſtammt. Beim Weibe iſt das Schwänzchen gewöhnlich um einen Wirbel länger, als beim Manne. Auch rudimentäre Muskeln find am Schwanze des Men- ſchen noch vorhanden, welche denſelben vormals bewegten. Ein anderes rudimentäres Organ des Menſchen, welches aber bloß dem Manne zukommt, und welches ebenſo bei ſämmtlichen männ— lichen Säugethieren ſich findet, ſind die Milchdrüſen an der Bruſt, welche in der Regel bloß beim weiblichen Geſchlechte in Thätigkeit tre— ten. Indeſſen kennt man von verſchiedenen Säugethieren, nament⸗ lich vom Menſchen, vom Schafe und von der Ziege, einzelne Fälle, in denen die Milchdrüſen auch beim männlichen Geſchlechte wohl ent— wickelt waren und Milch zur Ernährung des Jungen lieferten. Daß 236 Unſchätzbare philoſophiſche Bedeutung der rudimentären Organe. auch die rudimentären Ohrenmuskeln des Menſchen von einzelnen Perſonen in Folge andauernder Uebung noch zur Bewegung der Ohren verwendet werden können, wurde bereits früher erwähnt (S. 10). Ueberhaupt ſind die rudimentären Organe bei verſchiedenen Indivi⸗ duen derſelben Art oft ſehr verſchieden entwickelt, bei den einen ziem⸗ lich groß, bei den anderen ſehr klein. Dieſer Umſtand iſt für ihre Er— klärung ſehr wichtig, ebenſo wie der andere Umſtand, daß fie allge- mein bei den Embryonen, oder überhaupt in früher Lebenszeit, viel größer und ſtärker im Verhältniß zum übrigen Körper ſind, als bei den ausgebildeten und erwachſenen Organismen. Insbeſondere iſt dies leicht nachzuweiſen an den rudimentären Geſchlechtsorganen der Pflanzen (Staubfäden und Griffeln), welche ich früher bereits ange— führt habe (S. 12). Dieſe ſind verhältnißmäßig viel größer in der jungen Blüthenknospe als in der entwickelten Blüthe. Schon damals (S. 13) bemerkte ich, daß die rudimentären oder verkümmerten Organe zu den ſtärkſten Stützen der moniſtiſchen oder mechaniſtiſchen Weltanſchauung gehören. Wenn die Gegner derſel— ben, die Dualiſten und Teleologen, das ungeheure Gewicht dieſer Thatſachen begriffen, müßten ſie dadurch zur Verzweiflung gebracht werden. Die lächerlichen Erklärungsverſuche derſelben, daß die rudi- mentären Organe vom Schöpfer „der Symmetrie halber“ oder „zur formalen Ausſtattung“ oder „aus Rückſicht auf ſeinen allgemeinen Schöpfungsplan“ den Organismen verliehen ſeien, beweiſen zur Ge- nüge die völlige Ohnmacht jener verkehrten Weltanſchauung. Ich muß hier wiederholen, daß, wenn wir auch gar Nichts von den übrigen Entwickelungserſcheinungen wüßten, wir ganz allein ſchon auf Grund der rudimentären Organe die Deſcendenztheorie für wahr halten müßten. Kein Gegner derſelben hat vermocht, auch nur einen ſchwa— chen Schimmer von einer annehmbaren Erklärung auf dieſe äußerſt merkwürdigen und bedeutenden Erſcheinungen fallen zu laſſen. Es gibt beinahe keine irgend höher entwickelte Thier- oder Pflanzenform, die nicht irgend welche rudimentäre Organe hätte, und faſt immer läßt ſich nachweiſen, daß dieſelben Producte der natürlichen Züchtung Entſtehung der rudimentären Organe durch Nichtgebrauch. 237 ſind, daß ſie durch Nichtgebrauch oder durch Abgewöhnung verküm— mert ſind. Es iſt der umgekehrte Bildungsprozeß, wie wenn neue Organe durch Angewöhnung an beſondere Lebensbedingungen und durch Gebrauch eines noch unentwickelten Theiles entſtehen. Es wird zwar gewöhnlich von unſern Gegnern behauptet, daß die Entſtehung ganz neuer Theile ganz und gar nicht durch die Deſcendenztheorie zu erklären ſei. Indeſſen kann ich Ihnen verſichern, daß dieſe Erklärung für denjenigen, der vergleichend-anatomiſche und phyſiologiſche Kennt- niſſe beſitzt, nicht die mindeſte Schwierigkeit hat. Jeder, der mit der vergleichenden Anatomie und Entwickelungsgeſchichte vertraut iſt, fin— det in der Entſtehung ganz neuer Organe ebenſo wenig Schwierigkeit, als hier auf der anderen Seite in dem völligen Schwunde der rudi— mentären Organe. Das Vergehen der letzteren iſt an ſich betrachtet das Gegentheil vom Entſtehen der erſteren. Beide Prozeſſe ſind Dif— ferenzirungserſcheinungen, die wir gleich allen übrigen ganz einfach und mechaniſch aus der Wirkſamkeit der natürlichen Züchtung im Kampf um das Daſein erklären können. Die unendlich wichtige Betrachtung der rudimentären Organe und ihrer Entſtehung, die Vergleichung ihrer paläontologiſchen und ihrer embryologiſchen Entwickelung führt uns jetzt naturgemäß zur Er⸗ wägung einer der wichtigſten und größten biologiſchen Erſcheinungs— reihen, nämlich des Parallelismus, welchen uns die Fortſchritts- und Divergenzerſcheinungen in dreifach verſchiedener Beziehung darbieten. Als wir im Vorhergehenden von Vervollkommnung und Arbeitsthei— lung ſprachen, verſtanden wir darunter diejenigen Fortſchritts- und Sonderungsbewegungen, und diejenigen dadurch bewirkten Umbildun⸗ gen, welche in dem langen und langſamen Verlaufe der Erdgeſchichte zu einer beſtändigen Veränderung der Flora und Fauna, zu einem Entſtehen neuer und Vergehen alter Thier- und Pflanzenarten geführt haben. Ganz denſelben Erſcheinungen des Fortſchritts und der Dif— ferenzirung begegnen wir nun aber auch, und zwar in derſelben Rei— henfolge, wenn wir die Entſtehung, die Entwickelung und den Lebens⸗ lauf jedes einzelnen organiſchen Individuums verfolgen. Die indivi⸗ 238 Differenzirung und Fortſchritt in der Ontogeneſis. duelle Entwickelung oder die Ontogeneſis jedes einzelnen Organismus vom Ei an aufwärts bis zur vollendeten Form, beſteht in nichts An⸗ derem, als im Wachsthum und in einer Reihe von Differenzirungs— und Fortſchrittsbewegungen. Dies gilt in gleicher Weiſe von den Thieren, wie von den Pflanzen und Protiſten. Wenn Sie z. B. die Ontogenie irgend eines Säugethiers, des Menſchen, des Affen oder des Beutelthiers betrachten, oder die individuelle Entwickelung irgend eines anderen Wirbelthiers aus einer anderen Klaſſe verfolgen, fo fin- den Sie überall weſentlich dieſelben Erſcheinungen. Jedes dieſer Thiere entwickelt ſich urſprünglich aus einer einfachen Zelle, dem Ei. Dieſe Zelle vermehrt ſich durch Theilung, bildet einen Zellenhaufen, und durch Wachsthum dieſes Zellenhaufens, durch ungleichartige Aus- bildung der urſprünglich gleichartigen Zellen, durch Arbeitstheilung und Vervollkommnung derſelben, entſteht der vollkommene Drganis- mus, deſſen Zuſammenſetzung wir bewundern. Hier ſcheint es mir nun unerläßlich, Ihre Aufmerkſamkeit etwas eingehender auf jene unendlich wichtigen und intereſſanten Vorgänge hinzulenken, welche die Ontogeneſis oder die individuelle Entwickelung der Organismen, und ganz vorzüglich diejenige der Wirbelthiere mit Einſchluß des Menſchen begleiten. Ich möchte dieſe außerordentlich merkwürdigen und lehrreichen Erſcheinungen ganz beſonders Ihrem eingehendſten Nachdenken empfehlen, einerſeits, weil dieſelben zu den ſtärkſten Stützen der Deſcendenztheorie gehören, andrerſeits, weil dieſelben bisher nur von Wenigen in ihrer unermeß⸗ lichen allgemeinen Bedeutung gewürdigt worden ſind. Man muß in der That erſtaunen, wenn man die tiefe Unkennt⸗ niß erwägt, welche noch gegenwärtig in den weiteſten Kreiſen über die Thatſachen der individuellen Entwickelung des Menſchen und der Organismen überhaupt herrſcht. Dieſe Thatſachen, deren allgemeine Bedeutung man nicht hoch genug anſchlagen kann, wurden in ihren wichtigſten Grundzügen ſchon vor mehr als einem Jahrhundert, im Jahre 1759, von dem großen deutſchen Naturforſcher Caspar Frie- drich Wolff in: feiner klaſſiſchen „Theoria generationis“ Individuelle Entwickelungsgeſchichte oder Ontogenie. 239 feſtgeſtellt. Aber gleichwie Lamarck's 1809 begründete Deſcendenz— theorie ein halbes Jahrhundert hindurch ſchlummerte und erſt 1859 durch Darwin zu neuem unſterblichem Leben erweckt wurde, ſo blieb auch Wolff's Theorie der Epigeneſis faſt ein halbes Jahrhundert hindurch unbekannt, und erſt nachdem Oken 1806 feine Entwicke— lungsgeſchichte des Darmkanals veröffentlicht und Meckel 1812 Wolffs Arbeit über denſelben Gegenſtand in's Deutſche überſetzt hatte, wurde Wolff's Theorie der Epigeneſis allgemeiner bekannt, und die Grundlage aller folgenden Unterſuchungen über individuelle Ent— wickelungsgeſchichte. Das Studium der Ontogeneſis nahm nun einen mächtigen Aufſchwung, und bald erſchienen die klaſſiſchen Unterfuchun- gen der beiden Freunde Chriſtian Pander (1817) und Carl Ernſt Bär (1819). Insbeſondere wurde durch Bär's epochema— chende „Entwickelungsgeſchichte der Thiere“ ?) die Ontogenie der Wirbelthiere in allen ihren wichtigſten Thatſachen durch ſo vortreffliche Beobachtungen feſtgeſtellt, und durch fo vorzügliche philoſophiſche Re— flexionen erläutert, daß fie für das Verſtändniß dieſer wichtigſten Thier- gruppe, zu welcher ja auch der Menſch gehört, die unentbehrliche Grundlage wurde. Jene Thatſachen würden für ſich allein ſchon ausreichen, die Frage von der Stellung des Menſchen in der Natur und ſomit das höchſte aller Probleme zu löſen. Betrachten Sie auf merkſam und vergleichend die ſechs Figuren, welche auf den nachſte— henden Tafeln (S. 240 b, c) abgebildet ſind, und Sie werden erkennen, daß man die philoſophiſche Bedeutung der Embryologie nicht hoch genug anſchlagen kann. Nun darf man wohl fragen: Was wiſſen unſere ſogenannten „gebildeten“ Kreiſe, die auf die hohe Cultur des neunzehnten Jahr— hunderts ſich ſo Viel einbilden, von dieſen wichtigſten biologiſchen Thatſachen, von dieſen unentbehrlichen Grundlagen für das Verſtänd— niß ihres eigenen Organismus? Was wiſſen unſere ſpeculativen Phi⸗ loſophen und Theologen davon, welche durch reine Speculationen oder durch göttliche Inſpirationen das Verſtändniß des menſchlichen Organismus gewinnen zu können meinen? Ja was wiſſen ſelbſt die 240 Allgemeine Bedeutung der Ontogenie. meiſten Naturforſcher davon, die Mehrzahl der ſogenannten „Zoo— logen“ (mit Einſchluß der Entomologen!) nicht ausgenommen? Die Antwort auf dieſe Frage fällt ſehr beſchämend aus, und wir müſſen wohl oder übel eingeſtehen, daß jene unſchätzbaren That— ſachen der menſchlichen Ontogenie noch heute den Meiſten entweder ganz unbekannt ſind, oder doch keineswegs in gebührender Weiſe ge— würdigt werden. Hierbei werden wir deutlich gewahr, auf welchem ſchiefen und einſeitigen Wege ſich die vielgerühmte Bildung des neun— zehnten Jahrhunderts noch gegenwärtig befindet. Unwiſſenheit und Aber— glauben ſind die Grundlagen, auf denen ſich die meiſten Menſchen das Verſtändniß ihres eigenen Organismus und ſeiner Beziehungen zur Ge— ſammtheit der Dinge aufbauen, und jene handgreiflichen Thatſachen der Entwickelungsgeſchichte, welche das Licht der Wahrheit darüber verbrei— ten könnten, werden ignorirt. Allerdings ſind dieſe Thatſachen nicht ge— eignet, Wohlgefallen bei denjenigen zu erregen, welche einen durch— greifenden Unterſchied zwiſchen dem Menſchen und der übrigen Natur annehmen und namentlich den thieriſchen Urſprung des Menſchenge— ſchlechts nicht zugeben wollen. Insbeſondere müſſen bei denjenigen Völkern, bei denen in Folge von falſcher Auffaſſung der Erblichkeitsge— ſetze eine erbliche Kaſteneintheilung exiſtirt, die Mitglieder der herrſchen— den privilegirten Kaſten dadurch ſehr unangenehm berührt werden. Bekanntlich geht heute noch in vielen Culturländern die erbliche Ab— ſtufung der Stände fo weit, daß z. B. der Adel ganz anderer Na— tur, als der Bürgerſtand zu ſein glaubt, und daß Edelleute, welche ein entehrendes Verbrechen begehen, zur Strafe dafür aus der Adels— kaſte ausgeſtoßen und in die Pariakaſte des „gemeinen“ Bürgerſtandes hinabgeſchleudert werden. Was ſollen dieſe Edelleute noch von dem Vollblut, das in ihren privilegirten Adern rollt, denken, wenn fie er- fahren, daß alle menſchlichen Embryonen, adelige ebenſo wie bürger— liche, während der erſten beiden Monate der Entwickelung von den geſchwänzten Embryonen des Hundes und anderer Säugethiere kaum zu unterſcheiden ſind? (Fig. A — 0 auf beiſtehenden Tafeln). 7 75 7 ie Fig.A. Hund (/ Woche) Mensch (IV Woche ) Fig. A. Keim des Hundes, 5” lang (aus der vierten Woche). Fig. B. Keim des Menschen, 5 lang (aus der vierten Woche). Fig. C. Keim des Hundes, 83“ lang (aus der sechsten Woche). Fig. D. Keim des Menschen, 83“ lang (aus der achten Woche). Fig. E. Keim der Schildkröte, 7 lang (aus der sechsten Woche). Fig. F. Keim des Huhns, 7” lang (acht Tage alt). Fig. A und B sind 5mal, Fig. C—F 4Amal vergrössert. Die Buchstaben haben in allen sechs Figuren dieselbe Bedeutung. » Vorderhirn. 2 Zwischenhirn. m Mit- telhirn. * Hinterhirn. „ Nachhirn. r Rückenmark. a Auge. o Ohr. * 1. k2, k3 erster, zweiter und dritter Kiemenbogen. w Wirbel. ce Herz. bo Vorder- bein. bh Hinterbein. Schwanz. Fig.C. Fig. D. Hund ( Noche) Mensch ( Hochi rig. E. Schildkröte (V. Noche) Huhn (MI. Tag Das Ei des Menſchen. 241 Da die Abſicht dieſer Vorträge lediglich ift, die allgemeine Kennt— niß der natürlichen Wahrheiten zu fördern, und eine naturgemäße An— ſchauung von den Beziehungen des Menſchen zur übrigen Natur in weiteren Kreiſen zu verbreiten, ſo werden Sie es hier gewiß gerecht— fertigt finden, wenn ich jene weit verbreiteten Vorurtheile von einer privilegirten Ausnahmeſtellung des Menſchen in der Schöpfung nicht berückſichtige, und Ihnen einfach die embryologiſchen Thatſachen vor— führe, aus denen Sie ſelbſt ſich die Schlüſſe von der Grundloſigkeit jener Vorurtheile bilden können. Ich möchte Sie um ſo mehr bitten, über dieſe Thatſachen der Ontogenie eingehend nachzudenken, als es meine feſte Ueberzeugung iſt, daß die allgemeine Kenntniß derſelben nur die Veredelung und die Vervollkommnung des Menſchenge— ſchlechts fördern kann. Aus dem unendlich reichen und intereſſanten Erfahrungsmaterial, welches in der Ontogenie oder individuellen Entwickelungsgeſchichte der Wirbelthiere vorliegt, beſchränke ich mich hier darauf, Ihnen einige von denjenigen Thatſachen vorzuführen, welche ſowohl für die Deſcen⸗ denztheorie im Allgemeinen, als für deren beſondere Anwendung auf den Menſchen von der höchſten Bedeutung ſind. Der Menſch iſt im Beginn ſeiner individuellen Exiſtenz ein einfaches Ei, eine einzige kleine Zelle, ſo gut wie jeder andere thieriſche Organismus, welcher auf dem Wege der geſchlechtlichen Zeugung entſteht. Das menſchliche Ei iſt weſentlich demjenigen aller anderen Säugethiere gleich, und höchſtens durch ſeine Größe um ein Geringes davon verſchieden. Vergleichen Sie das Ei des Menſchen (Fig. 5) mit demjenigen des Affen (Fig. 6) und des Hundes (Fig. 7), und Sie werden keinerlei Unterſchied da- ran wahrnehmen können. Auch die Größe des Eies iſt bei den mei⸗ ſten Säugethieren dieſelbe wie beim Menſchen, nämlich ungefähr 10° Durchmeſſer, der 120ſte Theil eines Zolles, fo daß man das Ei unter günſtigen Umſtänden mit bloßem Auge eben als ein feines Pünktchen wahrnehmen kann. Die Unterſchiede, welche zwiſchen den Eiern der verſchiedenen Säugethiere und Menſchen wirklich vorhan— den ſind, beſtehen nicht in der Formbildung, ſondern in der chemiſchen Haeckel, Natürliche Schöpfungsgeſchichte. 16 242 Inſammenſetzung des Säugethiereies. Miſchung, in der molekularen Zuſammenſetzung der eiweißartigen Kohlenſtoffverbindung, aus welcher das Ei weſentlich beſteht. Dieſe feinen individuellen Unterſchiede aller Eier, welche auf der indirecten oder potentiellen Anpaſſung (und zwar ſpeciell auf dem Geſetze der indi- viduellen Anpaſſung) beruhen, find zwar für die außerordentlich gro- ben Erkenntnißmittel des Menſchen nicht Direct ſinnlich wahrnehmbar, aber durch indirecte Schlüſſe als die erſten Urſachen des Unterſchiedes aller Individuen erkennbar. Fig. 5. Fig. 5. Das Ei des Menſchen. Fig. 6. Das Ei des Affen. Fig. 7. Das Ei des Hundes. Alle drei Eier ſind hundertmal vergrößert. Die Buch⸗ ſtaben bedeuten in allen drei Figuren daſſelbe: a Kernkörperchen oder Nucleolus (ſogenannter Keimfleck des Eies); 5 Kern oder Nucleus (ſogenanntes Keim⸗ bläschen des Eies); e Zellſtoff oder Protoplasma (ſogenannter Dotter des Eies); d' Zellhaut oder Membrana (Dotterhaut des Eies, beim Säugethier wegen ihrer Durchſichtigkeit Zona pellueida genannt). Bei ſehr ſtarker Vergrößerung erſcheint die Dotter⸗ haut des Säugethiereies von ſehr feinen und zahl⸗ reichen Kanälen in radialer oder ſtrahliger Richtung durchſetzt. * Das Ei des Menſchen iſt, wie das aller anderen Säugethiere, ein kugeliges Bläschen, welches alle weſentlichen Beſtand—⸗ theile einer einfachen organiſchen Zelle ent— hält (Fig. 5 — 7). Der weſentlichſte Theil deſſelben iſt der ſchleimartige Zellſtoff oder das Protoplasma (c), welches beim Ei „Dotter“ genannt wird, und der davon umſchloſſene Zellenkern oder Nucleus (b), welcher hier den beſonderen Namen des „Keimbläschens“ führt. Der letztere iſt ein zartes, glashelles Eiweiß⸗ kügelchen von ungefähr )“ Durchmeſſer, und umſchließt noch ein viel kleineres, ſcharf abgegrenztes rundes Körnchen (a), das Kernkörper⸗ Beginnende Entwickelung des Säugethiereies. 243 chen oder den Nucleolus der Zelle (beim Ei „Keimfleck“ genannt). Nach außen iſt die kugelige Eizelle des Säugethiers durch eine dicke, glasartig durchſichtige Haut, die Zellenmembran oder Dotter- haut, abgeſchloſſen, welche hier den beſonderen Namen der Zona pellueida führt (d). Die Eier vieler niederen Thiere (z. B. vieler Me⸗ duſen) ſind dagegen nackte Zellen, indem ihnen die äußere Hülle oder die Zellenmembran fehlt. Sobald das Ei (Ovulum) des Säugethiers feinen vollen Reife- grad erlangt hat, tritt daſſelbe aus dem Eierſtock des Weibes, in dem es entſtand, heraus, und gelangt in den Eileiter und durch dieſe enge Röhre in den weiteren Keimbehälter oder Fruchtbehälter (Uterus). Wird inzwiſchen das Ei durch den entgegenkommenden männlichen Sa- men (Sperma) befruchtet, ſo entwickelt es ſich in dieſem Behälter weiter zum Keim (Embryo), und verläßt denſelben nicht eher, als bis der Keim vollkommen ausgebildet und fähig iſt, als junges Säugethier durch den Geburtsakt in die Welt zu treten. Die Formveränderungen und Umbildungen, welche das befruch— tete Ei innerhalb des Keimbehälters durchlaufen muß, ehe es die Ge- ſtalt des jungen Säugethiers annimmt, ſind äußerſt merkwürdig, und verlaufen vom Anfang an beim Menſchen ganz ebenſo wie bei den übri- gen Säugethieren. Zunächſt benimmt ſich das befruchtete Säuge- thierei gerade ſo, wie ein einzelliger Organismus, welcher ſich auf ſeine Hand ſelbſtſtändig fortpflanzen und vermehren will, z. B. eine Amoebe (Vergl. Fig. 2, S. 145). Die einfache Eizelle zerfällt näm⸗ lich durch den Proceß der Zellentheilung, welchen ich Ihnen bereits früher beſchrieben habe, in zwei Zellen. Zunächſt entſtehen aus dem Keimfleck (dem Kernkörperchen der urſprünglichen einfachen Ei- zelle) zwei neue Kernkörperchen und ebenſo dann aus dem Keim- bläschen (dem Nucleus) zwei neue Zellenkerne. Nun erſt ſchnürt ſich das kugelige Protoplasma durch eine Aequatorialfurche dergeſtalt in zwei Hälften ab, daß jede Hälfte einen der beiden Kerne nebſt Kernkörperchen umſchließt. So find aus der einfachen Eizelle inner- 16 * 244 Wiederholte Theilung oder Furchung des Säugethiereies. halb der urſprünglichen Zellenmembran zwei nackte Zellen geworden (Fig. SA). Fig. 8. Erſter Beginn der Entwickelung des Säugethiereies, ſogenannte „Ei⸗ furchung“ (Fortpflanzung der Eizelle durch wiederholte Selbſttheilung). Fig. 8 4. Das Ei zerfällt durch Bildung der erſten Furche in zwei Zellen. Fig 8 B. Dieſe zerfallen durch Halbirung in 4 Zellen. Fig. 8 C. Dieſe letzteren ſind in 8 Zellen zerfallen. Fig. 8 D. Durch fortgeſetzte Theilung iſt ein kugeliger Hau⸗ fen von zahlreichen Zellen entſtanden. Derſelbe Vorgang der Zellentheilung wiederholt ſich nun mehr⸗ mals hinter einander. In der gleichen Weiſe entſtehen aus zwei Zellen (Fig. 8 A) vier (Fig. 8 B); aus vier werden acht (Fig. 8 C), aus acht ſechzehn, aus dieſen zweiunddreißig u. ſ. w. Jedesmal geht die Theilung des Kernkörperchens derjenigen des Kernes, und dieſe wie⸗ derum derjenigen des Zellſtoffs oder Protoplasma vorher. Weil die Theilung des letzteren immer mit der Bildung einer oberflächlichen ringförmigen Furche beginnt, nennt man den ganzen Vorgang ge⸗ wöhnlich die Furchung des Eies, und die Producte deſſelben, die kleinen, durch fortgeſetzte Zweitheilung entſtehenden Zellen die Furchungskugeln. Indeſſen iſt der ganze Vorgang weiter Nichts als eine einfache und wiederholte Zellentheilung, und die Pro⸗ ducte deſſelben ſind echte, nackte Zellen. Schließlich entſteht aus der fortgeſetzten Theilung oder „Furchung“ des Säugethiereies eine maul⸗ beerförmige oder brombeerförmige Kugel, welche aus ſehr zahlreichen kleinen Kugeln, nackten kernhaltigen Zellen zuſammengeſetzt iſt (Fig. 8 D). Dieſe Zellen ſind die Bauſteine, aus denen ſich der Leib des jungen Säugethiers aufbaut. Jeder von uns war einmal eine ſolche einfache, brombeerförmige, aus lauter kleinen gleichen Zellen zuſam⸗ mengeſetzte Kugel. Bildung und Bedeutung der drei Keimblätter. 245 Die weitere Entwickelung des kugeligen Zellenhaufens, welcher den jungen Säugethierkörper jetzt repräſentirt, beſteht zunächſt darin, daß derſelbe ſich in eine kugelige Blaſe verwandelt, indem im Inneren ſich Flüſſigkeit anſammelt. Dieſe Blaſe nennt man Keimblaſe (Vesi- cula blastodermica). Die Wand derſelben iſt anfangs aus lauter gleichartigen Zellen zuſammengeſetzt. Bald aber entſteht an einer Stelle der Wand eine ſcheibenförmige Verdickung, indem ſich hier die Zellen raſch vermehren; und dieſe Verdickung iſt nun die Anlage für den eigentlichen Leib des Keims oder Embryo, während der übrige Theil der Keimblaſe bloß zur Ernährung des Embryo verwendet wird. Die verdickte Scheibe der Embryonalanlage nimmt bald eine länglich runde und dann, indem rechter und linker Seitenrand ausgeſchweift wer— den, eine geigenförmige oder bisquitförmige Geſtalt an (Fig. 9, S. 248). In dieſem Stadium der Entwickelung, in der erſten Anlage des Keims oder Embryo, ſind nicht allein alle Säugethiere mit Inbegriff des Menſchen, ſondern ſogar alle Wirbelthiere überhaupt, alle Säugethiere, Vögel, Reptilien, Amphibien und Fiſche, entweder gar nicht oder nur durch ihre Größe, oder durch höchſt unbedeutende Merkmale in Form und äußerem Umriß von einander zu unterſcheiden. Bei Allen be— ſteht der ganze Leib aus weiter Nichts, als aus einer ganz einfachen, länglichrunden, ovalen oder geigenförmigen, dünnen Scheibe, welche aus drei über einander liegenden, eng verbundenen Blättern zuſammen⸗ geſetzt iſt. Jedes dieſer drei Keimblätter beſteht aus weiter Nichts, als aus gleichartigen Zellen; jedes hat aber eine andere Bedeutung für den Aufbau des Wirbelthierkörpers. Aus dem oberen oder äußeren Keimblatt entſteht bloß die äußere Oberhaut (Epidermis) nebſt den Centraltheilen des Nervenſyſtems (Rückenmark und Gehirn); aus dem unteren oder inneren Blatt entſteht bloß die innere zarte Haut (Epithelium), welche den ganzen Darmcanal vom Mund bis zum After, nebſt allen feinen Anhangsdrüſen (Lunge, Leber, Speicheldrü- fen, Darmdrüſen u. ſ. w.) auskleidet; aus dem zwiſchen beiden ge- legenen mittleren Keimblatt entſtehen alle übrigen Organe. 246 Vergleichung des mehrzelligen Organismus mit einem Staate. Die Vorgänge nun, durch welche aus ſo einfachem Baumaterial, aus den drei einfachen, nur aus Zellen zuſammengeſetzten Keimblät- tern, die verſchiedenartigen und höchſt verwickelt zuſammengeſetzten Theile des reifen Wirbelthierkörpers entſtehen, ſind erſtens wiederholte Theilungen und dadurch Vermehrung der Zellen, zweitens Arbeits— theilung oder Differenzirung dieſer Zellen, und drittens Verbindung der verſchiedenartig ausgebildeten oder differenzirten Zellen zur Bil⸗ dung der verſchiedenen Organe. So entſteht der ſtufenweiſe Fortſchritt oder die Vervollkommnung, welche in der Ausbildung des embryona— len Leibes Schritt für Schritt zu verfolgen iſt. Die einfachen Em- bryonalzellen, welche den Wirbelthierkörper zuſammenſetzen wollen, verhalten ſich wie Bürger, welche einen Staat gründen wollen. Die einen ergreifen dieſe, die anderen jene Thätigkeit, und bilden dieſelbe zum Beſten des Ganzen aus. Durch dieſe Arbeitstheilung oder Diffe— renzirung, und die damit im Zuſammenhang ſtehende Vervollkomm⸗ nung (den organiſchen Fortſchritt), wird es dem ganzen Staate mög- lich, Leiſtungen zu vollziehen, welche dem einzelnen Individuum unmög- lich wären. Der ganze Wirbelthierkörper, wie jeder andere mehr: zellige Organismus, iſt ein republikaniſcher Zellenſtaat, und daher kann derſelbe organiſche Functionen vollziehen, welche die einzelne Zelle als Einſiedler (z. B. eine Amoebe oder eine einzellige Pflanze) niemals leiſten könnte. Es wird keinem vernünftigen Menſchen einfallen, in den zweck— mäßigen Einrichtungen, welche zum Wohle des Ganzen und der Ein— zelnen in jedem menſchlichen Staate getroffen ſind, die zweckmäßige Thätigkeit eines perſönlichen überirdiſchen Schöpfers erkennen zu wollen. Vielmehr weiß Jedermann, daß jene zweckmäßigen Orga— niſationseinrichtungen des Staats die Folge von dem Zuſammen⸗ wirken der einzelnen Bürger und ihrer Regierung, ſowie von deren Anpaſſung an die Exiſtenzbedingungen der Außenwelt ſind. Ganz ebenſo müſſen wir aber auch den mehrzelligen Organismus beurthei— len. Auch in dieſem ſind alle zweckmäßigen Einrichtungen lediglich die natürliche und nothwendige Folge des Zuſammenwirkens, der Dif— mei Entftehung des Rückenmarks der Wirbelthiere. 247 ferenzirung und Vervollkommnung der einzelnen Staatsbürger, der Zellen; und nicht etwa die künſtlichen Einrichtungen eines zweckmäßig thätigen Schöpfers. Wenn Sie dieſen Vergleich recht erwägen und weiter verfolgen, wird Ihnen deutlich die Verkehrtheit jener dualifti- ſchen Naturanſchauung klar werden, welche in der Zweckmäßigkeit der Organiſation die Wirkung eines ſchöpferiſchen Bauplans ſucht. Laſſen Sie uns nun die individuelle Entwickelung des Wir bel thierkörpers noch einige Schritte weiter verfolgen, und ſehen, was die Staatsbürger dieſes embryonalen Organismus zunächſt anfangen. In der Mittellinie der geigenförmigen Scheibe, welche aus den drei zelligen Keimblättern zuſammengeſetzt ift, entſteht eine gerade feine Furche, die ſogenannte „Primitivrinne,“ durch welche der geigenförmige Leib in zwei gleiche Seitenhälften abgetheilt wird, ein rechtes und ein linkes Gegenſtück oder Antimer. Beiderſeits jener Rinne oder Furche erhebt ſich das obere oder äußere Keimblatt in Form einer Längsfalte, und beide Falten wachſen dann über der Rinne in der Mittellinie zuſammen und bilden fo ein eylindriſches Rohr. Dieſes Rohr heißt das Markrohr oder Medullarrohr, weil es die Anlage des Centralnerven— ſyſtems, des Rückenmarks (Medulla spinalis) iſt. Anfangs iſt daſſelbe vorn und hinten zugeſpitzt, und fo bleibt daſſelbe bei den nie— derſten Wirbelthieren, den gehirnloſen Röhrenherzen oder Leptocar⸗ diern (Amphioxus) zeitlebens. Bei allen übrigen Wirbelthieren aber, die wir von letzteren als Beutelherzen oder Pachycardier unterſchei— den, wird alsbald ein Unterſchied zwiſchen vorderem und hinterem Ende des Medullarrohrs ſichtbar, indem das erſtere ſich aufbläht und in eine rundliche Blaſe, die Anlage des Gehierns verwandelt. Bei allen Pachycardiern, d. h. bei allen mit Gehirn verſehenen Wirbelthieren, zerfällt das Gehirn, welches anfangs bloß die blaſen— förmige Auftreibung vom vorderen Ende des Rückenmarks iſt, bald in fünf hinter einander liegende Blaſen, indem ſich vier oberflächliche quere Einſchnürungen bilden. Dieſe fünf urſprünglichen Hirn- blaſen, aus denen ſich ſpäterhin alle verſchiedenen Theile des ſo verwickelt gebauten Gehirns hervorbilden, haben folgende Bedeutung. 248 Embryonen oder Keime von Wirbelthieren. Fig. 10. Fig. 9. Embryo des Hundes. Fig. 10. Embryo des Huhns. Fig. 11. Embryo der Schildkröte. Alle drei Embryonen ſind genau aus demſelben Entwicke⸗ lungsſtadium genommen, in dem ſoeben die fünf Hirnblaſen angelegt ſind. Die Buchſtaben bedeuten in allen drei Figuren daſſelbe: » Vorderhirn. 2 Zwiſchenhirn. m Mittelhirn. A Hinterhirn. » Nachhirn. 2 Rückenmark. « Augenblaſen. w Urwir⸗ bel. d Rückenſtrang oder Chorda. Die erſte Blaſe, das Vorderhirn (Y iſt inſofern die wichtigſte, als ſie vorzugsweiſe die ſogenannten großen Hemiſphären, oder die Halbkugeln des großen Gehirns bildet, desjenigen Theiles, wel— cher der Sitz der höheren Geiſtesthätigkeiten iſt. Je höher dieſe letz— teren ſich bei dem Wirbelthier entwickeln, deſto mehr wachſen die bei— den Seitenhälften des Vorderhirns oder die großen Hemiſphären auf Koſten der vier übrigen Blaſen und legen ſich von vorn und oben her über die anderen herüber. Beim Menſchen, wo ſie verhältnißmäßig am ſtärkſten entwickelt find, entſprechend der höheren Geiſtesentwicke⸗ lung, bedecken ſie ſpäter die übrigen Theile von oben her faſt ganz. Bildung und Bedeutung der fünf Hirnblaſen der Wirbelthiere. 249 (Vergl. S. 240 C, Fig. C—F.) Die zweite Blaſe, das Zwiſchen— hirn (z) bildet beſonders denjenigen Gehirntheil, welchen man Sehhügel nennt, und ſteht in der nächſten Beziehung zu den Au— gen (a), welche als zwei Blaſen rechts und links aus dem Vorderhirn hervorwachſen und ſpäter am Boden des Zwiſchenhirns liegen. Die dritte Blaſe, das Mittelhirn (m) geht größtentheils in der Bildung der ſogenannten Vierhügel auf, eines hochgewölbten Gehirn— theiles, welcher beſonders bei den Reptilien (Fig. E, S. 240 e) und bei den Vögeln (Fig. F) ſtark ausgebildet iſt, während er bei den Säugethieren (0, D) viel mehr zurücktritt. Die vierte Blaſe, das Hinterhirn ch) bildet die fogenannten kleinen Hemiſphären oder die Halbkugeln nebſt dem Mitteltheil des kleinen Gehirns (Cere— bellum), ein Gehirntheil, über deſſen Bedeutung man die widerſpre— chendſten Vermuthungen hegt, der aber vorzugsweiſe die Coordina— tion der Bewegungen zu regeln ſcheint. Endlich die fünfte Blaſe, das Nach hirn (u), bildet ſich zu demjenigen ſehr wichtigen Theil des Centralnervenſyſtems aus, welchen man das verlängerte Mark (Medulla oblongata) nennt. Es iſt das Centralorgan der Athem— bewegungen und anderer wichtiger Functionen, und ſeine Verletzung führt ſofort den Tod herbei, während man die großen Hemiſphären des Vorderhirns (oder die „Seele“ im engeren Sinne) ſtückweiſe ab- tragen und zuletzt ganz vernichten kann, ohne daß das Wirbelthier deßhalb ſtirbt; nur ſeine höheren Geiſtesthätigkeiten ſchwinden dadurch. Dieſe fünf Hirnblaſen ſind urſprünglich bei allen Wirbelthieren, die überhaupt ein Gehirn beſitzen, gleichmäßig angelegt, und bilden ſich erſt allmählich bei den verſchiedenen Gruppen ſo verſchiedenartig aus, daß es nachher ſehr ſchwierig iſt, in den ganz entwickelten Ge— hirnen die gleichen Theile wieder zu erkennen. Wenn Sie die jungen Embryonen des Hundes, des Huhns und der Schildkröte in Fig. 9, 10 und 11 vergleichen, werden Sie nicht im Stande fein, einen Unter— ſchied wahrzunehmen. Wenn Sie dagegen die viel weiter entwickelten Embryonen in Fig. C—F mit einander vergleichen, werden Sie ſchon deutlich die ungleichartige Ausbildung erkennen, und namentlich wahr— 350 Entwickelung der Extremitäten der Wirbelthiere. nehmen, daß das Gehirn der beiden Säugethiere (C und D) ſchon ſtark von dem der Vögel (F) und Reptilien (E) abweicht. Bei letzte⸗ ren beiden zeigt bereits das Mittelhirn, bei den erſteren dagegen das Vorderhirn ſein Uebergewicht. Aber auch noch in dieſem Stadium iſt das Gehirn des Vogels (F) von dem der Schildkröte (E) kaum ver⸗ ſchieden, und ebenſo iſt das Gehirn des Hundes (C) demjenigen des Menſchen (D) jetzt faſt noch gleich. Wenn Sie dagegen die Gehirne dieſer vier Wirbelthiere im ausgebildeten Zuſtande mit einander ver— gleichen, ſo finden Sie dieſelben ſo ſehr verſchieden, daß Sie nicht einen Augenblick darüber in Zweifel ſein können, welchem Thiere jedes Gehirn angehört. Ich habe Ihnen hier die urſprüngliche Gleichheit und die erſt allmählich eintretende und dann immer wachſende Sonderung oder Differenzirung des Embryo bei den verſchiedenen Wirbelthieren ſpe— ciell an dem Beiſpiele des Gehirns erläutert, weil gerade dieſes Organ der Seelenthätigkeit von ganz beſonderem Intereſſe iſt. Ich hätte aber ebenſo gut das Herz oder die Leber oder die Gliedmaßen, kurz jeden anderen Körpertheil ſtatt deſſen anführen können, da ſich immer daſſelbe Schöpfungswunder hier wiederholt, nämlich die Thatſache, daß alle Theile urſprünglich bei den verſchiedenen Wirbelthieren gleich ſind, und daß erſt allmählich die Verſchiedenheiten ſich ausbilden, durch welche die verſchiedenen Klaſſen, Ordnungen, Familien, Gat⸗ tungen u. ſ. w. ſich von einander ſondern und abſtufen. Es giebt gewiß wenige Körpertheile, welche ſo verſchiedenartig ausgebildet ſind, wie die Gliedmaßen oder Extremitäten der verſchiedenen Wirbelthiere. Nun bitte ich Sie, in Fig. CO — F auf S. 240 c die vorderen Extremitäten (b v) der verſchiedenen Embryonen mit einander zu vergleichen, und Sie werden kaum im Stande ſein, irgend welche bedeutende Unterſchiede zwiſchen dem Arm des Men— ſchen (Dbv), dem Flügel des Vogels (Fb v), dem ſchlanken Vorder⸗ bein des Hundes (Cbv) und dem plumpen Vorderbein der Schild— kröte (Ebv) zu erkennen. Ebenſo wenig werden Sie bei Verglei⸗ chung der hinteren Extremität (bh) in dieſen Figuren herausfinden, Entwickelung der Kiemenbogen der Wirbelthiere. 251 wodurch das Bein des Menſchen (D) und des Vogels (F), das Hin— terbein des Hundes (C) und der Schildkröte (E) ſich unterſcheiden. Vordere ſowohl als hintere Extremitäten ſind jetzt noch kurze und breite Platten, an deren Endausbreitung die Anlagen der fünf Zehen noch durch Schwimmhäute verbunden ſind. In einem noch früheren Stadium (Fig. A und B) find die fünf Zehen noch nicht einmal an— gelegt, und es iſt ganz unmöglich auch nur vordere und hintere Glied— maßen zu unterſcheiden. Dieſe ſowohl als jene ſind nichts als ganz einfache rundliche Fortſätze, welche aus der Seite des Rumpfes her— vorgeſproßt find. In dem frühen Stadium, welches Fig. 9—11 darſtellt, fehlen dieſelben überhaupt noch ganz, und der ganze Em— bryo iſt ein einfacher Rumpf ohne eine Spur von Gliedmaßen. An den Embryonen des Hundes (Fig. A) und des Menſchen (Fig. B) aus der vierten Woche der Entwickelung, in denen Sie jetzt wohl noch keine Spur des erwachſenen Thieres werden erkennen kön— nen, möchte ich Sie noch beſonders aufmerkſam machen auf eine äu— ßerſt wichtige Bildung, welche allen Wirbelthieren urſprünglich ge— meinſam iſt, welche aber ſpäterhin zu den verſchiedenſten Organen umgebildet wird. Sie kennen gewiß Alle die Kiemenbogen der Fiſche, jene knöchernen Bogen, welche zu drei oder vier hinter ein— ander auf jeder Seite des Halſes liegen, und welche die Athmungs— organe der Fiſche, die Kiemen tragen (Doppelreihen von rothen Blättchen, welche das Volk „Fiſchohren“ nennt). Dieſe Kiemenbogen nun find beim Menſchen (B) und beim Hunde (A) urſprünglich fo gut vorhanden, wie bei allen übrigen Wirbelthieren. (In Figur A und B find die drei Kiemenbogen der rechten Halsſeite mit den Buch— ſtaben k 1, k 2, k3 bezeichnet). Allein nur bei den Fiſchen bleiben dieſelben in der urſprünglichen Anlage beſtehen und bilden ſich zu Ath— mungsorganen aus. Bei den übrigen Wirbelthieren werden dieſelben theils zur Bildung des Geſichts (namentlich des Kieferapparats), theils zur Bildung des Gehörorgans verwendet. Endlich will ich nicht verfehlen, Sie bei Vergleichung der in Fig. A—F, S. 240 b, c abgebildeten Embryonen nochmals auf das 252 Der Schwanz des Menſchen. Schwänzchen des Menſchen (s) aufmerkſam zu machen, wel— ches derſelbe mit allen übrigen Wirbelthieren in der urſprünglichen Anlage theilt. Die Auffindung „geſchwänzter Menſchen“ wurde lange Zeit von vielen Moniſten mit Sehnſucht erwartet, um darauf eine nähere Verwandtſchaft des Menſchen mit den übrigen Säugethieren begründen zu können. Und ebenſo hoben ihre dualiſtiſchen Gegner oft mit Stolz hervor, daß der gänzliche Mangel des Schwanzes einen der wichtigſten körperlichen Unterſchiede zwiſchen dem Menſchen und den Thieren bilde, wobei ſie nicht an die vielen ſchwanzloſen Thiere dachten, die es wirklich giebt. Nun beſitzt aber der Menſch in den erſten Monaten der Entwickelung ebenſo gut einen wirklichen Schwanz, wie die nächſtverwandten ſchwanzloſen Affen (Orang, Schimpanſe, Gorilla) und wie die Wirbelthiere überhaupt. Während derſelbe aber bei den Meiſten, z. B. beim Hunde (Fig. A, O) im Laufe der Ent- wickelung immer länger wird, bildet er ſich beim Menſchen (Fig. B, D) und bei den ungeſchwänzten Säugethieren von einem gewiſſen Zeit— punct der Entwickelung an zurück und verwächſt zuletzt völlig. In⸗ deſſen iſt auch beim ausgebildeten Menſchen der Reſt des Schwanzes als verkümmertes oder rudimentäres Organ noch in den drei bis fünf Schwanzwirbeln (Vertebrae coceygeae) zu erkennen, welche das hintere oder untere Ende der Wirbelſäule bilden (S. 235). Die meiſten Menſchen wollen noch gegenwärtig die wichtigſte Folgerung der Deſcendenztheorie, die paläontologiſche Entwickelung des Menſchen aus affenähnlichen und weiterhin aus niederen Säuge⸗ thieren nicht anerkennen, und halten eine ſolche Umbildung der orga- niſchen Form für unmöglich. Ich frage Sie aber, find die Erſchei— nungen der individuellen Entwickelung des Menſchen, von denen ich Ihnen hier die Grundzüge vorgeführt habe, etwa weniger wunder— bar? Iſt es nicht im höchſten Grade merkwürdig, daß alle Wirbel— thiere aus den verſchiedenſten Klaſſen, Fiſche, Amphibien, Reptilien, Vögel und Säugethiere, in den erſten Zeiten ihrer embryonalen Ent- wickelung gradezu nicht zu unterſcheiden ſind, und daß ſelbſt viel ſpä— ter noch, in einer Zeit, wo bereits Reptilien und Vögel ſich deutlich Urſächlicher Zuſammenhang der Ontogenefis und Phylogeneſis. 253 von den Säugethieren unterſcheiden, Hund und Menſch noch beinahe identiſch ſind? Fürwahr, wenn man jene beiden Entwickelungsreihen mit einander vergleicht, und ſich fragt, welche von beiden wunder— barer iſt, ſo muß uns die Ontogenie oder die kurze und ſchnelle Entwickelungsgeſchichte des Individuums viel räthſelhafter er— ſcheinen, als die Phylogenie oder die lange und langſame Ent— wickelungsgeſchichte des Stammes. Denn eine und dieſelbe groß— artige Formwandelung und Umbildung wird von der letzteren im Laufe von vielen tauſend Jahren, von der erſteren dagegen im Laufe weniger Monate vollbracht. Offenbar iſt dieſe überaus ſchnelle und auffallende Umbildung des Individuums in der Ontogeneſis, welche wir jeden Augenblick thatſächlich durch directe Beobachtung feſtſtellen können, an ſich viel wunderbarer, viel erſtaunlicher, als die entſpre⸗ chende, aber viel langſamere und allmählichere Umbildung, welche die lange Vorfahrenkette deſſelben Individuums in der Phylogeneſis durchgemacht hat. Beide Reihen der organiſchen Entwickelung, die Ontogeneſis des Individuums, und die Phylogeneſis des Stammes, zu welchem daſ— ſelbe gehört, ſtehen im innigſten urſächlichen Zuſammenhange. Ich habe dieſe Theorie, welche ich für äußerſt wichtig halte, im zweiten Bande meiner generellen Morphologie 2) ausführlich zu begründen verſucht. Wie ich dort zeigte, iſt die Ontogeneſis, oder die Ent- wickelung des Individuums, eine kurze und ſchnelle, durch die Geſetze der Vererbung und Anpaſſung be— dingte Wiederholung (Recapitulation) der Phyloge— neſis oder der Entwickelung des zugehörigen Stam— mes, d. h. der Vorfahren, welche die Ahnenkette des betreffenden Individuums bilden. (Gen. Morph. II, S. 110—147, 371). In dieſem innigen Zuſammenhang der Ontogenie und Phylo— genie erblicke ich einen der wichtigſten und unwiderleglichſten Beweiſe der Deſcendenztheorie. Es vermag Niemand dieſe Erſcheinungen zu erklären, wenn er nicht auf die Vererbungs- und Anpaſſungsge⸗ ſetze zurückgeht; durch dieſe erſt ſind ſie erklärlich. Ganz beſonders 254 Parallelismus der individuellen und der paläontologiſchen Entwickelung. verdienen dabei die Geſetze unſere Beachtung, welche wir früher als die Geſetze der abgekürzten, der gleichzeitlichen und der gleichörtlichen Vererbung erläutert haben. Indem ſich ein fo hochſtehender und verwickelter Organismus, wie es der menſchliche oder der Organismus jedes anderen Säugethiers iſt, von jener einfachen Zellenſtufe an aufwärts erhebt, indem er fortſchreitet in ſeiner Differenzirung und Vervollkommnung, durchläuft er die— ſelbe Reihe von Umbildungen, welche ſeine thieriſchen Ahnen vor un— denklichen Zeiten, während ungeheurer Zeiträume durchlaufen haben. Schon früher habe ich auf dieſen äußerſt wichtigen Parallelismus der individuellen und Stammesentwickelung hingewieſen (S. 9). Gewiſſe, ſehr frühe und tief ſtehende Entwickelungsſtadien des Menſchen und der höheren Wirbelthiere überhaupt entſprechen durchaus gewiſſen Bil- dungen, welche zeitlebens bei niederen Fiſchen fortdauern. Es folgt dann eine Umbildung des fiſchähnlichen Körpers zu einem amphibien— artigen. Viel ſpäter erſt entwickelt ſich aus dieſem der Säugethier⸗ körper mit ſeinen beſtimmten Charakteren, und man kann hier wie— der in den auf einander folgenden Entwickelungsſtadien eine Reihe von Stufen fortſchreitender Umbildung erkennen, welche offenbar den Verſchiedenheiten verſchiedener Säugethierordnungen und Familien entſprechen. In derſelben Reihenfolge ſehen wir aber auch die Vor— fahren des Menſchen und der höheren Säugethiere in der Erdge— ſchichte nach einander auftreten: zuerſt Fiſche, dann Amphibien, ſpä⸗ ter niedere und zuletzt erſt höhere Säugethiere. Hier iſt alſo die embryonale Entwickelung des Individuums durchaus parallel der pa- läontologiſchen Entwickelung des ganzen zugehörigen Stammes; und dieſe äußerſt intereſſante und wichtige Erſcheinung iſt einzig und allein durch Darwin's Selectionstheorie, durch die Wechſelwirkung der Vererbungs- und Anpaſſungsgeſetze zu erklären. Das zuletzt angeführte Beiſpiel von dem Parallelismus der pa— läontologiſchen und der individuellen Entwickelungsreihe lenkt nun unſere Aufmerkſamkeit noch auf eine dritte Entwickelungsreihe, welche zu dieſen beiden in den innigſten Beziehungen ſteht und denſelben Parallelismus der individuellen und der ſyſtematiſchen Entwickelung. 255 ebenfalls im Ganzen parallel läuft. Das iſt nämlich diejenige Ent- wickelungsreihe von Formen, welche das Unterſuchungsobject der vergleichenden Anatomie iſt, und welche wir kurz die ſyſte— matiſche oder ſpecifiſche Entwickelung nennen wollen. Wir verſtehen darunter die Kette von verſchiedenartigen, aber doch verwandten und zuſammenhängenden Formen, welche zu irgend einer Zeit der Erdgeſchichte, alſo z. B. in der Gegenwart, neben ein— ander exiſtiren. Indem die vergleichende Anatomie die verſchiedenen ausgebildeten Formen der entwickelten Organismen mit einander ver⸗ gleicht, ſucht ſie das gemeinſame Urbild zu erkennen, welches den mannichfaltigen Formen der verwandten Arten, Gattungen, Klaſſen u. ſ. w. zu Grunde liegt, und welches durch deren Differenzirung nur mehr oder minder verſteckt wird. Sie ſucht die Stufenleiter des Fort— ſchritts feſtzuſtellen, welche durch den verſchiedenen Vervollkommnungs⸗ grad der divergenten Zweige des Stammes bedingt iſt. Um bei dem angeführten Beiſpiele zu bleiben, fo zeigt uns die vergleichende Ana— tomie, wie die einzelnen Organe und Organſyſteme des Wirbelthier- ſtammes in den verſchiedenen Klaſſen, Familien, Arten deſſelben ſich ungleichartig entwickelt, differenzirt und vervollkommnet haben. Sie erklärt uns, in welchen Beziehungen die Reihenfolge der Wirbelthier⸗ klaſſen von den Fiſchen aufwärts durch die Amphibien zu den Säuge⸗ thieren, und hier wieder von den niederen zu den höheren Säugethier— ordnungen, eine aufſteigende Stufenleiter bildet. Dieſem Beſtreben, eine zuſammenhängende anatomiſche Entwickelungsreihe herzuſtellen, begegnen Sie in den Arbeiten der großen vergleichenden Anatomen aller Zeiten, in den Arbeiten von Goethes), Meckel, Cuvier, Jo- hannes Müller, Gegenbaur !), Huxley. Die Entwickelungsreihe der ausgebildeten Formen, welche die vergleichende Anatomie in den verſchiedenen Divergenz- und Fort- ſchrittsſtufen des organiſchen Syſtems nachweiſt, und welche wir die ſyſtematiſche Entwickelungsreihe nannten, iſt parallel der paläontolo⸗ giſchen Entwickelungsreihe, weil ſie das anatomiſche Reſultat der letzteren betrachtet, und ſie iſt parallel der individuellen Entwickelungs⸗ 256 Niedere conſervative und höhere progreſſive Gruppen. reihe, weil dieſe ſelbſt wiederum der paläontologiſchen parallel iſt. Wenn zwei Parallelen einer dritten parallel ſind, ſo müſſen ſie auch unter einander parallel ſein. Die mannichfaltige Differenzirung und der ungleiche Grad von Vervollkommnung, welchen die vergleichende Anatomie in der Ent— wickelungsreihe des Syſtems nachweiſt, iſt weſentlich bedingt durch die zunehmende Mannichfaltigkeit der Exiſtenzbedingungen, denen ſich die verſchiedenen Gruppen im Kampf um das Daſein anpaßten, und durch den verſchiedenen Grad von Schnelligkeit und Vollſtändigkeit, mit welchem dieſe Anpaſſung geſchah. Die conſervativen Gruppen, welche die ererbten Eigenthümlichkeiten am zäheſten feſthielten, blieben in Folge deſſen auf der tiefſten und roheſten Entwickelungsſtufe ſtehen. Die am ſchnellſten und vielſeitigſten fortſchreitenden Gruppen, welche ſich den vervollkommneten Exiſtenzbedingungen am bereitwilligſten an— paßten, erreichten ſelbſt den höchſten Vollkommenheitsgrad. Je weiter ſich die organiſche Welt im Laufe der Erdgeſchichte entwickelte, deſto mehr mußte dieſe Divergenz der niederen conſervativen und der hö— heren progreſſiven Gruppen werden, wie das ja eben ſo auch aus der Völkergeſchichte erſichtlich iſt. Hieraus erklärt ſich auch die hiſtori⸗ ſche Thatſache, daß die vollkommenſten Thier- und Pflanzengruppen ſich verhältnißmäßig in kurzer Zeit zu ſehr bedeutender Höhe entwickelt haben, während die niedrigſten, conſervativſten Gruppen durch alle Zeiten hindurch auf der urſprünglichen, roheſten Stufe ſtehen geblieben, oder nur ſehr langſam und allmählich etwas fortgeſchritten ſind. Auch die Ahnenreihe des Menſchen zeigt dies Verhältniß deutlich. Die Haifiſche der Jetztzeit ſtehen den Urfiſchen, welche zu den älteſten Wirbelthierahnen des Menſchen gehören, noch ſehr nahe, ebenſo die heutigen niederſten Amphibien (Kiemenmolche und Salamander) den Amphibien, welche ſich aus jenen zunächſt entwickelten. Und ebenſo ſind unter den ſpäteren Vorfahren des Menſchen die Beutelthiere, die älteſten Säugethiere, zugleich die unvollkommenſten Thiere dieſer Klaſſe, die heute noch leben. Die uns bekannten Geſetze der Verer— bung und Anpaſſung genügen vollſtändig, um dieſe äußerſt wichtige Parallelismus der drei organiſchen Entwickelungsreihen. 257 und intereſſante Erſcheinung zu erklären, die man kurz als den Par— allelismus der individuellen, der paläontologiſchen und der ſyſtematiſchen Entwickelung, des betreffenden Fortſchrittes und der betreffenden Differenzirung bezeichnen kann. Kein Gegner der Deſcendenztheorie iſt im Stande geweſen, für dieſe höchſt wunderbare Thatſache eine Erklärung zu liefern, wäh— rend fie ſich nach der Deſcendenztheorie aus den Geſetzen der Verer— erbung und Anpaſſung vollkommen erklärt. Wenn Sie dieſen Parallelismus der drei organiſchen Entwicke— lungsreihen ſchärfer in's Auge faſſen, ſo müſſen Sie noch folgende nähere Beſtimmung hinzufügen. Die Ontogenie oder die indivi— duelle Entwickelungsgeſchichte jedes Organismus (Embryologie und Metamorphologie) bildet eine einfache, unverzweigte oder leiter— förmige Kette von Formen; und ebenſo derjenige Theil der Phy— logenie, welcher die paläontologiſche Entwickelungsgeſchichte der directen Vorfahren jenes individuellen Organismus enthält. Dagegen bildet die ganze Phylogenie, welche uns in dem na— türlichen Syſtem jedes organiſchen Stammes oder Phylum ent— gegentritt, und welche die paläontologiſche Entwickelung aller Zweige dieſes Stammes unterſucht, eine verzweigte oder baumförmige Entwickelungsreihe, einen wirklichen Stammbaum. Unterſuchen Sie vergleichend die entwickelten Zweige dieſes Stammbaums und ſtellen Sie dieſelben nach dem Grade ihrer Differenzirung und Vervollkomm— nung zuſammen, fo erhalten Sie die baumförmig verzweigte ſyſte— matiſche Entwickelungsreihe der vergleichenden Anatomie. Genau genommen iſt alſo dieſe letztere der ganzen Phylogenie par— allel und kann mithin nur theilweiſe der Ontogenie parallel ſein; denn die Ontogenie ſelbſt iſt nur einem Theile der Phylogenie parallel. i Alle im Vorhergehenden erläuterten Erſcheinungen der organi— ſchen Entwickelung, insbeſondere dieſer dreifache genealogiſche Par— allelismus, und die Differenzirungs- und Fortſchrittsgeſetze, welche in jeder dieſer drei organiſchen Entwickelungsreihen ſichtbar ſind, ſo— Haeckel, Natürliche Schöpfungsgeſchichte. 17 258 Directe und indireete Beweiſe der Deſeendenztheorie. dann die ganze Erſcheinungsreihe der rudimentären Organe, ſind äußerſt wichtige Belege für die Wahrheit der Deſcendenztheorie. Denn ſie ſind nur durch dieſe zu erklären, während die Gegner derſelben auch nicht die Spur einer Erklärung dafür aufbringen können. Ohne die Abſtammungslehre läßt ſich die Thatſache der organiſchen Ent— wickelung überhaupt nicht begreifen. Wir würden daher gezwungen ſein, auf Grund derſelben Lamarck's Deſcendenztheorie anzuneh— men, auch wenn wir nicht Darwin's Züchtungstheorie beſäßen. Die letztere iſt gewiſſermaßen der directe Beweis für die erſtere, während jene großen Thatſachen der organiſchen Entwickelung den indirecten Beweis dafür liefern. Dreizehnter Vortrag. Entwickelungstheorie des Weltalls, der Erde und ihrer erſten Organismen. Urzeugung. Plaſtidentheorie. Entwickelungsgeſchichte der Erde. Feſte Rinde und feuerflüſſiger Kern des Erdballs. Vormaliger geſchmolzener Zuftand des ganzen Erdballs. Kant's Ent- wickelungstheorie des Weltalls oder die kosmologiſche Gastheorie. Entwickelung der Sonnen, Planeten und Monde. Bildung der erſten Erſtarrungskruſte der Erde. Erſte Entſtehung des Waſſers. Vergleichung der Organismen und Anorgane. Or- ganiſche und anorganiſche Stoffe. Verbindungen der Elemente. Dichtigkeitsgrade oder Aggregatzuſtände. Eiweißartige Kohlenſtoffverbindungen. Organiſche und an⸗ organiſche Formen. Kryſtalle und ſtructurloſe Organismen ohne Organe. Stereo⸗ metriſche Grundformen der Kryſtalle und der Organismen. Organiſche und anorga⸗ niſche Kräfte. Lebenskraft. Wachsthum und Anpaſſung bei Kryftallen und bei Or⸗ ganismen. Bildungstriebe der Kryſtalle. Einheit der organiſchen und anorgani⸗ ſchen Natur. Urzeugung oder Archigonie. Autogonie und Plasmogonie. Kritik der Urzeugung. Entſtehung der Moneren durch Urzeugung. Entſtehung der Zellen aus Moneren. Zellentheorie. Plaſtidentheorie. Plaſtiden oder Bildnerinnen. Cytoden und Zellen. Vier verſchiedene Arten von Plaſtiden. Meine Herren! Durch unſere bisherigen Betrachtungen haben wir vorzugsweiſe die Frage zu beantworten verſucht, durch welche Urſachen neue Arten von Thieren und Pflanzen aus beſtehenden Arten hervorge— gangen ſind. Wir haben dieſe Frage nach Darwin's Theorie dahin be— antwortet, daß die natürliche Züchtung im Kampf um's Daſein, d. h. die Wechſelwirkung der Vererbungs- und Anpaſſungsgeſetze völlig genü— 18 * 260 Entſtehung der erſten Organismen. gend iſt, um die unendliche Mannichfaltigkeit der verſchiedenen, ſchein— bar zweckmäßig nach einem Bauplane organiſirten Thiere und Pflan— zen mechaniſch zu erzeugen. Inzwiſchen wird ſich Ihnen ſchon wie— derholt die Frage aufgedrängt haben: Wie entſtanden aber nun die erſten Organismen, oder der eine urſprüngliche Stammorganismus, von welchem wir alle übrigen ableiten? Diefe Frage hat Lamarck 2) durch die Hypotheſe der Urzeu— gung oder Archigonie beantwortet. Darwin dagegen geht über dieſelbe hinweg, indem er ausdrücklich hervorhebt, daß er „Nichts mit dem Urſprung der geiſtigen Grundkräfte, noch mit dem des Lebens ſelbſt zu ſchaffen habe.“ Am Schluſſe ſeines Werkes ſpricht er ſich dar— über beſtimmter in folgenden Worten aus: „Ich nehme an, daß wahrſcheinlich alle organiſchen Weſen, die jemals auf dieſer Erde ge— lebt, von irgend einer Urform abſtammen, welcher das Leben zuerſt vom Schöpfer eingehaucht worden iſt.“ Außerdem beruft ſich Dar— win zur Beruhigung derjenigen, welche in der Deſcendenztheorie den Untergang der ganzen „fittlichen Weltordnung“ erblicken, auf einen berühmten Schriftſteller und Geiſtlichen, welcher ihm geſchrieben hatte: „Er habe allmählich einſehen gelernt, daß es eine ebenſo er— habene Vorſtellung von der Gottheit ſei, zu glauben, daß ſie nur einige wenige der Selbſtentwickelung in andere und nothwendige For— men fähige Urtypen geſchaffen, als daß ſie immer wieder neue Schö— pfungsacte nöthig gehabt habe, um die Lücken auszufüllen, welche durch die Wirkung ihrer eigenen Geſetze entſtanden ſeien.“ Diejenigen, denen der Glaube an eine übernatürliche Schöpfung ein Gemüths— bedürfniß iſt, können ſich bei dieſer Vorſtellung beruhigen. Sie können jenen Glauben mit der Deſcendenztheorie vereinbaren; denn ſie kön— nen in der Erſchaffung eines einzigen urſprünglichen Organismus, der die Fähigkeit beſaß, alle übrigen durch Vererbung und Anpaſſung aus ſich zu entwickeln, wirklich weit mehr Erfindungskraft und Weis— heit des Schöpfers bewundern, als in der unabhängigen Erſchaffung der verſchiedenen Arten. Feſte Rinde und feuerflüſſiger Kern des Erdballs. 261 Wenn wir uns in dieſer Weiſe die Entſtehung der erſten irdiſchen Organismen, von denen alle übrigen abſtammen, durch die zweck— mäßige und planvolle Thätigkeit eines perſönlichen Schöpfers erklären wollten, fo würden wir damit auf eine wiſſenſchaftliche Erkenntniß derſelben verzichten, und aus dem Gebiete der wahren Wiſſenſchaft auf das gänzlich getrennte Gebiet der dichtenden Glaubenſchaft hinüber— treten. Wir würden durch die Annahme eines übernatürlichen Schö— pfungsaktes einen Sprung in das Unbegreifliche thun. Ehe wir uns zu dieſem letzten Schritte entſchließen und damit auf eine wiſſen— ſchaftliche Erkenntniß jenes Vorgangs verzichten, ſind wir jedenfalls zu dem Verſuche verpflichtet, denſelben durch eine mechaniſche Hypo— theſe zu beleuchten. Wir müſſen jedenfalls unterſuchen, ob denn wirk— lich jener Vorgang ſo wunderbar iſt, und ob wir uns keine haltbare Vorſtellung von einer ganz natürlichen Entſtehung jenes erſten Stamm— organismus machen können. Auf das Wunder der Schöpfung wür— den wir dann gänzlich verzichten können. Es wird hierbei nothwendig ſein, zunächſt etwas weiter auszu— holen und die natürliche Schöpfungsgeſchichte der Erde und, noch wei— ter zurückgehend, die natürliche Schöpfungsgeſchichte des ganzen Welt— alls in ihren allgemeinen Grundzügen zu betrachten. Es wird Ihnen Allen wohl bekannt ſein, daß aus dem Bau der Erde, wie wir ihn gegenwärtig kennen, die Vorſtellung abgeleitet und bis jetzt noch nicht widerlegt iſt, daß das Innere unſerer Erde ſich in einem feurigflüſſi— gen Zuſtande befindet, und daß die aus verſchiedenen Schichten zu— ſammengeſetzte feſte Rinde, auf deren Oberfläche die Organismen leben, nur eine ſehr dünne Kruſte oder Schale um den feurigflüſſigen Kern bildet. Zu dieſer Anſchauung ſind wir durch verſchiedene über— einſtimmende Erfahrungen und Schlüſſe gelangt. Zunächſt ſpricht dafür die Erfahrung, daß die Temperatur der Erdrinde nach dem In— neren hin ſtetig zunimmt. Je tiefer wir hinabſteigen, deſto höher ſteigt die Wärme des Erdbodens, und zwar in dem Verhältniß, daß auf jede 100 Fuß Tiefe die Temperatur ungefähr um einen Grad zu— nimmt. In einer Tiefe von 6 Meilen würde demnach bereits eine 262 Vormaliger geſchmolzener Zuſtand des ganzen Erdballs. Hitze von 1500 9 herrſchen, hinreichend, um die meiſten feſten Stoffe unſerer Erdrinde in geſchmolzenem feuerflüſſigem Zuſtande zu er— halten. Dieſe Tiefe iſt aber erſt der 286ſte Theil des ganzen Erddurch— meſſers (1717 Meilen). Wir wiſſen ferner, daß Quellen, die aus beträchtlicher Tiefe hervorkommen, eine ſehr hohe Temperatur beſitzen, und zum Theil ſelbſt das Waſſer im kochenden Zuſtande an die Ober— fläche befördern. Sehr wichtige Zeugen ſind endlich die vulkaniſchen Erſcheinungen, das Hervorbrechen feurigflüſſiger Geſteinsmaſſen durch einzelne berſtende Puncte der Erdrinde hindurch. Alle dieſe Erſchei— nungen führen uns mit großer Sicherheit zu der wichtigen Annahme, daß die feſte Erdrinde nur einen ganz geringen Bruchtheil, noch lange nicht den tauſendſten Theil von dem ganzen Durchmeſſer der Erdkugel bildet, und daß dieſe ſich noch heute größtentheils in geſchmolzenem oder feuerflüſſigem Zuſtande befindet. Wenn wir nun auf Grund dieſer Annahme über die einſtige Ent— wickelungsgeſchichte des Erdballs nachdenken, fo werden wir folge richtig noch einen Schritt weiter geführt, nämlich zu der Annahme, daß in früherer Zeit die ganze Erde ein feurigflüſſiger Körper, und daß die Bildung einer dünnen erſtarrten Rinde auf der Oberfläche dieſes Balls erſt ein fpäterer Vorgang war. Erſt allmählich, durch Aus⸗ ſtrahlung der inneren Gluthhitze an den kalten Weltraum, verdichtete ſich die Oberfläche des glühenden Erdballs zu einer dünnen Rinde. Daß die Temperatur der Erde früher allgemein eine viel höhere war, wird durch viele Erſcheinungen bezeugt. Unter Anderen ſpricht dafür die gleichmäßige Vertheilung der Organismen in früheren Zeiten der Erdgeſchichte. Während bekanntlich jetzt den verſchiedenen Erdzonen und ihren mittleren Temperaturen verſchiedene Bevölkerungen von Thieren und Pflanzen entſprechen, war dies früher entſchieden nicht der Fall, und wir ſehen aus der Vertheilung der Verſteinerungen in den älteren Zeiträumen, daß erſt ſehr ſpät, in einer verhältnißmäßig neuen Zeit der organiſchen Erdgeſchichte (im Beginn der ſogenannten ceno= lithiſchen oder Tertiärzeit), eine Sonderung der Zonen und dem ent— ſprechend auch ihrer organiſchen Bevölkerung ſtattfand. Während Kant's Entwickelungstheorie des Weltalls. 263 der ungeheuer langen Primär- und Secundärzeit lebten tropiſche Pflan— zen, welche einen ſehr hohen Temperaturgrad bedürfen, nicht allein in der heutigen heißen Zone unter dem Aequator, ſondern auch in der heutigen gemäßigten und kalten Zone. Auch viele andere Erſcheinun— gen haben eine allmähliche Abnahme der Temperatur des Erdkörpers im Ganzen, und insbeſondere eine erſt ſpät eingetretene Abkühlung der Erdrinde von den Polen her kennen gelehrt. In ſeinen ausge— zeichneten „Unterſuchungen über die Entwickelungsgeſetze der organi— ſchen Welt“ hat der vortreffliche Bronn 1) die zahlreichen geologi— ſchen und paläontologiſchen Beweiſe dafür zuſammengeſtellt. Auf dieſe Erſcheinungen einerſeits und auf die mathematiſch-aſtro— nomiſchen Erkenntniſſe vom Bau des Weltgebäudes andrerſeits gründet ſich nun die Theorie, daß die ganze Erde vor undenklicher Zeit, lange vor der erſten Entſtehung von Organismen auf derſelben, ein feuer- flüſſiger Ball war. Dieſe Theorie aber ſteht wiederum in Uebereinſtim— mung mit der bewunderungswürdigen Theorie von der Entſtehung des Weltgebäudes und ſpeciell unſeres Planetenſyſtems, welche auf Grund von mathematiſchen und aſtronomiſchen Thatſachen 1755 unſer kritiſcher Philoſoph Kant 22) aufſtellte, und welche ſpäter die berühm- ten Mathematiker Laplace und Herſchel ausführlicher begründeten. Dieſe Kosmogenie oder Entwickelungstheorie des Weltalls ſteht noch heute in faſt allgemeiner Geltung; ſie iſt durch keine beſſere erſetzt worden, und Mathematiker, Aſtronomen und Geologen erſten Ranges haben dieſelbe durch mannichfaltige Beweiſe immer feſter unterſtützt. Wir müſſen fie daher, gleich der Lamarck-Darwin'ſchen Theorie, ſo lange annehmen, bis ſie durch eine beſſere erſetzt wird. Die Kosmogenie Kant's behauptet, daß das ganze Weltall in unvordenklichen Zeiten ein gasförmiges Chaos bil— dete. Alle Materien, welche auf der Erde und anderen Weltkörpern gegenwärtig in verſchiedenen Dichtigkeitszuſtänden, in feſtem, feſt⸗ flüſſigem, tropfbarflüſſigem und elaſtiſch flüſſigem oder gasförmigem Aggregatzuſtande ſich geſondert finden, bildeten urſprünglich zuſam⸗ men eine einzige gleichartige, den Weltraum gleichmäßig erfüllende 264 Entwickelung der Sonnen, Planeten und Monde. Maſſe, welche in Folge eines außerordentlich hohen Temperaturgra— des in gasförmigem oder luftförmigem, äußerſt dünnem Zuſtande ſich befand. Die Millionen von Weltkörpern, welche gegenwärtig auf die verſchiedenen Sonnenſyſteme vertheilt ſind, exiſtirten damals noch nicht. Sie entſtanden erſt in Folge einer allgemeinen Drehbewegung oder Rotation, bei welcher ſich eine Anzahl von feſteren Maſſengrup— pen mehr als die übrige gasförmige Maſſe verdichteten, und nun auf letztere als Anziehungsmittelpuncte wirkten. So entſtand eine Schei— dung des chaotiſchen Urnebels oder Weltgaſes in eine Anzahl von rotirenden Nebelbällen, welche ſich mehr und mehr verdichteten. Auch unſer Sonnenſyſtem war ein ſolcher rieſiger gasförmiger Luftball, deſſen Theilchen ſich ſämmtlich um einen gemeinſamen Mittelpunct, den Sonnenkern, herumdrehten. Der Nebelball ſelbſt nahm durch die Rotationsbewegung, gleich allen übrigen, eine Sphäroidform oder abgeplattete Kugelgeſtalt an. Während die Centripetalkraft die rotirenden Theilchen immer näher an den feſten Mittelpunkt des Nebelballs heranzog, und ſo dieſen mehr und mehr verdichtete, war umgekehrt die Centrifugalkraft be— ſtrebt, die peripheriſchen Theilchen immer weiter von jenem zu entfer— nen und ſie abzuſchleudern. An dem Aequatorialrande der an beiden Polen abgeplatteten Kugel war dieſe Centrifugalkraft am ſtärkſten, und ſobald ſie bei weiter gehender Verdichtung das Uebergewicht über die Centripetalkraft erlangte, löſte ſich hier eine ringförmige Nebelmaſſe von dem rotirenden Balle ab. Dieſe Nebelringe zeichneten die Bah— nen der zukünftigen Planeten vor. Allmählich verdichtete ſich die Nebelmaſſe des Ringes zu einem Planeten, der ſich um ſeine eigene Axe drehte und zugleich um den Centralkörper rotirte. In ganz gleicher Weiſe aber wurden von dem Aequator der Planetenmaſſe, ſobald die Centrifugalkraft wieder das Uebergewicht über die Centripetalkraft ge— wann, neue Nebelringe abgeſchleudert, welche in gleicher Weiſe um die Planeten, wie dieſe um die Sonne ſich bewegten. Auch dieſe Ne— belringe verdichteten ſich wieder zu rotirenden Bällen. So entſtanden die Monde, von denen nur einer um die Erde, aber vier um den Jupi— Die kosmologiſche Gastheorie und die biologiſche Plasmatheorie. 265 ter, ſechs um den Uranus ſich bewegen. Der Ring des Saturnus ſtellt uns noch heute einen Mond auf jenem früheren Entwickelungsſta— dium dar. Indem bei immer weiter ſchreitender Abkühlung ſich dieſe einfachen Vorgänge der Verdichtung und Abſchleuderung vielfach wie— derholten, entſtanden die verſchiedenen Sonnenſyſteme, die Planeten, welche ſich rotirend um ihre centrale Sonne, und die Trabanten oder Monde, welche ſich drehend um ihren Planeten bewegten. Der anfängliche gasförmige Zuſtand der rotirenden Weltkörper ging allmählich durch fortſchreitende Abkühlung und Verdichtung in den feurigflüſſigen oder geſchmolzenen Aggregatzuſtand über. Durch den Verdichtungsvorgang ſelbſt wurden große Mengen von Wärme frei, und ſo geſtalteten ſich die rotirenden Sonnen, Planeten und Monde bald zu glühenden Feuerbällen, gleich rieſigen geſchmolzenen Metalltropfen, welche Licht und Wärme ausſtrahlten. Durch den damit verbundenen Wärmeverluſt verdichtete ſich wiederum die ge— ſchmolzene Maſſe an der Oberfläche der feuerflüſſigen Bälle und ſo entſtand eine dünne feſte Rinde, welche einen feurigflüſſigen Kern um— ſchloß. In allen dieſen Beziehungen wird ſich unſere mütterliche Erde nicht weſentlich verſchieden von den übrigen Weltkörpern verhalten haben. Gleich allen anderen großen Hypotheſen und Theorien, welche die Wiſſenſchaft gefördert und den Geſichtskreis der menſchlichen Er— kenntniß erweitert haben, zeichnet ſich auch Kant's Kosmogenie, welche man die kosmologiſche Gastheorie nennen könnte, durch große Einfachheit aus. Die einfachen Vorgänge der Verdich— tung rotirender Maſſen und der Hüllenbild ung an ihrer erſtarren— den Oberfläche führen zur Bildung der geformten Weltkörper. Wir werden dadurch lebhaft an die biologiſche Plasmatheorie erinnert. Das Plasma oder Protoplasma der neueren Biologie, der „Urſchleim“ der älteren Naturphiloſophie, jene feſtflüſſige, eiweiß— artige Kohlenſtoffverbindung, aus welcher alles Leben hervorgegangen iſt, bewirkte die erſte Entwickelung deſſelben auch weſentlich durch die beiden Vorgänge der Verdichtung und Hüllenbildung. Die 266 Formbildung durch Verdichtung und Hüllenbildung. gleichartige feſtflüſſige Plasmaſubſtanz, welche einzig und allein den Körper der erſten Organismen bildete, und ihn bei den Moneren (S. 142) noch heute ganz allein bildet, iſt vergleichbar der zähflüſſigen Planetenſubſtanz, welche alle verſchiedenen Elemente oder Grundſtoffe der jugendlichen Erde, wie der übrigen glühenden Weltkörper noch ungeſondert enthielt. Durch Verdichtung entſtanden an beſtimmten Stellen in dem Urmeere, welches die dazu erforderlichen Stoffe gelöſt enthielt, die erſten Moneren. Späterhin bildeten ſich durch centrale Verdichtung in dem homogenen Plasmakörper dieſer Urorganismen die erſten Kerne (Nuclei), und durch dieſen Gegenſatz von Plasma und Kern entſtanden die erſten wirklichen Zellen. Aber dieſe Zellen waren noch nackte und hüllenloſe, kernhaltige Plasmaklumpen. In- dem ſich die Oberfläche dieſer feſtflüſſigen Eiweißklumpen wieder⸗ um verdichtete, entſtand eine umſchließende Membran, und fomit durch Hüllenbildung die feſte äußere Rinde, welche in dem Leben vieler Zellen eine hervorragende Rolle ſpielt. Der Makrokosmos der Planeten und der Mikrokosmos der Zellen nahm in gleicher Weiſe den Ausgangspunkt ſeiner individuellen Entwickelung von den beiden wichtigen Vorgängen der Verdichtung und der Hüllenbildung. In beiden Fällen geſchah die „Schöpfung“ der Form nicht durch den launenhaften Einfall eines perſönlichen Schöpfers, ſondern durch die ureigene Kraft der ſich ſelbſt geſtaltenden Materie. Anziehung und Abſtoßung, Centripetalkraft und Centrifugalkraft, Verdichtung und Verdünnung der materiellen Theilchen ſind die einzigen Schöpferkräfte, welche hier die einfachen Fundamente des verwickelten Schöpfungs— baues legten. Für den Zweck dieſer Vorträge hat es weiter kein beſonderes In— tereſſe, die „natürliche Schöpfungsgeſchichte des Weltalls“ mit ſeinen verſchiedenen Sonnenſyſtemen und Planetenſyſtemen im Ein— zelnen zu verfolgen und durch alle verſchiedenen aſtronomiſchen und geo— logiſchen Beweismittel mathematiſch zu begründen. Ich begnüge mich daher mit den eben angeführten Grundzügen derſelben und verweiſe Sie bezüglich des Näheren auf Kant's klaſſiſche „Allgemeine Naturgeſchichte Kant’ kosmologiſche und Lamarck's biologiſche Theorie. 267 und Theorie des Himmels.“ 22) Nur die Bemerkung will ich noch aus— drücklich hinzufügen, daß dieſe höchſt bewunderungswürdige Theorie mit allen uns bis jetzt bekannten allgemeinen Erſcheinungsreihen im beſten Einklang, und mit keiner einzigen derſelben in unvereinbarem Wider— ſpruch ſteht. Ferner iſt dieſelbe rein mechaniſch oder moniſtiſch, nimmt ausſchließlich die ureigenen Kräfte der ewigen Materie für ſich in An— ſpruch, und ſchließt jeden übernatürlichen Vorgang, jede zweckmäßige und bewußte Thätigkeit eines perſönlichen Schöpfers vollſtändig aus. Kant's kosmologiſche Gastheorie nimmt daher in der Anorgano— logie, und insbeſondere in der Geologie eine ähnliche herrſchende Stellung ein, und krönt in ähnlicher Weiſe unſere Geſammterkenntniß, wie Lamarck's biologiſche Deſcendenztheorie in der ganzen Biolo— gie, und namentlich in der Anthropologie. Beide ſtützen ſich aus— ſchließlich auf mechaniſche oder bewußtloſe Urſachen (Causae efficien- tes), nirgends auf zweckthätige oder bewußte Urſachen (Causae finales). (Vergl. oben S. 80 — 83). Beide erfüllen ſomit alle Anforderun— gen einer wiſſenſchaftlichen Theorie und werden daher in allgemeiner Geltung bleiben, bis ſie durch eine beſſere erſetzt werden. Neuer— dings ſind mehrfache Verſuche gemacht worden, Kant's Kosmogenie durch eine andere zu verdrängen; indeſſen ſind dieſe Verſuche bis jetzt ſo unbefriedigend und mangelhaft, daß ſie nicht beanſpruchen können, an deren Stelle zu treten. Nach dieſem allgemeinen Blick auf die moniſtiſche Kosmogente oder die natürliche Entwickelungsgeſchichte des Weltalls laſſen Sie uns zu einem winzigen Bruchtheil deſſelben zurückkehren, zu unſerer mütterlichen Erde, welche wir im Zuſtande einer feurigflüſſigen, an beiden Polen abgeplatteten Kugel verlaſſen haben, deren Oberfläche ſich durch Abkühlung zu einer ganz dünnen feſten Rinde verdichtet hatte. Die erſte Erſtarrungskruſte wird die ganze Oberfläche des Erdſphäroids als eine zuſammenhängende, glatte, dünne Schale gleichmäßig überzogen haben. Bald aber wurde dieſelbe uneben und höckerig. Indem nämlich bei fortſchreitender Abkühlung der feuerflüſ— ſige Kern ſich mehr und mehr verdichtete und zuſammenzog, und fo 268 Erſte Entſtehung der Berge und des Waſſers. der ganze Erddurchmeſſer ſich verkleinerte, mußte die dünne ſtarre Rinde, welche der weicheren Kernmaſſe nicht nachfolgen konnte, über derſelben vielfach zuſammenbrechen. Es würde zwiſchen beiden ein leerer Raum entſtanden ſein, wenn nicht der äußere Atmoſphärendruck die zerbrechliche Rinde nach innen hinein gedrückt hätte. Andere Un- ebenheiten entftanden wahrſcheinlich dadurch, daß an verſchiedenen Stellen die ſoeben erſtarrte und abgekühlte Rinde ſelbſt ſich zuſam— menzog und Sprünge oder Riſſe bekam. Der feurigflüſſige Kern quoll von Neuem durch dieſe Sprünge hervor und erſtarrte abermals. So entſtanden ſchon frühzeitig mancherlei Erhöhungen und Vertiefun— gen, welche die erſten Grundlagen der Berge und der Thäler wurden. Nachdem die Temperatur des abgekühlten Erdballs bis auf einen gewiſſen Grad geſunken war, erfolgte ein ſehr wichtiger neuer Vorgang, nämlich die erſte Entſtehung des Waſſers. Das Waſſer war bisher nur in Dampfform in der den Erdball umgebenden Atmoſphäre vorhanden geweſen. Offenbar konnte das Waſſer ſich erſt zu tropfbarflüſſigem Zuſtande verdichten, nachdem die Temperatur der Athmoſphäre bedeutend geſunken war. Nun begann die weitere Umbildung der Erdrinde durch die Kraft des Waſſers. Indem daſſelbe beſtändig in Form von Regen niederfiel, hierbei die Erhöhungen der Erdrinde abſpülte, die Vertiefungen durch den abgeſpülten Schlamm ausfüllte, und dieſen ſchichtenweiſe ablagerte, bewirkte es die außer— ordentlich wichtigen neptuniſchen Umbildungen der Erdrinde, welche ſeitdem ununterbrochen fortdauerten, und auf welche wir im nächſten Vortrage noch einen näheren Blick werfen werden (Vergl. oben S. 48). Erſt nachdem die Erdrinde ſo weit abgekühlt war, daß das Waſſer ſich zu tropfbarer Form verdichtet hatte, erſt als die bis da— hin trockene Erdkruſte zum erſten Male von flüſſigem Waſſer bedeckt wurde, konnte die Entſtehung der erſten Organismen erfolgen. Denn alle Thiere und alle Pflanzen, alle Organismen überhaupt beſtehen zum großen Theile oder zum größten Theile aus tropfbarflüſſigem Waſſer, welches mit anderen Materien in eigenthümlicher Weiſe ſich verbindet, und dieſe in den feſtflüſſigen Aggregatzuſtand verſetzt. Wir Urzeugung. Vergleichung der Organismen und Anorgane. 269 können alſo aus dieſen allgemeinen Grundzügen der anorganiſchen Erdgeſchichte zunächſt die wichtige Thatſache folgern, daß zu irgend einer beſtimmten Zeit das Leben auf der Erde ſeinen Anfang hatte, daß die irdiſchen Organismen nicht von jeher exiſtirten, ſondern in irgend einem beſtimmten Zeitpunkte zum erſten Mal entſtanden. Wie haben wir uns nun dieſe Entſtehung der erſten Organismen zu denken? Hier ift derjenige Punkt, an welchem die meiſten Natur— forſcher noch heutzutage geneigt ſind, den Verſuch einer natürlichen Erklärung aufzugeben, und zu dem Wunder einer unbegreiflichen Schöpfung zu flüchten. Mit dieſem Schritt treten ſie, wie ſchon vor— her bemerkt wurde, außerhalb des Gebiets der naturwiſſenſchaftlichen Erkenntniß und verzichten auf jede wahre Einſicht in den nothwendigen Zuſammenhang der Naturgeſchichte. Ehe wir muthlos dieſen letzten Schritt thun, ehe wir an der Möglichkeit jeder Erkenntniß dieſes wich— tigen Vorgangs verzweifeln, wollen wir wenigſtens einen Verſuch machen, denſelben zu begreifen. Laſſen Sie uns ſehen, ob denn wirklich die Entſtehung eines erſten Organismus aus anorganiſchem Stoffe, die Entſtehung eines lebendigen Körpers aus lebloſer Materie etwas ganz Undenkbares, außerhalb aller bekannten Erfahrung Ste— hendes ſei. Laſſen Sie uns mit einem Worte die Frage von der Ur- zeugung oder Archigonie unterſuchen. Vor Allem iſt hierbei erforderlich, ſich die hauptſächlichſten Eigenſchaften der beiden Haupt— gruppen von Naturkörpern, der ſogenannten lebloſen oder anorgani— ſchen und der belebten oder organiſchen Körper klar zu machen, und das Gemeinſame einerſeits, das Unterſcheidende beider Gruppen andrerſeits feſtzuſtellen. Auf dieſe Vergleichung der Orga— nismen und Anorgane müſſen wir hier um ſo mehr eingehen, als ſie gewöhnlich ſehr vernachläſſigt wird, und als ſie doch zu einem richtigen, einheitlichen oder moniſtiſchen Verſtändniß der Geſammt— natur ganz nothwendig iſt. Am zweckmäßigſten wird es hierbei ſein, die drei Grundeigenſchaften jedes Naturkörpers, Stoff, Form und Kraft, geſondert zu betrachten. Beginnen wir zunächſt mit dem Stoff. (Gen. Morph. II, 111.) 270 Grundſtoffe und Verbindungen der Organismen und Anorgane. Durch die Chemie ſind wir dahin gelangt, ſämmtliche uns be— kannte Körper zu zerlegen in eine geringe Anzahl von Elementen oder Grundſtoffen, nicht weiter zerlegbaren Körpern, z. B. Kohlenſtoff, Sauerſtoff, Stickſtoff, Schwefel, ferner die verſchiedenen Metalle Kalium, Natrium, Eiſen, Gold u. ſ. w. Man zählt jetzt gegen ſieb— zig ſolcher Elemente oder Grundſtoffe. Die Mehrzahl derſelben iſt ziemlich unwichtig und ſelten; nur die Minderzahl iſt allgemeiner ver- breitet und ſetzt nicht allein die meiften Anorgane, ſondern auch ſämmt— liche Organismen zuſammen. Vergleichen wir nun diejenigen Ele— mente, welche den Körper der Organismen aufbauen, mit denjenigen, welche in den Anorganen ſich finden, ſo haben wir zunächſt die höchſt wichtige Thatſache hervorzuheben, daß im Thier- und Pflanzenkörper kein Grundſtoff vorkommt, der nicht auch außerhalb deſſelben in der lebloſen Natur zu finden wäre. Es giebt keine beſonderen organiſchen Elemente oder Grundſtoffe. Die chemiſchen und phyſikaliſchen Unterſchiede, welche zwiſchen den Organismen und den Anorganen eriftiven, haben alſo ihren ma= teriellen Grund nicht in einer verſchiedenen Natur der ſie zuſammen— ſetzenden Grundſtoffe, ſondern in der verſchiedenen Art und Weiſe, in welcher die letzteren zu chemiſchen Verbindungen zu— ſammengeſetzt ſind. Dieſe verſchiedene Verbindungsweiſe bedingt zu— nächſt gewiſſe phyſikaliſche Eigenthümlichkeiten, insbeſondere in der Dichtigkeit der Materie, welche auf den erſten Blick eine tiefe Kluft zwiſchen beiden Körpergruppen zu begründen ſcheinen. Die geformten anorganiſchen oder lebloſen Naturkörper, die Kryſtalle und die amorphen Geſteine, befinden ſich in einem Dichtigkeitszuſtande, den wir den feſten nennen, und den wir entgegenſetzen dem tropfbar- flüſſigen Dichtigkeitszuſtande des Waſſers und dem gasförmigen Dichtigkeitszuſtande der Luft. Es iſt Ihnen bekannt, daß dieſe drei verſchiedenen Dichtigkeitsgrade oder Aggregatzuſtände der Anorgane durchaus nicht den verſchiedenen Elementen eigenthümlich, ſondern die Folgen eines beſtimmten Temperaturgrades ſind. Jeder anor⸗ ganiſche feſte Körper kann durch Erhöhung der Temperatur zunächſt Dichtigkeitszuſtände der Organismen und Anorgane. 271 in den tropfbarflüſſigen oder geſchmolzenen, und durch weitere Er— hitzung in den gasförmigen oder elaſtiſchflüſſigen Zuſtand verſetzt werden. Ebenſo kann jeder gasförmige Körper durch gehörige Er— niedrigung der Temperatur zunächſt in den tropfbarflüſſigen und wei— terhin in den feſten Dichtigkeitszuſtand gebracht werden. Im Gegenſatze zu dieſen drei Dichtigkeitszuſtänden der Anorgane befindet ſich der lebendige Körper aller Organismen, Thiere ſowohl als Pflanzen, in einem ganz eigenthümlichen, vierten Aggregatzu— ſtande. Dieſer iſt weder feſt, wie Geſtein, noch tropfbarflüſſig, wie Waſſer; vielmehr hält er zwiſchen dieſen beiden Zuſtänden die Mitte, und kann daher als der feſtflüſſige oder gequollene Aggregatzuſtand bezeichnet werden. In allen lebenden Körpern ohne Ausnahme iſt eine gewiſſe Menge Waſſer mit feſter Materie in ganz eigenthümlicher Art und Weiſe verbunden, und eben durch dieſe charakteriſtiſche Ver— bindung des Waſſers mit der organiſchen Materie entſteht jener weiche, weder feſte noch flüſſige, Aggregatzuſtand, welcher für die mechani— ſche Erklärung der Lebenserſcheinungen von der größten Bedeutung iſt. Die Urſache deſſelben liegt weſentlich in den phyſikaliſchen und chemiſchen Eigenſchaften eines einzigen unzerlegbaren Grundſtoffs, des Kohlenſtoffs. Von allen Elementen iſt der Kohlenſtoff für uns bei weitem das wichtigſte und intereſſanteſte, weil bei allen uns bekannten Thier- und Pflanzenkörpern dieſer Grundſtoff die größte Rolle ſpielt. Er iſt das— jenige Element, welches durch ſeine eigenthümliche Neigung zur Bil⸗ dung verwickelter Verbindungen mit den andern Elementen die größte Mannichfaltigkeit in der chemiſchen Zuſammenſetzung, und daher auch in den Formen und Lebenseigenſchaften der Thier- und Pflanzen- körper hervorruft. Der Kohlenſtoff zeichnet ſich ganz beſonders da— durch aus, daß er ſich mit den andern Elementen in unendlich man— nichfaltigen Zahlen- und Gewichtsverhältniſſen verbinden kann. Es entſtehen zunächſt durch Verbindung des Kohlenſtoffs mit drei andern Elementen, dem Sauerſtoff, Waſſerſtoff und Stickſtoff (zu denen ſich meiſt auch noch Schwefel und häufig Phosphor geſellt), jene äußerſt 373 Bedeutung der eiweißartigen Kohlenſtoffverbindungen. wichtigen Verbindungen, welche wir als das erſte und unentbehrlichſte Subſtrat aller Lebenserſcheinungen kennen gelernt haben, die eiweiß— artigen Verbindungen oder Albuminkörper (Proteinſtoffe). Schon früher (S. 142) haben wir in den Moneren Organismen der aller— einfachſten Art kennen gelernt, deren ganzer Körper in vollkommen ausgebildetem Zuſtande aus weiter Nichts beſteht, als aus einem feſt— flüſſigen eiweißartigen Klümpchen, Organismen, welche für die Lehre von der erſten Entſtehung des Lebens von der allergrößten Bedeutung ſind. Aber auch die meiſten übrigen Organismen ſind zu einer ge— wiſſen Zeit ihrer Exiſtenz, wenigſtens in der erſten Zeit ihres Lebens, als Eizellen oder Keimzellen, im Weſentlichen weiter Nichts als ein— fache Klümpchen eines ſolchen eiweißartigen Bildungsſtoffes, des Plasma oder Protoplasma. Sie find dann von den Moneren nur dadurch verſchieden, daß im Inneren des eiweißartigen Körper— chens ſich der Zellenkern (Nucleus) von dem umgebenden Zellſtoff (Protoplasma) geſondert hat. Wie wir ſchon früher zeigten, ſind Zellen von ganz einfacher Beſchaffenheit die Staatsbürger, welche durch ihr Zuſammenwirken und ihre Sonderung den Körper auch der vollkommenſten Organismen, einen republikaniſchen Zellenſtaat, aufbauen (S. 246). Die entwickelten Formen und Lebenserſchei— nungen des letzteren werden lediglich durch die Thätigkeit jener eiweiß⸗ artigen Körperchen zu Stande gebracht. Es darf als einer der größten Triumphe der neueren Biologie, insbeſondere der Gewebelehre angeſehen werden, daß wir jetzt im Stande ſind, das Wunder der Lebenserſcheinungen auf dieſe Stoffe zurückzuführen, daß wir die unendlich mannichfaltigen und verwickelten phyſikaliſchen und chemiſchen Eigen— ſchaften der Eiweißkörper als die eigentliche Urſache der organiſchen oder Lebenserſcheinungen nachgewieſen haben. Alle verſchiedenen Formen der Organismen ſind zunächſt und unmittelbar das Reſultat der Zuſammenſetzung aus verſchiedenen Formen von Zellen. Die unendlich mannichfaltigen Verſchiedenheiten in der Form, Größe und Zuſammenſetzung der Zellen ſind aber erſt Lebenserſcheinungen und Formbildung der Organismen und Anorgane. 273 allmählich durch die Arbeitstheilung und Vervollkommnung der ein— fachen gleichartigen Plasmaklümpchen entſtanden, welche urſprüng— lich allein den Zellenleib bildeten. Daraus folgt mit Nothwendigkeit, daß auch die Grunderſcheinungen des organiſchen Lebens, Ernährung und Fortpflanzung, ebenſo in ihren höchſt zuſammengeſetzten wie in ihren einfachſten Aeußerungen, auf die materielle Beſchaffenheit jenes eiweißartigen Bildungsſtoffes, des Plasma, zurückzuführen ſind. Aus jenen beiden haben ſich die übrigen Lebensthätigkeiten erſt allmählich hervorgebildet. So hat denn gegenwärtig die allgemeine Erklärung des Lebens für uns nicht mehr Schwierigkeit als die Erklärung der phyſikaliſchen Eigenſchaften der anorganiſchen Körper. Alle Lebens— erſcheinungen und Geſtaltungsproceſſe der Organismen ſind ebenſo unmittelbar durch die chemiſche Zuſammenſetzung und den phyſikali— ſchen Zuſtand der organiſchen Materie bedingt, wie die Lebenser— ſcheinungen der anorganiſchen Kryſtalle, d. h. die Vorgänge ihres Wachsthums und ihrer ſpecifiſchen Formbildung, die unmittelbaren Folgen ihrer chemiſchen Zuſammenſetzung und ihres phyſikaliſchen Zu— ſtandes ſind. Die letzten Urſachen bleiben uns freilich in beiden Fällen gleich verborgen. Wenn Gold und Kupfer im teſſeralen, Wis— muth und Antimon im hexagonalen, Jod und Schwefel im rhombi- ſchen Kryſtallſyſtem kryſtalliſiren, ſo iſt uns dies im Grunde nicht mehr und nicht weniger räthſelhaft, als jeder elementare Vorgang der organiſchen Formbildung, jede Selbſtgeſtaltung der organiſchen Zelle. Auch in dieſer Beziehung können wir gegenwärtig den fundamentalen Unterſchied zwiſchen Organismen und anorganiſchen Körpern nicht mehr feſthalten, von welchem man früher allgemein überzeugt war. Betrachten wir zweitens die Uebereinſtimmungen und Unterſchiede, welche die Formbildung der organiſchen und anorganiſchen Na— turkörper uns darbietet (Gen. Morph. I, 130). Als Hauptunter⸗ ſchied in dieſer Beziehung ſah man früher die einfache Structur der letzteren, den zuſammengeſetzten Bau der erſteren an. Der Körper aller Organismen ſollte aus ungleichartigen oder heterogenen Theilen zuſammengeſetzt ſein, aus Werkzeugen oder Organen, welche zum Haeckel, Natürliche Schöpfungsgeſchichte. 18 274 Structur und Form der Organismen und Anorgane. Zweck des Lebens zuſammenwirken. Dagegen ſollten auch die voll— kommenſten Anorgane, die Kryſtalle, durch und durch aus gleich— artiger oder homogener Materie beſtehen. Dieſer Unterſchied erſcheint ſehr weſentlich. Allein er verliert alle Bedeutung dadurch, daß wir in den letzten Jahren die höchſt merkwürdigen und wichtigen Moneren kennen gelernt haben 15). (Vergl. oben S. 142— 144). Der ganze Körper dieſer einfachſten von allen Organismen, ein feſtflüſſiges, form⸗ loſes und ſtructurloſes Eiweißklümpchen, beſteht in der That nur aus einer einzigen chemiſchen Verbindung, und iſt ebenſo vollkommen einfach in ſeiner Structur, wie jeder Kryſtall, der aus einer einzigen anorganiſchen Verbindung, z. B. einem Metallſalze, oder aus einem einzigen Elemente, z. B. Schwefel oder Blei beſteht. Ebenſo wie in der inneren Structur oder Zuſammenſetzung, hat man auch in der äußeren Form durchgreifende Unterſchiede zwiſchen den Organismen und Anorganen finden wollen, insbeſondere in der mathematiſch beſtimmbaren Kryſtallform der letzteren. Allerdings iſt die Kryſtalliſation vorzugsweiſe eine Eigenſchaft der ſogenannten An— organe. Die Kryſtalle werden begrenzt von ebenen Flächen, welche in geraden Linien und unter beſtimmten meßbaren Winkeln zuſammen— ſtoßen. Die Thier- und Pflanzengeſtalt dagegen ſcheint auf den erſten Blick keine derartige geometriſche Beſtimmung zuzulaſſen. Sie iſt meiſtens von gebogenen Flächen und krummen Linien begrenzt, welche unter veränderlichen Winkeln zuſammenſtoßen. Allein wir haben in neuerer Zeit in den Radiolarien 23) und in vielen anderen Protiſten eine große Anzahl von niederen Organismen kennen gelernt, bei denen der Körper in gleicher Weiſe, wie bei den Kryſtallen, auf eine mathematiſch beſtimmbare Grundform ſich zurückführen läßt, bei denen die Geſtalt im Ganzen wie im Einzelnen durch geometriſch be— ſtimmbare Flächen, Kanten und Winkel begrenzt wird. In meiner all⸗ gemeinen Grundformenlehre oder Promorphologie habe ich hierfür die ausführlichen Beweiſe geliefert, und zugleich ein allge— meines Formenſyſtem aufgeſtellt, deſſen ideale ſtereometriſche Grund- formen ebenſo gut die realen Formen der anorganiſchen Kryſtalle wie Bewegungserſcheinungen der Organismen und Anorgane. 275 der organiſchen Individuen erklären (Gen. Morph. II, 375 — 574). Außerdem giebt es übrigens auch vollkommen amorphe Organismen, wie die Moneren, Amöben u. ſ. w., welche jeden Augenblick ihre Ge— ſtalt wechſeln, und bei denen man ebenſo wenig eine beſtimmte Grund— form nachweiſen kann, als es bei den formloſen oder amorphen An— organen, bei den nicht kryſtalliſirten Geſteinen, Niederſchlägen u. ſ. w. der Fall iſt. Wir ſind alſo nicht im Stande, irgend einen principi— ellen Unterſchied in der äußeren Form oder in der inneren Structur der Anorgane und Organismen aufzufinden. Wenden wir uns drittens an die Kräfte oder an die Bewe— gung serſcheinungen dieſer beiden verſchiedenen Körpergruppen (Gen. Morph. I, 140). Hier ſtoßen wir auf die größten Schwierig- keiten. Die Lebenserſcheinungen, wie ſie die meiſten Menſchen nur von hoch ausgebildeten Organismen, von vollkommneren Thieren und Pflanzen kennen, erſcheinen ſo räthſelhaft, ſo wunderbar, ſo eigen— thümlich, daß die Meiſten der beſtimmten Anſicht ſind, in der anor— ganiſchen Natur komme gar nichts Aehnliches oder nur entfernt damit Vergleichbares vor. Man nennt ja eben deshalb die Organismen belebte und die Anorgane lebloſe Naturkörper. Daher erhielt ſich bis in unſer Jahrhundert hinein, ſelbſt in der Wiſſenſchaft, die ſich mit der Erforſchung der Lebenserſcheinungen beſchäftigt, in der Phyſiolo— gie, die irrthümliche Anſicht, daß die phyſikaliſchen und chemiſchen Eigenſchaften der Materie nicht zur Erklärung der Lebenserſcheinungen ausreichten. Heutzutage, namentlich ſeit dem letzten Jahrzehnt, darf dieſe Anſicht als völlig überwunden angeſehen werden. In der Phy- ſiologie wenigſtens hat fie nirgends mehr eine Stätte. Es fällt heut: zutage keinem Phyſiologen mehr ein, irgend welche Lebenserſcheinun— gen als das Reſultat einer wunderbaren Lebenskraft aufzufaſſen, einer beſonderen zweckmäßig thätigen Kraft, welche außerhalb der Ma— terie ſteht, und welche die phyſikaliſch-chemiſchen Kräfte gewiſſermaßen nur in ihren Dienſt nimmt. Die heutige Phyſiologie iſt zu der ſtreng moniſtiſchen Ueberzeugung gelangt, daß ſämmtliche Lebenserſcheinun— gen, und vor allen die beiden Grunderſcheinungen der Ernährung 18 * 276 Kohlenſtoffverbindungen als Urſachen der Lebenskraft. und Fortpflanzung, rein phyſikaliſch-chemiſche Vorgänge, und ebenſo unmittelbar von der materiellen Beſchaffenheit des Organismus ab- hängig ſind, wie alle phyſikaliſchen und chemiſchen Eigenſchaften oder Kräfte eines jeden Kryſtalles lediglich durch feine materielle Zuſammen— ſetzung bedingt werden. Da nun derjenige Grundſtoff, welcher die eigenthümliche materielle Zuſammenſetzung der Organismen bedingt, der Kohlenſtoff iſt, ſo müſſen wir alle Lebenserſcheinungen, und vor allen die beiden Grunderſcheinungen der Ernährung und Fortpflan— zung, in letzter Linie auf die chemiſch-phyſikaliſchen Eigenſchaften des Kohlenſtoffs zurückführen. Dieſe allein, und namentlich der feſt— flüſſige Aggregatzuſtand und die eigenthümliche Zerſetzbarkeit der höchſt zuſammengeſetzten eiweißartigen Koh lenſtoffverbind un— gen, ſind die mechaniſchen Urſachen jener eigenthümlichen Bewe— gungserſcheinungen, durch welche ſich die Organismen von den An— organen unterſcheiden, und die man im engeren Sinne das „Leben“ zu nennen pflegt. Um dieſen höchſt wichtigen Satz richtig zu würdigen, iſt es vor Allem nöthig, diejenigen Bewegungserſcheinungen ſcharf in's Auge zu faſſen, welche beiden Gruppen von Naturkörpern gemeinſam ſind. Unter dieſen ſteht obenan das Wachsthum. Wenn Sie irgend eine anorganiſche Salzlöſung langſam verdampfen laſſen, ſo bilden ſich darin Salzkryſtalle, welche bei weiter gehender Verdunſtung des Waſſers langſam an Größe zunehmen. Dieſes Wachsthum erfolgt dadurch, daß immer neue Theilchen aus dem flüſſigen Aggregatzu— ſtande in den feſten übergehen und ſich an den bereits gebildeten feſten Kryſtallkern nach beſtimmten Geſetzen anlagern. Durch ſolche Anla— gerung oder Appoſition der Theilchen entſtehen die mathematiſch be— ſtimmten Kryſtallformen. Ebenſo durch Aufnahme neuer Theilchen geſchieht auch das Wachsthum der Organismen. Der Unterſchied iſt nur der, daß beim Wachsthum der Organismen in Folge ihres feſtflüſſigen Aggregatzuſtandes die neu aufgenommenen Theilchen in's Innere des Organismus vorrücken (Intusſusception), während die Anorgane nur durch Appoſition, durch Anſatz neuer, gleichartiger Wachsthum und Anpaſſung bei Kryſtallen und bei Organismen. 277 Materie von außen her zunehmen. Indeß iſt dieſer wichtige Unter- ſchied des Wachsthums durch Intusſusception und durch Appoſition augenſcheinlich nur die nothwendige und unmittelbare Folge des ver— ſchiedenen Dichtigkeitszuſtandes oder Aggregatzuſtandes der Organis— men und der Anorgane. Ich kann hier an dieſer Stelle leider nicht näher die mancherlei höchſt intereſſanten Parallelen und Analogien verfolgen, welche ſich zwiſchen der Bildung der vollkommenſten Anorgane, der Kryſtalle, und der Bildung der einfachſten Organismen, der Moneren und der nächſt verwandten Formen, vorfinden. Ich muß Sie in dieſer Be— ziehung auf die eingehende Vergleichung der Organismen und der Anorgane verweiſen, welche ich im fünften Capitel meiner generellen Morphologie durchgeführt habe (Gen. Morph. I, 111166). Dort habe ich ausführlich bewieſen, daß durchgreifende Unterſchiede zwi— ſchen den organiſchen und anorganiſchen Naturkörpern weder in Be— zug auf Form und Structur, noch in Bezug auf Stoff und Kraft exiſtiren, daß die wirklich vorhandenen Unterſchiede von der eigen— thümlichen Natur des Kohlenſtoffs abhängen, und daß keine unüber— ſteigliche Kluft zwiſchen organiſcher und anorganiſcher Natur exiſtirt. Beſonders einleuchtend erkennen Sie dieſe höchſt wichtige Thatſache, wenn Sie die Entſtehung der Formen bei den Kryſtallen und bei den einfachſten organiſchen Individuen vergleichend unterſuchen. Auch bei der Bildung der Kryſtallindividuen treten zweierlei verſchiedene, ein— ander entgegenwirkende Bildungstriebe in Wirkſamkeit. Die innere Geſtaltungskraft oder der innere Bildungstrieb, welcher der Erblichkeit der Organismen entſpricht, iſt bei dem Kryſtalle der un— mittelbare Ausfluß ſeiner materiellen Conſtitution oder ſeiner chemi— ſchen Zuſammenſetzung. Die Form des Kryſtalles, ſoweit ſie durch dieſen inneren, ureigenen Bildungstrieb beſtimmt wird, iſt das Re— ſultat der ſpecifiſch beſtimmten Art und Weiſe, in welcher ſich die kleinſten Theilchen der kryſtalliſirenden Materie nach verſchiedenen Rich— tungen hin geſetzmäßig an einander lagern. Dieſer ſelbſtſtändigen inneren Bildungskraft, welche der Materie ſelbſt unmittelbar anhaftet, 278 Aeußerer und innerer Bildungstrieb der Organismen und Anorgane. wirkt eine zweite formbildende Kraft geradezu entgegen. Dieſe äu- ßere Geſtaltungskraft oder den äußeren Bildungstrieb können wir bei den Kryſtallen ebenſo gut wie bei den Organismen als An- paſſung bezeichnen. Jedes Kryſtallindividuum muß ſich während ſeiner Entſtehung ganz ebenſo wie jedes organiſche Individuum den umgebenden Einflüſſen und Exiſtenzbedingungen der Außenwelt unter⸗ werfen und anpaſſen. In der That iſt die Form und Größe eines jeden Kryſtalles abhängig von ſeiner geſammten Umgebung, z. B. von dem Gefäß, in welchem die Kryſtalliſation ſtattfindet, von der Tem— peratur und von dem Luftdruck, unter welchem der Kryſtall ſich bildet, von der Anweſenheit oder Abweſenheit ungleichartiger Körper u. ſ. w. Die Form jedes einzelnen Kryſtalles iſt daher ebenſo wie die Form jedes einzelnen Organismus das Reſultat der Gegenwir— kung zweier einander gegenüber ſtehender Factoren, des inneren Bildungstriebes, der durch die chemiſche Conſtitution der eigenen Materie gegeben iſt, und des äußeren Bildungstriebes, welcher durch die Einwirkung der umgebenden Materie bedingt iſt. Beide in Wechſelwirkung ſtehende Geſtaltungskräfte ſind im Organismus ebenſo wie im Kryſtall rein mechaniſcher Natur, unmittelbar an dem Stoffe des Körpers haftend. Wenn man das Wachsthum und die Geſtaltung der Organismen als einen Lebensprozeß bezeichnet, ſo kann man daſſelbe eben ſo gut von dem ſich bildenden Kryſtall be— haupten. Die teleologiſche Naturbetrachtung, welche in den organi— ſchen Formen zweckmäßig eingerichtete Schöpfungsmaſchinen erblickt, muß folgerichtiger Weiſe dieſelben auch in den Kryſtallformen aner— kennen. Die Unterſchiede, welche ſich zwiſchen den einfachſten orga— niſchen Individuen und den anorganiſchen Kryſtallen vorfinden, ſind durch den feſten Aggregatzuſtand der letzteren, durch den feſtflüſ— ſigen Zuſtand der erſteren bedingt. Im Uebrigen ſind die bewirkenden Urſachen der Form in beiden vollſtändig dieſelben. Ganz beſonders klar drängt ſich Ihnen dieſe Ueberzeugung auf, wenn Sie die höchſt merkwürdigen Erſcheinungen von dem Wachsthum, der Anpaſſung und der „Wechſelbeziehung oder Correlation der Theile“ bei den ent— Einheit der organiſchen und anorganiſchen Natur. 279 ſtehenden Kryſtallen mit den entſprechenden Erſcheinungen bei der Entſtehung der einfachſten organiſchen Individuen (Moneren und Zellen) vergleichen. Die Analogie zwiſchen Beiden iſt ſo groß, daß wirklich keine ſcharfe Grenze zu ziehen iſt. In meiner generellen Morphologie habe ich hierfür eine Anzahl von ſchlagenden Thatſachen angeführt (Gen. Morph. I, 146, 156, 158). Wenn Sie dieſe „Einheit der organiſchen ah anor⸗ ganiſchen Natur“, dieſe weſentliche Uebereinſtimmung der Orga— nismen und Anorgane in Stoff, Form und Kraft ſich lebhaft vor Augen halten, wenn Sie ſich erinnern, daß wir nicht im Stande ſind, irgend welche fundamentalen Unterſchiede zwiſchen dieſen beiderlei Körpergruppen feſtzuſtellen (wie ſie früherhin allgemein angenommen wurden), ſo verliert die Frage von der Urzeugung ſehr viel von der Schwierigkeit, welche ſie auf den erſten Blick zu haben ſcheint. Es wird uns dann die Entwickelung des erſten Organismus aus anorga— niſcher Materie als ein viel leichter denkbarer und verſtändlicher Pro- ceß erſcheinen, als es bisher der Fall war, wo man jene künſtliche abſolute Scheidewand zwiſchen organiſcher oder belebter und anorga— niſcher oder lebloſer Natur aufrecht erhielt. Bei der Frage von der Urzeugung oder Archigonie, die wir jetzt beſtimmter beantworten können, erinnern Sie ſich zunächſt daran, daß wir unter dieſem Begriff ganz allgemein die elternloſe Zeugung eines organiſchen Individuums, die Entſte— hung eines Organismus unabhängig von einem elterlichen oder zeu— genden Organismus verſtehen. In dieſem Sinne haben wir früher die Urzeugung (Archigonia) der Elternzeugung oder Fortpflanzung (Tocogonia) entgegengeſetzt (S. 141). Bei der letzteren entſteht das organiſche Individuum dadurch, daß ein größerer oder geringerer Theil von einem bereits beſtehenden Organismus ſich ablöſt und ſelbſt— ſtändig weiter wächſt (Gen. Morph. II, 32). Von der Urzeugung, welche man auch oft als freiwillige oder urſprüngliche Zeugung bezeichnet (Generatio spontanea, aequivoca, primaria etc.), müſſen wir zunächſt zwei weſentlich verſchiedene Arten 280 Urzeugung oder Archigonie. Autogonie und Plasmogonie. unterſcheiden, nämlich die Auto gonie und die Plasmogonie. Unter Autogonie verſtehen wir die Entſtehung eines einfachſten or— ganiſchen Individuums in einer anorganiſchen Bildungs— flüſſigkeit, d. h. in einer Flüſſigkeit, welche die zur Zuſammen— ſetzung des Organismus erforderlichen Grundſtoffe in einfachen und feſten Verbindungen gelöſt enthält (z. B. Kohlenſäure, Ammoniak, binäre Salze u. ſ. w.). Plasmogonie dagegen nennen wir die Urzeugung dann, wenn der Organismus in einer organiſchen Bildungsflüſſigkeit entſteht, d. h. in einer Flüſſigkeit, welche jene erforderlichen Grundſtoffe in Form von verwickelten und lockeren Kohlenſtoffverbindungen gelöſt enthält (z. B. Eiweiß, Fett, Kohlen⸗ hydraten ꝛc.) (Gen. Morph. I, 174; II, 33). f Der Vorgang der Autogonie ſowohl als der Plasmogonie iſt bis jetzt noch nicht direct mit voller Sicherheit beobachtet. In älterer und neuerer Zeit hat man über die Möglichkeit oder Wirklichkeit der Ur- zeugung ſehr zahlreiche und zum Theil auch intereſſante Verſuche an— geſtellt. Allein dieſe Experimente beziehen ſich faſt ſämmtlich nicht auf die Autogonie, ſondern auf die Plasmogonie, auf die Entſtehung eines Organismus aus bereits gebildeter organiſcher Materie. Offen— bar hat aber für unſere Schöpfungsgeſchichte dieſer letztere Vorgang nur ein untergeordnetes Intereſſe. Es kommt für uns vielmehr darauf an, die Frage zu löſen: „Giebt es eine Autogenie?“ Iſt es möglich, daß ein Organismus nicht aus vorgebildeter organiſcher, ſon— dern aus rein anorganiſcher Materie entſteht?“ Daher können wir hier auch ruhig alle jene zahlreichen Experimente, welche ſich nur auf die Plasmogonie beziehen, welche in dem letzten Jahrzehnt mit beſonde— rem Eifer betrieben worden ſind; und welche meiſt ein negatives Re— ſultat hatten, bei Seite laſſen Denn angenommen auch, es würde dadurch die Wirklichkeit der Plasmogonie ſtreng bewieſen, ſo wäre damit noch nicht die Autogonie erklärt. Die Verſuche über Autogonie haben bis jetzt ebenfalls kein ſiche— res poſitives Reſultat geliefert. Jedoch müſſen wir uns von vorn herein auf das Beſtimmteſte dagegen verwahren, daß durch dieſe Beweiskraft der Verſuche über Urzeugung. 281 Experimente die Unmöglichkeit der Urzeugung überhaupt nachgewieſen ſei. Die allermeiſten Naturforſcher, welche beſtrebt waren, dieſe Frage experimentell zu entſcheiden, und welche bei Anwendung aller mög— lichen Vorſichtsmaßregeln unter ganz beſtimmten Verhältniſſen keine Organismen entſtehen ſahen, ſtellten auf Grund dieſer negativen Re— ſultate ſofort die Behauptung auf: „Es iſt überhaupt unmöglich, daß Organismen von ſelbſt, ohne elterliche Zeugung, entſtehen.“ Dieſe leichtfertige und unüberlegte Behauptung ſtützten ſie einfach und allein auf das negative Reſultat ihrer Experimente, welche doch weiter Nichts beweiſen konnten, als daß unter dieſen oder jenen, höchſt künſt— lichen Verhältniſſen, wie ſie durch die Experimentatoren geſchaffen wurden, kein Organismus ſich bildete. Man kann auf keinen Fall aus jenen Verſuchen, welche meiſtens unter den unnatürlichſten Be— dingungen, in höchſt künſtlicher Weiſe angeſtellt wurden, den Schluß ziehen, daß die Urzeugung überhaupt unmöglich ſei. Die Unmög— lichkeit eines ſolches Vorganges kann überhaupt niemals bewieſen werden. Denn wie können wir wiſſen, daß in jener älteſten unvor— denklichen Urzeit nicht ganz andere Bedingungen, als gegenwärtig, exiſtirten, welche eine Urzeugung ermöglichten? Ja, wir können ſo— gar mit voller Sicherheit poſitiv behaupten, daß die allgemeinen Lebens— bedingungen der Primordialzeit gänzlich von denen der Gegenwart verſchieden geweſen ſein müſſen. Denken Sie allein an die Thatſache, daß die ungeheuren Maſſen von Kohlenſtoff, welche wir gegenwärtig in den primären Steinkohlengebirgen abgelagert finden, erſt durch die Thätigkeit des Pflanzenlebens in feſte Form gebracht, und die mächtig zuſammengepreßten und verdichteten Ueberreſte von zahlloſen Pflanzenleichen ſind, die ſich im Laufe vieler Millionen Jahre an— häuften. Allein zu der Zeit, als auf der abgekühlten Erdrinde nach der Entſtehung des tropfbarflüſſigen Waſſers zum erſten Male Orga- nismen durch Urzeugung ſich bildeten, waren jene unermeßlichen Koh— lenſtoffquantitäten in ganz anderer Form vorhanden, wahrſcheinlich größtentheils in Form von Kohlenſäure in der Atmoſphäre vertheilt. Die ganze Zuſammenſetzung der Atmoſphäre war alſo außerordent— 282 Entſtehung organiſcher Verbindungen außerhalb der Organismen. lich von der jetzigen verſchieden. Ferner waren, wie ſich aus chemi— ſchen, phyſikaliſchen und geologiſchen Gründen ſchließen läßt, der Dichtigkeitszuſtand und die elektriſchen Verhältniſſe der Athmoſphäre nothwendiger Weiſe ganz andere. Ebenſo war auch jedenfalls die chemiſche und phyſikaliſche Beſchaffenheit des Urmeeres, welches da— mals als eine ununterbrochene Waſſerhülle die ganze Erdoberfläche im Zuſammenhang bedeckte, ganz eigenthümlich. Temperatur, Dich— tigkeit, Salzgehalt u. ſ. w. müſſen ſehr von denen der jetzigen Meere verſchieden geweſen ſein. Es bleibt alſo auf jeden Fall für uns, wenn wir auch ſonſt Nichts weiter davon wiſſen, die Annahme wenigſtens nicht beſtreitbar, daß zu jener Zeit unter ganz anderen Bedingungen eine Urzeugung möglich geweſen ſei, die heutzutage vielleicht nicht mehr möglich iſt. Nun kommt aber dazu, daß durch die neueren Fortſchritte der Chemie und Phyſiologie das Räthſelhafte und Wunderbare, das zu— nächſt der viel beſtrittene und doch nothwendige Vorgang der Urzeu— gung an ſich zu haben ſcheint, größtentheils oder eigentlich ganz zer— ſtört worden iſt. Es iſt erſt vierzig Jahre her, daß noch ſämmtliche Chemiker behaupteten, wir ſeien nicht im Stande, irgend eine zu— ſammengeſetzte Kohlenſtoffverbindung oder eine ſogenannte „organiſche Verbindung“ künſtlich in unſeren Laboratorien herzuſtellen. Nur die myſtiſche „Lebenskraft“ ſollte dieſe Verbindungen zu Stande bringen können. Als daher 1828 Wöhler in Göttingen zum erſten Male dieſes Dogma thatſächlich widerlegte, und auf künſtlichem Wege aus rein anorganiſchen Körpern (Cyan- und Ammoniakverbindungen) den rein „organiſchen“ Harnſtoff darſtellte, war man im höchſten Grade erſtaunt und überraſcht. In der neueren Zeit iſt es nun durch die Fortſchritte der ſynthetiſchen Chemie gelungen, derartige „organiſche“ Kohlenſtoffverbindungen rein künſtlich in großer Mannichfaltigkeit in unſeren Laboratorien aus anorganiſchen Subſtanzen herzuſtellen, z. B. Alkohol, Eſſigſäure, Ameiſenſäure u. ſ. w. Selbſt viele höchſt ver— wickelte Kohlenſtoffverbindungen werden jetzt künſtlich zuſammengeſetzt, ſo daß alle Ausſicht vorhanden iſt, auch die am meiſten zuſammen— Entſtehung der Moneren durch Urzeugung. 283 geſetzten und zugleich die wichtigſten von allen, die Eiweißverbindun— gen oder Plasmakörper, früher oder ſpäter künſtlich in unſeren chemi— ſchen Werkſtätten zu erzeugen. Dadurch iſt aber die tiefe Kluft zwi— ſchen organiſchen und anorganiſchen Körpern, die man früher allge— mein feſthielt, größtentheils beſeitigt, und für die Vorſtellung der Urzeugung der Weg gebahnt. 8 Von noch größerer, ja von der allergrößten Wichtigkeit für die Hypotheſe der Urzeugung ſind endlich die höchſt merkwürdigen Mo— neren, jene ſchon vorher mehrfach erwähnten Lebeweſen, welche nicht nur die einfachſten beobachteten, ſondern auch überhaupt die denkbar einfachſten von allen Organismen ſind 15). Schon früher, als wir die einfachſten Erſcheinungen der Fortpflanzung und Vererbung unterſuchten, habe ich Ihnen dieſe wunderbaren „Organismen ohne Organ“ beſchrieben. Wir kennen jetzt ſchon ſechs verſchiedene Gattungen ſolcher Moneren, von denen einige im ſüßen Waſſer, andere im Meere leben (vergl. oben S. 142—144). In vollkommen ausgebildetem und frei beweglichem Zuſtande ſtellen ſie ſämmtlich wei— ter Nichts dar, als ein ſtructurloſes Klümpchen einer eiweißartigen Kohlenſtoffverbindung. Nur durch die Art der Fortpflanzung und Entwickelung, ſowie der Nahrungsaufnahme ſind die einzelnen Gat— tungen und Arten ein wenig verſchieden. Durch die Entdeckung dieſer Organismen, die von der allergrößten Bedeutung iſt, verliert die An— nahme einer Urzeugung den größten Theil ihrer Schwierigkeiten. Denn da denſelben noch jede Organiſation, jeder Unterſchied ungleichartiger Theile fehlt, da alle Lebenserſcheinungen von einer und derſelben gleichartigen und formloſen Materie vollzogen werden, ſo können wir uns ihre Entſtehung durch Urzeugung ſehr wohl denken. Geſchieht dieſelbe durch Plasmagonie, iſt bereits lebensfähiges Plasma vorhanden, ſo braucht daſſelbe bloß ſich zu individualiſiren, in gleicher Weiſe, wie bei der Kryſtallbildung ſich die Mutterlauge der Kryſtalle individualiſirt. Geſchieht dagegen die Urzeugung der Moneren durch wahre Autogonie, ſo iſt dazu noch erforderlich, daß vorher jenes lebensfähige Plasma, jener Urſchleim, aus einfacheren Kohlenſtoffver— 284 Entftehung der Zellen aus Moneren. bindungen ſich bildet. Da wir jetzt im Stande ſind, in unſeren che— miſchen Laboratorien ähnliche zuſammengeſetzte Kohlenſtoffverbindun— gen künſtlich herzuſtellen, ſo liegt durchaus kein Grund für die An— nahme vor, daß nicht auch in der freien Natur ſich Verhältniſſe finden, unter denen ähnliche Verbindungen entſtehen können. Sobald man früherhin die Vorſtellung der Urzeugung zu faſſen ſuchte, ſcheiterte man ſofort an der organiſchen Zuſammenſetzung auch der einfachſten Or— ganismen, welche man damals kannte. Erſt ſeitdem wir mit den höchſt wichtigen Moneren bekannt geworden ſind, erſt ſeitdem wir in ihnen Organismen kennen gelernt haben, welche gar nicht aus Or— ganen zuſammengeſetzt ſind, welche bloß aus einer einzigen chemiſchen Verbindung beſtehen, und dennoch wachſen, ſich ernähren und fort— pflanzen, iſt jene Hauptſchwierigkeit gelöſt, und die Hypotheſe der Urzeugung hat dadurch denjenigen Grad von Wahrſcheinlichkeit ge— wonnen, welcher fie berechtigt, die Lücke zwiſchen Kant's Kosmo— genie und Lamarck's Deſcendenztheorie auszufüllen. Nur ſolche homogene, noch gar nicht differenzirte Organismen, welche in ihrer gleichartigen Zuſammenſetzung aus einerlei Theilchen den organiſchen Kryſtallen gleichſtehen, konnten durch Urzeugung ent ſtehen, und konnten die Ureltern aller übrigen Organismen werden. Bei der weiteren Entwickelung derſelben haben wir als den wichtigſten Vorgang zunächſt die Bildung eines Kernes (Nucleus) in dem ſtructurloſen Eiweißklümpchen anzuſehen. Dieſe können wir uns rein phyſikaliſch durch Verdichtung der innerſten, centralen Eiweißtheilchen vorſtellen. Die dichtere centrale Maſſe, welche anfangs allmählich in das peripheriſche Plasma überging, ſonderte ſich ſpäter ganz von die— ſem ab und bildete ſo ein ſelbſtſtändiges rundes Eiweißkörperchen, den Kern. Durch dieſen Vorgang iſt aber bereits aus dem Moner eine Zelle geworden. Daß nun die weitere Entwickelung aller übrigen Organismen aus einer ſolchen Zelle keine Schwierigkeit hat, muß Ihnen aus den bisherigen Vorträgen klar geworden ſein. Denn jedes Thier und jede Pflanze iſt im Beginn ihres individuellen Lebens eine einfache Zelle. Der Menſch ſo gut, wie jedes andere Thier, iſt an— Zellentheorie und Plaſtidentheorie. 285 fangs weiter Nichts, als eine einfache Eizelle, ein einziges Schleim— klümpchen, worin ſich ein Kern befindet. Ebenſo wie der Kern der organiſchen Zellen durch Sonderung in der inneren oder centralen Maſſe der urſprünglichen gleichartigen Plasmaklümpchen entſtand, ſo bildete ſich die erſte Zellhaut oder Membran an deren Oberfläche. Auch dieſen einfachen, aber höchſt wichtigen Vorgang können wir, wie oben ſchon bemerkt, einfach phy— ſikaliſch erklären, entweder durch einen chemiſchen Niederſchlag oder eine phyſikaliſche Verdichtung in der oberflächlichſten Rindenſchicht, oder durch eine Ausſcheidung. Eine der erſten Anpaſſungsthätigkeiten, welche die durch Urzeugung entſtandenen Moneren ausübten, wird die Verdichtung einer äußeren Rindenſchicht geweſen ſein, welche als ſchützende Hülle das weichere Innere gegen die angreifenden Einflüſſe der Außenwelt abſchloß. War aber erſt durch Verdichtung der ho— mogenen Moneren im Inneren ein Zellkern, an der Oberfläche eine Zellhaut entſtanden, ſo waren damit alle die fundamentalen Formen der Bauſteine gegeben, aus denen durch Zuſammenſetzung ſich erfah— rungsgemäß der Körper ſämmtlicher Organismen aufbaut. Wie ſchon früher erwähnt wurde, beruht unſer ganzes Verſtändniß des Organismus weſentlich auf der von Schleiden und Schwann vor dreißig Jahren aufgeſtellten Zellentheorie. Danach iſt jeder Or— ganismus entweder eine einfache Zelle oder eine Gemeinde, ein Staat von eng verbundenen Zellen. Die geſammten Formen und Lebenserſcheinun— gen eines jeden Organismus ſind das Geſammtreſulrat der Formen und Lebenserſcheinungen aller einzelnen ihn zuſammenſetzenden Zellen. Durch die neueren Fortſchritte der Zellenlehre iſt es nöthig geworden, die Elementarorganismen, oder die organiſchen „Individuen erſter Ord— nung,“ welche man gewöhnlich als „Zellen“ bezeichnet, mit dem allgemeineren und paſſenderen Namen der Bildnerinnen oder Plaſtiden zu belegen. Wir unterſcheiden unter dieſen Bildnerinnen zwei Hauptgruppen, nämlich Cytoden und echte Zellen. Die Cy— toden ſind kernloſe Plasmaſtücke, gleich den Moneren (S. 144, Fig. 1). Die Zellen dagegen ſind Plasmaſtücke, welche einen Kern 286 Vier verſchiedene Arten von Plaſtiden. oder Nucleus enthalten (S. 145, Fig. 2). Jede dieſer beiden Haupt: formen von Plaſtiden zerfällt wieder in zwei untergeordnete Form— gruppen, je nachdem ſie eine äußere Umhüllung (Haut, Schale oder Membran) beſitzen oder nicht. Wir können demnach allgemein fol— gende Stufenleiter von vier verſchiedenen Plaſtidenarten unterſcheiden, nämlich: 1. Ureytoden (S. 144, Fig. 1 B); 2. Hülleytoden; 3. Urzellen (S. 145, Fig. 2); 4. Hüllzellen (S. 145, Fig. 2 A) (Gen. Morph. I, 269 — 289). Was das Verhältniß dieſer vier Plaſtidenformen zur Urzeugung betrifft, ſo iſt folgendes das Wahrſcheinlichſte: 1. die Ureytoden (Gymnocytoda), nackte Plasmaſtücke ohne Kern, gleich den heute noch lebenden Moneren, ſind die einzigen Plaſtiden, welche unmittel— bar durch Urzeugung entſtanden; 2. die Hülleytoden (Lepo- cytoda), Plasmaſtücke ohne Kern, welche von einer Hülle (Membran oder Schale) umgeben find, entſtanden aus den Urcytoden entweder durch Verdichtung der oberflächlichſten Plasmaſchichten oder durch Ausſcheidung einer Hülle; 3. die Urzellen (Gymnocyta) oder nackte Zellen, Plasmaſtücke mit Kern, aber ohne Hülle, entſtanden aus den Urcytoden durch Verdichtung der innerſten Plasmatheile zu einem Kerne oder Nucleus, durch Differenzirung von centralem Kerne und peri— pheriſchem Zellſtoff; 4. die Hüllzellen (Lepocyta) oder Hautzellen, Plasmaſtücke mit Kern und mit äußerer Hülle (Membran oder Schale), entſtanden entweder aus den Hülleytoden durch Bildung eines Kernes oder aus den Urzellen durch Bildung einer Membran. Alle übrigen Formen von Bildnerinnen oder Plaſtiden, welche außerdem noch vor— kommen, ſind erſt nachträglich durch natürliche Züchtung, durch Abſtammung mit Anpaſſung, durch Differenzirung und Umbildung aus jenen vier Grundformen entſtanden. Durch dieſe Plaſtidentheorie, durch dieſe Ableitung aller verſchiedenen Plaſtidenformen und ſomit auch aller aus ihnen zu— ſammengeſetzten Organismen von den Moneren, kommt ein einfacher und natürlicher Zuſammenhang in die geſammte Entwickelungs— theorie. Die Entſtehung der erſten Moneren durch Urzeugung er⸗ Urzeugungshypotheſe und Plaſtidentheorie. 287 ſcheint uns als ein einfacher und nothwendiger Vorgang in dem Ent— wickelungsproceß des Erdkörpers. Wir geben zu, daß dieſer Vorgang, ſo lange er noch nicht direct beobachtet oder durch das Experiment wiederholt iſt, eine reine Hypotheſe bleibt. Allein ich wiederhole, daß dieſe Hypotheſe für den ganzen Zuſammenhang der natürlichen Schö— pfungsgeſchichte unentbehrlich iſt, daß ſie an ſich durchaus nichts Ge— zwungenes und Wunderbares mehr hat, und daß ſie keinenfalls je— mals poſitiv widerlegt werden kann. Wenn Sie die Hypotheſe der Urzeugung nicht annehmen, ſo müſſen Sie an dieſem einzigen Punkte der Entwickelungstheorie zum Wunder einer übernatürlichen Schö— pfung Ihre Zuflucht nehmen. Der Schöpfer muß dann den erſten Organismus oder die wenigen erſten Organismen, von denen alle übrigen abſtammen, jedenfalls einfachſte Moneren oder Ureytoden, als ſolche geſchaffen und ihnen die Fähigkeit beigelegt haben, ſich in mechaniſcher Weiſe weiter zu entwickeln. Ich überlaſſe es einem Jeden von Ihnen, zwiſchen dieſer Vorſtellung und der Hypotheſe der Ur— zeugung zu wählen. Mir ſcheint die Vorſtellung, daß der Schöpfer an dieſem einzigen Punkte willkürlich in den geſetzmäßigen Ent— wickelungsgang der Materie eingegriffen habe, der im Uebrigen ganz ohne ſeine Mitwirkung verläuft, ebenſo unbefriedigend für das gläubige Gemüth, wie für den wiſſenſchaftlichen Verſtand zu fein. Nehmen wir dagegen für die Entſtehung der erſten Organismen die Hypotheſe der Urzeugung an, welche aus den oben erörterten Grün— den, insbeſondere durch die Entdeckung der Moneren, ihre frühere Schwierigkeit verloren hat, ſo gelangen wir zur Herſtellung eines un— unterbrochenen natürlichen Zuſammenhanges zwiſchen der Entwicke— lung der Erde und der von ihr geborenen Organismen, und wir er— kennen auch in dem letzten noch zweifelhaften Punkte die Einheit der geſammten Natur und die Einheit ihrer Entwicke— lungsgeſetze (Gen. Morph. I, 164). Vierzehnter Vortrag. Schöpfungsperioden und Schöpfungsurkunden. Reform der Syſtematik durch die Deſcendenztheorie. Das natürliche Syſtem als Stammbaum. Paläontologiſche Urkunden des Stammbaumes. Die Verſteine⸗ rungen als Denkmünzen der Schöpfung. Ablagerung der neptuniſchen Schichten und Einſchluß der organiſchen Reſte. Eintheilung der organiſchen Erdgeſchichte in fünf Hauptperioden: Zeitalter der Tangwälder, Farnwälder, Nadelwälder, Laub⸗ wälder und Culturwälder. Syſtem der währenddeſſen abgelagerten neptuniſchen Schichten. Unermeßliche Dauer der während ihrer Bildung verfloſſenen Zeiträume. Ablagerung der Schichten nur während der Senkung, nicht während der Hebung des Bodens. Anteperioden. Andere Lücken der Schöpfungsurkunde. Metamor⸗ phiſcher Zuſtand der älteſten neptuniſchen Schichten. Geringe Ausdehnung der pa⸗ läontologiſchen Erfahrungen. Geringer Bruchtheil der verſteinerungsfähigen Orga⸗ nismen und organiſchen Körpertheile. Seltenheit vieler verſteinerten Arten. Mangel foſſiler Zwiſchenformen. Die Schöpfungsurkunden der Ontogenie und der vergleichenden Anatomie. Meine Herren! Von dem umgeſtaltenden Einfluß, welchen die Ab⸗ ſtammungslehre auf alle Wiſſenſchaften ausüben muß, wird wahrſchein— lich nächſt der Anthropologie kein anderer Wiſſenſchaftszweig ſo ſehr betroffen werden, als der beſchreibende Theil der Naturgeſchichte, die ſyſtematiſche Zoologie und Botanik. Die meiſten Naturforſcher, die ſich bisher mit der Syſtematik der Thiere und Pflanzen beſchäftigten, ſammelten, benannten und ordneten die verſchiedenen Arten dieſer Naturkörper mit einem ähnlichen Intereſſe, wie die Alterthumsforſcher Das natürliche Syſtem als Stammbaum der Organismen. 289 und Ethnographen die Waffen und Geräthſchaften der verſchiedenen Völker ſammeln. Viele erhoben ſich ſelbſt nicht über denjenigen Grad der Wißbegierde, mit dem man Wappen, Briefmarken und ähnliche Curioſitäten zu ſammeln, zu etikettiren und zu ordnen pflegt. In ähnlicher Weiſe wie dieſe Sammler an der Formenmannichfaltig— keit, Schönheit oder Seltſamkeit der Wappen, Briefmarken u. ſ. w. ihre Freude finden, und dabei die erfinderiſche Bildungskunſt der Menſchen bewundern, in ähnlicher Weiſe ergötzen ſich die meiſten Naturforſcher an den mannichfaltigen Formen der Thiere und Pflan— zen, und erſtaunen über die reiche Phantaſie des Schöpfers, über ſeine unermüdliche Schöpfungsthätigkeit und über die ſeltſame Laune, in welcher er neben ſo vielen ſchönen, nützlichen und guten Organismen auch eine Anzahl häßlicher, unnützer und ſchlechter Formen gebil— det habe. f Dieſe kindliche Behandlung der ſyſtematiſchen Zoologie und Bo— tanik wird durch die Abſtammungslehre gründlich vernichtet. An die Stelle des oberflächlichen und ſpielenden Intereſſes, mit welchem die Meiſten bisher die organiſchen Geſtalten betrachteten, tritt das weit höhere Intereſſe des erkennenden Verſtandes, welcher in der Form- verwandtſchaft der Organismen ihre wahre Blutsverwandt— ſchaft erblickt. Das natürliche Syſtem der Thiere und Pflanzen, welches man früher entweder nur als Namenregiſter zur überſichtlichen Ordnung der verſchiedenen Formen oder als Sach— regiſter zum kurzen Ausdruck ihres Aehnlichkeitsgrades ſchätzte, erhält durch die Abſtammungslehre den ungleich höheren Werth eines wah— ren Stammbaumes der Organismen. Dieſe Stammtafel muß uns den genealogiſchen Zuſammenhang der kleineren und größe— ren Gruppen enthüllen. Sie muß zu zeigen verſuchen, in welcher Weiſe die verſchiedenen Klaſſen, Ordnungen, Familien, Gattungen und Ar— ten des Thier- und Pflanzenreichs, den verſchiedenen Zweigen, Aeſten und Aſtgruppen ihres Stammbaums entſprechen. Jede weitere und höher ſtehende Kategorie oder Gruppenſtufe des Syſtems (z. B. Klaſſe, Ordnung) umfaßt eine Anzahl von größeren und ſtärkeren Haeckel, Natürliche Schöpfungsgeſchichte. 19 390 Paläontologiſche Urkunden des Stammbaumes. Zweigen des Stammbaums, jede engere und tiefer ſtehende Kategorie (J. B. Gattung, Art) nur eine kleinere und ſchwächere Gruppe von Aeſtchen. Nur wenn wir in dieſer Weiſe das natürliche Syſtem als Stammbaum betrachten, können wir den wahren Werth deſſelben er— kennen. (Gen. Morph. II., S. XVII, 397). Indem wir an dieſer genealogiſchen Auffaſſung des organiſchen Syſtems, welcher ohne Zweifel allein die Zukunft gehört, feſthalten, können wir uns jetzt zu einer der weſentlichſten, aber auch ſchwierigſten Aufgaben der „natürlichen Schöpfungsgeſchichte“ wenden, nämlich zur wirklichen Conſtruction der organiſchen Stammbäume. Laſſen Sie uns ſehen, wie weit wir vielleicht ſchon jetzt im Stande ſind, alle verſchiedenen organiſchen Formen als die divergenten Nachkommen einer einzigen oder einiger wenigen gemeinſchaftlichen Stammformen nachzuweiſen. Wie können wir uns aber den wirklichen Stammbaum der thieriſchen und pflanzlichen Formengruppen aus den dürftigen und fragmentariſchen bis jetzt darüber gewonnenen Erfahrungen conftrui- ren? Die Antwort hierauf liegt ſchon zum Theil in demjenigen, was wir früher über den Parallelismus der drei Entwickelungsreihen be— merkt haben, über den wichtigen urſächlichen Zuſammenhang, welcher die paläontologiſche Entwickelung der ganzen organiſchen Stämme mit der embryologiſchen Entwickelung der Individuen und mit der ſyſtema⸗ tiſchen Entwickelung der Gruppenſtufen verbindet. Zunächſt werden wir uns zur Löſung dieſer ſchwierigen Aufgabe an die Phylogenie oder die paläontologiſche Entwide- lungs geſchichte zu wenden haben. Denn wenn wirklich die Deſcendenztheorie wahr iſt, wenn wirklich die verſteinerten Reſte der vormals lebenden Thiere und Pflanzen von den ausgeſtorbenen Ur— ahnen und Vorfahren der jetzigen Organismen herrühren, ſo müßte uns eigentlich ohne Weiteres die Kenntniß und Vergleichung der Ber- ſteinerungen den Stammbaum der Organismen aufdecken. So einfach und einleuchtend nach dem theoretiſch entwickelten Princip Ihnen dies erſcheinen wird, ſo außerordentlich ſchwierig und verwickelt geſtaltet ſich die Aufgabe, wenn man ſie wirklich in Angriff nimmt. Ihre Ablagerung der verſteinerungsführenden Erdſchichten. 291 praktiſche Löſung würde ſchon ſehr ſchwierig ſein, wenn die Verſteine— rungen einigermaßen vollſtändig erhalten wären. Das iſt aber keines— wegs der Fall. Vielmehr iſt die handgreifliche Schöpfungsurkunde, welche in den Verſteinerungen begraben liegt, über alle Maaßen un— vollſtändig. Daher erſcheint es jetzt vor Allem nothwendig, dieſe Ur- kunde kritiſch zu prüfen, und den Werth, welchen die Verſteinerungen für die Entwickelungsgeſchichte der organiſchen Stämme beſitzen, zu bes ſtimmen. Da ich Ihnen die allgemeine Bedeutung der Verſteinerun— gen als „Denkmünzen der Schöpfung“ bereits früher erörtert habe, als wir Cuvier's Verdienſte um die Petrefactenkunde betrachteten, ſo können wir jetzt ſogleich zur Unterſuchung der Bedingungen und Verhältniſſe übergehen, unter denen die organiſchen Körperreſte verftei- nert und ſo für uns in mehr oder weniger kenntlicher Form erhal— ten wurden. In der Regel finden wir Verſteinerungen oder Petrefacten nur in denjenigen Geſteinen eingeſchloſſen, welche ſchichtenweiſe als Schlamm im Waſſer abgelagert wurden, und welche man deshalb neptunifche, geſchichtete oder ſedimentäre Geſteine nennt. Die Ablagerung ſolcher Schichten konnte natürlich erſt beginnen, nachdem im Verlaufe der Erdgeſchichte die Verdichtung des Waſſerdampfes zu tropfbarflüſſigem Waſſer erfolgt war. Seit dieſem Zeitpunkt, welchen wir im letzten Vor— trage bereits betrachtet hatten, begann nicht allein das Leben auf der Erde, ſondern auch eine ununterbrochene und höchſt wichtige Umgeſtal— tung der erſtarrten anorganiſchen Erdrinde. Das Waſſer begann ſeit— dem jene außerordentlich wichtige mechaniſche Wirkſamkeit, durch welche die Erdoberfläche fortwährend, wenn auch langſam, umgeſtaltet wird. Ich darf wohl als bekannt vorausſetzen, welchen außerordentlich be— deutenden Einfluß in dieſer Beziehung noch jetzt das Waſſer in jedem Augenblick ausübt. Indem es als Regen niederfällt, die oberſten Schichten der Erdrinde durchſickert und von den Erhöhungen in die Vertiefungen herabfließt, löſt es verſchiedene mineraliſche Beſtandtheile des Bodens chemiſch auf und ſpült mechaniſch die lockerzuſammen hän— genden Theilchen ab. An den Bergen herabfließend führt das Waſſer 19 * 292 Ablagerung der verſteinerungsführenden Erdſchichten. den Schutt derſelben in die Ebene oder lagert ihn als Schlamm im ſtehenden Waſſer ab. So arbeitet es beſtändig an einer Erniedrigung der Berge und Ausfüllung der Thäler. Ebenſo arbeitet die Bran— dung des Meeres ununterbrochen an der Zerſtörung der Küſten und an der Auffüllung des Meeresbodens durch die herabgeſchlämmten Trümmer. So würde ſchon die Thätigkeit des Waſſers allein, wenn ſie nicht durch andere Umſtände wieder aufgewogen würde, mit der Zeit die ganze Erde nivelliren. Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß die Gebirgsmaſſen, welche alljährlich als Schlamm dem Meere zugeführt werden und ſich auf deſſen Boden abſetzen, ſo bedeutend ſind, daß im Verlauf einer längeren oder kürzeren Periode, vielleicht von wenigen Millionen Jahren, die Erdoberfläche vollkommen geebnet und von einer zuſammenhängenden Waſſerſchale umſchloſſen werden würde. Daß dies nicht geſchieht, verdanken wir der fortdauernden vul— kaniſchen und plutoniſchen Gegenwirkung des feurigflüſſigen Erdinnern. Dieſe Reaction des geſchmolzenen Kerns gegen die feſte Rinde bedingt ununterbrochen wechſelnde Hebungen und Senkungen an den verſchie— denſten Stellen der Erdoberfläche. Meiſtens geſchehen dieſe Hebungen und Senkungen ſehr langſam und allmählich; allein indem ſie Jahr— tauſende hindurch fortdauern, bringen ſie durch Summirung der klei— nen Einzelwirkungen nicht minder großartige Reſultate hervor, wie die entgegenwirkende und nivellirende Thätigkeit des Waſſers. Indem die Hebungen und Senkungen der verſchiedenen Erdtheile im Laufe von Jahrmillionen vielfach mit einander wechſeln, kömmt bald dieſer bald jener Theil der Erdoberfläche über oder unter den Spiegel des Meeres. Es giebt vielleicht keinen Oberflächentheil der Erdrinde, der nicht in Folge deſſen ſchon wiederholt über und unter dem Meeresſpiegel geweſen wäre. Durch dieſen vielfachen Wechſel er— klärt ſich die Mannichfaltigkeit und die verſchiedene Zuſammenſetzung der zahlreichen neptuniſchen Geſteinsſchichten, welche ſich an den mei— ſten Stellen in beträchtlicher Dicke über einander abgelagert haben. In den verſchiedenen Geſchichtsperioden, während deren die Ablage— rung ſtatt fand, lebte eine mannichfach verſchiedene Bevölkerung von Eintheilung der organiſchen Erdgeſchichte in geologiſche Perioden. 293 Thieren und Pflanzen. Wenn die Leichen derſelben auf den Boden der Gewäſſer herabſanken, drückten ſie ihre Körperform in dem wei— chen Schlamme ab, und unverwesliche Theile, harte Knochen, Zähne, Schalen u. ſ. w. wurden unzerſtört in demſelben eingeſchloſſen. Sie blieben in dem Schlamm, der ſich zu neptuniſchem Geſtein verdichtete, erhalten, und dienten nun als Verſteinerungen zur Charakteriſtik der betreffenden Schichten. Durch ſorgfältige Vergleichung der verſchie— denen über einander gelagerten Schichten und der in ihnen enthaltenen Verſteinerungen iſt es ſo möglich geworden, ſowohl das relative Alter der Schichten und Schichtengruppen zu beſtimmen, als auch die Haupt— momente der Phylogenie oder der Entwickelungsgeſchichte der Thier— und Pflanzenſtämme empiriſch feſtzuſtellen. Die verſchiedenen über einander abgelagerten Schichten der nep— tuniſchen Geſteine, welche in ſehr mannichfaltiger Weiſe aus Kalk, Thon und Sand zuſammengeſetzt ſind, haben die Geologen gruppen— weiſe in ein ideales Syſtem zuſamengeſtellt, welches dem ganzen Zu— ſammenhang der organiſchen Erdgeſchichte entſpricht, d. h. desjenigen Theiles der Erdgeſchichte, während deſſen organiſches Leben exiſtirte. Wie die ſogenannte „Weltgeſchichte“ in größere und kleinere Perioden zerfällt, welche durch den zeitweiligen Entwickelungszuſtand der be— deutendſten Völker charakteriſirt und durch hervorragende Ereigniſſe von einander abgegrenzt werden, ſo theilen wir auch die unendlich längere organiſche Erdgeſchichte in eine Reihe von größeren oder klei— neren Perioden ein. Jede dieſer Perioden iſt durch eine charakteriſtiſche Flora und Fauna, durch die beſonders ſtarke Entwickelung einer be— ſtimmten Pflanzen- oder Thiergruppe ausgezeichnet, und jede iſt von der vorhergehenden und folgenden Periode durch einen auffallenden Wechſel in der Zuſammenſetzung der Thier- und Pflanzenbevölkerung getrennt. Für die nachfolgende Ueberſicht des hiſtoriſchen Entwickelungs— ganges, den die großen Thier- und Pflanzenſtämme genommen ha— ben, iſt es nothwendig, zunächſt hier die ſyſtematiſche Claſſification der neptuniſchen Schichtengruppen und der denſelben entſprechenden grö— 294 Geologiſche Claſſification der neptuniſchen Schichtengruppen. ßeren und kleineren Geſchichtsperioden anzugeben. Wie Sie ſogleich ſehen werden, find wir im Stande, die ganze Maſſe der über einan- derliegenden Sedimentgeſteine in fünf oberſte Hauptgruppen oder Terrains, jedes Terrain in mehrere untergeordnete Schichtengruppen oder Syſteme und jedes Syſtem von Schichten wiederum in noch kleinere Gruppen oder Formationen einzutheilen; endlich kann auch jede Formation wieder in Etagen oder Unterformationen, und jede von dieſen wiederum in noch kleinere Lagen, Bänke u. ſ. w. ein⸗ getheilt werden. Jedes der fünf großen Terrains wurde während eines großen Hauptabſchnittes der Erdgeſchichte, während eines Zeitalters abgelagert; jedes Syſtem während einer kürzeren Pe— riode, jede Formation während einer noch kürzeren Epoche u. ſ. w. Indem wir ſo die Zeiträume der organiſchen Erdgeſchichte und die während derſelben abgelagerten neptuniſchen und verſteinerungsfüh— renden Erdſchichten in ein gegliedertes Syſtem bringen, verfahren wir genau wie die Hiſtoriker, welche die Völkergeſchichte in die drei Haupt— abſchnitte des Alterthums, des Mittelalters und der Neuzeit, und jeden dieſer Abſchnitte wieder in untergeordnete Perioden und Epochen ein— theilen. Wie aber der Hiſtoriker durch dieſe ſcharfe ſyſtematiſche Ein— theilung und durch die beſtimmte Abgrenzung der Perioden durch einzelne Jahreszahlen nur die Ueberſicht erleichtern und keineswegs den ununter— brochenen Zuſammenhang der Ereigniſſe und der Völkerentwickelung leugnen will, ſo gilt ganz daſſelbe auch von unſerer ſyſtematiſchen Ein— theilung, Specification oder Claſſification der organiſchen Erdgeſchichte. Auch hier geht der rothe Faden der zuſammmenhängenden Entwickelung überall ununterbrochen hindurch. Wir verwahren uns alſo ausdrück— lich gegen die Anſchauung, als wollten wir durch unſere ſcharfe Ab— grenzung der größeren und kleineren Schichtengruppen und der ihnen entſprechenden Zeiträume irgendwie an Cuvier's Lehre von den Erdrevolutionen und von den wiederholten Neuſchöpfungen der orga⸗ niſchen Bevölkerung anknüpfen. Daß dieſe irrige Lehre durch Lyell längſt gründlich widerlegt iſt, habe ich Ihnen bereits früher gezeigt. (S. 48, 99). Die fünf Zeitalter der organischen Erdgeſchichte. 295 Die fünf großen Hauptabſchnitte der organiſchen Erdgeſchichte oder der paläontologiſchen Entwickelungsgeſchichte bezeichnen wir als primordiales, primäres, ſecundäres, tertiäres und quartäres Zeitalter. Jedes iſt durch die vorwiegende Entwickelung beſtimmter Thier- und Pflanzengruppen in demſelben beſtimmt charakteriſirt, und wir könnten demnach auch die fünf Zeitalter einerſeits durch die natürlichen Haupt— gruppen des Pflanzenreichs, andrerſeits durch die verſchiedenen Klaſſen des Wirbelthierſtammes anſchaulich bezeichnen. Dann wäre das erſte oder primordiale Zeitalter dasjenige der Tange und Rohrherzen, das zweite oder primäre Zeitalter das der Farne und Fiſche, das dritte oder ſecundäre Zeitalter das der Nadelwälder und Schleicher, das vierte oder tertiäre Zeitalter das der Laubwälder und Säuge— thiere, endlich das fünfte oder quartäre Zeitalter dasjenige des Men— ſchen und ſeiner Cultur. Die Abſchnitte oder Perioden, welche wir in jedem der fünf Zeitalter unterſcheiden, werden durch die verſchiedenen Syſteme von Schichten beſtimmt, in die jedes der fünf großen Terrains zerfällt. Laſſen Sie uns jetzt noch einen flüchtigen Blick auf die Reihe dieſer Syſteme und zugleich auf die charakteriſtiſche Bevölkerung der fünf großen Zeitalter werfen. Den erſten und längſten Hauptabſchnitt der organiſchen Erdge— ſchichte bildet die Primordialzeit oder das Zeitalter der Tangwälder, das auch das archolithiſche oder archozoiſche Zeit— alter genannt wird. Es umfaßt den ungeheuren Zeitraum von der erſten Urzeugung, von der Entſtehung des erſten irdiſchen Orga— nismus, bis zum Ende der ſiluriſchen Schichtenbildung. Während dieſes unermeßlichen Zeitraumes, welcher wahrſcheinlich viel länger war, als alle übrigen vier Zeiträume zuſammengenommen, lagerten ſich die drei mächtigſten von allen neptuniſchen Schichtenſyſtemen ab, nämlich zu unterſt das laurentiſche, darüber das cambriſche und darüber das ſiluriſche Syſtem. Die ungefähre Dicke oder Mäch— tigkeit dieſer drei Syſteme zuſammengenommen beträgt ſiebzigtauſend Fuß. Davon kommen ungefähr 30,000 auf das laurentiſche, 18,000 auf das cambriſche und 22,000 auf das ſiluriſche Syſtem. Die 296 Primordialzeit oder Zeitalter der Tangwälder. durchſchnittliche Mächtigkeit aller vier übrigen Terrains, des primären, ſecundären, tertiären und quartären zuſammengenommen, mag da— gegen etwa höchſtens 60,000 Fuß betragen, und ſchon hieraus, ab— geſehen von vielen anderen Gründen, ergiebt ſich, daß die Dauer der Primordialzeit wahrſcheinlich viel länger war, als die Dauer der fol— genden Zeitalter bis zur Gegenwart zuſammengenommen. Viele Millionen von Jahrtauſenden müſſen zur Ablagerung ſolcher Schichten— maſſen erforderlich geweſen ſein. Leider befindet ſich der bei weitem größte Theil der primordialen Schichtengruppen in dem ſogleich zu erörternden metamorphiſchen Zuſtande, und dadurch ſind die in ihnen enthaltenen Verſteinerungen, die älteſten und wichtigſten von allen, größtentheils zerſtört und unkenntlich geworden. Nur aus einem Theile der cambriſchen und ſiluriſchen Schichten ſind Petrefacten in größerer Menge und in kenntlichem Zuſtande erhalten worden. Die älteſte von allen deutlich erhaltenen Verſteinerungen, das ſpäter noch zu be— ſchreibende „kanadiſche Morgenweſen“ (Eozoon canadense) iſt in den unterſten laurentiſchen Schichten (in der Ottawaformation) ge— funden worden. Trotzdem die primordialen oder archolithiſchen Verſteinerungen uns nur zum bei weitem kleinſten Theile in kenntlichem Zuſtande er— halten ſind, beſitzen dieſelben dennoch den Werth unſchätzbarer Docu— mente für dieſe älteſte und dunkelſte Zeit der organiſchen Erdgeſchichte. Zunächſt ſcheint daraus hervorzugehen, daß während dieſes ganzen ungeheuren Zeitraums nur Waſſerbewohner exiſtirten. Wenigſtens iſt bis jetzt unter allen archolithiſchen Petrefacten noch kein einziges gefunden worden, welches man mit Sicherheit auf einen landbewohnen— den Organismus beziehen könnte. Alle Pflanzenreſte, die wir aus der Primordialzeit beſitzen, gehören zu der niedrigſten von allen Pflanzengruppen, zu der im Waſſer lebenden Klaſſe der Tange oder Algen. Dieſe bildeten in dem warmen Urmeere der Primordialzeit mächtige Wälder, von deren Formenreichthum und Dichtigkeit uns noch heutigen Tages ihre Epigonen, die Tangwälder des atlantiſchen Sargaſſomeeres eine ungefähre Vorſtellung geben mögen. Die co> Primärzeit oder Zeitalter der Farnwälder. 297 loſſalen Tangwälder der archolithiſchen Zeit erſetzten damals die noch gänzlich fehlende Waldvegetation des Feſtlandes. Gleich den Pflanzen lebten auch alle Thiere, von denen man Reſte in den archolithiſchen Schichten gefunden hat, im Waſſer. Von den Gliederfüßern finden ſich nur Krebsthiere, noch keine Spinnen und Inſecten. Von den Wirbelthieren ſind nur ſehr wenige Fiſchreſte bekannt, welche ſich in den jüngſten von allen primordialen Schichten, in der oberen Silur— formation vorfinden. Dagegen müſſen die kopfloſen Wirbelthiere, welche wir Rohrherzen oder Leptocardier nennen, und aus denen ſich die Fiſche erſt entwickeln konnten, maſſenhaft während der Primordialzeit gelebt haben. Daher können wir ſie ſowohl nach den Rohrherzen als nach den Tangen benennen. Die Primärzeit oder das Zeitalter der Farnwälder, der zweite Hauptabſchnitt der organiſchen Erdgeſchichte, welchen man auch das paläolithiſche oder paläozoiſche Zeitalter nennt, dauerte vom Ende der ſiluriſchen Schichtenbildung bis zum Ende der permiſchen Schichtenbildung. Auch dieſer Zeitraum war von ſehr langer Dauer und zerfällt wiederum in drei Perioden, während deren ſich drei mächtige Schichtenſyſteme ablagerten, nämlich zu unterſt das dev o- niſche Syſtem oder der alte rothe Sandſtein, darüber das car— boniſche oder Steinkohlenſyſtem, und darüber das permiſche Sy— ſtem oder der neue rothe Sandſtein und der Zechſtein. Die durch— ſchnittliche Dicke dieſer drei Syſteme zuſammengenommen mag etwa 42,000 Fuß betragen, woraus ſich ſchon die ungeheure Länge der für ihre Bildung erforderlichen Zeiträume ergiebt. Die devoniſchen und permiſchen Formationen ſind vorzüglich reich an Fiſchreſten, ſowohl an Urfiſchen, als an Schmelzßfiſchen. Aber noch fehlen in der primären Zeit gänzlich die Knochenfiſche. In der Steinkohle finden ſich die älteſten Reſte von landbewohnenden Thieren, und zwar ſowohl Gliederfüßern (Spinnen und Inſecten) als Wirbelthieren (Amphibien). Im permiſchen Syſtem kommen zu den Amphibien noch die höher entwickelten Schleicher oder Reptilien, und zwar unſeren Eidechſen nahverwandte Formen (Proterosaurus ꝛ2c.). 298 Secundärzeit oder Zeitalter der Nadelwälder. Trotzdem können wir das primäre Zeitalter das der Fiſche nennen, weil dieſe wenigen Amphibien und Reptilien ganz gegen die unge— heure Menge der paläolithiſchen Fiſche zurücktreten. Ebenſo wie die Fiſche unter den Wirbelthieren, ſo herrſchen unter den Pflanzen wäh— rend dieſes Zeitraums die Farnpflanzen oder Filieinen vor, und zwar ſowohl echte Farnkräuter und Farnbäume (Geopteriden), als Schaftfarne (Calamophyten) und Schuppenfarne (Lepidophy⸗ ten). Dieſe landbewohnenden Farne oder Filicinen bildeten die Hauptmaſſe der dichten paläolithiſchen Inſelwälder, deren foſſile Reſte uns in den ungeheuer mächtigen Steinkohlenlagern des carbo— niſchen Syſtems, und in den ſchwächeren Kohlenlagern des devoni— ſchen und permiſchen Syſtems erhalten ſind. Sie berechtigen uns, die Primärzeit eben ſowohl das Zeitalter der Farne, als das der Fiſche zu nennen. Der dritte große Hauptabſchnitt der paläontologiſchen Entwicke— lungsgeſchichte wird durch die Secundärzeit oder das Zeitalter der Na delwälder gebildet, welches auch das meſolithiſche oder meſozoi— ſche Zeitalter genannt wird. Es reicht vom Ende der permiſchen Schichtenbildung bis zum Ende der Kreideſchichtenbildung, und zer— fällt abermals in drei große Perioden. Die währenddeſſen abgela- gerten Schichtenſyſteme ſind zu unterſt das Trias ſyſtem, in der Mitte das Juraſyſtem, und zu oberſt das Kreideſyſtem. Die durch— ſchnittliche Dicke dieſer drei Syſteme zuſammengenommen bleibt ſchon weit hinter derjenigen der primären Syſteme zurück und beträgt im Ganzen nur ungefähr 15,000 Fuß. Die Secundärzeit wird demnach wahrſcheinlich nicht halb ſo lang als die Primärzeit geweſen ſein. Wie in der Primärzeit die Fiſche, ſo herrſchen in der Secundär— zeit die Schleicher oder Reptilien über alle übrigen Wirbel- thiere vor. Zwar entſtanden während dieſes Zeitraums die erſten Vögel und Säugethiere; auch lebten damals wichtige Amphibien, und zu den zahlreich vorhandenen Urfiſchen und Schmelzfiſchen der älteren Zeit geſellten ſich die erſten Knochenfiſche. Allein die ganz charakte— riſtiſche und überwiegende Wirbelthierklaſſe der Secundärzeit bildeten Tertiärzeit oder Zeitalter der Laubwälder. 299 die höchſt mannichfaltig entwickelten Reptilien. Neben ſolchen Schlei— chern, welche den heute noch lebenden Eidechſen, Krokodilen und Schildkröten ſehr nahe ſtanden, wimmelte es in der meſolithiſchen Zeit überall von abenteuerlich geſtalteten Drachen, welche Meer, Land und Luft belebten. Insbeſondere ſind die merkwürdigen fliegenden Eidechſen oder Pteroſaurier, die ſchwimmenden Seedrachen oder Haliſaurier und die coloſſalen Landdrachen oder Dinoſaurier der Secundärzeit ganz eigenthümlich, da ſie weder vorher noch nachher lebten. Wie man demgemäß die Secundärzeit auch das Zeitalter der Schleicher oder Reptilien nennen könnte, ſo könnte ſie andrerſeits auch das Zeitalter der Nadelwälder, oder genauer der Gymnoſper— men oder Nacktſamenpflanzen heißen. Denn dieſe Pflanzen— gruppe, vorzugsweiſe durch die beiden wichtigen Klaſſen der Nadel— hölzer oder Coniferen und der Palmfarne oder Cycadeen vertreten, ſetzte während der Secundärzeit ganz überwiegend den Be— ſtand der Wälder zuſammen. Die farnartigen Pflanzen traten da— gegen zurück und die Laubhölzer entwickelten ſich erſt gegen Ende des Zeitalters, in der Kreidezeit. Viel kürzer und weniger eigenthümlich als dieſe drei erſten Zeit— alter war der vierte Hauptabſchnitt der organiſchen Erdgeſchichte, die Tertiärzeit oder das Zeitalter der Laubwälder. Dieſer Zeitraum, welcher auch cenolithiſches oder cenozoiſches Zeitalter heißt, erſtreckte ſich vom Ende der Kreideſchichtenbildung bis zum Ende der pliocenen Schichtenbildung. Die während deſſen abgelagerten Schich— ten erreichen nur ungefähr eine mittlere Mächtigkeit von 3000 Fuß und bleiben demnach weit hinter den drei erſten Terrains zurück. Auch ſind die drei Syſteme, welche man in dem tertiären Terrain unterſchei— det, nur ſchwer von einander zu trennen. Das älteſte derſelben heißt eocenes oder alttertiäres, das mittlere miocenes oder mittelter— tiäres und das jüngſte pliocenes oder neutertiäres Syſtem. Die geſammte Bevölkerung der Tertiärzeit nähert ſich im Ganzen und im Einzelnen ſchon viel mehr derjenigen der Gegenwart, als es in den vor— hergehenden Zeitaltern der Fall war. Unter den Wirbelthieren überwiegt 300 Quartärzeit oder Zeitalter der Culturwälder. von nun an die Klaſſe der Säugethiere bei weitem alle übrigen. Ebenſo herrſcht in der Pflanzenwelt die formenreiche Gruppe der Deck— ſamenpflanzen oder Angioſpermen vor, deren Laubhölzer die charakteriſtiſchen Laubwälder der Tertiärzeit bildeten. Die Ab⸗ theilung der Angioſpermen beſteht aus den beiden Klaſſen der Ein— keimblättrigen oder Monocotyledonen und der Zweikeimblättrigen oder Dicotyledonen. Zwar hatten ſich Angioſpermen aus beiden Klaſſen ſchon in der Kreidezeit gezeigt, und Säugethiere treten ſchon in der Jurazeit oder ſelbſt in dem jüngſten Abſchnitt der Triaszeit auf. Allein beide Gruppen, Säugethiere und Deckſamenpflanzen, erreichen ihre eigentliche Entwickelung und Oberherrſchaft erſt in der Tertiärzeit, ſo daß man dieſe mit vollem Rechte danach benennen kann. Den fünften und letzten Hauptabſchnitt der organiſchen Erdgeſchichte bildet die Quartärzeit oder Culturzeit, derjenige, gegen die Länge der vier übrigen Zeitalter verſchwindend kurze Zeitraum, den wir gewöhnlich in komiſcher Selbſtüberhebung die „Weltgeſchichte“ zu nennen pflegen. Da die Ausbildung des Menſchen und ſeiner Cultur, welche mächtiger als alle früheren Vorgänge auf die orga— niſche Welt umgeſtaltend einwirkte, dieſes Zeitalter charakteriſirt, ſo könnte man daſſelbe auch die Menſchenzeit, das anthropolithiſche oder anthropozoiſche Zeitalter nennen. Es könnte auch das Zeital— ter der Culturwälder oder der Gärten heißen, weil ſelbſt auf den niedrigeren Stufen der menſchlichen Cultur ihr umgeſtaltender Einfluß ſich bereits in der Benutzung der Wälder und ihrer Erzeugniſſe, und ſomit auch in der Phyſiognomie der Landſchaft bemerkbar macht. Geologiſch können wir den Beginn dieſes Zeitalters, welches bis zur Gegenwart reicht, durch das Ende der pliocenen Schichtenablagerung bezeichnen. Die neptuniſchen Schichten, welche während des verhält— nißmäßig kurzen quartären Zeitraums abgelagert wurden, ſind an den verſchiedenen Stellen der Erde von ſehr verſchiedener, meiſt aber von ſehr geringer Dicke. Man bringt dieſelben in zwei verſchiedene Sy— ſteme, von denen man das ältere als diluvial oder pleiſtocen, das neuere als alluvial oder recent bezeichnet. Unmeßbare Länge der organiſchen Erdgeſchichte. 301 Der biologiſche Charakter der Quartärzeit liegt weſentlich in der Entwickelung und Ausbreitung des menſchlichen Organismus und ſeiner Cultur. Weit mehr als jeder andere Organismus hat der Menſch umgeſtaltend, zerſtörend und neubildend auf die Thier- und Pflanzenbevölkerung der Erde eingewirkt. Aus dieſem Grunde, — nicht weil wir dem Menſchen im Uebrigen eine privilegirte Aus— nahmeſtellung in der Natur einräumen — können wir mit vollem Rechte die Ausbreitung des Menſchen mit ſeiner Cultur als Beginn eines beſonderen letzten Hauptabſchnitts der organiſchen Erdgeſchichte bezeichnen. Wahrſcheinlich fand allerdings die körperliche Entwickelung des Urmenſchen aus menſchenähnlichen Affen bereits in der jüngeren oder pliocenen, vielleicht ſogar ſchon in der mittleren oder miocenen Tertiärzeit ſtatt. Allein die eigentliche Entwickelung der menſchli— chen Sprache, welche wir als den wichtigſten Hebel für die Ausbil— dung der eigenthümlichen Vorzüge des Menſchen und ſeiner Herrſchaft über die übrigen Organismen betrachten, fällt wahrſcheinlich erſt in jenen Zeitraum, welchen man aus geologiſchen Gründen als pleiſto— cene oder diluviale Zeit von der vorhergehenden Pliocenperiode trennt. Jedenfalls iſt derjenige Zeitraum, welcher ſeit der Entwickelung der menſchlichen Sprache bis zur Gegenwart verfloß, mag derſelbe auch viele Jahrtauſende und vielleicht Hunderttauſende von Jahren in An— ſpruch genommen haben, verſchwindend gering gegen die unermeß— liche Länge der Zeiträume, welche vom Beginn des organiſchen Lebens auf der Erde bis zur Entſtehung des Menſchengeſchlechts verfloſſen. Man hat viele Verſuche angeſtellt, die Zahl der Jahrtauſende, welche dieſe Zeiträume zuſammenſetzen, annähernd zu berechnen. Man verglich die Dicke der Schlammſchichten, welche erfahrungsge— mäß während eines Jahrhunderts ſich abſetzen, und welche nur we— nige Linien oder Zolle beträgt, mit der geſammten Dicke der geſchich— teten Geſteinsmaſſen, deren ideales Syſtem wir ſoeben überblickt ha— ben. Dieſe Dicke mag im Ganzen durchſchnittlich ungefähr 130,000 Fuß betragen, und hiervon kommen 70,000 auf das primordiale oder archolithiſche, 42,000 auf das primäre oder paläolithiſche, 15,000 auf 302 Unmeßbare Länge der organiſchen Erdgeſchichte. das ſecundäre oder meſolithiſche und endlich nur 3000 auf das tertiäre oder cenolithiſche Terrain. Die ſehr geringe und nicht annähernd be— ſtimmbare durchſchnittliche Dicke des quartären oder anthropolithiſchen Terrains kommt dabei gar nicht in Betracht. Die Dicke der Schlammſchichten, welche während eines Jahr— hunderts ſich in der Gegenwart ablagern, und welche man als Baſis jenes einfachen Rechenexempels benutzt, iſt an den verſchiedenen Stel— len der Erde unter den ganz verſchiedenen Bedingungen, unter denen überall die Ablagerung ſtattfindet, natürlich ganz verſchieden. Sie iſt ſehr gering auf dem Boden des hohen Meeres, in den Betten breiter Flüſſe mit kurzem Laufe, und in Landſeen, welche ſehr dürftige Zu— flüffe erhalten. Sie iſt verhältnißmäßig bedeutend an Meeresküſten mit ſtarker Brandung, am Ausfluß großer Ströme mit langem Lauf und in Landſeen mit ſtarken Zuflüſſen. An der Mündung des Miſſi⸗ ſippi, welcher ſehr bedeutende Schlammmaſſen mit ſich fortführt, würden in 100,000 Jahren nur etwa 600 Fuß abgelagert werden. Auf dem Grunde des offenen Meeres, weit von den Küſten entfernt, werden ſich während dieſes langen Zeitraums nur wenige Fuß Schlamm ab— ſetzen. Selbſt an den Küſten, wo verhältnißmäßig viel Schlamm ab— gelagert wird, mag die Dicke der dadurch während eines Jahrhun— derts gebildeten Schichten, wenn fie nachher ſich zu feſtem Geſteine ver- dichtet haben, doch nur wenige Zolle oder Linien betragen. Jeden— falls aber bleiben alle auf dieſes Verhältniß gegründeten Berechnungen ganz unſicher, und wir können uns auch nicht einmal annähernd die ungeheure Länge der Zeiträume vorſtellen, welche zur Bildung jener neptuniſchen Schichtenſyſteme erforderlich waren. Nur relative, nicht abſolute Zeitmaße ſind hier anwendbar. Man würde übrigens auch vollkommen fehlgehen, wenn man die Mächtigkeit jener Schichtenſyſteme allein als Maßſtab für die inzwiſchen wirklich verfloſſene Zeit der Erdgeſchichte betrachten wollte. Denn Hebungen und Senkungen der Erdrinde haben beſtändig mit einander gewechſelt, und aller Wahrſcheinlichkeit nach entſpricht der mineralogiſche und paläontologiſche Unterſchied, den man zwiſchen je Wechſel der Senkungszeiträume und Hebungszeiträume. 303 zwei auf einanderfolgenden Schichtenſyſtemen und zwiſchen je zwei For— mationen derſelben wahrnimmt, einem beträchtlichen Zwiſchenraum von vielen Jahrtauſenden, während deſſen die betreffende Stelle der Erdrinde über das Waſſer gehoben war. Erſt nach Ablauf dieſer Zwiſchenzeit, als eine neue Senkung dieſe Stelle wieder unter Waſſer brachte, fand die Ablagerung einer neuen Bodenſchicht ſtatt. Da aber inzwiſchen die anorganiſchen und organiſchen Verhältniſſe an dieſem Orte eine beträchtliche Umbildung erfahren hatten, mußte die neugebildete Schlammſchicht aus verſchiedenen Bodenbeſtandtheilen zu— ſammengeſetzt ſein und verſchiedene Verſteinerungen einſchließen. Die auffallenden Unterſchiede, die zwiſchen den Verſteinerungen zweier übereinander liegenden Schichten ſo häufig ſtattfinden, ſind ein— fach und leicht nur durch die Annahme zu erklären, daß derſelbe Punkt der Erdoberfläche wiederholten Senkungen und He— bungen ausgeſetzt wurde. Noch gegenwärtig finden ſolche wechſelnde Hebungen und Senkungen, welche wir der Reaction des feuerflüſſigen Erdkerns gegen die erſtarrte Rinde zuſchreiben, in weiter Ausdehnung ſtatt. So ſteigt z. B. die Küſte von Schweden und ein Theil von der Weſtküſte Südamerikas beſtändig langſam empor, während die Küſte von Holland und ein Theil von der Oſtküſte Südamerikas lang— ſam unterſinkt. Das Steigen wie das Sinken geſchieht nur ſehr lang— ſam und beträgt im Jahrhundert bald nur einige Linien, bald einige Zoll oder höchſtens einige Fuß. Wenn aber dieſe Bewegung hun— derte von Jahrtauſenden hindurch ununterbrochen andauert, wird ſie fähig, die höchſten Gebirge zu bilden. Offenbar haben ähnliche Hebungen und Senkungen, wie ſie an jenen Stellen noch heute zu meſſen ſind, während des ganzen Ver— laufs der organiſchen Erdgeſchichte ununterbrochen an verſchiedenen Stellen mit einander gewechſelt. Nun iſt es aber für die Beurthei— lung unſerer paläontologiſchen Schöpfungsurkunde außerordentlich wichtig, ſich klar zu machen, daß bleibende Schichten ſich bloß wäh— rend langſamer Senkung des Bodens unter Waſſer ablagern können, nicht aber während andauernder Hebung. Wenn der Boden langſam 304 Hebungszeiträume oder Anteperioden. mehr und mehr unter den Meeresſpiegel verſinkt, ſo gelangen die ab— gelagerten Schlammſchichten in immer tieferes und ruhigeres Waſſer, wo ſie ſich ungeſtört zu Geſtein verdichten können. Wenn ſich dagegen umgekehrt der Boden langſam hebt, ſo kommen die ſoeben abgelager— ten Schlammſchichten, welche Reſte von Pflanzen und Thieren um— ſchließen, ſogleich wieder in den Bereich des Wogenſpiels, und wer— den durch die Kraft der Brandung alsbald nebſt den eingeſchloſſenen organiſchen Reſten zerſtört. Aus dieſem einfachen, aber ſehr gewich— tigen Grunde können alſo nur während einer andauernden Senkung des Bodens ſich reichlichere Schichten ablagern, in denen die organi— ſchen Reſte erhalten bleiben. Wenn je zwei verſchiedene übereinan— der liegende Formationen oder Schichten mithin zwei verſchiedenen Senkungsperioden entſprechen, ſo müſſen wir zwiſchen dieſen letzteren einen langen Zeitraum der Hebung annehmen, von dem wir gar Nichts wiſſen, weil uns keine foſſilen Reſte von den damals lebenden Thieren und Pflanzen aufbewahrt werden konnten. Offenbar ver— dienen aber dieſe ſpurlos dahingegangenen größeren und kleineren Hebungszeiträume nicht geringere Berückſichtigung als die damit abwechſelnden größeren und kleineren Senkungszeit räume, von de— ren organiſcher Bevölkerung uns die verſteinerungsführenden Schichten eine ungefähre Vorſtellung geben. Wahrſcheinlich waren die erſteren von nicht geringerer Dauer als die letzteren. Man kann dieſe ſehr wichtigen verſteinerungsloſen Hebungszeit— räume ganz paſſend ihrem relativen Alter nach dadurch bezeichnen, daß man vor den Namen des darauf folgenden verſteinerungsbildenden Senkungszeitraums das Wörtchen „Ante“ (Bor) ſetzt. So z. B. würde die lange Hebungsperiode, welche zwiſchen Ablagerung der jüngſten ſiluriſchen und der älteſten devoniſchen Schichten verfloß, als Antedevonperiode zu bezeichnen fein, die lange Hebungszeit, welche zwiſchen Bildung der jüngſten Trias- und der älteften Jura- ſchichten verfloß, als Antejuraperiode u. ſ. w. Offenbar iſt die gehörige Berückſichtigung dieſer Zwiſchenzeiten oder „Anteperio— den,“ von denen wir keine Verſteinerungen beſitzen, von der größten / | | | Hebungsperioden oder Anteperioden. 305 Wichtigkeit, wenn man die hiſtoriſche Bedeutung der Verſteinerungsur— kunde mit der richtigen Kritik beurtheilen will. Schon hieraus wird ſich Ihnen ergeben, wie unvollſtändig unſere Urkunde nothwendig ſein muß, um ſo mehr, da ſich theoretiſch erweiſen läßt, daß gerade wäh— rend der Hebungszeiträume das Thier- und Pflanzenleben an Mannich— faltigkeit zunehmen mußte. Denn indem neue Strecken Landes über das Waſſer gehoben werden, bilden ſich neue Inſeln. Jede neue Inſel iſt aber ein neuer Schöpfungsmittelpunkt, weil die zufällig dorthin verſchla— genen Thiere und Pflanzen auf dem neuen Boden im Kampf um's Daſein reiche Gelegenheit finden, ſich eigenthümlich zu entwickeln, und neue Arten zu bilden. Gerade die Bildung neuer Arten hat offenbar während dieſer Zwiſchenzeiten, aus denen uns leider keine Verſteine— rungen erhalten bleiben konnten, vorzugsweiſe ſtattgefunden, wäh— rend umgekehrt bei der langſamen Senkung des Bodens eher Gele— genheit zum Ausſterben zahlreicher Arten, und zu einem Rückſchritt in der Artenbildung gegeben war. Auch die Zwiſchenformen zwiſchen den alten und den neu ſich bildenden Species werden vorzugsweiſe während jener Hebungszeiträume gelebt haben, und konnten da— her ebenfalls keine foſſilen Reſte hinterlaſſen. Die Anzahl der Schöpfungsperioden und ihrer untergeordneten Zeitabſchnitte, welche die Geologie bisher unterſchied, wird durch die gehörige Berückſichtigung der Anteperioden verdoppelt. Während man gewöhnlich in der organiſchen Erdgeſchichte nur die Senkungs— zeiträume berückſichtigte, und dieſe nach den darin gebildeten Schichten— ſyſtemen benannte, müſſen wir nun zwiſchen je zwei Senkungsperio— den eine Hebungsperiode oder Anteperiode einſchalten. So erhalten wir die nachſtehende Reihe von Geſchichtsperioden, welche die Ge— ſammtheit des organiſchen Lebens auf der Erde umfaſſen (S. 306). Das gegenüberſtehende Syſtem der verſteinerungsführenden Erd— ſchichten nennt Ihnen außer den vorher angeführten Schichtenſyſtemen auch die untergeordneten Schichtengruppen oder Formationen, in welche man die erſteren einzutheilen pflegt. Haeckel, Natürliche Schöpfungsgeſchichte. 20 306 Uebersicht der paläontologischen Perioden oder der grösseren Zeitabschnitte der organischen Erdgeschichte. I. Erster Zeitraum: Archolithisches Zeitalter. Primordial- Zeit. (Zeitalter der Rohrherzen und der Tangwälder.) Aeltere 1. Erste Periode: Antelaurentische Zeit Primordialzeit | 2. Zweite Periode: Laurentische Zeit Mittlere 3. Dritte Periode: Antecambrische Zeit Primordialzeit 4. Vierte Periode: Cambrische Zeit Neuere 5. Fünfte Periode: Antesilurische Zeit 8 6. Sechste Periode: Silurische Zeit. II. Zweiter Zeitraum: Paläolithisches Zeitalter. (Zeitalter der Fische und der Farnwälder.) Primär-Zeit. Aeltere 7. Siebente Periode: Antedevonische Zeit Primärzeit | 8. Achte Periode: Devonische Zeit Mittlere 8. Neunte Periode: Antecarbonische Zeit Primärzeit 1 10. Zehnte Periode: Steinkohlen-Zeit Neuere 11. Elfte Periode: Antepermische Zeit Primärzeit 12. III. Dritter Zeitraum: Mesolithisches Zeitalter. Zwölfte Periode: Permische Zeit. Secundär-Zeit. (Zeitalter der Reptilien und der Nadelwälder.) Aeltere | 13. Dreizehnte Periode: Antetrias-Zeit Secundärzeit 14. Vierzehnte Periode: Trias-Zeit Mittlere 15. Fünfzehnte Periode: Antejura-Zeit Secundärzeit 155 Sechzehnte Periode: Jura-Zeit Neuere 17. Siebzehnte Periode: Antecreta-Zeit Secundärzeit 05 Achtzehnte Periode: Kreide-Zeit. IV. Vierter Zeitraum: Cenolithisches Zeitalter. Tertiär-Zeil. (Zeitalter der Säugethiere und der Laubwälder.) Aeltere 19. Tertiärzeit 20. Mittlere ( 21. 22. Neuere 23. Tertiärzeit 124. Tertiärzeit Neunzehnte Periode: Zwanzigste Periode: Einundzwanzigste Periode: Zweiundzwanzigste Periode: Dreiundzwanzigste Periode: Vierundzwanzigste Periode: Anteocene Zeit Eocene Zeit Antemiocene Zeit Miocene Zeit Antepliocene Zeit Pliocene Zeit. V. Fünfter Zeitraum: Anthropolithisches Zeitalter. Quartär-Zeit. (Zeitalter der Menschen und der Culturwälder.) Aeltere 25. Fünfundzwanzigste Periode: Eiszeit Quartärzeit |26. Sechsundzwanzigste Periode: Neuere 27. Siebenundzwanzigste Periode: Quartärzeit 28. Achtundzwanzigste Periode: Postglacial-Zeit Dualistische Cultur-Zeit Monistische Cultur-Zeit. 307 Uebersicht der paläontologischen Formationen oder der versteinerungsführenden Schichten der Erdrinde. Terrains | Systeme | Formationen 5 sig der Formationen V. Qu: uartäre XIV. R ecent 36. Praesent Oberalluviale Te 1 . 5 5 ns (Alluvium) 35. Recent Unteralluviale anthropolithische | XIII. Pleistocen (34. Postglacial Oberdiluviale br (Diluvium) N 33. Glacial Unterdiluviale XII. Pliocen 32. Arvern Oberpliocene IV. Tertiäre (Neutertiär) 31. Subapennin Unterpliocene Terrains XI. Miocen 30. Falun Obermiocene oder (Mitteltertiär) 29. Limburg Untermiocene cenolithische 5 8. Gyps Obereocene (cenozoische) N 7. Grobkalk Mitteleocene Schiehtengruppen Wa) 2 26. Londonthon Untereocene 25. Weisskreide Oberkreide 24. Grünsand Mittelkreide IX. Kreide 23. Neocom Unterkreide II. Secundäre 22. Wealden Wälderformation Terrains 21. Portland Oberoolith oder 20. Oxford Mitteloolith mesolithische VII Jura 19. Bath Unteroolith tee dische) 18. Lias Liasformation Sehichtengruppen 17. Keuper Obertrias VII. Trias 16. Muschelkalk Mitteltrias | 15. Buntsand Untertrias II. Primäre VI. Permisches (14. Zechstein Oberpermische Terrains (Neurothsand) | 13. Neurothsand Unterpermische oder V.Carbonisches 12. Kohlensand Obercarbonische paläolithische (Steinkohle) | 11. Kohlenkalk Unterearbonische (paläozoische) |" Dat ti SG 10. Pilton Oberdevonische Sehichtengruppen (Altrothsand) | 9. Zu er 8. Linton Unterdevonische 7. Ludlow Obersilurische I. Primordiale III. Silurisches 6. Landovery Mittelsilurische Terrains 5. Landeilo Untersilurische 5 80 4. Fotsdam Obercambrische archolithische II. Cambrisches | 3. Dongmymd Unterunkhieche (archozoische) 2. Labrador Oberlaurentische u ee Kalle | 1. Ottawa Unterlaurentische, 20 * 308 Metamorphiſcher Zuſtand der älteften neptuniſchen Schichten. Zu den ſehr bedeutenden und empfindlichen Lücken der paläonto- logiſchen Schöpfungsurkunde, welche durch die Anteperioden bedingt werden, kommen nun leider noch viele andere Umſtände hinzu, welche den hohen Werth derſelben außerordentlich verringern. Dahin gehört vor Allen der metamorphiſche Zuſtand der älteſten Schich— tengruppen, grade derjenigen, welche die Reſte der älteſten Flora und Fauna, der Stammformen aller folgenden Organismen enthalten, und dadurch von ganz beſonderem Intereſſe ſein würden. Grade dieſe Geſteine, und zwar der größere Theil der primordialen oder ar— cholithiſchen Schichten, faſt das ganze laurentiſche und ein großer Theil des cambriſchen Syſtems enthalten gar keine kenntlichen Reſte mehr, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil dieſe Schichten durch den Einfluß des feuerflüſſigen Erdinnern nachträglich wieder verändert oder metamorphoſirt worden ſind. Durch die Hitze des glühenden Erdkerns ſind dieſe tiefſten neptuniſchen Rindenſchichten in ihrer ur— ſprünglichen Schichtenſtructur gänzlich verändert und in einen kry— ſtalliniſchen Zuſtand übergeführt worden. Dabei ging aber die Form der darin eingeſchloſſenen organiſchen Reſte ganz verloren. Nur hie und da wurde ſie durch einen glücklichen Zufall erhalten, wie es bei dem äl— teſten bekannten Petrefacten, bei dem Eozoon canadense aus den un⸗ terſten laurentiſchen Schichten der Fall iſt. Jedoch können wir aus den Lagern von kryſtalliniſcher Kohle (Graphit) und kryſtalliniſchem Kalk (Marmor), welche ſich in den metamorphiſchen Primordialgeſteinen eingelagert finden, mit Sicherheit auf die frühere Anweſenheit von verſteinerten Pflanzen- und Thierreſten in denſelben ſchließen. Außerordentlich unvollſtändig wird unſere Schöpfungsurkunde durch den Umſtand, daß erſt ein ſehr kleiner Theil der Erdoberfläche genauer geologiſch unterſucht iſt, vorzugsweiſe England, Deutſchland und Frankreich. Dagegen wiſſen wir nur ſehr Wenig von den übri— gen Theilen Europas, von Rußland, Spanien, Italien, der Türkei. Hier ſind uns nur einzelne Stellen der Erdrinde aufgeſchloſſen; der bei weitem größte Theil derſelben iſt uns unbekannt. Daſſelbe gilt von Nordamerika und von Oſtindien. Hier ſind wenigſtens einzelne P ˙1AuM / / | | | | Geringe Ausdehnung der paläontologiſchen Erfahrungen. 309 Strecken unterſucht. Dagegen vom größten Theile Aſiens, des um— fangreichſten aller Welttheile, wiſſen wir faſt Nichts, — von Afrika faſt Nichts, ausgenommen das Kap der guten Hoffnung und die Mit— telmeerküſte, — von Neuholland faſt Nichts, von Südamerika nur ſehr Wenig. Sie ſehen alſo, daß erſt ein ganz kleines Stück, wohl kaum der zehntauſendſte Theil von der geſammten Erdoberfläche paläontolo— giſch erforſcht iſt. Wir können daher wohl hoffen, bei weiterer Ausbrei— tung der geologiſchen Unterſuchungen, denen namentlich die Anlage von Eiſenbahnen und Bergwerken ſehr zu Hilfe kommen wird, noch einen großen Theil wichtiger Verſteinerungen aufzufinden. Ein Finger— zeig dafür iſt uns durch die merkwürdigen Verſteinerungen gegeben, die man an den wenigen, genauer unterſuchten Punkten von Afrika und Aſien, in den Kapgegenden und am Himalaya aufgefunden hat. Eine Reihe von ganz neuen und ſehr eigenthümlichen Thierformen iſt uns dadurch bekannt geworden. Freilich müſſen wir andrerſeits er- wägen, daß der ausgedehnte Boden der jetzigen Meere vorläufig für die paläontologiſchen Forſchungen ganz unzugänglich iſt, und daß wir den größten Theil der hier ſeit uralten Zeiten begrabenen Verſteine— rungen entweder niemals oder im beſten Fall erſt nach Verlauf vieler Jahrtauſende werden kennen lernen, wenn durch allmähliche Hebungen der gegenwärtige Meeresboden mehr zu Tage getreten ſein wird. Wenn Sie bedenken, daß die ganze Erdoberfläche zu ungefähr drei Fünftheilen aus Waſſer und nur zu zwei Fünftheilen aus Feſtland be— ſteht, ſo können Sie ermeſſen, daß auch in dieſer Beziehung die pa— läontologiſche Urkunde eine ungeheure Lücke enthält. Nun kommen aber noch eine Reihe von Schwierigkeiten für die Paläontologie hinzu, welche in der Natur der Organismen ſelbſt begrün— det ſind. Vor allen iſt hier hervorzuheben, daß in der Regel nur harte und feſte Körpertheile der Organismen auf den Boden des Meeres und der ſüßen Gewäſſer gelangen und hier in Schlamm ein— geſchloſſen und verſteinert werden können. Es ſind alſo namentlich die Knochen und Zähne der Wirbelthiere, die Kalkſchalen der Weich— thiere und Sternthiere, die Chitinſkelete der Gliederthiere, die Kalk— 310 Geringer Bruchtheil der verſteinerungsfähigen Organismen. ſkelete der Corallen, ferner die holzigen, feſten Theile der Pflanzen, die einer ſolchen Verſteinernng fähig find. Die weichen und zarten Theile dagegen, welche bei den allermeiſten Organismen den bei wei— tem größten Theil des Körpers bilden, gelangen nur ſelten unter ſo günſtigen Verhältniſſen in den Schlamm, daß ſie verſteinern, oder daß ihre äußere Form deutlich in dem erhärtenden Schlamme ſich ab— drückt. Nun bedenken Sie, daß ganze große Klaſſen von Organis— men, wie z. B. die Meduſen, die nackten Mollusken, welche keine Schale haben, ein großer Theil der Gliederthiere, faſt alle Würmer und ſelbſt die niederſten Wirbelthiere gar keine feſten und harten, ver— ſteinerungsfähigen Körpertheile beſitzen. Ebenſo ſind gerade die wichtigſten Pflanzentheile, die Blüthen, meiſtens ſo weich und zart, daß ſie ſich nicht in kenntlicher Form conſerviren können. Von allen dieſen wichtigen Organismen werden wir naturgemäß auch gar keine verſteinerten Reſte zu finden erwarten können. Ferner ſind die Ju— gendzuſtände faſt aller Organismen ſo weich und zart, daß ſie gar nicht verſteinerungsfähig ſind. Was wir alſo von Verſteinerungen in den neptuniſchen Schichtenſyſtemen der Erdrinde vorfinden, das ſind nur ſelten ganze Körper, vielmehr meiſtens einzelne Bruchſtücke. Sodann iſt zu berückſichtigen, daß die Meerbewohner in einem viel höhern Grade Ausſicht haben, ihre todten Körper in den abgela— gerten Schlammſchichten verſteinert zu erhalten, als die Bewohner der ſüßen Gewäſſer und des Feſtlandes. Die das Land bewohnenden Organismen können in der Regel nur dann verſteinert werden, wenn ihre Leichen zufällig ins Waſſer fallen und auf dem Boden in erhär- tenden Schlammſchichten begraben werden, was von mancherlei Be— dingungen abhängig iſt. Daher kann es uns nicht Wunder nehmen, daß die bei weitem größte Mehrzahl der Verſteinerungen Organismen angehört, die im Meere lebten, und daß von den Landbewohnern verhältnißmäßig nur ſehr wenige im foſſilen Zuſtand erhalten ſind. Welche Zufälligkeiten hierbei ins Spiel kommen, mag Ihnen allein der Umſtand beweiſen, daß man von vielen foſſilen Säugethieren, insbeſondere von faſt allen Säugethieren der Secundärzeit, weiter Seltenheit vieler verſteinerter Arten. 311 Nichts kennt, als den Unterkiefer. Dieſer Knochen iſt erſtens verhält— nißmäßig feſt und löſt ſich zweitens ſehr leicht von dem todten Kadaver, das auf dem Waſſer ſchwimmt, ab. Während die Leiche vom Waſſer fortgetrieben und zerſtört wird, fällt der Unterkiefer auf den Grund des Waſſers hinab und wird hier vom Schlamm umſchloſſen. Dar— aus erklärt ſich allein die merkwürdige Thatſache, daß in einer Kalk— ſchicht des Juraſyſtems bei Oxford in England, in den Schiefern von Stonesfield, bis jetzt bloß die Unterkiefer von zahlreichen Beutelthieren gefunden worden ſind, den älteſten Säugethieren, welche wir kennen. Von dem ganzen übrigen Körper derſelben war auch nicht ein Kno⸗ chen mehr vorhanden. Ferner ſind in dieſer Beziehung auch die Fuß— ſpuren ſehr lehrreich, welche ſich in großer Menge in verſchiedenen aus— gedehnten Sandſteinlagern, z. B. in dem rothen Sandſtein von Con— necticut in Nordamerika, finden. Dieſe Fußtritte rühren offenbar von Wirbelthieren, wahrſcheinlich von Reptilien her, von deren Körper ſelbſt uns nicht die geringſte Spur erhalten geblieben iſt. Die Ab— drücke, welche ihre Füße im Schlamm hinterlaſſen haben, verrathen uns allein die vormalige Exiſtenz von dieſen uns ſonſt ganz unbekann— ten Thieren. Welche Zufälligkeiten außerdem noch die Grenzen unferer paläonto— logiſchen Kenntniſſe beſtimmen, können Sie daraus ermeſſen, daß man von ſehr vielen wichtigen Verſteinerungen nur ein einziges oder nur ein paar Exemplare kennt. Es iſt noch nicht zehn Jahre her, ſeit wir mit dem unvollſtändigen Abdruck eines Vogels aus dem Juraſyſtem bekannt wur- den, deſſen Kenntniß für die Phylogenie der ganzen Vögelklaſſe von der allergrößten Wichtigkeit war. Alle bisher bekannten Vögel ſtellten eine ſehr einförmig organiſirte Gruppe dar, und zeigten keine auffallenden Uebergangsbildungen zu anderen Wirbelthierklaſſen, auch nicht zu den nächſtverwandten Reptilien. Jener foſſile Vogel aus dem Jura dagegen beſaß keinen gewöhnlichen Vogelſchwanz, ſondern einen Eidechſenſchwanz, und beftätigte dadurch die aus anderen Gründen vermuthete Abjtam- mung der Vögel von den Eidechſen. Durch dieſes einzige Petrefact wurde alſo nicht nur unſere Kenntniß von dem Alter der Vogelklaſſe, 312 Urſache des Mangels foſſiler Zwiſchenformen. fondern auch von ihrer Blutsverwandtſchaft mit den Reptilien weſent⸗ lich erweitert. Ebenſo find unſere Kenntniſſe von anderen Thier— gruppen oft durch die zufällige Entdeckung einer einzigen Verſteine⸗ rung weſentlich umgeſtaltet worden. Da wir aber wirklich von ſehr vielen wichtigen Petrefacten nur ſehr wenige Exemplare oder nur Bruchſtücke kennen, fo muß auch aus dieſem Grunde die paläontolo— giſche Urkunde höchſt unvollſtändig ſein. Eine weitere und ſehr empfindliche Lücke derſelben iſt durch den Umſtand bedingt, daß die Zwiſchenformen, welche die verſchiede— nen Arten verbinden, in der Regel nicht erhalten ſind, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil dieſelben nach dem Princip der Divergenz des Charakters im Kampfe um's Daſein ungünſtiger geſtellt waren, als die am meiſten divergirenden Varietäten, die ſich aus einer und derſelben Stammform entwickelten. Die Zwiſchenglieder find im Ganzen immer raſch ausgeſtorben und haben ſich nur ſelten vollſtän⸗ dig erhalten. Die am ſtärkſten divergirenden Formen dagegen konn— ten ſich längere Zeit hindurch als ſelbſtſtändige Arten am Leben er— halten, ſich in zahlreichen Individuen ausbreiten und demnach auch leichter verſteinert werden. Dadurch iſt jedoch nicht ausgeſchloſſen, daß nicht in vielen Fällen auch die verbindenden Zwiſchenformen der Arten ſich ſo vollſtändig verſteinert erhielten, daß ſie noch gegenwär— tig die ſyſtematiſchen Paläontologen in die größte Verlegenheit ver— ſetzen und endloſe Streitigkeiten über die Grenzen der Arten her— vorrufen. Wenn Sie die hier angeführten Verhältniſſe erwägen, deren Reihe ſich leicht noch vermehren ließe, ſo werden Sie ſich nicht darüber wundern, daß der natürliche Schöpfungsbericht oder die Schöpfungs— urkunde, wie ſie durch die Verſteinerungen gebildet wird, ganz außer— ordentlich lückenhaft und unvollſtändig iſt. Aber dennoch haben die wirklich gefundenen Verſteinerungen den größten Werth. Ihre Bedeu— tung für die natürliche Schöpfungsgeſchichte iſt nicht geringer als die Bedeutung, welche die berühmte Inſchrift von Roſette und das Decret von Kanopus für die Völkergeſchichte, für die Archäologie und Philo— Unvollkommenheit der paläontologiſchen Schöpfungsurkunde. 313 logie beſitzen. Wie es durch dieſe beiden uralten Inſchriften möglich wurde, die Geſchichte des alten Egyptens außerordentlich zu erweitern, und die ganze Hieroglyphenſchrift zu entziffern, ſo genügen uns in vielen Fällen einzelne Knochen eines Thieres oder unvollſtändige Ab— drücke einer niederen Thier- oder Pflanzenform, um die wichtig— ſten Anhaltspunkte für die Geſchichte einer ganzen Gruppe und die Erkenntniß ihres Stammbaums zu gewinnen. Von der Unvollkommenheit des geologiſchen Schöpfungsberichtes ſagt Darwin, in Uebereinſtimmung mit Lyell, dem größten aller jetzt lebenden Geologen: „Der natürliche Schöpfungsbericht, wie ihn die Paläontologie liefert, iſt eine Geſchichte der Erde, unvollſtändig erhalten und in wechſelnden Dialecten geſchrieben, wovon aber nur der letzte, bloß auf einige Theile der Erdoberfläche ſich beziehende Band bis auf uns gekommen iſt. Doch auch von dieſem Bande iſt nur hie und da ein kurzes Capitel erhalten, und von jeder Seite ſind nur da und dort einige Zeilen übrig. Jedes Wort der langſam wechſelnden Sprache dieſer Beſchreibung, mehr oder weniger ver— ſchieden in der ununterbrochenen Reihenfolge der einzelnen Abſchnitte, mag den anſcheinend plötzlich wechſelnden Lebensformen entſprechen, welche in den unmittelbar auf einander liegenden Schichten unſerer weit von einander getrennten Formationen begraben liegen.“ Wenn Sie dieſe außerordentliche Unvollſtändigkeit der paläon= tologiſchen Urkunde ſich beſtändig vor Augen halten, ſo wird es Ihnen nicht wunderbar erſcheinen, daß wir noch auf ſo viele unſichere Hypotheſen angewieſen ſind, wenn wir wirklich den Stammbaum der verſchiedenen organiſchen Gruppen entwerfen wollen. Jedoch beſitzen wir glücklicher Weiſe außer den Verſteinerungen auch noch andere Urkunden für die Stammesgeſchichte der Organismen, welche in vielen Fällen von nicht geringerem und in manchen ſogar von viel höherem Werthe ſind als die Petrefacten. Die bei weitem wichtigſte von dieſen anderen Schöpfungsurkunden iſt ohne Zweifel die Onto— genie oder die Entwickelungsgeſchichte des organiſchen Individuums (Embryologie und Metamorphologie). Dieſe wiederholt uns kurz in 314 Die Schöpfungsurkunde der Ontogenie. großen, markigen Zügen das Bild der Formenreihe, welche die Vor— fahren des betreffenden Individuums von der Wurzel ihres Stam— mes an durchlaufen haben. Indem wir dieſe paläontologiſche Ent— wickelungsgeſchichte der Vorfahren als Stammesgeſchichte oder Phy— logenie bezeichneten, konnten wir den höchſt wichtigen Satz aus— ſprechen: „Die Ontogenie iſt eine kurze undſchnelle, durch die Geſetze der Vererbung und Anpaſſung bedingte Wiederholung oder Recapitulation der Phylogenie. In— dem jedes Thier und jedes Gewächs vom Beginn ſeiner individuellen Exiſtenz an eine Reihe von ganz verſchiedenen Formzuſtänden durch— läuft, deutet es uns in ſchneller Folge und in allgemeinen Umriſſen die lange und langſam wechſelnde Reihe von Formzuſtänden an, welche ſeine Ahnen ſeit den älteſten Zeiten durchlaufen haben (Gen. Morph. II. 6, 110, 300). Allerdings iſt die Skizze, welche uns die Ontogenie der Orga— nismen von ihrer Phylogenie giebt, in den meiſten Fällen mehr oder weniger verwiſcht, und zwar um ſo mehr, je mehr die Anpaſſung im Laufe der Zeit das Uebergewicht über die Vererbung erlangt hat, und je mächtiger das Geſetz der abgekürzten Vererbung und das Geſetz der wechſelbezüglichen Anpaſſung eingewirkt hat. Allein dadurch wird der hohe Werth nicht vermindert, welchen die wirklich treu er— haltenen Züge jener Skizze beſitzen. Beſonders für die Erkenntniß der früheſten Entwickelungszuſtände iſt die Ontogenie von ganz unſchätz— barem Werthe, weil gerade von den älteſten Entwickelungszuſtän— den der Stämme und Klaſſen uns gar keine verſteinerten Reſte er— halten worden ſind und auch ſchon wegen der weichen und zarten Körperbeſchaffenheit derſelben nicht erhalten bleiben konnten. Keine Verſteinerung könnte uns von der unſchätzbar wichtigen Thatſache be— richten, welche die Ontogenie uns erzählt, daß die älteſten gemein- ſamen Vorfahren aller verſchiedenen Thier- und Pflanzenarten ganz einfache Zellen, gleich den Eiern waren. Keine Verſteinerung könnte uns die unendlich werthvolle durch die Ontogenie feſtgeſtellte Thatſache beweiſen, daß durch einfache Vermehrung, Gemeindebildung und Die Schöpfungsurkunde der vergleichenden Anatomie. 315 Arbeitstheilung jener Zellen die unendlich mannichfaltigen Körperformen der vielzelligen Organismen entſtanden. So hilft uns die Ontogenie über viele und große Lücken der Paläontologie hinweg. Zu den unſchätzbaren Schöpfungsurkunden der Paläontologie und Ontogenie geſellen ſich nun drittens die nicht minder wichtigen Zeugniſſe für die Blutsverwandtſchaft der Organismen, welche uns die vergleichende Anatomie liefert. Wenn äußerlich ſehr ver— ſchiedene Organismen in ihrem inneren Bau nahezu übereinſtimmen, ſo können Sie daraus mit Sicherheit ſchließen, daß dieſe Ueberein— ſtimmung ihren Grund in der Vererbung, jene Ungleichheit dagegen ihren Grund in der Anpaſſung hat. Betrachten Sie z. B. vergleichend die Gliedmaaßen oder Extremitäten der verſchiedenen Säugethiere, den Arm des Menſchen, den Flügel der Fledermaus, den zum Graben eingerichteten Vorderfuß des Maulwurfs, und die zum Springen Klettern oder Laufen dienenden Vorderfüße anderer Säugethiere. Wenn Sie nun finden, daß allen dieſen äußerſt verſchiedenen Bil— dungen dieſelben Knochen in derſelben Zahl, gegenſeitigen Lagerung und Verbindung zu Grunde liegen, ſo werden Sie hierin den wich— tigſten Beweis für ihre wirkliche Blutsverwandtſchaft finden. Es iſt ganz undenkbar, daß irgend eine andere Urſache als die gemeinſchaft— liche Vererbung von gemeinſamen Stammeltern dieſe wunderbare Homologie oder Gleichheit im weſentlichen inneren Bau bei ſo verſchie— dener äußerer Form verurſacht habe. Und wenn Sie nun im Sy— ſtem von den Säugethieren weiter hinunterſteigen, und finden, daß ſogar bei den Vögeln die Flügel, bei den Reptilien und Amphibien die Vorderfüße, weſentlich in derſelben Weiſe aus denſelben Knochen zuſammengeſetzt ſind, wie die Arme des Menſchen und die Vorder— beine der übrigen Säugethiere, ſo können Sie ſchon daraus auf die gemeinſame Abſtammung aller dieſer Wirbelthiere mit voller Sicherheit ſchließen. Der Grad der inneren Formverwandtſchaft enthüllt Ihnen hier, wie überall, den Grad der Blutsverwandtſchaft. Fünßzehnter Vortrag. Stammbaum und Geſchichte des Protiſtenreichs. (Hierzu Taf. I.) Specielle Durchführung der Deſcendenztheorie in dem natürlichen Syſtem der Organismen. Conſtruction der Stammbäume. Abſtammung aller mehrzelligen Organismen von einzelligen. Abſtammung der Zellen von Moneren. Begriff der organiſchen Stämme oder Phylen. Zahl der Stämme des Thierreichs und des Pflanzenreichs. Einheitliche oder monophyletiſche und vielheitliche oder polyphyle⸗ tiſche Deſcendenzhypotheſe. Vorzug der monophyletiſchen vor den polyphyletiſchen Anſchauungen. Das Reich der Protiſten oder Urweſen. Nothwendigkeit und Be⸗ gründung ſeiner Annahme. Acht Klaſſen des Protiſtenreichs. Moneren. Amö⸗ boiden oder Protoplaſten. Geißelſchwärmer oder Flagellaten. Schleimpilze oder Myxomyceten. Labyrinthläufer oder Labyrinthuleen. Kieſelzellen oder Diatomeen. Meerleuchten oder Noctiluken. Wurzelfüßer oder Rhizopoden. Bemerkungen zur allgemeinen Naturgeſchichte der Protiſten: Ihre Lebenserſcheinungen, chemiſche Zu⸗ ſammenſetzung und Formbildung (Individualität und Grundform). Phylogenie und Stammbaum des Protiſtenreichs. Meine Herren! Durch die denkende Vergleichung der individuellen und paläontologiſchen Entwickelung, ſowie durch die vergleichende Ana— tomie der Organismen, durch die vergleichende Betrachtung ihrer ent— wickelten Formverhältniſſe, gelangen wir zur Erkenntniß ihrer ſtufenweis verſchiedenen Formverwandtſchaft. Dadurch gewinnen wir aber zugleich einen Einblick in ihre wahre Bluts verwandtſchaft, welche nach der Deſcendenztheorie der eigentliche Grund der Form— verwandtſchaft iſt. Wir gelangen alſo, indem wir die empiriſchen Specielle Durchführung der Deſcendenztheorie. 317 Reſultate der Embryologie, Paläontologie und Anatomie zuſammen⸗ ſtellen, vergleichen, und zur gegenſeitigen Ergänzung benutzen, zur an— nähernden Erkenntniß des natürlichen Syſtems, welches nach unſerer Anſicht der Stammbaum der Organismen iſt. Allerdings bleibt unſer menſchliches Wiſſen, wie überall, fo ganz beſonders hier, nur Stüd- werk, ſchon wegen der außerordentlichen Unvollſtändigkeit und Lücken⸗ haftigkeit der empiriſchen Schöpfungsurkunden. Indeſſen dürfen wir uns dadurch nicht abſchrecken laſſen, jene höchſte Aufgabe der Biologie in Angriff zu nehmen. Laſſen Sie uns vielmehr ſehen, wie weit es ſchon jetzt möglich iſt, trotz des unvollkommenen Zuſtandes unſerer embryologiſchen, paläontologiſchen und anatomiſchen Kenntniſſe, eine annähernde Hypotheſe von dem verwandtſchaftlichen Zuſammenhang der Organismen aufzuſtellen. Darwin gibt uns in ſeinem Werk auf dieſe ſpeciellen Fragen der Deſcendenztheorie keine Antwort. Er äußert nur am Schluſſe deſſelben ſeine Vermuthung, „daß die Thiere von höchſtens vier oder fünf, und die Pflanzen von eben ſo vielen oder noch weniger Stammarten herrüh— ren.“ Da aber auch dieſe wenigen Hauptformen noch Spuren von verwandtſchaftlicher Verkettung zeigen, und da ſelbſt Pflanzen- und Thierreich durch vermittelnde Uebergangsformen verbunden ſind, ſo gelangt er weiterhin zu der Annahme, „daß wahrſcheinlich alle orga— niſchen Weſen, die jemals auf dieſer Erde gelebt, von irgend einer Ur— form abſtammen, welcher das Leben zuerſt vom Schöpfer eingehaucht worden iſt.“ Gleich Darwin haben auch alle anderen Anhänger der Deſcendenztheorie dieſelbe bloß im Allgemeinen gefördert, und nicht den Verſuch gemacht, ſie auch ſpeciell durchzuführen, und das „natür— liche Syſtem“ wirklich als „Stammbaum der Organismen“ zu be— handeln. Wenn wir daher hier dieſes ſchwierige Unternehmen wagen, jo müſſen wir uns ganz auf unſere eigene Füße ftellen. Ich habe vor zwei Jahren in der ſyſtematiſchen Einleitung zu meiner allgemeinen Entwickelungsgeſchichte (im zweiten Bande der ge— nerellen Morphologie) eine Anzahl von hypothetiſchen Stammtafeln ür die größeren Organismengruppen aufgeſtellt, und damit that⸗ 318 Conſtruction der Stammbäume. ſächlich den erſten Verſuch gemacht, die Stammbäume der Organis— men in der Weiſe, wie es die Entwickelungstheorie erfordert, wirklich zu conſtruiren. Dabei war ich mir der außerordentlichen Schwierigkeiten dieſer Aufgabe vollkommen bewußt. Indem ich trotz aller abſchrecken— den Hinderniſſe dieſelbe dennoch in Angriff nahm, beanſpruchte ich weiter Nichts als den erſten Verſuch gemacht und zu weiteren und beſſeren Verſuchen angeregt zu haben. Vermuthlich werden die mei— ſten Zoologen und Botaniker von dieſem Anfang ſehr wenig befrie— digt geweſen ſein, und am wenigſten in dem engen Specialgebiete, in welchem ein Jeder beſonders arbeitet. Allein wenn irgendwo, ſo iſt ganz gewiß hier das Tadeln viel leichter als das Beſſermachen, und daß bisher noch kein Naturforſcher meine Stammbäume durch beſſere oder überhaupt durch andere erſetzt hat, beweiſt am beſten die unge— heure Schwierigkeit der unendlich verwickelten Aufgabe. Aber gleich allen anderen wiſſenſchaftlichen Hypotheſen, welche zur Erklärung der Thatſachen dienen, werden auch meine genealogiſchen Hypotheſen ſo lange auf Berückſichtigung Anſpruch machen, bis ſie durch beſſere erſetzt werden. Hoffentlich wird dieſer Erſatz recht bald geſchehen, und ich wünſchte Nichts mehr, als daß mein erſter Verſuch recht viele Natur- forſcher anregen möchte, wenigſtens auf dem engen, ihnen genau be— kannten Specialgebiete des Thier- oder Pflanzenreichs die genaueren Stammbäume für einzelne Gruppen aufzuſtellen. Durch zahlreiche derartige Verſuche wird unſere genealogiſche Erkenntniß im Laufe der Zeit langſam fortſchreiten, und mehr und mehr der Vollendung näher kommen, obwohl mit Beſtimmtheit vorauszuſehen iſt, daß ein vollen— deter Stammbaum niemals wird erreicht werden. Es fehlen uns und werden uns immer fehlen die unerläßlichen paläontologiſchen Grund— lagen. Die älteſten Urkunden werden uns ewig verſchloſſen bleiben aus den früher bereits angeführten Urſachen. Die älteſten, durch Ur— zeugung entſtandenen Organismen, die Stammeltern aller folgenden, müſſen wir uns nothwendig als Moneren denken, als einfache weiche Eiweißklümpchen, ohne jede beſtimmte Form, ohne irgend welche harte Abſtammung aller mehrzelligen Organismen von einzelligen. 319 Theile. Dieſe waren daher der Erhaltung im verſteinerten Zuſtande, durchaus nicht fähig. Ebenſo fehlt uns aber aus den im letzten Vor— trage ausführlich erörterten Gründen der bei weitem größte Theil von den zahlloſen paläontologiſchen Dokumenten, die zur Durchführung der Stammesgeſchichte oder Phylogenie, und zur wahren Erkenntniß der organiſchen Stammbäume eigentlich erforderlich wären. Wenn wir daher das Wagniß ihrer hypothetiſchen Conſtruction dennoch un— ternehmen, ſo ſind wir vor Allem auf die Unterſtützung der beiden an— deren Urkundenreihen hingewieſen, welche das paläontologiſche Archiv in weſentlicher Weiſe ergänzen, der Ontogenie und der vergleichen— den Anatomie. Ziehen wir dieſe höchſt werthvollen Urkunden gehörig denkend und vergleichend zu Rathe, ſo machen wir zunächſt die außerordentlich bedeutungsvolle Wahrnehmung, daß die allermeiſten Organismen, insbeſondere alle höheren Thiere und Pflanzen, aus einer Vielzahl von Zellen zuſammengeſetzt ſind, ihren Urſprung aber aus einem Ei neh— men, und daß dieſes Ei bei den Thieren ebenſo wie bei den Pflanzen eine einzige ganz einfache Zelle iſt: ein Klümpchen einer Eiweißver— bindung, in welchem ein anderer eiweißartiger Körper, der Zellkern, eingeſchloſſen iſt. Dieſe kernhaltige Zelle wächſt und vergrößert ſich. Durch Theilung bildet ſie ein Zellenhäufchen, und aus dieſem entſtehen durch Arbeitstheilung in der früher beſchriebenen Weiſe die vielfach verſchiedenen Formen, welche die ausgebildeten Thier- und Pflanzen- arten uns vor Augen führen. Dieſer unendlich wichtige Vorgang, welchen wir alltäglich bei der embryologiſchen Entwickelung jedes thie— riſchen und pflanzlichen Individuums mit unſeren Augen Schritt für Schritt unmittelbar verfolgen können, und welchen wir in der Regel durchaus nicht mit der verdienten Ehrfurcht betrachten, belehrt uns ſiche— rer und vollſtändiger, als alle Verſteinerungen es thun könnten, über die urſprüngliche paläontologiſche Entwickelung aller mehrzelligen Or— ganismen, aller höheren Thiere und Pflanzen. Denn da die Ontogenie oder die embryologiſche Entwickelung jedes einzelnen Individuums Nichts weiter iſt als eine Recapitulation der Phylogenie oder der paläontologi— 320 Abſtammung aller mehrzelligen Organismen von einzelligen. ſchen Entwickelung ſeiner Vorfahrenkette, ſo können wir daraus zu— nächſt mit voller Sicherheit den ebenſo einfachen als bedeutenden Schluß ziehen, daß alle mehrzelligen Thiere und Pflanzen urſprüng— lich von einzelligen Organismen abſtammen. Die uralten primordialen Vorfahren des Menſchen ſo gut wie aller anderen Thiere und aller aus vielen Zellen zuſammengeſetzten Pflanzen waren einfache, iſolirt lebende Zellen. Dieſes unſchätzbare Geheimniß des organi— ſchen Stammbaums wird uns durch das Ei der Thiere und durch das „Keimbläschen“ der Pflanzen mit untrüglicher Sicherheit ver— rathen. Wenn die Gegner der Deſcendenztheorie uns entgegenhalten, es ſei wunderbar und unbegreiflich, daß ein äußerſt complieirter viel- zelliger Organismus aus einem einfachen einzelligen Organismus im Laufe der Zeit hervorgegangen ſei, ſo entgegnen wir einfach, daß wir dieſes unglaubliche Wunder jeden Augenblick vor uns ſehen und mit unſeren Augen verfolgen können. Denn die Embryologie der Thiere und Pflanzen führt uns in kürzeſter Zeit denſelben Vorgang greifbar vor Augen, welcher im Laufe ungeheurer Zeiträume bei der Entſtehung des ganzen Stammes ſtattgefunden hat. Auf Grund der embryologiſchen Urkunden können wir alſo mit voller Sicherheit behaupten, daß alle mehrzelligen Organismen eben ſo gut wie alle einzelligen urſprünglich von einfachen Zellen abſtam— men; hieran würde ſich ſehr natürlich der Schluß reihen, daß die äl— teſte Wurzel des Thier- und Pflanzenreichs gemeinſam iſt. Denn die verſchiedenen uralten „Stammzellen“, aus denen ſich die wenigen verſchiedenen Hauptgruppen oder „Stämme“ (Phylen) des Thier— und Pflanzenreichs entwickelt haben, könnten ihre Verſchiedenheit ſelbſt erſt erworben haben, und könnten ſelbſt von einer gemeinſamen „Urſtammzelle“ abſtammen. Wo kommen aber jene wenigen „Stamm- zellen“ oder dieſe eine „Urſtammzelle“ her? Zur Beantwortung dieſer genealogiſchen Grundfrage müſſen wir auf die früher erörterte Plaſti— dentheorie und die Urzeugungshypotheſe zurückgreifen. Wie wir damals zeigten, können wir uns durch Urzeugung un⸗ mittelbar nicht Zellen entſtanden denken, ſondern nur Mon eren, Ur—⸗ Abſtammung der Zellen von Moneren. 321 weſen der denkbar einfachſten Art, gleich den noch jetzt lebenden Prota- moeben, Protomyxen, Protogenes u. ſ. w. (S. 144, Fig. 1). Nur ſolche ſtructurloſe Schleimkörperchen, deren ganzer eiweißartiger Leib ſo homogen wie ein anorganiſcher Kryſtall iſt, und die dennoch die beiden organiſchen Grundfunctionen der Ernährung und Fortpflanzung vollziehen, konnten unmittelbar im Beginn der antelaurentiſchen Zeit aus anorganiſcher Ma— terie durch Autogenie entſtehen. Während einige Moneren auf der ur⸗ ſprünglichen einfachen Bildungsſtufe verharrten, bildeten ſich andere all- mählich zu Zellen um, indem der innere Kern des Eiweißleibes ſich von dem äußeren Zellſtoff ſonderte. Andrerſeits bildete ſich durch Differenzi— rung der äußerſten Zellſtoffſchicht ſowohl um einfache (kernloſe) Cyto— den, als um nackte (aber kernhaltige) Zellen eine äußere Hülle (Mem- bran oder Schale). Durch dieſe beiden Sonderungsvorgänge in dem einfachen Urſchleim des Monerenleibes, durch die Bildung eines Kerns im Inneren, einer Hülle an der äußeren Oberfläche des Plasmakörpers, entſtanden aus den urſprünglichen einfachſten Cytoden, den Mone⸗ ren, jene vier verſchiedenen Arten von Plaſtiden oder Individuen erſter Ordnung, aus denen weiterhin alle übrigen Organismen durch Differenzirung und Zuſammenſetzung ſich entwickeln konnten. (Vergl. oben S. 286). Hier wird ſich Ihnen nun zunächſt die Frage aufdrängen: Stam⸗ men alle organiſchen Cytoden und Zellen, und mithin auch jene Stammzellen, welche wir vorher als die Stammeltern der wenigen großen Hauptgruppen des Thier- und Pflanzenreichs betrachtet haben, von einer einzigen urſprünglichen Monerenform ab, oder giebt es mehrere verſchiedene organiſche Stämme, deren jeder von einer eigen- thümlichen, ſelbſtſtändig durch Urzeugung entſtandenen Monerenart abzuleiten iſt. Mit anderen Worten: Iſt die ganze organiſche Welt gemeinſamen Urſprungs, oder verdankt ſie mehr— fachen Urzeugungsakten ihre Entſtehung? Dieſe genealo— giſche Grundfrage ſcheint auf den erſten Blick ein außerordentliches Ge— wicht zu haben. Indeſſen werden Sie bei näherer Betrachtung bald Haeckel, Natürliche Schöpfungsgeſchichte. 21 322 Begriff der organiſchen Stämme oder Phylen. ſehen, daß ſie daſſelbe nicht beſitzt, vielmehr im Grunde von ſehr un— tergeordneter Bedeutung iſt. Laſſen Sie uns hier zunächſt den Begriff des ee Stammes näher in's Auge faſſen und feſt begrenzen. Wir verſte— hen unter Stamm oder Phylum die Geſammtheit aller derjenigen Organismen, deren Blutsverwandtſchaft, deren Abſtammung von einer gemeinſamen Stammform aus anatomiſchen und entwickelungs⸗ geſchichtlichen Gründen nicht zweifelhaft fein kann, oder doch wenig— ſtens in hohem Maße wahrſcheinlich iſt. Unſere Stämme oder Phy- len fallen alſo weſentlich dem Begriffe nach zuſammen mit jenen weni— gen „großen Klaſſen“ oder „Hauptklaſſen,“ von denen auch Darwin glaubt, daß eine jede nur blutsverwandte Organismen enthält, und von denen er ſowohl im Thierreich als im Pflanzenreich nur ſehr we— nige, in jedem Reiche etwa vier bis fünf annimmt. Im Thierreich würden dieſe Stämme im Weſentlichen mit jenen vier bis ſechs Haupt- abtheilungen zuſammenfallen, welche die Zoologen ſeit Bär und Cuvier als „Hauptformen, Generalpläne, Zweige oder Kreiſe“ des Thierreichs unterſcheiden (Vgl. S. 42). Bär und Cu vier unter⸗ ſchieden deren nur vier, nämlich 1. die Wirbelthiere (Vertebrata); 2. die Gliederthiere (Articulata); 3. die Weichthiere (Mollusca) und 4. die Strahlthiere (Radiata). Gegenwärtig unterſcheidet man gewöhnlich ſechs, indem man den Stamm der Gliederthiere in die beiden Stämme der Gliederfüßer (Arthropoda) und der Würmer (Vermes) trennt, und ebenſo den Stamm der Strahlthiere in die beiden Stämme der Sternthiere (Echinoderma) und der Pflanzenthiere (Coelenterata) zerlegt. Innerhalb jedes dieſer ſechs Stämme zeigen alle dazu gehörigen Thiere trotz großer Mannich⸗ faltigkeit in der äußeren Form und im inneren Bau dennoch ſo zahl— reiche und wichtige gemeinſame Grundzüge, daß wir an ihrer Bluts— verwandtſchaft nicht zweifeln können. Daſſelbe gilt auch von den ſechs großen Hauptklaſſen, welche die neuere Botanik im Pflanzen⸗ reiche unterſcheidet, nämlich 1. die Blumenpflanzen (Phanero- gamae); 2. die Farne (Filicinae); 3. die Moſe (Muscinae); 4. die Zahl der Stämme des Thierreichs und des Pflanzenreichs. 323 Flechten (Lichenes); 5. die Pilze (Fungi) und 6. die Tange (Algae). Die letzten drei Gruppen zeigen ſelbſt wiederum unter ſich ſo nahe Beziehungen, daß man fie als Thallus pflanzen (Thallo- phyta) den drei erſten Hauptklaſſen gegenüber ſtellen, und ſomit die Zahl der Phylen oder Hauptgruppen des Pflanzenreichs auf vier be— ſchränken könnte. Auch Moſe und Farne könnte man als Prothal— luspflanzen (Prothallophyta) zuſammenfaſſen und dadurch die Zahl der Pflanzenſtämme auf drei erniedrigen: Blumenpflanzen, Pro⸗ thalluspflanzen und Thalluspflanzen. Nun ſprechen aber ſehr gewichtige Thatſachen der Anatomie und der Entwickelungsgeſchichte ſowohl im Thierreich als im Pflanzenreich für die Vermuthung, daß auch dieſe wenigen Hauptklaſſen oder Stämme noch an ihrer Wurzel zuſammenhängen, d. h. daß ihre nie= derſten und älteſten Stammformen unter ſich wiederum blutsverwandt ſind. Ja bei weiter gehender Unterſuchung werden wir noch einen Schritt weiter und zu Darwin' s Annahme hingedrängt, daß auch die beiden Stammbäume des Thier- und Pflanzenreichs an ihrer tief⸗ ſten Wurzel zuſammenhängen, daß auch die niederſten und älteſten Thiere und Pflanzen von einem einzigen gemeinſamen Urweſen ab» ſtammen. Natürlich könnte nach unſerer Anſicht dieſer gemeinſame Urorganismus nur ein durch Urzeugung entſtandenes Moner ſein. Vorſichtiger werden wir vorläufig jedenfalls verfahren, wenn wir dieſen letzten Schritt noch vermeiden, und wahre Blutsverwandt— ſchaft nur innerhalb jedes Stammes oder Phylum annehmen, wo ſie durch die Thatſachen der vergleichenden Anatomie, Ontogenie und Phy⸗ logenie unzweifelhaft ſicher geſtellt wird. Aber ſchon jetzt können wir bei dieſer Gelegenheit darauf hinweiſen, daß zwei verſchiedene Grund formen der genealogiſchen Hypotheſen möglich find, und daß alle ver— ſchiedenen Unterſuchungen der Deſcendenztheorie über den Urſprung der organiſchen Formengruppen ſich künftig entweder mehr in der einen oder mehr in der anderen von dieſen beiden Richtungen bewegen wer— den. Die einheitliche (einſtämmige oder monophyle— tiſche) Abſtammungshypotheſe wird beſtrebt ſein, den erſten Ur⸗ 21 * 324 Gegenſatz der monophyletiſchen und polyphyletiſchen Hypotheſen. ſprung ſowohl aller einzelnen Organismengruppen als auch der Geſammt⸗ heit derſelben auf eine einzige gemeinſame, durch Urzeugung entſtandene Monerenart zurückzuführen. Die vielheitliche (vielſtämmige oder polyphyletiſche) Deſcendenzhypotheſe dagegen wird an— nehmen, daß mehrere verſchiedene Monerenarten durch Urzeugung ent— ſtanden find, und daß dieſe mehreren verſchiedenen Hauptklaſſen (Stäm⸗ men oder Phylen) den Urſprung gegeben haben. Im Grunde iſt der ſcheinbar ſehr bedeutende Gegenſatz zwiſchen dieſen beiden Hypotheſen von ſehr geringer Wichtigkeit. Denn beide, ſowohl die einheitliche oder monophyletiſche, als die vielheitliche oder polyphyletiſche Deſcen— denzhypotheſe, müſſen nothwendig auf Moneren als auf die älteſte Wurzel des einen oder der vielen organiſchen Stämme zurückgehen. Da aber der ganze Körper aller Moneren nur aus einer einfachen, ſtructurloſen und formloſen Maſſe, einer einzigen eiweißartigen Koh— lenſtoffverbindung beſteht, ſo können die Unterſchiede der verſchiedenen Moneren nur chemiſcher Natur ſein und nur in einer verſchiedenen atomiſtiſchen Zuſammenſetzung jener ſchleimartigen Eiweißverbindung beſtehen. Dieſe feinen und verwickelten Miſchungsverſchiedenheiten der unendlich mannichfaltig zuſammengeſetzten Eiweißverbindungen ſind aber vorläufig für die rohen und groben Erkenntnißmittel des Menſchen gar nicht erkennbar, und daher auch für unſere vorliegende Aufgabe zunächſt von weiter keinem Intereſſe. Die Frage von dem einheitlichen oder vielheitlichen Urſprung wird ſich auch innerhalb jedes einzelnen Stammes immer wiederholen, wo es ſich um den Urſprung einer kleineren oder größeren Gruppe han= delt. Im Pflanzenreiche z. B. werden die einen Botaniker mehr ge— neigt fein, die ſämmtlichen Blumenpflanzen von einer einzigen Farn⸗ form abzuleiten, während die anderen die Vorſtellung vorziehen wer— den, daß mehrere verſchiedene Phanerogamengruppen aus mehreren verſchiedenen Farngruppen hervorgegangen ſind. Ebenſo werden im Thierreich die einen Zoologen mehr zu Gunſten der Annahme ſein, daß ſämmtliche placentalen Säugethiere von einer einzigen Beutelthier⸗ form abſtammen, die anderen dagegen mehr zu Gunſten der entgegen⸗ Vorzug der monophyletiſchen vor den polyphyletiſchen Hypotheſen. 325 ſetzten Annahme, daß mehrere verſchiedene Gruppen von Placental— thieren aus mehreren verſchiedenen Beutelthiergruppen hervorgegangen ſind. Was das Menſchengeſchlecht ſelbſt betrifft, ſo werden die Einen den Urſprung deſſelben aus einer einzigen Affenform vorziehen, wäh— rend die Anderen mehr zu der Vorſtellung neigen werden, daß meh— rere verſchiedene Menſchenarten unabhängig von einander aus mehreren verſchiedenen Affenarten entſtanden ſind. Ohne uns hier ſchon beſtimmt für die eine oder die andere Auffaſſung auszuſprechen, wol⸗ len wir dennoch die Bemerkung nicht unterdrücken, daß im Allgemei— nen die einſtämmigen oder monophyletiſchen Deſcen— denzhypotheſen den Vorzug vor den vielſtämmigen oder polyphyletiſchen Abſtammungshypotheſen verdienen, und zwar vorläufig ſchon aus dem einfachen Grunde, weil ſie die un— endlich ſchwierige Aufgabe der Stammbaumconſtructionen in hohem Grade erleichtern. Es iſt möglich, daß die entwickeltere Deſcendenz— theorie der Zukunft den polyphyletiſchen Urſprung insbeſondere für viele niedere und unvollkommene Gruppen der beiden organiſchen Reiche nachweiſen wird. Gegenwärtig aber würden wir, wollten wir denſelben verfolgen, jedenfalls in ein unentwirrbares Labyrinth von dunklen und widerſprechenden Vermuthungen uns verlieren. Aus dieſem Grunde halte ich es für das Beſte, gegenwärtig für das Thierreich einerſeits, für das Pflanzenreich andrerſeits eine ein— ſtämmige oder monophyletiſche Deſcendenzhypotheſe an— zunehmen, ungefähr in der Form, wie ſie auf Taf. II. und III. gra⸗ phiſch dargeſtellt iſt. Hiernach würden alſo die oben genannten ſechs Stämme oder Phylen des Thierreichs an ihrer unterſten Wurzel zu⸗ ſammenhängen, und ebenſo die erwähnten drei bis ſechs Haupt— klaſſen oder Phylen des Pflanzenreichs von einer gemeinſamen älteſten Stammform abzuleiten ſein. Wie der Zuſammenhang dieſer Stämme zu denken iſt, werde ich in den nächſten Vorträgen erläutern. Zu— nächſt aber müſſen wir uns hier noch mit einer ſehr merkwürdigen Gruppe von Organismen beſchäftigen, welche weder in den Stamm— baum des Pflanzenreichs (Taf. II.), noch in den Stammbaum des 326 Das Reich der Protiften oder Urweſen. Thierreichs (Taf. III.) ohne künſtlichen Zwang eingereiht werden können. Dieſe intereſſanten und wichtigen Organismen find die Ur- weſen oder Protiſten. (Vergl. Taf. I.). Sämmtliche Organismen, welche wir als Protiſten zuſammenfaſſen, zeigen in ihrer äußeren Form, in ihrem inneren Bau und in ihren ge— ſammten Lebenserſcheinungen eine fo merkwürdige Miſchung von thie— riſchen und pflanzlichen Eigenſchaften, daß ſie mit klarem Rechte weder dem Thierreiche, noch dem Pflanzenreiche zugetheilt werden können, und daß ſeit mehr als zwanzig Jahren ein endloſer und fruchtloſer Streit darüber geführt wird, ob ſie in jenes oder in dieſes einzuordnen ſeien. Die meiſten Protiſten oder Urweſen ſind von ſo geringer Größe, daß man ſie mit bloßem Auge nur ſchwer oder gar nicht wahrnehmen kann. Daher iſt die Mehrzahl derſelben erſt im Laufe der letzten fünfzig Jahre bekannt geworden, ſeit man mit Hülfe der verbeſſerten und allgemein verbreiteten Mikroſkope dieſe winzigen Organismen häufiger beobachtete und genauer unterſuchte. Aber ſobald man dadurch näher mit ihnen vertraut wurde, erhoben ſich auch alsbald endloſe Streitigkeiten über ihre eigentliche Natur und ihre Stellung im natürlichen Syſteme der Organismen. Viele von dieſen zweifelhaften Urweſen wurden von den Botanikern für Thiere, von den Zoologen für Pflanzen erklärt; es wollte ſie keiner von Beiden haben. Andere wurden umgekehrt ſowohl von den Botanikern für Pflanzen, als von den Zoologen für Thiere erklärt; jeder wollte ſie haben. Dieſe Widerſprüche ſind nicht etwa durch unſere unvollkommene Kenntniß der Protiſten, ſondern wirklich durch ihre wahre Natur bedingt. In der That zeigen die meiſten Protiſten eine fo bunte Vermiſchung von mancherlei thie— riſchen und pflanzlichen Charakteren, daß es lediglich der Willkür des einzelnen Beobachters überlaſſen bleibt, ob er ſie dem Thier- oder Pflanzenreich einreihen will. Je nachdem er dieſe beiden Reiche definirt, je nachdem er dieſen oder jenen Charakter als beſtimmend für die Thier⸗ natur oder für die Pflanzennatur anſieht, wird er die einzelnen Protiſten⸗ klaſſen bald dem Thierreiche bald dem Pflanzenreiche zuertheilen. Dieſe ſyſtematiſche Schwierigkeit iſt aber dadurch zu einem ganz unauflöslichen Acht Klaſſen des Protiſtenreichs. 327 Knoten geworden, daß alle neueren Unterſuchungen über die niederſten Organismen die bisher übliche ſcharfe Grenze zwiſchen Thier⸗ und Pflanzenreich völlig verwiſcht, oder wenigſtens dergeſtalt zerſtört haben, daß ihre Wiederherſtellung nur mittelft einer ganz künſtlichen Definition beider Reiche möglich iſt. Aber auch in dieſe Definition wollen viele Protiſten durchaus nicht hineinpaſſen. Aus dieſen und vielen anderen Gründen iſt es jedenfalls, we⸗ nigſtens vorläufig das Beſte, die zweifelhaften Zwitterweſen ſowohl aus dem Thierreiche als aus dem Pflanzenreiche auszuweiſen, und in einem zwiſchen beiden mitten inneſtehenden dritten organiſchen Reiche zu ver— einigen. Dieſes vermittelnde Zwiſchenreich habe ich als Reich der Urweſen (Protista) in meiner allgemeinen Anatomie (im zweiten Bande der generellen Morphologie) ausführlich begründet (Gen. Morph. I. S. 191 — 238). In meiner Monographie der Moneren 18) habe ich kürzlich daſſelbe in etwas veränderter Begrenzung und in ſchärferer Definition erläutert. Als ſelbſtſtändige Klaſſen des Protiſten⸗ reichs kann man gegenwärtig etwa folgende acht Gruppen anſehen: 1. die noch gegenwärtig lebenden Moneren; 2. die Amoeboiden oder Protoplaſten; 3. die Geißelſchwärmer oder Flagellaten; 4. die Schleim- pilze oder Myxomyceten; 5. die Labyrinthläufer oder Labyrinthuleen; 6. die Kieſelzellen oder Diatomeen; 7. die Meerleuchten oder Noctilu- ken; 8. die Wurzelfüßer oder Rhizopoden. Wahrſcheinlich wird die Anzahl dieſer Protiſtenklaſſen durch die fortſchreitenden Unterſuchungen über die Ontogenie der einfachſten Le⸗ bensformen, die erſt ſeit kurzer Zeit mit größerem Eifer betrieben werden, in Zukunft noch beträchtlich vermehrt werden. Mit den meiſten der genannten Klaſſen iſt man erſt in den letzten zehn Jahren genauer be— kannt geworden. Die Moneren und Labyrinthuleen ſind ſogar erſt ſeit kurzer Zeit entdeckt. Wahrſcheinlich ſind auch ſehr zahlreiche Pro— tiſtengruppen in früheren Perioden ausgeſtorben, ohne uns bei ihrer größtentheils fehr weichen Körperbeſchaffenheit foſſile Reſte hinterlaſſen zu haben. Von den jetzt noch lebenden niederſten Organismengruppen könnte man dem Protiſtenreiche auch noch drei andere Klaſſen anſchlie⸗ 328 Der Stammbaum des Protiſtenreichs. ßen, nämlich einerſeits 9. die Phykochromalgen oder Phykochromaceen und 10. die Pilze oder Fungen; andrerſeits 11 die Schwämme oder Spongien. Indeſſen erſcheint es, (für unſere Betrachtung hier we⸗ nigſtens) vortheilhafter, die letztere Klaſſe im Thierreich, die beiden er⸗ ſteren im Pflanzen reiche ſtehen zu laſſen. Der Stammbaum des Protiſtenreichs iſt noch in tiefes Dunkel gehüllt. Die eigenthümliche Verbindung von thieriſchen und pflanzlichen Eigenſchaften, der indifferente und unbeſtimmte Charakter ihrer Formverhältniſſe und Lebenserſcheinungen, dabei andrerſeits eine Anzahl von mehreren, ganz eigen thümlichen Merkmalen, welche die mei- ſten der genannten Klaſſen ſcharf von den anderen trennen, vereiteln vor⸗ läufig noch jeden Verſuch, ihre Blutsverwandtſchaft untereinander, oder mit den niederſten Thieren einerſeits, mit den niederſten Pflanzen andrer⸗ ſeits, beſtimmter zu erkennen. Es iſt nicht unwahrſcheinlich, daß die ge⸗ nannten und noch viele andere uns unbekannte Protiſtenklaſſen ganz ſelbſtſtändige organiſche Stämme oder Phylen darſtellen, deren jeder ſich aus einer, vielleicht ſogar aus mehreren, durch Urzeugung entſtandenen Moneren unabhängig entwickelt hat. Will man dieſer vielſtämmigen oder polyphyletiſchen Deſcendenzhypotheſe nicht beipflichten, und zieht man die einſtämmige oder monophyletiſche Annahme von der Blutsverwandt⸗ ſchaft aller Organismen vor, ſo wird man die verſchiedenen Protiſten⸗ klaſſen als niedere Wurzelſchößlinge zu betrachten haben, aus derſelben einfachen Monerenwurzel herausſproſſend, aus welcher die beiden mäch⸗ tigen und vielverzweigten Stammbäume einerſeits des Thierreichs, andrerſeits des Pflanzenreichs entſtanden find (Taf. I.) Bevor ich Ihnen dieſe ſchwierige und dunkle Frage näher erläutere, wird es wohl paſſend ſein, noch Einiges über den Inhalt der vorſtehend angeführten Protiſtenklaſſen und ihre allgemeine Naturgeſchichte vorauszuſchicken. Daß ich hier wieder mit den merkwürdigen Moneren (Mo- nera) als erſter Klaſſe des Protiſtenreichs beginne, wird Ihnen viel⸗ leicht feltfam vorkommen, da ich ja Moneren als die älteſten Stamm⸗ formen aller Organismen ohne Ausnahme anſehe. Allein was ſollen wir ſonſt mit den gegenwärtig noch lebenden Moneren an- Die neutralen Moneren der Gegenwart. 329 fangen? Wir wiſſen Nichts von ihrem paläontologiſchen Urſprung, wir wiſſen Nichts von irgend welchen Beziehungen derſelben zu niede— ren Thieren oder Pflanzen, wir wiſſen Nichts von ihrer möglichen Entwickelungsfähigkeit zu höheren Organismen. Das ſtructurloſe und homogene Schleimklümpchen, welches ihren ganzen Körper bildet, iſt ebenſo die älteſte und urſprünglichſte Grundlage der thieriſchen wie der pflanzlichen Plaſtiden. Offenbar würde es daher ebenſo willfürs lich und grundlos ſein, wenn man ſie dem Thierreiche, als wenn man ſie dem Pflanzenreiche anſchließen wollte. Jedenfalls verfahren wir vorläufig am vorſichtigſten und am meiſten kritiſch, wenn wir die ge— genwärtig noch lebenden Moneren, deren Zahl und Verbreitung viel- leicht ſehr groß iſt, als eine ganz beſondere ſelbſtſtändige Klaſſe zuſam⸗ menfaſſen, welche wir allen übrigen Klaſſen ſowohl des Protiften= reichs, als des Pflanzenreichs und des Thierreichs gegenüber ſtellen. Durch die vollkommene Gleichartigkeit ihrer ganzen eiweißartigen Kör- permaſſe, durch den völligen Mangel einer Zuſammenſetzung aus un⸗ gleichartigen Theilchen ſchließen ſich, rein morphologiſch betrachtet, die Moneren näher an die Anorgane als an die Organismen an, und vermitteln offenbar den Uebergang zwiſchen anorganiſcher und orga— niſcher Körperwelt, wie ihn die Hypotheſe der Urzeugung annimmt. Da ich Ihnen die Lebenserſcheinungen der jetzt noch lebenden Mone- ren (Protamoeba, Protogenes, Protomyxa etc.) bereits früher ge⸗ ſchildert habe, ſo verweiſe ich Sie auf den achten Vortrag (S. 142) und auf meine Monographie der Moneren, 15) und wiederhole hier nur als Beiſpiel die früher gegebene Abbildung der Protamoeba, eines Moneres, welches das ſüße Waſſer bewohnt (Fig. 12). Nicht weniger genealogiſche Schwierigkeiten als die Moneren, bie— ten uns die Amoeben der Gegenwart, und die ihnen nächſtver— wandten Organismen (Arcelliden und Gregarinen), welche wir hier als eine zweite Protiſtenklaſſe unter dem Namen der Amoe— boiden (Protoplasta) zuſammenfaſſen. Man ſtellt dieſe Urweſen jetzt gewöhnlich in das Thierreich, ohne daß man eigentlich einſieht, warum? Denn einfache nackte Zellen, d. h. hüllenloſe und kernfüh— 330 Die neutralen Amoeben der Gegenwart. rende Plaſtiden, kommen eben ſowohl bei echten Pflanzen als bei ech⸗ ten Thieren vor. Eigentlich iſt jede nackte einfache Zelle, gleichviel ob ſie aus dem Thier- oder Pflanzenkörper kömmt, von einer ſelbſt⸗ ſtändigen Amoebe nicht zu unterſcheiden. Denn dieſe letztere ift ſelbſt Fig. 12. Fortpflanzung eines einfachſten Organismus, eines Moneres, durch Selbſttheilung. A. Das ganze Moner, eine Protamoeba. B. Dieſelbe zerfällt durch eine mittlere Einſchnürung in zwei Hälften. C. Jede der beiden Hälften hat ſich von der anderen getrennt und ſtellt nun ein ſelbſtſtändiges Individuum dar. Nichts weiter als eine einfache Urzelle, ein nacktes Klümpchen von Zellſtoff oder Plasma, welches einen Kern enthält. Die Zuſammen⸗ ziehungsfähigkeit oder Contractilität dieſes Plasma aber, welche die freie Amoebe im Ausſtrecken und Einziehen formwechſelnder Fortſätze zeigt, iſt eine allgemeine Lebenseigenſchaft des organiſchen Plasma eben ſowohl in den thieriſchen wie in den pflanzlichen Plaſtiden. Wenn eine frei bewegliche, ihre Form beſtändig ändernde Amoebe in den Ruhezuſtand übergeht, ſo zieht ſie ſich kugelig zuſammen und umgiebt ſich mit einer ausgeſchwitzten Membran. Dann iſt ſie der Form nach ebenſo wenig von einem thieriſchen Ei als von einer ein— fachen kugeligen Pflanzenzelle zu unterſcheiden (Fig. 13 A). Nackte kernhaltige Zellen, gleich den in Fig. 13 B abgebildeten, welche in beſtändigem Wechſel formloſe fingerähnliche Fortſätze aus— ſtrecken und wieder einziehen, und welche man deshalb als Amoeben bezeichnet, finden ſich vielfach und ſehr weit verbreitet im ſüßen Waſſer und im Meere, ja ſogar auf dem Lande kriechend vor. Dieſelben neh— men ihre Nahrung in derſelben Weiſe auf, wie es früher (S. 143) von den Protamoeben beſchrieben wurde. Bisweilen kann man ihre Fort⸗ pflanzung durch Theilung (Fig 13 C, D) beobachten, die ich bereits Amoeboiden oder Protoplaſten. 331 in einem früheren Vortrage Ihnen geſchildert habe (S. 145). Viele von dieſen formloſen Amoeben ſind neuerdings als jugendliche Ent— wickelungszuſtände von anderen Protiſten (namentlich den Myxomy— ceten) oder als abgelöſte Zellen von niederen Thieren und Pflanzen Fig. 13. Fortpflanzung eines einzelligen Organismus, einer Amoeba, durch Selbſttheilung. A. Die eingekapſelte Amoeba, eine einfache kugelige Zelle, beſtehend aus einem Protoplasmaklumpen (5), welcher einen Kern (a) einſchließt, und von einer Zellhaut oder Kapſel umgeben iſt. B. Die freie Amoeba, welche die Cyſte oder Zellhaut geſprengt und verlaſſen hat. C. Dieſelbe beginnt ſich zu theilen, in⸗ dem ihr Kern in zwei Kerne zerfällt und der Zellſtoff zwiſchen beiden ſich ein⸗ ſchnürt. D. Die Theilung iſt vollendet, indem auch der Zellſtoff vollſtändig in zwei Hälften zerfallen iſt (Da und DB), erkannt worden. Die farbloſen Blutzellen der Thiere z. B., auch die im menſchlichen Blute, ſind von Amoeben nicht zu unterſcheiden, und können gleich dieſen feſte Körperchen in ihr Inneres aufnehmen, wie ich zuerſt durch Fütterung derſelben mit feinzertheilten Farbſtoffen nachgewieſen habe (Gen. Morph. I, 271). Andere Amoeben dagegen (wie die in Fig. 13 abgebildeten) ſcheinen ſelbſtſtändige „gute Arten oder Species“ zu fein, indem fie ſich viele Generationen hindurch un- verändert fortpflanzen. Außer den eigentlichen oder nackten Amoe— ben (Gymnamoebae) finden wir weitverbreitet, beſonders im ſüßen Waſſer, auch beſchalte Amoeben (Lepamoebae), deren nackter Plasmaleib theilweis durch eine mehr oder weniger feſte Schale (Arcella) oder ſelbſt ein aus Steinchen zuſammengeklebtes Gehäuſe (Difflugia) geſchützt iſt. Endlich finden wir im Leibe von vielen nie— deren Thieren vielfach ſchmarotzende Amoeben vor (Gregarinae), welche durch Anpaſſung an das Schmarotzerleben ihren ganzen Plasmakörper mit einer vollſtändig geſchloſſenen Haut umhüllt haben. 332 Bedeutung der Amoeben für die allgemeine Genealogie. Die einfachen nackten Amoeben ſind für die geſammte Biologie, und insbeſondere für die allgemeine Genealogie, nächſt den Moneren die wichtigſten von allen Organismen. Denn offenbar entſtanden die Amoeben urſprünglich aus einfachen Moneren (Protamoeba) da⸗ durch, daß der erſte wichtige Sonderungsvorgang in ihrem homogenen Schleimkörper ſtattfand, die Differenzirung des inneren Kerns von dem umgebenden Plasma. Dadurch war der große Fortſchritt von einer einfachen (kernloſen) Cytode zu einer echten (kernhaltigen) Zelle geſche— hen (Vergl. Fig 12 A und Fig. 13 B). Indem einige von dieſen Zellen ſich frühzeitig durch Ausſchwitzung einer erſtarrenden Membran abkap⸗ ſelten, bildeten fie die erſten Pflanzenzellen, während andere, nackt blei- bende, ſich zu den erſten Zellen des Thierkörpers entwickeln konnten. In der Anweſenheit oder dem Mangel einer umhüllenden ſtarren Membran liegt der wichtigſte, obwohl keineswegs durchgreifende Unter⸗ ſchied der pflanzlichen und der thieriſchen Zellen. Indem die Pflanzen⸗ zellen ſich ſchon frühzeitig durch Einſchließung in ihre ſtarre, dicke und feſte Celluloſe⸗Schale abkapſeln, gleich der ruhenden Amoebe, Fig. 13 A, blei⸗ ben ſie ſelbſtſtändiger und den Einflüſſen der Außenwelt weniger zugäng⸗ lich, als die weichen, meiſtens nackten oder nur von einer dünnen und biegſamen Haut umhüllten Thierzellen. Daher vermögen aber auch die erſteren nicht ſo wie die letzteren zur Bildung höherer, zuſammenge⸗ ſetzter Gewebstheile, z. B. Nervenfaſern, Muskelfaſern zuſammenzu⸗ treten. Zugleich wird ſich bei den älteſten einzelligen Organismen ſchon frühzeitig der wichtigſte Unterſchied in der thieriſchen und pflanz- lichen Nahrungsaufnahme ausgebildet haben. Die älteſten einzelli- gen Thiere konnten als nackte Zellen, ſo gut wie die freien Amoeben (Fig. 13 B) und die farbloſen Blutzellen, feſte Körperchen in das In⸗ nere ihres weichen Leibes aufnehmen, während die älteſten einzelligen Pflanzen, durch ihre Membran abgekapſelt, hierzu nicht mehr fähig waren und bloß flüſſige Nahrung (mittelſt Diffufion) durch dieſelbe durchtreten laſſen konnten. Nicht minder zweifelhaft als die Natur der Amoeben iſt diejenige der Geißelſchwärmer (Flagellata), welche wir als eine dritte Klaſſe Geißelſchwärmer oder Flagellaten. Schleimpilze oder Myxomyeeten. 333 des Protiſtenreichs betrachten. Auch dieſe zeigt gleich nahe und wich— tige Beziehungen zum Pflanzenreich wie zum Thierreich. Einige Fla— gellaten find von den frei beweglichen Jugendzuſtänden echter Pflanzen, namentlich den Schwärmſporen vieler Tange, nicht zu unterſcheiden, während andere ſich unmittelbar den echten Thieren, und zwar den bewimperten Infuſorien (Ciliata) anſchließen. Die Geißelſchwärmer ſind einfache Zellen, welche entweder einzeln oder zu Colonien ver— einigt im ſüßen und ſalzigen Waſſer leben. Ihr charakteriſtiſcher Kör— pertheil iſt ein ſehr beweglicher, einfacher oder mehrfacher, peitſchen— förmiger Anhang (Geißel oder Flagellum), mittelſt deſſen ſie lebhaft im Waſſer umherſchwärmen. Die Klaſſe zerfällt in zwei Ordnungen. Bei den bewimperten Geißelſchwärmern (Cilioflagellata) iſt außer der langen Geißel auch noch ein Kranz von kurzen Wimpern vorhanden, welcher den unbewimperten Geißelſchwärmern (Nudoflagellata) fehlt. Zu den erſteren gehören namentlich die kieſelſchaligen gelben Peridi— nien, welche ſich an dem Leuchten des Meeres ſtark betheiligen, zu den letzteren die grünen Euglenen, welche oft durch ihre ungeheuren In⸗ dividuenmaſſen unſere Teiche im Frühjahr ganz grün färben. Eine vierte Protiſtenklaſſe bilden die merkwürdigen Schlei mpilze (Myxomycetes). Dieſe galten früher allgemein für Pflanzen, für echte Pilze, bis vor neun Jahren der Botaniker de Bary durch Ent- deckung ihrer Ontogenie nachwies, daß dieſelben gänzlich von den Pilzen verſchieden, und eher als niedere Thiere zu betrachten ſeien. Allerdings iſt der reife Fruchtkörper derſelben eine rundliche, oft mehrere Zoll große, mit feinem Sporenpulver und weichen Flocken gefüllte Blaſe, wie bei den bekannten Boviſten oder Bauchpilzen (Gastromycetes). Allein aus den Keimkörnern oder Sporen derſelben kommen nicht die charakteriſti⸗ ſchen Fadenzellen oder Hyphen der echten Pilze hervor, ſondern nackte Zellen, welche anfangs in Form von Geißelſchwärmern umher— ſchwimmen, ſpäter nach Art der Amoeben umherkriechen und endlich mit anderen Ihresgleichen zu großen Schleimkörpern oder „Plasmo— dien“ zuſammenfließen, aus denen dann unmittelbar der blaſenförmige Fruchtkörper entſteht. Wahrſcheinlich kennen Sie Alle eines von je— 334 Labyrinthläufer oder Labyrinthuleen. Kieſelzellen oder Diatomeen. nen Plasmodien, dasjenige von Aethalium septicum, welches im Sommer als fogenannte „Lohblüthe“ in Form einer ſchöngelben, oft mehrere Fuß breiten, ſalbenartigen Schleimmaſſe netzförmig die Lohhau⸗ fen und Lohbeete der Gerber durchzieht. Die ſchleimigen frei friechen- den Jugendzuſtände dieſer Myxomyceten, welche meiſtens auf faulenden Pflanzenſtoffen, Baumrinden u. ſ. w. in feuchten Wäldern leben, werden mit gleichem Recht oder Unrecht von den Zoologen für Thiere, wie die reifen und ruhenden blaſenförmigen Fruchtzuſtände von den Botanikern für Pflanzen erklärt. Nicht weniger räthſelhafter Natur ſind ebenfalls die Protiſten der fünften Klaſſe, die TLabyrinthläufer (Labyrithuleae), welche erſt kürzlich von Cienkowsky an Pfählen im Seewaſſer entdeckt wurden. Es ſind ſpindelförmige, meiſtens dottergelb gefärbte Zellen, welche bald in dichten Haufen zu Klumpen vereinigt ſitzen, bald in höchſt eigen⸗ thümlicher Weiſe ſich umherbewegen. Sie bilden dann in noch uner— klärter Weiſe ein netzförmiges Gerüſt von labyrinthiſch verſchlungenen Strängen, und in der ſtarren „Fadenbahn“ dieſes Gerüſtes rutſchen fie umher. Der Geſtalt nach würde man die Zellen der Labyrinthu⸗ leen für einfachſte Pflanzen, der Bewegung nach für einfachſte Thiere halten. In der That ſind ſie weder Thiere noch Pflanzen. Den Labyrinthuleen vielleicht nächſtverwandt find die Kiefel- zellen (Diatomeae), eine ſechſte Protiſtenklaſſe. Dieſe Urweſen, welche jetzt meiſtens für Pflanzen, aber von einigen berühmten Natur⸗ forſchern noch heute für Thiere gehalten werden, bevölkern in unge— heuren Maſſen und in einer unendlichen Mannichfaltigkeit der zierlichſten Formen das Meer und die ſüßen Gewäſſer. Meiſt find es mikroſko— piſch kleine Zellen, welche entweder einzeln oder in großer Menge ver⸗ einigt leben, und entweder feſtgewachſen find oder ſich in eigenthüm⸗ licher Weiſe rutſchend, ſchwimmend oder kriechend, umherbewegen. Ihr weicher Zellenleib, der durch einen charakteriſtiſchen Farbſtoff bräunlich gelb gefärbt iſt, wird ſtets von einer feſten und ſtarren Kie⸗ ſelſchale umſchloſſen, welche die zierlichſten und mannichfaltigſten For⸗ men beſitzt. Dieſe Kieſelhülle iſt nur durch eine oder ein paar Spalten Meerleuchten oder Noctiluken. Wurzelfüßer oder Rhizopoden. 335 nach außen geöffnet und läßt dadurch den eingeſchloſſenen weichen Plasmaleib mit der Außenwelt communiciren. Die Kieſelſchalen finden ſich maſſenhaft verſteinert vor und ſetzen manche Geſteine, z. B. den Biliner Polirſchiefer, das ſchwediſche Bergmehl u. ſ. w. vorwiegend zuſammen. Eine eigene, ſiebente Protiſtenclaſſe bilden die Meerleuchten (Noctilucae). Es ſind kleine, weiche, ſchleimige Bläschen, von der Form einer Pfirſich. Sie haben gewöhnlich nur etwa eine halbe Linie oder einen Millimeter Durchmeſſer, bedecken aber die Meeresoberfläche oft in ſo erſtaunlichen Maſſen, daß ſie in meilenweiter Ausdehnung eine mehr als zolldicke Schleimſchicht auf der Oberfläche bilden. Sie gehören neben den obenerwähnten Peridinien, und neben vielen niede— ren Seethieren (beſonders Meduſen und Krebſen) zu den mefentlich- ſten Urſachen des Meerleuchtens, indem fie im Dunkeln einen phos⸗ phoriſchen Glanz ausſtrahlen. Trotzdem ſie in ſo ungeheuren Maſſen in der Nordſee, im Mittelmeere u. ſ. w. vorkommen, kennen wir den⸗ noch die Naturgeſchichte der Noctiluken nur ſehr unvollſtändig. Es iſt möglich, daß ſie den Pflanzen näher als den Thieren verwandt ſind, obwohl die meiſten Naturforſcher ſie gegenwärtig zu den Thieren zählen. Wahrſcheinlich ſind es neutrale Protiſten. Ebenſo zweifelhaft iſt auch die Natur der achten und letzten Klaſſe des Protiſtenreichs, der Wurzel füßer (Rhizopoda). Dieſe merk⸗ würdigen Organismen bevölkern das Meer ſeit den älteſten Zeiten der organiſchen Erdgeſchichte in einer außerordentlichen Formenmannichfal⸗ tigkeit, theils auf dem Meeresboden kriechend, theils an der Ober— fläche ſchwimmend. Nur ſehr wenige leben im ſüßen Waſſer (Gromia, Actinosphaerium). Die meiſten beſitzen feſte, aus Kalkerde oder Kieſel⸗ erde beſtehende und höchſt zierlich zuſammengeſetzte Schalen, welche in verſteinertem Zuſtande ſich vortrefflich erhalten. Oft ſind dieſelben zu dicken Gebirgsmaſſen angehäuft, obwohl die einzelnen Individuen ſehr klein und häufig für das bloße Auge kaum oder gar nicht ſichtbar ſind. Nur wenige erreichen einen Durchmeſſer von einigen Linien oder ſelbſt von ein paar Zollen. Ihren Namen führt die ganze Klaſſe davon, daß ihr nackter ſchleimiger Leib an der ganzen Oberfläche tau⸗ 336 Einkammerige und vielkammerige Achttarien. ſende von äußerſt feinen Schleimfäden ausſtrahlt, falſchen Füßchen, Scheinfüßchen oder Pſeudopodien, welche ſich wurzelförmig veräſteln, netzförmig verbinden, und in beſtändigem Formwechſel gleich den ein- facheren Schleimfüßchen der Amoeboiden oder Protoplaſten befindlich ſind. Dieſe veränderlichen Scheinfüßchen dienen ſowohl zur Ortsbe— wegung, als zur Nahrungsaufnahme. Die Klaſſe der Wurzelfüßer zerfällt in drei verſchiedene Legionen, die Kammerweſen oder Acyttarien, die Sonnenweſen oder Heliozoen und die Strahlweſen oder Radiolarien. Die erſte und niederſte von dieſen drei Legionen bilden die Kammerweſen (Acyttaria). Hier beſteht nämlich der ganze weiche Leib noch aus einfachem ſchleimigem Zellſtoff oder Plasma, das noch nicht in Zellen differenzirt iſt. Allein trotz dieſer höchſt primitiven Leibesbeſchaffenheit ſchwitzen die Kammer - weſen dennoch meiſtens eine feſte, aus Kalkerde beſtehende Schale aus, welche eine große Mannichfaltigkeit zierlicher Formbildung zeigt. Bei den älteren und einfacheren Acyttarien iſt dieſe Schale eine einfache, glockenförmige, röhrenförmige oder ſchneckenhausförmige Kammer, aus deren Mündung ein Bündel von Schleimfäden hervortritt. Im Gegenſatz zu dieſen Einkammerweſen (Monothalamia) beſitzen die Vielkammerweſen (Polythalamia), zu denen die große Mehr⸗ zahl der Acyttarien gehört, ein Gehäuſe, welches aus zahlreichen Kammern in ſehr künſtlicher Weiſe zuſammengeſetzt iſt. Bald liegen dieſe Kammern in einer Reihe hinter einander, bald in coneentriſchen Kreiſen oder Spiralen ringförmig um einen Mittelpunkt herum, und dann oft in vielen Etagen übereinander, gleich den Logen eines großen Amphitheaters. Dieſe Bildung beſitzen z. B. die Nummuliten, deren linſengroße Kalkſchalen, zu Milliarden angehäuft, an der Mittelmeer⸗ küſte ganze Gebirge zuſammenſetzen. Die Steine, aus denen die egyptiſchen Pyramiden aufgebaut ſind, beſtehen aus ſolchem Nummu⸗ litenkalk. In den meiften Fällen find die Schalenkammern der Poly- thalamien in einer Spirallinie um einander gewunden. Die Kammern ſtehen mit einander durch Gänge und Thüren in Verbindung, gleich den Zimmern eines großen Palaſtes, und find nach außen gewöhn⸗ Bedeutung der Aeyttarien für die Biologie. 337 lich durch zahlreiche kleine Fenſter geöffnet, aus denen der ſchleimige Körper formwechſelnde Scheinfüßchen ausſtrecken kann. Und dennoch, trotz des außerordentlich verwickelten und zierlichen Baues dieſer Kalk— paläſte, trotz der unendlichen Mannichfaltigkeit in dem Bau und der Verzierung ſeiner zahlreichen Kammern, trotz der Regelmäßigkeit und Eleganz ihrer Ausführung, iſt dieſer ganze künſtliche Palaſt das aus— geſchwitzte Product einer vollkommen formloſen und ſtructurloſen Schleimmaſſe! Fürwahr, wenn nicht ſchon die ganze neuere Anatomie der thieriſchen und pflanzlichen Gewebe unſere Plaſtidentheorie ſtützte, wenn nicht alle allgemeinen Reſultate derſelben übereinſtimmend be= kräftigten, daß das ganze Wunder der Lebenserſcheinungen und Le— bensformen auf die active Thätigkeit der formloſen Eiweißverbindun— gen des Plasma zurückzuführen iſt, die Polythalamien allein ſchon müßten unſerer Theorie den Sieg verleihen. Denn hier können wir jeden Augenblick die wunderbare, aber unleugbare und zuerſt von Dujardin und Max Schultze ?“) feſtgeſtellte Thatſache durch das Mikroſkop nachweiſen, daß der formloſe Schleim des weichen Plasma- körpers, dieſer wahre „Lebensſtoff“, die zierlichſten, regelmäßigſten und verwickeltſten Bildungen auszuſcheiden vermag. Dadurch lernen wir verſtehen, wie derſelbe „Urſchleim“, daſſelbe Protoplasma, im Körper der Thiere und Pflanzen die verſchiedenſten Zellenformen er= zeugen kann. Von ganz beſonderem Intereſſe iſt es noch, daß zu den Poly— thalamien auch der älteſte Organismus gehört, deſſen Reſte uns in verſteinertem Zuſtande erhalten find. Dies iſt das vorher bereits er= wähnte „kanadiſche Morgenweſen“, Eozoon canadense, welches vor wenigen Jahren in der Ottawaformation lin den tiefſten Schichten des laurentiſchen Syſtems) am Ottawafluſſe in Canada gefunden worden iſt. In der That, durften wir überhaupt erwarten, in dieſen älteſten Ablagerungen der Primordialzeit noch organiſche Reſte zu finden, ſo konnten wir vor Allen auf dieſe einfachſten und doch mit einer feſten Schale bedeckten Protiſten hoffen, in deren Organiſation der Unter⸗ ſchied zwiſchen Thier und Pflanze noch nicht ausgeprägt iſt. Haeckel, Natürliche Schöpfungsgeſchichte. 22 338 Sonnenweſen oder Heliozoen. Strahlweſen oder Radiolarien. Von der zweiten Klaſſe der Wurzelfüßer, von den Sonnen- weſen (Heliozoa), kennen wir nur eine einzige Art, das ſogenannte „Sonnenthierchen“, welches in unſeren ſüßen Gewäſſern ſehr häufig iſt. Schon im vorigen Jahrhundert wurde daſſelbe von Paſtor Eich- horn in Danzig beobachtet und nach ihm Actinosphaerium Eich- hornii getauft. Es erſcheint dem bloßen Auge als ein gallertiges graues Schleimkügelchen von der Größe eines Stecknadelknopfes. Unter dem Mikroſkope ſieht man Hunderte oder Tauſende feiner Schleim— fäden von dem centralen Plasmakörper ausſtrahlen, und bemerkt, daß ſeine innere zellige Markſchicht von der äußeren blaſigen Rinden— ſchicht verſchieden iſt. Dadurch erhebt ſich das kleine Sonnenweſen, trotz des Mangels einer Schale, bereits über die ſtructurloſen Acyttarien und bildet den Uebergang von dieſen zu den Radiolarien. Die Strahlweſen (Radiolaria) bilden die dritte und letzte Klaſſe der Rhizopoden. In ihren niederen Formen ſchließen ſie ſich eng an die Sonnenweſen und Kammerweſen an, während ſie ſich in ihren höheren Formen weit über dieſe erheben. Von Beiden unter— ſcheiden fie ſich weſentlich dadurch, daß der centrale Theil des Kör⸗ pers aus vielen Zellen zuſammengeſetzt und von einer feſten Mem- bran umhüllt iſt. Dieſe geſchloſſene, meiſtens kugelige „Central⸗ kapſel“ iſt in eine ſchleimige Plasmaſchicht eingehüllt, von welcher überall Tauſende von höchſt feinen Fäden, die veräftelten und zuſam⸗ menfließenden Scheinfüßchen, ausſtrahlen. Dazwiſchen ſind zahlreiche gelbe Zellen von räthſelhafter Bedeutung zerſtreut. Die meiſten Ra= diolarien zeichnen ſich durch ein ſehr entwickeltes Skelet aus, welches aus Kieſelerde beſteht, und eine wunderbare Fülle der zierlichſten und ſeltſamſten Formen zeigt. Bald bildet dieſes Kieſelſkelet eine einfache Gitterkugel (Fig. 14 8), bald ein künſtliches Syſtem von mehreren con- centriſchen Gitterkugeln, welche in einander geſchachtelt und durch radiale Stäbe verbunden find. Meiſtens ſtrahlen zierliche, oft baum- förmig verzweigte Stacheln von der Oberfläche der Kugeln aus. An- deremale beſteht das ganze Skelet bloß aus einem Kieſelſtern und iſt dann meiſtens aus zwanzig, nach einem beſtimmten mathematiſchen Kieſelſchalige Strahlweſen oder Radiolarien. 339 Geſetze vertheilten und in einem gemeinſamen Mittelpunkte vereinigten Stacheln zuſammengeſetzt. Bei noch anderen Radiolarien bildet das Skelet zierliche vielkammerige Gehäuſe wie bei den Polythalamien. Es giebt wohl keine andere Gruppe von Organismen, welche eine ſolche Fülle der verſchiedenartigſten Grundformen und eine ſo geome— triſche Regelmäßigkeit, verbunden mit der zierlichſten Architektonik, in ihren Skeletbildungen entwickelte. Die meiſten der bis jetzt bekannt gewordenen habe ich in dem Atlas abgebildet, der meine Monogra⸗ phie der Radiolarien begleitet 23). Hier gebe ich Ihnen als Beiſpiel nur die Abbildung von einer der einfachſten Geſtalten, der Cyrtido- Fig. 14. Cyrtidosphaera echinoides, 400 mal vergrößert. e. Kugelige Cen⸗ tralkapſel. s. Gitterförmig durchbrochene Kieſelſchale. a. Radiale Stacheln, welche von derſelben ausſtrahlen. p. Pſeudopodien oder Scheinfüßchen, welche von der die Centralkapſel umgebenden Schleimhülle ausſtrahlen. 1. Gelbe kugelige Zellen, welche dazwiſchen zerſtreut ſind. 0 22 340 Kieſelſchalige Strahlweſen oder Radiolarien. sphaera echinoides von Nizza 25). Das Skelet beſteht hier bloß aus einer einfachen Gitterkugel (s), welche kurze radiale Stacheln (a) trägt, und welche die Centralkapſel (e) locker umſchließt. Von der Schleimhülle, die letztere umgiebt, ſtrahlen ſehr zahlreiche und feine Scheinfüßchen (p) aus, welche links zum Theil zurückgezogen und in eine klumpige Schleimmaſſe verſchmolzen ſind. Dazwiſchen ſind viele gelbe Zellen (1) zerſtreut. Während die Acyttarien meiſtens nur auf dem Grunde des Mee— res leben, auf Steinen und Seepflanzen, zwiſchen Sand und Schlamm mittelſt ihrer Scheinfüßchen umherkriechend, ſchwimmen dagegen die Radiolarien meiſtens an der Oberfläche des Meeres, mit rings aus— geſtreckten Pfeudopodien flottirend. Sie finden ſich hier in ungeheuren Mengen beiſammen, ſind aber meiſtens ſo klein, daß man ſie bis vor zwanzig Jahren faſt völlig überſah und erſt ſeit zehn Jahren ge- nauer kennen lernte. Faſt nur diejenigen Radiolarien, welche in Ge— ſellſchaften beiſammen leben (Polycyttarien) bilden Gallertklumpen von einigen Linien Durchmeſſer. Dagegen die meiſten einzeln lebenden (Monochttarien) kann man mit bloßem Auge nicht ſehen. Trotzdem finden ſich ihre verſteinerten Schalen in ſolchen Maſſen angehäuft, daß fie an manchen Stellen ganze Berge zuſammenſetzen, z. B. die Niko⸗ bareninſeln bei Hinterindien und die Inſel Barbados in den Antillen. Da die Meiſten von Ihnen mit den eben angeführten acht Pro⸗ tiſtenklaſſen vermuthlich nur ſehr wenig oder vielleicht gar nicht genauer bekannt ſein werden, ſo will ich jetzt zunächſt noch einiges Allgemeine über ihre Naturgeſchichte bemerken. Die große Mehrzahl aller Proti- ſten lebt im Meere, theils freiſchwimmend an der Oberfläche der See, theils auf dem Meeresboden kriechend, oder an Steinen, Muſcheln, Pflanzen u. ſ. w. feſtgewachſen. Sehr viele Arten von Protiſten leben auch im ſüßen Waſſer, aber nur eine ſehr geringe Anzahl auf dem feſten Lande (z. B. die Myxomyceten, einige Protoplaſten). Die meiſten können nur durch das Mikroſkop wahrgenommen werden, ausge— nommen, wenn ſie zu Millionen von Individuen zuſammengehäuft vorkommen. Nur Wenige erreichen einen Durchmeſſer von mehreren Lebenserſcheinungen der Urweſen oder Protiften. 341 Linien oder ſelbſt einigen Zollen. Was ihnen aber an Körpergröße abgeht, erſetzen ſie durch die Production erſtaunlicher Maſſen von In⸗ dividuen, und greifen dadurch oft ſehr bedeutend in die Oekonomie der Natur ein. Die unverweslichen Ueberreſte der geſtorbenen Pro⸗ tiften, wie die Kieſelſchalen der Diatomeen und Radiolarien, die Kalk— ſchalen der Aeyttarien, ſetzen oft dicke Gebirgsſchichten zuſammen. In ihren Lebenserſcheinungen, insbeſondere in Bezug auf Ernährung und Fortpflanzung, ſchließen ſich die einen Protiſten mehr den Pflanzen, die anderen mehr den Thieren an. Die Nahrungsauf— nahme ſowohl als der Stoffwechſel gleicht bald mehr denjenigen der niederen Thiere, bald mehr denjenigen der niederen Pflanzen. Die meiften Protiſten aber zeigen gerade hierin eine merkwürdige Mittel- ſtellung zwiſchen beiden Reichen. Freie Ortsbewegung kommt vielen Protiſten zu, während ſie anderen fehlt; allein hierin liegt gar kein entſcheidender Charakter, da wir auch unzweifelhafte Thiere ken— nen, denen die freie Ortsbewegung ganz abgeht, und echte Pflanzen, welche dieſelbe beſitzen. Eine Seele beſitzen alle Protiſten, ſo gut wie alle Thiere und wie alle Pflanzen. Die Seele ſcheint bei vielen Protiſten ſehr zarter Empfindungen fähig zu ſein; wenigſtens ſind die— ſelben oft höchſt reizbar. Dagegen ſcheint der Wille bei den Meiſten ſehr ſchwach entwickelt zu ſein, und ob irgend ein Protiſt ſelbſtſtändiges Denkvermögen beſitzt, iſt ſehr zweifelhaft. Allein das Denkvermögen fehlt in gleichem Grade auch vielen niederen Thieren, während viele von den höheren Thieren ebenſo klar und oft folgerichtiger als viele niedere Menſchen denken. Der wichtigſte phyſiologiſche Charakter des Protiften- reichs liegt in der ausſchließlich ungeſchlechtlichen Fort— pflanzung aller hierher gehörigen Organismen. Die höheren Thiere und Pflanzen pflanzen ſich faſt ausſchließlich nur auf geſchlecht— lichem Wege fort. Die niederen Thiere und Pflanzen vermehren ſich zwar auch vielfach auf ungeſchlechtlichem Wege, durch Theilung, Knospenbildung, Keimbildung u. ſ. w. Allein daneben findet ſich bei denſelben doch faſt immer noch die geſchlechtliche Fortpflanzung, oft 342 Chemiſche Zuſammenſetzung des Protiſtenkörpers. mit erſterer regelmäßig in Generationen abwechſelnd (Metageneſis S. 88). Sämmtliche Protiſten dagegen pflanzen ſich ausſchließlich nur auf dem ungeſchlechtlichen Wege fort und der Gegenſatz der beiden Geſchlechter iſt bei ihnen überhaupt noch nicht durch Differenzirung entſtanden. Es giebt weder männliche noch weibliche Protiſten. Wie die Protiſten in ihren Lebenserſcheinungen zwiſchen Thieren und Pflanzen (und zwar vorzüglich zwiſchen den niederſten Formen derſelben) mitten inne ſtehen, fo gilt daſſelbe auch von der chemi— ſchen Zuſammenſetzung ihres Körpers. Einer der wichtigſten Unterſchiede in der chemiſchen Zuſammenſetzung des Thier- und Pflan⸗ zenkörpers beſteht in ihrer charakteriſtiſchen Skeletbildung. Das Skelet oder das feſte Gerüſte des Körpers beſteht bei den meiſten echten Pflanzen aus der ſtickſtofffreien Celluloſe, welche ein Ausſchwitzungs⸗ produkt des ſtickſtoffhaltigen Zellſtoffs oder Protoplasma iſt. Bei den meiſten echten Thieren dagegen beſteht das Skelet gewöhnlich entweder aus ſtickſtoffhaltigen Verbindungen (Chitin u. ſ. w.), oder aus Kalk⸗ erde. In dieſer Beziehung verhalten ſich die einen Protiſten mehr wie Pflanzen, die anderen mehr wie Thiere. Bei Vielen iſt das Skelet vorzugsweiſe oder ganz aus Kieſelerde gebildet, welche ſowohl im Thier⸗ als Pflanzenkörper vorkommt. Der active Lebensſtoff iſt aber in allen Fällen immer das ſchleimige Protoplasma. In Bezug auf die Formbildung der Protiſten iſt insbeſon⸗ dere hervorzuheben, daß die Individualität ihres Körpers faſt immer auf einer außerordentlich tiefen Stufe der Entwickelung ſtehen bleibt. Sehr viele Protiſten bleiben zeitlebens einfache Plaſtiden oder Individuen erſter Ordnung. Andere bilden zwar durch Vereinigung von mehreren Individuen Colonien oder Staaten von Plaſtiden. Al- lein auch dieſe höheren Individuen zweiter Ordnung bleiben meiſtens auf einer ſehr tiefen Ausbildungsſtufe ſtehen. Die Bürger dieſer Pla- ſtidengemeinden bleiben ſehr gleichartig, gehen nur in ſehr geringem Grade Arbeitstheilung ein, und vermögen daher ebenſo wenig ihren ſtaatlichen Organismus zu höheren Leiſtungen zu befähigen, als etwa die Wilden Neuhollands dies im Stande ſind. Der Zuſammenhang der Individualität und Grundform des Protiſtenkörpers. 343 Plaſtiden bleibt auch meiſtens ſehr locker, und jede einzelne bewahrt in hohem Maße ihre individuelle Selbſtſtändigkeit. Individualitäten höhe⸗ rer (dritter bis ſechster) Ordnung, wie fie im Thier- und Pflanzenreiche ſehr allgemein ausgebildet ſind, finden wir unter den Protiſten nur in geringer Verbreitung entwickelt. 0 Ein zweiter Formcharakter, welcher nächſt der niederen Indivi⸗ dualitätsſtufe die Protiſten beſonders auszeichnet, ift der niedere Aus- bildungsgrad ihrer ſtereometriſchen Grundform. Wie ich in meiner Grundformenlehre (im vierten Buche der generellen Morphologie) ge: zeigt habe, iſt bei den meiſten Organismen ſowohl in der Geſammt⸗ bildung des Körpers als in der Form der einzelnen Theile eine be— ſtimmte geometriſche Grundform nachzuweiſen. Dieſe ideale Grund— form, welche durch die Zahl, Lagerung, Verbindung und Differen- zirung der zuſammenſetzenden Theile beſtimmt iſt, verhält ſich zu der realen organiſchen Form ganz ähnlich, wie ſich die ideale geometriſche Grundform der Kryſtalle zu ihrer unvollkommenen realen Form ver⸗ hält. Bei den meiſten Körpern und Körpertheilen von Thieren und Pflanzen iſt dieſe Grundform eine Pyramide, und zwar bei den fogenannten „ſtrahlig- regulären“ Formen eine reguläre Pyramide, bei den höher differenzirten, fogenannten „bilateral⸗ſymmetriſchen“ Formen eine irreguläre Pyramide (Vergl. die Tabellen S. 556—558 im zweiten Bande der gen. Morph.). Bei den Protiſten iſt dieſe Pyramidenform, welche im Thier⸗ und Pflanzenreiche vorherrſcht, im Ganzen ſelten, und ſtatt deſſen iſt die Form entweder ganz unregelmäßig (amorph oder irregulär) oder es iſt die Grundform eine einfachere reguläre geometriſche Form, insbeſondere ſehr häufig die Kugel, der Cylinder, das Ellipſoid, das Sphäroid, der Doppelkegel, der Kegel, das re— guläre Vieleck (Tetraeder, Hexaeder, Octaeder, Dodekaeder, Ico— ſaeder) u. ſ. w. Alle dieſe niederen und unvollkommenen Grund— formen des promorphologiſchen Syſtems ſind bei den Protiſten die vorherrſchenden Grundformen. Jedoch kommen daneben bei vielen Protiſten auch noch die höheren regulären und bilateralen Grundfor⸗ men vor, welche im Thier- und Pflanzenreich herrſchend ſind. Auch 344 Monophyletiſche Deſcendenzhypotheſe des Protiſtenreichs. in dieſer Hinſicht ſchließen ſich oft von nächſtverwandten Protiſten die einen (4. B. die Acyttarien) mehr den Thieren, die anderen (3. B. die Radiolarien) mehr den Pflanzen an. Was nun die paläontologiſche Entwickelung des Protiſtenreichs betrifft, ſo kann man ſich darüber ſehr verſchiedene, aber immer nur ſehr unſichere genealogiſche Hypotheſen machen. Biel- leicht ſind die einzelnen Klaſſen deſſelben ſelbſtſtändige Stämme oder Phylen, die ſich ſowohl unabhängig von einander als von dem Thier⸗ reich und von dem Pflanzenreiche entwickelt haben. Dies gilt ſowohl wenn wir der vielheitlichen (polyphyletiſchen) als wenn wir der einheitlichen (monophyletiſchen) Deſcendenzhypotheſe folgen. Selbſt wenn wir die letztere vollftändig annehmen und für alle Organismen ohne Ausnahme, die jemals auf der Erde gelebt haben und noch jetzt leben, die gemeinſame Abſtammung von einer einzigen Monerenform behaupten, ſelbſt in die⸗ ſem Falle iſt der Zuſammenhang der Protiſten einerſeits mit dem Pflanzenſtamm, andrerſeits mit dem Thierſtamm nur ein ſehr lockerer. Wir hätten fie dann, wie es auf Taf. dargeſtellt ift, als niedere Wur⸗ zelſchößlinge anzuſehen, welche ſich unmittelbar aus der Wurzel jenes zweiſtämmigen organiſchen Stammbaums entwickelt haben, oder viel— leicht als tief unten abgehende Zweige eines gemeinſamen niederen Protiſtenſtammes, welcher in der Mitte zwiſchen den beiden divergi⸗ renden hohen und mächtigen Stämmen des Thier- und Pflanzenreichs aufgeſchoſſen iſt. Die einzelnen Protiſtenklaſſen, mögen ſie nun an ihrer Wurzel gruppenweiſe enger zuſammenhängen oder nur ein locke— res Büſchel von Wurzelſchößlingen bilden, würden in dieſem Falle, ohne weiter mit den rechts nach dem Thierreiche, links nach dem Pflanzenreiche einfeitig abgehenden Organismengruppen Etwas zu thun zu haben, den urſprünglich einfachen Charakter der gemeinſamen Stammform mehr beibehalten haben, als es bei den echten Thieren und bei den echten Pflanzen der Fall iſt. Nehmen wir dagegen die vielheitliche oder polyphyletiſche Deſcen— denzhypotheſe an, ſo würden wir uns eine mehr oder minder große Anzahl von organiſchen Stämmen oder Phylen vorzuſtellen haben, Polyphyletiſche Deſcendenzhypotheſe des Protiſtenreichs. 345 welche alle neben und unabhängig von einander aus dem gemein— ſamen Boden der Urzeugung aufſchießen. Es würden dann zahlreiche verſchiedene Moneren durch Urzeugung entſtanden ſein, deren Unter— ſchiede nur in geringen, für uns nicht erkennbaren Differenzen ihrer chemiſchen Zuſammenſetzung und in Folge deſſen auch ihrer Entwicke— lungsfähigkeit beruhen. Eine geringe Anzahl von dieſen Moneren würde den verſchiedenen Hauptklaſſen des Pflanzenreichs, und ebenſo andrerſeits eine geringe Anzahl den Hauptklaſſen des Thierreichs den Urſprung gegeben haben. Zwiſchen beiden Gruppen von Haupt- klaſſen aber würde ſich, unabhängig von dieſen wie von jenen, eine größere Anzahl von ſelbſtſtändigen Stämmen entwickelt haben, die auf einer tieferen Organiſationsſtufe ſtehen blieben, und ſich weder zu ech— ten Pflanzen, noch zu echten Thieren entwickelten. Selbſt wenn man einen ganz ſelbſtſtändigen Stamm für das Pflanzenreich, einen zwei— ten für das Thierreich annähme, würde man zwiſchen beiden noch eine größere Anzahl von ſelbſtſtändigen Protiſtenſtämmen annehmen können, deren jeder ganz unabhängig von jenen aus einer eigenen archigonen Monerenform ſich entwickelt hat. Um ſich dieſes Verhält— niß lebendig vorzuſtellen, werfen Sie einen Blick auf das nachſtehende Schema (S. 347), oder ſtellen Sie ſich die ganze Organismenwelt als eine ungeheure Wieſe vor, welche größtentheils verdorrt iſt, und auf welcher zwei vielverzweigte mächtige Bäume ſtehen, die ebenfalls größtentheils abgeſtorben ſind. Dieſe letzteren mögen Ihnen das Thier— reich und das Pflanzenreich vorſtellen, ihre friſchen noch grünenden Zweige die lebenden Thiere und Pflanzen, die verdorrten Zweige mit welkem Laub dagegen die ausgeſtorbenen Gruppen. Das dürre Gras der Wieſe entſpricht den wahrſcheinlich zahlreichen, ausgeſtorbenen Protiſtenſtämmen, die wenigen noch grünen Halme dagegen den jetzt noch lebenden. Für die Annahme, daß wiederholt zu verſchiedenen Zeiten Mo— neren durch Urzeugung entſtanden ſind, ſpricht vor Allem die Exiſtenz der gegenwärtig noch lebenden Moneren, die ich Ihnen ſchon früher geſchildert habe. Offenbar legen uns dieſe die Vermuthung ſehr nahe, 346 Einfache oder mehrfache Urzeugung. daß der Proceß der Urzeugung noch immer fortdauert. Denn wir ſtehen hier vor folgender Alternative. Entweder haben ſich ſeit der älteſten Primordialzeit dieſe einfachſten Organismen unverändert er⸗ halten und noch bis auf den heutigen Tag, viele Millionen Jahre hin⸗ durch, unentwickelt den Charakter der erſten Moneren beibehalten. Oder dies iſt nicht der Fall. Dann müſſen ſich wiederholt durch Urzeugung ſolche Moneren gebildet haben, und es iſt dann nicht abzuſehen, wa— rum dieſer Prozeß nicht noch immer fortdauern ſoll. Wie wir bemerkt haben, iſt bisher die Urzeugung durch eine wirkliche Beobachtung noch nicht nachgewieſen, was auch jedenfalls (ſelbſt wenn ſie alltäglich ſtatt⸗ fände!) ſehr ſchwierig ſein würde. Allein widerlegt iſt die Urzeugung experimentell eben ſo wenig und kann ſie überhaupt niemals werden. Offenbar erſcheint es aber bei denkender Betrachtung viel natürlicher, auch jetzt noch dieſen Proceß anzunehmen, als zu denken, daß dieſe einfachſten Schleimklümpchen ſeit antelaurentiſcher Zeit noch keinerlei Organe entwickelt und ſeit jenen vielen Millionen von Jahren ſich ganz oder faſt ganz unverändert in ihrer primitiven Urgeſtalt erhalten haben. 347 Urweſen Thi anzen e iere Mine 2 Protista Animalia — TE ———— — Schleimpilze Wurzelfüßer Myxomycetes Rhizopoda Labyrinthläufer Geißelſchwärmer Labyrinthuleae Flagellata — m — — Kieſelzellen Amöboiden Diatomeae Protoplasta —— — 7 Indifferente ? Moneren Monera neutra 9 7 ? 922 eee Zahlreiche organiſche Moneren, ſelbſtſtändig durch Urzeugung entſtanden. Vielſtämmiger oder polyphyletiſcher Stammbaum der Drga= nismen (im Gegenſatz zu dem einſtämmigen oder monophyletiſchen Stammbaum auf Taf. I. Die vielen Linien ohne Bezeichnung (mit einem 7) bedeuten zahlreiche ausgeſtorbene neutrale Stämme des Protiſtenreichs, welche ſich weder zu Thieren noch zu Pflanzen entwickelt haben. (Vergl. S. 345.) Sechszehnter Vortrag. Stammbaum und Geſchichte des Pflanzenreichs. (Hierzu Taf. II.) Das natürliche Syſtem des Pflanzenreichs. Eintheilung des Pflanzenreichs in ſechs Hauptklaſſen und achtzehn Klaſſen. Unterreich der Blumenloſen (Cryptoga⸗ men). Stammgruppe der Thalluspflanzen. Tange oder Algen (Urtange, Grün⸗ tange, Brauntange, Rothtange). Faſerpflanzen oder Inophyten (Flechten und Pilze). Stammgruppe der Prothalluspflanzen. Moſe oder Muscinen (Tang⸗ moſe, Lebermoſe, Laubmoſe, Torfmoſe). Farne oder Filieinen (Schaftfarne, Laub⸗ farne, Waſſerfarne, Schuppenfarne). Unterreich der Blumenpflanzen (Phaneroga⸗ men). Nacktſamige oder Gymnoſpermen. Palmfarne (Cycadeen). Nadelhölzer (Coniferen). Deckſamige oder Angioſpermen. Monocotylen. Dicotylen. Kelch⸗ blüthige (Apetalen). Sternblüthige (Diapetalen). Glockenblüthige (Gamopetalen). Monophyletiſcher und polyphyletiſcher Stammbaum des Pflanzenreichs. 9 Meine Herren! Jeder Verſuch, den wir zur Erkenntniß des Stammbaums irgend einer kleineren oder größeren Gruppe von bluts— verwandten Organismen unternehmen, hat ſich zunächſt an das beſte— hende „natürliche Syſtem“ dieſer Gruppe anzulehnen. Denn obgleich das natürliche Syſtem der Thiere, Protiſten und Pflanzen niemals endgültig feſtgeſtellt werden, vielmehr immer nur einen mehr oder weniger annähernden Grad von Erkenntniß der wahren Bluts— verwandtſchaft darſtellen wird, ſo wird es nichts deſto weniger jeder— zeit die hohe Bedeutung eines hypothetiſchen Stammbaums behalten. Allerdings wollen die meiſten Zoologen, Protiſtiker und Botaniker durch ihr „natürliches Syſtem“ nur im Lapidarſtyl die ſubjectiven Das natürliche Syſtem des Pflanzenreichs. 349 Anſchauungen ausdrücken, die ein jeder von Ihnen von der objectiven „Form verwandtſchaft“ der Organismen beſitzt. Allein dieſe Formverwandtſchaft iſt ja im Grunde, wie Sie geſehen haben, nur die nothwendige Folge der wahren Bluts verwandtſchaft. Da— her wird jeder Morphologe, welcher unſere Erkenntniß des natürlichen Syſtems fördert, gleichzeitig, er mag wollen oder nicht, auch unſere Erkenntniß des Stammbaums fördern. Je mehr das natürliche Sy— ſtem ſeinen Namen wirklich verdient, je feſter es ſich auf die überein⸗ ſtimmenden Reſultate der vergleichenden Anatomie, Ontogenie und Paläontologie gründet, deſto ſicherer dürfen wir daſſelbe als den annähernden Ausdruck des wahren Stammbaums betrachten. Indem wir uns nun zu unſerer heutigen Aufgabe die Genealo— gie des Pflanzenreichs ſtecken, werden wir, jenem Grundſatze gemäß, zunächſt einen Blick auf das natürliche Syſtem des Pflan- zenreichs zu werfen haben, wie daſſelbe heutzutage von den meiſten Botanikern mit mehr oder minder unbedeutenden Abänderungen ange— nommen wird. Danach zerfällt zunächſt die ganze Maſſe aller Pflan⸗ zenformen in zwei Hauptgruppen. Dieſe oberſten Hauptabtheilungen oder Unterreiche ſind noch dieſelben, welche bereits vor mehr als einem Jahrhundert Carl Linné, der Begründer der ſyſtematiſchen Na⸗ turgeſchichte (vergl. oben S. 32) unterſchied und welche er Crypto— gamen oder Geheimblühende und Phanerogamen oder Offen— blühende nannte. Die letzteren theilte Linné in ſeinem künſtlichen Pflanzenſyſtem nach der verſchiedenen Zahl, Bildung und Verbin⸗ dung der Staubgefäße in 23 verſchiedene Klaſſen, und dieſen fügte er dann als 24ſte und letzte Klaſſe die Cryptogamen an. Die Cryptogamen, die geheimblühenden oder blüthenloſen Pflanzen, welche früherhin nur wenig beobachtet wurden, haben durch die eingehenden Forſchungen der Neuzeit eine fo große Mannichfaltig⸗ keit der Formen, und eine ſo tiefe Verſchiedenheit im gröberen und feineren Bau offenbart, daß wir unter denſelben nicht weniger als vierzehn verſchiedene Klaſſen unterſcheiden müffen, während wir die Zahl der Klaſſen unter den Blüthenpflanzen oder Phaneroga— 350 Sechs Hauptklaſſen und achtzehn Klaſſen des Pflanzenreichs. men auf vier beſchränken können. Dieſe achtzehn Klaſſen des Pflanzenreichs aber gruppiren ſich naturgemäß wiederum dergeſtalt, daß wir im Ganzen ſechs Hauptklaſſen (oder Kla- den, d. h. Aeſte) des Pflanzenreichs unterſcheiden können. Zwei von dieſen ſechs Hauptklaſſen fallen auf die Blüthenpflanzen, vier dagegen auf die Blüthenloſen. Wie ſich jene 18 Klaſſen auf dieſe ſechs Haupt⸗ klaſſen, und die letzteren wiederum auf die Hauptabtheilungen des Pflanzenreichs vertheilen, zeigt Ihnen überſichtlich die nachſtehende Tabelle und der Stammbaum auf Taf. II. Das Unterreich der Cryptogamen oder Blumenloſen kann man zunächſt naturgemäß in zwei Hauptabtheilungen oder Stamm⸗ gruppen zerlegen, welche ſich in ihrem inneren Bau und in ihrer äuße— ren Form ſehr weſentlich unterſcheiden, nämlich die Thalluspflanzen und die Prothalluspflanzen. Die Stammgruppe der Thallus- pflanzen umfaßt die beiden großen Hauptklaſſen der Tange oder Algen, welche im Waſſer leben, und der Faſerpflanzen oder Inophyten (Flechten und Pilze), welche außerhalb des Waſſers, auf der Erde, auf Steinen, Baumrinden, auf verweſenden organiſchen Körpern u. ſ. w. wachſen. Die Stammgruppe der Prothallus⸗ pflanzen dagegen enthält die beiden formenreichen Hauptklaſſen der Moſe und Farne. Alle Thalluspflanzen oder Thallophyten ſind ſofort daran zu erkennen, daß man an ihrem Körper die beiden Grundor⸗ gane der übrigen Pflanzen, Stengel und Blätter, noch nicht unter- ſcheiden kann. Vielmehr iſt der ganze Leib aller Tange und aller Fa⸗ ſerpflanzen eine aus einfachen Zellen zuſammengeſetzte Maſſe, welche man als Laubkörper oder Thallus bezeichnet. Dieſer Thallus iſt noch nicht in Stengel und Blatt differenzirt. Hierdurch, ſowie durch viele andere Eigenthümlichkeiten ftellen fi) die Thallophyten allen übri- gen Pflanzen, nämlich den beiden Hauptgruppen der Prothalluspflan⸗ zen und der Blüthenpflanzen gegenüber und man hat deßhalb auch häufig die letzteren beiden als Stockpflanzen oder Cormophy— ten zuſammengefaßt. Das Verhältniß dieſer drei Stammgruppen zu Thalluspflanzen und Stockpflanzen. 351 einander, entſprechend jenen beiden verſchiedenen Auffaſſungen, macht Ihnen nachſtehende Ueberſicht deutlich. A. Thalluspflanzen I. Thalluspflanzen I. Blumenloſe (Thallophyta). (Thallophyta). (Urrpiogsmae). B. Prothalluspflanzen (Prothallophyta). II. Stockpflanzen II. Blumenpflanzen C. Blumenpflanzen Gope phy (Phanerogamae). (Phanerogamae). Die Stockpflanzen oder Cormophyten, in deren Organiſation bereits der Unterſchied von Stengelorganen und Blattorganen ent— wickelt iſt, bilden gegenwärtig und ſchon ſeit ſehr langer Zeit die Hauptmaſſe der Pflanzenwelt. Allein ſo war es nicht immer. Vielmehr fehlten die Stockpflanzen, und zwar nicht allein die Blumenpflanzen, ſondern auch die Prothalluspflanzen, noch gänzlich während jenes unermeßlich langen Zeitraums, welcher als das archolithiſche oder primordiale Zeitalter den Beginn und den erſten Hauptabſchnitt der organiſchen Erdgeſchichte bildet. Sie erinnern ſich, daß während dieſes Zeitraums ſich die laurentiſchen, cambriſchen und ſiluriſchen Schichtenſyſteme ablagerten, deren Dicke zuſammengenommen unge— fähr 70,000 Fuß beträgt. Da nun die Dicke aller darüber liegenden jüngeren Schichten, von den devoniſchen bis zu den Ablagerungen der Gegenwart zuſammen nur ungefähr 60,000 Fuß erreicht, ſo konnten wir hieraus allein den auch aus anderen Gründen wahrfchein- lichen Schluß ziehen, daß jenes archolithiſche oder primordiale Zeitalter eine längere Dauer beſaß, als die ganze darauf folgende Zeit bis zur Gegenwart. Während dieſes ganzen unermeßlichen Zeitraums, der viel⸗ leicht viele Millionen von Jahrhunderten umſchloß, ſcheint das Pflan- zenleben auf unſerer Erde ausſchließlich durch die Stammgruppe der Thalluspflanzen, und zwar nur durch die Hauptklaſſe der waſſerbe⸗ wohnenden Thalluspflanzen, durch die Tange oder Algen, vertreten geweſen zu ſein. Wenigſtens gehören alle verſteinerten Pflanzenreſte, welche wir mit Sicherheit aus der Primordialzeit kennen, ausſchließlich dieſer Hauptklaſſe an. Da auch alle Thierreſte dieſes ungeheuren Syſtematiſche Ueberſicht der ſechs Hauptklaſſen und achtzehn Klaſſen des Pflanzenreichs. Stammgruppen er oder Unterreiche | aupttlaſſen Klaſſen des Syſtematiſcher des oder Kladen des g 15 Pflanzenreichs Name der Klaſſen Pflanzenreichs Pflanzenreichs 1. , urtange 1. Azehepkyonae: 1. Archephyceae A. (Archephyta) Thallus⸗ 2. Grüntange 2. Chlorophyceae a Tange (Chloralgae) pflanzen. 3. Brauntange 3. Phaeophyceae Algae (Fucoideae) Thallo- 4. Rothtange 4. Rhodophyceae hyta (Florideae) 1155 5. Flechten 5. Lichenes Faſerpflanzen 6. Pilze 6. Fungi Inophyta 7. Tangmoſe 7. Charobrya (Characeae) III. 8. Lebermoſe 8. Thallobrya (Hepaticae) Moſe 9. Laubmoſe 9. Phyllobrya rot allus⸗ Museinae (Frondosae) Pre. 10. Torfmoſe 10. Sphagnobrya pflanzen. (Sphagnaceae) 11. Schaftfarne 11. Calamariae 5 (Calamophyta) hyta IV. 12. Laubfarne 12. Filices phyt 0 eopterides) Farne 13. Waſſerfarne 13. Rhizocarpeae Filicinae (Hydropterides) 14. Schuppenfarne 14. Selagines (Lepidophyta) c. 9 ur i 15. Palmfarne 15. Cycadeae Blumen⸗ a } f Pflanzen. 55 16. Nadelhölzer 16. Coniferae Phanero- in e ? 17. Einkeimblättrige 17. Monocotylae A eckſamige EN Ur h EN 8 ae 2 he Zweikeimblättrige 18. Dicotylae. Hauptklaſſe der Tange oder Algen. 353 Zeitraums nur waſſerbewohnenden Thieren angehören, ſo ſchließen wir daraus, daß landbewohnende Organismen damals noch gar nicht exiſtirten. Schon aus dieſen Gründen muß die erſte und unvollkommenſte Hauptklaſſe des Pflanzenreichs, die Abtheilung der Tange oder Algen für uns von ganz beſonderer Bedeutung ſein. Dazu kommt noch das hohe Intereſſe, welches uns dieſe Hauptklaſſe, auch an ſich betrachtet, gewährt. Trotz ihrer höchſt einfachen Zuſammenſetzung aus gleichartigen oder nur wenig differenzirten Zellen zeigen die Tange dennoch eine außerordentliche Mannichfaltigkeit verſchiedener Formen. Einerſeits gehören dazu die einfachſten und unvollkommenſten aller Gewächſe, andrerſeits ſehr entwickelte und eigenthümliche Geſtalten. Ebenſo wie in der Vollkommenheit und Mannichfaltigkeit ihrer äuße— ren Formbildung unterſcheiden ſich die verſchiedenen Algengruppen auch in der Körpergröße. Auf der tiefſten Stufe finden wir die win— zig kleinen Protococcus-Arten, von denen mehrere Hunderttauſend auf den Raum eines Stecknadelknopfs gehen. Auf der höchſten Stufe bewundern wir in den rieſenmäßigen Makrocyſten, welche eine Länge von 300 —400 Fuß erreichen, die längſten von allen Geſtalten des Pflanzenreichs. Und wenn nicht aus dieſen Gründen, ſo müßten die Algen ſchon deßhalb unſere beſondere Aufmerkſamkeit erregen, weil ſie die Anfänge des Pflanzenlebens bilden und die Stammformen aller übrigen Pflanzengruppen enthalten, vorausgeſetzt daß unſere Hypo— theſe von einem gemeinſamen Urſprung aller Pflanzengruppen richtig iſt (Taf. II). Leider werden die Meiſten von Ihnen ſich nur eine ſehr unvoll— kommene Vorſtellung von dieſer höchſt intereſſanten Hauptklaſſe des Pflanzenreichs machen können, weil Sie davon nur die verhältniß— mäßig kleinen und einfachen Vertreter kennen werden, welche das ſüße Waſſer bewohnen. Die ſchleimigen grünen Waſſerfäden und Waffer- flocken in unſeren Teichen und Brunnentrogen, die hellgrünen Schleim— überzüge auf allerlei Holzwerk, welches längere Zeit mit Waſſer in Berührung war, die gelbgrünen ſchaumigen Schleimdecken auf den Haeckel, Natürliche Schöpfungsgeſchichte. 23 354 Ausdehnung der untermeeriſchen Tangwälder. Tümpeln unſerer Dörfer, die grünen Haarbüſcheln gleichenden Fa— denmaſſen, welche überall im ſtehenden und fließenden Süßwaſſer vor— kommen, ſind größtentheils aus verſchiedenen Tangarten zuſammen— geſetzt. Aber nur diejenigen von Ihnen, welche die Meeresküſte be— ſucht haben, welche an den Küſten von Helgoland und von Schleswig— Holſtein die ungeheuren Maſſen ausgeworfenen Seetangs bewundert, oder an den Felſenufern des Mittelmeeres die zierlich geſtaltete und lebhaft gefärbte Tangvegetation auf dem Meeresboden ſelbſt durch die klare blaue Fluth hindurch erblickt haben, wiſſen die Bedeutung der Tangklaſſe annähernd zu würdigen. Und dennoch geben ſelbſt dieſe formenreichen untermeeriſchen Algenwälder der europäiſchen Küſten nur eine ſchwache Vorſtellung von den coloſſalen Sargaſſowäldern des atlantiſchen Oceans, jenen ungeheuren Tangbänken, welche einen Flächenraum von ungefähr 4000 Quadratmeilen bedecken, und welche dem Columbus auf ſeiner Entdeckungsreiſe die Nähe des Feſtlandes vorſpiegelten. Aehnliche, aber weit ausgedehntere Tangwälder wuchſen in dem primordialen Urmeere wahrſcheinlich in dichten Maſſen, und wie zahlloſe Generationen dieſer archolithiſchen Tange über einander hinſtarben, bezeugen unter Anderen die mächtigen ſiluriſchen Alaun— ſchiefer Schwedens, deren eigenthümliche Zuſammenſetzung weſentlich von jenen untermeeriſchen Algenmaſſen herrührt. Wir unterſcheiden in der Hauptklaſſe der Tange oder Algen vier verſchiedene Klaſſen, deren jede wiederum in mehrere Ordnungen und Familien zerfällt. Dieſe ihrerſeits enthalten wieder eine große Menge verſchiedener Gattungen und Arten. Wir bezeichnen dieſe vier Klaſſen als Urtange oder Archephyceen, Grüntange oder Chlorophyceen, Brauntange oder Phaeophyceen, und Rothtange oder Rhodophyceen. Die erſte Klaſſe der Tange, die Urtange (Archephyceae) könnten auch Urpflanzen (Archephyta) genannt werden, weil dieſelben die einfachſten und unvollkommenſten von allen Pflanzen enthalten, und insbeſondere jene älteſten aller pflanzlichen Organismen, welche allen übrigen Pflanzen den Urſprung gegeben haben. Es ge— hören hierher alſo zunächſt jene allerälteſten vegetabiliſchen Moneren, Urtange (Archephyceen oder Archephyten). 355 welche im Beginne der antelaurentiſchen Periode durch Urzeugung entſtanden ſind. Ferner müſſen wir dahin alle jene Pflanzenformen einfachſter Organiſation rechnen, welche aus jenen ſich zunächſt in antelaurentiſcher Zeit entwickelt haben, und welche den Formwerth einer einzigen Plaſtide beſaßen. Zunächſt waren dies ſolche Urpflänz— chen, deren ganzer Körper eine einfachſte Cytode (eine kernloſe Pla— ſtide) bildete, und weiterhin ſolche, die bereits durch Sonderung eines Kernes im Plasma den höheren Formwerth einer einfachen Zelle er— reicht hatten (Vergl. oben S. 285). Noch in der Gegenwart leben verſchiedene einfachſte Tangarten, welche von dieſen urſprünglichen Urpflanzenformen ſich nur wenig entfernt haben. Dahin gehört eine große Anzahl von höchſt einfachen, meiſt mikroſkopiſch kleinen Pflänz— chen, deren ganzer Körper noch heutzutage in vollkommen ausgebil— detem Zuſtande nur den Formwerth einer einfachen Plaſtide, ent— weder einer Cytode oder einer Zelle beſitzt; oder bei denen nur eine geringe Anzahl von einfachen und gleichartigen Zellen zur Bildung des Thalluskörpers zuſammentritt. Die Tangfamilien der Codiolaceen, Protococcaceen, Desmidiaceen, Palmellaceen und einige andere wür— den hierher zu rechnen ſein. Auch die merkwürdige Gruppe der Phy— cochromaceen (Chroococcaceen und Oſcillarineen) würde man hierher ziehen können, falls man dieſe nicht lieber als einen ſelbſtſtändigen Stamm des Protiſtenreiches anſehen will (Vergl. oben S. 328). End— lich würde man zu den Urtangen auch jene außerordentlich merkwürdi— gen Schlauchalgen oder Siphoneen rechnen können, deren Körper bei anſehnlicher Größe und ſehr entwickelter äußerer Form dennoch aus einer einzigen einfachen Plaſtide beſteht. Manche von dieſen Siphoneen erreichen eine Größe von mehreren Fußen und gleichen einem zierlichen Moſe (Bryopsis) oder einem Bärlappe oder gar einer vollkomme— nen Blüthenpflanze mit Stengel, Wurzel und Blättern (Caulerpa). Und dennoch beſteht dieſer ganze große und vielfach äußerlich differen— zirte Körper innerlich aus einem ganz einfachen Schlauche, der nur den Formwerth einer einzigen Cytode beſitzt. Dieſe wunderbaren Sipho— neen, Bryopſen und Caulerpen, zeigen uns, wie weit es die einzelne 23 * 356 Grüntange (Chlorophyeeen oder Chloralgen). Plaſtide als ein einfachſtes Individuum erſter Ordnung durch fortge— ſetzte Anpaſſung an die Verhältniſſe der Außenwelt bringen kann. Es iſt ſehr wahrſcheinlich, daß ähnliche Urpflanzen, deren weicher Körper aber nicht der foſſilen Erhaltung fähig war, in großer Maſſe und Mannichfaltigkeit das antelaurentiſche Urmeer bevölkerten und einen großen Formenreichthum entfalteten, ohne doch die Individualitäts— ſtufe einer einfachen Plaſtide zu überſchreiten. An die Urpflanzen oder Urtange ſchließt ſich als zweite Klaſſe der Algen zunächſt die Gruppe der Grüntange (Chlorophyceae) oder Grünalgen (Chloralgae) an. Gleich der Mehrzahl der erſteren ſind auch ſämmtliche Grüntange grün gefärbt, und zwar durch den— ſelben Farbſtoff, das Blattgrün oder Chlorophyll, welches auch die Blätter aller höheren Gewächſe grün färbt. Zu dieſer Klaſſe gehören außer einer großen Anzahl von niederen Seetangen die allermeiſten Tange des ſüßen Waſſers, die gemeinen Waſſerfäden oder Conferven, die grünen Schleimkugeln oder Glöoſphären, der hellgrüne Waſſer— ſalat oder die Ulven, welche einem ſehr dünnen und langen Salat— blatte gleichen, ferner zahlreiche mikroſkopiſch kleine Tange, welche in dichter Maſſe zuſammengehäuft einen hellgrünen ſchleimigen Ueber— zug über allerlei im Waſſer liegende Gegenſtände, Holz, Steine u. ſ. w. bilden, ſich aber durch die zellige Zuſammenſetzung und Sonderung ihres Körpers bereits weit über die einfachen Urtange erheben. Da die Grüntange, gleich den Urtangen, meiſtens einen ſehr weichen Körper beſitzen, waren ſie nur ſehr ſelten der Verſteinerung fähig. Es kann aber wohl nicht bezweifelt werden, daß auch dieſe Algenklaſſe, welche ſich zunächſt aus der vorhergehenden entwickelt hat, gleich jener in früherer Zeit die ſüßen und ſalzigen Gewäſſer der Erde in ſehr viel grö— ßerer Ausdehnung und Mannichfaltigkeit bevölkerte. In der dritten Klaſſe, derjenigen der Brauntange (Phaeophy- ceae) oder Schwarztange (Fucoideae) erreicht die Hauptklaſſe der Algen ihren höchſten Entwickelungsgrad, wenigſtens in Bezug auf die körperliche Größe. Die charakteriſtiſche Farbe der Fucoideen ift meiſt ein mehr oder minder dunkles Braun, bald mehr in Oliven— Brauntange (Phäophyceen oder Fucoideen). 357 grün und Gelbgrün, bald mehr in Braunroth und Schwarz über— gehend. Hierher gehören die größten aller Tange, welche zugleich die längſten von allen Pflanzen ſind, die coloſſalen Rieſentange, unter denen Macrocystis pyrifera an der californiſchen Küſte eine Länge von 400 Fuß erreicht. Aber auch unter unſeren einheimiſchen Tangen gehören die anſehnlichſten Formen zu dieſer Gruppe, ſo namentlich der ſtattliche Riementang (Laminaria), deſſen ſchleimige olivengrüne Thalluskörper, rieſigen Blättern von 10 — 15 Fuß Länge, 2— 1 Fuß Breite gleichend, in großen Maſſen an der Küſte der Nord- und Oſtſee ausgeworfen werden. Auch der in unſeren Meeren gemeine Blaſentang (Fucus vesiculosus), deſſen mehrfach gabelförmig ge— ſpaltenes Laub durch viele eingeſchloſſene Luftblaſen, (wie bei vielen anderen Brauntangen) auf dem Waſſer ſchwimmend erhalten wird, gehört zu dieſer Kiaſſe; ebenſo der freiſchwimmende Sargaſſotang (Sargassum bacciferum), welcher die ſchwimmenden Wieſen oder Bänke des Sargaſſomeeres bildet. Aehnliche Brauntange ſind es wahrſcheinlich zum größten Theile geweſen, welche während der Pri— mordialzeit die charakteriſtiſchen Tangwälder dieſes endloſen Zeitraums zuſammengeſetzt haben. Die verſteinerten Reſte, welche uns von den- ſelben (vorzüglich aus der ſiluriſchen Zeit) erhalten ſind, können uns allerdings nur eine ſchwache Vorſtellung davon geben, weil auch dieſe Tange, gleich den meiſten anderen, ſich nur ſchlecht zur Erhaltung im foſſilen Zuſtande eignen. Weniger bedeutend war damals vielleicht die vierte und letzte Klaſſe der Tange, diejenige der Roſentange (Rhodophyceae) oder Rothtange (Florideae). Zwar entfaltet auch dieſe Klaſſe einen großen Reichthum verſchiedener Formen. Allein die meiſten derfelben find von viel geringerer Größe als die Brauntange. Uebri— gens ſtehen ſie den letzteren an Vollkommenheit und Differenzirung der äußeren Form keineswegs nach, übertreffen dieſelben vielmehr in mancher Beziehung. Hierher gehören die ſchönſten und zierlichſten aller Tange, welche ſowohl durch die feine Fiederung und Zertheilung ihres Laubkörpers, wie durch reine und zarte rothe Färbung zu den 358 Rothtange (Rhodophyeeen oder Florideen). reizendſten Pflanzen gehören. Die charakteriſtiſche rothe Farbe iſt bald ein tiefes Purpur⸗, bald ein brennendes Scharlach-, bald ein zartes Roſenroth, und geht einerſeits in violette und purpurblaue, andrer- ſeits in braune und grüne Tinten in bewunderungswürdiger Pracht über. Wer von Ihnen eines unſerer nordiſchen Seebäder beſucht hat, wird gewiß ſchon mit Staunen die reizenden Formen dieſer Florideen betrachtet haben, welche auf weißem Papier, zierlich angetrocknet, viel— fach zum Verkaufe geboten werden. Die meiſten Rothtange find lei⸗ der fo zart, daß fie gar nicht der Verſteinerung fähig find, fo die pracht- vollen Ptiloten, Plokamien, Deleſſerien u. f. w. Doch giebt es einzelne Formen, wie die Chondrien und Sphärokokken, welche einen härteren, oft faſt knorpelharten Thallus beſitzen, und von dieſen find uns auch manche verſteinerte Reſte, namentlich aus den ſiluriſchen, devoniſchen und Kohlenſchichten, ſpäter beſonders aus dem Jura erhalten worden. Wahrſcheinlich nahm auch dieſe Klaſſe an der Zuſammenſetzung der archolithiſchen Tangflora weſentlichen Antheil. Wenn Sie nun nochmals einen Rückblick auf die Flora der Pri— mordialzeit werfen, welche ausſchließlich von der Hauptklaſſe der Tange gebildet wurde, ſo finden Sie, daß die vier untergeordneten Klaſſen derſelben wahrſcheinlich in ähnlicher Weiſe an der Zuſammenſetzung jener ſubmarinen Wälder des Urmeeres ſich betheiligt haben, wie in der Gegenwart die vier phyſiognomiſchen Vegetationstypen der ſtämmi⸗ gen Bäume, der blumigen Kräuter, des buſchigen Graſes und der zartlaubigen Farne und Moſe an der Zuſammenſetzung unſerer Land— wälder Theil nehmen. Man könnte in dieſer Beziehung ſagen, daß die unterſeeiſchen Waldbäume der Primordialzeit durch die mächtigen Brauntange oder Fucoideen gebildet wurden. Die farbigen Blumen zu den Füßen dieſer Baumrieſen wurden durch die bunten Rothtange oder Florideen vertreten. Das grüne Gras dazwiſchen bildeten die haarbüſcheligen Grüntange oder Chloralgen. Das zarte Laub der Farne und Moſe endlich, welches den Boden unſerer Wälder bedeckt, die Lücken ausfüllt, welche die anderen Pflanzen übrig laſſen, und ſelbſt auf den Stämmen der Bäume ſich anſiedelt, wird damals ähn— Stammbaum der Tange oder Algen. 359 liche Vertreter in den mosähnlichen und farnähnlichen Siphoneen, in den Caulerpen und Bryopſen aus der Klaſſe der Urtange oder Arche— phyten gehabt haben. Was die Verwandtſchaftsverhältniſſe der verſchiedenen Tangklaſſen zu einander und zu den übrigen Pflanzen betrifft, ſo bilden höchſt wahrſcheinlich, wie ſchon bemerkt, die Urtange oder Archephyten die gemeinſame Wurzel des Stammbaums, nicht allein für die verſchie— denen Tangklaſſen, ſondern für das ganze Pflanzenreich. Aus den nackten vegetabiliſchen Moneren, welche ſich im Beginn der antelau— rentiſchen Periode entwickelten, werden zunächſt Hüllcytoden entſtan— den fein (S. 286), indem der nackte, ſtrukturloſe Eiweißleib der Mo— neren ſich an der Oberfläche kruſtenartig verdichtete oder eine Hülle ausſchwitzte. Späterhin werden dann aus dieſen Hülleytoden echte Pflanzenzellen geworden ſein, indem im Inneren ſich ein Kern oder Nucleus von dem umgebenden Zellſtoff oder Plasma ſonderte. Die drei Klaſſen der Grüntange, Brauntange und Rothtange ſind wahr— ſcheinlich drei geſonderte Stämme, welche unabhängig von einander aus der gemeinſamen Wurzelgruppe der Urtange entſtanden ſind und ſich dann lein jeder in ſeiner Art) weiter entwickelt und vielfach in Ordnungen und Familien verzweigt haben. Die Brauntange und Rothtange haben keine weitere Blutsverwandtſchaft zu den übrigen Klaſſen des Pflanzenreichs. Dieſe letzteren ſind vielmehr aus den Ur— tangen entſtanden, und zwar entweder direkt oder durch Vermittlung der Grüntange. Wahrſcheinlich ſind einerſeits die Moſe und Farne, andrerſeits die Flechten und Pilze unabhängig von einander aus den Urtangen entſtanden, die erſteren vielleicht durch Vermittlung der Grüntange. Die Blumenpflanzen oder Phanerogamen haben ſich jeden- falls erſt ſpäter aus den Farnen entwickelt. Als zweite Hauptklaſſe des Pflanzenreichs haben wir oben die Faſerpflanzen (Inophyta) angeführt. Wir verſtanden darunter die beiden nahverwandten Klaſſen der Flechten und Pilze. Es iſt möglich, daß dieſe Thalluspflanzen nicht aus den Urtangen entſtan— den ſind, ſondern aus einer oder mehreren Moneren, die unabhängig 360 Hauptklaſſe der Faſerpflanzen oder Inophyten. von letzteren durch Urzeugung entſtanden. Auch iſt noch der andere Fall denkbar, daß die verſchiedenen Ordnungen ſowohl der Flechten— klaſſe als der Pilzklaſſe, und namentlich die niederſten Formen beider Klaſſen, einer größeren Anzahl von verſchiedenen archigonen (d.h. durch Urzeugung entſtandenen) Moneren ihren Urſprung verdanken. Jedenfalls ſind beide Klaſſen nicht als Stammeltern der höheren Pflan⸗ zenklaſſen zu betrachten. Sowohl die Flechten als die Pilze unter- ſcheiden ſich von dieſen durch die Zuſammenſetzung ihres weichen Kör— pers aus einem dichten Geflecht von ſehr langen, vielfach verſchlun— genen eigenthümlichen Fadenzellen oder Faſern, weshalb wir ſie eben in der Hauptklaſſe der Faſerpflanzen zuſammenfaſſen. Irgend bedeu⸗ tende foſſile Reſte konnten diefelben wegen ihrer eigenthümlichen Be- ſchaffenheit nicht hinterlaſſen, und ſo müſſen wir denn die paläon⸗ tologiſche Bedeutung und Entwickelung derſelben mehr errathen, als daß wir ſie mit Sicherheit aus Petrefacten erkennen könnten. Die Klaſſe der Flechten (Lichenes) hat wahrſcheinlich zu allen Zeiten dieſelbe äußerlich untergeordnete Rolle geſpielt, wie in der Gegenwart. Die meiſten Flechten bilden mehr oder weniger unan- ſehnliche, formloſe oder unregelmäßig zerriffene, kruſtenartige Ueber⸗ züge auf Steinen, Baumrinden u. f. w. Die Farbe derſelben wech- ſelt in allen möglichen Abſtufungen vom reinſten Weiß, durch Gelb, Roth, Grün, Braun, bis zum dunkelſten Schwarz. Wichtig ſind indeſſen viele Flechten in der Oekonomie der Natur dadurch, daß ſie ſich auf den trockenſten und unfruchtbarſten Orten, insbeſondere auf dem nackten Geſtein anſiedeln können, auf welchem keine andere Pflanze leben kann. Die harte ſchwarze Lava, welche in vulkaniſchen Gegenden viele Quadratmeilen Bodens bedeckt, und welche oft Jahr⸗ hunderte lang jeder Pflanzenanſiedelung den hartnäckigſten Wider⸗ ſtand leiſtet, wird zuerſt immer von Flechten bewältigt. Weiße oder graue Steinflechten (Stereocaulon) find es, welche auf den ödeſten und todteſten Lavafeldern immer mit der Urbarmachung des nackten Felſenbodens beginnen und denſelben für die nachfolgende höhere Vegetation erobern. Ihre abſterbenden Leiber bilden die erſte Flechten (Lichenes) und Pilze (Fungi). 361 Dammerde, in welcher nachher Moſe, Farne und Blüthenpflanzen feſten Fuß faſſen können. Auch gegen klimatiſche Unbilden find die zähen Flechten unempfindlicher als alle anderen Pflanzen. Daher überziehen ihre trockenen Kruſten die nackten Felſen noch in den höchſten, größtentheils mit ewigem Schnee bedeckten Gebirgshöhen, in denen keine andere Pflanze mehr ausdauern kann. Dürfen wir aus dieſen Le— benseigenthümlichkeiten der Flechten auf ihre geſchichtliche Entwickelung und Bedeutung ſchließen, ſo iſt es ſehr wahrſcheinlich, daß Flechten die erſten landbewohnenden Pflanzen waren. Aller Wahr— ſcheinlichkeit nach entſtanden die erſten Flechten im Beginn des primären Zeitalters, im Anfang der antedevoniſchen Zeit, dadurch, daß ein— zelne Urtange oder Archephyten von ihrer urſprünglichen Geburtsſtätte, dem primoridalen Urmeere, auf das eben geborene antedevoniſche Feſtland, auf die erſten Erhebungen der feſten Erdrinde über den Spiegel des ſiluriſchen Meeres überſiedelten. Indem ſo die Flechten die nackte Oberfläche der erſten Feſtlandsfelſen für die nachfolgenden Moſe und Farne eroberten, gewannen ſie eine paläontologiſche Be— deutung, auf welche wir aus den dürftigen verſteinerten Bruchſtücken derſelben, und aus ihrem unanſehnlichen Aeußeren keineswegs ſchlie— ßen könnten. Die zweite Klaſſe der Faſerpflanzen, die Pilze (Fungi) werden irrthümlich oft Schwämme genannt und daher mit den echten thieri— ſchen Schwämmen oder Spongien verwechſelt. S ie zeigen einerſeits ſo viele Verwandtſchaftsbeziehungen zu den Flechten und ſind durch ſo viele Uebergangsformen (namentlich die Kernſchwämme oder Pyreno— myceten) mit denſelben verbunden, daß man beide Klaſſen kaum tren— nen kann, und es für das Natürlichſte halten dürfte, eine Abſtammung der Pilze von den Flechten anzunehmen. Andrerſeits aber haben die meiſten Pilze ſo viel Eigenthümliches und weichen namentlich durch ihre eigenthümliche Ernährungsweiſe ſo ſehr von allen übrigen Pflanzen ab, daß man ſie als eine ganz beſondere Hauptgruppe des Pflanzen— reichs betrachten könnte. Die übrigen Pflanzen leben größtentheils von anorganiſcher Nahrung, d. h. von einfachen und feſten Kohlenſtoff— 362 Prothalluspflanzen oder Prothallophyten (Moſe und Farne). verbindungen, welche fie zu verwickelteren zuſammenſetzen. Sie ath- men Kohlenſäure ein und Sauerſtoff aus. Die Pilze dagegen leben größtentheils, gleich den Thieren, von organiſcher Nahrung, d. h. von verwickelten und lockeren Kohlenſtoffverbindungen, welche ſie zer— ſetzen. Sie athmen Sauerſtoff ein und Kohlenſäure aus, wie die Thiere. Auch bilden ſie niemals das Blattgrün oder Chlorophyll, welches für die meiſten übrigen Pflanzen ſo charakteriſtiſch iſt. Daher haben ſchon wiederholt hervorragende Botaniker den Vorſchlag ge— macht, die Pilze ganz aus dem Pflanzenreiche zu entfernen und als ein beſonderes drittes Reich zwiſchen Thier- und Pflanzenreich zu ſetzen. Dadurch würde unſer Protiſtenreich einen ſehr bedeutenden Zuwachs erhalten, und ich habe kürzlich in einer neuen Begrenzung des Protiſtenreichs die Pilze in der That als eine beſondere Protiften- klaſſe neben die Phycochromaceen und die Schleimpilze (Myromyceten) geftellt 5). Da jedoch die meiſten von Ihnen wohl mehr geneigt ſein werden, der herkömmlichen Anſchauung gemäß die Pilze als echte Pflanzen zu betrachten, laſſe ich ſie hier im Pflanzenreiche ſtehen, und verbinde ſie mit den Flechten, denen ſie im anatomiſchen inneren Bau am nächſten verwandt ſind. Ob dieſelben aber aus den Flechten oder aus den Urtangen entſtanden ſind, oder ob ſie, was mir das Wahrſcheinlichſte iſt, mehreren ſelbſtſtändigen archigonen Moneren ihren Urſprung verdanken, das will ich hier ganz dahingeſtellt fein laſſen. Indem wir nun die Pilze, Flechten und Tange, welche gewöhnlich als Thalluspflanzen zuſammengefaßt werden, verlaſſen, betreten wir das Gebiet der zweiten großen Hauptabtheilung des Pflanzenreichs, der Prothalluspflanzen (Prothallophyta), welche von anderen als phyllogoniſche Kryptogamen bezeichnet werden (im Gegenſatz zu den Thalluspflanzen oder thallogoniſchen Kryptogamen). Dieſes Gebiet umfaßt die beiden Hauptklaſſen der Moſe und Farne. Hier be— gegnen wir bereits allgemein (wenige der unterſten Stufen ausge— nommen) der Sonderung des Pflanzenkörpers in zwei verſchiedene Grundorgane: Stengel oder Axenorgane, und Blätter oder Seitenor— gane. Hierin gleichen die Prothalluspflanzen bereits den Blumen— Charakteriſtiſcher Generationswechſel der Prothalluspflanzen. 363 pflanzen, und daher faßt man ſie neuerdings auch häufig mit dieſen als Stockpflanzen oder Cormophyten zuſammen. Andrerſeits aber gleichen die Moſe und Farne den Thalluspflanzen durch den Mangel einer echten Blüthe oder Blume, und daher ſtellte fie ſchon Linné mit dieſen als Kryptogamen zuſammen, im Gegenſatz zu den Blumen— pflanzen oder Phanerogamen. Unter dem Namen „Prothalluspflanzen“ vereinigen wir die nächſt— verwandten Moſe und Farne deshalb, weil bei Beiden ſich ein ſehr eigenthümlicher und charakteriſtiſcher Generationswechſel in der indivi⸗ duellen Entwickelung findet. Jede Art nämlich tritt in zwei verſchiede— nen Generationen auf, von denen man die eine gewöhnlich als Vor— keim oder Prothallium bezeichnet, die andere dagegen als den eigentlichen Stock oder Cormus des Moſes oder des Farns betrach⸗ tet. Die erſte und urſprüngliche Generation, der Vorkeim oder Prothallus, auch das Prothallium genannt, ſteht noch auf jener nie— deren Stufe der Formbildung, welche alle Thalluspflanzen zeitlebens zeigen, d. h. es ſind Stengel und Blattorgane noch nicht geſondert, und der ganze zellige Körper des Vorkeims ſtellt einen einfachen Thal— lus dar. Die zweite und vollkommenere Generation der Moſe und Farne dagegen, der Stock oder Cormus, bildet einen viel höher orga— niſirten Körper, welcher wie bei den Blumenpflanzen in Stengel und Blatt geſondert iſt, ausgenommen bei den niederſten Moſen, bei wel— chen auch dieſe Generation noch auf der niederen Stufe der urſprüng— lichen Thallusbildung ſtehen bleibt. Mit Ausnahme dieſer letzteren erzeugt allgemein bei den Moſen und Farnen die erſte Generation, der thallusförmige Vorkeim, eine ſtockförmige zweite Generation mit Stengel und Blättern; dieſe erzeugt wiederum den Thallus der erſten Generation u. ſ. w. Es iſt alſo, wie bei dem gewöhnlichen einfachen Generationswechſel der Thiere, die erſte Generation der dritten, fünf— ten u. ſ. w., die zweite dagegen der vierten, ſechſten u. |. w. gleich. (Vergl. oben S. 161). Von den beiden Hauptklaſſen der Prothalluspflanzen ſtehen 55 Moſe im Allgemeinen auf einer viel tieferen Stufe der Ausbildung, als 364 Hauptklaſſe der Moſe oder Muscinen. die Farne und vermitteln namentlich in anatomiſcher Beziehung den Uebergang von den Thalluspflanzen und ſpeciell von den Tangen zu den Farnen. Ob jedoch dadurch ein genealogiſcher Zuſammenhang der Moſe und Farne angedeutet wird, iſt noch zweifelhaft. Jeden⸗ falls ſind die Moſe direkt aus Thalluspflanzen und zwar wahrſchein— lich entweder aus Grüntangen oder aus Urtangen entſtanden. Die Farne ſtammen entweder in gleicher Weiſe, als ein von den Moſen unabhängiger Stamm, von den Thalluspflanzen ab, oder ſie haben ſich aus unbekannten ausgeſtorbenen Mosformen entwickelt. Für die Schöpfungsgeſchichte ſind die Farne von weit höherer Bedeutung als die Moſe. Die Hauptklaſſe der Moſe (Muscinae, auch Musci oder Bryo- phyta genannt) enthält die niederen und unvollkommneren Pflanzen der Prothallophytengruppe, welche ſich zunächſt an die Thalluspflan— zen anſchließen. Meiſtens iſt ihr Körper ſo zart und vergänglich, daß er ſich nur ſehr ſchlecht zur kenntlichen Erhaltung in verſteinertem Zu— ſtande eignet. Daher ſind die foſſilen Reſte von allen Mosklaſſen ſelten und unbedeutend. Die meiſten deutlich erhaltenen ſtammen aus den tertiären Geſteinen. Jedoch haben zweifelsohne die Moſe ſchon in viel früherer Zeit ſich aus den Thalluspflanzen, vermuthlich aus den Urtangen oder Grüntangen entwickelt. Waſſerbewohnende Ueber— gangsformen von letzteren zu den Moſen gab es wahrſcheinlich ſchon in der Primordialzeit und landbewohnende in der Primärzeit. Die Moſe der Gegenwart, aus deren ſtufenweis verſchiedener Ausbildung die vergleichende Anatomie Einiges auf ihre Genealogie ſchließen kann, zerfallen in vier verſchiedene Klaſſen, nämlich 1. die Tangmoſe; 2. die Lebermoſe; 3. die Laubmoſe und 4. die Torfmoſe. Auf der tiefſten Stufe der mosartigen Pflanzen ſteht die erſte Klaſſe, die Tangmoſe (Characeae oder Charobrya). Hierher ge- hören die tangartigen Armleuchterpflanzen (Chara) und Glanzmoſe (Nitella), welche mit ihren grünen fadenförmigen, quirlartig von ga— belſpaltigen Aeſten umſtellten Stengeln in unſeren Teichen und Tüm— peln oft dichte Bänke bilden. Einerſeits nähern ſich die Characeen im Tangmoſe oder Characeen. Lebermoſe oder Thallobryen. 365 anatomiſchen Bau, beſonders der Fortpflanzungsorgane, den Moſen und werden dieſen neuerdings unmittelbar angereiht. Andrerſeits ſte— hen ſie durch viele Eigenſchaften tief unter den übrigen Moſen und ſchließen ſich vielmehr den Grüntangen oder Chlorophyceen an. Man könnte ſie daher wohl als übrig gebliebene und eigenthümlich ausge— bildete Abkömmlinge von jenen Grüntangen betrachten, aus denen ſich die übrigen Moſe entwickelt haben. Durch manche Eigenthümlich— keiten ſind übrigens die Tangmoſe ſo ſehr von allen übrigen Pflanzen verſchieden, daß viele Botaniker ſie als eine beſondere Hauptabthei— lung des Pflanzenreichs betrachten. Man könnte ſogar daran denken, daß ſie einen ganz beſonderen Stamm bilden, welcher ſich ſelbſtſtän— dig aus einer eigenen archigonen Monerenform entwickelt hat. Die Verſteinerungskunde kann uns darüber nicht belehren. Die zweite Klaſſe der Moſe bilden die Lebermoſe (Hepaticae oder Thallobrya). Die hierher gehörigen Moſe ſind meiſtens wenig bekannte, kleine und unanſehnliche Formen. Die niederſten Formen derſelben beſitzen noch in beiden Generationen einen einfachen Thallus, wie die Thalluspflanzen, ſo z. B. die Riccien und Marchantien. Die höheren Lebermoſe dagegen, die Jungermannien und Verwandte, be— ginnen allmählich Stengel und Blatt zu ſondern, und die höchſten ſchließen ſich unmittelbar an die Laubmoſe an. Die Lebermoſe zeigen durch dieſe Uebergangsbildung ihre direkte Abſtammung von den Thallophyten, und zwar wahrſcheinlich von den Grüntangen. Diejenigen Moſe, welche der Laie gewöhnlich allein kennt, und welche auch in der That den hauptſächlichſten Beſtandtheil der ganzen Hauptklaſſe bilden, gehören zu der dritten Klaſſe, den Laubmoſen (Musci frondosi, Musei im engeren Sinne oder Phyllobrya ge— nannt). Hierher gehören die meiſten jener zierlichen Pflänzchen, die zu dichten Gruppen vereinigt, den ſeidenglänzenden Mosteppich unſerer Wälder bilden, oder auch in Gemeinſchaft mit Lebermoſen und Flech— ten die Rinde der Bäume überziehen. Als die Waſſerbehälter, welche die Feuchtigkeit ſorgfältig aufbewahren, ſind ſie für die Oekonomie der Natur von der größten Wichtigkeit. Wo der Menſch ſchonungs⸗ 366 Laubmoſe oder Phyllobryen. Torfmoſe oder Sphagnaceen. los die Wälder abgeholzt und ausgerodet hat, da verſchwinden mit den Bäumen auch die Laubmoſe, welche ihre Rinde bedeckten oder im Schutze ihres Schattens den Boden bekleideten und die Lücken zwi— ſchen den größeren Gewächſen ausfüllten. Mit den Laubmoſen ver: ſchwinden aber auch die nützlichen Waſſerbehälter, welche Regen und Thau ſammelten und für die Zeiten der Trockniß aufbewahrten. Es entſteht dadurch eine troſtloſe Dürre des Bodens, welche das Auf- kommen jeder ergiebigen Vegetation vereitelt. In dem größten Theile Südeuropas, in Griechenland, Italien, Sicilien, Spanien ſind durch die rückſichtsloſe Ausrodung der Wälder die Moſe vernichtet und da— durch der Boden feiner nützlichſten Feuchtigkeitsvorräthe beraubt wor⸗ den; die vormals blühendſten und üppigſten Landſtriche ſind in dürre, öde Wüſten verwandelt. Leider nimmt auch in Deutſchland neuer- dings dieſe rohe Barbarei immer mehr überhand. Wahrſcheinlich haben die kleinen Laubmoſe jene außerordentlich wichtige Rolle ſchon ſeit ſehr langer Zeit, vielleicht ſeit Beginn der Primärzeit geſpielt. Da aber ihre zarten Leiber ebenſo wenig wie die der übrigen Moſe für die deutliche Erhaltung im foſſilen Zuſtande geeignet ſind, ſo kann uns auch hierüber die Paläontologie keine Auskunft geben. Als einen beſonderen Zweig der Laubmosklaſſe haben wir endlich die vierte und letzte Mosklaſſe zu betrachten, die Torfmoſe (Spha- gnaceae oder Sphagnobrya). Wahrſcheinlich haben ſich dieſelben aus einer Abtheilung der Laubmoſe, vielleicht aber auch direkt aus den Lebermoſen entwickelt. Auch von dieſer Klaſſe verräth uns die Verſteinerungskunde nicht den Zeitpunkt ihrer Entſtehung. Auch dieſe Moſe ſind trotz ihres unſcheinbaren Aeußeren doch durch ihr maſſenhaftes Wachsthum für den Naturhaushalt von größter Wich— tigkeit. Indem ihre abgeſtorbenen Leiber auf dem Sumpf- und Moor⸗ boden, in dem ſie wachſen, ſich in vielen Generationen über einander häufen, bilden ſie den Torf, der für die Bodenbildung vieler Ge— genden von höchſter Bedeutung iſt. Weit mehr als von den Moſen wiſſen wir durch die Verſteine— rungskunde von der außerordentlichen Bedeutung, welche die zweite Hauptklaſſe der Farne oder Filieinen. 367 Hauptklaſſe der Prothalluspflanzen, die der Farne, für die Geſchichte der Pflanzenwelt gehabt hat. Die Farne, oder genauer ausgedrückt, die „farnartigen Pflanzen“ (Filicinae oder Pteridoidae, auch Pteri- dophyta genannt) bildeten während eines außerordentlich langen Zeitraums, nämlich während des ganzen primären oder paläolithi— ſchen Zeitalters, die Hauptmaſſe der Pflanzenwelt, ſo daß wir das— ſelbe gradezu als das Zeitalter der Farnwälder bezeichnen konnten. Von Anbeginn der antedevoniſchen Zeit, in welcher zum erſten Male die landbewohnenden Organismen auftraten, während der Ablagerung der devoniſchen, carboniſchen und permiſchen Schich— ten, ſowie während der langen Zwiſchenräume zwiſchen den Bil— dungszeiten dieſer Schichtenſyſteme, überwogen die farnartigen Pflan— zen ſo ſehr alle übrigen, daß jene Benennung dieſes Zeitalters in der That gerechtfertigt iſt. In den devoniſchen, carboniſchen und permi— ſchen Schichtenſyſtemen, vor allen aber in den ungeheuer mächtigen Steinkohlenflötzen der carboniſchen oder Steinkohlenzeit, finden wir ſo zahlreiche und zum Theil wohl erhaltene Reſte von Farnen, daß wir uns daraus ein ziemlich lebendiges Bild von der ganz eigenthüm— lichen Landflora des paläolithiſchen Zeitalters machen können. Im Jahre 1855 betrug die Geſammtzahl der damals bekannten paläoli— thiſchen Pflanzenarten ungefähr Eintauſend, und unter dieſen befanden ſich nicht weniger als 872 farnartige Pflanzen. Unter den übrigen 128 Arten befanden ſich 77 Gymnoſpermen (Nadelhölzer und Palm— farne), 40 Thalluspflanzen (größtentheils Tange) und gegen 20 nicht ſicher beſtimmbare Cormophyten. Wie ſchon vorher bemerkt, haben ſich die Farne entweder aus niede— ren unbekannten Moſen oder unabhängig von dieſen, direkt aus Thallus— pflanzen, und zwar aus Grüntangen entwickelt. Wahrſcheinlich fällt dieſer Entwickelungsprozeß, wie der der Moſe, in den Beginn der Primärzeit, in die antedevoniſche Zeit. In ihrer Organiſation erheben ſich die Farne bereits bedeutend über die Moſe und ſchließen ſich in ihren höheren Formen ſchon an die Blumenpflanzen an. Während bei den Moſen noch ebenſo wie bei den Thalluspflanzen der ganze Körper aus ziemlich 368 Hauptklaſſe der Farne oder Filicinen. gleichartigen, wenig oder nicht differenzirten Zellen zuſammengeſetzt iſt, entwickeln ſich im Gewebe der Farne bereits jene eigenthümlich diffe— renzirten Zellenſtränge, welche man als Pflanzengefäße und Gefäß- bündel bezeichnet, und welche auch bei den Blumenpflanzen allgemein vorkommen. Daher vereinigt man wohl auch die Farne als „Ge— fäßkryptogamen“ mit den Phanerogamen, und ſtellt dieſe „Gefäß— pflanzen“ den „Zellenpflanzen“ gegenüber, d. h. den „Zellenkrypto⸗ gamen“ (Moſen und Thalluspflanzen). Dieſer hochwichtige Fort— ſchritt in der Pflanzenorganiſation, die Bildung der Gefäße und Ge— fäßbündel, fand demnach erſt in der antedevoniſchen Zeit ſtatt, alſo im Beginn der zweiten und kleineren Hälfte der organiſchen Erd⸗ geſchichte. Die Hauptklaſſe der Farne oder Filicinen wird allgemein in vier verſchiedene Klaſſen eingetheilt, nämlich 1. die Schaftfarne oder Calamophyten, 2. die Laubfarne oder Geopteriden, 3. die Waſſer⸗ farne oder Hydropteriden, und 4. die Schuppenfarne oder Lepido⸗ phyten. Die bei weitem wichtigſte und formenreichſte von dieſen vier Klaſſen, welche den Hauptbeſtandtheil der paläolithiſchen Wälder bildete, waren die Laubfarne, und demnächſt die Schuppenfarne. Dagegen traten die Schaftfarne ſchon damals mehr zurück und von den Waſſerfarnen wiſſen wir nicht einmal mit Beſtimmtheit, ob fie da⸗ mals ſchon lebten. Es muß uns ſchwer fallen, uns eine Vorſtellung von dem ganz eigenthümlichen Charakter jener düſteren paläolithiſchen Farnwälder zu bilden, in denen der ganze bunte Blumenreichthum unſerer gegenwärtigen Flora noch völlig fehlte, und welche noch von keinem Vogel belebt wurden Von Blumenpflanzen exiſtirten damals nur die beiden niederſten Klaſſen, die nacktſamigen Nadelhölzer und Palmfarne, deren einfache und unſcheinbare Blüthen kaum den Namen der Blumen verdienen. Wahrſcheinlich ſind alle vier Farnklaſſen als vier getrennte Aeſte des Stammbaums zu betrachten, die aus einem gemeinſamen Haupt⸗ aſte in der Antedevonzeit ihren Urſprung nahmen. Jedoch ſind einer⸗ ſeits die niederen Schaftfarne näher mit den Laubfarnen, andrer⸗ Schaftfarne oder Calamophyten. 369 ſeits die höheren Schuppenfarne näher mit den Waſſerfarnen ver— wandt, ſo daß man auch zwei gabelſpaltige Aeſte oder einen doppelt gabelſpaltigen Hauptaſt als die Stammbaſis der ganzen Farnhaupt— klaſſe anſehen kann. Auf der niederſten Organiſationsſtufe bleibt unter den Farnen die erſte Klaſſe ſtehen, die Schaftfarne (Calamariae oder Cala- mophyta). Sie umfaßt drei verſchiedene Ordnungen, von denen nur eine noch gegenwärtig lebt, nämlich die Schafthalme (Equi- setaceae). Die beiden anderen Ordnungen, die Rieſenhalme (Calamiteae) und die Sternblatthalme (Asterophylliteae) ſind längſt ausgeſtorben. Alle Schaftfarne zeichnen ſich durch einen hohlen und gegliederten Schaft, Stengel oder Stamm aus, an wel— chem Aeſte und Blätter, wenn ſie vorhanden ſind, quirlförmig um die Stengelglieder herumſtehen. Die hohlen Stengelglieder ſind durch Quer— ſcheidewände von einander getrennt. Bei den Schafthalmen und Ca— lamiten iſt die Oberfläche von längsverlaufenden parallelen Rippen durchzogen, wie bei einer cannulirten Säule, und die Oberhaut ent— hält ſo viel Kieſelerde, daß ſie zum Scheuern und Poliren verwendet werden kann. Bei den Sternblatthalmen oder Aſterophylliten waren die ſternförmig in Quirle geſtellten Blätter ſtärker entwickelt als bei den beiden anderen Ordnungen. In der Gegenwart leben von den Schaftfarnen nur noch die unanſehnlichen Schafthalme oder Equi- setum-Arten unſerer Sümpfe und Moore, welche während der gan— zen Primär- und Secundärzeit durch mächtige Bäume aus der Gat— tung Equisetites vertreten waren. Zur ſelben Zeit lebte auch die nächſtverwandte Ordnung der Rieſenhalme (Calamites), deren ſtarke Stämme gegen 50 Fuß Höhe erreichten. Die Ordnung der Stern— blatthalme (Asterophyllites) dagegen enthielt kleinere, zierliche Pflan- zen von ſehr eigenthümlicher Form, und blieb ausſchließlich auf die Primärzeit beſchränkt. Die Hauptmaſſe der Farngruppe bildete zu allen Zeiten die Klaſſe der eigentlichen Farne im engeren Sinne, der Laubfarne oder We— delfarne (Filices), auch Landfarne oder Geopteriden genannt, im Ge— Haeckel, Natürliche Schöpfungsgeſchichte. 24 370 Laubfarne oder Filices. Waſſerfarne oder Rhizocarpeen. genſatz zu den Waſſerfarnen oder Hydropteriden. In der gegenwärtigen Flora unſerer gemäßigten Zonen ſpielt dieſe Klaſſe nur eine unter- geordnete Rolle, da ſie hier meiſtens nur durch die niedrigen ſtamm— loſen Farnkräuter vertreten iſt. In der heißen Zone dagegen, namentlich in den feuchten, dampfenden Wäldern der Tropengegenden erhebt fie ſich noch heutigentags zur Bildung der hochſtämmigen, pal— menähnlichen Farn bäume. Dieſe ſchönen Baumfarne der Gegen— wart, welche zu den Hauptzierden unſerer Gewächshäuſer gehören, können uns aber nur eine ſchwache Vorſtellung von den ſtattli— chen und prachtvollen Laubfarnen der Primärzeit geben, deren mäch— tige Stämme damals dichtgedrängt ganze Wälder zuſammenſetzten. Man findet dieſe Stämme namentlich in den Steinkohlenflötzen der Carbonzeit maſſenhaft über einander gehäuft, und dazwiſchen vor- trefflich erhaltene Abdrücke von den zierlichen Wedeln oder Blättern, welche in ſchirmartig ausgebreitetem Buſche den Gipfel des Stammes krönten. Die einfache oder mehrfache Zuſammenſetzung und Fiede— rung dieſer Wedel, der zierliche Verlauf der veräſtelten Nerven oder Gefäßbündel in ihrem zarten Laube iſt an den Abdrücken der paläolithi- ſchen Farnwedel noch ſo deutlich zu erkennen, wie an den Farnwedeln der Jetztzeit. Bei Vielen ſind ſelbſt die Fruchthäufchen, welche auf der Unterfläche der Wedel vertheilt ſind, ganz deutlich erhalten. Nach der Steinkohlenzeit nahm das Uebergewicht der Laubfarne bereits ab und ſchon gegen Ende der Secundärzeit ſpielten fie eine faſt fo unter- geordnete Rolle wie in der Gegenwart. Am wenigſten bekannt von allen Farnen iſt uns die Geſchichte der dritten Klaſſe, der Wurzelfarne oder Waſſerfarne (Rhizocarpeae oder Hydropterides). In ihrem Bau ſchließen ſich dieſe, im ſüßen Waſſer lebenden Farne einerſeits an die Laubfarne, andrerſeits an die Schuppenfarne an, ſind jedoch den letzteren und dadurch auch den Blumenpflanzen näher verwandt, als die erſteren. Es gehören hier— her die wenig bekannten Mosfarne (Salvinia), Kleefarne (Marsilea) und Pillenfarne (Pilularia) in den ſüßen Gewäſſern unſerer Heimath, ferner die größere ſchwimmende Azolla der Tropenteiche. Die mei— Schuppenfarne oder Lepidophyten. 371 ſten Waſſerfarne ſind von zarter Beſchaffenheit und deshalb wenig zur Verſteinerung geeignet. Daher mag es wohl rühren, daß ihre foſſilen Reſte ſo ſelten ſind, und daß die älteſten derſelben, die wir kennen, im Jura gefunden wurden. Wahrſcheinlich iſt aber die Klaffe viel älter und hat ſich bereits während der paläolithiſchen Zeit aus anderen Farnen durch Anpaſſung an das Waſſerleben entwickelt. Die vierte und letzte Farnklaſſe bilden die Schuppenfarne (Lepidophyta oder Selagines). Sie entwickeln ſich höher als alle übrigen Farne und bilden bereits den Uebergang zu den Blumen— pflanzen, die ſich aus ihnen zunächſt hervorgebildet haben. Nächſt den Wedelfarnen waren ſie am meiſten an der Zuſammenſetzung der paläolithiſchen Farnwälder betheiligt. Auch dieſe Klaſſe enthält, gleichwie die Klaſſe der Schaftfarne, drei nahe verwandte, aber doch mehrfach verſchiedene Ordnungen, von denen nur noch eine am Le— ben, die beiden anderen aber bereits gegen Ende der Steinkohlenzeit ausgeſtorben ſind. Die heute noch lebenden Schuppenfarne gehören zur Ordnung der Bärla ppe (Lycopodiaceae). Es find meiſtens kleine und zierliche, mosähnliche Pflänzchen, deren zarter, in vielen Windungen ſchlangenartig auf dem Boden kriechender und vielver— äſtelter Stengel dicht von ſchuppenähnlichen und ſich deckenden Blätt— chen eingehüllt if. Die zierlichen LyVcopodium-Ranken unferer Wälder, welche die Gebirgsreiſenden um ihre Hüte winden, werden Ihnen Allen bekannt ſein, ebenſo die noch zartere Selaginella, welche als ſogenanntes „Rankenmos“ den Boden unſerer Gewächshäuſer als dichter Teppich ziert. Die größten Bärlappe der Gegenwart le— ben auf den Sundainſeln und erheben ſich dort zu Stämmen von einem halben Fuß Dicke und 25 Fuß Höhe. Aber in der Primärzeit und Secundärzeit waren noch größere Bäume dieſer Art weit ver— breitet, von denen die älteſten wahrſcheinlich zu den Stammeltern der Nadelhölzer gehören (Lycopodites). Die mächtigſte Entwickelung ex- reichte jedoch die Klaſſe der Schuppenfarne während der Primärzeit nicht in den Bärlapphäumen, ſondern in den beiden Ordnungen der Schuppenbäume (Lepidodendreae) und der Siegelbäume 24 * 372 Schuppenfarne oder Lepidophyten. (Sigillarieae). Dieſe beiden Ordnungen treten ſchon in der Devon— zeit mit einzelnen Arten auf, erreichen jedoch ihre maſſenhafte und er— ſtaunliche Ausbildung erſt in der Steinkohlenzeit, und ſterben bereits gegen Ende derſelben oder in der darauf folgenden Antepermzeit wie— der aus. Die Schuppenbäume oder Lepidodendren waren wahr— ſcheinlich den Bärlappen noch näher verwandt, als die Siegelbäume. Sie erhoben ſich zu prachtvollen, unveräſtelten und gerade aufſteigen— den Stämmen, die ſich am Gipfel nach Art eines Kronleuchters gabelſpaltig in zahlreiche Aeſte theilten. Dieſe trugen eine mächtige Krone von Schuppenblättern und waren gleich dem Stamm in zierlichen Spirallinien von den Narben oder Anſatzſtellen der abgefallenen Blät— ter bedeckt. Man kennt Schuppenbäume von 40 — 60 Fuß Länge und 12 — 15 Fuß Durchmeſſer am Wurzelende. Einzelne Stämme ſollen ſelbſt mehr als hundert Fuß lang ſein. Noch viel maſſenhafter finden ſich in der Steinkohle die nicht minder hohen, aber ſchlankeren Stämme der merkwürdigen Siegelbäume oder Sigillarien angehäuft, die an manchen Orten hauptſächlich die Steinkohlenflötze zuſammenſetzen. Ihre Wurzelſtöcke hat man früher als eine ganz beſondere Pflanzen— form (Stigmaria) beſchrieben. Die Siegelbäume ſind in vieler Beziehung den Schuppenbäumen ſehr ähnlich, weichen jedoch durch ihren anatomiſchen Bau ſchon mehrfach von dieſen und von den Far— nen überhaupt ab, und ſcheinen einen Uebergang zu den Gymnoſper— men, insbeſondere zu den Palmfarnen oder Cycadeen zu bilden. Indem wir nun die dichten Farnwälder der Primärzeit verlaſſen, welche vorzugsweiſe aus den Laubfarnen, aus den Schuppenbäumen und Siegelbäumen zuſammengeſetzt ſind, treten wir in die nicht min— der charakteriſtiſchen Nadelwälder der Secundärzeit hinüber. Damit treten wir aber zugleich aus dem Bereiche der blumenloſen Pflanzen oder Kryptogamen in die zweite Hauptabtheilung des Pflanzenreichs, in das Unterreich der Blumenpflanzen oder Phaneroga— men hinein. Dieſe formenreiche Abtheilung, welche die Hauptmaſſe der jetzt lebenden Pflanzenwelt, und namentlich die große Mehrzahl der landbewohnenden Pflanzen enthält, ift jedenfalls viel jüngeren Unterreich der Blumenpflanzen oder Phanerogamen. 373 Alters, als die Abtheilung der Kryptogamen. Denn ſie kann erſt im Laufe des paläolithiſchen Zeitalters aus dieſer letzteren ſich entwickelt haben. Mit voller Gewißheit können wir behaupten, daß während des ganzen archolithiſchen Zeitalters, alſo während der erſten und längeren Hälfte der organiſchen Erdgeſchichte, noch gar keine Blumen— pflanzen exiſtirten, und daß ſie ſich erſt während der Primärzeit aus farnartigen Kryptogamen entwickelt haben. Die anatomiſche und embryologiſche Verwandtſchaft der Phanerogamen mit dieſen letzteren iſt ſo innig, daß wir daraus mit Sicherheit auch auf ihren genealogi— ſchen Zuſammenhang, ihre wirkliche Blutsverwandtſchaft ſchließen können. Die Blumenpflanzen können unmittelbar weder aus Thal— luspflanzen noch aus Moſen, ſondern nur aus Farnen oder Filici— nen entſtanden ſein. Höchſt wahrſcheinlich ſind die Schuppenfarne oder Lepidophyten, und zwar Bärlapppflanzen oder Lycopodiaceen, welche der heutigen Selaginella ſehr nahe verwandt waren, die un— mittelbaren Vorfahren der Phanerogamen. Schon ſeit langer Zeit hat man auf Grund des inneren anato— miſchen Baues und der embryologiſchen Entwickelung das Unterreich der Phanerogamen in zwei große Hauptklaſſen eingetheilt, in die Nacktſamigen oder Gymnoſpermen und in die Deckſami— gen oder Angioſpermen. Dieſe letzteren find in jeder Beziehung vollkommener und höher organiſirt als die erſteren, und haben ſich erſt ſpäter, im Laufe der Secundärzeit, aus dieſen entwickelt. Die Gymnoſpermen bilden ſowohl anatomiſch als embryologiſch die ver— mittelnde Uebergangsgruppe von den Farnen zu den Angioſpermen. Die niedere, unvollkommenere und ältere von den beiden Haupt— klaſſen der Blumenpflanzen, die der Nacktſamigen (Gymnosper- mae) erreichte ihre mannichfaltigſte Ausbildung und ihre weiteſte Verbreitung während der meſolithiſchen oder Secundärzeit. Sie iſt für dieſes Zeitalter nicht minder charakteriſtiſch, wie die Farngruppe für das vorhergehende primäre, und wie die Angioſpermengruppe für das nachfolgende tertiäre Zeitalter. Wir konnten daher die Se— cundärzeit auch als den Zeitraum der Gymnoſpermen, oder nach ihren 374 Nacktſamige oder Gymnoſpermen. Palmfarne oder Cyeadeen. bedeutendſten Vertretern als das Zeitalter der Nadelhölzer bezeichnen. Von den beiden Klaſſen, in welche die Gymnoſpermen zerfallen, den Nadelhölzern und Palmfarnen, iſt die erſtere am ſtärkſten in der Trias— zeit, die letztere in der Jurazeit entwickelt. Jedoch fällt die Entſte— hung der ganzen Hauptklaſſe ſchon in eine frühere Zeit. Wir finden verſteinerte Reſte von beiden Klaſſen derſelben bereits in der Steinkohle vor, und müſſen daraus ſchließen, daß der Uebergang von Schuppen— farnen in Gymnoſpermen bereits während der Steinkohlenzeit, oder vielleicht ſchon vorher, in der antecarboniſchen oder in der devoni— ſchen Zeit erfolgt iſt. Immerhin ſpielen die Nacktſamigen während der ganzen folgenden Primärzeit nur eine ſehr untergeordnete Rolle und gewinnen die Herrſchaft über die Farne erſt im Beginn der Se⸗ cundärzeit. Von den beiden Klaſſen der Gymnoſpermen ſteht diejenige der Palmfarne oder Zamien (Cycadeae) auf der niederſten Stufe und ſchließt ſich, wie ſchon der Name ſagt, unmittelbar an die Farne an, ſo daß ſie ſelbſt von manchen Botanikern wirklich mit dieſer Gruppe im Syſteme vereinigt werden. In der äußeren Geſtalt gleichen ſie ſowohl den Palmen als den Farnbäumen oder baumartigen Laub— farnen und tragen eine aus Fiederblättern zuſammengeſetzte Krone, welche entweder auf einem dicken niedrigen Strunke oder auf einem ſchlanken, einfachen, ſäulenförmigen Stamme ſitzt. In der Gegen— wart iſt dieſe einſt formenreiche Klaſſe nur noch durch wenige, in der heißen Zone lebende Formen dürftig vertreten, durch die niedrigen Zapfenfarne (Zamia), die dickſtämmigen Brodfarne (Encephalartos), und die ſchlankſtämmigen Rollfarne (Cycas). Man findet ſie häufig in unſeren Treibhäuſern, wo ſie gewöhnlich mit Palmen verwechſelt werden. Eine viel größere Formenmannichfaltigkeit als die lebenden, bieten uns die ausgeſtorbenen und verſteinerten Zapfenfarne, welche namentlich in der Mitte der Secundärzeit, während der Juraperiode in größter Maſſe auftraten und damals vorzugsweiſe den Charakter der Wälder beſtimmten. Gymnoſpermen, welche dieſen Cycadeen nächſtverwandt und vielleicht nicht von ihnen zu trennen waren, er— Nadelhölzer oder Coniferen. Deckſamige oder Angioſpermen. 375 zeugten während der älteren oder mittleren Secundärzeit die Haupt— klaſſe der Angioſpermen. In größerer Formenmannichfaltigkeit als die Klaſſe der Palm— farne hat ſich bis auf unſere Zeit der andere Zweig der Gymnoſper— mengruppe erhalten, die Klaſſe der Nadelhölzer oder Zapfen⸗ bäume (Coniferae). Noch gegenwärtig ſpielen die dazu gehörigen Cypreſſen, Wachholder und Lebensbäume (Thuja), die Taxus und Ginkobäume (Salisburya), die Araucarien und Cedern, vor allen aber die formenreiche Gattung Pinus mit ihren zahlreichen und be— deutenden Arten, den verſchiedenen Kiefern, Pinien, Tannen, Fichten, Lärchen u. ſ. w. in den verſchiedenſten Gegenden der Erde eine ſehr bedeutende Rolle, und ſetzen ausgedehnte Waldgebiete faſt allein zu— ſammen. Doch erſcheint dieſe Entwickelung der Nadelhölzer ſchwach im Vergleiche zu der ganz überwiegenden Herrſchaft, welche ſich dieſe Klaſſe während der älteren Secundärzeit, in der Triasperiode, über die übrigen Pflanzen erworben hatte. Damals bildeten mächtige Zapfenbäume in verhältnißmäßig wenigen Gattungen und Arten, aber in ungeheuren Maſſen von Individuen beiſammen ſtehend, den Hauptbeſtandtheil der meſolithiſchen Wälder. Sie rechtfertigen die Be— nennung der Secundärzeit als des „Zeitalters der Nadelwälder“, obwohl die Coniferen ſchon in der Jurazeit von den Cycadeen über— flügelt wurden. Aus den Nadelwäldern der meſolithiſchen oder Secundärzeit tre— ten wir in die Laubwälder der cenolithiſchen oder Tertiärzeit hinüber und gelangen dadurch zur Betrachtung der ſechsten und letzten Haupt— klaſſe des Pflanzenreichs, der Dedfamigen (Angiospermae). Wie ſchon vorher bemerkt, hat ſich dieſe zweite Hauptklaſſe der Blumen— pflanzen erſt viel ſpäter als die Nacktſamigen, und zwar aus einem Zweige dieſer letzteren entwickelt. Die erſten ſicheren und unzweifel— haften Verſteinerungen von Deckſamigen finden wir in den Schichten des Kreideſyſtems, und zwar kommen hier neben einander Reſte von den beiden Klaſſen vor, in welche man die Hauptklaſſe der Angiofper- men allgemein eintheilt, nämlich Einkeimblättrige oder Mon o— 376 Einkeimblättrige oder Monocotylen. cotylen und Zweikeimblättrige oder Dicotylen. Die letzteren ſind jedenfalls nicht älter als die Kreidezeit oder höchſtens die Autecretazeit. Dagegen find die erſteren möglicherweiſe auch ſchon früher vorhanden geweſen. Wir kennen nämlich eine Anzahl von zweifelhaften und nicht ſicher beſtimmbaren foſſilen Pflanzenreſten aus der Jurazeit und aus der Triaszeit, welche von manchen Botanikern bereits für Monocotylen, von anderen dagegen für Gymnoſpermen gehalten werden. Selbſt in den Steinkohlenſchichten glaubte man Monocotylenreſte gefunden zu haben, die ſich aber neuerdings als Ueberbleibſel entweder von Nacktſamigen oder von Farnen herausge— ſtellt haben. Demnach ſcheint es jetzt ſicher zu ſein, daß die Klaſſe der Deckſamigen erſt während der Secundärzeit, und zwar aus den Cycadeen oder dieſen nächſtverwandten Nacktſamigen entſtanden iſt. Was die beiden Klaſſen der Deckſamigen betrifft, Monocotylen und Dicotylen, ſo haben ſich entweder beide Zweige aus einem gemein— ſamen Stammaſte, oder die Dieotylen erſt ſpäter aus den Mono— cotylen entwickelt. Jedenfalls ſtehen in anatomiſcher Beziehung die letzteren auf einer tieferen und unvollkommeneren Stufe als die er— ſteren. Die Klaſſe der Einkeimblättrigen oder Einſamen— lappigen (Monocotylae oder Monocotyledones, auch Endogenae genannt) umfaßt diejenigen Blumenpflanzen, deren Samen nur ein einziges Keimblatt oder einen ſogenannten Samenlappen (Cotyledon) beſitzt. Jeder Blattkreis ihrer Blume enthält in der großen Mehr— zahl der Fälle drei Blätter, und es iſt ſehr wahrſcheinlich, daß die gemeinſame Mutterpflanze aller Monocotylen eine regelmäßige und dreizählige Blüthe beſaß. Die Blätter ſind meiſtens einfach, von ein— fachen, graden Gefäßbündeln oder ſogenannten „Nerven“ durchzogen. Zu dieſer Klaſſe gehören die umfangreichen Familien der Binſen und Gräſer, Lilien und Schwertlilien, Orchideen und Dioscoreen, ferner eine Anzahl einheimiſcher Waſſerpflanzen, die Waſſerlinſen, Rohr— kolben, Seegräſer u. ſ. w. und endlich die prachtvollen, höchſt ent— wickelten Familien der Aroideen und Pandaneen, der Bananen und Zweikeimblättrige oder Dicotylen. 377 Palmen. Im Ganzen iſt die Monocotylenklaſſe trotz aller Formen— mannichfaltigkeit, die ſie in der Tertiärzeit und in der Gegenwart ent— wickelt hat, viel einförmiger organiſirt, als die Dicotylenklaſſe, und auch ihre geſchichtliche Entwickelung bietet ein viel geringeres Intereſſe. Da ihre verſteinerten Reſte meiſtens ſchwer zu erkennen ſind, ſo bleibt die Frage vorläufig noch offen, in welchem der drei großen ſecundären Zeiträume, Trias⸗, Jura- oder Kreidezeit, die Monocotylen aus den Cycadeen entſtanden ſind. Jedenfalls exiſtirten ſie in der Kreidezeit ſchon eben ſo ſicher wie die Dicotylen. Viel größeres hiſtoriſches und anatomiſches Intereſſe bietet in der Entwickelung ihrer untergeordneten Gruppen die zweite Klaſſe der Deckſamigen, die Zweikeimblättrigen oder Zweiſamen— lappigen (Dicotylae oder Dicotyledones, auch Exogenae be- nannt). Die Blumenpflanzen dieſer Klaſſe beſitzen, wie ihr Name ſagt, gewöhnlich zwei Samenlappen oder Keimblätter (Cotyledonen). Die Grundzahl in der Zuſammenſetzung ihrer Blüthe iſt gewöhnlich nicht drei, wie bei den meiſten Monocotylen, ſondern vier oder fünf, oder ein Vielfaches davon. Ferner ſind ihre Blätter gewöhnlich höher differenzirt und mehr zuſammengeſetzt, als die der Monocotylen, und von gekrümmten, veräſtelten Gefäßbündeln oder „Adern“ durchzogen. Zu dieſer Klaſſe gehören die meiſten Laubbäume, und da dieſelbe in der Tertiärzeit ſchon ebenſo wie in der Gegenwart das Uebergewicht über die Gymnoſpermen und Farne gewann, fo konnten wir das ceno— lithiſche Zeitalter auch als das der Laubwälder bezeichnen. Obwohl die Mehrzahl der Dicotylen zu den höchſten und voll— kommenſten Pflanzen gehört, ſo ſchließt ſich doch die niederſte Abthei— lung derſelben unmittelbar an die Monocotylen an und ſtimmt mit dieſen namentlich darin überein, daß in ihrer Blüthe Kelch und Blu— menkrone noch nicht geſondert ſind. Man nennt ſie daher Kelch— blüthige (Monochlamydeae oder Apetalae). Dieſe Unterklaſſe hat ſich zunächſt entweder aus den Monocotylen oder in Zuſammen— hang mit dieſen aus den Gymnoſpermen entwickelt. Es gehören da— hin die meiſten kätzchentragenden Laubbäume, die Birken und Erlen 378 Keelchblüthige (Monochlamydeen) und Kronenblüthige (Dichlamydeen). Weiden und Pappeln, Buchen und Eichen, ferner die neſſelartigen Pflanzen, Neſſeln, Hanf und Hopfen, Feigen, Maulbeeren und Rüſtern, endlich die Wolfsmilchartigen, Amaranthartigen, Lorber— artigen u. ſ. w. Neben den Kelchblüthigen lebte aber in der Kreidezeit auch ſchon die zweite und vollkommenere Unterklaſſe der Dicotylen, die Gruppe der Kronenblüthigen (Dichlamydeae oder Corolliflorae). Dieſe entſtanden aus den Kelchblüthigen dadurch, daß ſich die ein— fache Blüthenhülle der letzteren in Kelch und Krone differenzirte. Die Unterklaſſe der Kronenblüthigen zerfällt wiederum in zwei große Hauptabtheilungen oder Legionen, deren jede eine große Menge von verſchiedenen Ordnungen, Familien, Gattungen und Arten enthält. Die erſte Legion führt den Namen der Sternblüthigen oder Diapeta— len, die zweite den Namen der Glockenblüthigen oder Gamopetalen. Die tiefer ſtehende und unvollkommenere von den beiden Legio— nen der Kronenblüthigen find die Stern blüthigen (Diapetalae, auch Polypetalae oder Dialypetalae genannt). Hierher gehören die umfangreichen Familien der Doldenblüthigen oder Umbelliferen, der Kreuzblüthigen oder Crueiferen, ferner die Ranunculaceen und Craſſulaceen, Waſſerroſen und Ciſtroſen, Malven und Geranien, und neben vielen anderen namentlich noch die großen Abtheilungen der Roſenblüthigen, (welche außer den Roſen die meiſten unſerer Obſt— bäume umfaſſen) und der Schmetterlingsblüthigen, (welche unter an— deren die Wicken, Bohnen, Klee, Ginſter, Akacien und Mimoſen ent halten). Bei allen dieſen Diapetalen bleiben die Blumenblätter ge— trennt und verwachſen nicht mit einander, wie es bei den Gamope— talen der Fall iſt. Die letzteren haben ſich erſt in der Tertiärzeit aus den Diapetalen entwickelt, während dieſe ſchon in der Kreidezeit neben den Kelchblüthigen auftraten. Die höchſte und vollkommenſte Gruppe des Pflanzenreichs bildet die zweite Abtheilung der Kronenblüthigen, die Legion der Glocken— blüthigen (Gamopetalae, auch Monopetalae oder Sympetalae genannt). Hier verwachſen die Blumenblätter, welche bei den übri— Rückblick auf die geſchichtliche Entwickelung des Pflanzenreichs. 379 gen Blumenpflanzen meiſtens ganz getrennt bleiben, regelmäßig zu einer mehr oder weniger glocken-, trichter- oder röhrenförmigen Krone. Es gehören hierher unter anderen die Glockenblumen und Winden, Primeln und Haidekräuter, Gentiane und Gaisblatt, ferner die Fa⸗ milie der Oelbaumartigen, Oelbaum, Liguſter, Flieder und Eſche, und endlich neben vielen anderen Familien die umfangreichen Abthei— lungen der Lippenblüthigen (Labiaten) und der Zuſammengeſetzt— blüthigen (Compoſiten). In dieſen letzteren erreicht die Differenzirung und Vervollkommnung der Phanerogamenblüthe ihren höchſten Grad, und wir müſſen ſie daher als die Vollkommenſten von allen an die Spitze des Pflanzenreichs ſtellen. Dem entſprechend tritt die Legion der Glockenblüthigen oder Gamopetalen am fpäteften von allen Haupt— gruppen des Pflanzenreichs in der organiſchen Erdgeſchichte auf, näm— lich erſt in der cenolithiſchen oder Tertiärzeit. Selbſt in der älteren Tertiärzeit iſt fie noch ſehr ſelten, nimmt erſt in der mittleren langſam zu und erreicht erſt in der neueren Tertiärzeit und in der Quartärzeit ihre volle Ausbildung. Wenn Sie nun, in der Gegenwart angelangt, nochmals die ganze geſchichtliche Entwickelung des Pflanzenreichs überblicken, ſo werden ſie nicht umhin können, darin lediglich eine großartige Beſtätigung der Defcendenztheorie zu er— blicken. Die beiden großen Grundgeſetze der organiſchen Entwickelung, die wir als die nothwendigen Folgen der natürlichen Züchtung im Kampf um's Daſein nachgewieſen haben, die Geſetze der Differen— zirung und der Vervollkommnung, machen ſich in der Ent— wickelung der größeren und kleineren Gruppen des natürlichen Pflan— zenſyſtems überall geltend. In jeder größeren und kleineren Periode der organiſchen Erdgeſchichte nimmt das Pflanzenreich ſowohl an Mannichfaltigkeit, als an Vollkommenheit zu, wie Ihnen ſchon ein Blick auf Taf. II deutlich zeigt. Während der ganzen lan— gen Primordialzeit exiſtirte nur die niederſte und unvollkommenſte Hauptklaſſe der Tange. Zu dieſen geſellen ſich in der Primärzeit die höheren und vollkommeneren Kryptogamen, insbeſondere die 380 Monophyletiſcher Stammbaum des Pflanzenreichs. Hauptklaſſe der Farne. Schon während der Steinkohlenzeit begin— nen ſich aus dieſen die Phanerogamen zu entwickeln, anfänglich jedoch nur durch die niedere Hauptklaſſe der Nacktſamigen oder Gym— noſpermen repräſentirt. Erſt während der Secundärzeit geht aus dieſen die höhere Hauptklaſſe der Deckſamigen oder Angioſpermen hervor. Auch von dieſen ſind anfänglich nur die niederen, kronen— loſen Gruppen, die Monocotylen, dann die Apetalen vorhan— den. Erſt während der Kreidezeit entwickelten ſich aus letzteren die höheren Kronenblüthigen. Aber auch dieſe höchſte Abtheilung iſt in der Kreidezeit nur durch die tiefer ſtehenden Sternblüthigen oder Diapetalen vertreten, und ganz zuletzt erſt, in der Tertiärzeit, gehen aus dieſen die höher ſtehenden Glockenblüthigen oder Gamo— petalen hervor, die vollkommenſten von allen Blumenpflanzen. So erhob ſich in jedem jüngeren Abſchnitt der organiſchen Erdgeſchichte das Pflanzenreich ſtufenweiſe zu einem höheren Grade der Vollkommenheit und der Mannichfaltigkeit. Ich habe Ihnen in dieſer ſyſtematiſchen Ueberſicht über die hiſto— riſche Entwickelung des Pflanzenreichs daſſelbe als eine einzige Gruppe von blutsverwandten Organismen dargeſtellt, wie es auch der Stamm— baum auf Taf. II ausdrückt. Mir ſcheint dieſe einſtämmige oder monophyletiſche Anſchauung vom Urſprung des Pflanzenreichs die naturgemäßere zu ſein. Damit will ich jedoch nicht ſagen, daß dieſelbe nothwendig die allein richtige iſt. Es läßt ſich auch denken, daß das Pflanzenreich aus mehreren ſelbſtſtändigen Stämmen oder Phylen zuſammengeſetzt iſt, deren jeder aus einer einzigen archigonen (d. h. durch Urzeugung entſtandenen) Monerenart hervorgegangen iſt. Eine Vorſtellung von dieſer vielſtämmigen oder poly— phyletiſchen Deſcendenzhypotheſe mag Ihnen nachſtehende Ta— belle geben. Kaum zweifelhaft iſt es, daß auch in dieſem Falle die ganze Maſſe der Stockpflanzen oder Cormophyten (ſowohl Phanerogamen als Prothallophyten) als Blutsverwandte eines einzigen Stammes aufzufaſſen ſind. Denn die genealogiſche Stufenleiter von den Moſen zu den Farnen, von dieſen zu den Nacktſamigen, und von letzteren zu Polyphyletiſcher Stammbaum des Pflanzenreichs. 381 den Deckſamigen, ebenſo innerhalb der letzten Gruppe die Stufenleiter von den Kelchblüthigen (Monocotylen und Apetalen) zu den Kronen— blüthigen (Diapetalen und Gamopetalen) wird zu klar durch das über— einſtimmende Zeugniß der vergleichenden Anatomie, Ontogenie und Paläontologie bewieſen, als daß man an einer Blutsverwandtſchaft aller dieſer Cormophyten zweifeln könnte. Dagegen iſt es wohl mög— lich, daß die verſchiedenen Gruppen der Thallophyten von mehreren (und vielleicht von zahlreichen) verſchiedenen Moneren, die durch wiederholte Urzeugungsakte entſtanden, abſtammen. Als ein ganz ſelbſtſtändiges Phylum ließe ſich z. B. auffaſſen die Klaſſe der Fucoi— deen, als ein zweites die Klaſſe der Florideen, als ein drittes die Klaſſe der Flechten. Die drei Klaſſen der Pilze, Grüntange und Ur— tange find vielleicht aus zahlreichen, ganz unabhängigen Phylen zu— ſammengeſetzt, und dann würde ein einzelnes Phylum der Grüntange den ganzen Stamm der Cormophyten erzeugt haben. Es iſt mög— lich, daß zukünftige Unterſuchungen uns über dieſe ſehr dunkle und ſchwierige Frage noch etwas aufklären werden. Uebrigens iſt dieſelbe nur von ſehr untergeordnetem Intereſſe, da unſere monophyletiſche Anſchauung von dem einheitlichen Urſprunge der bei weitem größten und wichtigſten Pflanzengruppe, der Cormophyten, dadurch gar nicht berührt wird. (Vergl. Gen. Morph. II, Taf. II, S. XXXI und 406). 382 Deckſamige. Angiospermae Blumenpflanzen. Stockpflanzen. Nacktſamige. Gymnospermae. Phanerogamae. Farne. Filieinae. —— — Prothalluspflanzen. Cormophyta. | . Museinae. T Prothallophyta. IIC ⁵⁵„ P . N Tange. Algae. Faſerpflanzen. Inophyta. — — — NW H— Brauntange Grüntange Flechten Pilze Fucoideae Chlorophyceae Lichenes Fungi — — — — Rothtange Florideae 9 9 ? 9 Urtange | 0 ? Archephyceae ? | a — N, m ? ? ? ? ? ? ——— ? ? ? Urpflanzen 2 7 ? Ms ne ? 2 ? 1; 5 Er 78 9 2 97 1 650 2 Sri 21 .o | | 2112 22 | Ie n Zahlreiche vegetabiliſche Moneren, ſelbſtſtändig durch Urzeugung entſtanden. „FTT... —::. .. Vielſtämmiger oder polyphyletiſcher Stammbaum des Pflan— zenreichs (im Gegenſatz zu dem einſtämmigen oder monophyletiſchen Stammbaum auf Taf. II). Die Linie MN bezeichnet die Grenze zwiſchen den Thalluspflan— zen (Tangen, Flechten und Pilzen) und den aus einem Stamme der Tange entwickelten Stockpflanzen. Die auslaufenden Linien ohne Namen (mit einem ?) bedeuten die zahlreichen Stämme von niederen Thalluspflanzen, welche möglicher- weiſe unabhängig von einander durch vielfache Urzeugungsakte entſtanden ſind, und welche ſich nicht zu höheren Pflanzengruppen entwickelt haben. Siebzehnter Vortrag. Stammbaum und Geſchichte des Thierreichs. I. Stammbaum und Geſchichte der wirbelloſen Thiere. (Hierzu Taf. III, IV und V.) Das natürliche Syſtem des Thierreichs. Syſtem von Linns und Lamarck. Die vier Typen von Bär und Cuvier. Vermehrung derſelben auf ſechs Typen. Genealogiſche Bedeutung der ſechs Typen als ſelbſtſtändiger Stämme des Thierreichs. Monophyletiſche und polyphyletiſche Deſeendenzhypotheſe des Thierreichs. Gemeinſa⸗ mer Urſprung der fünf übrigen Thierſtämme aus dem Würmerſtamm. Eintheilung der ſechs Thierſtämme in 16 Hauptklaſſen und 32 Klaſſen. Stamm der Pflanzen- thiere. Schwämme oder Spongien (Weichſchwämme, Hartſchwämme). Neſſel⸗ thiere oder Akalephen (Korallen, Schirmquallen, Kammquallen). Stamm der Würmer. Urwürmer oder Archelminthen (Infuſorien). Weichwürmer oder Sco⸗ leciden (Plattwürmer, Rundwürmer). Sackwürmer oder Himategen (Mosthiere, Mantelthiere). Gliedwürmer oder Colelminthen (Sternwürmer, Ringelwürmer, Räderwürmer). Stamm der Weichthiere (Spiralkiemer, Blattkiemer, Schnecken, Pulpen). Stamm der Sternthiere (Seeſterne, Seelilien, Seeigel, Seewalzen). Stamm der Gliederfüßer. Krebſe (Gliederkrebſe, Panzerkrebſe). Spinnen (Stred- ſpinnen, Rundſpinnen). Tauſendfüßer. Inſecten. Kauende und ſaugende Inſecten. Stammbaum und Geſchichte der acht Ordnungen der Inſecten. Meine Herren! Das natürliche Syſtem der Organismen, welches wir ebenſo im Thierreich wie im Pflanzenreich zunächſt als Leitfaden für unſere genealogiſchen Unterſuchungen benutzen müſſen, iſt hier wie dort erſt neueren Urſprungs, und weſentlich durch die Fortſchritte un— 384 Natürliches und künſtliches Syſtem des Thierreichs. ſeres Jahrhunderts in der vergleichenden Anatomie und Ontogenie bedingt. Die Klaſſificationsverſuche des vorigen Jahrhunderts be— wegten ſich faſt ſämmtlich noch in der Bahn des künſtlichen Syſtems, welches zuerſt Carl Linné in ſtrengerer Form aufgeſtellt hatte. Das künſtliche Syſtem unterſcheidet ſich von dem natürlichen weſent— lich dadurch, daß es nicht die geſammte Organiſation und die in— nere, auf der Blutsverwandtſchaft beruhende Formverwandtſchaft zur Grundlage der Eintheilung macht, ſondern nur einzelne und da— zu meiſt noch äußerliche, leicht in die Augen fallende Merkmale. So unterſchied Linns ſeine 24 Klaſſen des Pflanzenreichs weſentlich nach der Zahl, Bildung und Verbindung der Staubgefäße. Ebenſo unterſchied derſelbe im Thierreiche ſechs Klaſſen weſentlich nach der Beſchaffenheit des Herzens und des Blutes. Dieſe ſechs Klaſſen wa— ren: 1. die Säugethiere; 2. die Vögel; 3. die Amphibien; 4. die Fiſche; 5. die Inſecten und 6. die Würmer. Dieſe ſechs Thierklaſſen Linné's ſind aber keineswegs von gleichem Werthe, und es war ſchon ein wichtiger Fortſchritt, als La— marck zu Ende des vorigen Jahrhunderts die vier erſten Klaſſen als Wirbelthiere (Vertebrata) zuſammenfaßte, und dieſen die übrigen Thiere, die Inſecten und Würmer Linné's, als eine zweite Saupt- abtheilung, als Wirbelloſe (Invertebrata) gegenüberſtellte. Eigent⸗ lich griff Lamarck damit auf den Vater der Naturgeſchichte, auf Ariſtoteles zurück, welcher dieſe beiden großen Hauptgruppen be— reits unterſchieden, und die erſteren Blutthiere, die letzteren Blut— loſe genannt hatte. Den nächſten großen Fortſchritt zum natürlichen Syſtem des Thierreichs thaten einige Decennien ſpäter zwei der verdienſtvollſten Zoologen, Carl Ernſt Bär und George Cuvier. Wie ſchon früher erwähnt wurde, ſtellten dieſelben faſt gleichzeitig, und unab⸗ hängig von einander, die Behauptung auf, daß mehrere grundver- ſchiedene Hauptgruppen im Thierreich zu unterfcheiden ſeien, von de— nen jede einen ganz eigenthümlichen Bauplan oder Typus beſitze. (Vergl. oben S. 42, 43). In jeder dieſer Hauptabtheilungen giebt Die vier Typen des Thierreichs von Bär und Cuvier. 385 es eine baumförmig verzweigte Stufenleiter von ſehr einfachen und unvollkommenen bis zu höchſt zuſammengeſetzten und entwickelten For— men. Der Aus bildungsgrad innerhalb eines jeden Typus iſt ganz unabhängig von dem eigenthümlichen Bauplan, der dem Ty— pus als beſonderer Charakter zu Grunde liegt. Dieſer „Typus“ wird durch das eigenthümliche Lagerungsverhältniß der wichtigſten Körper— theile und die Verbindungsweiſe der Organe beſtimmt. Der Aus— bildungsgrad dagegen iſt abhängig von der mehr oder weniger weit— gehenden Arbeitstheilung oder Differenzirung der Plaſtiden und Or— gane. Dieſe außerordentlich wichtige und fruchtbare Idee begründete Bär, welcher ſich auf die individuelle Entwickelungsgeſchichte der Thiere ſtützte, viel klarer und tiefer als Cuvier, welcher ſich bloß an die Reſultate der vergleichenden Anatomie hielt. Doch erkannte weder dieſer noch jener die wahre Urſache jenes merkwürdigen Ver— hältniſſes. Dieſe wird uns erſt durch die Deſcendenztheorie enthüllt. Sie zeigt uns, daß der gemeinſame Typus oder Bauplan durch die Vererbung, der Grad der Ausbildung oder Sonderung dage— gen durch die Anpaſſung bedingt iſt. (Gen. Morph. II, 10). Sowohl Bär als Cuvier unterſchieden im Thierreich vier ver— ſchiedene Typen oder Baupläne und theilten daſſelbe dem entſprechend in vier große Hauptabtheilungen (Zweige oder Kreiſe) ein. Die erſte von dieſen wird durch die Wirbelthiere (Vertebrata) gebil— det, welche die vier erſten Klaſſen Linné's umfaſſen: die Säuge— thiere, Vögel, Amphibien und Fiſche. Den zweiten Typus bilden die Gliederthiere (Articulata), welche die Inſecten Linné's, alfo die eigentlichen Inſecten, die Tauſendfüße, Spinnen und Krebſe, außerdem aber auch einen großen Theil der Würmer, insbeſondere die gegliederten Würmer enthalten. Die dritte Hauptabtheilung umfaßt die Weichthiere (Mollusca): die Pulpen, Schnecken, Muſcheln, und einige verwandte Gruppen. Der vierte und letzte Kreis des Thier— reichs endlich iſt aus den verſchiedenen Strahlthieren (Radiata) zuſammengeſetzt, welche ſich auf den erſten Blick von den drei vorher— gehenden Typen durch ihre „ſtrahlige“, blumenähnliche Körperform Haeckel, Natürliche Schöpfungsgeſchichte. 25 386 Die ſechs thieriſchen Typen der neueren Zoologie. unterſcheiden. Während nämlich bei den Weichthieren, Gliederthie— ren und Wirbelthieren der Körper aus zwei ſymmetriſch-gleichen Seiten— hälften beſteht, aus zwei Gegenſtücken oder Antimeren, von denen das eine das Spiegelbild des anderen darſtellt, ſo iſt dagegen bei den ſogenannten Strahlthieren der Körper aus mehr als zwei, gewöhnlich vier, fünf oder ſechs Gegenſtücken zuſammengeſetzt, welche wie bei einer Blume um eine gemeinſame Hauptare gruppirt find. So auf- fallend dieſer Unterſchied zunächſt auch erſcheint, ſo iſt er doch im Grunde nur von höchſt untergeordneter Bedeutung. Die Aufſtellung dieſer natürlichen Hauptgruppen, Typen oder Kreiſe des Thierreichs, durch Bär und Cuvier war der größte Fortſchritt in der Klaſſification der Thiere ſeit Linné. Die drei Grup— pen der Wirbelthiere, Gliederthiere und Weichthiere ſind ſo naturge— mäß, daß fie noch heutzutage faſt allgemein beibehalten werden. Da- gegen mußte die unnatürliche Vereinigung der Strahlthiere bei ge— nauerer Erkenntniß alsbald aufgelöſt werden, und dieſer wichtige Fort— ſchritt wurde 1848 durch Leuckart gethan. Er wies zuerſt nach, daß darunter zwei grundverſchiedene Typen vermiſcht ſeien, nämlich einerſeits die Sternthiere (Echinoderma): die Seeſterne, Seelilien, Seeigel und Seewalzen; andrerſeits die Pflanzenthiere (Coe— lenterata): die Schwämme, Korallen, Schirmquallen und Kammqual— len. Gleichzeitig wurden durch Siebold die Infuſionsthierchen oder Infuſorien mit den Wurzelfüßern oder Rhizopoden in einer beſonderen Hauptabtheilung des Thierreichs als Urthiere (Protozoa) ver— einigt. Dadurch ſtieg die Zahl der thieriſchen Typen oder Kreiſe auf ſechs. Endlich wurde dieſelbe noch dadurch um einen ſiebenten Typus vermehrt, daß die meiſten neueren Zoologen die Hauptabtheilung der Gliederthiere oder Articulaten in zwei Gruppen trennten, einerſeits die mit gegliederten Beinen verſehenen Gliedfüßer (Arthropoda), welche den Inſecten im Sinne Linné's entſprechen, nämlich die eigentlichen (ſechsbeinigen) Inſecten, die Tauſendfüße, Spinnen und Krebſe; andrerſeits die fußloſen oder mit ungegliederten Füßen verſe— henen Würmer (Vermes). Dieſe letzteren umfaſſen nur die eigent⸗ Die ſechs thieriſchen Typen der neueren Zoologie. 387 lichen oder echten Würmer (die Ringelwürmer, Rundwürmer, Platt— würmer u. ſ. w.), und entſprechen daher keineswegs den Würmern in Linné's Sinne, welcher dazu auch noch die Weichthiere, Strahl— thiere und viele andere rechnete. So wäre denn nach der Anſchauung der neueren Zoologen, welche Sie faſt in allen Hand- und Lehrbüchern der gegenwärtigen Thierkunde vertreten finden, das Thierreich aus ſieben ganz verſchie— denen Hauptabtheilungen oder Typen zuſammengeſetzt, deren jede durch einen charakteriſtiſchen, ihr ganz eigenthümlichen ſogenannten Bauplan ausgezeichnet, und von jeder der anderen völlig verſchieden iſt. In dem natürlichen Syſtem des Thierreichs, welches ich Ihnen jetzt als den wahrſcheinlichen Stammbaum deſſelben entwickeln werde, ſchließe ich mich im Großen und Ganzen dieſer üblichen Eintheilung an, jedoch nicht ohne einige Modificationen, welche ich in Betreff der Genealogie für ſehr wichtig halte. Unverändert in ihrem bisherigen Umfange werde ich die drei Typen der Wirbelthiere, Gliedfüßer, und Sternthiere beibehalten. Dagegen müſſen die drei Gruppen der Weichthiere, Würmer und Pflanzenthiere einige Veränderungen ihres Gebiets erleiden. Den ſiebenten und letzten Kreis, den der Urthiere oder Protozoen, löſe ich ganz auf. Den größten Theil der jetzt ge— wöhnlich als Urthiere angeſehenen Organismen, nämlich die Wurzel— füßer, Amoeboiden, Geißelſchwärmer und Meerleuchten betrachte ich als Protiſten und habe Ihnen dieſelben bereits vorgeführt. Von den beiden noch übrigen Klaſſen der Urthiere betrachte ich die Schwämme als Wurzel des Pflanzenthierſtammes, die Infuſorien als Wurzel des Würmerſtammes. Die ſechs Zweige oder Kreiſe des Thierreichs, welche nach Aus— ſcheidung der Protozoen übrig bleiben, ſind ohne Zweifel durch ihre Anatomie und Entwickelungsgeſchichte dergeſtalt charakteriſirt, daß man ſie im Sinne von Bär und Cu vier als ſelbſtſtändige „Typen“ auffaſſen kann. Trotz aller Mannichfaltigkeit in der äußeren Form, welche innerhalb jedes dieſer Typen ſich entwickelt, iſt dennoch die Grundlage des inneren Baues, das weſentliche Lagerungsverhältniß 25 * 388 Genealogiſche Bedeutung der ſechs thieriſchen Typen. der Körpertheile, welches den Typus beſtimmt, ſo conſtant, bei allen Gliedern jedes Typus ſo übereinſtimmend, daß man dieſelben eben wegen dieſer inneren Formverwandtſchaft im natürlichen Syſtem in einer einzigen Hauptgruppe vereinigen muß. Daraus folgt aber un— mittelbar, daß dieſe Vereinigung auch im Stammbaum des Thierreichs ſtattfinden muß. Denn die wahre Urſache jener innigen Formver— wandtſchaft kann nur die wirkliche Blutsverwandtſchaft ſein. Wir können alſo ohne Weiteres den wichtigen Satz aufſtellen, daß alle Thiere welche zu einem und demſelben Kreis oder Typus gehören, von einer und derſelben urſprünglichen Stammform abſtammen müf- ſen. Mit anderen Worten, der Begriff des Kreiſes oder Typus, wie er in der Zoologie ſeit Bär und Cuvier für die wenigen ober— ſten Hauptgruppen oder „Unterreiche“ des Thierreichs gebräuchlich iſt, fällt zuſammen mit dem Begriffe des Stammes oder Phylum, wie ihn die Deſcendenztheorie für die Geſammtheit derjenigen Or— ganismen anwendet, welche ohne Zweifel blutsverwandt ſind, und eine gemeinſame Wurzel beſitzen. Die übereinſtimmenden Zeugniſſe der vergleichenden Anatomie, Embryologie und Paläontologie begründen dieſe Blutsverwandtſchaft aller Angehörigen eines jeden Typus ſo ſicher, daß ſchon jetzt darüber kaum ein Zweifel herrſchen kann. Wenigſtens gilt dies faſt ohne Wi— derſpruch von den fünf Stämmen der Wirbelthiere, Gliedfüßer, Weich— thiere, Sternthiere und Pflanzenthiere. Zweifelhafter iſt dies bei den Würmern, deren Kreis auch in ſeiner heutigen Zuſammenſetzung im— mer noch ein buntes Gemiſch von ſehr verſchiedenartigen Thieren dar— ſtellt, welche weſentlich nur in negativen Merkmalen, in der tiefen Stufe ihrer Organiſation und in dem indifferenten Charakter ihres Baues übereinſtimmen. Noch heute iſt ebenſo wie zu Zeiten Linné's die Würmerklaſſe die allgemeine Rumpelkammer der Zoologie, in welche die Syſtematiker alle Thiere hineinwerfen, die fie in keinem an— deren Typus oder Phylum mit Sicherheit unterbringen können. Dieſes ſeltſame Verhältniß hat aber ſeinen guten Grund, und zwar darin, daß wir mit größter Wahrſcheinlichkeit den Würmerſtamm (in fei- Die Wurzeln der ſechs thieriſchen Typen oder Phylen. 389 nem heutigen Umfang) als die gemeinſame Wurzel oder Stamm— gruppe des ganzen Thierreichs anſehen können. Obwohl jeder der fünf Stämme (nach Ausſchluß des Würmer— ſtammes) eine aufſteigende baumförmig verzweigte Stufenleiter von ſehr einfachen und niederen zu ſehr zuſammengeſetzten und hochorganiſirten Thieren darſtellt, ſo ſind dennoch die unvollkommenſten und niederſten Formen derſelben immer bereits ſo differenzirt, daß ſie nicht die urſprünglichen Stammformen des ganzen Stammes darſtellen können. Dies gilt ebenſo von den niederſten Stufen der Wirbelthiere und Glied— füßer, wie von den unvollkommenſten Formen der Weichthiere, Stern» thiere und Pflanzenthiere. Wollen wir daher die erſten und älteſten Vorfahren derſelben erkennen, ſo müſſen wir nothwendig auf noch tiefer ſtehende Organismen zurückgehen. Die Embryologie der Thiere belehrt uns, daß jedes Individuum ſich aus einer einfachen Zelle, einem Ei entwickelt, und hieraus kön— nen wir, auf den innigen urſächlichen Zuſammenhang zwiſchen Onto— genie und Phylogenie geſtützt, unmittelbar den wichtigen Schluß ziehen, daß auch die älteſten Stammformen eines jeden Phylum einfache Zellen, gleich den Eiern, waren. Dieſe Zellen ſelbſt aber müſſen, wie ich Ihnen ſchon früher zeigte, von Moneren abſtammen, die durch Urzeugung entſtanden ſind. Welche Formenkette liegt nun aber zwi— ſchen jenen einfachen Stammzellen und zwiſchen den verhältnißmäßig ſchon hoch organiſirten Thieren, die wir heutzutage als die niederſten und älteſten Formen eines jeden der fünf genannten Stämme anſe— hen? Auf dieſe Frage erhalten wir durch die vergleichende Anatomie und Embryologie zwar keine ganz beſtimmte Antwort, aber doch einen ſehr wichtigen Hinweis. Es zeigt ſich nämlich, daß unter der bun— ten Formenmaſſe des geſtaltenreichen Würmerſtammes eine ganze Anzahl von intereſſanten Thierformen verſteckt iſt, welche wir mit einem mehr oder weniger hohen Grade von Wahrſcheinlichkeit als Uebergangsformen von den niederen Würmern zu den niederſten Ent— wickelungsſtufen der fünf übrigen Stämme anſehen können. Wir dürfen in ihnen noch jetzt lebende nahe Verwandte von jenen 390 Polyphyletiſcher Stammbaum des Thierreichs. längſt ausgeſtorbenen Würmern vermuthen, aus denen ſich in alters— grauer primordialer Vorzeit die fünf Stammformen der fünf übrigen Phylen entwickelten. So gleichen namentlich einige Infuſionsthiere den erſten Jugendzuſtänden der Pflanzenthiere. Einige Weichwür⸗ mer und die Mosthiere ſchließen ſich an die Weichthiere an. Die Sternwürmer und einige Ringelwürmer führen uns zu den Stern— thieren hinüber, andere Ringelwürmer dagegen und die Räderthiere zu den Gliedfüßern. Die Mantelthiere endlich ſchließen ſich zunächſt an die Wirbelthiere an, indem die Jugendzuſtände von den niederſten Formen beider Gruppen nahe verwandt ſind. Erwägen wir nun einerſeits dieſe unleugbare anatomiſche und embryologiſche Verwandtſchaft einzelner Würmergruppen mit den nie— derſten und tiefſtſtehenden Ausgangsformen der fünf übrigen Stämme, andrerſeits die vielfache verwandtſchaftliche Verkettung, durch welche auch die verſchiedenen Gruppen des Würmerſtammes trotz aller Ver— ſchiedenheiten unter ſich innig verbunden ſind, ſo gelangen wir ſchließ— lich zu der Anſchauung, daß auch für das geſammte Thier— reich ein gemeinſamer Urſprung aus einer einzigen Wurzel oder Stammform das Wahrſcheinlichſte iſt. Auch hier, wie im Pflanzenreich, gewinnt bei näherer nnd eingehenderer Betrachtung die einſtämmige oder monophyletiſche Deſcendenzhypotheſe, wie fie auf Taf. III. dargeſtellt iſt, das Uebergewicht über die entgegenge— ſetzte, vielſtämmige oder polyphyletiſche Hypotheſe, von welcher Ihnen die nachſtehende Tabelle (S. 392) eine Anſchauung giebt. Die polyphyletiſche Hypotheſe vom Urſprung des Thierreichs kann in ſehr verſchiedener Form gedacht werden. Im Gegenſatz zu der auf S. 392 dargeſtellten Form derſelben könnte man es zunächſt z. B. für das Wahrſcheinlichſte halten, daß jeder der ſechs thieriſchen Stämme ſſelbſtſtändigen Urſprungs iſt und ſich ganz unabhängig von den fünf anderen aus einer beſonderen Zellenform entwickelt hat, die von einem beſonderen, durch Urzeugung entſtandenen Moner abſtammt. Gegen dieſe Vorſtellung ſpricht erſtens die merkwürdige Uebereinſtim— mung der früheſten embryonalen Entwickelungszuſtände bei den ver— Monophyletiſcher Stammbaum des Thierreichs. 391 ſchiedenen Stämmen, und zweitens die Menge von verbindenden Uebergangsformen, welche einerſeits zwiſchen den verſchiedenen Grup— pen des Würmerſtammes, und andrerſeits zwiſchen dieſen und den nie— derſten, auf tiefſter Sonderungsſtufe ſtehen gebliebenen Thieren der fünf übrigen Stämme exiſtiren. Die wahrſcheinlichſte genealogiſche Hypotheſe über den Urſprung und die paläontologiſche Entwickelung des Thierreichs iſt demnach fol— gende (Taf. III). Durch Urzeugung entſtanden zuerſt thieriſche Mo— neren, gleich denen des Pflanzenreichs und des Protiſtenreichs ganz einfache und ſtructurloſe Plasmaſtücke, aber von beiden durch leichte Unterſchiede in der chemiſchen Zuſammenſetzung ihres eiweißartigen Plasma, und durch die daraus folgende Entwickelung zu echt thieri— ſchen Formen ſich unterſcheidend. Indem im Inneren dieſer gleichar— tigen Moneren ſich ein Kern von dem umgebenden Protoplasma ſon— derte, entſtanden die erſten thieriſchen Zellen, ebenfalls nicht in ihrer Form, ſondern nur in ihrer chemiſchen Zuſammenſetzung von den ein— fachſten ſelbſtſtändigen Zellen unter den Urpflanzen und Protiſten ver— ſchieden. Dieſe nackten einzelligen Thiere, an Form gleichwerthig den Eiern der vielzelligen Thiere, lebten anfangs ſelbſtſtändig, gleich den heute noch lebenden Amoeben. Später aber bildeten ſie, in Co— lonien beiſammen bleibend, vielzellige Körper, gleich dem kugeligen Haufen von Furchungskugeln, welcher bei den vielzelligen Thieren aus der wiederholten Theilung des Eies entſteht (Vergl. Fig. 2, S. 145, und Fig. 3, 4, S. 146). Aus dieſen einfachen Haufen gleichartiger Zellen gingen allmählich durch Sonderung und Vervollkommnung die niederſten Würmer hervor, welche in den heute noch lebenden Infu— ſionsthierchen ihre nächſten Verwandten beſitzen. Die Ontogenie vieler Würmer, ferner vieler Pflanzenthiere, Sternthiere und Weich— thiere, wiederholt uns noch heutzutage jenen wichtigen Vorgang der Phylogenie, indem das gefurchte Ei, d. h. der vielzellige, aus der Ei— theilung entſtandene Körper ſich zunächſt in einen bewimperten „infu— ſorienartigen“ Embryo oder Larve verwandelt. Aus gleichen bewim— perten Infuſorien entſtanden dann durch weitere Differenzirung die 392 Wirbelthiere Vertebrata — Gliedfüßer Arthropoda Sternthiere Echinoderma Weichthiere Mollusca M. zum mw „„ „„ „„ „„ „„ m m om „„ „„ „„ „N Sternwürmer | Ringelwürmer | Räderthiere Mantelthiere Mosthiere Gephyrea Annelida Rotatoria Tunicata Bryozoa Gliedwürmer Colelminthes Sackwürmer Himatega 2 — U Pflanzenthiere Urwürmer Weich⸗[würmer Coelenterata Archelminthes Scole-jeida = — eur ar ie — — 9 Neſſelthiere Infuſionsthiere Platt⸗] Rundwürmer Acalephae Infusoria würmer — — Platy | Nematelminthes elminthes ene Starr⸗ Wimper⸗ o N infuſorien infuſorien | Acineta Ciliata —— 7 ? 7 7 7 7 7 2 7 | — ern mn 7 Urthiere ? g Arch = rehezoa 2 9 2 2 | 22 ? 2 2 ? ? 2a el? | | = „ m m m. m mr ie Ae Zahlreiche thieriſche Moneren, ſelbſtſtändig durch Urzeugung entſtanden. ——————«——ͤ — — —————— SE Vielſtämmiger oder polyphyletiſcher Stammbaum des Thier- reichs (im Gegenſatz zu dem einſtämmigen oder monophyletiſchen Stammbaum auf Taf. III). Die Linie MN bezeichnet die Grenze zwiſchen den vier höheren und den beiden niederen Thierſtämmen (Würmern und Pflanzenthieren). Die auslaufenden Linien ohne Namen (mit einem 2) bedeuten die zahlreichen Stämme von niederen Thieren (Würmern und Pflanzenthieren), welche möglicher⸗ weiſe unabhängig von einander durch vielfache Urzeugungsakte entſtanden ſind, und welche ſich nicht zu höheren Thiergruppen entwickelt haben. 393 Syſtematiſche Ueberſicht der 16 Hauptklaſſen und 32 Klaſſen des Thierreichs. Stämme oder Phylen des Thierreichs A. Pflanzenthiere Coelenterata B. * Würmer Vermes u Mollusca D. Sternthiere Echinoderma E. Gliedfüßer Arthropoda F. Wirbelthiere Vertebrata Hanptflaff en Ch err 8 I. Isi Schwammthieret . Lu. ande. 1. Schwämme II. Neſſelthiere . 3. Schirmquallen 4. Kammqnallen III. Urwürmer Archelminthes IV. Weichwürmer | Beolecida | 2. Korallen 5. Infuſionsthiere 6. Plattwürmer 7. Rundwürmer 8. Mosthiere 9. Mantelthiere 10. Sternwürmer VI. Gliedwürmer N Colelminthes N ingelwürmer V. Sackwürmer Him aeg a | 12, Räderthiere VII. Kopfloſe 13. Spiralkiemer Acephala | 14, Blattkiemer VIII. Kopfträger (15. Schnecken 1 6. Pulpen IX. Gliederarmigef17. Seeſterne 18. Seelilien 19. Seeigel 20. Seewalzen Eucephala Colobrachia X. Armloſe | Lipobdbrachia XI. Kiemenkerfe Car des XII. Tracheenkerfe Tracheata XIII. Rohrherzen Leto car dia XIV. Unpaarnaſen Monorrhina 21. Krebsthiere 22. Spinnen 23. Tauſendfüßer 24. Inſecten 25. Schädelloſe 26. Rundmäuler N 27. Fiſche XV. Amnionloſe 85 Lurchfiſche Anamnia 29. Lurche 8 5 30. Schleicher XVI. 1 Br L Amniota 32. Säugethiere Syſtematiſcher Name der Klaſſen 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. Porifera Corallia . Hydromedusae . Ctenophora . Infusoria 5 6. Platyelminthes 7. 8 9 Nematelminthes . Bryozoa . Tunieata 10. 11. 12. Gephyrea Annelida Rotatoria Spirobranchia Elatobranchia Cochlides Cephalopoda Asterida Crinoida Echinida Holothuriae . Crustacea . Arachnida . Myriapoda . Insecta . Acrania . Cyelostoma . Pisces . Dipneusta . Amphibia . Reptilia . Aves . Mammalia. 394 Gemeinſamer Urſprung des Thierreichs aus dem Würmerſtamm. niederſten Formen der bewimperten Strudelwürmer oder Turbellarien, Weichwürmer, welche wir als die gemeinſame Stammgruppe aller übrigen Würmerklaſſen anſehen können. Viele von den letzteren blieben bis auf den heutigen Tag auf der niederen Entwickelungsſtufe des Wurmes ſtehen. Einige wenige aber entwickelten ſich nach verſchie— denen Richtungen hin zu höheren Formen, welche die Stammformen für die übrigen, höheren Thierſtämme wurden. Wenn dieſe Hypotheſe, wie ich glaube, richtig iſt, ſo würden die ſechs Stämme des Thierreichs in genealogiſcher Beziehung keines— wegs gleichwerthig fein. (Vergl. Taf. III.) Denn der Würmer- ſtamm würde dann als die gemeinſame Stammgruppe der fünf übrigen Stämme zu betrachten ſein. Dieſe letzteren verhielten ſich unter einander wie fünf Geſchwiſter, welche in dem erſteren ihre ge— meinſame Elternform haben. Unter den fünf Geſchwiſterſtämmen ſelbſt würden wir aber wieder den Stamm der Pflanzenthiere oder Coelenteraten in ſofern den vier übrigen entgegenſtellen müſſen, als der erſtere einen viel geringeren Grad der Blutsverwandtſchaft zu den echten Würmern offenbart, als die vier letzteren. Wahrſcheinlich hat ſich der erſtere in viel früherer Primordialzeit bereits von den tiefſten Stufen des Wurmſtammes, von den Urwürmern oder Infuſorien abgezweigt und ſelbſtſtändig entwickelt, während die Stammformen der vier übri— gen Stämme noch gar nicht von echten Würmern zu trennen waren. Dieſe letzteren haben ſich wohl erſt in viel ſpäterer Zeit von den Wür— mern geſondert, als der Würmertypus längſt die niedere und indiffe— rente Stufe der Urwürmer überſchritten hatte. Selbſt wenn wir für die vier Stämme der Wirbelthiere, Gliedfüßer, Weichthiere und Sternthiere mit Beſtimmtheit einen gemeinſamen Urſprung aus ver— ſchiedenen Zweigen des einheitlichen Würmerſtammes annehmen, kön— nen wir doch über die Abſtammung der Pflanzenthiere von den Würmern noch ſehr in Zweifel bleiben, weil eben die niederſten For— men der letzteren, aus denen die erſten Pflanzenthiere entſprungen ſein müßten, nur ganz indifferente und vielleicht ganz ſelbſtſtändig entſtan— dene Urwürmer geweſen ſein können. Ich werde dieſem genealogiſchen Eintheilung des Thierreichs in 16 Hauptklaſſen und 32 Klaffen. 395 Bedenken in der nachfolgenden Entwickelung des thieriſchen Stamm— baums dadurch einen berechtigten Ausdruck geben, daß ich die Pflan— zenthiere als eine eigene, von den übrigen Thierſtämmen entferntere Gruppe voranſtelle, und auf dieſe erſt die Würmer folgen laſſe, aus denen ſich die vier höheren Stämme des Thierreichs entwickelt haben. Bevor ich nun dieſe Aufgabe in Angriff nehme und Ihnen meine genealogiſche Hypotheſe von der hiſtoriſchen Entwickelung der Thier— ſtämme näher erläutere, wird es zweckmäßig ſein, wie wir ſchon vor— her beim Pflanzenreiche gethan haben, das ganze „natürliche Syſtem“ des Thierreichs in einer Tabelle überſichtlich zuſammen zu ſtellen, und die Hauptklaſſen und Klaſſen zu nennen, welche wir in jedem der ſechs großen Thierſtämme unterſcheiden. Die Zahl dieſer oberſten Hauptabtheilungen iſt im Thierreiche viel größer als im Pflanzenreiche, ſchon aus dem einfachen Grunde, weil der Thierkörper, entſprechend ſei— ner viel mannichfaltigeren und vollkommneren Lebensthätigkeit, ſich in viel mehr verſchiedenen Richtungen differenziren und vervollkommnen konnte. Während wir daher das ganze Pflanzenreich in ſechs Haupt— klaſſen und achtzehn Klaſſen eintheilen konnten, müſſen wir im Thier— reich wenigſtens ſechszehn Hauptklaſſen und zwei und dreißig Klaſ— ſen unterſcheiden. Dieſe vertheilen ſich in der Art, wie es die vor— ſtehende ſyſtematiſche Ueberſicht zeigt, auf die ſechs verſchiedenen Stämme des Thierreichs (S. 393). Die Pflanzenthiere (Coelenterata), welche wir den übrigen fünf Stämmen des Thierreichs aus den angeführten Gründen gegen— überſtellen, verdienen in mehr als einer Beziehung den Anfang zu machen. Denn abgeſehen davon, daß dieſelben in der That in ihrem geſammten Körperbau viel mehr von den übrigen fünf Stämmen ver— ſchieden find, als dieſe unter ſich, abgeſehen ferner davon, daß auch ihre höchſtentwickelten Formen nicht denjenigen Grad der Vollkom— menheit und Differenzirung erreichen, wie die höchſten Formen der fünf anderen Stämme, ſchließen ſich die Pflanzenthiere in mancher Hinſicht mehr den Pflanzen als den übrigen Thieren an. Insbeſon— dere iſt bei den feſt gewachſenen Schwämmen und Korallen die äußere 396 Stamm der Pflanzenthiere oder Cölenteraten. Körperform, der Mangel freier Ortsbewegung, die Stockbildung und die Fortpflanzung ſo ähnlich den entſprechenden Verhältniſſen bei den Pflanzen, daß man dieſelben noch im Beginn des vorigen Jahr— hunderts ganz allgemein für wirkliche Pflanzen hielt. Der alte Name Zoophyta, was wörtlich überſetzt „Pflanzenthiere“ bedeutet, war da— her gar nicht übel gewählt. Die Bezeichnung Coelenterata erhielten dieſelben von Leuckart, welcher 1848 zuerſt ihre eigenthümliche Or— ganiſation erkannte und ſie als eine ganz ſelbſtſtändige Hauptab— theilung des Thierreichs aufſtellte. Durch die Bezeichnung Coelente- rata wird der beſondere anatomiſche Charakter ausgedrückt, durch welchen ſich die Pflanzenthiere von allen übrigen Thieren unterſcheiden. Bei den letzteren werden nämlich allgemein (nur die niedrigſten For— men ausgenommen) die vier verſchiedenen Functionen der Ernäh— rungsthätigkeit: Verdauung, Blutumlauf, Athmung und Ausſcheidung durch vier ganz verſchiedene Organſyſteme bewerkſtelligt, durch den Darm, das Blutgefäßſyſtem, die Athmungsorgane und die Harn— apparate. Bei den Coelenteraten dagegen ſind dieſe Functionen und ihre Organe noch nicht getrennt, und ſie werden ſämmtlich durch ein ein— ziges Syſtem von Ernährungskanälen vertreten, durch das ſogenannte Gaſtrovascularſyſtem oder den coelenteriſchen Darmgefäßapparat. Der Mund, welcher zugleich After iſt, führt in einen Magen, in wel— chen die übrigen Hohlräume des Körpers offen einmünden. Alle Pflanzenthiere leben im Waſſer, und die allermeiſten im Meere. Nur ſehr wenige leben im ſüßen Waſſer, nämlich die Süßwaſſerſchwämme (Spongilla) und einige Urpolypen (Hydra, Cordylophora). Der Stamm der Pflanzenthiere zerfällt in zwei verſchiedene Hauptklaſſen, in die Schwämme oder Spongien und in die Neſſelthiere oder Akalephen. Die letztere iſt viel formenreicher und höher organiſirt, als die erſtere, welche die niederen Pflanzen— thiere und darunter die urſprünglichen Stammformen des ganzen Stammes enthält. Bei den Schwämmen ſind allgemein die ganze Körperform ſowohl als die einzelnen Organe viel weniger differenzirt und vervollkommnet als bei den Neſſelthieren. Insbeſondere fehlen Schwämme oder Spongien. 397 den Schwämmen allgemein die charakteriſtiſchen Neffelorgane, welche ſämmtliche Neſſelthiere beſitzen. Das ſind kleine, mit Gift ge— füllte Bläschen, welche in großer Anzahl, meiſt zu vielen Millionen, in der Haut der Neſſelthiere vertheilt ſind, und bei Berührung derſelben hervortreten und ihren Inhalt entleeren. Kleinere Thiere werden da— durch getödtet; bei größeren bringt das Neſſelgift, ganz ähnlich dem Gift unſerer Brennneſſeln, eine leichte Entzündung in der Haut her— vor. Diejenigen von Ihnen, welche öfter in der See gebadet haben, werden dabei wohl ſchon bisweilen mit größeren Schirmquallen in Berührung gekommen ſein und das unangenehme brennende Gefühl kennen gelernt haben, das die Neſſelorgane derſelben hervorbringen. Bei den prachtvollen blauen Seeblaſen oder Phyſalien wirkt das Gift ſo heftig, daß es den Tod des Menſchen zur Folge haben kann. Die Hauptklaſſe der Schwämme (Spongiae oder Porifera ge— nannt), welche gewöhnlich als eine einzige Klaſſe aufgefaßt wird, kann man in zwei Gruppen oder Unterklaſſen vertheilen, in die Weich— ſchwämme und Hartſchwämme. Die Weichſchwämme (Malaco- spongiae) beſitzen gar keine harten Theile, kein Skelet, und ihr gan— zer Körper beſteht entweder aus einfachem ungeſondertem Urſchleim, oder aus nackten, amöbenartigen Urzellen. Wir unterſcheiden in dieſer Klaſſe zwei Ordnungen: die Urſchwämme und die Schleimſchwämme. Unter den Urſchwämmen (Archispongiae) verſtehen wir die längſt ausgeſtorbenen hypothetiſchen Stammformen, aus denen ſich die ganze Schwammklaſſe und ſomit auch der ganze Stamm der Cölente— raten entwickelt hat. Es würden hierher gehören 1) die durch Ur— zeugung entſtandenen Moneren, welche in älteſter antelaurentiſcher Zeit dem ganzen Stamm den Urſprung gaben; 2) diejenigen Amöben oder einfachen nackten beweglichen Urzellen, welche aus dieſen Moneren dadurch entſtanden, daß ſich im Inneren ein Kern von dem umge— benden Zellſtoff differenzirte; 3) endlich die einfachſten vielzelligen Schwämme, welche ſich aus den letzteren durch Coloniebildung ent— wickelten, d. h. dadurch, daß mehrere nackte Amoeben ſich vereinig— ten und einen ſchleimigen Urſchwammkörper darſtellten (Prospongia), 398 Weichſchwämme (Malakoſpongien) und Hartſchwämme (Skeletoſpongien). Dadurch würden wir bereits unmittelbar zu der zweiten Ordnung ge⸗ führt werden, den Schleim ſchwämmen (Myxospongiae), von de⸗ nen noch heutzutage die Halisarca Dujardinii in der Nordſee lebt. Das iſt ein formloſer Schleimkörper, welcher auf dem Thallus der Riemen⸗ tange oder Laminarien feſtſitzend angetroffen wird. Er beſteht einzig und allein aus einer Geſellſchaft von gleichartigen, nackten, amöben— ähnlichen Zellen, welche in der Weiſe vereinigt ſind, daß der Geſammt— körper von einem ſehr unvollkommenen Canalſyſtem durchzogen wird. Dieſe Schleimſchwämme, welche eigentlich nichts weiter als coelente— riſche Amöbengemeinden ſind, verhalten ſich zu den höchſt differenzirten Neſſelthieren ähnlich, wie die Stämme der Auſtralneger, die noch keine Arbeitstheilung kennen, zu den höchſtorganiſirten Culturſtaaten. Die zweite Hauptabtheilung der Schwämme, die Hart— ſchwämme (Sceletospongiae), haben ſich offenbar erſt ſpäter aus den Schleimſchwämmen entwickelt. Sie unterſcheiden ſich von dieſen dadurch, daß die nackten Amöben, welche den Weichkörper des Schwammes zuſammenſetzen, ein Hartgebilde oder Skelet ausſcheiden, das dem erſteren als formgebende innere Stütze dient. Je nach der verſchiedenen chemiſchen Beſchaffenheit dieſes Skelets unterſcheiden wir unter den Hartſchwämmen vier Ordnungen: die Hornſchwämme, Kieſelſchwämme, Kalkſchwämme und Becherſchwämme. Bei den Hornſchwämmen (Ceratospongiae) beſteht das Skelet bloß aus einer organiſchen Subſtanz, aus einer ſtickſtoffhaltigen Kohlenſtoffver⸗ bindung, welche Ihnen Allen als das faſerige Maſchengewebe des ge— wöhnlichen Bad eſchwammes (Euspongia officinalis) bekannt iſt. Dieſes hornähnliche Faſergerüſt, mit welchem wir uns jeden Morgen waſchen, iſt das eigentliche Skelet des Badeſchwamms; alle ſeine Lücken ſind im Leben ausgekleidet und die ganze Maſſe überzogen von dem ſchleimigen Weichkörper, der aus lauter Amöben zuſammengeſetzt iſt. Aus dieſen Hornſchwämmen, die zunächſt von den Schleim⸗ ſchwämmen abſtammen, haben ſich wahrſcheinlich ſpäterhin als drei divergente Zweige die drei übrigen Ordnungen, Kieſelſchwämme, Kalk⸗ ſchwämme und Becherſchwämme entwickelt. Bei den Kieſelſchwäm⸗ Neſſelthiere oder Akalephen. Blumenthiere oder Korallen. 399 men (Silieispongiae), zu denen auch unſere Süßwaſſerſchwämme (Spongilla) gehören, beſteht das Skelet aus vielen einzelnen Kieſel— nadeln, bei den Kalkſchwämmen (Calcispongiae) dagegen aus Kalknadeln. Bei den Becherſchwämmen (Petrospongiae), welche ſchon längſt ausgeſtorben ſind, aber maſſenhaft verſteinert in den pa— läolithiſchen und beſonders in den meſolithiſchen Schichten vor— kommen, bildete das Skelet ein ſehr regelmäßiges Gerüſt von der Geſtalt eines Bechers, eines Trichters, oder auch eines Hutpilzes. Die Neſſelthiere (Acalephae), welche ſich durch die höhere Differenzirung der Organe und Gewebe und ganz beſonders durch den Beſitz der Neſſelorgane von den Schwämmen unterſcheiden, haben ſich wahrſcheinlich ſchon frühzeitig in der Primordialzeit aus dieſen ent— wickelt. Man theilt dieſe Hauptklaſſe allgemein in drei Klaſſen, in die Korallen, Schirmquallen und Kammquallen (Vergl. Gen. Morph. II, Taf. III, S. L- LXI). Die Klaſſe der Korallen (Corallia), wegen der Blumengeftalt der einzelnen Individuen auch Blumenthiere (Anthozoa) ge— nannt, ſchließt ſich in vielfacher Beziehung auf das engſte an die Schwämme an, aus denen ſie ſich vielleicht unmittelbar entwickelt hat. Einige Kieſelſchwämme (z. B. Axinella polypoides) ſcheinen noch heutzutage unmittelbar den Uebergang zwiſchen beiden Klaſſen zu vermitteln. Die Gegenſtücke oder Antimeren, d. h. die gleicharti— gen Hauptabſchnitte des Körpers, welche ſtrahlenförmig vertheilt, um die mittlere Hauptaxe des Körpers herumſtehen, und deren Zahl bei den Schwämmen (wenn fie hier überhaupt differenzirt find) ſchwan⸗ kend iſt, erſcheinen bei den Korallen in verſchiedener, aber ſehr con— ſtanter Zahl. Je nach dieſer Zahl unterſcheiden wir unter den Ko— rallen drei verſchiedene Ordnungen, welche als drei Aeſte einer gemein» ſamen Stammform aufzufaſſen ſind. Dieſe drei Ordnungen, deren Individuen oder Polypen aus je vier, ſechs oder acht Gegenſtücken re— gelmäßig zuſammengeſetzt erſcheinen, ſind die vierzähligen (Te— tracorallia), die ſechszähligen (Hexacorallia) und die achtzäh— ligen Korallen (Octocorallia). 400 Syſtematiſche Ueberſicht der fünf Klaſſen und fünfzehn Ordnungen der Pflanzenthiere. (Vergl. Gen. Morph. II, Taf. III, S. L—LX1.) Hauptklaſſen der Klaſſen der Ordnungen der Pflanzenthiere Pflanzenthiere Pflanzenthiere I. rn re e e 1. Urſchwämme ſchwämme Mala co- spongiae 1. Schwämme ı 3. Hornſchwämme Spongiae II. Hart⸗ 4. Kieſelſchwämme ſchwämme Se eleto- 5. Kalkſchwämme spongiae 6. Becherſchwämme 7. Vierzählige III. Korallen Korallen Coral lia übel 8. Achtzählige Blumenthiere Korallen Anthozoa 9. Sechszählige Korallen 10. Urpolypen II. IV. Schirm⸗ Neſſelthiere gudllen 11. Zartquallen Acalephae Me dus ae oder Polypen- 12. Starrquallen quallen Hy dromedus ae 13. Scheibenquallen 14. Weitmündige V. Kam m⸗ Kammquollen quallen ene 15. Engmündige & Kammquallen Syſtematiſcher Name der Ordnungen 1. Archispongiae (Prospongia ete.) 2. Schleimſchwämme 2. Myxospongiae (Halisarca etc.) 3. Ceratospongiae (Euspongia ete.) 4. Silieispongiae (Spongilla ete.) 5. Caleispongiae (Syeon ete.) 6. Petrospongiae (Coeloptychium ete.) 7. Tetracorallia (Zaphrentis ete.) 8. Octocorallia (Gorgonia ete.) 9. Hexacorallia (Astraea etc.) 10. Archydrae (Hydra etc.) 11. Leptomedusae (Oceania etc.) 12. Trachymedusae (Geryonia ete.) 13. Discomedusae (Aurelia ete.) 14. Eurystoma (Beroe ete.) 15. Stenostoma (Cydippe ete.) Schirmquallen oder Hydromeduſen. 401 Die zweite Klaſſe der Neſſelthiere bilden die Schirmquallen (Medusae) oder Polypen quallen (Hydromedusae). Während die Korallen meiſtens pflanzenähnliche Stöcke bilden, die auf dem Meeresboden feſtſitzen, ſchwimmen die Schirmquallen meiſtens in Form gallertiger Glocken frei im Meere umher. Jedoch giebt es auch unter ihnen zahlreiche, namentlich niedere Formen, welche auf dem Meeresboden feſtgewachſen ſind und zierlichen Bäumchen gleichen. Die niederſten und einfachſten Angehörigen dieſer Klaſſe ſind die bekannten Süßwaſſerpolypen (Hydra), welche bald grün, bald orangeroth, braun oder grau gefärbt ſind. Gewöhnlich findet man ſie in unſeren Teichen an der Unterfläche der Waſſerlinſen anſitzen, als länglich— runde ſchleimige Körperchen von einer oder wenigen Linien Länge, die an dem freien Ende einen Mund und rings um dieſen herum einen Kranz von 6—8 Fangarmen tragen. Wir können ſie als die wenig veränderten Nachkommen jener uralten Urpoly pen (Archydrae) anſehen, welche während der Primordialzeit der ganzen Klaſſe der Hydromeduſen und vielleicht der ganzen Hauptklaſſe der Neſſelthiere den Urſprung gaben. Direkt oder indirekt können ſich ſolche Hydra— polypen oder Hydroiden aus Weichſchwämmen entwickelt haben. Von der Hydra kaum zu trennen ſind diejenigen feſtſitzenden Hydroid— polypen (Campanularia, Sertularia, Tubularia), welche durch Knospenbildung frei ſchwimmende Meduſen erzeugen, aus deren Eiern wiederum feſtſitzende Polypen entſtehen. Dieſe frei ſchwimmen— den Schirmquallen, welche in die drei Ordnungen der Zartquallen, Starrquallen und Scheibenquallen eingetheilt werden, haben meiſtens die Form eines Hutpilzes oder eines Regenſchirms, von deſſen Rand viele zarte und lange Fangfäden herabhängen. Sie gehören zu den ſchönſten und intereſſanteſten Bewohnern des Meeres. Ihre merk— würdige Lebensgeſchichte aber, insbeſondere der verwickelte Genera— tionswechſel der Polypen und Meduſen, und die weitgehende Arbeits— theilung der Individuen, gehört zu den ſtärkſten Zeugniſſen für die Wahrheit der Abſtammungslehre. Saeckel, Natürliche Schöpfungsgeſchichte, 26 402 Kammguallen oder Ctenophoren. Aus einem Zweige der Schirmquallen hat ſich wahrſcheinlich die dritte Klaſſe der Neſſelthiere, die eigenthümliche Abtheilung der Kammquallen (Ctenophora) entwickelt. Dieſe Quallen, welche oft auch Rippenquallen oder Gurkenquallen genannt werden, beſitzen einen gurkenförmigen Körper, welcher, gleich dem Körper der meiſten Schirmquallen, kryſtallhell und durchſichtig wie geſchliffenes Glas iſt. Ausgezeichnet find die Kammquallen oder Rippenquallen durch ihre eigenthümlichen Bewegungsorgane, nämlich acht Reihen von rudern— den Wimperblättchen, die wie acht Rippen von einem Ende der Längs— axe (vom Munde) zum entgegengeſetzten Ende verlaufen. Von den beiden Hauptabtheilungen derſelben haben ſich die Engmündigen (Stenostoma) wohl erſt ſpäter aus den Weitmündigen (Eury— stoma) entwickelt. Dieſe letzteren ſtammen wahrſcheinlich direkt von Schirmquallen ab. Indem wir nun den Stamm der Pflanzenthiere verlaſſen, wen— den wir uns zu demjenigen Stamme des Thierreichs, welcher in ge— nealogiſcher Beziehung die meiſten Schwierigkeiten darbietet. Das iſt das Phylum der Würmer (Vermes oder Helminthes). Wie ſchon vorher bemerkt, ſind dieſe Schwierigkeiten höchſt wahrſcheinlich zum größten Theil dadurch bedingt, daß dieſer Stamm die gemeinſame Ausgangsgruppe des ganzen Thierreichs iſt, und daß er eine Maſſe von divergenten Aeſten enthält, die ſich theils zu ganz ſelbſtſtän— digen Würmerklaſſen entwickelt, theils aber in die urſprünglichen Wurzelformen der übrigen Stämme des Thierreichs umgebildet ha— ben. Jeden der fünf übrigen Stämme konnten wir uns bildlich als einen hochſtämmigen Baum vorſtellen, deſſen Stamm uns in ſei— ner Verzweigung die verſchiedenen Klaſſen, Ordnungen, Familien u. ſ. w. repräſentirt. Das Phylum der Würmer dagegen können wir nicht in einem ſolchen Bilde darſtellen. Vielmehr würden wir uns daſſelbe als einen niedrigen Buſch oder Strauch zu denken haben, aus deſſen Wurzel eine Maſſe von ſelbſtſtändigen Zweigen nach verſchiede— nen Richtungen hin emporſchießen. Und wenn man annimmt, daß das ganze Thierreich in dem Würmerſtamm ſeine gemeinſame Wurzel Stamm der Würmer, 403 hat, fo würden die fünf übrigen Phylen als fünf einzelne Bäume zu denken ſein, die aus jenem dichten Buſche ſich erheben, nur an der Wurzel unter einander und mit den zahlreichen Wurzelſchößlingen (den Wurmklaſſen) zuſammenhängend. Die außerordentlichen Schwierigkeiten, welche die Syſtematik der Würmer ſchon aus dieſem Grunde darbietet, werden nun aber da— durch noch ſehr geſteigert, daß wir faſt gar keine verſteinerten Reſte von ihnen beſitzen. Die allermeiſten Würmer beſaßen und beſitzen noch heute einen ſo weichen Leib, daß ſie keine Spuren in den neptuniſchen Erdſchichten hinterlaſſen konnten. Auch die wenigen foſſilen Reſte von härteren Theilen, die wir von einigen Würmern beſitzen, ſind meiſtens ſo wenig charakteriſtiſch, daß ſie wenig mehr als die vormalige Exiſtenz von jetzt ausgeſtorbenen Würmern anzeigen. Wir ſind daher auch hier wieder vorzugsweiſe auf die Schöpfungsurkunden der On— togenie und der vergleichenden Anatomie angewieſen, wenn wir den äußerſt ſchwierigen Verſuch unternehmen wollen, in das Dunkel des Würmerſtammbaums einige hypothetiſche Streiflichter fallen zu laſſen (Gen. Morph. II, Taf. V, S. LXXVI—LXXXV). Die zahlreichen Klaſſen, welche man im Stamme der Würmer unterſcheiden kann, und welche faſt jeder Zoologe in anderer Weiſe nach ſeinen ſubjektiven Anſchauungen gruppirt, werden vielleicht am beſten dadurch überſichtlich, daß man dieſelben auf vier verſchiedene Hauptklaſſen vertheilt. Dieſe wollen wir als Urwürmer, Weichwür— mer, Sackwürmer und Gliedwürmer bezeichnen. Die Urwürmer enthalten, falls unſere einſtämmige Deſcendenzhypotheſe richtig iſt, jedenfalls die gemeinſamen Wurzelformen der übrigen Würmer, und wahrſcheinlich des ganzen Thierreichs. Die Weich würmer würden zum größten Theil ſelbſtſtändige Wurmgruppen umfaſſen, die ſich nicht zu höheren Thierſtämmen entwickelt haben. Dagegen würden zu den Sackwürmern die Stammformen der Weichthiere und Wirbel— thiere, zu den Gliedwürmern die Stammformen der Sternthiere und Gliedfüßer gehören. Die vier Hauptklaſſen der Würmer kann man in nachſtehende 22 Ordnungen eintheilen. 26 404 Syſtematiſche Ueberficht der 4 Hauptklaſſen, 8 Klaſſen und 22 Ordnungen des Würmerſtammes. (Vergl. Gen. Morph. II, Taf. V, S. LXXVI-LXXXV.) Hauptklaſſen des Klaſſen des Ordnungen des Würmerſtammes Würmerſtammes Würmerſtammes EN; 1. Urinfuſorien 3 1. Infuſions⸗ I. urmer z : nie thiere nnn Archelminthes Tas bra jorien 3. Starrinfuſorien 4. Strudelwürmer 5. Saugwürmer 2. Platt⸗ 3 a - 6. Bandwürmer würmer 5 1 II. Weichwürmer | Platyelminthes 0 f 5 8. Krallenwürmer 9 9. Schnurwürmer 3. Rund⸗ 10. Pfeilwürmer würmer 11. Fadenwürmer Nematelminthes| 12, Kratzwürmer 13. Mosthiere ohne 4. Mosthiere Kragen III. Sackwürmer Bryozoa 14, Mosthiere mit Kragen 5. Mantelthiere (15. Seeſcheiden Tu ni cat a 16. Seetonnen 17. Borſtenloſe 6. Stern⸗ Sternwürmer e 18. Borſtentragende Gephyrea Sternwürmer IV. Gliedwürmer 7. Ringel⸗ 19. Kahlwürmer Colelminthes w ü rmer 20. Borſtenwürmer FREE 21. Bärwürmer 8. Räder⸗ 8 5 wür mer 22. Räderthiere Rotatoria Syſtematiſcher Name der Würmerordnungen 1. Archezoa Ciliata . Acinetae . Turbellaria 5 ac . Cestoda . Hirudinea . Onychophora . Nemertina . Chaetognathi 11. Nematoda 12 Acanthocephala 13. 14. 15. 16. 17: 18. 19. 20. 21. 22. Gymnolaema Phylactolaema Chthonaseidiae Nectaseidiae Sipuneulida Echiurida Drilomorpha Chaetopoda Arctisca Rotifera Urwürmer oder Infuſionsthiere. 405 In der Hauptklaſſe der Urwürmer (Archelminthes) vereini⸗ gen wir diejenigen Thiere, welche jetzt gewöhnlich Infuſions— thiere (Infusoria) im engeren Sinne genannt werden, mit den— jenigen niederſten Wurzelformen des Stammes, aus denen ſich die letzteren erſt entwickelt haben können. Dieſe hypothetiſchen Wurzel- formen würden wir den eigentlichen Infuſorien (Ciliaten und Acineten) unter dem Namen der Urinfuſorien oder Urahnthiere (Ar- chezoa) gegenüberſtellen können. Als ſolche Archezoen, die alſo mög— licherweiſe die älteſten gemeinſamen Urſprungsformen des ganzen Thier— reichs find, wären zu betrachten: 1) die durch Urzeugung entſtandenen Moneren, welche in der älteſten antelaurentiſchen Zeit den Grund zum Thierreich, und zunächſt zum Würmerſtamm legten; 2) diejenigen Amöben, d. h. diejenigen ganz einfachen, nackten, beweglichen Ur— zellen, die ſich aus jenen Moneren durch Differenzirung des centralen Kerns und des peripheriſchen Plasma entwickelten; 3) die einfachſten vielzelligen Würmer, welche dadurch entſtanden, daß mehrere von jenen Amöben ſich zur Bildung einer Colonie vereinigten, und nun durch Arbeitstheilung weiter entwickelten. An dieſe letzteren würden ſich die echten Infuſorien unmittelbar anſchließen. Möglicherweiſe leben noch heutzutage einige niederſte Organismen, welche wahre Archezoen ſind, nämlich gewiſſe Amoeben und die ſchmarotzenden Gre— garinen. Vorſichtiger iſt es aber jedenfalls, dieſe vorläufig als Pro— tiſten anzuſehen, da uns ihre Abſtammung unbekannt iſt. Als Infuſionsthiere (Infusoria) im engeren Sinne werden heutzutage gewöhnlich nur die beiden Abtheilungen der Wimper— in fuſorien (Ciliata) und der Starrinfuſorien (Acinetae) bezeichnet. Die meiſten hierher gehörigen Thiere ſind ſo klein, daß man fie mit bloßem Auge nicht ſehen, und erſt mit Hülfe ſtarker Ver— größerungen ihre eigentliche Organiſation erkennen kann. Gleich den meiſten Protiſten erſetzen ſie aber durch Maſſe der Individuen, was ihnen an Körpergröße abgeht, und bevölkern das Meer und die ſüßen Gewäſſer in erſtaunlichen Mengen. Vorzüglich gilt das von den Wim— perinfuſorien, welche die Hauptmaſſe der heutigen Infuſionsthiere 406 Weichwürmer oder Scoleeiden. bilden. Ihren Namen führt dieſe ganze Gruppe von dem charakte— riſtiſchen Wimperkleid, welches den ganzen Körper oder einen Theil deſſelben bedeckt, und mittelſt deſſen ſie ſich lebhaft umherbewegen. Die Starrinfuſorien dagegen ſind wimperlos und ſitzen unbeweglich feſt; nur in früheſter Jugend ſchwimmen ſie mittelſt eines vergäng— lichen Wimperkleides frei umher und ſind dann von den Wimperthieren nicht zu unterſcheiden. Unter den Wimperthieren ſchließen ſich einige Formen unmittelbar an die früheſten Jugendzuſtände der Pflanzen— thiere, andere an diejenigen der übrigen Würmer, der Sternthiere und der Weichthiere an. Einige Wimperthiere bilden den Uebergang zu den Strudelwürmern, andere zu den Räderthieren, noch andere zu verſchiedenen anderen Würmergruppen. In allen dieſen Verhält- niſſen zuſammengenommen finden wir genügenden Grund, die be— wimperten Infuſorien (natürlich nicht die jetzt lebenden, ſon— dern längſt ausgeſtorbene Formen) als diejenigen Urwürmer zu betrachten, aus denen ſich die übrigen Thierſtämme direct oder indirect entwickelt haben. Zunächſt an die Urwürmer ſchließt ſich von den übrigen Wür- mern die zweite Hauptklaſſe an, die Weich würmer (Scolecida). Wir verſtehen darunter die beiden tiefſtehenden Klaſſen der Platt- würmer oder Platyelminthen und der Rundwürmer oder Nematel— minthen. Die Klaſſe der Plattwürmer (Platyelminthes) führt ihren Namen von der blattförmigen Körpergeſtalt, die vom Rücken nach der Bauchſeite ſtark zuſammengedrückt iſt. Die wahrſcheinlichen Stammformen der ganzen Klaſſe find die Strudel würmer (Tur- bellaria), welche ſich ſowohl durch ihr Wimperkleid als durch ihre innere Organiſation unmittelbar an die bewimperten Urwürmer oder Ciliaten anſchließen. Aus den frei im Waſſer lebenden Strudelwürmern ſind durch Anpaſſung an paraſitiſche Lebensweiſe die ſchmarotzenden Saug— würmer (Trematoda) entſtanden, und aus dieſen durch weiter ge— henden Paraſitismus die Bandwürmer (Cestoda). Andrerſeits ha- ben ſich vielleicht aus den Saugwürmern die Egel (Hirudinea) ent- wickelt, zu denen unſer gewöhnlicher Blutegel gehört. Dieſen vielleicht Sackwürmer oder Himategen. 407 verwandt ſind die Krallenwürmer (Onychophora). Als ein beſonderer Zweig iſt aus den Strudelwürmern die nahverwandte Gruppe der langen Schnurwürmer (Nemertina) hervorgegangen, welche größtentheils im Meere leben und wahrſcheinlich die Stamm— eltern der Ringelwürmer ſind. Die Run dwürmer (Nematelminthes), die zweite Klaſſe der Weichwürmer, unterſcheidet ſich von der erſten Klaſſe, den Platt— würmern, durch ihre drehrunde oder eylindriſche, nicht plattgedrückte Körpergeſtalt. Gleich vielen Plattwürmern ſind auch die meiſten Rund— würmer Schmarotzer, welche im Inneren anderer Thiere paraſitiſch leben. Frei im Meere lebend findet ſich die eigenthümliche Gruppe der Pfeilwürmer (Chaetognathi oder Sagittae). Aus Rundwürmern, welche dieſen wahrſcheinlich ſehr nahe ſtanden, haben ſich durch An— paſſung an paraſitiſche Lebensweiſe die Fadenwürmer (Nema- toda) entwickelt, zu denen unter anderen die gemeinen Spulwürmer, die berühmten Trichinen, Medinawürmer und viele andere Schma— rotzer des Menſchen gehören. Noch weiter entartete Paraſiten dieſer Klaſſe ſind die mit einem Hakenrüſſel verſehenen Kratzwürmer (Acanthocephala oder Echinorhynchi). Wahrſcheinlich iſt die ge— meinſame Stammform aller dieſer Rundwürmer ein unbekannter Wurm, welcher ſich aus einem Zweige der Plattwürmer entwickelt hat. Eine ganz eigenthümliche und ſehr merkwürdige Aſtgruppe des Würmerſtammes bildet die dritte Hauptklaſſe, die Sackwürmer (Himatega). Wir faſſen unter dieſer Bezeichnung die beiden Klaſſen der Mosthiere oder Bryozoen und der Mantelthiere oder Tunikaten zuſammen. Bisher ſtellte man dieſe beiden Thierklaſſen im zoologi— ſchen Syſteme gewöhnlich zu dem Stamme der Weichthiere oder Mollusken und ſetzte ſie hier den echten Weichthieren (Muſcheln, Schnecken u. ſ. w.) als Weichthierartige (Molluscoida) gegen— über. Dieſe Auffaſſung läßt ſich dadurch rechtfertigen, daß allerdings die echten Weichthiere wahrſcheinlich von denſelben abſtammen, und zwar von den Mosthieren. Allein andrerſeits erſcheinen die Mantel— thiere näher mit den Wirbelthieren verwandt, und aus dieſem Grunde 408 Mosthiere oder Bryozoen. dürfte es wohl das Beſte ſein, beide Klaſſen wieder in die vielgeſtal— tige Würmergruppe zurückzuſtellen, und als verbindende Zwiſchen— formen zwiſchen den niederen Würmern einerſeits und den Mollusken und Wirbelthieren andrerſeits aufzufaſſen. So wenig es paſſend ſein würde, die Mantelthiere auf Grund ihrer offenbaren Blutsverwandt— haft mit den Wirbelthieren gradezu im Syſtem zu vereinigen, fo wenig vortheilhaft iſt es auch für die ſyſtematiſche Auffaſſung, wenn man die Mosthiere mit den echten Weichthieren vereinigt. Wie die bei— den Klaſſen der Sackwürmer übrigens eigentlich untereinander mit den niederen Würmern zuſammenhängen, iſt uns heutzutage noch ſehr un— klar, obwohl an ihrer Abſtammung von niederen Würmern lentweder von Weichwürmern oder direct von Urwürmern) nicht zu zweifeln iſt. Die Klaſſe der Mosthiere (Bryozoa) enthält ſehr kleine, zier— liche Würmer, welche in Form mosähnlicher Bäumchen oder Polſter auf Steinen und anderen Gegenſtänden im Meere (ſelten im ſüßen Waſſer) feſtſitzen. Früher wurden dieſelben gewöhnlich zu den Pflan— zenthieren gerechnet, und in der That ſind ſie manchen von dieſen ſehr ähnlich. Insbeſondere gleichen ſie den Hydroidpolypen durch ihre äußere Form, durch einen Fühlerkranz, welcher den Mund umgiebt, und durch die Art und Weiſe, in welcher zahlreiche Individuen zu baumförmigen und rindenförmigen Colonien vereinigt leben. Allein durch ihre innere Organiſation ſind die Mosthiere ganz von den Pflan— zenthieren verſchieden und ſchließen ſich vielmehr einerſeits den niederen Würmern, andrerſeits den niederſten Weichthieren, den Spiralkiemern oder Spirobranchien an. Namentlich ſind die Jugendformen der letz— teren den Mosthieren ſehr ähnlich, und hierauf vorzüglich, ſowie auch auf ihre anatomiſche Verwandtſchaft gründet ſich die Vermuthung, daß die Mosthiere nächſte Verwandte derjenigen ausgeſtorbenen Würmer ſind, aus denen ſich der Stamm der Mollusken, und zwar zunächſt die Armkiemer, entwickelten. Von den beiden Hauptabtheilungen der Mosthiere ſtehen die höheren, diejenigen mit einem Kragen (Phylac- tolaema), den Armkiemern näher, als die niederen Mosthiere, ohne Kragen (Gymnolaema). 6 Mantelthiere oder Tunikaten. 409 In ganz ähnlicher Beziehung wie die Mosthiere zu den Weich— thieren, ſteht die zweite Klaſſe der Sackwürmer, die Mantelthiere (Tunicata), zu den Wirbelthieren. Dieſe höchſt merkwürdige Thier— klaſſe lebt im Meere, wo die einen (die Seeſcheiden oder Chthonasci— dien) auf dem Boden feſtſitzen, die anderen (die Seetonnen oder Nektascidien) frei umherſchwimmen. Bei allen beſitzt der ungegliederte Körper die Geſtalt eines einfachen tonnenförmigen Sackes, welcher von einem dicken knorpelähnlichen Mantel eng umſchloſſen iſt. Dieſer Mantel befteht aus derſelben ſtickſtoffloſen Kohlenſtoffverbindung, welche im Pflanzenreich als „Celluloſe“ eine ſo große Rolle ſpielt und den größten Theil der pflanzlichen Zellmembranen und ſomit auch des Holzes bildet. Gewöhnlich beſitzt der tonnenförmige Körper keinerlei äußere Anhänge. Niemand würde darin irgend eine Spur von Ver— wandtſchaft mit den hoch differenzirten Wirbelthieren erkennen. Und doch kann dieſe nicht mehr zweifelhaft ſein, ſeitdem vor zwei Jahren die Unterſuchungen von Kowalewsky plötzlich darüber ein höchſt überraſchendes und merkwürdiges Licht verbreitet haben. Aus dieſen hat ſich nämlich ergeben, daß die individuelle Entwickelung der feſt— ſitzenden einfachen Seeſcheiden (Ascidia, Phallusia) in den wichtigſten Beziehungen mit derjenigen des niederſten Wirbelthieres, des Lanzet— thieres (Amphioxus lanceolatus) übereinſtimmt. Insbeſondere be— ſitzen die Jugendzuſtände der Ascidien die Anlage des Rückenmarks und des darunter gelegenen Rückenſtrangs (Chorda dorsalis) d. h. die beiden wichtigſten und am meiſten charakteriſtiſchen Organe des Wirbelthierkörpers. Unter allen uns bekannten wirbelloſen Thieren beſitzen demnach die Mantelthiere zweifelsohne die nächſte Blutsverwandtſchaft mit den Wirbelthieren, und ſind als nächſte Verwandte derjenigen Würmer zu betrachten, aus denen ſich dieſer letztere Stamm entwickelt hat. Die vierte und letzte Hauptklaſſe des Würmerſtammes, die der Gliedwürmer (Colelminthes) zeichnet ſich vor den drei übrigen Klaſſen durch die deutliche Gliederung des Körpers aus, d. h. durch die Zuſammenſetzung deſſelben aus mehreren, in der Längsaxe hinter 410 Gliedwürmer oder Kolelminthen. einander gelegenen Abſchnitten, den Gliedern, Segmenten oder Folge— ſtücken (Metameren). Wir unterſcheiden in dieſer Hauptklaſſe die drei Klaſſen der Sternwürmer, Ringelwürmer und Räderthiere. Die Stern würmer (Gephyrea) find langgeſtreckte, dreh— runde oder walzenförmige Würmer, bei denen die Körpergliederung, äußerlich wenigſtens, erſt ſehr undeutlich ausgeſprochen iſt. Sie leben alle auf dem Boden des Meeres, entweder im Sand oder Schlamm vergraben, oder in Löchern, welche ſie in die Felſen bohren. An ſich ſind die Sternwürmer von keinem beſonderen Intereſſe, wohl aber da— durch, daß fie wahrſcheinlich die nächſten Verwandten der Panzer- würmer oder Phraktelminthen ſind, d. h. derjenigen gegliederten Wür— mer, aus denen ſich der Stamm der Echinodermen entwickelt hat. Die zweite Klaſſe der Gliedwürmer bildet die umfangreiche Ab— theilung der Ringelwürmer (Annelida). Dahin gehören einer- ſeits die nackten Regenwürmer und ihre Verwandten, welche wir als Kahlwürmer (Drilomorpha) zuſammenfaſſen, andrerſeits die mit Borſten bewaffneten Borſtenwürmer (Chaetopoda), die im Meere frei umherkriechenden Raubwürmer (Vagantia), die in Röhren ver⸗ ſteckten Röhrenwürmer (Tubicolae) und die frei ſchwimmenden Ruder— würmer (Gymnocopa). Endlich kann man als eine dritte Ordnung mit den Ringelwürmern auch die Bärwürmer (Arctisca) verei— nigen, kleine im Moſe, auf Baumrinden u. ſ. w. ſehr häufige Würmer, welche wegen ihrer acht Beinſtummel gewöhnlich (aber wohl mit Un— recht) zu den Spinnen gerechnet werden. Die meiſten Ringelwürmer erreichen einen höheren Organiſationsgrad als die übrigen Würmer, und entwickeln den eigentlichen Wurmtypus zu ſeiner höchſten Ausbil— dung. Viele ſchließen ſich dadurch bereits unmittelbar an den Stamm der Gliedfüßer oder Arthropoden an, und es iſt möglich, daß dieſer wirklich von ausgeſtorbenen Ringelwürmern abſtammt. Wahrſchein⸗ licher jedoch iſt es, daß er ſich aus der dritten Klaſſe der Gliedwürmer, aus den Räderthieren entwickelt hat. Die Räderthiere oder Räderwürmer (Rotatoria oder Rotifera) gehören zu denjenigen Klaſſen des Thierreichs, deren ſyſte— Stamm der Weichthiere oder Mollusken. 411 matiſche Stellung den Zoologen von jeher die größten Schwierigkeiten bereitet hat. Meiſt find es ganz kleine, nur durch das Mikroſkop er— kennbare Thierchen, welche mittelſt eines beſonderen, wimpernden Rä— derorgans im Waſſer umherſchwimmen; ſelten ſitzen ſie feſtgewachſen auf Waſſerpflanzen und dergleichen auf. Einerſeits ſchließen ſie ſich durch ihre niederſten Formen unmittelbar den Weichwürmern und zwar den Strudelwürmern (in mancher Beziehung auch den Bärwürmern) an. Andrerſeits bilden ſie in ihren höchſt entwickelten Formen bereits den Uebergang zu den Gliedfüßern (Arthropoda). Aller Wahrſcheinlich— keit nach haben ſich dieſe letzteren, und zwar zunächſt krebsartige Thiere (Nauplius) aus Würmern entwickelt, welche von den heutigen Räder— thieren im Syſteme kaum zu trennen waren. Indem wir nun aus der buntgemiſchten Geſellſchaft des vielge— ſtaltigen Würmerſtammes heraustreten, wollen wir nach einander noch kurz die vier höheren Stämme des Thierreichs betrachten, die ſich aus verſchiedenen Zweigen des erſteren entwickelt haben, die Weich— thiere, Sternthiere, Gliedfüßer und Wirbelthiere. Unzweifelhaft der tiefſtſtehende von dieſen Stämmen, wenigſtens in Bezug auf die mor— phologiſche Ausbildung, iſt der Stamm der Weichthiere (Mollusca). Nirgends begegnen wir hier der charakteriſtiſchen Gliederung (Artiku— lation oder Metamerenbildung) des Körpers, welche ſchon die Glied— würmer auszeichnete, und welche bei den übrigen drei Stämmen, den Sternthieren, Gliedfüßern und Wirbelthieren, die weſentlichſte Urſache der höheren Formentwickelung, Differenzirung und Vervollkommnung wird. Vielmehr ſtellt bei allen Weichthieren, bei allen Muſcheln, Schnecken u. ſ. w. der ganze Körper einen einfachen ungegliederten Sack dar, in deſſen Höhle die Eingeweide liegen. Das Nervenſyſtem beſteht aus mehreren einzelnen (gewöhnlich drei), nur locker mit ein— ander verbundenen Knotenpaaren, und nicht aus einem gegliederten Strang, wie bei den Sternthieren, Gliedfüßern und Wirbelthieren. Aus dieſen und vielen anderen anatomiſchen Gründen halte ich den Weichthierſtamm (trotz der höheren phyſiologiſchen Aus— 412 Kopfloſe und kopftragende Weichthiere. bildung feiner vollkommenſten Formen) für den morphologiſch niederſten unter den vier höheren Thierſtämmen. Wenn wir die Himategen oder Molluscoiden, die gewöhnlich mit dem Weichthierſtamm vereinigt werden, aus den angeführten Gründen ausſchließen, ſo behalten wir als echte Mollusken folgende vier Klaſſen: die Spiralkiemer, Blattkiemer, Schnecken und Pulpen. Die beiden niederen Molluskenklaſſen, Spiralkiemer und Blattkiemer, beſitzen weder Kopf noch Zähne, und man kann ſie daher als Kopf— loſe (Acephala) oder Zahnloſe (Anodontoda) in einer Haupt: klaſſe vereinigen. Dieſe Hauptklaſſe wird auch häufig als die der Muſcheln (Conchifera) oder Zweiklappigen (Bivalva) bezeich- net, weil alle Mitglieder derſelben eine zweiklappige Kalkſchale beſitzen. Den Mufcheln oder Kopfloſen gegenüber kann man die beiden höheren Weichthierklaſſen, Schnecken und Pulpen, als Kopfträger (Euce- phala) oder Zahnträger (Odontophora) in einer zweiten Haupt⸗ klaſſe zuſammenfaſſen, weil ſowohl Kopf als Zähne bei ihnen ausge— bildet ſind. Bei der großen Mehrzahl der Weichthiere ift der weiche ſackförmige Körper von einer Kalkſchale oder einem Kalkgehäuſe geſchützt, welches bei den Muſcheln (ſowohl Spiralkiemern als Blattkiemern) aus zwei Klappen, bei den Kopfträgern dagegen (Schnecken und Pulpen) aus einer meiſt gewundenen Röhre (dem ſogenannten „Schneckenhaus“) beſteht. Trotzdem dieſe harten Skelete maſſenhaft in allen neptuniſchen Schichten ſich verſteinert finden, ſagen uns dieſelben dennoch nur ſehr wenig über die geſchichtliche Entwickelung des Stammes aus. Denn dieſe fällt größtentheils in die Primordialzeit. Selbſt ſchon in den ſiluriſchen Schichten finden wir alle vier Klaſſen der Weichthiere neben einander verſteinert vor, und dies beweiſt deutlich, in Uebereinſtimmung mit vielen anderen Zeugniſſen, daß der Weichthierſtamm damals ſchon eine mächtige Ausbildung erreicht hatte, als die höheren Stämme, namentlich Gliedfüßer und Wirbelthiere, kaum über den Beginn ihrer hiſtoriſchen Entwickelung hinaus waren. In den darauf folgenden Zeitaltern, beſonders zunächſt im primären und weiterhin im ſecundären Geſchichte des Weichthierſtammes. 413 Zeitraum, dehnten ſich dieſe höheren Stämme mehr und mehr auf Ko— ſten der Mollusken und Würmer aus, welche ihnen im Kampfe um das Daſein nicht gewachſen waren, und dem entſprechend mehr und mehr abnahmen. Die jetzt noch lebenden Weichthiere und Würmer ſind nur als ein verhältnißmäßig ſchwacher Reſt von der mächtigen Fauna zu betrachten, welche in primordialer und primärer Zeit über die anderen Stämme ganz überwiegend herrſchte. (Vergl. Taf. III und IV nebſt Erklärung). In keinem Thierſtamm zeigt ſich deutlicher, als in dem der Mollus— ken, wie verſchieden der Werth iſt, welchen die Verſteinerungen für die Geologie und für die Phylogenie beſitzen. Für die Geologie ſind die verſchiedenen Arten der verſteinerten Weichthierſchalen von der größten Bedeutung, weil dieſelben als „Leitmuſcheln“ vortreffliche Dienſte zur Charakteriſtik der verſchiedenen Schichtengruppen und ihres relativen Alters leiſten. Für die Genealogie der Mollusken dagegen beſitzen ſie nur ſehr geringen Werth, weil ſie einerſeits Körpertheile von ganz untergeordneter morphologiſcher Bedeutung ſind, und weil anderer— ſeits die eigentliche Entwickelung des Stammes in die ältere Primor— dialzeit fällt, aus welcher uns keine deutlichen Verſteinerungen er— halten ſind. Wenn wir daher den Stammbaum der Mollusken conſtruiren wollen, ſo ſind wir vorzugsweiſe auf die Urkunden der Ontogenie und der vergleichenden Anatomie angewieſen, aus denen ſich etwa Folgendes ergiebt. (Gen. Morph. II, Taf. VI, S. CI bis (XVI. Von den vier uns bekannten Klaſſen der echten Weichthiere ſtehen auf der niederſten Stufe die in der Tiefe des Meeres feſtgewachſenen Spiralkiemer (Spirobranchia), ft auch unpaſſend als Arm— füßer (Brachiopoda) bezeichnet. Von dieſer Klaſſe leben gegen— wärtig nur noch wenige Formen, einige Arten von Lingula, Tere— bratula und Verwandte; ſchwache Ueberbleibſel von der mächtigen und formenreichen Gruppe, welche die Spiralkiemer in älteren Zeiten der Erdgeſchichte darſtellten. In der Silurzeit bildeten fie die Haupt— maſſe des ganzen Weichthierſtammes. Aus der Uebereinſtimmung \ 414 Die vier Klaſſen des Weichthierſtammes. ihrer Jugendzuſtände mit denjenigen der Mosthiere ſchließen wir, daß ſie ſich aus dieſer Klaſſe der Sackwürmer entwickelt haben. Die zweite Weichthierklaſſe, die Blattkiemer (Elatobranchia oder Lamellibranchia) beſitzen gleich den Spiralkiemern eine zwei— klappige Schale. Es gehören hierher die meiſten jetzt lebenden Muſchel— thiere des Meeres und die wenigen Muſcheln unferer ſüßen Gewäſſer (Unio, Anodonta, Cyclas). Obwohl noch ohne Kopf und Gebiß, gleich den Spiralkiemern, ſind ſie doch im Uebrigen höher als dieſe organiſirt und haben ſich wahrſcheinlich erſt fpäter aus einem Zweige jener Klaſſe entwickelt. Von den kopftragenden Weichthieren ſtehen den kopfloſen Mu— ſcheln am nächſten die Schnecken (Cochlides oder Cephalophora), von denen wiederum die große Mehrzahl im Meere lebt, nur wenige im ſüßen Waſſer, oder luftathmend auf dem Lande. Durch die Stummelköpfe (Perocephala) find die höher entwickelten Kopf— ſchnecken (Delocephala) unmittelbar mit den Blattkiemern ver- bunden, von denen ſie ſich wahrſcheinlich ſchon in früher Primordial— zeit abgezweigt haben. Die vierte und letzte, und zugleich die höchſt entwickelte Klaſſe der Mollusken bilden die Pulpen, auch Tintenfiſche oder Kopf— füßer genannt (Cephalopoda). Die Pulpen, welche noch jetzt in unſeren Meeren leben, die Sepien, Kalmare, Argonautenboote und Perlboote, ſind gleich den wenigen Spiralkiemern der Gegenwart nur dürftige Reſte von der formenreichen Schaar, welche dieſe Klaſſe in den Meeren der primordialen, primären und ſecundären Zeit bildete. Die zahlreichen verſteinerten Ammonshörner (Ammonites), Perlboote (Nautilida) und Donnerkeile (Belemnites) legen noch heutzutage von jenem längſt erloſchenen Glanze des Stammes Zeugniß ab. Wahrſcheinlich haben ſich die Pulpen aus einem niederen Zweige der Schneckenklaſſe, aus den Flügelſchnecken (Pteropoden) oder Ver— wandten derſelben entwickelt. Die verſchiedenen Unterklaſſen, Legionen und Ordnungen, welche man in den vier Molluskenklaſſen unterſcheidet, und deren ſyſtemati⸗ 415 Syſtematiſche Ueberſicht der 4 Klaſſen, k 8 Unterklaſſen und 17 Ordnungen der Weichthiere. Klaſſen der Unterklaſſen der Ordnungen der 51 105 Weichthiere Weichthiere Weichthiere Ordnungen I. Weichthiere ohne Kopf und ohne Zähne: Acephala oder Anodontoda. I. Armfüßer | 1. Zungenmuſcheln 1. Ecardines Brachiopoda 2. Angelmuſcheln 2. Testicardines I. Spiralkiemer Spirobranchia f oder II. n g Brachiopoda muſcheln 3. Bockshornmuſcheln 3. Endocardines Rudista II. Blattkiemer nie Peleceypoda (5. Buchtmuſcheln 5. Sinupalliata IV. Röhren⸗ vn muſchel 6. Bohrmuſchel 6. Pholad 8 - acea Lamellibranchia AR i 8 7 Beilfüßer je Mantelmuſcheln 4. Integripalliata In clus a II. Weichthiere mit Kopf und mit Zähnen: Eucephala oder Odontophora. N. ao l \ 7. Schaufelſchnecken 7. Scaphopoda 8 b 5 . Wr | 8. Floſſenſchnecken 8. Pteropoda HI. Schnecken 9. Hinterkiemer 9. Opisthobranchia Cochlides VI. Kopf⸗ 10. Vorderkiemer 10. Prosobranchia ſchnecken 11. Kielſchnecken 11. Heteropoda Delocephala 12. Käferſchnecken 12. Chitonida 3. Lungenſchnecken 13. Pulmonata VII. Kammer⸗ pulpen 14. Perlboote 14. Nautilida (Vierkiemige) 315. Ammonsboote 15. Ammonitida IV. Pulpen Tetrabranchia Cephalopoda VII. Tinten⸗ pulpen 16. 5 16. Decabrachiones (Zweikiemige) )17. Achtarmige 17. Octobrachiones Dibranchia | 416 Stamm der Sternthiere oder Echinodermen. ſche Reihenfolge Ihnen die vorſtehende Tabelle anführt, liefern in ihrer hiſtoriſchen und ihrer entſprechenden ſyſtematiſchen Entwickelung man⸗ nichfache Beweiſe für die Gültigkeit des Fortſchrittsgeſetzes. Da je— doch dieſe untergeordneten Molluskengruppen an ſich weiter von keinem beſonderen Intereſſe ſind, verweiſe ich Sie auf den ausführlicheren Stammbaum der Weichthiere, welchen ich in meiner generellen Mor- phologie gegeben habe, und wende mich ſogleich weiter zur Betrach— tung des Sternthierſtammes. Die Sternthiere (Echinoderma), zu welchen die vier Klaſſen der Seeſterne, Seelilien, Seeigel und Seewalzen gehören, find eine der intereſſanteſten, und dennoch eine der wenigſt bekannten Abthei— lungen des Thierreichs. Jeder von Ihnen, der einmal an der See war, wird wenigſtens zwei Formen derſelben, die Seeſterne und See— igel, geſehen haben. Wegen ihrer ſehr eigenthümlichen Organiſation find die Sternthiere als ein ganz ſelbſtſtändiger Stamm des Thier⸗ reichs zu betrachten, und namentlich gänzlich von den Pflanzenthieren oder Cölenteraten zu trennen, mit denen ſie noch jetzt oft irrthümlich als Strahlthiere oder Radiaten zuſammengefaßt werden (ſo z. B. von Agaſſiz, welcher auch diefen Irrthum Cuvier's neben manchen an- deren noch heute vertheidigt). Eher als mit den Pflanzenthieren könnte man die Sternthiere mit den Würmern oder ſelbſt mit den Glied— füßern vereinigen. Alle Echinodermen ſind ausgezeichnet und zugleich von allen an— deren Thieren verſchieden durch einen ſehr merkwürdigen Bewegungs— apparat. Dieſer beſteht in einem verwickelten Syſtem von Canälen oder Röhren, die von außen mit Seewaſſer gefüllt werden. Das Seewaſſer wird in dieſer Waſſerleitung theils durch ſchlagende Wim— perhaare, theils durch Zuſammenziehungen der muskulöſen Röhren— wände ſelbſt, die Gummiſchläuchen vergleichbar ſind, fortbewegt. Aus den Röhren wird das Waſſer in ſehr zahlreiche hohle Füßchen hinein gepreßt, welche dadurch prall ausgedehnt und nun zum Ge- hen und zum Anſaugen benutzt werden. Außerdem ſind die Stern— thiere auch durch eine eigenthümliche Verkalkung der Haut ausgezeichnet Entftehung der Sternthiere aus Stöcken von Gliedwürmern. 417 welche bei den meiſten zur Bildung eines feſten, geſchloſſenen, aus vie— len Platten zuſammengeſetzten Panzers führt. Bei faſt allen Echino— dermen iſt der Körper aus fünf Strahltheilen (Gegenſtücken oder An— timeren) zuſammengeſetzt, welche rings um die Hauptaxe des Körpers ſternförmig herum ſtehen und ſich in dieſer Axe berühren. Nur bei einigen Seeſternarten ſteigt die Zahl dieſer Strahltheile über fünf hinaus, auf 6— 9, 10 — 12, oder ſelbſt 20 — 40; und in dieſem Falle iſt die Zahl der Strahltheile bei den verſchiedenen Individuen der Spe— cies meiſt nicht beſtändig, ſondern wechſelnd. Die geſchichtliche Entwickelung und der Stammbaum der Echi— nodermen werden uns durch ihre zahlreichen und meiſt vortrefflich er— haltenen Verſteinerungen, durch ihre ſehr merkwürdige individuelle Entwickelungsgeſchichte und durch ihre intereſſante vergleichende Ana— tomie ſo vollſtändig enthüllt, wie es außerdem bei keinem anderen Thierſtamme, ſelbſt die Wirbelthiere vielleicht nicht ausgenommen, der Fall iſt. Durch eine kritiſche Benutzung jener drei Archive und eine denkende Vergleichung ihrer Reſultate gelangen wir zu folgender Ge— nealogie der Sternthiere, die ich in meiner generellen Morphologie begründet habe (Gen. Morph. II, Taf. IV. S. LXIL— LXXVII). Die älteſte und urſprünglichſte Gruppe der Sternthiere, die Stammform des ganzen Phylum, iſt die Klaſſe der Seeſterne (Aste— rida). Dafür ſpricht außer zahlreichen und wichtigen Beweisgrün— den der Anatomie und Entwickelungsgeſchichte vor allen die hier noch unbeſtändige und wechſelnde Zahl der Strahltheile oder Antimeren, welche bei allen übrigen Echinodermen ausnahmslos auf fünf fixirt iſt. Jeder Seeſtern beſteht aus einer mittleren kleinen Körperſcheibe, an deren Umkreis in einer Ebene fünf oder mehr lange gegliederte Arme befeſtigt ſind. Jeder Arm des Seeſterns entſpricht in ſeiner ganzen Organiſation weſentlich einem geglie— derten Wurme aus der Hauptklaſſe der Gliedwürmer oder Col— elminthen. Ich betrachte daher den Seeſtern als einen echten Stock oder Cormus von fünf oder mehr gegliederten Würmern, welche mit dem einen Ende ihres Körpers verwachſen ſind. Haeckel, Natürliche Schöpfungsgeſchichte. 27 418 Entſtehung der Seeſterne aus Stöcken von Gliedwürmern. Hier haben ſie ſich eine gemeinſchaftliche Mundöffnung und eine ge— meinſame Verdauungshöhle (Magen) gebildet, die in der mittleren Körperſcheibe liegen. Das verwachſene Ende, welches in die ge— meinſame Mittelſcheibe mündet, iſt wahrſcheinlich das Hinterende der urſprünglichen ſelbſtſtändigen Würmer; denn das entgegengeſetzte freie Ende trägt zuſammengeſetzte Augen, wie ſie außerdem nur noch an dem Kopfe der Gliedfüßer (Arthropoden) vorkommen. In ganz ähnlicher Weiſe ſind auch bei den ungegliederten Wür— mern bisweilen mehrere Individuen zur Bildung eines ſternförmigen Stockes vereinigt. Das iſt namentlich bei den Botrylliden der Fall, zuſammengeſetzten Seeſcheiden oder Aſeidien, welche zur Klaſſe der Mantelthiere (Tunicaten) gehören. Auch hier ſind die einzelnen Würmer mit ihrem hinteren Ende, wie ein Rattenkönig, verwachſen, und haben ſich hier eine gemeinſame Auswurfsöffnung, eine Gentral- kloake gebildet, während am vorderen Ende noch jeder Wurm ſeine eigene Mundöffnung beſitzt. Bei den Seeſternen würde die letztere im Laufe der hiſtoriſchen Stockentwickelung zugewachſen ſein, während ſich die Centralkloake zu einem gemeinſamen Mund für den ganzen Stock ausbildete. Die Seeſterne würden demnach Würmerſtöcke ſein, welche ſich entweder durch ſternförmige Knospenbildung oder durch ſternförmige Verwachſung aus echten gegliederten Würmern oder Colelminthen entwickelt haben. Dieſe Hypotheſe wird auf das Stärkſte durch die vergleichende Anatomie und Ontogenie der gegliederten Seeſterne (Colastra) und der gegliederten Würmer (Colelminthes) geſtützt. Unter den letzteren ſtehen in Bezug auf den inneren Bau einerſeits die Sternwürmer (Gephyrea), andrerſeits die Ringelwürmer (Annelida) den einzelnen Armen oder Strahltheilen der Seeſterne, d. h. den urſprünglichen Einzelwürmern, ganz nahe. Was aber das Wichtigſte iſt, aus den Eiern der Echinodermen entwickeln ſich be— wimperte Larven, welche nicht die geringſte Aehnlichkeit mit den erwach— ſenen Sternthieren zeigen, dagegen den Larven gewiſſer Sternwürmer und mancher Ringelwürmer höchſt ähnlich ſind. Dieſe bilateral-fym- Panzerwürmer (Phraktelminthen) und Seeſterne (Aſteriden). 419 metriſchen Larven, welche keine Spur von der regulär-ſtrahligen Stern- form des erwachſenen Echinoderms beſitzen, erzeugen das letztere durch einen höchſt merkwürdigen Generationswechſel, welcher in dieſer Weiſe nur noch bei einigen Sternwürmern (Sipunculiden) und Schnurwür— mern (Nemertinen) vorkömmt (Gen. Morph. II, 95 — 99). Alle dieſe und viele andere Gründe legen das deutlichſte Zeugniß für die Richtigkeit meiner Hypotheſe ab. Ich habe dieſe Stammhypotheſe 1866 aufgeſtellt, ohne eine Ahnung davon zu haben, daß auch noch verſteinerte Gliedwürmer exiſtiren, welche vollkommen jenen hy— pothetiſch vorausgeſetzten Stammformen entſprechen. Solche ſind aber inzwiſchen wirklich bekannt geworden. In einer Abhandlung „über ein Aequivalent der takoniſchen Schiefer Nordamerikas in Deutſchland“ beſchrieben 1867 Geinitz und Liebe eine Anzahl von geglieder— ten ſiluriſchen Würmern, welche vollkommen den von mir ge— machten Vorausſetzungen entſprechen. Dieſe höchſt merkwürdigen Würmer kommen in den Dachſchiefern von Wurzbach im reuſſiſchen Oberlande zahlreich in vortrefflich erhaltenem Zuſtande vor. Sie haben ganz den Bau eines gegliederten Seeſternarms, und müſſen offenbar einen feſten Hautpanzer, ein viel härteres und feſteres Haut— ſkelet beſeſſen haben, als es ſonſt bei den Würmern vorkommt. Die Zahl der Körperglieder oder Metameren iſt ſehr beträchtlich, ſo daß die Würmer bei einer Breite von 1 — 3 Zoll eine Länge von 2— 3 Fuß und mehr erreichten. Die vortrefflich erhaltenen Abdrücke, namentlich von Phyllodocites thuringiacus und Crossopodia Henrici, gleichen jo ſehr den ſkeletirten Armen mancher gegliederten Seeſterne (Colastra), daß ich an ihrer wirklichen Blutsverwandtſchaft kaum mehr zweifle. Ich bezeichne dieſe uralte Würmergruppe, zu welcher höchſtwahrſchein— lich die Stammväter der Seeſterne gehört haben, als Panzerwür— mer (Phractelminthes). Wahrſcheinlich ſtanden fie in ihrer Organi— ſation zwiſchen Sternwürmern (Gephyreen) und Ringelwürmern (An— neliden) in der Mitte. Aus der Klaſſe der Seeſterne, welche die urſprüngliche Form des ſternförmigen Wurmſtockes am getreueſten erhalten hat, haben ſich die 27 * 420 Syſtematiſche Ueberſicht der 4 Klaſſen, 9 Unterklaſſen und 20 Ordnungen der Sternthiere. (Vergl. Gen. Morph. II, Taf. IV, S. LXI— LXXVI). Klaſſen der Unterklaſſen der Ordnungen der Sternthiere Sternthiere Sternthiere I. Seeſterne 11. Stammſterne = mit a 1 5 len- 2. Gliederſterne * 1 ER stra (3 Briſingaſterne * II. Seeſterne Asterida mit Scheiben⸗ 4. Schlangenſterne magen 5. Baumſterne Deere 6. Lilienſterne 7. Getäfelte Arm⸗ III. Armlilien lilien Bracht ata 8. Gegliederte Arm⸗ 900 hin II. 9. Regelmäßige ur IV. Knospen⸗ Sunspenlitieh Seelilien lilien 10. Zweſſeitige Crinoida eee Knospenlilien l 11. Stielloſe Bla⸗ ae | ſenlilien 12. Geſtielte Bla⸗ er ſenlilien 1 13. Palechiniden mit mehr als 10 — 85 a % ana h ambulakralen eeige 1 16206 Plattenreihen mehr a 14. Palechiniden III Plattenreihen) i 10 bir FR Palechinida lakralen Plat⸗ Seeigel tenr en Echinida 15. Autechiniden Er Jüngere mit Bandambu⸗ eeigel (mit RE ; 5e "= 116. Autechiniden Aut e chin da mit Blattambu⸗ \ llakren 17. Eupodien mit VIII. Seewal⸗ ſchildförmigen zen mit Fühlern IV. Waſſerfüßchen J 18. Eupodien mit E Seewalzen upodia en Holothuriae IX. Seewal⸗ 19. Apodien mit zen ohne Kiemen Pan engen 20. Apodien ohne Apo di a Kiemen Syſtematiſcher 1. 3. r 0 2 D 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 1 — 18. 19. 20. Name der Ordnungen Tocastra Colastra Brisingastra Ophiastra Phytastra Crinastra . Phatnocrina . Coloerina . Elaeacrina Eleutheroerina Agelacrina Echinenerina Melonitida Eoeidarida Desmosticha Petalosticha . Aspidochirota Dendrochirota Liodermatida Synaptida Seelilien (Crinoiden). Seeigel (Echiniden). 421 drei anderen Klaſſen der Echinodermen offenbar erſt ſpäter entwickelt. Am wenigſten von ihnen entfernt haben ſich die Seelilien (Crinoi- da), welche aber die freie Ortsbewegung der übrigen Sternthiere auf— gegeben, ſich feſtgeſetzt, und dann einen mehr oder minder langen Stiel entwickelt haben. Die urſprünglichen Wurmindividuen ſind zwar bei den Crinoiden nicht mehr ſo ſelbſtſtändig und ausgebildet erhalten, wie bei den Seeſternen; aber dennoch bilden ſie ſtets mehr oder minder gegliederte, von der gemeinſamen Mittelſcheibe abgeſetzte Arme. Wir können daher die Seelilien mit den Seeſternen zuſammen in der Haupt— klaſſe der Giederarmigen (Colobrachia) vereinigen. In den beiden anderen Echinodermenklaſſen, bei den Seeigeln und Seewalzen, ſind die gegliederten Arme nicht mehr als ſelbſt— ſtändige Körpertheile erkennbar, vielmehr durch weitgehende Centrali— ſation des Stockes vollkommen in der Bildung der gemeinſamen, auf— geblaſenen Mittelſcheibe aufgegangen, ſo daß dieſe jetzt als eine ein— fache armloſe Büchſe oder Kapſel erſcheint. Der urſprüngliche In— dividuenſtock iſt ſcheinbar dadurch wieder zum Formwerth eines einfachen Individuums, einer einzelnen Perſon, herabgeſunken. Wir können daher dieſe beiden Klaſſen als Armloſe (Lipobrachia) den Gliederarmigen gegenüberſetzen. Die erſte Klaſſe derſelben, die See— igel (Echinida) führen ihren Namen von den zahlreichen, oft ſehr großen Stacheln, welche die feſte, aus Kalkplatten ſehr künſtlich zu— ſammengeſetzte Schale bedecken. Die Schale ſelbſt hat die Grundform einer fünfſeitigen Pyramide. Wahrſcheinlich haben ſich die Seeigel unmittelbar aus einem Zweige der Seeſterne, vielleicht im Zuſam— menhang mit einem Zweige der Seelilien entwickelt. Die einzelnen Abtheilungen der Seeigel beſtätigen in ihrer hiſtoriſchen Aufeinander— folge ebenſo wie die Ordnungen der Seelilien und Seeſterne, welche Ihnen die nebenſtehende Tabelle aufführt, in ausgezeichneter Weiſe die Geſetze des Fortſchritts und der Differenzirung. In jeder jünge— ren Periode der Erdgeſchichte ſehen wir die einzelnen Klaſſen an Man— nichfaltigkeit und Vollkommenheit zunehmen (Gen. Morph. II, Taf. IV). 422 Stamm der Gliedfüßer oder Arthropoden. Während uns die Geſchichte dieſer drei Sternthierklaſſen durch die zahlreichen und vortrefflich erhaltenen Verſteinerungen ſehr genau er— zählt wird, wiſſen wir dagegen von der geſchichtlichen Entwickelung der vierten Klaſſe, der Seewalzen (Holothuriae), faſt Nichts. Die Skeletbildung der Haut iſt hier ſehr unvollkommen und daher konnten keine deutlichen Reſte von ihrem langgeſtreckten walzenförmigen wurm⸗ ähnlichen- Körper in foſſilem Zuſtande erhalten bleiben. Dagegen läßt ſich aus der vergleichenden Anatomie der Holothurien erſchließen, daß dieſelben wahrſcheinlich aus einer Abtheilung der Seeigel durch Er— weichung des Hautſkelets entſtanden ſind. Von den Sternthieren wenden wir uns zu dem fünften und höchſt entwickelten Stamm unter den wirbelloſen Thieren, zu dem Phylum der Gliedfüßer (Arthropoda). Wie ſchon vorher bemerkt wurde, entſpricht dieſer Stamm der Klaſſe der Kerfe oder Infecten im urſprünglichen Sinne Linné' 8. Er enthält wiederum vier Klaſſen, nämlich 1. die echten ſechsbeinigen Inſecten; 2. die achtbeinigen Spin- nen; 3. die mit zahlreichen Beinpaaren verſehenen Tauſendfüße und 4. die mit einer wechſelnden Beinzahl verſehenen Krebſe oder Kruften- thiere. Die letzte Klaſſe athmet Waſſer durch Kiemen und kann daher als Hauptklaſſe der kiemenathmenden Arthropoden oder Kiemenkerfe (Carides) den drei erſten Klaſſen entgegengeſetzt werden. Dieſe ath- men Luft durch eigenthümliche Luftröhren oder Tracheen, und können daher paſſend in der Hauptklaſſe der tracheenathmenden Arthropoden oder Tracheenkerfe (Tracheata) vereinigt werden. Bei allen Gliedfüßern ſind, wie der Name ſagt, die Beine deutlich gegliedert, und dadurch, ſowie durch die ſtärkere Differenzirung der gegliederten Körperabſchnitte oder Metameren unterſcheiden ſie ſich we— ſentlich von den Würmern, mit denen fie Bär und Cuvier in dem Ty— pus der Gliederthiere oder Articulaten vereinigten. Uebrigens ſtehen fie den Gliedwürmern (Colelminthes) in jeder Beziehung ſo nahe, daß ſie kaum ſcharf von ihnen zu trennen ſind. Insbeſondere theilen ſie mit den Ringelwürmern die ſehr charakteriſtiſche Form des centralen Ner— Krebſe (Cariden) oder Kruſtenthiere (Cruſtaceen). 423 venſyſtems, das ſogenannte Bauchmark, welches vorn mit einem den Mund umgebenden Schlundring beginnt. Auch aus anderen Thatſa— chen geht hervor, daß die Arthropoden ſich jedenfalls aus Gliedwürmern erſt ſpäter entwickelt haben. Wahrſcheinlich ſind die Räderthiere und demnächſt die Ringelwürmer ihre nächſten Blutsverwandten im Wür— merſtamme (Gen. Morph. IL, Taf. V., S. LXXXV — CH). Der Stammbaum der Arthropoden läßt ſich aus der Paläon— tologie, vergleichenden Anatomie und Ontogenie ſeiner vier Klaſſen in ſeinen Grundzügen vortrefflich erkennen, obwohl auch hier, wie überall, im Einzelnen noch ſehr Vieles dunkel bleibt. Die Wur— zel des ganzen Phylum bildet die Klaſſe der Kiemenkerfe oder Krebſe (Carides), wegen ihrer harten kruſtenartigen Körperbe— deckung auch Kruſtenthiere (Crustacea) genannt. Die Ontogenie oder die individuelle Entwickelungsgeſchichte der Krebſe iſt außeror⸗ dentlich intereſſant, und verräth uns, ebenſo wie bei den Wirbelthieren, deutlich die weſentlichen Grundzüge ihrer Stammesgeſchichte oder Phylogenie. Fritz Müller hat in ſeiner ausgezeichneten, bereits angeführten Schrift „Für Darwin“ 1s) dieſes merkwürdige Verhält- niß vortrefflich erläutert. Die gemeinſchaftliche Stammform aller Krebſe, welche ſich bei den meiſten noch heutzutage zunächſt aus dem Ei entwickelt, iſt urſprünglich ein und dieſelbe: der ſogenannte Nauplius. Dieſer merkwürdige Urkrebs iſt eine ſehr einfache gegliederte Thierform, welche ſich zunächſt an die Räderthiere anſchließt und aus ähnlichen Gliedwürmern wahrſcheinlich ihren Urſprung genommen hat. Aus der gemeinſamen Larvenform des Nauplius entwickeln ſich als divergente Zweige nach verſchiedenen Richtungen hin die ſechs Ord— nungen der niederen Krebſe, welche in der nachſtehenden ſyſtema— tiſchen Ueberſicht des Arthropodenſtammes als Gliederkrebſe (Entomostraca) zuſammengefaßt find. Auch die höhere Abtheilung der Panzerkrebſe (Malacostraca) hat aus der gemeinſamen Nau— pliusform ihren Urſprung genommen. Jedoch hat ſich hier der Nau⸗ plius zunächſt in eine andere Larvenform, die ſogenante Zo&a, umge— wandelt, welche eine außerordentliche Bedeutung beſitzt. Dieſe ſelt— 424 Syſtematiſche Ueberſicht der 4 Klaſſen, 8 Unterklaſſen und 30 Ordnungen im Stamme der Gliedfüßer oder Arthropoden. (Vergl. Gen. Morph. II, Taf. V, S. LXXXV- CII). Klaſſen der Unterklaſſen Ordnungen Syſtematiſcher Arthropoden der der Name der Arthropoden Arthropodenklaſſen Ordnungen 1. Urkrebſe 1. Archicarida 2. Haftkrebſe 2. Pectostraca 700 1117 En 25 15 3. Muſchelkrebſe 3. Ostracoda 3 oder Entomostraca 4. Ruderkrebſe 4. Copepoda Kiemenathmende 5. Blattkrebſe 5. Branchiopoda Gliedfüßer 6. Schildkrebſe 6. Poecilopoda Carides 7. Zöͤbakrebſe 7. Zoepoda 8. Spaltfußkrebſe 8. Schizopoda 8 oder 5 Arti 35 9. Maulfußkrebſe 9. Stomatopoda rustacea boese 0. Zehnfußkrebſe 10. Decapoda 1. Flohkrebſe 11. Amphipoda 12. Aſſelkrebſe 12. Isopoda 13. Skorpionſpin⸗ 13. Solifugae nen 14. Taranteln 14. Phrynida III. Stred- 15. Sforpione 15. Scorpioda ſpinuen 16. Bücherſkor⸗ 16. Pseudoscor- Arthrogastres pione pioda Een 17. Schneider⸗ 17. Opiliones Arachnida ſpinnen 18. Aſſelſpinnen 18. Pyenogonida IV. Rund⸗ 19. Webeſpinnen 19. Araneae ſpinnen Sp Hd er o- 20. Milben 20. Acara gastres V. Einfadfüßer ‚21. Platte Tau- 21. Chilopoda Chilopoda ſendfüßer Zeufenbfüßer 2 Doppelfüße 0 22. Runde Tau- 22 Diplopoda Myriapoda Diplopoda ſendfüßer 23. Urflügler 23. Archiptera 1 oder VII. K due n d e 2A, Netflit ler 24. Neuroptera Geflügelte Inſecten 25. Gradflügler 25. Orthoptera g Masticantia |26, Käfer 26. Coleoptera Arthropoden 27. Hautflügler 27. Hymenoptera Tnaaoie VIII. Saugende 505 Wender 28. Hemiptera oder Inſecten liegen 29. Diptera Hexapoda Sugentia chmetterlinge 30. Lepidoptera Abſtammung der Tracheaten von den Kruftenthieren. 425 ſame Zoëa iſt nämlich aller Wahrſcheinlichkeit nach nicht allein die gemeinſame Stammform für alle ſechs beiſtehend verzeichneten Ord— nungen der Malacoſtraca, ſondern auch zugleich für die luftahmenden Tracheenkerfe, für die Spinnen, Tauſendfüße und Inſecten. Dieſe letzteren ſind jedenfalls erſt im Anfang der paläolithiſchen Zeit, nach Abſchluß des archolithiſchen Zeitraums entſtanden, weil alle dieſe Thiere (im Gegenſatz zu den meiſt waſſerbewohnenden Krebſen) urſprünglich Landbewohner ſind. Offenbar können ſich dieſe Luftath— mer erſt entwickelt haben, als nach Verfluß der ſiluriſchen Zeit das Landleben begann. Da nun aber foſſile Reſte von Spinnen und In— ſecten bereits in den Steinkohlenſchichten gefunden werden, ſo können wir ziemlich genau den Zeitpunkt ihrer Entſtehung feſtſtellen. Es muß die Entwickelung der erſten Tracheenkerfe aus kiemenathmenden Zosa— krebſen zwiſchen das Ende der Silurzeit und den Beginn der Stein— kohlenzeit fallen, alſo entweder in die antedevoniſche oder in die de— voniſche oder in die antecarboniſche Periode. Die gemeinſchaftliche Ausgangsform der drei durch Tracheen athmenden Arthropodenklaſſen iſt uns wahrſcheinlich bis auf den heu— tigen Tag nur wenig verändert in einer merkwürdigen Spinnenform erhalten. Dieſe uralte Tracheatenform iſt die Skorpionsſpinne (Solifuga), von der mehrere große, wegen ihres giftigen Biſſes ſehr gefürchtete Arten noch heute im wärmeren Aſien leben. Der Körper beſteht hier, wie wir es bei dem gemeinſamen Stammvater der Tra— cheaten vorausſetzen müſſen, aus drei getrennten Abſchnitten, einem Kopfe, welcher mehrere beinartige Kieferpaare trägt, einer Bruſt, an deren drei Ringen drei Beinpaare befeſtigt ſind, und einem anhangs— loſen Hinterleib. Wahrſcheinlich haben ſich aus unbekannten devo— niſchen Tracheaten, welche dieſen Skorpionsſpinnen oder Solifugen ſehr nahe ſtanden, als zwei divergente Aeſte einerſeits die echten Spin— nen, andrerſeits die Inſecten entwickelt. Die Tauſendfüßer ſind ent— weder ein eigenthümlich entwickelter Seitenzweig der Inſecten oder ein dritter Aſt jener Stammform. 426 Spinnen (Arachniden). Die echten Spinnen (Arachnida) find durch den Mangel der Flügel und durch vier Beinpaare von den Inſecten unterſchieden. Wie jedoch die Skorpionsſpinnen und die Taranteln deutlich zeigen, ſind eigentlich auch bei ihnen, wie bei den Inſecten, nur drei echte Bein— paare vorhanden. Das ſcheinbare vierte Beinpaar der Spinnen (das vorderſte) iſt eigentlich ein Kieferfußpaar. Die Spinnenklaſſe zerfällt in zwei Unterklaſſen: Streckſpinnen und Rundſpinnen. Von dieſen ſind die Streckſpinnen (Arthrogastres) die älteren und urſprünglichen Formen, bei denen ſich die frühere Leibesgliederung beſſer erhalten hat. Es gehören dahin außer den ſchon genannten Skorpionsſpinnen (Solifugae) und den Taranteln (Phrynida) die gefürchteten echten Skorpione (Scorpioda), die kleinen, in unſeren Bibliotheken wohnenden Bücherſkorpione (PSeudoscorpioda), die langbeinigen Schneiderſpinnen (Opiliones) und die im Meere lebenden ſeltſamen Aſſelſpinnen (Pyenogonida). Verſteinerte Reſte von Stred- ſpinnen finden ſich bereits in der Steinkohle. Dagegen kommt die zweite Unterklaſſe der Arachniden, die Rundſpinnen (Sphaero- gastres) verſteinert zuerſt im Jura, alſo ſehr viel ſpäter vor. Sie haben ſich aus einem Zweige der Streckſpinnen dadurch entwickelt, daß die Leibesringe mehr oder weniger mit einander verſchmolzen. Bei den eigentlichen Webeſpinnen (Araneae), welche wir wegen ihrer feinen Webekünſte bewundern, geht die Verſchmelzung der Rumpf— glieder oder Metameren ſo weit, daß der Rumpf nur noch aus zwei Stücken beſteht, einer Kopfbruſt, welche die Kiefer und die vier Bein— paare trägt, und einem anhangsloſen Hinterleib, an welchem die Spinnwarzen ſitzen. Bei den Milben (Acara), welche wahrſcheinlich aus einem verkümmerten Seitenzweige der Webeſpinnen durch Ent— artung (insbeſondere durch Schmarotzerleben) entſtanden ſind, ver— ſchmelzen ſogar noch dieſe beiden Rumpfſtücke mit einander zu einer ungegliederten Maſſe. Die Klaſſe der Taufendfüßer (Myriapoda), die kleinſte und formenärmſte unter den vier Arthropodenklaſſen, zeichnet ſich durch den ſehr verlängerten Leib aus, welcher einem gegliederten Ringel— Tauſendfüßer (Myriapoden). Inſecten (Hexapoden). 427 wurme ſehr ähnlich iſt und oft mehrere hundert Beinpaare trägt. Aber auch ſie hat ſich urſprünglich aus einer ſechsbeinigen Tracheaten— form entwickelt, wie die individuelle Entwickelung der Tauſendfüßer im Eie deutlich beweiſt. Ihre Embryonen haben zuerſt nur drei Beinpaare, gleich den echten Inſecten, und erſt ſpäter knospen Stück für Stück die folgenden Beinpaare aus den wuchernden Hinterleibs— ringen hervor. Von den beiden Ordnungen der Tauſendfüßer (welche bei uns unter Baumrinden, im Moſe u. ſ. w. leben), haben ſich wahr— ſcheinlich die runden Doppelfüßer (Diplopoda) erſt ſpäter aus den älteren platten Ein fach füßern (Chilopoda) entwickelt. Von den letz teren finden ſich foſſile Reſte zuerſt im Jura vor. Die dritte und letzte Klaſſe unter den tracheenathmenden Arthro— poden iſt die der Infecten (Insecta oder Hexapoda), die umfang⸗ reichſte von allen Thierklaſſen, und nächſt derjenigen der Säugethiere auch die wichtigſte von allen. Trotzdem die Inſecten eine größere Mannichfaltigkeit von Gattungen und Arten entwickeln, als die übrigen Thiere zuſammengenommen, ſind das alles doch im Grunde nur oberflächliche Variationen eines einzigen Themas, welches in ſeinen weſentlichen Charakteren ſich ganz beſtändig erhält. Bei allen In— ſecten ſind die drei Abſchnitte des Rumpfes, Kopf, Bruſt und Hinter— leib deutlich getrennt. Der Hinterleib oder das Abdomen trägt, wie bei den Spinnen, gar keine gegliederten Anhänge. Der mittlere Abſchnitt, die Bruſt oder der Thorax trägt auf der Bauchſeite die drei Beinpaare, auf der Rückenſeite urſprünglich zwei Flügel— paare. Freilich ſind bei ſehr vielen Inſecten eines oder beide Flügelpaare verkümmert, oder ſelbſt ganz verſchwunden. Allein die vergleichende Anatomie der Inſecten zeigt uns deutlich, daß dieſer Mangel erſt nachträglich durch Verkümmerung der Flügel ent— ſtanden iſt, und daß alle (oder doch die meiſten) jetzt lebenden Inſecten von einem gemeinſamen Stamminſect abſtammen, wel⸗ ches drei Beinpaare und zwei Flügelpaare beſaß (Vergl. S. 233). Dieſe Flügel, welche die Inſecten ſo auffallend vor den übrigen Glied— füßern auszeichnen, entſtanden wahrſcheinlich aus den Tracheenkie— 428 Bedeutung der Mundtheile bei den Inſecten. men, welche wir noch heute an den im Waſſer lebenden e der Eintagsfliegen (Ephemera) beobachten. Der Kopf der Inſecten trägt allgemein außer den Augen ein Paar gegliederte Fühlhörner oder Antennen, und außerdem auf jeder Seite des Mundes drei Kiefer. Dieſe drei Kieferpaare, obgleich bei allen Inſecten aus derſelben urſprünglichen Grundlage entftan- den, haben ſich durch verſchiedenartige Anpaſſung bei den verſchiedenen Ordnungen zu höchſt mannichfaltigen und merkwürdigen Formen um— gebildet, ſo daß man ſie hauptſächlich zur Unterſcheidung und Cha— rakteriſtik der Hauptabtheilungen der Klaſſe verwendet. Zunächſt kann man als zwei Hauptabtheilungen Inſecten mit kauenden Mundtheilen (Masticantia) und Inſecten mit ſaugenden Mund— werkzeugen (Sugentia) unterſcheiden. Bei genauerer Betrachtung kann man noch ſchärfer jede dieſer beiden Abtheilungen in zwei Untergruppen vertheilen. Unter den Kauinſecten oder Maſticantien können wir die beißenden und die leckenden unterſcheiden. Zu den Beißenden (Mordentia) gehören die älteſten und urſprünglichſten Inſecten, die vier Ordnungen der Urflügler, Netzflügler, Gradflügler und Käfer. Die Leckenden (Lambentia) werden bloß durch die eine Ordnung der Hautflügler gebildet. Unter den Sauginſecten oder Sugentien können wir die beiden Gruppen der ſtechenden und ſchlürfenden unterſcheiden. Zu den Stechenden (Pungentia) ge- hören die beiden Ordnungen der Halbflügler und Fliegen, zu den Schlürfenden (Sorbentia) bloß die Schmetterlinge. Als die älteſten Inſecten, welche ſich aus unbekannten, den Skorpionsſpinnen ähnlichen Arachniden entwickelten, betrachte ich die beißenden, und zwar die Ordnung der Urflügler (Archiptera oder Pseudoneuroptera). Dahin gehören vor allen die Eintagsfliegen (Ephemera), deren im Waſſer lebende Larven uns wahrſcheinlich noch heute in ihren Tracheenkiemen die Organe zeigen, aus denen die Inſectenflügel urſprünglich entſtanden. Ferner gehören in dieſe Ord— nung die bekannten Waſſerjungfern oder Libellen, die flügelloſen Zucker— gäſte (Lepisma), die ſpringenden Blaſenfüßer (Physopoda), und die Stammbaum und Geſchichte der Infecten. 429 gefürchteten Termiten, von denen ſich verſteinerte Reſte ſchon in der Steinkohle finden. Unmittelbar hat ſich wahrſcheinlich aus den Ur— flüglern die Ordnung der Netzflügler (Neuroptera) entwickelt, welche ſich von ihnen weſentlich nur durch die vollkommene Verwandlung unterſcheiden. Es gehören dahin die Florfliegen (Planipennia), die Schmetterlingsfliegen (Phryganida) und die Fächerfliegen (Strep— siptera). Foſſile Inſecten, welche den Uebergang von den Urflüglern (Libellen) zu den Netzflüglern (Sialiden) machen, kommen ſchon in der Steinkohle vor (Dietyophlebia). Aus einem anderen Zweige der Urflügler hat ſich durch Diffe⸗ renzirung der beiden Flügelpaare ſchon frühzeitig die Ordnung der Gradflügler (Orthoptera) entwickelt. Dieſe Abtheilung beſteht aus der formenreichen Gruppe der Schaben, Heuſchrecken, Gryllen u. ſ. w. (Ulonata), und aus der kleinen Gruppe der bekannten Ohr— würmer (Labidura), welche durch die Kneifzange am hinteren Kör— perende ausgezeichnet ſind. Sowohl von Schaben als von Gryl— len und Heuſchrecken kennt man Verſteinerungen aus der Steinkohle. Auch die vierte Ordnung der beißenden Inſecten, die Käfer (Coleoptera) kommen bereits in der Steinkohle verſteinert vor. Dieſe außerordentlich umfangreiche Ordnung, der bevorzugte Liebling der Inſectenliebhaber und Sammler, zeigt am deutlichſten von allen, welche unendliche Formenmannichfaltigkeit ſich durch Anpaſſung an verſchiedene Lebensverhältniſſe äußerlich entwickeln kann, ohne daß deshalb der innere Bau und die Grundform des Körpers irgendwie weſentlich umgebildet wird. Wahrſcheinlich haben ſich die Käfer aus einem Zweige der Gradflügler entwickelt, von denen ſie ſich weſent— lich nur durch ihre vollkommene Verwandlung unterſcheiden. An dieſe vier Ordnungen der beißenden Inſecten ſchließt ſich nun zunächſt die eine Ordnung der leckenden Inſecten an, die inter: eſſante Gruppe der Immen oder Hautflügler (Hymenoptera), Dahin gehören diejenigen Inſecten, welche ſich durch ihre entwickelten Culturzuſtände, durch ihre weitgehende Arbeitstheilung, Gemeinde— bildung und Staatenbildung zu bewundrungswürdiger Höhe der 430 Stammbaum und Geſchichte der Inſecten. Geiſtesbildung, der intellectuellen Vervollkommnung und der Charaf- terſtärke erhoben haben und dadurch nicht allein die meiſten Wirbel- loſen, ſondern überhaupt die meiſten Thiere übertreffen. Es ſind das vor allen die Ameiſen und die Bienen, ſodann die Wespen, Blatt— wespen, Holzwespen, Schlupfwespen, Gallwespen u. ſ. w. Sie kommen zuerſt verſteinert im Jura vor, in größerer Menge jedoch erſt in den Tertiärſchichten. Wahrſcheinlich haben ſich die Hautflügler aus einem Zweige entweder der Urflügler oder der Netzflügler entwickelt. Von den beiden Ordnungen der ſtechenden Inſecten, den Hemipteren und Dipteren, iſt die ältere diejenige der Halbflüg— ler (Hemiptera), auch Schnabelkerfe (Rhynchota) genannt. Dahin gehören die drei Unterordnungen der Blattläuſe (Homo- ptera), der Wanzen (Heteroptera) und der Läuſe (Pediculina). Von erſteren beiden finden ſich foſſile Reſte ſchon im Jura. Aber ſchon im permiſchen Syſtem kommt ein altes Inſect vor (Eugereon), wel- ches auf die Abſtammung der Hemipteren von den Neuropteren hin- zudeuten ſcheint. Wahrſcheinlich ſind von den drei Unterordnungen der Hemipteren die älteſten die Homopteren, zu denen außer den eigentlichen Blattläuſen auch noch die Schildläuſe, die Blattflöhe und die Zirpen oder Cicaden gehören. Aus zwei verſchiedenen Zweigen der Homopteren werden ſich die Läuſe durch weitgehende Entartung (vor— züglich Verluſt der Flügel), die Wanzen dagegen durch Vervoll— kommnung (Sonderung der beiden Flügelpaare) entwickelt haben. Die zweite Ordnung der ſtechenden Inſecten, die Fliegen oder Zweiflügler (Diptera) findet fi zwar auch ſchon im Jura ver⸗ ſteinert neben den Halbflüglern vor. Allein dieſelben haben ſich doch wahrſcheinlich erſt nachträglich aus den Hemipteren durch Rückbildung der Hinterflügel entwickelt. Nur die Vorderflügel find bei den Dip- teren vollſtändig geblieben. Die Hauptmaſſe dieſer Ordnung bilden die langgeſtreckten Mücken (Nemocera) und die gedrungenen eigentli- chen Fliegen (Brachycera), von denen die erſteren wohl älter ſind. Doch finden ſich von Beiden ſchon Reſte im Jura vor. Durch Dege— neration in Folge von Paraſitismus haben ſich aus ihnen wahrſchein⸗ Stammbaum und Geſchichte der Inſecten. 431 lich die beiden kleinen Gruppen der puppengebärenden Lausfliegen (Pupipara) und der ſpringenden Flöhe (Aphaniptera) entwickelt. Die achte und letzte Inſectenordnung, und zugleich die einzige mit wirklich ſchlürfenden Mundtheilen ſind die Schmetterlinge (Lepidoptera). Dieſe Ordnung erſcheint in mehreren morphologi— ſchen Beziehungen als die vollkommenſte Abtheilung der Inſecten und hat ſich demgemäß auch am ſpäteſten erſt entwickelt. Man kennt nämlich von dieſer Ordnung Verſteinerungen nur aus der Tertiärzeit, während die drei vorhergehenden Ordnungen bis zum Jura, die vier beißenden Ordnungen dagegen ſogar bis zur Steinkohle hinaufreichen. Die nahe Verwandtſchaft einiger Motten (Tinea) und Eulen (Noctua) mit einigen Schmetterlingsfliegen (Phryganida) macht es wahrſchein— lich, daß ſich die Schmetterlinge aus dieſer Gruppe, alſo aus der Ord— nung der Netzflügler oder Neuropteren entwickelt haben. Wie Sie ſehen, beſtätigt Ihnen die ganze Geſchichte der Infec- tenklaſſe und weiterhin auch die Geſchichte des ganzen Arthropoden— ſtammes weſentlich die großen Geſetze der Differenzirung und Ver— vollkommnung, welche wir nach Darwin's Selectionstheorie als die nothwendigen Folgen der natürlichen Züchtung anerkennen müſſen. Der ganze formenreiche Stamm beginnt in archolithiſcher Zeit mit der kiemenathmenden Klaſſe der Krebſe, und zwar mit den niederſten Urkrebſen oder Archicariden. Die Geſtalt dieſer Urkrebſe, die ſich jedenfalls aus Gliedwürmern, und zwar wahrſcheinlich aus Räder— thieren entwickelten, ift uns noch heute in der gemeinſamen Jugend— form aller niederen oder Gliederkrebſe (Entomostraca), in dem merk— würdigen Nauplius, annähernd erhalten. Aus dem Nauplius ent- wickelte ſich weiterhin die ſeltſame Zo&a, die gemeinſame Jugendform aller höheren oder Panzerkrebſe (Malacostraca) und zugleich des— jenigen, zuerſt durch Tracheen luftathmenden Arthropoden, welcher der gemeinſame Stammvater aller Tracheaten wurde. Dieſer Stammvater, der zwiſchen dem Ende der Silurzeit und dem Beginn der Steinkohlenzeit entſtanden ſein muß, ſtand wahrſcheinlich von allen jetzt noch lebenden Inſecten den Skorpionsſpinnen oder Soli— 432 Stammbaum und Geſchichte der Inſecten. fugen am nächſten. Aus ihm entwickelten ſich als drei divergente Zweige die drei Tracheatenklaſſen, Spinnen, Tauſendfüßer und echte (ſechsbeinige und vierflüglige) Inſecten. Von dieſen letzteren exiſtirten lange Zeit hindurch nur die vier beißenden Ordnungen, Ur— flügler, Netzflügler, Gradflügler und Käfer, von denen die erſte wahr— ſcheinlich die gemeinſame Stammform der drei anderen iſt. Erſt viel ſpäter entwickelten ſich aus den beißenden Inſecten, welche die ur— ſprüngliche Form der drei Kieferpaare am reinſten bewahrten, als drei divergente Zweige die leckenden, ſtechenden und ſchlürfenden Inſecten. Wie dieſe Ordnungen in der Erdgeſchichte auf einander folgten, zeigt Ihnen nochmals überſichtlich die nachſtehende Tabelle. 1. Urflügler M. I. Archiptera 0 2. Netzflügler M. C. A. I. Beißende bſtüg m Zuerſt Neuroptera verſteinert Inſecten Inſeeten 1 : 5 3. Gradflügler | M. I. in der mit Mordentia KR: Orthoptera A. D. Steinkohle kauenden Wunde 4. Käfer M. C. undtheilen Coleoptera A. D. Masticantia II. Leckende . 5. Hautflügler M. C. Inſecten | N f. Hymenoptera A. A. u Zuerſt 6. Halbflügler M. I. „ verſteinert B. III. Stechende Hemiptera A. A. ] im Jura & mit Pungentia Diptera | “DD ſaugenden IV. Schlür 3 = . uerſt i 8. Schmetterlinge (M. C. Mundtheilen fende Inſecten c g verſteinert Sugentia 5 Lepidoptera eee * Sorbentia im Tertiür Anmerkung: Bei den acht einzelnen Ordnungen der Inſecten iſt zugleich der Unterſchied in der Metamorphoſe oder Verwandlung und in der Flügelbildung durch folgende Buchſtaben angegeben: M. I. Unvollſtändige Metamorphoſe. M. C. —Vollſtändige Metamorphoſe (Vergl. Gen. Morph. II, S. XCIX). A. A. — Gleichartige Flügel (Vorder- und Hinterflügel im Bau und Gewebe nicht oder nur wenig verſchieden). A. D. Ungleichartige Flügel (Vorder- und Hinter⸗ flügel durch ſtarke Differenzirung im Bau und Gewebe ſehr verſchieden). - Achtzehnter Vortrag. Stammbaum und Geſchichte des Thierreichs. II. Stammbaum und Geſchichte der Wirbelthiere. (Hierzu Taf. VI und VII.) Das natürliche Syſtem der Wirbelthiere. Die vier Klaſſen der Wirbelthiere von Linné und Lamarck. Vermehrung derſelben auf acht Klaſſen. Hauptklaſſe der Rohrherzen oder Schädelloſen (Lanzetthierey. Hauptklaſſe der Unpaarnaſen oder Rundmäuler (Inger und Lampreten). Hauptklaſſe der Anamnien oder Am⸗ nionloſen. Fiſche (Urfiſche, Schmelzfiſche, Knochenfiſche). Lurchfiſche. Lurche (Pan⸗ zerlurche, Nacktlurche)h. Hauptklaſſe der Amnionthiere oder Amnioten. Reptilien (Stammſchleicher, Schwimmſchleicher, Schuppenſchleicher, Drachenſchleicher, Schnabel⸗ ſchleicher). Vögel (Fiederſchwänzige, Fächerſchwänzige, Büſchelſchwänzige). Säuge⸗ thiere (Kloakenthiere, Beutelthiere, Placentalthiere7ß. Stammbaum und Geſchichte der Säugethierordnungen. Meine Herren! Unter den natürlichen Hauptgruppen der Orga— nismen, welche wir wegen der Blutsverwanddtſchaft aller darin ver— einigten Arten als Stämme oder Phylen bezeichnen, iſt keine einzige von ſo hervorragender und überwiegender Bedeutung, als der Stamm der Wirbelthiere. Denn nach dem übereinſtimmenden Urtheil aller Zoologen iſt auch der Menſch ein Glied dieſes Stammes, und kann ſeiner ganzen Organiſation und Entwickelung nach unmöglich von den übrigen Wirbelthieren getrennt werden. Wie wir aber aus der individuellen Entwickelungsgeſchichte des Menſchen ſchon früher die Haeckel, Natürliche Schöpfungsgeſchichte. 28 434 Die vier Klaſſen der Wirbelthiere von Linne und Lamarck. unbeſtreitbare Thatſache erkannt haben, daß derſelbe in ſeiner Ent— wickelung aus dem Ei anfänglich nicht von den übrigen Wirbelthieren, und namentlich den Säugethieren verſchieden iſt, ſo müſſen wir noth— wendig mit Beziehung auf ſeine paläontologiſche Entwickelungsge— ſchichte ſchließen, daß das Menſchengeſchlecht ſich hiſtoriſch wirklich aus niederen Wirbelthieren entwickelt hat, und daß daſſelbe zunächſt von den Säugethieren abſtammt. Dieſer Umſtand allein ſchon (ab— geſehen von dem vielſeitigen höheren Intereſſe, das auch in anderer Beziehung die Wirbelthiere vor den übrigen Organismen in Anſpruch nehmen) wird es rechtfertigen, daß wir den Stammbaum der Wir— belthiere und deſſen Ausdruck, das natürliche Syſtem, hier beſonders genau unterſuchen. a Die Bezeichnung Wirbelthiere (Vertebrata) rührt, wie ich ſchon im letzten Vortrage erwähnte, von dem großen Lamarck her, welcher zuerſt gegen Ende des vorigen Jahrhunderts unter dieſem Namen die vier oberen Thierklaſſen Linné 's zuſammenfaßte: die Säu⸗ gethiere, Vögel, Amphibien und Fiſche. Die beiden niederen Klaſſen Linné's, die Inſecten und Würmer, ſtellte Lamarck den Wirbel— thieren gegenüber als Wirbelloſe (Invertebrata, ſpäter auch Ever- tebrata genannt). Die Eintheilung der Wirbelthiere in die vier genannten Klaſſen wurde auch von Cu vier und feinen Nachfolgern, und in Folge deſſen von vielen Zoologen noch bis auf die Gegenwart feſtgehalten. Aber ſchon 1822 erkannte der ausgezeichnete Anatom Blainville aus der vergleichenden Anatomie, und faſt gleichzeitig unſer großer Embryo— loge Bär aus der Ontogenie der Wirbelthiere, daß Linné's Klaſſe der Amphibien eine unnatürliche Vereinigung von zwei ganz verſchie— denen Klaſſen ſei. Dieſe beiden Klaſſen hatte ſchon 1820 Merrem als zwei Hauptgruppen der Amphibien unter den Namen der Pholi—⸗ doten und Batrachier getrennt. Die Batrachier, welche heutzutage gewöhnlich als Amphibien (im engeren Sinneh bezeichnet werden, umfaſſen die Fröſche, Salamander, Kiemenmolche, Cäcilien und die ausgeſtorbenen Labyrinthodonten. Sie ſchließen ſich in ihrer Kiemenwirbelthiere und Lungenwirbelthiere. 435 ganzen Organiſation eng an die Fiſche an. Die Pholidoten oder Reptilien dagegen ſind viel näher den Vögeln verwandt. Es ge— hören dahin die Eidechſen, Schlangen, Krocodile und Schildkröten, und die vielgeſtaltige Formengruppe der meſolithiſchen Drachen, See— drachen, Flugeidechſen u. ſ. w. Im Anſchluß an dieſe naturgemäße Scheidung der Amphibien in zwei Klaſſen theilte man nun den ganzen Stamm der Wirbelthiere in zwei Hauptgruppen. Die erſte Hauptgruppe, die Fiſche und Am— phibien, athmen entweder zeitlebens oder doch in der Jugend durch Kiemen, und werden daher als Kiemenwirbelthiere bezeichnet (Branchiata oder Anallontoidia). Die zweite Hauptgruppe dagegen, Reptilien, Vögel, und Säugethiere, athmen zu keiner Zeit ihres Le— bens durch Kiemen, ſondern ausſchließlich durch Lungen, und heißen deshalb auch paſſend kiemenloſe oder Lungenwirbelthiere (Ebran- chiata oder Allantoidia). So richtig dieſe Unterſcheidung auch iſt, ſo können wir doch bei derſelben nicht ſtehen bleiben, wenn wir zu einem wahren natürlichen Syſtem des Wirbelthierſtammes, und zu einem naturgemäßen Verſtändniß ſeines Stammbaums gelangen wollen. Vielmehr müſſen wir dann, wie ich vor zwei Jahren in mei— ner generellen Morphologie gezeigt habe, noch drei weitere Wirbelthier— klaſſen unterſcheiden, indem wir die bisherige Fiſchklaſſe in vier ver— ſchiedene Klaſſen auflöſen (Gen. Morph. II. Bd., Taf. VII, S. CXVI— CLX). Die erfte und niederfte von dieſen Klaſſen wird durch die Rohr— herzen (Leptocardia) oder Schädelloſen (Acrania) gebildet, von denen heutzutage nur noch ein einziger Repräſentant lebt, das merkwür— dige Lanzetthierchen (Amphioxus lanceolatus). Als zweite Klaſſe ſchließen ſich an dieſe zunächſt die Unpaarnaſen (Monorrhina) oder Run dmäuler (Cyclostoma) an, zu denen die Inger (Myxi⸗ noiden und die Lampreten (Petromyzonten) gehören. Die dritte Klaſſe erſt würden die echten Fiſche (Pisces) bilden und an dieſe würden ſich als vierte Klaſſe die Lurch fiſche (Dipneusta) anſchließen: Uebergangsformen von den Fiſchen zu den Amphibien. Durch dieſe 8 436 Acht Klaſſen und vier Hauptklaſſen der Wirbelthiere. Unterſcheidung, welche, wie Sie gleich ſehen werden, für die Genealogie der Wirbelthiere ſehr wichtig iſt, wird die urſprüngliche Vierzahl der Wirbelthierklaſſen auf das Doppelte geſteig ert. Dieſe acht Klaſſen der Wirbelthiere ſind aber keineswegs von glei— chem genealogiſchen Werthe. Vielmehr müſſen wir dieſelben in der Weiſe, wie es Ihnen bereits die ſyſtematiſche Ueberſicht auf S. 393 zeigte, auf vier verſchiedene Hauptklaſſen vertheilen. Zunächſt können wir die drei höchſten Klaſſen, die Säugethiere, Vögel und Schleicher als eine natürliche Hauptklaſſe unter dem Namen der Amnionthiere (Amniota) zuſammenfaſſen. Dieſen ſtellen ſich naturgemäß als eine zweite Hauptklaſſe die Amnionloſen (Anamnia) gegenüber, nämlich die drei Klaſſen der Lurche, Lurchfiſche und Fiſche. Die genannten ſechs Klaſſen, ſowohl die Amnionloſen als die Amnionthiere, ſtimmen unter ſich in zahlreichen Merkmalen überein, durch welche ſie ſich von den beiden niederſten Klaſſen (den Unpaarnaſen und Rohrherzen) un— terſcheiden. Wir können ſie daher in der natürlichen Hauptgruppe der Paarnaſen (Amphirrhina) vereinigen. Endlich ſind dieſe Paarnaſen wiederum viel näher den Rundmäulern oder Unpaar— naſen, als den Schädelloſen oder Rohrherzen verwandt. Wir kön— nen daher mit vollem Rechte die Paarnaſen mit den Unpaarnaſen in einer oberſten Hauptgruppe zuſammenſtellen und dieſe als Central— herzen (Pachycardia) oder Schädelthiere (Craniota) der einzigen Klaſſe der Rohrherzen oder Schädelloſen gegenüberſtellen. Das ſy— ſtematiſche Verhältniß dieſer Gruppen zu einander wird Ihnen durch folgende Ueberſicht klar werden. A. Rohrherzen (Leptocardia) 1. Schädelloſe 1. Acrania 5 eee 2 Rundmäuler 2. Cyelostoma Eentralherzen I. Amnion- 3. Fiſche 3. Pisces (Pachycardia) I b. Paar⸗ loſe 4. Lurchfiſche 4. Dipneusta oder naſen $ Anamnia [ 5. Lurche 5. Amphibia Schädelthiere | Amp %ir- II. Amnion⸗ (6. Schleicher 6. Reptilia (Craniota) rhina thiere | 7. Bögel 7. Aves Amniota (8. Säugethiere 8. Mammalia Rohrherzen oder Schädelloſe. Lanzetthierchen oder Amphioxus. 437 Auf der niedrigſten Organiſationsſtufe von allen uns bekannten Wirbelthieren ſteht der einzige noch lebende Vertreter der erſten Klaſſe, das Lanzetfiſchchen oder Lanzetthierchen (Amphioxus lan- ceolatus). Dieſes höchſt intereſſante und wichtige Thierchen, welches über die älteren Wurzeln unſeres Stammbaumes ein überraſchendes Licht verbreitet, iſt offenbar der letzte Mohikaner, der letzte überlebende Repräſentant einer formenreichen niederen Wirbelthierklaſſe, welche wäh⸗ rend der Primordialzeit ſehr entwickelt war, uns aber leider wegen des Mangels aller feſten Skelettheile gar keine verſteinerten Reſte hinter⸗ laſſen konnte. Das kleine Lanzetfiſchchen lebt heute noch weitver⸗ breitet in verſchiedenen Meeren, z. B. in der Oſtſee, Nordſee, im Mittelmeere, gewöhnlich auf flachem Strande im Sand vergraben. Der Körper hat, wie der Name ſagt, die Geſtalt eines ſchmalen, an beiden Enden zugeſpitzten, lanzettförmigen Blattes. Erwachſen ift daffelbe etwa zwei Zoll lang, und röthlich ſchimmernd, halb durch— ſichtig. Aeußerlich hat das Lanzetthierchen fo wenig Aehnlichkeit mit einem Wirbelthier, daß ſein erſter Entdecker, Pallas, es für eine un— vollkommene Nacktſchnecke hielt. Beine beſitzt es nicht, und ebenſo wenig Kopf, Schädel und Gehirn. Das vordere Körperende ift äußer⸗ lich von dem hinteren faſt nur durch die Mundöffnung zu unterſchei⸗ den. Aber dennoch beſitzt der Amphiozus in feinem inneren Bau die wichtigſten Merkmale, durch welche ſich alle Wirbelthiere von allen Wirbelloſen unterſcheiden, vor allen den Rückenſtrang und das Rücken— mark. Der Rückenſtrang (Chorda dorsalis) iſt ein cylindriſcher, vorn und hinten zugeſpitzter, grader Knorpelſtab, welcher die centrale Axe des inneren Skelets, und die Grundlage der Wirbelſäule bildet. Unmittelbar über dieſem Rückenſtrang, auf der Rückenſeite deſſelben, liegt das Rückenmark (Medulla spinalis), ebenfalls urſprünglich ein grader, vorn und hinten zugeſpitzter, inwendig aber hohler Strang, welcher das Hauptſtück und Centrum des Nervenſyſtems bei allen Wirbeltieren bildet (Vergl. oben S. 247, 248). Bei allen Wirbelthieren ohne Ausnahme, auch den Menſchen mit inbegriffen, werden dieſe wichtigſten Körpertheile während der embryonalen Ent— 438 Blutsverwandtſchaft der Schädelloſen und Seeſcheiden. wickelung aus dem Ei urſprünglich in derſelben einfachſten Form an- gelegt, welche ſie beim Amphioxus zeitlebens behalten. Erſt ſpäter entwickelt ſich durch Auftreibung des vorderen Endes aus dem Rücken— mark das Gehirn, und aus dem Rückenſtrang der das Gehirn um— ſchließende Schädel. Da bei dem Amphioxus dieſe beiden wichtigen Organe gar nicht zur Entwickelung gelangen, ſo können wir die durch ihn vertretene Thierklaſſe mit Recht als Schädelloſe (Acrania) be- zeichnen, im Gegenſatz zu allen übrigen, den Schädelthieren (Cra— niota). Gewöhnlich werden die Schädelloſen Rohrherzen oder Röh— renherzen (Leptocardia) genannt, weil ein centraliſirtes Herz noch fehlt, und das Blut durch die Zuſammenziehungen der röhrenförmigen Blutgefäße ſelbſt im Körper umhergetrieben wird. Die Schädelthiere, welche dagegen ein centraliſirtes, beutelförmiges Herz beſitzen, müßten dann im Gegenſatz dazu Beutelherzen oder Centralherzen (Pachycardia) genannt werden. Offenbar haben ſich die Schädelthiere oder Centralherzen erſt in ſpäterer Primordialzeit aus Schädelloſen oder Rohrherzen, welche dem Amphioxus nahe ſtanden, allmählich entwickelt. Darüber läßt uns die Ontogenie der Schädelthiere nicht in Zweifel. Wo ſtammen nun aber dieſe Schädelloſen ſelbſt her? Auf dieſe wichtige Frage hat uns, wie ich ſchon im letzten Vortrage erwähnte, erſt die jüngſte Zeit eine höchſt überraſchende Antwort gegeben. Aus den 1867 veröffentlichten Unterſuchungen von Kowalewski über die individuelle Entwickelung des Amphioxus und der feſtſitzenden Seeſcheiden (Ascidiae) ſaus der Klaſſe der Mantelthiere (Tunicata)] hat ſich ergeben, daß die Onto— genie dieſer beiden ganz verſchiedenen Thierformen in ihrer erſten Ju— gend merkwürdig übereinſtimmt. Die frei umherſchwimmenden Lar— ven der Ascidien entwickeln die unzweifelhafte Anlage zum Rücken— mark und zum Rückenſtrang, und zwar ganz in derſelben Weiſe, wie der Amphioxus. Allerdings bilden fie dieſe wichtigſten Organe des Wirbelthierkörpers ſpäterhin nicht weiter aus. Vielmehr gehen ſie eine rückſchreitende Verwandlung ein, ſetzen ſich auf dem Meeresbo— den feſt, und wachſen zu unförmlichen Klumpen aus, in denen man Blutsverwandtſchaft der Wirbelthiere und Mantelthiere. 439 kaum noch bei äußerer Betrachtung ein Thier vermuthet. Allein das Rückenmark, als die Anlage des Centralnervenſyſtems, und der Rücken⸗ ſtrang, als die erſte Grundlage der Wirbelſäule, ſind ſo wichtige, den Wirbelthieren ſo ausſchließlich eigenthümliche Organe, daß wir daraus ſicher auf die wirkliche Blutsverwandtſchaft der Wirbelthiere mit den Mantelthieren ſchließen können. Natürlich wollen wir damit nicht ſa— gen, daß die Wirbelthiere von den Mantelthieren abſtammen, ſondern nur, daß beide Gruppen aus gemeinſamer Wurzel entſproſſen ſind, und daß die Mantelthiere von allen Wirbelloſen diejenigen find, welche die nächſte Blutsverwandtſchaft zu den Wirbelthieren beſitzen. Dffen- bar haben ſich während der Primordialzeit die echten Wirbelthiere (und zwar zunächſt die Schädelloſen) aus einer Würmergruppe fort— ſchreitend entwickelt, aus welcher nach einer anderen rückſchreitenden Richtung hin, die degenerirten Mantelthiere hervorgingen. Aus den Schädelloſen oder Rohrherzen hat ſich zunächſt eine zweite niedere Klaſſe von Wirbelthieren entwickelt, welche noch tief un- ter den Fiſchen ſteht, und welche in der Gegenwart nur durch die Inger (Myxinoiden) und Lampreten (Petromyzonten) vertreten wird. Auch dieſe Klaſſe konnte wegen des Mangels aller feſten Körpertheile leider eben fo wenig als die Schädelloſen verſteinerte Reſte hinter- laſſen. Aus ihrer ganzen Organiſation und Ontogenie geht aber deut— lich hervor, daß ſie eine ſehr wichtige Mittelſtufe zwiſchen den Schä— delloſen und den Fiſchen darſtellt, und daß die wenigen noch lebenden Glieder derſelben nur die letzten überlebenden Reſte von einer gegen Ende der Primordialzeit vermuthlich reich entwickelten Thiergruppe ſind. Wegen des kreisrunden, zum Saugen verwendeten Maules, das die Inger und Lampreten beſitzen, wird die ganze Klaſſe gewöhnlich Rundmäuler (Cyclostoma) genannt. Bezeichnender noch iſt der Name Unpaarnaſen (Monorrhina). Denn alle Cycloſtomen be— ſitzen ein einfaches unpaares Naſenrohr, während bei allen übrigen Wirbelthieren (wieder mit Ausnahme des Amphioxus) die Naſe aus zwei paarigen Seitenhälften, einer rechten und linken Naſe beſteht. 440 Unpaarnaſen oder Rundmäuler (Inger und Lampreten). Wir konnten deshalb dieſe letzteren (Anamnien und Amnioten) auch als Paarnaſen (Amphirrhina) zuſammenfaſſen. Auch abgeſehen von der eigenthümlichen Naſenbildung unterſchei— den ſich die Unpaarnaſen von den Paarnaſen noch durch viele andere Eigenthümlichkeiten. So fehlt ihnen namentlich ganz das wichtige ſympathiſche Nervennetz der letzteren. Ebenſo wenig beſitzen ſie die Milz und die Bauchſpeicheldrüſe der Paarnaſen. Von der Schwimm— blaſe und den beiden Beinpaaren, welche bei allen Paarnaſen we— nigſtens in der erſten Anlage vorhanden ſind, fehlt den Unpaarnaſen (ebenſo wie den Schädelloſen) noch jede Spur. Es iſt daher gewiß ganz gerechtfertigt, wenn wir ſowohl die Monorrhinen als die Schä— delloſen gänzlich von den Fiſchen trennen, mit denen ſie bis jetzt in herkömmlicher, aber irrthümlicher Weiſe vereinigt waren. Die erſte genauere Kenntniß der Monorrhinen oder Cycloſtomen verdanken wir dem großen Berliner Zoologen Johannes Müller, deſſen klaſſiſches Werk über die „vergleichende Anatomie der Myxi— noiden“ die Grundlage unſerer neueren Anſichten über den Bau der Wirbelthiere bildet. Er unterſchied unter den Cycloſtomen zwei ver— ſchiedene Gruppen, welchen wir den Werth von Unterklaſſen geben können. Die erſte Unterklaſſe ſind die Inger oder Schleimfiſche (Hyperotreta oder Myxinoida). Sie leben im Meere ſchmarotzend auf anderen Fiſchen, in deren Haut ſie ſich einbohren (Myxine, Bdel- lostoma). Im Gehörorgan beſitzen ſie nur einen Ringcanal, und ihr unpaares Naſenrohr durchbohrt den Gaumen. Höher entwickelt iſt die zweite Unterklaſſe, die Lampreten oder Pricken Hyperoartia oder Petromyzontia). Hierher gehören die allbekannten Flußpricken oder Neunaugen unſerer Flüſſe (Petromyzon fluviatilis), deren Bekannt⸗ ſchaft Sie wohl Alle im marinirten Zuſtande ſchon gemacht haben. Im Meere werden dieſelben durch die mehrmals größeren Seepricken oder die eigentlichen Lampreten (Petromyzon marinus) vertreten. Bei dieſen Unpaarnaſen durchbohrt das Naſenrohr den Gaumen nicht, und im Gehörorgan finden ſich zwei Ringcanäle. 441 Syſtematiſche Ueberſicht der 4 Hauptklaſſen, 8 Klaſſen und 20 Unterklaſſen der Wirbelthiere. (Gen. Morph. Bd. II, Taf. VII, S. CXVI—CLX.) I. Rohrherzen (Leptocardia) oder Schädelloſe (Acrania). Wirbelthiere ohne Kopf, ohne Schädel und Gehirn, ohne eentraliſirtes Herz. 1. Rohrherzen I. Schädelloſe Leptocardia Acrania 1 Lanzetthiere 1. Amphioxida II. Centralherzen (Pachycardia) oder Schädelthiere (Craniota). Wirbelthiere mit Kopf, mit Schädel und Gehirn, mit centralifirtem Herzen. Hauptklaſſen Klaſſen Unterklaſſen Syſtematiſcher der der der Name der Schädelthiere Schädelthiere Schädelthiere Unterklaſſen 2. Inger oder 2. Hyperotreta Schleimfihe (Myxinoida) 3. Lampreten 3. Hyperoartia oder Pricken (Petromyzontia) . Urfiſche 4 4 5. le de 5 6. Knochenfiſche 6. Teleostei 7 7 8 8 9 9 II. Rundmäuler 2. Unpaarnaſen Cy elosto ma Monorrhina . Selachii . Ganoides III. 51 che Ps ces IV. Lurchfiſche Dip neus t a V. Lurche Amphibia 3. Amnionloſe Anamnia . Protopteri Molchfiſche „ Panzerlurche Phractamphibia | | . NRadtlurdhe . Lissamphibia 10. Stammrepti⸗ 10. Tocosauria lien 11. Schwimmrep⸗ 11. Hydrosauria tilien VI. Schleicher ) 12. Schuppenrep⸗ 12. Lepidosauria Reptilia tilien 13, Drachenrepti⸗ 13. Dinosauria lien 14. fen 14. Rhamphosauria lien 15. Fiederſchwän⸗ 15. Saururae 4. Amnionthiere Amniota zige 16. Fücherſchwän⸗ 16. Carinatae zige 17% Blſchelſchwän⸗ 17. Ratitae zige VIII. Säuge⸗ 18. Kloakenthiere 18. Amasta thiere 19. Beutelthiere 19. Marsupialia Mammalia (20. Placentalthiere 20. Placentalia VII. Vögel Aves 442 Paarnaſen oder Amphirrhinen. Alle Wirbelthiere, welche jetzt noch leben, mit Ausnahme der eben betrachteten Monorrhinen und des Amphioxus, gehören zu derjenigen Hauptgruppe, welche wir als Paarnaſen (Amphirrhina) bezeich- neten. Alle dieſe Thiere beſitzen (trotz der großen Mannichfaltigkeit in ihrer ſonſtigen Bildung) eine aus zwei paarigen Seitenhälften be— ſtehende Naſe, ein ſympathiſches Nervennetz, drei Ringcanäle im Ge— hörorgan, eine Milz und eine Bauchſpeicheldrüſe. Alle Paarnaſen beſitzen ferner eine blaſenförmige Ausſtülpung des Schlundes, welche ſich bei den Fiſchen zur Schwimmblaſe, bei den übrigen Paarnaſen zur Lunge entwickelt hat. Endlich iſt urſprünglich bei allen Paarnaſen die Anlage von zwei paar Extremitäten oder Gliedmaßen vorhanden, ein paar Vorderbeine oder Bruſtfloſſen, und ein paar Hinterbeine oder Bauchfloſſen. Allerdings iſt bisweilen das eine Beinpaar (z. B. bei den Aalen und Walfiſchen) oder beide Beinpaare (3. B. bei den Caecilien und Schlangen) verkümmert oder gänzlich verloren gegangen; aber ſelbſt in dieſen Fällen iſt wenigſtens die Spur ihrer urſprüngli⸗ chen Anlage in früher Embryonalzeit zu finden, oder es bleiben un— nütze Reſte derſelben als rudimentäre Organe durch das ganze Leben beſtehen (Vergl. oben S. 11). Aus allen dieſen wichtigen Anzeichen können wir mit voller Si— cherheit ſchließen, daß ſämmtliche Paarnaſen von einer einzigen ge— meinſchaftlichen Stammform abſtammen, welche während der Pri— mordialzeit direct oder indirect ſich aus den Monorrhinen entwickelt hatte. Dieſe Stammform muß die eben angeführten Organe, na— mentlich auch die Anlage zur Schwimmblaſe und zu zwei Beinpaaren oder Floſſenpaaren beſeſſen haben. Von allen jetzt lebenden Paar— naſen ſtehen offenbar die niederſten Formen der Haifiſche dieſer längſt ausgeſtorbenen, unbekannten, hypothetiſchen Stammform, welche wir als Stammpaarnaſen oder Proſelachier bezeichnen können, am nächſten (Taf. VI, 11). Wir dürfen daher die Gruppe der Urfiſche oder Selachier, in deren Rahmen dieſe Proſelachier vermuthlich hin— eingepaßt haben, als die Stammgruppe nicht allein für die Fiſchklaſſe, ſondern für die ganze Hauptklaſſe der Paarnaſen betrachten. Drei Unterklaſſen der Fiſche. 443 Die Klaſſe der Fiſche (Pisces), mit welcher wir demgemäß die Reihe der Paarnaſen beginnen, unterſcheidet ſich von den übrigen fünf Klaſſen dieſer Reihe vorzüglich dadurch, daß die Schwimmblaſe nie— mals zur Lunge entwickelt, vielmehr nur als hydroſtatiſcher Apparat thätig iſt. In Uebereinſtimmung damit finden wir den Umſtand, daß die Naſe bei den Fiſchen durch zwei blinde Gruben vorn auf der Schnautze gebildet wird, welche niemals den Gaumen durchbohren und in die Rachenhöhle münden. Dagegen ſind die beiden Naſen— höhlen bei den übrigen fünf Klaſſen der Paarnaſen zu Luftwegen umgebildet, welche den Gaumen durchbohren, und ſo den Lungen Luft zuführen. Die echten Fiſche (nach Ausſchluß der Dipneuſten) ſind demnach die einzigen Paarnaſen, welche ausſchließlich durch Kie— men, und niemals durch Lungen athmen. Sie leben dem entſpre— chend alle im Waſſer und ihre beiden Beinpaare haben die urſprüng— liche Form von rudernden Floſſen beibehalten. Die echten Fiſche werden in drei verſchiedene Unterklaſſen einge— theilt, in die Urfiſche, Schmelzfiſche und Knochenfiſche. Die älteſte von dieſen, welche die urſprüngliche Form am getreueſten bewahrt hat, iſt diejenige der Urfiſche (Selachü). Davon leben heutzutage noch die Haifiſche (Squali) und Rochen (Rajae), welche man als Quermäuler (Plagiostomi) zuſammenfaßt, ſowie die ſeltſame Fiſchform der abenteuerlich geſtalteten Seekatzen oder Chimären (Holocephali oder Chimaeracei). Aber dieſe Urfiſche der Gegenwart, welche in allen Meeren vorkommen, ſind nur ſchwache Reſte von der geſtaltenreichen und herrſchenden Thiergruppe, welche die Selachier in früheren Zeiten der Erdgeſchichte, und namentlich während der pa— läolithiſchen Zeit bildeten. Leider beſitzen alle Urfiſche ein knorpeliges, niemals vollſtändig verknöchertes Skelet, welches der Verſteinerung nur wenig oder gar nicht fähig iſt. Die einzigen harten Körpertheile, welche in foſſilem Zuſtande ſich erhalten konnten, ſind die Zähne und die Floſſenſtacheln. Dieſe finden ſich aber in ſolcher Menge, Formen— mannichfaltigkeit und Größe in den älteren Formationen vor, daß wir daraus mit Sicherheit auf eine höchſt beträchtliche Entwickelung der— 444 Syſtematiſche Ueberſicht der ſieben Legionen und ee Ordnungen der Fiſchklaſſe. Unterklaſſenn en Sagi en der Ordnungen Beiſpiele der Fiſ chklaſſe der aus den Fiſchklaſſe Fiſchklaſſe Ordnungen .Haifiſche Stadelhai, Men⸗ 1 I. Quermäuler Squalacei ſchenhai, u. ſ. w. Urfifche Plagiostomi Rochen Stachelrochen, Zit⸗ Selachii Rajacei terrochen, u. ſ. w. II. Seekatzen . Seekatzen Chimären, Kalor⸗ Holo cephali | Chimaeracei rhynchen, u. |. w. . Schildkröten⸗ Cephalaspiden, III. Gepanzerte fiſche Placodermen, Schmelzfiſche Pamphracti u. ſ. w. Tabuliferi . Störfiſche Löffelſtör, Stör, Sturiones Haufen, u. ſ. w. = | . Schindelloſe Doppelfloſſer, Pfla⸗ Efuleri ſterzähner, u. ſ. w. Schmelzfiſche 8 se 8 e) 7. Schindelfloffige Paläonisken, Kno⸗ Ganoides — = 85 Fulerati chenhechte, u. ſ. w. 8. Fahnenfloſſige Afrikaniſcher Flöſ⸗ Semaeopteri ſelhecht u. ſ. w. v. Rundſchuppige 9. Hohlgrätenfiſche Holoptychier „Coe⸗ Schmelzfiſche Coeloscolopes lacanthiden, u. ſ. w. N 10. Dichtgrätenfiſche Coccolepiden, Ami⸗ Pyenoscolopes aden, u. ſ. w. 11. Häringsartige Häringe, Lachſe, VI. Knochenfiſche Thrissogenes Karpfen, Welſe, mit Luftgang der u. ſ. w. Schwimmblaſe 12. Aalartige Aale, Schlangen⸗ Pysostomi | Enchelygenes aale, Zitteraale, C. u. ſ. w. Knochenfiſche 13. Reihenkiemer Barſche, Lippfiſche, Teleostei vo. Knochenfiſche Stichobranchii 8 wi ohne Luftgang der e 2 N 5 2 b 15 e 14. Heftkiefer ; Kofferfiſche „Igel⸗ ee Pleetognathi fiſche u. ſ. w. 15. Büſchelkiemer Seenadeln, See⸗ Lophobranchii pferdchen, u. ſ.w. — Urfiſche (Selachier). Schmelzfiſche (Ganoiden). 445 ſelben in jener altersgrauen Vorzeit ſchließen können. Sie finden ſich ſogar ſchon in den ſiluriſchen Schichten, welche von anderen Wirbelthie— ren nur ſchwache Reſte von Schmelzfiſchen (und dieſe erſt in den jüng— ſten Schichten, im oberen Silur) einſchließen. Von den drei Ordnun⸗ gen der Urfiſche ſind die bei weitem wichtigſten und intereſſanteſten die Haifiſche, welche wahrſcheinlich unter allen lebenden Paarnaſen der urſprünglichen Stammform der ganzen Gruppe, den Proſelachiern, am nächſten ſtehen. Aus Paarnaſen, welche von echten Haifiſchen vermuthlich nur wenig verſchieden waren, haben ſich als drei diver— gente Linien einerſeits die Schmelzfiſche, andrerſeits die Lurchfiſche, und drittens, als wenig veränderte Stammlinie, die übrigen Selachier entwickelt. Die Schmelzfiſche (Ganoides) ſtehen in anatomiſcher Be— ziehung vollſtändig in der Mitte zwiſchen den Urfiſchen einerſeits und den Knochenfiſchen andrerſeits. In vielen Merkmalen ſtimmen ſie mit jenen, in vielen anderen mit dieſen überein. Wir ziehen daraus den Schluß, daß ſie auch genealogiſch den Uebergang von den Urfi— ſchen zu den Knochenfiſchen vermittelten. In noch höherem Maaße, als die Urfiſche, ſind auch die Ganoiden heutzutage größtentheils aus— geſtorben, wogegen ſie während der ganzen paläolithiſchen und meſo— lithiſchen Zeit in großer Mannichfaltigkeit und Maſſe entwickelt wa- ren. Nach der verſchiedenen Form der äußeren Hautbedeckung theilt man die Schmelzfiſche in drei Legionen: Gepanzerte, Eckſchuppige und Rundſchuppige. Die gepanzerten Schmelzfiſche (Tabuliferi) ſind die älteſten und ſchließen ſich unmittelbar an die Selachier an, aus denen ſie entſprungen ſind. Foſſile Reſte von ihnen finden ſich, obwohl ſelten, bereits im oberen Silur vor (Pteraspis ludensis aus den Ludlopſchichten). Rieſige, gegen 30 Fuß lange Arten derſelben, mit mächtigen Knochentafeln gepanzert, finden ſich namentlich im de— voniſchen Syſtem. Heute aber lebt von dieſer Legion nur noch die kleine Ordnung der Störfiſche (Sturiones), nämlich die Löffelſtöre (Spatularides), und die Störe (Accipenserides), zu denen u. A. der Haufen gehört, welcher uns den Fiſchleim oder die Hauſenblaſe liefert, 446 Schmelzfiſche (Ganoiden). Knochenfiſche (Teleoftier). der Stör und Störlett, deren Eier wir als Caviar verzehren, u. ſ. w. Aus den gepanzerten Schmelzfiſchen haben ſich wahrſcheinlich als zwei divergente Zweige die eckſchuppigen und die rundſchuppigen entwickelt. Die eckſchuppigen Schmelzfiſche (Rhombiferi), welche man durch ihre viereckigen oder rhombiſchen Schuppen auf den erſten Blick von allen anderen Fiſchen unterſcheiden kann, ſind heutzutage nur noch durch wenige Ueberbleibſel vertreten, nämlich durch den Flöſſelhecht (Po- lypterus) in afrikaniſchen Flüſſen (vorzüglich im Nil), und durch den Knochenhecht (Lepidosteus) in amerikaniſchen Flüſſen. Aber während der paläolithiſchen und der erſten Hälfte der meſolithiſchen Zeit bildete dieſe Legion die Hauptmaſſe der Fiſche. Weniger formenreich war die dritte Legion, die rundſchuppigen Schmelzfiſche (Oycliferi), welche vorzugsweiſe während der Devonzeit und Steinkohlenzeit leb— ten. Jedoch war dieſe Legion, von der heute nur noch der Kahlhecht (Amia) in nordamerikaniſchen Flüſſen übrig iſt, infofern viel wichtiger, als ſich aus ihnen die dritte Unterklaſſe der Fiſche, die Knochenfiſche, entwickelten. Die Knochenfiſche (Teleostei) bilden in der Gegenwart die Hauptmaſſe der Fiſchklaſſe. Es gehören dahin die allermeiſten See— fiſche, und alle unſere Süßwaſſerfiſche, mit Ausnahme der eben er— wähnten Schmelzfiſche. Wie zahlreiche Verſteinerungen deutlich be— weiſen, iſt dieſe Klaſſe erſt um die Mitte des meſolithiſchen Zeitalters aus den Schmelzfiſchen, und zwar aus den rundſchuppigen oder Cycli— feren entſtanden. Die Thriſſopiden der Jurazeit (Thrissops, Lep- tolepis, Tharsis), welche unſeren heutigen Häringen am nächſten ſtehen, ſind wahrſcheinlich die älteſten von allen Knochenfiſchen, und unmittelbar aus den rundſchuppigen Schmelzfiſchen, welche der heuti— gen Amia nahe ſtanden, hervorgegangen. Bei den älteren Knochen— fiſchen, den Phyſoſtomen war, ebenſo wie bei den Ganoiden, die Schwimmblaſe noch zeitlebens durch einen bleibenden Luftgang (eine Art Luftröhre) mit dem Schlunde in Verbindung. Das iſt auch heute noch bei den zu dieſer Gruppe gehörigen Häringen, Lachſen, Karpfen, Welſen, Aalen u. ſ. w. der Fall. Während der Kreidezeit Phyſoſtomen und Phyſokliſten. Lurchfiſche (Dipneuſten). 447 trat aber bei einigen Phyſoſtomen eine Verwachſung, ein Verſchluß jenes Luftganges ein, und dadurch wurde die Schwimmblaſe völlig von dem Schlunde abgeſchnürt. So entſtand die zweite Legion der Knochenfiſche, die der Phyſokliſten, welche erſt während der Tertiärzeit ihre eigentliche Ausbildung erreichte, und bald an Mannich— faltigkeit bei weitem die Phyſoſtomen übertraf. Es gehören hierher die meiſten Seefiſche der Gegenwart, namentlich die umfangreichen Familien der Dorſche, Schollen, Thunfiſche, Lippfiſche, Umberfiſche u. ſ. w., ferner die Heftkiefer (Kofferfiſche und Igelfiſche) und die Büſchelkiemer (Seenadeln und Seepferdchen). Dagegen ſind unter unſeren Flußfiſchen nur wenige Phyſokliſten, z. B. der Barſch und der Stichling; die große Mehrzahl der Flußfiſche ſind Phyſoſtomen. Zwiſchen den echten Fiſchen und den Amphibien mitten inne ſteht die merkwürdige Klaſſe der Lurchfiſche oder Molchfiſche (Di- pneusta oder Protopteri). Davon leben heute nur noch wenige Re— präſentanten, nämlich der amerikaniſche Molchfiſch (Lepidosiren pa- radoxa) im Gebiete des Amazonenſtroms, und der afrikaniſche Molch— fiſch Protopterus annectens) in verſchiedenen Gegenden Afrikas. Während der trocknen Jahreszeit, im Sommer, vergraben ſich dieſe ſeltſamen Thiere in den eintrocknenden Schlamm, in ein Neſt von Blättern, und athmen dann Luft durch Lungen, wie die Amphibien. Während der naſſen Jahreszeit aber, im Winter, leben ſie in Flüſſen und Sümpfen, und athmen Waſſer durch Kiemen, gleich den Fiſchen. Aeußerlich gleichen ſie aalförmigen Fiſchen, und ſind wie dieſe mit Schuppen bedeckt; auch in manchen Eigenthümlichkeiten ihres inneren Baues, des Skelets, der Extremitäten ꝛc. gleichen ſie mehr den Fiſchen, als den Amphibien. In anderen Merkmalen dagegen ſtimmen ſie mehr mit den letzteren überein, vor allen in der Bildung der Lungen, der Naſe und des Herzens. Aus dieſen Gründen herrſcht unter den Zoologen ein ewiger Streit darüber, ob die Lurchfiſche eigentlich Fiſche oder Amphibien ſeien. Ebenſo ausgezeichnete Zoologen haben ſich für die eine, wie für die andere Anſicht ausgeſprochen. In der That ſind ſie wegen der vollſtändigen Miſchung des Charakters weder das eine 448 Lurchfiſche (Dipneuſten). Lurche (Amphibien). noch das andere, und werden wohl am richtigſten als eine beſondere Wirbelthierklaſſe aufgefaßt, welche den Uebergang zwiſchen jenen bei- den Klaſſen vermittelt. Die heute noch lebenden Dipneuſten ſind wahr⸗ ſcheinlich die letzten überlebenden Reſte einer vormals formenreichen Gruppe, welche aber wegen Mangels feſter Skelettheile keine verftei- nerten Spuren hinterlaſſen konnte. Sie verhalten ſich in dieſer Be— ziehung ganz ähnlich den Monorrhinen und den Leptocardiern, mit denen fie gewöhnlich zu den Fiſchen gerechnet werden. Wahrſchein— lich ſind ausgeſtorbene Dipneuſten der paläolithiſchen Periode, welche ſich entweder in antedevoniſcher oder in devoniſcher oder in antecarbo— niſcher Zeit aus Urfiſchen entwickelt hatten, die Stammformen der Amphibien, und ſomit auch aller höheren Wirbelthiere. Mindeſtens werden die unbekannten Uebergangsformen von den Urfiſchen zu den Amphibien, welche wir als Stammgruppe der letzteren zu betrachten haben, den Dipneuſten wohl ſehr ähnlich geweſen ſein. Die Lurche (Amphibia) ſind jedenfalls von den Urfiſchen oder Selachiern abzuleiten, entweder direct oder durch Vermittlung der Lurchfiſche. Wir theilen dieſe Klaſſe in zwei Unterklaſſen ein, in die Panzerlurche und Nacktlurche, von denen die erſteren durch die Be— deckung des Körpers mit Knochentafeln oder Schuppen ausgezeichnet ſind. Die älteren von dieſen ſind die Panzerlurche (Phractam- phibia), die älteſten landbewohnenden Wirbelthiere, von denen uns foſſile Reſte erhalten ſind. Wohlerhaltene Verſteinerungen derſelben finden ſich ſchon in der Steinkohle vor, nämlich die den Fiſchen noch am nächſten ſtehenden Schmelzköpfe (Ganocephala), der Arche⸗ goſaurus von Saarbrücken, und das Dendrerpeton aus Nordame— rika. Auf dieſe folgen dann ſpäter die rieſigen Wickelzähner (La- byrinthodonta), ſchon im permiſchen Syſtem durch Zygoſaurus, ſpäter aber vorzüglich in der Trias durch Maſtodonſaurus, Tremato⸗ ſaurus, Kapitoſaurus u. ſ. w. vertreten. Dieſe furchtbaren Raub⸗ thiere ſcheinen in der Körperform zwiſchen den Krokodilen, Salaman⸗ dern und Fröſchen in der Mitte geſtanden zu haben, waren aber den beiden letzteren mehr durch ihren inneren Bau verwandt, während ſie Panzerlurche (Phraktamphibien). Nacktlurche (Liſſamphibien). 449 durch die feſte Panzerbedeckung mit ſtarken Knochentafeln den erſteren glichen. Schon gegen Ende der Triaszeit ſcheinen dieſe gepanzerten Rieſenlurche ausgeſtorben zu ſein. Aus der ganzen folgenden Zeit kennen wir keine Verſteinerungen von Panzerlurchen. Daß dieſe Unter— klaſſe jedoch währenddeſſen noch lebte und niemals ganz ausſtarb, be— weifen die heute noch lebenden Blindwühlen oder Caecilien (Pero- mela), kleine beſchuppte Phraktamphibien von der Form und Lebens— weiſe des Regenwurms. Die zweite Unterklaſſe der Amphibien, die Nacktlurche (Liss- amphibia), entftanden wahrſcheinlich ſchon während der primären oder ſecundären Zeit, obgleich wir foſſile Reſte derſelben erſt aus der Tertiärzeit kennen. Sie unterſcheiden ſich von den Panzerlurchen durch ihre nackte, glatte, ſchlüpfrige Haut, welche jeder Schuppen- oder Panzerbedeckung entbehrt. Sie entwickelten ſich vermuthlich ent— weder aus einem Zweige der Phraktamphibien oder aus gemeinſamer Wurzel mit dieſen. Die drei Ordnungen von Nacktlurchen, welche noch jetzt leben, die Kiemenlurche, Schwanzlurche und Froſchlurche, wiederholen uns noch heutzutage in ihrer individuellen Entwickelung ſehr deutlich den hiſtoriſchen Entwickelungsgang der ganzen Unterklaſſe. Die älteſten Formen find die Kiemenlurche (Sozobranchia), welche zeitlebens auf der urſprünglichen Stammform der Nacktlurche ſtehen bleiben und einen langen Schwanz nebſt waſſerathmenden Kiemen beibehalten. Sie ſtehen am nächſten den Dipneuſten, von denen ſie ſich aber ſchon äußerlich durch den Mangel des Schuppenkleides unter— ſcheiden. Die meiſten Kiemenlurche leben in Nordamerika, unter an— deren der früher erwähnte Axolotl oder Siredon (vergl. oben S. 192). In Europa iſt dieſe Ordnung nur durch eine Form vertreten, durch den berühmten Olm (Proteus anguineus), welcher die Adelsberger Grotte und andere Höhlen Krains bewohnt, und durch den Aufent— halt im Dunkeln rudimentäre Augen bekommen hat, die nicht mehr ſehen können (S. oben S. 11). Aus den Kiemenlurchen hat ſich durch Verluſt der äußeren Kiemen die Ordnung der Schwanz— lurche (Sozura) entwickelt, zu welcher unſer ſchwarzer, gelbge— Haeckel, Natürliche Schöpfungsgeſchichte. 29 450 Amnionthiere (Amnioten) und Amnionloſe (Anamnien). fleckter Landſalamander (Salamandra maculata) und unſere flinken Waſſermolche (Triton) gehören. Manche von ihnen, z. B. der be— rühmte Rieſenmolch von Japan (Cryptobranchus japonicus) haben noch die Kiemenſpalte beibehalten, trotzdem ſie die Kiemen ſelbſt ver— loren haben. Alle aber behalten den Schwanz zeitlebens. Bisweilen conſerviren die Tritonen auch die Kiemen und bleiben ſo ganz auf der Stufe der Kiemenlurche ſtehen, wenn man ſie nämlich zwingt, be— ſtändig im Waſſer zu bleiben (Vergl. oben S. 192). Die dritte Ord— nung, die Schwanzloſen oder Froſchlurche (Anura), verlieren bei der Metamorphoſe nicht nur die Kiemen, durch welche ſie in früher Jugend (als ſogenannte „Kaulquappen“) Waſſer athmen, ſondern auch den Schwanz, mit dem ſie umherſchwimmen. Sie durchlaufen alſo während ihrer Ontogenie den Entwickelungsgang der ganzen Unterklaſſe, indem ſie zuerſt Kiemenlurche, ſpäter Schwanzlurche, und zuletzt Froſchlurche ſind. Offenbar ergiebt ſich daraus, daß die Froſch— lurche ſich erſt fpäter aus den Schwanzlurchen, wie dieſe ſelbſt aus den urſprünglich allein vorhandenen Kiemenlurchen entwickelt haben. Indem wir nun von den Amphibien zu der nächſten Wirbelthier- klaſſe, den Reptilien übergehen, bemerken wir eine ſehr bedeutende Vervollkommnung in der ſtufenweiſe fortſchreitenden Organiſation der Wirbelthiere. Alle bisher betrachteten Paarnaſen oder Amphirrhinen, nämlich die drei nahe verwandten Klaſſen der Fiſche, Lurchfiſche und Lurche, ſtimmen in einer Anzahl von wichtigen Charakteren überein, durch welche ſie ſich von den drei noch übrigen Wirbelthierklaſſen, den Reptilien, Vögeln und Säugethieren, ſehr weſentlich unterſcheiden. Bei dieſen letzteren bildet ſich während der embryonalen Entwickelung rings um den Embryo eine von ſeinem Nabel auswachſende beſon— dere zarte Hülle, die Fruchthaut oder das Amnion, welche mit dem Fruchtwaſſer oder Amnionwaſſer gefüllt iſt, und in dieſem den Embryo oder Keim blaſenförmig umſchließt. Wegen dieſer ſehr wichtigen und charakteriſtiſchen Bildung können wir jene drei höchſt entwickelten Wirbelthierklaſſen als Amnionthiere (Amniota) zu⸗ ſammenfaſſen. Die drei ſoeben betrachteten Klaſſen der Paarnaſen Entſtehung der Amnionthiere aus Amnionloſen. 451 dagegen, denen das Amnion, ebenſo wie allen niederen Wirbelthieren (Unpaarnaſen und Schädelloſen), fehlt, können wir jenen als Am— nionloſe (Anamnia) entgegenſetzen. Die Bildung der Fruchthaut oder des Amnion, durch welche ſich die Reptilien, Vögel und Säugethiere von allen anderen Wirbelthieren unter— ſcheiden, iſt offenbar ein höchſt wichtiger Vorgang in der Ontogenie und der ihr entſprechenden Phylogenie der Wirbelthiere. Er fällt zuſammen mit einer Reihe von anderen Vorgängen, welche weſentlich die höhere Entwickelung der Amnionthiere beſtimmten. Dahin gehört vor allen der gänzliche Verluſt der Kiemen, deſſenwegen man ſchon früher die Amnioten als Kiemenloſe (Ebranchiata) allen übrigen Wirbelthieren als Kiemenathmenden (Branchiata) entgegenge— ſetzt hatte. Bei allen bisher betrachteten Wirbelthieren fanden ſich ath— mende Kiemen entweder zeitlebens, oder doch wenigſtens, wie bei Fröſchen und Molchen, in früher Jugend. Bei den Reptilien, Vö— geln und Säugethieren dagegen kommen zu keiner Zeit des Lebens wirklich athmende Kiemen vor, und die auch hier vorhandenen Kiemen— bogen geſtalten ſich im Laufe der Ontogenie zu ganz anderen Gebilden, zu Theilen des Kieferapparats und des Gehörorgans (Vergl. oben S. 251). Alle Amnionthiere beſitzen im Gehörorgan eine ſogenannte „Schnecke“ und ein dieſer entſprechendes „rundes Fenſter.“ Dieſe Theile fehlen dagegen den Amnionloſen. Bei dieſen letzteren liegt der Schädel des Embryo in der gradlinigen Fortſetzung der Wirbelſäule. Bei den Amnionthieren dagegen erſcheint die Schädelbaſis von der Bauchſeite her eingeknickt, ſo daß der Kopf auf die Bruſt herabſinkt (S. 240 c, d, Fig. A—E). Auch entwickeln ſich erſt bei den Amnioten die Thränenorgane im Auge, welche den Anamnien noch fehlen. Wann fand nun im Laufe der organiſchen Erdgeſchichte dieſer wichtige Vorgang ſtatt? Wann entwickelte ſich aus einem Zweige der Amnionloſen (und zwar jedenfalls aus einem Zweige der Amphibien) der gemeinſame Stammvater aller Amnionthiere? Auf dieſe Frage geben uns die verſteinerten Wirbelthierreſte zwar keine ganz beſtimmte, aber doch eine annähernde Antwort. Mit 29 * 452 Wahrſcheinliche Entſtehungszeit der Amnioten. Ausnahme nämlich von zwei im permiſchen Syſteme gefundenen eidech— ſenähnlichen Thieren (dem Proteroſaurus und Rhopalodon) gehören alle übrigen verſteinerten Reſte, welche wir bis jetzt von Amnion— thieren kennen, der Secundärzeit, Tertiärzeit und Quar— tärzeit an. Von jenen beiden Wirbelthieren aber iſt es noch zweifel— haft, ob ſie ſchon wirkliche Reptilien und nicht vielleicht ſalamander— ähnliche Amphibien ſind. Wir kennen von ihnen allein das Skelet, und dies nicht einmal vollſtändig. Im Ganzen gleicht das Skelet allerdings mehr den Reptilien als den Amphibien, in manchen Einzel— heiten aber mehr den Amphibien. Da wir nun von den entſcheidenden Merkmalen der Weichtheile gar Nichts wiſſen, iſt es ſehr wohl möglich, daß der Proteroſaurus und der Rhopalodon noch amnionloſe Thiere waren, welche den Amphibien näher als den Reptilien ſtanden, viel— leicht aber zu den Uebergangsformen zwiſchen beiden Klaſſen gehörten. Da aber andrerſeits unzweifelhafte Amnionthiere bereits in der Trias verſteinert vorgefunden werden, ſo iſt es wahrſcheinlich, daß die Hauptklaſſe der Amnioten ſich erſt in der Ante— trias zeit, im Beginn des meſolithiſchen Zeitalters, entwickelte. Wie wir ſchon früher ſahen, iſt offenbar gerade dieſer Zeitraum einer der wichtigſten Wendepunkte in der organiſchen Erdge— ſchichte. An die Stelle der paläolithiſchen Farnwälder traten damals die Nadelwälder der Trias. In vielen Abtheilungen der wirbelloſen Thiere traten wichtige Umgeſtaltungen ein: Aus den getäfelten See— lilien Phatnocrina) entwickelten fi) die gegliederten (Colocrina). Die Autechiniden oder die Seeigel mit zwanzig Plattenreihen traten an die Stelle der paläolithiſchen Palechiniden, der Seeigel mit mehr als zwanzig Plattenreihen. Die Cyſtideen, Blaſtoideen, Trilobiten und andere charakteriſtiſche wirbelloſe Thiergruppen der Primärzeit waren ſo eben ausgeſtorben. Kein Wunder, wenn die umgeſtaltenden An— paſſungsverhältniſſe der Antetriaszeit auch auf den Wirbelthierſtamm mächtig einwirkten, und die Entſtehung der Amnionthiere veranlaßten. Wenn man dagegen die beiden eidechſen- oder ſalamanderähn— lichen Thiere der Permzeit, den Proteroſaurus und den Rhopalodon, Schleicher (Reptilien oder Saurier). 453 als echte Reptilien, mithin als die älteſten Amnioten betrachtet, ſo würde die Entſtehung dieſer Hauptklaſſe bereits um eine oder zwei Perioden früher, gegen das Ende der Primärzeit, fallen, in die per— miſche oder antepermiſche Periode. Alle übrigen Reptilienreſte aber welche man früher im permiſchen, im Steinkohlenſyſtem oder gar im devoniſchen Syſteme gefunden zu haben glaubte, haben ſich entweder nicht als Reptilienreſte, oder als viel jüngeren Alters (meiſtens der Trias angehörig) herausgeſtellt. Die gemeinſame hypothetiſche Stammform aller Amnionthiere, welche wir als Protamnion bezeichnen können, und welche mög— licherweiſe dem Proteroſaurus ſehr nahe verwandt war, ſtand vermuth— lich im Ganzen hinſichtlich ihrer Körperbildung in der Mitte zwiſchen den Salamandern und Eidechſen. Ihre Nachkommenſchaft ſpaltete ſich ſchon frühzeitig in zwei verſchiedene Linien (Taf. VI, 39, 40), von denen die eine die gemeinſame Stammform der Reptilien und Vögel, die andere die Stammform der Säugethiere wurde. Die Schleicher (Reptilia oder Pholidota, auch Sauria im weiteſten Sinne genannt) bleiben von allen drei Klaſſen der Amnion— thiere auf der tiefſten Bildungsſtufe ſtehen und entfernen ſich am we— nigſten von ihren Stammvätern, den Amphibien. Daher wurden ſie früher allgemein zu dieſen gerechnet, obwohl ſie in ihrer ganzen Organiſation viel näher den Vögeln als den Amphibien verwandt ſind. Gegenwärtig leben von den Reptilien nur noch vier Ordnungen, näm— lich die Eidechſen, Schlangen, Krokodile und Schildkröten. Dieſe bilden aber nur noch einen ſchwachen Reſt von der ungemein mannich— faltig und bedeutend entwickelten Reptilienſchaar, welche während der meſolithiſchen oder Secundärzeit lebte und damals alle anderen Wir— belthierklaſſen beherrſchte. Die ausnehmende Entwickelung der Rep— tilien während der Secundärzeit iſt fo charakteriſtiſch, daß wir dieſe darnach eben ſo gut, wie nach den Gymnoſpermen benennen könnten (S. 306). Von den dreißig Unterordnungen, welche die nachſtehende Tabelle Ihnen vorführt, gehört die Hälfte, und von den neun Ord— nungen gehören fünf ausſchließlich der Secundärzeit an. Auch von 454 Stammſchleicher (Tocoſaurier). Schwimmſchleicher (Hydroſaurier). den fünf Unterklaſſen, auf welche wir jene vertheilen können, ſind zwei (I und IV) gänzlich, und zwei andere (II und ) größtentheils aus— geſtorben. Dieſe meſolithiſchen Gruppen find durch ein + bezeichnet. In der erſten Unterklaſſe, den Stammreptilien oder Stam m— ſchleichern (Tocosauria), faſſen wir die ausgeſtorbenen Fachzäh— ner (Thecodontia) der Triaszeit mit denjenigen Reptilien zuſammen, welche wir als die gemeinſame Stammform der ganzen Klaſſe be— trachten können. Zu dieſen letzteren, welche wir als Urſchleicher (Proreptilia) bezeichnen können, gehört möglicherweiſe der Protero— ſaurus des permiſchen Syſtems. Die vier übrigen Unterklaſſen ſind wahrſcheinlich als vier divergente Zweige aufzufaſſen, welche ſich aus jener gemeinſamen Stammform nach verſchiedenen Richtungen hin entwickelt haben. Die Thecodonten der Trias, die einzigen ſicher bekannten foſſilen Reſte von Tocoſauriern, waren Eidechſen, welche den heute noch lebenden Monitoren oder Warneidechſen (Monitor, Varanus) ziemlich ähnlich geweſen zu ſein ſcheinen. Die zweite Unterklaſſe, die Schwimmſchleicher (Hydro— sauria), lebte ganz oder größtentheils im Waſſer. Sie ſpaltet ſich in die beiden Ordnungen der Seedrachen und der Krokodile. Die rieſigen, bis 40 Fuß langen Seedrachen (Halisauria) lebten bloß während der Secundärzeit, und zwar finden ſich die verſteinerten Reſte der Simoſaurier bloß in der Trias, diejenigen der Pleſioſaurier und Ichthyoſaurier bloß im Jura und in der Kreide. Vermuthlich ent— wickelten ſich alſo die letzteren aus den erſteren während der Antejura— zeit. Um dieſe Zeit entſtanden wahrſcheinlich auch die Krokodile (Crocodilia), von denen die Teleoſaurier und Steneoſaurier bloß im Jura, die jetzt allein noch lebenden Alligatoren aber in den Kreide— und Tertiärſchichten verſteinert gefunden werden. Die wenigen Kro— kodile der Gegenwart ſind nur ein dürftiger Reſt von der furchtbaren Raubthierſchaar, welche die Gewäſſer der meſolithiſchen Zeit bevölkerte. Von allen Reptiliengruppen hat ſich bis auf unſere Zeit am beſten die dritte Unterklaſſe conſervirt, die Schuppenſchleicher (Lepido— sauria). Es gehören dahin die beiden nächſtverwandten Ordnungen 455 Syſtematiſche Ueberſicht der 5 Unterklaſſen, 9 Ordnungen und 30 Unterordnungen der Reptilien. (Die mit einem + bezeichneten Gruppen find ſchon während der Secundärzeit ausgeſtorben). Unterklaſſen Ordnungen Unterordnungen Syſtematiſcher Name der der der der Reptilien Reptilien Reptilien Unterordnungen ler { 5 Gesch | 1. Urſchleicher 1. Proreptilia 15 2. ü 5 ZT 1 Tocosauria + \ Tocosauria + Fachzähner n t 2. Seedrachen | 3. Urdrachen 3. SSR + II. Schwimm-| Hatisauria + . Schlangendrachen 4. Plesiosauria f ſchleicher 5. Fiſchdrachen 5. Ichthyosauria Ar „ ee Er 7. Opiſthocoelen 7. Steneosauria + 8. Proſthocoelen 8. Alligatores 9. Spaltzüngler 9. Fissilingues ; 10. Chamgeleonten 10. Vermilingues Me ch je ut Dickzüngler 11. Crassilingues La certilꝭ a , = III. Schuppen⸗ 8 Kurzzüngler 12. Brevilingues ſchleicher 3. Ringeleidechſen 13. Glyptodermata Lepidosauria 55 14. Opoterodonta 5. Schlangen . Nattern 15. Aelyphodorita Dphiack 7. — chlangen 16. Opisthoglypha e 17. Proteroglypha Ottern 18. Solenoglypha 5 a 6. Drachen 9. Rieſendrachen 19. Harpagosauria + „ser | 1 Dinosauria + 20. Elephantendrachen 20. Therosauria + 7. Schnabel⸗ 2. dare 21. Compsognathida eidechſen 2. Vogelſchleicher 22. Tocornithes + oa dont 3. Fehlzähner 23. Cryptodontia + 4. Hundszähner 24. Cynodontia 5 V. Schnabel⸗ 5. Langſchwänzige 25. Rhamphorhynchif ſchleicher Js. Flugſ ic Flugeidechſen Rhampho- | Pierosauria + )26. Kurzſchwänzige 26. Pterodactyli + sauria Flugeidechſen 7. Seeſchildkröten 27. Thalassita 9. Schildkr He 5 Flußſchildkröten 28. Potamita Chelonia 9. Sumpfſchildkröten 29. Elodita Ia0 Landſchildkröten 30. Chersita 456 Schuppenſchleicher (Lepidoſaurier). Drachen (Dinoſaurier). der echten Eidechſen (Lacertilia) und der Schlangen (Ophidia), von denen jede in fünf verſchiedene Unterordnungen zerfällt. Unter den echten Eidechſen ſtehen die Monitoren oder Warneidechſen (Moni— tor, Varanus) den urſprünglichen Stammformen der ganzen Klaſſe am nächſten. Die Schlangen, die jüngſte von allen neun Reptilien— ordnungen, ſcheinen ſich erſt während der Anteocenzeit, im Beginn der Tertiärzeit, aus einem Zweige der Eidechſen entwickelt zu haben. Wenigſtens kennt man verſteinerte Schlangen bis jetzt bloß aus ter— tiären Schichten. Gänzlich ausgeſtorben, ohne Nachkommen zu hinterlaſſen, iſt die vierte Unterklaſſe, diejenige der Drachen oder Lindwürmer (Di- nosauria oder Pachypoda). Dieſe koloſſalen Reptilien, welche eine Länge von mehr als 50 Fuß erreichten, ſind die größten Landbewohner, welche jemals unſer Erdball getragen hat. Sie lebten ausſchließlich in der Secundärzeit. Die meiſten Reſte derſelben finden ſich in der unteren Kreide, namentlich in der Wälderformation Englands. Die Mehrzahl waren furchtbare Raubthiere (Megaloſaurus von 20—30, Belorofau- rus von 40—60 Fuß Länge). Iguanodon jedoch und einige andere lebten von Pflanzennahrung und ſpielten in den Wäldern der Kreidezeit wahrſcheinlich eine ähnliche Rolle, wie die ebenſo ſchwerfälligen, aber kleineren Elephanten, Flußpferde und Nashörner der Gegenwart. In einer fünften und letzten Unterklaſſe, Schnabelſchleicher (Rhamphosauria), vereinigen wir alle diejenigen Reptilien, bei denen die Kiefer ſich mehr oder weniger deutlich zu einem Vogelſchnabel um— bilden. Die Zähne gehen dabei ganz oder theilweiſe verloren, oder werden eigenthümlich umgebildet. Als gemeinſame Stammgruppe derſelben, die ſich aus einem oder mehreren Aeſten der Tocoſaurier ent— wickelte, können wir die Schnabeleidechſen (Anomodonta) der älteren Secundärzeit betrachten, von denen ſich viele merkwürdige Reſte in der Trias und im Jura finden. Aus dieſen haben ſich viel— leicht als drei divergente Zweige die Flugſchleicher, Schildkröten und Vögel entwickelt. Die merkwürdigen Flugſchleicher (Pterosauria), bei denen der außerordentlich verlängerte fünfte Finger der Hand als Schnabelſchleicher (Rhamphoſaurier). Vögel. 457 Stütze einer gewaltigen Flughaut diente, flogen in der Secundärzeit wahrſcheinlich in ähnlicher Weiſe umher, wie jetzt die Fledermäuſe. Die kleinſten Flugeidechſen hatten die Größe eines Sperlings. Die größten aber, mit einer Klafterweite der Flügel von mehr als 16 Fuß, übertrafen die größten jetzt lebenden fliegenden Vögel (Condor und Albatros) an Umfang. Ihre verſteinerten Reſte, die langſchwänzigen Rhamphorhynchen und die kurzſchwänzigen Pterodactylen, finden ſich zahlreich verſteinert in allen Schichten der Jura- und Kreidezeit, aber nur in dieſen vor. Dagegen finden wir verſteinerte Schildkröten (Chelonia) vom Jura an in allen ſecundären, tertiären und quartä— ren Schichten verſteinert vor. Doch ſind auch die Schildkröten der Gegenwart, gleich den meiſten anderen Reptiliengruppen, nur ſchwache Ueberreſte ihres früheren Glanzes. In den Tertiärſchichten des Hima— laya fand ſich unter anderen eine verſteinerte Schildkröte, die gegen 20 Fuß lang und 6 Fuß hoch war. Die Klaſſe der Vögel (Aves) iſt, wie ſchon bemerkt, durch ihren inneren Bau und durch ihre embryonale Entwickelung den Rep— tilien ſo nahe verwandt, daß ſie zweifelsohne aus einem Zweige dieſer Klaſſe ihren wirklichen Urſprung genommen hat. Wie Ihnen allein ſchon ein Blick auf Fig. C—F, S. 242 zeigt, find die Embryonen der Vögel zu einer Zeit, in der ſie bereits ſehr weſentlich von den Em— bryonen der Säugethiere verſchieden erſcheinen, von denen der Schild— kröten und anderer Reptilien noch kaum zu unterſcheiden. Die Dotter- furchung iſt bei den Vögeln und Reptilien partiell, bei den Säuge— thieren total. Die Blutzellen der erſteren beſitzen einen Kern, die der letzteren dagegen nicht. Die Haare der Säugethiere entwickeln ſich in geſchloſſenen Bälgen der Haut, die Federn der Vögel dagegen, eben ſo wie die Schuppen der Reptilien, auf Höckern der Haut. Der Unterkiefer der letzteren iſt viel verwickelter zuſammengeſetzt, als derjenige der Säugethiere. Auch fehlt dieſen letzteren das Quadratbein der erſteren. Während bei den Säugethieren (wie bei den Amphibien) die Verbin— dung zwiſchen dem Schädel und dem erſten Halswirbel durch zwei Gelenkhöcker oder Condylen geſchieht, ſind dieſe dagegen bei den 458 Fiederſchwänzige Vögel (Saururen). Vögeln und Reptilien zu einem einzigen verſchmolzen. Man kann die beiden letzteren Klaſſen daher mit vollem Rechte in einer Gruppe als Monocondylia zuſammenfaſſen und dieſer die Säugethiere als Di- condylia gegenüber ſetzen. Die Abzweigung der Vögel von den Reptilien fand jedenfalls erſt während der meſolithiſchen Zeit, und zwar wahrſcheinlich während der Triaszeit oder Antejurazeit ſtatt. Die älteſten foſſilen Vogelreſte find im oberen Jura gefunden worden (Archaeopteryx). Aber ſchon in der Triaszeit lebten verſchiedene Saurier (Anomodonten), die in mehrfacher Hinſicht den Uebergang von den Tocoſauriern zu den Stammvätern der Vögel, den hypothetiſchen Tocornithen, zu bilden ſcheinen. Wahrſcheinlich waren dieſe Tocornithen von anderen Schna— beleidechſen im Syſteme kaum zu trennen, und namentlich dem kängu— ruhartigen Compsognathus aus dem Jura von Solenhofen nächſt verwandt. Huxley ſtellt dieſen letzteren zu den Dinoſauriern, und glaubt, daß dieſe die nächſten Verwandten der Tocornithen ſeien. Die große Mehrzahl der Vögel erſcheint, trotz aller Mannichfaltig— keit in der Färbung des ſchönen Federkleides und in der Bildung des Schnabels und der Füße, höchſt einförmig organiſirt, in ähnlicher Weiſe, wie die Inſectenklaſſe. Den äußeren Exiſtenzbedingungen hat ſich die Vogelform auf das Vielfältigſte angepaßt, ohne dabei irgend weſentlich von dem ſtreng erblichen Typus der charakteriſtiſchen inneren Bildung abzuweichen. Nur zwei kleine Gruppen, einerſeits die fieder— ſchwänzigen Vögel (Saururae), andrerſeits die ſtraußartigen (Ratitae), weichen erheblich von dem gewöhnlichen Vogeltypus, dem der kiel— brüſtigen (Carinatae) ab, und demnach kann man die ganze Klaſſe in drei Unterklaſſen eintheilen. Die erſte Unterklaſſe, die reptilienſchwänzigen oder fie— derſchwänzigen Vögel (Saururae) ſind bis jetzt bloß durch einen einzigen und noch dazu unvollſtändigen foſſilen Abdruck bekannt, welcher aber als die älteſte und dabei ſehr eigenthümliche Vogelverſteine— rung eine hohe Bedeutung beanſprucht. Das iſt der Urgreif oder die Archaeopteryx lithographica, welche bis jetzt erſt in einem Ex— Fächerſchwänzige Vögel (Carinaten). 459 emplar in dem lithographiſchen Schiefer von Solenhofen, im oberen Jura von Baiern, gefunden wurde. Dieſer merkwürdige Vogel ſcheint im Ganzen Größe und Wuchs eines ſtarken Raben gehabt zu haben, namentlich was die wohl erhaltenen Beine betrifft; Kopf und Bruſt fehlen leider. Die Flügelbildung weicht ſchon etwas von derjenigen der anderen Vögel ab, noch viel mehr aber der Schwanz. Bei allen übrigen Vögeln iſt der Schwanz ſehr kurz, aus wenigen kurzen Wir— beln zuſammengeſetzt. Die letzten derſelben ſind zu einer dünnen ſenk— recht ſtehenden Knochenplatte verwachſen, an welcher ſich die Steuer— federn des Schwanzes fächerförmig anſetzen. Die Archäopteryx da— gegen hat einen langen Schwanz, wie die Eidechſen, aus zahlreichen (20) langen und dünnen Wirbeln zuſammengeſetzt, und an jedem Wirbel ſitzen zweizeilig ein paar ſtarke Steuerfedern, ſo daß der ganze Schwanz regelmäßig gefiedert erſcheint. Dieſelbe Bildung der Schwanz— wirbelſäule zeigt ſich bei den Embryonen der übrigen Vögel vorüber— gehend, fo daß offenbar der Schwanz der Archäopteryx die urſprüng— liche, von den Reptilien ererbte Form des Vogelſchwanzes darſtellt. Wahrſcheinlich lebten ähnliche Vögel mit Eidechſenſchwanz um die mitt— lere Secundärzeit in großer Menge; der Zufall hat uns aber erſt dieſen einen Reſt bis jetzt enthüllt. Zu den fächerſchwänzigen oder kielbrüſtigen Vögeln (Carinatae), welche die zweite Unterklaſſe bilden, gehören alle jetzt lebenden Vögel, mit Ausahme der ſtraußartigen oder Ratiten. Sie haben ſich wahrſcheinlich in der zweiten Hälfte der Secundärzeit, in der Antekretazeit oder in der Kreidezeit, aus den fiederſchwänzigen durch Verwachſung der hinteren Schwanzwirbel und Verkürzung des Schwan— zes entwickelt. Aus der Secundärzeit kennt man von ihnen nur ſehr wenige Reſte, und zwar nur aus dem letzten Abſchnitt derſelben, aus der Kreide. Dieſe Reſte gehören einem albatrosartigen Schwimm— vogel und einem ſchnepfenartigen Stelzvogel an. Alle übrigen bis jetzt bekannten verſteinerten Vogelreſte ſind in den Tertiärſchichten ge— funden worden, und zeigen, daß die Klaſſe erſt in der Tertiärzeit ihre eigentliche Entwickelung und Ausbreitung erreichte. 460 Flaumſchwänzige Vögel (Ratiten). Die ſtraußartigen oder flaumſchwänzigen Vögel (Ra— titae), auch Lauf vögel (Cursores) genannt, die dritte und letzte Un— terklaſſe, iſt gegenwärtig nur noch durch wenige lebende Arten vertreten, durch den zweizehigen afrikaniſchen Strauß, den dreizehigen amerikani— ſchen und neuholländiſchen Strauß, den indiſchen Caſuar, und den vier— zehigen Kiwi oder Apteryx von Neuſeeland. Auch die ausgeſtorbenen Rieſenvögel von Madagaskar (Aepyornis) und von Neuſeeland (Dinor— nis), welche viel größer waren als die jetzt lebenden größten Strauße, ge— hören zu dieſer Gruppe. Wahrſcheinlich ſind die ſtraußartigen Vögel durch Abgewöhnung des Fliegens, durch die damit verbundene Rückbildung der Flugmuskeln und des denſelben zum Anſatz dienenden Bruſtbein— kammes, und durch entſprechend ſtärkere Ausbildung der Hinterbeine zum Laufen, aus einem Zweige der kielbrüſtigen Vögel entſtanden. Vielleicht ſind dieſelben jedoch auch, wie Huxley meint, nächſte Ver— wandte der Dinauſaurier, und der dieſen naheſtehenden Reptilien, na— mentlich des Compsognathus. In dieſem Falle würden die Kielbrü— ſtigen erſt ſpäter aus den ſtraußartigen, als der urſprünglichen Stamm- gruppe der Klaſſe, entſtanden ſein. Da die nähere Betrachtung der geſchichtlichen und genealogiſchen Entwickelung der einzelnen Vogelordnungen gar kein beſonderes In— tereſſe hat, wenden wir uns nun ſogleich zum Stammbaum der ach— ten und letzten Wirbelthierklaſſe, der Säugethiere (Mammalia). Ohne Zweifel iſt dies die bei weitem intereſſanteſte, vollkommenſte und wichtigſte von allen Thierklaſſen. Denn in dieſe Klaſſe reiht die wiſ— ſenſchaftliche Zoologie auch den Menſchen ein, und aus Gliedern die— ſer Klaſſe hat ſich das Menſchengeſchlecht zunächſt entwickelt. Wir müſſen daher der Geſchichte und dem Stammbaum der Säugethiere unſere beſondere Aufmerkſamkeit zuwenden. Laſſen Sie uns zu die— ſem Zwecke wieder zunächſt das Syſtem dieſer Thierklaſſe unter— ſuchen. Von den älteren Naturforſchern wurde die Klaſſe der Säugethiere mit vorzüglicher Rückſicht auf die Bildung des Gebiſſes und der Füße in eine Reihe von 8 — 16 Ordnungen eingetheilt. Auf der tiefſten Unterklaſſen und Ordnungen der Säugethiere. 461 Stufe dieſer Reihe ſtanden die Walfiſche, welche durch ihre fiſchähnliche Körpergeſtalt ſich am meiſten vom Menſchen, der höchſten Stufe zu entfernen ſchienen. So unterſchied Linné folgende acht Ordnungen: 1. Cete (Wale); 2. Belluae (Flußpferde und Pferde); 3. Pecora (Wiederkäuer); 4. Glires (Nagethiere und Nashorn); 5. Bestiae (Inſectenfreſſer, Beutelthiere und verſchiedene Andere); 6. Ferae (Raubthiere); 7. Bruta (Zahnarme und Elephanten); 8. Primates (Fledermäuſe, Halbaffen, Affen und Menſchen). Nicht viel über dieſe Klaſſification von Linné erhob ſich diejenige von Cuvier, welche für die meiſten ſolgenden Zoologen maßgebend wurde. Cuvier un— terſchied folgende acht Ordnungen: 1. Cetacea (Wale); 2. Rumi- nantia (Wiederkäuer); 3. Pachyderma (Hufthiere nach Ausſchluß der Wiederkäuer); 4. Edentata (Zahnarme); 5. Rodentia (Nage- thiere); 6. Carnassia (Beutelthiere, Raubthiere, Inſectenfreſſer und Flederthiere); 7. Quadrumana (Halbaffen und Affen); 8. Bimana (Menſchen). Den bedeutendſten Fortſchritt in der Klaſſification der Säugethiere that ſchon 1816 der ausgezeichnete, bereits vorher erwähnte Anatom Blainville, welcher zuerſt mit tiefem Blick die drei natürlichen Hauptgruppen oder Unterklaſſen der Säugethiere erkannte, und ſie nach der Bildung ihrer Fortpflanzungsorgane als Ornithodel— phien, Didelphien und Monodelphien unterſchied. Da dieſe Eintheilung heutzutage mit Recht bei allen wiſſenſchaftlichen Zoologen wegen ihrer tiefen Begründung durch die Entwickelungsgeſchichte als die beſte gilt, ſo laſſen Sie uns derſelben auch hier folgen. Die erſte Unterklaſſe bilden die Kloakenthiere oder Bruſt— loſen, auch Gabler oder Gabelthiere genannt (Ornithodelphia oder Amasta). Sie ſind heutzutage nur noch durch zwei lebende Säu— gethierarten vertreten, die beide auf Neuholland und das benachbarte Vandiemensland beſchränkt ſind: das wegen ſeines Vogelſchnabels ſehr bekannte Waſſerſchnabelthier (Ornithorhynchus para- doxus) und das weniger bekannte, igelähnliche Landſchnabelthier (Echidna hystrix). Dieſe beiden ſeltſamen Thiere, welche man in 462 Kloakenthiere (Monotremen) oder Bruſtloſe (Amaſten). der Ordnung der Schnabelthiere (Monotrema) zuſammenfaßt, find offenbar die letzten überlebenden Reſte einer vormals formenrei— chen Thiergruppe, welche in der älteren Secundärzeit allein die Säu— gethierklaſſe vertrat, und aus der fich erſt ſpäter, wahrſcheinlich in der Jurazeit, die zweite Unterklaſſe, die Didelphien entwickelten. Leider ſind uns von dieſer älteſten Stammgruppe der Säugethiere, welche wir als Stammſäuger (Promammalia) bezeichnen wollen, bis jetzt noch keine foſſilen Reſte mit voller Sicherheit bekannt. Doch ge— hören dazu möglicherweiſe die älteſten bekannten von allen verſteiner— ten Säugethierreſten, nämlich der Microlestes antiquus, von dem man bis jetzt allerdings nur einige kleine Backzähne kennt. Dieſe ſind in den oberſten Schichten der Trias, im Keuper, und zwar zuerſt (1847) in Deutſchland (bei Degerloch unweit Stuttgart), ſpäter auch (1858) in England (bei Frome) gefunden worden. Aehnliche Zähne ſind neuerdings auch in der nordamerikaniſchen Trias gefunden und als Dromatherium sylvestre beſchrieben. Dieſe merkwürdigen Zähne, aus deren charakteriſtiſcher Form man auf ein inſectenfreſſendes Säuge— thier ſchließen kann, ſind die einzigen Reſte von Säugethieren, welche man bis jetzt in den älteren Tertiärſchichten, in der Trias gefunden hat. Vielleicht gehörten aber außer dieſen auch noch manche andere, im Jura und der Kreide gefundene Säugethierzähne, welche jetzt ge— wöhnlich Beutelthieren zugeſchrieben werden, eigentlich Kloakenthieren an. Bei dem Mangel der charakteriſtiſchen Weichtheile läßt ſich dies nicht ſicher entſcheiden. Jedenfalls müſſen dem Auftreten der Beutel— thiere zahlreiche, mit entwickeltem Gebiß und mit einer Kloake verſehene Gabelthiere vorangegangen ſein. Die Bezeichnung: „Kloakenthiere“ (Monotrema) im weiteren Sinne haben die Ornithodelphien wegen der Kloake erhalten, durch deren Beſitz ſie ſich von allen übrigen Säugethieren unterſcheiden, und dagegen mit den Vögeln, Reptilien, Amphibien, überhaupt mit den niederen Wirbelthieren übereinſtimmen. Die Kloakenbildung beſteht darin, daß der letzte Abſchnitt des Darmkanals die Mündungen des Urogenitalapparats, d. h. der vereinigten Harn- und Geſchlechtsorgane Kloakenthiere (Monotremen) oder Bruftlofe (Amaften). 463 aufnimmt, während dieſe bei allen übrigen Säugethieren (Didelphien ſowohl als Monodelphien) getrennt vom Maſtdarm ausmünden. Je— doch iſt auch bei dieſen in der erſten Zeit des Embryolebens die Kloa— kenbildung vorhanden, und erſt ſpäter (beim Menſchen gegen die zwölfte Woche der Entwickelung) tritt die Trennung der beiden Mün— dungsöffnungen ein. „Gabelthiere“ hat man die Kloakenthiere auch wohl genannt, weil die vorderen Schlüſſelbeine mittelſt des Bruſt— beines mit einander in der Mitte zu einem Knochenſtück verwachſen ſind, ähnlich dem bekannten „Gabelbein“ der Vögel. Bei den übrigen Säugethieren bleiben die beiden Schlüſſelbeine vorn völlig getrennt, und verwachſen nicht mit dem Bruſtbein. Ebenſo ſind die hinteren Schlüſſelbeine oder Coracoidknochen bei den Gabelthieren viel ſtärker als bei den übrigen Säugethieren entwickelt und verbinden ſich mit dem Bruſtbein. Auch in vielen übrigen Charakteren, namentlich in der Bildung der inneren Geſchlechtsorgane, des Gehörlabyrinthes und des Gehirns, ſchließen ſich die Schnabelthiere näher den übrigen Wirbelthieren als den Säugethieren an, ſo daß man ſie ſelbſt als eine beſondere Klaſſe von dieſen hat trennen wollen. Jedoch gebären ſie, gleich allen ande— ren Säugethieren, lebendige Junge, welche eine Zeitlang von der Mutter mit ihrer Milch ernährt werden. Während aber bei allen übrigen die Milch durch die Saugwarzen oder Zitzen der Milchdrüſe entleert wird, fehlen dieſe den Schnabelthieren gänzlich, und die Milch tritt einfach aus einer Hautſpalte hervor. Man kann ſie daher auch als Bruſtloſe oder Zitzenloſe (Amasta) bezeichnen. Die auffallende Schnabelbildung der beiden noch lebenden Schna— belthiere, welche mit Verkümmerung der Zähne verbunden iſt, muß offenbar nicht als weſentliches Merkmal der ganzen Unterklaſſe der Kloakenthiere, ſondern als ein zufälliger Anpaſſungscharakter ange— ſehen werden, welcher die letzten Reſte der Klaſſe von der ausgeſtorbe— nen Hauptgruppe ebenſo unterſcheidet, wie die Bildung eines ähn— lichen zahnloſen Rüſſels manche Zahnarme (3. B. die Ameiſenfreſſer) vor den übrigen Placentalthieren auszeichnet. Die unbekannten aus⸗ 464 Beutelthiere oder Marſupialien. geſtorbenen Stammſäugethiere oder Promammalien, die in der Trias— zeit lebten, und von denen die beiden heutigen Schnabelthiere nur einen einzelnen, verkümmerten und einſeitig ausgebildeten Aſt dar— ſtellen, beſaßen wahrſcheinlich ein ſehr entwickeltes Gebiß, gleich den Beutelthieren, die ſich zunächſt aus ihnen entwickelten. Die Beutelthiere oder Beutler (Didelphia oder Mar- supialia), die zweite von den drei Unterklaſſen der Säugethiere, ver— mittelt in jeder Hinſicht, ſowohl in anatomiſcher und embryologiſcher, als in genealogiſcher und hiſtoriſcher Beziehung, den Uebergang zwi— ſchen den beiden anderen, den Kloakenthieren und Placentalthieren. Zwar leben von dieſer Gruppe noch jetzt zahlreiche Vertreter, nament— lich die allbekannten Kängurus, Beutelratten und Beutelhunde. Allein im Ganzen geht offenbar auch dieſe Unterklaſſe, gleich der vorhergehen— den, ihrem völligen Ausſterben entgegen, und die noch lebenden Glieder derſelben ſind die letzten überlebenden Reſte einer großen und formenreichen Gruppe, welche während der jüngeren Secundärzeit und während der älteren Tertiärzeit vorzugsweiſe die Säugethierklaſſe vertrat. Wahrſcheinlich haben ſich die Beutelthiere um die Mitte der meſolithiſchen Zeit (während der Juraperiode?) aus einem Zweige der Kloakenthiere entwickelt, und im Beginn der Tertiärzeit ging wiederum aus den Beutelthieren die Gruppe der Placentalthiere hervor, welcher die erſteren dann bald im Kampfe um's Daſein unterlagen. Alle foſſilen Reſte von Säugethieren, welche wir aus der Secundärzeit kennen, gehören entweder ausſchließlich Beutelthieren, oder (zum Theil vielleicht?) Kloakenthieren an. Damals ſcheinen Beutelthiere über die ganze Erde verbreitet geweſen zu ſein. Selbſt in Europa (England, Frankreich) finden wir zahlreiche Reſte derſelben. Dagegen ſind die letzten Ausläufer der Unterklaſſe, welche jetzt noch leben, auf ein ſehr enges Verbreitungsgebiet beſchränkt, nämlich auf Neuholland, auf den auſtraliſchen und einen kleinen Theil des aſiatiſchen Archipelagus. Einige wenige Arten leben auch noch in Amerika; hingegen lebt in der Gegenwart kein einziges Beutelthier mehr auf dem Feſtlande von Aſien, Afrika und Europa. Beutelthiere oder Marſupialien. 465 Die Beutelthiere führen ihren Namen von der bei den meiſten wohl entwickelten beutelförmigen Taſche (Marsupium), welche ſich an der Bauchſeite der weiblichen Thiere vorfindet, und in welcher die Mutter ihre Jungen noch eine geraume Zeit lang nach der Geburt um— herträgt. Dieſer Beutel wird durch zwei charakteriſtiſche Beutelknochen geſtützt, welche auch den Schnabelthieren zukommen, den Placental— thieren dagegen fehlen. Das junge Beutelthier wird in viel unvoll— kommener Geſtalt geboren, als das junge Placentalthier, und erreicht erſt, nachdem es einige Zeit im Beutel ſich entwickelt hat, denjenigen Grad der Ausbildung, welchen das letztere ſchon gleich bei ſeiner Ge— burt beſitzt. Bei dem Rieſenkänguruh, welches Mannshöhe erreicht, iſt das neugeborene Junge, welches nicht viel über fünf Wochen von der Mutter im Fruchtbehälter getragen wurde, nicht mehr als zolllang, und erreicht ſeine weſentliche Ausbildung erſt in dem Beutel der Mutter, wo es gegen neun Monate, an der Zitze der Milchdrüſe feſtgeſaugt, hängen bleibt. Die verſchiedenen Abtheilungen, welche man gewöhnlich als ſo— genannte Familien in der Unterklaſſe der Beutelthiere unterſcheidet, ver— dienen eigentlich den Rang von ſelbſtſtändigen Ordnungen, da ſie ſich in der mannichfaltigen Differenzirung des Gebiſſes und der Gliedmaßen in ähnlicher Weiſe, wenn auch nicht ſo ſcharf, von einander unter— ſcheiden, wie die verſchiedenen Ordnungen der Placentalthiere. Zum Theil entſprechen ſie den letzteren vollkommen. Offenbar hat die An— paſſung an ähnliche Lebensverhältniſſe in den beiden Unterklaſſen der Marſupialien und Placentalien ganz entſprechende oder analoge Um— bildungen der urſprünglichen Grundform bewirkt. Man kann in dieſer Hinſicht ungefähr acht Ordnungen von Beutelthieren unterſcheiden, von denen die eine Hälfte die Hauptgruppe oder Legion der pflanzen— freſſenden, die andere Hälfte die Legion der fleiſchfreſſenden Marſu— pialien bildet. Von beiden Legionen finden ſich (falls man nicht auch den vorher erwähnten Mikroleſtes und das Dromatherium der Trias hierher ziehen will) die älteften foffilen Reſte im Jura vor, und zwar in den Schiefern von Stonesfield, bei Oxford in England. Dieſe Haeckel, Natürliche Schöpfungsgeſchichte. 30 466 Pflanzenfreſſende Beutelthiere. Schiefer gehören der Bathformation oder dem unteren Oolith an, der— jenigen Schichtengruppe, welche unmittelbar über dem Lias, der älteſten Jurabildung liegt (Vergl. S. 307). Allerdings beſtehen die Beutelthierreſte, welche in den Schiefern von Stonesfield gefunden wurden, und ebenfo diejenigen, welche man ſpäter in den Purbeckſchich— ten fand, nur aus Unterkiefern (Vergl. S. 311). Allein glücklicherweiſe gehört gerade der Unterkiefer zu den am meiſten charakteriſtiſchen Skelettheilen der Beutelthiere. Er zeichnet ſich nämlich durch einen hakenförmigen Fortſatz des nach unten und hinten gekehrten Unter— kieferwinkels aus, welcher weder den Placentalthieren noch den (heute lebenden) Schnabelthieren zukömmt, und wir können aus der An— weſenheit dieſes Fortſatzes an den Unterkiefern von Stonesfield ſchlie— ßen, daß ſie Beutelthieren angehört haben. Von den pflanzenfreſſenden Beutelthieren (Botano- phaga) kennt man bis jetzt aus dem Jura nur zwei Verſteinerungen, nämlich den Stereognathus oolithicus aus den Schiefern von Sto— nesfield (unterer Oolith) und den Plagiaulax Becklesii aus den mittleren Purbeckſchichten (oberer Oolith). Dagegen finden ſich in Neuholland rieſige verſteinerte Reſte von ausgeſtorbenen Beutelthieren der Diluvialzeit (Diprotodon und Nototherium), welche weit größer als die größten noch lebenden Marſupialien waren. Diprotodon australis, deſſen Schädel allein drei Fuß lang iſt, übertraf das Fluß— pferd oder den Hippopotamus, dem es im Ganzen an ſchwerfälligem und plumpem Körperbau glich, noch an Größe. Man kann dieſe ausgeſtorbene Gruppe, welche wahrſcheinlich den rieſigen placentalen Hufthieren der Gegenwart, den Flußpferden und Rhinoceros, entſpricht, wohl als Hufbeutler (Barypoda) bezeichnen. Dieſen ſehr nahe ſteht die Ordnung der Känguruhs oder Springbeutler (Macro— poda), die Sie alle aus den zoologiſchen Gärten kennen. Sie ent— ſprechen durch die ſehr verkürzten Vorderbeine, die ſehr verlängerten Hinterbeine und den ſehr ſtarken Schwanz, der als Springſtange dient, den Springmäuſen unter den Nagethieren. Durch ihr Gebiß erinnern ſie dagegen an die Pferde, und durch ihre zuſammengeſetzte Fleiſchfreſſende Beutelthiere. 467 Magenbildung an die Wiederkäuer. Eine dritte Ordnung von pflan— zenfreſſenden Beutelthieren entſpricht durch ihr Gebiß den Nagethieren, und durch ihre unterirdiſche Lebensweiſe noch beſonders den Wühl— mäuſen. Wir können dieſelben daher als Nag ebeutler oder wur— zelfreſſende Beutelthiere (Rhizophaga) bezeichnen. Sie iſt gegen— wärtig nur noch durch das auſtraliſche Wombat (Phascolomys) ver- treten. Eine vierte und letzte Ordnung von pflanzenfreſſenden Beutel— thieren endlich bilden die Kletterbeutler oder früchtefreſſenden Beutelthiere (Carpophaga), welche in ihrer Lebensweiſe und Geſtalt theils den Eichhörnchen, theils den Affen entſprechen (Phalangista, Phascolarctus). Die zweite Legion der Marſupialien, die fleiſchfreſſenden Beutelthiere (Zoophaga), zerfallen ebenfalls in vier Hauptgrup— pen oder Ordnungen. Die älteſte von dieſen iſt die der Urbeutler oder inſectenfreſſenden Beutelthiere (Cantharophaga). Zu dieſer ge— hören wahrſcheinlich die Stammformen der ganzen Legion, und viel— leicht auch der ganzen Unterklaſſe. Wenigſtens gehören alle ſtones— fielder Unterkiefer (mit Ausnahme des erwähnten Stereognathus) inſectenfreſſenden Beutelthieren an, welche in dem jetzt noch leben— den Myrmecobius ihren nächſten Verwandten beſitzen. Doch war bei einem Theile jener bolithiſchen Urbeutler die Zahl der Zähne größer, als bei allen übrigen bekannten Säugethieren, indem jede Unterkieferhälfte von Thylacotherium 16 Zähne enthält (3 Schnei— dezähne, 1 Eckzahn, 6 falſche und 6 wahre Backzähne). Wenn in dem unbekannten Oberkiefer eben ſo viele Zähne ſaßen, ſo hatte Thylacotherium nicht weniger als 64 Zähne, gerade doppelt ſo viel als der Menſch. Die Urbeutler entſprechen im Ganzen den Inſectenfreſſern unter den Placentalthieren, zu denen Igel, Maulwurf und Spitzmaus gehören. Eine zweite Ordnung, die ſich wahrſchein— lich aus einem Zweige der erſteren entwickelt hat, find die Rüſſel— beutler oder zahnarmen Beutelthiere (Edentula), welche durch die rüſſelförmig verlängerte Schnauze, das verkümmerte Gebiß und die demſelben entſprechende Lebensweiſe an die Zahnarmen oder Edentaten 30 * 468 Syſtematiſche Ueberſicht der Legionen, Ordnungen und Unterordnungen der Säugethiere. I. Erſte Unterklaſſe der Säugethiere: Gabler oder Kloakeuthiere (Amasta oder Ornithodelphia). Säugethiere mit Kloake, ohne Placenta, mit Beutelknochen. I. Stamm⸗ ſäuget 8 ausgeſtorbene Säug e-] (Microlestes ?) thiere der Triaszeit Dromatherium ?) Promammalia ; p ( ) 1 2 * . 1 — 4 1 II. Schnabel⸗ j 2 Waſſer a 1 Ornithorkzn | 1. Ornithorhynchus thiere Schnabelthiere chida paradoxus 5 er 2. Echidnida 2. Echidna hystrix Monotrema Schnabelthiere II. Zweite Unterklaſſe der Sängethiere: Beutler oder Beutelthiere (Marsupialia oder Didelphia), Säugethiere ohne Kloake, ohne Placenta, mit Beutelknochen. Legionen | Ordnungen Syſtematiſcher Familien der der Name der der Beutelthiere | Beutelthiere Ordnungen Beutelthiere 1. Huf⸗ 1. Barypoda 1. Stereognathida Beutelthiere \ 2. Nototherida (Hufbeutler) | 3. Diprotodontia 2. Känguruh⸗ 2. Macropoda 4. Plagiaulacida I. Pflanzen⸗ Beute it. i 5 N 5. Halmaturida freſſende (Spring beutler) 6. Dendrolagida Beutelthiere 13. Wurzelfreſſende 3. Rhizophaga Marsupialia ] Beutelthiere | 7. Phascolomyida eee (Nagebeutler) 4. Früchtefreſſende 4. Carpophaga 8. Phascolaretida Beutelthiere 9. Phalangistida (Kletterbeutler) 10. Petaurida 5. Inſecten⸗ 5. Cantharophaga 11. Thylacotherida frejjende | 12. Spalacotherida Beutelthiere 13. Myrmecobida (Urbeutler) 14 Peramelida IV. Fleiſch⸗ 6, Zahnarme 6. Edentula freſſende Beutelthiere hs Tarsipedifia Beutelthiere J (Rüſſelbeutler) e Marsupialia 7. Raub⸗ 7. Creophaga 16. Dasyurida Zoophaga Beutelthiere hr Thylacinida (Raubbeutler) 18. Thylacoleonida 8. Affenfüßige 8. Pedimana 19. Chironectida Beutelthiere Im Didelphyida (Handbeutler) 469 III. Dritte Unterklaſſe der Sängethiere: Placentner oder Placentalthiere: Placentalia oder Monodelphia. Säugethiere ohne Kloake, mit Placenta, ohne Beutelknochen. Legionen Ordnungen Unterordnungen Syſtematiſcher der der der Name der Placentalthiere Placentalthiere Placentalthiere Unterordnungen III, 1. Indecidua. Placentalthiere ohne Decidua. . Tapiromorpha . Solidungula V. Hufthiere ] Perissodactyla | 2. Pferdeartige I. Unpaarhufer | 1. Tapirartige 1 2 af 3. Schweineartige 3. Choeromorpha 4 Ungulata II. Paarhufer Artiodactyla | 4. Wiederkäuer . Ruminantia III. Pflanzenwale N ER VI. Walthiere Phyeoceta | 5. Seerinder 5. Sirenia Cetacea IV. Fleiſchwale | 6. Walfiſche 6. Autoceta Sarcoceta 7. Zeuglodonten 7. Zeugloceta vn. Zahn⸗ V. Sch ar rth iere | 8. Ameiſenfreſ er 8. Vermilinguia arme Effodientia 9. Gürtelthiere 9. Cingulata Edentata 0. Gravigrada VI. Faulthiere 410. Rieſenfaulthiere 1 Ba dp oda ö 11. Zwergfaulthiere 11. Tardigrada III, 2. Deciduata. Placentalthiere mit Decidua. | VII. Raubthiere | 12. Landraubthiere 12. Carnivora VIII. Gürtel⸗ Carnaria 13. Seeraubthiere 13. Pinnipedia placentner J vn S cheinhuf— 14. Klippdaſſe 14. Lamnungia Zonoplacen- thiere \ 15. Toxodonten 15. Toxodontia talia en ee 16. Dinotherien 16. Gonyognatha 17. Elephanten 17. Proboscidea 18. Eichhornartige 18. Sciuromorpha IX. Nagethiere 919. Mäuſeartige 19. Myomorpha Rodentia 20. Stachelſchweinartige 20.Hystrichomorpha 21. Haſenartige 21. Lagomorpha 22. Fingerthiere 22. Leptodactyla 5 X. Halbaffen 23. Pelzflatterer 23 Ptenopleura IX. Scheiben⸗ Prosimiae | 24, Langfüßer 24. Macrotarsi placentner 25. Kurzfüßer 25. Brachytarsi Discoplacen- ) XI. Inſecten⸗ ) 8 tl freſſer 26. Blinddarmträger 26. Menotyphla e 27. Blinddarmloſe 27. Lipotyphla XII. Flederthiere (28. Flederhunde 28. Pteroeynes Chiroptera 29. Fledermäuſe 29. Nyeterides XIII. Affen In Krallenaffen 30. Aretopitheci Nam ce 31. Plattnaſen 31. Platyrrhinae 32. Schmalnaſen 32. Catarrhinae 470 Beutelthiere oder Marſupialien. unter den Placentalien, insbeſondere an die Ameiſenfreſſer erinnern. Andrerſeits entſprechen die Raubbeutler oder Raubbeutelthiere (Creophaga) durch Lebensweiſe und Bildung des Gebiſſes den eigent— lichen Raubthieren oder Carnivoren unter den Placentalthieren. Es gehören dahin der Beutelmarder (Dasyurus) und der Beutelwolf (Thy- lacinus) von Neuholland. Obwohl letzterer die Größe des Wolfes erreicht, iſt er doch ein Zwerg gegen die ausgeſtorbenen Beutellöwen Auſtraliens (Thylacoleo), welche mindeſtens von der Größe des Löwen waren und Reißzähne von mehr als zwei Zoll Länge beſaßen. Die achte und letzte Ordnung endlich bilden die Handbeutler oder die affenfüßigen Beutelthiere (Pedimana), welche ſowohl in Auſtralien als in Amerika leben. Sie finden ſich häufig in zoologiſchen Gärten, namentlich verſchiedene Arten der Gattung Didelphys, unter dem Namen der Beutelratten, Buſchratten oder Opoſſum bekannt. An ihren Hinterfüßen kann der Daumen unmittelbar den vier übrigen Ze— hen entgegengeſetzt werden, wie bei einer Hand, und ſie ſchließen ſich dadurch unmittelbar an die Halbaffen oder Proſimien unter den Pla— centalthieren an. Es wäre möglich, daß dieſe letzteren wirklich den Handbeutlern nächſtverwandt ſind und aus längſt ausgeſtorbenen Vor— fahren derſelben ſich entwickelt haben. Die Genealogie der Beutelthiere iſt ſehr ſchwierig zu errathen, vorzüglich deßhalb, weil wir die ganze Unterklaſſe nur höchſt unvoll— ſtändig kennen, und die jetzt lebenden Marſupialien offenbar nur die letzten Reſte des früheren Formenreichthums darſtellen. Vielleicht haben ſich die Handbeutler, Raubbeutler, und Rüſſelbeutler als drei divergente Aeſte aus der gemeinſamen Stammgruppe der Urbeutler entwickelt. In ähnlicher Weiſe find vielleicht andrerſeits die Nage- beutler, Springbeutler und Hufbeutler als drei auseinandergehende Zweige aus der gemeinſamen pflanzenfreſſenden Stammgruppe, den Kletterbeutlern hervorgegangen. Kletterbeutler aber und Urbeutler ſind zwei divergente Aeſte der gemeinſamen Stammform aller Beutelthiere, welche während der älterern Secundärzeit aus den Kloakenthieren ent— ſtand. Placentalthiere oder Placentalien, 471 Die dritte und letzte Unterklaſſe der Säugethiere bilden die Pla— centalthiere oder Placentner (Monodelphia oder Placenta- lia). Sie iſt bei weitem die wichtigſte, umfangreichſte und vollkom— menſte von den drei Unterklaſſen. Denn zu ihr gehören alle be— kannten Säugethiere nach Ausſchluß der Beutelthiere und Schnabel— thiere. Auch der Menſch gehört dieſer Unterklaſſe an und hat ſich aus niederen Stufen derſelben entwickelt. Die Placentalthiere unterſcheiden ſich, wie ihr Name ſagt, von den übrigen Säugethieren vor Allem durch den Beſitz eines ſogenann— ten Mutterkuchens oder Aderkuchens (Placenta). Das iſt ein ſehr eigenthümliches und merkwürdiges Organ, welches bei der Ernährung des im Mutterleibe ſich entwickelnden Jungen eine höchſt wichtige Rolle ſpielt. Die Placenta oder der Mutterkuchen (auch Nach— geburt genannt) iſt ein weicher, ſchwammiger, rother Körper von ſehr verſchiedener Form und Größe, welcher zum größten Theile aus einem unentwirrbaren Geflecht von Adern oder Blutgefäßen beſteht. Ihre Bedeutung beſteht in dem Stoffaustauſch des ernährenden Blutes zwi— ſchen dem mütterlichen Fruchtbehälter oder Uterus und dem Leibe des Keimes oder Embryo (ſ. oben S. 243). Weder bei den Beutelthieren noch bei den Schnabelthieren iſt dieſes höchſt wichtige Organ entwik— kelt. Von dieſen beiden Unterklaſſen unterſcheiden ſich aber auch au— ßerdem die Placentalthiere noch durch manche andere Eigenthümlich— keiten, ſo namentlich durch den Mangel der Beutelknochen, durch die höhere Ausbildung der inneren Geſchlechtsorgane und durch die voll— kommenere Entwickelung des Gehirns, namentlich des ſogenannten Schwielenkörpers oder Balkens (Corpus callosum), welcher als mittlere Commiſſur oder Querbrücke die beiden Halbkugeln des großen Gehirns mit einander verbindet. Auch fehlt den Placentalien der eigenthüm— liche Hakenfortſatz des Unterkiefers, welcher die Beutelthiere auszeich— net. Wie in dieſen anatomiſchen Beziehungen die Beutelthiere zwi— ſchen den Gabelthieren und Placentalthieren in der Mitte ſtehen, wird Ihnen am beſten durch nachfolgende Zuſammenſtellung der wichtigſten Charaktere der drei Unterklaſſen klar werden. 472 Unterſchiede der drei Unterklaſſen der Säugethiere. Rloakenthiere Beutelthiere Placentalthiere Drei Unterklaffen der Amasta Marsupialia Placentalia Säugethiere oder oder oder Ornithodelphia Didelphia Monodelphia 1. Kloafenbildung bleibend embryonal embryonal 2. Zitzen der Bruſtdrüſe oder fehlend vorhanden vorhanden Milchwarzen 3. Vordere Schlüſſelbeine oder verwachſen nicht | nicht Claviculae in der Mitte mit verwachſen verwachſen dem Bruſtbein zu einem Gabelbein verwachſen 4. Beutelknochen vorhanden vorhanden fehlend 5. Schwielenkörper des Gehirns nicht entwickelt nicht entwickelt ſtark entwickelt 6. Placenta oder Mutterkuchen fehlend fehlend vorhanden Die Placentalthiere ſind in weit höherem Maaße mannichfaltig differenzirt und vervollkommnet, als die Beutelthiere, und man hat daher dieſelben längſt in eine Anzahl von Ordnungen gebracht, die ſich hauptſächlich durch die Bildung des Gebiſſes und der Füße unter— ſcheiden. Noch wichtiger aber, als dieſe, iſt die verſchiedenartige Aus— bildung der Placenta und die Art ihres Zuſammenhanges mit dem mütterlichen Fruchtbehälter. Bei den niederen drei Hauptordnungen der Placentalthiere nämlich, bei den Hufthieren, Walthieren und Zahn— armen, entwickelt ſich zwiſchen dem mütterlichen und kindlichen Theil der Placenta nicht jene eigenthümliche ſchwammige Haut, welche man als hinfällige Haut oder Decidua bezeichnet. Dieſe findet ſich ausſchließlich bei den ſieben höher ſtehenden Ordnungen der Placen— talthiere, und wir können dieſe letzteren daher nach Huxley in der Hauptgruppe der Deciduathiere (Deciduata) vereinigen. Die⸗ ſen ſtehen die drei erſtgenannten Legionen als Decidualoſe (Indeci- dua) gegenüber. Die Placenta unterſcheidet ſich bei den verſchiedenen Ordnungen der Placentalthiere aber nicht allein durch die wichtigen inneren Struc— turverſchiedenheiten, welche mit dem Mangel oder der Anweſenheit einer Decidua verbunden ſind, ſondern auch durch die äußere Form Placentalthiere ohne und mit Decidua. 473 des Mutterkuchens ſelbſt. Bei den Indeeiduen beſteht derſelbe mei— ſtens aus zahlreichen einzelnen, zerſtreuten Gefäßknöpfen oder Zotten, und man kann daher dieſe Gruppe auch als Zotten placentner (Sparsiplacentalia) bezeichnen. Bei den Deeiduaten dagegen find die einzelnen Gefäßzotten zu einem zuſammenhängenden Kuchen vereinigt, und dieſer erſcheint in zweierlei verſchiedener Geſtalt. In den einen nämlich umgiebt er den Embryo in Form eines geſchloſſenen Gürtels oder Ringes, ſo daß nur die beiden Pole der länglichrunden Eiblaſe von Zotten frei bleiben. Das iſt der Fall bei den Raubthieren (Carnaria) und den Scheinhufern (Chelophora), die wir deßhalb als Gürtel— placentner (Zonoplacentalia) zuſammenfaſſen. In den anderen Deciduathieren dagegen, zu welchen auch der Menſch gehört, bildet die Placenta eine einfache runde Scheibe, und wir nennen ſie daher Scheibenplacentner (Discoplacentalia). Das find die fünf Ordnungen der Halbaffen, Nagethiere, Inſectenfreſſer, Flederthiere und Affen, von welchen letzteren auch der Menſch im zoologiſchen Sy— ſteme nicht zu trennen iſt. Daß die Placentalthieren erſt aus den Beutelthieren ſich entwickelt haben, darf auf Grund ihrer vergleichenden Anatomie und Entwicke— lungsgeſchichte als ganz ſicher angeſehen werden, und wahrſcheinlich fand dieſe höchſt wichtige Entwickelung, die erſte Entſtehung der Pla— centa, erſt im Beginn der Tertiärzeit, während der Anteocen-Periode, ſtatt. Dagegen gehört zu den ſchwierigſten Fragen der thieriſchen Ge— nealogie die wichtige Unterſuchung, ob alle Placentalthiere aus einem oder aus mehreren getrennten Zweigen der Beutlergruppe entſtanden ſind, mit anderen Worten, ob die Entſtehung der Placenta einmal oder mehrmal ſtatt hatte. Als ich vor zwei Jahren in meiner generellen Morphologie zum erſten Male den Stammbaum der Säugethiere zu begründen verſuchte, zog ich auch hier, wie meiſtens, die monophy— letiſche oder einwurzelige Deſeendenzhypotheſe der polyphyletiſchen oder vielwurzeligen vor. Ich nahm an, daß alle Placentner von einer ein— zigen Beutelthierform abſtammten, die zum erſten Male eine Placenta zu bilden begann. Dann wären die Sparſiplacentalien, Zonopla— 474 Abſtammung der Placentalthiere von den Beutelthieren. centalien und Discoplacentalien vielleicht als drei divergente Aeſte je- ner gemeinſamen placentalen Stammform aufzufaſſen, oder man könnte auch denken, daß die beiden letzteren, die Deciduaten, ſich erſt ſpäter aus den Indeciduen entwickelt hätten, die ihrerſeits unmittelbar aus den Beutlern entſtanden ſeien. Jedoch giebt es andrerſeits auch ge— wichtige Gründe für die andere Alternative, daß nämlich mehrere von Anfang verſchiedene Placentnergruppen aus mehreren verſchiede— nen Beutlergruppen entſtanden ſeien, daß alſo die Placenta ſelbſt ſich mehrmals unabhängig von einander gebildet habe. Dies iſt unter anderen die Anſicht des ausgezeichnetſten engliſchen Zoologen, Hux— ley' 8. In dieſem Falle wären zunächſt als zwei ganz getrennte Grup— pen vielleicht die Indeciduen und Deciduaten aufzufaſſen. Von den Indeciduen wäre möglicherweiſe die Ordnung der Hufthiere, als die Stammgruppe, aus den pflanzenfreſſenden Hufbeutlern oder Bary— poden entſtanden. Unter den Deciduaten dagegen würde vielleicht die Ordnung der Halbaffen, als gemeinſame Stammgruppe der übrigen Ordnungen, aus den Handbeutlern oder Pedimanen entſtanden ſein. Es wäre aber auch wohl möglich, daß die Deciduaten ſelbſt wieder aus mehreren verſchiedenen Beutler-Ordnungen entſtanden ſeien, die Raubthiere z. B. aus den Raubbeutlern, die Nagethiere aus den Nage— beutlern, die Halbaffen aus den Handbeutlern u. ſ. w. Da wir zur Zeit noch kein genügendes Erfahrungsmaterial beſitzen, um dieſe äu— ßerſt ſchwierige Frage zu löſen, ſo laſſen wir dieſelbe auf ſich beruhen, und wenden uns zur Geſchichte der verſchiedenen Placentner-Ordnun— gen, deren Stammbaum ſich im Einzelnen oft in großer Vollſtändig— keit feſtſtellen läßt. Als die Stammgruppe der Decidualofen oder Zottenplacentner müſſen wir, wie ſchon bemerkt, die Ordnung der Hufthiere (Un- gulata) auffaſſen, aus welcher ſich die beiden anderen Ordnungen, Walthiere und Zahnarme, wahrſcheinlich erſt ſpäter als zwei diver— gente Gruppen durch Anpaſſung an ſehr verſchiedene Lebensweiſe ent— wickelt haben. Doch ſind die Zahnarmen oder Edentaten vielleicht auch ganz anderen Urſprungs. Hufthiere oder Ungulaten. . 475 Die Hufthiere gehören in vieler Beziehung zu den wichtigften und intereffanteften Säugethieren. Sie zeigen deutlich, wie uns das wahre Verſtändniß der natürlichen Verwandtſchaft der Thiere niemals allein aus dem Studium der noch lebenden Formen, ſondern ſtets nur durch gleichmäßige Berückſichtigung ihrer ausgeſtorbenen und verſteinerten Blutsverwandten und Vorfahren erſchloſſen werden kann. Wenn man in herkömmlicher Weiſe allein die lebenden Hufthiere berückſichtigt, ſo erſcheint es ganz naturgemäß, dieſelben in drei gänzlich verſchiedene Ordnungen einzutheilen, nämlich 1, die Pferde oder Einhufer(So— lidungula oder Equina); 2, die Wiederkäuer oder Zweihufer (Bisulca oder Ruminantia); und 3, die Dickhäuter oder Viel- h ufer (Multungula oder Pachyderma). Sobald man aber die aus— geſtorbenen Hufthiere der Tertiärzeit mit in Betracht zieht, von de— nen wir ſehr zahlreiche und wichtige Reſte beſitzen, ſo zeigt ſich bald, daß jene Eintheilung, namentlich aber die Begrenzung der Dickhäuter, eine ganz künſtliche iſt, und daß dieſe drei Gruppen nur abgeſchnittene Aeſte des Hufthierſtammbaums ſind, welche durch ausgeſtorbene Zwi— ſchenformen auf das engſte verbunden ſind. Die eine Hälfte der Dick— häuter, Nashorn, Tapir und Paläotherien zeigen ſich auf das nächſte mit den Pferden verwandt, und beſitzen gleich dieſen unpaarzehige Füße. Die andere Hälfte der Dickhäuter dagegen, Schweine, Fluß— pferde und Anoplotherien, ſind durch ihre paarzehigen Füße viel enger mit den Wiederkäuern, als mit jenen erſteren verbunden. Wir müffen daher zunächſt als zwei natürliche Hauptgruppen unter den Hufthieren die beiden Ordnungen der Paarhufer und der Unpaarhufer unter— ſcheiden, welche ſich als zwei divergente Aeſte aus der alttertiären Stammgruppe der Stammhufer oder Prochelen entwickelt haben. Die Ordnung der Unpaarhufer(Perissodactyla) umfaßt die- jenigen Ungulaten, bei denen die mittlere (oder dritte) Zehe des Fu— ‘ ßes viel ſtärker als die übrigen entwickelt iſt, fo daß fie die eigentliche Mitte des Hufes bildet. Es gehört hierher zunächſt die uralte gemeinſame Stammgruppe aller Hufthiere, die Stammhufer (Prochela), welche ſchon in den älteſten eocenen Schichten verſteinert vorkommen (Lophi- 476 Syſtematiſche Ueberſicht der Sektionen und Familien der Hufthiere oder Ungulaten. (J. B. Die ausgeſtorbenen Familien find durch ein + bezeichnet.) Ordnungen Familien Syſtematiſcher der Sektionen der Hufthiere der Name der Hufthiere Hufthiere Familien I. Stammhufer e 1. Lophiodonten 1. Lophiodontia + Pro che ld 2. Pliolophiden 2. Pliolophida + 3. Stammunpaar⸗ 3. Palaeotherida + kg 107 he ee Hufthiere II. Zapirförmige 4. Lamatapire 4. Maerauchenida+ Ungulata Tapiromorpha 5. Tapire 5. Tapirida perissodactyla 6. Nashörner 6. Nasicornia 7. Nashornpferde 7. Elasmotherida + III. Einhufer 8. Urpferde 8. Anchitherida + Solidungula 9. Pferde 9. Equina 10. Stammpaar⸗ 10, Anoplotheridaf hufer IV. Schweineförmige 11. Urſchweine 11. — Choeromorpha vida 5 12. Schweine 12. Setigera 13. Flußpferde 13. Obesa 14, Urwiederkäuer 14. Xiphodontia + 15. Urhirſche 15. Dremotheridar 1 16. Scheinmo- 16. Tragulida eb: ſchusthiere A. Hirſch— ) De förmige 17. Moſchus⸗ 17. Moschida Hufthiere e MR Ungulata 8. Hirſche 18. Cervina artiodactyla 8 d a e N: 9 Urgiraffen 19. Sivatherida 7 käuer 0, Giraffen 20. Devexa 7751575 1. Urgazellen 21. Antilocaprina nantia 4 B. Hohl- 5 Gazellen 22. Antilopina hörner 23. Ziegen 23 Caprina Cavicornia Je. 5 24. Schafe 24. Ovina 5. Rinder 25. Bovina C. Schwie⸗ le 775 = IE Lamas 26. Auchenida 791 0 0a Kamele 27. Camelida 477 | | | | Stammpaarhufer Anoplotherida — — Hohlhörner Hirſchförmige Kamele Einhufer Cavicornia Elaphia und Lamas Solidungula 5 Tylopoda | | — — — — Pferde Equi Urhirſche Dremotherida ——— | un | Mittelpferde Hippariones Wiederkäuer Ruminantia — Schweineförmige Tapirförmige = 1 5 Choeromorpha Tapiromorpha Urpferde — — ͤ — —— Anchitheria — | Seerinder Tapire Lamatapire Sirenia Tapirida Macrauchenida Flußpferde Schweine N Bi 8 : ashornpferde . ii — Elasmotherida — — | Nashörner | | Nasicornia Urſchweine Urwieder⸗ Anthraco- käuer . therida Xiphodontia — — — — | Stammunpaarhufer Palaeotherida | | | | Prochela Stammhufer (Lophiodontia und Pliolophida) —— — (Hufbeutelthiere? Barypoda ?) Ungefähre Grundzüge des vermuthlichen Stammbaums der Hufthiere oder Ungulaten 478 Hufthiere oder Ungulaten. odon, Coryphodon, Pliolophus). An dieſe ſchließt ſich unmittelbar der— jenige Zweig derſelben an, welcher die eigentliche Stammform der Unpaarhufer iſt, die Paläotherien, welche foſſil im oberen Eocen und unteren Miocen vorkommen. Aus den Paläotherien haben ſich ſpäter als zwei divergente Zweige einerſeits die Nashörner (Nasi— cornia) und Nashornpferde (Elasmotherida), andrerſeits die Tapire, Lamatapire und Urpferde entwickelt. Die längſt ausgeſtorbenen Ur— pferde oder Anchitherien vermittelten den Uebergang von den Paläo— therien und Tapiren zu den Mittelpferden oder Hipparionen, die den noch lebenden echten Pferden ſchon ganz nahe ſtehen. Die zweite Hauptgruppe der Hufthiere, die Ordnung der Paar— hufer (Artiodactyla) enthält diejenigen Hufthiere, bei denen die mittlere (dritte) und die vierte Zehe des Fußes nahezu gleich ſtark ent— wickelt ſind, ſo daß die Theilungsebene zwiſchen Beiden die Mitte des ganzen Fußes bildet. Sie zerfällt in die beiden Unterordnungen der Schweineförmigen und der Wiederkäuer. Zu den Schweineförmi— gen (Choeromorpha) gehört zunächſt der andere Zweig der Stamm— hufer, die Anoplotherien, welche wir als die gemeinſame Stamm- form aller Paarhufer oder Artiodactylen betrachten. Aus dieſer Stamm- gruppe entſprangen wahrſcheinlich als zwei divergente Zweige einer— ſeits die Urſchweine oder Anthrakotherien, welche zu den Schweinen und Flußpferden, andrerſeits die Kiphodonten, welche zu den Wieder— käuern hinüberführten. Die älteſten Wiederkäuer (Ruminantia) ſind die Urhirſche oder Dremotherien, aus denen vielleicht als drei divergente Zweige die Hirſchförmigen (Elaphia), die Hohlhörnigen (Cavicornia) und die Kamele (Tylopoda) ſich entwickelt haben. Doch ſind die letzteren in mancher Beziehung mehr den Unpaarhufern als den echten Paarhufern verwandt. Wie ſich die zahlreichen Familien der Hufthiere dieſer genealogiſchen Hypotheſe entſprechend gruppiren, zeigt Ihnen vorſtehende ſyſtematiſche Ueberſicht (S. 476). Aus Hufthieren, welche ſich an das ausſchließliche Leben im Waſ— ſer gewöhnten, und dadurch fiſchähnlich umbildeten, iſt wahrſchein— lich die merkwürdige Legion der Walthiere (Cetacea) entſprungen. Walthiere (Cetaceen). Zahnarme (Edentaten). 479 Obwohl dieſe Thiere äußerlich manchen echten Fiſchen ſehr ähnlich er— ſcheinen, ſind ſie dennoch, wie ſchon Ariſtoteles erkannte, echte Säugethiere. Durch ihren geſammten inneren Bau, ſofern derſelbe nicht durch Anpaſſung an das Waſſerleben verändert iſt, ſtehen ſie den Hufthieren von allen übrigen bekannten Säugethieren am näch— ſten, und theilen namentlich mit ihnen den Mangel der Decidua und die zottenförmige Placenta. Noch heute bildet das Flußpferd (Hippo- potamus) eine Art von Uebergangsform zu den Seerindern (Sirenia), und es iſt demnach das wahrſcheinlichſte, daß die ausgeſtorbenen Stammformen der Cetaceen den heutigen Seerindern am nächſten ſtanden, und ſich aus Paarhufern entwickelten, welche dem Flußpferd verwandt waren. Aus der Ordnung der pflanzenfreſſenden Walthiere (Phycoceta), zu welcher die Seerinder gehören, und welche demnach wahrſcheinlich die Stammformen der Legion enthält, hat ſich ſpäterhin die andere Ordnung der fleiſchfreſſenden Wal— thie re (Sarcoceta) entwickelt. Von dieſen letzteren find die ausge— ſtorbenen rieſigen Zeuglodonten (Zeugloceta), deren foſſile Ske— lete vor einiger Zeit als angebliche „Seeſchlangen“ (Hydrarchus) großes Aufſehen erregten, vermuthlich nur ein eigenthümlich entwickelter Sei— tenzweig der eigentlichen Walfiſche (Autoceta), zu denen außer den coloſſalen Bartenwalen auch die Potwale, Delphine, Narwale, See— ſchweine u. ſ. w. gehören. Die dritte und letzte Legion der Indeciduen oder Sparſiplacenta— lien bildet die ſeltſame Gruppe der Zahnarmen (Edentata). Sie iſt aus den beiden Ordnungen der Scharrthiere und der Faulthiere zuſammengeſetzt. Die Ordnung der Scharrthiere (Effodientia) beſteht aus den beiden Unterordnungen der Ameiſenfreſſer (Ver- milinguia, zu denen auch die Schuppenthiere gehören), und der Gürtelthiere (Cingulata), die früher durch die rieſigen Glypto— donten vertreten waren. Die Ordnung der Faulthiere (Tardi- grada) beſteht aus den beiden Unterordnungen der kleinen jetzt noch lebenden Zwergfaulthiere (Bradypoda) und der ausgeſtorbe— nen ſchwerfälligen Rieſenfaulthiere (Gravigrada). Die unge⸗ 480 Raubthiere oder Carnarien. heuren verſteinerten Reſte dieſer coloſſalen Pflanzenfreſſer deuten dar— auf hin, daß die ganze Legion im Ausſterben begriffen und die heuti— gen Zahnarmen nur ein dürftiger Reſt von den gewaltigen Edentaten der Diluvialzeit ſind. Die nahen Beziehungen der noch heute leben— den Edentaten Südamerikas zu den ausgeſtorbenen Rieſenformen, die ſich neben jenen in demſelben Erdtheil finden, machte auf Darwin bei ſeinem erſten Beſuche Südamerikas einen ſolchen Eindruck, daß fie ſchon damals den Grundgedanken der Deſcendenztheorie in ihm anregten (S. oben S. 107). Uebrigens iſt die Genealogie grade die— ſer Legion ſehr ſchwierig. Vielleicht ſind die Edentaten nichts wei— ter, als ein eigenthümlich entwickelter Seitenzweig der Ungulaten; vielleicht liegt aber auch ihre Wurzel ganz wo anders. Wir verlaſſen nun die erſte Hauptgruppe der Placentner, die Decidualoſen, und wenden uns zur zweiten Hauptgruppe, den De— ciduathieren (Deciduata), welche ſich von jenen fo weſentlich durch den Beſitz einer hinfälligen Haut oder Decidua während des Embryo— lebens unterſcheiden. Hier begegnen wir zuerſt einer ſehr einheitlich orga— niſirten und natürlichen Gruppe, nämlich der Ordnung der Raub— thier e (Carnaria). Sie werden wohl auch Gürtelplacentner(Zo- noplacentalia) im engeren Sinne genannt, obwohl eigentlich gleicher— weiſe die Scheinhufer oder Chelophoren dieſe Bezeichnung verdienen. Da aber dieſe letzteren im Uebrigen näher den Nagethieren als den Raubthieren verwandt ſind, werden wir ſie dort beſprechen. Die Raubthiere zerfallen in zwei, äußerlich ſehr verſchiedene, aber innerlich nächſt verwandte Unterordnungen, die Landraubthiere und die See— raubthiere. Zu den Landraubthieren (Carnivora) gehören die Bären, Hunde, Katzen u. ſ. w., deren Stammbaum ſich mit Hülfe vieler ausgeſtorbener Zwiſchenformen annähernd errathen läßt. Zu den Seeraubthieren oder Robben (Pinnipedia) gehören die See— bären, Seehunde, Seelöwen, und als eigenthümliche angepaßte Sei- tenlinie die Walroſſe oder Walrobben. Obwohl die Seeraubthiere äußerlich den Landraubthieren ſehr unähnlich erſcheinen, ſind ſie den— ſelben dennoch durch ihren inneren Bau, ihr Gebiß und ihre eigen- Landraubthiere und Seeraubthiere. 481 thümliche gürtelförmige Placenta nächſt verwandt und offenbar aus einem Zweige derſelben, vermuthlich den Marderartigen (Mustelina) hervorgegangen. Noch heute bilden unter den letzteren die Fiſchottern (Lutra) und noch mehr die Seeottern (Enhydris) eine unmittelbare Uebergangsform zu den Robben, und zeigen uns deutlich, wie der Körper der Landraubthiere durch Anpaſſung an das Leben im Waſſer robbenähnlich umgebildet wird, und wie aus den Gangbeinen der erſteren die Ruderfloſſen der Seeraubthiere entſtanden ſind. Die letz— teren verhalten ſich demnach zu den erſteren ganz ähnlich, wie unter den Indeciduen die Walthiere zu den Hufthieren. In gleicher Weiſe wie das Flußpferd noch heute zwiſchen den extremen Zweigen der Rin— der und der Seerinder in der Mitte ſteht, bildet die Seeotter noch heute eine übriggebliebene Zwiſchenſtufe zwiſchen den weit entfernten Zweigen der Löwen und der Seelöwen. Hier wie dort hat die gänz— liche Umgeſtaltung der äußeren Körperform, welche durch Anpaſſung an ganz verſchiedene Lebensbedingungen bewirkt wurde, die tiefe Grundlage der erblichen inneren Eigenthümlichkeiten nicht zu vermiſchen vermocht. Von den übrigen Deciduaten (nach Ausſchluß der Raubthiere) betrachte ich als gemeinſame Stammgruppe die Halbaffen (Prosi— miae). Dieſe merkwürdigen Thiere wurden bisher in einer und der— ſelben Ordnung, die Blumenbach als Vierhän der (Quadrumana) bezeichnete, mit den Affen vereinigt. Indeſſen trenne ich ſie von dieſen gänzlich, nicht allein deßhalb, weil ſie von allen Affen viel mehr ab— weichen, als die verſchiedenſten Affen von einander, ſondern auch, weil ſie die intereſſanteſten Uebergangsformen zu den übrigen Ord— nungen der Deeiduaten enthalten. Ich ſchließe daraus, daß die we— nigen jetzt noch lebenden Halbaffen, welche überdies unter ſich ſehr verſchieden ſind, die letzten überlebenden Reſte von einer faſt ausge— ſtorbenen, einſtmals formenreichen Stammgruppe darſtellen, aus wel— cher ſich alle übrigen Deciduaten (vielleicht mit der einzigen Ausnah— me der Raubthiere und der Scheinhufer) als divergente Zweige ent— wickelt haben. Die alte Stammgruppe der Halbaffen ſelbſt hat ſich Haeckel, Natürliche Schöpfungsgeſchichte. 31 482 Halbaffen (Proſimien). Nagethiere (Rodentien). vermuthlich aus den Handbeutlern oder affenfüßigen Beutelthieren (Pedimana) entwickelt, welche in der Umbildung ihrer Hinterfüße zu einer Greifhand ihnen auffallend gleichen. Die uralten (wahrſcheinlich in der Anteocen-Periode entſtandenen) Stammformen ſelbſt ſind na— türlich längſt ausgeſtorben, ebenſo die allermeiſten Uebergangsformen zwiſchen denſelben und den übrigen Deciduaten-Ordnungen. Aber einzelne Reſte der letzteren haben ſich in den heute noch lebenden Halb— affen erhalten. Unter dieſen bildet das merkwürdige Fingerthier von Madagaskar (Chiromys madagascariensis) den Reſt der Leptodar- tylen-Gruppe und den Uebergang zu den Nagethieren. Der ſeltſame Pelzflatterer der Südſee-Inſeln und Sunda-Inſeln (Galeopithe- cus), das einzige Ueberbleibſel der Ptenopleuren-Gruppe, iſt eine voll— kommene Zwiſchenſtufe zwiſchen den Halbaffen und Flederthieren. Die Langfüßer (Tarsius, Otolienus) bilden den letzten Reſt desjenigen Stammzweiges (Macrotarsi), aus dem ſich die Inſectenfreſſer entwickel— ten. Die Kurzfüßer endlich (Brachytarsi) vermitteln den Anſchluß an die echten Affen. Zu den Kurzfüßern gehören die langſchwänzigen Maki (Lemur), und die kurzſchwänzigen Indri (Lichanotus) und Lori (Stenops), von denen namentlich die letzteren ſich den vermuth— lichen Vorfahren des Menſchen unter den Halbaffen ſehr nahe anzu— ſchließen ſcheinen. Sowohl die Kurzfüßer als die Langfüßer leben weit zerſtreut auf den Inſeln des ſüdlichen Aſiens und Afrikas, namentlich auf Madagaskar, einige auch auf dem afrikaniſchen Feſtlande. Kein Halbaffe iſt bisher lebend oder foſſil in Amerika gefunden. Alle füh— ren eine einſame, nächtliche Lebensweiſe und klettern auf Bäumen umher. Unter den übrigen Deeiduaten-Ordnungen, welche wahrſchein— lich alle von längſt ausgeſtorbenen Halbaffen abſtammen, iſt auf der niedrigſten Stufe die formenreiche Ordnung der Nagethiere (Ro- dentia) ſtehen geblieben. Unter dieſen ſtehen die Eichhornartigen (Seiuromorpha) den Fingerthieren am nächſten. Aus dieſer Stamm- gruppe haben ſich wahrſcheinlich als zwei divergente Zweige die Mäuſe— artigen (Myomorpha) und die Stachelſchweinartig en (Hy- strichomorpha) entwickelt, von denen jene durch eocene Myoriden Scheinhufer (Chelophoren): (Elephant und Klippdas). 483 dieſe durch eocene Pſammoryetiden unmittelbar mit den Eichhornartigen zuſammenhängen. Die vierte Unterordnung, die Haſenartigen (Lagomorpha), haben ſich wohl erſt ſpäter aus einer von jenen drei Unterordnungen entwickelt. An die Nagethiere ſchließt ſich ſehr eng die merkwürdige Ordnung der Scheinhufer (Chelophora) an. Von dieſen leben heutzutage nur noch zwei, in Aſien und Afrika einheimiſche Gattungen, nämlich die Elephanten (Elephas) und die Klippdaſſe (Hyrax). Beide wurden bisher gewöhnlich zu den echten Hufthieren oder Ungulaten geſtellt, mit denen ſie in der Hufbildung der Füße übereinſtimmen. Allein eine gleiche Umbildung der urſprünglichen Nägel oder Krallen zu Hufen findet ſich auch bei echten Nagethieren, und gerade unter dieſen Hufnagethieren (Subungulata), welche ausſchließlich Südame— rika bewohnen, finden ſich neben kleineren Thieren (z. B. Meerſchwein— chen und Goldhaſen) auch die größten aller Nagethiere, die gegen vier Fuß langen Waſſerſchweine (Hydrochoerus capybara). Die Klippdaſſe, welche auch äußerlich den Nagethieren, namentlich den Hufnagern ſehr ähnlich ſind, wurden bereits früher von einigen be— rühmten Zoologen als eine beſondere Unterordnung (Lamnungia) wirklich zu den Nagethieren geſtellt. Dagegen betrachtete man die Elephanten, falls man ſie nicht zu den Hufthieren rechnete, gewöhn— lich als Vertreter einer beſonderen Ordnung, welche man Rüſſelthiere (Proboscidea) nannte. Nun ſtimmen aber die Elephanten und Klipp daſſe merkwürdig in der Bildung ihrer Placenta überein, und entfer— nen ſich dadurch jedenfalls gänzlich von den Hufthieren. Dieſe letzte— ren beſitzen niemals eine Decidua, während Elephant und Hyrax echte Deciduaten ſind. Allerdings iſt die Placenta derſelben nicht ſcheiben— förmig, ſondern gürtelförmig, wie bei den Raubthieren. Allein es iſt wohl denkbar, daß ſich die gürtelförmige Placenta erſt ſecundär aus der ſcheibenförmigen entwickelt hat. In dieſem Falle könnte man daran denken, daß die Scheinhufer aus einem Zweige der Nagethiere, und ähnlich vielleicht die Raubthiere aus einem Zweige der Inſecten— freſſer ſich entwickelt haben. Jedenfalls ſtehen die Elephanten und die 3 484 Scheinhufer (Chelophoren). Inſectenfreſſer (Inſectivoren). Klippdaſſe auch in anderen Beziehungen, namentlich in der Bildung wichtiger Skelettheile, der Gliedmaßen u. ſ. w., den Nagethieren, und namentlich den Hufnagern, näher als den ächten Hufthieren. Dazu kommt noch, daß mehrere ausgeſtorbene Formen, namentlich die merkwürdigen ſüdamerikaniſchen Pfeilzähner (Toxodontia) in mancher Beziehung zwiſchen Elephanten und Nagethieren in der Mitte ſtehen. Daß die noch jetzt lebenden Elephanten und Klippdaſſe nur die letzten Ausläufer von einer einſtmals formenreichen Gruppe von Scheinhufern ſind, wird nicht allein durch die ſehr zahlreichen verſtei— nerten Arten von Elephant und Maſtodon bewieſen (unter denen manche noch größer, manche aber auch viel kleiner, als die jetzt lebenden Elephanten ſind), ſondern auch durch die merkwürdigen mio— cenen Dinotherien (Gonyognatha), zwiſchen denen und den nächſt— verwandten Elephanten noch eine lange Reihe von unbekannten ver— bindenden Zwiſchenformen liegen muß. Alles zuſammengenommen iſt heutzutage die wahrſcheinlichſte von allen Hypotheſen, die man ſich über die Entſtehung und die Verwandtſchaft der Elephanten, Di— notherien, Toxodonten und Klippdaſſe bilden kann, daß dieſelben die letzten Ueberbleibſel einer formenreichen Gruppe von Scheinhufern ſind, die ſich aus den Nagethieren, und zwar wahrſcheinlich aus Subungu— laten, entwickelt hatte. Die Ordnung der Inſectenfreſſer (Insectivora) hat ſich wahrſcheinlich aus Halbaffen entwickelt, welche den heute noch leben— den Langfüßern (Macrotarsi) nahe ſtanden. Sie ſpaltet ſich in zwei Ordnungen, Menotyphla und Lipotyphla. Von dieſen ſind die älteren wahrſcheinlich die Menotyphlen, welche ſich durch den Beſitz eines Blinddarms oder Typhlon von den Lipotyphlen unterſcheiden. Zu den Menotyphlen gehören die kletternden Tupajas der Sunda— Inſeln und die ſpringenden Makroſcelides Afrikas. Die Lipotyphlen ſind bei uns durch die Spitzmäuſe, Maulwürfe und Igel vertreten. Durch Gebiß und Lebensweiſe ſchließen ſich die Inſectenfreſſer mehr den Raubthieren, durch die ſcheibenförmige Placenta und die großen Samenblaſen dagegen mehr den Nagethieren an. Flederthiere (Chiropteren). Affen (Simien). 485 Den Inſectenfreſſern fehr nahe ſteht die merkwürdige Ordnung der fliegenden Säugethiere oder Flederthiere (Chiroptera). Sie hat ſich durch Anpaſſung an fliegende Lebensweiſe in ähnlicher Weiſe auffallend umgebildet, wie die Seeraubthiere und die Wal— thiere durch Anpaſſung an ſchwimmende Lebensweiſe. Wahrſchein— lich hat auch dieſe Ordnung ihre Wurzel in den Halbaffen, mit denen ſie noch heute durch die Pelzflatterer (Galeopithecus) eng ver— bunden iſt. Von den beiden Unterordnungen der Flederthiere haben ſich wahrſcheinlich die inſectenfreſſenden oder Fledermäuſe (Nyc- terides) erſt ſpäter aus den früchtefreſſenden oder Flederhunden (Pterocynes) entwickelt; denn die letzteren ſtehen in mancher Bezie— hung den Halbaffen noch näher als die erſteren. Als letzte Säugethierordnung hätten wir nun endlich noch die echten Affen (Simiae) zu beſprechen. Da aber im zoologiſchen Sy— ſteme zu dieſer Ordnung auch das Menſchengeſchlecht gehört, und da daſſelbe ſich aus einem Zweige dieſer Ordnung ohne allen Zweifel hiſtoriſch entwickelt hat, ſo wollen wir die genauere Unterſuchung ih— res Stammbaumes und ihrer Geſchichte einem beſonderen Vortrage vorbehalten. Neunzehnter Vortrag. Urſprung und Stammbaum des Menſchen. Die Anwendung der Deſcendenztheorie auf den Menſchen. Logiſche Nothwen⸗ digkeit derſelben. Stellung des Menſchen im natürlichen Syſtem der Thiere, ins⸗ beſondere unter den discoplacentalen Säugethieren. Unberechtigte Trennung der Vierhänder und Zweihänder. Berechtigte Trennung der Halbaffen von den Affen. Stellung des Menſchen in der Ordnung der Affen. Schmalnaſen und Plattnaſen. Entſtehung des Menſchen aus Schmalnaſen. Menſchenaffen oder Anthropoiden. Vergleichung der verſchiedenen Menſchenaffen und der verſchiedenen Menſchenraſſen. Zeit und Ort der Entſtehung des Menſchengeſchlechts. Ahnenreihe des Menſchen. Wirbelloſe Ahnen und Wirbelthier-Ahnen. Umbildung des Affen zum Menſchen durch Differenzirung und Vervollkommnung der Gliedmaßen, des Kehlkopfs und des Gehirns. Stammbaum der zehn Menſchenarten oder Menſchenraſſen. Meine Herren! Von allen einzelnen Fragen, welche durch die Abſtammungslehre beantwortet werden, von allen beſonderen Folge— rungen, die wir aus derſelben ziehen müſſen, iſt keine einzige von ſol— cher Bedeutung, als die Anwendung dieſer Lehre auf den Menſchen ſelbſt. Wie ich ſchon im Beginn dieſer Vorträge (S. 5, 6) hervorge— hoben habe, müſſen wir aus dem allgemeinen Inductionsgeſetze der Deſcendenztheorie mit der unerbittlichen Nothwendigkeit ſtrengſter Lo— gik den beſonderen Deductionsſchluß ziehen, daß der Menſch ſich aus niederen Wirbelthieren, und zunächſt aus affenartigen Säugethieren allmählich und ſchrittweiſe entwickelt hat. Daß dieſe Lehre ein unzer— trennlicher Beſtandtheil der Abſtammungslehre, und ſomit auch der Die Anwendung der Deſcendenztheorie auf den Menſchen. 487 allgemeinen Entwickelungstheorie überhaupt iſt, das wird ebenſo von allen Anhängern, wie von allen denkenden und folgerichtig ſchließen— den Gegnern derſelben anerkannt. Wenn dieſe Lehre aber wahr iſt, ſo wird die Erkenntniß vom thieriſchen Urſprung und Stammbaum des Menſchengeſchlechts noth— wendig tiefer, als jeder andere Fortſchritt des menſchlichen Geiſtes, in die Beurtheilung aller menſchlichen Verhältniſſe und zunächſt in das Getriebe aller menſchlichen Wiſſenſchaften eingreifen. Sie muß früher oder ſpäter eine vollſtändige Umwälzung in der ganzen Weltanſchauung der Menſchheit hervorbringen. Ich bin der feſten Ueberzeugung, daß man in Zukunft dieſen unermeßlichen Fortſchritt in der Erkenntniß als Beginn einer neuen Entwickelungsperiode der Menſchheit feiern wird. Er läßt ſich vergleichen mit dem Schritt des Copernicus, der zum erſten Male klar auszuſprechen wagte, daß die Sonne ſich nicht um die Erde bewege, ſondern die Erde um die Sonne. Ebenſo wie durch das Weltſyſtem des Copernicus und ſeiner Nachfolger die geo— centriſche Weltanſchauung des Menſchen umgeſtoßen wurde, die falſche Anſicht, daß die Erde der Mittelpunkt der Welt ſei, und daß ſich die ganze übrige Welt um die Erde drehe, ebenſo wird durch die, ſchon von Lamarck verſuchte Anwendung der Deſcendenztheorie auf den Menſchen die anthropocentriſche Weltanſchauung umgeſtoßen, der eitle Wahn, daß der Menſch der Mittelpunkt der ir— diſchen Natur und das ganze Getriebe derſelben nur dazu da ſei, um dem Menſchen zu dienen. In gleicher Weiſe, wie das Weltſyſtem des Copernicus durch Newton's Gravitationstheorie mechaniſch begründet wurde, ſehen wir ſpäter die Deſcendenztheorie des Lamarck durch Darwin's Selectionstheorie ihre urſächliche Begründung er— langen. Ich habe dieſen in mehrfacher Hinſicht lehrreichen Vergleich in meinen Vorträgen „über die Entſtehung und den Stammbaum des Menſchengeſchlechts“ s) weiter ausgeführt. Um nun dieſe äußerſt wichtige Anwendung der Abſtammungs— lehre auf den Menſchen mit der unentbehrlichen Unparteilichkeit und Objectivität durchzuführen, muß ich Sie vor Allem bitten, ſich (für 488 Vorurtheilsfreie Unterſuchung des Menſchen. kurze Zeit wenigſtens) aller hergebrachten und allgemein üblichen Vor— ſtellungen über die „Schöpfung des Menſchen“ zu entäußern, und die tief eingewurzelten Vorurtheile abzuſtreifen, welche uns über dieſen Punkt ſchon in früheſter Jugend eingepflanzt werden. Wenn Sie dies nicht thun, können Sien icht objectiv das Gewicht der wiſſenſchaft— lichen Beweisgründe würdigen, welche ich Ihnen für die thieriſche Abſtammung des Menſchen, für ſeine Entſtehung aus affenähnlichen Säugethieren anführen werde. Wir können hierbei nichts beſſeres thun, als mit Huxley uns vorzuſtellen, daß wir Bewohner eines anderen Planeten wären, die bei Gelegenheit einer wiſſenſchaftlichen Weltreiſe auf die Erde gekommen wären, und da ein ſonderbares zweibeiniges Säugethier, Menſch genannt, in großer Anzahl über die ganze Erde verbreitet, angetroffen hätten. Um daſſelbe zoologiſch zu unterſuchen, hätten wir eine Anzahl von Individuen deſſelben, in verſchiedenem Alter und aus verſchiedenen Ländern, gleich den ande— ren auf der Erde geſammelten Thieren, in ein großes Faß mit Wein— geiſt gepackt, und nähmen nun nach unſerer Rückkehr auf den heimi— ſchen Planeten ganz objectiv die vergleichende Anatomie aller dieſer erdbewohnenden Thiere vor. Da wir gar kein perſönliches Intereſſe an dem, von uns ſelbſt gänzlich verſchiedenen Menſchen hätten, ſo würden wir ihn ebenſo unbefangen und objectiv wie die übrigen Thiere der Erde unterſuchen und beurtheilen. Dabei würden wir uns ſelbſtverſtändlich zunächſt aller Anſichten und Muthmaßungen über die Natur ſeiner Seele enthalten oder über die geiſtige Seite ſeines Weſens, wie man es gewöhnlich nennt. Wir beſchäftigen uns viel— mehr zunächſt in dieſem Vortrage nur mit der körperlichen Seite und derjenigen natürlichen Auffaſſung derſelben, welche uns durch die Entwickelungsgeſchichte an die Hand gegeben wird. Offenbar müſſen wir hier zunächſt, um die Stellung des Men— ſchen unter den übrigen Organismen der Erde richtig zu beſtimmen, wieder den unentbehrlichen Leitfaden des natürlichen Syſtems in die Hand nehmen. Wir müſſen möglichſt ſcharf und genau die Stellung zu beſtimmen ſuchen, welche dem Menſchen im natürlichen Syſtem der Stellung des Menſchen im Syſtem der Wirbelthiere. 489 Thiere zukömmt. Dann können wir, wenn überhaupt die Deſcendenz— theorie richtig iſt, aus der Stellung im Syſtem wiederum auf die wirkliche Stammverwandtſchaft zurückſchließen und den Grad der Blutsverwandtſchaft beſtimmen, durch welchen der Menſch mit den men— ſchenähnlichſten Thieren zuſammenhängt. Der hypothetiſche Stamm— baum des Menſchengeſchlechts wird ſich uns dann als das Endreſultat dieſer vergleichend anatomiſchen und ſyſtematiſchen Unterſuchung ganz von ſelbſt ergeben. Wenn Sie nun auf Grund der vergleichenden Anatomie und On— togenie die Stellung des Menſchen in dem natürlichen Syſtem der Thiere aufſuchen, mit welchem wir uns in den beiden letzten Vorträ— gen beſchäftigten, ſo tritt Ihnen zunächſt die unumſtößliche Thatſache entgegen, daß der Menſch dem Stamm oder Phylum der Wirbel— thiere angehört. Alle körperlichen Eigenthümlichkeiten, durch wel— che ſich alle Wirbelthiere ſo auffallend von allen Wirbelloſen unter— ſcheiden, beſitzt auch der Menſch. Eben ſo wenig iſt es jemals zwei— felhaft geweſen, daß unter allen Wirbelthieren die Säugethiere dem Menſchen am nächſten ſtehen, und daß er alle charakteriſtiſchen Merkmale beſitzt, durch welche ſich die Säugethiere vor allen übrigen Wirbelthieren auszeichnen. Wenn Sie dann weiterhin die drei ver— ſchiedenen Hauptgruppen oder Unterklaſſen der Säugethiere in's Auge faſſen, deren gegenſeitiges Verhältniß wir im letzten Vortrage erörter— ten, ſo kann nicht der geringſte Zweifel darüber obwalten, daß der Menſch zu den Placentalthieren gehört, und alle die wichtigen Eigenthümlichkeiten mit den übrigen Placentalien theilt, durch welche ſich dieſe von den Beutelthieren und von den Kloafenthieren unter— ſcheiden. Endlich iſt von den beiden Hauptgruppen der Placental— thiere, Deciduaten und Indeciduen, diejenigen der Deciduaten zweifelsohne diejenige, welche auch den Menſchen umfaßt. Denn der menſchliche Embryo (S. 240 b, c) entwickelt ſich mit einer echten Decidua, und unterſcheidet ſich dadurch weſentlich von allen Deeidua— loſen. Unter den Deeiduathieren haben wir als zwei Legionen die Zonoplacentalien mit gürtelförmiger Placenta (Raubthiere und Schein— 490 Stellung des Menſchen im Syſtem der Säugethiere. hufer) und die Discoplacentalien mit ſcheibenförmiger Placenta (alle übrigen Deeiduaten) unterſchieden. Der Menſch beſitzt eine ſcheiben— förmige Placenta, gleich allen anderen Discoplacentalien, und wir würden nun alſo zunächſt die Frage zu beantworten haben, welche Stellung der Menſch in dieſer Gruppe einnimmt. Im letzten Vortrage hatten wir folgende fünf Ordnungen von Discoplacentalien unterſchieden: 1, die Halbaffen; 2, die Nagethiere; 3, die Inſectenfreſſer; 4, die Flederthiere; 5, die Affen. Wie Jeder von Ihnen weiß, ſteht von dieſen fünf Ordnungen die letzte, diejenige der Affen, dem Menſchen in jeder körperlichen Beziehung weit näher, als die vier übrigen. Es kann ſich daher nur noch um die Frage handeln, ob man im Syſtem der Säugethiere den Menſchen geradezu in die Ordnung der echten Affen einreihen, oder ob man ihn neben und über derſelben als Vertreter einer beſonderen ſechſten Ordnung der Discoplacentalien betrachten ſoll. Linns vereinigte in feinem Syſtem den Menſchen mit den echten Affen, den Halbaffen und den Fledermäuſen in einer und derſelben Ordnung, welche er Primates nannte, d. h. Oberherrn, gleichſam die höchſten Würdenträger des Thierreichs. Blumenbach dagegen trennte den Menſchen als eine beſondere Ordnung unter dem Namen Bimana oder Zweihänder, indem er ihm die vereinigten Affen und Halbaffen unter dem Namen Quadrumana oder Vierhänder entgegenſetzte. Dieſe Eintheilung wurde auch von Cuvier und dem— nach von den allermeiſten folgenden Zoologen angenommen. Erſt 1863 zeigte Huxley in ſeinen vortrefflichen „Zeugniſſen für die Stel— lung des Menſchen in der Natur“ 26), daß dieſelbe auf falſchen Anz ſichten beruhe, und daß die angeblichen „Vierhänder“ (Affen und Halbaffen) ebenſo gut „Zweihänder“ ſind, wie der Menſch ſelbſt. Der Unterſchied des Fußes von der Hand beruht nicht auf der phy— ſiologiſchen Eigenthümlichkeit, daß die erſte Zehe oder der Dau— men den vier übrigen Fingern oder Zehen an der Hand entgegen— ſtellbar iſt, am Fuße dagegen nicht. Denn es giebt wilde Völker— ſtämme, welche die erſte oder große Zehe den vier übrigen am Fuße Stellung des Menſchen im Syſtem der Affen. 491 ebenſo gegenüberſtellen können, wie an der Hand. Sie können alſo ihren „Greiffuß“ ebenſo gut als eine ſogenannte „Hinterhand“ be— nutzen, wie die Affen. Auf der anderen Seite differenziren ſich bei den höheren Affen, namentlich beim Gorilla, Hand und Fuß ſchon ähnlich wie beim Menſchen. Vielmehr iſt der weſentliche Unterſchied von Hand und Fuß ein morphologiſcher, und durch den charak— teriſtiſchen Bau des knöchernen Skelets und der ſich daran anſetzenden Muskeln bedingt. Die Fußwurzelknochen ſind weſentlich anders an— geordnet, als die Handwurzelknochen, und der Fuß beſitzt drei beſon— dere Muskeln, welche der Hand fehlen (ein kurzer Beugemuskel, ein kurzer Streckmuskel und ein langer Wadenbeinmuskel). In allen die— ſen Beziehungen verhalten ſich die Affen und Halbaffen genau ſo wie der Menſch, und es war daher vollkommen unrichtig, wenn man den Menſchen von den erſteren als eine beſondere Ordnung auf Grund ſeiner ſtärkeren Differenzirung von Hand und Fuß trennen wollte. Ebenſo verhält es ſich aber auch mit allen übrigen körperlichen Merk— malen, durch welche man etwa verſuchen wollte, den Menſchen von den Affen zu trennen, mit der relativen Länge der Gliedmaßen, dem Bau des Schädels, des Gehirns u. ſ. w. In allen dieſen Beziehun— gen ohne Ausnahme ſind die Unterſchiede zwiſchen dem Menſchen und den höheren Affen geringer, als die entſprechenden Unterſchiede zwi— ſchen den höheren und den niederen Affen. So kommt denn Huxley auf Grund der ſorgfältigſten und genaueſten Vergleichungen zu folgen— dem, äußerſt wichtigem Schluſſe: „Wir mögen daher ein Syſtem von Organen vornehmen, welches wir wollen, die Vergleichung ihrer Mo— dificationen in der Affenreihe führt uns zu einem und demſelben Reſul— tate: daß die anotomiſchen Verſchiedenheiten, welche den Menſchen vom Gorilla und Schimpanſe ſcheiden, nicht ſo groß ſind, als die, welche den Gorilla von den niedrigeren Affen trennen“. Demgemäß vereinigt Huxley, ſtreng der ſyſtematiſchen Logik folgend, Menſchen, Affen und Halb— affen in einer einzigen Ordnung, Primates, und theilt dieſe in fol— gende ſieben Familien von ungefähr gleichem ſyſtematiſchem Werthe: 492 Syſtematiſche Ueberſicht der Familien und Gattungen der Affen. . Gattungen Syſtematiſcher Sekt = Affen Familien der Affen | oder Genera der Name der | Affen Genera I. Affen der nenen Welt (Hesperopitheei) oder plattnafige Affen (Platyrrhinae). 4, 1 I. Seidenaffen 1. Pinſelaffe 1. Midas mit — en Hapalida 2. Löwenaffe 2. Jacchus Arctopitheeci 3. Eichhornaffe 3. Chrysothrix U. Rlattnaſen 4. Springaffe 4. Callithrix B. Platyrrhinen oh 5 HE 5. Nachtaffe 5. Nyctipithecus mit eee 6. Schweifaffe 6. Pithecia Kuppennägeln IM. Plattnaſen 7. Rollaffe 7. Cebus Dysmopitheci | nit Gre ifſchwanz 8. Klammeraffe 8. Ateles D Sn 9. Wollaffe 9. Lagothrix 10. Brüllaffe 10. Mycetes II. Affen der alten Welt (Heopitheei) oder ſchmalnaſige Affen (Catarrhinae). IV. Geſchwänzte, Katarrhinen mit 11. Pavian 11. Cynocephalus N Backentaſchen 12. Makako 12. Innus C. Geſchwänzte 13. Meerkatze 13. Cercopithecus Katarrhinen ö een Menocerca V. Geſchwänzte (14. Schlankaffe 14. Semnopithecus Katarrhinen ohne 15. Stummelaffe 15. Colobus Backentaſchen 10 Naſenaffe 16. Nasalis Anasca VI. Menſchenaffen) 18. Orang 18. Satyrus Anthropoides 19. Schimpanſe 19. Engeco D. Schwanzloſe 20. Gorilla 20. Gorilla Katarrhinen 21. Affenmenſch 21. Pithecanthro- Lipocerca VII. Menſchen oder ſprachloſer pus (Alalus) Ereceti Menſch (Anthropi) 22. Sprechender 22. Homo Menſch | 17. Gibbon 17. Hylobates 493 Wollhaarige Menſchen Schlichthaarige Menſchen Ulotriches Lissotriches —— — — Sprechender Menſch Homo — — — N — — Gorilla Sprachloſer Menſch Orang Gorilla Alalus oder Affenmenſch Satyrus Schimpanſe | 8 Gibbon Engeco | Hylobates — mem | | | | Afrikanische Menſchenaffen Aſiatiſche Menſchenaffen Schwanzloſe Schmalnaſen Catarrhina lipocerca. e , , oa je (m) INT Geſchwänzte Schmalnaſen Catarrhina menocerca n = . — Mit Backentaſchen Ascoparea | Ohne Backentaſchen Anasca Meerkatze Naſenaffe Cereopitheeus Nasalis m aan — Makako | Schlankaffe Inuus Siemnopithecus | — Pavian | Stummelaffe Cynocephalus | Colobus | | | sl a FE Ascoparea Anasca L 3 | Plattnaſen mit Krallen, i Plattnaſen mit Nägeln, r Schmalnaſen ohne Greifſchwanz l mit Greifſchwanz 5 (Catarrhinae) Aretopitheci 5 Labidocerca f oder Affen der —— —— ' alten Welt 5 I (Heopitheci) — ... ,.. & Plattnaſen mit Nägeln, ohne Greifſchwanz 1 Aphyocerca 1 ä — Plattnaſen (Platyrrhinae) oder Affen der neuen Welt (Hesperopitheci) * 1 1 * Gemeinſame Stammform aller Simi Stammbaum der Affen am den Fndafen un 775 | mis Inbegriff des Menſchen 494 Berechtigte Trennung der Halbaffen von den Affen. 1. Anthropini (der Menſch). 2. Catarrhini (echte Affen der alten Welt). 3. Platyrrhini (echte Affen Amerikas). 4. Arctopitheci (Krallenaffen Amerikas). 5. Lemurini (kurzfüßige und langfüßige Halbaffen. S. 482). 6. Chiromyini (Fingerthiere, S. 482). 7. Galeopithecini (Pelzflatterer, S. 482). Wenn wir aber das natürliche Syſtem und demgemäß den Stamm— baum der Primaten ganz naturgemäß auffaſſen wollen, ſo müſſen wir noch einen Schritt weiter gehen, und die Halbaffen oder Proſimien (die drei letzten Familien Huxley’ s) gänzlich von den echten Affen oder Simien (den vier erſten Familien) trennen. Denn wie ich ſchon in meiner generellen Morphologie zeigte, und Ihnen bereits im letzten Vortrage erläuterte, unterſcheiden ſich die Halbaffen in vielen und wichtigen Beziehungen von den echten Affen und ſchließen ſich in ihren einzelnen Formen vielmehr den verſchiedenen anderen Ord— nungen der Discoplacentalien an. Die Halbaffen ſind daher wahr— ſcheinlich als die gemeinſame Stammgruppe zu betrachten, aus wel— cher ſich die anderen Ordnungen der Discoplacentalien, die Nagethiere, Inſectenfreſſer, Fledermäuſe und echten Affen als vier divergente Zweige entwickelt haben. (Gen. Morph. II, S. CXLVIII und CLII). Der Menſch aber kann nicht von der Ordnung der echten Affen oder Simien getrennt werden, da er den höheren echten Affen in jeder Be— ziehung näher ſteht, als dieſe den niederen echten Affen. Die echten Affen (Simiae) werden allgemein in zwei ganz natürliche Hauptgruppen zerfällt, nämlich in die Affen der neuen Welt (amerikaniſche Affen) und in die Affen der alten Welt, welche in Aſien und Afrika einheimiſch ſind, und früher auch in Europa vertreten waren. Dieſe beiden Abtheilungen unterſcheiden ſich namentlich in der Bildung der Naſe und man hat ſie darnach benannt. Die ameri— kaniſchen Affen haben plattgedrückte Naſen, ſo daß die Naſen— löcher nach außen ſtehen, nicht nach unten; fie heißen deßhalb Platt- naſen (Platyrrhinae). Dagegen haben die Affen der alten Welt eine ſchmale Naſenſcheidewand und die Naſenlöcher ſehen nach unten, wie beim Menſchen; man nennt fie deßhalb Schmalnaſen (Catar- Schmalnaſige und plattnafige Affen. 495 rhinae). Ferner iſt das Gebiß, welches bekanntlich bei der Klaſſifi— kation der Säugethiere eine hervorragende Rolle ſpielt, bei beiden Gruppen charakteriſtiſch verſchieden. Alle Katarrhinen oder Affen der alten Welt haben ganz daſſelbe Gebiß, wie der Menſch, nämlich in jedem Kiefer, oben und unten, vier Schneidezähne, dann jederſeits ei— nen Eckzahn und fünf Backzähne, von denen zwei Lückenzähne und drei Mahlzähne ſind, zuſammen 32 Zähne. Dagegen alle Affen der neuen Welt, alle Platyrrhinen, beſitzen vier Backzähne mehr, nämlich drei Lückenzähne und drei Mahlzähne jederſeits oben und unten. Sie haben alſo zuſammen 36 Zähne. Nur eine kleine Gruppe bildet da— von eine Ausnahme, nämlich die Krallenaffen (Arctopitheci), bei denen der dritte Mahlzahn verkümmert, und die demnach in jeder Kie— ferhälfte drei Lückenzähne und zwei Mahlzähne haben. Sie unter— ſcheiden ſich von den übrigen Platyrrhinen auch dadurch, daß ſie an den Fingern der Hände und den Zehen der Füße Krallen tragen, und keine Nägel, wie der Menſch und die übrigen Affen. Dieſe kleine Gruppe ſüdamerikaniſcher Affen, zu welcher unter anderen die bekann— ten niedlichen Pinſeläffchen (Midas) und Löwenäffchen (Jacchus) ge— hören, iſt wohl nur als ein eigenthümlich entwickelter Seitenzweig der Platyrrhinen aufzufaſſen. Fragen wir nun, welche Reſultate aus dieſem Syſtem der Affen für den Stammbaum derſelben folgen, ſo ergiebt ſich daraus unmit— telbar, daß ſich alle Affen der neuen Welt aus einem Stamme ent— wickelt haben, weil fie alle das charakteriſtiſche Gebiß und die Naſen— bildung der Platyrrhinen beſitzen. Ebenſo folgt daraus, daß alle Affen der alten Welt abſtammen müſſen von einer und derſelben ge— meinſchaftlichen Stammform, welche die Naſenbildung und das Gebiß aller jetzt lebenden Katarrhinen beſaß. Ferner kann es kaum zweifel— haft ſein, daß die Affen der neuen Welt, als ganzer Stamm genom— men, entweder von denen der alten Welt abſtammen, oder (unbeſtimm— ter und vorſichtiger ausgedrückt) daß Beide divergente Aeſte eines und deſſelben Affenſtammes find. Für die Abſtammung des Menſchen folgt hieraus der unendlich wichtige Schluß, welcher auch für die Verbrei— 496 Entſtehung des Menſchen aus ſchmalnaſigen Affen. tung des Menſchen auf der Erdoberfläche die größte Bedeutung be— ſitzt, daß der Menſch ſich aus den Katarrhinen entwickelt hat. Denn wir ſind nicht im Stande, einen zoologiſchen Charakter auf— zufinden, der den Menſchen von den nächſtverwandten Affen der alten Welt in einem höheren Grade unterſchiede, als die entfernteſten For— men dieſer Gruppe unter ſich verſchieden ſind. Es iſt dies das wich— tigſte Reſultat der ſehr genauen vergleichend-anatomiſchen Unterſu— chungen Huxley's, welches nicht genug berückſichtigt werden kann. In jeder Beziehung ſind die anatomiſchen Unterſchiede zwiſchen dem Menſchen und den menſchenähnlichſten Katarrhinen (Orang, Gorilla, Schimpanſe) geringer, als die anatomiſchen Unterſchiede zwiſchen die— ſen und den niedrigſten, tiefſt ſtehenden Katarrhinen, insbeſondere den hundeähnlichen Pavianen. Dieſes höchſt bedeutſame Reſultat ergiebt ſich aus einer unbefangenen anatomiſchen Vergleichung zwiſchen den verſchiedenen Formen der Katarrhinen als unzweifelhaft. Wenn wir alſo überhaupt, der Deſcendenztheorie entſprechend, das natürliche Syſtem der Thiere als Leitfaden unſerer Betrachtung anerkennen, und darauf unſeren Stammbaum begründen, ſo müſſen wir nothwendig zu dem unabweislichen Schluſſe kommen, daß das Menſchenge— ſchlecht ein Aeſtchen der Katarrhinengruppe iſt, und ſich aus längſt ausgeſtorbenen Affen dieſer Gruppe in der alten Welt entwickelt hat. Einige Anhänger der Deſcendenz— theorie haben gemeint, daß die amerikaniſchen Menſchen ſich unab— hängig von denen der alten Welt aus amerikaniſchen Affen entwickelt hätten. Dieſe Hypotheſe halte ich für ganz irrig. Denn die völlige Uebereinſtimm ung aller Menſchen mit den Katarrhinen in Bezug auf die charakteriſtiſche Bildung der Naſe und des Gebiſſes beweiſt deutlich, daß ſie eines Urſprungs ſind, und ſich aus einer gemeinfamen Wurzel erſt entwickelt haben, nachdem die Platyrrhinen oder amerikaniſchen Affen ſich bereits von dieſer abge— zweigt hatten. Die amerikaniſchen Ureinwohner ſind vielmehr, wie auch zahlreiche ethnographiſche Thatſachen beweiſen, aus Aſien, und theil— weiſe vielleicht auch aus Polyneſien eingewandert. Menſchenaffen oder Anthropoiden. 497 Einer genaueren Feſtſtellung des menſchlichen Stammbaum? fte- hen gegenwärtig noch große Schwierigkeiten entgegen. Nur das läßt ſich noch weiterhin als höchſt wahrſcheinlich behaupten, daß die nächſten Stammeltern des Menſchengeſchlechts ſchwanzloſe Katarrhinen (Lipocerca) waren, ähnlich den heute noch lebenden Menſchenaffen, die ſich offenbar erſt fpäter aus den geſchwänzten Katarrhinen (Menocerca), als der urſprünglicheren Affenform, entwickelt haben. Von jenen ſchwanzloſen Katarrhinen, die jetzt auch häufigMenſchen— affen oder Anthropoiden genannt werden, leben heutzutage noch vier verſchiedene Gattungen mit ungefähr einem Dutzend ver— ſchiedener Arten. Der größte Menſchenaffe iſt der berühmte Gorilla (Gorilla engena oder Pongo gorilla genannt), welcher in der Tropen zone des weſtlichen Afrika einheimiſch iſt und am Fluſſe Gaboon erſt 1847 von dem Miſſionär Savage entdeckt wurde. Dieſem ſchließt ſich als nächſter Verwandter der längſt bekannte Schimpanſe an (En- geco troglodytes oder Pongo troglodytes), ebenfalls im weſtlichen Afrika einheimiſch, aber bedeutend kleiner als der Gorilla, welcher in aufrechter Stellung den Menſchen an Größe übertrifft. Der dritte von den drei großen menſchenähnlichen Affen iſt der auf Borneo und an— deren Sunda-Inſeln einheimiſche Orang oder Orang-Utang, von wel— chem man neuerdings zwei nahe verwandte Arten unterſcheidet, den großen Orang (Satyrus orang oder Pithecus satyrus) und den kleinen Orang (Satyrus morio oder Pithecus morio). Endlich lebt noch im ſüdlichen Aſien die Gattung Gibbon (Hylobates), von welcher man 4—8 verſchiedene Arten unterſcheidet. Sie find bedeu— tend kleiner als die drei erſtgenannten Anthropoiden und entfernen ſich in den meiſten Merkmalen ſchon weiter vom Menſchen. Die ſchwanzloſen Menſchenaffen haben neuerdings, namentlich ſeit der genaueren Bekanntſchaft mit dem Gorilla und ſeit ihrer Ver— knüpfung mit der Anwendung der Deſcendenztheorie auf den Men— ſchen, ein ſo allgemeines Intereſſe erregt, und eine ſolche Fluth von Schriften hervorgerufen, daß ich hier gar keine Veranlaſſung finde, näher auf dieſelben einzugehen. Was ihre Beziehungen zum Menſchen Haeckel, Natürliche Schöpfungsgeſchichte. 32 498 Vergleichung der Menſchenaffen und der Menſchen. betrifft, ſo finden Sie dieſelben in den bekannten trefflichen Schriften von Huxley 26), Carl Vogt 27) und Rolle 2?) ausführlich er⸗ örtert. Ich beſchränke mich daher auf die Mittheilung des wichtigſten allgemeinen Reſultats, welches ihre allſeitige Vergleichung mit dem Menſchen ergeben hat, daß nämlich jeder von den vier Menſchenaffen dem Menſchen in einer oder einigen Beziehungen näher ſteht, als die übrigen, daß aber keiner als der abſolut in jeder Beziehung menſchen⸗ ähnlichſte bezeichnet werden kann. Der Orang ſteht dem Menſchen am nächſten in Bezug auf die Gehirnbildung, der Schimpanſe durch wich— tige Eigenthümlichkeiten der Schädelbildung, der Gorilla hinſichtlich der Ausbildung der Füße und Hände, und der Gibbon endlich in der Bil— dung des Bruſtkaſtens. f Es ergiebt ſich alſo aus der ſorgfältigſten vergleichenden Anato— mie der Anthropoiden ein ganz ähnliches Reſultat, wie es Weis— bach aus der ſtatiſtiſchen Zuſammenſtellung und denkenden Verglei— chung der ſehr zahlreichen und ſorgfältigen Körpermeſſungen erhalten hat, die Scherzer und Schwarz während der Reiſe der öſterreichi— ſchen Fregatte Novara um die Erde an Individuen verſchiedener Men— ſchenraſſen angeſtellt haben. Weisbach faßt das Endreſultat ſeiner gründlichen Unterſuchungen in folgenden Worten zuſammen: „Die Affenähnlichkeit des Menſchen concentrirt ſich keineswegs bei einem oder dem anderen Volke, ſondern vertheilt ſich derart auf die ein— zelnen Körperabſchnitte bei den verſchiedenen Völkern, daß jedes mit irgend einem Erbſtücke dieſer Verwandtſchaft, freilich das eine mehr, das andere weniger bedacht iſt, und ſelbſt wir Europäer durchaus nicht beanſpruchen dürfen, dieſer Verwandtſchaft vollſtändig fremd zu fein“. (Novara-Reiſe, Anthropholog. Theil, II, 269). Ausdrücklich will ich hier noch hervorheben, was eigentlich frei— lich ſelbſtverſtändlich iſt, daß kein einziger von allen jetzt leben— den Affen, und alſo auch keiner von den genannten Men— ſchenaffen der Stammvater des Menſchengeſchlechts ſein kann. Von denkenden Anhängern der Deſcendenztheorie iſt dieſe Meinung auch niemals behauptet, wohl aber von ihren gedankenloſen Zeit der Entſtehung des Menſchengeſchlechts. 499 Gegnern ihnen untergeſchoben worden. Die affenartigen Stam m— eltern des Menſchengeſchlechts ſind längſt ausgeſtorben. Vielleicht werden wir ihre verſteinerten Gebeine noch dereinſt theilweiſe in Tertiärgeſteinen des ſüdlichen Aſiens auffinden. Jedenfalls wer— den dieſelben im zoologiſchen Syſtem in der Gruppe der ſchwanz— loſen Schmalnaſen (Catarrhina lipocerca) untergebracht wer— den müſſen. Wann die Umbildung der menſchenähnlichſten Affen zu den affenähnlichſten Menſchen ſtatt hatte, läßt ſich jetzt gleichfalls noch nicht ſicher beſtimmen. Doch iſt das Wahrſcheinlichſte, daß dieſer wichtigſte Vorgang in der irdiſchen Schöpfungsgeſchichte gegen Ende der Tertiärzeit ſtattfand, alſo in der pliocenen, vielleicht ſchon in der miocenen Periode, vielleicht aber auch erſt im Beginn der Diluvial— zeit. Jedenfalls lebte der Menſch als ſolcher in Mitteleuropa ſchon während der Diluvialzeit, gleichzeitig mit vielen großen, längſt aus— geſtorbenen Säugethieren, namentlich dem diluvialen Elephanten oder Mammuth (Elephas primigenius), dem wollhaarigen Nashorn (Rhi- noceros tichorrhinus), dem Rieſenhirſch (Cervus euryceros), dem Höhlenbär (Ursus spelaeus), der Höhlenhyäne (Hyaena spelaea), dem Höhlentiger (Felis spelaea) ꝛc. Die Reſultate, welche die neuere Geologie und Archäologie über dieſen foſſilen Menſchen der Diluvial— zeit und ſeine thieriſchen Zeitgenoſſen an das Licht gefördert hat, ſind vom höchſten Intereſſe. Da aber eine eingehende Betrachtung der— ſelben den uns geſteckten Raum bei weitem überſchreiten würde, ſo begnüge ich mich hier damit, ihre hohe Bedeutung im Allgemeinen hervorzuheben, und verweiſe Sie bezüglich des Beſonderen auf die zahlreichen Schriften, welche in neueſter Zeit über die Urgeſchichte des Menſchen erſchienen ſind, namentlich auf die vortrefflichen Werke von Charles Lyell 30), Carl Vogt 27), Friedrich Rolle 28), John Lubbock, E. B. Tyler u. ſ. w. Die zahlreichen intereſſanten Entdeckungen, mit denen uns dieſe ausgedehnten Unterſuchungen der letzten Jahre über die Urgeſchichte des Menſchengeſchlechts beſchenkt haben, ſtellen die wichtige (auch aus vielen anderen Gründen ſchon längſt wahrſcheinliche) Thatſache außer 32 * 500 Zeitraum der Entwickelung des Menſchengeſchlechts. Zweifel, daß die Exiſtenz des Menſchengeſchlechts als ſolchen jedenfalls auf mehr als zwanzigtauſend Jahre zurückgeht. Wahrſcheinlich ſind aber ſeitdem mehr als hunderttauſend Jahre, vielleicht viele Hun— derte von Jahrtauſenden verfloſſen, und es muß im Gegenſatz dazu ſehr komiſch erſcheinen, wenn noch heute unſere Kalender die „Erſchaf— fung der Welt nach Calviſius“ vor 5817 Jahren geſchehen laſſen. Mögen Sie nun den Zeitraum, während deſſen das Menſchen— geſchlecht bereits als ſolches exiſtirte und ſich über die Erde verbreitete, auf zwanzigtauſend, oder auf hunderttauſend, oder auf viele hundert— tauſend Jahre anſchlagen, jedenfalls ift derſelbe verſchwindend gering gegen die unfaßbare Länge der Zeiträume, welche für die ſtufenweiſe Entwickelung der langen Ahnenkette des Menſchen erforderlich waren. Das geht ſchon hervor aus der ſehr geringen Dicke, welche alle dilu— vialen Ablagerungen im Verhältniß zu den tertiären, und dieſe wie— derum im Verhältniß zu den vorhergegangenen beſitzen (Vergl. Taf. IV. nebſt Erklärung). Aber auch die unendlich lange Reihe der ſchritt— weiſe ſich langſam entwickelnden Thiergeſtalten, von dem einfachſten Moner bis zum Amphioxus, von dieſem bis zum Urfiſch, vom Urfiſch bis zum erſten Säugethiere und von dieſem wiederum bis zum Men— ſchen, erheiſcht zu ihrer hiſtoriſchen Entwickelung eine Reihenfolge von Zeiträumen, die wahrſcheinlich viele Millionen von Jahrtauſenden um— faſſen (Vergl. S. 102). Um Ihnen dieſes wichtige Verhältniß in ſei— ner ganzen Bedeutung vorzuſtellen, führe ich Ihnen hier nochmals die hypothetiſche Reihenfolge unſerer thieriſchen Ahnen, wie ſie durch die vergleichende Anatomie, Ontogonie und Paläontologie uns an die Hand gegeben wird, überſichtlich im Zuſammenhange vor. Natürlich kann dieſe genealogiſche Hypotheſe nur ganz im Allgemeinen die Grundzüge des menſchlichen Stammbaums andeuten, und ſie läuft um ſo mehr Gefahr des Irrthums, je ſtrenger ſie im Einzelnen auf die uns bekannten beſonderen Thierformen bezogen wird. Es wird hierbei paſſend ſein, die ganze Vorfahrenkette des Menſchen in zwei große Gruppen zu bringen, in wirbelloſe Ahnen (Prochorden) und in Wirbelthier-Ahnen (Vertebraten; vergl. Taf. VD. 501 Ahnenreihe des menſchlichen Stammbaums. MN = Grenze zwiſchen den wirbelloſen Ahnen und den Wirbelthier-Ahnen. Zeitalter der | Geologie Perioden | Thieriſche | Lebende nächſte organiſchen Ahnenſtufen des Verwandte der Erdgeſchichte en Erdgeſchichte | Menſchen Ahnenſtufen V. Quartär 26. Alluvial⸗ Periode 22. Sprechende Alfurus und Zeit 25. Diluvial⸗Periode Menſchen Papuas (Taubſtumme, Kre⸗ Menſchen oder tinen und 24. Pliocen-Periode Affenmenſchen Microcephalen 23. Antepliocen-P. 20. Menſchenaffen] Gorilla, Schim⸗ 21. Sprachloſe bisch oder 22. Miocen-P. oder ſchwanzloſe panſe, Orang, Tertiär⸗Zeit 21. Antemiocen-®. Schmalnaſen Gibbon 20, Eocen-P. 19. Geſchwänzte Naſenaffen, 19. Anteocen-P. nalen e 18. Halbaffen ori (Stenops) (Prosimiae) Maki (Lemur) 40 Kreide-Periode 5 1 0 | en een ; 5 . 16 le Schnabelthiere Ae 1 6. Jura- P. (Promammalia) (Monotrema) Secundär⸗ 15 Antejura⸗P. 2 zwiſchen den Zeit 14. Trias⸗P. 15. Uramnioten Sung 1 | 13. Antetrias⸗P. (Protamnia) er 12, Berm- Periode 14. en Waſſermolche . Balnen- J10. Stent her. P. Jıs Riemen ch Olm (Profens) ß einfohlen-®. . Kiemenlurche m (Proteus Beier Zeit 9. Antecarbon⸗P. (Sozobranchia) Axolotl (Siredon) 8. De von⸗ P. 12. Lurchfiſche Molchfiſche 7. Antedevon⸗P. (Dipneusta) (Protopteri) 11. Urfiſche Haifiſche (Selachii) | (Squalacei) 10. Unpaarnafen Lampreten (aten ne 9. Rohrherzen Lanzetthiere (Leptocardia) (Amphioxi) 8. Sackwürmer | Seeſch ne 6. Siluriſche Periode (Himatega) (Aseidiae I. Archo⸗ 1 8 . EB % . (n wont mis Een 188 lithiſche oder 3. Ann he PR P.) bekannter Form Strudelwürmern Primordial⸗ 3. Antecambriſche P. } Zeit 12. Laurentiſche P. 6. Strudelwürmer Rhabdocoela 1. Antelaurenti- (Turbellaria) ! Dendrocoela ſche Periode 5. Mundführende | Ciliata stomatoda Wimperinfuſorien | (Glaucoma) 4. Mundloſe | Ciliata astoma Wimperinfuforien ]) (Opalina) 3. Vielzellige e Urahnthiere (Synamoebae) 2. Einzellige Einfache Amoeben Urahnthiere | (Autamoebae) (Vergl. ©. 306 und 1, Moneren Protogenes \ Taf. IV nebſt Erklärung) (Monera) | Protamoeba Ahnenreihe des Menſchen. (Vergl. den achtzehnten Vortrag und Taf. VI. nebſt Erklärung.) Erſte Hälfte der menſchlichen Ahnenreihe: Wirbelloſe Ahnen des Meunſchen. Erſte Stufe: Moneren (Monera): Organismen der denkbar ein⸗ fachſten Art, ohne Organe, beſtehend aus einem ganz einfachen, durch und durch gleichartigen, ſtructurloſen und formloſen Klümpchen einer ſchleimarti⸗ gen oder eiweißartigen Materie; ähnlich der heute noch lebenden Protamoeba primitiva (Vergl. S. 144, Fig. 1; S. 283). Entſtanden durch Ur⸗ zeugung oder Archigonie aus ſogenannten „anorganiſchen Verbindungen“, aus einfachen und feſten Kohlenſtoffverbindungen (im Beginn der antelauren⸗ tiſchen Zeit). Zweite Stufe: Einzellige Urahnthiere (Archezoa unicellu- laria) oder Einfache Amoeben (Amoebae), nackte Zellen (oder membran⸗ loſe, kernhaltige Plaſtiden), beſtehend aus einem ſtructurloſen Protoplasma⸗ klümpchen, in deſſen Innerem ein Kern geſondert iſt; ähnlich den heute noch lebenden einfachen nackten Amoeben (Autamoeba ete., vergl. S. 145, Fig. 2). Entſtanden aus den Moneren durch Differenzirung des inneren Kerns von dem äußeren Protoplasma. Der Formwerth dieſer Amoebenſtufe iſt gleich demjenigen, welchen das menſchliche Ei (S. 146, Fig. 3) noch heute beſitzt. Das Ei iſt eine einfache, von einer Membran umſchloſſene Zelle, ſo gut wie eine eingekapſelte Amoebe (Vergl. S. 145, Fig. 2 A). Dritte Stufe: Mehrzellige Urahnthiere (Archezoa multicel- lularia) oder Amboebengemeinden (Synamoebae): Einfache Haufen von gleichartigen Nacktzellen, beſtehend aus einer Colonie von mehreren, an einanderliegenden, einfachen und gleichartigen, amoebenähnlichen Zellen. Ent⸗ ſtanden aus einfachen Amoeben durch wiederholte Theilung derſelben und Beiſammenbleiben der Theilungsproducte. Der Formwerth dieſer Stufe iſt gleich demjenigen des menſchlichen Eies nach vollendeter Furchung oder Thei— lung, ehe noch die gleichartigen Zellen ſich differenzirt haben (Vergl. S. 146, Fig. 4 P). Thieriſche Ahnenreihe des Menſchen. 503 Vierte Stufe: Mundloſe Wimperinfuſorien (Ciliata astoma), beſtehend aus einem Haufen von mehr oder weniger geſonderten Zellen, von denen die an der Oberfläche gelegenen ſchlagende Wimperhaare gebildet haben und ſo den Zellenhaufen mit einem Flimmerepithel überziehen, mittelſt deſſen ſich derſelbe rotirend im Waſſer umher bewegt. Entſtanden aus der Syn⸗ amoebe oder Amoebengemeinde durch Differenzirung der oberflächlichen Zellen zu Wimperzellen. Der Formwerth dieſer Stufe iſt gleich demjenigen der Wimperlarve (Planula), welche bei den meiſten niederen Thieren zunächſt aus dem gefurchten Ei entſteht. Bei den Wirbelthieren, wie bei den Glied⸗ füßern, iſt dieſes Stadium, ebenſo wie die beiden folgenden, im Laufe der Zeit durch abgekürzte Vererbung (S. 166) verloren gegangen. Aehnliche mundloſe Wimperinfuſorien (Opalina) leben noch heute (Vergl. S. 405). Fünfte Stufe: Mundführende Wimperinfuſorien (Ciliata stomatoda), der vierten Stufe ähnlich, aber verſchieden durch eine ein— fache, in das Innere des vielzelligen Körpers hineingehende und dort blind endi— gende Röhre, die erſte Anlage des Darmcanals, deſſen einzige Oeffnung zugleich Mund und After iſt. Entſtanden aus den mundloſen Infuſorien durch Bildung einer immer mehr ſich vertiefenden Grube oder Einſtülpung an einer Stelle der äußeren Körperoberfläche. Der Formwerth dieſer Stufe ent⸗ ſpricht demjenigen, welchen die Wimperlarve oder Planula der niederen Thiere bei ihrer weiteren Entwickelung durch Anlage des Darms zunächſt erreicht. Sechste Stufe: Strudelwürmer (Turbellaria), Plattwürmer von einfachſter Geſtalt, gleich den Wimperinfuſorien auf der ganzen Körper⸗ oberfläche mit Wimpern überzogen. Einfacher blattförmiger Körper von läng⸗ lichrunder Geſtalt ohne alle Anhänge. Entſtanden aus den mundführenden Wimperinfuſorien durch weitere Differenzirung der inneren Körpertheile zu ver: ſchiedenen Organen; insbeſondere erſte Bildung des Nervenſyſtems (eines ein— fachen Nervenknotens) und der einfachſten Sinnesorgane (Pigmentflecke als Anlage der Augen); ferner weitere Ausbildung der bei den Infuſorien bereits ſich anlegenden einfachſten Organe für Ausſcheidung (wimpernde innere Kanäle, durch eine contractile Blaſe ausmündend) und Fortpflanzung (hermaphroditiſche oder zwitterige Geſchlechtsorganeyß. Der Formwerth dieſer Stufe entſpricht demjenigen der einfachſten heute noch lebenden Strudelwürmer (Turbellaria, vergl. S. 406). Siebente Stufe: Würmer (Vermes) von unbekannter Form, welche den Uebergang zwiſchen der ſechsten und achten Stufe, zwiſchen den Strudelwürmern und Sackwürmern vermittelten. Entſtanden aus den Strudelwürmern durch Umbildung des vorderſten Darmabſchnittes zum Ath— mungsapparat (Kiemenkorb), durch Bildung eines Afters am hinteren Darm⸗ 504 Thieriſche Ahnenreihe des Menſchen. ende und durch Verluſt des Wimperkleides. Der Formwerth dieſer Stufe wird in der weiten Lücke zwiſchen Strudelwürmern und Mantelthieren durch verſchiedene Zwiſchenſtufen vertreten geweſen ſein. Achte Stufe: Sackwürmer (Himatega), welche von allen heute uns bekannten Würmern den Mantelthieren (Tunicata) am nächſten ſtanden, und zwar den frei umherſchwimmenden Jugendformen oder Larven der eigentlichen Seeſcheiden (Ascidia, Phallusia) (Vergl. S. 409 und 438). Entſtanden aus den Würmern der ſiebenten Stufe durch Umbildung des einfachen Nervenknotens zur Anlage eines Rückenmarks (Medullarrohrs) und eines darunter gelegenen Rückenſtrangs (Chorda dorſalis). Der Formwerth dieſer Stufe entſpricht ungefähr demjenigen, welchen die genannten Larven der einfachen Seeſcheiden zu der Zeit beſitzen, wo ſie die Anlage des Rückenmarks und des Rückenſtranges zeigen. Zweite Hälfte der menſchlichen Ahnenreihe: Wirbelthier-Ahnen des Menſchen. Neunte Stufe: Schädelloſe oder Rohrherzen (Acrania oder Leptocardia), von entfernter Aehnlichkeit mit dem heute noch lebenden Lanzetthiere (Amphioxus lanceolatus, vergl. S. 437). Körper noch ohne Kopf, ohne Schädel und Gehirn, vorn und hinten gleichmäßig zugeſpitzt. Entſtanden während der Primordialzeit aus den Sackwürmern der achten Stufe durch weitere Differenzirung aller Organe, namentlich vollſtändigere Entwickelung des Rückenmarks und des darunter gelegenen Rückenſtrangs. Wahrſcheinlich begann mit dieſer Stufe auch die Trennung der beiden Ge: ſchlechter (Gonochorismus), während alle vorher genannten wirbelloſen Ahnen (abgeſehen von den 3 — 4 erſten geſchlechtsloſen Stufen) noch Zwitterbildung (Hermaphroditismus) zeigten (Vergl. S. 152). Zehnte Stufe: Unpaarnaſen (Monorrhina), von entfernter Aehnlichkeit mit den heute noch lebenden Ingern (Myxinoiden) und Lampreten (Petromyzonten). Entſtanden während der Primordialzeit aus den Schä⸗ delloſen dadurch, daß das vordere Ende des Rückenmarks ſich zum Gehirn und dasjenige des Wirbelſtrangs zum Schädel entwickelte. Die Menſchenahnen dieſer Stufe werden in ihrer weſentlichen inneren Organiſation ungefähr den heutigen Rundmäulern oder Cycloſtomen (Ingern und Lampreten) ent⸗ ſprochen haben. Jedoch ſind die Beutelkiemen und das runde Saugmaul der letzteren wohl als reine Anpaſſungscharaktere zu betrachten, welche bei der entſprechenden Ahnenſtufe nicht vorhanden waren (Vergl. S. 440). Elfte Stufe: Urfiſche (Selachii), von allen bekannten Wirbel: thieren wahrſcheinlich am meiſten den heute noch lebenden Haifiſchen (Squa- Thieriſche Ahnenreihe des Menſchen. 505 lacei) ähnlich. Entſtanden aus Unpaarnaſen durch Theilung der un— paaren Naſe in zwei paarige Seitenhälften, durch Bildung eines ſympathi— ſchen Nervennetzes, einer Schwimmblaſe und zweier Beinpaare (Bruſtfloſſen oder Vorderbeine, und Bauchfloſſen oder Hinterbeine). Die innere Organi⸗ ſation dieſer Stufe wird im Ganzen derjenigen der niederſten uns bekannten Haifiſche entſprochen haben; doch war die Schwimmblaſe, die bei dieſen nur als Rudiment noch exiſtirt, ſtärker entwickelt. Lebten bereits in der Si⸗ lurzeit. Zwölfte Stufe: Lurchfiſche (Dipneusta), von entfernter Aehn⸗ lichkeit mit den heute noch lebenden Molchfiſchen (Protopterus und Lepidosiren, S. 448). Entſtanden aus den Urfiſchen (wahrſcheinlich im Beginn der paläolithiſchen oder Primärzeit) durch Anpaſſung an das Land— leben und Umbildung der Schwimmblaſe zu einer luftathmenden Lunge, ſowie der Naſengruben (welche nunmehr in die Mundhöhle mündeten) zu Luftwegen. Mit dieſer Stufe begann die Reihe der durch Lungen luftathmenden Vorfahren des Menſchen. Ihre Organiſation wird in mancher Hinſicht derjenigen des heutigen Protopterus entſprochen haben, jedoch auch mannichfach verſchieden geweſen ſein. Lebten entweder in antedevoniſcher oder in devoniſcher oder in antecarboniſcher Zeit. Dreizehnte Stufe: Kiemenlurche (Sozobranchia), Amphi⸗ bien mit bleibenden Kiemen, ähnlich dem heute noch lebenden Proteus und Axolotl (S. 449). Entſtanden aus den Dipneuſten durch Umbildung der rudernden Fiſchfloſſen zu fünfzehigen Beinen, und durch höhere Differenzirung verſchiedener Organe, namentlich der Wirbelſäule. Lebten wahrſcheinlich um die Mitte der paläolithiſchen oder Primärzeit, vielleicht ſchon vor der Steinkohlenzeit. Vierzehnte Stufe: Schwanzlurche (Sozura), Amphibien, welche durch Metamorphoſe in ſpäterem Alter die in der Jugend noch vor— handenen Kiemen verloren, aber den Schwanz behielten. Aehnlich den heu— tigen Salamandern und Molchen (Tritonen, vergl. S. 450). Entſtanden aus den Kiemenlurchen dadurch, daß ſie ſich daran gewöhnten, nur noch in der Jugend durch Kiemen, im ſpäteren Alter aber bloß durch Lungen zu ath: men. Lebten wahrſcheinlich in der zweiten Hälfte der Primärzeit, wäh⸗ rend der antepermiſchen und permiſchen Periode, vielleicht ſchon während der Steinkohlenzeit. Fünfzehnte Stufe: Uramnioten (Protamnia); gemeinſame Stammform der drei höheren Wirbelthierklaſſen, aus welcher als zwei diver⸗ gente Zweige die Proreptilien einerſeits, die Promammalien andrerſeits ſich entwickelten (S. 451). Entſtanden (vielleicht in der Antetriaszeit) aus BD 506 Thieriſche Ahnenreihe des Menſchen. unbekannten Schwanzlurchen durch gänzlichen Verluſt der Kiemen, Bildung des Amnion, der Schnecke und des runden Fenſters im Gehörorgan, und der Thränenorgane. Lebten wahrſcheinlich im Beginn der meſolithiſchen oder Secundärzeit, vielleicht ſchon gegen Ende der Primärzeit (Permzeit oder Ante⸗ permzeit 7). Sechszehnte Stufe: Stammſäuger (Promammalia). (Ge meinſame Stammform zunächſt der Kloakenthiere oder Ornithodelphien, weiter⸗ hin aber auch aller Säugethiere, S. 462). Durch Bildung der Kloake ähnlich den noch jetzt lebenden Schnabelthieren (Ornithorhynchus, Echidna), jedoch von ihnen durch vollſtändige Bezahnung des Gebiſſes verſchieden (Vergl. S. 464; die Schnabelbildung der heutigen Schnabelthiere iſt als ein ſpäter entſtandener Anpaſſungscharakter zu betrachten). Entſtanden aus den Prot— amnien durch Umbildung der Epidermisſchuppen zu Haaren und Bildung einer Milchdrüſe, welche Milch zur Ernährung der Jungen lieferte. Lebten wahr: ſcheinlich in der Antetriaszeit, vielleicht auch in der Triaszeit. Siebzehnte Stufe: Beutelthiere (Marsupialia oder Didel- phia), ähnlich den noch heute lebenden Beutelratten (Didelphyes) (S. 464). Entſtanden aus den Stammſäugern oder Promammalien durch Trennung der Kloake in Maſtdarm und Urogenitalſinus, durch Bildung einer Bruſt⸗ warze an der Milchdrüſe, und durch theilweiſe Rückbildung der Schlüſſelbeine. Lebten in der Secundärzeit, und zwar ſchon in der Jurazeit, und durch liefen während der Kreidezeit eine Reihe von Stufen, welche die Entſtehung der Placentalien vorbereiteten. 5 Achtzehnte Stufe: Halbaffen (Prosimiae), von entfernter Aehnlichkeit mit den heute noch lebenden kurzfüßigen Halbaffen (Brachytarsi), namentlich den Maki, Indri und Lori (S. 482). Entſtanden (wahr⸗ ſcheinlich im Beginn der cenolithifchen oder Tertiärzeit) aus unbekannten, den Beutelratten verwandten Beutelthieren durch Bildung einer Placenta, Verluſt des Beutels und der Beutelknochen, und ſtärkere Entwickelung des Schwielen⸗ körpers im Gehirn. Lebten wahrſcheinlich in der Anteocenzeit. Neunzehnte Stufe: Geſchwänzte ſchmalnaſige Affen (Catar- rhina menocerca), ähnlich den heute noch lebenden Naſenaffen (Nasalis) und Schlankaffen (Semnopithecus), mit demſelben Gebiß und derſelben Schmalnaſe wie der Menſch; aber noch mit dichtbehaartem Körper und einem langen Schwanze (S. 492). Entſtanden aus den Halbaffen durch Um⸗ bildung des Gebiſſes und Verwandlung der Krallen an den Zehen in Nägel. Lebten während der mittleren Tertiärzeit. i Zwanzigſte Stufe: Menſchenaffen (Anthropoides) oder ſchwanzloſe ſchmalnaſige Affen (Catarrhina lipocerca), ähnlich dem Thieriſche Ahnenreihe des Menſchen. 507 heute noch lebenden Orang, Gorilla und Schimpanſe (S. 492). Entſtan⸗ den aus der vorigen Stufe durch Verluſt des Schwanzes, theilweiſen Ver— luſt der Behaarung und überwiegende Entwickelung des Gehirntheiles des Schädels über dem Geſichtstheil deſſeldñen. Lebten wahrſcheinlich in der zweiten Hälfte der Tertiärzeit (miocene oder pliocene Periode). Einundzwanzigſte Stufe: Affenmenſchen (Pithecanthropi) oder ſprachloſe Urmenſchen (Alali). Unmittelbare Zwiſchenform zwiſchen der zwanzigſten und zweiundzwanzigſten Stufe, zwiſchen den Menſchenaffen und den echten Menſchen. Entſtanden aus den Menſchenaffen oder Anthro— poiden durch die vollſtändige Angewöhnung an den aufrechten Gang, und die dem entſprechende ſtärkere Differenzirung der vorderen Extremität zur Greifhand, der hinteren zum Gangfuß. Obwohl ſie durch die äußere Körperbildung den echten Menſchen wohl noch näher als den Menſchenaffen ſtanden, fehlte ihnen doch noch das eigentlich charakteriſtiſche Merkmal des echten Menſchen, die ar— tikulirte menſchliche Wortſprache und die damit verbundene bewußte Begriffs: bildung, beruhend auf geſteigerter Abſtraction der Anſchauungen. Leb ten wahrſcheinlich gegen Ende der Tertiärzeit und im Beginn der Quartärzeit. Zweiundzwanzigſte Stufe: Echte Meuſchen oder ſprechende Menſchen (Homines). Entſtanden aus den vorigen durch die Aus— bildung der artikulirten menſchlichen Sprache und die damit verbundene höhere Differenzirung des Kehlkopfs, ſowie durch die daraus folgende höhere Entwicke⸗ lung des großen Gehirns. Lebten wahrſcheinlich erſt in der Quartärperiode (diluviale oder pleiſtocene, und alluviale oder recente Zeit bis zur Gegenwart). Diejenigen Entwickelungsvorgänge, welche zunächſt die Entſte— hung der affenähnlichſten Menſchen aus den menſchenähnlichſten Affen veranlaßten, find in zwei Anpaſſungsthätigkeiten der letzteren zu ſuchen, welche vor allen anderen die Hebel zur Menſchwerdung waren: der aufrechte Gang und die gegliederte Sprache. Dieſe beiden phyſiologiſchen Functionen entſtanden nothwendig zugleich mit zwei entſprechenden morphologiſchen Umbildungen, mit denen ſie in der engſten Wechſelwirkung ſtehen, nämlich Differenzirung der beiden Gliedmaßenpaare und Differenzirung des Kehlkopfs. Die wichtige Vervollkommnung dieſer Organe und ihrer Functionen mußte aber drittens nothwendig auf die Diffe— renzirung des Gehirns und der davon abhängigen Seelenthätigkeiten mächtig zurückwirken, und damit war der 508 Entwickelung des Menſchen aus dem Affen. Weg für die unendliche Laufbahn eröffnet, in welcher ſich ſeitdem der Menſch fortſchreitend entwickelt, und feine thieriſchen Vorfahren fo weit überflügelt hat. (Gen. Morph. II, 430). Als den erſten und älteſten Fortſchritt von dieſen drei mächtigen Entwickelungsbewegungen des menſchlichen Organismus haben wir wohl die höhere Differenzirung und Vervollkommnung der Extremitäten hervorzuheben, welche durch die Gewöh— nung an den aufrechten Gang herbeigeführt wurde. Indem die Vorderfüße immer ausſchließlicher die Function des Greifens und Betaſtens, die Hinterfüße dagegen immer ausſchließlicher die Function des Auftretens und Gehens übernahmen und beibehielten, bildete ſich jener Gegenſatz zwiſchen Hand und Fuß aus, welcher zwar dem Men— ſchen nicht ausſchließlich eigenthümlich, aber doch viel ſtärker bei ihm entwickelt iſt, als ſelbſt bei den menſchenähnlichſten Affen. Dieſe Diffe- renzirung der vorderen und hinteren Extremität war aber nicht allein für ihre eigene Ausbildung und Vervollkommnung höchſt vortheil— haft, ſondern ſie hatte zugleich eine ganze Reihe von ſehr wichtigen Veränderungen in der übrigen Körperbildung im Gefolge. Die ganze Wirbelſäule, namentlich aber Beckengürtel und Schultergürtel, ſowie die dazu gehörige Muskulatur, erlitten dadurch diejenigen Umbildun— gen, durch welche ſich der menſchliche Körper von demjenigen der men— ſchenähnlichſten Affen unterſcheidet. Wahrſcheinlich vollzogen ſich dieſe Umbildungen ſchon lange vor Entſtehung der gegliederten Sprache, und es exiſtirte das Menſchengeſchlecht ſchon geraume Zeit mit ſei— nem aufrechten Gange und der dadurch herbeigeführten charakteriſti— ſchen menſchlichen Körperform, ehe ſich die eigentliche Ausbildung der menſchlichen Sprache und damit der zweite und wichtigere Theil der Menſchwerdung vollzog. Wir können daher wohl mit Recht als eine beſondere (21fte) Stufe unſerer menſchlichen Ahnenreihe den ſprachloſen Menſchen (Alalus) oder Affenmenſchen (Pithecanthropus) unter- ſcheiden, welcher zwar körperlich dem Menſchen in allen weſentlichen Merkmalen ſchon gleichgebildet, aber noch ohne den Beſitz der geglie— derten Wortſprache war. Entwickelung des Menſchen aus dem Affen. 509 Die Entſtehung der gegliederten Wortſprache, und die damit verbundene höhere Differenzirung und Vervoll— kommnung des Kehlkopfs haben wir erſt als die ſpätere, zweite und wichtigſte Stufe in dem Entwickelungsvorgang der Menſch— werdung zu betrachten. Sie war es ohne Zweifel, welche vor allem die tiefe Kluft zwiſchen Menſch und Thier ſchaffen half, und welche zu— nächſt auch die wichtigſten Fortſchritte in der Seelenthätigkeit und der damit verbundenen Vervollkommnung des Gehirns veranlaßte. Aller— dings exiſtirt eine Sprache als Mittheilung von Empfindungen, Be— ſtrebungen und Gedanken auch bei ſehr vielen Thieren, theils als Gebärdenſprache oder Zeichenſprache, theils als Taſtſprache oder Be— rührungsſprache, theils als Lautſprache oder Tonſprache. Allein eine wirkliche Wortſprache oder Begriffsſprache, eine ſogenannte „geglie— derte oder artikulirte“ Sprache, welche die Laute durch Abftraction zu Worten umbildet und die Worte zu Sätzen verbindet, iſt, ſo viel wir wiſſen, ausſchließliches Eigenthum des Menſchen. Mehr als alles Andere mußte die Entſtehung der menſchlichen Sprache veredelnd und umbildend auf das menſchliche Seelenleben und ſomit auf ſein Gehirn einwirken. Die höhere Differenzi— rung und Vervollkommnung des Gehirns, und des Geiſteslebens als der höchſten Function des Gehirns, entwickelte ſich in unmittelbarer Wechſelwirkung mit ſeiner Aeußerung durch die Sprache. Daher konnten die bedeutendſten Vertreter der vergleichenden Sprachforſchung in der Entwickelung der menſchlichen Sprache mit Recht den wichtigſten Scheidungsprozeß des Menſchen von feinen thieriſchen Vorfahren erblicken. Dies hat namentlich Au- guft Schleicher in feinem Schriftchen „Ueber die Bedeutung der Sprache für die Naturgeſchichte des Menſchen“ hervorgehoben 34). In dieſem Verhältniß iſt einer der engſten Berührungspunkte zwi⸗ ſchen der vergleichenden Zoologie nnd der vergleichenden Sprachkunde gegeben, und hier ſtellt die Entwickelungstheorie für die letztere die Aufgabe, den Urſprung der Sprache Schritt für Schritt zu verfolgen. Dieſe ebenſo intereſſante als wichtige Aufgabe iſt in neueſter Zeit von 510 Vielheitlicher Urſprung der menſchlichen Sprache. mehreren Seiten mit Glück in Angriff genommen worden, ſo insbe— ſondere von Wilhelm Bleekss), welcher ſeit 13 Jahren in Süd— afrika mit dem Studium der Sprachen der niederſten Menſchenraſſen beſchäftigt und dadurch beſonders zur Löſung dieſer Frage befähigt iſt. Wie ſich die verſchiedenen Sprachformen, gleich allen anderen organiſchen Formen und Functionen, durch den Proceß der natürlichen Züchtung entwickelt, und in viele Arten und Abarten zerſplittert haben, hat namentlich Auguſt Schleicher der Selectionstheorie entſprechend erörtert ®). Den Prozeß der Sprachbildung ſelbſt hier weiter zu verfolgen, haben wir keinen Raum, und ich verweiſe Sie in dieſer Beziehung na— mentlich auf die wichtige, eben erwähnte Schrift von Wilhelm Bleek „über den Urſprung der Sprache“ 35). Dagegen müſſen wir noch eines der wichtigſten hierauf bezüglichen Reſultate der vergleichen— den Sprachforſchung hervorheben, welches für den Stammbaum der Menſchenarten von höchſter Bedeutung iſt, daß nämlich die menſch— liche Sprache wahrſcheinlich einen vielheitlichen oder polyphyletiſchen Urſprung hat. Die menſchliche Sprache als ſolche entwickelte ſich wahrſcheinlich erſt, nachdem die Gattung des ſprachloſen Urmenſchen oder Affenmenſchen in mehrere Arten oder Spe— cies auseinander gegangen war. Bei jeder von dieſen Menfchen- arten, und vielleicht ſelbſt bei verſchiedenen Unterarten und Abarten dieſer Species, entwickelte ſich die Sprache ſelbſtſtändig und unabhän⸗ gig von einander. Wenigſtens giebt Schleicher, eine der erſten Autoritäten auf dieſem Gebiete, an, daß „ſchon die erſten Anfänge der Sprache, im Laute ſowohl als nach den Begriffen und Anſchauun— gen, welche lautlich reflectirt wurden, und ferner nach ihrer Entwicke— lungsfähigkeit, verſchieden geweſen ſein müſſen. Denn es iſt poſitiv unmöglich, alle Sprachen auf eine und diefelbe Urſprache zurückzu⸗ führen. Vielmehr ergeben ſich der vorurtheilsfreien Forſchung ſo viele Urſprachen, als ſich Sprachſtämme unterſcheiden laſſen“ s“). Bekannt⸗ lich entſprechen aber die Grenzen dieſer Sprachſtämme und ihrer Ver⸗ zweigungen keineswegs den Grenzen der verſchiedenen Menſchenarten Einheitlicher oder vielheitlicher Urſprung des Menſchengeſchlechts. 511 oder ſogenannten „Raſſen“, und hierin vorzüglich liegt die große Schwierigkeit, welche die weitere Verfolgung des menſchlichen Stamm— baums in feine einzelnen Zweige, die Arten, Raſſen, Abarten u. ſ. w. darbietet. Hier angelangt, können wir nicht umhin, noch einen flüchtigen Blick auf dieſe weitere Verzweigung des menſchlichen Stammbaums zu werfen und dabei die viel beſprochene Frage vom einheitlichen oder vielheitlichen Urſprung des Menſchengeſchlechts, ſeinen Arten oder Raſſen, vom Standpunkte der Deſcendenztheorie aus zu beleuchten. Bekanntlich ſtehen ſich in dieſer Frage ſeit langer Zeit zwei große Par— teien gegenüber, die Monophyleten und Polyphyleten. Die Mon o— phyleten (oder Monogeniſten) behaupten den einheitlichen Urſprung und die Blutsverwandtſchaft aller Menſchenarten. Die Polyphy— leten (oder Polygeniſten) dagegen ſind der Anſicht, daß die verſchie— denen Menſchenarten oder Raſſen ſelbſtſtändigen Urſprungs ſind. Nach den vorhergehenden genealogiſchen Unterſuchungen kann es Ihnen nicht zweifelhaft ſein, daß im weiteren Sinne jedenfalls die monophyletiſche Anſicht die richtige iſt. Denn vorausgeſetzt auch, daß die Umbildung menſchenähnlicher Affen zu Menſchen mehrmals ſtattgefunden hätte, ſo würden doch jene Affen ſelbſt durch den ein— heitlichen Stammbaum der ganzen Affenordnung wiederum zuſammen— hängen. Es könnte ſich daher immer nur um einen näheren oder ent— fernteren Grad der eigentlichen Blutsverwandtſchaft handeln. Im engeren Sinne dagegen könnte man der polyphyletiſchen Anſchauung inſofern Recht geben, als wahrſcheinlich die verſchiedenen Urſprachen ſich ganz unabhängig von einander entwickelt haben. Wenn man alſo die Entſtehung der gegliederten Wortſprache als den eigent— lichen Hauptakt der Menſchwerdung anſieht, und die Arten des Men— ſchengeſchlechts nach ihrem Sprachſtamme unterſcheiden will, ſo könnte man ſagen, daß die verſchiedenen Menſchenarten unabhängig von einander entſtanden ſeien, indem verſchiedene Zweige der aus den Affen unmittelbar entſtandenen ſprachloſen Urmenſchen ſich ſelbſtſtändig ihre Urſprache bildeten. Immerhin würden natürlich auch dieſe an 512 Die Arten oder Raſſen des Menſchengeſchlechts. ihrer Wurzel entweder weiter oben oder tiefer unten wieder zufammen- hängen und alſo doch ſchließlich alle von einem gemeinſamen Urſtamme abzuleiten ſein. Wie ich bereits in meinen Vorträgen „über die Entſtehung und den Stammbaum des Menſchengeſchlechts“ 36) ausführte, kann man die verſchiedenen ſogenannten „Raſſen“ des Menſchengeſchlechts mit eben ſo vielem Rechte als „gute Arten oder Species“ anſehen, wie viele Thierformen und Pflanzenformen, welche allgemein als „gute Species“ einer Gattung gelten. Ich habe dort zehn verſchiedene Speties der Gattung Homo unterſchieden, über deren muthmaßliche Stamm— verwandtſchaft ich Ihnen ſchließlich noch folgende, durch Taf. VIII er- läuterte Andeutungen geben will. Ich bemerke dabei ausdrücklich, daß ich dieſen genealogiſchen Verſuch, gleich allen anderen vorher er— läuterten Stammbäumen der Thiere und Pflanzen, eben nur als einen erſten Verſuch betrachtet wiſſen will, und daß neben meinen genealo— giſchen Hypotheſen, wie ich Sie Ihnen hier gebe, noch eine ganze Menge von anderen Hypotheſen, namentlich bezüglich der Verzwei— gungen des Stammbaums im Einzelnen, mehr oder minder Anſpruch auf Geltung machen können. Die Merkmale, durch welche man gewöhnlich die Menſchenraſſen unterſcheidet, ſind theils der Haarbildung, theils der Hautfarbe, theils der Schädelbildung entnommen. In letzterer Beziehung unterſcheidet man als zwei extreme Formen Langköpfe und Kurzköpfe. Bei den Langköpfen (Dolichocephali), deren ſtärkſte Ausbildung ſich bei den Afronegern und Auſtralnegern findet, iſt der Schädel langgeſtreckt, ſchmal, von rechts nach links zuſammengedrückt. Bei den Kurz— köpfen (Brachycephali) dagegen iſt der Schädel umgekehrt von vorn nach hinten zuſammengedrückt, kurz und breit, wie es namentlich bei den Mongolen in die Augen ſpringt. Die zwiſchen beiden Extremen in der Mitte ſtehenden Mittelköpfe (Mesocephali) ſind namentlich bei den Amerikanern vorherrſchend. In jeder dieſer drei Gruppen kommen Schiefzähnige (Prognathi) vor, bei denen die Kiefer, wie bei der thieriſchen Schnauze, ſtark vorſpringen, und die Vorderzähne daher 513 Ueberſicht der zehn Menfchen- Arten und ihrer Abarten. I. Wollhaarige MRenſchen Homines ulotriches. I. Urmenſch (1. Weſtöſtlicher 1. Wollhaariger Zweig Urmenſch nn 8 Nor 30 ü N licher |: 5 ö Sidafien? Zweig ger Urmen 3. Nördlicher * . Papua ⸗Poly⸗ | Neuguinea II. Papua⸗Menſch Zweig neſier Neubritannien ꝛc. Bong pn # Se * . Tasmanier Vandiemensland III. an 5. Südlicher 5 . | Zweig 5. Dmatgıtas Südafrika zwiſchen un 6. Nördlicher a 22 und 36° S.B. hottentottus Zweig | 6. Buſchmünner ( IV. Afroneger 7. 175 ördlicher 7. Senegambier Mittelafrika (ober⸗ oder Mittelafri⸗ Zweig 8. Sudanen halb des Aequators) kaniſcher Menſch 8. S dl 0 er 115 „ Beſchuanen Südafrika (unter⸗ Homo afer Zweig 10. Kaffern halb des Aequators) II. I. Schlichthaarige Menſchen Homines lissotriches. 9. Nördlicher 11. Alfuru⸗Poly⸗ Südweſt⸗ 9 A nene { ehr w ci 0 ö neſier Polyneſien Homo alfurus 10. Südlicher = 5 12. eee e 13. Malakkaner alakka VI. P Wan lichen = ‚Sundainjulaner Sundainſeln Polyneſiſcher Zweig Mad Madagask oder er abnanjien 1 6. Neuſeeländer Neuſeeland ꝛc. We 12. Sekliger e Mae a ag in Zweig 8. oki f ee nefier | Tahiti ꝛc. 13. Aſiatiſcher 15 . Zungujen | Nördlichſtes VII. Polarmenſch Zweig 0. Samojeden Aſien Homo arcticus 14. ee . Eskimos Nördlichſtes ſcher Zweig 122 2. Grönländer Amerika VIII. Amerikani⸗ , 15. une nr 23.Nordamerikaner ab Menſch { Zweig s 24. 5 5 Nordamerika Homo 16. Südlicher 25. Südamerikaner americanus Zweig 26. Patagonier Südamerika IX. Mongoliſcher (17. Südöſtlicher 80 . Chineſen Südöſtliches Menſch Zweig 28. Japaneſen Aſien (Turaniſcher oder 29. Tataren Mittelaſien gelber Menſch) 318. Wa ee 30. Türken Weſtaſien Homo weig 31. Finnen Finnland ıc. mongolicus 32. Magyaren Ungarn 33. Araber X. 1 19. Semitiſcher 134. Berber Arabien, Syrien Menſch (ſüdlicher) Zweig 1272 Abeſſinier und Nordafrika Nader 15 5 guten Südwest eißer Men 7. Arier üdweſtaſien Homo ſch J DR Er 38, Romanen Südeuropa caucasicus ae 300 ei iche r) 39. Slaven Oſteuropa 3 05 Germanen Nordweſteuropa Haeckel, Natürliche Schöpfungsgeſchichte. 33 514 Urmenſch (gemeinſame Stammform aller Menſchenarten). ſchief nach vorn gerichtet find, und Gradzähner (Orthognathi), bei denen die Kiefer wenig vorſpringen, und die Vorderzähne ſenkrecht ſtehen. Endlich kann man nach der Haarbildung als zwei große Haupt— gruppen Wollhaarige (Ulotriches) und Schlichthaarige (Lis- sotriches) unterſcheiden. Von den zehn angenommenen Menſchen— arten würden vier zur Reihe der Wollhaarigen und ſechs zur Reihe der Schlichthaarigen gehören. Im Allgemeinen ſtehen die wollhaarigen und die ſchiefzähnigen Menſchen auf einer viel tieferen Entwickelungs— ſtufe, und den Affen viel näher, als die ſchlichthaarigen und die gerad— zähnigen Menſchen. Dagegen finden ſich Langköpfe nicht allein bei allen wollhaarigen, ſondern auch bei vielen ſchlichthaarigen Menſchen vor, obwohl hier Mittelköpfe und Kurzköpfe überwiegen. Die erſte Menſchenart würde der längſt ausgeſtorbene Urmenſch (Homo primigenius oder Pithecanthropus primigenius) bilden, den wir nach der einheitlichen oder monophyletiſchen Deſcendenz-Hypotheſe als die unmittelbare Uebergangsform vom menſchenähnlichſten Affen zum Menſchen und als die gemeinſame Stammform aller übrigen Menſchenarten zu betrachten hätten (Vergl. Taf. VIII). Bei der außer- ordentlichen Aehnlichkeit, welche ſich zwiſchen den niederſten wollhaa— rigen Menſchen und den höchſten Menſchenaffen ſelbſt jetzt noch erhal— ten hat, bedarf es nur geringer Einbildungskraft, um ſich zwiſchen Beiden eine vermittelnde Zwiſchenform und in dieſer ein ungefähres Bild von dem muthmaßlichen Urmenſchen oder Affenmenſchen vorzu— ſtellen. Die Schädelform deſſelben wird ſehr langköpfig und ſchief— zähnig geweſen ſein, das Haar wollig, die Hautfarbe dunkel, bräun— lich oder ſchwärzlich. Die Behaarung des ganzen Körpers wird dich— ter als bei allen jetzt lebenden Menſchenarten geweſen ſein, die Arme im Verhältniß länger und ſtärker, die Beine dagegen kürzer und dünner, mit ganz unentwickelten Waden; der Gang nur halb aufrecht, mit ſtark eingebogenen Knieen. Von den jetzt exiſtirenden Feſtländern kann allen bekannten Anzeichen nach weder Amerika, noch Europa, noch Auſtralien die Heimath dieſes Urmenſchen, und ſomit die Urheimath des Menſchengeſchlechts überhaupt geweſen ſein. Vielmehr deuten die Wollhaarige und ſchlichthaarige Menſchen. Urmenſchen. Papuas. 515 meiſten Anzeichen auf das ſüdliche Aſien. Vielleicht war aber auch das öſtliche Afrika der Ort, an welchem zuerſt die Entſtehung des Ur— menſchen aus den menſchenähnlichſten Affen erfolgte; vielleicht auch ein jetzt unter den Spiegel des indiſchen Oceans verſunkener Kontinent, welcher ſich im Süden des jetzigen Aſiens einerſeits öſtlich bis nach den Sunda.⸗Inſeln, andrerſeits weſtlich bis nach Madagaskar und Afrika erſtreckte. Wahrſcheinlich entwickelten ſich aus dieſer Urmenſchenart durch natürliche Züchtung verſchiedene, uns unbekannte, jetzt längſt ausgeſtorbene Menſchenarten, von denen zwei am meiſten divergente, eine wollhaarige Art und eine ſchlichthaarige Art, im Kampf um's Daſein über die übrigen den Sieg davon trugen, und die Stammformen der übrigen Menſchenarten wurden. Der wollhaa— rige Zweig breitete ſich zunächſt ſüdlich des Aequators aus, indem er ſich theils nach Oſten (nach Neuguinea), theils nach Weſten (nach Süd— afrika) hinüberwandte. Der ſchlichthaarige Zweig dagegen wandte ſich hauptſächlich nach Norden und bevölkerte zunächſt Aſien; ein Theil deſſelben wurde aber nach Auſtralien verſchlagen, und erhob ſich hier nur wenig über die tiefe Stufe der urſprünglichen Bildung. Alle heute noch lebenden wollhaarigen Völker (Ulotriches) ſind auf einer viel tieferen Stufe der Ausbildung ſtehen geblieben, als die meiſten ſchlichthaarigen. Sie alle haben die langköpfige und ſchief— zähnige Schädelform und die dunkle Hautfarbe beibehalten. Der ur— ſprünglichen Stammform des wollhaarigen Aſtes in mancher Bezie— hung am nächſten ſteht vielleicht der Pa pua-Menſch oder Negrito (Homo papua), welcher zerſtreut auf einzelnen Inſelgruppen des ſüd— aſiatiſchen und des auſtraliſchen Archipelagus lebt, auf Neuguinea, Neubritannien, den Salomonsinſeln u. ſ. w. Auch die kürzlich ausge— ſtorbenen Bewohner von Tasmanien (Vandiemensland) gehörten hier— her. Die Hautfarbe iſt ſchwarz oder ſchwarzbraun, das Haupthaar meiſtens eine mächtige wollige Perücke. Während einige Zweige die— ſer Menſchenart ſich in verhältnißmäßig hohem Grade der Kultur zu— gängig gezeigt haben, ſind andere dagegen auf der niedrigſten Stufe der Menſchheit ſtehen geblieben. 33 * 516 Hottentotten. Afroneger oder Mittelafrikaner. Das letztere gilt auch von den nächſtverwandten Hottentotten oder Schmiermenſchen (Homo hottentottus), worunter wir nicht bloß die echten Hottentotten oder Quaiquas, ſondern auch die viehi— ſchen Buſchmänner und einige andere nächſtverwandte Stämme des ſüdlichſten Afrika begreifen. Zwar werden dieſelben gewöhnlich mit der folgenden Art, den echten Negern, vereinigt. Allein ſie unter— ſcheiden ſich von dieſen in mancher Beziehung, namentlich durch die hellere, mehr gelblich braune Hautfarbe. Dagegen ſchließen ſie ſich durch die büſchelförmige Sonderung des Haares und andere Eigen— heiten mehr dem Papua-Menſchen an, ſo daß wir ſie wohl als den Reſt einer Zwiſchenart betrachten können, welche den Uebergang vom Papua⸗Neger zum echten, mittelafrikaniſchen Neger vermittelte. Wahr— ſcheinlich ſtammen ſie von einem Zweige des Papua-Menſchen ab, der nach Südweſten wanderte. Eine vierte und letzte Art unter der Reihe der wollhaarigen Menſchen bildet der echte Neger oder Afroneger, der mittel- afrikaniſche oder äthiopiſche Menſch (Homo afer oder niger). Hierher gehört die große Mehrzahl der Bewohner Afrikas, mit Aus— nahme der kaukaſiſchen Bewohner des nördlichen Afrika und der Hot— tentotten der Südſpitze. Wahrſcheinlich entſtand dieſe Art direct oder indirect ebenfalls aus einem nach Weſten gewanderten Zweige der Pa— pua⸗Neger, vielleicht durch Vermittelung der Hottentotten-Art. Wie bei den drei vorhergehenden Arten, iſt die Hautfarbe dunkel, geht je— doch hier öfter in reines Schwarz über, während ſie allerdings bei eini— gen nördlichen Stämmen auch hell gelblich braun wird. Man kann dieſe Menſchenart in zwei divergente Zweige eintheilen, von denen der ſüdliche die Kaffern und Beſchuanen, der nördliche die Senegambier und Sudanen umfaßt. Unter der zweiten Reihe der Menſchenarten, den ſchlichthaa— rigen Völkern (Lissotriches), find auf der tiefſten Stufe die Neu- holländer oder Auſtral neger ſtehen geblieben, auch „Alfurus“ (im engeren Sinne) genannt (Homo alfurus oder australis). Es ge- hören hieher die affenartigen Ureinwohner Auſtraliens, ſowie die Al— Alfurus (Neuholländer). Malayen (Polyneſier). 517 furu⸗Polyneſier, d. h. ein Theil von der ſchlichthaarigen ſchwarzen Be— völkerung der Philippinen, Molukken und anderer ſüdaſiatiſcher und polyneſiſcher Inſelgruppen. In vielen körperlichen und geiſtigen Be— ziehungen ſtehen dieſe ſchwarzen, ſchlichthaarigen Stämme auf der tiefſten Stufe menſchlicher Bildung, ſelbſt noch unter den Hottentotten und Papuas, und könnten demnach vielleicht als ein wenig veränder— tes Ueberbleibſel von dem vorher erwähnten zweiten Hauptzweige der Urmenſchenart angeſehen werden, welcher die Stammform aller ſchlichthaarigen Menſchen wurde. Die Hautfarbe iſt bei dieſen Au— ſtralnegern meiſt ſchwarz, wie bei den echten Negern und Papuas, und ebenſo der Schädel ſtark ſchiefzähnig und langköpfig. Sie unter- ſcheiden ſich von ihnen aber auf den erſten Blick durch das ſchlichte, niemals wollige, ſchwarze Kopfhaar. Als ſechſte Menſchenart kann man an den Alfuru oder Auſtral— neger zunächſt den mala yiſchen oder polyneſiſchen Menſchen (Homo polynesius oder malayus) anſchließen, welcher im Ganzen der ſogenannten braunen oder malayiſchen Raſſe im früheren Sinne entſpricht. Die jetzt noch lebenden Malayen, ein dürftiger Ueberreſt der früheren Maſſe, kann man in einen öſtlichen und einen weſtlichen Zweig eintheilen. Zu erſterem gehören die meiſten heller gefärbten Bewohner der auſtraliſchen Inſelwelt und des großen oceaniſchen Archi— pelagus, die Ureinwohner von Neuſeeland, Otaheiti, den Sandwich— inſeln, Karolinen-Inſeln u. ſ. w. Der weſtliche Zweig dagegen um— faßt einen großen Theil von den Ureinwohnern der Sundainſeln und des ſüdaſiatiſchen Feſtlandes, namentlich Malacca. Ein weit nach Weſten verſchlagener Stamm derſelben hat Madagaskar bevölkert. Die Hautfarbe der Malayen iſt bisweilen noch ſehr dunkel, meiſtens aber hellbraun. Ein Theil der Polyneſier ſchließt ſich durch ſeinen ſchiezähnigen Langkopf noch unmittelbar an die Auſtralneger an. Ein anderer Theil dagegen hat einen Mittelkopf oder ſogar einen entſchiede— nen Kurzkopf und ſchließt ſich dadurch, ſowie durch mehr oder weniger zurücktretende und gerade Zahnſtellung (Orthognathismus) mehr den Mongolen, und ſogar den Kaukaſiern an. Wahrſcheinlich ſind in die— 518 Polarmenſchen. Mongolen oder Turaner. ſer buntgemiſchten Menſchenart noch Reſte von den urſprünglichen Zwiſchenformen verſteckt, welche den Uebergang von den Auſtralnegern zu den höher entwickelten ſchlichthaarigen Menſchenarten bildeten. In ähnlicher Weiſe wie ſich die Nagethiere, Inſectenfreſſer, Flederthiere und Affen als vier divergente Zweige aus der gemeinſamen Stamm— gruppe der Halbaffen entwickelt haben, ſind vielleicht die vier Menſchen— arten der Mongolen, Polarmenſchen, Amerikaner und Kaukaſier aus der gemeinſamen malayiſchen Stammart entſtanden. Als ein weit nach Norden verſchlagener Stamm, der direct oder indirect von einem Zweige der Polyneſier abſtammt, iſt wahrſcheinlich der Polarmenſch (Homo arcticus) anzuſehen. Wir verſtehen dar— unter die nordamerikaniſchen Eskimos, und die ihnen nächſtverwand— ten, langköpfigen, gelblich braunen Bewohner der nordiſchen Polar— länder in beiden Hemiſphären, der öſtlichen und weſtlichen, insbeſon— dere die Tunguſen und Samojeden des nördlichen Aſiens. Durch An— paſſung an das Polarklima iſt dieſe Menſchenform fo eigenthümlich um— gebildet, daß man ſie wohl als Vertreter einer beſonderen Species be— trachten kann. Gewöhnlich werden die Polarmenſchen entweder mit der mongoliſchen oder mit der amerikaniſchen Art vereinigt. Allein ſie entfernen ſich von beiden durch ihren entſchiedenen Langkopf, durch welchen fie ſich vielmehr an die langköpfigen Zweige der Polyneſier an- ſchließen. Eine achte Species bildet der mongoliſche oder mittelaſia— tiſche Menſch, auch gelber Menſch oder Turaner genannt (Homo mongolicus oder turanus). Den Hauptſtamm dieſer Art bilden die Bewohner des nördlichen und mittleren Aſiens, mit Ausnahme der Polarmenſchen im Norden und der Kaukaſier im Weſten. Auch ein großer Theil der Südaſiaten gehört hierher, und von den Europäern die Lappen, Finnen und Ungarn. Als zwei Hauptzweige der um— fangreichen mongoliſchen Völkergruppe kann man einen ſüdöſtlichen Zweig (Chineſen und Japaneſen) und einen nordweſtlichen Zweig (Ta— taren Türken, Finnen, Magyaren ꝛc.) unterſcheiden. Die Hautfarbe dieſer Art iſt, durch den gelben Grundton ausgezeichnet, bald heller Amerikaner. Kaukaſier oder Iraner. 519 erbſengelb oder ſelbſt weißlich, bald dunkler braungelb. Das ſtraffe Haar iſt ſchwarz. Die Schädelform iſt bei der großen Mehrzahl ent— ſchieden kurzköpfig (namentlich bei den Kalmücken, Baſchkiren u. ſ. w.), häufig auch mittelköpfig (Tataren, Chineſen u. ſ. w.). Dagegen kom— men echte Langköpfe unter ihnen gar nicht vor. Sie ſtammen wahr— ſcheinlich von einem ſüdaſiatiſchen Zweige der Polyneſier ab, der ſich nach Norden wandte. Dem mongoliſchen Menſchen nächſtverwandt iſt der amerikaniſche oder rothe Menſch (Homo americanus), zu welcher Species die ſogenann— ten Ureinwohner ſowohl des ſüdlichen als des nördlichen Amerika gehö— ren, nach Ausſchluß der Eskimos und der verwandten Polar-Menſchen. Wie bekannt, iſt dieſe Menſchenart durch den rothen Grundton ihrer Haut— farbe auszeichnet, welcher bald rein kupferroth oder heller röthlich, bald dunkler rothbraun oder ſelbſt gelbbraun wird. Die Schädelform iſt mei— ſtens der Mittelkopf, ſelten in Kurzkopf oder Langkopf übergehend. Das Haar iſt ſtraff und ſchwarz. In der ganzen Schädel- und Körperbildung ſtehen die amerikaniſchen Indianer den Mongolen des öſtlichen Aſiens am nächſten und ſtammen aller Wahrſcheinlichkeit nach auch wirklich von dieſen ab. Möglicherweiſe ſind aber von Weſten her außer Mongo— len auch Polyneſier in Amerika eingewandert und haben ſich hier mit erſteren vermiſcht. Jedenfalls ſind die Ureinwohner Amerikas aus der alten Welt herübergekommen und keineswegs, wie einige meinten, aus amerikaniſchen Affen entſtanden. Als zehnte und letzte Menſchenart ſteht an der Spitze der Schlicht— haarigen der weiße, kaukaſiſche oderiraniſche Menſch (Homo caucasicus oder iranus). Aller Wahrſcheinlichkeit nach iſt auch dieſe Species aus einem Zweige der malayiſchen oder polyneſiſchen Art im ſüdlichen Aſien entſtanden, vielleicht auch aus einem Zweige der mon— goliſchen Art. Die Hautfarbe iſt keineswegs bei allen Kaukaſiern ſo hell, wie bei den meiſten Europäern, geht vielmehr ſchon bei vielen Semiten des nördlichen Afrika in dunkles Braungelb, und bei vielen Bewohnern Vorderindiens in faſt ſchwärzliches Braun über. Die Schä— delbildung iſt mannichfaltiger als bei allen übrigen Arten, im Ganzen 520 Uebergewicht der kaukaſiſchen oder iraniſchen Menſchenart. überwiegend wohl mittelköpfig, ſeltener rein langköpfig oder kurzköpfig. Von Südaſien aus hat ſich dieſe Species nach Weſten hin entwickelt und zunächſt über das weſtliche Aſien, das nördliche Afrika und ganz Europa ausgebreitet. Schon frühzeitig muß dieſelbe ſich in zwei di— vergente Zweige geſpalten haben, den ſemitiſchen und indogermani— ſchen. Aus dem ſemitiſchen Zweige, welcher mehr im Süden ſich ausbreitete, gingen die Araber, und weiterhin die Abeſſinier, Berber und Juden hervor. Der indogermaniſche Zweig dagegen wan— derte weiter nach Norden und Weſten, und ſpaltete ſich dabei wieder— um in zwei divergente Zweige, den ario-romaniſchen, aus welchem die ariſchen und romaniſchen Völker entſtanden, und den ſlavo-germaniſchen, welcher den flaviſchen und germaniſchen Völkerſchaften den Urſprung gab. Wie ſich die weitere Verzweigung des indogermaniſchen Zweiges, aus dem die höchſt entwickelten Kul— turvölker hervorgingen, auf Grund der vergleichenden Sprachforſchung im Einzelnen genau verfolgen läßt, hat Au guſt Schleicher in ſehr anſchaulicher Form genealogiſch entwickelt 6). Durch die unaufhörlichen und rieſigen Fortſchritte, welche die Kul— tur bei dieſer, der kaukaſiſchen Menſchenart weit mehr als bei allen übrigen machte, hat dieſelbe die übrigen Menſchenarten jetzt dergeſtalt überflügelt, daß ſie die meiſten anderen Species im Kampfe um das Daſein früher oder ſpäter beſiegen und verdrängen wird. Schon jetzt gehen die Amerikaner, Polyneſier und Alfurus mit raſchen Schritten ihrem völligen Ausſterben entgegen, ebenſo die wollhaarigen Hotten— totten und Papuaneger. Dagegen werden die drei noch übrigen Men— ſchenarten, die echten Neger in Mittelafrika, die arktiſchen Menſchen in den Polargegenden und die mächtigen Mongolen in Mittelaſien, begünſtigt durch die Natur ihrer Heimath, der ſie ſich beſſer als die kaukaſiſchen Menſchen anpaſſen können, den Kampf um's Daſein mit dieſen noch auf lange Zeit hinaus glücklich beſtehen. Zwanzigſter Vortrag. Einwände gegen und Beweiſe für die Wahrheit der Deſcendenztheorie. Einwände gegen die Abſtammungslehre. Einwände des Glaubens und der Vernunft. Unermeßliche Länge der für die Deſcendenztheorie erforderlichen Zeit⸗ räume. Angeblicher und wirklicher Mangel von verbindenden Uebergangsformen zwi— ſchen den verwandten Species. Abhängigkeit der Formbeſtändigkeit von der Vererbung, und des Formwechſels von der Anpaſſung. Entſtehung ſehr zuſammengeſetzter Organiſationseinrichtungen durch ſtufenweiſe Vervollkommnung. Stufenweiſe Ent⸗ ſtehung der Inſtinkte und Seelenthätigkeiten. Entſtehung der aprioriſchen Erkennt⸗ niſſe aus apoſterioriſchen. Erforderniſſe für das richtige Verſtändniß der Abſtam⸗ mungslehre. Biologiſche Kenntniſſe und philoſophiſches Verſtändniß derſelben. Noth⸗ wendige Wechſelwirkung der Empirie und Philoſophie. Beweiſe für die Defcendenz- theorie. Innerer urſächlicher Zuſammenhang aller allgemeinen biologiſchen Erſchei⸗ nungsreihen, nur durch die Abſtammungslehre erklärbar, ohne dieſelbe unverſtänd— lich. Der directe Beweis der Selectionstheorie. Verhältniß der Deſcendenztheorie zur Anthropologie. Beweiſe für den thieriſchen Urſprung des Menſchen. Die Pithekoidentheorie als untrennbarer Beſtandtheil der Deſcendenztheorie. Induction und Deduction. Stufenweiſe Entwickelung des menſchlichen Geiſtes. Körper und Geiſt. Menſchenſeele und Thierſeele. Blick in die Zukunft. Meine Herrn! Wenn ich einerſeits vielleicht hoffen darf, Ihnen durch dieſe Vorträge die Abſtammungslehre mehr oder weniger wahr— ſcheinlich gemacht, und einige von Ihnen ſelbſt von ihrer unerſchütter— lichen Wahrheit überzeugt zu haben, ſo verhehle ich mir andrerſeits kei— neswegs, daß die Meiſten von Ihnen im Laufe meiner Erörterungen eine Maſſe von mehr oder weniger begründeten Einwürfen gegen die— 522 Wiſſen und Glauben. ſelbe erhoben haben werden. Es erſcheint mir daher jetzt, am Schluſſe unſerer Betrachtungen, durchaus nothwendig, wenigſtens die wich— tigſten derſelben zu widerlegen, und zugleich auf der anderen Seite die überzeugenden Beweisgründe nochmals hervorzuheben, welche für die Wahrheit der Entwickelungslehre Zeugniß ablegen. Die Einwürfe, welche man gegen die Abſtammungslehre über— haupt erhebt, zerfallen in zwei große Gruppen, Einwände des Glau— bens und Einwände der Vernunft. Mit den Einwendungen der erſten Gruppe, die in den unendlich mannichfaltigen Glaubensvorſtellungen der menſchlichen Individuen ihren Urſprung haben, brauche ich mich hier durchaus nicht zu befaſſen. Denn, wie ich bereits im Anfang dieſer Vorträge bemerkte, hat die Wiſſenſchaft, als das objective Ergeb— niß der ſinnlichen Erfahrung und des Erkenntnißſtrebens der menſch— lichen Vernunft, gar Nichts mit den ſubjectiven Vorſtellungen des Glaubens zu thun, welche von einzelnen Menſchen als unmittelbare Eingebungen oder Offenbarungen des Schöpfers gepredigt, und dann von der unſelbſtſtändigen Menge geglaubt werden. Dieſer bei den ver— ſchiedenen Völkern unendlich verſchiedenartige Glaube fängt bekannt— lich erſt da an, wo die Wiſſenſchaft aufhört. Die Naturwiſſenſchaft be— trachtet denſelben nach dem Grundſatz Friedrich's des Großen, „daß jeder auf feine Fagon ſelig werden kann“, und nur da tritt fie noth- wendig in Konflikt mit beſonderen Glaubensvorſtellungen, wo dieſelben der freien Forſchung eine Grenze, und der menſchlichen Erkenntniß ein Ziel ſetzen wollen, über welches dieſelbe nicht hinaus dürfe. Das iſt nun allerdings gewiß hier im ſtärkſten Maaße der Fall, da die Ent— wickelungslehre ſich zur Aufgabe das höchſte wiſſenſchaftliche Problem geſetzt hat, das wir uns ſetzen können: das Problem der Schöpfung, des Werdens der Dinge, und insbeſondere des Werdens der organi— ſchen Formen, an ihrer Spitze des Menſchen. Hier iſt es nun jeden— falls eben ſo das gute Recht, wie die heilige Pflicht der freien Forſch— ung, keinerlei menſchliche Autorität zu ſcheuen, und muthig den Schleier vom Bilde des Schöpfers zu lüften, unbekümmert, welche natürliche Wahrheit darunter verborgen ſein mag. Die göttliche Offenbarung, Unermeßlich lange Zeiträume der organiſchen Erdgeſchichte. 523 welche wir als die einzig wahre anerkennen, ſteht überall in der Natur geſchrieben, und jedem Menſchen mit geſunden Sinnen und geſunder Vernunft ſteht es frei, in dieſem heiligen Tempel der Natur durch eige— nes Forſchen und ſelbſtſtändiges Erkennen der untrüglichen Offenba— rung theilhaftig zu werden. Wenn wir demgemäß hier alle Einwürfe gegen die Abſtammungs— lehre unberückſichtigt laſſen können, die etwa von den Prieſtern der zahl— loſen verſchiedenen Glaubensreligionen erhoben werden könnten, ſo werden wir dagegen nicht umhin können, die wichtigſten von denjenigen Einwänden zu widerlegen, welche mehr oder weniger wiſſenſchaftlich begründet erſcheinen, und von denen man zugeſtehen muß, daß man durch ſie auf den erſten Blick in gewiſſem Grade eingenommen und von der Annahme der Abſtammungslehre zurückgeſchreckt werden kann. Unter dieſen Einwänden erſcheint Vielen als der wichtigſte derjenige, welcher die Zeitlänge betrifft. Wir find nicht gewohnt, mit fo un— geheuern Zeitmaaßen umzugehen, wie ſie für die Schöpfungsgeſchichte erforderlich ſind. Es wurde früher bereits erwähnt, daß wir die Zeit— räume, in welchen die Arten durch allmähliche Umbildung entſtanden ſind, nicht nach einzelnen Jahrtauſenden berechnen müſſen, ſondern nach Hunderten und nach Millionen von Jahrtauſenden. Allein ſchon die Dicke der geſchichteten Erdrinde, die Erwägung der ungeheuern Zeit— räume, welche zu ihrer Ablagerung aus dem Waſſer erforderlich waren, und der zwiſchen dieſen Senkungszeiträumen verfloſſenen Hebungs— zeiträume oder „Anteperioden“ (S. 305) beweiſen uns eine Zeitdauer der organiſchen Erdgeſchichte, welche unſer menſchliches Faſſungsver— mögen gänzlich überſteigt. Wir ſind hier in derſelben Lage, wie in der Aſtronomie betreffs des unendlichen Raums. Wie wir die Ent— fernungen der verſchiedenen Planetenſyſteme nicht nach Meilen, ſondern nach Siriusweiten berechnen, von denen jede wieder Millionen Meilen einſchließt, ſo müſſen wir in der organiſchen Erdgeſchichte nicht nach Jahrtauſenden, ſondern nach paläontologiſchen oder geologiſchen Pe— rioden rechnen, von denen jede viele Jahrtauſende, und manche viel— leicht Millionen oder ſelbſt Milliarden von Jahrtauſenden umfaßt. Es 524 Unermeßlich lange Zeiträume der organiſchen Erdgeſchichte. iſt ſehr gleichgültig, wie hoch man annähernd die unermeßliche Länge dieſer Zeiträume ſchätzen mag, weil wir in der That nicht im Stande ſind, mittelſt unſerer beſchränkten Einbildungskraft uns eine wirkliche Anſchauung von dieſen Zeiträumen zu bilden, und weil wir auch keine ſichere mathematiſche Baſis, wie in der Aſtronomie beſitzen, um nur die ungefähre Länge des Maaßſtabes irgendwie in Zahlen feſtzuſtellen. Nur dagegen müſſen wir uns auf das beſtimmteſte verwahren, daß wir in dieſer außerordentlichen, unſere Vorſtellungskraft vollſtändig überſteigenden Länge der Zeiträume irgend einen Grund gegen die Ent— wickelungslehre ſehen könnten. Wie ich Ihnen bereits in einem frühe— ren Vortrage auseinanderſetzte, iſt es im Gegentheil vom Standpunkte der ſtrengen Philoſophie das Gerathenſte, dieſe Schöpfungsperioden möglichſt lang vorauszuſetzen, und wir laufen um ſo weniger Gefahr, uns in dieſer Beziehung in unwahrſcheinliche Hypotheſen zu verlieren, je größer wir die Zeiträume für die organiſchen Entwickelungsvorgänge annehmen (S. 103). Je länger wir z. B. die Anteocenperiode an— nehmen, deſto eher können wir begreifen, wie innerhalb derſelben die wichtigen Umbildungen erfolgten, welche die Fauna und Flora der Kreidezeit fo ſcharf von derjenigen der Eocenzeit trennen. Die große Abneigung, welche die meiſten Menſchen gegen die Annahme ſo uner— meßlicher Zeiträume haben, rührt größtentheils davon her, daß wir in der Jugend mit der Vorſtellung groß gezogen werden, die ganze Erde ſei nur einige tauſend Jahre alt. Außerdem iſt das Menſchen— leben, welches höchſtens den Werth eines Jahrhunderts erreicht, eine außerordentlich kurze Zeitſpanne, welche ſich am wenigſten eignet, als Maaßeinheit für jene geologiſchen Perioden zu gelten. Denken Sie nur im Vergleiche damit an die fünfzig mal längere Lebensdauer man— cher Bäume, z. B. der Drachenbäume Dracaena) und Affenbrodbäume (Adansonia), deren individuelles Leben einen Zeitraum von fünftau— tauſend Jahren überſteigt; und denken Sie andrerſeits an die Kürze des individuellen Lebens bei manchen niederen Thieren, z. B. bei den Infuſorien, wo das Individuum als ſolches nur wenige Tage, oder ſelbſt nur wenige Stunden lebt. Dieſe Vergleichung ſtellt uns die Re— Uebergangsformen zwiſchen den organischen Arten. 525 lativität alles Zeitmaaßes auf das Unmittelbarſte vor Augen. Ganz gewiß müſſen, wenn die Entwickelungslehre überhaupt wahr iſt, unge— heuere, uns gar nicht vorſtellbare Zeiträume verfloſſen fein, während die ſtufenweiſe hiſtoriſche Entwickelung des Thier- und Pflanzenreichs durch allmähliche Umbildung der Arten vor ſich ging. Es liegt aber auch nicht ein einziger Grund vor, irgend eine beſtimmte Grenze für die Länge jener phyletiſchen Entwickelungsperioden anzunehmen. Ein zweiter Haupteinwand, der von vielen, namentlich ſyſtema— tiſchen Zoologen und Botanikern, gegen die Abſtammungslehre erhoben wird, iſt der, daß man keine Uebergangs formen zwiſchen den verſchiedenen Arten finden könne, während man dieſe doch nach der Abſtammungslehre in Menge finden müßte. Dieſer Einwurf iſt zum Theil begründet, zum Theil aber auch nicht. Denn es exiſtiren Ueber— gangsformen ſowohl zwiſchen lebenden, als auch zwiſchen ausgeſtorbe— nen Arten in außerordentlicher Menge, überall nämlich da, wo wir Gelegenheit haben, ſehr zahlreiche Individuen von verwandten Arten vergleichend in's Auge zu faſſen. Grade diejenigen ſorgfältigſten Unter— ſucher der einzelnen Species, von denen man jenen Einwurf häufig hört, grade dieſe finden wir in ihren ſpeciellen Unterſuchungsreihen beſtändig durch die in der That unlösbare Schwierigkeit aufgehalten, die einzelnen Arten ſcharf zu unterſcheiden. In allen ſyſtematiſchen Werken, welche einigermaßen gründlich ſind, begegnen Sie endloſen Klagen darüber, daß man hier und dort die Arten nicht unterſcheiden könne, weil zu viele ebergangsformen vorhanden ſeien. Daher beftimmt auch jeder Naturforſcher den Umfang und die Zahl der einzelnen Arten anders, als die übrigen. Wie ich ſchon früher erwähnte (S. 223), nehmen in einer und derſelben Organismengruppe die einen Zoologen und Botaniker 10 Arten an, andere 20, andere hundert oder mehr, während noch andere Syſtematiker alle dieſe verſchiedenen Formen nur als Spielarten oder Varietäten einer einzigen „guten Species“ betrachten. Man braucht daher bei den meiſten Formengruppen wahrlich nicht lange zu ſuchen, um die von Vielen vermißten Uebergangsformen und Zwi— ſchenſtufen zwiſchen den einzelnen Species in Hülle und Fülle zu finden. 526 Uebergangsformen zwiſchen den organiſchen Arten. Bei vielen Arten fehlen freilich die Uebergangsformen wirklich. Dies erklärt ſich indeſſen ganz einfach durch das Princip der Diver— genz oder Sonderung, deſſen Bedeutung ich Ihnen früher erläutert habe (S. 217). Der Umſtand, daß der Kampf um das Daſein um ſo heftiger zwiſchen zwei verwandten Formen iſt, je näher ſie ſich ſte— hen, muß nothwendig das baldige Erlöſchen der verbindenden Zwi— ſchenformen zwiſchen zwei divergenten Arten begünſtigen. Wenn eine und dieſelbe Species nach verſchiedenen Richtungen auseinander— gehende Varietäten hervorbringt, die ſich zu neuen Arten geſtalten, ſo muß der Kampf zwiſchen dieſen neuen Formen und der gemeinſamen Stammform um ſo lebhafter ſein, je weniger ſie ſich von einander ent— fernen, dagegen um ſo weniger gefährlich, je ſtärker die Divergenz iſt. Naturgemäß werden alſo die verbindenden Zwiſchenformen vor— zugsweiſe und meiſtens ſehr ſchnell ausſterben, während die am mei— ſten divergenten Formen als getrennte „neue Arten“ übrig bleiben und ſich fortpflanzen. Dem entſprechend finden wir auch keine Ueber— gangsformen mehr in ſolchen Gruppen, welche ganz im Ausſterben begriffen ſind, wie z. B. unter den Vögeln die Strauße, unter den Säugethieren die Elephanten, Giraffen, Halbaffen, Zahnarmen und Schnabelthiere. Dieſe im Erlöſchen begriffenen Formgruppen erzeu— gen keine neuen Varietäten mehr, und naturgemäß ſind hier die Arten ſogenannte „gute“, d. h. ſcharf von einander geſchiedene Species. In denjenigen Thiergruppen dagegen, wo noch die Entfaltung und der Fortſchritt ſich geltend macht, wo die exiſtirenden Arten durch Bildung neuer Varietäten in viele neue Arten aus einandergehen, finden wir überall maſſenhaft Uebergangsformen vor, welche der Syſtematik die größten Schwierigkeiten bereiten. Das iſt z. B. unter den Vögeln bei den Finken der Fall, unter den Säugethieren bei den meiſten Nage— thieren (beſonders den mäuſe- und rattenartigen), bei einer Anzahl von Wiederkäuern und von echten Affen, insbeſondere bei den ſüdamerika— niſchen Rollaffen (Cebus) und vielen Anderen. Die fortwährende Entfaltung der Species durch Bildung neuer Varietäten erzeugt hier eine Maſſe von Zwiſchenformen, welche die ſogenannten guten Arten Beſtändigkeit und Veränderlichkeit der organischen Species. 527 verbinden und ihre ſcharfe ſpeeifiſche Unterſcheidung ganz illuſoriſch machen. Daß dennoch keine vollſtändige Verwirrung der Formen, kein all— gemeines Chaos in der Bildung der Thier- und Pflanzengeſtalten ent— ſteht, hat einfach ſeinen Grund in dem Gegengewicht, welches der Ent— ſtehung neuer Formen durch fortſchreitende Anpaſſung gegenüber die erhaltende Macht der Vererbung ausübt. Der Grad von Beharrlichkeit und Veränderlichkeit, den jede organiſche Form zeigt, iſt lediglich bedingt durch den jeweiligen Zuſtand des Gleichgewichts zwi— ſchen dieſen beiden ſich entgegenſtehenden Funktionen. Die Ver— erbung iſt die Urſache der Beſtändigkeit der Species; die An paſſung iſt die Urſache der Abänderung der Art. Wenn alſo einige Naturforſcher ſagen, offenbar müßte nach der Ab— ſtammungslehre eine noch viel größere Mannichfaltigkeit der Formen ſtattfinden, und andere umgekehrt, es müßte eine viel ſtrengere Gleich— heit der Formen ſich zeigen, ſo unterſchätzen die erſteren das Gewicht der Vererbung und die letzteren das Gewicht der Anpaſſung. Der Grad der Wechſelwirkung zwiſchen der Vererbung und Anpaſſung beſtimmt den Grad der Beſtändigkeit und Veränderlichkeit der organiſchen Species, den dieſelbe in jedem gegebenen Zeitabſchnitt beſitzt. Ein weiterer Einwand gegen die Deſcendenztheorie, welcher in den Augen vieler Naturforſcher und Philoſophen ein großes Gewicht beſitzt, beſteht darin, daß dieſelbe die Entſtehung zweckmäßig wirkender Organe durch zwecklos oder mechaniſch wir— kende Urſachen behauptet. Dieſer Einwurf erſcheint namentlich von Bedeutung bei Betrachtung derjenigen Organe, welche offenbar für einen ganz beſtimmten Zweck ſo vortrefflich angepaßt erſcheinen, daß die ſcharfſinnigſten Mechaniker nicht im Stande ſein würden, ein vollkommeneres Organ für dieſen Zweck zu erfinden. Solche Organe ſind vor allen die höheren Sinnesorgane der Thiere, Auge und Ohr. Wenn man bloß die Augen und Gehörwerkzeuge der höheren Thiere kennte, ſo würden dieſelben uns in der That große und vielleicht un— 528 Mechaniſche Entſtehung zweckmäßiger Organiſationseinrichtungen. überſteigliche Schwierigkeiten verurſachen. Wie könnte man ſich er- klären, daß allein durch die natürliche Züchtung jener außerordentlich hohe und höchſt bewunderungswürdige Grad der Vollkommenheit und der Zweckmäßigkeit in jeder Beziehung erreicht wird, welchen wir bei den Augen und Ohren der höheren Thiere wahrnehmen? Zum Glück hilft uns aber hier die vergleichende Anatomie und Ent— wickelungsgeſchichte über alle Hinderniſſe hinweg. Denn wenn wir die ſtufenweiſe Vervollkommnung der Augen und Ohren Schritt für Schritt im Thierreich verfolgen, ſo finden wir eine ſolche allmäh— liche Stufenleiter der Ausbildung vor, daß wir auf das ſchönſte die Entwickelung der höchſt verwickelten Organe durch alle Grade der Vollkommenheit hindurch verfolgen können. So erſcheint z. B. das Auge bei den niederſten Thieren als ein einfacher Farbſtofffleck, der noch kein Bild von äußeren Gegenſtänden entwerfen, ſondern höchſtens den Unterſchied der verſchiedenen Lichtſtrahlen wahrnehmen kann. Dann tritt zu dieſem ein empfindender Nerv hinzu. Später entwickelt ſich all⸗ mählich innerhalb jenes Pigmentflecks die erſte Anlage der Linſe, ein lichtbrechender Körper, der ſchon im Stande iſt, die Lichtſtrahlen zu concentriren und ein beſtimmtes Bild zu entwerfen. Aber es fehlen noch alle die zuſammengeſetzten Apparate für Akkommodation und Be— wegung des Auges, die verſchieden lichtbrechenden Medien, die hoch differenzirte Sehnervenhaut u. ſ. w., welche bei den höheren Thieren dieſes Werkzeug ſo vollkommen geſtalten. Von jenem einfachſten Organ bis zu dieſem höchſt- vollkommenen Apparat zeigt uns die vergleichende Anatomie in ununterbrochener Stufenleiter alle möglichen Uebergänge, ſo daß wir uns die ſtufenweiſe, allmähliche Bildung auch eines ſolchen höchſt complicirten Organes wohl anſchaulich machen kön— nen. Ebenſo wie wir im Laufe der individuellen Entwickelung einen gleichen ſtufenweiſen Fortſchritt in der Ausbildung des Organs un— mittelbar verfolgen können, ebenſo muß derſelbe auch in der geſchicht— lichen (phyletiſchen) Entſtehung des Organs ſtattgefunden haben. Bei Betrachtung ſolcher höchſt vollkommenen Organe, die ſchein— bar von einem künſtleriſchen Schöpfer für ihre beſtimmte Thätigkeit Mechaniſche Entſtehung zweckmäßiger Organiſationseinrichtungen. 529 zweckmäßig erfunden und conſtruirt, in der That aber durch die zweck— loſe Thätigkeit der natürlichen Züchtung mechaniſch entſtanden ſind, empfinden viele Menſchen ähnliche Schwierigkeiten des naturgemäßen Verſtändniſſes, wie die rohen Naturvölker gegenüber den verwickelten Erzeugniſſen unſerer neueſten Maſchinenkunſt. Die Wilden, welche zum erſtenmal ein Linienſchiff oder eine Locomotive ſehen, halten dieſe Gegenſtände für die Erzeugniſſe übernatürlicher Weſen, und können nicht begreifen, daß der Menſch, ein Organismus ihres Gleichen, einen ſolchen Apparat hervorgebracht habe. Nicht allein die älteren Erdumſegler, welche Amerika und die Südſeeinſeln entdeckten, wiſſen davon zu erzählen, ſondern noch in jüngſter Zeit iſt die Anlage der von den Engländern in Abeſſinien eingerichteten Eiſenbahn die Urſache ähnlicher Bemerkungen geweſen. Die Locomotive wurde dort für den leibhaftigen Teufel gehalten. Auch die ungebildeten Men— ſchen unſerer eigenen Raſſe ſind nicht im Stande, einen ſo verwickelten Apparat in ſeiner eigentlichen Wirkſamkeit zu begreifen, und die rein mechaniſche Natur deſſelben zu verſtehen. Die meiſten Naturforſcher verhalten ſich aber, wie Darwin ſehr richtig bemerkt, gegenüber den Formen der Organismen nicht anders, als jene Wilden dem Linienſchiff oder der Locomotive gegenüber. Das naturgemäße Ver— ſtändniß von der rein mechaniſchen Entſtehung der organiſchen Formen kann hier nur durch eine gründliche allgemeine biologiſche Bildung, und durch die ſpecielle Bekanntſchaft mit der vergleichenden Anatomie und Entwickelungsgeſchichte gewonnen werden. Unter den übrigen gegen die Abſtammungslehre erhobenen Ein— würfen will ich hier endlich noch einen hervorheben und widerlegen, der namentlich in den Augen vieler Laien ein großes Gewicht beſitzt: Wie ſoll man ſich aus der Deſcendenztheorie die Geiſtesthätig— keiten der Thiere und namentlich die fpecififchen Aeußerungen derſelben, die ſogenannten Inſtinkte entſtanden denken? Dieſen ſchwierigen Gegenſtand hat Darwin in einem beſonderen Capitel ſeines Werkes (im ſiebenten) ſo ausführlich behandelt, daß ich Sie hier darauf verweiſen kann. Wir müſſen die Inſtinkte we— Haeckel, Natürliche Schöpfungsgeſchichte. 34 530 Entſtehnng der Inſtinkte durch Vererbung von Anpaſſungen. ſentlich als Gewohnheiten der Seele auffaſſen, welche durch Anpaſſung erworben und durch Vererbung auf viele Generationen übertragen und befeſtigt werden. Die Inſtinkte verhalten ſich demgemäß ganz wie andere Gewohnheiten, welche nach den Geſetzen der gehäuften Anpaſſung (S. 186) und der befeſtigten Vererbung (S. 170) zur Entſtehung neuer Functionen und ſomit auch neuer Formen ihrer Organe führen. Hier wie überall geht die Wechſelwirkung zwiſchen Function und Organ Hand in Hand. Ebenſo wie die Geiſtesfähigkeiten des Menſchen ſtufenweiſe durch fort— ſchreitende Anpaſſung des Gehirns erworben und durch dauernde Ver— erbung befeſtigt wurden, ſo ſind auch die Inſtinkte der Thiere, welche nur quantitativ, nicht qualitativ von jenen verſchieden ſind, durch ſtufenweiſe Vervollkommnung ihres Seelenorgans, des Centralnerven— ſyſtems, durch Wechſelwirkung der Anpaſſung und Vererbung, ent— ſtanden. Die Inſtinkte werden bekanntermaßen vererbt; allein auch die Erfahrungen, alſo neue Anpaſſungen der Thierſeele, werden ver— erbt; und die Abrichtung der Hausthiere zu verſchiedenen Seelen— thätigkeiten, welche die wilden Thiere nicht im Stande ſind aus— zuführen, beruht auf der Möglichkeit der Seelenanpaſſung. Wir ken— nen jetzt ſchon eine Reihe von Beiſpielen, in denen ſolche Anpaſſungen, nachdem ſie erblich durch eine Reihe von Generationen ſich übertragen hatten, ſchließlich als angeborene Inſtinkte erſchienen, und doch waren ſie von den Voreltern der Thiere erſt erworben. Hier iſt die Dreſſur durch Vererbung in Inſtinkt übergegangen. Die charakteriſtiſchen Inſtinkte der Jagdhunde, Schäferhunde und anderer Hausthiere, welche ſie mit auf die Welt bringen, ſind ebenſo wie die Naturinſtinkte der wil— den Thiere, von ihren Voreltern erſt durch Anpaſſung erworben wor— den. Sie find in dieſer Beziehung den angeblichen „Erkenntniſſen a priori“ des Menſchen zu vergleichen, die urſprünglich von unſeren uralten Vorfahren (gleich allen anderen Erkenntniſſen) „a posteriori,“ durch ſinnliche Erfahrung, erworben wurden. Wie ich ſchon früher bemerkte, find offenbar die „Erkenntniſſe a priori“ erſt durch lange Erforderniſſe für das Verſtändniß der Abſtammungslehre. 531 andauernde Vererbung von erworbenen Gehirnanpaſſungen aus ur— ſprünglich empiriſchen „Erkenntniſſen a posteriori“ entftanden (S. 26). Die ſo eben beſprochenen und widerlegten Einwände gegen die Deſcendenztheorie dürften wohl die wichtigſten ſein, welche ihr ent— gegengehalten worden ſind. Ich glaube Ihnen deren Grundloſigkeit genügend dargethan zu haben. Die zahlreichen übrigen Einwürfe, welche außerdem noch gegen die Entwickelungslehre im Allgemeinen oder gegen den biologiſchen Theil derſelben, die Abſtammungslehre, im Beſonderen erhoben worden ſind, beruhen entweder auf einer ſol— chen Unkenntniß der empiriſch feſtgeſtellten Thatſachen, oder auf einem ſolchen Mangel an richtigem Verſtändniß derſelben, und an Fähigkeit, die daraus nothwendig ſich ergebenden Folgeſchlüſſe zu ziehen, daß es wirklich nicht der Mühe lohnen würde, hier näher auf ihre Widerle— legung einzugehen. Nur einige allgemeine Geſichtspunkte möchte ich Ihnen in dieſer Beziehung noch mit einigen Worten nahe legen. Zunächſt iſt hinſichtlich des erſterwähnten Punktes zu bemerken, daß, um die Abſtammungslehre vollſtändig zu verſtehen, und fi ganz von ihrer unerſchütterlichen Wahrheit zu überzeugen, ein allge— meiner Ueberblick über die Geſammtheit des biologiſchen Erſcheinungs— gebietes unerläßlich iſt. Die Deſeendenztheorie iſt eine bio— logiſche Theorie, und man darf daher mit Fug und Recht ver— langen, daß diejenigen Leute, welche darüber ein endgültiges Urtheil fällen wollen, den erforderlichen Grad biologiſcher Bildung beſitzen. Dazu genügt es nicht, daß ſie in dieſem oder jenem Gebiete der Zoo— logie, Botanik und Protiſtik ſpecielle Erfahrungskenntniſſe beſitzen. Vielmehr müſſen ſie nothwendig eine allgemeine Ueberſicht der geſammten Erſcheinungsreihen wenigſtens in einem der drei organiſchen Reiche beſitzen. Sie müſſen wiſſen, welche allgemei— nen Geſetze aus der vergleichenden Morphologie und Phyſiologie der Organismen, insbeſondere aus der vergleichenden Anatomie, aus der individuellen und paläontologiſchen Entwickelungsgeſchichte u. ſ. w. ſich ergeben, und ſie müſſen eine Vorſtellung von dem tiefen mechani— ſchen, urſächlichen Zuſammenhang haben, in dem alle jene 34 * 532 Wechſelwirkung zwiſchen Empirie und Philoſophie. Erſcheinungsreihen ſtehen. Selbſtverſtändlich iſt dazu ein gewiſſer Grad allgemeiner Bildung und namentlich philoſophiſcher Erziehung erforderlich, den leider heutzutage nicht viele Leute für nöthig halten. Ohne die nothwendige Verbindung von empiriſchen Kenntniſſen und von philoſophiſchem Verſtändniß der— ſelben kann die unerſchütterliche Ueberzeugung von der Wahrheit der Defcendenztheorie nicht gewonnen werden. Nun bitte ich Sie, gegenüber dieſer erſten Vorbedingung für das wahre Verſtändniß der Deſcendenztheorie, die bunte Menge von Leuten zu betrachten, die ſich herausgenommen haben, über dieſelbe mündlich und ſchriftlich ein vernichtendes Urtheil zu fällen! Die, meiſten derſelben ſind Laien, welche die wichtigſten biologiſchen Er— ſcheinungen entweder gar nicht kennen, oder doch keine Vorſtellung von ihrer tieferen Bedeutung beſitzen. Was würden Sie von einem Laien ſagen, der über die Zellentheorie urtheilen wollte, ohne jemals Zellen geſehen zu haben, oder über die Wirbeltheorie, ohne jemals vergleichende Anatomie getrieben zu haben? Und doch begegnen Sie ſolchen lächerlichen Anmaßungen in der Geſchichte der biologiſchen Deſcendenztheorie alle Tage! Sie hören Tauſende von Laien und von Halbgebildeten darüber ein entſcheidendes Urtheil fällen, die weder von Botanik noch von Zoologie, weder von vergleichender Anatomie noch von Gewebelehre, weder von Paläontologie noch von Embryologie Etwas wiſſen. Daher kömmt es, daß, wie Huxley treffend ſagt, die allermeiſten gegen Darwin veröffentlichten Schriften das Papier nicht werth ſind, auf dem ſie geſchrieben wurden. Sie könnten mir einwenden, daß ja unter den Gegnern der Deſcendenztheorie doch auch viele Naturforſcher, und ſelbſt manche be— rühmte Zoologen und Botaniker ſind. Dieſe letzteren ſind jedoch meiſt ältere Gelehrte, die in ganz entgegengeſetzten Anſchauungen alt geworden ſind, und denen man nicht zumuthen kann, noch am Abend ihres Lebens ſich einer Reform ihrer, zur feſten Gewohnheit geworde— nen Weltanſchauung zu unterziehen. Sodann muß aber auch aus— Wechſelwirkung zwiſchen Empirie und Philoſophie. 533 drücklich hervorgehoben werden, daß nicht nur eine allgemeine Ueber— ſicht des ganzen biologiſchen Erſcheinungsgebiets, ſondern auch ein philoſophiſches Verſtändniß deſſelben nothwendige Vor— bedingungen für die überzeugte Annahme der Deſcendenztheorie ſind. Nun finden Sie aber gerade dieſe unerläßlichen Vorbedingungen bei dem größten Theil der heutigen Naturforſcher leider keineswegs erfüllt. Die Unmaſſe von neuen empiriſchen Thatſachen, mit denen uns die rieſigen Fortſchritte der neueren Naturwiſſenſchaft bekannt gemacht haben, hat eine vorherrſchende Neigung für das ſpecielle Studium einzelner Erſcheinungen und kleiner engbegrenzter Erfahrungsgebiete herbeigeführt. Darüber wird die Erkenntniß der übrigen Theile und namentlich des großen umfaſſenden Naturganzen meiſt völlig vernach— läſſigt. Jeder, der geſunde Augen und ein Mikroſkop zum Beob— achten, Fleiß und Geduld zum Sitzen hat, kann heutzutage durch mikroſkopiſche „Entdeckungen“ eine gewiſſe Berühmtheit erlangen, ohne doch den Namen eines Naturforſchers zu verdienen. Dieſer ge— bührt nur dem, der nicht bloß die einzelnen Erſcheinungen zukennen, ſondern auch deren urſächlichen Zuſammenhang zu erkennen ſtrebt. Noch heute unterſuchen und beſchreiben die meiſten Paläontologen die Verſteinerungen, ohne die wichtigſten Thatſachen der Embryologie zu kennen. Andrerſeits verfolgen die Embryologen die Entwickelungs— geſchichte des einzelnen organiſchen Individuums, ohne eine Ahnung von der paläontologiſchen Entwickelungsgeſchichte des ganzen zuge— hörigen Stammes zu haben, von welcher die Verſteinerungen berichten. Und doch ſtehen dieſe beiden Zweige der organiſchen Entwickelungsge— ſchichte, die Ontogenie oder die Geſchichte des Individuums, und die Phylogenie oder die Geſchichte des Stammes, im engſten urſächlichen Zuſammenhang, und die eine iſt ohne die andere gar nicht zu ver— ſtehen. Aehnlich ſteht es mit dem ſyſtematiſchen und dem anatomi— ſchen Theile der Biologie. Noch heute giebt es in der Zoologie und Botanik zahlreiche Syſtematiker, welche in dem Irrthum arbeiten, durch bloße ſorgfältige Unterſuchung der äußeren und leicht zugänglichen Körperformen, ohne die tiefere Kenntniß ihres inneren Baues, das 534 Wechſelwirkung zwiſchen Empirie und Philofophie. natürliche Syſtem der Thiere und Pflanzen conſtruiren zu können. Andrerſeits giebt es Anatomen und Hiſtologen, welche das eigentliche Verſtändniß des Thier- und Pflanzenkörpers bloß durch die genaueſte Erforſchung des inneren Körperbaues einer einzelnen Species, ohne die vergleichende Betrachtung der geſammten Körperform bei allen verwandten Organismen, gewinnen zu können meinen. Und doch ſteht auch hier, wie überall, Inneres und Aeußeres, Vererbung und Anpaſſung in der engſten Wechſelbeziehung, und das Einzelne kann nie ohne Vergleichung mit dem zugehörigen Ganzen wirklich verſtanden werden. Jenen einſeitigen Facharbeitern möchten wir daher mit Goethe zurufen: „Müſſet im Naturbetrachten „Immer Eins wie Alles achten. „Nichts iſt drinnen, Nichts iſt draußen, „Denn was innen, das iſt außen.“ und weiterhin: „Natur hat weder Kern noch Schale „Alles iſt ſie mit einem Male.“ Noch viel nachtheiliger aber, als jene einſeitige Richtung iſt für das allgemeine Verſtändniß des Naturganzen der allgemeine Man— gel philoſophiſcher Bildung, durch welchen ſich die meiſten Naturforſcher der Gegenwart auszeichnen. Die vielfachen Verirrun— gen der früheren ſpeculativen Naturphiloſophie, aus dem erſten Drittel unſeres Jahrhunderts, haben bei den exacten empiriſchen Naturfor- ſchern die ganze Philoſophie in einen ſolchen Mißeredit gebracht, daß dieſelben in dem komiſchen Irrwahne leben, das Gebäude der Natur— wiſſenſchaft aus bloßen Thatſachen, ohne philoſophiſche Verknüpfung derſelben, aus bloßen Kenntniſſen, ohne Verſtändniß derſelben, auf— bauen zu können. Während aber ein rein ſpeculatives, abſolut phi— loſophiſches Lehrgebäude, welches ſich nicht um die unerläßliche Grund— lage der empiriſchen Thatſachen kümmert, ein Luftſchloß wird, das die erſte beſte Erfahrung über den Haufen wirft, ſo bleibt andrerſeits ein rein empiriſches, abſolut aus Thatſachen zuſammengeſetztes Lehr— gebäude ein wüſter Steinhaufen, der nimmermehr den Namen eines Gebäudes verdienen wird. Die nackten, durch die Erfahrung feſtge— Wechſelwirkung zwiſchen Empirie und Philoſophie. 535 ſtellten Thatfachen find immer nur die rohen Bauſteine, und ohne die denkende Verwerthung, ohne die philoſophiſche Verknüpfung derſelben kann keine Wiſſenſchaft entſtehen. Wie ich Ihnen ſchon früher ein— dringlich vorzuſtellen verſuchte, entſteht nur durch die innigſte Wechſelwirkung und gegenſeitige Durchdringung von Philoſophie und Empirie das unerſchütterliche Ge— bäude der wahren, moniſtiſchen Wiſſenſchaft, oder was daſſelbe iſt, der Nat urwiſſenſchaft. Aus dieſer beklagenswerthen Entfremdung der Naturforſchung von der Philoſophie, und aus dem rohen Empirismus, der heutzu— tage leider von den meiſten Naturforſchern als „exacte Wiſſenſchaft“ geprieſen wird, entſpringen jene ſeltſamen Querſprünge des Verſtan— des, jene groben Verſtöße gegen die elementare Logik, jenes Unver— mögen zu den einfachſten Schlußfolgerungen, denen Sie heutzutage auf allen Wegen der Naturwiſſenſchaft, ganz beſonders aber in der Zoologie und Botanik begegnen können. Hier rächt ſich Vernachläſſi— gung der philoſophiſchen Bildung und Schulung des Geiſtes unmit— telbar auf das Empfindlichſte. Es iſt daher nicht zu verwundern, wenn jenen rohen Empirikern auch die tiefe innere Wahrheit der Deſcendenztheorie gänzlich verſchloſſen bleibt. Wie das triviale Sprich— wort ſehr treffend ſagt, „ſehen ſie den Wald vor lauter Bäumen nicht.“ Nur durch allgemeinere philoſophiſche Studien und namentlich durch ſtrengere logiſche Schulung des Geiſtes kann dieſem ſchlimmen Uebel— ſtande auf die Dauer abgeholfen werden (vergl. Gen. Morph. I. 63; II, 447). Wenn Sie dieſes Verhältniß recht erwägen, und mit Bezug auf die empiriſche Begründung der philoſophiſchen Entwickelungstheorie weiter darüber nachdenken, ſo wird es Ihnen auch alsbald klar wer— den, wie es ſich mit den vielfach geforderten Beweiſen für die Deſcendenztheorie“ verhält. Je mehr ſich die Abſtammungs— lehre in den letzten Jahren allgemein Bahn gebrochen hat, je mehr ſich alle wirklich denkenden jüngeren Naturforſcher und alle wirklich biolo— giſch gebildeten Philoſophen von ihrer inneren Wahrheit und Unent— 536 Beweiſe für die Wahrheit der Deſcendenztheorie. behrlichkeit überzeugt haben, deſto lauter haben die Gegner derſelben nach thatſächlichen Beweiſen dafür gerufen. Dieſelben Leute, welche kurz nach dem Erſcheinen von Darwin's Werke daſſelbe für ein „bo— denloſes Phantaſiegebäude,“ für eine „willkührliche Speculation,“ für einen „geiſtreichen Traum“ erklärten, dieſelben laſſen ſich jetzt gütig zu der Erklärung herab, daß die Deſcendenztheorie allerdings eine wiſſenſchaftliche „Hypotheſe“ ſei, daß dieſelbe aber erſt noch „be— wieſen“ werden müſſe. Wenn dieſe Aeußerungen von Leuten ge— ſchehen, die nicht die erforderliche empiriſch-philoſophiſche Bildung, die nicht die nöthigen Kenntniſſe in der vergleichenden Anatomie, Em— bryologie und Paläontologie beſitzen, ſo läßt man ſich das gefallen, und verweiſt ſie auf die in jenen Wiſſenſchaften niedergelegten Argu— mente. Wenn aber die gleichen Aeußerungen von anerkannten Fach— männern geſchehen, von Lehrern der Zoologie und Botanik, die doch von Rechtswegen einen Ueberblick über das Geſammtgebiet ihrer Wiſſen— ſchaft beſitzen ſollten, oder die wirklich mit den Thatſachen jener ge— nannten Wiſſenſchaftsgebiete vertraut ſind, dann weiß man in der That nicht, was man dazu ſagen ſoll! Diejenigen, denen ſelbſt der jetzt bereits gewonnene Schatz an empiriſcher Naturkenntniß nicht ge— nügt, um darauf die Deſcendenztheorie ſicher zu begründen, die wer— den auch durch keine andere, etwa noch ſpäter zu entdeckende Thatſache von ihrer Wahrheit überzeugt werden. Ich muß Sie hier wiederholt darauf hinweiſen, daß alle großen, allgemeinen Geſetze und alle umfaſſenden Erfheinung sreihen der verſchie— denſten biologiſchen Gebiete einzig und allein durch die Entwickelungstheorie (und ſpeciell durch den biologiſchen Theil derſelben, die Deſcendenztheorie) erklärt und verſtanden werden können, und daß ſie ohne dieſelbe gänzlich unerklärt und unbegriffen bleiben. Sie alle begründen in ihrem inneren ur— ſächlichen Zuſammen hang die Defeendenztheorie als das größte biologiſche Induetionsgeſetz. Erlauben Sie mir, Ihnen ſchließ— lich nochmals alle jene Inductionsreihen, alle jene allgemeinen biolo— Beweiſe für die Wahrheit der Deſcendenztheorie. 537 giſchen Geſetze, auf welchen dieſes umfaſſende Entwickelungsgeſetz unumſtößlich feſt ruht, im Zuſammenhange zu nennen: 1) Die paläontologiſche Entwickelungsgeſchichte der Organismen, das ſtufenweiſe Auftreten und die hiſtoriſche Reihenfolge der verſchiedenen Arten und Artengruppen, die empiri— ſchen Geſetze des paläontologiſchen Artenwechſels, wie ſie uns durch die Verſteinerungskunde geliefert werden, insbeſondere die fort— ſchreitende Differenzirung und Vervollkommnung der Thier⸗ und Pflanzengruppen in den auf einander folgenden Perioden der Erdgeſchichte. 2) Die individuelle Entwickelungsgeſchichte der Organismen, die Embryologie und Metamorphologie, die ſtufen— weiſen Veränderungen in der allmählichen Ausbildung des Körpers und ſeiner einzelnen Organe, namentlich die fortſchreitende Dif— ferenzirung und Vervollkommnung der Organe und Kör— pertheile in den auf einander folgenden Perioden der individuellen Entwickelung. 3) Der innere urſächliche Zuſammenhang zwiſchen der Ontogenie und Phylogenie, der Parallelismus zwiſchen der individuellen Entwickelungsgeſchichte der Organismen und der pa— läontologiſchen Entwickelungsgeſchichte ihrer Vorfahren; ein Cauſal— nexus, der durch die Geſetze der Vererbung und Anpaſſung thatſächlich begründet wird, und der ſich in den Worten zuſammen— faſſen läßt: Die ganze Ontogenie wiederholt in großen Zügen nach den Geſetzen der Vererbung und Anpaſſung das Geſammtbild der Phy— logenie. 4) Die vergleichende Anatomie der Organismen, der Nachweis von der weſentlichen Uebereinſtimmung des inneren Baues der verwandten Organismen, trotz der größten Verſchiedenheit der äußeren Form bei den verſchiedenen Arten; die Erklärung der— ſelben durch die urſächliche Abhängigkeit der inneren Uebereinſtimmung des Baues von der Vererbung, der äußeren Ungleichheit der Kör— perform von der Anpaſſung. 538 Beweiſe für die Wahrheit der Defcendenztheorie. 5) Der innere urſächliche Zuſam menhang zwiſchen der vergleichenden Anatomie und Entwickelungsge— ſchichte, die harmoniſche Uebereinſtimmung zwiſchen den Geſetzen der ſtufenweiſen Ausbildung, der fortſchreitenden Differenzi— rung und Vervollkommnung, wie ſie uns durch die verglei— chende Anatomie auf der einen Seite, durch die Ontogenie und Palä— ontologie auf der anderen Seite klar vor Augen gelegt werden. 6) Die Unzweckmäßigkeitslehre oder Dysteleolo— gie, wie ich früher die Wiſſenſchaft von den rudimentä— ren Organen, von den verkümmerten und entarteten, zweckloſen und unthätigen Körpertheilen genannt habe; einer der wichtigſten und intereſſanteſten Theile der vergleichenden Anatomie, welcher, richtig gewürdigt, für ſich allein ſchon im Stande iſt, den Grundirrthum der teleologiſchen und dualiſtiſchen Naturbetrachtung zu widerlegen, und die alleinige Begründung der mechaniſchen und moniſtiſchen Welt— anſchauung zu beweiſen. 7) Das natürliche Syſtem der Organismen, die natürliche Gruppirung aller verſchiedenen Formen von Thieren, Pflan— zen und Protiſten in zahlreiche, kleinere und größere, neben und über einander geordnete Gruppen; der verwandtſchaftliche Zuſammenhang der Arten, Gattungen, Familien, Ordnungen, Klaſſen, Stämme u. ſ. w.; ganz beſonders aber die baumförmig verzweigte Geſtalt des natürlichen Syſtems, welche aus einer natur— gemäßen Anordnung und Zuſammenſtellung aller dieſer Gruppenſtufen oder Kategorien ſich von ſelbſt ergiebt. Die ſtufenweis verſchiedene Formverwandtſchaft derſelben iſt nur dann erklärlich, wenn man fie als Ausdruck der wirklichen Blutsverwandtſch aft betrach— tet, die Baumform des natürlichen Syſtems kann nur als wirklicher Stammbaum der Organismen verſtanden werden. 8) Die Chorologie der Organismen, die Wiſſenſchaft von der räumlichen Verbreitung der organiſchen Species, von ihrer geographiſchen undtopographiſchen Vertheilung über die Erdoberfläche, über die Höhen der Gebirge und die Tiefen Beweiſe für die Wahrheit der Deſcendenztheorie. 539 des Meeres, insbeſondere die wichtige Erſcheinung, daß jede Orga— nismenart von einem ſogenannten „Schöpfungsmittelpunkte“ (richtiger „Urheimath“ oder „Ausbreitungscentrum“ ge— nannt) ausgeht, d. h. von einem einzelnen Ort, an welchem die— ſelbe einmal entſtand, und von dem aus ſie ſich über die Erde ver— breitete. 9) Die Oecologie der Organismen, die Wiſſenſchaft von den geſammten Beziehungen des Organismus zur umge— benden Außenwelt, zu den organiſchen und anorganiſchen Exi— ſtenzbedingungen; die ſogenannte „Oekonomie der Natur“, die Wechſelbeziehungen aller Organismen, welche an einem und demſelben Orte mit einander leben, ihre Anpaſſung an die Umgebung, ihre Um— bildung durch den Kampf um's Daſein, insbeſondere die Verhältniſſe des Paraſitismus u. ſ. w. Grade dieſe Erſcheinungen der „Natur— ökonomie“, welche der Laie bei oberflächlicher Betrachtung als die weiſen Einrichtungen eines planmäßig wirkenden Schöpfers anzuſehen pflegt, zeigen ſich bei tieferem Eingehen als die nothwendigen Folgen mecha— niſcher Urſachen. 10) Die Einheit der geſammten Biologie, der tiefe innere Zuſammenhang, welcher zwiſchen allen genannten und allen übrigen Erſcheinungsreihen in der Zoologie, Protiſtik und Botanik beſteht, und welcher ſich einfach und natürlich aus einem einzigen gemeinſamen Grunde derſelben erklärt. Dieſer Grund kann kein an— derer ſein, als die gemeinſame Abſtammungaller verſchiedenartigen Or— ganismen von einer einzigen, oder mehreren, abſolut einfachen Stamm— formen, gleich den organloſen Moneren. Indem die Deſcendenz— theorie dieſe gemeinſame Abſtammung annimmt, wirft ſie ſowohl auf jene einzelnen Erſcheinungsreihen, als auf die Geſammtheit derſelben ein erklärendes Licht, ohne welches ſie uns in ihrem inneren urſächlichen Zuſammenhang ganz unverſtändlich bleiben. Die Gegner der Deſcen— denztheorie vermögen uns weder eine einzige von jenen Erſcheinungs— reihen, noch ihren inneren Zuſammenhang unter einander irgendwie 540 Begründung der Deſcendenztheorie durch die Selectionstheorie. zu erklären. So lange fie dies nicht vermögen, bleibt die Abſt am- mungs lehre die unentbehrlichſte biologiſche Theorie. Auf Grund der angeführten großartigen Zeugniſſe würden wir Lamarck's Deſcendenztheorie zur Erklärung der biologiſchen Phäno— mene ſelbſt dann annehmen müſſen, wenn wir nicht Darwin's Se— lectionstheorie beſäßen. Nun kommt aber dazu, daß, wie ich Ihnen früher zeigte, die erſtere durch die letztere fo vollſtändig direct be— wieſen und durch mechaniſche Urſachen begründet wird, wie wir es nur verlangen können. Die Geſetze der Vererbung und der An— paſſung ſind allgemein anerkannte phyſiologiſche Thatſachen, jene auf die Fortpflanzung, dieſe auf die Ernährung der Dr- ganismen zurückführbar. Andrerſeits iſt der Kam pf um's Daſein eine biologiſche Thatſache, welche mit mathematiſcher Nothwendigkeit aus dem allgemeinen Mißverhältniß zwiſchen der Durchſchnittszahl der organiſchen Individuen und der Ueberzahl ihrer Keime folgt. Indem aber Anpaſſung und Vererbung im Kampf um's Daſein ſich in beſtän— diger Wechſelwirkung befinden, folgt daraus mit unvermeidlicher Noth— wendigkeit die natürliche Züchtung, welche überall und beſtän— dig umbildend auf die organiſchen Arten einwirkt, und neue Arten durch Divergenz des Charakters erzeugt. Wenn wir dieſe Umſtände recht in Erwägung ziehen, ſo erſcheint uns die beſtändige und allmähliche Umbildung oder Transmutation der organiſchen Spe— cies als ein biologiſcher Proceß, welcher nothwendig aus der eigenen Natur der Organismen und ihren gegenſeitigen Wechſelbeziehungen folgen muß. Daß auch der Urſprung des Menſchen aus dieſem allge— meinen organiſchen Umbildungsvorgang erklärt werden muß, und daß er ſich aus dieſem ebenſo einfach als natürlich erklärt, glaube ich Ih— nen in dem letzten Vortrage hinreichend bewieſen zu haben. Ich kann aber hier nicht umhin, Sie hier nochmals auf den unzertrennlichen Zu— ſammenhang dieſer ſogenannten „Affenlehre“ oder „Pithekoidentheorie“ mit der geſammten Deſcendenztheorie hinzuweiſen. Wenn die letztere das größte Inductionsgeſetz der Biologie iſt, fo folgt daraus die Inductionsſchlüſſe und Deductionsſchlüſſe. 541 letztere mit Nothwendigkeit, als das wichtigſte Deduectionsgeſetz derſelben. Beide ſtehen und fallen mit einander. Da auf das rich— tige Verſtändniß dieſes Satzes, den ich für höchſt wichtig halte und deßhalb ſchon mehrmals hervorgehoben habe, hier Alles ankommt, ſo erlauben Sie mir, denſelben jetzt noch mit wenigen Worten an ei— nem Beiſpiele zu erläutern. Bei allen Säugethieren, die wir kennen, iſt der Centraltheil des Nervenſyſtems das Rückenmark und das Gehirn, und der Centraltheil des Blutkreislaufs ein vierfächeriges, aus zwei Kammern und zwei Vor— kammern zuſammengeſetztes Herz. Wir ziehen daraus den allgemei— nen Inductionsſchluß, daß alle Säugethiere ohne Ausnahme, die ausgeſtorbenen und die uns noch unbekannten lebenden Arten, eben ſo gut wie die von uns unterſuchten Species, die gleiche Organiſation, ein gleiches Herz, Gehirn und Rückenmark beſitzen. Wenn nun in ir— gend einem Erdtheile, wie es noch jetzt alljährlich vorkömmt, irgend eine neue Säugethierart entdeckt wird, z. B. eine neue Beutelthierart, oder eine neue Rattenart, oder eine neue Affenart, ſo weiß jeder Zoolog von vornherein, ohne den inneren Bau derſelben unterſucht zu haben, ganz beſtimmt, daß dieſe Species, eben ſo wie alle übrigen Säuge— thiere, ein vierfächeriges Herz, ein Gehirn und ein Rückenmark be— ſitzen muß. Keinem einzigen Naturforſcher fällt es ein, daran zu zwei— feln, und etwa zu denken, daß das Centralnervenſyſtem bei dieſer neuen Säugethierart möglicherweiſe aus einem Bauchmark mit Schlundring, wie bei den Gliedfüßern, oder aus zerſtreuten Knotenpaaren, wie bei den Weichthieren beſtehen könnte; oder daß das Herz vielkammerig, wie bei den Inſecten, oder einkammerig, wie bei den Mantelthieren ſein könnte. Jener ganz beſtimmte und ſichere Schluß, welcher doch auf gar keiner unmittelbaren Erfahrung beruht, iſt ein Deductions— ſchluß. Ebenſo begründete Goethe, wie ich in einem früheren Vor— trage zeigte, aus der vergleichenden Anatomie der Säugethiere den allgemeinen Inductionsſchluß, daß dieſelben ſämmtlich einen Zwiſchen— kiefer beſitzen, und zog daraus ſpäter den beſonderen Deductionsſchluß, daß auch der Menſch, der in allen übrigen Beziehungen nicht weſent— 542 Juduction und Deduction. lich von den anderen Säugethieren verſchieden ſei, einen ſolchen Zwi— ſchenkiefer beſitzen müſſe. Er behauptete dieſen Schluß, ohne den Zwi— ſchenkiefer des Menſchen wirklich geſehen zu haben und bewies deſſen Exiſtenz erſt nachträglich durch die wirkliche Beobachtung (S. 70). Die In duction iſt alſo ein logiſches Schlußverfahren aus dem Beſonderen auf das Allgemeine, aus vielen einzelnen Erfah— rungen auf ein allgemeines Geſetz, die Deduction dagegen ſchließt aus dem Allgemeinen auf das Beſondere, aus einem allge— meinen Naturgeſetze auf einen einzelnen Fall. So iſt nun auch ohne allen Zweifel die Defcendenztheorie ein durch alle genann⸗ ten biologiſchen Erfahrungen empiriſch begründetes großes Indue— tionsgeſetz; die Pithekoidentheorie dagegen, die Behaup— tung, daß der Menſch ſich aus niederen, und zunächſt aus affen— artigen Säugethieren entwickelt habe, ein einzelnes Deductiong- geſetz, welches mit jenem allgemeinen Inductionsgeſetze unzertrenn— lich verbunden iſt. Der Stammbaum des Menſchengeſchlechts, wie ich ſeine Grund— züge Ihnen im letzten Vortrage in ungefähren Umriſſen gegeben habe, bleibt natürlich (gleich allen vorher erörterten Stammbäumen der Thiere und Pflanzen) in allen ſeinen Einzelheiten nur eine mehr oder weniger annähernde genealogiſche Hypotheſe. Dies thut aber der Anwendung der Deſcendenztheorie auf den Menſchen im Ganzen keinen Eintrag. Hier, wie bei allen Unterſuchungen über die Abſtammungsverhältniſſe der Organismen, müſſen Sie wohl unterſcheiden zwiſchen der allge— meinen oder generellen Deſcendenz Theorie, und der beſonderen oder ſpeciellen Deſcendenz-Hypotheſe. Die allgemeine Abjtam- mungs-Theo rie beanſprucht volle und bleibende Geltung, weil ſie durch alle vorher genannten allgemeinen biologiſchen Erſcheinungsrei— hen, und durch deren inneren urſächlichen Zuſammenhang inductiv be— gründet wird. Jede beſondere Abſtammungs-Hypotheſe dagegen iſt in ihrer ſpeciellen Geltung durch den jeweiligen Zuſtand unſerer biologiſchen Erkenntniß bedingt, und durch die Ausdehnung der ob— jectiven empiriſchen Grundlage, auf welche wir durch fubjective Deſcendenztheorie und Deſcendenzhypotheſe. 543 Schlüſſe dieſe Hypotheſe deductiv gründen. Daher befigen alle ein— zelnen Verſuche zur Erkenntniß des Stammbaums irgend einer Orga— nismengruppe immer nur einen zeitweiligen und bedingten Werth, und unſere ſpecielle Hypotheſe darüber wird immer mehr vervoll— kommnet werden, je weiter wir in der vergleichenden Anatomie, Onto— genie und Paläontologie der betreffenden Gruppe fortſchreiten. Je mehr wir uns dabei aber in genealogiſche Einzelheiten verlieren, je weiter wir die einzelnen Aeſte und Zweige des Stammbaumzs verfol— gen, deſto unſicherer und ſubjectiver wird wegen der Unvollſtändigkeit der empiriſchen Grundlagen unſere ſpecielle Abſtammungs-Hypo— theſe. Dies thut jedoch der Sicherheit der generellen Abſtammungs— Theorie, welche das unentbehrliche Fundament für jedes tiefere Verſtändniß der biologiſchen Erſcheinungen iſt, keinen Abbruch. So erleidet es denn auch keinen Zweifel, daß wir die Abſtammung des Menſchen zunächſt aus affenartigen, weiterhin aus niederen Säuge— thieren, und ſo immer weiter aus immer tieferen Stufen des Wirbel— thierſtammes, bis zu deſſen tiefſten wirbelloſen Wurzeln hinunter, als all- gemeine Theorie mit voller Sicherheit behaupten können und müſ— ſen. Dagegen wird die ſpecielle Verfolgung des menſchlichen Stamm— baums, die nähere Beſtimmung der uns bekannten Thierformen, wel— che entweder wirklich zu den Vorfahren des Menſchen gehörten oder dieſen wenigſtens nächſtſtehende Blutsverwandte waren, ſtets eine mehr oder minder annähernde Deſcendenz-Hypotheſe bleiben, welche um fo mehr Gefahr läuft, ſich von dem wirklichen Stammbaum zu ent— fernen, je näher ſie demſelben durch Aufſuchung der einzelnen Ahnen— formen zu kommen ſucht. Dies iſt mit Nothwendigkeit durch die un— geheure Lückenhaftigkeit unſerer paläontologiſchen Kenntniſſe bedingt, welche unter keinen Umſtänden jemals eine annähernde Vollſtändigkeit erreichen werden (S. 308 — 314). Aus der denkenden Erwägung dieſes wichtigen Verhältniſſes er— giebt ſich auch bereits die Antwort auf eine Frage, welche gewöhnlich zunächſt bei Beſprechung dieſes Gegenſtandes aufgeworfen wird, näm— lich die Frage nach den wiſſenſchaftlichen Be weiſen für den thie— 544 Beweiſe für den thieriſchen Urſprung des Menſchen. riſchen Urſprung des Menſchengeſchlechts. Nicht allein die Gegner der Deſcendenztheorie, ſondern auch viele Anhänger der— ſelben, denen die gehörige philoſophiſche Bildung mangelt, pflegen dabei vorzugsweiſe an einzelne Erfahrungen, an ſpecielle empiriſche Fortſchritte der Naturwiſſenſchaft zu denken. Man erwartet, daß plötz— lich die Entdeckung einer geſchwänzten Menſchenraſſe oder einer ſprechen— den Affenart, oder einer anderen lebenden oder foſſilen Uebergangs— form zwiſchen Menſchen und Affen, die zwiſchen beiden beſtehende enge Kluft noch mehr ausfüllen, und ſomit die Abſtammung des Menſchen vom Affen empiriſch „beweiſen“ ſoll. Derartige einzelne Erfahrungen, und wären ſie anſcheinend noch ſo überzeugend und beweiskräftig, können aber niemals den gewünſchten Beweis liefern. Gedankenloſe oder mit den biologiſchen Erſcheinungsreihen unbekannte Leute werden jenen einzelnen Zeugniſſen immer dieſelben Einwände entgegen halten können, die ſie unſerer Theorie auch jetzt entgegen halten. Die unumſtößliche Sicherheit der Deſeendenz-Theorie, auch in ihrer Anwendung auf den Menſchen, liegt vielmehr viel tiefer, und kann niemals bloß durch einzelne empiriſche Erfahrungen, ſondern nur durch philoſophiſche Vergleichung und Verwerthung unſeres geſammten biologiſchen Erfahrungsſchatzes in ihrem wahren inneren Werthe er— kannt werden. Sie liegt eben darin, daß die Deſcendenztheorie als ein allgemeines Inductionsgeſetz aus der vergleichenden Syntheſe aller organiſchen Naturerſcheinungen, und insbeſondere aus der dreifachen Parallele der vergleichenden Anatomie, Ontogenie und Phylogenie mit Nothwendigkeit folgt; und die Pithekoidentheorie bleibt unter allen Umſtänden (ganz abgeſehen von allen Einzelbeweiſen) ein ſpecieller Deductionsſchluß, welcher wieder aus dem generellen Inductions— geſetz der Deſeendenztheorie mit Nothwendigkeit gefolgert werden muß. Auf das richtige Verſtändniß dieſer philoſophiſchen Begrün— dung der Deſcendenztheorie und der mit ihr unzertrennlich verbundenen Pithekoidentheorie kömmt meiner Anſicht nach Alles an. Viele von Ihnen werden mir dies vielleicht zugeben, aber mir zugleich entgegen halten, daß das Alles nur von der körper— Stufenweiſe Entwickelung des menschlichen Seelenlebens. 545 lichen, nicht von der geiſtigen Entwickelung des Menſchen gelte. Da wir nun bisher uns bloß mit der erſteren beſchäftigt haben, ſo iſt es wohl nothwendig, hier auch noch auf die letztere einen Blick zu wer— fen, und zu zeigen, daß auch ſie jenem großen allgemeinen Entwicke— lungsgeſetze unterworfen iſt. Dabei iſt es vor Allem nothwendig, ſich in's Gedächtniß zurückzurufen, wie überhaupt das Geiſtige vom Kör— perlichen nie völlig geſchieden werden kann, beide Seiten der Natur vielmehr unzertrennlich verbunden ſind, und in der innigſten Wechſel— wirkung miteinander ſtehen. Wie ſchon Goethe klar ausſprach, „kann die Materie nie ohne Geiſt, der Geiſt nie ohne Materie exiſtiren und wirkſam ſein“. Der künſtliche Zwieſpalt, welchen die falſche duali— ſtiſche und teleologiſche Philoſophie der Vergangenheit zwiſchen Geiſt und Körper, zwiſchen Kraft und Stoff aufrecht erhielt, iſt durch die Fort— ſchritte der Naturerkenntniß und namentlich der Entwickelungslehre auf— gelöſt, und kann gegenüber der ſiegreichen mechaniſchen und moniſti— ſchen Philoſophie unſerer Zeit nicht mehr beſtehen. Wie demgemäß die Menſchennatur in ihrer Stellung zur übrigen Welt aufgefaßt wer— den muß, hat in neuerer Zeit beſonders Raden haufen in feiner vortrefflichen und ſehr leſenswerthen Iſis ausführlich erörtert s). Was nun ſpeciell den Urſprung des menſchlichen Geiſtes oder der Seele des Menſchen betrifft, ſo nehmen wir zunächſt an jedem menſchlichen Individuum wahr, daß ſich derſelbe von Anfang an ſchrittweiſe und allmählich entwickelt, ebenſo wie der Körper. Wir ſehen am neugeborenen Kinde, daß daſſelbe weder ſelbſtſtändiges Be— wußtſein, noch überhaupt klare Vorſtellungen beſitzt. Dieſe entſtehen erſt allmählich, wenn mittelſt der ſinnlichen Erfahrung die Erſcheinun— gen der Außenwelt auf das Centralnervenſyſtem einwirken. Aber noch entbehrt das kleine Kind aller jener differenzirten Seelenbewegungen, welche der erwachſene Menſch erſt durch langjährige Erfahrung er— wirbt. Aus dieſer ſtufenweiſen Entwickelung der Menſchenſeele in je— dem einzelnen Individuum können wir nun, gemäß dem innigen urſäch— lichen Zuſammenhang zwiſchen Ontogenie und Phylogenie, unmittel— bar auf die ſtufenweiſe Entwickelung der Menſchenſeele in der ganzen Haeckel, Natürliche Schöpfungsgeſchichte. 35 546 Vergleichung des thieriſchen und menschlichen Seelenlebens. Menſchheit und weiterhin in dem ganzen Wirbelthierſtamme zurück— ſchließen. In unzertrennlicher Verbindung mit dem Körper hat auch der Geiſt des Menſchen alle jene langſamen Stufen der Entwickelung, alle jene einzelnen Schritte der Differenzirung und Vervollkommung durchmeſſen müſſen, von welchen Ihnen die hypothetiſche Ahnenreihe des Menſchen in dem letzten Vortrage ein ungefähres Bild gegeben hat. Allerdings pflegt gerade dieſe Vorſtellung bei den meiſten Men— ſchen, wenn ſie zuerſt mit der Entwickelungslehre bekannt werden, den größten Anſtoß zu erregen, weil ſie am meiſten den hergebrachten mythologiſchen Anſchauungen und den durch ein Alter von Jahrtau— ſenden geheiligten Vorurtheilen widerſpricht. Allein eben ſo gut wie alle anderen Dinge muß nothwendig auch die Menſchenſeele ſich hiſto— riſch entwickelt haben, und die vergleichende Seelenlehre oder die em— piriſche Pſychologie der Thiere zeigt uns klar, daß dieſe Entwickelung nur gedacht werden kann als eine ſtufenweiſe Hervorbildung aus der Wirbelthierſeele, als eine allmähliche Differenzirung und Vervollkomm— nung, welche erſt im Laufe vieler Jahrtauſende zu dem herrlichen Tri— umph des Menſchengeiſtes über ſeine niederen thieriſchen Ahnenſtufen geführt hat. Hier wie überall, iſt die Unterſuchung der Entwickelung und die Vergleichung der verwandten Erſcheinungen der einzige Weg, um zur Erkenntniß der natürlichen Wahrheit zu gelangen. Wir müffen alſo vor Allem, wie wir es auch bei Unterſuchung der körperlichen Ent— wickelung thaten, die höchſten thieriſchen Erſcheinungen einerſeits mit den niederſten thieriſchen, andrerſeits mit den niederſten menſchlichen Erſcheinungen vergleichen. Das Endreſultat dieſer Vergleichung iſt, daß zwiſchen den höchſtentwickelten Thierſeelen und den tiefſtentwickelten Menſchenſeelen nur ein geringer quantitativer, aber kein qualitativer Unterſchied eriftirt, und daß dieſer Unterſchied viel geringer iſt, als der Unter— ſchied zwiſchen den niederſten und höchſten Menſchenſeelen, oder als der Unterſchied zwiſchen den höchſten und niederſten Thierſeelen. Um ſich von der Begründung dieſes wichtigen Reſultates zu über— zeugen, muß man vor Allem das Geiſtesleben der wilden Naturvölker Thieriſcher Zuſtand der niederſten Völker. 547 und der Kinder vergleichend ſtudiren 32). Auf der tiefſten Stufe menſch— licher Geiſtesbildung ſtehen die Auſtralneger Neuhollands, einige Stäm— me der polyneſiſchen Papuaneger, und in Afrika die Buſchmänner, die Hottentotten und einige Stämme der Afroneger. Die Sprache, der wichtigſte Charakter des echten Menſchen, iſt bei ihnen auf der tiefſten Stufe der Ausbildung ſtehen geblieben, und damit natürlich auch die Begriffsbildung. Manche dieſer wilden Stämme haben nicht einmal eine Bezeichnung für Thier, Pflanze, Ton, Farbe und dergleichen ein— fachſte Begriffe, wogegen ſie für jede einzelne auffallende Thier- oder Pflanzenform, für jeden einzelnen Ton oder Farbe ein Wort beſitzen. In vielen ſolcher Sprachen giebt es bloß Zahlwörter für Eins, Zwei und Drei; keine auſtraliſche Sprache zählt über Vier. Sehr viele wilde Völker können nur bis zehn oder zwanzig zählen, während man ein— zelne ſehr geſcheute Hunde dazu gebracht hat, bis vierzig und ſelbſt über ſechzig zu zählen. Und doch iſt die Zahl der Anfang der Mathe— matik! Nichts iſt aber vielleicht in dieſer Beziehung merkwürdiger, als daß einzelne von den wildeſten Stämmen im füdlichen Aſien und öſt— lichen Afrika von der erſten Grundlage aller menſchlichen Gefittung, vom Familienleben und der Ehe, gar keinen Begriff haben. Sie leben in Heerden beiſammen, wie die Affen, größtentheils auf Bäumen klet— ternd und von Früchten lebend; ſie kennen das Feuer noch nicht, und gebrauchen als Waffen nur Steine und Knüppel, wie es auch die höheren Affen thun. Alle Verſuche, dieſe und viele andere Stämme der niederen Menſchenraſſen der Kultur zugänglich zu machen, ſind bisher geſcheitert; es iſt unmöglich, da menſchliche Bildung pflanzen zu wol— len, wo der nöthige Boden dazu, die menſchliche Gehirnvervollkomm— nung, noch fehlt. Noch keiner von jenen Stämmen iſt durch die Kul— tur veredelt worden; ſie gehen nur raſcher dadurch zu Grunde. Sie haben ſich kaum über jene tiefſte Stufe des lebergangs vom Menſchen— affen zum Affenmenſchen erhoben, welche die Stammeltern der höhe— ren Menſchenarten ſchon feit Jahrtauſenden überſchritten haben 32). Betrachten Sie nun auf der anderen Seite die höchſten Entwicke— lungsſtufen des Seelenlebens bei den höheren Wirbelthieren, namentlich 35 * 548 Seelenleben der höheren Wirbelthiere. Vögeln und Säugethieren. Wenn Sie in herkömmlicher Weiſe als die drei Hauptgruppen der verſchiedenen Seelenbewegungen das Em— pfinden, Wollen und Denken unterſcheiden, ſo finden Sie, daß in jeder dieſer Beziehungen die höchſt entwickelten Vögel und Säuge— thiere jenen niederſten Menſchenſchenformen ſich an die Seite ſtellen, oder ſie ſelbſt entſchieden überflügeln. Der Wille iſt bei den höheren Thieren ebenſo entſchieden und ſtark, wie bei charaktervollen Menſchen entwickelt. Hier wie dort iſt er niemals eigentlich frei, ſondern ſtets durch eine Kette von urſächlichen Vorſtellungen bedingt (Vergl. S. 189). Auch ſtufen ſich die verſchiedenen Grade des Willens, der Energie und der Leidenſchaft, bei den höhern Thieren ebenſo mannichfaltig, als bei den Menſchen ab. Die Empfindungen der höheren Thiere ſind nicht weniger zart und warm, als die der Menſchen. Die Treue und An— hänglichkeit des Hundes, die Mutterliebe der Löwin, die Gattenliebe und eheliche Treue der Tauben und der Inſeparables iſt ſprichwört— lich, und wie vielen Menſchen könnten ſie zum Muſter dienen! Wenn man hier die Tugenden als „Inſtinkte“ zu bezeichnen pflegt, ſo verdie— nen ſie beim Menſchen ganz dieſelbe Bezeichnung. Was endlich das Denken betrifft, deſſen vergleichende Betrachtung zweifelsohne die meiſten Schwierigkeiten bietet, ſo läßt ſich doch ſchon aus der ver— gleichenden pſychologiſchen Unterſuchung, namentlich der kultivirten Hausthiere, ſo viel mit Sicherheit entnehmen, daß die Vorgänge des Denkens hier nach denſelben Geſetzen, wie bei uns, erfolgen. Ueber— all liegen Erfahrungen den Vorſtellungen zu Grunde und vermitteln die Erkenntniß des Zuſammenhangs zwiſchen Urſache und Wirkung. Ueberall iſt es, wie beim Menſchen, der Weg der Induction und De— duction, welcher zur Bildung der Schlüſſe führt. Offenbar ſtehen in allen dieſen Beziehungen die höchſt entwickelten Thiere dem Menſchen viel näher als den niederen Thieren, obgleich ſie durch eine lange Kette von allmählichen Zwiſchenſtufen auch mit den letzteren verbun— den ſind. Wenn Sie nun, nach beiden Richtungen hin vergleichend, die niederſten affenähnlichſten Menſchenformen, die Auſtralneger, Buſch— Seelenleben der niederften Völker. 549 männer, Andamanen u. ſ. w. mit dieſen höchſtentwickelten Thieren, z. B. Affen, Hunden und Elephanten einerſeits, mit den höchſtent— wickelten Menſchen, einem Newton, Kant, Goethe andrerſeits zuſammenſtellen, ſo wird Ihnen die Behauptung nicht mehr übertrie— ben erſcheinen, daß das Seelenleben der höheren Säugethiere ſich ſtu— fenweiſe zu demjenigen des Menſchen entwickelt hat. Wenn Sie hier eine ſcharfe Grenze ziehen wollten, ſo müßten Sie geradezu dieſelbe zwiſchen den höchſtentwickelten Kulturmenſchen einerſeits und den rohe— ſten Naturmenſchen andrerſeits ziehen, und letztere mit den Thieren vereinigen. Das iſt in der That der Standpunkt, welchen viele neuere Reiſende angenommen haben, die jene niederſten Menſchenraſſen in ihrem Vaterlande andauernd beobachtet haben. So ſagt z. B. ein viel— gereiſter Engländer, welcher längere Zeit an der afrikaniſchen Weſtküſte lebte: „den Neger halte ich für eine niedere Menſchenart (Species) und kann mich nicht entſchließen, als „Menſch und Bruder“ auf ihn herab— zuſchauen, man müßte denn auch den Gorilla in die Familie auf— nehmen“. Selbſt viele chriſtliche Miſſionäre, welche nach jahrelanger vergeblicher Arbeit von ihren fruchtloſen Civiliſationsbeſtrebungen bei den niederſten Völkern abſtanden, fällen daſſelbe harte Urtheil, und behaupten, daß man eher die bildungsfähigen Hausthiere, als dieſe unvernünftigen viehiſchen Menſchen zu einem geſitteten Kulturleben erziehen könne. Der tüchtige öſterreichiſche Miſſionär Morlang z. B., welcher ohne allen Erfolg viele Jahre hindurch die affenartigen Negerſtämme am oberen Nil zu civiliſiren ſuchte, ſagt ausdrücklich, „daß unter ſolchen Wilden jede Miſſion durchaus nutzlos ſei. Sie ſtänden weit unter den unvernünftigen Thieren; dieſe letzteren legten doch wenigſtens Zeichen der Zuneigung gegen Diejenigen an den Tag, die freundlich gegen ſie ſind; während jene viehiſchen Eingeborenen allen Gefühlen der Dankbarkeit völlig unzugänglich ſeien.“ Wenn nun aus dieſen und vielen anderen Zeugniſſen zuverläſſig hervorgeht, daß die geiſtigen Unterſchiede zwiſchen den niederſten Men— ſchen und den höchſten Thieren geringer ſind, als diejenigen zwiſchen den niederſten und den höchſten Menſchen, und wenn Sie damit die 550 Fortſchreitende Entwickelung des Menſchengeſchlechts. Thatſache zuſammenhalten, daß bei jedem einzelnen Menſchenkinde ſich das Geiſtesleben aus dem tiefſten Zuſtande thieriſcher Bewußtloſigkeit heraus langſam, ſtufenweiſe und allmählich entwickelt, ſollen wir dann noch daran Anſtoß nehmen, daß auch der Geiſt des ganzen Menſchen— geſchlechts ſich in gleicher Art langſam und ſtufenweiſe hiſtoriſch ent— wickelt hat? Und ſollen wir in dieſer Thatſache, daß die Menſchenſeele durch einen langen und langſamen Proceß der Differenzirung und Vervollkommnung ſich ganz allmählich aus der Wirbelthierſeele hervor— gebildet hat, eine „Entwürdigung“ des menſchlichen Geiſtes finden? Ich geſtehe Ihnen offen, daß dieſe letztere Anſchauung, welche gegen— wärtig von vielen Menſchen der Pithekoidentheorie entgegengehalten wird, mir ganz unbegreiflich iſt. Sehr richtig ſagt darüber Bern— hard Cotta in feiner trefflichen Geologie der Gegenwart: „Unſere Vorfahren können uns ſehr zur Ehre gereichen; viel beſſer noch aber iſt es, wenn wir ihnen zur Ehre gereichen“? !). Wenn irgend eine Theorie vom Urſprung des Menſchengeſchlechts entwürdigend und troſt— los iſt, ſo muß es ganz gewiß der vielverbreitete Mythus ſein, daß wir von einem ſündenloſen Elternpaare abſtammen, welches durch den erſten Sündenfall ſich mit dem Fluche der Sünde belud und dieſen nun auf ſeine ganze Nachkommenſchaft vererbte; wir müßten dann fürchten, nach den Vererbungsgeſetzen ſchrittweiſe einer immer tieferen Erniedrigung und einem immer traurigeren Verfall entgegen zu gehen. Unſere Entwickelungslehre behauptet aber vom Urſprunge des Menſchen und dem Laufe ſeiner hiſtoriſchen Entwickelung das Gegen— theil. Wir erblicken in ſeiner ſtufenweiſe aufſteigenden Entwickelung aus den niederen Wirbelthieren den höchſten Triumph der Menſchen— natur über die geſammte übrige Natur. Wir ſind ſtolz darauf, un— ſere niederen thieriſchen Vorfahren ſo unendlich weit überflügelt zu ha— ben, und entnehmen daraus die tröſtliche Gewißheit, daß auch in Zu— kunft das Menſchengeſchlecht im Großen und Ganzen die ruhmvolle Bahn fortſchreitender Entwickelung verfolgen, und eine immer höhere Stufe geiſtiger Vollkommenheit erklimmen wird. In dieſem Sinne betrachtet, eröffnet uns die Entwickelungslehre in ihrer Anwendung Blick in die Zukunft. 551 auf den Menſchen die ermuthigendſte Ausſicht in die Zukunft, und entkräftet alle jene Befürchtungen, welche man ihrer Verbreitung ent— gegen gehalten hat. Die höchſte Leiſtung des menſchlichen Geiſtes iſt die vollkom— mene Erkenntniß, das entwickelte Menſchenbewußtſein, und die dar— aus entſpringende ſittliche Thatkraft. „Erkenne Dich ſelbſt“! So rie— fen ſchon die Philoſophen des Alterthums dem nach Veredelung ſtre— benden Menſchen zu. „Erkenne Dich ſelbſt“! So ruft die Entwicke— lungslehre nicht allein dem einzelnen menſchlichen Individuum, ſon— dern der ganzen Menſchheit zu. Und wie die fortſchreitende Selbſt— erkenntniß für jeden einzelnen Menſchen der mächtigſte Hebel zur fitt- lichen Vervollkommnung wird, ſo wird auch die Menſchheit als Gan— zes durch die Erkenntniß ihres wahren Urſprungs und ihrer wirklichen Stellung in der Natur auf eine höhere Bahn der moraliſchen Vollen— dung geleitet werden. Die einfache Naturreligion, welche ſich auf das klare Wiſſen von der Natur und ihren unerſchöpflichen Offenbarungs— ſchatz gründet, wird zukünftig in weit höherem Maaße veredelnd und vervollkommnend auf den Entwickelungsgang der Menſchheit einwir— ken, als die unendlich mannichfaltigen Kirchenreligionen der verſchiede— nen Völker, welche auf dem dunklen Glauben an die Geheimniſſe einer Prieſterkaſte und ihre mythologiſchen Offenbarungen beruhen. Kom— mende Jahrhunderte werden unſere Zeit, welcher mit der wiſſenſchaft— lichen Begründung der Abſtammungslehre der höchſte Preis menſch— licher Erkenntniß beſchieden war, als den Zeitpunkt feiern, mit wel— chem ein neues ſegensreiches Zeitalter der menſchlichen Entwickelung beginnt, charakteriſirt durch den Sieg des freien erkennenden Geiſtes über die Gewaltherrſchaft der Autorität, und durch den mächtig ver— edelnden Einfluß der moniſtiſchen Philoſophie. Verzeichniß der im Texte mit Ziffern angeführten Schriften, deren Studium dem Leſer zu empfehlen iſt. 1. Charles Darwin, On the Origin of Species by means of na- tural selection (or the preservation of favoured races in the strugple for life). London 1859. (IV. Edition: 1866.) Ins Deutſche überſetzt von H. G. Bronn unter dem Titel: Charles Darwin, über die Entſtehung der Arten im Thier- und Pflanzen-Reich durch natürliche Züchtung, oder Erhaltung der vervoll⸗ kommneten Raſſen im Kampfe um's Daſein. Stuttgart 1860 (III. Auflage, durch⸗ geſehen und berichtigt von Victor Carus: 1867). 2. Jean Lamarck, Philosophie zoologique, ou Exposition des Considerations relatives & ’histoire naturelle des animaux; à la diversité de leur organisation et des facultes, qu'ils en obtiennent; aux causes physiques, qui maintiennent en eux la vie et donnent lieu aux mouvemens, qu'ils executent; enfin, & celles qui produisent, les unes le sentiment, et les autres l’intelligence de ceux qui en sont doues. II Tomes. Paris 1809. 3. Wolfgang Goethe, Zur Morphologie: Bildung und Um⸗ bildung organiſcher Naturen. Die Metamorphoſe der Pflanzen (1790). Oſteologie (1786). Vorträge über die drei erſten Capitel des Entwurfs einer all⸗ gemeinen Einleitung in die vergleichende Anatomie, ausgehend von der Oſteologie (1786). Zur Naturwiſſenſchaft im Allgemeinen (1780 — 1832). 4. Ernſt Haeckel, Generelle Morphologie der Organismen: Allgemeine Grundzüge der organischen Formenwiſſenſchaft, mechaniſch begründet durch die von Charles Darwin reformirte Deſcendenztheorie. I. Band: Allgemeine Anatomie der Organismen oder Wiſſenſchaft von den entwickelten organiſchen For⸗ men. II. Band: Allgemeine Entwickelungsgeſchichte der Organismen oder Wiſſen⸗ ſchaft von den entſtehenden organiſchen Formen. Berlin 1866. 5. Louis Agassiz, An Essay on classification. Contributions to the natural history of the united States. Boston. Vol. I. 1857. Verzeichniß der im Texte mit Ziffern angeführten Schriften. 553 6. Auguſt Schleicher, Die Darwin'ſche Theorie und die Sprachwiſſen⸗ ſchaft. Weimar 1863. 7. M. J. Schleiden, Grundzüge der wiſſenſchaftlichen Botanik (die Bo⸗ tanik als inductive Wiſſenſchaft). 2 Bände. Leipzig 1849. 8. Franz Unger, Verſuch einer Geſchichte der Pflanzenwelt. Wien 1852. 9. Vietor Carus, Syſtem der thieriſchen Morphologie. Leipzig 1853. 10. Louis Büchner, Kraft und Stoff. Empiriſch⸗naturphiloſophiſche Stu⸗ dien in allgemein verſtändlicher Darſtellung. Frankfurt 1855 (III. Auflage). 1867 (IX. Auflage). 11. Charles Lyell, Principles of Geology. London 1830. (X Edit. 1868.) 12. Albert Lange, Geſchichte des Materialismus und Kritik feiner Bedeu⸗ tung in der Gegenwart. Iſerlohn 1866. 13. Charles Darwin, Naturwiſſenſchaftliche Reifen. Deutſch von Ernſt Dieffenbach. 2 Theile. Braunſchweig 1844. 14. Charles Darwin, The variation of animals and plants under do- mestication. 2 Vol. London 1868. Ins Deutſche überſetzt von Vietor Carus unter dem Titel: Das Variiren der Thiere und Pflanzen im Zuſtande der Dome- ſtikation. 2 Bde. Stuttgart 1868. 15. Ernſt Haeckel, Monographie der Moneren. Jenaiſche Zeitſchrift für Mediein und Naturwiſſenſchaft. 1868. Bd. IV, S. 64, Taf. II und III. 16. Fritz Müller, Für Darwin. Leipzig 1864. 17. Thomas Huxley, Ueber unſere Kenntniß von den Urſachen der Er— ſcheinungen in der organiſchen Natur. Sechs Vorleſungen für Laien. Ueberſetzt von Carl Vogt. Braunſchweig 1865. 18. H. G. Bronn, Morphologiſche Studien über die Geſtaltungsgeſetze der Naturkörper überhaupt, und der organiſchen insbeſondere. Leipzig und Heidelberg 1858. 19. H. G. Bronn, Unterſuchungen über die Entwickelungsgeſetze der orga⸗ niſchen Welt während der Bildungszeit unſerer Erdoberfläche. Stuttgart 1858. 20. Car! Ernſt Bär, Ueber Entwickelungsgeſchichte der Thiere. Beobach— tung und Reflexion. 2 Bände. 1828. 21. Carl Gegenbaur, Grundzüge der vergleichenden Anatomie. Leipzig 1859 (II. umgearbeitete Auflage 1869). 22. Immanuel Kant, Allgemeine Naturgeſchichte und Theorie des Him— mels, oder Verſuch von der Verfaſſung und dem mechaniſchen Urſprunge des gan— zen Weltgebäudes nach Newton'ſchen Grundſätzen abgehandelt. Königsberg 1755. 23. Ernſt Haeckel, Die Radiolarien. Eine Monographie. Mit einem At- las von 35 Kupfertafeln. Berlin 1862. 554 Verzeichniß der im Texte mit Ziffern angeführten Schriften. 24. Max Schultze, Das Protoplasma der Rhizopoden und der Pflanzen⸗ zellen. Ein Beitrag zur Theorie der Zelle. Leipzig 1863. 25. Ernſt Haeckel, Ueber den Sarkodekörper der Rhizopoden. Zeitſchrift für wiſſenſchaftliche Zoologie. Leipzig 1865. Bd. XV, S. 342, Taf. XXXVI. 26. Thomas Huxley, Zeugniſſe für die Stellung des Menſchen in der Natur. Drei Abhandlungen: Ueber die Naturgeſchichte der meuſchenähnlichen Affen. Ueber die Beziehungen des Menſchen zu den nächſtniederen Thieren. Ueber einige foſſile menſchliche Ueberreſte. Ueberſetzt von Victor Carus. Braunſchweig 1863. 27. Carl Vogt, Vorleſungen über den Menſchen, ſeine Stellung in der Schöpfung und in der Geſchichte der Erde. 2 Bände. Gießen 1863. 28. Friedrich Rolle, Der Menſch, ſeine Abſtammung und Geſittung im Lichte der Darwin'ſchen Lehre von der Art-Entſtehung und auf Grund der neueren geologiſchen Entdeckungen dargeſtellt. Frankfurt a./ M. 1866. 29. Eduard Reich, Die allgemeine Naturlehre des Menſchen. Gießen 1865. 30. Charles Lyell, Das Alter des Menſchengeſchlechts auf der Erde und der Urſprung der Arten durch Abänderung, nebſt einer Beſchreibung der Eiszeit in Europa und Amerika. Ueberſetzt mit Zuſätzen von Louis Büchner. Leipzig 1864. 31. Bernhard Cotta, Die Geologie der Gegenwart. Leipzig 1866. 32. H. Schaaffhauſen, Ueber den Zuſtand der wilden Völker. Archiv für Anthropologie von Ecker und Lindenſchmit. 1866. I. Bd., S. 161. 33. C. Radenhauſen, Iſis. Der Menſch und die Welt. 4 Bände. Ham⸗ burg 1863. 34. Auguſt Schleicher, Ueber die Bedeutung der Sprache für die Natur⸗ geſchichte des Menſchen. Weimar 1865. 35. Wilhelm Bleek, Ueber den Urſprung der Sprache. Herausgegeben mit einem Vorwort von Ernſt Haeckel. Weimar 1868. 36. Ernſt Haeckel, Ueber die Entſtehung und den Stammbaum des Meu⸗ ſchengeſchlechts. Zwei Vorträge in der Sammlung gemeinverſtändlicher wiſſenſchaft⸗ licher Vorträge. Herausgegeben von Virchow und Holtzendorff. Berlin 1868. Erklärung des Titelbildes. Die Familiengruppe der Katarrhinen. Das Titelbild dient zur anſchaulichen Erläuterung der höchſt wichtigen That— ſache, daß in Bezug auf die Schädelbildung und Phyſiognomie des Geſichts (ebenſo wie in jeder anderen Beziehung) die Unterſchiede zwiſchen den niederſten Menſchen und den höchſten Affen geringer ſind, als die Unterſchiede zwiſchen den niederſten und den höchſten Menſchen, und als die Unterſchiede zwiſchen den niederſten und den höchſten Affen derſelben Familie. Die niederſten Menſchen (Fig. 4, 5, 6) ſte⸗ hen offenbar den höchſten Affen (Fig. 7, 8, 9) viel näher, als dem höchſten Men- ſchen (Fig. 1), dem als äußerſter Gegenſatz der niederſte katarrhine Affe (Fig. 12) gegenüberſteht. Alle 12 Köpfe ſind in reiner Profil-Anſicht gezeichnet und nahezu auf dieſelbe Größe zurückgeführt, um die klare Vergleichung der ſtufenweiſen Ent— wickelung zu ermöglichen. (Vergl. den XIX. Vortrag, namentlich S. 513, und Taf. VIII). Fig. 1. Indogermane (Mann), Vertreter der kaukaſiſchen Menſchen⸗ art (Homo iranus). S. 519. Fig. 2. Chineſe (Mann), Vertreter der mongoliſchen Menſchenart (Homo turanus). S. 518. Fig. 3. Feuerländer oder Fuegier (Mann), Vertreter der amerikani- ſchen Menſchenart (Homo americanus). S. 519. Fig. 4. Auſtralneger oder Alfuru (Mann), Vertreter der neuhollän- diſchen Menſchenart (Homo alfurus). S. 516. Fig. 5. Afroneger (Weib), Vertreter der mittelafrikaniſchen Men- ſchenart (Homo afer). S. 516. Fig. 6. Tasmanier oder Vandiemensländer (Weib), Vertreter der Pa- puaneger oder Negritos (Homo papua). S. 515. Fig. 7. Gorilla (Weib) von Weſtafrika (Gorilla engena oder Pongo gorilla). S. 492, 497. Fig. 8. Schimpanſe (Weib) von Weſtafrika (Engeco troglodytes oder Pongo troglodytes). S. 492, 497. Fig. 9. Orang (Mann) von Borneo (Satyrus orang oder Pitheeus satyrus). S. 492, 497. Fig. 10. Gibbon (Mann) von Hinterindien (Hylobates lar oder Hylobates longimanus). S. 492, 497. Fig. 11. Naſenaffe (Mann) von Borneo (Nasalis larvatus oder Semno- pithecus nasicus). S. 492, 493. = Fig. 12. Mandril-Pavian (Mann) von Guinea (Cynocephalus mormon oder Papio mormon). S. 492, 493. Erklärung der genealogiſchen Tafeln. Taf. I. Einſtämmiger oder monophyletiſcher Stammbaum der Organismen, darſtellend die gemeinſame Abſtammung aller Organismen von einem einzigen durch Urzeugung entſtandenen Urorganismus, einem neutralen Mo⸗ nere. Die Linie ab trennt das Pflanzenreich (aps b) und die Linie ed trennt das Thierreich (egtd) von dem in der Mitte zwiſchen beiden ſtehenden Protiſtenreich (abde). Durch die beiden Querlinien xy und mn werden drei denkbare Hypothe⸗ ſen über die allgemeine Abſtammung der Organismen angedeutet. Dehnt man die gemeinſame Deſcendenzhypotheſe auf alle Organismen aus, und faßt das ganze Feld pst als einen einzigen Stammbaum, jo kann man aus der gemeinſamen Wurzel (A), einem neutralen Monere, drei Stämme hervorgehend denken, von de— nen der erſte (C0) dem Pflanzenreich, der zweite (B) dem neutralen Protiſtenreich, und der dritte (D) dem Thierreich den Urſprung gab. Will man dagegen, inner- halb des Feldes pxyq, jedes der drei Reiche von einer ſelbſtſtändigen archigonen Stammform ableiten, jo kann man dieſe als Urpflanzen (mxfe), als Urprotiſten (efhg) und als Urthiere (ghyn) bezeichnen. Will man endlich mehrere verſchie⸗ dene Stammformen innerhalb der drei Reiche annehmen, ſo betrachte man bloß das Feld pmug. Dieſe vielſtämmige oder polyphyletiſche Deſcendenzhypotheſe iſt aus⸗ führlicher dargeſtellt auf S. 347, 382 und 392. Taf. II. Einſtämmiger oder monophyletiſcher Stammbaum des Pflanzenreichs, darſtellend die Hypotheſe von der gemeinſamen Abſtammung aller Pflanzen, und die geſchichtliche Entwickelung der Pflanzengruppen während der paläontologiſchen Perioden der Erdgeſchichte. Durch die horizontalen Linien ſind die verſchiedenen (auf S. 306 angeführten) verſteinerungsbildenden Hebungszeiträume und die dazwiſchen liegenden verſteinerungsloſen Senkungszeiträume (Anteperioden) angedeutet. Durch die vertikalen Linien ſind die verſchiedenen Hauptklaſſen und Klaſſen des Pflanzenreichs von einander getrennt. Die baumförmig verzweigten Li⸗ nien geben durch ihre größere oder geringere Zahl und Dichtigkeit ungefähr den größeren oder geringeren Grad der Entwickelung, der Sonderung und Vervoll⸗ Erklärung der genealogiſchen Tafeln. 557 kommnung an, den jede Claſſe in jeder geologiſchen Periode vermuthlich erreicht hatte. Der kleine Stammbaum in der Ecke rechts unten deutet überſichtlich das Verhältniß und den Grad der Blutsverwandtſchaft zwiſchen den verſchiedenen Pflan— zenklaſſen an, und ergänzt dadurch die nebenſtehende paläontologiſche Darſtellung. Den Gegenſatz zu dieſer monophyletiſchen Deſcendenzhypotheſe ſtellt die polyphyle⸗ tiſche auf S. 382 dar (vergl. den XVI. Vortrag). Taf. III. Einſtämmiger oder monophyletiſcher Stammbaum des Thierreichs, darſtellend eine mögliche Hypotheſe von der gemeinſamen Ab- ſtammung aller Thiere. Danach könnten aus einem einzigen Urthiere (einem thie- riſchen, durch Urzeugung entſtandenen Monere) zunächſt thieriſche Amoeben, aus dieſen Infuſorien entſtanden ſein. Als zwei divergente Zweige, die höher oder tie- fer an der Wurzel zuſammenhängen, entwickelten ſich aus den Infuſorien einerſeits die Pflanzenthiere (B, Schwämme und Neſſelthiere), andrerſeits die Würmer (A). Aus vier verſchiedenen Zweigen der Würmer entſtanden die vier höheren Thier⸗ ſtämme, die Sternthiere (C), Gliedfüßer (D), Weichthiere (E) und Wirbelthiere (P). Den Gegenſatz zu dieſer monophyletiſchen Deſcendenzhypotheſe ſtellt die polyphyle⸗ tiſche auf S. 392 dar (vergl. den XVII. Vortrag). Taf. IV. Einſtämmiger oder monophyletiſcher Stammbaum des Thierreichs, darſtellend das geſchichtliche Wachsthum der ſechs Thierſtämme in den paläontologiſchen Perioden der organiſchen Erdgeſchichte. Durch die vier horizontalen Linien gh, ik, Im und no find die fünf großen Zeit⸗ alter der organiſchen Erdgeſchichte von einander getrennt. Das Feld gabh um⸗ faßt den archolithiſchen, das Feld ighk den paläolithiſchen, das Feld likm den meſolithiſchen und das Feld nlmo den eenolithiſchen Zeitraum. Der kurze anthro⸗ polithiſche Zeitraum iſt durch die Linie mo angedeutet (vergl. S. 306). Die Höhe der einzelnen Felder entſpricht der relativen Länge der dadurch bezeichneten Zeit- räume, wie ſie ſich ungefähr aus dem Dickenverhältniß der inzwiſchen abgelagerten neptuniſchen Schichten abſchätzen läßt (vergl. S. 301). Der archolithiſche oder pri⸗ mordiale Zeitraum allein für ſich, während deſſen die laurentiſchen, cambriſchen und ſiluriſchen Schichten abgelagert wurden, war vermuthlich bedeutend länger, als die vier folgenden Zeiträume zuſammengenommen (vergl. S. 296). Aller Wahrſchein⸗ lichkeit nach erreichten die beiden Stämme der Würmer und Pflanzenthiere ihre Blüthezeit ſchon während der mittleren Primordialzeit (in der cambrifchen Periode ?), die Sternthiere und Weichthiere vielleicht etwas ſpäter (in der ſiluriſchen Periode 7), während die Gliedfüßer und Wirbelthiere bis zur Gegenwart an Mannichfaltigkeit und Vollkommenheit zunehmen. Taf. V. Stammbaum der Gliedfüßer oder Arthropoden (vergl. S. 424). Die Wurzel dieſes Stammes bildet eine unbekannte Form von Glied⸗ würmern oder Coleminthen, welche den Räderthieren und den Ringelwürmern nahe 558 Erklärung der genealogiſchen Tafeln. ſtand. Aus dieſer entwickelte ſich zunächſt der Nauplius, die Stammform der gan- zen Krebsklaſſe oder Cruſtaceen. Aus dem Nauplius entſtanden einerſeits die ver⸗ ſchiedenen Ordnungen der Gliederkrebſe (Eutomoſtraca), anderſeits die Zosa. Aus der Zosa entwickelten ſich wiederum einerſeits die verſchiedenen Ordnungen der Pan⸗ zerkrebſe (Malacoſtraca), anderſeits die gemeinſame Stammform aller Tracheaten, welche vielleicht den heutigen Skorpionsſpinnen nahe ſtand. Aus den letzteren ent⸗ ſtanden als drei divergente Zweige die drei Klaſſen der Spinnen, Tauſendfüßer und Inſecten (vergl. S. 432). Taf. VI. Einſtämmiger oder monophyletiſcher Stammbaum des Wirbelthierſtammes, darſtellend die Hypotheſe von der gemeinſamen Abſtammung aller Wirbelthiere und die geſchichtliche Entwickelung ihrer verſchiede⸗ nen Klaſſen während der paläontologiſchen Perioden der Erdgeſchichte. (Vergl. den XVIII. Vortrag, S. 433). Durch die horizontalen Linien ſind die (auf S. 306 angeführten) Perioden der organiſchen Erdgeſchichte angedeutet. Durch die vertikalen Linien ſind die Klaſſen und Unterklaſſen der Wirbelthiere von einander getrennt. Die baumförmig verzweigten Linien geben durch ihre größere oder geringere Zahl und Dichtigkeit den größeren oder geringeren Grad der Entwickelung, der Mannich⸗ faltigkeit und Vollkommenheit an, den jede Klaſſe in jeder geologiſchen Periode ver⸗ muthlich erreicht hatte. Der kleine Stammbaum in der Ecke rechts unten deutet überſichtlich das Verhältniß und den Grad der Blutsverwandtſchaft der Wirbelthier⸗ klaſſen an, und ergänzt dadurch die nebenſtehende paläontologiſche Darſtellung. Die Zahlen in letzterer haben folgende Bedeutung (vergl. dazu den XVIII. Vortrag): 1. Thieriſche Moneren. 2. Thieriſche Amoeben. 3. Amoebengemeinden (Syn- amoebae). 4. Mundloſe Wimperinfuſorien. 5. Mundführende Wimperinfuſorien. 6. Strudelwürmer (Turbellaria). 7. Mantelthiere (Tunicata). 8. Lanzetthier (Amphioxus). 9. Inger (Myxinoida). 10. Lampreten (Petromyzontia). 11. Un⸗ bekannte Uebergangsformen von den Unpaarnaſen zu den Urfiſchen. 12. Siluriſche Urfiſche (Onchus ete.). 13. Lebende Urfiſche (Haifiſche, Rochen, Chimären). 14. Ael⸗ teſte (ſiluriſche) Schmelzfiſche (Pteraspis). 15. Schildkrötenfiſche (Pamphraeti). 16. Störfiſche (Sturiones). 17. Eckſchuppige Schmelzfiſche (Rhombiferi). 18. Kno⸗ chenhecht (Lepidosteus). 19. Flöſſelhecht (Polypterus). 20. Hohlgrätenfiſche (Coe- loscolopes). 21. Dichtgrätenfiſche (Pyenoscolopes). 22. Kahlhecht (Amia). 23. Ur⸗ knochenfiſche (Thrissopida). 24. Knochenfiſche mit Luftgang der Schwimmblaſe (Physostomi). 25. Knochenfiſche ohne Luftgang der Schwimmblaſe (Physoelisti). 26. Unbekannte Zwiſchenformen zwiſchen Urfiſchen und Lurchſiſchen. 27. Afrika⸗ niſche Lurchfiſche (Protopterus). 28. Amerikaniſche Lurchfiſche (Lepidosiren). 29, Un⸗ bekannte Zwiſchenformen zwiſchen Urfiſchen und Amphibien. 30. Schmelzköpfe (Ganocephala). 31. Wickelzähner (Labyrinthodonta). 32. Blindwühlen (Caeciliae). 33. Kiemenlurche (Sozobranchia). 34. Schwanzlurche (Sozura). 35. Froſchlurche Erklärung der genealogiſchen Tafeln. 559 (Anura). 36. Gabeldorner oder Dichthakanthen (Proterosaurus). 37. Unbekannte Zwiſchenformen zwiſchen Amphibien und Protamnien. 38. Protamnien (gemein- ſame Stammform aller Amnionthiere). 39. Stammſäuger (Promammalia). 40. Ur⸗ ſchleicher (Proreptilia). 41. Fachzähner (Theeodontia). 42. Urdrachen (Simosauria). 43. Schlangendrachen (Plesiosauria). 44. Fiſchdrachen (Ichthyosauria). 45. Te⸗ leoſaurier (Amphicoela). 46. Steneoſaurier (Opisthocoela). 47. Alligatoren (Pro- sthoeoela). 48. Fleiſchfreſſende Dinoſaurier (Harpagosauria). 49. Pflanzenfreſſende Dinoſaurier (Therosauria). 50. Moſeleidechſen (Mosasauria). 51. Gemeinſame Stammform der Schlangen (Ophidia). 52. Hundszähnige Schnabeleidechſen (Cyn- odontia). 53. Zahnloſe Schnabeleidechſen (Cryptodontia). 54. Langſchwänzige Flugeidechſen (Rhamphorhynchi). 55. Kurzſchwänzige Flugeidechſen (Pterodactyli). 56. Landſchildkröten (Chersita). 57. Vogelſchleicher (Tocornithes): Zwiſchenformen zwiſchen Reptilien und Vögeln. 58. Urgreif (Archaeopteryx). 59. Waſſerſchnabel⸗ thier (Ornithorhynchus). 60. Landſchnabelthier (Echidna). 61. Unbekannte Zwi⸗ ſchenformen zwiſchen Gabelthieren und Beutelthieren. 62. Unbekannte Zwiſchenfor⸗ men zwiſchen Beutelthieren und Placentalthieren. 63. Zottenplacentner (Sparsi- placentalia). 64. Gürtelplacentner (Zonoplacentalia). 65. Scheibenplacentner (Disco- placentalia). 66. Der Menſch. Taf. VII. Stammbaum der Säugethiere mit Inbegriff des Menſchen (vergl. S. 468, 473). Die Wurzel dieſes Stammbaums bilden un— bekannte Stammſäuger oder Promammalien, welche den heute noch lebenden Schnabel⸗ thieren nächſt verwandt waren, und gleich dieſen zur Unterklaſſe der Kloakenthiere oder Amaſten gehörten. Aus dieſen Promammalien, welche wahrſcheinlich während der Antetriaszeit direct oder indirect aus Amphibien entſtanden, entwickelten ſich als zwei divergente Zweige die heute noch lebenden Schnabelthiere und die gemeinſame Stammform der zweiten Unterklaſſe, der Beutelthiere oder Marſupialien. Erſt viel ſpäter (wahrſcheinlich in der Anteocenzeit) entſtand aus einem oder mehreren Zweigen der Beutelthiergruppe die dritte Unterklaſſe der Säugethiere, die Placental- thiere oder Placentalien (S. 472). Die Linie MN bezeichnet die Grenze zwiſchen den Placentalien, die wahrſcheinlich erſt ſeit der Tertiärzeit exiſtirten, und den Beutlern und Kloakenthieren, die während der Secundärzeit allein die Klaſſe ver⸗ traten. Auf der rechten Hälfte der Tafel ſtehen die vorzugsweiſe pflanzenfreſſenden, auf der linken die vorzugsweiſe fleiſchfreſſenden Säugethiere. Taf. VIII. Stammbaum der Menſchen-Arten oder Raſſen, dar- ſtellend die einheitliche oder monophyletiſche Entwickelung der verſchiedenen Menſchen— Arten von einer gemeinſamen Stammform, dem Urmenſchen (Homo primigenius) oder Affenmenſchen (Pithecanthropus) (vergl. den XIX. Vortrag S. 513). Dieſer entſtand wahrſcheinlich im ſüdlichen Aſien oder im öſtlichen Afrika gegen Ende der Tertiärzeit aus Menſchenaffen (Anthropoides) oder ſchwanzloſen ſchmalnaſigen Affen 560 Erklärung der genealogiſchen Tafeln. (Catarrhina lipocerea), welche dem heute noch lebenden Gorilla und Schimpanſe, Orang und Gibbon nahe ſtanden. Aus der Nachkommenſchaft des Urmenſchen gingen als zwei divergente Zweige eine wollhaarige Art (A) und eine ſchlichthaarige Species (B) hervor. Aus den wollhaarigen Urmenſchen (Ulotriches, A) ent- wickelten ſich der Papua, der Hottentotte und der Afroneger. Aus den ſchlicht⸗ haarigen Urmenſchen (Lissotriches, B) entwickelten fi der Alfuru (Neuholländer) und der Polyneſier (Malaye), und aus divergenten Aeſten des letzteren entſtanden wahrſcheinlich der Polarmenſch, die mongoliſche und amerikaniſche Art, und endlich die vollkommenſte von allen, die kaukaſiſche oder iraniſche Menſchenart. Regifer. Abänderung 173. Abeſſinier 513, 520. Acyttarien 336. Adaptation 173. Aethiopier 513, 516. Affen 469, 492. Affenmenſchen 507, 508. Afroneger 513, 516. Agaſſiz (Louis) 50. Agaſſiz's Entwickelungsgeſchichte 55. — Klaſſifikationsverſuch 50. — Schöpfungsgeſchichte 52. — Speeiesbegriff 51. — Weltanſchauung 58. Ahnenreihe des Menſchen 501, 502. Akalephen 399, 400. Alfurus 513, 516. Algen 352, 353. Alluvial⸗Syſtem 300, 307. Amerikaner 513, 519. Amnionloſe 441, 451. Amnionthiere 441, 450. Amnioten 441, 450. Amoeben 145, 329. Amoeboiden 329. Amphibien 441, 448. Amphioxen 438, 441. Amphirrhinen 436, 440. Anamnien 441, 451. Angioſpermen 352, 375. Anneliden 404, 410. Anorgane 4, 269. Anorganologie 5. Haeckel, Natürliche Schöpfungsgeſchichte. Anpaſſung 122, 173, 175. — abweichende 198. — actuelle 178, 184, — allgemeine 184. — correlative 193. — cumulative 188. — directe 178, 184. — divergente 198. — gehäufte 186. — geſchlechtliche 182. — indirecte 177, 180. — individuelle 181. — mittelbare 177, 180. — monſtröſe 182. — potentielle 177, 180. — ſexuelle 182. — ſprungweiſe 182. — unbeſchränkte 200. — unendliche 200. — univerſelle 184. — unmittelbare 178, 184. — wechſelbezügliche 193. Anpaſſungsgeſetze 177, 180. Ante- Perioden 304. Ante- Zeiträume 304. Anthozoen 393, 399, 400, Anthropocentriſche Weltanſchauung 30. Anthropoiden 492, 497. Anthropolithiſches Zeitalter 300, 306. Anthropologie 6. Anthropomorphismus 15, 54. Araber 513, 520. Arachniden 424, 426. 36 562 Arbeitstheilung 217, 224. Archelminthen 404, 405. Archezoen 405. Archigonie 269. Archolithiſches Zeitalter 295, 306. Arier 513, 520. Ariſtoteles 45, 63. Art 32, 221. Arthropoden 422, 424. Articulaten 385, 386. Aſteriden 417, 420. Atavismus 135, 162. Auſtralneger 513, 516. Autogonie 280. Bär (Carl Ernſt) 87. Bär's Abſtammungslehre 87. — Entwickelungsgeſchichte 239. — Thiertypen 43, 384. Baſtarde 165. Baſtardzeugung 36, 165, 221. Berber 513, 520. Beutelherzen 438, 441. Beutelthiere 464, 468. Beutler 464, 468. Bildnerinnen 285. Bildungstriebe 74, 203, 277. Biologie 4. Blumenleſe 350, 352. Blumenpflanzen 350, 372. Blumenthiere 399, 400. Brachiopoden 414, 415. Bruno (Giordano) 18, 58. Bruſtloſe 463, 468. Bryozoen 404, 408. Buch (Leopold) 86. Büchner (Louis) 89. Cambriſches Syſtem 295, 307. Carboniſches Syſtem 297, 307. Carus (Victor) 88. Cauſale Weltanſchauung 14, 61. Chamiſſo (Adalbert) 161. Chineſen 513, 518. Cenolithiſches Zeitalter 299, 306. Cephalopoden 414, 415. Cochliden 414, 415. Regiſter. Coelenteraten 395, 400. Colelminthen 404, 409. Coniferen 352, 375. Cormophyten 350, 351. Correlation der Theile 196. Crinoiden 420, 421. Cruſtaceen 423, 424. Ctenophoren 400, 402. Cuvier (George) 40. Cuvier's Kataklysmentheorie 47. — Paläontologie 44. — Revolutionsfehre 47. — Schöpfungsgeſchichte 47. — Speciesbegriff 41. — Streit mit Geoffroy 72. — Thierſyſtem 42. — Thiertypen 43, 384. Cycadeen 352, 374. Cytoden 285. Darwin (Charles) 105. Darwinismus 118, 202. Darwin's Korallentheorie 106. — Reiſe 106. — Selectionstheorie 117. — Taubenſtudium 113. — Züchtungslehre 117. Darwin (Erasmus) 96. Deciduathiere 472, 480. Decidualoſe 472, 474. 2 Deckſamige 352, 375. Deduction 70, 542. Demokritus 18. Devoniſches Syſtem 297, 307. Diatomeen 334. Dicke der Erdrinde 301. Dicotylen 352, 377. Differenzirung 217, 230. Diluvial⸗Syſtem 300, 307. Divergenz 217, 526. Drachen 455, 456. Dualiſtiſche Weltanſchauung 16, 61. Dysteleologie 12. Echiniden 420, 421. Echinodermen 416, 420. Ei des Menſchen 241. Regiſter. Eidechſen 455, 456. Eier 153. Eifurchung (Eitheilung) 146, 244. Einheit der Natur 18, 279, 287. Einheitliche Abſtammungshypotheſe 323. Einkeimblättrige 352, 376. Eiweißkörper 272. Elatobranchien 414, 415. Empirie 65, 535. Endurſache 18. Eocen⸗Syſtem 299, 307. Erbadel 138. Erblichkeit 135. Erbſünde 138. Erbweisheit 138. Erkenntniſſe apoſteriori 26, 530. — apriori 26, 530. Erklärung der Erſcheinungen 24, 26. Ernährung 175. Farne 352, 367. Faſerpflanzen 352, 359. Filieinen 352, 367. Finnen 513, 518. Fiſche 443, 444. Flagellaten 332. Flechten 352, 360. Flederthiere 469, 485. Flugeidechſen 455, 456. Fortpflanzung 141, 143. amphiogone 151. geſchlechtliche 151. jungfräuliche 153. monogone 141. — ſexuelle 151. — ungeſchlechtliche 141. Fortſchritt 217, 224, 230. Gabler 463, 468. Galilei 18. Gattung 32. Gehirnentwickelung 248. Geiſt 18, 509, 545. Geißelſchwärmer 332. Gemmation 148. Generationswechſel 161. Genus 32. 563 Geocentriſche Weltanſchauung 30, 487. Geoffroy S. Hilaire 72, 94. Gephyreen 404, 410. Germanen 513, 520. Geſchlechtstrennung 152. Geſtaltungskräfte 74, 277. Gibbon 493, 497. Glauben 7, 522. Gliederthiere 385, 386. Gliedfüßer 422, 424. Gliedwürmer 404, 409. Goethe (Wolfgang) 66. Goethe's Abſtammungslehre 76. — Bildungstriebe 74, 203. — Biologie 71. — Entwickelungslehre 76. — Gottesidee 58. — Materialismus 18. — Metamorphoſe 68, 75. — Naturanſchauung 18. — Naturforſchung 67. — Naturphiloſophie 67. — Pflanzenmetamorphoſe 68. — Specifikationstrieb 75. — Wirbeltheorie 68. — Zwiſchenkieferfund 69. Gonochorismus 152. Gonochoriſtus 152. Gorilla 493, 497. Gottesvorſtellung 58. Grant 96. Gürtelplacentner 469, 473. Gymnoſpermen 352, 373. Halbaffen 469, 481. Haſenkaninchen 222. Hausthiere 110. Heliozoen 338. Heredität 135. Hermaphroditismus 152. Hermaphroditus 152. Herſchel's Kosmogenie 263. Himategen 404, 407. Hirnblaſen des Menſchen 249. Holothurien 420, 422. Hottentotten 513, 516. Hülleytoden 286. 36 * 564 Hüllzellen 286. Hufthiere 474, 476. Huxley 97, 209, 491, 496. Hybridismus 36. Hydromeduſen 400, 401. Japaneſen 513, 518. Indogermanen 513, 520. Induction 70, 542. Infuſionsthiere 404, 405. Infuſorien 404, 405. Inophyten 352, 359. Inſecten 424, 427. Inſectenfreſſer 469, 484. Inſtinkt 529. Iraner 513, 519. Juden 513, 520. Jura⸗Syſtem 298, 307, Kammerweſen 336. Kammquallen 400, 402. Kampf um's Daſein 125, 205. Kant (Immanuel) 81. Kant's Abſtammungslehre 83. — Entwickelungstheorie 83. — Erdbildungstheorie 263. — Kosmogenie 203. — Kritik der Urtheilskraft 81. — Naturphiloſophie 81. Katarrhinen 492, 497. Kaukaſier 513, 519. Keimknospenbildung 148. Keimzellenbildung 150. Kiemenbogen des Menſchen 251. Kiemenkerfe 422, 424. Kiemenwirbelthiere 435. Kieſelzellen 334. Kloakenthiere 463, 468. Knochenfiſche 444, 446. Knospenbildung 148. Körper 545. Kohlenſtoff 271, 276. Kosmogenie 263. Kosmologiſche Gastheorie 265. Kopernikus 30, 487. Korallen 399, 400. Krebſe 423, 424. Regiſter. Kreide-Syſtem 298, 307. Krocodile 454, 455. Kruſtenthiere 423, 424. Kryptogamen 349, 350. Künſtliche Züchtung 120. Kulturpflanzen 110. Labyrinthläufer 334. Labyrinthuleen 334. Lamarck (Jean) 89. Lamarck's Abſtammungslehre 92, 540. — Anthropologie 93, 487. — Naturphiloſophie 89. Lamarckismus 118. Lamellibranchien 414, 415. Lanzetthiere 438, 441. Laplace's Kosmogenie 263. Laurentiſches Syſtem 295, 307. Lebenskraft 18, 275. Leonardo da Vinci 46. Linné (Carl) 31. Linné's Arteubenennung 32. — Pflanzenklaſſen 349. — Schöpfungsgeſchichte 35. — Speciesbegriff 34. — Syſtem 32. — Thierklaſſen 384. Lungenwirbelthiere 435. Lurche 441, 448. Lurchfiſche 441, 447. Lyell (Charles) 100. Lyell's Schöpfungsgeſchichte 102. Magyaren 513, 518. Malayen 513, 517. Malthus' Bevölkerungstheorie 126. Mantelthiere 404, 409. Marſupialien 464. Materialismus 18. Materie 18, 545. Mechaniſche Urſachen 29, 61, 82. Mechaniſche Weltanſchauung 14, 61. Mechanismus 82. Meduſen 400, 401. Meerleuchten 335. Menſchenaffen 497, 506. Menſchenarten 512, 513. Regiſter. Menſchenraſſen 512, 513. Menſchenſeele 546. Menſchenſpecies 512, 513. Meſolithiſches Zeitalter 298, 306. Metageneſis 161. Metamorphismus der Erdſchichten 308. Metamorphoſe 68, 75, 432. Mikrocephalen 163. Miocen⸗Syſtem 299, 307. Molchfiſche 441, 447. Mollusken 411, 415. Molluskoiden 407. Moneren 142, 272, 283, 320, 328. Mongolen 513, 518. Moniſtiſche Weltanſchauung 16, 61. Monocotylen 352, 376. Monophyleten 511. Monophyletiſche Deſeendenzhypotheſe 323. Monorrhinen 441, 4. Monoſporogonie 150. Morphologie 17. Moſe 352, 364. Moſes' Schöpfungsgeſchichte 29. Mosthiere 404, 408. Muscinen 352, 364. Myriapoden 424, 426. Myxomyeeten 333. Nacktſamige 352, 373. Nadelhölzer 352, 375. Nagethiere 469, 482. Naturphiloſophie 64, 66. Negrito 513, 515. Nematelminthen 404, 407. Neſſelthiere 399, 400. Newton 21. Nichtzwitter 152. Noctiluken 335. Oken (Lorenz) 76. Oken's Entwickelungsgeſchichte 239. — Entwickelungstheorie 79. — Infuſorientheorie 78. — Naturphiloſophie 76. — Urſchleimtheorie 77. Ontogeneſis 253. Ontogenie 8. 565 Orang 493, 497. Organe 4. Organismen 4, 269. Paarnaſen 441, 442. Paläolithiſches Zeitalter 297, 306. Paläontologie 44. Paliſſy 46. Palmfarne 352, 374. Pander (Chriſtian) 239. Papua 513, 515. Parallelismus der Entwickelung 255. 257. Parthenogeneſis 153. Permiſches Syſtem 297, 307. Petrefacten 45. Pflanzenthiere 395, 400. Phanerogamen 349, 372. Philoſophie 65, 535. Phylogenie 9. Phylogeneſis 253. Phylum 322. Phyſiologie 17. Pilze 352, 361. Pithekoidentheorie 542, 544. Placentalien 469, 471. Placentalthiere 469, 471. Placentner 469, 471. Plasma 144, 272. Plasmogonie 280. Plaſtiden 285. Plaſtidentheorie 286. Plattnaſige Affen 492, 494. Plattwürmer 404, 406. Platyelminthen 404, 406. Platyrrhinen 492, 494. Pleiſtocen-Syſtem 300, 307. Pliocen-Syſtem 299, 307. Polypenquallen 400, 401. Polyſporogonie 149. Polyphyleten 511. Polyphyletiſche Deſcendenzhypotheſe 324. Polarmenſchen 513, 517. Polypen 400, 401. Polyneſier 513, 517. Poriferen 397, 400. Primärzeit 297, 306. Primordialzeit 295, 306. 566 Protamoeben 144. Prothallophyten 350, 362. Prothalluspflanzen 350, 362. Protiſten 326. Protoplasma 144, 272. Protoplaſten 329. Protozoen 386. Pulpen 414, 415. Radiaten 385. Radiolarien 338. Räderthiere 404, 410. Raſſen 223. Raubthiere 469, 480. Recent⸗Syſtem 300, 307. Reptilien 441, 453. Rhizopoden 335. Ringelwürmer 404, 410. Rohrherzen 438, 441. Romanen 513, 520. Rotatorien 404, 410. Rudimentäre Augen 11, 232. — Beine 11. — Flügel 333. — Griffel 12, 236. — Lungen 234. — Milchdrüſen 235. — Muskeln 236. — Organe 10, 232. — Schwänze 235. — Staubfäden 12, 236. — Zähne 10. Rückſchlag 162. Rundmäuler 439, 441. Rundwürmer 404, 407. Sackwürmer 404, 407. Säugethiere 460, 468. Saurier 453. Schaaffhauſen 88. Schädelloſe 438, 441. Schädelthiere 438, 441. Scheibenplacentner 469, 473. Scheinhufthiere 469, 483. Schildkröten 455, 457. Schimpanſe 493, 497. Regiſter. Schirmquallen 400, 401. Schlangen 455, 456. Schleicher 441, 453. Schleicher (Auguſt) 86, 509, 510. Schleiden (J. M.) 87. Schleimpilze 333. Schlichthaarige Menſchen 513, 514. Schmalnaſige Affen 492, 497. Schmelzfiſche 444, 445. Schmiermenſchen 513, 516. Schnabeleidechſen 455, 456. Schnabelthiere 462, 468. Schnecken 414, 415. Schöpfer 53, 58. Schöpfung 6. Schwämme 397, 400. Schwanz des Menſchen 252. Scoleciden 404, 406. Secundärzeit 298, 306. Seedrachen 454, 455. Seeigel 420, 421. Seele 58, 507, 547. Seelilien 420, 421. Seeſterne 417, 420. Seewalzen 420, 422. Selbſttheilung 148. Sexualcharaktere 104, 213. Siluriſches Syſtem 295, 307. Slaven 513, 520. Sonnenweſen 338. Species 32, 221. Specifiſche Entwickelung 255. Spencer (Herbert) 96. Sperma 153. Spielarten 223. Spirobranchien 414, 415. Spinnen 424, 426. Spongien 397, 400. Sporenbildung 150. Sporogonie 150. Stamm 322. Stammbaum der Affen 493. — der Hufthiere 477. — der Organismen 289, 347. — der Pflanzen 382. — der Thiere 392. Stammreptilien 454, 455. Stammſäuger 462, 468. Sternthiere 416, 420. Sternwürmer 404, 410. Stockpflanzen 350, 351. Strahlthiere 385. Strahlweſen 338. Syſtem der Affen 492. — der Arthropoden 424. — der Coelenteraten 400. — der Echinoderner 420. — der Erdſchichten 307. — der Fiſche 444. — der Formationen 307. — der Geſchichtsperioden 306. — der Gliedfüßer 424. — der Hufthiere 476. — der Menſchenarten 513. — der Mollusken 415. — des Pflanzenreichs 352. — der Pflanzenthiere 400. — der Placentalthiere 469. — der Reptilien 455. — der Säugethiere 468. — der Schleicher 455. — der Sternthiere 420. — des Thierreichs 393. — der Weichthiere 415. — der Wirbelthiere 441. — der Würmer 404. — der Zeiträume 306. Syſtematiſche Entwickelung 255. Tange 352, 353. Tataren 513, 518. Tauſendfüßer 424, 426. Teleologie 81. Teleologiſche Weltanſchauung 14, 61. Tertiärzeit 299, 306. Thallophyten 350, 352. Thalluspflanzen 350, 352. Thierſeele 546. Tokogonie 141. Tracheaten 422, 424. Tracheenkerfe 422, 424. Transmutationstheorie 3. Trias⸗Syſtem 298, 307. Türken 513, 518. Regiſter. 567 Tunicaten 404, 409. Turaner 513, 518. Uebergangsformen 525. Umbildungslehre 3. Ungarn 513, 518. Unger (Franz) 88. Unpaarnaſen 439, 441. Unzweckmäßigkeit der Natur 15. Unzweckmäßigkeitslehre 12. Urahnthiere 405. Urcytoden 286. Urfiſche 443, 444. Urgeſchichte des Menſchen 499. Urinfuſorien 404, 405. Urmenſchen 513, 514. Urſprung der Sprache 509, 511. Urthiere 386. Urweſen 326. Urwürmer 404, 405. Urzellen 286. Urzeugung 269, 320. Variabilität 173. Variation 173. Varietäten 223. Veränderlichkeit 173. Vererbung 135, 158. — abgekürzte 166. — amphigone 164. — angepaßte 167. — befeſtigte 170. — beiderſeitige 164. — conſervative 159. — conſtituirte 170. — continuirliche 160. — erhaltende 159. — erworbene 167. — ßfortſchreitende 167. — gemiſchte 164. — geſchlechtliche 164. — gleichörtliche 171. — gleichzeitliche 171. — homochrone 171. — homotope 171. — latente 160. — progreſſive 167, 568 Regiſter. Vererbung, ſexuelle 164. — unterbrochene 160. — ununterbrochene 160. — vereinfachte 166. Vererbungsgeſetze 159. Vermenſchlichung 15, 54. Verſteinerungen 45. Vertebraten 384, 433. Vervollkommnung 217, 224, 230. Vielheitliche Abſtammungshypotheſe 324. Vitaliſtiſche Weltanſchauung 14, 161. Vögel 441, 457. Vorfahren des Menſchen 501, 502. Wagner (Andreas) 111. Wallace (Alfred) 109. Wallace's Selectionstheorie 109. Walthiere 469, 478. Wechſelbeziehung der Theile 196. Weichthiere 411, 415. Weichwürmer 404, 406. Wimperinfuſorien 405. Wirbelloſe 384. Wirbelthiere 384, 433. Wiſſen 7, 522. Wolff's Entwickelungstheorie 239. Wollhaarige Menſchen 513, 514. Wunder 18. Wurzelfüßer 335. Würmer 402, 404. Zahnarme 469, 479. Zellen 144, 272, 285. Zellenbildung 284. Zellenkern 144. Zellentheilung 145. Zellentheorie 285. Zellhaut 144. Zellſtoff 144. Zoophyten 396. Zottenplacentner 473, 474. Züchtung, äſthetiſche 216. — geſchlechtliche 213. — gleichfarbige 211. — künſtliche 118, 204. — natürliche 125, 204. — pſychiſche 216. — ſexuelle 213. Zuchtwahl 131, 205. Zweckmäßigkeit der Natur 15. Zweckthätige Urſachen 28, 61, 82. Zweikeimblättrige 352, 377. Zwitter 152. Zwitterbildung 152. Druck von Fr. Frommann in Jena. Pflanzenreich. Protiſtenreich. Zweikeim⸗ Einkeim⸗ Schleimpilze Meerleuchten] Wirbelthiere Vertebrata blättrige | blättrige RIXremgeetes Noctilucae ‚f S Dieotylae | Monocotylae — — 8 + NN ' 3 Gliedfüßer 2 Wurzelfüßer h 5 z ! Rhizopoda nn? | Strahlweſen Weichthiere Radiolaria — — Mollusca 8 Nadelhölzer Palmfarne Conifere Oycade: 55 niferae Cycadeae Sormmeniwelen Nacktſamige Gymnospermae Heliozoa_ Sternthiere Kchinoderma N Geißel⸗ - ſchwärmerſPflanzenthiere Coelenterata Moſe Muscinae ) — nn Würmer Vermes — nn Glied⸗ Sack⸗ würmer würmer Colelminthes Himatega S D Weichwürmer Scolecida —̃ — Grüntange Chloralgae ndifferent Moneren Monera Urweſen Protista Urthiere Archezoa N N 50 1 [ 2 N S I x mm m m mju m mu mo rſtamm des Protiſtenreichs Urſtamm i des Thierreichs Moneren) (Animale Moneren) b d Einſtämmiger oder monophyletiſcher Stammbaum der Orga⸗ nismen. (Die drei Felder I, p men q; II. pX Y q; III, ps tp ſtellen drei denkbare Fälle der allgemeinen Genealogie dar). (Fergl.S. 347.) Urſtamm des Pflanzenreichs (Vegetabile Moneren) NT 2 ar ee * * m 7 8 0 4 N „ Tat. II. en-Pflanzen. B erogamae. Decks amige. Angiospermae. Einkeim - Zweikeimblättrige 2 blättrige 5 blithige Monocotylae.| Ane 10 I N : 0 5 10 10 var I a N 1 Palmfarne (vcadeae. Tange ( _Algae.) „ grün- (Bi en Roth - % 4% 166 — . ) 8 0 7 Techten \ 1 Tat: I. am Blumenlose + flanz en. Cryptogamae. | . Blumen-Pflanzen. Phanerogamae. ] des Pflanzenreichs. Thalluspflanzen. Thalloplıyta. me Farne. Filicinae. acktsamige.Gymnospermae. Decksamige. Angiospermae. f ‚Pilanzen- u u - e . 9 555 Haliſaune Laune Soluppenfarne Wasserlarne Nadoth ne; Palmfarne Binkeim = Zweikeimblättrige Dicotylae e ee e e, e |, de, | anne be., desi, Wing eee Pliocen-Zeit Miocen-Zeit Eocen-Zeit Cenolith. oder oder Periode Mesolithisches Seeundaeres Zeitalter. \Tirtiaer- Zeit.\ Zeitalter, Antetrias- Zeit Palaeolithisches oder Primaeres Zeitalter. rehatittusches.oder | ‚Primareiales Zeitalter | Diapetalae \bamopetalar 1 7 . Einheitlicher oder monophyletischer Stammbaum des Pllanzenreichs palaeontologisch begründet. D. Gtiedfüßer N Wirbelthiere r. Arthropoda Vertebrata \ ſiehe Taf. W (ſiehe Taf. VI) / . N 11) VE E , weichthiere, Mollusca —— De ö Pulpen „Lephalopoda, 00% C. Sternthiere, Echinoderma N Seewalzen Holothuriae N IN N Seeigel Schnecken J, N Echinida 4 Coch un > N \ 1 0 Blattkiemer Seelilien Elatobranchia Crinoida VD 2 =. X DD Seeſterne Spiralkiemer Y Asterida Spirobranchia Ii / \) /) 2 , C 22 N 55 N „/ NRäder- * er _- Ringel⸗ thiere Mantel⸗ as Wo würmer Rota- thiere 22. . Annelida toria Tunicata Mosthiere 3 Bryozoa , N Sackwürmer Sternwürmer \ \ ] Gephyrea \ \ e N \ Himatega Gliedwürmer Colelminthes 5 Weichwürmer Seoleeida B. RN Pflanzenthiere RN 7 Coelenterata N Plattwürmer Rundwürmer N \ Platyel- Nematel- N Kammquallen Ctenophora minthes minthes , N N N WIR Koralle 2 N. Schi allen Hydromedusae e 5. Säge imgualen Hy Urwürmer 8 | ; Archelminthes 2 WU: Würner Vermes 5 BEN A N. B. Die Linie MN Infuſtonsthiere Infusoria Einſtämmiger bedeutet die Grenze zwi⸗ 185 ſchen den beiden nie⸗ i deren (A, B) und den Thieriſche Amdeben monophyletiſcher vier höheren Thierſtäm⸗ Stammbaum des men (C, D, E, F,). | Thierſſche Moneren | Thierreichs. —B — n 1 ertiärzeit Secundär Zeit | Primäre oder paläolithiſche Perioden Primordiale oder archolithiſche Perioden — flanzen⸗ thiere | IM U Arthropoda Gliedfüßer Arthropoda Stammformen der ſechs Stämme: A Würmer B Pflanzenthiere C Steruthiere D Gliedfüßer E Weichthiere F Wirbelthiere 1 Ai e Wirbelthiere Vertebrata uurwürmer = uUrinfuſorien A| — Thieriſche Moneren TAL — 20 3a Hiſtoriſches Wachsthum der ſechs Thierſtämme. Siehe die Erklärung. Immen Schmetterlinge Fliegen Hymenoptera Diptera N 0 %% | ” N N \ \ ä Halbflügler Br N N Rang Gradflügler ER 7 WILD) Orthoptera N , N / Urflügler f RN Spinnen Tauſendfüßer . Arachnida Myriapoda Rundſpinnen Doppelfüßer Sphaerogastres Inſecten Diplopoda Streckſpinnen \\ \ 0 Hexapoda WE Arthrogastres 0 ) Winfachfüßer Hr: VAN 7 N 25 Skorpions⸗ N ſpinnen Solifugae N Tracheenathmende Arthro-Y poden. Tracheata Mom . — — mem . — — — — En. — — — — —. 2 . ame I Panzerkrebſe Malacostraca Gliederkrebſe Entomostraca Zoeakrebfe. Zosae 7 Gemeinſame Stammform aller Arthropoden, entſtanden aus den Gliedwürmern (Colelminthes). Stammbaum der Gliedfüßer oder Arthropoden. Taf IT. ıPaarnasen oder Amphirrhinen mit Amnion, ohne Kiemen. "| Schnabel- tene kroter Ptero- | Che- a \lonıa, 2 0 8 * 2 N ‚Amnionthiere 3 er \ Molchfische \ Protopteri N ) men \ Fe „ Galhotoma, * et. 7, Taf. | | 5 = Haupiklassen, N 1 ‚Unpaar - | Amnionlose. |Paarnasen oder Amphirrhinen Amnionthiere. | Paarnasen oder Amphirrhinen Klassen ‚(Prochorda)) herzen h nasen | Anammia. mit Kiemen, ohne Amnion . Amniota. mit Amnion, ohne Kiemen. A Unterklassen ‚Wirbellose | (Lepto [Monorrhina) Fisch —.— und Unterklas Er h 5 >; 7 = - - Vorfahren | cardia) | oder sche. Pisces . e, Uebe, Schleicher. Reptilia 5 Säugethiere Mammalia. 3 = 75 5 5 — | = — Stammes | Wirbel. |Schädelose mäuler (iel Gemen Fische. \ AAmphı Stamm See; | Oro: |, 4, side intunge Ke, Schnabel-| Beutel: |Placentat- des Wirbelthier- | der | oder Fund Vögel. feilechsen\ eidechsen. krölert — | tiere. |Acrania.) (yelostoma] Sei, nellen, Tiles, \Dipmeusta| dia %%% d ̃ ̃ ² ⁵ | no ne | ANES.| iere | Miere \ Chiere — } | sauria |saurıa) Hu, \sauria| lila donta.\sauria | lonıa Nanotrema: Narsupialia | Flacentali Im | ] Pr ) ? T a 1 Pan Pliocen-Zeit „ 0 0 Nieren Zelt | S I 0 VAREL 770 0 Eocen-Zeit \ 1 > AN N N 1 5 Anteocen-Zeit| | I \ | ) (enolith. oder Tertiner-Zeit Kreide- Periode. Antecreta-Zeit | Jura- Periode. — + | | | | J Zeitalter Anfejura-Zeit]| Trias- Periode. Mesolithisches oder Seeundueres ‚Antetrias-Zeit | Perm- ‚Periode Antepern-Zait 10— Stein kohlen Periode. ntecarbon.Zeit Vögel \/ VSaigetiere\ e, \Mammalia) Einheitlicher oder monophyletischer Amnionthiere Imnrota Stummhaum Fische I des Wirbelthierstammes |) Devon- _ Periode Falaeolithisches oder Primaeres Zeitalter . Rohrherzen) 4 Zeutocarduu AntedevonZeit 1. \ AUS a z Aumäder 10 \ = \ Ale ien Air — Tnrchfische C/ feu, | Gdlostona ST Ster Perg. |! palaeontologisch begründet. ER 1 5 ES |Antesilur-Zeit |) 0 ů⁰9 > = < |CambrischePeriode, rss =y IS AntecambrZeit 8 UBS Laurent Periode, 4 8 1 33 | SS ‚Antelaurent-Zeit / , Taf WM. Nagethiere Rodentia le, Pr Chelophora Flederthiere Chiroptera Inſectenfreſſer Inseetivora NR U > N Landraubthiere Hufthiere Carnivora Ungulata Halbaffen I Seeraubthiere N — Zahrarme RU \ ) N . \ N N N , N Disco-\ placen- Zonoplacentalia talia Sparsiplacentalia Deciduata | Indecidua m nn en zn nv —— zum |. mm mu mm m m Placentalia. Säugethiere mit Placenta, mit Milchzitzen, ohne Kloake. zz — — — m — un —N M- — mm — —UHʒ . mm — — — Marsupialia. Säugethiere ohne Placenta, mit Milchzitzen, ohne Kloake. mm mm ME ME MN «EEE Cm mm HM ME mE MN Me ME Gem „GE Fleiſchfreſſende Beutelthierre | Pflanzenfreſſende Beutelthiere Zoophaga (Sarcophaga) Botanophaga (Poephaga) Raubbeutler Springbeutler Creophaga Macropoda Handbeutler| | Kletterbeutler N \ . Pedimana || Carpophaga 0 aalen 0 , Nagebeutler Edentula N ? Hr een \ \ Urbeutler N „7 Hufbeutler \\\ N 9 \ ( NN | Boy 3 7 NN U G Schnabelthiere 5 , G Monotrema W N Stammbaum d Stammſäugethiere Promammalia Sed Amasta oder Ornithodelphia. mit Inbegriff des Säugethiere ohne Placenta, ohne Milchzitzen, mit Kloake. Menſchen. Berber Romanen Germanen \ 0 I van Tataren \ RN N \ \ \ N ein f Tunguſen ———ů— Grönländer Eskimos Patagonier fi Süldamerikaner Mexikaner Nordamerikaner Amerikaner oder oder Rothhäute N N N N Senegambier Sudanen g Beſchuanen Polyneſier oder Malayen 5 Madagaſſen Weſtpolyneſier Mittelafrikaner ö Malakkaner Oſtpolyneſier oder fe Sundaneſier Neuſeeländer INN N „ Duaiquass U | DB Q Zul 8 Polyneſier N oder 17 N ) 3 N Hottentotten Alfuru⸗ Schmier⸗ \) olynefier Se 5 % = Reuholländer Papuas oder Alfurus oder „Negritos N | N y> WER > \ x \ ,. ,. Urmenſch oder Affenmenfch, A B Stammbaum der Menſchen⸗Arten oder -Rafjen. entftanden aus Menſchenaffen. „„