Naturwissenschaftliche Wochenschrift BEGRÜNDET VON H. POTONIß HERAUSGEGEBEN VON Prof. Dr H. MIEHE IN BERLIN NEUE FOLGE. 18. BAND (DER GANZEN REIHE 34. BAND) JANUAR — DEZEMBER 1919 mit 151 ABBILDUNGEN IM TEXT JENA VERLAG VON GUSTAV FISCHER 1919 Alle Rechte vorbehalten. Register. I. Größere Originalartikel und Sammelreferate. Abel, O., Die Rekonstruktion von Masto- doQ angustidens Cuv. 217. Baschin, O. , Die scheinbare Gestalt des Himmelskörpers. 408. Bilguer, v., Ein deutscher Erfinder vor zweieinhalb Jahrhunderten. 575. Boecker, E., Die Chemotherapie der Malaria. 353. Bohne, B. \V., Die Chemie der Zellulose ujid ihre te.\tilwirtschaftliche Bedeutung. 33- Boerma, E., Die philosophischen Rich- tungen in ihrem Verhältnis zur Natur- wissenschaft und ihre Synthese in der , Philosophie des Als-ob". 55. Brehni, V., Die Tiefenfauna unserer Alpenseen. 289. — , Über geschlechtsbegrenzte Spezies- merkmale bei Süßwasserorganismen und deren eventuelle experimentelle Auf- klärung durch das Mendel'sche Spal- tungsgcsetz. 4, Brick, C, Die Widerstandsfähigkeit ge- wisser Sorten unserer Kulturpflanzen gegen Parasiten. 391. Dahms, P., Der Pfeffermilchling Lacta- rius piperatits Scop. und seine Verwen- dung in Westpreußen. 505. Duncker, H. , Die Krise der heutigen Naturwissenschaft. 761. Eckard t, Wilh. R., Über die Beziehun- gen zwischen dem Vogelzug und den Erscheinungen im Luftmeere. 240. Eichwald, E. , Die Verwendung von Modellen in der Biologie. 561. Engel hardi, V., Schopenhauer's Stel- lung zur e.\akten Naturwissenschaft. 134. — , Meteorologische Mythen als Uranfänge der Naturbetrachtung. 489. Esmarch, E,, Die wichtigsten Kartoffel- krankheiten. S9. Fischer, K., Niederschlag, Abfluß und Versickerung in ihrem Verhalten von Jahr zu Jahr. 688. Franz, V., Die Augendrüsen der Wirbel- tiere. 649. Freund, L. , Die Eier der Läuse. 668. Freyberg, B. v., Die Genese des Wellen- kalks. 276. Grober, Das Tierleben des Belad el Djerid (Südtunesien). 433. Haber landt, G., Grabrede auf Simon Schwendener. 417. Häberlc, D., Die Zerstörung der Steil- wände im Buntsandsteingebiet des Pfälzerwaldes. 321, 337. HalbfaU, W., Niederschlajj, Abfluß, Ver- dunstung und Versickerung im Land- klima Mitteleuropas. 513. — , Die Verteilung der Niederschläge auf Abfluß, Verdunstung und Versickerung im Freistaat Sachsen-Weimar. 697. Hansen, A., Die Lebenskraft oder der Rhodischc Genius. 526. — , Die ,, Lebenswege" H. Sl. Chamberlains und die Naturwissenschaft. 6S1. Hartleb, ü. , Zur Vorbildung auf das naturwissenschaftliche und medizinische Studium. 442. Iläußler, E. P., Ein Beilrag zur Ge- schichte der Mammutfunde. 370. Heller, H., Über die Farbstoffe unserer Blüten und Früchte. 238. — , Die cliemischc Valenz in heuliger Auf- fassung. 273. Hennig, Kdw , Die Entstehung des Säugerzahns und die Paläontologie. 745. Hennig, R. , Zwangshandlungen und Zwangsvorstellungen. 549. Ho ff meist er, G. , Über die physikali- schen Vorgänge beim Auftreten der Meteore. 185. Hundt, R., Beiträge zur Glazialgeologie Litauens und Südkurlands zwischen llluxt, Dünaburgund Dryswjaty-See. 545. Kathariner, L., Humanistische Vorbil- dung und realistisches Studium. 295. Killermann, S. , Die Herkunft und Einführung unserer Gartenbohne (Pha- seolus vulgaris L.), 305. — , Zur Geschichte der Johannis- und Stachelbeere. 344. — , Zur Kenntnis der Walfische in früherer Zeit. 35b. — , Die Herkunft des Kalmus. 633. — , Zur Geschichte der Kakteen. 665. Kodweiß, W., Die Erweiterung unserer Sinne durch die Physik. 713, 729. Kranich feld, H., Die breitere gemein- same Basis. 366. K r a n z , W., Zur Sozialisierung der Wasser- versorgung, des Grundwassers und der Quellen. 312. Krenkel, E., Bericht über eine geologi- sche Forschungsreise in Deutsch -Ost- afrika. 177. Krenkel, E. , Die Bodenschätze des tropischen Afrika. 569. Krieg, H., Vom Panjepferd. 233. Küster, E. , Einige alte Gallenbilder. 766. Lüer, IL, Bild- und Stoffkunst. 700. M a r i] u a r t , F. , Über den Farbensinn des Kindes. 617. Mar Zell, H., Zur Kulturgeschichte des Schellkrautes. 601. Matouschek, F., Das Aüroplankton. 655- Menz, Der Glanz vom psychologischen Standpunkte aus betrachtet. 12I. Metze, E.| Alexander von Humboldts ,, Kosmos". 538. Metzner, P. , Über das Sehen und Er- kennen bei Nacht. I. Miehe, H. , Über Selbslerhitzung und thermophile Mikroorganismen. 73. Möbius, M., Die Begründung der Pflan- zengeographie durch Alexander von Humboldt. 521. Mötefindt, H. , Zur Entstehung der Kulturgüter und Sitten der Menschheit. 418. — , Vorgeschichtliche Bergwerke in den Salzburger Alpen. 62 1. Nachtsheim, H., Der Mechanismus der Vererbung. I05. Oehler, R., Potentielle Unsterblichkeit — experimentelle Lebensverlängerung. 361. — , Das Alles- oder Nichts-Gesetz und die Individualbiologie. 592. — , Ultraorganismen. 751. Pax, F., Die Stellung Schlesiens im mitteleuropäischen Faunengebiet. 168. Penck , W., Aufgaben der Geologie in der Türkei und ihre Förderung während des Krieges. 493. Pietsch, A., Das Vorkommen der deut- \ sehen Süßwasser-Kieselalgen. 385. JReisinger, L., Beitrag zur Physiologie des Kleinhirns der Teleostier. 145. Rippel, A., Die morphologische Gliede- rung des Wasserleitungssystems der höheren Pflanzen usw. 129. Robien, P., Vom Seeadler. 149. Scheiber, J., Harze und Harzersatz. 48 1 . Schips, M. , Lionardo da Vinci als Naturforscher. 256. — , Die Idee vom Typus und ihre Be- deutung für Morphologie und Syste- matik. 401. 3 884 4 IV Register. Schips, M., Über zwei tnecbaniscb be- dingte Gesetzmäßigkeiten im Bau der Blutgefäße. 605. Schloß, B., Der Lichtsinn der Pflanzen. 265. Scholich, K., Die Kristallisation von binären Salzgemischen. 249. Schüepp, O. , Die Formen des Laub- blattes, ihre Entstehung und Umbildung. 585. Schutt, K., Das Bohr'sche Atommodell. 49. — , Neonlampen. 364. Snell, K., Die Vermehrung der Kar- toffel. 407. Stark, F., Das Resultantengesetz in der Pflanzenphysiologie. 201. Stomps, Th. J. , Neue Beiträge zur Mutationsfrage. 471. Struck, B., Anthropologie und Völker- kunde. 377. T h e e 1 , J., Über die Symmetrie der Orga- nismen. 17. Weber, F., Der natürliche Tod der Pflanzen. S. 449, 465. Zache, E. , Die diluviale Eisdecke und die letzte Krustenbewegung in Nord- deutschland. 161. Zillig, H., Arbeitsgemeinschaft der naturwissenschaftlichen Körperschaften Deutschlands. 637. II. Kleinere Mitteilungen. Arndt, W., Notiz über Massenauftreten, von Marienkäfern im Ussurigebiet Ende September 1916. 754. Heller, H,, Über das Metallspritzverfah- ren von Schoop. 67. Krebs, W., Der Präsidentensturm in der dritten Dezemberwoche 1918 über 1 Europa. 114. Nachtsheim, Massenversammlungen und Massenwanderungen von Marienkäfer- chen. 21, 753. R eis in g er, L., Zum Kleinhirn der Tele- ostier. 79. j W i g a n d , A., Zur Frage des Zusammen- hangs zwischen Mumifikation und Radio- | aktivität. 78. J Zaunick, R., Zoologiehistorische Kritik des Buches von G. Stehli über Jan Swammerdam's ,,Bybel der natuure". 65. III. Einzelberichte. A. Astronomie. Brester, Eine neue Sonnentheorie. 519. Filehne, W., Die scheinbare Vergröße- rung der Gestirne am Horizont. 152. — , Zodiakallicht. 583. — , Absoluter Größeneindruck beim Sehen irdischer Gegenstände und der Gestirne. 709. Meyer, H., Anblick des Nachthimmels 396. Wegener, A., und Richarz, W., Me- leoritenfall in Treysa. 23. B. Physik, Meteorologie, Geophysik. Barschall, H., Entstehung der Gebirgs- winde. 615. Bjerknes, Konvergenzlinien in der Nähe eines Tiefdruckzentrums. 398. Bodmann, G., Die Winterstrenge als klimatischer Faktor. 25. Bourgeois, Bestimmung des Windes in den höheren Luftschichten. 226. Brauer, E., s. Seeliger, R. Collignon, M. M. , Große Hörweite des Geschützfeuers. 9. Debye, F., Atomanordnung des Wolf- ram. 414. Defant, A. , Nächtliche Abkühlung der unteren Luftschichten. 503. Dember, H. und Uibe, M., Polari- sation des diffusen Sonnenlichtes. 380. — , Scheinbare Gestalt des Himmels- gewölbes. 380. — , Größenänderung von Sonne und Mond usw. 426. Dieckmann, Orientierung von Luft- schiffen und Flugzeugen. 9. Frey, F., Luftwogen. 226. Gallenkamp, W. , Messungen der photochemischen Intensität des Himmels. S3- Guilbert, G., Verhalten des Windes von Skudesnes. 520. Hell mann, G., Nächtliche Abkühlung der bodennahen Luftschichten. 83. Heß, V. S., und S c h m i d t , W., Elektri- sierung der Atmosphäre. 380. Koppen, W., Angenehme Temperaturen, 24- La Rosa, M., Verflüssigung des Kohlen- stoffs. 82. Meissner, O., Wärmedämmerung. 383. Meyer, H., und Moser, F., Alpine Dämmerungserscheinungen. 300. Moser, F., s. Meyer, H. Quäck, E., GroSstation Nauen. 143. Richarz, s. Wegener. Schmauß, A., Schallausbreitung. 10. Sc h m i d t , W., Arbeitsleistung und Arbeits- verbrauch in der Atmosphäre. 171. Seeliger, R., und Bräuer, E. , Über die Methoden zur Untersuchung der Struktur des Windes. 60. Süring, R., Neigung der Wolken. 119. Uibe, M., s. Dember, H. Wiese, B., Verlauf der Witterung auf der Balkanhalbinsel. 25. Wegener, A. , Einige Hauptzüge aus der Natur der Tromben. 84. C. Physiologie, Medizin, Psychologie. Abderhalden, Ausschließliche Ernäh- rung mit einem bestimmten Nahrungs- mittel und der Einfluß dieser auf das Individuum und seine Nachkommen- schaft. 770. Basler, A., Blulbewegung in Haargefäßen. I43- Brunn, W.V., Rotz beim Menschen. 755. Bürgi, E., Chlorophyll in der Therapie. 375- Doflein, F., Die Sanierung der Balkan- länder durch Ausrottung der Überträger des Wechselfiebers. 64. Cur seh mann. F., und Koelsch, Ge- sundheitsgefährliche Stoffe. 41. Fischer, A. W., Weshalb sterben an der Grippe gerade die kräftigsten Personen? 142. 1 F 1 e i s c h , A. , Experimentelle Unter- suchungen über die Kohlensäurewirkung auf die Blutgefäße. 44. IGauducheau, Blut und Eingeweide ' der Schlachttiere zu Nährzwecken. 62. Hofmann, F. B., Physiologie des Ge- ruchsinnes. 119. Hörhammer, Spulwürmer im Gallen- gang. 374. Kaupe, Gelbfärbung der Gesichtsbaut, 333- Klose, Gelbliche Verfärbung der Ge- sichtshaut. 411. Kopsch, Entstehung des Karzinoms. 498. Kühn, s. Uhlenhuth. Löhlein, Gelbfärbung des Fettgewebes bei Negern. 333. Moro, E., Bewegungsreflex beim Säug- ling- 375- Nagel, W., s. Teichmann, E. Nitzescu, J. J., Nährwert des Maises. 394- Nöller, Räude. 21 1. Paulsen, J. , Vererbung von Thorax- anomalien und Neigung zur Tuberku- lose. 410. Pintner, Links gehen. 226. Ploetz, A., Die Bedeutung der Frühehe für die Volksvermehrung nach dem Kriege. 80. Schanz, F., Die photocheraische Wir- kung des Lichts auf den Organismus. 42. Schlesinger, Folgen der Unterernäh- rung der heranwachsenden Jugend. 554. Szalay-Ujfaluny, L. v., Blilzwirkun- gen auf den menschlichen Körper. 45. Teichmann, E., und Nagel, W., Ent- giftung eingeatmeter Blausäure. 626. Thomsen, E. , Purkinje's entoptische Phänomene. 182. Tirala, L., Der Aktionsstrom der Netz- haut. 297. Uhlenhuth und Kühn, Der Erreger der Weil'schen Krankheit (Spirochaeta icterogenes). loi. Vischer, A. L., Die Stacheldrahtkrank- heit. 40. V ö 1 tz , Verwertbarkeit von Hefezellen im tierischen Organismus. 227. Wacker, Totenstarre. 332. Wintrebert, M. P. , Autonomie der Muskelkontraktion. 376. Zuntz, N., Hebung des Wollertrages der Schafe. 395. D. Geologie, Hydrographie, Paläontologie. Arldt, Th,, Ursachen der Klimaschwan- kungen der Vorzeit. 613. Bächler, E. , Neue paläontologische Fundstelle. 347. Bayer, O., s. Häberle, D. Behrend, F. , Zinnerzvorkommen des Kongostaates. 372. Beut eil, A., Wachstumserscheinungen des Kupfers, Silbers und Goldes. 302. Beyschlag, F., Veränderlichkeit der Form der Erzlagerstätten. 645. B u b n o f f , S. V., Unterkarbon im Schwarz- wald und in den Vogesen. 599. Brauhäuser, M., Basalttuffmaar am Rauberbrunnen. 502. Buetz, G., Kohlenvorräte Japans. 302. — , Mineralvorkommen Britisch - Birmas. 359- Register. Buetz, G. , Kohle- und Erzvorkommen in Niederländisch-Indien. 756. Collet,Mellet, Ghezzi, Tieferlegung des Ritomsees in der Schweiz. 598. Er d mann, E., Koblenoxyd in den Ur- gasen der Kalisalzbergwerke. 646. Erdölgewinnung. 677. Franke, E., Mitteilungen über einige Erzlagerstätten in Kleinasien. 62. Franke, Neuerungen im Mansfeldschen Hüttenwesen. 659. Friedlaender, I., Der vulkanische Ausbruch des San Salvador. 371. Friedrich, P., Grundwasseruntersuchun- gen. 704. Geinitz, E., Endmoränen Deutschlands. 708. G e i p e 1 , Rücken im Mansfeldschen Re- vier. 659. Geyer, D., Verschollene Quartärmollus- ken. 554. Gropp, Gasvorkommen in Kalisalzberg- werken. 229. Häberle,D., Bayer, O., Gitter-, netz- und wabenförmige Verwitterung der Sandsteine. 259. — , Karrenähnliche Gebilde. Höhlen. Wachstum von Stalaktiten. 260. Hockelsberger, K., Deutsche Queck- silbervorkommen in der Rheinpfalz. 213. H engl ein, M. , Druckdestillation und Erdölwanderung. 757. , J aekel, O., Zur Geologie der Tektonik des Rügener Steilufers. 10. Jaggar, T. A., Temperaturgradient des Kilauea-Lavasees. 381. Jakob, J., Magmatische Mineralisatoren. 603. de Jongh, Eisenerze in Ost-Holland. 503- Kampfrath, Nacheiszeitlicher Einbruch des Elbtales zwischen Pirna und Meißen. 151. Keil hack, K., Nordgrenze des Löß in ihren Beziehungen zum nordischen Di- luvium. 228. Klautzsch, A., Tiefbohrung Schlagen- thin. 646. — I Entstehung der Frischen Nehrung. 704. Kohlschütte r,V,, Graphitischer Kohlen- stoff. 224. Korn, J., Dünenzüge im Torf des Netze- tales. 647. Koßmat, Fr., Geologischer Bau von Mittelmazedonien. 625. Krusch, P., Lebensdauer unserer Eisen- erzlagerstätten usw. 283. — , Verteilung des Metallgehaltes im Richelsdorfer Kupferschiefer. 659. Landgraeber, Oolithische Brauneisen- erzlagerstätten bei Volkmarsen. 756. Linstow, O. V. , Diluviale Depression im norddeutschen Tiefland. 227. Lotze, R. , Geologie des Aarmassivs. 567- Mestwerdt, A., Die Bäder Oeynhausen und Salzuflen. 676. Müller, J., Die diluviale Vergletsche- rung und Übertiefung im Lech- und liiergebiet. 706. Penck, A., Gipfelllur der .Alpen. 349. Penck, W., Tektonische Grundzüge West-Kleinasiens. 428. Richter, R. und E. , Die Lichadiden des Eitler Devons. 691. Salomon, W., Tote Landschaften und der Gang der Erdgeschichte. 213. Scheu, E., Entstehung der Trockentäler. 85. Schumacher, Bergbauliche Entwick- lung Mittelafrikas. 283. Schürmann, E., Cchemisch-geologische Tätigkeit des Neckars. 555. Simmersbach, B., Kohlenlager Spitz- bergens. 349. Sorg, Mittelschwedisches Molybdänerz- vorkommen. 412. Stahl, A., Die Gänge des Üstharzes. 196. Strigel, A., Prätriadische Einebnung im Schwarzwald. 582. Suess, F. E. , Drehende Wirkung von Erdbeben. 446. Vogt, J. H. L., Wie Outokumpu, Finn- lands neue Kupfererzlagerstätte, ent- deckt wurde. 348. Walt her, Joh., Salzlagerstätten und Braunkohlenbecken in ihren genetischen Lagerungsbeziehungen. 71. Wähner, F., Bau des mittelböhmischen Faltengebirges. 411. I Wegener, A., Entstehung der Kontinente und Ozeane. 5S0. 1 We igelt, J. , Gliederung und Faunen-' Verteilung im Unteren Culm des Ober- '' harzes. 212. Wunderlich, E. , Oberflächenentwick- lung des mitteleuropäischen Flach- landes. 282. Zoll er, A. , Goldführende Bäche des Hunsrücks. 359. E. Geographie. Hörn, A. v.. Die Sturmfluten längs der Nordsee- und Zuiderzceküste in Verbin- dung mit der .Abschließung der Zuider- zee. 171. Koch, J. P., Die Trift Nordgrönlands nach Westen. 395. Krebs, N., Gliederung der Balkanhalb- insel nach Siedlungsräumen. 674. Schott, G., Ozeanographie und Klima- tologie des Persischen Golfes von Oman. 171. F. Völkerkunde, Anthropologie. Ankermann, B., Seelenglaube bei den afrikanischen Völkern. 559. B a u d o u i n , M., Sexualdimorphismus der Wirbelsäule des Menschen. 144. F e h 1 i n g e r , Der gegenwärtige Stand der Akklimatisationsfrage. 69. Fischer, E., Anthropologie der iberi- schen Halbinsel. 3S2. Fritsch, G., Das stammesgeschichlliche Verhältnis der Anthropoiden. 183. Hahne, H., Geologische Lagerung der Moorleichen und Moorbrücken. 182. Montelius, O. , Vorfahren der Ger- manen. 692. Thorbecke, F., Anthropogeographie des Ost-Mbamlandes. 758. Werth, E., Problem des tertiären Men- schen. 557. Wilke, Die Zahl 13 im Glauben der Indogermanen. 675. G. Zoologie, Anatomie, Biologie, Vererbungslehre. Arens, Bastardierungsversuche bei Sal- moniden. 584. Arndt, W., Planaria alpina. 434. Bertrand, P. G., Neues Insektenver- tilgungsmittel. 425. Bois-Reymond, R. du, Verhalten von Fischen gegen Wasserschwingungen. 298. Bordage, Umwandlung der Kerne der quergestreiften Muskelfasern bei der Metamorphose der Insekten. 117. Bretscher, Abhängigkeit des Vogelzugs von der Witterung. 210. Brinkmann, M., Zunehmende nördliche Ausbreitung deutscher Vogelarten. 351. B u c h n e r , Akzessorische Kerne im Hyme- nopterenei. 181. Butt el -Reepen, H. v.. Seltsame Mit- bewohner der Bienenzellen. 100. Crinis, de, s. Kraus. DemoU, Forschungsinstitut für Pelztier- zucht. 566. Dewitz, Argynnis paphia var. 9 vale- sina. 702' — , s. Hesse, P. Dhere, Ch., und Veggezzi, G., Vor- kommen von Chlorophyll im Tierreich. 302. D ü r k e n , Wirkung farbigen Lichtes auf Puppen und Schmetterlinge. 99. Ehrenbaum, Herkunft der Herings- schwärme. 583. Erichsen, F., Neues Naturschutzgebiet. 211. Fejervary, A. M. v.. Rudimentäre Rip- pen der anuren Batrachier. 260. Franz, V., Neueres von der Morpho- logie der Pigmentzellen usw. 329. — , Einwirkung der Witterung auf das Vogelleben. 516. Frisch, K. v.. Sozialer Trieb bei einer solitären Bienenart. 553. Fritzsche, Osmotischer Druck bei Daphnia. 413. Gravier, M. Ch. J., Bau der Fußscheibe gewisser Aktinien. 208. Groeben, v. d., Wiedereinführung des Wisents in Deutschland. 100. Gut herz, S., Ursprung der tierischen Keimzellen. 514. Haenel, K., Maikäferplage und Vogel- schutz. 374. Hahn, R. H., Neues Geschlechtsmerkmal bei Fröschen. 425. Harms, W. , Augen grundbewohnender Knochenfische. 741. Hart mann. Theoretische Bedeutung und Terminologie der Vererbungs- erscheinungen bei haploiden Organis- men. 81. Hasebroek, K. , Der Melanismus von Cymatophora. 175. Heikertinger, F., Schutzmittel der Marienkäfer. 396. Heitz, Darmparasitenfauna des Lachses. 3S.V Hey der, R., Zunahme der Wachtel. 397. Hertwig, R., Das Verhalten der männ- lichen und weiblichen Erbsubstanz in den Geschlechtszellen bei Artbastardie- rung. 45. Heß, C. V., Bau und Funktion des Alci- opidenauges. 155. — , Farbensehen der Insekten. 319. Hesse, P., und D e w it z, J., Erblichkei' abnormer Windungsrichtung bei Schnek ken. 695. Jacobi, A., Anatomie des Elchgesichts Schädels. 660. VI Register. Kammerer, Fortpflanzung des Grotten- olms. 246. Kappers, A., Neurobiotaxis. 414. Klatt, Beeinflußbarkeit der Erbanlagen durch den Körper. 500. K olme r , W , Kristalloide in den Nerven- zellen der menschlichen Netzhaut. 193. Kraus, Saudek, Pregel, de Crinis, Serologische Vorherbestimmung des Ge- schlechts. 278. Kretzschmar, Ch., Nervensystem und jsphradiumartiges Sinnesorgan der Cy- clophoriden. ^Ö6. List, Teichplankton. 303. Lipschütz, Die Entwicklung eines penisartigen Organs beim maskulierten Weibchen. 45. Löhner, Warnreflex der Unken. 518. Marcus, Biologie des Aales. 661. Merkblatt zur Feststellung des Vorkom- mens der Fieberschnaken (Anopheles). 518. Meves, Plaslosomentheorie der Ver- erbung. 245. Nager, Versuche zur Wiedereinbürgerung des Steinbockes in den Schweizer Alpen. 769. Nuszbaum-Hilarowicz, J., Tiefsee- fische (Organe der inneren Sekretion). 661. Osterwald und Tänzer, Verbreitung von Anopheles in der Umgebung von Halle. U6. Pauly, M. , Frühjahrswanderung der Uferfauna. 225. Pause, J. , Larve von Chironomus gre- garius. 209. Peter, Der menschliche Wurmfortsatz. 142. Philippsen, Insektenwanderungen an der Nordsee. 702. Pregel, s. Kraus. Prell, H., Das Entstehen von Schnaken- plagen. 372. Kabl, C, Die Symmetrie des Wirbeltier- auges. 27. Koule, L. , Zahlenmäßiges Verhältnis beider Geschlechter zueinander und die Heranreifung der Keimdrüsen bei der Laichwanderung des Salms. 174. Sandek, s. Kraus. Schiemenz, F., Einfluß der Lebens- bedingungen auf die äußere Erscheinung unserer Süßwasserfische. 194. Schmidt, G., Lichtflucht der Clausilien. 641. Schmidt, W. J., Hautmuskel und Zell- sehnen beim Frosch. 300. Schreit niüller, W., Vorkommen der Sumpfschildkröte in Nordfrankreich. 500. Schuster, Wildeinbürgerung des Ailau- thusspinners. 117. Schwartz, M. , Nacktschneckenplage 1916 in Nordfrankreich. 703. Sikora, H., Eigenartiges Symbiose- verhältnis. 597. — , Seltene Hilfsaktionen bei der Eiablage. 641. Spemaun, H. , Neuere entwicklungs- geschichtliche Arbeiten. 444. Stellwaag, F., Blausäure im Kampf gegen den Traubenwickler. 501. Stieve, H. , Über den Einfluß der Ge- fangenschaft auf die Legetätigkeit und den Eierstock des Haushuhnes. 26. — , Veränderungen der männlichen Keim- drüsen saisondimorpher Tiere. 627. Strandberg, Chievitzsches Organ. 193. Ssy m anski, S., Beeinflussung der Tätig- keit der Tiere durch das Licht. 154. Tänzer, s. Osterwald. Thoman, H., Wanderzug des Uistel- falters (Vanessa cardui L.) 565. Vegezzi, G., s. Dhere, Ch. Veit, Kopfproblem. 642. Vogt, A., Vererbung in der Augenheil- kunde. 172. Wiederentdeckung der Wandertaube. 770. Yung, E., Concilium bibliographicum. 334- H. Botanik, Bakteriologie, Landwirtschaft, Pflanzenkrankheiten. ' Buder, J., Biologie der Purpurbakterien. 742. Di eis, L., Rhythmik und Verbreitung von Perennen. gS. Dittrich, G., Kolkwitz, R., Pilzver- giftungen. 157. Esmarch, s. Neger. G a ß n e r , G., Vom Entwicklungsrhythmus des Wintergetreides. 28. Göbel, Zur Organographie der Chara- ceen. 174. Götze, H., Hemmung und Richtungs- änderung begonnener Differenzierungs- prozesse bei Phycomyceten. 317. Haberlandt, G., Inwieweit unterliegen die Zellmembranen der Verdauung im tierischen Darm? 134. — , Physiologie der Zellteilung. 397, 755. Heinricher, Wirkungen des Mistel- schleims auf Pflanzengewebe. 173. Hiltner, s. Neger. K n i e p , H. , Geschlechtsdifferenzierung bei Sporidien der Brandpilze. 595. Kolkwitz, R., s. Dittrich, G. Lamprecht, W., Physiologie der Zell- teilung. 214. Lippmann, C. v., Vanillin in der Kar- toffel. 381. Löffler, B., Kontaktempfindlichkeit der Windepflanzen. 596. Meves, Fr., Spermien von Fucus und Chara. 28]. Neger, Esmarch, Hiltner, Blatt- rollkrankheit der Kartoffel. 594. Nienburg, W., Nitrophile Flechten. 333. Patschovsky, N., Oxalatlösungen in Pflanzenzellen. 426. Piedallu, A.. Ausweifen von Pflanz- löchern usw. 20S. Plaut, M., Periodische Erscheinungen an Wurzeln. 141. Renner, O., Erblichkeitsverhältnisse bei Oenotheren. 158. Stark, P. , Gültigkeit des Weberschen Gesetzes bei den haptotropischen Re- aktionen von Koleoptilen und Keim- stengeln. 192. Stellwaag, F., Kräuselkrankheit der Reben. 644. Weber, F., Das Frühtreiben der Pflanzen und die Winterruhe der Holzgewächse. 141. W e h m e r , Leuchtgasbeschädigungen 280. Zacher, Fr., Weißährigkeit der Wiesen- gräser. 644. I. Chemie, Mineralogie. Armstrong, E. F. , Einige technische Anwendungen der Katalyse. 118. Connstein, W., und Lüdecke, K., Glyzeringewinnung aus Zucker. 443. Czakö, E., Chinesische Urform des Bun- senbrenners. 350. Dobbie, J. J., und Fox, J. J. , Kon- stitution des Schwefeldampfes. 693. Duisberg, Fortschritte in der Dar- stellung künstlichen Kautschuks. S. Fox, J. J., s. Dobbie, J. J. Gas als Kampfmittel. 579. Grotrian, O. , Künstliche Patina. 739. Hackel, O., Vorrichtung zum Sammeln von Quellgasen. 741. Heller, H., Synthetischer Ammoniak in der chemischen Industrie. 694. Kasperovicz, W. , Metallschmelzen mittels Heißluft. 350. Leitmeier, H., .'\lkalialuminiumsilikate bei hoher Temperatur. 579. Mecklenburg, W., Explosivstoffe. 609. N e r n s t , W., und P u s c h , L., Chlorknall- gasreaktion. 74°. Paneth, F., Zur Frage des Wismut- wasserstoffes. 40. Pictet und Sarasin, Neuer Bestandteil der Zellulose. 738. Pusch, L., s. N ernst, M. Reboul, M. G , Lumineszenzerscheinun- gen bei der Oxydation von Kalium und Natrium. 628. Ruff, O., Carbide. 739. Salomon, H. , Chemische Natur des Xanthosefarbstoffes. 773. Sarasin, s. Pictet. Scherrer, P. , Bestimmung von Größe und innerer Struktur von Kolloidteil- chen mittels Röntgenstrahlen. u8. Schmidt, E. , Winkel der kristallogra- phischen Achsen der Plagioklase. 771. Schramm, H. W., Gasentwicklung bei Auflösung geschmolzenem Ätznatrons in Wasser. 351. Svedberg, The, Elektrothermische Kolloidsynthese. 427. Tarn mann, G., .Änderungen im chemi- schen Verhalten von Metallen durch mechanische Bearbeitung. 673. Venator, O., Gesättigte Dämpfe. 740. Zsigmondy, Membranfilter. 577. IV. Bücherbesprechungen. Abderhalden, E. , Die Grundlagen unserer Ernährung. 3. Aufl. 759- Abraham, M., Theorie der Elektrizität. 760. Alt, Wettervorhersage. 475. Adler, Ernst Mach. 709. Auerbach, F., Das Wesen der Materie, 759- Aus großen Meistern der Naturwissen- schaften. 504. Bardeleben, K. v., Die Anatomie des Menschen. 263. Becher, E., Naturphilosophie. 457. — , Weltgebäude, Weltgesetze, Welt- entwicklung. 459. Bloch , W., Einführung in die Relativitäts- theorie. 759. Bois-Reymond, Emil Du, Jugend- briefe an Eduard Hallmann. 476. Börnstein, R. , Die Lehre von der Wärme. 759. Boruttau, H. , Fortpflanzung und Ge- schlechtsunterschiedc des Menschen. 263. Register. Vli H randh o ff , A., Etwas aus Unendlichem. 44S. Brandstetter, K., Die Hirse im Kanton Luzern. 72- Brauns, R., Mineralogie. 376. Braunshausen, N., Einführung in die experimentelle Psychologie. 775. Brehms Tierleben. 215. Brill, A., Das Relativitätsprinzip. 415. Brunswig, H., Die Explosivstoffe. 335. Cohen-Kysper, A., Rückläufige Diffe- renzierung und Entwicklung. 47. Cohn, E. , Physikalisches über Raum und Zeit. 415. Deecke, W. , Morphologie von Baden auf geologischer Grundlage. 304. Deegener, Die Formen der Vergesell- schaftung im Tierreiche. 102. Demoll, Flug der Insekten und Vögel. 215. Dessoir, M. , Vom Jenseits der Seele. 632. Devrient, E., Farailienforschung. 744. Di eis, L., Ersatzstoffe aus dem Pflanzen- reich. 383. Dost-Hilgermann, Grundlinien für die chemische Untersuchung von Wasser und Abwasser. 384. Dürken, B., Einführung in die Experi- mentalzoologie. 725. Eichwald, E., und Fodor, A., Die physikalisch - chemischen Grundlagen der Biologie. 632. Eilermann, W. , Die übertragbare Hühnerleukose. 271. Erinnerungen an Theodor Boveri. 159. Ernst, A., Bastardierung als Ursache der Apogamie im Pflanzenreich. 773. Festschrift Eduard Hahn. 629. Floericke, K,, Spinnen und Spinnen- leben. 744. Föppl, A., Vorlesungen über technische Mechanik. 3S4. Freundlich, E. , Die Grundlagen der Einstein'schen Gravitationstheorie. 30. Frisch, K. v., Bakteriologie für Kran- kenschwestern, loi. Genetica. 429. Gerber, P. H., Die menschliche Stimme und ihre Hygiene. 272. Graetz, L. , Die Atomlehre in ihrer neuesten Entwicklung. 120. G r u b i c , D., Universal-Kausalprozel3. 462. Grünbaum, F., Elektromechanik und Elektrotechnik. 30. Haecker, V., Entwicklungsgeschicht- liche Eigenschaftsanalyse. II. Handlexikon der Naturwissenschaften und Medizin. 260. Hansen, A., Goethes Morphologie. 648. Heilborn, A., Der Mensch der Urzeit. 216. Henrich, F., Chemie und chemische Technologie radioaktiver Stoffe. 416. Hentges, E., Die Kröte. 680. Hertwig, O., Zur Abwehr des ethischen, des sozialen, des politischen Darwinis- mus. 13. — , Dokumente zur Geschichte der Zeugungslehre. 197. Hirschfeld, M. , Sexuelle Zwischen- stufen. 197. Hoche, A., Vom Sterben. 415. Hoff mann, B. , Führer durch unsere Vogelwelt. 725. Hoffmann, Ph., Anbau von Rauchtabak in Deutschland. 261. 103. und Ge- Hueppe, F., Unser tägliches Brot in Krieg und Frieden. 176. Jensen, P., Physiologische Anleitung zu einer zweckmäßigen Ernährung. 262. K a i s e r I i n g , C, Die mikrophotographi- schen Apparate usw. 384. Kammerer, P. , Einzeltod, Völkertod, Biologische Unsterblichkeit. — , Geschlechtsbestimmung schlechtsverwandlung. 160. Kassner, E., Das Wetter. 102. Kayser, E., Lehrbuch der Allgemeinen Geologie. 303. Klinkowstioem, C. v., Neues von der Wünschelrute. 560. Kümmel, G., Photochemie. 352. Kühn, A. , Orientierung der Tiere im Raum. 663. Kuhnert, W. , Im Lande meiner Mo- delle. 286. Lampa, A. , Das naturwissenschaftliche Märchen. 616. — , Ernst Mach. 709. Laue,M. V., Die Relativitätstheorie. 727. Lebedinski, N. G. , Darwin's ge- schlechtliche Zuchtwahl und ihre art- erhaltende Bedeutung. loi. Link, G. , Tabellen zur Gesteinskunde. 261. Loesener, Th. , Prodromus B'lorae Tsingtauensis. 416. (Lorenz, R. , Chemische Industrie im Kriege. 335. Ludowici, A. , Spiel und Widerspiel. '. 43°- IMach, Die Analyse der Empfindungen. 47- Marx, E., Handbuch der Radiologie. 460. Maurizio, A. , Nahrungsmittel aus Ge- I treide. 176. j Me ckl e nburg, W. , Kurzes Lehrbuch der Chemie. 615. Meisenheimer, J. , Entwicklungsge- schichte der Tiere. 72. Mi ehe, H., Die Bakterien und ihre Be- deutung im praktischen Leben. 270. — , Allgemeine Biologie. 352. Mises, R. V., Fluglehre. 399. Moewes, F., Die Mistel. 632. Molisch, H., Pflanzenphysiologie. 431. — , Pflanzenphysiologie als Theorie der Gärtnerei. 478. Müller - Freienfels, Persönlichkeit und Weltanschauung. 743. Naef, A., Idealistische Morphologie. 726. Neeff, F., Kausalität und Originalität. 271. Obermiller, Kreislauf der Energien. 744- |Pax, F., Pflanzengeographie von Polen (Kongreß-Polen). 399. Pflanzenreich. 663. Philippson, Ch., Kleinasien. 288. Pirquet, C. v., System der Ernährung. 759- Pöschl, V., Grundzüge der wissen- schaftlichen Drogenkunde. 477. — , Einführung in die Kolloidchemie. 599. Repetitorium und Praktikum der quanti- tativen Analyse. 600. Rohr, M. V., Die optischen Instrumente. 30. — , Das Auge und die Brille. 264. Sachs, A. , Die Grundlinien der Mine- ralogie usw. 360. Schallmayer, W., Vererbung und Aus- lese. 723. Schmidt, B., Die Naturwissenschaften in Erziehung und Unterricht. 479. Schmidt, 11., Geschichte der Entwick- lungslehre. 29. Schmidt, Joh., Der Zeugungswert des Individuums beurteilt nach dem Ver- fahren kreuzweiser Paarung. 662. Schumburg, Die Geschlechtskrank- heiten, ihr Wesen, ihre Verbreitung usw. 263. Schwalm, J. H. , Mit Rucksack und Hammer durch Kellerwald und Knüll. 760. Sie Verl, O., Wetterkunde. 488. Silberer, H., Der Traum. 726. S o e rg e 1 , W., Lösse, Eiszeiten und Paläo- lithische Kulturen. 477. Spranger, Ed., Kultur und Erziehung. 760. Steche, O., Grundriß der Zoologie. 430. Stich, C, Bakteriologie und Sterilisation im Apothekenbetriebe. 159. Stoller, J., Geologischer Führer durch die Lüneburger Heide. 215. Strakosch - Grassmann, Ernteaus- sichten von 1919 — 1923. 744. Trier, G., Vorlesungen über die natür- lichen Grundlagen des Antialkoholis- mus. 261. Vater, R., Praktische Thermodynamik. 726. — , Die neueren Wärmekraftmaschinen. 727. Verworn, M., Kausale und konditionale Weltanschauung. 710. Wagner, G., Geologische Heimatkunde von Württembergisch-Franken. 696. Walther, J., Geologie der Heimat. 303. Weber, L., Einführung in die Wetter- kunde. 102. Weihe, C, Aus eigner Kraft. 272. Welten, H., Pflanzenkrankheiten. 680. W enger, R. , Die Vorherbestimmung des Wetters. 102. Weyl, H., Raum, Zeit, Materie. 415. Wiegner, G., Boden und Bodenbildung. 335- Wien, W., Vorträge über die neuere Entwicklung der Physik. 448. Wiener, O., Physik und Kulturentwick- lung. 120. Wiesen t, J., Die Fortschritte der draht- losen Telegraphie usw. 399. Wilhelmi, J. , Die hygienische Bedeu- tung der angewandten Entomologie. 198. — , Die angewandte Zoologie usw. 287. Wirtz, C, Tafeln und Formeln aus Astronomie und Geodäsie. 600. Wlassak, Ernst Mach. 709. Wolf, J. , Der Tabak, Anbau, Handel und Verarbeitung. 198. W u n d t , M., Griechische Weltanschauung. 503- Zander, R., Vom Nervensystem usw. 271. Zimmermann, Leo, Saladini de As- culo compendium aromatariorum. 600. Zittel, V., Grundzüge der Paläontologie. 429. Zschokke, D. , Der Flug der Tiere. 261. Zsigmondy, R., Kolloidchemie. 475. VIII Regislct. V. Anregungen und Antworten, Berichtigungen usw. Ambra, Geschichtliclie Notiz. 480, 776. Anfrage. 431. Anpassungsvermögen , Nichlausnutzung. 264. Atmungswärme bei Koniferennadeln. 336. Aufruf. 77^- Aufruf zur Mitarbeit an einer Wirbeltier- fauna von Hessen. 184. Berichtigung. 4S0, 680. Biologische Anstalt auf Helgoland. 479. Blausäure zur Bekämpfung von Ungeziefer. 88, 230. Blockade und Wetterdienst. 230. Blutbewegung im Rückengefäß der In- sekten. 231. Camera obscura, Erfindung der. 728. Chamisso und die Grippe. 128. Coccinelliden. 776. Diplokpis. a,yi. Druckfehlerberichtigung. 128, 184 664. Entgegnung. 200. Farbensehen der Insekten. 568. Galläpfel. 231. Gesang der Vögel während der Schlacht. 664. Geschlechtsbegrenzte Speziesmerkmale. 144. Giftwirkungen bei „eßbaren Pilzen". 712. Gips im Brot. 232. Glühwürmchen in kalter Jahreszeit. 264. Humanistische Vorbildung. 431, 560, 712. Kalkgeschiebe. 479. Lausfliegen. 560, Lichtschimmer beim Zerreißen von Zeitungs- papier. 480. Lionardo da Vinci als Physiker. 728. Marienkäfer, Massenwanderung. 199, 216. Microgaster, sticht er die Raupen oder die Eier an? 231. Mutationsfrage. 712. Rösselsprung. 462. Schlupfwespen. 432. Störche, Familienleben. 232. Tannenhäher in Hessen. 775. Temperaturstrahler, spektrale Zusammen- setzung. 232. Tiere ohne Nahrung, Lebensdauer. 432. Tierpsychologie, zusammenfassende Dar- stellungen. 87. J. G. Vogt f. 712. Wintcrgetreide , Entwicklungsrhythmus. 232. Wühlmäuse. 560. Zikaden, Gesang. 48. VI. Verzeichnis der Abbildungen. Alciopidenauge, Sagittalschnitt. 156. Ameise, Rückengefäß. 231. As bei Labina. 54S. Asar zwischen Plinka und Buwidischki. 248, , , 547 Asar-Landschaft am Kleinen Skirna-See. 548. Augenbecher vom Kaninchen, Äquatorial- schnitt. 27. — vom Torpedoembryo. 28. Belad el Djerid , Landschafts- und Vege- tationsbilder. 434 — 439. Blattgrundformen. 590. Blockpackung bei Burni am Dryswjaty- See. 549. Bunsenbrenner, chinesische Urform. 350. Cymatophora or F. und ihre Aberratio al- bigensis. 175. Drosophila, Mutationen. 106. — , Vererbungsschemata. 108, lio, iil, 112, 113. Elchkopf. 660. Elefant, indischer. 220. Flechten auf Rieselstraßen an Baum- stämmen. 334. Frische Nehrung, Karte. 705. Gallen von Diplolepis. 231. Gallenbilder, alte. 767, 768. Goethes Zeichnung: Höhen der alten und neuen Welt. 523. Johannisbeere , Abbildung im ,, Nieder- ländischen Gebetbuch". 347. Kakteendorn im Domschatz zu Regens- burg. 665. Kalmus, Bild von Dioscorides. 634. Kartoffelkrankheiten. 90, 91, 93, 9?, 9(1, 97- Laubblattentwicklung. 586, 587. Läuseeier. 670. Lepadogaster, Augen. 742. Lichas armatus. 692. Mastodonrekonstruktion. 231. Meerschweinchen, Geschlechtsgegend nor- maler, maskulierter und kastrierter Weibchen. 46. Mineralquellen des westfälisch-lippischen Berglandes, Karte. 676. Neonlampe, Modell. 365. Panjepferde. 234, 235, 236. Phaseolus vulgaris, Abbildung aus dem Codex Dioscorides. 307. — , Abbildung aus Fuchs' Kreutterbucb. 309- Pigmentzellen von Gobius minulus. 327. Pottwal, Abbildung von Saenredam. 358. Przewalski-Pferd. 235. Stachelbeere, Abbildung im Breviarium Grimani. 347. Teleostier, Kleinhirn. 146. — , geöffnete Schädelhöhle. 147. — , Anatomie. 79. Unke, Warnreflex. 518. Vanadis formosa, Auge. 151. Verwitterungserscheinungen im Buntsand- stein der Rheinpfalz. 328, 338. Wasserleitungsbahnen in Blättern. 130, 133. Windepflanzen , Kontaktempfindlichkeit. 597- ^ .. Zahnwale, Abbildung von Petrus Candi- dus. 357. VII. Neue Literatur. 32, 64, 72, 88, 104, 128, 160, 176, 200, 216, 248, 272, 288, 304, 320, 370, 384, 400, 416, 432, 44S, 464, 480, 486, 504, 544, 560, 568, 616, 664, 728, 776. O. PäH'sche Buchdr. Uppsrl 4 Co. G. m. b. H., Naumburg a. A. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue Folge i8 Band; der ganzen Reihe 34. Band. Sonntag, den 5. Januar 1919. Nummer 1, Über das Sehen und Erkennen bei Nacht. [Nachdruck verboten.] Von P. Metzner. Durch die moderne Kriegführung ist die Tätigkeit des Soldaten im Felde zum großen Teil in die Nachtstunden verlegt worden. Im Schutze der Nacht wird geschanzt, wird Munition im Trichtergelände vorgetragen, werden Pa- trouillen gemacht — in der Nacht arbeitet auch der Feind: In der Nacht muß scharf beobachtet werden. Das alles stellt besonders hohe An- forderungen an das Sehen und Unterscheiden, Anforderungen, die für die meisten Menschen völlig neuartig sind. Eine große Zahl von Leuten klagt nun, daß ihr Sehvermögen in der Dämme- rung und in der Nacht gegenüber dem der Kame- raden ganz unverhältnismäßig schlechter sei. Es dürfte interessieren, einmal dem Grund der Beschwerden etwas nachzugehen und zu sehen, inwieweit diese Klagen berechtigt sind. Von vornherein sind verschiedene Möglichkeiten denk- bar. Einmal könnten physikalische Anomalien wie Trübungen des optischen Apparates oder hochgradige Kurz- oder Weitsichtigkeit die Ursache sein. In der Regel denkt man aber an physiologische Gründe, (ungenügende F"unk- tionstüchtigkeit des lichtperzipierenden Organes). Endlich müssen wir noch an Dinge denken, die mit dem Sehen an sich nichts zu tun haben, an psychische Gründe. Wegen der besonderen Verhältnisse im licht- empfindlichen Apparat — dem Auge — seien noch einige anatomisch-physiologische Einzel- heiten in Erinnerung gebracht. In der Netzhaut des Auges besitzen wir zweierlei lichtempfind- liche Apparate, die sich anatomisch als „Zapfen" und „Stäbchen" unterscheiden lassen. Die Zapfen vermitteln uns die Farbenempfindung, reagieren aber erst auf verhältnismäßig starke Reize. Die Stäbchen dagegen, die an den Außengliedern den ,, Sehpurpur" tragen, stellen höchst lichtempfindliche Gebilde dar, die bei stärkerer Belichtung (wenn der Sehpurpur aus- gebleicht ist) fast außer Funktion treten. Farben werden mit den Stäbchen nicht gesehen, nur Helligkeiten; die Reizschwelle liegt aber be- deutend niedriger als bei den farbenempfind- lichen Zapfen. Besonders wichtig für unsere Be- trachtung ist die Verteilung dieser beiden Ele- mente: in dem etwa i Grad umfassenden zentralen Bezirk der Netzhaut, mit dem wir das in der Verlängerung der Augenachse gelegene , Objekt scharf und deutlich sehen oder „fixieren" (zentral im sog. „gelben Fleck") finden sich nur Zapfen, deren jeder eine besondere Nervenbahn zur Sehrinde des Großhirnes besitzt. In den äußeren Teilen der Netzhaut dagegen häufen .sich vom Zentrum nach der Peripherie zu die Stäbchen, deren an sich ja größere Empfindlichkeit in den äußeren Bezirken noch durch eine Art „Parallel- schaltung" gesteigert wird: es hat da nicht jedes Stäbchen seine eigene Sehbahn; mehrere Stäb- chen übertragen ihre Erregung einer Nerven- faser und addieren so ihre Empfindlichkeit — allerdings auf Kosten der Sehschärfe. Das spielt aber für uns keine Rolle, weil die Randpartien der Netzhaut wegen der Krümmung der Bild- fläche und wegen der Abbildungsfehler des op- tischen Systems an sich schon nur sehr unscharfe Bilder erhalten. ') Unsere sichere Orientierung im Räume verdanken wir einesteils der ausgie- bigen und raschen Beweglichkeit unserer Augen, andererseits der Eigentümlichkeit, daß die Rand- teile der Netzhaut infolge der geschilderten Be- sonderheiten zur Erkennung von Bewegungen (also Helligkeitsänderungen) besonders ge- eignet sind. Dadurch werden wir auf diejenigen Raumteile hingewiesen, in denen sich irgend etwas ändert, dem wir also unsere Aufmerksam- keit zuwenden müssen. Um die Art des Ge- schehens schart zu erfassen, müssen wir dann das Bild dieser Gegend in den Bereich des besten Sehens bringen — wir müssen „fixieren". Zum Schluß sei noch einmal betont, daß der^ zentrale Bereich des „gelben Fleckes" zwar farbentüchtig ist, aber nur bei genügender Hellig- keit richtig arbeitet. Schon bei der Hellig- keit des Vollmondes machen sich Störungen bemerkbar: das Lesen feinster Druckschrift, das Ablesen feiner Karten ist schon deutlich erschwert. Geht die Helligkeit noch weiter herunter, dann scheiden die Zapfen völlig aus und nur der farben- bhnde Stäbchenapparat vermittelt dann das Sehen; da das Zentrum keine Stäbchen ent- hält, ist ein „Fixieren" dann nicht mehr möglich. Nur die äußeren Teile der Netzhaut vermitteln das Bild, das nun längst nicht mehr so scharf ist- als wir im Hellen gewohnt sind zu sehen. Daher auch das eigenartige Flimmern, das Ungewisse der Objekte. Ein lichtschwacher Stern z. B., der eben noch sichtbar war, verschwindet in dem Augenblick, in dem wir ihn genau ins Auge fassen wollen, um im nächsten Augenblick bei etwas seit- licher Stellung wieder aufzutauchen. Dieses „Stäbchensehen" tritt nun nicht sofort ein, wenn wir etwa aus dem Hellen in einen dunklen Raum treten : wir müssen uns erst an die Dunkelheit „ge- *) Die psychologische Zweckmäßigkeit dieser Einrichtung mag hier nur angedeutet werden. Wie auf jedem anderen Gebiet kann die Aufmerksamkeit sich nur auf eine ganz be- schränkte Anzahl von gleichzeitigen Bewußtseinsinhalten konzentrieren — ist dagegen imstande in zeitlich rascher Auf- einanderfolge eine große Anzahl von Eindrücken aufzunehmen. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. I wohnen", d. h. wir sind anfangs fast blind, und das Auge erlangt erst allmählich seine hohe Empfindlich- keit. Dieser Vorgang, „Adaptation" genannt, bean- sprucht etwa 40 — 50 Min. beim normalen Menschen. Physiologisch wird er erklärt durch die Zeit, in der sich der Sehpurpur — der ja bei heller Beleuchtung sofort bei der Bildung wieder zerstört wird — neubildet. Erwähnenswert ist noch, daß sich die enorme Empfindlichkeitssteigerung nur auf das kurzwellige Licht bezieht, was sich schon aus physikalisch- chemischer Betrachtungsweise ergeben muß: nur absorbierte Energie kann in andere Energieformen umgewandelt werden. Hier wird das langwellige Rot durchgelassen bzw. reflektiert, bleibt also unwirksam; nur das absorbierte grüne bis blaue Licht wirkt bleichend und erregend und erzeugt so eine Lichtempfindung. Den Aus- fall des zentralen Sehens bei geringen Intensitäten kann man sehr gut beobachten, wenn man eins der lichtschwachen selbstleuchtenden Radium- präparate — wie sie etwa zu nachtleuchtenden Zifferblättern verwandt werden ^) — im Dunkeln mit einer Lupe betrachtet. Man sieht dann einen Sternhimmel im Kleinen : Auf nachtschwarzem Grund unzählige aufleuchtende und blitzschnell wieder verschwindende Sternchen (ebenso wie im Thoms on 'sehen Spinthariskop). Versuchen wir die Erscheinung gleich nach dem Eintritt ins Dunkle zu sehen, so gelingt das nicht: die Intensität ist so gering, daß die Zapfen gar nicht erregt werden und die Stäbchen sind noch nicht aufnahmebereit, da der Sehpurpur noch fehlt. Allmählich — nach etwa 3 — 4 Minuten sehen wir einen schwachen Lichtschein — aber nur, wenn wir an dem Prä- parat vorbeisehen. Später sehen wir dann das oben beschriebene Bild, aber wo wir auch hin- sehen mögen, überall sehen wir einen dunklen runden Fleck, der mit dem Blick wandert (der anfangs größer ist und sich bis auf eine bleibende Größe verkleinert). Dieser Fleck entspricht dem stäbchenfreien Bezirk. Physikalisch bedingte Störungen des Sehens bei Dunkelheit können entweder durch Trü- bungen oder durch Brechungsfehler veranlaßt sein, wie schon oben erwähnt wurde. Daß Trübungen der Hornhaut, der Linse oder des Glaskörpers — mögen sie nun diffus oder partiell sein — neben einer Verschlechterung des Unterscheidungs- vermögens auch die Lichtempfindlichkeit des Auges beeinträchtigen, ist ohne weiteres klar, da sie nicht nur Licht absorbieren, sondern den durch- gelassenen Teil auch noch diffus zerstreuen. Nicht so eindeutig ist das von den Brechungs- fehlern zu sagen. Plier ist zwar schon bei ge- ringer Kurzsichtigkeit die zentrale Sehschärfe stark herabgesetzt (ohne korrigierende Gläser), die Licht- empfindlichkeit der Stäbchen wird dadurch nicht beeinflußt. Im Gegenteil , die Dunkelsehschärfe (parazentraleSehschärfe) nimmt nicht im selben Maße ab, wie man nach der Abnahme der zentralen Seh- schärfe erwarten sollte. Das hängt mit der Form und Ausdehnung der Zerstreuungskreise zusammen, die die Abbildung vermitteln. Wird passende Brille getragen, so liegen die Verhältnisse wie beim Normalsichtigen. Bei hochgradiger Kurz- und Weitsichtigkeit sind natürlich auch erheblichere Störungen des Orientierungsvermögens im Dunkeln zu verzeichnen; meist sind dann aber auch schon krankhafte Veränderungen im Augeninnern nach- weisbar. Dagegen treten schon bei verhältnismäßig geringen Graden von Astigmatismus (wenn die Hornhaut nicht in allen Meridianen gleichmäßig gekrümmt ist) gröbere Störungen auf. Auch das ist wegen der ungünstigen Lichtverteilung be- sonders der das optische System schief durch- setzenden Strahlenbüschel verständlich. Wichtiger sind die Störungen, die sich aus physiologischen Ursachen erklären. Zunächst kann man feststellen, daß die Empfindlichkeit der lichtperzipierenden Elemente individuellen Schwan- kungen von großem Umfange unterliegt. Mehrere Hundert Messungen^) an Soldaten in einer front- nahen Augenstation ergaben, daß in der Regel eine Fläche von 10" Raumwinkel im völlig dunklen Raum schon dann erkannt wird, wenn ihre Helligkeit (Beleuchtungsstärke) gleich ^20000 bis Veoüoo Meterkerzen beträgt*). In der Regel werden V^oooo Meterkerzen erkannt — in ein- zelnen Fällen kommt man aber auch auf Werte über V250000 Meterkerzen. Dies gilt von für das ausgeruhte („adaptierte") Auge, d. h. nach dreiviertelstündigem Dunkelaufenthalt und für kurzwelliges Licht. — Wenn man von heller Landstraße ins Dunkle tritt, vermag man im ersten Augenblick gerade die Helligkeit einer Meterkerze noch zu erkennen, die Empfindlichkeit steigt dann während der ersten Minuten erst lang- sam, dann rascher, bis sie nach 40—50 Minuten den Endwert erreicht. An dieser Stelle mag ein- gefügt werden, daß es Menschen gibt, die eigent- lich im Dunkeln besser sehen als bei Tage : das sind die Albinos, die kein Pigment besitzen. (Man kennt sie leicht an den schlohweißen Haaren, der weißlichen Regenbogenhaut und der rot auf- leuchtenden Pupille.) Deren Augen entbehren ganz des Lichtschutzes durch den in Regenbogen- haut und Aderhaut eingelagerten Farbstoff: die Leute werden vom Tageslicht schon so geblendet, daß sie dauernd die Augen zukneifen müssen. Ein vollkommener Albino ist auch farbenblind (ihm fehlen die Zapfen fast völlig) und kann nicht fixieren. Der Stäbchenapparat ist dagegen normal ausgebildet : die Empfindlichkeit zeigt meist recht ') Die Präparate bestehen meist aus Zinksulfid (Sidot- blende), dem etwas radioaktives Material beigefügt ist. Leucht- schirme dieser Art liefert z. B. die Ges. f. Verwerlg. ehem. Produkte, Berlin O. 17. Die Präparate dürfen für diesen Versuch vorher nicht ans Licht gebracht worden sein. ') Die Messungen werden an besonderen Apparaten (Adaptometern) ausgeführt, die die erkannte Helligkeit zahlen- mäßig festzustellen erlauben. Ich hatte Gelegenheit, mit dem „vereinfachten Adaptomeler" von Stargar dt (^Bonn) zu ar- beiten. *) Das entspricht der Helligkeit einer Fläche, die aus 158 bzw. 245 m von einer Normalkerze erleuchtet wird ^vorausgesetzt, daä die Luft nichts absorbiert) ! N. F. XVni. Nr. I Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 3 hohe Werte, so daß diese Leute in der Dunkel- heit in der Tat vielen Normalen überlegen sind. — Die Sehschärfe bei herabge'^etzter Beleuchtung sinkt sehr schnell; bei '/soo Meterkerzen ist die Sehschärfe nur Vio ^c"" Sehschärfe bei Tage, bei ^/loino Meterkerzen gar nur weniger als Vioo- Daß man trotzdem nicht so ganz hilflos ist, ver- dankt man eben besonders der Empfindlichkeit der peripheren Netzhautbezirke für Bewegungen. Und bewegt sich das Objekt auch nicht, so macht doch das Auge im Dunkeln „Suchbewegungen". Außer der Bewegung hat auch Größe der Objekte und Dauer der Bewegung Einfluß auf die Empfindlich- keit. Störungen können auftreten, wenn die An- passung an die Dunkelheit durch kurzdauernde Belichtung unterbrochen wird, daher die vielen Klagen über Blendung durch Leuchtkugeln. Tat- sächlich wird eine große Helligkeit vom ausge- ruhten Auge direkt als schmerzhaft empfunden. Eine dauernde Schädigung — wie viele Leute behaupten — kann jedoch dadurch allein nicht verursacht werden. Andererseits können auch Störungen auftreten, deren Ursachen im Auge selbst zu suchen sind. Es gibt mitunter im Auge Lichtempfindungen, denen kein äußerer Reiz entspricht, das sog. „Eigenlicht". Ursache ist vielleicht stärkere Blut- füllung der Gefäße ''). Die Intensität ist recht gering, tritt also bei hellerer Beleuchtung zurück, kann jedoch im Dunkeln die schwachen Licht- eindrücke zu Zeiten völlig verwischen. Die Leute sprechen dann von hellen Nebeln vor den Augen. Dies alles gehört noch in das Gebiet des Nor- malen. Wirklich erhebliche Beeinträchtigung er- fährt das Sehen im Dunkeln aber nur bei einer dauernden Funktionsstörung der Stäbchen. Ist die Empfindlichkeit der Stäbchen besonders stark herabgesetzt, so spricht man von „Nachtblindheit". Die Sehschärfe bei Tage braucht dabei gar nicht beeinträchtigt zu sein ; aber schon in der Dämmerung sind derartige Leute fast hilflos und müssen sich führen lassen. Bereits beim Vollmondlicht sind wirklich Nachtblinde schon stark in der Orien- tierung behindert. Eine solche Herabsetzung der Empfindlichkeit kann angeboren oder erworben sein. Die angeborene Nachtblindheit ist auch erblich. Am Auge selbst ist mit den gewöhn- lichen Methoden der Augenuntersuchung meist nichts Anormales nachzuweisen. Andere optische Methoden, z. B. die Prüfung mit der Nernstspalt- lampe , haben zu verschiedenen, zum Teil noch bestrittenen Ergebnissen geführt wie etwa Durch- lässigkeitsverminderung der brechenden Medien für kurzwelliges Licht. Eine andere Ursache könnte mangelnde Fähigkeit zur Bildung des Sehpurpurs sein. Meist ist wirklich vorhandene Nachtblindheit erworben — eine Folge von Er- krankungen der inneren Augenhäute. Besonders eine Form von Netzhautentzündung, die mit eigen- ') Jeder mechanische Reiz auf ein Sinnesorgan wird ja als homologer Reiz empfunden, vom Auge als Licht, vom Ohr als Ton usw. artiger Pigmentverschiebung im Augeninnern ein- hergeht (die sog. Retinitis pigmentosa), ist stets mit völliger Nachtblindheit verbunden bei manch- mal noch wenig beeinträchtigter Sehleistung im Hellen. Helligkeiten, die unter V20 Meterkerzen sind, werden dann schon nicht mehr erkannt. Auch bei Erkrankungen anderer Organe sind vorübergehende Störungen der Stäbchen funktion beobachtet worden, so z. B. bei gewissen Nieren- und Gallenblasenleiden. Beachtenswert ist, daß auch die Unterernährung (besonders der Mangel an Fettzufuhr) neben der allgemeinen Erschlaffung eine Herabsetzung der Netzhautempfindlichkeit hervorrufen kann ; durch entsprechende Diät wer- den derartige Störungen in der Regel bald wieder beseitigt. Auf alle Eindrücke und Willensäußerungen wirken regulierend und beeinflussend psychische Momente. Der aufnehmende Apparat (das Auge) mag völlig intakt sein, und trotzdem können Sehstörungen angegeben werden. Einflüsse, die psychisch bedingt sind. Wir wollen hier zwischen solchen Beeinflussungen unterscheiden, die dauernd bestehen und solchen, die nur zeitweise (unter bestimmten äußeren Bedingungen) auftreten. Als wichtigsten P'aktor möchte ich das an- sprechen, was man gemeinhin als Intelligenz bezeichnet. Ein intelligenter Mensch mit ge- ringerer Sehleistung wird auch bei Tage mitunter ebenso Gutes leisten können als ein Normalsichtiger — der Krieg hat uns schon genug Beispiele da- von geliefert — um so mehr bei Nacht, wo auch der Normale Schwierigkeiten begegnet, mit denen sich der andere schon immer abfinden mußte. Dahin gehört, daß viele derartige Menschen gar nicht wissen, daß sie schlechter sehen als andere. Der Intelligente arbeitet eben nicht allein mit dem gebotenen Gesichtseindruck — er vergleicht mit vorher Gesehenem, benutzt geringe parallak- tische Verschiebungen, Kombination mit Gehörs- eindrücken usw. In derselben Weise ist der Intelligente den anderen beim Sehen in der Nacht überlegen. Freilich eins gehört unbedingt dazu: guter Wille und Anspannung der Aufmerksam- keit. Das gewährleistet erst volle Ausnutzung aller Vorteile. Ebenso abhängig von bewußter Willensanspannung ist der Vorteil, der sich durch Übung erlangen läßt. Unsere Seeleute leisten Staunenswertes beim Beobachten in finsterster Nacht, das kann jeder bestätigen, der Gelegen- heit gehabt hat, sie bei der Arbeit zu sehen. Hier kommt auch neben der Übung in Betracht, daß die Betreffenden wissen, was sie sehen werden — bestimmte Erscheinungen erwarten. Das ist ein Vorteil, der sich schon in einer Verkürzung der Reaktionszeit ^) gegenüber dem Eintreten eines unerwarteten Ereignisses ausdrückt. Aus diesen Gründen sind auch die Leute, die sich viel im Freien bewegen und beobachten, z. B. *) Die „Reaktionszeit" , d. h. die Zeit, die zwischen der Aufnahme des Reizes und seinem Bewußtwerden verstreicht, kann experimentell mit Hilfe besonderer Apparate (Hipp'sches Chronoskop) gemessen werden. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. I Jäger, gegenüber anderen von vornherein im Vorteil. 1 — Daß Leute mit gröberen Schädi- gungen der im Gehirn verlaufenden Sehbahnen ynd ihrer Nebenbahnen (Assoziationsfasern) auch zu Beobachtungen während der Nacht nicht ge- eignet sind, bedarf wohl weiter keiner Diskussion. Das Sehvermögen an sich kann dabei völlig intakt sein, wie z. B. bei der optischen Agnosie (der Unfähigkeit, einen gesehenen Gegenstand z. B. ohne Betasten zu erkennen), der Alexie (der Unfähigkeit, zu lesen, obwohl das ge- sprochene Wort verstanden wird und die einzel- nen Buchstaben erkannt werden) usw. Das sind nun allerdings ganz giobe Beispiele, es gibt aber auch Störungen der Art, die weniger auffällig sind, aber trotzdem die Brauchbarkeit eines Menschen wesentlich herabsetzen. Meist sind dann aber noch andere körperUche Symptome vorhanden (z. B. bei multipler Sklerose). ') Schon oben wurde der Emfluß des guten Willens auf die Beobachtungstüchiigkeit angedeu- tet. Umgekehrt kann man sagen, daö die Leute, die sich einbilden, bei Nacht schlecht zu sehen, auch tatsächlich Beschwerden haben und vielleicht suggestiver Behandlung zugänglich sind. Bei unseren Messungen stellte es sich wenigstens heraus, daß unter den wegen ihrer Klagen unter- suchten Leuten über die Hälfte normale oder wenigstens annähernd normale Anpassungsfähig- keit besaßen. Nun ist auch eine allbekannte Tatsache, daß derartige Klagen mitunter ende- misch auftreten, wenn einmal — etwa in einem Armierungsbataillon — einer oder der andere wegen Sehstörungen vom Nachtdienst befreit ') Als Beispiel einer derartigen nur vorübergehenden Stö- rung mag die akute Alkoholvergirtung (^der Rausch) genannt werden, wo zwar das Sehvermögen an sich kaum leidet, wohl aber die Fähigkeit, das Gesehene zu beuneilen und richtig zu verwerten. wird. Früher war man im Felde nur auf den Augenspiegelbefund und unzuverlässige oder umständliche Prüfungsmethoden angewiesen. Jetzt besitzen wir eine Reihe von Adaptometern, die einwandfrei arbeiten und besondere Methoden, die auch bei geschicktester Simulation oder Übertreibung nicht versagen, so daß man imstande ist, die Wahrheit der Behauptungen nachzuprüfen. Doch auch völlig Normale unterliegen manchmal Störungen, sei es wegen der übermäßigen Anspan- nung aller Sinne (die Klarheit des Bewußtseins erlei- det auch Schwankungen), sei es wegen körperlicher Ermüdung. Beides spielt ja im Schützengraben- leben eine große Rolle. Dazu kommt die dauernde Lebensgefahr : Furcht, Angst sind Faktoren, die einesteils erregend, andernteils hemmend auf den Ablauf der körperlichen und geistigen Funktionen wirken können. Jedenfalls aber begünstigen sie das Auftreten von Sinnestäuschungen (Halluzina- tionen), beeinflussen auch die Intensität des oben erwähnten „Eigcnlichts". Dasselbe gilt von jeder geistigen Erregung: Zorn, Unzufriedenheit, aber auch t-reude kann die Zuverlä>sigkeit der Be- obachtungen in Frage stellen. Das gilt von den Beobachtungen während der Nacht in besonderem Maße, wo das Verstummen der Geräusche des Tages und die Dunkelheit dem Auftreten von solchen Erregungen (besonders Furcht) Vorschub leisten. Jedenfalls soll man Leute, die über „Nacht- blindheil" klagen und bei denen sich objektiv nichts nachweisen läßt, die auch zuverlässige An- gaben machen und gute Netzhautempfindlichkeit haben, nicht als Aggravanien behandeln, sondern sich erst einmal nach näheren Umständen erkun- digen. Befreiung vom Nachtdienst kann natürlich nur bei nachgewiesener erheblicher Störung des Dämmerungssehens erfolgen oder bei hysterischen u. a. Leuten, deren Beobachtungen voraussichtlich wertlos sind. tlber geschlechtsbegreuzte Speziosmerkniale bei Süßwasserorganismen und deren eventnelle experimeutelle Aulkiäriuig durch das Meiider.sche Spalt uug.sgesetz. tNacKdtuck verboten.] Von V. Brehm-Eger. Obgleich Woltereck durch seine erfolgreichen experimentellen Arbeiten der Süßwasserbiologie sozusagen neue Wege gewiesen hat, indem er zu- gleich die Bedeutung unserer Süßwassermikroorga- nismen für die Abstammungs- und Vererbungslehre deutlich machte, scheint man in Kreisen der Hydrobiologen dieser Richtung noch zu wenig Interesse entgegenzubringen; vielleicht mögen die durch den Krieg geschaffenen ungünstigen Be- dingungen hemmend wirken. In den mit der Vererbungslehre beschäftigten Kreisen hinwiederum dürfte man mit dem durch die Süßwasserbio- logie gefundenen Material, das für derlei Unter- suchungen von Interesse wäre, weniger vertraut sein.. So mag es nicht unangebracht sein, auf zwei Fälle aufmerksam zu machen, die vermutlich der experimentellen Behandlung zugänglich und dadurch geeignet sind, unsere Kenntnisse über Vererbungsvorgänge zu vertiefen. I. Über sog. „polymorphe Kopepoden- m ä n n c h e n" und latente Speziescharak- tere bei Süßwasserorganismen. Dr. Thaliwitz berichtet -in seiner Abhand- lung „Über Dimorphismus der Männchen bei einem Süßwasserharpacticiden" (Zool. Anz., Bd. XLVI, S. 238) über das Vorkommen zweier verschiede- ner Männchen bei Canthocamptus minutus Claus, von denen das eine das für das Weibchen der genannten Art so außerordentlich charakte- ristische Merkmal der Doppelzähne am Rand des Analdeckels aufweist, während das andere nur einspitzige Zähne und dadurch große Ähnlichkeit mit dem Männchen des nahe verwandten Cantho- camptus Vejdovskyi besitzt. Für unsere weiteren Überlegungen ist es jedenfalls wichtig zu betonen, daß — soweit bisher die Erfahrungen reichen — nicht beiderlei Männchen innerhalb derselben Ko- N. F. XVIII. Nr. I Naturwissenschaftliche Wochenschrift. ■5 lonie auftreten, sondern daß eine bestimmte minu- tus-Kolonie nur einen der beiden Männchentypen enthält. Dieser Fall erinnert sehr an einen ähnlichen früher von mir beschriebenen, der mich zur Auf- stellung des Diaptomus Steuer! veranlaßte. Im Plankton des Gardasees ist die Gattung Diaptomus durch eine Art vertreten, welche früher mit D. gra- cilis identifiziert wurde, ein Irrtum, der sehr be- greiflich erscheint, da die Weibchen dieses Diap- tomus wirklich mit denen des D. gracilis über- einstimmen. Bei der Untersuchung der IVlännchen aber stellte sich heraus, daß diese durch eine ganze Reihe konstanter Merkmale von den gra- cilis-Männchen abweichen, so daß die Aufstellung einer noy. spec. eben des D. Steueri notwendig erschien. (Vgl. Brehm-Zederbauer: „Beiträge zur Planktonuntersuchung alpiner Seen" in Verh. k. k. zool. bot. Ges. Wien 1904, S. 638.) Wohl mit Rücksicht auf die morphologische Übereinstimmung der Weibchen hat Ä. Tollinger in ihrer Arbeit „Die geographische Verbreitung der Diaptomiden (Spengel, Zool. Jahrb. XXX, 1911) den Diaptomus Steueri als Varietät des gracilis angeführt. Aber die seither gemachten Erfahrungen bestärken mich in der Überzeugung, daß hier trotz der morphologischen Identität der Weibchen zwei gute Arten, d. h. genotypisch verschiedene Formen vorliegen. Es sind mir nämlich noch zwei Steueri- Kolonien unterge- kommen, die eine in dem dem Gardasee benach- barten Ledrosee und die andere aus einem auf einer süddalmatinischen Insel gelegenen See; um welche Insel es sich handelte ist mir leider entfallen ; das Material wurde mir von Herrn Prof. Werner- Wien übergeben und war durch vorherrschendes Auftreten von Pedalion auffallend. Diese drei einzigen bisher bekannten Steueri-Kolonien lassen die Art als periadriatisch bezeichnen.^) Trotzdem mir bereits ziemlich viel Material aus periadriatischen Süßwasserbecken durch die Hand gegangen ist, kam mir doch noch keine Diapto- muskolonie unter, welche Zwischenformen zwischen gracilis und Steueri darstellen würde. Zudem spricht für die Trennung dieser beiden Arten auch ihre geographische Isolierung. Es ist bisher kein beglaubigter Fall bekannt, daß innerhalb des Ver- breitungsgebietes des D. Steueri eine gracilis- Kolonie vorkäme; cf. hierüber Tollinger 1. c. S. 82. Trotz der weitgehenden Ähnlichkeit dieser beiden Fälle, des Canthoramptus minutus und des Diaptomus Steueri, haben dieselben eine ungleiche Bewertung gefunden. Im Falle Diaptomus haben die zwei Männchenformen zur Aufstellung zweier Spezies Veranlassung gegeben, während, im Falle Canthocamptus lediglich von dimorphen Männchen einer Spezies die Rede ist. Da auch in anderen, gleich zum Vergleiche heranzuziehenden Fällen ') Die Pocbene ist bekanntlich ein erst in junger Zeit zugeschütteter Ausläufer der Adria, so daß die dem Südrand der Alpen dortselbst angehörenden Organismen noch dem Begrifif periadriatischer Formen zugerechnet werden können. von polymorphen Männchen oder Weibchen die Rede ist, ist es wohl nötig, darauf hinzuweisen, daß es sich bei dieser zweifachen Auffassung nicht nur um einen Wortstreit, sondern um einen essen- tiellen Unterschied handelt. Reden wir nur von dimorphen Männchen, so setzen wir damit im- plicite voraus, daß die zugehörigen Weibchen nicht nur morphologisch, sondern ihrem ganzen Wesen nach, d. h. genotypisch identisch sind ; trennen wir gestützt auf die Unterschiede der Männchen zwei Arten, so sagen wir damit, daß auch die Weibchen, trotz ihrer morphologischen Identität verschieden sind, verschieden in der Zusammensetzung ihres Artplasma, in ihrer genotypischen Konstitution. Daß solche latente Verschiedenheiten vor- kommen, ist ja eine dem Süßwasserbiologen sehr naheliegende Annahme, deren Bedeutung durch einige kurze Hinweise stärker betont werden soll. Wir stehen öfters vor der dem Systematiker sehr unbequemen Erscheinung, daß die morphologischen Unterschiede zweier Arten nur in bestimmten Phasen ihrer Entwicklung hervortreten. Rhode hat in seiner Abhandlung „Über Tendipediden und deren Beziehungen zum Chemismus des Wassers" (Deutche Entomol. Zeitschrift 1912) auf die merkwürdige Dissonanz aufmerksam gemacht, die zwischen der „Imaginalsystematik" von K i e f f e r und der Larven- und Puppensystematik besteht; denn viele der von Kieffer auf Grund des Aussehens des ent- wickelten Tieres aufgestellte Arten sind im Larven- stadium gar nicht zu unterscheiden. „Es wäre nun zu eigentümlich" — meint Rhode — „wenn sich aus gfbichen Larven Imagines entwickeln sollten, die ihrem Aussehen nach so verschieden wären, daß man sie als spezifisch unterschieden auffassen müßte. Nach meinem Dafürhalten ist die verschiedene Färbung der Imagines in vielen Fällen lediglich auf die Ernährung bzw. auf die „Lebensweise der Larven und Puppen zurück- zuführen". So weit Rhode, der demnach die von Kieffer unterschiedenen Tendipedidenarten für Modifikationen hält, um einen Terminus der modernen Vererbungslehre zu gebrauchen. Ob Rhode damit Recht hat, muß sich ja experimentell entscheiden lassen. Derzeit ist dieser Nachweis noch nicht erbracht und nach meinem Dafürhalten noch eine andere Auffassung möglich. Wenn wir in der ontogenetischen Entwicklung mit Driesch eine „Produktion sichtbarer Mannigfaltigkeit" er- blicken und gestützt auf die Ergebnisse der Abderhalde n 'sehen Serumstudien sagen können, daß ein Hühnerei vom Gänseei ebenso verschieden sei, wie das Huhn von der Gans, so bietet es uns doch auch keine Schwierigkeiten, anzunehmen, daß es Pelopiaarten gebe, die nur im Imaginal- zustand zu unterscheiden sind. Um so mehr als in anderen Fällen Derartiges tatsächlich bereits erwiesen ist. Man erinnere sich an die mannig- fachen analogen Beispiele aus der Reihe der Rost- pilze: Die als Teleutosporengeneration wohlunter- schiedenen Arten: Uromyces dactylidis, U. poae, Puccinia Magnusiana und perplexans sind in der Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. I Aecidiumphase gar nicht auseinanderzuhalten, so daß die zu den vier angeführten Arten gehörigen Aecidien allesamt als Aecidium ranunculacearum DC. bezeichnet zu werden pflegen. Phylogenetisch könnte diese Erscheinung von Lamarckianern als eine durch den gleichen Aecidienwirt induzierte Konvergenzerscheinung bei den Aecidien gedeutet werden, oder auch als eine vorläufig nur bei der Teleutosporengeneration manifest gewordene Auf- spaltung des ursprünglich einheitlichen Ae. ranun- culacearum in mehrere Arten infolge Gewöhnung an verschiedene Teleutosporenwirte. Und noch ein anderes Beispiel aus der bota- nischen Literatur sei zum Vergleich herangezogen: Wettstein machte (Verh. k. k. zool. bot. Ges. Wien LIX, 1909, S. 251) darauf aufmerksam, daß unter den Euphrasien zwei morphologisch iden- tische, aber genetisch verschiedene Arten vor- kommen, nämlich E. glabra und borealis; letztere ist eine saisondimorphe Form von E. stricta, erstere von brevipila. Man könnte nun annehmen, daß glabra = borealis eine polyphyletische Art darstelle, indem diese morphologisch einheitliche Spezies aus zwei verschiedenen Arten hervor- gegangen sei. Eher aber dürfte man das Richtige treffen, wenn man die auch nomenklatorisch ge- trennten Arten glabra und borealis als genotypisch unterschieden annimmt. Wenn, wie in diesen Beispielen angedeutet wurde, die Annahme nahe liegt, daß die geno- typische Verschiedenheit nur in gewissen Ent- wicklungsphasen äußerlich sichtbar wird, so ist ja auch die Annahme, daß solche Unterschiede zu- weilen nur in einem Geschlecht erkennbar sind, von vornherein als möglich gegeben. Ja wir kennen sogar bereits einen vererbungstheoretisch analysierten Fall, der ein lehrreiches Pendent zu unseren Kopepodenbeispielen darstellt und gegen die Auffassung spricht, als ob da lediglich ein Polymorphismus eines Geschlechts vorläge. Es handelt sich um das von de Mejere und Jacobson studierte Verhalten des Papilio Memnon. Es ist den Lepidopterologen schon lange bekannt, daß es bei manchen Schmetterlingsarten zwar nur eine Sorte von Männchen, aber mehrere, sehr verschiedene Sorten von Weibchen gibt, so daß man diese zuerst als verschiedene Spezies beschrieb, bis man die Erfahrung machte, daß man alle diese verschiedenen Formen aus einem Gelege züchten kann. Letztere Erfahrung, die zu einer Zusammenziehung aller dieser Formen, in unserem BeispielPapilioMemnon-(;J,P.Laomedon-$,Agenor$, Achates-?, zu einer Art führte, scheint mir aber nur für Züchtungsversuche im alten Stile zu gelten. Denn nach den neuen experimentellen Unter- suchungen liegt hier nicht ein geschlechtsbegrenzter Polymorphismus innerhalb einerSpezies vor, sondern Papilo Memnon im weiteren Sinne umfaßt drei Arten Laomedon, Agenor, Achates, deren Männchen sich ebenso wenig unterscheiden lassen, wie die Weibchen des Diaptomus gracilis und Steueri, obgleich diese morphologisch gleichen Männchen genotypisch verschieden sind, wie aus Jacobsons Kreuzungsversuchen mit Sicherheit hervorgeht. Man sollte also nicht, wie es immer noch ge- schieht, von einem Polymorphismus der Weibchen bei Papilio Memnon reden, sondern von mehreren Papilioarten, eben Laomedon, Agenor, Achates, deren Männchen ihre genotypischen Unterschiede äußerlich nicht erkennen lassen. Mit Rücksicht auf diesen bereits analysierten Fall halte ich auch die Annahme, es gäbe „di- morphe Kopepodenmännchen" nicht für wahr- scheinlich, sondern bin geneigt anzunehmen, daß in dem von Thaliwitz beschriebenen Cantho- camptus zwei Arten versteckt seien, die wir etwa als minutus var. haplodentatus und minutus var. diplodentatus bezeichnen können. 2. Experimentelle und spekulative Be- handlung der beiden Fälle. Die Annahme, daß Diaptomus Steueri und gracilis, bzw. Canthocamptus minutus haplo und diplodentatus spezifisch verschieden sind, kann wohl nur experimentell sichergestellt bzw. wider- legt werden, obschon die für D. Steueri eingangs erwähnten Momente sehr zugunsten der Annahme einer Speziestrennung sprechen. Wie der Frage experimentell näher zu treten wäre, ergibt eine einfache Überlegung. Es käme vor allem darauf an, durch Kreuzung eines Steueri Weibchens bzw. eines haplodentatus- Weibchens mit einem gracilis- Männchen bzw. diplodentatus-Männchen eine Fj- Generation zu gewinnen, die entweder selbst oder in der F'o-Generation Steueri-Männchen bzw. haplo- dentatus-Männchen aufweisen sollte. Denn gelingt dieser Versuch, so ist damit gezeigt, daß die Steueri-Weibchen trotz ihrer morphologischen Identität mit gracilis doch Steueri-Gene enthalten und ebenso, daß minutus- Weibchen aus einer haplodentatus -Kolonie die Erbeinheiten einer solchen enthalten, dieselben nur äußerlich nicht verraten, da diese nur im ^J-Geschlecht zum Aus- druck kommen. Experimente sind am grünen Tisch leichter ausgeklügelt als in die Tat umgesetzt. Darum noch einige Worte über die Ausführbarkeit der geforderten Versuche: Im allgemeinen scheinen Diaptomiden kein gutes Material für Bastardierungs- versuche abzugeben. Daß in der Natur Diaptomus- Bastarde zu fehlen scheinen, hängt wohl z. T. mit deren räumlicher Isolierung zusammen; meist ent- hält ein Wohngewässer nur eine einzige Art; treten ja einmal zwei Arten im selben Wohn- gewässer auf, so sind sie in ihrem zeitlichen Auf- treten so beschaffen, daß eine wechselseitige Be- fruchtung unmöglich wird. Zudem sind sie in Körpergröße und Form der Kopulationsapparate meist so verschieden, daß eine erfolgreiche Kopu- lation ausgeschlossen erscheint. Vergeblich wurden z. B. in Lunz Kreuzungen zwischen den dort heimischen Arten gracilis, denticornis und tatricus versucht. Dieser Mißerfolg war mit Rücksicht auf die weitgehenden morphologischen Differenzen N. F. XVni. Nr. I Naturwissenschaftliche Wochenschrift. der genannten Arten gewissermaßen vorauszusehen ; bei D. Steuer! und gracilis liegen die Verhältnisse anders, da die weitgehende Übereinstimmung die Möglichkeit einer erfolgreichen Kreuzung nahelegt. Da allerdings beide Arten geographisch gesondert auftreten, könnte man noch eine Schwierigkeit darin erblicken, wie man lebendes Material beider Arten im selben Laboratorium kultivieren könnte. Auch dieses Bedenken ist ohne Belang, da Steueri das Versenden gut verträgt, wie folgendes Beispiel zeigt. Kurz nach der Publikation des D. Steueri schickte Herr F'loreste Malfer aus Verona in einer verkorkten Flasche lebendes Gardasee- Plankton an den damaligen Leiter der biologischen Station in Plön Prof. Dr. O. Zacharias, der mir das Material zur Überprüfung des darin ent- haltenen Diaptomus nach Elbogen in Böhmen nachsandte. Obgleich also diese Planktonprobe mehrere Tage hindurch in einer verschlossenen Flasche den Insulten eines so langwierigen Trans- portes ausgesetzt war, trafen die Diaptomus- Exemplare wohlbehalten bei mir ein. Unter diesen Umständen erscheint es mir durchaus nicht aussichtslos, Gardasee-Plankton zur Durchführung der oben angedeuteten Kreuzung einem Labora- torium, dem D. gracilis zur Verfügung steht, zu übermitteln; an der biologischen Station in Lunz war bereits die Durchführung dieses Versuchs ge- plant, mußte aber wegen der durch den Krieg bedingten Sperrung dieses Forschungsinstitutes aufgeschoben werden. Günstiger lägen die Verhältnisse vielleicht noch in zwei anderen Fällen, die ebenfalls in das Kapitel geschlechtsbegrenzter Merkmale beim Genus Dia- ptomus einzureihen wären und die mit Rücksicht darauf, daß es sich nur um ein einzelnes ..Merk- mal" handelt, durch das die zu kreuzenden Formen sich unterscheiden, sich den Musterbeispielen der Versuche über Mendel' sehe Spaltung nähern. Der erste Fall betrifft eine in den Gewässern von Marienbad und Karlsbad heimische Rasse des Diaptomus coeruleus Schmeil (= D. vul- garis), die dadurch gekennzeichnet ist, daß am letzten Glied des Außenastes des rechten fünften Beines beim Männchen sich oberhalb des End- hakens ein kleiner Chitinknopf befindet, der der typischen Form fehlt; neben einer Reihe anderer Fragen, die ich bereits in früheren Arbeiten be- rührt habe, regt dieses Vorkommen auch zu der an, ob die Weibchen dieser Rasse die Fähigkeit haben, dieses nur dem Männchen zukommende Merkmal zu vererben; zur Lösung dieser Frage wären eben auch Kreuzungsversuche mit Männchen der typischen Form erforderlich. Der zweite Fall ist insofern noch interessanter, als es sich um ein geschlechtsbegrenztes abnormes Verhalten im Ablauf der Cyclomorphose handelt. Während z. B. die Cladoceren (Daphnia, Bosmina!) seit langem durch ihre cyclomorphen (saison- dimorphen der älteren Autoren) Veränderungen die Aufmerksamkeit auf sich lenkten, schien den Kopepoden diese Eigentümlichkeit zu fehlen. Allein im IV. Teil meiner „Beiträge zur Plankton- untersuchung alpiner Seen" (Verh. k. k. zool. bot. Ges. LVI Bd. 1906, S. 26) konnte ich gelegentlich des Berichtes über das Plankton des Hallstätter Sees mitteilen : „Die Untersuchung ergab einen konstanten Unterschied der Sommer- und Wintertiere des Diaptomus gracilis. Es ist dies unseres Wissens der erste sichere Fall von Saisondimor- phismus bei Kopepoden. Der Unterschied betrifft das drittletzte Glied der genikulierenden Antenne (sc. des Männchens). Bei den Winterexemplaren trägt dieses eine einfache hyaline Membran, bei den Sommerexemplaren einen „vogelschnabel- ähnlichen Fortsatz". Dieser Befund hat nunmehr durch O. H a e m p e 1 eine Bestätigung und Erweiterung erfahren. In seiner eben erschienenen Abhandlung „Zur Kennt- nis einiger Alpenseen etc." (Internationale Revue der ges. Hydrobiologie u. Hydrographie, Bd. VIII, Seite 284) sagt er diesbezüglich: ,, Der Hallstätter Diaptomus ist durch Brehms Untersuchungen als erster Centropagide bekannt geworden, bei welchem eine Variationserscheinung sicher nachgewiesen wurde. Bei den Winter- exemplaren trägt nämlich das drittletzte Glied der genannten Antenne eine einfache hyaline Mem- bran, bei den Sommerexemplaren einen vogel- schnabelähnlichen F"ortsatz. Bei der Durchsicht meines Hallstätter Materiales aus den Jahren 191 1 und 191 2 konnte ich diese Erscheinung bei allen Augusttieren wiederfinden, weniger bei denen aus dem Monat September, während im Oktober be- reits nur normale Tiere angetroffen werden. Genau die gleichen Verhältnisse wurden von mir im Traunsee wiedergefunden, während das Grundlsee- material nichts dergleichen erkennen läßt." Auch hier wäre es sehr interessant zu erfahren, ob unter den Männchen, die durch Kreuzung eines Hallstätter Weibchens mit einem Männchen des typischen Diaptomus gracilis entstanden sind, Exemplare auftreten werden, die im Spätsommer die eigenartige Bewehrung der genikulierenden Antenne besitzen. In diesen beiden Fällen sprechen alle bisher gemachten Erfahrungen dafür, daß die Beschaffung und Haltung der Versuchstiere, sowie die Kreuzung keinen Schwierigkeiten begegnen wird. Es sollen nicht auch noch die Chancen für das Gelingen der Kreuzungsversuche mit den Thall wit z'schen Canthocamptusformen abge- wogen werden. Probieren geht übers Studieren. Wohl aber möchte ich mich trotz Baurs be- rechtigter Mahnung: „Also: Viel mehr Experi- mentieren und weniger Theoretisieren ist die Parole für die nächste Zeit!" (Einführung in die experimentelle Vererbungslehre, Seite 268) dazu verleiten lassen, die Bedeutung des Mitgeteilten einer kurzen spekulativen Betrachtung zu unter- ziehen; nicht vielleicht, weil ich mir davon einen positiven Gewinn für die Beantwortung der sich •8 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVni. Nr. I •ergebenden Fragen erwartete, sondern um dem Fernerstehenden Interesse für diese zunächst den Systematiker berührenden merkwürdigen Fälle zu erwecken. Nehmen wir zunächst einmal an, die Weibchen der fraglichen Kopepodenarten erwiesen sich durch das Experiment trotz ihres IVIangels morphologischer Unterscheidungsmerkmale durch entsprechendeErb- einheiten von einander ebenso verschieden, wie die Männchen ; dann liegt die Sache so wie bei Papilio Memnon. Die äußerliche Übereinstimmung in einem Geschlecht könnte dann als Konvergenz- erscheinung phylogenetisch gedeutet werden, ana- log dem oben zitierten Beispiel der Euphrasia glabra oder aber — und diese Deutung erscheint wohl plausibler — die Übereinstimmung könnte als Hinweis auf die Abstammung von einer Art angesehen werden. Wir hätten uns die Sachlage dann so vorzustellen, daß eine Art durch Mutation in zwei oder mehrere Arten zersplittert und daß zunächst die neuen Merkmale nur in einem Ge- schlecht sichtbar sind, während sich das andere Geschlecht noch in der Prämutationsperiode, nach de Vries Terminologie, befände. Die Studien Eimers über Orthogenese bei Schmetterlingen haben die Annahme wahrscheinlich gemacht, daß die Männchen in der phylogenetischen Entwicklung voranschreiten („Gesetz der männlichen Präpon- deranz"), wozu die Kopepoden nach diesen Mit- teilungen weitere Beispiele darbieten würden. Die Präponderanz läge in diesem Falle aller- dings lediglich darin, daß ein in beiden Ge- schlechtern vorhandenes Gen nur in einem Ge- schieht sich morphologisch manifestiert. Eine phylogenetische Präponderanz im strengen Sinn des Wortes läge freihch nur dann vor, wenn das präponderierende Geschlecht durch ein besonderes, dem anderen Geschlecht fehlendes Gen aus- gezeichnet wäre. Dann läge ein wahrer Dimorphis- mus des einen Geschlechtes vor. Über all' diese Fragen kann nur das Experiment Antwort geben. Übrigens dürften die beiden Kopepodenbeispiele nicht die einzigen aus dem Bereich unserer Süß- wasserfauna sein, die dem experimentell arbeitenden Forscher auf dem Gebiet der Vererbungslehre willkommen wären. Unter den Cladoceren scheint die Gattung Acroperus ähnliche Verhältnisse zu zeigen, wie später einmal in dem von der Station in Lunz herauszugebenden Bericht über die Lunzer Fauna gezeigt werden soll. Einzelberichte. Chemie. Fortschritte in der Darstellung künstlichen Kautschuks. Auf der diesjährigen Tagung der Deutschen Bunsengesellschaft für an- gewandte physikalische Chemie gab Geheimrat Prof Dr. Duisberg einen interessanten Über- blick über den gegenwärtigen Stand des Kaut- schukproblems. ') Der Kautschuk oder Gummi elasticum wurde bekanntlich bisher ausschließlich aus dem Milchsaft tropischer Pflanzen gewonnen. Diese Art der Darstellung kam jedoch für die Mittelmächte während des Krieges infolge der abgeschnittenen Überseezufuhr nicht mehr in Frage, so daß, nachdem die Vorräte an Roh- produkten aufgebraucht waren und die Regene- ration alter Kautschukfabrikate sich als ein auf die Dauer nicht ausreichender Behelf erwiesen hatte, auch auf diesem Gebiete die synthetische Chemie sich als die Retterin in der Not erweisen mußte. Dies ist ihr denn auch trotz der großen Schwierigkeiten gerade dieses Problems gelungen und zwar in solchem Maße, daß man die be- gründete Erwartung hegen darf, auch in der künftigen Friedenszeit die synthetisch hergestellten Kautschukwaren noch als konkurrenzfähige Er- zeugnisse auf dem Markte zu erhalten und bei weiterer Entwicklung dieses Industriezweiges den natürlichen Gummi durch das Kunstprodukt übertroffen und zum mindesten im Inlande völlig aus dem Felde geschlagen zu sehen. Zwar war die künstliche Synthese des Kautschuks bereits ') Vgl. Zeitsclir. f. .ingewandte Chemie 31, S. 242 f. (1918). vor dem Kriege geglückt (1909 F. Hofmann und Harries); auch hatte man bereits versucht, die Gewinnung desselben dadurch wirtschaftlich zu gestalten, daß man nicht von dem verhältnis- mäßig schwieriger darzustellenden Isopren (Methyl- butadien) sondern von dessen Homologen, dem Dimethylbutadien ausging, das leicht durch Ein- wirkung von Aluminium auf Aceton erhalten werden kann. Auf diese letztere Weise wird ein zwar mit dem natürlichen Kautschuk nicht völlig identisches, ihm in seinen Eigenschaften aber sehr nahekommendes Produkt, der „Methylkautschuk" erzielt. Der gerade zur Zeit dieser Entdeckungen einsetzende plötzliche Sturz der Kautschukpreise von fast 30 M. auf 4 M. pro kg infolge der über- reichen Erträge der neuangebauten südasiatischen Plantagen erstickte jedoch die junge Industrie schon im Keime. Aber an dieser Stelle, an der man damals die Versuche abbrach, lehrte der Krieg den Hebel wieder ansetzen. Zur Dar- stellung des Acetons, des wichtigsten Ausgangs- produktes für die Synthese des Methylkautschuks, benötigte man früher auch noch eines hauptsäch- lich im Ausland (in den Vereinigten Staaten) dar- gestellten Produktes, des „Graukalks" (d. i. rohes Kalziumacetat). Es gelang jedoch nunmehr, ein anderes, der Wissenschaft auch schon vor dem Kriege bekanntes, Verfahren zur Herstellung des Acetons für den Großbetrieb einzurichten, das uns bezüglich dieses, auch für die Munitionsindustrie wichtigen, Rohstoffs nun vom Ausland gänzlich unabhängig macht, das „Karbidverfahren". Nach N. F. XVIII. Nr. I Naturwissenschaftliche Wochenschrift. diesem wird billig herzustellendes Acetylengas durch katalytische Anlagerung von Wasser in Acetaldehyd, letzteres durch Oxydation in Essig- säure und diese wiederum unter Vermittlung eines Katalysators durch Abspaltung von Kohlen- säure in Aceton übergeführt. Das Aceton läßt sich durch Einwirkung von Aluminium zu Pina- kon reduzieren, welches durch Wasserabspaltung Dimethylbutadien liefert. Dieses geht schließlich durch Polymerisation in Methylkautschuk über. Von diesem Produkt werden jetzt bereits jährlich 2000 t synthetisch dargestellt, das ist '/s des ge- samten Bedarfs an Kautschuk. Auch der ratio- nellen Darstellung des mit dem besten Natur- kautschuk völlig identischen sog. Isoprenkautschuks stehen keine unüberwindlichen Schwierigkeiten mehr im Wege, da es in neuester Zeit auch ge- lungen ist, das Ausgangsprodukt dieses Körpers, das Isopren billig zu fabrizieren. Die charakteristischste Eigenschaft des Kaut- schuks: seine Elastizität ist an ein bestimmtes Temperaturintervall gebunden. Rohkautschuk er- weist sich nur zwischen 15 und 20" als elastisch; bei o" ist er bereits hart wie Holz. Durch be- stimmte Bearbeitung (mäßiges Vulkanisieren) ist es bekanntlich möglich, diesen Elastizitätsbereich auf ein etwas größeres Temperaturintervall aus- zudehnen. Bei dem Methylkautschuk liegt aber das gesamte Elastizitätsgebiet bei einer höheren Temperatur. Deshalb eignet sich dieses Produkt weniger zur Herstellung von Weichgummi- gegenständen. Das daraus durch starke Vulkani- sation gebildete Hartgummi dagegen ist dem aus natürlichen Kautschuk oder aus künstlichem Isoprenkautschuk erhaltenen nicht nur vollkommen gleichwertig, sondern in mancher Hinsicht so- gar überlegen. Ein russischer Forscher I. O s t r o - mysslenski^) hat nun gefunden, daß eine andere synthetisch darstellbare Kautschukart, der Erythren- kautschuk gerade bezüglich der elastischen Qualitäten den natürlichen Kautschuk übertrifft und ihm also zur Herstellung von Weich- gummiwaren vorzuziehen ist. Wie der Methylkautschuk aus dem nächsthöheren Homo- logen des Isoprens so wird der Erythrenkautschuk aus dessen nächstniederem Homologen, dem Ery- thren (=; Butadien) dargestellt. Ostromys- slenski hat nicht weniger als zwanzig Verfahren hierfür ausgearbeitet, von denen die Zukunft das technisch brauchbarste auszuwählen haben wird. Auch die Konstitutionsformel des Kautschuks glaubt dieser Verfasser aus seinen Untersuchungen erschließen zu können. Danach wäre der natür- liche Kautschuk ein Oktomeres des Isoprens, d. h. ein aus acht Molekülen Isopren aufgebautes Kondensationsprodukt, in der chemischen Formel- sprache: (C(jHg)g. Entsprechend wäre der Methyl- kautschuk durch die Formel (CgHi(,\ ""^ der Erythrenkautschuk durch (QHe)g darzustellen. Dieses letztere Produkt, das sich in der Natur ■) Journ. russ. phys.-chem. Ges. 47, S. 1374 ff. nicht vorfindet, dürfte sich, sobald es sich erst im Großbetrieb wirtschaftlich gewinnen läßt, wegen seiner vorzüglichen elastischen Eigenschaften viel- leicht zu einem für die Herstellung von Weich- gummigegenständen auf dem Weltmarkte kon- kurrenzlosen Idealkautschuk entwickeln. R-y. Physik. Schon früher (Bd. 1$, 1916, S. 589) wurde über die große Hörweite des Geschützfeuers, ihre physikalischen Ursachen und die Abhängig- keit vom jeweiligen Zustand der Atmosphäre be- richtet. M. M. Collignon (Comptes rendus Ac. Paris, Bd. 167, 9) hat drei Jahre lang (1915 bis 1917) in Louviers (25 ü. M.), 130 km von der Front von Lassigny und 170 km von der von Arras und St. Quentin entfernt Beobachtungen gemacht, aus welchen hervorging, daß die Er- scheinung jahreszeitlichen Schwankungen unter- liegt. Die große Hörweite machte sich von Anfang Mai bisAnfang September bemerk- bar, während in der übrigen Zeit des Jahres fast völliges Schweigen herrschte. Kathariner. Zur Orientierung von Luftschiffen und Flug- zeugen kann man nach Dieckmann die draht- lose Telegraphie in folgender Weise verwenden. Eine ortsfeste Station sendet von Zeit zu Zeit mit gleichbleibender Intensität vereinbarte Zeichen aus. Je weiter das empfangende Luftschiff von der Gebestelle entfernt ist, desto schwächer wird es die Zeichen empfangen, was sich mit Hilfe der Parallelohmmethode oder mittels Seitengalvano- meters feststellen läßt. Sind drei ortsfeste sendende Stationen vorhanden, so läßt sich das Lautstärken- verhältnis der ankommenden Zeichen und damit das Verhältnis der Abstände der Bordstation von den festen messen ; daraus kann man den Schiffs- ort berechnen. Voraussetzung, nach dieser Methode zuverlässige Resultate zu erhalten, ist natürlich, daß die festen Stationen stets mit gleichbleibender Intensität senden, daß also die Dämpfung der Sendestationen konstant ist. Ist das z. B. bei einer derselben nicht der Fall, so wird das bei der Bordstation gemessene Lautverstärkeverhältnis ver- ändert, und damit wird auch die Entfernung ge- fälscht. Eine Kontrolle der Dämpfung der Sender- anlage ist daher von Wichtigkeit. H. Wiesent beschreibt im Jahrbuch f. drahtl. Telegr. u. Telephonie XII (191 7) S. 330 einen direkt zeigenden Dämpfungsmesser, an dem das logarithmische Dekrement der Senderschwingungen zwischen 0,75 und 0.04 mit einer Genauigkeit von etwa 0,2 % abgelesen werden kann. Zwei mit ihren Ebenen um 45" gegeneinander geneigte Kurzschlußringe aus sehr dünnem Messingblech sitzen starr miteinander ver-, bunden an einer vertikalen Achse aus Glas. Jeder der Ringe liegt im Innern einer Spule von 10 cm Durchmesser aus Litzendraht (36 Windungen), die lO Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVHI. Nr. I einen Winkel von 90" miteinander bilden. Die eine Spule befindet sich in Resonanz mit der Sender- anlage, die andere ist um einen bestimmten Be- trag verstimmt. Beide beeinflussen elektrodyna- misch die Kurzschlußringe, die eine Ruhelage auf- suchen. Diese ist nur durch die Dämpfung bedingt; sie ist unabhängig von Koppelung und Frequenz. An der Skala, über welcher der mit dem Ring- system verbundene Zeiger spielt, Hest man die Dämpfung direkt ab. Seh. Meteorologie. W.Krebs führte neulich in den Artilleristischen Monatsheften ') mehrere Beispiele aus der Geschichte von Friedrichs des Großen Zeit bis zur Gegenwart dafür an, daß der Schall des Geschützdonners durch Gewitterluft stark ge- dämpft wird, und daß dies in einigen Fällen auch Bedeutung für die Strategie gehabt hat. Zur Erklärung jener physikalischen Tatsache führt A. Schmauß-) an: bei einem Gewitter ist der Bewegungszustand der Atmosphäre einer un- gehinderten Schallausbreitung stets hinderlich: auf der Vorderseite des Gewitters weht der Wind zum Gewitter hin, die Rückseite des Gewitters besteht aus den auf die Böenlinie zustürzenden Luftmassen, die sicli also ebenfalls vom Beobachter entfernen. — Der einzige für die Schallausbreitung förderliche Bewegungszustand der Atmosphäre ist bekanntlich der des heranfahrenden Windes, dessen Stärke, wie es fast immer in Erdnähe der Fall ist, mit der Höhe wächst; denn dann entsteht eine zur Erdoberflache konkave Wellenfront, die wie eine Rotunde wirkt. — Außerdem vertritt Schmauß die Ansicht, fast jedem Gewitter gehe ein Wirbel mit hori- zontaler Achse voran, der auch die Einleitung des Gewitters bilde, und auch dieser Wirbel schaffe einen Luftraum, aus dem der Schall nur schwer nach außen dringt. Aus diesen Gründen ist denn auch die Hörweite des Gewitterdonners im Verhähnis zur Reichweite des Geschützdon- ners im allgemeinen gering, eine Tatsache, auf die wiederum erst der Krieg die Aufmerksamkeit gelenkt hat. Noch mehrere Tatsachen, wie die verminderte Stärke des Donners bei sehr vielen Blitzen, die ihrerseits eine Folge gewaltiger Ver- tikalbewegung sind, und die vergrößerte Reich- weite des Geschützdonners im Winter, in der Jahreszeit mit verminderten Gewittern, zeigen die Bedeutung des Bewegungszustands der Atmosphäre für die Schallausbreitung an und rechtfertigen den Satz: „die größte akustische Trübung, die man sich denken kann, ist ein Gewitter." ^) V. Franz. 1) November/Dezember 1917, Nr. 131/132. 2) A. Schmaui3, Die Hörweite des Donners. Meteoro- logische Zeitschr. Juli/August 1918, S. 183 — 184. ') Wie Schmauß an eleichem Orte vermutet, würde die oft gehörte Behauptung, daß starker Geschützdonner schlechtes Wetter im Gefolge habe, nur darauf beruhen, daß oft Wind- wcchsel, der Vorbote einer Witterungsveränderung, die Hörbarkeit des Geschützdonners plötzlich verstärke. Es sind aber zahlreiche auf diese Weise nicht zu widerlegende Be- obachtungen für obige (gewiß höchst strittige) Behauptung herangezogen worden. Geologie. Zur Geologie und Tektonik des Rügener Steilufers veröffentlicht Otto Jaekel Untersuchungen in der Zeitschr. d. Deutschen Geol. Gesellschaft, 191 8. Diese Untersuchungen sind auch für die Kennt- nis der Tektonik des östlichen, norddeutschen Flachlandes sehr wichtig. Fhillippi hatte die Störungen der Kreide und des Diluviums als vom diluvialen Eise herrührend erkannt. In einer früheren Abhandlung schon war Jaekel anderer Meinung gewesen. Am Jasmunder Steilufer, bei Möen, Ankona, steht die nach seinen'neuen Untersuchungen 300 rn mächtige obersenone Mukronatenkreide an. Weil das Danien, das erst westlich von Stewns Klint als ufernahe Flachseebildung beobachtet wurde, hier fehlt, ist anzunehmen, daß am Ende des Senons die Mukronatenkreide gehoben wurde. Da tertiäre Bildungen fehlen, ist es sehr wahr- scheinlich, daß Rügen seit der postmukronaten Hebung Festland geblieben ist. Zu Beginn des Diluviums bildete daS Land zwischen Schwe- den, Rügen, Möen eine ebene Fläche, auf die sich konkordant der unterste diluviale Geschiebemergel absetzte. Die ebene Kreidefläche war etwas nach Süden und Südwesten geneigt. Darauf schob sich von der fennoscandischen Platte das Inlandeis leicht nach Süden und Südwesten. Der unterste oder erste Geschiebemergel keilt am Jasmunder Steilrand aus. In Saßnitz scheint er zu fehlen. Nach Westen (Hamburg zu) steht er weiter an. Wie der erste Geschiebemergel zeigen auch die Sande und Kiese des ersten Interglazial eine große Einheitlichkeit. In die Sande und Kiese dieser Interglazials schalten sich hier und da sandige Tone ein, Absätze stehender oder ganz flach fließender Wassertümpel. Wechsel- schichtigkeit zeichnet die Sande aus. Nicht Eis- bedeckung hat diese wechselschichtigen Sande und eingeschalteten Tonbänder erzeugt, sondern sie verdanken ihre Entstehung den Wassern vor dem Eisrande. Er bezeichnet die Flächen, auf denen dieses Intcrglazial sich ablagerte, als „Fließ- flächcn". Von E. Bruckmann wurdejS/S aus diesen Schichten bei Saßnitz eine Flora und eine Fauna beschrieben. ^- Pine zweite^Vereisung'trat" ein, setzte einen zweiten, einheitlichen Geschiebemergel ab, der nur ganz vereinzelt schwache 'Sandschmitzen ein- schließt. Er ist 7—12 m mächtig, tiefgreifend verwittert. Sein blaugrau hat sich in eine gelb- liche braune Lehmfarbe abgeändert. Neu von Jaekel wurde das zweite Intergla- zial aufgefunden. Zwischen den Prinzenhäusern und del- f „Blase" bei Saßnitz besitzen diese Schichten ihre größte Mächtigkeit. Holzreste und mehrere kohlige Schmitzen sprechen für eine zeit- weise Eisfreiheit dieser Gebiete. Die von mehre- ren Orten Rügens vorliegenden Zähne von Elephus primigenius stammen wahrscheinlich aus diesen Schichten, N F. XVni. Nr. I Naturwissenschaftliche Wochenschrift. II Nun setzten nach Ablagerungen dieser Diluvial- schichten tektonische Störungen ein, die als Rand- bewegungen der fennoskandischen Masse zu deuten sind. Der ganze östliche Rand von Jasmund wurde zur Antiklinale aufgewölbt. Der Sattel streicht von NW — SO. Weiter westlich folgt ein zweiter bei Möen. Jasmunds Ostufer läßt nur den westlich einfallenden Flügel dieser Antiklinale er- kennen. Am Ende der zweiten Interglazialphasc trat jenes gewaltige Ereignis ein, das nicht nur die Gegend von Rügen, sondern weite Gebiete zwischen Skandinavien, Dänemark bis zu den Sudeten hin durch die „baltischen Brüche" in Schollen zerriß. Zahlreiche Dislokationen im Untergrunde von Stralsund, Greifswald, in Mecklenburg, wo ältere Schichten bis zum Lias horstartig auftauchen, haben diese „baltischen Brüche" zur Ursache. Weiter werden viele bisher durch glazialen Druck entstanden erklärte Schichtenstörungen in Nord- deutschland auf diese Weise verständlich werden. In Rügen erreichten diese Störungen Sprunghöhen von lOO m. Als Zeitpunkt dieser so ausgelösten Erdbeben nimmt Jaekel die jüngere Phase des Paläolithikums an ( ?Magdalenien). Als unmittelbare Folgen der baltischen Brüche sind die zahlreichen Faltungen der Kreide in Jasmund anzusehen. Dort traten sie auf, wo die vertikalen Bewegungen nicht sehr groß waren. Wo sich in diesen Kollokationen ein Rückstau gegen das Bruchgebiet geltend machte, wurden durch Translokationen bei schroffen Höhendiffe- renzen sanftere Ausgleiche geschaffen. Über die abgesunkenen Diluvialschichten legten sich die Steilwände der weichen Kreide und preßten die eingekeilten Diluvialschichten zusammen. Zu den Nachwirkungen sind auch die scharf eingeschnitte- nen Erosionsrinnen zu zählen. Eine dieser Rinnen (Grautippen am Tipper Ort) enthält im unteren Teil Schutt aus abgeschlämmter Kreide, vielen Feuersteinen und nordischen Geschieben. Über diese gestörte Landoberfläche zog nun zum dritten Male das Inlandeis. Die entstande- nen und nun vorhandenen Bergzüge mußten vom Inlandeis der dritten Vereisung überstiegen werden. Die Höhen wurden abgetragen. Die normale Grundmoräne wurde stellenweise durch eine Lokal- moräne ersetzt, die zwar aucü nordisches Material enthält, aber in ihren\ unteren Teile vorzugsweise aus abgehobelten Lokalgesteinen besteht. Schich- tung zeichnet diese Lokalmoräne aus.' In den toten Winkeln, die dem vorrückenden Eise entrückt waren, wurde der aufgewühlte Grundschutt nor- mal sedimentiert. Auf der Seeseite von Höhen bildet sich die „Seemoräne" mit durch „Walz- schichtung" abgelagerter Grundmoräne. IDie in der überschrittenen Fläche befindlichen Vertie- futigcn konnten mühelos vom Eise überschritten werden. In ,, Subjektionen" wurde Moränenschutt in die Vertiefungen hineingepreßt und oftmals die Vertieiung durch Zusammenpressen der plastischen Kreide in Zwickel oder Taschen umgewandelt. Diese dritte Vereisung wirkte beim Vorwärts- dringen auf die weichen Kreidemassen abtragend. Erst auf dem Wege des Rückzuges setzte sich eine Grundmoräne auf der abgehobelten Kreide oder auf den Subjektionen ab. Durch Schmelz- wasser wurden sowohl die Oberfläche der Kreide als auch die der Diluvialschollen abgewaschen und die Schlämmprodukte vermischt. Durch Absturz an den Prinzenhäusern konate unter den posttektonischen Diluvialgebilden ein i6 m-mächtiger braungrauer Geschiebemcrgel, ein 12 m mächtiges sandiges Interglazial und ein ober- ster 2 m mächtiger hellgrauer Geschiebemergel nachgewiesen werden, so daß also in Rügen wie in den Alpen vier Eiszeiten nachgewiesen worden wären mit vier Geschiebemergeln und drei Inter- glazialen. Zwischen die beiden älteren gestörten und die beiden jüngeren ungestörten Geschiebe- mergeln schieben sich die tektonischen Erschei- nungen der „baltischen Brüche" ein. Rudolf Hundt. Bücherbesprechungen. V. Haecker. Entwicklungsgeschichtliche Eigenschaftsanalyse (Phänogenetik). Ge- meinsame Aufgaben der Entwicklungsgeschichte, Vererbungs- und Rassenlehre. Jena, G. Fischer 1918. 344 S. 181 Abb. — 12 M. Den gewaltigen Aufschwung, welchen die Lehre von den Vererbungsvorgängen seit der Jahrhundert- wende genommen hat, verdankt sie bekanntlich der Wiederentdeckung der Mendel'schen Regel. Von dem einfachsten Grundbeispiel mit seinen klaren Zahlenverhältnissen ausgehend, hat die For- schung allmählich auch andere Fälle aufzuklären vermocht, die auf den ersten Blick ganz und gar nicht in die Regel hineinzupassen schienen. Wenn z. B. ein für unser Auge einheitlich erscheinendes Merkmal erst durch Zusammenwirken mehrerer Faktoren entsteht, deren jeder für sich der Mendel'schen Regel folgt, so müssen in der Verteilung dieses Merkmals auf die Gesamtzahl der Nachkommen vom Grundschema abweichende Zahlenverhältnisse entstehen. Durch planmäßige Kreuzung ganz bestimmter Individuen, insbesondere durch Rückkreuzung mit den Eltern kann die hypothetische Auffassung, die man sich im einzelnen Fall gebildet hat, geprüft und gegebenenfalls be- wiesen werden. Die heute, nach fast 20 Jahren Mendel forschung, schon sehr weit vorgeschrittene Analyse einzelner Formen scheint fast zu zeigen, daß es kaum erbliche Unterschiede geben mag, die sich nicht letzten Endes in das Grundschema 12 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVni. Nr. I einfügen ließen. Allererste Voraussetzung für diese moderne Auffassung der Vererbungsvorgänge ist die Anschauung der Erbfaktoren als selbständiger Einheiten, die somit im Wechsel der Gene- rationen in den verschiedensten Kombinationen zusammen- und auseinandertreten können wie die Paare beim Reihentanz. So scheint die heutige Forschung zu einer atomistlschen Grundauffassung des Lebenden zu führen, wie eine solche ja auch hervorragend fruchtbar für die Entwicklung der anorganischen Naturwissenschaft gewesen ist. Nur zu leicht wird man daher versucht, die Parallele noch weiter zu ziehen und den Erbfaktoren selbständige Wesen- heit als räumlich abgegrenzter Partikelchen im Keimplasma zuzusprechen. Das ist aber keines- wegs notwendig, zumal ein bedeutsamer Unter- schied zwischen den Vorgängen in der anorga- nischen und der organischen Natur gegeben ist durch die für die letztgenannte so charakteristische Tatsache der Entwicklung. Jede Eigenschaft eines Organismus entsteht ja zu einer ganz be- stimmten Zeit seiner Entwicklung als Folge einer ganzen Reihe von Ursachen. Gelänge es, diese Ursachenkette lückenlos rückwärts zu überblicken bis in die noch unentwickelte Keimzelle zurück, dann hätten wir damit den dieser Eigenschaft zu- grunde liegenden Erbfaktor in seiner Wesenheit erkannt. — Diese Art der Erforschung der Erb- vorgänge, die gleichsam auf dem Wege einer Biographie des E i n z e-1 i n d i v i d u u m s unserem Kausalerkenntnisdrange gerecht zu werden versucht, erfordert damit ganz andere Methoden als die reine Mendelforschung sie liefern kann, die ja doch stets ihre Folgerungen auf Massen- erscheinungen aufbaut, also im Gegensatz zur biographischen doch letzten Endes eine sta- tistische Methode ist. Phänogenetik, d. h. Wissenschaft von der Entstehung der Erscheinung, nennt Ha eck er, der schon auf den Gebieten der Keimzellenforschung ebenso wie auf dem der Mendel forschung gleicher- maßen bekannte Hallenser Zoologe, dieses neue Forschungsgebiet , das somit von einer dritten Seite her auf die Geheimnisse der Vererbungs- vorgänge Licht werfen soll. „Neues" Forschungs- gebiet ist allerdings etwas zu viel gesagt, denn entwicklungsgeschichtliche und besonders ent- wicklungsmechanische Untersuchungen, aus denen ja in erster Linie die Anschauungen auf diesem Gebiet genährt werden können, wurden ja lange vor der Wiederentdeckung der Mendel sehen Regel betrieben. ,,Neu" ist vielmehr nur der Standpunkt, von dem aus die Tatsachen betrachtet werden, also ihre gedankliche Verbindung mit den Ergebnissen der Vererbungslehre. Das zugesetzte „nur" soll dabei natürlich keine Wertbeschränkung ausdrücken: im Gegenteil, es ist bewundernswert, wie selbst dem Zoologen sonst entlegene Teil- gebiete der Wissenschaft, wie Pathologie, Anthro- pologie, Tierzucht usw. verarbeitet sind, und wie- viel tatsächlich schon für dieses neue Teilgebiet der Biologie dabei herauskommt. Manche ein- gestreute Bemerkungen über einzelne in Museen und Instituten hier und da vorhandene besonders interessante Objekte, wohl bei gelegentlichen Be- suchen des Verfassers an Ort und Stelle notiert, weisen darauf hin, daß es sich um Gedankengänge handelt, die in langen Jahren heranreiften. Und schließlich hat Haecker durch — z. T. noch unveröffentlichte Untersuchungen seiner Schüler — bestimmte Teile des neuen Wissensgebiets plan- mäßig selbst in Bearbeitung genommen. Wenn trotzdem nicht alle Seiten des tierischen Organismus gleichmäßig der phänogenetischen Lupe unterstellt werden, so liegt das daran, daß es sich eben um ein neues Gebiet handelt, das gleichmäßig zu überblicken erst nach Jahrzehnten angestrengter Arbeit Vieler möglich sein wird. Im vorliegenden Buch werden in erster Linie einige allgemeine Eigenschaften wie Größe (Kap. 3), Symmetrieverhältnisse (Kap. 4), dann besonders die verschiedene Ausgestaltung der Abkömmlinge des Ektoderms (Haare, Federn, P'arbe, Zeichnung: Kap. 5 — 19) behandelt. Denn hier ist ja sowohl die Mendelforschung wie die phänogenetische Analyse weitaus am weitesten vorgeschritten. Dagegen kommen die gerade für menschliche Rassenfragen so eminent wichtigen Teile wie Schädel (Kap. 22), Hirn usw. viel schlechter weg, weil hier beide Forschungsgebiete noch nicht über tastende Vorversuche hinaus gediehen sind. — An einem Beispiel sei kurz die Art der Behandlung des Themas klar gemacht: die Zeichnung der Wirbeltiere — man denke besonders an die schon von Eimer zu phylogenetischen Spekulationen benutzte Längs- und Ouerstreifung — ist von der kausal-entwicklungsgeschichtlichen Forschung in einen mutmaßlichen Zusammenhang mit den z. T. ähnlich angeordneten Nerven und Blutgefäßen ge- bracht worden. Nachdem Haecker die diesen Hypothesen z. T. entgegenstehenden Schwierig- keiten erörtert hat, zeigt er für sein spezielles Objekt, den Axolotl, durch genaue direkte Unter- suchung der Zellvermehrungsverhältnisse in der Epidermis, daß es das rhythmische Wachstum der Haut ist, welches hier die charakteristische Aus- breitung der Zeichnung bedingt, womit der An- schluß an die ganz ähnlichen Verhältnisse bei Pflanzen (weiße Flecken grüner Blätter) gewonnen ist. Für eine noch weitere Zurückbegründung dieser Wachstumsverhältnisse auf andere mit der Organ- und Keimblattbildung und schließlich der Furchung zusammenhängende können vor- läufig nur Mutmaßungen geäußert, doch noch nichts sicheres ausgesagt werden. Diese an einem nackten Landwirbeltier gemachten Fest- stellungen lassen nun Schlüsse zu auf die wahr- scheinlichen Ursachen der Zeichnung bei den be- haarten und befiederten Formen, wenngleich be- sonders bei den letztgenannten die Verhältnisse kompliziert werden durch den hohen Grad von Selbständigkeit, den das einzelne Federindividuum besitzt. — In ähnlicher Weise wie im vorliegenden N. F. XVIII. Nr. I Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 13 Beispiel gestaltet sich auch in den übrigen Aus- führungen Haeckers das Prozentverhältnis zwischen bloßer Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit der kausalen Zusammenhänge einerseits und der ge- nauen Analyse derselben selbst andrerseits, wie das ja bei der Neuheit der Fragestellung und der Schwierigkeit der Beantwortung nicht anders sein kann. Sehr genau wird stets für die einzelnen Eigen- schaften, soweit es bekannt ist, auch ihr Verhalten beim Kreuzungsexpenment referiert. Das hat seinen besonderen Grund. Haeckers Buch will nämlich mehr als eine bloße Sammlung des bis- her Bekannten auf dem Gebiet der Phänogenetik sein; er versucht darüber hinaus aus der Synthese der Ergebnisse dieses Gebietes mit denen der Mendelforschung eine allgemeine Erkenntnis ab- zuleiten, die er als die ,, entwicklungsgeschichtliche Vererbungsregel" folgendermaßen formuliert: „Merk- male mit emfach- verursachter, frühzeitig autonomer Entwicklung weisen klare Spaltungsverhältnisse auf. Merkmale mit komplex-verursachter, durch Korrelationengebundener Entwicklung zeigen häufig die Erschemung der unregelmäßigen Dominanz und der Krcuzungsvariabilität, sowie ungewöhnliche ZahlenverhältnisbC." So zeigen, um seinen Ge- dankengang wieder an einem der vielen Beispiele klar zu machen, die Farbenunterschiede der Nager sehr klare Zahlenverhältnisse im Kreuzungsexperi- ment — sind sie doch zum Schulbeispiel der Mendelforschung geworden — ; dementsprechend handele es sich hier auch um einfache Kausal- verhältnisse, nämlich allgemeine Unterschiede im Chemismus der sämtlichen Epidermiszellen. Da- gegen ist z. B. die Scheckzeichnung derselben Tiere einer von jenen Fällen, die bisher noch immer hartnäckig einer mendelistischen Erklärung trotzen ; entsprechend weise auch hier die Lage der verschiedenen Flecken in der Nähe hochdiffe- renzierter Organe wie Auge, Ohr, Kreuzbein usw. auf eine durch Korrelationen mitbestimmte Kausal- entwicklung hin. — Wenn nun aber wirklich zwischen beiden Forschungsgebieten derartige Zusammenhänge bestehen, welcher Art sind die- selben ? Bei Beantwortung dieser Frage faßt Haecker besonders die Möglichkeit ins Auge, daß die Erbfaktoren doch nicht in dem Maße selbständige Einheiten sind wie das die extremen Mendelianer annehmen, und wie es auch am Ein- gänge dieser Besprechung auseinandergesetzt wurde. Sondern er hält die Möglichkeit lür ge- geben, daß, wenn wir schon im fertigen Organis- mus weitgehende Beeinflussung entfernt liegender Teile finden — man denke z. B. an die Tatsachen der inneren Sekretion — , daß dann auch eine gegenseitige „Befleckung" der Erbanlagen inner- halb der Keimzelle wohl denkbar sei. Je größer aber die Zahl der die Entwicklung einer Eigen- schaft überhaupt bestimmenden Plasmaqualitäten sei, um so leichter sei eine solche „Verunreinigung" möglich, und damit die Störung der Zahlenverhält- nisse in der Nachkommenschaft gerade bei kom- plex verursachten Eigenschaften bedingt. Im Zusammenhang mit dieser Anschauungsweise steht 'dann, daß er auch in der Frage der Vererbung erworbener Eigenschaften einen zwischen den Extremen vermittelnden Standpunkt einnimmt, der — wohl zum erstenmal — diesem Problem in einer mehr logischen Weise beizukommen sucht, die allerdings jedem, der in der Annahme einer Pluripotenz mit Haecker übereinstimmt, selbst- verständlich sein wird. Auf einen Punkt möchte ich zum Schluß noch die Aufmerksamkeit lenken, der von Haecker im Gegensatz zu den meisten auf dem Gebiet der Vererbungs- und Rassenlehre arbeitenden Autoren wenigstens in Erwägung gezogen wird, nämlich auf die Beziehungen der hierher gehörigen Tatsachen zu den Problemen der Domestikation. Haecker bemüht sich an mehreren Stellen dar- zutun, daß die Domestikation keine spezifische Ursache für die in ihr auftretenden Veränderungen sei. Zugegeben selbst, daß Domestikation aus dem tierischen Organismus nur das herausholen kann, was er auch im freilebenden Zustande schon potentiell besitzt, so darf doch andererseits nicht verkannt werden, daß weitaus die größte Zahl der Abänderungen und besonders die bedeutend- sten uns ausschließlich bei Tieren im Zustande der Domestikation erst bekannt sind, und daß nur sehr wenige relativ einfache — Haecker führt auf: Albinismus, Schwanzlosigkeit, Weißbunt- heit bei einigen Vögeln — aucn gelegentlich bei freilebenden Formen beobachtet werden. Bei dieser fast ausschließlichen Gründung unserer An- schauungen über die Vererbungserscheinungen auf domestizierte Tiere (im weitesten Sinne) sollte man dem Studium der Domeslikationsprobleme doch ein ganz besonderes Interesse widmen, wäh- rend in Wahrheit die meisten Zoologen heute noch die Beschäftigung mit diesen als nicht recht vollwertige Wissenschaft betrachten dürften. B. Klatt. Oskar Hertwig, Zur Abwehr des ethischen, des sozialen, des politischen Darwi- nismus. 119 Seiten. Jena 1918, Verlag von G. Fischer. — Preis geh. 4 M. Vor drei Jahren erschien Oskar Hertwig 's umfangreiches Werk über ,,das Werden der Or- ganismen", in dem er darlegt, daß die Selektions- oder Zufallstheorie Darwin 's sich als unhaltbar erwiesen hat und nicht mehr als Erklärungs- prinzip der Abstammungslehre in Betracht kommt. ^) Wie reges Interesse dieses Werk ge- funden hat, das zeigt bereits zur Genüge die Tat- sache, daß es trotz Krieg heute schon in zweiter Auflage vorliegt. In seinem „Werden der Or- ganismen" hat Hertwig sich fast ausschließlich mit dem biologischen Darwinismus beschäf- tigt und nur kurz darauf hingewiesen, wie bald ') Vergl. die Besprechung in N. F. Bd. 16, 1917, dieser Zeitschrift, Seite 365. 14 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVni. Nr. I nach dem Erscheinen von Darwin's Hauptwerk der „Kampf ums Dasein" zu einem universalen Erklärungsprinzip wurde, zu einem allgemeinen Schlagwort, dessen sich nicht nur die Natur- wissenschaften, sondern auch Rechts- und Staats- wissenschaften, Nationalökonomie, Kunst und Religion in gleicher Weise bedienten. Gegen diesen ethischen, sozialen und politischen Darwinismus wendet sich Hertwig nun in einer neuen Schrift. Auch diese Arbeit kann der Aufmerksamkeit weitester Kreise sicher sein, be- handelt sie doch Fragen, die heute die ganze denkende JVIenschheit bewegen : Werden Recht und Sitte, für die in mehr als vier schweren Kriegsjahren mancherorts die Begriffe fast gänz- lich geschwunden zu sein scheinen, nicht nur wiederkehren, sondern auch sich weiter ent- wickeln und vervollkommnen? Gibt es noch Wege, das Menschengeschlecht zu heben und zu veredeln und einer glücklicheren Zukunft ent- gegenzuführen? Und vor allem: Wird es ge- lingen, Kriege zwischen Kulturnationen in Zukunft dauernd unmöglich zu machen, oder werden unsere Nachkommen ebenfalls das Schauspiel eines sich selbst zerfleischenden, von Blut trie- fenden Europas erleben? Ehe Hertwig zur Kritik des übertragenen Darwinismus übergeht, gibt er eine kurze Zu- sammenfassung seines Urteils über Darwin's Theorie im biologischen Sinne, zu dem er in seinem „Werden der Organismen" gekoinmen ist. Er übt vor allem scharfe Kritik an den seit Darwin „zu einer Art wissenschaftlicher Münze gewordenen Redewendungen": Kampf ums Dasein, Wettbewerb oder Konkurrenz in der Natur, Zucht- wahl, künstliche und natürliche Auslese u. ä. Der Nahrungsmangel, den Darwin voraussetzt, be- steht normalerweise in der Natur überhaupt nicht, und selbst wenn wir einen dauernden Kampf ums Dasein hätten, so wäre die dabei erfolgende Auslese doch nicht imstande. Neues zu schaffen, sie ist kein schöpferisches Prinzip und keine treibende Kraft in der Entwicklung. Und wo in der Natur ein Kampf ums Dasein geführt wird, da vermag ein kleiner Vorteil in irgend einer Eigenschaft anderen Individuen gegenüber nur in seltenen Fällen vor der Vernichtung zu be- wahren, mit anderen Worten, der Selektionswert mancher Eigenschaften ist außerordentlich gering. Dem Darwinismus, der die Veränderungen der Lebewesen auf Zufall beruhen läßt, stellt Hertwig den Lamarekismus oder, wie er sie mit Nägel i nennt, die Theorie der direkten Bewirkung gegenüber, die das Variieren der Organismen nach Entwicklungsgesetzen vor sich gehen läßt, „die sich aus der Natur der organisierten Substanz der Lebewesen und aus ihren Beziehungen zu der sich verändernden Umwelt, also aus dem Zusammentreffen innerer und äußerer Ursachen und den hieraus fol- genden Wirkungen ergeben." Von den Versuchen, die Prinzipien des Daseins- kampfes und der natürlichen Zuchtwahl auf die menschliche Gesellschaft zu übertragen, befaßt sich Hertwig zunächst mit den Bestrebungen der „Entwicklungsethike r". Ihre Welt- anschauung steht in schroffem Gegensatz zu der christlich-humanen. So spricht Tille, einer der extremsten Entwicklungsethiker, es offen aus, daß das christliche Ideal der absoluten Nächsten- liebe sich vor den ehernen Gesetzen des Darwi- nismus nicht retten läßt, jenes „sichere dem Elenden die Fortpflanzung", es vermehre „das Unglück in der Welt mit jedem Geschlecht"; „das einzig sichere Mittel zur Hebung der Gattung" ist und bleibt nach seiner Ansicht „die Aufrechterhaltung der natürlichen Auslese" und „das Recht des Starken gegenüber dem Schwachen", es muß nach Tille ,,die geltende Moral bedingungslos fallen". Ähnliche Ansichten haben Haeckel, Steiner u. a. geäußert. Auch Nietzsche gehört in die Reihe der Entwicklungsethiker. Dem Gedeihen seines „Übermenschen" muß „die Menschheit als Masse" geopfert werden, die christliche Sitten- lehre ist für ihn eine „Sklavenmoral", die die Ver- schlechterung der menschlichen Rasse zur Folge gehabt hat. Den Immoralisten hält Hertwig zunächst entgegen, daß sie die Bedeutung des historisch Gewordenen entweder gänzlich ver- kennen, oder ihr doch zu wenig Verständnis entgegenbringen. Im Gegensatz zu ihnen, die in den Naturwissenschaften die Vertreter einer mecha- nistischen Weltanschauung sind, aber auch im Gegensatz zu Huxley, dem Vitalisten unter den Entwicklungsethikern — er stellt dem „Walten der Naturmächte" das „Walten der ethischen Mächte" entgegen — , gelangt Hertwig auf Grund erkenntniskritischer Betrachtungen zu einem „biologischen Standpunkt". Von Recht und Sitte in der Natur können wir nur da sprechen, wo ihr Bestehen und ihre Herrschaft möglich ist, d. h. haupt- sächlich in der menschlichen Gemeinschaft. Das Raubtier, das sein unschuldiges Opfer zerreißt oder gar noch quält, handelt weder sittlich noch un- sittlich, weder nach Recht noch nach Unrecht, es handelt naturgemäß. Huxley 's Urteil: „Vor das Tribunal der Ethik gezogen, würde die Natur wohl ihrer Verurteilung sicher sein" ist ebenso falsch wie Tille 's Lehre, daß Ethik angewandte Naturwissenschaft ist. „Da außerhalb der mensch- lichen Gemeinschaft Naturvorgänge weder zur Ethik noch zum Recht in einer Beziehung stehen, so können wir aus ihrem Studium auch keine neuen Gesichtspunkte für eine Reform oder gar für eine Begründung einer neuen Ethik als Ersatz der alten gewinnen." Es sei aber besonders be- tont, daß Hertwig mit Huxley und Tille darin einig ist, daß sich sittliche und rechtliche Begriffe auf natürlichem Wege im Menschen ent- wickelt haben, sie sind „ebensogut wie die Lebens- eigenschaften der Zelle Naturprodukte, hervor- gegangen aus dem Entwicklungsprozeß der Natur, der sich innerhalb des Menschengeschlechtes bei seiner Vergesellschaftung vollzogen hat und weiter N. F. XVni. Nr. I Naturwissenschaftliche Wochenschrift. IS vollzieht." „Die ungeheuren Unterschiede, die zwischen der Menschheit mit ihrer geistigen und sittlichen Welt auf der einen Seite und dem Tierreich auf der anderen Seite bestehen, sind keine prinzipiellen, sondern nur solche des Grades." ,,Im menschlichen Geschlecht sind die schon im Tierreich vorhandenen Instinkte nur verstärkt und zur Gatten-, Kitern-, Kindes-, Geschwisterliebe verfeinert und veredelt worden." H er tw ig ver- sucht dann weiter die Lehre des Christentums und des Rousseauismus von der Gleichheit der Menschen, die Nietzsche verspottet — der moderne demokratische Staat ist für ihn nichts weiter als der „neue Götze" — , naturwissenschaft- lich zu begründen. „Bei voller Anerkennung der zahllosen Ungleichheiten, die zwischen den Menschen bestehen, sind sie doch als Objekte der syste- matisierenden Naturgeschichte dem Kern ihres Wesens nach gleich, gleich im Besitz der Sprache zu gegenseitiger Verständigung, gleich als Gesell- schafter, die sich zu sozialen Gemeinschaften in weit zurückliegenden Zeiten allmählich zusammen- gefunden haben, und von da an immer wieder, wenn sich hierfür Gelegenheit bietet, den Schein ihrer Gleichheit präsentieren." Besonders eingehend beschäftigt sich Hertwig mit dem sozialen Darwinismus, mit den Ver- suchen derer, die auf Grund der Lehre vom Da- seinskampf und von der natürlichen Zuchtwahl eine systematische Rassenhygiene betreiben wollen. Ihr Ziel, die Verbesserung und Höherzüchtung des Menschengeschlechtes, suchen die Rassen- hygieniker auf zwei Wegen zu erreichen, einmal durch negative und dann durch positive Auslese. In dem wachsenden Schutz der Schwachen, der Verbesserung der wirtschaftlichen Lage der Armen in der Bekämpfung der Säuglings- und Kinder' Sterblichkeit, der Infektionskrankheiten, der Trunk' sucht, in dem weiten Gebiet der sozialen Für- sorge also, sehen die extremsten Rassenhygieniker eine schwere Gefahr für die Tüchtigkeit unserer Rasse. Die „Ausjätemaschine" für die Minder- wertigen und Schwachen wird dadurch ganz oder wenigstens teilweise außer Funktion gesetzt, aus Gründen einer falchen Mitleidsmoral wirken wir mit unserer Fürsorge kontraselektorisch und schaden uns dadurch nur selbst. Zu welchen Forderungen wissenschaftlicher Fanatismus führen kann, das mögen die Worte eines unserer bekann- testen Rassenhygieniker, Floetz, zeigen: „Gegen die Kriege", so sagt er, „wird der Rassenhygieniker weniger etwas haben, da sie eines der Mittel im Kampf ums Dasein der Völker bilden. Nur wird er darauf dringen, daß entweder mit Söldnerheeren gekämpft wird, oder daß die Aushebung beim System der allgemeinen Wehrpflicht so umfassend wie nur möglich ist, um recht viele auch der schlechteren Individuen ins Heer zu bekommen, so daß der Nachteil für die guten Konvarianten nicht zu stark wird. Während des Feldzuges wäre es dann gut, die besonders zusammengereihten, schlechten Varianten an die Stellen zu bringen, wo man hauptsächlich Kanonenfutter braucht und wo es auf die individuelle Tüchtigkeit nicht so an- kommt". Um kein falches Urteil über den Ur- heber dieser Worte aufkommen zu lassen, sei übrigens hinzugefügt, daß sie nicht aus unserer heutigen Zeit stammen, sondern bereits aus dem Jahre 1895. Positive Auslese streben die Rassenhygieniker dadurch an, daß sie die tüchtigsten Individuen der Rasse in jeder Weise gefördert sehen wollen; eine möglichst rege Fortpflanzung der Tüchtigsten ist wünschenswert, damit sie ihre Vorzüge auf eine große Nachkommenschaft vererben. Andererseits muß bei den Minderwertigen die Erzeugung von Nachkommen nach Möglichkeit verhindert werden. Auch hier führen die Forderungen der Extremsten zu einer vollständigen Umkehrung der bestehenden Verhältnise. So will v. Ehrenfels an die Stelle der Monogamie die Vielweiberei setzen, die Zeu- gungskraft der „Auserwählten" müsse in weitestem Maße ausgenutzt werden, der Staat müsse nach den Regeln der wissenschaftlichen Tierzucht ein- gerichtet werden usw. Der wichtigste Einwand, den man den Sozial- darwinianern machen kann, ist nach Hertwig der, daß sie das biologische Gesetz der Arbeitsteilung und Differenzierung nicht beachten. In dem menschlichen Gemein- wesen hat die fortschreitende Arbeitsteilung und Differenzierung zu einer derartigen Abhängig- keit der einzelnen Glieder der Gemeinschaft geführt, daß die Lehre von der Gleichheit der Menschen hier eine Einschränkung erfahren muß. Je höher sich das Gemeinwesen entwickelt, desto mehr ist jeder „ohne Unterschied der Fähigkeiten, des Ranges und des Besitzes auf die Mithilfe vieler anderer in seiner ganzen Existenz ange- wiesen". ,,So wenig wie zwischen den Zellen eines pflanzlichen und tierischen Organismus, findet zwischen den Gliedern eines Staatswesens (normalerweise 1 — N.) ein Kampf ums Dasein mit einer sich aus ihm ergebenden Zuchtwahl und den hieraus abgeleiteten Folgen für die Ver- änderung der Organismenwelt statt." Noch vieles macht Hertwig gegen die Sozialdarwinianer und ihre „Marstallprinzipien", wie sie H u x 1 e y nennt, geltend. Er zeigt, daß die Schlagworte der Sozialdarwinianer, soziale Auslese, Selektion der Tüchtigen, Ausjäten der Untüchtigen, gar nichts mit der Darwin 'sehen Formel für das Entwicklungsproblem zu tun haben, lediglich „einer wissenschaftlichen Mode zu Liebe" erklären sie die Tatsachen aus Darwin 's Theorie. Sollte der Züchtungsstaat der Sozialdarwinianer erfolgreich sein, so wären ganz ungeheuerliche Eingriffe in das Selbstbestimmungsrecht des einzelnen not- wendig, es müßte „das Leben jedes einzelnen von der Wiege bis zum Grabe unter Zuchtwahlkon- trolle gestellt werden". Und selbst dann wäre ein voller Erfolg der Menschenzucht noch nicht gewährleistet, denn wer vermag zu sagen, was für Anlagen und Fähigkeiten in einem Menschen I6 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 1 darinnenhegen, und welche von den zahllosen Tüchtigkeiten verschiedenster Art sollen wir be- günstigen ? Auch Hertwig hält die soziale Gemeinschaft der IVIenschen für verbesserungsbedürftig. Aber die Wege, die er zur Hebung und Veredelung des Men- schengeschlechtes einschlagen will, sind ganz andere als die der Rassenhygieniker: „Verbesserung der äußeren Faktoren des Daseins durch vollkommenere Beherrschung der Naturkräfte und durch Ver- mehrung des äußeren Reichtums der Nationen", „Hebung der menschlichen Gesundheit in allen Volksständen durch soziale, medizinische und hy- gienische Maßnahmen, Verlängerung des Lebens durch Bekämpfung der Ursachen vorzeitigen Todes, durch Verhütung der Ausbreitung von Infektions- krankheiten, durch Vernichtung schädlicher Mikro- organismen", „Kampf gegen soziale Lasier jeder Art", „Verbesserung des Wohnungswesens und Sicherung einer menschenwürdigen Existenz auch in den untersten Bevölkerungsschichten' usw. Im letzten Teile seiner Schrift wendet sich Hertwig gegen den gerade während der letzten Jahre — vor und während des Krieges — wieder mehr in den Vordergrund getretenen politischen Darwinismus. Gegenüber den Leuten, die den Krieg als „schaffendes Weltprinzip'' (Claus Wagner) verehren, die ihn als ,, biologische Not- wendigkeit" (Bernhard i) betrachten und ohne ihn die Welt ,,im Materialismus versumpfen" lassen (Moltke), redet Hertwig dem Pazifismus und der Völkerverständigung das Wort. Uns, die wir heute nach mehr als vier Jahren heldenmütigen Kampfes am Ende eines verlorenen Krieges stehen, mögen seine Worte ein Trost sein, Worte, die er schrieb, als wir noch auf der Höhe unserer mili- tärischen Erfolge standen: „Mag ein Staat nach einem verlorenen Krieg seine Verfassung und Organisation oder Teile seines Besitzes und Territoriums verlieren, er mag aufgeteilt oder auch ganz unterjocht werden, so bleiben doch seine Bürger, die den lebendigen Inhalt und den Wert eines Staatswesens ausmachen, trotz alledem er- halten und können sich durch Fortpflanzung in der Zukunft, unter Umständen in noch reicherem Maße als ihre ehemaligen Besieger, vermehren und sich ausbreiten. Völker sterben nicht durch verlorene Kriege." „Der Friedensgedanke", so schließt Hertwig, „ist gewiß nicht als utopistisch zu bezeichnen mit seiner Erwartung, daß die Ent- wicklung der Menschheit, wenn auch nach mannig- fachen Erschütterungen und Umwegen zu einem Zustand führen wird, in welchem zwischen den Völkern der einzelnen Weltteile und ebenso zwischen diesen eine internationale Friedensorga- nisation herrschen und Moral und Recht die ent- scheidende Macht im Völkerbund der Menschheit sein wird." Wir haben bisher Hertwig meist selbst sprechen lassen. Damit sollte nicht gesagt sein, daß wir ihm in allem voll und ganz zustimmen. Es sei hier nur auf zwei Punkte hingewiesen. Zunächst einmal scheint uns, daß der nicht natur- wissenschaftlich orientierte Leser auf Grund des Studiums von Hertwig's Schrift doch zu einem etwas allzu harten Urteil über Darwin 's Werk kommen wird. Es liegt uns fern, für die Selektionstheorie eine Lanze brechen zu wollen, aber Worte wie Kampf ums Dasein, Aus- wahl des Passendsten sind denn doch nicht nur Phrasen. Es gibt in der Tat einen Kampf ums Dasein und eine Selektion in der Natur! Schaffen sie auch nichts Neues, wie Darwin meinte, so üben sie auf die Zu- sammensetzung des Weltbildes doch einen wesentlichen Einfluß aus. Und sodann können wir uns auch dem abfälligen Urteil Hertwig's über die Bestrebungen der Rassen- hygieniker nicht anschließen. Gewiß hat die auf den Darwinismus begründete Rassenhygiene manche geradezu absurde Forderungen gezeitigt, aber Hertwig führt nur die extremsten Ver- treter an, es geht nicht an, die Rassenhygiene in Bausch und Bogen zu verwerfen. Manche der rassenhygienischen P'orderungen stehen sehr wohl im Einklang mit den Ergebnissen der modernen Erblichkeitsforschung, und es wäre unseres Er- achtens sehr zweckdienlich, wenn gerade in unserer Zeit der Staat diesen Forderungen seine Aufmerksamkeit zuwenden würde. Doch das sind kleine Einwendungen gegen die Hertwig 'sehe Schrift, im großen und ganzen geben wir seinen Ausführungen unsere volle Zustimmung. Die Schrift ist, wie bereits gesagt, in einer Zeit ge- schrieben, als wir noch auf der Höhe unserer militärischen Erfolge standen. Um so erfreulicher ist es, daß sie frei von jedem Chauvinismus ist, daß sie einer Völkerverständigung das Wort redet. Als unser Kriegsziel bezeichnet Hertwig in seinem Nachwort „das Ziel eines europäischen Friedensbundes gleich- berechtigter Staaten, die gleich, frei und brüderlich nach dem Prinzip der Gegenseitigkeit" einander in der Weltwirt- schaft wie in den Werken der Kultur ergänzen und andere gleichgeartete Völker der. Erde zum Anschluß einladen." Möge dieses Ziel erreicht werden 1 Nachtsheim. Inhalt i P. Metzner, Über das Sehen und Erkennen bei Nacht. S. I. V. Brehm, Über gcschlechtsbegrenzte Spezies- merltmale bei Süßwasserorganismen und deren eventuelle experimentelle Aufklärung durch das Mendel'sche Spaltungs- gesetz. S. 4. — Einzelberichte: Duisberg, Forlschritle in der Darstellung künstlichen Kautschuks. S. 8. M. M. Collignon, Große Hörweite des Geschiitzfeuers. S. 9. Dieckmann, Orientierung von Luftschiffen und Flugzeugen. S. 9. A. Schmauß, Schallausbreitung. S. lo. Otto J aekel, Zur Geologie der Tektonik des Kügener Steilufers S. 10. — Bücherbesprecbungrn: V. Haccker, Entwicklungsgeschichtliche Eigenschaftsanalyse. S. 11. Oskar Hertwig, Zur Abwehr des ethischen, des sozialen, des politischen Darwinismus. S. 13. Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstraße 42, erbeten. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue Folge 18. Band; der ganzen Reihe 34, Bund. Sonntag, den 12. Januar 1919. Nummer 3. Über die Symmetrie der Organismen. [Nachdruck verboten.l Von Prof. Joh Symmetrie ist ein Grundzug im Bau der Or- ganismen. Die meisten Lebewesen zeigen — im ganzen oder in ihren Teilen — Symmetrien irgend- welcher Art. Auch von den Gebilden der Archi- tektur und Ornamentik fordern wir symmetrische Gestaltung. Der Mensch fügt Schmuck und Kleidung seinem Körper im allgemeinen symmetrisch an. Einige bekannte Ausnahmen erklären sich durch die Lage des Herzens und die bessere Ausbildung der rechten Hand. Mutwillige Abweichungen (wie die asymmetrische Tracht der Landsknechte oder die allzu schiefe Mütze) sind bewußte Ab- sagen an das herkömmlich Schickliche. In den Büchern, welche die allgemeine Botanik und Zoologie behandeln, wird dieses gestaltende Prinzip ersten Ranges überaus stiefmütterlich be- dacht. Ganz im Anfang werden zwar einige Er- klärungen gegeben, welche hinreichen, die üblichen Kunstausdrücke (bilateral, monaxon u. a.) ver- ständlich zu machen , die Darstellung der Sym- metrie zeigt aber auch in unseren besten Lehr- büchern zwei wesentliche Mängel. i. Die Be- schreibung ist nicht aus einem klaren Begriff hergeleitet, so daß die verschiedenen Fälle ofc nicht richtig koordiniert sind. 2. Es ist, soweit ich sehe, nirgends der Versuch gemacht worden, die Symmetrie zu erklären. Dennoch sind beide Mängel leicht zu beseitigen. Ich möchte deshalb im folgenden den Versuch machen, die Symmetrien, die an organischen Ge- bilden vorkommen, physikalisch zu erklären. Die Symmetrie ist nämlich kein geometrisches Prinzip, das als leitender Grundgedanke die Ge- staltung regelt, sondern in jedem Falle das Re- sultat der Wirkung bestimmter Faktoren, und die Behandlung der Symmetrie ist eine Aufgabe nicht der formalen, sondern der kausalen Morphologie. Zuvörderst braucht man allerdings eine Definition und eine zweckmäßige Anordnung der Fälle; beides ist in befriedigender Weise nur durch geometrische Abstraktion erreichbar. Man denke sich einen beliebigen Körper und eine beliebige Ebene, die Symmetrieebene. Von jedem Punkte des Körpers soll auf die Ebene das Lot gefällt und über die Ebene hinaus nach der anderen Seite verlängert werden. Macht man die Verlängerung ebenso lang wie das Lot, so erhält man den zum Ausgangspunkte symmetrischen Punkt. Man denke sich nun diese Konstruktion für jeden Punkt des Körpers ausgeführt, so erhält man einen zweiten Körper: Dieser heißt sym- metrisch zum ersten in bezug auf die Ebene. Sind beide Körper Teile eines Ganzen , so heißt dies Ganze symmetrisch. annes Theel, Die genauste Symmetrie zeigt ein Körper und sein Bild in einem ebenen Metallspiegel, das nächstliegende Beispiel bieten die rechte und die linke Hand. Körper mit dieser Art Symmetrie nennt man zygomorph oder bilateral-symmetrisch, auch kurz bilateral. Die Symmetrie in der Natur ist nie vollkommen. Es kann noch eine zweite Symmetrieebene vorhanden sein, diese muß dann aus geometrischen Gründen zur ersten senkrecht stehen. Der Schnitt beider Symmetrieebenen heißt Symmetrieachse. Beispiele: die normale Kruziferenblüte, die Wal- nuß, viele Diatomeen (Naviculaarten), wenige niedere Tiere (Akiinien). ') Es können nun auch 3 oder mehr Symmetrie- ebenen vorhanden sein, die alle durch dieselbe Symmetrieachse gehen; die Winkel, welche je zwei benachbarte miteinander bilden, müssen aus geometrischen Gründen gleich sein. Körper mit 3 oder mehr Symmetrieebenen und einer Achse heißen radial • symmetrisch , radiär, multilateral, monaxon oder aktinomorph. Den Grenzfall bilden die sogenannten Rotationskörper; man kann sagen, daß sie unendlich viele Symmetrieebenen haben. Beispiele für radiären Bau: Die Blüte der Tulpe und des Mauerpfeffers, die regulären Seeigel; für Rotationskörper: Die Eier der Vögel. Die Symmetrie multilateraler Gebilde kann noch gesteigert werden, wenn noch eine Symmetrie- ebene hinzukommt, die dann zur Achse senkrecht stehen muß. Beispiel: Microcubus zonarius. -) Waren vorher n Symmetrieebenen mit einer Achse da, so sind jetzt im ganzen n -|- i Ebenen mit n -|- I Achsen vorhanden, denn die neue Symmetrieebene bildet mit jeder der ursprüng- lichen eine Symmetrieachse. Der einfachste Fall dieser Art entsteht, wenn 3 Symmetrieebenen vorhanden sind, von denen dann je 2 aufeinander senkrecht stehen müssen. Ihr Schnittpunkt heißt Zentrum. Beispiel: Ein dreiachsiges EUipsoid; in der Natur einige Des- midiazeen ^j und Radiolarien. *) Diese Symmetrie, so einfach sie ist, spielt im Bereiche der Organis- men eine ganz untergeordnete Rolle; die physi- kalische Betrachtung wird zeigen, daß die für diese spezielle Form erforderlichen Bedingungen nirgends vorliegen. Allerdings hat ja jede Kugel ') Siehe Rieh. Hartwig, Lehrb. d. Zool. 9. Aufl. Jena 1910, Fig- 91. Um nicht bekannte Bilder zu reprodu- zieren, gebe ich Hinweise auf Figuren weitverbreiteter Bücher. *) Siehe Haeckel, Kunstformen der Natur. Leipzig und Wien 1904, Taf. 71, Fig. 7. ^1 Ibid. Taf. 24. *) Ibid. Taf. 91. i8' Naturwissenschaftliche Wochenschrift N. F. XVIII. Nr. 2 3 solche Symmetrieebenen, aber da diese jede beliebige Stellung haben können, so ist die Kugel nur ein Grenzfall der letztbeschriebenen Symmetrie ebenso gut wie auch für jede andere. Die Sym- metrie der Kugel hat keinen bestimmten Charakter. Die nächste Verallgemeinerung ist dann, daß statt der 3 Achsen eine beliebige Anzahl vorhan- den ist, die alle durch einen Punkt gehen müssen. Einfache und ziemlich bekannte Beispiele hierfür bieten die regulären Körper. Das Tetraeder z. B. hat 4 Symmetrieachsen, deren jede 3 Sym- metrieebenen enthält; im ganzen sind es aber nur 6. Symmetrien dieser Art, z. T. von höchster Kompliziertheit sind in der Natur verwirklicht. Man findet meisterhafte Abbildungen in Haeckel's „Kunstformen der Natur", z. B. die erstaunliche Sagenoscena stellata auf Tafel 61. Diese kurze Darstellung der Symmetrieverhält- nisse, die bei Organismen vorkommen, wird den Mathematiker nicht befriedigen. Die Beschreibung ist weder vollständig noch systematisch und schon die Definition ist exoterisch, denn in der Geometrie erscheint die Symmetrie als besonderer Fall einer allgemeinen Verwandtschaft. Jedoch nicht eine geometrische Behandlung, sondern eine biologische Erklärung der Symmetrie soll hier versucht wer- den. Dabei wird das Hauptgewicht gelegt auf .die Ursachen der bilateralen Symmetrie der höheren Tiere, weil sie vollständig durch mechanische Be- trachtung erklärt werden kann; die komplizierteren Symmetrien, die bei niederen Organismen vor- kommen, sind weniger ergiebig. Wenden wir uns also nach dieser rein for- malen Einleitung zu der Hauptfrage; Welche natürlichen Ursachen hat die Symmetrie? Man denke sich ein Lebewesen in einem homogenen Medium, so ist gegeben ein Gegen- satz zwischen innen und außen. Schützende Hüllen und Organe der Fortbewegung müssen außen liegen; die Assimilation findet naturgemäß im Innern statt. Für symmetrischen Bau ist keine Ursache angebbar. Wenn aber das Lebewesen klein ist, so kann es jede beliebige Form haben, denn die Beschränkungen im Bauplan treten erst mit zunehmendqr Größe auf. Der einfachste Fall wäre dann der, daß von einem Zentrum nach jeder Richtung dieselbe Gestaltung ausgeht. Die völlige Gleicli.wertigkeit aller Richtungen findet ihren räumlichen Ausdruck in einem Auf- bau aus konzentrischen Kugelschalen, deren jede in sich gleichartig ist. Diese Schalen brauchen nicht geschlossen zu sein, sondern können gilter- artig aussehen oder aus kongruenten Platten be- stehen, die sich auf einer Kugelfläche gleichmäßig verteilen. Wenn nun die Knoten des Gitters oder die Platten mit dem Zentrum verbunden sind oder wenn sie nach außen radiale Fortsätze tragen, so zeigen sie das bekannte Bild der Strahlenkugel. Beispiele: Haeckeliana porcellana Murr.') oder Haliomma erinaceus. ') Schließlich kann auch die radiale Struktur überwiegen, dann sieht man von einem Zentrum aus gleichartige Radien in gleich- mäßiger Verteilung ausstrahlen; Beispiel: Prista- cantha polyodon Haeck. ') und viele andere „Ra- diolarien". Die Natur löst hierbei die Aufgabe, n Punkte auf einer Kugelfläche gleichmäßig zu ver- teilen. Für n = 4, 6, 8, 12 und 20 wird diese Aufgabe durch die regulären Körper gelöst, d. h. die 20 Ecken eines Ikosaeders verteilen sich gleichmäßig auf der umbeschriebenen Kugel. Diese Lösung hat die Natur angenommen bei Circogenia icosahedra Haeck. ■*) Jedoch können 20 Radien auch auf andere Weise im Räume gleichmäßig verteilt werden; füi die Acanthometra z. B. nach dem „Ikosakanthengesetz" (s. die schon zitierte Pristacaniha), das auch den Eindruck völliger Gleichmäßigkeit hervorbringt. Alle diese möglichen Baupläne, die der Aus- druck gleichmäßiger Verteilung um einen Punkt sind, werden von selbst symmetrisch. Meist sind viele Symmetrieebenen und viele Achsen vorhanden. Man wird nun beim Betrachten zahlreicher Pro- tozoen und einzelliger Pflanzen leicht die Über- zeugung gewinnen, daß die Symmetrie der symme- trischen ebenso zufällig da ist, wie sie bei den zahlreichen asymmetrischen, z. B. allen spiraligen fehlt. Sie ist der läumliche Ausdruck der Gleich- wertigkeit von n Richtungen und bedarf weiter keiner Erklärung. Wie das hexagonale Muster der Bienenwabe stellen sich diese Symmetrien unter dem räu m lieh e n Zwange von selbst ein. Ich gehe nun über zu den Symmetrien, die mechanisch bewirkt sind. — Der unendlichen Fülle von Entwürfen, die bei den kleinsten Lebe- wesen verwirklicht sind, setzt zuerst die Schwer- kraft eine Grenze. Bei einem großen Organis- mus stehen nämlich die unteren Teile unter dem Druck der oberen. Das führt zu einer der Schwere entsprechenden Anordnung der Organe oder zur Ausbildung besonderer Stützen und dabei muß die Gleichwertigkeit der Richtungen aufgegeben werden. Größere Organismen können deswegen nicht strahlenkugelig sein. Hier zeigt sich also, daß die Größe als solche für den Körper- bau von Bedeutung ist. Alle einigermaßen großen Gebilde der Natur und der Kunst ■*) stehen unter dem gestaltenden Einfluß der Schwere. Diese bewirkt einen Unterschied zwischen unten und oben, oder anders, sie gestattet nicht, daß Symmetrie zu einer wagerec hten Ebene stattfinde. Dagegen ist es für die Schwerkraft gleichgültig, ob über- haupt keine Symmetrie stattfindet oder nur zu einer senkrechten Ebene oder zu mehreren. ») Haeckel, 1. c. Taf. I, Fig. 3. ') Hertwig, 1. c. Fig. 88. «) Haeckel, 1. c. Taf. 21, Fig. 4. 3) Haeckel, 1. c. Taf. I, Fig. I. ■*) Vgl. Th. Lipps, Raumäslhetik und geom.-opt. Täu- schungen (Schriften der Ges. für psychol. Forschung II. Samm- lung, Leipzig 1893—97). N. F. XVIII. Nr. 2 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 19 Dem entspricht der tatsächliche Befund. Bleiben wir zunächst im Tierreich. Mangel jeg- licher Symmetrie ist bei Protozoen häufig, bei Metazoen selten. Symmetrie in bezug auf eine wagerechte Ebene kommt nicht vor. Symmetrie zu einer senkrechten Ebene ist sehr häufig. Symmetrie zu mehreren senkrechten Ebenen i^t auf gewisse Tierkreise beschränkt. Diese Ver- teilung der möglichen Fälle wird nun auch ver- ständlich, wenn man den physikalischen Be- dingungen weiter nachspürt. Organismen, die sich fortbewegen, gewinnen einen Vorteil, wenn immer derselbe Körperteil vorangeht, weil dabei die Spezialisierung der Organe, die Arbeitsteilung, einen höheren Grad erreichen kann. Dementsprechend findet man rtieist bei beweglichen Tieren einen Unterschied zwischen vorn und hinten. Handelt es sich um größere Wesen, deren Körperteile sich durch ihre Schwere beeinflussen, so sind damit 2 Richtungen gegeben, die der Schwerkraft und die der Be- wegungsachse. Diese beiden Richtungen bestimmen zwar eine Ebene, es ist aber noch nicht ersichtlich, warum in bezug auf diese Ebene Symmetrie statt- finden sollte. In der Tat, bei einer Schnecke, z. B. Helix pomatia, die auf ebener Bahn kriecht, kann man deutlich den Unterschied zwischen oben und unten, vorn und hintensehen ; dagegen spricht sie schon durch ihr Gehäuse jeder Symmetrie Hohn. Aber eine Schnecke ist auch kein glücklich gewähltes Beispiel für ein Tier, das sich bewegt. Nehmen wir einen Hirsch. Dessen Gestalt ist allerdings vollkommen symmetrisch und d i e Symmetrieebene ist auch gerade die Ebene, welche durch die Richtung der Schwerkraft und der Bewegung be- stimmt wird. Ebenso sind alle Tiere, welche schnelle Bewegungen machen, ob sie nun laufen, schwimmen oder fliegen, streng bilateral-sym- metrisch. Diese Tatsache ist eine mechanische Not- wendigkeit. Der Körper eines Läufers (Pferd, Strauß, Laufkäfer) ruht nicht mit breiter Basis auf dem Boden, sondern ist durch die Beine emporgehoben und wird von ihnen vorwärtsbe- wegt. Die geringste Abweichung von der Sym- metrie in bezug auf die durch Schwerkraft und Bewegung bestimmte Ebene würde ein Drehungsmoment erzeugen, das eine be- ständige Bedrohung des Unterschiedes von unten und oben enthielte. Noch empfindlicher gegen ungleiche Belastung rechts und hnks sind schwimmende Wesen und im höchsten IVlaße die Flieger; dabei nimmt die Empfindlichkeit gegen Asymmetrie mit der Größe rapide zu, weil die Drehungsmomente mit der 4. Potenz der Länge wachsen. ^) Streng genommen braucht nun aber ein be- ') Die Abhängigkeit des Baues uod der Funktionen leben- der Wesen von der Größe ist in einem früheren Aufsatz dieser Zeitschrift ausführlicher behandelt worden; s. 1917, Nr. 35 und 36. wegliches Tier von einiger Größe nur rechts und links gleiche Drehungsmomente zu haben; in Wirklichkeit findet sich jedoch, von den schon erwähnten Schnecken abgesehen, immer voll- kommene Symmetrie. Das hat zwei Ursachen. I. Die Symmetrie ist die einfachste Lösung der Aufgabe, rechts und links soll die Summe der Dreliungsmomente gleich sein. 2. Schnelle Bewegung erfordert auch Symmetrie des Quer- schnittes. Bei der geringsten Abweichung von dieser Forderung entsteht nämlich durch den Widerstand der Luft oder des Wassers ein Drehungsmoment um eine senkrechte Achse, das dem Quadrat der Geschwindigkeit proportional ist und die beabsichtigte Bewegung unmöglich macht. Es ergibt sich also, wenn man die Extreme zur Charakterisierung benutzt : Ein Tier, das schnell fliegt, muß in Gestalt und Massen- verteilung bilateral -symmetrisch sein; ein Tier, das langsam kriecht, kann ohne Symmetrie der Gestalt auskommen, wenn nur die Summen der Drehungsmomente rechts und links der Längs- achse gleich sind. Durch welche Verteilung der inneren Organe diese Gleichgewichlsforderung er- füllt wird, ist gleichgültig. Im inneren Bau sind denn auch bekanntlich alle Tiere asymmetrisch. Die noch nicht besprochene Symmetrie in bezug auf mehrere senkrechte Ebenen gestattet mechanisch auch eine Bewegung, jedoch nicht den Grad von spezieller Anpassung an die besonderen Bedürfnisse des schnellen Forlkommens. Sie findet sich unter den Metazoen nur bei den Echinodermen und Coelenteraten. Die Echinodermen sind z. T. festgewachsen (Seelilien), z. T. kriechen sie umher (Seesterne, Seeigel). Von den Seeigeln sind einige bilateral geworden, haben aber die senkrechte Stellung der Hauptachse beibehalten. Dagegen hat ein Zweig der Echinodermen, die Holothurien, den Übergang zur Bilateralität sozusagen im Sprunge vollzogen. Die senkrechte Hauptachse der Echinodermen ist bei ihnen wagerecht ge- lagert. Bei dieser Stellung kann radiäre Symmetrie nicht fortbestehen , sie muß durch die Wirkung der Schwere umschlagen in bilaterale. Mit der neuen Lage ist den Holothurien die Möglichkeit schnellen Fortkommens gegeben. Sie haben keinen Gebrauch davon gemacht. Nur eine einzige Spezies, Pelagothuria natatrix Ludw., ') hat gelernt, sich schwimmend fortzubewegen; mir ist nicht bekannt, rnit welcher Geschwindigkeit. Daß die einzige Schwimmerin unter den Echino- dermen aus dem bilateralen Seitenzweig hervor- gegangen ist, illustriert immerhin die vorgetragene Ansicht über den Ursprung der Symmetrie. Übrigens sind die Larven der Echinodermen, die frei herumschwimmen, auch bilateral-symmetrisch. Die Coelenteraten, die ebenfalls radiären Bau zeigen, sind z. T. festgewachsen, z. T. führen sie eine pelagische Lebensweise. ') Siehe Hertwig, 1. c. S. 335; Abb. bei Keller, Das Leben des Meeres, Leipzig 1895, Fig. 150. 20 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVni. Nr. 2 Es scheint mir nicht ohne Interesse , festzu- stellen, daß diejenigen Schnecken, welche schwim- men, bilateral sind, z. B. Hyalaea, ') während um- gekehrt Gliedertiere, die auf Bewegung ganz oder teilweise verzichten, die Symmetrie aufgeben können, wenn sie dadurch einen anderen Vorteil gewinnen. Das hat der Einsiedlerkrebs getan. Es lohnt sich, auch noch einen Blick auf die Gestalt des Querschnittes zu werfen, um die Kräfte zu erkennen, welche den Umriß model- lieren. Bei Fliegern (notabene , während sie fliegen) ist er allgemein viel breiter als hoch, weil sie Unterstützungsfläche gebrauchen, eben dadurch um so empfindücher gegen Asymmetrie und des- wegen immer streng symmetrisch. — Für Läufer ist ein ungefähr runder Querschnitt am vorteil- haftesten. Dabei treten keine starken Drehungs- momente auf und die Unterstützungsfläche kann klein sein. — Allein die Schwimmer können sich jenen merkwürdigen Querschnitt leisten, der viel- mals höher ist als breit. Dieser würde auf fester Grundlage in der Luft zu wenig stabil sein und einen konstruktiven Aufwand zur Stabilisierung erfordern ; die Beschaffenheit des Wassers erspart diesen Notbehelf. Übrigens können die Schwim- mer alle möglichen Querschnitte haben je nach ihrer Lebensweise. — Tiere, die graben oder bohren, brauchen einen kreisrunden Querschnitt, weil der Kreis am meisten Fläche im Verhältnis zum Umfang hat. Die hier gebotene Beschränkung gestattet nicht, mehr ins einzelne zu gehen; ich möchte nur noch auf die Pleuronectiden hinweisen. Diese Fische stammen offenbar von solchen mit hohem Querschnitt ab. Indem sie sich auf die Seite legten, brachten sie ihre Symmetrieebene in wage- rechte Lage. Dieser Zustand ist unhaltbar. Das untere Auge rückt also auf die neue Oberseite, die Färbung von ursprünglich rechts und links wird ganz verschieden. Eine Veränderung des Querschnittes dagegen ist für das ruhende Tier nicht nötig; rechts und links könnten also verschieden bleiben wie ursprünglich oben und unten. Will aber das Tier auch seine Bewegun- gen in der neuen Lage ausführen, so muß der Körper eine Symmetrieebene annehmen, die nun- mehr wieder senkrecht von vorn nach hinten läuft. Dieser Prozeß hat sich bei den Pleuro- nectiden vollzogen und damit ist die neue Körper- lage auch für die Bewegung fixiert. Im Pflanzenreich ist der gestaltende Einfluß der Schwere viel geringer als im Tierreich. Der meist ausgeprägte Unterschied zwischen oben und unten, die Dorsiventralität, ist hier eine Wirkung des Lichtes und des Wassers. Die Organe der Assimilation, die Blätter, sind aller- meist dorsiventral. Im typischen P'alle hat die Oberseite eine starke, zusammenhängende Epider- mis und Palisadenzellen, die Unterseite schwächere Epidermis, von zahlreichen Spaltöffnungen unter- brochen, und Schwammparenchym. Daß diese Dorsiventralität nur die angegebenen Ursachen hat, zeigen die „isolateralen" Blätter ') mit senk- rechter Stellung und die, deren Unter- und Ober- seite ihren Charakter vertauscht haben , weil das Blatt sich herumgedreht hat. Licht und Wasser haben also die Dorsiven- tralität des Blattes bewirkt; die Schwere ist hier- bei als Faktor nicht beteiligt, wohl aber hat sie die Symmetrie geschaffen, die den meisten Blättern eigentümlich ist. Ein typisches Blatt ist an einem Stiel befestigt, der es in eine günstige Lichtlage bringt. Dadurch entsteht ein proximales und ein distales Ende, die naturgemäß verschieden gebaut sind. Es sind also zwei Richtungen ausgezeichnet, die, aus der das Licht kommt, und die der Be- festigungsachse. Dabei wäre immer noch Asym- metrie möglich und kommt auch vor (Ulme, Linde, Schiefblatt). Die Asymmetrie erzeugt aber ein Drehungsmoment und ist also mechanisch unvor- teilhaft, denn das Drehungsmoment muß durch irgendwelche konstruktiven Mittel (Versteifung, Turgor) aufgehoben werden, damit das Blatt in günstiger Lage bleibt. Dieser Nachteil kann durch einen größeren Vorteil kompensiert werden, z. B. bessere Lichtausnutzung. Je größer aber das Blatt, desto unvorteilhafter ist die Asymmetrie. iVIan kann also sagen: Die Dorsiventralität des Blattes ist eine Folge des Lichtes und des Regens, die Symmetrie dagegen eine Wirkung der Schwere wie im Tierreich. Anders bei den Blüten. Sie bestehen aus um- gewandelten Blättern und die Glieder mit gleicher Funktion sind meist zu mehreren dicht beisammen. Die Aufgabe der Blüten gestattet ihnen jede Stellung. Sind nun mehrere homologe Glieder in gleicher Höhe an einer senkrechten Achse befestigt, so ist kein zureichender Grund erkennbar, weshalb eines anders geformt sein sollte als das andere. Der Unterschied zwischen innen und außen, befestigtem und freiem Ende bewirkt dann einen radialen Bau der ganzen Blüte. In der Tat sind Blüten mit se nkre c ht e r Achse meist aktinomorph. Wenn aber viele solche Blüten zu einem wagerechten Blütenstand dicht vereint sind, so entsteht von neuem ein Gegen- satz zwischen innen und außen und bewirkt eine Umgestaltung der Randblüten in Richtung des Radius(Umbelliferen,Kompositen,Viburnum, Iberis). Der Aktinomorphie der einzelnen Blüte super- poniert sich dann eine Aktinomorphie des Ganzen. Der Vorgang kann sich noch einmal, wiederholen. Andererseits sind Blüten mit ungefähr wage- rechter Achse zygomorph oder tendieren dazu, wenn sie einer aktinomorphen Verwandt- schaft angehören (Hosta). Hier kann die Schwere direkt wirken, wenn etwa Nektar in einem Behälter zusammenfließt, der natürlich unten sein ') Siehe Hertwig, 1. c. Fig. 330. ') Siehe Heinrichcr, Jahrb. f. wiss. Bot. is- Bd. (1884). N. F. XVIII. Nr. 2 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 21 muß. ') In den meisten Fällen ist aber die Zygo- morphie der Blüten mit wagerechter Achse indirekt von der Schwerkraft bewirkt. Diese Blüten sind dem Besuch bestimmter Insekten angepaßt und die von der Schwere bewirkte Symmetrie der Besucher hat der Blüte ihre Form gegeben (Labiaten, Orchideen). Daher ist eine zygomorphe Blüte mit wagerechter Symmetrie- ebene ebenso unnatürlich wie ein so gebautes Tier. Man muß aber bei gelegentlichen Ab- "weichungen von der genau senkrechten Stellung der Symmetrieebeiie nicht vergessen, daß die Abhängigkeit der Blüten von der Schwere nur indirekt ist und daß die Drehungsmomente bei kleinen, leichten, festsitzenden Gebilden leicht kompensiert werden können. Die Färbung und Zeichnung, das „Farbmuster", symmetrischer Gebilde ist fast immer ebenfalls symmetrisch. Eine physikalische Ursache dafür läßt sich nicht angeben. Es scheint, daß diese Symmetrie nicht lebenswichtig ist, denn sie wird ganz vermißt bei den Schecken, die unter den Haustieren häufig sind. Das Ergebnis dieser physikalischen Betrachtung wäre also in Kürze: Symmetrie kann rein räum- liche Ursachen haben, dann sie ist außerwesentlich und kann dasein oder fehlen, so die mannig- fachen Symmetrien bei einzelligen Lebewesen. Symmetrie kann eine oder zwei mechanische ') Auch hier liegt der Fall für kleine Blüten oder kleine Nektarmengen anders, denn kleine Mengen werden kapillar gehalten. Ursachen haben, dann ist sie wesentlich und findet sich bei allen Organismen, für welche die mechanischen Ursachen wirksam sind; so die Bilateralität der Metazoen. Je schneller die Be- wegung, desto wichtiger und daher auch desto ausgeprägter wird diese Symmetrie. Im Pflanzen- reich scheint die radiale Symmetrie räumliche Gründe zu haben und kann daher überall durch die spiralige (asymmetrische) Anordnung ersetzt werden. Die Zygomorphie der Blüten ist in manchen Fällen eine direkte Deformation akti- nomorpher Typen durch die Schwere, in anderen F"ällen eine Anpassung an bilaterale Besucher. Die Symmetrie der Blätter dagegen ist eine mechanische Wirkung der Schwerkraft. Eine horizontale Symmetrieebene ist durchweg aus- geschlossen. ') Mit dem promorphologischen System Haeckel's'-) läßt sich diese Entwicklung nicht vereinigen. Es scheint, daß die Analogie zu den Kristallen, von der Haeckel ausgeht, für die Grundformen lebender Wesen kein glücklicher Griff war, und daß daher das ganze System auf einer unnatürlichen Grundlage steht. ') Selbst in den von der Schwere unabhängigen mensch- lichen Kunstforraen tritt eine wagerechte Symmetrieebene (oder Achse) allein kaum jemals auf. Man durchmustere z. B. die lateinischen Buchstaben , die hier gebraucht sind. B ist nicht symmetrisch (herumdrehen!), sondern wie unter einer ästhetischen Nachwirkung der Schwerkraft ist der untere Bogen vergrößert. '') Siehe z. B. Haeckel, 1. c. Supplementheft. Kleinere Mitteilungen. Massenversammlungen und Massenwanderungen von Marienkäferchen. Es ist eine schon des ölteren beobachtete Erscheinung, daß sich manche Insekten- arten zur Paarungszeit an hochgelegenen, weithin sichtbaren Punkten in großer Zahl versammeln, um dort dann den Geschlechtsakt zu vollziehen. „So findet man", sagt D o f 1 e i n in seinem vortrefflichen Buche „Das Tier als Glied des Naturganzen" (Hesse - Doflein, Tierbau und Tierleben, Bd. 2), „Massen- versammlungen von Oestriden, z. B. Hirsch- und Rentierbremsen, die sonst als seltene Tiere be- trachtet werden, auf hohen Berggipfeln, an Aussichts- und Kirchtürmen oder in weiter Ebene an einzelnen Bäumen. Ähnlich versammeln sich oft Hundert- tausende von geflügelten Geschlechtstieren der Ameisen ao Kreuzen auf Berggipfeln, und man kann leicht beobachten, daß sie tatsächlich zur Begattung da zusammenkamen. Ferner geben sich Männchen und Weibchen von Pyrameis- und Papilioarten auf Berggipfeln ein Rendezvous." Massenversammlungen von Marienkäferchen (Cocci- nellen) zum Zwecke der Begattung, wie ich sie im April des vergangenen Jahres in Mazedonien beobachten konnte, sind, soviel ich weiß, bisher nicht beschrieben worden. In der ersten April- hälfte bestieg ich von Üsküb aus den etwa i lOO m hohen Wodno. An den vorderen Gipfel, an dessen Fuße Usküb liegt, schließen sich nach Westen zwei weitere, etwas höhere Gipfel an, jeder von dem anderen durch eine flache Mulde getrennt. Die Gipfel tragen nur schwachen Pflanzenwuchs, hie und da steht niederer Buchrbaum. Auf diesen Buchsbaumsträuchern nun saßen Unmassen von Marienkäferchen, es war Coccinella septempunctata, eine unserer häufigsten Arten. Li dichten Trauben saßen sie beisammen, fast immer Männchen und Weibchen zum Geschlechtsakt vereinigt, das gelbliche Grün der Buchsbaumblättchen und das Braunrot der Käfertrauben ein prächtiges Bild. Ging man zu den Buchsbaumsträuchern nur wenige Meter unterhalb des Gipfels, so suchte man ver- geblich nach Marienkäferchen, nicht eines fand man dort, alle strebten der höchsten Stelle des Berges zu. Auf dem zweiten Gipfel fehlt der Buchsbaum. Dort hatten sie sich alle auf und unter einem großen Felsblock versammelt, ähnlich war es auf dem dritten Gipfel, in den Mulden zwischen den Gipfeln aber wieder keine Spur von den Käfern. Wenige Tage später besuchte ich zusammen mit Professor Doflein abermals den 22 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 2 Wodno. Die Massen von Marienkäferchen hatten sich noch vergrößert, es waren Tausende von Tieren, die auf jedem Gipfel versammelt waren. Auch in der nächsten Woche waren sie noch dort, wie mir berichtet wurde, und sogar noch höher hinauf strebten die auf dem ersten Gipfel. Dort befand sich eine hohe Signalstange, und selbst auf dieser Stange hatten sich Scharen nieder- gelassen. Wie lange die Erscheinung dauerte, vermochte ich leider nicht festzustellen, Anfang Mai waren die Tiere jedenfalls verschwunden. Übrigens scheinen diese Massenversammlungen von Marienkäferchen Jahr für Jahr dort stattzu- finden, denn ein Stabsarzt erzählte mir, daß er " im vorhergehenden Jahre ungefähr um die gleiche Zeit die gleiche Beobachtung gemacht hat, und zwar ist nicht nur der Wodno die Versammlungs- stätte, auch auf anderen Gipfeln der Umgegend finden solche Versammlungen statt. Auf die Zweckmäßigkeit solcher Massenversammlungen zur Fortpflanzungszeit hat bereits Doflein hin- gewiesen. Aus einem weiten Gebiet kommen die Tiere zusammen, und so wird die Inzucht mit ihren oft schädlichen Folgen vermieden. Können wir somit auch den Vorteil, den eine solche Massenversammlung für die Erhaltung der Art darstellt, verstehen, so sind damit freilich die Ursachen, die alle Tiere den höchsten Punkten der Berge zustreben lassen, noch nicht geklärt. Über Massen wand eru n gen von Marien- käferchen, die aber offenbar ganz andere Ursachen haben als diese Massenversammlungen, liegen Berichte vor aus dem Jahre 1847. Im August dieses Jahres traten im Südosten Eng- lands ungeheure Schwärme des Käfers auf, und zwar soll es sich um mehrere Arten gehandelt haben. Einige Beobachter geben an, daß die Tiere über das Meer kamen, der Ostwind soll sie von Frankreich herübergebracht haben. Von dem Umfang dieser Schwärme geben die zahl- reichen Berichte von Augenzeugen ein anschau- liches Bild. ') „Donnerstag Abend zwischen vier und sechs Uhr", so hieß es in der Times, , .beob- achteten viele hundert Zuschauer von den Höhen von Ramsgate und Margale eine lange, mehrere Meilen über dem Meere sich ausbreitende Wolke, die sich aus der Richtung von Calais und Ost- ende gegen unsere südliche Küste zu bewegte und der langen Rauchsäule eines Dampfers bei ruhigem Wetter glich. Gegen zehn Uhr Abends aber waren zum allgemeinen Erstaunen der Spaziergänger alle Wege und die Felsen buch- stäblich mit Marienkäferchen bedeckt. Viele wurden auf ihrem Heimweg vollständig einge- hüllt von diesem kleinen Insekt, und so dicht saßen die Tiere an den Kleidern, daß diese Panzerhemden glichen. Am folgenden Morgen in der Frühe war zu allgemeinem Verdruß die ganze ') Cornelius stellt in seinem Buche „Die Zug- und Wandertiere aller Tierklassen" (Berlin 1865) einige von diesen Berichten zusammen. Küste mit ihnen bedeckt, und um dem Leser eine Vorstellung von der Ausdehnung und Masse dieser unwillkommenen Einwanderer zu geben, sei bemerkt, daß auf der Mole von Margate fünf Scheffel und fast ebenso viel auf der im Hafen von Ramsgate zusammengekehrt wurden. Trat man auf die Tiere, so hatte man den Eindruck, als gehe man auf Schnee an einem kalten Wintertage." „Jeder wahre Freund der Land- wirtschaft", so sagt ein anderer Berichterstatter, „begrüßt das Erscheinen dieser Insekten, da sie als Vertilger der für die Vegetation außerordent- lich schädlichen Blattläuse wohlbekannt sind." Seitdem sind derartige Massenwanderungen von Marienkäferchen meines Wissens nicht mehr be- schrieben worden. Worauf die Wanderungen im Jahre 1857 zurückzuführen waren, ist nicht sicher. Vielleicht waren die Tiere auf dem Festland in- folge örtlicher Übervölkerung und dadurch her- vorgerufenen Nahrungsmangel zur Wanderung ge- zwungen, und ein um diese Zeit gerade ein- setzender Ostwind wirbelte sie zusammen und führte sie in solch großen Massen über das Meer. Zusatz bei der Korrektur. Während des Drucks'dieser Mitteilung erschien in Heft 10/12 vom 15. Nov. der „Entomologischen Mitteilungen" (Bd. 7, 1918) eine Notiz von O. Taschenberg über „Auffällige Häufigkeit von Coccinella sep- tempunctata L. im Sommer 1918", auf die ich noch hinweisen möchte. Taschenberg erhielt aus verschiedenen Gegenden Deutschlands Berichte über massenhaftes Auftreten von Marienkäferchen im vergangenen Sommer, so aus dem Südharz, wo die Tiere derart häufig waren, daß man sich in acht nehmen mußte, sie nicht auf Schritt und Tritt zu zertreten, dann aus dem Vogtlande, aus der Umgegend von Halle und aus Mecklenburg. „Ganz besonders interessant wurde mir", so schreibt Taschenberg, „die Sache, als mir mein Arzt, Herr Sanitätsrat Dr. Köh n, folgendes aus seinen Sommererholungserfahrungen mitteilte. Er war in AltGaarz, einem kleinen mecklenburgischen Ostseeorte, wo er eines Morgens unzählbare Mengen des Marienkäfers unter dem Seetang ver- krochen (als ob er gierig daselbst seiner Nahrung nachging) bemerkte. Ich erklärte ihm, nachdem er mir die Strandbeschaffenheit mitgeteilt hatte und die herrschende Witterung, daß die Tiere in solcher Menge nur durch nächtlichen Sturm übers Meer getragen und den ersten besten Schutz im Seetang gefunden haben könnten. Der Wind hatte von Nordwesten an der holsteinischen Küste, Dahme und von der Insel P"ehmarn geweht und konnte allein als Ursache des massigen Auftretens des Käferchens unter Seetang zur Erklärung dienen. Ich teile diese Befunde sehr verschiedenen Vor- kommens nur darum mit, um noch mehr ähnliche Erfahrungen andererseits zur Mitteilung zu ver- anlassen." Vielleicht kann auch der eine oder andere Leser der Naturw. Wochenschr. über ähnliche Beobachtungen berichten. Nachtsheim, N. F. XVIII. Nr. 2 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 23 Einzelberichte. Astronomie. Über den 'Meteoritenfall von Treysa in Hessen am 3. April 1916 (s. H. 14, Jahrg. 19 18, S. 206) sind nunmehr zwei weitere Arbeiten erschienen : A. W e g e n e't : Über die planmäßige Auffindung des Meteoriten von Treysa. Astron. Nachrichten, Nr. 4961. F. Richarz, Auffindung, Beschreibung und vorläufige physikalische Untersuchung des Meteoriten von Treysa, Schriften der Gesellschaft zur Beförderung der gesamten Naturwissenschaften zu Marburg, 14. Bd., 2. H. Wegener hatte bekanntlich bereits vor der Auffindung des Meteoriten auf Grund der Licht- und Schallwahrnehmungen die geozentrische Bahn der Feuerkugel ermittelt und zufolge dieser Be- rechnung auch den mutmaßlichen Ort des Nieder- falls angegeben. Auf dieser Grundlage wurden in der Gegend von Treysa und Ziegenhain, Bezirk Cassel, Nachforschungen vorgenommen, die noch im Herbst und Winter 1916 ohne Erfolg blieben. Die Hoffnung, daß die Einschlagstelle bei der Ernte aufgefunden würde, erfüllte sich nicht. Als letztes Mittel richtete der Vorstand der obenge- nannten Marburger naturwissenschaftlichen Gesell- schaft einen Aufruf an die Forstbeamten der dor- tigen Gegend und setzte gleichzeitig eine Belohnung von 300 Mk. aus, mit dem Ergebnis, daß ein Förster auf eine ihm schon seit dem Sommer 1916 bekannte, im Walde liegende flache Grube als die wahrscheinliche Stelle des Niederfalls aufmerksam machte. Die Nachgrabung förderte in der Tat den Meteoriten zutage. Die Tiefe des Einschlags betrug 1,60 m, der Schußkanal verlief nicht senk- recht, sondern war ein wenig gegen Norden ge- neigt. In seiner neuen Arbeit knüpft Wegener an die frühere Veröffentlichung (in den Schriften der Marburger Gesellschaft) an und bespricht die Er- fahrungen, die sich aus den Umständen der Auf- findung für seine Bahnbestimmung ergeben. Das Erlöschen der Feuerkugel fand in einer Höhe von etwa 16 km statt. Von hier aus muß der Meteorit als nicht leuchtender Körper zur Erde gefallen sein. Wegener bestimmte s. Zt. den Punkt der Erdoberfläche, der das Meteor beim Erlöschen im Zenit hatte, mit einer rechnungsmäßigen Unsicher- heit von etwa 2 km, glaubte aber aus einer wahr- genommenen Verschwenkung der Rauchspur gegen Osten hin schließen zu können, daß auch der Meteorit selbst seinen Lauf nach dem Erlöschen nicht geradlinig fortgesetzt habe, und verlegte des- halb den wahrscheinlichen Ort des Niederfalls etwa 7 km südöstlich der Projektion des Erlöschungs- punktes. Auf die Unwahrscheinlichkeit der An- nahme, daß der Meteorit beim Niederfallen wirk- lich als schwarzer Körper gesehen worden sein soll, habe ich bereits früher hingewiesen. Der wahre Ort der Auffindung liegt nun nicht südöst- lich des Projeklionspunktes, sondern nur 800 m südlich davon, also innerhalb der Fehlergrenzen mit ihm zusammenfallend. Daraus ergibt sich vor allem, daß eine Änderung des Bahnazimuts auch nach dem Erlöschen der Feuerkugel nicht statt- gefunden hat. Die Richtungsänderung ist offen-' bar dadurch vorgetäuscht worden, daß der untere Teil der Rauchspur, die sich sehr wahrscheinlich auch noch unterhalb des Erlöschungspunktes fort- setzte, durch den in den oberen Teilen der Tropo- sphäre fast stets herrschenden Westwind eine Versetzung nach Osten erfahren hat. Es ist dabei zu berücksichtigen, daß im engeren Fallgebiet nur wenige Beobachter die Lichterscheinung gesehen haben, da diese sich in unmittelbarer Nähe des Scheitelpunktes abgespielt hat. Meist wurde man überhaupt erst durch den nachfolgenden Donner auf die Erscheinung aufmerksam und sah dann nur noch die in der Zwischenzeit nach Osten ab- getriebene Rauchspur. Man könnte nunmehr meinen, daß der Meteorit vom Punkte des Erlöschens nahezu senkrecht zur Erde gefallen sei. In der Tat kommt man in ähnlichen Fällen meist zu dem gleichen Ergebnis. Indessen bekennt sich Wegener nicht zu dieser Ansicht, und die Wahrnehmung, daß der in den Erdboden geschlagene Kanal eine Neigung gegen Norden besaß, stützt seine Annahme, daß die Neigung der Meteorbahn, die vor dem Erlöschen etwa 50" betrug, auch nachher nur wenig steiler geworden ist. Dann müßte aber auch der Punkt des Erlöschens weiter im Norden gelegen haben, was deshalb nicht unwahrscheinlich ist, weil viele Beobachter die Lichterscheinung, wie eben ausge- führt, nicht gesehen haben und das Ende der Rauchspur als Erlöschungspunkt bezeichneten, und weil sehr häufig die leuchtende Bahn vom Be- obachter unwillkürlich über den Erlöschungspunkt hinaus verlängert wird. Gerade bei dem hessischen Meteor lag dieser Fehler nahe, da das Erlöschen nicht, wie sonst oft, unter explosionsartigen Er- scheinungen, sondern allmählich erfolgte. Eine Verallgemeinerung dieser Erfahrungen scheint aber gleichwohl nicht angebracht. Insbesondere lagen bei dem Meteoritenfall von Pultusk in Polen am 30. Januar 1868, den Wegener zum Vergleich heranzieht, die Verhältnisse doch wesentlich anders: nach G all es klassischer Untersuchung (Abhand- lungen der Schlesischen Gesellschaft für vater- ländische Kultur, Abt. f. Naturwissenschaften und Medizin 1867/68) ist es sehr wahrscheinlich, daß bei Pultusk der aus mehreren Tausend Einzel- körpern bestehende Steinregen wirklich nahe- zu senkrecht vom Hemmungspunkte der Feuer- kugel niedergefallen ist. Man muß beachten, daß ein solcher Hemmungspunkt, d. h. jene Stelle der Bahn, an der die kosmische Eigengeschwindig- keit des Meteoriten durch den Luftwiderstand ver- nichtet wird, bei der hessischen Feuerkugel eigent- lich garnicht vorhanden war. Der Vorgang der Hemmung erfolgt, wie an mehreren Beispielen Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVHI Nr. 2 zahlenmäßig nachgewiesen werden konnte, nicht aHmählich, sondern fast augenblicklich und zeich- net sich schon äußerlich durch glänzende Begleit- erscheinungen, wie plötzliche Lichtsteigerung und Funkensprühen aus, wodurch die richtige Auf- fassung des Hemmungspunktes für die Beobachter sehr erleichtert wird. Ähnliches wurde auch bei Pultusk beobachtet, nicht dagegen bei dem hes- sischen Meteor, und We gener war deshalb -voll- auf berechtigt, bei diesem eine Fortsetzung der Bewegung im ursprünglichen Bahnazymut anzu- nehmen. Die P'euerkugel von Pultusk erlosch bereits in 42 km Höhe; die Neigung ihrer Bahn betrug 44* gegen die Horizontale. Es ist nun zwar verständlich, daß die viel kleineren Meteo- riten sich bei einem Fall aus dieser Höhe der Senkrechten mehr nähern mußten als der hessische Meteorit. Ebenso ist aber auch sicher, daß bei Meteoren mit ausgeprägtem Hemmungspunkt ein großer Teil der Bewegungsenergie in Licht und \A''ärme umgesetzt wird. Daß die kosmische Ge- schwindigkeit auch bei dem Steinfall von Pultusk nicht völlig vernichtet worden ist, beweist schon die Anordnung der Steine auf dem etwa 8 km langen Streufeld : die größten fand man am äußer- sten vorderen Ende, und je kleiner die Steine waren, desto steiler waren sie herabgefallen. Der völlig senkrechte Absturz der festen Massen ist also an sich nicht wahrscheinlich. Jedenfalls aber muß man bei der Ermittelung der wahrschein- lichen P'allstelle nicht nur die Bahnlage, sondern auch den Verlauf der Lichterscheinungen berück- sichtigen, denn sobald ein ausgeprägter Hemmungs- punkt mit den kennzeichnenden Begleitumständen wahrzunehmen ist, wird man die Fallstelle viel näher am Projektionspunkt der Hemmung suchen müssen, als bei gleicher Bahnlage und allmählichem Erlöschen der Feuerkugel. Die Annahme, daß es sich bei dem hessischen Meteor um einen einzelnen, ziemlich großen Eisen- meteoriten handelte, hat Wegen er bereits an- läßlich der Bahnbestimmung ausgesprochen, und der spätere Befund hat dies, wie auch die Mut- maßungen über die Tiefe des Einschiagens usw., vollauf bestätigt. F. Richarz beschreibt in seiner Arbeit zu- nächst die schon eingangs mitgeteilten Umstände der Auffindung und gibt dann einen Bericht über die vorläufige Untersuchung des Meteoriten. Das Gewicht beträgt 63 kg. Die Form ist unregel- mäßig polyedrisch mit Durchmessern von 24 und 36 cm. Die Abbildungen zeigen die in allen ähn- lichen Fällen bemerkten Eindrücke, die besonders ausgeprägt auf der Seite des Meteoriten zu finden sind, die bei seiner Lagerung im Erdboden nach Norden gekehrt war. Es scheint wohl, daß diese Seite während des Fluges nach vorn gerichtet und dem heißen Lufrstrome mehr ausgesetzt war. Die gleiche Erscheinung — Unterscheidung einer Vorder- und Rückseite nach der Ausbildung der Schmelzrinde — hat man schon bei mehreren großen Eisenmeteoriten beobachten können. Die Oberfläche wird von einer schwarzen Oxydschicht gebildet, in der chemischen Zusammensetzung FcjO^ übereinstimmend mit Magnetit oder dem sog. Hammerschlag. Nur an einer Stelle, auf dem Grunde einer Einkerbung, findet sich ein gelblicher Einschluß, vermutlich von Eisensulfid. Durch Ein- tauchen in Wasser wurde das spezifische Gewicht des Meteoriten zu 7,88 bestimmt, woraus auf einen Nickelgehalt von etwa 8 v. H. geschlossen werden kann. Näheres über den inneren Aufbau des Meteoriten wird sich erst nach der geplanten Zerschneidung ergeben, die aber mangels geübter Arbeitskräfte zurzeit nicht ausgeführt werden kann. Aus dem Umstände, daß der Meteorit während seiner neunmonatigen Ruhe im Erdboden ziemlich starke magnetische Eigenschaften angenommen hat, kann jedoch geschlossen werden, daß der Nickelgehalt allenfalls 20 v. H. nicht übersteigt, da die Zusammensetzung sonst unmagnetisch werden würde. Da der Meteorit aus einem einzigen Stücke besteht und nirgends Bruchflächen aufweist, sein Niederfall aber trotzdem mit außerordentlich starkem Donner verbunden war, so kann, beson- ders wenn man das oben über das Fehlen eines eigentlichen Hemmungspunktes Gesagte berück- sichtigt, nunmehr mit Sicherheit angenommen werden, daß der Meteordonner nicht auf Explosions- vorgänge zurückzuführen ist, sondern lediglich durch das Einschlagen des festen Körpers in die Luftmasse verursacht wird. Er ist somit dem „Geschoßknall" in der Ballistik sowie dem heulen- den oder brummenden Geräusch der Artillerie- geschosse vergleichbar. Zur gleichen Annahme hatten bereits Erfahrungen anderer Art geführt. Der Meteorit von Treysa muß wohl als der erste angesehen werden, der lediglich auf Grund der Berechnung seiner Bahn aufgefunden werden konnte. Einen ganz ähnlichen Fall vom 18. F"e- bruar 191 2, der ebenso von starkem Donner be- gleitet war, habe ich beschrieben in den Mittei- lungen der Vereinigung von Freunden der Astro- nomie und kosmischen Physik (23. Jahrg. S. 32—47). Das Meteor zog in wenig geneigter Bahn von Südwest nach Nordost über Thüringen hinweg und endete unter ausgeprägten Hemmungserscheinungen in einer Höhe von 23 km über der Gegend von Mücheln bei Merseburg. Leider fehlten aus jener Gegend die Beobachtungen, so daß auch die Lage des Hemmungspunktes nicht sicher bestimmt werden konnte. Anhaltspunkte dafür, daß wirk- lich ein Niedcrfall fester Massen stattgefunden hat, sind gleichfalls nicht vorhanden, doch gleicht der ganze Vorgang den bei Meteoritenfällen beobach- teten Erscheinungen so, daß mit der Möglichkeit einer nachträglichen Auffindung immerhin gerech- net werden kann. Planmäßige Nachforschungen hätten aber auch damals wohl kaum Erfolg gehabt. C. Hoffmeister. Meteorologie. Angenehme Temperaturen. In Ruhe oder mäßiger Bewegung oder im N. F. XVni. Nr. 2 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 2S Zimmer fühlen wir uns wohl bei Temperaturen um 18" (14 Vo" R), also bei 14— 18 " in der Nacht und 18 — 22" am Tage. Um diese Temperatur ständig zu haben, müßte der Mensch viel reisen (W. Koppen, Das Wetter 191 8, S. 116) und hätte in manchen Monaten nicht viel Auswahl für seinen Aufenthalt auf der nördlichen Halbkugel. Im Seeklima wäre hier der Ortswechsel am geringsten, vom Januar auf Teneriffe zum Juli im nördlichen Frankreich oder in geringer See- höhe im nördlichen Portugal, Oberägypten. Im März in Kairo und Bagdad, im April Sevilla, Malaga, Algier und Nazareth. Der Mai wäre ge- nehm in fast ganz Griechenland, Italien und an der französischen Mittelmeerküste. Für den Juli wären geeignet Bordeaux — Genf — Wien — Kiew nordwärts bis London-Kristiania — Helsingfors und beinahe Archangelsk, südlich dieser Linie an etwas höher gelegenen Orten wie Graz, Klagenfurt, Laibach, Lemberg, Hermannstadt u. a. Im September wären es Lissabon, Madrid, Bordeaux, Lyon, Marseille, Mailand, Agram, Buda- pest, Bukarest, Sofia, Odessa, Astrachan. Im November die Azoren, Madeira, Malta, Mogador, Kairo, Bagdad. Im Dezember Madeira, die Kanarischen Inseln, Wadi Haifa und einige andere Orte. In Ostasien wären Temperaturen von 16 — 20" in jeder Jahreszeit anzutreffen im Januar in Calcutta, März in Honkong, Mai in Peking und Tokio, Juli an der Küste von Sachalin, im Innern erst bei Jakutsk, Irkutsk und Urga. Es herrschen diese Temperaturen in Indien in nächster Nähe im Gebirge in Darjeeling und Simla (dort im Juli und August, hier vom Mai bis zum September) und in Südindien an den hochgelegenen Gesund- heitsstationen fast das ganze Jahr hindurch. Blaschke. Der allgemeine Verlauf der Witterung auf der Balkanhalbinsel vollzieht sich nach B. Wiese (Das Wetter 1918, S. 120— 124) unter wesentlich anderen Bedingungen als in Zentraleuropa. Es ist kein einheitliches Witterungsgebiet, sondern es bildet die Übergangszone vom Meerklima zum ausgesprochenen Kontinentalklima. Die Boden- beschaffenheit, das wenig regelmäßige Gebirgs- land, wirkt störend auf die Temperaturverteilung und die Winde in den unteren Schichten, so daß örtliche Erscheinungen auftreten. Bemerkbar macht sich der Einfluß der Adria, des Ägäischen und des Schwarzen Meeres. Aus- geprägte Anticyklonen ziehen sehr selten durch, meist hoher Druck von NW her in Form kalter Hochdruckkeile, obwohl die Gebirge im NW (Ost- alpen) eine Art Stauwehr bilden, bis dann plötzlich doch ein Hochdruckkeil vorschießt mit Temperatur- abnahme, vorübergehenden, stärkeren Nieder- schlägen und Gewittern im Sommer. Von den Zugstraßen der Minima kommen in Betracht Va, Vb, Vc, Vd und III a, am meisten aber Va und Vd. Selten wandern Depressionen vom Ägäischen nach dem Schwarzen Meer, sie bilden aber die typische Schlechtwetterlage im ganzen Balkangebiet und in Mazedonien und Albanien vielfach Wintergewitter. Von Einfluß in den Sommermonaten ist das stationäre Tiefdruckgebiet über Syrien und Meso- potamien, das zur Verflachung der Hochdruck- gebiete über der Balkanhalbinsel wesentlich beiträgt. Im Sommer herrschen NW-liche bis N liehe Oberwinde vor, im ungarisch-serbischen Grenz- gebiet die Kassowa, ein SO- bis SSO-Wind bis 20 m/s an Stärke am Boden erreichend mit dem Maximum der Windstärke bis looo m. Er hält 2 — 3 Tage an bei NS lieh gerichtetem Isobaren- verlauf und Druckgefälle von O nach W. Ferner sind zu erwähnen Crivet, Austru und Scirocco. Der Föhn tritt auf bei Winden aus SW bis SSW und bringt trockene und warme Luft, die typische Föhnwolke und örtliche Aufheiterung. Die P'allwinde sind verstärkte NO- bis ONO- Winde bei heiterem Wetter um Mittag oder Nachmittag bei hohem Druck und NW- Winde bei tiefem Druck über dem Ägäischen Meer. Häufig treten Gewitter auf, im Sommer vor- wiegend Wärmegewitter, im Winter bei Tiefdruck- gebieten infolge der ihre Entwicklung störenden Bodenbeschaffenheit. Gewitterherde sind in Alba- nien und Mazedonien und am Südabhang der Karpathen. Bei Beurteilung der Witterung im Balkangebiet sind zu beachten die häufig auftretenden tiefen Stratokumulusdecken an der unteren Donau und am Schwarzen Meer. Trotz der größeren Viel- gestaltigkeit der Witterungsformen sind aber in mancher Richtung die Vorhersagen im Balkan- gebiet sicherer und leichter zu stellen als in Mitteleuropa. Blaschke. Die Winterstrenge als klimatischer Faktor. Das Kältegefühl ist nicht nur von der Lufttem- peratur abhängig, sondern auch von anderen Fak- toren, besonders vom Wind. Strenger Frost ist bei windstillem Wetter leichter zu ertragen als gelinder Frost bei starkem Wind. Franken- häuser erfand zwar das .^bkühlungsthermometer „Homoeotherm" zur zahlenmäßigen Feststellung der abkühlenden Wirkung bewegter Luft, aber eine exakte klimatalogische Bezeichnung der Strenge des Winters fehlte, welche zahlenmäßig den Ein- fluß von Temperatur und Windgeschwindigkeit wiedergibt. Vincent stellte bereits früher eine Skala auf und suchte die Abhängigkeit der Tem- peratur der Haut (H) von derjenigen der Luft (L), den Unterschied zwischen der Lufttemperatur im Sonnenschein und Schatten (S) und der Wind- geschwindigkeit in mp/s darzustellen durch : H = 2ö.5 +0.3 L + 0.2 S — 1.2 V, wobei er das Wetter in eine siebengradige Skala teilte nach den verschiedenen Werten für H, welche schwanken zwischen; 26 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 2 ]> 37.5= sehr heiß und <^ 22 =sehr kalt. Für sehr strenge Winter reicht aber diese Skala nicht aus, und so hat G. Bodmann (O. Baschin, Das Wetter 1918, S. loi) versucht auf andere Weise die Strenge des Winters zahlen- mäßig wiederzugeben. Durch Untersuchung der abkühlenden Einwirkung des Wetters auf ein und denselben Gegenstand bei verschiedenen Tempe- raturen und Windgeschwindigkeiten fand er: S= (1—0.041) (1+0.272 v), wenn t die Lufttemperatur bedeutet, v die Wind- geschwindigkeit. Die Winderstrenge S ist darnach eine Funktion von Temperatur und Windgeschwindigkeit. Blaschke. Zoologie. Über den Einfluß der Gefangenschaft auf die Legetätigkeit und den Eierstock des Haus- huhnes. Es ist eine altbekannte Tatsache, daß viele freilebende Tiere, wenn sie in der Gefangenschaft ge- halten werden, selbst bei bester Pflege sich nicht fort- pflanzen oder doch eine stark verminderte Frucht- barkeit zeigen. Sogar die sekundären Geschlechts- charaktere werden bei manchen Tieren durch die Gefangenschaft beeinflußt, sie werden rückgebildet, die Tiere werden dem andern Geschlecht ähnlicher. Auch viele unserer Haustiere zeigen eine starke Beein- trächtigung ihrer Geschlechtstätigkeit, wenn ihnen die freie Bewegungsmöglichkeit genommen wird. So hören Haüshühner, wenn sie eingesperrt werden, so- gleichaufzu legen, beginnen allerdings, wenn sie nicht zu reichlich gefüttert werden, nach gewisser Zeit wieder mit ihrer Legetätigkeit. Die Beobachtungen legen die Annahme nahe, daß die Gefangenschaft Veränderungen am Eierstock der Tiere zur Folge hat, doch lagen darüber bisher keine Unter- suchungen vor. Welcher A-rt diese Veränderungen sind, zeigt nun Stieve') in einer kürzlich er- schienenen Arbeit. Er brachte Hühnet (rebhuhn- farbige Italiener), die bis dahin in einer großen Ge- flügelzuchtanstalt gezüchtet worden waren und regel- mäßig gelegt hatten, in Käfige von ungefähr i cbm Inhalt. Nach kürzerer oder längerer Gefangenschaft, während der die 'Tiere in normaler Weise ge- füttert wurden, wurden die Tiere getötet und ihre Eierstöcke fixiert und untersucht. Da Leber und Niere besonders leicht krankhaften Veränderungen unterworfen sind, wurden von jedem Tier auch diese Organe histologisch untersucht, aber es sei gleich hier bemerkt, daß außer den Eierstöcken kein Organ bei den gefangen gehaUenen Tieren irgend- welche Veränderungen aufwies. Die Tätigkeit der Geschlechtsdrüsen indessen wird durch das Ge- fangensetzen sofort gestört. Eier, die sich bereits in den keimleitenden Wegen befinden, können allerdings in den ersten drei Tagen der Gefangen- ') Stieve, H. Über experimentell, durch veränderte äußere Bedingungen hervorgerufene Rückbildungsvorgänge am Eierstock des Haushuhncs (Gallus domesticus). Arch. f. Ent- wicklungsmech. d. Organ., Bd. 44, 191S. Schaft noch abgelegt werden, es können hin und wieder auch der größte oder die beiden größten Follikel des Ovars noch während der Gefangenschaft platzen und ihren Inhalt in den Uterus entleeren, wo dann die normale Zusammensetzung der Eier erfolgt. Auch diese Eier werden in der Regel noch normal abgesetzt. Dann aber ruht die Ei- ablage. Die größten, bereits mit gelbem Nahrungsdotter beladenen Follikel verfallen der Rückbildung, und zwar schreitet die Rück- bildung um so weiter fort, je länger das Tier in Gefangenschaft gehalten wird. Schließlich greift die Rückbildung auch auf die kleineren Follikel über, und bei einer Gefangenschaft von zwei oder mehreren Monaten verfällt der ganze Eierstock der fettigen Degeneration. Nur dann gingen die Tiere bei lange andauernder Gefangenschaft schließlich wieder zur Legetätigkeit über, wenn sie schwach gefüttert wurden. Die histologische Untersuchung solcher Hühner ergab, daß auch bei diesen Tieren die größten Follikel rückgebildet werden und zerfallen, die kleineren aber schreiten nach anfänglichem Stillstand in der Entwicklung fort und führen nach einiger Zeit wieder einen normalen Zustand herbei. Es erhebt sich nun die Frage, auf welchen äußeren Umstand der Stillstand in der Eiablage zurückzuführen ist. Stieve sieht drei IVIöglich- keiten: i. das Fehlen des Hahnes, 2. die bei der geringen Bewegungsmöglichkeit zu gute Ernährung, 3. die veränderten äußeren Bedingungen überhaupt, d. h. die Trennung von den anderen Tieren, die ungewohnte Umgebung, eine Erregung von Un- behagen und Angstgefühl also. Die erste Möglich- keit können wir von vornherein ausschalten, da oft genug Hühner ohne Hahn gehalten werden, ohne daß ihre Legetätigkeit nachläßt. Der beste Beweis dafür, daß die Anwesenheit eines Hahnes nicht erforderlich ist, sind ja übrigens die Ver- suche, in denen die gefangen gehaltenen Tiere (bei schwacher Ernährung) schließlich wieder mit der normalen Legetätigkeit begannen. Stieve ist geneigt, als die Hauptursache für den Stillstand der Legetätigkeit das durch die Gefangenschaft bei den Tieren hervorgerufene Unbehagen zu be- trachten. Gewiß ist auch die im Verhältnis zu der geringen Bewegungsmöglichkeit zu üppige Ernährung von Bedeutung — dafür ist abermals die Wiederaufnahme der Legetätigkeit bei schwach gefütterten Tieren ein Beweis — , aber in den ersten Tagen der Gefangenschaft spielt die Er- nährung jedenfalls noch keine Rolle. Das Un- behagen, das die gefangenen Tiere empfinden, hat offenbar Änderungen im Stoffwechsel zur Folge, und diese Änderungen hemmen die Tätig- keit der Geschlechtsdrüsen. Dauert die Gefangen- schaft längere Zeit an, so schwinden zwar die Angst und das Unbehagen, aber die reichliche Ernährung und die mangelnde Bewegung ') führen ') Eine Nebenbemerkung; Die Berechtigung der kate- gorischen Erklärung Stieve 's, daß „jedes Tier von Natur aus faul" ist, möchte ich denn doch bestreiten. Man braucht N. F. XVIII. Nr. 2 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 27 zu Fettansatz — die Tiere nehmen in der Ge- fangenschaft alle rasch an Gewicht zu — , und daß dieser die Funktion der Geschlechtsdrüsen nachteilig beeinflußt, ist eine seit langem bekannte Tatsache. ^) Äußere Veränderungen oft ganz geringfügiger Natur können also, wie aus den Untersuchungen Stieve's hervorgeht, tiefgreifende Rückbildungen der Geschlechtsorgane nach sich ziehen. Stieve sieht darin eine Zweckmäßigkeitseinrichtung der Natur. Wenn, so sagt er, ein Organismus in neue Bedingungen kommt, so muß er sich zunächst diesen neuen Verhältnissen anpassen. Es werden da oft derart hohe Anforderungen an das Individuum ge- stellt, daß es ihnen erliegen müßte, wenn es gleich- zeitig auch noch die Fortpflanzungstätigkeit zu er- ledigen hätte. Erst wenn es sich in die neuen Verhält- nisse vollkommen eingewöhnt hat, stellt sich auch die normale Tätigkeit der Geschlecht^zellen wieder ein. Ob nicht Stieve hier doch etwas zu viel Zweckmäßigkeit in der Natur sieht, mag dahin- gestellt bleiben. Nachtsheim. Die Symmetrie des Wirbeltierauges, nach Carl Rabl. Mit 3 Textfiguren. Den längst feststehenden Erkenntnissen über die Entwicklung des Wirbeltierauges fügt Rabl (Archiv für mikroskopische Anatomie Bd. 90, Abt. I, S. 26 1 — 444 191 7) nach Beobachtungen am Säugetier- und menschlichen Embryonen, die sich hierin bis auf den größeren Reichtum an um so kleineren Zellen bei Homo im wesentlichen gleich verhalten, fol- gende hinzu. Auf einem gewissen Stadium der noch uneingestülpten Augenblase, erscheinen unter reichlicher Zellvermehrung in ihrem unteren Teil zwei mächtige nachinnenvorspringende Wülste, Abb. i. Diese werden auf weiteren, hier nicht abgebildeten Stadien noch beträchtlich höher, während die Einstülpung zum Augenbecher von vorn her beginnt, aber bevor sie sich als fötale Augenspalte auf die Unterseite hin fortsetzt. Da diese Wülste gerade den später zur Netzhaut werdenden Teil der unteren Augenblasenwand ein- nehmen, ist, wie Rabl es ausdrückt, die retinaleWand der Augenblase schon auf diesem Stadium zwei- lappig, oder die Augenanlage bilateral oder nasotemporal symmetrisch. Auf dem Stadium, wo die untere Einstülpung bemerkbar wird, muß diese sich zwischen die sehr mächtig gewordenen Wülste hindurchschieben. Nach ihrer Vollendung — Abb. 2 — ist dann die Zweilappigkeit des nunmehrigen Innenblockes, der Netzhaut, auch noch sehr deutlich erkennbar, da eine Furche die nasale von der temporalen Hälfte abgrenzt. Der Furche auf der Ventrikelseite entspricht auf der Glaskörperseite eine in den Glaskörperraum vor- springende Leiste. Nach Verschluß der fötalen Augenspalte entsteht gegenüber der dorsalen Netz- hautfalte, furche und -leiste auch eine ventrale. Die beiden Leisten, die dorsale und die ventrale oder nach der Zeitfolge ihres Auftretens die pri- märe und die sekundäre teilen nun auch den 0 r- ^^ ', ^ ' \ \ ' ( ' fi^^ \\-- ' * ( . * Abb. I und 2. Äquatorialschnitte des Augenbecliers vom Kaninchen am II. und 13. Entwicklungstage. Nach Rabl. — Glaskörperraum unvollständig in eine nasale und temporale Hälfte. Dabei ist der Umriß des ganzen Äquatorialschniltes jetzt breiter als hoch und nahe- zu rechteckig. Von allen diesen Merkzeichen der bilateralen oder nasotemporalen Symmetrie ist am 17. Entwicklungstage des Kaninchens nur mehr wenig übrig geblieben: der horizontalellip- tische Umriß und allenfalls eine geringe Verdün- nung der Netzhaut dorsal in der Mitte. nicht einmal an die Bienen und Ameisen zu erinnern, auch sonst gibt es Beispiele genug, die zeigen, daß dieser Satz so allgemein nicht stimmt. ^J Es sei hier aber andererseits mit Stieve darauf hin- gewiesen, daß allzu lange anhaltende schlechte Ernährung die Tätigkeit der Geschlechtsdrüsen ebenfalls hemmt. So ist statistisch festgestellt, daß die vor allem in den Industriebe- zirken schlechte Ernährung bei einem hohen Prozentsatz der P'rauen (bis zu 70 "/„l) ein Ausbleiben der Menstruation zur Folge hat. 28 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVni. Nr. 2 Das sind die einfachen, aber g^ewiß über- raschenden neuen Tatsachen der Bilaterie des Säugetierauges, von denen Rabl mit Recht sagen kann, „man staunt, daß diese Beobachtung nicht längst gemacht wurde." Der Grund dafür liegt in der bisherigen Bevorzugung des Horizontal- schnittes gegenüber dem Aquatorialschnitt. Deutliche Anzeichen einer entsprechenden Symmetrie sind am Auge von Vogel-, Reptilien-, Amphibien- und Fischembryonen erkennbar. Am größten ist die Übereinstimmung mit Säugetieren wohl bei Selachiern und Ganoiden, über Amphibien liegt wenig Material vor, doch auch dieses, sowie das von Vögeln und Reptilien läßt die somit bei allen Wirbeltiertypen wiederkehrende Bilaterie des embryonalen Auges deutlich wiedererkennen. An Augen erwachsener Säugetiere, zeigt Rabl, steht die Gefäßverteilung in der Netzhaut im Einklang mit der nasotemporalen Symmetrie, da sich stets das Gefäßgebiet, wo es ausgiebiger entwickelt ist, in zwei symmetrische Hälften zerlegen läßt, entsprechend der entwick- lungsgeschichtlichen Grenzlinie beider Hälften. Ferner macht Rabl treffend darauf aufmerksam, daß im Bereich der Ciliar fortsätze bei Wirbeltieren sehr häufig besondere Differenzie- rungen sich gerade dorsal und ventral vorfinden, zum Beispiel der dorsale und ventrale Papillar- knoten beiFroschlurchen, der ventrale Linsenmuskel der Fische; daß ferner die Chorioidea „zwei Arterien im horizontalen Meridian, eine dorsale und eine ventrale, und zwei Venen im senkrechten Meridian, eine dorsale und ventrale besitzt," wo- mit Hans Virchow als erster und bisher als letzter die Bilaterie des Wirbeltierauges, allerdings nur soweit die Blutgefäße in Betracht kommen, vollkommen klar ausgesprochen hat. Die in allen diesen Punkten auftretenden geringen Asymme- trien, zu denen zum Beispiel auch die nicht genau zentrale Stellung der Pupille der Menschen gehört , sind entwicklungsgeschichtlich nur als etwas Sekundäres zu beurteilen nach dem Satze: „Es gibt keine bilaterale Symmetrie oder Eudi- pleurie, die nicht eine Störung erleiden könnte." Ferner erinnert Rabl daran, daß die Region des scharfen Sehens bei der Mehrzahl der Wirbeltierarten durch den horizontalen Meridian der Netzhaut dargestellt wird. Bei Salamandra maculosa konnte Rabl eine bei diesem Tier bis- her vermißte, sehr schöne bandförmige, im hori- zontalen Meridian verlaufende Area auffinden. Es ist eben bei den meisten Wirbeltieren das Sehen in der Horizontalebene weitaus das wichtigste. Hierin sucht Rabl die physiologische Bedeutung seiner entwicklungsgeschichtlichen Befunde. Nach Heß kommt eine iDilaterale Symmetrie auch dem Cephalopodenauge zu. Wie erst seit einigen Jahren durch Mitteilungen See felders, die auf unveröffentlichte Beobach- tungen Rabls zurücktjingen, bekannt ist, treten übrigens am vorderen Umschlagsrand des Augen- bechers zeitweilig gewisse Einkerbungen auf. Solche Randkerben gibt es nun, wie Rabl jetzt mitteilt, und zwar wiederum allgemein bei Wirbeltieren, vier an bestimmter Stelle: je eine vordere (nasale) dorsale und hintere (temporale) dorsale, vordere ventrale und hintere ventrale. Auch hierin betätigt also die Augenanlage Symme- trie. Die dorsalen treten früher auf als die ven- tralen. Nachdem sie alle vier und außerdem die schon ältere fötale Augenspalte da sind, treffen daher weit vorn liegende dem Augenäquator paral- lele Schnitte auf fünf Randlappen der Retina, Abb. 3. Was die Ursache der Kerben betrifft, so findet man in ihnen meist je ein kleines Gefäß liegen, vermutlich Venen, durch die das Blut aus der in der fötalen Augenspalte in den Glaskörper- raum eindringenden Arteria ophthalmina abfließt, bevor die Vena ophthalmina sich gebildet hat. Abbildung 3. Weit vorn liegender .aquatorialschnitt durch den Augenbecher eines Torpedoembryos von 21 mm Länge. Nach Kabl. Zur Benennung der Augenbecherteile erwähnt Rabl nach Hyrtl, daß „Retina" wirkUch nicht mit „Netzhaut", wie von rete abgeleitet, zu über- setzen wäre, sondern aus dem Arabischen stammt und Hülle, Oberwurf oder Umhüllung -des Glas- körpers bedeutet. Man kann daher ohne weiteres beide Blätter zusammen als Retina bezeichnen, diese hat also ein Innenblatt und ein Außenblatt und zerfällt der Fläche nach in Pars optica und Pars caeca, letztere in Pars ciliaris und Pars iridi- aca, jede wieder mit zwei Blättern. Das Innenblatt der Pars optica kann als Retina im engeren Sinne bezeichnet werden. . V. Franz. Botanik. Vom Entwicklungsrhythmus des Wintergetreides. Als winterannuelle Pflanzen be- zeichnet man diejenigen einjährigen Gewächse, die, wie unsere Wintergetreidearten, schon im Herbste keimen, während des Winters ruhen und im folgenden Sommer ihre volle Entwicklung er- reichen. Sie haben unter natürlichen Verhält- nissen eine wesentlich längere Vegetationsdauer als die sommerannuellen Pflanzen, die (Sommer- roggen usw.) im Frühling keimen und innerhalb weniger Monate zu Blüte und Frucht gelangen. N. F. XVIII. Nr. 2 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 29 Aber diese lange Vegetationszeit ist, wie neuer- dings Gustav Gaßner darlegt, nicht das wesent- liche Merkmal der winterannuellen Gewächse. Es ist nämlich möglich , sie in demselben Jahre von der Keimung bis zur Reife zu bringen, wenn man sie bei genügend niedrigen Temperaturen keimen läßt. Werden beispielsweise Winter- und Sommerroggen im zeitigen Frühjahr nebeneinander bei I — 2" zum Keimen gebracht und dann im Freien weiterkultiviert, so entwickeln sie sich ganz gleichmäßig weiter und blühen und reifen auch gleichzeitig. Bringt man aber Sommer- und Wintergetreide im Frühjahr bei gewöhnlicher Temperatur zur Aussaat, so entwickelt sich nur das Sommergetreide normal bis zur Reife, wäh- rend das Wintergetreide nur vegetativ weiter- wächst. Umgekehrt würde das Sommergetreide bei Aussaat im Herbste den niedrigen Winter- temperaturen unterliegen. Was das Wintergetreide auszeichnet, ist mithin nicht die lange Vegetations- dauer, sondern das Bedürfnis der Kälteeinwirkung in dieser oder jener Periode seiner Entwicklung. Es ist nicht durchaus notwendig, daß diese Ein- wirkung während der Keimung erfolgt; sie kann auch auf einem späteren Stadium zum Ziele, d. h. zur Abkürzung der Vegetationsdauer, führen. Gaßner lehnt die Aimahme ab, daß es sich hierbei um eine bloße Reizwirkung der Kälte handle, und zieht im Einklänge mit den von Klebs vertretenen Anschauungen die bei niederer Temperatur eintretende Steigerung des Gehaltes an organischen Stoffen, besonders an Zucker, zur Erklärung des Kälteeinflusses auf die Blütenbildung heran. Diese Zuckeranreicherung würde mit einer Herabdrückung der Dissimilation (Atmung) zu- sammenhängen. Da der Zucker als Schutzstoff der Pflanzenzelle gegen Kälteeinflüsse wirkt, so steht auch die Frostharte mit dem Zuckergehalt in ursächlichem Zusammenhange. So würde sich nach Gaßner ergeben, ,,daß niedere Tempera- turen auf dem Umweg einer Verschiebung der Konzentration organischer Stoffe, insbesondere der Zuckerarten , einerseits die Frosthärte und zweitens die Blütenbildung winterannueller Ge- wächse bestimmend beeinflussen. Auch zweijährige Pflanzen lassen sich durch Einwirkung niederer Temperaturen innerhalb einer Vegetationsperiode zu normaler Entwick- lung bringen, während andererseits Klebs gezeigt hat, daß man ihre Lebensdauer durch Ausschal- tung der winterlichen „Ruheperiode" um Jahre verlängern kann. „Die Vegetationsdauer ist also auch hier nicht das Primäre, sondern die Reaktions- weise des Organismus auf die normalen („natür- lichen'') Vegetationsbedingungen." Auf diesen Tatsachen fußend, nähert sich Gaßner in der Auffassung der „Entwicklungs- rhythmik" der Ansicht von Klebs, die von den meisten Physiologen nicht geteilt wird. Diese betrachten die periodischen Erscheinungen, wie die Winterruhe, als Äußerungen einer vererbbaren autonomen Rhythmik, während nach Klebs nur eine „spezifische Struktur" des Plasmas vererbt wird und die jährliche Periodizität unter dem Zusammenwirken innerer und äußerer Bedingungen hervortritt. Unter Bezugnahme auf eine Bemer- kung E. Baur's gelangt Gaßner zu folgendem Schlüsse: „Es geht bei der ganzen Frage nicht mehr darum, ob es eine autonome vererbbare Periodizität gibt oder nicht, sondern zunächst darum, ob Eigenschaften als solche vererbt werden oder nur die spezifische P'ähigkeit des Organismus, unter diesen oder jenen „natürlichen" oder „un- natürlichen" Außenbedingungen mit der Ausbil- dung dieser oder jener „natürlichen" oder „un- natürlichen" Eigenschaft zu reagieren." Mit der Verwerfung der Vererbbarkeit der Eigenschaften und der Entscheidung, daß nur die spezifische Reaktionsweise auf Außenbedingungen sich ver- erbt, würde auch der Autonomiebegriff einge- schränkt werden müssen ; er dürfte wenigstens nicht mehr mit der Vererbung in Verbindung ge- bracht werden. Gaßner schlägt vor, da in den bisher „autonom" genannten Vorgängen ,,der Zu- sammenhang zwischen Reaktionsweise des Orga- nismus und Außenbedingungen im Verborgenen liegt', diese Vorgänge als kryptonom zu be- zeichnen. (Zeitschrift für Botanik, Jahrg. 10, 1918, S. 417—480.) F. Moewes. Bticherbesprechungen. Schmidt, Dr. Heinrich, Geschichte der Ent- wicklungslehre. Leipzig, 18. A. Kröner. — 12 IVl. Es ist eine große und außerordenilich weit- greifende Aufgabe, die sich der Verfasser stellt und mit deren Bewältigung er in dem vorliegenden starken Bande den Anfang gemacht hat. Er be- absichtigt nichts geringeres, als in systematischem Zusammenhange die Bedeutung des Entwicklungs- gedankens im geistigen Leben der MenschJieit darzustellen. In diesem Buche beginnt er mit dem Versuch, die Geschichte der I£ntwicklungslehre auf dem Gesamtgebiete der Naturwissenschaften zu behandeln. Er geht aus von der Schöpfungs- lehre als der primitiven Auffassung und erörtert, wie sie von der naturalistischen Anschauung von dem allmählichen Werden der Dinge überwunden wurde. Im zweiten Kapitel bespricht er den Entwicklungsgedanken als rein philosophisches Theorem und kommt dann, nachdem er noch im dritten den Entwicklungsbegriff selber in seinen verschiedenen Färbungen und Abwandlungen historisch untersucht hat, zu seinem Hauptthema, indem er in einer ganzen Reihe von Kapiteln die Lehre von der Entwicklung in der Geschichte der einzelnen Naturwissenschaften sowie in derjenigen 3Ö Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVm. Nr. 2 einzelner wichtiger Teilprobleine verfolgt. Die Darstellung erfreut durch Übersichtlichkeit und Klarheit, besonders zu rühmen ist cie Sichei'heit, mit der durchweg die wichtigen Gedankengänge aus dem ungeheuren Material herausgearbeitet sind, sowie das hohe Maß eigenen Quellenstudiums, von dem schon ein flüchtiges Lesen überzeugt und das zusammen mit den zahlreichen Literaturnach- weisen den Wert des Buches steigert. Man kann nur wünschen, daß es dem Verfasser gelingen möge, auch seine weiteren Pläne auszuführen. Miehe. F. Grünbaum, Elektromechanik und Elektrotechnik. 353 Seiten mit 203 Ab- bildungen im Text. Leipzig '18, G. Thieme. — Geh. 8,75 M. Das vorliegende Buch kann angehenden Technikern als Repetitorium bestens empfohlen werden. Es wird vornehmlich den aus dem Kriege zurückkehrenden Studierenden vermöge der Anschaulichkeit seiner Darstellung, die schon äußerlich durch die Einfügung einer großen Zahl klarer schematischer Figuren und die übersichtliche Anordnung des Stoffs hervortritt, ein wertvolles Hilfsmittel sein können, mühelos in das Gebiet einzudringen oder ältere Kenntnis rasch aufzu- frischen. Der erste Teil behandelt die physikalischen Grundlagen, während der zweite auf die wichtigeren technischen Einzelheiten näher eingeht. Die Be- handlung beschränkt sich überwiegend auf die möglichst elementare Wiedergabe der qualitativen Verhältnisse. Dem Einblick in die quantitativen Beziehungen dienen vorzugsweise geometrische Betrachtungen, und rein mathematische Entwick- lungen treten zurück. Vielleicht wäre eine etwas stärkere Betonung der letzteren ohne Beeinträch- tigung der Leichtverständlichkeit immerhin im Interesse weiterer Vertiefung der Darstellung wünschenswert. A. Becker. E. Freundlich, Die Grundlagen der Ein- stein 'sehen Gravitationstheorie. Zweite, erweiterte und verbesserte Auflage. 54, mit Anhang 74 Seiten. Berlin '17, J. Springer. — Geh. 3,60 M. Die durch ein kurzes Vorwort von Einstein ausgezeichnete Schrift sucht dem Bedürfnis eines weiteren Leserkreises nach einem orientierenden Überblick über die Grundlagen und den gedank- lichen Entwicklungsgang der allgemeinen Relati- vitätstheorie und ihrer Anwendung auf das Gra- vitationsproblem gerecht zu werden. Sie zeigt zunächst, wie weit die neue Theorie einerseits als eine konsequente Weiterführung der in der speziellen Relativitätstheorie gewonnenen Erkennt- nisse, anderseits als eine Verwirklichung allgemeiner erkenntnistheoretischer Forderungen aller Naturbe- schreibung zu betrachten ist. Die daran an- schließende Betrachtung ihrer Beziehungen zur klassischen Mechanik und der vordem ungelösten prinzipiellen Schwierigkeiten der letzteren führt dann unmittelbar zum Verständnis der für die Theorie charakteristischen speziellen Problemstellung und der durch Einstein gegebenen Lösung. Die allgemeinen prinzipiellen Zusammenhänge treten überall mit voller Klarheit hervor. Ihrem Verständnis sucht noch besonders eine Reihe von auf die Literatur bezüglichen Anmerkungen eines umfangreichen Anhangs entgegen zu kommen. Besonders willkommen dürfte auch die hier sich findende Besprechung einzelner konkreter Fälle sein. Da der Leser um so mehr Be- friedigung finden wird, je mehr es ihm an der Hand einer solchen Einführung gelingt, den Ge- dankeninhalt der Theorie an einfachen, leicht vor- stellbaren Fällen sich zu veranschaulichen, so dürfte eine etwaige künftige weitere Ergänzung der an sich empfehlenswerten Schrift in dieser Richtung besonders dankenswert sein. A. Becker. M. V. Rohr, Die optischen Instrumente. ■ Dritte, vermehrte und verbesserte Auflage. (88. Bändchen von ,,Aus Natur und Geisteswelt"). 137 Seiten . mit 89 Abbildungen im Text. Leipzig u. Berlin '18, B. G. Teubner. — Preis geb. 1,50 M. Wer sich über die optischen Instrumente im allgemeinen und deren verschiedene Ausführungs- formen im einzelnen orientieren will, findet in dieser kurzen, den Gegenstand aber erschöpfenden Darstellung, die jetzt in dritter, durch zahlreiche Ergänzungen erweiterter Auflage vorliegt, ein vortreftliches Hilfsmittel. Ihre Vorzüge dürften bereits in weiteren Kreisen so bekannt sein, daß ein näheres Eingehen auf dieselben hier nicht mehr erforderlich erscheint. A. Becker. Anregungen und Antworten. In der Naturw. Wochenschr. N. F. XVII. Nr. 45 (lo.Nov. 1918) S. 646 berichtet V. Franz über einen Fall von Nicht- Ausnutzung des Anpassungsvermögens in der Natur bei dem Krebs Leander aäspersus ^ einem Salz- und brackwassertier, das, wie künstliche Versuche gezeigt haben, an Süßwasser gewöhnt werden kann, gleichwohl aber in der Natur nie in demselben angetroffen wird. Dem Pfianzengeographen sind analoge F.rscheinungen aus der Pflanzenwelt in ziemlicher An- zahl bekannt. So haben KuUurversuche von Professor J. A. Battandier in Algier gezeigt, daß viele Wüstenpflanzen der algerischen Sahara ebenso gut im Mediterranklinia von Algier gedeihen, wenn sie vor der Überwucherung durch tJn- kräuter geschützt werden; ja manche Arten entwickeln sich sogar viel besser und üppiger als an ihrem natürlichen Stand- ort, der also offenbar — entgegen aller Erwartung — den betreffenden Pflanzen nicht die optimalen Lebensbedingungen bietet ') Man muß also wohl annehmen, daß viele VVüsien- ') J. A. Battandier, Les plantes sahariennes souff rent- elies plus que les autres de la secheresse? — Bull. Soc. bot. France l.VI (iqog) 520 — 530. N. F. XVni. Nr. 2 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 31 pflanzen nur deswegen iu der Wüste wachsen, weil sie von übermächtigen Konlturrcnten , denen sie im Daseinskampfe nicht gewachsen sind , in solche e.xtreme Lebensbedingungen gedrängt werden, die sie selbst zu ertragen vermögen, wäh- rend ihre Feinde nicht imstande sind, ihnen daliin zu folgen. Ebenso ist es eine bekannte Talsache, dafl Halophyten in botanischen Gärten auch ganz gut auf salzfreiem Boden ge- zogen werden können, und daß sich die betretlenden Kulturen von deji salzhaltigen KoLtrollparzellen in der Hauptsache nur durch eine stärkere Verunkrautung unterscheiden, die mit der Zeit allerdings das Gedeihen der Salzpflanzen beeinträchtigen könnte. Auch die Halophyten wachsen also offenbar größten- teils nicht aus Lust und Liebe, ') sondern nur aus Zwang und bitterer Not an ihrem natürlichen Standort. Und als ein typi- sches Phänomen der biologischen Konkurrenz wird mehr und mehr von den Pfianzengeographen auch die Krage der Boden- sletigkeit der Pflanzen, z. B. der Kalk- und Kieselpflanzen in den Alpen, betrachtet; in Gebieten, wo konkurrierende Aiten- paare [z. B. Khiniodendron hirsuliim [Ca] und fditi^'iiiirtim [Si], Achiltea atrata [Ca] und moschata [Si], Cerastium latifoliuiit [Ca] und uitißoruin [Si] , Amirosace Chamacjasme [Ca] und obtiisi- folia [Si], Snxifraga viosi'hata [Ca bevorzugend] und t'xaratii [Si]| gleichzeitig vorkommen, pflegen sie nach dem Untergrund mehr oder weniger scharf getrennt aufzutreteü ; wo dagegen die eine konkurrierende Art fehlt, da vermag der allein herr- schende Konkurrent auch auf die andere , ihm nach der ge- wöhnlichen Auffassung weniger zusagende Bodenart überzu- gchen (so wächst im Schweizerischen Jura, einem typischen Kalkgebirge, im spontanen Zustand einzig das in den Alpen sich kalkfliehend \ZJ[hü\{tndi: A'hododendron feryugiiwttnt). Alle diese Fälle sind also Beispiele dafür, daß Pflanzenarten durch biologische Konkurrenz an der vollen Ausnutzung ihres An- passungsvermögens verhindert und dadurch in ihrer Verbreitung eingeengt und von Lebens-Orten ausgeschlossen werden, deren physikalisch-chemische Bedingungen sie wohl zu ertragen ver- möchten. Vielleicht findet auch das Verhalten des Leander adspeisiis in diesem Sinne eine Erklärung. A. Thellung (Zürich). Noch mehr Forschungsinstitute? Die Textilindustrie hat im Frieden geglaubt, eines großen wissenschaltlichen Forschungs- institutes entraten zu können. Die Rohstoffe waren in ge- nügendem Umfange vorhanden. Ihre Verarbeitung hatte sich in langer Entwicklung herausgebildet. Die Abhängigkeit vom Ausland abzuwenden, schien nicht erforderlich, auch gar nicht möglich. Die Bestrebungen, ein wissenschaftliches Institut für die Textilindu^lrie zu gründen, stießen auf Widerspruch, auch gerade bei der Industrie selbst. Die Industrie sah in den Forschungsinstituten eine nicht erwünschte Bevormundung. Auch betrachtete man sie damals als schädliche Konkurrenz der Hochschulen, ein Vorwurf, der auch den Instituten der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft nicht erspart blieb. Die während des Krieges eingetretene Absperrung vom Auslandsmarkt ließ die Textilindustrie das Fehlen von Roh- stoffen besonders hart empfinden. Da galt es vor allem, rasch zu helfen, denn zahlreiche Betriebe lagen bereits still, tausende von Arbeitern waren brotlos. Andererseits lag ein dringender Bedarf vor; Millionen und Abermillionen Meter von Ersatzgeweben wurden für den Stellungskrieg gebraucht. In dieser Notlage wurde durch Vermittlung des Ministe- riums des Innern im Jahre 1916 die erste deutsche For- schungsstätte in Karlsruhe gegründet, um durch wissen- schaftliche Forschungen die Textilindustrie insbesondere durch Einführung von Ersatzstoffen zu fördern. Enger Zusammenarbeit von Industrie und Wissenschaft gelang es denn auch bald, das anfangs drahtartige Papiergarngeflecht, das sich zur Not für Sandsäcke geeignet hatte, so zu verbessern, daß es weich und waschbar wurde und sich selbst für Anzugstoff und viele andere Verwendungszwecke eignete. Dies veranlaßte Textil- industrielle aus allen Teilen Deutschlands, das Karlsruher Institut in jeder Wtise zu fördern und es weiter zu entwickeln. Ständig tauchten neue Fragen auf und es wäre unwirtschaft- lich gewesen, die Lösung dieser Fragen den einzelnen Fabriken zu überlassen. Und die Industrie zeigte jetzt ein lebhaftes Interesse an Forschungsinstituten. In Deutschland bestand vor dem Kriege kein eigentliches Forschungsinstitut für die Textil- industrie , wohl aber hatten wir eine Reihe Fachschulen und Prüfungsinstitute, die unter anderem hauptsächlich als Lehrstätten und unparteiische Gutachter in den tausenderlei Zweifels- und Streitfragen des täglichen Arbeitsbetriebes sehr geschätzt waren. Alle diese Anstalten nahmen jetzt die Be- zeichnung Deutsches Forschungsinstitut an. So ist Anfang 1918 der Entschluß gefaßt worden, das seit Jahren bestehende Technikum in Reutlingen zu einem Forschungsinstitut auszu- bauen. Im Jahre 1918 trat d.as deutsche Forschungsinstitut für Textilstoffe in Dresden, eine Gründung eines Dresdener Vereins, ins Leben. Andere Forschungsinstitute wurden ge- gründet in Crefeld, M-Gladbach, Aachen und Sorau, so daß heute die Textilindustrie einen Mangel an Forschungsinstituten jedenfalls nicht hat. Die Zahl der so entstandenen, bzw. gepLanten Forschungs- institute ist eigentlich schon zu groß und die Gefahr einer Zer- splitterung der Kräfte bei der jetzigen Zahl nicht von der Hand zu weisen, und wenn man jalirelang vor dem Krieg sich nicht dazu entschließen konnte, den ersten Schritt zu tun, so scheint man jetzt tatsächlich zu weit zu gehen, denn noch immer tauchen Pläne für die Gründung weiterer Forschungsinstitute auf. Es scheint so, als ob man über die bestehenden Institute einfach hinwegsehe, als seien sie gar nicht vorhanden. So wird schon seit langem geworben für ein Institut für Zellu- loseforschung, das in Dahlem seinen Sitz haben und haupt- sächlich biologische und chemische Forschungen über Zell- stoffe anstellen soll. Ferner ist der Plan entwickelt worden, für eine Holzforschungsstätte in Essen oder München. Das Institut soll, so heißt es in einem der Aufrufe „der vollstän- digen Ausnutzung der mechanischen und chemischen Eigen- schaften des Holzes dienen und so der Zellstoff-, Papier-, Textil-, Bau-, Maschinen- und Gärungsindustrie von erheb- lichem Nutzen sein". F"ür ein sehr ähnliches Institut, das in Darmstadt errichtet werden soll, wird wieder von anderer Seite geworben Dabei hat das erst vor einigen Jahren neu gegründete technologische Institut an der Forstakademie in Eberswalde hauptsächlich die Aufgabe, gerade diese Erforschung des Zcllstoflfes zu betreiben. Für alle diese Institute wird Geld gesammelt und auch gern gegeben. Wenn aber die Entwicklung so weiter geht, so ist jedenfalls eine heillose Zersplitterung und Verwirrung die Folge. Hierauf hinzuweisen, ist der Zweck dieser Zeilen. Man muß endlich mit der verwirrenden Propaganda für neue In- stitute aufhören und sich den zuerst gegründeten Instituten zuwenden, die zahlreich genug sind, um die Aufgaben der verschiedensten Art, die die Industrie in dieser schwierigen Zeit zu stellen hat, zu erfüllen. Dann werden die Mittel richtig angewendet und der Industrie reiche Früchte tragen. ') Aus diesem Grunde sind Ausdrücke wie halo,,phil", psammo,,phil", oro,,phil", xero,,phil" usw. sehr anfechtbar, da sie eine — in Wirklichkeit wohl gar nicht vorhandene — „Vorliebe" der Pflanze für den betreffenden Standort insinu- ieren. In Nr. 35 fand ich eine Frage über die Entfernung der Milz. Mir sind die jetzt noch im französischen gebräuchlichen Redensarten ,,courir comme un derate", laufen wie ein Ent- milzter, und „ne pas se fouler la rate", sich die Milz nicht verstauchen, was soviel heißt wie sich kein Bein ausreißen, be- kannt. Es sollen auch indische Fakire und tanzende Der- wische sich die Milz haben entfernen lassen, ebenso auch die Schnelläufer im Mittelalter. Durch diese Operation sollte das durch Blutüberfüllung der Milz hervorgerufene lästige Seiten- stechen bei heftigem Laufen aufgehoben worden sein. Etwas näheres über diese Gebräuche habe ich aber nicht erfahren können. Was die Frage anlangt, ob man imstande ist, die Milz zu entfernen, ohne daß der Gesamtorganismus wesentlich ge- schädigt wird, so ist dieselbe zu bejahen. Durch Tierexperi- mente und durch Beobachtung an splenektomierten Menschen, besonders solchen, die ihre vorher nicht krankhaft veränderte Milz durch ein Trauma einbüßten, ist klargestellt, daß die Entfernung der Milz an sich keinen irgendwie erkennbaren Nachteil für die Gesundheit der Patienten zur Folge hat, und 32 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVni. Nr. 2 dies anscheinend, wie die experimentellen Untersuchungen von Jacoby, Cournout und Duffan lehren, auch nicht ein- mal im Hinblick auf spätere Infektionskrankheiten. Freilich so ganz spurlos geht ein solcher EingritT nicht am mensch- lichen Organismus vorüber. Vermehrung der weißen Blut- körperchen , eventuell mit gleichzeitiger Verminderung der roten und Rückgang des Hämoglobingehalts des Blutes traten in einigen Fällen auf, in anderen wieder wurden keinerlei Veränderungen ira Blute wahrgenommen. Über den Einfluß der Entternung der Milz auf die Lymphdrüsen, die Schild- drüse und das Knochenmark sind die Ansichten sehr wider- sprechend, Vulpius hält die Schilddrüse für kein vikari- ierendes Organ , hat aber erhöhte blutbildende Tätigkeit der Lymphdrüsen und des Knochenmarks nach jNIilzverlust ge- funden. Nach Zesas u. a. existiert ein physiologischer Zu- sammenhang zwischen Milz und Schilddrüse in der Weise, daß im Falle der Entfernung des einen dieser Organe das zurückgelassene dessen blutbildende l'ätigkeit übernimmt. Die Indikationen zur Entfernung der Milz sind Ver- letzungen derselben, Geschwülste, in besonderen Fällen leukä- mischer Milztumor, in gewissen Fällen Malariamilz. Die ersten Milzexstirpationen hat meines Wissens Viard 15S1 ausgeführt. Die Technik der Operation ist immerhin eine subtile und die Blutstillung, besonders am Stiel, muß sehr sorgfältig ge- schehen, so daß ich mir eigentlich kaum denken kann, daß die Milzexstirpation im Mittelalter einmal ,,in Mode" gewesen sein soll. Dr. Karl Hammesfahr. Antwort. In Nummer 45 dieser Zeitschrift ist ein Ar- tikel von L. Reh ,, Blausäure zur Bekämpfung von Ungeziefer" erschienen. Der Verfasser berichtet über die Geschichte der Entwick- lung seit iSSi, erwähnt, daß bis 1913 irgendwelche Erfolge für die Praxis in Deutschland nicht zu verzeichnen waren und verweist auf den guten Erfolg, den ein Kammerjäger in diesem Jahre auf seinen Rat erreicfite. Dann berichtet er weiter da- von , daß 1916 die Deutsche Gold- und Silberscheideanstalt in Frankfurt a. M. den Versuch machte , das Verfahren in Deutschland einzuführen. Der Schilderung ist bis dahin nichts hinzuzufügen. Sie kennzeichnet die 3^jährige für die Anwen- dung im großen negativ ausgegangene Tätigkeit. Umso irriger ist der Bericht über den Fortgang. Die Deutsche Gold- und Silberscheideanstalt trat nämlich zur Ein- führung des Verfahrens Anfang 1917 an die führenden Mit- glieder des derzeitigen Technischen Ausschusses für Schädlings- bekämpfung heran, der es bei den obwaltenden Kriegsver- hältnis^en für das Zweckmäßigste hielt, militärische Personen für die Ausführung heranzuziehen, und hierzu Anlehnung an' das Preußische Kriegsministerium suchte und fand. Mit diesem militärischen Personal ist dann die gesamte Durchführung erfolgt, die zur Zeit rund 3000000 cbm erfaßt hat. Auch die größeren Versuche (Weinbau), die statt- fanden, hat der Technische Ausschuß für Schädlingsbekämpfung veranlaßt und durch seine Mittel ermöglicht. Die Ausführung des Verfahrens durch Kammerjäger unterblieb, weil angesichts der Gefährlichkeit der Blausäure die Handhabung durch Privatpersonen ohne öffentliche Gewalt den beteiligten behörd- lichen Zentralstellen untunlich erschien. An der Ausübung sind die entomologischen Stellen, in erster Linie Herr Prof Dr. Heymons von der Landwirtschaftlichen Hochschule in Berlin und Herr Prof Dr. Escherich von der Universität München, sowie die Biologische Reichsanstalt als Mitglieder des Technischen Ausschusses für Schädlingsbekämpfung auf das Ausgiebigste beteiligt worden. Dr. W. Heerdt. Ersatzmittel in der mikroskopischen Technik (Antwort auf die Frage in Nr. 42 der Nalurw. Wochenschr.). Äthyl- alkohol kann in der mikroskopischen Technik sowohl durch denaturierten Spiritus als auch durch Methylalkohol ersetzt werden. Auch Azeton kann als Alkoholersatz verwendet wer- den. Stören die Pyridinbasen des Brennspirilus, was aber wohl höchst selten der Fall sein dürfte, so entfernt man sie mit Sublimat Methylalkohol habe ich schon in Friedens- zeiten als Ersatz des teureren Äthylalkohols verwendet. Er ist aber im Giftschrank streng unter Verschluß zu halten, da zahlreiche Erblindungen und Todesfälle nach dem Gebrauch desselben vorgekommen sind. In aller Erinnerung ist wohl noch das Massensterben im Dezember 191 1 in Berlin, bei dem 70 Personen, die Methylalkohol getrunken hatten, den Tod fanden. Azeton muß natürlich , um absoluten Alkohol zu er- setzen, wasserfrei sein. Zu beachten ist ferner, daß diese Mittel die Farben in verschiedener Weise ausziehen. Verwendet man Brennspiritus oder Azeton in nicht ganz wasserfreiem Zustande, so kann man trotzdem in Balsam ein- schließen , wenn man als Zwischenmiltel Karbolxylol (Karbol, krist : Xylol ^1:3) oder Kreosotalkohol (Kreosot : Alkohol = 1:1) benutzt. Die Alkoholentwässerung läßt sich übrigens oft ganz ver- meiden, wenn man nämlich die Schnitte auf dem Objektträger unter gelindem Erwärmen an der Luft trocknet und dann das Einschlußmedium darauf bringt. An Stelle von Xylol wird häufig Benzin oder Benzol, auch Chloroform, Terpentinöl, Nelkenöl, Zedernholzöl ver- wendbar sein. Als Ersatz für Kanadabalsam käme Zedernhülzol, Vosseler's Terpentin, Euparal , Kolophonium, Gummi arabicum oder andere Harze in Betracht. Für Nelkenöl ist ebenfalls Zedernholzöl oder etwa Bergamottöl, Oirganumöl, Zimtöl, Karbolsäure zu verwenden. Näheres findet man in dem Aufsatz von K. W. Fischer, Ersatzmittel in der Mikroskopie (^Mikrokosmos XII, p. 21). Dr. W. Herter. Literatur. Aus Natur und Geisteswelt. Leipzig und Berlin '18, B. G. Teubner. Jedes Bändchen 1,50 M. L. Weber, Einführung in die Wetterkunde. 3. Aufl. Mit 28 Texlabbildungen und 3 Tafeln. M. Mendelssohn, Einführung in die Mathematik. Mit 42 Textfiguren. P. H. Gerber. Die menschliche Stimme und ihre Hygiene. 3. Aufl. Mit 21 Textabbildungen. R. Vater, Praktische Thermodynamik. Aufgaben und Beispiele zur Technischen Wärmelehre. Mit 40 Text- abbildungen und 3 Tafeln. R. Börnstein, Die Lehre von der Wärme. 2. durchge- sehene Aufl. von A. Wiegand. Mit 33 Textabbildungen. H. Boruttau, Fortpflanzung und Geschlechtsunterschiede des Menschen. Eine Einführung in die Sexualbiologie. 2. verbesserte Aufl. Mit 39 Textabbildungen. Schumburg, Die Geschlechtskrankheiten, ihr Wesen, ihre Verbreitung, Bekämpfung und Verhütung. 4. Aufl. Mit 4 Textabbildungen und einer mehrfarbigen Tafel. Brauns, Prof Dr. R , Mineralogie. Mit 132 Abbildungen. 5. verb. Aufl. Sammlung Göschen. 1,25 M. Steinmann, P. und Surbeck, G., Die Wirkung or- ganischer Verunreinigungen auf die Fauna schweizerischer fließender Gewässer. Preisschrift der Schweizerischen Zoolo- gischen Gesellschaft. Mit 3 Kärtchen und 4 Textabbildungen. Bern '18. Inhalt ; Joh annes Theel, Über die Symmetrie der Organismen. S. 17. — Kleinere Mitteilungen : Nachtsheim, Massen- versammlungen und Massenwanderungen von Marienkäferchen. S.2I. — Einzelberichte: A. W egener und W. Ric h arz, Meteoritenfall von Treysa. S. 23. W. K ö p p e n , Angenehme Temperaturen. S. 24. B.Wiese, Verlauf der Witterung auf der Balkanhalbinsel. S. 25. G. Bodmann, Die Winterstrenge als klimatischer Faktor. S. 25. Stieve, Über den Einfluß der Gefangenschaft auf die Legetätigkeit und den Eierstock des Haushuhnes. S. 26. Carl RabI, Die Sym ■ metrie des Wirbeltierauges. (3 -Abb.) S. 27. Gustav Gaßner, Vom Entwicklungsrhythmus des Wintergetreides. S. 28 — Bücherbesprechungen; H einrieb .Sc hmi dt, Geschichte der Entwicklungslehre. S. 29. F. Grün bäum, Elektro mechanik und Elektrotechnik. S. 30. E. Freundlich, Die Grundlagen der Einstein'schen Gravitationstheorie. S. 30, M. v. Rohr, Die optischen Instrumente. S. 30. — Anregungen und Antworten; Nicht- Ausnutzung des Anpassungs Vermögens in der Natur. S. 30. Noch mehr Forschungsinstitute? S. 31. Entfernung der Milz. S. 31. Blausäure zu: Bekämpfung von Ungeziefer. S. 32. Ersatzmittel in der mikroskopischen Technik. S. 32. — Literatur: Liste. S. 32. Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstraße 42, erbeten. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue Folge 18. Band; der ganzen Reihe 34 Band. Sonntag, den 19. Januar 1919. Nummer 3> Die Chemie der Zellulose und ihre textilwirtschaftliche Bedeutung. [Nachdruck verboten.] Unsere Textilindustrie, die 191 3 mit 956076 Arbeitern nahezu 13"/.) '^^^ gesamten Industrie- arbeiterschaft betätigte, bezog in eben diesem Jahre rund 932 ooo Tonnen Faserstoff im Werte von 1290,5 Millionen Mark aus dem Auslande. Im einzelnen verteilt sich diese Riesenmenge auf 486000 Tonnen Baumwolle Von Prof. P. W. Bohne, Oeventrop. 182000 154000 56000 55000 4000 Wolle Jute Flachs Hanf Seide 578,8 Mill. Mark 362,1 „ 89,9 „ 50,6 „ 37,7 „ 151,7 „ Baumwolle lieferte Nordamerika, Indien und Ägypten; Wolle: Australien, Neuseeland und Südafrika; Jute: Indien; Flachs und Hanf: Ruß- land ; und Seide : Italien und Ostasien. Daraus ergibt sich, da Deutschlands Eigenproduktion mit 1 1 000 t Wolle 3600 t Flachs und loo t Hanf und seiner kolonialen Erzeugung von 2 700 t Baumwolle 100 t Wolle und 19700 t Sisalhanf neben jener riesenhaften Einfuhrmenge eigentlich gar nicht in F'rage kommt, daß unsere Textil- industrie auf Gedeih und Verderb unseren Feinden ausgeliefert gewesen wäre, wenn es nicht ge- lungen wäre, ihr andere unabhängige Hilfsquellen zu erschließen. Von den unmittelbar Rohstoff verarbeitenden Fabriken war keine Selbsthilfe und Abhilfe zu erwarten; diese konnte nur von anderer Seite, von der Technik und Wissenschaft kommen. Ihr ist es nach kaum zweijährigem F^ingreifen nicht nur gelungen, die erste Not zu beschwören; sondern sie hat auch durch dauernde Verdrängung fremder Rohstoffe die Gefahren eines späteren Wirtschaftskrieges wesentlich ver- mindert. Naturgemäß hielt man zunächst Um- schau im eigenen Hause und besann sich auf allerlei heimische fasernliefernde Pflanzenarten, die als Ersatz für die ausfallende Baumwolle und Jute dienen konnten. In größerem Umfange an- gestellte Versuche ergaben, daß die Nessel Ur- tica dioica, das Kolbenschilf Typha, verschiedene Rindenbastarten, Torfarien, sowie Hopfen, Binsen, Lupinen, Stroh, Weidenröschen, einen mehr oder weniger gleichwertigen Ersatz für Jute und teilweise sogar tür Baumwolle liefern könnten. Aber vorläufig nicht zu behebende Schwierig- keiten lassen es als ausgeschlossen erscheinen, diesen Faserstofflieferern die ausreichende und vollwertige Vertretung der Baumwolle und der Jute zu übertragen. Diese Rolle fällt gegenwärtig und wohl auch für die Zukunft, bis der hei- mische Hanf- und Flachsanbau wieder einen hinreichenden Umfang angenommen hat, unein- geschränkt dem Zellstoff oder der Zellulose zu ; und zwar zunächst deshalb, weil für deren Beschaffung entsprechend dem Umfang des außer- ordentlichen Bedarfs der Holzreichtum Mitteleuropas und unserer östlichen Nachbarländer bei wirt- schaftlicher Nutzung eine nie versiegende Quelle bietet. Die Zellulose liegt uns in der Gerüstsubstanz pflanzlicher Gewebe vor. Bei allen jungen Pflanzen- zellen (und z. B. auch bei den F"asern des Flachses und der Baumwolle) bestehen die Zellmembranen aus nahezu reinem Zellstoff, dem in diesem natur- feuchten Zustand außer hoher Festigkeit eine bis ins Endlose gehende Biegsamkeit eignet. Bei andern Pflanzen aber, vornehmlich bei sämtlichen Hölzern, erleiden die Zellmembranen mit fort- schreitendem Altern erhebliche chemische und morphologische Veränderungen. So ist z. B. die Zellulose des Holzes durch spezifische Holzsub- stanzen und Pentosane als inkrustierende Stoffe verunreinigt. Die Gewinnung der durch Festigkeit wie durch Geschmeidigkeit gleich ausgezeichneten Zellstoffaser aus Holz ist somit wesentlich mit der Möglichkeit ihrer Herauslösung aus den inkru- stierenden Stoffen und gewissen stets vorhandenen anorganischen Aschenbestandteilen verknüpft. Nun war aber von altersher eine solche Absonderung des Zellstoffs durch Kochen zerkleinerten Holzes mit alkalischen Laugen bekannt; und es ist un- möglich sein erstmaliges Ausbringen irgendwo in der Geschichte der Chemie als ein besonderes Ereignis nachzuweisen. Verschiedene mit dem so gewonnenen Zellstoff verbundene Mißlichkeiten ver- hinderten seine industrielle Nutzbarmachung, die bereits seit den Anregungen Reaumur's, ganz besonders aber des Regensburger Superintendenten Dr. Joh. Ch. Schäffer 1772 auf die Herstellung von Papier aus Holz abzielte. Aber erst im Laufe des vorigen Jahrhunderts bildeten sich zwei Hauptverfahren heraus, die eine großzügige Zell- stoffiechnik anbahnten. Nach dem älteren, dem Natronsulfat- oder Sulfalverfahren schließt man den Zellstoff dünner Schnitte von Tannen- oder Fichtenholz durch Kochen mit einem Lösungs- gemisch von 6 '7o Ätznatron und Natriumsulfat in großen bis 60 cbm und mehr fassenden Kesseln auf. Indem diese Kocher mit Heizdampf bis zu 10 Atmosphären Druck beschickt werden, löst die Natronsulfatlauge alle verholzenden Bestand- 34 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVni. Nr. 3 teile: Lignine, Pentosane, Harze, Gerbstoffe und andere aus den Schnitten heraus; und die freie Zellstoffaser bleibt unangriffen übrig. Da der so gewonnene, als Natron- oder Sulfatzellstoff be- zeichnete F'aserstoff bräunlich gefärbt und das Aus- bringen verhältnismäßig gering ist, wurde dieses Ver- fahren durch das seit 1884 im Großbetriebe ange- wandte 1867 von A Mitch er lieh erfundene ver- drängt. Mitcherlich erzielte durch Anwendung einer IVIischung von schwefeliger Säure H.^SO., und schwefligsaurem Kalk CaSOg, also einer Calcium- bisulfit-Kochlauge Ca(HSOg)o, eine nahezu quan- titative Ausbeute und zwar sogleich gebleichten Zellstoffs, der als Sulfitzellstoff in Form lockerer Papiere und Pappen in den Handel gebracht wird. Dieser Rohstoff stellt technisch reinen Zellstoff dar. Um für kleinere Versuche und eigens angestellte Untersuchungen chemisch reinen Zellstoff zu erhalten, geht man von diesem Rohstoff oder von Baumwolle, Hollundermark oder besseren, im Handel erhältlichen Filtrier- papieren z B. der Firma Schleicher und Schüll in Düren aus; zerzupft eine entsprechende Menge, verrührt eine Zeillang mit verdünnter Kalilauge über der Flamme, und stumpft dann mit ver- dünnter Salzsäure ab. Den von der Kaliumchlorid- lösung abfiltrierten Rückstand behandelt man mit etwas wässeriger Fluorwasserstoffsäure zur Ent- fernung etwa vorhandener Kieselsäure, wäscht dann tüchtig mit Wasser aus und zuletzt mit Alkohol und Äther, dessen letzte Reste abgedunstet werden. So erhält man den reinen Zellstoff in seiner unveränderten, ursprünglichen Struktur. Diese reine Zellulose stellt chemisch eigentlich ein Gemenge verschiedener Kohlehydrate dar und gehört zur Gruppe der Polysaccharide von der Form (CgHjiiOgln, die je nach der Größe des Moleküls in Stärke- Zellulose- und Gummi- arten zerfallen. Die eigentliche Zellulose zeichnet sich durch Schwerlöslichkeit aus, da sie weder in heißem oder kaltem Wasser noch in verdünnten Säuren, in Alkalien, in Aiher oder Alkohol löslich ist. Sogar in ihrem spezifischen Lösungsmittel, dem Schweiizer'schen Reagens, einer ammoniakalischen Kupferoxydlösung, ist die Zellulose sehr wahr- scheinlich nur unter beginnender Hydrolyse löslich. Aus dieser optisch aktiven und zwar linksdrchen- den Lösung wird die Zellulose durch Säuren, Salze, Zucker oder auch durch viel Wasser wieder ausgefällt als weißes amorphes Pulver, welches mit Jod zwar die für stärkeähnliche Körper charakteristische Blaufärbung nicht gibt, aber bei nur kurze Zeit dauernder Einwirkung von kalter, konzentrierter Schwefelsäure in besagter Weise mit Jod reagiert. Dauert die Behandlung mit kalter, konzentrierter Schwefelsäure (3:1) etwas länger, so entsteht ohne Schwärzung eine Lösung von Zellulose in Schwefelsäure, aus welcher Wasser flockige, kolloidale Zellulose ausfallt, die eben- falls mit Jod die Farbenreaktion zeigt, und wegen der Übereinstimmung dieses Verhaltens mit Amylum oder Stärke, Amyloid genannt wird. Diese Umwandlung in Amyloid wird technisch dadurch nutzbar gemacht, daß man Zellulose- papier schnell durch Schwefel>äure vom spe- zifischen Gewicht 1,66 hindurchzieht und dann in Wasser gründlich auswäscht. Durch oberfläch- liche Umwandlung der Zellulose in Amyloid er- hält man das beirannte Pflanzenpergament, welches dem eigentlichen tierischen Pergament in seinen dialysierenden Eigenschaften gleich- wertig ist. Bei länger anhaltendem Kochen der verdünnten schwefelsauren Zelluloselösung tritt als Ergebnis eine Art Dextrin, die Zcllose, eine zuerst von Franchimont 1870 beobachte Spaltung der Zellulose auf, die später durch Skraup und König als eine „Biose" erkannt wurde. Diese Zellose geht bei weiterem Kochen mit ver- dünnter Schwefelsäure in Glykose oder Trauben- zucker über, welche Tatsache die Grundlage für die in neuster Zeit in Großbetrieb übet führte Darstellung von Alkohol aus Zellstoffablaugen ab- gibt. Eine auffällige Abänderung der Zellulose konnte Girard 1875 zum ersten Male dadurch herstellen, daß er 12 Stunden hindurch 55 proz. Schwefelsäure bei Zimmertemperatur auf Zellu- lose einwirken ließ. Dies von Girard Hydro- zellulose genannte Produkt unterschied sich dem Aussehen nach zunächst nicht von der verwendeten Zellulose, erwies sich aber nach dem Auswaschen und Trocknen als ein sehr leicht zerreiblicher und zerstäubender Stoff. In diesem pulverigen Zustande eignet der Hydrozelluiose ein lebhaf- teres Reakiionsbestreben gegen Säuren und Alkalien als die gewöhnliche Zellulose. Wie Amyloid zeigt sie die Farbenreaktionen gegen Jod-Kaliumjodid; nur ist die Färbung gegen Wasser weniger beständig. Chemisch betrachtete man die Hydrozelluiose iCjoHo.jOnJn lange Zeit als eine durch Anlagerung von einem oder mehreren Molekeln Wasser bewirkte Umwandlung der Zellulose (Cj2H„oOjo)n, was ja Girard in An- lehnung an die sonst übliche Bezeichnungsweise solcher Hydratationsprodukte durch seine Namen- gebung zum Ausdruck brachte. Häufige Nach- prütungen durch andere P'orscher, unter denen Büttner, Neumann und Ost an erster Stelle stehen, erziehen sehr abweichende Analysenbe- funde, was Ost auf die Verwendung von fehler- haft entwässerten Untersuchungsproben zurück- führt. Als später Stern und Stein unter Berück- sichtigung dieser Fehlerquelle keinen quantita- tiven Unterschied zwischen Zellulose und Hydro- zelluiose feststellen konnten, nahm Ost noch- mals die gewissenhafte Nachprüfung der Befunde auf und kam zu dem Ergebnis, daß ohne Zweifel in der Hydrozelluiose ein durch Wasseraufnahme veränderter Zellstoff vorliege; daß aber die Ele- mentaranaiyse nicht imstande sei, dieselbe quan- titativ nachzuweisen wegen der abnormen Größe der Zellulosespallungen, die oft bis zu 20 und mehr Glykosereste enthielten. Gegenüber oxy- dierenden Reagentien zeigt Zellulose je nach der zersetzenden Schärfe der verwendeten Mittel N. F. XVIII. Nr. 3 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 35 ein verschiedenes Verhalten. Eine Mischung von 15 Teilen Salpetersäure von spez. Gewicht 1,1 und einem Teile Chlorsäuren Kalis läßt Zellu- lose nahezu vollständig unangegrififen ; dagegen wird sie durch Zusammenschmelzen mit Ätz- alkalien zu Oxalsäure oxydiert. Diese chemischen Eigenschaften lassen erkennen, daß in der Zellulose ein ausnahmsweise wider- standsfähiger, organischer Stoff vorliegt, dessen ausgeprägt langfaseriges Auftreten in der Baum- wolle, der Jute, dem Hanf und Flachs diese Pflan- zen von Haus aus zu den natürlichen Belieferern des Spinnereigewerbes machte. Da aber auch aus Holz, namentlich gewissen Fichten- und Tannenarten eine relativ lange Zellstoffaser zu ge- winnen ist, konnte es für die Chemie gar keine Frage sein , wo im Notfalle , wie er jetzt vor- liegt, für Baumwolle und Jute Ersatz zu suchen sei. Allerdings ist die Holzzellulosefaser nicht von solcher Länge, daß sie ohne weiteres einen ver- spinnbaren Rohstoff darstellte, vielmehr gestattet sie zunächst nur eine Fasernverfilzung, welche zur Papierherstellung hinreicht. In Japan und China, bekanntlich altberühmten Heimatländern der Papiererzeugung und seiner Umwandlungsprodukte, verstand man sich bereits vor hundert Jahren auf Papierverspinnung, die eine ausgedehnte Papier- stoffgarnindustrie ins Leben rief. Man zerschnitt Papierbogen, die aus dem langsträhnigen äußerst festen und biegsamen Fasernmaterial des Brousso- netiabastes vom Papiermaulbeerbaum hergestellt waren, in schmale 2 — 3 cm breite Streifen so, daß der Schnitt wechselweise bis auf 2 — 3 cm vom Blattrande entfernt blieb, oder aber ganz durch- gezogen wurde. So erzielte man aus jedem Bogen ein langes Papierband , das dann von Hand auf einer glatten Steinplatte zusammengedreht wurde. Der vorzügliche Broussonetiabast macht die hohe Blüte der japanischen Papierstoffgarnindusirie be- greiflich, die erst zurückging, als die Engländer ihre billigeren Baumwollgarne auf den japanischen Markt brachten. Von Japan ging die Papiergarn- industrie zunächst auf Amerika und dann auch auf Deutschland über, wo im Jahre 1890 die ersten Papiergarne auftauchten. In Deutschland hat sich das aus Natronzellulose hergestellte Spinnpapier am besten bewährt, sowohl wegen semer, trotz großer Leichtigkeit doch bedeutenden Festigkeit, als auch wegen seiner großen Reinheit und unvergilbbaren Färbung. Die deutschen Er- finder versuchten zuerst die Papierspinnstreifen direkt durch Aufteilen der noch nassen Papierbahn auf der Siebmaschine zu erhalten und die noch nassen Streifen zusammenzudrehen und zu ver- spinnen. Da aber bei der Lagerung naß ver- sponnener Garne durch Schimmelbildung und Gärungserscheinungen große finanzielle Schäden nicht zu verhüten waren, wurde dieser Weg bald wieder verlassen. Durchgreifende Erfolge erzielte man erst mit dem von Emil Clavicz in Adorf im Vogtlande ausgebildeten Trockenspinn verfahren. Hiernach wurden die fertigen trockenen Papier- bahnen durch drehende Kreismesser in schmale Streifen zerlegt, die zu flachen Tellern oder Rädern aufgewickelt und dann wie Spindeln den Spinn- maschinen zur Garnherstellung vorgelegt wur Ci„Hi,(CH30)eOio + 6H.,0. Ähnlich ergeben zwei Mol. Azetylchlorid, ein Mol. Magnesiumazetat und ein Mol. Zellulose durch mehrfachen Umsatz Zellulosetetrazetat C,,H,„(CH30),0,o. Franchimont verbesserte die Synthese Schützenberger's, indem durch Zusatz kata- lytisch wirkender Schwefelsäure die Veresterung der Zellulose bei niedrigerer Temperatur ermög- licht und so die Bildung von Neben- und Zer- setzung.sprodukten hintangehalten wurde. Die Katalyse der Schwefelsäure hat man sich so zu denken, daß Essigsäureanhydrid und Schwefelsäure zunächst Azetylschwefelsäure bilden : (CH3CO).,0 + H.,SO, -> CH3COHSO, + CHoCOOH. Diese Azetylschwefelsäure azetyliert dann ihrer- seits unter Rückbildung der Schwefelsäure die Zellulose: 3(CH3CO.HSOJ-f CeHj„0 -> CeH,(CH3CO}30, + 3H,S0,. Dieses Triazetat ist von Ost bei Bildung der Zelluloseazetate immer als Endprodukt nachge- wiesen worden. Als die von Franchimont isolierten Azetylderivate scheinen ihm, soviel sich aus den Literaturangaben schließen läßt, sowohl das Octazetylderivat der Zellobiose, als auch das Pentazetylderivat der Glykose vorgelegen zu haben. Erst Straub und seine Schüler König und Hamburger brachten Licht in den bei der Bildung des Octazetylderivates mit unterlaufenden Abbau der Zellulose. Durch Verseifen des Oct- azetylesters konnten sie nämlich die weiter nicht gespaltene Zellobiose von der Form CijH.^oO,^ als Abbauprodukt der Zellulose nachweisen. Seit- dem ist eine große Anzahl von. Essigsäurezellulose- estern dargestellt worden, namentlich von Groß, Bevan, Lederer, Knoe venagel , Eich en- grün, Ost und Schwalbe. Alle diese Ver- bindungen gaben beim Verdunsten ihres Lösungs- mittels durchscheinende Massen, die nicht ent- flammbar, nicht explosiv, schwer brennbar sind und durch Festigkeit, Elastizität und Bildsamkeit ihrer praktischen Anwendung die denkbar günstigsten Aussichten eröffnen. Abgesehen von der Filmerzeu- gung, die längst für das explosive Zellulosenitrat einen ungefährlichen Ersatz suchte, hat sich vor allem die Kunstfaserindustrie des neuen Rohstoffes be- mächtigt. Geradezu ein neuer Aufschwung erfaßte die Kunstfaserindustrie, seit Knoe venagel einige Jahre vor dem Kriege durch Erhitzen unlöslicher Zellulosetriazetate auf 100 " in indifferenten Flüssig- keiten, bei Abwesenheit von Wasser, azetonlösliche Zelluloseazetate, die also durch Hydrolyse nicht ge- schädigt würden, ein Produkt von höchster Festig- keit, herstellte. Es wurde in diesen Zelluloseazetaten der Zellulosefaserindustrie ein wirklich idealer Roh- stoff dargeboten. In Chloroform oder Azeton ge- löst wird dieser Spinnstofifaus den oben mehrfach ge- nannten Spinndüsen als feiner Faden herausgepreßt, der durch augenblickliches Verdunsten des Lösungs- mittels zu einem festen Gebilde erstarrt. Allen vorgenannten chemischen Spinnstoffen gegen- über verdient die Azetylzellulose aus mehrfachen Gründen den Vorrang. Mit der Viskose teilt sie den Vorzug der Billigkeit, da zur Herstellung die gewöhnliche Holzzellulose genügt. Der Ge- spinnstfaden bedarf zur Erstarrung oder P'ixierung keines Fällungsmittels wie die Viskose, die Kupfer- N. F. XVI ir. Nr. 3 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 39 ammoniak- oder Nitrozellulose; und was besonders ins Gewicht fällt, der Gespinnstfaden, dem als Essigsäure-Ester nach dem Verfahren von Knoeve- nagel gerade die in textiler Beziehung not- wendigen Eigenschaften in hervorragendem Maße eignen, bedarf keiner Wiederherstellung zu reiner Zellulose. Damit geht sowohl ein geringerer Arbeitsaufwand, als auch eine erheblich gesteigerte chemische Ausbeute Hand in Hand. Das Lösungs- mittel der Zellulose, die Essigsäure, bildet nämlich einen wesentlichen, bleibenden Bestandteil des fertigen aus Zelluloseazetat bestehenden Fadens. Weil außerdem der Zelluloseester wasserunlöslich ist, kann der Zelluloseazetatfaden genau so wie Naturseide eine Wasserbehandlung vertragen, ohne an Festigkeit einzubüßen. Die genannten Eigenschaften gaben den Zelluloseazetatspinn- stoffen im Kunstfasergewerbe bald eine führende Stellung und zwar abgesehen vom Druck der Kriegsnotwendigkeiten bceits im freien Wett- bewerb mit den im Überfluß vorhandenen Baum- woU- und Wollmengen der Frieden.sjahre. Die Zwirnereifirma Karl Wolf zu Schweinsburg in Sachsen verspann bereits 1910 die nach Art der Kammgarnherstellung als Abfälle bei der Kunst- seideverarbeitung gewonnenen Zellulosefasern zu Garn, das von Webereien zu Männer- und Frauen- kleidersloffen verwebt wurde; gewiß ein Beweis dafür, daß solche Stoffe einen vollwertigen Er- satz für Woll- und Baumwollgewebe bilden. Die Übereinstimmung und Ähnlichkeit ist so täuschend, daß nur fachmännische Vertrautheit mit mikroskopischen und chemisch-analytischen Untersuchungsmethoden Kunst von Natur zu trennen vermag. Deshalb wird es begreiffich, daß gleich zu Beginn der Faserknappheit die deutsche chemische Technik sich mit beson- derem Eifer der bereits so weit gediehenen Zellulosefasererzeugung annahm. Über die seit- dem erzielten stofflichen Verbesserungen der Spinnstoffe und deren chemische Konstitution ist wie erklärlich nichts in die Öffentlichkeit ge- drungen. Wohl aber wurde bekannt, daß das Spinnmaschinenerzeugnis nicht mehr wie früher ein sehr langer Faden, ähnlich dem Kokon- gespinnst der Seidenraupe ist; daß vielmehr das maschinenmäßige Spinnen kürzerer Fasern von etwa 10, 20 und mehr Zentimetern Länge ge- lungen ist; also Fasern die den Größenverhält- nissen der Baumwoll-, Flachs-, Woll- und Nessel- faser gleichkommen. Die verschiedenen Bear- beitungsverfahren wie das Auflockern, Krempeln, Kämmen, Strecken und Duplieren, die zur Vor- bereitung des Spinnens an diesen Naturfasern vor- genommen werden, haben den Zweck die geknäulten Fasern und verwulsleten durch para- llel gelegte und verschränkte Einzelfasern zu Bündclchen oder „Stapel" zu ordnen, die dann durch Zusammendrehen den gesponnenen Faden, das Garn liefern. Die Möglichkeit nun die Zellulosefaser als Stapelfaser darzustellen, er- öffnet ihrer praktischen Verarbeitung die besten Aussichten, indem der ausgedehnte deutsche tex- tile Maschinenpark ohne Umstände zu Verar- beitung der neuen Stapelfaser übergehen kann, als ob überhaupt keine Änderung des Rohstoffes stattgefunden hätte. Der unbeschränkten Stapelfasererzeugung standen bisher noch zwei Hindernisse hemmend im Wege. Die Inhaber alter Patente machten aus Gewinnsucht vielfach der Lizenzerteilung an andere Unternehmer Schwierigkeiten; und die Kriegs- Rohstoff- Abteilung wollte nicht ohne weiteres jedem beliebigen Bewerber die Ge- nehmigung fabrikmäßiger Stapelfasererzeugung erteilen, weil sie mit Recht der Meinung ist, daß bei unserm augenblicklichen Chemikalienmangel nicht jedtm ersten besten Fabrikschemiker die wirtschaftliche Durchführung solch verwickelter chemischer Probleme anvertraut werden darf. Der . andere Grund ist der ungeheuere Bedarf gerade solcher Chemikalien, die auch in andern kriegswichtigen Betrieben unentbehrlich sind. Es kann jedoch kein Zweifel sein, daß angesichts der unverkennbaren Bedeutung dieses Faserersatzes gerade für die Zeit nach dem Kriege die Reichs- leitung der deutschen chemischen Industrie alle Mittel bieten wird, um durch erfolgreichen Aus- bau dieses Gebietes an dem wirtschaftlichen Wiederaufbau und Aufstieg Deutschlands mit- zuarbeiten. Verzeichnis benutzter Literatur: Prof. Dr. Paul Arndt," Alte und neue Faserstofife. ' Reimer, Berlin 1918. Büttner und Neumann, Zeitschr. f. angewandte Chemie. 21. Bd. 1908 und 22. Bd. 190g. Groß und Bevan, Ccllulose, London 1895. — — , Researches on Cellulose I. II. III. 1S95 — 1910. Francbimont, Compt. rend. 92. Bd. 1S81. , Rec. trav. chira. Pays-Bas 2. Bd. 24I, 18S3 u. 18. Bd. 472, 1899. Girard, Compt. rend. 81. Bd. 1875. Knoevenapel, Zeitschr. f. angew. Chemie 21. Bd. 2401 1908 u. 23. Bd. 440. 1910. Neuman, Kritische Stud en über Hydrolyse der Zellulose und des Holzes. Dissertation. Dresden 1910. Ost, Zeitschr. f. angew. Chemie. 19. Bd. 993, 1906. — , Lieb. Annal. 398. Heft, 313; 19 13. — , Bir. d. deutsch, ehem. Ges. 46. Bd. 2995, 1913. Straup und Hamburger, Ber. d. deutsch, ehem. Ges. 32. Bd. 2413, 1899, Schwalbe, Die Chemie der Zellulose. Berlin 1911. Aufsätze aus der Chemiker-Zeitung der Jahrgänge 1914 — 1918. Prof. Dr. K ap p f. Über Wolle, Baumwolle, Leinen, natürliche und künstliche Seide. Fock, Leipzig 1913. 40 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVI II. Nr. 3 Einzelberichte. Chemie. Zur Frage des Wismutwasserstoff äußert sich F. Paneth (Prag) in der Zeitschritt für Elektrochemie XXIV (1918) S. 298. In Gruppe 5 des periodischen Systems der Elemente kommen vor die Elemente Stickstoff, Phosphor, Arsen, Antimon und Wismut, die außer zahlreichen andern ähnlichen Eigenschaften WasserstoftVer- bindungen mit drei Atomen Wasserstoff eingehen; doch ist der Wismutwasserstoff bisher nicht be- kannt. Schon bei den ersten vier der genannnten Elemente nimmt die Stabilität der Hydride mit zunehmendem Atomgewicht ab: das Ammoniak NH3 ist eine auch bei höheren Temperaturen konsistente Verbindung, während die leichte Zersetzbarkeit des AsHj aus der Arsenprobe von Marsh bekannt ist; noch leichter (bei etwa 150" (zerfällt das Stibin SbH.,. Nun stehen unter der Ordnungszahl 83 außer Wismut noch 4 andere Elemente, die dem Wismut isotop sind (sie haben bei etwas verschiedenem Atomgewicht gleiche physikalische und chemische Eigenschaften wie Wismut). Es sind die radioaktiven Wismutarten Ra- dium C, Thorium C, Aktinium C und Radium E. Wegen der Gleichheit der chemischen Eigenschaften ist es gleichgiltig, welches der Isotopen man für eine chemische Untersuchung nimmt. Meistens geht man von der in großer Menge vorhandenen inaktiven Form aus, also in diesem Fall vom Wismut. Doch hat es in vielen Fällen Vorteile, einen der radioaktiven Körper zu untersuchen wegen der außerordentlichen Empfindlichkeit der radioaktiven Methoden, die die anderen chemischen und physikalischen Methoden z. B. die spektral- analytischen bei weitem übertreffen. Diese Über- legung bringt Paneth auf den Gedanken, die Darstellung des Wismutwasserstoffs aus einem der Isotopen des Wismuts, dem Thorium C zu versuchen; es zeigt sich, daß der Gedanke richtig ist, BiHa läßt sich so herstellen. Er exponiert zu dem Zweck Magnesiumblech in Thoriumema- nation, einem schweren Gase, das aus dem Tho- rium (nicht unmittelbar) entsteht. Es schlägt sich dann auf dem Bleche Thorium B eine Blei-Art, und das Thorium C nieder. Das so präparierte Magnesium wird in einer verdünnten Säure gelöst und das entstehende Gas durch einen Stickstoff- strom in ein Emanationselektroskop überführt. Es erweist sich als aktiv und zwar zeigt es den charakteristischen Abfall des Thorium C. Daß es sich dabei nicht um ein Verspritztwerden handelt, geht daraus hervor, daß, wie die .^b- klingungskurve zeigt Thorium B nicht mit über- führt wird. Daß die Wirkung die gleiche ist bei Anwendung von HCl, HNO3 und H.SO^, daß sie dagegen bei Einwirkung von Chlor fehlt, beweist, daß es sich um ein Hydrid handelt. Da der auf diese Weise aus der radioaktiven Wismutart Thorium C hergestellte Wismutwasserstoff sich radioaktiv verhält und dabei eine starke a-Strahlung (positiv geladene Heliumatome) aussendet, kann man ihn einem größeren Zuschauerkreise sichtbar machen, indem man das auf die oben geschilderte Weise entwickelte Gas in ein mit Sidotblende versehenes Glasrohr leitet. Dieses leuchtet im Dunkeln unter dem Anprall der «-Strahlen. Der Wismutwasserstoff, der bei Zimmertemperatur ziemlich beständig ist, zerfällt bei höherer Tempe- ratur sehr rasch unter Bildung eines Wismutspiegels. Bei der Temperatur der flüssigen Luft tritt ebenso wie bei den Emanationen eine Kondensation ein. Es ist hiermit nachgewiesen, daß BiHg existenz- fähig ist. Der Verfasser hofft bald über eine Methode berichten zu können, nach der er aus inaktivem Wismut sich herstellen läßt. Seh. Medizin. Die Stacheldrahtkrankheit. Im Laufe des Wehkrieges sind etwa fünf Millionen Menschen in Kriegsgefangenschaft geraten. Sie werden in größeren Gemeinschaften auf unbestimmte Zeit- dauer eingesperrt. Unter dem Einfluß der Freiheits- beraubung, der Einschränkung der Lebensgewohn- heiten und dem Zwang zom ständigen Beisammen- sein mit Schicksalsgenossen wird die Seele der Gefangenen weitgehend beeinflußt und es kommt bei vielen zum Auftreten deutlicher Zeichen psychi- scher Erkrankung, die deutsche Kriegsgefangene gewöhnlich als „Stacheldrahtfieber" bezeichneten. Die Krankheit äußert sich in erhöhter Reizbar- keit, Unlustgefühlen, Gedächtnisschwäche, Urteils- trübung, Unfähigkeit zur Konzentration des Denkens u. s. w. Ihr Bild weist beträchtliche Verschieden- heiten auf, was wahrscheinlich darauf zurückzuführen ist, daß die Stärke der Wirkung der verschiederien kränkmachenden Einflüsse bei den einzelnen Indivi- duen ungleich ist. Die schlimmste Wirkung scheint im allgemeinen von dem erzwungenen Massendasein auszugehen. Diesbezüglich sagt Dr. A. L. Vischer'): „Die Seele verlangt offenbar nach einem gewissen Ausgleich zwischen Einsam- keit und Zusammensein ; wird dieser .Verkehrs- ausgleich' beeinträchtigt, so entstehen Störungen", wie sie nicht nur bei Kriegsgefangenen, sondern z. B. auch bei den Bemannungen von Segelschiffen, bei Polarfahrten u. s. w. beobachtet wurden. Selbst im gewöhnlichen Militärleben treten solche Stö- rungen auf, jedoch in geringerer Stärke als bei den Kriegsgefangenen. Die Zwangsgemeinschaft führt vor allem zu Reizbarkeit, die Unmöglichkeit, sich abzusondern und allein zu sein, „geht auf die Nerven." Aus geringfügigen Anlässen kommt es deshalb zu Zänkereien, ja oft zu Prügeleien. Da es in den Gefangenenlagern keine nennens- werten Ereignisse gibt, werden deren Insassen von Langeweile gequält und es kommt infolge davon zu Klatsch über Mitgefangene, zur Erfindung von allerhand Nachrichten u. dgl. Der erzwungene Müßiggang führt auch zu Unterhaltungssucht; es ») Die Stacheldrahtkrankheit. Beiträge zur Psychologie der KriegsgefaDgencQ. Zürich 1918, Rascher & Co. N. F. XVHI. Nr. 3 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 41 entsteht Spielwut und eine eigenartige Tingel- tangelstimmung. Durch die dauernde Beschäftigung mit dem Kleinkram des Lagerlebens, sagt Dr. Vischer, werden die Leute kleinlich und egoistisch. Sie bauen sich allmählich eine Klein- welt, die für sie alles bedeutet und in der sie völlig aufgehen. Schließlich legen sie die Maßstäbe dieser Kleinwelt auch an das Geschehen der Außenwelt an, von der im Laufe der Zeit wenig im Bewußtsein bleibt. Damit verlernen die Gefangenen, mit Wirklichkeiten zu rechnen. Sie leben in gewissem Sinne ein Schattendasein, sie führen eine Existenz, in der alles um einige Noten herabgestimmt ist. Das Dasein der Kriegs- gefangenen ist einem Traumwandeln vergleichbar. So viel festzustellen ist, tritt in den ersten Monaten der Gefangenschaft Homosexualität relativ häufig auf; doch bald läßt das Geschlechtsempfinden nach und nicht selten tritt sexuelle Impotenz ein. In ihrem Tun und Lassen tragen viele Ge- fangene große Unstätigkeit zur Schau. Sehr häufig wird über rasch einsetzende geistige Ermüdung geklagt. Von Krieg'igefangenen, die in der Schweiz untergebracht waren, hörte Dr. Vischer, daß sie Musik- und Theateraufführungen nicht für längere Zeit beiwohnen könnten, vielmehr vor innerer Unruhe das Lokal vorzeitig verlassen müßten. Schwer mitgenommene Leute sprechen oft tagelang kein Wort. Allen gemeinsam ist pessimistische Stimmung und Niedergeschlagen- heit. Viele Gefangene erzählten Dr. Vischer, daß ihr Schlaf durch wilde Träume gestört würde. Lautes Sprechen im Schlaf ist häufig. Ganz frei von der Krankheit sind nur wenige Leute, die sich längere Zeit in Kriegsgefangenschaft befinden. Das Verhältnis der Schwerkranken zur Gesamtzahl beträgt nach Angaben von Gefangenen selbst etwa 10 bis 20%. Sehr ausgeprägt sind die psychischen Störungen gewöhnlich bei Leuten, -die an das Lagerleben, besonders an das Beisammensein mit vielen anderen, nicht gewöhnt sind. Bei Berufs- soldaten kommen hingegen schwere Störungen ziemlich selten vor. Wenig Einfluß auf den Seelen- zustand der Gefangenen hat nach Dr. Vischers Erfahrungen die Behandlung. Schlechte, selbst brutale Behandlung erzeugt die Krankheit nicht und gute Behandlung hält sie nicht fern. Auch eine schöne Lage des Lagers ist kein Prophy- laktikum. Grundbedingung für die Behebung der „Stachel- drahtkrankheit" ist die Befreiung der Gefangenen und ihre Rückkehr in normale Lebensverhältnisse. In den schwereren Fällen wird freilich die Heilung lange Zeit erfordern, namentlich bei den vielen, die ganz und gar den Eindruck von „gebrochenen Leuten" machen; so manche werden bis zum Ende ihres Lebens nicht mehr froh werden, und die Bevölkerung Europas wird von Menschen durchsetzt sein, deren seelische Reaktionen abnorm sind. Es ist zu befürchten, daß dies nicht ohne Einfluß auf die Gesamtpsyche sein wird. H. Fehlinger. Unter den für Fabrikarbeiter gesundheits- gefährlichen Stoffen haben die Nitroverbindungen der Kohlenwasserstoffe der aromatischen Reihe eine erhöhte Bedeutimg erlangt, seitdem sie in Spreng- stoff- und Munitionsfabriken" zu Kriegs- zwecken in großen Mengen hergestellt und ver- arbeitet werden. Manche von ihnen rufen unter den Arbeitern erhebliche Gesundheitsschädigungen hervor. Mit dieser Frage beschäftigen sich F. Cursch- mann und Koelsch in Heft 14 und 15 der „Zeitschr. f. d. gesamte Schieß- und Sprengstoff- wesen", 13. Jahrg., 19 18. Zu den praktisch wichtigen Nitroverbindungen der erwähnten Art gehören das Mono- und Dini- trobenzol, das Di- und Trinitrotoluol, das Di- und Tetranitronaphtalin, das Trinitroanisol "und das Trinitrophenol (Pikrinsäure). Von diesen Stoffen ist gesundheitlich am bedenklichsten das Dinitro- benzol. Es ist ein gefährliches Gift und hat be- reits zahlreiche Erkrankungen, ja Todesfälle ver- ursacht. Die übrigen aromatischen Nitroverbin- dungen sind viel weniger schädlich. Die Ver- giftungsfälle mit Dinitrobenzol sind festgestellt worden bei der Herstellung und Verarbeitung dieses Stoffes, in letzterem Falle auch dann, wenn das Dinitrobenzol mit anderen Sprengstoffen gemischt war. Die Disposition zur Erkrankung zeigt be- trächtliche persönliche Verschiedenheiten. Es erkrankten vorzugsweise körperlich schwächliche Personen, Unterernährte und Übermüdete. Aus- schweifungen und selbst geringer Alkoholgenuß, auch nach der Arbeit, erhöhen die Disposition. Die Eingangspforte des Giftes in den Körper ist in erster Linie die Haut, auch wenn sie keine Verletzung aufweist. Auch durch die Atmungs- und Verdauungsorgane wird das Gift in Staub- oder Dampfform aufgenommen. Ausgeschieden wird es mit dem Harn und der Atmungsluft. Die Wirkung des Giftes äußert sich in einer Schädi- gung des Blutfarbstoffes, in Methämoglobinbildung, in Zerstörung der roten Blutkörperchen und in Schädigungen namentlich parenchymatöser Organe, insbesondere der Leber. Als Maßnahmen gegenüber den Erkrankten kommen in Betracht: ein kühles Reinigungsbad, sodann F"ühren an die frische Luft, eventuell Ver- abreichung von Milch. Bei vorhandener Zyanose ist Sauerstoffeinatmung möglichst frühzeitig und längere Zeit hindurch vorzunehmen. Die Gewäh- rung kräftigender Kost und eine zweckmäßige Lebensweise beschleunigen die Genesung. Zeit- weiliger Ausschluß von der Arbeit mit Dinitro- benzol ist notwendig beim Nachweise von Meihä- moglobin und bei starker Abnahme der Zahl der roten Blutkörperchen. Dauernder Ausschluß ist notwendig bei Personen, die Leberveränderungen gezeigt haben oder die zu Dinitrobenzolvergif- tungen neigen, ferner bei Frauen während der Schwangerschaft und während sie stillen. Die Krankheitserscheinungen bei Vergiftungen 42 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVUI. Nr. 3 mit Mononitrobenzol sind ähnlich den vorstehend für Dinitrobenzol geschilderten. Auf Grund der gemachten Erfahrungen waren jedoch die Betriebs- leitungen imstande, den Gefahren bei der Ver- arbeitung dieses Stoffes wirksam vorzubeugen, so- daß Vergiftungen nur selten vorgekommen sind. Das Trinitrotoluol galt bisher, da Allgemein- vergiftungen bei ordnungsmäßig geführten Bei rieben anscheinend nur selten auftreten, für praktisch so gut wie ungiftig. Doch sind in letzter Zeit unter besonders ungünstigen Arbeitsbedingungen einige schwere und selbst tödliche Vergiftungen vorge- kommen, die die Annahme nahelegen, daß auch Trinitrotoluol unter Umständen recht gefährlich werden kann. Die Erholung der Erkrankten geht nur langsam vor sich. Selbst nach längerem, an- scheinend günstigem Verlaufe kann infolge plötz- lichen Verfalls in kurzer Zeit der Tod erfolgen. Bei der Sektion wurden außer Veränderungen an der Leber akute parenchymatöse Nierenentzündung gefunden. Beim Arbeiten mit unreinem (nicht umkristallisiertem, Tetranitromethan enthaltendem) Trinitrotoluol am Schmelzkessel können infolge Aufnahme von Tetranitromethandämpfen, schwere, selbst tödlich verlaufende Lungenerkrankungen auftreten. Von Dinitrotoluol, Di- und Tetranitronaphtalin undTrinitroanisol sindl Allgemeinvergiftungen noch nicht beobachtet worden. Der letztgenannte Stofif besitzt jedoch die Eigentümlichkeit, auf die Haut stark reizend einzuwirken, sodaß Hautentzündungen häufig schon nach kurzer Beschäftigung auftreten. Desgleichen treten Hautreizungen mitunter bei den mit Trinitrophenol (Pikrinsäure) Beschäf- tigten auf. Ein Fall von Allgemeinvergiftung ist nicht festgestellt worden. Der bitter schmeckende Stoff färbt nur infolge seiner Eigenfarbe die Haut und die Haare gelb oder grünlichgelb. Der Artikel von Koelsch behandelt nur die Gesundheitsschädigungen bei Arbeiten mit Trini- trotoluol. In einer früheren Arbeit war der Ver- fasser zu dem Schluß gekommen, daß das Trini- trotoluol, wenn es einigermaßen rein bzw. um- kristallisiert ist, unter gewerbehygienischen Ge- sichtspunkten als praktisch ungiftig bezeichnet werden kann. Hingegen zeigten sich bei Ver- arbeitung unreiner Präparate mehr oder minder schädigende Wirkungen. Es wurden hierbei hauptsächlich Blutwirkungen und deren Folgen, bei einigen wenigen Fällen Leberschmerzen und Gelbsucht, bei anderen Fällen Reizerscheinungen der Luftwege bis zur Ausbildung entzündlicher Veränderungen im Lungengewebe bzw. Lungen- ödem beobachtet. Neuerdings wurden nun besonders aus dem Auslande eigenartige Erkrankungen mitgeteilt, die beim Füllen von Granaten mit Trinitrotoluol ent- standen waren. Besonders in England waren diese Gesundheitsschädigungen so zahlreich und schwer, daß sie die öffentliche Meinung stark er- regten und insbesondere unter den Munitions- arbeitern, von denen nach englischen Berichten wohl über 100 000 mit Trinitrotoluol beschäftigt smd, lebhafte Beunruhigung auslösten, sodaß sich das neugeschaffene Munitionsministerium zu einer offiziellen Mitteilung veranlaßt sah „zur Aufklärung des Publikums, zur Belehrung der Ärzte und zur Beruhigung der Munitionsarbeiter". Auch in Deutschland wurden im Verlauf der Kriegsjahre neben verschiedenartigenReizwirkungen unii Blutschädigungen ebenfalls mit Gelbsucht ein- hergehende schwere Leberschädigungen beobachtet, allerdings in einer sehr viel kleineren Anzahl (etwa in 2 Dutzend Fällen), und nur in einigen wenigen Betrieben, und auch hier nicht regelmäßig, sondern nur schubweise. Man müßte nun wohl an- nehmen, daß, falls eine derartige schwere Gift- wirkung für Trinitrotoluol spezifisch wäre, bei der augenblicklichen Massenverarbeitung dieser Sub- stanz während vierer Kriegsjahre auch massenhafte Erkrankungen hätten auftreten müssen. Nachdem aber dem nicht so ist, nachdem insbesondere aus der ganzen Friedenspraxis des In- und Auslandes derartige Vergiftungserscheinung bei der Herstel- lung und Verarbeitung des Trinitrotoluols nie aufgetreten waren, kann die akute gelbe Leber- atrophie nicht als eine für das Trinitrotoluol selbst spezifische Giftwirkung angesehen werden. Die auffällige Tatsache, daß die Erkrankungen trotz gleicher Arbeitsweise nur schubweise auftreten, kann nur damit erklärt werden, daß eben das augenblicklich verarbeitete Trinitrotoluol anders beschaffen war bzw. besondere Verunreinigungen zeigte. Der Verfasser kommt zu dem Schluß, daß die akute gelbe Leberatrophie bei Arbeiten mit Trinitrotoluol nicht als typische gewerbliche Vergiftung zu bezeichnen ist. Dieselbe ist viel- mehr höchstwahrscheinlich die Wirkung von ver- schiedenen, uns augenblicklich noch unbekannten, im verwendeten Trinitrotoluol enthaltenen chemi- schen Körpern, die z. T. auf unreine Rohprodukte, z. T. auf Unregelmäßigkeiten beim Nitrierprozeß zurückgeführt werden dürften. F. H. Physiologie. Die photochemische Wirkung des Lichts auf den Organismus. Fritz Schanz (Pflugers Archiv für die gesamte Physiologie, Bd. 170, 10.— 12. Heft, Bonn 1918) führt aus, daß die Eiweißkörper unter dem Lichteinfluß sich in schwer lösliche Formen umwandeln, auch wenn sie chemisch rein (z. B. frei von Eisen, Zucker usw.) den Lichtstrahlen ausgesetzt werden. Da in der Natur reines Eiweiß nicht vorkommt, wirkt die Beleuchtung auf die Lebewesen nur noch inten- siver, so ist die Trübung der Augenlinse, Alters- star, auf die Lichteinflüsse zurückzuführen, denen die Linse während des Lebens ausgesetzt war. Das Eiweiß absorbiert schon in Blau und Violett, und besonders kurzwellige Strahlen jenseits der Grenze der Sichtbarkeit bei l 400 ///<. S. weist darauf hin, daß es die im Sonnenlicht enthaltenen ultravioletten Strahlen sind, welche, indem sie die Linse passieren, unbemerkt ihren deletären Ein- N. F. XVni. Nr. 3 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 43 fluß ausüben. *) Da sie als zu kurzwellige Licht- strahlen unsichtbar sind, werden sie vom Auge nicht wahrgenommen; auch lösen sie in der nervenlosen Linse keinen fühlbaren Einfluß au<:. Von künstlichem Licht ist das der elektrischen Bogen- lampe an ultravioletten Strahlen am reichsten und ein ihm ungeschützt längere Zeit ausgesetztes Auge bietet ein ganz charakteristisches Krankheits- bild, die ..elektrische Ophthalmie". Da das Eiweiß nicht von gewissen Begleit- stoffen zu trennen ist, wurde die Lichtreaktion der letzteren allein festgestellt. Verf. arbeitete mit Aceton, welches sich besonders bei Zucker- krankheit in den Geweben des menschlichen Kör[)ers findet, und führt darauf die Linsentrübung zurück. Er fand, daß die Lichtreaktion des Ei- weißes durch das Aceton nur gesteigert wird und nicht auf dessen Zersetzung beruht. Das Aceton selbst ist eine wasserklare Flüssigkeit, muß also Lichtstrahlen absorbieren, welche unsichtbar sind, denn nur dann, wenn das Licht absorbiert wird, kann es chemisch wirken. Eisenfreies Aceton zerfällt unter Lichteinvvirkung ziemlich rasch. Zu- setzung von Eisensalzen beschleunigte die Zer- setzung nicht. Dasselbe gilt für die Milchsäure; Ameisensäure dagegen läßt deutlich den Einfluß der Eisenbeimengung erkennen. Aber nicht nur die unsichtbaren ultravioletten, sondern auch die sichtbaren Lichtstrahlen sind chemisch wirksam. 'Während die chemische Wirksamkeit nach Blau und Violett des Spektral- bands hin zunimmt, sind Rot bzw. Ultrarot nur Wärmestrahlen. Die Photochemie ist noch nicht über die Kenntnis der Prozesse hinausgekommen, welche die in der Photographie gebrauchten Substanzen betreffen. Schon am Papier macht sich der Licht- einfluß durch chemische Wirkungen geltend, wie man am Vergilben des Papiers im Sonnenlicht sieht. Fallen die Sonnenstrahlen fast senkrecht auf, so ist bei Holzschliffpapier die Veränderung schon nach einer Stunde bemerkbar. Das Eosin und andere fluoreszierende Farbstoffe wirken auf das Eiereiweiß und auf das Blutserum nur als Sensibilisatoren. Das Eosin selbst ist in starker Verdünnung bei Belichtung auf Infuso- rien viel stärker wirksam als in Dunkelheit eine konzentrierte Lösung. Auch Toxine, F~ermente und ähnliche Produkte tierischer und pflanzlicher Organismen werden beim Vorhandensein derartiger Farbstoffe im Licht zerstört, während sie im Dunkeln nicht "beeinflußt werden. Rote Blut- körperchen werden bei Belichtung zersetzt, wie man am Durchsichtigwerden der Aufschwemmungen sieht. Da Eosin bromhaltig ist, wird es bei der Epilepsie in Arzneien verwandt. Nach 6 — 8- wöchentlicher Behandlung tritt jedoch eine Rötung und schmerzlose Anschwellung an den, dem Licht ausgesetzten Körperteilen (Gesicht, Hals, Hände, oberer Teil der Brust und Mundschleimhaut) der Vgl. No. 45, 1914 S. 715 d. Bl. Patienten ein. Am I.September 1909 wurde gesetzlich vorgeschrieben, daß die zur Schweinefütterung be- nutzte importierte Futtergerste von der Braugerste für die zollamtliche Unterscheidung mit Eosin zu färben sei. Bald aber wurden seitens der Schweine- züchter lebhafte Klagen darüber laut, daß die mit Eosingerste gefütterten Tiere im F"reien bei Sonnenschein häufig ganz plötzlich verendeten. Da eine eingehendere Prüfung durch das Gesund- heitsamt in Berlin die Futterung mit Eosingerste keine schädliche Einwirkung auf Fleisch und Fett der Schlachttiere erkennen ließ, hielt man trotz aller Reklamationen an der gesetzlichen Vorschrift fest, bis sie mit Beginn des Krieges als überflüssig aufgeh' iben wurde, da eine Unterscheidung für die Verzollung zwischen Futter- und Braugerste nicht mehr nötig war. S. jgibt dann Versuche mit zwei Gruppen weißer Mäuse an ; die eine war mit eosionge- färbtem Hafer, die andere mit reinem Hafer ge- füttert worden. „Das eine Paar wurde in der Mitte eines nach Norden gelegenen Zimmers in einem offenen Glasgefäß gehalten, das andere in einem gleichen Gefäß an das Fenster gestellt. Nach 14 Tagen wurden die Tiere nachmittags gegen 3^2 Uhr ins Sonnenlicht gestellt. Der Versuch war am 2. August ausgeführt. Die Tagestemperatur war für die Jahreszeit sehr niedrig, die Höchst- temperatur betrug 22'* C. Es hatte in der Nacht vorher und auch am Morgen noch stark gewittert, und der Himmel zeigte noch rasch wechselnde Bewölkung, so daß auch während des Versuches die Tiere nicht fortwährender Besonnung ausge- setzt waren. Die Tiere wurden, als sie in das direkte Sonnenlicht kamen, außerordentlich unruhig, kratzten sich, scharrten. Schon nach ^/j Stunde begann die Erschöpfung, die Tiere brachen zu- sammen, streckten die Extremitäten von sich, sprangen zeitweise wieder auf, versuchten sich wieder zu kratzen. Gegen 5 Uhr waren sie tot. Das Vergleichstier zeigte keine Störung. In i '/2 Stunden konnte ich die mit Eosinhafer gefütterten Tiere mittels Tageslicht, das nicht einmal die ganze Zeit in voller Intensität einwirkte, töten. Von , Hitzschlag' kann man hier nicht sprechen, die Temperatur war dazu zu niedrig, „Lichtschlag" ist hierfür die zutreffende Bezeichnung, denn das Licht ist hier der für die Erscheinungen allein verantwortliche Faktor. Sonnenstich würde für die Fälle zutreffen, wo Licht und abnorm hohe Wärme zusammenwirken." Die starke Lichtreaktion bei den Warmblüt- lern ist auf das Hämatoporphyrin zurückzuführen, ein eisenfreics Abbauprodukt des Blutfarbstoffs, des Hämoglobins. S. machte neue diesbezüg- liche Versuche mit weißen Mäusen. Er spritzte ihnen eine Hämatoporphyrinlösung ein und ließ die Tiere drei Tage im Dunkeln, ohne eine Ver- änderung an ihnen zu bemerken. Als sie sodann am vierten Tag dem Tageslicht ausgesetzt wurden, waren sie in vier Stunden tot. Gibt man größere Dosen von Hämatoporphyrin und setzt dann die 44 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 3 Tiere alsbald dem Tageslicht aus, so tritt bald nach Rötung der Ohren, Juckerscheinungen und ausgesprochener Lichtscheu in 2 — 3 Stunden der Tod ein. Die subakute Form stellt sich ein, wenn die Tiere erst etwa eine Woche nach der Injek- tion in intensive Belichtung kommen, oder wenn sie bald nach der Injektion nur dem nicht zu hellen diffusen Tageslicht ausgesetzt werden. Sie äußert sich in starker Schwellung der Haut und Haarausfall. Daß Rinder und Schafe, die im Winter Buchweizen als Futter bekamen, im Frühjahr an den unbedeckten Körperstellen erkrank- ten, beruht gleichfalls darauf, daß der Buchweizen einen fluoreszierenden Stoff enthält, der ähnlich dem Eosin bei Belichtung als Sensibilisator wirkt Verbreitet bei den Organismen sind das Hämoglobin und das Chlorophyll, sie absor- bieren nicht nur unsichtbare, sondern auch farbige Strahlen und für beide gilt, daß sie die Licht- einwirkung steigern. Bezüglich der mitunter so prächtig gefärbten Wassertiere und pflanzen weist S. darauf hin, daß ihren Farben als solchen die ihnen zugeschriebene Bedeutung nicht zu- komme; das Licht dringt nur 6 — 8 m tief in das Wasser, und die roten und gelben Lichtstrahlen werden zuerst absorbiert. Durch die Rot- und Gelbfärbung aber würde daslntegument in Stand gesetzt, die blauen und grünen Strahlen zu ab- sorbieren; außerdem wären ja alle Wassertiere farbenblind. Auch für viele auf der Erde lebenden Tiere hätte das Pigment nur die Bedeutung, daß die komplementären Strahlen absorbiert würden; darauf beruhe die Lichtempfindlichkeit vieler augenloser Tiere. Der Regenwurm z. B. sei lichtempfindlich und zieht sich bei Belichtung zurück, was auf den, Hämatoporphyrin enthalten- den Rückenstrang zurückzuführen sei. Dasselbe gilt auch für viele andere Tiere, die auf dem Rücken dunkel gefärbt sind. S. beschreibt dann einen Versuch , den er an seinem eigenen Auge anstellte. In einem dunkeln Raum stellte er eine Bogenlampe in einem Blechkasten auf, an dem ein Fenster mit dunkelblauem Glas (5 mm dickes blaues Uviol- glas) angebracht war. Er beobachtete in dem Licht ein Fluoreszieren seiner Linse. Auch ge- ringfügige Pigmentveränderungen der Haut (Sommersprossen) würden deutlich sichtbar, was daraus zu erklären sei, daß die unsichtbaren Strahlen durch das als Sensibilisator wirkende Pigment in sichtbare verwandelt würden. Er meinte, man hätte im Pigment der Haut eine Bildung zu sehen, durch welche nicht nur die tieferliegenden Gewebe geschützt würden, sondern welche auch die Umwandlung der strahlenden in die lebende Energie in erhöhtem Maße ver- mittelte. Die Wirkung der ultravioletten Strahlen des Sonnenlichts kommt bei den Pflanzen als Wachs- tumshemmung zum Ausdruck. S. stellte mit Begonien, Reseda, Bohnen und Erbsen drei Ver- suchsreihen auf. Es wurden möglichst gleich große Stecklinge von derselben Pflanze in Blumentöpfen in die gleiche Gartenerde gepflanzt und mit demselben Quantum Wasser begossen. Eine von ihnen wuchs frei, die zweite war mit einer Glasglocke von gewöhnlichem Glas und die dritte mit einer solchen von Euphosglas, welches nur sichtbare Strahlen durchläßt, bedeckt. Die frei wachsenden Pflanzen zeigten in ihrem Wachstum nichts Auffälliges; die unter der Glas- glocke wachsenden waren größer, und am größten die unter Euphosglas gewachsenen. Es ent- spreche dies den Erscheinungen in der freien Natur; die Hochgebirg'^pflanzen, welche am stärksten den ultravioletten Strahlen des Sonnen- lichts ausgesetzt sind, bleiben niedriger. Am größten werden die Pflanzen der Tiefebene, wo die ultravioletten Strahlen geringere Wirkung haben. Kathariner. Experimentelle Untersuchungen über die Kohlen- säurewirkung auf die Blutgefäße. Die gefaßer- weiternde, dilatatorische, und die gefäßverengende, konstriktorische, Einwirkung der im zirkulierenden Blut enthaltenen Kohlensäuremenge ist nach Unter- suchungen von Dr. Altred F'leisch (Pflüger's Archiv für die gesamte Physiologie des Menschen und der Tiere, 171. Bd., 191 8) eine sekundäre Erscheinung und eine Folge einer Reizung der Gefäßnerven. Da die Muskelarbeit auf einer Ver- brennung beruht, der dazu nötige Sauerstoff aber dem Gewebe durch das Blut zugeführt wird, so bedarf ein tätiger Muskel einer stärkeren Durch- blutung. Die Zuführung einer größeren Blut- menge wird durch eine Erweiterung der Haarge- fäße ermöglicht. Dieselbe wird nach F. durch den Kohlensäuregehalt des Blutes unter Ver- mittlung der durch periphere Gefaßnerven hervor- gerufenen Erweiterung des Gefäßlumens bewirkt; die Säuremenge muß eine relativ geringe sein, weil in stärkerer Konzentration die Kohlensäure eine gefäßverengende Wirkung ausübt, infolge der Zusammenziehung der Muskuläres der Gefäßwand. So sahen schon Gaskell und Bayliss eine Ge- fäßerweiterung eintreten, wenn die Adern des M. mylohyoideus des P'rosches von stark verdünnter Milch- oder Essigsäure durchströmt wurden; das- selbe fanden Schwarz und Lemberger, wenn kleinste Säuremengen in die Arterien injiziert wurden. Man kann nun fragen, ob die* jeweiligen Reize, welche den wechselnden Tonus des Gefäßes verursachen, zentralen oder peripheren Ursprungs sind, d. h. ob sie auf dem Weg der Gefäßnerven der Muskuläres zugeführt werden, oder eine Reaktion auf von dieser selbst aufgenommene Reize dar- stellen. Die Versuchsergebnisse von F. sprachen für erstere Alternative; die Kohlensäurewirkung nämlich machte sich bei einem Versuchstier (Frosch) auch an dem unverletzten, am Körper gelassenen Bein geltend, wenn der Kohlensäure- N. F. XVni. Nr. 3 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 45 Strom durch ein Gefäß des andern, abgesetzten, Beins geführt wurde. Die Reizübermittlung hatte nur durch einen zentripetal zum Gehirn als Zen- tralorgan hin, und von diesem zur Muskuläres ab- führenden zentrifugalen Nerven stattfinden können. In der Tat bildete auch die Unversehrtheit des nervösen Zusammenhangs die notwendige Voraus- setzung für das Gelingen des Versuchs. Daß die Erweiterung des Gefäßes gleichfalls eine aktive Lebenserscheinung ist, nicht etwa auf einer durch die Kohlensäure bewirkten Lähmung beruht, zeigte das Verhalten der Getäßmuskeln andern Reagentien gegenüber. Kathariner. Die Blitzwirkungen auf den menschlichen Körper bestehen, nach Dr. Ladislaus von Szalay-Ujfaluny, *) bei tödlichen Fällen in groben Verletzungen oder Brandwunden an der Ursprungsstelle, bei anderen und zwar manchmal gleichfalls tödlichen, oft aber auch auffallend harm- losen Fällen, die wohl nur durch Seitenäste eines Blitzes hervorgerufen sind, in rötlichen Flecken oder auch baumartig verästelten sog. Lichtenberg- schen Figuren. Es ist nicht nachweisbar, daß der Blitz ebenso wie der Strom einer Gleichstrom- maschine auf die Zersetzung des Blutes oder wie der einer Wechselstrommaschine auf die Zer- störung des Nervensystems einwirken könne, hin- gegen kommen Verletzungen mechanischer Art ganz analog denen durch Mörderhand vor, wie Kontusionen, Sugillationen, Schädelfrakturen und Verletzungen des Zerebrospinalsystems. Fallen Personen dem Blitz zum Opfer, ohne sichtbare Spuren des Blitzes auf ihren Körper davonzu- tragen, so sind sie nicht direkt als getroffen zu betrachten. In solchen Fällen liegt das Opfer stets auf dem Rücken, ein Anzeichen, daß der niederfahrende Blitzstrahl in kurzer Entfernung gesehen wurde. Der Tod kann dann durch Still- stand der Atmungsorgane oder der Herzfunktionen eintreten. Leute mit gesundem Organismus sind widerstandsfähiger als Leute mit Gebrechen, auch scheint das Bewußtsein eine Rolle zu spielen. Sehr kleine Kinder, Schlafende und Betrunkene verfallen, falls sie nicht getroffen werden, weniger leicht der Ohnmacht oder dem Tode als diejenigen, die im Besitz des Bewußtseins sind. Es ist, führt Verf aus, ein Schade für die Wissenschaft, daß im Falle eines durch Zeugen bestätigten Todes durch Blitzschlag von der Er- öffnung der Leichen abgesehen wird. V. Franz. Zoologie. Das Verhalten der männlichen und weiblichen Erbsubstanz in den Geschlechtszellen bei Artbasiardierung. Nach R. Hertwig kann die embryonale Entwicklung bei der Kreuzung zweier Arten entweder harmonisch oder dis- harmonisch verlaufen. Bei ersterer sind Fur- chung und Larvenentwicklung normal, während bei disharmonischer Entwicklung das Chromatin des Samenkerns ganz oder teilweise eliminiert wird ; charakteristisch dabei ist eine Erkrankung des Keims dicht vor Beginn der Gastrulation. Dies hat Balzer (Sitzungsberichte der Physikal.-med. Gesellschaft zu Würzburg, Sitzung vom 15. No- vember 1917.) auch für eine Anzahl von Stachel- häutern beobachtet, wo eine Elimination von Spermachromatin nicht eintritt. Er meint, das disharmonische Verhallen bei Artbastardierungen, welches von den bei Rassenkreuzungen abweicht, beruhe darauf, daß artfremdes Chromatin des Spermakerns das Chromatin des Eikerns nicht ersetzen könnte. In die Gruppe der EchinodermenBastarde wären wahrscheinlich eine Reihe weiterer Fälle einzuordnen: Amphibienkreuzungen, gewisse Fisch- kreuzungen, vielleicht manche Schmetterlings- bastarde und HelixBastarde. Es wäre kein Zweifel, daß man bei disharmonischen Bastarden eine Vererbung nach dem Mendel'schen Typus nicht erwarten dürfe. Die Vererbung sei in stark dis- harmonischen Fällen rein mütterlich. Bei einer Reihe von Artbastarden, die weiter gezüchtet werden konnten, verliefe die Entwicklung nicht nur in den embryonalen Stadien, sondern bis zur Geschlechtsreife des Fj Individuums ') harmonisch. Daß aber auch diese Typen nicht als völlig har- monisch betrachtet werden könnten, ginge aus dem anormalen Verhalten der Geschlechiszellen- bildung hervor. Es wären hier die von Federley und Harrison and Doncaster gezüchte- ten zahlreichen Schmetterlings-Artbastarde zu nennen. Bei diesen Kreuzungen falle die Kon- jugation der väterlichen und mütterlichen Chromo- somen total oder partiell aus. Die Geschlechts- zellen übernähmen den diploiden Chromosomen- bestand der Körperzellen fast vollzählig, während die Chromosomenreduktion fehlte. Als Beispiele für harmonische Entwicklung gibt B. an: Seeigelbastard Sphaerechinus granu- laris $ >C Paracenirotus lividus (J, gewisse Sceigel- kreuzungen zwischen Echinus acutus, esculentus, miliaris; für disharmonische Entwicklung: Seeigel $ X Ringelwürmer (J, Seeigel $ >< Mollusken (5*, — Seeigelbastarde Paracentroius 9 X Sphaerechinus (J, Paracentrotus $ X Arbacia 'nZ- ') Naturw.Wochenschr. XV (igiö) 577 — 584: Die Quanten- hypothese. universellen Konstanten zusammensetzt (Ladung e, Masse /( des Elektrons und Planck' sehe Kon- stante h), dann erhält man die Rydberg- sche Zahl t'^. Gleichung 9 geht dann in die Balmer'sche Serienformel (i) über: I I s- n^J' Wie oben erwähnt, liefert die Formel für z= i die F"requenz der Balmerserie H„, H^, H., usw., wenn man s = 2 und n = 3, 4 .... 31 setzt. Das bedeutet aber im Sinne des Bohr 'sehen Modells folgendes: Dem Elektron, das die 29 sichtbaren Linien des Wasserstoffs aussendet, stehen 31 sta- tische Bahnen zur Verfügung entsprechend den Quantenzahlen 2, 3, 4 .... 31. Springt es von der 3. auf die weiter nach innen gelegene 2. Bahn, dann emittiert es die Energie A3 — A^ als rote Wasserstofflinie H„ von der Frequenz ^ — -. Beim Sprung vom 4. auf den 2. Kreis sendet es die blaugrüne Linie H-^ aus, deren Frequenz wegen des größeren Wertes von A4 — Aj größer ist. H). entsteht beim Übergang vom 5. auf den 2. Kreis usw. Man hat sich den Vorgang des Leuchtens von Wasserstoffgas so vorzustellen, daß nicht etwa ein Atom gleichzeitig sämtliche Linien aussendet; 52 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVlII. Nr. 4 vielmehr sendet eine Gruppe H,„ eine zweite H,i usw. aus. Doch wechseln dauernd die Atom- individuen der einzelnen Gruppen. Diejenigen Gruppen , die besonders helle Linien emittieren, sind größer als die anderen. Neben der Balmerserie sind noch zwei weitere Serien des Wasserstoffs bekannt, welche im un- sichtbaren Teil des Spektrums liegen, nämlich die ultrarote und die ultraviolette. Auch für diese liefert die Bohr'sche Formel die Schwingungs- zahlen, wenn man s = 3 bzw. = i und n = 4, 5, 6 . . . . bzw. 2, 3, 4 ... . setzt. Die ultraroten Linien werden demnach erzeugt durch Sprünge des Elektrons von äußeren Ringen auf den dritten, während für die kurzwellige Serie der erste Elek- tronenring die Endbahn darstellt. Das zweite in der Reihe der Elemente ist das Edelgas Helium, für dasselbe ist demnach 2=2, d. h. der Kern enthält zwei positive La- dungen. Um diese kreist ein Elektron, d.h. das Heliumatom ist nicht neutral, sondern positiv ge- laden. IVIan erhält, wenn man in (9) z = 2 setzt: Daraus ergeben sich für s = 3 und = 4 die bei- den Serien des Heliums, welche man vor Bohr dem Wasserstoff zuschrieb. Doch stimmen die berechneten Zahlen nicht genau mit den beobach- teten überein. Volle Übereinstimmung wird er- zielt, wenn man berücksichtigt, daß Kern und Elektron um ihren gemeinsamen Schwerpunkt rotieren, daß also der Kern an der Bewegung teilnimmt. Beim Wasserstoff haben wir die Kern- masse m als unendlich groß gegenüber der Elektronenmasse /( angesehen. Die genauere Rechnung ergibt, daß zu der Ry dberg'schen Zahl der Faktor hinzutritt (die Zahl v„ ist m demnach genau genommen keine Konstante, sie ändert vielmehr ein wenig von Element zu Ele- ment). Die Tatsache, daß eine Verschärfung in der Genauigkeit der Rechnung die Resultate ver- bessert, ist ein neuer Triumph der Bohr 'sehen Theorie. Eine nur oberflächliche Übereinstimmung des Modells mit der Wirklichkeit erscheint hier- nach nicht mehr möglich. d) Sommer feld's Weiter führung der Bohr'schen Theorie. Bei hinreichend starker Auflösung zeigt es sich, daß jede Linie der Balmerserie aus zwei dicht nebeneinander liegenden Linien (Dublett) besteht, deren Schwingungszahlen sich um den kleinen Betrag ^ ^ h unterscheiden, d. h. im Sinne des Bohr'schen Modells, daß die Endbahn, aufweiche das Elektron springt, aus zwei dicht nebenein- ander liegenden Bahnen von ein wenig verschiedener Energie besteht (es können natürlich auch zwei verschiedene Anfangsbahnen und eine Endbahn $ein). Es müssen also mehr statische Bahnen vorhanden sein als die Bohr'sche Formel an- gibt. Über diese gibt uns die Weiterführung der Theorie durch Sommerfeld (1916) Auskunft. Unter dem Einfluß der Newton'schen An- ziehung beschreibt der Planet eine Ellipse, deren Gestalt durch zwei Größen (große und kleine Achse, a und b) bestimmt ist. Durch Angabe von zwei veränderlichen (Polarkoordinaten), näm- lich der azimutalen (Winkel) (p und der radialen r, ist die jeweilige Lage des Planeten festgelegt. Bei der Bewegung auf dem Kreise dagegen ge- nügt die Angabe von (p. Sommerfeld stellt nun für beide Koordinaten (Freiheitsgrade) eine Quantenbedingung auf. Neben der Bohr'schen, die für die azimutale (p fordert, daß das Impuls- iv moment n ^ sei, stellt er eine entsprechende für die radiale Koordinate ein. Er findet dann als statische Bahnen neben, dem Bohr'schen Kreis konfokale Ellipsen, deren große Achse mit dem Kreisdurchmesser übereinstimmen. Berechnet man die Energie des Elektrons auf den verschiedenen Bahnen, dann findet man einen Wert, der sich von dem Bohr'schen (7) nur dadurch unterscheidet, daß statt der einen Quantenzahl n entsprechend den beiden Quanten- bedingungen die azimutale Quantenzahl n und die radiale n' vorkommen. Die Energie der ver- schiedenen Kreis- und Ellipsenbahnen ist dem- nach nur abhängig von der Summe (n -j- n') der Quantenzahlen und unabhängig von der Kom- bination, wie die Quantenzahfen einzeln auf die beiden Freiheitsgrade verteilt sind. Wir erhalten also neben dem Bohr'schen Kreise als statische Bahnen wohl Ellipsen z. B. für n -|- n' = 2 eine; doch da die Energie der Kreis- und der Eilipsen- bahnen gleich sind, ergibt die 2. Bohr'sche Quantenbedingung (8), nach der h-v^An — As ist, dieselbe Frequenz der ausgesandten Spek- trallinie, wenn das Elektron von emer der äußeren Bahnen auf den Kreis oder die Ellipse springt. Eine Erklärung der Doppellinien ist also bisher nicht erreicht. Berücksichtigt man indessen, daß die Masse /t des Elektrons nicht unveränderlich ist, sondern von der Geschwindigkeit abhängt (Relativitäts- theorie), dann wird die Energie der Bahnen, welche zu n -)- n' = konst. gehören, etwas ver- schieden; es ergibt sich eine geringe Verschieden- heit /^ v in der Frequenz des emittierten Lichtes, wenn das Elektron auf den Kreis oder die Ellipse des zweiquantigen Ringes übergeht. Die Theorie liefert für das /\ v der Doppellinien des Wasser- stoffs, kurz mit /\ )'h bezeichnet, 0,363, einen Wert der mit der Messung an den Dubletts der Balmerserie gut übereinstimmt. Die Ausmessung ist wegen der Unscharfe der H-Linien und wegen der Kleinheit der zu messenden Größe schwierig. Günstiger liegen die Verhältnisse beim Helium; N. F. XVni. Nr. 4 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 53 die Theorie ergibt nämlich, daß /\ v proportional z* ist, so daß der PVequenzunterschied der Doppel- linien für irgendein Element beträgt : (12) A'' = z-'-A J'H. Da für Helium die Ordnungszahl z = 2 ist, muß der Abstand seiner Doppellinien 2* = i6 mal so groß wie beim Wasserstoff. Die 1916 von Paschen ausgeführten Messungen zeigen, daß die Beobachtungen am Helium mit der Theorie übereinstimmen, eine Tatsache, die sehr für die Sommerfeld'sche Hypothese spricht. e) Theorie der Röntgenspektren. Wie schon angedeutet, haben wir uns den Atombau der übrigen Elemente so vorzustellen, daß wenn wir im periodischen System um einen Schritt weiter gehen, die Kernladung um eine positive Elementarladung zunimmt, während in den Ringen ein Elektron hinzutritt. Es bilden sich nach außen immer neue von Elektronen be- setzte Ringe aus, wobei die Elektronenzahl der inneren ungeändert bleibt. Das periodische Ver- halten der physikalisch chemischen Eigenschaften der Elemente, das in der Anordnung im periodi- schen System zum Ausdruck kommt, ist durch die periodische Ausbildung äußerer Ringe bedingt. Diejenigen physikalischen Eigenschaften, die in den innersten, unverändert bleibenden Ringen ihren Ursprung haben, sind eine einfache nicht periodische Funktion der Kernladung. Man hat nun Grund (s. u.) zu der Annahme, daß die Ent- stehung der Röntgenspektren in den innersten Ringen zu suchen ist. Die Röntgenspektroskopie 1) wird uns also über das Bohr 'sehe Modell weiteren Aufschluß geben. Die von der Antikathode der Röntgenröhre ausgehende Strahlung besteht aus zwei Teilen, der „weißen" Bremsstrahlung, die bei der Verzögerung des Elektrons im Antikathoden- metall entsteht und ein kontinuierliches Spektrum liefert, und zweitens der Ei gen- oder charakteristischen Strahlung, welche von dem Atom des Antikathodenmetalls ausgeht, wenn seine Elektronen durch den Aufprall des fremden hineinfahrenden Elektrons zum Strahlen gebracht werden. Nur die letztere, welche sich als Linienspektrum erweist, wenn man sie mit einem sich drehenden Kristall untersucht, ist für uns von Interesse. Jedes Element hat ebenso, wie es in dampfförmigem Zustande ein charakte- ristisches optisches Spektrum besitzt, auch sein eigenes Röntgenspektrum, dessen Linien sich ebenfalls in Serien gliedern; man unterscheidet die sehr harte (kurzwellige) K- und die weichere L-Serie, und schließlich ist bei einigen schweren Elementen noch die langwellige M-Serie beobachtet worden. Das bekannte Röntgenlinienspektrum der Elemente umfaßt rund 6 Oktaven, die Wellen- längen liegen etwa zwischen 0,2 und 12-10-8 cm; ') Naturw. Wochenschr. 1918. 611— 6l8. Über Röntgen- spektroskopie. seine längste Wellenlänge ist durch 6 Oktaven von der kürzesten optischen (ultravioletten) ge- trennt. Da das Hochfrequenzspektrum einer Le- gierung die Linien ihrer Komponenten unver- ändert zeigt, ist das Röntgenspektrum eine additive Eigenschaft der Atome. Der Aufbau der Spektren ist wesentlich einfacher als bei den optischen : die K-Serie sämtlicher Elemente — von Elementen, deren Ordnungszahl z kleiner als II (Natrium) ist, ist ein Röntgenspektrum nicht bekannt — zeigt fast immer die gleiche Anzahl Linien, nämlich 4, ebenso die M- und die L-Rei_he, welch letztere mehr Linien hat. Geht man in der Reihe der Elemente im Sinne wachsen- der Ordnungszahl z vorwärts, dann verschieben sich sämtliche Serienlinien ganz regelmäßig um annähernd gleiche Schritte nach der Seite der kürzeren Wellenlängen, und zwar erfolgt die Ver- schiebung so regelmäßig, daß man dadurch fehlende Elemente und falsche Gruppierungen der Elemente auffinden kann. Da mit der Ordnungszahl die Kernladung zunimmt, so liegt die Auffassung nahe, daß die Röntgenspektren in den innersten Elektronenringen, die am stärksten unter dem Einfluß des Kerns stehen, ihren Ursprung haben. Die Beziehung zwischen Frequenz v (d. i. Lage der Linie) und der Ordnungszahl z ist wie schon erwähnt (2) nach Moseley gegeben durch ]»'=a (z— b\ wo a und b Konstante. Dieser Ausdruck nimmt, wenn man die Zahlenwerte für a und b einführt, für die stärkste Linie der K- bzw. der L-Serie die Form an : »'K = »-o (Z I - I I T^ 2 2 I I 2^ 3~' "L = »'0 (Z — 7.4)' ^- Man erkennt leicht die nahe Übereinstimmung mit der Balmer'schen Serienformel (10) Vo be- deutet wieder die Rydberg'sche Zahl; statt z tritt z — I bzw. z — 7,4 auf, d. h. nicht die ganze Kernladung, sondern nur ein Teil derselben ist wirksam (s. w. u.). Nach Bohr heißt das aber, die Linie- K„ entsteht, wenn das Elektron von zweiten auf den innersten Kreis übergeht, dann würde aber die K-Serie der ultravioletten VVasser- stoffserie, die L-Reihe der Balm erserie der Wasser- stoffs entsprechen, da beide beim Übergang des Elektrons auf den zweiten Ring entstehen, eine Annahme, die durch die genauere Untersuchung betätigt wird. Die Theorie Sommerfeld 's, die Ausdeh- nung der Quantenhypothese auf Systeme mit zwei Freiheitsgraden, hat auch hier weitere Auf- klärung geschaffen. Wie oben auseinandergesetzt wurde, führt die Aufstellung der Quantenbedingung auch für die radiale Koordinate und die Berück- sichtigung der Veränderlichkeit der Elektronen- masse mit der Geschwindigkeit zu einer größeren Zahl von statischen Bahnen ; neben den B o h r ' - sehen Kreisen sind Ellipsen zulässig. Da die 54 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVLI. Nr. 4 Energie der zu einem Ring gehörigen Kurven etwas verschieden ist, ergeben sich etwas ab- weichende Frequenzen, wenn das Elektron von außen her auf die eine oder die andere Kurve springt; auf diese Weise gelingt es, die Fein- struktur der Wasserstoff- und Heliumserien in guter Übereinstimmung mit der Erfahrung abzu- leiten. Auch die Feinstruktur der Röntgeuserien- linien läßt sich auf diese Weise erklären. Die "La, Abbildung ') zeigt das Modell des inneren Teiles eines Atoms: Im Zentrum sitzt mit + bezeichnet der positiv geladene Kern. Als innerste Bahn kommt der Kreis I als sogenannter K Ring (ein- quantig) in Betracht. Der nächste Ring, der L- Ring, ist zweiquantig (n + n' = 2); er setzt sich aus zwei Bahnen zusammen, dem Kreise und der Ellipse, deren große Achse dem Kreisdurchmesser gleich ist; sie ist gestrichelt ebenfalls als Kreis gezeichnet. Auf dem dreiquantigen MRing sind drei Bahnen, ein Kreis und zwei Ellipsen (von verschiedener kleiner Achse) möglich usw. Springt der Elektron von außen her auf den Kreis K, so wird beim schweren Atom die K-Reihe, beim Wasserstoff die dieser entsprechende ultraviolette Serie (in Formel 10 ist s = I, n ^ 2, 3, 4 .' . .) emittiert, und zwar ergibt sich folgende Fein- struktur: Es entsteht beim Übergang des Elek- trons zum einfachen K-Ring I i) vom zweifachen L Ring II ein Dublett (in der Fig. mit K„ und Ki/, bezeichnet), 2) vom dreifachen M Ring III ein Triplett (der Übersichtlichkeit halber ist in der Abb. nur die Entstehung einer Linie durch den Strahl K^ an- gedeutet, es müßten drei sein), 3) vom vierfachen NRing IV, ein Quartett. K;. besteht aus 4 Linien usw. Entsprechend wird beim Übergang des Elek- trons auf den L-Ring II vom schweren Atom die L-Reihe, vom Wasserstoff die Balmerserie emittiert (s = 2, n = 3, 4, 5 in Gleichung). Die ') Die Abbildung ist der Arbeit von E. Wagner, Über Röntgenspektroskopie, Phys. Zeitsclir. XVIII (1917) S. 489, entnommen. zu erwartende Feinstruktur der Linien läßt sich durch Abzahlung der möglichen Übergänge leicht aus der Figur ermitteln. Wie schon erwähnt ergibt sich die Beziehung (12) zwischen dem Abstand 1\v-q_ des Wasser- stoffdublettes und dem /\ v der Doppellinien der übrigen Elemente: Nach Sommerfeld gilt für die Röntgen- dubletts die ähnliche Formel A»' = A''H-(z — 3, 5)*- Die Schwingungsdifferenzen der K- und L- Dubletts lassen sich messen und nach obiger Formel berechnen. Es ergibt sich gute Überein- stimmung, was eine außerordentliche Stütze der Theorie bedeutet , da /\ y für z := 92 (Uran , in der LSerie gemessen) rund 150 Millionen mal größer ist als für Wasserstoff. Die Röntgen- dubletts sind nach Sommerfeld makro- skopische Wasserstoffdubl e tts. A''H wird daher am besten nicht an den Wasserstoff- linien, sondern am Röntgenspektrum eines Schwer- metalls gemessen. Warum auch hier wie in der Mosel ey'schen Formel von der Kernladung z etwas abgezogen werden muß, um volle Übereinstimmung zu er- zielen, ist noch nicht ganz aufgeklärt. Daß nicht die ganze Kernladung wirksam ist, ist vielleicht dadurch zu erklären, daß die auf den Ringen kreisenden Elektronen sich gegenseitig abstoßen und so die Wirkung des Kerns vermindern (ab- schirmen). Eine weitere Frage, welche noch der Beant- wortung harrt, ist die, mit wieviel Elektronen die verschiedenen Ringe im Normalzustand besetzt sind. Debye nimmt z. B. im innersten Ring (K-Ring) 3 Elektronen an, während Kossei von innen nach außen fortschreitend für die Ringe 2, 8, 8, 18, 18 Elektronen fordert; die vier letzten dieser Zahlen geben die Zahl der Elemente an, die den vier ersten Perioden des periodischen Systems angehören. Von dem Vorgang der Emission der charak- teristischen Röntgenstrahlen (Eigenstrahlung) kann man sich nach Kossei folgendes Bild machen: Ein mit großer Wucht von der Kathode kommen- des Elektron dringt durch den innersten Teil eines Atoms des Antikathodenmetalls, es entfernt dabei ein Elektron des ersten Ringes und befördert es an die Oberfläche des Atoms (in der Abbildung ist dieser Vorgang durch den Strahl Ka (°°) an- gedeutet). Das im ersten Ring fehlende Elektron wird durch eins aus dem zweiten (L-)Ring ersetzt, dabei wird K„ ausgestrahlt. Wird es aus dem dritten, dem M Ring ersetzt, dann wird K.( emit- tiert. Da das letztere relativ seltener geschieht, ist K.( lichtschwächer als K«. Jetzt fehlt im L- Ring ein Elektron, dieses wird aus dem MRing ersetzt, wobei eine Ausstrahlung von L., erfolgt, und so geht es weiter. Es wird die am K-Ring verausgabte Energie Ka sukzessive in den einzel- nen Emissionsakten der aufeinanderfolgenden Serien N. F. XVIII. Nr. 4 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 55 in immer kleineren Beträgen restlos zurückerstattet. (Die Energiebilanz lautet: Ka = K„ + U -f M« -)-....) Ist die Geschwindigkeit der die Strah- lung erregenden Kathodenstrahlen geringer, dann dringen sie nicht bis zum innersten K-, sondern nur bis zum LRing vor und schlagen aus diesem ein Elektron heraus. Wieder findet ein sukzessives Auffüllen der Ringe von außen her statt. Als härteste Strahlung wird hierbei die L Serie emit- tiert, und zwar müssen, wie es auch die Erfahrung zeigt, sämtliche Linien gleichzeitig auftreten; es gelingt nicht, eine oder einzelne für sich allein zu erregen. Ist die Röhre, wie wir oben ange- nommen hatten, härter, ist also die Kathodenstrahl- geschwindigkeit größer, dann wird die (härtere) kurzwellige K-Strahlung erregt und zwar wieder sämtliche Serienlinien gleichzeitig. Zu betonen ist, daß sich die Bohr- Sommer- feld'sehe Spektraltheorie nur auf wasserstoff- ähnliche Spektren bezieht, d. h. auf solche, die durch die Strahlung von einem Elektron entstehen. Den Einfluß der übrigen Elektronen in Rechnung zu stellen, ist noch nicht gelungen. Auf jeden Fall ist man berechtigt zu sagen, daß mit dem Bohr 'sehen Modell ein recht ver- heißungsvoller Anfang in der Atomdynamik ge- macht ist. Es gelingt nicht nur die Serien von Wasserstoff und Helium und die Röntgenserien der Schwermetalle mit ihm zu erklären, sondern worauf hier nicht eingegangen werden soll, auch der Stark- und der Zeeman n - Effekt lassen sich quantitativ richtig aus dem Modell ableiten. Literaturangaben. 1) E. Wagner, Über Röntgenspektroskopie. Phys. Zeit- schrift XVIII (1917) 461, 488. 2) ¥..\. Lindemann, Über die Grundlagen der Atom- modelle. Ber. d. deutsch, physikal. Ges. XVI (1914) 281. 3) W. Kossei, Bemerkungen zur Absorption homogener Röntgenstrahlen. Ber. d. deutsch, physikal. Ges. XVI (1914) 953- 4) F. Reiche, Die Quantentheorie. Naturwissenschaften VI (1918) S. 213. 5) P. Epstein, Anwendungen der Quantenlehre in der Theorie der Serienspektren. Ebenda S. 230. 6) A.Sommerfeld, Der innere Aufbau des chemischen .Atoms und seine Erforschung durch Röntgenstrahlen. Zeitschr. d. Vereins deutsch. Ingenieure 1917. 7) N. Bohr, Phil. Mag. XXVI (1913) I, 476, S57, XXVH (1914) 506, XXX (1915) 394- 8) E. Riecke, Das Bohr'sche Atommodell. Physikal. Zeitschr. XVI (1915) 222. Die philosophischen Richtungen in ihrem Verhältnis zur Matur Wissenschaft und ihre Synthese in der „Philosophie des Als-ob". [Nachdruck verboten.] Von E. Boerma. Heute besteht in den Naturwissenschaften, den exakten wie den beschreibenden, und der ihnen nächstverwandten Wissenschaft, der Mathe- matik, ein reges philosophisches Interesse, und es ist daher natürlich, wenn die Vertreter und Freunde dieser Disziplinen von Zeit zu Zeit, sei es von einem einzelnen Problem geführt, sei es im Blick auf das Ganze ihres Gebietes, sich in philosophischen Dingen umsehen. Diese immer noch zunehmende Bedeutung der Philosophie ist neuerdings auch von offizieller Stelle anerkannt durch die Betonung, welche die philosophische Ausbildung in der neuen Prüfungsordnung für die Kandidaten des höh. Lehramts erfahren hat. Dieses Eindringen der Philosophie wurde ver- ursacht einerseits durch den Aufschwung der Naturwissenschaft im allgemeinen, sodaß es not- wendig wurde, ihre Stellung im Gesamtgebiete des Geistesleben näher zu bestimmen und ihre Leistungs- fähigkeit für das Ganze einer Weltanschauung ab- zuschätzen; andererseits durch die Verfolgung ge- wisser Einzelprobleme, welche auf die Grundlagen der Logik und Erkenntnistheorie zurückzugehen zwangen. Von der gewaltigen Höhe, zu der sich die Forschung in unserem „naturwissenschaftlichen Zeitalter" emporgeschwungen hatte, glaubte sie sich berechtigt, ein umfassendes Weltbild zu ent- werfen und die letzten Welträtsel zu lösen. Wer erinnert sich nicht an die mächtige, im vorigen Jahrhundert über Deutschland hereinbrechende Welle des Materialismus, der in Kraft und Stoff die einzigen Substanzen der Welt sah und alle Lebensvorgänge, auch die Erscheinungen des Seelenlebens, mit dem Mechanismus von Atom- bewegungen erklären wollte. Die ,, Überwindung des naturwissenschaftlichen Materialismus" führte zu dem — weit genialeren — energetischen Wellbilde (Ostwald), in welchem die unklaren Vorstellungen von Materie und Kraft durch den exakten und viel umfassenderen Energiebegriff ab- gelöst waren, ohne daß aber dieses Wehbild mit jenen Unklarheiten auch zugleich die prinzipiellen Mängel solcher einseitigen Metaphysik überwunden hätte. Wenn heute im allgemeinen von selten der Naturforscher jene metaphysischen, d. h. über das tatsächlich naturwissenschaftlich Erforschte will- kürlich hinausgehenden Naturphilosophien abge- lehnt werden-, so ist dafür ein Hauptgrund die Tatsache, daß wie wir schon sagten, innerhalb der Einzelforschung selbst an gewissen Stellen eine philosophische Vertiefung notwendig wurde, die ihrerseits die philosophische Kritik bei den Natur- forschern wachrief. Diese Probleme sind heute ungemein zahlreich und stehen zum Teil im Vordergrund der wissenschaftlichen Erörterung, teils haben sie eine längere Entwicklung hinter sich. Nur einige Beispiele. In der Geometrie nehmen wir nicht mehr, wie die Alten, eine Anzahl von Grundsätzen als selbstverständlich hin und dedu- zieren von da. Was ist die Natur der geometrischen 56 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 4 Axiome ? Dies ist eine Frage, welche auch die Philosophie angeht, da sie auf den Ursprung unseres Erkennens zurückgreift. Ist die Geometrie, weit entfernt, eine bloße Ausspinnung reiner Denkbeziehungen zu sein, etwa auch eine Natur- wissenschaft, basiert auf die Erfahrung, nur daß diese Erfahrungen viel allgemeinerer Art und leichter zu machen sind als etwa diejenigen der Physik und Chemie ? Tatsächlich sind iihre Axiome, wo sie nicht einfach nur Definitionen enthalten, willkürliche, aber durch die Erfahrung als zweckmäßig nahegelegte Festsetzungen. Kein Wunder also, daß der Beweis des berühmten Euklidischen Parallelenaxioms so lange vergeblich gesucht wurde, bis hier, ähnlich wie bei der Konstruktion des perpetuum mobile, aus dem negativen Ergebnis eine positive Erkenntnis wurde. ^ Mit der zunehmenden Genauigkeit der Messungen könnten sich also solche Axiome sehr wohl als nur angenähert brauchbar erweisen. Hier ergeben sich Ausblicke auf ganz neue Geo- metrien; wie sie in der Tat von der Wissen- schaft bereits ausgebaut sind. Auch die strenge Begründung der Arithmetik erfordert, ähnlich wie die der Geometrie, eine tiefere logische Durchdringung. Die neuere Mathematik endlich unterscheidet sich von der griechischen dadurch, daß sie freier mit dem Be- griff des Unendlichen operiert; eben damit aber hat sie eine ewige crux der Mathematiker und der Philosophen eingeführt. Die Antinomien des Unendlichen haben seither nie aufgehört, die Geister zu beschäftigen. In der Physik kommt man zunächst scheinbar ohne philosophische Untersuchung aus. Aber schon die Analyse des Trägheitsgesetzdes, das auf die Voraussetzung einer absoluten Bewegung führt, häuft die Schwierigkeiten und beschwört die heute lebhafte Diskussion über die funda- mentalen Begriffe Raum und Zeit herauf Die Entwicklung, welche die physikalische Erklärung der Erscheinungen der verschiedenen Sinnesge- biete durchmacht, der Streit zwischen dem mechanischen und elektrischen Bilde der Außen- welt, ist auch von philosophischer Bedeutung. Die Astronomie ist die Geburtsstätte desjenigen Begriffs, der seit Kepler die Naturforschung be- herrscht: das ist der Begriff des aus der Er- fahrung abgeleiteten „Naturgesetzes". Der Sinn der Naturgesetzlichkeit führt, namentlich durch den Konflikt mit der Willensfreiheit, zu einem berühmten philosophischen Problem. Aber auch die beiden aktuellsten Einzelprobleme der gegen- wärtigen Physik, die man mit den Schlagworten Quantentheorie und Relativitätsprinzip andeuten kann, greifen mit ihren eigenartigen Vorstellungen in die letzten Grundbegriffe unserer Weltanschauung hinein. — Die Probleme, welche die Chemie über die Struktur der Materie aufgibt, fallen hinsicht- lich ihrer philosophischen Bedeutung mit denen der Physik zusammen, Die biologischen Wissen- schaften enthalten wieder eine große Zahl philo- sophisch wichtiger Probleme, in dem Maße, als sie dem schließlichen Ausgangs- und Endpunkte aller Philosophie — dem menschlichen Leben — näher kommen. Hier der Streit zwischen Mechanismus und Vitalismus, und die damit eng zusammen- hängende Frage nach der Entstehung des Lebens, hier vor allem der über das engere Gebiet weit hinaus einflußreiche Entwicklungsgedanke. Die Psychologie endlich ist durch ihre grundsätzlichen Fragen nach dem Verhältnis zwischen Geist und Körper so eng mit der Philosophie verwachsen, daß ihre Abtrennung zu einer selbständigen Naturwissenschaft erst in jüngster Zeit und noch immer nicht vollständig erfolgt ist. So bemächtigt sich die Philosophie in allen Einzelwissenschaften der Mitarbeit an gewissen Problemen. Diese Verschmelzung reiht sich ein in eine allgemeinere Erscheinung, die wir in unserer Zeit beobachten können : trotz aller Spezi- alisierung auf der einen Seite finden andererseits immerneue Synthesen zwischen den verschiedensten Gebieten statt; ihre Grenzen verwaschen sich, es entstehen Mischdisziplinen von zum Teil hervor- ragender Fruchtbarkeit. Als typisches Beispiel kann heute die physikalische Chemie gelten. Zweifellos müssen die Förderer dieser Gebiete besonders vielseitig sein, wie dies an dieser Stelle ') Auerbach kürzlich ausgeführt hat; es müssen universelle Forscher sein vom Schlage eines Helm- holtz, des Begründers der physiologischen Optik. Es wäre übrigens ein Irrtum, anzunehmen, daß die Verschwesterung der Philosophie mit den Einzelwissenschaften nur für die Gegenwart cha- rakteristisch sei. Wenn auch zu verschiedenen Zeiten in wechselndem Maße, so hat doch immer wieder ein Kontakt zwischen beiden stattgefunden, der oft prinzipielle Fortschritte gebracht hat. So zeigt es die älteste der Wissenschaften, die Mathe- matik: Ihre größten Fortschritte, so urteilt der berühmte Historiker dieser Wissenschaft, H. Han- kel, waren die pythagoräische Entdeckung des Irrationalen, Plato's Einführung der analytischen Methode, Descartes' analytische Geometrie und Leibniz' Differential- und Integralrechnung; und alle vier Leistungen verdanken wir Forschern, die gleichzeitig hervorragende Mathematiker und un- sterbliche Philosophen gewesen sind. Es ist also nur natürlich, wenn von natur- wissenschaftlicher Seite de.' Philosophie Aufmerk- samkeit geschenkt wird. Nun aber ist die Philo- sophie in ihrer Entwicklung eigene Wege ge- gangen, es haben sich bestimmte keineswegs mit- einander übereinstimmende Richtungen heraus- gebildet; an welche wird sich der Naturwissen- schaftler anlehnen? Von vorn herein ist nicht zu erwarten , daß sie alle in ihrem Verhältnis zur Naturwissenschaft gleichwertig sind. Die bunte Mannigfaltigkeit des ersten Ein- ') .Auerbach, ,,Zur physiologischen < )ptik", Naturw. Wochenschr. N. F. XVU. S. 599 fif. N. F. XVIII. Nr. 4 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 57 druckes beim Betrachten der philosophischen Richtungen weicht alsbald einer ausgeprägten Gruppierung in zwei vorherrschende Typen, die natürlich durchaus nicht immer ui-.vermischt auf- treten. Wir schalten dabei diejenigen unkriti- schen Systeme aus, welche überhaupt keine Er- kenntnistheorie zulassen, wie z. B. jene eingangs erwähnten Naturphilosophien. Von den kritischen Richtungen hält sich die eine an die positiven, gegebenen Tatsachen und hat daher den treffen- den Namen Positivismus erhalten ; sie verwirft die Einmischung aller über die unmittelbare Gegeben- heit hinausgehenden, metaphysischen Vorstellungen, sie stellt sich ganz auf den Boden einer einheit- lichen, „monistischen" Erkenntnisquelle: der Er- fahrung. Von hier aus sucht sie die Erkenntnis- theorie, die Ethik, die Kulturphilosophie zu be- gründen und eine gesamte Welt- und Lebens- anschauung zu geben. Das Gegenstück bildet jede Richtung, die den Boden der positiven Tatsachen veiläßt, und hier sind natürlich weit mehr Mannigfaltigkeiten mög- lich. Nach dem ersten System, welches diese Richtung verkörperte und wegen der Vollkommen- heit seines Baues und der Wucht seiner geschicht- lichen Wirkung als typischer Vertreter gelten kann, nach der Lehre Plato's, pflegt msn diese Tendenzen unter dem Namen Idealismus zusammen- zufassen. Wir können uns hier eine genauere Definition, die notwendig mit einer ausführlichen Analyse der klassischen Philosophie verbunden wäre, ersparen. Jeder pflegt bei der Lektüre eines philosophischen Werkes sehr bald ein Gefühl da- für zu haben, welcher Richtung ein Denker vor- wiegend angehört. Immer dort, wo von „abso- luten" Wahrheiten die Rede ist, wo von der Er- fahrung unabhängige, „a priorische" Erkenntnis- formen nachgewiesen werden, wo, sei es offen, sei es versteckt, auf die metaphysischen Wurzeln des Denkens zurückgegangen wird, liegt diese Richtung vor. Im allgemeinen läßt sich nun sagen, daß der Positivismus ein weit innigeres Verhältnis zu den Naturwissenschaften einnimmt. Es ist daher nicht verwunderlich, daß wir die großen philosophieren- den Naturforscher unserer Zeit vorwiegend im positivistischen Lager antreffen. Hier stehen z. B. die großen Physiker wie Kirchhoff, der das Ziel der Physik in einer möglichst einfachen und vollständigen Beschreibung der Vorgänge sah ; wie Maxwell, Hertz und nicht zuletzt Ernst Mach, einer der wenigen Naturforscher, die einen philosophischen Lehrstuhl innehatten und so gleich- sam persönlich die Synthese zwischen Naturwissen- schaft und Philosophie verkörpern. Ernst Mach hat mit seinem Kampf gegen metaphysische Vor- stellungen eine dauernde Wirkung, mit seiner auf das Prinzip der „Ökonomie des Denkens" gegrün- deten Erkenntnistheorie einen ziemlich ausgedehnten Einfluß auf die Gegenwart ausgeübt. Von den Vertretern der biologischen Wissenschaften nennen wir hier den Physiologen Verworn, dessen Kritik des Kausalbegriffes und sonstige philo- sophische Erörterungen sich ganz im positivisti- schen Sinne halten. — Einer der Größten, Helm- h o 1 1 z , bekennt sich zwar als Kantianer, aber seine Auffassung ist in Wahrheit von der trans- zendentalen Erkenntnislehre Kant's weit entfernt; überdies ist das Kan tische System selbst, das auf den ersten Eindruck wie aus einem Guß er- scheint, von den widersprechendsten Tendenzen durchsetzt; es finden sich bei Kant so viele positivistische Seiten, daß ihn einer der treuesten Schüler Com t es (des Begründers des neueren Positivismus) sogar als einen Vorläufer seines Meisters betrachten konnte. Auf der anderen Seite steht der Idealismus den Naturwissenschaften fremder gegenüber. Seine Stärke liegt mehr auf dem Gebiet der Geistes- wissenschaften und der Kulturprobleme; außer in der Erkenntnistheorie wirkt er erfolgreich in der Begründung der Ethik, der Rechtsphilosophie, der Kunst, der Religion. Durch die Erkenntnistheorie kommt auch der Idealismus mit den Naturwissen- schaften in Berührung, aber seine Wirkung auf sie ist sichtbar geringer. Unter den selbständig philosophischen Naturforschern findet man weit weniger Vertreter der idealistischen Richtung. Die idealistischen Philosophen pflegen heute die Naturwissenschaften keineswegs gering zu achten. Es scheint, als wollten sie die Fehler wieder gut machen, welche der Idealismus in seiner letzten Blüteperiode begangen hat. Durch diese, namentlich durch Seh el 1 ing und Hegel, war die Philosophie bei den Naturforschern in Mißkredit gekommen. Die neue idealistische Be- wegung ging, wie die klassische, von Kant aus, aber sie nahm eine mehr kritische Entwicklung. Die einflußreiche Marburger Schule mit den Führern Cohen und N a t o r p hat in ihrer Erkennt- nistheorie sogar gewisse mathematisch- naturwissen- schaftliche Probleme in den Vordergrund gestellt. Auch sonst wird von idealistischer Seite der prinzipielle Unterschied zwischen Natur- und Kulturwissenschaften herausgearbeitet. Indessen so scharfsinnig und geistvoll oft die hier vorge- brachten Gesichtspunkte sind, haben sie sich doch nicht mit den lebendigen Naturwissenschaften amalgamieren können. Es bleibt aber immer noch für den Natur- wissenschaftler wertvoll, gelegentlich in einzelne dieser oft tiefgreifenden Spekulationen einzu- dringen. Hier mag, neben den uns näher stehen- den deutschen Forschern, auf den kürzlich (Oktober 191S) verstorbenen französischen Philo- sophen Emile Boutroux hingewiesen werden, der übrigens ein vortrefflicher Kenner des deut- schen Geisteslebens war; bedauerlicherweise hat er während des Krieges nicht immer die objektive Haltung gegen Deutschland gewahrt. Dieser Denker hat in einer Aufsehen erregenden Arbeit „De la contingence des lois de la nature" das Problem Naturgesetz und Willensfreiheit in ori- gineller Weise angegriffen, die einer Weiterent- 58 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVni. Nr. 4 Wicklung fähig ist und auch in weiteren Kreisen bekannt zu werden verdient. Hier ka;nn auf die speziellen philosophischen Untersuchungen nicht eingegangen werden. Der Positivismus hat also für den Naturwissen- schaftler von seinem Standpunkte aus einen Vor- zug, aber gerade darin liegt eine Gefahr. Dem Positivismus ist es bisher nicht gelungen, ein be- friedigendes Weltbild aufzustellen; schon die Be- gründung der Ethik stößt wie es scheint, auf unüberwindliche Schwierigkeiten. Diese entgehen oft demjenigen, der der Philosophie nur von ferne folgt. So bewirkt der Posivitismus für alle, die über die Einzelforschung hinaus das Streben nach einer einheitlichen Weltanschauung nicht verloren haben , die Gefahr der Einseitigkeit oder aber jenes Zwiespaltes, der zwischen naturwissenschaft- lichen und ethisch-religiösen Dingen eine unüber- windliche Kluft errichtet. Hier ist es nun von Interesse, daß gegen- wärtig versucht wird, den Gegensatz zwischen Positivismus und Idealismus zu überbrücken und zwischen den aus den Naturwissenschaften ge- wonnenen positivistischen Anschauungen und den damit unverträglichen, von den Idealisten betonten Forderungen des ethischen Lebens eine Synthese herzustellen. Ein Versuch, der sich dieses Ziel von neuem stellt, kann, außer der Aufmerksam- keit der Fach Philosophen, auch das Interesse der Naturforscher beanspruchen. Dieser Versuch ist gemacht in einem eigen- artigen, in kurzem berühmt gewordenen Werke „Die Philosophie des Als ob" ^) von Hans Vai- hingen Es gehört zu jenen bemerkenswerten Werken der Philosophie, die, wie Leibniz' Essais, durch Zufall erst lange Zeit nach ihrer Entstehung ihren Weg in die Öffentlichkeit ge- funden haben und dann doch von einer außer- ordenUichen Wirkung gewesen sind. Es begründet eine Synthese zwischen den beiden sich be- kämpfenden Strömungen, einen „idealistischen Positivismus"; der Standpunkt, den das vor etwa 40 Jahren geschriebene Buch vertritt, ist durch die seitherige Entwicklung von Wissenschaft und Philosophie mehr und mehr provoziert worden, sodaß die Weiterarbeit in dieser Richtung,'') die von Vaihinger angekündigt wird, sehr aus- sichtsreich erscheint. Vaihinger's eigenartiger Standpunkt ist, daß eine Kritik des Wahrheitsbegriffes zu seiner Auf- hebung führt. Nicht nur die absolute Wahrheit der Idealisten ist sinnlos, sondern streng ge- nommen jeder Wahrheitsbegriff überhaupt. Eine Vorstellung hieß wahr, wenn sie mit ihrem Gegen- stand übereinstimmt; diese „Übereinstimmung" aber ist tatsächlich nirgends vorhanden, weil sie unmöglich ist. Wenn sich eine Vorstellung „be- währt", so ist ihre Anlehnung an die Wirklich- ') 191 1; 3. Aufl. 191S, Leipzig. *) In den ,,Annalen der Philosophie" (Im Erscheinen.) Leipzig, F. Meiner. keit oft am wenigsten die Ursache dazu. Wo finden wir imaginäre Zahlen, unendlich kleine Größen, ausdehnungslose Massenpunkte? Wir arbeiten im Gegenteil oft mit unwirklichen, noto- risch falschen Begriffen und kommen doch damit zu richtigen Resultaten.' Die bisherige Logik hatte besonders die Schlußweisen gepflegt, die ihren alten, traditionellen Regeln entsprachen. Vai- hinger richtet umgekehrt seinen Blick auf die Wege des Denkens, welche nicht in das alte Schema passen. Er verhält sich hier wie der Naturforscher, der instinktiv fühlt, daß gerade dort, wo ein Experiment nicht mit dem Er- warteten stimmt, der Hebel zu neuen Entdeckungen verborgen liegt. Die Gedankenwendung, welche Vaihinger studiert und nach der er sein Werk benennt, läßt sich auf die Formel bringen: ein Begriff A wird betrachtet, als ob er B wäre. Vaihinger untersucht ihre Bedeutung. Mit diesem falschen Begriff, mit der „Fiktion", kommen wir auf Um- wegen zu richtigen Ergebnissen. Diese Fiktionen sollen nicht wahr sein; es genügt, wenn sie zweck- mäßig sind. So merkwürdig es nun klingt, Vai- hinger zeigt in seinem Buche, daß diese Fiktion der Typus alles Denkens ist. Die alten Schluß- weisen, die Allgemeinbegriffe, der Syllogismus, enthalten im wesentlichen neue Fiktionen. Sie sind zweckmäßig, d. h. für uns wahr. Es gibt also keine neue Wahrheit, die entdeckt werden müßte; sie muß erfunden werden. Natürlich be- trifft dies nicht die positiven Tatsachen selbst, das wirklich existierende Mit- und Nacheinander der Sinnesempfindungen ; aber schon jeder abstrakte Begriff geht darüber hinaus, verfälscht die Wirk- lichkeit und formt aus jenem Rohmaterial einen Baustein zu einer fingierten Außenwelt. Es scheint, als sei dieser Positivismus noch radikaler als der gewöhnliche und noch weiter vom Idealismus entfernt. Aber eben diese Auf- hebung der Wahrheit im gewöhnlichen Sinne läßt Raum für Ideen, welche dem positivistischen Standpunkt sonst widersprechen. Formal ist z. B. die Fiktion der Willensfreiheit nicht unrichtiger und nicht unberechtigter als die ihr entgegen- stehende der Naturnotwendigkeit. Die Begriffs- gebilde der Religion, auf ihrem Gebiete angewandt, können so wenig widerlegt werden wie die Axiome der Geometrie, die man in einem be- stimmten Bereich als zweckmäßig gewählt hat. Es kann hier nicht auf eine Kritik dieses radi- kalen Standpunktes eingegangen werden, zumal hierüber in der Philosophie noch keineswegs das letzte Wort gesprochen ist. Jedenfalls wird in V a i h i n g e r's Werk das Problem, die P"orderungen des Idealismus mit den einseitigen Beschränkungen des Positivismus in Einklang zu bringen, in denk- bar deutlichster Weise hervorgehoben. Es ist mög- lich, daß die besondere Lösung dieses Problems und der Beweisgang Vaihinger's der weiteren Analyse nicht standhalten wird. Es könnte sehr wohl sein, daß der extreme „Fiktivismus" abge- N. F. XVIII. Nr. 4 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 59 lehnt werden müßte und man sich auf die Fik- tionslehre zu beschränken hätte. Diese Methodologie der Fiktionen bleibt aber ein unverlierbares Ergebnis. Es gibt kaum ein philosophisches Werk, das eine solche Anzahl aus den Einzelwissenschaften herausgegriffener Begriffe analysiert und den Kennern dieser Diszi- plinen eine solche Fülle von Anregungen bietet. Klarheit über Denkmethoden ist immer auch von pädagogischem Wert; diese pädagogische Seite der Philosophie des Als-ob ist bisher noch nicht genügend hervorgehoben worden. Ich er- innere mich aus meiner Schülerzeit der Frage eines Mitschülers in einer Mechanikstunde der Prima: wie soll ein ausdehnungsloser Massen- punkt, den es nirgends gibt, uns doch zu richtigen Formeln führen ? Dies war nichts anderes als in concreto das Ausgangsproblem der Philosophie des Als-ob. Die Einsicht in die fiktiven Wege des Denkens räumt viele scheinbaren Schwierig- keiten für den Lernenden mit einem Schlage hinweg, so, wie sie den Forscher von zahlreichen Scheinproblemen befreit. Einen besonders hervorragenden Platz nimmt in den Erörterungen Vaihingers die mathema- tische Fiktion des Unendlichkleinen ein. Mit diesem widerspruchsvollen Begriff erreicht man doch richtige Resultate, weil der erste Fehler durch einen entgegengesetzten aufgehoben wird. Vaihinger erhebt die alte Berkeley'sche Theorie der Fehlerkompensation zu einem allgemeinen Denkprinzip, das den Mechanismus aller Fiktionen beherrscht. Es besteht ein scharfer Unterschied zwischen Fiktion und Hypothese und diese Scheidung ist ein wesentlicher Punkt der F"iktionslehre. Eine Hypothese sucht die Wirklichkeit darzustellen, eine Fiktion ist nur ein logisches Hilfsmittel, eine Vorstellung, der nichts Wirkliches zu ent- sprechen braucht. Hypothese und Fiktion gehen historisch oft ineinander über. (Vaihingers Ge- setz der Ideenverschiebung.) Die elektromag- netische Lichttheorie ist eine Hypothese, denn sie behauptet, daß die Strahlungsvorgänge wirk- lich in elektromagnetischen Störungen bestehen; die alte Undulationstheorie ist deshalb aber, be- sonders didaktisch, durchaus nicht wertlos ge- worden, sondern eine einfache, anschauliche Hilfsvorstellung; doch vermag sie nicht mehr alle bekannten Erscheinungen darzustellen. Sie ist heute zu einer Fiktion degradiert worden. — Die geradlinige Ausbreitung des Lichtes hat zu dem Begriff des Lichtstrahls geführt. Aber ein solcher hat keine reale Existenz. Versucht man, aus einem Strahlenbündel einen immer kleineren Querschnitt herauszuschneiden, so gelingt dies nicht, weil bei engen Offnungen das Licht sich nicht mehr geradlinig ausbreitet; es entsteht, als Folge seiner Wellennatur, das bekannte Phänomen der Beugung. Trotzdem behält für viele Vorgänge die Fiktion des Lichtstrahls ihren großen Wert. Das Licht verhält sich dann so, „als ob" es aus unendlich vielen geradlinigen Strahlen zusammen- gesetzt wäre. Es gibt viele Erscheinungen, die sich dadurch einfach und anschaulich darstellen lassen, daß sie aus zahlreichen oder unendlich vielen fiktiven Elementen zusammengesetzt gedacht werden. Die Anwendung der Fiktion kommt also auf ein Summations- oder Integralprinzip hinaus. Die wirklichen Elemente können ganz anderer Art sein, aber ihre Summation ergibt dasselbe Resultat. So läßt sich die Fiktion eines Lichtstrahlenbündels nur deshalb anwenden, weil die wirklichen Wellen (nach dem Hu y gen 'sehen Prinzip) in einem Punkte des Schattenraumes durch Interferenz in ihrer Gesamtintensität die Summe Null ergeben. Ähnlich kann man die magnetische Wirkung eines linearen elektrischen Stromes so berechnen, ,,als ob" jedes unendlich kleine Stromleiterstück ein magnetisches Feld erzeugt, das unter anderem dem Entfernungsquadrat umgekehrt proportional ist. (Gesetz von BiotSavart). Dieses Fernwirkungs- gesetz führt durch Integration auf die gleichen Formeln, welche sich aus der elektromagnetischen Theorie Maxwells ergeben. — Die kinetische Gastheorie leitet die Gasgesetze her durch ele- mentare Berechnung des Druckes eines Gases aus dem Anprall der Moleküle gegen die Gefäßwände. Diese Berechnung kann, nach Joule, ganz ein- fach erfolgen, indem man die Stöße der Moleküle gegen die Wände eines Würfels betrachtet und dabei sich die Bewegung der Moleküle so denkt, „als ob" sie i. mit gleicher Geschwindigkeit und 2. nur in den drei Richtungen der Würfelkanten erfolgte - obwohl dies offenbar gezwungene und physikalisch unmögliche Annahmen sind. Beides sind Fiktionen, die der Wirklichkeit nicht ent- sprechen, aber sie führen doch zu dem wahren Gesetz. In der Tat hat Clausius gezeigt, daß man bei Zulassung aller möglichen Richtungen, wie sie der Wirklichkeit entsprechen, durch Inte- gration zu genau dem gleichen Resultate kommt. Maxwell hat auch die Geschwindigkeit nach wahrscheinlichkeitstheoretischen Gesichtspunkten variiert, und es zeigt sich, daß man auch jetzt zu den gleichen Formeln gelangt, wenn das Quadrat der früheren einheitlichen Geschwindigkeit nunmehr das mittlere Geschwindigkeitsquadrat bedeutet. Durch diese Ergebnisse werden also jene vereinfachenden Fiktionen gerechtfertigt. Den größten Triumph feiert die Fiktion, wie schon Vaihinger zeigt, in der mathematischen Wissenschaft. Ganze Disziplinen sind hier durch Erfindung einer genialen F'iktion entstanden. Die Infinitesimalrechnung, die Vektoranalysis sind Beispiele hierfür. Die erstere beruht, formal be- trachtet, auf der fingierten Anwendung des Divi- sionszeichens, die letztere auf einer solchen des Additionssymbols. Der Hauptbegriff der ersteren ist der Differentialquotient, wodurch der Limes eines Quotienten selbst als Quotient (von „unend- lich kleinen" Größen) gedeutet wird; bei der letzteren ist grundlegend der Begriff des Vektors 6o Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 4 als „Summe" seiner Komponenten, bzw. der Be- griff der sog. geometrrschen Addition. Innerhalb dieser Disziplinen selbst macht man wieder oft vom fiktiven Verfahren Gebrauch; es sei erinnert an das Symbol des Hamilton'schen Differential- operators, mit dem ganz so gerechnet werden kann, „als ob" es selbst einen Vektor darstelle. Die fiktive Denkoperation ist in der Tat von grundlegender Wichtigkeit und ihre systematische Betrachtung in der „Philosophie des Als-ob" bildet einen entscheidenden Fortschritt. Dieses Verdienst bleibt ihr erhalten , auch wenn die von ihr ent- wickelte Philosophie sich nicht als haltbar er- weisen sollte und wenn somit das alle Problem, die Kluft zwischen Positivismus und Idealismus zu überbrücken, noch bestehen bleiben wird. Einzelberichte. Meteorologie. Über die Methoden zur Unter- suchung der Struktur des Windes berichten R. Seeliger und E. Bräu er in einer längeren, in der Meteorolog. Zeitschr. XXXV (1918) S. 30, 82 u. 124 veröffentlichten Arbeit. In der IMeteo- rologie bezeichnet man als „Böen" eine charakte- ristische, tumultuöse Witterungsform, die man je nach ihrer Erscheinungsart Gewitter-, Regen-, Hagel-, Schnee-Böe nennt; sie wandert mit be- trächtlicher Geschwindigkeit über weite Strecken hin. Die Untersuchung hat gezeigt, daß man es in ihr mit einem Luftwirbel (oder -walze) mit horizontaler Achse zu tun hat, der sich in breiter p-ront und geringer Tiefe fortbewegt. Im Gegen- satz dazu wird das Wort Böe noch in einem anderen Sinne gebraucht; der Seemann und der Luftfahrer versteht darunter unregelmäßig aufein- ander folgende, verschieden gerichtete Windstöße. Solche dauernden raschen Schwankungen von Richtung und Geschwindigkeit des Windes um einen Mittelwert sind natürlich auch der wissen- schaftlichen Meteorologie bekannt; sie werden als Struktur oder Textur des Windes bezeichnet und mittels geeigneter Apparate, der Böenschreiber, untersucht. Man kann die Lufibewegung charakterisieren durch Angabe der Luftmenge M, die in der Zeit- einheit durch eine Fläche von der Größe i hin- durchtransportiert wird. M hängt ab von der Windgeschwindigkeit v, dem Neigungswinkel « der Wmdgesch windigkeit gegen die; Flächen- normale, der Luftdichte q und dem Querschnitt Q des Luftstromes. Ändert sich M mit~der Zeit, so müssen die vier genannten Größen Funktionen der Zeit sein. Man kommt demnach zu vier Grundtypen der Böen, von denen die beiden wichtigsten die Geschwindigkeits- und die Richtungsböen sind, wenn nämlich v bzw. a veränderlich sind, während Dichte- und Quer- schnittsböen nur gelegentlich ^vorkommen und keine weitere Bedeutung haben. ' Die Betrachtung beschränkt sich auf die beiden ersten Typen. Zerlegt man die Geschwindigkeit in Richtung der drei aufeinander senkrechten Koordinatenachsen in drei Komponenten, dann liegt, wenn bei kon- stantem v das Verhältnis der Komponenten sich ändert, eine reine Richtungsböe vor, während man es bei Änderung von v unter Konstantbleiben des Komponentenverhältnisses mit einer reinen Ge- schwindigkeitsböe zu tun hat. In der Natur kom- men, wenn auch die Richtungsböen zu überwiegen scheinen, beide Typen stets vermengt vor. Man macht sich ein richtiges geometrisches und dyna- misches Bild der Böen, wenn man als Grundform die Wogenbewegung annimmt. Die Beobach- tung des Bewegungszustandes der Luft am „wogen- den" Kornfeld, beim Nebeltreiben oder an den Wolken läßt uns stets die Wogenform erkennen. Doch ist diese vielfach überlagert von turbulenten Vorgängen , also dem Auftreten von zahlreichen fortschreitenden Wirbeln, ähnlich wie man es bei den schäumenden und sich überstürzenden Wasser- wellen beobachtet. Interessant ist der Hinweis auf folgende Tatsache: Das Läuten von Glocken, das Rollen von Eisenbahnzügen, das Rattern von Flugzeugmotoren sind häufig bald laut, bald leise und bald garnicht zu hören. Es ist wahrschein- lich, daß diese periodische Änderung der Ton- stärke mit Luftwogen in der Nähe der Schallquelle im Zusmmenhang steht. Es würde sich dann um ein Hol barwerden der Böen handeln, und es ließe sich auf dieser Erscheinung vielleicht eine neue Methode zur Untersuchung der Böen gründen. Für die Zwecke der Praxis ist nun nicht er- forderlich, die Abhängigkeit der drei Geschwindig- keitskomponenten von der Zeit zu kennen , es genügt, daß man eine die Böe physikalisch- energetisch charakterisierende Bestimmungsgröße als Funktion der Zeit kennt. Aus praktischen Gründen wählt man den Winddruck p senkrecht zu einem fixen Plächenstück von der Größe I. Wie stark ein Körper auf den sich ändernden Winddruck reagiert , hängt vor allem von seiner Trägheit ab; Luftschiff, P'lugzeug und Blätter eines Baumes sprechen ganz verschieden an. Es liegt auf der Hand, daß ganz kleine und rasche Pulsa- tionen (Mikrostruktur des Windes) praktisch im allgemeinen kein Interesse haben; man wird sich auf eine gewisse Makrostruktur beschränken, die gegeben ist durch gewisse zeitliche Mittelwerte der Mikrostruktur. Böig soll eine Luftströmung genannt werden, wenn auf einem Windweg von 10 m Länge eine Differenz zwischen maximaler und minimaler Windgeschwindigkeit von i auftritt. Der Böenschreiber (so nennt man die Apparate zur Untersuchung der Böen) muß also Geschwindigkeitsdifferenzen dieser Größen- ordnung anzeigen können. Das allgemeine Prinzip, auf das sich die Unter- N. F. XVirr. Nr. 4 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 6i suchung der Struktur des Windes gründet, ist das, den Winddruck p zu messen, der auf eine senk- recht zu V stehende Fläche von der Größe I aus- geübt wird. Mittels einer von Duchemin an- gegebenen Formel läßt sich hieraus die Windge- schwindigkeit V berechnen. Bei einer Klasse von Apparaten, die man als mechanische bezeichnen kann, stellt man dem Luftstrom eine materielle Fläche entgegen und mißt den Druck durch die der Fläche erteilte Beschleunigung; bei einer zweiten Klasse, der hydrodynamischen, stellt man ein offenes Rohr (Staurohr, Düse) in den Luft- strom und nimmt hierdurch den erzeugten Über- oder Unterdruck auf; er wird wie bei der ersten Klasse auf ein mechanisches System den Schreib- hebel übertragen, der seine zeitlichen Veränderun- gen aufzeichnet. Das mechanische System muß imstande sein, den zeitlichen Druck- und Ge- schwindigkeitsschwankungen momentan zu folgen. Zu dem Zwecke ist es nötig, daß die Dauer seiner Eigenschwingung klein ist gegenüber der Zeit, für welche der IVlittelwert der Kraft genau abgezeichnet werden soll; ferner muß es so stark gedämpft sein, daß seine Abweichung von der Gleichgewichts- lage innerhalb dieser Zeit auf einen zu vernach- lässigenden Betrag abgeklungen ist. Als erster Böenapparat wird das bekannte Robinson'sche Sc hal enkreuza n emo - meter besprochen. Gewöhnlich dient es zur Messung des Mittels der Windgeschwindigkeit für eine längere Zeit. Liest man indessen den Zeiger- stand etwa von drei zu drei Sekunden ab, dann erhält man, wie der Arbeit beigegebene Kurven zeigen, gute orientierende Resultate über die Wind- struktur. Die hydrodynamischenBöenschreiber verwenden eine Düse, in welche der Windstrom hineinbläst; es strömt dann so lange Luft hinein, bis der infolge der Kompression entstehende Über- druck in dem offenen Düsenquerschnitt dem äuße- ren Winddruck gerade das Gleichgewicht hält. Man mißt also die Größe des Winddrucks auf die Offnungsfläche der Düse. Wenn die Düsenöffnung vom Wmde abgekehrt ist, entsteht ein entsprechen- der Unterdruck. Da es bei den Böenapparaten nicht auf Messung des absoluten Druckes, sondern lediglich auf Druckschwankungen ankommt, so muß man den Nullwert des Druckes, d. h. den- jenigen bei ruhender Luft festlegen. Das geschieht durch eine zweite Düse (statische), deren Offnungs- achse senkrecht zum Winde steht. Der Zu- sammenhang zwischen dem an der Düse gemesse- nen Druck p und der Windgeschwindigkeit v giebt eine Formel, in der außer der von Druck und Temperatur abhängigen Luftdichte eine für die Düse charakteristische reine Apparatkonstante a vorkommt. Es ist gelungen, Düsenformen zu bauen (z. B. die Prandtl'sche Düse mit halb- kugelförmiger Staufläche und das Staurohr der Charlottenburger technischen Hochschule), für welche a für alle praktisch in Betracht kommen- den Windgeschwindigkeiten konstant ist. Der Aufnahmeapparat, die Düse, ist mit einer Wind- fahne verbunden und wird so normal zur Wind- richtung gestellt; kleine Abweichungen von dieser Stellung fallen bei geeigneter Gestalt der Düse nicht ins Gewicht. Von großer Bedeutung für die Arbeitsweise des Böenschreibers ist das Verhalten der Luft in den Druckleitungen, welche die Verbindung, zwischen Aufnahme- und Registrierapparat her- stellen. Liegt die Düse in einem Luftstrom von variabler Geschwindigkeit, so fließt bei Druck- zunahme Luft in die Düse, während bei Abnahme des Druckes Luft austritt. Es können demnach schwingende Bewegungen in den Leitungen auf- treten, die die Registrierkurven verzerren und Böen vortäuschen. Um sie zu verhindern, muß die Bewegung der Luft in den Leitungen durch Reibung aperiodisch gedämpft sein; hierzu ist nötig, daß das Verhältnis Rohrlänge zur Rohr- weite einen gewissen Wert nicht überschreitet. Andererseits spielt die „Auffüllungszeit" der Lei- tungen eine Rolle. Sie ist um so kleiner, je kürzer und weiter das Rohr ist. Die beiden Forderungen nach Aperiodizität der Bewegung und nach mög- lichst kurzer Auffüllungszeit verlangen also gerade entgegengesetzte Eigenschaften der Leitungen. Die nähere Untersuchung ergibt, daß, wie die Ver- hältnisse in der Praxis liegen, fast ungedämpfte Schwingungen auftreten; man ist also genötigt, die notwendige aperiodische Dämpfung im wesent- lichen durch die mechanische Reibung im Registrier- apparat hervorzubringen. Als Registrierapparate der hydrodyna- mischen Böenschreiber kommen zwei Typen in Betracht. Bei der ersten, den Aneroidapparaten, wird die Druckleitung direkt an ein passend di- mensioniertes Aneroid angeschlossen, während eine statische Leitung den konstanten Gegendruck liefert. Zur Erhöhung der Empfindlichkeit läßt man bei anderen Apparaten eine Saugleitung auf ein zweites mit dem ersten passend gekoppeltes Aneroid wirken. Wegen der zu fordernden recht bedeutenden Empfindlichkeit muß man große (bis zu 12 cm Durchmesser) elastische Dosenmembrane mit nicht metallischer Membran nehmen. Die Vorteile der Aneroidapparate liegen in der kleinen Eigenschwingungsdauer des mechanischen Systems und der geringen Größe des Aulfüllvolumens, ihr Nachteil in der Inkonstanz der Anzeige. Bei der zweiten Type, den Taucherglocken- apparaten, ist die Durchleitung in das Innere einer Taucherglocke geführt, die sich beim Ein- blasen von Luft hebt und den Schreibstift mit sich führt. Naturgemäß ist hier die bewegte Masse und demnach die Eigenschwingungsdauer beträchtlich (etwa 5 Sekunden); das Auffüllungs- volumen beträgt mehrere Liter. Vorteile sind hingegen die große Konstanz der Empfindlichkeit und der Elongationen gegen äußere Einflüsse. Ein Böenapparat, der auf wesentlich anderen Prinzipien beruht als die bisher geschilderten, ist 62 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 4 das Anemoklinometer. Da der Apparat schon früher') in dieser Zeitschrift beschrieben ist, sei nur kurz erwähnt, daß man im Luftstrom transportierte Luftmenge durch die abkühlende Wirkung mißt, die sie auf einen elektrisch ge- heizten Draht und damit auf seinen Widerstand ausübt. Mechanische Böenschreiber in, praktisch verwendbarer Form liegen bisher noch nicht vor. Seh. Ernährungsphysiologie. Blut und Eingeweide der Schlachttiere zu Nährzwecken. Gegenwärtig ist es stets sehr angebracht, alles Brauchbare auf seinen Nährwert hin auszubeuten. Wie dies mit dem Blut und den Eingeweiden der Schlachttiere geschehen könnte, wurde in der Sitzung der Pariser Akademie der Wissenschaften vom 24. Juni 191 8 behandelt. (Preparations alimentaires de sangs et de viandes ä la levure. Note de M. A. Gau- ducheau, presentee par M. Roux, C. R. Tome 166 No. 25). Das Blut von Schwein, Rind und Pferd wird sofort nach dem Ausbluten des Schlachttieres ohne vorhergegangene Behandlung erhitzt, dadurch sterilistiert und die Eiweißkörper zum Gerinnen gebracht. Darauf wird es zerkleinert und unter Zusatz einer Kultur von Bierhefe vergoren. Dies geschehe in einem leicht angesäuerten Medium; dann setzte man etwas Zucker zu, den man aus einer stärkehaltigen Substanz (Reis, Kartoffeln etc.) gewinnt. Nach einigen Stunden, bei am besten 20—25°, gingen die teigigen Massen in Gärung über. Mikroskopisch finde man eine Reinkultur von Hefe und erhielte so einen Teig, der nicht so schwer und kompakt sei wie bei den üblichen Ver- fahren der Metzgerei. Diese Veränderung ver- danke die Masse der Hefegärung; dabei entwickelt sich reichlich Gas und entständen zahlreiche kleine Bläschen so würde die Masse porös und für die Verdauungssäfte leicht angreitbar. Zugleich würde das Aroma besser, während der eigentliche Blut- geruch verschwände. Statt zu verderben, wie es im Sommer so häufig geschieht, unterlägen die Stoffe einer dreifachen Reinigung: Erhitzung, Säureeinwirkung und Hefegärung. Ebenso soHte man mit den Eingeweiden verfahren, die man fein zerstückelt. Das Blutserum könnte in Mischungen mannig- faltig verwandt werden bei der Wurstfabrikation und in der Feinbäckerei. Man könnte wohl- schmeckende, gezuckerte oder gesalzene Biskuits daraus herstellen, welche wenig Raumbeanspruchten. Kathariner. Geologie. Mitteilungen über einige Erzlager- Stätten in Kleinasien macht E. Franke in Heft T9 von Metall und Erz. S. 347—360. Obgleich zahlreiche Veröffentlichungen über ■) Naturw. Wochenschr. XVII (191IS) S. 243. die Erzlagerstätten der Türkei erschienen sind, nennt der Verfasser unsere Kenntnis derselben mangelhaft. Der Verfasser kennt alle Lager- stätten der Türkei aus eigener Erfahrung und führt sie nach den Erzen an, uns also ein rich- tiges Bild verschaffend, was in der Türkei an Erzen vorhanden ist. Antimonerze können bei Sekiköj unweit Cordelio nördlich des Golfes von Smyrna abge- baut werden. Im Andesit des Jamenlaw-Degh- Massives zeigen sich Gänge und Anhäufungen von Gangtrümern mit Antimonoxyd, weniger häufig Antimonglanz. Im Andesit selbst treten verkieselte Partien auf. Senkrechte Spalten ent- halten Anlimonoxyd in größter Mächtigkeit von 8 cm. Getrennt sind die Spalten durch Andesit- blöcke, die aus kieselsäurereichem Andesit, einer Hornsteinart bestehen. Ein Gang führt Eisen- hydroxyd und Schwerspat. In der vererzten Zone kommt an einer Stelle ein Gesteinsblock vor, der in seiner ganzen Länge ein schwachge- krümmtes Rohr enthält, das sich nach der Erd- oberfläche hin trichterförmig öffnet. Das Rohr war wohl ursprünglich von Antimonglanz erfüllt, jetzt von Antimonoxyd. 600 m nordwestlich davon liegen die Fund- stellen von Tscherkeß Kaga. In mehreren Erz- taschen fand sich hier Erz. Das Nebengestein ist verkieselt. Zugleich zeigen sich Barytkristalle, überkrustet von Pseudomorphosan von Antimon- oxyd nach Antimonsulfid. Tscherkeß Kaga liegt auf dem westlichen, Galleria Massero auf dem östlichen Abhang des TscherkeßKaga-Degh, so daß die Vermutung wohl zu recht besteht, daß von beiden Arbeiten dieselben Gänge abgebaut worden sind. Westlich von TscherkeßKaga steht die Galleria Clara an, ein 3 cm mächtiger Gang von Antimonglanz. Von dieser Lagerstätte ist alles sichtbare Erz abgebaut. Einzelne wenig mächtige Gänge in hartem Gestein werden sich noch auffinden lassen. Am Nordabhang des Murad Degh, auf dem Nordufer des Murad Su bei Gedis liegt die An- timonerzgrube Gönik. Vorherrschendes Gestein ist Glimmerschiefer. In zweiter Linie zeigen sich Serpentin, Marmor. Die Lagerstätte selbst liegt auf dem Westabhange des Madan Dera. Als Nebengestein zeigt sich Quarzit, im nördlichen Teile im Kontakt mit Glimmerschiefer liegend. Madan Dera folgt dem Quarzit. Dieser tritt entweder als Hornstein auf, metamorphes Ge- stein gegen Porphyr oder als Kappenquarz, dessen Höhlungen mit hineinragenden Kristallen von Antimongtanz erfüllt und von Antimonoxyd stark überkrustet sind. In Nestern tritt reichlich Schwefelkies auf. Die Antimonerze führen weder Gold noch Arsen. Sie treten als Gänge und Imprägnationen des Nebengesteins auf. Diese Imprägnationen formen Nester, die eine Größe bis zu 4 cbm einnehmen. Der mittlere Metall- gehalt macht 55 "/o Sb aus. Neben anstehendem N. F. XVIII. Nr. 4 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 63 Erz sind in den Halden noch Möglichkeiten der Gewinnung vorhanden. In Gönil< hat man das Bild vor sich, wie von einem Unternehmer ohne Kapital Raubbau getrieben worden ist. Darum ist die Grube auf keinen Fall schon abgebaut. Ein vollständig abgebautes Antimonerzlager ist beim Dorf Djibrail auf der Nordseite des Djibrail Degh vorhanden. In Quarzit kommen Antimon- oxyde und Antimonsulhde vor. Schwefel zeigt sich bei Dera Tschiftlik auf dem Ostufer des Say Su, der sich hier in terti- äre Konglomerate loo m tief eingegraben hat. In das wohlgeschichtete Konglomerat ist auf lOO und mehr Quadratmeter betragenden Flächen Schwefel imprägniert oder gediegen vorhanden. Das feinkörnige Bindemittel des Konglomerats ist durch die Imprägnation zersetzt und porös geworden. Grobe Stücke des leichtangreitbaren Kalksteins sind nicht zersetzt, sondern mit einer messerrückendicken Kruste von Schwefel über- zogen. Gips fehlt. Der Schwefelgehalt beträgt höchstens io^/q. Mangewinnt aus dem Schwefel- erz „Schwefelblumen", die gegen die Reblaus verkaufe wurden. Zum Abbau ist die Lager- stätte von zu geringer Ausdehnung und zu arm. Von größerer Bedeutung ist die Schwefellager- stätte von Tschambaschi am Sakardja Burun auf dem Südufer des Emir Tschai. Hier zeigt sich eine Decke von kristallinem Gips über dem vom Schwefel imprägnierten Sandstein. Der Gips ist mit einer dunkelgrauen bis grünlich-schwarzen zerreiblichen Masse, die übel riecht, vermengt. Hier ist Schwefel sehr spärlich vorhanden. Der Sandstein ist zerklüftet und überall zerborsten. Die Spalten und Hochräume sind mit Schwefel ausgefüllt. Ist im Sandstein der Schwefel fein zerteilt^ dann bekommt er eine weiße Farbe. 40 "/o Schwefel ergeben die Proben aus den noch vorhandenen Vorräten, während eine vom Ver- fasser gemachte Durchschnittsprobe 26,3"/^ S ent- hält. An der Oberfläche dehnt sich das Vor- kommen über viele Hektar aus. Die Abbauver- hältnisse und der Abtransport ist günstig. Zur- zeit ist eine 'Schwefelgrube bei Katschibowlu in Betrieb. Magnesitlager stehen am Gipfel mehrerer Hügel in 8 m durchschnittlicher Mächtigkeit bei Djuwaly an. Zwischengelagert sind tuffartige Gesteine, untcrlagert Konglomerate. Das Erz ist äußerlich rein, derb und dicht. Der Bruch ist muschelig. Über Kilometer hin verrät sich die Lagerstätte durch die weiße Farbe des Erzes. Über den Wert der Lagerstätte entzieht sich der Verf. eines Urteils. Interessante Manganlagerstätten liegen bei Uschak und zwar westlich davon. Hier zeigen sich nicht nur entstehende Manganerze, sondern hier kommen sie auch in aluvialen Seifen vor. In jungtertiären Sedimenten treten rote porphy- rische Gesteine auf, die vom Verf. als Rhyolith bezeichnet werden. Bis jetzt ist ein Zusammen- hang des Erzes mit diesem Eruptiv noch nicht festzustellen gewesen. Das Nebengestein sieht fast weiß aus, fühlt sich mager an, klebt an der Zunge, riecht angehaucht sehr tonig, verrät also eine starke Kaolinisierung. Das Erz ist ein Hart- manganerz in Trümern und Trümchen. In anderen Teilen zeigt sich schwach rote Farbe, zcllige Struktur. In den darin enthaltenen oolithischen Massen treten Weichmanganeize auf, die von einer Rinde Hartmanganerz umgeben sind. Große Be- deutung ist diesem Vorkommen nicht zuzusprechen. Anders ist es mit den Eluvionen. In ihnen zeigt sich das Erz in großer Reinheit. Auf einem Flecke von 16 ha kann man 160 t reinsten Erzes von Kirschkern bis Zweifaustgröße sammeln. Die Eluvi- onen lassen auf eine noch unentdeckte primäre Lagerstätte schließen. Quecksilber findet sich bei dem Dorfe Eskiköj und bei Musedjik. Beide Vorkommen sind durch die Schlucht des Wai-Wai-Dere getrennt. Beide gehören zum Massiv des Elma- und Kiseldagh. Als hier vorherrschendes Gestein vermutet der Verf auch Ryolith. Im Wei-Wei-Dere überlagert dieser Ryolith Kalkstein, der dünnplattig schiefrig geworden ist und marmorartiges kristallines Aus- sehen zeigt. Weil bei Eskiköj die Feldspate zerstört sind, ist eine scharfkantige Quarzbreccie entstanden. Im Quarzskelett des Gesteins finden sich dort Zinn- oberimpägnationen, in denen sich die Feldspate an- gehäuft haben. Nur sehr schwach ist die Impräg- nation. Darum auch geringer Abbau. Bei Musedjik ist der Ryolith auch hochgradig zersetzt, doch nicht so stark kieselsäurehaltig. Im reichlich vorhandenen Mulm tritt in zentimeterlangen, haar- feinen Äderchen Zinnober auf. Vielleicht hat sich das Gestein erst chemisch umgewandelt, nachdem der Ryolith, in dem es enthalten war, eruptiv war. Beim Versuch der Ausbeutung ist es hier auch geblieben. Bei Beltaly auf dem Ergünei Tepe findet sich dasselbe Gestein wie an vorhergenannter Stelle. Drei Partien lassen sich unterscheiden. Erstens sind es harte, dichte, hornsteinartige Schichten, die flächenhaft Zinnober führen, dann weiche mulmige Massen mit Erzimprägnaiionen, drittens sehr kieselsäurereiche Partien, die zelligen Quarz enthalten, in dessen Zwischenräumen derber, erdiger Zinnober liegt. Zum Teil füllt es die Hohlräume als Derberz aus. Erzträger und Erz- bringer ist der Ryolith. Begleitmineralien fehlen bei diesen Quecksilberlagerstätten dem Quecksilber- erz. Am aussichtsreichsten würde sich der Berg- bau nach des Verf. Anschauung bei Beltaly ge- stalten. Die wichtigste Eisenerzlagerstätte ist die von Tschawdar im mächtigen Beschparmakgebirgs- massiv. Vorherrschend ist Gneis, in dem Glimmer- schieferinseln eingelagert sind. Der Gneis ist ein Augengneis mit großen Feldspaten und viel Mus- kowit. Das Eisenerz auf Damir Dapa stellt sich in konkordanten Lagern, die untereinander parallel liegen, ein. Die Mächtigkeit beträgt mindestens 2 m für ein Lager mit Zwischenmitteln von 6 — 15 m Vielleicht handelt es sich hier um Lager oder 64 Naturwissenschaftliche Wochenschrift N. F. XVni. Nr. 4 Lagergängen. Das Erz ist im ersten, zweiten, vierten Lager, vom Liegenden an gerechnet sehr hartes Roteisenerz, durchzogen von feinen Aderchen von Eisenglanz. Das dritte Lager ist Eisenglanz mit geringem Pyrit. Das Roteisenerz ist hoch- wertiges Eisenerz. Der Vorrat ist sehr bedeutend. Rudolf Hundt. Zoologie. Die Sanierung der Balkanländer durch Ausrottung der Überträger des Wechselfiebers. Wertvolle Fingerzeige m dieser Beziehung liefert Prof. Dr. F. Doflein. ^) (Münch. Medizinische Wochen- schrift Nr. 44 vom 29. Oktober 19 18). Die Larven und Puppen der Stechmücken durchlaufen ihre Entwicklung freilebend im Wasser und ent- wickeln sich besonders gut in stehenden oder langsam fließenden Gewässern. Wie schon mit- geteilt wurde, gelang es D., in der Fauna des Balkans, wo die Malaria häufig ist, außer A. maculipennis und superpictus noch im Süden und Osten Mazedoniens Anopheles bifurcatus nach- zuweisen. Die Larven und Puppen dieser Art leben in den mitunter reißenden Wasserläufen, welche in den Schluchten des Balkangebirges zu Tal strömen. Um vom Wasser nicht mitgerissen zu werden, schmiegen sie sich mit dem Hinter- ende der Felswand an. Die sonst zur Ver- nichtung der Stechmückenlarven gebräuchlichen Methoden sind hier nicht anwendbar; Rohpetro- leum, Saprol und andere Öle, welche sich auf dem Wasserspiegel ausbreiten, so daß die Larven und Puppen der Stechmücken an der Oberfläche des Wassers keine Luft holen können und ersticken müssen, würden durch die Strömung weggeschwemmt und so ihren Zweck verfehlen. Der Vorschlag von D. geht nun dahin, das Wasser der Schluchtbäche in der Nähe ihres Ursprungs durch Stauwehre zurückzuhalten; von Zeit zu Zeit werden die Schleußen geöft'net und das hinter ihnen angesammelte Wasser stürzt als reißender Strom durch die Schlucht zu Tal. Dabei reißt die Flut alles mit sich, so auch die Stechmückenlarve und puppen, die sich in den stehenden Wasseransammlungen befinden oder an den Uferwänden des Baches ansitzen. Da das Wasser, sobald es in der Tiefe ankommt, ver- sickert, bleiben die Tiere auf dem Trockenen liegen und gehen bald zugrunde. Das Verfahren von D. wurde schon wieder- holt praktisch und mit bestem Erfolge ange- wendet. Wann die Vernichtung der Larven der Stech- mücken am bester geschieht, hängt von der Entwick- lungszeit der jeweiligen Art ab. Auf eine starke Entwicklung im Frühjahr (Mai bis Juni) folgt eine zweite Kulmination im August. Die günstige Jahreszeit (Frühjahr bis Herbst) erlaubt sicher drei, zuweilen vielleicht auch sechs Entwicklungs- perioden der Anopheles. Krankheitsüberträger sind die im Sommer frisch entwickelten Stech- mücken, welche sich durch Blutsaugen an einem kranken Menschen infiziert hatten, und nicht etwa die überwinterten Weibchen des vorher- gehenden Sommers, welche in Gebäuden, Stallun- gen, Gängen usw. überwintern und in welchen die Vermehrung der im Sommer aufgenommenen Hämosporidien während der Winterruhe vor sich geht. Die Speicheldrüsen solcher Stücke wurden schon bei den amerikanischen Anophelesarten frei von Sporozoiden gefunden, und auch D. be- richtet, daß er mehrere Hundert aus notorisch malariaverseuchten Gegenden stammende Ano- phelesmücken nach der Überwinterung frei von Sporozoiden fand. Es wäre dennoch möglich, aber nicht sehr wahrscheinlich, daß der Malaria- erreger durch Überwintern der weiblichen Stech- mücken bis in den nächsten Sommer erhalten werden könnte. Kathariner. ') siehe Band 17. Nr. 18, von 5. Mai 1918, Seite 253 d. Ztschr. Literatur. Zsigmondy, Prof. Dr. R. , Kolloidchemie. Ein Lehr- buch. 2. verb. und z. T. umgearbeitete Aufl. Mit 5 Tafeln und 54 Texifiguren. Leipzig '18, O. Spamer. 26 Mk. Bieberbach, Prof. Dr. L. , Differential- und Integral- rechnung. Bd. 11. Integralrechnung. Mit 25 Texttiguren. Leipzig und Berlin '18, B. G. Teubner. 3,40 M. Abraham, Dr. M. , Theorie der Elektrizität, i. Band. Einführung in die Maxwell'sche Theorie der Elektrizität. 5. Aufl. Mit II Textfiguren. Leipzig und Berlin '18, B. G. Teubner. 13 M. P a X , Prof. Dr. F., Pflanzengeographie von Polen (Kongreß- Polen). Mit II Karten und 8 Tafeln. Berlin 'iS, Dietrich Reimer (Ernst Vohsen). 11,50 M. Graetz, Prof. Dr. L., Die Alomtheorie in ihrer neuesten Entwicklung. Sechs Vorträge. Mit 30 Abbildungen. Stutt- gart 1918, Engelhorn's Nachf. 2,50 M. Hertwig, Prof. Dr. O., Das Werden der Organismen. Zur Widerlegung von Darwin's Zufallslheori« durch das Gesetz in der Entwicklung. 2. verm. und vert». Aufl. Mit II5 Text- abbildungen. Jena 1918, G. Fischer. 2 1 M. Ziegler, Prof. Dr. H. E. , Die Vererbungslehre in der Biologie und in der .Soziologie, ein Lehrbuch der naturwissen- schaftlichen Vererbungslehre und ihrer Anwendungen auf den Gebieten der Medizin, der Genealogie und der Politik, zu- gleich 2. Aufl. der Schrift über ,,Die Vererbungslehre in der Biologie". Mit 114 Textfiguren und 8 z. T. farbigen Tafeln. Jena 1918, G. Fischer. 20 M. Müller-Lenhartz, Die Fortschritte der Landwirtschaft in ihren Beziehungen zur Entwicklung der Naturwissenschaften. Leipzig 1917, H. Mehner. Auerbach, Prof. N. F., Das Wesen der Materie. Leip- zig 1918, Dürr'sche Buchhandlung. 3 M. Inhalt: K. Schutt, Das Bohr'sche Atommodell, (i Abb.) S. 49. E. Boerma, Die philosophischen Richtungen in ihrem Verhältnis zur Naturwissenschaft und ihre Synthese in der ,, Philosophie des .\ls-ob'-. S. 55. — Einzelbericbte : R. Seeliger und E. Bräuer, Über die Methoden zur Untersuchung der Struktur des Windes. S. 60. M. A. Gau- ducheau, Blut und Eingeweide der Schlachitiere zu Nährzwecken. S. 62. E. Franke, Mitteilungen über einige Erzlagerstätten in Kleinasien. S. 62. F. Doflein, Die Sanierung der Balkanländer durch Ausrottung der Überträger des Wechselliebers. S. 64. — Literatur: Liste. S. 64. Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Mi ehe, Berlin N 4, Invalidenstrafie 42, erbeten. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a.. d. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue Folge 18 Band; der ganzen Reihe ^4, Band. Sonntag, den 2. Februar 1919. Nummer 5. Zoologiehistorische Kritik des Buches von Georg Stehli über Jan Swammerdam's „Bybel der natuure" [Nachdruck verboten.] Von Rudolph Zaunick in Dresden. Herr Fehlinger hat auf S. 606 in Nr. 42 des XVII. Bandes Neuer Folge dieser Zeitschrift die Veröffentlichung Nr. 93 von Voigtländers Quellenbüchern: „Aus der Bibel der Natur. Merk- würdige Bilder aus der Werkstatt eines alten Zoologen : Jan Swammerdamin. Ausgezogen, neu bearbeitet und herausgegeben von GeorgStehli,"^) kurz angezeigt und begrüßt. „Die Quelle alles Wohlgefallens ist die Homogeneität", sagt aber einmal Schopenhauer im 2. Bande seiner Parerga und Paralipomenal Wenn es auch jetzt nur allzu gebräuchlich ist, daß Referenten über Arbeiten aus ihnen fremden Gebieten sprechen, so fordere ich als Biologie- historiker doch für meine Disziplin stets nur kompetente Beurteiler. Dies dürfte aber Herr Fehlinger im Pralle Stehli nicht gewesen sein. Den Beweis hierfür trete ich im folgenden kurz an. Das in Frage stehende Quellenbuch, das der Verlag uns schon seit längerer Zeit angekündigt hatte, wurde von uns mit ziemlicher Spannung erwartet, da Jan Swammerdam's bekannte „Bybel der natuure" ohne allen Zweifel das in- teressanteste zoologische Werk seiner Zeit war und höchst bahnfördernd gewirkt hat. Georg Stehli, dessen Name uns bis jetzt nur als Mitarbeiter am „Kosmos" bekannt war, hat dem Qucllenbuch, dessen Titel mich persön- lich übrigens recht fatal an Jahrmarkt erinnert, eine kleine Einleitung vorangeschickt und dann Swammerdam's Text „einer Neubearbeitung unterzogen" und ,,dem Stande der heutigen For- schung angepaßt" (S. Ii). In verkleinerter, aber höchst klarer Wiedergabe folgen schließlich die 53 Kupfertafeln aus der „,Bybel". Ein gewagtes Experiment, solch eine „Neu- bearbeitung" und „Anpassung an den Stand der heutigen P"orschung"l Daß Stehli die Tiere der alten Kupfertafeln zu identifizieren und die S wam- merdam'schen Fachausdrücke mit modernen Termini technici zu erklären sucht, ist unstreitig recht verdienstlich. Doch verwischen Stehli's ausführliche Erklärungen der einzelnen abgebildeten Tiere und ihrer Teile vollständig den Unter.^chied zwischen der Zoologie von heute und der Zoolo- gie von damals. Wer von den Lesern nicht Swammerdam 's Originaltext parallel benutzen kann, wird da schwerlich ein geschlossenes Bild von des Holländers Wissenschaft erhalten. Ganze Abschnitte S t e h 1 i ' s bringen lediglich neue und ') Leipzig, R. Voigtländer, o. J. [1918]. Mit 53 Nach- bildungen von Kupfertifeln. 127 S. kl. 8". Preis: 1,80 M. kart., 2 M. in Pappband. allerneueste Meinungen und Erkenntnisse, so z. B. das 16 Seiten lange Kapitel „Von den Bienen" (S. 49 ff.), dessen Inhalt also fast gar nicht mehr mit Swammerdam's Bienenwissenschaft zu- sammenhängt. Immer und immer wieder müssen wir zünftigen Zoologiehistoriker betonen, daß unsere Forschung einzig und allein genetisch sein kann, und nicht retrospektiv. Stehli's Text wird vielleicht Durchschnittslesern ganz gut ge- fallen. Denn es ist eben eine wissenschaftlich angehauchte Plauderei über einzelne Tiere, und da hinein sind verstreut Swammerdam's Be- obachtungen und Fachausdrücke. Ich persönlich habe allerdings mit Gleichgesinnten ein anderes, diametral entgegengesetztes biologiegeschichtliches Forschungsideal: Das Bedeutsame herausheben aus der alten Quelle, es in Parallele stellen oder kom- binieren mit irüheren und zeitgenössischen An- schauungen und Ergebnissen und — aber das ganz vorsichtig I — es heraufverfolgen in unsere Zeit und sehen, wie es entweder nachgewirkt hat, oder wie es gewandelt, oder schließlich, wie es gezwungener- und verdientermaßen fallen gelassen worden ist. ') Also schon rein methodisch kann sich die jetzt allein zur Kritik berechtigte Zoologiegeschichte mit Stehli's ,, Neubearbeitung" und ,, Anpassung" keinesfalls einverstanden erklären. Man bedenke doch : zweiundeinhalb Jahrhunderte intensivster zoologischer Forschung liegen zwischen Swam- merdam und uns I Da ist eine „Anpassung an den Stand der heutigen Forschung" entweder ver- lorene Liebesmüh oder — schade ums knappe Papier. Ich will nicht etwa sagen, daß es einem wirk- lich methodisch geschulten Zoologiehistoriker ein Leichtes wäre, Swammerdam's „Bybel der natuure" in der von mir soeben gekennzeichneten Weise wissenschaftlich auszuschöpfen. Ja unsere genetische Methode ist ungleich schwerer durchführbar als die leider übliche, gewisser- maßen dilettantische retrospektive. Und, darüber wollen wir einmal ganz offen reden, buch- händlerisch lukrativ ist sie erst recht nicht. Unverantwortlich geradezu ist aber auch Stehli's literarhistorische Einleitung über „Jan Swammerdamm [1], sein Leben und Schaffen" auf den ersten 7 Textseiten, von direkten F"ehlern ') ,,Die Lebensregungen im Schrifttum der Vergangenheit zu erfassen, ist die Aufgabe des bio- logisclien Historikers", so bekannte erst jüngst wieder Karl Sud hoff in den „Mitteilungen zur Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften" XVI (1917), S. 227. 66 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVllI. Nr. 5 wimmelnd, störend lückenhaft, überhaupt ohne jegliche historische Durchpulsung. Swammerdam's Wesen ist geistesgeschicht- lich und — abstrahiert man hiervon — rein mensch- lich so voll des Interessanten und Rätselhaften, daß es doch den modernen Wissenschaftler reizen müßte, da hineinzudringen und vor allem einmal den in jeder Hinsicht nur unheilvollen Einfluß Antoinette Bourignon's, jener chiliastischen Schwärmerin, oder sagen wir einfach Hysterikerin, auf den sechsunddreißigjährigen Mann endlich psycho-analytisch darzustellen. Auf Beobachtung und Untersuchung bauen sich bei dem Holländer die Ergebnisse wohl auf, doch religiöse Ideen ranken sich an ihnen empor und verdecken die Linienführung und feinere Bildhauerarbeit seines Wissenschaftsgebäudes. Ich finde, daß sich Swam- merdam's Wesen am besten ausdrückt in einem Dedikationsbrief an Thevenot, wo es heißt: Ik prcscntccr U. Ed. alhicr den. Alinaghfigcii Villger GODS, in de Anatomie -van een Luys [Laus]; luaar in Gy ivonderen op ivondercn op een gestapelt suUvinden, en de Wysheid Gods in ee7i klecn puncte klaarlyk sicn tcn toon gcstelf. Es ist obendrein mit Sicherheit festzustellen, daß S t e h 1 i überhaupt nicht die von Boerhaave besorgte, 1738 fertig herausgegebene lateinisch- holländische Originalausgabe in den Hän- den gehabt hat, sondern nur die .1752 zu Leipzig herausgekommene deutsche Übersetzung. Denn sonst hätte Stehli wohl den genauen Doppeltitel der Originalausgabe zitiert und würde nicht nur ganz ungenau von der „Bijbel [1] der Natuur [1]", die „vorher von einem Herrn Hieroni- mus David Gaudius [I] auch ins Lateinische über- tragen worden war", geschrieben haben. Dieser angebliche „Gaudius" ist nämlich der zu seiner Zeit durch viele Schriften recht bekannte Leidener Mediziner Hieronymus David Gaub(ius) (1704 — 1780), über den man Näheres und weitere Literatur in A. J. Van Der Aas „Biographisch Woordenboek der Nederlanden" (X, Haarlem 1862, S. 47 ff.) und in der „Allgem. Deutschen Bio- graphie" (VIII, Leipzig 1878, S. 4i6ff.) findet. Leider hat Stehli nicht einmal den Titel der deutschen Übersetzung v. J. 1752 sorgfältig wieder- gegeben; zu verbessern ist (auf S. 9 unten): ,, ge- wissen Klassen" in „gewisse Classen", „erläutert" in „erleutert" und „Boerhaave" in [das freilich falsche] „Boerhave". Auch bringt StehliSwam- merdam's Namen stets nur in der falschen Schrei- bung „Swammerdamm" der deutschen Übersetzung. Als gravierendster Beweis aber für meine Be- hauptung ist vorzubringen, daß den reproduzierten 53 Kupfertafeln auch nur diejenigen der deutschen Übersetzung v.J. 1752 zugrunde liegen und nicht die aus der Originalausgabe v. J. 1738. Denn gleich auf Tab. I in Stehli's Ausgabe lesen wir ganz wie in der Leipziger Ausgabe unten in der rechten Ecke ein zierliches J. C. G. Fritsch sc, während in der Leidener Ausgabe J : v : d. Spyk fccit zu finden ist. Dadurch ist natürlich auch der Wert der reproduzierten Kupfertafeln um einiges gesunken. Bemerkt sei übrigens, daß zeitlich nach der deutschen Übersetzung der „Bybel der natuure" noch 1758 zu London') und gleichzeitig zu Dijon und Auxerres ^) je eine englische und französische Übersetzung herauskamen, von denen aber Stehli nichts zu wissen scheint, obgleich gerade dies kennzeichnend ist für die zeitgemäße Bedeutung des Werkes. Von sonstigen Ungenauigkeiten der Einleitung mag hervorgehoben sein, daß der auf S. 7 an- geführte „Samuel von [I] Musschenbroek (um 1690 [1])" der bekannte Samueljoosten van Musschen- broek ist, der freilich schon 1682 die Augen ge- schlossen hatte. Wir Historiker sind dann ge- wöhnt, den Vornamen Thevenots alsMelchi- sedech zu schreiben, nicht „Melchisedeck", wie auf S. 8 zu lesen. Es hätte übrigens gar nichts geschadet, wenn über diesen Diplomaten und Reisenden eine das Biographische genauer fassende Fußnote geschrieben worden wäre. Swammer- dam promovierte auch nicht, wie man auf S. 5 liest, mit einer Schrift „Von dem Oihemholen", sondern mit einem ,,Tractatus physico-anatomico- medicus de respiratione usuque pulmonum", der später noch zweimal gedruckt wurde. *) Ein wei- teres Zeichen dafür, daß Stehli einzig und allein die deutsche Übersetzung benutzt hat, wo in der vorangestellten Biographie Swammerdam's aus Boerhaave's Feder der Titel von S w a m m e r - dam 's Dissertation so verdeutscht ist. Ein Zeichen aber zugleich, daß Stehli sich den Teufel um die S wam merdam- Literatur gekümmert hat. Wenn er überhaupt auf S. 8 meint, daß wir über die Anzahl der Schriften und Sendbriefe Swam- merdam's, sowie über die Reihenfolge ihres Erscheinens „nur sehr dürftig unterrichtet" seien, so ist dies nur ein rein persönlicher Schluß Stehli's a non scire ad non esse. Doch es würde zu weit führen, wollte ich jetzt hier den glatten Gegen- beweis antreten. unwissenschaftlich und ungenau ist das kurze Literaturverzeichnis auf S. 119 f. Und wann kommt man denn in Deutschland endlich dahinter, daß in solchen Zusammenstellungen die genauen Titel der Bücher, aber nicht der ihren Doktorhut auf- dringlich zur Schau tragenden Verfasser er- forderlich sind? Doch bei uns Deutschen heißt's nun einmal: „Mit euch, Herr Doctor . . ." In wissenschaftliche Literaturlisten hat sich jedenfalls die leidige Titulaturenfrage niemals zu verirren I Erquicklich sind jedenfalls meine Aussetzungen an diesem Voigiländer'schen Quellenbuch nicht. 1) Übersetzt von Th. Flloyd, mit Noten von J. Hill, in fol. unter dem Titel ,,The Book of Nature". -) Als Bd. V des von J. Berryat begründeten ,,Recueil de niemoircs, ou collection de pieces academiques" [auch unter dem Titel: Collection academique, comnosee de me- moires .... des plus celebres academics elrani^eres .... trad. en fraogois par une societe de gens de Ittlres], mit Noten von Savaiy, Gueneau de Monlbeliard usw. ä) Leiden 1679 in 8° und 173S in 4". N. F. XVIII. Nr. 5 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 67 Weder für mich als Kritiker, noch für den Verleger, dessen übrige ,, Quellenbücher" fast durch die Bank wohlgelungen waren. Aber ge- sagt mußte es schlieiälich werden, um unsere Bio- logiehistorik beim Publikum nicht -in ganz falschem Lichte erscheinen zu lassen. Zoologie- geschichtliche Fachkreise werden sich schon von selbst ihr sicher nicht sehr schmeichelhaftes Urteil über Georg Stehli als Schriftsteller ohne biologiegeschichtliche Methode, ohne jegliche histo- rische Auffassungs- und Darstellungsgabe und ohne Literaturkenntnis und Sorgfalt gebildet haben. Noch einmal eine solche historische ,, Neubearbei- tung" und ,, Anpassung" aus Stehli's besonders im populären „Kosmos" geübter Feder, und ein anständiger Verleger hat sich bei uns höchlichst blamiert. Daher möge meine warnende Kritik nicht unbeachtet bleiben! Zu empfehlen ist das Voigtländer- sche Quellenbuch Nr. 93 lediglich als ungemeinbilligesgeschichtliches Tafel- werk, wenngleich auch da der Verlag von Stehli schlecht beraten war und nicht einmal die Kupfer- tafeln der Originalausgabe reproduzieren ließ. Doch ist dies nicht von allzu großer Bedeutung. Stehli's Einleitung und „Neubearbeitung" und „Anpassung an den Stand der heutigen For- schung" aber wird nur der Geschichtsschreibung der Zoologiehistorik wertvoll sein, um später ein- mal zu zeigen, wie- man auch im 20. Jahrhundert noch nicht wissenschaftsgeschichtlich denken und schreiben gelernt. Über das Metallspritzverfahren von Schoop. [Nachdruck verboten.] Von HanS Nachdem das ebenso einfache wie sinnreiche Verfahren des Schweizer Erfinders bereits seit Jahren nicht unbedeutende Anwendungen gefunden hat, erschien erst vor kurzer Zeit die erste aus- führliche Veröffentlichung darüber, ein Rand aus der Feder von Schoop und H. Günther (Franckh'sche Verlagshandig. Stuttgart), dessen Inhalt leider nicht ganz im Verhältnis zu seinem Umfang steht. Immerhin kann man sich mit Hilfe dieses Werkes ein Bild vom Wert und von der Zukunft des viel besprochenen Spritzverfahrens machen. Das Wichtigste davon sei hier fest- gehalten. Daran anschließend soll der wissen- schaftlichen kritischen Untersuchung Erwähnung geschehen. Das Prinzip der jetzt fast ausschließlich in zwei Typen (für dicke schwer- und für dünne leicht- schmelzbare Metall drahte) hergestellten ,, Metallisa- tor" — Spritzpistolen ist kurz dieses: Metalldraht von einer Dicke von 0,8 — 2,5 mm wird mittels einer Vorschubeinrichtung stetig in die Flamme eines Knallgasgebläses geführt, wo er alsbald schmilzt und sofort durch einen Preßluftstrom zer- stäubt und auf die zu metallisierende Oberfläche geschleudert wird. Der Druck des Knallgases beträgt 2 Atm., der der Preßluft 3,5 Atm. Die plötzliche Entspannung der Preßluft bedingt natür- lich eine starke Abkühlung der feinen Metall- teilchen. So ist es zu erklären, daß die Metalli- sierung auf allen Oberflächen, die wärmeempfind- lich sind, vorgenommen werden kann. Leder, Papier, selbst Zündhölzer lassen sich ohne Be- schädigung durch Verbrennung ohne weiteres mit dem Überzug irgendeines Metalles bedecken. Die schön glatten Überzüge, die sich in einer Stärke von 0,001 bis 10 mm Stärke herstellen lassen, entstehen nach Seh 00p 's Ansicht durch Ver- schweißen der Metallteilchen, deren sehr große Bewegungsenergie beim Auftreffen auf die Unter- lage in Wärme umgewandelt wird, so daß die Heller. festen Teile (s. o.) vorübergehend plastisch werden. Wir werden sehen, ob diese Auffassung halt- bar ist. Die Überzüge aus gespritztem Metall sind ,, ziemlich hart und spröde", angeblich härter als gegossenes Material, auch das spezifische Gewicht soll sehr hoch sein. Jedenfalls ist ihre Dichte so, daß sie geschliffen und poliert werden können. Nimmt man dazu die Geschwindigkeit des Ver- fahrens — in 2 Minuten lassen sich 40 g Metall auf 10 cm- niederschlagen — , seine Einfachheit und vergleichsweise Billigkeit, so erkennt man leicht den hohen Fortschritt, die schon jetzt un- leugbare Bedeutung des Schoop 'sehen Ge- dankens, der denn auch ein gewaltiges Anwen- dungsgebiet sich erschlossen hat. — Das Ausland ist besonders eifrig an den Ausbau des Metall- spritzverfahrens gegangen. In Frankreich beispiels- weise hat die „Societe de metallisation" die viel- fältigsten Anwendungsmöglichkeiten gefunden. In neuester Zeit hat schliefSlich das Verfahren eine weitere hochbedeutsame Verbesserung dadurch erfahren, daß an Stelle der I\letallschmelzung durch das kostspielige Knallgas diejenige durch den elektrischen Strom getreten ist. M In einer weiteren Mitteilung Schoop's-) wird das Verfahren weiterhin vereinfacht, — ob aller- dings verbessert, ist noch zweifelhaft. Die Preß- luftzuführung geschieht danach zentral (gegen periv)here Zuführung bei dem Pistolenspritzen) derart, daß das Luftzuleitungsrohr aus Blei in die Flamme eines Bunsenbrenners gehalten wird, dessen Hitze genügt, Blei und ähnlich niedrig schmelzende Metalle zu verflüssigen. Das ge- schmolzene Metall wird sofort vom Luftstrom mit- gerissen, und obwohl es unter diesen Umständen 1) Vgl. Prometheus Nr. 1516 (Jahrg. XXX, Nr. 7) Beibl. S. 27. *) Zeitschr. f. angew. Chemie 31, (Aufsatz-Teilj 204, 1918, 68 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 5 nicht staub-, sondern tröpfchenförmig zerteilt wird, ergeben sich dennoch sehr gute, gleichmäßige und festhaftende Überzüge aus „normalem, gesundem" Blei, was wohl „frei von Verunreinigungen und minderwertigen Modifikationen" ' ) bedeuten soll. Insbesondere bei Verwendung eines reaktionsträgen oder reduzierenden Gases als Druckmittel ist das Blei (nur mit diesem wurden Versuche gemacht) frei von Oxyd. Ein so verbleites Eisenblech kann, zumal wenn es vorher von der Rückseite erwärmt wurde, beliebig gebogen werden ohne daß der Bleiüberzug springt. Bewahrheiten sich die An- gaben in vollem Umfang, so wäre das große Problem der homogenen Verbleiung seiner Lösung wiederum beträchtlich näher gerückt. Aus der Fülle von Verwendungsgelegenheiten des Spritzverfahrens seien einige Fälle genannt: der Rostschutz, der eines der Hauptprobleme der Technik ist, ist mit dem S c h o o p - Verfahren so- gar auf fertige Konstruktionen aufzutragen, die bisher nur durch Farbanstrich zu schützen waren. Nickel- und Chromstahlsorten, bei denen bisher Verzinkung unmöglich schien, lassen sich nun leicht spritzverzinken. Sprengstofffabriken verlöten ihre Gefäße und Packungen nach Schoop, ja, bei niedriger Temperatur läßt sich der Spreng- stoff unmittelbar metallisieren. Patronenhülsen aus Papier werden metallisiert und sind dadurch leichter und sparsamer im Metallverbrauch als die bisherigen. Zeit- und Wagendecken, Masken für Laboratorien, Tressen, kurz, alle Gewebe lassen sich auf diese Art imprägnieren. Wichtig ist noch die Anwendung in der Luftschiffahrt. Ballonstoff läßt sich metallisieren; eine Haut von o,oi mm genügt, den Stoff gasdicht und feuersicherer zu machen. Frankreich überzieht fertige Flugzeug- konstruktionen mit gespritztem Rostschutz, und in der Schweiz durchweg eingeführt sind metalli- sierte Propeller, die neben größerer Beständigkeit eine geringere Vibration und viel kleinere Reibung besitzen als blanke Holzpropeller. — Die große Rolle, die hiernach das Metallspritz- verfahren zu spielen berufen sein dürfte, macht es nun naturgemäß wünschenswert, daß das Verfahren aus dem jetzigen Stadium des rein praktischen Probierens auf die Höhe wissenschaftlicher Ver- vollkommnung gelange. Denn die Güte der Me- tallisierung ist zunächst noch völlig unabhängig von unserem Willen und Bedürfnis. Erst wenn der ganze thermische bzw. physiko-chemische Vor- gang der Metallisierung, d. h. also die genauen Umstände bekannt sind, unter denen sich die ge- spritzten Überzüge bilden, erst dann haben wir es in der Hand, deren Güte wunschgemäß und erfolgreich zu beeinflussen. Es ist darum merk- würdig und in gewissem Sinne bedauerlich, daß der Erfinder Schoop selbst sich offenbar gar nicht um eine exakte Aufhellung der bei der Metallisierung verlaufenden inneren Vorgänge be- müht hat. Seine ziemlich anfechtbaren Vermutungen ') Vgl. Prometheus Nr. 14=;! (lahrg. XXVIII, Nr. 46) S. 724. darüber sind seit seinen ersten Veröffentlichungen ') bis heute nahezu unverändert geblieben. Eingehend wissenschaftlich hat sich mit dem Spritzverfahren dagegen Hans Arnold beschäftigt, dem wir eine Reihe wertvoller und wichtiger Kenntnisse darüber verdanken. '•') Nach Arnold ist die Größe der Teilchen nach der Zerstäubung 0,01 — 0,15 mm; die Ge- schwindigkeit in 10 cm Abstand vom Düsenmund beträgt für Messing im Durchschnitt 120 m sec~', für Zink 140 m sec~^ sie sinkt mit der Entfer- nung noch mehr, ist also überraschend gering. Die auf die Unterlage aufgeschleuderten Metall- teilchen zeigen eine verästelte Struktur, die aber dennoch das Gefüge des einen Teilchens gegen das andere unterscheiden läßt, so zwar, daß be- nachbarte Teilchen in horizontaler Richtung mit- einander verwachsen, daß sie aber in vertikaler, also in der Spritzrichtung deutlich voneinander geschieden sind und daß auf diese Weise eine schiclitenförmige Struktur zustande kommt. Diese Schichtung ist nicht ganz ebenmäßig, sondern wellenförmig. Arnold spricht von „Spritzwellen". Sie sind charakteristisch für gespritzte Metallhäute. Jede Metallobetfläche, deren Quer- schnitt wellenförmige Ätzfiguren zeigt, ist als ge- spritzt anzusprechen. — Die angeätzten Schlifif- bilder zeigen fernerhin Hohlräume im Gefüge der gespritzten Metaliüberzüge. Dadurch erklärt sich deren Sprödigkeit, die noch gesteigert wird durch einen (bei Kupfer z. B. 0,4 °/o betragenden) Oxyd- gehalt. Der Gehalt an Oxyd drückt schließlich auch die Dichte der gespritzten Überzüge herab. Überhaupt zeigt sich auch bei Metallen, die oxyd- frei sind, eine geringere Dichte gespritzter Über- züge irn Vergleich zu gegossenen, wie die nach- folgende Zusammenstellung beweist. spezifisches Gewicht Material gespritzt gegossen Zink 6.325 6,q22 Zinn 6,82 7,29 IVIessing 7,324 8,299 Aluminium 2,31 2,54 Blei 9,773 11,3.62 Kupfer 7,51 S,93 Diese Zahlen widerlegen also S c h o o p ' s Auffassung, daß die Teilchen verschweißen. Viel- mehr beweist das durch die nichtverschvveißenden Teilchen geringere spezifische Gewicht, daß die gespritzten Überzüge auch Nachteile haben. Überall da, wo große Dichte und geringe Spröde, also Festigkeit einer Metallhaut gefordert sind, wird man gegossene Häute vorziehen. Ein weiterer Übelstand ist m. E. der besonders beim Spritz- 1) Techn. Monatshefte IV. S. I, 1913. *) Zeitschrift für anorganische Chemie 99, 67, 1917 u°d Zeitschr. f. angewandte Chemie 30, 209 usw, N. F. XVni. Nr. 5 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 69 verfahren auftretende Metallstaub, der durch Ver- luste beim Zerstäuben entsteht. Er beträgt bei dem doch bei sehr hoher Temperatur verdampfen- den Aluminium 6—8%. Wie dieser Mißstand, seien — dies zu finden ist Aufgabe der gründ- lichen wissenschaftlichen und technischen Behand- lung des Verfahrens. Man darf im Sinne des technischen Fortschritts hoffen, daß solche Be- sowie andere Unvollkommenheiten zu beheben arbeitung bald in Angriff genommen werde. Einzelberichte. Anthropologie. Der gegenwärtige Stand der Akklimatisationsfrage. Bei der Anpassung an das Tropenklima muß sich der Organismus den ver- änderten Lebensbedingungen der neuen Umwelt anpassen, ohne daß dabei die wesentlichen Rassen- eigenarten der Vorfahren verschwinden und ohne daß die Fruchtbarkeit in einem den Bestand der Rasse gefährdenden Maße herabgesetzt wird. ') Steudel sieht die Akklimatisation nur dann als vollendet an, wenn der Europäer in den Tropen ein Leben führen kann, genau wie in seiner alten Heimat, wenn also z. B. der Kleinbauer jahraus jahrein 10—12 Stunden schwere Feldarbeit zu leisten imstande ist. '^j Es ist noch fraglich, ob eine derartige Anpassung möglich ist. Die Er- fahrungen, die bisher in dieser Beziehung gemacht wurden, sind nicht besonders ermutigend. Die Möglichkeit der Ansiedlung von Europäern in tropischen Hochländern wird zwar von den meisten Autoren zugegeben, die sich mit der Sache befaßten, von anderen aber doch bestritten und zwar unter Hinweis auf die Schädigung des Nervensystems durch die Einwirkung der Sonnen- strahlen. Die Frage nach den Akklimatisalions- aussichten im tropischen Tieflande ist noch voll- ends unentschieden; zumeist wurde sie in nega- tivem Sinne beantwortet. Die Ansichten über die Ursachen der Unmöglichkeit oder mindestens Schwierigkeit der Anpassung von Europäern an das Tropenklima weichen voneinander weit ab. In der Hauptsache werden zwei verschiedene Theorien vertreten. Die einen, namentlich die Kolonialärzte, führen das Mißlingen der europäi- schen Kolonisation im tropischen Tiefland auf Epidemien zurück, die in diesen Gegenden ende- misch sind, die anderen, hauptsächlich die Anthro- pologen, schreiben den klimatischen Faktoren, ins- besondere der Sonnenstrahlung, den vorwiegenden Einfluß zu, und sehen darin das Hindernis für die Besiedlung dieser Länder durch Bevölkerungen weißer Rasse. Wenn die Kolonialärzte im Rechte sind, so bestehen für die tropische Kolonisation gute Aussichten bei den Fortschrhten , die die Medizin in der Bekämpfung der Tropenkrankheiten bereits gemacht hat. Die Ansicht der Anthropo- logen dagegen stellt bei der Unbeeinflußbarkeit der klimatischen Faktoren die pessimistische Rich- tung in der Akklimatisationsfrage dar. Einige praktische Ergebnisse der Ansiedlung von Europäern in den Tropen sollen hier erwähnt ') Verhandl. d. Intern. Kolonialinstituts 1911 S. 114. 2) Ebenda, .S. 279. werden. Eine im Jahre 190S unter Führung von Dr. V. Lindequist nach Ostafrika entsandte Kommission kommt in bezug auf die Erhaltungs- fähigkeit von Europäern in tropischen Hoch- ländern zu günstigen Ergebnissen.') In Höhen von 1200 bis 2000 m bewahren die Männer ihre Leistungsfähigkeit und die Frauen ihre Gebär- tüchtigkeit. Entartungszeichen sind nirgends zu beobachten. In besiedelungsrähigen Hochländern Ostafrikas, heißt es in dem erwähnten Bericht der Lindeq u ist Kommission, weist die Lufttempe- ratur meist jene regelmäßigen täglichen Schwan- kungen a,uf, die der Europäer für die Wärme- regulierung seines Körpers bedarf. Die Luft- feuchtigkeit ist nicht so groß, daß sie Gesundheits- schädigungen zur Folge haben muß. In wehen Steppengebieten herrscht Lufttrockenheit, die erfahrungsgemäß Erkältungen nicht aufkommen und auch die tropischen Temperaturmaxima leicht ertragen läßt. Offenes und meist zu jeder Jahres- zeit fließendes Wasser ist reichlich vorhanden; es ist fast überall frei von unangenehmen Beimengun- gen. Maläriafreiheit ist in den ostafrikanischen Hochgebirgen dort sichergestellt, wo das nächt- liche Temperaturminimum unter 10 — 15" C liegt, was im allgemeinen in Höhen von 1500 m und darüber der Fall ist, aber auch sonst auf isolierten Hügeln und stark Wärme ausstrahlenden Ebenen. Von den Orten, wo endemische Malaria festgestellt wurde, liegen einige über 1000 m, aber keiner liegt über 1500 m hoch. Die Schlafkrankheit wird nach allem, was bisher darüber bekannt ist, die Hochländer selbst nicht bedrohen. Ihr Auf- treten ist an das Vorkommen von Glossina pal- palis gebunden, und dieses Insekt, das zur west- afrikanischen Waldfauna gehört, wird auf den ost- afrikanischen Höhen nicht gefunden, weil hier augenscheinlich seine Lebensbedingungen, gleich- mäßige Wärme, weite, buschunisäumte Gewässer usw. mangeln. Ruhr kommt zwar auch in den Höhengebieten vor, aber selten; Aussatz, Rückfall- fieber und Wurmkrankheit sind dort ebenfalls nachgewiesen und fordern ernste Bekämpfung. Pest, Cholera, Typhus, Tuberkulose usw. gibt es in den von der Kommission besuchten Gegenden nicht. Von den verheirateten Ansiedlern, die An- gaben machten, waren nur wenige kinderlos und diese waren meist erst kurz verheiratet. In etwa dem vierten Teil aller Ehen betrug die Kinder- zahl über fünf Im brasilianischen Staat Espirito Santo ge- ') Schriften des Vereins für Sozialpolitik, Bd. 147, I.Teil, 70 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 5 deihen in den Hochländern unter etwa 20 Grad südl. Breite schon drei Generationen deutscher Kolonisten sehr gut; die Geburtenhäufigkeit ist dort sehr groß und die Sterblichkeit trotz des Mangels sanitärer Einrichtungen sehr gering.') Weit ungünstiger sind die Ergebnisse der An- siedlung von Europäern in tropischen Tiefländern. Von Mittelamerika berichtet Prof. Sapper, daß es dort um die Gesundheit der weißen Ansiedler schlecht bestellt ist und daß sie leicht den Ein- flüssen des Klimas erliegen, das erschlaffend wirkt und zwar auch auf die Fortpflanzungsorgane, wes- halb europäische Frauen meist kinderlos sind oder nur wenige Kinder haben. Südeuropäer passen sich leichter an als Nord- und Mitteleuropäer. In der Panamakanalzone haben die Amerikaner die Gesundheitsverhältnisse bedeutend verbessert, in- dem sie sanitäre Maßregeln mit eiserner Strenge durchführten; ähnliches ist aber nur dann möglich, wenn einer tropischen Siedlung bedeutende finan- zielle Zuwendungen von auswärts gemacht werden. — Auf den kleinen Antillen nimmt die Zahl der Weißen fast überall ab, die Zahl der Neger und Mischlinge aber ist im Zunehmen begriffen. Schon diese Tatsache beweist, daß die Inseln als Be- siedlungsgebiet für Weiße nicht geeignet sind.-) In Surinam (Südamerika) haben sich nur wenige Nachkommen holländischer Ansiedler erhalten, die nach Angabe von Prof. B 1 o e m zum größten Teil entartet sind. ^) Von Niederländisch - Ostindien, wo seit 300 Jahren europäische Kolonisation stattfindet, sagt Dr. Kohlbrugge, daß er nur eine Familie er- mittelte, die rassenrein geblieben war und bereits in der vierten Generation dort lebte.*) Nach Dr. Nederburgh gibt es in NiederländischOstindien zwar Gegenden mit einem für Europäer günstigen Klima, aber im Verhältnis zum Ganzen sind sie nicht groß und sie hängen nicht zusammen, so daß die europäischen Ansiedler zwischen für sie ungeeigneten Ländern eingeklemmt sein würden. Außerdem ist der ganze Archipel bevölkert, und zwar von einer Rasse, die nicht die geringste Neigung zum Aussterben zeigt. Die Erfahrung von Jahrhunderten hat gezeigt, daß Europäer und Farbige sich sehr gerne mischen, sogar wo der Blutmischung behördlicherseits entgegengetreten wird, und es besteht keine Aussicht, künftige Kolonisten rein zu erhalten.'') In S ü d a f r i k a ist die europäische Kolonisation in den Hochländern überall erfolgreich gewesen, in den Tiefländern hat sie fehlgeschlagen, es ver- mögen sich dort europäische Siedler nicht zu halten. Ein gutes Beispiel bietet die britische ') VVagemann, Die Deutschen Kolonisten im brasilia- nischen Staat Espirito Santo. München 191 5. ') Sapper, Mittelamerilia. Ansiedlung von Europäern in den Tropen. 2. Teil. ") Bloem, Niederländisch-Westindien. Ebenda. *) Einfluß der Tropen auf den blonden Europäer. Archiv für Rassen- und Gesellschaflsbiologie. 7- J'^^^Sm S. 575- ^) Ansicdlune von Europäern in den Tropen. 2. Teil, 4. Ahschn., Niederländisch-Oslindien. Kolonie Rhodesien. In kurzer Zeit hat das bergige Süd-Rhodesien eine ansehnliche weiße Bevölkerung mit beträchtlichem Geburtenüberschuß erhalten, während in dem niedrig gelegenen und sehr wasserreichen Nord-Rhodesien erst etwa 300 Euro- päer leben und diese nur zeitweise. ') Der Mißerfolg der europäischen Kolonisation in tropischen Tiefländern ist vor allem darauf zurückzuführen, daß die europäischen Menschen dem Klima dieser Länder nicht angepaßt sind. Die Menschenrassen von heute sind eben lokale Anpassungsformen und die im Laufe einer vieltausendjährigen Entwicklung stattgefundene Differenzierung der körperlichen Eigenschaften kann nicht wieder rückgängig gemacht werden, wenn auch eine gewisse Plastizität der heutigen Menschenrassen, wie sie Franz Boas trefflich bewies,^j nicht zu leugnen ist; aber an eine Aus- gleichung der Unterschiede ist nicht zu denken. Schon die Massigkeit des Körpers der Nord- und Miiteleuropäer ist für das Leben in den Tropen ungeeignet, weil dieser massige Körper dort schwer kühl gehalten werden kann. Es gibt zwar in den Tropen auch hochwüchsige Menschen, wie die Sudanneger, gewisse südamerikanische Indianer- völker, Polynesier usw., aber diese großwüchsigen Tropenbewohner sind immer schlank und niemals massig. Als eine Anpassungserscheinung an das Tropen- klima kann zuversichtlich auch die dunkle Haut- färbung gelten, welche fast alle in den niederen Breiten unserer Erde wohnenden Zweige der Menschheit auszeichnet. Ursprünglich scheint die Menschheit nicht dunkel pigmentiert gewesen zu sein, denn die Negerkinder kommen regelmäßig mit schmutzig fleischfarbener Haut zur Welt und dunkeln erst später nach. Einen direkten Schutz gegen die Sonnenhitze bildet die dunkle Haut- farbe gewiß nicht, denn es ist bekannt, daß dunkle Flächen die Sonnenwärme stärker aufnehmen als helle. Aber dieser Nachteil der dunklen Pigmentie- rung wird dadurch mehr als aufgewogen, daß sie die Ausstrahlung der Wärme erleichtert. Über- dies ist das Epidermispigment eine Schutzein- richtung gegen die blauen und ultravioletten Lichtstrahlen, unter deren Einwirkung der pigmet- arme Europäer in den Tropen ungleich mehr zu leiden hat als der stark pigmentierte Neger, Araber, Dravida, Australier usw. Die geschlechtliche Aus- lese wirkte bei der DifTerenzierung der Hautfarbe der Menschen mit; wo die Gesündesten und Besten sich durch eine bestimmte Hautfarbe aus- zeichnen, da wird sie ein Mittel der Anziehung des anderen Geschlechtes sein, und sie wird da- durch als Rasseneigenart gesteigert und gefestigt werden. Es kommen auch noch andere Eigen- schaften der Haut in Betracht, die den Klimaten ') Die Ansiedlung von Europäern in den Tropen. 3. Teil. Fehlinger, Bevölkerung und Kolonisation Rhodesiens. Deutsche Rundschau für Geographie, 37. Bd., 3. Heft. ■'] Vgl. Naturw. Wocbenschr. N. F. XII. Bd., S. 353— SS"- N. F. XVnl. Nr. S Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 71 angepaßt sind. So erwähnt Kirch ho ff,') daß die Negerhaut durch eine unvergleichlich heftige Perspiration ausgezeichnet ist; diese massenhafte Verdunstung von Körperflüssiglieit durch die Haut erzeugt hochgradige Verdunstungskälte, und darum fühlt sich die Negerhaut umso kühler an, je heißer die Sonne brennt. Auch anderen europäischen Reisenden in den Tropen fiel es auf, daß die Ein- geborenen immer kalte Hände haben. Sehr zum Vorteil gereicht den Tropenbewohnern die große Elastizität des Körpers, die der Europäer, be- sonders der Nordeuropäer, verloren hat. Infolge dieser Elastizität strengt Arbeit die in den Tropen lebenden Rassen weniger an, sie ermüden nicht so leicht als die Europäer. Das Nervensystem des Europäers wird in den Tropen ungünstig be- einflußt. Schlaflosigkeit und Reizbarkeit sind meist die ersten Anzeichen der Schädigung der Nerven. Unter gewöhnlichen Verhältnissen zeigt der Ein- geborene die Reizbarkeit des Europäers nicht, wohl aber dann, wenn er eine höhere europäische Bildung genossen hat und sein Geistesleben sich dem europäischen nähert. Die ungünstige Ein- wirkung des Tropenklimas auf die Nerven wird von fast allen Europäern bekundet, die während ihres Aufenthalts in der heißen Zone zu geistiger Arbeit gezwungen waren, die dort viel schwerer zu leisten ist als in der Heimat. H. Fehlinger. Geologie. Über „Salzlagerstätten und Braun- kohleiibecken in ihren genetischen Lagerungs- beziehungen" hielt Joh. Walther einen inter- essanten Vortrag auf der 2. Mitgliederversammlung des Halleschen Verbandes für die Erforschung der mitteldeutschen Bodenschätze und ihrer Verwer- tung, welcher in der Zeitschr. „Kali" 12. Jahrg. 1918 erschienen ist. I Mitteldeutschland birgt vielfach dicht beisammen reiche Schätze an Salzlagern der Zechstein- und an Braunkohlen der Tertiärformation, die bisweilen demselben Wirtschaftsverband angehören. Beide einander so fremde Lagerstätten zeichnen sich durch merkwürdige Lagerungserscheinungen aus. Die Salzlager des oberen Zechsteins sind nach Walt her chemische Niederschläge aus einem großen weiten Salzsee, welcher vom offenen Welt- meere durch eine vom Ural bis nach England reichende Bucht abgeschnitten wurde, dann mehr und mehr eingeengt wurde und gleichzeitig unter den Einfluß eines niederschlagsarmen heißen Wüstenklimas geriet. Dieser große Salzsee sammelte seine Wasser in einem von Mellrich- stadt bis Segeberg und von Limburg bis Hohen- salza reichenden vielgegliederten Senkungsgebiet, in welchem sich Teilbecken von verschiedener chemischer Zusammensetzung bildeten, die bei ihrer Ausscheidung wechselnde Salzfolgen (Staß- furter-Typ, Werra-Typ) lieferten. Neben Joh. ') Kirch hoff, Darwinismus, angewandt auf Völker und Staaten. S. 43. Halle a. S. 1910. Walt her haben sich noch andere Forscher mit der Genesis der Salzlager und der sie zusammen- setzenden Salze beschäftigt, so namentlich vant' Hoff, Rinne, Erdmann und Rozsa durch ihre physikalisch -chemischen Untersuchungen, Lachmann durch seine geophysischen Studien über den Bau der Salzmassen Norddeutschlands (Salzauftrieb, Salzstock, Salzexzem), Jaenecke durch seine interessanten Erörterungen über die thermischen Folgen der Überlagerung der Salz- lager durch mehrere Tausend Meter Deckgebirge. Die Braunkohlen der Tertiärformation dagegen sind organische durch Anhäufung zerfallener Pflanzentrümmer entstandene Trümmergesteine. Aschenarmut wie riesige den Flözen eingeschaltete Baumstümpfe sprechen für eine autochthone d. h. bodenständige Entstehung der Flöze in Flözbecken (Kohlenbecken). Die ziemlich sumpfliebende Flora bestand aus einem Mischwald mit der noch heute lebenden Sumpfzypresse Taxodium distichum als Charakterbaum. Die Konservierung der gebildeten Zellulose fand bei Luftabschluß zumeist unter dem Wasserspiegel statt. In der Rhön, VVetterau und Kölner Bucht füllten sich flache Wasserbecken mit Moder an und wurden von Letten, vulkanischen Tuffen und Basahdecken überdeckt, dem Einfluß des Luftsauerstoffs entzogen und dadurch erhalten. Hier bildeten sich nur schwache Kohlenflöze, weil die Modermasse nicht mächtiger werden konnte als die ursprüngliche Beckentiefe betrug. Wo mehrere solcher schwachen BraunkohlenHöze ge- trennt durch mächtige Sand- und Tonablagerungen an derselben Stelle auftreten, muß man eine dauernde Senkung des Bildungsraumes annehmen. Diese wichtige Tatsache hat bereits für die Bil- dung der Steinkohlenlager des Oberkarbons ihre Bedeutung. Im Saarrevier sind 350 meist schwache Steinkohlenflöze einer Schichtfolge von 6000 m eingeschaltet, die sich nur so bilden konnte, daß ein weites Senkungsfeld im Laufe der Zeit um 6 km in die Tiefe sank und dabei abwechselnd Sand, Ton, Kies und Pflanzenmoder zur Ablage- rung kam. Im Gegensatz dazu sind die mitteldeutschen Braunkohlenlagersiäiten durch 20—100 m mäch- tige Braunkohlenflöze von großer Aschenarmut, vielfach ohne trennende Zwischenmittel und ein geringmächtiges Deckgebirge ausgezeichnet. In den verschiedenen Ab>chnitten der Teriiärzeit bildeten sich bald da bald dort lokale Senkungs- gebiete, in welchen sich das Grundwasser an- sammelte und dann eine Sumpfflora kontinuierlich Moderschicht auf Moderschicht häufte, bis schließ- lich der Senkungsvorgang an dieser Stelle zur Ruhe kam und an einer anderen Stelle in einer späteren Zeitperiode von neuem einsetzte. Des- halb kommen die eozänen, oligozänen und miozänen Kohlenbecken zumeist nebeneinander und nicht übereinander vor. An der einen Stelle bildeten sich Flöze von 100 m, an einer anderen Stelle von vielleicht nur 5 m Mächtigkeit. Derartige mächtige Senkungsbecken und die 72 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVm. Nr. 5 sie erfüllenden ßraunkohlenflöze sind auf das mitt- lere und nördliche Deutschland beschränkt. Ihre Verbreitung deckt sich auffallend mit derjenigen der deutschen Zechsteinsaize, so daß ein enger Zusammenhang offensichtlich erscheint. Die ur- sprünglich ebenflächig abgelagerten Salzschichten sind durch spätere Verlagerungen größten Maß- stabes (Faltung, Aufpressung, Überschiebung) nach oben gedrängt worden und dadurch unter den Einfluß des Tiefengrundwassers geraten. Große Salzmassen sind infolgedessen ausgelaugt worden, wodurch Erdfälle und Seen entstanden sind. Während der Aufwärtsbewegung des Salzes ent- standen an benachbarten Stellen enge und weite Senkungsfelder, die im Gegensatz zu dauernd ab- wärts gerichteten tektonischen Senkungsgebieten verhältnismäßig bald zur Ruhe kamen. In diesen Senkungsfeldern kamen dann die mächtigen Braun- kohlenflöze zur Ablagerung. Die ebenso interessanten wie wichtigen Untersuchungen von Joh. Walther geben ein treffliches Bild von den engen gene- tischen Lagerungsbeziehungen zwischen Salzlager- stätten nnd Braunkohlenbecken. V. Hohenstein-Halle. Bücherbesprechungen. Renward Brandstetter, Die Hirse im Kan- ton Luzern. Stans 191 7, von Matt. Im Geschichtsfreund der V Orte, Bd. 72 ist eine kleine Abhandlung über die Hirse erschienen, die ihrer Originalität wegen auch in dieser Zeit- schrift Erwähnung finden dürfte. Man lese z. B. das erste Kapitel über die Be- nennung der Hirse, so wird man den tüchtigen Sprachforscher sofort erkennen, der in den ein- heimischen Idiomen ebenso zu Hause ist, wie auf dem Gebiete der gesamten indogermanischen Sprachen. Die Geschichte der Hirsekultur führt bis zu den Pfahlbauten zurück. Im Kanton Luzern ist der älteste urkundliche Beleg aus dem Jahre 1290, ein Hirszchnten. Bis im 18. Jahrhundert war die Kultur noch reichlich, dann erfolgte ein rascher Rückgang. In gewissen Gegenden ist die Tradition über Hirse völlig erstorben. Dem Sprachforscher stehen aber eine Unmenge von Ortsnamen zur Verfügung, die auf Hirskulturen der Vergangenheit hmweisen. Hirsi, Hirseren, Fenkeren oder die Kompositionen Hirsland, Hirs- acker, Hirsgarten, Hirselenmoos, Hirselenweid usw. sind noch die letzten Erinnerungen an einstige Hirsareale. Spricht der Verfasser über Säen und Ernten der Hirse, oder über Dreschen und Enthülsen der Hirse, so spricht immer der tüchtige Kenner der Volkssprache und der Volkschroniken. Aus der Volkspoesie und aus dem Volksglauben zitiert der Verfasser kurze prägnante Belege über die Be- deutung der Hirse in der Vergangenheit. Wenige Luzernier, die den Hirsmontag tüchtig gefeiert, werden wohl an die alte Hirskultur zurückgedacht haben. Man darf gewiß dem Sprachforscher Dank sagen, wenn er der Geschichte der Kulturpflanzen seine wertvollen Dienste leistet, wie es im vor- liegenden Aufsatze der Fall ist. H. Bachmann. Prof. Dr. Johannes Meisenheimer, Entwick- lungsgeschichte der Tiere. 2., verb. Aufl. 2 Bde. (Sammlung Göschen Nr. 378 und 379.) G. J. Göschen'sche Verlagshandlung G. m. b. H. in Berlin und Leipzig. — Preis jedes Bandes i M. und 25 Pf. Teuerungszuschlag. Die beiden Bändchen geben einen ausgezeich- neten Überklick über den gegenwärtigen Stand unserer entwicklungsgeschichtlichen Kenntnisse. Der erste Teil behandelt die Furchung, die Bildung der Primitivanlagen und die Entwicklung der äußeren Gestalt, der zweite Teil die Embryonal- hüllen und die Organbildung. Über hundert klare schematische Abbildungen erläutern den Text. Gegenüber der ersten Auflage wurden folgende Veränderungen getroffen: Eine eingehendere Be- handlung erfuhr der ganze Abschnitt über die Entwicklung von den Folgeerscheinungen der Be- fruchtung an bis zur endgültigen Formgestaltung. Erweitert wurde ferner auch das Kapitel über die Embryonalhüllen. Dagegen fielen in der Dar- stellung der Organbildung einige Abschnitte weg, die mehr der vergleichenden Anatomie angehören. Mit dieser neuen Verteilung des Stoffes wurde insofern ein Fortschritt erzielt, als die Darstellung geschlossener und trotz der gebotenen Knappheit inhaltsreicher wurde. Dr. St. Literatur. Henrich, Prof. Dr. F., Chemie und chemische Techno- logie radioaktiver Stoffe. Mit 57 Textabbildungen und i Über- sicht. Berlin 1918, J. Springer. 15 M. Junge, G., Die Hirse. Leipzig, H. Mehner. I M. Kaßncr, Prof. Dr. K., Das Wetter und seine Bedeutung für das praktische Leben. 2. Aufl. Mit 27 Figuren und 6 Karten. Leipzig 1918, Quelle & Meyer. I,So M. Rosen, Prof. Dr. F., Anleitung zur Beobachtung der Pflanzenwelt. 2. Aufl. Leipzig 1918, Quelle & Meyer. 1,80 M. Stopje, H., Die Gemüsesamenzucht im Feld und im Garten. Leipzig, A. Michaiis. 1,60 M. Inhalt. Rudolph Zaunick, Zoologiehistorische Kritik des Buches von Georg Stehli über Jan Swammerdam's ,,Bybel der natuure". S. 65. Hans Heller, Über das Metallspritzverfahren von Schoop. S. 67. — Einzelberichte : Feh 1 in g er, Der gegenwärtige Stand der Akklimatisationsfrage. S. 69. Joh. Walther, Salzlagerstätten und Braunkohlenbecken in ihren genetischen Lagerungsbeziehungen. S. 71. — Bücherbesprechungen: Renward Brandstetter, Die Hirse im Kanton Luzern. S. 72. Johannes Meisenheimer, Entwicklungsgeschichte der Tiere. S. 72. — Literatur: Liste. S. 72. Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Mi ehe, Berlin N 4, InvalidenstraBe 42, erbeten. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S- Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue Folge 18, Band; der ganzen Reihe 34. Band. Sonntag, den 9. Februar 1919. Nummer 6 Über Selbsterhitzung und thermophile Mikroorganismen. [Nachdruck verboten.] Von Hugo Miehe. Selbsterwärmungsvorgänge sind in der Natur sowohl wie in wirtschaftlichen Betrieben des Men- schen sehr häufig zu beobachten. Sehr verschiedene pflanzliche Stoffe werden warm, ja sehr heiß, wenn sie in größeren Massen aufgehäuft sind. Den Landwirt interessieren besonders die landwirt- schaftlich wichtigen Produkte, Rübenblätter, Ge- treide, namentlich Heu. Meist ist die Selbster- hitzung höchst unerwünscht, indem sie mit be- deutenden Verlusten, ja völliger Entwertung der ihr anheimgefallenen Stoffe verbunden ist, in manchen Fällen bedient sich der Mensch aber auch absichtlich ihrer, entweder, wie bei der Fermentation des Tabaks, um das Material zu veredeln, oder um Futterstoffe rascher zu trocknen und haltbarer zu machen. Letzteres geschieht beim Braunheu, namentlich in Gebirgsgegenden sowie in anderen feuchten Strichen, um die hier meist ungenügend bleibende Trocknung durch die Fer- mentation zu vollenden. Dabei muß freilich ein ziemlich bedeutender Stoffverlust in Kauf genom- men werden. Mustern wir die Stoffe, die einer Selbsterwärmung unterliegen können , sowie die Bedingungen, die dabei noch gegeben sein müssen, so sehen wir, daß es sich um Pflanzenstoffe von einem gewissen P'euchtigkeitsgehalt handelt, die in größerer Menge aufgehäuft werden, und zwar so, daß ein gewisses Quantum Luft die Masse durchdringt, diese also porös gebaut sein muß. Ganz trockene Substanzen sowie solche, die künst- lich so stark wie möglich zusammengepreßt sind, resp. ihrer Beschaffenheit nach sich ohne Luft- lücken lagern, zeigen keine oder nur anfängliche und dann schwach bleibende Erhitzung, die natür- lich auch dann gering bleibt, wenn die Haufen nur klein sind. Sehr starke und auffällige Selbst- erhitzung kann man jederzeit leicht beobachten, und zwar schon an verhältnismäßig geringen Mengen, wenn man feines Rasenheu direkt nach dem Mähen in Haufen setzt. Es entwickelt sich dann im Innern des Stapels schon nach kurzer Zeit eine solche Hitze, daß man die Hand nicht mehr hineinhalten kann. Genauer möge hier der Verlauf des Selbstheizvorganges an einem Heu- diemen geschildert werden, der unter Bedingungen zusammengesetzt wurde, wie sie für die Gewinnung von Braunheu nötig sind. 50 Zentner eines Wiesen- heus, das noch etwa doppelt soviel Wassergehalt führte, als man für gut getrocknetes Dürrheu an- nimmt, nämlich etwa 30 Prozent, wurden zu einem 3 Meter breiten und 3,5 Meter hohen Stapel auf- geschichtet. Schon nach zwei Stunden war im Innern die Temperatur um 2 Grad höher als außen, nach 24 Stunden dampfte der Diemen und hatte 57 Grad erreicht. Am heißesten war er nach vier Tagen, da konnte man nämlich 68 Grad im Mittelpunkt messen; andere Beobachter haben aber in größeren Haufen sogar noch wesentlich höhere Temperaturen festgestellt. Anderthalb Wochen nun hielt sich die Temperatur über bzw. auf 60 Grad, worauf dann der allmähliche Ab- kühlungsprozeß begann, der erst nach Wochen beendet war. Die Veränderungen im Innern der Masse betreffen das Wasser, die chemische Zu- sammensetzung der Trockensubstanz des Heues sowie die Gase. Das Wasser zeigt eine starke Abnahme, der Haufen hat sich also selbst ge- trocknet, wie man das ja auch an den ausge- hauchten W^asserdampfwolken ohne weiteres sehen kann. Aber auch die Trockensubstanz hat sich vermindert, und zwar bis zu 30 Prozent, also sehr beträchtlich. Am stärksten nehmen dabei die Kohlehydrate ab, weniger, aber immerhin deutlich auch die eiweißartigen Substanzen. Die Verände- rung der Binnenatmosphäre besteht in einem all- mählichen Verschwinden des Sauerstoffes und seiner Ersetzung durch Kohlensäure. Ein solcher Haufen verhält sich also wie ein lebendes Wesen, er verbraucht Sauerstoff und gibt Kohlensäure ab und wird dabei warm. Dieser Vergleich ist nicht bloß ein äußerlicher, sondern er trifft schon den Kern der Frage, welches denn eigentlich die Ursache dieser eigentümlichen Selbsterwärmung ist. Es stehen sich da zwei An- sichten gegenüber. Die eine behauptet, sie werde durch rein chemische Vorgänge bewirkt, durch Oxydationsvorgänge, die vielleicht durch irgend- welche Kontaktsubstanzen katalytisch beschleunigt werden, die andere nimmt zwar auch O.vydations- vorgänge an, aber solche, welche in lebenden Organismen verlaufen und einen Teil der physio- logischen Reaktionskette bilden, die man unter dem Begriff der Atmung zusammenfaßt. Das läßt sich auch leicht exakt nachweisen. Vorher müssen wir aber noch ganz kurz feststellen, was denn für Lebewesen im Heudiemen und allge- meiner bei Selbsterwärmungsvorgängen überhaupt in Frage kommen können. Da haben wir zu unterscheiden zwischen solchen Pflanzenstoffen, die noch ganz oder zum Teil aus lebenden Pflanzen- teilen bestehen, wie es z. B. bei der Braunheu- werbung der Fall ist, und solchen, die selber schon abgestorben sind, wie z. B. die Tabakblätter, auf denen aber reiche Entwicklung einer mikro- skopischen Lebewelt stattgefunden hat, die sich weiterhin noch ausbreitet. Natürlich müssen diese mikroskopischen Bewohner auch im ersten Falle anwesend sein, denn alle Pflanzenteile, wie fast 74 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVHI. Nr. 6 alle Gegenstände unserer Umgebung sind mit Keimen von Schimmelpilzen und Bakterien besetzt, die sich sofort üppig zu vermehren beginnen, so- bald günstige Bedingungen hinzutreten. Also das etwa als Wärmequelle in Betracht zu ziehende organische Leben wird entweder durch lebende Pflanzen samt den auf ihnen angesiedelten Klein- lebewesen oder durch letztere allein dargestellt. Bekanntermaßen kann man nun das Leben ver- nichten, z. B. durch Erhitzung in heißem Wasser- dampf, so wie der Bakteriologe irgendwelche Sub- stanzen keimfrei macht. Sterilisiert man derge- stalt Heu im Sterilisator, so verliert es die Fähigkeit, sich zu erwärmen, vollkommen. Merkwürdigerweise, aber in bezug auf bald zu er- wähnendes erklärlicherweise, genügt dazu schon eine Temperatur von etwa 65 Grad, man braucht also nicht einmal die sonst übliche Hitze von 100 Grad anzuwenden. Macht man nun das sterili- sierte Heu wieder künstlich keimhaltig, indem man es mit Erde, Staub, Schmutzwasser oder anderen infektiösen Materialien impft, so gewinnt es die F"ähigkeit der Selbsterhitzung zurück. Daraus geht also mit Sicherheit hervor, daß in der Tat Mikroorganismen, auf Pflanzenstoffen wuchernd, diese erhitzen können. Ob dies die lebenden Pflanzen selber auch können, ist sehr viel schwerer zu beweisen, da es außerordentlich mühsam, technisch vielleicht unmöglich sein würde, ein hinreichendes Quantum keimfreier lebender Pflanzen zu bekommen. Doch werden wir gleich sehen, daß diese Frage auf Grund allgemein-physiologi- scher Vorstellungen ohne weiteres zu bejahen ist. Sehr schwierig ist nun aber einem anderen Ein- wände zu begegnen. Es können nämlich an der Erzeugung von Wärme auch Enzyme beteiligt sein, etwa Oxydasen, die von den lebenden Pflanzen- teilen produziert werden, und da diese durch die Erhitzung bei der Sterilisierung ebenfalls ge- schädigt werden können, wäre unter Umständen neben der rein mikrobiologischen Wärmequelle noch eine enzymatische anzunehmen. Wenn man nun die Hitzesterilisierung ersetzt durch eine Des- infektion mit chemischen keimiötenden Agentien, mit Desinfizientien, wie z. B. P'ormaldehyd oder Chloroform, so wird dadurch die Selbsterwärmungs- fähigkeit ebenfalls vollständig unterdrückt. Man könnte zwar auch jetzt noch behaupten, daß auch die Enzyme durch die angewandten Stoffe gelähmt worden seien, würde sich aber damit auf ein vor- läufig ganz ungreifbares Gelände zurückziehen. Die Untersuchungsmittel, die uns nach Lage der Dinge zu Gebote stehen, weisen gleichsinnig darauf hin, daß der Selbsierwärmungsvorgang durch die Lebenstäiigkeit von Organismen bedingt wird. Nun können wir uns die P'rage vorlegen, wie denn überhaupt durch Lebewesen Wärme erzeugt werden kann. Begreiflich, wenn auch nicht ohne weiteres ursächlich verständlich erscheint uns die Tatsache nur bei den Warmblütern. Aber die Wärmebildung ist viel allgemeiner, sie ist auch bei den Tieren mit wechselvvarmer Körpertempe- ratur vorhanden. Bienen und Ameisen z. B., ob- wohl einzeln nur etwa so warm, wie die Um- gebung, zeigen sofort an, daß auch sie Wärme zu bilden vermögen, wenn sie in dichten Mengen beieinander sitzen. So heizen Bienen ihre Bienen- körbe, Ameisen ihre Nester in einer ohne weiteres fühl- und meßbaren Weise mit ihren Leibern. Bei den Pflanzen ist es nun ganz ähnlich. Das einzelne Individuum verhindern die große Oberfläche und die Transpiration, sich über die Außentemperatur zu erwärmen; sind aber viele Pflanzen zusammen- gehäuft, so tritt das vorher nicht bemerkbare Heiz- vermögen alsbald deutlich zutage. Ja, bei manchen Pflanzenarien können wir sogar ohne - diese be- günstigenden Umstände am Einzelobjekt bereits Temperaturerhöhung nachweisen. So ist in den Blüten des Aronstabes der Kolben erheblich wärmer als die Umgebung, die riesigen Bluten- stände der Palmen und Schraubenpalmen erhitzen sich bemerkbar, wenn die zahllosen Einzelblüten aufblühen, ein Hutpilz ist oft innen wärmer als außen, desgleichen eine Kokosnuß, wenn sie aus- keimt. Niedere Pilze und Bakterien zeigen das- selbe, wenn sie in dichten Mengen ein Nahrungs- substrat durchwachsen; schon z. B. ein Stückchen eines verschimmelten Brotes ist innen etwas wärmer als außen. Selbst in Flüssigkeiten kann man diese Erscheinung beobachten, wie z. B. die Essig- gradierfässer und die Maischebottiche zeigen. Die Vorgänge, die diesen physiologischen Heizprozeß unterhalten, sind eng mit der Atmung verknüpft, d. h. mit jenem Stoffwechselkomplex innerhalb der lebenden Substanz, bei dem es unter Verbrauch von Körpersubstanz auf die Gewinnung von Energie abgesehen ist, und der bei den meisten Organismus durch Aufnahme von Sauerstoff und Abgabe von Kohlensäure gekennzeichnet ist. Atmungsvorgänge in diesem Sinn finden sich, wenn auch in veischiedener Stärke, bei allen Organis- men, bei den Tieren sogut wie bei den Pflanzen. Schimmelpilze haben sogar eine Atmung, die, ge- messen an der Kohlensäureausscheidung, hundert- mal so intensiv wie die des Menschen sein kann. Kehren wir nunmehr wiederum zum Heu zu- rück und fragen wir uns, welche Organismen hier die Nährer der physiologischen Flamme sind 1 In erster Linie sind es beim Braunheu die Futter- kräuter selber, die, weil nur leicht angewelkt, noch leben und atmen, wahrscheinlich sogar besonders intensiv atmen, da durch Verwundung die Atmung gesteigert wird. Allerdings könnten sie nur eine Erhitzung bis etwa 45 Grad verständlich machen, d. h. bis zu der eigenen oberen Temperaturgrenze. Nun steigt aber die Temperatur in genügend großen Haufen noch wesentlich höher, bis 70, 75 Grad. Diese weitere Steigerung der Wärme muß durch andere, und zwar durch ganz eigen- tümliche, hitzeliebende Lebewesen bewirkt werden. In der Tat kennen wir gewisse Bakterien, die die seltsame Eigentümlichkeit zeigen, noch bei Tem- peraturen zu gedeihen, die für andere Lebewesen unbedingt tödlich sind, und, was noch merk- N. F. XVIII. Nr. 6 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 75 würdiger ist, bei gewöhnlichen Temperaturen in Froststarre zu liegen und erst bei Temperaturen von 30 bis 40 Grad zum Leben zu erwachen. Man nennt solche Organismen, zu denen übrigens auch etliche Schimmelpilze gehören. Therm o- phile. Im Heu findet sich nun auch etwa von 40 Grad an eine zu dieser physiologischen Sonder- gruppe gehörige Bakterienart in reichlicher Menge, auch läßt sich wiederum durch Impfversuche an sterilisiertem Material nachweisen, daß dieser als Bacillus calfactor benannte Keim die von ihm durchwucherte Masse erhitzen kann. Soviel über das Heu. — Besteht die in Selbsterhitzung übergehende Masse aus toten Pflanzenteilen, so müssen natürlich von allem Anfang an mikro- skopische Lebewesen die Rolle der Heizer spielen, zunächst solche, die schon bei gewöhnlicher Tem- peratur gedeihen und unter denen ein Coli-Bacillus eine besondere Bedeutung hat, später wieder, wenn diese sich selber zu Tode erhitzt haben, thermo- phile Mikroben. Merkwürdig ist, daß nach länger dauernder Selbsterhitzung die ganze Masse, so z. B. das Braunheu, im Innern vollkommen steril wird, es sterilisiert sich selber. Sogar Sporen finden sich nicht mehr! Wenn sich nun lange Zeit eine hohe Tempe- ratur im Innern von Heustapeln erhält, so geht die Masse schließlich in eine kohleartige Substanz über, die in ihrem feinporösen Zustande außer- ordentlich leicht zur Selbstentflammung neigt, sobald sie mit reichlichen Mengen Sauer- stoff in Berührung kommt. Wie diese eigentlich zustande kommt, kann man heute nicht genau sagen, da keine genügenden experimentellen Unter- lagen vorliegen. Sicher sind diese Endstadien rein chemischer Natur. Man kann nur sagen, daß die Selbstentzündung von pflanzlichen Stapelprodukten stets an eine vorhergehende, lang dauernde und kräftig verlaufende Selbsterhitzung gebunden ist. Je günstiger die Bedingungen für intensive Selbst- erwärung sind, um so größer ist die Gefahr der Selbstentzündung. Daraus ergeben sich die Ver- hütungsmaßnahmen von selber. Den besten Schutz gewährt die tadellose Trocknung. Leider ist nun gerade dies eine Bedingung, die sich oft infolge ungünstiger Umstände nicht befriedigend erfüllen läßt, oft muß man ja wegen der Witte- rungsungunst die Selbsterwärmung mit in Kauf nehmen, bzw. ruft man sie gerade als Korrektiv hervor. Da kommt es nun darauf an, die Futter- stoffe nicht in zu großen zusammenhängenden Massen zu stapeln, also die Diemen nur klein zu machen oder in Scheunen die Masse durch Stock- werke oder eingebaute Schächte zu teilen. Auch würde ein hinreichender Zusatz von Salz, falls dies zur Verfügung steht, eine zweckdienliche Maßregel sein. Besonders aber wäre zu raten, die Tempe- ratur dauernd zu kontrollieren, wie man das z. B. in den Tabaksiapeln stets und mit größter Sorg- falt macht. Es läßt sich leicht so ausführen, daß man an geeigneten Stellen starke eiserne Röhren von engem Lumen in die Masse mit hineinpackt. durch die man ein kleines Maximumthermometer hineinschieben und herausziehen kann, die aber sonst außen verschlossen sein müssen. So wäre man immer darüber unterrichtet, was im Innern der Heumasse vorgeht und wäre keinen unlieb- samen Überraschungen ausgesetzt. Was nun die Bekämpfungsmaßnahmen angeht, so hängen sie von dem Zeitpunkt ab, wo man eingreift. Ist man auf dem Posten gewesen und hat von vornherein bei Heuhaufen, die sehr groß waren und unter verdächtigen Umständen aufgebaut wurden, die Temperatur verfolgt und dabei schon in der ersten Woche eine sehr starke Erhitzung eintreten sehen , so wird man ohne große Gefahr sofort einschreiten können. Man kann da durch Umsetzen, Einbauen von Schächten noch etwas erreichen. Lenkt aber, wie das leider oft genug der Fall ist, erst nach Wochen oder gar Monaten der bereits brenzliche Geruch des Haufens die Aufmerksamkeit auf sich, so muß man ihn mit der höchsten Vorsicht behandeln, da jetzt jede Luftzuführung gefährlich ist. Also jetzt noch Luftschächte hineinbauen zu wollen, wäre Torheit. Meist sind ja gerade eine bereits angekohlte Diele, resp. Ritzen, Spalten darin, oder ein Balken oder andere Luftzirkulation begünstigende Umstände die Ursache davon, daß schon lokal ein Glimmen eingesetzt hat. Und dies würde alsbald zu offener Feuersbrunst entfacht werden, falls man unbedacht in dem Haufen herumstochern würde. Kann man den Haufen nach Lage der Dinge nicht einfach sich selber überlassen, muß man sich also entschließen, ihn abzuräumen, so kann dies nur unter Beobachtung aller nur er- denklichen Vorsichtsmaßregeln, z. B. unter aus- giebiger Bereitstellung von Löschgerätschaften ge- schehen. Dabei ist eine dauernde Beaufsichtigung während der ganzen Arbeit und auch bei den ab- geräumten Massen unbedingt erforderlich, da oft ganz unvermutet aus ihnen, zuweilen noch auf den Wagen, Feuergarben herausschlagen. Man darf sie bis zur völligen Abkühlung überhaupt nicht aus den Augen lassen. Wie eingangs bereits bemerkt wurde, werden Selbsterwärmungsvorgänge häufig absichtlich ein- geleitet, um irgendwelche Rohprodukte in eine gebrauchsfähige oder verbesserte F"orm umzuwan- deln. Abgesehen von der Braunheubereitung, die auf die Erzielung eines haltbaren Futtermittels aus einem Ausgangsmaterial ungünstigen Feuchtigkeits- grades bzw. unter ungünstigen Trocknungsbeding- ungen ausgeht, spielt die Selbsterhitzung z. B. eine große Rolle bei der Fermentation des Tabaks. Die geernteten Tabakblätter werden in große Trockenscheunen (hangloodsen nennen sie die Holländer in Java) aufgehangen, um hier langsam abzusterben und zu trocknen. Die Trocknung ist vollendet, wenn das Blatt vollständig tot und des Wassers soweit beraubt ist, daß es eben noch eine geschmeidige Beschaffenheit aufweist. Es enthält also noch ein gewisses Maß Feuchtigkeit (20 — 25 "/o)- Nunmehr werden die gebündelten 76 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 6 Blätter zu großen Stapeln von würfelförmiger Gestalt aufgehäuft , und zwar geschieht dies in den großen Fermentierhäusern (den goedangs, wie sie malayisch heißen). Hier setzt alsbald eine Selbsterwärmung ein, deren Verlauf sorgfältig mit Hilfe von Thermometern gemessen wird, die durch ein Bambusrohr bis in die Mitte des Stapels ge- führt werden können. Auf einer an jedem Stapel befestigten Tabelle wird die Temperaturbewegung sorgfältig verzeichnet. Hat die Masse etwa 60" erreicht, was unter normalen Verhältnissen etwa nach 5 Tagen der Fall ist, so wird der Haufen umgesetzt, und zwar so, daß jetzt die vorher außen befindlichen Büschel nach innen gepackt werden. Später können auch mehrere Stapel zusammen- gesetzt werden , so daß Haufen von mehreren hunderten von Zentnern entstehen, kurz, man läßt die Masse so lange gären und sich erhitzen , als sie Neigung zeigt. Dann erst ist aus dem rohen Tabak das gebrauchsfertige Produkt entstanden, das ausgeführt werden kann, aber unter Umstän- den noch in Europa einer Nachbehandlung unter- worfen wird. Die Vorteile, die bei dieser Fer- mentation erzielt werden, sind einmal eine größere Haltbarkeit, indem die fermentierte Masse trotz eines gewissen im Hinblick auf das feuchte Tropen- und das ebenso feuchte Seeklima unvermeidlichen und auch nicht unerwünschten Wassergehaltes beim Transport und bei der Lagerung nicht ver- dirbt. Der zweite Vorteil besteht in einer wäh- rend des Fermentionsvorganges verlaufenden gün- stigen Veränderung der Substanz. Denn, wenn wir einmal vom Zigarettentabak absehen, so ist ein einfach getrocknetes Tabakblatt " nur ein sehr wenig schmackhaftes Rauchzeug. Zu einem ge- wissen Teil läßt sich die natürliche Fermentation durch eine künstliche ersetzen, indem das Tabak- gut höheren Temperaturen ausgesetzt wird. Noch nicht endgültig entschieden ist, welche Ursachen die Erhitzung des Tabaks bewirken. Der Streit ist durch ähnliche Schlagworte gekennzeichnet wie wir sie oben bei der entsprechenden Erschei- nung der Heuselbsterwärmung anführten. Man kann es wohl als sehr wahrscheinlich bezeichnen, daß auch die Tabakfermentation hauptsächlich ein physiologischer, und nicht ein rein chemischer Vorgang ist. Es müssen aber, da die Masse von Anbeginn des Stapeins an tot ist, sogleich Mikro- organismen als Heizer auftreten, die sich denn auch in der Tat im Tabak finden. Auch Wärme- liebende sind vertreten. Ob nun aber die Ver- änderung der Masse auf die mikrobiologische Einwirkung der Tabakmikroflora direkt zurück- geht, oder ob sie nur die etwa als Hauptagens anzusprechende Hitze liefern, oder ob dazu noch blatieigene Fermentwirkungen treten und schließ- lich, ob vielleicht alle Momente oder einige von ihnen zusammen den Effekt hervorbringen, ist noch nicht entschieden. Es wäre leicht, noch eine ganze Reihe anderer Aufbereitungsverfahren hier zu erörtern, bei denen ebenfalls unter Entwicklung von Wärme mikro- biologische oder physiologische Umsetzungsvor- gänge stattfinden (wie z. B. die Fermentation des Thees usw.). Wir wollen uns aber lieber zum Schluß noch kurz einem Punkte allgemein biologi- schen Interesses zuwenden, der die Lebewelt selbsterhitzter Massen betrifft. Wie wir sahen, findet sich bei höheren Temperaturen im Heu eine sehr merkwürdige Bakterienart, die zu der biologischen Gruppe der Thermophilen gehört. Man kannte solche schon seit längerer Zeit. Nach- dem zuerst Miquel aus Seinewasser eine Bakterie isoliert hatte, die sich noch bei sehr hoher Tem- peratur entwickeln kann, haben namentlich medi- zinische Autoren weiterhin eine ganze Anzahl thermophiler Bakterien gefunden, denen sich auch etliche Schimmelpilze anschlössen. Allen diesen thermophilen Organismen ist die Eigenschaft ge- meinsam, überhaupt erst bei höherer Temperatur (etwa 30 — 40"), ihre Entwicklung zu beginnen, also bei Temperaturen gewissermaßen in Frost- starre dazuliegen, die für die übrigen Organismen, namentlich die Pflanzen, gerade das Leben ec- möglichen. Impfe ich in ein Agarröhrchen eine thermophile Bakterienart, z. B. jenen Bac. calfactor, und halte dies bei der Wärme heißer Sommertage, also etwa bei 28", so tritt selbst nach Wochen kein Impfbelag auf, die Bakterien wachsen nicht. Erst bei 30" beginnen sie sich sehr langsam und träge zu entwickeln, bei 40" geht es schon rascher und bei 50 — 60" haben wir schon nach wenigen Stunden üppige Impfbeläge. Er vermag aber auch bei noch höheren Temperaturen bis über 70" zu wachsen. Auf das Fröhlichste durch- wimmelt er noch Flüssigkeiten, in denen man sich die Hand sofort elend verbrennen würde. Diese höchst merkwürdige Verschiebung der thermischen Lebensbedingungen nach oben hat nichts zu tun mit der bekannten Widerstandskraft von Bak^erien- sporen gegen das Kocnen. Denn solche Sporen sind ja im Ruhezustande befindliche Keime, die zwar eine gewisse Zeit die Hitze des siedenden Wassers überstehen , aber niemals bei höheren Temperaturen auskeimen und sich fortentwickeln würden. Es liegt vielmehr bei den Thermophilen die besondere Befähigung vor, nur nach Über- schreitung einer ungewöhnlich hohen unteren Wärmeschwelle ihre Lebensvorgänge, Wachstum, Bewegung, Vermehrung in Gang zu setzen und sie noch bei Temperaturen zu unterhalten, die allen anderen Lebewesen sofort tötlich sind. Denn die Mehrzahl aller Organismen wird bereits bei 40" geschädigt, 45" tötet schon rasch. Die Ei- weißstoffe, die das Plasma der thermophilen Mikro- organismen zusammensetzen, müssen von ganz besonderer Art sein , da für gewöhnlich Eiweiß- Stoffe bereits bei 50" gerinnen. Betrachten wir die Welt der Lebewesen als ganzes, so bereichern die Thermophilen dieses Bild um ganz neue und überraschende Züge. Wo haben wir sie aber in das Naturganze einzuordnen f Wo finden Or- ganismen mit so ungewöhnlichen Lebensansprüchen günstige Brutstätten, wo haben sie ihre Standorte? N. F. XVIII. Nr. 6 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 17 Es ist merkwürdig, daß man sich diese Frage trotz des großen Eirers, mit dem man thermo- phile Bakterien in sehr verschiedenen Substraten aufsuchte, ernsthch nicht vorgelegt hatte. Man züchtet leicht aus allen möglichen Substanzen thermophileOrganismen, indem man Plattenkulturen damit impfte, und dann bei 60" hielt. Dabei war es ohne weiteres klar, besonders schlagend z. B. bei dem oben erwähnten Seinewasser, daß die dergestalt züchtbaren Mikroben unmöglich in jenen Impfmaterialien zu Hause sein konnten, daß sie vielmehr hier nur in F"orm schlafender Keime enthalten sein mußten, daß mithin ihre eigent- lichen Standorte irgendwo anders liegen müssen, wo sich hohe Temperatur mit Feuchtigkeit und Nahrung vereinigen. Als solche Stätten würden sich zunächst etwa heiße Quellen anbieten, die in der Tat eine thermophile Lebewelt beherbergen. Doch ist diese einmal eine ganz spezifische, in der jene weitverbreiteten Formen nicht vertreten sind, und dann sind sie ja, selbst wenn die eine oder andere Art auch hier vorkäme, so spärlich über die Erde verteilt, daß die große Häufigkeit ther- mophiler Keime unverständlich bliebe. Dann käme die Sonnenwärme in Frage. In der Tat vermag sie, wie auch experimentell gezeigt wurde, Thermophile auszubrüten, allerdings in unseren Breiten nur unter günstigen Bedingungen. Zwar wird die oberste Schicht des Bodens leicht warm, aber hier tritt Licht und Trockenheit hem- mend dazwischen, der Boden muß also schon bis zu einer gewissen Tiefe auf ca. 40" erwärmt werden, was, wie gesagt, gelegentlich eintreten kann. Besser sind die Bedingungen in den Tropen, wo regelmäßig mehrere Stunde» am Tage günstige Temperaturen auch an solchen Stellen auftreten, wo gleichzeitig die übrigen Wachstumsbedingungen geboten werden. Es sind dann auch wirklich zahlreiche Arten thermophiler Bakterien mit auf- fallend hoher unterer Wachstumsgrenze (35 — 45") aufgefunden worden. Die Sonnenwärme vermag also an manchen Stellen der Erde die thermophile Lebevvelt zur Entwicklung zu bringen, aber eins bleibt doch noch rätselhaft, nämlich das unge- wöhnlich hohe Optimum und Maximum. Wenn auch diese Punkte gelegentlich durch die Sonnen- wärme erreicht werden können, so ist dies doch so selten der Fall, daß sich jene extremen Fähig- keiten nicht auf harmonische äußere Bedingungen zurückführen lassen. Und wir nehmen doch an, daß die Eigenschaften der Organismen der bio- logische Ausdruck für bestimmte Faktoren der Umwelt sind. Ähnliche Gedankengänge würden für die Annahme sich herausstellen, daß die Warm- blüter, ihre Nester usw. als natürliche Thermo- staten in Frage kommen. Gewiß werden Thermo- phile im Darm gefunden, zweifellos kommen sie in Nestern brütender Vögel vor, aber wiederum bleiben das hohe Optimum und Maximum un- erklärbar. Dagegen gewähren die in Selbsterhitzung befindlichen Haufen pflanzlicher Stoffe einen geradezu idealen Ort, wo sich eine hitzeliebende Lebewelt zu größter Üppigkeit entwickeln kann. In der Tat sind gärende Heu- und Misthaufen eine F'undstätte der verschiedensten Thermophilen, neben Bakterien wuchern hier graue, gelbe, grüne Schimmelpilze besonderer Art (Thermomyces, Thermoidium, Thermoascus, thermophile Mucori- rieen, Aspergillen, Actinomyceten usw.) in größter Üppigkeit, namentlich wenn besonders günstige Feuchtigkeitsverhältnisse dazu kommen. An sol- chen Lokalitäten werden nicht nur die günstigen Anfangstemperaturen erreicht, sondern auch die hohen Optimal- und Maximalgrade, und es ist wohl kein Zweifel, daß die obere Grenze des oben erwähnten Bac. calfactor ungefähr mit dem Temperaturgrade zusammenfällt, den im allge- meinen gärheiße Stapel erreichen. Allerdings bleibt uns auch hier ein Bedenken nicht erspart, das in der Frage liegt: kommen denn wirklich solche selbsterhitzten Pflanzenreste in der Natur in hinreichender Häufigkeit vor? Für regelmäßig kultivierte Gegenden ist diese Frage zu bejahen. Zweifellos besorgt vor allem der Stallmist, der sich ja leicht erhitzt, im reichsten und umfassend- sten Maße regelmäßig die Verbreitung und Aus- streuung der Keime. Wie steht es aber mit den Verhältnissen der von der Kultur nicht beein- flußten Natur? Hier sind Gelegenheiten zur Ent- stehung von Selbstenvärmungsvorgängen offenbar sehr selten. Ich wüßte wenigstens aus eigener Erfahrung keinen Fall ganz ursprünglicher Selbst- erhitzungsvorgänge anzugeben. Wir müßten also zu dem Schlüsse kommen, daß die echten Ther- mophilen Kulturformen sind, die im Anschluß an landwirtschaftliche Betriebe entstanden und sich mit ihrer Hilfe erhielten. Wir hatten eingangs einen gärenden Pflanzen- haufen mit Rücksicht auf den Gaswechsel und auf die Quelle der Wärme mit einem Warmblüter verglichen. Wir können zum Schluß noch wenig- stens auf eine weitere Vergleichsmöglichkeit hin- weisen. Die Frage, ob sich pathogene Mikro- organismen, die ebenfalls, wenn auch weniger ausgeprägt, wärmebedürftig sind, außerhalb der infizierten Tiere und Menschen irgendwo ver- mehren und einnisten können, ist von erheblicher Bedeutung. Viele pathogene Bakterien sind ja wohl Berufsparasiten, die außerhalb des kranken Körpers sich nur auf der Durchreise und als Dauerformen erhalten. Gilt dies aber allgemein? Sollte es wirklich welche geben, die sich auch in der Umgebung vermehren, wachsen und gedeihen können, also hier Standorte haben, so kämen offenbar in erster Linie solche Lokalitäten in Frage, wo sich ähnlich wie im Körper, Wärme, Feuchtig- keit, Nahrung, Dunkelheit vereinigen. Und als solche Orte würden wiederum selbsterhitzte Stoffe zuerst zu nennen sein. Man findet nun wirklich in ihnen auch pathogene Mikroorganismen und zwar Schimmelpilze, die allerdings für den Men- schen selten , für das Vieh dagegen schon eher gefährlich werden. Ich weise auf den Aspergillus fumigatus hin, der das Geflügel bedroht, ferner auf 78 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVin. Nr. 6 gewisse Mucorineen. Auch die Strahlenpilze, die im gärenden Mist und Heu massenhaft vorkom- men, sind zum mindesten nicht unverdächtig, oder legen doch wenigstens den Verdacht nahe, daß auch der gefürchtete Erreger der Aktinomykose zu jener Kategorie von pathogenen Mikroorganis- men gehöre , die für gewöhnlich in der Natur hausen, aber gelegentlich auch in den Körper übergehen können. Eine mit Bezug auf unsere Auseinandersetzungen über Thermophile besonders interessante Stellung nimmt der Tuberkelbazillus ein; sie ist insofern unter den pathogenen Mikro- organismen eine merkwürdige, als er ein unge- wöhnlich hohes Temperaturminimum besitzt. Er fängt nämlich erst bei 30" zu wachsen an, verhält sich also hierin genau so wie die typischen Ther- mophilen, die wir oben besprachen. Er unter- scheidet sich jedoch von ihnen durch das Maxi- mum, das nicht ungewöhnlich hoch ist. Doch ist gerade das hohe Minimum ein besonders auf- fälliges Charakteristikum der Thermophilen, wir können den Tuberkelbazillus in etwas weiterer Begriffsfassung ohne weiteres thermophil nennen. Ist er vielleicht eine pathogene Rasse, die ihre Abkunft von solchen Verwandten herleitet, die im warmen Stallmist zu Hause sind, oder kommt er gar an solchen oder ähnlichen Örtlichkeiten in üppiger Vermehrung vor? Die Frage ist deshalb von besonderem Interesse, als man ja den Rinder- tuberkelbazillus nur als eine Lokalrasse des Men- schentuberkelbazillus auffaßt. Leider hat man solche Vermehrungsherde bisher noch nicht nach- gewiesen, daß er aber möglicherweise dort ge- deihen kann , dafür sprechen, abgesehen von der für ihn besonders wichtigen Temperatur,"" auch Ernährungsversuche, aus denen hervorgeht, daß der Tuberkelbazillus sehr wohl auf Auszügen pflanzlicher Stoffe wachsen kann. Er ist durchaus nicht so wählerisch, als manche Mediziner glauben. Trotzdem die Pathologen meist der Ansicht zu- neigen, daß für die Tuberkulose nur der kranke Mensch, eventuell auch das kranke Tier als primäre Infektionsquellen in Betracht konimen und eine davon unabhängige Infektionsquelle leugnen, er- gaben die obigen theoretischen Erörterungen, daß hier noch manche, dem Mediziner zunächst ferner liegende, aber durchaus nicht unfruchtbare Ge- dankengänge zu verfolgen sein würden. '} ^) Der erste Teil des Aufsatzes gibt einen Vortrag wieder, der vom Verf. im Klub der Landwirte zu Berlin gehalten und in dessen ., Nachrichten" (52. Jahrg. 191S] abgedruckt wurde. Ausführlicheres sowie weitere Literatur über das Thema findet sich z. B. in folgenden Schriften: H. Miehe, Die Selbsterhitzung des Heues. Eine biologische Studie. Jena 1907. — — , Über die Selbsterhitzung des Heues. Arbeiten der deutschen Landwirtschatts - Gesellschaft. Heft 196. Berlin igil. — — , Der Tabakbau in den Vorstenlanden auf Java. ,, Tropen- pflanzer" XV. Jahrg. igii. — — , Beiträge zur Biologie, Morphologie und Systematik des Tuberkelbazillus. Zeitschr. f. Hygiene und Infektions- krankheiten Bd. 62, 1908, S. 131. K. Noack, Beiträge zur Biologie der thermophilen Organis- men. Jahrb. f. wissenschaftl. Botanik. Bd. 51, 1912, S. 593- Kleinere Mitteilungen. Zur Frage des Zusammenhangs zwischen Mumi- fikation und Radioaktivität. In der naturwissen- schaftlichen Wochenschrift Band 17 Nr. 42, Seite 593, 1918, spricht Herr H. Sander die Ver- mutung aus, daß die Mumifikation von Leichen in manchen unterirdischen Grabgewölben und Höhlen, besonders im „Bleikeller" des Bremer Domes, durch radioaktive Wirkung verursacht sei, und gibt die Anregung zu experimentellen Unter- suchungen in diesem Sinne. Von derselben Vermutung ausgehend habe ich bereits im April 191 2 Messungen der luftelektri- schen Zerstreuung im Bremer Bleikeller ausgeführt. Das Ergebnis der Versuche war negativ: Eine übernormale Radioaktivität der Luft, des Bodens, der Wände oder Bleisärge existiert dort nicht. Als Ursache des auffallenden, in der Mumifikation der Leichen zum Ausdruck gelangenden asepti- schen Verhaltens des Bremer Bleikellers kommt daher die Radioaktivität nicht in Betracht. Diese Versuche wurden, soviel mir bekannt ist, nicht veröffentlicht. Ich habe jedoch seiner- zeit einen Bericht an die Bremer Domverwaltung sowie an den Direktor des Bremer meteorologi- schen Observatoriums, Herrn Professor Dr. Grosse, gesandt. Das Wesentlichste über die Versuche sei hier mitgeteilt: Der Spannungsabfall eines Elster- Geitel'schen Blatt-Elektrometers mit freiem Zer- streuungskörper wurde bei positiver und negativer Aufladung gemessen und als Maß für die Luftio- nisation genommen. In willkürlichen Einheiten ergaben sich für den Spannungsabfall in der Zeit- einheit folgende Werte: Ladung c des Zer- Spannungs- Ort Raum . ' ^" abfall in streuuDgs- , v ■. • t. -. •" der Zeiteinheit korpers Bremen Dom, Ostkrypta ( positiv 2,6 (früherer Bleikeller) \ negativ 2,1 ,, Dom, heutiger Blei- ( positiv 1,3 keller \ negativ 1,3 Halle a. S. Physik. Inst., Zimmer / positiv 5,5 im Erdgeschoß \ negativ 4,6 Der Versuchsraum in Halle a. S. war frei von radioaktiven Substanzen, jedoch in einem Back- steinbau, was aber die Zerstreuung nur um einige Prozente über den normalen Wert erhöhen dürfte. Die Bremer Zerstreuungswerte sind nicht nur nicht größer als normal, sondern sogar auffallend klein, N. F. XVni. Nr. 6 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 79 Zu den Bremer Örtlichkeiten ist zu bemerken, daß die IVIumifikation der Leichen in der Ost- krypta, dem früheren Bleikeller, stattfand, und daß das aseptische Verhalten des heutigen Blei- kellers, in den die Leichen erst nach ihrer Ein- trocknung gebracht worden sind, noch nicht fest- steht. Die Ostkrypta ist stets von der Außenluft abgeschlossen. Der heutige Bleikeller steht im Sommer durch ein offenes Fenster mit einem Vorgarten in Verbindung. Ich halte es für wahrscheinlich, daß die Mumi- fikation im Bremer Bleikeller durch Trockenheit der Luft bewirkt wird, was noch ebenso wie die Ursache der Trockenheit zu untersuchen wäre. Der Bremer Dom ist auf altem Dünengelände, also auf trockenem Sandboden erbaut. Halle a. S , Pnysik. Inst. d. Univ., im Dezember 1918. Albert Wigand. Zum Kleinhirn der Teleostier. Mit i Abbildung. In folgenden Zeilen mögen emige Beobachtungen festgehalten werden, die ich an Hand einschlägiger Arbeiten (Schaper, Fusari) anzustellen Ge- legenheit hatte. Während Stieda') am Kleinhirn der Teleo- stier eine spezifische Schichtung feststellen wollte, ergaben eigene Untersuchungen, daß die Schichten des Kleinhirns die gleichen wie bei den Säugern sind (Abb. i). Man unterscheidet demnach eine Molekularschicht und eine Körnerschicht. Die Marksubstanz bildet bei den Teleostiern nach Schaper-) keine geschlossene Schicht, die Fasern durchziehen angeblich die Körnerschicht. Die Zellen dieser Schicht sind zu Gruppen ange- ordnet, sie finden sich aber auch vereinzelt in der Molekularschicht. Die Körnerzellen haben alle die gleiche Größe, welche Feststellung mit den Angaben Schaper's") übereinstimmt, nach welchem die Körnerzellen der Teleostier den kleinen Körnerzellen der Säuger gleichen. Der Sagittalschnitt durch das Kleinhirn läßt erkennen, daß an der Stelle, welche der Markschicht des Säugerkleinhirns entspricht, die Körnerzellen sehr schütter stehen. Gegen die Basis des Kleinhirns wird diese Zone noch zellärmer und führt parallel verlaufende, zu Bündeln angeordnete Fasern, so daß diese Stelle, entgegen der Ansicht Schaper' s, der Markschicht des Kleinhirns höherer Wirbel- tiere gleichgestellt werden kann. An Sagittal- schnitten, nach Weigert gefärbt, ist der Verlauf der markhaltigen Fasern besonders gut ersichtlich. Bei schwacher Vergrößerung nimmt man wahr, daß die Fasern bis in die Mitte der Körnerschicht ziehen, dann nasal nnd schräg gegen die Basis des Kleinhirns verlaufen, wobei die Fasern sich ') Zitiert nach Fusari, Untersuchungen üher die feinere Anatomie des Gehirns der Teleostier. Internat. Monatsschr. f. Anat. u. Physiol. IV. 1S87. ^) Schaper, Zur feineren Anatomie des Kleinhirns der Teleostier. Anat. Anz. VIII. 1893. zu Bündel von verschiedener Stärke vereinigen. Alle diese Bündel bilden unzweifelhaft ein einheit- liches Ganzes, eben die von Schaper bestrittene Mark'^chicht (Nervenfaserschicht). Ein Teil der erwähnten Markfaserbündel zieht an der Basis des Kleinhirnkörpers in die Valvula cerebelli. Am Frontalschnitt ist erkennbar, daß die Körnerschicht der Valvula medial nahezu symmetrisch gebuchtet ist, welche Einbuchtungen durch stärkere Aus- bildung der Molekularschicht an den entsprechen- den Stellen zustande kommen. Die Molekular- schicht ist besonders medial stark entwickelt, um lateral an Breite allmählich abzunehmen. Die Purkinje'schen Zellen stehen nicht in einer Reihe, wie solches für das Kleinhirn der Vögel und Säuger charakteristisch ist. Sie stehen viel- mehr unregelmäßig, oft zu lockeren Gruppen an- geordnet. Die Purkinje'schen Zellen bilden, wie schon Schaper hervorhebt, keine scharfe Grenze zwischen Molekular- und Körnerschicht. Einzelne Purkinje'sche Zellen stehen weit in der Molekular- schicht, in den erwähnten Einbuchtungen sind sie dagegen nur vereinzelt zu finden. Sie haben einen einzigen Dendriten, welcher sich erst in seinem Verlauf gabelt und lange Äste in die Molekular- schicht sendet, wie an Weigert-Präparaten zu sehen '. (' -M * n ) .:♦... i Abb "V '^^ -T- I. Mikroskopische Anatomie des Teleostierkleinhirns. M Molekularschicht. P Purkinje'sche Zellen. K Körnerschicht. NF Nervenfaserschicht (Markschicht). ist. Auch Schaper teilt mit, daß das spitze Ende der Purkinje'schen Zelle einen Fortsatz ent- sendet, der senkrecht aufsteigend in die Molekular- 8o Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVin. Nr. 6 Schicht gelangt oder eine Strecke weit in der Purkinje'schen Schicht verläuft und dann reichlich aufästelt. Im Gegensatz zu meiner undSchaper's Beobachtung zeichnet Edinger die Purkinje'schen Zellen der Ellritze mit zwei bis mehreren Fort- sätzen. An Bielschowsky-Präparaten ist er- sichtlich, daß die Purkinje'schen Zellen von Nerven- fasern umsponnen werden, welche — analog den Verhältnissen bei den Säugetieren — den Korb- zellen der Molekularschicht entstammen müssen. In der Molekularschicht befinden sich wenige Zellen von rundlicher Gestalt, welche als Korb- zellen gedeutet werden können. Wie schon Schaper hervorhebt, gibt es in der Molekular- schicht der Teleostier nur eine einzige Art von Zellen. Außer diesen finden sich zahlreiche Kapil- laren und Fasern, welche vorwiegend senkrecht ^ur Oberfläche verlaufen. Wie an nach Biel- schowsky gefärbten Präparaten zu sehen ist, gehen von den Vertikalfasern feine, horizontal ver- laufende Abzweigungen aus. Als Besonderheit muß hervorgehoben werden, daß an der Basis des Kleinhirns Körnerzellen in netzförmig angeordneten Gruppen stehen. Die Zone, welche sie ein- nehmen, erstreckt sich nahezu über die ganze Basis des Corpus cerebelli. Die Valvula cerebelli,') welche den in den Aquaeductus wachsenden Teil des Kleinhirns vorstellt, zeigt den gleichen histo- logischen Bau wie der Körper des Kleinhirns. Während aber die Körnerschicht des Corpus cerebelli eine geschlossene Masse bildet, teilt sich diese an der Basis dermaßen, daß in der Valvula cerebelli ein Teil der Körnerschicht basal, ein schmälerer Streifen Körnerzellen dorsal zu stehen kommt, wie an manchen lateralen Schnitten zu sehen ist. Eine Brücke, aus gleichen Zellen be- stehend, verbindet beide Schichten der Valvula. Die Abgrenzung der Körnerschicht des Corpus cerebelli gegen die Molekularschicht ist keine scharfe. Ludwig Reisinger. ') Die Bezeichnung stammt von Stieda. Einzelberichte. Biologie. Die Bedeutung der Frühehe für die VolksverjTiehrung nach dem Kriege behandelt Dr. Alfred Ploetz in der „Münchner med. Wochen- schrift", 1918, S. 452—455. Die Frühehe wirkt geburtenfördernd nicht nur wegen der längeren Ehedauer, die sie mit sich bringt, sondern auch r" deshalb, weil die P'ruchtbarkeit in jungen Jahren jl' größer ist als im reiferen Alter. Der Geschlechts- ■,,>; verkehr junger Leute ist noch ganz triebhaft, diej| Kenntnis von Präventivmitteln mangelt noch vielen,! oder sie ist oberflächlich. Mit zunehmenden'j* Jahren wächst die Beherrschung des Triebes sowie^' die Kenntnis der Verhütungsmaßregeln und damitf._ sinkt die Kinderzahl. Bemerkenswert ist der Unter-jA schied in der Häufigkeit der Frühehe in Deutsch- i land und Rußland; von je lOOO heiratenden männ- lichen Personen standen zu Beginn dieses Jahr- hunderts im Alter von weniger als 20 Jahren in Rußland 325, in Deutschland aber nur 6, von je 1000 heiratenden weiblichen Personen waren in Rußland 571 und in Deutschland 161 weniger als 20 Jahre alt. Damit stehen auch die Geburten- ziffern im Einklang: In Rußland betrug im Jahre 191 1 die Geburtenhäufigkeit 45,1 pro Mille, in Deutschland betrug sie bloß 28,6 pro Mille der Bevölkerung. Die Angabe, daß in den amerikani- schen Neuenglandstaaten sehr früh geheiratet wird, ist jedoch irrtümlich; im Gegenteil, F"rühehen sind in den Neuenglandstaaten seltener als in allen übrigen geographischen Regionen der Vereinigten Staaten. Die vorzeitige Ehe, das ist bei uns die Ehe weniger als 18 jähriger weiblicher und weniger als 21 jähriger männlicher Personen, „ist wegen der seelischen Unreife und der wahrschein- lichen vorzeitigen Abnutzung beider Teile, sowie wegen der leichtsinnigen Pflege der vor der Reife erzeugten Kinder nicht zu empfehlen", ob zwar es erfolgreiche Ehen, die sehr frühzeitig geschlossen wurden, ebenfalls gibt. Die Möglichkeit einer Vermehrung der Frühehen ist bei uns in Deutsch- land sehr groß, denn im letzten Friedensjahr, 191 3, waren nur etwas mehr als ein Viertel aller eheschließenden Männer 21 — 25 Jahre alt und un- gefähr ein gleicher Anteil aller heiratenden Mäd- chen stand im Alter von 18 — 22 Jahren. Diese Jahre nimmt Ploetz als Alter der Frühehe an. Spätehen sind die von mehr als 30 jährigen weib- lichen und mehr als 35 jährigen männlichen Personen; ungefähr ein Siebentel aller Ehe- schließenden geht Spätehen ein, die wohl zumeist kinderarm bleiben, selbst wenn absichtliche Ver- hütung der Empfängnis nicht stattfindet. Praktisch spielen die Spätehen keine sehr wichtige Rolle; bei dem Problem der ausgiebigen Volksvermehrung kommt es vielmehr in erster Linie darauf an, die mittelzeitigen Ehen der Männer von 25 — 35 und der Frauen von 22 — 30 Jahren in Frühehen zu verwandeln. Die Zunahme der Frühehen würde manche günstige Wirkung haben, wie etwa die Verminderung der Geschlechtskrankheiten und des Alkoholismus, die nicht nur die be- troffenen Personen, sondern die Rasse im ganzen schädigen. Durch die F"rühehe wird die Zeit zwischen dem Beginn des Sexuallebens und der Eheschließung stark verkürzt und damit die Mög- lichkeit der geschlechtlichen Ansteckung ebenso stark vermindert; viele junge Männer könnten durch die Frühehe der Prostitution ausweichen und sie blieben von Geschlechtskrankheiten verschont, die gegenwärtig wohl die häufigste Ursache der Unfruchtbarkeit sind. Die Frühehe bringt jedoch auch Nachteile mit sich, wie Leichtsinn bei der N F. XVIII. Nr. 6 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 8i Gattenwahl, die Abkürzung der für die wirtschaft- liche Selbständigkeit des Mannes wichtigen Wanderjahre, die Verminderung der Ausmerzung Untüchtiger vor der Fortpflanzung usw. Der eben erwähnte Umstand ist von biologischer Bedeutung, da die Frühehe so manchem zur Fortpflanzung verhilft, der sonst infolge seiner mangelhaften Körperkonstitution ohne Hinterlassung von Nach- kommen gestorben wäre. Die Gefahr der Ver- erbung körperlicher und geistiger Mängel durch Abschwächung der Auslese ist unbestreitbar groß, doch muß demgegenüber betont werden, daß es für die nächsten Jahre in der Hauptsache auf die Vermehrung der Zahl der Kinder ankommt, um die durch den Krieg verursachten Bevölkerungs- verluste wieder auszugleichen. Zur Förderung der Frühehe kommen alle Erleichterungen der wirt- schaftlichen Lage der Bevölkerung in betracht, ferner die Abkürzung der beruflichen Ausbildungs- zeit der Männer, die Gewährung staatlicher Er- ziehungsbeiträge usw. — Um dem Egoismus und Rationalismus beider Geschlechter in bezug auf Ehe und Fortpflanzung entgegen zu arbeiten, er- achtet es P 1 o e t z als notwendig, „ durch starke erziehliche Einwirkungen bereits in der Schule in allen Schichten der Gesellschaft, besonders aber in den höheren, soviel Liebe znm eigenen Volks- tum zu erwecken, daß es in der eigenen Willens- richtung liegt, für dieses Volkstum nicht nur im Kriege zu kämpfen, sondern auch im Frieden für seine Erhaltung und künftige Blüte durch Gründung einer Familie und ausreichende Aufzucht von Kindern zu arbeiten." H. Fehlinger. Theoretische Bedeutung und Terminologie der Vererbungserscheinungen bei haploidenOrgani-Nmen. (Hartmann, Zeitschr. f. ind. Vererbungsl. 20. 191 8/9.) Mehr und mehr ist man in den letzten Jahren bestrebt, die Ergebnisse der Mendels' sehen For- schung mit denen der Cytologie in Beziehung zu setzen. Der Gedankengang ist dabei folgender: Wenn 2 verschiedenartige Sexualzellen miteinander verschmelzen, dann entstellt eine einheitliche Bastardgeneration, die aber bei Selbstbefruchtung nicht konstant bleibt, sondern in der Weise auf- spaltet, daß neben den beiden Ausgangsformen auch Mischtypen auftreten, welche die großelter- li«hen Eigenschaften in der verschiedensten Kom- bination enthalten. Da liegt es denn ohne weiteres nahe, für diese Aufspaltung die Vorgänge bei der Reduktionsteilung verantwortlich zu machen. Im Sexualakt verschmelzen die Kerne der Ei- und der Samenzelle, so daß nunmehr ein Organismus mit doppelter Chromosomenzahl entsteht. Jede höhere Pflanze und jedes höhere Tier ist, wie man sich ausdrückt, ein ,,diploider" Organismus. Bei den sogenannten Reifungsteilungen gehen nun die Kerne der Sexualzellen durch den „Reduktions- prozeß" wieder in den haploiden Zustand über. Während sich bei allen vegetativen Teilungen die Chromosomen der Länge nach spalten, werden bei der Reduktionsteilung ganze Chromosomen auf die beiden Tochterzellen verteilt. Man hat nun berechtigten Grund zu der Annahme, daß in den Chromosomen der Sitz der körperlichen Merk- male ist. Bei einem Bastardkern sind also sowohl die väterlichen als auch die mütterlichen Eigen- schaften repräsentiert. Man kann nun sehr wohl annehmen, daß bei der Reduktion die väterlichen und mütterlichen Merkmalspaare getrennt werden. Dieser Prozeß wird sich aber nicht so abspielen, daß sich immer wieder die Elemente gleicher Herkunft zusammenfinden, sondern jede Sexual- zelle enthält einen einfachen Chromosomensatz, bei dem die elterlichen Komponenten in der ver- schiedensten Weise miteinander kombiniert sind. Und da nun bei der Befruchtung der Zufall ent- scheidet, welche dieser heterogenen Sexualzellen miteinander verschmelzen, so ist das ganze kom- plizierte Bild, welches die Bastardierungsversuche ergeben haben, verständlich. Allerdings besteht hier der mißliche Umstand, daß man niemals die Aufspaltung der Sexualzellen direkt, sondern immer nur die Neukombination beobachten kann, da ja der fertige Organismus stets das Verschmelzungsprodukt darstellt. Es ist daher verständlich, daß man sich nach Organismen umgesehen hat, bei denen die Verhältnisse einfacher liegen, bei denen man also die Aufspaltung unmittelbar verfolgen kann. Hart- mann stellt die einschlägigen Daten in einer kurzen Übersicht zusammen. Das günstigste Ma- terial stellen gewisse niedere Organismen dar. Positive Ergebnisse sind hier bei Chlamydomonas und Phycomyces erzielt worden. Chlamydomonas ist eine einzellige Alge mit haploiden Kernen. Die Pflanze vermehrt sich auf geschlechtlichem Wege durch Schwärmer, welche paarweise mit- einander verschmelzen. Nach der Vereinigung entsteht die Zygote, das einzige Stadium mit diploider Chromosomenzahl. Denn bei der Kei- mung der Zygote erfolgt sofort die Reduktions- teilung; es werden 4 Zoosporen gebildet, die also wieder haploid sind und aus denen im Laufe der Entwicklung eine normale Chlamydomonaszelle -hervorgeht. Pascher ist es nun gelungen, die Gameten von 2 verschiedenen Chlamydomonas- arten zur Verschmelzung zu bringen. Es entstand eine Bastardzygote von deutlichem Mischcharakter. In zahlreichen Fällen war nun nach den Angaben von Pascher zu konstatieren, daß die 4 aus der Zygote hervorgehenden Chlamydomonasindividuen nicht gleichartig waren sondern zur Hälfte dem einen, zur Hälfte dem anderen Ausgangstypus nachschlugen; das ließ sich an der Gestalt der Zelle, der Beschafienheit der Membran, der Lage des Chromatophoren und der Gestalt des Augen- flecks deutlich nachweisen. In anderen Fällen sollen ebenfalls im Verhältnis i : i Mischtypen aufgetreten sein, welche Eigenschaften beider Eltern in besonderer Mischung zeigten. Diese Spaltungen können hier nur auf die Reduktions- teilung zurückzuführen sein, da ja der Verschmel- 82 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 6 zungskern sich unmittelbar wieder aufteilt. Ähnlich liegen die Verhältnisse bei Phycomyces, nur daß hier die diploide Phase verlängert erscheint. Dieser Pilz besitzt zweierlei Myzelien, welche morpholo- gisch gleichgestaltet aber physiologisch differen- ziert sind; die einen sind nämlich männlich (-[-), die anderen weiblich ( — ) gestimmt. -J- und — = Mycelien, welche beide haploide Chromosomen- zahl aufweisen, kopulieren miteinander und es ent- stehen diploide Zygoten. Aus den Zygoten geht ein ebenfalls diploider Ursporangienträger hervor, welcher zur Sporenbildung schreitet; hierbei findet die Reduktionsteilung statt, es entstehen zu gleichen Teilen -j- und — gestimmte Sporen, die sich zu entsprechenden Myzelien entwickeln. Das Ge- schlecht spaltet also wie ein mendelndes Eigen- schaftspaar. Es ist Burgeff nun gelungen die Myzelien von 2 Phycomycesformen (Ph. nitens und piloboloides) zur Kopulation zu bringen. Es ent- standen nun Bastardzygoten und Bastardursporan- gienträger, welche nun viererlei Sporen und damit auch viererlei Myzelien in gleicher Anzahl produ- zierten : nitens -\-, nitens — , piloboloides -\- und piloboloides — . Es ist also eine Aufspaltung so- wohl hinsichtlich der geschlechtlichen Charaktere als auch hinsichtlich der morphologischen Merk- male eingetreten, genau das also, was nach der Theorie zu erwarten war. Entsprechende Ver- hältnisse wie bei diesen niederen Formen kann man auch bei höheren Organismen erwarten dort, wo die Kopulation unterbleibt, also parthenogene- tische Entwicklung stattfindet. Dies ist bekannt- lich bei den Bienen der Fall; die Männchen gehen hier aus unbefruchteten Eiern hervor. Eine Bastard- königin muß nun, wenn in der Reduktionsteilung tatsächlich die Aufspaltung elterlicher Eigenschaften erfolgt, zwei Sorten von Eiern ergeben, die falls sie unbefruchtet bleiben, sich zu zweierlei Männ- chen heranbilden und zu gleichen Teilen dem Großvater und der Großmutter nachschlagen. Tat- sächlich hat Newell solche Verhältnisse bei den Bienen aufdecken können. Er kreuzte Apis ligustica $ mit Apis carnica (J und erhielt richtige Bastard- weibchen, aber lauter Ligusticamännchen, was ja auf Grund der parthenogenetischen Entwicklung der letzteren selbstverständlich ist. Die reziproge Kreuzung A. carnica X A. ligustica ^ ergab ent- sprechend Bastardweibchen und lauter carnica- Männchen. Die in beiden Versuchen entstandenen Bastardweibchen lieferten nun, genau wie zu er- warten war, 50 "/q ligustica- und 50 "/q carnica- Männchen. Es ist also tatsächlich bei den Rei- fungsteilungen zu einer Aufspaltung in 2 Sorten von Eiern erfolgt, und somit haben sich die Er- wartungen auch für die höheren Organismen be- stätigt. P. Stark. Physik. Verflüssigung des Kohlenstoffs. Vor einigen Jahren gelang es O. L u m m e r ') die ') O.Lummer, Verflüssigung der Kohle und Herstellung der Sonnentemperatur. Verlag Vieweg & Sohn, Braunschweig 1914 und Naturw. Wochenschr. .\II1, S. S12 — 815 (1914). Temperatur des elektrischen Lichtbogens durch Verwendung verhältnismäßig geringer Stromstärke und durch passende Wahl des atmosphärischen Druckes beträchtlich zu steigern. Die hellste und heißeste Stelle des Kohlenlichtbogens ist der positive Krater, wo die Oberfläche der Kohle durch die Stoßkraft der von der Kathode mit höchster Geschwindigkeit kommenden Elektronen zur Weißglut erhitzt wird. Nach den sehr ge- nauen Messungen L u m m e r ' s beträgt die Tempe- ratur des positiven Kraters unter normalen Ver- hältnissen rund 3925 "C. Auch durch große Steigerung der Stromstärke läßt sich nach Lum- mer's Messungen die Temperatur des elektrischen Lichtbogens nicht erhöhen, da der angegebene Wärmegrad wohl die Verdampfungstemperatur des Kohlenstoffs bei normalem Luftdruck darstellt. Bei seinen berühmten Versuchen betrieb Moissan den Kohlenlichtbogen mit Strömen von sehr be- trächtlicher Stärke (bis zu 2200 Ampere); da aber die Kohle bei etwa 3925 " C aus dem weißglühen- den festen Zustand unmittelbar in den gasförmigen Zustand übergeht, so erreichte auch Moissan keine wesentlich höheren Temperaturen wie in einer gewöhnlichen Bogenlampe. Als Lummer die Flächenhelligkeit und damit die Teinperatur des positiven Kraters durch die angeführten Be- dingungen erheblich steigerte, überzog sich die weiljglühende positive Kohle mit einer flüssigen Masse, in welcher anscheinend sehr lebhaft be- wegte und sehr helle Teilchen, welche Lummer Fische nannte, umherschwammen. Lummer hält die bewegliche Masse für flüssigen Kohlen- stoff, in welchem sich sehr viele kleine (Durch- messer etwa 0,1 mm) rneist sechseckige Graphit- kristalle bis zu ihrem Übergang in den flüssigen Zustand bewegen. Die Untersuchung der er- kalteten positiven Elektrode ergab auch, daß sie von einer Schicht echten Graphits überzogen war. Von verschiedenen Seiten wurden die Versuche zur Verflüssigung des Kohlenstoffs mit Erfolg nachgeprüft, aber die Deutung der Erscheinung am positiven Krater als Schmelzen der Kohle begegnete manchem Zweifel. Neuerdings wieder- holte M. LaRosa^) die Beobachtungen Lum- mer's, deutete sie aber ganz anders. Nach La Rosa blättern sich vom positiven Krater fortge- setzt Graphitteilchen ab, werden durch die Gas- atmosphäre des Lichtbogens lebhaft hin und her bewegt und nachdem sie zur Weißglut erhitzt sind, verdampfen sie ohne vorher in den flüssigen Zustand überzugehen. Die Bewegung der auf- steigenden und verdampfenden Graphitteilchen, der Fische nach Lummer, soll keineswegs immer der eines festen Körpers in einer Flüssigkeit gleichen ; nur unter Umständen soll das Abblättern und die lebhafte Bewegung der Teilchen eine Flüssigkeit vortäuschen. Bei der Beobachtungs- temperatur schmilzt nach La Rosa der Kohlen- ') Gazz. chim. ital. 47. 19 — 31 (1917) nach Chem. Zcntral- blaU Bd. II Nr. 1/2 S. 9 (1918). N. F. XVni. Nr. 6 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 83 Stoff nicht, sondern er geht nur aus dem amorphen in den kristallinischen Zustand des Graphits über. La Rosa') hat früher selbst Versuche über das Schmelzen der Kohle angestellt. Er brachte Kohlenstaub in den selbstönenden Lichtbogen, der eine höhere Temperatur erreichen lassen soll wie der gewöhnliche Flammenbogen. Es setzten sich an den Elektroden Inkrustationen von fettig glänzendem Graphit an. Nach La Rosa wurden die Kohlenstäubchen durch die hohe Temperatur des tönenden Lichtbogens geschmolzen und die Kohlentröpfchen verschweißten sich dann mit den Elektroden. Einige Teilchen des „flüssigen" Kohlenstoffs will La Rosa sogar als Diamant- kriställchen erhalten haben. Lummer bezeichnet mit Recht die Angabe von La Rosa für das Ge- schmolzengewesensein der Kohle als „Indizien- beweise". La Rosa hält seine früheren Be- obachtungen aufrecht, während er den „augen- scheinlichen'' Beweis für den flüssigen Zustand des Kohlenstoffs in Lummer's Versuche^n nicht gelten läßt. Wenn nach allem auch noch mehr Beweise für die Verflüssigung der Kohle im elektrischen Flammenbogen notwendig sind, so bleibt Lummer doch das große Verdienst bei seinen weiteren wichtigen Studien am Kohlen- lichtbogen die Temperatur des positiven Kraters auf 6000" abs. gesteigert und damit die effektive Sonnentemperatur im Laboratorium der Forschung erschlossen zu haben. Karl Kuhn. Meteorologie. Sowohl für den Wärmehaus- halt der Erde als auch im besonderen für das Ge- deihen der Pflanzenwelt ist die Art und Weise, wie die Sonnenstrahlung auf die Erde fällt und sich verteilt, von großer Bedeutung. W. Gallen- kamp (Met. Ztschr. 35. 209, 1918) hat deshalb Messungen der photochemischen Intensität des Himmels mit dem Skalenphotometer vorgenommen. Wegen der Einfachheit seiner Anwendung eignet sich dieses Instrument — es wurde die von der neuen photographischen Gesellschaft hergestellte Lux'sche Kopieruhr benutzt — ganz besonders, wenn man keine absoluten Werte braucht. Es wurden zunächst gesonderte Messungen für den Nord- und Südhimmel angestellt. Der Ein- fluß der indirekten Strahlung konnte so von der direkten der Sonne getrennt werden. Die diffuse Strahlung zeigt bei wechselnder Bewölkung den umgekehrten Gang wie die direkte, d. h. also, der blaue Himmel strahlt an sich so gut wie garnicht. Die Nordseite eines Gebäudes erhält nur etwa l3''/o der Gesamtstrahlung. Diese Erscheinung, die natürlich für die Vegetation von großer Wichtigkeit ist, ist auch dem Photographen längst bekannt. Bei der Betrachtung der Gesamtstrah- lung kommt dieser Umstand auch in auffälliger Weise zur Geltung; im Frühjahr und Herbst, wenn die Sonne schon niedrig steht, ergibt sich an klaren Tagen eine sehr geringe Gesamtintensität. ') Ann. d. Phys. 34, 95—105 (191 1)- Der mittlere jährliche Verlauf der Strahlung wird in erster Linie durch die Deklination der Sonne bestimmt. Daraus würde sich bei graphischer Darstellung eine Sinuskurve ergeben. Es lagern sich jedoch die Bewölkungseinflüsse darüber. Die Beobachtungen Gallenkamp's für München ergeben dadurch für Juni ein steiles Maximum der Strahlung und im Dezember ein flaches Minimum. Bei den Extremen ist also stets eine übernormale Gesamtstrahlung vorhanden, zu den Übergangs- zeiten eine unternormale. Dies kann sich nun für andere Orte mit anderen mittleren Bewölkungs- verhältnissen entsprechend verschieben. Scholich. Über die für den Pflanzenwuchs außer- ordentlich wichtige nächtliche Abühlung der bodennahen Luftschichten veröffentlicht G. Hell- mann interessante Untersuchungsergebnisse (Sitz.- Ber. Berl. Ak. d. Wiss. 191 8, S. 806). Auf der Beobachtungswiese des Potsdamer' Observatoriums wurden 10 Miniumthermometer in 5, 10, 15 usw. bis 50 cm Höhe über dem Boden mit Strahlungs- schutz angebracht und in der Zeit vom August 1916 bis September 191 7 jeden Morgen ab- gelesen. Wie zu erwarten war, ergab sich zunächst, daß die nächtliche Temperaturschichtung am meisten von der Bevölkerung abhängt. Für ganz heitere Nächte ergab sich die erstaunlich hohe Temperaturzunahme von 2,7" vom untersten zum obersten Thermometer. Die Extrapolation ergibt, daß das nächtliche Temperaturminium in 50 cm Höhe, an klaren Nächten im Mittel S^W höher liegt als das unmittelbar über dem Boden. Die Temperaturabnahme findet ganz regelmäßig mit abnehmender Höhe statt, nur beim Eintritt in den Boden selbst findet ein Sprung statt. Solche außerordentlich starke Temperatur- gradienten, wie sie hier durch die Strahlung in den bodennahen Schichten hervorgerufen werden, finden sich sonst nur im Erdboden wieder. In der Atmosphäre sind sie unbekannt, denn wenn die Luft durch Erwärmung von selbst aufsteigt, so wird nur ein Gradient von 0,34" auf 1 m er- zeugt. Die in so hohem Maße stagnierende Luft setzt naturgemäß dem Eindringen des Windes sehr großen Widerstand entgegen, sie folgt in ihrer Bewegung nur noch der Schwere. Dem- entsprechend sammelt sie sich an den tiefsten Stellen des Geländes an und bildet hier soge- nannte Frostlöcher. Damit erklärt sich auch die Bildung von Bodennebeln über feuchten Wiesen usw. An ganz trüben Nächten ohne wesentliche Luftbewegung herrschte in der ganzen Beob- achtungsschicht fast immer Isothermie. Bei teil- weiser Bevölkerung sind die Temperaturdiffe- renzen dem Bevölkerungsgrad nahezu proportional. Bei windigem und regnerischem Wetter trat sogar Temperaturabnahme mit der Höhe ein, und zwar ist dieselbe anscheinend der Quadrat- 84 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 6 Wurzel aus der Windgeschwindigkeit proportio- nal. Man kann also im ganzen sagen, daß die für gewöhnlich in ca. i V2 rn Höhe vorgenommenen Temperaturbeobachtungen ein nur wenig zuver- lässiges Bild von den Wärmverhältnissen des Bodens geben. Scholich. Einige Hauptzüge aus der Natur der Tromben teilt Prof. A. Wegener in Met. Zeitschrift 1918 S. 245 fif. mit als Auszug aus seinem Buche „Wind- und Wasserhosen in Europa". ') Der Aufsatz ver- folgt den Zweck, die Beobachter der genannten Erscheinungen darüber zu unterrichten, worauf gegebenenfalls besonders zu achten ist, und die gegebenen Anweisungen sind nicht nur für den Meteorologen sondern für den Naturfreund über- haupt von Interesse, da der erstere nur selten und durch Zufall Gelegenheit zur Anstellung der entsprechenden Beobachtungen haben wird und somit auf die Mitarbeit weiter Kreise angewiesen ist. Dieser in der Erscheinungsart der Tromben begründete Umstand bringt es auch mit sich, daß der zugrunde liegende physikalische Vorgang noch recht wenig geklärt ist. Die Tromben treten fast durchweg in Ver- bindung mit Gewittern auf Von der Wolken- decke senkt sich ein Luftwirbel herab, der sich mehr und mehr verlängert, schließlich einen von Nebel erfüllten Schlauch bildet und infolge seiner großen Kraft auf der Erdoberfläche eine durch schwere Zerstörungen gekennzeichnete Spur hinter- läßt. Genaue Angaben über Ta^es- und Jahres- zeit der Erscheinungen liefern Beiträge zur Er- mittelung der täglichen und jährlichen Häufigkeits- schwankung. Diese unterscheidet sich zwar wenig von jener der Gewitter, doch scheint es, daß die Gewitter im Frühjahr und am Abend arm an Tromben, diejenigen im Herbst und am Vormittag reich an Tromben sind. Auch die Gestaltung der Erdoberfläche scheint nicht ganz gleichgültig für die Trombenbildung zu sein, die anscheinend im Windschutz großer Gebirge besonders günstige Vorbedingungen findet. Von den Tromben bevorzugte Gegenden sind z. B. Schweden, Schlesien, die südfranzösische Ebene zwischen Toulouse und dem Golfe du Lion, aber auch eneere geschützte Räume, wie die Alpen- seen und vielleicht das Rheintal kommen dafür in Betracht. Statistischen Wert haben ferner Angaben über die Zugrichtung, Zuggeschwindigkeit, Weglänge und Lebensdauer der Tromben. Mehr als die Hälfte aller Tromben zog in Europa aus Südwest bis West, nur ein Viertel kam aus dem Nordost- quadranten. Die Zugrichtung scheint gegen die der Gewitter allgemein etwas nach links ver- schwenkt zu sein. Die mittlere Geschwindigkeit des Fortschreitens ist nur 23 km in der Stunde gegen 38 bei den Gewittern. Die Weglängen ') Braunschweig 1917, Fricdr. Viewcg & Sohn („Die Wissenschaft", Band 60). schwanken zwischen o und 400 km, am häufigsten sind Werte zwischen i und 10 km. Die Lebens- dauer liegt meist zwischen 12 und 30 Minuten und betrug in den beiden äußersten Fällen 5 Se- kunden und 3 Stunden 20 Minuten. Die Breite der durch Zerstörungen gekennzeichneten Spur schwankt nach den bisherigen Erfahrungen — Wegener behandelt in seinem Buch 258 Fälle — zwischen 6 m und 2300 m. Das Mittel liegt etwa bei 200 m. Gelegentlich kommen Bahn- krümmungen vor, deren Natur noch rätselhaft ist. Es sind Andeutungen vorhanden, daß die Gestal- tung der Erdoberfläche dabei eine Rolle spielt. In einem Falle hat man eine völlige Teilung be- obachtet, nach welcher die beiden Teiltromben selbständige Wege einschlugen und sich meilen- weit voneinander entfernten. Nicht selten werden von der gleichen Gewitter- wolke mehrere Tromben nebeneinander ausgebildet. In 47 von 255 Fällen ist dies festgestellt worden. In 5 Fällen handelte es sich dabei um 10 oder mehr Wirbel. Auch kommt es vor, daß „Doppel- gänger" gleichzeitig in großer Entfernung von- einander auftreten, die zwar durch keine engere Beziehung verknüpft sind, aber offenbar unter dem Einfluß der gleichen Wetterlage entstehen. Während der Drehungssinn der großen atmo- sphärischen Wirbel, der Zyklonen, die oft lOOO und mehr Kilometer im Durchmesser haben, durch die Erdrotation bestimmt wird und auf der nördlichen Halbkugel entgegengesetzt der Uhr- zeigerbewegung gerichtet ist, sind die in viel rascherer Umdrehung begriffenen Tromben diesem Einfluß weniger unterworfen. Es kommen rechts- und linksdrehende Tromben vor, immerhin aber ist die zyklonische Drehung mit 72 v. H. viel häufiger als die antizyklonische mit 28 v. H. Ob eine Beziehung zwischen dem Drehungssinn und der Lage der Trombe gegen das Gewitter besteht, ist noch nicht aufgeklärt. Die Windgeschwindigkeiten in der Trombe dürften zwischen 50 und loo Sekundenmetern liegen. Sichere Messungen fehlen zunächst noch. Aus umgestürzten Gartenmauern lassen sich nach einem einfachen und verhältnismäßig sicheren Ver- fahren Winddruck und Geschwindigkeit berechnen, wobei man für letztere etwa 75 Sekundenmeter erhalten hat. Infolge der raschen Drehung ent- steht im Innern der Trombe ein luftverdünnter Raum. Die Theorie verlangt eine Druckvermin- derung von 20 bis 50 mm. Die bisher erhaltenen Registrierungen ergaben einen plötzlichen Fall des Barometers mit darauffolgendem ebenso raschem Ansteigen um nur etwa 10 mm, eine einzelne Registrierung auf See zeigt 35 mm Druck- unterschied. Es ist selbstverständlich ein großer Zufall, wenn das Zentrum einer Trombe über eine mit den nötigen Instrumenten ausgestattete Wetter- warte hinwegzieht, und es bleibt zweifelhaft, ob das bei den angeführten Registrierungen wirklich der F"all gewesen ist. Daß diese Druckverminderung eine heftige N. F. XVin. Nr. 6 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 8s Saugwirkung hervorbringt, erkennt man an der Fallrichtung der Bäume, die beiderseits der Spur gegen diese hin niederstürzen. Auch werden Gegenstände in große Höhen emporgerissen. Eine weitere Folge der Druckverminderung ist die starke Abkühlung der inneren Luftmassen. Der dort vorhandene Wasserdampf kommt dabei zur Verdichtung und macht die ganze Erscheinung als einen von den Wolken zur Erde reichenden Nebelschlauch sichtbar, der also nicht, wie man anzunehmen geneigt ist, aus emporgesogenem Staub oder den Wolken entführten Nebelmassen besteht. Der Nebelstrang erfüllt nur den inneren Teil des Wirbels; in seiner ganzen Breite wird dieser an der Erdoberfläche sichtbar, wo die mitgeführten irdischen Bestandteile einen trichterförmig er- weiterten Fuß bilden, der manchmal Kugelgestalt annimmt. Über Wasserflächen besteht dieser Fuß aus einer von hohen Wellen gebildeten Wasser- krone. Bei besonders heftigen Tromben erscheint er als 20 bis 30 m hoher hohler Wasserturm, dessen Inneres anscheinend stark vertieft ist, während feinster Gischt bis zu den Wolken empor- gerissen wird. Eigenartig und noch wenig geklärt sind die Beziehungen der Tromben zum Hagel, mit dem sie sehr häufig gemeinsam auftreten. Auch die Hagelfelder haben bekanntlich vielfach die Gestalt eines nicht allzu breiten Streifens, und die Tromben bevorzugen zweifellos die rechte Seile des Hagel- feldes. Auch in einigen Fällen, wo die Trombe schon erloschen war, ehe der Hagel einsetzte, fällt die Verlängerung der Trombenspur mit dem rech- ten Hagelrand zusammen, der auch vielfach durch das Niederfallen einzelner, besonders großer Hagel- körner ausgezeichnet ist. Ihre Entstehung kann man sich dadurch erklären , daß sie durch den Trombenwirbel längere Zeit schwebend erhalten werden und durch unterkühlten Regen, Nebel und Schnee ein rasches Wachstum erfahren. In gleicher Weise können größere Regenmengen in der Höhe zurückgehalten werden, die dann als geschlossene Wassermassen niederstürzen und Anlaß zur Er- scheinung eines „Wolkenbruchs" geben. Merkwürdige Erfahrungen hat man an den mitgeführten irdischen Gegenständen gemacht, die manchmal bis zu 50 km weit durch die Luft ge- tragen wurden und schließlich an Orten nieder- fielen, die 20 km seitwärts der Trombenspur lagen. Zur Erklärung dieser Erscheinung kann nur die Annahme dienen, daß sich der Luftwirbel innerhalb der Wolkenschicht in horizontaler Rich- tung weithin fortsetzt. Demnach käme für uns nur ein kleinster Teil davon zur Wahrnehmung in Gestalt des von den Wolken zur Erde reichenden Halses. Es drängt sich dabei der Gedanke auf, ob nicht diese Wirbel überhaupt bei der Bildung des Hagels eine größere Rolle spielen als bisher angenommen wurde. Jedenfalls würde man die oft überraschende Größe der Eiskörner auf diese Weise zwanglos erklären können, während der Wirbel, der in den meisten Fällen keinen Hals nach der Erde hin ausbilden wird, dem Auge völlig unsichtbar bleiben könnte. Die Entstehung der Tromben folgt offenbar nicht aus der allgemeinen sondern aus der ört- lichen Wetterlage und steht zu jener nur in mittel- barer Beziehung. Der nähere Vorgang ist noch fast völlig unbekannt. Zweifellos wird der Anstoß durch die Windverhältnisse in der Höhe gegeben. Eine besondere Rolle scheint dabei die Schich- tung des Windes zu spielen, und auch den Hagel- türmen, die oft bis zur Cirrusregion, 5000 bis 8000 m hoch, emporstoßen, scheint eine Mitwir- kung vorbehalten zu sein. Näheres darüber müssen weitere Untersuchungen ergeben, die naturgemäß durch die Seltenheit der Erscheinung und die sonstigen Nebenumstände sehr erschwert sind. Prof. W e g e n e r gebührt das große Verdienst, daß er vor allem einmal die den Tromben gemein- samen Züge festgestellt und damit weiteren For- schungen den Boden geebnet hat. C. H. Geologie. Die Entstehung der Trockentäler behandelt Erwin Scheu. (Festband für Al- brecht Penck, S. 93 — 106). Daß auch bei den Trockentälern fließendes Wasser die formengestaltende Kraft ist, beweist in den Trockentälern der schwäbischen Alb und der Ardennen das Auftreten von Flach- und Steil- hängen, von gut erhaltenen Prallhängen. Selbst Terrassen, die mit Schotter bedeckt sind, verraten in Trockentälern fluviatile Entwicklung. Beim Wechsel von wasserführenden und wasser- stauenden Schichten kann das oberirdisch fließende Wasser leicht zum Grundwasser abgezapft werden, wenn der Fluß über durchlässige Schichten hin- fließt. Die „Poren" seines Untergrundes füllen sich mit vom Fluß abgegebenen Wasser, so daß das Grundwasser zur Talsohle heranreicht. Kalk- gebiete können so viel Wasser verschlucken, daß der Fluß das Porenvolumen der Untergrundschicht nicht zu füllen vermag. Kommen, wie bei der oberen Donau, Verwerfungsspalien und Klüfte als Wasserschlucker vor, dann entstehen F"luß- schwinden, denen talabwärts Trcckentäler folgen müssen. Nun kann das Sickerwasser bis zu einer wasserundurchlässigen Schicht sinken, unterirdisch als Grundwasser auf dieser weiterfließen bis diese Schicht entlang der Talsohle wieder ausstreicht. Dann erscheint der Fluß wieder. Diese Er- scheinung kann sich wiederholen innerhalb eines Flußlaufes. Die ,, Rummeln" im Sandplateau des Fläming zeigen solche Trockentaltypen. Bleiben in den Rummeln die Niederschläge längere Zeit aus, dann erhalten wir Trockentäler mit jugend- lichen Erscheinungen. Die dureh rasch wechselnde Sandschichten geschaffenen Stufen wandern rück- wärts, verschwinden schließlich ganz. Nur mit ganz wenig Verlust durcheilen die Bäche nach starken Regengüssen das Tal. Die Rummel zeigt so den Charakter eines rein periodischen Trockentales. Gleiche Formen zeigen sich auch in Gebieten mit widerstandsfähigeren Gesteinen wie im Muschel- 86 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVHI. Nr. 6 kalkgebiet der Seitentäler der Saale bei Kosen und hinter der Rudelsburg. Voraussetzung ist auch hier der Wechsel von durchlässigen und undurchlässigen Schichten entlang eines Talzuges. Die Bäche versickern im klüftigen Kalk iaber den Mergeln, bilden ein Grundwasserstockwerk, treten als Quelle zutage, wo die JVlergel ausstreichen. Der eben entstandene Bach erodiert stark, bildet an der Quelle eine deutlich wahrzunehmende Tal- stufe. An ihr verrät Unterwaschung beginnende Rückwärtserosion, die auch die Kalkschicht durch- schneidet bis der Fluß auf undurchlässigem Mergel hinfließt. Aus dem partiellen Trockental wird ein normales Flußtal. Es kann vorkommen, daß durch starke Erosion des Haupttales die Nebentäler zu Trockentälern werden können. Mündungsstufen kennzeichnen dann die Art der Entstehung wie im Gebiet der oberen Donau, des oberen Neckar, wo der Haupt- fluß im jüngeren Diluvium die Muschelkalkplatte kräftig durchschnitt. Von hohem Interesse sind die Trockentäler in mächtigen Schichten ohne undurchlässige Ein- lagerungen wie in Gebieten der oberen Kreide. Hier steht die Trockentalerscheinung mit einheit- lichen Grundwasserverhähnissen in Beziehung. Die Ausbildung der Grundwasserverhältnisse in diesen Gebieten hängt mit dem vorhandenen Poren- volumen des Gesteins zusammen. Scheu faßt sämiliche Hohlräume eines Gesteins, welche eine Zirkulation des versickernden Oberflächenwassers gestatten, ins Auge, wenn er Porenvolumen und Porenquotient auf die praktische Durchlässigkeit bezieht. So kommt d. Verf. zu mehreren Stadien in der Grundwasserentwicklung. Er erkennt im „jungfräulichen" Gestein die unausgeglichene Grundwasserfläche, die zum Spiegelbild des Ge- ländes wird, weil durch Vorhandensein eines kapillaren Porenvolumens aus dem kapillar ge- sättigten Gestein eine undurchlässige Schicht wird. Grundwasserberge und Grundwassertäler wechseln wie die entsprechenden Oberflächen- formen. In der Nähe einer Talsohle ist der Poren- quotient höher, weil Atmosphärilien Poren und Fugen weiten, darum zeigt sich in der Grund- wasserkurve hier im Übergang ein Knick unge- fähr in der Höhe der Talsohle. Geschieht die Porenaufweitung weiter in die Berge hinein, dann senkt sich auch hier infolge zunehmenden Porenquotienten der Grundwasserspiegel. Wir stehen vor einem weiteren Stadium der Entwicke- lung, der ausgeglichenen Grundwasserfläche. Bei ihr entsprechen den Geländerücken flach gewellte Grundvvasserberge. Nimmt das Porenvolumen immer mehr zu, dann verschwinden auch noch die flachgewölbten Grundwasserberge und wir er- halten die verebnete Grundwasserfläche. Auch in der Jahresschwankung des Grund- wasserspiegels zeigen sich die verschiedenen Sta- dien wieder. Groß sind sie beim unausgeglichenen Spiegel, weniger beim ausgeglichenen und am kleinsten beim verebneten. Diese Stadien kommen in der Natur neben- einander vor. Eine Landschaft mit verebnetem Grundwasserspiegel wird gehoben. Der am höch- sten herausgehobene Teil verfällt der Abtragung. Es entstehen Gebiete mit kleinem Porenquoiient, mit unausgeglichenem Grundwasserspiegel. Im nicht so weit hochgehobenen Gebiet sind die Schichten nicht so jungfräulich. Hier entsteht ein ausgeglichener Grundwasserspiegel. Bei ge- mäßigt humiden Klima ist die mechanische Ero- sion von größerer Wirkung als die chemische. Wo ein verebneter Grundwasserspiegel vorhanden ist, muß man eine Einwirkung des tropischen oder subtropischen Klimas in betracht ziehen, wie es in der Tertiärzeit möglich war. In Tälern, in denen das Gefälle geringer als im Grundwasser ist, muß das Grundwasser zutage treten. Hoher Grundwasserstand setzt große Flächen unter Wasser. Talhänge und Bergrücken treten zu diesen Sumpflandschaften mit ihrer dürftigen Vegetation in Gegensatz. Die Siede- lungen befinden sich an den Stellen der Grund- wasseraustritte. Die Gefällskurve der Nebentäler ist steiler als die der Haupttäler. So wird der untere Teil nur von einem Bach durchflössen. Der obere Teil ist eine dürftig bewachsene Trockentalmulde. Ein scharfer Grundwasseraustritt wird sich in Gebieten mit unausgeglichenem Grundwasseraustritt nicht zeigen. Das Steigen und Fallen des Grundwassers macht sich bemerk- bar dadurch , daß der Grundwasseraustritt im Längsprofil des Baches auf und ab wandert. Wir finden also weder Stufen noch ausgeprägte Tal- schlüsse in Gebieten mit unausgeglichenem Grund- wasserspiegel. Liegt im Trockental viel Schutt, dann tritt das Grundwasser gesammelt in einer Schuttquelle aus, schaff^t eine Erosionsrinne, in der der Bach nach aufwärts erodiert. In Gebieten mit verebnetem Grundwasser- spiegel wird der Grundwasseraustritt festgelegt. Das den Quellhorizonten entströmende Wasser schafft kleine Stufen, arbeitet mehr oder weniger Talschlüsse heraus. Solange das Porenvolumen nicht groß war, das Gestein also praktisch undurchlässig, konnte nun ein seichtes (irundwasser, ein „Mittelwasser" entstehen. Beim Herausheben über die Erosions- basis schneiden Flüsse und Bäche ein. Es ent- steht ein ziemlich dichtes Talsyslem. Bei Kalken wirkt das Wasser auf Höhen und Talhängen chemisch lösend. Aus dem Mittelwasser entsteht ein Grundwasser. Allmählich verlieren die Flüsse ihre oberirdischen Einzugsgebiete. Ihre Speisung geschieht durch Grundwasser. Die früheren ober- irdischen Speisungsgebiete werden zu Trocken- mulden. Bleibt die Tiefenerosion mit gleicher Heftigkeit dieselbe, dann bewahrt sich der Fluß stets im frischangeschnittenen Gestein ein ihn nährenden Grundwasserstrom. Sobald die Tiefen- erosion zur Lateralerosion wird, ändert sich das hydrographische Bild. Mit dem raschen Anstieg der Flußkurven gegen das Einzugsgebiet verlieren N. F. XVIII. Nr. 6 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 87 viele Nebenflüsse ihren Oberlauf, verschwinden kleine Bäche ganz, werden zu Trockentälern. Aus- dauernd sind dann jene Flüsse, deren Gefällskurven nicht aus der Grundwasseroberfläche herausragen. Die Höhe des Grundwasserspiegels ist nicht nur vom Porenvolumen abhängig, sondern auch von der Menge der Niederschläge und der Höhe der Verdunstung. Das Klima der nichtverglet- scherten Gebiete des miUleren und westlichen Europas gleicht den Ländern, die heute weit nörd- licher wie diese liegen. In den nichtvergletscherten Gebieten war bei derselben Niederschlagsmenge wie heute der Abfluß stärker wie jetzt. Durch die einsickernden Wassermengen mußte sich der Grundwasserspiegel heben. Auch die Klimaände- rung, die eine Herabsetzung der Verdunstung nach sich zieht, muß den Grundwasserspiegel heben lassen. Die Trockentäler können wieder zu nor- malen Flußiälern werden. Bei mehrmaligem Klima- wechsel, zur Glazialzeit, geschah dies mehrfach. In den Glazialzeiten wären die Täler mit Schutt erfüllt worden, wenn durch Hebung des Grund- wasserspiegels die Trockentäler nicht oberirdische Entwässerung erhalten hätten. Schutt wurde "durch dieses Oberflächenwasser nach dem Haupt- tale verfrachtet. Dieser mußte aufschütten und zwang auch die Nebenflüsse, aufzuschütten. Die folgende Interglazialzeit verursachte ein Ein- schneiden der Flüsse, eine Erhöhung der Ver- dunstung, eine Senkung des Grundwasserspiegels, so daß aus einer Unzahl von Tälern wieder Trockentäler wurden. Wenn man mehrere Glazial- und Interglazialzeiten berücksichtigt, kommt man zu dem Schema von Scheu: Klimaperiode : Verdunstung: [ I Grundwasser- spiegel: Nebenläler: Denudation: Tätigkeit der Flüsse: Jungtertiär und älteres Diluvium: Vorletzte Interglazialzeit Vorletzte Glazialzeit Letzte Interglazialzeit Letzte Glazialzeit Postglazialzeit Tiefenerosion und Herausbildung der Tallandschaften stark gering stark gering stark unausgeglichen steigend fallend steigend fallend Trockentäler (allmählich entstehend) Flußtäler Trockentäler (häufig) z. T. wieder Flußläler meistens Trockentäler schwach stark schwach stark schwach erodierend aufschüttend erodierend aufschüttend erodierend Rudolf Hundt. Anregungen und Antworten. Herrn S. R. in M. An neueren zusammenfassenden Dar- stellungen über Tierpsychologie besteht kein Mangel. Je» nach der Sielluog, die der Verf. einnimmt, ist indessen der Charakter der Darstellung sehr verschieden. Der Philosoph behandelt im allgemeinen das Gebiet von anderen Gesichtspunkten als der Naturforscher, ein Psychoviialist , wie Driesch, C. C. Schneider, wird eine andere Darstellung geben als z. B. der Vertreter eines mechanistischen Materialismus, wie Loeb, Betbe. Für ein ,, Lehrbuch" der Tierpsychologie sind unsere positiven Kenntnisse auf diesem Gebiete noch viel zu gering. Die wichtigsten zusammenfassenden Darstellungen der letzten Zeit sind im folgenden, zum Teil unter Angabe des Charakters der betreffenden Schrift, zusammengestellt. Bohn, G., Die neue Tierpsychologie. Leipzig 1912. Buttel-Reepen, H. v., Die moderne Tierpsychologie, Arch. f. Rassen- u. Gesellschaftsbiol., Bd. 6, 1909. — v. B.-R , einer der besten Kenner der Bienen, betrachtet diese im Gegen- satz zu Bethe nicht als einfache ,,Retlexmaschinen", sondern sie besitzen nach ihm ein Gedächtnis und vermögen Erfahrungen zu sammeln. Andererseits wendet sich v. B.-R. aber auch gegen anlhropomorphisierende Schilderungen des Lebens der Bienen, in denen sie als Wesen mit menschenähnlichem Bewußtsein und rein menschlichen Emptindungen dargestellt werden. Claparede, E., Tierpsychologie. Handwörterbuch der Natur w, Bd. 9, 1913. — Sehr gute kurze Zusammenfassung. Do Hein, F., Der Ameisenlöwe. Eine biologische, tier- psychologische und reflexbiologische Untersuchung. Jena 1916. — Die Arbeit sei erwähnt als Muster einer modernen tier- psychologischen und reflexbiologischen Untersuchung. Der Ameisenlöwe, der den Schilderungen der alten Natur- forscher zufolge geradezu das Paradebeispiel eines Tieres mit planmäßigem, intelligentem Handeln war, ist nach D. ein reiner Reflexautomat, dem jegliche höhere Fähigkeiten fehlen. D. bestreitet indessen, das sei ausdrücklich betont, durchaus nicht überhaupt die Existenz komplizierter psychischer Fähigkeiten bei höheren Organismen. Die genaue Kenntnis reiner Refiexauto'maten erscheint ihm aber zur Erforschung der Gesetze notwendig, die die höheren psychischen Funktionen der Tiere und auch des Menschen beherrschen. Krall, K., Denkende Tiere. Leipzig 1912. — Dieses bei seinem Erscheinen von den einen ebt nso bt-geislert aufge- nommene wie von den anderen heftig bekämpite Buch wurde zum Ausgangspunkt einer neuen Richtung in der Tierpsycho- logie, die man indessen heute wohl als einen Irrweg bezeich- nen kann. Das Studium des Seelenlebens höherer Tiere ver- langt andere Methoden, als die Vertreter dieser Richtung an- wenden (vgl. auch den Aufsatz von C. Herbst, Der kluge Hund von Mannheim, diese Zeitschrift, N. F. Bd. 15, 1916). Kafka, G. , Einführung in die Tierpsychologie auf ex- perimenteller und cthologischer Grundlage. I. Bd. Die Sinne der Wirbellosen. Leipzig 1913. — Das Werk, das von einem Philosophen stammt, kann zum einiührenden Studium sehr empfohlen »erden. Die naturwissenschaftliche Literatur wird sehr auslührlich und gründlich behandelt. In dem bisher vor- liegenden ersten Bande werden allerdings die höheren psychi- schen Fähigkeiten der Tiere noch nicht besprochen. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N, F. XVlil. Nr. 6 Morgan, C. L., Instinkt und Gewohnheit. Leipzig und Berlin 1909. — Grundlegendes Werk eines amerikanischen Tierpsychülogen. K. C, Vorlesungen über Tierpsychologie. Der Verf. vertritt einen rein vitalistischen Schneider, Leipzig 1909. — Standpunkt. Schneider, K. C. , Tierpsychologisches Praktikum in Dialogform. Leipzig 1912. — S. läßt 7 Forscher verschiede- ner Richtungen (Psychologe, Physiologe, Biologe, Darwinist,- Lamarekist. Monist, Vitalist) und einen Laien miteinander dis- kutieren. Was mann, E., Instinkt und Intelligenz im Tierreich. Ein kritischer Beitrag zur modernen Tierpsychologie. 3. Aufl. Freiburg 1905. — W. , einer unserer besten Ameisenkenner, nimmt entsprechend seiner Stellung als Jesuitenp.uer in tier- psychologischen Fragen einen theologisch - philosophischen Standpunkt em und leugnet die Existenz einer Tierintelligenz. Wasmann, E., Die psychischen Fähigkeiten der Ameisen. Mit einem Ausblick auf die vergleichende Tierpsychologie. 2. Aufl. Stuttgart 1909. ^ Wundt, W.. Vorlesungen über die Menschen- und Tier- seele. 5. Aufl. Hamburg und Leipzig 1911. — Dieses Werk des bekannten Philosophen erschien bereits 1863 in erster Auflage. Im Gegensatz zu der Mehrzahl der Naturforscher will W. bei Betrachtung der tierischeu Psyche „überall von den bekannten Tatsachen des menschlichen Bewußtseins aus- gehen". Ziegler, H. E. , Der Begriff des Instinktes einst und jetzt. Eine Studie über die Geschichte und die Grundlagen der Tierpsychologie. 2. Aufl. Jena 1910. Zur Strassen, O., Die neuere Tierpsychologie. Leipzig 1908. ■ Nachtsheim. Zu dem Aufsatz des Herrn Prof. L. R e h über „Blausäure zur Bekämpfung von Ungeziefer" in Nr. 45 dieser Zeitschrift sei Mühle 300—400 cbm reines Blausäuregas entwickelt werden! Noch schlimmere Verhältnisse habe ich auf Schiffen, z. B. Torpedobooten vorg«funden, bei denen das Arbeiten in dem aufs Äußerste ausgenutzten Raum eine schwere Anstrengung ist. Daß Mäuse oder auch Ratten aus den Lächern hervor- kommen, habe ich in keinem Falle beobachtet. Soviel mir bekannt, ist man gerade von der Schiffsdurchgasung abge- kommen, weil die in ihren Löchern verendeten und verwesen- den Ratten eine üble Plage sind. Über die Gefährlichkeit der Blausäure habe ich auch eine andere Ansicht wie der Verfasser. Bei 30 — 40000 cbm großen Gebäuden wird bei der Menge des Gases eine ,, schwerere" Vergiftung meist zum Tode führen, da es nicht möglich ist, den Vergifteten schnell an die frische Luft zu bringen, zumal wenn man sich gerade im fünften oder sechsten Stockwerk einer Mühle befindet. Ferner möchte ich noch erwähnen, daß Blausäuregas von 1 Vol. % bei vielen Personen stark tränenerregend wirkt und bei Eindringen in selbst ganz kleine Wunden sehr üble, schwer zu heilende Geschwüre (,,Gasphlegmone") zur Folge haben kann. Meine Beobachtungen erstrecken sich auf Hunderte von Leuten und dürften wohl daher einige Beachtung ver- dienen. Mit dem Verf. stehe ich jedoch auf dem Standpunkt, daß das Blausäureverfahren in Zukunft eine weite Verbreitung fin- den muß, zumal wenn man seine Ausübung nur sachverstän- digen Personen anvertraut. Dazu möchte ich aber noch be- merken , daß es auch in dieser Angelegenheit ,, akademische Sachverständige" gibt, die es sich mit jedem Kammerjäger aufzunehmen getrauen. Dr. W. Rasch. es mir gestattet, einige Bemerkungen hinzuzufügen. Zur gleichen Zeit wie „die Deutsche Gold- und Silberscheideanstalt" begann die Versuchsanstalt für Getreideverarbcitung in Berlin sich für das Verfahren, besonders im Hinblick auf die Be- kämpfung der Mühlenschädlinge, zu interessieren. Die Mono- DiTngerlehre und Ackerbaulehre. 2. stark erweiterte und ver polisierung des Verfahrens durch den Tasch war nicht eine besserte Auflage. Dresden und Leipzig 1918, Th. Steinkopf. Literatur. Giemen, C.B., Einträgliche Entenzucht. Leipzig, A. Michaelis. 1,20 M. Wenger, Prof. Dr. R. , Die Vorherbestimmung des Wetters. Antrittsvorlesung. Leipzig 1919, Veit & Co. 1,80 M. Ehrenberg, Prof. Dr. P. , Die Bodenkolloide. Eine Ergänzung für die üblichen Lehrbücher der Bodenkunde, Ausnjtzung der „eigenartigen Machtverhältnisse des Krieges", sondern zum größten Teile bedingt durch die Beschaffung der Rohstoffe, die anderen Stellen wegen der Beschlagnahme der Schwefelsäure bedeutend schwerer gefallen wäre. Dazu kam die namentlich bei Durchgasung großef Mühlen unbedingt nötige Ausrüstung der arbeitenden Mannschaften mit Gasschutz- (Sauerstoffatmungs-)apparat. Von der Schwierigkeit der Durch- gasung einer größeren Mühle scheint mir der Verf. nicht die richtige Vorstellung zu haben. Während achtmonatiger 1 ätig- keit bei der „Kompagnie für Schädlingsbekämpfung'- habe ich Mühlen der verschiedensten Bauart durchgast. Die meisten Mühlen waren so verbaut und unzugänglich, daß schon das Einwerfen des Cyannatriums in die Schwefelsäure nicht ohne Gasschutzapparat vorgenommen werden konnte. Und dann die Durchlultung ! Das unter Gas stehende Gebäude mußte zur Öffnung der in den oberee Stockwerken liegenden Fenstei betreten werden und die Mannschaften mußten z. T. über I Stunde in dem gaserfüllten Raum mit dem Atmungsapparat arbeiten. Es ist klar, daß man unter solchen Umständen nur mit ganz erprobten und zuverlässigen Mannschaften arbeiten kann und daß man auch besondere Vorsichtsmaßregeln für die Umgebung zu treffen hat, wenn allein in einer einzigen 24 M. Aus Natur und Geisteswelt. Berlin 1918, B. G. Teubner. Jedes Bändchen 1,50 M. Zander, Prof. Dr. R., Vom Nervensystem usw. 3. Aufl. Vater, Prof. Dr. R., Die neueren Wärmekraftmaschinen. I. 5. Aufl. II. 4. Aufl. Bloch, Dr. W., Einführung in die Relativitätstheorie. Wolf, J., Der Tabak. Heilborn, Dr. A., Der Mensch der Urzeit. 3. Aufl. Bardeleben, Prof. Dr. K. v. , Anatomie des Men- schen. L 3. Aufl. IV. 3. Aufl. VL 2. Aufl. Wilsdorf, Dr. G., Teezüchtung. 2. Aufl. Wedding, M., Das Eisenhüitenwesen. 5. Aufl. Rohr, Dr. M. v., Das Auge und die Brille. 2. Aufl. Wiener, O., Physik und Kultureutwicklung. Mit 72 Textabbildungen. Leipzig und Berlin 1919, G. B. Teubner. 4,40 M. Weihe, C, Aus eigener Kraft. Bilder von deutscher Technik und Arbeit. Mit 20 Abbildungen. Leipzig u. Berlin 1919, B. G. Teubner. 1,10 M. lloffmann, Prof. Dr. B., Führer durch unsere Vogel- welt. Leipzig und Berlin 1919, B: G. Teubner. 4 M. Inhalt: Hugo Miehe, Über Selbsterhitzung und Ihermophile Mikroorganismen. S. 73. — Kleinere Mitteilungen: A. W ig and. Zur Frage des Zusammenhangs zwischen Mumifikation und Radioaktivität. S. 78. L. Reisinger, Zum Kleinhirn der Teleostier. (I Abb.) S. 79. — Einzelberichte: Alfred Ploetz, Die Bedeutung der Frühehe für die Volksvermehrung nach dem Kriege. S. 80. Hart mann. Theoretische Bedeutung und Terminologie der Ver- erbungserscheinungen bei haploiden Organismen. S. 81. M. La Rosa, Verflüssigung des Kohlensiofl"s. S. 82. W. Gallenkamp, Messungen der photochemischen Intensität des Himmels. S. 83. G. Hell mann. Nächtliche Abküh- lung der bodennahen Luftschichten. S. 83. A. Wegencr, Einige Hauptzüge aus der Natur der Tromben. S. 84. Erwin Scheu, Die Entstehung der Trockenläler. S. 85. — Anregungen und Antworten: Neuere zusammenlassende Darstellungen über Tierpsychologie. S. 87. Blausäure zur Bekämpfung von Ungeziefer. S. 88, — Literatur: Liste. S. 88. Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstrafle 42, erbeten. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue Folge j8. Band; 'der ganzen Reihe ^4, ßand. Sonntag, den i6. Februar 1919. Nummer lt. Die wichtiasten Kartoifelkrankheiten. [Nachdruck verboten.] Von Dr. F. Esmarch-Bromberg. Mit 7 Abbildungen im Text. Die Kartoffel hat durch den Krieg eine vor- her nicht geahnte volkswirtschaftliche Bedeutung gewonnen. Früher in manchen Kreisen der Be- völkerung nur als Zukost gewertet, ist sie heute neben dem Brotgetreide zum Rückgrat unserer Ernährung geworden. Es hing wesentlich von dem Ausfall unserer Kartoffelernten ab, ob wir den Krieg wirtschaftlich durchhalten konnten oder nicht. Da ist es kein Wunder, daß das Interesse für den Kartoffelbau bei den Landwirten, wie auch in Laienkreisen gewaltig zugenommen hat. Der Kartoffelbau stand in Deutschland schon vor dem Kriege auf beachtensjverter Höhe. In den letzten 5 PViedensjahren (1909 — 1913) wurden in Deutschland durchschnittlich 46,8 Millionen Tonnen geerntet, d. h. fast ein Drittel der Welt- produktion, und die Hektarernte stieg von 94,8 dz im Jahre 1890 auf 158,6 dz im Jahre 191 3. Die Erträge lassen sich aber noch wesentlich steigern, wenn mehr als bisher danach gestrebt wird, alle minderwertigen Sorten und kranken Stauden von der weiteren Kultur auszuschließen und nur gesunde Zuchten ertragreicher Sorten anzubauen. Die Kenntnis der Kartoffelkrankheiten ist demnach von großer praktischer Bedeutung. Aber auch abgesehen davon, bieten sie soviel des Interessanten, daß kein naturwissenschaftlich Ge- bildeter an ihnen vorübergehen sollte. Ich will daher im Folgenden versuchen, einen Überblick über die wichtigsten dieser Krankheiten und ihre Bekämpfung zu geben. I. Die Krautfäule. Am längsten bekannt ist die fast alljährlich in größerem oder geringerem Umfange auftretende Krautfäule, auch „Kartoffelkrankheit" schlechtweg genannt. Die ersten Anzeichen der Krankheit machen sich gelegentlich schon im Juni, meist aber erst im Juli oder August bemerkbar. Es zeigen sich auf den Blättern kleine, anfangs bräun- liche, später schwarz werdende Flecken (Abb. i), die gewöhnlich zuerst am Rande oder an der Spitze des Blattes auftreten, sich dann rasch vergrößern und schließlich die ganze Blattfläche einnehmen. Bei feuchtem Wetter erkennt man auf der Unter- seite der Flecken, besonders am Rande, einen schimmelähnlichen, weißen Anflug. Bei trockenem Wetter verschwindet er, kommt aber wieder zum Vorschein, wenn man erkrankte Blätter 2 — 3 Tage in eine feuchtgehaltene Glaskammer legt. Die Krankheit greift von den Blättern auf die Blattstiele und den Stengel über und breitet sich in nassen Sommern derartig schnell aus, daß innerhalb weniger Tage ganze Felder schwarz werden. Mit der Vernichtung des Krautes wird die Pflanze der Möglichkeit beraubt zu assimi- lieren, kann also auch die angesetzten Knollen nicht zur vollen Entwicklung bringen, so daß der Ertrag bei frühzeitigem Befall bedeutend herab- gesetzt wird. Die Krankheit hat in manchen Jahren vollständige Mißernten zur Folge gehabt. Als Erreger der Krautfäule wurde von M o n - tagne (1845) ein Pilz erkannt, der heute P/iy- tophthora iiifcstaiis heißt undjzu den Mehllaupilzen (Peronosporaccen) gerechnet wird. Der Entwick- lungsgang des Pilzes ist von de Bary (1861) ein- gehend erforscht und beschrieben worden. Nach ihm lebt der Pilz interzellular im Mesophyll des Blattes und bringt die Zellen durch Abscheidung giftiger Stoffe zurh Absterben, wobei sich Zell- inhalt und Membranen braun färben. Am Rande der so entstandenen braunen Flecken, wo das Wachstum des Mycels am lebhaftesten ist, bilden sich bei geeigneter Witterung zahlreiche Konidien- träger, die dem bloßen Auge als schimmelähnlicher Anflug erscheinen. Die Konidienträger wachsen, einzeln oder zu Büscheln vereint,- aus den Spalt- öffnungen (seltener zwischen zwei beliebigen Epi- dermiszellen) heraus und schwellen an ihrer Spitze zu einer zitronenförmigen Konidie an, die sich durch eine Querwand in der Weise abgliedert, daß sie kurz gestielt aussieht. Unterhalb der Querwand wächst der Träger nun weiter in die Länge, schiebt die Konidie beiseite und beginnt dann eine zweite Konidie zu bilden, die sich ebenso abgliedert, usw. Da sich die Träger auch verzweigen und an jedem Aste mehrere Konidien entstehen können, ist ihre Zahl außerordentlich groß. Die Konidien lösen sich leicht ab, fallen teilweise auf den Boden, teilweise gelangen sie mit dem Winde auf andere Kartoffelblätter. Finden sie hier genügend Feuchtigkeit, so keimen sie nach kurzer Zeit aus. Entweder — nach Melhus (191 5) bei Temperaturen von mehr als 20" C überwiegend — sie treiben direkt einen Keim- schlauch oder — unter 20 " C überwiegend — sie entlassen zunächst 6 — 16 Schwärmsporen, die sich etwa V2 Stunde lebhaft im Wasser bewegen und dann, zur Ruhe gekommen, ebenfalls einen Keimschlauch bilden. Zu dieser Keimung ist nur Feuchtigkeit nötig, die weitere Entwicklung aber ist an die Kartoffelpflanze gebunden. Der Keim- schlauch dringt durch eine Spaltöffnung oder auch durch die Wandung einer Epidermiszelle in das Blatt ein und wächst interzellular zu dem weit- verzweigten, querwandlosen Mycel heran, von dem 90 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 7 unsere Schilderung ausging. Diese Verbreitung der Krankheit von Blatt zu Blatt und von einer Pflanze zur andern geht bei feuchtwarmer Witte- rung mit großer Geschwindigkeit vor sich, da die Ausbildung und Keimung der Konidien wenig Zeit erfordert. Die Konidien, die nicht auf Kartoffelblätter, sondern auf den Boden gelangen, gehen im all- gemeinen zugrunde. Wenn sie aber durch an- haltenden Regen in die Erde hineingespült werden und dort mit den jungen Knollen in Berührung kommen, so können sie diese infizieren. Der Keimschlauch wächst dann durch die Korkschicht der Schale hindurch und in das darunter liegende Parenchymgewebe hinein, dessen Zellen in der- selben Weise zerstört werden, wie die Mesophyll- zellen des Blattes. Äußerlich kennzeichnen sich solche Stellen als mißfarbige, scharf umgrenzte, etwas eingesunkene Flecken. Durchschneidet man .^bb. I. K.irtoffelblatt mit beginnender Krautfäule. '(Nach Schänder.! sie, so bemerkt man unter der Schale einen meist nur schmalen Streifen von gebräuntem vertrock- neten Gewebe. Die Flecken sind oft unscheinbar und leicht zu übersehen. Werden die Knollen aber während des Winters feuchtwarm aufbewahrt, so breitet sich der Pilz aus, die Flecken werden größer und die Bräunung schreitet nach innen fort. Auf der Oberfläche können Konidienträger gebildet und mit Hilfe der Konidien andere Knollen infiziert werden. Wenn man solche Knollen mit Phytophthora- flecken im nächsten Jahre auspflanzt, so wächst der Pilz bei günstigen Bedingungen in die jungen Triebe hinein und überträgt so die Krankheit auf die entstehende Pflanze. Allzuhäufig tritt dieser Fall zwar nicht ein ; meistens bleiben die aus phytophthorakranken Knollen erwachsenen Stauden gesund. Aber wenn auch nur einzelne Pflanzen in dieser Weise erkranken, sie genügen, um unter geeigneten Witterungsverhältnissen zu gefährlichen Seuchenherden zu werden, von denen eine neue Epidemie ihren Ausgangspunkt nimmt. Da Pliytophthora iii/esfans zu den Peronospo- raceen gehört, wäre auch eine andere Eorm der Überwinterung denkbar. Die meisten Pilze dieser Familie bilden außer Konidien noch Oosporen aus, die durch einen Sexualakt, durch Vereinigung männlicher und weiblicher, von Antheridien bzw. Oogonien gebildeter Fortpflanzungszellen entstehen und besonders widerstandsfähig sind. Mit Hilfe solcher Dauersporen überwintern sie. Der ameri- kanische Forscher Clinton hat (1909) bei Kultur- versuchen mit Pliytophthora auf bestimmten Nähr- böden Oosporen gefunden und will sie auch in erkrankten Kartoffelblättern festgestejlt haben. Aber bei uns in Europa hat man bisher vergeb- lich danach gesucht. Wir müssen also vorläufig dabei bleiben, daß der Pilz nur mit Hilfe des Myzels in den Knollen überwintert. Die einzelnen Kartoffelsorten sind für die Phytophthora in verschiedenem Grade empfäng- lich. Bestimmte äußere Kennzeichen für den Grad der Empfänglichkeit lassen sich nicht angeben, wenn auch im allgemeinen frühe, dünnschalige, stärkearme Sorten leichter befallen werden als späte, dickschalige, stärkereichere Sorten. Die ge- ringe Widerstandsfähigkeit der frühen Sorten hängt damit zusammen, daß die Kartoffel nach abgeschlossenem Längenwachstum besonders emp- findlich ist und dieses Stadium bei früher Reife häufig mit für den Pilz günstigen Außenbedingungen zusammenfällt. Im übrigen wechselt die Anfällig- keit ein und derselben Sorte mit den Boden- und klimatischen Verhältnissen. Die Bekämpfung der Krankheit ist im wesent- lichen vorbeugender Art: Durch Anbau wider- standsfähiger Sorten, durch trockene und kühle Einwinterunc; der Kartoffeln, und durch Auswahl gesunden, von Phytophthoraflecken freien Saat- gutes kann man einer PhytophthoraEpidemie wirk- sam vorbeugen. Von direkten Bekämpfungsmitteln seien erwähnt: das Jensen'sche Heiß wasser- verfahren, das die Abtötung des Pilzes an den Saalknollen bezweckt, und das Bespritzen der Kartoffclpflanzen mit 2 proz. Kupferkalkbrühe, welche die Blätter mit einer dünnen Schicht Kupfersalz überzieht und dadurch die Keim- schläuche der Konidien am Eindringen hindert. Mit dem letztgenannten Verfahren hat man na- mentlich in Amerika gute Erfolge erzielt. In Deutschland hat es sich dagegen nicht einge- bürgert, in erster Linie wohl deshalb, weil das Kraut bei unseren neuen Sorten so üppig ent- wickelt ist, daß die Spritzwagen beim Durch- fahren der Felder zu großen Schaden anrichten würden. N. F. XVIII. Nr. 7 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 9' 2. Die Dürr fl ecken k rank h ei t. Eine gewisse Ähnlichkeit mit der Krautfäiile hat -die Diirrfleckenkrankheit der Kartoffel. Sie ist durch das Auftreten von anfangs kleinen, später größeren, schwarzbraunen, scharfbegrenzten Blatt- flecken gekennzeichnet, die aus vertrocknetem Ge- webe bestehen. Die befallenen Blätter werden gelb und sterben frühzeitig ab. Die Verringerung der Assimilationsfläche hat natürlich eine Herab- setzung des Knollenertrages zur Folge, doch ist der Ausfall im allgemeinen nicht bedeutend. Als Erreger der Krankheit wurde von Sorauer und Van ha (1904) der Pilz Alfeniaria Solani fest- gestellt, dessen Sporen braun, umgekehrt keulig, langgeschnäbelt und im unteren Teile mehrfach gefächert sind. Bei üppigem Wachstum des Pilzes reihen sie sich kettenförmig aneinander. Mikroskopisch ist also die Dürrfleckenkrankheit leicht von der Krautfäule zu unterscheiden. Aber auch makroskopisch sind sie bei einiger Aufmerk- samkeit nicht zu verwechseln. Die Altrniaria- Flecken bleiben meist klein und mehr isoliert, während die PIiy/flp/if/wra-¥\&cken sich schnell vergrößern und über das ganze Blatt ausbreiten. Vor all.em aber fehlt den AI fenia na -VWck&n der weißflaumige Rand auf der Unterseite, der bei Phytoplühora wenigstens an feuchten Tagen immer zu finden ist. Die Haupteniwicklungszeit der Dürrfleckenkrankheit fällt in die Monate Juli und August. Nicht selten findet man sie mit Phytoph- fhora zusammen auf ein und derselben Pflanze. 3- Die Blattrollkrankheit. Eine besonders wichtige Krankheit der Kar- toffel ist die Blattrollkrankheit, die zuerst 1905 von Appel eingehender beschrieben wurde und die Forschung seitdem intensiv beschäftigt hat. Die kranken Pflanzen zeigen ein eigentümliches Rollen der Blätter (Abb.2). An den untersten Blättern beginnend und allmählich zu den oberen fort- schreitend, rollen sich die einzelnen Fiederblättchen röhren- oder tütenförmig nach oben zusammen. Die Blätter fühlen sich hart und spröde an, werden gelblich, am Grunde oder Rande oft röt- lich, und sterben frühzeitig ab. Das Kraut bleibt niedrig, die Internodien der Stengel und Blätter erscheinen gestaucht, der Knollenansatz ist ge- ringer als bei normalen Pflanzen. Die einzelnen Knollen sehen gesund aus, weisen auch im Innern keine Besonderheiten auf, übertragen aber doch die Krankheit auf die nächste Generation. Die Mutterknolle bleibt länger fest und saftig als bei gesunden Pflanzen, oft bis zur Ernte. Die Krankneit ist von großer wirtschaftlicher Bedeutung, da sie den Ertrag bei längerer Nach- zucht soweit herabsetzen kann, daß sich der An- bau nicht mehr lohnt. , Infolgedessen werden auch bei der, gerade im Kriege mehr in Aufnahme gekommenen Anerkennung von Saatkartoffeln stark blaltroUkranke Felder von der Anerkennung aus- geschlossen. Die Ursache der Krankheit ist trotz umfang- reicher und gründlicher Untersuchungen durch eine ganze Reihe von Forschern bis jetzt noch nicht aulgeklart. Anfangs suchte man das Rollen der Blatter, das ja eine beim Welken häufig auftretende Erscheinung ist, durch eine Störung des Wasser- haushaltes zu erklären und führte es auf eine Ver- stopfung der Gefäße durch Pihe oder Bakterien zurück, die an verletzten Stellen aus dem Boden in den Stengel eindringen und mit den Knollen von einem Jahre zum andern übertragen werden sollen. Diese Pilztheorie hat sich aber nicht auf- recht erhalten lassen, da sich Pilzfäden nicht sehen auch in gesunden Pflanzen finden und anderer- seits in kranken oft fehlen. Außerdem war das Krankheitsbild in den Pallen, wo eine Verpilzung der Gefäße zweifellos vorlag, meistens ein wesent- lich anderes, worauf ich weiter unten zurück- komme. Auch die von Sorauer vertretene Auf- fassung, daß die Pilze nur sekundäre Bedeutung hatten und die primäre Ursache in einer Störung der Enzymtätigkeit der Saatknolle zu suchen sei und die Hiltner'sche, daß die rollkranken Stauden aus nicht vollständig ausgereiften Mutter- knollen hervorgehen, hat sich nicht durchsetzen können. Der neueste und interessanteste Erklä- rungsversuch rührt von dem holländischen Pflanzen- pathologen Ouanjer her. Nach ihm ist die Blatlrollkrankheit histologisch durch eine anormale Beschaftenheit des Phlocms gekennzeichnet- Die Wandungen der Siebi Öhren und Geleitzellen quellen unter Gelb- oder Braunfärbung auf und engen das Lumen der Zellen mehr und mehr ein, bis sie schließlich mit den Plasmaresten zu einer strukturlosen Masse zusammenfließen. Dieses Ab- Abb. 2. BLittrolllcranK-e Pflanze. (Nach Sc band er.) Sterben des Phloems, von Quanjer „Nekrose" genannt, erfaßt einen größeren oder geringeren Teil der Phloemstränge in verschiedenem Grade und läßt sich am besten im markständigen Phloem des Stengels beobachten, aber bei fortgeschrittenem Naturwissenschaftliche Wochenschrift. iSI. F. XVlli. Nr. Krankheitsstadium einerseits durch die Blattstiele bis in die Hauptnerven der Blättchen, anderer- seits im unterirdischen Stengel bis in die Nähe der IVIutterknolle verfolgen. Infolge der Nekrose können die Assimilate nur unvollständig aus den Blättern ab- und den wachsenden Teilen zuge- leitet werden. So erklärt sich nach Ouanjer der niedrige Wuchs, der geringe Knollenansatz, das Rollen selbst usw. Die Frage, wodurch denn nun die Nekrose des Phloems hervorgerufen wird, ließ Quanjer anfangs offen, später beantwortete er sie dahin, daß eine Infektion mit einem ultrami- kroskopischen Organismus vorliege. Diese Theorie hat viel Verlockendes; sie gibt eine plausible Erklärung der äußeren Krankheits- merkmale wie auch der Übertragbarkeit der Krank- heit durch die Knollen. Eine Nachprüfung durch Schander, von Tiesenhausen, Esmarch u. a. ergab aber, daß auch sie nicht haltbar ist. Die Theorie steht und fällt mit der Voraus- setzung, daß die Phlocmnekrose ein spezifisches Merkmal der Blattrollkrankheit ist, d. h. nur in blattrollkranken Stauden vorkommt. Die ge- nannten Forscher fanden sie jedoch auch in ge- sunden (reifenden) und von anderen Krankheiten (Kräuselkrankheit, Schwarzbeinigkeit, Phytoph- thora u. a.) befallenen Pflanzen, worüber in dieser Zeitschrift 191 5 (S. 206) schon berichtet wurde. Die Phloemnekrose mag eine regelmäßige Be- gleiterscheinung der Blattrollkrankheit sein, kann aber zur Erklärung des ganz charakteristischen Krankheitsbildes nicht herangezogen werden. Die Nekrose dürfte eine Alters- oder Reifeerscheinung sein, die dem natürlichen oder durch Krankheit beschleunigten Absterben der Pflanze vorausgeht. Das Rätsel der Blattrollkrankheit ist also noch nicht gelöst. Vermutlich haben wir es mit einer physiologischen Krankheit zu tun, die durch Störungen im Chemismus der Pflanze • hervor- gerufen wird. Das einzige Mittel, der Krankheit und dem durch sie bedingten Abbau entgegenzutreten, be- steht darin, die Knollen erkrankter Stämme von der Verwendung als Saatgut auszuschließen. 4. Die Schwarzbeinigkeit. Es gibt einige Kartofifelkrankheiten, die bei oberflächlicher Betrachtung mit der Blattrollkrank- heit verwechselt werden können und früher viel- fach mit ihr zusammengeworfen wurden. Das gilt zunächst von der Schwarzbeinigkeit, die ihren Namen dem Umstände verdankt, daß die unter- irdischen Stengel der erkrankten Pflanzen schwarz werden. Auch bei ihr falten und rollen sich die Fiederblättchen zusammen. Aber im Gegensatze zur Blattrollkrankheit beginnt das Rollen nicht an den unteren, sondern an den obersten Blättern, um erst allmählich auf die tiefer sitzenden über- zugreifen. Die gerollten Blätter färben sich hell- grün bis gelb, bei einigen Sorten am Grunde tief- rot, so daß sich die kranken Pflanzen schon auf weite Entfernung von den gesunden unterscheiden lassen. Die Stengel sterben frühzeitig von unten her ab. Zieht man sie aus dem Boden heraus, was ohne Kraftaufwand möglich ist, so bemerkt man an ihren unterirdischen Teilen eine mehr oder minder deutliche Schwarzfärbung. Sie sind hier angefault oder bei vorgeschrittener Krankheit bis auf die resistenten Gefäßbündelstränge ganz in eine weiche faulende Masse verwandelt. Gräbt man unter solchen Stengeln nach, so findet man eine zum größten Teil oder ganz verfaulte Mutter- knolle. Die ersten Krankheitsfälle treten schon im Juni auf und führen im Laufe des Juli oder August zum Absterben der Stauden, bevor die neuen Knollen angesetzt sind. Zeigt sich die Krankheit erst später, wobei sie sich oft auf ein- zelne Stengel beschränkt, so sind mehr oder minder große und zahlreiche Knollen vorhanden, die aber fast immer Faulstellen aufweisen. Eine mikroskopische Untersuchung der ange- faulten Pflanzenteile ergibt, daß die P^äulnis von Bakterien erregt wird, die früher unter dem Namen Bacillus phyto phtJwntx vereinigt, neuerdings aber zu verschiedenen Arten gerechnet werden. In der Regel gelangen sie mit den Saatknollen aufs Feld und wachsen dann unter gleichzeitiger Zer- störung der Mutterknollen in den Stengel hinein. Sie können aber auch vom Boden aus, in dem sie wohl immer vorhanden sind, an verletzten Stellen der Knolle oder des unterirdischen Stengels eindringen bzw. durch Bodeninsekten eingeschleppt werden. Die Bakterien töten dann durch ihre Ausscheidungsprodukte die Zellen des Gewebes ab und lösen die Zeilzwischensubstanz auf, ohne jedoch die Zellwände selbst oder die Stärke an- zugreifen. Die Schwarzbeinigkeit tritt gewöhnlich mehr vereinzelt auf, sie kann aber auch, besonders in feuchten Sommern, ganze Felder befallen und so zu einer Mißernte führen. Um einer Übertragung der Krankheit auf die nächste Generation durch die Saatkartoffeln vorzubeugen, empfiehlt es sich, die kranken Stöcke vor der allgemeinen Ernte herauszunehmen. Ist das wegen ihrer großen Zahl oder aus anderen ^Gründen nicht möglich, so sollte man von den betr. Feldern überhaupt keine Saatkartoffeln nehmen. Ferner müssen die Kartoffeln sachgemäß, unter Vermeidung von Feuchtigkeit und Wärme, aufbewahrt werden, da- mit etwa vorhandene kleine Faulstellen sich nicht vergrößern und die Fäulnis nicht auf gesunde Knollen übergreifen kann. Vor dem Auspflanzen im Frühjahr sind die Kartoffeln sorgfältig zu ver- lesen und alle mit Faulstellen behafteten auszu- scheiden. Endlich sollte man das Auslegen ge- schnittener Knollen vermeiden, weil die Schnitt- flächen, namentlich bei feuchtem Frühjahrswetter, den Bakterien bequeme Eingangspforten bieten. 5. Fußkrankheiten. Außer der Schwarzbeinigkeit gibt es noch einige Krankheiten, die sich durch Rollung und Verfär- bung der obersten Blätter äußern (Abb. 3). Da bei N. F. XVni. Nr. 7 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 93 ihnen die Ursache gleichfalls in den unterirdischen Teilen der Pflanze zu suchen ist, kann man sie zweckmäßig mit Appel als „Fußkrankheiten" zu- sammenfassen. Im Gegensatze zur Schwarzbeinig- keit ist der Stengel unten nicht abgefault und setzt daher dem Herausziehen aus dem Boden einen merklichen Widerstand entgegen. Auch verfärbt sich das Laub nicht so intensiv. Die kranken Pflanzen sterben kaum früher ab als ge- sunde und bleiben in ihrem Ertrage meist nicht allzusehr zurück. ofi'enbar den Wasserhaushalt der Pflanze beein- trächtigen. Nicht selten auch kann man beim Durchschneiden der Stengelbasis eine Bräunung des Gefäßbündelringes bemerken. Die mikro- skopische Beobachtung ergibt dann, daß die Ge- fäße mit einem dichten Gewirr von Pilzfäden an- gefüllt sind, die sich durch Kultur auf geeigneten Substraten gewöhnlich als Fusarium- oder Vcrti- ciUunii-h.x\.^Vi. erweisen. Diese Verstopfung der Wasserleitungsbahnen macht das Rollen der Wipfel- blätter ohne weiteres verständlich. Es ist eine Abb. 3. Triebspitze einer fußkranken Pflanze. (Nach k p )) c 1.) Bei der Untersuchung derartiger Stauden findet man in manchen Fällen z. T. verkümmerte oder faulende Wurzeln, was wohl eine Folge un- günstiger Witterungs- und Bodenverhältnisse sein dürfte. In anderen Fällen weist der unterirdische Stengel Fraßbeschädigungen durch Engerlinge, Erdraupen, Drahtwürmer u. dgl. oder mechanische (beim Häufeln entstandene) Verletzungen auf, die Schutzmaßnahme der Pflanze zur Einschränkung des Wasserverbrauchs. Die Pilze gelangen, wie die Schwarzbeiiiigkeitsbakterien, entweder aus dem Boden oder aus den Mutteiknollen in den Stengel. Von der Fusariumfäule der Kartoffeln werden wir noch hören. Es sei hier nur bemerkt, daß eine Infektion der Knollen von der Mutterpflanze her zu den Seltenheiten gehört. Man kann also die 94 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. Knollen von fußkranken Stauden im allgemeinen ohne Bedenken zur Saat verwenden. Übrigens gibt es auch Fälle von Wipfelrollen, in denen keine der oben genannten Ursachen fest- zustellen ist. Q u a n j e r bringt sie in Zusammen- hang mit der Blattrollkrankheit, indem er bei der- selben zwei Formen unterscheidet: eine „primäre" Form, bei der das Rollen an den obersten Blättern beginnt, und eine „sekundäre" Form, die sich zu- erst an den unteren Blättern äußert. Die Knollen primär erkrankter Pflanzen sollen im folgenden Jahre sekundär erkrankte liefern. Von anderer Seite ist dieser Zusammenhang der eigentlichen Blattrollkrankheit mit dem Wipfelrollen bisher nicht bestätigt worden, so daß die Erklärung der erwähnten Fälle einstweilen eine offene Frage bleibt. 6. Der Kartoffelkrebs. Eine erst seit wenigen Jahren in Deutschland bekannte, gefährliche Kartoffelkrankheit ist der Kartoffelkrebs, der sich durch blumenkohlartige Geschwülste an den Knollen äußert. Die Ge- schwülste haben verschiedene F^orm und Größe (Abb. 4.). Bald sind sie so klein, daß man sie mit Schorfstellen verwechseln kann, bald sitzen sie der Knolle in Gestalt von erbsen- bis walnuß- großen, unregelmäßig geformten Auswüchsen auf, bald dehnen sie sich über die ganze Oberfläche der Knolle aus, so daß diese eine einzige krebs- artige Bildung darstellt. Ihre Farbe ist anfänglich weißlich, gelb oder fleischfarbig, später braun bis schwarz. Vielfach sitzen solche Geschwülste un- mittelbar am unterirdischen Stengel und an den Stolonen (Abb. 5). Das Kraut weist in der Regel keine besonderen Eigentümlichkeiten auf. Nur wenn die in der Nähe der Erdoberfläche gebildeten Krebsgeschwülste freigelegt werden und ergrünen, wird die Krankheit oberirdisch erkennbar. Manch- mal ergreift der Krebs auch die beim Häufeln mit Erde bedeckte Blätter; selten entstehen Wucherungen in den Blattachseln des oberirdischen Stengels. Die Krankheit tritt schon im Juli auf, wird aber gewöhnlich erst bei der Ernte bemerkt. Man findet dann bei stark erkrankten Pflanzen über- haupt oder fast keine normalen Knollen. Die miß- bildeten Kartoffeln sind zu " Speisezwecken nicht verwendbar und neigen in hohem Grade zur Fäulnis. Als Erreger des Krebses wurde 1896 von Seh ilberski in Ungarn ein zu den CliytriiUiiccii gehöriger Pilz, Chrysophlyctis ciidobiofica, festge- stellt. Die erste Infektion gesunder Pflanzen geht vom Boden aus. Der Pilz dringt in die äußersten Zellschichten der jungen, noch dünnschaligen Knollen ein und wächst innerhalb der Zellen unter Aufzehrung ihres Inhalts zu goldbraun ge- färbten Sporangien aus. Meist findet man ein, seltener 2 — 3 dieser Gebilde in einer Zelle. Nach einiger Zeit werden die Schwärmsporen frei, dringen durch die Wände in Nachbarzellen ein und wach- sen hier wiederum zu Sporangien heran, Aut diese Weise werden immer größere Teile der Knolle krank. Das befallene Gewebe stirbt unter Braunfärbung ab und wird später trocken- oder naßfaul. Die benachbarten gesunden Zellen aber, besonders die Vegetationspunkte (Augen), werden zu lebhaften, unregelmäßigen Teilungen angeregt, so daß die geschilderten charakteristischen \Vuche- rungen zustande kommen. Im Spätsommer ent- stehen statt der Zoosporangien dickwandige, gold- gelbe Dauersporen, die bei der Zersetzung der Knollen in den Boden gelangen und hier über- wintern. Kommen sie im nächsten Jahre mit Kartoffelknollen in Berührung, so keimen sie unter Bildung von Schwärmsporen aus, die von neuem iu'^ Innere der Knollen eindringen. Andere Kultur- pflanzen werden nicht befallen. Die Dauersporen bleiben mindestens 8 Jahre lang keimfähig. Den größten Schaden richtet der Kartoffelkrebs in solchen Wirtschaften an, wo alljährlich oder alle 2 — 3 Jahre auf demselben Boden Kartoffeln angebaut werden. Denn hier findet eine fort- schreitende Anreicherung des Bodens mit den Dauersporen des Pilzes statt und von Jahr zu Jahr wird der Befall der Kartoffeln stärker. Dem- entsprechend ist der Krebs bisher vorwiegend in den Arbeitergärten Rheinlands und Westfalens verheerend aufgetreten. Man hat ihn aber auch schon in größeren Wirtschaften in Schlesien, Posen, Brandenburg und bei Hamburg beobachtet. Direkte Bekämpfungsmittel des Krebses gibt es nicht. Alle Versuche, die Sporen des Pilzes durch Behandlung des Bodens mit chemischen Mitteln abzutöten, haben bis jetzt kein brauch- bares Ergebnis gezeitigt. Auch der Plan, der Krankheit durch Anbau widerstandsfähiger Sorten entgegenzutreten, verspricht vorläufig keinen Er- folg, da alle gebräuchlichen Sorten mehr oder minder anfällig zu sein scheinen. So bleibt nur die Möglichkeit, auf den einmal befallenen Feldern den Kartoffelbau für mehrere Jahre einzustellen und andererseits einer Verschleppung der Krank- heit durch das Saatgut mit allen Mitteln vorzu- beugen. Es versteht sich von selbst, daß schwer erkrankte, total deformierte Knollen nicht zur Saat verwendet werden dürfen. Da aber auch die schwach erkrankten, äußerlich von gesunden schwer zu unterscheidenden Knollen den Krebs über- tragen, empfiehlt es sich, von verseuchten Feldern überhaupt kein Saatgut zu nehmen. Wer Saat- kartoffeln von auswärts bezieht, sollte sich stets überzeugen, ob sie krebsfrei sind; in Zweifels- fällen braucht er nur eine der Pflanzenschutzstellen um Auskunft zu bitten. Ferner ist es notwendig, die befallenen Stauden mit den erkrankten Knollen möglichst früh zu ernten und zu vernichten, das F'eld von den Ernterückständen sorgfältig zu säubern, die Verwendung von Abfalldünger (Kom- post), in den leicht Dauersporangien enthaltende Kartoffelreste hineingelangen, zu vermeiden und schließlich durch Reinigung der Ackergeräte eine Verschleppung der Krankheitskeime mit der an- haftenden Erde zu verhüten. N. F. XVIII. Nr. 7 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 9S 7. Der Schorf. schiedengestaltete, borkig zerklüftete, bräunliche Wie der Krebs, so ist auch der schon längere Flecken der Schale, die anfangs an zerstreuten Zeit bekannte Schorf eine Erkrankung der Kar- Stellen auftreten, später zusammenfließen und bei toffelknoUen. Unter Schorf versteht man ver- starker Erkrankung den größten Teil der Oberfläche Abb. 4. KurtottelknoUea mil verschieden starkem KrebsfuU. (Nach .Appel.) a) Abb. s. Stark krebskranke Pflanze mit nur einer norniaUn Knolle, a'| cin/.elne Knülle (Nach Appel.) 96 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVni. Nr. 7 einnehmen können (Abb. 6). Die Flecken sind ge- wöhnlich etwas erhaben und flach ausgebreitet (Flachschorf), können aber auch kraterförmig ver- tieft sein (Tiefschorf) oder infolge übermäßiger Korkwucherung zu warzenartigen Gebilden an- schwellen (Buckelschorf); ferner kommen Erhe- bungen in Verbindung mit Vertiefungen vor (Buckeltiefschorf). Die gebräunten/^abgestorbenen Stellen sind nach innen durch eine frische Kork- schicht von dem gesunden Gewebe abgegrenzt. Abb. 6. Schorfige KartoffelknuUen. (Nach Schänder.) Man betrachtet den Schorf vielfach nur als einen Schönheitsfehler der Kartoffel, der ihre Ver- wendbarkeit zu Speisezwecken beeinträchtigt. Da aber die Zerstörung von Teilen der Schale das Wachstum der Knollen behindert und die Schorf- stellen zu Ausgangspunkten von Fäulnis werden können, ist der Schaden zuweilen nicht unbedeu- tend. Bei starkem Befall leidet auch die Trieb- kraft der Augen und damit der Wert als Saat- kartofifel. Worauf der Schorf zurückzuführen ist, ist eine noch nicht geklärte Streitfrage. Früher machte man allein die Bodenverhältnisse dafür verantwortlich. Diese Ansicht fand eine Stütze in der Beobach- tung, daß der Schorf auf gewissen Böden, so auf schweren Ton- und Lehmböden einerseits und auf trockenen Sandböden andererseits, besonders häufig vorkommt, sowie in der praktischen Er- fahrung, daß die Zufuhr von Kalk, frischem Stall- dung, Jauche und Chilesalpeter die Schorfbildung begünstigt. Aber Versuche von Frank und Krüger haben ergeben, daß alle diese schorf- begünstigenden Faktoren ohne Einfluß bleiben, wenn die Knollen in sterilisierte Erde gelegt werden. Es müssen also Organismen an der Ent- stehung des Schorfes beteiligt sein. In der Tat ist es einzelnen Forschern (Bolley, Thaxter u. a.) gelungen, aus den Schorfstellen Bakterien oder Pilze (Actiiioiiyccs) zu isolieren und durch Infektion mit denselben an gesunden, glatten Knollen künstlich Schorfbildung zu erzielen. Die Infektion soll bei jungen Knollen überall, bei älte- ren nur an Wundstellen und namentlich an den Lenticellen gelingen, während reife Knollen nicht angegriffen werden. Die Kartoffel scheint das gesunde Gewebe durch Korkbildungen gegen die Eindringlinge zu schützen und wird dabei häufig zu abnormen Korkwucherungen veranlaßt. Ob es sich um wirkliche Parasiten und spezifische Schorforganismen oder um saprophytische Pilze handelt, die nur in verletzte oder durch ungünstige Bodenverhältnisse geschwächte Knollen eindringen, ist eine offene Frage. Jedenfalls ist die förder- liche Wirkung bestimmter Bodenarten und Dung- stoffe nur eine indirekte , indem sie den Schorf- erregern geeignete Entwicklungsbedingungen bieten. Zur Bekämpfung des Schorfes hat man Beizen der Saatkartoffeln empfohlen. Ein sicherer Erfolg ist damit aber nicht zu erzielen, weil die Ent- stehung des Schorfes in erster Linie davon ab- hängt, ob im Boden Organismen der erwähnten Art vorhanden und die Bedingungen für deren Vermehrung gegeben sind. Im Schorfboden wird gesundes Saatgut immer krank, und andererseits liefern die schorfigsten Kartoffeln in gesundem Boden stets gesunde Knollen. Die Bekämpfung des Schorfes muß vielmehr darauf abzielen, die Bodenbeschafifenheit so zu beeinflussen, daß die Schorferreger nicht gedeihen können, d. h. Über- düngung mit den obengenannten Stoffen ver- meiden und für gute Durchlüftung und aus- reichende Feuchtigkeit des Bodens sorgen. 8. Die Kartoffelfäulen. Zum Schluß sei noch kurz auf die Kartoffel- fäulen eingegangen. Die durch Fäulnis hervor- gerufenen Verluste sind beträchtlicher als man gewöhnlich denkt. Nach der Erntestatistik des preußischen Staates sind durchschnittlich 4"/o der geernteten Kartoffeln angefault. Das würde bei einer Ernte von 50 Millionen Tonnen in Deutsch- land allein 2 Millionen Tonnen ausmachen. Dazu kommen aber noch mindestens ebensoviel Kar- toffeln, die während der Aufbewahrung im Winter verfaulen, im ganzen also 4 Millionen Tonnen. Die Fäulnis kann durch verschiedene Orga- nismen verursacht werden. Es wurde bereits er- wähnt, daß Pliytopldlwra iiifcstans, Fiisariiiiii und die Schwarzbeinigkeitsbakterien auf die jungen Knollen übergehen und hier Fäulnisprozesse ein- leiten können. Aber auch andere Pilze und Bak- terien, sowie Nematoden sind dazu imstande. Man hat also nach den Erregern verschiedene Arten von Fäulen zu unterscheiden, die allerdings nicht immer getrennt, sondern oft gemeinsam an einer Knolle auftreten. Es würde zu weit führen, sämt- liche Fäulniserreger zu besprechen. Wir beschränken uns daher auf die praktisch wichtigsten, die an der Kartoffel besonders charakteristische Veränderungen bewirken. Die Phy tophlhorafäul e ist durch größere oder kleinere, braune, etwas bläulich schimmernde, meist wenig eingesunkene Flecken auf der Schale N. F. XVIII. Nr. 7 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 97 gekennzeichnet. Unterhalb dieser Stellen ist das Gewebe mehr oder weniger tief gehend bräunlich verfärbt, weich und trocken. Unter dem Mikro- skop erkennt man zwischen den Zellen ein quer- wandloses Myzel; die Membranen sind braun und der Zellinhalt kollabiert; nur die Stärkekörner er- scheinen unversehrt. Daß es sich um PhytophfJwra handelt, kann man leicht feststellen, wenn man die durchschnittene kranke Kartoffel in eine feuchte Glaskammer legt; nach 2 — 3 Tagen hat das Myzel die oben beschriebenen Konidienträger mit den zitronenförmigen Sporen gebildet. Die Phytoph- thorafäule entwickelt sich besonders in den Mieten und Kellern, wenn sie feucht und warm sind (über 8 " C), und kann oft in kurzer Zeit große Bestände zerstören. Abb. 7. Kusariunifaule Knollen (nach Wehmer Eine andere Trockenfäule wird durch Fusarium verursacht. Die Knollen schrumpfen dabei zu einer trockenen zundrigen Masse zusammen, auf deren Oberfläche kreideartige, weiße oder blaß- rote Polster erscheinen (Abb. 7). Diese bestehen aus zahlreichen büschelartig verzweigten Konidien- trägern, die an den Enden ihrer kurzen Äste spindelförmige, gekrümmte, mit Querwänden ver- sehene Sporen tragen. Im Innern der Knolle findet man Hohlräume, die mit feinen, septierten Pilzfäden ausgekleidet sind. Ebensolche Fäden sieht man in den angrenzenden Geweben sowohl zwischen als auch innerhalb der Zellen, sie lösen die Zellulose der Zellwände auf und zerstören das Plasma, lassen aber die Stärkekörner unver- ändert. Die F"usariumpilze sind im Boden weit ver- breitet und vorwiegend saprophytisch. Unter be- stimmten Bedingungen (andauernde Nässe, Ver- krustung des Bodens) dringen sie aber durch ver- letzte Stellen in die Knollen ein. Da sie zu ihrer weiteren Entwicklung nur sehr wenig Feuchtig- keit benötigen, läßt sich ihre zerstörende Tätig- keit auch durch trockene Aufbewahrung der Kar- toffeln nicht wesentlich einschränken. DieFusarium- fäule ist deshalb besonders gefährlich, aber glück- licherweise nicht sehr häufig. Auch der Pilz Rhizoctonia Solaiii, der in der Regel ein harmloser Bewohner der Kartoffelschale ist und hier kleine schwarzbraune Pocken bildet, kann eine Fäule verursachen, indem er durch die Lenticellen ins Knolleninnere eindringt. Er ver- zweigt sich mit seinen relativ dicken, septierten Fäden in und zwischen den Zellen und löst die Stärkekörner auf. Das Protoplasma bleibt zunächst unverändert, sogar die Strömungen innerhalb des- selben nehmen ihren Fortgang. Erst später kommt es zur Abtötung, Gerinnung und Bräunung des Plasmas. Im Gegetjsatze zu den beiden vorher beschriebenen P'äulen wird das Gewebe wässerig. Bei allen Pilzfäulen treten sekundär häufig Bakterien auf und beschleunigen die Zersetzung. Aber auch durch Bakterien allein kann Fäulnis herbeigeführt werden. Wir erwähnten bereits Bacillus p//yfoplitIioriis , den Haupterreger der Schwarzbeinigkeit. Vor allem ist hier Bacillus solaiiipcrda zu nennen. Die von ihm verursachte Fäule ist eine Naßfäule, bei welcher das Knollen- innere in eine weiche breiartige Masse und schließ- lich in eine übelriechende gelbliche Jauche ver- wandelt wird. Die Bakterien stammen aus dem Boden und dringen besonders durch Wundstellen ein. Beim Begirm der Zersetzung findet man sie in großer Zahl zwischen den Zellen. Sie verzehren zunächst die vorhandenen löblichen Kohlen- hydrate (Zucker) unter Abspaltung von Buttersäure (die den faulen- den Knollen einen charakteristi- schen Geruch verleiht) und lösen die Mittellamellen auf, so daß der Zusammenhang der Zellen sich lockert. Später werden die Membranen angegriffen und die im Protoplasma enthaltenen Eiweißstoffe zersetzt. Das Endergebnis des Prozesses ist ein flüssiger Brei, in dem neben zahllosen Bakterien nur noch die unveränderten Stärkekörner zu bemerken sind. Wenn der Fäulnisherd nur klein ist und die Bakterien durch Trockenheit und Kälte in ihrer Entwicklung gehemmt werden, kann die Zer- setzung zum Stillstand kommen. Der Brei trocknet (oft unter Bildung von Hohlräumen) zu einer zunderartigen Masse ein, und die Kartoffel findet Zeit, das gesunde Gewebe gegen die P'aulstelle durch eine Korkschicht abzugrenzen. In der Regel aber wird die ganze Knolle zerstört. Die Bakterienfäule tritt besonders in nassen Jahren verheerend auf. Die erste Infektion erfolgt auf dem Felde, die weitere Entwicklung und Ver- breitung in den winterlichen Aufbewahrungs- räumen. Bei feuchter Wärme vermehren sich die Bakterien lebhaft, kleine Faulstellen dehnen sich, in wenigen Tagen durch die ganze Knolle aus, und der schließlich ausfließende, bakterienreiche Saft überträgt die Krankheit gleich auf eine größere Anzahl von Knollen. Unter Umständen kann so der ganze Vorrat einer Miete verfaulen, so daß diese plötzlich in sich zusammenstürzt. Die Empfindlichkeit der einzelnen Kartoffel- sorten gegen die Bakterienfäule (wie auch gegen die übrigen Fäulen) ist sehr verschieden. Besonders empfindlich, also schlecht haltbar, sind z. B. In- perator, Gertrud, weiße Königin, während Wohlt- mann und andere rote Sorten widerstandsfähiger sind. 98 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 7 Außer Bacillus solanipcrda können noch manche anderen Bakterienarten Fäulnis hervorrufen. Da sie aber nicht durch ein scharf umrissenes Krank- heitsbild charakterisiert sind und ihre Pathogenität vielfach zweifelhaft ist, seien sie an dieser Stelle übergangen. Das beste Mittel, Verlusten durch die ver- schiedenartigen Fäulen vorzubeugen, ist neben sorgfältigem und wiederholtem Verlesen eine sach- gemäße Lagerung der Kartoffeln. Es würde den Rahmen dieses Aufsatzes überschreiten, auf Einzel- heiten einzugehen. Ich erwähne nur, daß jeder Aufbewahrungsraum drei Grundbedingungen er- füllen muß: Er muß trocken, gut durchlüftet und kühl sein, ohne natürlich die Kartoffeln der Gefahr des Erfrierens auszusetzen. Einzelberichte. Botanik. Rhythmik und Verbreitung von Perennen |(mit einer Abbildung). L. Di eis (Berichte d. Deutschen Botanischen Gesellschaft, Bd. XXXVI, Heft 6, 1918) erörtert die Frage, ob der Lebenslauf, der Entwicklungsrhyth- mus, wie ihn etliche ausdauernde Kräuter des heimischen Sommerwaldes zeigen , auf ererbter starrer Organisation beruhe, oder ob und inwie- weit er etwa durch die klimatischen Faktoren, in erster Linie also durch die winterliche Kälte auf- gezwungen ist. Die nebenstehende Tabelle Diels' gibt für einige krautige Perennen des mitteldeutschen Sommerwaldes die Assimilationsperiode (dicke Linien) und die Blütezeit (Punkt«) an. Die Ver- tikallinie im Mai bezeichnet den Zeitpunkt der vollendeten Belaubung der herrschenden Bäume. Man sieht, wie einige Pflanzen (Chrysanthemum, Primula, Asarum) das ganze Jahr grünen, andere nur eine längere oder kürzere Zeit belaubt sind resp. treiben. Einige der beobachteten Arten ent- zog nun Diels dadurch der winterlichen Kälte, daß er sie im Herbst in frostfreie Glashäuser über- führte und im nächsten Frühjahr wieder ins F"reie brachte. Es waren dies Aconitum Lycoctonum, Arum maculatum, Asarum europaeum, Asperula odorata, Corydalis cava und solida, Convallaria majalis, Dentaria bulbifera, Leucoium vernum, ■ Mercurialis perennis undTolygonatum multiflorum. Die Pflanzen verhielten sich gruppenweise ver- schieden, es ließen sich drei deutlich gesonderte Typen unterscheiden, nätnlich ein Asperula-, ein Leucoium- und ein Polygonatumtyp. 1. Der Waldmeister und das Bingelkraut wuchsen den ganzen Winter über fort, und nach .den Erfahrungen von Kleb's verhalten sich das Glaskraut (Parietaria offiicinalis und der Gunder- rriann (Glechoma hederacea) ebenso. Die Unter- brechung des Treibens draußen entspricht also nicht einer inneren Periodizität, sondern ist eine durch die Kälte erzwungene. 2. Das Schneeglöckchen, das bei uns draußen bereits im Mai in Ruhe verfällt, die dann 8 — 9 Monate anhält, beginnt im Glashaus bereits im Herbst wieder auszutreiben, schließt aber im näch- sten Frühjahr diesen Schub einen Monat früher ab als die Genossen im Walde. Bei ihm ist also die Ruhezeit nicht aufzuheben, sie wird aber er- heblich verkürzt. Schneeglöckchen und z. B. auch Orchideen, die zu dem gleichen Typus gehören. sind wirklich periodisch organisiert, aber die Ruhe- zeit ist durch die einsetzende Kälte über die nor- mal veranlagte hinaus verlängert, nur das zeitliche Ausmaß der Ruheperiode ist erzwungen. 3. Der Lerchensporn hat in seinem Lebens- lauf große Ähnlichkeit mit dem Schneeglöckchen, und doch ist seine innere Veranlagung wieder ganz anders. Er treibt nämlich, dem Frost ent- zogen, nicht schon im Herbst, sondern erst Ende Januar oder Anfang Februar aus. Ebenso ver- halten sich das Buschwindröschen, Dentaria, die Maiblume, der Eisenhut, die Weißwurz (Polygona- tum). Bei diesen Perennen kann also ebenfalls Jan. Febr. März April Mai Juni Juli Aug. Sept. Okt. Nov. Oez. Orchls mascula Mercurialis Arum Aconitum Leucojum Corydalis solida eorydalis cava Pulmonaria Asperula Anemone nemo- ••• •• • •••• •f • •• • • • • •• • e •• e« • 1 rosa Polygonatum Convallaria Dentaria Dryopteris Doronicum Galium aparine i Chrysanthemum Primula offici- naiis Asarum «4 • • .. • * • a« L. ■ • • • • • •• • • • • • die Ruhezeit nicht aufgehoben werden, im Gegen- satz zu den Pflanzen des vorhergehenden Typus dauert aber die Ruhe bis in den Winter hinein unverrückbar fort, die ausgeschaltete Kälte erlaubt erst in seiner zweiten Hälfte ein Austreiben und damit ein Abkürzen der Ruhe. Diels knüpft nun an diese P'eststellungen interessante pflanzengeographische Betrachtungen. Waldmeister und Bingelkraut sind potcntia zu dauerndem Wachstum befähigt, sie sammeln auch keine Reserven, die das intermittierende Wachstum ermöglichen; das tatsächliche winterliche Inter- mezzo ist gewaltsam. Sie vermögen es aber lange zu ertragen und können sich deshalb in unserer N. F. XVIII. Nr. 7 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 99 Flora ohne weiteres halten. In der Hinsicht ist es bedeutungsvoll, daß beide Pflanzen Familien angehören (Rubiazeen, Euphorbiazeen), die ganz überwiegend tropische Vertreter haben. Man kann sie als Einwanderer tropischer Abkunft bezeichnen, denen die Widerstandskraft gegen erzwungene Winterruhe die Besiedelung von Ländern mit periodisch kaltem Klima ermöglichte. Die Pflanzen des zweiten Typus (Leucoium, Arum, Orchis) ge- hören Pflanzengruppen an, die ihr Hauptver- breitungsgebiet in den Mittelmeerländern haben. Sie ruhen dort im heißen und trockenen Hoch- sommer und beginnen im milden und feuchten Winter schon wieder auszutreiben. Unsere Ver- treter dieser Gruppe würden dann nach Norden vorgeschobene Posten mediterraner Abkunft sein, die zwar in unserem Klima ihre Ruhezeit ver- längern müssen, aber dafür dank ihrem zeitigen Austreiben die günstigen Lichtverhältnisse des kahlen Frühlingswaldes vortrefflich ausnutzen können. Corydalis, Anemone, Polygonatum, Den- taria, Aconitum. Convallaria schließlich sind auch innerlich der Periodizität unseres Klimas har- monisch angepaßt, sie sind recht eigentlich im Gebiet des periodischen Sommerwaldes zu Hause. Diese Gattungen und ihre Verwandtschaft be- siedeln denn auch in breitem Streifen die ge- mäßigte Zone von Westeuropa bis Ostsibirien, während Gruppen mit überwiegend tropischer Verbreitung in diesem Verwandtschaftskreise ver- mißt werden. Allgemein läßt sich für die genetische Pflanzen- geographie der Satz ableiten, daß auch in Hin- sicht auf den Entwicklungsrhythmus die Pflan/en- formen nur soweit Gebiete verschiedenen Klimas besiedeln können, als ihnen der Spielraum ihrer Organisation gestattet, sich dem Ausmaß der klimatischen Bedingungen anzuschmiegen. So verschwinden auch z. B. in 0>tasien und Nord- amerika die immergrünen Laubhölzer allmählich nach Norden zu und werden abgelöst durch Laub- hölzer, deren Belaubungsrhythmus besser auf die allmählich zunehmende Periodizität des Klimas abgestimmt ist. Miehe. Zoologie. Die Wirkung farbigen Lichts auf Puppen und Schmetterlinge. Im Jahre 1916 hat Dürken eine Untersuchung über die Wirkung verschiedenfarbiger Umgebung auf die Variation von Schmetterlingspuppen in der Zeitschrift für wissenschaftliche Zoologie veröffentlicht, in der er zu folgenden Ergebnissen kam : Die Färbung und Zeichnung der Puppen von Pieris brassicae (Kohl- weißling) ist abhängig von der Farbe der Um- gebung. Für jede Ünigebungsfarbe ist eine be- stimmte Hauptvariante charakteristisch. Die Vari- anten unterscheiden sich durch die ungleiche Aus- bildung des schwarzen und weißen Pigmentes. Jenes hat seinen Sitz in den oberflächlichsten Chitinschichten, dieses in den Zellen der Hypo- dermis. Auf neutralem Untergrund werden beide Pigmente gut entwickelt, während sie in grüner und besonders in orangener Umgebung reduziert werden. Eine geringere Rückbildung tritt auf gelbem und blauem Untergrund ein, und auf roten wird die Variationsrichtung gegenüber dem Verhalten in grauer Urrigebung fast gar nicht verschoben. Jedenfalls ist in beiden die Haupt-. Variante gleich. Infolge des Ausfalles des opaken weißen Pig- mentes ist das Integumcnt der Hauptvarianten auf grünem und orangenem Untergrund durch- scheinend. Daher zeigen diese Puppen, vor allem die aus orangefarbener Umgebung stammenden eine grüne Grundfarbe, da das tieferliegende Körper- gewebe der Puppe bemerkbar wird. Die Reaktion der Puppenfärbung auf die Um- gebung, deren Wesen nicht in der Schaffung einer sog. Schutzfärbung besteht, beruht sowohl auf dem Helligkeitswert wie dem Farbwert der Umgebung, ausschlaggebend aber ist der letzte. Der Hellig- keitswert beeinflußt nur im allgemeinen die Tönung der Puppenfärbung und zwar gleichsinnig mit seinem eigenen Grade. Die Reaktion des Farb- wertes verläuft jedoch nicht gleichsinnig mit der Färbung der Umgebung; offenbar liegt also hierin eine spezifische Abhängigkeit der Pigmentbildungs- vorgänge von verschiedenen Wellenlängen des Lichtes vor. Nachdem nun Schanz in verschiedenen Unter- suchungen nachgewiesen hat, daß Eiweißkörper durch Licht verschiedener Wellenlänge eine spezifi- sche Veränderung erfahren, nimmt Dürken in einer neuen Untersuchung (Nachrichten der Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen 1918) an. daß der Chemismus der Puppe durch verschiedene Um- gebung beeinflußt wird und daß zugleich auch die Gonaden und Fortpflanzungszellen abgeändert werden. Er untersuchte daher die Nachkommen der in farbiger Umgebung aufgezogenen Puppen. Die Zuchten des Ausgang-mäteriales wurden nicht nur einer farbigen Umgebung d. h. dem reflek- tierten Licht ausgesetzt, sondern nach Ausschluß des weisen Tageslichtes unter farbigen (roten, orangenen und blauen) Lichtfiltern gehalten. Da- zu wurden nicht nur Puppen sondern auch Falter verwendet. Die Nachkommen wurden z. T. un- beeinflußt behandelt, z. T. wie die Eltern weiter- gezüchtet. In der P^ -Generation unterscheidet der Verf. zwei Gruppen. Für Gruppe A ist kennzeichnend, daß sowohl die schwarzen wie die weißen Zeich- nungselemente sämtlich vorhanden sind oder wenigstens vorherrschen. In Gruppe B ist Schwarz und Weiß sehr stark reduziert, und die vorwiegende Grundfärbung der Puppen ist grün. Die Versuche zeigten, daß die Färbungstypen in Gruppe B in nichtfarbiger Umgebung ziemlich selten sind. In rotem Licht gehört ihnen mehr als die Hälfte aller Puppen an. Die Zahl steigt bei orangenem, sinkt aber beträchtlich bei blauem Licht. Als Maßstab für die unter farbigem Licht ge- haltenen Falter diente dem Verf. das beiden Ge- lOO Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 7 schlechtem gemeinsame schwarze Feld an der Vorderflügelspitze. Nach dessen Zustand teilt er seine Versuchstiere in vier Gruppen: Gruppe a hat tiefschwarze Flügelspitzen, Gruppe b zeigt einen weißen Saum am Spitzenfeld, bei Gruppe c ist nur ein kleines reinschwarzes Gebiet an der Jnnenseite vorhanden, in Gruppe d ist das ganze Feld aus schwarzen und weißen Schuppen ge- mischt. Trotz dieser normalen Variation ist das Ergebnis der Zuchten negativ : Das farbige Licht hat keine Einwirkung auf die Beschaffenheit des Flügelfeldes. Für die P.,- Generation wurden Falter aus Puppen der Gruppe B der Pj Generation, welche unter dem Einfluß von rotem oder orangenem Licht ge- standen hatten, zur F"ortpflanzung gebracht. Ein Teil der so erzielten Raupen wurde abermals der Einwirkung des orangenen Lichtes ausgesetzt. Dabei konnte eine Steigerung der Wirkung be- obachtet werden. Stellwaag. Auf einen seltsamen Mitbewohner der Bienen- zellen macht H. von Buttel-Reepen im Bienenwirtschaftlichen Zentralblatt Jahrg. 1918 Nr. 9/10 aufmerksam. Er untersuchte im Jahre 191 2 in Sumatra ein Volk der indischen 13iene (Apis indica) und fand, daß die Drohnenzellen entgegen der Regel mit einer zeltförmigen Er- hebung gedeckelt waren, deren Spitze ein Loch durchbrach, so daß es den Anschein hatte, als ob hier ein Luftloch für die Puppe vorhanden wäre. Bei näherer Untersuchung stellte sich heraus, daß alle Drohnenzellen von einer bisher nur einmal beobachteten Milbenart mitbewohnt waren. Diese Art, die zu Ehren von Jakobson, der sie auf den Halsschildern der Apis indica entdeckt hatte, als Varroa jakobsoni benannt wurde, ist ungefähr wie ein Taschenkrebs geformt und erreicht eine Breite von 1,5 mm bei i mm Länge. Dabei ist sie sehr flach und vermag in größerer Zahl — eng an die Zellenwandung gedrückt — neben der Larve zu leben. Vermutlich nährt sie sich von den Ex- krementen, die von der Larve kurz vor der Ver- puppung abgegeben werden. Inwieweit sie für die sonderbaren Zelldeckel verantwortlich gemacht werden kann, ist nicht mit Sicherheit zu sagen. Stellwaag. Zur Wiedereinführung des Wisents in Deutsch- land. Während im Jahre 19 10 im Urwald von Bialowies noch etwa 1200 Wisente sich tummelten, war dieser Bestand schon zu Kriegsbeginn, nach- dem durch die kurzsichtigen Maßnahmen der russischen Regierung die Wild- und Rinderseuche furchtbar unter den trotzigen Genossen gewütet hatte, auf etwas über 700 Exemplare zusammen- geschmolzen.^) Der Krieg, der mit seinen Schrecken im Herbst 19 15 über den Bialo wieser F"orst hin- ') Vgl. dazu meinen Bericht „Der Wildstand im Bialo- wieser Urwald". Naturw. Wochenschr. Jahrg. 1917, S. 234. brauste, vernichtete weiterhin die große Mehrzahl der Tiere, so daß bei Übernahme des Forstes durch die deutsche Forstverwaltung nur mehr ein Bestand von etwa 160 Stück der Hege erhalten geblieben waren. Den deutschen Forstmännern gelang es, die Gefahr der unter dem Wilde wütenden Feinde und Wilderer zu bannen, so daß sich die Zahl der Wisente unter deutscher Ver- waltung wieder auf 200 Tiere gehoben hat. Brachten doch nach statistischen Angaben der Bialowieser Forstverwaltung die letzten Frühjahre 19, bzw. 23 und 25 Kälber. ,,Zudem ist der Wisent, der infolge früherer unsinniger Hege und Verwöhnung alle Zeichen des Niedergangs gezeigt hatte, unzweifelhaft in dieser kurzen Spanne von 2 Jahren schon wieder scheuer und härter ge- worden," wie der Leiter der bisherigen deutschen Militärforstverwaltung in Bialowies, Major Dr. Escherich in Heft 3 des Sammelwerkes „Bia- lowies in Deutsch erVerwaltung" schreibt. Um nun das interessante Wild auch nach dem Kriege der deutschen freien Wildbahn zu erhalten, schlägt v. d. Groeben in der '„De u tschen Jäger-Zeitung" (Bd. 72 Nr. 10 und li) vor, die Wieder einbürgerung des Wisents in deutschen Forsten zu betreiben. Daß sich der Wisent rasch von dem überhegten Wild, als das er uns im Bialowieser Urwald entgegen- trat, zurückwandeln kann zum freien Wilde, dessen Vorkommen auf sich selbst gestellt ist und das des Menschen als Futterspenders nicht mehr bedarf, das beweisen die Erfahrungen Escherich's in Bialowies. Der Vorschlag v. d. Groeben 's hat also weniger im Auge, die Wisente nach Art der im Parke des Fürsten Pleß eingehegten Exemplare in groß umgatterten Forsten zu halten, als viel- mehr sie in freier Wildbahn auszusetzen und da- mit das deutsche Waidwerk um eine der charak- teristischsten Wildarten zu vermehren. Die Wisente waren überdies früher bekanntlich in weiten Teilen Deutschlands heimisch. Als Forste, die für die Einbürgerung des Wisents sich eignen dürften, empfiehlt V. d. Groeben vor allem ostpreußi- sche Forste, von denen er namentlich den Frischingsforst mit dem anschließenden Zehlau- bruch und, als vielleicht noch geeigneteres Terrain, das riesige Forstgebiet an und südlich der Memel- mündung vorschlägt. Gerade bei dem letzteren Forst handelt es sich um ein Gebiet von 24000 ha, das schon einen ganz ansehnlichen Bestand von Wisenten aufnehmen könnte. Verfasser hat schon früher einmal in den „Blättern für Natur- schutz und Heimatkunde" die Einbürgerung des edlen Wildes angeregt, er betont, daß die Einbürgerung des Wisents durchaus keine über- großen Schwierigkeiten bietet. Zum Beweise dieser seiner Behauptung bezieht er sich auf die Jahres- berichte der Bison Society in den Vereinigten Staaten, die bekanntlich den Schutz der letzten noch vorhandenen amerikanischen Büffel über- nahm und seit einer Reihe von Jahren mit bestem Erfolge wirkt. Auch in Amerika war es höchste N. F. XVIII. Nr. 7 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. lOI Zeit, als die Gesellschaft ins Leben trat; denn auch dort war der Weiterbesland der Büffel ernst- lich in Frage gestellt. Ebenso liegen die Ver- hältnisse heute in Polen, wo die Wisente wohl in kürzester Zeit ausgerottet sein werden, nachdem, wie jetzt, die deutsche Militärverwaltung ihre ver- dienstvolle Tätigkeit beendet hat. Damit ver- schwände dann das letzte Wisentvorkommen in Europa. Um dieses zu verhüten, müßte die Ein- bürgerung des Wildes in Deutschland geschehen. Es sollte doch auch in Deutschland, schließt der Verfasser, sich erreichen lassen, was man in Amerika zu erwirken vermochte. H. W. Frickhinger. Medizin. Noch bevor der Erreger der Weil- schen Krankheit (Spirochaeta icterogenes^ bekannt war, vermutete man, daß Insekten als Über- träger in Betracht kommen könnten. Zwar ließen die epidemiologischen Beobachtungen keine klare Einsicht zu, doch zeigten die Versuche von Uhlenhuth und Fromme (191S und 1916), daß schon Mengen von 0,001 ccm vom Blutvirus zur Infektion ausreichten. Es konnte durch Ein- träufeln von Virus in die unverletzte Konjunktiva, durch Einreiben in die scarifizierte Haut, durch Stich einer mit Blut infizierten Kanüle sowie mit einer in Virusblut getauchten Nadel eine Infektion bei Meerschweinchen erzielt werden. Auch Reiter gelangte auf Grund von Versuchen bei Meer- schweinchen im Juli 1916 zu dem Ergebnis, daß die gemeine Regenbremse (Haematopota pluvialis) im Stande ist, die Krankheit rein mechanisch zu übertragen. Da auch andere Spirochätenkrank- heiten, wie das Rückfallfieber und die Hühner- spirochätose experimentell durch die Stahlfliege (Stomoxys clacitrans) übertragen- werden können, führte Uhlenhuth und Kuhn eine Versuchs- reihe nach dieser Richtung an Meerschweinchen durch (Zeitschrift für Hygiene und Infektions- krankheiten Bd. 74). Im ganzen wurden 9 ver- schiedene Versuche gemacht. Darnach gelang die Übertragung und zwar können F'liegen noch 6 Tage nach der Fütterung am kranken Tier ein ge- sundes anstecken. In einem der Versuch führte die Fliegeninfektion erst nach einer Reihe von Monaten zum Tode. Möglicherweise besteht also auch beim Menschen eine lange Inkubationszeit. Daß vorwiegend Stomoxys bei uns als Überträger in F"rage kommt, stimmt zwar mit den epidemio- logischen Beobachtungen überein, doch sind noch weitergehende Untersuchungen nötig. Die Japaner sprechen die Ratten als Zwischenträger an. Stellwaag. Bücherbesprechungen. Darwins geschlechtliche Zuchtwahl und ihre arterhaltende Bedeutung. Habilitationsvortrag gehalten am 7. Mai 1918 an der Universität Basel von Dr. N. G. L e b e d i n s k i. Basel, Ver- lag von Helbing und Lichtenhahn 1918. ■ — Preis geh. 1,80 M. Der Verf. bespricht zunächst in allgemeinen Zügen die verschiedenen Erklärungsversuche der sog. sekundären Geschlechtscharaktere. Darwin nahm bekanntlich an, daß die Schutz- und Trutz- organe durch den physischen Kampf der Rivalen hervorgerufen seien, die ästhetischen Charaktere führte er auf die wählende Tätigkeit der Weibchen zurück. Wallace wollte nur eine rein physi- kalische Auffassung der zuletzt genannten Gewebe des tierischen Organismus gelten lassen. Den Männchen der meisten Tierarten aber komme noch eine besondere, auf gesteigerter Lebenskraft be- ruhende Tendenz zu gradweiser Verstärkung der Farben zu. Daneben wirke aber noch mit, daß grelle Farben und auffallende Formen der Tier- welt als Arterkennungsmerkmale nützlich sind. Groß legt das Schwergewicht auf die Sprödig- keit des Weibchens, die von dem Männchen durch auffallende Farben und Formen und allerlei Künste überwunden werden muß. Guenther glaubt im „Einschüchterungsprinzip" den Schlüssel ge- funden zu haben. Je kräftiger ein Männchen ge- baut ist, um so mehr sollen die Rivalen abge- schreckt werden. An Stelle aller dieser Theorien, denen oft die genügende tatsächliche Grundlage fehlt, bringt der Verf. einen neuen Erklärungsversuch. Er macht auf die Wechselwirkung zwischen dem ge- samten Organismus und den Gonaden aufmerksam. Wie diese als Drüsen innerer Sekretion einen Ein- fluß auf die Ausbildung bestimmter Organe aus- üben, so besteht auch eine Wirkung des allge- meinen physiologischen Zustande« auf die Gonaden. Niedere Temperaturen und schlechte Ernährungs- bedingungen schädigen diese und die sexuellen Geschlechtsmerkmale sowie die Fortpflanzung. „Wie es einem Züchter nie einfällt, kränkelnde, durch L^nterernährung oder Übermüdung ge- schwächte Tiere zur Stammzucht zu verwenden, so vermeidet es auch die Natur, die gesundheitlich minderwertigen Männchen zur Fortpflanzung zu- zulassen." So kommt den sekundären Geschlechts- merkmalen eine arterhaltende Funktion zu. Nach Ansicht des Ref. erklärt diese Anschau- ung, zwar warum eine Auslese kräftiger Männchen stattfinden kann , (wer viel und objektiv be- obachtet, nimmt allerdings nicht selten das Gegen- teil wahr) nicht aber genügend, warum die sexuellen Merkmale ausgebildet werden. Stellwaag. Privatdozent Dr. K. v. Frisch, Bakteriologie für Krankenschwestern. Wien u. Leipzig 1918, A. Holder. 102 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 7 Das kleine Heftchen ist aus Vorträgen liervor- gegangen, die der Autor während der Kriegs- zeit in einem Spital zur Belehrung der Schwestern gehalten hat. Im Mittelpunkte stehen die In- fektionskrankheiten und die Impfungen, zu deren Verständnis die grundlegenden Tatsachen aus dem Gebiete der Bakteriologie in einer zwanglosen und anregenden Weise besprochen werden. Das Büch- lein setzt nur ganz allgemeine naturwissenschaft- liche Kenntnisse voraus, gibt aber in sehr ge- schickter Form eine hübsche allgemeine Über- sicht über das Gebiet, zu der auch das wichtigste aus der Zellenlehre herangezogen ist. Es kann als anregende Einleitung in das so überaus reiz- volle Gebiet der Bakteriologie, namentlich natür- lich in ihren medizinischen Teil, sehr empfohlen werden, zumal es mit guten Abbildungen ver- sehen ist. Miehe. Die Vorherbestimmung des Wetters, Antritts- vorlesung gehalten an der Universität Leipzig von Prof. Dr. Rob. W e n g e r. Leipzig, Veit u. Co., 1919. 36 S. — Preis 1,80 M. Eine vorbildliche Darstellung der Entwicklung der IVleteorologie in Theorie und Praxis bildet den ersten Teil der Vorlesung. Alle wichtigen Ver- suche der Menschheit, in die Geheimnisse der Wetterbildung einen Einblick zu erlangen, werden nach Wert und Unwert mit kurzen treffenden Worten gegeneinander abgewogen. Überall tritt das Hin- und Herschwanken zwischen rein statisti- scher Behandlung einerseits und Erfassung der ursächlichen Zusammenhänge andererseits zutage. Wenn sich der Verf. als Schüler und Nachfolger von Bjerknes natürlich auch mehr zu der zweiten Richtung bekennt, so will er die erstere, wie sie besonders neuerdings in der Methode Kaltcn- brunner's zum Ausdruck kommt, nicht unter- schätzt wissen. Aufgabe der wissenschaftlichen Meteorologie wird es vielmehr sein, die statistisch gefundenen Gesetzmäßigkeiten physikalisch zu be- gründen und zu erweitern. Damit ist das Arbeits- programm gegeben. Scholich. Einführung in die Wetterkunde, von L. Weber. Slg. Aus Natur und Geisteswelt Bd. 55. Leipzig u. Berlin, B. G. Teubner, 191 8. 3. Aufl. Das Bändchen bringt eine Einführung in die Arbeitsmethoden und die hauptsächlichsten Er- gebnisse der wissenschaftlichen Meteorologie in leicht verständlicher P'orm. Da bereits die dritte Auflage in der bewährten, oicht wesentlich ver- änderten Gestalt vorliegt, so erübrigt sich eine ausführliche Besprechung. Es genügt, darauf hin- zuweisen, daß auch die neuesten Forschungs- ergebnisse berücksichtigt worden sind. Ein kleines Literaturverzeichnis würde vielleicht den Wert des Werkchens noch erhöhen. Scholich. Das Wetter von E. Kassner. Slg. Wissenschaft und Bildung Bd. 25. Leipzig, Quelle und Meyer, 1918. 2. Aufl. Dies ist ein wahrhaft populäres Buch im guten Sinne des Wortes. In drei großen Abschnitten enthält es eine Übersicht über die geschichtliche Entwicklung der Wettervorhersage, ihre Grund- lagen in heutiger Gestalt und die Bedeutung des Wetters für das praktische Leben. In weiten, namentlich städtischen Volkskreiscn wird die wis?enschaftliche Meteorologie sehr geringschätzig beurteilt, da die meist sehr allgemein gehaltenen und für große Bezirke bestimmten öffentlichen Wettervorhersagen zu wenig zuverlässig sind. Kassner's Buch ist dazu angetan, dieses Vor- urteil zu beseitigen. Es verzichtet auf jeden wissen- schaftlich theoretischen Apparat und gibt in sehr einfacher, leicht verständlicher, großenteils histori- scher Darstellung die Grundlagen der Wiiterungs- kunde. Der Aufbau des deutschen und des inter- nationalen Wetterdienstes wird geschildert und seine weniger in die Öffentlichkeit tretende Wirk- samkeit iür Schiffahrt, Landwirtschaft, Gerichts- wesen usw. gezeigt. Dem Bändchen ist jedenfalls im Interesse einer besseren Würdigung unseres öffentlichen Wetterdienstes die weiteste Verbreitung zu wünschen. Scholich. Deegener, Prof. Dr. P., DieFormen cJerVer- gesellschaftung im Tierreiche. Ein systematisch -soziologischer Versuch. XII und 420 Seiten. Leipzig '18, Veit & Co. — Preis i2,5(iM. Das vorliegende Buch Deegener's sollten alle gründlich lesen, die sich mit den Problemen der Gesellschaftsbildung befassen. Auf gründ- licher Sachkenntnis beruhend, führt es uns treff- lich in das Verständnis der sozialen Organi- sationen der Tiere ein, die zu kennen und zu würdigen nicht allein für den Zoologen, sondern auch für den Soziologen unerläßlich ist. Das Buch bringt uns zu der Überzeugung, daß der Drang nach Selbsterhaltung und nach Arterhal- tung in der Tierwelt weit häufiger zu Vergesell- schaftung mit gegenseitiger Unterstützung führt als zum Kampfe. Doch ist der in der Gesell- schaftsbildung liegende Vorteil nicht immer er- sichtlich. Der Zusammenschluß von Einzeltieren muß nicht notwendig seine Berechtigung in sich tragen; er kann vielmehr auch ausschließlich durch äußere Umstände bedingt sein, ohne selbst Sozietätswerte zu schaffen. Bei weitaus den meisten Tiergesellschaften ist aber ihr innerer Wert, ihre Zweckmäßigkeit für die vergesell- schafteten Individuen, mehr oder w^eniger deut- lich zu erkennen. Deegener nennt die Vereini- gungen, die allen oder einem Teil ihrer Mitglieder Vorteile bieten, essentielle Gesellschaften oder Sozietäten, jene dagegen, bei welchen das nicht zutrifft, akzidentielle Gesellschaften oder Asso- ziationen. Der augenfällige Unterschied, der zwischen ihnen besteht, ist leicht zu erkennen, wenn man ausgeprägte Repräsentanten essen- tieller und akzidentieller Vergesellschaftungsformen zur Beurteilung vor sich hat. Niemand wird N. F. XVIII. Nr. 7 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 103 zweifehl, daß ein Ameisenstaat, ein Bienenstaat, eine Rebhuhnfamilie usw. in der Vergesellschaf- tung der Einzeltiere selbst ihren Wert und ihre Existenzberechtigung tragen, daß dagegen die Kolonien der Blattläuse mit der Vergesellschaf- tung der Einzeltiere für diese keine Vorteile ge- schaffen haben, welche die oft sehr individuen- reichen Ansammlungen als solche gerechtfertigt erscheinen ließen. Einer ganzen Anzahl von Tiergesellschaften gegenüber ist man jedoch noch nicht in der Lage, zu entscheiden ob sie wesent- lich sind oder nicht. Sowohl bei den akziden- tiellen wie bei den essentiellen Tiergesellschaften gibt es Stöcke oder Kolonien miteinander ver- wachsener Individuen; vorwiegend sind aber Vergesellschaftungen freier Individuen, die wieder in homotypische und heterotypische zu unter- scheiden sind, je nachdem sie aus artgleichen oder artverschiedenen Tieren bestehen. Letztere sind relativ selten, aber doch viel häufiger, als man gewöhnlich glauben wird. Vergesellschaftungen, auf Grund der Abstammung von gemeinsamen Eltern oder demselben Vater oder derselben Mutter sind primär; sekundär sind Vereinigungen, deren Mitglieder nicht von vornherein vergesell- schaftet waren, sondern sich erst nachträglich zusammenfanden. Jede Gruppe umfaßt wieder mehrere Untergruppen, je nach ihrer Zusammen- setzung oder dem Zweck des Beisammenseins ihrer Mitglieder. Beachtenswert ist die Feststellung Deegener's, daß die Werte, die wir als Zweck von Tierge- sellschaften beurteilen, nicht immer die Ursachen für die Entstehung der Gesellschaften sind; denn es gibt Verbindungen, die ganz akzidentiell ent- standen sind und erst nachher unter bestimmten Umständen zweckmäßig wurden. Dann war der Wert der Vergesellschaftung nicht ihre Ursache. In vielen Fällen, wo kein deutlicher Anlaß der Vergesellschaftungzuerkennen ist, istderZusammen- halt nur durch die Annahme eines sozialen Triebes zu erklären, der im bloßen Beisammensein mit anderen Tieren seine Befriedigung findet. Ist das Zustandekommen einer Gesellschaft nur so er- klärbar, so können wir freilich noch immer an- nehmen, daß wir das, was die Natur damit zu erreichen strebte, also den Zweck der Ver- gesellschaftung, nicht zu erkennen vermögen oder wenigstens nicht erkannt haben. Es seien noch einige Betrachtungen Deegener's über etwaige Zusammenhänge zwischen ver- schiedenen Formen von Tiergesellscliaften mit- geteilt. Er sagt u. a. : Wenn wir die Formen der Gesellschaftsbildung in ihrer Gesamtheit über- schauen, so sehen wir mehrere Punkte, von denen sie ausgegangen ist, sowie von diesen Wurzel- punkten aus aufwärts führende Linien, auf welchen ihre höheren Stufen liegen. Bald ist der Endpunkt einer Linie von ihrem Fußpunkt weit entfernt und bezeichnet einen Zustand hoher Vollkommenheit, bald bleibt die Linie kurz und erscheint dann bisweilen wie ein abgebrochener Weg zu einem Ziele, das auf ihm nicht erreicht werden konnte oder doch nicht erreicht worden ist. Da die Ausgangspunkte dieser Entwicklungs- linien nicht zusammen fallen, ja oft sehr weit von einander entfernt liegen, kann auch von einer monophyletischen Entstehung sozialen Lebens nicht die Rede sein. Ein genealogisch- soziolo- gisches System läßt sich nicht konstruieren. Doch kann man zur Aufdeckung entwicklungsgeschicht- licher Zusammenhänge bei genetisch nahe ver- wandten Tieren aufeinanderfolgende Stufen der Vergesellschaftung mit einander vergleichen und sie daraufhin prüfen, ob sie voneinander abgeleitet werden können. Dabei darf jedoch nicht er- wartet werden, daß sich ein vollständiges Bild des Werdeganges einer Gesellschaft bietet. Aus gemeinsamer Wurzel hervorgegangene Sozietäts- formen müssen sich nicht notwendig in gleicher Richtung weiter entwickeln; sie können diver- gente Wege einschlagen, und das scheint sogar die Regel zu sein. Diese Schlüsse Deegener's stimmen in der Hauptsache mit dem überein, was die moderne Ethnologie in Bezug auf mensch- liche Gesellschaften ermittelt hat. H. Fehlinger. Paul Kammerer, Einzeltod, Völkertod, Bio- logische Unsterblichkeit und andere Mahn Worte aus schwerer Zeit. 122 S. mit 9 Abb. Anzengruber- Verlag Brüder Suschitzky, Wien- Leipzig 191S. Mit großem Mut tritt Kammerer in diesem Buche, das noch vor den jetzigen großen Ereig- nissen in Österreich und Deutschland erschienen ist, für pazifistische Ideen ein. Er macht den Versuch, die pazifistische Idee, d. h die Idee der Kuliurenlwicklung ohne Krieg, durch die Biologie zu begründen, insbesondere durch das von ihm vertretene Prinzip der „Pansymbiose", das neben dem Kampf ums Dasein das organische Sein be- herrsche. Ich halte derartige Versuche für ver- fehlt. Gewiß sind alle Gesetze der Soziologie in letzter Linie nur Spezialfälle biologischer Gesetze, und die ideale wissenschaftliche Aufgabe der Soziologie muß sein, jedes einzelne soziale Phä- nomen, ob es der ruhige Lauf der sozialen Ent- wicklung, ein Krieg oder eine Revolution ist, aus biologischen Gesetzmäßigkeiten und ihrer Kreu- zung mit denjenigen der Außenwelt rekonstruieren und sogar präkonstruieren zu können. In der- selben Weise sind alle biologischen Gesetze nur Spezialfälle allgemeinerer Gesetze, die sich auf die anorganische Natur beziehen, und alle Biologie muß in letzter Linie darauf hinauslaufen, den Knoten phy>ikalisch- chemischer Beziehungen zu lösen, die Leben sind. Aber in der Praxis der Forschung muß man große Vorsicht üben, um das Zurückführen spezieller Gesetze auf allgemeinere nicht mit einem voreiligen Analogisieren kompli- zierter Phänomene zu verwechseln. Wenn ein Kurpfuscher dem Kranken etwa sagt, daß gar nicht das Herz krank sei, sondern die Körpersäfte 104 Naturwissenschaftliche Wochenschrift N. P. XVIIl. Nr. schlecht seien, so hat er insofern Recht, als in vielen Fällen die Erkrankung des Herzmuskels aus Stör- ungen des allgemeinen Stoffwechsels oder aus einer Überschwemmung des Körpers mit Stoffwechsel- produkten aus der erkrankten Niere resultiert. Recht hat auch der nervöse Leser, der mir vor Jahren, aus Anlaß eines populären Aufsatzes von mir über den Chemismus der Nervenzellen, schrieb, seine Nervosität müsse in letzter Linie durch einen gestörten Chemismus der Nervenzellen bedingt sein und daß man doch ein Arzneimittel finden müßte, um diese Störung zu heilen. Der Kur- pfuscher und der nervöse Leser, sie haben beide insofern Recht, als in letzter Linie die Sache so liegt, wie sie behaupten. Aber eine Konstruktion oder eine Synthese des Einzelfalles, aufweichen es gerade ankommt, ist damit nicht ermöglicht — und darum sprechen wir von einem Kurpfuscher, mag derselbe auch richtig und sogar weitblickend er- kannt haben, daß hier eine allgemeinere Beziehung vorliegen könnte. Indem er aber den Versuch macht, den Spezialfall aus diesen allgemeineren Be- ziehungen oder Gesetzmäßigkeiten zu konstruieren, analogisiert er voreilig, weil dieser Spezialfall noch gar nicht so weit analysiert ist, um aus allge- meineren Gesetzen konstruiert werden zu können. In der Soziologie, wo die Erscheinungen , die der wissenschaftlichen Analyse unterliegen sollen, noch komplizierter sind als in der Biologie, ist die Vorsicht doppelt geboten. Immer wieder müssen wir das wenig erhebende Schauspiel er- leben, daß aus den gleichen biologischen Gesetzen, so aus dem Gesetz über den Kampf ums Dasein, ganz entgegengesetzte soziale Beziehungen abge- leitet werden : sowohl Krieg als Pazifismus. Ebenso wird die Zellenlehre als biologischer Beleg benutzt für die Republik, für die konstitutionelle Monarchie und für den aufgeklärten Absolutismus; und würde die Hofschranze eines indischen oder eines afrika- nischen Fürsten Universitätsprofessor für Biologie, er würde sicherlich den uneingeschränkten Des- potismus durch die Zellenlehre zu belegen suchen. Die Gesetze der Biologie können der Sozio- logie erst dienlich werden, wenn die sozialen Phänomene weit genug wissenschaftlich erforscht sind. Die Soziologie verfügt nun über mancherlei Gesetze, die nicht minder exakt sind als biologische Gesetze. Und von der Erkenntnis dieser sozio- logischen Gesetze muß man den Ausgang nehmen, wenn man die Gesetze der Biologie auf die sozi- alen Erscheinungen anwenden will. — Die Anschauungen von Kammerer über die Biologie des Todes teile ich nicht. Nach Kam- merer kommt auch bei den Protisten ein natür- licher Tod vor. Ich dagegen glaube, daß das vorliegende Tatsachenmaterial zur Auffassung drängt, daß bei den Einzelligen ein natürlicher Tod nicht vorhanden ist. (Vgl. meine „Allgemeine Physiologie des Todes".) Für ganz unbegründet halte ich die Auffassung von Kammerer, daß auch die Arten ihre Jugend, ihre Vollkraft, ihr Greisenalter haben und ihren natürlichen, d. h. aus inneren biologischen Be- dingungen erwachsenden Tod finden. Unsere Kenntnisse über das Aussterben der Arten sind einstweilen noch zu dürftig, um die Frage im Sinne von Kammerer entscheiden zu lassen. Die Sache liegt, meiner Meinung nach, nicht so wie Kammerer annimmt. Die Arten sterben in der Regel wohl darum aus, weil andere Arten, die den gegebenen oder veränderten äußeren Lebens- bedingungen besser angepaßt sind, ihnen den Lebensraum streitig machen. Dabei soll nicht bestritten werden, daß auch eine aus fortschreiten- den Transformationen resultierende Form einer Art diese lebensunfähig m'achen könnte. Das Problem des Völkertodes berührt Kam- merer nur ganz kurz. Was dieses Problem, d. h. die Frage des natürlichen Todes der Völker an- betrifft, so braucht man nur die politischen Er- eignisse der jüngsten Zeit, die Konstituierung der neuen Nationalstaaten in Europa und in Vorder- asien zu berücksichtigen, um zu verstehen, daß von einem natürlichen Völkertod, d. h. von einem Völkertod aus inneren biologischen Bedingungen heraus, nicht die Rede sein kann. Man kann nur dann von einem Völkertod sprechen, wenn man die falschen Schlüsse über den natürlichen Tod der Protisten auf Arten und von diesen in vor- eiliger Weise auf Völker überträgt. Im übrigen ist das Problem des Völkertodes ein großes und kompliziertes Kapitel lür sich, das nicht allein mit den Mitteln der Biologie, sondern vornehmlich mit den Mitteln der Geschichte und der Geographie zu bearbeiten und zu lösen ist. Unser Freund Kammerer ist ein mutiger Mann und ein wackerer Streiter für ein freies Denken. Man soll seine Bücher auch dann lesen, wenn man mit seinen Auffassungen nicht ganz übereinstimmt. Alexander Lipschütz (Bern). Literatur. Föppl, Prof. Dr. A., Vorlesungen über technische Me- chanik. 2. Band. Graphische Statik. Mit 209 Textfiguren. 4. Aufl. Leipzig und Berlin 19 iS, B. G. Teubner. 15 M. Illhült: F. Esmarch, Die wichtigsten Kartofi'elkrankheiten. (7 Abb.) S. S9. — Einzelbericbte : L. Di eis, Rhythmik und Verbreitung von Perennen. (i Abb.) S. gS. Diirken, Die Wirkung farbigen Lichts auf Puppen und Schmetter- linge. S. 99. H. V. Butt e 1 • R eepen, Seltsamer Mitbewohner der Lienenzellen. S. 100. v. d. Groeben, Zur Wiedereinführung des Wisents in Deutschland. S. 100. Uhlenhuth und Kühn, Der Erreger der Weil'schen Krank- heit iSpirochaeta icterogenes). S. loi. — Büchetbesprechungen; N. G. Lebedinski, Darwin's geschlechtliche Zuchtwahl und ihre arterhallende Bedeutung. S. loi. K. v. Frisch, Bakteriologie für Krankenschwestern. S. 101. R. Wenger, Die Vorherbestimmung des Wetters. S. 102. L. Weber, Einführung in die Wetterkunde. S. 102. E. Kassner, Das Wetter. S. 102. Deegener, Die Formen der Vergesellschaftung im Tierreiche. S. 102. Paul Kammerer, Einzehod, Völkertod, Biologische Unsterblichkeit. S. 103. — Literatur: Liste. S. 104. Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstrafie 42, erbeten. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Sonntag, den 23. Februar 1919. Nummer 8. Neue Folge j8. Band; der ganzen Reihe 34. Band. Der Mechanismus der Vererbung. (Dargestellt auf Grund der Vererbungsexperimente Morgan 's und seiner Schule mit Drosophila.) Von Hans Nachtsheirn-München. [Nachdruck verboten. 1 Mit 12 Abbildungen. Seit B o V e ri ' s klassischen Untersuchungen zum Problem der Chromosomen als Vererbungsträger hat die Chromosomentheorie der Ver- erbung mehr und mehr an Boden gewonnen. Die zahlreichen erblichen Eigenschaften, aus denen sich ein Organismus zusammensetzt, werden nach der Anschauung der modernen Erblichkeits- forschung durch das Zusammenwirken von erb- einheitlichen Genen oder Erbfaktoren im Laufe der Entwicklung des Organismus her- vorgerufen, und diese Gene oder Erbfaktoren sind nach der Chromosomentheorie der Vererbung an bestimmte Teile des Kernes, eben an die Chro- mosomen, gebunden. Durch ein verständnis- volles Zusammenarbeiten von Zell- und Ver- erbungsforschung hat sich die Chromosomentheorie der Vererbung weiter ausbauen und vertiefen lassen, und es ist vor allem das Verdienst des amerikanischen Zytologen und Vererbungsforschers T. H. Morgan, durch eine große Reihe von Untersuchungen und Experimenten, teils von ihm selbst, teils von seinen Schülern ausgeführt, die Erkenntnis des Chromosomen-Erbfaktorenmechanis- mus gefördert zu haben. Es ist wohl heute kaum noch ein Zweifel möglich, daß die Chromosomen wirklich die Träger der Erbfaktoren sind. Mor- gan aber vermag noch weiter zu gehen. Da die Zahl der Chromosomen selbst bei Tieren mit vielen chromatischen Elementen doch gering ist im Vergleich zur Zahl der anzunehmenden Erb- faktoren, so müssen wir von vornherein in jedem Chromosom eine ganze Reihe derartiger Faktoren lokalisiert denken. Morgan zeigt durch seine Experimente, wie die Faktoren in den Chromo- somen angeordnet und welche in jedem einzelnen Chromosom enthalten sein müssen, er stellt mit anderen Worten die genaue „Architektur" der einzelnen Chromosomen fest. Er zeigt fernerhin, wie sich die Erbfaktoren in den Chromosomen verhalten, wie ein Austausch von Faktoren oder Faktorengruppen zwischen gleichwertigen väter- lichen und mütterlichen Chromosomen erfolgen kann und vermittelt uns so ein in manchen Zügen zwar noch hypothetisches, im großen und ganzen aber doch wohl richtiges Bild von dem Mecha- nismus der Vererbung.') 1) Ein ausführlicher Bericht über die bisherigen Ergebnisse Morgan's und seiner Mitarbeiter ist in der Zeitschrift für induktive Abstammungs- und Vererbungslehre erschienen fsiehe Literaturverzeichnis am Schluß des Aufsatzes). Drosophila ampelophila als Objekt für Vererbungsstudien. Zu seinen Experimenten benutzte Morgan Drosophila ampelophila, die Frucht- oder Tau- fliege. Aus verschiedenen Gründen ist Drosophila für Vererbungsstudien ein besonders geeignetes Objekt. Zunächst einmal bietet die Zucht der Fliegen kaum Schwierigkeiten. Werden dje Tiere in größerer oder geringerer Zahl in Flaschen von ca. 500 ccm Inhalt gebracht und mit Bananen gefüttert, so lassen sie sich leicht züchten. Eine Temperatur von as'C stellt das Optimum für die Entwicklung und Fortpflanzung der Fliegen dar. Da jedes Weibchen mehrere lOO Individuen her- vorbringt und pro Jahr viele Generationen erzeugt werden, erhält man in sehr kurzer Zeit eine sehr zahlreiche Nachkommenschaft, eine Tatsache, die für Vererbungsstudien natürlich ebenfalls von großer Wichtigkeit ist. Was aber Drosophila zu einem für die Vererbungsforschung besonders wert- vollen Objekt macht, ist die von Morgan be- obachtete Erscheinung, daß im Laufe der Kuhur in den Zuchten an einzelnen Individuen neue erbliche Eigenschaften auftreten, Muta- tionen, wie wir solche Eigenschaften nennen. Mehr als lOO neue Eigenschaften haben Morgan und seine Mitarbeiter bereits auf ihr erbliches Ver- halten geprüft, weit größer noch ist die Zahl der Mutationen, die sie insgesamt beobachtet haben. Die neuen Eigenschaften, die also alle der wilden Aus- gangsrasse fehlen, können sich auf die verschieden- sten Organe beziehen und sehr verschiedener Natur sein. Die Körperfarbe kann verändert sein gegenüber der Ausgangsrasse, die Farbe des Auges, F"orm des Abdomens, Zeichnung des Thorax, die Größe und Form der Flügel usw. Einige Muta- tionen von Drosophila sind in Abb. i neben einem normalen wilden Individuum wiedergegeben. Die Mutation braucht nicht ein morphologi- sches Merkmal zu betreffen, der Organismus kann auch physiologisch verändert werden. Es kann z. B. die Fähigkeit der Weibchen, ihre Eier abzusetzen, beeinflußt werden ; sie kann voll- ständig fehlen. Wie hier so wird häufig durch eine Mutation die Lebensfähigkeit der Rasse in Mitleidenschaft gezogen. Das ist überhaupt ein allgemeines Charakteristikum der Mutationen, dal3 sie richtungslos entstehen; sie können für den Organismus nützlich sein, müssen es aber nicht sein, ja sie sind sehr oft direkt schäd- io6 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 8 lieh für ihn, und viele der in den Kulturen auf- getretenen und dann oft mühsam weiter ge- züchteten Mutanten wären in der Natur mit ihrem dauernden Kampfe ums Dasein schon längst wieder verschwunden. 'M anderen Insekten sind die Chromosomen von Drosophila als groß zu bezeichnen, und zudem ist ihre Zahl verhältnismäßig gering. Abb. 2 zeigt schematisch die Chromosomengarnituren der beiden Geschlechter von Drosophila ampelophila. Q er Abb. 2. Chromosomengarnitur von Drosophila ampelo- phila beim Weibchen und beim Männchen, schemalisch. (Nach Morgan usw. aus Nachtsheim.) rotäugig^ Wi w j jweißäugig I W \ 9 ff /TIIA-;. d e f Abb. I. Die Fruchtfliege, Drosophila ampelophila und einige ihrer Mutationen. a normales Weibchen, b Weibchen mit schwarzer Körperfarbe, c Weibchen mit gelber Körperfarbe, d Männchen mit rudimentären Hügeln, e Männchen mit Stummelflügeln, f weifläugiges Männchen mit schwarzer Korperfarbe und Miniatur- flügeln. Alle Merkmale sind geschlechtsgebunden außer ,, schwarze Körperfarbe" und „Stummelflügel", diese beiden sind gekoppelt. (Nach Morgan aus Doncaster.) Die Chromosomen von Drosophila ampelophila. Sollen aber Vererbungs- und Zellforschung er- folgreich zusammenarbeiten, so muß das für die Vererbungsstudien gewählte Objekt auch für den Zytologen günstig sein. Auch das ist bei Dro- sophila der Fall. Im Vergleich zu denen mancher rotäugigm w y [ j rotäugig / \ '■ / \ ' 8 S (? rctaugig //ot-\ /i''"-\ /äugig\ /äugig\^ B B ® (7 n tvelBäu rotäugig rotäugig weiBäugig rotäugig Abb. 3. Verhalten der Gescblechtschromo- somen und der geschlechtsgebundenen Faktoren bei Kreuzung eines rotäugigen Weibchens mit einem weißäugigen Männ- chen, w = Faktor für Wcißäugigkeit, W = sein normales (dominantes) AlUlo- morph. (Nach Morgan usw. aus Nachtsheim.) N. F. XVnL Nr. 8 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 107 Bei Weibchen und Männchen finden wir vier Paare von Chromosomen. Zwei Paare übertreffen die andern an Größe beträchtlich, sie sind hantel- oder hufeisenförmig gestaltet, an deti Enden dicker als in der Mitte. Ein Chromosomenpaar besteht aus kurzen stabförmigen Elementen, und das vierte Paar setzt sich aus zwei kleinen kugeligen Chromosomen zusammen. Die beiden Glieder eines Paares, also die homologen Chromosomen, sind untereinander nicht verschieden, nur im männ- lichen Geschlecht bemerken wir bei dem einen Paar, den stabförmigen Elementen, einen Unter- schied. Das eine Chromosom ist etwas größer als das andere, wir unterscheiden sie als X- und Y-Chromosom. Um den Unterschied deutlich zu veranschaulichen, ist in dem Schema das eine Chromosom (V) mit einem Haken versehen. Die stabförmigen Elemente sind die „Geschlechts- chromosomen" von Drosophila. Bei der Bildung der Geschlechtszellen werden bekanntlich die homologen Chromosomen voneinander getrennt, jede Geschlechtszelle erhält nur die Hälfte des ur- sprünglichen Chromosomenbestandes, die haploide Zahl. Erst durch die Vereinigung zweier Ge- schlechtszellen, durch die Befruchtung, wird die ur- sprüngliche, die diploide Chromosomenzahl wieder- hergestellt. Die reifen Eier von Drosophila ampelo- phila enthalten alle vier Chromosomen, zwei hantei- förmige, ein kugeliges Chromosom sowie ein stab- förmiges Geschlechtschromosom, das immer ein X-Chromosom ist. Die Samenfäden enthalten ebenfalls alle vier Chromosomen, jedoch besitzt die eine Hälfte ein X-, die andere ein Y-Chromo- som. Vereinigt sich ein Samenfaden mit X- Chromosom mit einem Ei, so kommen zwei X- Chromosomen zusammen, d. h. wir erhalten wie- der die für das Weibchen charakteristische Chromo- somengarnitur. Wird hingegen das Ei durch einen Samenfaden mit Y-Chromosom befruchtet, so kommt Y- zu X-Chromosom, d. h. es entsteht die Chromosomengarnitur des Männchens. Die vier Gruppen gekoppelter Erb- faktoren bei Drosophila ampelophila. Wie groß die Zahl der Erbfaktoren bei Droso- phila ist, wissen wir nicht, doch müssen wir ent- sprechend der großen Zahl erblicher Eigenschaften auch mit einer sehr großen Eaktorenzahl rechnen. Jedes Chromosom enthält somit zahlreiche Erb- faktoren, und zwar ein großes wahrscheinlich mehr als ein kleineres. Von jedem Chromosomen- paar eines Individuums stammt ein Element vom Vater, das andere von der Mutter. Da nun vor- aussichtlich entsprechende Chromosomen bei Vater und Mutter nicht nur gleich viele, sondern auch die entsprechenden Erbfaktoren enthalten — das Chromosom A des Vaters enthält, um den Aus- druck der Vererbungsforschung zu gebrauchen, die AUelomorphen des Chromosoms Aj der Mutter — , so werden bei der Reifung der Ge- schlechtszellen mit den homologen Chromosomen auch die homologen Erbfaktoren getrennt. Die eine Geschlechtszelle erhält Chromosom A, die andere Chromosom Aj. Ebenso werden B und Bj getrennt, C und Cj usw. Im übrigen aber ist die Verteilung der Chromosomen auf die Geschlechts- zellen ganz dem Zufall überlassen, d. h. es können A B C D zusammenkommen (das wäre die Zu- sammenstellung, wie sie der Vater gehabt hat), oder A Bj C D oder A B, Cj D oder Aj B C D usw., je größer die Zahl der Chromosomen, desto größer ist auch die Zahl der möglichen Kombinationen. Liegen daher zwei Erbfaktoren in verschiedenen Chromosomen, der eine z. B. in A, der andere in B (ihre AUelomorphen also in Aj bzw. BJ, so werden sie unabhängig voneinander vererbt, sie „mendeln" selbständig. Ist aber z. B. das Chromosom A Träger der beiden Erbiaktoren (und A, also Träger der beiden AUelomorphen), so müssen sie gemein- sam vererbt werden, die beiden Faktoren sind „gekoppelt". Alle in einem Chromosom liegen- den Faktoren müssen untereinander gekoppelt sein, und die Zahl der Gruppen gekoppelter Erb- faktoren muß bei jedem Objekt der Zahl der Chromosomenpaare entsprechen. Die Unter- suchungen an Drosophila ampelophila haben denn auch zu dem Ergebnis geführt, daß die Frucht- fliege vier Gruppen gekoppelter Erbfaktoren be- sitzt, und weiter hat sich herausgestellt, daß die Größe der Gruppen vollständig harmoniert mit der Größe der Chromosomen. Es wurden drei große Gruppen mit zahlreichen Faktoren ermittelt, die in den großen Chromosomen lokalisiert zu denken sind, und eine kleine Gruppe mit nur wenigen Faktoren, deren Träger die kleinen kugeligen Chromosomen sind. Jedes Glied einer Gruppe zeigt Koppelung mit sämt- lichen Gliedern derselben Gruppe, wird hingegen vollständig unabhängig von den Gliedern der anderen Gruppen vererbt. Die geschlechtsgebundene Vererbung. Eine besondere Art der Vererbung, die so- genannte geschlechtsgebundene Vererbung, zeigen die in den Geschlechtschromosomen lokalisierten Faktoren. Die beiden Geschlechter haben, wie schon hervorgehoben, verschiedene Geschlechts- chromosomen. Während das Weibchen zwei X-Elemente besitzt, hat das Männchen ein X- und ein Y- Element. Es stellte sich nun heraus, daß das Y Chromosom des Männchens ein rudimen- täres Gebilde ist, daß es keine Erbfaktoren oder wenigstens keine funktionsfähigen Erbfaktoren ent- hält. Die Resultate sind so, als ob beim Männ- chen nur ein X-Chromosom vorhanden wäre und das Y-Chromosom vollständig fehlte, was bei manchen anderen Tieren, z. B. dem Nematoden Ancyracanthus, auch in der Tat der Fall ist. Fehlt aber in dem einen Geschlecht dem Geschlechts- chromosom der Partner, so ist ohne weiteres ein- leuchtend, daß die Vererbung der in diesem Chromosom lokalisierten Faktoren anders vor sich io8 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 8 gehen muß als bei den übrigen Chromosomen. Wie die geschlechtsgebundene Vererbung erfolgt, veranschaulichen wir uns am besten an der Hand zweier Schemata (Abb. 3 und 4). Ein Merkmal, dessen Erbfaktor im Geschlechtschromosom liegt, ist z. B. die Weißäugigkeit. Während die Tiere der wilden Rasse rote Augen haben, sind die Tiere dieser Mutation — um eine solche handelt es sich — weißäugig (white). Der Faktor für Rotäugigkeit ist dominant über den Faktor für Weißäugigkeit, d. h. wenn beide Faktoren vor- handen sind, ist das Individuum immer rotäugig. Betrachten wir zunächst nun einmal das Resultat der Kreuzung eines rotäugigen Weibchens mit einem weißäugigen Männchen (Abb. 3). Das rot- äugige Weibchen besitzt zwei X-Chromosomen, beide mit dem Faktor für Rotäugigkeit (= W '). Das weißäugige Männchen besitzt e i n X-Chromo- som mit dem Faktor für Weißäugigkeit (= W). Der Vollständigkeit halber ist beim Männchen auch das Y-Chromosom (schraffiert) mit einge- zeichnet, doch können wir es bei der Betrachtung ganz außer acht lassen. Das Weibchen dieser Generation (Pj = Elterngeneration) bildet nur eine Sorte von Geschlechtszellen: alle Eier haben ein „rotes" X-Chromosom, wie wir kurzerhand sagen wollen (Abb. 3, 2. Reihe). Das Männchen hin- gegen bildet zwei Sorten von Samenzellen: die Hälfte der Spermatozoen hat ein „weißes" X-Chromosom, die andere Hälfte hat kein X- Chromosom, Vereinigt sich ein Spermium mit X-Chromosom mit einem Ei, so erhalten wir ein rotäugiges Weibchen (Abb. 3, 3. Reihe); es ist zwar vom Spermium her auch ein weißes X- Chromosom vorhanden, aber der rote Faktor ist dominant. Vereinigt sich ein Spermium ohne X-Chromosom mit einem Ei, so erhalten wir ein rotäugiges Männchen (Abb. 3, 3. Reihe); das Ei enthält ja immer ein rotes X-Chromosom. Die erste Nachkommengeneration (Fj = Kindergene- ration), Weibchen und Männchen, ist also rein rotäugig, wie wir es auch bei normaler Mendel- scher Vererbung zu erwarten hätten, wenn der eine Faktor über seinen Partner dominant ist. Anders als bei Mendel' scher Vererbung ist in- dessen das Resultat in der nächsten Generation (Fj = Enkelgeneration). Das Weibchen der Fj- Generation produziert zweierlei Geschlechtszellen : Eier mit rotem und Eier mit w eiß em X-Chro- mosom (Abb. 3, 4. Reihe). Auch das Männchen erzeugt zwei Sorten von Geschlechtszellen : Samen- fäden mit rotem X-Chromosom und solche ohne X-Chromosom (Abb. 3, 4. Reihe). Alle Weib- chen der F„-Generation sind infolgedessen rot- äugig, während die Männchen zur Hälfte rot-, zur Hälfte weißäugig sind (Abb. 3, 5. Reihe). Ihrer Anlage nach sind allerdings auch die Weib- ') Wenn das normale AUelomorph dominant über den Mutationsfaktor ist, bczeiclinet es Morgan mit dem grofien, diesen mit dem kleinen Anfangsbuchstaben der Mutation, ist der Mutationsfaktor dominant, so ist auch die Bezeichnung die umgekehrte. chen nicht einheitlich zusammengesetzt; die eine Hälfte enthält zwei rote X-Chromosomen, die andere ein rotes und ein weißes. Wie bei nor- maler Mendel'scher Vererbung sind auch hier in der P'j" Generation ^|^ der Individuen gleich dem einen Elter der Pj-Generation, gleich dem anderen Elter, aber es ist doch ein wichtiger Unterschied insofern vorhanden, als dieses eine Viertel sich bei geschlechtsgebundener Vererbung nur aus Männchen zusammensetzt. In Abb. 3 ist in den beiden letzten Reihen noch das Re- sultat der Kreuzung eines heterozygot-rotäugigen Weibchens (= Weibchen mit rotem und weißem X-Chromosom) der F, - Generation dargestellt. Alle aus dieser Kreuzung hervorgehenden Weib- chen werden rotäugig, die Männchen wieder zur Hälfte weiß-, zur Hälfte rotäugig. In keiner der in Abb. 3 dargestellten Kreuzungen entstehen weißäugige Weibchen. Wir erhalten aber solche, wenn wir ein heterozygot-rotäugiges Weibchen der F3 Generation anstatt mit einem rotäugigen mit einem weißäugigen Männchen kreuzen. Bei der Vereinigung eines weißäugigen Weibchens mit einem rotäugigen Männchen (Abb. 4) erfolgt eine „Vererbung übers Kreuz": alle Weibchen der Fj- Generation werden rotäugig, alle Männchen weiß- wcißäugig rotäugig w rotäugig M weißäugig / \ W \ 8 0 0 0 weißäugig rotaugig wcil3äugig rotäugig Abb. 4. Verhalten der Geschlechtschromosomen und der ge- schlechtsgebundenen Faktoren bei Kreuzung eines weißäugigen Weibchens mit einem rotäugigen Männchen (Vererbung übers Kreuz). (Nach Morgan usw. aus Nachtsheim.) äugig. Und werden die Individuen dieser Gene- ration unter einander gekreuzt, so entsteht eine Fj-Generation, die sich zur Hälfte aus rotäugigen, zur Hälfte aus weißäugigen Individuen zusammen- setzt, wobei Weibchen und Männchen in jeder Gruppe in gleicher Zahl vertreten sind. N F. XVni. Nr. 8 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 109 Der Ausfall der Kreuzungen ist äußerlich nur dann anders, wenn das geschlechtsgebundene Merkmal der Mutation dominant ist über das entsprechende Merkmal der Ausgangsrasse. In der Mehrzahl der Fälle sind die Merkmale der Ausgang'^rasse dominant. Da dann das geschlechts- gebundene Mutationsmerkmal beim Weibchen nur in Erscheinung tritt, wenn beide X-Chromosomen den betreffenden Erbfaktor enthalten, sind Weib- chen mit geschlechtsgebundenen Mutationsmerk- malen viel seltener als Männchen, die nur ein X-Chromosom haben, bei denen also die Anwesen- heit eines geschlechtsgebundenen Faktors zur Hervorbringung des Merkmals genügt.') Im Prin- zip aber geht die Vererbung, wenn es sich um Merkmale handelt, deren F"aktoren an die X- Chromosomen gebunden sind, immer in der gleichen Weise vor sich : die Vererbung dieser Merkmale richtet sich nach der Ver- teilung der Geschlechtschrom o'somen. Die Erscheinung der „Non-disjunction". Durch Beobachtungen von Bridges, eines Mitarbeiters Morgan's, hat die Erklärung der geschlechtsgebundenen Vererbung eine vortreff- liche Bestätigung gefunden. Bei Kreuzung eines weißäugigen Weibchens mit einem rotäugigen Männchen erfolgt, wie oben ausgeführt, eine „Ver- erbung übers Kreuz": alle Weibchen der Fj- Ge- neration sind rotäugig, alle Männchen weißäugig. Bei einer solchen Kreuzung beobachtete nun Bridges, daß ungefähr 5 "/(, der Individuen der Fj -Generation sich anders verhielten, als zu er- warten war: eine Anzahl Weibchen war weiß- äugig, also gleich der Mutter, eine Anzahl Männ- chen rotäugig, also gleich dem Vater. Bridges erklärte diese anormale Vererbung mit der An- nahme, daß bei einem gewissen Prozentsatz von Eiern der P, -Mutter während der Reifung die Tren- nung der beiden weißen X-Chromosomen aus un- bekannten Gründen unterblieben ist („Non-disjunc- tion"), eine Annahme, für deren Richtigkeit er, wie gleich hier bemerkt sei, in der Tat durch die zytologische Untersuchung einen Beweis er- bringen konnte. Das zur Kreuzung benutzte Weibchen scheint drei Sorten von Eiern gebildet zu haben : die meisten waren normal und ent- hielten ein (weißes) X-Chromosom, ein gewisser Prozentsatz aber war anormal, und von diesem enthielt die Hälfte zwei (weiße) X Chromosomen, die andere Hälfte keines. Wie unter diesen Umständen die Kreuzung des weißäugigen Weib- chens mit dem rotäugigen Männchen ausfallen ') Man glaubte infolgedessen anfangs, die geschlechts- gebundenen Eigenschaften kämen nur in dem einen Geschlecht vor, und sprach deshalb von geschlechtsbegrenzter Ver- erbung. Vielfach geschieht das auch heute noch. Von ge- schlechlsbegrenzten Eigenschaften sollte man jedoch nur dann sprechen, wenn es sich um sekundäre Geschlechts- merkmale handelt, d. h. um solche, die tatsächlich mit dem Geschlecht vererbt und normalerweise nur in einem Geschlecht vorkommen. mußte, zeigt Abb. 5. Rechts und links sind in der untersten Reihe die normalen Individuen der Fj-Generation angegeben, die weitaus die Mehr- zahl bilden: rotäugige Weibchen und weißäugige Männchen. Alle übrigen Kombinationen sind anormal. Die anormalen Weibchen sind teils rot-, teils weißäugig. Die rotäugigen haben zwei weiße und ein rotes X-Chromosom, unterscheiden sich aber äußerlich von den normalen rotäugigen Weibchen nicht; ein Faktor für Rotäugigkeit bleibt also auch über zwei Faktoren für Weißäugigkeit dominant. Die anormal weißäugigen Weibchen haben zwei weiße X Chromosomen und ein (be- langloses) Y-Chromosom. Die anormalen Männ- chen sind rotäugig; sie besitzen ein rotes X-Chro- mosom. Individuen ohne X Chromosom scheinen nicht lebensfönig zu sein. Die anormalen Formen hat Bridges zum Teil zu weiteren Kreuzungen benutzt, deren Resultate sehr zu Gunsten seiner Hypothese sprechen. Die zytologische Unter- suchung des Falles ist zwar noch nicht sehr weit gediehen, immerhin aber konnte Bridges bereits feststellen, daß die anormal weißäugigen Weibchen, ganz wie es die Hypothese erfordert, zwei X- und ein Y-Chromosom enthalten; Abb. 6 gibt die Chromosomengarnitur eines solchen Weibchens . wieder. Es sei noch darauf hingewiesen, daß die mit dem Faktor für Weißäugigkeit gekoppelten Faktoren, d. h. also alle geschlechtsgebundenen Faktoren, natürlich in gleicher Weise anormal vererbt wurden. Ein Zweifel darüber, daß die anormale Vererbung in dem von Bridges be- obachteten Falle in einer anormalen Verteilung der Geschlechtschromosomen bei der Reifung der Eizellen ihre Ursache hat, kann also wohl kaum noch bestehen. Besonders interessant wäre es übrigens, die anormal rotäugigen Männchen, die nur ein X-Chromosom, kein Y-Element besitzen, zur Weiterzucht zu verwenden. Es ließe sich so eine Rasse züchten, die kein Y-Chromosom mehr besitzt. Unterscheidet sich diese in nichts von einer Rasse mit Y-Chromosom im männlichen Geschlecht, so ist der beste Beweis für die Funk- tionslosigkeit des Y-Chromosoms erbracht. Faktorenkoppelung und Faktoren- austausch. Faktoren, die im gleichen Chromosom liegen, können nicht unabhängig voneinander „mendeln", sie sind gegenseitig gekoppelt. Die Faktoren für gelbe Körperfarbe (yellow) und für Weißäugigkeit (white) liegen z. B. beide im sog. ersten, dem X- Chromosom. Bei Kreuzung eines rein gelben und weißäugigen Weibchens mit einem grauen und rotäugigen Männchen (Abb 7) sind alle Weibchen der Fl -Generation grau und rotäugig, da diese beiden Merkmale dominant sind. Alle Männchen hingegen müssen gelb und weißäugig sein, da ihre X-Chromosomen nur die Faktoren lür gelbe Körperfarbe (y) und Weißäugigkeit (w) besitzen können (Vererbung übers Kreuz). Die Männchen der F„-Generation Uilden zweierlei Geschlechts' HO Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 8 Zellen: Samentäden mit X-Chromosom, d. h. mit den Faktoren y und w, und Samenfäden ohne X-Chromosom. Die Weibchen der Fj-Generation, so sollte man annehmen, produzierten ebenfalls zwei Sorten von Geschlechtszellen: Eier mit X- Chromosom und den Faktoren y und w und Eier 99 % Nachkommen, die gleich den Großeltern sind, und I 7o Neukombinationen. Es besteht auch die Möglichkeit, daß die beiden Faktoren y und w von verschiedenen Seiten in die Kreuzung eintreten. Es sei z. B. das Weibchen der Pj -Generation rein gelb und rotäugig rotäugig 9 rotäugig weiSäugig rotäugig nicht lebens fällig weiBäugig anormale Kombinationen Abb. 6. Chromosomengarnitur des XXY-Weibchens. (Nach M o r g a n usw. aus Nachtsheim.) Abb. 5. „Non-disjunction" bei der Reifung der Geschlechts- zellen eines weißäugigen Weibchens und Kreuzung dieses Weibchens mit einem rotäugigen Männchen. (Aus Nachts heim.) mit X-Chromosom und den beiden Allelomorphen (Y und W). Das Resultat der Kreuzung der Fj- Individuen zeigt indessen, daß hier die Verhält- nisse komplizierter liegen. Neben gelben weiß- äugigen und grauen rotäugigen Tieren treten in der Fo -Generation nämlich auch graue weißäugige und gelbe rotäugige in einem gewissen Prozent- satz auf. Das wäre unmöglich, wenn die Koppe- lung zwischen y und w vollständig wäre, wenn mit anderen Worten die in einem Chro- mosom liegenden Faktoren nie getrennt werden könnten. Das Kreuzungsresultat beweist, daß zwischen den beiden Chromosomen eines Paares ein Austausch von Faktoren erfolgen kann, ein „crossing-over", wie es Morgan nennt. Die gelben rotäugigen und die grauen weißäugigen Individuen der Fj-Generation müssen ihre Ent- stehung Eiern verdanken, zwischen deren Ge- schlechtschromosomen ein solcher Faktoren- austauich stattgefunden hat (Abb. 7). Das Ver- hältnis der vier Klassen der Fj-Generation ist so, daß 99 " 0 der Nachkommen gleich der großelter- lichen Generation (P,) sind, 1 % stellt ^eukom- binationen dar. In einem Prozent der Eier der Fl - Weibchen findet also ein Faktorenaustausch zwischen y und w statt. Im männlichen Geschlecht ist ein Austausch unmöglich, da hier das X-Chro- mosom ja nur das funktionslose Y-Chromosom als Partner hat. Bei der reziproken Kreuzung (rein graues und rotäugiges Weibchen X gelbes und weißäugiges Männchen) ist die F, -Generation einheitlich grau rotäugig, in der F2- Generation erhalten wir wieder vier Klassen, und zwar wieder weiBäugig gelb wciBäugig gelb weiBäugig Abb. 7. Faktorenaustausch („Crossing-over") in den Eiern der Fi-Weibchen: Kreuzung eines gelben weißäugigen Weib- chens mit einem grauen rotäugigen Männchen, y = Faktor für gelbe Körperfarbe, w = Kaktor für Weißäugiekeit; die beiden Allelomorphen (Y und W), die beide dominant sind, sind nicht angegeben. (Nach Morgan usw. aus Nachtsheim.) N. F. XVIII. Nr. 8 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. III ■ rotäugig, das Männchen grau und weißäugig. Dann liegt bei den Fj-Weibchen y im X-Chromosom von der Mutter, w im X-Chromosom vom Vater, und in diesem Falle findet also weiterhin nor- malerweise keine gemeinsame Vererbung der beiden Faktoren statt, sondern sie stoßen sich im Gegenteil sozusagen ab, sie bleiben meistens ge- trennt. Auch hier aber treten in der F„-Gene- ration vier Klassen auf, wieder sind 99 "/o •^^•' Tiere gleich den Großeltern, i % sind Neukom- binationen, zurückzuführen auf Faktorenaustausch. Die Koppelung der Faktoren y und w bzw. ihrer Allelomorphen hat also einen ganz bestimm- ten Grad. Mögen die beiden Faktoren in einem X-Chromosom liegen, mag der eine in diesem, der andere in jenem liegen, immer erfolgt der Austausch in i "/y der Fälle. Morgan und seine Mitarbeiter haben in der Folge eine große Zahl von Faktoren auf ihren Koppelungsgrad untersucht und gefunden, daß der Koppelungsgrad sehr verschieden sein kann, daß er aber für zwei bestimmte Faktoren immer ein bestimmter ist. Die beiden oben genannten Faktoren sind sehr stark gekoppelt; wir wollen ihren Koppelungsgrad mit i bezeichnen. Zwischen den Faktoren white und miniature (die Fliegen mit diesem Merkmal haben Miniaturflügel) erfolgt wesentlich häufiger ein Austausch; ihr Koppelungsgrad ist 33 (Austausch in 33 "/„ der Fälle). Noch lockerer sind wiihe und bar (Fliegen mit sog. Bandaugen) gekoppelt; ihr Koppelungsgrad ist 44- In gleicher Weise wie zwischen den Geschlechts- chromosomen geht auch zwischen den anderen Chromosomenpaaren, wenigstens zwischen den großen hanteiförmigen Elementen (Chromosomen- paare II und III) ein Faktorenaustausch vor sich. Da diese Chromosomen auch im männlichen Ge- schlechte paarweise vertreten sind, sollte man er- • warten, daß hier auch bei der Bildung der männ- lichen Geschlechtszellen ein Austausch erfolgt. Das ist indessen merkwürdigerweise nicht der Fall. Wie bei den Geschlechtschromosomen ist auch bei den anderen der Austausch auf das weibliche Geschlecht beschränkt. Eine Erklärung hierfür fehlt bis jetzt. Für die kleinen kugeligen Chromosomen ist noch kein Faktorenaustausch nachgewiesen. Wie können wir uns nun auf Grund der bis- herigen Feststellungen die Anordnung der Erb- faktoren in den Chromosomen und den Verlaul des Faktorenaustausches vorstellen? Schon bei zahlreichen Objekten hat man be- obachtet, daß sich die Chromosomen in den Ge- schlechtszellen vor deren Reifung, in der soge- nannten Synapsis, paarweise umeinanderwickeln. Auf diese Beobachtung begründete Janssens seine Theorie der Chiasmatypie. Nach dieser Theorie verschmelzen die beiden homologen Chromosomen, während sie umeinandergewickelt sind, an den Kreuzungsstellen miteinander. Wird die Verbindung der Chromosomen wieder gelöst. so geschieht das nach Janssens Anschauung nicht immer so, daß die beiden Elemente sich einfach wieder auseinanderwickeln, sondern sie können an den Verschmelzungsstellen so aus- einanderbrechen, daß Stücke von verschiedenen Chromosomen zu einem Chromosom zusammen- treten. Abb. 8 veranschaulicht, diesen Vorgang. L und M (a) sind homologe Chromosomen, sie wickeln sich einmal umeinander und verschmelzen an der Kreuzungsstelle (b). Beim Auseinander- brechen (c) vereinigt sich die obere Hälfte des Chromosoms L mit der unteren Hälfte des Chro- mosoms M, während die obere Hälfte von M mit der unteren von L in Verbindung tritt (d). Unter Zugrundelegung dieser Theorie betrachtet Mor- gan den Faktorenaustausch als das Resultat der paarweisen Vereinigung und der Trennung der Chromosomen in den Geschlechtszellen während der Synapsis. Sind die Erbfaktoren im Chromosom in der F"orm der Glieder einer Kette angeordnet. L M l Abb. 8. Umeinanderwickeln der Chromosomenpaare. (Nach Muller aus Nachtsheim.) ^=^^=^ Abb. 9. Einfache Überkreuzung. (Nach Muller aus Nachts he im.) so werden bei dem in Abb. 8 dargestellten Vor- gang die in der unteren Hälfte der beiden Chro- mosomen liegenden Erbfaktoren von denen in der oberen Hälfte getrennt. Die Stücke, die zwischen den beiden Chromosomen ausgetauscht werden, müssen insofern gleichwertig sein, als sie gleich viele und homologe Erbfaktoren enthalten müssen, was gleiche Anordnung der P'aktoren in den homologen Chromosomen voraussetzt. Liegt z. B. an dem oberen Ende des Chromosoms L (Abb. 8) der Faktor A, an dem unteren Ende der Faktor C, so muß an dem oberen Ende von M das AUelomorph von A, an dem unteren Ende das von C liegen. Wenn die Kreuzung der Chro- mosomen und das nachfolgende Auseinander- brechen nicht immer an der gleichen Stelle er- folgt, so werden bald diese, bald jene Faktoren getrennt. Liegt zwischen den Faktoren A und C ein Faktor B (Abb. 9), so kann der Faktorenaus- tausch in der Weise erfolgen, daß A von B und C getrennt wird (a). Es kann aber auch C von 112 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVin. Nr. 8 B und A getrennt werden. Aus der Abb. 9 läßt sich weiterhin der Satz ableiten, daß zwei Faktoren um so seltener voneinander getrennt werden, je näher sie beisammen liegen. A und C, die am weitesten voneinander entfernt sind, werden in beiden Fällen getrennt. Läge der Faktor B un- mittelbar neben A, so wäre die Wahrscheinlich- keit, daß eine Überkreuzung zwischen den beiden Faktoren stattfindet, sehr gering. In den Experimenten würde sich das durch sehr starke Koppelung der beiden Faktoren äußern. A und C wären viel loser gekoppelt. Der Prozent- satz des Faktorenaustausches ist also ein Ausdruck des Abstandes zweier Faktoren im Chromosom voneinander. Den Abstand, der notwendig ist, daß zwei Fak- toren in 100 Fällen einmal voneinander getrennt werden, bezeichnet Morgan als eine „Einheit". Yellow und white sind i Einheit, miniature und white 33 und bar und white 44 Einheiten von- einander entfernt. Der Abstand zweier Faktoren von- einander ist entweder gleich der Summe oder gleich der Differenz der Abstände dieser beiden Faktoren von einem dritten Faktor. A und B z. B. seien 20 Ein- heiten voneinander entfernt, B und C 10 Einheiten (Abb. 10). Dann kann C entweder zwischen A B 20 a 20 Abb. 10. Berechnung der gegenseitigen Lage der Faktoren im Chromosom. {Nach Muller aus Naehtsheim.) A und B (a) oder rechts von B (b) liegen. Im ersten Falle ist der Abstand der Faktoren A und B gleich der Summe der Abstände dieser Fak- toren von C: AB = AC -|- BC (20 = 10 -[- 10). Im zweiten Falle ist der Abstand der Faktoren A und B gleich der Differenz der Abstände dieser Faktoren von C: AB = AC — BC (20 = 30 — 10). Ist der Abstand dreier Faktoren voneinander bekannt, so läßt sich ihre gegenseitige Lage im Chromosom be- rechnen. Morgan und seine Mitarbeiter haben auf diese Weise schon die Lage einer größeren Zahl von Faktoren in den Chromosomen von Drosophila berechnet. Bei geringerem Faktorenabstand führte die experimentelle Prüfung der Berechnung zu einer Bestätigung der theoretischen Forderung, d. h. AB erwies sich als gleich AC -j- BC oder als gleich AC — BC. Bei größerem Abstand aber ergaben sich Ungenauigkeiten. So sind z. B. white und miniature 33 Einheiten voneinander entfernt, miniature und bar 22 Einheiten. White und bar müßten also entweder 33 + 22 = 55 oder 33 — 22 = 1 1 Einheiten voneinander entfernt sein. Der Koppelungsgrad zwischen white und bar ist in- dessen gleich 44. Das beweist zwar, daß minia- ture zwischen white und bar liegt, aber es ist doch ein beträchtlicher Unterschied zwischen dem theoretisch postulierten und dem experimentell festgestellten Abstand der Faktoren white und bar. Verständlich wird dieser Unterschied bei Annahme des gelegentlichen Vorkommens eines doppelten Faktorenaustausches zwischen einem Chromosomenpaar. Wickeln sich die Chromo- somen zweimal umeinander, verschmelzen an beiden Kreuzungsstellen (Abb. 1 1 a) und tauschen das mittlere Stück aus, so bleiben die Faktoren A und C im gleichen Chromosom (b). Bei bloßer Berücksichtigung der Faktoren white und bar muß also im Experiment ihr Abstand geringer er- scheinen, als er in Wirklichkeit ist. Ob doppelter oder gar dreifacher Faktorenaustausch zwischen zwei Faktoren vorkommt, läßt sich bei gleich- zeitiger Betrachtung eines oder mehrerer dazwischen- liegender Faktoren berechnen. ^^^^ Abb. II. Doppelte Überkreuzung. (Nach Muller aus Nachtsheim.) Wickeln sich die Chromosomen sehr eng um- einander, so könnten kleine und kleinste Gruppen, vielleicht sogar einzelne Faktoren ausgetauscht werden. Das scheint indessen nie der Fall zu sein. Das Vorkommen einer Überkreuzung zwischen zwei Chromosomen schützt sozusagen die rechts und links von der Kreuzungsstelle liegenden Fak- toren vor weiteren Kreuzungen, die Möglichkeit des Vorkommens einer Kreuzung nimmt zu mit der Entfernung von einer anderen Kreuzungsstelle. Wie die Chromosomen von Drosophila am- pelophila nach dem heutigen Stande unseres Wissens aufgebaut sind, möge Abb. 12 demon- strieren. In dieser „topographischen Karte" sind alle Faktoren eingezeichnet, deren Lage bisher berechnet worden ist. Das erste Chromosom ist das Geschlechtschromosom, dann folgen die großen hufeisenförmigen Chromosomen. Daß für diese, obwohl sie länger sind, noch nicht so viele Erb- faktoren festgestellt worden sind wie für das Ge- schlechtschromosom, hängt wohl damit zusammen, daß die geschlechtsgebundenen Eigenschaften bis- her am genauesten studiert worden sind. Für das vierte Chromosom, das kleine kugelige Element, sind bisher erst zwei Faktoren bekannt. Erbfaktoren und Außenbedingungen. Manche Faktoren zeigen eine weitgehende Ab- hängigkeit von Einflüssen der Außenwelt. So hat Morgan eine Mutation beschrieben, bei der das Abdomen abnorm gestaltet ist. Die Anwesenheit des Erbfaktors für das die Mutation charakteri- sierende Merkmal genügt indessen hier nicht, da- mit das Merkmal in Erscheinung tritt, sondern es müssen überdies ganz bestimmte äußere Be- dingungen vorhanden sein. Die Nahrung, ver- N. F. XVm. Nr. 8 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. "3 mittels der die Fliegen aufgezogen werden, über- haupt das ganze Medium, in dem die Tiere leben, muß einen gewissen Grad von Feuchtigkeit auf- weisen. Werden aber die Fliegen in möglichst trockener Umgebung gezüchtet, so unterscheiden sie sich, selbst wenn sie hinsichtlich des Muta- tionsmerkmals reinrassig sind, äußerlich nicht im geringsten von normalen wilden Fliegen. In feuch- tem Medium hingegen vermag der Faktor wirksam zu werden, ist dann sogar dominant über sein nor- males AUelomorph. Eine andere Mutation, deren Merkmal in Ver- doppelungen einzelner oder mehrerer Glieder an den Beinen besteht, zeigt ebenfalls weitgehende Abhängigkeit von äußeren Bedingungen. Das Merkmal tritt nur auf, wenn die Fliegen bei niederer Temperatur gezüchtet werden, in extrem hoher Temperatur sehen alle normal aus, selbst wenn es reinrassige Mutanten sind. Wie bei der vorigen Mutation läßt sich auch hier lediglich durch bestimmte Außenbedingungen ein Merkmal trotz Reinrassigkeit dauernd latent erhalten. Auch das Alter des Individuums kann von Einfluß sein auf die Entfaltung eines Merkmals. Häufig sind mehrere Faktoren an der Entstehung eines Merkmals beteiligt, einzelne F"aktoren können hemmend oder fördernd auf die Funktion anderer Faktoren einwirken. Wieder andere Faktoren setzen die Lebensfähigkeit der Individuen herab, so daß die Sterblichkeit zunimmt, ja es gibt Fak- toren, die das Individuum überhaupt lebensunfähig machen (lethale Faktoren). Alle diese Umstände erschweren die Unter- suchungen über den Chromosomen-Erbfaktoren- mechanismus natürlich außerordentlich. Die ausgedehnten Experimente Morgan 's und seiner Mitarbeiter mit Drosophila gehören zweifellos zu den wertvollsten Untersuchungen der neueren Vererbungsforschung. Sie haben nicht nur eine glänzende Bestätigung der Chromosomen- theorie der Vererbung gebracht, sondern haben uns auch einen sehr bedeutungsvollen Einblick in den feineren Mechanismus der Vererbung gewährt. Mag auch manches an dem Bilde, das die ameri- kanischen Forscher vor uns entworfen haben, noch hypothetisch sein, so können wir doch heute schon sagen, daß es in seinen Grundzügen richtig ist. Vererbungsexperimente mit anderen Tieren und mit Pflanzen haben zu ganz ähnlichen Er- gebnissen geführt. Der Mechanismus der Ver- erbung ist im Prinzip offenbar im ganzen Orga- nismenreiche der gleiche. Baur, einer unserer bedeutendsten deutschen Vererbungsforscher, der auf Grund des Studiums pflanzlicher Objekte den gleichen Standpunkt einnimmt wie Morgan, faßt seine Ansichten über den Mechanismus der Vererbung in folgenden „Leitsätzen" zusammen: „I. Das Idioplasma im Sinne Naegeli's, d.h. der Teil der Zelle, der die Arteigenschaft bedingt, in dem fast alle Rassenunterschiede lokalisiert sind, d. h. „der Vererbungsträger", ist im wesent- lichen zu suchen im Fadengerüst des Zellkernes. II. Die anatomische Grundlage (entwicklungs- mechanische Ursache) eines als Einheit mendeln- den Rassenunterschiedes, einer „Erbeinheit", ist eine physikalische oder chemische Verschieden- heit zwischen zwei einander im übrigen ent- sprechenden Chromomeren.^) IIL Die anatomische Grundlage des Mendeln's ist erstens der gegenseitige Austausch äquiva- lenter Chromosomen bei der Reduktionstellung (wie zuerst von Hei der ausgesprochen) und zweitens der Austausch einzelner Chromomeren in oder vor der Synapsis. yellow.spol : lelhal I "white eosin. cherry abnormal bifitj . Club .shifteü _dachs lelhal tD lan uermiMon minialure lethal V sable lethal IV . rudimentary .forked -bar ■ fused sireak Lsepia ■ beni eyeless lethal s . black jaunty .purple - vestigial _ curved .pink.peach . kidney ebonysooly . beaded . rough speck •balloon morula Abb. 12. „Topographische Karte" der Chromosomen von Drosophila ampelophila mit den ihrer Lage nach bis jetzt be- kannten Erbfaktoren. (Nach Morgan usw. aus Nachtsheim.) IV. Ein oder mehrere Rassenunterschiede, die in verschiedenen Chromosomenpaaren lokalisiert sind, zeigen völlig freie Mendel- sp alt un g. Ein oder mehrere Rassenunterschiede, die im gleichen Chromosomenpaar aber in verschiedenen Chromomerenpaaren lokalisiert sind, zeigen eine durch teilweise ') Chromomer im Sinne von ; Kleinstes austauschbares Teilstück eines Chromosoms. („Chromomer" ist also nicht gleichbedeutend mit „Erbfaktor", „Erbeinheit"; es wird in der Regel mehrere, vielleicht sogar zahlreiche Erbfaktoren ent- halten. N.) 114 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVni. Nr. 8 Koppelung gestörte Mendelspaltung, und end- lich ein oder mehrere Rassenunterschiede, die im gleichen Chromomerenpaar liegen, zeigen die Erscheinung der absoluten Koppelung. V. Die Chromomeren sitzen in den Chromo- somen immer in einer bestimmten Reihenfolge und hängen gewissermaßen kettenartig zusammen. Der Austausch der Chromomeren geht nicht so vor sich, daß alle einzelnen Chromomeren frei werden und beliebig herüber und hinüber ver- tauscht werden, sondern die Chromomerenkette reißt stückweise, und ein oder mehrere Kettenstücke werden zwischen den beiden Chro- mosomen vertauscht. VI. Aus der Art der Koppelung kann man be- stimmte Rückschlüsse ziehen auf die gegenseitige Lage der einzelnen Chromomeren, in denen die betreffenden Unterschiede lokalisiert sind. Es ist auf diese Weise möglich gewesen, z. B. für die einzelnen Chromosomen von Drosophila, gewisser- maßen topographische Karten der einzelnen Rassenunterschiede anzufertigen. Bei wenigchro- mosomigen Arten, wie z. B. Drosophila und auch noch Hordeum, ist die Anfertigung einer solchen Karte verhältnismäßig einfach, bei vielchromo- sbmigen Organismen, zu denen z. B. Antirrhinum gehört, ist es sehr viel schwieriger." Literatur. Im folgenden sind nur einige zusammenfassende Darstel- lungen angegeben. Ein ausführliches Lileraturverzeichnis, in dem alle bis zur Kriegserkläiung der Vereinigten Staaten — seither fehlen die amerikanischen Zeitschriften — erschienenen Drosophila-Arbeiten zusammengestellt sind, findet sich in meinem Sammelreferat in der Zeitschrift für induktive Ab- stammungs- und Vererbungslehre. Baur, E., Über eine eigentümliche mit absoluter Koppe- lung zusammenhängende Dominanzstörung. Vorl. Mitteilung. Ber. d. Deut-^chen Botan. Ges., 36. Jahrg., 1918 Doncaster, L. , The determination of sex. Cambridge a. New York 1914. Morgan, T. H., Heredity and se.\. New York 1913. Morgan, T. H., Sturtevant, A. H., Muller, H. J., Bridge s, C. B., The mechanism of Mendelian heredity. New York 1911;. Mull er, H. J., The mechanism of crossing-over. Ame- rican Naturalist, Vol. 50, 1916. Nachtsheim, H., Die Analyse der Erbfaktoren bei Drosophila und deren zytologische Grundlage. Ein Bericht über die bisherigen Ergebnisse der Vererbungsexperimente Morgan 's und seiner Mitarbeiter. Zeilschr. f. indukt. Ab- stammungs- u. Vererbungsl., Bd. 20, 1919. Kleinere Mitteilungen. Der Präsidentensturm in der dritten Dezember- woche 1918, über Europa. iVlit i Kurve. In der Woche vor Weihnachten zogen zwei atmosphärische Tiefgebiete nördlich über dem europäischen Fest- lande vorüber, die an ihrer Rückseile über Nord- europa strenge Kälte nach sich zogen, an Sturm und Niederschlag aber auch für Mitteleuropa einen vollgemessenen Anteil brachten. Es waren zwei von Westen her erwartete Störungen des atmo- sphärischen Gleichgewichtes, die für Europa von bildung, sondern auch in den Herdgebieten der Westatlantiks und des Indischen Ozeans. Diese letztere Sturmbildung sollte in eine, für die Witterung Europas bedeutungsvolle Beziehung zu jenen westpazifischen Störungen treten. Be- stätigt unter dem 11. Dezember 1918 durch einen Sturm über dem östlichen Mittelmeer, der einem französischen Luftschiff den Untergang brachte, übte sie und später eine ihr nachfolgende Störung gleicher Herkunft auf jene westlichen Störungen Gang von Temperatur und Luftdruck vom 14. bis 23. Dezember 1918, aufgezeichnet von einem Thermo- und einem Barographen des G oss 1 e r ' sehen Privatobservatoriums im Vorort Roterbaum bei Hamburg. T = Temperaturkurve zwischen o" und -j- 10". L = Luft druckkurve. (Diese entsprach genau auch dem Baro- gramme der etwa 9 km nordwestlicher gelegenen Holst. Wetter- und Sonnenwarte Schneisen). I bezeichnen die Tiefsten (Wellentäler) der ersten, 11 die der zweiten westpazifischen Störung im Verlaufe des Präsidentensturmes. mir als westpazifische vorberechnet waren. (Vgl. die Übersichtstabelle auf nächster Seite.) Das war, auf Grund von Sonneniätigkeit und Cirrus- Streifung, von mir in den beiden ersten November- wochen geschehen. ') Besonders eine Epoche November 9 bis 16 ') Vgl. W. Krebs, Neue Vorausbestiramungen des Wetters auf lange Frist. Wien 1916, Verlag des k. k. österr. Flug- technischen Vereins. 21 Kleinfolio- Seiten mit 16 Bildern. Preis 1,60 M. Vgl. auch W. Krebs, Korrespondierende Katastrophen auf der Sonne und in der Atmosphäre 1917. Nr. I der „Naturwissenschaftlichen Wochenschrift" vom b. Ja- nuar 19 iS, S. 7 — 9. N. F. XVIII. Nr. 8 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 115 ja ■2 u JZ 4-* a 3 C c 3 m ja u 'C u 73 :3 ui 3 c« C u tuo V) biO B 3 u ■■o m V o to ':H J3 O. «• w ö a C4 ►-^ -S «il 1. N 1 3 T3 TScn 1 i 1 ^- ^-^ 1 a d US 1 S 2 S 1 1 ^ 1 0 1 M .^-N ti 1 a vi a 0 10 T 2S 1 1 "" ■ 0 .2 d 1 .2 N S d- -SOfe sj". w M 1 ■"■ ^ — ' 0 ■0 vd .■.is 1 1 1 r^ 1 "^ 1 . : « 0 T3 J_ • 0" -;, ■532 N i 1 0 , ^- <3 0 'S S 2 « . " '5 OD S 1 1 10.^1 .il s. 1 J ! 1 .ü -a -=* »'^ . 2 = 5 0 *i 2 « —1 "Z."' ^i j tä o-»- M 'S ! 1 l-sS- 1 g. 1 1 0 u i+ J5 " 1 O^*' 2 E u a 0 , — m 1 { 1 Ä 1 S 73 -« «05 ■ 0 £ ] ; 1 1 i 1 a 00 «2 M 2 S U ,M J3 S , cd et U3 « 1 0 11 f+ 1- i3 + CA 0 1 s - -•0-2 c« a. s 1 505 ^ ■= 4- 0 4J T^ § + 'O ■0 rC. ^i Ed 1 i 1 55+ £ + w ö ^g 1 ä 1 §. 1 1. S £ + ",+ 1 i 2 1 cd ä 1« 1 0. a^ ^ + 0 a 1 1 . rt c« 1. - s N H- » 2 s cd u "O . "< cS T3 J< O. 1 ^ '=4- 2 B 1 ' Ee N D. 1 J3 1 ' i + . W j ; 1 , Cd 1 O. i a 1 2 + 1 CT> td 52- t; '-' U t^ Tf ^ 00 M 1 t-^ rt ^ 00 •" 1 t-* 4 s.S^ M 1 7 N « 'P 1 1 « M f^ 1 - 1 )-i y «3 ■S i s « e i 1 1 1 1 ä -• 1 1 1. 1 3 t-t 1 5 - N °° 10 N o\ 00 « Qt 1 1- 00 & ? 3 0 S g 02QA Q : t 1 « N g ~ 1 ; 1 « « £ m m ii6 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XMII. Nr. 8 hatte rege Sturmbildung ergeben, nicht allein im westpazifischen Herdgebiet der tropischen Sturm- einen ablenkenden Einfluß. Die eine von diesen schwenkte im Nordteile Skandinaviens, die andere schon über der Nordsee nach einer mehr südlichen Richtung ab. So kam es, daß besonders die zweite westpazifische Störung einen starken Fall des Luftdrucks und viel an Sturm und Regen über den Norden Deutschlands brachte (Vgl. die Abb., L). Dazu bezog die ihr nachfolgende Kälte- welle nun auch das Küstengebiet der Nordsee in den Bereich der Nachtfröste ein (Abb., T). Die hier gewonnene Luftdruckkurve (L) ließ neben dieser mittelbaren Bestätigung westpazifi- scher Herkunft noch eine andere erkennen. In der Abb. sind für die erste Störung mit I, für die zweite mit II, Eintiefungen oder Minderungen des Luftdrucks bezeichnet, die unter sich in regel- mäßigen, nahezu 24 stündlichen Zwischenräumen wiederkehren. Die Eintiefungen I stellten sich am 16., 17. und 18. Dezember gegen 6 Uhr abends, die Eintiefungen II am 19., 20., 21. und 22. Dezem- ber gegen 6 Uhr morgens ein. Die 24 stündige Periode erweckt überdies in beiden Fällen den Eindruck eines langsamen, aber regelmäßigen Ausschwingens nach einem starken Luftdruckfall. Sie erinnert zugleich an den Wechsel in Brandungswogen am Meeresgestade, bei denen auch die erste von 3, 4 oder 5 Wogen die größte zu sein pflegt. Doch hebe ich hier nur die in beiden Fällen, I wie II, nahezu 24 stündige Länge hervor. Denn sie entspricht einer von mir seit elf Jahren ver- folgten Eigenheit starker westpazifischen Störungen. Die in 24 Stunden periodischen Luftdruck- schwankungen , die mit ihrem Eintritt in die europäische Atmosphäre verbunden sind, durfte ich sogar als Visitenkarte der westpazifischen Störungen bezeichnen, da die Störungen west- atlantischer Herkunft ihrer entbehren. Ihre physikalische Erklärung hängt eng zu- sammen mit der einer anderen Eigentümlichkeit westpazifischer Störungen , Kältewellen nachzu- schleppen. Diese, besonders ausgeprägt über dem mittleren und südlichen Nordamerika, rührt ofifen- bar her von der Reise über das nordische, oft sogar arktische Gebiet Nordamerikas. Denn die Wirbel, die mit atmosphärischen Tiefs verbunden sind, haben eine wichtige Rolle als Transport- mittel von Luftmassen. Daß den die ge- mäßigteren Breiten Nordamerikas durchziehenden Tiefs nördlicher Herkunft kalte Hochdruckgebiete folgen, eben jene Kältewellen, ist von amerikani- schen Wetterforschern, vor allem von Clayton, längst nachgewiesen. Aber auch die Luftdrucktiefs bringen an sich selbst etwas mit. Im Gegensatz zu Meeresgebieten pflegen Landgebiete, besonders gebirgige, unter dem Einfluß der bekannten Temperaturschwankung von Tageswärme und Nachtkälte eine 24 stündige Luftdruckschwankung sich anzueignen. Das Aus- schwingen des Luftdruckfalls der Störung im elastischen Luftmeer paßt sich diesem Rhythmus um so enger an, je länger die Störung, auf ihrer Reise nach dem Osten, über festländischen Ge- bieten zu verweilen genötigt ist. Das ist mehr oder weniger lange bei west pazifischen, fast gar nicht bei westatlantischen Störungen der Fall. — Nur um Tagesfrist vor jener Bestätigung der südöstlichen Störung, am 10 Dezember 1918, traf ein Radiogramm in Mitteleuropa ein, das von schwerem Seegang und schwerem Wetter auf dem Nordatlantik berichtete. Es rührte von keinem anderen Schifie her als von dem Dampfer ,, George Washington", der den Präsidenten Wilson zu den Friedensverhandlungen nach Europa trug. Diese geschichtliche Reise wurde also durch solche Sturmverhältnisse schwer genug betroffen, um jenen, glücklicherweise von keinem nennenswerten Unfall gefolgten Notruf zu veranlassen. Nach Ort und Zeit, 2 bis 3 Tagesfahrten vor Brest, handelte es sich um Erscheinungen einer der beiden, um Wochenfrist später die europäische Atmosphäre heimsuchenden Störungen. Die Sturmfolge dieser Woche darf demnach unter der Bezeichnung „Präsidenten-Sturm" zusammengefaßt werden. Da die Abfahrt von New York erst Anfang Dezember erfolgte, wäre, besonders noch unter kontrolierender Benutzung des in Amerika zu- gänglichen Nachrichtenmaterials von Westen her, die Zeitwahl für jenes geschichtliche [Jnternehmen einer rechtzeitigen und zuverlässigen Warnung zu- gänglich gewesen. Denn die Vorausbestimmung der beteiligten Störungen nach meinem meteoro- logischen System war, wie erwähnt, schon in den beiden ersten Novemberwochen getroffen, um 3 bis 4 Wochen vor der Abreise des Präsidenten Wilson von New York. Nach dem Eintreffen jener Schififsnachricht vom 10. Dezember konnte ich diese in meinem, dem Altonaer Lebensmittelamt erstatteten Witte- rungsberichte vom 1 1. Dezember, als weitere Be- stätigung für die vorausbestimmte Sturmzeit über Europa benutzen, die dann in der nachfolgenden Woche vor Weihnachten pünktlich eintreffen sollte. Holsteinische Wetter- und Sonnen -Warte Schneisen bei Hamburg. Wilhelm Krebs. Einzelberichte. Zoologie. Daß sich die Stechmücke Ano- pheles in verschiedenen Gegenden der norddeut- schen Tiefebene findet, war schon vor dem Kriege bekannt. Diese Vorkommen waren jedoch ohne größere hygienische Bedeutung, da Malariakranke nur sehr selten waren. Das hat sich während des Krieges geändert, indem zahlreiche malaria- kranke Soldaten in heimischen Lazaretten unter- gebracht wurden, und damit gewinnt das Vor- kommen der Fiebermücken neue Bedeutung. N. F. XVnl. Nr. 8 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 117 Osterwald und Tänzer (Mitteilungen der Naturforsch. Gesellsch. zu Halle Bd. 5, 1918, S. i) haben die Verbreitung von Anopheles in der Um- gebung von Halle untersucht, wo sich ebenfalls arrMaiarTalazarett befindet. Sie durchforschten an der Hand von Meßtischblättern systematisch alle Gewässer des betreffenden Gebietes, indem sie gleichzeitig Notizen über die Art der Wasser- ansammlungen, sowie über ihre charakteristische Bewohnerschaft an Algen, Pflanzen und Tieren machten. Sie kommen auf Grund ihrer umfang- reichen Aufzeichnungen zu folgenden Schlüssen. Anopheles maculipennis — denn diese Art fand sich ausschließlich vor — ist in der Umgebung als sehr häufig zu bezeichnen. Sie wird aber weder in Dorf- und Waldtümpeln noch in den strömenden Gewässern angetroffen. Umgebung und Untergrund der Gewässer scheinen auf das Vorkommen der Larven keinen Einfluß auszuüben, dagegen sind reichlicher Pflanzenwuchs und ruhige Oberfläche Bedingungen. Deshalb werden die Larven in strömenden Gewässern sowie in der leicht bewegten Mitte größerer Wasserflächen ver- mißt, auch das Fehlen in den Dorfteichen wird an der Unruhe der Wasserfläche sowie an dem mangelhaften Pflanzenwuchs hegen; der letztere Umstand wird auch das Gedeihen in Waldtümpeln schattiger Umgebung verhindern. Meist war das Wasser der von Anopheles besiedelten Gewässer klar, stark verunreinigtes Wasser scheinen sie zu meiden. Da sich larvenverzehrende Tiere oft rnit den Larvenvölkern zusammen vorfanden , scheint die Vertilgungskraft jener nicht besonders wirksam zu sein. Zu allen Zeiten wurden Eier, Larven und Puppen nebeneinander angetroffen, abgegrenzte Entwicklungs- und Häufigkeitsperioden ließen sich nicht nachweisen. Miehe. Über die Umwandlung der Kerne der quer- gestrcifietTMuskelfasern bei der Metamorphose der Insekten. Mit der Metamorphose der Insekten gehen tiefgreifende Gewebsänderungen einher. Ganze Organe weiden überflüssig und neue müssen ge- bildet werden. Das Material zum Aufbau der letzteren muß offenbar schon im vorhergehenden Stadium vorhanden gewesen sein und wird durch die Einschmelzung der unnötig gewordenen Organe gewonnen. Dies gilt z. B. für die Verpuppung der Insekten, bei der so viel Bewegungsorgane samt ihren Muskeln in Wegfall kommen. Die sich bei der Metamorphose der Mücken ab- spielenden histologischen Prozesse würden neuer- dings genau verfolgt und ergaben, daß die Kerne der quergestreiften Muskelfasern durch Auflösung der kontraktilen Substanz in Freiheit gesetzt und die Muskelzellen selbst zu Trophocyten und Fettzellen werden. (Observations sur des noyaux des trophocytes provenant de la transformation du tissu musculaire strie des Insectes. Note de M. Edmond B o r d a g e , presentee par M. Henneguy. C. R. Acad. Paris Tome 166, No. 18, Sitzung vom 6. Mai 1918). Verf. hat schon in einer früheren Mitteilung nachgewiesen, daß auch das höchstdifferen- zierte Gewebe, z. B. das der quergestreiften Muskelfasern, bei der Metamorphose eine Um- wandlung in Fett- und Nährzellen (Trophocyten) unterliege. Im Fortführen seiner Versuche mit Fliegen sei er zu Resultaten gelangt, die darauf hinwiesen, daß die Zahl der Nährzellen jener der umgestalteten Muskelzellen entspräche. Es blieben danach die Muskelzellen eine Zeitlang im embryo- nalen Zustand wie bei der normalen Entwicklung. Er hätte feststellen können, daß die Bildung von Muskelfibrillen nicht an die Zellgrenzen geknüpft wäre, sondern er glaube, daß die Entstehung der Muskelfasern möglicherweise unter Beteiligung interzelulärer Brücken verlaufe. Die Zellkerne des Nährgewebes wären die gleichen wie die Muskelkerne, nur würden sie von Zellplasma umgeben statt von Muskelsubstanz. Sie würden von einem körnerreichen Plasma ein- geschlossen, welches sich bei der Mukelfaser zwischen sie und die fibrilläre Substanz schöbe. Man müßte also annehmen, daß in dieser von vornherein Kerne lägen, welche bestimmt wären, zu solchen von Nährzellen zu werden. Man hätte demnach ein Sichtbarwerden von Zellkernen vor sich, welches nach Hoffmann, Waldeyer, Mingazzini, Lewin, Wagener und Krösing bei den Wirbeltieren die Muskelsubstanz bedingte. Man dürfe nach diesem Befund bei den wirbel- losen Tieren annehmen, daß bezüglich der kon- traktilen Substanz das gleiche Verhalten für alle Tiere Geltung habe. Im Veriauf der Metamorphose würden offen- bar durch Auflösung der kontraktilen Substanz die darin eingeschlossenen Zellkerne wieder frei. Kathariner. Wildeinbürgerung des Ailanthusspinners. In Ergänzung meiner Berichte ^) über die Versuche von Prof. Dewitz-Metz, Seidenspinner im Freien zu züchten, sei mitgeteilt, daß, wie W.Schuster in der Entomologischen Zeitschrift, Frankfurt a. M. (Jahrg. XXXII Nr. 10) ausführt, der chinesische Seidenspinner, Athacus cynthia, im Neckartal bei Heilbronn bereits seit einigen Jahren einge- bürgert ist. Die Raupe lebt am Götterbaum, einem chinesischen Zierbaum, der in Heilbronn in zahlreichen Exemplaren vertreten ist. Daß der chinesische Seidenspinner sich vollkommen bei uns akklimatisiert hat, geht daraus hervor, daß im vergangenen Jahre 27 Stück überwinternde Kokons an den Spitzen eines dieser Götterbäume gefunden wurden. Wie in Heilbronn, soll der Falter, wie Schuster weiter ausführt, auch in Straßburg und in anderen Ländern eingebürgert sein. Frankreich und England haben bereits seit ') „Zueilt des Edelseidenspinners im Freien", Jahrg. 1917, S. 236 und S. 6S8. n8 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 8 Jahrzehnten ihre SchmetterUngsfarmen, von denen aus der Versuch alljährlich unternommen werden soll, die seidenerzeugenden Raupen auch in die Wälder im wilden Zustande zu verpflanzen. Um große Ausbeuten an Seidengespinsten, meint Schuster, und man muß dem Verf. in dieser Beziehung sicherlich Recht geben, dürfte es sich dabei aber wohl nirgends handeln; denn die Ge- fahren, welche den Seidenspinnern, trotz aller da und dort geglückter Einbürgerungsversuche in unserem Klima immer noch drohen, sind zu groß, als daß man hoffen könnte, sie in absehbarer Zeit in großer Zahl endgültig mit unserer heimischen Tierwelt vermischen zu können. H. W. Frickhinger. Chemie. Über einige technische Anwendungen der Kaialyse^ielt E. F. Armstrong in der Society of Chemical Industry zu Bristol einen Vortrag, in dem er hauptsächlich die neuen Ver- fahren der Essigsäuredarstellung behandelte. ') Be- kanntlich geht man hierbei vom Kalziumkarbid aus, das Azetylen liefert. Dies wird mit Wasser zu Azelaldehyd umgesetzt. Der theoretisch höchst einfache Prozeß bietet große technische Schwierig- keiten, die erst Dreyfuß völlig zu überwinden vermochte. Bei einer ganz bestimmten Konzen- tration wird das Azetylen sehr rasch in Schwefel- säure geleitet, um der Bildung von Nebenprodukten zuvorzukommen. In der Säure setzt es sich dann unter dem katalytischen Einfluß von Queck- silber zu Aldehyd um. — Techniscne Schwierig- keiten bereitet auch die Oxydation des Aldehyds zur Essigsäure, die anfangs mit Platin, dann mit Chromverbindungen als Katalysatoren versucht wurde. Heute benutzt man Kupfer zu gleichem Zweck. Bedingung für das Gelingen ist großer Überschuß an tadellos reinem Aldehyd, Kaliumpermanganat als Oxydationsmittel bei Atmosphärendruck und Vermeidung jeglicher Temperaturüberschreitung. Das erhaltene Azetat ist 90 proz. und durch Einwirkung der Gefäßwände leicht eisenhaltig. — Aus der Essigsäure läßt sich schließlich bei 480—500" und Aluminium als Katalysator Azeton gewinnen. Aus der Versammlung der Society wurden Zweifel geäußert, ob die synthetische Essigsäure mit der deutschen Säure werde in Wettbewerb treten können. H. Heller. Von den Formen, in denen die Materie er- scheint, hat in den letzten Jahrzehnten der kol- loide Zustand besonderes Interesse beansprucht; man versieht darunter die feine Verteilung eines Körpers in einem zweiten, dem Dispersionsmiitel. Während die Größenordnung des Durchmessers der IVloleküle bei 0,1 //,« d. i. ein zehnmillionstel Millimeter liegt, also weit unter der Auflösbarkeit unserer Mikroskope, die bis etwa 100 /((( reicht. rechnet man Molekülklumpen, deren Größenordnung zwischen i u. 100 fi^i liegt, zu den Kolloiden. Mit Hilfe der Ultramikroskope lassen sich Teil- chen von dieser Größe wahrnehmen; ihre Wärme- bewegung ist im Vergleich zu der der Moleküle sehr gering, infolgedessen ist ihr osmotischer Druck und damit ihre Gefrierpunktserniedrigung in wässriger „Lösung" verschwindend klein, ist ihre Diffusion ebenfalls sehr langsam. Fast alle Körper lassen sich durch geeignete Verfahren in die feine Verteilung des kolloiden Zustandes bringen. Es ist nun von Interesse zu erfahren, wie die Moleküle in diesem Zustande gelagert und, ob z. B. kolloide Metalle dasselbe Raumgitter wie in weniger feiner Verteilung zeigen. Nun sind ja bekanntlich die Röntgenstrahlen ein vorzügliches Mittel, um den Feinbau der Kristalle und anderer Körper zu erforschen. Für den vorliegenden Zweck kommt von den verschiedenen Methoden zur Unter- suchung nur die von Debyeu. Scherrer in Betracht, von der in dieser Zeitschrift schon mehr- fach die Rede') war; da sie keiner ausgebildeten Kristalle, sondern nur geringer Mengen eines feinen Pulvers der zu unternehenden Substanz be- darf, bezeichnet man sie als die Methode der regellos orientierten Teilchen. In den Nachr. der kgl. Akademie der Wissensch. z. Göttingen (math. phys. Klasse 1918, S. 98 berichtet P. Scherrer über Versuche zur Bestimmung von Größe und innerer Struktur von KoUoidteilchen mittels Rönt- genstrahien. Die Theorie ergibt, daß die Lage der Interferenzen in den von dem Stäbchen, das aus der pulverisierten, zu untersuchenden Sub- stanz geformt ist, ausgehenden sekundären Strahlen nicht von der Größe der Einzelkristalle, sondern nur .3 von dem Raumgitter abhängt. Dagegen sind die Maxima um so breiter, je kleiner die Teilchen sind, je geringer also die Anzahl der Elementarbereiche ist, die ein Einzelkristall um- faßt. Man kann durch Ausmessung des Intenti- tätsverlaufes im Interferenzbilde auf die Größe der Einzelkristalle schließen. Die Resultate der Versuche sind folgende: I. Kolloides Gold und Silber zeigen dasselbe Raumgitter, wie wenn sie in gröberer Verteilung vor- kommen. Es wurden kolloide Lösungen unter- sucht, in denen die Teilchen nur 4—5 Elementar- bereiche längs einer Würfelkante zeigen. Die aus der Breite der Interferenzmaxima ermittelte Größe der Teilchen stimmte gut mit der nach andern Methoden gemessenen überein. ■ 2. Gealterte Kieselsäure und Zinnsäure-Gel zeigen neben Anzeichen amorpher Struktur, die sich durch ein oder zwei flache Maxima in der Nähe des einfallenden Strahles kund tut, intensive Interferenzen, die auf Raumgitter schließen lassen. Die beiden Substanzen sind also im Begriff zu kristallisieren. 3. Typische organische Kolloide wie Eiweiß, 1918. ') nach Zeitschr. f. angew. Chemie. 31. (Referate) 492. ') Nalurw. Woehenschr. XVI (1917) S. 528. N. F. XVIII. Nr. 8 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 119 Gelatine, Kasein, Cellulose, Stärke u. a. m. zeigen dagegen amorphe Struktur; diese kolloiden Teil- chen sind also entweder Einzelmoleküle oder Klumpen von regellos nebeneinander gelagerten Molekülen. Seh. Metorologie. Ein wesentlicher Einfluß auf unsere Wiiterungsverhältnisse wird zweifellos durch die Luftbewegungen in der Substratosphäre aus- geübt. Da es nun aber meist mit Schwierigkeiten verbunden ist, über die Bewegungen in ca. lO km Höhe sich durch Aufsliege von Pilotballons zu orientieren, muß in erhöhtem Maße Lage, Ver- änderung und Zug der hohen Wolken, insbesondere der Zirren, zu Rate gezogen werden. Während die Zugrichtung schon lange als Hilfsmittel für die Prognosen benutzt wird, hat R. Süring nun untersucht (Sitzber. d. Berl. Akad. d. Wiss. 1918 S. 814), wieweit eine Abhängigkeit der Witterung von der Neigung der Wolken, also damit auch der Grenzflächen benachbarter Luftschichten, besteht. Zur Feststellung und Messung der Neigung wurde Sprung' s „Wolkenautomat" benutzt, der ge- stattet, an den Endpunkten einer iV, km langen Siandlinie synchrone photogrammeirische Auf- nahmen zu machen. Bei gut zu identifizierenden Wolkenpunkten ist dadurch eine Höhenbestimmung bis auf 50 m genau möglich. Die zur Darstellung gelangende Wolkenfläche beträgt bei 10 km Höhe ca 50 qkm. Es wurden nur solche Fälle benutzt, bei denen die Neigung an wenigstens 4 Wolken- punkten erkennbar war. Bei der Untersuchung ist nun zu unterscheiden, ob die Neigung in der Zugrichtung liegt oder senkrecht dazu. Zunächst wurden die Fälle be- trachtet, in denen die Wolken eine Neigung senkrecht zur Zugrichtung aufwiesen. Dabei ergab sich folgende Verteilung: in 17 Fällen betrug die Neigung weniger als 5 ", in 22 Fällen S bis 10", in 5 Fällen über 10 "mit einem Maximum von 18"; die kleinste nachweisbare Neigung be- trug 1,2". Bei den Zirren ist die Neigung im Mittel etwa doppelt so groß wie bei den Zirro- Kumuli nnd Alto Kumuli. Daraus läßt sich erkenen, daß auch die Neigungen in der Substratosphäre, dem Zirrenniveau, einen größeren Einfluß auf die Witterung haben werden als die der niederen Schichten. Die Neigungen senkrecht zur Zug- richtung haben in der Regel die Ausbildung von Teildepressionen und damit Regen zur Folge. Dem Auftreten von Neigung mittelhuher Wolken folgte in 65 */„ der Fälle Niederschlag, dem im Zirren- niveau aber in 82 "/(,. Die Niederschläge folgten dem Auftreten der Wolkenneigung im Mittel in 12 stündigem Abstand. Im Sommer ist die Regen- wahrscheitilichkeit am geringsten: bei Zirren 72 "/o" bei miitelhohen Wolken gar nur SO^/q; dagegen erreicht sie im Frühjahr bei Zirren 100 "/q. Da das mittlere Gefälle der Wolken in dieser Richtung im Sommer am geringsten ist, so dürfte es nicht durch thermische, sondern durch dynamische Ursachen bedingt sein. Ein Vergleich mit den für den Erdboden gezeichneten Isobarenkarten zeigte, daß die Zirrenflächen stets nach der Haupt- depression zu abfielen. Der Wolkenzug war der Depressionsbahn nahezu parallel. Der Unter- schied zwischen Ober- und Unterwind ergab sich zu rund 90", so daß die Wolken also dem hinteren rechten Quadranten der Zyklone ange- hörten. Bei den Alto Kumulus-Flächen zeigte sich keine ausgeprägte Beziehung zur Depressions- bewegung. Eine Neigung in der Zugrichtung, und zwar vorwiegend ein Ansteigen, konnte sehr häufig festgestellt werden. Hier tritt die stärkste Neigung im Sommer und bei geringer Ge- schwindigkeit auf, also daß wahrscheinlich eine thermische Ursache zugrunde liegt. Die Neigungs- flächen liegen meist weit ab vom Depressions- zentrum an der Stirnseite, so daß vielfach ein Einströmen in die Antizyklone angenommen werden mußte. Die Niederschlagswahrscheinlich- ist gering, nur ca. 65 "/q. Beziehungen zwischen Neigung und Wolken- form sind noch nicht erkennbar ; dazu reicht vor allem die bisherigen Einteilung der Wolkenformen nicht aus. Scholich. Physiologie. Zur Physiologie des Geruch- sinnes teilt F. B. Hofmann interessante Beobach- tungen mit, die er an sich selbst gelegentlich einer katarrhalischen Erkrankung gemacht hat. Infolge dieser Eikrankung verlor er seinen Geruch anfangs fast vollständig. Es war nur noch eine ziemlich starke Geruchsempfindung vorn Pyridin, eine schwache vom Kollidin und Azeton vorhan- den. Ammoniak und Triäthylamin hatten einen schwachen, untereinander ähnlichen Geruch. Amyl- alkohol und Kreosot waren anfangs wohl unbe- stimmt zu riechen. Diese Geruchsempfindung ging jedoch bei längerem Schnüffeln verloren. Allein der Moschusgeruch war normal geblieben. Von anderen stark riechenden Substanzen war durch den Geruch nichts wahrnehmbar. Langsam kam es zu einer Besserung des Geruch>vermögens. Es lag also, da auch lang.-am die Zahl der riechen- den Substanzen zunahm und die übrigen vorher bereits schwach gerochenen Substanzen deutlicher und stärker wahrnehmbar wurden, nicht eine gleichmäßige Herabsetzung der Geruchsempfind- iichkeit voi, sondern nur ein partieller Defekt. Derartige Beobachtungen waren schon früher ge- macht worden. Neu war die Erscheinung, daß cie wiederkehrenden Gerüche in den meisten Fällen einen veränderten Charakter zeigten gegen- über dem Geruchsempfinden vor der Erkrankung. Gewisse Gruppen von Substanzen ließen sich zu- erst nicht unterscheiden, z. B. Benzol, Toluol und Xylol. Später kam die Unterscheidungsmöglich- keit langsam wieder. Ähnlich war es auch mit Naphthalin und Jodoform und anderen Si offen. Der Veikhengeruch, der anfangs vom Geruch der Teerosen und Zigarren kaum zu unterscheiden war, erhielt langsam „eine wohlriechende Kom- 120 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVni. Nr. 8 ponente", so daß schHeßlich wieder fast der nor- male Veilchengeruch sich einstellte. Hof mann kommt zu dem Schluß, „daß in 4em Geruch chemisch einheitlicher Substanzen mehrere einzelne Geruchskomponenten zu einer Einheit verschmolzen sind. Der Geruch chemisch einheitlicher Substanzen wäre also, wenn wir den Gehörssinn zum Vergleich heranziehen, etwa einem Klang, nicht aber einem einzelnen Ton zu ver- gleichen. Dementsprechend ist es nun sehr wahr- scheinlich, daß durch eine chemische Substanz eine ganze Gruppe von Nervenfasern gereizt wird, die bei ihrer isolierten Reizung verschiedene Einzel- gerüche auszulösen vermögen." Sobald nun, in- folge vonErkrankungen gewisse Nervenfasergruppen ausfallen, so ändert sich der Geruch einer be- treffenden Substanz, da die der Nervenfasergruppe entsprechenden Geruchskomponenten nicht mehr wahrgenommen werden. (Münch. med. Wochen- schrift 65. Jahrg. Nr. 49). Willer. Bücherbesprechungen. Wiener, Otto, Physik und Kulturentwick- lung. Mit 79 Abbildungen im Text. Leipzig und Berrlin 19 19, B. G. Teubner. 4,40 M. Der Leipziger Physiker behandelt in diesem aus Soldatenvorlesungen entstandenen Büchlein ein sehr fruchtbares Thema, dem er immer neue und oft überraschende Seiten abzugewinnen weiß, und das den Leser in einer anregenden und unter- haltenden Weise in wichtige Grundfragen der Physik, der Technik, der Physiologie und darüber hinaus in höchste Kulturprobleme einführt. Er spinnt im Prinzip die Frage aus, wie der Mensch, der ursprünglich infolge der Beschränktheit seiner natürlichen Organe nur in verhältnismäßig ge- ringem Umkreise seine Umgebung beeinflußen konnte, allmählich durch Erfindung immer ver- feinerter Hilfen weit hinausgreift über seinen primär beschränkten Wirkungsbereich , immer tiefer hineindringt in die Dinge und Vorgänge um ihn und sich dergestalt immer siegreicher zum Herrscher seiner Umgebung macht, indem er sie nach bestimmten Zielen und Zwecken beeinflußt und benutzt. Was ihn zu dieser keinem Tiere er- reichbaren Kraftentfaltung befähigt, liegt natürlich letzten Endes in seiner Organisation und zwar außer in gewissen körperlichen Vorzügen (auf- rechtem Gang, Hand, lautbildenden Werkzeugen) hauptsächlich in seinem Gehirn. In diesem schon lange vor der geschichtlichen Überlieferung be- ginnenden, in nuce bereits in der ungeheuren Fassungs- und Leistungsfähigkeit des Menschen- hirns begründeten Vorgange kommt das zum Aus- druck, was man Kulturentwicklung nennt. Denn Kultur in der eigentlichen Bedeutung des Wortes ist nichts anderes, als Benutzung, Beeinflussung, Aus- und Umgestaltung der Umwelt (einschließ- lich des eigenen Körpers und der anderer Menschen) zu bestimmten Zwecken, die antänglich wohl vor- wiegend egoistischer Art waren, allmählich aber immer mehr von sozialen Elementen durchsetzt wurden. Sie führt von Roheit zur Bildung, von Bedürftigkeit zum Reichtum, vom Zufall zu Sicher- heit, von roher Empirie zu sinnvoller Theorie, von Gebundenheit zu Freiheit. Die Darstellung ist wohlgeordnet, knapp und setzt besondere Kenntnisse nicht voraus. Sie wird wirksam unter- stützt durch gut ausgewählte Abbildungen. Man wird sich gerade jetzt solchen Gedankengängen gerne überlassen, wo wir nach der, wenigstens in ihren unmittelbaren Zwecken und Zielen abbauen- den und grauenhaft sinnlosen Kriegstätigkeit wieder zu unmittelbar fruchtbarer, aufbauender Arbeit zurückkehren möchten. Miehe. Graetz, Prof. Dr. L., Die Atomlehre in ihrer neuesten Entwicklung. Mit 30 Abbil- dungen. Stuttgart 1918, J. Engelhorn. 2,50 M. Auch dieses Heft ist wie das vorhergehende aus Vorlesungen hervorgegangen, die im besetzten Gebiet gehalten wurden. Sie behandeln einen Gegenstand von besonderem Interesse; denn es gibt kaum ein Gebiet der Chemie und Physik, das sich in der jüngsten Zeit so sehr geändert hätte, als die Atomlehre. Da sie mit der Radio- logie innig zusammenhängt, findet der Leser auch die Grundlagen dieses Wissenszweiges dargestellt. Das kleine Heft des Münchner Physikers ist vor- trefflich geeignet, über diese neuesten Forlschritte zu unterrichten und sei jedem empfohlen, der den Wunsch hegt, sich auf diesem Gebiet auf dem Laufenden zu halten. Miehe. Illlmlt: Hacs Nachtsheim, Der Mechanismus der Vererbung. (12 Abb.) S. 105. — Kleinere Mitteilungen: Wilhelm Krebs, Der Präsidenlensturm in der dritten Dezemberwoche 1918 über Europa. (l .\bb.) .''. 114. — Einzelberichte: Osterwald und Tänzer, Verbreitung von Anopheles in der Umgebung von Halle. S. IIb. Bordage, Üner die Umwandlung der Kerne der quergestreiften Muskelfasern bei der Metamorphose der Inseltten. S. 117. Schuster, Wild- einbürgerung des Ailanthusspinners. S. 117. E. F. Armstrong, Über einige technische Anwendungen der Katalyse. S. 118. P. Scherrer, Bestimmung von Größe und innerer Struktur von Kolloidteilchen mittels Röntgenstrahlen. S. 118. R. SUring, Neigung der Wolken. S. 119. K. B. Hofmann, Physiologie des Geruchsinnes. S. 119. — Bücher- besprechungrn: O. Wiener, Physik und Kulturentwicklung. S. 120. L. Graetz, Die Atomlehre in ihrer neuesten Entwicklung. S. 120. Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstrafie 42, erbeten. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue Folge 18. Band; der ganzen Reihe ^4. Band. Sonntag, den 2. März 1919. Nummer 9. Der Glanz vom psychologischen Standpunkte aus betrachtet. Von Dr. Menz. [Nachdruck verboten. Mit 9 Abbildungen. Der Glanz ist eine Bewußtseinserscheinung, die durch eine Gesamtheit von Empfindungen ausgelöst wird, wenn gewisse Lichtreize auf unsere Augen wirken. Um vom psychologischen Stand- punkt aus ein möglichst klares Bild des Glanzes zu erhalten, ist es nötig, neben den psychologi- schen Bedingungen auch die physikalischen zu be- trachten. Doch dürfen wir uns nicht damit be- gnügen, nur letztere festzustellen, weil der Glanz als psychologische Erscheinung nichts sachlich Unveränderliches darstellt. Glanz beobachten wir an Gegenständen, und zwar sagen wir: ein Körper besitzt Glanz, wenn wir an ihm Licht beobachten, das nicht zu seiner Farbe gehört und diese an Helligkeit übertrifft. Einen Überblick über den Glanz und die ihm verwandten Erscheinungen, Durchsichtigkeit und Spiegelungen gibt die Versuchungsanordnung der Abb. I. Die wagerechte Ebene e und die unter 45" darüber geneigte Glasplatte g berühren sich in M mit der senkrechten Fläche c. c und g schließen den Winkel (p ein. A ist das beobachtende Auge, das bei senkrechter Blickrichtung e und zugleich das von der Glasplatte gespiegelte c sieht, c sei so beleuchtet, daß sein Spiegelbild annähernd die- selbe Helligkeit wie das unmittelbar gesehene e besitzt. Ist e gleichmäßig mit schwarzem oder farbigem und c ebenso mit weißem Papier belegt, so hat das Auge die Empfindung einer aus den Farben von c und e zusammengesetzten Mischfarbe, wie groß man auch r/i wählen mag. Diese Farben- mischung tritt ebenfalls ein, wenn auf e ein ab- gegrenztes schwarzes Stück Papier a etwa ein Quadrat, auf dunklem oder andersfarbigem Grunde liegt. Grenzt man auf c ein Quadrat b durch Umziehen mit Bleistift ab, sodaß sein Spiegelbild b' innerhalb der Umgrenzung von a gesehen wird, so bleibt, wenn (f = 45" ist, die IVIischfarbe bestehen, weil dann a und b in dieselbe Ebene fallen (Abb. 2). Vergrößert man aber (p (Abb. 3), so sieht man a und dahinter b', sodaß a durchsichtig er- scheint. Je gleichmäßiger a ist, desto mehr wird Abb. 2. der Eindruck der Spiegelung von b in a er- weckt. Wählt man (p kleiner als 45", so liegt b' vor a und es scheint sich a in b' zu spiegeln. Spiegelbilder werden also in unserem Bewußtsein stets hinter die spielende Fläche verlegt. Wenn a in Färbung und Zeichnung ungleichmäßig ist oder wenn b verwaschene Begrenzungen erhält oder ungleichmäßig beleuchtet wird, so wird das scheinbare Spiegelbild nicht mehr hinter die spiegelnde Fläche verlegt und das Bewußtsein dieser undeutlich wahrgenommenen Spiegelung erzeugt die Vorstellung des Glanzes. Die glänzende Fläche erscheint ebenfalls in der Misch- farbe, wir zerlegen diese aber im Bewußtsein in Gegenstandsfarbe und aufliegendes Glanzlicht, also in zerstreut und regelmäßig reflektiertes Licht. Wie oben erwähnt, erzeugen wir eine Misch- farbe, wenn c und e gleichmäßig mit verschiedenen Papieren bedeckt sind. Daß bei dieser Empfin- dung auch die Aufmerksamkeit eine Rolle spielt, ergibt sich, wenn man die Papiere mit verschiedenen Mustern versieht und das Spiegelbild von c mit e zur Deckung bringt. Je nachdem man auf das eine oder andere Muster achtet, überwiegt die Farbe des dazugehörenden Untergrundes und 122 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 9 bringt die andere fast zum Verschwinden. Durch Verändern von (p wird diese Erscheinung noch deutlicher. Welche Farbbeschaffenheit müssen nun die Quadrate a und b besitzen, damit sie bei der in Abb. 3 beschriebenen Anordnung Glanz ergeben? Darüber geben uns folgende Versuche Auskunft. Legen wir das schwarze Quadrat a und das weiße Abb. 3. b beide auf weißen Grund, so überwiegt das schwarze, und das weiße verschwindet. Liegen dagegen beide auf grauem Grunde, so tritt wieder lebhafter Glanz auf, ebenso wenn Schwarz auf Dunkelrot sich in Weiß auf Gelb spiegelt. Hierdurch und durch weitere Versuche hat man festgestellt : wenn die Farben der Quadrate gegen ihren Grund sich ungefähr gleich stark abheben, so entsteht Glanz um so stärker, je verschiedener sie untereinander sind. Die Mischfarbe kann man also auch als ganz schwachen Glanz auffassen. Von dieser zum lebhaftesten Glanz gibt es sämt- liche Übergänge. Der Kontrast zwischen den Quadratfarben ist aber nicht objektiv zu ver- stehen, denn dann müßten Spektralfarben mit möglichst verschiedenen Wellenlängen den stärk- sten Glanz geben. Das ist aber keineswegs der Fall, man erhält beim Experimentieren mit solchen Farben häufig Mischfarben. Der Kontrast muß vielmehr subjektiv sein. So können Farben, die nur an Helligkeit verschieden sind, miteinander Glanz geben, ja den stärksten Glanz erhält man aus den extremen Heiligkeilsgraden des gemischten Lichtes, nämlich aus schwarz und weiß. Man be- kommt selbst Glanz mit gleich gefärbten Qua- draten, die durch verschiedene helle Untergründe sich verschieden stark zur Wahrnehmung drängen, zum Beispiel mit gleichen blauen Quadraten auf schwarzem und weißem Grunde. Es handelt sich also nicht um eine Änderung der Empfin- dung des Lichtes, sondern um eine Änderung unseres Urteils über die Helligkeit der beiden Quadrate. Bei unserem auf Seite I2i beschriebenen Versuch konnten wir erst durch Abgrenzung mit schwarzen Linien einer Stelle in Weiß, deren Spiegelbild hinter das schwarze Quadrat fällt, den Eindruck der Spiegelung und damit den Eindruck von Glanz erreichen. Das hat seinen Grund darin, daß die Spiegelung durch die Umgrenzung erst zum Be- wußtsein kommt. Der Glanz ist also nicht un- mittelbar in der Empfindung gegeben, sondern wir haben die Erscheinung des Glanzes erst dann, wenn in einem Gegenstande andere Gegenstände sich zu spiegeln scheinen. Da schon das Er- kennen eines Gegenstandes erst mit Hilfe unserer Vorstellungstätigkeit entstehen kann, so ist der Glanz, der dieses Erkennen zur Voraussetzung hat, um so mehr ein Ergebnis der Vorstellung. Da Glanz vom Erkennen der Körperlichkeit abhängt, ist es verständlich, daß Umstände, die das körperliche Sehen begünstigen, auch den Glanz verstärken. Das körperliche Sehen wird erleichtert, wenn wir durch parallaktische Unter- schiede von anderen Standpunkten ein Urteil über die Entfernungen der verschiedenen Teile des Gegen- standes bekommen. Solche verschiedenen per- spektivischen Bilder, die uns ermöglichen, das Betrachtete räumlich vorzustellen, erhalten wir, wenn wir bei monokularer Betrachtung das Auge oder den Gegenstand bewegen. Bewegung ver- stärkt also den monokularen Glanz durch Deut- lichermachen der körperlichen Vorstellung, aber auch deshalb, weil unsere Erwartung erfüllt wird, eine glänzende Stelle bei einem anderen Netzhaut- bilde in ihrer eigentlichen Farbe," d. h. der Gegen- standsfarbe des übrigen Körpers zu sehen, z. B. bei einer bewegten Wasseroberfläche. Es wird dadurch die Zerlegung des vom Gegenstand aus- gehenden Lichtes in zerstreut und regelmäßig reflektiertes begünstigt und dies ist für die Glanz- vorstellung wesentlich , wie wir oben festgestellt haben. Die verschiedenen Bilder erleben wir zu gleicher Zeit, wenn wir mit beiden Augen sehen. Die Vorstellung des Glanzes wird dadurch noch deutlicher. Zum Verständnis der Wechselbeziehungen zwischen beiden Augen sei folgendes angeführt. Die von außen kommenden Lichtstrahlen werden innerhalb des Auges so gebrochen, daß auf der Netzhaut ein kleines, an Färbung und Helligkeit entsprechendes Bild des Betrachteten entsieht. An den verschiedenen Punkten der Netzhaut wer- den nicht dieselben P'asern des Sehnerven getroffen und die Reize werden gelrennt weiter geleitet. Damit sind die Bedingungen für das Sehen einer F'läche gegeben. Verbindet man alle Punkte des Betrachteten geradlinig mit ihren Abbildungen auf der Netzhaut eines Auges, den Bildpunkten, so erhält man dadurch die Richtungsstrahlen. Die Richtungsstrahlen schneiden sich im Knoten- punkt, der für jeden Akkomodaiionszustand des Auges ein fesler l'unkt ist. Der Gegenstands- punkt, dessen Bild im Mittelpunkt der Zentral- grube liegt, ist der Fixationspunkt. Sein Richtungsstrahl ist die Gesichlslinie. Die Ebene durch den Fixationspunkt senkrecht zur Gesichtslinie heißt Kern fläche. Zwei Punkte, die vom Auge aus gesehen hintereinander liegen. N. F. XVni. Nr. 9 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 123 Hegen auf einer Visierlinie. Die Visierlinien bestimmen die Richtung, in der wir das Netzhaut- bild nach außen verlegen. Fallen die Bildpunkte eines Gegenstandspunktes, der die Netzhäute bei- der Augen gleichzeitig reizt, auf disparate Punkte, so sieht man ihn doppelt, weil er an zwei verschiedenen Stellen des gemeinschaftlichen Sehfeldes erscheint. Phallen sie dagegen auf kor- respondierende Punkte, so wird der Gegen- standspunkt einfach gesehen und in die Kern- fläche verlegt. Trotzdem sind die Empfindungen, die durch Erregung korrespondierender Netzhaut- punkte hervorgebracht werden, nicht gleich, wie aus folgender Betrachtung hervorgeht. Fixieren wir einen .Punkt, so fallen seine Bildpunkte auf korrespondierende Punkte und er wird einfach in der Kernfläche gesehen. Liegt dagegen der Bild- punkt der rechten Netzhaut rechts von dem dem linken Auge korrespondierenden und der Bild- punkt der linken Netzhaut entsprechend umge- kehrt, so besteht gekreuzte Disparatheit der gereizten Netzhautstellen : der Punkt erscheint vor der Kernfläche. Liegen die Bildpunkte aber auf der rechten Netzhaut links von dem dem linken Auge korrespondierenden und links entsprechend umgekehrt, so besteht gleichseitige quere Disparatheit: der Punkt erscheint hinter der Kernfläche. Zu diesen bestimmten Urteilen können wir nur kommen, weil die Empfindungen des rechten und des linken Auges voneinander ver- schieden sind und nicht miteinander verwechselt werden. Man kann beim Sehen mit einem Auge allerdings auch die Entfernung zwischen zwei in einer Visierlinie liegenden Punkten an- nähernd auffassen, weil derjenige Punkt, auf dem das Auge nicht akkomniodiert ist, sich als Zer- streuungskreis vor oder hinter dem Punkte ab- bildet, auf den das Auge eingestellt ist. Unser Urteil über die Entfernung dieser Punkte ist aber im Vergleich zu dem , das wir beim Sehen mit zwei Augen bekommen, unvollkommen. Er- scheint uns ein Punkt doppelt, so stimmt subjek- tives und objektives Sehfeld nicht überein, wir sind aber mit Hilfe von Innervationen , die wir den Augenmuskeln zufließen lassen, imstande, diese Abweichungen zum Verschwinden zu bringen, eine räumlich einfache Vorstellung zu erlangen und so das subjektive Sehfeld mit dem objektiven zur Deckung zu bringen. Die beiden Augen sind selbständig arbeitende Werkzeuge; die Fähigkeit, ihre Empfindungen in eine zu verschmelzen, ist also seelischer Art. Betrachten wir binokular einen Kristall, so sind die geometrischen Bilder auf unseren Netz- häuten verschieden. Doch beschränkt sich der Unterschied nicht hierauf, wie aus folgender Be- trachtung hervorgeht. In Abb. 4 sei K ein Schnitt durch den Kristall in der Visierebene. Von der Lichtquelle Q falle ein Lichtstrahl auf den Punkt A der Fläche f. Er wird hier regelmäßig reflektiert und gelangt in das rechte Auge R. Bei einer bestimmten Stellung wird es vorkommen , daß unter diesen Umständen in das linke Auge L nur zerstreut reflektiertes Licht gelangt. Wie der Lichtstrahl 1 verhalten sich auch die anderen ihm parallelen, so daß das Bild der Kristallfläche im rechten Auge heller erscheint als im linken. Dieser binokulare Kontrast erweckt in uns, da die beiden Netzhautreizungen zueinander durch das Bewußtsein in Beziehung stehen, die Vorstellung des Glanzes für die Fläche. Abb. 4. Diese Fähigkeit, zwei verschiedene Bilder, un- serer Augen in eine Vorstellung zu vereinigen, untersucht man mittels stereoskopischer Versuche. Indem man den Augen künstlich verschiedene Bilder bietet, ist man damit imstande zu unter- suchen, in welcher Beziehung diese Bilder zuein- ander stehen müssen, damit Glanz entsteht. Betrachtet man im Stereoskop zwei Bilder, die uns die räumliche Gestalt des oben beschriebenen Kristalls hervorbringen, und macht man die in Rede stehende Fläche auf dem einen Bilde schwarz und auf dem anderen weiß, so erscheint sie uns in lebhaftem Glänze. Abgesehen von der Farbe können wir für unseren Zweck die Bilder der F"läche auf unseren Netzhäuten als geometrisch gleich betrachten. Es ist uns somit in der Er- fahrung häufig gegeben, daß geometrisch gleiche Bilder von verschiedener Farbe auf korre- spondierenden Netzhautpunkten der Augen auf- treten. Vermittels des Stereoskops werden dem- gemäß gleiche Flächen verschiedener Farbe zu einer Vorstellung vereinigt, auch ohne daß er- kennbar wird, was für einem Körper sie ange- hören. Um einen Überblick über die Bedingungen zu bekommen, die beim stereoskopischen Sehen Glanz erzeugen , legen wir folgende Versuchs- anordnung zugrunde (Abb. 5). Vor dem linken Auge befindet sich ein Silberspiegel g, der mit der Stirnfläche des Beobachters einen Winkel von 45" einschließt, so daß das Spiegelbild des un- durchsichtigen Schirmes e mit dem darauf befind- lichen Quadrate a bei m erscheint. In entsprechen- der Stellung befindet sich der Spiegel k vor dem rechten Auge. Die, Rückseiten von g und k 124 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVni. Nr. 9 schließen einen Winkel von 90" ein, so daß das Quadrat b auf dem Schirme c ebenfalls bei m gesehen wird. O 0 Abb. 5. Wir machen zunächst Beobachtungen, die denen beim monokularen Glanz vollkommen entsprechen. Nämlich, wenn wir beiden Augen subjektiv ähn- liche Farben bieten, so werden sie zu einer Mischfarbe vereinigt. Je verschiedener sie sind, desto stärker ist der Glanzeindruck, vorausgesetzt, daß sie durch Kontrast gleichmäßig gehoben werden. Wir erzeugen stereoskopisch auch Glanz bei all den Zusammenstellungen, bei denen wir ihn bei monokularer Betrachtung erhielten. Doch sind die Verhältnisse beim binokularen Glanz etwas verwickelter, weil beide Augen für sich arbeiten und ihre Empfindungen erst im Bewußtsein zu- einander in Beziehung treten. Schon beim mono- kularen Glanz hatten wir gefunden, daß infolge der Aufmerksamkeit, das eine oder andere Bild bevorzugt werden kann. Dies ist in noch stär- kerem Maße hier der Fall, wie uns der folgende Versuch zeigt. Man setzt an Stelle des linken Spiegels ein durchsichtiges blaues, an Stelle des O 0 rechten ein durchsichtiges rotes Glas (Abb. 6). Die seitlichen Schirme werden mit Mustern belegt, die nicht leicht verwechselt werden können, und zwar werde auf e ein mit Buchstaben bedrucktes Papier, auf c eine Zahlentabelle befestigt. Die Spiegelbilder werden wiederum bei m gesehen, wo ein stark beleuchteter weißer Schirm aufge- stellt ist. Die Beleuchtung sei so geregelt, daß die Buchstaben und Zahlen auf m gerade noch sichtbar sind. Achtet man auf die Buchstaben, so erscheint das gemeinsame Gesichtsfeld blau, achtet man auf die Zahlen, so erscheint es rot. Dies tritt deshalb ein, weil man nicht imstande ist , die Bilder beider Augen im Bewußtsein zu einem Eindruck zu vereinigen. Wenn man aber nicht die Aufmerksamkeit dem einen oder ande- ren Bilde angespannt zuwendet, so entsteht eine eigentümliche Unruhe des Eindrucks, indem das gemeinsame Gesichtsfeld abwechselnd von Teilen des einen oder anderen Sehfeldes eingenommen wird. Diese Erscheinung bezeichnet man als Wettstreit der Sehfelder. Diesen Wettstreit beobachten wir auch, wenn wir den Augen kon- trastierende Farben bieten, die miteinander Glanz geben können und wenn die Verschmelzung im Bewußtsein zu einem Eindruck nicht durch stereo- skopische Zeichnungen erleichtert wird. Der Glanz wird in den meisten Fällen nicht sofort eintreten , sondern es wird einmal die eine , das anderemal die andere Farbe sich hervordrängen. In diesen Augenblicken ist von Glanz nichts zu sehen, er tritt jedoch in den Übergängen auf, in denen beide Farben zu gleicher Zeit sichtbar sind. .\bb. 7 a. Abb. 7 b. Abb. 7 c. Abb. 6^ Der Wettstreit bleibt bei nicht zu vereinigenden Bildern fortwährend bestehen, wenn keiner der monokularen Eindrücke durch Kontrast bevorzugt ist. Begünstigen wir aber das eine Quadrat durch Kontrast mit seinem Untergrund, so überwiegt es zu sehr und unterdrückt das andere. Auch durch scharfe Zeichnungen in dem einen Quadrate können wir dieses derart bevorzugen, daß es das andere ganz aus der Vorstellung verdrängt. A und B der Abb. 7 geben auf grauem Grunde miteinander lebhaften Glanz. A' verdrängt da- gegen B völlig, wenn es mit ihm stereoskopisch zusammengestellt wird. Man sagt: A' wird durch Prävalenz derKonturen vor B ausgezeichnet. In welcher Weise die Konturen wirken, er- kennt man aus der stereoskopischen Vereinigung von den zwei senkrecht zueinander stehenden schwarzen Streifen der Abb. 8. Die weißen kleinen Kreuze in ihren Mitten N. F. XVIII. Nr. 9 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 125 dienen als Fixationspunkte. Das entstehende Bild ist ein Kreuz auf weißem Grunde, weil hier Weiß und Weiß sich decken. Die Mitte des Kreuzes ist schwarz, weil hier Schwarz und Schwarz sich decken. In den vier Schenkeln deckt sich jedesmal Schwarz und Weiß. Sie erscheinen aber nicht gleichmäßig gefärbt, sondern sie sind an den Enden fast schwarz und dort, wo sie an das schwarze Quadrat anstoßen, fast weiß. Dazwischen be- finden sich Übergänge zwischen Schwarz und Weiß in unruhigem bildlich nicht darstellbarem Wechsel. An den Enden jedes Streifens kommt das Weiß des anderen Gesichtsfeldes nicht zu Geltung. Nahe der Mitte jedes Streifens laufen die Grenzlinien Wettstreit ein und zwar wird immer dasjenige Bild bevorzugt, dessen Konturen die Blickbe- wegungen absichtlich oder unabsichtlich folgen. Durch unsere Versuche haben wir erkannt, daß Glanz, Durchsichtigkeit, Spiegelung und Wett- streit unter ähnlichen Bedingungen entstehen, also verwandte Erscheinungen darstellen. Welche psy- chischen Gesetze sind es nun, die veranlassen, daß diese oder jene Erscheinung von uns erlebt wird? Um diese Frage zu beantworten, gehen wir wieder von unserem Kristall aus. Aus der Er- fahrung ist uns bekannt, daß er Undurchdringlich- keit, Ausdehnung und Gewicht besitzt. Wir Abb. 8 a. D Abb. 9. Abb. 8 b. Abb. Sc. des anderen hin und längs ihres Verlaufs wird das Weiß des anderen Feldes gesehen. Der eine Streifen wird durch den anderen hindurchgesehen, doch ist keiner vor dem anderen bevorzugt, so- daß es unentschieden bleibt, welcher vorn liegt. Die Konturen und die ihnen unmittelbar an- grenzenden Teile verdrängen also die entsprechen- den konturlosen Teile des anderen Bildes. Da die Konturen in A' der Abb. 7 hinreichend zahl- reich sind, so ist es jetzt verständlieh, daß die kleinen Quadrate in Ä' völlig sichtbar werden, B also vollkommen verdrängt wird. Haben beide Abb. ungleiche aber gleich starke hervortretende Konturen, wie in Abb. 9, so be- obachten wir folgende Bilder. Bringen wir A und B zur Deckung, so drängen sich beide Konturen gleichzeitig zur Wahrnehmung. Wir sehen also ein Doppelkreuz (C). Sobald wir aber die senkrechten Linien mehr beachten, was geschieht, indem wir mit dem Blick daran entlang fahren, verschwindet zwischen ihnen die wage- rechte Strecke, wir sehen D. Verfolgen wir das wagerechte Linienpaar, so verschwindet zwischen ihnen die senkrechte Strecke, wir sehen E. Es tritt neben der völligen Vermischung also auch kennen ihn also als Körper. Durch Betasten ist uns bekannt, daß seine Flächen, die bald dem einen Auge hell und zu gleicher Zeit dem anderen dunkel, bald umgekehrt und bald in ihrer eigent- lichen Farbe erscheinen, glatt sind. Zwischen diesen häufig gemachten Eindrücken haben sich Assoziationen gebildet. An anderen Körpern, die glänzen, haben wir ähnliche Beobachtungen ge- macht. Durch jede neue Wiederholung sind die Assoziationen fester geworden. Werden nun unseren Augen künstlich Bilder geboten, wie sie an Körpern mit glatten Oberflächen vorkommen, so werden wir uns der Verschiedenheit der Bilder gar nicht mehr bewußt. Die beiden Bilder werden vielmehr als sinnliche Zeichen eines äußeren Gegen- standes betrachtet und unsere Aufmerksamkeit wendet sich sogleich seiner Wahrnehmung zu. Die Gewohnheit bewirkt, daß im entwickelten Seelenleben in der Regel dasjenige als zusammen- gehörig aufgefaßt wird, was wirklich dem Natur- lauf gemäß zusammengehört. Obgleich wir bei unseren steroskopischen Versuchen wissen, daß wir unter ganz ungewöhnlichen Bedingungen be- obachten, so werden doch nach dem Gesetz der Vorstellungsassoziation mit einem Teil zusammen- gehöriger Empfindungen auch die anderen Sinnesempfindungen, hier also mit den verschieden hellen Bildern auch die Vorstellung einer glänzen- den oder durchsichtigen körperlichen Fläche, her- vorgerufen. 126 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 9 Wird aber den Augen künstlich eine Zusam- menstellung zweier Bilder geboten, die bei der Betrachtung eines Objekts in der Natur nie be- obachtet worden ist, so mißlingt die Vereinigung zu einer einfachen Vorstellung. Wegen der Enge des Bewußtseins können beide Eindrücke nicht zu gleicher Zeit wahrgenommen werden. Es kommt deshalb zu dem Wettstreit der Sehfelder, in dem beide Eindrücke mit einander kämpfen. Eine ein- fache Vorstellung zu bekommen gelingt nur, wenn man die Aufmerksamkeit durch Kontrast oder scharfe Konturen künstlich dem einen Bilde zu- wendet. Zu einer weiteren Erklärung müßten wir über das Bewußtsein und die Aufmerksamkeit näher unterrichtet sein. Da diese Wissenschaft zur Zeit noch nicht in das innere Wesen dieser seelischen Vorgänge eingedrungen ist, müssen wir uns vor- läufig mit den oben gefundenen Gesetzen be- gnügen. Wir haben Durchsichtigkeit, Spiegelung und Glanz als verwandt erkannt. Um das Wesen des Glanzes vom psychologischen Standpunkte aus zu erörtern, müssen wir uns deshalb über die uns zum Bewußtsein kommenden Unterschiede klar werden, welche den Glanz vor den anderen Farben- erscheinungen auszeichnen. Der naive Mensch benutzt die Farben als Kennzeichen zum Wieder- erkennen der Dinge, hält die Farbe also für eine unveränderliche objektive Eigenschaft eines Körpers. Jedoch ist dieser Standpunkt nicht berechtigt, wie wir zeigen werden. Wir haben schon erwähnt, daß die unmittel- bare Gesichtsempfindung des einzelnen Auges ein flächenhaftes Nebeneinander von Farben ver- schiedener Helligkeit und verschiedener Beschaffen- heit (rot, blau, grün usw.) ist. Eine Farbe kann ferner in unserem Bewußtsein, also subjektiv, ver- schieden angeordnet und den Raum verschieden erfüllend erscheinen. Man unterscheidet in diesem Sinne in rein psychologischer Hinsicht als Typen primärer Erscheinungsweisen : Flächenfarben, Ober- flächenfarben (nicht zu verwechseln mit den Ober- flächenfarben in physikalischem Sinne), durch- sichtige Flächenfarben und Raumfarben. Es gibt keine Farbe, die sich nicht durch einen dieser Typen oder durch Übergänge zwischen diesen darstellen ließe. Durch das Okular eines Spektralapparates er- blickt man zarte Farben von einem lockeren Ge- füge. Ohne daß sie raumhaft erscheinen, meint man mit dem Blick verschieden tief in sie ein- dringen zu können. Sie erscheinen dadurch in unbestimmter, aber nicht schwankender Entfernung. Sie schließen den Raum nach hinten ab und sind immer flächenhaft senkrecht zur Blickrichtung des Beobachters angeordnet. Man nennt deshalb Farben, die man in dieser Art erlebt, Flächen- farben. Der Farbeneindruck, der von der Oberfläche eines Körpers ausgeht, ist bestimmter. Die Farbe besitzt einen straffen Zusammenhang und liegt immer in der genannten Oberfläche, so daß sie sämtliche Krümmungen und Richtungsänderungen ihres Trägers mitmacht. Sie ist also nicht an eine Fläche senkrecht zur Blickrichtung gebunden. Sie zeigt ein bestimmtes Gefüge und wirkt kräf- tiger als eine Flächenfarbe. Eine solche Erschei- nung wird Ober flächen färbe genannt. Betrachtet man binokular durch eine gefärbte Glasplatte einen dahinter liegenden Gegenstand, so sieht man durch die Farbe des Glases seine Oberflächenfarben hindurch, die dadurch beein- flußt werden. Die Farbe des Glases erscheint ungefähr in der Glasebene flächenhaft angeordnet. Sie schließt den Hintergrund nicht ab. Flächen- farben verschmelzen mit ihr zu einem unauflös- baren Eindruck. Solche Farben bezeichnet man als durchsichtige Flächen färben. Eine durchsichtige farbige Flüssigkeit in einem Glasgefäß erscheint einen bestimmten dreidimen- sionalen Raum erfüllend, was besonders deutlich hervortritt, wenn man mit beiden Augen Gegen- stände durch diese Flüssigkeit hindurchsieht. Eine solche Farbe nennt man Raumfarbe. Genannte Erscheinungsweisen der Farben sind nun nicht etwa an die soeben aufgeführten jedes- maligen Versuchsbedingungen geknüpft, sondern es kann eine Farbe derselben Herkunft je nach der äußerlich oder innerlich herbeigeführten Ein- stellung des Beobachters in dieser oder jener Er- scheinungsweise und in Übergängen zwischen ihnen erlebt werden. Das geht aus folgendem hervor. Die meisten farbigen Gegenstände aus Holz, Papier, Stein, Tuch reflektieren mit ihrer matten Oberfläche das Licht zerstreut und zeigen uns Oberflächenfarben. Für die Wahrnehmung dieser Oberflächenfarben ist das Bewußtsein des Beob- achters, einen Körper vor sich zu haben, be- stimmend. Heben wir die Bedingungen, durch die der Eindruck des Körperlichen hervorgebracht wird, mehr oder weniger auf, so gelingt es die- selben Farben mehr oder weniger als Flächen- farben zu sehen. Das kann geschehen durch monokulare Betrachtung, denn der Eindruck des Körperlichen ist ja im wesentlichen ein Ergebnis des binokularen Sehens. Stärker wirkt unscharfe Akkommodation, die die Gegenstände nur in Zer- .streuungskreisen erkennen läßt. Man erreicht sie, indem man durch eine zu starke Glaslinse sieht, der sich das Auge nicht anpassen kann. Am leichtesten erscheint aber ein beliebig gerichtetes Stück der Körperoberfläche als ausgesprochene Flächenfarbe, wenn infolge der Betrachtung durch einen gelochten Schirm beliebige Rich- tung und Gefüge der Farbe völlig verschwinden. Der blaue Himmel erscheint durch einen ge- lochten Schirm als Flächenfarbe, ebenso, wenn man auf einer freien Wiese liegend den Blick nach oben richtet, in diesem Falle nur ausge- dehnter. Ohne diese Vorkehrungen haben wir vom Himmel den Eindruck eines Gewölbes und demgemäß erscheint er dann mehr eine Ober- N. F. XVIII. Nr. 9 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 127 flächenfarbe zu besitzen. Da wir bei Rauch und Dampfwolken Körper vor uns zu haben glauben, zeigen uns diese Oberflächenfarben. Betrachten wir den Himmel durch eine Gela- tineplatte, so erscheint uns eine Flächenfarbe ge- mischter Tönung, die je nach Anpassung des Auges entweder in die Gelatineebene oder etwas vor die Ebene der Himmelsfarbe verlegt wird. Die- selbe Verschmelzung einer durchsichtigen Flächen- farbe tritt ein, wenn man einer damit zu kom- binierenden Oberflächenfarbe vermittels des ge- lochten Schirmes, wie oben geschildert, das Ge- präge einer Flächenfarbe gibt. Außer durch gefärbte Gelatine- oder Glas- platten entsteht der Eindruck von durchsichtigen Farben, wenn man auf rotierende tonfreie oder bunte Scheiben blickt, aus denen ein Sektor aus- geschnitten ist. Ebenso wenn man eine bestimmte Stelle eines bedruckten Fapieres bmokular fixiert und vor einem Auge in mittlerer Entfernung beliebig gefärbte Pappe ruhig hält oder hin- und herbewegt. Die Farbe ihrer Oberfläche erscheint als durchsichtige Flächenfarbe, durch die hindurch man die Schrift erblickt. Oberflächenfarben können also auch den Eindruck durchsichtiger Flächen- farben hervorbringen. Mit stärker werdender Dämmerung scheint sich das Zimmer mit einem Grau vom Gepräge einer Raumfarbe anzufüllen. Schwacher Nebel erscheint uns auch als weißliche Raumfarbe. Mit zunehmen- der Dichte geht dieser Eindruck mehr in den einer Flächenfarbe über. Endlich ist die schwache Trübung der Luft unserer Gegenden durch Wasser- tröpfchen, welche die Luftperspektive bedingt, eine Raumfarbe. Durchsichtigkeit, Spiegelung und Glanz sind durch ungleiche Zusammenstellungen der soeben ausführlich erörterten subjektiven pri- mären Erscheinungsweisen der Farben unter- schieden. Wir hatten festgestellt, daß bei der Spiegelung das Spiegelbild stets hinter die spiegelnde Fläche verlegt wird. Die spiegelnde Fläche erweckt dabei den Eindruck einer durch- sichtigen Flächenfarbe von sehr gleich- mäßigem Gefüge, hinter der man die gespiegelten Oberflächenfarben eines Gegenstandes nur im Farbton etwas beeinflußt sieht. Die Einbuße an Lichtintensität, die jede Spiegelung infolge des Energieverlustes begleitet, spielt keine wesentliche Rolle. Ist die spiegelnde Fläche, wie bei Silber- spiegeln farblos, so wird sie selbst nicht bemerkt und die gespiegelten Farberscheinungen sind un- verändert, nur gemäß den Gesetzen der regel- mäßigen Reflektion aus ihrer ursprünglichen Stellung abgelenkt. Wir hatten gefunden, daß undeutliche Spiegelung als Glanz wahrgenommen wird. Dabei erscheint die glänzende Fläche als Oberflächenfarbe und das undeutlich gespiegelte Licht hellerer Stellen der Umgebung liegt auf oder vor dieser Fläche als G 1 a n z 1 i c h t. Das Glanzlicht besitzt das Gepräge einer Flächenfarbe. Bei den primären Erscheinungs- weisen der Farben erwähnten wir schon, daß diese nichts objektiv Festes sind. Der Glanz als zusammen- gesetzte Erscheinung dieser Art ist deshalb ebenfalls von Umständen abhängig, die subjektiv verändernd auf ihn wirken. Für den Glanzeindruck ist das Nebeneinander von Oberflächen- und Flächen- farbe wesentlich. Denn es ist nicht möglich, die Farberscheinung des Glanzlichtes losgelöst von seiner Umgebung darzustellen, weil eine Flächen- farbe für sich betrachtet im besten Falle nur leuchtend gesehen werden kann. Ebenso er- scheint das Glanzlicht durch einen gelochten Schirm betrachtet günstigenfalls als leuchtende Flächenfarbe. Der Glanzeindruck ist um so lebhafter, je größer der relative Helligkeits- unterschied zwischen Glanzlicht und seinem LIntergrunde ist. Denn, wie die Beobachtung lehrt, sind glänzende Stellen häufig dunkler als das raine Weiß und mittels eines Episkotisters kann man die von einem glänzenden Gegenstand ausgehende Lichtmenge auf ein Hundertstel ver- mindern ohne den Glanz aufzuheben. Bei monokularer kritischer Betrachtung gelingt es fast stets die glänzenden Stellen als Ober- flächenfarben in der Oberfläche des glänzenden Gegenstandes zu sehen. Ein Daguerre'sches Lichtbild spiegelt so gut, daß man es als Spiegel benutzen kann. Da man aber das Bild zu be- trachten wünscht, so erscheint einem das Spiegel- vermögen nur als starker Glanz. Ob wir einem Körper spiegelnde, glänzende oder matte Ober- flächen zuschreiben, ist also durchaus ein subjek- tives Urteil, das wir fällen. Um die einzelnen Arten des Glanzes zu betrachten, ist es zweckmäßig, von den physi- kalischen Eigenschaften auszugehen, die den Glanz bedingen. Wie wir gefunden haben, muß eine Fläche, um zu glänzen, Licht regelmäßig reflek- tieren können. Je glatter sie ist, um so mehr ist sie dazu geeignet. Ferner ist von Einfluß, an was für einem Stoff die Fläche sich befindet. Es ist ein physikalisches Gesetz, daß ein Stoff diejenigen Lichtstrahlen am meisten reflektiert, die er am meisten absorbiert. In der Tat besitzen die Me- talle, die am stärksten absorbieren, auch den stärksten Glanz. Die Absorption des Glimmers ist gering, steigert man sie jedoch, indem man ihn aufblättert, so kann man seinen Glanz beliebig bis zum Metallglanz steigern. Der Glanz, den ein Körper zeigt, ist also von der Absorption ab- hängig. Diese physikalische Eigenschaft kann dem Stoffe als solchem angehören oder durch sein Gefüge bedingt sein. Ähnlich wie mit der Absorption verhält es sich auch mit den anderen physikalischen Eigenschaften. Der Glanz ist also, ehe subjektive Einflüsse in Frage kom- men, eine Funktion physikalischer Eigenschaften, die aber nicht auf bestimmte Stoffe beschränkt zu sein brauchen. Nach der Glätte der Ober- fläche und der Absorption kommen in Betracht Beleuchtung, Gefüge der Oberfläche, inneres Gefüge, Größe der Brechungsindizes, Dispersion 128 Naturwissenschaftliche Wochenschrift N. F. XVni. Nr. 9 und Medium, in dem sich die Fläche befindet. An] die Absorption reihen sich Fluoreszenz, Phos- phoreszenz und Lumineszenz. Diese physikalischen Bedingungen bringen also die verschiedenen Arten des Glanzes hervor. Man unterscheidet folgende Hauptarten: Meiallglanz, Diamantglanz, Glasglanz, Feti glänz, Seidenglanz, Graphitglanz, Glanz polierter Holzflächen, Glanz bewegter Wasseroberflächen. Das Eigentümliche des stärksten Glanzes, des Metallglanzes, möge hier beschrieben werden. Manche Forscher haben die Buntfarbigkeit als wesentlich für ihn gehalten. Da auch farblose Metalle Metallglanz besitzen, so ist das nicht richtig. Vielmehr ist für ihn der bezügliche Hellig- keitsunterschied zwischen Glanzlicht und Umgebung von den bekannten der stärkste. Das Glanzlicht besitzt eine gewisse Dicke und ist gleichförmiger als bei anderen Glanzarten. Die Oberflächenfarbe der Umgebung scheint sich unterhalb der Oberfläche zu befinden. Es darf nicht unerwähnt bleiben, daß auch der stärkste Metallglanz beim Betrachten durch einen ge- lochten Schirm verschwindet. Den anderen Glanzarten ist dementsprechend ein bestimmter bezüglicher Helligkeitsunterschied zwi- schen Glanzlicht und Umgebung eigentümlich. Von den oben erwähnten physikalischen Eigenschaften sei besonders das Gefüge hervorgehoben, das durch Interferenz an dünnen Blättchen oder Beugung eigenartige Farbwandel hervorrufen kann. All die verschiedenen jeweiligen Eigenschaften erwecken somit in uns gewisse Zusammenstellungen von Farberscheinungen, die wir als eine bestimmte Art des Glanzes bezeichnen. Benutztes Schrifttum: H, W. Dove, Darstellung der Farbenlehre und optische Studien. Berlin 1853. W. Wundt, Beiträge zur Theorie der Sinneswahrneh- mung. Leipzig 1S62. W. Wundt, Grundzüge der physiologischen Psychologie. Leipzig 1887. H. von Helmholtz, Handbuch der physiologischen Optik, 3. Auflage. Hamburg, Leipzig 1910. D. Katz, Die Erscheinungsweisen der Farben und ihre Beeinflussung durch die individuelle Erfahrung. Leipzig 191 1. Die andere in Betracht liommende Literatur konnte nicht beschaflt werden und blieb deshalb unberücksichtigt. Anregungen und Antworten. Chamisso und die Grippe. Das ungewohnte, überaus heftige Auftreten der Grippe im Herbst und Winter 1918/19 hat vielfach zu dem Glauben verleitet, es bandele sich um eine ganz neue Krankheit. Und doch findet man in Büchern und Briefen aus früherer Zeit hier und da die Grippe erwähnt. Auch der Dichter und Naturforscher Adelbert von Chamisso litt mehrfach unter einer Influenza- oder grippe- artigen Krankheit. Schon im Winter iSi 8/ 19, also gerade vor 100 Jahren, klagte er, daß er jeden Herbst den ,, Schnupfen" bekäme, so sehr er sich auch mit dem Ausgehen in Acht nähme. Als dann nach der Cholera im Jahre 183 1 in Berlin eine Krankheit auftrat, die man die „Grippe" nannte, wurde auch Chamisso davon betallen. In einem Aufsatze von Möbius, „Chamisso als Botaniker" in den Beiheften zum Botanischen Zentralblatt werden einige bisher unveröffentlichte Briefe aus dem Nachlasse des Botanikers Kraus in Halle abgedruckt, die Chamisso im Jahre 1S33 an seinen Freund, den Botaniker Schlechtendahl in Halle geschrieben hat. Es heißt darin: ,,Seit wir uns gesehen haben, hat mich die Grippe wieder gehabt, entkräftet und halb blödsinnig gemachi, noch komme ich nicht auf. Nichtsdestoweniger habe ich mich immer nach Schöneberg geschleppt." Chamisso bekleidete damals eine Kustosstelle am Berliner Botanischen Museum, das sich in dem Alten Botanischen Garten in Schöneberg in der Potsdamer Straße am jetzigen Bahnhof Großgörschenstraße befand. Er wohnte in Berlin und ging jeden Tag bei jedem Wetter den weiten Weg zu Fuß zum Potsdamer Tore hinaus nach Schöneberg. Wie er selbst in dem erwähnten Briefe zugibt, schonte er sich in keiner Weise und legte damit wohl den Grund zu seinem langsamen Hinsiechen in den nächsten Jahren und zu seinem bald darauf, im Jahre 1838 erfolgten Tode. Dr. W. Herter. Druckfehlerberichtigung. Während ich von der Post abgeschnitien und somit am Lesen der Korrekturen verhindert war, sind Druckfehler in meinen Beiträgen stehen geblieben. Ich verbessere im folgenden die wichtigsten. Im Beitrag „Brockengespenst", Nr. 49, 1918, S. 701 b Zeile 16 von unten lies Nebelwolken statt Nebelwellen. Im Beitrag „Triel", Nr. 50, S. 720a, Zeile 23 von unten lies heiseres statt leiseres, Zeile 13 von unten leiser statt kleiner, Seite 720 b Zeile 3 von oben Tüte statt Tütig, Zeile 5 von oben Schnärrdrossel statt Schnürrdrossel. Im Beitrag „Vererbungsstudien an Mäusen", Nr. 51, Seite 729 a, Zeile 15 von oben lies Fehlen statt Fehler, Seite 729b Zeile 18 von oben Schwächung statt schwächere, Zeile 20 von unten Y'yBBEe statt Y'yBBBe, Seite 73°^ Zeile 9/10 durch einen statt mit einem, Seite 730 Zeile 22 bis 24: der Satz von ,,wenn" ab ist zu streichen. Im Beitrag „Hallstätter See", Nr. 51, Seite 731a, Zeile 23 von oben lies Potamogetonetum statt Polamogeto- netum, Zeile 6 von unten lies Tanytarsus statt Tanylarsus, Seite 731b Zeile 1 von oben lies Steinmann statt S k i n m a n n , Zeile 29 von oben coregoni statt corezoni. Zeile 14 von unten lies Atlersees statt Attersus. Im Beitrag ,, Symmetrie des Wirbeltierauges", Nr. 2, 1919, Seite 27 b, Zeile 21 von oben lies Innenstückes statt Innenblockes, Seite 28 b, Zeile 16 von oben ophthalmica statt oph- thalmina, Zeile 23 von unten richtig statt wirklich. V. Franz. Literatur. Moewes, Dr. F., Die Mistel. Berlin 1918, Gebr.' Born- träger. Prochnow, Dr. O., Wissen oder Können. Gedanken eines Schulmannes über die Aufgaben der höheren Schulen in Deutschland. Mannheim-Leipzig 1919, F. Nemnich. IuIihK: Menz, Der Glanz vom psychologischen Standpunkte aus betrachtet. (9 Abb.) S. 121. — Anregungen und Ant- worten: Chamisso und die Grippe. S. 128. Drucklehlerbcrichtigung. S. 128. — Literatur: Liste. S. 128. Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. M i e h e , Berlin N 4, Invalidenstrafie 42, erbeten. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue Folge i8 Band; der ganzen Reihe ^4. Band. Sonntag, den g. März igig. Nummer 10. Die morphologische Gliederung des Wasserleitungssystems der höheren Pflanzen in ihrer Beziehung zur Physiologie der Wasserversorgung. [Nachdruck verboten.] Von Dr. August Rippel. Mit 6 Abbildungen. Der Leitbündelverlauf in den Vegetations; Organen der höheren Pflanzen bildet den morpho- logischen Ausdruck der Wasserversorgung der- selben. Allerdings können wir nicht von einer rein anatomischen Betrachtung ausgehen, wenn wir uns über die Physiologie der Wasserleitung und Wasserversorgung unterrichten wollen. Es ist das schon aus dem Grunde nicht möglich, weil die morphologische Mannigfaltigkeit in Bau und Verlauf der Leitungsbahnen von einer Anzahl weiterer Faktoren mitbestimmt wird, vor allem von mechanischen Anforderungen, wie sie in den nach dem Prinzip der Biegungsfestigkeit gebauten Achsen und Blattstielen verwirklicht sind, dem embryonalen Bau der als Gelenke fungierenden und durch Änderungen des Turgordrucks Be- wegungen auslösenden Blattstielbasis, dem Spreiten- nervenverlauf usw. sich äußern. Dann können auch onto- und phylogenetische Ursachen in Frage kommen; letzteres dürfte z.B. überall da der Fall sein, wo es sich um unvollkommene Ausbildung der Verbindungsbahnen handelt, eine Tatsache, die sicher stammesgeschichtlich begründet ist. Man braucht in dieser Hinsicht nur an die Monocotyl- edonen zu denken mit ihren meist völlig isoliert nebeneinander verlaufenden Leitungsbahnen, die meist nur durch ganz schwache Verbindungen in Wechselwirkung miteinander treten können. Wir finden so eine derart mannigfaltige Aus- bildung des morphologischen Charakters der Leitungsbahnen, daß es schwer ist, eine nur eini- germaßen einheitliche Auffassung auf anatomi- schem Wege zu gewinnen. Es hat sich in der Tat auch gezeigt, daß das nicht durchführbar ist. Es kann also nur die physiologische Untersuchung aus der Fülle der morphologischen Verschieden- heiten das für unsere Betrachtung der Wasser- leitung und Wasserversorgung der Pflanze einheit- liche physiologische Prinzip im Leitbündelbau und -verlauf herausfinden. Von diesem Gesichtspunkt aus sollen die Ergebnisse einiger neuerer Arbeiten zusammenfassend hier dargestellt werden, die wohl teilweise prinzipiell nicht viel neues bieten, aber doch geeignet sind, die Wasserversorgung der höheren Pflanzen im einzelnen näher zu erläutern. Bei unserer Betrachtung gehen wir von den Elementarorganen der Wasserleitung aus, aus denen sich die Leitbündel der Pflanze zusammensetzen, den Tracheen, welchen Ausdruck wir als den Sammelbegriff aller wasserleitendeu Elemente ge- brauchen. Sie gliedern sich in Gefäß und Tracheide n. In extremer Ausbildung bildet das Gefäß eine oft sehr lange Reihe von über- einander stehenden Zellen, mit resorbierten Scheide- wänden, also mit offener Kommunikation. Weniggliedrige Gefäße, schließlich solche, die aus nur 2 ehemaligen Zellen bestehen, führen zum anderen Elementarorgan, der Tracheide, die also einzellig und mit ringsum geschlossenen Mem- branen versehen ist; dem Stoffaustausch auch in der Längsrichtung dienen hier die durch dünne Membranen verschlossenen Tüpfel. Die physiolo- gische Wirkung dieser geschilderten anatomischen Verhältnisse wird uns später noch eingeheuder beschäftigen. Es hat sich nun gezeigt, daß diese Elementar- elemente nicht regellos auftreten, sondern, wenig- stens in ihrem typischsten Auftreten, bestimmte topographische Lagerung zeigen, die mit ihrer zeitlichen Entwicklung ungefähr zusammenfallen dürfte. Es steht dies im Einklang mit ihrer Auf- gabe, ganz besondere Funktionen zu erfüllen. Die offenen Gefäße dienen der Wasser- leitung auf größere Strecken, sie bilden die größere Masse der primär gebildeten Leitungsbahnen. Es ist dabei darauf aufmerksam zu machen, daß die bisherigen Messungen über die Länge von offenen Gefäßen an sekundär verdickten Achsen, also an solchen Organen durchgeführt wurden, die sich ohne weiteres als für die Wasserleitung über größere Strecken bestimmt erweisen. Daß sich weiterhin gerade Schlingpflanzen durch be- sonders lange Gefäße auszeichnen, ist danach leicht verständlich; sie kann ja bei Lianen bis zu 5 m betragen, sonst im allgemeinen im Durchschnitt etwa lO cm. Eine solche Länge ist natürlich in anderen Organen, wie z. B. in Laubblättern, nicht möglich ; doch konnte auch bei diesen festgestellt werden, daß eine bestimmte Anzahl offener Ge- fäße vom Blattstiel in die Spreite hineinführt (siehe weiter unten); es sind das also, wie in Übereinstimmung mit den weiter unten angeführ- ten Ergebnissen noch näher zu zeigen sein wird, diejenigen Elemente, die in diesen Organen dem Wassertransport über weitere Strecken dienen. Mit den Anforderungen an lokalen Wasser- verkehr (Austausch zwischen benachbarten Bahnen) treten dann Tracheiden bzw. auch weniggliederige Gefäße auf, die die Hauptmenge der sekundär entstandenen wasserleitenden Elemente bilden. Solche Stellen lokalen Wasserverkehrs sind vor allem die Nerven der Blattspreite bzw. die in ihnen 13° Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. lo verlaufenden wasserleitenden Elemente, die die unmittelbare Abgabe von Wasser an das assimi- lierende Gewebe besorgen, und die sich dement- sprechend ohne weiteres als zu diesem Zweck passend eingerichtet erweisen müssen. Bekannt- lich bestehen auch die wasserleitenden Elemente der Blattnerven, soweit sie für den lokalen Wasserverkehr in Betracht kommen, fast aus- schließlich aus Tracheiden. Ein zweiter Ort, an dem Tracheiden ihre lokale Funktion des Wasserausgleiches ausüben, sind die Bündelverbindungen. Wir können hier eine An- zahl solcher Verbindungen je nach ihrer topo- graphischen Lage unterscheiden, worüber folgende Übersicht Auskunft gibt: andere ehiwandern kann, um dort zu verbleiben; es steht aber mit den Elementen dieser nicht in offener Verbindung, sondern bleibt selbständig. Es ist das eine Verzweigung, die wie wir sehen werden, ebenfalls häufig anzutreffen ist. Sie nimmt gewissermaßen eine Mittelstellung ein zwischen dem geradlinigen Verlauf der offenen Gefäße und der seitlichen Verbindung derselben durch Trache- iden. Dieser Fall der Tracheenplatten ist natür- lich herausgegriffen. Auch in anderer Anordnung stehen die Gefäße der Leitbündel durch solche Bündelbrücken miteinander in Verbindung. 2. Die Verbindungsbahnen zwischen den ein- zelnen Leitbündeln können in geringer Zahl und regellos angeordnet vorhanden sein: als Beispiel Wasserversorgung auf größere Strecken I lange (offene) Gefäße im lokalen Verkehr Tracheiden, weniggliedrige Gefäße zwischen den Gefäßen im einzelnen Leilbündel zwischen verschiedenen Leitbündeln zwischen verschiedenen Wasserleitungssyslemen z. B. zwischen Achse und Blatt. I. Die Verbindungsbahnen zwischen den Ge- fäßen im einzelnen Leitbündel hat Gerresheim an Mikrotomserienschnitten untersucht und be- schrieben. Ein Leitbündel kann z. B. bestehen aus Tracheenplatten (körperlich gesprochen), bei denen im Querschnitt die Gefäße reihenweise übereinander stehen. Zwischen diesen Platten nun stellen einzelne Tracheiden oder weniggliederige Gefäße eine seitliche Kommunikation her. Offen sind diese Wasserbahnen also nur in der Längs- richtung, nicht in ihrer seitlichen Verbindung, die durch die Tüpfelschließhäute unterbrochen ist. a b Abb. I (nach Gerreshei m). Abb. 1 erläutert bei a das Gesagte am besten. Bei b ist ein anderer Fall eingezeichnet, der in- sofern etwas anders liegt, als sich ein ganzes Ge- fäß aus der einen Platte herauslösen und in die sei genannt der Blattstiel von Plantage, von Ranunculaceen u.a. In ihrer typichsten Aus- bildung jedoch beschränken sie sich auf bestimmte Stellen : es sind das die Knoten in den Achsen, der Blattgrund (die Blattstielbasis) und die Spreiten- basis. Hier treten dann die verbindenden Trache- iden in erheblicher Menge auf und keilen sich all- mählich nach unten und nach oben zu aus, eine Tatsache, die sich deutlich in einer erheblichen Zunahme der wasserleitenden Elemente an diesen Stellen äußert; folgende Übersicht zeigt das deut- lich an einem Beispiel von Bryonia divica; man sieht bei Blatt i, wie die Anzahl der Tracheen im Blattstiel in der Mitte am geringsten ist und nach der Spreitenbasis und dem Blattgrund (Stielbasis) zunimmt, d. h. den beiden Stellen, an denen bei dieser Pflanze die Bündelverbindungen lokalisiert sind. Blatt 2 (ein anderes Blatt) zeigt dann, daß vom Blattgrund in die Achse die An- zahl der Tracheen wieder erheblich sinkt, noch mehr als nach der Mitte des Blattstiels hin. Die Austeilung der hier auftretenden Verbindungs- bahnen ist also deutlich zu erkennen. Ahnliches konnte für zahlreiche andere Pflanzen festgestellt werden. In beiden Fällen aber, dem regellosen Verlauf der Verbindungsbahnen und der Lokalisation auf bestimmte Stellen, handelt es sich nicht nur um das Auftreten von Verbindungsbahnen, sondern es treten öfters Verzweigungen ein, nach Art der Abb. I b, wobei es zu eigenartigen Durch- kreuzungen verschiedener Bündelteile kommt, wie an dem Beispiel von Alchemilla noch näher gezeigt werden wird. 3. Die Verbindungen zwischen Wasserleitungs- systemen verschiedener Organe sind nicht immer derartig gut ausgeprägt. Hierher gehört z. B. der Anschluß des Blattstielsystems an das der Achse, N. F. XVIII. Nr. 10 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 131 Blatt I Anzahl der Tracheen Blatt 2 in den einzelnen Leitbündeln des Blattstiels Zusammen Oben 6, 18, 22, 38, 66, 40, 32, 16, 8 '^ 246 6 cm 8, 10, 17, 20, 35, 25, 15, 14, 7 151 4 „ 4, 10, 12, 24, 32, 20, IS, 12, 5 . 134 2 „ 7, 14, 18, 22, 30, 25, 18, 12, 5 151 Unten ' 4, 10, 15, 18, 38, 32, 25, 17, 14, 6 179 Das mediane Bündel ist fett gedruckt. der auch meist nicht an einer Stelle erfolgt, sondern sich auf mehrere Internodien in der Achse ver- teilt. Diese noch isoliert verlaufenden Bündel des Blattes in der Achse bezeichnet man als die Blatt- spur. In manchen Fällen scheint hier eine direkte Forlsetzung von offenen Wasserbahnen der Achse in die des Blattstiels zu führen, bis in die Spreite hinein, wie ich z. B. durch das Aufsteigen von Tuschelösung bei Atropa und Scopolia fest- stellen konnte. Bei anderen Pflanzen dagegen ist das in der Achse befindliche Leitungssystem von dem des Blattstiels durch Tüpfelschließhäute ab- gesperrt, wie folgender, nicht veröffentlichter Ver- such sehr schön zeigt : Schneidet man von T h 1 a d i - antha dubia einen Knoten mit dem darüber und darunter befindlichen Stück des Internodiums und mit ansitzendem, unten durchschnittenen Blattstiel heraus und preßt unter mäßigem Druck in das untere Achsenstück Tuschelösung ein, so dringt aus der oberen Achsenschnittfläche schwarze Flüssigkeit aus den durchschnittenen Gefäßen, während aus dem abgeschnittenen Ende des Blatt- stiels völlig klare Flüssigkeit herausdringt. Im Blattgrund werden also die suspendierten Tusche- teilchen durch die dort befindlichen Tüpfel- schließhäute filtriert. Wahrscheinlich hängt diese verschiedene Ausbildung von Gefäßen und Trache- iden ebenso wie die der lokalen Bündelver- bindungszonen von entwicklungsgeschichtlichen Ursachen ab. Interessant in dieser Hinsicht ist eine Be- merkung von Wollen web er (S. 18) i) über die Beziehung von parasitären, sogenannte Welke- krankheiten hervorrufenden Pilzen, die in den Tracheen vegetierefl, zu ihren Wirtspflanzen: „Die relative Resistenz solcher Varietäten und Rassen ist nach Ansicht des Verf. nicht nur eine biolo- gische, sondern auch eine morphologische Funktion der Adaption, nämlich auch abhängig von dem Bau der Gefäßbündel besonders im Übergangsgebiet des Gefäßsystems des Hypokotyls in das oberirdische Gebiet der Hauptsachse . . ." Nach vorstehenden Mitteilungen wird man also wohl kaum fehlgehen, wenn man das Auftreten von Tüpfelschließhäuten für die Hemmung des Vorwärtsdringens solcher Pilze an der fraglichen Stelle mit verantwortlich macht. ') Wollen weber, H. W. , Pilzparasitäre Welkekrank- heiten der Kulturpflanzen. (Ber. d. Deustch. botan. Gesellsch. XXXI, S. 17, 1913.) beim Übergang der Blattspur in den Blattstiel Zusammen Mitte des Blattstiels 4, 8, 14, 18, 12, 12, 4 72 Oben im Internodium 10, 17, 12 39 Mitte des Internodiums 10, 10, lo 30 Von der Betrachtung der Verteilung der Ele- mentarelemente der Wasserleitung werden wir uns zu der Betrachtung des gröberen morpholo- gischen Verlaufes der Leitungsbahnen, den wir oben schon mit einigen Worten gestreift haben. Das regellose Auftreten oder das Vorhanden- sein lokalisierter Bündelverbindungszonen ist sehr konstant für bestimmte Verwandtschaftskreise, er- weist sich also zweifellos als phylogenetischen Ursprungs. Sauerbrei hat denn auch trotz sehr zahlreicher Einzeluntersuchungen irgend welche biologischen P'aktoren nicht auffinden können, von denen die eine oder die andere IVIodifikation ab- hängig sein könnte. Doch zeigt sich die äußere Morphologie des Blattes, meist wenigstens, in der Ausbildung von Bündelverbindungszonen überein- stimmend gebaut: Diese sind bei handnervigen und Fiederblättern an die Insertionsstellen des Blattstiels an der Achse und an die Spreitenbasis bei ersteren, an die Insertionsstellen der Teil- blättchen bei letzteren gebunden. Im typisch ein- fachen Blatt kommen sie in dieser Ausbildung nicht vor, doch muß man dabei beachten, daß die einfachen Blätter stets ein einzelnes, in sich zu- sammenhängendes, Leitungssystem besitzen, wäh- rend dies bei zusammengesetzten Blättern in eine Anzahl selbständiger Leitbündel aufgelöst ist, die dann nur in den dadurch ausgezeichneten Zonen miteinander in Verbindung treten. Einige Dicotyledonen, wie die Plantago- arten zeigen ganz ähnlichen Leitbündelverlauf, wie er für die Monocotyledonen charakteristisch ist; eine Anzahl nebeneinander herlaufender Leit- bündel, die nur ganz schwache, regellos ange- ordnete Verbindungen zwischen sich haben. Ebenfalls regellose, aber stärkere Verbindungen besitzen z. B. Ranunculaceen wie Helle- borus, dann Piperaceen usw. usw. Als mor- phologisch am höchsten differenziert dürfen wir endlich die Fälle betrachten, in denen die Bündel- verbindungen auf bestimmte Zonen lokalisiert sind, bei Cucurbitaceen, Geraniaceen in Blattgrund und Spreitenbasis, bei Rosaceen nur in letzterer bzw. in den Blattspindelknoten usw. Ähnliches zeigt sich denn auch im Leitbündel- verlauf der Achse. Doch dürfte es nicht gerechtfertigt sein, diesen hier in physiologischem Sinne gebrauchten Aus- druck der am höchsten differenzierten Pflanzen auch auf phylogenetische Gesichtspunkte anwenden 132 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 10 zu wollen und anzunehmen, daß stets das einfache Blatt auf der Vorstufe zum zusammengesetzten Blatt stehen geblieben sei. Vielmehr ist auch in vielen Fällen das umgekehrte möglich, ja sogar wahrscheinlich; und es macht auch ganz den Ein- druck, als ob sich die einfachen Blätter vieler unserer Holzgewächse aus zusammengesetzten „zurückgebildet" hätten. Doch will ich mich auf die Diskussion dieser Frage nicht näher einlassen, sie nur kurz andeuten. Eigenartig ist nun im Leitbündelverlauf die Verzweigung und gegenseitige Durchkreuzung der offenen Wasserbahnen, die in handnervigen und Fiederblättern zu einer Versorgung von verschie- denen räumlich voneinander getrennten Partien der Spreite und Spreitenteile von einem einheit- lichen Blattstielleitungsbündcl aus führen kann. Hier- zu Abb. 4, 5 und 6 und die unten folgenden Aus- führungen. Von dem Leitbündelverlauf in den Spreiten ist nichts wesentliches dem Altbekannten hinzu- zufügen. Erwähnt werden darf vielleicht, daß ab und zu eine anormale Lagerung von Leitbündel- teilen in den Nerven der Blattspreite vorkommt, wie bei Liquidambar, wo über dem normal gelagerten Blattnervenbündel ein kleineres anormal gelagertes liegt, das seinen Siebteil der Blattober- seite zukehrt; bei der Abgabe von Seitennerven, an der dieses anormale Bündel ebenfalls bis zu seiner Erschöpfung beteiligt ist, wird durch ent- sprechende Drehung der abgegebenen Teile die normale Lagerung in den Seitennerven wieder hergestellt. Es ergibt sich nun die selbstverständliche Frage : Welche Bedeutung hat ganz allgemein das Wasser- leitungssystem für die Pflanze und im besonderen fragen wir noch nach der Bedeutung der einzelnen morphologischen Besonderheiten, wie wir sie vor- stehend kennen gelernt haben. Die Tatsache der Wasserleitung und der Wasserversorgung der transpirierenden Flächen, vornehmlich also der Laubblätter, bedarf keiner besonderen Hervor- hebung. Auch mit der Frage nach den Ursachen der Wasserleitung wollen wir uns hier nicht be- schäftigen. Was uns hier vor allem interessiert, ist die Frage nach der gegenseitigen Beziehung der einzelnen Leitbündel und der einzelnen Ele- mente derselben. Es kann als sicher angenommen werden, daß nicht immer alle Leitbündel unter denselben günstigen Bedingungen der Wasserversorgung stehen, allen an sie gestellten Anforderungen von Seiten der transpirierenden Organe, die sie zu ver- sorgen haben, gerecht werden können, sei es daß sie selbst unter ungünstigen Versorgungsbeding- ungen zu leiden haben, indem einige Wurzeln nicht genügend Wasser herbeizuschaffen vermögen, sei es daß eine oder die andere Bahn durch mechanische Einwirkungen, Verletzung, Ver- stopfung usw. unwegsam geworden ist. Von menschlichen ZweckmäßigkeitsbegrifFen aus müssen dann die Nachbarbahnen einspringen und die Leistung der gefährdeten Bahn mit übernehmen. In der Regel ist das denn auch der Fall. Jedoch nicht immer; das hängt eben ganz von der geschilderten morphologischen Ausbildung der Leitungsbahnen der betreffenden Pflanze ab. So können natürlich beim Fehlen von Verbindungs- bahnen die Nachbarbahnen keinen Ausgleich her- beiführen, wie es bei Monocotyledonen und, bei Dicotyledonen, z. B. bei Plantago major der Fall ist. Unterbricht man hier die Leitungs- bahnen des Blattstiels teilweise, so bleibt das Blatt turgescent, da die Bündelverbindungen in der Blatt- spreite genügend funktionieren. Verschließt man dagegen bei einem abgeschnittenen Blatt die Schnittfläche des Blattstiels, öffnet oberhalb einige Leilbündel und durchschneidet in der Spreite die Verbindungsbahnen, so bleiben nur die unmittel- bar von den geöffneten Bahnen versorgten Spreiten- teile turgescent, die andern welken alsbald, woraus hervorgeht, daß die schwachen im Blattstiel vor- handenen Bündelverbindungen keinen genügenden Ausgleich schaffen können. In allen anderen Fällen jedoch werden die Nachbarbahnen beim Versagen einiger Leitungs- wege in ausreichender Weise mit herangezogen. Es kann dabei einerseits von dem Turgescent- bleiben des Blattes auf genügenden Wasserausgleich geschlossen werden, andererseits durch das Auf- steigen von Farblösung der Verlauf dieses Aus- gleichs unmittelbar beobachtet werden. Ver- schließt man z. B. an einem Blatt von Alchemilla vulgaris L. den unten abgeschnittenen Blattstiel an der unteren Schnittfläche durch Eintauchen in heißes Wachs, öffnet oberhalb im Blattstiel durch eine Einkerbung eines der drei dort vorhandenen Leitbündel, und stellt das Blatt dann in verdünnte Eosinlösung, so bleibt die Spreite völlig turges- cent und die Farblösung verbreitet sich schnell in der ganzen Spreite. Ein gleiches geschieht, wenn man außerdem die ganze Spreite zwischen den einzelnen Nerven, parallel zu diesen durch- schneidet; die hier vorhandenen Bündelverbindun- gen in der Spreitenbasis funktionieren also völlig ausreichend. Dieser letztere Fall ist natürlich bei Blättern mit bis zur Spreitenbasis zerteilter Spreite bzw. Fiederblättern der norgiale. Andererseits läßt sich bei Alchemilla und anderen zeigen, daß man auch die Bündelverbindungen in der Spreiten- basis durchschneiden kann bei gleicher Versuchs- anstellung wie oben: die intakten Verbindungen in der Spreite schaffen genügenden Ausgleich, der aber, wie man an dem Vorwärtsdringen der Farb- lösung beobachten kann, nicht so schnell vor sich geht wie durch die Verbindungen der Spreiten- basis. Man kann dann schön beobachten, wie die Farblösung aus dem einen Hauptnerven die Se- kundärnerven aufwärts, dann in die Verbindungs- nerven zu den Sekundärnerven der benachbarten Hauptnerven und in diesen abwärts dringt. Steht nun ein mit dem Blattstiel abgeschnittenes Blatt in Wasser, so können sich alle Leitbündel gleich gut mit Wasser versorgen und die Leitung N. F. XVIII. Nr. lo Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 133 geschieht nunmehr so, daß von jedem Leitbündel diejenigen Spreitenteile versorgt werden, die in unmittelbarem morphologischen Zusammenhang mit einem dieser Leitbündel stehen. Wählt man nun die Versuchsanordnung so, daß der Blattstiel unten verschlossen in Wasser taucht und streift weiter oben ein weites mit verdünnter Farblösung gefülltes unten abschließbares Glasrohr über den Blattstiel, nachdem man vorher an dieser Stelle eines der Leitbündel des Blattstiels durch seitliche Einkerbung geöffnet hat, so sind die Wasser- versorgungsverhältnisse für alle Leitbündel die gleichen, aber das eine Leitbündel nimmt statt Wasser Farbstoff auf: und wir können somit an der Färbung der Spreitennerven beobachten, welche Teile der Spreite dieser Bahn zugehören. In den meisten Fällen liegt der Fall nun inso- fern sehr einfach, als das mittlere Blattstielbündel die Mitte der Spreite, d. h. die Partie um den IVIittelnerven, bzw. das mittlere Teilblättchen bei handnervigen, beim Fiederblatt die Endfieder, und seitlich anschließende Teile versorgt, die seitlichen Blattstielbündel die seitlich, bzw. beim Fiederblatt nach unten anschießenden Teile. Besser als Worte erläutern dies die schematischen Zeichnungen 2 für ein handnerviges, 3 für ein Fiederblatt. Erste- rem entspricht z B. Geranium pyrenaicum, letzterem Sambucus. Oft treten aber auch Komplikationen auf, die auf die oben bereits erwähnten Verzweigungen offener Bahnen zurückzuführen sind, die sich außer- dem mit den Nachbarbahnen durchkreuzen. Die Abbildungen, Abb. 4 für Alchemilla vulga- ris, Abb. 5 für Trifolium elegans und Abb. 6 für Pimpinella peregrina, machen das Ge- sagte verständlich: Man sieht, daß die einzelnen Blattstielleitungsbündel, die durch gleiche Schraf- fierung wie die von ihnen versorgten Spreitenteile kenntlich gemacht sind, wobei die zu dem Blatt- stielmittelbündel gehörigen Partien, wie auch in Abb. 2 und 3 dunkel gehalten sind, zwar auch annähernd die eben erwähnte Gesetzmäßigkeit zeigen, daß sich aber zwischen sie Teile der seit- lichen Leitbündel einschieben, so daß sie selbst seitlich bzw. nach unten verschoben werden und nun inmitten der anderen isoliert erscheinen. Es handelt sich hier natürlich nicht um Zufälligkeiten, sondern es zeigte eine große Anzahl von Ver- suchen immer wieder das gleiche Verhalten. Je nachdem, welches Leitbündel des Blattstiels in Eosinlösung taucht, treten diese Felder in der Spreite gerötet hervor. Worin der Grund für diesen merkwürdigen Verlauf liegt, ist nicht be- kannt; es liegt aber nahe, an gegenseitige Beein- flussung durch Druckverhältnisse während der Entwicklung zu denken. Was die Tatsache selbst betrifft, so finden wir hier offenbar den Ausdruck des Verlaufes offener Bahnen; anders ist diese Wirkung nicht gut verständlich. Auch darauf sei .•\bb. 4 (nach Rippel). "i^= Abb. 5 (nach Rippel). Abb. 6 (nach Gerresheim).') noch hingewiesen, daß offenbar der systematischen Stellung der Pflanze keinerlei Bedeutung in dieser Hinsicht zukommt. Bei derselben Familie finden sich beide Formen und noch andere; z. B. folgt von den Rosaceen Potentilla reptans nicht der für Alchemilla in Abb. 4 angegebenen Modi- fikation, sondern verhält sich ähnlich Geranium (Abb. 2), während Agrimonia odorata wie- derum überhaupt keine Teilung zeigte, die Tracheen also ganz regellos verlaufen müssen. ') Bei Querschnitt b ist versehentlich bei dem äußersten rechten Leitbündel der Hinweis der Zugehörigkeit zu der mit Kreisen versehenen Blattfläche (wie bei a, vorletztes Bündel) unterblieben. 134 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVni. Nr. lo Von diesem Gesichtspunkte aus wäre es auch zu erwarten, daß sich ähnhche Verhältnisse auch für den Anschluß der Wurzelleitungsbahnen an die der Achse ergeben würden. Für den einzigen von F. J. Meyer untersuchten Fall von Viola tricolor trifft das aber nicht zu, es findet hier bereits im Epicotyl ein Ausgleich der verschiedenen Wurzelleitungsbahnen statt, bei einer der geschil- derten entsprechenden Versuchsanordnung. Bei dem Übergang der Blaltspur in den Blattstiel konnte ich allerdings bei Geranium ähnliche Durchkreuzungen beobachten wie in dem von Alchemilla geschilderten Fall; doch erstreckte sich die Differenzierung nur bis etwa in die Hälfte des Blattstiels; dann trat ein völliger Ausgleich ein. Es scheint also so, als ob offene Bahnen nur immer eine begrenzte Strecke weit verliefen und jeweils sich in einem Netz allseitig geschlos- sener Verbindungsbahnen auflösen. Stellen wie das Epicotyl wären dann bevorzugte Orte eines solchen Schlusses. Das scheint sich auch in den oben für den Blattgrund erwähnten Tuscheversuchen auszudrücken. Auch könnte der Bau der Leitbündel insofern von Einfluß sein, als solche, die wie Alchemilla wohl abgegrenzte Tracheenplatten aufweisen, die Selbständigkeit des morphologischen Verlaufes und der physiologischen Leistung länger bewahren könnten als solche, deren Leitbündel regellos ver- laufende Tracheen zeigen. Aber alles das sind Fragen, die noch nicht entschieden werden können. Sicher ist aber das eine, daß im nor- malen Laubblatt und in denAchsenund Wurzeln die in mannigfacher Ausbil- dung vorhandenen Verbindungsbahnen einen völlig genügenden Wasseraus- gleich bei Funktionslosigkeit einer Bahn schaffen können. Außer den in jedem botanischen Lehrbuch sich findenden Angaben findet sich das hier Mitgeteilte in folgenden 4 Ar- beiten : Gerresheim, E., Über den anatomischen Bau und die damit zusammenhängende Wirkungsweise der Wasserbahnen in Fiederblättern der Dicotyledonen. Bibliotheca Botanica, Heft 81. Stuttgart 191 3. Meyer, F. J., Bau und Ontogenie des Wasserleitungs- systems der vegetativen Organe von Viola tricolor var. arvensis Inaug.-Diss. Marburg, J. Hamel, 1915. Rippel, A., Anatomische und physiologische Unter- suchungen über die Wasserhähnen der Dicotylenlaubblätter mit besonderer Berücksichtigung der handnervigen Blätter. Bibliotheca botanica, Heft 82. Stuttgart 1913. Sauerbrei, F., Leitbündelverbindungen im krautigen Dicotylenstengel. Jenaische Zeitschr. f. Naturwissensch. 53, s. 189, 1914/15- Schopeuliauei-'s Stellung zur exakten Natunvissenscliaft. Zur hundertjährigen Wiederkehr des Erscheinens der „Welt als Wille und Vorstellung". [Nachdruck verboten." Von Dr. Victor Engelhardt. Mit I Abbildung. Aller Fortschritt in der Wissenschaft ist letzten Endes durch zwei Faktoren bedingt: Durch den wissenschaftlichen Zeitgeist und durch die Persön- lichkeit des Gelehrten. Diese Einflüsse sind bei jeder Forschung maßgebend, ganz gleich ob sie sich auf naturwissenschaftlichem oder geistes- wissenschaftlichem Gebiete bewegt. Sie werden aber umso reiner hervortreten, je stärker sich eine Wissenschaft von der empirischen Grundlage ab- löst. Philosophie zum Beispiel, wenigstens soweit sie metaphysisch und System bildend auftritt, ist fast nichts anderes mehr, als die Auseinander- setzung eines starken Charakters mit der gesamten Kultur seiner Zeit. Doch sind diese Bemühungen mit den dichterischen Schöpfungen der Phantasie so innig verwandt, daß die Behauptung: Philo- sophie ist Charakter und Zeitgeist, wie ein Gemein- platz klingt. Falls es uns um die Aufdeckung der Abhängig- keit jeglicher Wissenschaft von den genannten beiden Faktoren zu tun ist, dürfen wir demnach von einer Untersuchung der reinen Philosophie keinen allzu großen Vorteil erwarten. Andererseits leistet aber die Betrachtung ex- akter Forschung in dieser Hinsicht auch nicht genug. Durch ihre innige Verflechtung mit einer außer uns liegenden Wirklichkeit werden die Ver- hältnisse so kompliziert, daß sie sich nicht für eine erste Auseinandersetzung über die fraglichen Punkte eignen. Damit ist jedoch keineswegs gesagt, daß hier die Abhängigkeit von Charakter und Zeit- geist nicht ebenso mächtig einsetzt, wie irgendwo anders. Nein, sie ist auch in der exakten Forschung bedeutungsvoll; ich habe es einst an Faraday und D'Alembert gezeigt,^) — - aber sie liegt nicht so offen zu Tage, wie auf anderen Gebieten. Wollen wir uns über die Art dieser Einflüsse Rechenschaft geben, so werden wir also gut tun, einen Fall herauszugreifen, bei dem einerseits das Vorhandensein einer starken Persönlichkeit und ihre Verquickung mit dem Zeitgeist sicher steht, und bei dem andererseits diese Persönlichkeit doch nicht bloß durch den Ozean der eigenen Phantasmen treibt, sondern sich mit der empiri- schen Wirklichkeit auseinandersetzt. Haben wir an einem solchen „krassen" Beispiel die erwähnten Zusammenhänge leicht und klar erkannt, so wird es uns nicht schwer fallen, dieselben auch dort zu finden, wo sie vefsteckter liegen. Die geforderten Bedingungen für den „krassen" Fall sind meines Erachtens am besten erfüllt, wenn ein reiner Philosoph Naturwissenschaft treibt. ') Engelhardt, Faraday's Stellung in der Geschichte der Physik. Naturw. Wochenschr. 1917. S. 465. Engelhardt, D'Alembert's Bedeutung für die Natur- wissenschalten, Naturw. Wochenschr. 1917. S. 1141. N. F. XVIir. Nr. lo Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 135 Als Philosoph steht er in einem engen Zusammen- hang mit der Kultur seiner Zeit. Er sieht das Bild dieser Kultur durch die Brille seiner sehr aus- geprägten Persönlichkeit. Soweit er aber Natur- forscher ist zwingt er seine durch Zeitgeist und Charakter bedingte Weltanschauung zur Ver- einigung mit der empirischen Welt. Wohlgemerkt ich spreche vom Philosoph der Naturwissenschaft treibt, und nicht vom Naturforscher, der philo- sophiert. Um keinen Zweifel über mein Bestreben aufkommen zu lassen, wähle ich Schopenhauer als Beispiel, also einen Fall, von dem wir sicher nicht allzuviel naturwissenschaftliehe Erkenntnis erwarten dürfen, dessen- Betrachtung uns also einzig und allein die gewünschten Zusammenhänge auf- decken wird. Der „Fall Schopenhauer" ist für unsere Zwecke ganz besonders geeignet. Wir können bei ihm die Wirksamkeit von Charakter und Zeitgeist sauber von ihrer Verquickung mit der Wirklich- keit trennen. Charakter und Zeitgeist führen zur Weltanschauung — und diese ist beiSchopen- h a u e r das primäre. Erst in zweiter Linie wird sie mit der Natur zusammengebracht und erlaubt uns so einen Einblick, wie weit sich die Natur im Forschergeist persönlich gestaltet. Grundzüge in Schopenhauer's Charakter sind Pessimismus und Egoismus. Der Pessimis- mus wurzelt uranfänglich wohl in der Weltschmerz- lichkeit, die wir bei werdenden Jünglingen häufig treffen. Wie innig er mit erotischen Krisen zu- sammenhängt zeigt ein Jugendgedicht des Philo- sophen: „O Wollust o Hölle O Sinne o Liebe Nicht zu befriedigen Und nicht zu besiegen." ^) Nun ist aber nach Riehl der Pessimismus „Schopenhauer's a priori und gleichsam der angeborene Begriff seiner Philosophie".') Deren Grundwurzeln sind damit fest im Charakter ver- ankert; ja noch mehr, sie sind wie diejenigen vieler Kunstschöpfungen aus dem sexuellen Er- leben des Urhebers erklärt. In der Metaphysik ist dieses Erleben zur Theorie geworden, begrifflich kristallisiert. Kuno Fischer glaubt sich deswegen zu dem Vorwurf berechtigt, daß Schopenhauer den Pessimismus gelehrt und dargestellt, nicht erlebt und erduldet habe;^) ja er versteigt sich sogar dazu Schopenhauer auch als Philosophen einen „großen Schauspieler" zu nennen.*) Das ist ungerecht — selbst dann, wenn für Schopenhauer in der glücklichen Schaffensperiode seines Lebens der Pessimismus nur ein Arbeitsschema war. Das Erlebnis fällt ') Gwinner, Schopenhauer's Leben. 3. Auti. Leipzig 1910. S. 42. '^) Riehl, Zur Einführung in die Philosophie der Gegen- wart. 3. Aufl. Leipzig 190S. S. 215. ') Kuno Fischer, Arthur Schopenhauer, Heidelberg 1S93. S. 126. •*) Kuno Fischer, 1. c. S. 138. zeitlich nie mit dem daraus hervorgehenden Werke zusammen. — Nicht nur vererbte Anlage sondern auch das Lebensschicksal bedingt unsern Charakter. Schopenhauer's Schicksal ist das Schicksal seiner Philosophie. Und das war bitter schlecht. Sein Werk hat lange keine Anerkennung gefunden. „Dieses Schicksal seiner Philosophie mußte not- wendig auf seinen Pessimismus verschärfend wirken".') Wir finden darum den alten Mann aus anderen Gründen ebenso düster gestimmt wie den Jüngling. Pessimismus ist der Grundzug seines Lebens. Den sexuellen Ursprung verbirgt dieser Pessi- mismus nicht, denn Schopenhauer's „Wille" ist gieriger, zweckloser Trieb — ist das Abbild einer von den Sinnen oft in quälende Fesseln geschlagenen Natur. Ein großer und zugleich düsterer Geist muß einsam stehen. Die Welt, welche ihm feindlich ist, erscheint ihm gleichzeitig nichtig und klein. So bildet sich die starke Persönlichkeit zum Egoisten und Weltverächter. Diese Seite von Schopenhauer's Charakter findet ihren theoretischen Ausdruck in Kant 's Philosophie. Schopenhauer ergreift sie darum mit beiden Händen, und bringt sie in seiner Weise auf die Formel der „Welt als Vorstellung". Die starke eigenmächtige Persönlichkeit treibt ihn aber weit über Kant hinaus. Er fühlt den ungeheuren Anteil, den er, das erkennende Subjekt, an der Weltbildung hat. So ungeheuer ist der Anteil, daß die Welt ohne das Subjekt gar nicht sein könnte. Kein Objekt ist ohne ein Subjekt.-) Wir stehen bei der Betrachtung von Kant 's Einfiuß auf Schopenhauer an dem Punkt, wo der Charakter sich mit dem Zeitgeist berührt. Das ihm gemäße nimmt er auf. Weit mehr aber müssen wir bei Schopenhauer's eigensinnigem Wesen ein negatives Verhältnis zu seiner Zeit er- warten; einen Geist des Widerspruchs. Schon seine Mutter klagt über „die Wuth alles besser wissen zu wollen, überall Fehler zu finden, außer" in sich selbst.^) Dieser Charakter offenbart sich in der fort- währenden häßlichen Polemik gegen Fichte, Schein ng und Hegel. — Um die Mitte des Jahrhunderts, zur Zeit der zweiten Auflage von Schopenhauer's Büchern, war aber die Herr- lichkeit der Idealisten bereits zu Ende. Überall stand der Materialismus in Blüte, welcher schließlich in dem Satz gipfelte „der Mensch ist, was er ißt". Gegen Vertreter solcher Lehren, wie Vogt, M o 1 e - Schott, Büchner u. a. wandte sich Schopen- hauer jetzt mit der gleichen Erbitterung. Ja, es gab genau genommen außer ein paar blindgläubigen Aposteln überhaupt keine Zeitgenossen, die ihm ■) Johannes Volkelt, Arthur Schopenhauer. 4. Aufl. S. 26. *) Vgl. Schopenhauer, Welt als Wille und Vorstellung. § 7 in Cotta, Bibl. d. Weltlit. S. 60. ■'} Gwinner, 1. c. S. 49. 136 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 10 paßten. Alles reizte den großen „Subjektivisten" zum Widerspruch. In dem „fortwährenden" Wider- spruch steckt aber weit mehr Abhängigkeit, als Schopenhauer ahnt. Wenn ich allem, was andere lehren entgegentrete, bin ich ebensowenig frei von den anderen, wie der, welcher den anderen zustimmt. — These und Antithese regieren ja die Welt, beide schaffen ihren inneren Zusammenhang. In dem lauten Wortkampf gegen Hegelianer und Materialisten verschwindet für Schopen- hauer und damit nur allzuleicht auch für seine Leser, der positive Zusammenhang seiner Philoso- phie mit dem Geist der Zeit. Und doch liegen, wie namentlich Gwinner betont, Keime der Willenslehre schon bei Fichte vor; allerdings ist bei Fichte geistig, was sich bei Schopen- hauer als Naturpotenz offenbart.') — Und Vokelt hat gezeigt, wie Schopenhauer trotz seiner Verachtung des Materialismus, sowohl in der Er- kenntnistheorie als auch in der Metaphysik dieser Lehre verfällt.-) „So absurd er sich gebärdet" — er ist eben doch das Kind seiner Zeit. — Er ist so sehr das Kind seiner Zeit, daß R. M. Meyer ihn als den eigentlichen Philosophen der Romantik bezeichnen konnte, „der hinter den Romantikern herzieht, wie die Reue hinter der Tat".^) — Ein drittes Element bildet den Menschen ebenso stark wie Charakter und Zeit; es steht zwischen den beiden, gehört beiden an — die Erziehung. Eltern und Schulzucht werden durch die Persönlichkeit des Erziehers — und durch die Vorschriften der augenblicklichen Kultur bedingt. Selbsterziehung aber ist Charakter. Ein eigenartiges Lebenswerk wird letzten Endes oft einer eigenartigen Jugend zu verdanken sein. Weniger der Inhalt des Werkes, als die Methode. Der Inhalt dürfte meist von den Zufälligkeiten der Berufswahl und des äußeren Lebensschicksals vorgeschrieben sein. Die Methode aber hängt von unserer geistigen Veranlagung und von der Art ab, wie wir denken lernten. — Bei Schopen- hauer liegt es klar zutage. Auf weiten Reisen lernte er die Welt mit offenen Augen sehen. Der Hang junger Menschen alles anschaulich zu er- fassen wurde dadurch so gestärkt, daß eine sehr verspätete, aber mit Eifer betriebene formale Schuldbildung die „Anschaulichkeit seines Geistes" nie mehr zu unterdrücken vermochte. „Der Verstand allein erkennt anschaulich unmittelbar und vollkommen die Art des Wirkens eines Hebels, Flaschenzuges usw.".*) „Alle Diffe- rentialrechnung (erweitert) eigentlich gar nicht unsere Erkenntnis von den Kurven, enthält nichts mehr, als was schon die bloße reine Anschauung derselben".-') ') Gwinner, 1. c. S. 173. «) Volkelt, 1. c. S. 94. ^) R. M. Meyer, Die deutsche Literatur des 19. Jahr- hunderts. Berlin 1912. S. 53. *) Schopenhauer, 1. c. § 12. Cotta S. 89. • ") Schopenhauer, 1. c. § 12. Cotta S. 89. Aus solchen Äußerungen erwächst uns das Verständnis für Schopenhauer's Methode. Wenn man überhaupt von Methode sprechen darf, bei einem Manne, dem alle Gedanken unwillkür- lich mit solcher Macht aus dem Innern quellen, daß er selbst es kaum zu fassen vermag. „Scho- penhauer ist (eben) weiter als die allermeisten deutschen Philosophen von dem Typus nicht nur des Gelehrten, sondern auch überhaupt des rein theoretischen Denkers entfernt".') Diesen Abstand fühlt er. Sein grimmiger Haß gegen die Gelehrten hatte seinen Ursprung in diesem Gegensatz und sog seine Nahrung aus der demselben Gegensatz entsprungenen langen Verkennung seiner Philo- sophie. Es ist einseitig und ungerecht andere Denker deswegen zu verwerfen, weil sie nach anderen Denkmethoden verfahren. In jeder Wissenschaft wird es „anschauliche" und „abstrakte" Geister, „Geometer" und „Analytiker" geben.^) Das ist wahr. Und weiter ist wahr, daß fast nur den an- schaulichen Denkern, den „Geometern" die großen F"ortschritte zu verdanken sind. Aber auch die Analytiker sind nötig, nämlich um das anschau- lich Erkannte sicher zu stellen. Sonst verliert es sich, wie eben bei Schopenhauer, in unhalt- bare Spekulation. — Allerdings muß auch Schopenhauer trotz aller Verachtung an anderen Stellen die Not- wendigkeit abstrakter Erkenntnis zugeben. Die Urteilskraft hat nach ihm aus dem anschaulich' Erkannten die richtigen Begriffe zu gewinnen und damit den schwierigsten Teil wissenschaftlicher Arbeit zu leisten. Geleistet muß er werden, denn nur wo Begriffe sind, kann eine Verständigung, ein Zusammenarbeiten mehrerer Menschen erreicht werden. Diese Begriffe sind das Gebiet der Wissenschaft.^) So heißt es im Hauptwerk. Dem Geiste nach müßte hier allerdings stehen : Be- griffe sind das Gebiet — der Gelehrsamkeit, denn trotz aller Anerkennung der Notwendigkeit, bleibt die Verachtung des begrifflichen Wissens. „Grau teurer Freund ist alle Theorie. Und grün allein des Lebens goldener Baum". Schopenhauer will in der eignen Forschung abstrakte Methoden nicht anwenden. Ja er be- müht sich sogar die Mathematik, die abstrakteste aller Wissenschaft auf Anschauung zurückzuführen. In der zweiten Auflage seiner Dissertation und in der „Welt als WHle und Vorstellung" finden sich Versuche geometrische Beweise des Euklid durch anschauliche Erkenntnis zu ersetzen. Wenn er aber annimmt, eine Figur wie folgende, könne uns den Pythagoräischen Lehrsatz viel eindringlicher klar machen als ein „Euklidischer Mausefallen- beweis", so ist das eine völlige Verkennung der Tatsachen. Eine solche Figur ist nur beweisend für den einzigen vorliegenden Fall. Sie kann ') Volkelt, 1. c. S. III. ^) Poincare, Der Wert der Wissenschaft, übersetzt von Weber. Leipzig 1910. 2. Aufl. S. 9. ') Schopenhauer, 1. c. § 12. Cotta S. 93. N. F. XV7II. Nr. lo Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 137 weiterhin einen kühn veranlagten intuitiven Geist dazu veranlassen, den Pythagoräischen Lehrsatz vorauszuahnen, zu entdecken; allgemein beweisen kann sie ihn aber nicht. Sicher stellen kann diesen Satz erst das mühsame Verfahren des abstrakten Denkers. An vielen Stellen steigert sich S c h o p e n - hauer's Abneigung gegen mathematische Be- schäftigung zu solchem Haß, daß er jede Mathe- matik aus den Naturwissenschaften entfernt sehen möchte, daß er alles Heil von der Anschauung erwartet. Er hält die erste Intuition des Ent- deckers fast überall für die Wissenschaft selbst. — Schopenhauer's Intuition, Schopen- hauer's „anschauliche Erkenntnis" führte ihn primär zu seiner Philosophie. Aus ihr folgen, wie wir schon sahen, sekundär seine naturwissen- schaftlichen Ansichten. Wir werden in diesen das persönliche und das zeitgemäße Element also einfach dadurch feststellen können, daß wir ihren Zusammenhang mit seiner Philosophie ergründen. Von zwei verschiedenen Seiten eröffnet sich demnach ein Zugang zum Verständnis der Schopenhauer' sehen Naturansicht. Von seiten der „Welt als Vorstellung" — und von seiten der „Welt als Wille". Dem „Subjektivisten" nach Neigung und Beruf, dem Schüler Kant 's, werden unter allen natur- wissenschaftlichen Fächern diejenigen am meisten zusagen, welche den subjektiven Gehalt des Welt- bildes am deutlichsten hervortreten lassen. Und so finden wir unter des Philosophen Büchern als das Einzige mit rein naturwissenschaftlichem In- halt ein Werk „Über das Sehen und die Farben". Der äußere Anlaß zu dieser Abhandlung ist zwar Goethe 's Farbenlehre und der persönliche Ver- kehr mit dem Dichter. Der innere Grund für die Entstehung und Entwicklung von Schopen- hauer's physiologischer Theorie aber war wohl das Bestreben an einem praktischen Beispiel die Intellektualität aller Anschauung einmal gründlich zu erläutern. Damit wird die rein naturwissen- schaftliche Arbeit zur durchaus philosophischen Beschäftigung. — Im philosophischen Wert liegt auch heute noch ihre Bedeutung, nachdem die Anschauungen im einzelnen sich als falsch oder als richtig erwiesen haben. Auf den Inhalt der F'arbenlehre, auf eine Kritik derselben und auf ihren Zusammenhang mit Goethe brauche ich hier nicht einzugehen. Das ist schon oft und gründlich geschehen. *) Der Knotenpunkt, in dem „Welt als Vorstel- lung" und „Welt als Wille" und demnach auch Physik und Metaphysik miteinander verknüpft sind, ist der Begriff der Kausalität. Fassen wir das Kausalgesetz zunächst in seiner einfachsten Form, etwa in der von Kant gegebenen: „Alles, was geschieht setzt etwas voraus, worauf es nach einer Regel folgt", '') so sind wir noch durchaus im Rahmen der exakten Naturwissenschaft. Auch Schopenhauer stellt sich bei Untersuchung des Kausalbegriffes zunächst ganz auf den Boden desselben. Ja gerade die Erörterungen über Ur- sache und Wirkung gehören zu den klarsten und nüchternsten seiner ganzen Philosophie. Darum wird ihm jeder Naturwissenschaftler beistimmen können, wenn er die Physik als eine „ätiologische" Wissenschaft bezeichnet, welche „die wandelnde Materie nach dem Gesetz ihres Übergangs von einer Form in die andere" betrachtet."') Leitfaden für diese Betrachtung ist das Kausalgesetz, das der junge Schopenhauer in geistreicher Weise als eine der 4 Wurzeln des Satzes vom zureichen- den Grunde nachweist.*) Es ist das Prinzip vom Grund des Werdens, dem die Prinzipien vom Grund des Erkennens und vom Grund des Seins gegenübertreten. Nur das erste Prinzip, das eigentliche Kausalgesetz, kommt für die exakte Naturwissenschaft in Be- tracht, während die anderen Prinzipien der for- malen Logik und der Mathematik zuzuweisen sind. An vierter Stelle steht das Prinzip der Motiva- tion. Seine Sonderstellung gebührt ihm nicht, denn in den späteren Arbeiten Schopenhauer's finden wir es als einen Spezialfall des eigentlichen Kausalgesetzes. Der Grund einer Veränderung erscheint im Hauptwerk nämlich auf dreierlei Weise — als Ursache im Reich des Unorgani- schen — als Reiz im Gebiet des Organischen und als Motiv im menschlichen Leben. Namentlich die Ausführungen über den „Reiz" haben von der neuen Biologie manche Bestätigung erfahren; in den Rahmen meiner Ausführungen gehören sie nicht. Die exakte Naturwissenschaft hat es nur mit Ursachen zu tun. Ihre Aufgabe ist es nach Schopenhauer den Erscheinungen an Hand des Kausalgesetzes, von der Wirkung zur Ursache und von dieser zur Ursache der Ursache usw. nachzugehen. Die Verknüpfung von Ursache und Wirkung geschieht in jedem einzelnen Fall durch das ent- ') Vgl. Ostwald, Goethe, Schopenhauer u. d. Farben- lehre. Leipzig 1918. Czermack, Über Schopenhauer's Theorie der Karbe. Wien. Ber. 622. 1870. S. 393 ff. Schultz, Schopenhauer in seinen Beziehungen zur Natur- wissenschaft. Deutsche Rundschau 26. Band, Heft 2, S. 263. Engelhard 1, Dichter, Philosoph, Physiker und Physio- loge über die Farben. Weltall Bd. 19. S. 37. 1918. ^) Diese Formulierung findet sich in der I. Ausgabe der Kritik der reinen Vernunft. ä) Schopenhauer, 1. c. § 17. Cotta S. 136. *) Vgl. Schopenhauer, Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grün e. 138 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. lo sprechende Naturgesetz. Dieses bleibt aber nichts anderes als „die der Natur abgemerkte Regel, nach der sie unter bestimmten Umständen, sobald diese eintreten, jedesmal verfährt ..... wonach denn eine vollständige Darlegung aller Naturgesetze doch nur ein komplettes Tatsachenregister wäre".*) Dieses Tatsachenregister zu schaffen ist die Auf- gabe der Physik. Nicht größerel^Gewißheit also, sondern „Er- leichterung des Wissens durch die Form desselben und dadurch gegebene Möglichkeit der Vollstän- digkeit des Wissens" ■) ist ihr Ziel. S c h o p e n - hauer's Ansichten vom Naturgesetz haben dem- nach eine große Ähnlichkeit mit der Auffassung Kirchhoff' s, der als Ziel der Mechanik be- zeichnet: „Die in der Natur vor sich gehenden Bewegungen vollständig und auf die einfachste Weise zu beschreiben." ^) Persönlich interessant wird Schopenhauer's Stellung zur Naturwissenschaft erst in dem Augen- blick,- wo das Kausalgesetz, die Grundlage der Physik sich mit dem Philosophischen und Meta- physischen verquickt. In seiner Erkenntnistheorie tritt die Kausalität an die Stelle von Kant 's Kategorien , ist also neben Raum und Zeit eine apriorische Funktion unseres Geistes. Das führt Schopenhauer dazu, ganz im Kant 'sehen Sinne die Möglichkeit einer „reinen Naturwissen- schaft" zu behaupten. Sie ist der „Inbegriff aller apriorischen Sätze, die sich aus der apriorischen Funktion der Kausalität allein ergeben". Ihnen, nämlich dem Gesetz der Trägheit und dem der Beharrlichkeit der Substanz, kann allein wirkliche Gewißheit zukommen, allen Erfahrungssätzen nur Wahrscheinlichkeit. Sie alle führen ja zuletzt auf ein unbekanntes Etwas , das Schopenhauer im Geist seiner Zeit „Naturkraft" nennt. Mit ihr ist die Physik am Ende der Gelehrsamkeit. Die Naturkraft bleibt ihr Geheimnis, ganz gleich ob sie Schwere heißt oder die Lebenskraft, die im Organischen webt. Die Physik kann es also höchstens bis zu einem Verzeichnis sämtlicher Naturkräfte bringen ; der Naturkraft selbst kann sie mit ihrem Werk- zeug, dem Kausalgesetz, nichts anhaben, denn die Naturkraft ist dem Satz vom Grunde nicht mehr unterworfen. Sie ist nicht die Ursache, son- dern die Möglichkeit der Veränderung. Die Physik erklärt die Dinge durch etwas ihr unerklärliches. Soll sie nicht in der Luft schwe- ben, so muß sie eine Stütze suchen — und sie findet diese Stütze in der Metaphysik. Damit ist der Punkt erreicht, wo der Charakter des For- schers am mächtigsten in die Natur eingreift, — sie, wenn man will, auch vergewaltigt. Der junge Schopenhauer fühlt als sein innerstes Erleben ein qualvolles, zielloses Drängen und Trei- ') Schopenh auer . Welt als Wille und Vorstellung. § 27. Cotta S. 188. ') Schopenhauer, 1. c. § 14, Cotta S. loi. ') Kirchhoff, Vorlesungen über mathematische Physik, Mechanik. 2. Aufl. Leipzig 1S77. S. i. ben — einen dumpfen unvernünftigen Willen. Ihm, dem Subjektivisten, ist die eigene Seele der einzige Ort, wo die Natur an sich „zuletzt sich doch ergründet". Wie müssen auf einen so ge- arteten Geist Erscheinungen wirken, die in der Natur ein gleiches Drängen und Treiben zeigen: Das Fallen des Steines, das Zueinanderfliegen der Magnete — die hassende Abstoßung gleich- namiger Elektrizität! Sie zwingen ihn, auch als Grundlage der Natur, und damit als Grundlage der ganzen Welt, einen gleichen unvernünftigen Willen anzunehmen. Die „Welt als Wille" ist fertig — und fortan steht auch die Naturwissenschaft im Zeichen der „Welt als Wille".' Die Naturkraft ist die einfachste, roheste Form, in welcher sich der Wille offenbart. Schon E u 1 e r hat das Wesen der Gravitation einmal auf eine den Körpern eigentümliche Neigung und Begierde zurückgeführt. *) Den Stufen der Naturkräfte ent- spricht eine Stufenleiter des Willens und damit eine Folge verschiedener Wissenschaften. Die Schwere, die Gravitation ist die unterste Sprosse, — die Astronomie, welche nur Schwere und Trägheit kennt, ist demnach das klarste aller em- pirischen Forschungsgebiete. Und dennoch zeigt sich der Wille hier schon kapriziös, wie auf seinen höchsten Stufen. Gleicht nicht die Mondbahn mit allen ihren Störungen, Knotenläufen und Apsiden- schwankungen der launenhaften Lebensbahn eines Menschen ? Je höher wir aufsteigen ins Reich der Natur, desto komplizierter werden die Äußerungen des Willens, eine desto größere Anzahl von Fragen läßt die Wissenschaft ungelöst. — Gewiß — es ist Mythologie, was Schopen- hauer vor uns hinstellt — aber eine mächtige Mythologie, eine moderne Mythologie, eine Mytho- logie der Naturwissenschaft. Es bringt darum dem Naturwissenschaftler keine Förderung, wenn er sich in alle Einzel- heiten von Schopenhauer's Meinungen ver- tieft. Es ist ein zwar leichtes aber zweckloses Bemühen Schopenhauer's kleine Verbohrt- heiten, Mißverständnisse und Widersprüche auf- zudecken und des Philosophen häßliche Polemik gegen exakte F"orscher zu tadeln. — Seine Ansichten sind aus einem Guß und darum nur als Ganzes bedeutungsvoll. Eine Kritik darf sich nur auf das Ganze beziehen. Einen grundlegenden Widerspruch des Sy- stems, der jedem Physiker mehr auffallen wird als Botanikern und Zoologen, deckte Vokelt auf ") Schopenhauer hat in seiner Willens- metaphysik die Welt aus einem alogischen, un- vernünftigen Prinzip abgeleitet. Und doch ver- läuft, was auch Schopenhauer anerkennt , die Welt nach unveränderlichen festen Gesetzen. Der Philosoph hat den Widerspruch gefühlt und eine '1 Schopenhauer, 1. c. § 24. Cotta S. 172. ^j Vgl. Volkelt, Schopenhauer. 4. Aufl. Stuttgart. N. F. XVIII. Nr. lo Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 139 Zwischenwelt geschaffen, das Reich der platoni- schen Idee. Das ist ein Abfall vom ursprüng- lichen Grundgedanken. Der Wille benimmt sich als ob er vernünftig wäre. Ja noch mehr! Die Vernunft , die Magd des Willens , kann in der Ethik schließlich den einzigen Weltgrund, die Welt selbst überwinden. Ich glaube hier liegt der Charakter mit der empirisch gegebenen Welt im Kampf. Schopen- hauer's starke Persönlichkeit schuf die Willens- lehre, sein Pessimismus färbte sie düster, machte den Willen zum unvernünftigen Trieb. Eine Stütze fand diese Entwicklung in dem negativen Verhältnis des Philosophen zum Zeitgeist, das heißt in diesem Fall zu Hegel 's logischer Welt. Und doch zeigte ihm die Forschung der Zeit all- überall strenge Gesetzmäßigkeit und zwang ihm so gegen seinen Charakter die Ideenlehre auf. Manchmal wird ihm dieser Abfall vom eigenen Charakter dunkel bewußt. Dann nennt er die Ideen subjektive Gebilde. Meist aber stellen sie uns die in unveränderlich starre Formen gegossene Gesetzmäßigkeit der Welt vor Augen. Zu starr sind sie geworden, denn jede Entwicklung schließen sie aus. Sind sie doch die außer der Zeit ewig gegebenen Urbilder des Seins. Hier gerät der Biologe und der Historiker in Konflikt mit Scho- penhauer. Keine Geschichte, keine Entwick- lung — und aus Haß gegen jede Entwicklung die Neigung zur alten Katastrophen-Sintflutlehre — das kann nicht wissenschaftlich ernst genommen werden. Schopenhauer's Leugnung der Entwick- lung und der erfolglose Kampf gegen die Gesetz- mäßigkeit läßt uns in manchen Augenblicken den sonst so sehr verachteten Hegel sympatischer erscheinen. Sein Weltgrund ist die Intelligenz, — und die ist dem Gesetzmäßigen verwandter als der dunkle Trieb. Aber Hegel' s „These" ist eben- so einseitig wie Schopenhauer's „Antithese". Im Hegel 'sehen Sinn müßte aus beiden die „Synthese" folgen. Wir finden sie in der Tat bei Hartmann, welcher versucht Schopenhauer's Willen mit Hegel 's intelligentem Weltgrund im „Unbewußten" zu vereinen. Widersprüche, die erst eine spätere Zeit gegen Schopenhauer herauf beschwor, können diesem nicht zum Vorwurf gereichen. Zwei Dinge sind es, welche die moderne Physik, genauer die neue Thermodynamik, betont. Der Einheitsgedanke, wie er im Energieprinzip zum Ausdruck kommt, und die Weltentwicklung, als gerichtete Größe, welche der zweite Hauptsatz lehrt. Der Einheitsgedanke gelangt bei Schopenhauer natürlich zu vollem Recht, denn seine Lehre ist monistisch. Die Weltenentwicklung aber ist für ihn ohne Ziel. Die Zweckmäßigkeit, das Zueinanderpassen der Teile, kommt nur dadurch hinein, daß alles der Ausfluß eines einzigen Willens ist. Sie verliert aber ihren Sinn, da sie kein Endziel hat und die Harmonie der Teile von einem gegenseitigen Zer- fleischen überwogen wird. Die Welt findet ihren Abschluß nur in der einzelnen, weltüberwindenden Gestalt des Asketen. Schopenhauer's Ethik reißt die größte Kluft zwischen seiner Weltanschauung und unsere Natur- wissenschaft, unsere Kultur. Die heutige Physik läßt ein Weltziel ahnen; dem strebt aber nicht das einzelne zu, sondern die Welt überhaupt. Das einzelne ist nur ein kleiner Teil des Ganzen und hat innerhalb der Gesetze des Ganzen zu wirken. So berühren sich Physik und moderne Kultur. Schopenhauer aber ist extremer In- dividualist, sein Asket nimmt den Kampf auf mit der ganzen Welt. Hier ist nicht der Ort Schopenhauer's metaphysische Träume weiter auszuspinnen und vielleicht gar den Versuch zu machen sie in Ein- klang mit den Fortschritten der Physik zu bringen. Hier sollte nur an einem „krassen Fall" gezeigt werden, welchen Einfluß Charakter und Zeitgeist auf die Weltanschauung haben. Gerade die Wider- sprüche in Schopenhauer's System konnten dies vielleicht am besten tun. Wenn auch im Weltbild des normalen Gelehrten und des natur- wissenschaftlich gebildeten Laien keine so unge- heuer mächtigen Kräfte am Werke sind wie bei Schopenhauer, so werden die schwachen Kräfte im kleinen doch ähnlich wirken und Ver- hältnisse zustande bringen, deren Vergrößerung ins Gigantische die hier vorgeführten sind. Und darum wird vielleicht das Überlebensgroße an Schopenhauer uns recht eindringlich zeigen, wo wir Einflüsse auf jedes Weltbild zu suchen haben — und wo wir uns vor persönlichen Fehlern hüten müssen. Einzelberichte. Botanik. Haberlandt hat die Frage: inwie- weit unterliegen die Zellmembranen der Verdauung im tierischen Darm? mit den Untersuchungs- methoden der botanischen Mikroskopie in Angriff genommen und gibt jetzt einen Bericht über die Ergebnisse (Beiträge zur Allgemeinen Botanik, Bd. 1, 191 8, S. 501). Sie sind nicht nur lehrreich im Hinblick auf die Ernährungsphysiologie, son- dern gewähren auch interessante Einblicke in chemische und strukturelle Eigentümlichkeiten pflanzlicher Zellmembranen, auf die man gewisser- maßen den tierischen Organismus als neues Reagens hat einwirken lassen. Neben der Zellwand wur- den gelegentlich auch die Zeilinhaltsbestandteile, wie z. B. die Zellkerne berücksichtigt. Es wurde zunächst geprüft, wie sich pflanzliche Stoffe im menschlichen Verdauungskanal verändern. Blattfragmente von gekochtem Grünkohl waren im 140 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 10 Kot weitgehend mazeriert, sie waren aber nicht aufgelöst, sondern nur stark gequollen. Kutikula und Spiraltracheiden blieben ganz unverändert. Die Zellkerne waren verschwunden, wie sich be- sonders deutlich in den Schließzellen nachweisen ließ. Die natürliche Verdauung wirkt also anders als die künstliche mit Pepsin-Salzsäure, die be- kanntlich Zellkerne nicht angreift. In einem an- deren von Rubner angestellten Versuche ver- mochte die Versuchsperson die Zellwandsubstanz des Wirsingkohls noch wesentlich stärker anzu- greifen. Nicht weniger als 88,32 "/„ wurden resor- biert, und im Kote fanden sich nur Fetzen von Kutikula, Kollenchymfragmente und Bruchstücke der Wasserleitungsröhren, die aber auch in eigen- tümlicher Weise zerfallen waren. Von den Zell- wänden des Schwamm- und Palisadenparenchyms war nichts mehr nachzuweisen. Nach dem Genuß von feingeschliffenem Birkenholz waren die Holz- zellbruchstücke an den Enden oft pinselartig auf- gelockert. Bei Buchenholz war dies nur selten zu bemerken, dagegen waren lokale Korrosionen häufig, die auch sonst an im Kot befindlichen Zellfragmenten dickerer Art sichtbar, von Haber- landt jedoch wohl mit Recht auf die enzymati- sche Wirkung anhaftender Kolonien zellulose- lösender Bakterien, also nicht unmittelbar aufVer-* dauungskräfte selber zurückgeführt werden. Wie Rubner schon feststellte , vermag der Hund, seltsamerweise, kann man wohl sagen, Birkenholz- schliff ziemlich gut auszunutzen. Er resorbiert 30,21 "/(, der Zellmembransubstanz. Dement- sprechend waren die Holzteilchen stark korrodiert. Noch auffallender war der Befund R u b n e r ' s , daß der Hund von gepulverter Haselnußschale 29,6 "/„ resorbierte. Mikroskopisch erinnerten viele der Sklerenchymzellen an korrodierte Stärke- körner. Das Rind ist imstande, im Roggenstroh, das in Form von Häcksel verfüttert wurde, die Parenchymstreifen , die zwischen den Bastrippen entlangziehen, bis auf die letzten Reste aufzulösen, desgleichen die Siebteile der Gefäßbündel. Das Schaf nutzte, wie Haberlandt in Gemein- schaft mit Z u n t z feststellte, Birkenholzschliff noch wesentlich besser aus als der Hund, es konnte von der Rohfaser 50,06 % in Lösung bringen. Mikroskopisch kam dies in gruben-, loch- oder spaltenartigen Korrosionen der Holzzellen, sowie in einer eigenartigen Änderung ihrer Mikrostruktur zum Ausdruck, die den Schluß nahelegte, daß aus den Zellmembranen gewisse Stoffe herausgelöst werden. Markstrahlen zeigten nur geringe, Ge- fäße gar keine Veränderung. Chemisch aufge- schlossenes, d. h. durch Kochen mit Natronlauge mit oder ohne Druck gewonnenes Stroh, soge- nanntes Kraftstroh, ist nach den Erfahrungen der Landwirte ein sehr gutes Futter. Die mikrosko- pische Untersuchung ergibt zunächst eine sehr weitgehende Isolierung der Zellen, ferner eine starke Quellung der Zellmembranen und eine Be- freiung derselben von den inkrustierenden Holz- substanzen. Sie geben im Gegensatz zum gewöhn- lichen Stroh nicht mehr die charakteristische Rot- färbung mit Phlorogluzin und Salzsäure. Ein so verändertes Stroh muß begreiflicherweise den ver- dauenden Kräften des Tieres eine wesentlich bessere Angriffsfläche bieten. Im Pferdekot waren denn auch die Bastzellen weitgehend an- genagt und stellenweise abgeschmolzen; charakte- ristisch waren zahlreiche Bakterien. Nach Bieder- mann enthält das Lebersekret der Schnecken auch eine Zytase, die nicht nur Reservezellulose, sondern auch gewöhnliche Wandsubstanz, soweit sie nicht kutikularisiert oder verholzt ist, aufzu- lösen vermag. Haberlandt fütterte nun Schnek- ken mit Kohlblättern, prüfte den Kot und fand, daß die Zellwände des Palisaden- und Schwamm- parenchyms vollständig, die Epidermis bis auf ihre kutikularisierten Bestandteile, das KoUenchym da- gegen sowie die gesamten Gefäßbündel (merk- würdigerweise mit Einschluß des Siebteiles) gar nicht aufgelöst werden. Auch Zellkerne waren nicht mehr nachzuweisen, doch waren die Chloro- phyllkörner noch unterscheidbar. Die großen Zellkerne von Tradescantia wurden im Schnecken- darm zu geschrumpften, sehr inhaltsarmen Gebilden umgewandelt. Kartoffelstärke wurde im Gegen- satz zu den Beobachtungen von Stahl und Biedermann in freilich nur geringem Maße an- gegriffen Holzzellen des Birkenholzes wurden in Büschel aufgefasert, die Hyphen von Hutpilzen wahrscheinlich ausgelaugt. Interessant war die Untersuchung von Raupenkot. Raupen des Kohlweißlings vermögen nämlich die Zellwände so gut wie gar nicht anzugreifen , das Zellnetz bleibt ganz intakt und sieht normal aus. Auch Stärke wird nur schwach verändert. Dagegen werden Plasma und Zellkerne auch aus nicht ge- öffneten Zellen fast vollständig herausgelöst und die Chlorophyllkörner stark angegriffen. Eine Eule (Agrotis polygona) und der braune Mönch (Cucullia verbasci) verhielten sich ebenso, dagegen war eine Minierraupe (Cemiostoma laburnella) be- fähigt, Zellwände wenigstens teilweise zu ver- dauen. Die Verdauungstätigkeit holzfressender Raupen (untersucht wurde das Blausieb Zeuzera pyrina) scheint sich vorwiegend auf das Markstrahl- gewebe zu erstrecken, und zwar ist hier wiederum der plasmatische Inhalt samt den Zellkernen voll- ständig herausgelöst. Raupen scheinen also kleine Feinschmecker zu sein, die nur die wertvollsten Bestandteile aus ihrer Nahrung herausziehen , sie stehen den Fleischfressern näher, als man nach ihrer Rohnahrung vermuten sollte. Zum Schluß sei noch darauf hingewiesen, daß namentlich bei den Säugetieren und hier wieder- um bei den Pflanzenfressern, vor allem bei den Wiederkäuern die Frage der Ausnutzbarkeit von Zellulose dadurch kompliziert wird, daß nicht nur die Verdauungssäfte des Tieres, sondern auch die Enzyme der Darmbakterien dabei eine Rolle spielen. Miehe. N. F. XVIII. Nr. 10 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 141 Das Frühtreiben der Pflanzen und die Winter- ruhe der Holzgewächse. Seitdem Johannsen 1900 sein Äther= Treibverfahren bekannt gemacht hat, sind eine ganze Reihe anderer Methoden aufgefunden worden, die es ermöglichen, die Ruhe- zeit der Holzgewächse abzukürzen und ihre Knospen zum vorzeitigen Austreiben zu bringen (vgl. Nat. Woch. 1916, S. 507). Neuerdings hat sich Friedl Weber im pflanzenphysiologischen Institut zu Graz mit solchen Versuchen beschäftigt und fest- gestellt, daß Zweige des spanischen Flieders, der Linde, der Esche, der Roßkastanie, der Buche sich frühtreiben lassen, wenn sie einen 24 — 48 stündi- gen Aufenthalt in stark acethylenhaltiger Luft durchgemacht haben. Er fand weiter bei Ver- suchen, die auf den Flieder beschränkt wurden, daß Wasserstoff, Stickstoff, Kohlensäure, Ammoniak- und Formaldehyddämpfe einen ähnlichen Einfluß ausüben, und als er Lindenzweige stundenlang in Wasserstofifsuperoxydlösung (10%, auch 5%) badete, wurde gleichfalls eine vorzeitige Entwick- lung der Knospen erzielt. Von gewissen theore- tischen Erwägungen ausgehend, untersuchte er dann auch die Einwirkung von Cyankali auf Fliederzweige und stellte fest, daß ein mehrstün- diges Bad in verdünnten (0,1 proz.) Lösungen dieser Verbindung die Ruhezeit der Knospen wesentlich abkürzte. Die Ergebnisse der Versuche haben nun We b e r Veranlassung gegeben, die Wirkungsweise der Früh- treibmethoden und im Zusammenhange damit die Ursachen der Winterruhe eingehend zu erörtern. Er erklärt den Einfluß der Treibmittel im Sinne der Verworn 'sehen Narkosetheorie durch vor- übergehende Behinderung der Sauerstoft'atmung unter gleichzeitiger Fortdauer der intramolekularen Atmung. Er ist geneigt anzunehmen, daß die hierbei entstehenden geringen IVIengen bestimmter Stoffe (z. B. Alkohol) einen stimulierenden Einfluß auf das Wachstum ausüben, wodurch der Austritt aus der Ruhe beschleunigt wird. Zu dieser An- schauung kam Weber wesentlich durch den positiven Ausfall der Versuche rnit Cyankali, von dem bekannt ist, daß es die Atmung herabsetzt. Nach .den Untersuchungen von iVIansfeld (1911) wirken Narkotika, Sauerstoffmangel und Blausäure- dampf beschleunigend auf die chemischen Prozesse beim Keimprozeß (Steigerung des Fettverbrauchs). Da auch in Weber's Versuchen das als Narko- tikum zu betrachtende Acetylen, der Sauerstoff- mangel (Stickstoffatmosphäre usw.) und Blausäure (Cyankali) übereinstimmend wirken, so kann (ob- wohl die Analogie mit der Keimung nicht völlig zutrifft) angenommen werden, daß auch beim Frühtreiben eine direkte Beschleunigung chemi- scher Prozesse eintritt. Eine zweite Erklärung der Erscheinung des Frühtreibens stützt Verf. auf die von einigen Forschern festgestellte Tatsache, daß die Epider- miszellen der amerikanischen Rhoeo discolor (einer Verwandten von Tradescantia) im Winter, wo sie eine Ruhezeit durchmacht, für verschiedene StofTe viel weniger durchlässig (permeabel) sind als in den Sommermonaten (vgl. Nat. Woch. 1918, S. 93). Hieraus wird auf die Möglichkeit geschlossen, daß der Eintritt der Holzgewächse in die Ruheperiode mit einer Verringerung der Durchlässigkeit, der Austritt aus der Ruhe mit ihrer Erhöhung zu- sammenhänge. Tatsächlich ist für mehrere Treib- stofife (Cyankalium, Wasserstoftsuperoxyd, Ammo- niak usw.) nachgewiesen, daß sie die Permeabilität der Zellen erhöhen. Klebs führt den Eintritt der Holzgewächse in die Ruhe darauf zurück, daß infolge Vermin- derung des Wachstums (durch Nachlassen irgend- eines wesentlichen Faktors, wie Wärme, Feuchtig- keit, Nährsalzgehalt, Licht) eine Abnahme des Ver- brauchs und damit eine Speicherung organischer Stoffe eintritt, deren Menge so im Verhältnis zu dem Gehalt an Nährsalzen zu groß wird (rela- tiver Nährsalzmangel), und daß hierdurch der Stoff- wechsel, besonders die fermentative Tätigkeit, ein- geschränkt wird. Gegenüber der letzten Annahme fügt Weber den von anderer Seite gemachten Einwänden das Ergebnis eigener Versuche hinzu, in denen sich durch Enzyme (Diastase) oder Akti- vatoren von Enzymen (Milchsäure, Mangansalze u. a.) die Ruheperiode nicht aufheben ließ. Die Zurück- führung der Wachstumsverminderung ausschließlich auf äußere Einflüsse (namentlich Mangel an Nähr- salzen) wird von den meisten Forschern, auch von Weber, abgelehnt; wogegen dieser des Näheren darlegt, daß die zuerst von Simon 1914 aus- gesprochene Ansicht, der Eintritt in die Ruhe werde durch die Bildung von Ermüdungs- (Hemmungs)st offen bedingt, trotz der Ein- wände von Klebs Anspruch auf Beachtung habe. Nach Reinitzer (,1893) würden die Ermüdungs- stofife u. a, eine Verlangsamung oder Einstellung des Wachstums herbeiführen können. Es liegen einige weitere Angaben vor, daß wirklich solche Stoffe i^Kenotoxine nach Weichard t) in der Pflanze gebildet werden. Der Eintritt in die Ruhe würde dann durch einen autonom entstandenen Depressionszustand bedingt sein. Die durch die Ermüdungsstoffe hervorgerufene Verminderung des Wachstums könnte weiterhin die von Klebs geforderten Folgen (Speicherung der Assimilate, Herabsetzung der Fermenttätigkeit) und damit die Vertiefung des Ruhezustandes nach sich ziehen. Vgl. hierzu die Untersuchungen Gaßner's über Wintergetreide usw., Natur w. Wochenschr. 191 8, S. 29. (Sitzungsberichte der Wiener Akademie. Math.-Naturw. Kl. Abt. i, 1916, Bd. 125, S. 189 bis 216, 311-351; 1918, Bd. 127, S. 57-90- F. Moewes. Periodische Erscheinungen an Wurzeln. Wäh- rend im Dickenwachstum der Wurzeln sich jene Periodizität des Zuwachses, wie sie im Stamme zur Bildung der Jahresringe führt, nur undeutlich geltend macht, treten im Längenwachstum merk- würdige periodische Erscheinungen auf, über die 142 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. lo M. Plaut (Festschrift zur P'eier des loo jährigen Bestehens der Landwirtschaftlichen Hochschule Hohenheim, S. 129) im Anschluß an seine früheren Untersuchungen zusammenfassend berichtet. Die Spitzen der Wurzeln schließen sich nämlich im Herbst durch ein besonderes Gewebe ab, das oft, aber nicht immer braun gefärbt ist und aus ver- korkten Zellen besteht. Bei den Dikotylen , und zwar wahrscheinlich bei allen unseren Sträuchern und Bäumen, findet dieser Abschluß in der Weise statt, daß sich die Wurzelhaube mit einer Schale verkorkter Zellen umgibt, die meist oben an die die älteren Wurzelpartien umkleidende Korkschicht anschließt. Bei manchen Gymnospermen ist dieser Abschluß noch komplizierter, indem vom Rande der Spitzenkappe rings noch eine Korklamelle das Rindengewebe bis zur Endodermis durchsetzt, so daß auch von oben her das Wurzelmeristem bis zum zentralen Gefäßbündel abgeschlossen wird. Diese Hüllen werden nun im Frühjahr wieder durchbrochen, oft, wie z. B. besonders deutlich bei Ribes sanguinea und bei Taxus, kann man diese periodischen Durchbrechungen in Form von Einschnürungen deutlich feststellen. Wahrschein- lich müssen auch die merkwürdigen Kurzwurzeln, die man im Herbst an Roßkastanien auftreten sieht, mit den obigen Erscheinungen in Zusammen- hang gebracht werden. Plaut faßt sie geradezu als ruhende Wurzelknospen auf. Miehe. Medizin. A.W. Fischer- Halle (Münchener medizinische Wochenschrift, Nr. 46, vom 12. No- vember 19 18) beantwortet die Frage: weshalb sterben an der gegenwärtigen Grippe gerade die kräftigsten Personen im Alter von 20 — 35 Jahren? in emleuchender Weise. Bei den Mischinfektionen spielen bekanntlich Eitererreger die Hauptrolle. Die von letzteren gebildeten Gifte sind Endotoxine, d. h. im Körperplasma der lebenden Bakterien eingeschlossen ; erst wenn diese abgetötet sind und zerfallen, werden die Gifte frei und können, durch die Körpersäfte verbreitet, ihre verderbliche Wirkung ausüben. Nun sind aber gerade die kräftigsten und mit Immunstoffen am besten aus- gerüsteten Menschen am ehesten dazu befähigt, jene Keime zu vernichten, so daß mit den als- dann in Freiheit gesetzten Endotoxinen der Or- ganismus geradezu überschwemmt wird und der akuten Vergiftung erliegt. Dem Gesagten ent- spricht auch ganz die wiederholt beobachtete Er- scheinung, daß schwächere und kachektische In- dividuen die Mischinfektion leichter überwinden; die Eitererreger werden bei ihnen nach und nach vernichtet, so daß der Organismus die Giftwirkung der geringeren Menge von Endotoxinen besser übersteht. Kathariner. Anatomie. Der menschliche Wurmfortsatz ist bisher allgemein als ein rudimentäres Organ be- trachtet worden, dem man auch keine besondere Funktion zuschrieb. Peter berichtet in der Münchener Med. Wochenschr. (Jahrg. 65, Nr. 48) über neuere P"orschungen, welche die bisherige Anschauung umzuwerfen scheinen und den Wurm- fortsatz als ein mit besonderer Funktion versehenes Organ erkennen lassen. Schon vor zehn Jahren hatte Peter betont, daß er in der Appendix ein lymphoides Organ sähe. Der im Kriege gefallene Anatom Muthmann hat in einer vergleichenden anatomischen Arbeit die Frage behandelt, ob der Wurmfortsatz als ein rudimentäres Organ zu be- trachten sei. Die Entwicklung des Blinddarmes, zu dem der Wurmfortsatz ja nur einen Anhang bildet, zeigt in den verschiedenen Säugetierklassen eine ganz verschiedene Ausbildung, und zwar so, daß von einer Rückentwicklung desselben in einer bestimmten Klasse nicht die Rede sein kann. Allem Anschein nach hängt die Ausbildung des- selben von einer bestimmten Funktion ab. Beim Pferd ist eine bedeutende Zelluloseverdauung im Blinddarm nachgewiesen. Muthmann zeigt, daß bei den meisten Pflanzenfressern die Größe des Blinddarms im umgekehrten Verhältnis zur Kom- pliziertheit des Magens steht, so daß der Blind- darm gegebenenfalls für den Magen eintreten muß. Der Wurmfortsatz findet sich als einzige Zökal- bildung beim Schnabeltier und den Edentaten, bei dem Beuteltier Phascolomys, dem Hasen, dem Menschenaffen und dem Menschen ist er dagegen als ein Anhängsel eines weiten Zökums vor- handen. Da die vergleichende Anatomie die An- schauung, daß der Wurmfortsatz ein rudimentäres Gebilde sei, nicht unterstützt, so wird diese Theorie abgelehnt. Es wird gezeigt, daß die Variabilität der Länge des Wurmfortsatzes, die so häufig als ein Beweis für seine Natur als rudimentäres Organ angeführt wird, im Verhältnis nicht größer ist als die der Länge des Darmes. Also auch dieser Be- weis wäre hinfällig. Der Bau der Appendix, deren Lumen eng ist, und der Falten und Haustren fehlen, ist der eines lymphoiden Apparates. Muthmann bezeichnet sie als eine Tonsilla coecalis. Der Bau dieses Organes ist derart, daß er gegen das Darmlumen möglichst abgeschlossen ist. Aus alledem geht hervor, daß es sich nicht um ein gleichgültiges Organ handelt, sondern, daß es eine spezielle Funktion haben muß. Mo liier und Jolly spre- chen von lymphepithelialen Organen, bei denen bestimmte Beziehungen zwischen den Lympho- cyten und den Epithelien bestehen (Thymus, Ton- sillen, Bursa fabricii der Vögel). Hierzu gehören auch die Tonsillen des Kaninchendarmes, speziell die in der Appendix. Über die P"unktion dieser Organe ist noch nichts bekannt. Vielleicht stehen sie in Beziehung zum Wachstum. Den Einwurf, daß der Wurmfortsatz ohne Schaden für den Körper entfernt werden könne und häufig erkranke, und daher schädlich oder gleichgültig für den Organismus sei, tut Peter damit ab, daß er annimmt, es träten in diesem Falle andere lymphoide Organe vikariierend für den Wurmfortsatz ein, wie es ja z. B. für die Nieren N. F. X II. Nr. 10 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 143 bei der Entfernung der einen Niere bekannt ist. Die häufige Erkrankung sei auf unsere unhy- gienische Lebensweise zurückzuführen. In der Tat sollen auch bei anderen Völkern mit anderer Lebensweise die Erkrankungen des Wurmfortsatzes weit seltener sein. Willer. Physik. Im Jahrbuch für drahtlose Telegraphie und Telephonie XIII (1918) S. 333 berichtet Ober- ingenieur E. Quäck, Neues über die Großstation Nauen. Als mit Ausbruch des Krieges Deutsch- land von seinen Feinden blockiert und von aller Welt abgeschnitten wurde, war es von größter Wichtigkeit drahtlos mit der neutralen Welt namentlich mit Amerika in Verbindung zu treten. Hier stand die der Atlantic Communication Co. gehörige Station Sayville auf Long Island nörd- lich New York zur Verfügung, die mit dem Sy- stem tönende Löschfunken für 35 KW (Kilowatt) Antennenenergie für den Küstendienst eingerichtet war. Dank verbesserter Empfangseinrichtung ge- lang es, hier drahtlose Telegramme der deutschen Großstation Nauen (Entfernung 6400 km) zu emp- fangen. Als Sayville 191 5 mit einer Hochfrequenz- maschinenanlage für 100 KW Antennenenergie ausgerüstet wurde, gelang es im Juni 1915 trotz aller möglichen Schwierigkeiten von selten der Entente auch von Amerika nach Deutschland draht- lose Nachrichten zu senden. Trotz der beträcht- lichen Leistungen der Großstation Nauen — sie betrug insgesamt im Jahre 191 5 1,33 und 1916 2,58 IVIillionen Wörter — ging man mit großer Energie daran, die Strahlungsleistung von Nauen erheblich zu vergrößern, während das bei Sayville leider nicht möglich war. In welchem Maße das gelungen ist, zeigt folgende kleine Tabelle. gelenk und in 150 m Höhe mit einem zweiten versehen. Durch gegen die Erde isolierte Spann- drähte werden sie gehalten. Ihre Bauzeit betrug 12V2 IVIonat, während die 150 m hohen Masten für die kleine Antenne in 4V2 Monaten (im strengen Winter 19 16/ 17!) hergestellt sind. Da die große Antenne eine Länge von 3 km hat, war die Auf- hängung der Antennendrähte schwierig; sie sind über Rollen geführt, welche mit besonderer Iso- lation an Dachseilen, die über die 260 m hohen Masten gehen, befestigt sind. Für Sturm und Eisbelastung (es wurde Eisbelag bis zu 6 cm Dicke beobachtet) waren besondere Ausgleichs- vorrichtungen nötig. Schwierigkeiten machte bei den hohen Spannungen die Isolation, besonders da sie wegen den gewaltigen Dimensionen der Masten und Antennen große Belastung aushalten muß. Es wurden Porzellankörper benutzt, die immer so angebracht sind, daß sie nur auf Druck beansprucht werden. Trotz der gewaltigen Energie- menge, die von den Antennen aufgenommen wird, zeigt die große bei 600 KW und die kleine bei 200 KW genügende Isolierung auch bei feuchtem Wetter. Zur Erzeugung der Sendeenergie dient für die große Antenne eine Hochfrequenzmaschine nach dem Induktortyp von 800 Pferdestärken. Die Wellenlänge ist 12,5 km. Es können 200 Ruch- staben in der Minute gegeben werden. Der Wir- kungsgrad, berechnet von der Energieaufnahme des Antriebmotors bis zur Antennenenergie ist sehr günstg, nämlich 65 "/„. Seh. Physiologie. Durch eine ausführlich beschrie- bene instrumentale Einrichtung gelang es, die Blutbewegung in den Haargefäßen im mikrosko- 1918 Masten 1908 I V. 100 m Höhe Antennentläche 31 000 qra Antennenleistung 12 KW Erregungsart langsame Funken Reichweite 3600 km große Antenne 2 V. 260 m > ,,.., ■ Hohe 4 V. 120 m j 155 500 qra 400 KW Hochfrequenzmaschinen 20 000 km kleine Antenne V. ii;o m 1 u- 1 ^ ; Hohe V. 135 ra ) 77 560 qm 100 KW tönende Funken 8000 km Die erste Spalte berichtet über die Einrichtung der Station Nauen im Jahre 1908, die zweite da- rüber, wie sie bis zum Jahre 19 18 und zwar namentlich während des Krieges verbessert wor- den ist. Ein besonderer Vorteil ist es, daß zwei An- tennen — in der Tabelle als große und kleine bezeichnet — vorhanden sind. Dadurch wird die Wirtschaftlichkeit der ganzen Anlage beträchtlich gesteigert , außerdem wird dadurch eine erhöhte Betriebssicherheit gewährleistet, da bei Defekten der einen mit der anderen gearbeitet werden kann. Die große Antenne, die 400 KW aufnimmt, hat T-Form, die kleine mit 100 KW die Gestalt eines horizontalen Dreiecks. F"ür die erstere sind zwei 260 m hohe Masten aus Eisengitterkonstruktionen errichtet; am Fuße sind sie mit einem Kugel- pischen Bild zur Anschauung zu bringen und die Geschwindigkeit der Bewegung der roten Blut- körperchen auf mikrophotographischem Weg zu registrieren (Adolf Basler- Tübingen, Pflüger's Archiv für die gesamte Physiologie des Menschen und der Tiere, 171. Band, 191 8). Als Versuchobjekt dienten die Haargefäße eines Beinmuskels (M. sartorius) des kurarisierten Frosches. Die Lichtquelle war eine Bogenlampe und zur Durchleuchtung von unten diente ein Glasstäbchen als Lichtleiter, welches in das Ge- webe des Muskels eingeführt wurde. Durch einen Längsschnitt der Haut wurde der Muskel frei- gelegt und das Blutgefäß auf dem Objekttisch des Mikroskops dem Auge sichtbar gemacht. Da der Verlauf der Haargefäße zwischen den Fasern des Springmuskels annähernd geradlinig ist, war 144 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 10 das Objekt relativ günstig zur Feststellung der Strömungsgeschwindigkeit. Dieselbe betrug im Durchschnitt 0,24 — 1,7 mm pro Sekunde; im Durchschnitt, weil das Blutkörperchen mehr oder minder axial liegen oder der Gefäßwand genähert sein kann und weil die Geschwindigkeit vom je- weiligen physiologischen Zustand abhängt. Trotz- dem das Serum denselben Brechungsexponenten wie der Lichtleiter hatte, so daß es einen Teil der Lichtstrahlen absorbierte, konnte durch Regu- lieren der Lichtquelle die Durchleuchtung stark genug gehalten werden. Kathariner. Anthropologie. Der Sexualdimorphismus der Wirbelsäule des Menschen. Es ist zweifellos für viele Wissenszweige (Prähistorie, Gerichtsmedizin usw.) von Bedeutung, ein einfaches IVIittel zu haben, welches es erlaubt, aus einem Wirbelknochen mit Sicherheit zu erkennen, ob derselbe einem männ- lichen oder weiblichen Individuum angehört hat. Nachdem er schon früher mitgeteilt hätte, wie sich aus dem Gewicht und dem Querdurchmesser des Wirbelknochens das Geschlecht eines er- wachsenen IVIenschen ermitteln ließe, machte Marcel Baudouin in der Sitzung der Pariser Akademie der Wissenschaften vom 28. Oktober 1918 entsprechende, für jedes Alter gültige Daten be- kannt (C. R., Tome 167, Nr. 18). Für die jüngere Steinzeit betrage das Gewicht für den Mann mehr als 6 g, für das Weib weniger, bis 4 g ; der Querdurchmesser wäre mehr als 45 mm bzw. 4o — 45 mm. Für das Jugend- und das Kindes- alter träfen diese Zahlen nicht zu. Der Quer- durchmesser nämlich könnte hier über 45 mm und das Gewicht unter 4 g sein. Er hätte deshalb den Durchmesser des Rückenmarkkanals des Hals- wirbels als Unterscheidungsmerkmal herangezogen. Es wäre die Differenz zwischen sagittalem und transversalem Durchmesser beim Mann bedeutend größer als beim Weib. Bei ersterem schwanke sie zwischen 4 — 7 mm, bei letzterem nur zwischen I — 3 mm. Betrüge also bei einem jugendlichen Knochen die Differenz 1 — 2 mm, so handelt es sich um ein Weib. Mit den gebräuchlichen an- thropologischen Indizes wären die Zahlen : Mann 65 — 75, durchschnittlich 70, Weib 85 — 95, im Durchschnitt 90. Die sexuelle Differenz beträgt also 90 — 70 = 20. Es wäre danach jedem Ana- tom möglich, nach einem Wirbel allein das Ge- schlecht zu bestimmen. Für die Gerichtsmedizin wäre dies besonders wertvoll, da der Knochen auch nach Verscharren, Beerdigung usw. erhalten bliebe. Kathariner. Anregungen und Antworten. Zu dem Aufsatz von V. Br eh m über geschlechtsbegrenzte Speziesmerkmale (Naturw. Wochenschr. N. F. XVllI [1919], Nr. I, S. 4 — 8) lassen sich noch sprechendere Parallelbeispiele aus dem Pflanzenreich anführen. Während aber bei den Kopepoden das Männchen in der phylogenetischen Entwick- lung dem Weibchen vorausschreitet (,, Gesetz der männlichen Präponderanz"), in der Weise , daß zuweilen nahe verwandte Arten nur im männlichen Geschlecht unterscheidbar sind, in- des die Weibchen morphologisch identisch erscheinen, zeigen umgekehrt bei diözischen Pflanzen im allgemeinen die weib- lichen Stöcke in der Geschlechtssphäre (d. h. der Blüte) die Artmerkmale viel stärker differenziert als die männlichen In- dividuen. Mtlandritim dioecmn (L.) Schinz et Thell. (= M. silvestrr Röhl. = M. rubrum Garcke) und AI. album (Mill.) Garcke sind sicherlich 2 gute Arten, die sich auch tatsächlich mit Hilfe reifer Früchte sehr leicht und absolut sicher trennen lassen (abgesehen von Bastarden); aber die Unterscheidung der männlichen Stöcke bereitet häufig Schwierigkeiten, da weder die Drüsenbehaarung des Kelches noch die Farbe der Kronblättcr zuverlässige Unterschiede abgeben, es bleibt als fast einziges Unterscheidungsmerkmal die — bei M. dioecum geringere — Größe der Kelche. Auch das dem M. album sehr nahe verwandte (und vielleicht nur als Unterart desselben zu bewertende) M. divaricatum (Rchb.) Fenzl (= M. macro- carpuvi Willk.) ist von der Hauptart wohl nur in fruchtreifen 9 Exemplaren mit Sicherheit zu unterscheiden. Auf ähnliche Verhältnisse bei der Gattung Amarantus habe ich schon früher (in Ascherson und Graebner's Synopsis V.[i9i4]) hin- gewiesen und u. a. betont, daß bei den diklinen Blüten dieser Gattung die Blütenhülle der 9 Blüten (oft in Verbindung mit einer verbreitungsbiologischen Funktion) morphologisch stärker difi'erenziert ist als diejenige der o^ Blüten, in dem Maße, dafi oft die Merkmale der 9 Blüten allein für die Systematik ver- wertbar sind (S. 227). Die monözischen Arten sind daher zu- weilen im ersten, t/' Stadium, so lange die 9 Blüten noch un- entwickelt sind, geradezu unbestimmbar (S. 231). Und das- selbe gilt auch für die o^ Exemplare der (nordamerikanischen) diöziscRen Amaranfus-Arlea. Über die Vorkommensverhältnisse derselben ist mir leider nichts Näheres bekannt; in den Her- barien liegen oft cf^ Exemplare neben den 9, aber auf ihre Zusammengehörigkeit ist wohl lediglich aus dem gemeinsamen Vorkommen geschlossen, worden. Wie nun aber, wenn einmal nur das qt^ Geschlecht zur Entwicklung kommt oder 2 nahe verwandte diözische Arten durcheinander wachsen? Wird es auch dann noch möglich sein, die spezifische Zugehörigkeit der cr^ Exemplare zu ermitteln? Zurzeit sind isolierte c/^ Stöcke wohl als unbestimmbar zu taxieren. Ja selbst die ver- wandte (diözische) Galtung Acnida ist gegenüber Amarantus ausschließlich auf Merkmale der 9 Pflanzen begründet; ver- einzelt verschleppte (/' Exemplare (vgl. a. a. O. S. 357) lassen sich daher nicht nur nicht spezifisch, sondern selbst nicht ein- mal nach ihrer Gattungszugehörigkeil sicher diagnostizieren I — Es eröffnet sich also auch hier, wie bei den Kopepoden, der experimentellen Untersuchung ein weites Feld, um (z. B. durch Kreuzungen) festzustellen, wieweit die phänotypisch identisch erscheinenden cf^ Pflanzen doch genolypisch ver- schieden sind. A. Thellung (Zürich). Inbalt: August Hippel, Die morphologische Gliederung des Wasserleilungssystems der höheren Pflanzen in ihrer Be- ziehung zur Physiologie der Wasserversorgung. (6 Abb.) S. 129. Victor Engelhardl, Scnopenhauer's Stellung zur exakten Naturwissenschaft. (l Abb.) S. 134. — Einzelbericbte: Haberlandt, Inwieweit unterliegen die Zellmembranen der Verdauung im tierischen Darm? S. 134. F. Weber, Das Frühlreiben der Pflanzen und die Winterruhe der Holz- gewächse. S. I41. M. Plaut, Periodische Erscheinungen an Wurzeln. S. 141. A. W. Fischer, Weshalb sterben an der gegenwärtigen Grippe gerade die kräftigsten Personen. S. 142. Peter, Der menschliche Wurmfortsatz. S. 142. E. Quäck, Neues über die Großstalion Nauen. S. 143. Adolf Basler, Blutbewegung in den Haargefäßen. S. 143. Marcel Baudouin, Der Sexualdimorphismus der Wirbelsäule des Menschen. S. 144. — Anregungen und Ant- worten: Geschlechtsbegrenzle Speziesmerkmale. S. 144. Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstraße 4z, erbeten. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue Folge 18. Band; der ganzen Reihe 34. Band, Sonntag, den i6. März 1919. Nummer U. Beitrag zur Physiologie des Kleinhirns der Teleostier. ^) [Nachdruck verboten.] Von Ludwig Reisinger. Mit 2 Abbildungen. I. Einleitung. Von den zahlreichen Untersuchungen, deren Gegenstand das Kleinhirn der Säugetiere war, sind jene Luciani's und Munk's besonders er- wähnenswert, da diese beiden Forscher auf Grund ihrer Experimente bestimmte Tneorien über die funktionelle Bedeutung des Cerebellums aufgestellt haben. Die Tätigkeit des Kleinhirns wurde als eine tonische, sthenische und statische erkannt, das heißt das Kleinhirn reguliert die Energie der willkürlichen Bewegungen, das Gleichgewicht und den Muskeltonus. Ausfall der drei Funktionen nach Kleinhirnzerstörung hat das Bild der cere- bellaren Ataxie zur Folge. Während nun Luciani annimmt, daß das Kleinhirn die Funktionen der Körpermuskulatur verstärkt, erkennt Munk") die Tätigkeit des Kleinhirns in der feineren Gleich- gewichtsregulierung beim Sitzen, Liegen, Stehen usw. Franz spricht sich nun dahin aus, daß wahrscheinlich beide Theorien richtig sind, indem er annimmt, daß das Kleinhirn sowohl der Statik als auch der Regulierung der nicht allein statischen motorischen Innervationen dient. Die exakteste Formulierung der Kleinhirnfunktion verdanken wir aber Edinger,'') der das Cerebellum als das Organ des Statotonus anspricht, wobei er als Statotonus diejenige zusammengeordnete und unter dem Einfluß der Schwerkraft ständig wechselnde Muskelspannung auffaßt, welche erforderlich ist, um neben und innerhalb der Bewegung Gang und Haltung zu sichern. II. Bisherige Untersuchungen. Obwohl nun, wie gezeigt, zahlreiche Versuche an Säugetieren angestellt wurden, um die Tätig- keit des Kleinhirns eindeutig klar zu machen, so fanden sich andererseits doch nur wenige F"orscher, welche die Untersuchungen des interessanten Themas auf die Fische ausgedehnt haben, wo doch gerade diese Vertreter der Tierwelt besonders ge- eignet erscheinen, auf Fragen, welche die Gleich- gewichtsregulierung betreffen, Auskunft zu geben, da sie in ihrem homogenen Medium allseitig dem gleichen Druck ausgesetzt sind, demnach im Wasser gleichsam schweben. Im folgenden sollen nun die Resultate der bisherigen L'ntersuchungen der Klein- hirnfunktion der Fische Erwähnung finden. In- dem ich die Arbeit Girgensoh n's,^) die trotz ihres Titels von der Physiologie des Fischgehirns nichts bringt, übergehe, finde ich die Darlegungen Bethe's"*) erwähnenswert, welche im Jahre 1899 in Pflügers Archiv für die gesamte Physiologie erschienen sind und in welchen ihr Verfasser hauptsächlich die Angaben Steiner's^) einer kritischen Nachprüfung unterzieht. Bethe, der seine Experimente an Flaien vornahm, konnte im Gegensatz zu Steiner feststellen, daß einseitige oder doppelseitige Abtrennung des Großhirns keine Bewegungsstörungen verursacht. Ebenso hat Abtragung der Decke des Mittelhirns keine Lokomotionsstörungen zur Folge, dagegen treten ausgesprochene Bewegungsstörungen auf, wenn die Mittelhirnbasis verletzt wird. Diese Angabe stimmt mit meinen später noch zu erwähnenden Resultaten überein, da auch ich fand, daß Zer- störung des Mittelhirns schwere Gleichgewichts- störung veranlaßt. Doch ist die Bezeichnung Mittelhirn insofern nicht zutreffend, als die be- sagten Störungen auf Verletzung der Valvula cere- belli, als einem Teil des Kleinhirns, zurückzuführen sind. Diese Valvula cerebelli liegt allerdings unter dem Mittelhirndach und kann seiner Lage nach wohl dem Mittelhirn zugerechnet werden, gehört aber anatomisch dem Kleinhirn an. Schon aus diesem Grunde ist es unrichtig, wenn Bethe, Steiner und Loeb angeben, daß nach voll- ständiger oder einseitiger Abtragung des sehr entwickelten Kleinhirns keine Bewegungsstörungen auftreten. Eigene Versuche machten mir übrigens unzweideutig klar, daß auch Zerstörung des Corpus cerebelli, also jenes Teiles, der kurzweg als Klein- hirn bezeichnet wird, sehr wohl Bewegungs- störungen zur Folge hat.') Am Internationalen Zoologenkongreß zu Graz im Jahre 19 10 zeigte Franz,*) daß die Fisch- larven ein bedeutend kleineres Cerebellum als die erwachsenen Fische derselben Art besitzen, da sie planktonisch, das heißt im Wasser schwebend ') Die vorliegende Arbeit ist das Resultat einer privat vorgenommenen Untersuchung des Verfassers. -) Munk, Über die Funktionen des Kleinhirns. Sitz.- Ber. d. Kgl. Preuß. Akad. d. Wissensch. 1906. ') Edinger, Über das Kleinhirn und den Statotonus. Zentralbl. f. Physiologie. 1912. *) Girgensohn, Anatomie und Physiologie des Fisch- nervensystems. St. Petersburger Mem. d. Akad. der Wissen- schaften. 1846. ^) Bethe, Die Lokomotion des Haifisches (Scyllium) und ihre Beziehungen zu den einzelnen Gehirnteilen und zum La- byrinth. Arch. f. d. ges. Physiol. 1899. ") Steiner, Die Funktionen des Zentralnervensystems und ilire Phylogenese. 1S88. ') Reisinger, Die zentrale Lokalisation des Gleich- gewichtssinnes der Fische. Biol. Zentralbl. 1915. *) Franz, Über das Kleinhirn und die statische Funktion bei den planktonischen Fischlarven. Vcrhandl. d. VIU. Inlern. Zool.-Kongr. zu Graz. 1910. 146 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 1 1 leben, daher eine entwickelte statische Funktion nicht benötigen. Weiter veranlaßt der Dotter- sack durch seine Schwere rein mechanisch eine stabile Gleichgewichtslage und nimmt demgemäß dem Kleinhifn der Fischembryonen die Arbeit der physiologischen Gleichgewichtsregulierung ab. Diese Überlegungen können als Beweis für die Unrichtigkeit der oben angeführten Ansicht gelten, nach welcher dem Kleinhirn der Fische keine statische Funktion zukommen würde. Denn wäre diese Annahme richtig, dann würde das Klein- hirn der erwachsenen Fische nicht größer sein als das der Fischlarven. 191 1 äußerte sich Franz ^) dahin, daß das Kleinhirn der Fische ein „Zentrum für viele Sinnes- gebiete" sei, eine Auffassung, welche er in seiner umfangreichen Arbeit „Das Kleinhirn der Knochen- fische" -) näher ausführte. Von den Faserzügen, welche dem Kleinhirn Eindrücke zuführen oder vom Kleinhirn Impulse auf die motorischen Kerne des Tegmentums übertragen, ermittelte Franz die folgenden, auch bei den eigenen Versuchen berücksichtigten (Abb. i): 1. Tractus mesencephalo-cerebellaris führt dem Kleinhirn optische Eindrücke zu. 2. Tractus vestibulo-cerebellaris leitet Eindrücke aus dem Vestibulariskern, also indirekt aus dem statischen Sinnesapparat. 3. Tractus laterali-cerebellaris führt Eindrücke aus dem Sinnesapparat der Laterallinie auf direktem Wege dem Kleinhirn zu. 4. Tractus spino-cerebellaris, der bei schnellen Schwimmern besonders gut entwickelt ist, ist seiner physiologischen Bedeutung nach unklar. Franz nimmt an, daß er wahrscheinlich Reize, welche die Körperhaut perzipiert, dem Kleinhirn zuführt. 5. Den Tractus tegmento - cerebellaris faßt Franz in Übereinstimmung mit Herr ick als eine afferente Facialisbahn auf, die wahrscheinlich Eindrücke aus der Kopfhaut dem Kleinhirn zu- führt. 6. Im Tractus diencephalo- cerebellaris vermutet Franz eine cerebellare Riechbahn. Der Tractus vago-cerebellaris und der Tractus trigemino-cerebellans mußten von der physiologi- schen Untersuchung ausgeschlossen werden, da ihr Verlauf nicht genügend sichergestellt ist. 7. Die efferenten Kleinhirnbahnen, das sind Tractus cerebellotegmentalis mesencephalicus und Tractus cerebello-tegmentalis bulbaris, wurden bei den eigenen Experimenten als ein System aufge- faßt, da ihre benachbarte Lage eine getrennte Be- handlung unmöglich macht. III. Eigene Untersuchungen. Die nun folgenden Darlegungen der Resultate eigener Versuche verdanken einer Anregung von ') Franz, Über das Kleinhirn in der vergleichenden Anatomie. Biol. Zenlralbl. 191:. *) Kranz, Das Kleinhirn der Knochenfische. Zool. Jahrbücher. Abt. f. Anat. u. Untog. 19 12. selten Herrn Prof. Edinger's ihre Entstehung. Herr Prof. Edinger, dem ich einen Separat- abdruck meiner Mitteilung ,,Über die zentrale Lokalisation des Gleichgewichtssinnes der Fische" übersendete, gab mir nämlich den Rat, die zu- und abführenden Bahnen des Kleinhirns einzeln anzustechen, um die sich daraus ergebenden Aus- fallserscheinungen studieren zu können. Auf Grund der Darstellung des Faserverlaufes im Cerebellum der Fische nach Franz wurde ein schematischer Plan entworfen, welcher es er- möglichte, die Endigungen der Bahnen im Klein- hirn festzustellen. Als Versuchsobjekte dienten Schleien, Rotfedern und Karpfen, wobei zu jedem Experiment meist zwei Tiere Verwendung fanden. Später machte die Schwierigkeit der Material- beschaffung allerdings eine Beschränkung in der Zahl der Versuchstiere nötig. Bei der Freilegung des Kleinhirns wurde nach den Angaben Steiner's*) vorgegangen. Um ein genaues und vorsichtiges Arbeiten zu ermöglichen, mußte der Fisch aus Abb. I. Schema des Faserverlaufes im Kleinhirn der Teleostier nach Franz. a) Molekularschicht, b) Cbergangsganglion. I. Tractus mesencephalo-cerebellaris. 2. Tractus vestibulo- cerebellaris. 3. Tractus laterali-cerebellaris. 4. Tractus spino- cerebellaris. 5. Tractus tegmento-cerebellaris (Valvulärer Anteil). 5.' Tractus tegmento-cerebellaris (Corpusanteil). 6. Tractus diencephalo ■ cerebellaris. 7. Tractus cerebello - tegmentalis mesencephalicus. 8. Tractus cerebello-tegmentalis bulbaris. dem Wasser genommen und künstliche Atmung eingeleitet werden. Um diese zu bewerkstelligen, wurde in das Maul des Fisches ein Glasrohr ein- geführt, das durch einen Gummischlauch mit der Wasserleitung in Verbindung stand. Es wurde nun ein genügend starker Wasserstrahl durch- geschickt, auf welche Weise die Kiemen genügend ') Steiner, Das zentrale Nervensystem der kaltblütigen Tiere. In Tigerstedt, Handbuch der physiologischen Me- thodik. 1912. N. F. XVni. Nr. II Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 147 befeuchtet wurden und das Tier beliebig lange außerhalb des Behälters gehalten werden konnte. Die Schädelhöhle wurde eröffnet, indem mit einer kleinen, spitzen Knochenschere in der Verbindungs- linie der hinteren Kiemendeckelränder ein Schnitt a geführt wurde, von welchem dann je zwei Schnitte c und b, in der Längsrichtung des Kör- pers verlaufend, angesetzt wurden (Abb. 2). Abb. 2. Eröffnung der Schädelhöhle, a, b, c Scbniltführung. d Angel des Haut-Kuochenlappens. k Kiemendeckel, n Augen, m MiUelhirn. 1 Kleinhirn, v Verlängertes Mark. Diese Längsschnitte kamen bis ungefähr i cm an die Augen heran. Nun wurde mittels einer kleinen, krummen Schere der gebildete Haut- knochenlappen abgehebelt und nasal umgeschlagen, so daß er um die Linie d gedreht werden konnte. Das Fett, welches die Schädelhöhle zum Teil aus- füllt, mußte mit Wattetupfern entfernt werden. Nach dieser Prozedur lag das ganze Fischgehirn übersichtlich und frei vor und konnte nun die in Betracht kommende Nervenbahn mittels einer stärkeren Präpariernadel angestochen werden. Hierauf wurde der Hautknochenlappen zurück- geschlagen, in seine normale Lage gebracht und mit einer einzigen Naht befestigt. Häufig er- eignete es sich jedoch, daß diese nach längerem Aufenthalt des operierten I-^isches im Aquarium einriß und der Lappen nicht mehr wasserdicht abschloß. Bei den späteren Versuchen genügte es, den Lappen einfach sanft anzudrücken, was einen genügend dauerhaften Abschluß der Schädel- höhle für die Zeit der Beobachtung gewährleistete. Nach vorgenommener Operation wurde der Fisch selbstverständlich wieder in das durchlüftete Aquarium gebracht und die Störungen beobachtet. Um festzustellen ob die Eröffnung der Schädel- höhle allein Störungen in der Bewegung verur- sacht, wurde einer Schleie das Gehirn freigelegt, jedoch nicht angestochen, der Hautknochenlappen in die frühere Lage zurückgebracht und angenäht. Nach diesem Eingriff schwamm der Fisch an- fangs unruhig und schwankend umher, was wohl als Schmerzäußerung zu deuten sein dürfte. Nach einiger Zeit wurde er ruhiger, schwamm an- nähernd normal, wobei er sich nur hin und wieder zur Seite neigte. Doch wies er niemals die Bewegungsanomalien auf, wie sie im folgenden geschildert werden sollen. 1. Tractus mesencephalocerebellaris. a) Einer Rotfeder von 17 cm Länge wurde dieser Zug durch Anstechen zerstört. Der Fisch machte beim Schwimmen regelmäßige Pendel- bewegungen um die Längsachse des Körpers und stieß an die Wände des Behälters, was vermuten läßt, daß er Hindernisse nicht wahrnahm. Sieben Stunden nach der Operation konnten die gleichen Erscheinungen noch festgestellt werden. Nach- trägliches Anstechen des Tractus tegmento-cere- bellaris (Corpusanteil) hatte keine Änderung der Wirkung zur Folge. b) Eine Schleie (28 cm) schwimmt einige Zeit nach der gleichen Operation bald auf der rechten oder linken Seite, bald senkrecht stehend, den Kopf nach aufwärts oder abwärts gerichtet. Sie macht den Eindruck, vollkommen desorientiert zu sein, weicht Hindernissen nicht aus, wie es bei der Rotfeder ebenfalls zu sehen war. Die schweren Gleichgewichtsstörungen sind jedoch nicht auf die Zerstörung des Tractus mesencephalo- cerebellaris allein zurückzuführen, da nach An- stechen desselben nur die besagten Pendelbewe- gungen beobachtet werden konnten, wie aus den Versuchen mit einer zweiten Schleie noch ersicht- lich wurde. Vermutlich wurde der caudo-lateral gelegene Tract. vestibulo-cerebellaris mitverletzt, da bei dessen Verletzung schwere, noch zu schil- dernde Stabilitätsstörungen auftreten. c) Bei einer zweiten Schleie, dem dritten Exemplar der Versuchsreihe, kamen die Ausfalls- erscheinungen rein zur Beobachtung. Das Tier mied Hindernisse gleichfalls nicht und vollführte Pendelbewegungen um die Längsachse, welche Bewegungsart auch in der Ruhe beibehalten wurde. Das I<"lossenspiel war normal. Die Unfähigkeit Hindernisse wahrzunehmen lehrt, daß die An- nahme Franz' gerechtfertigt ist, nach welcher der Tract. mesencephalo-cerebell. dem Kleinhirn optische Eindrücke zu vermitteln hat, woraus er- sichtlich ist, daß diesem Faserzug ein Anteil an der Gleichgewichtsregulierung mit Hilfe des Auges zukommt. 2. Tractus vestibulo-cerebellaris. a) Die Verletzung dieses Faserzuges bei einer Karausche von 21 cm Länge hatte die schwersten Gleichgewichtsstörungen zur Folge. In der Ruhe lag der Fisch stark gekrümmt auf der rechten Seite. Er schwamm kräftig, machte dabei aber rotierende Bewegungen um die Längsachse; manch- mal schwamm er auch mit nach abwärts ge- richtetem Kopf oder auf der Seite liegend. Sieben Stunden nach dem Eingriff wurde die Karausche wieder beobachtet. Sie nahm in der Ruhe nor- male Stellung ein, hielt sich am Boden, mit Vor- liebe in den Ecken des Behälters auf. Wird der Fisch durch Berührung zum Schwimmen veran- laßt, so beschreibt er rechtsseitige Kreise, wobei er sich unsicher und schwankend fortbewegt. Beim 148 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVni. Nr. 1 1 Emporsteigen an die Wasseroberfläche nahm er senkrechte Stellung, den Kopf nach aufwärts, ein. Bei schnellem Schwimmen überschlug er sich und die Bewegungen entbehrten zielbewußter Richtung. Die Erscheinungen sind nicht etwa auf Schwäche des Tieres, infolge des operativen Eingriffes zu- rückzuführen, da es sehr kräftig zu schwimmen vermag und festgehalten energische Fluchtbewe- gungen ausführt. b) Schleie (26 cm). Das Tier erholte sich nach Läsion des gleichen Tractus nur langsam, machte anfangs angestrengte Atembewegungen, rührte jedoch keine Flosse. Nach zwei Stunden schwamm der Fisch spontan in den unteren Wasserschichten zwar ständig mit dem Rücken nach abwärts, manchmal auch auf der Seite liegend, wobei er bald auf der einen, bald auf der anderen schwamm, ohne eine zu bevorzugen. Die Schwimm- bewegungen wurden hauptsächlich durch die Tätig- keit der Schwanzflosse bewerkstelligt, während die Brust- und Bauchflossen nahezu in Ruhe ver- harrten. Rollungen um die Längsachse konnten auch bei schnellem Schwimmen nicht beobachtet werden. Die erwähnte seitliche Lage unterscheidet sich von jener im Umstehen begriffener Fische wesentlich, da letztere dauernd in Seitenlage auf der Oberfläche passiv schwimmen und gar keine oder nur sehr schwache Bewegungen ausführen, was hervorgehoben werden muß, um dem Ein- wand zu begegnen, daß das geschilderte Verhalten des Fisches nur Symptome des nahen Todes ge- wesen wären. Stieg der Fisch an die Wasser- oberfläche, so stellte er sich wie das vorerwähnte Exemplar mit nach oben gekehrtem Kopf senk- recht zu dieser, im Gegensatz zu normalen Uschen, welche beim Emporsteigen nur geringe Schräg- lage einnehmen oder in der horizontalen Stellung verharren und nur mit Hilfe der pneumatischen Funktion der Schwimmblase aufwärts schweben. Hin und wieder stand der Fisch kurze Zeit mit dem Kopf nach abwärts ruhig im Wasser. 3. Tractus laterali-cerebellaris. Verletzung dieses Faserzuges bei einem Karpfen veranlaßt keine Ausfallserscheinungen. Der Fisch nimmt während der Bewegung normale Stellung ein und schwimmt wie ein unverletzter Fisch. In der Ruhe lag er auf der Seite. Ob und welche Eindrücke von der Seitenlinie dem Kleinhirn zu- gehen, entzieht sich ebenso der Prüfung, wie die Funktionen anderer, von Sinnesgebieten in das Cerebellum ziehender Bahnen. 4. Tractus spino-cerebellaris. Nach Verletzung dieses Zuges lag der Fisch (Karpfen, 20 cm lang) dauernd auf einer Seite. Sechs Stunden nach der Operation machte er nur schwache Bewegungen mit den Brustflossen, den übrigen Körper bewegte er jedoch gar nicht. Aus dem Wasser genommen vollführte er nicht die geringste Abwehrbewegung. Dieser Umstand spricht für die Annahme, daß der Tract. spino- cerebell. sensible Eindrücke der Körperhaut dem Kleinhirn zuführt, welches den empfangenen Im- puls auf den motorischen Apparat überträgt. Fehlt die sensible Leitung, so fällt auch der Be- wegungsantrieb und mit ihm die Bewegung (in unserem P'alle die Abwehrbewegung) aus. 5. Tractus tegmentocerebellaris. a) Nach Zerstörung des Corpusanteiles dieses Faserzuges schwimmt eine Rotfeder (17 cm lang) anfangs auf der Seite. Nachdem sie sich erholt hat, bewegt sie sich normal und zeigt nur hin und wieder leichte seitliche Schwankungen. Sieben Stunden nach der Operation nimmt der Fisch in der Ruhe eine seitlich geneigte Stellung ein, schwimmt etwas unsicher und vollführt beim schnellen Schwimmen Rollungen um die Längs- achse. b) Schleie (30 cm lang). Einige Zeit nach dem gleichen Eingriff schwimmt der Fisch sehr kräftig und spontan. In der Ruhe nimmt der Fisch die normale Stellung ein, das Flossenspiel ist koordiniert. Er schwimmt häufig in schräger Lage, rollt und überschlägt sich manchmal. c) Schleie (36 cm lang). Es wurde sowohl der Tractus tegmento cerebellaris Corpusanteil, als auch der Tract. tegm. cerebell. Valvulaanteil zer- stört. Zu letzterem gelangt man, wenn man zwischen den beiden Miltelhirnhemisphären mit der Nadel eingeht. Die Auffassung Franz, daß der Tractus tegmento-cerebell. dem Klein- hirn sensible Eindrücke aus der Kopfhaut zuführt, kann nicht bestätigt werden, da Berührung des besagten Körperabschnittes mit einem heißen Draht kein anderes Verhalten erkennen ließ, als es ein normaler Fisch zur Schau trägt. Sich selbst überlassen schwamm der Fisch anfangs auf der Seite, später vorwiegend mit nach abwärts ge- kehrtem Rücken. Rollungen konnten häufig be- obachtet werden. Dieses abnorme Verhalten des Versuchstieres erinnert an die Resultate Bethe's nach Mittelhirnabtragung und bestätigt somit meine Ansicht, daß die Folgen, welche Bethe nach Mittelhirnzerstörung gesehen hat, nicht dem Mittel- hirn als solchem, sondern dem, unter dem Mittel- hirndach liegenden Valvulateil des Kleinhirns zu- zuschreiben sind. 6. Tractus diencephalo-cerebellaris. Nach Anstechen dieses Tractus liegt der Ver- suchsfisch (Schleie 30,5 cm lang) ruhig auf der Seite, beim Schwimmen fallen manchmal unregel- mäßige Bewegungen auf. Nach einiger Zeit schwimmt der Fisch häufiger in normaler Stellung. Mitunter steht er mit dem Kopf nach aufwärts senkrecht im Wasser. Da nach Franz der Tractus diencephalo-cerebellaris eine cerebellare Riechbahn vorstellen soll, so wurde einem nor- malen und dem operierten Fisch einmal verdünnte Essigsäure, später etwas Äther auf die Nasen- höhlen geträufelt. Keines der beiden Tiere zeigte verändertes Benehmen, wasjedoch nicht ausschließt, daß die Franz 'sehe Hypothese zu Recht besteht. Doch entzieht sich infolge technischer Schwierig- keiten die Feststellung des Geruchsvermögens ebenso der Beurteilung wie die Hautsensibilität. N. F. XVIII. Nr. II Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 149 7. Tractus cerebello-tegmentalis bulbaris und Tractus cerebello - tegmentalis mesencephalicus lassen sich nicht getrennt behandeln, da die Züge zu nahe aneinander liegen, weshalb sie von Edinger auch als Tractus cerebello-tegmentalis zusammengefaßt wurden. Die Verletzung dieser Züge hat unorientiertes Schwirnrnen und in der Ruhe Seitenlage des Versuchstieres zur Folge. Der benachbarten Lage wegen sind Mitverletzungen des Tractus vestibulo - cerebellaris und Tractus mesencephalocerebellaris sehr wahrscheinlich, auf welchen Umstand möglicherweise die Ähnlichkeit der Störungen zurückzuführen ist. Am Ende der Versuchsreihe angelangt, kann zusammenfassend gesagt werden, daß als wichtig- ster Faserzug des Kleinhirns zur Erhaltung des Gleichgewichts der Tractus vestibulo-cerebellaris anzusprechen ist. Seiner physiologischen Be- deutung nach ist auch der Tractus mesencephalo- cerebellaris gut differenzierbar. Von den anderen Faserzügen muß jedoch gesagt werden, daß so- wohl ihre Lokalisation auf der Kleinhirnoberfläche, als auch die Prüfung ihrer Funktion auf große Schwierigkeiten stößt. So ist die Untersuchung der Züge, welche sensible Eindrücke leiten, nahezu unmöglich, da gerade bei den, an ein bestimmtes Existenzmedium gebundenen Fischen die Funk- tionsprüfung der Sinnesorgane nur schwer ein- deutige Resultate zeitigen kann. [Nachdruck verboten,] 2. Mai 191 8. Endlich war der Beobachtungs- schirm fertiggestellt. Ich legte den letzten Wacholderbusch quer über das Schlupfloch der Höhle, die für einen Menschen mittlerer Größe so leidlich paßte, und kroch dann hinein, der Wieder- kehr des bei meinem Erscheinen vom Horst ab- gestrichenen Adlers harrend. Seit langen Jahren im Revier, war es ihm nur einmal — im Vorjahre (1917) — gelungen, sein Junges großzuziehen, vorher war sein Gelege regel- mäßig die Beute eines Eiersammlers geworden. Dieser Eiersammler, der im Auftrage eines ge- schäftskundigen ,,Oologen" handelte, kannte das ganze ungeheure Waldgebiet an der Südwestküste des Stettiner Haffs wie seine Tasche. Nichts war ihm heilig, kein Baum zu hoch, kein Weg war ihm zu weit. Er war eine Geißel der Vogelwelt, er äffte das Forstpersonal und wußte immer einen Moment zu erspähen, wo er seine schwarzen Taten — als solche muß der Naturschützler sie buchen — zur Ausführung bringen konnte. Solch eine Bestie in Menschengestalt ist imstande, ein Revier vollständig zu veröden, die edlen, seltenen Tiere systematisch auszurotten. Nun war er tot! Sein Tod sollte Leben bedeuten für so manches bedrohte Vogelpaar, Leben auch für den Seeadler, der mit Zähigkeit an seinem alten Horste haftete. Der Horst, eine gewaltige Reisigburg von i m Höhe und 2 m Durchmesser, mit einigen frischen Kiefernzweigen spärlich besteckt, hat wohl mehrere Zentner Gewicht; er thront auf einer seit zwei Jahren trockenen Randkiefer — ungefähr 25 rn hoch. Schon ein Teil des Horstes, der vielleicht infolge des Sturmes oder aus anderen Ursachen abgeworfen war, mochte wohl einen Zentner wiegen. Dieser Horst, der im Vorjahre nicht be- wohnt gewesen war — vielmehr hatte der Adler in einem zweiten neu angelegten Horst in der Nähe gebrütet — sollte für das Stettiner Museum als Naturdenkmal geborgen werden, denn die trockene Kiefer war der Axt verfallen. Es war Vom Seeadler. Von Paul Robien. alles vorbereitet: die Ausrüstung zu der nicht leichten Aufgabe, Kinematographen- und Photo- graphenapparat usw. Da kam zur freudigen Über- raschung die Nachricht, daß der Adler den alten Horst wieder angenommen habe und wahrschein- lich schon brüte. Im Vorjahre hatte er, unge- achtet der unter ihm hantierenden Waldarbeiter, schon im Februar bei Schnee und Eis an seiner neuen Burg zu bauen begonnen. Mit der Ab- nahme des Horstes war es also nichts, und auch der trockene Horstbaum entging der Axt. Diesen Gedanken nachhängend, erwarte ich, in dem Moospolster ausgestreckt, die Ankunft des Adlers. Er erscheint nach wenigen Minuten, um- kreist ein paarmal mit deutlich hörbaren Flügel- schlägen den Horst und läßt sich dann, unaus- gesetzt sichernd, auf einem sparrigen Zacken am Horst nieder, faltet die riesigen Schwingen und äugt dann, ich möchte sagen, liebevoll auf den Horstinhalt, wahrscheinlich das noch sehr kleine Junge, denn vor kurzem hatte ich kleine Eier- schalenreste unter dem Horstbaum gefunden. Meinen Schlupfwinkel schräg unter dem Horst, der sich in nichts von einem Haufen Wacholder- büsche unterscheidet, würdigt er nicht eines Blickes. Nach mehrmaliger Bewegung steigt er vorsichtig in die Horstmulde hinab und setzt sich dann, eine Weile am Boden hantierend, nieder. Lediglich das Haupt ragt ein wenig über den Horstrand hinweg, und das stolze Auge durch- späht unablässig das dichte Wipfelmeer der Kiefern. Bei jedem verdächtigen Laut reckt er den Hals empor. Da sitzt er nun vor mir, der größte deutsche Aar, greifbar nahe, denn das gute Glas zieht ihn förmlich an. Dazu ein günstig klares Licht. Ich habe das Gefühl, als brauche ich nur die Hand auszustrecken, um den Horst zu berühren. Ich blicke in das herrliche Auge; Kraft, Trotz und Adel leuchten aus ihm und strömen über auf den Beobachter. Wie lange noch soll sich sein edles I50 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. II Geschlecht des Lebens erfreuen ? Bedroht von der Mordsucht der menschlichen Bestie, geächtet von den erbärmlichen Rechnern, die alles Genieß- bare, was die reiche Natur an alle gibt, an sich raffen, ist er allmählich auf die Liste jener Tier- arten gekommen, deren Aussterben wir über kurz oder lang erleben. Und findet er auch wie hier eine sichere Freistatt, ein letzes Asyl, vor dem schleichenden Scheusal des Eierräubers ist er nicht sicher. Betrachte dir den Horstbaum : Eine Stacheldrahtspirale windet sich auf mehrere Meter in die Höhe, darüber ist der Stamm noch auf einige Meter mit Raupenleim bestrichen — alles Maßregeln , das Heiligtum vor dem kletternden Unhold zu schützen. Das ist Vogelschutz! Geh hundert Schritte weiter den Gestellweg entlang. Eine lange Stange mit einem Strohwisch gebietet dir — oder vielmehr den jenseits dieser Grenze bei der Harzgewinnung tätigen Waldarbeitern Halt. Bis hierher und nicht weiter 1 Halt vor dem Heiligtum 1 Der Forstmann, der diese Anordnung trifft, um seinen Schützling nicht zu stören, darf des Dankes Tausender sicher sein. Mögen uns auch Welten trennen, das Gedenken dieser Tat wird fortleben, solange Leben auf der Erde ist. Wir wenigstens, die wir den Schutz der Natur auf unsere Fahne geschrieben, die wir nicht müde werden wollen, im Kampf gegen alles Niedrige, Rohe und Gemeine, im Kampf für die höchsten und geklärtesten Ideale des Menschentums — wir danken ihm aus vollem Herzen. Und wenn unser Schicksal — das des Adlers und das unsrige — das gleiche sein sollte — hingestreckt zu werden von der giftigen Waffe der Niedertracht und der Bosheit — so wollen wir mit dem stolzen Be- wußtsein scheiden, dem Gift bis zum letzten Augenblick getrotzt zu haben. . . . O dieses Auge! Es ist wohl der Stolz eines jeden Ornithologen, wenigstens einmal im Leben einem freien Adler ins königliche Auge zu blicken. Der Systematiker freilich wird diese Bewunderung ein wenig überschwenglich finden, rechnet er doch die Gattung Haliaetus nicht einmal zu den edlen Adlern, zu denen er nur die Aquila-Arten zählt. Nichtsdestoweniger ist die ganze Gestalt Adel und Stolz. . . . Mehrmals umkreist das Männchen den Horst und läßt sich dann auf einer nahen Kiefer nieder. Es müssen beide Gatten alte Tiere sein : auffallend hell der Kopf, leuchtend gelb der gewaltige Schnabel, besonders die Wachshaut und reinweiß der Keilschwanz. Ich liege nun schon 2 Stunden steif und regungslos in dem überdachten Moos- loch. Wenn die Adlermutter ein Junges im Horst hat (siehe Eierschalen unter dem Horst) muß es noch sehr klein und wärmebedürftig sein, denn es erhält in der ganzen Zeit keine Atzung. In der Nähe des Horstes reges Vogelleben : Hauben- meisen, Baumläufer, Baumpieper, einige Buch- finken — und die unvermeidlichen Parasiten: die Nebelkrähen. Ein Baumläuferpaar hat in der Knüppelburg des Adlers seine Jungen, alle paar Minuten fliegt eins der Alten, Futter im Schnabel, den Horst von unten an und verschwindet in einer Lücke desselben. Da erhebt sich der Adler, so daß der braune Rücken sichtbar wird, tritt vorsichtig in der Mulde umher und schnäbelt das Junge, denn ich höre eine bussardähnliche ge- dämpfte Stimme. Ich sage das Junge, doch ich weiß nicht, ob es nicht gar deren zwei sind. Das Weibchen nimmt jetzt eine andere Lage ein und richtet den Kopf nordwärts. Ich verlasse unge- sehen, steif und fast lendenlahm, das feuchte Loch und umschreite mehrmals den Horst, um dann befriedigt Abschied zu nehmen von dem liebge- wonnenen Freund. Am 5-J"J' weile ich wieder längere Zeit unter dem Korst. Ich hatte über Nacht die Ziegen- melker des Gebiets verhört und war schon in der Dunkelheit eingeschlüpft. Ich muß lange warten. Erst als es völlig hell ist, streichen beide Alten fort, das Weibchen vom Horst, das Männchen von seinem Wartbaum. Meine Geduld wird auf eine harte Probe gestellt. Ich höre jetzt das Junge mehrmals heiser schreien, ein gedehntes iiw. Erst gegen 1 1 Uhr (1) findet die Fütterung statt. Das Weibchen erscheint mit einem größeren Fisch (wahrscheinlich einem sog. Blei), setzt sich — vorsichtig sichernd — auf den Horstrand und be- ginnt zu kröpfen. Das Junge schreit fortwährend iiw, i-i-iiw, und wiederholt dieses bettelnde Ge- schrei nach jedem Bissen, den die Alte ihm ohne alle Gier und Unruhe reicht. Kein gefräßiges Schlingen und Reißen an der Beute. Mit wahr- haft mütterlicher Sorgfalt wird das Fleisch von den Gräten geschält und dem hungrigen Jungen dargereicht. Ach, könnte man dieses Bild tieri- scher Elternliebe doch von oben betrachten I Die ganze Atzung dauert fast eine halbe Stunde. Dann bleibt der Adler eine Viertelstunde auf dem Horstrand sitzen und blickt träumerisch in die Weite. Krähengeschrei verkündet mir die An- kunft des Männchens. Diese schwarzgrauen Para- siten bilden eine wahre Plage für das Adlerpaar; sowie sich eins der Alten erhebt, wird es von einer ganzen Meute dieser Aufdringlinge verfolgt. Das Männchen wird diesmal tätlich angegriffen, so daß der stolze Vogel eine jähe Schwenkung nach abwärts vollführt. Auch ein schwarzer Milan streicht ihm nach. Der Adler und sein Gefolge entfernen sich haffwärts, ich höre von fern seinen Schrei : göckgöckgöckgöck. Inzwischen hat sich die Adlermutter wieder über dem Jungen in der Horstmulde niedergelassen. Nur der Kopf ist sichtbar. Nach einigem Warten verlasse ich mein Sclilupfloch und mustere den Boden unter dem Horst, ohne daß der Adler ab- streicht. Kannst du dir einen Begriff machen von der Umgebung eines Adlerhorstes? Du wirst eine wahre Schlachtbank, Haufen von Überresten der Mahlzeit vorzufinden hoffen: Fischgräten, Flügel und Beine von allem möglichen Feder- und Haar- wild. Nichts dergleichen ! Außer den Kalkspritzern des flüssigen Kotes — und auffallend wenig — N. F. XVIII. Nr. II Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 151 nur einige Flaum- und Brustfedern der Alten. Eine ähnliche Enttäuschung erlebte aier Schützer dieses Naturdenkmals. Auch er war auf eine wahre Schlachtbank gefaßt — und nur einmal hatte er einen Aal , der sich jedenfalls den Fängen ent- wunden hatte, unter dem Horst gefunden. Überhaupt macht mich im weiteren Verlauf der Beobachtung die lückenhafte P'ütterung des Jungen stutzig. Ich bin überzeugt, daß es nur ein paarmal am Tage geätzt wird, daß all die Berichte von der ungeheuren Gefräßigkeit des Adlers übertrieben sind. Der 26. Juni findet mich abermals am Adler- horst. Beide Alten streichen bei meinem Er- scheinen, ein paarmal über dem Horst kreisend, bedächtig haffwärts. Das Junge muß nun doch schon ziemlich erwachsen sein. Ich mustere wie- der die Umgebung, nichts wie Kotspritzer und einzelne Brustfedern, sowie einige Dunen vom Jungen, die in den Wacholderbüschen hängen. Wenige Schritte vom Horst eine alte verwitterte Schwinge. Sollten doch die Nebelkrähen ein wenig an der Säuberung des Bodens von Abfällen beteiligt sein? Da streicht der eine Adler wieder gemächlich heran, empfangen von den Krähen. Ich schlüpfe in mein Spähloch und beobachte, so gut es geht, die Vorgänge im Luftmeer. Dieses Mal stößt der Adler nach einer vorwitzigen Krähe, die durch eine kühne Schwenkung den Fängen entgeht. Der Adler wendet sich wieder haffwärts — und er- scheint vor 2 Stunden nicht wieder. Inzwischen beobachte ich scharf den Horst. Endlich nach langem Harren erhebt sich — zugleich das Rätsel : ob ein oder zwei Junge lösend — der Sprößling, schreit mehrmals, um seinen Hunger mitzuteilen, spritzt dann den Kot weit über den Horstrand und klaftert dann mehrmals die Schwingen. An dem dunklen Kopf sitzen noch einige Dunen, der Stoß ist noch recht stutzig. Er äugt nach dem Haff — doch keiner der Alten naht. Nach mehr- maligem Umhersielzen in der Horstmulde und am Rand legt er sich wieder nieder. Ein statt- licher Bursche schon. Zum zweitenmal ist es dem Seeadlerpaar gelungen, den Nachwuchs großzuziehen und dies dank des Todes des Eierräubers von Neuwarp. Da naht der Alte, ein schwarzes Opfer (vielleicht ein Bläßhuhn) in den Fängen, bedrängt wie immer von dem Krähenvolk. Ich höre, nachdem er einmal den Horst umkreist, ein mehrstimmiges, geiferndes Schreien und Krei- schen. Der Adler erscheint nicht am Horst, ob- wohl das Junge sich erhebt und bettelnd schreit. Endlich sehe ich den Alten mit leeren Fängen wieder hafifwärts streichen. Wahrscheinlich hat er die Beute dem Parasitenvolk überlassen. Ich warte noch eine halbe Stunde und schreite dann heim- wärts. . . . Die Stunden am Horst zählen zu den schön- sten meines Lebens. Erhabene Gefühle wechselten mit unsäglicher Trauer. Ich überfliege die Liste der in den letzten Jahren in der Provinz ermordeten Seeadler. Wird er, der stolze Recke, seiner Ver- nichtung entgehen, — wird es gelingen, ihn der deutschen Avifauna zu erhalten ? — das ist die eine bange Frage. Oder wird er das Schicksal seiner Vorgänger teilen, um dann, wenn der letzte seines Stammes dahingestreckt ist, bestenfalls — um mit Paasche zu sprechen — auf Münzen, Briefmarken oder Kriegerhelmen ein heraldisches Dasein zu fristen? — das ist die andere, die trau- rige Frage, die uns Wächter der Natur unsäglich bedrückt. Einzelberichte. Geologie. Anzeichen für einen nacheiszeitlichen Einbruch des Eibtales zwischen Pirna und Meißen hatKampfrath (Geolog. Rundschau, Bd. IX) in den Geländestufen und Geländegräben gefunden, die sich in der Dresdener Umgebung in großer Zahl als „stufenartige Unterbrechungen und graben- artige Vertiefungen der allgemeinen Oberfläche" finden. Die Stufen sind nach dem Verf. zutage- tretende Rutsch- und Verwerfungsflächen, die Gräben klaffende Spalten. Beide Formen kommen auch untereinander verbunden vor. In der Lite- ratur war bis jetzt auf sie noch nicht aufmerksam gemacht worden und auf den alten topographi- schen Karten (i : 25000) fehlen sie ganz. Die Geländestufen sind durch steile Böschungen scharf ausgeprägte Unterbrechungen der Gelände- oberfläche. Die Stufenhöhe beträgt von einigen Dezimetern bis mehrere Meter, ihre Länge von 10 m bis mehr als i km. Im Grundriß verlaufen sie geradlinig, selten bogenförmig gekrümmt. Mit den Höhenschichtlinien besteht keinerlei Beziehung. Sie werden von den Stufen sogar geschnitten. Vorhanden sind sie auf Talsohlen, Talgehängen, Hochflächen. Nur im lockeren Heidesand fehlen sie. Sie treten einzeln oder in Scharen hinter- und nebeneinander auf, richten sich im letzteren Falle parallel aus, biegen sich winkelförmig um und durchkreuzen sich. An den Stufen hat man meistens Feldwirtschaftswege entlang geführt. Die Geländegräben sind im Grundriß entweder geradlinig, ein- und mehrfach gekrümmt oder zickzackförmig gebrochen. Länge, Breite, Tiefe sind wechselnd (Länge über I km. Breite bis über 50 m, Tiefe bis über 10 m). Die oberen Kanten der Böschungen gehen unvermittelt in die allge- meine Geländeoberfläche über. Der Übergang zwischen Böschungen und ebener Grabensohle ist gewöhnlich ausgerundet. Wenn sie geradlinig verlaufen, machen sie den Eindruck künstlicher Weg- und Eisenbahneinschnitte. Fast immer sind 152 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 1 1 die Gräben trocken, nur in den seltensten Fällen enthalten sie einen ständig fließenden Wasserlauf. In der Umgebung von Dresden sind fast alle ge- rade dort häufig vorkommenden Hohlwege Gelände- gräben. Verbreitet sind die Stufen und Gräben auf den folgenden Blättern der topographischen Karte (i : 25000): Kötzschenbroda, Moritzburg, Radeberg, Wilsdruff, Dresden, Pillnitz, Tharandt, Kreischa, Pirna, Frauenstein, Dippoldiswalde, Berg- gießhübel, teilweise auch auf den Blättern Rade- burg, Nassau, Altenburg, Fürstenwalde. Zahlreich treten die Stufen und Gräben im Gebiete südlich der Elbe auf. Hier nehmen sie von Pirna nach Nollendorf zu. Am dichtesten treten sie bei Berggießhübel auf, weniger zahlreich auf der Lausitzer Granitplatte. Auf dem abge- sunkenen südwestlichen Flügel der Wendisch- carsdorfer Verwerfung fehlen die Stufen und Gräben in 2 km Länge und 0,5 km Breite, ob- gleich sie auf dem nordöstlichen Flügel zahlreich bis nahe an die Verwerfungslinie herantretend auftreten. Am Teplitzer Quarzporphyrstock fehlen sie fast ganz, treten sie nur am Rande auf. Auch die Basaltschlote sind auf den Verlauf der Stufen und Gräben von Einfluß , derart, daß sie bogen- artig von ihnen abgelenkt werden. Die Basalt- schlote lassen die Stufen und Gräben abreißen. Es wurden mehr Stufen als Gräben gezählt. Durch Häufigkeit fallen die Gräben auf in einem schwach bogenförmig gekrümmten Geländestreifen zwischen Pirna und Briesnitz, im einspringenden Winkel der Lausitzer Hauptverwerfung bei Wün- schendorf nördlich von Pirna, im Gelände west- lich von Radeburg. Einzelne Stufen und Gräben, Stufenscharen, die weit auseinanderliegen, sind zurzeit die sicht- baren Reste längerer Störungslinien. Um die Zeit der Entstehung der Stufen und Gräben festzulegen, sollen die Hauptzüge im Bil- dungsgang des Dresdener Eibtalkessels folgen. In der Mitte der Tertiärzeit wurden entlang der Lausitzer Verwerfung Höhen und Senken ge- schaffen, die am Ende dieser Zeit schon wieder ausgeglichen waren. Auf der Ebene floß die Elbe der Verwerfung entlang bis in die Gegend von Meißen - Oberau. Die Flußwannen waren flach. Die Kante der Lausitzer Granitplatte erhob sich nur wenig über die Kreideschichten, die am Ende des Tertiärs im Elbtal noch vorhanden waren. Früher betrug die Höhe der Granitplatte gegenüber des Talbodens 80 m, heute IIO m. Auf den Nord- und Südhöhen des Eibtales sind tertiäre Kies-, Sand- und Tonablagerungen erhalten, die einst auch auf der Elbauenscholle vorhanden waren und später erst vollständig beseitigt wor- den sind. Die erste, nicht nach Sachsen hereinreichende Vereisung, erzeugte stärkere Wasserführung der Flüsse, stärkere Erosion, Ablagerung von Kiesen und Sanden in der überschwemmten Niederung. In den Resten der noch vorhandenen Ablagerun- gen ist allgemein kein nordisches Material zu finden. Die zweite Vereisung lagerte im Elbtal Dresdens Geschiebemergel ab. Oberhalb Pirna begann die Elbe und ihre Nebenflüsse sich in den Quaderschichten einzuengen. Der Grund dieser erhöhten Tiefenerosion ist ein Absinken der Elb- auenscholle und eine Tieferlegung des Abflusses bei und unterhalb Meißens. Die linkselbische Niederwerschner Verwerfung setzte sich beim Ab- sinken der Elbauenscholle in nordwestlicher Rich- tung durch die Meißner Granit-Syenitmasse weiter. Dadurch wurde der Elbe ein neuer Weg gezeigt. Bis auf ein Drittel der jetzigen Tiefe wurde das Tal eingeengt, dann kam die Tiefenerosion zur Ruhe. In den Nebentälern bildeten sich schwach geneigte Talböden, die später ganz oder teilweise zerstört wurden. Als Talterrassen mit Gefälls- brüchen sind die Reste erhalten. Durch den Erosionsstillstand kam der Abfluß ins Stehen. Vielleicht war die dritte Vereisung daran schuld, durch die Wasser gestaut wurden. Elrst nach dem Rückzuge der dritten Vereisung setzte die Tiefenerosion von neuem ein. Verf. glaubt auch an eine langsame Senkung der Elbauenscholle während des Erosionsstillstandes bis zum Ende der Diluvialzcit. Am Ende des Diluviums kam infolge Aufzeh- rung des überschüssigen Gefälls die Tiefenerosion wieder zur Ruhe. Der Elbtalseespiegel sank. An den Mündungen der Nebenflüsse und auf dem übrigen Seeboden bildete sich eine Aufschüttung von Tal- kies, -sand und -lehm. Die Wasseransammlung verschwand bis auf eine schmale Rinne und kleine Seebecken, die bis in historischer Zeit da waren. Jetzt entstanden bei einem gewaltigen tektoni- schen Beben im mittleren Teile Sachsens die Stufen und Gräben. .Bei der Untersuchung des Schüttergebietes des sudetischen Erdbebens am 10. Januar 1901 zeigte sich eine Ausbreitung hoher Schütterstärke südwestlich der Hauptverwerfung auf der Eibaue. Erklärlich wird dies dadurch, daß Randteile der Granitplatte auf die Kreideschichten hinaufgeschoben worden sind. Die Schollenkeile verschoben sich und die Elbauenscholle mit be- nachbarten Teilen der Erzgebirgsscholle (bis Pirna- Tyssa) brach ein. So entstanden Stufen und Gräben. Die zahlreichen Gräben westlich von Radeberg sind durch Überschiebung des Rade- berger Tafelstücks auf die Meißner Syenitscholle entstanden. Verf. vermutet noch weitere Gräben im Nor- den von Gießen als Folgen gegenwärtiger Krusten- bewegungen. Rudolf Hundt. Astronomie. Die alte Frage „Warum erscheint der tiefstehende Mond vergrößert?" wurde früher verschieden und bis in die letzte Zeit meist noch mit Reimann (Zeitschr. f. Physiol. u. Psychol. d. Sinnesorgane Bd. 34 u. 37) in dem Sinne be- antwortet, dies beruhe auf der scheinbar abge- platteten Gestalt des Himmelsgewölbes, einem Ein- druck, dem man sich namentlich bei starkbewölk- tem Himmel schwer entziehen kann und der, wie N. F. XVni. Nr. 1 1 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. R e 1 m a n n nachwies, für viele Versuchspersonen in gleicher Weise besteht, was von ihm auf phy- sikalisch-optischem Wege zu erklären versucht wurde : ein trübes Medium vor schwarzem Hinter- grund, der Zenithhimmel, müsse uns als eine ver- hältnismäßig wenig von uns entfernte Wand er- scheinen. Übersehen wurde bisher die Erklärung, welche Wilhelm Filehne 1912 für die schein- bare Vergrößerung der Gestirne am Horizont gab — leider nicht an fach wissenschaftlicher Stelle, ^) weshalb den so außerordentlich klaren Darlegungen bisher jegliche Beachtung versagt blieb, wie Tat- sachen aus dem neueren Schrifttum beweisen. Filehne löst das alte Problem schlagend und zwar auf rein biologischem oder psychologischem Wege. „Sehen" im Sinne von wahrnehmen können wir von entfernteren Gegenständen stets nur die Winkelgrößen, aber weder die wirklichen Größen noch die Entfernungen. Unsere Seh- vorstellungen aber vermögen die Wahrneh- mungen in hohem Grade zu berichtigen oder der Wirklichkeit entsprechend auszudeuten, so daß uns auch beim einäugigen Sehen ein Mensch in 10 Metern Entfernung noch nicht kleiner erscheint als in 3 Metern Entfernung und nur ein blindge- borener Erwachsener, der durch Operation sehend geworden, anfangs dieser Täuschung verfällt, weil ihm die Sehwinkelgrößen, die Größenverhältnisse auf dem Netzhautbild, noch unmittelbar zum Be- wußtsein kommen. Nun ist unsere Fähigkeit, die Netzhautbilder richtig auszudeuten, um so geringer, je weniger wir die Kontrolle durch den Tastsinn geübt haben. In großer Entfernung deuten wir Objekt- und Entfernungsgrößen schon weniger richtig als in kleiner, schätzen sie leicht zu gering; noch mehr aber verfallen wir dieser Täuschung beim Blick nach oben, weil wir bei ihm als etwas viel Unwichtigerem das mehr oder weniger richtige Ausdeuten der Größen viel weniger gelernt haben. Daher verlegen wir die hochstehenden Gestirne, wie Sonne und Mond oder Sternbilder und überhaupt den Zenithhimmel, näher an uns heran als die Himmelskörper oder Wolken am Horizont, und aus gleichem Grunde geben wir jenen, wenn sie hoch stehen, geringere Objekt- größen, als wenn sie tief stehen. So erklärt sich die scheinbar abgeplattete Form des Himmels- gewölbes und die scheinbare Vergrößerung der Gestirne am Horizont durch die Entwicklung unserer Sehvorstellungen aus Sehwahrnehmungen. Wenn ferner viele Menschen, vielleicht die Mehr- zahl, auf Befragen erklären sollten, der tiefstehende Mond erscheine ihnen n ä h e r als der hochstehende, so sind diese, wie Filehne es ausdrückt, sekun- där einer Urteilstäuschung anheimgefallen, nach- dem^ sie der mechanisierteu Sehvorstellung, die 153 ') Wilb. Filehne: Über die scheinbare Form des Himmelsgewölbes und die scheinbare GröSe der Gestirne und Sternbilder. Deutsche Revue, November — Dezember igi2. 21 Seiten. der Mond vergrößerte, ebenso unteriagen wie jeder andere. Fl lehne 's Ausführungen erscheinen mir so- zusagen unmittelbar einleuchend. Mag auch noch manches andere hinzukommen,- was Sonne und Mond uns abends scheinbar vergrößert, wie viel- leicht jene bekannte optische Täuschung, die eine schraffierte Fläche uns länger erscheinen läßt als eme einfarbige, so liegt das Wesen tl ich e doch zweifellos in der verschiedengradigen Mechanisiert- heit Vinserer Sehvorstellungen auf Grund des Lernens im individuellen Leben. Denn ich wenig- stens entsinne mich genau dessen, daß mir als Kind langgestreckte Alleen in viel höherem Grade nach der Ferne zu verjüngt erschienen wie als Erwachsenem, Kirchturmfahnen winzig klein, Dach- decker auf Häusern als Zwerge, und Pferde, die ich von einer Bergeshöhe sah, als Spielzeug. Alle diese Täuschungen wurde ich erst nach und nach los oder vielmehr: diese dem Netzhautbilde ge- nauer entsprechenden Wahrnehmungen verwandelte ich nach und nach in Vorstellungen, die der Wirk- lichkeit besser entsprechen. Sonne und Mond am hohen Himmel taxierte ich in meiner Knaben- zeit scheinbar einen Kilometer weit entfernt, also näher als den freien Horizont. Heute würde ich sie schon in scheinbar viel weitere Ferne, viel- leicht zum Teil unter dem Einfluß des Schul- wissens, aber doch längst nicht in die wirkliche Entfernung verlegen, und bedeckter Himmel er- scheint mir noch heute als ein durchaus abge- plattetes Gewölbe. Beim Auf- und Absteigen von Fesselballonen eriebt man dieselben Eindrücke wie beim Auf- und Untergange der Gestirne. Für hohe Berge hat man anfangs keine Schätzung ; man schätzt sie den höchsten gleich, die man bis dahin gesehen, bis man Anhaltspunkte wie Ge- steinsstruktur und Baumwuchs auswerten lernt. Und wenn man das Photographieren erlernt, so staunt man anfangs über die Kleinheit der Hori- zontbäume und -häuser auf dem Bilde, weil man sie sich größer vorgestellt hatte als dem Bild, dem Netzhautbild, entsprechend. In derselben Weise vergrößert man Sonne und Mond gegenüber ihrer wirklichen Bildgröße, die man beim Blick nach oben richtiger erfaßt, aber, wie die Photographie lehrt, auch hier noch überschätzt. Die Filehn e 'sehen Ausführungen vermögen übrigens besser als irgend etwas aus der Psycho- logie die bevorzugte Ausbildung des Horizontal- sehens in Erinnerung zu bringen, eine wichtige Tatsache, der auf physiologischem Gebiet die vor vielen Jahren von Aubert und Förster nach- gewiesene horizontalelliptische Begrenzung von Netzhautbezirken gleichen Distinktionsvermögens entspricht ') und auf morphologischem Gebiet die Horizontalelliptizität der menschlichen Fovea, die horizontale Lage der streifenförmigen Area und Fovea bei zahlreichen Wirbeltieren, die Horizon- talelliptizität, der meisten Augäpfel außer bei man- ') Archiv für Ophthalmologie Bd. III, 1857. 154 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 1 1 chen Vögeln und Klettertieren und dievonRabl 19 17 erwiesene primäre Horizontalsymmetrie des Wirbeltierauges. (Vgl. Naturw. Wochenschr. 1919, Heft 2, Seite 27—28.) Nachschrift.^) Dank einer Unterredung mit Herrn Professor Kürschmann in Leipzig bin ich in der Lage, noch einige nicht unwichtige, von dem genannten herrührende und von ihm noch nicht veröffentlichte Erwägungen zu der be- handelten Frage mit seiner Erlaubnis mitzuteilen. Kürschmann möchte die Vorstellung, das Himmelsgewölbe sei abgeplattet, auf die noch gar nicht in Erwägung gezogene Tatsache zurück- führen, daß bei bewölktem Himmel das Wolken- gewölbe tatsächlich sehr stark abgeplattet ist, weil der Mittelpunkt dieser Kugelschale mit dem Erdmittelpunkt zusammenfällt, nicht mit dem Standpunkt des Beobachters. Von der abge- platteten Gestalt des Wolkengewölbes überzeugt uns vielleicht schon das hierfür nicht unbedingt als zu gering zu' erachtende Entfernungschätzen durch binokulares Sehen, sodann die verschiedene Be- wegungsparallaxe der Wolken und die verschiedene Größe der Wolken bei einheitlicher Bewölkungs- art. Den vom Wolkengewölbe gewonnenen Ein- druck übertrage man unwillkürlich auf das unbe- wölkte Himmelsgewölbe. Man ersieht aus diesen Erwägungen, wie ich schon andeutete, daß zur Beantwortung der Frage mehrere Gesichtspunkte in Betracht kommen, vielleicht für den einen Be- obachter mehr diese, für den andern jene. Kürsch- mann weiß sich nicht zu entsinnen, als Kind den oben erwähnten Täuschungen in höherem Graden verfallen zu sein oder, anders ausgedrückt, die Netzhautbilder unmittelbarer beurteilt zu haben denn als Erwachsener. Bei mir dagegen dürfte der Kurse h mann 'sehe Argument weniger ins Gewicht fallen, denn daß mir der bewölkte Himmel noch viel abgeplatteter erscheint als der unbewölkte, habe ich schon früher unbeeinflußt durch diese Erwägungen geäußert. Kürschmann erwähnte ferner zu der von manchem geäußerten Ansicht, das Rot der tief- stehenden großen Gestirne vergrößere diese als eine „warme Farbe", dies mache nach genauen statistischen Feststellungen von ihm nur so wenig aus, daß es nicht in Betracht komme: eher würde man wahrnehmen, daß der tiefstehende Mond uns um I Erdhalbmesser = rund V40 Mondentfernung ferner ist als der hochstehende und mithin uns unter merklich kleinerem Gesichtswinkel erscheint — wenn nicht die anderen entgegenwirkenden Ursachen hinzukämen. V. Franz. Zoologie. Beeinflussung der Tätigkeit der Tiere durch das Licht. Mit weißen Ratten und weißen Mäusen angestellte Versuche ergaben, daß bei diesen vorwiegend nächtlichen Tieren im Ver- lauf von 24 Stunden ein regelmäßiger Wechsel zwischen Aktivität und Inaktivität stattfindet (J. ') Das Vorhergehende war noch im Felde geschrieben. S. Ssymanski (Wien), Pflüger's Archiv für die gesamte Physiologie des Menschen und der Tiere, 171. Band, 1918). Zusammenfassend sagt S.: „I. Weise Ratten sind polyphasische Tiere (10 Perioden in einem 24 stündigen Zyklus), je- doch mit einer vorwiegend nächtlichen Aktivitäts- tendenz. 2. Der Gesamtbetrag der Aktivität ist bei weißen Ratten gleich 10 Stunden; die übrigen 14 Stunden eines 24 stündigen Zyklus verbleiben sie in der Ruhe. 3. Zwei Tage langer Hunger vermehrt die Zahl der Perioden, ohne den Gesamtbetrag der Aktivität wesentlich zu ändern. 4. Dunkelheit vermehrt die Zahl der Perioden und erhöht den Gesamtbetrag der Aktivität. 5. Licht vermehrt die Zahl der Perioden, ohne den Gesamtbetrag der Aktivhät zu ändern. 6. Weiße Ratten waren in einem 24 stündigen Zyklus durchschnittlich 22 Stunden negativ und 2 Stunden positiv phototrop. Die Zeit, in der die Ratten positiv phototrop waren, fällt in die Stunden der Hauptperiode der Aktivität. 7. Tanzmäuse sind polyphasisch (9 Perioden) mit einer vorwiegenden Aktivitätstendenz in den Nachtstunden; der Gesamtbetrag der Aktivität ist gleich 14 Stunden in einem 24 stündigen Zyklus." Um zu ermitteln, wie sich die R^ihe- und Aktivitätsperioden in der Lernfähigkeit der Tiere äußerten, stellt S- eine Reihe von Versuchen mit dem physiologischen Apparat des Trehlapyrintes an (,, Versuche über den Lernvorgang bei den weißen Ratten während der Ruhe bzw. Aktivitäts- perioden", ebenda) und fand folgendes: ,,Die bedeutendere Geschwindigkeit der Akti- vitätsratten läßt sich auf die durch die Aktivitäts- periode bedingte Erregungserhöhung zurückführen. Desgleichen läßt sich die geringere Geschwindig- keit der Ruheratten durch die durch die Ruhe- periode bedingte Erregungsherabsetzung erklären. Im weiteren Verlaufe der Assoziationsbildung erhöhte sich die Geschwindigkeit derart, daß zum Schluß die Aktivitäts- wie auch die Ruheratten sich im Labyrinth gleich schnell und bedeutend schneller als zu Beginn der ganzen Versuchsserie fortbewegten. Diese Tatsachen weisen zunächst darauf hin, daß eine in Entstehung begriffene lebenswichtige rezeptorisch- motorische Assoziation im allgemeinen die Erregung während der Ausübung der be- treffenden motorischen Reaktion erhöht. Nachdem die Assoziation sich gebildet hat, bleibt diese Er- regung bei der Ausübung der erlernten Handlung erhöht, vorausgesetzt, daß der Antrieb zur Aus- führung der neu erlernten Handlung der gleiche wie während des Erlernens dieser Handlung bleibt. Bei den Aktivitätsratten bewirkte die fort- schreitende Assoziationsbildung bloß eine Erhöhung jener Erregung, die dank der Aktivitätsperiode bereits bestand. Bei den Ruheratten wurde die Erhöhung der ursprünglichen geringen Erregung im Verlaufe der N F. XVni. Nr. 1 1 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 155 ganzen Versuchsserie noch bedeutender, so daß der Zustand der relativen, durch die Ruheperiode bedingten Trägheit überwunden, ja weit überholt wurde. Das allgemeine Resultat dieser Versuche läßt sich in dem Satz zusammenfassen, daß die Aus- führung einer lebenswichtigen Handlung nicht nur eine bereits vorhandene Erregung bei den Akti- vitätstieren erhöht, sondern selbst die geringe Erregung bzw. die Trägheit der Ruhetiere in das Gegenteil umschlagen läßt." Kathariner. Über Bau und Funktion des Alciopidenauges (mit 2 Abbildungen) macht v. Heß'] inter- essante Mitteilungen. Die Morphologie des Alciopidenauges ist bereits von mehreren Seiten untersucht worden, doch fehlten bisher experi- mentelle Untersuchungen über die Funktion der Augen dieser marinen, einige Zentimeter langen, glashellen Würmer, Bei der Kleinheit des Auges — seine durchschnittliche Größe beträgt kaum I mm — galten derartige Untersuchungen fast für unmöglich. Umso erfreulicher ist es, daß es V. Heß gelungen ist, eine Methode zu finden, die es gestattet, die Akkomodation des Alciopiden- auges auch ejiperimentell zu prüfen. Es zeigte sich dabei, daß die bisherige Deutung der mor- phologischen Befunde nicht ganz richtig war, und daß man sich infolgedessen ein falsches Bild von der Funktion des Auges gemacht hatte. Außer einer Reihe feiner Pigmentflecken an den Körpersegmenten besitzen die Alciopiden zwei relativ große Kopfaugen. Das Aussehen eines solchen Auges, von vorn unten gesehen, zeigt Abb. I. Unten ist das Auge etwas breiter als oben. Die Linse wird umrahmt von einer Reihe feiner, silberglänzender Streifen, die von oben und seitlich oben nach unten ziehen. Diese Streifen wurden bisher für Muskeln gehalten, die die Ak- komodation des Auges bewirken sollen. Durch den physiologischen Versuch vermag indessen v. Heß zu zeigen, daß die Streifen überhaupt nicht kon- traktil sind, es sind nach seiner Ansicht „lediglich stark lichtreflektierende Gebilde, von ähnlicher Art, wie wir sie zum Beispiel vielfach bei Fischen und manchen Cephalopoden in den Augenhüllen finden, und sie haben offenbar auch eine ähnliche Be- deutung wie dort, indem sie neben und mit dem Augenpigment das Augeninnere vor störendem falschen Lichte schützen und gleichzeitig durch ihren Silberglanz das Auge für von unten kom- mende Feinde weniger sichtbar machen." Letzteres ist um so notwendiger, als die pelagisch lebenden Tiere fast ganz durchsichtig sind und infolge- dessen beim Fehlen dieses Schutzes die Augen sich als dunkle Flecke gegen den hellen Himmel sehr scharf abheben würden. Auf der Dorsalseite ist dieser optische Schutz der Augen nicht not- wendig, da die dunkelbraunen Pigmentmassen, die auf der Rückenseite der Augen liegen, mit dem in der Regel dunklen Untergrunde harmonieren. Hält man die Tiere auf dunklem Untergrunde, so sind Körper wie Augen fast unsichtbar, bringt man sie auf eine weiiJe Unterlage, so erscheinen die Augen als dunkle Flecken, legt man aber ein Tier auf weißer Unterlage auf die Rückenseite, so sind die Augen infolge der silberigen Streifen ganz unauffällig. Zwischen Linse und „Pupillenrand" befindet sich ein bald schmälerer, bald breiterer Zwischen- raum, so daß die Linse in der Richtung der Augen- Abb. I. Auge von Vanadis formosa (Alciopide). (Nach V. Hefl.) •) Heß, C. V. Die Akkomodation der Alciopiden, nebst Beiträgen zur Morphologie des Alciopidenauges. Pflügers Arch. f. d. ges. Physiol. d. Menschen u. d. Tiere, Bd. 172, iqi8. achse, d. h. gegen die Hornhaut hin bzw. von der Hornhaut weg, bewegt zu werden vermag, wovon man sich durch Berühren mit einer feinen Nadel- spitze überzeugen kann. Für das Verständnis des Akkomodationsvorganges ist die Existenz dieses Zwischenraumes von wesentlicher Bedeutung. Die Prüfung der Akkomodation geschah ver- mittels elektrischer Reizversuche. Durch einen Sagittalschnitt wurden die beiden Augen eines Tieres voneinander getrennt, eines der beiden wurde sodann auf fein aufgefaserte Watte gelegt und diese mit feinen Nadelelektroden in Verbindung gebracht. Hierauf wurden die bei elektrischer Reizung an dem überlebenden Auge erfolgenden Vorgänge vermittels einer binokularen Lupe unter Wasser bei sehr starkem auffallendem Lichte be- obachtet. Die Erscheinungen lassen sich bei nicht allzu starker Erwärmung des Objektes durch die Lampe stundenlang verfolgen. Reizt man mit schwachen Strömen, so sieht man regelmäßig, wie sich die Linse ein wenig nach vorn, hornhaut- wärts, vorschiebt. Das Vorrücken der Linse bei der Reizung geht ziemlich rasch vor sich, die Rückkehr tn "die Ruhelage nach Aufhören der Reizung erfolgt langsamer. Während die Linse vorrückt, beobachtet man an der unteren Hälfte der Augenhüllen leichte Zusammenziehungen, die oben und seitlich von der Linse gelegenen Teile der Augenhülle und der Hornhaut zeigen niemals Bewegungen. Aus diesen Beobachtungen zieht V. Heß den Schluß, daß „die Alciopiden eine positive Nahakkomodation be- sitzen, die durch Vorrücken der in ihrer Form unveränderten Linse und Ver- 156 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. u größerung des A]b'standes zwischen ihr und der Netzhaut herbeigeführt wird." Der Mechanismus des Vorrückens der Linse wird uns durch das Studium von Schnitten durch das Auge verständHch. Abb. 2 gibt einen Sagit- talschnitt wieder. Hornhaut, Linse, der aus zwei Schichten bestehende Glaskörper und die Retina sind sichtbar. Sodann sieht man rechts unmittel- bar unter der Augenwand ein Gebilde liegen, das durch einen feinen Kanal mit dem vorderen Teil Abb. 2. Sagittalschnitt durch ein AIciopidenauge. (Nach V. Heß.) des Glaskörpers in Verbindung steht. Von den früheren Autoren wurde dieses Gebilde als Drüse beschrieben, deren Sekret den vorderen Teil des Glaskörpers liefert. Diese Aufgabe mag dem Ge- bilde auch zukommen, aber die wichtigste Funk- tion der „in der Tierreihe einzig dastehenden ex- traretinalen Ausstülpung des Glaskörpers" ist nach v. Heß eine andere. Gerade in der Umgebung der Glaskörperausstülpung sind Muskeln vor- handen, und wenn diese sich zusammenziehen, üben sie einen Druck auf die Ausstülpung aus. „Dadurch gelangt etwas von ihrem außerhalb der Bulbushülle befindlichen Inhalte in den Glaskörper- raum, wodurch die der vorderen Glaskörperfläche leicht beweglich aufliegende Linse etwas nach vorn gehoben werden muß. Mit dem Nachlassen der Muskelkontraktion tritt der zähflüssige Inhalt wieder in die Ausstülpung zurück." Die bei den Alciopiden entdeckte Art der Einstellung bereichert die Reihe der durch V. Heß im Verlaufe zehnjähriger Untersuchungen an über 50 Arten aus allen Klassen des Tier- reiches gefundenen außerordentlich mannigfaltigen Akkomodationsmechanismen um einen weiteren. Mit den übrigen Wirbellosen haben die Alciopiden das gemeinsam, daß bei allen bisher untersuchten Formen eine aktive Nahakkomodation durch Entfernung der in ihrer Form unveränderten Linse von der Netzhaut erfolgt, und zwar durch Vermehrung des Druckes im Glaskörperraum e. Im Gegen- satz aber zu den Alciopiden wird bei den übrigen Wirbellosen, wenigstens bei den bisher unter- suchten Tintenfischen und Kielschnecken, die Ein- stellung durch Muskeln bewirkt, die unmittelbar um bzw. nahe hinter der Linse liegen und durch ih]e Kontraktion den Glaskörperdruck direkt- er- höhen. Bei allen untersuchten Wirbellosen — die Augen der Arthropoden, bei denen akkomo- dative Änderungen fehlen, kommen hier natürlich nicht in Frage • — sind die Augen sehr weich und nachgiebig, und die Bestandteile der Augen- hüllen bildenden Akkomodationsmuskeln verur- sachen bei ihrer Kontraktion eine verhältnismäßig starke Formveränderung des ganzen Auges. Bei Wirbeltieren kommen derart starke Form- veränderungen nicht vor; sie werden schon infolge des Vorhandenseins einer festen Membran, der Sklera, unmöglich gemacht. Im übrigen aber sind die Akkomodationsmechanismen gerade bei den Wirbeltieren sehr mannigfaltig. Bei den Knochen- fischen ist das Auge in der Ruhe auf die Nähe eingestellt. Durch aktive Annäherung der Linse an die Netzhaut vermittels der Campanula Halleri, eines muskulösen Gebildes, das von hmten und schlafen wärts an der Linse ansetzt, wird eine Einstellung auf größere Ferne erzielt. Eine sehr interessante Ausnahme macht unter den Fischen der Schlammspringer, dessen Auge im Ruhe- zustande für die Ferne eingestellt ist. Die Lebens- weise des Schlammspringers ist mehr der eines Amphibiums ähnlich als der eines Fisches, er hält sich bald im Wasser, bald außerhalb desselben auf und betreibt seine Jagd nach Nahrung haupt- sächlich auf dem Lande. Für ihn wäre also Kurzsichtigkeit höchst unzweckmäßig. Die dauernd im Wasser lebenden Amphibien zeigen ähnliche Verhältnisse wie die Knochen- fische , während mit dem Übergang zum Land- leben, ähnlich wie beim Schlammspringer, das Auge im Ruhezustande auf die Ferne eingestellt wird. Die Akkomodation für größere Nähe erfolgt bei den luflatmenden Amphibien durch Entfernung der Linse von der Netzhaut vermittels eines bzw. zweier Muskeln, die nach vorn zur Iris ziehen. Bei den höheren Wirbeltieren, bei Reptilien, Vögeln und Säugetieren geschieht die Akkomo- dation nicht wie in den bisher besprochenen Fällen durch Ortsveränderung, sondern durch Formveränderu ng der Linse, und zwar wird bei den Sauropsiden die Gestaltsveränderung durch Druck von Iris und Ciliarring auf die Peripherie der Linsenvorderfläche, bei den Säugern durch Entspannung der bei Akkomodationsruhe ge- spannten Zonulafasern bewirkt. Vielfach sind besondere Hilfsmittel vorhanden, die ausgiebigere akkomodative Änderungen ermöglichen. Nachtsheim. N. F. XVm. Nr. II Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 157 Botanik. Entsprechend dem großen Interesse, das sich während der Kriegszeit der „wilden Nahrung" zuwandte, finden sich neuerdings man- cherlei Angaben über Pilzvergiftungen. So hat z. B. G. Di tt rieh (Berichte der Deutschen Botani- schen Gesellschaft, Bd. 34. 1916. S. 719) seine Er- fahrungen für 1916 zusammengestellt. Die Zahl der Todesfälle belief sich auf 89, worunter sich 43 Kinder befanden. Die Personen gehörten meist der unbemittelten Bevölkerung an, die Pilze wurden von ihnen selber gesammelt, manche nahmen gar, was sie gerade fanden. Doch wurde in Greifs- wald auch eine Frau verurteilt, die giftige Pilze wider besseres Wissen am Wochenniarkt feilhielt. Meist handelte es sich, soweit eine Nachprüfung möglich war, nicht um verdorbene Pilze, sondern um Giftpilze. Obenan stehen wieder die Knollen- blätterpilze, vor allem die Amanita phalloides; A. mappa scheint viel weniger in Betracht zu kom- men. So sammelte ein Tischler aus Breslau auf Anraten eines ebenfalls sammelnden Spaziergängers etwa anderthalb Pfund Knollenblätterschwämme, woran bis auf ihn selber seine gesamte Familie zugrunde ging. In anderen Fällen waren die Pilze nicht mehr zu identifizieren. Der Kartoffelbovist scheint, ohne daß man etwas von auffälligen nach- teiligen Wirkungen hörte, in Schlesien ziemlich häufig, meist als Würze, verwandt zu werden. Nur zwei Fälle wurden D. bekannt, in denen starkes Unwohlsein eintrat. Als sehr gefährlichen, bisher nicht weiter bekannt gewordenen Giftpilz wies Di ttrich (Ebenda, S. 424) die Inocybefrumen- tacea nach. Das Genus Inocybe scheint überhaupt als giftverdächtig gelten zu müssen. In Aschers- leben starb ein Lehrer, der ein guter Pilzkenner war und seit langer Zeit Pilze zum Verzehr sam- melte, nach dem Genuß eines Gerichtes aus dem obengenannten Pilze. Der Fall muß sehr nach- denklich stimmen. Man findet gerade bei Leuten, die eine gewisse Pilzkenntnis besitzen, cft eine Neigung zur Fahrlässigkeit, die durch ihre bis- herigen Erfolge hervorgerufen, aber auch durch manche Pilzbücher begünstigt wird, wenn sie im- mer hervorheben, es gäbe nur wenige giftige Pilze. Das mag gewiß vollständig zutreffen, entbindet aber nicht von der höchsten Vorsicht, mit der man Eßversuche mit unbekannten Pilzen anstellen muß. Immer sollte man erst eine geringe Menge kosten und die Wirkung richtig abwarten, um dann zu etwas größerer Menge überzugehen. Keinesfalls darf man gleich eine ganze Mahlzeit verzehren, wie es der obenerwähnte Herr tat. Die Beschreibung des Pilzes sei hierhergesetzt: Hut anfangs kegelig-glockig, mit eingeknicktem Rand, später ausgebreitet und breit gebuckelt, mit auf- wärtsgebogenem Rande, bis 8 cm breit, ziegel- fleischrot, bräunlich rotfaserig und rissig, fleischig ; Fleisch weiß mit rötlichem Schein, Stiel gleich- farbig, teilweise dunkler weinrot, oberseits weiß- lich und weißflockig, gestreift, leicht gekrümmt, anfangs nach dem Grunde sehr schwach verdickt, später an der Spitze verbreitert, bis 7 cm lang. etwa I cm breit, fleischig-voll, nach der Ablösung des Hutes faserig aufspaltend ; die Farbe des Innern ähnelt der des Hutfleisches. Lamellen anfangs weißlich und stellenweise weinrot, später oliv- braun mit entsprechend dunkler rot verfärbten Stellen, mit weißlicher, gewimperter Schneide, etwa 7 mm breit, gedrängt, fast frei. Sporen- staub trüb-olivbräunlich; Sporen schmutzig gelb. Geruch ganz dem von altem Weizenkornbrannt- wein entsprechend, Geschmack mild. Auch andere Inocybe- Arten scheinen nach neuesten Feststellungen (Dittrich, Ben d. D. Botan. Gesellsch. Bd. 36, 1918, S. 456) Ursache schwerer Vergiftungsfälle gewesen zu sein, ohne daß sich bisher die Arten sicher bestimmen ließen. Dagegen wird an derselben Stelle mitgeteilt, daß auch Tricholoma tigrinum zu den Giftpilzen ge- höre. Man wird also gut tun, auch das Genus Tricholoma, zu dem bekanntlich etliche eßbare Pilze gehören, mit einigem Mißtrauen zu betrachten. Sehr unklar liegen, wiederum nach Dittrich (Ebenda, Bd. 35. 1917. S. 27), die Dinge bei der Morchel. Schon der Name stiftet allerlei Ver- wirrung. Die Mehrzahl der unter dem Namen Morcheln in den Handel kommenden Pilze ge- hören botanisch zu der Art Gyromitra esculenta (= Helvella esculenta), die von den Schreibern von Pilzbüchern als Lorchel bezeichnet wird, weniger sind die Arten der Gattung Morchella vertreten, die in den Büchern allein als Morchel geht. Die gesprochene Sprache macht nach D., wenigstens im Osten Deutschlands, gar keinen Unterschied zwischen diesen Pilzen, der Name Lorchel ist ganz unbekannt. Verf schlägt vor, Gyromitra als Stockmorchel oder Kauermorchel zu bezeichnen, wie es im Volksmunde vielfach schon geschieht. Seine weiteren Mitteilungen be- ziehen sich nun auf Gyromitra. Die angeführten Fälle zeigten das auch sonst bekannte Hild, daß unabgekochte Pilze resp. die Biühe Erkrankung, zuweilen auch Tod bewirken. Trotzdem wundert sich Verf und mit Recht, daß bei einem so ver- breiteten Marktpilze nicht öfter Vergiftungen be- obachtet werden. Er suchte nun durch Fütierungs- versuche an Pflanzenfressern Aufklärung zu er- halten und stellte dabei das überraschende Resul- tat fest, daß Meerschweinchen durch eine ein- malige, selbst bedeutende Gabe von Morcheln oder dem Absud aus ihnen nicht wesentlich ge- schädigt werden, wenn auch eine gewisse Reak- tion unverkennbar ist, dagegen werden sie getötet, wenn sie etwa im Zwischenraum von 2 — 17 Stunden zweimal mit kleineren Mengen gefüttert werden. Ob mit diesen immerhin nicht umfang- reichen Versuchen schon das letzte Wort ge- sprochen ist, scheint etwas fraglich, wenn auch manche Beobachtungen über die besonders schäd- liche Wirkung wiederholten Pilzgenusses damit übereinstimmen. Auch kommt wahrscheinUch in- dividuelle Überempfindlichkeit vor. Der Verf. widerrät von neuem dem Genuß der Brühe, da sie offenbar die Hauptmenge des Giftstoffes in 158 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVni. Nr. 1 1 leicht resorbierbarer Form darböte, fordert aber daneben, daß man nicht kurz hintereinander, also z. B. nicht an zwei aufeinanderfolgenden Tagen, Morcheln essen solle. Der Pantherschvvamm wird oft als eßbar be- zeichnet, man solle nur die Haut des Hutes ent- fernen. R. K o 1 k w i t z (Verhandlungen des Bota- nischen Vereins der Provinz Brandenburg, Bd. 59. 191 7. S. 151) schildert aber einen Vergiftungsfall, bei dem sich jene angebliche Vorsichtsmaßregel als ganz unwirksam erwies. Eine aus vier Personen bestehende Familie in Zehlendorf bei Berlin er- krankte nach dem Genuß eines Gerichtes, das nur aus dem Pantherschwamm (Amanita pantherina) bestand. Die Symptome waren : Brennen im Halse und Übelkeit, geistige Exzitations- und Depres- sionszustände,vorübergehende Bewußtlosigkeit, Mus- kelzuckungen, z. T. Krämpfe, verlangsamte Licht- reaktion der Pupillen; der Verlauf der Krankheit war jedoch ein gutartiger. Wahrscheinlich schwankt der Giftgehalt des Pantherschwammes, worauf auch die Angabe hindeutet, daß er in Japan be- sonders giftig ist. Jedenfalls lasse man Vorsicht walten und sammle den Pilz nur an solchen Stellen, an denen ihn eigene Erfahrung als un- giftig kennen gelernt hat. Im allgemeinen wird er ja nur selten verwandt. Miehe. Die Nachtkerze Oenothera Lamarkiana ist da- durch zu einer berühmten Pflanze geworden, daß de Vries an ihr bekanntlich seine Mutationen beobachtete. In der Nachkommenschaft dieser Pflanze tauchten Formen abweichenden Aussehens auf, die weiterhin konstant blieben, aber z. T. auch ihrerseits wieder neuen P'ormen den Ursprung gaben. Auf diesen merkwürdigen Tatsachen baute de Vries damals seine Vorstellungen von Muta- tionen auf. Merkwürdig war es nun, daß die Stammpflanze, O. Lamarkiana, nicht in Amerika, dem Muiterlande der Oenothera- Arten aufgefunden werden konnte. Schon dadurch wurde der Ver- dacht genährt, daß Lamarcks Nachtkerze ein Bastard sein müsse, der erst in Europa zu einer unbe- kannten Zeit aus irgendwelchen amerikanischen Einwanderern entstanden sei, und daß das merk- würdige Verhalten der Nachkommenschaften irgend- wie mit Bastardspaltungen zusammenhängen müsse. Der Verdacht gewann sehr greifbare Formen durch die Untersuchungen vonNielsson, deren Resultate jedoch nur mit Hilfe komplizierter An- nahmen mit dem Verhaken normal spaltender Bastarde in Einklang gebracht werden konnten. Nun hat O. Renner') vor einiger Zeit ausge- dehnte und gründliche Untersuchungen über die Erblichkeitsverhältnisse bei Oenotheren angestellt, aus denen er in sehr überzeugender Weise die Bastardnatur der O. Lamarkiana ableitet. Wir können die Experimente Renner's hier nicht ^) O. Renner, Versuche über die gametische Konstitu- tion der Önotheren. Zeitschr. f. induktive Abstammungs- und Vererbungslehre Bd. 18, 1917, S. izi. in ihren Einzelheiten besprechen, wollen aber mit wenigen Strichen die Vorstellung skizzieren, zu der er gelangte. Folgende Entdeckung führte den Verf. auf die richtige Spur. Als er O. muricata mit dem Pollen von O. biennis bestäubte, stellte es sich heraus, daß sich die Keimzellen dieser beiden Arten nicht vertragen. Die Samen ent- wickeln sich anscheinend ganz normal, aber sie enthalten nie einen keimfähigen Embryo. Wenn nun O. Lamarkiana mit dem Pollen vom O. bien- nis belegt wurde, zeigte sich etwas ähnliches, es entwickelte sich hier nur die Hälfte der Samen zu einem Bastard, die andere Hälfte blieb taub. Bei weiteren Kreuzungen von O. Lamarkiana mit anderen Arten stellte es sich immer wieder heraus, daß die Nachkommenschaft aus zwei scharf ge- trennten Hälften bestand, von denen entweder beide lebensfähig waren und dann sogenannte Zwillingsbastarde darstellten, oder aber die eine Hälfte nicht über die ersten Entwicklungsstadien hinauskam und dann abstarb. In dem letzteren Falle war natürlich die Nachkommenschaft ein- heitlich. Dieses Verhalten von O. Lamarkiana ist nur denkbar, wenn man annimmt, daß ihre Ei- zellen sowohl als ihre Pollenkörner stets aus zwei verschiedenen Klassen, und zwar bei beiden Ga- meten aus denselben, bestehen. Wie kommt es nur aber, daß O. Lamarkiana, abgesehen von den selten auftauchenden „Mutanten", sonst bei Selbst- bestäubung immer wieder die Mutterform hervor- bringt, während man doch bei der Zwieförmig- keit ihrer Sexualzellen auch eine mehrförmige Nachkommenschaft erwarten sollte. Es müßten ja, wenn wir die beiden Komplexe, die die ver- schiedenen Klassen von Gameten, Pollenkörnern und Eizellen, bestimmen, mit A u. B bezeichnen, nach den Mendel' sehen Regeln 50 Proz. Hetero- zygoten (A Bj und 50 Proz. Homozygoten, näm- lich 25 Proz. AA und 25 Proz. BB, entstehen. Nun ergab sich, daß die Nachkommenschaft aus zwei Hälften bestand, es wurden zweierlei Samen erzeugt, aber die eine Hälfte nur war normal keim- fähig, sie gab wieder die O. Lamarkiana. Die andere enthielt nur verkümmerte Embryonen, die nicht entwicklungsfähig waren. Letztere sind als die Homozygoten* (25 Proz. AA und 25 Proz. BB) aufzufassen, zur Entwicklung kommen nur die 50 Proz. Heterozygoten. O. Lamarkiana ist also selber ein Heterozygot, ein Bastard, seine Kon- stanz in der Nachkommenschaft ist nur eine schein- bare. Die beiden Komplexe A und B sind nun oft'enbar bei irgendeiner früher einmal eingetretenen Bastardierung unbekannter Stammpflanzen zu- sammengeführt worden und haben das hervor- gebracht, was wir als O. Lamarkiana vor uns sehen. Merkwürdig ist nur, daß jene Komplexe, die doch aus verschiedenen Faktoren bestehen müssen, immer beisammen bleiben und nicht in der üblichen Weise bei der Bildung der Sexual- zellen verteilt werden, wodurch dann eine sehr viel mannigfachere Nachkommenschaft hervorge- gangen sein müßte. Man muß annehmen, daß die N. F. XVnl. Nr. n Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 159 elterlichen Faktoren zu je einem geschlossenen, immer als ganzem vererbten Komplexe vereinigt bleiben. Allerdings erhebt sich dann die Frage, wes- halb bei homozygotischem Aufeinandertreffen dieser Komplexe nicht wieder die Stammformen hervorgehen sollten. Die Homozygoten sind ja, wie wir gesehen haben, gerade lebensunfähig, und dadurch wurde ja immer nur die heterozygote Verbindung vererbt. Hier ist die weitere Annahme unabweisbar, daß im Bastard O. Lamarkiana die beiden Komplexe vielleicht durch Austausch von Faktoren so verändert wurden, daß sie für sich, in homozygotischer Verdoppelung keine lebens- fähige Verbindung geben. Die sogenannten „IVIu- tanten" würde man sich dann dadurch entstanden denken, daß von den für gewöhnlich festgefügten Komplexen ausnahmsweise und selten ein Faktor oder eine Faktorengruppe sich loslöst und sich mit dem anderen Faktorenkomplex vereinigt. Daraus würden sich so viele Möglichkeiten zur Bildung neuer und konstanter Formen ergeben, daß die Mutationen de Vries' vollkommen er- klärt wären. i)as möge aber wiederum im ein- zelnen nicht näher ausgeführt werden. Wie man sieht, muß auch Renner besondere Annahmen machen, sie ergeben sich aber ungezwungen aus den Tatsachen, so daß sie in der Tat den Sach- verhalt richtig treffen dürften. Das Rätsel der sogenannten „Mutationen" bei Oenothera dürfte damit entschleiert sein, womit natürlich über die Mutationen im allgemeinen nicht der Stab ge- brochen ist. Darüber hinaus liefern die Unter- suchungen R e n n e r ' s interessante und neue Aus- blicke in das Problem der Artbastarde. Miehe. Bücherbesprechungen. Erinnerungen an Theodor Boveri. Mit 4 Ab- bildungen. Tübingen 191 8. Verlag von J. C. B. Mohr (Paul Siebeck). 8". [VI,] 161 Seiten. 8 M. und ao^/o Kriegsaufschlag. Zu Ehren Theodor Boveris haben sich seine Freunde und Schüler pietätvoll zusammen- gefunden und eine Erinnerungsschrift geschaffen an den Mann, dessen Name in der modernen Bio- logie als der ersten einer glänzt. Mit drei Seiten über Boveris „Eltern und Kindheit" von W. Boveri und mit darauf folgen- den Schul- und Universitätserinnerungen über „Theodor Boveri in seiner Jugendentwicklung" von H. Beeg sind wir eingeführt. Und nun werden wir von H. Spemann in einer „Ge- dächtnisrede aut Theodor Boveri. Gehalten in der physikalisch-medizinischen Gesellschaft [zu Würz- burg] am 3. Febr. 1916" mit den Problemen ver- traut gemacht, die Boveri sein Leben lang be- schäftigt haben. Es ist ein hübsches Wegstück modernster Biologiegeschichte. Boveris Theorie der Chromosomenindividualität (l888j, seine Ent- deckung des Centrosoma als des Teilungsorgans der Zelle (1888), die Auffindung der lange ver- geblich gesuchten Niere des Amphioxus lanceo- latus (1890, 1892), seine verschiedenen Arbeiten über die morphologischen Grundlagen der Ver- erbung, all das und noch manch anderes stellt Spemann in dieser Gedächtnisrede ins rechte Licht, und das ihr angefügte, sauber gestaltete Literaturverzeichnis mit über 50 eigenen Arbeiten und über 60 Studien aus Boveris Institut läßt sofort den in Zellenstudien liegenden Schwerpunkt seiner Lebensarbeit erkennen. Von F. B a 1 1 z e r hören wir näheres über „Theodor Boveris Lehrtätigkeit". Ähnliches wie bereits Spemann behandelt dann der Amerikaner Edmund B. Wilson in einer Würdigung, doch noch eindringlicher die cytologischen Ergebnisse Boveris zusammenfassend. Daß freilich hinter dieser in englischer Sprache verfaßten Studie noch eine von A. Leiber gefertigte deutsche Über- setzung zu finden ist, wird vielleicht mancher Leser zusammen mit dem Rezensenten für über- flüssig halten und dabei an Schopenhauers „Schreibt ihr für Schuster und Schneider?" denken. Rein die menschlichen Seiten Boveris, vor allem auch seine reiche künstlerische Veranlagung suchen dann A. Leiber („Theodor Boveri. Em Erinnerungsbild") und W. Wien („Theodor Boveri. Erinnerungen an seine Persönlichkeit") zu erfassen und liebevoll gedenkend zu schildern. Trauer- worte, die W.C. Röntgen am 19. Oktober 1915 bei der Einäscherung gesprochen, schließen den schönen Erinnerungsband, der mit drei Bildern Boveris und einer von ihm stammenden Land- schaftsskizze geschmückt ist. Dresden. Rudolph Zaunick. Stich, Dr. Conrad, Bakteriologie und Ste- rilisation im Apothekenbetriebe. Mit eingehender Berücksichtigung der Herstellung steriler Lösungen in Ampullen. 3. Aufl. 131 Text- abbild. 3 Taf. 326 S. Berlin 1918, Verlag von Julius Springer. Ein wichtiges Hilfsmittel für die Erkennung einer Krankheit bietet die bakteriologische Unter- suchung von Körperflüssigkeiten des Kranken. Der viel beschäftigte Arzt ist aber selbst gar nicht imstande, diese Arbeiten vorzunehmen und er wird sie gerne dem Apotheker überweisen. Das vorliegende Buch will nun für den Apo- theker nicht nur ein Handbuch, sondern auch ein Lehrbuch der Bakteriologie und der Sterilisation sein. Es ist aber so geschrieben, daß auch weitere Kreise dafür Interesse finden dürften, klärt es doch über manche Untersuchungsmeihoden auf, von denen vielleicht mancher schon gehört hat, ohne über Zweck und Ausführung derselben unterrichtet zu sein. i6o Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 1 1 Die bakteriologische Untersuchung einer Kör- perflüssigkeit beschränkt sich nicht nur auf den mikroskopischen Nachweis der durch besondere Färbungen kenntlich gemachten, abgetöteten Bak- terien, sondern auch auf den kulturellen Nachweis der lebenden Bakterien. Als Ergänzung und Unter- stützung der Untersuchungsergebnisse kommt dann der Tierversuch und die serodiagnostische Methode in Betracht. Letztere, aufgebaut auf der Lehre vom biologischen Verhalten des Blutserums gegen- über den pathogenen Keimen, hat eine ganz be- sondere Bedeutung für den Nachweis der Syphilis erlangt. Sie geht davon aus, daß der menschliche und tierische Organismus über bestimmte Abwehr- kräfte gegen ihm fremdartige und schädliche Sub- stanzen verfügt, und daß diese Abwehrvorrichtungen fast ausnahmslos sich als im Serum des betr. Organismus gelöste chemische Verbindungen (Ei- weißstofie) nachweisen lassen. Außer den pathogenen beschreibt Verf. auch nichtpathogene und tierpathogene Mikroorganis- men, soweit sie pharmazeutisches Interesse haben (Kefir, Mäusetyphusbazillen und andere). Bei der Untersuchung der Körperflüssigkeiten auf Bakterien macht die Deutung der mikroskopi- schen Bilder vielfach Schwierigkeiten. Um diese zu beheben, bietet das Buch mit einer Beschreibung und Abbildung der wichtigsten dabei vorkommen- den geformten Bestandteile eine gute Hilfe. Den größten Teil des Buches nimmt der IL Teil über die Sterilisation ein. Besonders ausführlich ist die Sterilisation der Arzneimittel, die Herstel- lung steriler Lösungen in Ampullen und die Sterilisation der Verbandstofi'e behandelt. Die Prüfung der Arzneimittel und Verbandstoffe auf Keimfreiheit bildet den Schluß des für das bak- teriologische Laboratorium des Apothekers sehr wertvollen Buches. K. Snell. Paul Kammerer, Geschlechtsbestimmung und Ueschlechtsverwandlung. Zwei ge- meinverständliche Vorträge. 96 S. Mit 16 Abb. Wien 1918. Verlag Moritz Perl es. — 4 K. Kammerer behandelt in dem vorliegenden Büchlein Probleme, die von großer theoretischer Bedeutung sind und die in dem letzten Jahre von verschiedenen Forschern experimentell bearbeitet wurden. Manches in den Ausführungen von Kammerer ruft Widerspruch hervor. Die Schlüsse, die er über die geschlechtsbestimmenden P'aktoren beim Menschen zieht, sind viel zu weitgehend. Es sind geschlechtsbestimmende Faktoren vorhanden, und selbstverständlich müssen wir sie zu ermitteln suchen. Aber einstweilen kennen wir diese Fak- toren noch nicht. In Büchern nun, die für ein großes Publikum bestimmt sind, ist doppelte Vorsicht in der Darstellung wissenschaftlicher Ergebnisse ge- boten, denn hier läuft man eher Gefahr, mißver- standen zu werden. Diese Vorsicht in der Dar- stellung unserer Kenntnis von den geschlechtsbe- stimmenden Faktoren vermisse ich aber in dem ersten Vortrag von Kammerer. Im zweiten Vortrag wird auch die Frage dis- kutiert, wie die Anlage des Somas von Männchen und Weibchen beschaffen ist, ob sie sexuell, asexuell oder bisexuell sei. Kammerer ver- tritt die Auffassung, daß die Anlage „potentiell zwitterig" ist. Das ist eigentlich dasselbe wie asexuell; denn was während der ontogenetischen Entwicklung je nach der zur Wirkung gelangen- den Pubertätsdrüse männlich oder weiblich werden kann, ist eben asexuell. Bei den ausge- wachsenen Wirbeltieren ist der getrenntgeschlecht- liche Zustand die Norm, der Zwitterzustand die Ausnahme, und ich halte es darum für unzweck- mäßig, den Zustand des Embryos vor der ge- schlechtlichen Differenzierung durch einen Zustand zu charakterisieren, der ausnahmsweise, als Mißbildung eintreten kann. Trotz dieser Ausstellungen ist das Büchlein von Kämmerer den Lesern sehr zu empfehlen. Die beiden Vorträge führen mitten in die großen Probleme der Biologie ein, sind fesselnd ge- schrieben und regen zum weiteren Nachdenken an. Alexander Lipschütz (Bern). Literatur. Brill, A. , Das Relativitätsprinzip. Eine Einführung in die Theorie. 3. Aufl. Leipzig u. Berlin 1918, B. G. Teubner. 2 M. „Aus Natur und Geisteswelt". B. G. Teubner. Jeder Band 1,50 M. Dacque, Privatdozent Dr. E. , Geographie der Vor- welt. (Paläogeographie). Mit 18 Textfiguren. Machatschek, Prof Dr. F., Allgemeine Geographie. HI. Geomorphologie. Mit 33 Abbildungen. IV. Physiographie des Süßwassers. Mit 24 Abbildungen. Tornius, Dr. V., Die Baltischen Provinzen. 3. Aufl. Mit S Abbildungen und 2 Kartenskizzen. Eilermann, Prof. Dr. V., Die übertragbare Hühner- leukose. Mit 10 Tabellen und 13 Textabbildungen. Berlin 1918, J. Springer. Weihe, Dipl.-Ing. C. , Aus eigner Kraft. Bilder von deutscher Technik und Arbeit für die reifere Jugend. Mit 10 Tafeln. Leipzig und Berlin 1919. 4,50 M. Inhalt: Ludwig Reisinger, Beitrag zur Physiologie des Kleinhirns der Teleo 23,2 » 28,8 „ •) A. Wegener, Das detonierende Meteor vom 3. April 1916. Schriften der Gesellschaft zur Beförderung der gesam- ten Naturwissenschaften zu Marburg. 14. Band. I. Heft. Siehe Besprechung in Naturw. Wochenschr. 1918, Nr. 14. ') Enzyklopädie der mathematischen Wissenschaften VI 2, 10, Seite 454. Die benutzten Fälle sind zu 78 v. H. Stern- schnuppen, II v. H. Meteore von i- bis 4facher Venusgröße, 11 v. H. Feuerkugeln bis Mondgröße ohne Donner. Selbstverständlich handelt es sich hierbei stets um die geozentrische Geschwindig- keit, die Resultante aus der wahren (heliozentri- schen) Geschwindigkeit des Meteors und der Ge- schwindigkeit der Erde. Die geozentrische Be- wegung ist um so rascher, je näher der scheinbare Strahlungspunkt (Radiant) des Meteors beim Ziel- punkt der Erdbewegung liegt. *) Infolgedessen muß auch die mittlere Endhöhe der Meteore mit zunehmendem Abstand vom Zielpunkt der Erd- bewegung (Apex) abnehmen, worauf zuerst v.Nießl aufmerksam gemacht hat. 'j Als Beispiel möge wieder eine der Zusammenstellungen dieses For- schers dienen. ,^^ . j j _ Durchschnitt- liche Höhe des End- punktes 95,6 km 84.5 ,. 61.6 „ S9.8 „ 52,1 „ Nun zeigt sich, wie schon oben angedeutet, der Verlauf der Lichterscheinungen in weitgehen- dem Maße von der Geschwindigkeit und damit von der Endhöhe abhängig, indem die tiefer herab- kommenden, langsameren Meteore infolge des vermehrten Luftwiderstandes auch den glänzen- deren Anblick bieten , selbst wenn man von ihrer größeren Nähe ganz absieht. Man wird also die glänzenderen Meteore immer auf der Erdhalb- kugel erwarten können, die dem Apex abgewandt ist. In der Tat zeigen sowohl die mit Donner verbundenen Meteore als die Meteoritenfälle einen ausgeprägten täglichen Gang, indem das Maximum ihrer Häufigkeit in den Nachmittagsstunden ein- tritt, zu einer Zeit also, wenn der Apex seinen tiefsten Stand unter dem Horizont erreicht. Ein Meteor kann, unter sonst ganz gleichen Umstän- den, als Meteoritenfall oder als bloße Feuerkugel ohne Donner in Erscheinung treten, je nachdem, ob es sich mit geringerer oder größerer Geschwin- digkeit durch die Atmosphäre bewegt. Die von der verschiedenen Geschwindigkeit Radianten vom Apex Anzahl der Fälle 0— 40» 12 40— 70» 12 70— 90" 12 90 — 100" 10 110—180» 10 >) Siehe dazu meinen Aufsatz in Heft 9 des vorigen Jahr- gangs der Naturw. Wochenschrift (3. März 1918). ') G. V. Nießl, Über die Rolle der Atmosphäre im Meteorphänomen. Wiener astronomischer Kalender für 1901. N. F. XVIII. Nr. 14 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 187 und im Zusammenhangf damit von der Endhöhe auf den Verlauf der Lichterscheinungen ausge- übten Einflüsse sind immerhin noch leicht zu er- forschen, weil ihre Ursachen rechnerisch festgestellt und ihre Wirkungen trotz aller bestehenden Un- sicherheiten doch unmittelbar beobachtet werden können. Dagegen fehlen fast alle Erfahrungen über die Wirkung verschiedener Dichte der IVIeteo- riten und Hand in Hand damit über den Einfluß des chemischen und physikalischen Aufbaus. Daß diese Umstände von großer Wichtigkeit sind, unter- liegt gar keinem Zweifel. Jeder fleißige Meteor- beobachter kann bestätigen, daß der Anblick der Sternschnuppen außerordentlich mannigfaltig ist. Sieht man von der Farbe zunächst ganz ab, so bleiben vor allem noch die Verschiedenheiten der Schweifbildung, der Art des Erlöschens usw. Manche Sternschnuppen erscheinen als scharfe sternartige Punkte und behalten diesen Anblick während der kurzen Zeit ihrer Sichtbarkeit unver- ändert bei. Andere ziehen sich während ihres Laufes mehr und mehr in die Länge, sie bilden einen Schweifansatz aus. Wieder andere hinter- lassen einen nachleuchtenden Streifen, der mehr oder minder lange Zeit sichtbar bleibt, manchmal nur wenige Sekunden, manchmal eine Viertel- stunde und länger, ohne daß die Ursache dieser Abstufungen erkennbar wäre. Endlich beobachtet man auch Sternschnuppen, die sich bald nach ihrem Aufleuchten völlig auflösen und als Dampf- wolken von merkbarem Durchmesser ihren Lauf noch über kurze Strecken fortsetzen. Schließlich sind die sogenannten nebeligen Meteore zu er- wähnen, Sternschnuppen, die dem Auge nur als schwaches phosphorisches Aufleuchten erscheinen. Auf eine weitere Gruppe habe ich vor einigen Jahren hingewiesen.') Diese merkwürdigen Stern- schnuppen bilden überhaupt keinen Kopfteil aus, sondern gleichen einem losgelösten, gleichmäßig hellen Schweifstück, das sich in seiner Längs- richtung langsam fortbewegt. Bemerkenswert ist die ziemlich große, bis zu 5 Sekunden betragende Dauer dieser Meteore. Man kann sich des Ein- drucks nicht erwehren, daß sie entweder schon in staubförmigem Zustand in die Atmosphäre ein- treten, oder aber von so lockerem Aufbau sind, daß der geringste Anstoß genügt, sie zu zerstören. Diese kurze Aufzählung mag zeigen, mit welchen verschiedenartigen Einflüssen bei der Beurteilung der beobachteten Erscheinungen gerechnet werden muß. Hinsichtlich der Sternschnuppen sind wir leider fast ganz auf Vermutungen angewiesen, denn noch niemals hat eine Sternschnuppe die Erdoberfläche erreicht, und auch die an sich schwierige und vom Zufall abhängige spektro- skopische Untersuchung versagt dabei, weil fast ausschließlich das Spektrum der erhitzten Luft, aber nicht das des festen Meteorkerns zur Wahr- nehmung kommt. Innerhalb geschlossener Ströme, ■') C. Hoffmeister, Über eine bisher unbekannte Form der Sternschnuppen, Astr. Nachrichten Nr. 4733. wie jenen der Perseiden und Lyriden u. a., scheinen auch die physikalischen und chemischen Eigenschaften der Meteore gleichartig zu sein, während die trotzdem häufig auftretenden Ab- weichungen vom durchschnittlichen Anblick durch die Massenunterschiede erklärt werden können. Sonst aber scheinen die Sternschnuppen außer- ordentlich mannigfache Eigenschaften hinsichtlich ihrer Dichte und Zusammensetzung aufzuweisen. Wenigstens lassen sich die zu beobachtenden Ver- schiedenheiten kaum auf andere Art erklären. Wesentlich günstiger liegen in dieser Beziehung die Verhältnisse bei den großen Meteoren, weil hierbei nicht allzu selten ganze Körper oder Bruch- stücke in unsere Hand gelangen, so daß sie mit allen zu Gebote stehenden Mitteln untersucht werden können. Es ist bekannt, daß die Meteoriten eine sehr wechselnde chemische Zusammensetzung aufweisen. Von den Nickeleisenmeteoriten bis zu den glasartigen Moldaviten ist ein weiter Weg, und wenn, wie eingangs ausgeführt wurde, ein Rückschluß auf die Sternschnuppen wahrschein- lich gestattet ist, so finden wir bestätigt, was wir oben aus dem bloßen Anblick der kleinen Meteore geschlossen haben. Es ist übrigens zu erwarten, daß Massen von sehr geringer Dichte überhaupt niemals zur Erdoberfläche gelangen werden, weil sie um so leichter der Auflösung verfallen, je weniger Widerstand sie dem Druck der aufge- stauten Luft bieten, während umgekehrt die Durch- schlagskraft mit der Dichte eines Geschosses zu- nimmt. Darin liegt wohl auch der Grund für das abweichende Verhalten mancher Eisen - meteoriten, die wie der bei Treysa gefallene, nach allmählichem Erlöschen der Feuerkugel un- zertrümmert zur Erde kommen. Ihre große lebendige Kraft bei geringem Querschnitt setzt sie offenbar in den Stand, auch jenen Punkt des höchsten Luftwiderstandes zu überwinden, an dem die weniger widerstandsfähigen Meteoriten der Auflösung verfallen. Demnach wird auch der Verlauf der Lichterscheinungen sehr wesentliche Unterschiede zeigen, je nachdem, ob ein Eisen- oder ein Steinmeteorit in die Atmosphäre ein- dringt. Bevor wir die Wirkung untersuchen, die die wechselnde Gestalt der Meieorkörper auf den An- blick der Feuerkugeln hervorbringt, müssen wir zunächst etwas eingehender den Vorgang be- trachten, der sich abspielt, wenn ein Meteorit in die Erdatmosphäre eindringt. Auf den ersten Blick erscheint es kaum begreiflich, daß ein Körper in so großer Höhe durch den Luftwiderstand zum Erglühen gebracht werden kann, denn die dort herrschende Verdünnung der Luft erreicht einen Grad, den wir im Versuchsraum mit unseren besten Hilfsmitteln nicht darstellen können. Die Tatsache des Aufleuchtens der Meteore in Gegen- den, die nur eben wahrnehmbare Spuren von Gasen enthalten, erschien auch wirklich den älteren For- schern als schwer lösbares Rätsel. Sucht man nach einer Erklärung, so muß man vor allem die große l8S Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 14 Geschwindigkeit der Meteore berücksichtigen, die im Mittel etwa 40 — 60 km in i Sekunde be- trägt. Einem so rasch bewegten Körper gegen- über ist selbst der aufs äußerste verdünnte Wasser- stoff zu träge, um auszuweichen. Infolgedessen werden sich die von dem Meteor im ersten Teile seiner Bahn getroffenen Luftmassen auf der Stirn- seite des festen Körpers aufstauen. Im Verlaufe einer Sekunde oder eines Bruchteils davon bildet sich eine starke Verdichtung der Luft, und daß mit diesem Vorgang eine beträchtliche Erhitzung verbunden ist, lehrt der bekannte Versuch mit dem pneumatischen Feuerzeug. Der Meteorit schiebt nunmehr eine Gaskugel vor sich her, die sich mehr und mehr vergrößert und in immer lebhafteren Glutzustand gerät, denn die zusammen- gepreßten Luftmassen verhalten sich ihrer Um- gebung gegenüber gleichsam wie ein fester Körper. Selbstverständlich werden sie das Bestreben zeigen, sich auszudehnen, werden daran aber durch den Widerstand der durchfahrenen Schichten gehindert. Immerhin wird eine Vergrößerung der Feuerkugel um das Vielfache ihres anfänglichen Durchmessers möglich sein. Das Meteor nimmt dann die bekannte Birnenform an. Der seitlich abfließende Luftstrom wirkt auf den festen Körper wie eine Gebläseflamme und bringt ihn meist nach kurzer Zeit zur Vergasung. Es ist falsch, wenn in vielen Lehrbüchern zu lesen steht, daß die Meteore infolge der Reibung an der durch- flogenen Luft aufleuchten. Nicht die Reibung, sondern die Zusammenpressung der Luft ist in erster Linie dafür verantwortlich zu machen. Wenn wir dies beachten, so scheint es, daß die Gestalt des festen Kerns für das Aussehen der Feuerkugel ziemlich belanglos ist, weil wir ja in der Hauptsache nur die umgebende Gas- kugel, nicht den Kern selbst, zu Gesicht bekommen. Von Bedeutung ist aber zweifellos, ob der Kern aus einem Stück oder aus vielen einzelnen Körpern besteht. Es ist nämlich wahrscheinlich, daß letzterer Fall gar nicht selten eintritt. Man hat Steinregen beobachtet, bei denen Tausende einzelner Stücke niederfielen, die keine Bruch- flächen zeigten und sämtlich eine vollständige Schmelzrinde aufwiesen. Zwar ist dies noch kein zwingender Beweis dafür, daß sie wirklich bereits getrennt in die Atmosphäre eingetreten sind. Es ist immerhin möglich, daß die Zertrümmerung erst im Hemmungspunkt erfolgt ist und die Schmelzrinde infolge der gerade in diesem Augenblick äußerst heftigen Wärmeentwicklung zustande kam. Es muß aber überhaupt bezweifelt werden, daß ein wirkliches Zerplatzen der festen Masse im Hemmungspunkt die Regel bildet. Auch die Beobachtungen sprechen dafür, daß die festen Kerne der Feuerkugeln oft aus kleinen Meteoritenschwärmen bestehen. Der bekannte Meteorbeobachter Schmidt in Athen beschreibt einen derartigen Fall vom 18. Oktober 1863. Er konnte den Kometensucher auf die langsam ziehende Feuerkugel richten und sah diese aus zahlreichen getrennten Körpern zusammengesetzt. Auch gewöhnliche Sternschnuppen erblickt man im Fernrohr nicht selten als Doppelmeteore. Meist werden übrigens die einzelnen Körper so nahe bei einander einherziehen, daß sie eine ge- meinsame Gashülle ausbilden und dann dem Auge als eine Feuerkugel erscheinen. Die einzelnen Meteoriten werden sich zweifellos so anordnen, daß die größten vorausgehen und die kleineren etwas zurückbleiben. Auch dies scheinen die Be- obachtungen zu bestätigen. Der große Lichtaus- bruch, der dem Erlöschen der Feuerkugel meist unmittelbar vorausgeht und mit der Hemmung zusammenfällt, ist nur ausnahmsweise ein ein- maliges Aufflammen, sondern besteht meist aus mehreren aufeinanderfolgenden Blitzen, was darauf hindeutet, daß verschiedene Massen nachein- ander gehemmt und verdampft werden. Ge- legentlich kann man beobachten, daß einzelne Körper den ersten Hemmungspunkt überwinden, ihren Lauf fortsetzen und einen zweiten Hem- mungspunkt erreichen. Als schönes, lehrreiches Beispiel hierfür kann die Beschreibung einer hellen Sternschnuppe gelten, die J. H. Metcalf am 27. Februar 1914 durch Zufall photographiert hat. Er berichtet über die abgebildete Spur des Meteors folgendes :')„... Es begann sehr lichtschwach und vergrößerte allmählich seine Helligkeit über fast 4 Grad seines photographierten Weges ; dann erfolgte plötzlich ein Ausbruch mit großer Licht- entfaltung, dem 3 weitere Ausbrüche folgten, jeder schwächer als der vorhergehende. Nach dem vierten Aufflammen brachte das Meteor keinen Eindruck mehr auf den Platten hervor. An der Stelle des hellsten Ausbruchs ist die Spur i Bogenminute breit und zeigt, daß das Meteor aus wenigstens 4 Körpern bestand. Beim nächsten Aufleuchten sind 3 dieser Körper sichtbar, beim dritten nur noch 2 und beim letzten Ausbruch ist die Er- scheinung so schwach, daß nur noch das Haupt- meteor sichtbar blieb." Diese letztere Auffassung Metcalfs ist wohl nicht ganz richtig. Vielmehr ist anzunehmen, daß bei den ersten 3 Ausbrüchen jeweils einer der Meteorkörper verdampft wurde, so daß schließlich nur noch ein einziger übrigblieb, der seinerseits dem vierten Lichtausbruch zum Opfer fiel. Eine ähnliche Beschreibung gibt Hertzsprung für eine Meteorspur, die auch die erwähnten Lichtausbrüche zeigt, ohne daß die einzelnen Bestandteile des Kerns auf der Platte getrennt gesehen werden konnten.") Auch bei großen Feuerkugeln ist das Flackern während ihres Laufes eine ganz bekannte Erscheinung. Über das Volumen der in die Erdatmosphäre eindringenden festen Massen kann man wenigstens hinsichtlich der Größenordnung ziemlich sichere '1 J. H. Metcalf, A Photograph of a Meteor Trail, Astr. Nachrichten Nr. 4770. Das Bild der Meteorspur ist da- selbst wiedergegeben. *) E. Hertzsprung, Photometrie der photographischen Spur des Meteors von 11. April 1910 81147,5m M. Z. Grw., Astr. Nachrichten Nr. 479S. N. F. XVni. Nr. 14 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 189 Angaben machen. Die Größe der Meteorkörper wird meist beträchtlich überschätzt. Die bei Meteoritenfällen aufgesammelten Massen sind keines- falls so beträchtlich, wie es die gewaltigen Begleit- erscheinungen vermuten lassen. Zwar muß bei den niedergefallenen Meteoriten die Gewichtsver- minderung infolge der Verdampfung in Anrechnung gebracht werden. Auch wird kaum eine obere Grenze für das Gewicht der eindringenden Körper anzunehmen sein. Immerhin sind Meteoriten, die auch nur das Gewicht unserer schwersten Artillerie- geschosse erreichen, schon recht selten, und die Begleiterscheinungen sind in der Hauptsache der großen Geschwindigkeit zuzuschreiben. Bei der Ermittelung des mutmaßlichen Gewichts der Stern- schnuppen ist man auf den photometrischen Weg angewiesen. A. Herschel folgerte aus der Ver- gleichung der Leuchtkraft von Sternschnuppen in bekannter Entfernung mit jener einer gegebenen Menge glühenden Gases, daß die Meteore ,, erster Größe" (d. h. jene, deren Helligkeit den Sternen erster Größe gleichkommt), durchschnittlich höch- stens wenige Gramm und die kleineren nur Bruch- teile eines Gramms wiegen. Zu noch geringeren Werten gelangte B. F. Sands hinsichtlich der ,,Leoniden" von 1867 durch Vergleich mit dem Kalklicht, indem er die Gewichte der Stern- schnuppen von Jupiter-Helligkeit zu 0,67 g, jene der schwächsten, dem bloßen Auge sichtbaren Stern- schnuppen zu 0,004 g ansetzt. Die Sternschnuppen erscheinen auch dem bloßen Auge selten anders als punkt- oder strichförmig. Bei Feuerkugelbeobachtungen sind Angaben wie „faust-, kindskopf- oder mondgroß" sehr häufig. Berechnet man aus den Vergleichungen mit dem scheinbaren Monddurchmesser den entsprechen- den wahren Durchmesser der Feuerkugel, so kommt man auf Werte, die meist zwischen 200 und 2000 m liegen. Die Annahme eines so großen festen Körpers ist von Anfang an sehr unwahr- scheinlich und nach den vorhergegangenen Aus- führungen auch unnötig. Daß ein aus vielen Einzelkörpern bestehender Meteorschvvarm ein- schließlich der umgebenden Gaskugel jene Breite einnimmt, ist zwar möglich, aber für die meisten Fälle nicht wahrscheinlich. Man findet solch große Durchmesser auch dann, wenn nachweislich nur ein einzelner Körper durch die Atmosphäre ge- zogen ist, so z. B. bei dem bereits erwähnten hessischen Meteor vom 3. April 1916. Der Durch- messer des aufgefundenen Meteoriten betrug 24 bis 36 cm, jener der Feuerkugel nach Wegener's Berechnung 678 m als Mittel aus 5 Werten zwischen 440 m und 1140 m. Daß nicht die übertriebenen Angaben ungeschickter Beobachter allein zu solch großen Durchmessern führen, be- weist mir eine eigene vorsichtige Schätzung des Durchmessers der Feuerkugel vom 24. Mai 1915, die 453 m ergab. Auch ältere Forscher haben die gleiche Erfahrung gemacht. C h 1 a d n i schreibt zu diesem Gegenstand: „Die Größe der Feuer- kugel ist, wie schon Plutarch zu dem bey Aegos- Potamos gefallenen Steine richtig bemerkt hat, allemahl weit beträchtlicher gewesen, als das Volumen der hernach niedergefallenen Massen." Bezüglich des Meteoritenfalls von Pultusk am 30. Januar 1868 kommt Galle zu übereinstimmendem Ergebnis und erklärt den großen Durchmesser mit dem Eindringen einer \A^olke von Meteoriten. Auch erwähnt er bereits die Möglichkeit des Ent- stehens ausgedehnter Gaskugeln. — Einen wich- tigen Punkt haben wir bisher außer acht gelassen : die Irradiation, d. i. die scheinbare Vergröße- rung des Durchmessers eines hellen Gegenstands auf der Netzhaut des Auges. Es scheint mir, daß die Irradiation vor allem für die aus den Meteor- beobachtungen folgenden großen Durchmesser ver- antwortlich zu machen ist. • Ich stütze mich dabei auf meine Wahrnehmungen an den für militärische Zwecke verwandten Leuchtkugeln. Aus i — 2 km Entfernung beobachtet, zeigen sie bei Nacht einen Durchmesser von mindestens 5 Bogenminuten. Bei Tage dagegen erscheinen sie völlig punktartig, also höchstens i Bogenminute groß. Man kann einwenden, daß sich auch bei Tagesmeteoren jene großen Durchmesser ergeben, wobei aber zu be- denken ist, daß Meteore am Tageshimmel über- haupt nur allgemeine Beachtung finden, wenn sie gewaltige Lichtstärke besitzen. Die Irradiation wird sich dann trotzdem geltend machen, wenn auch nicht in dem Maße wie bei Nacht. In letzterem Falle wäre auch gelegentlich die Er- leuchtung atmosphärischer Dunstschichten in Be- tracht zu ziehen, die einen „Hof" um das Meteor erzeugt und seinen scheinbaren Durchmesser größer erscheinen läßt, als er ist. — Einen Beitrag zu unserer Frage liefert das Tagesmeteor vom 18. P'ebruar 191 2,') für dessen Durchmesser ich im Mittel 260 m gefunden habe, also immerhin weniger als aus vergleichbaren Nachtbeobach- tungen. Ein Beobachter berichtet von einem hellen Kern mit umgebender Dunstschicht. Seine Schätzungen ergeben für ersteren 48 m, für letztere 186 m Durchmesser. Vielleicht kommt man damit den wahren Werten schon ziemlich nahe, denn es ist sehr wohl denkbar, daß sich die leuchtenden Gase bis auf 50 oder 100 m Ent- fernung vom Kern ausdehnen, besonders wenn man letzterem die Gestalt eines Meteorschwarmes und damit selbst einen vielleicht nicht unmerk- lichen Durchmesser gibt. Die Farbe der Meteore beansprucht er- höhtes Interesse infolge der in den letzten Jahren erschienenen Arbeiten A. Wegeners. Seine jüngste zusammenfassende Darstellung '-) veranlaßt mich, diesen Gegenstand etwas ausführlicher zu behandeln. Vor längerer Zeit bereits hat Wegener die Hypothese von der Schichtung ') C. Hoffmeister, Untersuchungen über das große Meteor vom 18. Februar 1912, Mitt. der Verein, von Freunden der Astr. und kosm. Physik. 23. Jahrg., S. 32 — 47. -) A. Wegener, Der Farbenwechsel großer Meteore, Abb. der Kaiser!. Leop.-Carol. Deutschen Akademie der Natur- forscher, Halle 191S. Bd. 104, Nr. I. igo Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 14 der Atmosphäre aufgestellt und eingehend be- gründet.^) Schon die theoretischen Untersuchungen von Hann (1903) und Humphreys (1909) hatten gezeigt, daß die Erdatmosphäre nicht aus einem gleichmäßigen Gasgemisch bestehen könne, sondern daß die einzelnen Gase nach Maßgabe ihres abnehmenden Molekulargewichts über ein- ander angeordnet sein müssen. Die Luft weist in der dem Erdboden benachbarten Schicht, der Troposphäre, den größten Sauerstoffgehalt auf. Bei 1 1 km Höhe befindet sich eine seit langem bekannte, ziemlich scharfe Schichtgrenze. Die darüber lagernde Stratosphäre besteht vorwiegend aus Stickstoff", der mit zunehmender Höhe immer mehr von dem leichteren Wasserstoff verdrängt wird. Bei 100 km Höhe beträgt der Wasserstofif- gehalt nach Hann 99 "/o, nach Wegen er 67 "/j. Der Unterschied rührt daher, daß die Grundlage der Rechnung, der Wasserstoffgehalt an der Erd- oberfläche, bisher nur sehr unsicher bestimmt ist. Hann benutzte einen mittleren runden Wert von 0,01 Volumprozent, Wegen er den Wert 0,0033 "/o nach Gautier und Rayleigh. Immerhin zeigen diese Ergebnisse, daß bei 100 km Höhe der Wasserstoff das vorherrschende Gas sein muß. Wegen er führte nun eine weitere Schichtgrenze zwischen der Stickstoff- und der Wasserstoffzone bei etwa 70 — 80 km Höhe ein und nimmt weiter ein noch durchaus hypothetisches Gas, das Geoco- ronium an, das leichter als Wasserstoff sein und oberhalb von etwa 200 km Höhe den Vorrang besitzen soll. Ob die letztere Annahme richtig ist, muß bezweifelt werden, besonders nachdem die als Beleg herangezogene grüne Linie im Nord- lichtspektrum inzwischen eine anderweitige Er- klärung gefunden hat. Für unseren Zweck ist dies indessen belanglos. Wegen er vertritt nun die Ansicht, daß die Farbe der Meteore vorwiegend durch die Art der durchflogenen Gase bestimmt sei. Er unterscheidet bei großen Meteoren drei verschiedene Entwick- lungsstufen: den Sternschnuppenzustand, den grünen und den roten Zustand. Die grüne Farbe soll vom Wasserstoff die rote vom Stickstoff ver- ursacht sein. Der Farbenwechsel müßte also in der Gegend der erwähnten oberen Schichtgrenze bei etwa 75 km Höhe stattfinden. Alle großen Meteore erscheinen zuerst sternschnuppenartig, d. h. als Körper ohne merkbaren Durchmesser und von geringer Helligkeit. Mit Recht räumt Wegener dem umgebenden Gase dabei nur ge- ringen Einfluß ein. Wahrscheinlich bekommen wir zuerst die erglühende Meteoritenoberfläche selbst zu Gesicht. Der Übergang zum grünen Zustand vollzieht sich nach meinen Erfahrungen oft ziemlich plötzlich, fast sprungweise, und fällt wahrscheinhch mit der Ausbildung einer Gaskugel zusammen. Das Licht ist übrigens nicht ausge- ') Derselbe, Untersuchungen über die Natur der obersten Atmosphärenschichten, Physik. Zeitschr., XII. Jahrg. S. 170—178 und 214 — 222 (igil). sprochen grün gefärbt, sondern eigentlich mehr blau als grün, oft auch weißblau oder weiß ohne Beimischung von Grün. Bis hierher decken sich meine Ansichten mit denen Wegener' s. Da- gegen komme ich bezüglich des roten Zustandes zu wesentlich anderen Ergebnissen. Vor allem kann ich Wegener nicht zustimmen, wenn er den roten Zustand als den hellsten bezeichnet. Dies dürfte wohl eine seltene Ausnahme sein. Meist aber enden große Meteore mit jähem blaugrünem Aufblitzen, wobei die Landschaft hell erleuchtet wird. Bei bewölktem Himmel kommt überhaupt nur dieses Blitzen zur Wahr- nehmung. Der einzelne Beobachter wird selbst- verständlich nur selten Gelegenheit haben, diesem Schauspiel beizuwohnen. In den Fällen jedoch, die ich selbst beobachten konnte, habe ich im Augenblick der höchsten Lichtsteigerung nie- mals rotes Licht, sondern stets Weiß, Blau oder Blau grün bemerkt. Jener Höhepunkt liegt dabei räumlich und zeitlich so nahe beim Ende der ganzen Erscheinung, fällt oft geradezu mit der Hemmung zusammen, daß die Annahme einer Mindesthöhe von 70 km für das „grüne" Licht ganz unhaltbar ist. Ich vermeide es, an dieser Stelle zahlenmäßige Belege für meine Ansicht zu bringen und behalte mir die nähere Begründung für später vor. — Was nun das rote Licht anbe- langt, so entspricht dies dem Zustand des Er- löschens der ganzen Erscheinung und tritt in der Regel überhaupt erst dann auf, wenn die Be- wegung des Meteors bereits gehemmt oder wenig- stens stark verlangsamt ist. Wenn in den Be- schreibungen die rote Phase in den Vordergrund gestellt wird, so rührt dies einfach daher, daß viele Beobachter überhaupt nur das Ende der Erscheinung sehen. Erfolgt das Erlöschen hoch am Himmel, so wird ihre Aufmerksamkeit zu- erst durch den plötzlichen Blitz erregt, der bei der Hemmung des Meteors entsteht. Auf- blickend bemerken sie meist nur noch die er- löschenden Reste der Feuerkugel, deren Beschrei- bung dann natürlich an die erste Stelle tritt. Solche Beobachtungen bilden jedoch überhaupt die Minderzahl. Die meisten Beschreibungen er- hält man fast immer aus Gegenden, die vom günstigsten Beobachtungsgebiet sehr weit entfernt liegen. In letzterem spielt sich die ganze Erschei- nung in großer Höhe über dem Horizont ab und entgeht deshalb den meisten, im Freien befind- lichen Menschen, sofern nicht die Beleuchtung der Gegend sehr stark wird. Liegt dagegen der End- punkt nahe am Horizont, so sind die Beobachtungs- verhältnisse viel günstiger. Auch dabei wird je- doch der letzte Teil der Bahn gegenüber dem im Durchschnitt in größerer scheinbarer Höhe gelegenen ersten Teil bevorzugt. Eine gewisse Rolle spielt daneben die selektive Absorption, die das Licht um so mehr rötet, je näher das Meteor dem Horizont kommt. Die Erscheinung einer großen Feuerkugel wird sich demnach in folgenden Phasen abspielen: N. F. XVIII. Nr. 14 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 191 1. Sternschnuppenzustand: Das Meteor beginnt infolge des Luftwiderstandes zu erglühen und wird dem Beobachter als punktartiger Körper sichtbar in rötlichem oder gelblichem Licht. 2. Weiße oder blaue Färbung: Eine Gaskugel wird ausgebildet, die nunmehr als haupt- sächlicher Lichtträger anzusehen ist. Die Farbe wird infolge zunehmender Temperatur weiß, blau oder grünlichblau. Der Zustand erreicht erst mit der Hemmung sein Ende, wobei die größte Wärme- entwicklung und Lichtsteigerung stattfindet. 3. Rote Färbung: Die Bewegungsenergie ist nahezu aufgezehrt, neue Erhitzung kann nicht mehr stattfinden. Gaskugel und Meteorreste gehen in Rotglut über und erlöschen. Es kommt vor, daß, nachdem schon die Rot- färbung begonnen hat, einige von der ersten Hemmung nicht betroffene Massenteile den Lauf fortsetzen, wieder blaugrün werden und einen zweiten Hemmungspunkt erreichen. Es scheint daher, daß die blaue oder grüne Farbe vor allem vom Vorhandensein einer Gaskugel bei höchster Temperatur abhängt, daß aber die Art des Gases und damit die Höhe, in der die Er- scheinung stattfindet, nur untergeordnete Bedeutung besitzt. Die Farbe der schwächeren Meteore, der Stern- schnuppen, hat zuerst Schmidt untersucht. Nach seinen zehnjährigen Beobachtungen kommt er zu folgender Einteilung: 61,9 "/o weiß 14,8 7o gelb 6,0 »/(, gelbrot 2,7 °/o grün 14,6 "Ig nebelig und ohne wahr- nehinbare F"arbtönung. Die Gesamtzahl der Farbigen beträgt demnach 23r5 %• Ich habe mich vor einigen Jahren selbst mit dem gleichen Gegenstand beschäftigt, habe die Untersuchung jedoch wieder aufgegeben, weil mir meine Beobachtungen für den Zweck nicht geeignet erschienen. Die erlangten Ergebnisse können immerhin hier von Nutzen sein. In den Jahren 1910 und 191 1 beobachtete ich 2692 Sternschnuppen. Für 344 oder 12,8 "/q findet sich die F"arbe angegeben. Die Verteilung auf die verschiedenen Gruppen ist folgende: Grün 7 0,3 7n Blaugrün S 0,3 "/o Blau 77 2,9 % Gelb 84 3,1 % Rotgelb 27 1,0 "/o Rot 141 5.2 7o Unter Grün ist dabei eine mehr nach Gelb neigende Farbtönung verstanden, während die von Wegen er als „grün" bezeichneten Meteore unter die beiden nächsten Gruppen fallen. Die Zahl der Farbigen ist viel geringer als bei Schmidt, was seinen Grund darin hat, daß die Farbe über- haupt nur angemerkt wurde, wenn sie auffiel. Etwas mehr Aufmerksamkeit wurde den Farben im Jahre 191 3 geschenkt, was sich auch in den 0,1 7o 0,0 «/o 4,0 »/o 8.5 7o 1-7 7o 6,1 7o Zahlen ausspricht. Unter 1383 Meteoren befanden sich 282 oder 20,4 7(, Farbige, die sich wie folgt verteilen : Grün 2 Blaugrün o Blau 5 5 Gelb 117 Rotgelb 24 Rot 84 Der Rest war entweder weiß oder „sternfarbig", worunter das unbestimmte Weißlichgelb zu ver- stehen ist, das jene Sterne zeigen, die zu schwach sind, um ihre Farbtönung erkennen zu lassen. Es ist nun von Interesse, die mittlere Helligkeit und Geschwindigkeit der einzelnen Gruppen zu be- rechnen. Ich habe in dieser Beziehung nur die Beobachtungen von 1910 und 191 1 untersucht. Die Helligkeit wurde nach Sterngrößen, die Ge- schwindigkeit nach einer 5 teiligen Stufenfolge abgeschätzt, in der 3 = mittelmäßig, 4 = rasch bedeutet. Es ergab sich folgendes Bild: mittlere mittlere Helligkeit Geschwindig- keit Anza Grün 2,4 3,3 7 Blaugrün —0,1 3,0 8 Blau 1,8 3,8 77 Gelb 1,8 3,8 84 Rotgelb 2,2 3,0 27 Rot' 2,3 3,1 141 Die Helligkeit ist durchweg ziemlich groß, weil eben nur die helleren Sternschnuppen ihre Farbe erkennen lassen. An erster Stelle stehen die blaugrünen, die auch in bezug auf die Ge- schwindigkeit bemerkenswert sind, weil sie zu den langsamsten zu gehören scheinen. Indessen bilden sie eine Übergangsform zu den Feuerkugeln und sind mit den übrigen Sternschnuppen nicht ohne weiteres vergleichbar, weil bei langen Bahnen die Geschwindigkeit relativ viel zu 'gering geschätzt wird. ^) Die übrigen Zahlen zeigen deutlich, daß die roten und rotgelben Sternschnuppen sich im Durchschnitt wesentlich langsamer zu bewegen scheinen, als die blauen und gelben. Die schein- bare Geschwindigkeit einer Sternschnuppe ist zwar im Einzelfalle wesentlich durch die Entfernung vom Beobachter und die Neigung der Bahn gegen die Gesichtslinie bedingt. Im Mittel aus zahl- reichen Beobachtungen heben sich diese Einflüsse jedoch auf, so daß die inittleren wahren den mitt- leren scheinbaren Geschwindigkeiten proportional sein werden. Dann zeigen aber unsere Zahlen, daß die Geschwindigkeit, mit der sich eine Stern- schnuppe bewegt, nicht ohne Einfluß auf die Farbe ist. Das Zustandekommen der Rotfärbung scheint durch langsame, das der Blaufärbung durch rasche Bewegung begünstigt, wie es ja auch einfach der mehr oder minder starken Erhitzung entspricht. ') Vgl. hierzu Hoffmeister, Zur Abschätzung der scheinbaren Geschwindigkeit bei Meteorbeobachtungen. Mit- teil, d. Verein, v. Freunden d. Astr. u. kosm. Physik, 22. Jahrg., S. 119 — 121. 192 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 14 Daneben scheint auch die chemische Beschaffen- heit der Meteorkörper wesentHchen Einfluß auf die Farbe zu haben, denn bei manchen Meteor- strömen treten bestimmte Farbtönungen in erhöhter Zahl auf, bei den August-Perseiden die gelben, bei den Mai-Aquariden, die mit dem Halley 'sehen Kometen im Zusammenhang stehen, die rotgelben Meteore. Eine Übertragung dieser Erfahrungen auf die Feuerkugeln ist indessen nicht ohne wei- teres zulässig, denn nach vorstehenden Ausfüh- rungen muß angenommen werden, daß die Licht- wirkung bei den Sternschnuppen im wesentlichen vom Meteorkörper selbst, bei den Feuerkugeln im entwickelten Zustand jedoch von der Gaskugel ausgeht. In der Tat nehmen auch bei den Per- seiden und Aquariden die helleren, länger dauern- den Erscheinungen fast stets das Blaugriin der Feuerkugeln an. Auf die Verschiedenheit des Anblicks, den die Schweife der Meteore darbieten, wurde schon hingewiesen. Es ist wohl anzunehmen, daß die leuchtende Spur vor allem aus den gas- oder staub- förmigen Resten des Meteorkörpers und aus glühen- der Luft besteht. Meist verschwindet der Schweif unmittelbar nach dem Erlöschen des Kopfes, ge- legentlich bleibt er aber auch noch lange Zeit sichtbar. Die Lichtspuren großer Feuerkugeln standen in einigen Fällen mehrere Stunden lang am Himmel, und auch die Schweife heller Stern- schnuppen kann man im Fernrohr oder Feldstecher nicht selten mehrere Minuten bis zu einer Viertel- stunde lang beobachten, nachdem sie längst dem bloßen Auge entschwunden sind. Die lange Dauer solcher Schweife legt den Gedanken nahe, daß es sich dabei schwerlich um reines Temperatur- leuchten handeln kann. Unmittelbar nach dem Verlöschen des Meteors erscheint der Schweif meist als scharfe helle Licht- linie, die jedoch sofort zu zerfließen beginnt und Wellenform annimmt. Es ist möglich, daß die wellige Gestalt dem Schweif von Anfang an eigen ist. Man glaubte daraus auf eine Achsendrehung des Meteoriten schließen zu können, die aber so rasch erfolgt sein müßte, daß ihre Annahme ziemlich unwahrscheinlich ist. Auch die Wahr- nehmung, daß manche Meteoriten nach der Aus- bildung ihrer Schmelzrinde eine Vorder- und eine Rückseite erkennen lassen, spricht gegen die Achsendrehung. Eher könnte man an eine Pen- delung denken, wie man sie bei Geschossen be- obachtet. — Die erlöschenden Schweifreste sind den Luftströmungen ausgesetzt und nehmen oft ganz unerwartete Gestaltungen an, bis sie schließ- lich als matte Lichtwolken verschwinden. Sorg- fältige Beobachtungen der Schweife sind deshalb auch vom meteorologischen Standpunkt aus er- wünscht, weil sie uns Aufschluß über Richtung und Stärke der Luftbewegung in Höhen geben, die der Erforschung auf andere Art nicht zugäng- lich sind. Es ist bemerkenswert, daß die Lichtabnahme verschiedener Schweife mit sehr ungleicher Ge- schwindigkeit erfolgt, ferner daß die Helligkeit des Schweifes manchmal in starkem Mißverhältnis zu der Helligkeit des Meteors steht. Glänzende Feuerkugeln sind gelegentlich fast schweiflos, wogegen mäßig helle Sternschnuppen lang an- dauernde Schweife liefern können. Über die Ur- sachen dieses unterschiedlichen Verhaltens könnten, wie über manche andere der vorstehend behan- delten Erscheinungen, gegenwärtig nur Ver- mutungen geäußert werden. Einzelberichte. Botanik. Die Gültigkeit des Weber'schen Ge- setzes bei den haptotropischen Reaktionen von Koleoptilen und Keimstengeln hat P. Stark (Jahrb. f. wiss. Bot. 58. 1918.) nachgewiesen. Das „Weber'sche Gesetz" wurde bekanntlich zuerst in der Sinnesphysiologie des Menschen auf- gestellt. Es besagt hier, daß 2 Reize, um eben merklich voneinander verschieden zu sein, in einem ganz bestimmten relativen Verhältnis zueinander stehen müssen. So muß die Schallintensität eines Tons immer um ^'., erhöht werden, damit der Zuwachs erkannt wird. Das gilt innerhalb ge- wisser Grenzen für die verschiedensten Intensitäts- lagen. Man sagt: die Unterschiedsschwelle be- trägt Vs- Für andere Sinnesgebiete wurden niedere Werte gefunden, so für den Tastsinn '/v — V12 '^"'^ für den Gesichtssinn sogar '/-(, — ^jno- Pfeffer hat dann schon vor Jahrzehnten das Weber'sche Gesetz auch in der Pflanzenphysiologie bestätigt gefunden, und zwar bei den chemotakti- schen Reaktionen der Mikroorganismen. Läßt man z. B. auf Bakterien bestimmte Stoffe einseitig ein- wirken, die in geringerer Konzentration schon diffus in der Nährflüssigkeit vorhanden sind, dann ist ein gewisser Konzentrationsüberschuß erforder- lich, damit Anlockung eintritt. Auch hier kommt es nicht auf den absoluten Reizzuwachs an, sondern auf das relative Verhältnis, in dem beide Kon- zentrationen zueinander stehen. So beträgt die Unterschiedsschwelle bei Bakterium termo für Fleischextrakt 5, die Unterschiedsempfindlichkeit ist also im Vergleich zu den für den Menschen gefundenen Schwellenwerten gering. Bei den Zoosporen von Saprolegnia muß sogar ein 50-facher Überschuß von Phosphat geboten werden, damit eine' Reaktion eintritt. In der chemotaktischen Literatur hat dann in den letzten Jahren das Weber'sche Gesetz allenthalben eine weitgehende Bestätigung gefunden (Bakterien, Pilze, Spermato- zoiden von Moosen und Fasern). Auch die chemo- tropischen Krümmungen der Pilzhyphen und der Pollenschläuche höherer Pflanzen fügen sich der- selben Regel. N. F. XVni. Nr. 14 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 193 In einer neueren Arbeit (1915) ist es dann dern Verf. geglückt, das Weber'sche Gesetz auch bei der Berührungsempfindhchkeit der Pflanzen nach- zuweisen, die dem Tastsinn des Menschen ent- spricht. Somit hat es sich bei den Pflanzen gerade auf dem Gebiet bestätigt, auf dem es auch zuerst für den Menschen aufgestellt wurde. Die Ver- suchsmethode war dabei folgende: die Keimlinge von Hirse (Panicum miliaceum) wurden auf zwei opponierten Flanken verschieden stark gerieben, und zwar wurde in der einen Serie die absolute Differenz, in der anderen das relative Verhältnis der Streichzahlen konstant gehalten. Im ersten Fall ergab sich ein immer stärkerer Rückgang der Reaktionen. Reizt man z. B. im Verhältnis i : O, 2:1, 5:4, 10:9 und 20: 19, wobei die Differenz immer i beträgt, dann sinkt der Prozentsatz der Krümmungen von 78 über 55, 34 und 31 auf O herab, d. h. derselbe absolute Überschuß ist um so wirkungsloser, je mehr die Streichzahlen an- steigen; es tritt mit anderen Worten eine starke Abstumpfung ein. Hält man dagegen das relative Verhältnis der Streichzahlen konstant, dann findet man annähernd dieselben Krümmungsprozente. So lieferte die Versuchsreihe 2:1, 10:5, 20 ; 10 und 50: 25 folgenden Prozentsatz an Krümmungen: 55 "/o' 50 "V 59 7u. 57 "/()■ Diese Werte sind aber praktisch gleich. Es muß also die eine Flanke immer doppelt so oft gerieben werden, damit gerade die Hälfte der Individuen in Reaktion tritt. Ist das Verhältnis 5 : i (s : i, lO : 2 usw.), dann reagieren stets ca. 80%, ist es 5 : 4 (5 : 4, 10 : 8 usw.), dann reagieren ca. 30"/„. Jedem festen Verhältnis entspricht also eine ganz bestimmte Reaktionsziffer. Das ist aber nichts anderes, als das Weber'sche Gesetz. Man kann aber die Versuchsanordnung noch anders gestalten, und das ist in der neuen Arbeit geschehen. Man kann nämlich 2 opponierte Flanken gleich stark reiben, und dann auf einer dazu senkrecht stehenden einen einseitigen Reiz hinzufügen. Es wurde nun wieder in einer ersten Serie der einseitige Betrag konstant gehalten, während die Streichzahlen der opponierten Flanken mehr und mehr wachsen. So stieg in einem Ver- such mit Avena sativa (Hafer) die kompensierende Dosis der opponierten Flanken von o : O über 5:5, 10 : 10, 20 : 20 bis 50 ; 50 an, während die Streichzahl der dazu senkrecht stehenden Flanke stets 5 betrug. Der Prozentsatz der Krümmungen sank in diesem P"all von 86 über 48, 30 und 13 bis auf 6 herunter. Das entspricht also genau der ersten für Panicum angeführten Serie. Die- selbe einseitig wirkende Streichzahl 5 ist um so wirkungsloser, je stärker die kompensierende Dosis auf den dazu senkrechten Flanken ist. Es tritt also auch unter diesen Umständen Abstumpfung ein. Will man denselben Prozentsatz an Krüm- mungen erhalten, dann muß der einseitige Reiz in dem Maße wachsen, in dem die kompensierende Dosis ansteigt, und zwar kommt es wiederum auf das Verhältnis an, in dem die beiden zueinander stehen. Reize ich z. B. in dem Verhältnis 5:5:10, 10 : 10 : 20, 25 : 25 : 50 und 50 : 50 : 100, wobei die beiden ersten Zahlen sich auf die beiden opponierten Flanken, die dritte auf die dazu senkrechte beziehen, dann bekomme ich die Krüm- mungsprozente: 76, 73, 70 und 71, also recht gute Übereinstimmung. Die entsprechenden Zahlen für das Verhältnis i : i : i, 5:5:5, 10 : 10 : 10, 20 : 20 : 20 und 50 : 50 : 50 sind 42 \, 48 %, 57 %> 53 "/o und 50 ",'5. Hier ist entsprechend der verstärkten Flankenreizung der Prozentsatz der Reaktionen natürlich geringer, aber wiederum sind die Werte dieselben. Genau zu demselben Er- gebnis führten Versuche mit Gerste (Hordeum) und mit Mohrenhirse (Sorghum). Es hat sich damit auch für diese neue Versuchsordnung das Weber'sche Gesetz bestätigt. Stark. Anatomie. Als Chievitz'sches Organ wird ein in der Ontogenese des Menschen vorübergehend auftretender hohler Epithelgang beschrieben, der vom Speicheldrüsenausführungsgang aus rückwärts geht und nach kurzem Verlauf blind endigt. Bei Säugetieren ist das Organ oft beschrieben worden, bei anderen Wirbeltieren noch nicht. Eingehende Untersuchungen von Strandberg') haben bei Vögeln eine dem genannten Organ deutlich homo- loge Bildung nicht gefunden und dahin gehende Vermutungen Früherer widerlegt. Dagegen fand sich bei manchen Reptilien, und zwar bei Schlangen und Sauriern, nicht bei Schildkröten und Kroko- dilen, eine der Lage nach völlig entsprechende Bildung, die bei Sauriern anscheinend wie bei Säugetieren recht bald atrophiert, bei Schlangen jedoch Andeutung zu progressiver Entwicklung zeigt. Bei Amphibien wurde das Organ wiederum nicht angetroffen. Hiernach dürfte sein phylogenetischer Ursprung sehr tief liegen und das Gebilde bei Säugetieren den Charaktereines rudimentären, funktionell be- deutungslosen Organs haben, das schon während des Fötallebens schwindet. Bei den Schlangen hätten vielleicht weitere Untersuchungen über seine ehemalige oder bei ihnen noch heutige Be- deutung einzusetzen. V. Franz. Über Kristalloide in den Nervenzellen der menschlichen Netzhaut handelt eine Arbeit von W. Kolnier,-) einem in der Feinstruktur der Netzhautzellen sehr bewanderten P'orscher. Bei verschiedenen geeigneten Fixierungen, wozu auch gewöhnliche Formolfixation gehört, zeigten sich die Gebilde in recht frisch konservierten mensch- lichen Netzhäuten als konstanter Befund und zwar als 5 — 8 /t lange und i — 2,5 ;£ dicke, an den ') Arne Strandberg f: Beitrag zur Kenntnis des Chievitz'schen Organs. Anatomischer Anzeiger, Bd. 51, Heft 8, 1918, S. 177-195. 2) W. Kolmer; Über Kristalloide in Nervenzellen der menschlichen Netzhaut. Anatomischer Anzeiger, Bd. 51, Heft 12, igiS, S. 314—317. 194 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 14 Enden stumpf gerundete Körperchen, rings von einem dünnen Plasmamantel umschlungen , zu einem oder mehreren in den sogenannten „äußeren Horizontalzellen" in der äußersten Schicht der inneren Körnerschicht liegend, somit in Zellen, die meist nicht als ganglionäre, sondern als Stütz- elemente aufgesetzt werden ; die Kristalloide fanden sich stets nur in der peripheren Netzhautpartie. Sie scheinen mit den von Reinke in den Zwischenzellen des Hodens beschriebenen Elementen übereinzustimmen, die meist als Eiweißkristalle, mithin als Reservesubstanz aufgefaßt werden. Sie kehren wieder beim Schimpansen, fehlen aber bei anderen Affen sowie beim Neugeborenen. Wo sie am dichtesten liegen, liegt auch die dichteste Aus- breitung des Kapillarennetzes. Sie dürften ein häufiger normaler Bestandteil erwachsener mensch- licher Netzhäute sein. V. Franz. Zoologie. Über den Einfluß der Lebensbe- dingungen auf die äußere Erscheinung unserer Süßwasserfische schreibt Paulus Schiemenz, der Vorstand des Instituts für Binnenfischerei in Friedrichshagen am Müggelsee, im neuesten Heft der Mitteilungen des Fischerei-Vereins für die Provinz Brandenburg (N. F. XI, Nr. i, Januar 1919, S. 7 — 1 1) für die praktischen Fischer einige Seiten, deren Inhalt aber auch weitere Kreise fesseln wird. Wie man aus dem Darminhalt der Fische leicht Schlüsse auf eine ganze Reihe wichtiger fischerei- licher Fragen ziehen kann, so lassen auch deren Farbe und Form den Einfluß gewisser Lebens- bedingungen erkennen. Chromatophoren, im wesentlichen sog. Lipochrome und Melanine ent- haltend, rufen auch bei den Fischen den Farb- wechsel hervor. Ballen sich die schwarzen Farb- zellen zusammen, so erblaßt der Fisch; dehnen sie sich aber aus, so wird der Fisch dunkler. Tiefenfische sind immer viel dunkler als die sog. Krautfische oder gar als die in den stark durch- lichteten Oberflächenschichten lebenden Fische. Die Krautfische besitzen übrigens einen messingenen Glanz, der ihnen fehlt, sobald sie ausnahmsweise in anderen Zonen ihr Leben verbringen. So können wir also aus der Färbung unserer Süßwasserfische mit ziemlicher Genauigkeit auf die Beschaffenheit des Gewässers schließen, in dem sie sich vorher aufgehalten haben. Daß diese Tatsache recht wichtig für unsere Kenntnis der noch so wenig erforschten Fischwanderungen ist, liegt auf der Hand. Wir können einem gefangenen Fisch an- sehen, ob er in der Tiefe, im Kraut oder in den oberflächlichen Wasserschichten gelebt hat. Es war hierdurch S ch iemenz möglich, nach Hochwasserzeiten die Herkunft der in der Elbe unterhalb der Einmündung der Havel gefangenen heller und dunkler gefärbten Forellen abzusehen. Die dunklere Havel hat immer dunklere Exem- plare als die hellere Elbe. Und dadurch sind wir nun auch in der Lage, etwas über die schon hie und da von Zoologen versuchte spezifische Zusammenziehung der drei Forellenarten : trutta, fario und laciistris zu einer einzigen (fario) auszusagen. Meerforelle und Seeforelle sind nur als Ab- arten unserer Bachforelle anzusehen, die durch Hochwasser in das Meer oder in die Seen ab- getrieben sind und sich dort den Umständen nach entwickelt haben. Schiemenz glaubt sogar so- weit gehen und sagen zu dürfen, daß sich auch unter den heutigen Verhältnissen immer wieder solche Meerforellen und Seeforellen entwickeln müssen, denn auch noch heute zeigt uns das Vor- handensein der vielen so verschieden gefärbten Forellen in den Aalhamen der Elbe, daß nach wie vor recht viele Forellengewässer durch Hoch- wasser noch weiter typische Bachforellen an die Ströme und damit an das Meer und die großen Seen abgeben. Wenn das tatsächlich der Fall ist, brauchen wir uns auch nicht darüber zu wundern, daß alle tnitta- und laciistris-VoxvMVi zur Laichzeit, im Herbst, immer wieder in die Flüsse emporsteigen.^) Vielleicht darf ich in diesem Zusammenhange auf die ebenfalls von Neueren vollzogene spezi- fische Zusammenziehung unserer drei Petromyzoti- Arten (plaiieri Bl., ßiiviatüis L. und manmis L.) den Blick lenken.^) Den äußeren Unterschieden nach, die nur in einer mehr oder minder scharfen Trennung der beiden Rückenflossen und in einer größeren oder geringeren Ausbildung des Saugmundes mit seinen Hornzähnen bestehen, nimmt man hier eine aufsteigende Stufenleiter: Bachneunauge, Flußneunauge und Meerneunauge an. Das erstere wandert nicht und vollendet seine gesamte Entwicklung im Süßwasser. Es wäre demnach als eine nicht wandernde Z wergform des Flußneunauges aufzufassen. Das Meerneunauge aber, das sich eng dem Aufent- halt an den Meeresküsten angepaßt hat und nur in einzelnen Exemplaren in den Oberlauf der Flüsse gelangt, würde eine Riesen form des Fl ußn eunauges darstellen, wie sie der größere Wohn- und Nahrungsraum ja auch von anderen Fischen liefert. Es wäre nun an einem größeren ') Hiervon freilich ist die sterile /(i<-;«/r;> - Form , die sog. Schweb forelle, auszunehmen, deren Naturgeschichte aber überhaupt noch ziemlich problematisch ist. ') Nächst Anton Schneider (iSyq) hat früher vor allem Leopold Wajgel „Die Zusammenziehung der zwei .\rten von Petromyzon (P. planeri und P. fluvialilis) in Eine" (in: Verhandlungen d. k. k. zool.-bot. Ges. in Wien, XXXIII, 1884, S. 311 — 320, mit Taf. XVII u. 3 Holzschn.) postuliert. Carl Vogt und Bruno Hofer haben dann in ihrem großen Werke über ,,Die Süßwasserfische von Mittel-Europa" (heraus- gegeben von Wilhelm Grote f, Teil 1: Text, Frankfurt a. M. und Leipzig 1909, S. 194 f.) alle drei Petromyzonten für eine Art angesehen, ,,die bei dem ständigen Verbleiben in kleineren Bächen sich als Bachneunauge fixiert hat, in größeren Flüssen, Haffen und im Meere sich zum Flußneun- auge ausbildete und bei dauerndem Aufenthalt im Meere end- licB die entferntere Form des Meerneunauges erreicht hat." Man vgl. schließlich auch Emil Waller, Unsere Süßwasser- fische. Eine Übersicht über die heimische Fischfauna nach vorwiegend biologischen und fischereiwirtschaftlichen Gesichts- punkten (Leipzig 1913), Text zu Tafel 1. N. F. XVIII. Nr. 14 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 195 Petromyzonten-Material zu untersuchen, wie das Gewässer auf seine Färbung einwirkt, und ob wir nicht auch hier eher eine Verschwemmung durch Hochwasser als freiwillige Wanderung von Fluß- neunaugen als er^te Ursache der Herausbildung der marinen Varietät annehmen müssen. Aus dem übrigen Inhalte des ersten Teiles von Schiemenz' Aufsatz seien noch mehrere praktische Tatsachen hervorgehoben. Wenn wir recht dunkle Schleien, Aale, Karpfen und Karauschen beim Fischhändler be- kommen — ja wenn! — so können wir so ziem- lich sicher annehmen, daß sie aus moorigen, ver- modderten Gewässern stammen, daß sie also moorig schmecken. Gut ist es dann, derartige Fische, wenn sie noch lebend sind, vor dem Aus- schlachten erst eine Zeitlang in ganz reinem Wasser zu hältern. Dann tritt infolge reflektori- scher Reize eine Hellerpigmentierung ein und damit merkwürdigerweise eine Geschmacksver- besserung. Wie schnell übrigens diese Umfarbung von- statten geht, ist für die einzelnen Arten noch nicht zahlenmäßig festgestellt. IVleist vollzieht sie sich ziemlich schnell, bei manchen Fischen ver- gehen freilich hierfür wieder Tage. Dieser Farbenwechsel ist von Schiemenz auch fischereibiologisch verwertet worden« So- bald nämlich manche dunkelgefärbten Fische, z. B. Barsche, in schlechtes Wasser kommen, werden sie in kurzer Zeit heller. Diese Umpigmentierung benutzt Schiemenz mit Erfolg als Reaktion auf Abwässer. Er hängt an seinen Kahn eine Reuse mit Barschen und fahrt, von unten her kommend, aus dem guten ins angeblich schlechte Wasser hinein. Solange den Barschen das Wasser nicht unangenehm ist, sind sie etwas dunkel ge- färbt, und die schwarzen Querstreifen des Körpers sind mehr oder minder breit und ihre Ränder nicht scharf ausgeprägt, sondern nach vorn und hinten allmählich verwischt. Sowie man nun mit den Barschen ins Abwasserbereich kommt, werden die schwarzen Ouerbinden schmal, ihre Grenzen heben sich scharf ab, und der ganze Fisch wird heller. Unsere Fischer könnten diese oft sehr rasche Verfärbung der Plsche als Reaktion auf Sauerstoffmangel in den Hältern praktisch ver- werten. Im 2. Teile bespricht Schiemenz den Ein- fluß äußerer Lebensbedingungen auf die Form der Fische. Tatsache ist, daß, je größer und reichlicher die Nahrung ist, der Fisch desto größer wird. Daher erscheint es Schiemenz nicht sehr an- gebracht, daß die Teichwirte im allgemeinen immer noch auf die stärkste Vermehrung des Planktons hinarbeiten, also gerade der kleinsten Fisch- nahrung. Typische Aufiriebfresser, wie z. B. die Ukelei [Alburmis lucidiis Heck.) und die kleine Maräne (Coregomis albula L.), bringen es aber nie über die Größe eines guten Herings. Die kleinen Stinte {Ostnerus eperlanus L.) fressen ebenfalls ausschließlich Auftrieb und verschwinden, sobald ihre Nahrungsquelle verschwindet. Die größeren sog. Seestinte der Haffe und der Strom- unterläufe aber, die oft als besondere Art ange- sehen werden, nähren sich von den erheblich größeren Gammariden und Mysiden und vor allen Dingen wieder von kleineren Stinten. Der Größen- unterschied ist hier wiederum durch die Größe der Nahrung bedingt. Die in das Meer oder in Seen abgetriebenen Forellen sind infolgedessen auch größer geworden als die Stammform. Die Bachforellen sind eben vorwiegend Friedfische, die Meer- und Seeforellen aber Raubfische. Be- sonders charakteristisch prägt sich dieser Unter- schied im Größenwachstum der Schnäpel-Arten aus. Schiemenz nimmt auch für alle Maränen, Schnäpel und Felchen eine gemeinsame Stamm- form an, die aber durch die Verschiedenheit der Lebensbedingungen sich verschieden entwickelt hat. Was dann über den Aal in dem Aufsatz zu finden ist, bedarf vielleicht etwas weiteren Aus- holens von selten des Referenten. Es ist ein altes Problem, ob es eine oder mehrere Arten unserer Flußaale gibt. Eines ihrer unterscheidenden Hauptmerkmale ist von jeher die Kopfbildung gewesen. Nach den sehr aus- gesprochenen, aber durch Zwischenformen mit- einander verbundenen sog. Spitzköpfen (besser: Schmalköpfen!) und Breitköpfen unterschied bereits Aristoteles zwei Aalsorten. Bis in die neueste Zeit haben dann die Systematiker die Anguüla aaitirostris und latirostris, resp. oxyr- rhina und flatyrrhina, neben der Zwischenform mediorostris unterschieden. Als man aber nun in der neueren Zeit die verschiedenen Geschlechter des Aales und den Unterschied im Wachstums- und Wanderkleid kennen gelernt hatte, da waren doch die allermeisten wieder geneigt zu glauben, daß in diesen Unterschieden der ganze Formen- reichtum des Flußaales begründet sei, daß man also von der Aufstellung mehrerer Arten oder Ab- arten absehen müsse. Außerdem kam noch etwas anderes hinzu. Bei genauer Untersuchung er- wiesen sich die Aale im Wanderkleide im wesent- lichen alle als schmalschnauzige. Wo waren nun die breitschnauzigen Wachstumsaale geblieben? Wenn sie sich in schmalschnauzige Wanderaale verwandelt hatten, so war dies ja ein Beweis für die Arteinheit beider Formen. Oder aber, man nahm zu mehr oder minder kühnen Hypothesen seine Zuflucht: etwa, daß die breitschnauzigen Formen sich im Süßwasser fortpflanzten und uns daher auf der Talwanderung im sog. blanken Zu- stande überhaupt nicht begegnen könnten, oder es dürfte sich nur um sterile Formen handeln, die Zeit ihres Lebens im Süßwasser blieben und dort abstürben. Emil Walter, der vor einem Jahrzehnt das erste zusammenfassende Aalwerk (Der Flußaal. Eine biologische und fischereiwirt- schaftliche Monographie. Neudamm 1910) schrieb, hat schließlich auf Grund längerer Darlegungen, auf deren Lektüre ich hier nur hinweisen kann, 196 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 14 den Nachweis für die spezifische d. h. morpho- logische und biologische Ariverschiedenheit der schmalköpfigen und breitköpfigen Aale zu erbringen versucht. Und nun kehren wir wieder zu Schiemenz' Aufsatz zurück, wo kurz mitgeteilt wird, daß Törlitz im Müggelsee-Institut zu dem Schlüsse gekommen ist, daß wir es hier lediglich mit zwei verschiedenen Ernährungsformen zu tun haben. „Der Spitzkopf frißt im allgemeinen kleinere Nährtiere und keine Fische, beim Breit- kopf ist es umgekehrt. Vielleicht erinnert sich der Leser noch meines Streites mit Struck in Pudagla, welcher das soeben Gesagte behauptet hatte. Ich bestritt seinerzeit dies, indem ich dar- auf hinwies, daß auch der Spitzkopf Fische und der Breitkopf auch Friednahrung fresse. Das ist durchaus richtig, aber im allgemeinen bestehen die Angaben von Struck doch zu recht, und auf dieser Tatsache beruht eben der Unterschied. Wie Törlitz ausführt (die Arbeit ist leider noch nicht gedruckt), hat der Breitkopf eben zum Fressen und Verschlingen der Beutefische eine stärkere Kiefermuskulatur nötig, sie bildet sich durch den Gebrauch aus und damit im Zusammenhange auch die Kiefer und der Schädel selbst. So wird es nun auch verständlich, warum in der Jugend, wo alle Aale zunächst Friedfische sind, es diesen charakteristischen Unterschied noch nicht gibt, und warum er beim Wanderaal wieder geringer wird; der Wanderaal frißt eben nicht mehr. Ja, wir verstehen es nunmehr auch, warum es Aale gibt, bei denen der Unterschied überhaupt weniger ausgeprägt ist; das werden wohl Aale sein, die sich bald so, bald so nähren. Jedenfalls, und das betone ich hier, wird der Breitkopf, der Raubaal, größer als der Spitzkopf, der Friedaal." Sobald die Törlitzsche Arbeit, die meines Wissens in der Zeitschrift für Fischerei erscheinen wird, uns vorliegt, wäre noch einmal auf diese Frage zurück- zukommen. Die übrigen Sätze Schiemenz' enthalten vor allem noch Mitteilungen über die Hungerformen unter den Fischen und über den Einfluß des Aufenthaltsortes auf Flosse und Schwanz. Ohne Zweifel — das hat uns der Aufsatz klar gezeigt — werden wir in der Zukunft an unseren Süßwasser- fischen noch eine ganze Reihe von Merkmalen wahrnehmen, die uns ziemlich sichere Schlüsse auf ihre Lebensbedingungen und ihren Aufent- haltsort gestatten. Zugleich aber können damit auch Erkenntnisse über die Wanderungen der Fische und über Bildung von Varietäten gewonnen werden. Rudolph Zaunick, Dresden. Geologie. Nur geringe Reste des früher blühenden Ostharzer Bergbaus haben sich bis in die Gegenwart erhalten und sind während des Krieges zu neuer Blüte gelangt. Es handelt sich um die Gänge des Krumschlachttales, der Um- gebung des Auerberges, der Gegend von Neudorf- Straßberg, Harzgerode, Treseburg, Trautenstein, sowie des östlichsten Harzes, von denen A. Stahl in der Zeitschr. f. prakt. Geologie, Heft 7, 8 u. 9, 1918, eine interessante lagerstättenkundliche Skizze entwirft. Die Gänge des Ostharzes gehören 3 verschieden- altrigen Gangformationen an. i) Die älteste oder Flußspat-Spateisen- steingeneration mit vorwiegend Flußspat, wozu sich in den oberen Teufen Spateisenstein gesellt. Daneben kommen noch häufig Kalkspat und Kupferkies vor. Gänge dieser Art sind über das ganze Ganggebiet von Treseburg im Norden bis Rottleberode im Süden verbreitet. In ihrer ostwestlichen Verbreitung sind sie flußspatführend in der Umgebung der beiden Eruptivmassen des Ostharzes, des granitischen Ramberges und des porphyrischen Auerberges. Im östlichen Harze führen die Gänge bei Königerode und weiter öst- lich nur Spateisenstein. 2) Die nächstjüngere oder sulfidische Generation ist durch Quarz und sulfidische Erze wie Schwefelkies, Magnetkies, Kupferkies, Arsenkies, Zinkblende, Bleiglanz, Fahlerz und Antimonerz charakterisiert. Sie füllen selbständige Gänge oder auch die wiederaufgerissenen Gänge der Flußspat - Spateisensteingeneration. Häufig tritt die sulfidische Generation in der Verlängerung der reinen Flußspatgänge auf und zeigt eine ge- wisse Abhängigkeit von den Eruptivmassen des Ramberges. 3) Die jüngste oder Schwerspat-Rot- eisensteingeneration hat ebenfalls die älte- ren Spalten und deren Verlängerung benutzt oder neue Spalten in dieser Streichrichtung erfüllt. Ihre Verbreitung ist im wesentlichen auf den süd- lichen Schieferrand des Harzes beschränkt. Das Streichen der Ostharzer Gänge folgt im wesentlichen der herzynischen Streichrichiung des Harzes. Ihre Gangfüllung zeigt eine gewisse Ab- hängigkeit von den Eruptivmassen des Harzes. Die Gänge sind jedoch jünger als der Granit und der Porphyr. Ihre Entstehung fällt in die Periode der herzynischen Aufwölbung des Harzes, welche phasenweise vor sich ging. Die Gänge zeigen deshalb den Charakter von zusammengesetzten Gängen. Sie sind wiederholt aufgerissen worden und jeweils mit einer jüngeren Mineralgeneration angefüllt worden. Ein tertiäres Alier der Gang- spalten hatte bereits von Koenen wahrschein- lich gemacht durch den Nachweis, daß einige Ostharzer Gänge in ihrer unmittelbaren Verlänge- rung noch die mesozoischen Schichten des Harz- randes durchsetzen. Die jüngste Spaltenausfüllung, die Schwerspat -Roteisensteingeneration gehört dem Ausklingen der herzynischen Faltenbildung an. V. Hohenstein, Halle. N F. XVni. Nr. 14 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 197 Bücherbesprechungen. Hirschfeld, Dr. M., San. -Rat, Sexuelle Zwi- schenstufen. Das männliche Weib und der weibliche Mann. X u. 279 S. und 7 Bildertafeln. Bonn 1918, Marcus u. Weber. — 15,40 M. Es ist vornehmlich Magnus Hirschfelds Ver- dienst, das Gebiet der sexuellen Zwischenstufen der wissenschaftlichen Forschung erschlossen zu haben. In dem vorliegenden Werke gibt er eine ausführliche Darstellung der gegenwärtigen Kennt- nis dieser Zwischenstufen. Er behandelt zuerst den Hermaphroditismus, dann die Androgynie, den Transvestitismus, die Homosexualität und den Metatropismus. Das Werk ist von Wichtigkeit für den Naturforscher, wie auch für den Arzt und den Juristen, weil es unter Anführung von reich- lichem Tatsachenmaterial in überzeugender Weise zeigt, daß die Geschlechtertrennung nicht eine vollkommene ist, sondern daß es zahlreiche Über- gänge zwischen den beiden Geschlechtern gibt, die in der Körperbildung wie nicht minder in der Psyche zu beobachten sind. Die Fälle von unvollkommener Ausbildung der sekundären Ge- schlechtsmerkmale, die auf unvollkommene innere Sekretion der Keimdrüsen zurückzuführen sind, sind viel häufiger als man selbst in Fachkreisen bis in die jüngste Zeit annahm, und diese Tat- sache ist besonders deshalb beachtenswert, weil sie manche Erscheinungen des Geschlechtslebens erklären hilft, die uns vordem mehr oder minder rätselhaft vorkamen. Die Erklärung der sexualen Zwischenstufen ist sehr einfach: Jedem Wesen, ob männlich oder weiblich, liegt dieselbe Ur- form zugrunde. Vieles, was bei dem einen Ge- schlecht weiterwächst, bleibt bei dem anderen zurück und umgekehrt. Darauf beruht der Unter- schied zwischen Mann und Weib. Nun kommt es aber vor, daß das, was bei dem einen Ge- schlecht zuzunehmen pflegt, ausnahmsweise bei manchen Individuen zurückbleibt, und daß bei ihnen das zunimmt, was ansonsten zurückbleibt. Dies trifft bald diese, bald jene Region der ein- heitlichen Grundform. Da die Anzahl der in Betracht kommenden primären wie sekundären Geschlechtsmerkmale recht ansehnlich ist, können infolgedessen sehr viele Kombinationen entstehen. Sie werden noch dadurch vermehrt, daß in einigen Fällen die entsprechenden Anlagen beiderseits nebeneinander zur Entwicklung oder Ver- kümmerung kommen. Dank der modernen For- schung hat das früher so dunkle Gebiet der sexuellen Zwischenstufen das Mysteriöse und Merk- würdige verloren ; es zeigt sich, daß alles ver- hältnismäßig einfach und aus der organischen Entwicklung leicht erklärbar ist. Das durchaus von wissenschaftlichem Ernst getragene Buch Dr. Hirschfelds, das vieles Neue bietet, ist allen Interessenten bestens zu empfehlen. H. Fehlinger. Hartwig, Oskar, Dokumente zur Geschichte der Zeugungslehre. Eine historische Studie. Mit 25 Abb. Bonn 1918. Verlag von Friedrich Cohen. 8«. 168 S. — Preis 20,— M. Carl Rabl hat 1915 in Bd. 88 des Archivs für mikroskop. Anatomie (Abt. Ilj seine umfangreiche Abhandlung über „Edouard van Beneden und den gegenwärtigen Stand der wichtigsten von ihm behandelten Probleme" ^) veröffentlicht und dabei auch dessen leidige Prioritätsstreitigkeiten in Pro- blemen der Zeugung und Vererbung noch einmal zusammengefaßt und darzustellen versucht. Als Nächstbeteiligter auf diesem Arbeitsgebiete gibt nun jetzt Oskar Hertw ig „als Abschluß eigener Forschung" eine historische, d. h. wirklich gene- tisch und quellenmäßig aufgebaute Studie über die Geschichte der Zeugungslehre in den letzten 50 Jahren, in der mit anerkennenswerter Objekti- vität die eigenen Untersuchungen und Ergebnisse verarbeitet sind. Zur besseren Übersicht über die seit 1870 er- zielten Fortschritte auf dem Gebiete der Zeugungs- und Vererbungslehre unterscheidet Hertwig zwei Perioden. Die erste, von Schneider, Bütschli, Auerbach und Strasburger er- öffnet, hat uns die mikroskopischen Grundlagen unserer gegenwärtigen Kenntnis von der Reifung und Befruchtung des Plies und von der Kernteilung verschafft (gute Zusammenfassung auf S. 63 — 65 Ij. Die zweite von Hertwig mit ebenso selbst- verständlicher Literaturbeherrschung umrissene Periode („Neue Entdeckungen") ist dann charak- terisiert durch große Fortschritte in der Er- forschung der Karyokinese (vor allem durch aus- gezeichnete Untersuchungen von Flemming, Retzius, Rabl, van ßeneden u. a.), die wiederum wesentliche Fortschritte in der Er- forschung der Eireife und Befruchtung im Gefolge hatten. Es erstand aber schließlich auch eine speku- lative Richtung der Forschung, die zur Auf- stellung verschiedener, zum Teil sich wider- sprechender Theorien und Hypothesen geführt hat. Deren Geschichte, seinen eigenen Anteil und seine Stellung zu denselben behandelt Hert- wig im anderen Teile seines Buches: i. Die Kernidioplasmatheorie(Nägeli usw.), 2. Das Reduktionsproblem (mit den drei verschiede- nen Hypothesen: des Zellenhermaphroditismus [van B e n e d e n] , der Reduktion der Ahnenplasmen [Weis mann] und der Reduktion als einer Ein- richtung zur Verhütung einer Summierung der Erbmassen [Hertwig]) und 3. Seine eigene Stellung zur Annahme einer Persistenz der Chro- mosomen. Anmerkungen und ein Literaturverzeichnis ■) ') Erschien auch separat; Bonn (Fr. Cohen) 1915. Mit 7 Taf. u. 15 Textfig. gr. 8°. 470 S. Preis 68 M. *) Wir dürfen vielleicht den Wunsch aussprechen, daß in 198 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 14 schließen Hertwig's historische Studie, deren innerer Wert sich in dem hohen Preise von 20 Mark äußerlich ausdrückt. Dadurch wird wohl der Leserkreis von selbst leider nur ein be- grenzter sein. Doch ist dem innerlich und äußer- lich wertvollen Buche recht weite Verbreitung in biologischen Kreisen zu wünschen. Denn wir er- halten durch Her twig's historische Quellen- darstellung ein genaues Bild vom gegenwär- tigen Stande der F"orschung. Ich persönlich, der ich mich jetzt vor allem gern mit methodischen Fragen der Naturwissenschaflsgeschichte befasse, stelle nach der Lektüre der Studie mit Freuden fest, daß hier Hertwig erfolgreich Gegen- wartsbiologiegeschichte getrieben hat, wie wir es nennen wollen. Hertwig hat — wohl ohne Kenntnis der historischen iVlethodik, rein intuitiv! — in seiner Studie das getan, was Adolf von Harnack letzthin in seiner klassisch zu nennenden Rede ,,Über die Sicherheit und die Grenzen geschichtlicher Erkenntnis" (München 191 7, S. 7 f.) mit den Worten ausgedrückt hat: „Um in den Gang der Geschichte einzugreifen, deshalb treiben wir Geschichte und haben Recht und Pflicht dazu; denn ohne geschichtliche Erkenntnis bleiben wir entweder passive Objekte der Entwicklung oder werden zu frevelnden Irre- führern. . . . Eingreifen in die Geschichte — das heißt: die Vergangenheit abzustoßen, wo sie- hemmend in die Gegenwart hineinreicht, das heißt ferner: in der Gegenwart das Richtige zu tun, und das heißt endlich: die Zukunft um- sichtig vorzubereiten. Unzweifelhaft kommt daher der Geschichte in bezug auf die Vergangenheit ein richterliches, ja ein königliches Amt zu; denn um zu entscheiden, was aus ihr noch fortwirken darf und was abgetan oder umgebildet werden muß, muß der Historiker wie ein König richten. Alles aber muß in der Geschichtserkenntnis letzt- lich auf die Vorbereitung der Zukunft abgezweckt werden; denn nur die Wissenschaft hat ein Recht zu existieren, die ein Wer- dendes vorbereitet." Rudolph Zaunick. Jakob Wolf, Der Tabak, Anbau, Handel und Verarbeitung. Aus Natur und Geistes- welt. 416. Bändchen, 119S. 17 Abb. Leipzig und Berlin 1918, B. G. Teubner, 1,50 M. Wer sich über den Anbau, den Handel und die Verarbeitung des Tabaks unterrichten will, findet in dem Bändchen allerlei Wissenswertes. Es ist weniger für den Tabakfachmann, als für einen allgemeinen Leserkreis geschrieben. Der Tabak ist in der alten Welt erst seit der Entdeckung Amerikas bekannt, hat aber trotz vielfacher Polizeiverbote bald in Europa und den übrigen Weltteilen Eingang gefunden. Er wird jetzt überall, wo es die klimatischen Verhältnisse Literaturverzeichnissen fach h i stör isch er Arbeiten nicht der moderne Naturwissenschaftlerbrauch um sich greift, die Seitenzahlen der aufgeführten Abhandlungen wegzu- assen. erlauben, angebaut, nur nicht in Ägypten. Es ist das eine Tatsache, die nicht jede-m Zigarretten- raucher bekannt sein dürfte. In Ägypten ist der Tabakbau aus steuertechnischen Gründen ver- boten. Die ägyptischen Zigaretten werden aus türkischem Tabak hergestellt, der bei der Einfuhr dem Zoll unterliegt. Die Tabakpflanze gehört in die gleiche Familie wie die Kartoffel, nämlich zu den Nachtschatten- gewächsen. Ihien lateinischen Artnamen Nicotiana erhielt die Pflanze zu Ehren des französischen Ge- sandten in Portugal Jean Nicot, der im Jahre 1 560 Samen und Anweisungen für den Anbau des Tabaks nach Frankreich sandte und ihn als Heil- mittel gegen Brustkrebs bezeichnete. Man unterscheidet 3 Arten von Tabak mit etwa 40 Spielarten : Nicotiana tabacum, virgini- scher Tabak, N. macrophylla, Marylandtabak und N. rustica, Bauern- oder Veilcheniabak, der den Zigaretientabak liefert. Leider scheinen in den an sich sehr dürftigen Bemerkungen über Zigaretten- tabak einige Unklarheiten zu bestehen. Die Technik des Tabakbaues in den verschie- denen Produktionsländern wird eingehend be- schrieben und auch die Weiterbehandlung der ge- ernteten Blätter. Eine wissenschaftliche Erklärung der Fermentationsvorgänge fehlt leider. Der größteTeil des Bändchens wird von Angaben über die Weltproduktion an Rohtabak, über den Rohtabakhandel, die Herstellung von Tabak- fabrikaten und die Besteuerung des Tabaks ein- genommen. Das letzte Kapitel ist der Hygiene des Tabak- genusses gewidmet. Die beruhigende und anregende Wirkung des Tabakrauchens ist allgemein bekannt, aber von der Wissenschaft noch nicht befriedigend erklärt worden. Verf. führt die Theorie von den Ermüdungsstoffen an. Durch die Tätigkeit des Gehirns bilden sich in demselben gewisse, als Schlacken zu bezeichnende Stoffe, deren Anhäufung ein Gefühl der Ermüdung verursacht. Diese Stoffe gehen nun mit den wirksamen Substanzen des Tabaks eine chemische Verbindung ein, deren Produkt schneller aus dem Körper ausgeschieden wird als die Urstoffe selbst. K. Snell. Prof Dr. J. Wilhelmi. Die hygienische Be- deutung der angewandten Entomo- logie. (Betrachtungen über die mit dem Menschen und Warmblütern in Lebensgemein- schaft als Krankheitserreger oder -Überträger vorkommenden Insekten und Milben und über den Weg ihrer Bekämpfung.) Flugschrift der Deutschen Gesellschaft für angewandte Entomo- logie Nr. 7. Mit 13 Textabbildungen. Verlag P. Parey, Berlin. — 1,50 M. Der Begrift" Schmarotzer wird von Wilhelmi in weiterem Sinn aufgefaßt als von Deegener, der als Parasitium sensu str. nur diejenige Form der artfremden Vergesellschaftung gelten läßt, bei der dem Wirt Körpersubstanz entzogen wird. Wilhelmi rechnet also nicht nur die blutsaugen- N. F. XVni. Nr. 14 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 199 den Fliegen und Mücken zu den Parasiten, sondern auch die gelegentlichen Plagegeister. Schmarotzer finden sich in folgenden Ord- nungen : Anopluren, Mallophagen, Dipteren, Sipho- napteren, Hemipteren. (Hierher gehört ferner Hemimerus und Platypsylla castoris.) Wegen der ähnlichen Lebensweise und der morphologischen Konvergenzerscheinungen lassen sie sich als „In- sekta pungentia" zusammenfassen. IVIit ihnen werden die Milben als „Arthropoda pungentia" vereinigt. Die scheinbar harmloseste Form der engeren Lebensgemeinschaft mit Warm- blütern zeigen die nichtstechenden Fliegen und zwar die Muscarien, deren Larven und Tönnchen- puppen sich vorwiegend in Kot entwickeln. Sie dringen wohl hie und da in die Wohnungen ein wie die Stallfliege (Muscina stabulans) und Pollenia- arten, ohne besonders lästig zu fallen. Deutlicher ist der Kommensalismus bei der kleinen Stuben- fliege (P'annia canicularis). Als Raumparasitismus kann man es bezeichnen, wenn nichtstechende Fliegen sich auf Augenwinkeln niederlassen. Sie nehmen an frischen Wunden gelegentlich auch frisches Blut auf. Hier liegen die Übergänge zum temporären Ectoparasitismus. Bei den Culiciden und Simuliiden saugen nur die Weibchen, Stomoxys caicitrans kann sich einige Zeit lang durch un- blutige Nahrung am Leben erhalten, während die Tsetsefliege ohne Blutnahrung eingeht. Von grof3er Bedeutung für die Lebensweise sind hier die Tropismen. Nicht Thermotaxis sondern Chemotaxis ruft Parasitismus hervor. So kann man bei Stomoxys durch den Versuch nach- weisen, daß Zunahme der Ausdünstungen des Wirtes und steigendes Flüssigkeitsbedürlnis nicht aber eine Veränderung der Temperatur Siechlust erzeugt. Die Bedeutung des Lichtes und des Raumes wechselt von F"all zu Fall. Der Übergang vom temporären zum statio- nären Parasitismus läßt sich bei den Flöhen ohne Schwierigkeit verfolgen. Am wenigsten ist der Menschenfloh an den Wirt gebunden, dagegen sind die F'löhe der Huftiere nur auf diesen zu finden. Manche Milbenarten wohnen nur gelegent- lich auf Warmblütern, dauernde festsitzende Fcto- parasiten sind die flügellosen Pupiparen, Läuse und manche Milben. Als Anfänge des echten Entoparasitis- mus darf man ansehen, wenn manche Mücken- larven, die zufällig in den Darm geraten sind, sich weiter entwickeln können. Echte Entoparasiten sind z. B. die Larven der Dasselfliegen. Mit höherem Grad von Parasitismus steigert sich die Anpassung an bestimmte Wirte. Art- spezifisch sind Demodex und Sarcoptesarten unter den Milben, ferner die Läuse und Federlinge. Vom Grad des Parasitismus und der systemati- schen Stellung unabhängig ist die Bedeutung der Schmarotzer als Krankheitsüber- träger. Im Gegensatz zu den Würmern sind bei den Arthropoden die Ectoparasiten viel ge- fährlicher. Die einfachste Übertragung ist die Kontaktübertragung von Erregern bazil- lärer Natur, größer ist jedoch die Bedeutung der S t i c h ü b e r t r a g u n g. Sie ist meist nur wirk- sam, wenn der Zeitraum zwischen beiden Saugakten kurz ist, kurzfristige Stichübertragung. Man hat sie bei der gemeinen Stechfliege für Trypanosomiasen, bakterielle Krankheiten, Spiro- chätosen und Chlamydozoenkrankheiten fest- gestellt. Die Stichdefäkationsübertragung ist erwiesen für den Rattenfloh bei der Ratten- trypanosomiase. Bei der 1 an g fr ist igen Stich- übertragung bestehen spezifische Überträger, Zwischenwirte , in denen sich die Krankheits- erreger entwickeln. Geht der Infektionsstofi" erst auf die Brut über wird dann übertragen, so spricht man von pleogenetischer Stichüber- tragung (Die Milbe Ornithoderus für Rückfall- fieber). Die Bekämpfung der gesundheitsschäd- lichen Arthropoden beruht auf Maßnahmen der Fernhaltung und Vernichtung und zwar mittels physikalischer, technischer, chemischer und bio- logischer und kombinierter Methoden. Die Ab- wehr von stationären Ectoparasiten und von Imagines (Fliegen) ist meist unzureichend und versagt bei den Simuliiden völlig. Ebenso sind die Vernichtungsmaßnahmen gegen Imagines meist nur ein Notbehelf Gegebenen- falls können die Tropismen ausgenützt werden, doch reagieren die Tiere nach ihrem physiologi- schen Zustand nicht immer gleich. Als dritte Bekämpfungsart kommt die Begünstigung der natürlichen F"einde (Vögel, Raubinsekten, des Pilzes Empusa usw.) in Frage. Von Ver- nichtungsmitteln gegen die Brut sind die technischen (Luftabschluß bei Schnackenbrut) nicht überall anzuwenden. Aussichtsreich ist die chemische Vernichtung der MuScarienbrut in Mist und Kot. Hier hat sich Kalkhydrat und Borax als besonders wirksam erwiesen. Auch die Förderung der Feinde der Brut ist wohl möglich. So fällt die räuberische mistbewohnende Hydrotaea dentipes- Larve die übrigen mistbewohnenden Muscarienlarven an, überwältigt sie und saugt sie in wenigen Minuten aus. Auch die Schlupfwespen sind Feinde der Larven, in die sie ihre Eier ab- legen. Dr. St. 200 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N, F. XVllI. Nr. 14 Anregungen und Antworten. In Nr. 2 dieser Zeitschrift und dieses Jahrganges (12. Jan. 1919) hat Nachtsheim auf S. 21 und 22 über Massenver- sammlungen und Massenwanderungen von Marien liäferchen berichtet und zum Öchluti die Erwartung ausgesprochen, daß auch von anderer Seite über diese Erscheinung Mitteilung ge- macht würde. Eme kleine Zusammenstellung „Über das masseiihalte Auftreten von Coccinella quinquepunctata L." hat R. Hilbert in der „Zeitschrift für wissenschaftliche Insekten- biologie" Bd. 10 (Allgemeine Zeitschrift für Entomologie, I. Folge Bd. 19) 1914, Heft I, S. 32 und 33 gegeben. Die beigegebene Abbildung ist dem 37. Bericht des Westpreuß. Boi.-Zool. Vereins, Danzig 1915, entnommen, wo Hilbert auf S. bS — 78 „Eine naturwissenschaftliche Wanderung um den Spirdingsee" schildert und seine Beobachtungen nieder legt. In der erwähnten Zusammenstellung spricht er die Mei- nung aus, daß die Tiere von den Winden ins Wasser geweht und darauf von den Wellen ans Ufer getragen würden. Ob Beobachtungen wie diese an Marienkäfern in jedem Jahre an gleichem Orte gemacht werden können, ist unbe- kannt, jedenfalls läßt sich wahrnehmen, daß in solchen Zeiten, wo Insekten in der Nähe des Wassers reichlich auftreten, auch auf und zwischen den angespülten Pflanzenresten, Holzstücken usw. viele von ihnen gefunden werden, die ins Wasser gerieten. Als z. B. im Jahre 191 1 die Nonne in gewaltigen Scharen auftrat, fand sie sich auch in den Anschwemmungen des Ostsee- strandes bei Zoppot in großen Mengen. Landwind faßte die wenig widerstandsfähigen Tiere und wehte sie aufs Meer hinaus, wo sie das Was>er weithin bedeckten, als wäre es mit Papierschnitzeln bestreut. Die anrollenden Wellen fegten sie zusammen und häuften sie zu einem Walle aut-, der an einigen Stellen Fußhöhe und mehr erreichte. Landwind und darauf folgender Seegang häufen zu ver- schiedenen Jahreszeiten ganze Hekatomben verschiedener In- sekten, mit Tangresten untermischt, zusammen. Sobald die Wellen weniger weit am Strande hochlaufen, trocknen die Käfer, Fliegen, Schmetterlinge usw. ab. Sie kriechen aus dem nassen Gewirr hervor und suchen auf den höheren Stellen ein trok- kenes Plätzchen. Ihr erster Flugversuch nach dem erlittenen Unbill geht nicht sofort in die Weite, vielfach suchen sie Pflanzen und Sträucher in der Nähe auf, um an ihnen empor- zuklettern und sich womöglich zu sonnen. Die Reste der Feuchtigkeit und das Wehen des Windes lassen die Tierchen dabei erstarren, und es ist längere Zeit notwendig, bis ihre Beweglichkeit zurückkehrt. Die dicht gedrängten Leiber, z. B. bei den Marienkäfern, erwecken das Aussehen und beim Be- rühren das Gefühl, als seien die Pflanzen dicht mit kleinen, glatten Knöpfchen besetzt. Viele von den angeschwemmten Insekten verlassen den Strand freilich nicht; außer den Sirandvögeln stellen sich bei solchen Anschwemmungen Kohlmeise und Goldammer ein, um von der reich gedeckten Tafel zu schmausen, Schwalben streifen über diese Ufcrwälle dahin, um die eben munter ge- wordenen Insekten bei ihren Flugversuchen fortzufangen. Außerdem finden sich Jungen ein, denen es weniger darauf ankommt, eine biologisch wertvolle Sammlung zusammen- zubringen, als eine, die reich an Arten und Galtungen ist; in Tüten und andere Behälter schaufeln sie die Tierhaufen ein, um sie daheim genauer zu untersuchen. Diese reichen Anhäufungen, die zeitweise aus nur einer Art, dann wieder aus den verschiedenartigsten Tieren bestehen, lassen sich in ihrem Zustandekommen wohl so erklären, daß einmal eine besonders lebhafte Flugtätigkeit, vielleicht veranlaßt durch hohe Temperatur oder die Paarungszeit, den ersten Anstoß gibt , andererseits meteorologische Ursachen das Weitere ver- anlassen. Auch die Neigung des Marienkäferchens, an Gegenständen emporzuklettern , spielt sicher eine große Rolle dabei, daß diese Kerfe an aufrechten Pflanzen und Gebilden zusammen- geschart angetroffen werden. Zoppot a. Ostsee. Dahms. Ein Wort zu Dr. V. Engelhard t's Kritik meiner Schrift: „Eine neue und einfache Deutung der Schwerkraft" (Nr. 49). Es sei mir gestattet, zu dieser Kritik einige Ergänzungen zu machen. Wenn in meiner Schrift gelegentlich auf Goethe und Schopenhauer hingewiesen ist, so geschah es nur, um auf gewisse auffallende Übereinstimmungen hinzuweisen, Pate haben dieselben nicht bei meiner Arbeit gestanden. Diese gründet sich vielmehr auf langjährige Studien der Experimental- physik und vor allem auf die hochinteressanten, in Physiker- kreisen leider fast unbekannten Entdeckungen und Unter- suchungen, die Rümelin 1913 in seiner Schrift: ,,Wie be- wegt sich fließendes Wasser?" veröffentlicht hat. Aus dieser Schrift, nicht aus Goethe, habe ich den Gedanken der Po- larität genommen. Die Auffassung der Welt als ,, Strömung des Äthers" rührt von Ma.xwell, Helmholtz, Lord Kelvin u. a. her, ich habe nur die Lehre von der überall gleichmäßigen Geschwindigkeit hinzugefügt, da diese m. E. in einer inkompressiblen Flüssigkeit der einzig mögliche Zu- stand ist. Die Auffassung der Schwere als Energiebewegung habe ich durch Rechnungen und Beobachtungen, insbesondere durch den Hinweis darauf gestützt, daß auf den Weltkörpern unseres Planetensystems Schwerkraft und Temperatur einander . proportional zu sein scheinen, so daß man z. B. die Sonnen- temperatur erhält, wenn man die Erdtemperatur mit der Größe der Schwere auf der Sonne multipliziert. Die Grundlage meiner Theorie bildet jedoch die Einführung des Begriffs der inneren Reibung in die Atherphysik ; denn die Vernachlässigung dieses unmittelbar aus der Kontinuität folgenden Phänomens hat für die Entwicklung der theoretischen Physik die ver- hängnisvollsten F'olgen gehabt, wie ich bereits 1909 in einer kleinen Broschüre, betitelt ,,Über die innere Reibung des Äthers als Ursache der magnetischen Erscheinungen" (Wolfenbüttel) näher ausgeführt habe. Die Ableitung von Schwere und Träg- heit aus einem der Masse proportionalen Reibungswidcrstand ist m. E. vollständig exakt. Eine ,, mechanische" Hilfsvorstel- lung enthält meine Darstellung gar nicht, denn gerade die Grundbegriffe der Mechanik, Masse, Trägheit und Beschleu- nigung sollen ja erklärt werden. Das Skizzenhafte meiner Darstellung wird ihre Entstehung im Felde wohl entschuldigen. Es handelt sich jedoch um eine auf 14 jährigen Studien be- ruhende Arbeit, deren F'olgerungen sämtlich geprüft sind und deren vollständige Darlegung vorbereitet wird. Bis dahin stelle ich meine vorbereitenden Veröffentlichungen einem jeden, der mich durch sachliche Kritik fördern will, gern zur Ver- fügung. Dr. H. Fricke, Berlin Westend. Literatur. Kammerer, P. , Naturforscherreisen zu den Felsen- eilanden Dalmatiens. Mit 19 Abbildungen. Wien 1918, Wiener Urania. I M. Lampa, Prof. Dr. A., Ernst Mach. Prag 191 S, Deutsche Arbeit. 4 K. lullStlt: G. Hoffmeistcr, Über die physikalischen Vorgänge beim Auftreten der Meteore. S. 185. — Binzelberichte : P. Stark, Die Gültigkeit des Webirschen Gesetzes bei den haplotropischen Reaktionen von Koleopiilen und Keim- stengeln. S. 192. Strandberg, Chievitzsches Organ. S. 193. W. Kolmer, Über Kristalloide in den Nerven- zellen der menschlichen Netzhaut. S. 193. Paulus Schiemenz, Einfluß der Lebensbedingungen auf die äußere Er- scheinung unserer Süßwasserfische. S. 194. A. Stahl, Die Gänge des Ostharzes. S. 196. — Bücherbesprechungen: M. Hirschfeld, Sexuelle Zwischenstufen. S. 197. Oskar Hertwig, Dokumente zur Geschichte der Zeugungs- lehre. S. 197. Jakob Wolf, Der Tabak, Anbau, Handel und Verarbeitung. S. 198. J. Wilhelmi, Die hygie- nische Bedeutung der angewandten Entomologie. S. 198. — Anregungen und Antworten ; Massenversammlungen und Massenwanderungen von Marienkäferchen. S. I99. Ein Wort zu Dr. V. Engelhardts Kritik meiner Schrift: ,,Eine neue und einfache Deutung der Schwerkraft". S. 200. — Literatur; Liste. S. 200. Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstraße 42, erbeten. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck der G. Pätz'scben Bucbdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S, Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue Folge 18. Baad; der ganzen Reihe 34. Band. Sonntag, den 13. April 1919. Nummer 15. Das Resultantengesetz in der Pflanzenphysiologie. Von P. Stark. [Nachdruck verboten.] Mit 7 Abbildungen. In einer neueren Arbeit, die sich mit den phototaktischen RichtuDgsbewegungen gewisser Mikroorganismen beschäftigt, gelangt Buder (lit. i) zur Aufstellung eines Gesetzes, das er als Resultantengesetz bezeichnet und das auch für andere Reizbewegungen und andere Pflanzenklassen Gültigkeit besitzt. Allgemein formuliert besagt dieses Gesetz, daß ein pflanzlicher Organismus, wenn er auf 2 Flanken gleichzeitig mit gleicher oder verschiedener Intensität gereizt wird, sich in die Richtung einstellt, die der Resultante im Parallelo- gramm der Kräfte entspricht. Es sollen hier zu- nächst die Buder 'sehen Versuche kurz wieder- gegeben und dann der Geltungsbereich des Re- sultantengesetzes für die tropistischen Krümmungen der höheren Pflanzen besprochen werden. I. Phototaktische Richtungs- bewegungen. Die untersuchten Mikroorganismen, in erster Linie Euglena, Trachelomonas, Carteria und Chlamydomonas, zeichnen sich durch -f" oder — phototaktische Reaktionen aus, das heißt, sie schwimmen bei einseitiger Belichtung entweder der Lichtquelle zu oder sie kehren sich von ihr ab. Die Hinstellung ist nicht bei allen Individuen gleich scharf, stellt man aber die Hauptrichtung eines ganzen Schwarmes fest, dann bekommt man mittlere Abweichungen, die unter einem Winkel- grad liegen. So fand Buder als Gesamtsumme aller Differenzen bei seinen Versuchen 10'. Setzt man nun dieselben Organismen der gleich- zeitigen Einwirkung zweier sich senkrecht kreuzen- der Strahlenbüschel gleicher Intensität aus, dann schlagen sie die Richtung der Winkelhalbierenden ein, d. h. die positiven schwimmen den beiden Lichtquellen unter 45" zu (Trachelomonas, Euglena), die negativen dagegen (Carteria) schlagen den ent- gegengesetzten Kurs ein. Die gefundenen Werte schwanken bei den einzelnen Serien zwischen 43" und 47". Entsprechend ist das Verhalten bei spitzen oder stumpfen Winkeln. Auch hier wird die Schwimm- richtung durch die Winkelhalbierende bestimmt, vorausgesetzt daß die Intensität dieselbe ist. Untersucht wurden hier die Winkel 140", 112" und 27**, und es ergab sich eine Schwimmrichtung von 65—75" bzw. 56" und ca. 13°. Wendet man nun 2 senkrechte Strahlenbündel von verschiedener Intensität an, dann wendet sich bei -j- Organismen der Kurs der stärkeren Lichtquelle zu, und zwar kann man die Richtung bestimmen, wenn man auf Grund der verschiedenen Intensitäten ein Parallelogramm der Kräfte konstruiert und die Resul- tantenrichtung berechnet. Diese Verhältnisse sind in Abb. i dargestellt. Li und Lj sind die beiden Lichtquellen, ij und ij die entsprechenden Inten- sitäten. Es besteht dann die Gleichung: .^ = tg v/ 7 D £ / v/. (X\^ .'Vbb. 3. Mit der Gültigkeit des Resultantengesetzes ist auch die alte Streitfrage der Pflanzenphysiologie, „ob für die Orientierung der phototropischen und phototaktischen Organismen die Richtung der Strahlen oder der Intensitätsabfall — die Differenz antagonistischer F"lanken — der maßgebende Fak- tor sei", eindeutig entschieden, und zwar im letzteren Sinn. Wirken auf den Organismus nämlich die Intensitäten i, und i, ein, dann N. F. XVIII. Nr. 15 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 203 schlägt er nach dem Resultantengesetz die Rich- tung A X (Abb. 3) ein. Nunmehr treffen beide Strahlenbündel in spitzem Winkel auf; damit ist aber nicht mehr die volle Intensität wirksam, sondern nur noch ein Bruchteil, der sich nach den Regeln der Physik bemißt durch das Produkt Intensität X Cosinus des Einfallswinkels (vom Lot aus ge- rechnet!), also in unserem Falle i, cos « und ij cos ß. Das sind aber die Strecken B D und C £ und diese sind wegen der Kongruenz der Drei- ecke B D H und ACE einander gleich. Wir können also auch das Resultantengesetz derart formulieren, daß die Organismen sich so fortbe- wegen, daß beide Flanken pro Zeiteinheit dieselbe Lichtmenge empfangen. Damit ist ein Anschluß an das in der Physiologie so wichtige „Reizmengen- gesetz" gewonnen. 2. Phototropische Krümmungen. Den taktischen Reaktionen der Mikroorganis- men entsprechen bei den höheren Pflanzen, denen das Vermögen der Ortsänderung abgeht, die so- genannten „tropistischen Krümmungsbewegungen". So tritt an die Stelle der „Phototaxis" der „Photo- tropismus", d. h. das Vermögen, die empfindlichen Organe in ganz bestimmter Weise zu dem ein- fallenden Lichtreiz zu orientieren. Es liegt natür- lich die Vermutung nahe, daß auch hier mutatis mutandis genau dieselben Gesetze gelten. Die spärlichen Daten, die hierüber existieren, sind bei B u d e r zusammengestellt. Die ersten einschlägigen Versuche stammen von Payer (1842 lit. 7). Er stellte Keimlinge so auf, daß sie von 2 Strahlen- büscheln unter spitzem Winkel getroffen wurden. Waren die Intensitäten gleich, dann vollzog sich die Krümmung in der Ebene der Winkelhalbieren- den, wie dies ja nach dem Resultantengesetz zu erwarten ist. Dagegen soll bei Anwendung ver- schiedener Intensitäten eine Krümmung ausschließ- lich im Sinne der stärkeren Reizung erfolgen. Wäre diese Angabe richtig, dann läge hierin ein Widerspruch zu dem Verhalten der phototakti- schen Organismen vor. Aber offenbar handelt es sich hier bloß um eine ungenaue Feststellung, die sehr leicht dann eintreten kann, wenn die Inten- sitäten sehr weit auseinanderliegen, so daß die Resultante unmittelbar an die stärkere Kom- ponente heranrückt. Tatsächlich hat Ha gern in neuerer Zeit den Nachweis erbracht, daß auch für den Fall ungleicher Lichtintensitäten das Resul- tantengesetz seine Gültigkeit bewahrt. Er arbeitete mit Haferkeimlingen und konnte feststellen, daß die Krümmung genau in der Vertikalebene er- folgt, die durch die Diagonale im Kräfteparallelo- gramm eindeutig festgelegt ist (lit. 5). Kontroll- versuche, die B u d e r mit demselben Objekt und mit Sinapis alba anstellte, haben diese Aussage bestätigt. Hage m erwähnt auch, daß beim Fort- schreiten von spitzen zu stumpfen Winkeln eine ständige Abnahme des Krümmungsausschlags zu verzeichnen ist, so daß auch hier offenbar eine Beziehung zwischen Resultantenlänge und Reak- tionsstärke besteht. Versuche von Wiesner endlich (lit. 11, 12) machen es wahrscheinlich, daß das Gesetz auch für transversal-phototropische Organe gilt, d. h. solche, die sich unter normalen Umständen senk- recht zur Strahlenrichtung einstellen. Hierher ge- hören die Blätter vieler Pflanzenarten. Werden solche von einem Bündel verschiedengerichteter Strahlen getroffen, so stellen sie ihre Spreiten in eine Ebene, die allem Anschein nach auf der Re- sultantenebene senkrecht steht. Es gilt also das Gesetz nicht bloß für physiologisch radiäre, sondern auch für dorsiventrale Organe. 3. Geotropische Krümmungen. Der Nachweis des Resultantengesetzes für den Geotropismus, also die durch die Schwerkraft be- dingten Ricntungskrümmungen, birgt die Schwierig- keit in sich, daß die Schwerkraft ja nur in einer fest vorgeschriebenen Richtung wirkt. Nun hat ja aber schon Knight zu Beginn des vergange- nen Jahrhunderts (1806 lit. 6) den Nachweis er- bracht, daß die Schwerkraftwirkung durch die Zentrifugalkraft ersetzt werden kann, so daß hier also offenbar dieselbe Sensibilität vorliegt. Daran anschließend stellte er dann gleich Versuche an, weiche unsere Frage betreffen. Er rotierte Keim- pflanzen um eine vertikale Achse, so daß die Zentrifugalkraft in der Horizontalebene wirkte, also senkrecht zu der Schwerkraftrichtung. Es wurden also in den Keimlingen gleichzeitig 2 Krümmungstendenzen induziert, die um 90" voneinander verschieden waren. Dem Zuge der Schwerkraft folgend müßten die Keimlinge die -|- geotropischen Wurzeln senkrecht nach unten, die — geotropischen Sprosse nach oben wachsen lassen, der Zentrifugalkraft gehorchend dagegen die Wurzeln zentrifugal nach außen, die Sprosse zentripetal nach innen und zwar in der Horizontal- ebene. Die Versuche begannen mit ziemlich rascher Rotation (250 Umdrehungen pro Minute). Der Erfolg war folgender: „Die Würzelchen neigten sich in einem Winkel von etwa lo" gegen die Horizontale nach unten und die jungen Stengel um ebensoviel Grad nach oben. Die Zentrifugal- kraft hatte also bewirkt, daß beide etwa 80" von der vertikalen Richtung, die sie beim Keimen in der Ruhelage eingenommen hatten, abwichen. Wenn ich nun allmählich die Schnelligkeit der Bewegung des horizontalen Rades verminderte, so näherten sich die Würzelchen immer mehr der Vertikalen und dementsprechend auch die jungen Stengel; wenn ich das Rad nicht mehr als 80 Umdrehungen in der Minute machen ließ, so war der Neigungswinkel der Wurzel ungefähr 45" und der des Stengels ebensoviel, wobei sich jene stets von der Achse des Rades entfernte, während dieser sich ihr näherte." Man kann nun berechnen, daß im letzteren Fall die Zentrifugalbeschleunigung = 1,02 g (g = Erdbeschleunigung) war, es ent- spricht also der Betrag^ von 45", da die Schwer- 204 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVm. Nr, 15 kraft und Zentrifugalkraft in einem Winkel von 90" wirkten, tatsächlich der physikalischen Resul- tante. Und auch die Tatsache, daß bei verstärkter Zentrifugalwirkung sich der Ablenkungswinkel der Horizontalen näherte, deutet auf die Gültigkeit des Resultantengesetzes hin. Allerdings haben weder K n i g h t , noch Dutrochet und W i g a n d , die die Versuche später wiederholten (lit. 2, 13) hier- über genauere Messungen angestellt. In der neue- sten Zeit hat dann Giltay für den Fall Zentri- fugalkraft = Schwerkraft eingehendere Daten ge- liefert. Er fand aus 368 Einzelmessungen einen Mittelwert von 46,6". Auch hier wirkte die Schwerkraft senkrecht zur Zentrifugalkraft, so daß die Abweichung vom theoretischen Betrag sich auf 1,6" beläuft. Allerdings liegen die Einzel- werte, auf welche sich diese Statistik gründet, recht weit auseinander. Es kamen nach beiden Seiten Ausschläge von über 20" vor. Konstruiert man aus den Einzelwerten eine Variabilitätskurve, indem man auf der Abszisse die Winkel und auf der Ordinate die Zahl der Fälle aufträgt, dann erhält man einen Gipfel über 45* und zwei recht flach abfallende Schenkel (lit. 4). Mit der K night 'sehen Methode hat dann Frl. M. M. Riß den Nachweis erbracht, daß offenbar auch die Resultantenlänge für die Reak- tion von Bedeutung ist (lit. 8). Die Keimlinge, mit denen sie arbeitete, besaßen eine geotropische „Präsentationszeit" von 7 Minuten, d. h. die Schwer- kraft mußte 7 Minuten einwirken, damit eine Krümmung zustande kam. Dauerte die Reizung bloß 5 Minuten, dann blieb ein Erfolg aus, oder wie man sich ausdrückt, die Schwelle war noch nicht erreicht. Wurden aber solche Keimlinge nach dem geschilderten Verfahren in horizontaler Lage 5 Minuten zentrifugiert, wobei also während derselben Zeitdauer die Schwerkraft senkrecht zur Zentrifugalkraft wirkte, dann stellte sich eine .^bb. 4. Krümmung ein, die genau dieselbe Ausmaß und denselben Verlauf zeigte, wie eine solche, die allein durch eine Schwerkraftwirkung von 7 Minuten erzeugt wird. Das ist nach dem Kräfteparallelogramm durchaus verständlich. Die Reizmenge, die in der Vertikalen wirkt, beträgt 5 Min X g. die in der Horizontalen 5 Min X gi ig-, = Zentrifugalbeschleu- nigung); da aber die beiden Kräfte senkrecht aufeinanderstehen und außerdem g = g^, so wird aus dem Parallelogramm ein Quadrat (Abb. 4). Nach dem Pythagoräischen Lehrsatz finde ich die Hypotenuse r (= Resultante) durch die Gleichung: 52 -^ 52 := r^ oder 50 = r^, d. h. r — Vso, das ist annähernd 7. Die beiden Kräfte von 5 Mi- nuten wirken also so, als ob in der Hypotenuse (Resultante) eine einzige Kraft 7 Minuten hindurch wirkte. Deswegen ist der Erfolg derselbe wie im Vergleichsexperiment, wo die Schwerkraft allein 7 Mmuten wirkt. Umgekehrt ergibt sich aus dem übereinstimmenden Ausfall der Experimente, daß tatsächlich die Resultantenlänge von Einfluß ist. Gleichzeitig folgt aus dem Versuch die interessante Tatsache, daß „unterschwellige" Schwerkraft- und Zentrifugalkraftreize summiert werden können, daß also offenbar dieselbe Sensibilität vorliegt. Alle die bisherigen Feststellungen beziehen sich bloß auf Winkel von 90". Daß aber tatsächlich bei jedem beliebigen Winkel der Erfolg derselbe ist, das konnte Fitting auf Grund von Versuchen dartun, die eine ganz andere Methode befolgten, nämlich vermittels der sog. intermittierenden Reizung. Es wurden in bestimmtem Rhythmus bei ein und demselben Versuchsobjekt abwechselnd 2 verschiedene Flanken horizontal exponiert, die einen willkürlich gewählten Winkel miteinander bildeten. Die Einzelexpositionen dauerten kürzer als die Präsentationszeit , aber dadurch , daß sich die alternierenden Reize ständig auf beiden Flan- ken wiederholten , wurde gleichzeitig in 2 ver- schiedenen Ebenen eine Krümmungstendenz er- zeugt und der Erfolg war der, daß sich eine Re- aktion in der Ebene der Winkelhalbierenden ein- stellte, gleichgültig ob der Winkel spitz, recht oder stumpf war. Bloß dann, wenn sich die beiden Flanken genau gegenüberlagen, blieb eine Reaktion aus, da sich hier natürlich die beiden Reize kompensierten. Aber es verdient hervor- gehoben zu werden, daß sogar dann noch eine deutliche Reaktion auftrat, wenn der Winkel 175" betrug, sich also nur um 5" von einem gestreckten unterschied. Die bisherigen Daten zeigen, daß das Resul- tantengesetz in zwingender Form bloß für gleiche Kreise bewiesen ist. Man wird aber kaum daran zweifeln, daß auch hier seine Gültigkeit allge- meinerer Natur ist. Setzen wir dies als zutreffend voraus, dann ergibt sich auch hier wie bei der Phototaxis eine Beziehung zum Reizmengengesetz. Diese Verhältnisse werden schon bei B u d e r diskutiert : „Nehmen wir an (Abb. 5) WW, sei die Lage , die eine Wurzel unter dem gleichzeitigen Einflüsse der rechtwinklig gegeneinander angreifen- den Zentrifugalkraft m-G und der Schwerkraft m-g angenommen hat. Denken wir uns die Zentrifugalkraft nicht mehr wirksam, so würde dem Drucke einer Masse m auf eine in WW^ befindliche reizempfindliche Ebene eine Reizgröße von m.g-sina in der Zeiteinheit entsprechen. Die entsprechende Größe bei fortgedachter Schwer- kraft wäre für die Zentrifugalkraft m G • sin ß. N. F. XVm. Nr. 15 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 205 Nun ist aber g sin a = G sin ß. gilt aber nur dann, wenn tg a = Diese Gleichung — ; das ist aber nichts anderes als die für rechtwinklig angreifende Kräfte gültige Formulierung des Richtungsfaktors im Kräfteparallelogramm. Das heißt also : die Wurzel stellt sich in eine solche Lage ein, daß die pro Zeiteinheit wirksamen antagonistischen Perzeptionsgrößen , wenn sie einzeln wirksam wären, einander gleich sind." Haptotropische Krümmungen. Wir gelangen schließlich zu einem letzten Reiz- gebiet, für das sich das Resultantengesetz bewährt hat. Es sind dies die sogenannten haptotropischen Reaktionen, d. h. diejenigen Krümmungen, die zum Ausdruck gelangen, wenn auf irgendein Pflanzenorgan ein einseitiger Berührungs- oder Kitzelreiz ausgeübt wird. Daß eine Sensibilität für solche Reize nicht nur den Rankenpflanzen und den fleischfressenden Pflanzen zukommt, ist durch ausgedehnte Versuche mit den verschiedensten Pflanzengattungen bewiesen (Stark, lit. 9). Tat- sächlich treffen wir -|- haptotropische Krüm- mungen, d. h. solche, welche der gereizten Flanke zugewandt sind, sowohl bei Keimstengeln, als auch bei Laub- und Blühsprossen, bei Blatt- und Blüten- stielen an. Auch hier ist bei rein einseitigem Reiz die Einstellung nicht immer ganz scharf, vielmehr finden bei zahlreichen Individuen Schwankungen nach links und rechts statt. Diese Streuung ist um so erheblicher, je schwächer der Berührungs- reiz war. Man kann nun hier die Gültigkeit des Resultanten- gesetzes dartun, wenn man unmittel- bar hintereinander .'■.'' 2 verschiedene Flan- - ' ■ ken reizt und den , - r 1 Erfolg feststellt. ---""■'' ■ ■ Hierüber liegt eine ■">" •"" '^o" "o" -^o" " größere Serie eige- ner Beobachtungen vor (Stark, lit. lO), die sich auf Keimlinge der Kornrade (Agrostemma), des Hafers (Avena), der Gerste (Hordeum) und der Mohrenhirse (Sorghum) erstrecken. Zunächst wurden die Intensitäten gleich ge- halten. Man erreicht eine solche gleichmäßige Dosierung, wenn man die beiden Flanken gleich oft und gleich stark reibt, was mit einiger Übung sehr leicht gelingt. Man beobachtet dann, daiS sich die Mehrzahl der Keimlinge mehr minder genau in die Winkelhalbierende einstellt. Auch hier ist, wie bei rein einseitiger Reizung, die Ein- stellung nur bei einem Teil der Individuen genau und auch hier erhält man die stärksten Abweichungen bei geringer Streichzahl. Das sei an einem Bei- spiel dargelegt. Es handelt sich hier um einen Versuch mit Hafer. Die beiden geriebenen Flanken ■10° 0° 10° Abb. 6. 50° er 70° bildenten einen Winkel von 90". In der einen Serie betrug die Streichzahl auf jeder Flanke i, in der anderen 50. Das Ergebnis ist aus Tab. II zu er- sehen. Hierin bedeuten die Zahlen der 2. und 3. Reihe die Anzahl der Individuen, die sich in dem darüber bezeichneten Winkel krümmten. Zur Vereinfachung sind die erhaltenen Werte in Klassen Tabelle IL Avena sativa; Flankenwinkel 90". Streich- Lage der Krümmungsebene Mittel- zahl 0» 15» 1 300 450 ' 60» 1 75» ! 90» wert I 5° 2 5 2 19 37 14 64 21 II 13 i I 46,70 4S,6<' von 15" zu 15" eingeteilt. Wie man sieht, fallen bei 50 maligem Reiben ^/g der Reaktionen in die 206 Naturwissenschaftliche Wochenschrift N. F. XVIII. Nr. IS Mittelklasse, während bei einmaligem Reiben dieser Wert fast auf die Hälfte herabsinkt. Außerdem sind im letzteren Fall die Schwankungen so groß, daß 3 Individuen bloß dem einen Reiz zu folgen scheinen. Die Amplitude der Schwankungen um- faßt hier also den ganzen zur Verfügung stehen- den Raum, während bei der Streichzahl 50 die beiden Randklassen freibleiben. Es ist also bei schwacher Reizung die Streuung viel stärker. Das kommt auch in der graphischen Darstellung sehr klar zum Ausdruck (Abb. 6). Hier entspricht die punktierte Kurve der Streichzahl i, die ausgezogene der Streichzahl 50. In einem Fall liegt der Gipfel tief und die Schenkel verlaufen flach und breit, im anderen ist der Gipfel hoch und die beiden Äste fallen rasch ab. In beiden Fällen stimmen aber die Mittelwerte genügend mit dem theoreti- schen Betrag überein. Wir finden im einen Fall 46,7", im anderen 45,6". Suchen wir uns Rechen- schaft darüber zu geben, worauf die stärkere Streuung bei geringer Streichzahl beruht, so können wir dafür die geringere Länge der Resultante ver- antwortlich machen. Dieselbe Erscheinung zeigt sich ja auch, wenn man bei rein einseitiger Reizung auf niedere Streichzahlen herabgeht. Offenbar ist die Einstellung um so schärfer, je intensiver der Reiz ist. Als wichtigstes Ergebnis können wir festhalten, daß bei einem Winkel von 90" gleichstarke Reizung zu einer Reaktion in der Ebene der Winkelhal- bierenden führt. Das gilt nun in derselben Weise für jeden beliebigen anderen Winkel. Untersucht wurden die Winkel von 60", 120° und 160". Da das Resultat allenthalben eindeutig war, kann ich hier auf eine ausführliche Wiedergabe der Experi- mente verzichten. Nur auf eine Frage soll hier noch eingegangen werden. Wie verhält sich die Streuung, wenn ich bei derselben Streichzahl von spitzen zu stumpfen Winkeln ansteige. Es schrumpft ja in diesem Falle die Resultanlenlänge mehr und mehr zusammen, und die Vermutung liegt nahe, daß sich dies in einer verstärkten Streuung oder, was auf dasselbe hinausläuft, in un?chärferer Ein- stellung äußerte. Die Tatsachen scheinen dieser Annahme recht zu geben, nur muß man dabei bedenken, daß mit vergrößertem Winkel auch ein weiterer Spielraum für stärkere Schwankungen gegeben ist. Ich beschränke mich auf ein einziges Beispiel, das sich wiederum auf Hafer bezieht. In Tab. III sind die Winkelwerte wieder auf Klassen von lO** umgerechnet, o" bedeutet Einstellung in die Winkelhalbierende, die negativen Werte be- deuten die Schwankungen nach der einen, die positiven diejenigen nach der anderen Seite. In der ersten Serie betrug der Flankenwinkel 60", in der zweiten 160". Die halben Winkel sind also 30" und 80". Damit stimmen die gefundenen Mittelwerte von 30,1" und 79,8" genügend über- ein. Wie man sieht, ist aber die Streuung in beiden Fällen recht verschieden. Bei dem spitzen Winkel bewegen sich die extremen Ausschläge zwischen — 20" und -|- 20", bei dem stumpfen zwischen — 60" u/id -}- 60", also auf jeder Seite ein Plus von 90". Es ist das genau das erwartete Resultat: bei kleiner Resultante unschärfere Ein- stellung. Zur Veranschaulichung sind die beiden Kurven in Abb. 7 wiedergegeben. Noch eine weitere Erscheinung verdient in diesem Zusammenhang Erwähnung. Es hat sich gezeigt, daß in allen diesen Versuchen keineswegs sämtliche Individuen reagieren. Der Prozentsatz der Reaktionen ist nun um so größer, je spitzer ' der Winkel ist. Auch dieses ist als Folge der wachsenden Resultante anzusehen. Je größer die Resultante ist, desto größer ist auch — infolge des stärkeren Reizes — die Zahl der Individuen, bei denen die Reizschwelle überschritten ist, die also eine Reaktion vollziehen. Daß dem tatsäch- lich so ist, das geht aus dem Umstände hervor, daß ein gleicher Prozentsatz von Reaktionen er- zielt wird, wenn ich mit wachsendem Winkel die Streichzahlen so ansteigen lasse, daß die Resul- tante ihre Länge bewahrt. An die Versuche mit gleich starker Reizung N. F. XVm, Nr. 15 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 207 Tabelle III. Avena sativa. Flanken- ! Abweichung von der Winkelhalbierenden Mittel- winkel —60» -50°! -40» —30« —20» ' — 10° ' OO +10» +20» i +30» +40° +50« +60° wert 60» 160» I 2 5 ' 3 15 56 , 6 10 16 24 18 12 10 7 4 2 ' 30,1» 59,8° schlössen sich solche mit verschiedener Streich- zahl an. Ich gebe hier nur das summarische Er- gebnis in Tab. IV wieder. Die erste Kolumne enthält die Winkel, welche die gereizten Flanken bildeten, die zweite die Streichzahlen. Vergleicht Tabelle IV. Verschieden starke Reizung zweier Flanken. Flanken- winkel Streich- zahl Zahl der Indiv. empir. Mittelwert theoret. Wert Diffe- renz 90» go» 90» 60° 40 : 20 118 20:30 "3 10 : 40 107 10: 20 51 10: 20 38 10:30 68 10 : 40 60 26,3 56,7 73.9 20,0 30,4 19,9 15.0 26,7 56,3 75.8 19,1 30.0 19.1 13.9 0.4 0,4 1,9 0,9 0,4 0,8 1,1 man die empirisch gefundenen Mittelwerte mit den theoretischen Winkelbeträgen, dann sieht man, wie groß die tatsächliche Übereinstimmung ist. Die höchste Differenz beträgt 1,9". Es war nun von besonderer Bedeutung, auch Versuche anzustellen, bei denen 3 Flanken gereizt wurden. Es wutde ja schon früher erwähnt, daß wenn auch hier übereinstimmende Werte erhalten werden, damit eindeutig die Bedeutung der Resul- tantenlänge erwiesen ist. Auch hier verzichte ich auf eine Wiedergabe der Einzelversuche. Aus dem Überblick (Tab. V) ist alles Nötige zu er- Tabelle V. Reizung von 3 Flanken. Flanken- Streich- Zahl der empir. theoret. Diffe- winkel zahl Indiv. Mittelwert Wert renz 60", 30° 20 : 20: 30 54 56,8 57,6 0,8 11 30 : 20 : 10 SS 33.9 34.3 0,4 60», 60" 40 .: 20 : 20 35 40,3 40,2 0,1 20 : 30 : 40 71 75.9 76,5 0,6 ,1 30 : 30 : 10 35 40,3 40.9 0,6 90°, 30° 40 : 20 : 20 37 51,9 5'.2 0,7 ,, 20 ; 20 : 20 46 74,1 75 0,9 sehen. Die erste Kolumne liefert die beiden Winkel, welche die 3 Flanken miteinander bilden, die zweite gibt das Verhältnis der Streichzahlen. In der ersten Reihe bedeutet also, daß die Flanke I mit Flanke II einen Winkel von 60*, Flanke II mit Flanke III einen solchen von 30" bildete. Flanke I und II wurden 20 mal, Flanke III 30 mal gerieben. Die Ausrechnung des Resultantenwinkels ist hier natürlich recht umständlich und ist auf trigonometrischem Wege vollzogen. Darauf kann hier nicht eingegangen werden. ..Uns genügt die Feststellung, daß auch hier die Übereinstimmung zwischen gefundenen und berechneten Werten außerordentlich gut ist. Damit ist aber zum erstenmal die Gültigkeit des Resultantengesetzes für 3 Kräfte exakt bewiesen. Zu allem Überfluß wurde noch ein Versuch mit Reizung von 4 Flanken durchgeführt. Flanke I und II bildeten einen Winkel von 60", Flanke II und III einen solchen von 30° und ebenso Flanke lil und IV. P'lanke I und II wurden 20 mal, Flanke III und IV 10 mal gerieben. Der empirische Mittelwert ist hier 55,3", der theoretische Winkel 55,2", die Differenz beträgt also bloß 0,1". Damit hat sich also das Resultantengesetz auch für den Haptotropismus aufs schönste bewährt, und es kann die Erwartung ausgesprochen werden, daß die spätere Forschung seinen Geltungsbereich noch weiter ausdehnen wird, zumal es sich hier um ein noch wenig bearbeitetes Gebiet handelt. Zitierte Literatur. 1. Buder, Zur Kenntnis der phototaktischen Richtungs- bewegungen. Jahrb. f. wiss. Bot. 58. 1918. 2. Dutrochet, Memoires pour servir ä rhistoire ana- tomique et physiologique des vegetaux et des animaux. 1837. 3. Fitling, Untersuchungen über den geotropischen Reizvorgang. Jahrb. f. wiss. Bot. 4:. 1905. 4. Giltay, Betrachtungen und Versuche über Grund- fragen beim Geotropismus der Wurzel. Zeitschr. f. Bot. 2. 1910. 5. Hagem, Über die resultierende phototropische Lage bei zweiseitiger Beleuchtung. Bergens Museums Aarbok. 3. 1911. 6. Knight, Über die Richtung der jungen Wurzel und des jungen Stengels bei der Keimung. Oslwald's Klassiker. Leipzig 1895. 7. Bayer, Comptes rend. Acad. des Sciences. Paris. 15. 1842. 8. Riß, Über den Einfluß allseitiger und in der Längs- richtung wirkender Schwerkraft. Jahrb. f. wiss. Bot. 53. 1914. 9. Stark, Experimentelle Untersuchungen über das Wesen und die Verbreitung der Kontaktreizbarkeit. Jahrb. f. wiss. Bot. 57. 1917. 10. Stark, Über die Gültigkeit des Resultantengesetzes beim Haptotropismus. Jahrb. f. wiss. Bot. 58. 1918. (Im Druck.) 11. Wiesner, Studien über die Richtung heliotropischer und photometrischer Organe. Sitzber. d. k. k. Akad. d. Wiss. Wien. 121. 1912. 12. Wiesner, Heliotropismus und Strahlengang. Ber. d. d. bot. Ges. 30. 1912. 13. Wigand, Botan. Untersuchungen. Braunsehweig. 1854. 208 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. IS Einzelberichte. Pflanzenbau. Das Auswerfen von Pflanz- löchern für Bäume durch die Anwendung von Explosionen in der Erde wurde in der Sitzung der Pariser Akademie der Wissenschaften vom i8. Nov. 1918 empfohlen (C. R. Acad. Paris, Tome 167, Nr. 21, 191 8). Andre Piedallu weist darauf hin, daß sich die wildwachsenden Pflanzen alsbald wieder am Rande von Schützengräben und an der Stelle ehemaliger Granatlöcher ansiedeln und überraschend schnell wucherten. Dies hänge unzweifelhaft mit der Düng- ung zusammen, welche der Erdboden durch Ein- dringen und durch IVIischung mit Nitraten erfahren hätte. Es erinnerte dies an Versuche, welche man im westlichen Amerika gemacht hätte, wovon Etienne A. Ritter in der „Nature'" vom 5. April 191 3 berichtete. Zwei Jahre alte Kirsch- bäume wurden in den mit Dynamit aufgesprengten Löchern mehr als 3 m hoch, während andere in derselben Zeit nicht größer als 1,50 m wurden. Man verfahre folgendermaßen: Die Patronen ent- halten je nach dem Boden in einem Behälter düngende Stofl'e, wie Phosphate, Nitrate, Pottasche usw.; sie bestehen aus einer Hülle von Zelluloid, starkem Papier oder Karton und endigen konisch oder sind mit einem Pfropfen verschlossen. Das andere Ende enthält den komprimierten Düngstoft um den Explosionskern herum ' eine zylindrische Durchbohrung des Sprengstoffes enthält die Zünd- kapsel. Das Ganze wird mit einem Zapfen mit eirem kleinen Loch für den Zündfaden der Zünd- kapsel geschlossen. Die Explosivladung und der angrenzende Metalirest sind außen paraffiniert. Mit einem eisernen Pfahl wird ein 60 cm tiefes Loch gemacht ; wenn es der Boden zuläßt, macht man mit einem Holzpfahl ein etwas weiteres Loch von derselben Tiefe, dann wird die Patrone ein- gelegt und zur Explosion gebracht. Dadurch ent- steht eine sphärische Höhle von 80 cm Tiefe mit klaffend zerrissenen Wänden. Nachdem die Ex- plosionsgase aus der Erde abgezogen sind, pflanzt man den Baum, wobei die Wurzeln gut mit Erde bedeckt werden müssen. So wird er, mit der richtigen Nahrung versehen, sicher einwachsen und in kurzer Zeit Früchte tragen. Dieses Verfahren empfehle sich überall da, wo die Erde zu kompakt wäre, so daß man mit dem üblichen Verfahren Schwierigkeiten hätte. Außer- dem empfehle sioh dies Pflanzverfahren nament- lich für die Kolonien, da es viele Arbeitskräfte ersparte. Kathariner. Zoologie. Der Körper der Aktinien stellt be- kanntlich einen Zylinder dar, welcher mit seinem geschlossenen Ende auf einer festen Unterlage, (Stein, Schneckenschale, Tang usw.) festsitzt; das andere Ende mit dem von Tentakeln umstellten Eingang in das Körperinnere inmitten der Mund- scheibe ragt frei ins Wasser. Während sich nun den Aktinien der oberen Wasserschichten in den Steinen der Küste, Schneckenschalen, usw. eine feste LTnterlage zur Anheftung der Fußscheibe bietet, fehlt eine solche in den Tiefen des Meeres. Über den Bau der Fußscheibe gewisser Aktinien aus großen Meerestiefen, welche man auf den Forschungsfahrten des Kreuzers des Prinzen Albert von Monaco fischte, wurde in der Sitzung der Pariser Akademie der Wissenschaften (16. Dezem- ber 1918) berichtet. (Sur l'adaptation du pied au milieu ambiant chez les Actinies des grands fond sous-marins, Note de M. Ch. J. Gravier, C. R. Tome 167, Nr. 25, 191 8.) Allantactis parasitica sitzt zunächst auf einer kleinen Schnecke der Gattung Neptuna (N. curta Friele), später auf einem Kieselstein oder direkt auf dem schlammigen Grund. Wenn es das pelagische Leben aufgegeben hat, sitzt das Tier zunächst auf einer kleinen Schneckenschale, die ihm als Unterlage genügt. Mit zunehmender Größe bedeckt die Aktinie die Schneckenschale ganz und schließt sie völlig ein. In der Mitte ihrer Fußscheibe ist das Schneckengehäuse noch sichtbar. Mitunter findet man auf dem Meeres- grund ganz von der Aktinie umschlossene Schnecken, doch vermag sich die Aktinie so nicht im stabilen Gleichgewicht zu halten. Die Fuß- scheibe wächst dann nach unten vor, schlägt sich um und bildet eine Art von Tasche mit einer kleinen Öffnung nach außen. Bei einem Stück von Chondractinia nodosa wurde ein Kieselstein in der Tasche gefunden, der zu klein gewesen wäre um das Tier zu tragen. Ganz entsprechen- des berichtet Ver rille von Actinostola callosa. Es bildet so der Einschluß einen Ballast, welcher es dem Tier erlaubt sich im halbflüssigen, modde- rigen Bodenschlamm aufzuhalten. Ebenso machen es die Aktinien der Tiefsee und umfassen alle festen Gegenstände, auf die sie treffen. So saß eine Chithonanthus abyssorium aus 4870 m Tiefe auf einer Sabellariaröhre, die ganz von der Fuß- sohle umschlossen war. Auch die Kieselnadeln von Schwämmen werden in der gleichen Weise als Unterlage benutzt. Zwei Stück von Stepha- nactis impedita aus 2286 m Tiefe saßen auf den Nadeln eines sehr großen Schwammes. Die Ränder der Fußscheibe sind nach unten umge- schlagen und bilden eine mit Sand und Schlamm gefüllte Tasche mit Öffnungen, aus denen die Nadelspitzen hervorsehen. Wenn die Zahl der Nadeln zu gering und die Grundfläche zu klein wird, schlägt sich die ganze Fußscheibe um und bildet so gewissermaßen ein Futteral um die Nadel. Alles dies finde sich bei Chitonanthus indutus. Es erinnere an die Madreporarien aus großen Tiefen. Viele Aktinien benutzen auch als Unterlage die dünnen Stangen des Skeletts leben- der oder toter Alcyonarien. Ihre Fußscheibe ist dann mehr oder weniger in die Länge gestreckt und bildet eine Röhre um die Unterlage herum. Die gelbliche chitinöse Röhre wird abgeschieden N. F. XVIII. Nr. 15 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 209 vom Ektoderm der Fußscheibe. Koch, welcher dasselbe bei Gephyra Dohrnii fand, hielt die Bildung für die hornige Achse von Antipaten und benannte die Aktinien dementsprechend. Die Ver- bindungslinie beider Öffnungen der Fußscheibe mit der darauf senkrechten Längsachse des Körpers täuscht eine bilaterale Symmetrie vor; eine solche findet sich aber bei sonst ganz verschiedenen Familien. Das von R. Hertwig als charakteristisch für die Familie der Amphianthidae angegebene Merk- mal wäre demnach wertlos. Diese Symmetriegrund- lage zeigten alle Stücke der Art im Gegensatz zu Gephyra Dohrnii auf den Ästen von Isidella elon- gata im Golf von Neapel. Eine ganz auffallende Symmetrie des Fußes habe auch eine Aktinie, die als Comensale einer Tiefseeholothurie, Pseudo- stichopus villosus, in 4275 m Tiefe lebt; sie sitzt auf derselben in der Nähe der Mundöffnung, welche auf eine deutlich ausgesprochene Unterseite ver- schoben ist. Die Aktinie hat die Form einer bikonvexen, dicken Scheibe, die vom Fuß ge- bildete Unterseite ist stärker gewölbt als die obere Seite mit der Mundspalte. Am Rand zeigt die Fußscheibe eine auffallende Einsenkung, welche die Annahme eines Saugnapfes wahrscheinlich macht, mit dem sich die Aktinie auf der Holo- thurie festhält. Bekanntlich wird bei den flottieren- den Aktinien der Fuß zu einer Art von Schwimm- gürtel. Bei einer neuen Art der Sammlung des Prinzen von Monaco, Nectatis singularis, ist die Kavität auf der Fußscheibe sehr klein, fast virtuell; die Reduktion des Fußes, die hier noch gesteigert ist, steht im Gegensatz zu seinem Verhalten bei pelagischen Aktinien. Kathariner. An der Larve von Chironomus gregarius fand Johannes Pause ^) unter anderem Folgendes. Diese Mückenlarve schlüpft im Gegensatz zu der von Corethra mit dem Kopfe voran aus dem Ei. Die bekanntlich im Wasser lebenden und, wie bei vielen Chironomiden, durch hämoglobinhaltiges Blut rot gefärbten Larven häuten sich dreimal, bei der Verpuppung das vierte Mal. Bei der ersten Häutung werden am vorletzten Glied plötz- lich die für die Chironomiden- oder Zuckmücken- larven kennzeichnenden vier langen, rinnenförmigen Anhänge oder „Tubuli" ausgestülpt, während die für die Larven dieser Familie nicht weniger cha- rakteristischen vier „Analanhänge" auf der Ober- seite des letzten Gliedes bereits beim Schlüpfen aus der Eischale vorhanden sind. Beide Arten von Anhängen wachsen kontinuierlich und zwischen je zwei Häutungen sprunghaft, und sie beide stellen offenbar Atemanhänge oder Kiemen dar, was ihre dauernde Durchströmung mit Blut, ihr histologischer Bau uud die Abdominalschwingun- gen der Larve bei Sauerstoffmangel beweisen. ') Johannes Pause, Beiträge zur Biologie und Phy- siologie der Larve von Chironomus gregarius. Zoologische Jahrbücher, Abteilung für Allgemeine Zoologie, Band 36, Heft 3, Seite 338 bis 449, 2 Tafeln, 1918. Das Tracheensystem beginnt erst bei der zweiten Häutung sich mit Luft zu füllen, und zwar an der Grenze des ersten und zweiten Thorakalsegments, bald darauf auch an der Grenze des zweiten und dritten. Viel weiter als in die- sem Bereich scheint das Tracheensystem über- haupt nicht ausgebildet zu werden, es ist, wie dies auch schon frühere Untersuchungen andeuteten, offenbar rudimentär, und auch rudimentäre Stigmen ließen sich an den anderen Segmenten bei dieser Art nie einwandfrei auffinden, abweichend von Chironomus polytomus. Jedenfalls finden sich luftgefüllte Tracheen in den Abdominal- segmenten nie mehr. Die Füllung des erwähnten Systems erfolgt in zentripetaler Richtung und zwar nicht allein durch Osmose und Diffusion, sondern, wie sorgfältige Versuche bei Unterdruck mit einer Wasserstrahlluftpumpe sowie in ent- gastem Wasser lehrten, unter erheblicher Energie- leistung offenbar durch aktive Zelltätigkeit. Für die Aufrechterhaltung der Atmung hat das Tracheen- system keine Bedeutung mehr. Der Gasaustausch wird von dem Blutgefäßsystem übernommen. Durch eine im elften und zwölften Segment ausgespannte Membran ist die Bahn des Blut- kreislaufs fest bestimmt: es kann' kein Blut zum Herzen zurückgelangen, ohne einen Atem- anhang durchlaufen zu haben. Demnach besitzen diese Larven ein rein arterielles Herz. Jene Membran ist höchstwahrscheinlich ein umge- lagerter Teil des bei Insektenlarven so reichlich entwickelten Fettkörpers. Daß der Blutfarbstoff tatsächlich aus Hämoglobin, dem Blutfarbstoff der Wirbel- tiere, besteht, während er nach früheren Arbeiten Hämatin sein sollte, ^) wurde auf chemischem Wege durch Herstellung der Hämoglobinkristalle erwiesen. Dieser Stoff wird erst zwischen Anfang und Mitte des zweiten Häutungsstadiums ausge- bildet, vorher sind die Larven farblos. Nahrung und Belichtung beeinflussen die Hämoglobin- ausbildung anscheinend nicht. Jedoch steht mit der Hämoglobinausbildung offenbar das wechselnde Verhalten der Larve gegen Licht in bemerkens- wertem Zusammenhang: ihre anfangs starke posi- tive Phototaxis schlägt am Anfang des zweiten Häutungsstadiums in ebenso starke negative um. Das Blutgefäßsystem leistet außer der Versorgung der Organe mit Sauerstoff und dem Abtransport der Kohlensäure auch die Aufspeicherung von Sauerstoff für die Atmung im Falle starker Ver- minderung dieses Stoffes im umgebenden Wasser. OhneSauerstoffistChironomus gregarius zwar weder entwicklungs- noch unbegrenzt lebensfähig, doch ist den Larven gegen Sauerstoffentziehung eine über- raschend große und mit zunehmender Ausbildung des Hämoglobins ständig wachsende Widerstandsfähig- keit eigen, die auf dem dritten Häutungsstadium ■) Bei Heymons in der vierten Auflage von Brehm's Tierleben, 191 5, findet sich bereits die Angabe, es sei Hämo- globin. 2IO Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 15 54 Stunden erreicht. Nur im Anfang, bei noch fehlendem Hämoglobin, ist der Sauerstoffbedarf noch sehr groß, und dies dürfte die positive Phototaxis der jungen Stadien zwanglos erklären. Die Sauerstoffkonzentration von 0,2 ccm im Liter Wasser, bei welcher Thienemann die Larven im Freien gefunden hat, dürfte das notwendige Minimum darstellen, denn bei 0,I0 bis 0,12 ccm im Liter erwiesen sich die Larven als nicht mehr lebensfähig. Sehr widerstandsfähig sind die Larven auch gegen Alkalien, Alkohol, Schwefelwasserstoff und Hunger, viel weniger gegen Säuren und mechanische Verletzungen , die beide eine Zer- setzung des Hämoglobins bedingen. Viele der hier erwähnten merkwürdigen Eigen- schaften erklären sich ohne weiteres als Anpas- sungen eines typischen Vertreters der Sapropel- fauna, in der Chironomus gregarius zusammen mit Tubifex und Carchesium lachmanni in organisch stark verschmutzten Gewässern vorkommt: so be- sonders die Reduktion des Tracheensystems, der Hämoglobingehalt zur Sauerstoffspeicherung und die Widerstandsfähigkeit gegen Hydroxylionen. Um zu geeigneter Zeit Sauerstoff speichern zu können, verlassen die Larven besonders in dunklen Nächten manchmal massenhaft ihre meist aus Schlamm und Speichel gebauten Wohnröhren und wandern an die Wasseroberfläche. Bei Tage und in mondhellen Nächten unterbleibt dies, was ge- wiß die Larven vor dem Gesehenwerden von Feinden schützt, aber nach Thumm auch die Folge hat, daß nach mehreren Mondnächten Tausende der Tiere tot auf dem Wasser treiben können. Folgendermaßen etwa wäre die Übergangs- reihe von an der Wasseroberfläche lebenden, farb- losen Chiromonidenlarven zu roten, schlamm- bewohnenden. Auf mutmaßliche culicidenartige Vorfahren, die noch mit einem Atemrohr oder durch Stigmen Luft atmeten, folgen Formen mit geschlossenem Tracheensystem, wie die Tanypus- und die farblosen Orthocladiuslarven. Gleich- zeitig wurden Atemanhänge nötig, die den Anal- anhängen von Chironomus gregarius entsprechen, und die auch allen diesen Formen eigen sind. Weiterhin folgt die Ausbildung von Hämoglobin bei den roten Orthocladius und Tanytarsus, fernerhin Chironomus polytomus, der außer den Atemanhängen auch ein Paar Tubuli besitzt, end- lich unser Chironomus gregarius mit zwei Paaren Tubuli und stark reduziertem Tracheensystem. V. Franz, Leipzig- Marienhöhe. Die Abhängigkeit des Vogelzugs ^on der Witterung behandelt ein Aufsatz von ßretscher (Biol. Zentrbl. Bd. 38, Nr. 7). Der Temperatur dem Wind und der Lage der Depressionen wird häufig ein großer Einfluß auf den Vogel- zug zugeschrieben. Auch der Verf. hat sich bereits früher hiermit beschäftigt und ist zu der Anschauung gelangt, daß die Witterung keinen großen Einfluß auf den Vogelzug haben könnte. In der vorliegenden Arbeit beschäftigt er sich mit der Frage nach dem Einfluß der Temperatur auf die periodischen Wanderungen der Vögel im Ge- biete der Schweiz und Elsaß-Lothringens. Es hatte sich hier bereits früher gezeigt, daß der Frühjahrszug „unabhängig von der jeweiligen Temperaturlage und von den mittleren Frühlings- temperaturen erfolgt". Aus der Zusammenstellung der mittleren Temperaturen der einzelnen Zugs- tage hatten sich typische Variationskurven bilden lassen mit einem Maximum, von dem aus die Zahlen nach oben und unten abnehmen. In der neuen Arbeit wird nur das Gebiet der Schweiz von Bern bis zum Bodensee und Rhein und nur die ersten Beobachtungen, nicht der ganze Zug, im Anschluß daran wieder Elsaß-Lothringen und außerdem Material aus Württemberg, Ungarn und Holland und der Herbstzug in der Schweiz be- arbeitet. In manchen Fällen erstreckten sich die herangezogenen Beobachtungen bis in die Sech- ziger Jahre. Bretscher stellt nun in einer Zahl von Tabellen die Mitteltemperaturen der Zugstage neben die Miiteltemperaturen der Zugszeit bei den einzelnen Vogelarten und erhält so Doppel- reihen, die den Charakter von typischen Varia- tionskurven haben. Ihre Höchstwerte liegen stets sehr nahe beieinander. Bei 12 von 16 Arten z. B. stimmt die Lage der Höchstzahlen beider Kurven sehr gut überein, was für eine bestimmte Beziehung zwischen beiden Reihen spricht. Die Erklärung hierfür gibt Bretscher in dem Satze: „Offenbar treffen die Zugvögel bei dem Wärmegrad am häufigsten ein, der ihnen am_ häufigsten geboten ist; bei allen anderen weniger, weil sie weniger vertreten sind und ungefähr im gleichen Verhält- nis wie die Tage mit höheren und tieferen Mittel- temperaturen nehmen auch die zugehörigen Zugs- tage ab." Als Beispiel möge hier die Tabelle i a der Zugstemperatur im schweizerischen Mittellande folgen: (Tabelle siehe Seile 211.) Ebenso unabhängig wie von den Temperaturen ist die Zugszeit auch vom Wind und der allge- meinen Wetterlage. Natürlich haben schwere Un- wetter wohl lokale Einflüsse zur Folge, die aber auf den allgemeinen Zug keine Bedeutung haben. Der Vogelzug ist eine Instinkthandlung für die nur die Zeit in Frage kommt. Die auslösenden Ursachen sind uns nicht bekannt. Das reiche Material, das Bretscher in der Arbeit zur Ver- fügung stellt, muß am besten in dieser selbst durchstudiert werden. Zum Schluß beschäftigt sich der Verf auch mit den Ergebnissen die Hegyföky durch seine Arbeiten über den Ein- fluß der Lage der Depressionen auf die Zugser- scheinungen als vorliegend betrachten zu müssen glaubt. Dieser kommt über den Vogelzug in Ungarn zu folgendem Schluß: „Die Ankunftsdaten kulminieren, wenn die gute Seite der Depressionen gegen Ungarn, oder, falls sie in Ungarn sind, gegen Osten gerichtet ist, d. h. wenn ihr Zentrum in N. F. XVIII. Nr. 15 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 311 Feldlerche WeiUe Sing- Hausrötel Weiden- 0) •0 Bachstelze drossel laubsäger 2 Mittel- Mittel- Mittel- Mittel- Mittel- g temperaturen temperaturen temperaturen temperaturen temperaturen der der der der der :rt Zugs- Zugs- Zugs- Zugs- Zugs- Zugs- Zugs- Zugs- Zugs- Zugs- tage zeit tage zeit tage zeit tage zeit tage zeit — :2 2 I 2 — II 6 I I — 10 8 I 6 3 I —9 13 — 5 I 2 —8 2 19 — 8 4 I 2 —7 I 16 — 8^ 2 I 3 5 —6 I 28 4 13 4 2 — I 3 — S I 34 3 25 — 10 3 7 9 —4 1 51 6 30 1 15 — 7 12 —3 9 58 6 53 2 44 — II 18 —2 II 108 14 95 II 78 19 29 3 44 — I 13 93 9 80 6 So- 18 24 7 32 0 17 127 16 112 lo 84 21 48 5 59 I 17 168 31 «49 20 117 20 74 6 93 2 26 193 34 170 20 131 37 95 15 110 3 17 170 42 149 27 124 39 99 12 113 4 20 148 42 135 23 117 35 102 27 120 5 18 156 39 126 25 "5 50 118 21 131 6 15 144 40 126 22 114 46 122 18 129 7 17 115 33 99 19 95 35 '09 27 117 8 II 98 32 83 7 78 40 97 17 lOI 9 II 71 21 61 8 59 41 86 14 90 10 6 2S 8 26 4 18 15 5« II 54 II 5 27 4 18 I 16 7 44 13 44 12 a 24 I 18 — 8 4 28 8 28 13 I IS I S I 3 3 I I 8 43 2 14 7 43 14 222 5 7 14 15 S 3 — I I 2 I ö 6 2 I 2 9 16 213 I 3 4 17 449 1 I 223 I 18 389 I Zugszeit Zugszeit Zugszeit Zugszeit Zugszeit I.2.— 5.4. 5- 2.-31.3- 16. 2.— 31.3. 6.3-— 15- 4- 1.3.-15.4. Westungarn oder im Westen, Nordwesten von unserem Lande hin sich befindet." (Aquila 10, 1903). Bretscher hält den Einfluß der Depres- sionen in unseren Gegenden für sehr gering oder überhaupt nicht für vorhanden, und sucht dies auch nachzuweisen. Vogelzug und Wetterlage sind nebeneinander herlaufende Erscheinungen, bei denen die letztere wenig oder gar keinen Ein- fluß auf jene hat. Willer. Tiermedizin. Unter den Kriegskrankheiten der Pferde steht die Räude an erster Stelle. Sie wird durch eine Sarcoptesart hervorgerufen, die unter der Oberhaut der Wirte Gänge gräbt. Hautausschläge, krankhafte Wucherungen und Borkenbildung sind die Folgen, die zu einer all- gemeinen Schwächung des Körpers führen und den Tod veranlassen können. Die Übertragung findet von Hautteil zu Hautteil, von Tier zu Tier und sogar von Tier zum Menschen statt. Zur Be- kämpfung wurden bisher allerlei Salben und Linimente angewandt, die z. T. in ihrer Kriegs- zubereitung völlig versagt haben. Erst in der Gasbehandlung mit Schwefeldioxyd wurde, wie Harms berichtet (Die Naturwissen- schaften 1918, S. 637), ein wirksames Bekämpfungsverfahren gefunden. Sie wurde gleichzeitig und unabhängig in Deutschland von Nöller, in Frankreich durch Vigel und Chol- 1 e t erforscht und in die Praxis ein- geführt. Im Gegensatz zur Blausäure, die sich bei der Bekämpfung von Speicherinsekten vorzüglich bewährt hat, aber für den Organismus der Warmblüter außerordentlich giftig ist, ferner zu Schwefelkohlenstoff, Chlor usw. ist die schweflige Säure ein Gas, das langsamer in die Haut diffundiert und keine nachteiligen Wirkungen hervorbringt. Es eignet sich daher ausgezeichnet und ist schon allgemein in der Armee ein- geführt worden. Vor der Behandlung wird das Pferd glatt geschoren, der Kopf aber mit Petroleum oder Kresolöl einge- rieben. Dann wird es in einen gas- dichten Raum, eine sog. Gaszelle eingeschlossen, wobei nur der Kopf aus dem Fenster herausragt. Dieser wird durch einen Stoffhalskragen, der am Fensterrahmen befestigt ist und an den Hals des Pferdes fest angelegt werden kann, vor der Ein- wirkung des Schwefeldioxydes ge- schützt. Die Franzosen benutzen 10 Gaszellen hintereinander, die sie gleichzeitig in Betrieb setzen, und verbrennen den Schwefel in einem besonderen Generatorofen. Nöller bedient sich des in Glasflaschen verflüssigten Gases. Bei Verwen- dung von reinem Schwefeldioxyd genügt eine Ein- wirkungsdauer von einer halben Stunde bei 3 Volumprozent. Schon eine einmalige Vergasung ist wirksam, doch wird sie m_eist nach 5 — 8 Tagen wiederholt, damit alle Milben und Eier mit Sicher- heit abgetötet werden. Zur Verhütung von Neu- infektionen muß natürlich auch das Zaumzeug mitbehandelt werden. Schwefeldioxyd hat sich auch als ein vorzüg- liches Bekämpfungsmittel für andere Ectoparasiten wie Flöhe, Läuse, Haarlinge (Mallophagen) und Zecken erwiesen. Auch zur Beseitigung der Krätze des Menschen dürfte es Verwendung finden können. Stellwaag. Biologie. Ein neues Naturschutzgebiet. Mitten im Kriege ist auf der kleinen, weltentrückten Ost- seeinsel Aarö am Ausgange der Haderslebener Förde ein neues Naturschutzgebiet entstanden. Zwar von bescheidenem Umfange, aber doch ein neuer Beweis dafür, daß der Sinn für derartige Schöpfungen rege ist und das Verständnis für ihre Notwendigkeit mehr und mehr, auch in wei- teren Kreisen, an Raum gewinnt. Auf Aarö 212 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 15 findet sich der einzige sichere deutsche Standort der ZwergStrandnelke (Statice bahusienis Fries und zwar var. danica). Ihr Hauptverbreitungs- gebiet hat diese seltene und hübsche kleine Strand- pflanze am Kattegat. Zwar wird sie neuerdings auch von der nordfriesischen Insel Rom angegeben, doch ist es noch unsicher, ob es sich hier nicht einfach um eine kleine Form der sonst auch bei uns häufigen, viel größeren Strandnelke (Statice limonium L.) handelt. Es ist das Verdienst des Hamburger Botanikers F. Erichsen (Heimat, 1916, S. 147 — 151), die Schaffung des neuen Natur- schutzgebietes, des eben besonders den Standort dieser botanischen Seltenheit Deutschlands ein- schließt, angeregt und gefördert zu haben. Ein glücklicher Zufall, der mit dem Kriege zusammen- hängt, wollte, daß die Mittel für die Ausführung des Planes überraschend leicht und in besonders erfreulicher und nachahmungswerter Form aufge- bracht werden konnten. Die Bewohner des ein- zigen Dorfes der Insel schenkten nämlich dem dortigen Landrat von Low und zur Steinfort das 2,5 ha große Gelände, zusammen mit vier Find- lingen, die als Grenzsteine dienen, zum Danke für einige durch russische Kriegsgefangene hergestellte Uferschutzbauten. Die Aufsicht über das neue „Naturschutzgebiet von Low" übernahm das Haderslebener Kreismuseum, das sich schon durch Schaffung eines in seiner Art vorbildlichen Freiluftmuseums alterBauernhaustypen einen Namen gemacht hat. Erfreulich ist, daß in diesem Fleck- chen Erde ein kleiner botanischer Strandgarten geschaffen ist, auf dem auch sonst eine ganze Reihe unserer typischen Strandpflanzen vorkommt, und die nun auch, hoffentlich für alle Zeiten, mit ge- schützt werden, um so mehr als sich unter diesen einige finden, wie die Keilmelde (Obione pedun- culata) und das Stachelhaar (Echinopsilon hirsutus), die nicht gerade häufige Erscheinungen unserer Strandflora sind. Olufsen. Geologie. Eine überaus wertvolle und gründ- liche, die Genese der Culmsedimente wesentlich fördernde Arbeit über „Die Gliederung und die Faunenverteilung im Unteren Culm des Ober- harzes" veröffentlicht J. W ei gelt im Jahrb. d. Preuß. Geolog. Landesanstalt Bd. XXXVII, Teil II, Heft 2. 1918. Der Untere Culm des Oberharzes (Borberg- gebiet) wird in die liegende Culmkieselschieferserie (57 — 60 m) und die hangende Posidonienschiefer- serie (52—55 m), der Obere Culm in die Culm- grauwackenserie (über 200 m) gegliedert. Der Culmkieselschiefer zerfällt von unten nach oben in die schwarze Lydit- und die bunte Adinolstufe (zusammen 45 m) sowie in die schwarzen Steiger- talschichten ( 12— 15 m). Darüber folgt, getrennt durch die Grenzkalkbänke (0,5 m), der Posidonien- schiefer, bestehend aus den schwarzen Riesberg- schichten (hangende Alaunschiefer 2,50 m), den grünlichen fossilreichen Tonschiefern der Lauten- thaler Schichten (8 — li m) und den fossilarmen Culmtonschiefern der Borbergschichten (42 m). Verglichen mit der Fauna anderer Culmgebiete zeigt die untere und mittlere Abteilung der Culm- kieselschieferserie kaum angedeuteten Etroeungt- charakter (Radiolarien, Spongien, Nautilidenkiefer, Crinoiden), die obere Abteilung der Kieselschiefer- serie sowie die untere und mittlere Abteilung der Posidonienschieferserie dagegen eine reiche Culm- fauna vom Typus der Fundorte Herborn, Hagen und Aprath. Dem Alter nach gehört sie dem Übergang vom Tournai zum Vise an, indessen sind wenig ausgeprägte Charaktere und zumeist indifferente Formen vorhanden. Die obere Ab- teilung der Posidonienschiefer, die BorbergSchichten, sowie der Obere Culm enthalten eine sporadisch auftretende arme Culmfauna von reinem Vise- charakter. Die Verteilung der Fauna zeigt viel Interes- santes. Reiche Fossilansammlungen treten sehr oft unvermittelt in artenärmerer Umgebung auf. Unerwachsene Altersstadien spielen dabei eine be- deutende Rolle. Einzelne Arten sind bald massen- haft vorhanden, bald fehlen sie völlig. Die Faunen- bestandteile einer Schichtenserie sind nicht immer autochthonen, vielmehr auch allochthonen Ur- sprunges. Bionomisch läßt sich die Fauna in Geobios, Limnobios und Halobios gliedern. Dem Geobios gehören die mehr oder minder unvollständigen Landpflanzenreste an, dem Halobios sämtliche Tierreste, während Reste des Limnobios nicht er- halten sind. Das Halobios zerfällt in: 1. Plankton: Radiolarien, Cypridina (Holo- plankton) die Jugendstadien der Cephalopoden und Zwei- schaler die pseudoplankt. Orthoceren und Goniatiten 2. Benthos: sessile Bodenbewohner wie Spon- gien, Zaphrentis, Pleurodictyum, Crinoiden, Brachiopoden und der größte Teil der Zweischaler. Vagile Bodenbewohner wie die Anneliden, ein Teil der Zweischaler und die riesigen Orthoceren und Trilobiten. 3. Nekton: Die meisten Cephalopoden und die Raubfische. Der Eindruck der Fauna ist der einer etwas eintönigen, aber häufig individuenreichen IMeeres- fauna. Durch fortschreitende Einengung und Auf- füllung ist das Culmmeer nach dem Hangenden hin immer flacher geworden. Zahlreiche gewich- tige Gründe (Kohlenreichtum, massenhaftes Vor- kommen von Landpflanzenresten, wechselvolle Gesteinsstrukturen , Gesteinsumarbeitungen) spre- chen gegen die noch manchmal vertretene Ansicht einer Tiefseebildung der radiolarienreichen Culm- gesteine. Die Kieselschiefer sind durch allmäh- liche Übergänge mit echten Flachseebildungen verknüpft. Die Steigertalschichten stehen in so Nekro- plankton N. F. XVIIT. Nr. 15 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 213 enger Beziehung zur Küste, daß man keine größere Bildungstiefe als 100 — 200 Faden anzunehmen braucht. Sehr enge Beziehungen, bis in viele Einzel- heiten hinein, bestehen trotz der beträchtlichen Entfernung mit dem Unteren Culm im Osten des Rheinischen Schiefergebirges. 6 Tafeln mit guten Abbildungen beschließen die interessante Arbeit. V. Hohenstein, Halle. Die deutschen Quecksilbervorkommen in der Rheinplalz behandelt KarlHockelsberger im „Geologen" (Nr. 23, Jahrg. 1918). Quecksilber war und ist wohl auch heute noch in bedeutenden Mengen unter den Boden- schätzen Deutschlands vorhanden. Ablagerungen von Quecksilbererzen und gediegenem Quecksilber sind in Deutschland in Zweibrücken und im Ge- biet des Donnersberges in der Rheinpfalz vor- handen. Hinter diesen Vorkommnissen treten die weniger wichtigen Vorkommen in einigen rhein- hessischen-pfälzischen Grenzorten zurück. Im 15. und i(y. Jahrhundert schon wurde in der Rheinpfalz ein blühender Quecksilberbergbau betrieben. Im 30jährigen Kriege kam der Berg- bau in der Pfalz zum Verfall und erst nach der französischen Revolution nahm man die verlasse- nen Gruben wieder auf. Frankreich konnte mit der Annektion des pfälzischen Quecksilbergebietes zufrieden sein. Ein französischer Bergingenieur schreibt im „Journal des Mines" (1799) darüber: „Von allem Gewinn , welchen die Republik aus dem Erfolg ihrer Waffen in diesen Teilen Deutschlands zu ziehen vermag, verdienen zweifellos die Queck- silbergruben größte Aufmerksamkeit. Frankreich ist nicht in der glücklichen Lage, Gruben zu be- bauen, welche dieses sowohl für die ärztliche Wissenschaft als auch für die Künste so notwen- dige Metall bergen. Ohne die Hilfsquellen, die ihr nunmehr die Berge liefern, welche die Rhein- armee unterworfen hat und aus welchen seit einer Reihe von Jahren etwa 60 000 Pfund im Jahr gewonnen werden , müßte die Republik in diesem Punkte noch lange Vasall Spaniens und Österreichs bleiben." Gediegenes oder laufendes Quecksilber kam in einzelnen Bergbauen in solchen Mengen vor, daß es den Bergleuten während der Arbeit über die Leitersprossen floß. Die meisten Gruben er- soffen, weil man die eindringenden Wassermassen mit den damals zur Verfügung stehenden Ma- schinen nicht bewältigen konnte. Die Gruben am Stahlberg bei Rockenhausen lieferten neben Quecksilber auch Silber. Auf „Erzengel" wurden vierteljährlich 2300 Pfund Quecksilber gewonnen, später l8oo Pfund, dann 1600 Pfund, im Jahre 1768 nur noch lOOO Pfund. In den Zweibrückischen Gruben wurden folgende Quecksilbermengen gefördert: im Jahre 1765 = 43000 Pfund, 1766 41 000 Pfund, 1768 = = 40000 Pfund, 1767 = 30000 Pfund. Rudolf Hundt. Tote Landschaften und der Gang der Erdge- geschichte sind Gegenstände von Untersuchungen von Wilhelm Salomon in den Sitzungs- berichten, der Heidelberger Akademie der Wissen- schaften (Jahrg. 19 18). Auch die großartigen Erscheinungen der Vor- zeit lassen sich durch die Summierung der Klein- arbeit gegenwärtiger geologischer Kräfte erklären. Viele Landschaftsformen aber finden durch jetzt in ihnen wirkende Kräfte keine Erklärung. Norddeutsch- lands Formenschatz, den er der Tätigkeit des diluvialen Inlandeises verdankt, wird durch die heute dort wirkenden Kräfte nicht weiter gebildet, son- dern verwischt und zerstört. Das Antlitz der Landschaft ist tot. Wir haben also tote Land- schaften vor uns. Solche „tote Landschaften" sind im Kraich- gau südlich von Heidelberg wasserarme oder wasser- freie Talsenken, die Felsenmeere im Odenwald, weitgehende Verrutschungen lockerer Gehänge- schuttmassen, riesiger Bergstürze in den Alpen, die als Folge glazialer Unterschneidung der Hänge zu deuten sind, die Karrenfelder von Bürgersiock und Axenstein am Vierwaldstättersee. Tot sind auch die Dünenlandschaften in der Oberrheinischen Ebene aus der Frankfurter Gegend über Darm- stadt, Friedrichsfeld und Karlsruhe. Diese Dünen konnten nur in weiten vegetationsarmen Über- schwemmungsfeldern entstehen, die im ältesten Alluvium den Rhein begleiteten. Ein großer Teil Norddeutschlands und der deutschen Mittelgebirge trägt nach Salomon die Züge fossiler Land- schaften, die ihnen in der Diluvialzeit wurden, als Eis und Schnee, stärkere Tätigkeit des Winjles und größere VVassermengen tätig waren. Die Auf- gabe des Geologen und des Geographen ist es nun, aus dem Antlitz der toten, fossilen Land- schaft die Kräfte herauszulesen, die dazu nötig waren, die Landschaftsform zu gestalten. Die alte Landschaften erzeugenden Vorgänge sind nach Salomon 's Meinung nicht immer lang- sam, schneckengleich von statten gegangen. Wenn auch keine erdumspannenden Kataklysmen im Sinne d'Orbigny's tätig waren, so haben doch lokale Katastrophen tief einschneidende Wirkungen erzielt. Dabei muß man an große Transgressionen der Meere, an Klimaänderungen au Beginn der diluvialen Eiszeit, an plötzliche Verbindungen und Abtrennungen von Meeres- und Landprovinzen denken. Salomon führt für diese lokalen Kata- strophen im Gegensatz zu den Kataklysmen von d'Orbigny den Namen „Paroxysmen" ein. Durch solche Paroxysmen wurde nicht nur bedeutsam auf Fauna und Flora eines Erdstriches gewirkt, sondern dieser selbst bekam dadurch tiefeingegrabene Züge. Durch die diluviale Ver- eisung wurde die Fauna und Flora der Tertiärs 214 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVm. Nr. 15 in Europa und Nordamerika umgewandelt, wurde den Alpen und Norddeutschland ein neues Land- schaftsgepräge gegeben. Aber auch die nicht vereist gewesenen Gebiete haben in ihren Tälern eine größere Austiefung und Verbreiterung durch größere vorhanden gewesene Wassermengen er- lebt. Die Schultmassen der Hänge wurden durch starke Solifluktion nach der Tiefe schneller be- fördert. Die Bildung von Stufenlandschaften ging in rascherem Tempo vor sich wie heute. Salomon glaubt, daß solche paroxysmatische Anschwellungen geologischer Ereignisse im großen und ganzen die Regel sind. Die Sturmfluten der Ost- und Nordsee vernichten mehr an einem Tage wie Jahre hindurch die Brandung; ihre plötzlich einsetzende Schneeschmelze, ein Wolkenbruch, ein plötzlicher Vulkanausbruch verursacht mehr wie jahrelange ruhige Tätigkeit. So lebt an Stelle der Kataklysmentheorie d'Orbigny's die Paroxysmentheorie auf. Und so kommt Salomon zu der Ansicht, daß „die Erdgeschichte keinen gleichmäßigen Gang hat, sondern sich aus großen und kleinen Paroxysmen mit dazwischenliegenden Perioden verhältnismäßig ruhiger Entwicklung zusammensetzt". Tote Land- schaften werden durch die Paroxysmen erzeugt und die zwischen den einzelnen Paroxysmen ein- geschalteten Ruhezustände erhalten sie. Rudolf Hundt. Botanik. Zur Physiologie der Zellteilung. In zwei Abhandlungen hat Haberlandt vor einigen Jahren nachgewiesen, daß in kleinen Ge- webestücken, die aus Kartoffelknollen, Stengeln von Sedum spectabile und Althaea rosea so- wie aus der Kohlrabiknolle herausgeschnitten und unter günstigen Bedingungen weiterkultiviert werden, Zellteilungen eintreten und Vernarbung (Wundkorkbildung) erfolgt, daß es aber nur dann zu solchen Teilungen kommt, wenn in den Ge- webestückchen noch ein Teil des Leitbündels vor- handen ist. Der wasserleitende Bestandteil des Bündels, das Hadrom, ist dabei ohne Einfluß; es kommt nur auf die Anwesenheit des eiweiß- leitenden Bestandteils, des Leptoms, an, das an- scheinend einen die Zellteilung beeinflussenden Reizstoff ausscheidet. (Vgl. ^aturw. Wochenschr. 1913, S. 443 und 1915, S. 189.) In der zweiten dieser Arbeiten war bereits auf Kulturversuche hingewiesen worden, die Wilhelm Lamprecht auf Anregung des Verfassers mit dem gleichen Ziele und entsprechendem Ergebnisse an Laub- blattstückchen von Bryophyllum- und Peperomia- Arten ausgeführt hatte. Die ausführliche Dar- stellung dieser Untersuchungen ist wegen der Teilnahme des Autors am Kriege erst jetzt er- schienen (Beiträge zur A.llgemeinen Botanik I, S. 353 — 398). Man ersieht daraus, daß außer Bryophyllum calycinum und crenatum noch meh- rere andere Crassulaceen als Versuchsobjekte dienten. Als besonders geeignet erwiesen sich Kalanchoe glandulosa, Crassula falcata und C. per- foliata. Von Peperomia-Arten wurden P. incana, P. marmorata, P. amplexicaulis und P. magnoliae- folia verwendet. Außer den in dem früheren Be- richte (191 5, S. 190) gekennzeichneten Versuchen mit ausgeschnittenen, in Petrischalen kultivierten Blattstückchen führte Lamprecht auch Trans- plantationsversuche an ganzen Pflanzen aus, indem er kleine Lamellen ohne Gefäßbündel von der Ober- oder Unterseite entweder eines einzigen Blattes abtrug und gleich wieder auf dieselbe Stelle legte (Replantation) oder (in gleicher Größe und Form) von zwei Blättern derselben Pflanze oder von zwei Pflanzen derselben Art oder von zwei Pflanzen verschiedener Art miteinander ver- tauschte (autoplastische — homoioplastische — heteroplastische Transplantation}. Die Ränder des Transplantats wurden mit verschiedenen Mitteln abgedichtet, um die Verdunstung des aus- getretenen Zellsaftes und das Eindringen von Parasiten zu verhindern. Mit Ausnahme der heteroplastischen Transplantationen, die nur bei Überpflanzungen der beiden Bryophyllum- Arten auf die ihnen äußerst nahe verwandte Kalanchoe glan- dulosa (und umgekehrt) gelangen (also in einem Grenzfall zwischen heteroplastischer und homoio- plastischer Transplantation), führten diese Versuche in beträchtlicher Zahl zu positiven Ergebnissen. Es bildete sich nicht nur in der Unterlage Ver- narbungsgewebe, sondern auch in dem über- pflanzten, gefäßbündelfreien Blattstück traten unter dem Einfluß der bündelhaltigen Unterlage Zell- teilungen aul. In einigen Fällen, namentlich bei Crassula falcata, ließ sich ein besserer Erfolg da feststellen, wo die Wundfläche der Leptomseite der Gefäßbündel zugekehrt war, nämlich an der morphologischen Unterseite der Blätter. Eine entsprechende Beobachtung wurde bei den Kultur- versuchen mit isolierten Blaitstückchen gemacht. Die Gesamtheit der Versuchsergebnisse steht da- her im Einklang mit der Annahme Haber- land ts, daß die Zellteilungen durch das Zu- sammenwirken des Wundreizes und eines in den Gefäßbündeln, wahrscheinlich dem Leptom, ge- bildeten Reizstoffes ermöglicht werden. Der positive Erfolg der homoioplastischen Transplan- tationen zeigt, daß der Reizstoff nicht für jede Art spezifisch, sondern auch zwischen verwandten Arten wirksam, dagegen zwischen Arten ver- schiedener Gattungen in der Regel ohne Einfluß ist. F. Moewes. N. F. XVni. Nr. 15 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 315 Bücherbesprechungen. Der Flug der Insekten und Vögel, eine Gegen- überstellung von Prof. Reinhard Demoll. Mit 5 Tafeln und 18 Abbildungen im Text. Jena 1918, Verlag von G. Fischer. — Preis brosch. 4,50 M. Demoll teilt die Insekten und Vögel nach ihrer Flugweise in zwei große Gruppen ein, in Drachenflieger und Hubflieger. Als Drachenflug bezeichnet er eine Bewegung, bei der das Primäre die Vorwätsbewegung, das Sekundäre die Hub- bewegunjj ist. Segelflug und Gleitflug sind nur Phasen dieser Flugart. Beim Hubflug ist das Primäre das Heben, das Sekundäre die Fortbe- wegung. Diese Art wurde bisher als Ruderflug bezeichnet. Er wird hauptsächlich von den Schrauben- und Schwirrfliegern ausgeführt. Der Zweck des Buches ist, beide Flugarten in ihren Eigentümlichkeiten zu erörtern und in ihren Vor- teilen und Nachteilen miteinander zu vergleichen. Die Insekten sind zum Drachenflug, wie ihn die großen Vögel ausführen, ungeeignet, weil sie eine nur relativ kleine Geschwindigkeit erreichen können und weil ihr Beharrungsvermögen zu ge- ring ist. Dazu kommt noch der Umstand, daß den meisten Insekten gewölbte Flügel fehlen, und daß sie wegen ihres weit zurückliegenden Körper- schwerpunktes nicht imstande sind, sich longitu- dinal mechanisch stabil zu erhalten. Umgekehrt ist der Hubflug für die Insekten weniger unrationell als für die Vögel, einmal weil der Hubflug weniger Arbeit erfordert — so sonderbar es klingen mag — als der Drachenflug und dann weil der Insekten- flügel relativ groß und lang ist. Demnach läßt sich der Unterschied zwischen Insekt und Vogel im allgemeinen folgendermaßen ausdrücken : Der segelnde Vogel liegt auf der Luft, das Insekt hängt in der Luft. Da bei dem Insekt die Vorwärtsbewegung auf Kosten der Hebewirkung geht, beim Vogel aber erst durch die Vorwärtsbewegung eine Hebewirkung erzielt wird, so erfordert das Fliegen des Insektes an Ort, das des Vogels von Ort den geringeren Kraftaufwand. 1 Dies ist das Wesentliche der inhaltsreichen Untersuchung, in der neben anderen Fragen auch auf die Art des Zustromes und Abstromes der Luft bei der Bewegung der Flügel und auf die Bedeutung des Schwanzanhanges der Papilioniden eingegangen wird. Eine Reihe von Tabellen und gelungenen photographischen Aufnahmen von Versuchen erläutern den Text. Der Ref. kann sich allerdings nicht mit allen Ausführungen ein- verstanden erklären, da bisher verschiedene Autoren auf Grund anatomisch physiologischer und ver- gleichend-morphologischer Untersuchungen zu ab- weichenden Ergebnissen gelangt sind. Das außer- ordentlich schwierige Problem des Insekten- und Vogelfluges läßt sich nicht allein vom ärodyna- mischen und mechanischen Standpunkt aus er- fassen. So dürfte die Ansicht von der Bedeutung der Käferdeckflügel als physiologisch voll wirk- same Flügel sich als nicht haUbar erweisen. (Siehe u.a. diese Zehschrift 1914, S. 97.) Jedenfalls aber bedeutet die Abhandlung nach der angedeuteten Richtung einen wichtigen Fortschritt der Er- kenntnis. Dr. Stellwaag. Brehms Tierbilder. Zweiter Teil: Die Vögel. 60 farbige Tafeln aus Brehms Tierleben von Wilhelm Kuhnert und Walter Henbach. Mit Text von Dr. Victor Franz. Verlag des Bibliographischen Instituts in Leipzig und Wien. 1914. In Leinenmappe 12 M. ■ Das reiche Material an farbigen Tierbildern, die für die neue Auflage von B r e h m s Tierleben hergestellt worden sind, wird durch das vorliegende Mappenwerk auch den Kreisen zugänglich gemacht, denen die Anschaffung des immerhin kostspieligen Werkes zu teuer ist. Die Tafeln eignen sich auch ganz vorzüglich als Anschauungsmaterial für den zoologischen Unterricht. Über die Qualität der von Kuhnerts Meisterhand gemalten Bilder auch nur ein Wort zu verlieren, hieße Eulen nach Athen tragen. Die deutsche Fauna ist aufs reichhaltigste vertreten, es fehlt eigentlich kein allgemein be- kannter deutscher Vogel. Der von V. Franz ab- gefaßte erläuternde Text bringt kurze Bemerkungen zur Systematik und Biologie der einzelnen Arten in Anlehnung an Brehms Tierleben, aber auch eigene Hinweise auf die Bedeutung der darge- stellten Vögel, sei es für unser praktisches Leben oder für unser ästhetisches Empfinden. Die äußere Ausstattung des Werkes lassen es vorzüglich ge- eignet erscheinen als Geschenkgabe für die Jugend und jeden Ornithologen. Ferd. Müller. J. Stoller, Geologischer Führer durch die Lüneburger Heide. 168 S. mit 8 Karten und 38 Textfig. (Geol. Wanderungen durch Niedersachsen u. angrenz. Gebiete. Herausg. v. Schöndorf. L Band.) Braunschweig 1918., Vieweg u. Sohn, geb. 6,70 M. Auch der Lüneburger Heide fehlt es nicht an geologischer Mannigfaltigkeit. Finden sich doch neben dem überall vorwaltenden Diluvium und Alluvium bei Lüneburg selbst Perm, Trias, Kreide und Tertiär. Salzlager und Ölvorkommen, Kiesel- gur und Torfe sichern dem behandelten Gebiete auch die Aufmerksamkeit vorwiegend praktisch interessierter Freunde der Geologie. Ohne Voraussetzung irgendwelcher Vorkennt- nisse wird in klarer Anordnung die immer wieder erstaunliche Vielseitigkeit der eiszeitlichen Bildungen sowie das Wissenswerteste über das vordiluviale Grundgebirge dargelegt. Dabei hält sich der erste Teil an Lüneburg und seine weitere Umgebung, ein zweiter greift aus der bunten Fülle in wohl- bedachter Auswahl einige Sehenswürdigkeiten des Gesamtgebiets heraus. Auch der Naturschutzpark mit dem 162 m hohen Wilseder Berg als Kern 2l6 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVni. Nr. IS und einem geplanten Areal von 150 qkm, sowie die Funde und Spuren des eiszeitlichen IVIenschen erfahren hinreichende Würdigung, um der Natur neue Freunde zu gewinnen, bewährte weiterhin anzuregen. Die Ausstattung des Werkes ist sorg- sam durch Verfasser wie Verlag besorgt worden. Eine kleine geologische Übersichtskarte vervoll- ständigt in dankenswerter Weise die Ausführungen. E. Hennig. A. Heilborn, Der Mensch der Urzeit. Aus Natur und Geisteswelt, Nr. 62. Teubner, Leipzig. Daß schon eine dritte Auflage des kleinen Kompendiums, das in kurzen Übersichten die Ent- wicklungsgeschichte des JVlenschengeschlechtes be- handelt, nötig geworden ist, beweist das große Interesse, das weite Kreise an dieser Frage haben. Der Verf. ist auch mit seinem Stoff wohl ver- traut und berücksichtigt die neuesten Forschungen und Arbeiten bis in das Jahr 191 8 hinein. Zu bedauern ist nur, daß die doch vielfach mit Recht angefochtenen Anschauungen des verstorbenen Kiaatsch in zu positiver Darstellung erscheinen und daß auch dem Micoquien Hausers gegen- über die entgegenstehenden Argumente nicht ge- würdigt werden. So kommt es zu gelegentlichen Widersprüchen. Der Verf. hebt z. B. selbst aus- drücklich hervor, daß wir über die Gesichtsweich- teile des Neandertalmenschen nichts Sicheres wissen, aber auf derselben Seite schreibt er ihm rundliche, aus den Augenhöhlen hervorquellende Augen, dünne Lippen und eine hohe, breitfiügelige Nase mit nach vorn schauenden Nüstern zu. Auch Hypothesen , wie diejenige einer genetischen Be- ziehung derCroMagnon-Rasse zu den Lappländern, bedürfen entweder einer eingehenden Begründung, oder sie bleiben besser weg. Ich meine, daß man auch in populären Darstellungen in diesen Dingen mehr Zurückhaltung üben sollte. Auch Schwalbes Anschauungen, die heute wohl von der Mehrzahl der Anthropologen geteilt werden, kommen zwischendurch zur Darstellung, was dem kleinen Buch sehr zum Vorteil gereicht. Überhaupt muß gesagt werden, daß der schon recht umfangreich gewordene Stoff geschickt und knapp zusammen- gefaßt ist, so daß man trotz der oben geäußerten Bedenken dieses Bändchen der so verdienstvollen Sammlung als eine gute Einführung in die Anthro- pogenese empfehlen kann. R. Martin, Anregungen und Antworten. Massenversammlungen von Marienkäfern in Ostsibirien. In Nr. 2 dieses Jahrgangs berichtete Machtsheim über Massenversammlungen von Marienkäfern in Mazedonien und regte zu weiteren Berichten hierüber an. Ich machte in Ost- sibirien eine ganz ähnliche Beobachtung. Ich war in russi- scher Kriegsgefangenschaft im fernsten Ostasien in Krasnaja Rjetschka. Dieses Lager liegt unweit vom Ussuristrom, 15 km oberhalb seiner Mündung in den Amur bei Chabarowsk auf ca. 48*20' n. Br. Während des Sommers 1916 waren nur ganz vereinzelt Marienkäfer in unserm Lager, Anfang Oktober waren aber eines Morgens ganz plötzlich sehr viele Tausende von Marienkäfern vorhanden und zwar fast ausschließlich an den Wänden unserer 2 — 3 stöckigen Rohziegelkasernen, die förmlich tapeziert mit den Käfern erschienen vom Erdboden bis in die Höhe des I. Stockwerks, höher hinauf weniger massenhaft. An den 4 m hohen Bretterzäunen safien nur wenige, an Bäumen und Gebüschen keine. Die Tiere saSen oder liefen einzeln, nur hier und da in Copula; zur Trauben- bildung kam es nicht. In den schon ziemlich kalten Nächten und den kühlen Morgen- und Abendstunden sammelten sich die Käfer am Fufie der Gebäude, um in den wärmeren Mittags- stunden in der Sonne wieder aufwärts zu wandern. Diese Erscheinung hielt etwa 3 Tage in dieser Massenhaftigkeit an, dann nahm die Zahl der Tiere rasch ab, und nach ca. 8 Tagen waren nur noch vereinzelt welche anzutreffen. Unsere Kasernen lagen am Räude einer etwa 25 m über den Ussuri sich erhebenden, spärlich bewaldeten Hochfläche, etwa 2 km entfernt von dem hier fast 2 km breiten Strome, hatten also für die anfliegenden Marienkäfer eine ähnliche Lage wie ein niedriger Berggipfel. In dem unmittelbar am Ussuri, also ganz flach gelegenen Mannschaftslager in Nikolo- Alexandrowka, wo ich täglich zu tun hatte, waren in dieser Zeit nur ganz vereinzelte Coccinellen anzutreffen wie während des ganzen Sommers. Somit besteht eine Parallele mit dem Massenauftreten bei Üsküb. Entgegen der von Nachtsheim mitgeteilten Be- obachtung handelt es sich aber um mehrere Arten, ja Gattun- gen von Coccinelliden vermischt. Die Färbung war vorwiegend rotbraun mit 2 — 11 schwarzen Punkten, seltner ockergelb mit weißen Punkten und schwarz mit roten Punkten, also handelt es sich um Coccinella-, Halyzia- und Exochomus-Arten. Ich hatte viele gesammelt, doch war es mir bei meinem Austausch leider nicht möglich meine Insektensammlung über die Grenze zu retten, so daß ich keine genauen Artangaben machen kann. Nach Angabe von Kameraden wurde Anfang Oktober 1915 dort genau das gleiche Massenauftreten beobachtet. Dr. K. Büttner-Zwickau. Literatur. W i 1 h e 1 m i , Prof. Dr. J., Die angewandte Zoologie als wissenschafilicher, medizinischer, hygienischer und kultureller Faktor. Berlin 1919, J. Springer. 5 M. Illliall: P. Stark, Das Rcsultantengesetz in der Pflanzenphysiologie. (7 Abb.) S. 201. — Einzelberichte: Andre Pie- dallu. Das Auswerfen von Pflanzlöchern für Bäume durch die Anwendung von Explosionen in der Erde. S. 208. M. Ch. J. Gravier, Bau der Fußscheibe gewisser Aktinien aus großen Meerestiefen. S. 20S. Johannes Pause, Larre von Chironomus gregarius. S. 209. Bretscher, Die Abhängigkeit des Vogeszugs von der Witterung. S. 210. Nöller, Räude. S. 211. F. Erichsen, Ein neues Naturschutzgebiet. S. 2ii. J. Weigelt, Die Gliederung und die Faunenverteilung im Unteren Culm des Oberharzes. S. 212. Karl H o ckelsb erger, Die deutschen Quecksilber- vorkommen in der Rheinpfalz. S. 213. Wilhelm Salomon, Tote Landschaften und der Gang der Erdgeschichte. S. 213. W. Lamprecht, Zur Physiologie der Zellteilung. S. 214. — Bücherbesprechungen: Demoll, Der Flug der Insekten und Vögel. S. 215. Brchms Tierbilder. S. 215. J. Stoller, Geologischer Führer durch die Lüneburger Heide. S. 215. A. Heilborn, Der Mensch der Urzeit. S. 216. — Anregungen und Antwrorten : Massenversamm- lungen von Marienkäfern in Ostsibirien. S. 2 16. — Literatur: Liste. S. 216. Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Mi ehe, Berlin N 4, Invalidenstrafie 42, erbeten. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue Folge j8. Band; der ganzen Reihe ^4. Band. Sonntag, den 20. April 191g. Nummer 1<» Die Rekonstruktion von Mastodon angustidens Cuv. Von O. Abel. [Nachdruck verboten.] Mit 3 Abbildungen. In der Nummer 49 dieser Zeitschrift vom oder des afrikanischen Elefanten beeinflußt worden.^) 8. Dezember 1918 hat Prof. Dr. G. Schlesinger') Man hat auf Grundlage dieser Vorstellungen bei Bezug auf meine in einer Sitzung der k. k. Zoo- der Montierung verschiedener fossiler Rüsseltier- logisch-Botanischen Gesellschaft in Wien im Vor- skelette, z. B. von Mastodon angustidens aus dem jähre vorgelegte Rekonstruktion des Skelettes und Miozän von Seissans bei Simorre, Frankreich (im ein rekonstruiertes Vollbild dieser Art genommen. Jardin des Plantes in Paris),') von Mastodon ar- Obwohl die Veröffentlichung dieser beiden Bilder vernensis aus dem oberen Pliozän von Cinaglio meinem im Verlage von G. Fischer demnächst in Oberitalien (im geologischen Museum von erscheinenden (im Manuskripte im Juni 191 8 ab- Bologna)/) von Mastodon americanus aus dem geschlossenen) Buche „Lebensbilder aus der Tier- Plistozän von Newburgh, N. Y. in Nordamerika weit der Vorzeit" vorbehalten war, so sehe ich (im American Museum of Natural History in New mich doch veranlaßt, diese beiden Rekonstruktionen York),'') von Dinotherium bavaricum aus dem vorher zu veröffentlichen, da sie von Prof. Dr. G. Miozän von Franzensbad in Böhmen (im k. k. Schlesinger schon jetzt in seiner oben zitier- Naturhistorischen Hofmuseum in Wien),"") von ten Kritik Erwähnung fanden. Ich möchte nur Elephas primigenius Fraasi aus pleistozänen Schot- betonen, daß ich gelegentlich der Vorlage der tern von Steinheim a. d. Murr in Württemberg (im beiden Rekonstruktionen wie schon bei verschie- Kgl. Naturalienkabinett in Stuttgart),") von Elephas denen früheren Gelegenheiten hervorgehoben habe, primigenius aus dem Eise an derKolyma-Beresowka daß das Stärkeverhältnis von Ulna und Radius, in Sibirien (in St. Petersburg) ') Fehler begangen, wie es sich nicht nur bei den Proboscidiern, sondern die in einzelnen der genannten Fälle sehr be- auch z. B. bei den Amblypoden findet, mit der trächtlich sind. Diese Irrtümer bestehen in erster „Überknöchelung" des Ellbogengelenkes nach Linie in der fehlerhaften Stellung der Gliedmaßen vorne in ursächlichem Zusammenhange steht. I. Allgemeine Grundsätze für die Rekonstruktion fossiler Proboscidier. Die Rekonstruktionen der verschiedenen fos- silen Proboscidier (Moeritherium, Palaeomastodon, Mastodon, Dinotherium, usw.) haben sich bisher am Rumpfe,^) namentlich aber in der ganz unrichtigen Stellung der Gliedmaßenabschnitte Oberarm — Unterarm sowie Oberschenkel — Unter- schenkel zueinander. Ein Vergleich der beiden Skelettmontagen zweier Mammutskelette (in Stutt- gart und in St. Petersburg) muß wohl auch in jedem Laien das Gefühl erwecken, daß diese bei- den Skelettrekonstruktionen ein ganz unmögliches mehr oder weniger an das Habitusbild der beiden ^-^^ ^^^ ^^^ Körperhaltung des Tieres erwecken lebenden Elefantenarten gehalten. Man ist in Dieselben Fehler der Aufstellung sind aber auch dieser Hinsicht vielfach zu weit gegangen, so daß z. B. die früheren Rekonstruktionen des Mammuts zu einer ganz falschen Vorstellung von dem Aus- sehen dieses fossilen Proboscidiers führten, bis ich den Nachweis zu erbringen versuchte, daß die Mammutzeichnungen des Urmenschen am ehesten dem Bilde von dem Aussehen und der Haltung des Mammuts entsprechen, das wir uns auf Grund genaueren Studiums der Skelettelemente zu bilden vermochten.-) Ebenso ist auch die Rekonstruk- tion der Mastodonten, namentlich die des Mastodon angustidens, in früherer Zeit durch eine über- triebene Anlehnung an den Typus des indischen '} G. Schlesinger, Ein Wort zu O. Dietrich 's Kritik meiner Mastodonrekonstruktion. — Naturw. Wochen- schrift, N. F. XVlI. Bd., 8. Dez. 1918, Nr. 49, p. 704. ') O.Abel, Neue Rekonstruktion des Mammut nach den Zeichnungen des Eiszeitmenschen. Verhandl. d. k. k. Zool. Bot. Ges. in Wien, LXlV. Bd. Wien 1<)H, P- (21)— (3°)- Reproduziert in ; O.Abel, Die vorzeitlichen Säugetiere. Jena, bei G. Fischer 1914, p. 208. ') Man vgl. z. B. das Bild von Mastodon angustidens bei 0. Fraas, Vor der Sündflut! (Stuttgart 1866, p. 375). -) A. Gaudry, Les Enchainements du Monde animal. — Paris (Mammiferes tertiaires), l'aris 1878, p. 171. ') G. CapeUini, Maslodonli del Museo Geologico di Bologna. — • Mem. R. Accad. delle Scienze dell' Istituto di Bologna, (6), T. V., 190S, Tav. II. *) W.D.Matthew, Mammoths and Mastodon. • — Amer. Mus. Nat. Hist., New York, Nr. 43 of the Guide Leaflet Series, Nov. 1915, Frontispiece. •') E. Kittl, Das Dinotheriumskelett von Franzensbad im k. k. naturhistorischen Hofmuseuni. — ,, Urania", Wien 190S, 1. Jahrg., p. I. '') W. O. Dietrich, Elephas primigenius Fraasi, eine schwäbische Mammutrasse. — Jahreshefte d. Vereins f. vaterl. Naturkunde in Württemberg, 1912, 68. Bd., p. 42 — 106, Taf. I. ") W. Saiensky, Osteologie und Odontographie des Mammuts usw. (in russischer Sprache). — St. Petersburg 1903, Taf. XXIV. '') Man vergleiche z. B. die Rekonstruktionsbilder bei W. O. Dietrich (Vorderbeine zu weit nach hinten gescho- ben) und W. Saiensky (Vorderbeine zu weit nach vorne geschoben). 2l8 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. i6 bei den meisten rezenten, in den Museen mon- tierten Elefantenskeletten zu beobachten. Sie sind unschwer daraus zu erklären, daß die für eine Montage von Elefantenskeletten notwendigen Habitus- und Bewegungsstudien an lebenden Tieren vernachlässigt wurden, obwohl doch in jedem größeren Tiergarten Gelegenheit zu diesen Beobachtungen vorhanden ist. Betrachtet man einen indischen Elefanten (Abb. i) in den verschiedenen Phasen seines Ganges, so wird dem aufmerksamen Beobachter auch ohne Zuhilfenahme der die einzelnen Phasen festhaltenden Momentphotographie nicht entgehen, daß der Oberarm mit dem Unterarm einen nach vorne offenen Winkel bildet, wenn die Extremität vom Boden gehoben wird, daß sie sich dann nach vorne streckt und daß beim Vorschieben des Körpers in dem Momente der stärksten Lastbe- anspruchung des Armes beide Hauptabschnitte desselben fast dieselbe Achse besitzen. Dann aber tritt mit einem plötzlichen Ruck eine Verschiebung des distalen Humerus- gelenkes nach vorne ein, so daß die Achse des Oberarmes nicht mehr mit der des Unter- armes zusammenfällt, sondern nunmehr schräge von oben hinten nach unten vorne verläuft, so daß in diesem Abschnitte oder vielmehr am Ab- schluße der Schrittbewegung und im Zustande ruhigen Stehens Oberarm und Unterarm einen nach hinten offenen Winkel mit- einander einschließen.*) Dieses ruckartige Nachvornegleiten des distalen Humerusgelenks im Elefantenarm ist die Folge des Anstoßens der Hinterseite des unteren Hu merusendes an dasOlecranon ulnae. Sowohl am distalen Humerusgelenk wie an der korrespondierenden Gelenkfläche der Ulna sind medial und lateral je eine Schliffläche ") zu beobachten, die durch das bei jedem Schrittab- schlusse eintretende Vorgleiten des distalen Hu- merusendes entstanden sind. Das Ellbogen- gelenk des Elefanten befindet sich also bei ruhigem Stehen im Zustande einer leichten Luxation. Beim ruhigen Stehen sind beide Arme in der geschilderten Weise im Ellbogengelenk leicht luxiert und zwar ist diese für den Elefantenarm so überaus bezeichnende Knickung bei jungen Tieren stärker als bei alten. Schreitet das Tier wieder vorwärts, so bleibt ein Arm in der luxierten Stellung, während der andere nach vorne gehoben und der Unterarm gegen den Oberarm eingebogen wird. ') Diese Stellung ist nicht nur an lebenden Elefanten zu beobachten (meine Untersuchungen betrefien insbesondere die in der k. k. Menagerie zu Schönbrunn befindlichen Exemplare, vor allem die in Abb. I abgebildete ,,Mizzi") , sondern auch an zahlreichen photographischen Aufnahmen von Elefanten in Standstellung. '') Ich habe dieselben an einem Skelette im Besitze des anatomischen Museums der Wiener Universität, das mir Kol- lege J.Tand 1er freundliclist zur Untersuchung zur Verfügung stellte, einwandfrei leststcllen können. Will man das Skelett eines indischen Elefanten im Stehen montieren, so müssen dement- sprechend beide Ellbogengelenke in luxierter Stellung festgehalten werden. Soll das Skelett im Schreit en dargestellt w erd en, so hat ein Arm mit luxiertem Ellbogengelenk, der andere mit nach vorne gehobenem Unterarm montiert zu werden. Wie unnatürlich die Armstellung bei montier- ten Elefantenskeletten zu sein pflegt, geht erst mit voller Deutlichkeit hervor, wenn man ein der- artiges, schablonenhaft montiertes Skelett von der Seite photographiert und dann das Skelett „anzuziehen" versucht. Es wird sich dann immer herausstellen, daß dabei niemals die Umrißlinien eines lebenden Elefanten erzielt werden können und daß die auf diese Weise versuchte Rekonstruk- tion den unvermeidlichen Eindruck einer verzerrten Karikatur des lebenden Tieres hervorruft. Die Gründe für die fehlerhafte Montage der Arme rezenter und fossiler Elefantenskelette liegen in dem Bestreben der Präparatoren, das distale Humerusgelenk mit dem proximalen Unterarm- gelenk möglichst genau zur Deckung zu bringen. Die Beobachtungen der Armhaltung bei lebenden Elefanten lehren jedoch, daß das distale Humeriis- gelenk im Zustande des ruhigen Stehens nur zu einem kleinen Teile mit den Unterarmknochen artikuliert und daß sich der größere Teil der Gelenkrolle außer Kontakt mit den Unterarmknochen befindet. Genau das Gleiche wie für den Arm gilt aber auch für den Hinterfuß des indischen Elefanten. Hier wird das Kniegelenk gleichfalls im Momente stärkster Lastbeanspruchung luxiert, aber nicht wie im Ellbogengelenk nach vorne, sondern nach hinten ausgebogen, wobei die Achse des Femurs von oben vorne nach unten hinten, aber nur mit geringer Abweichung von der Hauptachse des Hinterfußes verläuft. Für die Schrittstellung gilt dasselbe wie beim Arm: ein Fuß bleibt in luxier- ter Kniegelenkstellung, während der andere im Kniegelenk gebogen und nach vorne gehoben wird. Der Winkel zwischen dem ge- hobenen Ober- und Unterschenkel ist aber nicht nach vorne, sondern nach hinten geöffnet. Diese sehr eigentümliche und unter den leben- den Tieren allein bei den Elefanten zu beobach- tende Säulenstellung der Gliedmaßen mit leichter Luxation des Ellbogen- und Kniegelenkes steht mit der Verstärkung der Ulna, die unter den lebenden Huftieren nur bei den Elefanten stärker ist als der Radius, in ursächlichem Zu- sammenhang. Der Hauptdruck läuft eben im Unterarm nicht durch den Radius, sondern durch die Ulna. Im Hinterfuß hat dagegen die Tibia ihre Rolle als Hauptelement des Unterschenkels beibehalten. Beim afrikanischen Elefanten sind die Verhält- nisse der Gliedmaßen im Großen und Ganzen dieselben wie beim indischen Elefanten, doch N. F. XVIII. Nr. i6 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 219 kann man namentlich an jugendlichen, frisch ge- fangenen Exemplaren eine sehr starke Luxation im Ellbogengelenk beobachten, während der Hinterfuß in gewissen Stellungen beim ruhigen Stehen entweder im Kniegelenk luxiert oder ge- beugt ist. Daß eine Beugung des Kniegelenks beim afrikanischen Elefanten in der Standstellung verhältnismäßig häufiger vorzukommen scheint als beim indischen Elefanten, scheint mir durch eine steilere Beckenstellung im Zusammenhang mit dem sogenannten „Karpfenrücken", wie ihn z.B. Heck nennt, bedingt zu sein. Die Profillinie des Rückens ist im hinteren Abschnitte des Rückens stark ge- bogen. Ob und inwieweit sich diese stäikere Biegung der Wirbelsäule in den Verhältnissen der Wirbelgelenke usw. nachweisen läßt, ist bis- her noch nicht näher untersucht worden. Zweifel- los ist der afrikanische Elefant, wie L. Heck vor kurzem hervorgehoben hat,^j in seinem Gesamt- habitus sehr bestimmt vom indischen Elefanten verschieden. Ganz abgesehen von der Flachheit des Schädeldaches, der raschen Verschmälerungdes Rüssels, den gewaltigen Ohren, dem schwächeren Unterkiefer, der meist angelegten und nicht hängen- den Unterlippe usw. unterscheidet sich der afri- kanische vom indischen Elefanten namentlich durch den kürzeren, höher gestellten Leib, die schlankeren Beine, die schmälere Brust, das stark gewölbte Rückenprofil und dünnere Unterschenkel. Trotz dieser ziemlich auffälligen Habitusunter- schiede ist jedoch der morphologische Bau der Gliedmaßen in den Hauptzügen derselbe. Daß sich die „Säulenstellung" des Armes mit dem durch die Ulna laufenden Hauptdruck auch in der Morphologie des Carpus geltend machen muß, ist selbstverständlich. Als Folge der steilen Armstellung ist zunächst die Verschiebung der Handwurzelknochen anzusehen, welche beim leben- den Elefanten aus der „alternierenden" Stel- lung der Vorfahren in die „seriale" Anordnung übergegangen sind. ') Die seriale Reihung der Carpalknochen wurde in früherer Zeit als ein primitives Merkmal der Proboscidier betrachtet. Schon A. Weithof er hat jedoch die seriale An- ordnung der Carpalia von Elephas als eine sekun- däre Erscheinung erkannt ■') und dies ist durch die neuerlichen Untersuchungen vonM.Sc h 1 oss e r *) und G. Schlesinger^) bestätigt worden, ob- ') L. H e c k , Rüsseltiere. — In Brehm's Tierleben, 4. Aufl., Xn. Bd., 191 5, p. 530. ^) Unter dem „alternierenden" Typus des Carpus versteht man die z. B. für die Paarhufer bezeichnende Anordnung der Carpalknochen, wobei sich das Intermedium zwischen das Unciforme und Magnum einkeilt, während beim „serialen" Typus der Handwurzel das Intermedium genau über dem Magnum zu liegen kommt (O. Abel, Grundzüge der Paläo- biologie der Wirbeltiere, 1912, p. 241 — 242). ') A. Weithofer, Die fossilen Proboscidier des Arno- tales in Toscana. — Beiträge z. Paläont. u. Geol. Öst.-Ung. u. d. Orients, VIII. Bd., Wien 1891, p. 219. '') M. Schlosser, Beiträge zur Kenntnis der oligozänen Landsäugetiere aus dem Fayum (Ägypten). — Ibidem, XXIV. Bd., Wien 1911, p. 137. ^') G.Schlesinger, Studien über die Stammesgeschichte gleich kurz vor dem Erscheinen der beiden letzt- genannten Arbeiten von F. B a c h ^) die Meinung vertreten wurde, daß der Carpus der Proboscidier aus dem serialen Urzustand des Ungulatencarpus zuerst in den alternierenden und dann neuer- dings in den serialen übergegangen sei. Für die Ableitung des alternierenden Carpus der älte- sten Proboscidier von einem serialen liegen in- dessen keine überzeugenden Beweisgründe vor. Mit dem Carpus treten bei den Proboscidiern ausnahmslos fünf Metacarpalia in Gelenkverbindung, deren obere Gelenkflächen derart aneinander- schließen, daß der Metacarpus in Gestalt eines Kegelstumpfes den Sockel des Carpus bildet. Die Metacarpalia tragen an ihrem distalen Ende und an ihrer Hinterseite stark entwickelte Sesambeine; an die sehr steil stehenden Metacarpalien schließen sich die stark verkürzten Phalangen an und zwar ist die Hufphalange in allen Fingern hochgradig rudimentär. Die Hand ist ausgesprochen d i g i t i - g r a d , d. h. das Distalende der Metacarpalia steht relativ hoch über der Sohlenfläche der Hand, die kreisrund umgrenzt erscheint. Der plumpe Ein- druck, den die Elefantenhand dem Beschauer ge- währt, wird bekanntlich durch die Ausbildung eines mächtigen, elastischen Polsters aus Bindegewebe bewirkt, der den lautlosen und weichen Gang der Elefanten bedingt. Wenn wir bei einer fossilen Proboscidiertype im Zweifel darüber sind, ob der Arm in derselben Weise wie bei den lebenden Proboscidiern funk- tionierte und dieselbe Stellung beim Schreiten und Stehen besaß, wird uns eine Prüfung der Verhältnisse des l^nterarms, des Carpus und der Hand aufklären können. Bei Mastodon angustidens ist die Ulna be- reits bedeutend verstärkt und zeigt so- mit in unverkennbarer Weise dieFolge- erscheinung des „Säulengange s". Bei Palaeomastodon ist sie leider bis jetzt unbekannt. Der Carpus ist dagegen sowohl von Mastodon angustidens ^) wie von Palaeomastodon spec. ^) vollständig bekannt. F. Bach, M. Schlosser und G.Schlesinger') haben über die Verhält- nisse der Carpalia zueinander und über die phylo- genetischen Veränderungen des Carpus bei den Mastodonten berichtet. Ich will hier nur kurz hervorheben, daß bei Paläomastodon das Inter- medium noch über einen großen Teil der proxi- malen Gelenkfläche des Carpale II. hinübergreift und daß diese Lagebeziehungen auch bei Masto- don angustidens noch dieselben sind. Dies ist im Vergfleiche zu den Lagebeziehungen zwischen den der Proboscidier. — Jahrbuch d. k. k. Geol. Reichsanstalt in Wien, 62. Bd., 1912, p. 113 — 128. ') F. Bach, Mastodonreste aus der Steiermark. — Bei- träge zur Pal. u. Geol. usw., Wien, XXIII. Bd., 1910, p. 102. 2) F. Bach, 1. c, Taf. IX, Abb. 1—5, p. 98—102; G. Schlesinger, 1. c, p. 118. 5) M. Schlosser, 1. c, Taf. XVI, Fig. 9, p. 136. *) G.Schlesinger, Die Mastodonten des k. k. Natur- historischen Hofmuseuras. — Denkschriften d. k. k. Naturhist. Hofmus. in Wien, I. Bd., Wien 191 7, p. 43. 220 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. i6 Carpalia des Elefanten als ein primitives Verhalten anzusehen. Die Art der Gelenkverbindung zwi- schen der distalen Carpalreihe und dem Metacarpus bei Mastodon angustidens und Palaeomastodon unterscheidet sich dagegen nur in unbedeutender Hinsicht von den entsprechenden Verhältnissen in der Elefantenhand. VVichtig ist nur der Unter- schied in der etwas schwächeren Krümmung des Bogens, den die Metacarpalia unter dem ("arpus bilden ; die Carpalia und Metacarpalia von Palaeo- mastodon sind im Verhältnis zu den starken und plumpen Carpalia fast zart zu nennen und das fünfte Metacarpale steht nicht so weit nach hinten und außen wie z. B. bei Elephas primigenius, ist aber immerhin deutlich nach hinten verschoben. Die Hand von Mastodon angustidens aus dem Miozän von P'eisternitz bei Eibiswald (Steiermark), die F. Bach 1910 beschrieb, ist sehr stark ver- drückt, aber die Abbildung des Restes läßt deut- Abb. I. Indischer Elefant (das alte Weibchen „Mirzi" der Schön- brunner Menagerie) in Standstellung. — (Originalzeichnung.) lieh erkennen, daß die Metacarpalia etwas breiter waren als bei Palaeomastodon und daher in ge- spreizterer Stellung gehalten wurden, als dies bei Palaeomastodon der Fall war. Wir wollen an dieser Stelle von einer weiteren Erörterung der Lagebeziehungen zwischen den einzelnen Carpalelementen absehen und uns nur mit der Frage beschäftigen , welche Schlüsse auf die Funktion und Stellung der einzelnen Abschnitte des Armes aus diesen Vergleichen zwischen Ma- stodon angustidens und Palaeomastodon einerseits und den lebenden PJefanten andererseits zu ziehen sind. Die Verstärkung der Ulna, die schon bei Ma- stodon angustidens nachgewiesen ist, beweist, daß der Hauptdruck, der vom Oberarm durch den Unterarm lief, durch die Ulna und nicht durch den Radius ging. Schon damit ist bewiesen, daß die Stellung des Ober- und Unterarmes zueinander bei Mastodon angustidens dieselbe gewesen sein muß wie bei den lebenden Elefanten und daß, wie wir oben besprochen haben, der Arm im Ellbogen- gelenk leicht nach vorn luxiert war, wenn das Tier stand und die ganze Last des vorderen Körperabschnittes durch den Arm lief. Mit dieser SteUstellung des Armes ist aber die Annahme einer flacher und niedriger gestellten Hand, wie sie von G. Schlesinger gemacht wurde, ') nicht leicht zu vereinen. Die Spreizung der Plnger mag zwar etwas stärker gewesen sein, als bei den lebenden Elefanten, doch kann von einer so geringen Neigung der Hand gegen die horizontale Bodenfläche, wie sie von G. Schle- singer in seiner Rekonstruktion des Mastodon angustidens dargestellt wird, -') keine Rede sein, weil alle Gründe gegen die Annahme einer Planti- gradie der Hand sprechen, der die von G. Schle- singer angenommene Handstellung fast gleich- käme. Gegen eine solche geringe Neigung der Finger spricht ja auch der Reduktionsgrad der Phalangen , der schon bei Mastodon angustidens nachweisbar ist. Übrigens nimmt ja auch G. Schlesinger das Vorhandensein eines elastischen Sohlenpolsters in der Hand von Mastodon angusti- dens an und auch dieses Merkmal würde in Ver- bindung mit dei Bogenstellung des Metacarpus unter dem Carpus, wie sie schon bei Palaeomasto- don durch M. Schlosser^) nachgewiesen wurde, entschieden gegen die AnnahmiC einer so flach- geneigten Hand sprechen, wie sie G. Schlesinger rekonstruiert hat. Was für Arm und Hand von Mastodon angusti- dens gilt, gilt aber auch für das Hinterbein und den Hinterfuß. Auch bei Mastodon angustidens ist er kleiner als die Hand; dies hängt damit zusammen, daß bei den Proboscidiern der größte Teil der Körperlast nicht von den Hinter- extremitäten, sondern von den Armen getragen wird. Bei einer Rekonstruktion jener fossilen Probos- cidier, deren Gliedmaßenbau und Gliedmaßen- verhältnisse wie bei Mastodon angustidens in den Grundzügen mit denen der lebenden Elefanten übereinstimmen, ist daher als Grundsatz aufzu- stellen, daß Arm- und Beinstellung nach Analogie der lebenden Elefanten zu rekonstruieren ist, um ein richtiges Habitusbild zu gewinnen. II. Die Rekonstruktion von Mastodon angustidens (Abb. 2 und 3). 1. Größenverhältnis des Schädels zum übrigen Skelett. — Bisher haben die Dimensionen des Schädels bei dem von A. G a u dry beschriebenen, im Museum d'Histoire naturelle in Paris (Jardin des Plantes) aufgestellten Skelette aus dem Miozän von Seissons bei Simorre stets als Grundlage für die Größenverhältnisse des ') G. Schlesinger, 1. c, 1917, p. 43. ä) Ibidem, Taf. X.XXVI. »j M. Schlosser, 1. c, Taf. XVI, .Abb. 9a. N. F. XVIII. Nr. i6 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 221 Schädels bei den Rekonstruktionen dieser Spezies gedient. G. Schlesinger hat 191 7 (I.e., p. 40) wahrscheinlich gemacht, daß dieser Schädel der Hauptsache nach das Produkt der Atelierrekon- struktion eines Präparators ist, wie dies ja so häufig der Fall zu sein pflegt. Da die fehlenden Partien in der Regel aus Gips hergestellt werden, der dann mit der Farbe der Knochenfragmente überstrichen zu werden pflegt, so läßt sich erst bei sehr eingehender Prüfung solcher Museal- fälschungen der echte Knochen von den ergänzten Partien unterscheiden. Die Größenverhältnisse zwi- schen dem Schädel und dem übrigen Körper sind durch die Untersuchungen von G. S c h 1 e - singer (1917) in den Grund- zügen als sichergestellt zu be- trachten. Der Schädel erscheint in der jetzt auch im Museum d'Histoire naturelle in Paris durchgeführten Rekonstruktion, wie eine von H. K 1 a a t s c h (1902) veröffentlichte Original- photographie zeigt, ^) wesentlich länger als in der fehlerhaften Rekonstruktion von A. Gau- dry (1878). 2. Schädel profil. — Seitdem der Schädel des dem europäischen Mastodon angusti- dens sehr nahestehenden und vielleicht sogar mit ihm iden- tischen Mastodon productus im Miozän von Texas durch photo- graphische Abbildungen '-) et- was genauer bekannt geworden ist, ist es möglich, die schlecht erhaltenen, verdrückten oder gänzlich fehlenden Schädel- partien der europäischen Form entsprechend zu ergänzen. Der Schädel war relativ niedrig, der Schnauzenteil schwach nach unten gebogen und das Hinter- haupt fiel verhältnismäßig steil zu den Condylen ab. 3. Schädelhaltung. — A. Gaudry hatte dem Hals- abschnitt der Wirbelsäule eine starke Aufwärtsbiegung ge- geben und den Schädel stark nach abwärts geneigt dargestellt. den Schädel in die richtige Lage zum Halswirbel- abschnitt gebracht ; da er aber gleichfalls annahm, daß der letztere nach aufwärts gebogen war, so erhielt dadurch der Schädel eine fast horizontale Achsenstellung. Eine ähnliche Stellung weist der Schädel in der plastischen Rekonstruktion von F. K ö n i g 1) auf, während die vorher versuchte Rekonstruktion von Ch. R. K n i g h t -J für Masto- don productus eine steilere Neigung nach unten zur Darstellung bringt. Nach G. Schlesinger würde die in seiner Rekonstruktion angenommene Schädelstellung mit fast horizontal verlaufender .\bb. 2. Skelettrekonslruktion von Mastodon angustidens aus dem Miozän Europas, in Schreitstellung. — (Originalzeichnung.) Abb. 3. Rekonstruktion von Mastodon angustidens aus dem Miozän Europas, in Schreitstellung. — • (Originalzeichnung.) Diese Annahme fußte auf einer unrichtigen Orientierung der Con- dylen. G. Schlesinger hat (1917, 1. c, p. 41) ') H.Klaatsch, Entstehung u. Entwicklung d. Menschen- geschlechtes. — Weltall u. Menschheit, II. Bd., 1902, p. 136, Textfigur. ') H. F. Osborn, The Age of Mammals usw. — New York 1910, p. 299, Abb. 149. VV. D. Matthew, Mammoths and Mastodons. — 1. c, 1915, p. 17, Abb. 7. Schädelbasis der Ruhehaltung entsprechen; die „locker vorgestreckte" Haltung des Schädels ist nach G. Schlesinger durch die starke Ent- wicklung des Ligamentum nuchae ermöglicht, das als sehr kräftiges Doppelband den Schädel fest- ') F. König, Über die Wirbeltierfunde bei den öster- reichischen Bergwerken. — Österr. Zeitschrift für Berg- und Hüttenwesen. Wien 1914, p. I, Taf. 1, Abb. 7 und 8. -) H. F. Osboin, The Age of Mammals, I.e., Abb. 191, p. 441. 222 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. i6 hielt und für welches zwei sehr tiefe Gruben als Ansatzstellen an der Hinterwand des Schädels be- stimmt waren. Die Krümmung des Halswirbelabschnittes nach oben ist jedoch nicht als wahrscheinlich anzu- nehmen. Die Aufwärtsbiegung steht im Zusam- menhang mit der Verkürzung der Wirbelkörper bei den lebenden Elefanten sowie mit der zu- nehmenden Schwere und Länge der Stoßzähne, die einen gewaltigen Zug auf Schädel und Hals ausüben, dem durch die Aufwärtsbiegung des Halses und die Höhenzunahme des von Luftzellen erfüllten Schädeldaches begegnet wird; an dem höheren Hinterhaupt setzen sich dann die außer- ordentlich starken Nackenbänder des lebenden Elefanten an. Bei Mastodon angustidens ist aber der Hals länger als bei einem der lebenden Elefanten oder bei den verschiedenen großen fossilen Elefanten (z. B. E. primigenius, E. anti- quus, E. meridionalis) und länger als bei Mastodon arvernensis, wie dies aus der photographischen Abbildung des Skelettes im Bologneser Museum zu entnehmen ist. Ferner ist das Hinterhaupt von Mastodon angustidens relativ niedrig. Beide Merkmale sprechen dafür, daß der Hals nicht in dem Grade nach oben gebogen war wie bei den lebenden Elefanten,' sondern fast horizontal ver- lief; der Atlas dürfte tiefer gelegen haben als der erste Brustwirbel (bei Rekonstruktion des stehen- den oder schreitenden Skelettes auf der Horizon- talebene). Daraus ergibt sich dann unschwer die Rekonstruktion der Kopfhaltung (als Normal- stellung), wie ich sie in der neuen Rekonstruktion darzustellen versucht habe (Abb. i). 4. Stoßzähne. — Für die Rekonstruktion der oberen und unteren Stoßzähne und ihre gegen- seitige Stellung sind neben den Untersuchungen von W. Biedermann die früher genannten Ab- bildungen des Schädels im Pariser Museum und des Schädels von Mastodon productus im Am. Mus. Nat. Hist. in New York sowie die Ausfüh- rungen G. Schlesinger's maßgebend gewesen. Hierbei wäre nur zu betonen, daß jedenfalls ebenso wie bei den rezenten Elefanten in der Länge der Stoßzähne sexuelle, individuelle und Altersdiffe- renzen bestanden haben und daß Unterschiede in dieser Hinsicht in systematischer Hinsicht nicht überschätzt werden dürfen. Auch der Grad der Divergenz der oberen Stoßzähne dürfte in ziem- lich weiten Grenzen geschwankt haben. Das Gleiche hat übrigens auch für die Länge des Unter- kiefers zu gelten, der bei den in Mastodon longi- rostris übergehenden Formen jedenfalls viel kürzer war, als dies in der neuen Rekonstruktion ange- nommen wurde. 5. Jochbogen und Supraorbitalfort- satz. — Die unwesentlichen Veränderungen der neuen gegenüber den älteren Rekonstruktionen beruhen auf Vergleichen der Abbildungen von Mastodon angustidens (Pariser Schädel) und Masto- don productus (New Yorker Schädel). 6. Länge der Wirbelsäule. — Die ver- schiedenen Rekonstruktionen fossiler Proboscidier weichen in der den rekonstruierten Skeletten ge- gebenen Längenmaßen der Wirbelsäule ziemlich weit voneinander ab. Besonders kraß ist z. B. der Gegensatz der Rumpflänge zwischen dem von W. Salensky^) rekonstruierten Skelett des Mammuts von der Kolyma-Beresofka und dem von E. Fr aas-) montierten Mammutskelett aus dem Mitteldiluvium von Steinheim an der Murr in Württemberg. Ebenso wie in der Frage, welche Länge für den Rumpfabschnitt des Mammuts an- genommen werden muß, die Meinungen der ver- schiedenen Autoren weit auseinandergehen, wie ein Vergleich der in verschiedenen Museen Europas aufgestellten Mammutskelette zeigt, herrscht auch in der gleichen Frage bezüglich der verschiedenen Mastodon-Arten keine Übereinstimmung. Meist wird die Thoraxlänge viel zu groß angenommen, wie dies z. B. die Rekonstruktion des „Warren- Mastodon", jetzt im New Yorker Museum, zeigt, *) eine Annahme, deren offenbare Unrichtigkeit erst in dem Momente deutlich wird, wenn man eine Vollrekonstruktion der betreffenden Art durchzu- führen versucht. Daß der Rumpf des von H. F. O s b o r n *) rekonstruierten Mastodon arvernensis viel zu lang angenommen ist, geht schon aus der Rekonstruktion selbst hervor, da sie einen ganz unnatürlichen Eindruck hervorruft, der noch durch die Kopfhaltung und Halsform verstärkt wird ; die Grundlage dieser Rekonstruktion ist wahrschein- lich das von G.Cap ellin i 1908 veröffentlichte '*) Bild des Skelettes aus dem Pliozän von Ca dei Boschi in Valleandona, bei dem der Hals ebenso wie der Rumpf sichtlich zu langgestreckt sind. Anderseits ist wieder die Rumpflänge in der Re- konstruktion von C. W. Andrews®) viel zu kurz. Die letztgenannte Rekonstruktion hat über- haupt den Fehler, daß der ganze Körper viel zu sehr nach dem Bilde eines rezenten Elefanten rekonstruiert ist. Es kann jedoch nach den bis- herigen Beobachtungen über die Länge der Wirbel- körper, worüber wir besonders F. Bach genauere Mitteilungen verdanken, kaum einem Zweifel unter- liegen, daß der Rumpf von Mastodon angustidens zwar länger war als der des afrikanischen Elefanten, daß er aber auch zweifellos die in der O s b o rn - sehen Rekonstruktion von Mastodon arvernensis angenommene Rumpflänge ebensowenig erreichte, wie diese Art selbst. Die Skelettrekonstruktion des Pariser Exemplars, welche A. Gaudry ver- öffentlichte, ist hinsichtlich der Rumpf länge im großen und ganzen als richtig zu bezeichnen, wenn man die von F. B a c h beschriebenen Wirbel zum ') W. Salensky, 1, c, 1903, Taf. XXIV. -) W. O. Dietrich, 1. c, 1912, Taf. I (sowie eine An- sichtskarte des Skelettes im Stuttgarter Naturalienkabinett). •') W. D. Matthew, 1. c, 1915, Titelbild. *) H. F. Osborn, The .'Vge of Mammals, 1. c., Abb. 153, P- 315. '') G. Capcllini, 1. c, 1908, Tav. II. ") C. W. .'\ndrews, A Guide to the Elephants (recent and fossil) usw., — Guide of the Brit. Mus. Nat. Hist. Lon- don, 1908, .^bb. 14, p. 25. N. F. XVIII. Nr. i6 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 223 Vergleiche heranzieht und sie hat auch der von G. Schlesinger entworfenen Rekonstruktion zur Grundlage gedient. Die Rumpfwirbel von Mastodon angustidens haben längere Wirbelkörper als die lebenden Elefanten, sind aber ebenso wie die Halswirbel bei Mastodon arvernensis bereits verkürzt. Im ganzen und großen dürfte sich je- doch die Thoraxlänge der Mastodonten von jener des indischen Elefanten nicht sehr weit entfernt haben. Wesentlich verschieden scheint freilich das Profil des Rumpfabschnittes bei Mastodon angustidens und bei Elephas zu sein, was mit der geringeren Humeruslänge zusammenhängt. 7. Profil der Wirbelsäule. — Von der Profilierung des Halswirbelabschnittes ist schon früher die Rede gewesen. Die Rumpfwirbel, welche schon vom ersten an sehr hohe Dorn- fortsätze besessen haben, die noch an Höhe bis etwa zum vierten (?) Brustwirbel zunehmen, aber dann gleichmäßig bis zum Sacrum an Höhe ab- nehmen, steigen in sanft geschwungenem Bogen an. Entscheidend für diese sanfte Biegung in Verbindung mit dem Ansteigen gegen die Sakral- region ist die Länge der Arme im Vergleiche zu den Hinterbeinen. Der Arm von Mastodon an- gustidens ist, wie namentlich G. Schlesinger (1917) hervorgehoben hat, bedeutend kürzer als das Hinterbein und dies ist durch die Länge des Humerus im Vergleich zum Femur bedingt, die aber im Laufe der Entwicklung über M. longiro- stris zu M. arvernensis ständig zunimmt, so daß bei dieser oberpliozänen Mastodonart die Längen- differenz der beiden Beinpaare bereits viel geringer ist als bei M. angustidens. Mit der Längen- zunahme des Arms tritt aber auch eine Hinauf- schiebung der Wirbelsäule ein, so daß das Profil der Wirbelsäule bei M. arvernensis schon weit elefantenähnlicher ist als bei M. angustidens, da sich in den Lagebeziehungen der Scapula zur Wirbelsäule nichts geändert zu haben scheint. Obwohl G. Schlesinger hervorhebt (1917, I.e., p. 139), daß das Skelett von M. arvernensis „bis auf unbedeutende Einzelheiten dem des M. an- gustidens gleicht", wenn von dem wesentlich modifizierten Schädel und Unterkiefer abgesehen wird, so scheint mir doch zwischen diesen beiden Arten außer der Verkürzung der Wirbel nament- lich in der Verlängerung des Humerus bei M. arvernensis ein wesentlicher, freilich nur gradueller Unterschied begründet, der in der allgemeinen Körperform gewiß ebenso zum Ausdruck kommen mußte, wie etwa die Gegensätze zwischen dem afrikanischen und dem indischen Elefanten auch im Habitus des Rumpfes zur Geltung gelangen, wovon bereits die Rede war. 8. Stellung des Beckens. — Bezüglich dieser Frage verweise ich auf die Abhandlung von G. Schlesinger (1917, 1. c, p. 43), der den Nachweis erbrachte, daß das Becken in der Re- konstruktion von A. Gaudry unrichtig orientiert ist. Ich habe die von G. Schlesinger be- richtigte Beckenstellung mit unwesentlichen Ab- änderungen in die neue Skelettrekonstruktion über- nommen. Die Stellung des Beckens in der Re- konstruktion des Skelettes von M. arvernensis von E. Sismonda ist etwas zu steil. ^) 9. Schwanzlänge. — Die Schwanzlänge von M. angustidens dürfte in der Ga u dry 'sehen Re- konstruktion etwas zu kurz angenommen sein. G. Schlesinger hat sich in diesem Punkte an die älteren Rekonstruktionen angeschlossen. Ich möchte es für wahrscheinlich ,halten, daß der Schwanz ungefähr dieselbe Länge wie beim indi- schen Elefanten gehabt hat und er müßte daher länger als in der Gau dry 'sehen Rekonstruktion angenommen werden, etwa so wie in der Sis- monda'schen Rekonstruktion des M. arvernensis. 10. Humeruslänge. - — Von den Längenver- hältnissen zwischen dem Humerus und dem Femur von M. angustidens war schon früher die Rede. Die Maße sind der Gau dry 'sehen Rekonstruk- tion entnommen. Durch die Steilstellung der Gliedmaßen ver- ringert sich der Gegensatz in der Länge der Arme und Hinterbeine, doch kommt in der neuen Skelett- rekonstruktion trotzdem der Unterschied im Ver- gleiche mit dem Skelette der beiden lebenden Elefantenarten deutlich zum Ausdruck. 11. Stellungder Gliedmaßenabschnitte zueinander. — Es kann bei der weitgehenden Übereinstimmung des Gesamtbaues von M. an- gustidens mit dem der lebenden Proboscidier kaum einem Zweifel unterliegen, daß schon bei M. angustidens dieselbe „Säu- lenstellung" der Gliedmaßen vorlag wie bei den beiden rezenten Elefantenarten. Vor allem sprechen für die Richtigkeit dieser Schluß- folgerung die Verstärkung derUlna sowie die allgemeinen Verhältnisse der Hand- wurzel und des Handskelettes von M. an- gustidens. Die von G. Schlesinger hervor- gehobene stärkere Spreizung der Finger ist keines- wegs ein genügender Grund für die Annahme einer fast plantigraden Hand , zumal ja auch Schlesinger das Vorhandensein eines elastischen Sohlenpolsters wie bei den lebenden Elefanten annimmt. Die Stellung des Humerus zum Unter- arm und die leichte Luxierung des Ellbogenge- lenks im Momente der vollständigen Streckung des Armes ist für Mastodon angustidens, wie schon oben dargelegt wurde, ebenso wie für alle übrigen Mastodonten anzunehmen. Das gleiche gilt auch für die Lagebeziehungen zwischen dem Ober- schenkel und Unterschenkel. Die Stellung der Gliedmaßen, wie sie G. Schle- singer in der Skelettrekonstruktion von M. an- gustidens annimmt, ist aus mechanischen Gründen durchaus unmöglich. Dies wird sofort klar, wenn man es versucht, die Muskulatur über der Sohle- singer 'sehen Rekonstruktion zu ergänzen. Ich •) E. Sismonda, Osteografia di un Mastodonte angusti- dentc. — Memorie delle R. Accad. di Scienze die Torino, (2), Vol. XII, Turin 1S52, Tav. VI. — (Das Skelett gehört nicht zu M. angustidens, sondern zu M. arvernensis.) 224 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. i6 sehe davon ab, hier nochmals in eine Diskussion der Einzelheiten einzugehen, da ich mich über diese Punkte schon früher an verschiedenen Stellen dieser Mitteilung geäußert habe. 12. Rüssel länge. — Daß Mastodon angusti- dens einen Rüssel besaß, der nicht wie bei den lebenden Elefanten zwischen den oberen Stoß- zähnen herabhing, sondern dem enorm verlänger- ten Unterkiefer auflag, wird jetzt wohl allgemein angenommen. Es ist jedoch wahrscheinlich, daß er den Unterkiefer wenigstens um ein kurzes Stück überragte, wie ich dies in der neuen Voll- rekonstruktion dargestellt habe (Abb. 3). 13. Oberlippe und Unterlippe. ^ — Die Oberlippe dürfte den hinteren Teil der oberen Stoßzähne verdeckt haben, so daß nur etwa die Hälfte des aus der Alveole heraustretenden Ab- schnittes der oberen Stoßzähne bloßlag. Die Knochenteile des weit vorspringenden Unterkiefers müssen mit Muskeln und Haut umhüllt gewesen sein, woraus auch auf eine sehr lange Unterlippe zu schließen ist. Ob diese hängend getragen wurde, wie ich dies für M. longirostris und M. arvernensis nach Analogie der Unterlippe des indi- schen Elefanten annehmen möchte, entzieht sich einstweilen der genaueren Beurteilung. Jedenfalls muß die Mundspalte lang gewesen sein. 14. Ohren. — Die Ohrklappen sind im vor- liegenden Rekonstruktionsversuch nach dem Vor- bilde der Größenverhältnisse und der Formen des indischen Elefanten gezeichnet, da diese einen primitiveren Charakter als die gewaltigen Ohr- klappen des afrikanischen Elefanten aufweisen und daher dem im allgemeinen im Vergleiche zu den lebenden Proboscidiern primitiven Verhalten der Mastodonten besser zu entsprechen scheinen. 15. Gangart. — Ich habe in der Vollrekon- struktion von M. angustidens das Tier schreitend dargestellt. Als Vorbild für den dargestellten Moment des Schrittes dienten ebenso wie für die Rekonstruktionen ^) von M. longirostris und M. arvernensis die verschiedenen Etappen des Schrittes beim indischen Elefanten, wie sie von Muybridge abgebildet worden sind. Der Schädel erscheint etwas nach unten geneigt, was, wie oben darge- legt wurde, als die normale Schädelhaltung anzu- sehen ist ; das gleiche sehen wir auch beim Tapir, der stets mit tief herabgebeugtem Kopf und be- ständig sich hin und her wendendem, schnüffeln- dem Rüssel auf die Nahrungssuche ausgeht. Auch auf der Flucht hält der Tapir den Kopf tief zur Erde gebeugt; das gleiche werden wir auch für M. angustidens annehmen dürfen. Im Gesamt- charakter der Gangart ist M. angustidens, abge- sehen von der elefantenartigen Stellung der Glied- maßen, wohl am ehesten den lebenden Tapiren zu vergleichen. ') Die Veröficntlichung dieser gleichfalls in einer Sitzung der Zool.-Bot. Ges. in Wien bereits demonstrierten Rekon- struktionen wird in meinen ,, Lebensbildern aus der Tierwelt der Vorzeit" erfolgen. Einzelberichte. Chemie. Graphit ischer Kohlenstoff. Bishernahm man in der Regel an, daß der Kohlenstoff in drei verschiedenen Modifikationen auftritt: als Diamant, Graphit und amorphe Kohle. Während die erste Modifikation streng definiert ist, war eine scharfe Scheidung zwischen den beiden anderen bisher nicht möglich, so daß bereits Groth den Ge- danken äußerte, daß zwischen ihnen kein wesent- licher, sondern nur ein gradueller Unterschied be- stände. Den Beweis dafür erbrachte schließlich die Röntgenspektrographie. V. Kohlschütter (Zeitschr. f. anorg. Ch. 105, 35, 1919) hat nun untersucht, welche Bedingungen die Entstehung von Graphit im alten Sinne einerseits und von sog. amorpher Kohle andererseits begünstigen. Man nahm ursprünglich an, daß zur Bildung von Graphit hohe Temperatur notwendig ist. Diese Annahme hat sich jedoch als irrig erwiesen. Es ist lediglich eine Frage der äußeren Ent- stehungsbedingungen, ob sich Graphit oder amorphe Kohle bildet. Die Zersetzung von CO und C„Vi„ geht bei hoher Temperatur spontan vor sich unter Bildung amorpher Kohle. Bei Gegenwart eines Katalysators kann ein teilw>;iser Zerfall schon bei wesentlich tieferer Temperatur und langsamer vor sich gehen. Der Kohlenstoff scheidet sich dann als Graphit ab, besonders wenn ihm die Möglich- keit geboten wird, sich an glatte Flächen anzu- setzen. Bemerkenswert ist ferner die Umwand- lung von amorpher Kohle in Graphit durch Ver- mittelung von SiO« oder in geschmolzenem Eisen. Niemals geht die Umbildung direkt vor sich, wie man es von zwei verschiedenen Modifikationen erwarten müßte, sondern stets über ein Carbid als Zwischenprodukt, bei dessen Zersetzung der Graphit sich an den Grenzflächen und in den Zwischen- räumen von Kristallen ausbildet. Auch bei der Verdampfung des Kohlenstoffs im Flammenbogen beobachtete Moissan Graphitbildung. Typisch für die Bildung amorpher Kohle sind einerseits Verkohlungsprozesse hochmolekularer Substanzen (Zellulose, Zucker u. ähnl.), anderer- seits Rußbildung (unvollkommene Verbrennung). Es handelt sich also meist um einen allmählichen Abbau von Verbindungen, . der von sehr vielen Umsetzungszentren ausgeht. Dabei spielen dann noch Adsorptionserscheinungen eine gewisse Rolle, die das molekulare Gefüge noch regelloser machen. So wird eine außerordentlich feine Verteilung der Kohlenstoffteilchen erreicht. Sie tritt um so weniger auf, je reiner der Kohlenstoff von vorn- herein ist. Daher stammt auch die Begünstigung N. F. XVIII. Nr. i6 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 225 der Graphitbildung durch hohe Temperatur, die deshalb früher als notwendige Bedingung ange- sehen wurde. Das gemeinsame und für die Graphitbildung wesentliche Moment ist, daß die Kohlenstofifab- scheidung zwar auch aus molekularer Zerteilung stattfindet, aber nicht räumlich frei, sondern loka- lisiert, vor allem bei vorwiegend flächenhafter Ausgestaltung des Reaktionsortes, und daß sie möglichst wenig durch ein Dispersionsmittel be- einflußt oder durch Adsorptionsvorgänge gestört wird. Druck und Temperatur spielen keine aus- schlaggebende Rolle als Zustandsfaktoren bei der Graphitbildung. Diesen Entstehungsbedingungen entspricht auch des Vorkommen des Graphits in der Natur. Die am besten ausgebildeten Graphite sind vulkanogenen Ursprungs und wahrscheinlich durch Kontaktwirkung als Spaltungsprodukt aus CO oder Cyangas hervorgegangen. Ausgebildete Kristalle von Graphit sind jedoch bisher weder an natürlichem noch an künstlich hergestelltem Graphit beobachtet worden. Alles in allem kann man aus den Versuchs- ergebnissen folgern, daß der Graphit als ein schwarzer Kohlenstoff von sehr disperser (den Kolloiden ähnlicher) Struktur anzusehen ist. Durch die dichte Lagerung seiner Teilchen in vorwiegend flächenhafter Anordnung kommen die typischen Eigenschaften des schwarzen Kohlenstoffs mehr oder weniger deutlich zum Ausdruck. Dagegen sind sie bei dem sog. amorphen Kohlenstoff durch die Zerteilungsart in weitgehendem Maße aufge- hoben oder unkenntlich gemacht. Ähnliches ist auch bei Silber, Arsen, Phosphor und Nickel be- obachtet worden. Der Schlußstein und die endgültige Bestätigung für diese Betrachtungen wurde schließlich von Debye und Scherrer^) durch die Röntgen- spektrographie geliefert. Sie fanden, daß der Graphit trigonal-rhomboedrisch kristallisiert. Die Kohlenstoffatome sind nach den Ecken des regu- lären Sechsecks in parallelen Ebenen so ange- ordnet, daß in jeder dritten Ebene die Kohlen- stoffatome dieselbe Lage haben. Die Gitter des amorphen Kohlenstoffs unterscheiden sich nur durch den geringen Umfang (oft nur 30 Atome in einem Gitter) von denen des Graphits. Aus dieser Kristallisationsform erklären sich auch die günstigen Bildungsbedingungen für den Graphit an glatten Flächen. Scholich. Hydrobiologie. C 1 e s s i n hat bereits im Jahre 1872 beschrieben, wie die die Uferzone bewohnen- den Mollusken beim Eintritt der kalten Jahreszeit in das tiefere Wasser einwandern und im Früh- jahr wiederum, sobald das Eis geschmolzen ist, in die Litoralregion zurückwandern. Von Dreys- sena polymorpha Pallas konnten Reich el (1887) und Frenzel (1897) diese Angaben bestätigen. •) Physikal. Ztschr. 18, 291, 1917. «'«he auch Naturw. Wochscbr. N. F. (1917) S. 528. Wesen berg-Lund hat im Jahre 19 12 (Mitteil, aus d. biol. Süßwasserlaboratorium Fredriksdal bei Lyngby 13. Intern. Revue Bd. 5), die Frühjahrs- wanderung der Uferfauna (auch der Insektenlarven und Crustaceen) erwähnt. Er fand, daß im Winter der pflanzenleere mittlere Teil des Sees und eben- so die eigentliche Litoralregion verhältnismäßig tierarm sind, daß sich aber zur selben Zeit in 3 — 4 m Tiefe, in der Fontinalis-Region, eine reich- haltige Fauna vorfindet, wohin sich die Tiere aus der Uferregion beim Eintritt der kalten Jahreszeit zurückgezogen haben. In den südexponierten Teilen des Sees begönne die Neubesiedelung des Ufers im Jahre dann infolge der erhöhten Wasser- temperatur daselbst früher als in den übrigen Teilen. Als Ursache für diese Frühjahrswanderung gibt er verschiedene Gründe an. So sollen die In.sektenlarven zum Ufer streben, um dort mög- lichst rasch ihre Metamorphose vollenden zu können, andere um sich dort zu begatten und ihre Eier abzulegen. Die Temperatur ist der be- dingende Faktor. Das Problem der Frühjahrswanderung im Müggelsee behandelt eine ausführliche Arbeit von M. Pauly (Zeitschr. f. Fischerei N. F. Bd. IIL 191 7). Das Material hierzu stammte aus den Monaten März bis Mai 191 2 und 13 und März bis Juni 1915. Die mit Pfahlkratzer und Dredge entnommenen Proben stammten vom Ufer, aus i m und 2 m Tiefe und zwar von 16 um den See herum verteilten Stationen. Von diesen 16 Stationen befanden sich 8 am Nord- ostufer, 4 am Südost-, 4 am Südufer. Bei 2 m Tiefe beginnt im Müggelsee die Fontinalis Region. Das Nordufer, hier das Brandungsufer, ist ein Sand- ufer, dem Steingürtel, wie sie an den dänischen Seen die Regel bilden, fehlen. Der Charakter des Südufers ist ungleichmäßig, einzelne Teile zeigen hier ähnliche Verhältnisse wie das Nordufer, an anderer Stelle herrschen steile Abstürze und harter Boden in der Litoralregion vor. Der Unterschied in der Fauna beider Ufer ist weniger qualitativ als vielmehr quantitativ. Die Untersuchungen er- streckten sich auf die gesamte Uferfauna, die im Müggelsee am Nordufer als individuenreiche, aber artenarme Sandfauna bezeichnet wird. Am Süd- ufer ist die Anzahl der Arten groß, der Individuen klein. Auch im Müggelsee findet eine Frühjahrs- wanderung aus der 2 — 3 m Tiefenzone zur Litoral- zone statt, Wie sie Wes e nberg-Lund für die dänischen Seen nachgewiesen hat. Diese Wande- rung findet in den Monaten Februar bis April statt. Im Gegensatz zu Wesenberg möchte Pauly der Temperatur keinen beherrschenden Einfluß auf diese Wanderung einräumen. Sie nimmt dagegen an, daß eine ausschlaggebende Rolle die Topographie des Seeufers und die Boden- beschaffenheit spielt. Der Beginn der Wanderung am Südufer, wo das Bild der Fauna durch Würmer und Arthropoden beherrscht wird, wird ein späterer 220 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. i6 sein als am Brandungsufer, wo die Mollusken vor- herrschen. Sie ist aber auch am Südufer eher abgeschlossen als am Nordufer. In normalen Jahren beträgt der Unterschied etwa 14 Tage. Die Dauer der Wanderung ist hauptsächlich von der Breite der Litoralzone, die ja am Nordufer größer ist, abhängig, ebenso von der Bodenbe- schaffenheit. (Referent glaubt, daß der Einfluß der Temperatur doch etwas unterschätzt wird). Während Wesenberg einen Unterschied zwi- schen Brandungs- und Gelegeufer aufstellt, möchte P a u 1 y für den Müggelsee lieber von einem sandigen Ufer und einem Gelegeufer sprechen. Ein Einfluß des Sauerstoffgehaltes auf die Wande- rung der Uferfauna wird unter normalen Ver- hältnissen geleugnet. Willer. Meteorologie. Über eine interessante Methode zur Bestimmung des Windes in den höheren Luft- schichten bei bedecktem Himmel berichtet General Bourgeois (Comptes Rendues 1918 II, 769). Man läßt dabei, wie auch sonst bei Höhenwind- messungen, kleine Gummiballons von i m Durch- messer aufsteigen. Diese tragen aber nun eine Reihe von Melinitpatronen, die während des Fluges in regelmäßigen Intervallen explodieren. Die Orte der Detonation können mit Hilfe von Schallmeß- apparaten festgestellt werden. Die Aufstiegsge- schwindigkeit ist bekannt. So kann also die Windbahn, wie bei der gewöhnlichen Anvisierung von Pilotballons mittels Theodoliten, konstruiert werden. Die genaue Berechnung der Explosions- orte ist in der Theorie schwieriger als bei der Bestimmung von Batteriestellungen durch den Schall, da es sich nicht wie dort um den Schnitt von Hyperbeln, sondern um den von Hyperbo- loiden handelt. Praktische Kunstgriffe der graphi- schen Darstellung gestatten jedoch eine ^ rasche Lösung. Die Methode hat große Vorteile vor derjenigen der Aufstiege mittels Fesselballon oder Drachen. Bei dieser wurden an der besten damit ausge- rüsteten Station, Lindenberg, nur selten 5000 m, als Höchstleistung etwas über 7000 m erreicht. Die Schallmessungen gehen meist bis in diese Höhe, oft bis 10 OOO m. Dabei wurden nur Patronen im Gesamtbetrag von etwa 200 g bei einem Aufstieg benutzt. Trotzdem waren die Detona- tionen bis 1 5 km weit hörbar. Es macht wegen der Höhe des Explosionsortes über dem Erd- boden nichts aus, daß der Wind dem Schall ent- gegenweht. Unsere Kenntnis der Luftströmungen, die gerade für bewölktes Wetter bisher recht lückenhaft war, dürfte durch diese Methode eine sehr wertvolle Erweiterung erfahren, was besonders in Hinsicht auf die Sicherheit des Luftverkehrs zu begrüßen ist. Scholich. Luftwogen. Wenn zwei Luftschichten in verschiedener Richtung übereinander hinfließen, so werden, ebenso wie an der Grenze zwi- schen Luft und Wasser Wellen entstehen , an der Schichtgrenze sich Luftwogen ausbilden. A. Wegener hat im Anschluß an die Helm- holtzsche Wellentheorie eine Formel für die Wellenlängen als Funktion des Windsprunges und der Temperatur der beiden Schichten abgeleitet. Die Fortpflanzungsrichtung und -Geschwindigkeit der Wellen wird durch die vektorielle Differenz der beiden Windgeschwindigkeiten gegeben. Zur praktischen Nachprüfung der Formeln war bisher wenig Gelegenheit. In unseren Breiten treten Luftwogen in der Regel nur in der Altocumulus- und CirrocumulusRegion auf, also in Höhen von ca. 4000 — 7000 m, so daß selbst dann, wenn das Auftreten der Luftwellen an der Bildung von Wogenwolken erkennbar ist, es kaum möglich ist, die dazu gehörigen ärologischen Daten zu er- halten. In den nördlicheren Breiten treten die Luftwogen in viel geringeren Höhen auf, was schon Wegener auf der Danmark- Expedition vorübergehend ausnutzen konnte. F. Frey (Met. Ztschr. 36, 25, 1919) hat nun während zweier Jahre in Petersburg häufig Gelegenheit gehabt in der Stratus-Schicht, also bis zu etwa 500 m Höhe, Wogenwolken zu beobachten und die gleichzeitig herrschenden meteorologischen Bedingungen durch Drachenaufstiege zu messen. Die Wegener sehen Annahmen konnten dadurch in weitgehendem Maße bestätigt werden. Insbesondere stimmen die beobachteten Werte der Streifrichtung, die auf der Fortpflanzungsrichtung senkrecht steht, mit den aus der Winddifferenz abgeleiteten sehr gut überein. Die Zahlenwerte für die Wellen- länge, es treten solche von 400 m bis über 2000 m auf, schwanken bei der unsicheren Messungs- methode noch in einer größeren Fehlergrenze, jedoch ist die Übereinstimmung mit der Formel in erster Annäherung zweifellos. Die Mächtigkeit der Wogenschichten schwankte zwischen lOO m und 800 m. Scholich. Physiologie. In Wien wurde im Jahre 1911 eine Gehordnung herausgegeben, die den Zweck haben sollte, den Verkehr in den belebtesten Straßen zu regeln. Als Gehrichtung wurde die linke gewählt, weil sie bei uns in Österreich auch die Fahrrichtung ist. Es konnte jedoch bald jeder an sich selbst und an anderen Passanten be- obachten, daß diese vorgeschriebene Gehrichtung trotz allen guten Vorsätzen und Mahnungen in P"orm von Tafeln und Schutzleuten, bald zugunsten der rechten gewechselt wurde. Dies hat Prof. Pintner bewogen sich mit dem „Links gehen" eingehender zu beschäftigen und das Versagen dieser Verordnung wissenschaftlich zu erklären.^) Es war vor allem zu untersuchen ob das Be- streben nach rechts auszuweichen in der Natur des Menschen begründet ist oder nicht. Der ') Vorträge des Vereins zur Verbreitung naturwissenscbaft- licher Kenntnisse in Wien, Jahrg. 58. Heft i. 1918. N. F. XVIII. Nr. i6 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 227 menschliche Körper ist von Grund auf nicht symmetrisch gebaut, denn seine Hauptachse, die Wirbelsäule ist durch drei seitliche Ausbietungen unsymmetrisch. Auch der Schädel ist, wie jeder sich leicht überzeugen kann, bei den meisten Menschen unsymmetrisch, was sich besonders in der Form des Gesichtes ausdrückt. Schon der Wiener Anatom Hyrtl hat darauf aufmerksam gemacht, daß in den meisten Fällen die linke Kopfhälfte stärker entwickelt ist als die rechte. Die regel- mäßigen Unregelmäßigkeiten des menschlichen Körpers erstrecken sich aber nicht nur auf die Wirbelsäule und den Schädel, sondern auch auf Schulter und Beckengürtel, Rippen, Brustbein, sowie vordere und hintere Extremitäten. Die größte Zahl der Menschen ist rechtshändig. Bei der hinteren Extremität ist es gerade umgekehrt, es ist meist das linke Bein kräftiger und länger (1—2 cm). Die Kreisfahrten, welche von Ruder- booten bei Nebel ausgeführt werden sind auf die kräftigere Arbeit des rechten Ruderarmes zurück- zuführen. Das Boot beschreibt gewöhnlich einen Kreis nach rechts, wenn der Ruderer mit dem Rücken zur Bootsspitze sitzt. An den Kreis- wanderungen, welche ein der Orientierung be- raubter Mensch ausführt, trägt das kräftigere linke Bein die Schuld. Die Gebrüder Guldberg haben durch Sammeln von Berichten über solche Kreis- wanderungen und Fahrten dies nachgewiesen. Aber nicht nur der bipede Mensch beschreibt beim unorientierten Gehen Kreise, sondern auch Vier- füßler, welche ihre Extremitäten gekreuzt ver- wenden („Schränken"). Das wurde bei Pferden zuerst beobachtet, die im Nebel oder Schneege- stöber sich selbst überlassen waren. Aber auch gehetzte Tiere wie Bär, Elentier, Hirsch, Reh, Fuchs und besonders der Hase, welche in ihrer Angst die Orientierung verloren haben und ihre Sinnesorgane nicht mehr gebrauchen können, be- schreiben Kreise. Die Kreisbewegung ist eine Folge des schränkenden Ganges und der damit verbundenen Querstellung der Körperachse zur Bewegungsrichtung. Bei den meisten Menschen kann man etwas ähnliches beobachten, da der Körper beim Gehen an und für sich etwas nach vorn geneigt ist und besonders die rechte Schulter nach vorn geschoben wird. Die Neigung der meisten Menschen nach rechts auszuweichen ist demnach anatomisch-physiologisch bedingt i. weil durch das meist stärkere linke Bein die Steuerung des Körpers nach rechts leichter möglich ist und 2. weil durch die nach vorn geschobene rechte Schulter der Vorderkörper zur Fortbewegungs- richtung schräg steht, ähnlich wie bei einem schränkenden Tier. F. Reinhold, Wien. Zur Verwertbarkeit von Hefezellen im tieri- schen Organismus. Eine Folge der gegenwärtigen Ernährungsverhältnisse ist es, wenn Kinder, die zum Bäcker nach Hefe geschickt werden, mit leeren Händen nach Hause kommen , indem sie unter- wegs die eiweißreiche Ware verzehrt haben 1 Ge- sundheitliche Schäden davon sind mir zwar nicht bekannt geworden, doch entnimmt man aus Völtz' auf diesem Gebiete liegenden Tierversuchen ^) Folgendes ; Lebend und in Wasser aufgeschwemmt einem Hund eingeführte Hefezellen gelangten nach 6Y2-stündigem Aufenthalt im Darmtraktus noch lebend und in fast ungeschwächter Triebkraft mit dem Kote zur Ausscheidung. (Durch vor wie nach der Hefeverabreichung verfütterte Knochen ließ sich der Hefekot genau abgrenzen.) Bei einem zweiten Versuch war mittels Schlundsonde einge- führte Frischhefe nach 9'/2-stündigem Verweilen im Körper des Hundes zum größeren Teil abge- storben und etwa zur Hälfte verdaut. Der Hefe- kot enthielt noch 5 "/^ lebende, 20 "/g kranke und 75"/,, tote Hefezellen. Die Verdauungswerte für die Hefenährstoffe waren entsprechend niedrig und betrugen für das Hefeeiweiß 46,6 "/(„ für die sonstige organische Substanz der Hefe 53,3%. Die ent- sprechenden Zahlen für getrocknete Brauerei- hefe und anderweitige getrocknete Hefe ver- schiedener Art waren dagegen 84,4 — 88 "/(, und Die mangelhafte Verdaulichkeit der Hefe bei ihrer Verfütterung im lebenden Zustande und die Gefahr des Auftretens von Tympanie bei Wieder- käuern infolge starker COj-Produktion der lebenden Zellen verlangt die Verwendung der Hefe als Nähr- oder Futterhefe ausschließlich im abgetöten Zustande. Das schließt natürlich den Genuß lebender Hefezellen in dosierten Mengen für Heil- zwecke nicht aus. V. Franz, Leipzig-Marienhöhe. Geologie. In vielfacher Hinsicht, rein wissen- schaftlich sowohl wie auch aus wirtschaftlichen Erwägungen heraus ist eine genaue Kenntnis des tieferen Untergrundes im norddeutschen Flach- lande von hoher Bedeutung. Eine große Zahl von Bohrungen hat uns bisher zwar schon viele An- haltspunkte zur Beurteilung des geologischen Auf- baus von Norddeutschland gegeben, indes bleibt unsere Kenntnis namentlich der tieferen Schichten noch recht lückenhaft. Besondere Aufmerksamkeit haben die Geologen seit langem dem Verlauf der Unterkante des Quartärs gewidmet; ist diese Fläche, die Ober- fläche der vordiluvialen Ablagerungen, doch be- sonders wichtig für die Erkenntnis der Ein- wirkungen, die das Inlandeis auf die Gestaltung Norddeutschlands gehabt hat. O. v. L instow bespricht diese Wirkungen des Eises in einem Aufsatz, betitelt : Die diluviale Depression im nord- deutschen Tiefland (Zeitschrift für Gletscherkunde, Bd. x7HeF3); Unter Benutzung einer Auswahl aus der von Wahnschaffe zusammengestellten Liste der ^) W. Völtz, Über die Verwertbarkeit der Hefe im tieri- schen Organismus. Biochemische Zeitschrift, Bd. 93, 1919, S. loi — 105. 228 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. i6 Tiefbohrungen scheidet er durch eine Linie alle jene Punkte aus, an denen die Unterkante des Quartärs tiefer liegt als die heutige Meereshöhe. Diese Linie verläuft von der belgischen Küste über Holland längs dessen Ostgrenze nach Norden, durch Oldenburg und Nordhannover, kreuzt die Elbe östlich von Stendal, springt in weitem Bogen nach Süden in die Mark Brandenburg vor, um nach Norden umbiegend die Oder etwa bei Frank- furt zu schneiden, nähert sich in Hinterpommern der Küste, springt im Unterlauf der Weichsel bis beinahe nach Thorn nach Süden vor und verläuft dann längs unserer Ostgrenze über Eydtkuhnen nach Rußland hinein. Nördlich dieser Linie liegt der vorquartäre Untergrund durchweg unter dem Meeresspiegel; in überwiegender Anzahl liegen die Tiefen zwischen O — lOO m, bis 20O m findet sich noch eine stattliche Zahl, und nur wenige erreichen 300 und mehr Meter. V. Linst ow weist daraufhin, daß in Nord- deutschland keine pliocänen Meeresablagerungen bekannt sind, während solche in Belgien und Holland vorkommen. Er zieht daraus den Schluß, daß zur Pliocänzeit dieses große norddeutsche Senkungsgebiet noch nicht bestand. Fällt somit die Entstehung dieser Depression in die Diluvialzeit, so ist an eine tektonische Ent- stehung im Zusammenhang mit einer marinen Transgression nicht zu denken. A. W e g e n e r hat in seiner neuerdings viel besprochenen Arbeit über die Entstehung der Kontinente die Ansicht ausgesprochen, daß der gewaltige Druck der Eis- massen gemäß dem Gesetze der Isostasie diese Depression geschaffen habe, und daß naturgemäß nach dem Verschwinden der Eisdecke das Land sich wieder gehoben habe. Dem hält v. Linstow entgegen, daß die Senkung, ebensowenig wie bei- spielsweise die oligocäne Senkung, notwendig durch den Eisdruck bedingt sein müsse, sondern auch andrer Entstehung sein könne, wie ja auch Litorina- senkung und Ancylushebung von einer Mitwirkung des Eises unabhängig seien. Ihm will es wahr- scheinlicher dünken, daß das vorrückende Inland- eis die lockeren Ablagerungen des Tertiärs aus- furchte und abhobelte. Wenn an manchen Stellen das gesamte zweifellos vorhanden gewesene Ter- tiär vom Eis entfernt worden ist, wie beispiels- weise in Jütland, so haben wir daran einen Maß- stab für diese Tätigkeit des vorrückenden Eises und vermögen uns die Entstehung der norddeut- schen Depression auf diesem Wege wohl vorzu- stellen; noch dazu, wenn man bedenkt, daß die Erosion zur Pliocänzeit erhebliche Höhenunter- schiede geschaffen hatte, die dem vorrückenden Eise beträchtliche Angriffsflächen bieten mußten. Bei dieser Erklärung der Entstehung der nord- deutschen Depression als Folge der Vertiefung und Erweiterung der im PHocän bereits vorge- bildeten Höhenunterschiede durch das Eis ist jeder weithin wirkende tektonische Einfluß ausgeschaltet. Von besonderem Interesse für die Lösung dieser Fragen, die hier unter Zugrundelegung des für die Konstruktion der quartären Unterkante ge- gebenen Tatsachenmateriales versucht worden ist, wäre eine Untersuchung über die Lage des vor- tertiären, oder besser noch, des voroligocänen Untergrundes. Sicherlich war die Oberfläche, die das vordringende Meer zur Zeit des Unteroligocäns vorfand, stark abgetragen und hatte nur geringe Höhenunterschiede, so daß die Unterkante des Oligocäns als ursprünglich eben angesehen werden kann. Daß heute diese Unterkante erhebliche Tiefen- unterschiede auch im Gebiet der norddeutschen Depression aufweist, lehrt ein Blick in die Tabellen Wahnschaffes. Es wäre von Bedeutung, fest- zustellen, ob etwa eine gewisse Ähnlichkeit in der Form der quartären und der oligocänen Unter- fläche in solchen Gebieten besteht, in denen das Tertiär nicht zum größten Teil später wieder durch Fluß- oder Eiserosion abgetragen ist. Erst dann ließe sich feststellen, ob weiter reichende tektonische Ursachen für die Entstehung der Depression wirklich zu leugnen sind. Daß v. Lin- stow diesen Beweisgang nicht beschreiten konnte, liegt an den heute noch bestehenden Lücken in den tatsächlichen Unterlagen. W. Kegel. Über die Nordgrenze des Löß in ihren Be- ziehungen zum nordischen Diluvium faßt K. Keil- hack alle neueren Beobachtungen in der Zeitschr. d. deutsch, geol. Gesellsch., 19 18 zusammen. Seit 30 Jahren ist kein Versuch wieder ge- macht worden, die Verbreitung des Löß in West- und Mitteleuropa kartographisch darzustellen. Da- mals tat es (1888) A. Peuck in seiner Arbeit „Mensch und Eiszeit". Weil seit dieser Zeit eine große Anzahl neuer Beobachtungen gesammelt wor- den sind, unternahm es K e i 1 h a c k auf einer Karte im Maßstab i 13700000 die Nordgrenze des Löß von Calais bis Lublin auf einer Strecke von 1400 km und die Südgrenze des glazielen Diluviums dar- zustellen. So zieht der Löß von Calais bis Köln in einer bogigen Ost-West-Linie. Bis Ruhrort geht die Lößgrenze nach Norden vor; östlich umbiegend umrandet sie die Münstersche Bucht von Pader- born bis Ibbenbüren. Ihren weiteren Verlauf findet sie in westöstlicher Erstreckung über Minden, Braunschweig, Magdeburg, Bitterfeld, Leipzig, Meißen, Dresden. Östlich der Elbe macht sie einen Sprung nach Norden bis Großenhain und verläuft dann weiter über Görlitz, Liegnitz nach Breslau. Die Lößgrenze bleibt jetzt auf dem linken Oderufer, überschreitet den Fluß bei Trop- pau. In stark bogig-buchtigem Lauf läuft sie bis Josefow nördlich der Weichsel, überschreitet sie hier. Es entsteht so eine lößfreie Bucht in Ober- schlesien und Südpolen zwischen Breslau und Sandomir, in der nun bei Trebnitz, Leschnitz, an der Pilica abgesprengte Lößinseln sich zeigen. Das nordische Glazialdiluvium schickt in großen Bogen seine Ablagerung im Gebiet zwischen Karpathen und Rhein nach Süden in den Bereich N. F. XVIII. Nr. i6 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 229 des mitteldeutschen Berg- und Hügellandes. Der Löß bleibt selten mehr als 30 km von dem Hügel- lande entfernt. Er folgt fast stets dem Nordrande des Hügellandes. In Belgien, Holland, der west- lichen Rheinprovinz und im östlichen Rußland bilden Löß und glaziale Ablagerungen getrennte Gebiete. Zwischen Lößrand und Glazialrand be- trägt der Unterschied an der Lippe und der Ruhr wenige Kilometer, bei Paderborn, Dresden, Neiße, Liegnitz, in der thüringisch-sächsischen Bucht, zwischen Weichsel und San dagegen 120 km. Im Verbreitungsgebiet des Jungdiluviums fehlt der typische Löß. Der Abstand des Löß von der Südgrenze des letzten Inlandeises beträgt bei Magdeburg und Trebnitz 10 km, im Gebiet der Warthe und der Unterelbe 150 und 180 km, am Niederrhein 300 km. Wenn sich durch erneute Untersuchungen herausstellen sollte, daß gewisse Staubsande des Fläming, Flottlehme der Lüne- burger und Altmärkischen Heide, Äquivalente des Löß sind, dann zeigt sich im Auftreten des Löß im südlichen Randgebiet des Jungdiluviums nichts Überraschendes. Rudolf Hundt. Über Gasvorkommen in Kalisalzbergwerken in den Jahren 1907 bis 1917 berichtet Gropp im „Kali" (Heft 3, 1909). In diesem Zeitraum hat man 106 Fälle be- obachtet, und zwar handelte es sich in 3 Fällen um Wasserstoff, in 44 Fällen um Methan und Stickstoff, in 3 um Stickstoff, in i um Stickstoff und Wasserstoff, in 4 um Schwefelwasserstoff, in 1 um Schwefelkohlenstoff, in 1 1 um Kohlensäure, in 39 um nicht analysierte Gase. Die Entstehung der Gase bringt man mit der Entstehung und späteren Umwandlung der Kalisalzlager in Zu- sammenhang. Da diese aber selbst einwandfrei noch nicht geklärt ist, so ist auch die Gasentstehung noch dunkel. Sie muß einmal von Einschlüssen abhängig sein, die aus dem Salze selbst stammen oder die außerhalb des Salzkörpers sich bemerk- bar machten. Diese auf letztere Art entstandenen Gase drangen bei posthumen Umbildungspro- zessen auf Klüften und Spalten in das Salz ein und wurden in ihm eingeschlossen. Mitbestim- mend bei dieser Gasausscheidung waren auch Temperaturverhältnisse, wie sie durch die Auf- lagerung durch jüngere Schichten und durch post- permische tektonische [Jmwälzungen hervorgerufen wurden. Von Jan ecke wurde die Temperatur auf 75" C angenommen, die durch die Überlage- rung von 2000 m jüngerer Schichten erzielt wor- den sein soll. Walt her rechnet bei einer Über- lagerung von 5000 m Deckschichten mit 167" C. Solche hohe Temperaturen müssen wohl auf Salz- umbildungen und Entstehung von Gasen Einfluß gehabt haben. Als Entstehungszeiten nimmt die Geologische Landesanstalt die erfolgte Aufrichtung und Abtragung der permisch - mesozoischen Schichtendecke und die anschließenden posthumen Salzumbildungen an. Die verschiedenen Gase sind an die verschie- densten Schichten gebunden. Darum lag es nahe, ihre Entstehung mit der dieser Schichten in Zu- sammenhang zu bringen. So tritt Wasserstoffgas in beträchtlicher Menge im Carnallit auf. Erd- mann hat dafür eine Erklärung gegeben. Er fand in dem Gasrest, den man gewöhnlich als Stickstoff bezeichnet, Helium und Uran. Diese von ihm als Umwandlungsprodukte angesehenen radioaktiven Substanzen stammen von Radiumsalzen ab, die von Carnallit ausgeschieden worden sind. Von Radium kann nichts mehr vorhanden sein, weil es nur eine mittlere Lebensdauer von 2500 Jahren aufweist. Die Radiumemanation zersetzt Wasser in Helium und Wasserstoff, das gleichfalls im Carnellit auftretende Ammoniak in Stickstoff und Wasserstoff. Erdmann führt auf gleiche Entstehung das Auftreten von Kohlenoxyd in Gasgemischen zurück. Kohlenwasserstoff, Schwefel- wasserstoff enthaltende Gasgemische brauchen organische Stoffe zu ihrer Entstehung, die im Hangenden und Liegenden des Salzkörpers im Anhydrit, Salzton, älterem Steinsalz vorhanden sind. Der reine Stickstoff ist dadurch entstanden, daß atmosphärische Luft eingeschlossen wurde, deren Sauerstoft zur Oxydation vollständig verbraucht worden ist. Schwefelwasserstoff braucht zu seiner Entstehung bituminöse Stoffe und schwefelsaure Salze wie Gips, Kieserit. Das Kohlensäure- vorkommen innerhalb der Salzlagerstätte hängt genetisch mit dem Aufbruch tertiärer Basalte zu- sammen. Darum tritt dieses Gas auch nur im Werra- und Fuldagebiet auf, also in der Nähe dieser Magmaherde. Erst nachträglich wurde dieses Gas in die Schichten mechanisch einge- preßt. Innerhalb des Salzes sind möglicherweise ent- standen Wasserstoff, Kohlenoxyd, Helium, Uran. Sie zeigen sich in größeren Mengen , treten ohne erkennbaren Druck aus. Außerhalb der Salzkörper entstanden und in diesen erst ein- gewandert oder eingepreßt sind Methan, Stickstoff- gasgemische, Schwefelwasserstoff, Schwefelkohlen- stoff. Diese Gase treten auf Spalten und Klüften auf, seltener in Hohlräumen. Sie zeigen sich oft mit Laugen zusammen vorkommend , die durch Tagewässer entstanden sein oder als Reste von Mutterlaugen gedeutet werden können. Sie stehen oft unter erheblichem Druck. Eingepreßt in die Kalisalzlagerstätten ist die Kohlensäure. Rudolf Hundt. 230 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. i6 der Tasch . zur Die Bemerkungen von Herrn Dr. W. Rasch, auf S. 88 dieser Zeitschrift, gegen meine Ausführungen über „Blausäure zur Bekämpfung von Ungeziefer" zwingen mich zu folgender Entgegnung: Nachdem wir hier in Hamburg schon eine ganze Anzahl Ausgasungen mit Blausäure vorgenommen hatten, wurde den Kammerjägern von der Scheideanstalt die weitere Lieferung von Cyannatriuni mit der Begründung verweigert, dafi sie nur noch an den Tasch, bzw. an dessen Beauftragte liefern würde. Schon vorher hatte dieser uns bei der Hamburger Polizei denunziert mit der Aufforderung, uns die weitere Anwendung des Verfahrens zu verbieten. Nach Herrn Dr. Rasch sei das alles geschehen, um die Beschaffung der schwer zugänglichen Rohmaterialien (Schwefelsäure) zu erleichtern! — Und wenn jetzt sich in ein gewerbliches Unternehmen umwandeln Monopolisierung der ganzen Schädlingsbekämpfung mit giftigen Stoffen, geschieht das auch um ..anderen Stellen" die Material- beschaffung zu erleichtern i — Daß bei der Ausgasung „unbe- dingt" Gasmasken zu tragen seien, bestreite ich nicht nur; sie wären viel eher zu verbieten. Denn sie wiegen in ein Gefühl der keineswegs immer vorhandenen Sitherheit. Außerdem verstehe ich nicht, wie sie vor der Einwirkung der Blausäure auf Wunden schützen sollen. Ohne Gasmaske besteht die tatsächliche Gefahr in vollem Umfange; der Ausgaser weiß das, rechnet mit ihr und vermeidet sie. — Ein unter Gas stehender Raum braucht nicht nur nicht betreten zu werden, sondern darf es auch nie; die Entlüftung ist immer von außen vorzunehmen. — Wer sich bei all diesen Schwie- rigkeiten nicht zu helfen weiß, der beweist eben eine solche Unbeholfenheit in der Praxis, daß ihm das Arbeiten mit Blau- säure strengstens verboten werden müßte; und es nimmt mich nach den Ausführungen von Herrn Dr. Rasch kein Wunder, daß die Ausgasungen des Taschs schon mindestens 14 Menschen- leben gefordert haben. — Daß Schiffe besonders schwer aus- zuräuchern sind, weiß ich ; wir haben z. B. einmal ein Schifl ausgeräuchert, dessen Raum nur durch eine, an einem Ende befindliche Luke auf einer Leiter zu betreten, bzw. zu verlassen war. Wir haben selbstverständlich ohne Gasmaske gearbeitet und von außen entlüftet. Gefahr war keine dabei, weil wir sie eben zu vermeiden wußten. — Gerade weil viele Aus- gasungen r£cht schwierig und gefährlich sind, sollten sie nur durch ,,ganz erprobte und zuverlässige" Leute vorgenommen werden dürfen. Wer aber diese Epitheta mehr verdient, ein Kammerjäger, der schon viele Hunderte, oft Tausende von Ausgasungen, z. T. mit dem viel gefährlicheren brennenden Schwefelkohlenstoff, vorgenommen hat, oder ,, Mannschaften", die erst in kurzem Kurse „ausgebildet" sind, darüber kann doch wohl kein Zweifel bestehen. — Zum Schlüsse ein Vor- schlag; Herr Dr. Rasch gebe uns einen möglichst schwieri- gen Auftrag. Wenn der von mir vorgeschlagene Kammerjäger ihn nicht ohne Gasmaske und nur mit Entlüftung von außen in tadellosester Weise und ohne Gefährdung eines Menschen- lebens ausführt, dann erkläre ich mich für geschlagen. So- lange Herr Dr. Rasch aber nur über seine eigenen Erfah- rungen verfügt, während ich sowohl kläglich verlaufenden Ausgasungen durch den Tasch, wie glänzend verlaufenen durch gute Kammerjäger beigewohnt habe, muß ich bei meiner An- sicht bleiben, daß zwar die wissenschaftliche Ausbildung des Verfahrens selbstverständlich dem akademisch gebildeten Wissenschaftler obliegt, die technische Ausführung aber dem ,,ganz erprobten und zuverlässigen" Techniker. Geistige Blockade und Wetterdienst. Die Lage des tag liehen Wetterdienstes gestaltet sich gegenwärtig so schwierig, wie noch nie zuvor, seit Bestehen dieser Einrichtung. Die Ausübung des täglichen Wetterberichts beruht bekanntlich auf einem internationalen Übereinkommen , dem sich fast alle europäischen Kulturstaaten angeschlossen haben. Eine Anzahl ausgewählter Beobachtungsstationen aus jedem Lande meldet die morgens S Uhr bewirkten Ablesungen für alle Witterungs- erscheinungen telegraphisch in chiffrierter Form an die deut- sche Seewarte in Hamburg, wo sie zu 2—3 größeren Sammel- depeschen vereinigt werden. Diese gehen dann an die ein- zelnen deutschen Landeswetterwarten und an die übrigen Anregungen und Antworten. Dienststellen, die mit der Herstellung von Wetterkarten, Wetterberichten und Wettervoraussagen beauftragt sind. Auf diese Weise kommen im Frieden von rund 70 verschiedenen (Jrten des europäischen Festlandes, ferner von Großbritannien, Irland und einer ganzen Anzahl Inseln des atlantischen Ozeans die täglichen Wettermeldungen auf der Karte zur Darstellung. Das F.eobachtungsgebiet erstreckt sich von Island bis Arch- angelsk in weitester westöstlicher Ausdehnung, sowie von Vardö in der Nähe des Nordkaps, bis nach Cagliari auf Sar- dinien und Brindisi in Unteritalien in der Richtung von Nord nach Süd. Seit Kriegsbeginn blieben natürlich zunächst alle Meldungen aus den feindlichen Ländern fort, es fehlten daher auf der Wetterkarte mit einem Schlage alle russischen, serbi- schen, französischen und britischen Beobachtungen. Aber auch von Spanien und den atlantischen Inseln wurden wir durch die Bemühungen unserer Hauptgegner alsbald abge- schnitten. Späterhin blieben dann auch noch alle Beobach- tungen aus Italien und Rumänien aus. Während des Krieges konnte allerdings ein Teil dieses Ausfalls infolge des sieg- reichen Vordringens Deutschlands sowohl im Westen, wie im Osten und Südosten wieder eingeholt werden. So wurden die belgischen, serbischen und rumänischen Stationen zurück- gewonnen, bzw. durch neue, in der Etappe angelegte, ergänzt. Aus Nordfrankreich lieferte Laon längere Zeit regelmäßige Meldungen und im Osten besaßen wir zuletzt in den russi- schen Ostseeprovinzen sowie in Polen und Großrufiland eine ganze Anzahl regelmäßig arbeitender Stationen, so daß die Ostgrenze des für unsere Beobachtung erreichbaren Gebiets, etwa durch die Linie von Riga über Wilna, Pinsk, Kiew bis Konstanza am schwarzen Meere bezeichnet wurde. Ab und zu erschien sogar eine Wetterdepesche aus der verbündeten Türkei' (Konstantinopel) und im Süden bezeichneten Triest und die dalmatinische Insel Lesina die äußersten Posten un- seres Arbeitsgebiets. Zur Zeit von Deutschlands größter Machlentwicklung im Kriege umfaßte daher das der Beschrei- bung zugängliche Witterungsgebiet trotz aller Absperrungs- maßregeln der Feinde im Westen immerhin einen beträcht- lichen Teil Europas, wenn auch der völlige Mangel der atlan- tischen Stationen oft genug als sehr störend empfunden wurde. Wie anders liegen die Dinge jetzt, nach dem unglücklichen Ausgang des Kriegs und nach den großen politischen Um- wälzungen bei uns und den früheren Verbündeten I Seit den denkwürdigen Novembertagen stehen dem Wetterbericht außer den deutschen Stationen nur noch die schwedischen, norwegi- schen, dänischen und holländischen zur Verfügung, während selbst die Schweiz zum mindesten recht ungleichmäßig in der Abgabe der Wettertelegramme geworden ist. Dagegen sind wir völlig abgeschnitten von jedem telegraphischen Verkehr mit England, Frankreich, Belgien, Italien, Rumänien, Serbien, Bulgarien und der Türkei. Verloren gegangen sind ferner auch alle russischen und finnischen Wetterstationen. — Selbst von den Stationen Österreich-Ungarns blieben uns nur Wien und Budapest erhalten, während sogar Prag infolge der poli- tischen Vorgänge keine Telegramme mehr sendet. So ist uns denn für den Wetterdienst ein verhältnismäßig schmaler Streifen Mitteleuropas mit etwa 30 Stationen geblieben, der sich vom Norden Skandinaviens bis zu den bayerischen Alpen erstreckt, während wir von den großen wichtigen Gebieten West-, Süd- und Osteuropas abgeschnitten sind. Abge- schnitten in der Hauptsache durch die geistige Blockade, die unsere Hauptgegner, zugleich mit der wirt- schaftlichen noch immer über uns verhängt haben. Dafi Franzosen und Engländer uns auch jetzt noch ihre Wetter- meldungen hartnäckig vorenthalten, nachdem doch eine Schä- digung militärischer Interessen nicht mehr in Frage kommt, ist ein neuer Beweis für die wenig versöhnliche Stimmung der gegenwärtigen Machthaber der westlichen Großmächte. Hoffen wir, daß es der Nationalversammlung demnächst ge- lingen möge, die unwürdige und am meisten drückende Fessel der wirtschaftlichen Absperrung Deutschlands zu lösen und alsdann auch eine Wiederaufnahme des geistigen, wissenschaft- lichen Verkehrs mit den bisherigen Feinden ins Leben zu rufen. Das in letzter Zeit mit bezug auf die Vorgänge unseres wirtschaftlichen und politischen Lebens leider so oft gehörte Wort; „So geht es nicht weiter", gilt auch für unseren Wetter- dienst, dessen Tätigkeit im Anfang Reh. Februar durch das N. F. XVIII. Nr. i6 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 2^1 Zusammenwirken der feindlichen Blockade und großer Ver- kehrsstörungen innerhalb Deutschlands auf ein Mindestmaß herabgedriickt worden war. Prof. Dr. Fr. Klengel, Plauen i. V. G. L. in F. I. Sticht Migrogaster (Apanteles) glome- ratus die Kohlraupen selbst oder deren Eier an ? — Man sollte glauben, daß diese immerhin einfach zu lösende Frage über das Verhalten einer unserer wirtschaftlich wichtigsten Schlupfwespen schon längst geklärt sei. Aber die Ansichten gehen noch auseinander. Fahre, der bekannte Insekten beobachter, spricht sich auf Grund seiner Zuchten in der Revue des questions scientifiques, Louvain 1908, dahin aus, daß die Eier von Pieris parasitiert werden. Im Gegensatz dazu hat sich schon 1899 Seurat in den Annales des scienzes natur. ganz entschieden auf den Standpunkt gestellt, daß erst die jungen Larven von der Schlupfwespe befallen werden. ,, Apanteles sticht die jungen Larven an , wenn sie ungefähr 3 cm groß sind und bringt in jede davon eine sehr große Anzahl Eier." Seurat beschreibt auch das Apanteles-Ei. Mit ihm stimmt Weisenberg (Sitzungsber. der Ges. nalurforsch. Freunde in Berlin, 1909) überein. Auch Grand ori teilt diese Ansicht. Redia Bd. 7, 1909). — Die Zucht ist anzu- raten. 2. Wird die Bewegung des Blutes am Rücken- gefäß der Insekten durch Zusammenziehung die- ses Gefäßes oder durch Ausdehnung und Zusam- menziehung einer besonderen Muskelplatte be- wirkt? Ist eine vom Rückengefäß gesonderte Querplatte vorhanden- — Sie finden die Verhältnisse am besten in Zander; Der Bau der Biene, S. Iio, beschrie- ben : ,,ln seiner ganzen Länge ist der Herzschlauch von einer dünnen Lage ringförmig verlaufender Muskelfasern umhüllt, durch deren Zusammenziehung der Herzschlauch verengt wird. Außerdem strahlen vom Herzschlauch spinnwebartig unter- einander verbundene zarte Muskelfasern in die benachbarten Gewebe oder an den Chitinpanzer, die den Herzschlauch er- weitern und zugleich in seiner natürlichen Lage erhalten. Im gekammerten Abschnitt des Herzens ist dieses Muskelwerk be- sonders reichlich entwickelt. Außerdem ziehen hier von der seitlichen Partie der Rückenschuppen 5 Paar fächerförmig sich verbreiternde Muskeln an die Unterseite des Herzschlauches, die Zweige an die seitliche Wand des Herzens entsenden. Da diese Muskeln wie Flügel am Ilerzschlauche hängen, hat man sie Flügelmuskeln genannt. In schwächerer Ausdehnung durchsetzen sie auch noch hinter dem blinden Ende des Her- zens den Hinterleib. Dadurch wird von der Hinterleibshöhle ein kleiner Rückenraum, in dem das Herz liegt, abgesondert." Die folgende Abbildung zeigt nach Jan et einen Querschnitt durch das Rückengefäß einer .Ameise. Abb. I. Rückengefäß (H) einer Ameise im Querschnitt. H Herz, Rm radiäre Muskeln (Dilatatoren). Fe Fettzellen, Oe Oenocyten, Pe Peiicardialzellen, FIm „Flügelmuskel", D Darm. Nach Janet. Aus Wheeler. 3. Ist es erwiesen, daß die bekannten kirsch- großen Galläpfel an der Unterseite der Eichen- blätter von Spathegaster taschenbergi erzeugt werden in geschlechtlicher Generation? Wann werden die Eichenblätter angestochen? Wenn das Blatt schon entfaltet ist, oder Inder Knospen - läge? Fliegt die ungeschlechtliche Generation wirklich immer im Dezember? Ist der Name Dryo- phantafolii(scutellaris) dafür richtig? Entstehen die Knospengallen dieser Form nur am Stamm? ^ Die betreffende Gallwespe gehört zur Gattung Diplolcpis Geoffroy (Dryophanta Forst, Spathegaster auct.). Ihre ge- schlechtliche Generation heißt Diplolepis quercus folii L. (Diplolepis taschenbergi Schlecht.), die ungeschlechtliche, also weibliche, heißt D. quercus folii (D. scutellaris). Die von beiden Brüten erzeugten Gallen sind in ihrer Form und Lage an der Eiche verschieden. Was man gemeinhin als Galläpfel bezeichnet, sind die Erzeugnisse der ungeschlechtlichen Gene- ration, also von D. scutellaris. Die Galle befindet sich unter- seits an den Blättern, bleibt bis zur völligen Reife saftig, und hat in ausgebildetem Zustand einen Durchmesser von etwa 20 ram. Sie ist im allgemeinen gelb, aber an der Sonnenseite rotbackig. In der Mitte befindet sich eine rundliche Kammer, die in sich die Larve oder Puppe birgt. Die Galle wird im September reif und fällt entweder allein oder mit dem Blatte ab. Im November oder Dezember, manchmal aber erst im zeitigen Frühjahr schlüpfen daraus die Männchen und Weib- chen von D. taschenbergi. Galle von Diplolepis taschenbergi. Gallen von Diplolepis scutellaris. Abb. 2. Die Gallen dieser Form sehen ganz anders aus. Es sind eiförmige an der Spitze abgerundete oder mit einer schwachen Einsenkung versehene Gebilde mit dichter und kurzer sammet- artiger Behaarung. Die Farbe ist zunächst rot, später dunkelviolett. Am Grunde sind sie oft von Knospenschuppen und normalen Blättern umgeben. Die Galle befindet sich stets nur an den Knospen. Ihre Puppen schlüpfen im Mai und Juni aus. Es ist sehr merkwürdig, daß die Gallenmütter dieser Generation ihre Eier nur in sog. schlafende Augen ablegen, d. h. solche, die sich unter den gewöhnlichen Bedingungen überhaupt nicht öffnen. Aus der Zeit des Auftretens der beiden Brüten ist schon zu schließen, daß die Weibchen der ungeschlechtlichen Gene- ration die Blätter anstechen, wenn sie schon entfaltet sind. Dies ist auch tatsächlich der Fall. Den Vorgang finden Sie beschrieben und durch eine Abbildung erläutert in Beyerink, Beobachtungen über die ersten Entwicklungsphasen einiger Cynipidengallen (Verh. d. K. Akademie Amsterdam, Band 22, 1882, S. I— 98). Dr. Stellwaag. 232 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVm. Nr. i6 Meine Beobachtungen über das Familienleben der Störche (vgl. Nr. 41 des 16. Bandes vom 14. Oktober 191 7) konnte ich im Jahre 1918 fortsetzen. Im Frühjahr 1918 kehrte das Storchenpaar, das sich im Jahre vorher zusammengefunden hatte, zurück und bezog sein altes Nest. Die erste Arbeit war das Inslandsetzen des Nestes, und dabei verunglückte wieder genau wie im Jahre 1917 der eine Storch durch An- flug an die Starkstromleitung. Diesmal war das Unglück vor Beginn des Brütens geschehen. Aber auch diesmal hat sich ein zweiter Storch hinzugefunden, die beiden haben gebrütet, aber nur ein Junges großgezogen. Bewundernswert ist die Anhänglichkeit an das Nest, dabei sind die Störche durch die Starkstromleitung ständig gefährdet, da sie gerade zwischen dem Hause, auf dem das Nest erbaut ist, und der Aller und ihren Wiesen, wo die Störche sich das Nistmaterial und ihre Nahrung suchen, hindurchgeht. Auch der zweite Storch wäre diesmal beinahe verunglückt, als er mit einem stärkeren Ast im Schnabel zum Neste anflog. Hannover. E. Zieprecht. Gips im Brot. Zu den beliebtesten Verfälschungen des Mehles gehörte in früheren Zeiten der Gips. Man sollte meinen , daß heutzutage eine derartig plumpe Verfälschung kaum noch vorkommt, da Gipszusatz doch leicht mikroskopisch wie chemisch nachweisbar ist. In unserem mit immer neuen Streckungsmitteln beschwerten Brot liegen die Dinge aller- dings nicht so einfach. Brotuntersuchungen sind an sich schwieriger als Mehluntersuchungen und haben daher zu Be- ginn des Krieges, als sie vielerorts notwendig wurden, den Untersuchungsämtern häufig Schwierigkeiten bereitet. Seit 1914 habe ich reichlich Gelegenheit gehabt, Gebäcke aller Art aus den verschiedensten Gegenden nach eigener Methode zu untersuchen, worüber ich auch an dieser Stelle berichten konnte. ') Während der ganzen Zeit ist mir aber nicht ein einziges Mal Gipszusatz im Brot vorgekommen. Kürzlich fand ich nun doch in einem aus einer Berliner Vorortbäckerei stammenden Brot eine Verfälschung mit Gips, auf die ich bei der Seltenheit des Falles hier etwas näher eingehen möchte. Es handelte sich um ein normales, angeschobenes Roggen- brot, das beim Durchschneiden zunächst keinerlei Besonder- heiten erkennen liei3. Erst auf der angetrockneten Schnitt- fläche zeigten sich einige winzige, selten bis i mm große weiße Körnchen, die man bei oberflächlichem Hinsehen für Mehlteilchen halten konnte. Die mikroskopische Untersuchung der Körnchen ergab indessen feine Kristalle vom Aussehen der Gipskristalle; dieselben waren in verdünnter Salzsäure bei Zimmertemperatur schwer, bei höherer Temperatur leicht lös- lich ; Bariumchlorid ergab einen in Säuren unlöslichen Nieder- schlag. Durch die quantitative Analyse des Brotes wurden sodann 4 % Gips in der Trockensubstanz ermittelt. Dr. W. Herter, Vorstand der Bot.-bakt. Abteilung der Versuchsanstalt für Getreideverarbeitung. ') Naturw. Wochenschr. N. F. XIV, Nr. S, S. 120 — 123, Abb. 1—6. Herrn A. P. in W. Die spektrale Zusammensetzung der Temperaturstrahler, zu denen Glüh- und Bogenlampen sowie die Sonne gehören, ist im wesentlichen durch die Temperatur bedingt, Nach dem W ien 'sehen Verschiebungsgeselz ist die W^ellenlänge , bei welcher das Energiemaximum liegt, umge- kehrt proportional der Temperatur. Je höher die Temperatur, desto mehr wird das Maximum der Energie also gegen das blaue Ende des Spektrums verschoben. Da die Temperatur der Sonne wesentlich höher ist, als die der elektrischen Lam- pen, so wird das Licht der letzteren relativ arm sein an blauen, d. h. photographisch wirksamen Strahlen, und zwar die Glühlampen noch ärmer als die Bogenlampen. Genauere quantitative Angaben über die spektrale Zusammensetzung des Lichtes gasgefUUter Glühlampen, sowie über ihre Anwendung in der Photographie, finden sich in der Zeitschrift für Be- leuchtungswesen — Besonders erwähne ich: 1914, S. 75. Coblentz, Die Strahlungskonstante einer Wolframlampe mit StickstoftüUung. Hier findet man das Maximum der Energiekurve bei 1,1 // also noch im Ultraroten, während das Maximum des Sonnenlichtes im Grünen liegt. 1914, S. 14 u. 25. Lux, Untersuchungen an der Halb- wattlampe. 1915, S. 33. Voege, Die Halbwattlampe in der Photo- graphie. Er weist besonders darauf hin, daß die photogra- phische Wirksamkeit durch die Glasabsorption im Ultra- violetten noch weiter verringert wird. 1915, S. 55 und 1917, S. 83. Lux, Künstliche Licht- quellen in der Photographie. Im ersten Teil der Untersuchung findet der Autor die Nitraprojektionslampe für photographische Zwecke gut geeignet, besonders bei Anwendung eines sog. , .Tageslichtfilters" nach Block. Im zweiten Teil untersucht er die Einwirkung des künstlichen Lichtes auf die verschie- denen Plattensorten. Für Autochromaufnahmen bei künstlichem Licht müßten jedenfalls ganz besondere Filter verwendet werden, welche das Blau nicht so stark schwächen, wie die gewöhnlichen Auto- chromfilter. Ob solche Filter bereits vorhanden sind, dürfte am besten eine direkte Anfrage bei der Aktiengesellschaft für Anilinfabrikation ergeben. Agfa Farbenplalten habe ich noch nicht benutzt. Nach den Urteilen, die mir zu Ohren kamen, sollen sie den Lumiere- platten völlig ebenbürtig sein. Dr. Engelhardt. In Nr. 2 dieser Zeitschrift wird in einer Besprechung der Arbeit G. Gaßner's ,, vom Entwicklungsrhylhmus des Winter- getreides" festgestellt, daß sich das Wintergetreide auch in einjähriger Kultur zur normalen Entwicklung bis zur Frucht- reife bringen läßt, wenn seine Keimung bei der niederen Temperatur von I — 2^ erfolgt. Das erinnert mich an eine Beobachtung, die ich in Gegenden der Provinz Sachsen mit starkem Anbaue von Zuckerrüben des öfteren machen konnte. Sie betrifft das mehr oder weniger häufige Auftreten von sog. ,,Slockrüben", d. s. Zuckerrübenpflanzen, die innerhalb der Zuckerrübenfelder schon im ersten Vegetationsjahre zur Blüten- bildung schreiten, während doch normalerweise die Zucker- rubenpflanzen erst im zweiten Vegetationsjahre Blüten und Früchte hervorbringen. In manchen Jahren treten die Stock- rüben in so großer Zahl in den Zuckerrübenfeldern auf, daß das Feld fast wie ein kleiner lichter Wald von Kübenpflanzen aussieht, während sie in anderen Jahren fast völlig fehlen. Ich gelangte durch Vergleich der herrschenden Witterung während der Keimung zu der Annahme, daß bei recht niederen Temperaturen in der Keimungsperiode die Bildung von Stock- rüben begünstigt wird. Stimmt das? Liegen hierüber Unter- suchungen vor und welches Ergebnis zeitigten sie : Im Falle der Bejahung meiner Annahme hätten wir es dann mit ganz ähnlichen Tatsachen zu tun, wie sie von Gaßner für das Winlergetreide festgestellt wurden. O. Rabes, MUhlheim-Ruhr. Inhalt: O. Abel, Die Rekonstruktion von Mastodon angustidens Cuv. (3 Abb.) S. 217. — Einzelberichte; V. Kohl- schütter, Graphitischer Kohlenstoff. S. 224. M. Pauly, Frühjahrswanderung der Uferfauna. S. 225. Bourgeois, Bestimmung des Windes in den höheren Luftschichten. S. 226. F. Frey, Luftwogen. S. 226. Pintner, Links gehen. S. 226. Völtz, Zur Verwertbarkeit von Hefezellen im tierischen Organismus. S. 227. O. v. Linstow, Die diluviale Depression im norddeutschen Tiefland. S. 227. K. Keil hack. Über die Nordgrenze des Löß in ihren Be- ziehungen zum nordischen Diluvium. S. 228. Gropp, Über Gasvorkommen in Kalisalzbergwerken in den Jahren 1907 — 1917. S. 229. — Anregungen und Antworten: Blausäure zur Bekämpfung von Ungeziefer. S. 230. Geistige Blockade und Wetterdienst. S. 230. Sticht Migrogaster (Apantheles) die Kohlraupen selbst oder deren Eier an f S. 231. Bewegung des Blutes am Rückengefäß der Insekten, (l Abb.) S. 231. Galläpfel, (i Abb.) S. 231. Familienleben der Störche. S. 232. Gips im Brot. S. 232. Die spektrale Zusammensetzung der Temperaturstrahler. S. 232. Entwicklungs- rhythmus des Wintergetreides. S. 232. Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstraße 42, erbeten. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G.m.b.H., Naumburg a. d. S, Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Sonntag, den 27. April 1919. | Nummer 17. Neue Folge 18. Band; der ganzen Reihe 34. Bund. [Nachdruck verboten.] Vom Panjepferd. Eine Studie von Hans Krieg. Mit 6 Abbildungen. Man darf sich unter dem Begriff „Panjepferd" keine einheitliche Rasse vorstellen. Als solches wird eigentlich jedes Pferd bezeichnet, welches unserem Vormarschgebiet an der Ostfront ent- stammt, vorausgesetzt, daß es deutlich kleiner ist als unsere mitteleuropäischen Pferdeschläge. Es ist dabei ganz unwesentlich, ob Kurland, Litauen, Polen oder die Ukraine seine Heimat ist. Und es ist selbstverständlich, daß ein so ausgedehntes Gebiet keinen gleichmäßigen, ausgeglichenen Pferdetypus hervorbringen kann, sondern daß das Klima, die Bodenbeschafl'enheit und die Art und Intensität der Verbindung mit den Nachbarländern auch den Pferden ihre Stempel aufdrücken. Und doch haben diese östlichen Pferde einige Eigenschaften, in welchen sie sich gleichermaßen von den uns bisher vertrauten Pferdeschlägen unterscheiden : unscheinbar, oft geradezu unschön, wetterhart, bescheiden in seinen Ansprüchen an Nahrung und Pflege, zäh in seiner Arbeitsleistung — so hat der deutsche Soldat das Panjepferd kennen gelernt. IVotz ihrer teilweise höchst schätzenswerten Eigenschaften stehen diese Tiere züchterisch lange nicht so hoch, als etwa unsere eigenen Pferde. Schlechte Beinsteliung, schlechte Brust und mangelhafter Widerrist stehen an der Tagesordnung Ihre gegenseitige Ähnlichkeit ist nicht zuletzt die Folge der ähnlich niederen kul- turellen Entwicklungsstufe ihrer Heimatländer. Die niedere Kulturstufe eines Volkes kann in mehrfacher Hinsicht einen Einfluß auf seine Pferde ausüben; es kann in richtiger Erkenntnis seiner ärmlichen Lage die Zweckmäßigkeit gerade kleiner Pferde erkennen und absichtlich nach diesem Ge- sichtspunkt züchten; es kann aber auch zu gleich- giltig und zu anspruchslos sein, um überhaupt für eine Veredelung seiner Pferde Sinn und Initiative zu besitzen. Meine Flrfahrungen beschränken sich auf einen Teil Litauens und Ostpolens. Wer längere Zeit dort gewesen ist, wundert sich nicht über den niederen Stand der dortigen Pferdezucht; hat man doch den Eindruck, als habe sich der arme Be- wohner des flachen Landes seit Jahrhunderten in kultureller Hinsicht kaum verändert. Seine Un- berührtheit von allem, was höherem Lebensgenuß gleich sieht, ist befremdend, und der soziale Ehr- geiz des Einzelnen steckt in den Kinderschuhen. Kein Wunder, daß in diesem Lande die Kühe wenig Milch und die Schweine wenig Speck liefern : kein Wunder, daß die Pferde züchterisch tief stehen. Der Schleier einer gewissen Resignation und Gleichgiltigkeit liegt über allem. Daß dies eigentlich im Volkscharakter liegt, glaube ich nicht. Es ist die Folge schlechter Entwicklungs- möglichkeiten. Dies gilt natürlich nicht für den Großgrundbesitz, der den Vorteil einer Verbesse- rung des Pferdeschlages durch Einfuhr besonders ostpreußischer und russischer edler Pferde wohl erkannt hat. Der Einfluß solcher Einfuhr ist natür- lich auch hie und da bei den Bauernpferden zu erkennen und äußert sich in erster Linie in höherer Körpergröße der Pferde. Im großen ganzen ist das Bauernpferd als primitiv zu bezeichnen. Es ist nicht durch ziel- bewußte Züchtung gehoben, steht also auf einer niederen Stufe der Domestikation. Aber man darf nicht alle seine fc^igenschaften über einen Kamm scheren und muß unter ihnen solche unterscheiden, die unmittelbare schlimme Folgen schlechter Züchtung und Haltung sind, Folgen eines mangelhaften Ersatzes der natürlichen Zuchtwahl durch die künstliche — ich meine die so häufigen regelrechten Fehler besonders im Knochenbau — , und solche, welche nichts anderes sind, als ein Stehenbleiben auf der Entwicklungsstufe wild- lebender Vorfahren. Hierher sind gewisse Merk- male in Habitus, Farbe und Zeichnung zu rechnen, auf die später besonders eingegangen werden soll, aber auch die Widerstandsfähigkeit und Anspruchs- losigkeit, Eigenschaften, welche sich bei diesen Pferden erhalten haben, weil ihnen nicht Über- züchtung und Verweichlichung den Garaus ge- macht haben. Daß geringe Körpergröße aller- dings nicht blindlings als ein Zeichen von Ur- sprünglichkeit gelten darf, beweisen die zahlreichen Zwergrassen von Haustieren, welche als Anpas- sungsformen sekundär entstanden sind. Ich er- innere an die kleinen Eselrassen Sardiniens und der Balearen, die Ziegenrassen Kretas und Korsi- kas. Nicht zu verwechseln sind damit die durch Luxuszüchtung entstandenen Zwergrassen z. B. dei Hunde und Hühner (Bantamhühner). Daß Zwerg- wuchs auch als eine P'olge mangelhafter Ernährung entstehen kann, ist bekannt. Der Einfluß einer sol- chen „Verkümmerung" ist beim Panjepferd nicht ganz von der Hand zu weisen, dürften aber im wesentlichen nicht schuld an seiner Kleinheit sein. Alle heute noch lebenden wilden Equiden sind kleiner als etwa die mitteleuropäischen Hauspferde. Es ist höchst wahrscheinlich, daß die bedeutende Größe der modernen Hauspferdrassen durch Domestikation und künstliche Zuchtwahl ent- 234 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 17 standen ist.') Dafür spricht auch der Umstand, daß die auf alten persischen und griechischen Bildwerken dargestellten Pferde auffallend klein sind.') Eine ganze Reihe von Eigenschaften des Panjepferdes weist darauf hin, daß es den noch lebenden VVildpferden viel näher steht, als die edlen Kulturrassen. So erklärt sich auch am zwanglosesten seine geringe Körpergröße. Ich habe in der Gegend zwischen Wilna und Smorgon etwa 2 Jahre lang Gelegenheit gehabt, die dortigen Panjepferde zu beobachten und will hier über meine Erfahrungen in Kürze berichten. Auch in diesem eng begrenzten Gebiete ist der Pferdeschlag durchaus nicht einheitlich. Die Körpergröße variiert in hohem Maße. Je größer ein Panjepferd ist, um so weniger entspricht es dem allgemeinen Typus, um so mehr lassen sich Merkmale einer Beimengung fremden Blutes er- kennen. Der Typus wird am klarsten vertreten durch die kleinen Pferde, welche sich ganz allge- mein im Besitze der armen Kleinbauern befinden. Wenn im Laufe der Demobilmachung Panjepferde in großer Zahl in deutschen Privatbesitz gelangt sind, so werden allerdings von diesem — stammes- geschichtlich interessantesten — Schlage nur relativ wenige Tiere dabei gewesen sein. Denn diese haben wegen ihrer Kleinheit im Heere nicht soviel Verwendung gefunden, wie die größeren Schläge. Abb. I. Panjepferd, KaUbliiterlypus (aus der Gegend bei Smorgon). Auch dieser erwähnte kleine Schlag ist aber nicht ganz ausgeglichen. Abgesehen davon, daß er nirgends geflissentlich rein gezüchtet wird, son- dern häufig durch Einkreuzung anderer Typen ver- wischt wird, lassen sich zwei extreme Formen feststellen. Erstens das Urbild des kleinen, mittel- schweren Kaltblüters mit großem, fleischigem Kopf, breitem Hals und vollem Profil (Abb. i); zweitens ') Nach Untersuchungen von Nehring soll im europäi- schen Diluvium ein „schweres" Wildpferd gelebt haben, doch wird auch dieses kleiner gewesen sein, als die edel gezogenen Hauspferde. -) Die relative Kleinheit der auf dem Parthenon-Fries dargestellten Pferde ist auch mit künstlichen Motiven erklärt worden (Piper). Verf kann sich dem nicht anschlieflen. der trockenköpfige Warmblüter mit zierlichem Körperbau und häufig konkavem Profil, in dessen Adern sicher nicht wenig orientalisches Blut rinnt (Abb. 2). Diese Extreme sind durch zahllose Formen verbunden, welche bald der ersten, bald der zweiten Form in der Gesamterscheinung näher- stehen und die Eigenschaften beider teils als Zwischenformen, teils in mosaikartiger Verbindung in sich vereinigen. Das kaltblütige Extrem ist sehr häufig, während der orientalische Typus nur selten rein auftritt. Die Annahme liegt nahe, im Kaliblütertyp die bodenständige Grundform zu sehen, welche von Süden her allmählich mit orientalischen Schlägen durchsetzt worden ist oder noch durchsetzt wird. Diese Vermischung mag noch zu jungen Datums und zu systemlos erfolgt sein, um bisher zu einem ausgeglichenen Kreuzungs- ergebnis geführt zu haben. Eine solche Einheit- lichkeit könnte nur durch überlegte Zuchtwahl Abb. 2. Panjepferd, orientalischer Tj'pus (aus der Gegend bei Smorgon). nach eingehender Prüfung der einzelnen Eigen- schaften auf ihre Erblichkeit erzielt werden. Wissenschaftlich ausgedrückt bedeutet jede Be- fruchtung zwischen zwei Panjepferden in Bezug auf viele grobsinnlich wahrnehmbare Eigenschaften eine komplizierte Bastardierung; es vollzieht sich ein fortlaufender „Polyhybridismus". In weniger auffälliger Form ist dies ja überhaupt bei jeder geschlechtlichen Fortpflanzung — nicht zuletzt auch beim Menschen — der Fall, doch drängt es sich nur selten in solchem Maße der Be- obachtung auf. Wie ich schon früher an anderer Stelle näher ausgeführt habe, ') sind an den Panjepferden, be- sonders an dem als sehr primitiv aufzufassenden kleinen Schlag der Bauernpferde, zahlreiche Wild- pferdmerkmale wiederzufinden. Manche dieser Merkmale sind auch bei anderen, edleren Pferden oft anzutreffen, doch ist ihr Vorkommen beim Panjepferd ungleich häufiger; andere Merkmale sind beim Panjepferd gewöhnliche Erscheinungen, ') Zool. Am. Bd. XLIX Nr. 7/8. N. F. XVIII, Nr. 17 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 23s bei edleren Pferden dagegen entweder nicht oder doch nur in ganz seltenen Ausnahmefällen zu ent- decken. Vor der Aufzählung dieser einzelnen Merkmale sind noch einige Punkte allgemeiner Art kurz zu erwähnen. Wie kommt es, daß höher gezogene Pferde- rassen weniger Anklänge an wilde Stammformen aufweisen, auch wenn es sich um Eigenschaften handelt, welche keineswegs schädlich oder unschön sind, deren Beseitigung also nicht im Interesse des Züchters zu liegen brauchte? — Auch ohne absichtliches Zutun des Züchters entfernen sich alle Haustiere immer mehr mehr vom Aussehen ihrer wilden Stammformen. Zum Teil sind diese Veränderungen unmittelbare Folgen der durch die Domestikation erfolgten tiefgreifenden Verände- rungen der ganzen Lebenslage. So ist es z. B. klar, daß die im Vergleich zum Wildleben meist üppige Ernährung und die meist ausgesprochene Einseitigkeit der Ansprüche, welche an den Kör- per der Haustiere gestellt werden, diesen Körper in mancher Hinsicht verändern müssen. Die Be- obachtungen allerdings, daß diese Veränderungen progressiver Art zu sein scheinen, sich also auch ohne Zuchtwahl im Laufe der Generationen zu steigern scheinen , ist schwer zu erklären , wenn man nicht die — nicht bewiesene — IMöglichkeit annimmt, daß im individuellen Leben erworbene Eigenschaften sich vererben können. Einleuchtend ist, daß manche erblichen Variationen (z. B. Albi- nismus), die auch bei wildlebenden Tieren vor- kommen , aber wegen ihrer Unzweckmäßigkeit sich bei diesen ijicht erhalten können, bei Haus- tieren bestehen bleiben und sich ausbreiten. Es ist auffallend, daß bei domestizierten Tieren größere oder kleinere erbliche Variationen häufiger auf- treten als bei wilden. Solche Variationen können, wenn sie sich bei der Kreuzung mit der normalen Form als erblich überlegen, dominant, erweisen, diese normale Form allmählich regelrecht über- wuchernd unterdrücken. Demnach läßt sich umgekehrt sagen, daß eine Tierart sich umso weniger spontan verändert, je weniger tiefgreifend die Domestikation ist, je ähn- licher also die Lebenslage des Haustieres mit der- jenigen seiner wilden Vorfahren ist. Die Wildmerkmale des Panjepferdes sind, wie gesagt wurde, und wie aus dem Folgenden her- vorgehen wird, im wesentlichen nicht derart, daß ihr Verschwinden im Sinne des Züchters liegen müßte. Die Seltenheit einiger von ihnen bei edleren Pferdeschlägen dürfte also in erster Linie auf die Veränderung der Lebenslage zurück- zuführen sein. Natürlich wirkt auch die Hand des Züchters mit; so z.B. kann dadurch, daß be- stimmte andere Farben bevorzugt werden, die alte Wildfarbe verschwinden. — Die Salzwüsten Innerasiens beherbergen heute noch ein kleines, falbhaariges Wildpferd. Es wurde im Jahre 1879 vom russischen Forscher Przewalski entdeckt und heißt ihm zu Ehren Equus Przewalskii (Abb. 3). Das Tier hat im allgemeinen die Proportionen eines Kaltblüters. Manche seiner Zeichnungsmerkmale treten auch bei unseren hochgezüchteten Pferdeschlägen regel- mäßig auf, so besonders die oft dunkle Färbung der Extremitäten, vor allem der vorderen; nicht ■ v^ Abb. 3. Przewalski-Pferd (aus Scboenbeck, Aphorismen zur Naturgeschichte, Charakteristik und Kultur des Pferdes). Stuttgart 1002. selten auch der Aalstrich, entweder als ein scharf begrenztes, dunkles Rückenband, oder doch als eine diffuse Pigmentanhäufung längs der Rücken- initte. Auch die helle, fast weiße P'ärbung der Umgebung der Schnauze ist wenigstens bei den Kaltblütern häufig und beim Fohlenkleid sogar die Regel. Mit dieser hellen Farbe des Schnauzen- teils pflegt, wie beim Przewalski-Pferd, eine dunkle Umrandung der Nüstern und des Maules verbun- Abb. 4. Panjepferd mit weii3er Schnauzengegend und dunkler Umrandung von Maul und Nüstern. den zu sein (Abb. 4). Auch das gelegentliche Vorkommen eines rostbraunen Anfluges am Vorder- gesicht erinnert an die ähnliche Färbung dieser Teile beim Przewalski-Pferd. Dies ist bei einiger 236 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 17 Aufmerksamkeit bei liellgefäibten Kaltblütern (z. B. Belgiern) gar nicht selten festzustellen. *) Weisen schon diese Parallelerscheinungen auf enge verwandtschaftliche Beziehungen zwischen dem asiatischen Wildpferde und zumindest unseren kaltblütigen Pferdeschlägen hin,-) so führt ein Vergleich zwischen diesem Wildpferde und dem Panjepferde in noch höherem Maße zu diesem Ergebnis. Auffallend ist schon das häufige Vorkommen der falben Wildpferdfarbe unter den Panjepferden. Gerade diese Farbe ist auch für andere Wildmerk- male ein deutliches Optimum. Bei falben (nicht bei isabellfarbigen) Panjepferden sind wenigstens die vorderen Extremitäten stets dunkel gefärbt; der Aalstrich fehlt nie und ist immer scharf kon- turiert; der rötliche .Anflug des Vordergesichts ist häufig anzutrefi'en. Die Mähne und der Schweif sind — wie beim Wildpferd — in den Seitenteilen heller als in der Mitte, wo die dunkle Farbe des Aalstrichs auf sie übergreift (Abb. 5). Abb. 5. Schweif eines falben Panjepferdes. Neben der falben Wildfarbe bestehen noch zwei weitere Farboptima für die Ausbildung der Wildmerkmale : die mausgraue und die fahlbraune Gesamtfarbe. Während bei den fahlbraunen (stumpfbraunen) Tieren die Wildmerkmale, be- sonders der Aalstrich, zwar oft sehr schön, manch- mal aber auch gar nicht vorhanden sind, verhalten sich die Mausgrauen ähnlich einheitlich, wie die Falben. Was bei den Falben in verschiedenen Farbwerten zwischen hellem Lichtbraun und dunkelstem Schwarzbraun oder Rotbraun auftritt, ist bei den Mausgrauen in die entsprechenden Helligkeitswerte zwischen hellem Grau und dunklem Grauschwarz übertragen ; Verf. hat dies an anderer ') Merkwürdig oft Itommt dieses rostfarbene Gesicht bei Rotschimmeln vor. ') Daraus eine direkte Abstammung der Kaltblüter vom Przewalski-Pfcrd abzuleiten, wäre aber darum keineswegs be- rechtigt. Stelle näher ausgeführt (Zool. Anz. Bd. XLIX Nr. 7/8). Auch diese graue Farbe ist sicher als Wildfarbe anzusprechen. Noch im vergangenen Jahrhundert hat in Südrußland ein graues Wild- pferd existiert, das vermutlich dem Przewalski- Pferd nahe stand und dessen Schilderungen in weitgehendem Maße auch auf die grauen Panje- pferde zutreffen. Leider stellt die einzige Abbil- dung, welche von einem dieser südrussischen Pferde vorliegt, keinen reinen Wildling, sondern einen Haus- pferdbastard dar (vgl. Schoenbeck, Aphorismen zur Naturgesch., Charakteristik und Kultur des Pferdes). Zwischen falber und grauer Wildfarbe treten beim Panjepferd alle möglichen Übergänge auf. Oft ist bei Pferden, deren Gesamtfarbe als falb oder braun zu bezeichnen ist, viel schwarzes Pigment in den Haaren enthalten, welches dann besonders am Vorderkopf gehäuft auftritt. Letz- teres Verhalten ist bei grauen Pferden die Regel (Abb. 6). .■\bb. 6. Stark gestreiftes graues Panjepferd. (Aus Krieg, Pferdestudien an der Ostfront, Zuol. Anz. 1917.) Wie häufig der Aalstrich beim Panjepferd vor- kommt, geht daraus hervor, daß Verf. unter 158 Jährlingsfohlen aus der Smorgoner Gegend 43 mit deutlichem, weitere 51 wenigstens mit irgendwie angedeuteten Aalstrich gefunden hat. Vom Przewalski-Pferd ist bekannt, daß es eine stehende Mähne besitzt. Auch beim Panjepferd ist ein stehender Mähnegrund oft zu finden, wenn auch die Mähne im übrigen meist hängt. Die hängende Mähne ist sicher keine Wildeigenschaft, denn keine der wildlebenden Einhuferarten besitzt eine solche. Der beim Wildpferd beobachtete „Bart", d. h. eine besonders lange Behaarung an der Unterseite des Unterkiefers, ist auch am Panjepferd, besonders im Winterkleid, eine gewöhn- liche Erscheinung und oft sehr stark ausgebildet. Übrigens hat sich auch bei deutschen Pferden im russischen Winter ein starker Bart entwickelt, und N. F. XVIII. Nr. 17 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 237 zwar bei Kaltblütern mehr als bei Warmblütern. In schwächerer Ausbildung kann man ihn aber auch bei uns in Deutschland beobachten. Das gelegentliche Fehlen der sog. „Kastanien" beim Panjepferd darf nicht als Wildmerkmal aufgefaßt werden. Diese Kastanien sind als rudimentäre Gebilde naturgemäß variabel in ihrer Entwicklung. Sie scheinen beim Przewalski- Pferd meist vorhan- den zu sein. Die unteren Schneidezähne sind beim Panjepferd im allgemeinen mehr horizontal, in Verlängerung des Unterkiefers, gestellt, als bei anderen Schlägen; dies entspricht dem Zustand bei wilden Equiden; doch darf hierauf nicht viel Wert gelegt werden, da eine solche Zahnstellung sicher mit der Art der Ernährung (Weidegang) in ursächlicher Beziehung steht und als sekundäre Anpassung entstehen kann. Zur Diluvialzeit lebten in Europa noch zahl- reiche Wildpferde, und sogar in historischer Zeit hat es in Deutschland noch Wildpferde gegeben. Nach den Untersuchungen von Nehring sind unsere Kaltblüterrassen auf solche mitteleuropäische Wildpferde zurückzuführen. Aus recht vertrauens- würdigen Pferdedarstellungen des diluvialen Men- schen ergibt sich eine große Ähnlichkeit zwischen einzelnen jener Wild pferdformen und dem Prze- walski-Pferd. Diese Übereinstimmung kann auch die mancherlei Ähnlichkeiten zwischen dem heuti- gen Wildpferd und unseren Kaltblüterrassen ver- ständlich machen. Daß die östlichen Pferde diese Ähnlichkeit in höherem Maße besitzen, erklärt sich — • abgesehen davon, daß sie züchterisch wenig verändert worden sind — daraus, daß sie beim allmählichen Zurückweichen der Verbreitungs- grenze der Wildpferde nach Osten zu besonders lange mit diesen in Berührung blieben. Sie mögen noch bis in neuere Zeilen herein sich mit Wild- pferden vermischt haben oder mit frisch domesti- zierten Pferden gekreuzt worden sein. Jedenfalls ist sicher, daß die Paiijepferde den rezenten Wild- pferden besonders nahestehen. Es wäre natürlich falsch, im Przewalski-Pferd den unmittelbaren Vorfahr des Panjepferdes zu sehen. Wahrscheinlicher ist, daß gewisse, dem Przewalski-Pferd ähnliche, Wildpferdformen (wie viele, wissen wir nicht) im Panjepferd enthalten sind. Daß aber außer derartigen Stammformen auch noch ganz andere, vermutlich südliche, im Panjepferd stecken, wurde schon oben erwähnt. Vielleicht würden breit angelegte Skelettunter- suchungen an Panjepferden noch weitere interes- sante Aufschlüsse geben können. Dabei wäre aber zu bedenken, daß besonders manche Eigentüm- lichkeiten des Schädels nicht nur durch die Ab- stammung bedingt sind, sondern auch von der Lebenslage beinflußt werden, und daß auch die wilden Stammformen wohl kein durchaus einheit- liches Gepräge gehabt haben, sondern vielleicht in zahlreiche Lokalrassen oder Varietäten zerfallen sind, welche sich in ihren Proportionen den An- forderungen ihrer Umwelt angepaßt haben. Es sind nun noch einige andere Primitivmerk- male des Panjepferdes zu erwähnen. Auch über sie habe ich früher (siehe oben) schon kurz be- richtet, doch sei der Einfachheit halber das Wesent- liche hier wiederholt. Es ist bei Panjepferden das Vorkommen merk- würdiger zebroider Streifen zu beobachten, welche in ihrem Auftreten an bestimmte Körperregionen gebunden sind (Abb. 6). Sie sind zwar variabel im Grad ihrer Ausbildung und nur selten ganz symmetrisch auf beiden Körperhälften: aber der Verlauf dieser Streifenmuster folgt im wesentlichen bestimmten Regeln, welche dem Verlauf der Streifen bei den Tigerpferden entsprechen. An der Vorder- hand, an und über der Fußwurzel, sind häufig einige (4 — 10) horizontale Streifen zu beobachten. Auch in der Gegend des Sprunggelenks kommen Streifen vor, aber nur dann, wenn sie auch vorne nicht fehlen. Am Widerrist sind nicht selten i — 3, manchmal auch mehr Streifenrudimente zu finden, welche in ihrem Verlauf dem Kreuzstrich der Esel entsprechen. Statt dieser Streifen ist oft auch nur ein mehr oder weniger dunkler, unscharfer Fleck zu erkennen, dessen Abstammung von Ver- tikalstreifen siclj manchmal nachweisen läßt. Ein ähnlicher F'leck ist in der Halsregion nicht selten festzustellen und auch bei ihm läßt sich die Ent- stehung aus Streifen erkennen. In einzelnen Fällen hat Verf auch auf der Stirn die Rudimente eines Streifenmusters vorgefunden. Alle diese Streifungen sind bei falben und mausgrauen Pferden am häufigsten und schönsten ausgebildet, treten aber auch bei braunen bis- weilen auf. Ihr Vorkommen scheint vom Vor- handensein anderer Wildmerkmale (Aalstrich, dunkle Extremitäten) abhängig zu sein. Die Kreuz- streifen treten bei Mausgrauen am deutlichsten hervor. Hals- und Kreuzfieck kann man auch bei hochgezüchteten Pferden finden, in seltenen Fällen sogar die Beinstreifen. Beim Przewalski-Pferd und beim grauen süd- russischen Wildpferd sind, wenigstens im Sommer- kleid, schwache Streifen an den Beinen beobachtet worden. Ob sie bei ihnen aber regelmäßig auf- treten bzw. aufgetreten sind, steht nicht fest, eben- sowenig, ob sie bei ihnen eine so starke Aus- bildung erfahren können wie beim Panjepferd. Auch vom Aalstrich ist zu bemerken, daß er beim Panjepferd in stärkerer Form auftritt, als dies beim Przewalski Pferd die Regel ist. Sicher ist, daß Streifungen auch beim indischen Kattymar- Pferde und beim norwegischen F"jord-Pferde ge- wöhnlich sind. Sie erinnern daran, daß frühere Pferdeahnen mehr oder weniger stark gestreift waren. Es läßt sich, wie sich gezeigt hat, eine ganze Reihe sicherlich primitiver Merkmale beim Panje- pferd nachweisen. Diese sind nicht etwa „Rück- schläge" sondern ganz einfach frühere Artmerk- male wilder Vorfahren, welche im Laufe der Ge- nerationen zu biologisch wertlosen rückständigen Varianten herabgesunken sind. Und die relative 238 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 17 Häufigkeit solcher Varianten beim Panjepferd be- rechtigt uns, es als primitiv zu bezeichnen im Vergleich zu anderen Pferdeschlägen. Die vielen Panjepferde, welche infolge des Krieges nach Deutschland verpflanzt worden sind, werden interessante Beobachtungen über die ver- ändernde Wirkung ihrer neuen Lebenslage ge- statten. Der äußere Eindruck hat sich schon bei vielen dieser Pferde erheblich verändert, während sie im deutschen Heere verwandt wurden. Ihr Haarkleid ist glatter und weicher geworden, ihre Formen voller. Der häßliche Hängebauch, eine Folge des Weideganges, ist fast verschwunden. Die andere Beschaffenheit von Klima, Pflege und Ernährung hat sich geltend gemacht. Diese Ein- flüsse vi^erden sich in Zukunft noch steigern. Aber auch in anderer Hinsicht wird das Ostpferd sich verändern. Durch Auslese und Anpassung wird der Knochenbau voraussichtlich einige seiner Fehler und Eigentümlichkeiten verlieren; der in unge- bundenem Weideleben häufig entstandene Hang zum Schlagen wird geringer werden ; Verwöhnung wird der Anspruchslosigkeit ein Ende machen. Bei der Kreuzung von Panjepferden mit unseren einheimischen Pferden wird große Vorsicht am Platze sein, daß nicht die Freude am Neuen alt- bewährtes verschlechtere. Denn jeder Pferdeschlag ist das Produkt seiner Scholle und hält oft nicht in der neuen Heimat, was es in der alten ver- sprochen hat. Über die Farbstoffe unserer Blüten und Früchte. • [Nachdruck yerbolcn.] Von Hans Der grüne FarbstofT der Blätter, das Chloro- phyll, ist nach langen ergebnislosen Untersuchun- gen zahlreicher Forscher vor einigen Jahren dank den Arbeiten R. Willstätters seiner chemischen Natur nach erkannt worden. Es ist eine Gruppe mehrerer Pyrrolringe gebunden an Magnesium, ganz gleich welcher Pflanze das Chlorophyll ent- stammt.^) Es mußte reizen, auf demselben Wege, der zur Kenntnis des Baues des Blattfarbstoffes führte, den chemischen Charakter auch der zahl- losen anderen Pflanzenfarbstoffe, die in Blüten und Früchten unser Auge erfreuen, zu erschließen. Zwar sind auch den Farbstoffen von Blüten seit langem mannigfache Arbeiten gewidmet worden — die zum Teil äußerst prächtigen Färbungen mußten ja den Forschergeist herausfordern I — aber ebenso wie beim Chlorophyll war den meisten einschlägigen Arbeiten ein voller Erfolg versagt. Wie alle Chlorophyll-Lösungen so sind auch die Extrakte von Blüten mit zahlreichen hochmole- kularen, zum Teil kolloidalen Begleitstoffen be- schwert. Diese erschweren die Trennung vom Farbstoff, der dazu noch leicht zersetzt wird, so daß man schwer zu reinen Produkten gelangt. Und nur solche sind für Analysen zu gebrauchen. Eine Tatsache wurde schon frühzeitig erkannt. Die roten, blauen und violetten Pflanzenfarbstoffe oder, wie der Botaniker sie nennt, Anthocyane, haben den Charakter von Phenolen. Ein Phenol in seiner einfachsten Form ist bekanntlich die Karbolsäure, chemisch ein Benzolring mit unmittel- bar daran sitzendem Hydroxyl -OH Das Wasserstoffatom der Hydroxylgruppe ist nun durch Metalle ersetzbar, man erhält dann salzartige Ver- bindungen, z. B. i I Natriumphenolat. Auf diesen Umstand gründeten die Anthocyan- Heller. forscher beinahe ausnahmslos ihre Versuche, die Pflanzenfarbstoffe zu isolieren. So hofften Fremy undClocz (1854) das Anthocyan der Kornblume und des Veilchens, später Mulder (1856) den Farbstoff der blauen Weintrauben in Form ihrer schwerlöslichen Bleisalze fällen zu können — im wesentlichen erfolglos. Und noch die auf der gleichen Methode beruhenden sehr gewissenhaften Arbeiten von Heise in Wien (1889 und 1894) zeigen irrtümliche Befunde auf Grund unreiner Präparate. Auf die angegebene Weise gelangt man nur zu amorphen Produkten, die den ur- sprünglichen Farbstoff in bereits veränderter Form aufweisen. Da fand im Jahre 1905 der Botaniker H. M o - lisch, ein sehr geschickter Experimentator, daß das Anthocyan der Blüten ,, nicht nur im Zellsaft gelöst, sondern auch in fester Form ausgeschieden" vorkomme.-) Zerdrückte er nun z. B. ein rotes Rosenblatt mit Wasser oder etwas verdünnter Salzsäure , so zeigten sich nach dem Verdunsten der Lösung schöne rote Kristalle des Farbstoffs. Trotzdem erzielte V. Gräfe (1906 — 1911) in daraufhin angestellten Versuchen noch keine end- gültigen Ergebnisse. Vielmehr gelang das erst demselben Forscher, dem wir die Kenntnis der chemischen Natur des Chlorophylls verdanken, Richard Willstätte r. In sehr vielen Arbeiten mit seinen Schülern ist ihm die Abscheidung der reinen Anthocyane und die wenigstens grundsätzliche Aufklärung ihrer Zusammensetzung geglückt. Dem eingangs ge- streiften Gedanken folgend, übertrug er Präparation und Analyse des Chlorophylls auf die Anthocyane, mit vollem h^rfolg. Da die Anthocyane neben ihrem Phenolcharakter auch den von Basen be- sitzen, so gründete Willstätter hierauf seine Fällung. Mit verdünnten Säuren erhielt er so ') Vgl. hierzu „Das Chlorophyll" vom Verf. in Naturw. Wochenschr. XVII, 545 (1918, Nr. 38). •■') Botan. Ztg. 63, 145, 1905. N. F. XVIII. Nr. \^ Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 239 ausgezeichnet kristallisierende Salze, die zur Ana- lyse voll geeignet waren. Die Vorschrift ist ein- fach : völlig trockne Rosenblüten werden fein ge- mahlen und mit methylalkoholischer Salzsäure ausgezogen. Der mit Äther versetzte Auszug läßt den Rosenfarbstoff als leicht zu reinigendes Roh- produkt fallen.*) ähnlich, wenn auch nicht immer so einfach, ist das Verfahren bei anderen Farb- stoffen. Das erste auf diese Weise in schön ausge- bildeten Kristallen erhaltene Anthocyan war der blaue Farbstoff der Kornblume, das Cyanin, das von Willstätter und Everest gewonnen wurde, 65 Jahre nachdem Morot (1849) zuerst seine Isolierung (vergeblich) versuchte.-) Was ist nun dieses Cyanin? Darüber erhalten wir den nächsten Aufschluß, wenn wir es mit verdünnter Salzsäure kurze Zeit erhitzen. Sein Molekül zer- fällt dann in einen farbigen und einen farblosen Anteil. Der erste ist der eigentliche Farbstoff, der dem Gesamtmolekül seine Farbe verleiht; er ist Cyanid in genannt worden. Das farblose Spaltprodukt ist nichts anderes als — Zucker; und zwar ist im Cyanin, dem Kornblumenfarbstoff, ein Molekül Cyanidin mit zwei Molekülen Glucose (Traubenzucker) verbunden. Ganz gleiche Ver- hältnisse liegen bei allen Anthocyanen vor. Diese sind also nichts anderes als Gl ucoside, d. h. Verbindungen mit Zuckerarten, was schon Heise feststellte und womit die Tatsache erklärt ist, daß der Farbstoffgehalt anthocyanhaltiger Pflanzen durch eine äußerliche Zuführung von Zucker erheblich gesteigert wird (O verton 1889). Die empirische Zusammensetzung des anderen Spalt- produktes, des Cyanidins, ist zu C,5Hi„0|; ermit- telt worden, übereinstimmend mit Griffiths, der 1903 bereits den gleichen Farbstoff aus der Geranienblüte erhielt. Woraus folgt, daß in zwei botanisch verschiedenen Blüten von verschiedener Farbe dennoch die gleiche Farbstoffgrundlage vorhanden ist. Aber nicht nur in zwei Blüten- gattungen liegen die Verhältnisse so. Der Farb- stoff der Rose erwies sich bei der Untersuchung als mit dem der Kornblume ebenfalls überein- stimmend! Und auch das Anthocyan id in der Preiselbeere, des Idaeins, ist Cyanidin; dies- mal allerdings an einen anderen Zucker (Galak- tose) gebunden. Die Anthocyane der roten Winteraster (Chrysanthemum), der Himbeere, Vogelbeere, der Kirsche, Schlehe und Pflaume — sie alle sind Verbindungen des Cyanidins, des Kornblumenfarbstoffes, das mit einem oder zwei Molekülen Glucose gekuppelt istl Gehören die genannten Pflanzenfarbstoffe demnach in eine große Gruppe, so leiten andererseits gewisse Anthocyane sich von einer etwas abweichenden Farbgrundlage ab; und zwar sind es neben dem Cyanidin noch zwei Stoffe, die die Spaltprodukte großer Klassen von Anthocyanen darstellen, das Pelargonidin (in der Pelargonienblüte), schöne rote Kristalle von der Zusammensetzung Cjr,Hjo05, und das Delphinidin (in der Ritterspornblüte, Delphinium Consolida) Cj^Hi^O,. Außer ihnen gibt es noch mehrere andere Anthocyanidine, die hier aufzuzählen zu weit führen würde. Aus den gegebenen Beispielen erkennt man aber schon, daß alle An thocyane zwar nicht durchgehend die gleiche, wohl aber einander sehr nahestehende Grundsubstanzen aufweisen, daß sie also eine große Verwandtschaftsgruppe darstellen. Das hat M o 1 i s c h schon vermutet, Willstätter konnte es nachweisen. „Die bisher untersuchten Beispiele von Anthocyanen zeigen, daß der Ein- heit des lebenswichtigen Chlorophylls die Varia- bilität der Schmuck- und Lockfarben des Pflanzen- reiches gegenübersteht". ') Es bleibt nun noch zu fragen, welches die Konstitution der untereinander verschiedenen aber prinzipiell gleichartig gebauten Anthocyanidine sei. Denn die im Cyanidinmolekül C^^HigOg vor- liegenden Atome können ja in der mannigfaltig- sten Weise miteinander verkettet sein! Ein die- sem Molekül sehr ähnliches ist nun bereits gut bekannt im Quercetin Ci,^Hi,jO;, dem Ver- treter der in Hölzern, Rinden usw. weitver- breiteten gelben Beizenfarbstoffe, die ein- gehend erforscht sind.^) Ihnen liegt zugrunde eine der folgenden ähnliche Molekularstruktur: o = F" 1 a V e n (flavus = gelb) I " ^ Charakteristisch hierin ist der P y r o n ring aus 5 C- und einem O Atom. Unter gewissen hier nicht zu erörternden Umständen vermag in ihm das Sauerstoffatom vierwertig aufzutreten und salzbildend zu wirken. Die entstehenden Salze mit vierwertigem O heißen Oxoniu msalze, und als solche sind nach Wi'llstätt ers Untersuch- ungen alle Anthocyane aufzufassen. Als Beweis dient die Isomerie mancher Anthocyanidine mit den Beizenfarbstoften, der Umstand, daß z. B. Quercetin unmittelbar zu Cyanidin reduzierbar ist, daß die Anthocyane genau so gut wie die Beizen- farbstoffe färben, diesen analoge Spaltprodukte geben usw. Das Schema wonach alle bisher be- kannten Anthocyanidine gebaut sind, ist OCl HO OH (als Chlorid). ') Annalen der Chemie 408, 5 f., 1915. ») Annalen der Chemie 401, 189, 1913- An diesen Ringen sitzen dann mehrere OH- bzw. O-CHg = Gruppen, deren Zahl eine Farb- vertiefung parallel geht. ') Willstätter, Berichte der deutsch, ehem. Gesellsch. 47, 2874, 1914. *) Zahlreiche Arbeiten von v. Kostanecki, Berichte d. A. ehem. Gesellsch. 1899 ff. und von A. G. Perkin u. a. 240 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 17 Pelargonidin Cj^HjuGj ist scharlachrot, Cyanidin Cj^Hj^Oii ist karminrot, Delphinidin Cj^Hj^O; ist blaurot. Immer aber gilt : „Cyan und Cyanidin scheinen als farbige Substanzen nur existenzfähig zu sein, so lang sie Verbindungen mit chinoidem, vier- wertigem Sauerstoff sind" ^) und zwar scheinen die Anthocyane die ersten in der -Natur be- obachteten Oxoniumsalze zu sein. Der Nachweis der Verwandtschaft mit den gelben Beizenfarbstoffen sowie die hinreichend ge- sicherte chemische Auffassung der Anthocyanidine ist nun die Grundlage zum Verständnis der sehr großen Mannigfaltigkeit unserer Blüten- und Frucht- farben, von denen oben gesagt wurde, daß sie alle sich von verhältnismäßig wenigen Farbstoffen herleiten. Betrachtet man das Formelbild, so fallen zunächst die OH-Gruppen auf, von denen anfangs gesagt wurde, daß sie dem Molekül Phenol- charakter verleihen, also sauer reagieren. Sie können dementsprechend zweitens Salze bilden. Der Charakter des Pyronrings wird hierbei zu- nächst noch nicht versehrt, er bleibt wie im „P'laven"-bild angezeichnet bestehen. Nun vermag aber drittens das darin vorhandene 0-Atom basisch zu reagieren, also seinerseits Salze zu bilden, die Oxoniumsalze. Alle drei Zustände des Moleküls sind nun mit tiefgreifenden Verschiedenheiten der Farbigkeit verknüpft, deren Abwechslungsreichtum noch dadurch erhöht wird, daß farblose Isom.eri- sationsprodukte auftreten können. Je nach der Anwesenheit von überschüssiger Säure oder Alkali oder nur der freien Farbsäure ist also die Farbe der Blüten verschieden; tatsächlich beruhen die Spielarten mancher Blütenfarben lediglich auf der Reaktion des Zellsaftes. Als Beispiel diene die Kornblume. In ihren Randblüten ist hauptsächlich blauer F"arbstoff vorhanden, und zwar das Kaliumsalz der Säure. Die Blütchen der Blütenscheibe enthalten dagegen zumeist die freie Säure (Cyan in) und sind darum violett in vielen Abstufungen. Ferner kommen, wenn auch seltener, rote Blütchen vor: das ist die Farbe des Oxoiiiumsalzes. Und die ebenfalls anzu- treffenden farblosen Blüten enthalten ein Iso- meres des Cyanins, das farblose Alkalisalze bildet. „Es ist das Ewig-Eine, das sich vielfach offenbart". ') Annaleo d. Chemie 401, 201, 1913. Mit diesem Goethewort lassen sich auch diese Verhältnisse kennzeichnen. Zum Schluß soll nun zusammengestellt sein, welche Bedingungen zusammenwirken um die Farbenpracht unserer Blüten und Früchte zu er- zeugen. Zunächst hängt ihre Farbe ab von der Menge des in ihnen enthaltenen Anthocyans. Die kann sehr schwanken. Während Beerenfrüchte nur etwa 0,5 " ^ ihres Trockengewichts an Farb- stoff enthalten, steigt diese Menge bis zu 30 % in den Blüten der Dahlien. Weiße und gelbe Rosen enthalten nur wenig oder fast kein Antho- cyan, rosafarbige Rosen schon etwas mehr, dunkel- rote sind reich an der Säureverbindung, deren Kaliumsalz Kornblumenblau ist (vgl. oben!).^) Ferner ist die Blütenfarbe bedingt durch die Reaktion des Zellsaftes, wofür die Kornblume als Beispiel diente. Und drittens spielen anders- artige Pigmente eine bestimmende Rolle, denn nur „die durch Wasser oder wasserhaltigen Alko- hol extrahierbaren, ätherunlöslichen blauen, violetten und roten Farbstoffe der Blüten, vieler Früchte und mancher Blätter heißen Antho- cyane.^) Neben ihnen gibt es jedoch auch noch gelbe Pigmente. Zu ihnen gehören die Caro- tinoide^) und die den Anthocyanen verwandten oben mehrfach erwähnten Flavonfarbstoffe und andere, noch nicht untersuchte Stoffe. Die zarten lachsfarbenen Töne der Aprikose, die braunen Farben des Goldlacks, mancher Stief- mütterchen usw. sind durch gelbe Pigmente her- vorgerufen, die an besondere Farbstoffträger, die Chromoplasten, gebunden sind. Das Scharlachrot vieler Tulpen ist ein Gemisch eines Cyanidin- derivats mit Carotin, dem Molirrübenfarbstoff. So hat sich auch das Geheimnis der Farben- fülle unserer Blüten, die unser Auge entzücken und unsere Bewunderung hervorrufen, dem F"or- scher enthüllt — ohne damit an Poesie eingebüßt zu haben. Jeder Blick tiefer in die „Werkstatt der Natur" offenbart neue Wunder, und schließlich: warum die Farben, von deren Bau ein Bild zu geben versucht wurde, uns so ausnehmend Wohl- gefallen, diese Frage bleibt zunächst noch un- gelöst. ') Annalen d. Chemie 408, 3 f., 1915. ■^) Annalen d. Chemie 401, 195, 1913. ^) Vgl. hierzu „Das Chlorophyll" vom Naturw. Wochenschr. XVII, 545 (1918, Nr. 38). Verf. tiber die Beziehuugeu zwischen dem Vogelzug und deu ErsclieinuDgen im Luftmeere. [Nachdruck veibotcn.] Von Dr. Wilh. R. Eckardt, WeUerdienstleiler am Meteorologischen Observatorium Essen. Dem Einfluß von Wind und Wetter auf den Vogelzug widmen in neuster Zeit die modernen Vogelwarten ihre erhöhte .'\ufmerksamkeit. Um nicht von vornherein die Befürchtung zu erwecken, daß ein Berufsmeteorologe, dessen Herz in manchen seiner Musestunden der Ornithologie gehört, diesen Einfluß etwa überschätzen könne, habe ich ab- sichtlich schon in dem Titel nur von den B e - Ziehungen zwischen dem Vogelzug und den Vorgängen im Luftmeere gesprochen, also, wohl ge- merkt, nicht von einer Abhängigkeit des Phänomens von Wind und Wetter. N. F. XVIII. Nr. 17 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 241 Luftdruck und Wind. Über den Einfluß von Luftdruck und Wind auf den Vogelzug existiert nur eine in sich voll- kommen abgeschlossene Theorie, welche das Er- gebnis jahrelanger Studien über die in den Jäger- zeitungen veröffentlichten Berichte über den Schnepfenzug auf Grund der täghchen Wetter- karten ist, und der außerdem auch noch fünf- jährige Augenbeobachtungen an der Ostküste der Adria zugrunde liegen. Sie stammt von M. Marek; V) ihr Kernpunkt ist im wesentlichen der folgende: Das Verhalten der großen Aktionszentren der Atmosphäre ist für den Vogelzug durchaus maß- gebend, und zwar sind es die Vorstöße der winter- lichen nordostasiatischen Antizyklone, des nord- westlichen (grönländischen, also polaren) Hoch- drucks und des subtropischen Azorenmaximums, die mit ihren Folgeerscheinungen den Anstoß zum Vogelzug geben. Im Herbste seien es die Vorstöße der besagten nördlichen Hochdruckge- biete, die in ihrem Gefolge sich einstellenden Winde polarer Herkunft, welche mit dem Sinken der Temperatur Nahrungsmangel zur Folge haben: sie rufen den Zuginstinkt der Vögel wach und sind das Signal zum Aufbruch nach wärmeren Ländern. Im Frühling dagegen veranlassen die milden Winde, welche aus dem Kern des sub- tropischen Azorenmaximums wehen, und die mit den Vorstößen des hohen Luftdrucks in der Regel verbundene Abnahme der Bewölkung und der Niederschläge die Zugvögel zum Aufbruch in die nördliche Brutheimat. Die ohne weiteres sich ergebende Folge dieser Theorie wäre die, daß die Zugvögel, gewissermaßen entsprechend dem Winde (nach dem BuysBallotschen Windgesetz) aus den Gebieten des hohen Luftdrucks den Gebieten niedrigen Luftdrucks zuströmen. Da im Herbste die stärksten Hochdruckvorstöße seitens des kontinentalen Maximums in Nordostsibirien erfolgen, so geht nach Marek von hier auch der Vogelzug nach den Zentren der Tiefdruckgebiete, und zwar nach Südosten zum Großen Ozean hin, nach Süden zum Indischen Ozean, nach Südwesten zum Atlantischen Ozean, bzw. zum Mittelmeer- gebiet. Im Frühjahr dagegen wandern die Vögel, durch die barometrischen Tiefdruckgebiete ge- wissermaßen angesogen, im allgemeinen in ent- gegengesetzter Richtung. Das barometrische Hoch- druckgebiet wäre also die Veranlassung zum Auf- bruch, das Tiefdruckgebiet der Wegweiser. Mit Anwendung dieser Theorie sucht Marek das ganze Rätsel des Vogelzuges mit seinen Haupt- und Nebenfragen zu lösen. Denn er führt die Schnelligkeit des Zuges, das mitunter stattfindende Abweichen der Vögel von ihrem Hauptwege, etwaige Rückwärtsbewegungen usw. auf die Man- nigfaltigkeit und den Wechsel der Luftdruckver- teilung zurück. An sich besticht diese Theorie durch ihre ver- blüffende Einfachheit. Allein allen derartigen An- •) Ornith. Jahrbuch. Jahrg. 17. nahmen, die außerordentlich verwickelte und viel- seitige Naturprobleme auf so einfache Weise er- klären wollen, muß man von vornherein mit großem Mißtrauen begegnen. Denn wie überall in der Natur, so bestehen auch beim Vogelzuge die Erscheinungen nicht aus einer einfachen, son- dern aus ineinander verwobenen Ursachen rei h en , und darum ist nicht die einfache, sondern die komplizierte Erklärung die richtige. Also auch beim Vogelzug in seiner Abhängigkeit, oder besser gesagt, in seinen Beziehungen zu Wind und Wetter ! Auch von der Theorie Mareks wird man wohl, wie F. Braun treftend von Simroths Pendulationstheorie gesagt hat, getrost behaupten dürfen, daß seine Theorie eher da war als die einzelnen Beobachtungen. Nicht die wirklichen Feststellungen führen mit zwingender Notwendig- keit zu der Theorie, sondern Marek suchte nichts anderes als mehr oder weniger passende Belege aufzutreiben, um die von vornherein vorhandene, bzw. auf wirklichen beobachteten, aber eben nur mehr oder weniger lokalen, bzw. geographisch ganz anders erklärbaren Tatsachen und daher zum mindesten einseitig begründete Lehrmeinung zu stützen. Trotz dieser Mängel ist Mareks Theorie doch nicht ganz bedeutungslos. So weist er z. B. an zahlreichen Beispielen ganz richtig nach, daß die einzelnen Zugperioden innerhalb einer Zugzeit mit dem Auftreten barometrischer Hochdruckgebiete zusammenfallen, und daß der Zug stockt, sobald ein zyklonales Luftdruckgebilde, ein Tief, den be- ständigen Witterungscharakter stört, während der Zug sofort wieder einsetzt, wenn ein barometri- sches Hochdruckgebiet seinen Einfluß von neuem geltend macht. Das ist zweifellos richtig und seit langen Jahren vor allem auch von der Ungarischen Ornithologischen Zentrale ausführlich bestätigt worden; desgleichen ist die Beobachtung richtig, daß bei sehr starkem Winde namentlich wenn er der Zugrichtung zuwider läuft, der Vogelzug gänz- lich unterbrochen werden kann. Wenn dagegen Marek auch auf die Ent- stehung des Vogelzuges seine meteorologische Theorie anwendet und erörtert, daß die nord- europäische, über dem Binnenlandeise lagernde .■\ntizyklone die erste Veranlassung zum Zuge und dem daraus entstehenden Zuginstinkt, der jetzt im Herbst und Frühjahr immer wieder durch die Vor- stöße der Hochdruckgebiete geweckt werde, ge- wesen sei, so ist er sicherlich im Irrtum. Denn während der Eiszeit war jenes Maximum Sommer und Winter so gut wie ständig vorhanden. Es ist daher schwer einzusehen, warum es gerade nur zur Zugzeit im Herbste seinen Einfluß auf die Zug- vögel geltend gemacht haben soll. Weit mehr Wahrscheinlichkeit hätte eine derartige genetische Erklärung des Vogelzuges für sich, wenn Marek auf die zwar noch allgemein wärmere, aber z. T. doch auch bereits winterkühle Miozänzeit zurück- ginge. Höchstens in diesem Sinne könnte wohl 242 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 17 die heute bei gewissen Zugvögeln in der Tat bis- weilen beobachtete Beziehung zwischen Wanderung und hohem Luftdruck sowie günstiger Windrich- tung noch ein „Rudiment" aus vergangenen Erden- tagen sein, wo die jahreszeitlichen Änderungen der Luftdruckverteilung zeitlich und räumlich infolge einer höheren Gesamtwärme der irdischen Lufthülle sich noch viel regelmäßiger und graduell viel gemilderter vollzogen als heute. Doch glaube ich, daß wir bei keiner Zugvogelart von heute einer solchen Annahme bedürfen, um die Ursache ihrer Wanderung zu erklären, und zwar selbst bei den Schnepfen nicht, obwohl diese am ehesten den Anschein erwecken könnten, als seien ihre Wanderungen von Luftdruck und Windrichtung unmittelbar abhängig. Erinnert sei nur an den denkwürdigen Schnepfenzug im Oktober 1908, den Thienemann ausführlich beschrieben hat. Vor allem aber dürfte sich IMarek den Ein- fluß des Luftdrucks auf den Vogel kaum richtig vorstellen, wenn er meint, daß die luftführenden Vogelknochen und das luftführende Zellengewebe besonders empfindlich für die Luftdruckänderungen seien, und zwar dergestalt, daß der Vogel den hohen Luftdruck unangenehm empfindet und infolgedessen vor ihm in ein Gebiet niedrigen Luftdrucks flieht. Diese Vorstellung Mareks ist zweifellos falsch. Denn einerseits sind hinsichtlich ihrer räumlichen Anordnung und z. T. auch hin- sichtlich ihrer Wetterwirkung Hoch- und Tief- druckgebiete nur relative Begriffe und der im Bereiche eines Hochgruckgebietes herrschende Witterungscharakter (Nebel 1) kann den Zug ebenso sistieren, wie Regen und Sturm in Gebieten nie- drigen Luftdrucks. Und wenn überdies die Luft- druckverteilung in der Tat die eigentliche Ursache zum Beginn des Zuges wäre, so könnte der Vogel außerhalb der Tropen in der Zone der veränder- lichen Winde überhaupt nirgends zur Ruhe kom- men, sondern er müßte ein unstetes Wanderleben führen, welches das Aussterben des gesamten Zugvogelgeschlechtes eher begünstigen würde als seine Erhaltung. Denn es wäre gar nicht einzu- sehen , warum der ein für allemal physiologisch eigenartige Vogelkörper nur zu gewissen Zeiten auf die Änderungen des Luftdrucks reagieren sollte, sonst aber nicht. Was schließlich die Behauptung Mareks an- langt, daß einige der Zugstraßen der barometri- schen Hoch- und Tiefdruckgebiete mit den mehr- fach festgestellten Zugstraßen der Wandervögel übereinstimmen, so ist das entweder Zufall oder der Zusammenhang ist wenigstens kein direkter, sondern ein indirekter, d. h. ein solcher klimato- logischer Natur. Ferner ist zu bedenken, daß der Zug eines Tiefdruckgebietes in Europa in der Regel mehr oder weniger senkrecht zur Zug- richtung der Wandervögel verläuft. Das heißt mit anderen Worten : der Vogelzug geht zumeist auf der Vorderseite der Tiefdruckgebiete, wo günstige Witterungs- und Sichtigkeitsverhältnisse zu herrschen pflegen, vor sich, und zwar natur- gemäß am meisten im Frühjahr, wo die Vögel dann bei Winden aus äquatorialer Richtung pol- wärts wandern. Da nun aber zahlreiche Tiefdruck- gebiete entweder überhaupt nicht nach Osteuropa gelangen, mindestens vorher aber ein längeres stationäres Verhalten im Westen zeigen, um schließlich zumeist nordostwärts abzuziehen, so findet allerdings über Osteuropa nicht selten eine gewisse Parallelität zwischen Vogelzug und Be- wegung der Tiefdruckgebiete statt. Vorbedingung zum Zustandekommen des Vogelzuges nach dem Nordosten ist aber dies Verhalten jener Luftdruck- gebiete keineswegs. Nach R. IVI. Barrington wird die Abreise der Zugvögel wohl von der Stärke, nicht aber von der Richtung des Windes beschleunigt oder verzögert. Dies muß schon dann der Fall sein, wenn die Zyklone, bzw. Anti- zyklone, innerhalb deren der Beobachtungspunkt liegt, nur geringen Durchmesser besitzen und sich nicht in der Richtung des Vogelzuges weiter be- wegen. Nach den Beobachtungen von H. Wei- gold auf Helgoland ändert sich denn auch der Wind auf der See oft, ohne daß die Zugrichtung der Vögel sich ändert. Störend auf den Vogelzug wirken die Zyklonen also nur dann, wenn die Zugscharen in den vollen Wirkungsbereich der stürmischen und starke Niederschläge bringenden Rückseite (seltener Vorderseite) der Tiefdruckgebiete gelangen; sie werden dann festgehalten. So kommt es zu Stauungen und Hemmungen und der Vogel- zug tritt auf diese Weise überhaupt erst so recht deutlich in Erscheinung, nicht nur bei uns in Mitteleuropa, und hier vor allem in den Küsten- gebieten, sondern vor allem auch im Mittelmeer- gebiet, dem klassischen Lande auch des Vogel- zuges. Die Tatsache, daß gerade in den Grenzgebieten zwischen Hoch und Tief oft recht günstige Ver- hältnisse für den Vogelzug herrschen, wurde vor allem von der Ungarischen Ornithologischen Zen- trale festgestellt. Es ergab sich , daß Tiefdruck- gebiete in der nordwestlichen Hälfte des Konti- nents mit höherem Drucke über Südosteuropa die Ankunft der Zugvögel im Frühjahr begünstigen, während umgekehrt tiefer Luftdruck über Südost- europa und höherer Druck über dem Nordwesten auf die Ankunft verzögernd wirken, weil dann das Gebiet widrigen Winden mit Trübung und Regen- schauern ausgesetzt ist. Als günstigste Lage für die Ankunft unserer Zugvögel muß daher nach Hegyfoky die rechte vordere Seite, wo südliche Winde wehen, der nach Osten oder Norden wan- dernden Tiefdruckgebiete angesehen werden. Bei dieser Wetterlage erklärt sich auch unauffällig das Eintreffen zahlreicher Zugvögel bei vorherrschend südlichen Winden und föhniger Wetterlage, ohne daß diese Vögel in ihrer Gesamtzahl etwa des- wegen unter dem direkten Geleit des Föhnwindes eingetroffen zu sein brauchen, da sie ja nur zum geringsten Teile über das Alpengebirge ihren Weg nehmen. Denn daß eine derartige Luftdruck- verteilung für die Ankunft der Vögel nicht N. F. XVIII. Nr. 17 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 243 herrschen muß, geht daraus hervor , daß bei längere Zeit hindurch anhaltendem hohen Luft- druck die Ankunft normal oder gar frühzeitig er- folgt, und zwar selbst dann, wenn oft Gegenwinde bis zu einer gewissen Stärke herrschen. Daß hingegen Zugvögel auf langen Meeres- reisen der fördernden Kraft des Windes wohl nicht entbehren können, hat Cook für Charadriiis doiiünicaiius sehr wahrscheinlich gemacht, der von Neuschottland in einem großen Fluge ohne Zwischenstation nach Südamerika fliegt. Herrschen nun starke nordöstliche Winde, so werden die Vögel gegen den Kontinent gedrängt, und die Jäger bei Kap Cod, auf den Bermudas, und wenn Südostwind weht, auf Barbados, werden durch ihre Wanderscharen erfreut. Bei Westwind ziehen sie aber noch 600 — 700 km östlich der Bermudas vorbei, zu denen sie nur bei sehr schlechtem Wetter gedrängt werden; dann machen sie unter Um- ständen sogar Zwischenrast auf einer der nörd- lichen Antillen. Bei welcher Wetterlage dieser große Flug über den Ozean vorzugsweise statt- findet, habe ich leider nicht in Erfahrung bringen können, doch möchte ich glauben, daß die Vögel in der Regel ein Hochdruckgebiet in ihrem Rücken haben. Selbstverständlich ist auch, daß beim Über- fliegen größerer Meeresteile Vögel nicht nur von Stürmen verschlagen, sondern auch den Wellen in großer Zahl zum Opfer fallen. Auf diese Weise soll nach Tremaine Ward auch die Vernich- tung der Wandertaube beschleunigt, bzw. nach dem sinnlosen Wüten unter ihren Beständen seitens des Menschen vollendet worden sein. Denn Schiffs- kapitäne erzählten, sie hätten auf ihren Fahrten um die kritische Zeit über dem Golf von Mexiko gewaltige, nach dem Norden zurückwandernde Scharen der Wandertaube gesehen, die durch heftige Gegenwinde und Kälte so erschöpft ge- wesen wären, daß sie unfehlbar hätten zugrunde gehen müssen.*) Außer der Luftdruckverteilung und den Win- den ist aber auch der Himmelszustand für den Vogelzug von großer Bedeutung, insofern als die Zugvögel durch zunehmende Bewölkung gewisser- maßen zur Erde herabgedrückt werden. Dasselbe ist auch bei Nebelbildung der Fall. Ja, diese kann oft den Zug überhaupt gänzlich zum Stehen bringen. Zu einer ganz besonderen Wittcrungs- erscheinung und dann von verderblichstem Ein- fluß auf den Vogelzug kann stärkerer Nebel wer- den, wenn infolge sinkender Temperatur dieser sich zu Eisregen verdichtet. Er entsteht dann, wenn die den Nebel bildenden Wassertröpfchen unter den Gefrierpunkt abgekühlt werden und beim Aufschlagen auf feste Gegenstände zu Eis erstarren. Dann bildet sich eine Eiskruste auf dem Gefieder, die Schwingen und Atmungsorgane vereisen, und die Vögel fallen erstarrt und sterbend nieder. Solche Beobachtungen hat man wieder- holt im Riesengebirge ') gemacht, und den großen gegen Ende der zweiten Märzdekade 191 8 fest- gestellten Massenuntergang selbst größerer Vögel, wie Krähen im Ostseegebiete, schreibt T h i e n e - mann") wohl vollkommen mit Recht derselben Erscheinung zu. Der Vogelzug in seinem Verhältnis zur Temperatur. Die gewaltigste Veränderung und Verschiebung geographischer Natur in den gemäßigten Breiten ist zweifellos der Gang der Wärme im Laufe des Jahres, wie er kartographisch durch das Isothermenbild veranschaulicht wird, und zwar sind es nicht nur die Wärmeverteilung selbst, son- dern vor allem deren Folgen, nach denen sich der Vogelzug, d. h. die Besiedelung durch die Zug- vögel richtet. Selbst der schnellsten Verschiebung der Isothermen innerhalb seines Verbreitungsge- bietes vermag der Vogel ohne jede Schwierigkeit zu folgen, und dieses Wandern des Vogels mit seiner Existenz- und Wohlbefindungszone bildet den alljährlichen Frühlings- und Herbstzug. Ja, W. G a 1 1 e n k a m p ■') geht sogar so weit, mit dieser Theorie das Vogelzugproblem von heute zu einem guten Teil überhaupt erklären zu wollen, zumal dieselbe in keiner Weise ein Zurückgreifen auf hypothetische frühere Verhältnisse erfordere. Frei- lich ist auch diese Theorie nur eine Teilwahrheit, da sie sich nur an die Zustände der Gegenwart hält, welche die heutige Verbreitung der Zugvögel mit bedingen, und zwar hinsichtlich der Phänologie ihrer Nahrungstiere. Über die Entstehung des Vogel- zuges selbst aber vermag sie kaum etwas auszusagen. Was die Frühjahrsankunft der nordhemisphäri- schen Zugvögel anlangt, so kann man im allge- meinen behaupten, daß die Ankunft der meisten Vögel um so später erfolgt, je nördlicher bzw. nordöstlicher der Punkt liegt und je höher die Lage des Gebietes ist. Aber es bestehen in der Besiedelungsweise auch sonst noch gewisse Unter- schiede zwischen dem Westen und dem Osten. So wird z. B. das Elsaß nach K. Bretscher durchschnittlich früher von den Zugvögeln be- siedelt als die Schweiz. Der Grund hierfür leuchtet ohne weiteres ein. Weiterhin konnte Bretscher feststellen, daß die früher en Arten in Ungarn später einrücken als in der Schweiz und im Elsaß während die späten Arten dort früher ankommen, daß also der .ganze Zug in Ungarn auf eine etwas kürzere Spanne Zeit sich verteilt als in der Schweiz und im Elsaß. Der Grund hierfür ist darin zu suchen, daß der Früh- ling in Ungarn später, dafür aber rascher einrückt als im westlichen Europa. Solchem verschiedenen klimatischen Verhalten der einzelnen Länder haben sich die Zugvögel angepaßt und zeigen sich daher ') Brehms Tierleben. 4. AuH. Vögel. 2. Bd., S. 412 — 13. ■) K. Deditius, Zur Höhe des Wanderfluges der Vögel. Ornith. Mon. Ber. 1002. Nr. 3. '-) Ornith. Mon. Ber. igi8. Nr. 9 — 10. ') Wesen und Ursache des Vogelzuges. ,,Die Umschau" 14. Jahrg. Nr. 17. 244 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 17 in jedem Lande auf die örtlichen Verhältnisse eingestellt. Die Tatsache, daß die Lufttemperatur der An- kunftsperiode von Jahr zu Jahr schwankt, und daß die Ankunft nicht bei demselben Wärmegrad stattfindet, darf weiter nicht wundernehmen. So schwankt die Temperatur der einzelnen Jahre etwas mehr beim Storch als bei der Schwalbe, und das ist ganz natürlich, weil der Storch früher ankommt als diese und die Temperaturschwankung vom Winter zum Sommer zu kontinuierlich im Ab- nehmen begriften ist. Ja, es entspricht nicht ein- mal einer späteren Ankunft bei diesen zwei Arten eine höhere und einer früiizeitigeren eine niedrigere Temperatur. Diese Beobachtung steht gut im Einklang mit der Tatsache, daß es nicht ein be- stimmter Wärmegrad ist, welcher beim Zug ein- wirkt, sondern daß es schnelle Temperaturände- rungen : starke Erwärmung oder Erkaltung sind, die den Zug beschleunigen oder verzögern, mit anderen Worten, daß die allgemeine Wetterlage eben ausschlaggebend ist und die Zeit des Zuges mitbedingt. Dessenungeachtet stellt sich denn auch das Ergebnis heraus, daß die zehnjährigen Ankunftsdaten desto geringere Temperaturen auf- weisen, je früher ihr Termin ist, und desto größere, je später er ist. In längeren Zeiträumen kann dies im Frühling auch gar nicht anders sein. Denn Wärme und Kälte kann wechselhaft in einem und dem andern Jahre im Frühling auftreten, in längeren Zeiträumen aber muß die steigende Wärme klar zum Vorschein kommen. Es zeigt sich demnach auch hier wieder die Tatsache, daß bei jeder Zugvogelart der Einzug zu einer gewissen Zeit stattfindet, und zwar wächst seine Häufigkeit bis zu einem gewissen Zeitpunkt an, um dann wieder abzunehmen. Die Zugskurve steigt also kontinuierlich an, um nach einem Höhepunkt wieder ebenso zu fallen, wäh- rend die Temperatur in der gleichen Zeit an- steigt. „Wenn die Wärme nun", bemerkt daher K. Bretscher^) treffend, „der die Erscheinung be- dingende Faktor wäre, müßte ihre Kurve der der Wärme entsprechen, die größte P"requenz am Ende der Zugzeit eintreten. Ein „Wärmetheoretiker" wird nun schwer haben zu zeigen, warum die steigende Wärme im ersten Teil der Zugzeit das Eintreffen der Vögel befördern, im zweiten aber hemmen sollte. Nach meiner Darstellung aber können die Verhältnisse gar nicht anders liegen, als es wirklich der Fall ist : die während der Zug- zeit am meisten vertretenen Mitteltemperaturen haben den größten Zug, alle anderen Wärmegrade zeigen ihn im ungefähren Verhältnis schwächer als sie weniger vorkommen, weil der Zugvogel für seine Wanderung auf die Zeit, den Gipfel der obigen Kurve, eingestellt und angepaßt ist." Der Zeitpunkt der Frühlingsankunft ist daher, um mit J. Schenk zu reden, „eine im Wege der ') Die Abhängigkeit des Vogelzugs von der Witterung. Biologisches Zentralblatl lOiS, Nr. 7. Selektion entwickelte Lebensäußerung, die sich ebenso automatisch einstellt, wie etwa der Zeit- punkt der Mauser, des Nestbaues usw., doch wird derselbe innerhalb bestimmter Grenzen durch die Witterung beeinflußt, aber durch rein meteoro- logische Faktoren läßt er sich nicht erklären". Ebenso wenig natürlich auch nur durch die Zeit. Denn es treffen ja auch nicht alle Zugvögel der- selben Gegend zu gleicher Zeit ein, ebenso wenig wie sie alle zu gleicher Zeit abreisen. Hier sind es vielmehr in erster Linie Ursachen rein biologi- scher Natur, die im Vogel selbst liegen und ihn zum Ziehen bestimmen, und gerade die Ver- schiedenheit der zahlreichen Ursachen ist für die Erhaltung der Arten von der allerhöchsten Be- deutung. Die Sichtigkeitsverhältnisse. Manche Zugvogelarten ziehen ausschließlich nur bei Tage, andere nur oder doch meistens während der Nacht, wieder andere sowohl am Tage wie auch des Nachts gleich häufig. Immer- hin ist der nächtliche Vogelzug im ganzen wohl mindestens ebenso häufig wie der am Tage. Hören wir, was H. Weigold,') einer der kom- petentesten Beurteiler des Vogelzugphänomens über den nächtlichen Zug sagt: „Wenn der Mond nur ein wenig leuchtet, oder ein einziger Stern am Himmel steht, bricht der gefiederte Wanderer, leidlich günstigen Wind vor- ausgesetzt, auf. Er kann, wenn auch nur schemen- haft, dann erkennen, was unter ihm liegt: Wald und Ackerland, Fluß und Meer. Er braucht das nicht, um sich zu orientieren, wie man immer glaubt, denn er fliegt oft auch schnurstraks seine Richtung, wenn er auf hoher See keinen Anhalts- punkt mehr hat, und sogar, wenn der Wind sich dreht, was er doch eigentlich gar nicht merken sollte, so wenig es der Luftschiffer (im Freiballon ! Der Verf) ohne Kompaß oder Landkarte merkt. Sein noch immer rätselhafter Richtungssinn gibt ihm auch dann noch den Weg an. Aber es be- unruhigt den Vogel gewaltig, wenn er nichts mehr erkennen kann. Es mag dasselbe Gefühl sein, das den Menschen auf See oder in der Steppe im undurchdringlichen Nebel überkommt, trotzdem er ja an der Hand seines Kompasses den Weg ohne Sorge finden könnte. In solchen Fällen, wenn also der Himmel total bedeckt ist, wenn es regnet, schneit oder leichter Nebel herrscht, dann wird das Leuchtfeuer, gerade dann ein Retter der schiffahrenden Menschheit, den Vögeln zum Massen- mörder." Der Vogel, getrofien von diesem Strahl, wird geblendet, erkennt nicht das Gebilde von Menschenhand, das er sonst instinktiv oder aus Erfahrung meidet, und taumelt in seinem so wie so schon auf der Reise anomalen angsterfüllten Zustand , der sich bei jeder Gelegenheit durch lautes Schreien offenbart, dem geheimnisvollen Licht entgegen, wie es die Insekten auch tun. ') Die Schrecken des Vogelzuges. Mitteilungen über die Vogel weit 19 13, S. 150. N. F. XVIII. Nr. 17 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 545 Anders verhält es sich nach Weigold bei heller Luft: dann sieht man von weitem nur einen Lichtpunkt am Leuchtturm, die Strahlen werden erst in großer Nähe des Turmes als solche, als blendende, aus der Dunkelheit sich scharf ab- hebende Lichtbündel sichtbar. Daher sieht man auch den Turm selbst als Ausgangspunkt des Lichtes schon aus ziemlicher Entfernung, ohne geblendet zu sein. Die Behauptung, daß in Mondnächten kein Vogelzug stattfinde, ist nach VV. Hagens*) Be- obachtungen bei Lübeck irrig. Man bekommt nur bei Mondschein, wie überhaupt in hellen Nächten, sehr selten Vogelrufe zu hören; sie klingen in solchen Nächten viel leiser, weil die Vögel dann höher ziehen, indem ihnen die Erdoberfläche auch aus größerer Entfernung leichter erkennbar ist. Weil die Vögel in hellen Nächten von den Leucht- ') Der Grund nächtlicher Vogelruhc. VIII. Jahrg., 1917, S. 166/168. „Pie Natur." türmen oder auch von größeren Städten, über die oder an denen vorbei ihr Zug führt, weniger alteriert werden, rufen sie wenig oder gar nicht und gelangen so nicht selten überhaupt nicht zur Beobachtung. Ist aber der Himmel mit Wolken bedeckt oder die Erdoberfläche in Nebel gehüllt, so sind sie gezwungen xiefer herabzukommen. Das Licht wirkt dann stärker auf sie und erregt sie, und deshalb werden auch in trüben, regnerischen oder nebligen Nächten die giößten Züge festge- stellt. Die nächtlichen Wanderrufe der Vögel sind daher nach W. Hagen keine Signale zum Zu- sammenhalten, sondern lediglich Warn- und Angst- rufe, gegenseitige Ermunterungen zur Vorsicht. Denn im Lichtkreise der Stadt, des Leuchtturmes, werden die Rufe gehört, in der Dunkelheit ver- stummen sie. Die Wanderrufe werden also aus- gestoßen, weil eine psychische Erregung durch ungewohnte Erscheinungen hervorgerufen wird, und diese Erregung findet eben, wie fast jede andere Erregung beim Vogel, Auslösung im Rufe. Einzelberichte. Zoologie. Die Plastosomentheorie der Ver- erbung. In Nr. 8 der Naturw. Wochenschrift haben wir an der Hand der Vererbungsexperimente Morgans und seiner Schule mit Drosophila den Mechanismus der Vererbung dargestellt. War schon durch die vortrefiflichen Untersuchungen Rover is die Chromosomentheorie der Vererbung fest begründet worden, so ist heute nach den Untersuchungen der amerikanischen und anderer Vererbungsforscher ein Zweifel daran, daß die Chromosomen die Träger der Vererbung sind, schlechterdings nicht mehr möglich. Wir wissen heute nicht nur, daß die Chromosomen Vererbungs- träger sind, wir haben auch durch zahlreiche Untersuchungen einen bereits sehr weitgehenden Einblick darein erhalten, wie sie die Erbfaktoren vererben. Seit man die Chromosomen als Ver- erbungsträger angesprochen hat, ist indessen immer wieder die Frage diskutiert worden, ob sie die Vererbungsträger darstellen, oder ob neben ihnen noch andere Elemente die gleiche Rolle spielen. Die Chromosomen haben ihren Sitz im Kern. Es lag nahe, im Plasma der Zelle nach gleichwertigen Elementen zu suchen, und diese Elemente glaubten manche in den Mitochondrien oder Piastosomen gefunden zu haben. Es war vor allem Mevcs, einer der bedeutendsten Erforscher der Piasto- somen, der eine Idee von Benda aufgriff und durch zahlreiche Untersuchungen den Beweis zu erbringen suchte, daß auch die Piastosomen Ver- erbungsträger sind. Wir haben die Ergebnisse dieser Untersuchungen an dieser Stelle bereits eingehend besprochen ^) und sind zu dem Resultat gekommen, daß Meves nicht die Spur eines Beweises für die Richtigkeit seiner Anschauung hat erbringen können, im Gegenteil, es ließe sich aus seinen Beobachtungen mit viel größerer Be- rechtigung der Gegenbeweis ableiten , daß die Piastosomen die Rolle von Vererbungsträgern nicht spielen können. Die Mevessche „Plasto- somentheorie der Vererbung" hat ziemlich allge- meine Ablehnung gefunden, und auch die wenigen Plastosomenforscher, die sich ihm anfänglich an- geschlossen hatten, wenden sich neuerdings mehr und mehr von ihm ab. Meves aber sucht mit einem Eifer, der einer besseren Sache würdig wäre, unentwegt nach weiteren „Stützen" für die Richtigkeit seiner Theorie, und wenn auch diese vermeintlichen Stützen, um es gleich vorwegzu- nehmen, nicht mehr Anspruch auf diese Bezeich- nung erheben können als seine früheren „Beweise", so möchte ich meinen bisherigen Besprechungen doch noch einige Zeilen hinzufügen. Die neueste Untersuchung von Meves be- handelt das Schicksal der männlichen plastosoma- tischen Substanz bei der Befruchtung des Eies von Ox-yuris ambigua. ') Ähnlich wie er bei Ascaris, Filaria, Phallusia, Mytilus und Echinus feststellen konnte, daß die Piastosomen des Spermiums bei der Besamung mit in das Ei gelangen, konnte er das Gleiche auch bei Oxyuris beobachten. Die Piastosomen sind in dem Schwanzstück des Sper- miums enthalten , das regelmäßig mit in das Ei eindringt. Die väterlichen Piastosomen treten ins Eiplasma über, mischen sich mit den Piastosomen des Eies und lassen sich dann , ähnlich wie bei Ascaris, Filaria, Phallusia und Mytilus, von diesen ') H.Nacht sh ei ra, Sind die Mitochondrien Vererbungs- ') F. Meves, Eine neue Stütze für die Plastosoraen- tiäger? Naturw. Wochenschr., N. F. Bd. 13, 1914, u. Bd. 15, theorie der Vererbung. Vorl. Mitteil. Anat. Anz. , Bd. 50, 1916. 191S. 246 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVin. Nr. 17 nicht mehr unterscheiden. Soweit die Beobach- tungen von Meves und dies die neue „Stütze" für seine „Plastosomentheorie der Vererbung". In einer weiteren, sehr umfangreichen Arbeit will Meves „eine Antwort auf verschiedene Ein- wände" geben, die seiner Theorie gemacht wor- den sind.') Von einer neuen Hilfshypothese ab- gesehen bringt diese Arbeit kaum etwas Neues. Beim Seeigel hatte Meves bekanntlich nachge- wiesen, daß das Mittelstück des Spermiums, das die plastosomatische Substanz enthält, unverändert in die eine der beiden ersten Blastomeren des Eies gerät, und bei weiterer Untersuchung der Furchung halte er gefunden, daß das Mittelstück auch auf dem 32 Zellenstadium noch gänzlich un- verändert ist und sich bald in einer Zelle der animalen, bald in einer der vegetativen Hälfte be- findet. Für jeden objektiven Beurteiler müssen diese Feststellungen ein starker Beweis dafür sein, daß die Piastosomen des Spermiums des Seeigels unmöglich Vererbungsträger sein können. Meves aber suchte seine Theorie zunächst durch die An- nahme zu retten, daß zwar die Larve nicht in allen ihren Teilen männliche plastosomatische Sub- stanz erhält — bei ihr würden die väterlich en ,, Vererbungsträger" noch nicht in Funktion treten — , daß aber der definitive Seeigel nur aus sol- chen Teilen der Larve hervorgeht, die mit männ- lichen Piastosomen versehen sind. Einige Jahre später gab er diese Ansicht auf und beschiänkte sich auf die Annahme, „daß alle oder fast alle Teile des jungen Seeigels mit Ausnahme des Darms und der Vasoperitonealblasen mit Mittel- stückssubstanz versorgt werden". Heute verläßt er auch diese Hypothese wieder, nimmt wieder an, daß sämtliche Zellen des definitiven Echino- derms mit männlicher plastosomatischer Substanz versehen sind, und sucht vermittels des Prinzips der Zellen- und Gewebeverschiebung zu erklären, auf welche Weise Teile, die keine männlichen Piastosomen erhalten haben, durch andere mit solchen ersetzt werden können. Selbst wenn bis- weilen auch eine gewisse Verdrängung eines Ge- webes durch ein anderes vorkommt, so kann doch dieser Vorgang niemals eine so bedeutende Rolle spielen, wie sie ihm nach Meves zukommen müßte. Müssen wir es auch als ein fruchtloses Be- mühen bezeichnen, Elemente des Plasmas , die Piastosomen, als Vererbungsträger zu erweisen, so sind wir doch andererseits weit davon entfernt, die Bedeutung des Plasmas für den sich ent- wickelnden Organismus gering zu bewerten. Die in den Chromosomen lokalisierten Erbfaktoren be- stimmen die mannigfachen besonderen Merk- male des Individuums, sie bestimmen sie an einer Form, die selbst Prot o plasma 1 ei stu ng ist. „Die Struktur des Eiplasmas besorgt", um mit ') F. Meves, Die Plastosomentheorie der Vererbung. Eine Antwort auf verschiedene Einwände. Arch. f. mikro- skopische Anat. Bd. 92, Abt. II, Igi8. Boveri zu sprechen, „das rein „Promorpho- logische", sie gibt die allgemeine Grundform, den Rahmen, in welchem dann alles Spezifische vom Kern aus erfüllt wird". Das Ei plasma aber ist es, das diesen Rahmen liefert, das Spermaplasma ist diesem gegenüber so minimal, daß es garnicht ins Gewicht fällt. In der Mehrzahl der Fälle dürfte wie beim Seeigel den ins Ei eingedrungenen Plasmasubstanzen des Spermiums keine weitere Funktion mehr zukommen — sie waren Bausteine des Samenfadens und hatten mechanische oder motorische F~unktionen, die mit dem Eindringen des wichtigsten Bestandteiles des Spermiums, des Kopfes, d. h. Kernes, ins Ei erledigt sind — , doch ist es sehr wohl denkbar, daß hin und wieder, z. B. bei Ascaris und anderen Nematoden, die Plasmasubstanzen des Spermiums vom Ei über- nommen und gewissermaßen zur Unterstützung der Plasmasubstanzen des Eies herangezogen werden. Meine erste Besprechung der Mevesschen Theorie hatte ich mit den VVorten Boveris ge- schlossen: „Mag sogar alles, was uns im Meta- zoenkörper als Leistung imponiert, direkt Proto- plasmaleistung sein, dies schließt so wenig die alleinige Bestimmung der individuellen Merkmale des Kindes durch die Kerne der kopulierenden Sexualzellen aus, wie die Herstellung eines Hauses durch Maurer und Zimmerleute ausschließt, daß dieses Haus in seiner ganzen Besonderheit nach dem Kopf eines Architekten erbaut ist". In diesem Vergleich wird die Bedeutung des Kernes und des Plasmas und die gegenseitige Abhängigkeit beider voneinander treffend zum Ausdruck gebracht, Meves lehnt diesen Vergleich natürlich als un- zutreffend ab, fährt aber immerhin fort: „Selbst dann aber, wenn ich als erwiesen annehme, daß, wie O. Hertwig es ausdrückt, „die Ausführung im Protoplasma, die Leitung im Kern liegt", so muß ich meine Meinung dahin aussprechen, daß, um auf den von Boveri gebrauchten Vergleich zurückzukommen, der Architekt des Vaters sich seinen eigenen Stamm von Handwerkern zum Hausbau mitbringt". Wenn Meves sich diese Meinung einmal zu der seinigen macht, wird er sich von der allgemeinen Anschauung über die Bedeutung von Chromosomen und Piastosomen nicht mehr wesentlich unterscheiden, denn ob die Handwerker alle von der Mutter, oder ob bis- weilen einige auch vom Vater engagiert werden, ist für den Endeffekt gleichgültig, es bleiben Handwerker. Nachtsheim. Die Fortpflanzung des Grottenolmes. Durch die Untersuchungen Kämmerers schien die alte Streitfrage, ob Proteus anguineus, der Grotten- olm, in der freien Natur Eier lege oder zu den lebendiggebärenden Amphibien gehöre, endgültig entschieden zu sein. Kammerer kam auf Grund seiner Experimente zu dem Resultat, daß Proteus, wenn er bei einer Temperatur von mehr N. F. XVni. Nr. 17 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 247 als 15" C gehalten wird, Eier legt, daß er aber bei einer Wasserwärme von weniger als 15" C ganz unabhängig von den sonstigen Verhältnissen ähnlich wie unser schwarzer Alpensalamander zwei lebende Junge zur Welt bringt, aus jedem Uterus eines, die voll entwickelt sind und sich von der Mutter nur durch die geringere Größe und die stärker ausgebildeten Augen — beim 01m, wie bei vielen Höhlentieren, sind die Augen rudimentär — unterscheiden. Da in den unter- irdischen Gewässern des Karstes, der Heimat des Grottenolnies, die Temperatur 15" nie erreicht, schloß Kam merer, daß die Viviparität die nor- male P'ortpflanzungsweise von Proteus ist. Neue Untersuchungen von Stieve') lassen indessen die Richtigkeit dieser Schlußfolgerung wieder als zweifelhaft erscheinen. Stieve untersuchte den Bau des Eileiters bei Olmen, die bis zum Augenblick der Konservierung in ihren natürlichen Bedingungen gelebt hatten, d. h. nicht vorher längere oder kürzere Zeit in Gefangenschaft gehalten worden waren, und ver- glich ihn mit dem Bau des Eileiters anderer Schwanzlurche, und zwar einerseits eierlegender Molche und andererseits lebendiggebärender Sala- mander. In der ersten Gruppe beschwänzter Amphibien, bei den Molchen, lassen Querschnitte durch den Eileiter drei Schichten erkennen: die innerste Schicht bildet eine Lage von Zylinder- epithelzellen, hierauf folgt lockeres, sehr gefäß- reiches Bindegewebe und weiter nach außen eine doppelte Muskelschicht, deren F"asern teils zirkulär, teils longitudinal verlaufen. Je weiter man den Eileiter gegen seine Mündung hin untersucht, desto stärker wird die Muskulatur, doch ist sie im Vergleich zu der lebendiggebärender Amphibien auch hier nur schwach entwickelt, der Tubenteil des Eileiters und der Uterusabschnitt sind kaum gegeneinander abgesetzt. Während der F'ortpflan- zungsperiode ist der ganze Eileiter mit Schleim erfüllt, der von den Epithelzellen abgesondert wird und bei der Bildung der Gallerthülle der Eier Verwendung findet. Ganz anders ist der Bau des Eileiters beim lebendiggebärenden Alpen- salamander. Schon bei makroskopischer Betrach- tung erweist sich der Uterus als scharf von der Tube geschieden, er ist mehr als doppelt so dick wie diese. Auch bei mikroskopischer Untersuchung fallen die Unterschiede zwischen Uterus und Tube sofort in die Augen. Während die Tube ganz ähnlich gebaut ist wie bei den Molchen, sind im Uterus alle Schichten viel stärker entwickelt. Im Querschnitt ist der Uterus nicht kreisrund wie im Tubenteil, sondern oval, dorsoventral abgeplattet. Durch zahlreiche Falten ist die Oberfläche der Schleimhaut stark vergrößert, die Muskelschichten sind außerordentlich kräftig entwickelt, ihre Dicke beträgt etwa das 10—15 fache der gleichen Schicht im Tubenteile. Bei dem ebenfalls lebendiggebären- ') H. Stieve, Anatomische Untersuchungen über die Fortpflanzung des Grottenolnies (Proteus anguineus Laur.). Anatom. Hefte, Bd. 56, 1918. den Feuersalamander finden wir ganz ähnliche Verhältnisse. Die Verschiedenheiten im Bau des Uterus bei Molchen und Salamandern sind ein Ausdruck der verschiedenen Funktion dieses Teiles des Eileiters in den beiden Gruppen. Bei den Molchen werden die Eier vermittels Flimmer- epithels und schwacher Muskulatur durch den Ei- leiter befördert und dabei mit Schleim eingehüllt, der im ganzen Eileiter gebildet wird. Auch bei den Salamandern werden die Eier im Tubenteil in eine Gallerte eingehüllt und durch Flimmer- epithel und schwache Muskulatur in den Uterus weitergeleitet. Diesen aber passieren sie nicht ebenfalls in kurzer Zeit, sondern hier sammeln sie sich, werden befruchtet und entwickeln sich. Beim Feuersalamander verweilen die Embryonen, 5 — 25 oder noch mehr an der Zahl, 6 — 8 Monate im Uterus der Mutter, sie verlassen ihn erst als etwa 25 mm lange kiementragende Larven. Noch länger ist die Trächiigkeitsdauer beim Alpen- salamander. Hier machen die Jungen ihre ganze Verwandlung im Mutterleibe durch und werden als Wesen von beträchtlicher Größe zur Welt ge- bracht. Eine große Zahl von Nachkommen hätte in dem Uterus gar keinen Platz, und so sehen wir denn, daß mit der Zunahme der Trächtigkeits- dauer die Zahl der Nachkommen beim Alpen- salamander stark verringert wird. Zwar werden ebensoviele Eier wie beim Feuersalamander in die Eileiter befördert, aber in jedem Uterus entwickelt sich nur eines, die übrigen werden von dem Em- bryo als Nährmaterial aufgebraucht. Bei beiden Salamandern aber werden durch das lange Ver- weilen der Nachkommen im LIterus ganz andere Anforderungen an diesen gestellt als bei den Mol- chen, bei denen die Eier ihn rasch verlassen. Der beträchtliche Umfang des Uterus, die starke Ent- wicklung der Schleimhaut und der Muskulatur sind Folgen der Viviparität der Salamander. Übrigens werden diese Besonderheiten im Bau des Uterus der Salamander nicht erst durch die Trächtigkeit erworben, sie sind schon bei jungen, noch nicht geschlechtsreifen Tieren vorhanden, sind also angeboren, ererbt. So ermöglicht das Studium des Baues der Eileiter Rückschlüsse auf die Art der Fortpflanzung der Tiere. Wie ist nun aber der Eileiter des Grottenolms gebaut? Wäre seine normale Fortpflanzung, wie Kammerer annimmt, ähnlich der der Salaman- der, so müßten wir auch einen ähnlich gebauten Uterus erwarten. Wir suchen indessen vergeblich nach einem solchen. Ebensowenig wie bei den Molchen ist der Endabschnitt des Eileiters beim Olm als Uterus differenziert, es fehlt die für die lebendiggebärenden Amphibien charakteristische starke Erweiterung und die kräftige Muskulatur. Der Bau des Eileiters des Grottenolms entspricht bis in alle Einzelheiten dem des Eileiters der eier- legenden Amphibien. Stieve zieht hieraus den Schluß, daß die Annahme Kammerers nicht richtig ist, daß vielmehr der Groltenolm normaler- weise zu den eierlegenden Amphibien gehört. 248 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 17 Für die Richtigkeit dieser Folgerung spricht auch die Tatsache, daß bisher niemals Olme mit Em- bryonen oder Eiern in den Eileitern gefunden worden sind, wohl aber des öfteren solche mit ablagereifen Eiern im Ovar. Wenn man bedenkt, daß nach Kammerer die Trächtigkeit der ge- fangenen Olme etwa ein Jahr dauert, so müßten bei gleicher Fortpflanzung in der freien Natur trächtige Tiere sogar relativ häufig gefimden wer- den. Man könnte einwenden, daß ebensowenig wie trächtige Tiere bisher Eier oder I^arven in den Höhlen des Karstes gefunden worden sind. Hierauf läßt sich erwidern, daß nach diesen bis- her auch noch niemals wirklich gesucht worden ist. Die unterirdischen Gewässer, die die Wohn- stätten der Olme bilden, sind meist nur unter großen Schwierigkeiten zu erreichen, und es ist nicht leicht, beim dürftigen Licht einer Blendlaterne die scheuen Tiere zu erbeuten, die sich bei der geringsten Beunruhigung im Schlamm verkriechen. Die Adelsberger Grottenführer, die den Olmfang als lohnende Nebenbeschäftigung betreiben, haben natürlich nur Interesse für die großen Olme, auf kleine Exemplare achten sie nicht, geschweige denn auf Larven und Eier. Zudem sind die mei- sten Exemplare, die in Adelsberg verkauft werden, nicht an ihren Wohnstätten gefangen, sondern bei Überschwemmungen aus den Grotten herausge- rissen worden und so in die Hände ihrer Besitzer gelangt. Weshalb aber bei solchen Überschwem- mungen keine Larven mit an die Oberfläche ge- rissen werden, läßt sich, wie mir scheint, erst be- urteilen, wenn wir über die Lebensweise der Larven Bescheid wissen. Die Eier werden wohl deshalb nur ganz selten herausgeschwemmt, weil sie bei der Ablage festgeklebt werden. Wird ge- legentlich einmal das eine oder andere Ei von seiner Unterlage gelöst und bei Hochwasser zur Oberfläche geführt, so entgeht es leicht der Be- obachtung. Auch die ganze Lebensweise der Olme spricht mehr für Ovoparität als für Viviparität. Letztere finden wir bei denjenigen Schwanzlurchen, denen größere Wasseransammlungen während eines Teiles des Jahres oder sogar während des ganzen Jahres (wie z. B. dem Alpensalamander) fehlen. Der Olm hingegen lebt dauernd unter den gleichen Bedingungen. Ein Austrocknen des Wassers hat er nicht zu befürchten, ebensowenig ein Einfrieren, die Temperatur des Wassers ist in den Höhlen zu allen Jahreszeiten die gleiche, sie schwankt nur zwischen 5 und 7" C. Das Eierlegen stellt sicher die phylogenetisch ältere Art der Fortpflanzung der Amphibien dar, und es liegt, wie Stieve richtig bemerkt, ,,kein zwingender, durch den Kampf ums Dasein bedingter Grund vor, warum der Olm die ursprünglich allen Amphibien eigene Fortpflanzungsweise hätte abändern müssen". Daß die Olme in den Experimenten Kammerers sich so verschieden verhielten, ist wohl nicht auf die verschiedene Temperatur, sondern auf andere, von den normalen Lebensgewohnheiten ab- weichende Verhältnisse der gefangenen Tiere zu- rückzuführen. Vielleicht ist die Nahrung, viel- leicht auch die chemische Zusammensetzung des Wassers von Einfluß auf den Fortpflanzungsmodus der Olme. Daß überhaupt die Fortpflanzungs- art der Olme derart modifizierbar ist, daß sich ein eierlegendes Tier in ein lebendiggebärendes überführen" läßt, ist zwar erstaunlich, doch wissen wir ja aus den schönen Experimenten Kam- merers mit Alpen- und Feuersalamandern und weiter mit der Geburtshelferkröte, daß auch bei diesen der Fortpflanzungsmodus sich durch äußere Bedingungen stark beeinflussen läßt. Die Modi- fizierbarkeit der Fortpflanzung ist also offenbar eine für die Amphibien allgemein charakteristische Erscheinung.^) Nachtsheim. ') Merkwürdigerweise macht Stieve im letzten Abschnitt seiner Abhandlung den Versuch, die starke Modifizierbarkeit der Fortpflanzungsweise des Ulmes auf die Eigentümlichkeilen seiner Wohnstätte zurückzuführen, während er einige Seiten vorher diese gerade als einen Beweis für die Oviparität des Olmes heranzieht! Die Modifizierbarkeit der Fortpflanzung als eine besondere Anpassung des Olmes im Kampfe ums Dasein betrachten zu wollen, erscheint mir verfehlt. Anregungen und Antworten. Druckfehlerberichtigung. In meinem Beitrage zu Nr. 8 der Naturw. VVochenschr. ,, Der Präsidentensturm in der dritten Dezeraberwoche X91S, über Europa" sind leider die 10 Zeilen Text der zweiten Spalte auf S. 114 „bildung . . . Störungen" an falscher Stelle eingesetzt. Sie haben in Wirklichkeit der zweiten Zeile auf S. 116, also nach ,,der tropischen Sturm-", zu folgen. Holsteinische Wetter- und Sonnen-Warte Schneisen bei Hamburg Wilh. Krebs. In dem Aufsatz von Dr. Menz (Nr. 9, dieser Jahrgang): ,,Der Glanz vom psychologischen Standpunkt aus betrachtet", ist in den Figuren i u. 2 ein Fehler stehen geblieben, die Linien c und g schliefien den Winkel y nicht S ein. Literatur. Zschokke, Prof. Dr. F., Der Flug der Tiere. Berlin 1919, J. Springer. 5 M. Ho che, Prof. Dr. A., Vom Sterben. Kriegsvortrag, ge- halten in der Universität Freiburg i. Hr. Jena 1919, G. Fischer. 1,50 M. Illliall: Hans Krieg, Vom Panjepferd. (6 Abb.) S. 233. Hans Heller, Über die Farbstoffe unserer BiUten und Früchte. S. 23S. Wilh. R. Fckardt, Über die Beziehungen zwischen dem Vogelzug und den Erscheinungen im Luftmeere. S. 240. — ■ Kinzelbericbte : Meves, Die Plastosomentheorie der Vererbung. S. 245. Kammerer, Die Fortpflanzung des Grottenolms. S. 246. — Druckfehlerberichtigungen. S. 248. — Literatur: Liste. S. 248. Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstrafie 4z, erbeten. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck der G, Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue Folge 18. Band; der ganzen Reihe 34. Band. Sonntag, den 4. Mai 1919. Nummer 18. Die Kristallisation von binären Salzgemischen. Von Dr. K. Scholich. (Sammelreferat.) [Nachdruck verboten.] (7 Abbildungen und 4 Tabellen.) I. Theoretisches. Wenn wir einen reinen Stoff, z. B. ein Salz, schmelzen und dann bei der Abkühlung die Tem- peratur in stets gleichen Zeitintervallen ablesen, so ergibt sich bei graphischer Darstellung, wenn die Zeit Abszisse und die Temperatur Ordinate ist, eine Kurve wie Abb. la und le. Die Tem- peratur nimmt also zunächst innerhalb der Schmelze rasch und gleichmäßig ab bis zu einem ganz be- stimmten Punkt, dem Schmelzpunkt oder Erstar- rungspunkt des Salzes, wo sie konstant bleibt, bis alles kristallisiert ist; dann folgt ein rascher Ab- fall, der allmählich ein langsameres Tempo an- nimmt und in die Fortsetzung der ursprünglichen Kurve übergeht. Nach der Phasenregel von W. Gibbs^) kann von einem einheitlichen Stoff bei gegebenem Druck nur bei einer einzigen Temperatur die feste Phase mit der flüssigen im Gleichgewicht sein. Ober- halb derselben kann der Stoff nur im flüssigen, unterhalb nur im festen Zustand existieren, immer vorausgesetzt, daß keine molekularen Änderungen, wie Zersetzung oder Polymerisation, eintreten. Kann der Stoff im festen Zustand in zwei allo- tropen Modifikationen auftreten, so gilt wiederum dasselbe: nur bei einer bestimmten Temperatur können beide Kristallarten nebeneinander bestehen, oberhalb nur die «-, unterhalb nur die /y-Modifi- kation. Wesentlich komplizierter gestalten sich die Ver- hältnisse, wenn der Schmelze ein zweiter Stofl hinzugefügt wird. Es sei zunächst vorausgesetzt, daß dieser zweite Stoff sich weder im festen Zu- stand mit dem ersten mischt, noch eine Verbindung mit ihm eingeht. Setzt man die Gesamtmasse der Schmelze = i, so sei x der Anteil des aus- kristallisierenden Stoffes und Q seine Schmelz- Wärme. Dann ergibt sich für die Kristallisations- temperatur T (absolut) und die Konzentration x des Stoffes die Beziehung: dlogx Q ^^ dT 2T" Die Konzentrationsangaben beziehen sich dabei nicht auf Gewichts , sondern auf Molekülverhält- nisse. In der Gleichung enthalten sämtliche Größen nur Angaben über den sich aus der Schmelze im festen Zustand ai^sscheidenden Stoff. Die Natur ') W. Gibbs, Thermodynamische Studien Leipzig 1 892. 2) H. W. B. Roozeboom, Die heterogenen Gleich- gewichte II, I. Braunschweig 1904. der zweiten Komponente spielt dabei keine Rolle, nur seine Menge, die ja durch x mitbestimmt ist. Ja es können sogar verschiedene Stoffe gleich- zeitig hinzugefügt werden, ohne daß sich im idealen Fall die Schmelzpunktserniedrigung ändert. Dieser Fall soll jedoch hier außer Acht gelassen werden. Zeichnen wir nun ein Diagramm, in dem als Abszisse die Konzentration des binären Gemisches, als Ordinate die Temperatur aufge- tragen wird (Abb. 2), so wird der Schmelzpunkt A bzw. B jedes der reinen Stoffe Ausgangspunkt Abb. I. 798' 870° Abb. 2. » einer nach abwärts gerichteten Schmelzkurve sein. Diese beiden Kurven schneiden sich dann in irgend einem Punkte, den wir den „eutektischen Punkt" nennen. Wie wird sich nun praktisch eine solche Schmelze zweier Stoffe verhalten ? In Abb. i sind 250 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 18 einige nach dem eingangs skizzierten Verfahren gewonnene Abkühlungskurven von Gemischen aus Natriumchlorid und Strontiumchlorid gezeichnet, aus denen dann das Diagramm Abb. 2 abgeleitet worden ist.') Kurve la und le beziehen sich auf reines NaCl bzw. SrCl,,, die bei 798" bzw. 870" schmelzen. Kurve ib (80 "/o NaCl) und id (20 "/^ NaCl) zeigen je einen thermischen Effekt bei 721" bzw. 742". Außerdem weist jede der beiden Kurven einen zweiten Effekt bei 565" auf. Kurve ic (so^/o NaCl) hat nur bei dieser Temperatur eine lange Haltezeit. Die Bedeuiung dieser Temperatur er- gibt sich aus dem — natürlich auf Grund von noch mehr verschiedenen Schmelzen festgestellten — Diagramm: Die Schmelzpunktskurven von NaCl und SrCl.j schneiden sich im eutektischen Punkt E, der die Zusammensetzung Jo "l^, NaCl -f- 50 "/^ SrCU und die Temperatur 565" hat. Was ist also bei der Abkühlung einer Schmelze, z. B. von der Zusammensetzung 80 % NaCl -\- 20 */o SrCl,, (Kurve ib) vor sich gegangen? Oberhalb von 721" ist nur Flüssigkeit vorhanden. Bei dieser Tempera- tur beginnt NaCl auszukristallisieren, die Schmelze wird dadurch SrCl.,-reicher; der Schmelzpunkt von NaCl wird also mehr und mehr erniedrigt mit der Ausscheidung dieses Salzes. Der Zustand der Flüssigkeit wird in jedem Augenblick durch einen Punkt der Kurve AE dargestellt. Bei weiterer Abkühlung wird schließlich Punkt E erreicht. Hier beginnt nun auch SrCU aus der Schmelze zu kristallisieren. Dabei bleibt wieder nach der Gibbsschen Regel die Temperatur solange kon- stant, bis alles erstarrt ist; denn da wir bei 2 Kom- ponenten, NaCl und SrCU, jetzt 3 Phasen haben, Flüssigkeit, NaCl-Kristalle und SrCl.,- Kristalle, die mit einander im Gleichgewicht stehen, so ist dieses bei gegebenem Druck (= i Atm.) invariant. Die Punkte innerhalb der Dreiecke AEEj und BEEg können niemals den Zustand einer Phase dar- stellen, sondern nur das Gleichgewicht zweier Phasen. So sagt z. B. Punkt b aus, daß sich eine Flüssigkeit vom Zustand bj und NaCl Kristalle vom Zustand b.^ im Gleichgewicht befinden und zwar im Mengenverhältnis bjb ; bjb. Die ge- nannten Dreiecke sind Gebiete heterogenen Gleichgewichts. Dasselbe gilt für das unter EjE., gelegene Gebiet, nur daß hier 2 feste Phasen im heterogenen Gleichgewicht stehen. Daß diese Ausdeutung der thermischen Er- gebnisse richtig ist, läßt sich durch die kristallo- graphische Untersuchung der Kristallisationspro- dukte bestätigen.-) Aus den erstarrten Schmelzen werden zu diesem Zweck wie bei petrographischen Arbeiten Dünnschliffe zur mikroskopischen Be- trachtung hergestellt. In Abb. 3 und 4 sind Mikro- photographien solcher Dünnschliffe wiedergegeben. Sie sind dem binären System aus NaCl und dem Doppelsalz KCl • 2 SrCtj entnommen, das nahezu ') E. Vortisch, N. lalirb. 1'. Mineralog. usw. Beil.- Bd. 38, 185, 1914. ") Zuerst angewandt von R. Lorenz und \V. Ruck- Stuhl, Zeitschr. f. anorg. Ch. 51, 72, 1906. mit Abb. 2 übereinstimmt. Die vorliegenden Photographien stammen von einem Gemisch, dessen Zusammensetzung zwischen c und d in Abb. 2 liegen würde. In Abb. 3 ist ßsfache in Abb. 4 etwa 100- fache Vergrößerung bei dem- selben Dünnschliff angewandt. Das Doppelsalz ist primär ausgeschieden. Da es doppeltbrechend ist, und die Aufnahmen zwischen gekreuzten Ni köl- schen Prismen gemacht sind, tritt es in Abb. 3 hell hervor in den langen Reihen sogenannter Gitterkristalle. Dazwischen liegt eine feinkörnige, eutektisch erstarrte Grundmasse. Die Struktur derselben ist aus Abb. 4 ersichtlich. Es sind ge- fiederte Aggregate aus abwechselnd einfachbrechen- den (NaClj und doppeltbrechenden (KCl-2SrCl2) Lamellen, die gleichzeitig entstanden sind. Dies ist das normale Aussehen eines eutektischen Ge- misches zweier Salze, von dem es natürlich je nach der Natur der Kompomenten vielerlei Ab- weichungen gibt. In dem bisher betrachteten Typus war voraus- gesetzt worden, daß die Komponenten A und B weder im festen Zustand miteinander mischbar noch verbindungsfähig sind. Nun soll der Fall der Fähigkeit zur Bildung von Mischkristallen betrachtet werden. J. J. von Laar') hat die in diesem Fall auftretenden Schmelzkurven durch thermodynamische Berechnungen festgestellt und erhielt vier verschiedene Typen derselben, die in Abb. 5 dargestellt sind. Welcher von diesen in einem gegebenen Zweistoffsystem auftritt, hängt vor allem von dem Verhältnis der Schmelzwärme der Komponenten zu ihrer Mischungswärme im festen Zustand ab. Ist letztere sehr gering, so wird der F"all der Abb. 5a auftreten. Bei Ab- kühlung einer Schmelze von der Zusammensetzung f ergibt sich eine Abkühlungskurve wie Abb. 6, d. h. die Kristallisation erfolgt in einem Tempe- raturintervall. Stellt man die Anfangs- und End- temperaturen der Intervalle verschiedener Gemische zu einem Konzentrations-Temperatur-Diagramm zusammen, so erhält man zwei Kurven ; die obere nennt man die Liquidus-, die untere Soliduskurve, da sie die Exislenzgebiete der flüssigen bzw. festen Phase begrenzen. Zwischen beiden liegt ein Ge- biet heterogenen Gleichgewichts (in der Abb. schraffiert). Wenn also eine Schmelze des Systems KCl — TICl ") von der Zusammensetzung f abge- kühlt wird, so setzt bei 673° die Kristallisation ein. Die sich ausscheidenden Mischkristalle haben aber nicht, wie man zunächst wohl erwarten würde, die gleiche Zusammensetzung wie die Schmelze, sondern sie sind reicher an KCl. Ihr Zustand wird dargestellt durch den Punkt Sj, den Schnitt- punkt der durch den Zustandspunkt Ij der Flüssig- keit gelegten Horizontalen (der sog. Binodallinie) mit der Soliduskurve. Bei der Ausscheidung dieser Kristalle muß aber die flüssige Phase notwendig ') J. J. van Laar, Zeitschr. f. phys. Ch. 63, 216, 1908. ''} C. Sandonini und Aureggi, Rendiconti Accad. Lincei 20, II, 5SS, igri. N. F. XVIII. Nr. i8 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 251 KCl-ärmer werden, so daß ihr Zustandspunkt längs der Liqiiiduskurve abwärtsgleitet. Da aber stets mit der Flüssigkeit ein Mischkristall von gleicher Temperatur im Gleichgewicht steht, so gleitet auch der Zustandspunkt der festen Phase längs der Soliduskurve abwärts, d. h. die Mischkristalle müssen ihre Zusammensetzung ständig ändern, wenn Gleichgewicht herrschen soll. Ist schließlich der Punkt Sj (bei 663") erreicht, in dem die feste Phase das ursprüngliche Mischungsverhältnis f hat, dann ist alles kristallisiert. Abb, der Mischkristalle Null ist. Jedoch beginnt die Entmischung bei kleiner Mischungswärme, wie sie für das Fehlen des Minimums Vorbedingung ist, erst bei sehr niedriger Temperatur. E. J ä n e c k e ') ist es neuerdings gelungen, durch eine besondere Untersuchungsmeihode für das nach dem Typus 5a kristallisierende System NaCl — AgCl die Ent- mischungskurve festzustellen. Auch bei dem Typus 5b geht der Zerfall häufig so allmählich vor sich, daß er nicht direkt beobachtet werden kann. So konnte H. Brand -) die Entmischung von (Na K)Br erst durch das Hinzufügen eines dritten Salzes finden. Na Gl, KCl Maar, ^0, Abb. 6. 0 a V \ v^ Caei, KCl \ \ B P, \ <^L / ^ BaGlj 5 0 Caei, Abb. ■;. Abb. 7. Abb. 4. Bei etwas größeren Werten der Mischungs- wärme zeigen die Schmelztemperaturen ein Mini- mum (Abb. 5b). ^) In diesem müssen sich die Liquidus- und die Soliduskurve berühren. Die Schmelze, deren Zusammensetzung dem Minimum entspricht, erstarrt also wie ein reiner Stoff, ist jedoch keine Verbindung der beiden Komponenten. Aus Abb. 5b ist zugleich ersichtlich, daß nach vollständiger Erstarrung der Schmelze von einer gewissen Temperatur ab ein Zerfall der Misch- kristalle eintritt. Dieser tritt stets auf, auch im Fall der Abb. Sa, wenn nicht die Bildungswärme Bei den durch die Diagramme 5c ^) und 5d *) dargestellten Typen ist die Mischungslücke der festen Phase an die Schmelzkurve herangerückt. Die Mischungswärme hat hier etwa die Größen- ordnung der Schmelzwärme erreicht, bzw. sie über- schritten. In beiden Fällen zeigt die Liquidus- kurve einen singulären Punkt. Die durch ihn dargestellte Flüssigkeit steht mit zwei festen Phasen, den ,, Grenzmischkristallen" Ej und E.,, im Gleich- gewicht. In Abb. 5c, wo die Soliduskurve einen „Hiat" besitzt, scheiden sich aus Schmelzen, deren Zusammensetzung zwischen E.3 und U bei ') N. S. Kurnakow und S. F. Zeraczuznyi, Ztschr. anorg. Ch. 52, 186, 1907. ') E. Jänecke, Ztschr. phys. Ch. 00, 304, 1915. ''■) H. Brand, N. Jahrb. für Mineral, usw. 1913, 1, 9. ä) G. Kellner, Ztschr. anorg. Ch. 99, 137, 1917. ♦) D. J. Hissink. Ztschr. phys. Ch. 32, 537, 1900. ^52 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. i8 der Abkühlung- zunächst MgBr.j-reiche Misch- kristalle aus. Dadurch bewegt sich der Flüssig- keitspunkt auf U zu. Ist dieser Punkt erreicht, so setzen sich die-Grenzmischkristalle Ej mit der Flüssigkeit zu Mischkristallen E^ um. Bei Schmelzen zwischen U und E, gleitet nach völligem Ver- schwinden der Mischkristalle £3 der Fiiissigkeits- punkt weiter auf M zu, wobei nur noch LiBr- reiche Mischkristalle ausgeschieden werden. Im übrigen sind die Kristallisationsvorgänge in Abb. 5 c und 5d völlig entsprechend den vorher beschriebenen. Der Fall Abb. 2 ist nur ein Grenzfall von 5 d, der praktisch schon eintritt, wenn die Mischungs- wärme etwa das vierfache der Schmelzwärme be- trägt. In den Abb. 5 sind stets die Gebiete heterogenen Gleichgewichts schraffiert, so daß die beiden Endpunkte der Schraffierungslinien die miteinander im Gleichgewicht stehenden Phasen angeben. Es kann nun noch der Fall eintreten, daß die Komponenten des binären Systems sich mit- einander verbinden. Hierbei sind wiederum zwei Typen zu unterscheiden. Abb. 7 a zeigt eine Ver- bindung KCl-CaCl., mit echtem Schmelzpunkt. *) Dadurch wird das System in zwei Teilsysteme vom Typus der Abb. 2 zerlegt. Nur ist zu be- achten, daß die Schmelzkurve beim Schmelzpunkt des Doppelsalzes eine horizontale Tangente hat, da die Verbindung in der Flüssigkeit stets bis zu einem gewissen Grade dissoziiert ist. Im System CaCU — BaCla (Abb. 7 b) tritt eine Verbindung CaClj • BaC!„ auf, die nur unter Zersetzung schmilzt.'-') Der invariante Punkt P ist hier ein „peritekiischer" Punkt. Längs der Kurve AP scheidet sich primär BaClj aus. Dieses setzt sich im Punkt P mit der Schmelze zu dem Doppelsalz um. War in der ursprünglichen Schmelze die Konzentration von BaClj mindestens so groß wie in dem Doppel- salz, so ist die Kristallisation mit der Bildung des- selben beendet. Andernfalls scheidet sich nach völliger Umwandlung des kristallisierten BaClg das Doppelsalz längs PE primär aus, bis der Rest in E eutektisch erstarrt. Man kann also aus dem Auftreten und der Dauer der beiden Haltezeiten auf den Abkühlungskurven, entsprechend den beiden invarianten Punkten P und E, auf die Zu- sammensetzung der Verbindung schließen. Ergibt sich in einem solchen Falle, daß die Verbindung mit einer der Komponenten zusammenfallen würde, so heißt das, es tritt eine andere Modifikation dieser Komponente auf. So stehen im Punkt U der Abb. 7 b reguläres «BaClj und monoklines />' BaCl, gleichzeitig mit der Schmelze im invarianten Gleichgewicht. Die so erhaltenen 8 Grundtypen können nun noch miteinander die mannigfaltigsten Kombina- tionen eingehen. Von einer Besprechung der- selben kann jedoch um so mehr abgesehen werden, als gerade bei der Kristallisation der anorganischen ') O. Menge, Ztschr. f. anorg. Ch. 72, 162, 1911. '] W. Schäfer, N. Jahrb. f. Mineral, usw. 1914, 1, 15, Salze die Verhältnisse im allgemeinen sehr ein- fach liegen. II. Experimentelle Ergebnisse. Zur experimentellen Bestimmung der Schmelz- diagramme werden die Salzgemische in Gasöfen oder elektrischen Widerstandsöfen geschmolzen. Bei besonders hoch schmelzenden Komponenten, z. B. den Silikaten, werden Kohlekurzschlußöfen verwendet. Die Abkühlungskurven werden meist mit Hülfe von Thermoelementen gewonnen. Es treten nun besonders zwei Schwierigkeiten auf, die ein falsches Bild von den Gleichgewichts- zuständen geben können. Zunächst können Gleich- gewichisüberschreitungen auftreten.^) Sie werden zuweilen durch mangelndes spontanes Kristallisa- tionsvermögen einer oder beider Komponenten hervorgerufen. So können Unterkühlungen und Gleichgewichtsschwankungen um einen eutekti- schen Punkt entstehen, die neben unregelmäßiger Form der Abkühlungskurven das Fehlen einer eutektischen Struktur in den Dünnschliffen bedingen. Infolge geringer Diffusionsgeschwindigkeit bei peritektischen Umsetzungen und bei der Aus- scheidung von Mischkristallen entstehen anderer- seits häufig zonare Ausbildung der Kristalle und Restschmelzen, die unberechtigte eutektische Wärmeeffekte vortäuschen. Diese Fehler werden oft noch durch Steigerung innerhalb der Schmelze verstärkt. Zu einem großen Teil können diese Fehlerquellen durch geeignete Änderung der Ab- kühlungsgeschwindigkeit und durch fortgesetztes Umrühren der Schmelze ausgestaltet werden.-) Diese Erscheinungen dürfen jedoch nicht unbe- achtet gelassen werden, da sie bei den Erstarrungs- vorgängen in der Natur, also vor allem bei der Bildung der Gesteine und für die Bestimmung der Ausscheidungsfolge der einzelnen Bestandteile in diesen von großer Bedeutung sind. Die zweite Schwierigkeit, die bei der Unter- suchung von Salzen senr häufig auftritt, wird durch den zersetzenden Einfluß der Flammengase bei Gasöfen und durch den atmosphärischen Sauer- stofif verursacht. Um dies zu besehigen, sowie auch um eventuelle Sublimation der Komponenten möglichst hintanzuhalten, hat E. Korren g '') eine mit der Rührvorrichtung rotierende Schutzglocke konstruiert, in der eine Sticksioffatmosphäre über der Salzschmelze erzeugt werden kann. Eine Kontrolle der thermischen Analyse, namentlich wenn die Effekte auf den Abkühlungs- kurven nicht scharf ausgeprägt sind, bildet, wie schon oben ausgeführt, die kristallographische Untersuchung. Sind die zu untersuchenden Sub- stanzen hygroskopisch, so werden die Schmelz- produkte sofort nach dem Erkalten in Canada- ') Th. Liebisch und E. Korreng, Sitz.-Ber. d. Berl. Akad. 1914, 192. '■') R. Nacken, Zentralbl. f. Mineral, usw. 1910, 454. =) E. Korreng, N. Jahrb. f. Mineral, usw. Beil.-Bd. 37, 64, 1913. N. F. XVIII. Nr. i8 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 253 baisam eingebettet und dann in Öl oder Paraffin geschliffen.') Auch ändern sich eine Reihe von Eigenschaften des Gemisches mit der Zusammensatzung so, daß ein enger Zusammenhang mit der Form der Schmelzkurve besteht. Tubandt und Lorenz'-) legten ihren Untersuchungen Messungen der elektri- schen Leitfähigkeit zugrunde. J anecke^) hat einen Heizapparat konstruiert, mit dem es möglich ist, einen starken einseitigen Druck auf die Sub- stanzen auszuüben. Unstetigkeiten im Druck- Temperatur Diagramm zeigen dabei eine Volumen- änderung und somit zugleich eine Änderung im Molekularsustand an. So ist es besonders möglich geworden, Dimorphie- und PIntmischungskurven der festen Phase in weitgehendem Maße zu be- stimmen. Dasselbe erreichte Nacken*) durch Bestimmung der Brechungsindizes. Im folgenden sind nun in 4 Tabellen eine Reihe von Ergebnissen der Untersuchung von Kristalli- sationsvorgängen in Salzpaaren zusammengestellt, aus denen die Übereinstimmung und Verschieden- heit hervorgeht, wie sie durch die chemische Ver- wandtschaft der Komponenten bedingt ist. Es sind dabei für die verschiedenen Kristallisations- typen folgende Abkürzungen angewendet worden: nm= nicht mischbar und nicht verbindungs- fähig im festen Zustand (Abb. 2), b m := beschränkt mischbar mit eutektischem Punkt (Abb. 5 d), b m h = beschränkt mischbar mit Hiat in der Soliduskurve (Abb. 5 c), kmm = kontinuierliche Mischkristallreihe mit einem Minimum in der Schmelzkurve (Abb. 5 b), km = kontinuierliche Mischkristallreihe mit gleichmäßig abfallender Sclimelzkurve (Abb. 5 a) — sehr geringe Mischungs- wärme, D23 = Doppelsalz aus 2 Molekülen der in der Tabelle links stehenden und 3 Mol. der rechts oder oben stehenden Komponente (Abb. 7a). Ein * (Stern) an dem D besagt, daß das Doppelsalz nur unter Zersetzung schmilzt (Abb. 7 b). Am eingehendsten untersucht sind bisher die Halogensalze von ein- und zweiwertigen Metallen. Diese zeichnen sich durch verhältnismäßig ein- faches und übersichtliches Verhalten aus, so daß sie dadurch am besten zur Feststellung der grund- legenden Kristallisationstypen geeignet sind; ins- besondere tritt hier verhältnismäßig selten Dimor- phie auf. In den Tabellen ist diese im allge- meinen unberücksichtigt geblieben, da sie meist nichts prinzipiell neues bringen und die Tabellen unübersichtlich gemacht hätten. Nur die Sulfate der einwertigen Metalle zeigen wesentliche Unter- schiede im Verhalten der beiden Modifikationen. Die bei höherer Temperatur beständige a Modi- fikation zeigt im allgemeinen eine viel größere Mischfähigkeit als die bei tieferer Temperatur existenzfähige p'-Modifikation. Auch in den bmären Systemen mit Sulfaten zweiwertiger Metalle zeigt sich noch die große Neigung der «Alkalisulfate zur Mischkristallbildung.') Fl— Cl FI-Br n-j I Cl— Br ci-j Br-J « — — k m DaiDn k m Na n m — — kmm b m kmm K n m n ra — kmm b m kmm Cn — — — kmm b m kmm Ag — — — . kmm b ra kmm Tl — — — kmm b m kmm Ca D„* — — — — — Sr Ba Hg Du Du — — — — — — — b m kmm Pb D4.*D„ b m D4i*D.i D4i*D„* k m n m n m Cd — — — kmm bm k m Sb — — — kmm bm kmm ') E. Korreng, Zentralbl. f. Mineral, usw. 19:3, 408. 2) C. Tubandt und E.Lorenz, Ztschr. f. phys. Chem. 87, 513 u. 543, 1914. ^) E. Jänecke, Ztschr. f. phys. Chem. 90, 257, 1915. *) R. Nacken, Sitz.-Ber. d. Berl. Akad. 1918, 192. Tab. I. Gegenseitiges Verhalten der Halogene. Aus Tab. I ist das Verhalten der Halogene untereinander in binären Mischungen ersichtlich. Es handelt sich dabei um Mischungen zweier Salze mit gleichem Kation. An der Spitze steht das Verhalten der reinen Halogene. Man sieht, daß das Chlorid mit dem Bromid und, und mit einer Ausnahme, auch das Bromid mit dem Jodid eine kontinuierliche Reihe von Mischkristallen bildet. Dagegen ist das Chlorid mit dem Jodid nur in beschränktem Maße mischbar. Daraus ist schon eine Beziehung zu ersehen, die bereits M itsch er- lich erkannt hat, daß nämlich zwei Stoffe um so leichter miteinander mischbar sind, je näher sie miteinander chemisch verwandt sind. Das- selbe ergibt sich auch aus Tab. 2, worin ein Ver- gleich der binären Systeme aus Salzen je zweier einwertiger Metalle enthalten ist. Der Satz Mi t- scherlichs war für die Abscheidung von Misch- kristallen aus wässerigen Lösungen und für eine Reihe von Mineralien gefunden worden. Die Untersuchungen der Kristallisation von Salzen aus dem Schmelzfluß haben ihn nun bestätigt und noch erweitert. Es hat sich nämlich ergeben, daß die Mischfähigkeit der Körper mit der Tem- peratur wächst. So kristallisieren z. B. NaCl und KCl aus gemeinsamer wässeriger Lösung unge- mischt aus, während sie sich aus binären Schmelzen in kontinuierlicher Reihe von Mischkristallen aus- ') G. Calcagni und D. Marotta, Gazz. chimica ital. 42, II, 674; 43, II, 3S0; 44, I, 487; 45, II, 368; 1912-1915^ 254 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. i8 scheiden (Abb. 5 b). Dieses Ergebnis ist aber aus den eingangs gemachten theoretischen Erwägungen ohne weiteres verständlich. Die Mischkristalle Cl Br J SO4 NO3 1 BO2 CN Li— Na Li— Cu Li— Ag Na— Cu Na— Ag Cu— Ag kmm b m h b m h b m k m b m kmm k m k m kmm nm k m alc m ^D32 km n m b m bmh ! — 4 Doppel- salze Du K— Rb K— Cs K— Tl Rb— Cs Rb— Tl Cs— Tl k m kmm k m kmm k m b m h — — ~ b m — — Li— K Li— Rb Li— Cs Li— Tl Na-K Na— Rb Na— Cs Na— Tl Cu— K Cu— Rb Cu— Cs Cu— Tl Ag-K Ag— Rb Ag-Cs Ag-Tl D m n m Di,D,,, n m kmm n m n m n m D,2* Di»*D,,* D23*D2, D,,* n m n ni Du* n m kmm Dl.* n ra D,,* kmm Du b m Du Du «kmm ßDn «km /?D3i n m b m n m Du D„ kmm kmm 5 Doppel- salze Du beginnen sich teilweise schon bei etwa 480" (M, in der Abbildung) zu entmischen. Die Lücke verbreitert sich mit abnehmender Temperatur sehr rasch. Zwar erreicht die Grenzkurve die Achsen A und B der reinen Sioffe erst im absoluten Nullpunkt, jedoch ist sie ihnen bereits bei gewöhn- licher Temperatur so nahe gerückt, daß der Ab- stand praktisch nicht mehr wahrnehmbar ist. Beim Fluor zeigt sich das gleiche Anzeichen chemischer Verwandtschaft zum Chlor nicht. Die Elemente der ersten Horizontalreihe des periodi- schen Systems verhalten sich überhaupt etwas ab- weichend von den übrigen Gliedern der gleichen Kolonne. So weist z. B. das Lithiumchlorid in Tab. 3 eine abnorme Mischfähigkeit mit den Chloriden zweiwertiger Metalle von geringem Molekulargewicht auf. Tamman ^) hat für Metallegierungen den Satz aufgestellt : Bildet ein Metall mit einem anderen, das nicht derselben Vertikalreihe des periodischen Systems angehört, Verbindungen, so verbindet es es sich mit allen Metallen dieser Kolonne. Diese Gesetzmäßigkeit findet sich auch im wesentlichen bei den Salzen wieder. Hierbei sind die Kolonnen Na, Cn, Ag, Au und K, Rb, Cs usw. stets als selbständige Reihen anzusehen. Aus Tab. 3, in der das Verhalten von einwertigen Chloriden in Mischung mit zweiwertigen dargestellt ist, ist die Gültigkeit des Satzes ersichtlich. Zugleich tritt dort aber auch eine Ausnahme auf: Thalliam- chlorür, das sonst dem Kaliumchlorid sehr nahe- steht, bildet mit Bariumchlorid keine Verbindung. Ebenso bilden, wie aus Tab. 2 hervorgeht, KCl und RbCl mit CuCl Verbindungen, nicht aber mit AgCl. Diesen Befund erhält man jedoch nur bei Kristal- lisation aus dem Schmelzfluß. Bei der Aus- scheidung aus wässeriger Lösung erhält man ebenfalls Doppelsalze, die eben nur bei höherer Temperatur nicht beständig sind.-) Cu und Ag zeigen ebenfalls Abweichungen gegenüber dem Na im Verhalten zu den Metallen der Mg-Reihe (Tab. 3). Wenig geklärt ist bisher noch die Frage der Valenzen bei den Doppelsalzen. Eine zusammen- Binäre Mischungen Tab. 2. von Salzen einwertiger Jletalle. ') G. Tamman, Ztschr. f. anorg. Ch. 49, 113, 1906. ') C. Sandonini, Gazzetta chimica ital. 44, I, 331, 1914. Mn Mg Zn Cd Hg Ca Sr Ba Pb Sn Li kmm kmm ^ — kmm n m n m n m n m Na D,.,*D,.* Dä.*D,2* — D.:i* — n m n m n m n m n m Cu — n m b m k m — n m — — n m n m Ag — u m — — — n m -- — n m — K DuD4i* D„D,, — DnD,,* D„ D,.D.2 Da, Di.,*D,2 DsiDn Rb — — — — — — — — D,i*D„D,2 3 Doppel- salze Tl — D„* D,,D,„ Dn Dj,*Du D,, Du* 11 m D;„D,, D:„D,, Tab. 3, Binäre Systeme von einwertigen mit zweiwertigen Metallchloriden. N. F. XVIII. Nr. i8 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 255 OH' i 1 ! 1 jkmibinh bmjnm — 1 1 1 — — — — — 1 Fl' nm nm _ ; _ D,. D.i — — — n m n m D21D1, Cl' k mm b m [bl) n m n m — n m — n m n m b m Br' k mm \bm' — 1 — ■ 1 — — J' Ag\l 1 1 D„ - , - - \bm' ; — — — — — N03' n m 1 n m — — — : — — Tab. 4. Binäre Systeme von Kaliumsalzen. CO," k mm — — — — 1 SO4" km km Jcm — — — WOi" k m k m — — CrOi" km — M0O4" — — — PO^'" — — , P2O,"" bm PO:, hängende Untersuchung im Anschluß etwa an die Wern ersehe oder die neue K oh Iweilersche Valenztheorie liegt bisher noch nicht vor. In Tab. 4 ist schließlich das gegenseitige Ver- halten einer Reihe von Säuren an ihren Kalium- salzen gezeigt. Die Gruppe der Halogensalze ist schon betrachtet worden. Dazu gesellt sich eine zweite Gruppe von noch näher verwandten Säuren: die Schwefel-, Wolfram-, Chrom- und Molybdän- säure. Die Bildungswärme ihrer Mischkristalle ist sehr gering, so daß auch bei gewöhnlicher Tem- peratur noch keine Entmischung eintritt, und die Salze auch aus gemeinsamer wässeriger Lösung in einer kontinuierlichen Reihe von Mischkristallen sich ausscheiden. Als der Schwefelsäure verwandt erweist sich ferner noch die Kohlensäure, sowohl in Mischung der Salze untereinander, als auch im Verhalten gegenüber den Halogensalzen. Be- merkenswert ist das Verhalten der Metaphosphor- säure, das merklich von dem der beiden anderen Phosphorsäuren abweicht. Schließlich sei noch auf eine gewisse Verwandtschaft der Salpetersäure zu den Halogenen hingewiesen, die sich in einer merklichen Mischfänigkeit der Silbersalze (in Tab. 4 in Klammern eingefügt) äußert. Noch deutlicher tritt der Zusammenhang mit der salpetrigen Säure hervor, deren Na-Salz sowohl mit dem von HNO3 als auch mit denen von Cl und Br kontinuierliche Reihen von Mischkristallen bildet.') Die Kalium- salze sind in dieser Hinsicht noch nicht untersucht. Literatur. Die in den Tabellen zusamraengestellten Einzelergebnisse finden sich, soweit sie bis igtl veröffentlicht sind, in Land ölt- Born st ein, Physikaliscb-chemische Tabellen; Berlin 1912. Für die späteren Untersuchungen kommen aufier den schon angeführten Arbeiten noch in Frage: G. Herrmann, Ztschr. f. anorg. Ch. 7], 257, 1911. H. Brand, N. Jahrb. f. Mineral, usw. Beil.-Bd. 32, 627, 1911. F. E. E. Lamplough, Proc. Cambr. Philos. See. 16, 194, 1911. H. Brand, Centralbl. f. Min. usw. 1912, 26. G. Rack, ebd. iqi3, 373. W. Thrute, Ztschr. f. anorg. Ch. 76, 129, 1912. H. Gemsky , N. Jahrb. f Min. usw., Beil.-Bd. 36, 513, 1913. K. Treis, ebd. 37, 766, 1914. G. Rack, Centralbl. f. Min. usw. 1914, 32Ö. E. Korreng, Ztschr. f. anorg. Ch. 91, 194, 1915. Ferner eine große Reihe von Untersuchungen von C. San- donini, G. Scarpa und M. Amadori, in; Rendiconti della Acc. Lincei, Bd. 21 — 24; 1912— 1915. ') D. Meneghini, Gazz. chim. ital. 42, 11, 472, X9l2. 256 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 18 [Nachdruck verboten.] Llouardo da Yinci als Naturlorschor. Von Dr. M. Schips in Schwyz. Die vierhundertste Wiederkehr des Todestages des Lionardo daVinci am 2. Mai dieses Jahres gibt uns Gelegenheit, dieses außerordentlichen Mannes zu gedenken, welcher gleich groß war als Künstler (Architekt, Plastiker, Maler, Musiker und Dichter), wie als exakter Denker und Forscher, so daß S. Günther') von ihm sagt, er sei viel- leicht das größte Universalgenie gewesen, das die Erde je hervorgebracht hat. Es ist deshalb wohl am Platze, der Tätigkeit dieses Mannes und seinen Erfolgen in Mathematik, Physik, Biologie und Erd- kunde nachzugehen und ihre Bedeutung für die Wi>senschaft seiner und der folgenden Zeil klar zu stellen. Wir werden dem wissenschaftlichen Lebenswerk Lionardos, das keine Grenzen kennt, unsere Bewunderung nicht versagen können und werden es vielleicht einen Augenblick bedauern, daß das gewaltige Fortschreiten unseres Wissens eine ähnliche universelle Betätigung dem einzelnen heute verunmöglicht. Lionardo wuide 1452 zu Vinci bei P'lorenz geboren. Er lernte bei dem Maler und Bildhauer Andreadel Verocchio neben den Grundlagen der Künste, denen er seinen Weltruhm verdankt, auch Metallgießerei, Goldschmiedekunst und Weberei ; das Studium der Perspektive führte ihn zur Mathematik, welche er immer mit großem Eifer pflegte. Seit 14S5 lebte er am Hof der Galeazzo und Ludwig Sforza in Mailand, wo er neben künstlerischen Arbeiten (Reiterstatue des Francesco Sforza, Abendmahl, Ausbau des Mailänder Domes) eine wissenschaftliche Aka- demie gründete und als Kriegsingenieur tätig war. Seit 1497 arbeitete er an der Schiff bar- machung des Kanals von Martesana und an der Kanalisation des Tessin; als Ludwig XII. von Frankreich den Ludwig Sforza aus Mailand ver- trieben hatte und am 6. Oktober 1499 i^i '^'^ Stadt eingezogen war, verließ auch Lionardo den Hof und hielt sich in der Folgezeit in ver- schiedenen Städten auf. 1502 trat er in die Dienste des berüchtigten Cesare Borgia, der in Ro- magna Hofhielt; er verbesserte dessen Befestigungs- werke und baute Kriegsmaschinen. 1507 wurde er vom französischen König wieder nach Mailand berufen um die angefangenen Wasserbauten zu vollenden und weitere zu erstellen. Vorüber- gehend hielt er sich auch in Rom am Hofe des Papstes Leo X. auf und übersiedelte 15 16 an den Hof Franz I. von Frankreich; am 2. Mai 15 19 starb er auf dem Schlosse Clouse in Amboise. Lionardo hinterließ seine Schriften seinem Freunde Francesco daMelzo. Die meisten derselben sind verloren gegangen; ein Teil kam in den Besitz der Ambrosianischen Bibliothek zu Mailand und wurde 1796 von den Franzosen nach ') Günther, S. , Geschichte der Naturwissenschaften. Leipzig 1909, Erster Teil, S. 98, Paris gebracht und der Bibliothek des Instituts zu Paris einverleibt. Zwölf Codices befinden sich heute noch dort; einer, der Codex Atlanticus ist noch in Mailand.') Im Druck wurden die Werke, mit Ausnahme des 165 1 erschienenen Trattato della pittura erst seit dem Ende des 19. Jahrhunderts herausgegeben; die französische Akademie begann 1881 mit der Veröffentlichung unter dem Titel: Les manuscrits de Lionarde de Vinci, publies en facsimiles avec transcription literale etc. — Die Aufzeichnungen Lionardos sind meistens nur kurze, wenig zusammenhängende, aphoristische Notizen über die verschiedensten Gegenstände, und es ist nicht immer leicht, sie zu einem voll- ständigen Bilde seiner Ideen zusammenzufassen.-) Die wichtigsten seiner Resultate, die auch heute noch Bedeutung haben, sind im folgenden zu- sammengestellt, ohne Anspruch auf Vollständig- ständigkeit zu machen; sie genügen aber, um die Genialität Lionardos ahnen zu lassen, besonders wenn wir bedenken, daß wir in dem Mann, der diese Sätze schrieb, einen der frühesten Geistes- helden der Renaissance vor uns haben und daß vor ihm Jahrhunderte hindurch die Naturwissen- schaften im Dunkel eines weltfremden Mystizismus begraben lagen. Durch seine Kunst , bes. durch die Malerei mag Lionardo, ähnlich wie Albrecht Dürer,^) zu mathematischen Studien veranlaßt worden sein, vorerst wohl zu experimentellen und mathemati- schen Untersuchungen über die Perspektive. Die Klarheit der mathematischen Erkenntnis geht ihm über alles, wie dies aus den Worten eines seiner Schüler, des Giovanni Boltraffio hervorgeht, die dieser in jugendlicher Beziehung in sein Tage- buch (heute würden wir sagen: Kollegheft) schrieb *) : „Der Sonnenschein ist die größte Freude für den Körper, die Klarheit der mathematischen Wahrheit die größte PVeude für den Geist. Durch die Wissenschaft der Perspektive verbindet sich die Betrachtung des Lichtstrahles") mit der Klar- heit der Mathematik, das größte Labsal für das Auge mit dem größten Labsal für den Geist." — ') Auch die kgl. Bibliothek zu Windsor besitzt einige Manuskripte Lionardos. -) Gute Dienste leistet das Buch von Marie Herzfeld, Leonardo da Vinci, der Denker, Forscher und Poet, Jena 1906, welches 745 Notizen aus dem Pariser Quellenwerke bietet. ") Daß dieser ein ganz bedeutender Mathematiker war, beweist sein mathematisches Hauptwerk : Underweysung der mcssung — in Linien ebnen vnnd ganzen corporen; 1525. Sicher wurde Dürer durch Lionardos Vorbild (er traf mit da Vinci 1506 in Bologna zusammen) in seinen Studien beeinflußt, da er mit Vorliebe die gleichen Probleme wie Lionardo behandelt. ■') Mereschkowsky, Lionardo da Vinci, Leipzig 1914. ■'') ,,linea radiosa" ist ein von Lionardo geprägter Ausdruck, der von den Übersetzern verschieden wiedergegeben wird, z. B. mit ,, strahlende Linie" oder mit ,, Linie aus Licht". Die Übersetzung ,, Lichtstrahl" dürfte uns den Sinn am unge- zwungensten vermitteln, N. F. XVIII. Nr. i8 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 257 Lionardo verband sich mit einem der größten Mathematiker seiner Zeit, mit Luca Paciuoli^) (1445 — 1514) und zeichnete ihm die Figuren zu seinem berühmten Werk über den goldenen Schnitt (De Divina proportione 149/). Lionardos eigene mathematische Studien sind niedergelegt in seinem „Trattato della pittura'^j; sie beschäftigen sich außer mit Perspektive noch besonders mit den sehr interessanten, heute zu Unrecht ganz ver- nachläs'sigten Konstruktionen mit unveränderlicher Zirkelöffnung, mit den regelmäßigen Vielecken (Quadratur des Kreises) und mit Sternvielecken. Auch die Einführung der Zeichen -|- und — wird Lionardo zugeschrieben. Durch seine mathematischen Untersuchungen wurde Lionardo zur IVlechanik geführt, die er als „das Paradies der mathematischen Wissenschaften" preist, weil man hier zuerst zu den Früchten der Mathemaük gelange. Er fand die Gesetze für den Hebel ^) unter der Voraussetzung, daß die Kräfte in beliebiger Richtung auf ihn wirken und wandte diese Gesetze an zur Ermittlung der Gleichge- wicht.sbedingungen an der Rolle, der schiefen Ebene, dem Keil, dem Flaschenzug und dem Well- rad. Er machte Versuche über den Stoß und stellte fest, daß seine Kraft abhängt von der Masse und von der Geschwindigkeit der Körper, sowie von der Richtung des Stoßes; besonders ausführ- lich behandelt er den schiefen Stoß. Auch die Reibung untersuchte er und wenn er aucii noch nicht dazu kam, Reibungskoeffizienten zu ermitteln, so erkannte er doch schon das später (1781) von Coulomb aufgestellte Gesetz, daß bei gleich- bleibendem Gesamtgewicht die Reibung von der Größe der reibenden Fläche unabhängig ist. Auch mit der Mechanik der flüssigen und gasförmigen Körper befaßte sich Lionardo mit sehr großem Erfolg. Er zeigte das Gesetz der kommunizierenden Röhren in voller Allge- meinheit, indem er die Form und Weite der Röhre, sowie das spezifische Gewicht der Flüssig- keiten berücksichtigte. Die Tatsache, daß das Wasser in rotierenden Gefäßen an den Wänden emporsteigt, erklärte er richtig als Wirkung der Zentrifugalkraft. Er bestimmte das' Gewicht, die Verdichtung, den Widerstand und die Elastizität der Luft und konstruierte auf Grund seiner Er- gebnisse verschiedene Schwimmgürtel und einen Helm für Taucher. Auch der Wassergehalt der Luft war Lionardo bekannt; er verfertigte das erste brauchbare Hygrometer. Wie weit er seiner Zeit vorauseilte, geht daraus hervor, daß er den ') Dieser gelehrte Mönch war auch der Lehrer des Vene- tianischen Malers Jacopode'Barbari, der sich mit seinem Mathematiklehrer zusammen in einem Bilde gemalt hat. Von Jacopo, der 1500 in Nürnberg war, erhielt D ürer die erste Anregung zu mathematischen Studien, wie sie bei den zeit- genössischen Malern in Italien allgemein als integrierender Bestandteil ihrer Vorbildung gefordert wurden. '-) Deutsch herausgegeben von H. Ludwig, Wien 1882, unter dem Titel: ,,Das Buch von der Malerei". ') Auch das Eigengewicht des Hebels wird dabei in Rechnung gezogen. erst drei Jahrhunderte später praktisch verwerteten Fallschirm beschrieb und Pläne für einen Flug- apparat in Angriff nahm und zwar in Nachahmung des Vogelfluges, den er richtig deutete, indem er sagte, daß der Vogel, der schwerer als die Luft ist, sich in ihr hält und vorwärts bewegt, indem er „diese Flüssigkeit ^) dichter macht dort wo er fliegt, als dort, wo er nicht fliegt". Den eigentlichen gedanklichen Abschluß der Mechanik Lionardos bilden einige allgemeine Sätze, in denen er zwei fundamentale Gesetze mit überraschender Deutlichkeit vorausahnt, nämlich das Beharrungs- und das Energiegesetz. Er sagt, jedes Ding ,, trachte in seinem gegebenen Zu- stande zu verharren" und die Wirkung eines be- wegten Körpers ,, wuchte in der Richtung seiner Bewegung". Ganz klar sind die Sätze: „Kein Ding bewegt sich von selbst." „Jeder Impuls neigt zu ewiger Dauer." ,, Kraft ist Ursache der Bewegung und Bewegung ist Ursache der Kraft." Mag auch immerhin Lionardo der Tragweite dieser Sätze nicht voll bewußt geworden sein, so stand doch seine ganze Denkweise durchaus unter ihrem Einfluß. Das Vorhandensein der „Quali- tates occultae", welche der Philosophie seiner Zeit geläufig waren, den Einfluß der Wunder- und Geheimkräfte des Volksglaubens bestritt er und stellte die Möglichkeit eines Perpetuum mobile in Abrede, welches, wie der „Stein der Weisen" die Köpfe der Alchemisten, diejenigen der Phy- siker noch lange nach ihm verwirrte. Lionardo hat ferner das Verdienst, die erste Wellentheorie aufgestellt zu haben und zwar nicht bloß für Wasserwellen; sondern er kannte auch schon die Schallwellen. Er untersuchte die Fortpflanzung des Schalles im Wasser: „Wenn du dein Schiff anhältst und das eine Ende eines Rohres in das Wasser tauchst, während das andere Ende an das Ohr gelegt ist, wirst du das Geräusch von Schiffen hören, die sehr weit von dir entfernt sind." Er stellte fest, daß die Höhe der Reibungs- töne von der Geschwindigkeit der bewegten Luft abhängt und beobachtete das Mitschwingen von Saiten und Glocken: „Die berührte Saite einer Laute bewegt ein wenig eine andere gleiche Saite von gleicher Stimme einer anderen Laute. Du wirst dies sehen durch Auflegen eines Stroh- halmes auf die andere Saite." Als Maler mußte Lionardo auch auf optische Studien geführt werden. Außer mit Perspektive befaßte er sich auch eingehend mit dem Wesen der Farben, die ihm nicht etwas Absolutes, son- dern durch den Lichtstrahl bedingt sind. „Kein Körper zeigt sich uns je vollständig in seiner eigentlichen Farbe." „Fast niemals werden wir sagen können, daß die beleuchtete Körperober- fläche die eigentliche Farbe des Körpers zeige." „Nimmst du einen weißen Körper, bringst ihn an ') Lionardo nennt die Luft in der Sprache seiner Zeit „Flüssigkeit"; das Wort „Gas" wurde von van Helmont (1577 — 1644) für elastische Flüssigkeiten angegeben und er- hielt mit der Zeit den uns geläufigen Sinn. 2s3 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. i8 einen dunkeln Ort und lassest ihn durch drei Lichtspalten Licht auffangen, nämlich von der Sonne, vom Feuer und vom Himmel, so ist dieser Körper von dreierlei Farbe." — Lionardo be- rechnete den Reflex der Lichtstrahlen im Spiegel und erfand die Camera obscura schon lange vor Porta (1535 — 1615), der sie in seiner Magia na- turalis (1558) beschrieb und als ihr Erfinder gilt; Lionardo benutzte sie, um eine Theorie des Sehens abzuleiten. Wenn er auch noch keine Linse dazu verwendet, so sind ihm solche doch nicht unbekannt, wie seine Aufforderung beweist : ,,]VIache Gläser, um den Mond groß zu sehen." IVIan erinnere sich, daß das erste astronomische Fernrohr erst 100 Jahre später hergestellt wurde. — Um zwei Lichtstärken miteinander zu ver- gleichen, läßt er sie den Schatten eines Körpers nebeneinander an eine Wand werfen und ver- schiebt die eine Lichtquelle so lange, bis beide Schatten gleich erscheinen. So stellt er das Prinzip der Photometrie auf, wenn er auch freilich das Gesetz für den Zusammenhang von Lichtstärke und Entfernung nicht richtig angibt. — Lionardo beschrieb auch eine Erscheinung, die auf Beugung (Diffraktion) des Lichtes zurückzuführen ist und nimmt so Grimaldi (1618 — 1663) einen Teil seines Entdeckerruhmes vorweg. Er ließ einen Sonnenstrahl durch eine schmale Spalte in ein finsteres Zimmer treten und hielt zwischen den Spalt und das Auge einen Gegenstand. Dabei beobachtete er, daß das Bild des Spaltes in der Nähe der beiden Ränder des Gegenstandes sich bedeutend zusammenzog. Auf biologisch e Fragen mag Lionardo, wie zur Mathematik, durch seine Kunst geführt worden sein; sicher war sie der Anlaß zu seinen Studien über die Anatomie des menschlichen Kör- pers. Wie dies zu seiner Zeit die Künstler zu tun pflegten, sezierte er Leichen in seiner Wohnung in den Jahren 1489 — 15 10 und zeichnete Knochen, Muskeln, Bänder und auch innere Organe, Herz, Leber usw. Er verband sich mit einem der be- rühmtesten Anatomen seiner Zeit, mit dem Arzt M. A. della Torre; die Frucht ihrer gemein- samen Untersuchungen sind etwa 800 Bilder, die ältesten naturgetreuen anatomischen Tafeln, die wir kennen, älter und nach der Ansicht vieler nicht selten genauer als diejenigen des Andreas Vesal(i5i4 — 1564) in seinem Atlas: „De humani corporis fabrica" (1543). Wie gründlich Lionardo bei seiner Arbeit vorgeht, ist ersichtlich schon aus dem ersten Satz, mit dem er sich seine Auf- gabe stellt: „Dieses Werk muß beginnen mit der Empfängnis im Mutterleibe" und von hier aus die ganze Entwicklung verfolgen bis zum erwachsenen Mann und zur erwachsenen Frau. Bären, Pferde, Affen zieht er in den Kreis seiner Studien und zwar nicht bloß in Rücksicht auf die Bedürfnisse des Künstlers, sondern in der klaren Erkenntnis, daß der Mensch zu den vierfüßigen Tieren gehöre, da er ja als kleines Kind noch auf allen Vieren gehe. Auch bedeutsame Ansätze zur Anthropo- metrie finden sich bei Lionardo; die Gesichter und Gesichtsteile bringt er derart in ein Zahlen- system, daß es möglich ist, z. B. eine bestimmte Nasenform arithmetisch auszudrücken. Mit Botanik hat sich Lionardo ebenfalls beschäftigt und eine Methode angegeben, um die Pflanzen so zu trocknen, daß dabei zugleich eine Abbildung derselben entsteht. Hier dürfte auch die Quelle zu finden sein, aus welcher Alexius Pedemontanus (= Hieronymus Rosello) ge- schöpft hat, als er in seinem Buch „De secretis naturae" 1557 den Naturselbstdruck beschrieb. Schelenz^j vermutet diese Quelle in Italien, welches damals das Vaterland der Künste und Wissenschaften war ; dort dürfte Pedemontanus seine Methode im ersten Viertel des 16. Jahrhun- derts kennen gelernt haben. Bei seinen Wasserbauten mußten sich Lionardo auch geologische Probleme in den Weg gestellt haben. Er führte die Entstehung der Schicht- gesteine auf Ablagerungen zurück; das Wasser nennt er überaus treffend den ,, Kärrner der Na- tur". Die bei den Landdurchstichen zu Tage ge- förderten versteinerten Muschelschalen bezeichnete er als von Tieren herrührende Überreste und stellt sich so bewußt und mutig in Gegensalz zu dem Unsinn, der vor und noch lange nach ihm über diese „Lusus naturae" gelehrt und geglaubt wurde. Bemerkenswert sind auch die Ansichten Lio- nardos in astronomischen Fragen. Er hatte, lange vor Kopernikus und Galilei die Kühn- heit, zu sagen, die Erde stehe nicht im Mittel- punkt der Sonnenbahn, noch viel weniger im Mittelpunkt der Welt, sondern sie sei ein Stern, „ähnlich wie der Mond". Das aschfarbene Licht, das der Mond neben der leuchtenden Sichel zeigt erklärte Lionardo richtig als den Wiederschein des von der Erde zurückgeworfenen Sonnenlichtes. Es ist klar, daß Lionardo mit diesen, seiner Zeit weit vorauseilenden Ansichten wenig Ver- ständnis finden konnte bei der zunftgemäßen Wissenschaft seiner Zeit, die sich als Bücherweis- heit meist im Kommentieren alter Autoren verlor und der die Natur mit allem, was in ihr wirkt und lebt, mit sieben Riegeln verschlossen blieb. Doch ließ sich Lionardo nicht beirren in seinem sicheren Bewußtsein, den Schlüssel in der Hand zu haben, der diese Riegel heben hilft. „Wer sich auf die Autorität beruft, der braucht nicht seinen Verstand, sondern sein Gedächtnis." „Das Ex- periment irrt nie; was irrt, das ist nur euer Urteil" ruft er seinen Kritikern zu. Erfahrung und kritische Beurteilung des Beobachteten sind ihm das Rüstzeug des Wissens und des P'ortschritts : „Zuerst stelle ich bei der Behandlung naturwissen- schaftlicher Fragen einige Vers u che an, weil meine Absicht ist, die Aufgabe nach der Er- fahrung zu stellen und dann zu beweisen, wes- halb die Körper gezwungen sind, in der gezeigten ') Schelenz, Geschichtliches vom Naturselbstdruck, Naturw. Wochenschr. 1916, S. 258. N. F. XVIII. Nr. i8 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 259 Weise zu wirken. Der Erklärer der Wunderwerke ist die Erfahrung. Es gibt keine Gewißheit in den Wissenschaften, wo man nicht einige Teile der Mathematik anwenden könnte oder die nicht in gewisser Beziehung davon abhinge." Es ist, als hätte man Sätze eines Francis Bacon, des philosophischen Begründers der Erfahrungswissen- schaften vor sich, oder des Kritikers Immanuel Kant, welcher das Wort prägte: ,.In jeder Natur- wissenschaft ist nur soviel wahre Wissenschaft an- zutreffen, als Mathematik darin enthalten ist." Es ist klar, daß auch Lionardo, so wenig als irgendein anderer Forscher, unfehlbar war; Irrtümer finden sich auch bei ihm, doch sind sie meistens fremdes Gut, Niederschlag der Zeit, in der er lebte. Denn niemand wird zeitlos geboten. Was er aber selber erarbeitete, trug Keime zu weiterer Entwicklung in sich und wir können es nie genug bedauern, daß dieser Same so lange kein Erdreich fand. Einzelberichte. Geologie. In einem Sammelreferat (Geol. Rundschau, Bd. VI, 1915) (aßt D. Häberle seine besonders im Pfälzerwald angestellten Unter- suchungen über die gitter-, netz- und wabenförmige Verwitterung der Sandsteine zusammen. Das Vor- kommen von Sleingittern und ähnlichen Klein- formen wird aus allen Teilen der Erde beschrieben, sowohl aus Gebieten mit Trockenklima, als auch aus humiden Gebieten. Als auffallende Erschei- nung der Wüste hat man diese Kleinformen auf die Tätigkeit des Windes und dementsprechend ihr Auftreten in humidem Klima auf eine Klima- änderung zurückzuführen gesucht. Wenn auch in Trockengebieten dem Wind ein hervorragender Anteil zukommt, so hat sich gegen diese einseitige Erklärung eine gewisse Reaktion geltend gemacht. Häberle weist mit Recht auf ein zierliches Maschenwerk am Mauerwerk alter Ruinen hin, ein Gebilde, das nur durch die jetzt noch wirksamen Kräfte in den letzten Jahrhunderten entstanden sein kann. Der Verf. würdigt die verschiedenen aufgestellten Hypothesen, wie die Tätigkeit des Windes, den Einfluß des Sickerwassers, des ober- flächlich abrinnenden Wassers, der chemischen und mechanischen Verwitterung. Die Kleinverwitterungsformen des südlichen Pfälzerwaldes treten fast in allen Horizonten des mittleren oder Hauptbuntsandsteines auf, nament- lich lassen sie sich in den Felszonen der Steil- wände, Felsgrate und Nadeln beobachten. In frischem Zustand werden hier die gitterförmigen Bildungen meistens auf der Süd- und Südostseite, also nicht auf der Wetterseite gefunden. Recht verschiedene Erscheinungen der Kleinformen kön- nen einander abwechseln. An den Schichtfiigen entlang ziehen Reihen von Löchern, Nischen und höhlenförmige Vertiefungen mit stehengebliebenen kleinen Pfeilern ; daneben geben rundzellige, napf- oder hohlkugelförmige Auswitterungen dem Ge- stein oft ein zerfressenes, schwammartiges Aus- sehen. Nach der Anordnung des Leistenwerkes treten bei konkordanter Schichtung gitter- und bienenwabenähnliche, bei diskordanter Schichtung mehr netzartige Auswitterungen auf, die mitunter äußerst zierlich sein können. Der diese Hohlräume schaffende Zerstörungsprozeß geht von den Schicht- fugen aus. Die Sickerwässer lösen bei leichter verwitterbaren Partien das Bindemittel und bringen die gelösten Bestandteile an anderer Stelle wieder zur Ausscheidung, dadurch die Widerstandsfähig- fähigkeit dieser Teil durch Imprägnation ver- stärkend, damit sucht Häberle die Leisten zu erklären. Zur Hettner sehen Sickerwassertheorie fügt also Häberle noch die Infiltrationstheorie ergänzend hinzu. Zu anderen Resultaten kam O. Bayer (Zeit- schr. d. deutsch, geol. Ges. 1914, Bd. 63) auf Grund von Untersuchungen in dem sächsischen Quadersandsteingebiet. Nach ihm sind die Klein- formen in erster Linie auf die chemische Ver- witterung zurückzuführen. Durch die zirkulieren- den Gewässer kommt es zu Mineralneubildungen. So soll die Auskristallisation zahlloser winziger Alaunoktaeder innerhalb der Sandsteine eine kräftige Sprengwirkung ausüben, die das Ausein- anderfallen der Quarzkörner zur Folge hat. Mecha- nische Kräfte wie Temperaturwechsel, Frost, Wasserspülung, Windschliff wirken nur sekundär und unterstützend. Über das Vorkommen karren ähnlicher Gebilde in Bundsandstein berichtet Häberle in d. Jahresber. u. Mitt. d. Oberrh. geol. Vers., Bd. V, 191 7. Danach lassen sich drei Typen unterscheiden : Wannen- und schüsseiförmige Ver- tiefungen (bis 2 m breit und 1 5 cm tief), Höcker und abgestumpfte Kegel, Wülste und Polster mit wurmartig gekrümmten Rinnen. Diese Erschei- nungen werden auf den raschen Wechsel der Strukturverhältnisse, der ungleichen Verteilung und ungleichen Beschaffenheit des Bindemittels und den Angriffen der Atmosphärilien auf exponierte Lagen zurückgeführt. Bei den von gekrümmten Rillen unterbrochenen Wülsten haben vielleicht Wasser- rillen das System angelegt, ihre wurmartige Krümmung erhielten sie durch die auflösende Kraft der Niederschläge und die Wirkung des organischen Lebens (Nabelfiechten). Die Höhlen der Rheinpfalz behandelt Häberle im i. Heft der Beiträge zur Landes- kunde der Rheinpfalz, Kaiserslautern 19 18. Er- weiterte Klüfte und unbedeutende kleine Höhlen finden sich in den tertiären Kalken der Haardt. Dagegen sind im Muschelkalkgebiet der südwest- pfälzischen Hochfläche nur Dolinen, an den Wellen- 26o Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 18 kalk geknüpft, beobachtet worden. Eine wirkliche Höhle, die Bären- und Fledermäusenhöhle befindet sich in dem devonischen Kalklager bei Stromberg unweit Kreuznach mit Resten von Höhlenbären und menschlichen Skelettteilen wahrscheinlich aus der Bronzezeit. Im Buntsandsteingebiet gibt es in der Haupt- sache nur Klufthöhlen, Trümmerhöhlen und Nischen oder Halbhöhlen; an letztere knüpfen sich zahl- reiche Höhlenwohnungen. Außerdem wurden noch künstliche Höhlen festgestellt, Stollen des früheren Bergbaus auf Eisen, Kupfer, Quecksilber und Silber. Beobachtungen über das Wachstum von Stalaktiten (Jahresb. u. Miit. d. Oberrh. geol. Vers., 1918) machte Häberle in alten Gängen und Gewölben, vor allen im Heidelberger Schloß. Er fand ein jährliches Wachstum von etwa I mm, außerordentlich wenig im Vergleich zu dem Wachstum natürlicher Kalkhöhlen, wo bis zu 7,46 mm Längenwachstum beobachtet wurde. Scheu. Zoologie. Über die rudimentären Rippen der anuren Batrachier berichtet Frau Baronin A. M. v. Fejerväry geb. Längh in den Verhandlungen der zool. bot. Gesellschaft Wien, i9i8,Heft2 — 5, S.(i 14.) Unter den Familien der Anuren wurde nur der Farn, der Discoglossiden das Vorhandensein von Rippen zugesprochen. Bei den Aglossa sind wohl im Larvenzustand Rippen bekannt, doch wurden bei erwachsenen Tieren die Fortsätze der Wirbel als Querfortsätze bezeichnet, ohne in den distalen Teilen der Proc. transversi rudimentäre Rippen zu erblicken. Bei der Fam. der Discoglossiden lassen sich die Rippen als solche leicht erkennen, da sie als selbständige Knochenelemente, die durch Knorpel mit den Proc. transversi verbunden sind, auftreten. Die Rippenrudimente sind sowohl in dieser Familie wie auch bei allen anderen Anuren am IL, III. und IV. Wirbel zu beobachten und zeichnen sich be- sonders am III. Wirbel durch ihre Länge aus. Die Rippenrudimente des II. und III. Wirbels weisen einen nach rückwärts gerichteten Fortsatz auf, welcher beim II. Wirbel am Rippenende steht, beim III. Wirbel etwas proximal gelegen ist und als Proc. recurvatus costae primae bzw. Proc. recurvatus costae secundae benannt wurde. Soweit die Discoglossiden. An den Wirbelfortsätzen der anderen Familien der Anuren lassen sich ähnliche Fortsätze und Erhebungen auffinden und mit denen der Disco- glossiden homologisieren. Bei den Pelobatiden, obwohl die Verbindung verknöchert, lassen sich die Rippenrudimente an dem Proe. recurvatus er- kennen und ilire Grenzen topographisch bestimmen. Die Wirbelfortsätze der Bufoniden und Hyliden weisen wohl Fortsätze und Protuberanzen auf, doch sind diese unbestimmter Art und die Trennung in Proc. transversi und Costae rudimentales läßt sich nicht durchführen. Unter den Cy-tignathiden zeigt Paludicula fuscomaculata den charakteristi- schen Proc. recurvatus und bei Leptodactylus ist eine Crista trapezoidea vorhanden, welche ein spezielles Merkmal der Raniden ist. Die Crista trapezoidea ist bei den Discoglossiden nicht zu be- obachten und kann daher zum Vergleich mit dieser Familie nicht dienen. Verhältnismäßig oft scheint der Proc. recurvatus bei den Engysto- matiden vorzukommen. Bei Callula pulchra kommt neben dem Proc. recurvatus co'^tae secundae an dem Fortsatz des IV. Wirbels noch eine Knochen- leiste vor, die, wie bei den Pelobatiden Pro- tuberantia costae tertiae benannt wurde. Sehr charakteristisch ist für die Raniden die Crista trapezoidea, eine an der Vorderseite der Rippen gelegene dreieckige, dünne Knochenplatte, die von Bolkay zuerst beschrieben wurde. Der Proc. recurvatus scheint nur am 2. Rippenpaar vorzu- kommen. An Rana macrocnemesis lassen sich wohl diese Verhältnisse am besten beobachten. Die Aglossa haben blos im Larvenstadium freie Rippen, die dann im Alter mit den Proc. trans- versi verschmelzen. Erhebungen und Fortsätze geben in bezugauf die Entwicklung dieser Wirbel- fortsätze keinen Aufschluß. Doch bei Pipa ameri- cana läßt ein histologisches Bild der Wirbelanhänge deutlich die Verschiedenheit der beiden ursprüng- lich morphologisch getrennten Knochenelemente erkennen. Es ist demnach durchaus irrig, anzunehmen, daß die Anuren mit Ausnahme der Discoglossiden rippenlos sind. Vielmehr besitzen alle Anuren Rippen; nur ist die Reduktion in den einzelnen Familien verschieden weit vorgeschritten. F. Reinhold, Wien. Bücherbesprechungen. Handlexion der Naturwissenschaften und Me- dizin, herausgegeben unter Mitwirkung zahl- reicher Mitarbeiter von Prof. Dr. J. H. Bechhold, 2. Aufl., I. Bd., Frankfurt a. M. H. Bechhold. 29,20 M. Das Lexikon verfplgt die Absicht, in knapper P'orm eine erste Informierung über die wichtigsten Gegenstände aus dem Gebiete der Naturwissen- schaften und der Medizin zu geben. Das ganze Werk wird, wenn der 2. Band erschienen sein wird, 80000 Stichworte erläutern. Man darf an- erkennen, daß der verfolgte Zweck erreicht ist; die kleinen Artikel geben trotz ihrer komprimierten Form alles das, was notwendig ist, um das be- treffende Stichwort mit einem Inhalt zu erfüllen. Jeder wird sich beim Studium medizinischer, N. F. XVIII. Nr. i8 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 261 chemischer, technischer und anderer naturwissen- schafihcher Werke und Pubhl^ationen dieses lexi- kalischen Hilfsmittels mit Vorteil bedienen können, sobald irgendein unverständlicher Fachausdruck oder Begriff sich dem Verständnis entgegenstellt. Die große Zahl kleiner Bilderchen, die den Text begleiten, unterstützen ihn meist recht wirksam, wenn sie auch naturgemäß, ebenso wie der Text selber, nur eine grobe Orientierung bezwecken. Auch über ihre Auswahl soll man bei einem so bedeutenden Umfange des Ganzen nicht rechten. Man würde sich sonst vielleicht hie und da fragen müssen, weshalb gerade dies Tier oder jenes Pflänz- chen im Bilde verewigt ist und andere Dinge nicht. Soweit der Rezensent ein eigenes Urteil hat, sind die Artikel so zuverlässig, wie man sie billiger- weise von einem solchen lexikalischen Werke ver- langen darf Auch der Preis ist anerkennens- werterweise mäßig zu nennen. Die folgenden Bemerkungen, die sich dem Rezensenten beim Durchblättern aufdrängten , sollen dies durchaus günstige Urteil nicht einschränken. Ich weiß nicht, aus welchen Gründen man eine so merkwürdige Orthographie wie die Ersetzung von ca, co, cu durch ka, ko, ku selbst bei den wissenschaft- lichen Eigennamen gewählt hat. Dabei ist die Schreibweise nicht konsequent durchgeführt (Formika, aber Doronicum, Kampanula, aber Camphora). Auch ist ce, ci nicht durch ze, zi ersetzt (nicht einmal z. B. bei Cellulose), was doch konsequenterweise hatte geschehen müssen, zumal hier vielfach (wenigstens bei verdeutschten Aus- drücken) jene Ersetzung schon allgemein üblich geworden ist. Dann bilden die zahllosen Namen solcher Autoren, die durch die bekannten Zusätze zu den Tier- und Pflanzennamen verewigt worden sind, einen Ballast für jedes Lexikon, den man ohne Gewissensbisse zu einem guten Teil über Bord werfen kann. Man würde so Platz für viele andere Biographien bekommen, die mit größerem Rechte vertreten sein sollten, wie die jener Namen- geber. Die Trennung von Interzellulargängen und Interzellularräumen ist kaum zu verteidigen. Nicht die Chromosomen, sondern das Chromatin vereinigt sich bei der Karyokinese zu Stäbchen, Fäden usw. Miehe. Link, Prof. Dr. G., Tabellen zur Gesteins- kunde. Mit 8 Tafeln. 4. verb. Auflage. Jena 1918. G. Falscher. Die 20 Tabellen nebst den angefügten 16 Struk- turbildern stellen ein sehr handliches Hilfsmittel dar, das beim Studium geologischer und minera- logischer Werke sowie namentlich bei Vorlesungen sehr nützKch ist. Es sei Studierenden sowohl wie allen, die praktisch mit Geologie und Mineralogie in Berührung kommen, bestens empfohlen. Miehe. Zschokke, Prof. D., Der Flug der Tiere. Berlin, 1919, J. Springer. 5 M. Das Büchlein verfolgt nicht den Zweck, das Flugproblem vom physikalisch-technischen Stand- punkte aus zu behandeln, sondern will Vorkommen, Entstehung, Eigenart und biologische Bedeutung der fliegenden Lebensweise innerhalb des Tier- reiches darstellen, und zwar für einen größeren Leserkreis. Das ist dem Verfasser trefflich ge- glückt. Seine Schilderungen sind gleicherweise ausgezeichnet durch die schöne und durchweg außerordentlich anschauliche Form wie durch die wissenschaftliche und literarische Beherrschung des Stoffes, sind also im besten Sinne volkstümlich. Ein ausführlicher Anhang mit Literaturzitaten läßt auch den Fachmann nicht zu kurz kommen. Miehe. Hoffmann, Ökonomierat Ph., Der Anbau von Rauchtabak in Deutschland, Berhn 191 8, P. Parey. i M. Die kurze Anleitung, die hier ein erfahrener Sachverständiger über den Anbau von Tabak gibt, wird manchem willkommen sein, der sich den Zeitverhältnissen entsprechend zum Selbstversorger machen möchte. Allerdings ist die Darstellung nicht in erster Linie für den Kleinpflanzer be- stimmt; der Verf. gibt aber über den für jenen heikelsten Punkt, nämlich die Fermentation und weitere Behandlung einige den Verhältnissen des Kleinbetriebes angepaßte Andeutungen, die aber immer noch mit Vorsicht und Verstand benutzt werden müssen, wenn Mißerfolge vermieden werden sollen. Miehe. Trier, Georg, Vorlesungen über die natür- lichen Grundlagen des Antialkoholis- mus. I. Halbband 1917, 2. Halbband 1918. Berlin. Gebr. Bornträger. Nach dem Titel nimmt man das Buch mit Spannung in die Hand und ist zunächst, was den ersten Halbband betrifft, sehr angenehm enttäuscht. Es werden hier keine breitgetretenen Pfade ein- geschlagen, sondern der Verfasser spricht von wissenschaftlicher Warte, und er spricht doch so klar, daß auch wohl jeder Laie, der mit Ernst an die mannigfaltigen verwickelten Fragen heranzu- gehen willens ist, fast restlos zu folgen imstande sein wird. Welches sind denn nun die „natür- lichen Grundlagen" des Antialkoholismus? — Nun, in dem Buch wird viel mehr gegeben, als der Titel verspricht. Verf. will die Antialkoholbewegung auf eine viel breitere Grundlage stellen, als es sonst oft geschah. Er führt uns die gründlichen Kenntnisse vor, über die die Wissenschaft, nicht zum geringsten dank der durch die Alkohol- industrie in weitgehendem Maße unterstützten Gärungsforschung, gerade auf dem Gebiet der Alkoholforschung verfügt, und glaubt die mehr oder weniger erklärten Freunde des Alkohols da- durch zu einer andern Einsicht zu bringen. Der erste Halbband zerfallt in einen kleineren chemi- schen und einen größeren biologischen Teil. Der erste Teil bringt zunächst längere Ausführungen über die Entwicklung unserer Kenntnisse vom 202 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. i8 Alkohol vom Altertum bis in die Neuzeit. Dann folgt eine genaue Schilderung der Chemie des Alkohols oder vielmehr der Alkohole, wobei neben dem schlechthin als „Alkohol" bezeichneten Äthyl- alkohol der Methylalkohol oder Holzgeist und die Fuselalkohole und ihre Abkömmlinge besonders berücksichtigt werden. Schon hier wird die be- sondere Stellung des Äthylalkohols in chemischer und biologischer Beziehung hervorgehoben, woraus sich auch seine besondere Wirksamkeit gegen lebende Organismen ableiten läßt. Der zweite Teil beschäftigt sich nun nicht etwa mit der bio- logischen Wirksamkeit des Alkohols, sondern er hat kurz gesagt die Gärungen als biologische Wirkungen der Hefen und anderer Kleinlebewesen zum Gegenstand. Auch hier steht aber natürlich die Chemie an hervorragender Stelle. Verf. scheint da zum Teil eigene Wege zu gehen. Als Nicht- chemiker vermag ich über die Berechtigung dessen nicht zu urteilen. Aber das Zeugnis muß man dem Verf. ausstellen, daß die Darstellung grade in diesem Teil von großer Klarheit ist. Wir lesen Genaues über die Vergärung aller möglicher zuckerhaltiger Substrate, wie sie z. T. schon den Alten bekannt waren, von der Möglichkeit, die Stoffe gegen die Gärung zu schützen und so ihren Zuckergehalt für die Ernährung zu sichern, von der Entdeckung der Hefen als Gärungserreger und der weiteren Entwicklung dieser Entdeckung, von den chemischen Einzelheiten des Gärungs- vorganges, von der Milchsäuregärung und allem, A\as damit im Zusammenhang steht, von noch vielen andern Dingen, die irgendwie mit dem eigentlichen Thema Berührungspunkte haben. — Schlagende Argumente gegen den Alkohol werden in diesem ersten Halbband jedoch noch kaum ge- bracht, oder glaubt der Verfasser den Alkohol dessen Freunden damit zu verekeln, daß er ihn als ein ,. Exkrement" der Hefen darstellt? Seine eigentliche Bedeutung gewinnt dieser erste Teil erst als Grundlage für das Folgende. — Gehen wir also zu dem zweiten Halbband. Hier finden wir alles zusammengebracht, wasden „Alkoholismus"des Menschen ausmacht. In einem physiologisch- medi- zinischen Teil werden die verschiedenen Wirkungen des Alkohols, bzw. der alkoholischen Getränke, auf den Menschen eingehend besprochen, die akuten zunächst mit ihren möglichen direkten und in- direkten schlimmen Folgen und dann die chroni- schen, die zu allerhand schweren Erkrankungen führen können. Ein psychologischer Teil be- schäftigt sich sodann mit allen jenen Momenten sozialer, gesellschaftlicher und anderer Natur, die zum Alkoholismus führen oder mit den Trink- sitten in Berührung stehen. — Endlich finden wir einen technologischen Teil, wo neben den schäd- lichen, eben den Alkoholismus bedingenden Re- sultaten der Gärungsindustrie, nun auch alle mög- lichen anderen Errungenschaften der hoch ent- wickelten Gärungstechnik, auch die nützlichen und gemeinnützigen besprochen werden. — In einem Schlußwort beleuchtet der Verf. die Aussichten der Antialkoholbewegung. Von der Gesetzgebung erwartet er zurzeit nicht viel. Dagegen glaubt er sich zu einem gewissen Optimismus berechtigt, wenn es gelingt, die Hochschulen, Lehrer und Studierende, mehr aufzurütteln aus der Gewohn- heit und der Gleichgültigkeit. Wenn man nun über den Wert des Buches urteilen soll, so muß man es als ein Verdienst des Verfassers bezeichnen, daß er uns die ganze Alkoholfrage auf breiter Basis mit der Gründlich- keit des Mannes der Wissenschaft in leserlicher und anregender Form vorgeführt hat. Von dem reichen Inhalt konnte das Referat nur eine An- deutung bringen. Das Buch wird durch seinen unbestreitbaren Wert seine Rolle in der Anti- alkoholbewegung spielen müssen. Wünschen wir ihm eine recht weite Verbreitung und damit auch die Möglichkeit einer baldigen Neuauflage. In der Aussicht dieser muß der Kritiker aber noch einige Worte zu der Form des Buches sagen. Der Verf schreibt seine „Vorlesungen" nieder. Das vei führt ihn dazu, Wortspiele und „Witze" aufzunehmen, die zur Belebung eines Vortrages vielleicht ange- bracht sein mögen, die aber doch darum meist durchaus nicht besser sind als diejenigen, die er an den „Alkoholikern" rügt. Das stößt aber in einem Buch, das ernste Menschen lesen sollen, ab. An manchen Stellen grenzt dann die Dar- stellung auch leider an Pharisäertum, und daß das gerade in der Alkoholfrage unter allen Umständen vermieden werden muß, damit wird wohl der Verf. mit mir einig sein. Ich würde diese Ausstellungen nicht machen, wenn ich nicht das Buch seiner ganzen Anlage und seinem reichen Inhalt nach für eine sehr wertvolle Bereicherung der Literatur über die Alkoholfrage hielte. Der Verfasser will überzeugen, und er kann es und wird es mit seinem Buche, auch wenn er diesen geringen, aber doch störenden Ballast fallen läßt. Hübschmann. Jensen, Paul, Physiologische Anleitung zu einer zweckmäßigen Ernährung. Bedin 1918, Julius Springer. Da das Ernährungsproblem ja leider immer noch in weitem Maße unsere Gedanken beherrscht, so ist es verständlich, daß darüber auch immer von neuem geredet und geschrieben wird. Die vorliegende kleine Schrift enthält in gedrängter Form die Grundzüge der Ernährungsphysiologie. Sie wendet sich in erster Linie an Hausfrauen und ist demgemäß durchaus allgemeinverständlich gehalten. Sie will aber die Frage, wie sich unsere Ernährung am zweckmäßigsten gestaltet, in den Vordergrund rücken, und dies wieder insbesondere mit Rücksicht auf die durch den Krieg bedingten Verhältnisse. Leider kann aber die Frage der Zweckmäßigkeit nicht anders beantwortet werden als durch die bekannten Forschungsergebnisse der Ernährungsphysiologie. So lesen wir auch hier, daß wir von den Nahrungsstoffen so und soviel brauchen, daß eine Mischkost am vorteilhaftesten N. F. XVIII. Nr. i8 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 263 ist, daß die Ausnutzung der Nahrung durch Schmackhaftigkeil der Speisen und anderes ge- fördert werden kann. Wir lesen aber auch mit Bedauern, daß die durch die behördliche Zuteilung erhälilichen Nahrungsmittel quantitativ für eine zweckmäßige Ernährung durchaus nicht zureichen und daß nur durch Ausnutzung aller, nur durch großen Geldaufwand erreichbaren Neben- quellen das nötige Kostmaß erreicht wer- den kann. Wenn so auch den meisten Lesern das Ziel, zu einer wirklich zweckmäßigen Ernäh- rung zu kommen, nicht viel näher gerückt wird, so werden sie sich doch aus dieser Schrift manche Anregung holen können, wie sie mit dem Verfüg- baren am vorteilhaftesten zu verfahren haben. Hübschmann. Boruttau, H., Fortpflanzung und Ge- schlechtsunterschiede des IVIenschen. Eine Einführung in die Sexualbiologie. ,,Aus Natur und Geisteswelt" Bd. 540. 2. Auflage. Berlin und Leipzig 191 8, B. G. Teubner. In Nr. II des Jahrganges 19 17 dieser Zeit- schrift wurde die erste Auflage dieses Büchleins besprochen. Wenn zwei Jahre darauf das 6. — 10. Tausend erscheinen kann, so zeigt das zur Genüge, ein wie großes Interesse das Thema in weiten Kreisen gefunden hat. So wird es heute genügen, nur ganz kurz auf die Neuauflage hinzuweisen. Das Büchlein hat nur geringe Veränderungen er- fahren, einige kleine Verbesserungen sind dankbar zu begrüßen. Reichhaltigkeit und klare Dar- stellungsweise werden dem Büchlein auch weiter seinen Leserkreis sichern und so wird es weiter seinen Zweck erfüllen , „eine sachliche und ver- ständliche Einführung in die Sexualbiologie zu bilden". Verf. empfiehlt es besonders den Lehrern höherer Schulen, und ich möchte nicht verfehlen, diese seine Empfehlung zu unterstützen. Hübschmanii. Schumburg, DieGeschlechtskrankheiten, ihr Wesen, ihre Verbreitung, Bekämp- fung und Verhütung. Für die Gebildeten aller Stände bearbeitet. IV. Aufl. 251. Bänd- chen der Sammlung „Aus Natur und Gei.stes- welt". Leipzig und Berlin 191 8, B. G. Teubner. Die Tatsache , daß dieses Büchlein nach drei- jähriger Frist wieder eine Neuauflage erlebt, spricht genügend dafür, daß es seine Aufgabe erfüllt, näm- lich die, das Wissen in diesem für das Einzelleben und für das Volksleben so ungeheuer wichtigen Gebiete in möglichst weite Kreise hineinzutragen. Möge es seine wichtige Autgabe weiter ebenso gut erfüllen. Daß es dazu im besten Sinne im- stande ist, habe ich bei Besprechung der dritten Auflage in Nr. 37 des Jahrganges 1916 dieser Zehschrift betont. Die Neuauflage zeigt gegen die frühere nur geringfügige Veränderungen. Das Buch ist in allen seinen guten Eigenschaften das- selbe geblieben. Möge die folgende Auflage nicht lange auf sich warten lassen. Hübschmann. Bardeleben, K. v., Die Anatomie des Men- schen. Teil I. Zelle und Gewebe. Entwick- lungsgeschichte. Der ganze Körper. 3. Aufl. — Teil IV. Die Eingeweide. 3. Aufl. — Teil VL Mechanik iSiatik und Kinetik) des menschlichen Körpers. 2. Aufl. Bd. 418, 421 und 423 der Sammlung „Aus Natur und Geisieswelt". Leipzig und Berlin 1918, B. G. Teubner. Daß die Bard el eben sehe Anatomie weiten Ansprüchen zu genügen imstande ist, habe ich bei Besprechung eines Iciles der vorigen Auflage in Nr. 29 des Jahrganges 1916 dieser Zeilschrift be- tont. Verf. selbst empfiehlt seine Anatomie Lehrern, Turnlehrern, Angehörigen des Roten Kreuzes, schließlich allen gebildeten oder bildungsbedürftigen deutschen Männern und Frauen, den akademisch Gebildeten sowie den anderen, endlich betont er, daß es sich auch Studierenden der Medizin und Ärzten zur Wiederholung bewährt hat. Ich glaube, daß er in der Tat mit seiner Darstellung allen diesen Ansprüchen gerecht wird, zumal da jetzt neben den deutschen Benennungen die lateinischen nicht fehlen. — Im einzelnen sei noch Folgendes gesagt. Im ersten Teil, der die allgemeine Ge- webelehre behandelt , wäre es wohl zweckmäßig, wenn die Abbildungen ausschließlich sich auf die Gewebe des Menschen bezögen. Die verschiede- nen Arten der Epithelien wären vielleicht auf senkrechten Schnitten am instruktivsten. Die Abb. 20 einer alveolären Drüse ist sehr wenig für die Verhältnisse beim Menschen charakteristisch. Das Fettgewebe würde nach meinem Ermessen, besser im Zusammenhang als in einzelnen Zellen dargestellt werden. Auch die Darstellung der Blutzellen würde wohl besser durch eine Abbil- dung zur Geltung kommen, die alle Zellarten gleichzeitig enthält. — Was die textliche Dar- stellung betrifft, so läßt sie hier wie überhaupt an Klarheit und Gründlichkeit nichts zu wünschen übrig. Das gilt insbesondere auch für den kurzen Abriß der Entwicklungsgeschichte und für den Abschnitt, der den Körper als Ganzes behandelt. Dieser Abschnitt muß allen, die sich mit Anatomie beschäftigen wollen, ganz besonders ans Herz ge- legt werden. — Im vierten Teil, der von den Eingeweiden handelt, ist der neu eingeschobene besondere Abschnitt über die Drüsen mit innerer Absonderung dankbar zu begrüßen. — Endlich noch einige Worte über den Teil VI, der die Mechanik des menschlichen Körpers enthält. Nach einleitenden Worten über den Begriff des Schwer- punktes wird hier zunächst die Ruhelage des Körpers in den verschiedenen Stellungen be- sprochen und dann die Bewegungen, wobei das Gehen besonders eingehend analysiert ist, wobei aber auch alle anderen Arten der Fortbewegung, auch in sportlicher Beziehung, gebührend berück- sichtigt werden. Endlich finden wir noch eine Besprechung der Mechanik einzelner Körperteile, so die Haltungen und Bewegungen der Wirbel- säule, des Kopfes, der oberen Gliedmaßen, der sich Abschnitte über die Atem- und Herzbewegun- 264 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIir. Nr. 18 gen anschUeßen. — Es ist dem Verf. hier ge- lungen, in gedrängter Kürze einen klaren Überblick über das nicht gerade einfache Gebiet der Mechanik des Körpers zu bringen. Es ist dieses Büchlein in der heutigen Zeit, in der alle Arten von turne- rischer und künstlerischer Gymnastik immer mehr gefördert werden, allen denen, die sich als Lehrer und Lernende in diesen Gebieten betätigen, sehr warm zu empfehlen. — Alles in allem genommen wird es kaum nötig sein , diese „Anatomie" V. ßardelebens mit guten Wünschen zu begleiten. Wie die früheren Auflagen , so werden auch die neuen Bändchen ihren wohlverdienten Leserkreis finden. Hübschmann. Rohr, M. V., Das Auge und die Brille. II. Aufl. 372. Bändchen „Aus Natur und Geistes- welt", Leipzig und Berlin 19 18, B. G. Teubner. Die Tatsache, daß diejenigen Anomalien unseres Sehorgans, die einer Korrektur durch Brillengläser zugängig sind, leider ungeheuer verbreitet sind, erklärt es, daß auch dieses Bändchen der Teubner- schen Sammlung seine zweite Auflage erlebt, und ich glaube auch, daß die meisten, die für diese Materie Interesse hatten, beim Lesen des Büchleins auf ihre Kosten gekommen sind. Allerdings ist dieses Gebiet nicht jedermanns Sache. Denn das Auge ist nun einmal ein physikalischer Apparat, und seine Funktion, sowie die Funktionsstörungen und deren Behebung, können nicht ohne physi- kalische und mathematische Vorstellungen ver- standen werden, und solche sind eben nicht bei jedermann vorhanden. Das Büchlein will über- haupt nicht einfach gelesen, es muß studiert werden. Ich glaube, daß besonders der erste Abschnitt „Das Auge und sein Gebrauch beim Sehen" für manchen eine schon etwas harte Nuß sein wird. Ich möchte dem 'Verfasser empfehlen, bei einer Neuauflage diesen Abschnitt etwas zu erweitern und dadurch die Möglichkeit zu haben, ihn noch gemeinverständlicher zu gestalten. Es wäre ja kein Schaden, wenn hier etwas wiederholt würde, was schon in einigen anderen Bändchen steht. Wenn durch eine solche Ausdehnung des ersten Abschnittes der zweite leicht gekürzt werden müßte, so würde auch das wohl keine zu großen Schwierigkeiten machen. Dieser zweite Abschnitt handelt von den Brillengläsern, und Verf. hat da wohl alles gebracht, was irgend von Interesse sein kann, und hat es klar genug dargestellt, so daß der einigermaßen Vertraute sich wird zurecht finden können. Endlich werden in einem dritten Abschnitt die verschiedenen Arten der Brillenge- stelle besprochen. Alles in allem handelt es sich um eine sehr beachtenswerte, gmndliche Arbeit, die, auf strenger Wissenschaftlichkeit fußend, das Thema, soweit es die Brillenlehre umfaßt, soweit erschöpft, wie es in dem gegebenen Rahmen nur denkbar ist. Wer imstande ist, das Buch mit Verständnis durchzugehen, wird sicher großen Gewinn davontragen. Hübschmann. Anregungen und Antworten. Herrn A.TheUung in Nr. 2, 1919, S. 30/31 der Naturw. Wochenschr. muß man darin beipflichten, daß man zur Er- klärung der Nichlausnutzung des Anpassungsvermögens von Crangon vulgaris (vgl. Naturw. Wochenschr. lg 18, Nr. 45, S. 646) sehr wohl an die Konkurrenz anderer Tierarten, z. B. von Fischen, denken könnte; doch wird, wie ich nach Rück- kehr aus dem Felde aus der Literatur ersehe, auch daran zu denken sein, daß diese Garnelenart, auch insoweit sie Brack- wasser bewohnt, nach Ehrenbaum sich nicht dort, sondern nur weiter seewärts in salzigerem Wasser fortpflanzt, ein bei Fischen bekanntlich noch öfter wiederkehrender Fall des biogenetischen Grundgesetzes, insofern damit ein hochgradiges Salzbedürfnis der Jungtiere bewiesen wird. Schon in meinem Bericht in Nr. 45 zog ich in Zweifel, ob sich Crangon im Süßwasser fortpflanzen könne. V. Franz. Glühwürmchen in kalter Jahreszeit. Sind folgende Be- obaclitungen neu? Im Jahre 1914 habe ich bei Chermizy un- weit der Craonner Hölie bis zum 10. November ölier bei Nacht „Glühwürmchen" im Grase gesehen, ebenso im Jahre 191S in den Argonnen bei Authe. Leider konnte ich, ohne alle Hilfsmittel, nicht sicher die Art feststellen , obwohl ich einmal ein solches Tierchen in Händen gehabt habe. 1918 waren sie bis zum 4. November häufig, dann schwanden sie mit einsetzenden Nachtfrösten, aber am 15. des Monats sah ich wieder eins. Noch mehr erstaunte ich, als ich auf dem Rückmarsch durch Deutschland, und zwar auf dem Vogels- berg, in einer dunklen Nacht vom 13. zum 14. Dezember in Höllen von etwa 300 Metern über dem Meere zahlreiche Glüh- würmchen am Waldboden leuchten sab. Es war unangenehmes, natkaltes Weller, das uns in größerer Hohe einen mit Schnee vermischten Regen gebracht halte. Fliegende Tiere , also sichere Männchen, habe ich in solcher Jahreszeit nie bemerkt. V. Franz. Inh;ilt: K. Scholich, Die Kristallisation von binären Salzgemischen. (Sammelrcferat.) {7 Abb.) S. 249. M. Schips, Lionardo da Vinci als Naturforscher. S. 256. — • Einzelberichte: D. Häberle, O. Bayer, Die gitter-, netz- und wabenförmige Verwitterung der Sandsteine. S. 259. D. Häberle, Karrenähnliche Gebilde im Buntsandstein; Höhlen der Rheinpfalz. S.259; Wachstum von Stalaktiten. S. 260. A. M. v. Fe j e r v ä ry , Die rudimentären Rippen der anuren Balrachier. S. 260. — Bücherbesprechungen; Handlexikon der Naturwissenschaften und Medizin. S, 2t30. G. Link, Tabellen zur Gesteinskunde. S. 261. D. Zschokke, Der Flug der Tiere. S. 261. Ph. Hoff mann, Der Anbau von Rauchtabak in Deutschland. S. 261. Georg Trier, Vorlesungen über die natürlichen Grundlagen des Anti- alkohülismus. S. 261. Paul Jensen, Physiolotjische Anleitung zu einer zweckmäßigen Ernährung. S. 2b2. H. Bo- ruttau, Forlpflanzung und Ceschlech'sunlerschiede des Menschen. S. 263. Schumburg, Die Gescblechl-krank- heiien, ihr Wesen, ihre Verbreitung, Bekämpfung und Verhütung. S. 263. K. v. Bar d e 1 e b e n , Die Anatomie des Men- schen. S 263. M.V.Rohr, Das Auge und die Brille. S. 264. — Anregungen und Antworten: Nichlausnutzung des Anpassung^vermögens. S. 264. Glühwürmchen in kaller Jahreszeil. S. 264. Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Mi ehe, Berlin N 4, Invalidenstraße 42, erbeten. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue Folge i8. Band; der ganzen Reihe 34, Band. Sonntag, den ii. Mai igig. Nummer 19. [Nachdruck verboten.] Mit den tropistischen Wirkungen des Lichtes auf die Pflanzen hat sich zuerst Wiesner in ein- gehender Weise in den Jahren 1878—80 beschäftigt. Er fand, daß ohne eine genügende Perzeplion und Reizung trotz bester Aktionsfähigkeit keine Be- wegungsreaktion zustande kommt, die demgemäß unterbleibt, wenn ein Organ zu kurze Zeit einer einseitigen Beleuchtung ausgesetzt ist. Da aber die Reaktion dann ausgelöst wird, wenn die kurze Beleuchtung in bestimmten Intervallen wiederholt wird, so ergab sich, daß auch der kurze Reizanstoß eine gewisse sensorische Erregung bewirkt, die bei dem Eintreffen einer bald darauf folgenden Reizung noch nicht ausgeklungen ist. So be- obachtete Wiesner, daß die Keimstengel der Kresse (Lepidium sativum), als sie jedesmal i Sek. durch eine Gasflamme einseitig beleuchtet und dann während 2 Sek. verdunkelt wurden, nach 25 Min. sich ebenso stark heliotropisch gekrümmt hatten, wie die Konirollpflanzen, die während 25 Min. dauernd einseitig beleuchtet wurden. Die Übereinstimmung erklärt er daraus, daß der wirkende Lichtimpuls sich mit gleicher Stärke fortsetzt, ob die Pflanze im Licht oder ob sie im Dunkeln gehalten wird, und außerdem, daß die tropistische Reizung und Reaktion überhaupt nur bis zu einem gewissen Grade beschleunigt und gesteigert werden kann. Ferner legte er klar, daß mit genügender Verlängerung der reizfreien Intervalle die tropistische Reaktion abnimmt und endlich ganz ausbleibt. Übrigens fand Wies- ner, daß bei guter einseitiger Beleuchtung eine heliotropische Krümmung noch eintritt, wenn in- termittierend I Sek. beleuchtet und 15 — 30 Sek. verdunkelt wird. Da .andererseits eine hehotropi- sche Reaktion auch dann erfclgt, wenn einseitige Beleuchtung und Verdunklung in sehr kurzen Intervallen abwechseln, so zeigte sich, daß auch der kürzeste Lichtblitz bei genügender Intensität perzipiert wird und eine gewisse sensorische Er- regung veranlaßt. Wiesner gelangte zu folgendem Resultate: Bei von Null ansteigender Lichtintensität beginnt bei einem bestimmten Minimum der Lichtstärke die heliotropische Reaktion, steigert sich bis zu einer bestimmten Grenze, dem Optimum, um von da an mit weiterer Steigerung der Lichtintensität abzunehmen und bei einer bestimmten Licht- stärke, dem Maximum, zu erlöschen. Wiesner fand für einige Pflanzen diese bestimmten Werte der Lichtintensität, wie sie die folgende Tabelle angibt. Der Lichtsinn der Pflanzen. Von Dr. Betty Schloß. Mit 2 Kurven. Pflanzen: Minimum : Optimum ; Maximum : Vicia faba 0,0802 NK 0,16 NK 123 NK Phasaeolus mult. 0,0537 NK 0,11 NK 123 NK Helianthus au. 0,0802— o.lSoNK 0,16 NK 330 NK Salix alba 0,15625 NKo,25 NK 400 NK Lepidium sat. 0,11- -o,25NK S16 NK Pisum sat. 0,11 NK 210 NK Diese Untersuchungen wurden später von Wiesners Schüler, Figdor, fortgesetzt. Er zeigte, daß sehr empfindliche Keimstengel wie Lepidium und Lunaria noch bei einer Lichtinten- sität von 0,0003 NK heliotropisch reagierten. Es wird bei den empfindlichsten Pflanzen eine helio- tropische Reaktion noch bei einer Beleuchtung erzielt, welche im Laufe von 16 — 24 Stunden keine merkliche Schwärzung eines lichtempfind- lichen Chlorsilberpapieres hervorruft. Ferner fand Figdor, daß die heliotropische Reaktionszeit selbst bei sehr empfindlichen Objekten wie z. B. Keimlingen von Avena mindestens 7 — 15 Min. be- trägt, zuweilen aber, wie bei dem stark helio- tropisch reagierenden Keimstengel von Vicia sativa, sogar mehr als i Stunde ist. Als heliotropische Präsentationszeit wurde bei empfindlichen Keim- lingen 7—20 Min., bei dem Epicotyl von Phase- olus 50 Mm. gefunden. Übrigens war Figdor der Meinung, daß das Verhältnis zwischen Präsen- tations- und Reaktionszeit, sogar bei derselben Pflanze, nach den obwaltenden Bedingungen ver- änderlich sei. Es trat die Frage auf, ob die phototropische Erregung an eine bestimmte Zone der Pflanze ge- bunden ist, oder ob von einer Fortleitung ge- sprochen werden kann. Der erste Forscher, der sich eingehend mit diesen Problemen be- schäftigte, war Darwin. Er führte 1880 den einwandfreien Nachweis, daß die phototropische Er- regung forlgeleitet wird. Er bedeckte die Spitzen gut phototropischer Graskcimlinge (Phalarisj mit Kappen aus Glasröhrchen, von denen einige ge- schwärzt, die anderen durchsichtig gelassen wurden. Dann setzte er sie einseitiger Beleuchtung aus. Die sich sonst zuerst krümmenden Spitzen waren so mechanisch an der Reaktion gehindert. Die Keimlinge, deren Spitzen vom Licht getroffen werden konnten, krümmten sich stark an der nicht eingeschlossenen Basis. Dagegen blieben die, deren Spitzen verdunkelt waren, nahezu gerade. 266 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVin. Nr. 19 Umgekehrt fand an der durch Erde verdunkeUen Basis der Keimlinge eine Krümmung statt, wenn die Spitzenregion einseitig beleuchtet wurde. Da- raus ergibt sich, daß die Belichtung der Spitze für die Reaktion an der Basis wesentlich ist; es muß daher eine Leitung der phototropischen Erregung von oben nach unten angenommen werden. Während Darwin glaubte, daß bei den von ihm benutzten Keimlingen die Spitze allein den Lichtreiz aufnähme, und der übrige Teil nur krümmungs- aber nicht perzeptionsfähig sei, wies Rothert 1894 eine nur dem Grade nach ver- schiedene Aufnahmefähigkeit der einzelnen Zonen nach. So sind z. B. bei Haferkeimlingcn die ober- sten 3 mm besonders empfindlich; nach unten nimmt die Perzeptionsfähigkeit stark ab, erlischt aber erst in den nicht mehr krümmungsfahigen untersten Regionen. Sehr interessant sind Rotherts Versuche über die heliotropische Reaktion der Gramineenkeimlinge. Bei Setaria viridis ist nur der Cotyledon perzeptionsfähig, während die an- sehnliche heliotropische Krümmung in dem nicht direkt reizbaren Hypocotyl ausgeführt wird; die Perzeptions- und die Aktionszone ist hier räum- lich gelrennt, es muß daher eine Forlleiiung des Reizes eintreten. Der Cotyledon nimmt den Reiz auf, kann aber nicht reagieren; dieser wird in das Hypocotyl geleitet, das dann reagiert. Eine aus- gezeichnete Reizleitung hat Rothert auch nach- gewiesen in dem Blüienstiel einer Liliacee, Bro- diaea congesta, in welchem sich der phototropi- sche Reiz von einer beleuchteten Stelle aus in 3 Stunden bis auf eine Entfernung von 5 — 6^2 cm ausbreitete. Über die Geschwindigkeit der Reiz- leitung hat Rothert noch einige andere Ver- suche angestellt. So fand er, daß unter gün-^tigen Bedingungen der heliotropische Reiz bei Avena in 5 Min. etwa i — 2 mm fortrückt, er wird wesent- lich nur in basipetaler Richtung in dem Cotyledon fortgeleitet. Da der Cotyledon von Avena nur zwei nicht kommunizierende Leitstränge enthält, so war es leicht, durch zwei geeignete Einschnitte die Kontinuität der Gefäßbündel zu unterbrechen und zu zeigen, dbß der heliotropische Reiz ohne Mit- hilfe der Gefäßbündel, also im Grundgewebe ge- leitet wird. Rothert versuchte ferner, die Ver- teilung der heliotropischen Sensibilität zu ermitteln, indem er die einseitige Beleuchtung durch ent- sprechende Abhahung oder Zuführung des Lichtes lokalisierte. So wurde in dem Keimling von Panicum (Hirse) durch einseitige Beleuchtung keine Krümmungsreaktion ausgelöst, wenn der Cotyledon mit Stanniol umhüllt war, während die helioiropische Krümmung des Hypocotyls in volkm Maße eintrat, wenn dieses verdunkelt oder allseilig gleich stark beleuchtet wurde. Rothert hat weiter gezeigt, daß bei den Gramineen durch Ab- schneiden der Spitze des sensiblen Cotyledons die heliotropische Reizbarkeit für einige Stunden gänzlich aufgehoben wird; gleichzeitig wird Ver- langsamung der Zuwachsbewegung hervorgerufen. So treten zwei besondere I^eaktionen auf, die durch denselben äußeren Eingrift' veranlaßt werden. Das Wegschneiden der Spitze des Cotyledons mußte entweder zur Folge haben, daß die helio- tropische Perzeptionsfähigkeit ganz ausgeschaltet wurde, oder daß die erweckten sensorischen Vor- gänge nicht bis zur Auslösung der duktorischen Prozesse fortschritten. Denn durch die Verwun- dung wurde die Fortleitung des einmal ausgelösten duktorischen Prozesses nicht aufgehoben, was sich daraus ergab, daß die heliotropische Nachwirkungs- krümmung auch dann begann und fortschiitt, wenn die Dekapitierung nach kurzer einseitiger Beleuchtung der Spitze des Cotyledons vorge- nommen wurde, also bevor die duktorischen Pro- zesse in vollem Maße bis zur Aktionszone fortge- leitet waren. Mit diesen Versuchen hat Rothert den Beweis für das Bestehen gesonderter sensori- scher und duktorischer Prozesse erbracht. M a s s a r t suchte 1 888 die Unterschiedsschwelle in der Helligkeit zu finden. Er brachte Sporan- gienträger von Phycomyces zwischen zwei gleich- starke Lichtquellen und ermittelte an welcher Stelle, d. h. bei welchem relativen Abstand von den beiden Lichtquellen, die phoioiropische Reaktion eintrat. Hiermit stellte er, da die Licht- intensität in bekannter Weise mit der Entfernung abnimmt, fest, um wieviel die eine Flanke des Sporangienträgers stärker beleuchtet sein muß als die andere, damit eine eben merkliche phototro- pische Krümmung zu beobachten ist. Es ergab sich aus den bei verschiedener Helligkeit ausge- führten Versuchen, daß die Pflanzen bei einer Helligkeitsdifferenz von ca. 1:5 phototropisch reagierten. In dieser Zeit wurde immer nur der positive Heliotropismus untersucht. Oltmanns kommt das Verdienst zu, auf die negativen Erscheinungen des Phototropismus hingewiesen zu haben; seine diesbezüglichen Arbeiten fallen in das Jahr 1897. Er Studierle den Einfluß eiiies Bogenlichtes auf die Bewegungserscheinungen der Fruchtlräger von Phycomyces und der Coleoptilen resp. Hypocoiylen von Gerste und Kresse. Er fand, daß die Sporan- gienträger von Phycomyces bei einer Intensität von 14000 — 25000 Hefnerlampen, die Hypocotylen der etiolierten Kresse bei einer Intensität von 400000- 500000 H.L., die Coleoptilen von Hor- deum bei einer noch höheren Lichtintensität, nach annähernder Schätzung bei 5 — 600 000 Lichtein- heiten, gerade wuchsen. Bei einem Licht von noch größerer Intensität wandten sich die Frucht- träger des Pilzes stets von der Lichtquelle ab, sie zeigten negative heliotropische Krümmungen. Oltmanns vertritt die Ansicht, daß ein jedes Organ je nach der Lichiintensität, der es ausge- setzt ist, positiv oder negativ heliotropisch reagiert, und es demnach eine Intensität geben muß, bei welcher jede heliotropische Reaktion ausbleibt, also ein Indififerenzzustand erreicht ist, den er als Optimum bezeichnet. Für die normalen grünen Pflanzen konnte er die optimale Helligkeit nicht feststellen, weil diese viel höher gestimmt sind als N. F. XVIII. Nr. 19 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 267 die etiolierten. — Die Angaben Oltmanns be- treffs der Lichtintensität, bei welrher die obere Grenze der heliotropischen Empfindlichkeit liegt, divergieren absolut genommen ganz beträchtlich mit denen Wiesners, der mit Gaslicht arbeitete. Letzterer zeigte deshalb, daß die bei verschiedenen Lichtquellen erhaltenen Kardinaipunkte unter- einander nicht ohne weiteres vergleichbar sind. — • Es gelang Oltmanns, der oberen Grenze der heliotropischen Empfindlichkeit näher zu kommen, indem er die violetten und ultravioletten Strahlen berücksichtigte, die für die heliotropischen Erschei- nungen die wirksamsten sind; er benutzte das Licht der Quarzglasquecksilberlampe, das beson- ders reich an diesen Strahlen ist. Es ergab sich, daß es für Avena sativa, Helianthus annuus, Impa- tiens balsamina und Centaurea Cyanus nicht mög- lich war, die Indifferenzzone einem Lichtreiz gegen- über ausfindig zu machen, da die Keimlinge selbst noch bei einem Licht, dessen chemische Intensität 1,625 B.R.E. ') betrug, sich stets zur Lichtquelle wandten. Für folgende Pflanzen wurde eine Indifferenzzone gefunden: Brassica oleracea 1,625; Raphanus sativus 0,722; Amarantus melancholicus 1,625; Lepidium 0,722 B.R.E. Ferner bewies Oltmanns auch für den Heliotropismus die Gültigkeit des psychophysischen Web ersehen Gesetzes, welches besagt, daß die Empfindung wächst proportional dem Logarithmus des Reizes, d. h. die Exzitation vergrößert sich der logarith- mischen Kurve entsprechend nach Überschreiten der Schwelle erst schneller, dann langsamer als die Reizintensität. Das sind die Ergebnisse der Untersuchungen über den Phototropismus der Pflanzen bis unge- fähr zum Jahre 1900. Der Heliotropismus wurde aber durch die Arbeiten neuerer Forscher in weit größerem Maße klargelegt; an erster Stelle muß hier Blaauw erwähnt werden, der in seiner 1909 erschienenen Abhandlung: „Die Perzeption des Lichtes" zu weitgehenden Resultaten kam. Die Beziehungen, die Blaauw zwischen der Belich- tungsdauer und der Lichtstärke an der Reizschwelle fand, veranschaulicht am besten nebenstehende Tabelle für etiolierie Keimlinge von Avena sativa. Aus diesen Zahlen geht als wichtiges Resultat hervor, daß das Produkt aus Zeit und Lichtstärke immer annähernd dasselbe ist. Für die photo- tropischen Reizschwellen für Avena sativa steht daher die Lichtstärke in umgekehrtem Verhältnis zu der Belichtungszeit. Wie man auch das Ver- hältnis zwischen Zeit und Lichtstärke variiert, das Quantum Licht ist für alle diese Schwellen das- selbe. Blaauw stellte auch für Phycomyces nitens fest, daß für die Reizschwelle das Produkt aus Zeit und Lichtstärke konstant ist. Er hat also für 2 ganz verschiedenartige Pflanzen be- wiesen, daß die Quantität Energie, die für eine noch gerade sichtbare Krümmung erfordert wird, für eine Pflanzenart konstant ist. Weiter haben ') BuQsen-Roscoe-Einheiten. Belichtungsdauer: Lichtstärke an der Schwelle in M. K. Produkt aus Zeit und Intensität in M. K. S. 43 Stunden 0,00017 26,3 13 ,. 0,000439 20,6 10 M 0,000609 21,9 6 .. 0,000855 18,6 3 tt 0,001769 i9,r 100 Minuten 0,002706 16,2 60 M 0,004773 17,2 30 „ 0,01018 18,3 20 .. 0,01640 19,7 IS t) 0,0249 22,4 8 „ 0,0498 23,9 4 I) 0,0898 21,6 40 Sekunden 0,6156 24,8 25 n 1,0998 27,5 8 ') 3,02813 24,2 4 »» 5:4S6 21,8 2 .. S453 16,9 1 .. iS,94 18,9 ^/, »t 45.05 18,0 %r. !' 308,7 24,7 'k. ., 511.4 20,5 75. .. 1255,0 22,8 Vi 00 „ 1902,0 19,0 /400 » 7905,0 19,8 1 ,600 „ 13094,0 16,4 /lOOO „ 26520,0 26,5 diese Versuche gezeigt, daß bei jeder Intensität positiver Phototropismus auftreten kann, auch bei den hohen Intensitäten, für die frühere Forscher die Pflanzen als indifferent annahmen, oder wobei sie sogar negativen Phototropismus gefunden hatten. Blaauw zeigte, daß diese hohen Licht- stärken immer positive Reaktion hervorrufen, wenn nur eine kleine Quantität von diesem Licht zuge- führt wird. Blaauw beschäftigte sich ferner eingehend mit der Empfindlichkeit der Pflanzen für die ver- schiedenen Wellenlängen. Unter Berücksichtigung der Dispersion und der Energieverteiiung in dem Prismenspektrum gelangte Blaauw durch Er- mittlung der Präsentationszeiten zu folgendem Er- gebnis für etiolierte Avenakeimlinge: Die Emp- findlichkeit für die schwächer-brechbaren Strahlen bis ins Grün ist äußerst gering, und zwar in dem Maße, daß sie bei 534 /<,« 2600 mal geringer ist als für die Wellenlänge, bei der die maximale Emp- findlichkeit liegt. Die Empfindlichkeit bleibt bis ungefähr 500 /Uju im Blau gering, aber von da an wird sie sehr groß, um ihr Maximum noch im Indigo bei 465 ftf.i zu erreichen. Im Violett nimmt sie ab, auf der Grenze des Violett und Ultraviolett bei 390 fifi ist sie nur noch halb so 268 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 19 groß wie in ihrem Maximum, im Ultraviolett bei 365 fi^i beträgt sie noch ungefähr den 4. Teil ihres Maximalwertes. F"olgende Kurve zeigt den Verlauf der Empfindlichkeit für die verschiedenen Wellenlängen. von Phycomyces hängen von der Quantität des Lichtes ab; die Lichtmenge muß einen gewissen Betrag erreicht haben, um eine sichtbare Krüm- mung hervorzurufen. Ungefähr 50 % <^^r Indivi- duen reagiert eben merklich Wellenlänge des Lichtes in au — g^ Rot Orange Gelb GlUn Blau Indigo Violett Ultraviolett Kurve für Avena Kurve für Phycomyces Kurve für das menschliche Auge Abb. I. Blaauw hat auch die Empfindlichkeitskurve für Phycomyces und für das menschliche Auge dargestellt, deren große Ähnlichkeiten in der Form sehr auffallend sind; nur durch die Lage der Maxima unterscheiden sich die drei Kurven. Die große Übereinstimmung ließ Blaauw auf eine große Übereinstimmung in der Einwirkung der Lichtstrahlen auf diese sehr verschiedenen Orga- nismen schließen, und die Wahrscheinlichkeit schien ihm um so größer, daß es chemische Stoffe sind, die zuerst den Lichtreiz aufnehmen und da- durch einer photochemischen Wirkung unterzogen werden. Die Übereinstimmung der Form der Kurven ließ Blaauw dann auf Übereinstimmung in diesen photochemischen Prozessen, der Unter- schied vielleicht auf die Verschiedenheit der be- treffenden Stoffe schließen. Nun hat Blaauw weitere Versuche über die Übereinstimmung der phototropischen Erscheinung und der Wirkung des Lichtes auf eine photographische Platte ange- stellt. Das vergleichende Studium der phototro- pischen und der photographischen Reaktion führte zu der Überzeugung, daß beide von einem ähn- fichen Prozeß abhängig sind , nämlich von der Wirkung des Lichtes auf ein chemisches System. Blaauw zeigte, daß der Phototropismus nach der- selben Regel auftritt, die für die Schwärzung des Chlorsilberpapiers gilt. Er fand für die photo- tropische Empfindlichkeit im Spektrum eine Ver- teilungsform wie sie überhaupt für Lichtempfind- lichkeit beobachtet wurde, wenn auch das Maxi- mum für verschiedene Stoffe und Prozesse an verschiedener Stelle liegt. Weitere Versuche ergaben, daß die Erscheinungen der phototropischen mit denen der photographischen Überbelichtung parallel gehen. Blaauw untersuchte noch, ob nicht bei ande- ren Belichtungsverhältnissen andere Erscheinungen auftreten und weiter, ob man aus dem Nichtauf- treten einer Krümmung schließen darf, daß die Pflanze für diese Belichtung indifferent ist. Er fand durch Variation der Lichtmenge ohne Dauer- belichtung folgende Resultate: Die Reaktionen 100—150 MKS 800—1500 MKS 3000 MKS positiv bei Dann nehmen die Krüm- mungen an Zahl und Stärke zu, und die Reaktion erreicht ihr Maximum bei Nun fängt eine negative Wirkung an merklich zu wer- den , welche der positiven entgegenwirkt und erst die positive Reaktionszeit ver- längert. Dies ist schon zu bemerken bei Diese negative Wirkung hängt ebenso wie die positive von der Quantität der Energie ab, nimmt aber viel schneller zu als die positive. Sie über- holt dieselbe und verhindert die positive Krümmung bei lOOOOO — 200 000 MKS Bei weiterer Energiezufuhr bleibt nun erst jede sichtbare Reaktion aus, bis endlich das negative Element das posi- tive so weit übertrifft, daß es sich in andauernden nega- tiven Krümmungen äußern kann. Dies ist der Fall bei über Kräftige negative Reak- tionen treten auf bei 4000000- 200000 MKS -12000000 MKS Wiesner und Oltmanns betrachteten den Effekt als abhängig von der Intensität, Blaauw hat gezeigt, daß der phototropische Effekt die Resultante zweier einander entgegengesetzter Wir- kungen ist, die jede an und für sich nur von der Energiequantität abhängig ist. Er fand, daß die Pflanze sich dem Lichte gegenüber nie gleichgültig verhält, und daß daher von einem Indifferentsein nicht die Rede sein kann. Zur selben Zeit, in der Blaauw seine Versuche in Utrecht anstellte, beschäftigte sich ganz unab- hängig von ihm in Wien Fröschel mit den- N. F. XVIII. Nr. 19 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 269 selben Problemen; er kam auf anderem Wege zu denselben Resultaten wie Blaauw. Er suchte die Abhängigkeit der Präsentationszeit von der Intensität der heliotropischen Krümmung zu er- mitteln, wobei er unter Präsentationszeil diejenige Induktionszeit annahm, bei der die Mehrzahl der Keimlinge reagierte. Mit etiolierten Keimlingen von Lepidium sativum ließen sich für die Präsen- tationszeiten folgende Ergebnisse ableiten: Entfernung vom Lichte Intensität Präsentations- zeit Produkt 255,0 cm 0,825 NK 7—8 Min. 5,8-6,6 125,5 - 3,311 NK 1V.-2 ,. 4,9—6,6 63,8 „ 13,244 NK %-'U „ 6,6—9,9 Er trug dann die drei Intensitäten auf der Abscisse, die Präsentationszeiten auf der Ordinate eines Koordinatensystems ab, und erhielt folgende Kurve , aus der deutlich ersichtlich ist, daß mit steigenden Intensitäten der Abfall der Präsentations- zeit erst sehr schnell, dann aber viel langsamer erfolgt. Die Kurve der Präsentationszeiten ist eine gleichseitige Hyperbel, die gegen die normale Lage um 45*' gedreht ist. Die gewöhnliche Hy- perbel ist definiert, durch die Gleichung: -X- — a'y = a-b" werden die Achsen gleich, so wird 0 01828 3.311 Abb. 2. Wird nun diese Hyperbel um den Koordinaten- ursprung um 45" gedreht, so muß man die Ko- ordinatentransformation anwenden : x' = X cos cc — y sin « y' = X sin a -|- y cos « und in die 2. Gleichung eingesetzt gibt: xy = — . Da a die halbe Achse ist, also eine Konstante, so ist: xy = const., d. h. für jeden Punkt dieser Kurve gilt das Gesetz, daß das Produkt seiner Koordinaten konstant ist, oder physiologisch : Das Produkt aus Reizintensität und Präsentationszeit ist konstant. Fröschel bewies, daß die Licht- menge, die in einem bestimmten Pflanzenorgan Heliotropismus induziert, einen ganz bestimmten konstanten Wert haben muß. Sinkt die Licht- intensität auf '/j, V3, V^ usw., so muß die Präsen- tationszeit 2, 3, 4 mal solange dauern. Dieses Ge- setz der inversen Proportionalität von Reizzeit und Reizgröße wird von Fröschel kurz das Hyperbel- gesetz genannt. Auch das Talbotsche Gesetz, dessen Gültigkeit Fröschel für das Pflanzenreich nachgewiesen hat, gibt dieser Beziehung Ausdruck. Es besagt: Ein intermittierend wirkender Reiz, dessen Intermittenz z. B. der Periode 1 : i folgt, ist intensitätsgleich einem konstant wirkenden Reiz von der halben Intensität, vorausgesetzt, daß die Intermittenz so rasch erfolgt, daß trotz der- selben ein kontinuierlicher Lichteindruck erfolgt. Hat das intermittierende Licht die Intensität I und wirkt während der Zeit , so muß das kontinuier- 2 liehe Licht, das während der Zeit t wirkt, nur die Intensität besitzen: denn I.- = -• t. 2 22 Während die kürzeste Präsentationszeit, welche bisher ermittelt wurde, 7 Min. beträgt (nach Czapek 1898 für Avena und Phycomyces), ge- lang es Fröschel für Lepidium die Zeit auf 2 Sek. herabzudrücken. Auch für diese Präsen- tationszeit erprobte er noch die Gültigkeit des Hyperbelgesetzes. Fröschel hat auch die kurzen Präsentationszeiten, die Blaauw angab, nachge- prüft und bestätigt gefunden. Das Licht der Ouarzglasquecksilberlampe löste bei V1201) """^ '72„oci Sek. dauernder Belichtung und in der Ent- fernung bis zu 70 cm noch heliotropische Krüm- mungen von beträchlicher Stärke aus. Auch das direkte Sonnenlicht vermochte nach einer Ein- wirkung von nur V2000 Sek auf die Keimlinge von Avena sativa noch kräftigen Heliotropismus zu induzieren. Im schwachen difi'usen Tageslicht reichte noch '/^n Sek. dauernder Exposition zur Induktion von Heliotropismus. Die neuesten Untersuchungen, die sich mit Licht- erscheinungen auf physiologischem Gebiete beschäf- tigen, sind in der 1910 erschienenen Abhandlung von Tröndle zu finden. Er arbeitete über die Permeabilität der Plasmahaut, wobei sich heraus- stellte, daß die Permeabilität sich nach den Be- leuchtungsverhältnissen ändert. Seine weiteren Forschungen über die Beziehungen zwischen Perme- abilitätsänderung und Licht hatten folgendes Re- sultat: Bei Abwesenheit von Licht nimmt die Permea:bilität ab, in einer gewissen Lichtintensität nimmt sie zu, in einer stärkeren Intensität wird sie geringer und in noch stärkerer Intensität nimmt sie noch mehr ab. Bei allen Intensitäten, die Reaktionen auslösen, tritt zuerst eine positive Reaktion ein, die später, bei stärkerer Intensität nach kürzerer Zeit, bei schwächerer Intensität nach längerer Einwirkung, einer negativen Reaktion Platz macht. Weiter beschäftigte sich Tröndle mit der Abhängigkeit der Permeabilität von der Lichtmenge. Es handelte sich ihm dabei haupt- sächlich um die Frage, ob das photochemische Grundgesetz, wonach gleichen Produkten aus Be- lichtungszeit und Lichtstärke gleiche photochemi- sche Reaktionen entsprechen, für die Permeabili- tätsänderung ebenfalls gültig ist. Er fand, daß die Reaktionszeit mit steigender Lichtintensität abnahm , und zwar erfolgte die Abnahme bei schwächeren Intensitäten rascher als bei stärkeren. Die Lichtmengen, die in den verschiedenen Ent- 2/0 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVin. Nr. 19 fernungen von der Lampe zugeführt wurden, bis eben eine Reaktion eintrat, waren untereinander nicht gleich, was folgende Tabelle vor Augen führt. i't' it Entfernung V. d. Lampe Relative Intensität Reaktions- zeit Lichtmenge 10 cm 1,00 II Min. II ,00 20 „ 0,25 10 n 2,50 30 .. 0,1 1 12 „ 1.32 5° >. 0,04 21 n 0,84 70 „ 0,02 30 )) i 0,60 100 ,, 0,01 5° " ! 0,1^0 Tröndle folgerte daraus, daß das Licht nicht einzig und allein durch eine photochemi*;che Än- derung in der Plasmahaut eine Änderung der Permeabilität bewirken könne, sondern daß noch andere Faktoren eingreifen müßten. Ihre Bestim- mung suchte er in dem Zusammenhang zwischen Intensität, Reaktionszeit und Lichtmenge zu finden. Er bewies, daß keine einfache Beziehung bestehen kann, da, wie obige Tabelle zeigt, die Lichtmenge zwar mit steigender Intensität stieg, aber ohne daß sie einander parallel gingen. Tröndle verglich nun die Differenzen der Intensitäten mit den ent- sprechenden Differenzen der Lichtmengen und fand, daß sie einander proportional waren, so daß die Differenz der Lichtmengen dividiert durch die Differenz der Intensitäten eine konstante Größe war. In folgender Tabelle ist diese Berechnung ausgeführt. Intensität Licht- Differenz d. Differenz d. dm — k menge Intens. = di Lichtm. = dm di I 11,00 0,75 8,50 i'.33 0,2s 2,50 0,14 1,18 S,43 0,11 1.32 0,07 0,48 6,85 0,04 0,84 0,02 0,24 12,00 0,02 0,60 0,01 0,10 10,00 0,01 0,50 Die Formel dm "dT = k kann in anderer Form geschrieben werden : Wenn man für die Intensi- täten i' und i und für die dazugehörigen Reak- tionszeiten t' und t einsetzt. Es ist dann : 1' — 1 = k = it' — it = i'k — ik = i'(t' — k) = i(t - k), d. h. : Das Produkt aus Intensität mal Reaktionszeit minus einer konstanten Größe k ist eine konstante Größe, oder anders ausgedrückt, die Lichtwirkung ist proportional der Intensität und proportional der Reaktionszeit minus k. Die Reaktionszeit verhält sich so, wie wenn sie aus 2 Teilen bestehen würde, einem unwirksamen k und einem wirksamen t — k, dem die Lichtwirkung propor- tional ginge. Um die Richtigkeit dieser Formel zu prüfen, berechnete Tröndle aus ihr die Re- aktionszeiten und verglich sie mit den aus den Versuchen gefundenen, und es ergab sich eine fast völlige Übereinstimmung, was die folgende Tabelle veranschaulicht. Reaktionszeit: Intensität Difierenz berechnet gefunden 1,00 10,4 Min. 1 1 Min. — 0,6 Min. 0,25 11,5 „ 10 „ + 1,6 „ 0,1 1 13,63 ,- 12 „ + ■,63 ,. 0,04 21,25 „ 21 „ +0,25 „ 0,02 30,00 „ 30 „ 0 0,01 50,00 „ 50 „ 0 Durch die Übereinstimmung der gefundenen Reaktionsseiten mit den theoretischen hat Tröndle bewiesen, daß die Formel : i(t — k) = i'(t' — k) die tatsächlichen Verhältnisse wiedergibt. Tröndle bewies weiter, daß das Reaktionszeitgesetz: i(t — k) ^ i'(t' — k) nur eine erweiterte Form des Präsen- tationsgesetz: it = i't' ist. Außerdem wies er exakt nach, daß das Reaktionszeitgesetz nicht nur für die Permeabilitätsänderung sondern auch für den Heliotropismus gilt, mit der Einschränkung, daß während der Belichtungszeit keine Stimmungs- änderung eintreten darf. Tröndle zeigte also, daß Permeabilitätsänderung durch das Licht, Helio- und Geotropismus sich im Prinzip gleichverhalten. In allen 3 Fällen muß eine bestimmte Energie- menge zugeführt werden, damit eben eine Reak- tion eintritt, und in allen 3 Fällen setzt die Reak- tion nicht sofort nach Zufuhr dieser Energiemenge ein, sondern erst nach einer bestimmten konstanten Zeit. Bücherbesprechungen. Miehe, H., Die Bakterien und ihre Be- deutung im praktischen Leben. 12. Bändchen der Sammlung „Wissenschaft und Bildung", Quelle und iVIeyer, Leipzig 19 18. 2. Auflage. Das Buch gibt eine Einleitung über die Ge- schichte der Bakteriologie und über ihre Einteilung in verschiedene Gebiete, beschäftigt sich mit den Lebenserscheinungen und Lebensbedingungen der Bakterien, mit den bakteriologischen Methoden, mit dem System der Bakterien und ihren Be- ziehungen zu den anderen Lebewesen, endlich ihrer Verbreitung in der Welt. Dann werden die spezielleren Eigenschaften der Bakterien erörtert, N. F. XVIII. Nr. 19 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 271 zunächst in einem besonderen Kapitel ihre nütz- liche Rolle in der Natur, in der Landwirtschaft und in der Technik, in einem kleinen Abschnitt auch ihr Vorkommen als Symbionten. Dann erst folgt die Rolle der Bakterien als Feinde der Lebe- wesen, besonders des Menschen, ihre Eigenschaften als Krankheitserreger. Weitere zwei Kapitel be- schäftigen sich endlich mit dem Kampf gegen die schädlichen Bakterien, das eine die wichtigsten Tatsachen der Immunitätslehre, das andere die wesentlichsten Daten der Desinfektions- und Steri- lisationslehre enthaltend. Verf. gibt in der Vor- rede zur zweiten Auflage der Hoffnung Ausdruck, das Hauptziel, das er sich mit Abfassung des Buches steckte, einen Überblick über das Gesamt- gebiet zu geben, erreicht zu haben. Wir können sagen, daß er diesem Ziele voll gerecht geworden ist. Er hält sich stets an das Wesentliche und weiß doch überall das, was er sagen will, mit gut gewählten Beispielen zu illustrieren, so daß die Darstellung anschaulich und anregend wird. So gewinnt der Leser nicht nur eine Vorstellung von dem Ganzen, sondern kann auch vifele wichtige Einzelheiten lernen. Als einen ganz besonderen Vorteil dieses für weitere Kreise bestimmten Büch- leins möchte ich betonen, daß die Darstellung der Nützlichkeit der Bakterienflora nicht gegen die der Schädlichkeit zurücktritt. Da gerade der Nicht- bakteriologe geneigt ist, Bakterienwirkung ohne weiteres mit Krankheiten in Zusammenhang zu bringen, so wird es vielen sehr nützlich sein, hier auf denselben Blättern auch die andere Seite der Bakterientätigkeit gründlich kennen zu lernen, ihre ungeheure Wichtigkeit im Haushalt der Natur und ihre unersetzliche Rolle im Kreislauf der Stoffe. So ist es nur zu wünschen, daß das Büchlein einen recht großen Leserkreis finden möge. Hübschmann. Zander, R., Vom Nervensystem, seinem Bau und seiner Bedeutung für Leib und Seele im gesunden und kranken Zustand. 3. Aufl. „Aus Natur und Geisteswelt". Berlin und Leipzig 1918, B. G. Teubner. Nach einem kurzen geschichtlichen Überblick beginnt Verf mit den Erscheinungen der Reizbar- keit der lebenden Substanz und bringt einen Über- blick über das Verhalten des Nervensystems bei den niederen und höheren Tieren; dann schildert er ziemlich eingehend Rückenmark, Gehirn und periphere Nerven des Menschen. Das nächste Kapitel handelt von den Leistungen des Nerven- systems, der peripheren Nerven als Leitungsbahnen, des Rückenmarks als Übermittlungsorgan, sowie als selbständiges Zentralorgan für die Entstehung vieler lebenswichtiger Reflexe. Im Gehirn werden die subkortikalen Zentren von denen der Gehirn- rinde unterschieden, erstere als die Organe vieler reflexähnlicher Vorgänge, so auch der sog. auto- matischen Handlungen, der instinktiven Vorgänge sowie der Lust- und ünlustgefühle. Die Funk- tionen der Gehirnrinde als des Organs der höheren psychischen Vorgänge werden dann besonders ausführlich besprochen. Es wird dadurch ein klarer Überblick über die Elemente der Seelen- lehre gegeben. Es folgt ein Abschnitt über die Erkrankungen sämtlicher Teile des Nervensystems und einer über dessen Hygiene. — Schon aus diesem kurzen Überblick erhellt die Reichhaltig- keit des Büchleins, und da die Schreibweise klar und verständlich ist, so wird der Leser mit Leichtig- keit daraus lernen können. Es ist dem Büchlein des leider kürzlich verstorbenen Verfassers ein großer nichtärzilicher Leserkreis zu wünschen, da ja leider über alle Dinge, die die Nerven und die Seele betreffen, noch mannigfache falsche Vor- stellungen herrschen. Um solche zu korrigieren ist das Büchlein sehr geeignet, da es, streng auf den Lehren der neueren Wissenschaft fußend, das Wissenswerte in angenehmer Form bringt. Hübschmann. Ellermann, Wilhelm, Die übertragbare Hühnerleukose (Leukämie, Pseudoleukämie, Anämie u. a.). Mit Beiträgen zur normalen Hämatologie der Hühner. Berlin 191 8, Julius Springer, 82 S. Die Arbeit bringt eine gute Zusammenstellung alles dessen, was von der übertragbaren Hühner- leukose bekannt ist. Der Verf. kann dabei auf zahlreichen eigenen Untersuchungen fußen. Nach technischen Vorbemerkungen schildert er zunächst die normale Morphologie des Hühnerbluts und der blutbildenden Organe dieser Tiere. Dann be- richtet er über die Versuche, die die Filtrierbar- keit des Leukosevirus beweisen und über die Über- tragbarkeit des Virus auf Hühner und andere Tiere. Es folgt eine Beschreibung des Blutbildes und der Organveränderungen bei der Leukose und eine Analyse der verschiedenen klinischen Typen der Krankheit, die, wie sich erweisen läßt, alle von demselben Virus verursacht werden können. Einige Versuchsprotokolle bilden den Schluß. Das Thema gewinnt für die menschliche Medizin darum be- sonderes Interesse, als ja immerhin gewisse Be- ziehungen zu den analogen menschlichen Krank- heiten bestehen. Der Schluß allerdings des Verf., „daß auch die Menschenieukämie eine durch ein filtrierbares Virus verursachte Krankheit darstellt", dürfte nach dem derzeitigen Stand unserer Kennt- nisse noch nicht vollberechtigt sein. Hübschmann. Neeff, Fritz, Kausalität und Originalität. 52 S. Tübingen 1918, I. C. B. Mohr. 2 M. Den Vorgänger dieses Heftes, Neeffs „Ge- setz und Geschichte", hatten wir Gelegenheit in Nr. 42 vom 21. Okt. 1917 unserer Zeitschrift zu besprechen. Die vorliegende Arbeit ist eine will- kommene Ergänzung und Weiterführung jener. Zweifel und F'ragen, die uns dort aufstießen, wer- den in einwandfreiem Sinne gelöst und entschie- den. War damals als die Geschichtsgestaltung das „Neue" formuliert, so wird in der vorliegenden 272 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 19 Arbeit dieses Neue nunmehr bestimmt charakte- risiert: „Ein Neues ragt aus ewiger, zeitlos schöpferischer Region in das Wirkliche herein, vervollständigt es, indem es Urheber von Neu- ordnungen wird." Denn: „Die genetische Er- klärung kann dem wahren Geschichtsschreiber .... nur als Mittel dienen für seinen eigentlichen Zweck, die Einzigartigkeit des einzelnen Ereignisses." Die Geschichte „wendet sich dabei von der kausalen Erklärung weg und über sie hinaus dem originalen Verständnis zu". Also ist Originalität der charakte- ristische Stoff der Geschichtswissenschaft im Ge- gensatz zur Naturwissenschaft, die es ausschließ- lich mit der gesetzmätiigen Kausalität der Wirk- lichkeit zu tun hat. Gegenüber naturwissenschaft- licher Gesetzesforschung liegt daher „der Primat des geschichtlichen Erkennens darin, daß im ge- schichtlich erkennenden Subjekt die Voraus- setzung für das Gesetz der Objekte liegt: erst Setzen (Schäften), dann Gesetz". Das somit ge- gebene Werturteil wird freilich nicht für jeden ohne weiteres verbindlich sein. Aber jeder wird die Klarheit anerkennen, mit der Neeff die höchst nötige grundsätzliche Unterscheidung zwischen Naturwissenschaft und Geschichtswissenschaft auf einfachste Formeln bringt. Ihn unterstützt dabei ein sehr frisches Sprachgefühl, womit er bedeut- same Worte in ihrem eigentlichsten Sinn ganz sinnfällig zu verwerten weiß. K. Steinacker. Gerber, P. H., Die menschliche Stimme und ihre Hygiene. 131. Bändchen der Sammlung „Aus Natur und Geisteswelt", 3. Aufl. Leipzig und Berlin 1918, B. G. Teubner. Der Verf kann im Vorwort aussprechen, daß die vorigen Auflagen seines Buches von der ge- samten Kritik freundlich begrüßt wurden und daß er so die Grundlagen seiner Schrift für die richtige halten muß. Diese Genugtuung hat der Verf. mit Recht. Seine Darstellung ist eine ganz ausgezeichnete. Er will nichts weiter als in die Materie einführen. Was gibt er dazu? — Wir finden eine Einleitung über die physikalischen Eigenschaften der Töne und über die Rolle von Tönen und Stimmen in der Natur, dann eine Schilderung der Anatomie des menschlichen Stimmorgans als eines vollendeten musikalischen Instrumentes, einen Abriß der Physiologie der Stimme mit besonderer Berücksichtigung der Ge- sangstimme, eine Darstellung der Pnysiologie der Sprache. Dann folgt eine Besprechung der Stimm- störungen und der daraus abzuleitenden Hygiene der Stimme, wobei zum Schluß die Gesundheits- regeln für Sänger und Redner in Leitsätzen zu- sammengefaßt werden. — Alle Abschnitte sind schließlich so eingehend behandelt, daß der Verf. doch im ganzen mehr gibt als eine bloße Ein- führung. Natürlich wird mancher erst durch dieses Büchlein zu einem genaueren Studium des The- mas angeregt werden; aber das muß doch auch wieder als ein Vorteil bezeichnet werden. Jeden- falls wird jeder, der in irgendeiner Hinsicht auf seine Stimme besonders achten muß oder zu achten gewillt ist, aus dem Büchlein großen Nutzen ziehen können. Man wird es außerdem mit Genuß lesen; denn bei aller strengen Wissen- schaftlichkeit ist es frisch und stellenweise mit Humor geschrieben. So bleibt dem Kritiker nichts weiter übrig, als das Büchlein warm zu empfehlen und ihm weiter einen großen Leserkreis zu wünschen. Hübschmann. Weihe, Dipl.-Ing. C, Aus eigner Kraft. Bil- der von deutscher Technik und Arbeit für die reifere Jugend. Mit 20 Abbildungen. Leipzig, 1919, B. G. Teubner. 4,50 M. Ein zeitgemäßes Büchlein, das im Rahmen einer frisch und fesselnd geschriebene Erzählung ein Bild von der urwüchsigen Kraft unserer Technik gibt, wie sie sich namentlich im Kriege so über- raschend großartig bewährte, und das wohl ge- eignet ist, die Jugend zu begeistern. Rez. hat aber auch selber mit Vergnügen und Gewinn darin ge- lesen. Miehe. Literatur. So er gel, Privatdozent Dr. W., Lösse, Eiszeiten und paläolilhische Kulturen. Mit 14 Textabbildungen und einer graphischen Darstellung. Jena 1919, G. Fischer. lo M. Synopsis der Mitteleuropäischen Flora. Lieferung 94, 95, 96. Leipzig 1919, Gebr. Bornträger. 14 M. Laue, Prof. Dr. M. v., Die Relativitätstheorie. L Bd.; Das Relativitälsprinzip der Lorentztransformation. 3. Aufl. Mit 24 Abbildungen. Braunschweig 1919, Fr. Vieweg & Sohn. 9 M. Naef, Privatdozent Dr. A., Idealistische Morphologie und Phylogenetik. (Zur Methodik der Systematischen Morphologie.) Mit 4 Textfiguren. Jena 1919, G. Fischer. 3 M. Kühn, Prof. Dr. A., Die Orientierung der Tiere im Raum. Mit 40 Textabbildungen. Jena 191g, G. Fischer. 4 M. Dost-Hilgermann, Grundlinien für die chemische Untersuchung von Wasser und Abwasser. 2. verbesserte Aul- lage. Mit 14 Textabbildungen. Jena 1919, G.Fischer. 3,20 M. Bölsche, W., Eiszeit und Klimawechsel. Stuttgart 1919, Kosmos. 1,25 M. Adler, Friedrich, Ernst Machs Überwindung des mecha- nischen Materialismus. WienigiS, Wiener Volksbuchhandlung. Arx, Dr. M. v. , Evolution der organischen Substanz. Eine Studie, hervorgegangen aus der Kausalanalyse der mensch- lichen Beckenform. Mit 5 Abbildungen. Ülten (Schweiz), Herm. Hambrecht. ^ M. Illball : Betty Schloß, Der Lichtsinn der Pflanzen. (2 Abb.) S. 265. . — Bücherbesprechungen: H. Miehe, Die Bak- terien und ihre Bedeutung im praktischen Leben. S. 270. R. Zander, Vom Nervensystem, seinem Bau und seiner Bedeutung für Leib und Seele im gesunden und kranken Zustand. S. 271. W. Eilermann, Die übertragbare Hühner- leukose. S. 271. Fritz Neeff, Kausaliiät und Originalität. S. 271. P. H. Gerber, Die menschliche Stimme und ihre Hygiene. S. 272. C Weihe, Aus eigner Kraft. S 272. — Literatur; Liste. S. 272. Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstraße 42, erbeten. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H.. Naumburg a. d. S, Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue Folge i8. Uaad; der ganzen Reihe 34. ßand. Sonntag, den i8. Mai 1919. Nummer äO. Die chemische Valenz in heutiger Auffassung. [Nachdruck verboten.] Von HanS Unter dem Namen der chemischen „Verwandt- schaft" oder „Affinität" begreifen wir die anziehen- den bzw. abstoßenden Kräfte, die wir zwischen den Atomen wirksam denken, um sie zu Ver- bindungen zusammenzuschweißen bzw. sie daraus XU lösen. Mit dem Begriff der „Valenz" (der Name stammt von A.W. Hof mann) oder Wertig- keit hat man die Tatsache zu fassen versucht, daß jene atomaren Bindekräfte in gewissen für jede Atomart kennzeichnenden Quantitäten auftreten. Als Einheit der Valenz, die also ein quantitatives Verhältnis ausdrückt, betrachtete man bekanntlich die Bindekraft für ein Wasserstoffatom ; 3-„wertig" hieß ein Element, das drei Wasserstoffatome (oder deren Äquivalente) zu ketten vermag. Die Ver- sinnbildlichung dieser Verhältnisse geschah und geschieht durch gerade Striche, die man von Atom zu Atom verlaufend zeichnet und deren jeder eine Valenzeinheit symbolisiert. Wie so oft nahm man das Abbild, das zunächst ja nur heuristischen Wert hat, für eine Erklärung des Abgebildeten; man dachte sich die Valenzeinheit starr, unteilbar und ihre Anzahl für jedes Element bestimmt und un- veränderlich. Die letzte Annahme geriet zuerst und frühzeitig ins Wanken. Viele, ja die meisten Elemente zeigten wechselnde Wertigkeit, d. h. also Bindekraft für Wasserstoffatome oder deren Äquivalente. Aber auch wenn nach aller Voraussicht sämt- liche Valenzen der im Molekül vereinigten Atome sich betätigten, wenn keine „freien" ßindekräfie mehr vorhanden sein konnten, das Molekül also restlos „gesättigt" war, vermochte es dennoch mit andersartigen Molekülen sich zu vereinigen, mithin offenbar weitere Valenzkräfte zu betätigen. Das brachte die Hypothese der Unteilbarkeit der Valenz zu Fall, und Verhältnisse, die im folgen- den näher auseinanderzusetzen sind, lassen auch die relative Starrheit in der Richtung der Valenz- kräfte mehr als fragwürdig erscheinen, so daß sich in der Auffassung von Wesen und Wirkung der Valenz tiefgehende Wandlungen nötig machten. Von der heutigen Valenzhypothese soll im folgen- den ein knappes andeutendes Bild gegeben werden. Vollständigkeit ist bei der Fülle der Deutungs- versuche und der Unsicherheit der erfahrungs- mäßigen Grundlagen unmöglich. Die heutige Vorstellung von der chemischen Valenz ruht auf den Arbeiten vor allem dreier Forscher, A. Werner,^) H. Kauffmann-j und Heller. J. Stark.^) Zwar hat neben anderen schon früher R. Abegg*) eine eingehende Theorie entwickelt, nach der die Maximalvalenz eines Elements 8 und jede niedrigere Stufe der Valenzbeiätigung mög- lich sei, so daß z. B. eine Verbindung wie OsO^ mit 8-wertigem Osmium als gesättigt angesprochen wird, ohne daß nicht auch niedrigere Wertigkeits- stufen des gleichen Elementes vorkommen könnten, nur sind sie eben vergleichsweise ungesättigt. Werner jedoch gab zuerst einen scharfen Begriff der „Maximalvalenz" wie der Valenz überhaupt. Die ist nach ihm „die Resultante der Stärkever- hältnisse der miteinander wetteifernden Binde- möglichkeiten der Atome". Was für Kräfte wirk- sam sind ist zunächst gleichgültig. Für uns er- kennbar ist nur das Wie? Da aber mehrere Kräfte im Spiel auch nur zweier Atome wirksam sind, so ist die Valenz nicht eindeutig durch den Charakter eines Atoms bestimmt, sondern sie ist das Ergebnis von Wirkung und Gegenwirkung. Damit ist die „wechselnde Valenz" ohne weiteres gegeben, und weiterhin, daß niedrigere Oxydations- stufen z. B. des schon genannten Osmiums, durch- aus nicht „ungesättigt" sein müssen, wie es der Fall wäre, wenn die Valenzkraft in eine bestimmte Anzahl starrer Linien zerfiele. Darum nimmt Werner des weiteren an, die Valenzkraft verteile sich gleichmäßig auf die Atomoberfiäche und je nach den Umständen treten größere oder kleinere Teilbeträge in Wirksamkeit. Insbesondere auf Grund des Studiums der Metallammoniakverbin- dungen kommt Werner dann zu folgender Auf- fassung der Valenzwirkung im einzelnen. Wie schon erwähnt, kann ein Atom, auch nachdem die seiner Wertigkeit entsprechende Bindekraft erschöpft scheint, noch weitere Valenz- kräfte betätigen, die sogen. Restaffinitäten, die vorwiegend die Bildung komplexer Verbin- dungen bewirken. Aber ihre Bindekraft ist gering im Vergleich zu der der „Hauptvalenzen", die den schwächeren ,, Nebenvalenzen" überlegen sind und, räumlich betrachtet die von ihnen gebundenen Atome näher an das Zentralatom heranzuziehen vermögen, während die von Nebenvalenzen ge- bundenen Gruppen nur loser, sozusagen in einer zweiten entfernteren Sphäre um das Zen- tralatom gehalten werden. Beispiel: die Bildung von Salmiak (NH^Cl) aus Ammoniak (NHj) und Salzsäure (HCl). Ursprünglich als reine Anlage- ') Genannt seien nur die zusammenfassenden und leichter lesbaren Hauptwerke; Neuere Anschauungen auf dem Gebiete der anorganischen Chemie. Braun- schweig 1905, Vieweg. Mehrere Auflagen. ') Die Valenzlehre. Stuttgart 1911, Enke. ') Prinzipien derAtomdynaraik, insbes. Band III. Leipzig 1915, Hirzel. *) Versuch einerTheorie derValenz. Christiania 1902 und Zeitschr. f. anorgan. Chemie 39, 331, 1904. 274 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 20 rung aufgefaßt, schrieb man Salmiak = (NH3) (HCl). Später nahm man einen , .Wechsel der Wertigkeit" an und formulierte: Hj e^ N = HCl, welcher Darstellung man aber sehr mißtrauisch begegnen mußie, wenn sie z. B. auf Komplexe wie den des gelben Bluilaugensalzes übertragen werden sollte (K4Fe[CN](,). Sehr anschaulich ist dagegen Werners Formulierung als [Hg ~i N H] — Cl, wo die Punkte die Neben valenz andeuten. Diese vermag (s. o.) das HCl Molekül nur unvoll- kommen an das zentrale N-Atom heranzuziehen, daher die leichie Spaltung des Salmiaks in Am- moniak und Salzsäure beim Erhitzen, ferner die große Dissoziationsfähigkeit des in zweiter Sphäre (außerhalb der Klammer) befindlichen Chloratoms. Überhaupt verlegt Werner alle die Atome oder Atomgruppen, die in Lösung leicht abdissoziieren, also elektrolytische Spaltprodukte sind, in die zweite Sphäre des zentralen Atoms.-) Auch bei Salzen wie IVigBr., gelingt das Schema. Wasserfrei sind diese elektrisch nichtleitend, dem Wasser muß also eine wesentliche Rolle bei der Dissoziation zukommen, die Werner als erster exakt so formuliert, daß er Wassermoleküle in bestimmter Zahl sich bei der Lösung des Salzes an dieses anlagern läßt, wodurch in unserm Falle die Bromatome in die zweite Sphäre gedrängt werden, also „dissoziiert" sind. Das MgBrjMole- kül in wässriger Lösung sähe demnach so aus: [Mg^0H2)g]Br.,. Tatsächlich läßt sich in mehreren Fällen, wo solche Hydrate faßbar sind, die volle Übereinstimmung der elektrischen Leitfähigkeit mit dem Grade der Hydratation, d. h. Anlagerung (nach Werner bessere „P^inlagerung") von Wasser- molekülen, nachweisen. So kann aus frisch be- reiteten Lösungen des grünen Chromchlorids CrCl3-4H20 nur '/s "^^s vorhandenen Chlors als Silberchlorid gefällt werden, eine bisher schwer erklärbare Sache. Die Lösung geht jedoch lang- sam in eine blaue Lösung von CrCIg-öH^O über, aus der alles Chlor fällbar und in der die Leitfähig- keit um einen entsprechenden Betrag größer ist! Nach Werner ein Übergang von [Cr^OH.J^CiaJCl in [Cr(OHo)„]Clg; der Sinn dieser Formeln ist nach Obigem verständlich. Hinzufügen kann man noch, daß die Zahl der in erster Sphäre (in eckiger Klammer angezeichneten) befindlichen Atome oder Gruppen meist 6 beträgt, z. B. in [F'el^CNlgjK^ == gelbes Blutlaugensalz, [PiCIgJH., = Flatinchlorwas- serstoffsäure, [SiFgJHj = Siliciumfluorwasserstoff- säure usw., und daß das Maximum jener ,,Coor- dinationszahl" 8 beträgt. Die große Bedeutung der Wernerschen Theorie liegt vor allem in ihrem heuristischen Wert. Scheint sie auch in der organischen Che- mie von zweifelhafter Anwendbarkeit, -) so erlaubt sie doch eine sehr viel klarere und einfachere Systematik der anorganischen Verbindungen als ') Über experimentelle Beweise siehe insbes. Seite llSff, des Wernerschen Buches. ') Vgl. Lacomble, Chemisch Weekblad 15. 400. es bisher möglich war — ein erheblicher Fort- schritt. Durch die strenge Scheidung und Kenn- zeichnung von Haupt- und Nebenvalenzen ist einer freieren Auffassung des Valenzbegriffes der Weg geebnet. Zahlreiche Arbeiten hegen bereits in seiner Richtung, u. a. stellt P. Pfeiffer die Kristallstruktur der Moleküle erfolgreich dar nach dem Schema der Wernerschen Molekular- verbindungeii. ^) Die freiere Auffassung der Valenz durch Wer- ner wird nun noch ungezügelter bei H. Kauff- mann, der die formale Valenzlehre zur „allge- meinen" erweitert wissen will, da jene in wichtig- sten Fragen versage, vor allem bei den Molekül- verbindungen, den „doppelten" Bindungen und beim Benzol, dem Schmerzenskind der Chemiker, von denen jedes Jahr etwa eine neue Benzol- formel in Erwägung gezogen wird. Diese Vor- würfe sind voll berechtigt ; deshalb, übrigens auch aus mannigfachen speziellen Gründen, verzichtet Kauffmann auf eine Einheit der Valenz, an der bis zu gewissem Grade ja auch Werner noch festhält, und nimmt statt dessen eine all- gemeine Teilbarkeit der Valenz an. „Jede Valenz setzt sich aus Valenzteilen zusammen und jeder Teil sättigt einen zugeordneten Valenzteil eines anderen Atoms ab", d. h. die Valenz wird zu Valenz linien „zersplittert". Damit ist von der Valenz als einer „Krafteinheit'' natürlich keine Rede mehr, im Gegenteil: „die Valenz ist gemessen durch die Zahl der Valenzlinien, die von ihr auslaufen, und ist ebensowenig eine Kraft als die Zahl der elektrischen Kraftlinien eine solche ist." Damit identifiziert Kauffmann jedoch durchaus nicht elektrisches und Valenz Feld, ledig- lich die allgemeinen Vorstellungen der Krafilinien- hypothese legt er seinen Entwicklungen zugrunde, die er in zehn „Festsetzungen" etwa folgender- maßen zusammenfaßt. Die Zahl der Linien einer Valenz ist gleich groß für alle Elemente. Freie Enden gibt es nicht, immer laufen die Linien gegenseitig zusam- men. Da nun, wo man nach der formalen Valenz- lehre „doppelte" Bindungen annahm, z. B. im Äthylen HjC = CHj, tritt eine Anhäufung von Linien auf, die, bildlich ausgedrückt (H« c^C^C^Ho), deut- lich macht, daß ein solches Linienbündel einen größeren Raum beansprucht, durch die damit verbundene Auflockerung also eine weniger feste Bindung bewirkt als eine kleinere Kraft- linienzahl. Das bestätigt die Erfahrung im vollen Umfange. Schon Schiff wies nach, daß das Molekularvolumen durch das Auftreten von Doppel- bindungen gesteigert wird.-) Und die leichte Sprengbarkeit der Doppelbindungen (Äthylen ad- diert bekanntlich ohne weiteres Brom : H„C = CH, -f Brj = HoHrC — CßrH„) beweist, daß diese durchaus nicht fester ist, wie man nach der bis-, herigen Auffassung annehmen mußte. ') Vgl. z. B. Zeitschr. f. anorg. Chemie 92. 376. ■^j Annalen d. Chemie 220. 291. 1883. N. F. XVIII. Nr. 20 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 275 Es ist einleuchtend, daß bei der grundsätzlichen Auflösung aller Valenzen in Kraftlinien, die sich nun in verschiedenster Weise zwischen den Atomen ausspannen können, ein Unterschied von Haupt- und Neben Valenzen im Sinne Werners nicht mehr gemacht werden kann. Beide sind nur ver- schiedene Beiätigungsformen der gleichen Art. Damit ist ein weiterer Schritt zur Vereinheitlichung getan. Gleichzeitig liegt ein Fortschritt in Kauff- manns Scheidung zwischen Wertigkeit und Valenz, die bislang der gleiche Begriff waren. Erstere allein bedeutet nunmehr die Zahl der ge- bundenen Wasserstofiatome, während Valenz lediglich „den Ausgangspunkt von Bündeln von Valenzlinien" darstellt, der IVIessung zunächst je- doch noch entgeht ! Die äußerlich betrachtet ver- schieden große Bindekraft eines Elementes ist eine Folge der uns im aligemeinen unbekannten ,, Valenz- konfiguration", nicht aber ist sie als Wechsel der Wertigkeit zu deuten. Es ist nunmehr die Frage , als was man die Kau ff m annschen Valenzlinien zu betrachten habe? Hieriiber entwickelten unabhängig vonein- ander Stark und Kauffmann grundsätzlich gleiche Theorien, die den einstweiligen Abschluß in der Entwicklung der Auffassung der Valenz- natur darstellen. Insbesondere Stark hat einen bis in Einzelheiten sorgsam durchdachten und experimentell oft glücklich begründeten Abriß der Theorie gegeben, ') weshalb hier im wesentlichen seiner Entwicklung gefolgt sei. Die Valenz ist ein zahlenmäßiger Ausdruck für zwischen den Atomen wirksame Kräfte. Es ist heute ziemlich sicher gemacht, daß diese elektrischer Natur sind. Die Schwerkraft kommt nicht in Betracht; sie müßte proportional der Atommasse sein mit dem Zentrum mmitten. Aber ,,im Spiel der chemischen Kräfte zeigt sich kein leitender Einfluß der Atommasse, und die wechselseitige chemische Kraft ist gemäß der Erfahrung eines Jahrhunderts durch eine besondere Struktur der Atomoberfläche bedingt." Und auch eine besonders geartete „chemische" Kraft lehnt Stark ab, wie man bei ihm selbst nachlesen mag. Bleiben zur Erklär.ung also nur Magnetismus und Elektrizität. Für die letzte trat wie man weiß bereits Berzelius auf, dessen Lehre jetzt, wenn auch in sehr veränderter Form, dem Wesen nach wieder aufersteht. Das Fehlen eines magnetischen Feldes geht u. a. aus einem sehr schönen Versuch von O. Wiener hervor. -j Bleibt also das elektrostatische Kraftfeld als die Grund- lage des Chemismus. Von seiner vermut- lichen Gestaltung gibt Stark etwa lolgendes Bild. Da Licht von den Atomen absorbiert und aus- gestrahlt wird , da es zudem aus elektromagneti- schen Schwingungen besteht, so müssen notwen- digerweise in den Atomen elektromagnetische Felder vorhanden sein. Da deren Sitz erfahrungs- gemäß an elektrischen Ladungen ist, so müssen in den Atomen ebenfalls solche vorhanden sein. Aus den Erfahrungen an Kathoden- und Kanal- strahlen scheint nun hervorzugehen, daß ein jedes chemisches Atom aus einem positiven Kern be- steht, dessen Kraft fluß kompensiert wird durch die Ladungen einer Anzahl negativer Elektronen,') von denen ein Teil abtrennbar ist.-) Diese nennt Stark „Valenzelektronen"; sie sollen gemeinsam mit den ihnen gegenüberliegenden positiven Flächen die Verkettung der Moleküle bewirken. Im neutralen Atom halten sich alle Bestandteile das Gleichgewicht, aber die Valenz- elektronen können einen nach der Natur des Atoms verschiedenen Abstand vom Atomrest haben; dadurch wird ein jeweils andersartiges Elektronenfcld erzeugt und dieses bestimmt den Charakter des Elements bezüglich seiner chemi- schen und sonstigen Reaktionen. Beispielsweise besitzen die elektropositiven Elemente einen großen Elektronenabstand, dementsprechend ein langes, schmales Krafilinienfeld, die elektro- negaiiven hingegen einen geringen Elektronen- abstand. Die Kraftlinien eines Valenzelektrons können nun zum Teil nach der positiven Fläche noch eines zweiten Atoms verlaufen und man hat alsdann einen Atomverband, eine „Verbindung". Deren Stabilität hängt von der Gestalt der Kraft- felder ab. So ist bei elektropositiven Atomen die Bindekraft der positiven Flächen zum eigenen Valenzelektron infolge dessen großer Entfernung schwach (s. oben 1), um so schwächer wird sie also zu einem zweiter fremden Valenzelektron sein; die zur Sprengung der Felder zwischen zwei elektropositiven Atomen nötige Reißkraft ist also gering. Tatsächlich genügt zu ihrer Erzeu- gung bereits die Wärme: die Metalldämpfe sind einatomig, die sonst stets vorhandenen zwei- atomigen Moleküle also gesprengt. Emgehendere Beispiele finden sich bei Stark zahlreich; die Bemerkung genüge, daß alle üblichen Verbindungstypen sich auf Grund seiner Valenz- elektronenhypothese gut darstellen lassen. Nur müssen, bei der Eigenart der Hypothese, noch einige weitere erfahrungsmäßige Stützen genannt werden. Je nach der Bindung der Valenzelek- tronen unterscheidet Stark drei Typen, „unge- sättigte", „gesättigte" und ,, gelockerte". Die ersten sind nur an das eigene Atom gebunden und wer- den (in verschiedenen Graden) „gesättigt" durch ') a. a. O.; eine kurze, heut z. T. überholte Darstellung bei P. Kuggli, Die Valenzhypothese von J. Stark vom chemisch. Standpunkt. Stuttgart 1913, Enke. -) Wiedemanns Annalen der Physik 40. 203. 1890. ') So nannte bekanntlich zuerst Stoney das kleinste meßbare frei existierende Elektrizitätsquantum, das „Atom" der Elektrizität (Kamsay), an das die ganze Quantentheorie sich anschliei3t. Neueste Bestimmungen seiner Große verweisen es in wachsend k 1 e in e r e Dimensionen, so daß die Atomistik der Elektrizität sehr in Krage gestellt wird. Vgl, hierüber F. Ehrenhaft, Über die Teilbarkeit der Elektri- zität. .\nnalen der Physik 56. 1918. '') Über den mutmaßlichen Atombau gibt es zahlreiche Theorien, nach Stark alles „tote Frühgeburten". Eine ganz moderne Darstellung bei Kohlweiler. Zeitschr. f. physikal. Chemie 93. I. 191S. 2/6 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 20 Verlauf ihrer Kraftlinien nach weiteren Atomen. Werden einem Valenzelektron jedoch durch bloße „Nähewirkung" eines fremden Elektrons oder Atoms einzelne Kraftlinien entzogen, so wird es „gelockert". Diesen verschiedenen Zuständen ent- sprechen nun sehr regelmäßige Verschiebungen in den Bandenspektren der betrtffenden Atome, so daß Stark den Sitz der Bandenspek- tren geradezu in die Valenzelektronenkraftfelder verlegt. Die Erfahrung bestätigt diese Hypothese aufs allerbeste. Mit der abnehmenden Bindungs- energie des Valenzelektrons wird die durch die absorbierte Lichtenergie hervorgerufene Frequenz seiner Schwingungen kleiner, das Bandenspektrum verschiebt sich nach größeren Wellenlängen, also ins Sichtbare. Es ist bekannt, daß auf dieser Optik der Valenz felder ein großer Teil der chemischen Untersuchungen zur Konstitutionser- mittlung beruht. Ermittlung der Konstitution heißt ja aber im Sinne Starks nichts anderes als Kenntnis der Anordnung der Atome im Molekül, d. h. ihrer Kraftfelder gewinnen. Es ist be- merkenswert, daß die Starksche Hypothese nicht nur die Mehrzahl aller optisch-chemischen Be- ziehungen zu erklären vermag, sondern daß sich auch viele ihrer theoretischen Folgerungen ex- perimentell verifizieren ließen. Die Theorie macht weiter eine stufenweise Veränderung der reagierenden Kraftfelder not- wendig, denn es ist unwahrscneinlich, daß alle be- teiligten Kraftlinien sofort die neue Richtung nehmen, die durch das Hinzutreten elektro- magnetisch wirksamer Felder bedingt ist. Damit ist das Ostwaidsche Gesetz der stufenweisen Reaktionen erklärt. Und schließlich ist auch die Möglichkeit der mehrfach erwähnten Molekül- Verbindungen erklärt durch die weitgehende Teilbarkeit des Valenzfeldes, dessen weitaussprei- zende auskrümmende Linien gewissermaßen ,, Va- lenzhaken" darstellen durch die zwischenmolekulare Bindungen von dem diesen eigenen Lockerungs- grade möglich sind. Der Fortschritt gegenüber Werner ist deut- lich. Dieser kennt noch verschiedene Valenz- gattungen. Eine theoretische Deutung ihrer Natur fehlt völlig. Bei Kauffmann wird der Valenz- begriff vereinheitlicht und gleichzeitig eine größere Freiheit in seiner Anwendung geschaffen. Stark schließlich gibt dem Ganzen die philosophisch breite Grundlage einer bis in Einzelheiten ent- wickelten Theorie, die den bisher reichlich mysti- schen Valenzbegrifif als einen Sonderfall einer be- reits geläufigen Kraftvorstellung aufzufassen lehrt. Die heutige Valenzforschung ist m. a. W. ein Studium der intra- und intermolekularen elektro- magnetischen Kraftfelder. Sie steht in solcher Auffassung am Anfang und „der Arbeit zahl- reicher physikalischer und chemischer Köpfe wird es bedürfen, von den Kraftfeldern an der Ober- fläche der Atome in der inner- und zwischen- molckularen Bindung eine Erkenntnis zu gewinnen, welche sich in der Beschreibung und Erforschung der Eigenschaften der Materie dauernd bewährt". Zur Genese des Welleiikalks. [Nachdruck verboten. 1 Von B. V. Der Wellenkalk ist von allen Gliedern der Thüringer Schichtenfolge am eingehendsten durch- forscht worden. Seine morphologischen Eigen- tümlichkeiten, kahle Steilhänge, Wasserrisse und durch das unterlagernde Röt hervorgerufene Berg- stürze, und die dadurch bedingten natürlichen Auf- schlüsse lassen ihn für eingehende Studien be- sonders günstig erscheinen. Ferner gehört er trotz seiner Artenarmut zu den fossilreichen Gesteinen Thüringens, da andere Formationen mit reicher Fauna fehlen. Doch die den Wellenkalk be- handelnden Arbeiten beschäftigen sich hauptsäch- lich mit seiner Gliederung und der Beschreibung seiner Fossilien. Seine Entstehungsbedingungen wurden im Zusammenhang noch gar nicht be- handelt, und es erschien daher lohnend, eingehen- dere Untersuchungen von diesem Gesichtspunkt aus anzustellen. Die Ergebnisse werden, sobald es die Verhältnisse erlauben, ausführlich veröft'ent- licht werden. Doch dürften einige Resultate schon jetzt von Interesse sein. Der eigentliche Wellenkalk als eintönige, fossil- leere, sich immer gleichbleibende Masse kann uns wenig über seine Genese aussagen. Zwar müssen Freyberg. wir annehmen, daß er sich als chemischer Nieder- schlag eines flachen Binnenmeeres gebildet hat. Denn aus der umgebenden Wüste kann der Kalk- gehalt nicht stammen, und sein Mangel an Fossi- lien, das durchweg gleichbleibende mikroskopische Gewebe und die Einschaltung von Gipslagern bei Meiningen lassen obige Annahme als wahrschein- lich erscheinen. Die Abscheidung kann einmal im marinen Grundwasser vor sich gegangen sein, wobei der im Wellenkalk enthaltene Ton als Ge- rüst für die Kaikabscheidung gedient hat, wie sie Joh. Walt her und Schirlitz^) vom Golf von Neapel beschrieben haben, oder sie konnte auf dem Wege direkter Eindampfung erfolgen, wobei der Ton vom vegetationslosen Festland eingeweht wurde. Beispiele für letztere Entstehung sind die Kalklager des Lake Bonneville und Lake Lahon- tan, die bis 30 m Mächtigkeit erreichen.^; Aber wichtiger als der Wellenkalk sind die ihm einge- schalteten Bänke, die teils organischer, teils klasti- scher Entstehung sind, besonders die Fossilbänke und die konglomeratischen Bildungen. ') Zeilschr. d. Deutsch, geol. Gesellsch. 18S6. ") Joh. Walther, Lithogenesis der Gegenwart, S. 657. N. F. XVIII. Nr. 20 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 277 Betrachten wir zunächst die Fossilbänke. Ihr plötzliches Auftreten und ebenso plötzliches Ver- schwinden im sterilen WellenkalU weisen darauf hin, daß auch für niedere Organismen nicht im- mer die nötigen Lebensbedingungen vorhanden gewesen sind. Vielmehr brachte die durch starke Verdunstung hervorgerufene Übersalzung des flachen Wassers die Lebewelt zum Absterben, und eine neue Besiedlung trat erst wieder ein, wenn eine stärkere Senkung der Sammelmulde das Wasser vertiefte und den Salzgehalt damit verringerte. Die eindringenden Larven verbreiteten sich schnell im ganzen Gebiet. Je verbreiteter und stärker die Senkung war, um so weiter sind die Fossilbänke verbreitet, und um so größer ist ihre Mächtigkeit. Es würden also die Terebratel- bänke eine gleichmäßige Senkung des ganzen Ge- bietes anzeigen, deren längere Dauer aus der Mächtigkeit der Bänke geschlossen werden kann. Die mächtigeren Bänke kann man als boden- ständig bezeichnen. Zwar deuten zerbrochene Schalen auf bewegtes Wasser, aber die Häufigkeit zweiklappiger unbeschädigter Exemplare von Brachiopoden und Muscheln, die Tatsache, daß sie oft im Sediment die Stellung des lebenden Tieres einnehmen, und die weite horizontale Ver- breitung solcher Bänke zwingen zu dem Schluß, daß die Fauna an Ort und Stelle lebte und ein- gebettet wurde. Viel häufiger sind bodenfremde Fossilbänke. Ihre Hauptmerkmale sind folgende : 1. Geringe Mächtigkeit, durchschnittlich 3 bis 4 cm. 2. Vorherrschen einer bestimmten Art (Den- talien-, Gervillien-, Natica-, Myophorien-, Crinoiden- und ähnliche Bänke). 3. Doppelschalige Exemplare fehlen. 4. Die Muschelschalen liegen auf den Platten mit der gewölbten Außenseite nach oben. 5. Zahlreiche Schalen sind zerbrochen. 6. Die Bänke halten nur auf kurze Strecke aus. Aus diesen Merkmalen folgt eine Ablagerung in stark bewegtem Wasser. Joh. Weigelt*) hat gezeigt, mit welcher Gesetzmäßigkeit die Gezeiten an unserer Nordseeküste die Schalen nach Größe und Gewicht sortieren und in getrennten Strand- säumen anordnen. Dabei werden die Sclialen- hälften der Muscheln getrennt und gelangen erst zur Ruhe, wenn sie den Wellen keinen Angriffs- punkt mehr bieten, d. h. wenn die gewölbte Außenseite nach oben gekehrt ist. Die Möglich- keit, daß die Auslese im Wellenkalk ebenfalls durch die Tätigkeit von Ebbe und Flut erfolgte, ist nicht von der Hand zu weisen. Dabei brau- chen die Fossilien nicht nur in schmalen Strand- säumen zu erscheinen. Auch unterhalb der Schorre kann das bewegte Wasser in gleicher Weise wir- ken und breitere Bänke schaffen.^) Auch die Fauna des Wellenkalks selbst läßt ') Geologie und Nordseefauna. Im Druck. ) ^S'- Joh. Weigelt, Gliederung u. F.iunenverteilung im unteren Kulm des Oberharzes. Jahrb. d. Kgl. Preuß. Landesanstalt 1916, II, S. 250. auf stark bewegtes Wasser schließen. Die rezen- ten Arten derselben Gattungen gehören fast aus- schließlich dem Litoralgebiet an. Der Bau der Schalen ist der Wellenbewegung angepaßt. Die Gastropoden sind besonders durch Formen vertreten, die ein festes, niedergedrücktes bis kugeliges Gehäuse besitzen (Worthenia, Euompha- lus, Neritaria, Natica, Omphaloptycha). Denn der Anprall der Wogen wird durch möglichst kleine Oberfläche abgeschwächt, daher die Annäherung an die Kugelform. Ferner entspricht ein großer letzter Umgang einem großen Fuß und damit einer großen Anheftungsfläche. Unter den Muscheln finden wir besonders Gattungen mit starken Schloß- zähnen (Macrodon, Nucula, Myophoria, Cypricardia, Corbula, Myoconcha) oder solche, die sich an- heften, ins Sediment einbohren oder festwachsen (Ostrea, Pecten, Hinnites, Lima, Gervillia, Litho- domus, Pleuromya). Ahnliches gilt von den Brachiopoden, von denen sich Terebratula und Spiriferina anheften und Lingula im Sediment lebt. Die C r i n o i d e n sind erst seit der Kreide in die Tiefsee abgewandert. Ein Beweis für kräftige Wasserbewegung im Wellenkalkmeer sind weiterhin die konglomerati- schen Bildungen. Sie erscheinen in drei Modifika- tionen: Als Konglomeratbänke, konglomeratischer Wellenkalk und einzelne große Gerolle im Wellen- kalk. Die Konglomeratbänke sind feste Bänke von 3 — 30 cm Mächtigkeit. Ihre Gerolle sind dunkelblau , flachsrheibenförmig, rund, oval oder mit gelapptem Rand und stammen aus festen Kalkbänken des Wellenkalkes, deren Reste meist im Liegenden unmittelbar nachzuweisen sind. Der Durchmesser beträgt 2 — 3 cm, die Dicke 72 ^i'^ I cm. Ihre Lage im Sediment ist meist parallel, häufig auch in verschiedenen Richtungen schräg zur Schichtfläche. Das Bindemittel ist hell und kristallinisch, es besteht in der Hauptsache aus zerriebenen Fossilresten, unter denen Crinoiden die Hauptrolle spielen. Die Bank im Liegenden, aus der die Gerolle stammen, zeigt zahlreiche Risse und Sprünge, die ebenfalls von Kalksand ausge- füllt sind, und ist reich an Bohrlöchern, als deren Urheber Würmer anzusehen sind. Die Umgebung der Bohrröhren zeigt nämlich dieselbe rostgelbe Farbe wie die der Röhren von Arenicola, dem Sandwurm unserer Wattenmeere. Unter den Ge- rollen konnten ebenfalls solche nachgewiesen werden, die zersprungen und deren Sprünge durch Kalksand ausgefüllt waren. Auf einem Geröll saß Ostrea ostracina. Für die Entstehung der Gerolle ergibt sich folgendes Bild: Der durch Würmer aufgelockerte zähe Kalkschlamm wurde trockengelegt, es bildeten sich Trockenrisse, die oberen Lagen blätterten ab (daher die Scheiben- form der Gerolle!), wurden bei erneuter Wasser- bedeckung abgerollt, zersprangen vielleicht bei abermaliger Trockenlegung ebenfalls und wurden schließlich eingebettet. Die Verbreitung dieser Bänke ist allgeinein. Manche sind für größere Gebiete leitend, so die Spiriferinabank für das 278 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 20 östliche Thüringer Becken, ebenso eine Bank, die etwa 6 m über den Myophorienschichten liegt. Die meisten Bänke jedoch keilen nach kurzer Strecke wieder aus. Der konglomeratische Wellenkalk bildet Bänke von durchschnittlich 2 m Mächtig- keit, die an den Steilhängen eine Stufe hervor- rufen. In einer hellgrauen, mergelreichen, oft weichen Grundmasse liegen die knollenförmigen, bis kartoffelgroßen GeröUe regellos durcheinander. Sie sind meist gut abgerollt, die selteneren scharf- kantig-en Stücke gleichen vollkommen zerbröckel- tem Wellenkalk. Daß die Gerolle aus zerstörtem Wellenkalk hervorgegangen sind, läßt sich aus folgenden Punkten schließen: Unter den Gerollen finden sich abgerollte Steinkerne von Muschel- kalkfossilien. Dazwischen liegen an manchen Stellen Fossilplatten mit Muschelkalkfossilien, welche Reste der geringmächtigen bodenfremden Bänkchen darstellen. Die dickeren festen Fossil- bänke lieferten im Gegensatz zu dem leicht zer- bröckelnden Wellenkalk bis kopfgroße GeröUe. Mit dem konglomeratischen Wellenkalk nicht zu verwechseln sind Bänke mit konkretionären Ge- bilden, die man wegen ihrer Übereinstimmung mit den bekannten devonischen Kalken als JCnotenkalke bezeichnen kann. Die Unter- schiede zwischen Gerollen und Konkretionen sind folgende : GeröUe : Liegen in den verschie- densten Größen durch- einander; Konkretionen : Halten sich innerhalb derselben Bank an ein durchschnittliches Grö- ßenmaß; Sind scharf gegen die | Verfließen gegen die Grundmasse abgegrenzt; : Grundmasse; Sind gegeneinander ab- Verschmelzen mitein- gegrenzt, auch bei gegen- ander, seitiger Berührung. Aus dem Auftreten des konglomeratischen Wellenkalks folgt, daß die Verhärtung des Wellen- kalks und der Fossilbänke rasch erfolgt ist. Die Bänke sind in ganz Ostthüringen verbreitet und treten in verschiedenen Horizonten auf. Eine Bank findet sich hier überall etwa 6 — 7 m unter der Oolithbank «. Sie stellt jedoch keinen durch- gehenden Horizont dar, sondern verschwindet stellenweise, erscheint aber immer wieder an glei- cher Stelle des Profils. Eine Zerstörung verhärteter Schichten in sol- chem Umfange kann nur im Litoralgebiet vor sich gehen. Das Wellenkalkmeer stellte eine weite flache Sammelmulde dar, von seinem Untergrund konnten durch geringe Bodenschwankungen weite Flächen freigelegt werden. Die Erhebungen der Bodenfläche mußten Inseln erzeugen, an deren Rand die Zerstörung sofort einsetzte. Die Geröll- bänke gehören also dem Gebiet der Schorre an, durch langsames Wiederuntertauchen der trocken- gelegten Gebiete konnten sie sich über breitere Flächen ausdehnen, und die geröllfreien Strecken gehören zu den höchstgelegenen freigelegten Partien und den tiefsten Stellen der zwischen ihnen gelegenen Wasserarme. Daraus erklärt sich das plötzliche Verschwinden des konglomeratischen Wellenkalks in horizontaler Richtung und sein erneutes Auftreten im selben Horizont. Einzelne große Gerolle treten unver- mittelt im Wellenkalk auf. Sie gleichen den fossilführenden großen Gerollen im konglomerati- schen Wellenkalk und stammen wie diese aus festen Fossilbänken des Wellenkalks. Sie unter- scheiden sich von ihnen dadurch, daß weiteres klastisches Material in ihrer Umgebung nicht fest- zustellen ist. Also müssen diese GeröUe weiter von ihrem Abbruchsgebiet entfernt liegen. Ähn- lichkeit mit ihnen besitzen einzelne größere Kon- kretionen, deren Fossilien aber nicht untereinander und zur primären Schichtfläche parallel liegen, wie die der GeröUe, sondern parallel zur linsenförmigen Oberfläche. Ferner nehmen die Zweischaler der Konkretionen die Lage des lebenden Tieres ein und die Exemplare sind zweiklappig erhalten. Ähnliche Konkretionen sind mehrfach aus rezenten Meeren beschrieben worden.') Nach allen diesen Tatsachen stellt sich das Wellenkalkmeer als ein flaches Meer dar, das viel- leicht durch die Gezeiten, vielleicht durch Winde, die an der Grenze von Wüste und Wasser leicht entstehen, in dauernder Bewegung gehalten wurde. Die Schalenbänke wurden durchspült und ihr In- halt sortiert, leichte Bodenbewegungen schufen Gelegenheit zur Zerstörung eben gebildeter Sedi- mente. Zeugnis davon legen uns die der gleich- mäßigen Masse des WeUenkalks eingelagerten Bänke ab. ') Vgl. Philipp!, Über Doloniiibildung und chemische Abscheidung von Kalk in heutigen Meeren. N. Jahrbuch für Mineral, usw., 1907, Festband. Einzelberichte. Medizin. Serologische Vorherbestimmung des Geschlechts. Das Problem der Geschlechts- beeinflussung beim Menschen ') ist nach unserem heutigen Wissen noch weit von einer Lösung entfernt. Dagegen ist die Vorauserkennung des Geschlechts vielleicht schon in nächster Zeit möglich. Dem Physiologen Abderhalden-) in Halle ist es gelungen, durch Blutuntersuchungen sehr frühzeitig eine bestehende Schwangerschaft nach- ') vergl. P. Kämmerer, Geschlechtsbestimmung und Ge- schlechtsverwandlung. Wien 1918, M. Perles. '■') E. Abderhalden, Abwehrfermente des tierischen Organismus, Berlin, J. Springer, N. F. XVIII. Nr. 20 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 279 zuweisen. Er ging von der Beobachtung aus, daß sich von den Chorionzotten der Placenta Zellen loslösen, welche in die mütterliche BUitbahn ge- langen. Gegen diese blutfremden Stoffe werden im Organismus der Schwangeren spezifische Ab- wehrfermente gebildet, welche auf die blutfremden Zellen verdauend einwirken, genau wie die Fer- mente im Magen- Darmkanal die Nahrungsstuffe zerlegen und abbauen. Um im Blut der Schwange- ren die gebildeten Abwehrfermente nachzuweisen, läßt Abderhalden einige Kubikzentimeter des zu prüfenden Serums in einem Dialysierschlauch auf Placentagewebe einwirken, dessen Eiweißkörper durch Kochen koaguliert worden sind. Stammt das Serum von einem schwangeren Individuum, so bauen die vorhandenen Abwehrfermente das Placentagewebe ab und die freiwerdenden Peptone diffundieren durch die Wandung des Dialysier- schlauchs in die Außenflüssigkeit, wofür man de- stilliertes Wasser wählt. In diesem können die Peptone durch die Ninhydrinkochprobe nachge- wiesen werden. Stammt dagegen das Serum von einer Nichtschwangeren, so findet keine Peptoni- sierung des Placentaeiweißes statt und in dem die Dialysierhülse umgebenden Wasser lassen sich durch keine chemische Reaktion Peptone nach- weisen. Noch eine zweite IWethode hat Abderhalden zum Nachweis der Abwehrfermente ausgearbeitet. Er stellt durch Hydrolyse aus Placenten oder aus anderen zu prüfenden Organen Peptone her und bringt diese Peptone mit dem auf Abwehrfermente zu untersuchenden Serum in das Rohr eines Po- larisationsapparates. Bleibt die Anfangsdrehung der Polarisationsebene des Lichts unverändert, so sind im Blutserum keine Abwehrfermente vor- handen. Ändert sich aber mit der Zeit die Dre- hung der Polarisationsebene, so beweist dies das Vorhandensein von Abwehrfermenten, die auf das Pepton einwirken. Wurde eine Placentapepton- lösung angewandt, so ist die Schwangerschaft fest- gestellt. Diese ,, optische Methode" wurde wegen ihrer Umständlichkeit nur von wenigen bei der Nachprüfung der serologischen Schwangerschafts- diagnose benützt. Die Spezifität der Ab derhal denschen Re- aktion ist öfters angezweifelt worden; aber es läßt sich mit ihrer Hilfe eine Schwangerschaft doch meist frühzeitiger feststellen, als dies mit den anderen üblichen Methoden geschehen kann. Neuerdings wurde von verschiedenen Seiten ver- sucht, die Abderh aldensche Reaktion so zu verfeinern, daß durch sie nicht nur die Tatsache einer Schwangerschaft, sondern zugleich auch das Geschlecht des werdenden Kindes festgestellt werden kann. Man ging dabei von dem Gedanken aus, daß der sich entwickelnde Embryo bereits in einem frühen Stadium sein Geschlecht erkennen läßt. Der embryonale Hoden zeigt eine starke innere Sekretion, welche die Ausbildung der für das Geschlecht charakteristischen körperlichen Eigenschaften bedingt. Die Produkte der inneren Sekretion, die Hormone des Hodens, können leicht durch den placentaren Kreislauf in den Organis- mus der Mutter gelangen. Die für den mütter- lichen Blutkreislauf als körperfremd anzusehenden Absonderungsstoffe des embryonalen Hodens be- wirken die Bildung von Abwehrfermenten und es ist zu erwarten, daß Schwangerenserum auf prä- pariertes Hodengewebe abbauend wirkt, wenn das sich entwickelnde Kind männlichen Geschlechts ist. Nach diesem Gedankengang darf ein weib- licher Embryo keine auf Hodengewebe einge- stellten Abwehrstoffe im mütterlichen Blut er- zeugen. Einige Versuche zur Voraussage des fötalen Geschlechts wurden von F. Lehmann') ohne eindeutiges Ergebnis gemacht. Schwierigkeiten machte die für die Abderhald ensche Reaktion notwendige Beschaffung völlig blutfreien Hoden- gewebes. Koenigstein'-j benützte anfangs die Hoden jugendlicher und erwachsener Individuen; er erhielt jedoch stark fehlerhafte Ergebnisse, da die Leichenorgane nicht genügend frisch waren. Deshalb verwandte er vor allem Hoden von Kälbern. Kraus und Saudek'^) benützten Hoden von Stieren, die nach jüdischer Sitte geschlachtet waren. Durch diesen kleinen Kunstgriff gelang es völlig blutfreies Gewebe zu erhalten. Kraus und Sau- dek untersuchten bei 43 Schwangeren die ab- bauende Wirkung des Serums auf Hodengewebe. Dabei fiel in 28 Fällen die Reaktion so deutlich aus, daß eine Geschlechtsvoraussage versucht werden kennte. Von den 28 Fällen hat die Vor- ausbestimmung des Geschlechts in 22 Fällen mit dem nachträglich bekannt gewordenen Ergebnis übereingestimmt. ,, Hieraus schon ergibt sich der klare Schluß, daß diese Methode derzeit für die diagnostische Praxis ganz unverwendbar ist." Theoretisch interessant ist aber jedenfalls, daß in vielen Fällen im Blute Schwangerer Abwehr- fermente gegenüber Hodengewebe auftreten. Auch die Ergebnisse der Versuche Koenigsteins in 100 Fällen sind durchaus nicht einheitlich; be- sonders ist der Ausfall der Abbauversuche bei Hodengewebe Erwachsener widerspruchsvoll. ,, Da- gegen versprechen die Untersuchungen mit in- fantilen und Kalbshoden mit dem hohen Prozent- satz positiver Resultate weiteren Erfolg." Kraus und Saudek lassen es gleichfalls dahingestellt, ob nicht durch eine verbesserte Technik die sero- logische Geschlechtsbestimmung für die Praxis nutzbar gemacht werden kann. Sowohl bei dem Dialysierverfahren als auch nach der ,, optischen Methode" braucht man zur A bd erhal d en sehen Reaktion mehrere (2 — 5) Kubikzentimeter Serum. Dies bedingt bei der Prüfung des Blutes auf das Vorhandensein von Abwehrfermenten für mehrere Organproteine eine erhebliche Blutentnahme bei dem zur Unter- ') Zealralblatt für Gynäkologie S. I12 — 113 (1918). 2) ib. S. 1097 — 1099 (ili?)- 2) ib. S. 881—884 ("1917). 2 So Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 20 suchung gelangenden Menschen. Dieser Nachteil ist nun von Pregel und de Crinis') (Prag) dadurch behoben worden, daß ihnen bei der Aus- gestaltung der Abderhaldenschen Reaktion der mikroanalytische Nachweis von Abwehrfer- menten gelang. Pregel unddeCrinis gingen von dem Gedanken aus, daß jede Konzentrations- vermehrung der im Serum vorhandenen Stofte eine entsprechende Änderung des Lichtbrechungs- vermögens des Serums bewirkt. Läßt man daher ein Serum, welches Abwehrfermente enthält, auf entsprechende unlösliche Organproteine einwirken, so werden diese z. T. in lösliche Eiweißbausteine übergeführt und die dadurch vermehrte Konzentra- tion des Serums bewirkt eine Erhöhung des ur- sprünglichen Brechungsexponenten für Licht. Nun kann man den Brechungsexponenten eines einzi- gen Tröpfchens Serum auf dem Prisma eines Re- fraktometers mit sehr großer Genauigkeit fest- stellen und so genügen etwa 3 — 4 Tropfen Serum und Vi 00 S eines entsprechenden Organgewebes zur Anstellung der Abderhaldenschen Mikro- reaktion. Der Brechungsexponent eines Tropfens des zu prüfenden Serums wird sogleich nach dem Zusatz zum geeigneten Trockenorgan bestimmt. Ist nach 24 stündiger Einwirkung keine Änderung des Lichtbrechungsvermögens eingetreten, so sind im Serum keine auf das Trockenorgan eingestellten Abwehrfermente vorhanden, die Eiweißbausteine hätten in Lösung bringen können. Die große Ein- fachheit der Abderhalden sehen Mikroreaktion, die winzige Menge von erforderlichem Organge- webe und von Serum, das dem Patienten ohne Belästigung, geschweige denn Beschädigung mit einmal entnommen werden kann, wird vielleicht auch die Versuche zur serologischen Geschlerhts- voraussage erleichtern und zuverlässiger gestalten. K. Kuhn. Pflanzenkrankheiten. Vor längerer Zeit (vgl. Band XV d. Zeitschr., S. 492, 191 6) wurde hier im Anschluß an eine Arbeit von Sorauer über Leuchtgasbeschädigungen berichtet. Sorauer behauptet auf Grund morphologischer Beobach- tungen und anatomischer Untersuchungen, daß die Vergiftung von Pflanzen durch Leuchtgas auf einer Erstickung der Wurzeln beruht, indem diesen der zur Atmung nötige Sauerstoff entzogen wird. Zu einem wesentlich anderen Ergebnis ist neuer- dings W e h m e r durch physiologische Experimente gekommen (Berichte der Deutschen Bot. Ges. 35, S. 135—154; S. 318—332; S. 403—410 und 36, S. 140— 150; S. 460—464, 1917— 18). Wehmer untersuchte einmal, in welchem Grade verschiedene Pflanzen und verschiedene Entwicklungsstadien derselben Pflanze durch Leucht- gas geschädigt werden, sodann, wieweit eine direkte Schädigung der oberirdischen Pflanzenteile, wieweit eine indirekte durch Vermittlung des Wurzelsystems vorliegt, vor allem aber, welcher Fernientforschung S. 58, Nr. I, Bd. II (1917). Bestandteil des Gases für die Giftwirkung ver- antwortlich zu machen ist. Er benutzte zu seinen Versuchen sowohl krau- tige (besonders Kresse und Bohne) als auch Holz- pflanzen (Linde, Ulme, Buche, Eibe, Fichte u. a.). Die Pflanzen wurden z. T. direkt der Einwirkung des Leuchtgases unter geschlossenen Glasglocken ausgesetzt, z. T. wurde ein kontinuierlicher Gas- strom durch die Erde bzw. das Wasser geleitet, der die Pflanzen nicht direkt berührte, sie aber durch die dabei von dem Nährwasser absorbierten Bestandteile beeinflussen konnte. Kresse {Lcpidiiim sativum) und Bohne erwiesen sich als sehr empfindlich gegen Leuchtgas. In unverdünntem Zustande brachte es Kressepflanzen in 3 Tagen zum Welken und Absterben, Bohnen in 4—5 Tagen. Luft, mit über 30% Leuchtgas gemischt, wirkte nur wenig langsamer, während 5 — 20 % Leuchtgas keinen merklichen Schaden hervorrufen. Im Gegensatze zu den bewurzelten grünen Pflanzen sind die Samen der Kresse weit widerstandsfähiger: In reiner Gasatmosphäre keimen sie zwar nicht; wenn aber das Gas nach 20 Tagen durch Luft ersetzt wird, beginnen sie alsbald, sich zu normalen Pflanzen zu entwickeln. Es liegt also nur eine vorübergehende Hemmung, eine Art Narkose vor. Unter Umständen kann allerdings eine Vergiftung der Samen eintreten, so z. B. wenn sie auf feuchter, lO — 15 Tage von Gas durchströmter Erde ausgelegt werden. Daß die Wirkung des Leuchtgases nicht auf einer Verhinderung der Atmung beruht, ergibt sich daraus, daß die Kresse in reiner Wasserstofif- Atmosphäre bis zu 3 Tagen ungestört weiter- vegetiert. Das Absterben der gasbeschädigten Pflanzen wird durch Welkeerscheinungen eingeleitet, die den Gedanken nahelegen, daß unter dem Einfluß des Gases die Wurzeltätigkeit zum Stillstand kommt. Zweifellos werden die Wurzeln in Mitleidenschaft gezogen ; besonders in ihrer Jugend sind sie außer- ordentlich empfindlich. Daneben aber findet eine direkte Schädigung der oberirdischen Teile durch die mit dem Wasser aufgenommenen schädlichen Gasbestandteile statt. Das zeigt sich, wenn man abgeschnittene, beblätterte Zweige in gasdurch- strömtem Wasser beobachtet. Sie werfen in wenigen Tagen ihre Blätter ab. Widerstands- fähiger sind die Nadeln der Koniferen, offenbar weil sie weniger stark transpirieren, also nicht so große Mengen der schädlichen Stoffe aufnehmen wie die Laubblätter. Junge Bäumchen in Töpfen reagieren je nach der Jahreszeit verschieden. Im Frühjahr bzw. Frühsommer verdorren die jungen Triebe mehr oder weniger schnell. Besonders empfindlich sind Edeltanne und Ulme (bereits nach 8 Tagen ab- getötet), weniger die Linde (nach 3 Wochen noch lebend). Im Spätsommer und Herbst tritt ein vorzeitiges Abfallen der Blätter ein, während die Achsen und Knospen unverändert bleiben. Eine N. F. XVIII. Nr. 20 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 281 solche vorzeitige Entlaubung kann man auch im Freien oft als eine Folge von Gasbeschädigungen beobachten, wobei die Knospen meist intakt blei- ben und im nächsten Jahre wieder austreiben. Im Winter bemerkte Wehmer an den Versuchs- pflanzen zunächst keine Veränderungen. Aber im folgenden Frühjahr unterblieb das Austreiben und verdorrten die Zweige allmählich (mit Ausnahme einer einzigen Hainbuche). Vermutlich hatte das Leuchtgas die jungen Wurzeln vernichtet oder unheilbar geschädigt, und die Bildung neuer Wur- zeln verhindert. In welcRer Weise die Gasbeschädigung sich äußert, hängt also bei den Holzpflanzen wesent- lich von der Jahreszeit, d. h. dem Grade der Lebenstätigkeit ab. Daneben dürfte der Boden- beschaffenheit, der Menge und Einwirkungsdauer des Gases, der Größe des Baumes, dem Umfange, in welchem das Wurzelsystem vom Gas getroffen wurde, usw. eine ausschlaggebende Bedeutung zu- kommen. Welcher Bestandteil des Leuchtgases ist nun für die geschilderten, als Vergiftung zu bezeich- nenden Schädigungen verantwortlich zu machen? Das von Wehmer benutzte Hannoversche Stadt- gas setzte sich aus ca. 80 "/g Methan und Wasser- stoff, 10 "/„ Kohlenoxyd, 4 «/„ Äthylen, 2 "/„ Kohlen- säure, weniger als i "/q Benzol und Toluol, 0,6 ",'(, Schwefelverbindungen, 0,06 "/^ Azetylen und Spuren von Cyan- und Ammoniakverbindungen zusammen. Eingehende Versuche ergaben, daß die erstgenannten Bestandteile, insbesondere Kohlenoxyd, Kohlensäure, Äthylen, auch Azetylen nicht in Frage kommen. Benzoldämpfe und Schwefelverbindungen wirken zwar an sich in derselben Weise wie Leuchtgas, aber nur wenn sie in einer Konzentration angewendet werden, wie sie im Leuchtgas nicht vorkommt. Es bleiben somit nur noch die in wechselnd großen Spuren vorhandenen Verunreinigungen an Cyan- und Ammoniakverbindungen übrig. Es ist nun Weh- mer gelungen nachzuweisen, daß die Blau- säure dem Leuchtgas die giftigen Eigen- schaften verleiht. Wenn man nämlich durch Waschen des Gases mit Alkali unter Zusatz von Eisenvitriol die Blausäure eliminiert, fällt die schäd- liche Wirkung weg; so keimen z. B. Kressesamen in diesem Falle trotz andauernden Gaszuströmens ohne weiteres aus. Für sich allein angewandt, wirkt Blausäure in einer Konzentration von 0,02 "/q tödlich auf Pflanzen. Die im Leuchtgas enthaltene Menge ist bei der großen Flüchtigkeit der Blau- säure schwer zu bestimmen; es handelt sich nur um minimale Spuren, doch wird sie beim Durch- strömen durch die Erde absorbiert und so eine Anreicherung erzielt. Wenn die Leuchtgasschäden als Vergiftungen durch Blausäure zu betrachten sind, wird auch die Blaufärbung verständlich, wie sie sich oft (nicht immer) an den Wurzeln gasbeschädigter Bäume zeigt: Es liegt nichts anderes als eine Bildung von „Berliner Blau" vor. Dr. F. Esmarch. Über die Spermien von Fucus und Chara. Friedrich Meves, einefr der besten Kenner tierischer Spermien, wandte sich neuerdings auch pflanzlichen Spermien zu ^) An den etwa birn- förmigen Spermien des Sägetangs, Fucus ser- r a t u s , erkannte er mit Retzius, Strasburger und Behrens, daß bei weitem die Hauptmasse des Spermiums aus Kernsubstanz besteht. Ge- wisse Körnchen, das Nebenorgan Retzius' oder das Plastomer, wie Meves es nennt, manchmal auch nur aus einem einzigen Korn bestehend, färben sich an fixierten Spermien von Fucus mit Säurefuchsin-Pikrinsäure nach A 1 1 m a n n leuchtend rot. Dieses Organ, dessen Zusammensetzung aus mehreren Körnchen schon Retzius erkannte, der darin eine Übereinstimmung namentlich mit Würmer- und Mollu'-kenspermien fand, ist somit protoplasmatischer Natur, es besteht aus „Piasto- somen" oder „Plastochondrien", wie Meves es au.sspricht, und ist somit vergleichbar dem gleich- falls aus Piastosomen entstehenden Plastomer in Metazoenspermien, wo es sehr verschieden ge- staltet ist und entweder in Form einer Scheide von Körnchen dem Schwanzfaden auflagert oder um dessen Anfang herumliegt, bei manchen Tieren auch eine Röhre um einen Teil des Spermien- kopfes bildet nnd bei anderen wiederum noch andere Gestalten annimmt. Wie diese sehr ver- schiedene Gestalt des Plastomers andeutet, dürfte dieses Gebilde weniger für das Eigenleben des Spermiums wichtig sein als vielmehr ein erst im Ei zur Wirksamkeit kommendes Material dar- stellen. An den reifen, bekanntlich korkzieherförmigen Spermien des Armleuchtergewächses Chara foetida war dagegen keine als plastosomatisch anzusprechende Struktur auffindbar, denn mit Osmiumsäuie sich bräunende Körnchen können als wahrscheinlich fetthaltig nicht dafür in Betracht kommen. In frühen Generationen der spermato- genen Zellen im Antheridium jedoch sind Piasto- somen in Form feiner Körnchen und Fädchen nachweisbar. An Spermien im Antheridium zeigten sie sich noch als eine Anzahl Stäbchen im Plasma, die in späteren Stadien, viel schwächer färbbar geworden, den inzwischen sichelförmig gewordenen Kernteil des Spermiums umgürten, immer blasser werden und schließlich vielleicht untereinander zu einem Häutchen verfließen. Daß nun nach vorstehenden Angaben, die nur einen Teil vom Inhalt der Meves sehen Arbeit wiedergeben, die Fucusspermien in ihrem feineren Bau denen von Metazoen, namentlich Wirbellosen, verhältnismäßig ähnlich sind, trotz aller pflanz- lichen Eigenheiten wie Zweigeißeligkeit und Besitz des Augenfleckes, können wir wohl in einige Parallele setzen mit der Ähnlichkeit, die auch in dem äußeren Ablauf des Befruchtungsvorganges 1) Friedrich Meves, Zur Kenntnis des Baues pflanz- licher Spermien. Archiv für mikroskopische Anatomie, I. Ab- teilung, Band 91, Seite 372 bis 311, 2 Tafeln. 282 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 20 zwischen den Fucus-Tangen und vielen Metazoen besteht. V. Franz. Geologie. Mit der „allgemeinen Oberflächen- entwirWIung des mitteleuropäischen Flachlandes" beschäitigt sich E. Wunderlich im Albrecht- Penck-P'estband (191 8). Das mitteleuropäische Flachland beginnt an der Mündung des Rheins, überschreitet den heutigen Niederrhein in der Gegend von Nijmegen. Nord- Brabant und belgisches Tiefland gehört nicht mehr dazu. Von Holland aus setzt es sich durch ganz Norddeutschland hin fort über Kongreß-Polen, Litauen, Weißrußland bis ins eigentliche Rußland hinein. Die Mächtigkeit des Diluviums nimmt von Holland aus zu. Im Wesergebiet, zwischen Elbe und Oder, südlich des unteren We'chsel- und Narewtales beträgt sie über 100 m. Wunder- lich bezeichnet das ganze Gebiet mit „Diluviales europäisches Flachland". Charakteristisch ist für das ganze Land ein gewisser muldenförmiger Bau, der sich besonders deutlich in Litauen-Weißrußland, Kongreß-Polen, östlichem Norddeutschland klar zeigt. Die zonen- förmige Gliederung kommt durch das Auftreten des baltischen Höhenrückens, der sich anschließen- den Urstromtäler und dem Anstieg nach der südlich angrenzenden Mittelgebirgsschwelle zum Vorschein. Verschiedenheiten ergaben sich in den einzelnen Teilen des Flachlandes nur da in dieser Gliederung, wo wechselnde Breite festgestellt wer- den konnte. Holland zeigt diese zonenförmige Gliederung nicht, weil der Baltische Höhenrücken durch Schleswig- Holstein zieht. Übereinstimmend kann man am mitteleuropä- ischen Flachland auch feststellen, daß ,, große, breite, wenig eingetiefte Talungen und sogenannte Dilu- vialplatten" abwechseln. Diese Platten sind die Resie der glazialen Aufschüttungslandschaft, die durch Schmelzwasser und Flüsse zerschnitten worden ist. Die einzelnen Hochflächen weisen morpho- logische Verschiedenheiten auf, die im ungleich- mäßigen Auftreten der Seen, moorerfüllter ge- schlossener Wannen, in der verschiedenartigen all- gemeinen Formengestaltung ganzer Landschaften bestehen. Das holländische Flachland scheidet Wunder- lich in die Govihochfläche und die Veluwe west- lich der Ijssel, die Hochfläche von Twente östlich der Ijssel und südlich der Vecht, die Hochfläche von Drente nördlich der Vecht. Die Platten steigen nach Süden hin an. So erreicht die Ve- luwe bei Arnheim eine Höhe von über lOO m. Wunderlich sieht mit Keil hack in dem Höhenzug, der die Veluwe von Arnheim am Nie- derrhein an bis nach ZwoUe und Ijsseltal im S-N- Richtung durchzieht, eine größere Eisrandlage. Die westlich anschließende flachere Ebene ist der zugehörige Sander. Die von anderen Autoren festgestellte Verschiedenheit der Oberflächenformen westlich und östlich der Ijssel konnte Wunder- lich nicht finden. Er faßt beide morphologisch gleichwertige Oberflächenformen als gealterte For- men auf, die frei sind von jungglazialen Erschei- nungen. Im norddeutschen Flachland fanden wir nach Wunderlichs Untersuchungen den Gegensatz zwischen jungen und gealterten Glazialformen be- sonders in Schleswig ausgeprägt. Jugendliche Glazialformen treten innerhalb der baltischen Haupt- endmoräne auf. Sie verlieren sich westlich dieser Endmoräne und fehlen- schließlich, in den Ge- bieten, die der Nordseeküste benachbart sind. Die Söllgrenze ist also gleichzeitig die Grenze der jugendlichen glazialen Aufschüttungsformen. Diese Söllgrenze ist nicht scharf ausgebildet, ankeine End- moränenstaffel gebunden. In Nordwestdeutschland, einschließlich Holstein, finden sich im näheren Umkreis der Ostsee jugendliche Formen. Bis zur Wasserscheide zwischen Elbe und Weser reichen die äußersten, nachweisbaren jugendlichen Formen. Westlich des Weser- Allertales konnte Wunder- lich keine jugendlichen Formen mehr entdecken. Dieses westlich gelegene Gebiet ist also auch ge- altertes Glazialgebiet, denn die beiden größeren Seen, Steinhuder Meer und Dümmer See, sind scheinbar nicht glazialen Ursprungs. Die Grenze der jungen Glazialformen in Nordwestdeutschland rückt näher an das Weser- Allertal heran und ist an keine Eisrandlage gebunden. Hier besteht zwischen Seen- und Söllgrenze eine seenfreie, durch kleine glaziale Wannen gekennzeichnete Mittelzone. Für das Elbe- Odergebiet hat Wunderlich die Seengrenze entlang einer Linie von Branden- burg über Luckenwalde nach dem Odertale hin gefunden, die mit seiner Teltow Eisrandlage zu- sammenfällt. Die Südgrenze der jungen glazialen Formen geht am Nordrand des Breslau Magde- burger Urstromtales entlang. Seen- und Söll- grenze fallen nicht zusammen. Die Zonen schieben sich engjer wie in Nordwestdeutschland zusammen und rücken sehr nahe an die Mittelgebirgsschwelle heran. Östlich der Oder behalten ungeachtet des Südvorstoßes des Diluviums nach Schlesien hin Soll- und Seengrenze ihre alte Richtung bei. Wie im Elbe-Odergebiet fallt auch hier der Parallelis- mus zwischen Söllgrenze und Lößgrenze auf. Im polnischen Flachland reichen die jungen glazialen Formen über das untere Weichseltal hin- weg bis in die Radomer Gegend. Das südliche Kongreß Polen und Galizien gehören der gealterten Glaziallandschaft an. Die von Penck erkannte jugendliche und gealterte Glaziallandschaft läßt sich überall im mitteleuropäischen Flachland nachweisen. Die Söllgrenze bildet überall die Scheidelinie zwischen junger und gealterter Glaziallandschaft. Sie ver- läuft von Schleswig-Holstein über die Lüneburger Heide, am Nordrand des Breslau-Magdeburger Ur- stromtales entlang, am Bartschtal hin nach Kon- greß-Polen hinein. Sie erreicht hier die Pilica- N. F. XVIII. Nr. 20 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 283 Mündung in die Weichsel und das Bugtal bei Wlodawa. Über die Entstehung der beiden Landschafts- typen gibt Wunderlich noch kein abschließen- des Urteil. Rudolf Hunüt. Über die bergbauliche Entwicklung Mittel- afrikas schreibt Schumacher in Metall und Erz (Heft 4, XVI. Jahrgang 1919)- Mittelafrika ist bergbaulich schon vor dem Kriege bemerkenswert hervorgetreten. Der Verf versteht in seinen Ausführungen unter Mittelafrika das ostafrikanische Seenhochland, das weite Kongo- becken , also das Gebiet Deutsch- Ostafrikas und des früheren Kongostaates. An der Tanganjikabahn bei Morogoro am Nord- abfall der Uluguruberge bestehen mehrere Glimmer- bergwerke. Das Gebirge besteht aus Gneisen und Graniten mit zahlreichen Pegmatitgängen. Wesent- licher Bestandteil des Pegmatit ist Quarz, Feldspat, Glimmer. Beiläufig treten auf: schwarzer Tur- malin, Apatit, Topas, Beryll, Schwefelkies, Kupfer- kies, Buntkupfer, Eisenglanz, Zinnerz, Urajipecherz, Uranocker. Der Glimmer ist dunkelgrün bis gelb- grün, dunkelbraun bis hellbraun. Der sog. fleckige Glimmer ist dunkelgrün, mit schwarzen kreuz und quer laufenden Flecken versehen. Seltener ist heller Kaliglimmer. Entweder zeigt sich der Glimmer im Pegmatit eingewachsen als bis 20 cm dicker und i m im Durchmesser aufweisender Kristall oder er ist in kreuz und quer gestellten Kristallen aufgewachsen. Man befreit zunächst die Glimmerkristalle vom umgebenden Gestein, trennt sie dann mit Schlegel und Eisen heraus, spaltet sie in dünne Platten, beschneidet die Kanten, verpackt sie in Kisten und trägt sie auf Neger- pfaden an die Küste, wo sie sortiert werden. 191 2 gewann man hier Glimmer im Werte von 480 000 Mark. Das Goldvorkommen von Sekenke liegt nördlich der Tanganjikabahn auf einer Bodenwelle im Wenbäregraben. Die Golderzgänge sind an diori- tische und diabasische Gänge gebunden, die im Granit aufsetzen. Das Gold ist an Pyrit gebunden und tritt in verschiedenen Quarzarten auf. Das Rohgold von Sekenke enthält 80—85 "/o Feingold. Im letzten Friedensjahr gewann man von einer Tonne Erz 25.8 g, aus 86000 Tonnen 223 kg Feingold im Werte von 623 000 Mark. Im Kriege mußte 191 5 der Betrieb eingestellt werden. In der Umgebung des Viktoriasees gibt es Gold bei Ngagsemo am Spekagolf. Hier besteht die goldführende Zone aus Diabas und Diabas- tuffen. Son.st ist das Erz ähnlich dem von Se- kenke, nur Kupferkies tritt hinzu. Auf die Tonne Erz kommen 27 — 30 g Rohgold und 20—22 g Feingold. Im Bezirk Ikoma liegt ein weniger bedeutendes Goldvorkommen bei Nigodi. In dem- selben Bezirk liegt das Vorkommen von Kilima ya feza. Im Anstehenden zeigt sich reichlich Gold, nach der Tiefe zu nimmt der Goldgehalt zusehends ab. Manche Aufschlüsse enthalten sehr reichlich oxydische Kupferverbindungen, Eisenspat, Blei- glanz. Unausgebeutete Goldvorkommen liegen in dem Eisenquarzitschiefer des ViktoriaAugusta- reef und des Bismarckreef südlich des Viktoriasees. Goldhaltige Eisenquarzit-Konglomerate zeigen sich bei Ssamuye in der Nähe von Tabora. In der Landschaft Ussongo, ebenfalls im Süden des Vik- toriasees gelegen, kommen goldführende Konglo- merate vor. Das Gold findet sich sowohl im pyriiführenden Bindemittel als auch in Gerollen aus Eisenquarzitschiefer. Zur Ausbeute ist der 3—4 g pro Tonne betragende Goldgehalt zu gering. Granaten von prachtvoll dunkelroter oder bräunlichroter Farbe zeigen sich im Hinterlande von Lindi. Am Malagarassi in der Nähe des Tanganjika- see^ wird in der Saline Gottorp aus starken Sol- (juellen Salz gewonnen. Jährlich gewann man gegen 2300 Tonnen. In den salzigen Seen des Großen afrikanischen Grabens, im nördlichen Teil Ostafrikas gewann man zur Herstellung von Seife Natriumkarbonat und Natriumsulfat. Im belgischen Kongo liegen die Kohlengruben der Geomine, die während des Krieges in Betrieb genommen worden sind. Im Salzsee von Katwe am Nordostende des Edwardsee gewinnt man Salz. Westlich vom* Albertsee haben die Gcldseifen von Kito und Moto einen mächtigen Aufschwung erlebt. Im Jahre 1916 gewann man hier 3300 kg Gold. Auch im anstehenden Gestein hat man Gold gefunden. i S Diamanten zeigen sich im Kas«aibecken im Tschikapa an der portugiesischen Grenze. 1916 gewann man 54OCO Karat. In Katanga hat man vor allen Dingen die Kupfervorkommen ausgebeutet, die bei Eioile du Kongo und Kambowe. 1917 gewann man 27800 Tonnen Kupfer. Am rechten Ufer der Lualaba, nördlich von 10" s. Br. und bei Muika nordwestlich des Meer- ufersliegen sehr beachtenswerte Zinnerzvorkommen. Bei Ruwa findet sich Gold. Der Betrieb ist aber nicht einträglich. Auf dem Kundalungu- plateau zwischen den Flüssen Luapula und Lufira hat man in echten Blaugrundschloten Diamanten entdeckt. Rudolf Hundt. Geologie. Die Lebensdauer unserer Eisenerz- lagerstätten und die Versorgung- Deutschlands mit Eisen und Manganerzen nach dem Kriege be- handelt P. Kr u seh in der Zeilschr. f. praktische Geologie H. i u. 2. 1918. Gelegentlich des Internat. Geologenkongresses zu Stockholm im Jahre 19 12 fand von selten der Geologischen Landesanstalten eine Eisenerzinventur der Welt statt, die sich hinsichtlich der deutschen wie auch der benachbarten außerdeutschen Lager- stätten als dringend revisionsbedürftig erwiesen 284 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 20 hat. Die gewaltige Entfaltung der deutschen Eisenindustrie führte zur Aufschließung alter wie auch zur Auffindung neuer im Jahre 1910 noch unbekannter Eisenerzgebiete. Im Jahre 1913 wurden in deutschen Hütten 16,76 Millionen t Roh- eisen aus 37.8 Mill. t Eisen- und Eisen-Mangan- erzen, sowie 0,7 Mill. t Manganerzen erzeugt, wo- von 25,9 Mill. t aus Deutschland stammen und 11,9 Mill. t aus dem Ausland eingeführt werden mußten, die sich folgendermaßen verteilen: Schweden 4,2 Millionen t Spanien 3,7 „ Frankreich und Algier 3,0 „ Rußland 0,4 „ Manganerze wurden aus Rußland (0,43 Mill. t), Indien (0,18 Mill. t), Spanien und Brasilien (0,085 Mill. t) eingeführt. Diese Zahlen zeigen die große Abhängigkeit der deutschen Eisenhüitenindustrie vom Ausland. Von den Eisenerzdistrikten Deutschlands sind nach dem Stande vom Jahre 1913 folgende größere Bezirke von Bedeutung: 1. Der deutsch-loth ringische Min ette- bezir"k mit 21,13 ^'1^- t Erzen Förderung (3 1 ,66 "/g Eisen) = */^ der gesamten Eisenerz- produkiion. 2. Der Siegerländer Bezirk mit 2,73 Mill. t Erz (35.13 7o Eisen) =Vio der ge- samten Eisenproduktion. 3. Der Lahn-Dill-Bezirk mit 1,1 Mill. t Erz (41,96 "/p Eisen) = Vi» der gesamten Eisen- produktion. 4. Der Bezirk von Peine-Salzgitter (subhercynischer Bezirk) mit 0,92 Mill. t Erz (30,23% Eisen) ='/3i der gesamten Eisenproduk- tion. Die deutschenEisenerze sind nur arme und mittlere Erze. Mittlere Erze zwischen 40 und 55 % Eisen treten zurück (1,13 Mill. t), während den Ausschlag die eisenarmen Minetten liefern, welche von selten der ausgezeichneten deutschen Berg- und Hütten- industrie mit Vorteil gewonnen und verarbeitet werden können. Die Haupterzgruppen verteilen sich mineralogisch folgendermaßen: Minetten 21,14 Mill. t mit 3i,66''/o Eisen, Brauneisen mit weniger als 12 "/^ Man- gan 3,01 Mill. t mit 34,14% Eisen, Brauneisen mit 12 — 30% Mangan 0,33 Mill. t mit 22,86% Eisen, Spateisen 2,86 Mill. t mit 33,54% Eisen, Roteisen 1,1 Mill. t mit 42,75% Eisen. Von ganz besonderer Bedeutung ist der Mangan- gehalt im Brauneisen und im Spateisen. Unsere Hütten haben während des Krieges ihren wichtigen Manganbedarf nicht durch Manganerze, sondern durch die genannten Eisenerze gedeckt. Der Eiseninhalt der geförderten deutschen Eisenerze betrug im Jahre 191 3 8,4 Mill. t; dazu kommen 2,04 Mill. t aus Luxemburg, so daß die Erze des deutschen Zollgebietes rund 10,5 Mill. t Eisen enthielten. Qualitätseisen, das hauptsächlich aus Spat-, Rot- und Brauneisenerz gewonnen werden kann, nimmt einen auffallend geringen Anteil ein. Nach dem Phosphorgehalt entfallen mehr als '•'|^ der deutschen Eisenerze auf die Thomaserze mit 2 % Phosphor. Phosphorarme Bessemererze mit 0,08 bis höchstens 0,1 % Phosphor hatten wir nur 3,15 von 28.6 Mill. t, so daß also Deutschland Mangel an den für Qualitätseisen nötigen Bessemer- erzen leidet. Die im Jahre 19 13 eingeführten I I Mill. t Eisenerze verteilen sich auf 55 % Thomas- erze und 45 % Bessemererze. Von besonderer Wichtigkeit ist der Abschnitt über die deutschen Eisenerzproduktions- gebiete und ihre Lebensdauer. 1. Der deutsch - lothringische und luxemburgische Minettebezirk. Es ist der wichtigste deutsche Eisenerzbezirk mit den Erzlagern im unteren Dogger. Das ge- samte deutsche - luxemburgische - französische Minettegebiet ist im Osten der lothringischen Hochebene gelegen und 10 — 30 km breit, 50 — 60 km lang(N-S). Auf Deutschland entfallen davon 43 000 ha, auf Frankreich 61000 ha. Die Gesamtproduktion des Gebietes betrug 191 3 47 Mill. t Erz, davon aus DeuUch-Lothringen 21,1 Mill. t, Luxemburg 7,3 Mill. t, Französisch-Lothringen 18,5 Mill. t. Das deutsche Gebiet mit seinen tiefen Erosionstälern teilt man ein in die Hochebene von AumetzArs- weiler nördlich der Fentsch, das Gebiet zwischen Fentsch und Orne, sowie südlich der Orne; das luxemburgische Gebiet in die Becken von Esch- Rümelingen-Düdelingen und das Becken von Belvaux Lamadelaine. Der Erzgehalt der deutschen Minette betrug im Jahre 1913 31,6%. Zu Beginn des Jahres 1917 ergab sich unter Berücksichtigung eines Abbau Verlustes von 10% ein gewinn- barer Vorrat von 1777 Mill. t, der in 45 Jahren erschöpft sein dürfte. 2. Der Siegerländer Spateisenbezirk. Der zweitgrößte deutsche Eisenerzdistrikt mit einer großen Anzahl von Spaieisensteingängen in den Siegener Schichten des Unterdevons zwischen Siegen und Betzdorf Die Spateisensteingänge sind zuoberst zu Brauneisen oxydiert. Der Eisengehalt des Siegerländer Eisenspates beträgt 34 — 38%; dazu kommen 5,7 bis 7,6% Mangan und etwa 0,05 % Phosphor. Die Erze werden geröstet, wo- durch ein Röstspat von 50 % Eisen und 6 — 9 % Mangan entsteht. Vorhanden sind bis 1200 m Tiefe III Mill. t, bis 1300 m Tiefe 124.7 Mill. t, die sich unter Berücksichtigung von 10% Abbauver- lust auf 99,9 Mill. t bzw. 112,7 Mill. t verringern. Der Siegerländer Bezirk dürfte den Höhepunkt seiner wirtschaftlichen Entwicklung mit 2,7 Mill. t Höchstförderung im Jahre 191 3 erreicht haben, so daß sich eine Lebensdauer von 37 bzw. 42 Jahren ergeben dürfte. 3. Der nassauische Lahn- und Dill- bezirk. Die Roteisenerze treten in der Lahn- und Dill- mulde an der Grenze vom Mittel- zum Oberdevon in Verbindung mit Schalsteinen, Diabasen und N. F. XVIII. Nr. 20 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 285 Kalken auf. Die bergmännische Gewinnung und Vorratsberechnung ist durch Faltungen und zahl- reiche Störungen beeinflußt. Das Roteisenerz hat 41 — 48% Eisen- und geringen Phosphorgehalt. Daneben kommen unregelmäßige Manganerzvor- kommen als junge Verwiiterungsprodukie auf dem Massenkalk vor. Die Vorratsberechnung vom Jahre 1910 hat sich als zu hoch erwiesen. Die Vorräte betragen in der Dillmulde 90 MiU. t Rot- eisen, wovon heute nur 42 Mill. t abbaufahig sind, jene in der Lahnmulde 63 Mill. t, wovon 43 Mill. t abbauwürdig sind. Im ganzen sind es 85 Mill. t, die sich nach Abzug von 10% Abbau- verlust auf 76,5 Mill. t verringern. Von den Vor- räten an manganhaltigem Brauneisen sind 15 Mill. t abbauwürdig, 33 Mill. t vielleicht später. Die Lebensdauer dürfte bei 1,43 Mill. t Jahresförderung für Roteisen 66 Jahre , für Brauneisen 32 Jahre betragen. 4. Der subhercynische Bezirk (Peine- Sa 1 z g i 1 1 e r). Die Lagerstätten gehören dem Ilseder und Salzgitterer Eisenhorizont der Kreide an. Bei Usede kommen die Erze an der Basis der Oberen Kreide inP^orm von Trümmererzen (Braun- eisenkonglomerate) in 2 Mulden vor, in denen das Erzlager eine Mächtigkeit von 8 — 20 m bzw. 5 — 1 1 m hat. Der Eisengehalt beträgt 30 7o, der Phosphorgehalt 0,8— 1,9 "/g, der Mangangehalt bis i4 7o- Die Salzgitterer Erze finden sich als neokomes Eisensteinkonglomerat nördlich von Goslar rings um den Salzgitterer Höhenzug. Die Mächtigkeit schwankt von wenigen bis 60 m. Der Eisengehalt beträgt 35— 4070. der Phosphorgehalt 0,3 — i "/o- Die Vorräte betrugen 19 17 zusammen 300 Mill. t, von denen 270 Mill. t abbaubar sind und bei einer höchstmöglichen jährlichen Förderung von 2 Mill. t 135 Jahre betragen würden. 5. Ihrem Anteil an der deutschen Förderung entsprechend sind folgende Bezirke von geringerer Bedeutung: Vogelsberger Basalteisenerzbezirk, Taunusbezirk mit der Lindener Mark und die übrigen unbedeutenden hessischen Lagerstätten — die Eisenerziagerstätten des Weser- und Wiehen- gebirges und des Teutoburgerwaldes — der Thürin- gisch Sächsische Bezirk — der Harzer Bezirk — der Schiesische Bezirk — der Bayerische und Württembergisch-Badische Bezirk — der Aachener Kohlenkalkbezirk — der Bergische Eisenerzbezirk — die Raseneisenerze Nord- und Mitteldeutschlands. Noch nicht in Angrifif genommen sind die Bent heimer Eisenerzlagerstätten (brot- laibförmige Sphärosideritkonkretionen mit 45 "/q Eisen in den Tonen des Aptiens) im Westen des Beckens von Münster und die Erze der Fränki- schen Alb zwischen Nürnberg und Kulmbach (alte Verwitterungsdecken mit 38 "/o Lisen), die jedoch keine weseniliche Produktionszunahme ver- ursachen würden. Der gewinnbare Gesamteisenerz - Vorrat Deutschlands beträgt 2,3 Milli- arden t. Der wichtigste deutsche Eisenerzbezirk, das deutsch - lothringische Minettegebiet wird in 45 Jahren erschöpft sein, der zweitwichtig- ste des Siegerlandes und Nassaus in 32 — 66 Jahren. Die Bodensiändigkeit der deutschen Eisenindustrie ist somit eine kurzlebige. Deutschland ist des- halb für die Versorgung seiner Eisenhütten auf die Eisenvorräte benachbarter Länder angewiesen. Frankreich gehört zu den eisenreichsten Ländern der Welt. Das französische Minette- gebiet hat einen Vorrat von 2,65 Milliarden t. Es ist über anderthalb mal so groß wie das deut- sche Minettegebiet. Infolge einer schwachen Fal- tung zerfällt es in einzelne Becken und zwar im S. Nancy, dann nach einer Lücke von 25 km Briey mit den Spezialbecken von Orne, Landres, Tucque- gnieux und Crusnes und im N. Longwy. Die französische Minette enthält im Durchschnitt 5 "/o Fisen mehr als die deutsche Minette. Die Minette von Nancy und Longwy ist kieselig, die- jenige des Brieybeckens kalkig. Die N o r m a n d i e ist mit 4,7 Milliarden t eines der eisenreichsten Gebiete der Welt. Die Erzlager finden sich im Untersilur und haben eine ähnliche geologische Position wie die Chamosite des Thüringer Waldes. Der Eisengehalt beträgt 45 "/o. Bei entsprechender Organisation mit Ausbau des Hafens von Caen kann der Distrikt wesentlich mehr leisten als das Minettegebiet. Von Bedeutung sind weiterhin die Erzlager- stätten von Dielette und Flamanville, von A n j o u und Bretagne, von Perigord, Lot (Do rdogne), in den Ostpyrenäen und für die Zukunft in Algier und Tunis. Der Gesamteisenerzvorrat Frank- reichs beträgt mindestens 8,3 Milliarden t, über- trifft also um mehr als das Dreifache den deutschen Eisenerzvorrat. Dazu kommt, daß der Bedarf Frankreichs wesentlich geringer als der deutsche ist. Frankreich lührte im Jahre 191 3 von seiner 21,5 Mill. t betragenden Produktion 8,3 Mill. t aus (13,2 Mill. t verbrauchte das Inland), während Deutschland 1 1 Mill. t aus dem Ausland einführen mußte. Frankreich vermag spielend seinen Bedarf aus der Normandie zu decken, bedarf deshalb gar nicht der französisch-lothringischen Minette, die unseren Hütten zugute käme. Brasilien hat gute Roteisenerzlager mit einem Vorrat von 2 Milliarden t im Gebiet von Minas Geraes. Franzosen und Engländer haben bereits eigene Bahnen im Erzdistrikt gebaut, was auch von uns verfolgt werden muß. Schweden hat gewaltige Magneteisenerzlager in Eruptivgesteinen in Lappland mit über 60 "/o Eisen, außerdem bedeutende Vorkommen in Mittel- schweden. Wichtige Bergwerksorte sind Kiruna, Gellivare und Grängesberg. Die Vorräte betragen 1,2 Milliarden t. Rußland und Polen haben eine gewisse Bedeutung für die oberschlesische Eisenindustrie. Hinsichtlich der Manganerze ist wichtig das Vorkommen von Tschiatura im Kaukasus, das 286 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 20 ein 2 m mächtiges Manganerzlager mit 50 "/g Mangan im Eocän enthält. Die Vorräte betragen HO Mill. t, die Produktion von 1913 600000 t, von denen aliein 433 ooo t nach Deutschland gingen. Es ist also eine direkte Lebensfrage für Deutsch- land. Eine zweite weniger wichtige russische Mangan- erzlagerstätie ist diejenige von N i c o p o 1 mit einem I — 1\'., m mächtigen Lager im Oligocän. Brasilien hat vor dem Kriege 250 000 t Erze mit 50 % Mangan an Deutschland geliefert. Die Vorräte smd erheblich. Außerdem kamen noch bedeutende Mengen von Manganerzen aus Indien. Nach alledem ist Deutschland unbe- dingt auf die französische Minette an- gewiesen. Seinen Manganerzmangel wird es am besten durch kaukasische Erze decken. Glänzend stehen wir hinsichtlich der Kohlen- vorräte da, die nach einer etwas optimistischen Schätzung von j Geh. Rat Frech 1500 Jahre reichen werden, während England in 2 — 3 Jahr- hunderten, Belgien in 4 Jahrhunderten erschöpft sein dürfte. V. Hohenstein, Halle. Bücherbesprechungen. Kuhnert, Wilhelm, Im Lande meiner Mo- delle. Mit 24 Steinzeichnungen, 8 farbigen Tafeln und zahlreichen Federzeichnungen. Leip- zig 191 8, Klinkhardt & Biermann. Als ichWilhelmKuhnerts, unseres besten afrikanischen Tiermalers, letzthin erschienenes Werk „Im Lande meiner Modelle" in die Hand nahm, geschah es mit einem starken Mißtrauen, das sich wohl aus dem Gefühl ableitete, es han- dele sich um eins der vielen überflüssigen Jagd- bringt eine Überraschung, neue- Beobachtung in- timer Züge afrikanischen Tierlebens, die oft nur mit der größten persönlichen Aufopferung zu sammeln waren, und alle mit dem Stempel echte- ster Naturwahrheit und reinsten Naturempfindens. Der passionierte Jäger wird durch den liebevollsten Beobachter der vielgestaltigen ostafrikanischen Fauna zurückgedrängt, die noch so unendlich viel der Abwechslung und des Neuen bietet. Und neben der Schilderung großer und kleiner bücher mit ihrem üblichen Inhalte an langatmigen Jagdabenteuern. Kuhnert, den ich schon lange wegen seiner prachtvollen, leider viel zu wenig gewürdigten afrikanischen Tierbilder und Tier- skizzen schätzte, hat sich meines Wissens litera- risch noch nicht betätigt. Und nun hier als Erstlingsgabe ein Werk, das man schlechthin die beste Schilderung afrikanischer Tierwelt in Wort und Bild nennen kann, weit hinausragend über das bekannte Jagdbuch von Schillings „Mit Blitzlicht und Büchse'' oder von Dugmore „Wild, Wald und Steppe", die ja gleichfalls ostafrikani- sche Tierwelt schildern. Jede Seile seines Werkes Tiere die Zeichen seiner packenden, treffsicheren Kunst verschwenderisch und in vorzüglichen Wiedergaben, meist in einem neuen Druckverfahren, über das Werk verstreut. Eine Fülle eindrucks- voller Tierbilder, entzückender kleiner Vignetten bieten eine Augenweide, an der man sich kaum sättigen kann. Das Land der Modelle ist nach der Bilderseite das beste Werk, das seit vielen Jahren über Deutschostafrika erschienen ist. Pinsel, Kohle und Feder ersetzen, von der Hand eines seine Modelle Tag und Nacht belauschenden Künstlers geführt, überall die unpersönliche Photo- graphie. Jedes Bild offenbart uns neue Feinheiten. N. F. XVIII. Nr. 20 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 287 Mögen die breitbeinig gestellten Giraffen auf der Steppe äsen, die Löwen auf kahler Felsplatte mit lauit-m Gebrüll ihren abendlichen Raubzug in das Wildland unter ihnen ankündigen, riesige Nashörner der Ruhe pflegen, die langhörnigen Oryxantilopen im Schatten aller Bäume der flimmernden Tages- hitze entfliehen, der trotzige Büffel in Urkraft lauernd im Sumpfe stehen, Zebras über die blumige Steppe ziehen, die Herde der Elefanten im Ge- birgswald vernichtend hausen, ein Bild nach dem anderen ein echtes Naturdokument reifsten male- rischen Könnens, das pulsierendes Leben darstellt. Text und Bilderschmuck bilden eine Vereinigung, wie sie besser nicht zu wünschen ist, das (ianze zugleich ein naturwissenschaftliches und ein natur- schilderndes Werk von höchstem Reiz. iVlit der Schilderung seiner Modelle verbindet sich eine liebevolle feinsinnige Schilderung afrika- nischer Landschaft, so daß die Lektüre des Buches zum vollendeten Genuß wird, den auch der voll empfinden wird, der als „Nichtafrikaner" Kuhnerts Schrift zur Hand nimmt. Krenkel. Wilhelmi, S., Die angewandte Zoologie als wirtschaftlicher, medizinisch- hygienischer und kultureller Faktor. 8". 88 S. Berlin 1919, J. Springer. 5 M. In überaus, oft fast bis zur Schwerverständlich- keit gedrängter Sprache wird hier zum ersten Male der Versuch gemacht, eine Übersicht über das Gesamtgebiet der angewandten Zoologie zu geben, über ihre Bedeutung, ihre Aufgaben und ihre Ergebnisse, sich allerdings fast ausschließlich auf Deutschland beschränkend. Die erste Eintei- lung ergibt sich aus dem Titel. Bei der Wirt- schaftszoologie werden wieder unterschieden wasser- und landwirtschaftliche Zoologie. Von ersterer wird besonders eingehend der „Stoffhaushalt der Ober- flächengewässer" behandelt; für die hierher ge- hörigen Fragen sei die biologische Wasserbeur- teilung der chemischen Analyse bei weitem über- legen. Viel kürzer kommt dagegen das wichtigste Gebiet der wasserwirtschafilichen Zoologie, die Fischerei Zoologie, weg, ebenso die im 2. Kapitel behandelte landwirtschaftliche (Tierzucht, Nutz- und Schadtiere, Natur- und Tierschutz, Jagdzoologie). Sehr gründlich wird dagegen wieder die so un- gemein wichtige medizinisch- hygienische Zoologie behandelt, wobei auf die Gemeinsamkeit der Tier- und Menschen Medizin bzw. -Hygiene mit Recht hingewiesen wird. Unter „kultureller" Zoologie versteht Verf. die Popularisierung, den Unterricht, die zoologischen Gärten und Museen und die Liebhaberzoologie (Hunde-, Pierde-, Angel-, Brief- tauben- usw. -Sport, deren durchaus unberechtigte Vernachlässigung durch die Wissenschaft mit Recht beklagt wird); ob man aber das alles als „ange- wandte" Wissenschaft betrachten darf, erscheint Ref. doch etwas zweifelhaft. In den „Schluß- betrachtupgen" zählt Verf. die deutschen Institute auf, die sich bis jetzt mit angewandter Zoologie befassen und tritt lebhaft für Einführung letzterer als „einheitliches Lehrfach" an den Universitäten ein. Hiermit verlangt er wohl etwas Unmögliches. Der Umfang des Gebietes ist ein so ungeheuerer; es dringt so vielfach in Nachbarwissenschalten (Chemie, Botanik, Medizin, Erdkunde) ein, verlangt so viel praktisches Wissen (Tierzucht, Forst- und Landwirtschaft, Gartenbau), daß Einer unmög- lich das alles genügend beherrschen kann, um es als Universitätsfach zu hhren. Schon bei der kurzen, programmatischen Übersicht des Verfassers, dessen vieles Wissen auf diesem Gebiete man aufrichtig bewundern muß, merkt man doch sehr deutlich, welche Teile ihm mehr, welche weniger vertraut sind. Und bei dem umfangreichen, wert- vollen Literaturverzeichnisse (y'/o Seiten), noch mehr aber bei der im Texte zitierten Literatur hat man nur zu oft den Eindruck des Zufälligen. Auffällig ist u. a., daß unter den mit Fischerei sich beschäftigenden Instituten nicht die ,, Abteilung für Fischereibiologie" des Zoologischen Museums in Hamburg aufgeführt ist. An demselben Museum befindet sich auch eine Abteilung für Schädlings- kunde, und in seiner Schausammlung ist die an- gewandte Zoologie im engeren Sinne schon recht reichlich vertreten; im Ahonaer Museum ist eine geradezu glänzende Abteilung für Fischerei. Daß am Kolonialinstitut in Hamburg angewandte Zoologie in weitem Umfange hochschulartig ge- lesen wird, ist im allgemeinen noch so wenig be- kannt, daß man Verf. kaum einen Vorwurf daraus machen darf, es nicht erwähnt zu haben. So ließe sich natürlich noch viel zu der vorliegenden Schrift sagen, Berichtigendes und Zustimmendes; doch ist der Umfang einer Besprechung schon fast über- schritten. Zusammenfassend kann man nur sagen, daß wir dem Verf. für seine ausgezeichnete, nach vielen Seiten anregende Schrift dankbar sein müssen. Hoffentlich hilft sie die Mißachtung, die der an- gewandten Zoologie in den Kreisen der „reinen" Wissenschaft noch allzu oft zuteil wird, zu be- seitigen, und die ungeheuere praktische und theo- retische Bedeutung dieses Wissenschaftskomplexes in das richtige, verdiente Licht zu setzen. Reh. 2SS Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 20 Philippson, A., Kleinasien. Handbuch der Regionalen Geologie. 22. Heft. Band 5» 2. 1918. 183 Seiten, 3 Tafeln. Kleinasien, die massige, viereckig gestaltete Halbinsel, welche vom Rumpf Asiens westwärts vorspringt, bildet mit der Balkanhalbinsel zusam- men eine nur schmal unterbrochene Landbrücke zwischen Vorderasien und Europa, und über diese Landbrücke hinweg verbinden sich die Gebirge beider Erdteile, setzt sich die große Zone der jungen Faltengebirge, welche Asien von Osten nach Westen durchzieht, nach dem südlichen Europa hinein fort. Aber nicht die ganze Falten- gebirgszone hat in Kleinasien Platz, sondern dieses ist nur ein durch junge Dislokationen umgrenzter Ausschnitt aus jener Gebirgsregion, von der be- deutende Teile ringsum ins Meer abgesunken sind. Kleinasien, knapp 500000 qkm groß, ist fast ganz von Gebirgen und Hochebenen erfüllt; klein und zerstreut sind die Tiefebenen. Die Gebirgs- welt Kleinasiens hängt im Osten unmittelbar mit dem Hochland Armenien und durch dieses mit dem Hochland von Iran zusammen. Dagegen scheiden sich beide seitwärts scharf gegen die niedrigere syrisch mesopotamische Tafel ab. Der morphologische Grundzug Kleinasiens ist der Gegensatz zwischen dem großen geschlossenen Hochland, das den ganzen östlichen und mittleren Teil des Landes einnimmt, und dem zertrümmerten, reichgegliederten westlichen Teile westlich des Meridians von Konstantinopel. Das große Kleinasiatische Hochland wird im Norden und Süden zangenförmig von zwei Rand- gebirgen umfaßt, die es vom Meere abschließen und ihm dürren Steppencharakter aufprägen. Das Innere des Hochlandes wird von Hochebenen von 1000 m mittlerer Höhe eingenommen, über die sich zahlreiche inselartige Gebirge erheben. Der Küstensaum ist meist steil. Nur im Süden schließen sich zwei besondere Küstenvorländer an den Rand des Hochlandes an, Pamphylien und Kilikien. Das nördliche Randgebirge wird als Pontisches Gebirge zusammengefaßt; das südliche wurde von Kilikien bis Lykien als Tauros bezeichnet. Beide sind keine einheitlichen Gebilde. Unterschieden — und weiterhin ausführlich in ihren Einzelheiten be- sprochen — werden folgende Teile: der Nordosten mit dem ostpontischen Gebirge und dem Vulkan- gebiet des Arg-aios; der Südosten mit dem Tauros- system ; das Zentrum mit Sultan- und EmirDag, Lykaonischer Steppentafel und dem Plateau von Galatien ; der Nordwesten (das westpontische Ge- birge) mit dem Gebirgsland von Paphlagonien und Ostbithynlen, mit dem Propontischen Gebiet und der Zone des Mysischen Olymp; der west- liche Teil des inneren Hochlandes mit dem Hoch- lande von Nord Phrygien und dem Mysischen Ge- birgsland; das Agäische Kleinasien mit dem ost- ägäischen Faltengebirge, der Lydischkarischen Masse und dem Faltengebirge Südkariens; endlich die ägäisch - taurische Zwischenregion und die Insel Zypern. Für die Tektonik Kleinasiens ergibt sich, daß zwei Phasen der tektonischen Entwicklung zu unterscheiden sind: i. die wahrscheinlich schon im Mesozoikum einsetzende, dann aber besonders nach dem Eozän sich vollziehende und im wesent- lichen während des Oligozäns abgeschlossene junge Faltung; 2. die späteren, neogenquartären Dislokationen, die sich, von Nachfaltungen abge- sehen, als vertikale Bewegungen vollzogen haben. Es handelt sich dabei zum großen Teil um He- bungen und Senkungen von Schollen an Ver- werfungen. Jedoch spielen auch Aufwölbungen einzelner Gebirgsmassen, vielleicht auch Einmul- dungen von Senkungsfeldern eine Rolle, endlich auch epirogenetische Hebungen und Verbiegungen des ganzen Landes. Die technisch wichtigen Vorkommnisse der Erze und Nichterze werden zum Schluß besprochen. Eine geologische Übersichtskarte von fClein- asien in Schwarzdruck, eine solche der tektoni- schen Leitlinien wie der technisch wichtigen Vor- kommnisse sind sehr dankenswerte Beigaben des gründlichen Werkes. Krenkel. Literatur. S t r ak OS ch- Grassmann, G., Ernteaussichten von 191 9 bis 1923 und die Bedeutung klimatischer Perioden für Ge- schichte und Landwirtschaft. Ein Beitrag zur Gescluchte des abgelaufenen Krieges. Wien 1919, Manische Verlagsbuch- handlung. Mises, Prof. Dr. R. V., Fluglehre. Vorträge über Theorie und Berechnung der Flugzeuge in elementarer Darstellung. Mit 113 Texlabbildungen. Berlin 191S, J. Springer. Schlick, Moritz, Allgemeine Erkenntnislehre. Berlin 191S, J. Springer. 18 M. Li pp mann, Prof. Dr. E. O. v. , Entstehung und ."Vus- breitung der Alchemie. Mit einem Anhange: Zur ältesten Geschichte der Metalle. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte. Berlin 1919, J. Springer. 36 M. Steche, Prof. Dr. O. , Grundriß der Zoologie. Eine Einführung in die Lehre vom Bau und von den Lebenserschei- nungen der Tiere für Studierende der Naturwissenschaften und der Medizin. Mit 6 Textabbildungen und 40 mehrfarbigen Doppeltafeln. Leipzig 1919, Veit & Co. lulliill: Hans Heller, Die chemische Valenz in heutiger Auffassung. S. 273. B. v. F r e y b e r g , Die Genese des Wellen- kalks. S. 276. — Einzelberichte: Kraus, Saudek, Pregel, de Crinis, Serologische Vorherbestimmung des Geschlechts. S. 278. 'yVehmer, Leuchtgasbeschädigungen S. 280. Fr. Meves, Über die Spermien von Fucus und Chara. S. 281. E. Wunderlich, Allgemeine Obetilächenentwicklung des mitteleuropäischen Flachlandes. S. 2S2. Schumacher, Über die bergbauliche Entwicklung Mittelafrikas. S. 283. P. Krusch, Die Lebensdauer unserer Eisenerzlagerstätten und die Versorgung Deutschlands mit Eisen- und Manganerzen nach dem Kriege. S. 283. — Bücherbesprecbungen : Wilhelm Kuhnert, Im Lande meiner Modelle. (2 Abb) S. 286. S. Wilhelmi, Die an- gewandte Zoologie als wirtschaftlicher, medizinisch-hygienischer und kultureller Faktor. S. 287. A. Phili p ps on, Klein- asien. S. 2S8. — Literatur: Liste. S. 2S8. Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. M i e h e , Berlin N 4, Invalidenstrafle 42, erbeten. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert Sc Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S, Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue Folge i8. Band; der ganzen Reihe 34, Band. Sonntag, den 25. Mai igig. Nummer äl. Die Tiefenfauna unserer Alpenseen. {Nachdruck verboten.] Seit dem Erscheinen des meisterhaft ge- schriebenen Reiseberichtes über die deutsche Tief- seeexpedition, den der Führer der Valdiviafahrt C. C h u n unter dem Titel „Aus den Tiefen des Weltmeeres" veröffentlicht hat, sind die Bewohner ozeanischer Tiefen Gegenstand allgemeinen Inter- esses geworden. Neben der fabelhaften Fülle von Organismen, die da durch Leuchtorgane, bizzarre Formen usw. selbst dem Laien auffallen müssen, verblassen die unscheinbaren Bewohner größerer Seetiefen des Süßwassers derart, daß trotz der in den letzten Jahren reichlich hierüber erschienenen Fachliteratur meines Wissens noch kein Bericht über dieses Thema erschienen ist, der nicht für den Spezialisten bestimmt wäre, sondern zur Orientierung für den dienen soll, der nicht selbst auf diesem Gebiete arbeitet. Diesem Zwecke nun sollen die folgenden Zeilen dienen — soweit dies durch einen kleinen Artikel mög- lich ist. Die Erforschung der Tierwelt unserer Alpen- seen gehört der jüngsten Zeit an. Die durch Za- charias in Deutschland inaugurierten Plankton- untersuchungen fanden ihren Widerhall zunächst in der Schweiz. O. E. Imhof veröffentlichte im Zoologischen Anzeiger Listen von Planktonorga- nismen aus den verschiedensten Alpenseen und er verabsäumte auch nicht gelegentlich Schlamm- proben aus größerer Tiefe zu untersuchen und den Tierbestand derselben zu notieren. Die Er- gebnisse dieser ersten Stichproben aus der Tiefen- fauna waren nun keineswegs ermutigend, diesem Lebensbezirk weiterhin besondere Beachtung zu schenken; die ersten Mitteilungen ließen eher ver- muten, daß am Grund tiefer Seebecken nichts weiter zu finden sei, als versprengte Exemplare besonders resistenter Arten der Uferfauna, die höchstens durch Pigmentlosigkeit verrieten, daß sie aus einem besonderen, lichtlosen Lebensbezirk stammten. Imhofs Mitteilungen fallen in die 80 er Jahre. Den Stand unserer Frage in den 90 er Jahren kennzeichnet F. Foreis „Le Leman". Der Standpunkt, den der Begründer der Seenforschung auf Grund seiner im Leman gewonnenen Ergeb- nisse hinsichtlich der Tiefenfauna einnimmt, läßt sich kurz dahin präzisieren, die Tiefenfauna sei aus in die Tiefe gewanderten Litoralformen und solchen Arten zusammengesetzt, die aus unter- irdischen Wasserläufen in das Tiefenwasser ein- gedrungen sind — ein Ergebnis, das auch nicht für die Beschäftigung mit der grundbewohnenden Süßwassertierwelt zu erwärmen vermochte. Mit der Jahrhundertwende ändert sich das Von V. Brehm-Eger. Urteil Über die Fauna der Seetiefen. Zschokkes bahnbrechende Untersuchungen im Vierwaldstätter See ließen alle Versuche, die vor 1900 unter- nommen wurden, um Aufschluß über die Tiefen- fauna der Seen zu erhalten, als „Versuche mit un- tauglichen Mitteln" erkennen. Als untaugliche Mittel, um im Bilde zu bleiben, erwiesen sich nicht nur die Apparate zur Gewinnung des Ma- terials sondern vor allem die systematischen Ar- beiten jener Zeit über die in Betracht kommenden Tiergruppen. Es ist ganz gut möglich, ja sogar wahrscheinlich, daß auch früheren Untersuchern typische Tiefenformen untergekommen sind, aber sie wurden nicht als solche erkannt. Der Auf- schwung, den die Süßwasserbiologie gerade um die Jahrhundertwende nahm, hat hier Wandel ge- schaffen. Und mit der genaueren Kenntnis der Zusammensetzung der Tiefenfauna verband sich ein Wandel in den Anschauungen über die Her- kunft der Tiefenfauna. Die von Zschokke so vielseitig vertretene und verfochtene Ansicht, daß die Eiszeit auf die Ausgestaltung der Fauna der Alpenseen einen mächtigen Einfluß genommen habe, konnte auch die Anschauungen über die Tiefenfauna nicht unbeeinflußt lassen. Alle jene Elemente derselben, die heute im Litoral desselben Sees nicht vorkommen und auch nicht durch subterrane Gewässer zugeführt worden sein können, wurden als Bestandteile der Uferfauna aufgefaßt, die während der Eiszeit dort lebte und nach der Eiszeit die wärmere Uferregion verließ, um in der ewig kalten Seetiefe Zuflucht zu suchen. So ge- sellte sich zu den rezenten Einwanderern ein alter seit dem Ende der Eiszeit in der Tiefe ansässiger Zweig von Organismen, die Glazialrelikte, die in faunistischer Hinsicht gerade die bemerkenswerte- sten Mitglieder dieser Biocönose darstellen. Der grundlegenden Untersuchung des Vier- waldstätter Sees folgten weitere, wenn auch nicht gleich intensive, so doch für die Weiterentwick- lung dieses Spezialzweiges der Hydrobiologie sehr wichtige Studien an anderen Schweizer Seen, deren Gesamtergebnisse sich zu einem Werke verdichte- ten, das die Grundlage der gegenwärtigen biologi- schen Tiefenforschung darstellt, Zschokkes „Die Tiefenfauna der Seen Mitteleuropas" [Monogr. d. Intern. Revue IV. Leipzig 191 1]. Zur selben Zeit erschien eine Abhandlung über die Bodenfauna des Thuner und Brienzer See von Nils von Hofsten und im Anschluß daran entwickelte sich zwischen Zschokke und Hof- sten eine Polemik, die wesentlich zur Klärung der theoretischen Ansichten beitrug, während die 290 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVm. Nr. 21 ebenfalls zur selben Zeit von der biologischen Station in Lunz unternommenen Untersuchungen der Bodenfauna der Lunzer Seen zunächst einmal zur Erfindung sehr brauchbarer technischer Behelfe durch Dr. Ruttner führten und überdies eine extensive Fortsetzung der von der Schweiz aus- gegangenen Forschungsrichtung mit sich brachten. War somit jetzt genügendes Tatsachenmaterial beigebracht, um einen Vergleich zwischen den ost- und westalpinen Seebecken zu versuchen, so boten die in der Folgezeit von Thienemann an nord- deutschen Seen und von Sven Ekman am Vättern in Schweden ausgeführten Studien An- haltspunkte, um in die Ökologie der Tiefenfauna tiefer einzudringen. Es konnte so nicht ausbleiben, daß angeregt durch solche außerhalb der Alpen ausgeführte Untersuchungen die Erforschung der Tiefenfauna in den Schweizer Seen (leider aber nicht in den Ostalpen) unter Beachtung der neu gewonnenen Gesichtspunkte lebhaft und oft — ■ wie die soeben unternommenen Arbeiten am Neuen- burger See zeigen — mit ganz überraschendem Erfolge fortgesetzt wurde. Und damit ist der augenblickliche Stand der Angelegenheit charak- terisiert. Wir stehen jetzt im Zeichen einer exakten faunistischen Aufnahme der Tiefseeorganismen zahl- reicher Seen, durch deren Vergleich Licht gebracht werden soll in die Ökologie und die Entstehungs- geschichte dieser Tiergendssenschaft. Einer Darstellung der bisher gewonnenen wich- tigeren Ergebnisse sei eine Abgrenzung der Tiefen- region, sowie eine Charakterisierung des Milieus dieser Zone vorausgeschickt; ersteres, um einer von Ekman gelieferten terminologischen Kritik gerecht zu werden, letzteres, um eine Basis für die ökologische Darstellung zu gewinnen. Als Grenze zwischen litoraler Zone und Tiefen- region wird allgemein jene Isobathe angenommen, bei der infolge unzureichender Belichtung die grüne Vegetation ihr Ende erreicht. Daß diese Linie keine scharf markierte ist, liegt auf der Hand. Einmal wechselt die von der Transparenz des Wassers abhängige Lage dieser Linie von See zu See wegen der Transparenzverschiedenheiten ; dann aber stellen sich mit zunehmender Tiefe statt der kontinuierlichen, uferparallelen submersen Vege- tationsstreifen in vielen Seen unzusammenhängende Vegetationsinseln ein, bevor mit zunehmender Tiefe die Vegetation völlig verschwindet. Forel setzt diese Grenzlinie für den Genfer See bei der 25 m Isobathe fest, Hofsten findet im Thuner und Brienzer See die Grenze wegen des weniger durch- sichtigen Wassers in geringerer Tiefe und in den Ostalpen scheint der Beginn der Tiefenfacies bei noch geringerer Tiefe einzusetzen als im Thuner. bzw. Brienzer See. Für den Lunzer Untersee hat Dr. Ruttner Regelmäßigkeiten in der zonaren Gliederung der biologischen Facies festgestellt, die zumindest für die ostalpinen Seen als Paradigma gelten können. Hier folgen vom Land aus see- wärts aufeinander: i. die Emersions-Tolypothrix- zone, 2. die Schizothrixzone, 3. der Charagürtel, 4. der Elodeagürtel, 5. die Fontinaliszone, 6. der bereits inselartig zerstückelte Fredericellagürtel und 7. der Schweb, die Region des unbewachsenen feinen Grundschlamms. Die obere Grenze der Tiefenregion wäre in diesem Fall zwischen Pon- tinalis- nnd Fredericellagürtel anzusetzen, was der 10 m Isobathe entspräche. Gegen diese Auffassung hat vor kurzem Sven Ekman Einspruch erhoben. Er meint, man sei eigentlich gar nicht berechtigt, schon mit dem Aufhören der grünen Vegetation den Beginn der Tiefenregion anzusetzen; denn die Tierwelt, die hier haust, sei im großen und ganzen nur eine verarmte Litoralfauna. Die obere Grenze der wirklichen Tiefenregion, die er im Gegensatz zu der bisher behandelten „profunden" Zone als „abyssale" Region bezeichnet, beginne nach den von Korotneff am Baikal gemachten Erfahrungen erst bei 600 m Tiefe, so daß keiner der euro- päischen Seen eine wirkliche Tiefenfauna, eine abyssale Fauna im Sinne Ekmans aufzuweisen hätte. Für unsere Erörterungen hat die Ekman - sehe Diskussion eigentlich keine weitere Folge als eine kleine terminologische Änderung; wir müßten korrekterweise statt von der Tiefenfauna immer nur von der profunden Fauna sprechen, dabei implizite allerdings zugebend, daß unser Thema keinen selbständigen Lebensbezirk darstelle. Ich hoffe jedoch durch die folgenden Zeilen zu zeigen, daß im Begriff der profunden Fauna doch mehr steckt, als die Ekmansche Kritik ver- muten läßt. Wenn wir die ökologische Eigenart des „pro- funden" und des „abyssalen" Lebensbezirkes ver- gleichen, so erscheinen die Differenzen so gering, daß man auf die von Ekman geforderte reinliche Scheidung der beiden Regionen nicht eingehen möchte. Wohl ist der Druck bei lOOO m erheb- lich größer als bei 100 m — er nimmt bekannt- lich bei 10 m Tiefenzunahme pro qcm immer um I .Atmosphäre zu — aber die Erfahrungen an der marinen Fauna, die mit weit erheblicheren Druck- differenzen zu rechnen hat, lehrt, daß dieser Fak- tor eine relativ geringe Rolle spielt.') Tempera- tur- und Lichtverhältnisse zeigen im profunden und abyssalen Bezirk höchst unbedeutende Unter- schiede und die Verhältnisse im Chemismus des Wassers, speziell seinem Gasgehalt wechseln von See zu See, wie weiter unten noch zu erörtern sein wird, oft derart, daß die Verschiedenheiten zweier benachbarter gleichtiefer Seen in dieser Hinsicht viel krasser sein können, als zwischen zwei Seen, von denen einer etwa lOO und der andere lOOO m tief ist. Und doch beruht die Ekmansche Erörterung auf einem gut fundierten Tatsachenmaterial. Die Zusammensetzung der profunden und der abyssalen Süßwasserfauna zeigt einen tiefgreifenden Unter- ') Dies zeigt auch sehr deutlich, daß Pelopia Fehlmanni im Zimmeraquarium den gleichen Ablauf der Metamorphose zeigt wie am Seegrund. N. F. XVm. Nr. 21 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 291 schied. Wenn wir auch nicht mit Elcman an- nehmen wollen, daß die profunde Fauna bei näherem Zusehen sich in lauter Litoralformen auf- löse, so kann andererseits doch nicht geleugnet werden, daß profunde und abyssale Fauna in ihrem ganzen Wesen grundverschieden sind. Die Abys- saltiere des Baikal, wie die Tiefseefische aus der Gattung Comephorus, die Riesengammariden usw. nehmen sich ebenso fremd aus wie die Tiefsee- mollusken des Tanganjika, die schon zur Zeit ihrer ersten Auffindung wegen ihrer Ähnlichkeit mit Juraformen berechtigtes Aufsehen erregten. In diesen Fällen liegen jedenfalls sehr alte Typen vor, die in sehr alten und sehr tiefen Seebecken den Wechsel ganzer geologischer Epochen über- dauert zu haben scheinen. Nicht so sehr die große Tiefe als das hohe Alter dieser See- becken ist für das Vorkommen der abyssalen Formen verantwortlich zu machen. Gäbe es z. B. trotz der intensiven Akkumulation bei uns Alpen- seen von der Tiefe des Baikal, so wäre trotzdem in diesem keine Abyssalfauna zu erwarten, da das Alter der alpinen Seebecken viel zu gering ist, um solch uralte Typen zu erhalten oder um völlig Neues zu schaffen. Sehr richtig bemerkt E k m a n : „Die alte IVIeinung Foreis, daß die Tiefenzone jedes Sees ein Bildungszentrum neuer Arten ist, ist meiner Meinung nach nicht ganz unrichtig, nur ist bisher in den mitteleuropäischen Seen den neuschöpfenden Kräften die Zeit zu knapp zuge- messen, um erheblichere Resultate zu erzielen." Daß die relativ kurze Dauer des Tiefseelebens, für die man nach recht zuverlässigen Bestim- mungen durchschnittlich ein Alter von loooo Jahren wird ansetzen dürfen ^) immerhin so man- ches Neue geschaffen hat, wird im folgenden an mehreren Beispielen gezeigt werden. Mehr noch aber interessiert uns hier, was uns die Seetiefen der Alpen nach Zschokke aus früherer Zeit in die Gegenwart herübergerettet haben. Zur Illu- strierung dessen müssen wir einmal das Inventar der profunden Fauna vor Augen führen und kri- tisch beleuchten. Sven Ekman hat bereits eine solche Zusam- menfassung gegeben, die ihn zu dem Ergebnis führte, daß keine spezifischen profunden Arten existierten. Abgesehen von gewissen Kaltwasser- organismen, die aber unter geeigneten Umständen auch an anderen Örtlichkeiten — flache Gewässer des Hochgebirges oder der arktischen Region — wiederkehren, wird die profunde Fauna unserer Alpenseen durch eine Reihe von Spezies gekenn- zeichnet, die bisher nur in der profunden Region angetroffen worden sind. Allein Sven Ekman ist der Meinung, daß es sich hier nur scheinbar um ausschließlich der profunden Zone angehörige Arten handle. Denn der eine Teil dieser Arten bestehe nur aus Somationen (= Modi- fikationen Baurs), also um erblich nicht fixierte Formen, die ihre Merkmale verlieren, sobald sie unter gewöhnlichen Bedingungen kultiviert werden, während der andere Teil aus so seltenen, bisher meist nur je einmal gesehenen Formen besteht, daß man aus solchen Fällen keine Schlüsse ziehen könne. Der erste Ekmansche Einwand hat bereits für gewisse Molluskenformen eine experimentelle Stütze gefunden. Zumal die vielen Pisidien werden wohl nur Standortsmodifikationen sein sowie die verschiedenen Rhizopoden,') die als Tiefenformen namhaft gemacht werden. Nicht alle als var. ba- thycola oder dgl. beschriebenen Formen müssen aber zu dieser Kategorie zählen. So dürften unter den Entomostraken mancherlei vom Typus zwar nur wenig abweichende, aber erblich fixierte Tiefenformen existieren, so unter den Cantho- camptus-Arten verschiedene petites especes aus der staphylinus- und schmeili-gruppe oder die soeben von Monard aus dem Neuenburger See be- schriebene Peracantha Fuhrmanni. Es scheint also die kurze Dauer des Tiefenlebens in manchen Fällen doch zur Entstehung neuer, wenn auch vom Typus nur wenig entfernter Formen ausgereicht zu haben. Der zweite Einwand scheint mir auf Grund der letzten Forschungsergebnisse erheblich an Ge- wicht eingebüßt zu haben. Wohl sind manche der zuerst als profunde Organismen bezeichneten Arten nachträglich noch in seichterem Wasser entdeckt worden, wie die beiden Hofstenschen Turbellarien Castrada 4 dentata und C. spinulosa. Aber in den weitaus meisten Fällen hat eine solche Auffindung im Seichtwasser nicht stattge- funden, vielmehr hat die Entdeckung neuer Spezies in den großen Seetiefen durch die kürzlich durch- geführte Erforschung des Neuenburger Sees sich in unerwartetem Maß gesteigert; unter den 17 in der Tiefe dieses Sees neuentdeckten Arten bilden die 6 neuen Turbellarien, die 4 neuen Milben wohl eine nicht geringe Überraschung. Sie sind gewiß nicht als Modifikationen bekannter Uferformen auf- zufassen und stellen wohl den wichtigsten Be- standteil der profunden Fauna dar, soweit deren Sonderstellung als eigener vom Litoral getrennter Lebensbezirk in Frage kommt. Zu dieser Kate- gorie dürften gehören: Rhizopoda : Diplogromia Brunneri Tiirbcllaria : (Otomesostomum auditivum)*) {Plagiostomum lemani)*) Trigonostomum neocomense Lutheria minuta Provortex lacustris ^) de Geer: A Geochronology of the last 12000 years. XI. Congr. geol. Stockholm 1910. ') Murray bezeichnet sie als „directly produced by the influence of the abyssal conditions on each individual during its period of growth", eine Meinung, die jedoch Hofsten für zu schroff und einseitig ansieht. *) Die eingeklammerten Arten sind nicht ausschlieSlich Tiefenbewohner, aber für die profunde Zone so charakteristisch, daß sie mit genannt zu werden verdienten. 292 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 21 Opistomum lacustre Castrada monardi „ tridentata Mesostoma monorchis Acrorhynchus lacustris Rotatoria : Callidina progonidia Ostracoda: Cytheridea lacustris (Limnicythere sancti patricii) Leucocythere mirabilis Candona Studeri „ devexa Hydraclinidae : Xystonotus bidentatus Tiphys zschokkei Lebertia tauinsignata „ lacustris „ extrema „ sublitoralis Hexalebertia cf. theodorae aus dem Lunzer Untersee Soldanellonyx parviscutatus ,, monardi Nematodes et Mermithides: Dorylaimus crassoides „ zschokkei „ bathybius Mermis pachysoma „ aorista Paramermis macroposthia „ contorta var. bathycola Limnomermis austriaca Oligochacta : (Stylodrilus zschokkei) ( „ heringianus) (Tulifex ferox) „ heuscheri „ barbatus Überblicken wir diese Liste, so fällt das Vor- wiegen bestimmter Gruppen auf, der Turbellarien und Hydrachniden, eventuell noch der Mermithi- den; dabei ist ferner sonderbar, daß diese Arten nahezu insgesamt den Schweizer Seen angehören. Man könnte dies vielleicht auf die unzweifelhaft viel intensivere Durchforschung der Westalpen zurückführen. Allein einige Beispiele hätten doch wohl auch in den Ostalpen gefunden werden müssen, da dort ja auch einige Seen von Spezia- listen untersucht wurden, die z. T. • — z. B. IVIiko- letzky über Nematoden — sehr detaillierte Unter- suchungen an umfangreichem Material durch- führten und doch von den typisch profunden Formen der Schweiz nichts finden konnten, so z. B. um bei der besonders gut studierten Gruppe der Nematoden zu bleiben, keine der im vor- stehenden Verzeichnis genannten Nematodenarten. Dieser Unterschied der ost- und westalpinen Ge- wässer zeigt sich übrigens auch an Beispielen, wo an ein Übersehen gar nicht zu denken ist. Keine der so genau ausgeführten Schweizer Arbeiten meldet das Vorkommen des Canthocamptus Wier- zejskii, der in den Ostalpenseen eine der gewöhn- lichsten Arten der profunden Fauna darstellt. Doch sehen wir zunächst einmal von diesen geographischen Differenzen ab und legen wir uns die Frage vor, wie diese typisch profunden Arten genetisch zu deuten sind. Bei dem geringen Alter unserer Alpenseen ist an alte Relikte nicht zu denken. Es ist kaum eine andere Auffassung dieser Arten möglich, als daß sie in die kalte Tiefe gewanderte glaziale Litoraltiere sind, denen die ökologischen Verhältnisse der Uferzone in postglazialer Zeit den Aufenthalt im Seichtwasser unmöglich machten. Im Gegensatz zu den häufigen und oft auch oberhalb der profunden Region ge- fundenen Arten — wie Otomesostomum, Limni- cythere usw., die wohl während des Glazials eine ausgedehnte Verbreitung aufwiesen — sind diese vereinzelt gefundenen Arten wohl Überbleibsel mehr stenotoper auch während des Glazials geo- graphisch auf kleine Areale beschränkter Arten, deren schon im Glazial in ihrer horizontalen Ver- breitung gegebene Stenotopie Schuld daran sein mag, daß sie heute außerhalb der profunden Re- gion keine Heimstätte besitzen. Im Gegensatz zu den minder scharf eingeengten Arten, die uns die landläufigsten Typen der glazialen Fauna repräsen- tieren, mögen diese seltenen Arten keinen charakte- ristischen Zug im Bild der eiszeitlichen Fauna ab- gegeben haben, aber sie dürfen bereits in den kommenden Jahren wertvolles Material abgeben zur Rekonstruktion einer genaueren zoogeographi- schen Gliederung der glazialen und präglazialen Fauna. Das Bild, das uns von dieser bisher durch die fesselnde Darstellungsgabe Zschokkes ent- worfen wurde, hat bisher vorwiegend die domi- nierenden Formen berücksichtigt, die ja auch allein für die Charakteristik ausschlaggebend sind. Zum weiteren Eindringen in die Genese unserer Fauna wäre es aber erwünscht, auch in die Sonder- züge einzelner Faunenbezirke der Vergangenheit Einblick zu bekommen. Verhoeff hat in den letzten Jahren durch Untersuchungen an Diplo- poden Licht in dieses Gebiet gebracht. Die „diplo- podenhafte Langsamkeit", wie Zschokke treffend sagt, seiner Untersuchungsobjekte hat uns vielfach einen Status quo erhalten, der bei anderen Orga- nismen in loooo jähriger Wanderschaft längst be- seitigt wurde. Können nun auch unsere profunden Arten an Langsamkeit nicht mit den Diplopoden konkurrieren, so ist ihre Beschränkung auf die Tiefenregion eines Wasserbeckens ausreichend, um eventuell alte Verbreitungsgebiete erschließen zu können. Scheinen sich schon nach den bisherigen Unter- suchungen innerhalb des Alpengebietes viele Be- zirke endemischer Tiefenformen unterscheiden zu lassen, so sind die Unterschiede noch weit erheb- licher, wenn wir entlegenere Seengebiete zum Ver- gleich heranziehen, wozu uns Ekmans umfang- reiche Abhandlung über die Bodenfauna des Vät- tern eine günstige Gelegenheit gibt. Da über- rascht uns zunächst die große Zahl neuer Mer- N. F. XV7II. Nr. 21 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 293 mithiden, von denen alle gefundenen neu waren, im ganzen 7 Arten: Paramermis falcipenis, brevipenis, vergipenis, leptipenis, clavipenis, dann Mermis lituipenis und longipenis. Dies Ergebnis erinnert sehr an die Entdeckung der vier neuen Mermithi- den in der Tiefe des Neuenburger Sees. Während jedoch der Neuenburger See überdies eine Fülle neuer profunder Turbellarien lieferte, war im Vättern aus dieser Gruppe keine neue Form vertreten. Bezüglich der Nematoden hatten wir gefunden, daß die Schweizer Seen mehrere durch ihre Größe auffallende endemische Arten besitzen, die den ostalpinen Seen fehlen. Ähnlich den Schweizer Seen scheint auch die schwedische profunde Fauna durch den Besitz großer Formen gekennzeichnet zu sein, darunter sogar ein endemi- sches Genus: Vetteria robusta. Die Hydra- chnideiit'auna, die in der litoralen Zone durch einige neue Arten vertreten ist, bot in profunder Zone eigentlich nur eine neue ArfGnaphiscus ekmani; dafür zeigten sich außerdem einige Kaltwassertypen, die durch verschiedene kleine Abweichungen sich vom Typus entfernten : M i x o - lebertia Hofsteni und Hygrobates albinus, beides Arten, die Beziehungen zur Schweizer Fauna erkennen lassen, da Mixolebertia Hofsteni der M. helvetica sehr nahe steht und Hygrobates albinus in Gegensatz zu der im Vättern vorherr- schenden var. suecica in den westalpinen Seen durch dem Typus gleichende Kolonien ver- treten ist. Hat so die Erforschung des Vättern Beiträge zur Kenntnis der endemischen Tiefenarten geliefert, die für die genetische Behandlung der Tiefenfauna bedeutsam sein werden, so hat sie auch durch Feststellung gemeinsamer Züge zur Behandlung desselben Thema wertvolle Beiträge geliefert, in positiver wie in negativer Hinsicht. Die fast in allen Alpenseetiefen lebenden Tur- bellarien Otomesostomum auditivum und Plagio- stomum lemani, dann die Ostracoden Cytheridea lacustris, Limnicythere sancti patricii kehren im Vättern ebenso wieder, wie die bisher nur aus den Seen der Schweiz bekannte Leucocythere mirabilis.^) Mit den Schweizer Seen teilt der Vättern den Mangel charakteristischer Harpacti- ciden, so vor allem des in den Ostalpenseen un- vermeidlichen Canthocamptus Wierzejskii. Man hat nur zu oft und viel die passive Über- tragung als Erklärungsfaktor herangezogen, wenn man zoogeographische Kapitel der Limnobiologie zu behandeln hatte. Für profunde Formen wird man nicht so leicht sich dieses deus ex machina bedienen können und darum kommt ihnen wohl für die Zoogeographie eine besondere Bedeutung zu, die sich bereits in dem häufigen Auftreten endemischer Arten äußert und der profunden Fauna auch einen höheren Wert als Beweismaterial sichert. Extensive faunistische Arbeiten über diesen Lebensbezirk müssen daher als dringendes Erfor- dernis für die nächste Zukunft gewertet werden, um die Entstehungsgeschichte der profunden Tier- welt aufzuhellen. Momentan ist diese Arbeits- richtung durch die ökologischen Studien Thiene- manns und Ekmans etwas in den Hintergrund gedrängt worden, deren zum Schluß auch noch gedacht werden soll, da auch sie für die genetische Behandlung von Bedeutung sein wird. Während die Temperatur-, Licht-, Druck- und Strömungs- verhältnisse im profunden Wasser viel weniger Einfluß auf die Organismen in demselben aus- üben, als man bis vor kurzem glaubte — es sei in diesem Zusammenhang nochmals daran erinnert, daß die Metamorphose der Pelopia Fehlmanni am Grunde des Luganer Sees ebenso lang dauert wie in einem Versuchsaquarium des Laboratoriums — zeigten die Studien der genannten beiden Forscher, wie völlig anders das Bild der profunden Fauna bei geänderten Verhältnissen des Gasgehaltes des Tiefenwassers bzw. bei wechselnder Bodenbeschaf- fenheit sich gestalten kann. Dabei stellt sich heraus, daß mancher charakte- ristische Zug, der sich zunächst als geographische Eigenartigkeit darstellt, ökologischer Natur ist. So stellte Thienemann zuerst fest, daß die profunde Fauna der norddeutschen und dänischen Seen durch Mückenlarven aus dem Genus Chi- ronomus gekennzeichnet ist, rote Larven mit Blutkiemen, wie sie ähnlich in Abwässern auf- treten, während auf dem Grund der subalpinen Seen Larven von Tanytarsiden leben. Daß hier nicht die geographische Sonderung der Wohn- gebiete den Unterschied bedingt, zeigten alsbald weitere Untersuchungen in den Eifelmaaren, wo unmittelbar benachbarte Seebecken teils dem Ty- pus der,,Chironomus-Seen", teils dem der„Tanytar- siden-Seen" angehören; Thienemann fand da, daß die Maare, deren Grund von Chironomus bathophilus bevölkert wird, sehr sauerstoffarm sind, während die von der Tanytarside Lauter- bornia coracina bewohnten Maare 0„ -reiches Bodenwasser aufweisen. Diese Trennung von Chironomus- und Tanytarsus-Seen hat sich als eine nicht nur lokale Erscheinung herausgestellt und verspricht in der weiteren Durcharbeit noch man- chen für die Erforschung der Tiefenfauna wichtigen Aufschluß zu geben, zumal dieser Unterschied auch auf das Plankton seinen Einfluß ausüben dürfte. Auf dem Gebiet der marinen Zoologie war von allem Anfang an der Unterschied zwischen abyssalem Plankton und abyssaler Bodenfauna ge- geben. Bei der lakustren Organismenwelt schien der Begriff eines Tiefenplanktons überflüssig,^) so daß man unter profunder Fauna immer nur Bodenfauna verstand. Nun hat R u 1 1 n e r jüngst darauf aufmerksam gemacht, daß im Lunzer Ober- ') Gerade diese weiter verbreiteten Arten sind es, die unter geeigneten Umständen auch oberhalb der profunden Zone im Litoral vorzukommen pflegen. ') Bythotrephes longimanus könnte höchstens in Betracht kommen; doch auch er kommt bekanntlich bei Nacht zur Oberfläche, 294 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 21 See in einem nahezu O^- freien Tiefen wasser ein aus Eisenbakterien und eisenspeichernden Trache- lomonaden zusammengesetztes Tiefenplankton existiert, das ohne Zweifel mit derOo-Zehrung bzw. mit der Eisenfällung dieser Region in Zusammen- hang steht. Die Untersuchung der im Grund- schlamm dieses Gewässers lebenden Larven steht noch aus, es ist zu erwarten, daß Vertreter der Chironomusfacies dort leben werden, deren Existenz sonach mit der physiologischen Eigenart des profunden Plankton kausal verknüpft sein wird. Die alpinen Seen haben sich vorwiegend als Tanytarsus-Seen erwiesen; doch macht Thiene- m a n n darauf aufmerksam, daß im Vierwaldstätter See das Urner Becken, das den Charakter eines Chironomus-Sees haben dürfte, eine Sonderstellung gegenüber den übrigen Teilen des genannten Sees einnimmt. Noch viel weitgehender können die faciellen Unterschiede in ein und demselben See- becken sein, wenn wir die Qualität des Schlammes in Rücksicht ziehen. Als klassisches Beispiel müssen da die von Ekman am Vättern ge- wonnenen Ergebnisse gelten, die überdies als die ersten quantitativen Untersuchungen dieser Art ökologisch bedeutsam sind und uns einen un- erwarteten Einblick in die Bedeutung der pro- funden Organismen im Haushalt der Natur liefern. In höchst instruktiver Weise hat Sven Ekman die faciellen und quantitativen Unterschiede ver- schiedener Bodenregionen zur Darstellung gebracht, indem er auf 8 Tafeln von 2^/3 qdm Fläche alle auf einem Bodenstück von gleicher Größe er- beuteten Tiere in natürlicher Größe zur Abbildung brachte. Die erste Tafel, die den Tierbestand auf festem Glazialton, also auf harter glatter Unter- lage, im Vättern wiedergibt, erscheint auf den ersten Blick nahezu leer, da auf der großen weißen Fläche nur eine winzige Candona und ein Cyclops Platz zu finden brauchten. Ganz anders zeigt sich die bildliche Darstellung der Tiefenfauna, die in 112 m Tiefe auf Gyttja lebt (= koprogener Schlamm, überwiegend aus organischen Substanzen gebildet). 182 Individuen, die 17 verschiedenen Arten angehören, mußten auf der 2'/2 qdm großen Tafelfläche eingezeichnet werden und der erste Blick lehrt, daß die in etwa 1 50 Exemplaren ver- tretenen Oligochäten hier tonangebend sind. Die Zahlen wie die Bilder sprechen da eine beredte Sprache. Erst so lernen wir die Bedeutung der Oligochäten, Nematoden und Insektenlarven als Stoffumsetzer, Bildner organogener Sedimente usw. richtig einschätzen. So sehr auch die Qualität des Untergrundes die Bodenfauna hinsichtlich ihres Artenbestandes und ihrer quantitativen Entwick- lung beeinflußt, so verdankt die profunde Fauna dieser iVIilieueigentümlichkeit doch keineswegs ihr Dasein. Auch Ekman findet nach Prüfung aller ökologischen Faktoren der Seetiefe, daß die kon- stant tiefe Temperatur der F'aktor ist, der der profunden Tierwelt ihre Sonderstellung einräumt, die demnach großenteils aus Glazialrelikten be- steht, Dadurch wird es vielleicht auch verständ- lich, daß mit zunehmender geographischer Breite der besondere Charakter der profunden Fauna abnimmt. Wie der Vättern haben auch die schottischen Seen nicht viel Besonderes geliefert. Im Norden sind ja auch im seichteren Wasser die Temperaturverhältnisse vielfach derart, daß glaziale Tierformen in demselben fortkommen können, so daß die Unterschiede zwischen pro- funder und Seichtwasserfauna sich mehr und mehr verwischen. In südlichen Breiten hingegen muß sich diese Differenz um so schärfer ausprägen, weil die außer der Tiefenregion möglichen Re- fugien für Glazialrelikte, nämlich Hochgebirgssee, Gebirgsbach, Höhlengewässer keineswegs für alle Arten leicht erreichbar waren. So wird eine Aus- wahl von Glazialrelikten nur in der profunden Zone vorfindbar sein, während andere z. B. Le- bertia rufipes auch im Hochgebirgssee, ja selbst im Alpenbach vorkommen können. Es steht also zu erwarten, daß die Seetiefen auch die schwerfälligsten und zur Verbreitung ungeeignet- sten Elemente der Glazialzeit, die sonst überall ausgestorben sind, in unsere Tage herüberretten konnten. Es sind das aber gerade die Arten, die wegen ihrer geringen Eignung zur Verbreitung, schon in ihrer primären Heimat stenotop, also von beschränkter geographischer Verbreitung ge- wesen sein werden, was die oben angedeutete Bedeutung dieser Elemente für zoogeographische Fragen erkennen läßt. Vielleicht spielt dabei noch ein auch von Ekman ventilierter, aber als noch nicht spruchreif bezeichneter Umstand eine Rolle, nämUch der geringere Kampf ums Dasein in der Tiefe. Nicht nur der ökologischen Sonderstellung wegen verdient die profunde Fauna der Süß- wasserseen mehr Interesse als ihr bisher entgegen- gebracht wurde, sondern auch als ein Lebens- bezirk, der weit mehr als alle anderen in der Lage war Bestandteile der Glazialfauna zu er- halten, die bereits im Glazial bzw. unmittelbar vor demselben beschränkte Verbreitung besaßen. Eine vergleichende Aufnahme der Tiefenfauna weiterer Gebiete wird uns vielleicht in den Stand setzen, das in seinen Grundzügen bereits so ziem- lich feststehende Bild der glazialen und prägla- zialen Fauna durch viele Detailzüge, die das Lokal- kolorit an sich tragen, feiner herauszuarbeiten, dabei auch unsere genetischen Anschauungen ver- tiefend. Überblick über die wichtigste im vorstehenden Artikel ver- wendete Literatur: Borner, L. , Die Bodenfauna des St. Moritzer Sees. Stuttgart 191 7, Schweizerbart. Brehm, V., Die Fauna der Lunzer Seen. Int. Revue Hydrobiol. 1914. Ekman, Sven, Die Bodenfauna des Vättern. Int. Revue Hydrobiol. 1915. Ders. , Allgemeine Bemerkungen über die Tiefenfauna, ibidem 1917. Fehl mann, W., Die Tiefenfauna des Luganer Sees, ibidem Suppl. 1912. Forelj F. A., Le Leman. Lausanne 1892 — 1904. N. F. XVIII. Nr. 21 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 295 Hofsten v. Nils, Zur Kenntnis der Tiefenfauna des Brienzer und Thuner Sees. Archiv f. Hydrobiol. 191 1. Monard, A. , Sur la fauna profonde du Lac de Neu- chätel. Revue Suisse 1919. Micoletzky, H., Zur Kenntnis d. Feistenauer Hinter- sees. Int. Revue Hydrobiol. 191 1. Meixner, J., Zur Turbellarienfauna der Ostalpen sp. des Lunzer Seengebietes. Zoolog. Jahrbücher v. Spengel. Abt. Syst. 38. Bd. 191 5. Ruttner, F., Bericht über die Planktonuntersuchungen an den Lunzer Seen. Int. Revue Hydrobiol. 1914. Thienemann, A., Zusammenhang zwischen Sauerstoff- gehalt des Tiefenwassers und Zusammensetzung der Tiefen- fauna. Int. Revue Hydrobiol. 1913. Zschokke, F., Die Tiefenfauna des Vierwaldstätter Sees. Luzern igoS. — Die Tiefenfauna der Seen Mitteleuropas. Leipzig 191 1. — Leben in der Tiefe der subalpinen Seen Überreste der eiszeitlichen Mischfauna weiter? Archiv f. Hydrobiol. 1913. Humanistische Vorbildung [Nachdruck verboten] Von Prof. Dr. phil. et med. L. Unsere Fortschritte auf dem Gebiete der Natur- wissenschaften und der Technik im letzten Jahr- hundert, und besonders in der Neuzeit, beruhen auf realwissenschaftlicher Grundlage. Da diese greif- bare Vorteile bringen, erscheinen die Naturwissen- schaften der Allgemeinheit bedeutend wichtiger als die nur ideellen Geisteswissenschaften. Daß letztere aber, vor allem die Phylosophie, die not- wendige Voraussetzung für die Fortschritte unseres Wissens bildeten, wird von der überwiegenden Mehr- heit der heutigen Menschheit zu leicht vergessen. Entsprechendes gilt auch für die Wertschätzung der für nötig, bzw. für überflüssig, gehaltenen Vor- bildung zum Studium naturwissenschaftlicher Fächer und der Medizin. Auch in maßgebenden Kreisen ist in gewissen Punkten, so für die Be- stimmungen zum Studium der Medizin in Deutsch- land, eine derartige Erwägung ausschlaggebend gewesen. Es sei mir im Folgenden gestattet, kurz dar- zulegen, daß nach meiner persönlichen Erfahrung während langjähriger' Tätigkeit als Forscher und Lehrer das humanistische Gymnasium der Realschule als Vorbereitungsanstalt auch für das naturwissen- schaftliche und das medizinische Studium, nich- nachsteht, sondern ihr gegenüber sogar bedeutende Vorzüge hat. Gerade im „Stein des Anstoßes", nämlich im Studium von Latein und Griechisch, scheinen mir dieselben gegeben zu sein. Seit es eine Wissenschaft gibt in den letzten Jahrhunder- ten und bis heutigentags, war und ist es Gebrauch, die Forschungsergebnisse in Ausdrücken der toten Sprachen, Latein und Griechisch, d. h. international verständlich und auch unabhängig vom Wandel der Zeit niederzulegen. Gottes- Gelahrtheit und Rechts- wissenschaft haben von jeher sich diesen Vorzug zu Nutzen gemacht, wofür theologische und juri- stische Folianten übergenug Beispiele enthalten. Aber auch Naturwissenschaften und Medizin, als Realwissenschaften par excellence, greifen bei der Bildung ihrer Fachausdrücke auf lateinische und griechische Wurzeln zurück. Beispiele aus der Anatomie, Pathologie, Bakteriologie, usw. dürften sich für den Fachmann erübrigen. Die Physik rechnet mit Dyne, Erg, usw. und die Namen für Maß- und Gewichtseinheiten führen auf lateinische oder griechische Stammwörter zurück; die Therapie wendet Transfusionen, Antitoxine, Roborantia, u. dgl. und realistisches Studium. Kathariner, Freiburg (Schweiz). an ; die Chirurgie behandelt Frakturen, Luxationen, Hernien, u. dgl. Eine Transplantation ist autoplas- tisch, homoio, heteroplastisch, usw. In der Syste- matik der Botanik und der Zoologie ist nach der binären Nomenklatur für jede neue Art ein Gat- tungs- und ein Artname lateinischen oder griechi- schen Stammes vorgeschrieben. Von Tausenden der- artiger Bezeichnungen greife ich beliebig heraus: Diplozoon paradoxum und Gyrodactylus elegans, zwei Außenschmarotzer, Ektoparasiten, unserer Süßwasserfische. Bei der ersten Art sind zwei In- dividuen kreuzweise miteinander verwachsen, und der Rand der kreisförmigen Haftscheibe am Hinter- ende der zweiten Art trägt jederseits 8 fingerförmige Läppchen. Ein unserem Totenkopfschwärmer ver- wandter Falter heißt Acherontia satanas, weil sein Brustschild eine einer Teufelsfratze ähnliche Zeichnung trägt. Eine Gattung tropischer Kletter- fische, welche an Gesträuch, Bäumen, usw. empor- steigen, heißt Anabas, und eine Art derselben A. scandens. Die am ganzen Körper mit Wimper- haaren bedeckten Wimpertierchen, Ciliata, bilden die Ordnung der Holotricha; größere Wimpern umrahmen bei den Infusorien einer Gattung der Heterotricha das Mundfeld, Peristoma, während sie bei den hypotrichen Infusorien auf der Unter- seite des Körpers stehen. Beispiele derart gibt es noch tausende ; meistens sind im Namen auch anatomische oder biologische Merkmale ausgedrückt und prägen sich leicht ein, wenn man sich den Namen sinngemäß übersetzt. Man wird sich des Vorteils einer humanisti- schen Vorbildung besonders dann bewußt, wenn es gilt, sich einen wissenschaftlichen Namen oder einen Fachausdruck zu merken ; besonders dann, wenn man Gelegenheit hat, zu sehen, welche, dazu oft noch vergebliche. Mühe jemand hat, dem die ent- sprechenden Wortstämme nicht geläufig sind. Für einen Systematiker in Botanik und Zoologie ist jene Gedächtniserleichterung geradezu eine „Lebensfrage". Und wie anders steht der Lehrer eines biologischen Fachs dem Schüler gegenüber da, wenn er ihm Aufschluß über die Ableitung eines Namens geben kann ! Mag selbst bei der Namen- gebung eine falsche Ansicht zugrunde gelegen haben, so prägt sich der neue Name deshalb doch unserem Gedächtnis besser ein. Ich denke hier an einen nordafrikanischen 296 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVin. Nr. 21 Skorpion, welcher Androctonus funestus „unheil- bringender Männertöter" heißt. Obschon nun auch kein einziger verbürgter Fall vorliegt, wo ein Skor- pionstich die unmittelbare Todesursache für einen gestochenen Menschen war, so bildet jener Name doch eine, wenn auch übertriebene, Warnung vor dem sehr schmerzhaften Stich des Tieres. Es liegt auf der Hand, daß für die Biologen eine humanistische Vorbildung deshalb kein überflüssiger Ballast ist, weil ihrer die modernen Biologen vielfach entraten. Es hat dennoch keiner der letzteren das utopistische Verlangen zu stellen gewagt, man sollte um der Moderne willen mit der jahrhundert- alten Tradition brechen. Treffliche Muster dafür, wie man einen syste- matischen Namen mundgerecht machen kann, bietet die Synopsis des Tierreichs von Leunis. Auch in der Anatomie gilt entsprechendes; man unterscheidet den Teil des Bauchfells, welcher die Wand der Leibeshöhle bekleidet, als parietales Blatt vom Überzug der Eingeweide, dem visce- ralen Peritoneum. Ein Blutgefäß ist von einer Intima ausgekleidet, der gerade Bauchmuskel, Musculus abdominis rectus hat Inscriptiones ten- dineae , der Schädel eine Tabula vitrea, als spröde Auskleidung, usw. Man sage nicht, die Bedeutung der Wörter könne man sich später, in der Studienzeit selbst, noch aneignen, denn es gilt auch hier das Sprich- wort : „Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmer- mehr". Außerdem könnte ein Mann seine Zeit nutzbringender verwerten, als nachzuholen, was er auf der Schulbank versäumt hat; zudem fehlt ihm die Gedächtnisfrische der Jugend, und er wird sich überdies, selbst beharrlichen Fleiß vorausge- setzt, schon oft genug zu spät jener Mängel be- wußt geworden sein, sei er nun als Forscher oder als Lehrer in naturwissenschaftlichen oder, und dann ganz besonders, in medizinischen Fächern tätig. Man kann keine Fachzeitschrift lesen ohne auf entsprechende Ausdrücke zu stoßen ; selbst im Anzeigenteil medizinischer Zeitschriften findet man alle möglichen — gene, — ine, usw. Die Fabrikanten von Heilmitteln führen ja für ihre Fabrikate mit Vorliebe wissenschaftliche Bezeichnungen. Ist der Name wortgetreu und sinngemäß so sagt er dem Wissenden so viel wie eine ganze Broschüre. Kurz wo wir hinsehen nichts als Fremdwörter. Weil es aber solche sind, möchten sie die moder- nen Sprachreiniger durch Vulgärausdrücke er- setzen. Dieses Beginnen ist aber nicht nur nicht praktisch ausführbar ohne Mißverständnisse oder langschweifige Erklärungen zu veranlassen, son- dern auch geeignet, vermeintliche Vielwisser — und wo gäbe es deren wohl mehr als in der Heilkunde — zu verleiten ihre Unkenntnis durch ein „wissenschaftliches Feigenblatt" dem Laien zu verdecken. Welcher Anatom wollte „Aufschneider" heißen, und wie könnte man die Bedeutung eines agamen, pro- und metagamen typischen ontogenetischen Entwicklungsstadiums als phylogenetische Reminiszens auch nur mit ebenso vielen Zeilen als hier mit wenigen Worten bezeichnen. Man darf natürlich verlangen, daß zur Bildung eines Fachausdrucks keine verkehrten Stammformen verwendet werden. So heißt aber z. B. ein kleines, nur mit dem Mikroskop wahr- nehmbares, Objekt mikroskopisch klein, ein mit bloßem Auge sichtbares dagegen makro- skopisch; und doch ist das Gegenteil von mikros /Ufxgog (/uixQog klein, megas (jueyag) groß, nicht makros (uayiQog) lang. Die Gewebe- lehre wird als Histologie bezeichnet, richtiger hieße sie Histiologie, da das Gewebe im griechi- schen Histion nicht Histon heißt. Welcher Miß- brauch wird mit — „oid" getrieben, obschon es doch streng genommen nur eine Formähnlichkeit bedeutet. Alteingewurzelte falsche Ausdrücke wie makro- skopisch ausrotten zu wollen , könnte nur ein wissenschaftlicher Don Quichote versuchen. Schon bei meinem Lehrer der Anatomie, A. Koellicker in Würzburg, hörte ich, daß der von sternum und clavicula zum Warzenfortsatz (Processus mastoideus) des Schädels ziehende Muskel, der M. sterno-cleido mastoideus, statt mit diesem Wortungeheuer be- zeichnet zu werden, besser sterno-cleido masticus genannt würde. Der Professor der Pathologie E.Rindfleisch (Würzburg) verfehlte nicht, darauf aufmerksam zu machen, daß knochenbildendes, also ossifizierendes Bindegewebe fälschlicherweise „osteogenes" Binde- gewebe genannt würde. Aber, wie gesagt, es ist schwer ja schier unmöglich, einen falschen Aus- druck auszumerzen und durch einen richtigen zu ersetzen. Daher: „Prinzipiis obsta" ! In diesem Sinne ist es mit Dank zu begrüßen, wenn manche Verff. der neuen Auflagen unserer Lehrbücher sich bemühen, Fremdwörter sprachlich korrekt wiederzugeben ; umso bedauerlicher ist es aber, wenn die systematischen Namen germanisiert werden. Germanisieren kann der Leser selbst, viel wertvoller ist für ihn die sprachlich richtige Form. Wie viel leichter ist die Lektüre der Fach- literatur für den einigermaßen etymologisch ge- schulten Leser als für den, der dazu, oft noch vergebens, jeden Terminus mit Hilfe des Lexikons zu enträtseln bestrebt sein muß. Das mögen die Schüler an einem humanistischen Gymnasium be- denken. Auch dem Verf. war die Übersetzung von Bedingungssätzen aus dem Deutschen ins Griechische in den Probearbeiten der oberen Klassen des Gymnasiums in Fulda kein beson- deres Vergnügen und Bedingungssätze mit h oder laf erforderten mitunter Kopfzerbrechen. Er hätte damals nicht gedacht: „Forsan et haec olim meminisse juvabit"! ') Es kann nicht be- stritten werden, daß die wissenschaftlichen Fach- ausdrücke häufig genug Wortschönheit vermissen lassen und daß der Philologe an ihrer Bildung mit ') Er hätte freilich ebensowenig geglaubt, daß er dereinst seine Autobiographie mit dem Hexameter schließen könnte : ,,Incidit in Scyllam , qui vult evitare Charybdim". Er tröstet sich aber mit: „post nubila Phoebus". Scienti sati N. F. XVni. Nr. 21 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 297 Recht manches auszusetzen hätte ; dies gilt nament- lich da, wo zur Bildung des Begriffs unnötiger- weise zugleich ein griechisches und ein lateinisches Stammwort verwandt wurde. Es entsteht dann eine griechisch lateinische Mißgeburt. Daß das Mönchslatein sich nicht durch Klassizität auszeichnet, ist allgemein bekannt. Einer meiner Lehrer am Gymnasium sprach bei der Kritik unserer lateini- schen Aufsätze häufig von „Küchenlatein". Für die nicht viel bessere Terminologie in Biologie und Medizin müßte ein neuer Ausdruck gebildet werden. Das sollten sich namentlich jene Forscher vor- halten, welche im Begriffe sind, einen neuen Fach- ausdruck zu prägen, ohne die nötige literarische Vorkenntnis zu besitzen; denn ein Fehler kann hier unausrottbar werden. Im Vorhergehenden wurden nur jene Vorzüge humanistischer Vorbil- dung betont, welche literarischer, also relativ nebensächlicher Natur, sind. Unendlich wichtiger aber ist es, daß sie den Schüler befähigt und dazu antreibt, sich ein gutes Fundament für seine Fachbil- dung zu legen. Die Kultur der Gegenwart wurzelt ja in der Philosophie des Altertums und unsere natur- wissenschaftlichen Kenntnisse führen auf das Alter- tum bzw. das Mittelalter zurück. Alle großen Bio- logen haben eine klassische Schulzeit durchgemacht, und jeder jetzige Jünger der Wissenschaft, welcher sich auf das Studium einer Realwissenschaft vorbe- reitet, getrieben durch die Liebe zur Wissenschaft selbst, nicht um des schnöden Mammons willen, muß es so halten, will er sich eine gediegene All- gemeinbildung erwerben. Erst der Bau, dann die Stuckatur! Das Manchestertum hat ja in der Gegenwart, zumal in der jüngsten, Vertreter ge- nug! Glücklich, wer von sich sagen kann: „Omnia mea mecum portol" Einzelberichte. Physiologie. Der Aktionsstrom der Netzhaut. Mit 5 Abbildungen. Der sog. Aktionsstrom in einem Sinnesnerven gilt bekanntlich bei Tierver- suchen meist als das sicherste Anzeichen einer stattfindenden Empfindung. Daß man diese Lehre aber, wenn sie wirklich etwas besagen soll, sehr viel schärfer fassen muß, vergegenwärtigt uns eine Arbeit von Lothar Tirala: „Die physiologischen Vorgänge in der Netzhaut und ihre Deutung auf Grund neuerer Methoden." i) Der Verf. beginnt mit ausführlichen geschicht- lichen Erörterungen. In diesen erinnert er an den von E. du Bois-Reymond entdeckten Ruhe- oder Bestandsstrom, der zum Beispiel in einem die Hornhaut des Auges mit dem Sehnerven- Querschnitt verbindenden Leiter von jener zu diesem hin fließt, während erst Holmgren 1878 die bei Belichtung des Auges sich einstellenden Schwankungen dieses Stromes, den sog. Aktions- strom, entdeckte. Diese Erscheinungen wurden in den achtziger Jahren mit dem Galvanometer, um 1900 mit dem Kapillarelektrometer und seit 1908 mit dem Saitengalvanometer, also mit zu- nehmend feineren Instrumenten, untersucht. Aus den früheren, mehr oder weniger zu Übereinstim- mung führenden Ergebnissen sowie aus denen des Verf. ergibt sich als Verlauf der Stromschwankung etwa die in untenstehender Abb. i dargestellte Abb. I. ') Archiv für Anatomie und Physiologie, physiologische Abteilung, 1917, Heft III und IV, Seite 121 bis 165, I Tafel. Kurve, wenn Punkt x der Beginn der Belichtung» Punkt z die Wiederverdunkelung des Auges be- zeichnet; die zuerst eintretende kleine negative Stromschwankung A nennt Tirala die Ände- rungsschwankung, B die Belichtungs- schwankung, H die Helligkeitsschwankung und V die Verdunkeln ngssch wankung. Die Frage, ob diese Kurve, wie das ja bei jeder Kurve rein mathematisch möglich ist, in mehrere zu zerlegen sei, ob also verschiedene Prozesse Teilströme erzeugen, die sich in ihrer Wirkung summieren, ist wiederholt erörtert wor- den; insbesondere hat Gotch um 1900 darauf aufmerksam gemacht, daß im Auge zwei Sub- stanzen vorhanden sein könnten, deren eine auf Licht, die andere auf Dunkelheit reagiere; dies könne es erklären, daß die positive Belichtungs- und Verdunkelungsschwankung mit deutlich ver- schiedener Latenzzeit eintreten. Die Frage, ob dem Netzhautstrom der Ablauf einer Gesichtsempfindung entspreche, steht von vornherein auf dem Boden des psychophysischen Parallelismus. Exner hat dagegen schon darauf hingewiesen, daß die rein energetische Kurve der Zersetzung einer lichtempfindlichen Substanz deut- lich verschieden ist von der Kurve des Verlaufs der Lichtempfindung und diese Kurve deutlich unterschieden von der Kurve des Netzhautstromes. Daher hat Piper 191 2 geäußert, daß wenigstens die Belichtungs- und Verdunkelungsschwankung in der Netzhautstromkurve nicht das physiologi- sche Korrelat einer Empfindung sei, weil wir selber bei Ablauf der Licht empfindung weder zu Beginn noch am Ende eine solche Besonder- heit wahrnehmen. Tiralas eigene Versuche an sorgfältig heraus- präparierten Froschaugen behandeln die Wir- kung von Chemikalien, insbesondere von Narcoticis, auf den Netzhautstrom. 298 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 21 Die hauptsächlichsten Ergebnisse werden in etwa folgende Sätze zusammengefaßt: Die Narcotica, Chloroform oder Äther, bringen die Netzhautströme zum Verschwinden. Aber selbst der Tod des Frosches durch Narcotica tritt lange vor dem Momente ein, in welchem der Netzhautstrom er- lischt. Zuerst verschwindet die Belichtungs- schwankung, später die Verdunkelungsschwankung. Beide werden nicht nur kleiner, sondern auch ihre Latenzzeiten nehmen zu. Die Latenzzeit der Verdunkelungsschwankung beträgt knapp vor dem Erlöschen etwa die Hälfte der Latenzzeit der Be- lichtungsschwankung. Die Schwankungen können nach der Entfernung des gasförmigen Narkotikums wiederkehren, doch erreichen sie nie mehr die ursprüngliche Höhe. Andere vom Verf. verwen- dete Gifte, Alkohol, Blausäure, Strychnin und Pilokarpin, schädigen die Netzhaut nach einer kurzen Steigerung ihrer Erregbarkeit. Strychnin bewirkt für kurze Zeit eine elektive Vergrößerung der Verdunkelungsschwankung. JVIorphin und Atropin erwiesen sich als unwirksam. Atropin vermag jedoch den durch Pilokarpin zum Ver- schwinden gebrachten Netzhautstrom wieder in die Erscheinung treten zu lassen. Als allgemeinere Schlüsse sind namentlich folgende beachtenswert : zunächst, daß die Gang- lienzellen und die von deren Neuritenfortsätzen gebildete Nervenfaserschicht der Netzhaut an der Entstehung der Netzhautströme nicht be- teiligt sind, weil letztere noch bestehen, wenn das Nervensystem bereits in tiefer Narkose liegt. Es spricht vielmehr vieles dafür, daß die Ströme in derSchicht derStäbchen undZapfen entstehen, vor allem der Umstand, daß nach Erlöschen der bei Ableitung vom Nervus opticus bemerkbaren Ströme zu einer Zeit, wo der Nervus opticus an sich noch erregbar ist, sich die Ströme noch bei Ableitung von der Außenfläche des Augapfels gewinnen lassen, ein Beweis, daß in- zwischen eine Schicht zwischen Stäbchenzapfen- schicht und Nerv, offenbar die Ganglienzellen- schicht, abgestorben ist, ohne die Netzhautströme zu verändern ; man muß sie dann nur gewisser- maßen wo anders zu fassen wissen. Wir entnehmen hieraus, daß die Netzhaut- ströme durchaus nicht den Weg der physiologischen Nervenleitung in der Netzhaut gehen. Die somit in den Stäbchen und Zapfen ent- stehenden Ströme sind aber nicht'durch Zer- setzung irgendwelcher Sehsubstanzen bedingt; denn, sagt T i r a 1 a , dem widerspräche ihre Wieder- kehr nach Schwinden der Narkose oder nach Pilo- karpin- und Atropinwirkung. Viel eher ist der Netzhautstrom ein Ausdruck der Lebens- tätigkeit der Sehzellen, der Stäbchen und Zapfen. Die Nichteinheitlichkeit des Netz- hautstromes ergibt sich ferner aus der schnelleren Wirkung der Narcotica auf die Belichtungs- gegen- über der Verdunkelungsschwankung, aus der ver- schiedenen Vergrößerung der Latenzzeit bei diesen beiden und aus der elektiven Wirkung von Strych- nin auf die Verdunkelungsschwankung. Wohl aber können, und werden wahrscheinlich, die Ver- dunkelungs- und die Änderungsschwan- kung einerlei Art sein, Tirala erblickt in diesen beiden einen Ausdruck der Erregung der Stäbchen, und zwar mit Ishihara, der darauf hinwies, daß bei intermittierender Lichtreizung die Stromkurve stetig wird, bei 20 Lichtreizen in der Sekunde, falls lediglich der Stäbchenapparat ar- beitet, also beim dunkeladaptierten oder beim Nachtvogelauge, aber erst bei 40 Lichtreizen, falls der Zapfenapparat mitarbeitet — im helladaptier- ten und im Tagvogelauge. Für die Belich- tungsschwankung bleibt dann die Deutung übrig, sie sei ein Ausdruck der Erregung der Zapfen. Die Helligkeitsschwankung schließlich, welche bei schwachen Reizen, die aber sicher eine Lichtempfindung erregen, nicht auftritt, hat wahr- scheinlich mit der Sehempfindung selbst nichts zu tun, sie fehlt ferner bei Tieren wie Schildkröten und Tagvögeln, die der Stäbchen und des Seh- purpurs ganz oder nahezu entbehren, wird auch bei helladaptierten Augen vermißt und dürfte da- her,— Verf. stellt diese Hypothese auf — das photoelektrische Korrelat der Zer- setzung des Sehpurpurs sein. Abb. 2. .\bb. 3. Abb. 4. Abb. 5. Die Kurve des sog. Aktionsstroms der Netz- haut würde sich also aus folgenden Komponenten 2:usammensetzen, Abb. 2 bis 5 : Abb. 2 stellt die Reaktion der Stäbchen auf Lichtreiz, Abb. 3 die der Stäbchen auf Dunkelreiz dar, Abb. 4 die Re- aktion der Zapfen auf Licht und Abb. 5 die Zer- setzung des Sehpurpurs im Hellen und seine Wiederbildung im Dunkeln. V. Franz, Jena. Über das Verhalten von Fischen gegen Wasser- schwingungen. Die Frage nach dem Hörvermögen der Fische ist bekanntlich immer noch höchst um- stritten. Zahlreichen rein negativen Ergebnissen von Versuchen, durch Schallreize unter Ausschal- N. F. XVIII. Nr. 21 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 299 tung anderweitiger Erschütterungen Reaktionen von Fischen hervorzurufen, stehen einige vereinzelte, aber sehr bestimmt gehaltene positive Angaben gegenüber. So will H. N. M a i e r durch Pfeiftöne Fluchtreaktionen des amerikanischen Zwergwelses, aber auch nur dieser Art, veranlaßt haben; Haempel hat gleichfalls Fluchtversuche nur bei dieser Fischart beim Ertönen einer Glocke im Innern eines im Wasser stehenden Hohlzylinders bemerkt. Nach einer kurzen Angabe Pipers wäre bei Schallwirkungen imHörnerven vonSchollen nament- lich in der Nähe der Otolithen ein Aktionsstrom als sicherstes Anzeichen einer Empfindung zu be- merken gewesen ; aber es ist ja nach anderweitigen Forschungen gar nicht so ganz sicher, daß ein Aktionsstrom in einem Sinnesnerven immer in dieser Weise gedeutet werden müsse. Die Frage nach dem Hören der Fische ist weiterhin ver- wickelt durch die vergleichend-anatomischen Ver- hältnisse, denn das Hörorgan der Warmblüter, die Schnecke, fehlt den Fischen, weiterhin durch physikalische, denn wo mag für einen Fisch die Grenze zwischen Schallwirkungen und Erschütte- rungswirkungen sein? — endlich durch biologische, denn während die einen sagen, im Wasser gäbe es nichts wesentliches zu hören, weisen die anderen auf das starke Leitungsvermögen des Wassers für Schallwirkungen hin und können auch betonen, im Wasser gäbe es vieles zu hören, etwa das Rauschen der kleinsten Strömungen, nur sei es für uns schwer, die hier für einen Fisch in Be- tracht kommenden Schallreize ausfindig zu machen. Mit der Frage der adäquaten Reize beschäftigt sich zunächst auch R. du Bois-Reymond in einer Arbeit, ') die alsdann beachtenswerte Beob- achtungen mitteilt. Der Verfasser erinnert an Yerkes, der durch Schallreize verschiedenster Art keine Bewegung eines Frosches erzielen konnte, gleichwohl aber das Hörvermögen des Frosches nach Anzeichen aus dessen Lebensweise keinen Augenblick bezweifelt und schließlich durch einen Schallreiz nicht eine Bewegung, wohl aber eine Bewegungshemmung erzielte, ferner an Pütt er und an E d i n g e r , die beide die negativen Er- gebnisse als nicht beweisend hinstellen, und unter denen der letztere bekanntlich an anderer — nicht an der von du Bois-Reymond heran- gezogenen — Stelle sich so ausdrückt: Fische oder Frösche mögen wohl hören, aber die von uns in den Versuchen angewendeten Schallreize, wie zum Beispiel Pistolenschüsse, Glockentöne, Pfeifen, besagen ihnen nichts oder so wenig, wie uns eine chinesisch geschriebene Warnungs- tafel etwa besagen könnte, und daher riefen sie keine Reaktion hervor. Du Bois-Reymonds Beobachtungen sind folgende: es waren zu anderweitigen Zwecken Stahlplatten von 6 mm Dicke und 45 cm Durch- ') R. du Bois-Reyraond, Über das Verhalten von Fischen gegen Wasserschwingungen. Archiv für Anatomie und Physiologie, physiologische Abteilung, Jahrgang 1917, Seite 30 — 36. 1918. messer hergestellt worden, die durch einen Elektro- magneten in Schwingungen von 0,1 mm Amplitude versetzt wurden. Sie gaben dabei einen sehr lauten quietschenden Ton. Auch unter Wasser wurden diese Stahlplatten in Schwingungen versetzt, und zwar in etwa 0,8 m Tiefe, wo man bei dem hellen Sonnenlicht das Verhalten der dort zahlreich sich tummelnden kleinen Barsche genau beobachten konnte. Die F'ische kümmerten sich gar nicht darum, ob die Stahlplatte in tönender Bewegung war oder nicht, sondern schwammen ruhig und langsam hin, auch dann, wenn die Stahlplatte in dem Augenblick plötzlich zum Tönen gebracht wurde, wo sich Fische, durch auf die Stahlplatte gestreute Regenwürmer angelockt, ganz in deren Nähe befanden. Dabei war der Schall von über- wältigender Stärke und wie der einer Dampfpfeife einen Kilometer weit in der Runde zu hören. Brachte der Beobachter jedoch beim Schwimmen die Ohren unter Wasser, so war für ihn in 5 Metern Entfernung von der Schallquelle der Ton so laut, daß es unangenehm war, ihn länger als einige Sekunden zu ertragen, man bemerkte „ein dröh- nendes und zugleich schneidendes Geräusch, das den ganzen Kopf erzittern machte und die Vor- stellung erweckte, als würden Teile des Schädels gewaltsam gegeneinander verschoben und ins- besondere die Zähne des Oberkiefers aus ihren Alveolen herausgeschüttelt." Die scheinbare Unempfindlichkeit der Barsche war um so merkwürdiger, alsdieSchallschwingungen auch eine merkliche Erschütterung des Wassers mit sich brachten : etwa 30cm überder schwingenden Stahlplatte fühlte die Hand ein starkes Prickeln wie von faradischem Strom, das jedoch bei der sorg- fältigen Isolierung des Apparates nicht von einem solchen herrühren konnte, sondern von an der Hand haftenden Luftbläschen, die unter der Wir- kung der Schallschwingungen schwingende Ver- änderungen erfuhren. In der Tat sahen kleine Luftblasen von Erbsen- oder Kirschkerngröße im schwingenden Wasser nicht glänzend durchsichtig aus, wie sonst, sondern, offenbar wegen ihrer schnellen und nicht einzeln sichtbaren Schwingungen, neblig oder milchig trübe, und sie perlten nicht zur Oberfläche herauf, sondern strebten an feste Gegenstände heranzustrudeln und klebten dann an ihnen fest. Daher konnte man die Luftblasen wie Stücke Schleim zwischen den Fingern halten und aus einer Hand in die andere nehmen und hatte von einer auf der Handfläche liegenden Luftblase eine Druckempfindung ähnlich wie von einem Quecksilbertropfen. Für dieses merkwürdige Ver- halten der schwingenden oder „pulsierenden" Luft- blasen gibt zwar du Bois-Reymond keine be- stimmte Erklärung, er erwähnt aber, daß bereits vor 18 Jahren Hensen') etwas ähnliches fest- gestellt hat, daß nämlich schwingende Flächen in Wasser oder Luft feste Körper selbst gegen be- ') Hensen, Über die akustische Bewegung in dem La- byrinthwasser. Münchener med. Wochenschr. 1899. S. 444. 300 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 21 trächtliche Widerstände an sich heranziehen. Nichts anderes werde hier vorliegen, wo ein schwingender Körper, die Luftblase, sich festen Flächen nähere und sich an sie herandrücke. An größeren Luft- blasen war übrigens dasselbe nicht zu bemerken. Bestünde nun der Körper der Fische ebenso wie die Hand des Menschen lediglich aus wasser- haltigem Gewebe, so könnte man, führt du B o i s - Reymond aus, annehmen, sie werden die Schall- wellen ebensowenig empfinden wie die benetzte Hand, falls sie von Luftbläschen frei ist. Nun haben sie aber eine Schwimmblase voll Luft und müßten an ihr Ähnliches empfinden wie der Mensch an den Luftblasen auf der Hand. Als du Bois-Reymond seinen ganzen Körper der Einwirkung der Schallwellen im Wasser aus- setzte, hatte er eine sehr deutliche Empfindung im untersten Teil des Dickdarms, die stets mit Aus- und Einschalten des Stroms aufhörte und wieder begann und durchaus dem sogenannten „Gurren" des Darms entsprach. Offenbar wurde durch die Schwingungen des umgebenden Wassers eine „Pulsation" der im Darm eingeschlossenen Gasblasen herbeigeführt. Wenn entsprechende Empfindungen im Luftraum der Lungen nicht auftraten, so mag das daran liegen, daß es nicht möglich war, die Brust ebenso nahe an die schwingende Platte heranzubringen wie den unteren Teil des Leibes. Bei jenen Empfindungen fiel es du Bois- Reymond ferner auf, daß jedes Gefühl für die außerhalb des Körpers liegende Ursache der Empfindungen ausblieb, die „exzentrische Pro- jektion" versagte vollkommen, die Erschütterung kam durchaus nur als innerer Vorgang zum Be- wußtsein. Hierin erblickt nun du Bois-Reymond einen Fingerzeig für die Erklärung der schein- baren Unempfindlichkeit der Fische gegenüber so mächtigen Schallwirkungen. Auch die Fische nehmen die an ihrer Schwimmblase wohl unaus- bleiblichen Sinneseindrücke nur als innere Emp- findungen wahr, und daher rufen diese Reize keine sichtbaren Bewegungen, insbesondere keine Flucht- bewegungen hervor. So weit du Bois-Reymond. Für die Frage nach etwaigen Empfindungen des Gehörorgans der Fische sind diese Beobachtungen natürlich denen mit negativem Ergebnis anzureihen. Dr. V. Franz, Jena. Hautmuskeln und Zellsehnen beim Frosch. Die Haut von Fiöschen ist von feinen Muskelbündeln der Quere nach durchsetzt. Deren Bedeutung ist unbekannt, denn es sind nur Vermutungen, wenn Maurer an eine Einwirkung dieser Muskeln auf Hautdrüsen, Blutkapillaren und Pigmentzellen denkt, und die Beobachtung Eberths, daß bei Durchschneidung des verlängerten Rückenmarks nach wenigen Sekunden oder Minuten eine deut- liche Runzelung der Haut eintritt, vermag die Frage „Wozu dies?" nicht zu beantworten. Mit W. J. Schmidt^) aber sei histologischen Problemen, die sich an die einzeln oder auch in kleinen Bündeln die Cutis durchsetzenden Muskel- zellen knüpfen, kurz einige Aufmerksamkeit ge- schenkt. Die Untersuchung des Ansatzes dieser Zellen am Epithel ergab nämlich zunächst, daß die Muskelzellen die „Basalmembran" des Epithels durchbohren, was nach Verf. insofern sehr gut möglich ist, als diese bei wohl keiner Wirbeltier- epidermis fehlende Membran nach Flächenschnitten aus platten Bindegewebsfaserbündeln besteht, die auch kleine Lücken zwischen sich lassen. Die Muskelzelle selbst verankert sich dann mit ge- zackter Endfläche stets in einer besonders großen, hellen Epidermiszelle, und ihre Verlaufs- oder Zugrichtung wird innerhalb dieser Zelle fortge- setzt durch eine intrazellulare Sehne aus feinen Fibrillen, Plasmafasern oder Tonofibrillen, wie solche auch anderwärts bei Wirbeltieren in Epithelzellen auf Zugwirkung hin, zum Beispiel wo die senkrecht aufsteigenden Bindegewebsfasern sich ans Epithel ansetzen, auftreten. Besonders stark erinnert, nach Schmidt, die Art des An- satzes der glatten Muskelzellen ans Epithel beim Laubfrosch an die Anheftung der quergestreiften Muskelfasern der Arthropoden an das Chitin, denn auch hier erzeugt der Muskel „durch trophi- schen Reiz" fibrilläre Differenzierungen in dem einschichtigen Epithel, der Matrix des Chitins; es ist das eine histologische Konvergenzerscheinung. Unentschieden muß vorläufig bleiben, ob die erwähnten Muskelzellen bei tischen ektodermaler oder mesodermaler Herkunft sind. Denn trotz aller Keimblattlehre kennen wir ja außer meso- dermalen Muskelzellen auch genug ektodermale ; trotz aller Keimblattlehre aber sind auch schon genug Zellverbindungen zwischen ektodermalen und mesodermalen Zellen beschrieben worden. V. Franz, Jena. Meteorologie. Alpine Dämmerungserscheinun- gen. Unter diesem Titel ist dem Jahrbuch 52 des Schweizer Alpenklubs ein von H. Meyer und F. Moser verfaßtes, 53 Seiten starkes Heft beigelegt, das die Dämmerungsbeobachtungen be- handelt, die im Sommer 1916 von den genannten Urhebern auf dem Piz Languard und dem Faul- hörn angestellt worden sind. Es handelt sich da- bei nicht um zufällige Wahrnehmungen, sondern um eine planmäßige Unternehmung mit dem aus- gesprochenen Ziel der Beobachtung des Dämme- rungsscheines. H. Meyer beobachtete vom 13. Juli bis zum 10. August auf dem Piz Languard (3268 m), F. Moser vom 11. August bis zum 4. September auf dem Faulhorn (2683 m), so daß die Aufzeichnungen insgesamt einen Zeitraum von 7 Wochen umfassen. Den Hauptteil der vor- liegenden Arbeit bildet die Beschreibung des ') W. J. S c h m i d t , Über Beziehungen der glatten Muskel- zellen in der Haut vom Laubfrosch zum Epithel. Anatomi- scher Anzeiger, Band 51, Nr. 12, 19 iS, Seite 298 bis 302. N. F. XVni. Nr. 21 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 301 Aufenthahs auf den erwähnten Höhenpunkten, die vor allem von turistischem Interesse ist, doch wer- den in einem Anhang auch die wissenschaftlichen Ergebnisse gedrängt zusammengestellt und be- sprochen. Die Beobachtungen erstrecken sich auf die Farbe und Gestalt der Sonnenscheibe in Horizontnähe, den Lichtschein um die Sonne, den nach Sonnenuntergang im Osten emporsteigenden Erdschatten und die Gegendämmerung sowie vor allem auf den Hauptdämmerungsschein und be- sonders das in diesem auftretende Purpurlicht. Im Anschluß daran wird kurz die Theorie der Dämmerungserscheinungen behandelt und mit den Beobachtungen verglichen. Es zeigt sich dabei, daß die Annahme einer Höhe der Atmosphäre von 72 km genügt, um die wahrgenommenen Erscheinungen darzustellen. Selbstverständlich handelt es sich dabei um die „lichtwirksame" Atmosphäre, denn daß darüber hinaus bis zu wenigstens 300 km Höhe noch verdünnte Gase vorhanden sind, ist anderweitig zweifelsfrei fest- gestellt. Es ist von Interesse, daß auch diese neuen Beobachtungen die in 72 km Höhe ange- nommene Schichtgrenze zu bestätigen scheinen. Der letzte Lichtschein wurde bei 17,1" bis 17,5" Sonnentiefe wahrgenommen. Das Purpurlicht verschwand im Mittel bei etwa 6" Sonnentiefe, Mit Recht wird darauf hinge- wiesen, daß es nicht hinter den gelben Horizont- schichten absinkt, sondern in Wirklichkeit vor ihnen liegt und nur dort zur Wahrnehmung ge- langt, wo der Sehstrahl unter spitzem Winkel gegen die Purpurschicht verläuft und einen ge- nügend langen Weg in ihr zurücklegt. In der Nähe des Horizonts gewinnen indessen die da- hinterliegenden, lebhafteren gelben Farben die Oberhand, während in größerer Höhe das Him- melsblau überwiegt. Es ist unter diesen Um- ständen leicht erklärlich, daß zufällige Trübungen der Troposphäre in der Gegend, die die Sonne im Horizont hat, den Verlauf des Purpurlichts in östlicher gelegenen Gegenden stark beeinflussen oder das Purpurlicht ganz auslöschen können. Von besonderem Belang ist, daß die Be- obachtungen sich auch auf die um den 6. August eingetretene atmosphärische Störung er- strecken. Die in ganz Deutschland um jene Zeit beobachteten sog. „Ultracirren" sind auch von den Schweizer Beobachtern walirgenommen wor- den, und der Strahlenfächer des Purpurlichts — die „rosenfingrige Eos" Homers — wird in einer farbigen Abbildung dargestellt. Ein doppeltes Aufleuchten des Purpurlichts ist jedoch nicht mit Sicherheit festgestellt worden. Der das helle Feld um die Sonne einschließnnde bräunliche „Bishop'sche Ring", der bei atmosphärischen Stö- rungen oft an Deutlichkeit gewinnt, ist zwar mehr- fach beobachtet worden, doch immer nur bei sehr geringen Sonnenhöhen oder kurz nach Sonnen- untergang. Es gewinnt daher nicht den Anschein, daß er im Zusammenhang mit der erwähnten Störung ein abweichendes Verhalten gezeigt habe. Vom 5. bis 9. August wurde auf dem Piz Languard unterhalb des Purpurs, dicht über dem Horizont, ein dunkles, grünblaues Band wahrge- nommen, dessen Natur noch zweifelhaft ist. Gegenstand der Aufmerksamkeit war auch die wechselnde Farbe der benachbarten Berge und Firnfelder, besonders das sogenannte „Alpenglühen", das freilich nichts weiter ist, als der Widerschein des Abendhimmels an den Schneebergen. Man unterscheidet das Hauptglühen, welches andauert, solange die Berge noch vom direkten Sonnenlicht getroffen werden, während die Täler schon im Schatten liegen, und das Nachglühen, das mit dem Versinken des Purpurlichts sein Ende findet. Die Beobachtungen wurden mehrfach über die ganze Nacht ausgedehnt, wobei besonders die auch noch nach dem Ende der astronomischen Däm- merung zurückbleibenden zarten Lichterscheinungen beachtet wurden. Es ist bekannt, daß der klare, mondlose Nachthimmel einen sehr verschieden- artigen Anblick bieten kann, der von ziemlich tietem Schwarz bis zu einem eigenartigen, ziemlich hellen Leuchten hin wechselt, dessen Ursache noch keineswegs einwandfrei aufgeklärt ist. Eine ge- wisse Rolle spielen dabei wohl schwache Polar- lichter und ähnliche elektrische Erscheinungen, auch zerstreutes Sonnenlicht käme in Betracht, und schließlich ist auch der Zustand der Erdober- fläche nicht gleichgültig, insofern, als z. B. eine ausgedehnte Schneedecke die Färbung des niemals ganz lichtlosen Nachthimmels aufhellen wird. Die Schweizer Beobachter äußern sich darüber wie folgt : „. . . Es ist aber (vor dem Ende der astronomischen Dämmerung) am Nachthimmel noch eine zarte Lichtfläche, hoch hinaufreichend, zu sehen, die kaum mehr verschwindet trotz stetigen Sinkens der Sonne. Auch ohne Einfluß des Zodiakallichtes ist dieser Schimmer, der in den Monaten Juli bis September und auch später noch den ganzen Horizont umfaßt und von Herrn Dr. Fr. Schmid mit „Erdlicht" bezeichnet wurde, leicht zu erklären. Wenn nämlich die ganze hell- blaue, direkt beleuchtete Luftpartie über der Erd- schattenkurve zwar schon unter der ja nur ge- dachten Horizontebene des Beobachters liegt, so ist es doch möglich und sehr wahrscheinlich, daß diese Schicht ebenfalls, wenigstens unter flachem Winkel, noch so viel Licht in die Schattenpartien hinein zerstreut, daß auch jene in einem schwa- chen Lichte leuchten, das zu Mitternacht selbst gegen Süden bis zu 20" Höhe erscheint. . . . Ein solcher Lichtkomplex, sagen wir „Nachtschein", würde dann bei 27'' Sonnentiefe untergehen, während den Sommermonaten in der Schweiz also überhaupt nicht. Auf gleiche Weise wirft sicher das Zodiakallicht selber wieder Licht in andere Luftpartien hinein, so daß während seines Auf- tretens, d. h. also fast das ganze Jahr hindurch, solche zartesten Lichtschimmer beständig zu sehen sein müssen und wirklich gesehen werden, ohne daß es zu deren Erklärung phantastischer Höhen einer lichtwirksamen Atmosphäre bedarf." 302 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 21 Die planmäßige Fortsetzung solcher Beobach- tungen oder ihre Aufnahme in den Arbeitsplan der meteorologischen Höhenwarten wäre sehr er- wünscht und könnte wohl zu mancher Erweite- rung unserer Kenntnisse der genannten Erschei- nungen führen, denn die Alpengipfel erfüllen alle Forderungen, die für ein erfolgreiches Arbeiten auf diesem Gebiete an den Beobachtungsort ge- stellt werden müssen, in vollkommenerem Maße als irgendeine andere Örtlichkeit, indem sie allseitig freien Ausblick bei außerordentlich durchsichtiger Luft und Abwesenheit aller Störungen durch irdi- sches Licht darbieten. C. Hoffmeister. Geologie. Die Kohlenvorräte Japans behandelt ein Aufsatz von G. Buetz in der „Ztschr. f. praktische Geol." XXVI, 1918, Nr. 12. Aus seinen Zusammenstellungen geht hervor, daß nach den bisherigen Feststellungen Japan nur einen ge- ringen Vorrat an tatsächlich vorhandenen und auch abbaufähigen Kohlen hat. Die noch nicht konzessionierten, aber abbauwürdigen und die kon- zessionierten, aber zum Teil nicht abbauwürdigen Kohlenfelder eingerechnet hatte Japan im Jahre 191 1 Kohlengebiete, die einen Flächeninhalt von 31 19 qkm einnehmen. Die als tatsächlich vor- handene Kohle wird auf 368 Millionen Tonnen, die nur mutmaßlich vorhandene auf 7002 Millionen Tonnen angegeben. Dazu ist zu bemerken, daß von den 368 Millionen Tonnen wirklich vor- handener Kohle keineswegs alle abbaufähig ist, und die Schätzung der mutmaßlich vorhandenen beruht auf recht unzuverlässigen Grundlagen, so daß ihr nicht einmal die Regierung, wie ihre Kohlenpolitik zeigte, traute. Der Hauptkohlenbergbau konzentrierte sich bisher auf der japanischen Hauptinsel Kyushiu, der bisher ''/^ der Gesamtkohlenausbeute lieferte. In dem Chikuhobeckcn betrug der Vorrat an auf- geschlossener Kohle 391 Millionen Tonnen, davon waren 209 Millionen Tonnen abbau fähig. Bis zum Jahre 191 1 waren 143,5 Millionen Tonnen ge- fördert worden, so daß dieses Hauptkohlenbecken der Erschöpfung entgegengeht, um so mehr, als im Kriege die Förderung gesteigert worden ist. In zweiter Linie konzentriert sich die Kohlen- förderung im Norden auf der Insel Jesso. Hier werden in Zukunft die Hauptkohlenfelder Japans liegen. Im lishikaribecken waren bis jetzt 50 Mil- lionen Tonnen Kohle aufgeschlossen, davon 20 Millionen Tonnen abbaufähige. Die wahrschein- lich vorhandene Kohlenmenge wird auf 1042 Mil- lionen Tonnen Kohlen, davon 441 Millionen Tonnen abbaufähige, geschätzt. Bis zum Jahre 19 11 waren erst 21,5 Millionen Tonnen gefördert. Die von den japanischen Gruben geförderten Kohlen — 1910 insgesamt 15,5 Millionen Tonnen — wurden von der japanischen Industrie nicht verbraucht, wenigstens vor dem Kriege. Japan führte infolgedessen jährlich etwa 3 Millionen Tonnen Kohle aus, hauptsächlich nach China. Seit Beginn des Krieges haben sich natürlich die Ver- hältnisse geändert. Um den erhöhten Ansprüchen der eigenen Industrie gerecht werden zu können, mußte Japan einmal die Förderung wesentlich steigern und dann die Ausfuhr einschränken. Nur China erhielt die frühere Menge weiter geliefert. Trotzdem setzte 1916 eine Kohlenkrisis für die japanische Industrie ein, deren Ursachen jedoch nicht in der mangelnden Förderung als vielmehr in den Transportschwierigkeiten zu suchen sind. F. H. Über Wachstumserscheinungen des Kupfers, Silbers und Goldes berichtet A. Beut eil im Centralbl. f. Min., Geol. u. Pal. 191 9, Heft i u. 2, S. 14 — 28. Bei früheren Untersuchungen des Ver- fassers hatte sich durch Einwirkung von Schwefel- dampf auf Silberblech eine kristallinische Kruste von Silbersulfid gebildet, deren LJmrisse mit der ursprünglichen Form des Bleches nichts mehr ge- mein hatte. Im festen Aggatgatzustand hatten die Silberteilchen beträchtliche Wan- derun gen vollführt. Bei der Wichtigkeit, welche solche Vorgänge für Erzgänge besitzen können, wurden die Versuche weiter geführt, was zu den folgenden Ergebnissen führte: Wird Silberglanz oder künstliches Silbersulfid im Vakuum auf 350 bis 360" C erhitzt, so tritt geringfügiger Zerfall in Schwefeldampf und metallisches Silber ein. Diese Silberspuren wandern durch das Sulfid hin- durch nach dem kühleren Ende, wo sie als feine Härchen zu beobachten sind. In Luft verläuft dieser Vorgang rascher, weil durch Oxydation die Zersetzung des Sulfides gefördert wird. Reichliche Haarsilberbildung wird her- vorgerufen, wenn Silbersulfid in Berührung mit metallischem Silber erwärmt wird. Auch durch gemeinsames Erhitzen von Selen- und Tellursilber mit metallischem Silber wird Moossilber erzeugt. Mooskupfer entsteht durch Einwirkung von metallischem Kupfer auf Schwefel-, Selen- und Tellurkupfer in der Hitze. Silberhaltige Goldselenide und telluride liefern zusammen mit Silberblech erwärmt silberhaltiges Moosgold. F. H. Physiologie. Über das Vorkommen von Chloro- phyll im Tierreich veröffentlichten zwei französische Forscher, Ch.DlTere und G.Veggezzi, interessante durch Versuche an der Weinbergschnecke [Hclix ■pcnnaü'a) gewonnene Ergebnisse. ') Danach ent- hält die Leber dieser Tiere sogenanntes Hepato- chlorophyll, das sich mittels Petroläther aus- ziehen läßt. Dieser Auszug wird bei der Filtration durch Kreide in mehrere Farbstoffe zerlegt, deren Lösungen spektroskopisch untersucht wurden. Es ergab sich der überraschende und wichtige Befund, daß das aus den Lebern der Weinbergschnecke gewonnene Chlorophyll die gleiche Farbenzusam- ') Comptes rendus de l'Academie d. sciences 163. 399. N. F. XVIII. Nr. 21 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 303 mensetzung wie das Chlorophyll der grünen Pflanzen hat. ^) Es besteht aus einem Gemisch von a- und /?■ Chlorophyllin und Carotinoiden (Carotin und Xanthophyll). Es ist das erstemal, daß ß Chloro- phyllin im Tierkörper nachgewiesen werden konnte. Die beiden Forscher nehmen in Übereinstimmung mit früheren Untersuchungen an, daß es der Nah- rung der Weinbergschnecke entstamme. H. Heller. Hydrobiologie. Man hat vielfach geglaubt Seen oder andere abgeschlossene Gewässer nach dem vorwiegenden Vorkommen einer Planktonart oder dem Fehlen derselben einteilen zu können. So unterschied man z. B. zwischen Dinobryon- Seen und Nicht-Dinobryon-Seen. Diese biologi- sche Klassifizierung von Seen hat jedoch schon früh den Widerspruch einzelner Hydrobiologen hervorgerufen. Besonders Fischereibiologen wiesen darauf hin, daß diese Einteilung deshalb ganz un- haltbar sei, weil sich die Zusammensetzung des Planktons im Laufe der Jahre, zuweilen schon von Jahr zu Jahr ganz wesentlich ändere. So sei ein Dinobryon-See nach einigen Jahren häufig zu einem Nicht-Dinobryon-See geworden und werde später vielleicht wieder zu einem solchen. Zu einem gleichen Ergebnis kommt List in seinen im Ver- laufe von 8 Jahren durchgeführten Untersuchungen über das Teichplankton in der Umgegend von Darmstadt (Zeitschr. f. Fischerei Bd. III, 1917)- In 7 Teichen, die alle 14 Tage untersucht wurden, ergab sich, daß die Zusammensetzung des Plank- tons im gleichen Teiche nicht gleichbleibend ist, sondern in den aufeinanderfolgenden Jahren wech- selt. Nicht allein in der gleichen Jahreszeit, son- dern auch während eines ganzen Jahres verhält sich das Plankton abweichend. Ein Teich, der ') Vgl. hierzu „Das Chlorophyll" vom Verf. Naturvv. Wochenschr. 1918, S. 545. mehrere Jahre hindurch eine Wasserblüte von Cyanophyceen und Chlorophyceen aufwies, war in anderen Jahren frei von diesen. ÄhnHch ver- hielten sich andere Organismen wie Dinobryon divergens Imh. und Volvox. Crustaceen (Cope- poden und Cladoceren) sind in einigen Jahren sehr häufig, in anderen fehlen sie fast ganz. Das Ver- halten der Rädertiere war in jedem Jahre ver- schieden, zuweilen ist eine Art sehr häufig, im nächsten Jahre fehlt sie. List unterscheidet nun zwischen Organismen, die ständig entweder das ganze Jahr hindurch oder ständig jedes Jahr zu einer bestimmten Zeit auftreten, und solchen, die unbeständig auftreten. Ein Vorkommen während eines Jahres und ein darauffolgendes Fehlen desselben Organismus wäh- rend der nächsten Jahre wird als sprunghaft be- zeichnet. Es zeigte sich, daß die an sich geringere Anzahl der beständig auftretenden Organismen in den größeren Teichen verhältnismäßig größer ist als in den kleinen Teichen, während die Zahl der sprunghaft erscheinenden Organismen in den kleinen Wasserbecken im Verhältnis zur Gesamt- zahl der Planktonten größer ist als in den großen. Eine Anzahl der Teichorganismen ist auf eine bestimmte Temperatur des Wassers eingestellt. Die meisten Arten jedoch sind in ihrer Entwick- lung von der Wasserwärme unabhängig, so daß diese nicht als maßgebend für das Erscheinen oder Nichterscheinen einer Art im Plankton be- trachtet werden kann. Es besteht jedoch eine Abhängigkeit der Zusammensetzung von der Größe insofern, als einzelne Arten nur in Teichen einer bestimmten Größe auftreten, ebenso spielt die Tiefe, die chemische Zusammensetzung und der Bestand an Wasserpflanzen eine wesentliche Rolle. Ein Eingriff in diesen Bestand und die Behandlung des Bodens im trockengelegten Teich vermag das Bild der Zusammensetzung des Plank- tons erheblich zu ändern. Willer. Büclierbesprechungen. Kayser, E., Lehrbuch der Allgemeinen Geologie. 1075 S. 5. sehr vermehrte Auflage 729 Textillustrationen. Stuttgart 1918, Ferd. Enke. Das altbekannte Werk, das schon seit langen Jahren einen ehrenvollen Platz unter den deutschen geologischen Handbüchern — ein Lehrbuch ist es heute seines Umfanges wegen kaum mehr — ein- nimmt, und zu dessen Lobe wohl kaum noch irgend etwas zu sagen ist, liegt in seinem ersten Teile, der Allgemeinen Geologie, nun in der fünften, an Text wie Abbildungen sehr vermehrten Ausgabe vor. In allen Teilen merkt man, im Vergleiche zur vorhergehenden Auflage, die nachbessernde und vervollständigende Hand, die die Neuauflage zu einem in 'allen Fragen der allgemeinen Geologie verläßlichen, nirgends versagenden Berater macht. Umgearbeitet sind vor allem die Abschnitte über die Lagerungsform der Eruptivgesteine und die vulkanischen Ausbruchserscheinungen, über die Tätigkeit der Flüsse. Von wichtigen Zusätzen seien hervorgehoben die über Salzhorste, Radio- aktivität, KoUoidstoffe, Lateritbildung; über Boden- fließen und Unterwasserrutschungen; über die Bildung von Fastebenen, marine Sedimentation, über die kosmische Bedeutung des Vulkanismus, Abtragungsvorgänge von Vulkanen, Intrusions- beben und pneumatolytische Gesteinsbildung. Krenkel. Walther, Johannes, Geologie der Heimat; Grundlinien geologischer Anschau- ung. 222 Seiten mit Tafeln, Textillustrationen 304 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVni. Nr. 21 und geologischer Karte. Leipzig 1918, Quelle & Meyer. Die Geologie der Heimat von Johannes Walther schließt sich nach Zweck und Art der Abfassung seinen früher veröffentlichten Werken an, wie der Vorschule der Geologie, der Geologie von Deutschland. Sie wendet sich, wie jene, in angenehm lesbarer Form nicht an die Fachge- lehrten, sondern an den weiteren Kreis der Ge- bildeten, die zwar das Wesen geologischer Er- scheinungen kennen lernen möchten, deren Berufs- pflichten ihnen aber nicht erlauben, längere schul- gemäße Studien durchzuführen. Im Rahmen des Gedankens, daß die realen Werte der Bodenschätze Deutschlands an Ackerkrume, Kohlen, Erzen, Kali und Wasser im Wirtschaftsleben der Zukunft unseres Volkes eine ungeahnte Bedeutung ge- winnen werden und daß nur ein Volk, das mit ihnen klug und sparsam zu wirtschaften versteht, Sieger in dem bevorstehenden Wettstreit der Nationen in den kommenden Jahren bleiben wird, ist das Werk entstanden. Diesem Gedanken ist vielfach auch Rechnung getragen, so in den Ka- piteln über Grund und Boden, über die Boden- schätze. In den Vordergrund der Schilderung sind da- neben die geologischen Erscheinungen gestellt, die den geologisch nicht Geschulten besonders fesseln; sie behandelt vor allem die geologischen Vorgänge des alltäglichen Lebens und diejenigen einfachen Tatsachen, welche nach Auffassung des Verfassers die naturgemäße Einleitung in den heimatkundlichen Unterricht bilden. Das reichliche Bildermaterial ist mit einzelnen Ausnahmen gut. Eine farbige Karte stellt den geologischen Untergrund des deutschen Bodens dar. — Die Geologie der Heimat wird für ihren Leserkreis viel Anregung bieten. Krenkel. Deecke, W.. Morphologie von Baden auf geologischer Grundlage. Geologie von Baden III. Teil. 629 Seiten, 1 81 Textabbildungen. Berlin 1918, Gebrüder Bornträger. Den ersten beiden Teilen seiner umfänglichen „Geologie von Baden" hat Deecke als Ergän- zungs- und Schlußband die „Morphologie von Baden auf geologischer Grundlage" folgen lassen. Das Buch ist mit voller Absicht begrenzt, da es eine Morphologie auf geologischer Grundlage bringt; KHmatologie und Anthropologie sind nur insoweit behandelt, als sie bei dieser Betrachtungs- weise herangezogen werden müssen. Wie Deecke selbst betont, ist seine Morpho- logie bis zu einem gewissen Grade eine Streit- schrift geworden. In den letzten 10 Jahren hat die Lehre von der Oberflächengestaltung durch den Einfluß von Davis recht verkehrte Bahnen eingeschlagen, indem ein starrer Schematismus einzog, der mit vielen Namen hantiert und der natürlichen Mannigfaltigkeit trotzdem nicht ge- recht zu werden vermag. Die Morphologie hat vielmehr in vielen Beziehungen zu einem Teile der Geologie zu werden und muß auf deren Me- thoden und Untersuchungsarten fußen. Es ist Deecke gelungen, diesen Grundsätzen in vieler Beziehung Rechnung zu tragen und zu neuartigen Folgerungen zu kommen. Im allgemeinen Teile des Werkes werden neben anderen die Bedingtheit der Geländeformen durch Gesteinsmaterial und dynamische Vorgänge, die Entwicklung der süddeutschen Stufenlandschaft, die geologische Morphologie in ihrer Beziehung zu kulturgeographischen Erscheinungen behandelt. In diesem letzten Kapitel bringt Deecke reiches und interessantes Material zur Siedelungskunde Badens, über geologisch -morphologische Orts-, Berg- und Flußnamen, über die Abhängigkeit von Waid und Feld von der geologischen Gestaltung des Bodens. Der spezielle Teil der Morphologie Badens bringt die Schilderung der morphologischen Einzel- heiten und ihre Entstehung in den verschiedenen Landesteilen, so im Schwarzwald und Odenwald, im Kraichgau, in der Vorbergzone, der Rhein- ebene, im Molasseland und im Bodenseegebiet. Jeder dieser Abschnitte trägt seinen eigentümlichen Charakter und ist genetisch unter selbständigen Gesichtspunkten zu betrachten. Denn in der Rheinebene waltet die fluviatile Zuschüttung vor, im Bodenseegebiet spielt die alpine Vereisung eine wichtige Rolle, die Vorbergzone wird von Tektonik beherrscht, im Schwarzwald erlangen ganz alte Strukturlinien erneute Bedeutung und im badischen Odenwald ist eine einfache Stufen- landschaft das allein Maßgebende. Krenkel. Literatur. Schulz, Prof. Dr. Hugo, Vorlesungen über Wirkung und Anwendung der deutschen Arzneipflanzen. Für Arzte und Studierende. Leipzig 1919, G. Thieme. 15 M. Inllült: V. Brehm, Die Tiefenfauna unserer Alpenseen. S. 289. L. Kathariner, Humanistische Vorbildung und rea^ listisches Studium. S. 295. — Einzelberichte : Lothar Tirala, Der Aktionsstrom der Netzhaut. (5 Abb.) S. 297, R. duBois-Keymond, Über das Verhalten von Fischen gegen Wasserschwingungen. S. 298. W.J.Schmidt, Haut muskeln und Zellsehnen beim Frosch. S. 300. H. Meyer und F. Moser, Alpine Dämmerungserscheinungen. S. 300, G. Buetz, Die Kohlenvorräte Japans. S. 302. A. Beutell, Wachstumserscheinungen des Kupfers, Silbers und Goldes S. 302. Ch. Dhere und G. Veggezzi, Über das Vorkommen von Chlorophyll im Tierreich. S. 302. List, Teich plankton. S. 303. — Büchetbesprecfaungen: E. Kayser, Lehrbuch der Allgemeinen Geologie. S. 303. Johannes Walther, Geologie der Heimat; Grundlinien geologischer Anschauung. S. 303. W. Deecke, Morpliologie von Baden auf geologischer Grundlage. S. 304. — Literatur : Liste. S. 304. Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstrafie 42, erbeten. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S, Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue Folge 18. Band; der ganzen Reihe 34. Band. Sonntag, den i. Juni 1919. Nummer 23. Die Herkunft und Einführung unserer Gartenbohne (Phaseolus vulgaris L.). [Nachdruck verboten.] Die Gartenbohne (Phaseolus vulgaris L.) gehört, wie besonders L. W i 1 1 m a c I< nachgewiesen hat, zu den amerikanischen Einführungen und stellt mit der Kartoffel und dem Mais das wichtigste Geschenk dar, das uns die Entdeckung der neuen Welt gebracht hat. Da jedoch in neuerer Zeit die Theorie Witt mack 's von einigen Botanikern, so O. Com es, \) angezweifelt wurde, dürfte es am Platze sein, dieser Frage noch einmal nach- zugehen. Die älteren Botaniker, die sich mit der Ge- schichte der Pflanzen beschäftigten, wie K. Sprengel,-) C. Fraas,^) G. v. Martens'j hegten keinen Zweifel , daß Phaseolus vulgaris neben Vicia faba L., der Saubohne, im Altertum kultiviert wurde, und Sprengel nahm an, daß sie durch Alexanders Feldzug aus Indien gebracht worden sei. Im Jahre 1855 äußerte zuerst der bekannte Geschichtsschreiber der Kulturpflanzen A. de Candolle gegen diese Annahme aus linguistischen Gründen Bedenken. V. Hehn hat sich in seinem berühmten Werke nicht weiter mit der Gartenbohne beschäftigt. L. Wittmack war es, der zuerst (in den 80 er Jahren) auf den ame- rikanischen Ursprung der Gartenbohne hinwies, eine Annahme, zu der er auf Grund der von Reiß und St übel in Ancon in Peru gemachten Gräberfunde gelangte. In verschiedenen Arbeiten ") trug Wittmack diesen Gedanken vor, der, wie wir sehen werden, in dieser Frage tatsächlich das Richtige trifft. Von Prof. Dr. S. Killermann, Regensburg. Mit 2 Abbildungen. ') Del Fagiuola commune (Phaseolus vulgaris L.). Storia, tilogenesi, qualitu e sospettata sua tossicita; sistemazione bo- tanica delle sue razze dovunque coltivale. Atti del R. Islilulo d'Incoraggiamento di Napoli. Vol. 6l (1909), Napoli 1910, S. 75—181. 2) Geschichte der Botanik 1. Bd. (Altenburg 1817), be- sonders S. 80. ') Synopsis plantarum florae classicae (München -1845) S. 52. ■>) Die Gartenbohne, Stuttgart l86o. ''i Der Ursprung der Kulturpflanzen (übers, von Goeze, Leipzig 18S4) S. 425—433. ") L. Wittmack in Reiß und Stübel, Das Todten- feld zu Ancon. Berlin 18S0— 87, Lief. XU! , Tab. 107. — Verhandl. des bot. Ver. der Prov. Brandenburg XXI (1879) S. 176 — 184. — Tageblatt der 53. Versammlung deutscher Naturforscher u. Ärzte zu Danzig 1S80 S. 207. — Nachr. aus dem Club der Landwirthe zu Berlin Nr. 115 (10. Juli 1881) S. 782. — Compte rendu du Congrcs intern, des Americanistes 7. sess. (Berlin 18S8) S. 10 (Sep.). — Berichte der Deutschen bot. Ges. 1888 Bd. VI S. 374, Die Heimath der Bohnen und Kürbisse. — Vgl. auch das Referat in Naturw. Wochenschr. v (1890) s. 337-338. Asa Gray und Hammond Trumbull') fanden auch in Nordamerika alte Spuren der Gartenbohne und befürworteten infolgedessen 1883 (ohne Wittmack's Arbeit zu kennen) das ameri- kanische Indigenat derselben. Dann ging Fr. Kör- nicke'-) den -alten Nachrichten über diese Pflanze in Europa aufs genaueste nach und fand, daß die Gartenbohne der Alten mit Vigna sinensis iden- tisch sei. F" ischer-Benzon,^) der Verfasser der altdeutschen Gartenflora, J. Hoops^) und A. Engler*) schlössen sich ohne Bedenken der Ansicht Wittmack's an, während de Can- dolle") sich etwas unentschieden verhielt. G. Gibault suchte in einem Aufsatz im Journal de la societe nationale de l'horticulture de France 1896 (p. 658) die ältere Ansicht zu verteidigen, ') indem er neben anderem nament- lich die in altfranzösischer Literatur erwähnten „weißen Erbsen'' (Pois blancs) auf unsere Bohnen bezog. In einer Erwiderung (vgl. dieselbe Zeit- schrift Cahier de fevrier 1897) legte Wittmack") nochmals den ganzen Sachverhalt der Bohnen- frage dar. Wichtiger scheinen mir die oben kurz er- wähnten Ausführungen des italienischen Botanikers O. Com es (1909) zu sein, auf die meines Wissens Wittmack nicht geantwortet hat. Comes be- tont vor allem, daß die Alten die Bohne als vielfarbig beschrieben und diese Eigenschaft nur der Gattung Phaseolus zukomme; auch müßte den ersten Botanikern (besonders Matthioli), wenn sie aus Amerika stammte, diese Herkunft nicht verborgen geblieben sein. Er schließt seine große Abhandlung, welche besonders im syste- matischen Teil eine ausgezeichnete Arbeit dar- stellt, mit dem Ergebnis, daß die Gartenbohne ') American Journal of Sciencs XXVI (1883) S. 130 — 138. -) Correspondenzbl. des Nat. Ver. v. Rheinland-VVestfalen usw. XLII (1885) S. 136—153. 3) Altdeutsche Gartenflora (Kiel 1S94) S. 98 — 100. ■*) Waldbäurae u. Kulturpfl. im germ. Altertum (Straßburg 1905) S. 400. '') Anm. zu V. Hehn, Kulturpfl. u. Haustiere. 6. Aufl. (Berlin 1894) S. 214. ") Vgl. Ascherson-Graebner, Synopsis der mittel- europ. Flora 6. Bd. S. 1078. ') Einen Auszug dieser Arbeit brachte die Wiener lllustr. Gartenzeitung X.XI (1896) S. 354 — 356. ") ,,De l'origine du Haricot commun (Phaseolus vulgaris)". Diese Arbeit Wittmacks wird nirgends (z. B. bei Asche r- son) zitiert. Für die gütige Überlassung eines Sonderabzugs dieser schwer zugänglichen Arbeit möchte ich auch hier dem verehrten Verfasser den ergebensten Dank aussprechen. 3o6 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVm. Nr. 22 nicht in Amerika, sondern im subtropischen Asien zu Hause sei, daß sie die Griechen und Römer schon gekannt und kultiviert, wenn auch nur schlecht und mangelhaft beschrieben hätten. ^) Ferner bemerkt er, daß sie gar wohl in Amerika vor Columbus schon eingeführt worden sein kann, aber dann wie die ganze Azteken- und Inkakultur auf dem Wege von Westen her über die Behrings- straße dorthin gekommen sei. I. In Südeuropa wird seit langem eine unseren Zwergbohnen ähnliche Pflanze kultiviert, Vigna sinensis Endl. v. sesquipedalis Körnicke genannt. Die Vigna-Gattung, die etwa 40 Arten umfaßt, unterscheidet sich von Phaseolus durch das nie spiralig eingerollte, stumpfe Schiffchen (und die mit schwarzem Nabelring gezeichneten Samen). Der Unterschied zwischen den beiden Gattungen ist also nicht besonders in die Augen fallend, zu- mal beiderlei Pflanzen in Stangen- und in Busch- form wachsen und auch die Samen von Vigna in verschiedenen Farben auftreten.-) Die letztere Gattung, welche nach Seh weinf urth '') eigent- lich in Afrika zu Hause sein dürfte, ist in bezug auf das Klima viel empfindlicher als Phaseolus. Näheres über die Unterschiede siehe bei Engler- Prantl, Nat. Pflanzenfam. Leguminosen S. 377 oder bei Ascherson-Gräbnera. a. O. S. 1075 ff. Die Frage, ob den Alten unsere Gartenbohne be- kannt war, wäre mit Sicherheit gelöst, wenn in Gräbern und alten Kulturstätten Samenfunde dieser Art gemacht würden oder gute alte Abbildungen sich erhalten hätten. Die ägyptischen Funde *) von Bohnen beziehen sich samt und sonders auf die Pferdebohne (Vicia faba), die lür uns hier nicht in Betracht kommt. In Troja, auf der Stätte des alten Ilios, hat man auch keine sicheren Funde von echten Bohnen gemacht. ^) Was die Ausgrabungen in Pompeji betrifft, so behauptete FioreUi (1862) einen mit Bohnen und Zwiebeln gefüllten Topf gefunden zu haben. Er schildert seine Entdeckung mit folgenden Worten: „Es gewährten uns (einzelne Ausgrabungen) ') „Conchiudo dicendo, che il Ph. vulgaris non e indi- geno dell' America malgrado che De Candolle opini diver- samente ; che esso e invece originario dell' Asia subtropicale ; che fu conosc'uto, collivato ed usato per alimento anche dai Greci, dai Romani, adonta che gli scriUori di quei tempi ci abbiano di esso tramandate notizie brevi ed incomplete." '1 Vgl. C. V. Piper, Agricultural varieties of the Cow- pea (V. S. Dep. of Agric. Bureau of Plant Industries, Bulletin Nr. 229 (1912) S. 21. Ich verdanke den Hinweis den Herren Prof. Dr. Harms und Geheimrat Dr. L. Wittmack. ') Sitz.-Ber. der Anthrop. Ges. Berlin 1891 S. 656 (nach Ascherson). *) Vgl. Fr. Woenig, Die Pflanzen im alten Ägypten (Leipzig 1886). S. 212. '') Vgl. H. Seh li em ann , Ilios, Stadt und Land der Tro- janer (Leipzig 18S1) S. 362 Anm. Die da genannten Bohnen (Dolichos und Phaseolus) waren nur zum Vergleiche aus der Landschaft Trojas gesendet worden und stammten nicht aus der gebrannten Stadt von Hissarlik, waren also rezenter Natur ; s. auch L. Wittmack in der Schrift gegen Gibault (S. 3). das Glück, hier neben einem Bronzekandelaber . . . einen Topf und zwar von Kupfer, gefüllt mit Bohnen und Zwiebeln, die aufbewahrt waren, um in der am 23. November des Jahres 79 (der üb- lichen Zeitrechnung) gegen lO Uhr angesetzten IVIahlzeit gegessen zu werden, für die Frauen, die hier (im Lupanar) sich aufhielten. Ein ärmliches Mahl, die verachtete Bohne (Virgil), die ganz ent- sprach dem erbärmlichen Stand derselben".*) (Giornale degli Scavi di Pompei, anno 1862, S. $2 nach Com es). Wie Com es in der Besprechung dieses Fundes mitteilt, galten die Bohnen bei den Alten als ge- schlechtliches Reizmittel; vgl. Matthioli (cap. 99 zu Dioscorides IIj. Wittmack") dagegen erklärt, daß in Pom- peji wohl verkohlte Saubohnen (Vicia faba), doch keine Gartenbohnen (Phaseolus) gefunden worden sind. Ebensowenig erscheinen sie in den Ab- bildungen.'') Sollte doch in dem etwas alten Fund P"iorellis eine Verwechslung mit Saubohnen stattgefunden haben; eine genauere Untersuchung wird wohl damals nicht unternommen worden sein. Wittmack sieht in dem negativen Resul- tat, das die Ausgrabungen von Pompeji bisher ergeben, eine Bestätigung seiner Hypothese. Merkwürdig ist aber auch, daß nirgends Samen von Vigna gefunden worden sind. Ebensowenig haben die Pfahlbauten Reste von echten Bohnen hinterlassen.*) Die schriftlichen Nachrichten der Alten, welche bereits Körnicke verarbeitete, sind, soweit sie eine Bestimmung zulassen, auf die Vigna-Bohne zu beziehen. Dioscorides II 146") spricht von zwei Bohnenarten: Smilax kepaea (d.h. hortensis) und Phaseolus. Die erstere mit Hülsen von der Form von Trigonella foenum graecum dürfte Vigna sinensis (Dolichos melanophthalmus) sein ; die zweite sei keine neue Art, sondern nur die nied- rige Form eben derselben Vigna-Bohne. Allerdings findet sich bei den römischen Land- wirtschaftslehrern (Columella, Palladius) die Angabe, daß die Bohnen im Herbste (September) gesät werden sollen.") Körnicke bemerkt (a. ') ,,Lasciarono (alcuni scavi) a noi la fortuna d'invenirvi, oltre un candelabro di bronzo . . . . un caccabus , cioe, di rame, ripieno di Fagiuoli e di cipoUe , che si tenevano in serbo per essere poi mangiati nella coena , che il 23 di no- vembre dell'anno 79 E. V. sarebbesi appuntata, verso la de- cima ora, alle donne, che qui (nel lupanare) dimoravano. Povero ed umile desinare vilemque faselum (Virg. 1. c.) , che ben rispondeva alla loro misera condizione." -) „Die in Pompeji gefundenen pflanzlichen Reste." Eng- lers Botanische Jahrbücher 33. Bd. (1903) S. 50. ') Vgl. O. Com es, Darstellung der Pflanzen in den Malereien von Pompeji. Deutsche Übersetzung. Stuttgart, Nägele 1895. *) Vgl. O.Heer, Pflanzen der Pfahlbauten (Zürich 1865) S. 22 ; G. Buschan, Vorgeschichtl. Botanik (Breslau 1895) S. 209 ff. '') Vgl. M. Wellmann, Pedanii Dioscuridis de materia medica libri V (Berolini 1907) I. Bd. S. 213. Das Kapitel über Phaseolus findet sich nicht in dieser Ausgabe. *) Tempore hoc (Sept.) fasellus ad escam seratur. (Pal- ladius de re rustica 1. X cap. XII, 1. XI cap. I.) \ N. F. XVIII. Nr. 22 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 307 a. O., S. 149), es sei dies ein kitzlicher Punkt, da die Vigna-Bohnen für kältere Temperaturen sehr empfindlich sind. Comes^j erblickt darin eine Bestätigung seiner Ansicht, daß die Bohnen der Alten zu Phaseolus vulgaris gehörten, die man heute noch bei Neapel (Torre del Greco) im September säe und um Weihnachten ernte, be- sonders gewisse Rassen, so die „mangia-tutto" ge- nannten u. a. Vielleicht klärt sich die Sache da- durch am besten auf, daß man mit G. v. Martens (a. a. O. S. 7) annimmt, daß Columella, der aus Cadix in Spanien stammte, den Ackerbau in dortiger Gegend im Auge hatte. In Cadix, wel- ches ein Insularklima hat, ist der Winter um 3" wärmer als in Rom, wo man es also nicht wagen dürfte, die Bohnen (selbst Phaseolus) so spät aus- zusäen. Was die Abbildungen betrifft, welche aus dem Altertum von Gartenbohnen uns zugekommen sind, so kommen solche weder in Ägypten noch in Pompeji vor. Nur einzelne Dioscorides-Hand- schriften, vor allem die in der Wiener Hofbiblio- thek erhaltenen berühmten zwei Kodizes, genannt Constantinopolitanus (entstanden um 500 n. Chr.) und Neapolitanus (aus dem 7. Jahrh. stammend), ferner der sog. Chigianus in Rom bringen je ein Bild vom „Phaseolus". Das Kapitel Smilax kepaea ist nicht illustriert. Das betreffende Gemälde im Const.'-) auf S. 370 V, im Neapol. auf S. 165 stellt offensicht- lich eine Gartenbohne dar vom Habitus einer Busch- oder Zwergbohne (s. die Skizze Abb. i, genommen aus dem Neapol.). Körn icke, der, wie er bemerkt, die Kodizes nur flüchtig einge- sehen hat, spricht die Pflanze als Dolichos (Vigna) melanophthalmus an. Ich habe von dem Bilde eine farbige Kopie mir gefertigt und dieselbe Herrn Geheimrat L. Wittmack zur Begutachtung vorgelegt, da ich immer Zweifel hatte, ob es auf die Vigna-Bohne, die ich lebend noch nicht gesehen, zu beziehen sei.^j Herr Wittmack hat sich mit Herrn Geh. Ober-Regierungsrat Prof. Dr. Engler und Herrn Prof. Dr. Harms über das Bild besprochen und die Herren sind der Überzeugung, daß es sich um eine niedrige Form von Vigna sinensis handelt. Man erkennt diese Gattung „an den großen Neben- blättern, die bei Phaseolus ganz klein sind, ferner in den kurzen Blütenständen, die bei Phaseolus viel länger und lockerer, endlich an den lila Blüten, ') L. c. S. 77 : Ne di cio si deve far meraviglia, giacche anche oggi negli orti e nei giardini piu solatii di Torre del Greco (presso Napoli) si seminano in settembre i Fagiuoli communi, per raccoglierli verso Natale. A tale uopo si scel- goDO le razze, il cui legume si puö mangiare per inteso, i cosi deui mangia-tutto, e la razza preferita da quegli ortolani c il cannelino nero (Ph. oblongus ellipticus nigerj. '^) Vgl. die phototypische Ausgabe dieses Kodex : Codex Aniciae Julianae picturis illustratus. Lugduni Bat. 1906. Der Neapol. ist noch niclit veröffentlicht. ■') Eine Durchsicht der Dolichos- und Vignaforraen im Herbar des Münchener Bot. Instituts zeigte mir dieselben als sehr verschieden von meinem Bilde. die auch kleiner sind als bei Phaseolus, welcher weiß oder gelblichweiß blüht. Die Hülsen sind auch so holperig wie bei Vigna sinensis, was frei- lich auch bei Phaseolus vulgaris vorkomme. Die Abb. der Hülse in Engler- Prantl Nat. Pflanzenf. III. 7. 3. Abt. S. 382 Abb. 136M paßt ganz gut zu dem Bilde".') Im Botanischen Garten zu Dahlem- Berlin werden nach gütiger Mitteilung von Prof. Dr. Harms solche niedrige Formen von Vigna sinensis kultiviert. Die Abbildung im Römischen Dioscorides wurde von O. Pen zig'-) bereits als Dolichos melanoph- thalmus DC. gedeutet. In dem vierten vorhandenen illustrierten Dioscorides (Paris, Nationalbibliothek), dessen Bilder im allgemeinen sehr schlecht sind, ist Phaseolus meines Wissens nicht im Bilde darge- stellt, dagegen Smilax (S. 106 v), von ^der die Abb. I. Skizze der farbigen Darstellung von ,,Fasiolus" im Cod. Dioscurides Neapol. (Wien, Hofbibl.l fol. 165. Pflanze grün und gelblich; oberste Hülsen bläulich, die drei kleineren grün mit gelben Flecken (Samen); Blüten lila. Die Pflanze ist Vigna sinensis Endl., Buschform. Gr. '/s- Wiener Kodizes kein Bild bringen. Die Pflanze im Pariser Kodex scheint eine Leguminose mit fünffiederigen Blättern (Vicia) zu sein.'') Ohne Zweifel war also Vigna (Dolichos) melanophthalmus in der spätrömischen Zeit in Südeuropa bekannt. Sie kann ganz gut, wie ') Laut gütiger schriftlicher Mitteilung vom 17. Februar 1919. -) Contribuzioni alla storia della botanica (Mediolani 1905) S. 246, 253 — 272. ') Auf Grund eigener Einsichtnahme auf der Pariser Bi- bliothek. Ostern 1906. 308 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 22 R. SprengeP) von seiner Gartenbohne annimmt, aus Indien mit dem Feldzug Alexanders gekommen sein. Die (JoA^^os-Pflanze des Theophrast (VIII 3) dürfte mit ihr identisch sein. Von den mittelalterlichen Schriftstellern ■) bringt allein Albertus Magnus (VI 341) um 1260 eine Beschreibung der Bohnen (Faseolus), die diese Pflanze sofort als Dolichos melanoph- thalmus (= Vigna sinensis) erkennen läßt; er sagt nämlich ausdrücklich,'') daß ihre sonst verschieden- farbigen Samen einen schwarzen Fleck am Nabel besitzen; da er sie ferner etwa so groß als die Saubohne (faba) schildert, hatte er ohne Zweifel die Buschform der genannten Art vor Augen ; vielleicht hat Albertus, der mir hier aus eigener Augenscheinnahme zu sprechen scheint, die Pflanze in Oberitalien (Bologna) gesehen. Auf diese Be- schreibung folgt eine medizinische Abhandlung über die Bohne, die aus Avicenna genommen ist (nach Jessen). Bei dem allen arabischen Landwirtschaftslehrer Ibn-al-Awam^) (bei Sprengel I. S. 210 Ebn Alwam), der im 12. Jahrh. in Sevilla lebte, wer- den nicht weniger als 12 Sorten von Bohnen nach Comes (S. 83 — 84) aufgezählt: weiße, schwarze, rote, ockergelbe, weiß- und schwarzgemischte, große schwarze und weiße, weiße mit schwarzem Fleck (so groß wie ein Taubenei), und gelbliche (von der Größe eines Traubenkerns). Die Bohnen seien im Frühling (März, April) anzubauen ; er habe alle diese Varietäten gesehen und einige selbst gezogen. Comes meint, daß dieser Bericht sich auf die Dolichos-Gattung allein nicht beziehen könne, sondern hier auch Phaseolus vulgaris in Betracht käme. Ich halte aber dafür, daß diese Quelle doch sehr unsicher ist. Ein anderes land- wirtschaftliches Werk, das im Mittelalter sehr be- liebt war, Peter de Crescentiis, bringt sogar in einer Ausgabe (Löwen 1480) auch das Bild des im Buche behandelten Faseolus. Die Pflanze ^) gleicht aber mehr einer Kleeart oder der Pferde- bohne; die Blätter sind zudem nicht dreizählig sondern einfach; von einer Gartenbohne (ob nun Phaseolus oder Vigna) keine Spur. Ebenso schlecht und unbestimmbar sind die Zeichnungen, die im Hortus Sanitatis (gedruckt in Venedig 151 1) und ') A. a. O. S. 80. Sprengel denkt wie oben erwähnt an Phaseolus vulgaris L. '') Die Angaben bei Isidor von Sevilla, Konrad von Megenberg u. a. sind nichtssagend. ^) Faseolus est species leguminis et grani, quod est in quantitate parum minus quam faba et in figura est columnale sicut faba, et herba eius minor est aliquaatulum quam herba fabae. Et sunt faseoli raultorum colorum, sed quodlibet gra- norum habet maculam nigram in loco cotyledonis. Bei C. Jessen, Alberti Magni .. de Vegetabilibus libri VHS. 51c;; Berolini 1867. Vgl. auch Fisch er- Ben zon a. a. O. S. 98. Jessen selbst hielt die Bohne des Albertus M. für Phaseolus vulgaris L. *) Le livre de TAgriculture (trad. di J. J. Clement Müller) 1866 II S. 62. Auszüge bei Casiri bibl. escur. I 326 f. (nach Sprengel). *) Vgl. die Reproduktion bei Asa Gray und II. Trum- bull a. a. O. S. 136. Abb. i. in Tacuini Sanitatis von „Elluchasem Elimithar" (Straßburg 1531, S. 49) zum Kapitel Faseolus bei- gegeben sind.^) Auf mittelalterlichen Bildwerken, in den Livres d'heures , welche oft ausgezeichnete Blumendar- stellungen aufweisen, findet man Phaseolus vulgaris wie auch Vigna sinensis vergeblich. Die Bohne, die da, besonders in den Miniaturen des Brevia- rium Grimani, erscheint, ist meistens die Pferde- bohne (Faba) oder die Erbse (Pisum). Die Blume der vielfach so genannten „Madonna mit der Bohnen- blüte" (Köln, Museum Nr. 35; Nürnberg, Germ. Museum Nr. 4) ist wie ich an anderer Stelle ") (zu- gleich auch zum Beweise der Echtheit der Bilder) dargelegt habe, die im Mittelalter in den Küchen- gärten viel gepflanzte Erbse (Pisum sativum), die Lieblingsblume der deutschen Hausfrauen. Eine gut bestimmbare mittelalterliche Bohnen- darstellung fände sich nach Körnicke (a. a. O. S. 141) bei Rinio,*) einem farbigen Bilderwerk aus dem Jahre 1 4 1 5 auf der S.Markus- Bibliothek in Venedig. Er hält die Pflanze für Dolichos melanophthalmus DC. Merkwürdigerweise führt aber Saccardo*) in seiner neuesten Pflanzen- chronologie, obwohl er sonst Rinio oft zitiert, dieses Bild nicht auf Saccardo hält auch Vigna unguiculata (wohl identisch mit sinensis) für die Bohne der Römer; aber als erste italienische Quelle (Besprechung) gibt er erst Cortuso (1591) an. Wir haben also für die Kultur der (schwarz- äugigen) Vigna-Bohne im Altertum als sicheren Beleg nur die Abbildung bei Dioscorides und die Beschreibung bei Albertus Magnus, die anderen Berichte sind zu vag und Grabfunde sind gar nicht auf uns gekommen. II. Mit dem Beginn des 16. Jahrhunderts tritt eine andere Bohne (Phaseolus vulgaris L.) in den Vorder- grund, bei den Pflanzenvätern sowohl wie in den Reiseberichten über Amerika. Nach Asa Gray und H. Trumbull (s. o.) werden schon im ersten Reiseberichte des Co- lumbus Bohnen erwähnt. °) Drei Wochen nach seiner Landung bei Nuevitas in Cuba sah er Felder mit ,,faxones und fabas, die sehr verschieden von denen in Spanien waren", bepflanzt und zwei Tage hernach traf er an der Nordküste von Cuba wieder „Land gut kultiviert mit diesen fexoes und habas". Die Wörter fexones, fexoes sind gleichbedeutend mit frejoles und judias, d. h. Bohnen. Dann spricht Oviedo (1525 — 1535) von „fesoles, wie die Spanier sie heißen und von den denen ') Ebenda S. 137. Abb. 2 u. 3. *) Die Blume der sog. ,, Madonna mit der Wickenblütc", Zeitschrift für christl. Kunst (Düsseldorf 1909) Sp. 305 — 310. ') Rinio Benedetto 1415 — 1430. Liber de simpli- cibus. Ich habe das (bisher unediertej Werk nicht gesehen. *) P. A. Saccardo, Cronologia della Flora Italiana (Padova 1909) S. 172. '') Bei Petrus Martyr finde ich keine Andeutung von Bohnen. N. F. XVIII. Nr. 22 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 309 viele Arten in Westindien vorkommen". Oviedo gebraucht auch das Wort im gleichen Sinne wie judias und bemerkt an einer Stelle (lib. XI c. i), daß die Spanier solche nach Amerika gebracht hätten, daß es aber nicht nötig sei, mehr Samen zu bringen ; denn die Eingeborenen besonders in Nicaragua bauen selbst viel Bohnen und zwar in verschiedenen Farbensorten. Von jetzt ab, sagen Asa Gray und H. Trum- bull, ist fast in jedem Berichte über Amerika im Zusammenhang mit Maft auch von Bohnen die Rede. Eine Zusammenstellung dieser Quellen siehe bei Wittmack in dem Aufsatz gegen G. Gi- bault(S. 6). Abbildungen dieser amerikanischen Bohnen scheinen in den betreffenden Werken zu fehlen ; ich glaube eine solche auch bei O v i e d o , ^) der mehrere amerikanische Pflanzen erstmals ab- bildet, nicht gesehen zu haben. Abb. 2. Erste Darstellung der Gartenbohne (Phaseolus vul- garis L.) bei L. Fuchs, New Kreutterbuch (1543) Taf. 404 (farbiger Holzschnitt, fol.). Gr. '/j. Der erste, der l'haseolus vulgaris gut abbildet, ist der deutsche Botaniker L. Fuchs (1543);-) sie erscheint auf Taf. 404 (cap. 269) unter dem Titel „Welsch Bonen oder Faselen", als eine Stangenbohne mit violetten Blüten und rötlich- braunen, dunkelgestreiften Samen (vgl. Abb. 2). Fuchs hält diese Bohne für die Arten Smilax kepaea, Dolichos und Faseolus der Alten. Die Vigna- (Dolichos-) Bohne im jetzigen Sinne kennt er nicht. Er stellt allerdings seine Bohne auch als sehr zart hin, die nur in Gärten wachse, „ein recht Summer gewechß", das keinen Reif vertragen kann, frühzeitig in die Erde gelegt werden muß, im ,,Hewmonat" (Juli) blüt und im August zeitig wird. Die Samen seien verschiedenfarbig (rot, schwarzgesprenkelt, fleisch- oder leberfarben, schnee- weiß, weißgrau oder gelb). Woher die Pflanze gekommen, darüber läßt Fuchs nichts weiteres verlauten. Bei C. Gesner (1561)^) führt die Gartenbohne den Namen „türkische" (Phaseolus turcicus). Der sonst sehr nüchterne Forscher ist entzückt von ihrer Schönheit: sie sei etwas größer als die unserige (Faba?) und stelle das menschliche An- gesicht mit wunderbar natürlicher Kunst dar, was Stirne, Augen und Nase betrifft, wenn man nur die Fußteile wegläßt; das Gesicht -) sei gleichsam mit zwei Hoden (testibus) verstärkt und mit einem Kinn versehen; nihil certe humanae faciei natura similius fecit (Cardanus). Über die eigentliche Herkunft der Pflanze erfahren wir auch bei Gesner nichts. Die Namen ,, welsch und türkisch" gehen einfach auf ausländische Pflanzen. P. A. M a 1 1 h i o 1 i , •') der berühmte italienische Pflanzenvater, bespricht beide Bohnen (Vigna und Phaseolus), ohne sie jedoch scharf auseinander- zuhalten, wie das bei ihrer großen äußerlichen Ähnlichkeit leicht der Fall sein kann. Die Ab- bildung, ein (nicht farbiger) Holzschnitt, zu dem Kapitel Phasioli gehört nach meiner Auffassung wirklich zu Phaseolus.'') Matthioli spricht be- reits von einem feldmäßigen Anbau der (weißen) Bohnen und „möchte der Ansicht sein, daß diese Pflanzen schon in früherer Zeit bekannt waren, wenn man auch meint, daß einige erst neulich in Italien auf den Markt gekommen seien". Gerade diese Bemerkung erscheint mir von großer Bedeu- tung für unsere Frage. Ein anderer italienischer Botaniker des 16. Jahr- hunderts, der römische Arzt Castore Durante, bildet in seinem Werke"*) S. 179 deutlich eine Stangenbohne ab und bemerkt, daß es verschiedene Bohnen gebe, weiße, rote, gelbe und gesprenkelte. Er schildert dann wie Matthioli eingehender eine weiße, schwarznabelige Form, offenbar eine Do- lichos-Art. Gesät werden die Bohnen im Monat Mai und manchmal nach der Ernte. In dichterischer Form beschreibt er die Wirkungen der Bohnen, ') ^S'- rocinen Artikel „Zur Geschichte der Ananas und Agave" in dieser Zeitschrift N. F. XVIII. Bd. S. 498. 2) New Kreutterbuch usw. Basell, Isingrin 1543. ') De hortis Germaniae liber, in Valerii Cordi Annota- tiones in Dioscoridem Fol. Straßburg 1561, S. 272. Vgl. auch Wein, R., Deutschlands Gartenpflanzen um die Mitte des 16. Jahrhunderts in Beihefte z. Bot. Centralbl. Bd. XXXI (1913) Abt. II S. 496. -) Von einer „Gesichterbohne", die in der Propstei (Kreis Plön) früher angebaut wurde, s. bei Fischer-Benzon (a. a. O. S. 100); der Autor denkt dabei an eine Dolichos- Art. ^) Commentarii in VI libros Dioscoridis usw. (Ausgabe von Venedig ISÖ5) S. 427 — 431: „Phasioli sunt in Italia vul- gares et in hortis ac arvis frequentes. Diversa eorum haben- tur genera, variis coloribus distincti usw. Quos superiori quoque aetati cognitos fuisse putaverim, etsi nonnullos eos nuper in Italia venisse existiment" (S. 428). ■*) Nach G. V. Martens soll die Abbildung Dolichos (Vigna) melanophthalmus vorstellen; s.L. Wittmack in der Schrift gegen Gibault S. 7. Ich finde in meiner Ausgabe von Martens jedoch die Bestimmung des Bildes nicht. '"■I Herbario nuovo di Gas tore Durante usw. In Koma, Barth. Bonfadino et Tito Diani 1585. S. 179. 3IO Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 22 die damals noch nicht so sehr wie heute als Ge- müse, sondern mehr als (geschlechtliches) Reiz- und Heilmittel geschätzt waren. Aegre Phaseolus coquitur, conflatque, calorem et Humorem inducit; venerem slimulatque deinde Et semen generat ; non tarn nocet inde, sinapi Si mixtus, vel si cum cari semine edatur. Somnia tetra facit, magnoque referta tumultu, Dum virides siliquae ac tenerae elixantur, et inde Cum pipere, atque sale, atque oleo, tum denique aceto Conditae oxibaphum (Essignapf) faciunt, ac dantur in escam, Phaseolus mansus tum morsus sanat equorum Illitus; et lucis (Schminke) mulierum jungitur ipse. In Italien taucht unsere Gartenbohne später auf als in Deutschland, wo sie wie gesagt zuerst L. Fuchs abbildet und zwar unter dem Namen „welsche Bohnen". Nach Saccardo (a. a. O. S. 172) ist sie jedoch schon einige Zeit vor Matthioli nachweisbar und zwar im Herbarium von PetroUini und Cibo 1550. In einem anderen alten Herbar, das aus der Zeit von 1570 — 1600 stammt, dem „Ducale Erbario Estense", das z. B. den Tabak und die Kapuzinerkresse enthält, ^) fehlt wieder die Gartenbohne. Es wird wohl nur Zufall sein, daß sie in Italien später als in Deutsch- land nachweisbar ist, und es ist zu vermuten, daß sie auf dem Weg über Italien oder Spanien und Belgien zu uns gebracht wurde. Merkwürdig ist jedoch, daß der berühmte bel- gische Botaniker R. Dodonaeus'-) (1569) zwar genau zwischen Dolichos und Phaseolus unter- scheidet, letztere auch in einem schönen Holz- schnitt (S. 104) vorführt und als eine in Italien und Rom gewöhnliche Gemüsepflanze hinstellt, aber nichts von ihrem amerikanischen Ursprung weiß, während er bei anderen amerikanischen Pflanzen Mais und Sonnenblume ausdrücklich auf ihre Herkunft aus der neuen Welt aufmerksam macht. Am eingehendsten beschäftigt sich mit den Bohnen unter den Pflanzenvätern C. Clusius, und zwar besonders in dem 1583 gedruckten Buch über die österreichisch ungarische Flora. ") Er spricht darin von afrikanischen, amerikanischen und anderen Bohnenarten ; 'der Text ist illustriert mit 6 Holzschnitten, meist Stangenbohnen (S. 722, 723, 727, 729 u. 730), einmal auch eine Busch- ^) ^g'- J' Camus cd. O. Penzig, lUustrazione del Du- cale Erbario Estense ... in Modena. Modena 1885. ^) Historia frumentorum leguminum usw. Antverpiae Plantini 1569 S. 103 — 107. De Dolicho sive Phaseolo. Be- sonders S. 106: lam et faselus, Ilaliae quidem ac Komae vul- gare olim fuit legumen ; dolichos vero peregrinura. Nam sa- tionis faseli, Columella et Palladius rei rusticae scriptores me- mineruüt et vilem eum Vergilius appellat : Si vero vitiam seres vilemque taselum. De satione vero Dolichi nemo Latinarura scripsit, utpote qui in Italia rarus fuerit, atque in hortis tantum satus , vcluti Galenus innuit, eum subinde plantam hortense noniiaans . . . ^) Caroli Clusii Atrebatis rariorum aliquot Stirpium per Pannoniam, Austriam usw. observatarum historia 4 libris expressa. Antvcipiae 15S3. Clusius wird von den Autoren, die über die Buhnenl^rage geschrieben, merkwürdigerweise wenig berücksichtigt. bohne (S. 726). Die Titel dieser Bilder heißen: Phaseolus I sive Africanus (S. 722) ; Ph. Pur- kircherianus II (S. 723); Ph. Ill sive Americanus elatior (S. 726); Ph. III Alubias de Indias (S. 727); Ph. V sive Aegyptiacus (S. 729, 7 30). Die erste Art (Abb. S. 722) hat weiße Blüten und weiße, schwarzadrige Samen; sie scheint mir eine Zebra- oder Pantherbohne (Ph. vulgaris zebra oder Pardus Sav.) i) zu sein. Clusius erhielt diese Art 1576 durch den Archiater von Posen G. Purkirch er, der sie aus Neapel nach Ungarn gebracht, jedes Jahr eingesetzt und als beständig gefunden hatte (S. 742J. Clusius baute die Bohne ebenfalls an; sie wurde aber (infolge der vorgerückten Jahreszeit) nicht mehr reif. Er er- innert sich dann, daß er früher einmal dieselbe Bohne als „afrikanische" bekommen, und bemerkt: „ex Africa Italos primum accepisse verisimile est" (S. 731). Eine zweite (nicht abgebildete) Art hat den Namen „Ph. niveus minor, sive de Guatimala". Es ist offenbar eine amerikanische Bohne; die Blüten sind nach Clusius weiß, später gelblich, die Samen klein elfenbeinartig und glänzend weiß — vielleicht die Reisbohne (Ph. gonospermus ory- zoides Mart.) nach V. Martens (S. 48). Bei der dritten ebenfalls amerikanischen Art, die unter dem Namen „lobi americani maiores" erscheint, handelt es sich um eine Stangenbohne. Der Stengel läuft bei ihr purpurn an, die Blüten sind groß, erbsenförmig, außen weißlich, innen bläulichpurpurn, die Hülsen sehr lang, schlank und zylindrisch, die Bohnen Anagyris-Samen- ähnlich, kleiner als bei anderen Sorten und von rötlicher Farbe. Clusius erhielt diese Art 1576 aus Spanien unter dem Namen „Alubias de Indias" (S. 731). Es könnte hier die Kardinalsbohne (Ph. sphaericus purpureus Martens Taf. VII Abb. 10) gemeint sein, von der auch V. Martens (S. 71) bemerkt, daß sie eine der ältesten Sorten sei. Die vierte Art ist verschieden von den übrigen und der Beschreibung nach eine Buschbohne mit kurzem, festen, etwa fußhohen Stengel. Die Früchte sind schneeweiß und haben einen schwarzen Nabel- fieck, sowie einige schwarze Punkte an den Seiten. Clusius betrachtet sie als amerikanisch, da er sie „lobi americani minores sive pumiliones" heißt; er erhielt sie 1576 von Dodonaeus, der diese Frucht 1575 auf dem Prager Burggarten be- obachtete und sammelte, ferner 1577 aus Spanien. Ich vermute unter dieser auch als frühreif be- zeichneten Art eine Vigna-Form, zumal ihr schwarz- nabelige Samen zugeschrieben werden. Die fünfte Art, als Phas. aegyptiacus bezeich- Det und zweimal (S. 729 und 730) abgebildet, wurde Clusius 1578 durch Bernard Palu- danus von einer Reise aus Syrien und Ägypten überbracht. Die Bohne erwies sich als so zart. ') In der Bestimmung der einzelnen Arten halte ich mich an das Werk v. Martens und nicht an die neuere Einteilung von Comes. N. F. XVIII. Nr. 22 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 3" daß sie kaum durchzubringen war; erst 1582 ge- lang es Clusius, eine zum Blühen zu bringen. Im Jahre 1583 bekam er ägyptische Bohnen auch aus Italien. Nach seiner Beschreibung und Abbildung handelt es sich um Stangenbohnen mit starker Verzwei- gung über der Wurzel, rotwerdenden Stengeln, sehr kleinen Blättern und gelblichen Blüten. Die Bohnen sind klein, kaum größer als die des Goldregens, an der Schneide beiderseits etwas stumpf, schwarz oder vielmehr schwarzgrün. Es dürfte sich hier wohl um Vigna nilotica handeln, von der die Blüten als gelblich und die Samen als grünbraun geschildert werden.^) , Auch unter dem Namen Leplap erhielt Clu- sius (S. 731) von dem genannten Orientreisen- den Paludanus eine Bohne, die jedoch nicht keimen wollte. Unser Autor stellt auf S. 732 oben in einem Holzschnitt die Hülse, kurz und aufge- blasen vor, und den Samen schwarznabelig — offenbar Dolichos Lablab L.") Eine spanische Bohne kam Clusius (S. 733) endlich in Köln, Herbst 15SJ, als er von England zurückreiste, bei der vornehmen Witwe C. V. D. Hoper zu Gesichte. Die Bohne hatte schmale Blätter, eine ziemlich kleine flache Frucht von etwas rötlicher Farbe (subrubro colore). Sie geht in Spanien unter dem Namen ,,frizoles Guateli". Ob die bei diesem Kapitel (auf S. 732 unten) er- scheinenden zwei als Mates fructus Indicus be- zeichneten Bohnen hierher gehören, ist nicht recht ersichtlich. Auch der Nachtrag bei Clusius (Appendix) gibt keine Aufklärung. Körnicke'') denkt anscheinend bei dieser spanischen Art an Dolichos; die genannten zwei Zeichnungen zeigen aber keinen schwarzen Nabelfleck. Von speziell südamerikanischen, brasilianischen und peruanischen Bohnen spricht Clusius erst- mals 1593 in dem von ihm in 4. Auflage heraus- gegebenen Medizinalwerk des Gargia ab Horto *) (S. 375—377)- Die eine Art (Abb. S. 375) wurde ihm in Lissabon als brasilianische Bohne bezeichnet ; sie ist dick, daumenbreit, rötlich und hat einen großen, am äußersten Ende sitzenden Nabel. Die Hülse ist sehr groß, rund und jung schon rot ; sie ent- hält 4 — 5 Samen. Die Blüte soll rotverbleichend sein. Die Blätter waren, wenigstens bei den aus den Samen gezogenen Exemplaren kleiner als bei den gewöhnlichen Bohnen und auf der Unter- seite behaart, ferner die Stengelspitzen weich ') Vgl. G. Post, Flora of Syria (Beirut ca. 1895) S. 296. '-) Vgl. G. Post, 1. c. S. 296, der diese Art ähnlich schildert. '■') A. a. O. S. 144. Die Abb. „stellt eine andere Art als Phascolus vulgaris vor, die sich aber wohl bestimmen lassen wird. Spanische Bibliotheken dürften hier vielleicht weitere Auskunft geben, namentlich Manuskripte vor der Entdeckung Amerikas". *) Aromatum et Simplicium aliquot medicamentorum apud Indos nascentium historia: primum quidem Lusitanica linga dialogikos conscripta a D. Gargia ab Horto, Proregis In- diae Medico. 4. edit. Antverpiae Plantin 1593. und rötlichfilzig. Im Brasilianischen heißt die Art IVIacouna. Dann sah Clusius zu Lissabon in einem Kloster eine purpurblütige Bohne als Zierpflanze angebaut: Die Hülsen derselben rauh (scabrae), kürzer und zweimal so breit als bei unseren ge- wöhnlichen, die Samen klein, erbsengroß und ganz schwarz bis auf den weißen Nabelfleck. Die Bohne sei in Brasilien sehr häufig und werde von den Portugiesen „faba brava" genannt. Abgebildet wird sie von Clusius auf S. 376 als Ph. alter Brasilianus. Ich vermute hinter dieser Art wegen der rauhen Hülse eine Form der Feuerbohne, vielleicht Ph. multiflorus Lk., var. niger Martens. Allerdings sollten die Samen größer sein. Die erste Er- wähnung dieser Art wird gewöhnlich auf das Jahr 1635 datiert (vgl. Martens S. 79). Clusius kaufte ferner im Jahre 1579 in London auf dem Markte beim Reeder Gallus brasilianische Bohnen ; sie waren größer und breiter als die gewöhnlichen, aber ebenso variabel : gelb, rein weiß, auch schwarz oder purpurn, ferner weiß und purpurn gesprenkelt. Stengel und Blätter waren an Exemplaren, die von den Londoner Freunden unseres Autors gezogen wurden, gleich denen der gewöhnlichen Bohnen; Hülsen wurden nicht gewonnen. In demselben Buche ist ein Brief an Monar- des abgedruckt, worin (S. 397) erstmals (?) von peruanischen Bohnen die Rede ist. Die Pflanze, heißt es, sei einer Pferdebohne (Faba) ähnlich, aber kleiner und soll anfangs März gesät werden. Sie wurde (nach der Anmerkung, die anscheinend von Clusius stammt) aus Spanien dem Kaiser Max II. selig. And., ein Jahr vor seinem Tode überreicht. Die Bohne, Macoiina-ähnlich, aber flacher und länger und mit kleinerem Nabel, heißt „Haba de India" (faba indica). — Eine Abbildung fehlt; es scheint der Beschreibung nach eine Buschbohne ge- wesen zu sein. L. Witt mack bemerkt einmal,') daß er alle Bohnen, die er aus Peru untersuchte, als niedrig wachsende, halbflache Dattel- und Eier- bohnen befunden habe. M. E. liegt hier die erste sichere Nachricht von einer amerikanischen Busch- bohne vor (Phaseolus vulgaris v. nanus). Wie wir aus diesem Bohnenverkehr, den Clu- sius unterhielt, ersehen können, waren diese Pflanzen und Früchte damals noch nicht Gemein- gut des Volkes; wurden sie sogar höheren Persön- lichkeiten verehrt I Hier wäre auch zu erwähnen, daß 1579 Nathan Chytraeus an seinen Ge- vatter Samuel Schönemann (Caloander) in Mecklenburg ein Gericht Stangenbohnen als große Seltenheit schickte, zugleich mit einer dichterisch gehaltenen Anleitung zum Kochen.-) Auch in ') In Compte rendu du Congres international des Ameri- canistes. 7. .'^ess. (Berlin 1S8S) und Naturw. Wochenschr. V. (Jena 1890) S. 338. ^) Ebenda. Vielleicht ist der lateinische Hexameter, dessen Wortlaut nicht angegeben ist, übereinstimmend mit obigem Gedichte bei C. Dur ante. 312 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 22 den botanischen Gärten des 1 6. Jahrhunderts muß die Gartenbohne nicht viel gezogen worden sein. Merkwürdig ist, daß Gr. Kraus ihrer gar nicht ge- denkt in seiner ,, Geschichte der Pfianzeneinführungen in die europäischen botanischen Gärten" (Leipzig 1894), obwohl er doch von den Studien Witt- macks wissen mußte. Ich finde die Pflanze außerdem aufgeführt im Hortus medicus von J. Camerarius (1588)') undjo. Oberndorff (1621) in Regensburg.'') Dagegen fehlt sie wieder in dem berühmtesten Garten jener Zeit im Hortus Eystettensis (1613).'') In der Kunst entdecke ich die Gartenbohnen (Phaseolus vulgaris) erstmals auf einem Bilde Jan Brueghels d. Ä., darstellend den „Sommer" (München, Alte Pinakothek Nr. 709): neben vielen anderen Früchten, Trauben, Melonen, Feigen, die herbeigeschleppt werden, sind auch Bohnen zu sehen. Das Bild stammt aus dem Jahre 1616. In den Blumengewinden von D. Seghers (1590 bis 1661), einem Schüler J. Brueghels, kann man ' ebenfalls Bohnenblüten entdecken (Phaseolus vulgaris und multiflorus), so auf dem Bilde in der Münchener A. Pinakothek Nr. 972. Ein anderer, holländischer Künstler Otto Marsäus (16 19 — 78) verwertet einen blühenden Bohnenzweig (viell. ') Hortus medicus et philosophicu; usw. Francofurti 158S. -) Horti medici, qui Ratisbonae est, descriptio (Ratisbonac 1621); ,, Phaseolus varii coloris". ^) ^s'' J- Schwertschlager, Der bot. Garten der Fürstbischöfe von Eichslätt. Daselbst 1S90. Phaseolus multiflorus) zu einem Stilleben (Dresden, Gemäldegalerie Nr. 161 3), und Fr. Hamilton (um 1700) malt einen abgeschnittenen Bohnen- stengel, umschwärmt von verschiedenen Schmetter- lingen (Schleißheim, Galerie Nr. 11 33). Es ist wohl kein Zweifel, daß Phaseolus vul- garis eine jüngere Erscheinung im Florenbilde Europas darstellt. Für die Heimat derselben in der Neuen Welt wurden . zuerst linguistische Gründe, besonders der Mangel eines Sanskrit- namens, ins Feld geführt. Zwar meint Com es, daß dieser Umstand nicht so stark betont werden dürfe und nur zu dem Schlüsse berechtigen könnte, daß die Bohne eben früher nicht angebaut wurde, weil man sie für giftig oder schädlich hielt oder überhaupt nicht beachtete. Vielleicht sei sie öst- lich oder nördlich von Indien beheimatet.^) Aber es ist immerhin sehr auffallig, daß von Phaseolus vulgaris aus dem Altertum gar keine Grabfunde sich erhalten haben, daß auch keine Bilder für sie in Anspruch genommen werden können, während wenigstens der erstere Punkt für die Theorie vom amerikanischen Ursprung als Be- weisgrund in die Wagschale geworfen werden kann. ') Ich möchte hier hinweisen, daß der Name, den die Osttürken für die Bohne haben (däudar oder dit dir), nach A. T. leCoqu chinesisch sein soll (Liste osttürkischer Pflanzen- namen in Baesslers Archiv Bd. VI Heft 3 (1917) S. 124). Auch das hindostanische Wort Bakla kommt bei den Osttürken für die Bohne vor (Birdwood, Cat. of the Veg. Prod. of Bom- bay 122 nach Wittmack a. a. O. S. 179 Anm. 3). Zur Sozialisieruug der Wasserversorgung, des Grundwassers und der (Juellen. [Nachdruck verboten.) Von Dr. W. Kranz, Major z. D. I. Die vom Württembergischen Arbeitsministerium im Januar 1919 herausgegebenen ,, Leitsätze" nehmen einen Wirtschaftszweig für die Soziali- sierung in Aussicht, der neben dem Bergbau den Geologen ganz besonders interessiert und in hervorragendem Maße geologischer, techni- scher und hygienischer Beaufsichtigung bedarf: Die Wasserversorgung. Dal3 sie über kurz oder lang sozialisiert werden muß, er- scheint vom Standpunkt dieser drei Wissensgebiete nicht zweifelhaft. Sind doch die vielen Sünden, die vor allem auf dem Lande gegen die einfach- sten gesundheitlichen Grundsätze bei der Wasser- versorgung vorkommen, ') in der Hauptsache darauf zurückzuführen, daß sie bis jetzt vielfach dem Gutdünken des einzelnen preisgegeben war. Mangelnde Sachkenntnis, altgewohnter Schlendrian und unangebrachte Sparsamkeit haben dort Miß- ') Vgl. darüber u. a. H, Holler, Wasserversorgung in Ortschaften und auf dem Lande. München 1914. — A. Gaert- ner, Die Hygiene des Wassers, 1915, S. 424 ff. ~ Lued e cke , Die Wasserversorgung von ländlichen Ortschaften und Einzel- gehöften. Frühlings Landwirtschaft!. Zeitung, Stuttgart 1908, Jahrg. 57, Heft 7; Gesundheitsingenieur 1908, ö. 296 f. Stände erzeugt, die bei der Vergesellschaftung hoffentlich abgestellt und künftig vermieden werden. Zu berücksichtigen bleiben ferner, wie schon die genatinten Leitsätze andeuten, der Arbeitsmarkt, die Arbeitslöhne, die Tätigkeit der beteiligten Unternehmer und Handwerker, der verschiedene Reifegrad großer und kleiner Wasserversorgungs- anlagen zur Sozialisierung und deren Rückwirkung auf die Finanzen des Staates, der mit Wasser zu versorgenden Gemeinden und Einzelsiedelungen sowie auf das Lohn- und Preisniveau. Man darf wohl annehmen, daß alle diese Gesichtspunkte in der Württembergischem Unterkommission Aus- schuß III, der sich u. a. mit der Frage der Sozia- lisierung der Wasserversorgung zu befassen hat, eingehend beleuchtet werden, unter Heranziehung von Vertretern des Baufaches, des Baugewerbes, der Geologie und Hygiene. Da die Durchführung jeglicher Vergesellschaftung in Württemberg frühe- stens nach Abschluß des Friedens mit der Entente vorgesehen ist und die Ausschüsse ihre Arbeit bereits begonnen haben, erscheint eine gründliche Durcharbeitung aiich dieses Sondergebietes unter Vermeidung von Überstürzung gewährleistet. Bis in die neueste Zeit hat die bestehende N. F. XVm. Nr. 22 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 313 Gesetzgebung und Rechtsprechung') besonders das Grund- und Quellwasser recht stief- mütterlich behandelt, z. T. sind noch Bestimmungen aus dem römischen Recht, aus deutschen Rechts- büchern des Mittelalters — Sachsen-, Schwaben- spiegel — und aus dem Code civil in Geltung und begegnen uns selbst in der modernen Wasser- gesetzgebung, so daß Urteile des Reichsgerichts bis in die neueste Zeit unser Befremden erregen. Was dabei dem Sozialisierungsgedanken am meisten widerspricht, ist das in deutschen Wassergesetzen immer wiederkehrende Eigentumsrecht des Grundstückbesitzers auf Grund- und Quellwasser. Daher konnte es vorkommen, daß eine badische Gemeinde in allen Instanzen bis zum Reichsgericht mit ihrer .Klage gegen einen Nachbar abgewiesen wurde, der ihr ein uraltes Recht auf ihre Quellwasserversorgung durch Abgrabung der Quelle auf seinem eigenen Grundstück entzog: Ein krasser Fall von Bevor- zugung einer Einzelperson gegenüber der Allge- meinheit, lediglich aus juristischen Gründen, ab- gesehen von den vielen IVlöglichkeiten gegenseitiger Schädigung von Grundstücksbesitzern durch manche unsoziale Bestimmungen des jetzigen deutschen Wasserrechts : Verunreinigen von Grundwasser und Quellen, Beeinträchtigung und völlige Ent- ziehung des unterirdischen Wasserzustroms, Ver- mindern und Versiegen von Brunnen und Quellen, Verlegen und Verschütten von Quellen, nur vor- ausgesetzt, daß es sich nicht um Schikane handelt. Dazu schauen aus so manchen dieser Gesetze, Rechtssprüche und Polizeiverordnungen juristische Spitzfindigkeiten und der bezopfte Charakterkopf des heiligen Bürokratius heraus, der in das Zeit- alter der Sozialisierung auch nicht mehr hinein- paßt. Andererseits sind Fortschritte bei den neuen deutschen Wasser- und Quellenschutzgesetzen -) nicht zu verkennen; sie wollen besonders das Gemeinwohl schützen, und es ist nur zu be- dauern, daß sich der Schutz bisher fast durchweg auf öffentlich benutzte Heilquellen beschränkte. Gewöhnliche Trinkwasserversorgungen sichert nur die Schweiz genügend, indem dort Abtretung des umliegenden Bodens auf dem Wege der Enteignung verlangt werden kann, ä) und ähnlich Frank- reich. *) In Preußen wollte man durch polizei- liche Anordnungen, Bestellung von Grundgerech- tigkeiten, Flurregulierung und Anträge auf Ver- ') Ich folge .hierbei im allgemeinen den Ausführungen von Amtsgerichtsrat H. Keil hack (Brandenburg a. H.), vgl. die 2. Aufl. des Lehrbuchs der Grundwasser- und Quellen- kunde von K. Keilhack, Berlin 1917. '') Wassergesetz Hessens von 1S87; Badens vom 26. 6. 1S99; Württembergs vom I. 12. 1900; Bayerns vom 23 3. 1907; Sachsens vom 12. 3. igog; Preußens vom 7. 4. 1913. — Quellenschutzgesetz Württembergs vom I. 12. 1900; Wal- deck-Pyrmonts vom 21. 7. 1906; Bayerns vom 23. 3. 1907; Sachsens vom 12. 3. 1909; Preußens vom 14. 5. 1909; außer- dem von Koburg-Gotha, Sachsen-Meiningen, Hessen-Nassau. In Deutsch - Österreich sind die einschlägigen Vorlagen noch nicht Gesetz geworden. ■') Schweizerisches Gesetzbuch vom 10. 12. 1907, Art. 712. ■*) Gesetz vom 15. 2. 1902, Art. xo. leihung des Enteignungsrechtes ausreichenden Schutz erzielen;') tatsächlich sind aber kommu- nale Wasserleitungen ungeschützt. -) Auch Tafel- wasserquellen sind in Deutschland ohne Schutz, trotz ihrer Bedeutung schon für die Steuerpolitik. Die jetzigen Wassergesetze gewähren im all- gemeinen dem Eigentümer eines Grundstücks die Zutageförderung von unterirdischem Wasser für die eigene Haushaltung und Wirtschaft unein- geschränkt. Auch durch die bestehenden Brunnen-Polizeiverordnungen ist dies Recht meist nur wenig eingeengt worden, wie schon die zahl- reichen Sünden gegen die Brunnenhygiene be- weisen, trotz strengerer Anforderungen der Gesund- heitspolizei. Für seinen Privatgebrauch kann noch jetzt der Grundstückseigentümer so ziemlich machen, was er will, vor diesem Recht haben die bisherigen gesetzlichen Eingriffe Halt gemacht, aber die Ent- wicklung namentlich der Hygiene rechtfertigt weitere Einschränkungen der Verfügungsbefugnis des Grundeigentümers über das unterirdische Wasser und seine Förderung aus volkswirtschaft- lichen Gründen. Denn durch unsachgemäße, na- mentlich unhygienische Maßnahmen bei der Wasser- versorgung kann der Eigentümer nicht nur sich, sondern auch seine Hausgenossen und Arbeiter gefährden, abgesehen von der Möglichkeit einer Schädigung des Viehes. In klüftigem Boden über- tragen sich solche Gefahren bisweilen auf weite Strecken, was u. a. auch durch Düngung erfolgen kann. Gegen all dies muß sich die Volkswirtschaft schützen, m. E. durch Entziehung des Eigen- tumsrechtes der Grundstücksbesitzer auf Grundwasser und Quellen, sowie dauernde behördliche Überwachung der Wasserversorgungsarbeiten und -anlagen. Ebenso müssen die noch unbenutzten unterirdischen Wasservorräte für die Allgemeinheit beschlagnahmt werden, schon im Hinblick auf zukünftige Mög- lichkeiten. Wer das Wasser wirklich benötigt, dem kann es durch „Verleihung" oder „Sicher- stellung" gewährt werden, Begriffe, die auch das bestehende Recht schon kennt. Dabei lassen sich vielleicht die jetzigen Landesgesetze, soweit sie solcher Sozialisierung nicht widersprechen, unter Bevorzugung der Allgemeinheit vor Einzelpersonen als Anhalt für die entscheidenden Verwaltungs- behörden und Gerichte vorläufig beibehalten, bis die schwierige Materie reichsgesetzlich ver- einheitlicht werden kann. Nur der Schutz müßte sofort auf alle Quellen und Grundwässer ausgedehnt werden, gleichfalls im Hinblick auf zukünftige Möglichkeiten. Wem durch alle diese Maßnahmen andern gegenüber ein tatsächlicher — nicht auch ein niu" denkbarer — Schaden er- wächst, der kann dafür wie bisher nach billigem Ermessen entschädigt werden, wobei andererseits der ihm durch die Wasserversorgung erwachsende ') Preußische Anleitung für die Einrichtung öffentlicher Wasservcrsorgungsanlagen vom 23. 4. 1907. '-) Kommissionsbericht zum Quellenschutzgcsetz vom 14. 5. 1909. 314 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 22 Vorteil wie schon jetzt anzurechnen sein wird. Gegenseitige Schädigung von Nachbarn ist dabei möglichst zu verhindern. II. Obwohl also die rechtlichen Grundlagen für eine behördliche Aufsicht und Überwachung der Wasserversorgung bis jetzt vielfach fehletj, wurden doch — namentlich in Württemberg — viele solcher Anlagen unter behördlicher Leitung und Mitwirkung von Geologen , technischen Wasserfachleuten und Hygienikern durchaus sach- gemäß ausgeführt und überwacht. Die genannten „Leitsätze" bezeichnen aber die „restlose Durch- führung der Vertretung der Gesellschaft als Auf- sichts- und Überwachungsorgan" als wesentlich, und mit Recht. Wer die oft trostlosen Zustände der Wasserversorgung in Einzelsiedelungen und Dörfern der westlichen Kampffronten kennen lernte ') — bakterienreiche Brunnen in nächster Nähe von Abfall-, Mist-, Jauche- und Abortgruben, verschmutzte Quellen aus durchlässigen Böden unter Dörfern, ungefaßte trübe Wasserlöcher und -Rinnen zur Versorgung von Gehöften usw. — der wird zugeben, daß hierin kein Nachgeben mehr zu dulden ist : Alle Wasserversorgungsanlagen sind restlos unter behördliche Aufsicht zu stellen, sowohl bei ihrem ersten Bau wie bei der späteren Unterhaltung. Es darf nicht mehr gestattet wer- den, daß auch nur eine Einzelwasserversorgung ohne fachliche Aufsicht der Gesellschaft, d. h. des Staates, der Gemeinden oder anderer öffent- lich rechtlicher Verbände, hergestellt und auch späterhin überwacht wird. An dieser fachlichen „Leitung und Wirt- schaftsführung einzig und allein für die Ge- sellschaft und unter deren Mitwirkung" ist zu- nächst der Geologe-) in behördlicher Stellung zu beteiligen. Er allein kann die wichtigsten Unterlagen über die Boden-, Quell- und Grund- wasserverhältnisse, über die Herkunft des Trink- und Nutzwassers und etwa nötige Schutzmaß- nahmen bereitstellen. Die Vielgestaltigkeit und die zahllosen Möglichkeiten der natürlichen Ver- hältnisse verbieten jede Schematisierung, es ist daher auch nicht angängig, auf alle Wasserver- sorgungsanlagen dieselben Grundsätze anzuwenden, soweit die geologischen Unterlagen in Frage kommen; und da sich anscheinend einfach ge- lagerte Fälle in bodentechnischer Hinsicht als sehr schwierig herausstellen können — auch das haben 4 Jahre Stellungskrieg erwiesen -) — darf von Heranziehung des Geologen bei diesen Fragen nur in den seltensten Fällen abgesehen werden. Leider ist das bisher sehr oft geschehen, nament- lich die Urheber norddeutscher und elsaß-lothringi- scher Brunnen-Polizeiverordnungen kennen offen- ') W. Kranz, Geologie und Hygiene im Stellungskrieg, Stuttgart 1916; weitere Literatur dort. — Über Bodenfiltra- tion, Lage und Schutz von Wasserfassungen , mit besonderer Berücksichtigung militärischer Erfordernisse. Stuttgart 191 7. ^) W. Kranz a. a. O. 1916. bar nicht oder nur sehr mangelhaft die natürliche Tatsache, daß die Grundlage jeder Wasserver- sorgung die Geologie ist. Auch der preußische Erlaß vom 11. Februar 1905 sowie die vom Reichs- gesundheitsrat 1906 aufgestellte Anleitung nebst Erläuterungen und die preußische Anweisung von 1907 für die Einrichtung öffentlicher Wasserver- sorgungsanlagen fordern leider die Zuziehung von Geologen nur, „falls durch die gewöhnlichen hy- drologischen Vorarbeiten der Einfluß des Grund- wasserträgers auf die Wasserbeschaffenheit und Wassermenge nicht in zweifelsfreier Weise fest- gestellt werden kann", oder wenn „das erschlossene und als geeignet befundene Wasser zur Deckung des Wasserbedarfs nicht ausreicht, .... insbe- sondere wenn über die Grundwasserverhältnisse des betreffenden Gebiets noch keine sicheren Er- fahrungen vorliegen", sowie bei Bildung von Schutz- bezirken.'j Das genügt aber nicht, die Heran- ziehung von Geologen zur Wasserversorgung muß obligatorisch sein und darf dem Ermessen ■anderer, insbesondere der Techniker und Hygle- niker, nicht bloß anheimgestellt werden. Übrigens ist schon seit längeren Jahren im bayrischen Wasserversorgungsbüro ein beamteter Geologe vorhanden und wirkt dort mit vollem Erfolg. — Man mag sich auch zur Wünschelrutenfrage stellen, wie man will: Die ernste wissenschaftliche Arbeitsweise und die sicheren Grundlagen des Geologen wird der Wünschelmann nie ersetzen. Nach vorläufiger Klarstellung der natürlichen Unterlagen durch den Geologen tritt der behörd- liche tech nische Wasser fachmannin Tätig- keit. Er entwirft oder prüft die technische Ver- anlagung der Wasserversorgung einschließlich der Kostenanschläge in jedem Einzelfall, leitet oder über- wacht die Verdingung der Arbeiten, beurteilt die Angebote, leitet oder überwacht die Bauausführung und späterhin die Unterhaltung und den Betrieb der Anlagen. Während des Baues muß wiederum der Geologe die dabei geschaffenen künstlichen Aufschlüsse des Untergrundes in Bohrungen, Schürfen, Schächten und Baugruben an Ort und Stelle sorgfältig aufnehmen und die gesammelten Bodenproben wissenschaftlich bearbeiten. Dabei ist ihm auf Grund seiner Feststellungen nötigenfalls maßgebender Einfluß auf Einzelheiten der Bau- ausführung zu gewähren, z. B. auf die genaue Tiefenanordnung von Filtern, Absenken höherer Grundwasserstockwerke in tiefere durch Vorbohren, Sicherheitsmaßregeln für die Arbeiter gegen artesi- schen Wasserauftrieb oder Erddruck, Anordnung von Pumpversuchen u. dgl. Leider hat man auch davon früher meist abgesehen, der Geologe kam nicht mehr zu Wort; die vorzüglichen Er- folge geologischer Mitarbeit während der Bau- ausführungen in Stellungskrieg haben aber ihre Zweckmäßigkeit und Notwendigkeit zweifelsfrei bewiesen, ganz abgesehen von dem unschätzbaren wissenschaftlichen Kapital, das durch ') K. Keil hack a. a. O. 1917, S. 494, 497, 516. N. F. XVIII. Nr. 22 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 31S fehlende fachgeologische Beobachtung der künst- lichen Bauaufschlüsse im Untergrund verloren geht. Angaben von Technikern über die beim Bau angetroffenen Bodenverhältnisse können die wissenschaftliche Fachuntersuchung fast nie er- setzen, weil ihnen erfahrungsgemäß die dazu nötigen petrographischen, paläontologischen, strati- graphischen und tektonischen Vorkenntnisse meist fehlen. Das dürfte auch in Württemberg, dem klassischen Lande der Jünger Quenstedts und Engels, zutreffen. Hiernach ist geradezu ein Gesetz zu verlangen, nach dem jeder Bauauf- schluß im Untergrund der zuständigen geologi- schen Landesanstalt vor Ausführung angezeigt und den ihn besichtigenden Geologen einschließ- lich gewonnener Bodenproben zugänglich gemacht werden muß. Schon das grundlegende Gutachten über die Boden- und Grundwasserverhältnisse zum ersten Entwurf einer Wasserversorgung gibt dem Gesell- schafts-Hy gieniker die nötigen Unterlagen zur Beurteilung, ob die Wasserversorgung voraussicht- lich auch vom gesundheitlichen Standpunkt einwandfrei sein wird. Durch chemische und ' bakteriologische Wasseruntersuchung, durch Fär- bungsversuche u. dgl. zur Klarstellung von Ein- zelheiten über die Herkunft und etwaige Gefähr- dungsmöglichkeiten des Wassers ergänzt er nötigen- falls die geologischen Feststellungen, u. U. mit Heranziehung von Physikern und anderen Fach- leuten bei Sonderfragen. Danach lassen sich dann die etwa nötigen Schutzmaßnahmen für das Ent- nahmegebiet des Wassers oder technische Vor- kehrungen zu seiner Verbesserung, wie z. B. künst- liche Sandfiltration, im einzelnen feststellen. Auch während und nach der Bauausführung muß der behördliche Hygieniker maßgebend mitwirken, auf einwandfreien Abschluß der Trinkwasserfassungen gegen Tage- und Oberflächenwässer, namentlich aber gegen Jauche, Abwasser u. dgl. dringen, mit chemischen und bakteriologischen Untersuchungen Trinkwasserversorgungen vor Ingebrauchnahme prüfen und während des Betriebes überwachen, ihre Gefährdung durch andere Anlagen dauernd ver- hindern; letzteres nötigenfalls unter Heranziehung des Gesellschaftsgeologen, da hierbei wiederum Bodenfragen ausschlaggebend sein können. Auf die bakteriologische Untersuchung vor Freigabe von Trinkwasserversorgungsanlagen sollte niemals verzichtet werden, auch dann nicht, „wenn die örtliche Prüfung der Wasserentnahmestelle durch den zuständigen Kreisarzt völlig einwandfreie Ver- hältnisse ergeben hat", wie die genannte preußische Anweisung 1907 zulassen will. Denn es können Fehler technischer oder geologischer Art vorliegen, die dem Arzt entgehen, besonders wenn er die Bakteriologie nicht zu Wort kommen läßt.^) Soweit Wasserversorgung und Abwässerung nicht für Trink-, sondern für andere Zwecke in Frage kommt, müssen Fachleute der betreffenden Vgl. W. Kranz, a. a. O. 1916, S. 327. Industrien und Wirtschaftszweige (Forst-, Land- wirtschaft usw.) bei Entwurf, Bauausführung und Überwachung mitwirken. Einzelne größere Werke bedürfen oft Wassermengen, die für die Versor- gung einer Großstadt ausreichen würden.') Aber auch hierzu sollte grundsätzlich der Gesellschafts- Hygieniker und -Geologe herangezogen werden, schon weil eine Gefährdung der Quell- und Grundwasservorräte oder vorhandener Trinkwasserversorgungen in Betracht kom- men kann,-) ebenso wie speziellere Fragen bei Anlage von Staubecken.^) Zweifellos ist ja auch das Grund- und Quellwasser einschließlich der natür- lichen Mineralwässer zu den Bodenschätzen zu rechnen, die der Allgemeinheit gehören müs- sen, nicht Einzelpersonen oder Aktiengesellschaften u. dgl. (vgl. Abschnitt I dieser Abhandlung). Und die Gefahren für dies Allgemeingut durch un- zweckmäßige Abwässerungen, Rieselfelder, Düngung, Chemikalien, Abfall-, Abort-, Mist-, Jauchegruben, Friedhöfe usf legen den Gedanken nahe, auch sie in geeigneter Weise zu sozialisieren. Bei der steigenden Bedeutung unterirdischer Wässer für große Siedelungen und industrielle Werke muß eben außer ihrem Raub- bau ^) auch ihrer Gefährdung mit allen staat- lichen Mitteln entgegengewirkt werden. Dabei soll aber die Gesetzgebung und Behörde nicht gegen die Nutzbarmachung unserer Grund- wasserschätze ankämpfen, sondern sie sachgemäß überwachen. Es wäre daher in den Sozialisierungs- kommissionen zu erwägen, ob nicht auch die A b - Wässerung usw. zu den Wirtschaftszweigen zu rechnen ist, deren Vergesellschaftung wenigstens durch restlose Überwachung erforderlich erscheint. Jedenfalls ergibt sich nach vorstehendem, daß in einem Gesellschaftsverband für Lei- tung und Überwachung der Bauausfüh- rung sowie des Betriebs von Wasser- versorgungsanlagen neben dem tech- nischen Wasserfachmann der Geologe und der Hygieniker keinesfalls fehlen darf in. Die ferner notwendige Berücksichtigung des Arbeitsmarktes verlangt eine Prüfung der Frage, ob die Bauausführung von Wasserver- sorgungseinrichtungen durch behördlich über- wachte Unternehmer, freie Handwerker und Arbeiter im Akkord oder im Tage- bzw. Stundenlohn, oder durch gesellschaftlich dauernd angestellteArbeitskräfte durch- zuführen ist. Brunnenbau, Bohrungen usw. sind bekanntlich Arbeiten, die nur unter Beteiligung ') K. Keilhack, a. a. O. 1917, S. 2 f. '^) Vgl. W. Kranz, Über Bodenfiltration usw., 1917; weitere Literatur dort. — K.Keil hack, a. a. O. 1917, S. 494, 512 ff., 521 ff., 541 f., 545 ff., 60S. ') K. Keilhack, a. a. O. S. 4. ■*) Vgl. dazu W. D eecke, Preußische Jahrbücher, August 1909, und Keilhack, a. a. O. 1917, S. 555 f., 576. 3i6 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 22 fachtechnisch ausgebildeter Kräfte sachgemäß aus- geführt werden können, wobei aber nicht alle Facharbeiter sein müssen; Tiefbohrungen verlangen ein erhebliches Maß von technischer Übung nament- lich beim Bohrmeister. Etwas einfacher ist im allgemeinen der Bau von Schachtbrunnen, Quell- fassungen, Wasserleitungen u. dgl. , jedoch sind auch dabei tüchtige Fachhandwerker, wie Schacht- arbeiter, Zimmerleute, Maurer, Installateure, nicht zu entbehren. Ins einzelne gehende Entwurfs- zeichnungen für die Bauausführung kann man ihnen oft nicht von vornherein geben, vieles läßt sich erst während der Aufschlußarbeiten — Schürfe, Schachtungen, Bohrungen — auf Grund der Fest- stellungen des Geologen genauer bestimmen, die Handwerker und Arbeiter müssen daher manches mit eigener Denkarbeit leisten , besonders auch hinsichtlich ihrer persönlichen Sicherheit, wobei sie selbstverständlich durch die behördliche tech- nische und geologische Bauaufsicht auf wahr- scheinliche Gefahren vorzubereiten sind. Das kann z. B. der technische Aufsichtsbeamte durch dauerndes Augenmerk auf die Güte des Arbeits- geräts und der Baustoffe (Seile, Förderkübel, Ver- kleidungen usw.), der Geologe auf Grund seiner Beobachtungen durch Warnung vor Wassereinbruch, Erddruck, Einsturz nicht standfesten Bodens u. dgl. Zwischen den Bauarbeitern und Handwerkern einerseits und den Aufsichtsorganen andererseits muß sich schon dadurch ein erhebliches Maß von Vertrauen herausbilden, auch der stetige Fort- schritt der Bauausführungen wird durch deren Sicherheit gefördert, ebenso wie durch unterrich- tende Tätigkeit der Aufsichtsorgane auf geologi- schem, technischem und hygienischem Gebiet. Dies legt eine enge organisatorische Ver- bindung von behördlicher Bauaufsicht und Arbeitskräften nahe, wie sie mit großem Erfolg vielfach im Stellungskrieg durchgeführt wurde: Den bauleitenden Technikern und Geo- logen wurden häufig Bautrupps aus den ge- nannten F'acharbeitern in Stärke von durchschnitt- lich je 6 — 7 Mann unmittelbar unterstellt, die nach einheitlichem Plan Brunnen, Quellfassungen, Wasser- leitungen usw. herstellten. Je nach dem indivi- duellen Wert der Arbeitskräfte sowie namentlich des bauleitenden technischen Wasserfachmannes und je nach ihrer Ausstattung mit Arbeitsgerät und Baustoffen lassen sich mit solcher Organisation Wasserversorgungsarbeiten bis zu schwierigen Tiefbohrungen in eigener Regie des Staates, der Gemeinden oder anderer öffentlich rechtlicher Verbände ausführen. Dem steht die Vergebung von Bauten an freie Handwerker und U nter n ehmer gegenüber, ein Verfahren, das gleichfalls im Stellungskrieg häufig und mit Erfolg durchgeführt wurde. Von vorn- herein ist zu betonen, daß dem behördlichen Wasserbautechniker und Geologen auch hierbei maßgebender Einfluß auf die Bauausführung ein- geräumt werden muß. Das soll bereits in den Kostenanschlägen und vor allem in den Ver- dingungsunterlagen zum Ausdruck kommen, für den Geologen z. B. sind, nötigenfalls unter An- drohung von Konventionalstrafen gegen den Unter- nehmer, einwandfrei zu entnehmende Bodenproben beim Bohren usw. zu sammeln, genau zu bezeichnen und auf Verlangen aufzubewahren oder abzuliefern. Ebenso muß der Vertrag den Einfluß der behörd- lichen, technischen und geologischen Bauleitung auf Einzelheiten der Ausführung sicherstellen, die Preisverzeichnisse zum Vertrag dürfen daher solche Dinge nur bis zu einem gewissen Grad festlegen. Diesen Spielraum und sein Risiko werden natür- lich bereits die Angebote der Unternehmer in Rechnung stellen, und es ist Sache gründlicher geologischer Voruntersuchungen sowie geschickter Abfassung der Verträge, daß daraus dem Staate, der Gemeinde usw. nicht infolge zu hoher Preis- forderungen wegen unsicherer Kalkulierung schon bei der Vergebung, oder nachträglich durch zu unsichere Vertragsbestimmungen Schaden erwächst. Das Verhältnis zwischen der Bauaufsicht und den Arbeitern kann dabei naturgemäß kein so inniges sein, wie bei Bauausführungen in eigener Regie der Behörde, und schon deshalb ist zu erwägen, ob letztere nicht vorzuziehen sind. Auch die Art der Vergebung wird bisweilen Schwierigkeiten verursachen ; Unternehmerarbeit im Tagelohn oder zum „Selbstkostenpreis" (sogenannter „Kolonial- vertrag") hat sich im Stellungskrieg im allgemeinen nicht bewährt, feste Preise für bestimmte (Akkord-) Leistungen dagegen sehr, namentlich bei Wasser- versorgungsarbeiteii. Jedenfalls muß Bestrebungen des Unternehmertums, das Risiko möglichst von sich abzuwälzen , unbedingt entgegengetreten werden, sonst wird sich z. B. auch die Anzahl steckenbleibender Bohrungen mit dem geringeren Interesse der Unternehmer daran noch vermehren. Andererseits darf die große Erfahrung gerade der Tief bohrfirmen vorläufig nicht ohne weiteres aus- geschaltet werden, um eben solche Mißerfolge zu vermeiden. Hiernach erscheint die restlose Ausschließung des Privatkapitals (von Unternehmern) bei der Bauausführung der Wasserversorgung noch nicht durchführbar. Zu schwierigeren und umfang- reicheren Arbeiten wird man sie nach wie vor unter behördlicher Aufsicht heranziehen müssen, für kleinere Bauten dagegen, besonders Einzel- hausversorgungen auf dem Land, hält am besten der Staat Brunnenbautrupps von je einigen P'achhandwerkern bereit, die er in eigener Regie mit Gerät und nötigenfalls Baustoffen gegen an- teilige Bezahlung zur Verfügung stellt. Hierbei genügt je ein staatlicher Bohrmeister als Trupp- führer zur dauernden Beaufsichtigung und Be- reisung der Baustellen durch einen staatlichen technischen Wasserfachmann und einen Landes- geologen, unter gelegentlicher Mitprüfung durch einen staatlichen Hygieniker. Sollte sich später diese Arbeitsweise vervollkommnen, so kann wohl allmählich auch zu größeren und schwierigeren Bauunternehmungen in eigener Regie des Staates N. F. XVIII. Nr. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 317 oder der Gemeinden unter fast völliger Aus- schaltung des Privatkapitals übergegangen werden. — Die ständigen Arbeiter solcher Trupps würden auch den Landesgeologen bei ihren sonstigen Aufschlußarbeiten unschätzbare Hilfe leisten. Der Betrieb größerer Wasserversorgungs- anlagen — Maschinenhäuser, Sandfilter usw. — ist wohl bisher schon ziemlich allgemein in öffent- licher Gesellschaftsverwaltung gewesen, die Sozia- lisierung dürfte dort bereits durchgeführt sein bis auf Mineralbäder u. dg]., die in staatliche Ver- waltung übernommen werden müßten. Kleinere Anlagen, besonders Einzelbrunnen, sollten dauernd behördlich überwacht werden, um gesundheitliche Schäden zu verhüten. Ob die hier vorgeschlagene Vergesellschaftung des unterirdischen Wassers und der Wasserver- sorgung überhaupt eine Rückwirkung auf die allgemeine Finanzlage des Staates und der mit Wasser zu versorgenden Gemeinden oder Einzelsiedelungen, auf das Lohn- und Preisniveau ausüben wird, bleibt abzuwarten. Von einer all- gemeinen Entziehung des Eigentumsrechtes auf Grundwasser und Quellen würden alle Grund- stücksbesitzer im gleichen Gelände gleichmäßig betroffen, niemand kann also daraus eine ähnliche Wertminderung seines Grundstücks ableiten, wie sie etwa durch Rayons von Festungswerken ent- steht. Daher wäre der Staat auch nicht zu Ent- schädigungen an alle Grundbesitzer verpflichtet, wenn er durch Gesetz von deren unterirdischem Wasser Besitz ergreift und dies nach Bedarf ver- leiht. Auch eine wesentliche Steigerung oder Minderung der Baukosten dürfte dabei kaum ein- treten, da der bisherige Unternehmerverdienst mit Einstellung staatlicher Arbeitstrupps aus guten Fachhandwerkern und staatlicher Bauaufsicht z. T. in Fortfall kommt, und da die Arbeit selbst ein- schließlich Geräteabnutzung unter billiger Berück- sichtigung der Leistungsfähigkeit des Bauherrn anteilig bezahlt werden sollte. Die vorerst wohl nur geringe Zahl ständiger Aufsichtsorgane, Hand- werker und Facharbeiter dieser Organisation wird auf den Etat des Volksstaates und die allgemeinen Arbeitslöhne gleichfalls kaum Einfluß gewinnen, während den beteiligten Unternehmern wohl ver- traglich bei länger dauernden Arbeiten zugestanden werden muß, daß stärkere allgemeine Lohnbe- wegungen die Preise abzuändern vermögen. Die Baustoffe, Geräte, Maschinen usw. dieses Wirt- schaftszweiges bilden wiederum nur einen so ge- ringen Teil des einschlägigen Handels, daß durch deren gesellschaftliche Heranziehung eine nennens- werte Rückwirkung auf die Preislage nicht zu er- warten ist. Freilich würden sich bei Durchführung der hier vorgeschlagenen Vergesellschaftung nament- lich die kleineren Brunnenbauer mehr anderen Zweigen des Baufaches zuwenden müssen, wenn sie den staatlichen Bautrupps nicht als Ange- stellte beitreten wollen. Ein großer Verdienst- ausfall und hohe Entschädigungsansprüche werden aber dadurch nicht eintreten, da sie jetzt meist auf engen Wirkungskreis beschränkt sind und Wasserversorgungsarbeiten in der Regel nur ge- legentlich ausführen. Zu erwägen bliebe noch, ob man nicht kleinere Instandsetzungen an Brunnen, Leitungen u. dgl. für das private Handwerk frei- geben soll. Soweit sich dies auf einzelne, nach bestimmten Anweisungen mit vorgeschriebenem Material auszuführende Instandsetzungen beschrän- ken läßt, ist dagegen nichts einzuwenden. Darüber hinaus besteht Gefahr durch unsachgemäße Ar- beiten und schädliche Baustoffe, namentlich auf dem Land. p]s wird daher besser sein, die große Mehrzahl der Instandsetzungen den staatlich oder von großen Gemeinden aufzustellenden Wasser- versorgungsorganisationen vorzubehalten. Sollten sich dann späterhin selbst die größten Bauarbeiten in eigener Regie des Staates oder der Gemeinden ausführen lassen, so müßte man sich gegebenen- falls mit den großen Brunnenbaufirmen auseinander- setzen, wenn nicht bis dahin deren Mitwirkung allmählich auf ein Mindestmaß zurückgegangen ist. Eine finanzielle Auseinandersetzung mit den Grundstücksbesitzern von Quellen und Grund- wasservorräten würde nach diesen Vorschlägen nur bei deren Inanspruchnahme für andere oder für die Allgemeinheit nötig, auf Kosten der Nutz- nießer, z. B. beim Bau von Brunnen oder Quell- fassungen für Gemeinden auf fremdem Boden, oder bei staatlicher Übernahme von Heilquellen und -Bädern. Abgeschlossen 12. 2. 1919. Einzelberichte. Botanik. Hemmung und Richtungsänderung begonnener Differenzierungsprozesse bei Phyco- myceten (H. Götze, Jahrb. f. wiss. Bot. 58, 191 8). Daß durch die Veränderung der äußeren Fak- toren die Entwicklungsprozesse oft in ganz andere Bahnen gelenkt werden können, das ist eine Er- fahrung, die für alle Pflanzenklassen gilt, die aber besonders bei den niederen Organismen mitunter in sehr auffälliger Weise zutage tritt. Hierfür liefert die Arbeit von H. Götze neue Belege. Als Versuchsmaterial wurden Vertreter der nieder- sten Pilzklasse, d. h. Phycomyceten (Algenpilze) verwendet, und zwar die Gattungen Fhycomyces, Rhizopus, Saprolegnia und Achlya. Die Aufgabe bestand darin, durch künstlichen Wechsel der Lebensbedingungen die verschiedenen Reproduk- tionsorgane (Sporangien, Zoosporangien und Oo- gonien) von ihrem normalen Werdegang abzu- lenken und folgende Hauptpunkte zu klären: „Sind hier Umgestaltungen überhaupt möglich V Bis zu 318 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 22 welchem Stadium läßt sich die Entwicklung noch in andere Bahnen zwingen ? Welcher Mittel be- darf es hierzu?" Die Mehrzahl der Versuche erstreckte sich auf Phycomyces. Dieser Pilz produziert seine Spor- angien normaler Weise an der Luft. Versetzt man ihn in Flüssigkeit, dann entwickelt er sich bloß in Mycelform weiter; Sporenbildung unterbleibt. Taucht man nun einen jungen Sporangienträger, der noch kein Köpfchen angesetzt hat, unter, dann differenziert er sich nicht weiter, sondern wächst an seiner Spitze zu einem Mycel aus. Ähnlich ist das Verhalten, wenn man ein etwas älteres Stadium mit ebenbeginnender Köpfchen- anlage in derselben Weise behandelt. Das Köpf- chen bildet dann eine kegelförmige Ausstül- pung, der weiterhin mehrere Mycelfäden ent- springen. Taucht man nun einen solchen Spor- angienträger nur vorübergehend unter, so ist der Erfolg je nach der Dauer der Einwirkung ver- schieden. Befindet er sich bloß lO Minuten in Wasser, dann schreitet nachher die Entwicklung normal weiter, es wird ein typisches Sporangium gebildet; dauert die Benetzung dagegen ca. 20 Minuten, dann bildet das Köpfchen wieder den kegelförmigen Auswuchs, der aber in diesem Fall nicht zum Mycel auswächst, sondern ein zweites dem ersten aufgesetztes Sporangium bildet. Die Entwicklung wird also auf Umwegen in die alte Bahn zurückgebogen. Durch eine Veränderung der Versuchsmethode, die darin bestand, daß ent- weder bloß der Sporangiumträger oder nur das Köpfchen in Wasser versetzt wurde, konnte er- mittelt werden, daß der Reiz auf das Köpfchen selbst wirken muß, um eine Änderung des Ent- wicklungsganges hervorzurufen. Taucht man näm- lich bloß den Träger unter, dann entwickelt sich das Sporangium normal weiter, als ob sich das gesamte Organ in Luft befände. Werden schließ- lich fortgeschrittene Sporangienträger mit Köpf- chen die schon ihre definitive Größe erreicht haben "aber noch keine Sporen enthalten, unter Wasser gesetzt, dann geht die Entwicklung ganz normal weiter, eine Änderung läßt sich nicht mehr erzielen. Offenbar ist die Differenzierung im Protoplasma schon so weit fortgeschritten, daß sich die Sporenbildung nicht mehr unterdrücken läßt. Darauf deutet auch die Tatsache hin, daß man den Inhalt eines solchen Köpfchens heraus- quetschen kann und trotzdem das Protoplasma unter diesen gänzlich veränderten Bedingungen in Sporen zerfällt: Dabei ist es gleichgültig, ob man das Köpfchenplasma in den Träger, in eine Glaskapillare oder sogar auf einen Objektträger quetscht, wo es sich ohne jeden Wandschutz aus- breitet. Interessant sind auch die Ersatzbildungen, die auftreten, wenn Sporangien verletzt oder in ihrer Entwicklung gehemmt werden. Schneidet man das Köpfchen weg oder bringt es durch Betupfen mit Höllenstein zum Absterben, dann sprossen unterhalb neue kleinere Seitensporangien empor. Dieselbe Erscheinung beobachtet man, wenn das Köpfchen in Gelatine eingebettet wird oder wenn man es mit einem rauhen Gegenstand einige Male reibt. Durch einen solchen Berührungsreiz wird nämlich das Wachstum des Sporangiums gehemmt und korrelativ die Bildung neuer Seitensporangien in die Wege geleitet. Schließlich kann man auch den Sporangienträger zusammenschnüren und da- durch die Zufuhr nach der Spitzetiregion unter- binden. In diesem Fall wird entweder das ur- sprüngliche Köpfchen durchwachsen und es ent- steht an der Spitze ein aufgesetztes Zwergspor- angium, wodurch der gehemmten Stoffzufuhr Rechnung getragen wird, oder es treten unter- halb der Durchschnürungsstelle neue Seitenäste auf, die sich zu Sporangien entwickeln. Zerschneidet man endlich den ganzen Sporangienstiel in mehrere Stücke, so kann jedes Teilstück einen Sporangien- träger mit Köpfchen regenerieren, dessen Größe von der Menge des vorhandenen Plasmas abhängig ist. Dabei offenbart sich, daß jedem Fragment eine feste Polarität innewohnt : die Regenerate treten immer am Spitzenpol auf. Beachtung ver- dient, daß solche Regenerationserscheinungen auch bei völlig ausgewachsenen Sporangienträgern auf- traten; es findet also eine Wiederaufnahme des Wachstums statt. Während sich Rhizopus im allgemeinen an Phycomyces anschließt, zeigen die Zoosporangien von Saprolegnia insofern ihre Besonderheiten, als hier auf jeder Phase der Entwicklung durch be- stimmte Eingriffe das vegetative Auswachsen er- zielt werden kann, sogar dann, wenn schon eine Zerklüftung des Sporangiums in einzelne Sporen- anlagen erfolgt ist. Die Differenzierung wird dann wieder rückgängig gemacht. Erzielt werden solche Entwicklungsänderungen in diesem Falle nicht durch Untertauchen, — Saprolegnia lebt nor- malerweise unter Wasser, — sondern durch Er- höhung der Nährstoffkonzentration, oder durch Abtrennung des Sporangiums von der Traghyphe. Dabei zeigt sich, daß zur Erzielung eines Erfolges um so höhere Konzentrationen erforderlich sind, je weiter die Differenzierung fortgeschritten ist. Prinzipiell ähnlich liegen die Dinge bei den Oo- gonien, d. h. den weiblichen Sexualorganen des- selben Pilzes. Auch hier kann man durch Los- lösung vom Substrat und durch Konzentrations- steigerung die normale Bildung von Eiern unter- binden und das gesamte Organ zum vegetativen Auswachsen veranlassen. Ferner ist es möglich, durch andersartige Einwirkungen die Umwandlung von Oogonien in Sporangien und von Sporangien in Oogonien zu veranlassen, also die innere Deter- mination zu durchbrechen. Dagegen ist es nicht gelungen, die vegetativen Hyphen derartig zu be- einflussen, daß sie nun ihrerseits Sporen produ- zierten. Insgesamt betrachtet geben uns die geschilder- ten Erfahrungen einen deutlichen Hinweis auf die Plastizität der lebenden Zelle, „die über viel mehr Gestaltungsmöglichkeiten verfügt, als sie tatsäch- N. F. XVIII. Nr. 22 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 319 lieh im normalen Entwicklungsgang zum Ausdruck bringt". P. Stark. Zoologie. Das Farbensehen der Insekten. Wichtigsten Grundfragen der Biologie liegt der falsche Analogieschluß zugrunde, daß das Tier von der Umwelt dieselben Sinneseindrücke emp- fängt, wie der Mensch. Dies gilt besonders für die Gesichtswahrnehmungen. Ein gesehenes Ob- jekt wirkt auf den Gesichtssinn nach zwei Rich- tungen, die zusammenfallen können, aber nicht brauchen; nämlich durch die Licht- und die Farben- strahlen. Es ist ein Helligkeitssehen und ein Farbensehen zu unterscheiden. Die Zuchtwahl- lehre Darwins (Schmuckfarben, Hochzeitskleid, Schutz- und Trutzfarben, usw.) und die S p r e n g e 1 - sehe Theorie von den Blütenfarben beruhen ja darauf, daß das Auge der Tiere dieselben Wahr- nehmungen macht, wie das Auge des Menschen, trotz des häufig ganz anderen Baues. Der Münchener Ophthalmologe C. H e ß ist seit Jahren damit be- schäftigt, durch experimentelle Untersuchungen diese Voraussetzung kritisch zu prüfen und dabei zum Resultate gekommen, daß dieselbe insofern nicht zutrifft, als alle wirbellosen Tiere, einschließ- lich die Insekten, kein Farbenwahrnehmungsver- mögen, sondern nur einen Lichtsinn besitzen. Nach ihm wirkt das gesehene Objekt auf ihr Auge nur nach dem Helligkeitsgrad, nicht aber durch seine Farbenqualität verschieden ein; jene Tiere stimmen also in dieser Beziehung mit dem total farbenblinden Menschen überein. Wegen der daraus sich er- gebenden schwerwiegenden Schlußfolgerungen hat sich an die Untersuchungen von Heß eine leb- hafte Diskusion angeschlossen. Hängt doch davon, ob der Honigbiene ein Farbensinn oder nur ein Lichtsinn zukommt, die Rolle ab, welche sie durch die Bestäubung der Blüten nach Sprengel's Theorie haben soll. Aus den Ver- suchen von H. geht nun hervor, daß eine ver- schiedenfarbige Beleuchtung auf das Bienenauge nur durch seine Lichtstrahlen, nicht durch seine Farbenstrahlen einwirkt. Mit dem von ihm er- fundenen Differentialpupilloskop ermittelte er, daß eine nach dem lokomotorischen Reizwert ver- schiedenfarbiger Lichter aufgestellte Stufenleiter für das total farbenblinde Menschenauge auch für das Auge der Biene Gültigkeit hat, mit anderen Worten, daß der Reizwert eines Lichtes, also auch der einer Farbe, für das Insektenauge dasselbe ist, wie für das total farbenblinde Menschenauge. Während nun für das farbentüchtige helladaptierte Menschenauge der lokomotorische Reizwert far- biger Strahlen nach Rot des Spektralbandes hin zunimmt, wächst der Reizwert einer Farbe für das total farbenblinde und das farbentüchtige aber dunkeladaptierte, Menschenauge und für das In- sektenauge nach Violett hin, während Rotdunkel fast schwarz erscheint. Die bei der Dunkeladap- tion auftretende Änderung des lokomotorischen Reizwertes einer Farbe bezeichnet die Optik nach ihrem Entdecker als Purkinje sches Phänomen. V. Buttel-Reepen erhob nun gegen die Re- sultate von Heß den Einwand, sie könnten des- halb nicht zutreffen, weil sie an dunkeladaptierten Tieren gewonnen worden seien, während es sich bei der Aufstellung einer Farbenskala für das Bienenauge doch um eine solche für das hell- adaptierte Auge handelte. Eingangs seiner Erwiderung (Beiträge zur PVage nach einem Farbensinn bei Bienen, Pflügers Archiv für die gesamte Physiologie des Menschen und der Tiere 1918) weist Heß auf die irreführende Bezeichnung von gelben und rotgelben Korallen, Krebsen, Fischen, usw. aus 15 — 50 m Tiefe hin, welche Doflein als „alles nach der Natur" dargestellt bezeichnete. „Die be- treffenden Tiere konnten aber in jener Tiefe, bis in welche die gelben und roten Strahlen nicht vordringen, gar nicht in jener Färbung erscheinen; oder glaubte er etwa, daß in einer Dunkelkammer bei nur blauem Licht buntgefärbte Gegenstände für das normale Auge so aussähen wie im Tageslicht." Durch physikalische und chemische Untersuchungen der Sehsubstanz des Auges könnte man keine einer bestimmten Farbe entsprechende Veränderung fest- stellen und wäre auf Versuche mit dem lebenden Tier verwiesen. Solche aber hätten ergeben, daß der Biene das Farbenwahrnehmungsvermögen fehlt. Weder gegen seine Versuchsmethode noch gegen die Folgerichtigkeit seiner Schlüsse könnte man triftige Einwendungen machen, v. Buttel-Ree- pen erhebe nun den Einwand, daß seine Bienen dunkeladaptiert und daher für die Versuche un- geeignet gewesen wären. „Es hat sich herausgestellt, daß nur d i e Bienen sich gut für die hier in Frage kommenden Experi- mente eigneten, die soeben im Begriffe waren, das dunkle Stockinnere zu verlassen. Diese aber sind dunkeladaptiert. Nun reagiert jedoch nach E. H e - ring auch das normale menschliche Auge, wenn es dunkeladaptiert ist, wie das Auge eines total Farbenblindgeborenen, und auch der Helligkeits- wert verschiebt sich wie bei einem total Farben- blinden (Purki njesches Phänomen). Auch dieser Einwand müßte daher zuvor in wirklich über- zeugender Weise beseitigt werden, bevor man sich der Ansicht von Heß anzuschließen vermöchte." Demgegenüber betont Heß ausdrücklich, daß er stets mit helladaptierten vor dem Flugloch abgefangenen Bienen, mitunter im direkten Sonnen- licht experimentiert hätte. Die Bienen waren schon mehrere Minuten bis ^/j Stunde im Hellen — , während doch das Purkinje sehe Phänomen schon nach einigen Sekunden verschwände. Selbst vs^enn man also die unbewiesene Voraussetzung machte, daß auch für das Bienenauge bezüglich der Dunkel- adaption dasselbe gelte, wie für das normale Menschenauge, so würde jener Einwurf von Buttel-Reepen zu Unrecht erhoben. Alle seine Versuche hätten übrigens das Fehlen des Pur k inj eschen Phänomens für das Bienenauge deutlich erkennen lassen. Der zweite Einwand von Buttel-Reepen gegen seine Untersuchungen 320 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 22 über die Helligkeitsempfindungen der Bienen be- stände in einem Hinweis auf Fröhlich s bekannte Messungen der Aktionsströme bei Belichtung der Cephalopoden-Netzhaut. Abgesehen davon, daß man aus dem Verhalten der Aktionsströme bei verschiedenartiger Beleuchtung in der Netzhaut herausgeschnittener Cephalopoden-Augen nichts über die psychischen Einwirkungen derselben auf das Zentralorgan des lebenden Tieres erführe, mit dem das unversehrte ganze Auge noch nervös verbunden wäre, hätten seine Versuche mit lebenden jungen Cephalopoden deutlich gezeigt, daß diese einen Helligkeits-, aber keinen Farben- sinn hätten. Der dritte Einwand v. Buttel- Reepens betrifft Versuche von Heß, ob die Farbe der Umgebung eines Bienenkastens aus- schlaggebend für die heimkehrenden Tiere ist, in welchen Stock sie einzukehren haben ; sie flogen an der gewohnten Stelle ohne Zögern ein, auch wenn das Flugloch eine ganz andere Farbe zeigte, während sie ein daneben stehendes, mit der alten Farbe unbeachtet ließen. Daß außer dem Orts- gedächtnis auch dem Geruchssinn eine wichtige Rolle zukommt, geht daraus hervor, daß ein durch ein blaues Tuchläppchen markiertes Flugloch eines ganz leeren Kastens aufgesucht wurde, wenn das Läppchen vorher um den Eingang zum ur- sprünglichen Stock befestigt gewesen war. Nicht die gewohnte blaue Farbe, sondern der Nest- geruch wirkte anziehend ; denn wenn eine durch- sichtige Glasplatte darüber gelegt wird, verfehlt das Läppchen seine Wirkung. H. sagt : „Die Helligkeit einer farbigen Empfin- dung wird, wie uns Hering gelehrt hat, bestimmt durch den farblosen sowie durch Art und Größe des farbigen Empfindungsanteiles. Rot und Gelb wirken erhellend, Grün und Blau verdunkelnd auf die Helligkeit der Gesamtempfindung, um so mehr, je stärker der farbige gegenüber dem farblosen Empfindungsanteil hervortritt. Hiermit hängen unter anderem auch die Helligkeitsänderungen zusammen, die farbige Lichter mit der Änderung von Lichtstärke und Adaptionszustand erfahren, also auch die Erscheinungen des Purkinj eschen Phänomens gekennzeichnet ist. Er habe in früheren Untersuchungen zum Beispiel für Tagvögel ein ausgesprochenes Purkinje sches Phänomen durch Spektrumversuche wie auch durch Beobachtung des Pupillenspieles bei farbiger Belichtung nach- gewiesen. Andererseits zeigen meine ausgedehnten Messungen an einer großen Zahl von Wirbellosen und insbesondere auch an Bienen, daß hier, wie beim total Farbenblinden, das Purkinj esche Phänomen fehlt. Die Helligkeiten, in welchen ein Lebewesen farbige Lichter sieht, sind sonach für die normale Farbentüchtigkeit, für gewisse Arten von partieller P"arbenblindheit in ganz cha- rakteristischer Weise verschieden. Der Einfluß der verschiedenen farbigen Empfindungsanteile auf; die Helligkeit der Gesamtempfindung ist selbst- verständlich nur von der Art des farbigen Empfin- dungsanteils, nicht aber von der Art des eben untersuchten Sehorgans abhängig, also auch un- abhängig davon, ob es sich um ein Menschen- oder Tierauge handelt." Während nun v. Frisch selbst darauf seine Schlußfolgerungen gründet, wollte er nicht zu- geben, daß H. in analoger Weise eine totale F"arbenblindheit aus dem Verhalten der Biene folgerte. Es wäre dies gerade so, als wenn ein Schulkind nicht glauben wollte, 2 Birnen und 2 Birnen wären 4, weil ihm die Richtigkeit des Satzes 2 -}- 2 = 4 an Äpfeln gezeigt worden wäre. V. Buttel-Reepen wollte nur dort eine analoge Folgerung gelten lassen, wo sie ihm willkommen wäre und lehnte einen auf ganz analoge Weise gewonnenen Schluß dann ab, wenn er ihm nicht zusagte. Nach einer Ausdehnung seiner kritischen Besprechung der Dressurversuche von v. Frisch mit der Honigbiene auf dessen neueste Feststel- lungen schließt Heß: „Es wird der Nachweis erbracht, daß auch jene , Dressurversuche' der Zoologen, die einen Farben- sinn der Bienen dartun sollen, eine volle Bestäti- gung meiner die totale Farbenblindheit der Bienen beweisenden Untersuchungen erbringen. Denn auch v. Frischs Protokolle lehren, ganz in Über- einstimmung mit den meinen, daß die angeblich auf Blau bzw. Gelb dressierten Bienen tatsächlich nicht imstande waren, beide Farben zu unter- scheiden, sie vielmehr untereinander und mit Grau verwechselten. Die Unzulänglichkeit der in der Zoologie üblichen Bienendressuren läßt sich an Hand der neuen Beobachtungen und Messungen eindringlich dartun. Für die adaptativen Ände- rungen im Bienenauge läßt sich durch Messung zeigen, daß sie sowohl hinsichtlich des zeitlichen Verlaufes wie hinsichtlich ihres Umfanges weit- gehende Ähnlichkeit mit jenen bei den anderen von mir untersuchten Wirbellosen wie auch im Menschenauge zeigen. Auch die neuerdings von zoologischer Seite gegen meine Untersuchungen erhobenen Einwände erledigen sich durch die hier mitgeteilten neuen Befunde." Kathariner. Literatur. AU, Dr. ing. E. , Die Wettervorhersage. Mit 20 Kig. München 191 9, Natur und Kultur. 2,20 M. Keßler, Dr. F., Was geht der deutschen Industrie durch die Abtrennung Elsaß- Lothringens und des Saargebietes an Mineralschätzen verloren? Stuttgart 1919, E. Schweizerbarth- sche Verlagsbuchhandlung. 3,20 M. Inhült: S. Killermann, Die Herkunft und Einführung unserer Gartenbohne (Phaseolus vulgaris L.). (2 Abb.) S. 305. W. Kranz, Zur Sozialisierung der Wasserversorgung, des Grundwassers und der (^)uellen. S. 312. — Einzelbericbte: H.Götze, Hemmung und Richtungsänderung begonnener Differenzierungsprozesse bei Phycomyceten. S.317. C.Heß, Das Farbensehen der Insekten. S. 319. — Literatur: Liste. S. 320. Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Mi ehe, Berlin N 4, Invalidenstrafle 42, erbeten. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue Folge i8. Band; der ganzen Reihe 34. Band. Sonntag, den 8. Juni 1919. Nummer ä3. Die Zerstörung der Steilwände im Buntsandsteingebiet des Pfälzerwaldes. [Nachdruck verboten."] Von Prof. Dr. Häberle Heidelberg. Mit 3 Abbildungen. Während in den Sandsteingebieten der deut- schen Mittelgebirge im allgemeinen sanfte Ober- flächenformen vorherrschen und für gewöhnlich das im Untergrund anstehende Gestein durch Gehänge- schutt verhüllt ist, und nur hier und da schroffe Felsriffe die Talhänge unterbrechen oder über die Höhen ziehen, treten in einigen anderen, z. B. in den der Kreideperiode angehörenden Quadersand- steinablagerungen Sachsens, Böhmens und Schle- siens, hier und da auch am Harz, ferner in ein- zelnen Buntsandsteingebieten und schließlich in den Sandsteinen der Meercsmolasse der Bodensee- gegend auch steilwandige, scharfe und eckige Formen auf und verleihen diesen Landschaften geradezu ein charakteristisches Gepräge. Am weitesten bekannt und wohl auch am meisten heschrieben sind die Felsbildungen im Quadersandstein der Sächsischen Schweiz und von Adersbach Weckelsdorf an der böhmischschlesi- schen Grenze.') Aber auch im Buntsandgebiet treten in einzelnen Gegenden, namentlich im süd- lichen Pfälzerwald, P'ormen auf, die wegen ihrer eigenartigen Ausbildung mit denen der obenge- nannten Gebiete sich wohl messen können, nur daß sie etwas abseits der großen Heerstraße liegen, daher ^weniger bekannt und bis jetzt noch nicht so leicht zugänglich gemacht sind. Auch sonst noch finden wir im deutschen Buntsandstein nackte Felswände, steilabfallende Erker, mauerartige Riffe und turmförmige Pfeiler, wenn auch nicht immer in einem so räumlich beschränkten Gebiete und in einer solchen Mannigfaltigkeit beieinander, wie gerade im Quadersandstein oder im Felsenland des Pfälzerwaldes. In den Vogesen z. B. bildet das Hauptkonglomerat einen senkrechten Absturz von nacktem Fels; „im Schwarzwald ist es das Auftreten festen Kieselsandsteins, was die Bildung pfeiler- und kanzelartig am Rande der Abhänge vorspringender Felsen und Felsgruppen veranlaßt, wie sie am St. Urselenstein und Bettladenstein, an dem zum Teil gesprengten Bärenfelsen bei Griesbach, im obersten Teil des Wolftales, in der ') Auf ähnliche Erscheinungen im Kohlensandstein der Vereinigten Staaten sei hier nur kurz verwiesen. Vgl. hierüber N. H. Darton, Sandstone Pinnacles (Erosionsiinnen in Sand- steinen, Pinnacles de gres). Stille, Geolog. Charakterbilder II. II, 1912. ..Unablässig saugt die Lippe Der Verwitterung an der I*'e!senkllppe ; Fest Gebundenes muß gelöst zerfallen, Und da fühlt das Starre Regung, Was geruht, bekommt Bewegung, Mit dem Bache muß es talwärts wallen.*' Albrecht von Haller (?). Bruderhalde bei Rippoldsau und, vielleicht am großartigsten, am Schauekopf bei Allerheiligen vorkommen. Felsbildungen finden sich auch im Tal der Kyll bei Hillesheim, Kyllburg und Philipps- heim, im Tal der Saale bei Kahla. Im Odenwald treten nur im tiefeingeschnittenen Neckartal Felsen auf, im Spessart fehlen sie; ganz selten sind sie nördlich des Mains: wir begegnen ihnen z. B. hier und da im Wesertal und in den höchsten Teilen der Täler des Solling".') Mit der Möglichkeit der Entstehung dieser schroffen Felsformen in ihrer verschiedenen Ausbildung haben sich schon zahlreiche Autoren beschäftigt, da sie sonst dem aus Sandstein auf- gebauten Mittelgebirge, in dessen Zone Abspülung und Verwitterung besonders wirksam sind, zu fehlen pflegen : sie erinnern an Formen eines ariden Klimas, wie wir sie in Wüsten treffen. Die verschiedensten Erklärungen wurden bereits ge- geben, ohne daß eine allseitig befriedigende Lösung gefunden werden konnte, nur das kann als fest- stehend hervorgehoben werden, daß alle die oben erwähnten Felsbildungen fast ausschließlich im durchlässigen Sandstein auftreten ; diese Vorbe- dingung zur Herausbildung haben sie mit ähnlichen Erscheinungen in Kalk- und Dolomitgebirgen ge- meinsam. Am eingehendsten untersucht sind die Fels- bildungen der sächsisch- böhmischen und schlesi- schen Ouadersandsteinablagerungen. An erster Stelle stehen die grundlegenden Arbeiten von A. Hettner,-) der dargetan hat, daß die Heraus- bildung dieser eigentümlichen Formen hauptsäch- lich auf der Beschaffenheit des Sandsteins beruht, der infolge seiner ausgedehnten Zerklüftung und Durchlässigkeit gegen die auf ihn fallenden Nieder- schläge ganz besonders zur Herausbildung steiler Wände neigt. Das durchlässige Gestein wird in- ') Küster, E., Die deutschen Buntsandsteingebiete, ihre Oberflachengestaltung und anthropogeographischen Verhältnisse. S. 63. Forschungen zur deutschen Landes- und Volkskunde, Bd. V, Heft 4, Stuttgart 1891. ') A. Hettner, Gebirgsbau und Oberflächengestaltung der Sächsischen Schweiz, Forsch, z. deutschen Landes- und Volkskunde Bd. II, Heft 4. Stuttgart 1887. — Derselbe, Fels- bilduDgen in der Sächsischen Schweiz. Geogr. Zeitschr. 1903, Bd. IX, Heft II, S. 608 ff'. — Derselbe, Wüstenformen in Deutschland? Ebenda 1910, Bd. XVI, S. 690—694. 322 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 23 folge seiner starken Porosität vom Sickerwasser durchtränkt; an den Stellen, wo dieses zutage tritt, zerstört es durch mechanische Verwitterung, insbesondere durch den Spaltenfrost das Gestein und bringt es durch Untergrabung auf den Schicht- fugen zum Absturz, wodurch immer neue Kluft- flächen freigelegt werden. Es sind also nach Hettners Auffassung die Felsbildungen nicht als Erzeugnisse eines anderen Klimas oder der abschleifenden Tätigkeit diluvialer Stürme, sondern lediglich als das Ergebnis von in der Gegenwart noch wirkenden Kräften zu betrachten. Nach dieser Anschauung vermag die Beschaffenheit des Gesteins auch in unseren deutschen Mittelgebirgen ähnliche Formen hervorzurufen, wie in der Wüste die Trokenheit des Klimas; damit soll aber nicht ausgeschlossen sein, daß, wie B e c k ^) für einige Stellen in der Sächsischen Schweiz nachgewiesen hat, unter bestimmten Voraussetzungen auch der Wind eine gewisse, allerdings nur örtlich be- schränkte, abschleifende Tätigkeit ausüben kann. Zu einem ähnlichen Ergebnis wie Hettner kam auch Petraschek") für das schlesisch- böhmische Kreidegebiet; auch Lozinski'') sieht in dem Spaltenfrost des Hauptagens zur Heraus- bildung der Steilwände. Einen ganz anderen Standpunkt nimmt dagegen Obst*) ein, der die Anschauung vertritt, daß die mechanische Ver- witterung gegenwärtig sehr gering sei und die Felsbildungen ihre Entstehung diluvialen Sand- stürmen zu verdanken hätten, wobei er sich auf die äußerliche Ähnlichkeit mit den von J. Walt her'') und anderen Forschern aus den Wüsten be- schriebenen Formen stützt. An die Ausführungen in der Arbeit von Obst hat sich in der „Geographischen Zeitschrift" eine längere Erörterung geknüpft, an der sich Hettner, Obst und Passarge ") beteiligten und auf die hier nur verwiesen werden kann (Bd. XVI, 19 10, S. 690—694; Bd. XVII, 191 1, S. 337—342 und 578 — 580); soviel sei jedoch erwähnt, daß Obst bei seiner Auffassung blieb und von Passarge ') Beck, R., Die korrodierende Wirkung des Windes im Quadersandsteingebiet der Sächsischen Schweiz. Zeitschr. d. Deutsch. Geol. Ges. 1894, l'd. 4Ö, S. 537 — 546. -) Petraschek, W., Die Oberflächen- und Verwitterungs- formen im Kreidegebiet von Adersbach und Weckelsdorf. Jahrb. d. k. k. Reichsanstalt zu Wien 1908, Bd. 58, S. 610 — 619. ') Lozinski, W. v., Über die mechanische Verwitterung der Sandsteine im gemäßigten Klima. Bull. Intern, de l'Aca- deraie des Sciences de Cracovie, Classe des sciences mathem. et natur. 1909, S. I — 25. — Derselbe, Die periglaziale Fazies der Verwitterung. Naturw. Wochenschr. 191 1, N. F. Bd. X, S. 641—647. *J Obst, E. , Die Oberflächengestaltung der schlesisch- böhmischen Kreideablagerungen. Diss. Breslau 1909. Mitt. d. Geogr. Ges. in Hamburg 1909, Bd. XXIV. '') Walt her, J., Die Denudation in der Wüste und ihre geologische Bedeutung. Abhandl. der math.-physik. Kl. der Kgl. Sachs. Akad. d. Wiss. 1891, Bd. XVI, Nr. III, S. 347— 569. — Derselbe, Das Gesetz der Wüstenbildung in Gegen- wart und Vorzeit. 2. Aufl. Leipzig 1912. ^) Passarge, S., Wüstenformen in Deutschland J Geogr. Zeitschr. 1911, S. 578 — 580. bis zu einem gewissen Grade unterstützt wurde. Keßler*) schließlich wies noch daraufhin, „Hettner habe nicht die Gewißheit dargetan, daß die Felsformen sich unter einem, dem jetzigen ähnlichen Klima gebildet hätten, sondern nur die Möglichkeit, daß es so sein könnte." Um dieselbe Zeit hatte ich mich mit der Ent- stehung der Groß- und Kleinformen der Ver- witterung im Buntsandsteingebiet des Pfälzerwaldes beschäftigt und mich darin zur Sickerwassertheorie Hettners bekannt, für die Kleinformen jedoch eine die Hettnersche Sickerwassertheorie etwas modifizierende Infiltrationstheorie aufgestellt und diese später in einer besonderen Arbeit unter Zu- sammenfassung der einschlägigen Literatur näher erörtert.") Diese hatte inzwischen durch eine Arbeit von Rathsburg eine wertvolle Bereiche- rung erfahren. Rathsburg hat nämlich die Schlußfolgerungen von Obst unter Verwertung meiner Untersuchungen an Ort und Stelle ein- gehend nachgeprüft und sich dahin ausgesprochen, daß die von Hettner vertretene Anschauung über die Entstehung der Felsgebilde der Sächsi- schen Schweiz (keine Folge der Trockenheit des Klimas, sondern der Trockenheit des Bodens) auch auf die Gebiete von Pfälzerwald, Adersbach- Weckelsdorf und des Heuscheuergebirges auszu- dehnen ist;^) er hält es aber wohl für möglich, daß der Diluvialzeit ein wesentlicher Anteil an der Herausbildung der Großformen eingeräumt werden kann, daß sie aber nicht lediglich Reliktenformen eines früheren Steppenklimas zu sein brauchen (S. 148 u. 187). Eine zusammenfassende Besprechung der vor- stehend erwähnten Arbeiten hat Götzinger*) gegeben und im Anschluß an die Ausführungen von Rathsburg betont, daß diese „Wüsten- formen" zum größten Teil der heutigen Ver- witterung und Abtragung, vornehmlich durch Wasserwirkung, zuzuschreiben sind und im wesent- lichen eine Funktion der petrographischen Be- schaffenheit und der Durchlässigkeit des Quader- ') Keßler, P., Einige Wüstenerscheinungen aus nicht aridem Klima. Geologische Rundschau, 1913, Bd. IV, S. 413 bis 423. -) Häberle, Das Felsenland des Pfälzerwaldes (Pfälzi- scher Wasgenwald). Ein Beispiel für die Entstehung bizarrer Verwitterungsformen im Buntsandstein. Kaiserslautern, Kayser, 1911. — Derselbe, Über Kleinformen der Verwitterung im Hauptbuntsandstein des Pfälzerwaldes. Verhandl. d. Natur- hist.-Medizin. Ver. zu Heidelberg 191 1, Bd. XI, Heft 2. — Derselbe, Die gitter-, netz- und wabenförmige Verwitterung der Sandsteine. Geologische Rundschau, 1915, Bd. VI, S. 264 bis 285. — Derselbe, Über das Vorkommen karrenähnlicher Gebilde im Buntsandstein. Jahresber. u. Mittig. d. Oberrhein. Geolog. Ver. N. F. Bd. VI, 1916, Heft 2, S. 159—167. Allen diesen Arbeiten sind ausführliche Literaturnachweise beigegeben, die auch hier zu Rate gezogen werden wollen. ^) Rathsburg, A., Zur Morphologie des Heuscheuer- gebirges, zugleich ein Beitrag zur Morphologie der Sächsischen Schweiz und der Wüstenformen in Deutschland überhaupt. 18. Ber. d. Naturw. Ges. zu Chemnitz 1912, S. 120 — 188. *) Götzinger, G. , Zur Frage der Wüstenformen in Deutschland. Deutsche Rundschau für Geographie, XXXV. Jahrg., 1913, S. 524—526. N. F. XVni. Nr. 23 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 323 Sandsteins darstellen. An anderer Stelle weist Götzinger noch darauf hin, daß z. B. auch für die Entstehung der „Felsenstädte" im bosnischen Dolomit kein Beweis vorliegt, daß sie nach ihrer morphologischen Beschaffenheit für ein Relikt eines anderen, etwa diluvialen Klimas anzusprechen sind, wie es z. B. Obst für das böhmisch-sächsische Kreidegebiet zu entwickeln versucht hat. ') Auf meinen Wanderungen durch die Sächsische Schweiz und das böhmisch-schlesische Ouader- sandsteingebiet war mir die große Ähnhchkeit, fast möchte ich sagen Übereinstimmung der dor- tigen Felsformen mit denen im Felsenland des Ffälzerwaldes zum Bewußtsein gekommen ; es lag der Gedanke nahe, die von den verschiedenen Forschern für die Entstehung jener eigenartigen Erscheinungen, insbesondere für die Herausbildung steiler Felswände aufgestellten Erklärungsversuche auch für das mir gut bekannte Felsenland auf ihre Anwendbarkeit nachzuprüfen, da auch für dieses Gebiet nach dieser Richtung hin die Anschauungen noch geteilt sind. Das Auftreten von Steilwänden im Pfälzerwald ist hauptsächlich an das südliche Ver- breitungsgebiet des Hauptbuntsandsteins gebunden, dessen ziemlich mächtigen Bänke meist flach lagern oder nur wenig geneigt sind ; im Unteren Bunt- sandstein fehlen sie, da seine mehr tonige Be- schaffenheit ihre Herausbildung nicht gestattet, sondern wellige Geländeformen erzeugt: hier sind sogar nach stärkeren Niederschlägen, namentlich im r'rühjahr. Rutschungen und Kriechbewegungen in den an den flachgeböschten Hängen sich hin- ziehenden, einer tiefer wurzelnden Vegetations- decke entbehrenden Feldern und Wiesen nicht selten. Nach oben schließt der Untere Buntsand- stein vielfach mit Ebenheiten ab, die mit aus- gewitterten Gerölllagen des Eckschen Horizonts bedeckt sind. Darüber erheben sich als unterste Zone des Hauptbuntsandsteins mit scharf aus- geprägtem Anstieg die Trifelsschichten, die zu- nächst von den sanfter geböschten Rehbergschich- ten und darüber von den morphologisch wieder deutlicher ausgeprägten Karlstalschichten über- lagert werden. Das gesimsartig vorspringende Hauplkonglomerat bildet schließlich die Grenze gegen den nur im südwestlichen Teile des Plälzer- waldes auftretenden Oberen Buntsandstein. In diesen vier Schichtkomplexen des Haupt- buntsandsteins treten in bestimmten Horizonten Felszonen von geringerer oder größerer Mäch- tigkeit auf, die zur Herausbildung von Steilwänden ') Götzinger, Eine Felsenstadt im Dolomit bei Risovac in Bosnien. Geograph. Anzeiger 1913, S. 125 — 127. Auf die im Kreidekalk der Provinz Cuenca in Spanien auftretenden, eigenartigen Erosionsformen, die ein ganzes La- byrinth von Felspfeilern und Felsentoren bilden und lokal den Namen ,,cindar encantada" (versteinerte Sladi) führen, habe ich auf Grund einer freundlichen Mitteilung von Herrn Privatdozent Dr. Wurm in Heidelberg schon früher hinge- wiesen. Eine gute Abbildung davon befindet sich in der Be- schreibung der Provinz Cuenca von Cartazar, Memorias de la Comision del mapa geologico de Espana 1875. und isolierten Felspartien neigen. Am verbreitetsten sind sie im Gebiet der mittleren Trifelsschichten und hier wieder besonders in der Umgebung des Städtchens Dahn. Da sich diese Felszonen stets genau an denselben Horizont halten, müssen die Bänke, mit denen diese Erscheinungen verknüpft sind, ein gegen die gesteinszerslörenden Kräfte widerstandsfähigeres Bindemittel haben. Auch bei der Bildung von Blockanhäufungen, den sogenannten Felsenmeeren, die wir namentlich im Gebiet der Karlstalschichten treffen, tritt diese Eigenschaft in Erscheinung: hier hält die Natur gewissermaßen eine natürliche Auslese. ') Steilwandige Felsmassen finden wir, dem Vor- kommen dieser Felszonen entsprechend, besonders aber im Verbreitungsgebiet der Trifelsschichten, sowohl auf dem Rücken wie auch am Gehänge von Bergen , hier vielfach bastionförmig vor- springend, und sogar mitten aus Tälern aufragend. Über langgestreckte Rücken ziehen schmale, oft fensterartig durchbrochene Sandsteinmauern und schroffe Felsgrate, die, bald ununterbrochen fort- laufend, bald in einzelne Nadeln und Türme auf- gelöst, sich vielfach über die Täler auf die nächsten Höhen weiter verfolgen lassen; 20 — 70 m hohe Felsen und Felswände sind eine ganz gewöhn- liche Erscheinung: sie alle bilden willkommene Übungsplätze für Kletterer. Eine besonders eigen- tümliche Erscheinung sind die bald kulissen- bald bastion- und erkerartig weit ausladend aus dem Gehänge in die Täler vorstoßenden und diese viel- fach verengenden Felsenmauern, welche gleichsam als Vorposten vor den meist beträchtlich höher ansteigenden, bewaldeten Rücken stehen und wegen ihrer weniger exponierten Lage bis jetzt vielfach noch den Zusammenhang bewahren konnten, da- her nur selten in Einzelgebilde bis zum Talboden aufgelöst sind. Wer sich von der durch die viel- gestaltigen Felsbildungen bedingten landschaft- lichen Schönheit und Eigenart einen Begriff machen will, braucht nur von der Madenburg und dem Trifels Umschau zu halten oder das mitten im Felsenland liegende, von einem Felsenlabyrinth umwallte Städtchen Dahn zu besuchen. Daß dieses eigenartige Felsenland bei Fach- leuten und Laien von jeher das größte Interesse erwecken mußte, ist leicht erklärlich; leider ist es wegen seiner bis vor kurzem dem Verkehr etwas entrückten Lage in weiteren Kreisen nicht so gewürdigt worden, wie seine Schönheit es ver- dient hätte. Nur wenig wurde es bis in die letzten Jahrzehnte hinein außerhalb der Pfalz ge- nannt, obwohl es den Vergleich mit der Sächsi- schen Schweiz getrost aushalten kann; auch in der wissenschaftlichen Liteiatur war es bis vor wenigen Jahrzehnten kaum erwähnt. ") Der be- ') Wegen der Entstehung von Felsenmeeren vgl. W. Sa- lomon, Die Bedeutung der Solifluktion für die Erklärung deutscher Landschafts- und Bodenformen. Geologische Rund- schau 1916, Bd. VI, S. 30 — 41. *) In der kürzlich erschienenen 5. Auflage des Lehrbuches der Geologie von E. Kays er, I. Teil: Allgemeine Geologie 324 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVin. Nr. 23 kannte Heidelberger Geologe Karl Cäsar von Leonhard (1779 — 1862), der sich eigent- lich zuerst mit diesen Felsgebilden als Fachmann beschäftigt hat, schildert sie „als Statuen und Pfeiler, Obelisken, Türme, Tore und Bogen, zer- störte Burgen, römische Wasserleitungen und riesenhafte Feenpaläste, je nachdem die Phantasie des Beschauers entwickelt sei". Für ihre Ent- stehung gibt er nach dem damaligen Stande der Wissenschaft zwei Möglichkeiten an, entweder eine neptunische, d. h. Herausspülung von quarz- reicheren Sandsteinteilen durch zerstörende Fluten aus einer früher einheitlichen Buntsandsteinmasse, oder eine plutonische, d. h. Hervorstoßen von festeren Partien aus uns nicht zugänglichen Tiefen. Er erörtert das Für und Wider gegen jede dieser Hypothesen, neigt aber mehr zu letzteren, fügt jedoch zum Schluß hinzu „daß er jedem seinen neptunischen Glauben lasse, wenn er sich dabei beruhigt fühle". ^) In einer ansprechend geschriebenen Schilderung des Felsenlandes aus dem Jahre 1870 weist Prof. Vogelgesang'') daraufhin, daß die Geologen, abgeschreckt durch das einförmige Rot des Bunt- sandsteins auf den Karten, nur selten ihren Fuß hierher zu setzen scheinen, so daß dieses durch seine Naturschönheiten ausgezeichnete Gebiet in der Fachliteratur nur ganz im Vorbeigelien ge- würdigt werde. Er betont, daß kein Grund vor- handen sei, die tiefgehende Zerbrechung der Sand- steinschichten auf Rechnung von Erderschütterungen zu setzen und sieht in ihnen bereits das Ender- gebnis der talbildenden Tätigkeit der Gewässer. Die Buntsandsteinmasse werde, je weiter „die Trans- versalerosion gegen Westen hin fortschreite, mehr und mehr in den Bereich der Quertäler gezogen; Nebentäler zweiter und dritter Ordnung würden die Zerstückelung des Sandsteinmassivs in Parallel- epipede vollenden, aus denen dann die Verwitte- rung durch eine von oben nach unten fort- schreitende Zerbröckelung und Anhäufung des Schuttes am Fuße allmählich jene langen, liegen- den,, walmartig abgestumpften Prismen, jene von ferne wie Vulkanberge aussehenden Kegel mit ihren Felsgipfeln und Teufelsmauern formte". C. W. V. Gümbel hat in seinem großen Werke (Geologie von Bayern, Bd. II, S. 1005) die eigen- artigen Felsformen, die doch dem südlichen Pfälzer- wald gegenüber den anderen deutschen Buntsand- steingebieten ein so charakteristisches Gepräge verleihen, verhältnismäßig kurz behandelt. Er (Stuttgart, Enke 1918) ist erfreulicherweise auch das Pfälzer Felsenland neben Hinweisen im Text auch mit zwei Abbil- dungen berücksichtigt und zwar S. 338: Gitterförmige Ver- witterung einer Felswand am Drachenfels bei Busenberg und S. 350: Teufelstisch bei Kaltenbach. ') Leonhard, K. C. v., Fremdenbuch von Heidelberg. Ausflug nach dem Überrhein S. 30Ö — 373. Heidelberg 1S34. Im Auszuge abgedruckt in der Zeitschrift „Der Pfälzerwald", Jahrgang 1918, S. 5 — 6. ') Vogelgesang, Über Erosion und Verwitterung im bunten Sandstein. 37. Jahresbericht d. Mannb. Ver. f. Natur- kunde, S. 51 — 58, Mannheim 1871. schreibt : die regelmäßige, an vorherrschend vier Richtungen gebundene Klüftung und Zerspaltung „erzeugt zunächst eine Art säulenförmige oder quaderartige Absonderung der Schichten, nament- lich der festeren Bänke, und erweist sich in Ver- bindung mit der von Schicht zu Schicht, und von Bank zu Bank wechselnden Festigkeit oder Wider- standsfähigkeit gegen atmosphärische Einflüsse als Hauptursache jener vielgerühmten pittoresken Fels- formung, die fast in allen Teilen, am auffallend- sten in den südlichen Gegenden des Haardtge- birges [Pfälzerwaldes] hervortritt. Laufen nämlich zwei solcher Spalten nahe parallel durch die Fels- massen hindurch über die Gehänge, oder über die Bergrücken und Köpfe fort, und werden die da- durch abgesonderten Gesteinsstöcke durch auf- oder vorgelagerte, festere und der Verwitterung minder leicht zugängliche Partien von intensiverer Zerstörung geschützt, so bleiben sie mehr oder weniger der Form nach erhalten und ragen in mauer- artig über die Berge und Gehänge fortlaufenden Felskämmen oft turmhoch über die Oberfläche auf, während ihre Umgebung der Abnagung und Zerstörung anheimgefallen ist und die davon ab- stammenden Gesteinsbrocken als Schutt und Sand über die meist steilen, aber felsenleeren Gehänge ausgeschüttet sind. Durch Kombination verschie- dener Züge solcher Felsgruppen entstehen wahre Felslabyrinthe, welche meist noch mit großartigen, durch Niederbrüche unterwaschener Felsteile ent- standenen Felsenmeeren vergesellschaftet sind". In den Erläuterungen zu Blatt Speyer (S. 54, 55) äußert sich Gümbel im ähnlichen Sinne, faßt sich aber noch kürzer. Er weist darauf hin, daß sich mit dem auf den Klüften versitzendem Tagewasser „eine chemische und mechanische Einwirkung auf die Kluftwände verbindet, nament- lich in weicheren Schichtenlagen; es treten Zer- setzungs- und Verwitterungserscheinungen auf, welche schließlich zu der Zerstörung und Aus- nagung gewisser angreifbarer Felsteile und wesent- lich zur Ausgestaltung der Oberfläche, nament- lich zur Bildimg ruinenartiger Felsgruppen führen. In vielen Fällen schreitet die Zerstörung der Ge- steinsmassen so weit fort, daß die festeren Bänke unterwaschen werden, zusammenstürzen und zu einem Haufwerk von oft riesigen, wirr durch- einander liegenden Blöcken, sog. Felsenmeeren, aufgetürmt werden, oder als vereinzelte harte Fels- blöcke, sog. Findlinge, die als vortreffliches wetter- festes Baumaterial sehr gesucht sind, auf den Berggehängen verstürzt liegen. Fast alle größeren Felsgruppen werden am Fuße von einem Trüm- merhaufen solcher Blöcke umringt, wie z. B. der Gipfel der Großen Kalmit, des Trifels, Drachen- fels, beim Schloß Alt-Dahn, Jungfernsprung, an der Wegeinburg, am Großen Igelschütt, Alsch- berg usw." Andere Autoren, die sich mit dem pfälzischen Buntsandsteingebiet beschäftigt haben, sind auf die Entstehungsmöglichkeiten der eigentümlichen Fels- gebilde nicht näher eingegangen. Nach den oben N. F. XVIII. Nr. 23 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 325 erwähnten Ausführungen von Johannes Walther über die Begleiterscheinungen der Wüstenphäno- mene vermutet O. IVI. Reis') auf Grund vieler Spuren von Dünenbildung im Pfälzerwald, „daß ein großer Teil der Unterwühlungen von harten Felsschichten mit unterlagernden mürben, fein- körnigen Sandsteinen im höher gelegenen Innern des Gebirges, besonders der isoliert stehenden Tischfelsen, auf Winderosion zurückzuführen ist." Im ähnlichen Sinne äußert sich auch Futterer :'-) „Es sind bei uns solche „Zeugen" auf den Höhen der Haardt, die deutlich die Windspuren zeigen; aber hier hilft auch der Regen mit, um sie im Laufe der Zeit zu zerstören und andererseits schützt sie wieder die Vegetation, der hochge- wachsene Wald, der sie umgibt." Keßler, der mehr auf die zeitliche Ent- stehung der merkwürdigen Felsbildungen einge- gangen ist, hält es für möglich, daß in einer am Ende der Diluvialzeit vorhandenen Trockenperiode die Ausmodellierung der in der Anlage bereits vorhandenen Bergformen, insbesondere die Heraus- arbeitung der Felsen erfolgt sein könnte.^) In meinen oben erwähnten Arbeiten habe ich mich für die Hettnersche Sickerwassertheorie ent- schieden, dabei aber auch auf einige Erscheinungen hingewiesen, die ev. doch auch eine andere Ent- stehungsmöglichkeit nicht ganz ausschließen. Im folgenden will ich die verschiedenen, für die Ent- stehung der Steilwände im pfälzischen Buntsand- stein maßgebenden Faktoren kurz erörtern und dabei von den in den Trifelsschichten der Dahncr Gegend uns entgegentretenden Erscheinungen, wo sie besonders deutlich ausgeprägt, weit ver- breitet und auch am leichtesten zugänglich sind, ausgehen. Die in der untersten, den Trifelsschichten an- gehörenden Felszone vorkommenden Felsmauern erheben sich über wagerechten, durch den Unteren Buntsandstein gebildeten, manchmal auch sanft abgedachten Ebenheiten, in die wieder die Wasser- läufe eingesenkt sind; die an ihrem Fußhang auf- tretenden, aus dem Eckschen Konglomerat stam- menden Gerolle lassen über die Lagerungsver- hältnisse keinen Zweifel zu. Über diese Eben- heiten weichen nun die Trifelsschichten je nach ihrer wechselnden petrographischen Beschafifenheit bald in schroffen Wänden, bald in Steilhängen zurück: sie bilden somit eine deutliche Stufe und beweisen uns damit auch die ehemals größere horizon- tale Verbreitung dieser, bis zu 70 m hohen Wän- den abbrechenden Sandsteinmassen. Unzweifel- haft ist bei diesem unaufhaltsam fortschreiten- den Zerstörungsprozeß von der größten Bedeutung die chemische und mechanische Verwitterung, die ') Erläuterungen zu Bl. Zweibrücken der geognostischen Karte von Bayern S. 134. -) Futterer, K. , Der Pe-schan als Typus der Felsen- wüste. Ein Beitrag zur Charakteristik der Felsenwüsten Zentral- asiens. Geogr. Zeitschr. igo2, Bd. VIII, S. 250 u. 266. ") Keßler, P. , Einige Wüstenerscheinungen aus nicht aridem Klima. Geolog. Rundschau 1913, Bd. IV, S. 421 — 422, in ihrer Tätigkeit wiederum durch die Mineralzu- sammensetzung, Wasserdurchlässigkeit, Schichtung und Klüftung des Gesteins beeinflußt wird. Ebenso wie der Quadersandstein zeigt auch der pfälzische Buntsandstein eine ziemlich wage- rechte Lagerung, eine starke Zerklüftung und eine große Durchlässigkeit: infolgedessen stellen sich trotz der Verschiedenheit des Materials bei der Herausbildung der Felsformen in den verglichenen Gebieten überraschende Ähnlichkeiten heraus, die den Schluß gestatten, daß wohl hier wie dort die gleichen Kräfte dabei tätig gewesen sein müssen. Wie bereits Gümbel ausgeführt hat, ist der pfälzische Buntsandstein durch eine besonders starke Klüftung ausgezeichnet. Die Entstehung der Klüfte ist auf die mechanische Wirkung der zahlreichen tektonischen Vorgänge (Zug, Druck, Torsion) zurückzuführen, die sich in unserem Ge- biet im Anschluß an die Entstehung des Rhein- talgrabens abgespielt und das Gefüge der Schich- ten gelöst haben; es sind also Diaklasen (Dau- bree) oder Druckfugen (Salomon). Die Bunt- sandsteintafel wurde dabei im weitgehendsten Maße in der Längs- und Ouerrichtung zerstückelt, die ursprünglich im gleichen Niveau abgelagerten Schichten durch Verwerfungen und Brüche zer- rissen und in verschiedene Höhen gebracht. Da die Trifelsschichten an und für sich schon ein mehr kieseliges Bindemittel und daher eine ge- ringere Plastizität besitzen wie die darüber folgen- den Rehbergschichten, mußten sie bei den mit der Entstehung des Rheintalgrabens verbundenen, ungleichen Verschiebungsvorgängen an und für sich auch eine stärkere Zerklüftung erfahren. Durch diese zahlreichen Klüfte, Spalten und Risse wird nun der Verlauf der Steilwände und Fels- kämme bzw. der äußere Umriß der isolierten Fels- partien im voraus ohne weiteres bestimmt; es ist das dieselbe Erscheinung, die wir auch bei dem Weiß-Jura-Dolomit des schwäbisch- fränkischen Jura (Tüchersfeld u. a. a. O.) und bei dem südalpinen Schierndolomit (Rosengarten) beobachten können, wo ähnliche P'elsformen, allerdings vielfach in ganz anderen Ausmaßen auftreten. Diese zahlreichen Trennungsflächen sind entweder senkrecht gestellt oder auch unter verschiedenen Winkeln schief ge- neigt und vielfach parallel angeordnet : hauptsäch- lich folgen sie der SW- NO- bzw. SO- NW Rich- tung. Nach den Untersuchungen Dinus') stim- men die Richtungen der Felsen vielfach mit den Richtungen benachbarter Talstücke überein, wo- raus sich auch der Einfluß der Klüfte auf den Verlauf der Täler ergibt. Wir haben oft ver- schiedene Klüftungssysteme nebeneinander, die sich in bestimmten Winkeln auch schneiden und so verschieden geformte Absonderungsformen er- zeugen, sodaß das Gestein in mehr oder weniger ') Dinu.J., Geologische Untersuchungen der Beziehungen zwischen den Gesteinsspalten, der Tektonik und dem hydro- graphischen Netz im östlichen Pfälzerwald. Dissertation Heidel- berg. Verhandl. d. Naturhist.-Mcdiz. Ver. zu Heidelberg 1912, Bd. XI, S. 238—299. 326 Naturwissenschaftliche Wochenschrift; N. F. XVIII. Nr. 23 regelmäßige, durch Druckfugen begrenzte bzw. er- zeugte Stücke zerlegt erscheint: wir finden da Pfeiler, Würfel oder, was noch häufiger ist, un- regelmäßig parallelepipedische Massen, da quader- artig brechende Sandsteine immer wieder die senk- rechte Linie herauszubilden suchen, wenn sie von rascher verwitternden Schichten unterlagert werden. Eine eigentümliche Erscheinung sind die mauer- ähnlichen, von zwei parallelen Kluftflächen be- grenzten, schmalen Felsenriffe, die nach theo- retischen Erwägungen als Gerüste au? primär widerstandsfähigerem Material die rings abgewitter- ten und zerstörten Sandsteinmassen überdauert haben müssen. Wir können aber auch annehmen, daß auf den jetzt die Wände der Felsmauern bildenden Klüften aus der Tiefe Wasser aufge- stiegen ist und die anstoßenden Gesteinspartien, solange sie noch unter einer hüllenden Decke lagen, mit Kieselsäure, vielleicht auch mit Eisen- verbindungen imprägniert und dadurch wider- standsfähiger gemacht haben mögen. Freilich bleibt da wieder die Frage offen, weshalb nur die erhalten gebliebene Kluftseite imprägniert worden ist. Wenn auch diese mauer- und rifif- artigen Reste manchmal in bestimmter Richtung angeordnet sind, so ist diese doch nicht regel- mäßig genug, um annehmen zu können, daß eine aus einer bestimmten Richtung wirkende Kraft, z. B. eine vorherrschende Luftströmung sie heraus- modelliert haben könnte. Vielfach läßt sich jedoch eine alte Kammlinie konstruieren, von welcher hiei eine in das Tal kulissenartig vorspringende Felswand, dort ein scharfer Grat oder nur ein Pfeiler, in weiterer Ferne ein Kegelberg mit einem Felsklotz erhalten geblieben ist. Auf der Klüftung beruht also neben der wage- rechten Schichtenlagerung in erster Linie die eigen- artige Absonderung, die zur Herausbildung senk- rechter Wände neigt; ebenso ist damit mehr oder weniger in Verbindung zu bringen die Entstehung lokaler Felsenmeere und Blockhalden, wie sie am Fuße unserer Steilwände durch Abstürze sich bilden. Auch das Vorkommen von Windlöchern steht damit im Zusammenhang ; mehrere dieser eigentümlichen, dem Buntsandstein sonst fremden Erscheinungen habe ich aus dem Pfälzerwalde beschrieben. ') Auf den Spalten und Klüften konnte die Verwitterung besonders kräftig einsetzen; sie sind die gegebenen Angriffspunkte für die mecha- nisch trennenden und chemisch verändernden ge- steinszerstörenden Kräfte, die daneben selbstver- ständlich auch die von den Klüften geschnittenen Schichten nach Maßgabe ihrer Kornbindung in horizontaler Richtung bearbeiten. Besonders mußte auf den Klüften die Sprengkraft des Spalten - frostes und die Wirkung der organischen Ver- witterung zur Geltung kommen und sie zu klaffenden ') Häberle, D., Über das Vorkommen von Windlöchern auf Spalten und Klüften im Pfälzerwald. Piälz. Heimatkunde 1909, S. 37—45 und S, 100. Spalten erweitern, da der Frost ohnehin in dem oberflächlich ursprünglich festen Gestein den Zu- sammenhang löst und es entlang den Kluftflächen geradezu abblättert.^) Die auf den Klüften ein- gedrungenen Niederschläge sprengen beim Ge- frieren das Gestein auseinander und bringen es an den Kluftflächen und Rissen zum Absturz; vielfach habe ich auch beobachtet, daß in er- weiterte Klüfte von oben hineingefallene Blöcke eingeklemmt sind, die vermöge ihrer Schwere im Laufe der Zeit ebenfalls wie ein Keil auseinander- treibend wirken müssen. Als Tatsache verdient hervorgehoben zu werden, daß die infolge von abwechselndem Gefrieren und Auftauen des Wassers bzw. Schnees äußerlich in Erscheinung tretenden Spuren der mechanischen Frostverwitterung nicht, wie man annehmen sollte, allein auf der Wetter- (West) Seite der Felsen, sondern noch mehr auf der Südseite zu finden sind, da hier im Winter durch die an den nackten Felswänden intensiv wirkende Sonnenbestrahlung und die starke Ab- kühlung während der Nacht ganz extreme, einen raschen Zerfall der Gesteine bedingende Tempera- turunterschiede geschaffen werden. Eine sprengende Wirkung üben aber auch Baumwurzeln aus. Fast auf allen Felsgebilden haben sich Kiefern angesiedelt; ihre Wurzeln folgen den Rissen und Spalten, nehmen im Verlaufe ihres Wachstums an Größe so zu, daß der Raum nicht mehr aus- reicht und treiben zuletzt das Gestein auseinander: es muß nachgeben und schließlich in größeren oder kleineren Blöcken abstürzen. Die auf diese Weise erweiterten Spalten und freigelegten Kluftflächen sind ständig den Ein- wirkungen der Atmosphärilien und der Pflanzen- welt ausgesetzt, die unablässig tätig sind, die ur- sprünglich ebene Fläche zu bearbeiten. Nackte Felswände sind gewöhnlich mit einer braunroten Verwitterungsrinde aus tonig- ferritischer Substanz bedeckt, von der sich hier und da frische Abriß- stellen durch ihre hellere Farbe deutlich abheben. Einzelne zwischengelagerte Bänke dagegen, aus weniger widerstandsfähigerem Material aufgebaut, ') Högbom, B., Über die geologische Bedeutung des Frostes. Bull, of the Geol. Inst, of Upsala 1914, Vol. XII, S. 258—389. Lozinski, W. v., Die periglaziale Fazies der mechani- schen Verwitterung. Naturw. Wochenschr. 1911, N. F. Bd. X, S. 641—647. Kaiser, E., Die Verwitterung der Gesteine. Handwörter- buch der Naturwissenschaften, Bd. X, Jena, Fischer 1913. — Derselbe im: Handbuch der Steinindustrie, Bd. I. Berlin, Union 1914. Vgl. ferner Günther, S., Die Entstehung bizarrer Pels- zacken. Die Umschau 1907, S. 669 — 672. — Derselbe, Pitto- reske Erosionsgebilde. Wissenschaftliche Umschau 191 1, Heft 7 u 8. — Derselbe, Untersuchungen über Wackelsteine und damit zusammenhängende Denudationserscheinungen. Sitzungsber. d. bayer. Akad. d. Wissenschaften, Math.-physikal. Kl. 1909. Die hier einschlägige neuere Literatur über den Einfluß der Verwitterung auf die Bodengestaltung ist zusammengestellt von A. Rühl im Geograph. Jahrbuch 1914, XXXVII, S. 315 bis 322 und von J. Solch in Kendes Handbuch der geo- graphisphen Wissenschaft, l. Teil, S. 140 — 151. Berlin 1914. N. F. XVni. Nr. 23 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 327 bröckeln unter dem Einfluß der Verwitterung ab und zeigen ein helleres Rot, noch andere besitzen infolge der auf ihnen angesiedelten niederen Orga- nismen einen grauen Überzug. Von weitem sehen diese Felswände oft fast ebenflächig aus. Betrachten wir sie aber aus der Nähe, so ergibt sich, daß ihre Oberfläche rauh und vielfach mit Vertiefungen der mannigfaltigsten Art bedeckt ist und jede einzelne Schicht ihre eigene Verwitterungsform zeigt. Unter- schiede in der Struktur und in der chemischen Zusammensetzung, verschiedene Erwärmungs- und Ausdehnungsfähigkeit, Wetterbeständigkeit der klastischen Bestandteile, Porosität und die dadurch bedingte Wasseraufnahmefähigkeit, ungleiche Aus- bildung der Parallelstruktur usw., dies alles trägt dazu bei, daß das Gestein der nackten P"elswände von den gesteinszerstörenden Kräften ungleich- mäßig angegriffen wird. Bänke mit mehr tonigem Bindemittel mußten rascher zerstört werden als die durch Kieselsäure gebundenen. Die Abtragung erfolgte also bei den verschiedenen Bänken in verschiedenem Zeitmaß. Dadurch wurden Ver- witterungsformen verschiedenen Grades ') erzeugt und in ihrer Ausgestaltung durch die Richtung der Klüfte bestimmt. Widerstandsfähigere Felsen- mauern wurden als festeres Gerüst aus den rascher zerstörbaren Schichten herausgearbeitet und unter Mitwirkung von Denudation und Erosion in ge- zackte Grate oder isolierte, durch tiefe Spalten getrennte Türme, oder bei fortschreitender Zer- störung in einzelne Nadeln und Pfeiler zerlegt. Je stärker nun der Zusammenhalt der an ihrem Aufbau beteiligten Schichten ist, desto steiler, höher und dünner konnten diese Gebilde werden. An schmalen Felsmauern fehlen meist frische Ver- witterungsformen, was wohl darauf beruht, daß diese Felsmassen nur wenig, die Verwitterung und den Spaltenfrost von innen heraus begünsti- gende Niederschläge in sich aufzunehmen ver- mögen. Dagegen arbeitet an Schichten von sandig- toniger Beschaffenheit die Verwitterung in ganz intensiver Weise. Mit vollem Recht weist v. Lo- zinski darauf hin, daß „bei weniger widerstands- fähigen, insbesondere eisenschüssigen Sandsteinen der Zerfall sehr rasch vor sich geht . . . Schon ein geringer Gehalt an Eisenverbindungen genügt, um durch Oxydation einen raschen Zerfall der Sandsteine in Sand zu bewirken. Dadurch tritt an Stelle der mechanischen die chemische Ver- witterung". Die einzelnen Quarzkörnchen bröckeln dann ab und rieseln als Sand zu Boden. Bei diesem Vorgang treten einzelne Partien mit glatter Oberfläche oder auch in schwacher Wölbung, manchmal auch bei feinsandigem Material als Leisten über die Wandfläche heraus. Andere Stellen zeigen eine braunrote, vielfach von Öff- nungen durchbrochene Kruste, hinter welcher hier und da die Verwitterung arbeitet, Hohlräume ') Vgl. Häberle, Die gitter-, netz- und wabenförmige VerwiUerung der Sandsteine. Geolog. Rundschau 1914, Bd. VI, S. 264—285. schafft und allmählich die ihrer Unterlage be- raubte, oft nur blattdünne Decke auflockert und schließlich abgleiten läßt. An der Rückverlegung der Felswände haben auch pflanzliche Organismen einen nicht zu unterschätzenden Anteil. Der sprengenden Tätigkeit der Baumwurzeln wurde bereits oben gedacht. Mehr flächenhaft wirken die auf den Wänden sich ansiedelnden Flechten und Moose, sowohl durch ihre Ausscheidungen als auch durch die nach ihrem Absterben aus ihnen hervor- gegangenen Zerfallprodukte (Säuren usw.). Viel- fach bilden sie festsitzende Überzüge und Krusten, die sich teilweise in das Gestein einfressen, z. B. die Nabelflechte {Uiiibüicana pusfalafa), es auf- lockern, feucht halten, zusammen mit gelockerten Sandkörnern in ganzen Polstern abfallen und so auch zerstörend wirken. Diesen Vorgang kann man deutlich beim Abnehmen solcher Decken beobachten, die auf ihrer Unterseite mehr oder weniger mit losgelösten Sandkörnern bedeckt sind. Ist das Gestein in seinem Gefüge auf die ver- schiedene Weise oberflächlich gelockert und auf- gearbeitet, dann rieseln die abgeschuppten oder auch durch Ausblühungen ^) abgebröckelten Sand- körnchen an den Wänden herunter, nachdem Schwere und atmosphärische Kräfte (Wind, Regen, Schnee) für die F"ortschaftung des gelösten Binde- mittels gesorgt haben; an manchen Steilwänden, z. B. an dem die Falkenburg tragenden P^elsklotz bei Wilgartswiesen hat sich das infolge von Ka- pillarität durch Abschuppen und Abblättern zer- störte Gestein sogar als fußhoher loser Sand auf- gehäuft. An anderen Stellen mischt sich der Sand je nach den Kohäsionsverhältnissen auch mit los- gelösten Gesteinsbrocken und abgestürzten Fels- blöcken. Die an den Wandflächen herausstehenden, oft den Schichtstreifen entsprechend zonar an- geordneten Gerolle lassen ganz deutlich das all- mähliche Rückwittern der Wandflächen erkennen. Während die Wand so nach und nach zurück- weicht, entsteht durch das niedergegangene Ma- terial ein Pußhang, der das darunter befindliche Gestein vor weiterer Zerstörung schützt. Mit den Angaben Keßlers (S. 421), daß manche Felsen auch ohne Sockel aus ebener Umgebung aufragen, andere einen nicht unbedeutenden Fußhang be- sitzen und hier auch aufgehäuften frischen Sand aufweisen, decken sich meine Beobachtungen: es sind dieselben Erscheinungen, wie sie auch aus der Sächsischen Schweiz beschrieben werden. Der Verwitterungsschutt wird dann durch das spülende und fließende Wasser weiter befördert, solange dessen Transportkraft ausreicht und bis ein ge- ') Beyer, O., Alaun und Gips als Mineralneubildungen und als Ursachen der chemischen Verwitterung in den Quader- sandsteinen des sächsischen Kreidegebietes. Zeitschr. d. Deut- schen Geol. Ges. Bd. 63, Jahrg. 191 1. Abhandl. S. 429 — 467. Über Gips- und Salzausblühungen, Krusten- und Rinden- bildung hat N. Krebs interessante Beobachtungen von den Tafelbergen östlich des Nil veröffentlicht. Morphologische Beobachtungen in den Wüsten Ägyptens. Mitt, d. Geogr. Ges. zu Wien 1914, Bd. 57, S. 315—316. 328 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 23 wisses Gleichgewicht zur Schwere erreicht ist, ein Vorgang, deren Verlauf und Gesetze Hettner (S. 55 — 61) ausführlich dargelegt hat; eine trans- portierende Tätigkeit des Windes habe ich im Felsenland nirgends beobachten können. ') Obwohl der Vorgang der Rückwitterung erst nach langen Zeiträumen in Erscheinung tritt, und deshalb wegen seines langsamen Fortschreitens eine laufende Beobachtung kaum gestattet, ist es unter bestimmten Umständen doch möglich, die Rückverlegung der Wände zahlenmäßig nachzuweisen. Sobald es nämlich gelingt, Werke menschlicher Tätigkeit von beglaubigtem Alter damit in Beziehung zu bringen, lassen sich auch einwandfreie Zahlen ermitteln. Diese IVlög- lichkeit bietet sich uns an den Ruinen zahlreicher auf die Hinterwand der Vertiefung durch die Ver- witterung zerstört und teilweise als loser Sand am Fuß des Felsens aufgehäuft ist, darf man wohl mit Recht annehmen, daß seit der Zerstörung dieser Burgen (1680 bzw. 1689), also in etwa 230 Jahren an bestimmten Stellen ein Rück- wittern der Wände um wenigstens 10 cm statt- gefunden hat. ^) (Abb. i). Neben der Klüftung ist die Durchlässig- keit des Gesteins ein Hauptfaktor für die Heraus- bildung der Steilwände; unzweifelhaft sind diese Großformen auch petrographisch bedingt. Der Buntsandstein ist im allgemeinen ziemlich durch- lässig, namentlich in seinen grobkörnigen und grobporigen Lagen, -) in denen die Kleinverwitte- rungsformen in Gitter- und Netzstruktur besonders A. Bauer jjhot. Abb. I. Netz- und gitter förmige Verwitterung im diagonal geschichteten Buntsandstein am Drachenfels bei Busenberg (Rheinpfalz). Absanden (a), Verwitterungsrinde (v), Balkenloch (B). Dauer des Verwitterungsvorganges höchstens zwei Jahrhunderte. Felsenburgen des südlichen Ffälzerwaldes, z. B. an den Burgruinen Altdahn, Falkenburg, Drachenfels bei Busenberg u. a. Wie gewöhnlich bei solchen Anlagen, waren die Zwingerbauten am Fuße des die Burg tragenden Felsens an dessen Steilwand angelehnt und ihre Balkenlagen in darin ein- gearbeitete Vertiefungen eingelassen. Als Auf- lagerungsfläche eines solchen Balkens muß man unter Zugrundelegung der Verhältnisse an wohl- erhaltenen Löchern mindestens 10 cm annehmen. Da nun an verschiedenen Stellen das Gestein bis ') Dies schließt jedoch nicht aus, daß unter anderen kli- matischen Verhältnissen der Wind die Verwitterungsprodukte weiter befördert hat; das Kehlen jeden Fußhangs ließe sich sonst kaum erklären. deutlich ausgebildet sind: infolge ihrer unvoll- kommenen Kornbindung neigen sie besonders zur ') Häberle, D. , Über die Meßbarkeit der Fortschritte der Verwitterung. Jahresberichte und Mitteilungen des Ober- rheinischen Geologischen Vereins 1911. N. F. Bd. I, Heft 2, S- 53— 54- Götzinger, G., Häberles Messungen der Fortschritte der Verwitterung, Erosion und Denudation. Deutsche Rund- schau für Geographie, 191 1, XXXIV. Jahrg., S. 176 — 178. -) Wegen des verschiedenen Verhaltens oszillierend auf- tretender, feinsandiger und grobkörniger Lagen gegen die Ver- witterung vgl. G. Weiß, Beiträge zur petrographischen Er- forschung des Unteren Buntsandsteins. Dissertation Gießen 1914. Ber. d. Oberhess. Ges. f. Natur- u. Heilkunde. N. F. Bd. VI, S. 55 — 108. — Derselbe, Verwitterungserscheinungen in Buntsandsteinsedimenten. Jahresber. u. Mittcil. d. Ober- rhein. Geolog. Ver. 1916, N. F. Bd. VI, S. S7— 99. löcherigen Verwitterung. ') Andere Lagen sind feinkörniger, vielfach auch mit einem stark kieseli- gen Bindemittel verkittet, das schon äußerlich, abgesehen von der größeren Härte des Gestems, an den im Sonnenlicht spiegelnden Flächen der mit Kieselsäure überzogenen Sandkörner leicht zu erkennen ist. Noch andere Lagen, wie sie ') H ä b e r 1 e , D., Kleinformen der Verwitterung im Haupt- buntsandstein des Pfälzerwaldes (Mikroskopische Untersuchung S. 2oS— 209). Verhandl. d. Naiurhist.-Mediz. Vereins zu Heidelberg 1911, Bd. XI, S. 167—209. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 329 namentlich an der Basis der Felszonen, insbesondere der am mächtigsten ausgebildeten Zone in den Trifelsschichten auftreten, sind sandig-tonig ent- wickelt und daher wenig widerstandsfähig. Zwischen den einzelnen härteren Bänken treten m verschiedenen Abständen auch Tonschichten von wechselnder Mächtigkeit auf, die an einzelnen Stellen etwas feucht erscheinen und hier und da von pflanzlichen Organismen (Algen, Flechten usw.) besiedelt sind. (Schluß folgt.) Einzelberichte. Zoologie. Neueres von der IVIorphologie der Pigmentzellen ^nd den Bewegungserscheinungen an ihnen. (Mit 2 Abbildungen.) ETB alTo wit z, einer der Entdecker der an die Pigmentzellen der Tierhaut herantretenden feinen Nervenendigungen, die man namentlich seit der ein Jahr vorher, 1892^ erschienenen berühmten Biedermann sehen phy- siologischen Untersuchung über die chromatische Hautfunktion der Frösche unbedingt fordern mußte, hat in neuerer Zeit diesen Zellen selbst, und zwar an Fischen, viele Studien gewidmet und unsere Kenntnisse von diesem schon das Auge ungemein fesselnden Gegenstande erheblich erweitert. Von der Struktur der Pigmentzellen bei Wirbeltieren sei zunächst erwähnt, daß gegenüber der namentlich von V e r w o r n lange festgehaltenen alten Ansicht, die Pigmentzellen seien amöboid beweglich und hierauf beruhe die Ausdehnung und Zusammenballung dieser kleinen Pigment- massen beim Farbenwechsel der Tiere, für Bal- lowitz die unveränderliche Gestalt dieser Zellen und das Zustandekommen ihrer scheinbaren Ver- änderungen durch bloße intrazellulare Pigment- könichenströmungen längst feststeht, abgesehen davon, daß er zahlreiche neue Beweise dafür er- bringen konnte. Und darin wird jeder Kenner der Verhältnisse dem Autor beipflichten, wenn auch in der Ontogenese der Wirbeltiere, zu- mal mit Rücksicht auf Wagners Angaben bei Salmo fario,') eine selbständige Wanderung ganzer Pigmentzellen noch zugegeben werden kann. Wurden als Untersuchungsobjekte sonst meist überlebende Hautstücke oder die Haut lebender Tiere gewählt, so erwähnte Ballowitz 19 14,-) daß er ein noch besser geeignetes Objekt gefunden habe als selbst die von Franz 1908 behandelten durchsichtigen Fischlarven, an denen zum ersten- mal der Nachweis der Zellkonturen bei geballtem •) K.Wagner, Beiträge zur Entstehung des jugendlichen Farbkleides der Forelle (Salmo fario). Internationale Revue der gesamten Hydrobiologie und Hydrographie, Bd. III, iqio 32 Seiten, i Tafel. ' ^ , ■) E. Ballowitz, Über die Pigmentströmung in den Farbstoffzellen und die Kanälchenstruktur des Chromatophoren- Protoplasmas. Pflügers Archiv f. d. ges. Physiol., Band l^T, 1914, S. 165 bis 210. 4 Tafeln, Pigment als sicheres Zeichen der Formbeständig- keit der ganzen Zelle gelang,^) nämlich eine ge- wisse Stelle der Hirnhaut kleiner Nordseegobiiden : es wird bei diesen Fischen das Schädeldach frei- präpariert, dann samt jener ihm innen anliegenden Hirnhaut abgehoben und in physiologischer Koch- salzlösung umgekehrt unters Mikroskop gebracht, worauf sich die auf Belichtungswechsel erfolgenden Pigmentbewegungen in den Schwarzzellen oder Melanophoren, den Rot Zeilen oder Erythro p hören, den Gelbzellen oder Xan- thoporen und den Kristallzellen oder Iri- dozyten viele Stunden lang sehr schön auch mit Ölimmersion beobachten lassen und auch im kinematographischen Film festgehalten werden konnten. Am deutlichsten und ausgiebigsten sind sie, wie gewöhnlich, in den Melanophoren. Besonders betont Ballowitz den Reihenmarsch der Körn- chen, die nämlich stets in genau radiärer Rich- tung zur Zellmitte hin oder von ihr fortströmen, dabei je nach ihrer örtlichen Dichte einzeln bleiben, sich ganz dicht anhäufen oder aber in längeren oder kürzeren Reihen — „im Gänsemarsch" oder „in Tiefenkolonne" könnten wir sagen — auf- einanderfolgen, auch stellenweise oszillierend vor- und zurückschnellen, während nur in Ausnahme- fällen ein Körnchen aus einer Reihe in die be- nachbarte, die von ihr stets durch einen gerad- linigen hellen Streifen getrennt ist, übertritt. Je näher der Zellscheibe, um so strenger ist die Bewegung in den Zellausläufern rein radiär. Ähn- liches war demnächst bei den Ery t h rophoren und am wenigsten deutlich bei den Xantho- p hören festzustellen, bei denen jedoch keines- wegs wesentlich andere Verhältnisse obwalten werden. Besondere Beachtung verdient der mit Ölim- mersion gelungene erstmalige Nachweis solcher, wenn auch langsamer Bewegungen auch der Guaninkriställchen in den Iridozyten. An die- sen Zellen hat man nämlich sonst noch nie Ver- änderungen wahrgenommen. ») V. Franz, Die Struktur der Pigmentzellen BioWi- , sches ZentralblaH, Band 28, 1908, Seite 576 bis 548. 330 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 23 Außer Bewegungserscheinungen der erwähnten Art, die nur langsame Formveränderungen der Pigmentmasse hervorrufen hönnen, und die ja vielen Beobachtern schon, wenn auch noch nicht bis in alle Finzelheiten, bekannt waren, konnte Ballowitz schon 1913 als durchaus neu Total- kontraktionen ganzer Pigmentzellen beobach- ten.^) Auf ihnen beruht die bis dahin nur von Heincke gesehene plötzliche, fast momen- tane Pigmentballung sowie die von Ballowitz bei Mullus L. beobachtete rhythmische Ballung und Ausbreitung des Pigments in den Rotzellen. Die Seebarben, Mullus L., sind die Fische, an deren Farbenspiel sich die Römerdamen ergötzten, indem sie sie während des Mahles vor ihren Augen in warmem Wasser abtöten ließen. Als Ballowitz 19 14 solche Momentanballungen an den Schwarzzellen der Gobiiden wiederfand, fand er ihre Ursache in sichtbaren peristaltischen Zu- sammenschnürungen der Zellenarme der Quere nach. Die momentane Ausbreitung des Pigments beruht offenbar auf einer Kontraktion der Zell- scheibe ihrer Dicke nach. In mehreren Arbeiten-) hat ferner Ballowitz auf nicht selten vorkommende Chromatopho- renkombinationen oder „chromatische Organe" hingewiesen. So sind die Rotzellen der Gobius-Haut meist dicht zusammengefügte Konglomerate von Einzelerythrophoren, diese sind fast stets wieder mit reich verzweigten Melano- phoren vereinigt. So können bis 20 Rotzellen in einer Aushöhlung einer Schwarzzelle liegen, während ihre Ausläufer denen der Schwarzzelle dicht anliegen. In der Hirnhaut fanden sich Rot- zellen, die scheinbar einer, in Wirklichkeit einer Vielzahl von keilförmigen, zum Stern vereinigten Iridozyten auflagerten. Bei Trachinus umlagern Iridozyten kapselartig den Leib einer sternförmigen Melanophore oder Erythrophore. Dreifache Kom- binationen, Erythromelaniridosomen, hat Hemi- chromis. Während Ballowitz mit Fischen arbeitete, untersuchte W. J. Schmidt Reptilien und Amphibien. Bei Amphibien fand er neuerdings gleichfalls Chromatophorenvereinigungen, und zwar solche von Gelbzellen mit Kristallzellen. ^) Letztere lagern jenen auf oder liegen gar, beim Laubfrosch, in einer becherartigen Höhlung von ihnen. Bei Rana sind beide Zellen etwas verzweigt, bei Hyla stoßen sie epithelzellenartig abgeplattet mit ihren Nachbarzellen zusammen, reich verzweigt sind sie bei F'roschlarven. Aus einer großen Arbeit Schmidts über die ') E. Ballowitz, Über die Erytlirophoren in der Haut der Seebarbe, Mullus L., und über das Phänomen der momentanen Ballung und Ausbreitung ihres Pigmentes. Archiv für mikro- skopische Anatomie, Bd. 83, I. Abteilung, 1913, S. 290—304. 2 Tafeln. -) Man findet sie in den hier erwähnten Arbeiten Ballo- witz' sowie in den folgenden von W. J. Schmidt erwähnt. ^) W. J. Schmidt, Die Chromatophorenvereinigungen bei Amphibien, insbesondere bei Froschlarven. Anatomischer Anzeiger, Band 51, 1918, Seite 493 bis 501. Chromatophoren der Reptilienhaut ') sei zunächst erwähnt, daß Schmidt hier folgende Arten von Chromatophoren nicht nur nach der Farbe, sondern v6r allem nach der chemischen Beschaffenheit der Zelleinschlüsse unterscheidet : i.Melanophoren, mit schwarzbraunen Melaninkörnchen; 2. Lipo- phoren, mit gelbem, in stärkerer Konzentra- tion rotem, entweder in Fetttröpfchen gelöstem oder in kristallinischer Form auftretendem Lipo- chrom, welches den pflanzlichen Carotinen ver- wandt ist, sich in Fett und deren Lösungsmitteln löst und beim Zusatz von konzentrierter Schwefel- säure sich blau färbt; 3. Allophoren mit vom Lipochrom und Melanin verschiedenen gelben, roten oder violetten Pigmentkörnchen; 4. die Guanophoren, sonst auch Iridozyten genannt, mit den Guaninkriställchen. Schmidt gelang es, die von Pigment entleerten F'ortsätze der Zellen färberisch darzustellen. Abb. I. Abb. 2. Abb. I und 2. Zweikernige schwarze Pigmentzelle aus der Hirnhaut von Gobius minulus in zwei verschiedenen Stadien der Pigmentballung. Nach Ballowitz. Entnahme aus: Pflügers Archiv f. d. ges. Physiologie Band 157 Seite iSld u. e. Verlag Martin Hager in Bonn. Die intrazellularen Bewegungserscheinungen treten an den Chromatophoren der Amphibien nur weniger deutlich als bei Fischen hervor, und auch bei Reptilien ist es noch nicht geglückt, sie in ihren Einzelheiten zu verfolgen. Grundsätzlich liegen aber zweifellos überall dieselben Verhält- nisse vor, wenn auch die Strukturverhältnisse bei den Amphibien besonders einfach und primitiv erscheinen, was ja auch sonst von allerlei Zellen- arten den Amphibien gilt. In mancher Hinsicht kompliziertere Vei- hältnisse als bei Wirbeltieren herrschen dagegen bei Crustaceen, die gleichwohl hier gut zum Vergleich herangezogen werden können, während sonst bei Wirbellosen meist wiederum einfache Verhältnisse vorliegen dürften, bei den Cephalo- poden aber höchst eigenartige, chromatische Or- gane ausgebildet sind, bei denen nämlich die Pigmentmasse durch ringsum radiär ansetzende Muskelfäserchen dilatiert wird und vielleicht auch durch eine sphinkterartige Ringmuskelmasse zu- ') Derselbe, Die Chromatophoren der Reptilienbaut. Ar- chiv für mikroskopische Anatomie, Band 90, 1. Abteilung, 1918, Seite 98 bis 259. N. F. XVIII. Nr. 23 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 331 sammengeschoben werden kann und dieser ganze, verhältnismäßig große und vielkernige Apparat nach Chun, der ihn beschrieb, sich aus einer einzigen Zelle entwickelt. Was also Krebse betrifft, so findet man nach Dofleins Unter- suchungen an Garnelenarten ^) Chromatophoren mit mehr als einem Farbstoff, zum Beispiel außer rein gelben solche mit Gelb und Rot, ferner weiß- rote, weiß- rot-gelbe, bei Leander xiphias auch rot-gelb-blaue und vierfarbige. Das Auge des Forschers genießt an diesen Pigmentsternen An- blicke von bestrickender Schönheit. Der blaue Farbstoff teilt sich in gelöster Form auch dem Gewebe mit und färbt es diffus blau. D e g n e r ^) unterscheidet bei Dekapoden und Mysideen fol- gende Chromatophorenarten nach der Beschaffen- heit der Pigmente: i. solche mit rein flüssigem Pigment: rot, orange, gelb, violett, blau; 2. mit flüssiger, gefärbter Grundmasse, darin Körner von anderer Farbe liegen, und zwar braune in Gelb oder rotbraune bis braunviolette in Rötlichgelb; 3. mit rein körnigem Pigment: gelb, weißgelb oder' weiß. Auch bei Crustaceen ist die Formbestän- digkeit der ganzen Zelle bei allen bloß intra- zellular erfolgenden Pigmentbewegungen für D o f- lein und Degner durchaus wahrscheinlich, ob- schon das von Franz') hierfür angeführte Argu- ment, das Bestehenbleiben gelber Zellfortsätze nach Ballung des Rot, offenbar mit Recht von Degner als nicht stichhaltig angesehen wird, da auch die gelben Fortsätze sich noch scheinbar kontrahieren, sie also erst eine gelbe Pigmentmasse innerhalb der Zellfortsätze oder „C h r o m o r h i z e n" dar- stellen. Einer wichtigen und zwar plasmatischen Differenzierung der Wirbeltier- und Krebschroma- tophoren wurde im Vorstehenden erst einmal und nur kurz im Vorbeigehen gedacht, der bei Fischen von Solger 1889 und bei Krebsen vonKeeble und Gamble 1906 entdeckten hellen Radiär- streifung. Ihre Besprechung wurde bis hierher aufgehoben, weil dabei außer Tatsächlichem auch Hypothetisches zu erwähnen ist. Zunächst das Tatsächliche. Die besonders leicht bei Fischen in den Chromorhizen zu beobachtenden feinen Radiärstreifen, die die Pigmentkörnchenreihen von- einander trennen, und die nach Ballowitz auch den Iridozyten nicht fehlen, laufen bei der Länge der Zellfortsätze in einem solchen meist einander parallel, in der Zelle als einem Ganzen aber gehen sie von der Zellmitte aus, während der oder die ') F. Doflein, Lebensgewohnheiten und Anpassungen bei dekapoden Krebsen. Festschrift für R. Hertwig, Bd. III, 76 Seiten, 4 Tafeln. Jena, Gustav Fischer, 1910. ^) E. Degner, Über Bau und Funktion der Kruster- chromatophoren. Zeitschrift für wissenschaftliche Zoologie, Band 52, Heft i, 1912, Seite I bis 78, 3 Tafeln. Derselbe, Weitere Beiträge zur Kenntnis der Crustaceen- Chromatophoren. Ebenda, Heft 3/4, Seile 701 bis 710. ') V. Franz, Zur Struktur der Chromatophoren bei Crustaceen. Biologisches Zentralblatt, Band 30, 1910, Heft 13, Seite 424 bis 430, Kerne stets etwas seitlich liegen, sind daher, da sie überall gleich dicht nebeneinander liegen, nahe der Zellmitte weniger zahlreich als weiter außen, verzweigen sich, nach Franz, stellenweise nach außen hin und zeigen, auch nach einer Abbildung von IVI. Heidenhain, 1) hier und da das Be- streben, steil an die Oberfläche der Zelle zu treten. In der Zellmitte gehen diese Streifen oder Strah- len bei den Fischen fast von einem Punkt aus, genauer gesagt jedoch, nach Zimmer mann 1893 und Franz 1908 von einem sehr kleinen Gitter- werk. Bei Krebsen liegen hier wiederum durchaus vergleichbare, aber etwas kompliziertere Verhält- nisse vor: die Streifen sind feiner, mithin etwas schwerer zu sehen, sie sind ferner nach Degner anscheinend vergänglich, indem sie in pigment- entleerten Fortsätzen unsichtbar werden, und beim Eintritt vom Zellfortsatz aus in die Zell- scheibe biegen sie, nach Franz, zu zirkulärem Verlauf um, während sie bei Krebsen fast bis zur Zellmitte radiär verlaufen. Die Sichtbarkeit der Strahlen in pigmentleeren Fortsätzen von Fisch- chromatophoren ist nebst der gelegentlichen Sicht- barkeit der Zellkonturen ein sicheres Zeichen der Formbeständigkeit der ganzen Zelle. Hypothetisch sind die Erörterungen über die Bedeutung dieser ,, Strahlung" und über das Zu- standekommen der Pigmentkörnchenströmungen. Da schon So Iger aussprach, die geradlinigen Streifen verharrten in starrer Ruhe, fügte Franz nur wenig hinzu, als er die Streifen als skelett- artige Stäbe oder Stützfäden betrachtete, deren Gesamtheit etwa einem Akantharienskelett zu ver- gleichen, und deren Aufgabe es sei, die Formbe- ständigkeit der Zelle bei den lebhaften Pigment- bewegungen zu gewährleisten und diese Be- wegungen zentralwärts und peripheriewärts zu leiten. S o 1 g e r hat aber zugleich noch einen anderen Gedanken ausgesprochen, in dem er in dem Zen- trum der von ihm entdeckten ,, Protoplasmastrah- lung" ein Analogen des Zentrosoms erblickte. Ihm schloß sich Zimmermann an, der von „Archiplasmastrahlen" sprach, und später, gegen Franz, W.J.Schmidt, der das Zentrum, eben- so wie auch Ballowitz, eine „Sphäre" nennt. Ballowitz betrachtet die radiäre Streifung als den optischen Ausdruck dafür, daß die Zelle von radiären Röhren durchzogen sei, die nur an vereinzelten Stellen miteinander kommunizieren, und in denen die Pigmentkörnchen wandern. Die Beobachtungen jedoch, die er für die Röhren- struktur anführt, sind spärlich und, wie Schmidt wohl mit Recht ausführt, wenig stichhaltig. Bei Krebsen spricht Doflein die Radiär- streifen als axiales Zellskelett an, und etwas Ähn- liches sagt Degner, indem er sich der Ansicht Franz' über die Aufgabe der Streifen oder Stäbe anschließt. ') M. Heidenhain, Plasma und Zelle I. Jena 1907, 506 Seiten. Seite 23:, 332 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 23 Auch die Ursache der Pigmentkörperchen- strömungen hat man in die radiären Streifen hin- einverlegen wollen, die man damit, entgegen ihrem Aussehen, keineswegs für starr ansprach. So nimmt Heidenhain kleinste, aber nicht sicht- bar werdende Kontraktionswellen der radiären „Fibrillen", wie man sie natürlich auch nennen kann, an, die die Pigmentkörnchen vor sich her- schöben. Ähnlich betrachtet Ballowitz die Wandungen seiner „Röhren" als kontraktil. Anders Schmidt, für den ja das Wesentliche an der „Strahlung" ihre Analogie mit sonstigen Proto- plasmastrahlungen ist, der aber doch Franz, Do fiel n und Degner zugibt, diese Strahlen könnten nebenher als Leitlinien für die zentri- petale und zentrifugale Pigmentkörnchenbewegung dienen, und der das wirksame Element für die Körnchenbewegungen in das übrige Zellplasma verlegt, wo Druckgefälle entständen, sei es auf osmotischem Wege oder durch reversible Gel- bildung. Bei diesem Stand der Frage nach der B e - deutung der Radiärstreifung in den Pig- mentzellen ist denn doch wohl immer noch das einzige Tatsächliche und von keinem Beobachter Bestrittene, daß diese hellen Streifen Leitlinien für die Pigmentbewegung sind, also eine Stützfunktion haben, wobei sie natürlich mehr oder weniger wie Röhrenwände wirken. Der Ver- gleich des Zentrums dieser Radiärstreifung mit irgendwelchen sonstigen Protoplasmasphären, der übrigens bei Crustaceen durch nichts nahegelegt wird, ist und bleibt ein Vergleich und erklärt nichts. Ebensowenig ist aber für die Erklärung derPigmentkörnchenbewegungen etwas gewonnen, wenn man diese, wie bis etwa zu den Arbeiten von Franz geschehen, mit der Plasma- strömung oder Körnchenströmung bei Pflanzen- zellen oder Einzellern vergleicht. Ob hier Schmidts eben erwähnte Hypothese — Druck- gefälle — weiterhelfen wird, ist wohl sehr frag- lich, während es doch naheliegen dürfte, an die von Ballowitz gesehenen, oben erwähnten plötzlichen Totalkontraktionen der Zelle anzu- knüpfen, die, namentlich was die Zusammen- schnürung der Zellfortsätze der Quere nach, also quer zum Verlauf der F"ibrillen oder Leitlinien, be- trifft, doch nicht auf diese, sondern nur auf das Zellplasma zurückgeführt werden kann und somit auf Plasmakontraktilität beruhen würde. Für Kon- traktilität dürfte auch das nicht seltene oszillie- rende Hin- und Herwandern der Körnchen sprechen. V. Franz. Physiologie. In dieser Zeitschrift N. F. Bd. 17, S. 254 ist von Heycke über neue Untersuchungen über den Gang der Totenstarre berichtet worden. Hierin sind auch die drei hauptsächlichsten Theorien der Totenstarre erwähnt worden, die, welche die- selbe auf das Gerinnen des Myosins zurückführt, dann eine andere, welche in der Zusammenziehung infolge einer letzten Lebensäußerung oder infolge eines Reizes durch postmortal gebildete Stoffe die Ursache sieht, und endlich eine dritte Theorie, welche annimmt, daß die Muskelfibrillen durch den Einfluß der nach dem Tode gebildeten Milch- säure aufquellen. Wacker hat Studien über die chemischen Vorgänge beim Eintritt der Toten- starre angestellt (Münchener med. Wochenschr, LXII. Jahrg., Heft 26 — 27) und kommt zu be- stimmten Sätzen, die er auf Grund seiner Unter- suchungen aufstellt. Es erscheint unverständlich, weshalb die Eiweißkörper postmortal gerinnen sollen, während sie das bei der Säureproduktion durch Muskelarbeit nicht tun. Auch deshalb haben die Gerinnungstheorie und die Quellungstheorie etwas Unbefriedigendes, weil das Aufhören der Totenstarre nur durch neue Hypothesen erklärt ■werden kann. Fest steht, daß durch die Arbeit im Muskel Säure entsteht, die sich chemisch nach- weisen läßt. Diese Säure wird durch die Zirkula- tion fortgeführt, beim Aufhören der Kreislauffunk- tion muß sich diese Säure anhäufen. Diese Säure entstammt dem Abbau des Glykogens, das auf dem Wege über den Traubenzucker zu Milchsäure zerlegt wird. Einzelne Physiologen allerdings führen die Milchsäure auf den Zerfall des Eiweißes zurück, indem das Alanin desamidiert wird. Wacker hält dies aber wegen der geringen Menge des im Nahrungseiweiß aufgenommenen Alanins für un- wahrscheinlich. Es wurden Versuche an Hunden und Kaninchen vorgenommen. Bestätigt konnte die bereits bekannte Tatsache werden, daß die Wärme die Dauer der Starre abkürzt. Es fand sich weiter eine Beziehung der Dauer derselben zum raschen oder langsamen Glykogenabbau, der auf autolytische Vorgänge zurückzuführen ist. „Verschwindet das Glykogen rasch, so tritt die Totenstarre früher ein, sorgt man für einen bal- digen vollkommenen Abbau des Glykogens im Muskel, so erfolgt die Lösung der Starre in viel kürzerer Zeit." Infolge Abkühlung findet nur ein teilweiser Abbau des Glykogens statt und es tritt die Totenstarre später ein. Zur Bestimmung des Glykogengehaltes wurden zu bestimmten Zeiten nach Tötung des Tieres Muskelstücke aus dem Quadrizeps entnommen (20 — 30 Minuten nach dem Tode, bei Eintritt der Starre, während der Starre und nach Lösung der Starre). Es ergab sich, daß bei einem Tier, das nach dem Tode bei 37,5 " C gehalten wurde, die Totenstarre bedeutend früher eintrat als bei Tieren, die kühl gehalten wurden, und daß der Glykogengehalt der Muskulatur bei ersterem Tier weit geringer war. Ohne Wärme- zufuhr waren noch 22 "/o des ursprünglichen Gly- kogens bei Eintritt der Starre vorhanden, bei Wärmezufuhr nur i.ö"/,,. Nach dem Tode des Tieres ist die Reaktion der Muskulatur amphoter, d. h. sie reagiert sowohl sauer wie auch alkalisch. Dann nimmt die Alkaleszenz ab, die Azidität zu. Die Abnahme der Alkadeszenz geht parallel der Abnahme des Glykogengehaltes upd der Zunahme der Azidität. Es ergibt sich hierbei folgende Be- N. F. XVIII. Nr. 2^ Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Ziehung: Addiert man die jeweils vorhandene Azidität S zur Alkaleszenz A, so erhält man eine konstante Zahl C (S -|- A = C). Kennt man also die Alkaleszenz eines Muskels in irgend einem Stadium der Totenstarre, so kann man die Azidität desselben berechnen und umgekehrt, sobald die Konstante einmal bestimmt ist. Beim Kaninchen ist diese 0,66. Trägt man die Alkaleszenzab- nahme,') die Glykogenabnahme und Aziditätszu- nahme als Kurven auf, so zeigt sich, daß die beiden ersten Kurven einander analog sind. Eben- falls analog, jedoch in umgekehrtem Sinne verläuft die Aziditätszunahmekurve. Dies ist ein neuer Beweis dafür, daß die IVlilchsäure das Endprodukt des Zerfalles des Glykogens ist. Das Polysaccherid Glykogen ist aus 9 Molekülen Traubenzucker entstanden und wird durch die Autolyse wieder zu diesem abgebaut, dieser wird weiter in 2 Moleküle Milchsäure zerlegt, so daß aus einem Molekül Glykogen 18 neue kleinere Moleküle Milchsäure entstehen. Aus dem Kolloid Glykogen, das keinen Druck auf die Zellmembranen ausüben kann, ist das Kristalloid Milchsäure ge- bildet worden, das als echte Lösung den Gesetzen des osmotischen Druckes folgt. Da verdünnte Säuren in Jonen zerfallen, üben sie einen höheren Druck aus, wodurch eine weitere Drucksteigerung um io^/q stattfindet. Es herrscht also nach dem Glykogenzerfall ein starker Überdruck in der Mus- kelfaser, die Moleküle suchen nach außen zu dif- fundieren, Wasser dringt in die Faser ein. Viel- leicht ist diese Wasserimbibition die Ursache der Totenstarre. Dieser Überdruck verschwindet nicht, solange noch Glykogen abgebaut wird. Ist dies nicht mehr der Fall, so kann die Starre sich lösen. Ranke und Claude Bernard haben be- reits die Wasseraufnahme des arbeitenden Muskels beobachtet. Diese erklärt sich durch den gleichen chemischen Vorgang der Umwandlung des kol- loidalen Glykogens in die kristalloide Milchsäure, und somit erklärt Wacker die Totenstarre für einen ungehemmten Fortgang vitaler Lebens- prozesse. Im Anschluß hieran folgen noch einige theoretische Betrachtungen über die Vorgänge bei der Arbeit des Muskels, die hier weniger interes- sieren. Willer. Medizin. Es war dem behandelnden Arzt eines Säuglingsheims (Kaupe, Münchener Medi- zinische Wochenschrift Nr. 12, 1919) aufgefallen, daß die Kinder in vielen Fällen eine Gelbfärbung der Gesichtshaut, namentlich an den Nasenflügeln und am oberen Teil des Halses hatten, welche den Verdacht auf Gelbsucht (Ikterus) erweckte. Die Augenbindehaut war aber stets weiß und die Kinder hatten keinerlei Beschwerden , wie denn auch die Stuhluntersuchungen keine ikterischen Symptome ergaben. Dagegen wurde die Ver- ') Ausgedrückt in der Milchsäuremeoge, die zur Neutrali- sation des Natriumkarbonats erforderlich ist. mutung, daß es sich bei der Verfärbung der Haut um den mit der Nahrung aufgenommenen Farb- stoff der Gelbrübennahrung handelte, bestätigt, da bei einem anderen Regime der ,, Ikterus" in wenigen Tagen verschwand. Es ist sicher zu befürchten, daß der Küchenzettel der Kriegsjahre andere weniger leichte Erscheinungen gezeitigt hat, die sich erst später zeigen werden. Kathariner. Gelbfärbung des Fettgewebes bei Negern. Der obige Befund erinnert an eine analoge Erscheinung, auf die L ö h 1 e i n (Beihefte zum Archiv für Schiffs- und Tropenhygiene, Bd. 16, 191 2) aufmerksam machte. Jedem Obduzenten, der im Gebiete der westafrikanischen Küstenbevölkerung Sektionen ausführt, fällt die gelbe bis orangerote, gelegent- lich sogar karmesinrote Färbung auf, die das Fettgewebe und solche Gewebe zeigen, die Fett oder fettähnliche Stoffe enthalten. Sie wird, wie Löh lein wahrscheinlich macht, hervorgerufen durch den Genuß des Palmöls, das in der primi- tiven Form, in der es der Neger verzehrt, eine braunrote, in dünner Schicht orangerote Färbung hat. Sie rührt von der roten bzw. gelben Färbung der Schale und des Fruchtfleisches der Ölpalmen- früchte her, die auch hier wohl durch die im Pflanzenreiche weitverbreiteten orangeroten Farb- stoffe der Karotine bedingt sein wird. Daß sie besonders gut in Fetten löslich sind, sieht man an der Gelbfärbung von Fettaugen bei solchen Speisen, in denen Mohrrüben oder Tomaten enthalten sind. Löhlein weist schon selber auf die „Mohrrüben- krankheit" als analoge Erscheinung hin, über die er allerdings damals nur ganz unzureichende Nach- richten in der Literatur auffinden konnte. Miehe. Botanik. Nitrophile F'lechten hat Sernander gewisse Flechten genannt, die an den Vogelbergen oder Vogelklippen der Schären und des schwedi- schen Flachlandes vorkommen und von dem Stick- stoff zehren, den das Regenwasser aus den Exkre- menten der Vögel auslaugt und ihnen zuführt. An Bäumen, die dem Staube der Landstraßen, gedüngter Felder usw. ausgesetzt sind, fand er teilweise dieselben Arten, und er schloß daraus, daß die im Stäub enthaltenen Stickstoffverbin- dungen dieses Vorkommen bedingen. Wilhelm Nienburg hat nun in der Provinz Branden- burg an Bäumen Rindenflechten ähnlicher Art beobachtet, deren Stickstoffquelle aber anderer Natur war. Die Stämme einer in westöstlicher Richtung über freies Feld führenden Ahornallee tragen eine Flechtenflora, deren Hauptelemente Parmelia physodes und Evernia prunastri sind; in geringerer Menge treten Parmelia furfuracea und P. saxatilis auf. Zu diesen Flechten treten aber die nitrophilen Gattungen Xanthoria, Physcia und Ramalina, die Sernander beobachtet hatte, hinzu. Sie finden sich in ganz bestimmter Ver- 334 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVin. Nr. 23 teilung da, wo von alten, vermodernden Astlöchern das Regenwasser herabrinnt. Nienburg konnte in diesem Wasser die Anwesenheit von Ammoniak nachweisen, und er kommt zu dem Schlüsse, daß sich auf dem Hirnholz der Astlöcher holzzer- setzende Pilze und Bakterien ansiedeln, deren ab- gestorbene und durch Fäulnis Ammoniak er- zeugende Teile durch den Regen hinabgespült werden. Zu diesem Ergebnis führte zuerst die Beobachtung, daß nitrophile Flechten sich auch an Bäumen da eingefunden hatten, wo von Saftfluß- stellen Wasser herablief. In dem Saftfluß hatten sich Pilze entwickelt, und auch hier wurde die Anwesenheit von Ammoniak nachgewiesen. Das Hirnholz der Astlöcher reagierte nach kurzer Be- feuchtung mit Lackmuspapier gewöhnlich alkalisch, und verschiedentlich fanden sich auf ihm ver- trocknete Pilze, die, mit Wasser überschichtet, nach Ausweis der Reaktionen Ammoniak an dieses ^z. X a = Astloch, X = Xanthoria, Scliraffierung = Physica ascendens. abgaben. Das am Baume von dem Astloche hinab- fließende Regenwasser enthält anscheinend zu- nächst so viel Ammoniak, daß das Gedeihen irgendwelcher Flechten in der nächsten Umgebung des Astloches ausgeschlossen ist. Etwas tiefer beginnt dann Xanthoria parietina aufzutreten, die also die stärkste Ammoniakkonzentration verträgt. Darauf folgt Physcia ascendens, die häufig auch gabelförmig den organismenfreien Teil der Trauf- rinne und etwa die Hälfte des Astloches umgibt (s. d. Abb.). Diese beiden Flechten kommen fast in jeder IVaufe vor, alle anderen sind seltener. An dritter Stelle folgt als ammoniakbedürftig Xanthoria lychnea, an vierter Ramalina fraxinea. Den Übergang zu den entschieden ammoniak- feindlichen Hechten bildet Parmelia saxatilis, die sich häufig an den untersten Teilen der Trauf- rinnen oder aucli an ihren Rändern findet, wenn sie auch gewöhnlich dort kränkelt. Viel empfind- licher ist Evernia prunastri, und völlig ausge- schlossen aus der Ammoniakregion sind Parmelia physodes und F. furfuracea. Nach Beobachtungen an Eschen nennt Verf noch Anaptychia ciliaris und Physcia pulverulenta sowie Parmelia aceta- bulum als nitrophil (hinter Physcia ascendens folgend). Aus Beobachtungen von Nylander im Luxemburggarten in Paris und von Kajanus in einem Park in Karlskrona ist zu ersehen, daß an den Bäumen dort die nitrophilen Flechten ganz fehlten oder sehr zurücktraten, die Xanthoria- und Physcia-Arten dagegen die Hauptrolle spielten. Nienberg glaubt, daß diese Erscheinung nicht, wie Sern ander will, auf die Einwirkung städti- schen Staubes, der reich an Humusstoffen sei, sondern auf den höheren Gehalt der Stadiluft an Ammoniak zurückgeführt werden müsse. Auch die Häufigkeit der nitrophilen Arten an den Nord- und Ostseeküsten, wo Verf. sie auch vielfach ohne Beziehung zu Astlöchern angetroffen hat, ist nach ihm durch den Ammoniakreichtum der Luft be- dingt.' In Übereinstimmung mit anderen Beob- achtungen betrachtet Verf. ganz allgemein das Ammoniak bzw. die Ammonsalze als die Haupt- stickstoffquelle der Flechten (Zeitschrift für Bo- tanik. Jg. II, 1919, S. 1 — 20). F. Moewes. Allgemeines. Concilium Bibliographicum. Das unter der Leitung von Dr. H. H. Field stehende internationale Concilium Bibliographicum in Zürich hat infolge des Weltkrieges eine schwere Krise durchmachen müssen. Der Genfer Zoologe Emile V u n g , Vorsitzender der Kommission der Schweize- rischen Naturforschenden Gesellschaft für das Concilium Bibliographicum, widmet dieser be- deutungsvollen Frage in den Kommissionsberichten der Gesellschaft für die Jahre 1916 und 191 7 eine ausführliche Darstellung.^) Der Betrieb des Con- ciliums konnte nicht im alten Maßstabe aufrecht erhalten werden. Schon allein die Störungen, die durch die erschwerten Postverbindungen entstanden, waren sehr beträchtlicher Art. Die verminderten Einnahmen und vermehrten Ausgaben zwangen das Concilium, das Personal zu vermindern. Trotz- dem gelang es, das Fortbestehen des Conciliums zu sichern. Eine geringe Subvention (4000 Fr. im Jahre) liefert die Eidgenossenschaft. Eine größere Unterstützung wurde dem Institut von Freunden in Zürich zuteil. Die Zahl der Referate hat auf allen Gebieten abgenommen. Auf dem Gebiete der Zoologie, Paläontologie, Allgemeinen Biologie, Anatomie und Mikroskopie wurden nur etwa die Hälfte der bisherigen Anzahl von Zetteln gedruckt. Die Physiologie konnte 1915 und 1916 überhaupt nicht mehr referiert werden. Während die Biblio- graphia Zoologica weiter erscheint, mußte das Erscheinen der Bibliographia Physiologica und der Bibliographia Protozoologica eingestellt werden. Die Aufmerksamkeit des Direktors des Conciliums war namentlich darauf gerichtet, dem Institut eine gedeihliche Zukunft zu sichern. Das Bureau Bibliographique de Paris und das Bureau inter- national de Bibliographie de Bruxelles haben dem ^) Rapport de la Commission du Concilium Bibliographicum pour l'annee 1915/1916 in Verhandlungen der Schweizerischen Nalurforsch. Gesellsch. 1916 p. 148. — Kapport etc. pour l'annee 1916/17 in Berichte der Kommissionen der Schweize- rischen Naturforsch. Gesellsch. für das Jahr 1916/1917 p. 22. N. F. XVIII. Nr. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 335 Institut ihre Unterstützung für die Dauer des Krieges zugesagt. Die Smithsonian Institution in Washington hat ein Zusammenarbeiten des Con- cilium Bibliographicum mit dem International Catalogue of Scientific Literature gutgeheißen und damit einer vom Concilium schon seit Jahren ver- tretenen Auffassung eine Stütze verliehen, daß der gesamte internationale bibliographische Dienst in einer großen zentralen Organisation vereinigt wer- den müsse. Nach alledem darf das Concilium Biblio- graphicum trotz der trüben Gegenwart in eine helle Zukunft blicken. Die Arbeit und die viele Mühe, die das Concilium Bibliographicum in Zürich im Laufe von Jahren aufgewendet hat, werden nicht vergeblich gewesen sein. Das Fort- bestehen des Instituts sichert der wissenschaftlichen Welt den weiteren Genuß der ungeheuren Vor- teile, die ihr aus einer international organisierten Bibliographie erwachsen. Es ist auch nicht außer acht zu lassen, daß nach dem Kriege internationale Institute wie das Concilium Bibliographicum die geeigneten Organisationen sein werden, die zer- rissenen Fäden zwischen den Vertretern der Wissen- schaft der feindlichen Länder wieder zu knüpfen. Lipschütz, Bern. Bücherbesprechimgen. Wiegner, Georgf, Boden und Bodenbildung in kolloidchemischer Betrachtung. 98 Seiten mit 10 Abbildungen im Text. Dresden und Leipzig 191 8, Verlag von Theodor Steinkopff. Preis geh. 4,50 M. In dem vorliegenden Buche gibt der Verf , der als ordentlicher Professor für Agrikulturchemie an der eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich tätig ist, zunächst eine recht gute Über- sicht üker die neuere Entwicklung der Kolloid- chemie und bespricht dann in eingehender Dar- stellung die Folgerungen, die sich aus der Kolloid- chemie für die Bodenkunde ergeben. Eine große Anzahl von Anmerkungen, die insgesamt annähernd ein Drittel des ganzen Buches ausmachen, ergänzen die Darlegungen des Hauptteiles durch Literatur- nachweise und Sonderbesprechungen einzelner wichtiger Fragen. Als Leser des Buches, das inhaltlich im einzelnen wie im ganzen viele neue Gesichtspunkte bringt, kommen außer den Freun- den der Naturwissenschaft im allgemeinen einer- seits Kolloidchemiker, andererseits Landwirtschafter und Geologen in Betracht. Jene werden ihre Freude an der bedeutsamen Förderung haben, die die Bodenkunde durch ihre Sonderwissenschaft erfährt, diese werden eine wesentliche Erweiterung und Vertiefung der derzeitigen Anschauungen über die Entstehung und das Verhalten des Bodens er- kennen. Wiegners Buch ist ein neues schönes Beispiel für den befruchtenden Einfluß, den die auf einem Sondergebiet der Naturwissenschaft er- rungenen Erkenntnisse bei ihrer sachgemäßen Übertragung auf andere Gebiete der Forschung ausüben können. Berlin-Lichterfelde- W 3. Werner Mecklenburg. Brunswig, Dr. H., Die Explosivstoffe; Ein- führung in die Chemie der explosiven Vorgänge. Sammlung Göschen, Bd. 333. 3. verbesserte und vermehrte Auflage. 152 Seiten mit 8 Ab- bildungen im Text und 12 Tabellen. Berlin und Leipzig 191 8, G. J. Göschensche Verlags- buchhandlung. Preis geb. i M. und 25 Pfg. Teuerungszuschlag. In dem nunmehr schon in dritter verbesserter und vermehrter Auflage vorliegenden Büchlein gibt der Verfasser eine Übersicht über die Chemie der explosiven Vorgänge, d. h. über ein Gebiet, das nicht nur im Kriege in Kampf und Zerstörung, sondern auch im Frieden in der Technik, insbe- sondere in der Technik des Bergbaus, eine wich- tige Rolle spielt. Die Darstellung stellt an den Leser die Anforderungen, die die Bändchen der Sammlung Göschen zu stellen pflegen, und ist im allgemeinen klar und verständlich, wenn auch vielleicht eine etwas straffere Behandlung der Ma- terie erwünscht gewesen wäre. In sachlicher Hinsicht erscheint sie, wie dies bei dem bekannten Verfasser ja nicht anders zu erwarten ist, einwand- frei. Das Büchlein kann also allen denen, die einen Einblick in die hochinteressante Lehre von den Explosivstoffen gewinnen wollen, empfohlen werden. Berlin-Lichterfelde-W 3. Werner Mecklenburg. Lorenz, R. , Chemische Industrie im Kriege. Naturwissenschaftliche Vorträge , im Felde gehalten, Band l, VIII und 207 Seiten. Leipzig 1919, Verlag von J. A. Barth. Preis geb. 8,60 M. Das vorliegende Buch, das auf dem Innentitel- blatt den etwas anderen Titel „Die Entwicklung der deutschen chemischen Industrie" führt, enthält acht Vorträge, die der bekannte Inhaber des Lehr- stuhls für physikalische Chemie und Metallurgie an der Universität Frankfurt, Richard Lorenz, auf dem dritten Hochschulkurs zu Bukarest im F"rühjahr 1918 gehalten und seiner „feldgrauen Zuhörerschaft" gewidmet hat. Nun entsprechen diese Vorträge zwar nicht der gegenwärtigen Lage, denn sie bringen in politisch-wirtschaftlicher Be- ziehung vielfach Hoffnungen und Wünsche zum Ausdruck, deren Erfüllung nicht möglich ist, trotz- dem aber besitzen sie auch heute unter ganz anderen Verhältnissen eine besondere Bedeutung als die beste dem Berichterstatter bekannt gewor- dene Darstellung der technischen Chemie in Deutschland, ihrer Entwicklung bis zur Gegenwart, 336 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVin. Nr. 23 der Ziele, die sie zurzeit verfolgt, und der Auf- gaben, die sie während des Krieges zu lösen hatte. In glänzender Weise schildert der Verf. im ersten Kapitel die Entstehung der chemischen Werktätig- keit, bespricht im zweiten Vortrage das Eisen, im dritten Vortrage die anorganische Großindustrie, im vierten Vortrage Steinkohle, Braunkohle und Erdöl, im fünften Vortrage die Farbstoffe, im sechsten Vortrage Riechstoffe, Heilstoffe und Nahrungsstoffe, im siebenten Vortrage das Alu- minium und bringt im achten Vortrage auch „Einiges aus der Kriegschemie". Überall zeigt er die wirtschaftlichen Zusammenhänge, und immer wieder weist er darauf hin, wie Deutschland seine Überlegenheit auf dem Gebiete der chemischen Technik nicht der Gunst äußerer Verhältnisse, sondern deutschem Fleiß, deutscher Organisation und vor allem der beispiellosen Verbindung von wissenschaftlicher Forschung und industrieller Aus- wertung der im Laboratorium des Forschers er- rungenen Resultate verdankt. Im Schlußwort wird noch einmal der aus der Überlegenheit der deut- schen Technik geborene Gegensatz zv>^ischen Eng- land und Deutschland dargestellt und als die wohl wichtigste Ursache des Weltkrieges in das rechte Licht gerückt. In einem Anhange werden einige wichtigere Sonderfragen behandelt. Ein Namen- und ein Sachregister schließen das Buch. Die Darstellung selbst ist schlicht und einfach und setzt vor allem kaum irgendwelche chemischen Fachkenntnisse voraus. Nicht Kenntnisse, so sagt der Verf. im Vorwort, soll das Buch verbreiten, sondern Erkenntnis, und so hat es denn auch, wenn auch in erster Linie dem Bedürfnisse des Tages bestimmt, wie jedes wertvolle „aktuelle" Buch ein weit über den Tag hinausgehendes Interesse, es ist ein Buch, das der Berichterstatter nicht nur den Chemikern, sondern dem weiten Kreise der Gebildeten auf das wärmste empfehlen kann. Der Preis von 8,60 M. erscheint etwas hoch. Berlin-Lichterfelde-W 3. Werner Mecklenburg. Anregungen und Antworten. Beobachtungen über die Atmungswärme bei den Koni- ferennadeln. Als ich mit meiner Kompagnie in den Monaten Januar und Februar 19 15 in der vordersten Linie auf dem Kastelik vrh in den Westkarpathen lag, machte ich einige Beobachtungen, die zeigten, daß die Koniferen über eine be- trächtliche Atmungswärme verfügen müssen. Die Leute hatten sich ihre Stellung in der Weise einge- richtet, daß sie in dem dortigen Sandsteinschiefer einen etwa '/2 m liefen Graben anlegten, die gewonnenen Sandsteinplatten am vorderen Rande desselben autschichteten und das Ganze mit Zeltblättern und darüber mit Asten und Reisig eindeckten. Zur Maskierung wurde auf die Eindeckung Schnee geworfen. An gewissen Stellen der Linie nun schmolz der Schnee auf den Deckungen in ganz kurzer Zeit, oft schon innerhalb ein bis zwei Tagen, und zwar gleichgültig, ob diese Stellen tagsüber von der Sonne beschienen worden waren, oder ob sie dauernd im Schatten lagen. Dies war für die Mannschaft recht lästig, da der Schnee fortwährend nachgeschaufelt wer- den mußte. Eine Besichtigung dieser Stellen ergab, daß da überall frisches Reisig, meist solches von der Fichte, zum Eindecken verwendet worden war. Ich vermutete, daß die Atmungswärme der noch lebenden Nadeln das Abschmelzen des Schnees ver- ursachen dürfte. Dies bestätigte sich auch. Der Übelstand verschwand , als über meine Anordnung das zum Eindecken kommende Reisig vorerst über dem offenen Feuer ordentlich versengt wurde, wodurch eine Abtötung oder vielleicht wenig- stens eine Lähmung der Nadeln herbeigeführt wurde Es wurden dann wiederholt Proben mit einzelnen Nadeln ausgeführt, die zu demselben Ergebnis kamen. Es wurden frischgepflückte lebende Fichtennadeln, tote Fichtennadeln und kleine, dunkle Holzstückchen von der Größe einer solchen Nadel auf frisch gefallenen und auch schon etwas älteren. oben vereisten Schnee, und zwar von den drei Kategorien je eine Hälfte auf einer sonnigen, und je eine auf einer schattigen Stelle ausgestreut. An der sonnigen Stelle waren nach einer gewissen Zeit alle drei Kategorien in dem Schnee eingesunken, an der schattigen Stelle in derselben Zeit dagegen nur die lebenden Nadeln, allerdings nicht so tief wie im anderen Falle. Während also die lebenden Nadeln ihr Einsinken in den Schree selbst bewirkten, verhielten sich die toten Nadeln und die Holzstückchen wie die bekannten Rußteilchen auf dem Schnee, welche die Sonnenwärme aufspeichern und die unter ihnen gelegenen Schneeleilchen zum Schmelzen bringen. Das geschilderte Verhalten der lebenden Fichtennadeln bildet ein Gegenstück zu der bekannten Tatsache, daß gewisse Algen- und Frühlingspflanzen, sowie gewisse Perennierende im- stande sind, die über ihnen liegende nicht allzudicke Schnee- und Eisdecke durch ihre Atmungswärme abzuschmelzen , sie so zu durchbohren, um sich dann über dieselbe zu erheben. Ich verweise auf das Referat von Dr. C. Müller, ,, Atmung und Selbsterwärmung der Pflanzen" in dieser Wochenschrift, Jahrgang 191 1, Seite 49. Es wäre im Anschluß daran inter- essant zu untersuchen, inwieweit sich die Nadelbäume ihrer Atmungswärme bedienen können, um sich vom Schneediuck zu entlasten. Dr. F. Zach. Zusatz der Redaktion. Sollte es sich bestätigen, daß in der Tat einzelne lebende Tannennadeln den Schnee auch im Schatten zum Schmelzen zu bringen vermögen, so würde dies auf eine ganz außerordentliche Almungsenergie deuten, in An- betracht der geringen Masse der reagierenden Substanz und der sehr hohen Schmelzwärme des Eises. Diese enorme At- mungsenergie ist etwas unwahrscheinlich. Daß dagegen große Mengen zusammengehäuften Tannenreisigs Schnee zum Schmel- zen bringen, ist gut möglich, wenn auch über Selbsterhitzungs- fähigkeit von Tannennadeln nichts bekannt ist. luIlSilt : Häberle, Die Zerstörung der Steilwände im Buntsandsteingebiet des Pfälzerwaldes. (3 Abb.) .S. 321. — Einzel- bericbte : V. Franz, Neueres von der Morphologie der Pigmentzellcn und den Bewegungserscheinungen an ihnen. (2 Abb.) S. 329. Wacker, Totenstarre. S. 332. Kaupe, Gelbfärbung der Gesichlshaut. S. 333. Löhlein, Gelb- färbung des Fettgewebes bei Negern. S. 333. W. Nienburg, Nitrophile Flechten, (i .^bb.) S. 333. E. Yung, Concilium bibliographicum. S. 334. — Bücherbesprechungen: Georg Wiegner, Boden und Bodenbildung. S. 335. H. Brunswig, Die Explosivstoffe. S. 335. R. Lorenz, Chemische Industrie im Kriege. S. 335. — Anregungen und Antworten: Beobachtungen über die .Atmungswärme bei den Koniferennadeln. S. 336. Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Mi ehe, Berlin N 4, Invalidenstrafie 42, erbeten. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S, Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue Folge 18. Band; der ganzen Reibe ^4, Band. Sonntag, den 15. Juni igig. Nummer 34. Die Zerstörung der Steilwände im Buntsandsteingebiet des Pfälzerwaldes. [Nachdruck verboten.] Von Prof. Dr. Häberle Heidelberg. Mit 3 Abbildungen. (SchluiS.) Die auf durchlässigen Sandstein fallenden Niederschläge sinken, soweit sie von diesem auf- genommen werden und dann nicht an den Wänden wieder ausschwitzen, '^j als Sickerwasser in die Tiefe, bis sie schließlich auf eine wasserundurch- lässige Schicht stoßen. Auf dieser wird sich das Sickerwasser zunächst stauen und dann der Schichtenneigung folgend einen Weg nach außen suchen. Da tonige Schichten im allgemeinen rascher der Verwitterung anheimfallen als die mehr sandigen, durch Kieselsäure gebundenen, wird an den Austrittstellen von weniger wider- standsfähigen Lagen die Verwitterung besonders kräftig einsetzen. An solchen Stellen wird sich dann das auch äußerlich an den Felswänden herabrinnende Wasser sammeln , langsam ver- dunsten und dadurch den Zerstörungsprozeß noch mehr beschleunigen. Dies kann man namentlich im Winter an den auf diesen Lagen sich bildenden Eiskrusten und Eiszapfen beobachten. Das Sicker- wasser sinkt aber nicht allein durch das Gestein hindurch, sondern auch durch das ganze Netz der teils mechanisch, teils chemisch ausgeweiteten Klüfte auf diese tonigen Schichten in die Tiefe hinab : dichter aneinander gescharte Klüfte müssen deshalb besonders zu lockernden Wasseranstau- ungen auf solchen eingeschalteten Tonlagen führen und zur Aufbereitung und Ausräumung im be- sonderen Maße Veranlassung geben. Wie bereits O. M. Reis näher ausgeführt hat, pflegen Quellhorizonte mit ihrem Abfluß stets untergrabend zu wirken und fast immer von Ab- stürzen mit senkrechten Wänden begleitet zu sein. Durch das Streichen und die Neigung der Schich- ten ist auch die Richtung des Weiterschreitens der Abtragung gegeben, die also, solange keine Störungen eintreten, auf große Strecken hin flächen- haft wirken muß. Dabei darf aber auch nicht vergessen werden, daß die Zerstörung früher, so- lange noch größere zusammenhängende Komplexe und damit größere Sammelgebiete für die Nieder- schläge vorhanden waren, auch viel stärker ge- wirkt haben wird als jetzt, nachdem mit der fort- ') Ein Beispiel für die gesteinszerstörende Wirkuif^ des ausschwitzenden Sickerwassers bietet z. B. der in Luzern 1828 aus dem durchlässigen Molassesandstein herausgearbeitete Thorwaldsensche Löwe; die ständige Einwirkung der Berg- feuchtigkeit löst das Denkmal trotz aller möglichen Schutz- maßnahmen langsam auf. „Stein-Industrie" 191 1, 22. Jahrg., Nr. II. schreitenden Abtragung und Zertalung eine Ver- kleinerung der Reservoire und eine vermehrte Anzapfung des Quellhorizontes stattgefunden hat.') An den Schichtfugen setzt bekanntlich ohnehin die normale Verwitterung besonders kräftig ein;-) treffe^n sie mit tonigen Lagen zusammen, so muß sie in gesteigertem Maße tätig sein: zunächst bilden sich Furchen und Hohlkehlen. Bei weiter fortschreitender Verwitterung werden die wider- standsfähigeren Bänke immer mehr untergraben und gewissermaßen abgeschnürt (Abb. 2). Durch den un- aufhaltsam weiter gehenden Verwitterungsvorgang dringt in gewissen Horizonten die Zerstörung im- mer tiefer in den Felsen hinein. Infolge dieser Untergrabung von der Stirnseite aus entstehen schließlich vorspringende Überhänge und Hohl- formen, z. B. Halmen und Nischen, ja sogar Höhlen, wie wir sie in der Sächsischen Schweiz und im Pfälzerwald finden;") im letzteren treten sie be- sonders häufig im Verbreitungsgebiet der ver- schiedenen Felszonen auf und haben hier vielfach als Wohnungen oder auch als Zufluchtsorte in Kriegs- zeiten gedient (Abb. 3). Bei fortschreitender Ver- witterung vergrößern sich im Laufe der Zeit die Überhänge, Nischen und Halbhöhlen, der Fels wird dadurch immer mehr unterhöhlt, bis schließ- lich die widerstandsfähigeren Bänke sich aus dem Schichtenverband lösen, ganz ihren Halt verlieren, stützlos werden und entlang einer erweiterten Kluftfläche abbrechen. Durch die Gewalt des Sturzes lösen sich die niedergehenden Felsmassen meist in Trümmer auf, lassen aber auch an ihrer Abrißstelle ein gelockertes Gefüge als gegebene Punkte für erneute Angriffe der gesteinszerstören- den Kräfte zurück. Zahlreiche, am Gehänge zu wirren Trümmerhaufen und I'elsenmeeren aufge- türmte oder als Findlinge zerstreute Blöcke von großer Wetterbeständigkeit sind die Zeugen dieses unaufhaltsam fortschreitenden Zerstörungsprozesses. Manchmal kommt es auch vor, daß größere aus ') O. M.Reis, Die Westpfälzische Moorniederung. Geo- gnostische Jahreshefte 1899, Bd. XII, S. 5 — 6. '■') Auch Obst betont mit Recht (S. 94), daß ,,auf jeden Fall die intensivste Zerstörung an den Schichtfugen einsetzen muß, gleich ob Sickerwasser, Spaltenfrost oder Windkorrasion die modellierenden Kräfte sind". ä) Häberle, D., Die Höhlen der Rheinpfalz. S. 31 — 39. (Beiträge zur Landeskunde der Rheinpfalz, Heft l). Kaisers- lautern, Kayser, 191 8. 338 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 24 H. Jvrcnuici pbot. Abb. 2. Kanzelfels bei Pirmasens. Typischer Pilzfels ; die Verwitterung hat am Sockel die sandig- tonigen Schichten schneller zerstört und dadurch die über- lagernde widerstandsfähigere Bank pilzförmig abgeschnürt. dem Verbände gelöste Felsmassen durch Unter- grabung auch nur abgleiten und sich an die Fels- wände anlehnen ; hierdurch entstehen sog. Trüm- merhöhlen. Durch solche Felsabstürze wird die Hanglinie immer weiter bergeinwärts gerückt. Eine neue Kluft- fläche tritt damit als Steilwand an die Oberfläche: an ihr beginnt die Verwitterung und Zerstörung von neuem ihre Tätigkeit. Während die von den Schichtfugen ausgehende Untergrabung linear wirkt, arbeitet die Abtragung in Form von Ver- witterung und Abstürzen flächenhaft. Besonders deutlich lassen sich diese Vorgänge an den viel- fach über Ebenheiten ganz unvermittelt aufsteigen- den Steilwänden der Trifelsschichten beobachten, wo sich die in deren Bänke eindringenden Nieder- schläge auf den tonigen Schichten des Unteren Buntsandsteins als wasserführendem Horizont stauen. Auf diesem treten sie dann als Sicker- und Quell- wasser ins Freie, üben eine untergrabende Tätig- keit und flächenhafte Abspülung aus und bewirken damit eine langsame, aber doch ausgeprägte Rück- verlegung der Steilwände. Mit vollem Recht hat Hettner^) die Wirkung dieser Kräfte mit dem AngrifT der Brandungswelle bei positiver Strand- verschiebung verglichen. „Wie letztere bei steigen- dem Meeresspiegel die Klippen immer weiter landeinwärts drängt und an ihrem Fuße einen mit Blöcken und Geröll bestreuten felsigen Strand schafft, so schreitet auch unter dem Einflüsse der Verwitterung und des spülenden Regenwassers eine Felswand immer weiter rückwärts, um schließlich vielleiciit ganz zu verschwinden und eine sanft geneigte, mit dünnem Schutt bestreute Gesteinsplatte zurückzu- , lassen." Aus den bisherigen Aus- führungen ergibt sich, daß das Abstürzen von Fels- blöcken und auch das Ab- sanden unter den gegen- wärtigen klimatischen Ver- hältnissen die Hauptfaktoren für die Rückverlegung von Steilwänden sind. Für das allmähliche Rückwittern von Felswänden durch Absanden konnte ich bereits oben für einige ( 'rtlichkeiten sogar zahlenmäßige Belege anfüh- ren. Es fragt sich nun, ob sich auch für die Rückver legung von Steilwänden durch .abstürze derartige Beweise aus dem Pläizer Felsenland erbringen lassen. Wir berühren damit das Ge- biet der Bodenbewe- G. Kij^ner phot. Abb. 3. Bruderhöhle bei Rodalben (Kheinpfalz), entstanden durch löcherige Verwitterung von konkordant und diskordant geschichteten tonig-sandigen Lagen unter widerstandsfähigeren Bänken. •) Hettner, A., Gebirgsbau und Oberflächengeslaltung der Sächsischen Schweiz S. 61. N. F. XVIII. Nr. 24 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 339 gungen, mit deren Formen sich besonders G. Braun/) G. Götzinger") und A. Heim") be- schäftigt haben. „Vorherrschend in jeder Boden- bewegung ist die vertikale Komponente und je nach ihrer Stärke haben wir zu unterscheiden zwischen einem Gleiten auf der Unterlage und einem Stürzen, das in extremen Fällen durch die Luft erfolgt . . . Ein zweites Einteilungsprin- zip läßt sich von dem Material hernehmen, wo- bei zwischen einem plastischen Stoff (Lehm, Ton, Tuff), Fels und Schutt geschieden werden kann" (Braun S. 6). Nach diesem Schema kommen für unser Gebiet in Betracht: Sturzbewe- gungen (Felsabbruch , Felssturz , Schuttsturz), wenn Spaltenverwitterung, Untergrabung oder Er- schütterungen den Zusammenhang aufheben, und Rutschbewegungen (Felsrutsch, Schuttrutsch), wenn Wasserdurchtränkung die Unterlage glitschig macht. Die Ursachen der Bodenbewegungen sind, wie G. Braun ausführt, meist nicht unmittelbar zu erkennen, oft liegen sie sogar lange Zeit zurück. Unterhöhlung und Spaltenfrost setzen nach unseren früheren Erörterungen allmählich ansehnliche Massen in einen Zustand, daß oft ein geringer äußerer Anlaß, z. B. ein starker Regenguß oder eine Erschütterung (Erdbeben) genügt, um die losgelösten und zum Sturze vorbereiteten Massen längs der Risse und Klüfte plötzlich zum Ab- stürzen oder auch auf toniger, durchweichter Unter- lage zum Abgleiten zu bringen. Je nach den petrographischen, strukturellen und, stratigraphi- schen Verhältnissen des Gesteins geht an der- selben Felswand das Abstürzen in langsamerem oder schnellerem Zeitmaß vor sich; ganze Reihen von Abrißnischen können entstehen und die fort- schreitende Unterhöhlung am Fuße sorgt dafür, daß dieser Zerstörungsprozeß nicht unterbrochen wird. Felsabstürze sind daher in Gebieten mit solchen Steilwänden keine so seltene Erscheinung, wie manchmal angenommen wird, und Hettner gibt dafür aus dem Quadersandstein mehrere Bei- spiele an; auch Gutbier'') berichtet darüber. Obst dagegen (S. 65) glaubt, „daß ein Herab- stürzen von Quadersteinen in unserer Zeit über- haupt nicht mehr stattfindet oder zum mindesten außerordentlich selten auftritt". R a t h s b u r g end- lich (S. 148) kommt zu dem Ergebnis, daß „auch heute noch Abtragung stattfindet, sowohl durch Felsstürze als auch durch allmähliches Absanden der Felsen, und zwar derart, daß das heutige Klima ein reichlicheres Absanden zur Folge hat, als das glaziale". ') Braun, G., Ober Bodenbewegungen. XI. Jahresbericht der Geograph. Ges. in Greifswald 1908. Mit Angabe der weiteren Literatur. -) Götzinger, G., Beiträge zur Entstehung der Berg- rückenformen. Geograph. Abhandlungen, IX, Heft I. Leipzig 1907. 3) Heim, A., Über Bergstürze. Neujahrsblatt der Natur- forschenden Gesellschaft zu Zürich 1SS2. *) Gutbier, A. v., Geognostische Skizzen aus der Sächsi- schen Schweiz und ihrer Umgebung. S. lOI. Leipzig 1858. Unzweifelhaft sind die langhin sich ziehenden Steilwände unseres Pfälzer Buntsandsteins das Er- gebnis unablässig fortdauernder Abtragung. Zwi- schen dem oberflächlichen Abschuppen und Herab- rieseln von Sand einerseits und dem Herabstürzen von kleineren und größeren Blöcken andererseits besteht eigentlich nur ein Unterschied dem Grade nach. Oft sind es ja nur einzelne Wandflächen, die davon betroffen werden und die Absandungs- und Abrißstellen sind im Verhältnis zur Aus- dehnung der Felswände, an denen sie auftreten, oft nur geringfügig. Aber auch Absanden und Abbröckeln können im Laufe der Zeit durch Sum- mierung große Wirkungen erzielen und ausge- dehnte Buntsandsteintafeln 'verkleinern, ja ganz zum Verschwinden bringen. Felsabstürze, die zur Zerstörung und Rückverlegung der Steilwände bei- tragen, sind in unserem Gebiet keineswegs selten ; die große Zahl nackter Felswände weist sogar auf eine gewisse Häufigkeit hin : auch die am Ge- hänge zerstreuten Blöcke von oft gewaltigen Dimen- sionen reden davon eine nur zu deutliche Sprache; katastrophale Ereignisse in Form größerer Berg- stürze sind mir jedoch nicht bekannt, bei der fast horizontalen Lagerung der Schichten auch kaum je vorgekommen. Da sich Felsabstürze oft fern von jeder menschlichen Wohnung in den Wäldern abspielen, werden sie höchstens in engeren Kreisen bekannt und auch dort oft rasch wieder vergessen, wenn nicht gerade Unglücksfälle damit verknüpft sind. Ein aufmerksamer Beobachter kann fast an jeder Felswand heller gefärbte Partien heraus- finden, die ihre Entstehung abgestürzten kleineren oder größeren Felsmassen zu verdanken haben. Ist aber eine solche Abrißstelle oder Kluft- fläche wieder von einem Pflanzenkleid überzogen und gewissermaßen vernarbt, oder durch die seit dem Abbruch eingetretene Anwitterung ihrer Frische beraubt, dann tritt sie kaum noch in Er- scheinung. Für die Feststellung der Fortschritte in der Rückverlegung von Steilwänden sind Nachrich- ten über Abstürze von einzelnen Felsen oder größeren Felsmassen sehr wichtig. In den letzten Jahren vor dem Kriege hatte ich, angeregt durch die Arbeiten von G. Braun auf diesem Gebiete,^) die in pfälzischen Zeitungen hierüber erschienenen Mitteilungen und durch Umfragen auch weitere Nachrichten nach Möglichkeit gesammelt. Es ist eine recht stattliche Anzahl derartigen Angaben zusammengekommen, trotzdem man annehmen muß, daß nicht jeder Felsabsturz, der sich in einer abgelegenen und nur selten betretenen Gegend, wie sie unser südpfälzisches Waldgebiet ist, ab- spielt, bekannt wird; in den Kriegsjahren sind Nachrichten hierüber recht spärlich geflossen, da unsere Tageszeitungen in ihren Spalten Wichtigeres ') Eine Sammlung der ihm bekannt gewordenen Boden- bewegungen hat G. Braun in Petermanns Mitteilungen ver- öffentlicht, Jahrg. 1908, S. 232—233; Jahrg. 1909, S. 116 — 117 und 227 — 228. 340 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 24 aufzunehmen hatten. Nachstehend will ich nun eine Zusammenstellung der mir bekannt ge- wordenen Bodenbewegungen, gegliedert nach der Art der Bewegung bringen und mit den Sturz- bewegungen beginnen. Von allen Felsgebilden im Pfälzer Felsenland ist wohl in weiteren Kreisen am besten bekannt die erkerartig unmittelbar über die nördlichen Häuser von Dahn schroff aufsteigende, gewaltige Felsenmauer des Jungfernsprungs. An seinen braunroten Wänden sind mehrere frische Abriß- stellen erkennbar und es ist nur eine Frage der Zeit, daß auch der äußerste, in seinem oberen Teile bereits durch eine klaffende Spalte von der Hauptmasse abgetrennte Vorsprung, auf welchem sich das weithin sichtbare Kreuz erhebt, aus irgend- einem geringfügigen Anlaß in die Tiefe abstürzen und die an seinem Fuße hingeschmiegten Häuser zerschmettern wird. IVIan hat zwar dort den Ver- such gemacht, einzelne, durch die Verwitterung stark unterhöhlte Partien mittels Mauerwerk zu stützen, doch dürfte dieses Widerlager gegen einen wirklichen Abbruch kaum genügenden Schutz bieten. An den heller gefärbten Wandstellen des Jungfernsprungs haben nachweislich wiederholt Felsabstürze stattgefunden. Eine solche größere Felsmasse löste sich z. B. in der Nacht vom 30. November auf den i. Dezember 191 1 los und stürzte ab. Das unmittelbar am Fuße des Felsens stehende Lehmann Kuhlmannsche Haus war in höchster Gefahr, doch wurde der Sturz zum Glück durch das Fichtengehölz und Gestrüpp des Fuß- hanges aufgehalten, so daß nur einige kleinere Trümmer auf das Dach fielen und die Ziegel zer- trümmerten. Dieser Felsabsturz wurde damals von den Leuten als eine Folge des kurz vorher am 16. November 191 1 stattgehabten Erdbebens auf- gefaßt. Ein anderer am Jungfernsprung vor etwa 20 Jahren losgelöster Felsblock soll ein Haus zur Seite geschoben haben. Die Niederlegung des Waldes an der die Burg- ruine Gräfe nstein tragenden Felskuppe in den 1870 er Jahren hatte einen mächtigen Feis- und Schuttabsturz zur Folge, der die Untermaue- rung einzelner Teile der Ruine nötig machte, um deren Nachbrechen zu verhindern. Das gewaltige Felsenriff des Rötelsteins zwischen der bekannten Burgruine Lindelbronn und Oberschlettenbach zeigt an mehreren Stellen Spuren frischer Abstürze. Ein solcher ging z. B. anfangs dieses Jahrhunderts während der Nacht mit so gewaltigem Getöse nieder, daß die Leute in den umliegenden Dörfern glaubten, es handele sich um ein Erdbeben. An welcher Stelle des langgestreckten, nach SW steil abfallenden, und durch Klüfte in mehrere Abschnitte gegliederten Riffes dieser Absturz erfolgt ist, konnte ich nicht mit Sicherheit ermitteln; anscheinend fand er an seinem nordwestlichen Ausläufer statt, dessen kulissenartigen Vorsprünge einem verhältnismäßig rasch fortschreitenden Zerstörungsvorgang unter- liegen. Der ganze Fußhang ist mit vor noch nicht langer Zeit abgestürzten gewaltigen Blöcken bis zu 6 cbm Größe bedeckt ; die Abrißstelle hebt sich gegen die anderen Felswände durch ihre hellrote Farbe deutlich ab. Eine weitere, durch Kluftflächen begrenzte, frische Abrißstelle von 5 m Höhe und 3 m Breite befindet sich am mittleren Teile des Rötelsteins; die abgestürzten Blöcke liegen am Fuße der Felswand und Steinbrecher waren bis vor einigen Jahren an der Arbeit, das wetterbeständige IVIaterial zu Hau- und Werk- steinen zu verarbeiten. Wer sich von der unab- lässig fortschreitenden Zerstörung einer Steilwand durch Felsabstürze ein Bild machen will, dem sei der Besuch des Rötelsteins dringend empfohlen; das Felsgrat läßt sich aber nur im mittleren Teile von Lindelbrunn aus ohne besondere Schwierig- keiten ersteigen. In der Firma senser Gegend ist die Er- innerung an einen Absturz beim Volke auch heute noch nicht erloschen , da durch ihn am Zigeunerfels nach einer Eintragung im Kirchen- buch zu Rodalben am 5. März 1743 neun Zigeuner, die unter einem Überhang Schutz gesucht hatten, durch niedergehende Felsmassen erschlagen wor- den sind.') An einem Märztage anfangs dieses Jahr- hunderts wurde der Postwagen auf der Landstraße zwischen Pirmasens und Lemberg durch einen Felssturz ernstlich gefährdet. Am 31. März 191 1 löste sich in der Waldab- teilung „Roschel" bei Clause n ein Felsblock von etwa 300 cbm los und fegte auf seinem Wege zu Tal den ganzen Waldbestand am Gehänge, darunter Bäume bis zu 30 cm Durchmesser, voll- ständig weg. Ein auf zwei Sockeln ruhender, mächtiger Tischfelsen, der sog. ,, Teufelstisch", der den einen Ausläufer des Rummereckes bei Eppenbrunn krönte, stürzte in den 1860 er Jahren infolge Zer- störung seiner Unterlagen durch Verwitterung ab. Die Felsmassen vernichteten im Bereiche ihrer Sturzbahn den das Gehänge bedeckenden Wald- bestand in etwa 20 m Breite und 1 50 m Länge. Der Absturz erfolgte zur Nachtzeit, doch wurde das Getöse weithin gehört. Von den abgestürzten Blöcken sind jetzt nur noch wenige vorhanden: sie haben meist als geschätztes Baumaterial Ver- wendung gefunden. Auch die Beschädigungen am Walde sind nicht mehr zu sehen, da der ganze Bestand inzwischen abgetrieben und neu aufge- forstet worden ist. (Frdl. Mitteilung von Herrn Forstmeister Roedel in Eppenbrunn.) Am II. Februar 191 3 wurde ein dem Denti- sten Zundel in Kaiserslautern gehöriges Wohn- haus „auf den Mühlen" (Gemeinde Moorlau tern) von einem herabstürzenden Felsen vollständig zer- stört; glücklicherweise war das drei Jahre vorher ') Lederer, Urkundliche Geschichte der christlichen Religionsausübung im Amte Gräfenstein .S. 127. Pirmasens 1902. N. F. XVIII. Nr. 24 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 341 neuerbaute Haus unbewohnt, sonst wäre es ohne Verlust von Menschenleben nicht abgegangen. Am 8. Januar 1914 stürzte bei Niedersimten am sogenannten „Kunzenecke" ein mächtiger Felsblock ab und rollte bis in die Nähe des Weges, wo sich sonst rodelnde Kinder zu tum- meln pflegten. Weitere Felsabstürze sind nach freundlicher Mitteilung von Herrn Lehrer A. Bauer, wohl dem besten Kenner des Felsenlandes und Be- zwinger der meisten Pfeiler und Türme, in neuerer Zeit erfolgt am: Bakelstein bei Wilgartswiesen, Durstein bei Dahn (Trümmerfeld), Dreistein bei Gossersweiler (im Frühjahr 1912), Büttelfels bei Dahn u. a. a. O. Besonders häufig sind Felsabstürze an den Wänden großer Steinbrüche, allerdings hier meist in geringeren Ausmaßen, wo durch fort- gesetztes Sprengen das Gesteinsgefüge ohnehin gelockert ist; auch der schiebende Einfluß des Bergdruckes ist für die Loslösung einzelner P'els- blöcke nicht von zu unterschätzendem Einfluß. In Gegenden, wo Steinbrüche in größerer Anzahl vorhanden sind, berichten die Zeitungen nament- lich im Frühjahr von Unglücksfällen, die durch Frost usw. abgesprengte oder durch Unachtsam- keit der Arbeiter ihres Haltes beraubte I<"elsblöcke bei ihrem Niedergehen leider nur zu oft verur- sachen. Für Untersuchungen über Bodenbewe- gungen bieten übrigens längere Zeit aufgelassene Steinbrüche ein höchst schätzenswertes Beobach- tungsfeld. Wie sich aus obiger Zusammenstellung ergibt, haben zahlreiche Abstürze im Monat März statt- gefunden und man geht wohl nicht fehl, wenn man in diesen Vorgängen die Nachwirkung der Frostsprengung sieht. Aber auch durch Blitzschlag können Fels- abstürze erzeugt und Steilwände dadurch zurück- verlegt werden. Ein solches Ereignis, bei dem etwa 3600 cbm Gestein niedergingen, hat sich z. B. 1873 am Klumpenfels beim Stephanshof im Pfälzerwald ereignet; noch jetzt bedecken ge- waltige, bis zu 20 cbm mächtige Blöcke den Fuß- hang der ihn um etwa 15 m überragenden Fels- wand.*) Es darf wohl angenommen werden, daß auch freistehende Felstürme, namentlich auf den Rücken der Berge, Otters vom Blitze getroffen werden, ohne daß etwas davon bekannt wird. So soll z.B. nach freundlicher Mitteilung von Herrn Lehrer A. Bauer der Blitz am Napoleonfels bei Bru ch- weiler in die oberste Felsplatte eingeschlagen und dort zerstörend gewirkt haben, und dann über die senkrechten Wände des Felsens sich verteilend, in den Fußhang niedergegangen sein; ferner sollen am Drachenfels bei Bad Dürk- ') Häberle, Über einen durch Blitzschlag verursachten Felsabsturz im Mittelgebirge. Mit weiteren Literaturangaben. Jahresber. u. Mitt. d. Oberrhein. Geolog. Ver. N. F. Jahrg. 1912, Bd. 2, H. 3, S. 26 — 29. heim an der Drachenkammer Verglasungserschei- nungen infolge Blitzschlages sichtbar sein. In Adersbach im böhmischen Quadersandstein- gebiet wurde ebenfalls nach einem von Obst (S. 65) mitgeteilten Bericht eines Führers in der Mitte des vorigen Jahrhunderts ein Block durch Blitzschlag abgesprengt; dieser sei dann unmittel- bar vor einem Wanderer niedergestürzt. Eine Tafel hält die Erinnerung an dieses seltene Er- eignis fest. Während die Sturzbewegungen hauptsächlich auf das Buntsandsteingebiet beschränkt sind, treten die Rutschbewegungen mehr im Gebiete der mit Tonschiefern wechsellagernden Sandsteine des Rotliegenden im Nordpfälzischen Berglande auf. Größere Bergrutsche aus älterer und neuerer Zeit sind von dort aus dem Glan- und Nahetal von mehreren Stellen bekannt, da die tonigen, meist nach Norden einfallenden Schichten bei starker Durchfeuchtung die darüber lagernden Sandsteinbänke an durch Flußerosion gebildeten Steilhängen abgleiten lassen. Ein solcher größerer Bergrutsch hat sich z. B. im Frühjahr 1907 bei Odernheim a. Glan ereignet; die Spuren eines älteren sind gegenüber von Niederhausen a. d. Nahe am ,, rutschenden Hang" beim Birken- hof zu sehen. Diese Rutschungen liegen in einem Gebiet alter, wohlbegründeter Bergstürze, deren labiles Gleichgewicht durch die Bahneinschnitte bei dem Bau der Linie Münster a. St. — Odernheim mehr oder weniger gestört worden ist.') Im Herbst 1910 stürzten östlich von Odern- heim a. Glan am Rasberg, dessen Steilhänge an einzelnenStellendeutlicheRutschungserscheinungen aufweisen, in später Abendstunde Schuttmassen und Felsblöcke (bis zu 3 cbm) auf den Bahnkörper; es ist als ein Wunder anzusehen, daß damals der letzte von Odernheim nach Münster a. St. ab- gegangene Personenzug nicht entgleiste, sondern nur mit einer Beschädigung der Maschine, die einen an das Geleise gerollten Felsblock gerade noch streifte, davonkam. Am 6. Dezember 1910 und den folgenden Tagen fanden in M e i s e n h e i m a. Gl. große Rutschungen statt, durch die zuerst der Weg am Flußufer verschüttet und schließlich ganz in die Tiefe gerissen wurde. Die durch den Absturz freigelegte Felswand (Prallhang) zeigte mehrere Risse, die weitere Nachstürze zur Folge hatten. Am 28. Dezember 1910 löste sich am Steil- hang des „Eselsköpfchens" bei Theisbergstegen eine größere Schutt- und Felsmasse los, die Stall und Scheuer des Wagners Königstein vollständig verschüttete und sämtliches Vieh mit Ausnahme einer Ziege erschlug; das daneben stehende Wohn- haus blieb unversehrt. Bei dem an einem steilen Bergabhange er- bauten Luftkurhaus „Jungborn" bei Sobern- h e i m a. Nahe kam infolge starker Niederschläge ') Reis, O. M. , Über einen Bergrutsch bei Odernheim a, Gl. Pfalz. Heimatkunde 1911, S. 65—69. 342 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 24 Ende Februar 191 2 ein großer Teil des Hanges ins Rutschen; dadurch verloren mächtige Fels- blöcke auf der Höhe des Berges ihren natürlichen Halt, lösten sich los und stürzten ab. Im vor- liegenden Falle handelte es sich um ähnliche Rutschungserscheinungen, wie sie namentlich in den steil ansteigenden Weinbergen der Schiefer- gebiete (Nordpfälzisches Bergland, Nahe- und Mosel- tal) häufig sind und großen Schaden anrichten können. So erfolgte z. B. am 5. Februar 191 1* kurz vor 4 Uhr zwischen den Moselbahnstationen Müden und Garden in einem alten Steinbruch ein Fels- rutsch. Ein vorhandenes Schutzgerüst hielt die Felsmassen größtenteils zurück. Losgelöste Gerüst- teile fielen auf den I^ahnkörper und führten die Entgleisung der Lokomotive eines Personenzuges und die Sperrung beider Gleise herbei. Der Loko- rnotivführer wurde leicht verletzt und die Maschine stark beschädigt. Der Zugverkehr mußte durch Umsteigen an der Rutschstelle aufrecht erhalten werden. Anfangs September 1912 lösten sich infolge anhaltenden Regenwetters an den Hängen des Zwerlenberges bei N e i d e n f e 1 s im engen Speyer- bachtale (Deidesheimer-Niederkircher Waldgrenze) größere Fels- und Erdmassen los, die sich mit den darauf stehenden Bäumen vor dem Dorfein- gang quer über die Straße Neustadt a. H.- Kaisers- lautern legten und den Fußgänger- und Fuhrwerks- verkehr sperrten. Im Gebiet des Unteren Bunt- sandsteins und (Jberen Rotliegenden sind wegen dessen toniger Beschaffenheit bei starken Nieder- schlägen Rutschungen, wie bereits eingangs er- wähnt, recht häufig. -Oben habe ich darauf hingewiesen, daß durch einfaches Abgleiten von größeren aus dem Ver- bände gelösten Felsmassen infolge Untergrabung auch Trümmerhöhlen entstehen können. Eine solche deutlich ausgeprägte, etwa 40 m lange Trümmerhöhle, die durch abgeglittene und dann an die steilen Talränder sich anlehnende, mäch- tige Blöcke des Hauptkongloments gebildet ist, befindet sich im Gersbachtale, südlich von Pir- masens, am Teufelsfels.') Auch in den mäch- tigen Blockhalden, die namentlich die stirnartig vorspringenden Ränder der Felszonen in den Karls- talschichten umsäumen, treten hier und da, aller- dings nur kleine Trümmerhöhlen auf. Daß vielfach auch die aus Porphyrit und Quarzporphyr bestehenden massigen Kuppen des Nordpfälzischen Berglandes wegen der plattigen bzw. säulenförmigen Absandungsform dieser Ge- steine und seiner Verwitterung in kleine eckige Stücke vielfach auch zur Herausbildung von Steil- wänden mit Schuttströmen auf ihrem Fußhang („Rossein") neigen, sei hier nur nebenbei bemerkt. Von einer solchen I'orphyrit-Steilwand stürzten z. B. am 9. Januar 1914 auf der Eisenbahnstrecke Odernheim a. Glan — Oberhausen beim Wald- ') Häberlc, Die Höhlen der Rheinpfalz S. 29 u. 32. böckel heimer Tunnel beträchtliche Fels- massen auf den Bahnbörper herab, die den Verkehr auf dem bergseitigen Gleise zwei Tage sperrten. ^) In den tertiären Ton- und Mergel- ablagerungen des pfälzisch- rheinhessischen Hügellandes sind Rutschungen eine häufig auf- tretende Erscheinung und nicht ohne Einfluß auf die Geländeformen. Von größerem Ausmaße war eine solche, die im Januar 191 1 zwischen Möls- heim, Niefernheim und Zell an der pfälzisch -hessi- schen Grenze stattgefunden hat. Die Zeitungen berichteten von „meterbreiten gähnenden Schlünden, haushohen Einsenkungen und Rutschungen, himmel- anstrebenden Fels- und Schuttmassen und einem Fortrutschen des Straßenkörpers talwärts". Ich habe diese verschiedenen, mit meinem Thema vielfach nur lose im Zusammenhang stehenden Bodenbewegungen hier erwähnt, um zu zeigen, wie auf verhältnismäßig engem Raum und in einer geringen Spanne Zeit die Heraus- bildung von Oberflächenformen durch derartige Vorgänge beeinflußt werden kann. '-) Nachdem wir bisher die verschiedenen Mög- lichkeiten und tatsächlichen Fortschritte der Ver- witterung und Abtragung an den Steilwänden des pfälzischen Buntsandsteins betrachtet und sie mit ähnlichen Erscheinungen in den sächsisch- böhmisch-schlesischen Ouadersandsteinablagerun- gen verglichen haben, erhebt sich hinsichtlich ihrer Entstehungszeit die Frage: Sind diese eigen- tümlichen Felsformen bereits im Diluvium ent- standen und haben sie sich bis in die Jetztzeit erhalten, oder sind sie jüngeren Alters und bilden sie sich unter den heutigen klimatischen Verhält- nissen noch heraus? Wie bereits eingangs ausgeführt, haben diese verschiedenen Anschauungen über die Entstehung der Felsformen sowohl für das Ouadersandstein- gebiet wie für das Pfälzer Felsenland ihre Ver- treter. Übereinstimmung besteht jedoch, daß in beiden, räumlich getrennten Gebieten die uns ent- gegentretenden Felsgebilde nichts anderes sind, als die ruinenartigen Reste einer früher zusammen- hängenden, stark zerklüfteten und ziemlich hori- zontal gelagerten Sandsteinplatte, also lediglich die stummen Zeugen eines ausgedehnten Zerstö- rungswerkes. Wie bereits erwähnt, vermuten einzelne Au- toren, daß der Wind auch bei der Herausbil- dung der Steilwände des Pfälzer Felsenlandes früher eine besondere Rolle gespielt habe bzw. jetzt noch spielt. Da aber der Wind seine ab- ') Ähnliche Bildungen sind auch die „Quarzitrosseln" an den Abhängen der Quarzitrücken des Nahegebietes. Vgl. darüber A. Leppla, Über Schuttbildungen im Bereich des Taunusquarzits innerhalb der Blatter Morscheid, Oberstein und Buhlcnberg. Jahrb. d. preuß. geolog. Landesanstalt 1S94, S. XXXVIII ff. — Küster, H. , Zur Morphographie und Siedelungskunde des oberen Nahegebietes S. 20 — 22 mit Karte. Dissertation Marburg 1905. '') Vgl. hierzu Hoff, K. E. A. v., Geschichte der durch Überlieferung nachgewiesenen naturlichen Veränderungen der Erdoberfläche. Gotha, Perthes 1822—1841. N. F. XVIII. Nr. 24 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 343 tragende Tätigkeit in größerem Maße nur dort entfalten kann, wo die Erdoberfläche kahl ist oder nur eine spärliche Pflanzendecke trägt, hat er wenigstens jetzt im Pfälzerwald hierzu wohl kaum Gelegenheit. Anders lagen die Verhältnisse jedoch früher. Daß wir in der Pfalz für die Übergangs- zeit vom Diluvium zum Alluvium ein wesentlich trockeneres und kälteres Klima hatten, als das jetzige, beweisen die Dünenbildungen und Windkanter unter den alluvialen Torfbildungen der Westpfälzischen Moorniederung und in der Rheinebene. ') Reis setzt diese Steppenzeit an den Schluß der Periode der Niederterrasse, lange nach Ablagerung der altdiluvialen Terrassenschotter- und ■Lehme ; sie hat sich auch im Rheintal geäußert, wo wir ausgedehnte Löß- und Dünenablagerungen fin- den. Ebenso treten im Felsenland im Innern des Gebirges in unmittelbarer Nähe der Steilwände und im Hintergrund benachbarter Täler hier und da z. B. bei Dahn, Storrwoog u. a. a. O. mit einer Vegetationsdecke überzogene Dünenwälle auf, die ein früheres Trockenklima andeuten. Ihre Entstehung ist wohl ebenfalls in die Diluvialzeit bzw. in die Übergangszeit vom Diluvium zum Alluvium zu verlegen. ') Damals besaß der Boden tatsächlich nur eine spärliche Pflanzendecke und mächtige Stürme (Lößablagerungen !j müssen, ähn- lich wie jetzt in den Wüsten, auch in unserer Gegend getobt haben. Allerdings sind auch jetzt noch im Pfälzerwald wirkliche Dünen vorhanden, z. B. in den breiten Talgründen zwischen Peters- bächel, Fischbach und Ludwigswinkel, die vom Winde, wenn auch nur wenig, umgelagert werden und so an ähnliche Verhältnisse in der West- pfälzischen Moorniederung, z. B. beim Bliesberger Hof, südwestlich von Homburg erinnern. Mit letzteren Ablagerungen vermag jedoch der Wind heute ebensowenig eine abschleifende Tätigkeit zu entfalten, wie mit den obenerwähnten, jetzt durch eine Pflanzendecke festgehaltenen und in einem Ruhezustand befindlichen Dünenwällen im Pfälzerwald; in die engen Täler, wo wir doch auch die steilen Felswände finden, kommt der Wind viel zu wenig hinein, als daß er unter den jetzigen Verhältnissen dort eine größere ausge- staltende Tätigkeit ausüben könnte. Auf noch eine andere eigentümliche, noch nicht allseitig befriedigend erklärte Erscheinung soll hier hingewiesen werden. Wie in den übrigen deutschen Buntsandsteingebieten treten auch im Pfälzerwald zahlreiche, ganz unvermittelt beginnende, tief ein- ') Reis, O. M. , Die Westpfälzische Moorniederung- Geognost. Jahreshefle 1S99, XII, S. 72— loS. — Derselbe, Erläuterungen zu Blatt Zweibrücken S. 153— 154. Mit weiteren Literatur angaben. H ä b e r 1 e , D., Windkanter aus der Westpf. Moorniederung. 42. Jahresber. d. Oberrhein. Geolog. Vereins 1909, S. 104 — 109. Häberle, D., Über das Alter des Landstuhler Bruches und über Artefaktenfunde in Torfmooren. Pfalz. Heimatkunde. 4. Jahrg. 1908, S. 99 — loi. ^) Vgl. hierzu die ausführlichen Erörterungen von P. Kefiler, S. 420 — 421. gesenkte Wadi-ähnliche Trockentäler auf, die wegen gleicher, in den Wüsten vorkommender Formen mit einem früheren Trockenklima in Be- ziehung gebracht werden. Mit den Möglichkeiten ihrer Entstehung hat sich V. Schulz \) eingehend beschäftigt. Er sieht diese eigentümlichen, auch im Buntsandsteingebiet des Mittellaufes der Saale auftretenden Formen als Erzeugnisse der nach- eiszeitlichen Periode ariden Klimas in Mitteldeutsch- land an. P. Keßler'-) dagegen schreibt diesen „Tälern mit Blindenden" (S. 422), wie sie auch in der Saargegend vorkommen, teils ein diluviales, teils ein alluviales Alter zu. Ich selbst habe ihre Entstehung auf das Ausstreichen einer früher unter dem Einfluß reichlicherer Niederschläge mehr Wasser führenden Schicht, auf welcher die Aus- spülung stärker flächenhaft wirken konnte, zu er- klären versucht.^) Es ist also keineswegs not- wendig, für ihre Herausbildung ein arides Klima annehmen zu müssen, wie manche wollen. Auch auf eine weitere von mir beobachtete und näher beschriebene Tatsache (Kleinverwitterungs- formen S. 21) möchte ich hinweisen. An der Stirn- wand stark verkieselter Bänke, wie sie z. B. in den Karlstalschichten des oberen Hauptbuntsandsteins vorkommen, treten unter einem graugrünen Teppich von niederen Organismen regelmäßig-gitterförmige Verwitterungserscheinungen auf, die von den Skulpturen in den weniger widerstands- iähigen tonig-sandigen Bänken nach Form und wohl auch nach Entstehung gänzlich verschieden sind. Ich habe den Eindruck, als ob sie sich jetzt gewissermaßen in einem Ruhestadium be- fänden, d. h. daß bei ihrer Herausbildung andere Kräfte tätig gewesen sein müßten als heute. Wenn auch die Hohlräume zwischen den einzelnen Scheidewänden und letztere selbst einen die Unter- lage allmählich zerstörenden Pflanzenüberzug be- sitzen, so war letzterer doch wohl kaum imstande, von Anfang an solch regelmäßige Formen heraus- zuarbeiten. Ich halte es daher für nicht ganz aus- geschlossen, daß wir in den jetzt mit einer Pflanzen- decke bekleideten gitierförmigen Verwitterungs- erscheinungen der widerstandsfähigeren Bänke viel- leicht noch die Anzeichen einer früher unter anderen klimatischen Verhältnissen intensiver wir- kenden Verwitterungstätigkeit, deren Spuren die stark verkieselten Bänke bewahrt haben, erblicken können. Diese abgeschlossene Gitterbildung läßt sich vielleicht mit der von O. Beyer auch im Quadersandstein beobachteten vergleichen, neben welcher in frischer Entwicklung begrifi'ene, also rezenten Verwitterungseinflüssen ausgesetzte For- men herlaufen; allerdings führt Beyer ihre Ent- 1) Schultz, V., Beiträge zur Morphologie des Buntsand Steins im Mittellauf der Saale S. 29—46. Dissertation Jena 1913- 2) Scheu, E., Die Entstehung von Trockentälern. In: Festschrift zu A. Pencks 60. Geburtstag. StuUgart 1918. ') Häberle, Der Pfälzerwald S. 52. Braunschweig, Westermann, 1913. 344 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 24 stehung auf Ausblühungen von Alaun und Gips zurück. *) Keßler,-) der sich neuerdings ebenfalls mit der Entstehungsmöglichkeit der Felsgebilde im Pfälzer Felsenland beschäftigt hat (S. 421 — 422), kommt zu folgenden Ergebnissen : „Formen, wie wir sie sonst nur in der Wüste zu finden gewohnt sind, kommen in einem Gebiete vor, das vor kurzer Zeit [Übergangszeit vom Diluvium zum Alluvium] ein trocknes Klima hatte. Die seitdem verflossene Zeit ist so kurz, daß diese Formen bei Annahme der Entstehung unter trockenem Klima sich nicht hätten verwischen können. Daß aller- dings diese Formen sich unter diesem Klima ge- bildet haben, läßt sich nicht direkt beweisen, hat aber wegen ihres sonstigen Vorkommens unter trockenem Klima eine gewisse Wahrscheinlichkeit für sich. Immerhin ist in Betracht zu ziehen, daß sie in anderen Sandsteingegenden Deutschlands fehlen. In erster Linie wird man daher die Fels- bildung auf die besondere Beschaffenheit des Sand- steins, den Wechsel widerstandsfähigerer mit weniger widerstandsfähigen Schichten zurück- führen." Dieser Erklärungsversuch Keßlers darf wohl im großen und ganzen als zutreffend erachtet werden, doch möchte ich außerdem der unter- grabenden Tätigkeit des Sickerwassers bei Heraus- bildung der Steilwände bzw. deren fortschreiten- den Rückverlegung, für die ja die auch heute noch auftretenden Abschuppungen und Felsab- stürze ein deutlicher Beweis sind, nach den Unter- suchungen Hettners einen wesentlichen Einfluß zubilligen.' Auch ich halte es für wohl möglich, daß die heute uns entgegentretenden Großformen der Verwitterung vielleicht schon gegen Ende der ') Beyer, O., Alann und Gips als Mineralneubildungen und als Ursachen der chemischen Verwitterung in den Quader- sandsteinen des Sächsischen Kreidegebiets S. 441. Zeitschr. d. Deutsch. Geolog. Ges. 191 1, Bd. 63, S. 429 — 467. *) Kefiler, P., Einige Wüstenerscheinungen am nicht aridem Klima. Geolog. Rundschau 1913, Bd. IV, S. 413 — 423. Diluvialzeit, als ein trockenes Klima herrschte, an- gelegt worden sind. Dafür sprechen wenigstens die zahlreichen Dünenbildungen in den Tälern, die damals schon im wesentlichen dieselben Hohl- formen gehabt haben müssen, wie heute. Wir kommen damit zu folgendem Ergebnis : Aller Wahrscheinlichkeit nach war in der Übergangs- zeit vom Diluvium zum Alluvium unser Gebiet eine Steppenlandschaft mit großen Temperaturunter- schieden zwischen Tag und Nacht und dement- sprechender morphologischer Wirkung. Damals wird besonders der Spaltenfrost dazu beigetragen haben, das Gestein in außergewöhnlich starkem Maße zu zertrümmern. Es ist also wohl denkbar, daß der Wind und die extremen Temperaturver- hältnisse jener Zeit bei der von allen Seiten ein- setzenden Rückwilterung der Felswände und deren Ausgestaltung eine bedeutende Rolle gespielt haben können und wohl auch gespielt haben. Das Felsenland ist gewissermaßen eine „fossile oder tote Landschaft" im Sinne von W. S a 1 o m o n (Sitzungsberichte der Heidelberger Aka- demie der Wissenschaften, Naturw. Kl., 1918, Abh. 1). Im gewissen Sinne könnte es nach Pas- sarge auch als eine disharmonische Bil- dung (Physische Morphologie S. 119, Hamburg 191 2), nach Hettner als heterogene Land- schaft (Geograph. Zeitschr. 1914, S. 131) be- zeichnet werden. Aber nicht allein durch das frühere Trocken- klima, sondern auch durch die Struktur, Lagerung und Zusammensetzung des pfälzischen Buntsand- steins ist die Herausbildung der Steilwände be- dingt, deren Rückverlegung und Zerstörung sich durch Absanden, Abbröckeln und Felsabstürze noch heute vor unseren Augen vollzieht. Die zierlichen, uns nur an größeren Gesteins- komplexen entgegentretenden Kleinformen der Verwitterung in Gitter- und Maschenform dagegen sind fast ausnahmslos das Ergebnis von heute noch wirkenden Kräften auf nackte Steilwände. [Nachdruck verboten.] Zur Geschichte der Johaiinis- xiud Stachelbeere. Von Prof. Dr. S. Killermann, Kegensburg. Mit 2 Abbildungen. Die beiden Ribes-Arten,') bekannt unter dem Namen Johannis- und Stachelbeere (Ribes rubrum L. und grossularia L.), die heutzutage so viel kul- tiviert werden, sind Nutzpflanzen jüngeren Alters. V. H e h n führt sie in seinem berühmten Werke nicht auf; ebensowenig R. v. Fischer-Benzon in seiner „Altdeutschen Gartenflora" (Kiel 1894). In einer . späteren Abhandlung nimmt der letzt- genannte Autor eingehend Stellung „zur Ge- ') Vgl. C. K. Schneider, lllustr. Handbuch der Laub- hokkunde Bd. I (Jena, G. Fischer 1906) S. 399 f. und an- dere Werke. schichte unseres Beerenobstes" ') und weist nach, daß die beiden Sträucher erst im 1 5. Jahrhundert bei uns in Gärten auftauchten. Man findet auch bei der hl. Hildegard,-) die viele Gartenpflanzen ihrer Zeit erwähnt, und bei Albertus Magnus nirgends den Namen ribes oder eine sonstige An- deutung von den in Rede stehenden Pflanzen. I. Der Johannisbeerstrauch ist erstmals genannt am Anfang des 15. Jahrhunderts in einem •) Botan. Centralblatt 64. Bd. (1895) S. 371 f. u. 404 f. '') Sie spricht nur von einem ,,Gichtbaura", unter dem vielleicht, wie Fischer-Benzon vermutet, die Gichtbccre (Ribes nigrum) zu verstehen ist. M. F. XVIII. Nr. 24 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 345 Manuskript, das die Glosse „ribes sunt Johannes- drübel" enthält (L. Diefenbach, Glossarium latinogermanicum Frankfurt a. M. 1857, 4°, 643,3). Die erste (schlechte) Abbildung erscheint im Mainzer Herbarius von 1484') auf Blatt 120 unter dem Namen „ribes, sant johans drubgin", in der Passauer Ausgabe von 1485 „sant johans trublin". Eine bessere Abbildung der Pflanze bringt der im Jahre 1485 ebenfalls in Mainz gedruckte „Gart der gesuntheit" bei Kapitel 341.") Noch schöner und ganz naturgetreu stellt uns L. Pouchs 1543 auf Tafel CCCLXXVII seines köstlichen Kräuterbuchs ^) einen fruchtenden und blühenden kleinen Johannisstiauch vor Augen und bemerkt dazu (Kap. 257): „Sant Johansbeerlin oder treüblin werden auß keiner andern Ursachen also genennt weder das sie vmb s. Johans des Teüft'ers tag reiff vnn zeitig werden. In den Apo- tecken haben sie einen Arabischen namen be- halten vnd werden Ribes geheissen Diser staud würt allenthalben in den gärten geziiet nit allein zu einem nütz sondern auch zu einer zier." Die Beeren sind nach Fuchs gut für hitzigen Magen, für Durst, Pleber usw. Man soll darum den Saft derselben fleißig sammeln und mit Zucker einmachen, damit man ihn das ganze Jahr ge- brauchen könne, wie auch die Apotheker tun. Darnach war die Johannisbeerstaude in den Gärten Deutschlands bereits allgemein eingebürgert. Als Gartenpflanze kennt sie auch C. Gesner in seinem 1561 erschienenen Buche über die Horti Germaniae (fol. 282 a).*) In Italien tritt sie erstmals auf um 1550 bei Petrollini und Cibo.'') Im wilden Zustand scheint die Johannisbeere den genannten Pflanzenvätern nicht bekannt gewesen zu sein. Erst beiCame- rarius (1586 und 1588) tauchen Nachrichten über Funde von wilden Johannisbeeren auf. Er fand solche in Böhmen '') und anderen . Orten Deutschland, dann ein „Ribes vulgare mit roten Beeren", unter dem man wohl das Ribes rubrum im heutigen Sinne verstehen darf, in einem Wald mittewegs zwischen Dresden und Bautzen an der Grenze der Lausitz. Die Sträucher wuchsen nach seiner Aussage massenhaft und spontan; sie ver- mehrten sich, wenn man ihre reifen Beeren und Samen im Herbste einpflanzte, sehr schnell.') ') Herbarius Maguntie impressus 1484, 4*'; enthält 150 Holzschnitte. ^) Beide Abbildungen veröffentlicht von Fischer-Ben- zon a. a. O. S. 372. ') New Kreutterbuch usw. Basell, Isengrin 1543. ■•) Horti Germaniae in Valerii Cordi Annotationes in Dioscoridetn. Straßburg 1561. •'') Saccardo, P. A. , Cronologia della Flora Italiana (Padova 1909) S. 131. "*) Ribes, Johannistreublein . . . silvestris nascitur sponte in Boemia, in silvosis coUibus, et in aliis Germaniae locis. P. A. Matthioli de plantis Epitome uliliss. a J. Camerario 15S6. Frankfurt a. M. S. 88. ") A'iii-s vidgan baccis rubris , cuius magna copia sua sponte crescit in quadam sylva, media ferme via inter Dresdam et Budissinam ad fines Lusatiae. Si baccae statim ubi matu- ruerint, vel saltem exempta semina in terram proijciantur ante Ob es sich aber doch nicht um verwilderte Exem- plare handelte? Was die Verbreitung der Johannisbeere betrifft, so ist sie nach DeCandolle-Goeze^) im nördlichen und gemäßigten Europa (wie auch in Sibirien und Kanada) heimisch. Garcke (Flora von Deutschland 19. Aufl. S. 239) nennt für unsere Heimat als Standort: „Feuchte Wälder, Hecken zerstreut, häufiger in Gärten". Ich vermute daß es sich bei uns hauptsächlich um verwilderte Exem- plare handelt. Aus dem volkstümlichen, in manchen Gegen- den gebräuchlichen Namen „Meertrübli" (Kanton Solothurn) „raisin de mare" (Genf), minor uva marina bei Clusius-) u.a. wollte man, wie De Candolle (a. a. O.) bemerkt, den Schluß ziehen, daß die Johannisbeere übers Meer ") gekommen, vielleicht von den Dänen und Normannen oder anderen nordischen Völkern nach dem Kontinent gebracht worden sei. Das sei aber zweifelhaft, da der Strauch in England z. B. noch um 1557 nicht kultiviert worden sei. Nach Fisch er- Benzon wäre die Heimat eher im Süden zu suchen, weil sie dort wirklich um Johanni reife, was im Norden nicht der Fall sei. Sie müßte, wenn sie aus dem Norden gekommen, einen anderen Volksnamen erhalten haben. Nach meiner Vermutung, die ich noch näher begründen werde, stammt die Kultur der Johannis- beere aus dem belgischen oder nordfranzösischen Gebiete. 2. Die Stachelbeere (Ribes grossularia L.) läßt sich nach Fischer-Benzon(a. a. O. S. 405) erstmals mit Sicherheit bei Ruellius'')(i536) nach- weisen. Dieser Pflanzenvater erklärt bei der Be- sprechung der Oxyacantha der Alten (213,20), die er übrigens auf die Berberitze bezieht: „Weit ver- schieden von dieser ist ein anderes Geschlecht, das die gewöhnlich grossula (groseille) genannte Frucht trägt, von den Alten mit Stillschweigen übergangen, mit dornigem Strauch, mit einem dem Sellerie ähnlichen Blatt, mit weißen und bei der Reife süßen Beeren, häufig in Gärten. Die Beere dieses Strauches wird wegen einer nicht unange- nehmen Säure zu Saucen oder Suppen benutzt, in unreifem Zustande statt saurer Trauben. Da die Beeren gleichsam das Bild von Feigen darstellen, so nennt das Volk den Strauch grossularia (gro- seillier) und die Frucht grossula. Nach erlangter Reife wird die Beere so süß, daß sie gegessen werden kann, aber dennoch wird sie bei üppigen hyemem, facile enascuntur, et cito crescunt in frutices. Hortus medicus et philosophicus; Frankfurt 1588; S. 141. ') Ursprung der Kulturpflanzen. Leipzig 1884. S. 347. '^) C. Clusii, Atrebatis, Stirpium per Pannoniam usw. observat. historia. (Antverpiae 15S3) S. I19. ^) Die Verbindung von Namen mit dem Worte mer (mare) kommt auch sonst noch vor, z. B. Meerochs (d. h. Zeburind) und deutet immer auf eine Einführung aus ferneren Gegenden. Vgl. B. Szalay, Der Meerochs. Zoolog. Annalen VI. Bd. ^) J. Ru ellius, de natura stirpium libri tres, Basel 1537- 346 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 24 Mahlzeiten verschmäht, wohl aber von schwange- ren Frauen begehrt." Die erste bekannte Abb. von der Stachelbeere erscheint bei L. Fuchs') (Taf. 104) unter dem Namen Krüselbeer (uva crispa). Er bezeichnet sie als Wildpflanze, die an Zäunen, unter Stauden und Hecken, besonders um Tübingen in großer Menge wächst. Die Stachelbeere wurde demnach in Württem- berg zu L. Fuchs Zeiten noch nicht kultiviert. Bei Gesner (Horii gernianiae fol. 252) erscheint bereits eine großfrüchtige Kulturform unter dem Namen Ceanothus spina Theophrasti fructi Cerasi magnitudine.") J. Camerarius erwähnt dann (1588) eine Form mit großen roten Beeren (Ribes baccis rubris maioribus), die er von Innsbruck aus dem Garten des Erzherzogs Ferdinand erhalten hatte ^) (die Deutung als Ribes grossularia nach Bau hin, Pinax S. 455). Im Süden scheint sie nicht viel früher als bei uns beachtet worden zu sein. Nach Saccardo (a. a. O. S. 131) taucht sie wie die Johannisbeere zum erstenmal bei Petrollini und Cibo 1550 auf, dann bei Matt hioli 1558. C. Durante^) (1585) unterscheidet bei der Stachelbeere, die er „Uva Spina oder crispa zu deutsch wegdorn, crutz- beer, franz. groselier" heißt, eine Garten- und eine unter Dorngestrüpp wachsende wilde Form. In nordischen Gegenden werden die Stachel- beeren bei dem dortigen Obstmangel wohl schon seit langer Zeit gesammelt worden sein. J. H o o p s ""j glaubt dies auf Grund seiner Forschungen über angelsächsische Pflanzennamen wenigstens für Eng- land annehmen zu können. Kultiviert wurde die Stachelbeere daselbst ebensowenig als bei uns. Bezüglich der Verbreitung der wilden Stachel- beere sagt De Candolle Goeze (S. 345 f.), daß sie ein größeres Areal besitzt als die Johannis- beere und auch in Südeuropa in höheren Lagen und sogar im Atlasgebirge heimisch ist. 3. Was die Namen unserer Sträucher betrifft, so stammt das Wort Ribes, wie schon L. Fuchs weiß (s. o.), aus dem Arabischen fribas oder riwas gesprochen); es bezeichnet ursprünglich den Rha- barber (Rheum Ribes L.), der in Syrien (Libanon, Amanus und Moab '') wild wächst und bei den Arabern als Heilpflanze hochgeschätzt war. Das Bemühen, in Europa einen Ersatz für diese Drogue zu schaffen, führte zur Benutzung verschiedener Pflanzen mit säuerlichem Safte. ') Die Ähnlichkeit ') A. a. O. K^p. 08. ^) Vgl. K. Wein, Deutschlands Gartenpflanzen um die Mitte des 16. Jahrh. (Beih. z. Bot. Centralbl. Bd. XXXI (1914) Abt. II, S. 491, Anm. I. ') Hortus medicus usw. S. 141. *) Herbario nuovo di C. Durante (In Roma 158^) fol. 484. *) Waidbäume und Kulturpflanzen im germanischen Alter- tum (Straßburg 1905! S. 613. «) Vgl. Post, Flora of Syria. Beirut 1896? "S. 636. ') Gegen die Heranziehung der arabischen Pflanze Ribes erhebt De Candolle (a. a. O. S. 34S) Einspruch; aber das dänische Wort „ribs", das er als Grundlage nimmt, dürfte wohl auch von Kibes herkommen. mit der Weintraube und die frühe Reife (um Johann!) haben der neuen Arzneipflanze den Namen Johannisträublein oder -beerlein eingebracht. Der andere Name Grossularia ist aus dem französischen Wort groseille (bei Ruellius) gebildet, was wahr- scheinlich ursprünglich den Weißdorn bedeutete (vgl. die längeren Ausführungen darüber bei v. Fisch er- Benzon a. a. O. S. 406 ff.). Das Wort wurde dann in den Niederlanden in „Kroesel- doren" umgewandelt. Hier. Bock sagt noch „Grosseibeere" und L.Fuchs „Krüselbeer". In neuerer Zeit ist von mehreren Seiten der interessante Versuch gemacht worden, die ur- sprüngliche Gartenform der Johannisbeere aus dem jetzigen Formenchaos herauszuarbeiten, so von Ed. de Janczewski^) und T. H e d 1 u n d. -) Der erstere kommt zu dem Resultate, daß unsere jetzige Johannisbeere (Ribes rubrum) unter Mit- wirkung von wenigstens drei oder vier Arten ent- standen ist ; das sind Ribes rubrum L., domesticum Jancz., jetzt vulgare Lam. geheißen,") propin<]uum Turcz. und petraeum Wulf. Die erste Art ist besonders im Norden und Osten Europas, die zweite im Westen, Frankreich, Belgien, England, auch Süddeutschland heimisch, die dritte stammt aus Nordamerika und Ostsibirien, die vierte ist die bekannte Felsenjohannisbeere. (Über die Unter- schiede dieser Arten siehe Janczewski oder Schneider, Laubholzkunde.) Janczewski zieht den Schluß, daß das echte Ribes rubrum L. wenig an der Entstehung der Gartenformen beteiligt ist, sondern hauptsächlich das im Westen heimische Ribes domesticum (oder vulgare). „C'est le R. domesticum de l'Europe occidentale qui a donne naissance ä la plupart des varietes horticoles; sa culture parait donc la plus ancienne et avoir ete inauguree dans Tun de ses pays d'origine : la Grand-Bretagne ou plutöt la France." Hedlund kommt in der genannten Arbeit zu anderen Anschauungen und denkt besonders an Ribes hortense als Grundlage bei der Ent- stehung der Gartenjohannisbeere. Bei dieser Sachlage darf es von Interesse sein, wenn ich auf sehr feine Darstellungen der beiden Ribes-Arten hinweise, die sich in zwei berühmten Miniaturwerken des ausgehenden 15. Jahrhunderts finden und somit älter sind als die genannten Holzschnitte in den Kräuterbüchern der Pflanzen- väter. Das Breviarium Grimani ') (in der Markus- ') Sur la pluralite de l'espece dans le groseillicr ä grap- pes cultive. Note de M. Ed. d e Ja n cze wski. Comptes rendus de S. de r.-\c. des Sciences Tome Ijo (Paris 1900) S. 58S-590. -) ,,Om Ribes rubrum L. s. 1." Botaniska Notiser för är 1901. S. 33 — 72, 83 — 106, 155 — 158. Der Artikel ist leider nur in schwedischer Sprache abgefaßt. '■') Vgl. Schneider a. a. O. S. 401. ') Vgl. die photographische Reproduktion von Scato de Vries und S. Mopurgo, Leyden-Leipzig 1910. Brevi- arium Grimani in 12 Bänden. Kerner Einleitung von Giulio Cüggiola S. 21 X u. 22 'i, wo die einzelneu die Abbildungen betrclfenden Seilen nach dem Original angegeben sind. N. F. XVm. Nr. 24 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 347 Bibliothek Venedig), ein mehrbändiges mit köst- lichen Malereien ausgestattetes Miniaturenwerk, bringt in den Randleisten öfters die Johannisbeere (Ribes rubrum?) und zwar in feinster Ausführung, einmal (fol. 954) auch die Stachelbeere \) (Ribes grossularia L.) mit Dornen und Blüten (s. Abb. 1). Die Blatt- und Blütenform stimmt mit lebendem Material sehr gut überein. Ein ähnliches, aber nicht so umfangreiches Werk, ein sog. Niederländisches Gebetbuch -) (in dem Bayer. Nationalmuseum in München Nr. 3505) bietet uns ebenfalls (aber nur einmal, Fol. 27 v) eine hübsche Darstellung der Johannisbeere (siehe Abb. 2). Ich möchte den Zweig mit den korallen- roten Trauben auf Grund der ovalen Blattlappen als Ribes vulgare Lam. (:= domesticum Jancz.) ansprechen (vgl. die Zeichnungen bei C. K. Schneider a. a. O. Fig. 258 a— b S. 402). Die genannten Kunstwerke stammen aus der niederländischen (Genter) Miniaturenschule. Die eigentlichen Meister sind nicht recht bekannt. Die Zeit der Entstehung dieser Malereien fällt in die 90er Jahre des 15. Jahrh.; am Breviarium Grimani soll allerdings noch bis ca. 15 16 gearbeitet worden sein. Immerhin haben wir in den \or- liegenden zwei Miniaturen die ersten naturgetreuen Abbildungen der beiden Beerensträucher. Auch diese Quellen führen nach den Nieder- landen; von dort dürfte die Kultur der Johannis- beere stammen, und zwar auf Grundlage von Ribes vulgare, wie Janczewski vermutete. ') Von Coggiola nicht ausgeschieden. *) Das Buch wurde behandelt von B. Riehl, Studien über die Miniaturen niederländischer Gebetbücher des 15. u. 16. Jahrh. (Abh. d. III. KI. der K. AUad. d. Wissenschäften zu München Bd. XXIV, II. Abt. (1907) S. 435 u. f. Abb. I. Stachelbeere (Ribes grossularia). Randleiste im Breviarium Grimani fol. 954. (Beide Abb. verkleinert, nach phot. Aufnahme d. Verfassers.) Abb. 2. Johannisbeere (Ribes vulgare). Randleiste im Niederländischen Gebetbuch (München, Nationalmuseum Nr. 3505) fol. 27 V. Einzelberichte. Paläontologie. Der bekannte Erforscher der Fundstelle im Wildkirchli (Kt. Appenzell) Dr. E. Bächler hat ob Vättis im Kanton St. Gallen im 2440 m. ü. M. gelegenen Drachenloch, einer Höhle im Drachenberg, eine neue paläon- tologische Fundstelle in Ausbeutung ge- nommen.^) Die Arbeiten dürften sich noch un- gefähr 3 Jahre hinziehen; sie haben aber bisher sehr bemerkenswerte Ergebnisse gezeitigt. Die natürliche Höhle liegt völlig im Seeweerkalk. Sie ist etwa 70 m lang, im Mittel 4 — 5 m breit und nirgends über 7 m hoch. Der Hohlraum liegt beinahe horizontal und erstreckt sich von WNW bis OSO. Der Boden der Höhle besteht aus Erde (Sinter), Lehm und verwittertem Schutt der Decke und der Wände, sowie aus Anhäufung von Tier- knochen. Die Tiefe des Bodenschuttes konnte noch nicht festgestellt werden. Die Grabungen sind aber an einer Stelle bis auf 3,5 m Tiefe gediehen. „War schon das Anftreten einer prähistorischen Fauna im Wildkirchli ein Unikum mit Bezug auf •) E. Bächler, Jahresbericht des naturh. Museums in St. Gallen. 191S. die Meereshöhe von 1500 m, so wird dieselbe hinsichtlich der gut erhaltenen Überreste und Reichhaltigkeit derselben (des Drachenloches) noch übertroffen. Das betrifft namentlich die prächtigen Funde verschiedener Bärengeschlechter vom Vor- läufer unseres heutigen braunen Bären (Ursus arctos fossilis — Ursus arctoideus), als auch des eigentlichen Höhlenbären (Ursus speläus), der sich hier in einer Höhe, die wenig unter jener des Säntisgipfels steht, also beinahe 1000 m höher als im WildkirchH, in reichlicher Anzahl vorfindet in den untersten Fundschichten. Die Zahl der gut erhaltenen Schädel von Bären beträgt schon heute 12, neben einer Menge besterhaltener Extremitäten und anderer Knochen, namentlich Zähnen. Außer den Bärenarten gelangten auch Funde vom Mur- meltier, der Gemse, des Steinbockes, des Edel- marders, von Wühlmäusen und Vögeln zum Vor- schein. Die Liste wird rasch eine Vermehrung erfahren." Das Auffälligste ist aber, der Umstand, daß diese hochgelegene Höhle durch den prähistori- schen Menschen bewohnt gewesen sein muß. Der Berichterstatter führt als Beweise an, daß samt- 348 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 24 liehe Bärenknochen von Jungtieren stammen. Nur ein einziger alter Zahn mit Kieferrest weist auf ein älteres Individuum hin. Die Jungtiere hätten als Beute der urgeschichtlichen Jäger zu gelten, die ihrer leichter habhaft werden konnten, als der wehrhaften Alten. Der größte Teil der Knochen ist sehr zerstreut. Dann gibt es aber wieder förm- liche Knochenmagazine, hinter besonders ange- brachten Steinmäuerchen, die nur von Menschen angelegt werden konnten. Die Epiphysen vieler Extremitäten sind vom Schafte abgeschlagen, sie fehlen in der Nähe der Diaphysen gänzlich. Unter den bis jetzt gefundenen Hüftgelenkpfannen vom Höhlenbär entbehren sozusagen alle der charakte- rischen Fortsätze zum gesamten vollständigen Hüftbein. Ferner fällt die Überzahl der beiden ersten Halswirbel (Atlas und Epistropheus) über die anderen Wirbelarten auf. Auch Vorkommen zahlreicher stark zersplitterter Knochen, wie sie im Wildkirchli an den Artefaktenstellen gefunden wurden, sind die Arbeit von Menschenhand. Be- sonders beweiskräftig ist aber das Auffinden eines mehr als Quadratmeter großen, in der Höhlen- bärenschicht gelegenen Feuerherdes. Derselbe, mit guterkenntlichen Überresten von Holzkohle (Legföhre), mit gebrannten Steinen (Seewerkalk) und darunterliegender verbrannter, pulverig-staubi- ger Erde, lag völlig intakt, in ungestörter, ur- sprünglicher Situation. Die Gleichaltrigkeit des kuchenförmig aufgebauchten Kohlenherdes mit den Überresten des Ürsus spelaeus konnte mit aller Schärfe nachgewiesen werden. „Seine Beschaffen- heit ist von gleicher Art wie die Feuerstellen, die der Berichterstatter in den prähistorischen Fund- stellen des Vezeretales in Südfrankreich (z. B. Le Moustier) gesehen hat. Die Feuerstelle im Drachen- loch kann nur von Höhlenbärenjägern des Paläo- lithicums (Altsteinzeit)' herstammen." Steinwerk- zeuge wurden bis jetzt noch keine gefunden. Da- gegen wohl Knochenwerkzeuge, deren Bruch- ränder durch den vielfachen Gebrauch abgerieben und poliert sind. Dieselben dürften zum Fellab- lösen und Fellglätten gedient haben; ähnliche Werkzeuge können heute noch bei einer Anzahl von Naturvölkern nachgewiesen werden. — Jeden- falls darf man auf das Ergebnis der weiteren Grabungen gespannt sein, nachdem nur das eine Jahr (191 7) derartige Resultate gezeitigt hat. A. Hess. Geologie. Ein Beispiel dafür, daß es sich unmittelbar lohnen kann, eine eingehende geo- logische Kartierung vorzunehmen, und daß ein einziger neuer Fund einer Minerallagerstätte das Budget vieler Jahrzehnte geologischer Kartierung mehrfach aufwiegen kann, zeigt ein Aufsatz von J. H. L.Vogt im „Teknisk Ukeblad", dessen Über- setzung in der Zeitschr. f. prakt. Geol. XXVII. 1919. S. 30, erschienen ist: „Wie Outokumpu, Finnlands neue Kupfererzlagerstätte, entdeckt wurde. Ein Triumph technisch-geologischer For- schung." Vor längerer Zeit hatte man bei Kiri- salmi in Ostfinnland beim Graben eines Kanals einen schweren, oberflächlich rostigen Gesteins- block gefunden. Die Arbeiter erinnerten sich, daß kurz vordem in Finnland ein Meteorit ge- fallen war, vermuteten eine meteorische Entstehung des Blockes und sandten ein Stück davon an die „Geologische Untersuchungsanstalt von Finnland", woselbst man sofort erkannte, daß es sich um einen kupferhaltigen Kies in -Quarzit handelte. Von dieser Anstalt erhielt nunmehr der Berg- ingenieur und Geologe O. Trüstedt den Auf- trag, das Erzfeld, von welchem der große Block (ca. 5 t) herstammte, aufzufinden. Da der Kies- block unzweifelhaft vom Inlandeis herbeitranspor- tiert worden war, mußte man folglich rückwärts in der Richtung der Schrammen suchen. Dies wurde erschwert, da man hinter Kirisalmi zwei Richtungen der Eisbewegung kennt. Einen An- haltspunkt jedoch besaß man: der Kiesblock stammte aus einem Quarzitgebiet. Es wurden daher einige der einigermaßen naheliegenden Ouarzitgebiete untersucht, jedoch ohne jedes Er- gebnis. Da fand Trüstedt in der Nähe des ,, Meteor-Kiesblocks" im Kanal von Kirisalmi einen Block von serpentinisiertem Olivinfels und hatte damit folgende Anhaltspunkte: der Kies liegt im Quarzit und wahrscheinlich in der Nähe von Olivinfels. Nun ist bekannt, daß basische Eruptiv- gesteine oft von Kieslagerstätten begleitet sind, ferner war bei der geologischen Kartierung von Ostfinnland im Kirchspiel Kunsjarvi eine Quarzitzone nachgewiesen worden, in welcher auch Olivinfels vorkommt, und dieses lag in der einen Schrammenrichtung, und zwar etwas über 50 km vom „Meteorkies" entfernt. Durch Komposition aller dieser Momente, wozu unter anderem auch die Kenntnis der Geologie der norwegischen Kies- vorkommen gehörte, schloß Trüstedt, daß dort, speziell in der Nähe von Outokumpu, ein größeres Kiesvorkommen liegen müsse. An Ort und Stelle fand er auch in dem bei- nahe vollständig von losen Ablagerungen be- deckten Gebiete nach fortgesetztem Suchen eine Menge loser Kiesblöcke. Diese lagen über eine Länge von mehr als zwei Kilometern einiger- maßen parallel zum Gesteinsstreichen und un- gefähr winkelrecht zu einem System von Schram- men. Das Kiesvorkommen war also etwas hinter der Reihe der losen Kiesblöcke zu suchen. Da der Boden hier fast gänzlich von Moränenschutt und Torfmooren bedeckt war, schritt man zur Diamant- bohrung. Zwei angesetzte Bohrungen hatten jedoch keinerlei Erfolg, und erst eine dritte, mit den letzten Resten des zur Verfügung stehenden Geldes aus- geführt, überquerte Kies von 8—9 m Mächtigkeit und ungefähr 5 "/„ Kupfer. Damit war die Kieslager- stätte gefunden. Weitere Bohrungen und Spreng- ungen ergaben eine Mächtigkeit des Kieses von 8,5 — 8,8—5,3 und 2,8 m. Innerhalb dieser Mächtig- keit enthält das Erz 4 — 4V0 % Kupfer und man kann durch Abtrennung geringer Mengen armen Erzes ein Hüttenerz mit 5 "/^ Kupfer erhalten. N. F. XVIII. Nr. 24 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 349 Das Erz besteht in runden Zahlen aus 1 5 "/o Kupferkies, 32"/,, Eisenkies, 1470 Magnetkies, 3 "/(, Zinkblende, 34 "!„ Quarz und 2"/(, Hornblende. Die Untersuchung ist noch nicht abgeschlossen, soviel kann jedoch gesagt werden, daß hier ein Kupferwerk entstehen wird und daß die Gruben- kosten per Tonne infolge der bedeutenden Mächtig- keit des Vorkommens im Verein mit der geringen Menge des abzutrennenden armen Materials un- gewöhnlich niedrig ausfallen werden. F. H. Bekanntlich wurden um die Jahrhundertwende auf Spitzbergen Kohlenvorkommnisse entdeckt, die sich in der Folgezeit als von guter Qualität und als weitgehend abbaufähig erwiesen und einen aufblühenden Bergbau auf dem nordischen Eiland zur Folge hatten. Von diesen Kohlenlagern Spitzbergens gibt B. Simmersbach in der „Braunkohle", Jahrg. 17, 1918, eine zusammen- fassende Darstellung. Die am Ostufer der Advents- bai sich erstreckenden Kohlenlager wurden als erste abbauwürdig befunden und seit 1904 syste- matisch aufgeschlossen. Des weiteren wurde im Jahre 1903 von G.A. Fangen an der Recherche- bucht des Beils -Sandes ein Lager guter Kohlen entdeckt. Das Adventsbailager führte in seinem oberen Teil eine grauschwarz gefärbte Kohle, die viel Ähnlichkeit mit Splintkohle zeigte, im liegen- den Teil eine schwarze, glänzende Jurakohle, die dadurch bemerkenswert war, als sie in ihrer Struktur sowohl den Charakter einer echten Braun- kohle wie auch einer echten Steinkohle zeigte. Die Untersuchung der beiden Kohlenarten ergab folgende Zusammensetzung : Kohle Desgl. aus dem aus dem Hangenden Liegenden Feuchtigkeit 3,31 Vo 4,70 % Flüchtige Bestandteile 19,79 28,56 Fixer Kohlenstoß' 62,76 57,17 Schwefel 0,47 0,41 Asche 13,67 9,16 Auch auf der Südseite der Adventsbai wurde abbauwürdige Kohle gefunden, die jedoch tertiären Alters ist. Es ist eine tiefschwarze Glanzkohle, die einer echten Steinkohle nicht nur dem Aus- sehen nach, sondern auch in ihrer chemischen Zusammensetzung nahekommt. Der. Flöz ist 1,25 mächtig, liegt 150 m über dem Meere und ist fast horizontal gelagert. Die Förderung der Gruben an der Adventsbai betrug in der Zeit vom Mai 1916 bis Ende 1917 54621 t, von denen 43 306 t ausgeführt wurden. Die südlich der Adventsbai liegenden Grubenfelder der „Advents- bai Kuhlfell" sollen 400 000 000 t, die bei Green Harbour liegenden der „Svalbards Kulfelt" etwa 200000000 t Kohle bergen, und das Hauptflöz des Braganza-Feldes 600000000, nach anderer Schätzung jedoch nur loooooooo t Kohle ent- halten. F. H. Die Gipfelflur der Alpen behandelt Albrecht Penck in den Sitzungsberichten der Preuß. Akad. d. Wissensch. (1919, XVII). Die sanftwellige Flur nahezu gleicher Höhen in den Alpen bezeichnet A. Penck als „Gipfel- flur". Scharfe Formen kennzeichnen die Alpenerhe- bungen als Gebirgsfirste, als Zacken, Zinnen, Pyra- miden, Türme. Die in der Höhe gesteigerte mechanische Verwitterung, die Steilheit der For- men mindern die in der Firstregion auftretenden Höhenunterschiede , bahnen eine Konstanz der Gipfelhöhen an. Schutt würde alle Gipfel ein- hüllen, wenn nicht Eis und Wasser tätig wären, ihn wegzuschaffen. Die Gletscher untergraben die Sockel der Wände und schaffen immer neue Wandbildungen. So können die ragenden Wände der Firste und Gipfel über den Firnfeldern erhalten bleiben. Der Vorgang hält über den F'irnfeldern sehr lang an. Und wenn man bedenkt, daß zur Eiszeit die Schneegrenze 1200 — 1300 m unter der jetzigen lag, alle Nischen mit Schnee erfüllt waren, erkennt man, daß damals die Gratformen entstan- den. Die Karsohlen sind heute ohne allen Firn. In ihnen sammelt sich der Schutt, den Verwitte- rung auf den höchsten Gipfeln erzeugt. In den minder steilen Teilen des Gebirges treffen wir typische Kare an, die, wenn sie durch Grate voneinander getrennt sind, den Berg zum Karling stempeln. In den höchsten und steilsten Teilen der Alpen (Zentralalpen, im Zillertal, Hohen Tauern, Schweizer Alpen) sind die Kare vielfach verkümmert. Zwischen übersteilen Talhängen treten als zugeschürfte Firste ,, Schneiden" auf, be- sonders in obengenannten Teilen der Alpen. Diese Gipfel- und Firsthöhen im Innern der höchsten Alpenteile und im Sclmeidengebirge schärfen sich zu, wie sich die Täler vertiefen. So ergeben sich keine Anhaltspunkte für eine Vererbung der Formen in den Alpen. „Die Gipfelhöhe der Alpen ist vielmehr eine Folge von der Höhe des Gebirges, der absoluten, sofern für ihre Herausbildung die Wirkungen kleiner Glet- scher in Betracht kommen, und der relativen, so- bald sie auf Schneiden zurückzuführen ist. Neben den scharfen Firsten zeigen sich gerundete Kämme, ausgedehnte Plateaus vorzugsweise in den nördlichen und südlichen Kalkalpen. Die • Annahme des Herrn von St äff, nach dem diese Formen Überreste der Rumpffläche sein sollen, weist Penck zurück mit dem Hinweis, daß nur ein Gebirge seine Umgebung mit Geröll bestreuen kann, wie es rings um die Alpen geschehen ist. Während der ganzen jüngeren Tertiärzeit bestan- den die Alpen als Gebirge und nicht als Rumpf- fläche. Die Eiszeit hat allerdings erst den jetzigen Formenschatz herausgearbeitet. Rundliche Gipfel- formen waren häufiger. Karlinge entstanden erst aus Rundlingen. Die Zuschürfung der Firste im Bereiche der höchsten Erhebungen in den Alpen 350 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 24 war auch während der Eiszeit dieselbe, denn Zu- schürfung, Erniedrigung, Talvertiefung gingen immer Hand in Hand. Das Nebeneinandervorkommen von gerundeten und schneidigen Firstformen wirft die P'rage nach einem genetischen Zusammenhang beider F"ormen auf. Beide Formen können aus ein- und der- selben Stammform hervorgegangen sein (Schiern und Rosengarten). Runde Formen können sich aus Schneiden entwickeln. Es können aber auch Schneiden aus runden Formen entstanden sein. In drei verschiedenen Reihen können sich diese Formen bilden. Die erste Umbildungsreihe besteht zunächst in einer starken, lang anhaltenden Hebung. Rasch schneiden sich Täler ein. Der raschen Hebung folgt ihr Einschneiden nicht. Darum liegen die Flußsohlen über der ursprünglichen Ebene. Riedel- flächen steigen empor, die verschwinden, je mehr sich die Nachbartäler in Schneiden treffen. Die Schneiden werden nicht mehr höher, da sie ent- sprechend der Hebung an Höhe verlieren. Wenn die Erosion der Flüsse so stark ist, daß sie der Hebung erfolgreich entgegenarbeitet, wird durch die Erosion und die einsetzende Hangzerstörung soviel abgetragen, soviel sich hebt. Die obere Erhebungsgrenze ist erreicht. Firste und Gipfel bleiben in gleicher Höhe, solange die Hebung währt. Beim Nachlassen der Hebung schneiden die Täler ein, werden die Schneiden herabgezogen. Die Schneiden werden schließlich zu gerundeten Kämmen. Mit dem Aufhören der Tiefenerosion wird das Land ziemlich eben. In dieser Umbildungsreihe haben wir in einer Grenzgipfelflur das Endergebnis der Erhebung, im Stadium, in dem die Schneiden sich lange Zeit auf gleicher Höhe halten. In der zweiten Umbildungsreihe kommt es ebenfalls zur starken Hebung, die aber schon auf- hört, wenn die Riedelbildung zerstört werden soll. Zur Schneidenbildung kommt es überhaupt nicht. Das Gebirge bleibt ,,mittelwüchsig". In der Um- bildung der Riedel , ihrer Zurundung oder Ver- flachung erschöpft sich das Werden des spätem Formenschatzes. Die dritte Umbildungsreihe hält so lange an, wie die sehr langsame Hebung. Die Flüsse können sich nicht rasch in die Tiefe arbeiten. Weite Täler verflachen das zwischen ihnen gelegene Land. Man hatte, ehe man diese verschiedenen Um- bildungsreihen kannte, schon die durch sie gebil- deten Formengruppen als Hochgebirge (i. Reihe), Mittelgebirge (2. Reihe), Flachland (3. Reihe) unter- schieden. Diese Umbildungsreihen können sich zeitlich und räumlich untereinander verbinden, können aber auch völlig isoliert vorkommen. Rudolf Hundt. Physik. Eine chinesische Urform des Bunsen- brenners. (Mit i Abbildung.) GelegentHch von Nachforschungen über die früheste Verwendung von Erdgas fand E. Czakö (Chem.Ztg., 43. Jhrg. 1919, Heft 23/24) die bisher unbeachtet gebliebene Beschreibung und Abbildung einer alten chinesi- schen Vorrichtung zum Verbrennen von Erdgas, welche wohl als ein frühester Vorläufer des Bunsen- schen Brennerprinzips angesehen werden kann. Die Vorrichtung diente als Brenner für die Be- heizung von Salzpfannen in der Gegend von Kia- ting-fu, wohin das Erdgas in kilometerlangen Lei- tungen aus Bambusrohr aus der Gegend von Tzeliu tsin, Provinz Sz'tschwan, geleitet wurde. Wie die nach der chinesischen Zeichnung an- gefertigte Figur (nach Beschreibung und Abbil- dung in den Berichten von Coldre und des aposto- lischen Missionars Imbert, 1829) zeigt, endet die Öffnung der Bambusröhre, durch die das Erdgas zugeführt wird, unter einem hohlen, konischen Stein. Durch das aus der Bambusröhre strömende Gas wird durch die seitliche Öffnung des Steines ein Teil der Verbrennungsluft mit angesaugt. An der oberen runden Öffnung des „Brenners" wird das Gas angezündet. Ein Hahn ist nicht vor- handen, will man die Flamme auslöschen, so wird die obere (3ffnung mit einer Steinplatte bedeckt und das Gas strömt dann unverbrannt einfach in die Luft. Da die wesentlichen Elemente des Bunsenschen Brennerprinzips, wie Gasdüse, Pri- märluftansaugung und Mischröhre in diesem chi- nesischen Erdgasbrenner enthalten sind, kann er als eine Urform des Bunsenbrenners angesehen werden. F. H. Technik. Metallschmelzen mittels Heißluft. Um Metalle zu schmelzen waren bisher im wesent- lichen zwei Verfahren üblich, dasFlammenschmelzen und das (meist elektrische) flammenlose Verfahren. Bei beiden pflegt die Temperatur sehr hoch zu sein ; die Knallgasflamme erreicht 200o'\ der Licht- bogen sogar 3000". Diese hohe Temperatur ist vielfach recht unerwünscht. Abgesehen von ihrer nicht einfachen Regelung, die besonders kon- struierte Schmelzöfen erforderlich macht, stört insbesondere das Mißverhältnis von angewendeter zur theoretisch notwendigen Hitze. Viele Metalle schmelzen weit unterhalb der angegebenen Tem- peraturen, sie müssen sich also teilweise ver- flüchtigen ; es treten Verluste an Stoff und Wärme ein. Bei der Flammenschmelzung und dann, wenn Sauerstoff mit den überhitzten Schmelzen in Be- N. F. XVm. Nr. 24 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 351 rührung steht, ist außerdem Oxydationsgefahr vor- handen. Dieser letzte Übelstand wird ganz bzw. bis zu einem sehr hohen Grade ausgeschaltet, wenn man die Metalle in einem heißen Luftstrom schmilzt, die sauerstoffhaltige Luft jedoch nur kurze Zeit einwirken und das Geschmolzene rasch abkühlen läßt. Auf dieser Überlegung beruhen zwei von W. Kasperovicz^) im Anschluß an das Schoop- sche Metallspritzverfahren -) ausgearbeitete Ver- fahren der Metallschmelzung. Im ersten Fall wird Metall draht förmig in einen Heißluftstrahl ge- führt, schmilzt dort stetig ab, und die weggeschleu- derte Schmelze wird alsbald in einem konzentrisch zum Heißluftstrom angeordneten Preßluftstrahl ge- kühlt. Die Erwärmung der Luft auf die jeweils nötige Temperatur geschieht durch Kohlen- oder Gasfeuerung oder im elektrischen Ofen. In diesem Fall kann das Luftrohr gleichzeitig Heizkörper sein. Noch einfacher erscheint das zweite Verfahren, bei dem das Metall in Pulverform zur An- wendung kommt. In einem Strahl entsprechend hoch erhitzter Luft tritt sofortige Schmelzung ein. Die Vorteile gegen das ursprüngliche Spritzver- fahren sind vor allem die viel größere Billigkeit des Metall- (besonders Zink)staubes gegenüber der Drahtform und die einfachere Apparatur. Diese besteht lediglich aus einem Behältnis für das Metall- pulver, einer Heizvorrichtung und der Mischdüse. Die Luft kann, wenn nötig, natürlich durch inerte Gase ersetzt werden. Man erhält durch die so geleitete „Heißluftmetallisierung" Metallüberzüge, die den Schoopschen ganz ähnlich sind und als „sehr hart und dicht" bezeichnet werden. Ins- besondere soll die Heißluftverzinkung sich be- währen und auch gute Aussichten auf noch weitere Vervollkommnung gestatten. „Spritzwellen" an den geätzten SchliiTen der Überzüge sind auch hier erkennbar. — Erwähnt sei schließlich ein der „Metallatom" G. m. b. H. - Berlin patentiertes Verfahren der Metallisierung. ^) Bei diesem wird eine größere Anzahl kleinerer Werkstücke in einem P>ehälter bei dauernder Lageveränderung einer Atmosphäre von nach Schoop geschmolzenen Metallstaubes ausgesetzt und so metallisiert. Hans Heller. Chemie. Über die Gasentwicklung bei der Auflösung von geschmolzenem Ätznatron in Wasser berichtet W. H. Schramm in der Chem. Ztg., 43. Jahrg. 191 9, Nr. 17 — 18. Eine Erscheinung, die gewiß in jedem chemischen Laboratorium schon oft beobachtet wurde, ist die charakteristische Gas- entwicklung, die beim Auflösen von geschmolzenem Ätznatron in Wasser stattfindet. Von Unbefangenen wurde sie als das „Entweichen eines stechend riechenden Gases'' geschildert. Die Erreger der damit gekennzeichneten physiologischen Wirkung ') Chemiker-Zeitg. 43, S. 9. 1919- 2) vgl. „Naturw. Wochenschr." N. F. 18, S. 67. 1919. ') D. R. P. 307 37S. sind winzige Tröpfchen oder Bläschen der Alkali- lauge, die von dem entweichenden Gase mitge- rissen werden und sich leicht durch die nicht leuchtende Flamme des Bunsenbrenners nachweisen lassen. Die Versuche des Verf. ergaben zunächst einmal, daß die bei dem in Frage stehenden Vor- gang entweichende Gasmenge trotz des recht auf- fälligen Vorganges recht gering ist. Des weiteren ergab sich, daß die Entwicklung des Gases bewirkt wird durch eine sehr geringe Menge Sauerstoff, der bei der Auflösung durch Zersetzung einer chemischen Verbindung frei wird und mit Luft gemischt entweicht. Die fragliche chemische Ver- bindung ist die Alkaliverbindung einer höheren Oxydationsstufe des Eisens, vermutlich Fe.,0^ • NajO, Natriumperferrit. Auch wenn die Sauerstoffent- wicklung als Eisenkatalyse des Hydroperoxydes, entstanden aus Natriumsuperoxyd und Wasser, angenommen werden sollte, würde die Verbindung als Zwischenstufe der katalytischen Reaktionsfolge mitwirken. F. H. Zoologie. Für die zunehmende nördliche Aus- breitung deutscher Vogelarten gibt M. Brink- mann') von Fall zu Fall verschiedene Ursachen an, unter denen jedoch die sonst am häufigsten erwähnte, die angeblich zunehmende Wärme des Klimas oder wenigstens Nachwirkung des Ab- klingens der Eiszeit, nicht wiederkehrt. So sollen vielfach Kulturverhältnisse, während sie die einen Arten, namentlich Großvögel, vertrieben, anderen kleineren die Wege gebahnt haben; und zwar wanderten nicht nur nach Schwinden der Ödstrecken und Waldhecken auf den jetzt steppenartigen, von Steinstraßen durch- zogenen Ebenen Vögel der Steppen Osteuropas ein wie die Haubenlerche, die erst um 1825 bei Oldenburg erschien und Anfang der vierziger Jahre im Münsterlande noch seltener Wintergast war, ferner die Grauammer, neuerdings der Grauspecht, der Trauerfliegenschnäpper und die Gebirgsbach- stelze, nicht nur begünstigten Steinbauten die Zunahme des Turmseglers und das Vordringen des Hausrotschwanzes von den Mittelmeerländern her, der gleichzeitig mit der Haubenlerche zuzog, sondern das Anpflanzen ausgedehnter Nadelhölzer brachte auch die 1 843 im Münster- lande noch unbekannte Tannenmeise und die gleich ihr 1861 im Fürstentum Lüneburg noch ziemlich selten gewesene Haubenmeise aus dem Osten nach dem Westen und sogar bis an die Tore der Stadt oder, was die Tannenmeise be- trifft, in die Stadtanlagen. Ebenso dringt der Schwarzspecht, ein ausgesprochener Nadelholz- vogel, seit 1900 westlich der Elbe vor, und ihm folgt, die Spechthöhlen als Brutstätten benutzend, die einst häufiger gewesene, dann seltener ge- wordene und neuerdings wieder zunehmende Hohl- ') M. Brinkmann, Zunehmende Vogelarten Nieder- sachsens. Ornithologische Monatsschrift, 44. Jahrg., He(t 4, April 1919, S. 84 — 88. 352 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 24 taube. Hieran hat auch der planmäßige Vogel- schutz durch Forstmänner Anteil, insbesondere das Dulden von alten Überständern und Bäumen mit Höhlen im Walde. Dem Vogelschutz ver- danken auch Turmfalk und Mäusebussard ihre neuerliche Zunahme, die Vogelfreistätten an der Küste führten zur Vermehrung von Silbermöwe, Brandseeschwalbe und Brandgans, und die Fluß- seeschwalbe breitet sich mächtig auf Kosten der Küstenseeschwalbe aus. Der Rückgang der die Lüneburger Heide abknappernden Schafherden führte zur Vermehrung von Birkhühnern und Brachvögeln. Ferner haben infolge des Schwin- dens der größeren Raubvögel Tauben, Häher, Rabenkrähen und viele kleinere Arten zu- genommen. Amsel und Spatz vermögen überall sich den neuen Verhältnissen anzu- passen und nehmen ständig zu. Menschliche Einbürgerungsversuche blieben dagegen nur im Falle des Fasans nicht erfolglos. So dürfte auch das von allen Ornithologen mit Aufmerk- samkeit verfolgte Vordringen des Girlitzes, Serinus canaria serinus (L.), in Deutschland seit Beginn des 19. Jahrhunderts nicht durch die Aussetzung von 40 Paaren bei Braunschweig durch Blasius im Jahre 1883 wesentlich gefördert sein, konnte doch schon 1887 Blasius dort kein Pärchen mehr feststellen; vielmehr handelt es sich offen- bar um eine Verschiebung der Verbreitungsgrenze nach Nordwesten, sicher zum Teil infolge An- legung von größeren Gartengebieten vor den Stadttoren. Die neuzeitliche Zunahme der Wachtel und Nachtigall möchte auch Brinkmann auf Kriegsverhältnisse, und zwar auf die Verminderung des Vogelmords im Süden, zurückführen. „Auf- fallend erscheint es, sagt Brinkmann, daß die eingewanderten Vögel ausschließlich aus Osten oder Süden vordrangen." Bei diesem Satz sind offenbar die im Beobachtungsgebiet in Zunahme begriffenen Küstenvögel nebst Birkhühnern und Brachvögeln nicht mitgemeint , während er für die meisten Arten, insbesondere die wirklich neu erschienenen, zutreffen dürfte. V. Franz. Bücherbesprechungen. Miehe, Prof Dr. H., Allgemeine Biologie, Einführung in die Hauptprobleme der organi- schen Natur der „Erscheinungen des Lebens". Aus Natur und Geisteswelt. Bd. 130. Mit 52 Abb., 1915, 1,50 M. In dem kleinen Werkchen ist eine ganze Fülle Stoff verarbeitet. Mit einer theoretischen Aus- einandersetzung über die Bewertung des Lebens- vorganges beginnt es und führt dann durch den Bau der lebenden Substanz, die Zelle, die Gewebe, dann durch die Lebensvorgänge zu den Lebens- bedingungen, durch die Fortpflanzung zur Ent- wicklung der Organismenwelt bis zum Anfang und Ende des Lebens. Ein Kapitel über die Be- ziehungen der Lebewesen untereinander ist noch angehängt. Die Darstellung ist klar und sachlich. Überall werden dem Leser die Grenzen gezeigt, die der menschlichen Forschung gesteckt sind, auch bemüht sich der Verfasser die aus dem eigent- lichen Thema heraus führenden Wege kurz zu be- leuchten, so daß die Geschlossenheit des ganzen gewahrt bleibt. So z. B. wird mancher ihm für die kurze Darstellung der Entropie, sowie des Schicksals der Erde überhaupt dankbar sein. Dem Zoologen aber wird es gut tun, eine Biologie zu lesen, in der der botanische Standpunkt vor- herrscht und der Chemie eine größere Rolle zu- gedacht ist. K. Guenther. IiiIihK: Häberle, Die Zerstörung der Steilwände im Buntsandsteingebiet des Pfälzerwaldes. (3 Abb.) (Schluß.) S. 337. S. Killermann, Zur Geschichte der Johannis- und Stachelbeere. (2 Abb.) S. 344. — Kinzelbericbte: E. Bächler, Eine neue paläontologische Fundstelle. S. 347. J. H. L.Vogt, Wie Outokumpu, Finnlands neue Kupfererzlagerstätte, entdeckt wurde. S. 348. B. Simmersbach, Kohlenlager Spitzbergens. S. 349. Albrecht Penck, Die Gipfeltlur der Alpen. S. 349. E.Czako, Chinesische Urform des Bunsenbrenners. (l Abb.) S. 350. W. Kasperovicz, Metall- schmelzen mittels Heißluft. S. 350. W. H. .Schramm, Über die Gasentwicklung hei der Auflösung von geschmolze- nem Ätznatron in Wasser. S. 351. M. Brinkmann, Zunehmende nördliche Ausbreitung deutscher Vogelarten. S. 351. — Bücherbesprechungen: H. Miehe, Allgemeine Biologie. S. 352. G. Kümmel, Photochemie. S. 352. Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstrafie 42, erbeten. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck der G, Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. St Kümmell, G., Photo chemie. Aus Natur und Geisteswelt, Bd. 227. 2. verbesserte und ver- mehrte Auflage. 107 Seiten mit 23 Abbildungen im Text und auf i Tafel. Leipzig und Berlin 191 8, Verlag von B. G. Teubner. Preis geh. 1,20 M., geb. 1,50 M. In der vorliegenden kleinen Schrift gibt der als außerordentlicher Professor an der Universität Rostock wirkende Verf eine elementare Darstel- lung der wichtigsten Tatsachen und Theorien der Photochemie. Die Art, wie das Thema behandelt ist, ist recht sympathisch, auch sind die Angaben im wesentlichen einwandfrei. Die Arbeiten von Willstätter über das Chlorophyll hätten viel- leicht erwähnt werden können, während die neueren Anschauungen von N ernst über den Mechanis- mus der Chlorknallgasreaktion wohl erst nach Abschluß des Manuskriptes zur neuen Auflage des Büchleins bekannt geworden sind. In allen Kreisen, die sich für die eigenartigen photochemischen Vorgänge interessieren, vor allem also auch unter denen, die ihre bei der praktischen Ausübung der Photographie erworbenen Kenntnisse wissen- schaftlich etwas vertiefen wollen, wird die kleine Schrift dankbare Leser finden. Berlin-Lichterfelde-W 3. Werner Mecklenburg. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue Folge 18. Bana , der ganzen Reihe ^4. Band. Sonntag, den 22. Juni 1919. Nummer 'iö. Die Chemotherapie der Malaria. [Nachdruck verboten.] Das Alkaloid Chinin gehört in seiner Anwen- dung bei der Malaria zu den wenigen iVIedika- menten, mit denen man eine ätiologische, d. h. die Ursache einer Krankheit, beseitigende oder doch bekämpfende Therapie ausüben kann. Die Malaria kommt bekanntlich dadurch zustande, daß Plas- modien (Plasmodium vivax bei der sogenannten Tertiana, PI. malariae bei der Quartana, PI. imma- culatum bei der Tropika) durch den Stich ver- schiedener Anophelesarten, in denen sie einen Teil ihrer geschlechtlichen Entwicklung mit nach- folgender Sporogonie durchgemacht haben, als Sporozoiten auf den Menschen übertragen werden. Die Sporozoiten dringen in rote Blutkörperchen ein und machen in ihnen eine je nach der Art des Plasmodiums 48- bis 72 stündliche Wachstums- entwicklung durch, nach deren Beendigung sie in eine Anzahl von durch vielfache Teilung ent- stehende Merozoiten zerfallen. Diese Merozoiten gelangen nach Auflösung des von dem Parasiten zerstörten roten Blutkörperchens in die Blutflüssig- keit und dringen nach kurzer Zeit jeder in ein neues rotes Blutkörperchen ein, worauf sich der Zyklus wiederholt. Daß sich die Plasmodien- infektion als Krankheit äußert, beruht einmal auf der durch Zerstörung bedingten Herabsetzung der Anzahl der wichtigen roten Blutkörperchen, dann aber auch auf Vergiftung des Wirtes durch Stoff- wechselprodukte. Dem F"reiwerden der Merozoiten und dem Befall neuer Blutkörperchen entspricht der Fieberanfall. Nachdem diese Grundtatsachen über das Wesen der Malaria durch die Entdeckungen von Laveran (l88o), Grassi u. a. festgestellt waren, ließ sich die in der großen Mehrzahl der Fälle prompte und befriedigende Heilwirkung des Chinins zwanglos dahin erklären, daß die Plasmodien durch das, sei es durch Resorption vom Magendarm- kanal her oder durch intravenöse oder intramusku- läre Einspritzung ins Blut gelangte Alkaloid ab- getötet werden. Es lagen nämlich damals bereits Untersuchungen vor, die eine hohe Empfindlich- keit von Protozoen gegenüber dem Chinin dar- taten. So halte Binz (1867) festgestellt, daß Paramäcien nach 5 Minuten in Lösungen von I : 20000 gelähmt und nach 2 Stunden bewegungs- los wurden, und hieraus lange vor der Auffindung der Malariaplasmodien mit kühnem Analogieschluß gefolgert, daß der Erreger der Malaria wahrschein- lich zu den Protozoen gehöre. In der Folge be- obachtete Bokorny (1896), daß Protozoen in O.Ol "/o Chinin ihre Bewegungen fast augenblick- lich einstellen, und Grethe konstatierte den töd- lichen Einfluß verschiedener Chinolin-, Chinaldin- Von E. Boecker. und Cinchoninderivate auf Paramäcien in Lösungen von 1:5000 bis 1:25000. Gimsa und Pro- wazek (1908) untersuchten die Wirkung von salzsaurem Chinin in Lösungen von i : loco bis I : loooo auf das Infusor Colpidium colpoda Ehrbg.: „Das Protoplasma erleidet in höheren Konzentra- tionen des Alkaloids eine tropfige Entmischung, der Kern eine globulitische Ausfällung, die Va- kuolenpulsation wird herabgesetzt, ebenso die Ver- mehrung, der Sauerstoffverbrauch wird behindert, und es sammeln sich an bestimmten Stellen im Plasma lipoidartige Stoffe, die meist beständig ab- gebaut werden, an. Die Bewegung wird unter dem Einfluß des Reizes anfangs beschleunigt, später verlangsamt." Diesen exakten Untersuchungen analoge direkte Beobachtungen über die Ein- wirkung des Chinins auf die Malariaplasmodien liegen bisher nicht vor, wohl aber läßt sich durch fortlaufende mikroskopische Blutuntersuchungen feststellen, daß die Parasiten bei geeigneter Chinin- behandlung in den weitaus meisten Fällen aus dem Blute verschwinden. In einer „Die Therapie der Malaria durch China- alkaloide und ihre theoretischen Grundlagen" be- handelnden Arbeit (Deutsche Medizinische Wochen- schrift 1918) wendet sich nun Morgen rot h, dem wir bereits eine Reihe theoretisch und praktisch gleich wichtiger Entdeckungen auf dem Gebiete der experimentellen Pharmakologie der China- alkaloide verdanken, gegen die bisher übliche Auf- fassung, daß die Malariawirkung des Chinins auf seiner allgemeinen Protozoenplasmagiftigkeit be- ruhe. Wenn die Malariaplasmodien von dem ins Blut aufgenommenen Chinin in gleicher Weise wie die Infusorien im Reagenzglas abgetötet werden sollen, so wäre zu erwarten, daß sich im Blute von Menschen oder Versuchstieren, denen ge- nügende Mengen des Alkaloids beigebracht wurden, kurz nach der Beibringung Konzentrationen von mindestens annähernd der Größenordnung wie sie zur Abtötung von Infusorien usw. erforderlich sind, nachweisen ließen. Das ist aber nicht der Fall. Hartmann und Ziela fanden, daß nach intra- venöser Einspritzung schon nach 5 Minuten 60 bis 90% des eingespritzten Chinins aus dem Blute verschwunden waren, die Konzentration weniger als I : 20000 betrug. Bei Gaben vom Mund her lag sie gar unterhalb i : 150 000. Giemsa und Schaumann fanden bei Hunden, denen sie sehr große Mengen Chinin gegeben hatten, bei vier Versuchen nur einmal das Alkaloid im Blute wieder; die Konzentration betrug etwa I : 2000000. Bemerkenswerterweise scheint sich 354 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 25 das Äthylhydrokuprein oder Optochin, ein dem Chinin chemisch nahestehender Abl<ömmling, der nach Morgenroths bedeutsamer Entdeckung in äußerst geringen Konzentrationen eine spezi- fische abtötende Wirkung auf Pneumokokken aus- übt, hinsichtlich des schnellen Verschwindens aus dem Blute ähnlich wie das Chinin zu verhalten. Ref. spritzte Kaninchen und Meerschweinchen so viel Optochin ein, daß eine Konzentration von I : 6300 bzw. I : 8000 im Blute entstehen mußte. Wurden die so vorbehandelten Kaninchen nach 10, 45, 60 und 120 Minuten entblutet, so war in keinem Fall auch nur mehr ^40 ^^^ eingespritzten Menge vorhanden. Bei Meerschweinchen betrug die Konzentration in einem Fall 2 Stunden nach der Einspritzung nicht weit unter i : 320000, in einem anderen nach 30 Minuten weniger als 1:60000. Aus der Gesamtheit der vorliegenden Untersuchungsergebnisse ergibt sich die wichtige Tatsache, ,,daß im Blute resp. Blutserum ausge- nommen einige Minuten nach intravenöser Injek- tion niemals hohe Konzentrationen des Chinins cder des sich analog verhaltenden Optochins er- reicht werden". (M.) Die erzielten Konzentrationen sind „weit unter den Werten, welche die Proto- plasmagiftwirkung auf freilebende Protozoen aus- üben. Im Blut kann es sich nur um eine spezi- fische Wirkung handeln, analog der Wirkung, welche das Optochin in der Blutbahn unserer Versuchstiere auf die Pneumokokken ausübt". Das Optochin tötet nämlich in geeignete Kultur- flüssigkeii eingesäfte Pneumokokken noch in becräfhilichen Verdünnungen etwa binnen 24 Stunden ab. Da schon zur Abtötung der den Pneumokokken nahestehendt-n Streptokokken eine 100 fach stärkere Konzentration erforderlich ist, und zu deijenigen anderer Mikroorganismen noch höhere, ist mit der Pneumokokkenwirkung dieses Alkaloids die Vorstellung einer allgemeinen, sich gegen alle möglichen Bazillen und Kokken gleich betätigenden Protoplasmagiftwirkung, wie sie etwa den Desinfektionsmitteln, z. B. dem Sublimat, zu- kommt, gänzlich unvereinbar. Die Pneumokokken werden vom Optochin infolge bestimmter Be- ziehungen zwischen diesem und dem Pneumo- kokkenplasma in außerordentlicher Weise, eektiv, beeinflußt. Es sei hier daran erinnert, daß auch das Salvarsan manche Mikroorganismen, z. B. Milz- brandbazillen in gewaltigen Verdünnungen abzu- töten vermag, während andere ungleich höhere Konzentrationen gut vertragen. — Man weiß seit langem, daß Protozoen durch Chininlösungen durch- aus nicht alle in gleichem Maße und in gleicher Weise beeinflußt werden. Schon Bin z fand, daß manche niedere Organismen im Gegensatz zu den empfindlichen Paramäcien in einer Chininlösung I : 500 lebten, als ob sie das Wasser wäre, in dem sie entstanden waren. Nach Giemsa und Pro- wazek ist Glaucoma scintillans viel empfindlicher als Colpidium, Bodo resistenter. Vom chemothera- peutischen Standpunkt ist die Möglichkeit, daß es Protozoen von besonders hoher Chininempfindlich- keit gibt, nicht von der Hand zu weisen. Und so wäre die Möglichkeit, daß die Abtötung der Malariaplasmodien, speziell der frei in der Blut- flüssigkeit befindlichen Merozoiten und Sporozoiten vermöge einer elektiven Beeinflussung der Para- siten durch die geringen Spuren des Chinins, wie sie nach der Beibringung des Medikamentes im- merhin im Blut vorliegen, zustande käme, durch- aus denkbar. Das Elektive der Beeinflussung könnte sich möglicherweise weniger auf den Grad der höchsten Verdünnung, bei der noch eine Ab- tötung möglich ist, als auf die Schnelligkeit der erfolgreichen Einwirkung beziehen (Ref.). Nach Lage der Dinge wäre die Annahme einer im Sinne der Chemotherapie elektiven Abtötung der Plasmodien für die Erklärung der Heilwirkung des Chinins wohl kaum zu umgehen, wenn es sich bei den Malariaerregern lediglich um frei in der Blutflüssigkeil lebende Parasiten handelte. So läßt jedoch der Umstand, daß die Plasmodien den größten Teil ihrer Entwicklung innerhalb der roten Blutkörperchen durchmachen, noch andere Er- klärungsmöglichkeiten für jene Heilwirkung zu, die Morgenroth in Verbindung mit Ergebnissen seiner experimentellen Untersuchungen zu einer geistreichen Arbeilshypothese verarbeitet hat. Wie M. schon vor einigen Jahren dargetan hat, sind die roten Blutkörperchen befähigt, Optochin und Chinin zu speichern und unter Umständen wieder an andere zellige Körperelemente abzugeben. Der Gang der betreffenden Versuche war kurz folgen- der: Wenn man das Auge eines Kaninchens I Minute lang mit einer i proz. Lösung von Optochin. muriaticum bespült, so stellt sich ähn- lich wie bei der Kokainisierung nach kurzer Zeit vollkommene Unempfindlichkeit der Hornhaut ein. Setzt man nun zu einer 0,2 proz Lösung des Alkaloids gewaschene rote Blutkörperchen von der Ziege in bestimmter Menge zu und zen- trifugiert diese Aufschwemmung, so ist mit der oben stehenden klaren Flüssigkeit keine deutliche Anästhesierung zu erzielen, während Beträufelung des Kaninchenauges mit dem auf dem Boden des Zentrifugengläschens befindlichen Brei von roten Blutkörperchen schon nach 2 Minuten völlige Un- empfindlichkeit bewirkt. Die roten Blutkörperchen haben das Optochin aus der umgebenden Flüssig- keit aufgenommen und an das Epithel der Horn- haut abgegeben. Den letzteren Vorgang bezeichnet M. als Transgression. ,,Der Versuch verläuft unter Berücksichtigung der geringeren anästhesierenden Wirkung des Chinins ganz analog, wenn man an Stelle des Optochin. hydrochloricum das Chinin, hydrochloricum verwendet", oder an Stelle des Ziegenblutes Blut vom Menschen. In einem vom Ref. mitgeteilten Versuch hatten die roten Blut- körperchen eines Kaninchens, dem Optochin ein- gespritzt worden war, einen Teil des Alkaloids gespeichert und gaben es nachträglich im Reagenz- glas an eingesäeie Pneumokokken ab. Es kann also kein Zweifel mehr bestehen, daß die roten Blutkörperchen imstande sind, Chinin und Optochin N. F. XVni. Nr. 25 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 355 in erheblichem Maße zu speichern und auf dem Wege der Transgression an andere Zellen wieder abzugeben. Neuerdings mitgeteilte Versuche M.s lassen auch erkennen, welche Grade die Speiche- rupg erreichen kann: „die Konzentration in den Blutkörperchen beträgt also 1 : 5000 gegen i : 20000 in der Außenfiü.ssigkeit." Bei bestimmter Verab- folgung des Chinins „können also die Blutkörper- chen für sehr kurze Zeit hohe Alkaloidkonzentra- tionen enthalten, etwa i : 5000 bis i : lOOOO". Aus den soeben geschilderten Untersuchungs- ergebnissen ergaben sich für die Erklärung der iVIalariawirkung des Chinins einige interessante neue Gesichtspunkte. Einmal besteht zweifellos „die IVIöglichkeit, daß die freien in der Blutflüssig- keit in beständiger unmittelbarer Nähe der roten Blutkörperchen befindlichen Parasitenformen reich- lichere Mengen des schädlichen Alkaloids auf- nehmen können, als dem Gehalt der Blutflüssig- keit entspricht", und zwar auf dem Wege der Transgression. Ferner wäre es wohl denkbar, daß der infolge der Speicherung höhere Alkaloidgehalt der Blutkörperchen zu einer endoglobulären Ab- tötung der in ihnen befindlichen Schizonten führen könnte, selbst wenn auch im Blute im ganzen nur geringe Spuren des Alkaloids vorhanden sind. Es sei aber mit M. betont, daß auch diese Mög- lichkeit, die durch die Tatsache der Speicherung freilich sehr nahe liegt, vorläufig keineswegs er- wiesen ist. — Die alte klinische Erfahrung, daß die Verabfolgung des Chinins zur Zeit des Fieber- anfalles, wenn also die durch Zerfall der Schizonten entstandenen Merozoiten im Blute kreisen und neue Blutkörperchen befallen, von weit besserem Erfolg ist als in der Zwischenzeit, wurde bisher allgemein dahin gedeutet, daß die Merozoiten be- sonders chininempfindlich seien, wie andererseits die Geschlechtsformen sicher eine gewisse Chinin- resi>tenz zeigen. Sie läßt aber, nachdem die Tat- sache der Alkaloidspeicherung feststeht, noch eine andere, ebenfalls von M. konzipierte Erklärung zu, indem sich „die Vorstellung, daß die mit Alkaloid beladenen Blutkörperchen eine chemotaktische Repulsion (Pfeffer) auf die Merozoiten und ebenso auf die Sporozoiten der Malariapbsmodien aus- üben, von selbst aufdrängt". Nach Untersuchungen von Schaudinn und Biedl heften sich die kleinen freien Formen an die roten Blutkörperchen und dringen unter amöboider Bewegung in sie ein. ,,Der Zeitrauin, innerhalb dessen die Teilungs- form zerfällt, und die Merozoiten in rote Blut- körperchen eindringen bzw. eventuell spurlos auf- gelöst werden, ist sehr kurz. Man kann bereits innerhalb weniger Minuten den ganzen Vorgang ablaufen sehen." Wenn wirklich der Merozoit vor die Alternative gestellt ist, entweder in allerkürzester Zeit in einem Blutkörperchen Schutz und Nahrung zu suchen oder in der freien Blutflüssigkeit zu- grunde zu gehen, so würde allerdings eine chemo- taktische Repulsion seitens der chininbeladenen Blutkörperchen von größter Bedeutung sein, und die Unmöglichkeit für die Merozoiten nach Beginn der Chininverabfolgung in rote Blutkörperchen ein- zudringen, den Zyklus der ungeschlechtlichen Fort- pflanzung der Plasmodien im Blute mit einem Schlage beenden. So würde die RepuMonshypo- these für das Verständnis der therapeutischen Wirkung des Chinins schon allein genügen. Für die Gameten, die allerdings auch vom Chinin kaum beeinflußt werden, kommt sie naturgemäß unmittelbar nicht in Betracht; wohl kann aber auch hier die medikamentöse Verhinderung von Rezidiven mit Hilfe jener Hypothese erklärt wer- den, indem nämlich die von den Gameten durch Parthenogenese gebildeten Merozoiten an dem Ein- dringen in die roten Blutkörperchen verhindert würden. Das Chinin gehört seiner Wirkung nach zu den sogenannten chemotherapeutischen Mitteln, Substanzen, die geringe Giftigkeit für den mensch- lichen oder tierischen Organismus mit starker ab- tötender oder entwicklungshemmender Einwirkung auf pathogene Mikroorganismen verbinden. Mit solchen Substanzen läßt sich eine Heilwirkung meistens nur dann erzielen, wenn sie wenig Nei- gung haben, mit den Gewebselementen oder Säften des Wirtsorganismus physikalische oder chemische Bedingungen einzugehen. Aus diesem Grunde ist z. B. das relativ ungiftige Kollargol, das im Reaganzglas gut desinfiziert, im Versuchs- tier völlig unwirk-am. Nach Kohn ist von ihm schon 45 Minuten nach intravenöser Einspritzung bei Kaninchen nicht die geringste Spur mehr im Blute nachzuweisen, während sich schon nach 3 Minuten in fast sämtlichen Geweben Silber nieder- geschlagen hatte. Das Beispiel des Chinins zeigt aber, daß Organotropie und Parasitozidie sich nicht immer auszuschließen brauchen, ja daß in gewissen Fällen eine starke Organotropie be- stimmter Art — hier rasche Bindung des Alka- loids an rote Blutkörperchen — geradezu erstre- benswert ist. Wenn eine chemotherapeutische Substanz im Organismus schnell wieder aus dem Blute ver- schwindet, so kann das sowohl durch Organotropie im eigentlichen Sinne das Begriffes als auch durch schleunige Ausscheidung durch die Nieren usw. bedingt sein. Ceteris paribus wird eine chemo- therapeutische Substanz im allgemeinen um so wirksamer sein, je langsamer sie nach irgendeiner Art der Einverleibung wieder aus dem Kreislauf verschwindet; es sei denn, daß sich ihre Wirkung auf eine ganz bestimmte biologische Beziehung zwischen Parasit und Wirt erstreckt, wie es nach dem oben Gesagten möglicherweise beim Chinin und der Malaria der Fall ist. Von dem Prototyp eines chemotherapeutischen Mittels, dem Salvarsan, ließen sich in vom Ref. ausgeführten (approxima- tiv) quantitativen Untersuchungen noch längere Zeit nach der intravenösen Injektion beträchtliche Mengen im Blutserum nachweisen. So fanden sich z. B. beim Kaninchen nach i — 2 Stunden im Durchschnitt '/s' nach 24 Stunden bei 3 Kanin- chen \'g — '/i5> ^^' einem vierten kein Rest der 356 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 25 eingespritzten Menge als noch im Blute kreisend, varsan behandelt worden war, wurde 48 Stunden Bei einem Menschen, der wegen Syphilis mit Sal- später noch etwa '/^j nachgewiesen. [Nachdruck verboten.] Zur Kenntnis der Walfische in früherer Zeit. Von Prof. Dr. S. Killermann, Regensburg. Mit 2 Abbildungen. In zoologischen Vorlesungen wird bei der Be- sprechung des Walfisches gerne auf die bekannte Geschichte des Propheten Jonas hingewiesen und in witziger Weise bemerkt, daß dieser Mann bei der Enge eines Walschlundes kaum in den Magen halte gelangen können. Man darf nun nicht glauben, daß die Alten gar keine Kenntnis von dem anatomischen B3U eines Walfisches gehabt und gerade an dieses Tier bei jenem Ereignis gedacht hätten. Sie stellten sich wohl eher unter dem von der Bibel genannten Meerungeheuer einen Haifisch vor, zumal derselbe im Mittelmeer keine Seltenheit ist. Die Kenntnis dieses Fisches geht, wie O. Keller'') zeigt, weit zurück ins Altertum ; auf einem nordafrikanischen Mosaik aus Hippo Diarryius bei Karthago erscheint ein Hai- fisch (allerdings sehr verzeichnet), wie er einen Menschen verschlingt, von dem nur noch die zappelnden nackten Beine zu sehen sind. Auf mittelalterlichen Bildwerken sieht man hin und wieder eine Darstellung des Jonaswunders. Der Fisch, der dazu gezeichnet ist, zeigt aber weder Haifisch- noch Walnatur; am ehesten läßt sich, da das große Maul beiderseits mit Zähnen besetzt ist, vermuten, daß der Maler einmal einen Zahnwal gesehen hat. ^) Was nun die Wale betrifft, so ist abgesehen von den älteren klassischen Autoren (Plinius usw.) von ihnen zum erstenmal, wie es scheint in dem altnorwegischen Werke ..Konungs skuggsja", d. h. speculum regale oder Königsspiegel die Rede. ^) Das Buch wird im 12. oder 13. Jahrhundert ent- standen sein; es schildert uns das wirtschaftliche Leben und Treiben der Nordländer und dabei auch die Waljagd, die offenbar seit uralter Zeit geübt wurde. Gegen 21 Arten dieser Tiere werden aufgezählt und darunter besonders deutlich der Grönlandwal unter dem heute noch bestehenden Namen Nordhval (Nordwal) geschildert. Albertus Magnus (lib. XXIV. Nr. 28 de Cetu) *) reiht die Wale zwar bei den Fischen ') Die antike Tierwelt II. Bd. Fig. 117 b bei S. 323 und S. 379 ff-, sowie S. 606 Anm. 343. *) So in dem Niederländ. Gebetbuch im Münchener Nationalmus. Nr. 3505 fol. 131 (Osterbild); es stammt aus der Zeit um 1500. Die älteste Darstellung dieser Art findet sich in einem Prophetenbild der Papyrus-Sammlung W. Goleniscew (vgl. A. Bauer und J. Strzygowski in der Denkschr. der K. Akad. Wien Phil.-hist. Kl. LI. S. 119—224. ') G. Guldberg, Die Waltiere des Königsspiegels. Zool. Annalen Bd. I (Würzburg 1905) S. 29 — 40. *) Alberti Magni, Opera omnia ed. A. Borgnet (Paris 1896) Vol. XII S. 515. Die neue Ausgabe des Tier- buches des Alb., welche H, Stadler besorgt, ist noch nicht so weit erschienen. (Natatilia) ein, bemerkt aber ausdrücklich, daß sie nicht durch Kiemen, sondern durch eine Luftröhre (canna fistularis) atmen. In einem früheren Buche (lib. VII, I, 2)')_ stellt er diese Sache klar und bemerkt, daß solche luftatmende Wassertiere im Netz unter Wasser gehalten ersticken, in der Luft außerhalb des Wassers dagegen oft noch lange leben. Er unterscheidet mehrere Arten von Walen, wovon aber nur die Gattung der Zahnwale deut- lich herausgehoben wird (auch lib. I, I, 6) -), und schildert die Größe, die Fortpflanzung und Jagd dieser Meerungeheuer, namentlich die letztere sehr interessant und offenbar auf Grund von Berichten von Augenzeugen. Zu meiner Zeit, schreibt er,^) sind mehrere (Wale) gefangen worden: einer in Friesland bei dem Orte Stauria, aus dessen Kopf, als man ihn durch das Auge mit einem Spieß anbohrte, 1 1 Flaschen Tran (sagimen) herausflossen , jede kaum von einem Mann zu tragen; ich habe selbst diesen Tran und diese Flaschen gesehen; er ist sehr durchsichtig und rein, nachdem er sich abgeklärt hat. Ein anderer Wal wurde in Holland bei Utrecht erbeutet; sein Kopf ergab 40 Flaschen Tran. Die Speckschwarte von diesem Fisch wird grampois genannt. Es ist anzunehmen, daß im Laufe des Mittel- alters wohl noch mehr solche Walfischstrandungen an der Küste der Nordsee stattfanden. Die Ur- kundenbücher nordischer Städte könnten vielleicht darüber Aufschluß geben. Bei dem zweiten bedeutenden Naturforscher Deutschlands im Mittelalter, dem Regensburger Domherrn Konrad von Megenberg*) (1330) wird der Walfisch (Pottwal) ebenfalls ziemlich gut beschrieben, allerdings nicht ohne einiges ,, Fischerlatein". Besonders interessiert uns die Bemerkung, die uns bei Albertus noch nicht be- gegnet, daß das Tier „trotzdem es das größte unter den Fischen ist, doch nur einen engen ') H. Stadler, Albertus Magnus de animalibus libri XXVI nach der Cölner Urschrift. i. Bd. (Münster igTö) S. 500. ^) Ebenda S. 29. ') Et tempore meo plures capti sunt: unus quidem in Frisia circa locum qui Stauria vocatur, cujus cum Caput per oculum cuspide punctum esset , undecim lagenas sagiroinis emisit, quarum quaelibet vix portabatur ab homine uno : et hoc sagimen et lagenas ego vidi: et est sagimen valde luci- dum et purum, postquam defaecatum est. Alter captus fuit ultra Trajectum versus Hollandiam , cujus Caput quadraginta reddidit sagiminis lagenas. Huius piscis lardum est quod grampois vocatur (Pariser Ausgabe Xll. Bd. S. 516). *) Das Buch der Natur von Konrad von Megenberg. Hrsg. von H. Schulz (Greifswald 1S57) S. 207 u. f. N. F. XVIII. Nr. 25 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 3S7 Schlund hat und deshalb nur kleine Fische ver- schlingen kann". Petrus Candidus.i) ^^^ sein Buch (Codex Vatic. Urb. lat. 276) um 1460 verfaßte, hält sich bei der Schilderung der Beluae magnae in der Hauptsache an Plinius, ohne neue Beobachtungen zu bringen. Nur ein hübsch gemaltes, allerdings phantastisch gehaltenes Bild einer Gruppe schwim- mender Zahnwale ziert das Kapitel (fol. l26v). Das Bild stammt jedoch aus späterer Zeit, da C. Gesner (um 1550) eine ähnliche Darstellung bringt (vgl. Abb. i). Abb. I. Beluae magnae maris. Zahnwale bei Petrus Candidus. Fol. 126; geschrieben 1460. Das Bild stammt aus dem 16. Jahrhundert. (Nach phot. Aufnahme des Verf., verkleinert.) Wenn wir auf die neuere Zeit eingehen, so ist vor allem in der Geschichte unseres großen Meisters A. Dürer von einem Walfisch die Rede. Im Dezember 1520, als sich Dürer in den Nieder- landen aufhielt, wurde bei Zieriksee in Zeeland an der Scheidemündung ein riesiger Wal von der Sturmflut an das Land geworfen. Dürer reiste eigens wegen dieses Vorkommnisses an den ge- nannten Ort, konnte aber das Tier nicht mehr sehen, da es von der Flut wieder weggetragen worden war. In seinem niederländischen Tage- buch findet sich über die Sache folgender Ver- merk:^) „Item es ist ein Wallfisch zu Zürche in Seland mit einer großen Fortuna (d. h. Sturmflut) und Sturmwind an Land kummen, der ist viel mehr dann lOO Klafter lang. Und lebt Niemand in Seland, der ein gesehen hat, der ein Driltheil von der Läng hätt gehabt, und der F"isch kann nit von Land. Das Volk sähe gern, daß er weg wäre, dann sie forchten den großen Gestank. Dann er ist so gar groß, daß sie meinen, man könne ihn (in) ein halben Jahre nit aufhauen und Öl von ihm sieden." Der Künstler hätte gewiß, wenn er das Tier gesehen, eine Skizze davon gefertigt. Es existiert ein Walfischbild aus der Zeit um 1520. Auf dem Gemälde „der hl. Christophorus" ') Das Tierbuch des Petrus Candidus, geschrieben 1460, gemalt im 16. Jahrh. Zum erstenmal behandelt von S. Killermann; Zoolog. Annalen Bd. VI (1914) S. 113 u. besonders S. 157. ^) Vgl. K. Lange und F. Fuhse, Dürers schriftlicher Nachlaß (Halle 1893) S. 140. Ferner S. Killermann, A. Dürers Pflanzen- und Tierzeichnungen (Straßburg 1910) S. 90. von J. W. de Cock (München, Sammlung Bissing)^) sieht man im Hintergrund einen riesigen Fisch am Strand, an dem Männer mit Leitern sich ge- schäftig machen. Die Gesn ersehen Tierbücher, die von der Mitte des 16. Jahrh. an erscheinen, haben natürlich auch ein Kapitel vom Walfisch. Es wird die Ge- schichte von Jonas und der Bericht des Albertus wiederholt und dann auf die phantastische Dar- stellung des Olaus Magnus eingegangen, für die wir hier kein Interesse haben. In dem Gesn ersehen Uschbuch (hrsg. von C. Forer Frankfurt 1598)-) findet sich bei S. 97 bis 98 ein großer Kupferstich eingeklebt mit der Unterschrift: Michael Frömmer fecit. Er stellt einen großen Walfisch dar, der am 14. Februar 1619 an der Rhonemündung gefangen wurde. Soweit die etwas verunglückte Zeichnung erkennen läßt, scheint es sich um einen Zahnwal zu handeln. In der Beschreibung heißt es: „Dieser ungeheure und schreckliche Walfisch ward erstlich auf dem mittelländischen Meer zu Sardinien und Afrika er- sehen, welchem Croßmann der Bascha von Algirs mit ... 2 Galleen nachgeeilt, gegen Arles zu Landt geylet, endlich bei der Vestung Campan mit großer Arbeit getötet. Seine Länge 108 große Werkschuh, seine Breite 2 2 Schuh, seine Höhe 27 Schuh, der Schwanz 14 Schuh Länge, seine Zunge 3 Zentner, die Leber 3 Zentner, jeder Augapfel 30 Pfd., membrum virile 3 Zentner usw. In seinem Bauche hat man 5 Delfine gefunden, ferner eine große Schildkröte; ergab 50 000 Pfd. Öl." Zuschrift: „2b. Juni 1624 am Heilbrunnershof zu Nürnberg gesehen den Körper, ist erschröck- lich zu sehen, mit '/i von seinem Ohr, von seinen Hörnern zu oberst wie Federn zerteilt bei ','4 Zentner schwer. Sebald Welser." Dieser oder ein anderer Walfisch wurde also, wie es scheint, präpariert, im Land gezeigt und auch mit verschiedenen unnatürlichen Zutaten aus- gestattet. Sehr schöne ebenso naturgetreue wie künstle- rische Abbildungen von gestrandeten Walen be- sitzen wir aus der Hand verschiedener holländi- scher Künstler. Cock wurde schon genannt. In den Jahren 1566, 94, 98, 1601, 14 und 17 strandeten wiederum die riesigen Geschöpfe des Meeres an der holländischen Küste und wurden meist von Künstlern verewigt: so der von 1594 durch Goltzius, der von 159« durch T. Matham, 1601 durch Saenredam, 1614 durch Esaias V. den Velde, 161 7 durch Willem Buyte- weck. Wir sehen z. B. auf dem Kupferstich des Saenredam (1565— 1607) vom Jahre 1601 einen riesigen Pottwal, mit der Bauchseite dem Beschauer zugewendet. Hilflos liegt der Riese, dessen Größe durch die beigegebene Stafifage recht deutlich wird. >) Vgl. Zeitschrift für bildende Kunst (Leipzig, Seemann) XXIX. Ed., 1918, S. 97—69 mit (kleinem) Bilde. -) Exemplar der Regensburger Kreisbibliothek. 358 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 25 in der schönen von einer großen Volksmenge be- lebten Uferlandschaft. In dem schönen Rahmen finden wir die Beschreibung des Ereignisses und eine eingehendere Darstellung des Walfischkörpers (vgl. Abb. 2). Das Blatt des E. van den Velde gibt nach A. Goldschmidt ^) die Szene mit dem ge- strandeten Walfisch ebenfalls in einer ausgedehn- ten freien Küstenlandschaft, in der das Tier mehr zurücktritt, aber vollständig frei und isoliert aus- gebreitet ist. Es betrifft den Walfisch von Noort- wijk 1614. Tieres drängt sich der Vorstellung stark auf. Von der Szene existiert auch eine Radierung. Endlich erscheint der Walfisch auch auf einigen Gemälden, so bei R. Savery, dem berühmten Tiermaler, auf einem aus dem Jahre 1626 stam- menden Paradiesbild (jetzt im Depot des K. Fried- rich-Museums in Berlin Katalog 1906 Nr. 710); das Bild bringt außerdem noch die Dronte, von der ich früher hier ') gehandelt habe, zur Ab- bildung. Auf einem (wahrscheinlich holländischen) Bilde in der Galerie Palazzo Doria in Rom (Nr. 174) Abb. 2. Der Walfisch von 1601, ein PoUwal. (Kupferstich von J. Saenredam.] Von dem zuletzt genannten Ereignis, das sich 1617 am Strand bei Scheveningen und Kalwijk abspielte, besitzt das Berliner Kupferstichkabinett -j die Originalzeichnung aus der Hand Buytewecks. An Ort und Stelle machte er mit der Feder eine kurze kräftige Skizze von der Lage des Tieres auf dem Sande; in wenigen Strichen deutete er auch die Gruppen der umherlagernden Leute an Es handelt sich wiederum um einen Pottwal, der von vorn und von der rechten Seite etwas verkürzt wiedergegeben wird. Die Staffage verteilt sich mehr über das ganze Terrain und die Größe des ') Jahrbuch der k. preußischen Kunstsammlungen XXIII. (1902) S. 113. ''j Ebenda S. 114; Abb. 12. sah ich eine hübsche Darstellung einer Walfisch jagd : die nicht schlecht gezeichneten Tiere werden mit Pfeilen erschossen ; Möven kreuzen darüber in der Luft. So hat die Vorzeit für die Tierungeheuer des Meeres immer Interesse gehabt. Die Kenntnis dieser Tiere, wenn sie auch mit der Zeit fort- schritt, ist heute noch lückenhaft, wie schon der große Cuvier sich äußerte. Eine gute Darstellung unseres heutigen Wissens über die Wale bieten W. Kükenthal (Lebensbilder aus der Tierwelt hrsg. von H. Meerwarth und K. So f fei III. Bd. S. 313 u. f. und der neue „Brehm" (4. Aufl.) xn. Bd. S. 430 u. f.). Naturw. Wochenschr. XIV (1915) S. 353 ff. N. F. XVIII. Nr. 25 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 3S9 Einzelberichte. Geologie. Die goldführenden Bäche des Huns- rücks behandelt eine Arbeit von A. Zöller in det^„Zeitschr. f. prakt. Geologie", XXVII, 1919. S. 7 — 14. Goldgeschiebe sind in drei Bächen des Hunsrücks gefunden worden : auf der nordwest- lichen Seite des Gebirges im Goldbach bei Andel und im Großbach bei Enkirch, auf der südöstlichen Seite im Güldenbach bei Strom- berg. Der Goldbach, der sich beim Dorfe Andel un- weit Bernkastei in die Mosel ergießt, ist ein kleines Gewässer, das auf seinem nur 2 km langen Lauf in das steile, bewaldete Gehänge des Moseltales eine enge Schlucht eingeschnitten hat. Wie der Name sagt, ist das Verkommen des Goldes im Goldbach seit alters her bekannt. Bis in die neueste Zeit hat es immer wieder die Aufmerk- samkeit von Geologen und Bergleuten wegen seines eigentümligen Auftretens und der für deut- sche Verhältnisse ungewöhnlichen Größe seiner Goldgeschiebe erregt. Nach den Akten der kur- pfälzischen Hofkammer sind im 18. Jahrhundert mehrere Goldfunde gemacht worden. Die Zahl der gefundenen Goldgeschiebe scheint nicht gering gewesen zu sein, da angegeben wird, daß ein Ein- wohner zu verschiedenen Zeiten und an ver- schiedenen Stellen des Baches 9 Stücke, ein anderer 20 gefunden habe. Ein Geschiebe von 2,8 g ist von der kurpfälzischen Münzkommission probiert worden und ergab „reines, gediegenes Dukaten- gold" mit einem Feingehalt von 97,5 %. Nur nach schweren Regengüssen sei das Suchen nach Gold von Erfolg gewesen. Die von der kurfürst- lichen Regierung 6 Jahre hindurch vorgenommenen Schürfarbeiten, um die ursprüngliche Lagerstätte des Goldes ausfindig zu machen, führte zu keinem Erfolg. In den Jahren 1804 und 1809 sind 10 Goldgeschiebe gefunden worden, darunter eines von ca. 20 g Gewicht. In neuerer Zeit sind Gold- funde aus dem Goldbach nicht bekannt geworden, und die Einwohner von Andel haben das Gold- suchen längst aufgegeben. Dagegen wurden in den 20 er Jahren des vorigen Jahrhunderts in den beiden anderen, oben genannten Hunsrückbächen überraschende F"unde gemacht, die, trotzdem sie dem Zufall zu ver- danken sind, Geschiebe von beträchtlicher Größe darstellen. Der Großbach ergießt sich nach lO km langem Lauf bei Enkirch in die Mosel. Kurz vor seiner Mündung, bei Gerhards Mühle, wurde von dem jungen Sohn des Müllers ein Goldgeschiebe von 66 ^/g g gefunden. Es wurde für 42 ^2 Taler an die Regierung verkauft, die es zur Aufstellung in der Mineraliensammlung zu Berlin bestimmte. Der Güldenbach mündet nach 25 km langem Lauf bei Bretzenheim zwischen Bingen und Kreuz- nach in die Nahe. Der Goldfund wurde bei Stromberg, etwa 13 km oberhalb der Einmündung in die Nahe gemacht. Das Geschiebe wog 32 g und ist wahrscheinlich eingeschmolzen worden. Der Stromberger Fund veranlaßte die Regierung zu erneuten Untersuchungen, die jedoch ebenfalls erfolglos blieben. Die Herkunft dieser merkwürdigen Gold- geschiebe hat die Wissenschaft schon mehrfach beschäftigt. Im Jahre 1822 gab Noeggerath der Vermutung Ausdruck, daß das Gold den vielen Quarzgängen entstamme, die die Hunsrück- schiefer durchsetzen. Dieser Ansicht ist von ver- schiedenen Geologen und bis in die neueste Zeit (1918) hinein beigepflichtet worden. Noeggen- rath hat später neben der zuerst geäußerten An- sicht, das Gold entstamme Quarzgängen, auch auf die Möglichkeit seiner Herkunft aus Diabasen hingewiesen. Er wurde hierzu durch die Be- obachtung veranlaßt, daß die Sande der gold- führenden Bäche Magneteisenkörner enthalten, die, wie er meinte, nur aus Diabasen stammen könnten. Demgegenüber kommt der Verfasser auf Grund seiner eingehenden Untersuchungen, auf die nier aus Raummangel nicht weiter eingegangen werden kann, zu anderen Schlüssen über die Herkunft des Goldes. Nach ihm sind die Goldfunde der ge- nannten Vorkommen, die sich von allen sonst in der Literatur beschriebenen Seifen durch das höchst sporadische Auftreten einzelner, aber verhältnis- mäßig großer Geschiebe und das völlige Fehlen von Gold in Form von kleinen Körnern und als Staub auszeichnen, die letzten Reste von Zement- ationszonen, die sich aus dem geringen Goldge- halt geschwefelter Erze auf den Gängen des Hunds- rücks in vortertiärer Zeit gebildet haben. Diese Zonen sind zum Beginn des Tertiärs zerstört worden, wobei die sauren Wasser der an Humus- bildungen reichen Zeit alles Gold von feinem Korn aufgelöst haben, so daß uns nur die gröueren Stücken erhalten bUeben. F. H. Über die Mineralvorkommen Britisch-Birmas berichtet G. Buetz in der Zeitschr. f. pr. Geol., XXVIL 1919. S. 26 — 29. Birma, die größte Pro- vinz (397 873 qkm) des britisch-indischen Reiches besitzt einen ungewöhnlichen Reichtum an Mine- ralien. Die wirtschaftlich wichtigsten Vorkommen sind jene von Petroleum und Wolframerzen. Petroleum wird in Indien an zwei weit von- einander entfernten Gebieten gefunden, nämlich im Osten des Reiches in Assam und Birma und im Westen im Punjap in Beludjistan. Die Vor- kommen von Birma sind die bei weitem wert- volleren. Die Gesamtpetroleumgewinnung in dieser Provinz betrug 1912 245 335 209 Gallonen im Ge- samtwert von 962907 d!: und 19 10 291,76 Millionen Gallonen. Die Petroleumindustrie Indiens ist noch jungen Datums, die Ausbeute wird in einer nennenswerten Weise erst seit 25 Jahren betrieben. Das Kapital ist fast ausschließlich englisches. Die Verwertung des Öls geschah bisher ausschließlich in Rangoon, von wo aus auch die allerdings nicht 36o Naturwissenschaftliche Woch enschritt. N. F. XVin. Nr. 25 erhebliche Ausfuhr ausging, da das petroleum- arme Vorderindien und die englische Flotte zu versorgen sind. Die Petroleumindustrie Birmas ist eine durchaus gesunde, da die Vorkommen in jeder Weise die zu ihrer Ausbeutung ange- wendeten Kapitalien rechtfertigen. Der in ihr tätige Arbeiterstamm wurde 1916 auf etwa 13 000 Personen angegeben. Dieser Arbeiterstamm ist, wie überhaupt in der Industrie Indiens, keines- wegs leistungsfähig und hemmt die Entwicklung der Petroleumausbeute. Die Erweiterung der Petroleumindustrie Birmas ist in erster Linie von der Entwicklung der Verkehrswege abhängig. Die W o 1 f r a m funde Birmas werden erst ganz in den letzten Jahren ausgebeutet und haben Eng- land in den letzten Kriegsjahren erheblichen Nutzen gebracht. Die Vorkommen liegen in den südlichen Teilen Birmas und werden in solchen Mengen abgebaut wie in keinem anderen Teile der Welt. Nach der Reichhaltigkeit der Vorkorfimen zu urteilen, glaubt man in Birma, etwa die Hälfte der Weltproduktion an Wolfram fördern zu können. Während im Jahre 19 10 erst 393 t Wolfram gefördert wurden, stieg die Förderung im Jahre 1915 2645 t, 1916 3800 t, 1917 4200 t und für 1918 glaubt man 4500 — 5000 t erzeugen zu können, was beinahe ''/^ der Weltproduktion entsprechen würde. Der Wert des geförderten Wolframs betrug 1916 7 294 74S Rupien. Die Wolframerze Birmas sind im Frieden vorwiegend nach Deutschland (1913 1200 t) zur Verhüttung gekommen. In England selbst bestand kein Werk, um das für die Kriegsindustrie so überaus wichtige Wolframmetall zu gewinnen. Erst kurz nach Aus- bruch des Krieges gründeten 3 [ englische Stahl- und Eisenwerke gemeinschaftlich eine diesbezüg- liche Anlage. Das indische Wolfram dürfte dem- nach für Deutschland verloren sein. Auch über reiche Eisenerzlager verfügt Birma. Infolge der verkehrstechnischen Entwick- lung wurde der Abbau der Erze bisher erst in unzulänglichem Maße betrieben. Die Erzlager befinden sich in großer Entfernung von der Küste und sind daher schwer zugänglich. Nicht un- wesentlich ist auch die Blei produktion, ferner werden Zink- und Zinnerze, Gold, Silber, Kupfer, Platin und Edelsteine in mehr oder minder reichlichem Maße gefördert. Die nachfolgende Zusammenstellung gibt den Wert der Mineralproduktion in Rupien für 1915 und 1916 an. Bleierze 4742280 4830621 Zinnerze 638478 970200 Rubine und Saphire 542360 559 35° Bernstein, Jade, Spinelle und Steine 1181615 I132034 Antimonerz 102 7 500 Gold 185025 115638 Silber 466483 i 328270 Eisenerz 62 100 64324 Platin 1 493 694 Nach dieser Aufstellung hatte die Mineral- gewinnung Britisch-Birnias, jene von Petroleum und Wolframerzen mit einbegriffen, in den Jahren 1915 und 1916 einen Gesamtwert von 30722351 und 32906941 Rupien. F. H. Bücherbesprechungen. Sachs, Arthur, Die Grundlinien der Mine- ralogie für Mineralogen, Geologen, Chemiker und Physiker. Stuttgart, Ferd. Enke 191 8, 4«, 62 S. 2,80 M. Die vorliegende Schrift macht den Versuch, im Anschluß anKobells „Geschichte der Mine- ralogie" und Baumhauers „Neuere Entwicklung der Kristallographie" den augenblicklichen Stand unserer mineralogischen Kenntnisse in den Grund- zügen seiner geschichtlichen Entwicklung zu er- fassen und soll auf dem Gebiete der allgemeinen Mineralogie „ein kleines und bescheidenes Seiten- stück" zu dem großen Handbuche der speziellen Mineralogie von Carl H i ntze darstellen. In der Tat ist dieses Seitenstück recht bescheiden aus- gefallen. Denn die vielfach nur mit Stichworten und Autorennamen, allenfalls mit Jahreszahlen, arbeitende Darstellung wird nur schwer ohne Zu- hilfenahme eines Lehrbuches der Mineralogie oder der besonderen Literatur, die nur hier und da so weit angegeben ist, daß sie ohne weiteres auf- gefunden werden kann, ihren Zweck erreichen. Für sich allein betrachtet wird ihr weder der Anfänger noch der Fortgeschrittene Geschmack abzugewinnen vermögen. Das Ganze macht viel- mehr den Eindruck, als sei es erst das Programm für eine noch auszuarbeitende größere Darstellung über „Allgemeine Mineralogie", die allerdings, an- statt zu einer lebendigen historischen Darstellung auszuwachsen, in der trockenen Aufzählung von Arbeiten, Anschauungen, Autoren und Jahreszahlen stecken blieb. Auf jeden Fall verspricht der Titel viel mehr als in Wirklichkeit geboten wird. K. Andree. InllSlIt: E. Boecker, Die Chemotherapie der Malaria. S. 353. S. Killermann, Zur Kenntnis der Walfische in früherer Zeit. (2 Abb.) S. 356. — Einzelberichte: A. Zöller, Die goldführenden Bäche des Hunsrücks. S. 359. G. Buetz, Die Mineralvorkommen Britisch- Birmas. S. 359. — Bücherbesprechungen: Arthur Sachs, Die Grundlinien der Mineralogie für Mineralogen, Geologen, Chemiker und Physiker. S. 360. Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstrafle 42, erbeten. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck der G. Pätz'schen Buchdr, Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue Folge i8. Band; der ganzen Reihe 34. Band. Sonntag, den 29. Juni igig. Nummer 26. Potentielle Unsterblichkeit — experimentelle Lebensverlängerung. [Nachdruck verboten.] Von Rud. Oehler, Als Weissmann daran ging, die Darwin- schen Gedanken mit denen der Zellenlehre zu vereinigen, stieß er auf die Nägelische Lehre von der die Vererbung tragenden lebenden Masse (Idioplasma). Er machte daraus die Lehre vom Keimplasma. Die Zellen des Keimplasmas sind die alleinigen Vererbungsträger, die übrigen Körper- zellen haben mit der Vererbung und Festlegung selektiv entstandenen Arten gar nichts zu tun. Die Zellen des Keimplasmas sind die eigentlichen Zellen der Art. Sie erhalten die Art, und die Zellen des Körpers sind nur deren Diener und Ammen. Die Keimzellen schmarotzen im Körper der Großpfianzen und Großtiere. Wird der Leib älter, dann verlassen die Keimplasmazellen das alte Schmarotzerheim und durch die Keiment- wicklung bauen sie sich ein neues Schmarotzer- gehäuse und neue Bedienungs- und Pflegemann- schaft auf. Der von den Keimplasmazellen ver- lassene Restkörper lebt noch ein Stückelchen und verfällt dann innerer Verwelkung und „stirbt". Das Keimplasma ist unsterblich. Weissmann stellt also die alte Organlehre auf den Kopf. Nach der alten Lehre waren die Geschlechtsorgane Diener des Lebewesens und besorgten ihm die Möglichkeit der Wiederkehr in altvererbter Gestalt. Nach der Keimplasmalehre ist der Leib der Diener der Keimzellen, zu nichts anderem berufen als diese zu nähren und zu pflegen. Nach der alten Lehre sind alle Lebewesen sterblich. Unsterblich, weil immer wiederkehrend, ist ihre Gestalt. Darum hielt auch die alte Lehre so zäh an dem Glauben, diese Gestalt müsse ewig unwandelbar die gleiche bleiben. Die Lehre von der Unwandelbarkeit der Tier- und Pflanzengestalt fiel mit der Descendenztheorie dahin, und Weiss- mann meinte, damit müsse auch die Lehre von der Sterblichkeit aller Lebewesen aufgegeben werden. Die Urlebewesen, memt Weissmann, seien nicht sterblich gewesen. Sie waren Zellen und Zellen teilen sich, sie sterben aber nicht. Erst als sich Zellgruppen zusammenlegten und einen Tier- oder Pflanzenleib bildeten, mit ge- sonderten Arbeits- und Vererbungszellen, da erst kam das Sterben auf, indem die Keim- und Ver- erbungszellen ihre unsterbliche Teilungskette weiter führten, während die leiblichen Arbeitszellen hin- welkten und die Leiber dem Tode verfielen. Nur wo ein größerer Zellklumpen von Somazellen ver- welkt und als Leiche zurückbleibt, nur da redet Weissmann vom „Tode" des Tieres. Einzellige Tiere sterben nicht. Sie teilen sich. Sie können umgebracht werden. Aber sie verwelken nicht Frankfurt a. M. von innen heraus. Sie entziehen sich dem Ab- gängigwerden durch die Teilung. Das ist die Lehre von der potentiellen Unsterb- lichkeit der Protozoenzelle. Es war 1882 als Weissmann diese Lehre aus den Höhen der theoretischen Biologie der Protistenkunde zuführte. 1888 kam von selten des praktischen Infu- sorienzüchters Maupas die Gegenbehauptung. Maupas führte die Infusorienzüchtung in der Zählkammer ein und ermöglichte so ein genaues Studium der Fortpflanzungsleistung dieser Ein- zeller. Ein Tropfen Nährlösung wurde mit ein oder zwei Ciliaten beschickt und bei genau ge- messener Temperatur aufgehoben. Am nächsten Tag wurde gezählt und ein neuer Tropfen mit ein oder zwei Zöglingen besetzt. So züchtete er viele Stämme durch Hunderte von Generationen weiter und vermerkte ihre Vermehrungszahl. Lange blieb dieselbe gleich. Dann aber traten Verfalls- erscheinungen auf. Die Vermehrung stockte, die Tiere wurden klein und mißgebildet, die Zucht ging schließlich trotz aller Sorgfalt zugrunde. Bei solchen abgängigen Zuchten beobachtete nun Maupas ein vermehrtes Auftreten der Konjuga- tion und er schloß, daß alle Ciliaten bei dauernder Zucht einem Altersverfall entgegengehen, dem zu begegnen und den wieder auszugleichen Aufgabe der Konjugation sei. Maupas leugnet nicht eigentlich die potentielle Unsterblichkeit der Ein- zellen. Er selber spricht sich darüber nicht aus. Wahrscheinlich kennt er die Weissmannsche Doktrin gar nicht. Er behauptet nur, daß zur völligen, dauernden Wiederherstellung der Zucht- ciliaten deren Zellteilung nicht genügt; daß dazu auch ab und zu eine Konjugation nötig ist. Letztere Behauptung wiederlegen nun die Ver- suche von Calkins 1903 und Woodruff 1911. Ersterer züchtet Paramäcien über 500 Genera- tionen ohne Konjugation und ohne Alterstod. Woodruff führt seinen Stamm gar über mehrere Tausend von Zweiteilungen ohne Zwischenkunft einer Konjugation. Also unumgänglich ist die Konjugation nicht. Die Paramäcien finden völlige Wiederherstellung auch ohne diesen „Jungbrunnen". Allerdings Andeutungen eines Verfalles finden auch diese Forscher. Die Teilungszahl der Zuchtpara- mäcien bleibt nicht immer gleich. Auch wenn sonst alle Außenbedingungen peinlich gleich ge- stellt werden, schwankt die Fruchtbarkeit auf und ab und hält gewisse Zeiten ein, zeigt Rhythmen, Umläufe von ungefähr je 21 Tagen. Mit Fräu- lein R. Erdmann zusammen hat Woodruff 302 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVin. Nr. 26 1914 die inneren Vorgänge, die bei diesen Lebens- zeiten der Paramäcien in deren Körper sich ab- spielen, untersucht, und sie haben gefunden, daß entsprechend der absinkenden Fruchtbarkeit eine Quellung und Zerbröckelung des Großkernes ein- hergeht, welcher bei aufsteigender Fruchtbarkeit eine Wiederherstellung des Großkernes entspricht. Auch Kleinkernumwandlungen werden berichtet. Der Großkernzerfall ähnelt den Erscheinungen, die nach der Konjugation im Paramäcienleibe sich abspielen. Darum betrachten Calkins, Erd- mann und H e r t w i g , der Erdmanns Mit- teilung nach früheren Beobachtungen bestätigt, die Großkernumwandlung bei den Züchtungs- rhythmen als eine Art Konjugationsersatz und ver- gleicht sie mit der Parthenogenese, dem Befruch- tungsersatz, wie er in der Tier- und Pfianzenreihe vielfach vorkommt. So ist der Ausdruck Partheno- genese für die Großkernumformung bei den Züch- tungsrhythmen gangbar geworden. Keine glück- liche Einführung. Denn die ganze Lehre von den inneren Züchtungsrhythmen hat ihre Gegner. Enri- ques erklärt 1908 kurzer Hand all das für Stö- rungen durch Bakterienschaden. Nicht so weit geht J oll OS, der 1916 die Züchtungsrhythmen genau nachgeprüft hat. Er behält den Namen Parthenogenese bei. Aber er zeigt, daß das Auf und Ab der Fruchtbarkeit und die begleitende Großkernumwandlung denn doch nicht nur von innen heraus im Paramäcienleibe sich abspielt, sondern vielfach von außen durch Gifte und Schäden den Zöglingen aufgedrängt wird. Vor allem bedeutsam ist der Hinweis, daß die Kern- störungen besonders gern in der beengten Zucht in der Zählkammer auftreten, während sie bei Verwendung großer Zuchtgläser fehlen oder we- nigstens sehr selten sind. Etwas von innerem Rhythmus mag vorkommen, meint Jollos; jeden- falls spielt er im Leben der Emzeller keine große Rolle. Das was Weissmann mit der poten- tiellen Unsterblichkeit sagen wollte, nämlich die unbegrenzt fortführbare Züchibarkeit nur durch Zweiteilung ohne Konjugation, bleibt bestehen. Allerdings die Ausdrucksweise Weiss m an ns ist verfehlt. Die Einwände, die Hartmann und viele andere dagegen vorgebracht haben, bestehen zu Recht. Weissmann tritt ein für eine selek- tionistische Biologie und legt deren voraussicht- lichen Mechanismus dar: das ist neuzeitlich und verdienstlich. Aber er verwendet Ausdrücke und Begriffe, die ganz aus dem Arsenal der alten Individualbiologie genommen sind, die zu der neuen auf Experimentalbiologie abziehenden Lehre nicht passen. Neuer Wein in alten Schläuchen. Daß die Leiche das Merkmal des Todes sei, ist ein durchaus altvaterischer Gedanke. Das ist bürgerlich gedacht, aber nicht zoologisch. Vor allem nicht zcllbiologisch und protozoologisch. Das stimmt für den Menschen, aber nicht für die Zellen. Der Mensch lebt, bis er eine Leiche wird. Die Zelle aber lebt, bis sie sich teilt; dann fängt ein neuer Lebensumlauf an. Sie wird nicht wie der Menschenbürger mit Schmerzen geboren und endet nicht wie dieser, indem er Leiche wird und zu Staub zerfällt. Auch der Ausdruck „potenzielle" Unsterblich- keit ist aus der alten Biologie mit ihren Potenzen, Virtutes und Essenzen genommen. Man denke nur an Driesch, bei dem alle diese Herrschaften eine imposante Wiederauferstehung erleben. Was hat Weiss mannsches Denken mit diesen scho- lastischen Begriffen und Ausdrücken zu tun? Weissmann denkt experimental. Wie verfehlt, aber dann derartig potentielle, unexperimentelle Ausdrücke zu verwenden. Was Weissmann meint, ist die sieghafte, alle Außenstürme über- windende Wiederherstellung der Teilungs- und Arbeitszellen. Sowie man die Angelegenheit auf diese Formel bringt, wird auch klar, daß es zwei Arten „potentieller Unsterblichkeit" gibt: nämlich eine „Teilungsunsterblichkeit" und eine ..Arbeits- unsterblichkeit", wo man dann auch besser von Teilungsunermüdlichkeit und Arbeitsunermüdlich- keit redet. Und wenn man streng beim Nach- weisbaren und auf experimentellem Boden bleibt, wird man sich zu der Fassung entschließen, welche sagt: unter besonderen Umständen läßt sich die Zelltätigkeit so einstellen, daß die Zellen sich teilen und wieder nachwachsen und sich wieder teilen und so fort ins unabsehbare. Das ist die Lage der reinen Teilungs- und Wachstumszelle, die gar keine Bewegungs- und Erwärmungsarbeit verrichtet. In solcher Lage befindet sich die schmarotzende Protozoenzelle. Sie wuchert und hat sonst keine Sorge und tut sonst keine Arbeit. Nimmt ihr nun der Experimentator noch die Arbeit ab, sie von dem abgeweideten Wirt auf einen frischen Nähr- boden zu übertragen, dann wird durch diesen Kursteingriff der Wucherungsfortgang ins Unab- sehbare fortgesetzt. Der Eingriff der Übertragung leistet eine experimentelle Lebensverlängerung. Der einseitige Wucherungsbetrieb, der mit der Erschöpfung des Nährbodens ein Ende finden müßte, wird künstlich fortgeführt durch Über- tragung auf einen neuen Nährboden. Das ist die potentielle Unsterblichkeit der Protozoen. Sie müßte eigentlich heißen: experimentelle Verlänge- rung des Wucherungsbetriebes. Das wäre der positive Ausdruck. Die zweite potentielle Un- sterblichkeit ist die experimentelle Verlängerung des Arbeitslebens der ungeteilten Zelle. Sie ahmt das Leben der ausdifferenzierten Organzelle des Metazoenkörpers nach, welche sich nicht mehr teilt und deren Leben nur noch in der durch Reize ausgelösten Spezialarbeit besteht; in Be- wegung oder Absonderung usw. Wenn man nun eine Ciliatenzelle so einstellt, daß sie sich nicht mehr teilt, aber wochenlang immer weiter ihre Cilien schlägt, dann hat man sie gewissermaßen zu einer künstlirhen Metazoenflimmerzelle gemacht. Crampton hat solches bei Paramäcien erreicht, die er in enge Glasröhrchen einschloß. Sie lebten bis zu 3 Wochen , eine Zeit, in der die Brüder draußen im großen Zuchtglas 20 Generationen N. F. XVin. Nr. 26 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 363 mit einer unabsehbaren Schar von Einzelparamäcien erzeugt hatten. Cramptons eingeschlossenes Paramäcium ist ein Methusalem gegenüber den frei schwimmenden Paramäcien. Es ist auch „potentiell unsterblich", denn, was durch 3 Wochen fortgeführt werden kann, kann bei entsprechender Technik auch noch länger fortgesetzt werden. Wir haben hier eine künstliche experimentelle Ver- längerung des Individuumlebens vor uns, eine Hemmung des Teilungswachstums und Fortführung des Arbeitslebens auf lange, und wenn man speku- liert, auf unabsehbare Zeit. Ähnliches hat R u b n e r bei Hefezellen erreicht. Er setzt starke Zuckerlösung mit wenig Pepton an und fügt Hefe zu. Die Hefe wächst nicht, weil nicht genügend Pepton vorhanden ist, um das Leben der Hefe zu fristen. Ohne zu- und abzunehmen, vergärt die Hefe den Zucker. Sie wird abzentrifugiert und neuerdings mit Pepton- zuckerlösung angesetzt. Dasselbe Spiel. Auch hier haben wir eine künstliche „Meta- zoenzelle", d. h. eine Zelle, die Arbeit leistet, aber nicht wuchert. Auch hier kann man sagen, wenn man den Teilungsstillstand und die Arbeitsunter- haltung auf mehrere Stunden und Tage erzielen kann, so ist deren theoretische Möglichkeit er- wiesen. Theoretisch vermöchte eine einzige solche stillstehende Hefezelle unabsehbare Zucker- mengen zu vergären. Jedenfalls liegt eine be- trächtliche experimentelle Verlängerung des sonst so flüchtigen Einzellebens einer gärenden Hefe- zelle vor. Potentielle Unsterblichkeit haben auch die Teile des Wurmes, dessen Schnittslücke wieder ganze Würmer herstellen. Potentielle Unsterblich- keit, d. h. einen Tod ohne Leiche, haben auch die Gallmückenlarven , welche pädogenetisch in ihrem Leibe Tochterlarven erzeugen. Potentiell unsterblich ist auch das Hautstück, welches man von einem Säugetier auf ein anderes überpflanzt. Denn der Eingriff kann wiederholt werden und das Hautstück kann unabsehbar oft weiter auf neue Nährunterlage übertragen werden. Potentiell unsterblich sind alle Pfropfreiser und Explantationen. Und wenn es gelingt, ein Stück Tier- oder Pflanzengewebe in einem künstlichen Nährboden im Versuchsglase weiter zu züchten und von Versuchsglas zu Versuchsglas fortzuführen, so haben wir da Neuzuchten von Lebewesen vor uns, künstliche Lebensverlängerungen von Zell- stämmen, die ohne den Experimentator abgestor- ' ben wären. Ich will auf diese noch umstrittenen Explantationsversuche nicht eingehen; will aber darauf hinweisen, daß es Fälle gibt, wo tierische Gewebszellen ihre Wucherruhe aufgeben, zu rasch fortgesetzter Zellteilung übergehen, sich zu nackten Wucherzellen rückdißerenzieren und gleich einem fremden Eindringling im Tierkörper schmarotzen. Es sind das die bösartigen Geschwulstzellen, die Krebse und Sarkome der Warmblüter. Hier haben wir Zellen, die den somatischen Metazoenzellen- charakter hatten, die aber zum Wucherleben der Keimzellen zurückgekehrt sind. Sie würden ewig wuchern, wenn der Nährboden ewig hielte; und sie wuchern unabsehbar weiter, wenn sie auf neuen, guten Nährboden künstlich übertragen wer- den. Die künstlich übertragbaren Karzinom- und Sarkomzellen sind auch „potentiell unsterblich". Auch bei ihnen hat man die ungeheure Masse berechnet, zu der sie bei guter Pflege heranwachsen könnte. Sie sind abgewandelte Metazoenzellen. Aber sie haben durchaus den Charakter von Schmarotzerprotozoen angenommen. Durch die künstliche Übertragung wird ihr Stammleben ex- perimentell verlängert. Ein Arbeitsleben führen sie überhaupt nicht mehr. Sie sind reine Keim- plasmazellen geworden. Der somatische Anteil der Zellen hat sich verloren. Was Weissmann bei der Protozoenzelle gewissermaßen suchte: eine Zelle ohne Soma — was da aber nicht zu finden ist, weil die Protozoenzelle eben auch soma- tische Arbeit leistet und somatische Organellen hat — das ist hier, bei der bösartigen Geschwulst- zelle gegeben. Weissmanns Schlagwort von der Unsterb- lichkeit der Protozoen war nicht geschickt. Aber als Teil einer großen Übersichtsbetrachtung, als Glied der Lehre vom Keimleben und vom Arbeits- leben war es anregend und erleuchtend. Bei der heutigen Erörterung ist es durch den positiven Ausdruck: experimentelle Lebensverlängerung zu ersetzen. Schriftennachweis. Weissmann, A., Über die Dauer des Lebens. Jena, Fischer, 1882. Nag eil, C. M., Mechanisch-physiologische Theorie der Abstammungslehre. München 1884. Maupas, F., Recherches experimentales sur la multipli- calion des infusoires cilies. Arch. de Zool. experm. T. VI, 18S8. Calkins, N. G., Studies on the life-history of Protozoe. Arch. f. EnlwickluDgsmechanik der Org. Bd. 15, 1903. Woodruff, L. L., A summary of the results of certain physiological studies on a pedigreed race of Paramaecinen. Biochemical Bulletin Vol. I, 1912. W ood ru ff , L. und Erdmann, Rh., Complete periodic nuchar reorganization without cell fusion in a pedigreed race of Paramaecinen. Proceedings of the Society für cxperimental Biol. and Med. Bd. II, 1914. Hertwig, R., Über physiologische Degeneration bei Protozoen. Sitzungsberichte der Gesellschaft für Morph, und Physiol. München 1900. Enriques, Über Parthcnogenesis der Infusorien. Biolog. Centralblatt Bd. 34. Enriques, P. , Die Konjugation und sexuelle Difteren- zierung der Infusorien. Arch. f. Protistenkunde Bd. 9, 1907 und Bd. 12, 1908. J oll OS, V., Die Fortpflanzung der Infusorien und die potentielle Unsterblichkeit der Einzelligen. Biolog. Centralbl. Bd. 36, 1916. Crampton, G. C. , Experiments performed upon Pro- tozoe confined in capillary tubes. Arch. f. Prot. 279, 1912. Rubner, Die Ernährungsphysiologie der Hefezelle bei alkoholischer Gärung. Leipzig 1913. Oppel, Explantation, Handwörterbuch der Naturwissen- schaften Bd. 3, S. 813. A p o 1 a n t , H., Ergebnisse der experimentellen Geschwulst- forschung. Festschrift P. Ehrlich. Jena 1914. 3^4 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 26 [Nachdruck verboten.! Neonlanipen. Von Dr. K. Schutt, Hamburg. Mit 4 Abbildungen. Untersucht man, wie sich in einem metallischen Leiter die Stromstärke i mit wachsender Spannung e ändert, dann findet man, daß -. gleich einer Konstanten, dem Widerstände R des Leiters ist. Trägt man i auf der Horizontalen, die zugehörigen Werte von e auf der Vertikalen ab, dann erhält man als Darstellung der Funktion e = R-i eine Gerade durch den Anfangspunkt (Abb. i). Die Tangente des Winkels a, den sie mit der Hori- zontalen bildet, ist der Widerstand R. Man nennt die so gewonnene Kurve die Charakteristik des Leiters. Da der Widerstand 'der Metalle mit der Temperatur steigt und der Draht um so wärmer wird, je mehr Strom durch ihn hindurch- fließt, ist die Charakteristik keine Gerade, sondern eine gegen die Horizontale konvexe Kurve, wäh- rend sie andererseits für Elektrolyte und Kohle konkav ist, da diese bei Erwärmung besser leiten. Besonderes Interesse hat die Charakteristik der Dynamomaschinen; sie gibt an, wie sich die Klemmspannung der Maschine bei wachsender Belastung (i) verhält. Stromstärke i Abb. I. Wesentlich anders als für Leiter erster und zweiter Klasse sieht die Kurve aus, wenn der Strom durch eine Gasstrecke hindurchgeht, z. B. in Entladungsröhren. Abb. I zeigt die Charak- teristik: zunächst geht bei schnell steigender Spannung nur ein äußerst' schwacher Strom ohne Leuchterscheinungen durch das Gas, die stille Entladung. Dann setzt mit Erreichen des Ent- ladungspotentials plötzlich die Glimmentladung mit den bekannten farbenprächtigen Leuchterschei- nungen ein : an der Kathode Crookescher Dunkel- raum, negatives Glimmlicht, Faradayscher Dunkel- raum, dann bis zur Anode die positive Lichtsäule. Die Stromstärke nimmt bei abnehmender Spannung zu, die Charakterist ik ist also fallend und zwar hat dicht hinter A eine kleine Zunahme der Stromstärke eine beträchtliche Spannungsänderung zur Folge. Das hängt damit zusammen, daß nach Überwindung des Entladungspotentials e^ die Leit- fähigkeit der Gasstrecke durch Stoßionisation be- trächtlich vermehrt wird. Die in jedem Gase stets vorhandenen Elektronen und Ionen werden näm- lich durch das starke Feld so beschleunigt, daß sie beim Zusammenprall mit einem neutralen Gas- molekül dieses in ein positives Ion und in ein Elektron spalten. Diese werden nun ihrerseits wieder beschleunigt und erzeugen durch Stoß neue Ionen und so geht es weiter, so daß deren Zahl schnell zunimmt. Damit wächst der Elektrizitäts- übergang zwischen den Elektroden. Wird die Stromdichte an den Elektroden weiterhin stark zu, dann werden diese durch den Aufprall der Ionen glühend heiß (namentlich die positive). Die Folge ist, daß jetzt von dieser wie von jedem weißglühenden Körper Elektronen in großer Menge ausgehen, die durch Stoß weitere Ionisation her- vorbringen. Das tritt im Funkte B ein; hier geht die Glimmentladung in die Bogen- oder Funken- entladung über, und zwar setzt die erstere ein, wenn die Elektrizitätszufuhr aus der Stromquelle hinreichend groß ist. Wird sie dagegen etwa durch einen großen Widerstand verzögert, dann tritt nur von Zeit zu Zeit Ausgleich durch einen Funken ein. Von Einfluß auf die Lage der charakteristischen Kurve ist der Spannungsabfall in der Gasstrecke zwischen den Elektroden; dieser ist keineswegs geradlinig wie in einem metallischen Leiter von überall gleichem Querschnitt, sondern ganz un- gleichmäßig, wie Abb. 2 sowohl für Glimm- wie für Bogenentladung zeigt. Anode und Kathode sind e cm voneinander entfernt. An der ersteren Potential Abb. 2. fällt das Potential steil ab, dann folgt ein schwächerer Abfall in der Gasstrecke und darauf wieder der steile Kathodenfall. Letzterer ist bei der Glimm- entladung weit größer als die beiden ersteren zu- sammen. Erhitzung der Kathode bis zur Weiß- glut, wie es bei der Bogenentladung geschieht, verringert wegen der damit verbundenen Elek- tronenabgabe den Kathodenfall beträchtlich, auch der Anodenfall wird kleiner. In der elektrischen Bogenlampe mit Kohleelektroden ist letzterer mit 10—20 Volt größer als der erstere (5 — 15 Volt). Außer von der Temperatur hängt der Potential- abfall auch von dem Material der Elektroden ab. N. F. XVin. Nr. 26 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 365 So ist der Kathodenfall besonders klein, wenn die Kathode ein Alkalimetall ist (K 69, Na 80), während er für Platin 160 beträgt, wenn das Entladungs- rohr Helium enthält. Ist es mit Wasserstoff ge- füllt, dann sind die genannten Zahlen wesentlich größer. Also auch die Natur des Gases hat großen Einfluß auf Einsetzen und Verlauf der Entladung. Mißt man z. B. diejenige Feldstärke H, bei der die Glimmentladung einsetzt, in ihrer Abhängig- keit vom Gasdruck p, so findet man die Beziehung H = a -|- bp, wo a und b für das Gas charakte- ristische Konstanten sind, b nennt man die di- elektrische Kohäsion des Gases. Setzt man b für Luft gleich loo, dann findet man für Kohlensäure 99, für Wasserstoff 49, für Argon 9, für Helium 5 und für Neon 1,4. Die Entladung geht durch Edelgase besonders durch Neon am leichtesten hindurch. Einen sehr wesent- lichen Einfluß hat ferner der Druck. Wird er kleiner, so vergrößert sich dadurch die mittlere freie Weglänge, d. h. die Strecke die ein Molekül oder Elektron zwischen zwei aufeinanderfolgenden Zusammenstößen im Mittel frei durchläuft. Je größer diese aber ist, eine um so geringere Spannung reicht aus, um dem Elektron den zur Stoßionisation nötigen Energiebetrag zu erteilen. Verringert man den Druck in der Entladungs- röhre, so kann man mit einem kleinen Induktor lange Röhren zum Leuchten bringen. Nach den Untersuchungen von J. Franck und G. Hertz ist der Arbeitswert, den das Elektron besitzen muß, um durch Stoß zu ionisieren, für das be- treffende Gas eine Konstante, die lonisierungs- spannung; sie beträgt für Helium 21, für Neon 16 und für Ouecksilberdampf 4,9 Volt, d. h. so viel Volt muß das Elektron frei durchlaufen, damit seine Geschwindigkeit zur Stoßionisation ausreicht. Die mannigfachsten Umstände sind also für den Verlauf der Gasentladung von Bedeutung. Zur Füllung einer Lampe, in der ein Gas Licht aussendet, sind nach obigem Quecksilberdampf und die Edelgase, unter ihnen vor allem Neon besonders geeignet. Die Quecksilberdampflampe ist seit längerer Zeit bekannt und wird allerdings wegen ihres Mangels an roten Strahlen kaum für Zimmer- und Straßenbeleuchtung, wohl aber, weil sie reich an ultravioleten Strahlen ist, für photo- graphische und medizinische Zwecke verwendet, für letztere namentlich als Quarz-Hochdrucklampe (künstliche Höhensonne). Die Zündung — Über- windung des Entladungspotentials — erfolgt meistens wie bei der Kohlebogenlampe durch Kontakt, indem man durch Neigen der Lampe das Quecksilber von einem Pol zum andern über- fließen läßt; beim Abreißen des Quecksilberfadens wird die Kathode heiß, und der Lichtbogen bildet sich. Nach mannigfachen Versuchen ist es neuer- dings gelungen, auch Neonlampen herzustellen^) und zwar sowohl Bogen- wie GHmmlampen. Abb. 3 zeigt die seit kurzem in den Handel gebrachte Bogenlampe. Als Anode A dient ein Eisenzylinder, als Kathode D eine Legierung aus Kadmium und Thallium, deren Schmelzpunkt bei etwa 200" hegt. Die Kathode ist in einem weiten als Kühlkammer dienenden Gefäß C angebracht, auf das ein zweites ähnliches Gefäß B folgt, das dazu dient, die über- spritzenden Metalheile aufzunehmen und Metall- dämpfe zu kondensieren; es ist nämlich wesent- lich, daß das Leuchtrohr AB frei von Metall- dämpfen bleibt, da diese sonst leicht die Linien ') Firma J. Pintsch, Berlin. Abb. 3. des Neonspektrums nicht aufkommen lassen. Als Füllung dient ein Gemisch von Neon und 25 "/q Helium von einigen Millimetern Druck, wie es als Nebenprodukt der Luftverflüssigung in der Industrie gewonnen wird. Zur Zündung dient der Extrastrom der Spule E, die, außer einem Kohlenfadenwiderstand F dem Leuchtrohr vorgeschaltet ist. Beides ist im Unterbau der Lampe untergebracht. Wird an die Klemmen eine Spannung von 220 Volt angelegt, so fließt der Strom zunächst durch F, E und einen dem Leuchtrohr parallel geschalteten Vakuumunter- brecher U, der im Innern der Spule E sitzt. Das Magnetfeld derselben öffnet indessen so- fort den Unterbrecher, und die E.M.K. des Öffnungsstromes im Verein mit den 220 Volt er- zeugt eine für die Zündung hinreichende Span- nung; die Bogenentladung setzt ein. Auf der Kathode sieht man ähnlich wie bei der Queck- silberdampflampe einen Lichtfleck umherwandern. Der Bogen sendet ein sehr helles rosafarbenes Licht aus, das im Spektrometer untersucht die zahlreichen im Roten, Gelben und Grünen (700 — 500 (ifi) liegenden Neonlinien und die wenigen Heliumlinien (2 im Blau) zeigt. Das Licht ist also im Gegensatz zu dem der Quecksilberdampflampe reich an roten und arm an blauen Strahlen. Das Maximum der Empfindlichkeit unseres Auges liegt im Gelbgrün bei 550 ^if-i, so daß die Farbe des Neonlichtes recht günstig ist. Da man für 18 Watt 2 Hefner-Kerzen (horizontal) erhält, ist die Lampe eine Halbwattlampe. Die 220 Volt verteilen sich auf folgende Weise: Elektrodenverlust 30 Volt, positive Lichtsäule 1 10 Volt, Vorschaltwiderstand 70 Volt, Reservevorschaltspannung bei Rückgang der Netzspannung 10 Volt. Wie für die Kohle- bogenlampe gilt für die Charakteristik die Ayrton- sche Gleichung: e^a-)- ,, wo a und'b Kon- 366 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 26 stanten (114 bzw. 26) bedeuten, d. h. die chaVak- teristische Kurve — der rechts vom Punkte B liegende Teil in Abb. i — ist eine gleichseitige Hyperbel, deren Asymptoten die Vertikale und die durch den Punkt a = 114 zur Horizontalen gezogene Parallele ist. Also unter 1 14 Volt ist auch bei großer Stromstärke ein Bogen nicht möglich. Die Einrichtung der Glimmlampe zeigt Abb. 4. Die halbkugelförmige Kathode besteht aus Eisen und ist bei den 5 Wattlampen amalgamiert, um den Kathodenfall herabzusetzen; bei den 3 Watt- Abb. 4. lampen ist sie eine ebenfalls halbkugelförmig an- geordnete Spirale ohne Ouecksilberüberzug. In wenigen Millimetern Abstand steht der Kathode die aus einem einfachen Draht (bei der 3 Watt- lampe eine Spirale) gebildete Anode gegenüber. Der Druck des Neon-Heliumgemisches beträgt 10 mm. Da die Elektroden einen so geringen Abstand haben, verschwindet Anodenfall und und Spannungsabfall in der positiven Lichtsäule fast vollkommen, so daß nur der Kathodenfall zu überwinden ist. Legt man 220 Volt an, so fängt die Lampe sofort an zu leuchten, indem sich die ganze Kathode mit dem wunderschön rosa ge- färbten negativen Glimmlicht überzieht, das im Spektroskop die Neon- und Heliumlinien zeigt. Bei der 5 Voltlampe leuchtet außerdem die ganze Birne in schwachem bläulichen Licht, das deutlich die Quecksilberlinien zeigt, während diese in der kleinen Lampe fehlen. Die I^ampe leuchtet auch bei Speisung mit Wechselstrom; bei Anschluß an Gleichstrom muß sie richtig angepolt werden. Was die praktische Verwendung der Lampen anbetrifft, so kommen sie wegen ihres gefärbten Lichtes für eigentliche Beleuchtungszwecke nicht in Betracht. Wegen ihren auffälligen Lichtes sind sie zur Effektbeleuchtung besonders geeignet. Beim Durchgang durch trübe Medien wie z. B. Staub oder Nebel hängt die Zerstreuung des Lichtes von der Wellenlänge ab, kurzwelliges Licht wird sehr viel stärker zerstreut als rotes, so daß letzteres im Nebel weiter sichtbar ist. Neonlampen sind daher geeignet, als Signal-, Kontroll- und Mar- kierungslampen zu dienen, besonders die Glimm- lampe ist wegen ihres geringen Wattverbrauchs und der damit verbundenen Billigkeit des Betriebes dazu berufen, zumal man Metallfadenlampen von so geringer Leistung für 220 Volt nicht her- stellen kann. Wenn auch der praktischen Ver- wendbarkeit Schranken gesetzt sind, so bedeuten die neuen Lampen doch einen wesentlichen Schritt vorwärts auf dem Wege, neben der Temperatur- auch die Luminiszenzstrahlung für Beleuchtungs- zwecke nutzbar zu machen. Benutzte Literatur: F. Schröter, Eine Neonbogenlampe für Gleichstrom. Zeitschr. f. Elektrochemie 1918, S. 132. O. Schaller, Glimmlichtlampe von geringem Gesamt- wattverbrauch. Ebenda S. 131. W. Rarasay und G. Rudorf, Die Edelgase. Handb. d. allg. Chemie Bd. 2. Leipzig 1918. [Nachdruck verboten.] Die breitere gemeinsame Basis. Von Hermann Kranichfeld. Herr Prof. Di. E. Dennert sucht in Nr. 29 der Naturwissenschaftlichen Wochenschrift 1918 den Gegensatz von teleologischer und mechani- scher Beurteilungsweise der adaptiven Einrich- tungen für die Naturforschung auszuschalten, in- dem er die Aufgabe derselben auf die Unter- suchung der tatsächlichen Beziehungen zwischen Organ und Funktion beschränkt und die Beant- wortung der Frage, ob der Entstehung der be- treffenden Einrichtungen eine Absicht zugrunde liegt oder nicht, der Naturphilosophie zuschiebt. Dieser Stellungnahme entsprechend, soll dann auch der Biolog die Anwendung des Wortes Zweck- mäßigkeit, das in seiner engeren Bedeutung den Begriff der Absicht einschließe, vermeiden und dafür das neutrale Wort Nutzmäßigkeit ge- brauchen. Der Versuch das Wort Zweckmäßigkeit durch ein anderes zu ersetzen, ist nicht neu. Man hat dafür schon früher Worte wie Erhaltungsmaßigkeit, Zielstrebigkeit, Dauerhaftigkeit (Roux) usw. in - Vorschlag gebracht, doch hat sich keine dieser Bezeichnungen durchsetzen können. So wendet z. B. Plate in seinem Selektionsprinzip für die betreffenden Verhältnisse noch regelmäßig das Wort Zweckmäßigkeit an. Dennert wird aber mit seiner Anregung wohl um so weniger durch- dringen, als der Begriff Nutzbarkeit seit Kant wenigstens für die philosophische Sprache in einem anderen, entgegengesetzten Sinne festgelegt ist. Man unterscheidet zwischen innerer und äußerer Zweckmäßigkeit. Im ersten Falle hat das Ding keinen anderen Zweck als sein eigenes Dasein, der Zweck liegt in ihm selbst. So ist es bei der Zweckmäßigkeit, die uns in der Organisation der Pflanzen und Tiere entgegentritt. Sie ist ent- weder selbstdienlich oder artdienlich. Im zweiten Falle existiert ein Ding um anderer willen, denen N. F. XVin. Nr. 26 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 367 es durch sein Dasein dient oder nützt, sein Zwecl< liegt außer ihm. Kant unterscheidet da noch die beiden Fälle, ob es dem Menschen oder anderen Naturwesen dient. Die auf den Menschen bezüg- liche äußere Zweckmäßigkeit nennt er Nutzbar- keit, die auf andere Naturwesen bezügliche Zu- träglichkeit. Das fruchtbare Land, welches die Flüsse anschwemmen, ist nutzbar für die Menschen und zuträglich für die Pflanzen. Dennert hat darum, wenn er den Begriff der Nutzmäßigkeit auf die innere Zweckmäßigkeit der Organismen anwendet, zunächst die Autorität Kants gegen sich. Ebenso spricht der gewöhnliche Sprachge- brauch gegen ihn. Das deutsche Sprachgefühl ist gerade in bezug auf die Verwendung des Wortes Nutzen sehr fein ausgebildet. Werden Gebiß und Zerkleinern der Nahrung als besondere Begriffe herausgehoben und sich gegenüber gestellt, so kann man wohl sagen : das Gebiß ist dem Tiere bei der Zerkleinerung der Nahrung von Nutzen. Da- gegen wäre es eine sprachliche Härte, wenn man die Wendung gebrauchen wollte: das Gebiß ist nutzgemäß gebaut für das Leben des Individuums. Da wo es sich um die Stellung des Gebisses inner- halb der ganzen Organisation des Tieres handelt, muß es heißen : das Gebiß ist für das Leben des Tieres zweckmäßig gebaut. Wichtiger als diese formalen Bedenken scheint mir dem Dennert sehen Vorschlag gegenüber ein sachlicher Einwand zu sein. Dennert glaubt, daß eine Einigung der verschiedenen naturwissen- schaftlichen Richtungen hinsichtlich der Beurteilung der zweckmäßigen Einrichtungen herbeigeführt werden könnte, wenn man die Frage, ob die Zweckmäßigkeit auf die absichtsvolle Tätigkeit eines Schöpfers hinweise, für die Naturforschung ausschalte und der Naturphilosophie überlasse. Tatsächlich ist die Naturphilosophie für die Ent- scheidung dieser Frage allein zuständig, aber die gewünschte Einigung kann auf dem von Dennert vorgeschlagenen Wege nicht erreicht werden, da die Gegensätze der mechanistischen und der moder- nen vitalistischen Forschung jenen Punkt gar nicht betreffen. Bei ihnen handelt es sich vielmehr um die Frage, ob die in dem anorganischen Geschehen aufgefundenen Naturgesetze auch zur Erklärung der Vorgänge, in denen sich die Entwicklung der adaptiven Einrichtungen und der Ablauf der übrigen Lebensprozesse vollzieht, ausreicht, oder ob hier noch andere Gesetzmäßigkeiten anzunehmen sind, die sich den aus dem anorganischen Ge- schehen abgeleiteten Naturgesetzen überlagern, ohne sie aufzuheben. Man könnte vielleicht daran denken — ob Dennert es will, ist nicht ganz klar — auch die Entscheidung dieser Frage dem Naturphilosophen zuzuschieben. Dieser würde jedoch gar nicht im- stande sein, dies Problem allein zu lösen. Denn die Frage kann nicht auf dem Wege der Deduk- tion aus aprioristischen Prinzipien, sondern nur auf dem Wege der Induktion beantwortet werden. Es liegt nun wohl schon ein großes, auf exaktem Wege gewonnenes Tatsachenmaterial vor, auf das sich der Naturphilosoph bei seiner Entscheidung stützen könnte. Aber wie ein Richter sein Urteil nicht allein aus den Akten schöpfen kann, sondern sich durch Ausfragen des Beklagten über bestimmte Punkte Klarheit verschaffen muß, so muß auch die Natur hinsichtlich des fraglichen Problems nach dem Ausdruck Kants „gleich einem Inkulpaten inquiriert" werden. Es müssen an sie ganz be- stimmte Fragen gestellt werden, um ihr das Ge- heimnis abzulocken. Diese Fragestellung ist aber Sache des Naturforschers, nicht des Naturphilo- sophen. Derartige Fragformulierungen vom vita- listischen Standpunkt aus waren die bekannten Experimente von G. Wolff, Morgan, Hans Driesch usw. Das umfassendste Verhör der Natur vom mechanistischen Standpunkt aus hat W. Roux angestellt. Der Naturforscher ist daher Mechanist oder Vitalist auch als Naturforscher, nicht nur als Natur- philosoph. Eine Einigung beider Richtungen im Sinne eines Kompromisses ist überhaupt nicht möglich. Nichtsdestoweniger haben sie sich hin- sichtlich der Voraussetzungen, von welchen sie bei ihren Untersuchungen ausgehen, und hinsichtlich der Arbeitsmethoden, welche sie bei denselben anwenden, immer mehr genähert. Die modernen Vitalisten haben nicht wieder bei dem vitalisti- schen Standpunkt eingesetzt, den man seit Lotze verlassen hatte. Auch bei einer scheinbar rück- läufigen Bewegung beschreibt die Wissenschaft nie- mals eine Kreislinie, in der die Bewegung wieder zu dem Ausgangspunkt zurückkehrt, sondern den Umlauf einer Spirale. Die Erneuerung der früheren Auffassung muß notwendig der höheren Erkennt- nisstufe, welche die Wissenschaft inzwischen er- reicht hat, Rechnung tragen. Und nicht nur die Vitalisten, auch die Mechanisten haben im Verlauf des letzten halben Jahrhunderts viele Punkte, die sie früher von den Vitalisten trennten, fallen lassen müssen. So ist eine breitere, gemeinschaftliche Basis entstanden, welche eine gegenseitige Ver- ständigung ermöglicht. Man spricht auf beiden Seiten die gleiche Sprache, wenn man sich auch bei den Untersuchungen von verschiedenen Prin- zipien leiten läßt. Wenn der alte Vitalismus in Anlehnung an das materialistische Axiom, daß Stoff und Kraft unlöslich verbunden seien, auch das Lebensprinzip als die Kraft eines bestimmten Stoffes ansah und glaubte, daß dieser Stoff in den organischen chemi- schen Verbindungen, deren Entstehung in ein ge- heimnisvolles Dunkel gehüllt war, gegeben sei, so mußte diese Auffassung in dem Augenblick fallen, in dem es Wo eh 1er gelang, den Harnstoff im Laboratorium künstlich herzustellen. Man erkannte, daß eine Synthese auf anorganischem Wege im Prinzip für alle organischen chemischen Verbin- dungen möglich sei und daß weder ein wägbarer noch ein unwägbarer Stoff existiere, an welchem die Lebenskraft haften könne. Das führte weiter zu der Überzeugung, daß die gleichen chemischen 368 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVin. Nr. 26 und physikalischen Gesetze auf den Gebieten des anorganischen und organischen Geschehens Geltung haben. Heute erkennt jeder Vitalist die physiko- chemischen Gesetze als den festen Unterbau an, auf dem sich allein die Biologie erheben kann. Von noch größerer Bedeutung war es, daß der Vitalismus seinen früheren anthropomorphistischen Standpunkt aufgab. Der Zweckbegriff ist vom menschlichen Tun hergenommen und von diesem auf die Naturvorgänge übertragen worden. Man glaubte daher zunächst, daß das zweckmäßige Ge- schehen in der Natur nach Analogie der zweck- mäßigen Handlungen des Menschen zu beurteilen sei und ihm eine bewußte oder unbewußte Zweck- tätigkeit zugrunde liege. Nach Auffassung der ältesten Vitalisten sollte es direkt auf die Eingriffe der absichtsvollen Tätigkeit eines außerweltlichen Schöpfers zurückzuführen sein. Schelling hatte dagegen im pantheistischen Sinne eine bewußtlos zweckmäßige Tätigkeit der überindividuellen Ver- nunft einer der Natur innewohnenden Weltseele angenommen. Diese Auffassung vertrat im Grunde genommen schon Johannes Müller. Auch in neuer Zeit findet man sie vielfach bei Vitalisten z. B. bei Becher. Der Psychovitalismus (Paul y) endlich verlegte die absichtsvolle Tätigkeit in den Organismus selbst. Nach ihm besitzen alle Orga- nismen, auch die Elementarorganismen, die Zellen, eine Seele und sind imstande mit Hilfe bewußter und unbewußter Seelentätigkeit die körperliche Gestaltung zu bestimmen. Über alle diese psychi- schen Auffassungen des Zweckgeschehens in der Natur gingen Vitalisten wie Hans Driesch und G. Wolff hinaus. Sie ersetzen die psychische Ursache durch eine psyrhoide, d. h. eine solche, die mit der psychischen nur die Art ihrer Wirkung gemein hat. Besonders G. Wolff lehnt den Psychovitalismus in entschiedenster Weise ab. Nach ihm und Driesch beruht die Zweckmäßig- keit in der Natur nicht auf der Tätigkeit einer Psyche, sondern auf einer höheren Gesetzmäßig- keit, welche die Gesetzmäßigkeiten des anorgani- schen Geschehens nicht aufhebt, sondern sich ihnen überlagert. Der Inhalt dieser höheren Gesetz- mäßigkeit ist, daß das Ganze die Teile bestimmt und nicht umgekehrt. Das Lebensagens ist, wie Driesch sich ausdrückt, „einüberindividuelles, an sich unräumliches Prinzip, das bei seiner individu- ellen Betätigung sich sowohl zeitlich als auch dreidimensional räumlich äußert und auf die Herstellung des Typus hinzielt." Das Bedürfnis regelt den Verlauf der Prozesse, aber es geschieht dies gesetzmäßig mit Ausschluß jeder Willkür. Da der einzelne Vorgang sich streng der geltenden Gesetzmäßigkeit unterordnet, mag es sich um statische oder dynamische Teleologie handeln, so sind die Zusammenhänge alles teleo- logischen Geschehens zugleich kausal und teleo- logisch zu beurteilen und gilt für sie der Begriff der Notwendigkeit. Daraus folgt dann, daß der moderne Vitalist ebenso wie der Mechanist bei seinen Untersuchungen das induktive Verfahren einschlagen kann. Bei diesem wird ja festgestellt, unter welchen Bedingungen eine Erscheinung oft eingetreten ist und daraus der Schluß abgeleitet, daß sie unter diesen Bedingungen immer eintreten muß. Dieser Schluß ist aber nur zulässig, wenn die Gleichförmigkeii der Natur oder der notwen- dige Zusammenhang zwischen Bedingung und Be- dingten vorausgesetzt werden kann. Fast noch durchgreifender sind die Wand- lungen, welche die Voraussetzungen erfahren haben, auf denen die mechanistische Richtung der Biologie beruhte. Zur Zeit Darwins herrschte ■ auf dem Kontinent in den naturwissenschaftlichen Kreisen die atomistischmechanische Naturauffas- sung. Wenn Darwin selbst auch diesen Stand- punkt nicht teilte, so ging doch die mechanistische Richtung der Entwicklungslehre von ihm aus. Die atomistisch-mechanische Theorie ist nun auch auf den Gebieten, die ihre eigentliche Domäne waren, auf den Gebieten der Physik und Chemie im Weichen begriffen, wenn nicht überwunden. Be- sonders durch die phänomenalistische Schule wurde die Ansicht vertreten, daß sie nicht zur Grundlage der wissenschaftlichen Naturerkenntnis gemacht werden könne. Nach Mach stellt die Atomenlehre nicht die Wirklichkeit dar, sondern gibt von ihr nur ein unzulängliches Bild, das man wohl aus didaktischen Gründen gebrauchen könne, aber wieder fallen lassen müsse, wenn es seinen Hilfsdienst verrichtet habe. Und ebensowenig wie die Atomistik den Dingen selbst entspreche, sollten sich auch die erkennbaren Beziehungen zwischen den Dingen durchweg in Mechanik auflösen lassen. Die Kritik des Phänomenalismus hat sich aller- dings nur zum Teil behaupten können. Hinsicht- lich der Atomistik ist seit der Boltzmann- Festschrift eine Reaktion eingetreten, die wieder zu einer Anerkennung der Atomenlehre geführt hat. Doch versteht man jetzt unter den Atomen nicht mehr kleinste materielle Teile, sondern im- materielle Kraftpunkte und nimmt damit einen Standpunkt ein, der von der alten materialistischen Stoff- und Kraftlehre wesentlich abweicht. Hat aber die Atomistik eine Erneuerung erfahren, so hat sich die Kritik der Allgültigkeit der Mechanik noch weiter verschärft. Schon dem Meister der klassischen Mechanik H. Hertz war es zweifel- haft, ob sie auch für das Gebiet der Biologie Geltung habe. Jetzt wird ihre Allgültigkeit auch für das Gebiet des anorganischen Geschehens be- stritten. Den stärksten Stoß erhielt sie durch die moderne Elektronentheorie, in welcher die alte Emmissionstheorie des Lichtes von Newton eine unerwartete Auferstehung feierte, und durch die Relativitätslehre. Die Allgemeingültigkeit der Mechanik war die materiale oder inhaltliche Grundvoraussetzung der mechanistischen Naturauffassung; ihre formale oder erkenntnistheoretische Grundvoraussetzung war die absolute Gewißheit der auf dem Wege der exakten Forschungsmethode gewonnenen Einzelerkenntnisse. Man glaubte, daß sie allein N. F. XVIII. Nr. 26 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 369 apodiktisch gewisse Erkenntnis gewähren könne. Bei der teleologischen Naturbetrachtung konnte man zu solchen sicheren Resultaten nicht kommen. Ein Vorgang, bei welchem der Voraussetzung nach das Ganze die Teile beherrscht, entspricht einer intuitiven Anschauung, nicht unserem dis- kursiven Denkvermögen, das nur vom Einzelnen zum Einzelnen fortschreitet und kann daher von diesem nicht erfaßt werden. Es lassen sich wohl Wahrscheinlichkeitsgründe dafür geltend machen — auch die Driesch sehen Beweise sind nur solche — daß teleologische Vorgänge vorliegen, aber wir können dieselben nicht im einzelnen ver- folgen und rekonstruieren. Wenn die mechanisti- sche Forschungsrichtung die teleologische Betrach- tungsweise nicht anerkennen wollte, so beruhte dies vor allem darauf, daß ihre Sätze nicht jene absolute Sicherheit in Anspruch nehmen konnten, welche man für das wesentliche Merkmal der naturwissenschaftlichen Erkenntnis hielt. Dieser vermeintliche Vorzug der letzteren besteht jedoch, wie jetzt allgemein anerkannt wird, überhaupt nicht. Auch die naturwissenschaftliche Erkenntnis kommt über einen größeren oder geringeren Grad der Wahrscheinlichkeit nicht hinaus, da alle ihre Grundbegriffe einen hypothetischen Charakter haben (W. Ostwald, Vorlesungen über Natur- philosophie S. 308) und ihre Urteile eine nur komparative Allgemeinheit besitzen. Soweit die Naturwissenschaft auf dem Gebiet des anorgani- schen Geschehens zur Feststellung von Konstanten gelangt und mit ihrer Hilfe die Erscheinungen in den Zusammenhang eines geschlossenen Systems zu bringen vermag, erreicht die Wahrscheinlich- keit allerdings den höchsten Grad, da ein solches System den Forderungen unseres diskursiv denken- den Verstandes ganz entspricht. Die Zurückfuhrung auf Konstanten ist ihr jedoch auf dem Gebiet des organischen Geschehens bisher nicht gelungen. So ist die mechanistische Naturauffassung hier aus der besonderen Stellung, die sie in erkenntnis- theoretischer Hinsicht einnahm, verdrängt und steht wie die teleologische auf dem Boden der nur hypothetischen Erkenntnisse. Nach einer anderen Seite hat sie selbst ihren Geltungsbereich eingeschränkt. Derselbe soll sich nur auf die mittlere Phase des Geschehens er- strecken. Die zweite von Dennert aufgestellte Möglichkeit, „daß die Absicht von außen her in das zweckmäßige Organ des Lebewesens hinein- gelegt ist, sowie in der Maschine die Absicht des Erbauers steckt", wird von den heutigen Mecha- nisten nicht geleugnet. Sie erkennen eine meta- physische Finalität an, die aber nur hinter der Kausalität, nicht neben der Kausalität ihren Platz habe. Die metaphysische Finalität soll die kau- salen Naturgesetze im deistischen Sinne so ge- ordnet haben, daß sie in ihrem Ablauf zu der zweckmäßigen Naturordnung führen. So schon bei Emil du Bois-Reymond und Haacke, bei beiden allerdings nur als Alternative; ferner bei Weismann, Bütschli, Plate u. a. Auf diese Weise will man einerseits die Naturwissen- schaften vor jeder Einmischung der Finalität und jeder Zumutung, sich um Zwecke zu kümmern, schützen und andererseits dem ethischen und religiösen Bedürfnis des Menschen die unentbehr- lichen Anknüpfungen an eine teleologische Welt- auffassung wahren. Es könnte so scheinen, als ob Teleologie und mechanistische Naturauffassung sich nicht mehr fern ständen und an einen Kompromiß zwischen beiden gedacht werden könnte. Das anzunehmen, wäre jedoch ein Irrtum. Die Gegensätze sind nicht abgeschwächt. Sie sind wohl auf die wesentlichen Punkte eingeschränkt, treten hier aber um so schärfer hervor. In dem teleologischen Prinzip, nach welchem das Ganze die Teile beherrscht und bestimmt, liegt stets etwas Irrationales, für unseren diskursiv denkenden Verstand Unauf- lösbares. Der Vitalismus erkennt ferner wohl an, daß die N^tur stets mit den chemisch - physikali- schen Mitteln arbeitet, die wir im anorganischen Geschehen antreffen, und nur aus dem Energie- vorrat der betreffenden Gebilde schöpfen kann, aber da die Vorgänge nicht nach den Gesetzen der molaren und molekularen Mechanik ablaufen sollen, ist er genötigt nichtenergetische Kräfte an- zunehmen, die kein Potential besitzen und nicht an ein Kraftzentrum gebunden sind. Sie können nicht Zentralkräfte sein, denn als solche wären sie den mechanischen Gesetzen unterworfen und könnten die Energie nicht zu bestimmten Zwecken aus einer Achse in die andere verschieben. Als energetische Kräfte aber würden sie durch ihr Auftreten und Verschwinden den Bestand der Energie vermehren und vermindern und mit dem Gesetz der Erhaltung der Energie in Widerspruch stehen. Die Annahme solcher nichtenergetischen Kräfte ohne Potential und ohne Kraftzentrum liegt ganz auf dem Gebiete der Naturphilosophie, auf das der Vitalist so schließlich doch gedrängt wird. Sie sind naturwissenschaftlich und mathe- matisch nicht faßbar. Die Mechanisten lehnen sie darum ab, da ihr leitender Grundsatz das für die ganze Naturwissenschaft des letzten Jahrhunderts geltende Axiom ist, daß die Natur erkennbar sein müsse. Wenn sie auch auf dem Gebiete des organischen Geschehens ihr Ziel, die komplexen Erscheinungen in ihre Komponenten, die allge- meinen Naturgesetze, aufzulösen, um sie aus diesen wieder geistig nachzuschaffen, bisher nicht er- reichen konnten, so nehmen sie doch „bis zum Beweise des Gegenteils an, daß die besonderen Wirkungsweisen, welche in den Lebewesen statt- finden, ihre Ursachen nur in der besonders kom- plizierten physikalisch - chemischen Zusammen- setzung des Protoplasmas haben", durch welche die Maschinenbedingungen für jene gegeben sind (W. R o u x). Der Nachweis einer Maschinentheorie des Lebens ist so das nächste Ziel der mecha- nistischen Richtung in der Biologie. Die Arbeit der Teleologen ist im Gegensatz dazu darauf ge- richtet, eine immer größere Anzahl von Fällen 370 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 26 aufzufinden und möglichst genau zu analysieren, in denen das Bedürfnis für den Ablauf des Ge- schehens den Ausschlag gibt, ohne daß sich dieser durch hypothetische Maschinenbedingungen er- klären ließe. Man kann die Biologie mit einem Tunnelbau vergleichen, der an zwei Punkten in Angrift" ge- nommen worden ist. Obgleich die Belegschaften in entgegengesetzter Richtung arbeiten, fördern doch beide, wenn nur eine allgemeine Orientierung stattgefunden hat, das Werk. Ob dann, wenn der Durchschlag erfolgt ist, beide Belegschaften ab- treten und einem Neuen Platz machen , ob mit anderen Worten aus der Thesis und Antithesis des jetzigen Vitalismus und Mechanismus nicht ein Kompromiß, aber eine neue Synthesis hervor- gehen wird, ist eine Frage, die sich aufdrängt, weil das große Problem von beiden nur stück- weise gelöst wird, deren Beantwortung aber in der Hauptsache dem Naturphilosophen zufallt und hier nicht zur Erörterung stehen kann. Ein Beitrag zur Gescliichte der Mammutfuiide. [Nachdruck verboten.] In früheren Jahrhunderten hat man sich be- kanntlich auf verschiedene Arten das Vorkommen von Versteinerungen erklärt. Zu der im 16. und 17. Jahrhundert vorherrschenden Ansicht, daß es lediglich Naturspiele — lusus naturae — seien, hat Prof. A n d r e e in der Naturwissenschaftlichen Wochenschrift ') einen Beitrag geliefert, und über die Versuche, die speziell zur Erklärung des Vor- kommens von Mammutzähnen gemacht wurden, hatte vor längerer Zeit der bekannte Zürcher Zoologe Arnold Lang berichtet.-) Hatte man diese in früheren Zeiten für Überbleibsel von Riesen, Klauen von Riesenvögeln gehalten, so neigte man, namentlich im 17. Jahrhundert, mehr zu der Ansicht, daß es sich um Überreste von Elefanten handle, die im Altertum von Menschen aus fernen Gegenden herbeigeschleppt worden seien und an der Fundstelle ihren Tod gefunden hätten. So hat der dänische Naturforscher Steno, ein Freund Swamm er dams, die in Toscana ge- fundenen Mammutüberreste als herrührend von Hannibals Kriegselefanten angesehen. Über die in Sibirien vorkommenden Knochen und Zähne, sowie über die ganzen Kadaver dieser wollhaarigen Gesellen berichtete schon 1704 der moskowitische Gesandte Isbrand Ides, der 1692 durch Sibirien an den Hof von Peking reiste, in seinem Tagebuch. Er teilte darin mit, daß die Jakuten, Tungusen und Ostjaken glauben, dieses Tier lebe unter der Erde und würde in demselben Augenblicke sterben, wo es an die Oberfläche käme; die sibirischen Russen hingegen seien der Meinung, daß es Elefanten seien, die sich vor der Sündflut hier aufgehalten hätten und nur durch die große Kälte vor dem Verwesen bewahrt geblieben seien. In einer chemischen Zeitschrift aus dem Von Dr. E. P. Häußler. ') „Einige Bemerkungen zur Geschichte der Geologie, insbesondere der „phantastischen Periode" der Paläontologie". Naturw. Wochenschr. XVI. 51. S. 719 (1917). '') ,, Geschichte der Mammutfunde, ein Stück Geschichte der Paläontologie, nebst einem Bericht über den schweizerischen Mammutfund bei Niederweningen 1890/1891." Neujahrsblatt herausgegeben von der (Züricher) Naturforschenden Gesell- schaft auf das Jahr 1892. XCIV. Zürich 1892. Ende des l8. Jahrhunderts habe ich einen Beitrag zu dieser Frage angetroffen, der in mancher Hin- sicht, nicht nur in paläozoologischer, interessant sein dürfte. Die „chemischen Annalen für die Freunde der Naturlehre, Arzneygelahrtheit, Haus- haltungskunst und Manufacturen", die vom Berg- rate I^orenz von Crell herausgegeben wurden, enthalten im 2. Bande des Jahres 1788 unter ,, vermischte chemische Bemerkungen aus Briefen an den Herausgeber" von einem gewissen Hofrat Herrmann in Catharinenburg folgende Mittei- lung: ^) „Bey den hiesigen Goldgruben ist unlängst, bey Bearbeitung eines Wasserstollens, ein Ele- phantenzahn in einer Teufife von 2 Arschinen 2 Wersch gefunden worden." — „So viel Ele- phantenknochen auch in Sibirien ausgegraben werden, so ist dieses im Uralischen Gebürge meines Wissens doch das erste Beyspiel, daß man dergleichen Überbleibsel aus den Vorzeiten, so hoch im Gebürge gefunden hat; und überdies noch gerade über den edlen Gängen, und in einer Gegend, in welcher nicht die mindeste Spur von Versteinerungen oder andere Merkmale zu ent- decken sind, woraus zu schließen wäre, daß sie einst von, mit Meeresbrut versehenen, Gewässern bedeckt gewesen sey. Das Daseyn dieser Knochen bleibt also wohl immer noch ein Problem. Sollte wohl eine Flut ganz Deutschland, Polen, Rußland, Sibirien u. a. m. mit solchen Knochen besäet haben ? Sollte eine solche Flut, die hohen Altaiischen, Ura- lischen, Kaukasischen, Karpathischen und andere Ge- bürgszüge überstiegen haben; ohne auf denselben eine andere Spur ihrer Überschwemmung zurück- zulassen als diese Knochen, die doch auch größten- teils nur in den Flächen gefunden werden ? Ehe man noch wußte, daß die genannten Sibirischen Mamuts- knochen nichts anderes als Elephantenzähne seyen, und jene für das Hörn eines besondren, unter der Erde lebenden Thieres ansah, war man geneigt, die Elephantenknochen in Deutschland u. s. w., von den Heerzügen der Römer abzuleiten. Wollte man (die andern Schwürigkeiten gegen diese Meynung abgerechnet) auch die Sibirischen Ele- ') Seite 325. N. F. XVIII. Nr. 26 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 371 phantenknochen gleichfalls ähnlichen Ursachen zu- schreiben; so würde es doch kaum glaublich seyn, daß eine Nation sich mit ihren Elephanten so weit in dieses kalte Land halte wagen können? Sollte man nicht mit mehrerer Wahrscheinlichkeit an- nehmen können, daß diese Gegenden einst von Elephanten bewohnt worden, und diese Länder damahls viel wärmer gewesen seyen ? ich dächte, man brauchte, um die Veränderungen der Witterung zu erklären, unsern Erdball eben nicht für einen geschmolzenen Glasklumpen anzusehen, und daher der Erkältungstheorie des Herrn Grafen von Buffon beyzutreten. Sollten nicht die ungeheuren Eisfelder um den Nordpol, die doch einst nicht dagewesen seyn müssen, und jährlich zunehmen, benebst den immer mehr anwachsenden Schnee- und Eisbergen in den hohen Gebürgen, diese Veränderung in einer Folge von vielen Jahrtausenden haben zu- wege bringen können? Zu geschweigen, daß eine allmähliche Verrückung der Erdachse in der That nicht unmöglich ist. Aber unser Leben ist gegen so viele Jahrtausende ein Nichts, und uns daher auch die stuffenweisen Veränderungen der Natur unmerklich I Ein fast ganz verwitterter Elephanten- zahn, der mit beynahe vier Fuß dicker Erde be- deckt war, die nicht aut einmahl über denselben geworfen worden, sondern sichtbarlich nach und nach von den aufgelösten Pflanzen und dem Nieder- schlage der im Wasser befindlichen Erdtheilchen entstanden ist, setzt wenigstens einen sehr be- trächtlichen Zeitraum voraus." Wie aus diesem wörtlichen Zitate hervorgeht, hat der Verfasser darin auch Gedanken ausge- sprochen, die heute in Zusammenhang gestellt werden können mit der Simrothschen l'endula- tionstheorie. ') Benedikt Franz Herrmann, russisch- kaiserlicher wirklicher Hofrat, war ein eifriger Mit- arbeiter der Cr eil sehen Annalen, vorwiegend auf dem Gebiete der Mineralchemie. Er hat auch verschiedene Werke verfaßt, so u. a. „Beyträge zur Physik, Ökonomie, Technologie, Chemie und zur Statistik der russischen und der angrenzenden Länder" 'j und mußte als Vertreter der Phlogiston- theorie dem Pierausgeber der Annalen, Crell, besonders sympathisch sein. Auch über die Be- reitung des Damaszenerstahls hat Hermann in den „Annalen" — in denen auch Alexander von Humboldt verschiedene Abhandlungen ver- öffentlicht hat — eingehend berichtet. In den „Mineralogisch-geographischen und anderen ver- mischten Nachrichten von den Altaischen Gebürgen russisch-kayserlichen Antheils" ^) hat ein Kollege Herrmanns, der russische Oberbergmeister R e - novanz, mitgeteilt, daß „im Ula-aleiskischen Ge- birge, am Bache Beresowka eine Parthie großer Elephanten wie auch Backenzähne und Knochen anderer Tiere" gefunden worden seien, ferner auch an anderen Orten „Knochen von solchen riesen- mäßigen Tieren, die hier nie wohnten".*) ') „Die Pendulationstheorie" von H. Simroth. Leipzig 1907. 2) Berlin 1787. 3) Reval 17S8. ■*) Daß es sich um Elefanten, bzw. um Teile von solchen handle, war auch die Ansicht eines anderen Mitarbeiters der Cr e tischen Annalen, eines ,,Leibmedicus" Brückmann. Er schreibt in einer kurzen Abhandlung (Jahrgang iSoo, Bd. II, S. 264) über ein antikes kupfernes Instrument hierzu folgen- des: ,,Von Leibnitz auf der zwölften Kupfertafel seiner Protogaea bildet einen großen Zahn eines unbekannten Thiers ab, welcher sich in eben dieser Gegend bei Thiede (eine Meile von Braunschweig entfernt) gefunden hat, und ist, nach der Abbildung zu urteilen, ein Elefantenzahn". Einzelberichte. Geologie. „Über den vulkanischen Ausbruch des San Salvador im Juni 191 7" gibt Immanuel Friedlaender (Zeitschrift für Vulkanologie, Band IV, Heft 2/3) einen nach den Berichten der Augenzeugen und Zeitungsausschnitten zusammen- gestellten Bericht. Der Ausbruch entstand auf der Flanke des 1887 m hohen dem Vulkan San Salvador (in der gleichnamigen Republik gelegen) benachbarten Kraters Boquerön. In historischer Zeit ist von einer Tätigkeit dieses Kraters nichts bekannt geworden. Er war ursprünglich trocken, mit Fumarolen in seinem Inneren; nach dem Jahre 1576 zu nicht genau bekannter Zeit bildete sich im Kratergrund ein See. Der Eruption ging ein etwa 10 Sekunden dauerndes Erdbeben voraus, das heftige Zer- störungen anrichtete, Dächer selbst festgebauter Häuser der weiteren Umgebung zum Einsturz brachte, Straßen- und Bahnkörper beschädigte und die alten Kraterwände zum Teil unter Bildung von Spalten zum Einsturz brachte. Die Stöße wiederholten sich während der Eruption sehr häufig und waren besonders heftig nach kürzeren Pausen in der Eruptionstätigkeit. Die Eruptionszeit dauerte vom 6. — 13. Juni. Es öffneten sich mehrere, später z. T. miteinander verbundene Eruptionskanäle, von denen der tiefst- gelegene die heftigsten Eruptionen aufwies. Eine schnellfließende Fladenlava (mehrere Bewohner konnten der Lava nicht schnell genug entfliehen) wurde später von einer Blocklava abgelöst, die bei einer Breite von 2 — 3 km eine Länge von 6 — 7 km erreichte. Die Mächtigkeit des Lava- stromes soll an einigen Stellen so beträchtlich gewesen sein, daß die Gipfel der höchsten Bäume gerade herausragten, während sie in tief gelegenen Teilen 50 m erreichte. Die außer der Lava aus- geworfenen Schlacken- und Aschenmassen be- deckten in der Nähe der Auswurfstellen den Boden in einer Stärke von über i m. Den schädlichen Bestandteilen der Asche fiel die gesamte Vege- tation zum Opfer, Leuten, die ihr barhäuptig in 372 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 26 der Nacht ausgesetzt waren, fielen die Haare aus. Der Hauptkrater Wieb bis auf die Bildung einiger P'umarolen ruhig; einige Beobachter melden ein Ansteigen seines Spiegels. Von besonderer Bedeutung ist noch die Meldung, daß in La Liber- tad das Meer während, der ganzen Dauer der Eruption in Fluthöhe stand, dabei aber keine be- sondere Bewegung zeigte. Aus der Beobachtung, daß die stärksten Erd- bebenstöße nach kürzeren oder längeren Pausen in der Tätigkeit der heftigsten Auswurföfifnung auftraten, zog man eine praktische Folgerung: Durch Beobachtungsposten wurden die Bewohner der nahen Hauptstadt gewarnt, sobald eine Pause in der Eruption eintrat. W. Kegel. Die Zinnerzvorkommen des Kongostaates schil- dert auf Grund eigener Anschauung Dr. F. Beh- rend in der Zeitschr. f. pr. Geol., XXVII. 1919. S. 19 — 22. Im belgischen Kongostaate sind an mehreren Stellen Zinnerzvorkommen entdeckt worden , die von zweierlei Art sind, nämlich I. zinnerzführende Gänge und 2. eluviale und alluviale Zinnerzseifen. Die ausgedehntesten dieser Vorkommen liegen in Mittelkatanga, und zwar in einem Gebiet zwischen dem Luababa und dem Tanganikasee vom Luama, einem Nebenfluß des Luababa, im Norden, bis zum Bia-Gebirge im Süden. Die beiden wichtigsten zinnerzführenden Gebiete dieser Gegend sind die Vorkommen von M u i k a und die Lagerstätten des Bia-Gebirge s. Die Lagerstätte von Muika liegt etwa 15 km südlich des großen Regierungspostens Kiambi auf beiden Seiten des Luvua. Das Gebiet besteht vorwiegend aus dunkelen Ouarziten und Glimmer- schiefern, auch Gneisen, die mehr oder weniger stark aufgerichtet und gefaltet sind. Sie sind viel- fach von Pegmatit-, seltener Granitgängen durch- brochen, die selten 50 — ÜO m Länge bei einer wechselnden Mächtigkeit von 3 — 10 m über- schreiten. Nur die Pegmatitgänge führen vor- wiegend in ihrem zu einem aus Quarz und Kali- glimmer bestehenden Greisen umgewandelten Teile Zinnstein in oft bis zu 5 cm großen Kristallen, die meist gut ausgebildet sind und dem sächsi- schen Typus angehören. Vom Verf. gefundene, ausgewalzte und zerrissene Kristalle sowie Spuren von Pressung am Qurz und Glimmer deuten da- rauf hin, daß die Gänge von späteren tektonischen Bewegungen mit beeinflußt worden sind. Aus der Umwandlung der Orthoklase in Kaliglimmer sowie aus dem Funde einer wohlausgebildeten Pseudomorphose von Zinnstein nach Orthoklas schließt der Verf , daß die Pneumatolyse und Ein- wanderung der Greisenmineralien erst begann, nachdem der Pegmatit bereits fertig ausgebildet war. Ferner konnte er feststellen, daß sich in dem untersuchten Gebiet in der Regel Zinnstein und Turmalin meiden. In den Schiefern findet sich mehrfach in der Nähe der Gänge Andalusit, seltener Topas. Die Erzführung der Gänge von Muika ist im allgemeinen als arm zn bezeichnen und erreicht nur in ausgesuchten Partien I %. Ein regelrechter Abbau der Gänge ist daher noch nicht begonnen worden. Dagegen sind während des Krieges die aus dem Verwitterungsschutt der Gänge entstandenen Seifen abgebaut worden. Doch auch hier scheint eine starke Konzentration nicht vorzuliegen (0,05 — 0,07% gegen 0,1 — 0,15 "/^ der malayischen Seifen). Die bei weitem ausgedehnte- sten Zinnerzgebiete sind die Gänge und Seifen des Bia-Gebirges in der vom Lutiva und Lualaba gebildeten Flußgabel. Das Zinnerz ist auch hier an Pegmatitgänge gebunden, die die kristallinen Schiefer und Granite dieser Gegend durchsetzen. Ihr Gehalt an Erz ist teilweise ziemlich gleich- mäßig und sie sind bis zu 1400 m streichender Länge verfolgt worden. Im Ausgehenden dieser Gänge haben sich eluviale Seifen gebildet, deren mittlere Mächtigkeit 60 cm beträgt und die an- geblich einen mittleren Erzgehalt von i ^'/o haben sollen. Die reichsten Seifen sind die von Bus- sauga, wo sie über lOO ha bedecken und etwa 120 — 150 t SnO„ enthalten sollen. Anderereiche Vorkommen liegen bei Kassonso und Shikoli. Die alluvialen Seifen sind weit verbreitet, doch ist ihr Erzgehalt sicher sehr gering, so daß größtenteils ein Abbau ausgeschlossen sein dürfte. Den Metall- vorrat in der ganzen Gegend haben die Belgier auf etwa 20 000 t geschätzt. Ob diese Schätzung nicht etwas sehr reichlich ist, wird die Zukunft lehren. Außer in diesen beiden Hauptgebieten ist noch an mehreren Stellen Zinnerz gefunden worden, doch ist der Erzgehalt der Lagerstätten entweder sehr gering, oder es ist noch nichts Näheres da- rüber bekannt geworden. F. H. Zoologie. Das Entstehen von Schnakenplagen. In einigen Gegenden Deutschlands, wie z. B. in den Niederungen des Oberrheins, gehört die Schnakenplage seit alters zu, den bestimmenden Kennzeichen des Landes, in anderen Gebieten wieder, die ehedem schnakenfrei waren, ließ sich ein allmählich immer stärker werdendes Schnaken vorkommen beobachten, das schließlich zu einer richtigen Schnakenplage führte. Über das Entstehen einer derartigen Schnakenplage, verursacht durch die gemeine Stechschnake Culex pipüns, konnte Dr. Heinrich Prell- Tübingen interessante Beobachtungen anstellen, über die er in der Zeitschrift für ange- wandte Entomologie (Bd. V Heft i S. 61) berichtet. Im allgemeinen ist die gemeine Stechmücke sehr weit verbreitet, aber es ist die erstaunliche Tatsache zu verzeichnen, daß nicht überall da, wo es von Culex pipicas wimmelt, auch von einer Schnakenplage gesprochen werden darf. So betont Prell, daß er im Herbste I917 in Spa reichlich Culex fipietis an jedem Tümpel oder Wasserloch antraf und die Schädlinge anfangs Oktober des Abends in Massen in die Zimmer eindrangen, ohne daß trotzdem jemand an der N. F. XVIII. Nr. 26 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 373 Schnakenplage zu leiden gehabt hätte; denn „diese Schnaken stachen nicht". Ähn- liche Fälle, wenn auch nicht in so überraschendem Maßstabe, hatte Prell noch Gelegenheit, in der Nähe Dresdens festzustellen. Aus dieser Konsta- tierung Prelis geht hervor, daß sich „Culex pipicns an verschiedenen Orten verschieden in ihren Lebens- gewohnheiten, und zwar gerade in bezug auf die praktisch wichtigsten Eigenschaften, nämlich das Stechen, verhält". Die Erklärung dieser Tatsache, als handle es sich dabei um zwei verschiedene Formen, um eine stechende und eine nicht stechende „Form" von Culex pipiois, hält Prell nicht für richtig. IVlöglich erscheint es eher, daß es sich um zwei biologische Rassen handelt, deren Spal- tung eine morphologische Differenzierung nicht parallel gegangen oder noch nicht gefolgt ist. Ursprünglich ist Culex pipieiis jedenfalls eine Vogelschnake gewesen, dafür spricht entscheidend, daß Culex pipieiis der Zwischenwirt für Proteosoina, den Erreger der Vogelmalaria, ist. Die Entstehung von Schnakenplagen erklärt nun Prell folgender- maßen: ihre große Anspruchslosigkeit in bezug auf ihre Brutgewässer ermöglicht es der gemeinen Stechschnake vor allem, sich auch da noch zu halten, wo die fortschreitende Kultur den Wald- schnaken allmählich die Existenzbedingungen fühl- bar verschlechterte. Infolgedessen war Culex pipieiis, wie wohl sonst keine andere Schnake, geeignet, die vorherrschende Form in und um menschliche Siedelungen zu werden. Damit mußte natürlich noch nicht unbedingt eine Änderung in ihrem biologischen Verhalten einhergehen. Nach wie vor war sie eine Schnake, die vorzugsweise Vögel heimsuchte und ihre erwiesenermaßen stark entwickelte Fähigkeit, auch ohne die Kraftnahrung durch Blut ihre Eier vollständig auszubilden, er- möglichte ihr auch dann die Existenz, wenn sie keine Gelegenheit zum Blutsaugen fand. Auf der anderen Seite ist aber die veränderte Umwelt in des Menschen Nähe häufig auch nicht ohne Ein- fluß auf die Lebensweise der Schnaken geblieben. Reichliche Brutstätten in den Bewässerungs- und Abwasseranlagen einerseits, günstigere Lebens- bedingungen in diesen Brutstätten wegen des Mangels von Feinden andererseits, gestatteten den Schnaken eine ausgiebigere Vermehrung. Und diese Verhältnisse beeinflussen anscheinend ge- legentlich die biologischen Gewohnheiten der Schnaken. Sie entwöhnten in manchen Gegenden auf der einen Seite oftenbar das Blutsaugen und damit auch das Stechen ganz, gewöhnten sich aber in anderen Fällen „infolge des Umstandes, daß einerseits verhältnismäßig wenige Vögel zur Verfügung standen, andererseits aber Säugetiere reichlich in der Umgebung vorkamen, daran, auch Säugetiere in verstärktem Maße heimzusuchen". Auf diesem Wege fortschreitend, glaubt Prell, ist Culex pipiens zu einer Schnake geworden, die als ausgesprochener Blutsauger des Menschen zu einem argen Piagegeist geworden ist. So kann man in der den Menschen so unermüdlich belästigenden Form von Culex pipiens eine fortschrittliche Ab- änderung erblicken, deren Entstehung nur eine Folge dessen ist, daß sie allmählich in ein bio- logisches Abhängigkeitsverhältnis zum Menschen geriet. Aus der in Wiesengräben brütenden Vogel- schnake, die in Gebüschen ihre gefiederten Opfer aufsuchte, ist eine nahezu omnivore Säugetier- schnake geworden, welche, in den Wasserstellen und Abwasseranlagen der menschlichen Siedelungen brütend, vorzugsweise auch die Menschen selbst und ihre Haustiere verfolgt, und an ihnen ihren Blutbedarf deckt. Mit welcher Schnelligkeit sich nun eine solche Schnakenplage in einer Gegend entwickeln kann, auf Grund der ungeheuren V^ermehrungsfähigkeit von Culex pipiens, darüber können uns die Be- obachtungen Fr. Glasers in der Nähe von Straß- burg belehren (Biologisches Centralblatl 1918).' In zwei Abwassergräben einer großen Lederfabrik waren alle Bedingungen für ein gutes Gedeihen von Culiciden gegeben: ihre Wasser waren von hoher Temperatur und boten den Larven reich- liche Nahrung, waren überdies von natürlichen Feinden der Schnaken nicht besiedelt. Bis zum Jahre 191 5 konnte sich hier Culex pipiens unge- hindert vermehren, erst in diesem Jahre wurde mit einer systematischen Bekämpfung begonnen. Aber auch 191 5 wurde die Schnakenbekämpfung mit nur unzureichenden Mitteln ausgeführt, so daß bis zum Jahre 1916 eine ausreichende Herab- setzung der Schnakenplage kaum zu verspüren war. 1917 nahm nun Fr. Glaser eine Zählung der Eierschiffchen vor, die bei einem Bekämpfungs- versuch durch Entkrautung und Reinigung der Kanäle zum Abschwimmen gebracht werden konnten. „Die Eierschiffchen geraten nämlich durch den Rechen in die Strömung und werden von ihr in kurzer Zeit in den die Gräben auf- nehmenden lUfluß getrieben." Es war natürlich verlockend, die Zahl der ständig die Kanäle hinab- treibenden Eierschiffchen festzustellen. F r. G 1 a s e r hat dann den Versuch auch ausgeführt, er berichtet darüber folgendes: „Am 20. August, an dem Reinigungstage, wurde durch eine etwa 3 m lange Holzleiste die Oberfläche des einen Grabens unter einem spitzen Winkel in der Weise abgesperrt, daß nur noch eine 30 cm breite Öffnung an dem einen Ufer übrig blieb, die alle schwimmenden Gegenstände passieren mußten. Da aber die Zahl der abschwimmenden Eier zu groß war, um von einem Paar Augen erfaßt und gezählt zu werden, wurde die Öffnung durch einen in den Boden gesteckten Stab noch in zwei Abteilungen zerlegt, so daß wir uns zu zweit in die Arbeit des Zählens teilen konnten. Bei der ersten Zäh- lung, die 5 Minuten dauerte, schwammen durch beide Abteilungen zusammen 1162 Schiffchen. Eine zweite Zählung, als Kontrolle, ergab für den Zeitraum einer Minute 233 Gelege, also fast das gleiche Resultat wie bei der i. Zählung. Rechnet man als Durchschnittszahl für jedes Schiffchen nur 200 Eier, dann passieren während einer Reinigungs- 374 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 26 maßnähme, die 3 Stunden dauert, nach den Be- rechnungen Glasers 233 X 200 X 60 X 3 = 8388000 Eier den Graben. Das ergibt für beide Gräben 16 776000 bei einer Reinigung, also in der Woche, wenn die Kanäle zweimal gereinigt werden, rund 33 Vo Millionen Schnakeneier." Für die Monate Juli/August, wenn nicht für die heiße Jahreszeit überhaupt, haben diese Berechnungen sicher ihre Gültigkeit. Man kann aus den Beobach- tungen Glasers schließen, welch ungeheure Be- lästigung die Schnaken für die Umwohner dieser Gegend zu einer Zeit bedeutet haben müssen, wo noch nichts gegen die Parasiten geschah. H. W. Frickhinger. Maikäferplage und Vogelschutz. Im Anschluß an die auch an dieser Stelle besprochenen Er- fahrungen von Forstmeister LoosLiboch a. E."^) teilt nunmehr auch der bekannte bayrische Ver- treter des Vogelschutzes Forstmeister K. Haenel- Bamberg seine Beobachtungen über die Mithilfe der Vogelwelt bei der Bekämpfung der Maikäfer- kalamitäten mit (Zeitschrift für angewandte Entomologie Bd. V, Heft i, S. 34—42). Haenel hat zum Studium dieser Beziehungen den als Dorado des Maikäfers bekannten Bien- wald in der bayrischen Rheinpfalz besucht. Die Maikäferplage war zu der Zeit, als Haenel seine Beobachtungen dort anstellte (3. — 8. Mai 191 5) ungeheuer groß, wurden doch während dieser Zeit an einem einzigen Tage ca. 500 000 Maikäfer der beiden Arten Alelolojitha vulgaris und M. hippocastani von Laubbäumen, namentlich von Eichen und Hainbuchen, abgeschüttelt. Haenel bestätigte ö8 Vogelarten als Stand- und Brutvögel des Bienwaldes, eine Liste, die natürlich schon im Hinblick auf die kurze Zeit, während der Haenel im Bienwald weilte, nicht als lückenlos bezeichnet werden kann. Von diesen 68 Vogelarten be- teiligten sich 17 Arten, wie Haenel entweder im Freien beobachtete oder durch Magenunter- suchungen feststellte, an derVertilgung der Maikäfer. Es waren dies vor allem die Meisen, wie Kohlmeise (Pariis major), Blaumeise {P. coeriileits), Sumpfmeise (P. palustris), Tannenmeise (P. atcr), und Haubenmeise (P. cristatus), außerdem der Kleiber (Sitta caesia), der Wiedehopf (Upupa epops), der Star (Stur- nus vulgaris), die Amsel (Turdus incrula), der Neuntöter {Lauius collurio), der Buchfink (Fringilla coeltbs), der Feldsperling (Passer vioiitaiuis) und endlich von den Raubvögeln die Waldohreule (Asio otus), der W a 1 d k a u z (Syrniuin aluco), der Steinkauz (Athene uoctua), der Bussard (Buteo buteo), und der Turmfalke (Cerclmeis finnuiicula). „Sehr eifrig waren Kohl- und Blaumeise, Star, Buchfink, Feldsperling und wahrscheinlich die Eulen." Interessant sind die Beobachtungen Haenels über die Art, wie die Vögel ihre Beute angreifen. „Der Star liest die ') „Maikäferbekämfung und Vogelwelt" Jahrg. 1918, S. 189. Beute von den Bäumen ab, faßt sie dabei am Hinterleib und wetzt dann den Schnabel an einem Ast hin und her, bis der weiche Hinterleib ab- reißt und der Thorax mit den Gliedern hinunter- fällt; es wird also in der Regel nur der weiche Leib verzehrt. Gerade entgegengesetzt verfährt der Fink, der als Körnerfresser die harten Körper- teile vorzuziehen scheint, wenigstens sah ich zwei- mal zu, wie ein Buchfink einen sehr geschickt im Fluge erhaschten Maikäfer auf dem Boden mit einigen kräftigen Schnabelhieben tötete und dann den Kopf mit dem Proihorax fraß. Die Feld- sperlinge bearbeiten die Käfer auf dem Boden so gründlich, daß nur die Flügeldecken übrig bleiben. Eine Blaumeise flog mit einem Mai- käfer im Schnabel auf einen Holzstoß, nahm den Gefangenen trotz seiner kräftigen Befreiungs- versuche fest in die Krallen, setzte den Schnabel zwischen die Flügeldecken, schob diese ausein- ander, öffnete dann ohne Mühe von oben den hier weichen Hinterleib und verschlang die Eingeweide." Trotz dieser regen Tätigkeit der Vogelwelt im Kampfe gegen die Maikäfer, konnte eine merk- liche Herabsetzung der Schädlingsplage dadurch nicht festgestellt werden. Haenel kommt in dieser Beziehung zu ganz ähnlichen Schlüssen wie Loos. Die Massen der Maikäfer — es schwärmen bei normaler Witterung innerhalb von 8 Tagen rund 5 Millionen Käfer auf einer Fläche von etwa 2000 ha — ist zu groß, als daß die vorhandenen Vögel damit fertig werden könnten. Außerdem wird auch noch der Umstand berücksichtigt wer- den müssen, daß der sehr große, kräftige und wegen seiner starken Chitinpanzerung schwer zu bewältigende Käfer nur alle 4 Jahre in den ange- gebenen Riesenmengen auftritt. ,,Die Vögel könnten daher nur dann von Bedeutung werden, sagt Haenel, wenn sie sich ebentalls alle 4 Jahre plötzlich in ungeheurem Maße vermehren oder aus anderen Gegenden dorthin zusammenziehen würden, was leider nicht möglich ist." Die Haupt- arbeit im Kampfe gegen den Maikäfer, schließt Haenel, wird immer der Mensch zu leisten haben, daneben wird freilich auch die Vogelwelt in Würdigung der obwaltenden Umstände als mit- helfender Faktor in Betracht gezogen werden können. Vor der Überschätzung ihrer Rolle im Kampfe gegen die Maikäferplage ist allerdings auch nach Haenels Erfahrungen zu warnen. H. W. Frickhinger. Spulwürmer im Gallengang. Der gemeine Spul- wurm (Ascaris lumbricoides L.) einer der häufig- sten Schmarotzerwürmer, namentlich des Kindes- alters, verläßt bekanntlich zuweilen den Dünndarm, seinen normalen Wohnsitz, und löst durch seine Wanderungen mitunter schwere, besonders nervöse, hysterische und epileptische Erscheinungen aus. Er kann in den Magen gelangen, von wo er durch die Speiseröhre in den Rachen aufsteigt; ent- weder verläßt er denselben durch den Mund beim Erbrechen, oder beim Niesen durch die Nase. In N. F. XVIII. Nr. 26 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 375 seltenen Fällen gelangt er in die Luftröhre und Lunge, dringt durch die Eustachsche Röhre in das Mittelohr vor; ja er wurde sogar schon im Tränennasenkanal gefunden. Nur wenige Fälle sind in der Literatur be- kannt, wo er vom Dünndarm aus in den Gallen- gang der Leber ') vordrang. Über ein derartiges Vorkommnis berichtet Hörhammer (Nr. 12, 19 19) in der Münchener Medizinischen Wochen- schrift. Es handelte sich um eine sonst ganz ge- sunde 46 jährige Patientin, welche eine druck- empfindliche Geschwulst am rechten Leberrand hatte ; wie die Probepunktion ergab, wurde die- selbe durch eine Gallencyste hervorgerufen. Durch dem Mund wurde wiederholt Spulwürmer entleert und nach Freilegung des Gallengangs fand man» denselben durch ein 16 cm langes Spulwurmweib- chen verstopft. Es erhebt sich die Frage, welcher Umstand wohl die Spulwürmer zum Eindringen in den Gallengang veranlaßt haben möge. Ursache ist einmal Temperatursteigerung, wie bei Fieber, und anderseits ein Sinken der Körperwärme, wie nach dem Tode. Eine nicht allzu seltene Erscheinung ist es ja, daß die Würmer aus der Leiche aus- wandern. Daß der Spulwurm gerade den engen Gallengang aufsucht, erklärt sich aus seiner Vor- liebe für das Durchzwängen durch enge Spalten. Ist die Mündung des Gallengangs auch nur 3 mm weit, der Umfang eines Spulwurms dagegen bis 4 mm, so vermag er sich doch allmählich vor- zuschieben, nachdem er mit dem stark verjüngten Kopfende eingedrungen ist. Hat doch em eng- lischer Arzt einer auf dieser Vorliebe basierende eigene P'angmethode angegeben. Kathariner. Anthropologie. Einen eigenartigen Be- wegungsreflex beim Säugling beschreibt E. Moro im Verlauf einer Arbeit über die ersten drei Lebensmonate des Menschen (Das erste Trimenon, Münch. med. Wochenschr., 65. Jahrg., Nr. 42). Die Arbeit, die sich im allgemeinen mit der allen Kinderärzten bekannten Tatsache beschäftigt, daß die ersten drei Monate einen besonderen, für sich bestehenden kritischen Abschnitt des Kindes dar- stellen, geht auf eine Beobachtung ein, die der Verf. zu studieren Gelegenheit hatte. ,,Legt man einen jungen Säugling auf den Wickeltisch und schlägt man zu beiden Seiten mit den Händen auf das Kissen, so erfolgt ein eigenartiger Be- wegungsreflex, der ungefähr folgendermaßen ver- läuft : Beide Arme fahren symmetrisch auseinander, um sich hierauf unter leicht tonischen Bewegungen im Bogen wieder annähernd zu schließen. Ein ') Mit Wehmut gedenkt Ref. eines Briefes, den er am 5. Juli 1915 aus Bad Kissingen von seinem verehrten frühern Chef und Gönner, Prof. Ur. Bo v eri-VVürzburg, erhielt. B. teilte mit, daß man bei ihm in der Leber einen von Galle grüngefärbten Spulwurm gefunden hätte. War es doch eine andere Askarisart, die ihm das Material zu seinen grundlegen- den Arbeiten über Eireife und Befruchtung geliefert hatte. ähnliches motorisches Verhalten zeigen gleichzeitig beide Beine." Dieser Reflex erlischt nach dem ersten Vierteljahr. Moro glaubt nun für diesen eine Erklärung gefunden zu haben. Doflein teilt die Säuglinge des Tierreiches in dem Werke „Tierbau und Tierleben" ein in „Beutelsäuglinge", „Lagersäuglinge", „Brustsäuglinge" und „Laufsäug- linge". Die Beutelsäuglinge werden im Beutel von der Mutter herumgetragen, die Lagersäuglinge verbringen ihre erste Jugend im Nest, die Brust- säuglinge werden, da ein besonderes Lager für sie nicht gebildet wird, von der Mutter an der Brust herumgetragen, die Laufsäuglinge laufen sofort nach der Geburt der Mutter nach. Zu den Brust- säuglingen gehören die Fledermäuse, Halbaffen, Affen und der Mensch. Durch besondere An- klammerungsinstinkte ausgezeichnet, suchen sie sich an dem Fell der Mutter festzuhalten. Die Fleder- mäuse tun dies mit ihren hakenförmigen Schneide- zähnen, die Halbaffen und manche Affen mit ihrem Schwanz. Bei dem höheren Affen ist die Be- festigung des Säuglings derart, daß dieser die Brust der Mutter mit beiden Armen umschlingt und auch die Beine um den Körper der Mutter legt. Auch beim Naturmenschen ist das Tragen des Kindes in dieser Form noch zuweilen üblich. Moro deutet nun den beschriebenen Bewegungs- reflex damit, daß er in ihm eine „Andeutung eines natürlichen Umklammerungsreflexes" sieht. Daß dieser Reflex nach 3 Monaten verschwindet, ist besonders interessant. Willer. Medizin. Über das Chlorophyll in der Therapie macht E. Bürgi (Therapeutische Monatshefte 32, S. I u. 33. 1918) einige Miiteilungen. Vom che- mischstrukturellen Standpunkt aus gesehen, be- steht das Molekül des Hämoglobins, des lebens- wichtigen Blutfarbstofles, aus drei großen Stücken : Eiweiß, Eisen und einem Pyrrolkomplex. Bei einer Behandlung der Blutarmut, bei der ja ein Mangel an Hämoglobin vorliegt, kommt es also auf Ersatz jener drei Bestandteile an. Bekanntlich geschieht dies für Eiweiß durch eiweißreiche Nahrung, für Eisen durch Eisenpräparate. Insbesondere durch die VVillstätterschen Untersuchungen^) ist nun festgestellt, daß ein Pyrrolring in ganz ähnlicher Verkettung wie im Hämoglobin vorliegt im Chloro- phyll. Versuche an l'ieren ergaben nun, wie hier- nach zu erwarten stand, daß das Blattgrün etwa gleich stark blutbildend wirkt wie Eisen. Wurde jedoch Chlorophyll mit Eisen gleichzeitig gegeben, so trat eine beträcht- liche Wirkungssteigerung ein. Es wurde ferner gefunden, daß lösliche Chlorophyllsalze die Herz- tätigkeit und die Darmsekretion anregen. Die blutbildende und belebende Wirksamkeit des Chlorophylls sucht Bürgi therapeutisch an- wendbar zu machen in dem sogenannten ,,C h 1 o r o - san-Bürgi', Tabletten mit je 0.03 g Chlorophyll 1918. ') vgl. „Naturwissensch. Wochenschr." N. F. 17, S. 545. 376 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVm. Nr. 26 und 0.005 g Eisen. Soweit sich feststellen läßt, ist ihre Wirkung bei Chlorose und Blutarmut günstig, auch bei Lungentuberkulose trat eine Besserung des Allgemeinbefindens ein. H. Heller. Die Autonomie der Muskelkontraktion. Jede Bewegung des tierischen Organismus und seiner Organe wird bewirkt durch die Zusammenziehung der Muskelfibrillen, und diese wiederum ist die Reaktion auf einen, ihnen von den Nervenzellen zugeführten Reiz. Bei der quergestreiften Mus- kulatur, wie bei allen Skelettmuskeln der Wirbel- tiere, entsteht dieser im Gehirn und wird durch Vermittlung des Rückenmarks dem Muskel zu- geführt. Dieser willkürlichen Muskulatur steht die unwillkürliche gegenüber; auf ihre Zu- sammenziehung beruht jede Bewegung der inneren Organe; sie wird auch „glatte" genannt, weil ihre kontraktile Substanz mit wenigen Ausnahmen die Querstreifung vermissen läßt. Es wäre nun von Interesse zu erfahren, ob die Zusammenziehung der Muskelsubstanz nur auf Nervenreiz hin erfolgen kann; denn auch der unwillkürlichen Muskulatur wird ein solcher von den in den Organen selbst gelegenen Nervenzellen zugeführt. Es würde sich also darum handeln, den Nerveneinfluß auszuschalten und eventuell doch eine Kontraktion der Muskelsubstanz sich vollziehen zu sehen, woraus dann ihre Auto- nomie folgte. Nach einem Bericht in der Pariser Akademie der Wisenschaften gelangen Versuche, welche die Unabhängigkeit der unwillkürlichen von der will- kürlichen Muskulatur beweisen (La disjonction des fonctions nerveuses et musculaires, k l'epoque de l'automatisme latent chez les embryons de Selaciens (Scyllium canicula). Note deM. P. Wintrebert, presentee par M. Y. Delage). Als Versuchstier diente der Embryo des Katzen- hais (Scyllium canicula L.). Derselbe durchläuft seine Entwicklung in einer ziemlich durchsichtigen hornigen Schale und besitzt einen großen Dotter- sack, welcher durch einen hohlen Stiel am Bauch hängt. In diesen Dotterstiel nun injizierte W. einige Tropfen einer i proz. Lösung von Kurare. ^) Während dadurch jede willkürliche Bewegung für eine Stunde eliminiert wurde, pulsierte das Herz weiter (etwa 30 Schläge pro Minute). Dasselbe geschah, wenn durch Erniedrigung oder Erhöhung der Außentemperatur Kälte oder Wärme auf den Embryo einwirkte. Kälte verlangsamte die Be- < wegungen, während Wärme dieselben zunächst bis ai'C beschleunigte. Von 21" ab könnten die Reaktionen nicht mehr als normale ange- sehen werden, und hörten bei 22" — 23" C ganz auf. Die für den Katzenhai normale Wasser- temperatur ist 13° — IS^C. Eine brüske Änderung derselben um 5" — 6" C rief eine Zappelbewegung hervor. Die ersten Bewegungen nach der durch Kurare verursachten Starre traten zuerst rechts, dann links, schließlich bilateral symmetrisch auf. W. meint, man könne also durch Kurare und Temperaturveränderungen willkürliche und auto- matische Bewegungen voneinander trennen und sehe letztere länger bestehen bleiben. Dies be- ruhte auf der allgemeinen Eigenschaft der Kontrak- tilität des Protoplasmas, die sich auch unabhängig vom Nerveneinfluß geltend machen könnte. Kathariner. ') Dieses, das Pfeilgift der Orinoco-Indianer, ist ein aus Ptlanzenalkaloiden bestehendes Gift, welches, subkutan ein- geführt, eine Lähmung der willkürlichen Muskeln verursacht. Bücherbesprechungen. Brauns, R., Mineralogie. 5. verbesserte Auf- lage. Sammlung Göschen 29, 8", 146 S., 132 Abb. 1918. 1,25 M. Das in 5. Aufl. in Kriegseinband erschienene Bändchen „Mineralogie" des Bonner Mineralogen R. Brauns bedarf bezüglich des auf den neuesten Stand der Wissenschaft gebrachten Inhaltes, der auch bereits den durch die Röntgenstrahlen ent- hüllten P'einbau der Kristalle berücksichtigt, keiner weiteren Empfehlung. Bedauern darf man viel- leicht, daß ein Teil der F'iguren, wohl infolge der mannigfachen durch den Krieg bedingten Schwie- rigkeiten in der Beschaffung guter Papiere usw., nicht die exakte Ausführung zeigt, die denselben zugedacht war. K. Andree. Literatur. Brest er, Dr. A., A summary of my theory of the sun. The Hague 1919, van Slockum and Son. Thedering, Dr. med., Sonne als Heilmittel. 3. Aufl. Oldenburg i. Gr. 1919, G. Stalling. 2,35 M. Dix, K. W. , Brauchen wir Elternschulen? 2. Auflage. Langensalza 1918, H. Beyer & Söhne. I M. lullHlt: Kud. üehler, Potentielle Unsletblichkeit — experimentelle Lebensverlängerung. S. 361. K. Schutt, Neon- lampen. (4 Abb.) S. 364. Hermann Kranich feld, Die breitere gemeinsame Basis. S. 366. E. P. Häuöler, Ein Beitrag zur Geschichte der Mammuttunde. S. 370. — Einzelbericbte: Immanuel Friedlaender, Über den vulkanischen Ausbruch des San Salvador im Juni 1917. S. 371. E. Behrend, Zinntrzvorkoramen des Kongoslaates. S. 372. Heinrich Prell, Das Entstehen von Schnakenplagen. S. 372. K.Haenel, Maikäferplage und Vogelschutz. S. 374. Hörhammer, Spulwrürmer im Gallengang. S. 374. E. Moro, Eigenartiger Bewegungsreflex beim Säugling. S. 375. E. Bürgi, Über das Chlorophyll in der Therapie. S. 375. M. P. Win trebert, Die Autonomie der Muskel- kontraktion. S. 376. — Bücherbesprechungen: R. Brauns, Mineralogie. S. 376. — Literatur: Liste. S. 376. Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstrafie 4a, erbeten. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck der G, Pütz'schen Bucbdr. Lippen & Co, G. m. b. H,, Naumburg a. d. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue Folge i8. Band; der ganzen Reihe 34. Band. Sonntag, den 6. Juli 1919. Nummer 27. [Nachdruck verboten.] Anthropologie und Völkerkunde. Von Bernhard Struck, Dresden. Völkerkunde, wie sie sich heute beispiels- weise in unsern zahlreichen großen und kleinen Museen dieses Namens darstellt, ist mit ihren beiden Unterabteilungen Ethnographie und Ethno- logie (und nur diesen beiden) beschreibende und vergleichende Kulturkunde der Völker außerhalb des alten vorderasiatisch - medi- terranen und des modernen europäisch-amerikani- schen Kreises. Während sich in diesen Begrififsfassungen wenigstens in praxi In- und Ausland heute einig sind, ist das mit dem seiner griechischen Wort- bedeutung nach von Anfang an mehrdeutigen Terminus Anthropologie oder Menschenkunde ganz und gar nicht der Fall, und diese Differenzen verursachen fortwährend Mißverständnisse und Zeitverlust bei jeder literarischen Arbeit auf bei- den Gebieten. Die ein e Richtung, die seit mehr als 50 Jahren in England herrscht, faßt „Anthro- pologie" in dem denkbar weitesten Sinne als „die Wissenschaft vom Menschen", die alle Wissen- schaften einschließt, die sich direkt auf den Men- schen oder die Menschheit beziehen, also Anatomie, Physiologie, Psychologie, Ethnographie, Ethno- logie, Philologie, (?ieschichte, Archäologie, Prä- historie und Paläontologie des Menschen. Dieser universalistischen Richtung trat ziem- lich gleichzeitig, unter sich unabhängig, in Frank- reich und in Deutschland, dort durch den überragenden Einfluß eines Paul Broca, hier durch die Mitarbeit bedeutender Geographen und Sprachwissenschaftler gestützt , eine zweite gegenüber, die aus dem Rahmen der Anthro- pologie alle Individualwissenschaften, wie Anatomie, Physiologie usw. ausschloß und unter dem ver- bleibenden Stoff die zoologischen und biologischen Merkmale des genus homo als allgemeine Anthro- pologie studierte, als spezielle Anthropologie da- gegen I. die Beschreibung der Völker oder Ethno- graphie, 2. die Wissenschaft von den Rassen oder Ethnologie zusammenfaßte. Von letzterer, dem Wortsinn doch gar zu sehr zuwiderlaufenden Nomenklatur hat man sich daher in Deutsch- land bald befreit, und man schied a) physi- sche Anthropologie, b) psychische oder Eth- nologie bzw. Ethnographie, also Völkerkunde. Dabei war die Prähistorie letzterer angegliedert, und diese Auffassung ist es, die beispielsweise in den offiziellen Titeln der Deutschen und der Berliner Anthropologischen Gesellschaft und in ihren Veröffentlichungen , wie auch auf dem Deutschen Anthropologentag nach wie vor zum Ausdruck kommt. Schließlich ist man heute in den Ländern deutscher Sprache, aber teilweise auch in Frank- reich und sonst, zumal auf dem Gebiet des aka- demischen Unterrichts und des Museumswesens zu einer dritten Fassung gelangt, die den Terminus „Anthropologie" als generelle Bezeichnung ver- wirft und ihn ausschließlich im Sinne von „physischer Anthropologie" verwendet. Die Anthropologie von heute ist nicht mehr die von den Spezialisten bespöttelte „Universitas literarum", von der es in den 80 er Jahren nicht ganz ohne Schuld ihrer damaligen Vertreter hieß „ex Omnibus aliquid, ex toto nihil"; in München, Zürich und, wenn auch spät, in Berlin hat sie ihren Platz unter den akademischen Disziplinen errungen und mehr und mehr weiß sie sich gegen ihre schlimmsten Feinde, die Dilettanten in ihren eigenen Reihen, zu schützen. Anthropologie in unserer Definition beschäftigt sich mit dem phy- sischen Eeben der Gesamtheit des genus homo, sowie mit den physischen Gruppierungen des- selben nach Rasse und Stand, mit Martins prägnanten Worten: Anthropologie ist Naturgeschichte der Hominiden in ihrer zeitlichen und räumlichen Ausdehnung. Die beiden Wissenschaften , gegen die eine Abgrenzung auch in dieser Definition vielfach schwer fällt, sind natürlich die Medizin und die Zoologie. Aber die Beziehung zu beiden ist zugleich die Voraussetzung zu einem gedeihlichen Betrieb der Anthropologie überhaupt, und solange zum Nutzen beider Seiten die außer an den ge- nannten Universitäten sich überall mit Notwendig- keit einstellenden Personalunionen Grenzen nicht fühlbar werden lassen, hätte auch deren beste Definition keinen anderen als akademischen, und nicht einmal diesen Wert. Überläßt man der medizinischen Forschung alle die Erscheinungen der Anatomie und Pathologie, die weder zeitlich noch räumlich in der Bevölkerueg der Erde natür- liche Verschiedenheiten aufweisen, so mögen sich diese Verschiedenheiten mit dem Zuwachs an Beobachtungsmaterial und -schärfe immerhin fin- den. Was die Zoologie betrifft, so ist für die Betrachtung aller menschlichen Rassenvariationen der stete Ausblick wenn nicht auf das Gesamt- gebiet des Tierreichs , so doch auf die Formen- verhältnisse und Variationsbreiten innerhalb der Primatengruppe von unbestrittener Wichtigkeit, und die zeitlich wie örtlich ganz hypothetische' Tatsache der „Anthropogenese" wäre jedenfalls die denkbar unmöglichste Grenzmarke. Dqrch die Erfolge der Medizin auf dem Gebiet der Familienforschung, die der Zoologie im Tierexperi- ment ermutigt, geht auch die Anthropologie — 378 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 27 und mit den gleichen biometrischen Methoden — neuerdings wieder auf dem Wege der Ver- erbungsforschung vor und mit beiden Nachbar- wissenschaften gemeinsam steht auch sie immer wieder vor dem großen vielumstrittenen Problem der Vererbung erworbener Eigenschaften, dessen gordischen Knoten bisher nur die Haustierzüchter auf ihre Weise gelöst haben. Ist also die moderne Anthropologie nach ihren Forschungpzielen , ihren Arbeitsmethoden und ihrem, einen beträchtlichen Teil ihrer Grundlagen bildenden, Sammlungsmaterial unzweifelhaft eine reine Naturwissenschaft, so muß doch andererseits auch ihre Interessengemeinschaft m i t der geisteswissenschaftlichen Völker- kunde nahe und stark genug sein, um die ein- gangs gemäß ihrer geschichtlichen Entwicklung erwähnte in so vielen Gesellschaften, Zeitschriften, Museen, in der Lebensarbeit zahlreicher Gelehrter zum Ausdruck kommende ,, Realunion" beider Disziplinen verstehen zu können. Aus dem Umfang dieser Beziehungen seien zunächst eine Anzahl elementarer Fälle vorgeführt, wie sie zu Beginn der wissenschaftlichen Arbeit schon bei der Gewinnung des Materials sich einzustellen pflegen, und zwar ist hier im wesentlichen die Völkerkunde der gebende , der Anthropologe der empfangende Teil. Beim Ethno- graphen hat er sich zu unterrichten, wo in seinem Arbeitsgebiet durch Einreiben oder Bemalen die Körper- und Haarpigmentierung verschleiert, wo die anthropologisch gleichfalls zu beachtende Menge des Haarwuchses durch Epilation der Wahrnehmung entzogen , wo endlich Kopf oder andere Teile des Knochengerüstes künstlich de- formiert werden, denn gerade die weniger scharf ausgeprägten Fälle sind es, die sonst wohl an- standslos in die Untersuchungsreihen der normalen Individuen hineingelangen könnten. Ebenso ist für die anthropologische Familienaufnahme die Kenntnis der eingeborenen Verwandtschaftsnomen- klatur erstes Erfordernis, und die entsprechenden Bezeichnungen der Altersstufen vermögen wenig- stens in manchen Fällen den Mangel standesamt- licher Registrierung für die Altersbestimmung zu ersetzen. Für das Sammeln von osteologischem Material werden die Totengebräuche von Wichtig- keit, besonders wo es sich um Höhlen- oder Baumbestattung handelt, während, wo Leichen- verbrennung herrscht, der Anthropologe erst gar nicht nach Knochenresten zu suchen braucht. In anderen Fällen gestattet die Kenntnis der in bezug auf Grabbeigaben beobachteten Gebräuche Ge- schlecht und soziale, dann und wann wohl auch ethnische Zugehörigkeit des Knochenfundes zu bestimmen. Schließlich ist alles, was die Völker- kunde über die regelmäßigen Veränderungen des Personenstandes ihrer Einheiten, über ihren See- und Flußverkehr, ihre Überlandverbindungen, gegebenenfalls ihren Sklavenhandel oder ihre Kopfjagden, über ihre geographischen Grenzen und ihre Geschichte bzw. Stammesüberlieferung ermittelt, durch den Anthropologen in Rechnung zu ziehen, wenn er von seinen eigenen Einheiten, den natürlichen morphologischen Gruppen oder Populationen im biologischen Sinn, außerhalb des Konnubiums stehende Fremdkörper fernzuhalten hoffen darf. Bleiben alle diese Hilfen, die die Völkerkunde dem Anthropologen gewährt, auf den einzelnen Fall oder auf Kleingebiete beschränkt, so ver- schiebt sich das Verhältnis, sobald man in beiden Wissenschaften, einmal aus dem Bereich der un- mittelbaren Verarbeitung der Beobachtungsergeb- nisse heraus, an die Probleme größeren Maßstabs gelangt, die Beobachtungseinheiten zu größeren Verbänden zusammenfaßt und deren Bedingungen und Geschichte untersucht. Abgesehen von der Phylogenese oder zoologischen Stammes- geschichte des Menschen gibt es dann wahrschein- lich kein Teilgebiet der speziellen Anthropologie, von dessen Ergebnissen die Völkerkunde nicht das eine oder andere heranzöge. Die geschlagenen Steinwerkzeuge, Schlag- und Grabstöcke, Feil- taschen und Fellumhänge und Wetterschirme bzw. Halbhütten, die überall die älteste Kulturschicht bilden, sind hinsichtlich der Wege und Zeiträume, in denen sie sich über die Erde verbreitet haben, lediglich nach Anschluß an die fossilen Reste des prähistorischen Menschen zu untersuchen, die teils geologisch direkt, teils auf Grund ihrer anthropo- logischen Formanalyse indirekt zu datieren sind, und im wesentlichen gilt das auch von einer ganzen Reihe jüngerer Kulturbesitztümer, wie von dem Bumerang, dem Parierschiid, dem Sägemesser, der Stäbchenangel, den Spiralwulstkörben, der Bienenkorbhütte usw., die außer auf Tasmanien überall, aber stets nur so sporadisch auftreten, daß die Aufhellung ihrer Geschichte durch rein ethnologische Kombinationen ausgeschlossen er- scheint. Mit dem Übergang in die anthropolo- gische Gegenwart ergibt sich aus dem Zu- sammenfluß all des reichen Materials, das Anthro- pologie und Völkerkunde über die nämlichen Gegenden der Erde besitzen, eine andere breite Zone von gegenseitigen Beziehungen und Möglichkeiten von Beziehungen, die freilich bei dem beiderseits geringen Alter der modernen Forschungsmethoden einstweilen fast für alle Völkergebiete noch der praktischen Verwirklichung harren. Die Anthropologie hat allmählich aus ihren Ausgangseinheiten, — nicht den Völkern, sondern den in freiem Konnubium stehenden Menschengruppen an je einem bestimmten Beob- achtungspunkt — statt der früheren Durchschnitts- werte oder Indexklassifikationen die häufigsten Kom- binationen von Merkmalen isoliert und als Typen bezeichnet. Wie also die ethnischen Ver- bände, Stämme oder Völker aus Vertretern verschiedener Typen zusammengesetzt sein können und .in der Regel zusammengesetzt sind, so bildet wieder ein und derselbe Typus den Bestandteil verschiedener Völkerschaften, und N. F. XVm. Nr. 27 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 379 je weiter ein solcher verbreitet ist und je „reiner", d. h. je konstanter in seinen Merkmalen kombi- niert er in einem Teile seines Gesamtverbreitungs- gebiets auftritt, um so mehr sind wir dann be- rechtigt, ihn als Genotypus nach Alter und klassifikatorischer Bedeutung von den nur örtlich häufigsten Merkmalkombinationen, den Bio typen, herauszuheben. Genau ebenso sind auch die Kultur- schichten und Kulturkreise ethnologische „Geno- typen", die in einer ihrer unendlich vielen nach Menge und Zeltpunkt der Einmischung möglichen Verbindungen die einzigartige Kultur eines be- stimmten Volkes zusammensetzen. Das Problem, diese beiden Schichtungen miteinander in Einklang zu bringen, ist ein beiden Wissenschaften voll- kommen gemeinsames Teilziel. Denn die Anthro- pologie vermag wohl die Typen zu analysieren und bei genügender Verdichtung ihres Beobach- tungsnetzes ihre Verbreitung zu erschließen, aber dadurch, daß, wie wir heute wissen, die einzelnen Merkmale sich in sehr verschiedener Intensität vererben, ist ein Schluß auf die Mengenbeteiligung und Reihenfolge der Genotypen in der Mischung unmöglich. Die Ethnologie dagegen besitzt so- wohl in der geographischen Verbreitung wie in den typologischen Entwicklungsreihen der Objekte unverwischbare Urkunden der relativen Chrono- logie, während sie ihrerseits in bezug auf die Identifizierung von Elementen namentlich der ebenso hochzivilisierten wie schwierig zu analy- sierenden Akkulturationszonen auch wieder darauf angewiesen ist, dort dem einen oder anderen anthropologischen Typus der angenommenen Aus- gangsgebiete zu begegnen. Das gemeinsame Ziel, wie gesagt für jede Disziplin nur ein Teil ziel, ist erreicht, wo immer ein anthropologischer Typus, und eine Kulturschicht sich in ihrer Verbreitung decken. Unter Umständen werden sich auf solchem Wege anthropologische Typen sogar chronologi- sieren lassen. Dagegen ist ein unmittelbarer Schluß aus der Verbreitung des einen auf die des anderen erfahrungsgemäß allermeist irrig, ebenso wie das vom Verhältnis beider zu irgendwelchen sprach- lichen Einheiten schon oft genug betont worden ist. Noch komplizierter sind die Beziehungen, die die Völkerkunde mit der allgemeinen Anthro- pologie verknüpfen und die sich auf dem heute gern als Sozialanthropologie bezeichneten Teilgebiet konzentrieren. Aus naheliegenden Gründen hat sich diese bisher fast ganz auf die Verhältnisse der Kulturstaaten beschränkt, und was wirklich die Völkerkunde und dieser jüngste Zweig der Anthropologie voneinander zu erwarten haben, wird erst die Zukunft lehren. Aber wie mit dem physischen Tod der Südseebevölkerung, der Hyperboräer und der nordamerikanischen Indianer auch ihre Kulturen dahinschwinden, so sind diese von der Sozialanthropologie zu unter- suchenden Erscheinungen der Degeneration und des Rassenuntergangs schwerlich auf die Berührung unseres Kulturkreises mit denen der Primitiven beschränkt, sondern treten vielmehr, wenn auch entsprechend dem geringeren Bestand technischer Hilfsmittel nicht in solchem Grade, überall da auf, wo es überhaupt zu Kampf und Eroberung im Völkerleben gekommen ist. Die Geschichte eines jeden ethnologischen Merkmals ist also mehr oder weniger nicht nur mit den selektiven Pro- zessen im allgemeinen, denen seine Träger unter- liegen, sondern ebenso sehr mit physischer Ver- schlechterung und Entartung auf der Gegenseite verbunden und die von der Völkerkunde fest- gestellten Verbreitungsgebiete vielfach wohl nur so zu verstehen. Umgekehrt wieder gibt es eine Menge Ursachen aus dem Gebiet der reinen Völkerkunde, Sitten, Gebräuche und Vorstellungen die auf das physische Leben der Völker, auf ihre Rassenzucht fördernd oder hemmend einwirken. Das sind die bekannten Probleme, denen man in Frankreich und in Deutschland, seit den letzten Jahren vor dem Kriege auch mit Bezug auf die deutschen Kolonien, und nicht ohne Teilnahme des öffentlichen Interesses so eifrig nachspürt, und in deren Gesetzmäßigkeiten nach Ursprung, Ver- lauf und Dauer der Erscheinungen Anthropologie und Völkerkunde ein neues gemeinsames Arbeits- feld zu finden im Begriff stehen. Literatur. Andree, R., Über den Wert der Ethnologie für die anderen Wissenschaften. Korr.-BI. d. Deutsch. Ges. f. Anthr., Eihn. u. Urg. XXXIX (190S), 65—71. Fischer, E., Sozialanthropologie und ihre Bedeutung für den Staat. Freiburg, Speyer u. Kärner, 1910. 30 S. Gerland, G., Über das Verhältnis der Ethnologie zur Anthropologie. Verh. d. 2. deutsch. Geographentages Halle. Berlin 18S2, 54—66. Graebner, F., Methode der Ethnologie. Heidelberg, C. Winter, 191 1. XVIII u. 192 S. V. Luschan, F., Die Wichtigkeit des Zusammenarbeitens der Ethnographie und der somatischen Anthropologie mit der Prähistorie. Korr.-Bl. d. Deutsch. Ges. f. Anthr., Ethn. u. Urg. XLIII (1912), 52-56. — — , Anthropologie. Rückblicke und Ausblicke. Leip- zig, Quelle U- Meyer, 1912. n S. Martin, R., Anthropologie als Wissenschaft und Lehr- fach. Jena, G. Fischer, 1901. 16 S. — , — , System der (physischen) Anthropologie und an- thropologische Bibliograpiiie. Korr.-Bl. d. Deutsch. Ges. f. Anthr., Ethn. u. Urg. XXXVIII (1907), 105 — 119. Schlaginh aufen, O., Die Anthropologie in ihren Be- ziehungen zur Ethnologie und Prähislorie. Jena, G. Fischer, 1913. 20 S. Weule, K., Völkerkunde und Urgeschichte im 20. Jahr- hundert. Eisenach-Leipzig, Thür, Verl.-Anst., 1912. 43 S. 38o Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 27 Einzelberichte. Physik. Die Polarisation des diffusen Sonnen- lichtes wurde von H. Dember und M. Uibe während ihres Aufenthaltes auf Teneriffa mit einem eigens dafür konstruierten lichtelektrischen Spek- tralphotometer mit Analysator für polarisiertes Licht untersucht (Ber. d. Math.-Phys. Kl. d. Kgl. Ges. d. Wiss. zu Leipzig Bd. LXIX). Um alle per- sönlichen Beobachtungsfehler zu vermeiden, wurde die Helligkehsmessung mittels einer lichtelektrischen Kaliumzelle durchgeführt und der lichtelektrische Strom durch ein Elektrometer gemessen. Als Resultate der äußerst exakten Messungen geben die Autoren folgende an: 1. Der Winkelabstand des Brewsterschen Punktes von der Sonne ist, wenn nicht sehr starke atmosphärische Störungen mitwirken, von der Zenithdistanz der Sonne unabhängig. 2. Außer dem Brewsterschen Punkt liegt unter- halb der Sonne noch ein zweiter neutraler Punkt im mittleren Winkelabstand von 25,5" von der Sonne. Seine Lage ist stark abhängig von der Beschaffenheit der Atmosphäre. 3. Beim Brewsterschen neutralen Spektralband liegen die kurzwelligen neutralen Punkte der Sonne näher als die langwelligen. 4. Beim Aragoschen neutralen Spektralbande liegen die langwelligen neutralen Punkte dem Gegenpunkt der Sonne näher als die kurzwelligen. Reutlingen Einen äußerst wichtigen Beitrag zur Er- klärung der Elektrisierung; der Atmosphäre liefern die beiden Physiker Victor F.Heß und Wilhelm Schmidt in (Physikal. Zeitschrift 1918 S. 109— 114). Durch die Entdeckung der radioaktiven Elemente ist die luftelektrische P^or- schung in ganz neue Bahnen gelenkt worden. Die, aus in der Atmosphäre vorhandenen radio- aktiven Stoffen erzeugten Ionen reichen nach den neuesten Untersuchungen vollkommen aus, um die Elektrisierung der Luft in Bodennähe zu er- klären. In bezug auf die lonenkonzentration in der freien Atmosphäre sind jedoch noch größere Unstimmigkeiten vorhanden, die auch durch direkte Messungen im Freiballon keine vollkom- mene Klärung finden konnten. Umso wichtiger ist es, daß auch von theoretischer Seite diese Frage behandelt wird. Auf Grund einer rein theoretischen Überlegung über die Mischungs- vorgänge in der Atmosphäre wird zunächst eine Formel aufgestellt, die, unter Berücksichtigung von radioaktivem Zerfall und Nachlieferung von Emanation durch den Boden, die Gesamtmenge von Emanation in einem bestimmten Volumen zu errechnen gestattet. Alsdann werden wirkliche Werte der verschiedenen Emanationen (RaEm, ThEm, AcEm) auf Grund von Bodenbeobachtungen für die verschiedenen Höhen errechnet und durch Heranziehung von Höhenmessungen bestätigt. Während Radiumemanation bis etwa 1200 m Höhe emporgehoben werden kann, ist Thorium- und Aktiniumemanation wegen der kurzen Lebensdauer der letzteren nur in Bodennähe zu erwarten. Die Untersuchungen werden noch ausgedehnt auf die Zerfallsprodukte der Emanationen. Die er- rechneten Halb wert shö he n, d. h. die Höhen in denen der Gehalt der Luft an radioaktiven Substanzen (auf ein Gramm Luft bezogen) auf die Hälfte des Betrages am Boden gesunken ist, sind folgende: RaEm und deren kurzlebig. Zerfallsprod. 1200 m RaD und dessen Folgeprodukte bis 10 000 m ThEm und ThA 2—3 m ThB und Folgeprodukte 100— 150 m AcEm und AcA 0,5 — 1 m AcB und Folgeprodukte 10—20 m Hoffentlich gelingt es bald die theoretisch erhaltenen Werte durch Messungen in der freien Atmosphäre zu bestätigen. Reutlinger. Ober die scheinbare Gestalt des Himmels- gewölbes berichten die Herren Dember und Uibe in den Berichten d. Kgl. Ges. d. Wiss. zu Leipzig LXIX. Bd. Die in den Subtropen auffallend große Höhe des Himmelsgewölbes gab Veranlassung zu ihrer Untersuchung. Geschätzt wurde der Halbierungs- punkt des Bogens Zenith-Horizont und dessen Winkelhöhe mit einem Pendelquadranten gemessen. Bei halbkugelförmigem Himmelsgewölbe müßte dieser Winkel 45" betragen, jedoch zeigen sich bei allen Schätzungen geringere Winkelwerte, die um so kleiner sind je gedrückter das Himmels- gewölbe erscheint. Diese Erscheinung wurde seit- her mit der von Gauß aufgestellten Blickrich- tungstheorie erklärt, wonach bei mehr oder weniger „stirnwärts erhobener Blickrichtung" die Himmels- körper verschieden groß erscheinen. Beobachtungen der Drittelungs- bzw. Viertelungspunkte des Bogens Zenith-Horizont ergaben Winkelwerte, die nach dem Gesetz von Dro bisch eine gute Annähe- rung der Himmelsgestalt an eine Kugelkalotte zeigten. Die gemessenen Halbierungswinkel zeigten sich durchweg kleiner als 45 ", jedoch größer als die in Deutschland gemessenen mit 22 ". Die bei verschiedenen atmosphärischen Verhältnissen ausgeführten Messungen ließen eine deutliche Ab- hängigkeit von der Klarheit und Helligkeit der Atmosphäre erkennen. Auf Grund ihrer Beobachtungen kommen die beiden Forscher zu folgenden Resultaten. 1. Die Helligkeit des Himmels übt einen bedeutenden Einfluß auf seine scheinbare Ge- stalt aus. 2. Das Himmelsgewölbe erscheint in den Sub- tropen höher als in Deutschland N. F. XVIII. Nr. 27 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 3&I Winkelhöhen der Halbierungspunkte. Taghimmel Nachthimmel Deutschland 22" 30" Teneriffa 32,0" 40,1" 3. Die Gestalt des Gewölbes weicht in mond- scheinlosen Nächten, die hervorragend klar, nur wenig von der vollkommenen Halbkugel ab. (Winkel des scheinb. Halbierungspunktes 42,9 ".) 4. Die Kugelkalotte gibt eine gute Darstellung der scheinbaren Form des Himmelsgewölbes. 5. Die Blickrichtungstheorie besitzt für die Erklärung der gedrückten Gestalt des Himmels- gewölbes, wenn überhaupt, so nur eine sekundäre Bedeutung, in dem die Hauptursachen in atmo- sphärisch optischen Umständen zu suchen sind. Eine F"ortsetzung ihrer Untersuchungen auf diesem Gebiete bringen die beiden Forscher in der Arbeit: Über die Gestalt des sicht- baren Himmelsgewölbes in den Ber. d. Kgl. Ges. d. Wiss. zu Leipzig LXIX. Bd. Die allgemeine Form des Himmelsgewölbes ist die Kugelkalotte; ihre Gestalt wird auf rein physikalischem Wege erklärt. Nach kurzer Be- handlung der früheren Erklärungsweisen wird eine rein physikalisch begründete Theorie behandelt. Nach der Ray 1 eighschen Theorie vom Blau des Himmels wird jedes Luftmolekel als ein Licht- zentrum aufgefaßt. Die Entfernung aus der ein solches leuchtende Luftmolekel noch gerade soviel Energie aussendet, um im Auge des Beobachters eine Lichtempfindung auszulösen, wird als maxi- male Sichtweite bezeichnet, diese ist also zugleich die Grenze der sichtbaren Atmosphäre. Diejenige Entfernung in der ein leuchtendes Molekel sich nicht mehr von seiner Umgebung unterscheidet, wird als kritische Sichtweite eingeführt. Unter Zuhilfenahme des Rayl eighschen p:xtinktions- gesetzes wird dann gezeigt, daß sich die Sicht- weiten verhalten wie die Quadratwurzeln der Lichtintensitäten, und daß weiter die photometrisch meßbaren Helligkeiten der leuchtenden Luftmassen den Lichtintensitäten direkt proportional sind. Auf Grund dieser Beziehungen muß es also mög- lich sein aus den unter verschiedenem Winkel gegen den Horizont, mittels eines Photometers gemessenen Himmelshelligkeiten das sichtbare Himmelsgewölbe zu konstruieren und zu berechnen. Bei den auf Teneriffa ausgeführten Messungen wurde die Helligkeit im Zenith gleich „i" gesetzt und die unter geringerem Höhenwinkel gemesse- nen Helligkeiten auf diesen Wert reduziert. Die unter verschiedenen atmosphärischen Verhältnissen ausgeführten Messungen ergeben die nachfolgenden Resultate. 1. Die sichtbare Form des Himmelsgewölbes wird bedingt durch die in verschiedenen Rich- tungen verschiedenen kritischen und maximalen Sichtweiten und nicht durch physiologische oder psychologische Ursachen. 2. Zwischen den Sichtweiten und den Himmels- helligkeiten besteht eine einfache Beziehung, die es ermöglicht, die Himmelsform mit Hilfe photo- metrischer Helligkeitsmessungen geometrisch dar- zustellen. Reutlinger. Geophysik. Die Bewegung der Rotationspole der Erde, die schon verschiedentlich behandelt worden ist, wird von W. Schweydar (Sitzungs- bericht d. preuß. Akademie d. Wissensch. 1919. Math, physik. Kl. Bd. XX.) auf Grund neuer Be- obachtungen und Gesichtspunkte untersucht. Mit Hilfe von Rotationsgleichungen wird nachgewiesen, daß die Änderungen in der Schwingungsweite der Nutation eine Folge von Luftmassenverschiebungen über die Erde sind. Unter Berücksichtigung von Land und Wasser, sowie der Elastizität der Erde konnte die relative Lage des Poles für jeden Mo- nat und seine durchschnittliche Bahn abgeleitet werden. Durch die Verwendung von Durchschnitts- werten des Luftdruckes ist keine vollständige Über- einstimmung erzielt worden, jedoch ist das vor- handene Resultat als äußerst günstig zu bezeichnen. Reutlinger. Äußerst interessante Messungen über den Tem- peraturgradienten des Kilauea- Lavasees veröffent- licht der Vulkanologe T. A. Jaggar (in Journ. of the Washington Acad. 191 7 Nr. 13). Der Verfasser berichtet über Messungen der Temperatur in dem Lavasee Kilauea auf Hawaii, die er im Jahre 191 7 vorgenommen hat. Die Messungen wurden derart durchgeführt, daß schmiedeeiserne, unten geschlossene Röhren mit darin am Boden enthaltenen Segerkegeln in den Lavasee eingeführt wurden. (Segerkegel sind Körper aus verschiedenen schwerschmelzbaren .Silikatgemischen, deren Schmelzpunkt jeweils be- kannt ist. Diese Kegel finden auch in der kera- mischen Industrie zu Temperaturmessungen Ver- wendung.) Es wurden Temperaturen an ver- schiedenen Stellen und Tiefen des Sees gemessen. Mit wachsender Tiefe nimmt die Temperatur zu- nächst stark, dann immer weniger zu und erreicht mit etwa 1200" Celsius am Boden des Sees bei 13 Meter Tiefe das Maximum. Etwas untei- der Oberfläche ist das Temperaturminimum mit etwa 750 — 850" Celsius. Mit wachsender Höhe nimmt die Temperatur über der Oberfläche wieder zu, um in I — 2 Meter über dem Lavaspiegel, der Höhe der Fontänen (fontaines) und Grotten, eine Temperatur von ii — 1200", in etwa 4 Meter Höhe an der Mündung der Flammen, der Stelle der freien Verbrennung, 1250 — 1350'' Celsius zu er- reichen. Die Zunahme der Temperatur oberhalb der Oberfläche der Lava dürfte von der, mit der Höhe zunehmenden, Verbrennung der aus der Lava entweichenden Gase herrühren. Reutlinger. Botanik. Vanillin in der Kartoffel nachzuweisen istEdm. C. V Lippmann gelungen (Berichte der deutsch, ehem. Gesellschaft 52, 905, 1919). Die- sem Forscher fiel der vanilleähnliche Duft und 382 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 27 Geschmack einzelner Kartoffelknollen und -bluten auf. Eine besonders starke Entwicklung des Saftes fand er in bläulichen (nur solchen !) Blüten eines Ackers bei Kissingen. Der Duft war am stärksten in den Morgenstunden, sank stark nach kurzer Sonnenbestrahlung und nach dem Abpflücken der Blüten. Wurden diese sofort nach dem Pflücken mit Äther ausgezogen, so zeigte der ätherische Auszug nach dem Abdunsten des Lösungsmittels den Duft des Vanillins in erhöhtem Grade und vollkommener Reinheit. Das Vanillin selbst ließ sich alsdann mittels chemischer und physikalischer Methoden als solches abscheiden und identifizieren. Sein Vorkommen war bisher im wesentlichen nur in den Vanilleschoten, deren Anwendung ja bekannt ist, nachgewiesen. Ob dem Vorkommen in der Kartoffel eine ähnliche Bedeutung zukom- men wird, dürfte davon abhängen, daß besonders vanillinreiche Arten gezüchtet werden. H. H. Anthropologie. Über die Anthropologie der iberischen Halbinsel. Eugen Fischer schreibt in der Zeitschrift „Spanien" (Jahrg. 19 19, Heft i), daß die iberische Halbinsel sich auch anthropo- logisch , wie tier- und pflanzengeographisch, als stärker abgetrennt und verschieden vom Stamm Europas denn vom gegenüberliegenden nachbar- kontinentalen , also afrikanischen Boden erweist. Die Abgeschlossenheit von Europa wird haupt- sächlich bewirkt durch den verhältnismäßig schmalen Verbindungsteil, der mit einer geradezu abriegelnden Gebirgskette bewehrt ist. In ihrer Masse gehört die Bevölkerung der iberischen Halb- insel zur mittelländischen Rasse; diese besiedelt Spanien und Portugal, ebenso Südfrankreich, die Balearen, Sardinien, Korsika, Sizilien und Süd- italien bis zur Breite Roms. In Griechenland und auf Kreta ist dieselbe Rasse als Minderheit ver- treten. Über Europa hinaus gehört die Haupt- masse der sog. Berber in Nordwestafrika der me- diterranen Rasse an ; sie sind vielerorts stark ver- negert, anderenorts stark arabisiert, aber ihr Grund- element ist das mediterrane. In vorgeschichtlicher Zeit war die mittelländische Rasse ostwärts bis Ägypten verbreitet. Ein sprachlicher Zusammen- hang zwischen den Berbern und der heutigen Bevölkerung der iberischen Halbinsel besteht nicht, doch nimmt Fischer als wahrscheinlich an, daß die altiberische Sprache zu ■ den hamitischen Sprachen gehörte, die heute noch in Nordafrika vorherrschen. Der anthropologische Aufbau der Bevölkerung Spaniens und Portugals sowie Kleinafrikas weist gemeinsame Eigenarten auf Wir finden unter den schwarzhaarigen kleingewachsenen Mediter- ranen auch blonde große, in Spanien immerhin etwa 10 "/q blonde mit blauen oder wenigstens hellen Augen. Ebenso zeigt sich auf dem gegen- überliegenden Festland, in Marokko, Algerien und Tunis, daß im Gebirge, in den Tälern des Atlas, da wo die arabische Mischung möglichst wenig vorgedrungen ist, ein guter Teil der Männer größer und schlanker gewachsen ist als der Rest und viele von ihnen sind blond und helläugig. Die nahe- liegende Erklärung, das seien die Reste der ger- manischen Vandalen, die nach dem Untergang Gelimers und seines Vandalenreiches sich im Ge- birge gehalten hätten, ist falsch. Einmal^erzählen die griechischen und römischen Schriftsteller lange vor der Vandalenzeit von den blonden, weiß- häutigen Menschen, und dann haben wir die Skelettreste in den sog. Dolmen. Dolmen sind Grabkammern in Hügeln , wo unter anderem Skelette von großen, schlankgewachsenen Men- schen mit langem, schmalem Schädel, gerader, langer Nase gefunden werden ; sie gleichen völlig den heutigen Blonden. Diese Dolmen sind älter als das 2. vorchristliche Jahrtausend. So kam also schon damals eine Bevölkerungswelle aus Nordeuropa her unter die Mediterranen. Zur Zeit, wo die nordische Rasse ihre Züge nach Osten machte, ins ferne Turkestan, als Ärya in Indien einzog, wo dort die in indogermanischer Sprache geschriebenen Veden niedergelegt wurden, zog auch ein nordisch blondes Volk in die Westecke Afrikas und mischte sich mit den Mediterranen. Es bewahrte nicht seine Selbständigkeit, doch der anthropologische Typus, der es auszeichnete, blieb bestehen. Nun erhebt sich die Frage, könnten nicht einzelne Blonde auch in Spanien alter Her- kunft sein? Sollte jene uralte Welle auch in Spanien Spuren hinterlassen haben ? Leider wissen wir noch zu wenig von prähistorischen Funden aus diesen Zeiten Spaniens 1 Die heutigen Blon- den auf der iberischen Halbinsel betrachtet Fischer in der Hauptsache als Nachkommen der Kelten, der Sueben, der Vandalen, der Goten, der Franken. Sie bilden heute noch einen starken Bestandteil des spanischen Volkes. Vor den Germanen waren erst die Karthager, dann griechische Kolonien an den Küsten, dann lange Zeit die Römer im Lande. Diese alle dürften die Anthropologie des heutigen Spaniens so gut wie gar nicht mehr beeinflussen; sie waren nie als starke Bevölkerungsschicht da. Wohl aber tun dies die Araber, welche 100 Jahre nach dem ersten Auftreten Mohammeds die iberi- sche Halbinsel bis zum Fuß der Pyrenäen erobert hatten. Der Einfluß der Araber war tiefgreifend. Ihre Sprache verdrängte nicht bloß das Berberische, sondern sogar das Lateinisch-Romanische bei den Christen, weshalb diese Mozaraber, d. i. nach Sprache und Sitte Arabisierte, hießen. ^) Die lang- jährige arabische Herrschaft, unter der die Bevölke- rung in dem blühenden Land viel kopfreicher und stärker war wie z. B. nachher unter Philipp II., konnte unmöglich spurlos an ihrer anthropologi- schen Zusammensetzung vorbeigehen. Eine Menge arabisches Blut — „orientalische Rasse" — ist in das Volk gekommen. Mit den Arabern kamen überdies Negermischlinge (Mauren) aus Afrika und ') Seybold, Die Araber in Spanien, Zeitschrift Spanien I, Heft I. N. F. XVm. Nr. 27 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 383 man sieht heute noch da und dort das negerhafte Kraushaar, die dicken Lippen oder die neger- hafte Nase. Besonders oft ist Negereinfiuß in Portugal zu sehen. Er dürfte hier größtenteils aus späteren Zeiten stammen, als die Weltmacht- stellung Portugals Negersklaven, Negerbedienstete usw. in Masse nach Europa brachte. Fehlinger. Zoologie. Die auffallende Tatsache, daß der Lachs (Salmo salar L.) während seiner Laich- wanderung vom Meer ins Süßwasser keine Nah- rung aufnimmt, also eine Hungerperiode durch- macht, findet in der Darmparasitenfauna des Lachses ihre volle Bestätigung (Heitz, Salmo salar L., seine Parasitenkunde und seine Ernährung im Meer und im Süßwasser, Stuttgart 191 7). Man findet im aufsteigenden Lachs an Arten und Indi- viduenzahl stetig abnehmend ausschließlich marine Darmschmarotzer. Daß der abgelaichte, dem Meer zustrebende Lachs dann und wann rein potamophile Parasiten beherbergt, läßt die Deu- tung zu, daß der Frisch sich, wenn auch spärlich, im Süßwasser ernähre. Das beim aufsteigenden Lachs vollständige Fasten dagegen wird durch das gänzliche Fehlen jedes potamophilen Parasiten be- wiesen. Nach H. wird das Hungern übrigens nicht durch das Medium, sondern durch den phy- siologischen Zustand der Keimdrüsen bedingt, womit es zeitlich zusammenfällt. Das Gesagte gilt für den Rhein-, Elbe-, Weser- und Loirelachs. Kathariner. Meteorologie. Meteorologische Einzelbeobach- tungen des Temperaturverlaufs vor Sonnenaufgang schienen häufig darauf hinzudeuten, daß eine Art ^.Wärmedämmerung" besteht, d. h. daß die Tempe- ratur bereits einige Zeit vor Sonnenaufgang merk- lich erhöht wird. O. Meissner (Phys. Ztschr. 19, 387, 191S) hat nun für die Jahre 1908 bis 1912 eine systematische Untersuchung dieser Er- scheinung unternommen. Das Ergebnis war im wesentlichen negativ. Die Differenz zwischen dem Eintritt des Temperaturminimums am Morgen und dem Sonnenaufgang zeigt eine deutliche jährliche Periode, sowohl wenn man nur die klaren, als auch, wenn man alle Mächte berücksichtigt. Nur in den eigentlichen drei Wintermonaten tritt das Minimum ca. 10 Minuten vor Sonnenaufgang ein, in den Sommermonaten aber im Mittel eine halbe Stunde nachher. Im Winter werden in der Tat häufig abnorme Erwärmungen vor Sonnenaufgang beobachtet. Sie sind aber vermutlich auf warme Luftströmungen mehr lokaler Art zurückzuführen, wie sie gerade im Winter auch zu anderen Tages- zeiten nicht selten sind. Scholich. Bücherbesprechungen. Diels, Prof. Dr. L., Ersatzstoffe aus dem Pflanzenreich. Ein Hilfsbuch zum Erkennen und Verwerten der heimischen Pflanzen für Zwecke der Ernährung und Industrie in Kriegs- und Friedenszeiten. Mit 4:2 Textabbildungen. Stuttgart 1918. E. Schweizerbartsche Verlags- buchhandlung. • — 10 M. Wenn man in älteren botanischen Werken blättert, z. B. im Leunis, fällt es auf, wie regel- mäßig und ausführlich Nutzen und etwaige Ver- wendungsmöglichkeiten der Pflanzen angegeben und erörtert werden. Viele solcher Hinweise sind später ganz in Vergessenheit geraten, wie über- haupt diese allseitige und enge Beziehung zwischen heimischer Flora und Wirtschaft infolge der durch den Weltverkehr bedingten Verschiebung der Be- dürfnisse sehr zurücktrat. Darin hat der Krieg gründlichen Wandel geschaffen. Man durchmustert von neuem die heimische Pflanzenwelt, um Ersatz für das zu schaffen, was uns durch die Absperrung von der überseeischen Zufuhr entgeht, bzw. worauf wir künftig verzichten wollen. In zahllosen Publi- kationen, Vorträgen, Anregungen kommen solche Bestrebungen zum Ausdruck. Diels hat nun im Verein mit einigen anderen berufenen Botanikern den überaus dankenswerten Versuch unternommen, diese alte in Vergessenheit geratene ökonomische Botanik neu zu beleben, die zahlreichen, meist sehr zerstreuten Erfahrungen und Vorschläge zu sammeln und nach zeitgemäßen Gesichtspunkten darzustellen, und zwar so, daß auch der Laie das Buch benutzen kann. Sehr recht hat Diels, wenn er darauf aufmerksam macht, daß man bei der Ausnutzung der heimischen Pflanzenschätze nicht immer danach fragen müsse, ob die be- treffenden Ersatzstoffe der Großindustrie zugute kommen können. Jede Hilfe sei wertvoll und indem jeder soweit wie irgend möglich sich selber zu helfen versuche, so wie es unsere Vor- eltern taten, werde auch der Gesamtheit geholfen. Allerdings würde das nur für die Teile unseres Volkes gelten, die noch leicht mit den Schätzen Florens in Berührung kommen können, die Be- völkerung der großen Städte ist auch in dieser Beziehung übel daran. Folgende Kapitel dieser Ersatzwirtschaft werden behandelt: Salate und Ge- müse (P. Graebner), Futtermittel (L. Diels und P. G r a e b n e r) , Zucker, Obst (Diels), Stärke und Mehl (Graebner), Hülsenfrüchte (H.Harms), Hefen (Diels), Pilze (E. Ulbrich), Fette und Öle (L. Diels und E. Gilg), Alkoholische Ge- tränkstoffe (Graebner), Alkaloidhaltige Getränk- stoffe (Th. Loesener), Tabak, Gewürze (Diels und Graebner), Arzneistoffe (Gilg), Seifenersatz- stoffe, Gummi, Kautschuk und Guttapercha, Harze, Ätherische Öle, Gerbstoffe (Diels), Fasern, Seide (Ulbrich), Hölzer (Diels). Zahlreiche Abbil- dungen erleichtern das Erkennen der Pflanzen, die 384 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIIi. Nr. 2; außerdem im Text überall treffend beschrieben werden. Das Buch, das einem wirklichen Bedürfnis ent- gegenkommt, wird vielen ein zuverlässiger Rat- geber sein. IVIiehe. Kaiserling, Prof. Dr. C, Die mikrophoto- graphischen Apparate und ihre Hand- hab u n g. Handbuch der mikroskopischen Tech- nik. Band 4. 58 Seiten mit 60 Textabbildungen. Stuttgart 1918, Franckhsche Verlagshandlung. — Geh. 2,25 M. Bei der hohen Bedeutung, welche der photo- graphischen Aufnahme mikroskopischer Objekte in zahlreichen Gebieten für Forschung und Lehre zukommt, wird die vorliegende umfassende Be- schreibung der gesamten mikrophotographischen Methoden weiten Kreisen sehr willkommen sein. Sie gibt in elementarer, durchweg auf die prak- tischen Bedürfnisse besonders Bezug nehmender, durch zahlreiche Abbildungen veranschaulichter Darstellung eine ins Einzelne gehende Anleitung sowohl zur Beschaffung als auch zur Anwendung der für die verschiedenen Zwecke in Betracht kommenden Apparatanordnungen. Die theoreti- schen Grundlagen des photographischen Verfahrens werden dabei als bekannt vorausgesetzt, diejenigen der Mikroskopie werden nur kurz angedeutet. Mit welcher Vollständigkeit aber die praktischen Fragen Berücksichtigung finden, geht daraus hervor, daß Verf. sich nicht auf die naturgemäß am häufigsten verwandten Verfahren der Aufnahme im gewöhn- lichen durchgehenden Licht beschränkt, sondern auch die Aufnahmen im polarisierten, im ultra- violetten und im auffallenden Licht und schließ- lich die Aufnahmen von Mikrospektren , Mikro- stereogrammen und von bewegten Objekten der Betrachtung unterwirft. A. Becker. Dost - Hilgermann, Grundlinien für die chemische Untersuchung von Wasser undAbwasser. 2. verb. Aufl. Von Prof. Dr. Robert Hilgermann, Direktor und Dr. August Zitek, Chemikrv des Institutes für Hygiene und Infektionskr. nkheiten in Saar- brücken. Mit 14 Abbildun ?n im Text. I13 S. ,-kl. 8", Verlag von Gustav Fischer in Jena -,=.09,19. Preis brosch. 3,20 M., geb. 4,20 M. , Das vorliegende Werkchen ist besonders auch für solche Kreise geeignet, die sich nur gelegent- lich mit der chemischen Untersuchung von Wasser und Abwasser zu befassen haben. Es bringt die bekannten, für die Praxis bewährten, meist ein- facheren Verfahren. Die einzelnen Bestimmungen werden an der Hand guter Abbildungen eingehend beschrieben, so daß auch der weniger Geübte danach leicht arbeiten kann. Bei der zweiten Auflage des Büchleins, die eine Reihe wertvoller Verbesserungen aufweist, ist an Stelle des früheren Mitverfassers Dr. Döst, der den Heldentod fürs Vaterland fand, der Chemiker Dr. August Zitek eingetreten. Bei der Prüfung des Ab- wassers ist nur das häusliche berücksichtigt. Die Untersuchung gewerblicher Abwässer hätte den Rahmen des Buches überschritten. "Ein ausführ- liches Verzeichnis der erforderlichen Reagenzien für die Wasser- und Abwasseruntersuchung sowie genaue Vorschriften zur Bereitung der verschie- denen Lösungen sind am Sclilusse dem „Dost- Hilgermann" beigegeben. Klut, Berlin. Föppl, A., Vorlesungen über Technische Mechanik. II. Band : Graphische Statik. 4, Aufl. 406 Seiten mit 209 Figuren im Text. Leipzig und Berlin 191 8, B. G. Teubner. Geh. IS M. Nachdem wir vor nicht langer Zeit (diese Zeitschr. N. F. Bd. XVI, S. 623, 1917) auf eine Neuauflage des i. Bandes dieses geschätzten Lehr- buchs der technischen Mechanik haben hinweisen können, verzeichnen wir jetzt mit Befriedigung das Erscheinen einer Neuauflage auch des 2. Bandes. Er enthält die spezielle Anwendung der im ersteren gegebenen graphischen und analytischen Methoden der Zusammensetzung von Kräften, d. h. der Addition von Vektoren, auf die Statik der Tragkonstruktionen. Hervorzuheben ist auch hier wieder die vorbildliche Kfarheit der Darstel- lung und die Einfügung einer großen Reihe von Übungsbeispielen, die den angehenden Praktiker zu selbständiger Bearbeitung von Einzelproblemen anleiten sollen und in dieser Hinsicht als wichtiger Bestandteil des Lehrbuchs zu betrachten sind. Die Änderungen gegenüber der früheren Auf- lage beschränken sich im wesentlichen auf den sprachlichen Ausdruck. A. Becker. Literatur. Wagner, P., Die Stellung der Erdkunde im Rahmen der Allgemeinbildung. Leipzig u. Berlin 1918, B. G. Teubner. I M. lllliaU: Bernhard Struck, Anthropologie und Völkerkunde. S. 377. — Einzelberichte: H. Dembcr und M. Uibe, Die Polarisation des diffusen Sonnenlichtes. S. 3S0. Victor S. Heß und Wilhelm Schmidt, Beitrag zur Erklärung der Elektrisierung der Atmosphäre. S. 380. Dember uad Uibe, Über die scheinbare Gestalt des Himmelsgewölbes. S. 380. W. Schweydar, Die Bewegung der Rotationspole der Erde. S. 3S1. T. A. Jaggar, Messungen über den Temperaturgradienten des Kilauea-Lavasees. S. 381. E d m. C. v. Lippmann, Vanillin in der Kartoffel. S. 381. Eugen Fischer, Über die Anthropologie der iberischen Halbinsel. S. 382. Heitz, Darmparasitenfauna des Lachses. S. 383. O. Meissner, Wärmedämraerung. S. 3S3. — Bücherbesprechungen: L. Diels, Ersatzstoffe aus dem Pflanzenreich. S. 383. C. Kaiserling, Die mikrophotographischen .Apparate und ihre Handhabung. S. 384. Dost- Hilgermann, Grundlinien für die chemische Untersuchung von Wasser und Abwasser. S. 384. A. Föppl, Vor- lesungen über Technische Mechanik. — Literatur: Liste. S. 384. Manuskrifite und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstraße 41, erbeten. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lipperl iV- Co. G.m.b.H., Naumburg a. d. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue Folge 18. Band; der ganzen Reihe ^4. Band. Sonntag, den 13. Juli 1919. Nummer 28. Das Vorkommen der deutschen Süßwasser-Kieselalgen. I Nachdruck verboten.! Von Albert Pietsch. Lebende Bazillariazeen kommen überall vor, wo ihre Lebensbedingungen erfüllt sind. Das sind : Feuchtigkeit, Licht und pflanzlicher Detritus. Darum ist es selbst für den Anfänger nicht schwer, sich Diatomeenmaterial zu verschaffen. Die Art und Weise des Vorkommens der Kieselalgen er- klärt sich aus ihren morphologischen und biologi- schen Eigenschaften. Infolge ihres einzelligen Baues und der damit verbundenen winzigen Größe und geringen Schwere, Icönnen sie nach dem Austrocknen seichter Ge- wässer mit dem Winde davongetragen werden. Viele Arten unter ihnen zeichnen sich durch große Anpassungsfähigkeit aus, einige haben sich selbst relativextremen Verhältnissen anzupassen vermocht. Auf Grund dieser Tatsachen findet das Vorkom- men der Diatomazeen in geographischer Hinsicht sowohl als auch an den verschiedensten physio- logischen Örtlichkeiten seine Erklärung. Zahlreiche Süßwasserformen sind Kosmopoliten. In Deutschland beleben viele Arten die nordische Tiefebene ebenso, wie die alpine Region des Südens, z. B. Melosira varians, Tabellaria, Synedra Ulna, Eunotia tridentula, Navicula rhynchocephala, Pinnularia major, Gomphonema acuminatum, Cym- bella helvetica, Rhopalodia gibba, Nitzschia sig- moidea, Cymatopleura Solea, um nur ganz wenige zu nennen. Einige sind mehr oder weniger nor- dische Arten und bevorzugen die Ebene (Achnan- thes Clevei, A. delicatula, Gomphonema apicatum, G. olivaceum, Cymbella laevis, Tryblionella debilis), andere gehören der Kryptogamenflora der Vor- berge, Gebirge und Hochgebirge an und sind typische Gebirgsbewohner, von denen es eine stattliche Anzahl gibt (Tetracyclus Braunii, Diato- mella, Eunotia monodon, Cocconeis minuta, Navi- cula alpestris, Pinnularia alpina, Gomphonema lanceolatum, Cymbella leptoceras, Surirella helve- tica). Endlich zeichnen sich gevvisse Arten durch ihr Auftreten an bestimmten Ortlichkeiten aus, die dann unter den Diatomisten zu einiger Be- rühmtheit gelangt siud (Cyclotella Hilseana: Bäche der Eule in Schlesien, Navicula permagna: Schwarz- bach bei Ginsheim in Hessen, Frustulia saxonica: Utewalder Grund in der sächsischen Schweiz). Feuchtigkeit ist eine notwendige Bedingung für das Gedeihen der Bazillariazeen, wenn auch viele unter ihnen in dieser Beziehung nicht allzu hohe Ansprüche stellen. Sie begnügen sich schon mit dem Wassergehalt des feuchten Sub- strates, auf dem sie wachsen, wenn dasselbe dauernd oder zum mindesten für längere Zeit Feuchtigkeit enthält. Eine große Schar unter ihnen erwählt sich solche Lokalitäten zu ihrem ständigen Aufent- halt. Es kommen also für diese terrestren Arten Ortlichkeiten in Betracht, die vermöge ihrer phy- sikalischen Eigenschaften das Wasser festzuhalten vermögen oder aber durch sickerndes, triefendes, tropfendes, rieselndes oder spritzendes Wasser dauernd mit der genügenden Nässe versorgt wer- den. Auf dem feuchten Boden des Gartens, des Ackers und des Waldes finden Orthosira Roeseana, Achnanthidium coarctata, Haiamphora Normani, Navicula atomus, N. mutica, N. pusilla ihr Fort- kommen. Fast immer und in mannigfaltigen Arten kommen Diatomazeen auf solchem Boden vor, der zeitweise Überschwemmungen ausgesetzt ist. In der feuchten Erde der Blumentöpfe bildet Nitzschia amphioxys bisweilen fast Reinkulturen. Die Feuchtigkeit mancher porösen Blumentöpfe und Untersätze, der Mauern und Wände in Ge- wächshäusern, in der Nähe von Dampfmaschinen und an anderen Orten, der Emfassungen , Steine und Bretter an Brunnen genügt für die Entwick- lung von Amphora ovalis, A. perpusilla, Nitzschia acicularis, N. palca. Die moosbewachsene, nässige Rinde von Erlen, Buchen und anderen Bäumen beherbergt neben schon genannten Arten nicht selten Pinnularia borealis. In den Saftflüssen der Bäume büßt sie manchmal nahezu vollständig ihre Chlorophyllfunktion ein. Dieselbe Art kommt in Gemeinschaft mit Navicula nivalis und der selte- neren Epithemia granulata in Dachrinnen und unter Dachtraufen vor. Überhaupt sind die feuchtigkeithaltenden Moosteppiche und -polster, wie man sie an vielen schon oben bezeichneten Orten findet, und wie sie auch alte Dächer, nament- lich Schilf- und Strohdächer ländlicher Häuser schmücken, fast nie ganz ohne einige Individuen genannter Arten. Bei den bis jetzt angeführten Kieselalgen handelt es sich mehr oder weniger um verwehte Formen, und ihr Auffinden ist nicht immer einfach. Aber gerade deshalb ist ihr Fin- den interessant, und das Suchen an solchen Orten fördert manchmal seltene und besonders schöne Exemplare zutage. Üppiger gestaltet sich die terreste Bazillariazeenflora in den Gebirgen, wo das durchsickernde Wasser die Felswände, Berg- abhänge, Schluchten und Grotten durchnäßt, wo Ouellwasser von Zeit zu Zeit die Felsen leise überrieselt, wo die sprühenden Tropfen der Wasser- fälle die Felsblöcke bespritzen. Dort wachsen u. a. : Melosira Roseana, Tetracyclus Braunii, Den- ticula sinuata, Frustulia saxonica, Navicula Rotaeana, N. contenta, N. sphaerophora, Pinnularia alpina, P. lata, P. tabellaria, P. Brebessonii, Cymbella rupi- 386 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 28 cola, Gomphonema-Arten, Epithemia Argus, Rho- palodia gibberula, Nitzschia dissipata, N. F'rustulum, Campylodiscus hibernicus. Ist also die Anzahl der erdbewohnenden Diato- meen eine nicht geringe, so stellen jedoch die Gewässer in ihrer verschiedenen Größe , ihrer mannigfachen Art und ihrer wechselnden chemi- schen Zusammensetzung das Hauptkontingent. In der kleinsten Wasseransammlung, die von einigermaßen Dauer ist, sowohl als auch in dem größten Landsee führen die kieselschaltigen Ein- zeller ihr Dasein. Stehende und fließende Ge- wässer werden von ihnen besiedelt, wenn auch erstere im allgemeinen bevorzugt werden. Es würde zu weit führen , alle die Arten zu nennen, die die stillen Gewässer beherbergen. Nur eine kleine Auswahl möge als Beispiel dienen. Mit einer gewissen Plötzlichkeit treten in Pfützen, Tümpeln und Regenlachen, die dem Austrocknen längere Zeit widerstehen, Pinnularia cardinalis oder Nitzschia palea auf. Sumpflöcher, Ausstiche an Wegen , Dämmen und in Ziegeleien , verlassene und mit Wasser erfüllte Kalk- und Mergelgruben und Steinbruchwässer stellen den Aufenthaltsort für Melosira arenaria, Cyclotella operculata, Tabel- laria flocculosa, Mastogloia Smithi, Achnanthes coarctata, Amphipleura pellucida und Navicula amphisbaena dar. Ihre eigenen Formen haben manchmal die Brunnentröge und Viehtränken auf- zuweisen (Diatoma vulgare, Amphora Pediculus, Navicula atomus, Nitzschia amphibia, Nitzschiella acicularis). Als Eldorado für sehr viele Spezies, man kann wohl sagen für den größeren Teil der Diatomazeen, haben die stagnierenden und träge dahinschleichenden Gräben, die Weiher und Teiche, die toten Arme und Altwässer der Flüsse, die stillen Buchten der Seen zu gelten. Einige häu- figer vorkommende seien aus dem Formenreichtum herausgegriffen: Melosira distans, Orthosira Binde- riana, Cyclotella Meneghiana, Tabellaria flocculosa, Fragilaria virescens, Synedra Ulna, Ceratoneis Arcus, Eunotia triodon, Pseudo Eunotia lunaris, Achnanthes exilis , Cocconeis Pediculus , Navicula ovalis, N. affinis, N. cuspidata, N. rhynchocephala, Pinnularia mesolepta, P. Brebissonii, P. major, P. viridis, Stauroneis phoenicenteron, Gyrosigma Spenceri, Cymbella Ehrenbergii, C. affinis, Cocco- nema cistula, C. tumida, Amphora ovalis, Epithe- mia turgida, Nitzschia sigmoidea, N. linearis, N. communis, N. palea, Cymatopleura Solea, C. ellip- tica, Surirella biseriata, S. robusta, Campylodiscus hibernicus. Manche Arten lieben größere Seen als Aufenthalt, z. B. Orthosira granulata, Epithemia Sorex, Stephanodiscus Hantzschii, Synedra Ehren- bergii, Navicula Schumanniana. Dazu treten dann noch für die größeren stehenden Gewässer die weiter unten zu nennenden Planktondiatomeen. Endlich wäre noch der Wasserbassins, die u. a. nicht selten Synedra Acus enthalten, zu gedenken, wären die Aquarien und die Wasserkästen in Pflanzen- häusern zu erwähnen, in denen Navicula minima und N. minuscula oft vorhanden sind. Tryblio- nella tryblionella var. Victoriae gelangte in den Behältern mit warmem Wasser in botanischen Gärten zur Beobachtung, und die tropische Navi- cula confervacea var. peregrina wurde importiert in den warmen Bassins der Victoria Regia im botanischen Garten zu Karlsruhe lebend gefunden. Die langsam fließenden Wiesen- und Sumpf- gräben führen hinüber zu den eigentlichen fließen- den Gewässern. In Quellen und deren Abzugs- gräben bildet Odontidium hiemale var. mesodon größere Massen. Die hurtigen Gebirgsbäche mit ihren Steinen und Blöcken werden bevölkert von Tabellaria fenestrata, Diatoma elongatum, Eunotia Ehrenbergii, E. bidentula, Gomphonema lanceo- latum, Encyonema ventricosa. Die ununterbrochene Wasserbewegung, wie sie in und an Wasserfällen, an überfluteten Mühlrädern und Wehren und an undichten Schleusentoren herrscht, schafft Lebens- bedingungen für Synedra Vaucheriae, Pinnularia molaris, Gomphonema intricatum , Nitzschia am- phibia. Umfangreich ist die Zahl derjenigen Kieselalgen, die die Strömung der Bäche und klaren Gräben bevorzugen (Melosira subflexilis, Eunotia tridentula, Navicula gracilis, Gomphonema parvulum, Epithemia Argus, Surirella linearis). Im großen und ganzen gilt für die Zusammensetzung der Diatomazeenflora in den Flüssen dasselbe. Wenn vorzugsweise nur in den Strömen und in den Mündungen solcher einige Arten, wie Cosci- nodiscus lacustris, Stephanodiscus Hantzschii, Bid- dulphia Rhombus, Achnanthes Hauckiana, Navi- cula cocconeiformis, Rhoicosphenia Vanheurckii, Nitzschia Brebissonii, Homoeocladia germanica, Surirella dentata vorkommen, dann spielt wohl schon in größerem oder geringerem Maße der Salzgehalt des Wassers als Verteilungsfaktor mit. Nun ist naturgemäß die \^erbreitung der ein- zelnen Arten auf die verschiedenen Gewässer nicht eine so strenge, wie sie vielleicht aus der Dar- stellung herausgelesen werden könnte. Das er- gibt sich schon aus der Schwierigkeit, manche Gewässer einem bestimmten Schema einzuordnen. Eine große Anzahl von Kieselalgen verhält sich geradezu indifferent in dieser Hinsicht, sie gedeihen in stehendem Wasser ebensogut wie in fließendem (Melosira varians, Clyclotella Meneghiana, Tabellaria, Meridion, Diatoma vulgare, Synedra Ulna, Navi- cula lanceolata, Gyrosigma acuminatum, G. attenua- tum, Epithemia Zebra, Cymatopleura Solea). Das- selbe gilt auch von den Formen, die außerhalb des Wassers gefunden werden. Viele von ihnen haben die Fähigkeit, sich in einem ihnen zu- sagenden Gewässer weiter zu entwickeln. Als Beispiel für beinähe universales Vorkommen sei Nitzschia palea genannt, die feuchte Orte, Mauern, feucht gehaltene Blumentöpfe besiedelt, aber ebenso häufig in Gossen, Gräben, Tümpeln, Flüssen und Seen ist. Nicht ohne Einfluß ist die chemische Zusammen- setzung des Mediums, die teilweise bedingt wird durch die Art des Untergrundes. Im allgemeinen sind die Diatomeen Kinder des reinen Wassers. N. F. XVni. Nr. 28 ^Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 387 Stark jauchige Gewässer werden von den meisten gemieden. So sind z. B. erfüllte Lachen unserer Wälder mit verwesenden Blättern relativ arten- a"rm. Findet dagegen ein Durchfluß statt, dann stellen sich Stauroneiden, Surirellen und Campy- lodisken ein. Doch gibt es auch einige unter ihnen, die sich im Schmutze wohl fühlen. In trübem Wasser lebt Nitzschia thermalis und ihre Varietät serians hat sogar unreines, jaucheartiges Wasser zu ihrem Aufenthaltsort gewählt. Straßen- und Fabrikabwässer sind ebenfalls nicht frei von einzelnen Kieselalgen. In letzteren ist z. B. die interessante Bacillaria paradoxa nicht so' selten, wie meistens angenommen wird. Auch die an organischen Substanzen reichen Abflüsse von Riesel- feldern bergen manchmal seltene Funde, wie Ste- phanodiscus Hantzschii. Sehr eisenhaltiges und gerbstoffreiches Wasser wird im großen und ganzen umgangen, wenn auch vereinzelt größere Formen zwischen den braunen Flocken und Überzügen aus Eisenoxydhydrat (gebildet durch die Eisen- bakterien aus kohlensaurem Eisenoxydul) auf dem Schlamme und auf den Pflanzen von Sümpfen gefunden werden. Verschiedene Formen scheinen Kalk zu lieben. Gomphonema intricatum und Nitzschia dissipata wachsen mit Vorliebe an Kalk- felsen, Eunotia Arcus und Epithemia Hyndmannii können vielleicht auch zu den kalkholden Arten gerechnet werden. Den Kalk zu meiden scheint Eunotia pectinalis. Wasserstellen mit moorigem Charakter und Untergrund, also Torfstiche und Moorgewässer, bilden nicht selten den Aufent- haltsort für schöne und oft sonst nur vereinzelt auftretende Formen (Staurosira Harrisonii var. rhomboides, Eunotia tedraodon, Himantidium gra- cilis, H. Soleirolii, F"rustulia rhomboides var. viri- dula, Epithemia ocellata). Von besonderem In- teresse ist die manchmal spezifische Zusammen- setzung der Kieselalgenvegetation in Heilquellen, die meistens Salze und Gase in gelöstem Zustande enthalten. So ist Navicula bacillaris aus den Cann- staiter Sauerwassern bekannt. Solche Formen führen dann hinüber zu der großen Gruppe von Süßwasserdiatomeen, die auch in Gewässern mit Chlornatriumgehalt zu leben vermögen oder um- gekehrt sich aus dem Salzwasser dem Süßwasser angepaßt haben. Schon oben wurde bei den Spezies, die in den Mündungen unserer großen Ströme gefunden werden, auf die Wirkung des Salzgehaltes hingewiesen. Von Arten, die sowohl im Süßwasser als auch Brackwasser leben, seien genannt: Cylindrotheca gracilis, Achnanthidium brevipes, Mastogloia Smithi, M. Braurii, Amphi- prora ornata, A. paludosa, A. alata, Navicula puella, N. placentula, Pleurostauron Smithii, Ba- cillaria paradoxa, Nitzschia Brebissonü, Surirella robusta. Eine ganze Anzahl mariner Arten be- schränkt sich nicht nur auf die Meere, sondern hat sich mit dem süßen Wasser tief im Inlande abgefunden: Synedra Ulna var. undulata, S. Gallioiiii, Navicula didyma, N. integra, N. sculpta, N. hume- rosa, Amphora coffeaeformis , Nitzschia sigma, N. hungarica. Die meisten von diesen halophilen Formen werden in Gemeinschaft mit noch anderen, z. B. Synedra Acus, Mastogloia elliptica, Gyro- sigma Spenceri, Pinnularia interrupta, Cymbella pusilla, Amphora lineolata, Surirella biseriata, in den Salinen wässern (Solgräben, Ablaufrinnen der Gradierhäuser, Teiche der Salinen usw.) wieder- gefunden und gewähren dadurch einen besonderen Reiz. Auch gegen die verschiedenen Temperaturen der Gewässer zeichnen sich viele Diatomeen durch Widerstandsfähigkeit aus. Die Hauptmasse ist auf relativ niedere Temperaturen gestimmt. Daraus erklärt es sich, daß zahlreiche Arten in der ersten Frühlingszeit bei Graden nahe an o kräftig flo- rieren. Bei vielen Bazillariazeen des Planktons fällt das Maximum ihrer Entwicklung in die Wintermonate, was besonders für die kleineren Seen gilt. Man kann noch allerlei Formen unter dem Eise lebend hervorholen. Bis zu den schnee- bedeckten Gipfeln und den Firnen der Hoch- gebirge wagen sich Einzelne von ihnen hinauf und vermögen dort dauernd zu gedeihen (Navi- cula seminulum, N. nodosa, Epithemia Zebra). Odontidium hiemale, Gomphonema olivaceum var. glacialis, Cymbella alpina und Rhopalodia gibba lassen sich durch die Kälte der Schnee- und Eis- wasser führenden Bäche und Gletschergewässer in ihrem Wachstum nicht stören. Aber ebenso unbedenklich tauchen sie in das warme Wasser, sogar in die heißen Thermen. Aus warmen Quellen, warmen Abwässern von Dampfmaschinen, warmen Süßwasserbehältern botanischer Gärten sind bekannt: Microneis exigna, Navicula sphaero- phora, Tryblionella tryblionella, Nitzschia ther- malis. Die Temperaturgrade von 30" — 60" und darüber, wie sie in heißen Quellen und Heilbädern vorhanden sind, vertragen Arten, wie Synedra angustata, N. oblonga, N. appendiculata und Suri- rella striatula. Je nachdem die Diatomeen imstande sind, mit Hilfe ausgeschiedener Gallerte sich festzusetzen, oder die Fähigkeit haben, sich kriechend auf einem Substrat zu bewegen, oder mit Schwebe- einrichtungen ausgerüstet sind, werden sie in die sitzenden Arten, die Grunddiatomeen und die Planktonformen unterschieden. Die erste Gruppe, die sessilen Diatomazeen, besiedeln fast alle Arten von Gegenständen, die vom Wasser umspült werden. Sie werden be- sonders in fließenden und schnell fließenden Ge- wässern gefunden. Daraus ergibt sich, daß viele von den oben genannten Arten solcher bewegten Gewässer zu ihnen gehören (mehrere Melosiren und Cyclotellen, die Tabellaria- und Diatoma- Arten, ein Teil der Synedren und Euno- tien, die Gattungen Achnanthes, Cocconeis und Gomphonema, von Naviculazeen besonders Amphi- pleura pellucida, von den Cymbellen Cocconema und Encyonema, Mitglieder der Amphora- Gattung, einige Epithemien und Nitzschien. Von den koloniebildenden Formen sind die Ketten (Melosira 388 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 28 varians) und Bänder (z. B. Tabellaria flocculosa) mit ihrer ersten Zelle dem Substrate angeheftet, die Büschel und Fächer (z. B. Synedra affinis und S. pulchella) sind mit einem Polster an der Unterlage befestigt, gallertige Stiele übernehmen die Aufgabe (z. B. Cocconema cistula, Gomphonema acuminatum ) oder einhüllende gelatinöse Massen oder Gallert- schläuche (z. B. MastogloiaSmithi, Encyonema ventri- cosa) stellen die Verbindung dar. Die einzellebenden Arten sitzen mit einer meist dünnen Schicht den Gegenständen auf, und wenn sie sich flach an- legen, dann erinnern sie lebhaft an saugende, para- sitische Schildläuse (z. B. Cocconeis Pediculus, Epithemia turgida). Beinahe alle submersen Ob- jekte, seien sie anorganischer oder organischer, lebloser oder lebender Natur, können das not- wendige Substrat für eine sessile Diatomazeen- vegetation liefern. Jedes Kieselchen und jeder Stein eines schnellen Baches, die Felsblöcke im stürzenden Wasserfall, die in den Strom hinein- gebauten Buhnen, die zur Befestigung dienenden Stein- oder Schlackeneinfassungen bei Kanälen und Binnenhäfen können zu einer Siedelungsstätte für ein Kieselalgenbenthos werden. Nicht minder sind dazu geeignet einzeln stehende Pfähle, die ins Wasser hineinragenden Pfosten der Brücken, das Holzwerk von Landungsbrücken und -Stegen, die Balken, Planken und Holzwände von Bade- anstalten. An den leeren Schalen und Gehäusen der Muscheln und Schnecken haften sitzende Kieselalgen. Doch auch die Panzer der lebenden Mollusken und Krustentiere weisen oft eine mannig- faltige Flora auf Mit besonderer Vorliebe werden die Wasserpflanzen zu genanntem Zwecke benutzt. Von den Phanerogamen tragen die Sprosse und Blätter von Scirpus, Juncus, Nymphaea, Nuphar, Potamogeton, Elodea, Myriophyllum, Ranunculus einen reichen Flor. Besonders bieten die Stengel von Phragmites an ihren untergetauchten Teilen eine Fülle von Material (Melosira varians, Ortho- sira arenaria, Diatoma vulgare, Synedra pulchella var. longissima, S. Acus, S. capitata, Staurosira capucina, Cocconeis Placentula, C. Pediculus, Gom- phonema gracile var. dichotoma, Rhoicosphenia curvata, Cocconema lanceolata, C. cymbiformis, Encyonema ventricosum, Epithemia turgida, Rho- palodia ventricosa). Viele von den koloniebilden- den Formen lösen sich zu Zeiten von ihrem Substrate los und schwimmen dann in gemein- samer Gallerte als sog. Auftrieb an der Oberfläche der Gewässer (Mastogloia Smithi, Gomphonema acuminatum, Cocconema cistula). Die Wurzeln von Bäumen am Ufer der Gewässer, selbst die dünnen Würzelchen der Lemnazeen werden nicht verschont (Achnanthes hungarica). Einige Arten scheinen eine gewisse Spezifität hinsichtlich ihrer Unterlage an den Tag zu legen. Hantzschia Dianae kommt nicht selten auf Salvinia natans und Navicula cocconeiformis auf Isoetes lacustris vor. Die Wassermoose dienen namentlich den Eunotien zur Wohnung. Meist in dem Rasen von Fontinalis hält sich Eunotiatridentula auf, E. robusta und Varietäten lieben die Hypnazeen des Süß- wassers. E. Soleirolii zieht die Sphagnazeen als Aufenthaltsort vor. Besonders für die einzeln oder in kleinen Kolonien lebenden sitzenden Kieselalgen geben die Rasen der Oszillarien, Konferven, Dra- parnaldien, Cladophoren, Vaucherien und Charen, die manchmal dicht besetzt sind, ein wahres Dorado ab. Auch auf einzelligen Grünalgen finden sich hin und wieder epiphytisch lebende Formen, z. B. auf Tetraspora Achnanthes linearis, und die größeren Nitzschien, Cymatopleuren, Surirellen und Campy- lodisken sind nicht selten besiedelt von Fragilaria parasitica, Synedra Vaucheriae und Amphora ovalis var. Pediculus. Auch die Gruppe der Grunddiatomeen, die eine kriechende Lebensweise führen, benötigen eines Substrates, um gedeihen zu können. Sie sind nicht imstande, frei im Wasser herum zu schwimmen. Sie bevorzugen stehende oder schleichende Gewässer, die mehr oder weniger seicht sind. Der Grund der Pfützen, der Boden der Gräben und die Ufer der Teiche und Seen bilden darum die hauptsäch- lichsten Fundorte. Zu ihnen gehören in der Haupt- sache die Naviculazeen, die Pinnularien, die Stau- roneiden, die Gyrosigmen, dieCymbellen, Bacillaria paradoxa, die Nitzschien, die Cymatopleuren, die Surirellen und die Campylodiscen. Natürlich sind fast auch immer Vertreter von sessilen Diatomazeen untermischt, da einige von ihnen sowohl angeheftet als auch kriechend, je nach Bedürfnis, leben können, z. B. Cocconeis. Doch können die Grunddiatomeen unter gewissen Verhältnissen und zu Zeiten an die Oberfläche der Gewässer kommen. Dringen an klaren, sonnigen Tagen die Strahlen bis auf den Boden hinab, so scheiden die Algenzellen in- folge der lebhaft einsetzenden Kohlensäureassimi- lation Sauerstoff aus, der in Form kleiner Bläschen zwischen den Diatomeen hängen bleibt und schließ- lich einen Auftrieb von vielen Individuen bewirkt, der entweder sich aus mehreren Arten zusammen- setzen kann oder aber manchmal fast eine Rein- kultur darstellen kann. Später sinkt der Auftrieb wieder hinunter. Endlich aber finden sich viele Grundkieselalgen zwischen den Rasen von Faden- algen und Moosen, die schon z. T. bei den seß- haften Arten aufgezählt wurden. Das dichte Netz derselben mit den oft schleimigen Substanzen dient als erforderliches Substrat. Es erübrigt sich, Formen aufzuzählen, die dafür in Betracht kommen, da es sich um eine sehr große Anzahl handelt, und Ver- treter aus allen oben angeführten Gattungen sich an der Zusammensetzung beteiligen. Selbst die Fangblasen und geschlossenen Blätter von Utri- cularia und Aldrovandia enthalten oft Naviculazeen. Die Gruppe der Planktondiatomeen, die durch besondere Schwebeeinrichtungen charakterisiert sind, führt meistens in den Oberflächenschichten stehender Gewässer ihr flottierendes Dasein. Die Hauptentwicklungsstätten der Schwebekieselalgen bilden die Seenbecken, und viele von ihnen leben durchschnittlich nur in solchen Gewässern (Ortho- sira granulata, Cyclotella Schroeteri, C. chaeto- N. F. XVni. Nr. 28 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 389 ceras, Siephanodiscus Hantzschii, Attheya Zacha- riasi, Tabeliaria asterionelloides, Synedra beroli- nensis, Centronella Reichelti). In Flüssen werden sie in den stillen Buchten und Altwässern ange- troffen. Einige gehören aber nicht nur dem Phy- toplankton der Seen an, sondern florieren ebenso gut in Teichen und Gräben, wie Melosira distans, M. varians, Orthosira Binderiana, Cyclotella comta, C. Meneghiana, Rhizosolenia longiseta, R. stagnalis, R. eriensis, Fragilaria virescens, F. crotonensis, Synedra Acus var. delicatissima, Asterionella gra- cillima, A. formosa, wenn auch im allgemeinen die Schwebeflora der Teiche hinsichtlich der Dia- tomazeen der der Seen an Qualität und Quan- tität — letztere relativ betrachtet — im allge- meinen bedeutend nachsteht. Das Diatomazeen- Potamoplankton besteht im wesentlichen aus den Komponenten der Buchten, die aus denselben durch die Strömung und den Wind in den eigentlichen Flußlauf getrieben werden. Dazu treten noch Formen, die im engeren Sinne keine Plankton- algen sind, die vielmehr durch die Strömung los- gerissen oder aufgewirbelt werden oder durch Zu- flüsse, durch Auswaschen benachbarter Tümpel und Teiche bei Überschwemmungen hineinkom- men und sessile und grundbewohnende Arten darstellen. Anhäufungen solcher Arten können z. B. bei den in größeren Flüssen hineingebauten Buhnen stattfinden. In dem langsamen Gegen- strom, der sich in der Nähe des Ufers von Buhne zu Buhne stromaufwärts bildet, sinken die schwe- reren im Wasser suspendierten Teilchen zu Boden und die Diatomeen schweben fast rein im Wasser herum. Solche mitgeschwemmten Formen sind auch in vielen Arten in dem Filterschlamm städti- scher Wasserwerke reichlich vertreten. Zu ihrem Wachstum bedürfen die Kieselalgen des Lichtes. Mit ganz verschwindenden Aus- nahmen, wie Orthosira Roeseana, die sich Stellen mit geringerer Lichtstärke auszusuchen scheint, meiden sie stärker beschattete Örtlichkeiten. Wiederum kann das grelle Sonnenlicht, wie es im Hochsommer herrscht, nicht als günstigste Ent- wicklungsbedingung gelten. Aus diesen beiden Tatsachen erklärt sich das speziellere Vorkommen der Diatomazeen und deren Verbreitung während der verschiedenen Jahreszeiten, sofern nicht noch andere Faktoren, besonders die Temperatur, mit in Rechnung kommen. Da aber das Licht aller Wahrscheinlichkeit nach als primärer Faktor ver- antwortlich zu machen ist, so mag diese Seite des Vorkommens an dieser Stelle erörtert werden. Solche günstige Lichtverhältnisse herrschen in flachen Wasseransammlungen und an dem Ufer größerer Gewässer. Abgesehen von den Formen der Schwebeflora, die zeitweise auch (Melosiren fanden sich z. B. bis zu 30 m Tiefe in großen Massen) in größeren Tiefen vorkommen, über- schreiten die Diatomazeen in der Regel kaum eine Tiefe von 6 m. Doch diese optimalen Lichtver- hältnisse sind nicht während des ganzen Jahres konstant vorhanden. Im Frühjahr, wenn das Licht eine mittlere Intensität besitzt, beginnt sich schon an milderen Januartagen nach der Eisschmelze die Kieselalgenflora zu entwickeln. Als erste Boten treten die festsitzenden P'ormen (Melosira, Meridion, Fragilaria, Synedra, Gomphonema) und Plankton- spezies, die sich in allen Gewässern nicht in gleicher Zusammensetzung zeigen, auf. In manchen Seen wuchern sie alljährlich von März bis Mai so üppig, daß ihnen beinahe allein die Herrschaft in der schwebenden Mikroflora zukommt. Diesen Formen folgen dann bis in die ersten Sommer- monate für gewöhnlich die Grunddiatomeen. Das Maximum der Entwicklung Hegt etwa in den Monaten April — Mai. Im Hochsommer geht die Vegetation mehr oder weniger zurück. Die Grund- formen werden durch die starke Beschattung seitens der höheren Wasserpflanzen zurückgedrängt, viele Planktonten suchen infolge des grellen Lichtes tiefere Wasserschichten auf oder verschwinden ganz. Das schließt natürlich ein Vorkommen der Kieselalgen in diesen Monaten nicht aus. Es gibt zahlreiche Örtlichkeiten, die während dieser Zeit der Diatomeen nicht entbehren und einzelne Kom- ponenten der Frühlingsflora besitzen. Auch Plank- tonalgen finden sich während dieser Zeit, einige sogar in gewisser Häufigkeit, z. B. Attheya, Tabel- iaria fenestrata var. asterionelloides und Asterio- nella. Dieser relativ armen Zeit folgt in den Herbst- monaten September und Oktober ein zweites Vegetationsmaximum, das zwar dem ersten an Arten- und Individuenzahl nachsteht, aber den- noch eine ziemlich üppige Entfaltung der Grund- flora hervorbringt. Während der kalten Jahres- zeit verschwinden aber die Diatomeen nicht ganz, sondern viele planktonischen Formen beteiligen sich an der Zusammensetzung des Winterplank- tons und treten in den Monaten November, De- zember, Januar und Februar massenhaft auf (Melo- sira, Rhizosolenia longiseta, Diatoma elongatum, Fragilaria crotonensis, Synedra delicatissima, Cen- tronella Reichelti). Das gilt besonders für die kleineren Landseen. In manchen Seen erlangen gewisse Arten während dieser Zeit sogar ihre maximale Entwicklung, z. B. Melosira. So können also die Kieselalgen das ganze Jahr über gefunden werden. Manche Formen bevorzugen bestimmte Zeiten, so gilt z. B. die Zeit vom September bis November als günstigste für das Vorkommen von Bacillaria paradoxa. Das Gedeihen der Diatomazeen ist gebunden an dem Vorhandensein von pflanzlichem Detritus. Es gilt geradezu mit gewissem Vorbehalt der Satz: Die Wahrscheinlichkeit der Anwesenheit und die Menge der Kieselalgen wächst proportional mit der Quantität vegetabiler Abfallstoffe, wie solche zwischen den als Substrat dienenden lebenden Pflanzen oder auf dem Grunde der Gewässer ge- geben sind. So suchen sich die terrestren Arten, wie schon geschildert wurde, die kompakten Moos- polster mit besonderer Vorliebe aus, zwischen den Überzügen von luftbewohnenden Blau- und Grün- algen (Gloeothece, Pleurococcus) gedeihen sie, auf 39° Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 28 faulenden Teilen von Pflanzen werden sie hin und wieder angetroffen, z. B. Nitzschia inconspicua. Sterilen Fels meiden sie. In mehr oder minder hohem Maße gilt das auch von den seßhaften Wasserformen. Die größten Anforderungen aber stellen die am Grunde kriechenden Spezies in dieser Hinsicht. Reiner Sand ist artenarm. Da- gegen zeichnet sich der koprogene, schwarze oder braungraue Schlamm an den Teichrändern und der an faulenden und verwesenden Pflanzenstielen und -blättern angereicherte Grund der Seenufer durch besondere Mannigfaltigkeit und Üppigkeit der Kiesetaigenflora aus. Manche Arten führen auf dem Schlamme ihre kriechende Lebensweise, andere halten sich nicht an der Oberfläche, sondern nur in der Nähe derselben im Innern des Schlam- mes auf (z. B. Campylodiscus). Der Ertrag an Planktonformen fällt im allgemeinen um so reicher aus, je größer die Ufer- und Bodenentfaltung im Verhältnis zur Wassermasse ist, weil der Gehalt eines Sees oder Teiches an organischer Substanz davon abhängt. Die enorme Artenzahl der Kieselalgen, gibt es doch im Süßwasser mehr als 500, ihre große Vermehrungsfähigkeit in Verbindung mit ihrem spezifisch braunen FarbstofT und der mehr oder minder großen Neigung zur Koloniebildung mit Hilfe der Gallerte bringt es mit sich, daß auf- fällige Anhäufungen entstehen, die selbst den Anfänger auf diese Kunstwerke der Wasserflora aufmerksam machen.. Natürlich gibt es auch Formen, die vereinzelt auftreten und dann makro- skopisch nicht sichtbar sind, z. B. Cylindrotheca gracilis, Surirella robusta. Bei den sichtbaren Mengen kann es sich um das Vorherrschen einer Art handeln , so daß daraus fast Reinkulturen resultieren (besonders sessile Arten), oder aber um Gemenge der verschiedensten Spezies (viele Grunddiatomazeen). Im großen und ganzen herrscht der braune Farbenton vor, der aber von schmutzig- weiß über gelb-, rost- und rotbraun zu olivgrün variieren kann. Meistens sind diese Ansammlungen mehr oder weniger schleimiger Konsistenz, sodaß sie gerade nicht ästhetisch befriedigen. Bräun- liche, schlüpfrig-schleimige Überzüge und Schichten von hautartiger oder breiähnlicher Beschaffenheit auf dem Boden, an Steinen, Pfahlwerk u. dergl. bilden Amphipleura pellucida, Navicula minuscula, N. atomus, N. pelliculosa, Gomphonema gracile, G. intricatum. Sind diese Überzüge dicker, dann entstehen Krusten, die manchmal das Substrat fast vollständig einhüllen, wie Mastogloia Smithi, Gom- phonema acuminatum. Cyclotella operculata im Wasser, Nitzschia dissipata an feuchten Felsen erzeugen formlose Schleimmassen. In schnell strömenden Gewässern nehmen solche einen fluk- tuierenden Charakter an, wie das bei Odontidium hiemale der Fall ist. Beschränken sich solche Ausscheidungen derDiatomazeen auf einen kleineren Raum, dann entstehen entweder mehr oder weniger gestaltlose Polster, wie sie der Komplex von Stielen bei Gomphonema olivaceum bis zu einem Durch- messer von I cm darstellt, oder die Zellen sind in einem gelatinösen Pseudothallus eingebettet (Mastogloia Grevillei), der bei Frustulia saxonica die Gestalt olivgrüner, bis kirschengroßer, zittern- der Gallertklümpchen annimmt. Bräunliche, flockig-schleimige Rasen und Raschen auf unter- getauchten Gegenständen können sich zusammen- setzen aus Orthosira Binderiana, Cocconema cistula. Als Konglomerat von Melosiren, Meridien, Fragi- larien, Achnanthen u. a. entpuppen sich meistens die braunen Strähne, wie sie in fließendem Wasser bis zu 30 cm Länge angetroffen werden. Sie unterscheiden sich von den Fadenalgen neben ihrer Färbung, die aber nicht immer ausschlaggebend ist, weil abgestorbene Fadenalgenmassen oft einen bräunlichen Ton annehmen, durch ihren losen Zu- sammenhang. Bei der Berührung mit dem Stocke oder bei dem Herausnehmen aus dem Wasser zer- fallen solche Bänder. Auch die einzeln, schma- rotzerartig lebenden Kieselalgen müssen erwähnt werden, da sie manchmal dem unbewaffneten Auge dadurch schon bemerkbar werden, daß sie Faden- algen und Charen so dicht besetzen, daß diese in einer bräunlichen Farbe erscheinen. An der Bil- dung der braunen Decken, wie sie als sammetener Pelz den schlammigen Boden überziehen, beteiligen sich meistens Grunddiatomazeen. In dichten Lagen liegen sie lose oder hautartig über- und neben- einander. Nicht selten ist der Zusammenhang ein so fester, daß sie sich bei einiger Vorsicht förm- lich abschälen lassen. Die sitzenden als auch die freibeweglichen Arten können makroskopisch sicht- baren Auftrieb bilden. Erstere lösen sich von ihrem Substrat los und steigen mehr oder weniger in Klumpen hoch, wie das bei Mastogloia Smithi, Gomphonema acuminatum , Cocconema cistula häufig zur Beobachtung gelangt, letztere bedecken manchmal die Oberfläche der Pfützen und Teiche mit einer braunen Schicht, die oft unglaublich viele Individuen fast ohne Beimengungen enthält. Durch die Sauerstoffblasen nimmt sie nicht selten schaumigen Charakter an. Auch als größere oder kleinere Flocken können die Kieselalgen auf dem Boden, schwimmend oder an der Oberfläche auf- treten. Solcherart, in flottierendem Zustande, werden die koloniebildenden Planktondiatomazeen ange- troffen. Hin und wieder bilden die planktonischen Formen Anhäufungen, die zwar mit dem bloßen Auge nicht als einzelne Individuen unterschieden werden können, die aber dem Wasser eine allge- meine auffällige Trübung (Melosira, Fragilaria), in extremen Fällen eine braune Färbung verleihen können, wie das Asterionella gracillima in Teichen tut. Für den Algologen bieten also die Kieselalgen sowohl hinsichtlich der biologischen Verhältnisse, wie sie im Zusammenhange zwischen Vorkommen und Anpassung zum Ausdruck kommen, als auch der leichten und fast zu jeder Jahreszeit ausgiebigen Materialbeschaffung die denkbar günstigsten Studien- objekte. N. F. XVIII. Nr. 28 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 391 Die Widerstandsfähigkeit gewisser Sorten [Nachdruck verboten.] Von Prof. Dr. C. Mit den Ausdrücken Abbau, Entartung, Alters- schwäche, Altern oder ähnlichen Bezeichnungen benennen der praktische Landwirt und der Gärtner die bei gewissen Kulturpflanzen auftretende Er- scheinung des Nachlassens der Erträge oder des Aufhörens der sonst an der betreffenden Pflanze geschätzten Eigenschaften. Als solche angeblich , .altersschwachen" Sorten werden genannt die Dabersche und die echte lange Kartoffel, der Goldpepping, Borsdorfer und Gravensteiner Apfel, verschiedene Butterbirnen, die Lübecker Johannis- beere, die Vierländer Erdbeere, die La France- Rose, die Pyramidenpappel und manche andere Sorten und Arten. Die Ursache der angenommenen Entartung beruht entweder auf einem wirt- schaftlichen Abbau, indem neue ertrag- reichere oder sonst bessere Sorten gezüchtet, im Handel angepriesen und angebaut werden, oder auf einem biologischen Abbau, der durch örtliche Einflüsse und Witterung, Ausbleiben der Befruchtung, z. B. bei der Vierländer Erdbeere und dem Gravensteiner Apfel, Auswahl ungeeig- neter Edelreiser von jungen und nicht tragenden Bäumen oder durch falsche Unterlage bei der Veredelung veranlaßt ist. Das hat aber alles nichts mit einem Altern der Sorte zu tun. Auch die ständige vegetative ungeschlecht- liche Vermehrung durch Knollen, wie bei der Kartoffel, durch Stecklinge, wie bei der Pyramiden- pappel, oder durch Reiser, wie bei den Obstbäumen, wird als Ursache der Entartung bei manchen Kulturpflanzen angeführt. Kritische Betrachtungen durch Möbius (Biolog. Zentralbl. 1891 und Beitr. zur Lehre von der Fortpflanzung der Gewächse 1897) haben jedoch ergeben, daß diese Ver- mehrungsart keine unnatürliche ist, zumal sich auch wildwachsende Arten durch Knollen, Rhizom- stücke und Ausläufer verbreiten, und daß der Verfall der betreffenden Pflanzensorte auf Krank- heiten zurückzuführen ist. Die der Entartung bezichtigten Kulturpflanzen gedeihen an ihnen zu- sagenden Orten und beim Freibleiben von Krank- heiten durchaus normal und bringen gute Erträge, und ständig aus Samen erzogene Pflanzenarten, wie Getreide , Kaffee u. a. , und wildwachsende Pflanzen werden in gleicher Weise von verheeren- den Krankheiten heimgesucht wie die nur vege- tativ vermehrten Arten. Die Beobachtung hat nun gelehrt, daß ge- wisse Arten und Sorten unserer Kultur- pflanzen widerstandsfähiger gegen Witte- rungseinflüsse, wie Frost, und gegen pilzliche und tierische Angriffe sind als andere, z. B. Getreide- sorten gegen verschiedene Brand- und Rostpilze, Kartoffelsorten gegen die Blatt- und Knollenfäule und gegen den Kartoftelkrebs, Obstbäume gegen gewisse Pilzkrankheiten, Insekten und Frost. So fand v. Tubeuf (Arb. d. Biolog. Abtlg. a. K. Gesundheitsamt 1901), daß bei künstlicher nnserer Kulturpflanzen gegen Parasiten. Brick, Hamburg. Infektion der Weizenkörner mit Sporen des Stein- brands {Tüktia tritici), der die Weizenkeimlinge infiziert, die amerikanischen Sommersorten ühio- und Ontario-Weizen [TräiciDii durum var. Icitco- melan Alef.) fast frei von brandigen Ähren blieben. V. Kirchner in Hohenheim (Berichte d. Anst. für Pflanzenschutz Hohenheim 1905 — 1913 und Fühlings landw. Ztg. 1906, 1908, 1916) fügte diesen hinzu die deutschen Winterweizen Fürst Hatzfeld und Hohenheimer Nr. •]•] (Tr. vulgare var. vchiiiimm Schübl.) und drei Wintersorten von Kolbendinkel {Tr, spiita var. Alcfeldii Koern.), die Sommerweizen Galizischer Kolbenweizen und Odessa sans barbe {Tr. v. var. htfescens Alef.), und roter Schlanstedter von Neuhof {Tr. v. var. pyrothrix Alef.), den englischen Sommerweizen roter kahler Wunderweizen {Tr. turgiduvi var. pseiidocerviuuin Koern.), die Sommerfrüchte der Hartweizen {Tr. diiruvi) weißer kahler weiß- begrannter {var. affine Koern.) und schwarz- begrannter (var. Reichenbachii Koern.), blauer kahler rotkörniger (var. obsciinim Koern.), Palermo (var. campylodou Koern.) und Griechischer Hart- weizen (var. IciiconUlan Alef.) , den dickährigen und den schwarzbärtigen Polnischen Weizen {Tr. polonicum var. aiiciiuatiim Koern. und var. nigra- barbatuni Desv.), die Sommerdinkel blauer sam- tiger Sommer-Grannendinkel [Tr. spelta var. cacru- Iciini Alef) und blauer kahler Sommerdinkel {Tr. sp. var. ainissiDii Koern.) und das rote Sommer- einkorn {Tr. nioiiucocciDii). Die Brandfestigkeit ist jedoch nur die Eigenschaft der genannten Sorte, nicht aber auch verwandter Formen derselben Varietät, und sie kann auch unter besonderen für den Brandpilz günstigen Bedingungen mehr oder weniger verringert werden. Auch Hecke in Wien (Zeitschr. f. d. landw. Versuchswesen in Öster- reich 1909) hat einige Sorten geprüft; er fand als widerstandsfähig gegen Steinbrand den Wechsel- weizen aus Hohentrebitsch, während der Galizische Kolbenweizen — im Gegensatz zu den Beobach- tungen v. Kirchners — sich bei ihm als sehr empfanglich für Steinbrand erwies. Über P'lugbrand, der durch die Narben der Blüte aufgenommen wird, liegen solche Unter- suchungen nicht vor; doch sollen die Winter- weizen durch Ustilago tritici weniger befallen werden als die Sommerweizen, und die meisten Sorten der var. eräctuin der zweizeiligen Gersten [Hordeiivi distichinii) sind gegen Gerstenflugbrand {Ustilago iiuda) unempfänglich. Auch über die Anfälligkeit der Getreidesorten für die Rostkrankheiten liegen Beobachtungen aus verschiedenen Ländern vor, so außer aus Deutschland besonders aus Schweden, ferner aus England, Rußland, Nordamerika, Südafrika und Australien. Unter den von v. K i r c h n e r (a. a. O.) beobachteten Weizensorten waren für Gelbrost {Puccinia glumaruni) 392 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N, F. XVin. Nr. 28 sehr wenig anfällig 17 Winter- und wenig anfällig 29 „ „ von mittlerer Anfälligkeit 109 „ „ stark anfällig 27 „ „ sehr stark anfällig 11 _„ „ Ganz unempfänglich zeigten sich Winter- und Sommereinkorn [Trificuin tnoiiococaiin). Am we- nigsten befallen waren sodann von Winterweizen Rivets bearded, Helena, roter Englischer Weizen (sämtlich T. tiirgidinii var. dinnrinn Alef.), Trothaer roter Schloßweizen (Tr. f. var. iiiirabüc Koern.), Teverson [Tr. vulgare var. iniKiinnn Alef.), Fürst Hatzfeld und Hohenheimer Nr. JJ (Tr. v. var. veliitiniim Schübl.), Extra Squarehead {Tr. v. var. lutescens Alef.) u. a. und von Sommerweizen roter kahler Binkelweizen {Tr. compactuin var. rtifiiluvi), weißer kahler schwarzbegrannter Hart- weizen {Tr. du nun var. Reiche iibachii Koern.), Griechischer Hartweizen {Tr. d. Icucomelan Alef.), länglicher Polnischer Weizen von Tabor {Tr. po- lonicuvi var. oblongum Ser.) und andere Sorten des polnischen Weizens, Herisson barbu {Tr. coin- pactum var. icieriiium Alef.), roter kahler schwarz- begrannter Hartweizen {Tr. durum var. a lex an- drinum Koern.) und andere Sorten. Eine nahe Verwandtschaft berechtigt auch hier nicht zum Schluß auf die gleichartige Rostempfänglichkeit; innerhalb derselben Art oder Gruppe kommen widerstandsfähige und anfällige Sorten vor. In Schweden sind wiederum manche Sorten in ihrem Verhalten gegen Gelbrost anders wie in Süd- deutschland. Aus Westpreußen und Posen werden von Schander und Krause (Ber. üb. Pflanzen- schutz d. Abllg. f. Pflanzenkrankh. d. Kaiser-Wil- helm Inst. f. Landwirtsch. Rromberg 19 13/ 14) als widerstandsfähig angegeben Fürst Hatzfeld, Franken- steiner, Rimpaus früher Bastard, Cimbals und Stieg- lers Squarehead und Großherzog von Sachsen, während die meisten Squareheadsorten sich als sehr anfällig erwiesen. Für den bei uns weniger schädlich auftretenden Weizenbraunrost {Puccinia triticina) waren in Hohenheim vollkommen immun der weiße und rote Sommeremmer (7>. dicoccum var. farruiu Bayle und var. rußnii Schub!.), sehr wenig emp- fänglich von Winterweizen Helena, Rivets bearded (s. oben). Tunesischer Weizen {Tr. turgiduin var. di- miriiin Alef.), roter Englischer Weizen und schwar- zer samtiger Englischer Weizen {Tr. t. var. dinurum Alef. und var. jodurinii Alef.), blauer samtiger Grannendinkel {Tr. spelta var. caeruleuin Alef.) u. a., von Winterweizen das Sommereinkorn {Tr. vwnococcum) und die meisten Emmersorten {Tr. dicoccum). Auch hier ist eine Übereinstimmung der Beobachtungen in Deutschland, Schweden, Rußland und Nordamerika nicht häufig. Vom Befall des Weizens durch Schwarz- rost {Puccinia graminis) liegen nur ungenügende Angaben vor. Dagegen konnten beim Roggen als wenig empfänglich die Winterroggen Johannis-, Spanischer Doppel-, Böhmischer Stauden-, Schilf- 20 Sommerweizen, zus. 37 Sorten 25 .. » 54 „ 33 » " 142 „ 19 » » 46 „ 9 » .. 20 12.4 "/o 18,1 "/o 47.5 "/o 15.1 % 6,7 X und Correns- Roggen, von Sommerroggen Sommer- Stauden- und Zborowo-Roggen verzeichnet wer- den. Sehr wenig empfänglich war keine einzige Sorte, stark anfällig Petkuser Sommerroggen. Von den sonst auf Roggen vorkommenden Rosten war der Roggenbraunrost {Puccinia dispersa) auf Johannisroggen am wenigsten vor- handen, und der Roggengelbrost (jP. gluma- rum f sp. secalis) trat nur in einigen Jahren in beträchtlicher Ausdehnung auf Für die Getreidesorten ist die Widerstands- fähigkeit gegen Rost besonders wichtig, weil wir direkte Bekämpfungsmaßnahmen außer dem Ent- fernen der Zwischenwirte von Schwarz- und Braun- rost, der Berberitze und der Ochsenzunge, nicht kennen , während für Brandkrankheiten sich die Kupfervitriol- und Formaldehydbeizen und das Heißwasserverfahren durchaus bewährt haben. Auch bei anderen Kulturpflanzen finden sich gegen bestimmte Krankheiten nicht oder nur wenig anfällige Sorten vor. So werden von der Kraut faule der Kartoffel {PliyfopJitiwra in- fesfans) in geringem Maße ergriffen die Sorten Wohltmann, Industrie, Silesia, Böhms Erfolg, Blaue Riesen, Geheimrat Thiel u. a. , während Daber, Eierkartoffel, Auf der Höhe (Up to date), Richters Imperator u. a. sehr empfänglich gegen diese verbreitete Seuche sind. Unter der Blattroll- krankheit leiden besonders Magnum bonum, Auf der Höhe, Imperator u. a. Über die Anfälligkeit unserer Apfel- und Birnen- sorten gegen Schorf {Pusicladium dciniritium und F. pirinum) gehen die Angaben auseinander, die für eine Gegend als wenig befallen verzeich- neten Sorten leiden an anderen Orten sehr; be- kannt ist die Empfindlichkeit des Gravensteiner Apfels für den Schorfpilz. Beobachtungen über die Empfänglichkeit der Apfelsorten im Obst- muttergarten der Lehranstalt in Proskau liegen vor von Ad er hold (Pomolog. Monatsh. 1899 u. Arb. d. Biolog. Abtlg. a. K. Gesundheitsamte 1902) und der Birnensorten von Ewert (Ber. d. Kgl, Lehranstalt f. Obst- und Gartenbau Proskau 191 3). Von der Blutlaus (Sckisoncicra laiiigera) wird der Weiße Winterkalvill sehr heimgesucht, wäh- rend Charlamowski- und Northern Spy-Apfelbäume von ihr verschont bleiben. Der amerikanische Stachelbeermehltau {Spliaeroflieca mors uvac) ist stark auf unseren Stachelbeersorten vorhanden, weniger auf den Johannisbeeren und nie auf der amerikanischen Gebirgsstachelbeere {Ribes cynos- bafi). Eine von der Blattfallkrankheit der Reben {Plasmopara vificola) freie Rebsorte ist in Deutschland nicht bekannt; einzelne Sorten leiden unter dem Pilz allerdings weniger als an- N. F. XVin. Nr. 28 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 393 dere, wie Veltliner, Portugieser, Gutedel, die stark anfällig sind. Wohl aber finden sich in alten Reblausherden, z.B. in Österreich und Ungarn, Rebstöcke von gutem Wachstum, die den An- griffen der Phylloxera vastatrix widerstanden haben. Von Tropenpflanzen ist der arabische Kaffee- baum {Coff'ca arabica) gegen Hcinücia vastatrix sehr empfindlich, und der in Ceylon sehr einträgliche Kaffeebau mußte wegen der Ausbreitung dieses Rostpilzes aufgegeben werden. Dagegen bleibt der allerdings nicht so geschätzte liberische Kaffee [C. liberica) frei von der Krankheit. Auch gegen nichtparasitäre Schädig- ungen gibt es widerstandsfähige Sorten. So liegen Beobachtungen über die Frostempfindlich- keit verschiedener Obst- und Rebsorten, über die Chlorose der Rebe und über die verschiedene Wirkung solcher Schäden bei anderen Kultur- pflanzen vor. Viele Mitteilungen aus der Praxis muß man allerdings mit großer Vorsicht aufnehmen, da sie andere Einflüsse oft nicht berücksichtigen. Eine gute Zusammenstellung wertvoller Angaben hat kürzlich Molz (Zeitschr. f. Pflanzenzüchtung 1917) gegeben. Die Ursache der Widerstandsfähigkeit kann in einigen wenigen Fällen auf morpholo- gischen und anatomischen Eigenschaf- ten beruhen. Das Geschlossenbleiben der Blüten (Kleistogamie) bei den zweizeiligen Gersten {Hor- dtiin disticIiiiDi) bildet einen Schutz gegen die Infek- tion durch den Gerstenflugbrand ( Ustilago n/ida), und die Derbheit der Blätter und der Oberhaut widersteht vielleicht dem Fraß mancher Insekten. Auch biologische Besonderheiten können solchen Schutz bewirken. So verhindert das späte Austreiben der roten holländischen Johannisbeere die Infektion der Blätter durch den Pilz der Blattfall- widerstandsfähig anfällig widerstandsfähig anfällig Halme von Winterweizen Hohenheimer Nr. 'j'j Michigan Bronze Halme von Sommerweizen Roter kahler Binkelweizen Beloturka Dahlem H. 4, 1907) vermutete Zusammenhang zwischen Keimungsgeschwindigkeit der verschie- denen Weizensorten und ihrer Brandanfälligkeit hat sich nach Hecke und v. Kirchner nicht bestätigt, zumal die Keimungsgeschwindigkeit kein Sortenmerkmal ist, sondern von äußeren Bedingun- gen abhängt. Wohl aber spielen Witterungs- verhältnisae bei vielen Krankheiten eine große Rolle. Besonders aber sind es chemische Ur- sachen, die auf dem Vorkommen bestimmter Stoffe in den Zellen beruhen , wie Gegenstoffe, Enzyme, Zucker, Gerbstoff und anderer organischer Säuren. Man kann demnach mechanische Immunität, außenbedingte und Altersimmunität und physiolo- gische Immunität unterscheiden. Auf der Bildung von Gegenstoffen soll nach Heinricher (Denkschr. K. Akad. d. Wiss. Wien 1916) die Widerstandskraft der von der Mistel (Visiui/i al- bit»i) einmal besetzt gewesenen Birnbäume gegen den Neubefall durch die Mistel beruhen. Zucker wirkt nach Lidforss, Maximow u. a. als Schutzmittel gegen Erfrieren. Der in den Pflanzen sehr verbreitete Gerbstoff , der auch in Wunden der Pflanzen oft in erhöhtem Maße sich bildet, wirkt nach den Untersuchungen von Cook und Taubenhaus (Delaware Coli. Agr. Exp. Stat. Bull. 91, 191 1) hemmend auf die Keimung von Pilzsporen und das Wachstum der Pilzmyzelien, und das Vorhandensein organischer Säure in nur werüg vermehrtem Grade macht nach v. Kirchner (a. a. O.) gewisse Getreidesorten widerstandsfähig gegen Brand- und Rostpilze. Die zwar geringen aber doch gleichsinnigen Unterschiede im Gehalt an Säuren (berechnet als Weinsäure) und den gleichzeitigen Gehalt an Zucker gibt v. Kirchner in einigen von ihm mitgeteilten chemischen Ana- lysen mehrerer gegen Gelbrost {Piicciiiia gliona- rum) widerstandsfähiger und anfälliger Weizen- sorten folgendermaßen wieder: in Prozenten der Trockensubstanz Säure Dextrose Saccharose 0,67 (+ 0,12) 5,97 (—0,06) 17,73 (+ 9,29) o,5S 6,03 8,44 0,82 (4- 0,13) 7,24 (—0,24) 7,37 (— 0,28) 0,69 7,66 7,65 krankheit {Pseudopeziza ribis), spät im Frühling Ähnlich ergaben die Keimlinge zweier nahe austreibende Fichten werden nicht mehr vom verwandter Winterweizensorten derselben Varietät Fichtennadelrost {Clirysomyxa abictis) ergriffen, {Tn'ticuiii vulgare var. vcli/tuiiivi Schübl.) auch und späte Aussaat von Getreide wirkt dem Befall einen höheren Säuregehalt der gegen Steinbrand durch gewisse Insekten entgegen. Der von Appe 1 {Tilletia tritici) festen Sorte gegenüber einer emp- und Gaßner (Mittig. a. d. K. Biolog. Anstalt fänglichen Sorte: widerstandsfähig anfällig in Prozenten der frischen Substanz Säure im wässrigen Auszug Säure im alkoholischen Auszug Keimlinge von Fürst Hatzfeld 0,48 (+ 0,05) 0,59 (+ 0,12) Richmonds Riesen 0,43 0,47 394 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVin. Nn 28 Die Widerstandskraft der Sorten ist vererblich. Allerdings wirken auf die Widerstandsfähigkeit der Pflanze und gleichzeitig auf den angreifenden Para- siten klimatische Einflüsse, und Wilterungs- und Ernährungsverhältnisse können den erblichen Grad der Anfälligkeit in hohem Maße ändern. Gerade diese äußeren Faktoren spielen aber eine wesent- liche Rolle im Auftreten der Pflanzenkrankheiten. Überdies dürften die Ernährungsbedingungen der einzelnen Pilzarten sehr verschieden und eigen- artig sein. Unsere Kenntnis von der Ursache der Widerstandsfähigkeit ist demnach noch sehr gering. Immerhin sind .Anfänge von gangbaren Wegen für die weitere Forschung vorhanden. Bereits in der Natur findet eine ge- wisse Auslese solcher widerstands- fähigen Sorten statt. So blieben von den früher in unseren Gärten viel gezogenen Malven nur die vom Malvenrost {Piiccinia malvaecanwi) verschonten Sorten übrig, die nach und nach wieder zur Anzucht benutzt worden sind, und von Kartoffeln sind nur die in allerdings ver- schiedenem Grade der Blattfäule widerstehenden Sorten zum Anbau zurückgeblieben. Ebenso sind manche alten Landsorten gegen Krankheiten widerstandsfähiger als die jetzt gebauten Neu- züchtungen. Durch die Züchter wird weiter eine künst- liche Auslese betrieben, bei der widerstands- fähige Exemplare vermehrt und unter den ver- schiedensten Einflüssen mehrere Jahre hindurch beobachtet werden. Auch durch Kreuzung ge- eigneter aber krankheitsanfälliger Sorten mit wider^ standsfähigen Rassen oder Arten werden plan- rhäßig neue, von bestimmten Krankheiten nicht betroffene Sorten gezüchtet. Über die Züchtung widerstandsfähiger Sorten unserer Kultur- pflanzen und die Methoden der Zuchtwahl hat neuerdings Molz (a. a. O.) eine ausführliche Arbeit veröffentlicht. So hat man in Deutschland gegen Rost widerstandsfähige Tabaksorten, flugbrand- festen Weizen, von der Blattfäule und Rollkrank- heit freie Kartoffelsorten erzogen, und man ist bemüht, reblausfeste Weinsorten und gegen Nema- toden sichere Zuckerrüben zu züchten. Besondere Bedeutung hat die Immunitätszüchtung für den Kartoffelkrebs {Chi'ysoi>hlyctis cndobioticd) bereits erlangt. Alle gegen den im Boden lebenden Pilz angewandten Mittel haben versagt. Durch mehr- jährige Versuche in Westfalen, der Rheinprovinz und Schleswig-Holstein ist aber eine Reihe von Sorten, wie Juli (Züchter Paulsen), Hindenburg (v. Kameke), Ideal (Paulsen), Jubel (Richter), Lech (Dolkowski), neuer Salat (Paulsen), Danusia (Dol- kowski), Nephrit (Cimbal), Isolde (Paulsen), Brocken u. a., herausgefunden, die von der Krankheit nicht befallen werden und auf verseuchten Böden an- gebaut werden können. In Nordamerika gelang es, Baumwollsorten, die von der Welkekrankheit (durch Fiisariitiii vasinfechmi) nicht ergriffen werden, durch Auslese zu erhalten und Kuhbohnen {Vtgna sinensis), die gegen den Wurzelpilz der Welkekrankheit {Fusariinn tracheipJiikini) und gegen Wurzelälchen {Hcterodera radicicola) gleichzeitig resistent sind, zu erziehen. Durch Kreuzung einer wohlschmeckenden, aber der Welkekrankheit [Fu- sarium niveiiiii) stark unterliegenden Wassermelone mit einer ungenießbaren, aber gegen das Fusarium widerstandsfähigen Sorte konnte nach 5 Jahren eine brauchbare, von der Welkekrankheit nicht befallene Melone von gutem Geschmack erreicht werden. Die gegen Kälte empfindlichen Zitronen hat man durch Kreuzung mit der frostharten Cih'us trifoliata winterbeständig gemacht. Ebenso hat man frostharte Apfel-, Pflaumen- und Apri- kosensorten in einer Versuchsstation für Obstzüch- tung am Minnetonka-See in Minnesota heran- gezogen. In Frankreich und Italien versucht man gegen Reblaus und gegen Blattkrankheiten wider- standsfähige Reben zu erziehen, in Ostindien rost- feste Weizensorten und von der Hemileia-Krank- heit unbeeinflußten guten Kaffee, in Australien Steinbrand- und rostsichere Weizensorten, und in Neuseeland isoliert man jwiderstandsfähige Formen von Obst und Gemüse. Dieser neue, allerdings noch wenig erforschte Zweig der Phytopathologie, die Züchtung gegen bestimmte Krankheiten widerstandsfähiger Sorten, dürfte ein für die Landwirtschaft außerordentlich wichtiges Gebiet werden. Wird doch die direkte Schädlingsbekämpfung, der oft betriebstechnische Schwierigkeiten entgegenstehen und die meist hohe Kosten und vielfach großen Arbeitsaufwand er- fordert, dadurch erspart. Der Züchter muß sich dann weiter bemühen, die widerstandsfähigen Sorten auch zu ertragreichen heranzuzüchten. Einzelberichte. Ernährungsphysiologie. Nährwert des Maises. Der Mais wird in der letzten Zeit in steigendem Maße zur menschlichen Ernährung herangezogen, indirekt als Körnerfutter des Geflügels und direkt als Mehl; das Mehl wird zur Bereitung von Brei verwandt oder in mehr oder weniger hohem Prozentzusatz mit dem Mehl anderen Getreides gemischt verbacken. Im Hinblick darauf verdient eine durch zahlreiche Tierversuche erprobte Unter- suchung besonderes Interesse, aus welcher hervor- geht, daß der alte gegenüber dem jungen Mais für Nährzwecke bedeutend wertvoller ist. (J. J. Nitzescu, Pflügers Archiv Bd. 172 1918.) Zusammenfassend sagt der Verfasser: Aus unseren Untersuchungen geht hervor, daß der neue Mais weniger verdaulich und assimilierbar als der alte ist. Die ausschließlich mit Mais ge- fütterten Tiere fangen nach einer geraumen, von N. F. XVni. Nr. 28 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 395 der Gattung abhängigen Zeit zu leiden an ; dann werden sie mager und sterben, schneller aber diejenigen, welche mit dem neuen Mais ernährt wurden. Diese Übelstände sind darauf zurück- zuführen, daß das Eiweiß des Maises kein Trypto- phan und nur wenig Glykokoll und Lysin enthält. Kathariner. Auf Grund von Ernährungsversuchen macht Zuntz Vorschläge zur Hebung des Wollertrages der Schafe (Deutsche Landwirtschaftliche I^resse Nr. 29, Jahrg. 1919). Von den im Blut zirku- lierenden Spaltprodukten der mit der Nahrung aufgenommenen Eiweißkörper, so argumentiert der Verf., spielen für das Wachstum der Haare (deren Substanz bekanntlich aus Albuminoiden besteht) nur diejenigen eine Rolle, welche zum Aufbau der letzteren verwandt werden können. Dazu gehören in erster Linie das schwefelhaltige Zystin, das sich aber in den gewöhnlichen Futterstoffen nur in sehr geringen Mengen findet, sowie andere Bausteine, die z. T. durch den Abbau der Haar- substanz chemisch definiert werden konnten, z. T. aber auch noch unbekannt sind. Zuntz kam nun auf den Gedanken, dem Schaffutter auf- geschlossene Hörn- und Haarsubstanz beizumengen. Die Aufschließung gelang mit Hilfe besonderer Verfahren, welche die bei der üblichen hydro- lytischen Spaltung unvermeidlichen Verluste ver- mieden. So ließ sich durch Zusatz von Geschmacks- korrigenzien ein Präparat herstellen, das die Schafe gern annahmen und das nun eine merklich stärkere Entwicklung des Wollkleides bewirkte. Wie der Verf. durch. Versuche an sich selbst feststellte, soll es auf den Menschen ähnlich wirken. Während vor der Anwendung des Präparates der tägliche Zuwachs des Haupt- und Barthaares 5 mg betrug, stieg dieser Wert nachher im i. Monat auf 6,3 mg, im 2. gar auf 9,22 mg. Angegeben ist freilich nicht, ob nicht die Haarproduktion normal perio- dischen Schwankungen unterliegt. Bei der Schaf- wolle zeigte die mikroskopische Untersuchung eine Dickenzunahme des Haares um '/.;• Oh auch die Länge zunimmt, ist nicht angegeben. Miehe. Geographie. Die Trift Nordgrönlands nach Westen. In der Darstellung seiner Theorie der Verschiebung der Kontinente (Sammlung Vieweg, Heft 23, Braunschweig 191 5) hat A. Wegener angegeben, daß sich nach den Längenbestimmungen von Sabine (1823), Borgen und Copeland (1870) und Koch (1907) Grönland immer weiter von Europa entferne und zwar im ersten Zeit- abschnitt um 260 m, im zweiten um 690 m, ins- gesamt also in 84 Jahren um 950 m oder um 1 1 m im Jahr. Das Ergebnis war zunächst durch- aus hypothetischer Natur, solange man nicht nach- weisen konnte, daß die zugrunde liegenden Längen- bestimmungen frei von größeren Fehlern waren. Einen neuen Beitrag zu dieser Frage liefert J. P. Koch, der der Angelegenheit in den nun- mehr in endgültiger Form vorliegenden Berichten derDanmark Expedition (Mylius-Erichsen 1906— 08) ein längeres Kapitel widmet und zu dem Ergebnis kommt, daß weder bei seinen eigenen Messungen noch bei denen der Germania- Expedition von 1870 Fehler begangen sein können, die zur Er- klärung der gefundenen Längenunterschiede hin- reichen. Weniger klar liegen die Verhältnisse bezüglich der Längenbestimmung von Sabine im Jahre 1823, weil die Lage von Sabines Beobachtungsstelle nicht genau bekannt ist. In- dessen steht ihr wahrscheinlicher Ort durchaus im Einklang mit Wegeners Annahme einer west- wärts gerichteten Bewegung des Landes. Eine Neuvermessung könnte die noch vorhandenen Zweifel wahrscheinlich beheben. Koch stützt sich bei seiner Untersuchung auf die geographischen Koordinaten der kleinen Halb- insel Haystack, bei der das trigonometrische Netz der Danmark Expedition mit dem der zweiten deutschen Nordpol-Expedition zusammenstößt. Die Breiten stimmen sehr gut überein (75" 43' 38" nach der dänischen und 75" 43' 42" nach der deutschen Bestimmung), dagegen zeigt sich in den Längen ein wesentlicher Unterschied: 19" 25' 18" westl. Gr. gegen 19" 22' 42". Im Jahre 1907 wurde Haystack demnach um 2' 36" oder etwa 1 190 m westlicher gemessen als 1870. Da, wie oben erwähnt, Fehler in den zugrunde gelegten Längenbestimmungen sehr unwahrschein- lich sind, kommt Koch zu dem Schluß, daß die Erklärung in einer anderen Richtung als der der Beobachtungsfehler zu suchen sei, und soweit ihm bekannt, komme hier nichts anderes in Betracht, als die Hypothese von Wegener über die Trift Grönlands nach Westen. „Dr. Wegener schätzt die Periode, die verflossen ist, seit Grönland von Norwegen abbrach, auf 50 000 bis 100000 Jahre. Den Abstand Grönlands von Norwegen setzt er zu 1400 km, und auf diese Weise kommt er zu einer mittleren jährlichen Trift von 14 — 28 m, eine Rechnung, die auf so unsicheren Voraus- setzungen beruht, daß die Bewegung auch ebenso- gut erheblich außerhalb dieser geschätzten Grenzen fallen kann. Geht man davon aus, daß Grönland in 74° bis jj'^ Breite wirklich in der Zeit von 1S70 bis 1907 um 1190 m nach Westen getrieben ist, so folgt daraus eine mittlere jährliche Trift von 32 m für die angegebene Periode. Wegeners Hypothese erhält damit eine nicht unbeträchtliche Stütze, kann aber natürlich damit noch nicht als bewiesen betrachtet werden. Es wird daher von großem Interesse sein, wenn noch andere Kri- terien für diese Trift gefunden werden können." Koch nimmt dann die Lage von Sabines Observatorium nach Claverings Karte an und findet für den Zeitraum von 1823 — 1870 eine westliche Verschiebung von 420 m oder 9 m im Jahr. Für die ganze Periode 1823— 1907 betrüge dann die mittlere jährliche Bewegung 19 m. Der Verfasser stellt sich schließlich die Frage^ 396 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVni. Nr. 28 ob durch die Längenbestimmung vom Jahre 1823 die gesuchte Stütze für die Annahme, daß Grön- land in westlicher Bewegung begriffen sei, ge- funden worden sei und antwortet darauf wie folgt : „Die Frage kann, wie ich glaube, bejaht werden. Es läßt sich gewiß nicht leugnen, daß diese Unter- suchung als Ganzes mit einer sehr beträchtlichen Unsicherheit behaftet ist und daß die beiden Mittelwerte für die jährliche Trift, 9 m für die Periode 1823 — 1870 und 32 m für die Periode 1870 — 1907 nicht sehr gut übereinstimmen. Es darf aber nicht übersehen werden, daß wir keine Kenntnis der Kräfte haben, welche die ange- nommene Trift verursachen. Es würde meines PIrachtens in Wirklichkeit natürlicher erscheinen, wenn sich die Trift nicht als gleichförmige Be- wegung zeigte, sondern zu verschiedenen Zeiten beträchtlichen Änderungen unterläge." Ist somit die westliche Bewegung Grönlands zwar noch nicht zweifelsfrei bewiesen, so hat diese Annahme doch durch die endgültigen Ergebnisse der Danmark-Expedition eine wesentliche Stütze erhalten. C. H. Astronomie. Der Anblick des Nachthimmels. Zur Vervollständigung unserer Mitteilungen über diesen Gegenstand in dem Bericht über „Alpine Dämmerungserscheinungen" (Naturw. Wochenschr. 1919, H. 21, S. 300 — 302) mögen folgende Angaben dienen, die einem Aufsatz von H. Meyer im „Sirius" (Jahrg. 1919, Heft 4/5) entnommen sind. Selbst wenn man von den örtlichen Aufhellungen des Nachthimmels durch Reste der Dämmerung, Zodiakallicht und Milchstraße absieht, erscheint seine Fläche nicht gleichmäßig hell, sondern am Horizont beträchtlich heller als im Zenit. Fällt der natürliche Horizont nahezu mit dem mathe- matischen Horizont zusammen, so sieht man ihm zunächst einen schmalen dunklen Dunststreifen aufgelagert. Darüber erhebt sich, je nach den Umständen in verschiedener Breite, eine hellere Zone, die der Verf. als „Sternlichtsaum" bezeichnet. Ihr hellster Teil ist etwa 6" bis lO" hoch, während sich schwache Lichtschimmer noch bis 25" oder 50" Höhe, bei wenig durchsichtiger Luft auch bis zum Zenit erstrecken können. Die Natur dieses Lichtkranzes ist noch nicht einwandfrei aufgeklärt. Träger des Lichtes sind zweifellos die unteren Luftschichten, die ja auch dem klaren Tageshimmel am Horizont ein weißliches Aussehen verleihen, im Gegensatz zu der bei durchsichtiger Luft tief- blauen Zenitgegend. Wenngleich frühere Unter- suchungen ergeben hatten, daß das Sternlicht zur Erzeugung jenes Lichtsaumes zu schwach sei und polarlichtähnliche Erscheinungen oder Ionisation der Luft durch eindringenden Meteorstaub zur Erklärung heranzogen, glaubt Meyer, wie schon der von ihm für den Lichtkranz gewählte Name sagt, doch mit dem Sternlicht allein auskommen zu können, indem er meint, daß bisher die Auf- hellung des lichtzerstreuenden Mittels, also der Luft, nicht genügend berücksichtigt worden sei. Wenn, wie es in Horizontnähe der Fall ist, der Sehstrahl einen sehr langen Weg durch die Luft- schicht zurücklegen muß, ehe er in den optisch leeren Raum gelangt, so ist es verständlich, daß auch eine äußerst geringe Einstrahlung von Licht in diese Luftschicht für den Beobachter einen merkbar aufgehellten Himmelsgrund zu erzeugen vermag. Die Entscheidung in dieser Frage ist den weiteren Beobachtungen anheimzustellen. C. H. Zoologie. Die Schutzmittel der Marienkäfer. Franz Heikertinger-Wien hat sich eingehend mit der P'rage beschäftigt, ob die Marienkäfer {Cocci- iidlidac) ob ihrer Färbung und ihres eindring- lichen Geruches von Insektenfeinden verschont würden. Er berichtet über seine eigenen Beob- achtungen und die Erfahrungen anderer Forscher in der Naturwissenschaftlichen Zeitschrift „Aus der Heimat" (31. Jahrg. Heft V/VII S. 132 — 34). Unter den Insekten kommen als Feinde der Cocci- iicllidcii halbparasitische und räuberische Insekten in Betracht. Daß diese die Marienkäfer auch nicht verschonen, dafür führt Heikertinger Beobachtungen von E. B. Poulton an, wonach eine Wasserjungfer (Aeschna mixtd) Coccinelliden nachstellte. Fernerhin sah F. Werner Raub- fliegen der Gattung Lapliria Marienkäfer jagen. Weitere heimische Insektenfresser stellt die Fa- milie der Kriechtiere und Lurche. Von Kriech- tieren sind unsere Eidechsen wohl überhaupt keine Käferfeinde, lassen sie doch auch ganz weiche schutzlose Käfer unberührt. Dagegen fraßen bei den Versuchen Heikertingers Erdkröten, sowie Teich-, Moor- und Laubfrösche auch Marienkäfer- chen. Diese Beobachtungen Heikertingers stimmen mit denen anderer Forscher überein. Die Hauptinsektenfeinde sind sicherlich die Vögel. Hier liegen nun, wie Heikertinger ausführt, eine ganze Reihe Magenuntersuchungen vor, in denen Reste von Coccinelliden ge- funden wurden. So nennt W. Schuster als Marienkäferfresser: Bachstelze, Rohrsänger, Gras- mücken, Baumläufer, Stare, Schwalben, Wachteln, Rebhühner, Nebelraben, Meisen. E. Csiki fand Marienkäfer in dem Magen von Dorndreher, Grauer Fliegenschnäpper,Trauerfliegenschnäpper, Kuckuck, Baumläufer, Kohlmeise, Blaumeise, Dorn-, Zaun- und Mönchsgrasmücke, Garten- und Waldlaub- sänger, Amsel, Gartenrotschwanz, Rotkehlchen, Rebhuhn, W. Baer im Magen von Kuckuck, Goldhähnchen, Gartengrasmücke, Spechtmeise, Rey und Reichert im Magen vom braun- kehligen Wiesenschmätzer, Baumpieper, Kuckuck, Bergfink, Petenyi im Magen von Turmfalken und Star, Losy endhch im Magen von Haus- schwalbe, Rohrschmätzer, Rotschwänzchen, grauen Fliegenschnäpper, großen Würger. Heikertinger selbst beobachtete Staren, Gartenlaubvögel, Mönchs- und Sperbergrasmücken als Marienkäferfresser. Es ist nun vielleicht noch dem Einwand zu begegnen, als ob die Zahl der Marienkäfer im Vergleich zu N. F. XVni. Nr. 28 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 397 anderen gefressenen Insektenarten sich recht niedrig verhielte, aber auch hierüber liegen Untersuchungen vor, die diesen Einwand völlig entkräften. So führt Heikertinger eine Tabelle Reys an, wonach auf 19 gefressene Marienkäfer 26 Blatt- käfer, 6 Bockkäfer, 4 Borkenkäfer, 5 Maiwürmer (Ölkäfer), 40 Schnellkäfer usw. treffen. Angesichts dieser Zahlen wird die Fama, als genössen die Marienkäfer ihrer Schutzfärbung oder ihres Ge- ruches wegen eine Vorzugsstellung den Insekten- feinden gegenüber, nicht mehr aufrecht erhalten werden können. H. W. Frickhinger. Die Zunahme der Wachtel ist seit mehreren Jahren in Deutschland an verschiedenen Orten beobachtet worden, wie auch in dieser Zeitschrift berichtet worden ist.') Richard Heyder (Rochlitz) hat das Anwachsen des Wachtelbestandes in Sachsen während der Sommer 1917 und 1918 feststellen können, nachdem dasselbe schon im Sommer 1916 mehr und mehr in die Erscheinung getreten war (Ornithologische Monatsschrift 44. Jahrg., 1919, Nr. 3, S. 60 — 62). Im Sommer 191 8 machte derselbe Forscher auch in einem Teile der besetzten Gebiete in Frankreich (Maas- Departement) die Beobachtung eines ganz außer- ordentlichen Wachtelreichtums. Heyder erklärt diese Tatsache, und wir müssen ihm in diesen Schlußfolgerungen wohl recht geben, damit, daß die plötzlich eingetretene Änderung der dortigen Bodenbewirtschaftung (Brachliegen oder wenigstens lässiger Anbau großer Gebiete) den Wachteln günstigere Daseinsbedingungen schaffte und so, ähnlich, wie das im Osten ebenso der Fall war, auch eine Übervermehrung der Wachteln auslöste. „Hier, auf den sich selbst überlassenen Feldbreiten, sagt Heyder, die im Sommer mit ihren Milli- onen purpurner Distelköpfe weithin leuchten, fand der Vogel anscheinend, was er auf dem „Kultur- feld" entbehren mußte." Nun glaubt der Forscher, daß diese Übervermehrung in den vielen Brach- gebieten des von unseren Truppen besetzten Feindeslandes auch die Zunahme der Wachteln bei uns verursacht habe, indem die überschüssigen Vögel aus jenen Gebieten nach Deutschland hin- ein eingewandert sind. Eine solche Abwanderung überschüssiger Tiere ist ja schon des öfteren be- obachtet worden bei den verschiedensten Vogel- arten, wie den Steppenhühnern, dem Tannen- häher, Kreuzschnabel usw. Ist die Annahme Heyders richtig, so steht zu erwarten, daß bei Kriegsende mit dem erneut einsetzenden Wechsel der Anbauverhältnisse in den Kriegsgebieten auch der Überschuß der Zeugung abgeschwächt und schließlich ausgeschaltet wird; dann würde der jetzigen Zunahme bedauerlicherweise wiederum ein ebenso deutlicher Niedergang des Wachtel- bestandes folgen. H. W. Frickhinger. 1) „Zum Vorkommen der Wachtel", Jahrg. 1917, S. 646 bis 647. Botanik. Zur Physiologie der Zellteilung. G. Haberlandt hat seinen früheren Unter- suchungen (vgl. Naturw. Wochenschr. Nr. 13, S. 214) eine neue Arbeit folgen lassen, bei der er von dem Gedanken ausging, weitere Belege zu finden für die von ihm vertretene Auffassung, daß an der Herbeiführung von Zellteilungen ein be- sonderer Reizstoff, ein Hormon, beteiligt sei. Seine Methode bestand diesmal darin, daß er in lebenden Dauergewebszellen, nämlich Haaren und Epider- miszellen, mittels lOproz. Traubenzuckerlösung Plasmolyse hervorrief, was seiner Voraussetzung nach eine Konzentration des im Zellsaft oder im Protoplasma vielleicht noch vorhandenen Zell- teilungsstoffes und eine Überschreitung des Schwellenwertes des Reizes, mithin Zellteilung zur Folge haben konnte. Zur Untersuchung wurde zunächst eine Pflanze mit hängenden Zweigen aus- gewählt, deren Enden sich leicht in Glasschalen mit der plasmolysierenden Zuckerlösung tauchen ließen. Als besonders geeignet erwies sich Coleus Rehneltianus, eine erst kürzlich bekannt gewordene kleinblättrige Art, deren mehrzellige Stengelhaare der Beobachtung unterworfen wurden. Die Zellen haben dünne Plasmabelege, die eine Vakuole um- schließen. Zehn Tage nach der Einwirkung des Plasmolytikums waren die von den Wänden zu- rückgetretenen Protoplasten abgestorben und zeigten sämtlich eine Querwand, die den Protoplasten in ein kleineres, der Spitze des Haares und ein größeres, seinem Fuße zugekehrtes Fach teilte. Mitunter waren auch zwei Querwände entstanden. Die Außenwände der Fächer sind rein plasmatisch ; von den Querwänden aber bleibt nach Behand- lung mit Eau de Javelle eine zarte Zellhaut übrig. Der ungeteilt gebliebene Zellkern liegt zumeist in dem unteren, größeren Fache und ist durch kleine, dicke Chromosomen auffällig; er ist augen- scheinlich in der Vorbereitung zu mitotischer Tei- lung stehen geblieben. Das Bemerkenswerteste aber ist die Entstehungsweise der Querwand, die Verf. durch tägliche Beobachtungen an Stengel- Längsschnitten verfolgen konnte. Zunächst wandert nämlich der Zellkern, der auch zu Anfang im unteren Teil der Zelle liegt, längs der Außenwand aufwärts bis in das oberste Drittel oder gar Viertel der Haarzelle. Dann wölbt er sich stark gegen das Zellinnere vor, und von der ihn umgebenden Zytoplasmaschicht strahlen zarte Plasmastränge zumeist senkrecht nach dem gegenüberliegenden Wandbelage hin aus. Sie stellen sich alle in eine Ebene ein, die Ebene der späteren Querwand, und verschmelzen zu einer einheitlichen Plasma- platte, an deren Rande anfangs noch der Zellkern liegt. Dieser rückt aber bald längs der Außen- wand in das untere, seltener in das obere Fach, und das Loch, das er in der Querwand zurück- läßt, schließt sich. Alle Vorgänge spielen sich innerhalb der beiden ersten Tage ab; der Zeit- punkt der Entstehung der zarten Zellhaut in der dickeren Plasmaplatte konnte nicht festgestellt werden. 398 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVllI. Nr. 28 Ähnliche Erscheinungen wurden an den Haaren einiger anderer Pflanzen beobachtet. Haberlandt führt aus, daß es sich bei diesen Vorgängen um wirkliche, durch die Plasmolyse bewirkte Zell- teilungen handelt. Der Ort der Anlage der Quer- wand wird immer durch den Kern bestimmt, wenn auch keine Teilung des Kernes mit Bildung einer Kernspindel wie bei der typischen Mitose erfolgt; hier entsteht bekanntlich die Querwand durch Verschmelzung der Verdickungen in der Mitte der Spindelfasern. Statt solcher „körnigen Zell- platte" bildet sich bei den plasmolysierten Haar- zellen eine ,, fädige Zellplatte", d. h. ein Komplex von Plasmafäden, die in ihrer ganzen Ausdehnung miteinander verschmelzen. Es fehlt nicht an Über- gängen zwischen beiden Bildungsweisen. Nach Strasburger kommt es bei der Entstehung des Endosperms vor, daß die Spindelfasern weiter auseinanderstehen, so daß ihre Verdickungen (Körnchen) nur durch quetausgespannte Plasma- brücken in Verbindung treten und eine „Zellplatte" bilden können, die als ein Mittelding zwischen der „körnigen" und der „fädigen" Zellplatte an- zusehen ist. „Die erwähnten Beobachtungen Stras- burgers sind vielleicht zu sehr in Vergessenheit geraten, es hat sich in Lehr- und Handbüchern eine gar zu schematische Darstellung der Ent- stehung der Zellplatte eingebürgert, die wohl einer Revision bedürftig ist." Verf wirft die Frage auf, ob namentlich „in Zellen mit größeren Zellsaft- räumen und wandständiger Kernspindel die Ent- stehung und Ergänzung der Zellplatte bzw. der neuen Scheidewand immer nach dem bekannten Treubschen Epipactisschema erfolgt oder ob nicht in manchen Fällen die Ergänzung der Zell- platte nach dem Coleustypus vonstalten gehl". Diese Frage sei um so berechtigter, als die Bil- dung der plasmatischen Scheidewand bei der Tei- lung der Oedogoniumzellen mit dem Vorgange bei Coleus große Ähnlichkeit habe. Anderer Art waren die Erscheinungen, die an Epidermiszellen von Zwiebelschuppen (Allium cepa) beobachtet wurden. Hier trat infolge der Plasmolyse Ein- und Durchschnürung der Proto- plasten und nach spontanem Rückgang der Plasmo- lyse Aneinanderpressung der Faltenwände sowie Ausbildung einer Zellhaut zwischen ihnen ein. Der Kern blieb ungeteilt, zeigte aber auch wie bei Coleus Anfänge zu mitotischer Teilung. Verf. stellt den hier nur kurz charakterisierten Vorgang jener Zellteilung durch Einschnürung an die Seite, „die im Tierreiche so verbreitet, im Pflanzenreiche dagegen sehr selten und auf die Teilung nackter, membranloser Zellen bei Algen und Myxomyceten- schwärmern beschränkt ist". Die neuen Beobachtungen Haberlandts sind eine beachtenswerte Stütze für seine eingangs er- wähnte Annahme, daß die Zellteilungen durch einen besonderen Reizstoff ausgelöst werden, der besonders in jüngeren Zellen enthalten ist und in älteren durch Plasmolyse konzentriert und zur Wirkung gebracht werden kann. (Sitzungsberichte der Preußischen Akademie der Wissenschaften 1919. XX, S. 322 — 348.) F. Moewes. Meteorologie. Mit Kriegsausbruch hörten die Wetternachrichten aus dem Westen von Europa auf. Da nun die Witterungserscheinungen im wesentlichen in west- östlicher Richtung ziehen, war damit die Prognose für die mitteleuropäischen Staaten außerordentlich erschwert. Es mußte infolgedessen auf eine wesentliche Verfeinerung der Beobachtungen hingearbeitet werden, die wo- möglich auch gestattete, eine Extrapolation nach dem Westen vorzunehmen. Es wurde bereits früher gelegentlich darauf hingewiesen, wie man dies bei uns durch verstärkte Ausnutzung der Höhenbeobachlungen bis zu einem gewissen Grade erreicht hat. V. Bjerknes (Met. Zeitschr. 46, ö8, 1919) gibt jetzt eine neue Methode an, die sich auf erhöhte Auswertung von Bodenbeobach- lungen stützt. Schon seit längerer Zeit konstruiert man zur besseren Übersicht über die Windverhält- nisse auf den Wetterkarten Strömungslinien der Luft, also Linien, die zur Beobachtungszeit nirgends vom Winde gekreuzt werden. Dabei treten an gewissen Stellen Divergenz- und Konvergenzlinien auf, d. h. Linien, von denen eine größere Anzahl Stromlinien ausgehen, bzw. in die sie einmünden. In der Abbildung sind die Strömungslinien als schwach ausgezogene befiederte Linien dargestellt. Die stark ausgezogenen Kurven TB und TK sind Konvergenzlinien. An diesen sind also aufsteigende Luftströme vorhanden, während sich an Divergenz- hnien die Luft in absteigender Bewegung befindet. Mit Hilfe eines dichten Beobachtungsnetzes an der südwestskandinavischen Küste hat nun Bjerknes den Verlauf der Konvergenzlinien in der Nähe eines Tiefdruckzentrums untersucht. (Zur Orien- tierung sind in die Abbildung zwei Isobaren mit gestrichelten Linien eingezeichnet.) Wie schon früher an dieser Stelle mitgeteilt, ') entstehen die ») Naturw. Woclienschr. N. F. XVII, 596, 1918. ISI. F. XVIII. Nr. 28 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 399 Zyklonen in der Regel an der Berührungsstelle eines warmen und eines kalten Luftstromes. Der warme Luftsirom wird nun nach Bjerknes Be- obachtungen von zwei Konvergenzlinien auf der rechten Seite der Zyklonenbahn begrenzt, wie aus der Abbildung ersichtlich ist. Die eine als „Kurs- linie" TK bezeichnete kommt aus dem vorderen rechten Quadranten und verläuft so, daß sie von der Fortpflanzungsrichtung TZ im Zentrum des Minimums T tangiert wird; die zweite, die „Böen- linie" TB, verläuft mehr geradlinig und steht in T senkrecht auf der Fortpflanzungsrichtung TZ. Da sich die Luft an beiden Linien in aufsteigen- der Bewegung befindet, sind sie auch von charak- teristischen Wolken- und Niederschlagsverhältnissen begleitet. Während im Innern des Dreiecks KTB, wo sich die warme Luft am Boden befindet, schönes Wetter herrscht, wird es zu beiden Seiten von Niederschlagsgebieten begrenzt. Es ist Bjerknes gelungen auf Grund dieser Beobach- tungen wesentlich verbesserte kurzfristige Nieder- schlagsprognosen für Skandinavien zu geben. Die Methode scheint vor allem dadurch wertvoll zu sein, daß sie ein sehr sicheres Kriterium für die zu erwartende Zugrichtung der Zyklonen bietet. Scholich. Bücherbesprechungen. F 1 u g 1 e h r e. Vorträge Meßverfahren mit Theodoliten hätte gesagt werden von Mises, Richard über Theorie und Berechnung der Flugzeuge in elementarer Darstellung. VII u. 192 S. mit 113 Textabbildungen. Berlin 191 8, Julius Springer. 8 M. Das Buch, das aus Vorträgen an der Univer- sität Straßburg und aus Kursvorträgen vor Flieger- offizieren hervorgegangen ist , stellt sich, ähnlich wie das umfangreicliere Werk von Siegmund Huppert „Leitfaden der Flugtechnik", von dem derselbe rührige Verlag eine zweite Auflage vor- bereitet, die Aufgabe, auf der Grundlage der All- gemeinbildung, wie sie die höheren Schulen ver- mitteln, Studierende, Techniker, Ingenieure und Freunde der Flugtechnik in die Theorie des Fluges einzuführen. Nach einer geschichtlichen Übersicht werden daher in 7 Hauptabschnitten Luftkräfte und Luft- widerstand, die Tragfläche, die Luftschraube, der Motor, das Zusammenwirken von Tragfläche mit Luftschraube und Motor, die Steuerung und Sta- bilisierung und schließlich Abflug, Landung und Navigation behandelt. Das Buch wird dem angegebenen Ziele, soweit es der Umfang ermöglicht, durchaus gerecht und ist als Einführung in die Fluglehre schätzenswert. Mit dem Verfasser hofft der Berichtende, daß es bei einer Neuauflage möglich wird, einige Härten des Ausdrucks zu beseitigen. Dazu gehören auch die Verdeutschungen: an mehreren Stellen finden sich Fremdwörter, die sich mühelos hätten ver- deutschen lassen, während z. B. die wenig glück- liche Bezeichnung „Beiwert" für „Coeffizient" des Luftwiderstandes — die freilich auch in dem Ver- deutschungswörterbuch von Sarazin zu finden ist — durchgängig angewandt ist („Grundwert", „Vergleichszahl" oder „Verhältniszahl" würde den Gehalt des Fremdwortes mehr erschöpfen). In sachlicher Beziehung sei erwähnt, daß in dem Abschnitt über Luftkräfte etwas über Luftreibung und bei der Besprechung der Messung der Flug- zeuggeschwindigkeit etwas über das in der Praxis wohl allein brauchbare, in den „Technischen Be- richten der Flugzeugmeisterei" 191 7 dargestellte können. Oskar Prochnow. Wisent, J., Die Fortschritte der draht- losen Telegraphie und ihre physika- lischen Grundlagen. 30 Seiten. Stuttgart 1919, Ferd. Enke. Nach einer Einleitung, in der die lonentheorie der Gasentladung in großen Zügen dargestellt wird, bespricht der Verf. die beiden Arten der Kathodenröhren, die gasenthaltende Lieben- und die gasfreie Elektronenröhre. In den 4 letzten Kapiteln des Heftchens geht er dann ausführlicher auf Theorie und Bedeutung der letzteren ein, in- dem er ihre Verwendung als Verstärker von Telephontönen, als Sender ungedämpfter Schwin- gungen und als Empfänger für gedämpfte und ungedämpfte Wellen schildert. Da nächstens aus- führlich über die neue Röhre berichtet werden soll, möge diese kurze Inhaltsangabe genügen. Schutt. Pax, F., Pflanzengeographie von Polen (Kongreß -Polen). Band I der Beiträge zur polnischen Landeskunde, hgg. von E. Wunder- lich. Verlag Dietrich Reimer (Ernst Vohsen) in Berlin, 191 8. Preis 11,50 M. Die pflanzengeographischen Arbeiten polnischer Forscher sind bei uns wenig bekannt, so daß über die Flora Polens vielfach unrichtige oder schiefe Vorstellungen verbreitet sind. Um so dankens- werter ist es, daß der bekannte Breslauer Bota- niker Pax die Ergebnisse der bisherigen Forschung und eigener, im Kriege gesammelter Beobachtungen zu einem nahezu erschöpfenden Bilde der polni- schen Flora zusammengestellt und im vorliegenden Bande einem weiteren Leserkreis zugänglich ge- ■ macht hat. Nach einem kurzen Überblick über die Ge- schichte der botanischen Erforschung Polens wird zunächst die geologische Entwicklung der Plora geschildert, wobei besonders auf die Verhältnisse zur Eiszeit eingegangen und darauf hingewiesen wird, daß noch heute zahlreiche Relikte aus dem 400 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. R F. XVIII. Nr. 28 Interglazial im südlichen, nur von der ersten Eis- zeit betroffenen Polen vorkommen, die im nörd- lichen, zweimal vereisten Teile des Landes fehlen. Sodann folgt eine allgemeine Charakteristik der polnischen Flora: Wenn die Vegetation auch viele osteuropäischen Bestandteile aufweist, so hat sie doch im großen und ganzen mitteleuropäischen Charakter. Atlantische Arten, z. B. Erica tetralix, fehlen in Polen fast ganz, so daß es der „sarma- tischen" Provinz zugerechnet werden muß. Eine pflanzengeographische Einheit bildet Polen nicht. Wie Pax an der Hand wichtiger Vegetations- linien nachweist, verläuft die botanische Nord- grenze Kongreßpolens am Südabhang des Balti- schen Höhenrückens, wodurch das Gouvernement Suwalki abgetrennt wird; im Süden geht das Karpathenvorland geographisch und botanisch in Polen über; auch die Westgrenze ist nicht natür- lich, obwohl es einige Arten (z. B. Cwiicifiiga foetida, Pridiiis fnicticosd) gibt, deren Verbrei- tung hier erlischt. Nur im Osten entspricht die politische Grenze ungefähr dem Verlauf der Vege- tationslinien (Eibe). Im 4. Kapitel werden die klimatischen und edaphischen Bedingungen erörtert, von denen die Verbreitung der Pflanzen abhängt. Das Klima Polens stellt bezüglich der Temperaturverhältnisse wie der Niederschläge eine Übergangsform zwischen den Extremen des kontinentalen und des See- klimas dar. Der Frühlingseinzug verzögert sich in der Richtung nach Osten und Norden. Im einzelnen werden vier klimatische Provinzen unter- schieden, was sowohl im Gesamtcharakter der Flora als auch in der Verbreitung einzelner Arten zum Ausdruck kommt. So treten Buche, Fichte und Tanne nur in den niederschlagreichen Gegenden des Nordwestens und im Berg- und Hügelland Südpolens auf. Der Einfluß des Bodens äußert sich z. B. in der Beschränkung der Kalkflora auf den Süden, in dem Vorkommen zweier begrenzter Bezirke mit Salzpflanzen und in dem xerophilen Charakter der Flora der Lößzone. Das 5. Kapitel bringt eine Übersicht über die verschiedenen Formationen : die Genossenschaften des Nadel- und des Laubwaldes, der Flugsand- hügel, der Sandheide, der Calluna-Heide, der Tal- und Moorwiesen, der Grün- und Hochmoore, der Wasserpflanzen und der Kalkfelsenflora. Es wird, entgegen der landläufigen Ansicht, betont, daß Polen verhältnismäßig waldarm ist; nur 20 "/^ der Gesamtfläche ist mit Wald, vorwiegend Nadel- oder Mischwald, bedeckt. Bemerkenswert ist das Vorkommen kleiner Reste von Urwaldbeständen, die sich durch große Schönheit auszeichnen. Der ursprüngliche Charakter der Flora ist, wie im 6. Kapitel ausgeführt wird, durch die Tätig- keit des Menschen vielfach abgeändert worden. Die Waldbestände, die früher weit umfangreicher waren, haben sich wesentlich verringert, besonders auch während der Kriegsjahre. Neu entstanden sind die Genossenschaften der Ruderalpflanzen, der Kulturpflanzen mit den sie begleitenden Acker- unkräutern und die Flora der Bauerngärten. Die landwirtschaftliche Nutzung des Bodens, der im allgemeinen als fruchtbar bezeichnet wird, ist nur wenig geringer als in Oberschlesien (Reg.-Bez. Oppeln). In erster Linie werden Roggen, Hafer und Kartoffeln gebaut; einen besonderen Charakter erhält das Land durch die Kultur des Buchweizens und der Hirse. Im letzten Kapitel bespricht der Verf. die Gliederung der polnischen Flora, wobei er in der polnischen Niederung und im südlichen Berg- und Hügelland je 7 Bezirke unterscheidet. Jedem Abschnitte sind ausführliche, besonders die polnischen Autoren berücksichtigende Literatur- verzeichnisse angefügt. Außer einer Reihe von Karten, die den Verlauf wichtiger Vegetations- linien, die klimatischen Verhältnisse u. dgl. ver- anschaulichen, enthält das Buch 8 wohlgelungene Tafeln mit typischen Landschaftsbildern. Es dürfte daher allen Botanikern, besonders aber denen, die das polnische Land im Kriege kennen gelernt haben, Freude machen. Dr. F. Esmarch. Literatur. Uibe, M., Über die Helligkeitsverteilung des diffusen Sonnenlichts am klaren Himmel. Mit 6 Textfiguren. Ebenda. 3,40 M. Aus Natur und Geisteswelt. Ebenda. Jeder Band 1,50 M. Frech, Prof. Dr. F., Allgemeine Geologie V. Stein- kohle, Wüsten und Klima der Vorzeit. 3. Aufl. Mit 39 Textabbildungen. Ohquist, J., Finnland. Auerbach, Prof. Dr. F., Die graphische Darstellung 2. Aufl. Mit 139 Te.xtfiguren. Lob, Prof. Dr. W., Einführung in die Biochemie. 2. von Prof. Dr. H. Friedenthal besorgte Auflage. Mit 12 Textfiguren, llberg, Geh. Medizinalrat Dr. G., Geisteskrankheiten. 2., verm. u. verb. Aufl. Wiesent, Dr. Joh., Die Fortschritte der drahtlosen Tele- graphie und ihre physikalischen Grundlagen. Mit 15 Abbil- dungen. Stuttgart 1919, F. Enke. Brück mann, Dr. R., Strömungen an der Süd- und Ost- küste des baltischen Meeres. Mit 5 Textabbildungen und I Tafel. Stuttgart 1919, J. Engelhorn Nachf. luliilit: Albert Pietsch, Das Vorkommen der deutschen Süfiwasser-Kieselalgen. S. 3S5. C. Brick, Die Widerstands- fähigkeit gewisser Sorten unserer Kulturpflanzen gegen Parasiten. S. 391. — Einzelberichte: J. J. Nitzescu, Nähr- wert des Maises. S. 394. Zuntz, Hebung des Wollertrages der Schafe. S. 395. J. P. Koch, Die Trift Nordgrön- lands nach Westen. S. 395. H. Meyer, Der Anblick des Nachthimmels. S. 396. Franz Heikertinger, Die Schutzmitlei der Marienkäfer. S. 396. Richard Heyder, Die Zunahme der Wachtel. S. 397. G. Haber landt, Zur Physiologie der Zellteilung. S. 397. Bjerknes, Konvergenzlinien in der Nähe eines Tiefdruckzentrums. (l Abb.) S. 398. — Bücherbesprechungen: Richard von Mises, Fluglehre. S. 399. J. Wiesent, Die Fortschritte der drahtlosen Telegraphie und ihre physikalischen Grundlagen. S. 399. F. Pax, Pflanzengeographie von Polen (Kongrefl- Polen). S. 399. . — Literatur : Liste. S. 400. Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Mi ehe, Berlin N 4, Invalidenstrafie 42, erbeten. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue Folge j8. Band; der ganzen Reihe 34. Band. Sonntag, den 20. Juli 1919. Nummer 29. Die Idee vom Typus und ihre Bedeutung für Morphologie und Systematik. [Nachdruck verboten.] Das Bestreben, die für den Einzelnen unüber- sehbare Fülle der lebenden Formen durch Auf- findung des ihnen zugrunde liegenden Bauplanes auf ein allgemeines Bildungsgesetz zurückzuführen und auf diese Weise durch Aufstellung der Or- ganisationstypen einen allgemeinen Ausdruck für ganze Formenkreise zu erhalten, ist ebenso alt, wie die wissenschafiliche Beschäftigung mit den Formen der Pflanzen und der Tiere überhaupt. Schon Aristoteles, der „Vater der Zoologie", stellt unter seinen vier Ursachen als zweite das ildog, die „Form" auf; nach ihr wird die l'h], die „Materie" bei ihrer Aktivierung gestaltet und so ist die Form zwar nicht der Zeit, wohl aber der Idee nach früher, als der nach ihr geformte Körper.^) Auch bei Plato kehrt das Typische wieder und zwar liegt es hier in den Ideen, welche unab- hängig von den Dingen und über ihnen selbständig existieren und nach denen die Dinge gestaltet sind. Die in schroffem Gegensatz zu diesen Ver- tretern der klassischen Philosophie stehenden materialistischen Naturphilosophen Demokrit, Empedokles u. a. stellten in ihren Hauptlehren den Satz auf, daß alles, was geschieht, mit Not- wendigkeit geschieht, und indem sie die mathe- matisch-physikalischen Gesetze alles Geschehens zu ermitteln versuchten, zweifelten sie nicht daran, daß auch die organische Welt ebenso wie die nichtorganisierte bestimmten Bildungsgesetzen ge- horche, auf welche sich die Formenmannigfaltig- keit zurückführen lasse. — Mit dem Untergang der alten Kultur wurde auch die biologische Forschung auf viele Jahrhunderte begraben und bei ihrem Wiederaufleben war man nicht in der Lage, die in Vergessenheit geratenen empirischen und theoretischen Vorarbeiten zu benutzen, so daß sie für die moderne Forschungsrichtung keine Bedeutung haben konnten. Aber es ist doch nicht belanglos, zu sehen, daß die Idee einer typischen Gesetzmäßigkeit schon an den ersten Anfängen der Wissenschaft beteiligt ist. Diese Tatsache und vor allem auch der Umstand, daß man so- wohl vom idealistischen, wie vom materialisti- schen Standpunkt aus dazu geführt wird, nach dem den einzelnen Gestalten zugrundeliegenden Typus zu fragen und nach ihm die ins Unend- liche sich verlierende Formenfülle zu gliedern, deutet daraufhin, daß wir es hier mit einer Frage- stellung zu tun haben, welche aus einem allge- meinen Bedürfnis des menschlichen Denkens her- ') Aristoteles, De partibus animalium II, l, a. b. rq> fihv oZi' x&^*'V ^^orioau tijf vki]P ävayy.atov eirai y.at Tijv yh'EOii', Ttö Xoyq) Sk tqv ovoiav xal rr]r ixdarov fiOQfriv. Von Dr. M. Schips in Schwyz. vorgeht. Und es ist in der Tat eine eigentüm- liche Erscheinung, welche in der Geschichte der Wissenschaften unzähligemal wiederkehrt und die auch jeder einzelne immer wieder an sich selbst beobachten kann, daß sich das Bedürfnis nach Er- klärung irgend eines Phänomens leicht befriedigt, wenn dieses auf eine bereits bekannte Erscheinung zurückgeführt werden kann. Bewußt oder unbe- wußt streben wir immer nach allgemeiner Er- kenntnis und deshalb gilt auch z. B. die Mathe- matik als die zuverlässigste Wissenschaft, weil sie ihre Ergebnisse in der allgemeinsten Porm dar- bietet. Es geschieht denn auch die Aufstellung eines Typus, d. h. einer Grundform, aus welcher sich andere ableiten lassen, durchaus mit Hilfe eines Denkprozesses, welcher dem in der Geome- trie üblichen analog ist und welcher uns erst dann erlaubt, z. B. eine Kurve als vollständig be- kannt anzusehen, wenn wir ihre Gleichung aufge- stellt haben und aus dieser Gleichung die Eigen- schaften der Kurve bis ins Unendliche, d. h. also über den empirisch kontrollierbaren Bereich hinaus ableiten können. Als mit dem Wiederaufleben der biologischen Wissenschaften sich auch bald die ersten Anfänge jener Forschungsrichtung zeigten, welche auf das Typische in den Gestalten ausgeht, konnte die allgemeine Bedeutung dieses P'orschungszieles selbstverständlich nicht zum Bewußtsein und noch viel weniger zum Ausdruck kommen, sondern es handelte sich vorerst um bloß instinkimäßig tastende Vei suche. Vor allem ist hier Marco Aurelio Severino (1580 — 1656J zu nennen, der sich ganz als Schüler der alten Naturphilo- sophen fühlte und ihnen zu Ehren sein zoologi- sches Hauptwerk „Zootomia Democritaea" ^) be- titelte. Er betont die Übereinstimmung des mensch- lichen Körpers mit dem der Tiere und stellt den Begriff des „Architypus" (Bauplan) auf. Weiter geführt wurde diese Lehre durch Georges Louis Leclerc de Buffon (1707 — 1788); '■^j er nimmt eine allgemeine organische Materie an, welche in organische Moleküle verteilt ist. Das Gesetz, nach welchem diese Moleküle in einem dem Kristallisationsprozeß vergleichbaren Vorgang zur Bildung der Organismen zusammentreten, nennt er die „innere Form" (moule Interieur) ; er macht ') M. A. Severini Zoo tomia Dem ocritae a, id est Anatome generalis totius animalium opificii libris quinque distincta. 1645. Teil ü, Kap. I u. 2. De animantium inter se similitudine atque analogia. De utilitate ac necessilate conferendi ad unum varii multigenique animantium opifici. ^) Histoire naturelle generale et particuliere avec la de~ scription du Cabinet du Roi. Paris 1749 — 1767. 402 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 29 auf die vielen und großen Übereinstimmungen aufmerksam, welche die Tiere in ihrer Gestalt unter einander aufweisen und erklärt, daß z. B. die Wirbeltiere nach einem einheitlichen, gemein- samen Plane gebaut seien. An Buffon schließt sich Goethe mit seiner Lehre vom Typus an, welche zwar scheinbar wenig nachhaltig wirkte, aber doch von grund- legender Bedeutung ist, weil hier zum erstenmal die Idee vom Typus erkenntnistheoretisch kritisch geprüft wird. Ein näheres Eingehen auf die Ge- dankengänge Goethes ist deshalb unerläßlich zur Beurteilung der Frage, ob die Lehre vom Typus für die Behandlung biologischer Probleme wertvoll oder sogar notwendig sei. — Zuerst war sich Goethe, als er daran ging, seine Lehre vom Organisationstypus aufzustellen, durchaus nicht klar darüber, auf welchem Wege er dazu gelangt war. Er hielt zuerst dafür, er habe seine An- schauungen auf rein empirische Weise aus seinen Beobachtungen gewonnen und so macht er sich in allem Ernste daran, die von ihm als Typus der Blütenpflanzen konstruierte Urpflanze in Wald und Feld zu suchen. „Ich suchte damals die Ur- pflanze, bewußtlos, daß ich die Idee, den Begriff suchte, nach der wir sie uns ausbilden könnten".^) Zu dieser Erkenntnis verhalf ihm Schiller in einem von Goethe^) selbst mitgeteilten Ge- spräch: ^) „Ich trug die Metamorphose der Pflanzen lebhaft vor und ließ mit manchen charakteristi- schen Federstrichen eine symbolische Pflanze vor seinen Augen entstehen. Er vernahm und schaute das alles mit großer Teilnahme, mit entschiedener Fassungskraft; als ich aber geendet schüttelte er den Kopf und sagte: ,Das ist keine Erfahrung, das ist eine Idee'. Ich stutzte, verdrießlich einiger- maßen ; ... ich nahm mich aber zusammen und versetzte: ,Das kann mir sehr lieb sein, daß ich Ideen habe, ohne es zu wissen, und sie sogar mit Augen sehe'." Damit war für Goethe der An- stoß gegeben, sich zur Klarheit über seine An- sichten durchzuarbeiten; denn er sagte sich:*) „Wenn er (Schiller) das für eine Idee hielt, was ich als Erfahrung aussprach, so mußte doch zwischen beiden irgend etwas Vermittelndes, Be- zügliches obwalten". Dieses „Vermittelnde" suchte Goethe klarzustellen; er erkannte in der Folge, daß er auf die Lehre vom Typus zwar durch exakte Beobachtung der vorhandenen Formen ge- kommen, daß er aber über sie hinaus zu einer idealen Betrachtungsweise fortgeschritten war. „Hierbei (d. h. bei den osteologischen Untersuch- ungen) fühlte ich bald die Notwendigkeit, einen Typus aufzustellen . . ., und wie ich früher die Urpflanze aufgesucht, so trachtete ich nunmehr. ') Brief an Nees von Esenbeck; Mitte Aug. 1816. ^) Biographische Einzelheiten: Erste Bekanntschaft mit Schiller. Auch in den Naturwissenschaftlichen Schriften unter dem Titel: Glückliches Ereignis. ') Düntzer (Goethe-Jahrbuch II, S. 171) setzt dieses Gespräch auf den 31. Oktober 1790. *) Goethe, a. a. O. das Urtier zu finden, das heißt denn doch zuletzt: den Begriff, die Idee des Tieres".^) Dieses Be- streben, die einzelnen Erfahrungstatsachen aus einer zusammenfassenden Idee zu verstehen, ist ein Hauptmerkmal der naturwissenschaftlichen Studien Goethes, und deshalb ist der Streit müßig, ob er zu den Realisten oder zu den Ide- alisten gehöre. Und doch ist es im Grunde dieser Streit, welcher bis heute die Beurteilung der Leistungen Goethes auf dem Gebiet der Natur- wissenschaften nicht zu einem einheitlich überein- stimmenden Abschluß kommen ließ. Goethe steht bewußt ^) mitten zwischen diesen zwei aus- einander strebenden Welten und findet deshalb in jeder der beiden sowohl Anhänger, als Gegner. Denn wer die Naturwissenschaft Goethes nur vom Standpunkte einer einzelnen Fachwissenschaft oder Forschungsrichtung aus betrachtet, wird ihr nie in ihrer Ganzheit gerecht werden können, da Goethe mit klarer Erkenntnis und bestimmter Absicht sowohl Erfahrung als Idee zu benützen strebt. Die Berechtigung eines solchen Vorgehens kann um so weniger geleugnet werden, als sich in ihm allein die oft sehr verborgenen Wurzeln einer jeden bedeutenden Entdeckung finden; es ist immer der Geist, der bewußt oder unbe- wußt das tote Tatsachenmaterial lebendig machen muß.'') Mit seinem Streben nach einem allgemeinen Gesichtspunkt als Grundlage der Morphologie '') und Systematik glaubt sich Goethe im Gegen- satz zu dem von ihm sehr hoch geschätzten Linne zu befinden:^) „Nach Shakespeare und Spinoza ist auf mich die größte Wirkung ') Zur Morphologie. Der Inhalt bevorwortet. ^) Man vergleiche z. B. (Brief an Schiller; 30. Juni 1798): ,,Sie haben einen recht wichtigen Punkt berührt: die Schwierig- keit, im Praktischen etwas vom Theoretischen zu nutzen. Ich glaube wirklich, daß zwischen beiden, sobald man sie getrennt ansieht, kein Verbindungsmittel staltfinde, und daß sie nur in- sofern verbunden sind, als sie von Haus aus verbunden wirken, welches beim Genie von jeder Art staltfindet. Ich stehe gegen- wärtig in eben dem Fall mit den Naturphilosophen, die von oben herunter, und mit den Naturforschern, die von unten hinauf leiten wollen. Ich wenigstens finde mein Heil nur in der Anschauung, welche in der Mitte steht." — (Geschichte meines botanischen Studiums) : Es ist ,,im Verfolg wissenschaft- lichen Bestrebens gleich schädlich, ausschließlich der Erfahrung, als unbedingt der Idee zu gehorchen.*' — (Der Versuch als Vermittler zwischen Objekt und Subjekt) : ,,Daß die Erfahrung . . . in der Naturlehre .... den größten Einfluß habe und haben solle, wird niemand leugnen, sowenig als man den Seelen- kräften, in welchen diese Erfahrungen aufgefaßt, geordnet und ausgebildet werden, ihre hohe und gleichsam schöplerische Kraft absprechen wird." ^) Painleve liefert in seinem Aufsatz ,,La Mecanique" (in ,,De la methode dans les sciences", 19x0) den Nachweis, daß die Begründer der modernen Mechanik (Galilei, Huyghens, Newton) nicht von der Beobachtung, sondern von vorher gefaßten Begriffen und Ideen ausgegangen smd ; ,,ce sont des idees generales, precedant tonte experience scien- tifique, qui ont engendre les axiomes de cette science, et le ri'ile de Texpcrience a etu surtout de preciser ces idees gene- rales et de guider les tätonnements, qu'entrainait leur inler- pretation." (S. 1 10). *| Das Wort ,, Morphologie" stammt von Goethe. ^) Naturwissenschaftliche Schriften. Geschichte meines botanischen Studiums. Vgl. auch Brief an Zelter, 7. Nov. 1816. N. F. XVIII. Nr. 29 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 403 von Linne ausgegangen und zwar gerade durch den Widerspruch, zu welchem er mich aufforderte. Denn indem ich sein scharfes, geistreiches Ab- sondern ... in mich aufzunehmen versuchte, ging in meinem Inneren ein Zwiespalt vor: das, was er mit Gewalt auseinander zu halten suchte, mußte nach dem innersten Bedürfnis meines Wesens zur Vereinigung anstreben". Doch beachtete hier Goethe so wenig, wie die meisten seiner Zeit- genossen, daß Linne sein künstliches Sexual- system nur für das vorläufige, praktische Bedürf- nis der Systematik aufgestellt hatte, während ihm wohl bewußt blieb, daß nur das natürliche System auf die Dauer den wissenschaftlichen Anforde- rungen genügen kann. Schon 1738 umschrieb Linne in einem Fragment 65 natürliche Pflanzen- gruppen und stellte seine Theorie der natürlichen Verwandtschaft 1762 in der Dissertation „Funda- mentum fructificationis" und 1764 in der 6. Aus- gabe seiner „Genera plantarum" ausführlich dar. Er sieht das Natürliche einer systematischen Gruppe darin, daß die in ihr zusammengefaßten Arten in allen denjenigen Merkmalen übereinstimmen, welche den Habitus bedingen. Solche natürliche Gruppen zu finden, erklärt Linne als das Ziel der Systematik ; denn die einzelnen Formen stehen nicht isoliert da, sondern bieten nach verschiedenen Seiten ,, Affinitäten" dar, „wie ein Territorium auf einer Landkarte". Linne zeigt hier eine seiner Zeit weit vorauseilende Erkenntnis der natürlichen Zusammenhänge, wie man sie bei ihm, dem hervorragendsten Vertreter der Lehre von der Konstanz der Arten kaum erwartet; in ihren Konsequenzen ist sie ihm freilich nicht zum Be- wußtsein gekommen. Hier setzt nun Goethe mit seiner Lehre vom Typus ^j ein, durch welchen er ein zuveriäßig und bequem zu handhabendes Mittel zur Auffindung natürlicher Gruppen zu erhalten hoffte. Durch die bisherigen vergleichenden Studien hatte sich ergeben, „daß alle vollkommeneren organischen Naturen . . . nach einem Urbild geformt seien, das nur in seinen sehr beständigen Teilen mehr oder weniger hin- und herweicht. ... So ähnlich im ganzen die Tiere einander auch sein mögen, so sind doch gewisse einzelne Teile bei ver- schiedenen Geschöpfen an Gestalt äußerst ver- schieden, \md es mußte daher begegnen, daß öfters ein Teil für den anderen gehalten, an einer ') Sie ist am deutlichsten niedergelegt in dem 1796 ge- schriebenen Aufsatz: ,,Über einen aufzustellenden Typus zur Erleichterung der vergleichenden Anatomie"; ihm sind die folgenden Zitate entnommen. Der Auf-atz ist eine Über- arbeitung der 1790 verfaßten kleinen Abhandlung; „Versuch über die Gestalt der Tiere'*, welche zu Lebzeiten Goethes nicht im Druck erschienen ist. Die Überarbeitung wurde 1820 veröffentlicht in den „Vorlesungen über die drei ersten Kapitel der vergleichenden 0»teologie". Diese späte Ver- öflcntlichung bringt es mit sich, daß nicht Goethe den Be- griff „Typus" zuerst in die Wissenschaft einführte, sondern Ducrotay de BlainviUe (1777 — 1S50) in seinen 1816 herausgegebenen Grundzügen einer neuen Klassifikation des Tierreiches. unrechten Stelle gesucht oder geleugnet wurde.') x^n dieser Verwirrung scheint besonders die Methode Schuld zu sein, welcher man sich gewöhnlich be- diente. . . . Man verglich z. B. die einzelnen Tiere untereinander; . . . wem fällt nicht auf, daß man nach dieser Weise alle Tiere mit jedem, jedes Tier mit allen hätte vergleichen müssen? Eine Arbeit, die unendlich, unmöglich und, würde sie durch ein Wunder geleistet, unübersehbar und fruchtlos wäre. . . . Sollte es denn aber unmög- lich sein, da wir einmal anerkennen, daß die schaffende Gewalt nach einem allgemeinen Schema die vollkommeneren organischen Naturen erzeugt und entwickelt, dieses Urbild, wo nicht den Sinnen, doch dem Geiste darzustellen, nach ihm, als nach einer Norm unsere Beschreibungen auszuarbeiten und, indem solche von der Gestalt der verschie- denen Tiere abgezogen wäre, die verschiedensten Gestalten wieder auf sie zurückzuführen". In diesen Worten Goethes ist seine Absicht mit aller Klar- heit ausgedrückt; er gibt sich nicht damit zu- frieden, die veränderlichen Eigenschaften der Or- ganismen kennenzulernen, sondern er sucht das Bleibende, an welchem sich diese Veränderungen vollziehen. Und da dieses Bleibende sich in der Erfahrung nirgends darstellt, sucht er es, über die Empirie hinausschreitend in dem idealen Typus oder Bauplan, welcher den verwandten Organis- men gemeinsam ist und welcher es ermöglichen soll, das Bildungsgesetz zu finden, welches ihre Gestaltung beherrscht. „Hat man aber die Idee von diesem Typus erfaßt, so wird man erst recht einsehen, wie unmöglich es sei, eine einzelne Gattung als Kanon aufzustellen. Das Einzelne kann kein Muster vom Ganzen sein, und so dürfen wir das Muster für alle nicht im Einzelnen suchen. Die Klassen, Gattungen, Arten und Individuen ver- halten sich wie die Fälle zum Gesetz; sie sind darin enthalten; aber sie enthalten und geben es nicht".-) Hier ist deutlich die Universalität ausge- sprochen, welche Goethe seiner Idee beimißt: ') In diesem Zusammenh.ing ist auch allein die Bedeutung zu verstehen, welche Goethe seiner Entdeckung des Zwischen- kieferknochens am Menschen beimaß. Denn dieser Knochen, welcher bei allen höheren Wirbeltieren zu finden ist, gehört nach Goethes Idee zum Typus dieser Tiere und durfte des- halb auch beim Menschen nicht fehlen; es handelte sich nur darum, ihn zu finden. Als dies Goethe im März 17S4 ge- lungen war, empfand er eine so große Freude, daß sich ihm ,,alle Eingeweide bewegten" (Brief an Frau von Stein; 27. März 17S4). An Herder berichtet er (27. März 1784) seine Entdeckung mit den Worten : „Ich habe gefunden, weder Gold noch .'Silber, aber was mir unsägliche Freude macht, das OS intermaxiliare am Menschen. ... Es ist der Schluß- stein am Menschen, fehlt nicht, ist auch da." — Es ist bekannt, daß schon 17S0, also vor Goethe, Felix Vicq d'Azyr (174S — 1794] den menschlichen Zwischenkieferknochen be- schrieben hat. Auch d'Azyr war aut dem gleichen Wege wie Goethe zu seiner Entdeckung gelangt, indem er dem Wirbeltierkörper einen einheitlichen Bauplan zugrunde legte. So suchte und fand er auch andere Knochen, z. B. das Schlüssel- bein beim Hasen. ■^) Goethe, a. a. O. 404 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 29 der Typus ist allgemeiner und umfassender als die Gesamtheit der empirisch nachweisbaren, von ihm abgeleiteten Formen und kann schon aus diesem Grunde nicht in seinem ganzen Umfang aus der Erfahrung mit Beispielen belegt werden. Demnach ist die Erfahrung überhaupt nicht in der Lage, über den Wahrheitsgehalt einer Idee das entscheidende Wort abzugeben, sondern sie trägt zu diesem Urteil nur mittelbar bei, je nachdem eine größere oder geringere Zahl von Erfahrungs- tatsachen sich mit Hilfe dieser Idee mehr oder weniger leicht erklären lassen. Diese Fruchtbarkeit einer Idee ist für uns das einzige Kriterium ihres Wahrheitsgehaltes; darüber war sich auch Goethe, besonders unter dem Einflüsse Kant's klar ge- worden : „Was fruchtbar ist, allein ist wahr". ^) Bei dieser Fruchtbarkeit hatte Goethe in den Naturwissenschaften vor allem die Beziehung zu ihrem Endziel vor Augen, welches er sieben Tage vor seinem Tode mit den Worten aussprach, es müsse, „die Natur allen verständlich werden." ^) Durch Erfahrung allein kann dieses Ziel nicht erreicht werden, da diese ihrer Natur nach be- schränkt ist und immer einen unaufgeklärten Rest zurückläßt. Wir können diesen Rest immer kleiner werden lassen ; diese Aufteilung kann aber doch, ohne das Gebiet der Erfahrung zu verlassen, unter eine bestimmte Grenze nicht hinabgehen und wird bei begrifflichen „Atomen", die nicht mehr weiter aus ihren Teilen verstanden werden können. Halt machen müssen. Alle so aufgestellten grund- legenden Sätze, ohne die wir uns heute Wissen- schaft nicht denken können, sind in diesem Sinne Ideen und empirisch nicht direkt, sondern nur aus ihrer „Fruchtbarkeit" beweisbar. ") Gerade in den exakten Wissenschaften, bes. in Mathematik und Physik sind sie besonders häufig und wichtig; man denke nur an das Parallelenaxiom, an die imaginären Zahlen, an die Begriffe des unendlich Großen und des unendlich Kleinen, an den leeren Raum, an den Aether, an den ausdehnungslosen Massenpunkt usw. Als Kopernikus sein Sonnensystem aufstellte, bezeichnete er es in dem Widmungsbriefe an den Papst Paul lil als einen Versuch, „die Gestalt des Weltals und das wahre Ebenmaß seiner Teile" einfacher und klarer dar- zustellen, als es bisher im geozentrischen System möglich gewesen war, und alle späteren Versuche, die Kopernikanische Idee exakt zu beweisen, haben von Galilei bis heute keinen anderen Erfolg, als zu zeigen, daß es zur Erklärung des Laufes der Planeten bequemer *) sei, sich vorzustellen, daß die Erde sich drehe. Auf ähnliche Weise ') GoU und Welt. Vermächtnis, Vers 33. Man vergleiche auch (Brief an Zelter, 31. Dez. 1829): „Ich habe bemerkt, daß ich den Gedanken für wahr halte, der für mich frucht- bar ist." *) Brief an Grüner, 15. März 1832. '} Man vergleiche Vai hinger, Philosophie des Als ob, Leipzig 191 1. *j Man vergleiche Poincare, H., La Science et l'Hypo- these, Paris 1902, p. 14I. — Deutsch herausgegeben von H. u. F. Lindemann, Leipzig 1913. haben alle Ideen durch ihre Bedeutung für die Ökonomie des Denkens ihre Berechtigung aus- zuweisen. Es wird dabei aber sofort offenbar, daß es sehr schwierig, im Grunde sogar unmöglich ist, hierüber ein abschließendes Urteil abzugeben. Denn selbst wenn eine Idee momentan nicht fruchtbar ist, ja selbst, wenn sie durch Jahrhunderte unbe- achtet und vergessen bleibt, so ist doch nicht ausgeschlossen, daß sie sich später in dieser oder jener Form lebenskräftig erweist ; so war z. B. die Annahme von Atomen schon durch Demokrit, die eines heliozentrischen Systems durch Aristarch von Samos vorbereitet. Andererseits können Ideen, die lange Zeit dem wissenschaftlichen Denken ihr Gepräge aufdrückten, wie etwa das „Perpetuum mobile" oder der „Stein der Weisen" späteren Geschlechtern nur noch ein Lächeln ab- gewinnen. Da wir nun selbstverständlich genötigt sind, bei der Beurteilung einer Idee unseren Stand des Wissens als Maßstab zu gebrauchen, so dürfen wir dabei nie außer Acht lassen, daß unser Urteil nur ein relatives sein kann. Immerhin wird sich beim weiteren Verfolgen der Lehre vom Typus auch ein Einblick in ihre fernere- Entwicklung gewinnen lassen, besonders wenn wir den Be- ziehungen nachgehen, welche die Idee des Typus mit der heute in Morphologie und Systematik vorherrschenden genetischen Betrachtungsweise verbinden. Unter den Zeitgenossen Goethes waren es vor allem Alexander von Humboldt und der Physiologe Johannes Müller, welche den natur- wissenschaftlichen Ideen Goethes Bedeutung beimaßen. Von A. v. Humboldt wissen wir aus seinem Briefwechsel mit Goethe, daß er dessen Ideen für äußerst anregend hielt; er sagt, daß er durch sie „gewissermaßen mit neuen Organen ausgerüstet" sei. Für Johannes Müller^) war Goethe ein unvergleichliches Beispiel der „plasti- schen Imagination", mit deren Hilfe sich Ergebnisse erzielen lassen, welche „ein fernes Ideal der Natur- geschichte" darstellen. — Ein wesentliches Hinder- nis für die Anerkennung der Idee Goethes bildete der Umstand, daß Goethe selbst in seinen Beispielen nicht glücklich war; seine Lehre von der Metamorphose der höheren Pflanzen, von ihrer Spiraltendenz, seine vergleichende Osteologie, be- sonders die Wirbeltheorie des Schädels betrachten wir heute als verfehlt, und es kann selbstverständlich wenig Vertrauen erwecken . wenn der Schöpfer einer Idee ihre praktische Anwendung nicht richtig einzuleiten vermag. Immerhin hat er doch den richtigen Weg zur Aufstellung eines Typus ge- wiesen:") „Wie nun aber ein solcher Typus auf- zufinden, zeigt uns der Begriff desselben schon selbst an : die Erfahrung muß uns die Teile lehren, die allen Tieren gemein und worin diese Teile ') J o h. Müller, Die phantastischen Gesichtserscheinungen. 1826. § 186. '^) G o e t h e , a. a. O. N. F. XVIII. Nr. 29 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 405 bei verschiedenen Tieren verschieden sind; alsdann tritt die Abstralction ein, sie zu ordnen und ein all- gemeines Bild aufzustellen. — Bei unserer Vorarbeit zur Konstruktion des Typus werden wir vor allen Dingen die verschiedenen Vergleichungsarten, deren man sich bedient, kennen lernen , prüfen und anwenden, so wie wir auch die darin ange- stellten Vergleichungen selbst . . benutzen können . . . Alle diese Vergleichungsarten werden uns bei unserer Arbeit leiten und sie mögen nach aufge- stelltem Typus immer noch fort zu brauchen sein ; nur wird der Beobachter alsdann den Vorteil haben, daß er seine Forschungen in Bezug auf ein Ganzes anstellen kann." Wenn nun auch diese Angaben viel zu allgemein gehalten sind, als daß sich auf sie eine Arbeitsmethode gründen ließe, so geben sie doch das Ziel mit Bestimmtheit an : Abgrenzung der Formengruppen nicht nach einzelnen herausgegriffenen Merkmalen, sondern nach ihrer Gesamtheit, also das, was wir natürliche Systematik nennen. Dieses Ziel ist ereicht, wenn es möglich ist, „Geschlechter und Arten wahrhaft zu bestimmen, welches . . bisher sehr willkürlich geschieht."^) — Daß Goethe die praktische Er- probung des Wertes seiner Idee nicht gelang, be- dauert er selbst, indem er sagt, -) daß der Bezug seiner Intentionen auf die Erfahrungsbotanik nicht deutlich genug hervorgehe ; aber er ist trotzdem von ihrer Bedeutung überzeugt: „Fahren Sie fort", schreibt er an Wackenroder,") „mit alledem, was Sie interessiert, mich bekannt zu machen ; es schließt sich irgendwo an meine Betrachtungen an." In der Folge zeigte sich denn auch die Idee des Typus besonders fruchtbar in der vergleichen- den Morphologie, Anatomie und Systematik, vor allem in dem Begriff der Homologie, welcher 1813 von Pyrame de Candolle (1778 — 1841) auf- gestellt wurde. *) Als Grundlage der Morphologie bezeichnet er das Stellungs- und Zahlenverhältnis der Organe; ohne Rücksicht auf deren physiolo- gische Bedeutung sind alle Teile, welche in diesem Verhältnis die gleiche Stelle einnehmen, als mor- phologisch gleich, — homolog zu betrachten. Nach der Gesamtheit der relativen Stellungsver- hältnisse (l'ensemble des dispositions) wird die Gesamtähnlichkeit beurteilt; alle Organismen, welche in diesem Sinne einen gemeinsamen Bau- plan aufweisen, bilden eine natürliche Gruppe verwandter Formen. Das natürliche Pflanzen- system, welches de Candolle in Anwendung dieser Grundsätze aufstellte, ist eine der bemer- kenswertesten Vorarbeiten auf diesem Gebiete. — Auf zoologischem Gebiet ging 1812 Georges C u V i e r ^) dazu über, auf Grund der Baupläne ') Italienische Reise, 27. Sept. 1786. 2) Brief an Soret, 28. Juni 1S28. ') 21. Januar 1S32. *) Theorie elementaire de la Botanique ou exposition des principes de la Classification naturelle et de l'art de decrire et d'etudier les vegelaux. 1813. *) Sur un nouveau rapprochement ä etablir entre les elasses, qui composent le rjgne animal. iSiz. das Tierreich in Hauptgruppen einzuteilen. Er berücksichtigt dabei in erster Linie den Bau des Nervensystems, da er in ihm gewissermaßen das Zentralorgan der spezifisch tierischen Funktionen erblickt; deshalb ist sein System für unsere Be- griffe sehr ungenügend. Dies gilt auch von den weniger bedeutenden Versuchen anderer zeit- genössischer Systematiker, welche wie Cuvier, und meistens ebenso einseitig, sich nur auf feste, abgeschlossene Formenverhältnisse bezogen und auf die Entwicklung und Veränderlichkeit der Formen keine Rücksicht nahmen. Diese Not- wendigkeit erkannte zuerst v. Baer (1792 — 1876), indem er ^) darauf hinweist, daß man neben den verschiedenen Organisationstypen auch die ver- schiedenen Stufen der Ausbildung in Betracht ziehen müsse. Die Lebenstätigkeiten sind bei den niederen Lebewesen, besonders bei den einzelligen, noch wenig lokal differenziert; bei höher ent- wickelten Formen werden sie immer mehr von einander getrennt und von besonderen Organen übernommen. Die Art und Weise aber, wie diese Organe zu einem Ganzen verbunden sind, ist un- abhängig von der Entwicklungsstufe eines Orga- nismus und diese Art der Verbindung ist es, was das typisch Übereinstimmende der zusammen- gehörenden Formen ausmacht. Da der Typus von der Entwicklungsstufe unabhängig ist, kann jeder Typus sich in höheren und niedrigeren Entwick- lungsstufen offenbaren ; die einzelnen Entwicklungs- stufen bilden für jeden Typus mehr oder weniger lückenlose Reihen. Typus und Entwicklungsstufe zusammen bestimmen die Stellung der einzelnen P'orm im natürlichen System. — Hierin liegt der Fortschritt v. Baers über Cuvier hinaus; denn während dieser bei den einzelnen Typen nur gleichberechtigte Unterabteilungen unter- schieden hatte, ist hier auch der Entwicklungs- gedanke mit der Idee des Typus verbunden ; zu der horizontalen Einteilung nach koordinierten Typen ist als notwendige Ergänzung die vertikale Gliederung nach subordinierten Entwicklungsstufen hinzugekommen. Indem nun die Entwicklungslehre von der Ontogenetik zur Phylogenetik weiterschritt, begann sie rasch das ganze Interesse der morphologischen under systematischen Forschung auf ihre Fragen zu konzentrieren. Von den beiden Komponenten Typus und Entwicklungsstufe, welche nach v. Baer die Form eines Organismus bestimmen, wurde fast ausschließlich die zweite und zwar auf Grund der Abstammungslehre in Erwägung gezogen. Es wird nach den Bedingungen und Kräften gesucht, unter deren Einfluß sich ein Organismus verändert und welche so an der Gestaltung der Formen mit beteiligt sind. Die natürliche Verwandtschaft wird auf gemeinsame Abstammung zurückgeführt ; neben ihr kommt die Verwandtschaft der Formbildung, ') Über die Verwandtschaftsverhältnisse der niederen Tier- formen. 1S27. — Über Entwicklungsgeschichte der Tiere, 1828, Bd. I S. 206: Über das gegenseitige Verhältnis der ver- schiedenen, bleibenden Tierforraen 4o6 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 29 welche die alte Systematik als die natürliche be- zeichnet, kaum mehr in Frage. Dieser Umschwung läßt sich geschichtlich sehr leicht verstehen, wenn wir den Mangel einer allgemein verwendbaren und allgemein anerkannten Methodik in der alten Systematik in Betracht ziehen. Man war es müde, auf Grund individuell schwankender Werturteile das natürliche System zu suchen, weil sich die Unausführbarkeit eines solchen Unternehmens an der Unsicherheit eines jeden noch so kleinen Schrittes offenbaren mußte, und hoffte, in der Ab- stammung der einzelnen Formen ein einwandfrei festzustellendes Maß für den Grad ihrer Verwandt- schaft zu erhalten. Es zeigte sich aber, daß die Schwierigkeiten immer noch bedeutend größer waren, als man anfänglich gedacht hatte, da man vorschnell zur Aufstellung hypothetischer Stamm- bäume schritt. Denn es stellte sich heraus, daß man trotz der Annahme des biogenetischen Grund- gesetzes nur relativ kurzeReihen organischer Formen genetisch auseinander abzuleiten vermochte. Die heute lebenden Formen sind genetisch nicht als über- und untergeordnet zu betrachten, sondern sind vorläufige Enden selbständiger Entwicklungs- zweige; sie stellen nicht Längsschnitte sondern Querschnitte durch die Entwicklungsreihen dar und zwar Querschnitte, welche nur Nebenäste treffen, den Hauptentwicklungsstamm aber nicht berühren. Denn dieser ist in der Keimbahnent- wicklung zu suchen, welche in einem rhythmischen Zyklus in unbegrenzter F"olge weiter schreitet und in den einzelnen Gattungen, Arten und Individuen tern\inale Abzweigungen von begrenzter Lebens- fähigkeit aussendet. Die Entwicklung als Ganzes wäre etwa einem Flußsystem zu vergleichen, dessen breiter Hauptstrom unaufhaltsam weiter fließt und von dem nach allen Seiten Wasser aus- tritt, um sich einen eigenen Weg zu bahnen. Gelingt ihm dies, so fließt der Hauptstrom nach; meistens aber lösen sich die Abzweigungen in immer dünnere Adern auf, die zuletzt im Sande versiegen. Die Abstammungslehre sammelt nun ihr Erfahrungsmaterial am vorläufigen Ende dieser Verzweigungen und sucht die Bedingungen aufzu- decken, unter denen sie sich gebildet haben. Da- mit leistet sie eine wichtige Arbeit zur Ermög- lichung einer Einsicht in das Zustandekommen der einzelnen Formen; aber sie erfaßt nur die eine Seite des Problems. Denn es ist wohl zu be- achten, daß zur Feststellung der Art, wie ein Organismus auf äußere Einflüsse reagiert, die Kenntnis dieser äußeren Faktoren nicht genügt, sondern daß jedem Organismus eine gewisse Eigengesetzlichkeit innewohnt. Ein Organismus kann sich nicht in jeder beliebigen Richtung ent- wickeln; sondern seine Entwicklung ist an be- stimmte Linien gebunden, deren Gesamtheit seinen Entwicklungstypus bestimmt. Dieser ist die eine Komponente, die äußeren Einflüsse sind die andere; beide müssen wir kennen, wenn wir ihr Resultat in seinem Zustandekommen begreifen wollen. Durch die Entwicklungslehre wird also die Idee vom Typus durchaus nicht überflüssig; son- dern sie bleibt nicht nur geschichtlich, sondern auch logisch die Grundlage für alle genetischen Ermittelungen. Daß diese Grundlage mit der Er- weiterung des Gebäudes, welches auf ihr ruhen soll, ebenfalls erweitert werden muß, ist selbst- verständlich ; hierin ist der fördernde Einfluß der Entwicklungslehre auf die weitere Ausarbeitung des Begriffs vom Typus begründet. Adolf Naef,-") welcher in neuester Zeit den Begriff des Typus in diesem Sinne zu vervollständigen sucht, stellt für die Bewertung der einzelnen Merkmale drei Grundsätze auf, nämlich das Prinzip der ontoge- netischen, das der paläontologischen und das der systematischen Präzedenz. Hiernach sind unter den entsprechenden Zuständen typisch ähnlicher Organismen diejenigen bei der Bestimmung des Typischen höher zu bewerten, welche a) bei der Ontogenese oder b) erdgeschichtlich früher auftreten, oder c) einer allgemeineren systematischen Stufe bereits zukommen. — Der Einfluß der Entwick- lungsgeschichte auf die Aufstellung der beiden ersten Grundgesetze ist klar, und so wird über- haupt unter ihrem Einfluß an Stelle des starren Bauplanes, wie er der Konstanz der Arten ent- sprach, der ontogenetische und phylogenetische Entwicklungsplan treten, auf welchen die einzelnen Formen zurückgeführt werden. Dabei ist wohl zu beachten, daß die einzelnen Stufen dieses Ent- wicklungstypus sich ebensowenig werden empirisch nachweisen lassen, wie der Typus einer festen Tier- oder Pflanzenform; denn immer treten äußere Faktoren auf, welche die typische Ausbildung stören. Der Entwicklungstypus ist ebensosehr eine idealistische Abstraktion, wie der Typus der alten Morphologie und Systematik und ist ebenso not- wendig, wie dieser. Denn nur so ist es möglich, den GangderEntwicklungindeneinzelnenEntwicklimgs- reihen zu rekonstruieren und, auf gesichertem Wege rückwärts schreitend, immer allgemeinere Ent- wicklungsgesetze zu finden. Es liegt hier der gleiche Fall vor, der bei exakter Fragestellung immer wiederkehrt, sobald man vom besonderen zum allgemeinen fort- schreiten will: es müssen irgend einmal die be- stimmten Koeffizienten einer Gleichung durch allgemeine ersetzt werden, wenn wir ihre allge- meine Lösung finden wollen. Einer solchen Normalform entspricht der Entwicklungstypus; er ist allgemeiner als die Gesamtheit der auf ihn zurückzuführenden, empirisch festgestellten Ent- wicklungsreihen, weil er auch alle Entwicklungs- möglichkeiten umfaßt, von welchen jene nur ein Ausschnitt sind. Am Entwicklungstypus läßt sich ferner am eindeutigsten der Verwandtschaftsgrad ') Naef, A., Idealistische Morphologie und Phylogenetik. (Zur Methodik der systematischen Morphologie.) Jena 1919. — Die Schrift ist die theoretische Einleitung zu der noch nicht veröffentlichten Monographie des gleichen Verfassers über die Neapeler Cephalopoden. N. F. XVIII. Nr. 29 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 407 der einzelnen Formen bestimmen, nach der Zahl der Zwischenglieder, welche nötig sind, um sie auf ihre Ausgangsform zurückzuführen; diese Ver- wandtschaft ist auch dann noch erkennbar, wenn diese Zwischenglieder empirisch nicht nachge- wiesen werden können. Bei der unvollständigen Erhaltung der ausgestorbenen Formen ist es aus- sichtslos, daß sich jemals alle Zwischenformen aufzeigen lassen und ferner ist überhaupt anzu- nehmen, daß nicht alle Entwicklungsstadien aus- gebildet worden sind. Denn wie abgekürzte On- togenesen viel häufiger sind, als auch nur an- nähernd vollständige, so sind auch in der Phylo- genie Keimesentwicklungen anzunehmen, von denen aus keine bestimmte Form ausgebildet wurde. Aber auch wenn alle Zwischenstadien der einzelnen Entwicklungsreihen aufgezeigt werden könnten, so würden wir dadurch nur über den Verlauf der terminalen Abzweigungen aufgeklärt; die Stellen ihrer Ausgänge von der Keimbahn- entwicklung und diese selbst blieben unerkannt. So wäre es uns auch nicht möglich, über den weiteren Verlauf des Hauptstromes der Entwick- lung etwas auszusagen. Sofern es aber gelingt, diesen Verlauf unter Zugrundelegung des Ent- wicklungstypus zu formulieren, so werden wir, ähnlich wie bei der Bahnberechnung eines Him- melskörpers, die Entwicklungskurve auffinden können. Eine Haupteigenschaft dieser Kurve ist uns bereits bekannt; sie ist ausgesprochen in dem 1893 von L. Dollo formulierten ,, Gesetz der Irreversibilität der Entwicklung". Nach diesem Gesetz ist zu schließen, daß spätere Formen früheren, ausgestorbenen zwar äußerlich ähnlich (analog, kongruent) sein können, daß aber nie eine homologe, also typisch identische Form wiederkehrt. Also ist auch die Keimbahnent- wicklung, trotzdem sie sich aus rhythmisch-zykli- schen Elementen zusammensetzt, terminal gerichtet und bildet nicht etwa eine in sich geschlossene Kurve. Der Vergleich mit dem zweiten Haupt- satz der Thermodynamik liegt nahe ') und es drängt sich der Gedanke auf, daß auch die Form- entwicklung der Organismen einer „Entropie", d. h. einem Ausgleich der in ihr vorhandenen Spannungsunterschiede zustrebe. Es dürfte diese Entropie am ehesten in derjenigen Ausbildung eines Entwicklungstypus gefunden werden, welche alle Teile eines Organismus, ohne irgend einen zu bevorzugen oder zu beeinträchtigen, zu einem harmonisch ausgeglichenen Ganzen vereinigt. Wahllos sehen wir die Natur immer neue Ent- wicklungsmöglichkeiten verwirklichen ; der Katalog der ausgestorbenen Formen ist überreich an Mon- strositäten, die dadurch zustande gekommen sind, daß irgendein Organ auf Kosten der übrigen sich einseitig ausbildete, bis an dessen Hyper- trophie die ganze Entwicklungsreihe untergehen mußte. Eine Vergleichung z. B. der ausgestorbenen Wirbeltierformen mit den heute lebenden zeigt unverkennbar die Entwicklung in der Richtung immer besser ausgeglichener Proportionalität, die aber nicht von den einzelnen Formen, sondern von ihrem Entwicklungstypus erreicht wird. So ist die Idee vom Typus immer lebens- kräftig und fruchtbar und für die Festsetzung der Entwicklungsgesetze nicht zu entbehren. Bewußt oder unbewußt fußen auf ihr alle Bestrebungen nach gefestigten Resultaten in Morphologie und Systematik. ') Man vergleiche Stern, K., Deszendenzproblcme im Lichte der Biologie und der Thermodynamik. Naturwissen- schaften, 1918 S. 585. [Nachdruck verboten.] Die Vermehrung unserer Kulturgewächse ge- schieht auf zweierlei Weise, entweder durch Samen oder durch Stecklinge, Knollen und Zwiebeln. Die Samen unterscheiden sich von den Stecklingen, Knollen und Zwiebeln dadurch, daß sie auf ge- schlechtlichem Wege erzeugt und aus einer Blüte Die Vermehrung der Kartoifel. (Aus dem Forschungsinstitut für Kartoffelbau, Berlin-Steglitz.] Von Dr. Karl Snell. Steht als Kreuzungsprodukt ein Same. Sät man die zahlreichen Samen einer Kartofifelkreuzung aus, so entstehen gewöhnlich eine große Reihe ver- scniedener Pflanzen, die einzeln auf ihren Anbau- wert geprüft werden müssen. Die Kartoffelsamen werden in der gleichen Weise wie Tomatensamen hervorgegangen sind, während die letzteren nur behandelt, die jungen Pflanzen pikiert und erst ungeschlechtliche Teile der Pflanze darstellen. Bei der Kartoffel kennen wir sowohl die geschlecht liehe als auch die ungeschlechtliche Art der Ver mehrung. Für die große Praxis kommt nur die letztere in Betracht. Die Vermehrung durch Samen nach dem Erstarken, nicht vor Mitte Mai ins Frei- land gesetzt. Der Ertrag an Knollen ist im ersten Jahre nur gering und die einzelnen Knollen sind klein. Eine weit gleichmäßigere Nachkommenschaft und größeren Ertrag erzielt man durch Knollen- spielt dagegen für die Züchtung neuer Sorten eine Vermehrung. Die Knolle stellt ein unterirdisches, wesentliche Rolle. Um die Eigenschaften zweier verschiedener Sorten zu vereinigen, wird der Blüten- staub der einen auf eine Blüte der anderen über- tragen. Durch Verschmelzung einer männlichen Geschlechtszelle mit dem Ei der Samenanlage ent- gestauchtes Sproßsystem dar. Sie ist entstanden durch Anschwellung eines unterirdischen Aus- läufers. Die einzelnen Augen der Knolle beher- bergen eine Anzahl (etwa 3 — 5) von Knospen, die alle zu Sprossen auswachsen können. Gewöhnlich 4o8 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 29 entwickeln sich aber nur wenige Augen und in ihnen nur ein Sproß. Die übrigen bezeichnet man als schlafende Augen. Entfernt man aber die ausgetriebenen Sprosse, so entwickeln sich schlafende Augen, und werden auch diese entfernt, so kom- men die Nebenknospen an die Reihe. Aber auch dann ist die Knolle noch nicht erschöpft; es können schließlich sogar aus dem Gewebe der Augen neue Sprosse gebildet werden. Die verschwenderische Ausstattung der Knollen mit Knospen wird aber für gewöhnlich nicht aus- genutzt. Wohl hat man durch Zerschneiden eine größere Anzahl von Pflanzen aus einer Saatknolle erzielt. Jedoch hat die Methode ihre Nachteile, besonders in Bezug auf das Eindringen von Krank- heitserregern durch die ungeschützte Schnittfläche. Die Ersparurg von Saatgut ist in normalen Zeiten von untergeordneter Bedeutung, spielt aber bei Nahrungsmangel, wie ihn der Krieg hervorgerufen hat, eine große Rolle. Die dahin zielenden Be- strebungen haben zur Ausarbeitung von 2 Methoden geführt, die Gartenbaudirektor Tutenberg, Altona a. d. Elbe in einem ausführlichen Bericht, betitelt: „Die Streckung des Kartoffelpflanzgutes durch die Keimlings- und Stecklingsvermehrung" beschrieben hat. Das Buch ist bei Hammerich u. Lesser, Altona a. d. Elbe erschienen und wendet sich vor allem an Gärtner und Schrebergarten- besitzer, während die Methoden für die große Landwirtschaft nicht in Betracht kommen. Die Keimlingsvermehrung nützt die Fähigkeit der Knolle, eine große Anzahl von Keimlingen hervorzubringen, aus. Die Knollen werden bei Zimmertemperatur in mäßig hellem Licht ange- trieben und die Keimlinge, sobald sie den Wurzel- kranz ausgebildet haben, nach und nach mit einem Teil der Mutterknolle ausgeschnitten. Es können mit Leichtigkeit 5—8 solcher Keimlinge aus einer Knolle gewonnen werden und der Rest kann noch als Viehfutter oder zur menschlichen Ernährung benutzt werden. Die Keimlinge werden Mitte Mai wie angekeimte Kartoffeln 6 — 8 cm tief in die Erde gepflanzt und sollen den gleichen Ertrag geben, als ganze SaatkartofTeln. Die Stecklingsvermehrung geht noch weiter, indem sie aus den Keimlingen in Vermehrungs- kästen junge Pflanzen zieht. Diese werden durch Entspitzen veranlaßt, eine größere Anzahl Triebe zu bilden. Die Triebe werden abgeschnitten, um sie für sich zur Bewurzelung zu bringen, und als bewurzelte Stecklinge ins Land gesetzt. Auf diese Weise ist es möglich, mit etwa ^/jq der für ge- wöhnlich erforderlichen Saatgutmenge auszukom- men. Wenn diese Methoden noch nicht überall eingeführt wurden, so liegt das einerseits daran, daß sie nicht überall bekannt waren, andererseits an der gärtnerischen Bearbeitung des Pflanzgutes, die nicht jedem liegt und die besondere Aufmerk- samkeit und Zeit in Anspruch nimmt. Die Methode der Keimlingsvermehrung ist nicht neu. In der englischen landwirtschaftlichen Zeit- schrift „The Gardeners' Chronicle" wird in den Jahren 1875 und 1876 verschiedentlich über die schnelle Vermehrung von wertvollem Saatgut be- richtet. Eine amerikanische Saatguthandlung hatte Preise ausgeschrieben für die größten, aus einem Pfund einer bestimmten Sorte gezogenen Erträge. Durchschnittlich wurden Ernten von 5 — 600 Pfund angegeben. Es konnte aber auch von einem Land- wirt, der die Hauptknospen der Augen entfernte und die dadurch zahlreich ausgetriebenen Bei- knospen zur Keimlingsvermehrung benutzte, ein Ertrag von 1082 ^,'2 Pfund aus einem Pfund Saat- kartoffeln erzielt werden. Ein amerikanischer Be- richt spricht sogar von 2000 Pfund aus einem Pfund. In diesem Fall wurden die Knollen im Warmbeet angetrieben und die entstehenden Keim- linge immer wieder abgenommen, wahrscheinlich wurden also auch Regenerate mit benutzt. Nach den Aufzeichnungen des Herrn P f i t z n er, die von Tutenberg angeführt werden, kann man aus einer Knolle bis 50 Stecklingspflanzen erzielen. Rechnet man 10 Knollen auf ein Pfund Saatkartoffeln und einen Ertrag von 4 Pfund von einer Pflanze, so würde man dieses überraschend hohe Ergebnis von 2000 Pfund aus einem Pfund auch nach dem Stecklingsverfahren erreichen können. [Nachdruck verboten.] Die scheinbare Gest.alt des Himmelsgewölbes. Von Otto Baschin. Die allgemein bekannte Tatsache , daß der Himmel dem menschlichen Wahrnehmungsver- mögen nicht als Halbkugel sondern als ein abge- plattetes Gewölbe erscheint, dessen im Zenit ge- legener Teil uns beträchtlich näher ist, als der am Horizont verschwindende, hat verschiedene Erklärungsversuche gefunden. Eine ausführliche Würdigung derselben hat in ziemlich vollständiger Weise J. M. Pernter gegeben,') aber auch ihm ') Meteorologische Optik. Von J. M. Pernter und K. M. Exner, Wien und Leipzig, 1910, S. 5 — 54. ist es nicht gelungen eine einwandfreie und zu- friedenstellende Erklärung dieser merkwürdigen Täuschung zu geben. In Nr. 1 1 dieser Zeitschrift wird nun eine Erwägung von Prof Kürschmann mitgeteilt, welche eine nach meinem Dafürhalten durchaus richtige Deutung der Erscheinung gibt. Es heißt dort: „Kürschmann möchte die Vorstellung, das Himmelsgewölbe sei abge- plattet, auf die noch gar nicht in Erwägung ge- zogene Tatsache zurückführen, daß bei bewölktem Himmel das Wolkengewölbe sehr stark ab- geplattet ist, weil der Mittelpunkt dieser Kugel- N. F. XVIII. Nr. 29 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 409 schale mit dem Erdmittelpunkt zusammenfällt, nicht mit dem Standpunkt des Beobachters".') Diese handgreifliche Erklärung hat Pernter in sein Werk nicht aufgenommen, obgleich eine Be- merkung auf Seite 8 desselben „der Einfluß der Bewölkung liegt darin, daß das Himmelsgewölbe um so gedrückter erscheint, je bewölkter es ist" darauf hindeutet, daß er dem Einfluß der Wolken seine Aufmerksamkeit zugewandt hat. Mir selbst hat sich bereits vor Jahren die obige Erklärung aufgedrängt, und ich hielt sie für neu, weil ich in der Literatur nichts darüber finden konnte. Ich habe daher Veranlassung genommen in einer Sitzung des Berliner Zweigvereins der Deutschen Meteorologischen Gesellschaft am 7. November 1916 einen Vortrag über die scheinbare Gestalt des Himmelsgewölbes zu halten, in dem ich aus- einandersetzte, daß ein bewölkter Himmel sich tatsächlich nicht wie eine Halbkugel, sondern wie ein flaches Uhrglas über unseren Standpunkt an der Erdoberfläche wölbe. Von einer 2000 Meter hohen Wolkendecke z. B. ist der zenitale Teil eben 2 Kilometer, der am Horizont gelegene da- gegen nicht weniger als 160 Kilometer von uns entfernt, nämlich ungefähr um den Betrag der so- genannten Aussichtsweite aus 2000 Metern Höhe. Da wir nun diese, uns durch langjährige Erfah- rung bekannte Wahrnehmung unbewußt auch auf den wolkenfreien Himmel übertragen, so wird in unserem Bewußtsein die Vorstellung von einem abgeplatteten Himmelsgewölbe erzwungen. Meine Ausführungen stießen damals innerhalb der Ver- sammlung auf Widerspruch, namentlich von astro- nomischer Seite, so daß ich die Absicht hatte, diese Frage durch Veröffentlichung meiner Auf- fassung zur Erörterung zu stellen, um so eine end- gültige Lösung des Problems herbeizuführen. Da wurde ich jedoch zufällig darauf aufmerksam, daß die von mir gegebene Erklärung bereits in dem weitverbreiteten Lehrbuch von FL Wagner an- gegeben ist. Er schreibt: „Es ist eine optische Täuschung, hervorgerufen vor allem durch die über uns in geringer Entfernung schwebenden Wolken, daß uns das Himmelsgewölbe mehr wie eine gedrückte Kugelkappe erscheint".^) Übrigens findet sich diese Stelle schon in früheren Auflagen des gleichen Lehrbuchs, wo ich sie bis zu der 1900 erschienenen sechsten Auflage zurückver- folgen konnte. H. H e 1 m h o 1 1 z hat sogar schon 1867 in seinem Handbuch der physiologischen Optik die gleiche Deutung gegeben. Er schreibt: „Da wir nun keine Mittel der sinnlichen An- schauung haben, um die Entfernung des Wolken- himmels von der des Sternenhimmels zu trennen, so scheint es nur natürlich, daß wir dem letzteren die wirkliche Form des ersteren, soweit wir sie unterscheiden können, mit zuschreiben, und daß auf diese Weise die doch immer sehr vage, unbe- ') Naturwissenschaftliche Wochenschrift, Jena, 1919, Bd. 34, .S. 152—154. ^) Lehrbuch der Geographie. Von Hermann Wag n er. I. Bd. 9. Aufl. Hannover und Leipzig, 1912. S. 53. stimmte und veränderliche Vorstellung, von der flachkuppelförmigen Wölkung des Himmels ent- steht".') Trotzdem sich also die gleiche Erklärung in zwei sehr bekannten, ausgezeichneten und grundlegenden Werken findet, scheint sie doch ziemlich verborgen geblieben zu sein, was auch ihr Fehlen in dem ausführlichen Handbuch von Pernter erklärt, das bekanntlich alle Erschei- nungen der meteorologischen Optik in eingehender Weise behandelt. Es geht jedoch aus Peru ters Darstellung -) deutlich hervor, daß auch die ge- wohnheitsmäßige Richtung unseres Blickes bei dem Problem eine wesentliche Rolle spielt, weil unsere Sehvorstellungen im wesentlichen auf sol- chen Sehwahrnehmungen fußen, die wir bei auf- rechter Körperhaltung gemacht haben. Pernter bezieht sich dabei auf Gauss, Filehne, Zoth u. a. Schon C. P". Gauss hat nicht nur erkannt, daß die Blickrichtung die maßgebende Ursache der verschiedenen scheinbaren Größen von Him- melskörpern im Zenit und Horizont sei, sondern er hat seine Ansicht auch durch Versuche mit Spiegeln erhärtet. Aber wohl den klarsten Be- weis dafür, der selbst jedem Laien einleuchten muß, hat zuerst Filehne erbracht. Er hängte sich an einem Geländer am Seestrande mit dem Kopfe abwärts im Kniehange auf. Der stirnwärts gerichtete Blick war nun gegen den Erdboden gerichtet und somit ausgeschaltet, und da der fußwärts gerichtete Blick (hier zum Zenit) in be- zug auf unseren Fall, wie leicht erweisbar und von Filehne und Zoth auch experimentell nachgewiesen wurde, dem geraden Blick nahezu gleichwertig ist, so war jede Ursache, den Himmel als gedrücktes Gewölbe zu sehen, beseitigt. In der Tat sah Filehne denselben nun als Halb- kugel. Zoth machte den Versuch in der Art, daß er sich flach auf den Rücken legte. Die gerade Blickrichtung ging nun zum Zenit, die stirnwärts gerichtete nach der einen Seite des Horizontes, die fußwärts gerichtete nach der anderen Seite des letzteren. Es erschien nun das Himmelsgewölbe gegen den Scheitelpunkt des Liegenden gedrückt ; Zenit und Fußpunkt waren aber durch den Bogen eines nahezu reinen Quadranten verbunden, so daß also Zenit und Fußpunkt vom Auge ziemlich gleichweit (der Fußpunkt etwas ferner) und zwar gerade um den Radius einer Kugel, mit welchem der Quadrant Zenit-Fußpunkt gezogen schien, vom Auge abstanden, während die Entfernung vom Scheitelpunkt des Liegenden in gleicher Weise verkürzt erschien wie bei aufrechter Körperhaltung die Linie zum Zenit. Hiermit ist also der Beweis erbracht, daß die Blickrichtung allein schon die scheinbare Gestalt des Himmelsgewölbes bedingt. Es ist somit die Gausssche Blickrichtungstheorie durch die Versuche durchaus bewahrheitet. Wie aus den vorstehenden Ausführungen her- ') 2. Auflage. Hamburg und Leipzig, 1S96. '') Seite 41 — 50. S- 775- 4IO Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 29 vorgeht, hat also Pernter, und vermutlich auch vor und nach ihm noch mancher andere Autor, die Darlegung von Filehne gekannt und be- rücksichtigt. Auch haben Filehne wie Zoth ihre Untersuchungen schon in den Jahren 1895 und 1899 in einer bekannten und weit verbreiteten wissenschaftlichen Zeitschrift veröffentlicht.'] Wenn ') Die Form des Himmelsgewölbes. Von Wilhelm Filehne. Archiv für die gesamte Physiologie des Menschen und der Tiere. Herausgegeben von E. F. W. Pflüger, Bonn, 1895, Bd. 59, S. 279—306. — Über den Einfluß der Blick- richtung auf die scheinbare Größe der Gestirne und die schein- bare Form des Himmelsgewölbes. Von Oskar Zoth. Ebenda 1S99, Bd. 78, S. 363—401. daher V. Franz in Nr. 11 der Naturwissenschaft- lichen Wochenschrift meint, daß Fi 1 ebnes Er- klärung bisher übersehen worden sei, und wenn er ferner bedauert, daß diese nicht an fachwissen- schaftlicher Stelle, sondern in der Deutschen Revue vom Jahre 1912 veröffenthcht wurde, so entbehren beide Behauptungen der tatsächlichen Unterlage. Auch die zu Anfang wiedergegebene Be- merkung von V. Franz, daß die Tatsache der Abplattung des Wolkengewölbes noch gar nicht in Erwägung gezogen worden sei, dürfte durch die angeführten Sätze aus den Werken von H. Helmholtz und H. Wagner als widerlegt zu betrachten sein. Einzelberichte. Medizin. Vererbung von Thoraxanomalien und Neigung ju^ Tuberkulose. Der Infektion mit Tuberkuloseerregern sind viele Menschen aus- gesetzt, ohne daß sie tatsächlich erkranken. Die in der Pra.xis stehenden Ärzte können auch viel- fach beobachten, daß die Erkrankung an Tuber- kulose in einzelnen Familien häufig auftritt und oft tödlich verläuft; in anderen Familien dagegen kommt sie selten vor und nimmt sie gewöhnlich keinen schweren Verlauf. Es ist sehr wahrschein- lich, daß gewisse Körpermängel der Erkrankung Vorschub leisten, ganz besonders Thoraxanomalien. Im „Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie", Bd. 13, S. 10-31, zeigt Jens Paulsen, daß in der Tat in einer Anzahl von ihm beobachteter Familien Anomalien der Brustbildung vererbt wurden und daß ein erheblicher Teil der Träger solcher Anomalien an Tuberkulose erkrankt war. Damit stimmt die Erfahrung der Tierzüchter überein, daß man bei den sog. feinen Tieren, z. B. den hochgezüchteten Rinderrassen, ererbte und vererbbare Habitusveränderungen findet, die in mancher Beziehung dem Thorax asthenicus beim IVIenschen gleichen, und daß bekanntlich diese Rassen leicht der Tuberkulose zum Opfer fallen. Paulsen erwähnt ferner, daß die Lebens- versicherungsmedizin die schwache Entwicklung der Brust als Teilsymptom minderwertiger Leibes- bildung sehr hoch einschätzt. Bei Rundrücken und Thorax asthenicus konnte Paulsen feststellen, daß sie dominant ver- erbt werden; nur befallene Personen übertragen die Eigenschaft. Es müßte also eine langsa'ine Verschlechterung der Konsthution des ganzen Volkskörpers eintreten, wenn die Sterblichkeits- und Fortpflanzungshäufigkeit dieser Personen und der Normalen die gleichen wären. Der Über- handnähme der Thoraxanomalien wird jedoch höchstwahrscheinlich dadurch entgegengewirkt, daß die Behafteten gegen krankmachende Einflüsse, namentlich gegen Tuberkuloseerreger, erheblich weniger widerstandsfähig sind als die Normalen, so daß die Untüchtigen zu einem großen Teil vor der Fortpflanzung ausgemerzt werden. In diesem Zusammenhang ist auf die Erfahrung hin- zuweisen, daß in Tuberkulosenfamilien die Sterb- lichkeit der Kinder auch an anderen Krankheiten besonders groß ist. Es liegt die IVIöglichkeit vor, daß diese Personen eine besondere Häufung von ungünstigen Erbeinheiten besitzen und dadurch im Lebenskampf früher erliegen. Das würde vom rassenhygienischen Standpunkte eine Selbstheilung des Volkskörpers darstellen. Bemerkenswert ist, daß Thorax asthenicus bei der Geburt kaum zu beobachten ist. Er wurde deshalb manchmal als Folge in der Jugend über- standenerTuberkulose aufgefaßt. Mancherlei Gründe sprechen jedoch gegen diese Annahme und Paul- sen meint, es sei hierbei eher an Dominanz- wechsel zu denken, der bei Tieren ziemlich häufig vorkommt und beim Menschen ebenfalls schon nachgewiesen wurde. (Vgl. diesbezüglich Eugen Fischers „Die Rehobother Bastards", Jena 1913.) Dominanzwechsel der Nasenform und der Haarfarbe hat Paulsen In mehreren Fällen zweifelsfrei festgestellt; auch das Erscheinen des Habitus asthenicus in den Entwicklungsjahren könnte man sehr wohl als Dominanzwechsel auf- fassen. Normale wie pathologische Konstitutions- veränderungen sind durch die innere Sekretion verursacht. Wo diese gestört ist, finden wir eine veränderte Kon.stitution, die vielfach — wenn nicht stets — vererbbar ist. Das normale Zusammen- arbeiten der einzelnen Drüsen mit innerer Sekre- tion kann gestört werden durch all die Umstände, die wir unter dem Begriff der Domestikation zu- sammenfassen. Daher kommen viele gleiche Er- scheinungen bei Haustieren und Menschen. Eine äußere Beeinflussung der gestörten inneren Sekre- tion ist durch alle aus der Tuberkulosetherapie bekannten Heilfaktoren — wie Licht und Luft — möglich, die den Schäden der Domestikation ent- gegenwirken, eine innere durch Organtherapie. H. Fehlinger. N. F. XVIII. Nr. 29 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 411 Medizin. Die schon früher erwähnte gelbliche Verfärbung, namentlich der Gesichtshaut , bei Kindern (vgl. S. 333 dieses Jahrg.), wurde auch von anderen Kinderärzten gefunden. Im Gegen- satz zum echten Ikterus betraf sie jedoch nie die Augenbindehaut. Sie ist durchaus harmloser Natur, und verschwindet bei einem Wechsel des Regims in wenigen Tagen. Daß vielleicht auch eine photochemische Re- aktion dabei in Frage kommt, ist nach Beobach- tungen von Dr. Klose wahrscheinlich (Münch. Med. Wochenschrift Nr. 15, 1919). Dafür spräche, daß die Verfärbung an den stark belichteten Körperstellen, wie im Gesicht, zuerst und am stärksten auftritt; bei Säuglingen an der dem Fenster zugekehrten Seite. Kathariner. Geologie. „Zur Beurteilung des Baues des mittelböhmischen Falteng-ebirges" liefert F.Wähn er im 66. Band des Jahrbuches der Geolog. Reichs- anstalt in Wien einen wertvollen Beitrag. Der Verfasser geht aus von der allgemein üblichen Auffassung eines muldenförmigen Auf- baues des mittelböhmischen Paläozoikums. Diese Meinung ist in den tatsächlichen Verhältnissen auch insoweit begründet, als nur in der Mitte des Silur Devon-Gebietes die jüngsten Schichten, die Etage H Barrandes, noch heute erhalten geblieben sind. In dem nördlichen bzw. nordwestlichen Teil ist zudem das Einfallen der Schichten durchweg nach SO, in dem südlichen bzw. südöstlichen Teil nach NW gerichtet. Diese Beobachtungen haben Suess und nach ihm viele andere zu der Auf- fassung gebracht, daß es sich um einen in nord- östlicher Richtung sich erstreckenden grabenartigen Einbruch der fraglichen Schichtenfolge handelt. Es zeigte sich ferner, daß die Schichten innerhalb der Mulde von einer Reihe von Längsstörungen betroffen worden sind, welche die Mulde in eine Anzahl schmaler leistenförmiger Streifen auflösen. Die Natur dieser Längsstörungen ist vielfach un- klar geblieben, schon weil sie im Aufschluß selten zu beobachten sind und dazu meist in weichen nachgiebigen Schiefern verlaufen, welche die Er- kenntnis der tatsächlichen Verhältnisse sehr er- schweren. Andere wiederum folgen der Richtung von Tälern und entziehen sich damit der unmittel- baren Beobachtung. W ä h n e r zeigt an diesen Längsstörungen das allgemeine Gesetz an, daß von den durch sie ge- trennten Gebirgsteilen der innere, d. h. der Mulden- mitte nächst gelegene, gehoben, der äußere da- gegen gesenkt erscheint. Jeweils die von der Mitte aus am weitesten randlich gelegene Gebirgs- scholie hätte demnach eine Absenkung erfahren, sofern sich die Ansicht von der Natur dieser Störungen als einfache Längsbrüche als richtig erweist. Tektonisch würde dann die ganze Mulde mit größerer Berechtigung als Horst anzusehen sein. Diesem scheinbaren Widerspruch entgeht der Verfasser dadurch, daß er die erwähnten Länesstörungen nicht als Verwerfungen, sondern als Überschiebungen deutet, wozu ihn eine Reihe von Beobachtungen berechtigen. Daß in der Tat erhebliche tangentiale Gebirgs- bewegungen stattgefunden haben, wird an einer Reihe von Einzelerscheinungen dargelegt. Ver- fasser weist auf die Rutschstreifen hin, die auf Schichtflächen auftreten; sie erweisen eine Ver- schiebung parallel zur Schichtung, eine Ablösung einzelner Schichten und ganzer Schichtgruppen. Es werden Beispiele angeführt dafür, daß zwischen starren Schichtgruppen weniger starre sich ab- lösten und eine selbständige Faltung erfuhren, Vorgänge, für die von anderen Forschern die Be- zeichnungen ,, unharmonische", ,,diskordante" Fal- tung oder „Abscherungsfalten" gebraucht worden sind. Beobachtungen, die der Verfasser an Quer- brüchen gemacht hat, an denen sich häufig wieder- kehrend Rutschflächen parallel den Schichtfugen finden, veranlaßten ihn, Bewegungen anzunehmen, die er als „schichtenparallele Ouerverschiebung" bezeichnet. Dieser Fall liegt dann vor, wenn sich ein Schichtenpaket, das von zwei Querbrüchen begrenzt ist, vom Liegenden und möglicherweise auch vom Hangenden loslöst und längs der Ab- lösungsfläche auf der liegenden Schichtfolge hin- gleitet. In diesem Falle müssen jene schichten- parallelen Streifen entstehen. Auch die zahlreich auftretenden, oft dicht aufeinander folgenden Blatt- verschiebungen sind Beweise für eine tangential gerichtete Bewegung. Daß diese Biattverschie- bungen die großen Längsstörungen durchsetzen und verwerfen, ist ein Beweis für ihr jüngeres Alter; da sie indes spätestens im letzten Stadium des Faltungsvorganges selbst entstanden sein können, müssen auch die Längsbrüche während der Faltung entstanden sein. Das heißt aber, daß die Faltung die Ursache ihrer Entstehung ist. Für die eigentliche Natur der Längsstörungen als Überschiebungen führt der Verfasser dann noch unmittelbare Beobachtungen an diesen selbst an. So die mehrfach festgestellte Unterlagerung älterer Schichten durch jüngere. An dem Beispiel der bergbaulich gut aufgeschlossenen Przibramer Lettenkluft weist er hin auf die wellige Form der Störungsfläche, auf die bis 6 m mächtige Rei- bungsbreccie und andere Eigenschaften, welche die Natur der Störung als Überschiebung klar- stellen. Aus dieser Auffassung der Gebirgsstörungen ergeben sich auch für die Erklärung anderer Tat- sachen beachtenswerte Gesichtspunkte. Die viel erörterten „Kolonien'' Barrandes, die beispiels- weise im Lehrbuch von Kayser auf „grabenartige Schichtenversenkungen" zurückgeführt werden, werden hier entweder durch regelrechte Eiiifal- tung oder durch Faltenüberschiebung erklärt, je nachdem die aus den Graptolithenzonen der Ko- lonie zu erschließende Schichtenfolge eine sym- metrische Wiederholung oder eine einmalige Schichtfolge darstellt. In den mit der Faltung verknüpften größeren 4i: Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 29 Störungen sieht der Verfasser die Ursache des Auftretens der zahlreichen Diabas-Lagergänge. Er stellt sich vor, daß tiefreichende Sprünge dem Diabas-Magma die Wege bahnten, auf denen es dann nahe der Oberfläche in die durch Schicht- ablösungsflächen und Längsstörungen aufgelocker- ten Gesteine eindringen konnte. Zahlreiche Kon- taktwirkungen erweisen ja ein späteres Eindringen vieler Diabase in die Schichtgesteine. Als Zeit- punkt des Erscheinens der Diabase käme somit die Faltungszeit selbst in Betracht, die der Ver- fasser in die Zeit des Oberdevons bis Unterkarbons verlegt. Dem widerspricht es auch nicht, daß die Diabase vielfach mitgefaltet worden sind, da der Faltungsvorgang sich über längere Zeit er- streckt haben muß. Diese. Ergebnisse zwingen den Verfasser zur Annahme eines Bildes vom tektonischen Aufbau des behandelten Gebietes, das mit der herrschenden Meinung vielfach im Widerspruch steht. Danach haben in dem nordwestlichen Teilgebiet die ge- neigten Falten und Überschiebungsflächen ein süd- östliches Einfallen, in dem südöstlichen Teilgebiet dagegen ein nordwestliches Einfallen. Verfasser kommt also zur Erkenntnis eines vollkommen symmetrischen Baues des paläozoischen Falten- gebirges von Mittelböhmen, was mit der Lehre vom einseitigen Schub, nach welcher die Faltung auf aus südöstlicher Richtung wirkende tangen- tiale Kräfte zurückzuführen ist, in scharfem Wider- spruch steht. Es wird indes gezeigt, daß diese Lehre, die ihre Hauptverfechter unter den Alpen- geologen hat, durchaus nicht unwidersprochen geblieben ist, indem Verfasser sich besonders auf ähnliche symmetrische Verhältnisse im Aufbau der Ostalpen stützt, die in letzter Zeit von K o s s - mat und anderen eine der seinigen entgegen- kommende Deutung erfahren haben. Bekennt sich der Verfasser somit als ein Geg- ner extremer Deckenkonstruktionen, so betont er auch gleichzeitig die Unsicherheit die jeder Theorie über gebirgsbildende Kräfte und ihre Auswir- kungen innewohnen muß. In den aus den tat- sächlichen Beobachtungen über Bewegungsrich- tungen, über Art und Verlauf der Störungsflächen usw. zu gewinnenden Erkenntnissen sieht er die Aufgabe der tektonischen Geologie. W. Kegel. Einen Beitrag zur Kenntnis der mittelschwedi- schen Molybdänerzvorkommen gibt Sorg in der „Zeitschr. f. pr. Geolog." XXVII. 1919, S. 35 — 43. Die genannten Vorkommen liegen in dem Dreieck Filipstadt — Ludvika — Vestanfors, einem Gebiet, das von Högbom als das wegen seines Erzreich- tums bemerkenswerte „Granit-Leptitgebiet" be- zeichnet wird. In dem Leptithorizont treten die bekannten Rot- und Magneteisenvorkommen von Grängesberg, Norberg, Persberg, Dannemora u. a., die Mangangruben von Langban und Pajsberg, die Silbererze von Sala und die Kupfererze von Falun auf. Die Besichtigung einer Reihe von Molybdän- erzaufschlüsse ergab, daß zwei Arten des Vor- kommens zu verzeichnen sind. 1. gangförmige Vorkommen gebunden an alte tektonische Linien, 2. Granat-Skarnvorkommen mit gesetzloser und unregelmäßiger Verteilung der Erze im Gestein. Das einzige bisher beobachtete gangförmige Vorkommen stellt die Uddgrube bei Grängesberg dar. Die Gesteinsfolge in dieser Gegend ist fol- gende: 5. Rötlicher Biotit-Hornblendegneis. 4. Leptit mit Amphibolen (Eisenerzhorizont). 3. Roter Gneis. 2. Leptitischer Gneis mit Amphiboliten. I. Roter Gneis. In der unter Nr. 4 bezeichneten Stufe setzt das Vorkommen der Uddgrube auf. Die der- zeitigen Aufschlüsse bestehen aus einer Tiefbau- anlage von etwa 50 m streichender Länge und 50 m Tiefe. Das hangende und liegende Neben- gestein ist Leptit. Dieser wird von einem Quarz- gang von stellenweise bis zu 7 m Mächtigkeit durchsetzt. Das Liegende ist gegen den Gang scharf abgesetzt, während im Hangenden der Übergang an zahlreichen Stellen allmählich ver- läuft. Der Quarzgang selbst zeigt eine außer- ordentliche charakteristische, dem Liegenden parallel gerichtete , dünnschichtige Bänderung. Pneumatolytische Leitmineralien wurden bei makro- skopischer Beobachtung weder im Gang noch im Nebengestein gefunden. Der Quarz führt in kleinen und größeren Blättchen auf Schichtungsflächen, Klüftchen sowie unregelmäßig eingesprengt Molybdänglanz. Häufigeres Vorkommen von flüssigen Tropfen, oft auch festen, matten Perlen von Erdpech sind bemerkenswert. Mit fortschrei- tender Tiefe nimmt der MoS.,-Gehalt ab, von einem Gehalt von 1,25 % MoS._, in höheren Ni- veaus auf 0,95 "/o in der 34 m Sohle. Von der 34 m bis zur 49,2 mSohle schwankt er zwischen 0,67 und 0,78 %. Im südlichen Teile des Ganges schart sich mit dem Hauptgang ein i — 2 m mäch- tiger Nebengang von gleicher Beschafienheit. Das Molybdänvorkommen wird von einem Teil der Sachverständigen als pneumatolytische Bildung angesehen, von anderen als hydatogene. Da eine scharfe Grenze zwischen pneumatolytischer und hydatogener Entstehung in der Natur in vielen Fällen kaum gezogen werden kann, so dürfte bei der Uddgrube vielleicht ein Grenzfall der Pneu- matohydatogenesis vorliegen. Von den übrigen, weniger wichtigen und teil- weise nur mineralogisch interessierenden Vor- kommen seien hier nur noch die Sänkgrube süd- östlich Grängesberg, die Hörkengruben bei Station Hörken bei Grängesberg und die Vorkommen in und bei der Lejagrube bei Stoni erwähnt. Es sind fast sämtlich Granatskarnvorkommen. Das Vorkommen der Sänkgrube ist insofern noch von Interesse, als hier primärer Molybdänglanz in dem serarchäischen sog. „Endkullen Granit" vorkommt außer den im Pyroxenskarn eingesprengten Blatt- N. F. XVIII. Nr. 29 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 413 chen. Aus den beiden Schürfen der Lejagrube, in denen der Molybdänglanz regellos ohne Skarne im Leptit eingesprengt vorkommt, wurden bisher etwa 80 t Roherz mit durchschnittlich 0,26 7o MoSo gefördert. F. H. Zoologie. Physiologische Schwankungen des osmotischen Druckes von Daphnia. Während unter den Meerestieren im allgemeinen die Evertebraten und Selachier poikilosmotisch, die übrigen Wirbel- tiere aber mehr oder weniger homoiosmotisch sind, besteht bei Wirbellosen des Süßwassers durchaus nicht jene Gleichheit des osmotischen Druckes von Milieu Interieur und Milieu exterieur, sondern „Blut ist dicker als Wasser", und besonders bei Krebstieren ist der osmotische Druck des Blutes oft erstaunlich hoch, vermutlich durch dessen Koch- salzgehalt, der, bei Astacus 0,9 "/q betragend, höher ist als der des Teleostierblutes. Die Aufgabe des hohen Binnendruckes besteht, wie Fritzsche vermutet, wahrscheinlich darin, den eines Haut- muskelschlauchs entbehrenden Krebskörper straff zu halten, was namentlich für lange Ruderantennen, die sich beim Schlag nicht durchbiegen dürfen, und für die Sprengung der Schale beim Häutungs- vorgang einleuchtet. Eine umfangreiche Untersuchung von Fritz- sche,^) hauptsächlich an Daphnia magna, be- schäftigt sich nun sehr ausführlich mit einer bei Wirbellosen noch kaum je ernsthaft in Angriff genommenen, nur bei Wanderfischen schon be- handelten und hier mit dem Ergebnis einer An- passung, partiellen Angleichung, des inneren an den äußeren osmotischen Druck beantworteten Frage, nämlich mit den physiologischen Schwankungen des osmotischen Druckes. Es wurde hierzu den Tieren mit einer feinen Kapillare Blut entnommen und dessen Gefrierpunkt nach einer neuerdings von Drucker und Schreiner ausgearbeiteten Methodik bestimmt. Bekanntlich ist die Gefrierpunktserniedrigung von Lösungen ihrem osmotischen Druck und ungefähr ihrem Konzentrationsgrade proportional. Aus den Ergebnissen sei hervorgehoben, daß auch alle Daphniden einen mehr oder minder großen osmotischen Überdruck gegenüber dem umgebenden Wasser besitzen, der innerhalb weiterGrenzen schwankt, nämlich zwischen einer Gefrierpunktserniedrigung um 0,20 — 0,67" C, Werte, die noch nicht I "Z,, Salzkonzentration ent- sprechen. Innerhalb dieser Grenzen ist der osmo- tische Druck des Daphnidenblutes in erster Linie vom Ernährungszustande abhängig, indem hungernde und schlecht ernährte Tiere einen ge- ringeren Binnendruck haben als gut ernährte, und er sich bei guter Ernährung steigert. Wahrschein- M H. Fritzsche, Studien über Schwankungen des os- motischen Druckes der Körperflüssigkeit von Daphnia magna. Internationale Revue der gesamten Hydrobiologie und Hydro- graphie, Band VIII, Heft I , Seite 22 bis 80 und Heft 2, Seite 125 bis 194. lieh infolge gestörter Assimilationsverhältnisse sinkt der Druck ferner sowohl bei sehr hohen Tem- peraturen, wie 16 — 20" C, als auch bei sehr niedrigen, bei denen immerhin gute Ernährung den Druck erhöht. Eine Frage für sich ist die nach dem os- motischen Binnendruck in verändertem Milieu exterieur, die auch bei Süßwassertieren öko- logische Bedeutung hat. Ist es doch erst neu- lich Steinke gelungen, Ostseegarnelen an Süß- wasser anzupassen , während an Flußmündungen ständig namentlich die ins Meer gespülten Plankton- organismen vor die Frage der Anpassung gestellt werden. Ferner konnten nach Paul Bert Daph- niden sich langsam an 1,3 "/,, Salzgehalt dermaßen anpassen, daß sie nach Rückbringung ins Süß- wasser starben und bei einem in 45 Tagen er- reichten Salzgehalt von 1,5 °/|,, wo solche bis da- hin angepaßte Tiere gleichfalls zugrunde gingen, noch den Eiern im Brutraum eine sich gut ent- wickelnde Daphnidengeneration entschlüpfte. Auch die bekannten Ergebnisse an Artemia und Bran- chipus schlagen hier ein, daß Artemia in Süßwasser branchipusähnlich wird und umgekehrt. Endlich sei nach Fritzsche erwähnt, daß die Teich- muschel Anodonta sich an Meerwasser unter Salz- aufnahme von außen anzupassen vermag. Fritz- sche fand nun bei Daphniden, die er in Koch- salzlösungen oder verdünntes Seewasser brachte, daß mit steigender Außenkonzeniration auch der Binnendruck auffallend rasch stieg und ein Überdruck immer erhalten blieb. So wurden Tiere bis an Salzgehalte von etwa 0,4 "/q, was reichlich ^/jq der Konzentration des Ozean- wassers ist, gewöhnt. Bei den höchsten Konzen- trationen war allerdings der Überdruck nur noch verschwindend gering, der Organismus ist hier offenbar an der Grenze seiner Leistungsfähigkeit. Es zeigte sich übrigens, daß die Tiere in den schwächeren Lösungen besser wuchsen als in den stärkeren, was der Verfasser auf unmittelbare Wirkung des größeren oder geringeren osmoti- schen Überdrucks zurückführen möchte, zumal schon Woltereck die verschiedene Höhe des Helmes bei Daphniden, wie sie bei verschieden guter Ernährung resultiert, auf Schwankungen des Binnendruckes zurückführte, da eine bloße Material- verringerung bei der Helmverkürzung, wie ver- dickte Zellen beweisen, keineswegs vorliegt. Daß überhaupt der Überdruck sich zu erhalten, also der Binnendruck nach Erreichung der Isotonie mit dem Außendruck sich noch zu erhöhen ver- mag, erklärt der Verfasser vermutungsweise durch die Aufnahme von Salzen seitens des Organismus. Jedenfalls steht hiernach soviel fest, daß die An- passung nicht „rein physikalisch" im Sinne von e i n fa c h - physikalisch abläuft, sondern auf Fähig- keiten, die dem Organismus innewohnen, beruht, mithin mit Recht von einer „Anpassung" im Sinne einer „direkten" Anpassung gesprochen wird. Sehen wir nun bei diesen Anpassungsversuchen an Daphnia nicht ganz klar, inwieweit die be- 414 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 29 schriebenen Vorgänge, die übrigens ihre Grenze auch in der Schnelligkeit und Plötzlichkeit der Wasserveränderung finden, im Freileben vor- kommen mögen, so ist das um so mehr wieder bei den Druckunterschieden je nach Alter der Fall ; junge Tiere haben einen höheren Binnen- druck als alte, besonders als sehr alte; der Druck sinkt im allgemeinen proportional der Eiproduk- tion. Offenbar treten allmählich immer mehr Nährstoffe, die den Blutdruck hochgehalten hatten, in die Eier über, und vermutlich wird nach jeder Eiablage eine vorübergehende Erhöhung des Drucks eintreten. Längere Parthenogenese bringt gleichfalls bei gleichen Ernährungsverhältnissen den Binnendruck zum Sinken. Tiere mit Ephip- pium — gemeinsame etwa muschelförmige Hülle der wenigen großen Wintereier, später samt diesen frei schwimmend — haben dagegen durchschnitt- lich einen hohen osmotischen Druck. Somit wird bei den Wintereiern vermutlich die Binnen- flüssigkeit nur wenig zur Eibildung beitragen, und es scheint hier eine Art Regulation vorzu- liegen, denn in der Regel werden — aus öko- logischen Gründen leicht verständlich — Ephip- pien und Wintereier gebildet, wenn das Tier schlecht ernährt ist, viele Eiwürfe oder partheno- genetische Generationen hinter sich hat oder durch abnorme Temperatur geschädigt ist, in welchen sämtlichen Fällen ja der Binnendruck sich als niedrig erwiesen hatte. Von der Zukunft erhofft Fritzsche die Fest- stellung enger Beziehungen zwischen Osmotik und Wachstum, wie solche schon Loeb bei Tubularia erörterte und man sie bei Pflanzen mit besten Gründen allgemein annimmt. V. Franz, Jena. „Neurobiotaxis" nennt C. U. Ariens Kappers seit 1907 in zahlreichen Arbeiten über verglei- chende Hirnanatomie der Wirbeltiere das von Tier- art zu Tierart oder meist vielmehr von Ordnung zu Ordnung und Klasse zu Klasse feststellbare Auswachsen der Hauptdendriten und besonders die Verlagerung des Ganglienzelleibes in der Richtung „der maximalen Reizladung". Einer umfangreichen Arbeit von C. I. van der Horst'), einem Schüler Kappers', seien einige Beispiele dafür entnommen. Der Kern des Nervus oculo- motorius liegt bei fast allen Wirbeltieren, so auch den meisten ^"ischordnungen, nahe am oder gar im „dorsalen Längsbündel," welches dem die Augen bewegenden Nerven Seh- und statische Reize zuführt und damit die „Bulbostatik," die bekannten, den Körperbewegungen entgegengehenden Augen- bewegungen reguliert. Nur bei Knochenfischen ist das dorsale Längsbündel geringer entwickelt, andere Bahnen dagegen stärker; demgemäß er- scheint bei ihnen der Okulomotoriuskern näher an diese anderen Bahnen heran verlagert. Aus ') C. I. van der Horst: Die motorischen Kerne und Bahnen in dem Gehirn der Fische, ihr taxonomischer Wert und ihre ncurobioiaktische Bedeutung. Tijdschr. d. Ned. Dierk. Vereen. (2j Dl. XVI, Aufl. 2, S. 1682—70, 21 Tafeln. ähnlichen Gründen bemerkt man eine Verlagerung desTrochleariskerns, wenn man vonPetromyxon über Ganoiden zu den Amphibien fortschreitet; oder der Trigeminuskern verlegt sich z. B. bei Teleo- stiern veutralwärts nach einer bestimmten Ge- schmacksbahn hin, und zwar um so mehr, je stärker diese und der Geschmackssinn, wie nament- lich bei Cypriniden und Siluriden, ausgebildet ist. Der eigenartige Anglerfisch, Lophius, dessen Rücken- flossenstacheln zu einzeln beweglichen Lock- angeln umgebildet sind, zeigt eine partielle Ver- lagerung des motorischen Facialiskerns, von dem die Kieferbewegung abhängt, nach dem ersten sensiblen Rückenmarksnervenkern hin. Solcher Beispiele finden sich noch viele, ja es wird mit Recht für möglich gehalten, die ganze vergleichende Anatomie der Medulla oblongata und schließlich überhaupt des Nervensystems einschließlich des Gehirns in dieser Weise zu erklären. Gewagt erscheint es jedoch, dieses „Wandern" der Zellen in der dem „Reizstrom" entgegengesetzten Rich- tung als einen „taktischen" Vorgang im Sinne der Reizphysiologie aufzufassen, wie es schon der Ausdruck „Neurobiotaxis" ausdrückt und van der Horst diese Auffassung ausführlich begründen zu können meint: es liege eine Art Galvano- tropismus vor, die Reizquelle wirke als Kathode und treibe den an Kalium und Chlor reichen Achsen- cylinder in stimulokonkurrenter Richtung, den an Nukleinsäuren reichen Dendriten nebst Zell- leib in stimulopetaler. Ontogenetisch hat ja noch niemand diese „Wanderung" gesehen. Auch kennen wir jene Kathodenwirkung nicht vom un- verletzten Nerven. Dagegen sind jene Kernver- lagerungen offenbar wie die ganze Zentralisation des Nervensystems bei Tieren mit mehr oder weniger örtlich vereinigten Sinnesorganen zweck- mäßig zur Material- und zwar Faserersparnis, sie sind also ebenso leicht selektionistisch und ebenso schwer physikalisch-chemisch zu erklären wie sonst zweckmäßige Gestaltungen. V. Franz, Jena. Physik. P. D e by e untersucht nach der von ihm und Scherrer angegebenen Methode mittels Platin- Röntgenstrahlung die Atomanordnung des Wolfram (Phys. Zeitschr. KVIlFugi;) S. 483). Da das Wolfram (Dichte 19, Atomgewicht 184) die ver- hältnismäßig langwellige Platinstrahlung ziemlich stark absorbiert, so war zu erwarten, daß nur eine ganz dünne Oberflächenschicht (ca. Vino.i mm) des aus dem Wolframpulver gepreßten Stäbchens die auffallende Strahlung reflektieren und daß deshalb die auf dem Film abgebildeten Linien sehr schwach werden würden. Doch tritt das nicht ein; viel- mehr zeigen sich kräftige Interferenzlinien bis zu einem Winkel von nahezu 180" gegen die Rich- tung des einfallenden Strahls. Die Auswertung der Versuche ergibt, daß Wolfram kubisch kristallisiert; sein Elementarbereich ist ein raum- zentrierter Würfel, dessen Kante 3,18. io~9 cm lang ist. K. Seh. 1) Vgl. Naturw. Wochenschr. N. F. .XVI (1917) S. 52S. N. F. XVIII. Nr. 29 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 41S Bücherbesprechungen. Weyl, H., Raum, Zeit, Materie. Vorlesungen über allgemeine Relativitätstheorie. 234 Seiten mit 13 Textfiguren. Berlin 19 18, I. Springer. Geh. 14 M. Während die bisherigen Versuche einer mehr oder weniger elementaren Einführung in die all- gemeine Relativitätstheorie sich alle darauf be- schränken, einen ersten Einblick in vornehmlich qualitativer Hinsicht zu bieten, sucht die vor- liegende Veröffentlichung tiefer einzudringen und dem Leser ein volles Verständnis für den gesamten Reichtum der neuen Gedankenwelt zu vermitteln. Sie behandelt zu diesem Zweck in systematischer Darstellung von Grund auf die Entwicklung des Zeit- und Raumbegriffs und schließt daran in höchst durchsichtiger Weise die Begründung der unentbehrlichen mathematischen Arbeitsmethoden, insbesondere des Tensorkalküls an, durch den allein die in Frage stehenden physikalischen Er- kenntnisse ihren naturgemäßen Ausdruck finden. Das I. Kapitel bespricht eingehend den Eu- klidischen Raum, seine mathematische Formu- lierung und seine Rolle in der Physik. Das II. Kapitel gibt einen Bericht über die Aussagen der Nicht-Euklidischen Geometrie, d. i. über den Aufbau eines geometrischen Systems, das zu seinen logischen Grundlagen die sämtlichen Axiome Euklids mit Ausnahme des Parallelenpostulats an- nimmt und seine bedeutsamste Entwicklung im Riemannschen Raumbegriff gefunden hat. Darauf wird im III. Kapitel das wichtige Problem der Verkoppelung von Raum und Zeit, wie sie von der Relativitätstheorie gefordert wird, auf Grund spezieller Betrachtung der Erkenntnisse der Mechanik und der übrigen Physik erörtert und gezeigt, daß der Schauplatz der Wirklichkeit nicht ein drei- dimensionaler Euklidischer Raum ist, sondern die vierdimensionale Welt, in der Raum und Zeit un- löslich miteinander verbunden sind. Im IV. Kapitel führt schließlich der Aufbau der entwickelten Gedankengänge zur Formulierung der Einsteinschen allgemeinen Relativitätstheorie und der in ihr ent- haltenen Theorie der Gravitation. Wenn die Kenntnis dieser Theorie sich künftig mehr als bisher verbreitet, so wird dies zweifellos mit ein Verdienst der vorliegenden Voröffentlichung sein. Wer die mathematischen Voraussetzungen der Theorie bereits erfüllt, oder wer sich dieselben auf möglichst zugänglichem Wege erst erwerben will, sei angelegentlichst auf die vortreffliche Dar- stellung hingewiesen. A. Becker. Cohn, E., Physikalisches über Raum Zeit. 3. Auflage. 31 Seiten. Leipzig Berlin 1918, B. G. Teubner. Geh. 2,20 M, Brill, A., Das Relativitätsprinzip. Einführung in die Theorie. 3. Auflage. Seiten mit 6 Figuren im Text. Leipzig Berlin 191 8, B. G. Teubner. Geh. 3,60 M. Unter den kürzeren Darstellungen des grund- und und Eine 49 und legenden Gedankeninhalts der Relativitätstheorie sind die als 2. und 3. Heft der „Abhandlungen und Vorträge aus dem Gebiete der Mathematik, Naturwissenschaft und Technik" bereits in 3. Auflage erscheinenden vorliegenden Schriften besonders empfehlend hervorzuheben. Der Entstehungszeit ihrer i. Auflage gemäß beschäftigen sich beide in der Hauptsache mit der speziellen Relativitäts- theorie, soweit sie im Jahre 1905 von Einstein festgelegt worden ist. Die erste Schrift wendet sich an einen weiteren Leserkreis, den sie zweifellos in vortrefflicher Weise durch die durch konkrete Beispiele und ein besonderes Modell gesteigerte Anschaulichkeit der Betrachtung über den Sinn und die Konse- quenzen des Relativitätsprinzips zu orientieren vermag. Die zweite Schrift will den Leser mit der mathematischen Formulierung des Prinzips vertraut machen; sie muß dementsprechend mathematische Vorkenntnise voraussetzen. Wer diese Voraus- setzungen erfüllt, wird die Durchsichtigkeit, mit der Verf. im Anschluß an die Betrachtung des Galilei-NewtonschenRelativiiätsprinzipsderMechanik die erweiterte relativistische Kinematik und Dynamik des materiellen Punktes behandelt, mit hoher Be- friedigung empfinden. Um dem Leser auch einen ersten Einblick in die Grundlagen der von Ein- stein im Jahre 191 5 veröffentlichten allgemeinen Relativitätstheorie, insbesondere seiner Theorie der Gravitation, zu ermöglichen , ist der Schrift ein kurzer Bericht über die entsprechende Einsieinsche Untersuchung angefügt. A. Becker. Hoche, Prof Dr. A., VomSterben. Jena 1919, G. Fischer. 1,50 M. In diesem am 6. November 191 8 in der Uni- versität Freiburg i. Br. gehaltenen Kriegsvortrag behandelt der Redner das Sterben vom Stand- punkte des Arztes und Naturforschers aus. Er berührt kurz die biologische Seite des Problems des Todes, verweilt mit einigen fesselnden Über- legungen bei der Rolle, die Geburt und Tod inner- halb des Gesamtbestandes der Menschheit auf der Erde spielen, wobei er auch die außerordentlichen Katastrophen heranzieht, und geht dann auf die eigentlich medizinische Seite ein, indem er fragt: wie stirbt der Mensch ? kämpft er im Tode ? was erlebt er im Tode? welche Aufgabe fällt dem Arzt zu? Ausführlicher behandelt er zum Schluß das Verhältnis, das der einzelne innerlich zum Tode hat. Der Vortrag ist ausgezeichnet durch eine schöne, der Würde des Gegenstandes angemessene Form, durch geistvolle Bemerkungen und Ausblicke, wertvoll auch dadurch, daß er eingewurzelte falsche Vorstellungen über den Tod widerlegt oder auf das richtige Maß zurückführt. „Im Durchschnitt, sagt Hoche, sterben die Menschen viel anständiger, als sie es sich selber zugetraut hätten. Wer verstanden hat, zu leben, 4i6 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 29 wird auch zu sterben wissen." Auch die Schlußworte seien hier wiedergegeben : „Eins predigt mit höchster Eindringlichkeit das Sterben unserer Söhne draußen, daß es nicht auf die Lebensdauer, sondern nur auf den Lebensinhalt ankommt. Ein recht verbrachtes Leben trägt seinen Wert in sich, auch wenn es kurz war. Wir wissen oder wir könnten wenigstens wissen, daß am einzelnen, an dir, an mir gar nichts liegt. Wir sind Glieder einer langen Kette, die von einem Dunkel in das andere Dunkel reicht; wir wissen nicht, woher; nicht wohin. Das braucht uns keine Betrübnis zu bereiten. Vom Druck des Todes befreit sich, wer jeden Tag so lebt, als wäre er der letzte." Miehe. unserer Kenntnisse von der Chemie der radio- aktiven Stoffe zur Lektüre empfohlen werden. Berlin-Dahlem. Werner Mecklenburg. Henrich, Ferdinand, Chemie und chemi- sche Technologie radioaktiver Stoffe. VIII u. 351 Seiten mit 57 Abbildungen im Text und einer Übersichtstafel. Berlin 1918, Verlag von Julius Springer. Preis geh. 15 M., geb. 17,60 M. Der Verf des vorliegenden Werkes, der als außerordentlicher Professer für Chemie an der Universität Erlangen tätig ist, hat nicht nur selbst eine Reihe interessanter Arbeiten über Fragen der Radioaktivität veröffentlicht, sondern ist be- sonders in chemischen Kreisen auch als gewissen- hafter Berichterstatter über neuere Fortschritte auf diesem Gebiete bekannt. Diese doppelte Tätigkeit als F"orscher und als Referent ist dem neuen Buche , in dem die Lehre von den radio- aktiven Stoffen im wesentlichen vom Standpunkte des Chemikers aus und für den Chemiker darge- stellt wird, zugute gekommen. In klarer, leicht verständlicher Form werden zunächst die allge- meinen physikalischen Grundlagen des Gebietes sowie die wichtigsten Verfahren zur Messung radioaktiver Vorgänge behandelt, und daran schließt sich dann eine eingehende Besprechung der Chemie und der chemischen Technologie der Radioelemente. Die Darstellung ist — von einigen unwichtigeren Einzelheiten abgesehen — einwandfrei, und so kann das Buch allen denen, die einen tieferen Einblick in den Gegenstand gewinnen wollen, insbesondere auch ernsten Freun- den der Naturwissenschaft als zuverlässige und ohne besondere physikalische Vorkenntnisse ver- ständliche Übersicht über den gegenwärtigen Stand Loesener, Prof. Dr. Th., Prodrom us Florae Tsingtauensis. Die Pflanzenwelt des Kiaut- schou- Gebietes. Mit 10 Tafeln. Dresden, C. Heinrich. 9 M. Der Verfasser hat, unterstützt durch mehrere Systematiker, den Versuch unternommen, auf Grund der den Botanischen Museen in Dahlem und Ham- burg zugegangenen Pflanzensammlungen und unter Benutzung der bereits vorliegenden Bearbeitungen ein Bild von der Vegetation des deutschen Pacht- gebietes zu entwerfen. Den Hauptteil bildet die systematische Aufzählung der bis jetzt bekannt gewordenen Gewächse mit Standorts- und Sammler- angaben. Sie ist naturgemäß nur für den Fach mann von Bedeutung. Dagegen sind die ein- leitenden Kapitel von allgemeinem Interesse. Der Verfasser schildert hier in versländlicher Form einmal den Charakter des Pflanzenwuchses und dann die im Schutzgebiet angebauten Nutzpflanzen, d. h. die Obstarten, die Futterpflanzen, die Ge- treidearten, die Zierpflanzen, die Medizinal- und Giftpflanzen, die Faserpflanzen und Nutzhölzer usw. Das Büchlein gibt einen Überblick über alles das, was auf botanischem Gebiete in wissenschaft- licher und praktischer Hinsicht unter der deutschen Schutzherrschaft geleistet worden ist und darf sich mit Recht als kulturhistorisches Dokument aus der deutschen Verwaltungszeit bezeichnen. Miehe. Literatur. Zittel, Grundzüge der Paläontologie (Paläozoologie). Neu bearbeitet von F. Broili und M.Schlosser. 2. Abteilung; Vertebrata. 3. Aufl. Mit 769 Textabbildungen. München und Berlin 1918, R. Oldenbourg. Lippmann, Prof. Dr. E. v., Entstehung und Ausbreitung der Alcheraie. Mit einem Anhang : Zur älteren Geschichte der Metalle. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte. Berlin 1919, J. Springer. 36 M. Ostwald, Prof. Dr. Wo., Die Welt der vernachlässigten Dimensionen. Eine Einführung in die moderne Kolloidchemie mit besonderer Berücksichtigung ihrer Anwendungen. 3. Aufl. Dresden und Leipzig 1919, Th. Steinkopff. 9 M. Klinkowstroem, Graf Carl von, Neues von der Wünschelrute. Theoretisches und Kritisches. 2. verbesserte Aufl. Berlin 1919, Fr. Zillessen. Henseling, R. , iternbüchlein 1919. Mit einer zwei- farbigen Planetentafel und 29 Bildern. Stuttgart, Frankhsche Verlagshandlung. 1,60 M. luball: M. Schips, Die Idee vom Typus und ihre Bedeutung für Morphologie und Systematik. S. 401. Karl SneU, Die Vermehrung der Kartoffel. S. 407. Otto Baschin, Die scheinbare Gestalt des Himmelskörpers. S. 408. — £inzelbencbte : Jens Paulsen, Vererbung von Thora-xanomalien und Neigung zu Tuberkulose. S. 410. Klose, Gelbliche Verfärbung, namentlich der Gisichlshaut, bei Kndern. S. 411. F. Wähner, Zur Beurteilung des Baues des mittelböhmischen Faltengebirges. S. 411. Sorg, Beitrag zur Kenntnis der mittelschwedischen Molybdänerzvorkom- men. S. 412. Fritzsche, Physiologische Schwankungen des osmotischen Druckes von Daphnia. S. 413. C. U. Ariens Kappers, Neurobiotaxis. S. 414. P. Debye, Atomanordnung des Wolfram. S. 414. — Bücher- besprechungen: H, Weyl, Raum, Zeit, Materie. S. 415. E. Cohn, Physikalisches über Raum und Zeit. S. 415. A. Brill, Das Relativitätsprinzip. S. 415. A. II o c h e , Vom Sterben. S. 415. Ferdinand Henrich, Chemie und chemische Technologie radioaktiver Stoffe S. 416. Th. Loesener, Prodromus Florae Tsingtauensis. S. 416. — Literatur: Liste. S. 416. Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, InvalidenstraBc 41, erbeten. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck der G. Pätz'schcn Buchdr. Lippert & Co. G.m.b.H., Naumburg a. d. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue Folge 18. Band; der ganzen Reihe 34. Band. Sonntag, den 27. Juli 1919. Nummer 30. Grabrede auf Simon Schwendener am 2. Juni 1919 auf dem alten Matthäi-Kirchhof zu Berlin gehalten [Nachdruck verboten.] von G. Haberlandt. Wenn ich im Namen der Universität und Seiner Magnifizenz des Herrn Rektors, sowie im Namen der Akademie der Wissenschaften unserem ent- schlafenen Nestor die letzten Abschiedsworte widme, so darf ich anknüpfen an die Worte, die Goethe am 13. Februar 1829 zu Eckermann gesprochen hat, drei Tage nach der Geburt des großen Forschers, dessen irdische Hülle wir heute dem Schoß der Erde anvertrauen. „Ich werde, sprach Goethe, nach Beendigung der ^A^anderjahre mich wieder zur Botanik wenden. ... Große Geheimnisse liegen noch verborgen, manches weiß ich, von vielem habe ich eine Ahnung." Auch Simon Schwendeners Forscher- arbeit umspannen diese kurzen, vielsagenden Sätze. Um den Geheimnissen des Pflanzenlebens nach- zuspüren, schmiedete er sich mit eiserner Willens- kraft das methodische Rüstzeug für seine wissen- schaftliche Tätigkeit. Vor allem hat er die Theorie des Mikroskops auf neue Grundlagen gestellt und die Eigenart und Grenzen seiner Leistungsfähig- keit klarer erkannt als alle Biologen, die vor ihm mikroskopiert haben. So vorbereitet ging er an seine mühevollen Flechtenuntersuchungen, die ihren Abschluß vor genau einem halben Jahrhundert in der Begründung der modernen Flechtentheorie fanden: Pilz und Alge setzen den Flechtenkörper zusammen. Diese den Lichenologen so gänzlich unerwartete Analyse war eine ebenso kühne wie fruchtbare wissenschaftliche Tat. Die Erscheinung der Symbiose tauchte vor den staunenden Blicken der Biologen auf und reihte von nun an Problem an Problem. Das zweite methodische Forschungsmittel Schwendeners war seine ungewöhnlich ver- tiefte mathematisch-physikalische Bildung. Mit be- sonderer Vorliebe hat er sich deshalb solchen Aufgaben der allgemeinen Botanik zugewandt, die vom Standpunkte der Mechanik aus zu lösen waren oder wenigstens lösbar erschienen. Die Entdeckung des mechanischen Gewebesystems, des Skeletts der Pflanzen war die erste und schönste Frucht dieser Bemühungen. Dabei war es erstaunlich und ein untrügliches Kennzeichen seiner genialen Begabung, daß die Art seiner mechanistischen Betrachtungsweise den lebendigen Organismus nicht tötete und gleichsam entseelte, sondern ihn nur noch lebensvoller und mit unergründlicher Mannigfaltigkeit ausgestattet erscheinen ließ. So durfte er mit Goethe stolz und bescheiden zugleich von sich sagen: „Manches weiß ich" — und von der Fülle seines Wissens hat er dann ein volles Menschenalter hindurch an unserer Universität seinen Schülern gespendet und sich als echter akademischer Lehrer im wissenschaft- lichen Gespräch mit seinen jungen Freunden immer nur als ein Lernender zwischen den Lernenden gefühlt und gegeben. In seltener Weise wußte er Schärfe des Urteils mit Nachsicht und Milde zu paaren und so wie er deshalb der akademischen Jugend stets ein geliebter Meister war, so war er seinen Kollegen in Fakultät, Senat und Akademie seines edlen Freimuts und seiner unbeirrbaren Sachlichkeit halber ein allverehrter Freund und Berater. Im letzten Jahrzehnt seines Lebens ist der Entschlafene freilich ein einsamer Mann geworden, — auch innerlich einsam, weil losgelöst von den wissenschaftlichen Bestrebungen der Gegenwart. Das Goethesche Schlußwort: „Von vielem habe ich eine Ahnung" mußte für den Vereinsamten der Ausdruck doppelt empfundener Resignation werden, denn er hat es erlebt, daß die streng mechanistische Erklärung der Lebensvorgänge zu- weilen gerade dort auf unüberwindliche Schwierig- keiten stößt, wo sie scheinbar die größten Triumphe erwarten darf. Doch hatte diese Resignation nichts Schmerzliches für ihn. Denn nichts war seinem Wesen fremder als die Klage. So wie er gleichmütig war gegenüber den Beschwerden des Alters, so nahm er es auch mit philosophischer Ruhe hin, daß uns gegenüber den letzten Ge- heimnissen des organischen Lebens wohl immer nur ein leises Ahnen gegönnt sein wird. Nun ist er für immer von uns gegangen und schläft den letzten Schlaf, den er sich nicht er- sehnt, aber gelassen erwartet hat. Wir aber nehmen das Bild des teuren Toten als licht- strahlende Erinnerung hinüber in die Not und Bitternis der deutschen Zukunft. 415 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVni. Nr. 30 Zur Entstehung der Kulturgüter uud Sitten der Menschheit. Ein Problem der ethnologischen und kulturarchäologischen Forschung. [Nachdruck verboten.] Von H. Mötefindt, Wernigerode. I. Bereits die Philosophen des Altertums haben die Frage nach der Entstehung der Kulturgüter und Sitten der Menschheit aufgeworfen; seitdem ist dieses Problem nie wieder zur Ruhe gekommen. Die erleuchtetsten Köpfe von zwei und einem halben Jahrtausend haben sich an diesem Problem den Kopf zerbrochen. Es gibt wenige Gebiete, über die auch nur annähernd soviel nachgedacht und geschrieben worden ist, wie über dieses. Die Arbeit all dieser Forschergenerationen ist nicht nutzlos gewesen. Wenn wir auf sie zurückblicken, so können wir stolz erkennen, wie wir doch schon ein gut Stück in unserer wissenschaftlichen Er- kenntnis weiter gekommen sind. Die frühere Forschung hat bei ihrer Beschäf- tigung mit diesem Problem lediglich zu ermitteln versucht, wie wohl dieses oder jenes Kulturgut oder Sitte vom Menschen entdeckt und nutzbar gemacht worden sei. Sie hat damit lediglich all die Fragen im Auge gehabt, die ich als die ge- netische Seite dieses Problems bezeichnen möchte. Gewiß steht dieser Gesichtspunkt auch noch heute im Brennpunkt jeder entwicklungsgeschichtlichen Forschung. Aber neben diesen Gesichtspunkt ist ein zweiter getreten, den ich im Gegensatz zu dem genetischen als den geschichtlichen Gesichtspunkt bezeichnen möchte. Einem jeden, der auf irgendeinem Gebiete ver- gleichende Forschung treibt, drängt sich fort- während die Frage auf, ob die Übereinstimmung zweier Lebensformen auf genetischen Zusammen- hang, d. h. auf Abstammung aus gemeinsamer Wurzel, oder getrennte Entwicklung aus gleich- artigen Vorbedingungen zurückzuführen sei. So sind auch die Forscher, die sich mit dem Problem der Entstehung der menschlichen Kulturgüter und Sitten beschäftigt haben, zu der Frage gekommen, ob dieser materielle oder geistige Besitz an einer oder an mehreren Stellen von Menschen erworben ist, und wie die allmähliche Verbreitung dieses Besitzes von der bzw. den betreffenden Stellen aus weiter vor sich gegangen ist. Diese Entdeckung der geschichtlichen Seite des Problems der Entstehung des menschlichen Kulturbesitzes erfolgte erst Ende der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts durch Adolf Bastian. Der durch Bastian verkündeten Lehre von den allgemeinen Menschheits- und Völker- gedanken trat etwa ein Jahrzehnt später Friedrich Ratzel mit seiner Entiehnungstheorie entgegen. Zwischen beiden F'orschern entspann sich eine lebhafte Kontroverse, an der sehr bald die weitesten Kreise Anteil nahmen. 2. Bastian war bei seinen völkerkundlichen Forschungen immer und immer wieder auf die Tatsache gestoßen, daß wir nicht selten bei ver- schiedenen Menschengruppen übereinstim- mende Errungenschaften geistiger oder mate- rieller Art vorfinden, obwohl die räumliche Trennung dieser Gruppen jede gegenseitige Be- einflussung von vornherein auszuschließen scheint. In seiner späteren grundlegenden Schrift „Der Völkergedanke im Aufbau einer Wissenschaft vom Menschen" (Berlin 18S1) schildert er S. 176 den Gedankengang, der ihn zu der Formulierung des neuen Begriffes , .Elementargedanken" ge- langen läßt, in nachstehender Weise: „Als mit dem Beginn ernstlicher Forschung in der Ethno- logie das darin angesammelte Material sich zu mehren begann, als es wuchs und wuchs, wurde die Aufmerksamkeit ..bald gefesselt durch die Gleichartigkeit und Übereinstimmung der Vor- stellungen, wie sie aus den verschiedensten Gegenden sich untereinander deckten, unter ihren lokalen Variationen. . . . Anfangs war man noch geneigt, von Zufall zu sprechen, aber ein stets sich wiederholender Zufall negiert sich selbst." Der weiteren Ausführung und Begründung dieses Satzes von „gleichartigen Menschheits- gedankens", wie es dort weiter heißt (S. 177), hat Bastian zahlreiche Bücher, Abhandlungen und Aufsätze gewidmet. Bastian hat aber, was seine begeisterten Verehrer am meisten bedauern, seinen zahlreichen Büchern und Schriften eine das Eindringen in deren reichen Inhalt nicht eben erleichternde Einkleidung verliehen, so daß mehr als eines derselben den Leser wohl etwas recht sibyllinisch anmuten mag. Dazu kommt dann noch der Umstand, daß Bastian selber im Laufe seiner jahrzehntelangen Forschungen zu einer immer weiteren Vertiefung seiner Gedankengänge geführt wurde und dadurch allmählich Anschau- ungen herausbildete, die über die früher geäußerten beträchtlich hinausgingen und dementsprechend von ihnen abwichen. Man kann deshalb Bastian nur verstehen, wenn man die Entwicklung seiner Gedankengänge historisch verfolgt, gewissermaßen von neuem nachdenkt. Nun hat aber Bastian im Laufe seines schaffensreichen Lebens derart zahlreiche Arbeiten veröffentlicht, daß es keine leichte Aufgabe ist, sich durch den ganzen Berg der in Frage kommenden Schriften hindurch zu arbeiten — vor allen Dingen, wenn man den umstand seiner Schwerlesbarkeit berücksichtigt. Diese beiden ein Eindringen in die Basti an- sehen Arbeiten erschwerenden Umstände haben es mit sich geführt, daß vor wenigen Jahren ein junger Ethnologe eine Dissertation über das Thema „Elementargedanke und Übertragungstheorie in der Völkerkunde" schrieb, ') in der er deutlich be- ') Dissertation von Erlangen 1909. Als ganzes in Buch- form Stuttgart igi2. N. F. XVnL Nr. -,o Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 419 kündet, daß er Bastian gar nicht verstanden hat. ^) Durch diese Erscheinung ist auch die Kontroverse mit Friedrich Ratzel und dessen Schülern über die Frage Völkergedanke (Elementar- gedanke) oder Entlehnung überhaupt erst möglich geworden, von der unser Altmeister selbst gesagt hat: „Nichts ist unsinniger als eine Kontroverse .Entlehnung oder Völkergedanke'. Eine solche Kontroverse — ich habe es hundertmal gesagt — existiert gar nicht." -) Schließlich hat auch die Diskussion der methodischen Grundlagen der ganzen Frage, die durch Foy, Gräbner, Haber- ia ndt u. a. m. in den letzten Jahrzehnten an- geregt ist, ^) gezeigt, daß selbst in den Kreisen der modernen ethnologischen Forschung eine völlige Klärung über Bastians Theorien bisher noch nicht erzielt worden ist. Vor Jahresfrist hat deshalb der Verfasser den Versuch unternommen, *) in kurzen Zügen einmal darzustellen, wie er die Gedankengänge von Adolf Bastian versteht, und wie seiner Ansicht nach damit die Ergebnisse von Friedrich Ratzel zu vereinen sind. Diese Klarlegung hält der Verfasser auch heute noch keineswegs für überflüssig, vielmehr für eine un- umgängliche Vorbedingung für fruchtbringende Forschung und für gesicherte, weiter verwertbare Resultate. 3- Der Völkerkundige trifft sehr häufig ähnliche Erscheinungen an, die unabhängig voneinander aus analogen psychischen, psychologischen oder psycho- physischen Wurzeln entstanden sind. Die frühere Forschung hatte diese auffallenden Analogien durch äußere Zufälle zu erklären versucht. Aber „diese monströsen Völkerbeziehungen waren", wie Bastian richtig erkannte, „der gefährlichste Feind für den gesunden Fortschritt der Ethnologie, be- sonders auf so schlüpfrigem Gebiete wie dem Psychischem, und um ihm vor allem entgegenzu- treten, mußte das Prinzip völliger Voraussetzungs- losigkeit auf das dringendste urguiert werden".") Deshalb verlegte Bastian in radikaler Weise Grund und Ursache dieser Erscheinungen in das Innere des Menschen, und führte sie auf die gleich- artige physische Natur des Menschen zurück, die diesen überall zu den gleichen Leistungen befähigt. Bastian sagt darüber selber einmal; „Wenn wir b ei den verschiedensten Völkern, die räumlich ge- trennt sind und keine Rassenverwandtschaft mit- einander haben, immer wieder auf die gleichen Erscheinungen in den verschiedensten Gebieten ') Dasselbe hat auch Khrenreich empfunden; vgl. seine Besprechung der Eis e nstäd t ersehen Arbeit in der Zeitschrift für Ethnologie 45, 1913. S. 191. '^) Vgl. Zeitschrift für Ethnologie 37, 1905. S. 245. ^J Vgl. Gräbner, Die Methode der Ethnologie. Heidel- berg 1911. S. 91 und die Polemik zwischen Haberlandt, Gräbner und Foy in Petermanns Mitteilungen 57, 1911. S. 113 und 228. *) Randglossen zu einigen Fachausdrücken aus dem Ge- biete der vorgeschichtlichen Archäologie. Korrespondenzblatt der deutschen Gesellschaft für Anthropologie 49, 1918. S. 39ff. ') Bastian, Der Völkergedanke usw. S. 177. der menschlichen Kultur stoßen, so ist als erster und vornehmster Grund für diese Analogien die Gleichartigkeit der menschlichen Psyche zu denken. Tritt zu dieser elementaren geistigen Verfassung, die überall dieselbe ist, noch eine gewisse Gleich- artigkeit der äußeren Umstände des „Milieus", so ist es vollkommen erklärlich, wenn Völker, die sonst gar nichts voneinander wissen, dennoch auf Grund derselben Ideenverbindungen zu den näm- lichen Denkschöpfungen, Erfindungen, sozialen Ein- richtungen usw. gelangt sind." Bastian will also die überall herrschende Gleichheit im Denken und Handeln der Menschen, die eine Beseelung der ganzen, in Völker zerteilten Menschheit be- tonen. Trotz mancher Unterschiede im kleinen sind doch die Menschen in ihren größeren Zügen überall so sehr dieselben, daß man überall die gleiche Art von Gedanken trifft. Diese elemen- taren Erscheinungsformen, die überall zu den nämlichen Schöpfungen geführt haben, bezeichnet Bastian als „Elementargedanken", „Primärge- danken", mehrere Male findet sich dafür auch die Bezeichnung „allgemeine Menschheitsgedanken", die ich für das am glücklichsten gewählte Schlag- wort halte. Diese allgemeinen Menschheitsge- danken bedeuten, wie Karl von den Steinen einmal gesagt hat, für den Ethnologen dasselbe, „was dem Botaniker die Zelle, dem Chemiker das Atom ist — die Eins, mit der man rechnet und allein rechnen darf, um nicht in den Abgrund induktiv unlösbarer Ursprungspro- bleme zu stürzen. Am meisten vermag er sie ab- zuscheiden aus den psychischen Leistungen der Naturvölker, in Gestalt der einfachsten Elemente ihrer religiösen Vorstellungen, ihrer sozialen Ein- richtungen, ihrer Wirtschaftsformen, ihrer ästheti- schen Regungen, ihrer technischen Fertigkeiten. Ihre Zahl ist relativ gering, weil die einfachsten Denkmöglichkeiten — man nehme z. B. die Ür- typen der Waffen und Werkzeuge, die sich als Organprojektionen beim Menschen mit gleicher psychologischer Notwendigkeit wie die Krallen beim Raubtier herausgebildet haben — bald er- schöpft sind".^) 4- Neben der Erscheinung der „allgemeinen Mensch- heitsgedanken" steht eine zweite, die allgemein als charakteristisch für Bastian angesehen wird, der „Völkergedanke". Bastian selber hatte anfänglich diese Erscheinung mit dem Mensch- lieitsgedanken zusammen behandelt; erst allmäh- lich ist er dazu übergegangen, beide Gedanken voneinander zu trennen. In seinen Schritten hat er diese Trennung jedoch nie scharf durchgeführt, erst sein Schüler Karl von den Steinen hat auf diese Unterscheidung hingewiesen; deshalb ist es verständlich, daß die Mehrzahl der Forscher diese Trennung übersehen hat. Als „Völkergedanken" dürfen wir die Kon- ') Zeitschrift für Ethnologie 37, 1905. S. 236. Zeitschrift der Gesellschaft für Erdkunde N. F. 8, 1905. S. 16. 420 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVni. Nr. 30 statierung der Tatsache erklären, daß wir nicht selten bei einer oder mehreren Menschengruppen bestimmte Gedanken finden, und verfolgen können, wie diese Gedanken, die ursprünglich nur das Eigentum eines Volkes gewesen, von dort allmäh- lich sich verbreitet haben, sei es, daß sie über weite Strecken mit ihren Trägern oder ohne diese gewandert sind oder lange Zeiten und vielfache Kulturwandelungen überdauert haben. Diese „Völkergedanken" haben sich allmählich aus den „allgemeinen Menschheitsgedanken" herausgebildet, wie das Karl von den Steinen an der bereits angeführten Stelle so hübsch beschreibt : „Ur- sprünglich müssen die Elementargedanken nach eisernen inneren Gesetzen auf der ganzen Erde gleichartig sein, gemäß der psychischen Einheit des Menschengeschlechts, die aus seiner unver- brüchlich feststehenden physischen Einheit unmittel- bar folgt. Sie müssen aber variieren in ihrem Wachstum, hier zu diesen, dort zu jenen Völker- gedanken. Denn wie wächst ein solcher Zellen- komplex? Doch dadurch, daß er auf die äußeren Reize reagiert. So reagieren die Elementar- gedanken auf ihre Umgebung in der jeweiligen „geographischen Provinz", wie die einzelnen großen Areale gleichartiger äußerer Bedingungen von Natur und Klima genannt werden. Die Elemen- targedanken passen sich an, wie sich das Zell- leben der leiblichen Organe den klimatischen Be- dingungen anpaßt." S- Diesen Basti ansehen „Theorien" hat sich Friedrich Ratzel mit aller Entschiedenheit entgegengeworfen.') Ratzel war von Haus aus Geograph, er kam von der Erdkunde zur Völker- wissenschaft.-) Um den innigen Zusammenhang von Erd- und Völkerkunde zu erweisen, mußte er danach streben, die Ethnologie auf geographi- scher Grundlage zu fundieren. Dieses Bestreben suchte er durch seine „Anthropogeographie" in die Tat umzusetzen. Wenn die Anthropogeographie die Völkerwissenschaft auf geographischer Grundlage fundieren sollte, so mußten in diesem Werke die geographischen Beziehungen der Völker in ihrer Wichtigkeit besonders scharf betont werden, und so hat er dann den letzten Abschnitt seiner „An- thropogeographie", der das ganze krönen sollte, ausschließlich diesem Thema gewidmet und ihn mit der Überschrift „Die geographische Verbreitung von Völkermerkmalen" versehen. In vier Einzel- abhandlungen legt er dort die Wichtigkeit der geographischen Methode für die Ethnologie dar und schließt mit einer energischen und scharfen Bekämpfung der B a s t i a n sehen Theorie. In der ersten , die „über den anthropogeographischen Wert ethnographischer Merkmale" handelt, be- stimmt Ratzel die Aufgaben der Anthropo- ') Anthropogeographie oder Grundzüge der Anwendung der Erdkunde auf die Geschichte. Stuttgart 1882. Zweite Auflage 1S91. Dritte Auflage 1909. '') Hier und im folgenden zum Teil wörtlich nach Eisen- städter a. a. O. S. 21 ff. geographie nach der ethnographischen Seite und findet sie „in dem Studium der Verbreitung der durch körperliche Eigentümlichkeiten, Kulturstufen oder ethnographische Merkmale bezeichneten Völkergruppen". Im folgenden Abschnitt, der die Bedeutung der Anthropogeographie und Ethno- graphie für die Erforschung der vorgeschichtlichen Zeit schildert, wird gleich von vornherein festge- stellt, daß bei keinem Volke der Erde „eine iso- lierte Aktion" möglich sei. „Jedes hat Wirkungen aus dem Kreise seiner Nachbarn heraus erfahren." In den nächsten Kapiteln wird dann der Wert der körperlichen und geistigen Merkmale für die Geschichte der Völker einer Kritik unterzogen, dann der der ethnographischen und schließlich den letztgenannten vor dem anderen — weil für das exakte Studium besser geeignet — die erste Stelle zuerkannt. Nun geht Ratzel auf die Verwandt- schaft der ethnographischen Merkmale über, die er in Zweckverwandtschaft, Verwandtschaft des Gegensatzes, Stoff- und Gradverwandtschaft gliedert. Diese allgemeinen Merkmale müssen aber zurück- treten vor der Verwandtschaft der Formgedanken, der der größte Wert für die wissenschaftliche Vergleichung ethnographischer Gegenstände zu- geschrieben wird. Als Aufgabe dieser Vergleichung wird festgesetzt: „Das Bezeichnende in der Form der Gegenstände scharf zu bestimmen und zu be- schreiben und die Abweichungen der Formen voneinander nach dem Grade der Verwandtschaft zu ordnen." Aus diesen Formverwandtschaften lassen sich nun Schlüsse über gegenseitige Be- ziehungen von Völkern ableiten. Ratzel stellte diese „Theorie der geographi- schen Verbreitung von Völkermerkmalen", die von anderen kurz und zusammenfassend mit den Schlagwörtern „Entlehnungs"- oder „Übertragungs- theorie" benannt wurde, in schroffen Gegensatz zu der Bastianschen Theorie. Wie wir aber oben bereits angedeutet habsn, stehen beide Theorien gar nicht im Widerspruch miteinander, die Ratzeische Theorie bildet vielmehr eine Er- gänzung der Bastianschen. Die „allgemeinen Menschheitsgedanken" lassen sich durch geogra- phische Beziehungen weder leugnen noch um- stoßen; sie finden sich sowohl auf geistigem wie auf materiellem Gebiete.') Wohl aber sind die einzelnen „Völkergedanken" im Laufe der Ent- wicklung, wie ich bereits oben hervorgehoben habe, mit ihren Trägern gewandert oder ohne diese von den Nachbarvölkern entlehnt oder an sie übertragen worden. Bei dieser Entlehnung bzw. Übertragung spielen natürlich die geographi- schen Beziehungen eine gewisse Rolle, das Ent- scheidende ist jedoch der Faktor der Entlehnung oder Übertragung selber, weshalb man diese ') Vgl. die Ausführungen von R. Steinmetz in den Mitteilungen der anthropologischen Gesellschaft in Wien XXVI, 1S96. S. 56. Zu dem gleichen Ergebnis kommt auch Eisen- städter in seinem oben angeführten Buche S. 203 ff. N. F. XVIII. Nr. 30 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 421 Theorie auch am besten als „E n tlehnungs- theorie" bezeichnet. Kurzum, die Ratzeische Theorie ist eigentlich — unter besonderer Be- tonung des geographischen Gesichtspunktes — nur ein Glied aus der Kette der Bastian sehen Theorie; man sollte deshalb in Zukunft von dem Bastian -Ratzeischen System sprechen. Den Ratz eischen Arbeiten kommt daneben noch eine besondere Bedeutung deshalb zu, weil Ratzel von der Verwandtschaft der ethnographi- schen Gegenstände ausging, und dadurch die Untersuchung auf einen festen Boden stellte. Bastian ging bei seinen Arbeiten lediglich von psychologischen Theorien aus, und so war bei einem Vorherrschen der Bastian sehen Richtung die Gefahr nahegerückt, daß die Völkerwissen- schaft sich in metaphysischen Spekulationen ver- lieren könne. Bastian konnte seiner ganzen Natur nach sich nicht mit Einzeluntersuchungen über etwaige Völkerzusammenhänge beschäftigen, sein Blick war auf das große Ganze gerichtet, das Allgemeine. Ratzel dagegen suchte für diese Theorien eine gesunde Grundlage in Einzelunter- suchungen zu gewinnen, auch hier also wieder Bastians Arbeiten in der denkbar besten Weise ergänzend. 7- Etwa zur selben Zeit, in der der Verfasser die Bast i an -Ratz eischen Gedankengänge wieder aufgriff und die alte Kontroverse zu analysieren versuchte, ließ Felix von Luschan eine um- fangreiche Studie unter dem Titel „Zusammen- hänge und Konvergenz" in den Mitteilungen der anthropologischen Gesellschaft in Wien (48, 1918. S. I — 117) erscheinen. Diese Studie bietet uns gewissermaßen das Fazit aus einer langjährigen, arbeits- und erfolgreichen Forschertätigkeit, die den drei Gebieten der Anthropologie, lithnologie und Archäologie zugute gekommen ist. Im Ver- lauf dieser mannigfaltigen und wechselseitigen Studien, die nicht nur in der stillen Studierstube unternommen sind, sondern den Forscher in alle Erdteile der Welt geführt haben, hat von Luschan eine Reihe von Erscheinungen beobachtet, die ihn veranlaßten, dem Problem der Entstehung der menschlichen Kulturgüter nachzugehen. Bei diesen Forschungen ist von Luschan vollkommen selb- ständig seine eigenen Wege gegangen. Deshalb nimmt er auch von der bisherigen Behandlung des Problems keinerlei Notiz, erwähnt auch nicht ein einziges Mal die Namen Bastian oder Ratzel. Auch seine Ergebnisse bewegen sich in vollständig neuen Bahnen. Der Titel seiner Studie gibt uns die beiden Schlagwörter wieder, unter die von Luschan die Ergebnisse seiner Forschungen zu- sammenfaßt, „Zusammenhänge" und „Kon- vergenz". Unter Konvergenz versteht von Luschan eine selbständige Entstehung eines Brauches, einer Sitte, eines Geräts usw. an verschiedenen Stellen der Erde oder zu verschiedenen Zeiten der Mensch- heitsentwicklung. Wenn er dieselben Körpereigen- schaften, Kulturgüter oder Sitten dagegen bei ver- schiedenen Völkern findet, wo der Gedanke an eine einheitliche Entstehung der betreffenden Er- scheinung aus irgendwelchen Gründen naheliegt oder irgendwie wahrscheinlich ist, so sucht er diese Erscheinungen zu verbinden und darin Zu- sammenhänge zu erblicken. Derartigen Zusammen- hängen nachzugehen erklärt er für die wichtigste Aufgabe der Anthropologie, wobei er jedoch ganz richtig betont, daß der Anthropologie von nirgends- her größere Schwierigkeiten erwachsen als von Seiten der Konvergenz. Die Lu seh ansehe Studie verfolgt einen dop- pelten Zweck : Einmal das Fazit aus seiner Lebens- arbeit bekannt zu geben, andererseits aber auch zum Nachdenken über diese wichtigen Fragen an- zuregen. Das Fazit seiner Lebensarbeit bietet uns gewissermaßen die Einleitung zu der Studie, während der zweite Teil der Schrift eine sehr lehrreiche, durch Abbildungen und Hinweise auf die ethnographische Literatur unterstützte reiche Liste von Fällen, die Zusammenhänge oder Kon- vergenz erkennen lassen, bietet und damit die zweite Aufgabe verfolgt. Auf Grund eines bunten, alphabetisch geordneten reichhaltigen Materials (Körpereigenschaften, Tracht, Waffen, Geräte, Hausbau, Ziehbrunnen, Tore, Türschloß, Hänge- brücken, Metall- und Tonbearbeitung, Sitten, Al- phabet, Kunst, Musikinstrumente, Spiele, Sagen und Märchen, Sprüche usw.) vermag sich ein jeder von der Wichtigkeit des Problems und gleichzeitig von der Vielseitigkeit der dadurch berührten Inter- essensphären zu überzeugen. Ohne Zweifel ver- dient die von Luschansche Studie eine be- sondere Beachtung. In der Reihe der Schriften, welche die Methode der ethnologischen Forschung gefördert oder ihr neue Bahnen gewiesen haben, wird der verdienstvollen Arbeit auf jeden Fall immer ein hervorragender Platz eingeräumt werden. Daneben wird sie infolge der Vielseitigkeit des in ihr behandelten Materials und der lichtvollen Dar- stellungsweise des Verfassers auch auf viele andere Gebiete anregend wirken und das Interesse für das Problem fördern. Ohne Zweifel erfährt auch das Problem der Entstehung der menschlichen Kulturgüter und Sitten durch die von Luschansche Arbeit eine wesentliche Förderung. In dieser Beziehung liegt der Schwerpunkt der Arbeit in der klaren und deutlichen Herausarbeitung jener eigenartigen Er- scheinung, die von Luschan jetzt als Konvergenz bezeichnet. Man kann nicht gerade sagen, daß die bisherige Forschung an dieser Erscheinung achtlos vorbeigegangen sei. Denn das, was von Luschan als Konvergenz kennzeichnet, deckt sich zu einem Teil mit dem, was Bastian als „Völkergedanken" angeführt hatte. Doch handelte es sich keines- wegs nur um die Neuprägung eines Namens, sondern die ganze Erscheinung als solche ist viel sorgfältiger beobachtet, dementsprechend heraus- gearbeitet und präziser gefaßt. Ohne Zweifel wird sowohl die Erscheinung in Zukunft mehr 422 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 30 beachtet werden, als auch die für sie gewählte Be- zeichnung sich in der Literatur einbürgern und damit zur klareren Herausarbeitung des Problems beitragen. Das Gleiche gilt leider nicht von den Er- scheinungen, die vonLuschan als Zusammen- hänge auffaßt. Denn zunächst einmal ist das, was vonLuschan als Zusammenhänge hinstellt, nicht gerade geeignet, für dieses neue Schlagwort zu werben. Beim besten Willen vermag ich in einem guten Teil der durch von Luschan als „Zusammenhänge" gedeuteten Erscheinungen keine solchen zu erkennen. So kann ich z. B. nicht zugeben, daß zwischen den Felsenmalereien der Buschmänner und den Höhlenmalereien in Süd- frankreich irgendeine Verbindung besteht. Ein derartiger Nachweis läßt sich weder inhaltlich noch formal aus den Bildern erbringen, und ist auch durch von Luschan trotz seiner mehr- fachen Beschäftigung mit dem Gegenstande bis heute noch nicht erbracht. Ganz abgesehen davon, daß ich es methodisch für verfehlt erachte, eine Erscheinung, die, wie die Buschmannmalereien, erst vor ein oder zwei Jahrhunderten entstanden ist, als Fortsetzung einer anderen zu deuten, die, wie die Höhlenmalereien in Südfrankreich, nach den gegenwärtigen chronologischen Anschauungen beträchtlich vor 3000 vor Christi zu datieren ist, ohne daß aus den zwischen beiden Erscheinungen liegenden rund fünf Jahrtausenden irgendein Binde- glied nachzuweisen isti Durch mein spezielles Arbeitsgebiet bin ich zu sehr an die Beobachtung des chronologischen Moments gewöhnt, daß ich an einer derartigen Differenz nicht achtlos vorbei- gehen kann. Der Ethnologe kennt derartige Be- obachtungen bisher leider noch so gut wie gar nicht; wann kommen für ihn einmal chronologische Erwägungen in Frage? Für den Archäologen können in einem Falle wie dem vorliegenden jedoch lediglich die chronologischen Erwägungen ausschlaggebend sein. Was der Ethnologe als „Zusammenhänge" erblickt, vermag der Archäo- loge nie und nimmer anders als „Konvergenz" zu bezeichnen. Ähnlich steht es mit den eigenartigen Bronze- waffen und Schmuckstücken aus Nordwestkamerun und Nachbargebieten. So gern ich anerkenne, daß diese Sachen eine z. T. verblüffende Ähnlich- keit mit europäischen Stücken aufweisen, — so vermag ich sie dennoch nicht an die europäischen Stücke anzuschließen, weil auch hier wieder ein unüberbrückbarer zeitlicher Abstand klafft. Diese beiden Fälle sind nicht etwa willkürlich von mir herausgegriffen ; genau so steht es mit der Mehrzahl von dem, was von Luschan als „Zusammenhänge" ansieht. Werden wir da be- sonderes Vertrauen zu dem neuen Fachausdruck gewinnen ? Und werden wir von Luschan folgen können, wenn er aus derartigen Zusammenhängen, die in den Augen des Archäologen keine solchen sind, Völkerverbindungen zwischen Europa und Afrika, zwischen der alten und der neuen Welt herauslesen will? Mögen wir auch noch so sehr anerkennen, wie vorsichtig und zurückhaltend sich von Luschan über diese Frage äußert, wie er selber die von ihm aufgestellten Verbindungen nicht als sicher, sondern nur als möglich hinstellt — auf derartigen unsicheren Unterlagen läßt sich überhaupt nicht bauen. Das von Luschan sehe Schlagwort „Zusam- menhänge" dürfte schwerlichbesondere Anerkennung finden. Ich möchte sogar so weit gehen, zu behaupten, daß es für unsere Wissenschaft als solche nur günstig sein kann, je schneller sie diesen Punkt der von Luschanschen Arbeit überwindet — je schneller der Ethnologe unter Berücksichtigung der chronologischen Methode zu aibeiten beginnt. Nach ethnischen Verbindungen und Zusammen- hängen zu suchen ist ein Erbfehler unserer For- schung aus dem vorigen Jahrhundert ; dafür fehlen uns noch die Grundlagen, dazu ist das Fundament noch zu wenig gefestigt. Was wir gegenwärtig brauchen, sind scharfe, chronologische Analysen. Sobald sie dermaleinst in genügender Zahl vorliegen, wird eine spätere Generation einen gesicherten, feststehenden Bau dort errichten können, wo wir gegenwärtig in Luftschlössern allzugern bereits weilen möchten. 8. Mit diesem zuletzt besprochenen Teil der von Luschanschen Studie möchte ich ein Buch von Georg Wilke in Parallele stellen. Wilke hat vor nunmehr sechs Jahren unter dem Titel „Kulturbeziehungen zwischen Indien, Orient und Europa" ein Buch veröffentlicht, ^) in dem er eine ganze Reihe von Parallelerscheinungen zusammen- stellt, die sowohl aus der materiellen wie aus der geistigen Kultur Europas, Indiens und des Orients entnommen sind. Wilke erblickt in diesen Er- scheinungen ohne weiteres Zusammenhänge, und zwar sucht er diese dadurch zu erklären, daß er sie auf eine gemeinsame Wurzel zurückführt. Diese gemeinsame Wurzel bildet für ihn das Indoger- manische, und damit ergeben sich aus diesen Kultur- beziehungen eine Reihe von neuen Aufschlüssen zur Lösung des Indogermanenproblems überhaupt. Ähnliche Gedankengänge hat Wilke dann neuer- dings in mehreren Abhandlungen vertreten; so in einem Vortrage „Aus dem Reiche der vor- geschichtlichen Medizin" (Medizinische Klinik 191 3, S. I ff.) und in zwei Studien „Mythische Vor- stellungen und symbolische Zeichen aus indo- europäischer Urzeit" (Mannus VI, 1914. S. 15 — 44) und „Weitere Beiträge zur Heilkunde in der indoeuropäischen Vorzeit" (Ebendort VII, 191 5. S. I-3I)- Soweit die Kulturbeziehungen aus dem Ge- biet der materiellen Kultur entnommen sind, sind sie verhältnismäßig gut gewählt. Jedoch ließe sich auch hier schon manche Klage über die Nichtberücksichtigung der zwischen den einzelnen ') Würzburg 1913. 276 Seiten. N. F. XVIII. Nr. 30 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 423 Erscheinungen klafifenden unüberbrückbaren Zeit- spanne anbringen. Sobald wir uns den aus dem Gebiet der geistigen Kultur entnommenen Bei- spielen zuwenden, wird diese Nichtberücksichtigung des chronologischen Moments ebenso auffällig wie in der von Lusc hanschen Arbeit. Von einem Nicht- Wollen oder Nicht Können ist auch in diesem Fall nicht die Rede; die Ersclieinung läßt sich vielmehr lediglich so erklären, daß selbst ein so hervorragender und weitblickender Forscher wie Wilke sich noch nicht genügend klar darüber geworden ist, auf welch schwankenden Boden er sich in dem Augenblick begibt , wo er Er- scheinungen aneinander reiht, die durch Jahr- hunderte und Jahrtausende ohne irgendwelche Bindeglieder voneinander getrennt sind. Vom me- thodischen Standpunkt aus läßt es sich nicht rechtfertigen, wenn zwei Erscheinungen von gänz- lich verschiedenem Alter in Parallele gestellt werden, wenn z. B. in demselben Atemzuge neo- lithische Erscheinungen des Nordens und indische Kunst, die der überwiegenden Mehrzahl nach einer verhältnismäßig späten Periode angehört, mit- einander verglichen werden. Sobald irgendein längerer Zeitraum zwischen zwei sonst gleich- artigen Erscheinungen klafft, aus dem sich keiner- lei Bindeglieder zwischen diesen beiden Erschei- nungen nachweisen lassen, so kann ich einen Schluß auf ,, Zusammenhang" nicht gutheißen, sondern entscheide mich immer für „Konvergenz". Von einem „Zusammenhang" kann eben doch nur dort die Rede sein, wo wirklich ein Zu- sammenhang vorliegt, nicht aber auch in Fällen, wo dieser Zusammenhang durch Jahrhunderte oder Jahrtausende aussetzt 1 Von diesen methodischen Grundsätzen lasse ich mich auch nicht durch einen Hinweis auf die große Masse von Erscheinungen abbringen, die Wilke aneinander reiht, und die auf den ersten Blick natürlich für eine Deutung in seinem Sinne zu sprechen scheinen. Ein einziges exakt durch- geführtes Beispiel für Konvergenz oder Zusammen- hang ist in meinen Augen mehr wert als die Zusammenstellung einer derartigen Masse von Er- scheinungen, bei der es erst in jedem einzelnen Falle nachzuprüfen gilt, ob Zusammenhang oder Konvergenz vorliegt. Von diesem methodischen Standpunkte aus muß ich auch hier wieder die ethnologische Aus- deutung, die Wilke diesen Erscheinungen zuteil werden läßt, als verfehlt, minder hart gesagt als verfrüht hinstellen. Ich will auch hier wieder nicht mit Anerkennung für das Geleistete zurück- halten. Gewiß hat Wilke mit fabelliafter Be- lesenheit eine Unmenge von Parallelen aus allen möglichen Gebieten zusammenzubringen sich be- müht. Wieviel Erscheinungen hat er nicht allein auf religiösem Gebiet, z. B. im Ahnenkult, Sonnen- kult, Mondkult, Tierkult, Dämonenkult verfolgt ! Aber keine einzige von diesen Erscheinungen zeigt eine, wenn auch nur annähernd, lückenlose Kette, vielmehr klaflt überall eine gähnende Lücke von mehreren Jahrtausenden. Nirgends läßt sich auch nur die leiseste Berechtigung dafür vorbringen, in diesen Erscheinungen Kulturbeziehungen, also Zusammenhänge zu erblicken. Dagegen wird man von meinem Standpunkte, in allen derartigen Er- scheinungen bis zu dem Augenblick, wo sie sich als Zusammenhänge einwandfrei feststellen lassen, lediglich Konvergenz zu erblicken, gewiß nicht seine methodische Berechtigung absprechen können. Wenn aber die Grundlage zu den Wilkeschen Forschungen noch derart ungeklärt und schwankend ist, wo bleibt da die Quintessenz seiner Studien? Gewiß, man könnte sich für einen Augenblick noch dadurch zu retten versuchen, daß man diese Konvergenz aus der indogermanischen Wurzel abzuleiten versuchte. Aber von diesem Augen- blick an würde sich das Bild doch schon wesent- lich anders gestalten, als es Wilke zu zeichnen versucht hat. Meine Einwendungen wird man nur allzubald mit dem Vorwurf zu entkräften versuchen, ich leugnete jegliche Zusammenhänge und sei ein Gegner von jeglichen ethnischen Ausdeutungen. Diesen Vorwurf möchte ich von vornherein durch die Feststellung entkräften, daß ich selber mehrere Beispiele für Zusammenhang aufgestellt und auch auf ethnische Zusammenhänge hingewiesen habe, — allerdings bei einwandfreien positiven Unter- lagen. Darüber hinausgehend erkenne ich gern auch noch andere Zusammenhänge an, wie sie z. B. M o n t e 1 i u s für das erste Auftreten des Eisens erbracht hat. Mit diesem Vorwurf würde man mir also bitter Unrecht tun. Was ich mit all diesen Auseinandersetzungen erstrebe, ist ledig- lich das Ziel, klare, einwandfreie Grundlagen für die Forschung der Zukunft zu gewinnen, und die Forschung dahin zu führen, daß sie zunächst ein- mal diese Grundlagen schafft und dann erst auf diesem Fundament weiter baut. Die Urgeschichtsforschung hatte sich bisher die auf ethnologischem Gebiet durch Ratzel und Bastian angebahnte Erkenntnis in der Frage nach der Entstehung der menschlichen Kultur- güter und Sitten noch nicht zu Nutzen gemacht. Wohl war sie instinktmäßig selber auf die An- sicht gekommen, daß bei einer eingehenden Ana- lyse des Kulturbesitzes der Menschheit zwei Fak- toren zu unterscheiden seien, einmal ein allge- meiner Besitz der Menschheit, und daneben der schöpferische Geist bestimmter Einzelvölker, dessen Ergebnisse durch Völkerbewegungen oder durch Austausch der allgemeinen Kulturgüter über weite Länder hin gewandert sind. Das zeigen uns einige Einzeluntersuchungen. Eine Entstehung an einer einzelnen Stelle und danach eine Wande- rung von dort aus über die ganze Welt glaubt Montelius in seiner Untersuchung über das erste Auftreten des Eisens ^) festgestellt zu haben. ') Prähistor. Zeitschrift V, 1913. S. 289 ff. 424 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVm. Nr. 30 Wilke dagegen hat in seinen oben angeführten Arbeiten auf den Gedanken an eine gemeinsame Wurzel bei allen indogermanischen Völkern hin- gewiesen. Ich selber habe in einer Reihe von Einzeluntersuchungen, über geflickte Fibeln/) über den Wagen,'-) am ausführlichsten wohl in meiner Untersuchung über die Geschichte der Löttechnik ■') immer auf beide Lösungsmöglichkeiten hingewiesen, wenn ich auch für einige Fälle die Entstehung an einer einzigen Stelle und die weitere Wande- rung von dort aus nachweisen konnte. Dann habe ich in meinem Aufsatze „Randglossen zu einigen Fachausdrücken aus dem Gebiete der vor- geschichtlichen Forschung"^) das gesamte Pro- blem als solches behandelt und zwischen der ethnologischen und archäologischen Forschung ein Zusammenarbeiten zu erzielen versucht. Auf archäologischem Gebiete habe ich gleichzeitig eine besondere Richtung anzubahnen unternommen, für die ich den Namen ,, Kulturarchäologie" einge- führt habe.'') Das Bestreben, die vorgeschichtlichen Denk- mäler der Kulturgeschichte nutzbar zu machen, ist schon so alt wie die Beschäftigung mit den vorgeschichtlichen Denkmälern überhaupt, und auch noch in den letzten Jahren haben bedeutende Forscher ihre Arbeitskraft diesem Gebiete zuge- wandt (man denke an Hörn es). Trotz alledem ist dieses Gebiet am wenigsten abgebaut und methodisch durchdrungen. Nach altem Her- kommen ist die Mehrzahl der Forscher froh, wenn sie eine Analogie findet, ganz gleich, ob in einem entgegengesetzten Erdwinkel — aus diesen Ana- logien heraus lassen sich mancherlei Fäden für ein Hin und Her anspinnen. Eine methodische Grundlage fehlt dieser Richtung noch so gut wie gänzlich. Den Weg, den die Forschung einzu- '■) Zeitschrift für Ethnologie 47, 1915. S. 309 ff. ^) Der Wagen im nordischen Kulturkreise zur vor- und frühgcschichtlichen Zeit. Festschrift Eduard Hahn zu sei- nem 60. Geburlstag dargebracht von Freunden und Schülern. Stuttgart 1917. S. 209 ff. — Die Entstehung des Wagens und des Wagenrades. iVIannus 10, 1918. ') Bonner Jahrbücher 123, :9l6. S. l88 ff. *) Korrespondenzblatt der deutschen anthropologischen Gesellschaft 49, 1918. S. 39—47. ^) Deutsche Geschichtsblätter 17, 1916. S. 103. schlagen hat, glaube ich jetzt jedoch in meinen Einzeluntersuchungen klar vorgezeichnet zu haben. Um nur ein Beisiiiel herauszugreifen, darf sich unsere Forschung nicht mehr damit begnügen, einfach zu registrieren, daß diese und jene Völker auch dermaleinst eine Bronzekultur erlebt haben, sondern es gilt zu ermitteln, wie, wann und wo das erste Auftreten der Bronze erfolgt, ob an einer oder an mehreren Stellen, wie die allmäh- liche Ausbreitung und Entwicklung dann in den einzelnen Kulturkreisen und bei den einzelnen Völkern vor sich gegangen ist. Als Haupterforder- nisse für diese Untersuchungen habe ich eine scharfe Beobachtung der chronologischen Ver- hältnisse und der Kulturkreise und Kulturgruppen gefordert. Als besonders Ziel dieser kulturarchäologischen Forschung bezeichnete ich eine genaue Durch- arbeitung aller geistigen Ideen und materiellen Elemente, die für die Gestaltung der Kultur von irgendwelcher Bedeutung sind. Aus einer Ana- lyse dieser „Kulturelemente", aus einem Vergleich und einer Sichtung all der Fäden, die sich dabei ergeben werden, würde sich dann ein Gesamtbild herstellen lassen, das vor allen Dingen auch einen Einblick in die Stellung der einzelnen Kulturkreise und Kulturvölker und ihre Beziehungen zueinander ermöglichte. Bevor sich jedoch dieses Bild zu- sammensetzen läßt, wird die Frage nach der Ent- stehung der einzelnen Elemente durchgearbeitet werden müssen. Die erste Aufgabe der Kultur- archäologie wird in dieser systematischen Durch- arbeitung bestehen. Dabei dürften sich nicht nur für das Problem der Entstehung der menschlichen Kulturgüter und Sitten überhaupt neue wertvolle Gesichtspunkte ergeben, sondern auch die ethno- logische Forschung wird von dieser systematischen Durcharbeitung aus reiche Befruchtung empfangen. Ich wage zu hoffen, daß durch diese Durcharbei- tung das Problem, das ursprünglich von der ethno- logischen Seite seine Anregung erhalten hat, seine Hauptlösung von der kulturarchäologischen Seite aus erfährt, und auf Grund der dort gewonnenen Ergebnisse vielleicht die Ethnologie ein sicheres Fundament für ihre Forschungen gewinnt, auf dem sie dann systematisch weiter bauen kann. Einzelberichte. Zoologie. Das große Verbreitungsgebiet des ursprünglich als Alpentier beschriebenen, bis 16 mm langen, meist bräunlichen und durch zwei fühler- artige Kopffortsätze ausgezeichneten Plattwurms Planaria alpina Dana, eines Glazialrelikts, das meist das Ouellgebiet der Bäche beherrscht, während weiter unten Polycelis cornuta sie und schließlich Planaria gonocephala diese ablöst oder die eine die andere nach Schwinden der Eiszeit vertrieben hat, ist nach bisherigen Kenntnissen, die Arndt zusammenstellt, etwa folgendes. In Deutschland bewohnt sie fast alle Mittelgebirge: Vogesen, Schwarzwald, Taunus, Eifel, Siebengebirge, das Sauerländische Bergland, Deister, Schwäbischen und Fränkischen Jura, Frankenwald, Fichtelgebirge, Steigerwald, Harz, Böhmerwald und Riesen gebirge, ferner die Insel Rügen. Sie ist in Belgien, der Gegend von Nancy, der Auvergne, Schottland, Dänemark, Norwegen, Schweden und Lappland festgestellt, in Böhmen, den Karpathen und neuer- dings von F. Pax dem Jüngeren in den Quellen des Pradniij in Polen, endlich in den Pyrenäen N. F. XVIII. Nr. 30 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 425 und, wenn Planaria montenegrina Mrazek zu dieser Art gehört, in Montenegro und bei Neapel. Weit ab von diesen Orten liegt in Asien Arndts^) neues Fundgebiet der Alpenplanarie, am Oberlauf des Jenissei, besonders in den Vor- bergen des Ssajan zwischen Atschinsk und Minus- sinsk. Die dortige Form, kaum unterschieden von schlesischen Fundstücken, ist wiederum in den Quellen, und zwar auch in vegetationslosen, Charaktertier, aber 100 Meter abwärts schon stets eine Seltenheit. Die Mittagstemperatur jener Bachoberläufe beträgt -|- 6 bis 12" C, der Winter bringt oft Lufttemperaturen von — 40 und selbst — 50" und wochenlang solche von — 20". Wieder- um erheblich weiter östlich, im Großen Chingan- Gebirge in der Mandschurei, fand Arndt ein typisches Stück Alpenplanarie in einem Bergbach unweit Petla. Das somit mindestens über 9000 Kilometer ausgedehnte, bei der geringen Kriechgeschwindig- keit des Plattwurms und seiner Gebundenheit an eng umschriebene Bedingungen erstaunlich große Verbreitungsgebiet muß, wenn man mit Recht in Planaria alpina ein Glazialrelikt sieht, zur Eiszeit auch im Ssajan- und im Chingan- Gebirge ver- gletschert gewesen sein ; wenigstens spricht gegen eine erst später erfolgte Besiedelung, etwa durch Wasservögel, das Vorkommen der Alpenplanarie in jedem Ouellfluß im Ssajan, nicht nur in ver- einzelten. Endlich kann Arndt mitteilen, daß 1914 von Teilnehmern der dritten Dr. Paul Schottländer- schen Lehrexpedition die Alpenplanarie in Stücken, die den mitteleuropischen gleichen, auch auf Kor- sika gefunden wurde, im Bach von Vizzavona, zwischen Bastia und Ajazzio in iioo m Höhe, je- doch nicht, wie es sonst für diese Art bezeich- nend ist, bis zur Quelle hinauf, sondern nur weiter unterhalb, wo sie die sonst keinem korsischen Bach fehlende Planaria gonocephala vertritt, wäh- rend der Oberlauf hier wie in jedem anderen Bach Korsikas von einer der Alpenplanaria sehr ähn- lichen, weißen, vielleicht nur eine Varietät von ihr darstellenden Form besetzt ist. V. Franz. Ein neues Geschlechtsmerkmal bei Fröschen fand R. H. Hahn bei Rana esculenta, fusca und Hyla arborea in „dehnbaren" Sehnen der seitlichen Bauchmuskeln, acht — jederseits vier — nach Abziehen der Haut sichtbaren breiten milchweißen Streifen, die nur beim männlichen Geschlecht die AnsatzHnien der vier seitlichen Bauchmuskeln markieren, reich an stark elastisch dehnbaren Fasern sind — wie die mikroskopische Unter- suchung ergab — und in Formol nach mehreren Monaten satte Rotfärbung annehmen. Sie dienen dazu, um die stoßweise erfolgenden Druckschwan- kungen während des palpitierenden „Brekekekex" der männlichen Froschstimme, das durch Luft- entleerung aus der Lunge unter abwechselnder Öffnung und Schließung der Stimmritze erfolgt, aufzufangen und somit die Lungen und Bauch- eingeweide der männlichen Tiere vor zu unver- mittelter Stoßwirkung zu schützen. Männliche Bufo vulgaris, deren Stimme bekanntlich sehr wenig entwickelt ist, ließen diese Eigentümlich- keit vermissen. Franz. Angewandte Zoologie. Ein neues Insekten- vertilgungsmittel empfiehlt P. G. Bertrand im Chlorpikrin. ^) Das Überhandnehmen des Un- geziefers brachte den Forscher auf den Gedanken, einige der im Kriege als Gaskampfstoffe gebrauch- ten Chemikalien auf ihre Wirksamkeit gegen lästige bzw. schädliche Kleinlebewesen zu prüfen. Hierbei erwies sich das Chlorpikrin als besonders wirksam. Dieser Stoff (bereits 1848 von Sten- house entdeckt) ist nitriertes Chloroform, CClg- NO.2, und stellt eine leichtbewegliche gelbliche Flüssigkeit vom spez. Gewicht 1,66 dar, besitzt auch bei gewöhnlicher Temperatur einen sehr hohen Dampfdruck, vergast also rasch und übt dabei auf die Schleimhaut einen außerordentlich starken Reiz aus. Während es in starker Kon- zentration Husten und Übelkeit hervorruft, besitzt es verdünnt einen aromatischen, etwas bitteren Duft, der auch in Spuren wahrgenommen wird. Dies bedeutet einen Vorzug gegenüber dem ver- gleichsweise schwerer wahrgenommenen, aber für den Menschen gefährlicheren Cyanwasserstoff (Blausäure). Aber auch in geringen und dem Menschen noch nicht nachteiligen Mengen wirkt es auf zahlreiche Kleintiere stark giftig, i — 2 Zenti- gramm der Substanz in i 1 Luft genügten, um Larven von Lepidopteren, Hymenopteren, Blatt- läuse usw. sofort oder doch nach wenigen (5 — 10) Minuten zu töten. Andere Schädlinge, vor allem solche der Weinpflanzen, verendeten nach einigen Stunden, selbst als die Konzentration auf die Hälfte der oben angegebenen herabgesetzt wurde. In wässeriger Lösung brachte Chlorpikrin Infuso- rien und Amöben alsbald zum Absterben. Übrigens konnte man diese vorzügliche Wir- kung des Chlorpikrins schon im Felde wahrnehmen. Während größere Tiere und Vögel zumeist unbe- helligt blieben, war die Sterblichkeit des Unge- ziefers (auch der Ratten und Mäuse in den Schützen- gräben) nach Vergasung mit dem Stoff auffällig groß.-) Die Verwendung des Chlorpikrins emp- fiehlt sich auch seiner Wirtschaftlichkeit wegen. Zurzeit ist es noch reichlich vorhanden oder billig herstellbar (durch Erhitzen von Pikrinsäure mit Chlorkalk unter gewissen Bedingungen). Dazu ') Walter Arndt: Zur Kenntnis der Verbreitung von Planaria alpina Dana. Zoologischer Anzeiger, Band 50, 1918, Seite 100 — 105, ■) Comptes rendus d. l'Acad. Frangaise, 168, 742 (7. April 1919). ■^) Die gleiche Beobachtung findet sich auch niedergelegt in Ztschr. f. d. gesamte Schieß- u. Sprengstoffwesen 12, 294, 1917. 426 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 30 kommt, daß auf Grund der Reichsverordnung über Schädlingsbekämpfung mit hochgiftigen Stoffen (vom 29. I. 1919) das Reichswirtschaftsamt unter dem 7. II. 1919 den Gebrauch von Blausäure in jeder Form für private Schädlingstilgung unter- sagt hat und daß man sich (Militärbehörden und wissenscliaftliche Anstalten ausgenommen) nach einem zvi^eckmäßigen Ersatz umzusehen genötigt ist. Zweifellos hat hier das Chlorpikrin hohe Be- deutung. H. Heller. Botanik. Oxalatlösungen in Pflanzenzellen. Zum Nachweis gelöster Oxalate im Pflanzenzellsaft hat Norbert Fat scho vsky neuerdings statt der zu- meist als Oxalsäurereagens verwandten Chlorkal- ziumlösung, die u. a. den Übelstand hat, mit dem- Kalkoxalat auch vorhandenen Gerbstoff als schwärz- liche Masse niederzuschlagen, eine Lösung von Eisen- vitriol oder dem beständigeren Mohrschen Salz (Eisen-Ammonsulfat) verwendet. Der zitrongelbe oder orangefarbene Niederschlag von Ferrooxalat, den man im Reagensglase erhält, besteht aus rhom- bischen Prismen oder Täfelchen, die sich beson- ders durch ihren Dichroismus auszeichnen, indem sie beim Betrachten durch ein Nikol in der einen Lage sattgelb , bei Drehung um 90" farblos er- scheinen. Zur Fernhaltung des lästigen Ferri- sulfats wird das Reagens mit Essigsäure versetzt. Durch Zusatz von Natriumazetat, Rohrzucker oder Gelatine wird die Fällung im Reagensglase ver- zögert, und es entstehen größere Einzelkristalle und Konglomerate. Um ähnliche Kristalle im Pflanzengewebe zu erhalten injiziert man die zu prüfenden Pflanzenteile mit dem Reagens unter Verwendung der Luftpumpe. Damit das Ferro- oxalat nicht in den Intrazellularen, sondern inner- halb der Zellen niedergeschlagen, also eine genaue Lokalisierung der Oxalsäure ermöglicht wird, muß die angewandte Eisenlösung eine hohe Konzen- haben. Da Gerbstoff durch das Re- tration (0 agens mit großer Empfindlichkeit blau bis grün- lich gefärbt wird, so ist er gleichzeitig damit nach- zuweisen ; zu seiner genauen Lokalisierung diente noch Kaliumbichromat. In dieser Weise wurden Pflanzen verschiedener Gruppen untersucht, nicht nur solche, in deren Zellen festes Kalziumoxalat abgelagert ist, sondern auch solche, wo es fehlt. Es ergab sich dabei, daß Pflanzen ohne nor- male Ablagerung von Kalziumoxalat auch kein gelöstes Oxalat enthalten. Doch fehlt dieses bei zahlreichen Pflanzen, die festes Oxalat in den Zellen ablagern. In solchen Fällen ist häufig Gerbstoff vorhanden; indessen kann er gleichfalls fehlen oder doch nicht deutlich nachweisbar sein. Bei Thallophyten findet sich gelöstes Oxalat sel- tener als bei Kormophyten. Sehr regelmäßig ist es bei den Polygonales und den verwandten Cen- trospermae angetroffen worden. Innerhalb einer Pflanzengattung können reine Oxalsäurearten, reine Gerbstoffarten und kombinierte Typen auftreten. Ökologisch deutet Verf diese Fälle mit Stahl als Vikariieren bzw. Häufung der beiden Stoffe, die chemische Schutzmittel der Pflanze seien. In den unterirdischen Teilen fehlt das gelöste Oxalat häufig, während sie vielfach mit Gerbstoff erfüllt sind; findet sich Oxalsäure in den Wurzeln, so sind diese regelmäßig gerbstoffleer. Mit der Be- deutung der Oxalsäure als Schutzmittel hängt ihr peripheres Auftreten in der Pflanze zusammen. Das gelöste Oxalat tritt aber nicht nur, wie früher angegeben wurde, in farblosen Geweben auf, son- dern kann auch je nach den Bauverhältnissen der Organe in chlorophyllhaltigen Geweben vorkom- men. (Berichte der Deutschen Botanischen Gesell- schaft 191 8, Bd. 36, S. 542—548.) F. Moewes. Astronomie. Die sichtbare Größenänderung von Sonne und Mond in verschiedenen Höhen über dem Horizont (mit I Abbildung), die schon seit langer Zeit die Naturbeobachter beschäftigt, ist neuerdings von H. Dember und M. Uibe') behandelt worden. Obwohl die Gestirne in der Nähe des Horizontes infolge größeren Abstandes vom Beobachter kleineren Winkeldurchmesser haben (Monddurchmesser im Horizont 31' 20", im Zenith 31' 52"), erscheinen sie dem Auge im Horizont mehr als doppelt so groß wie im Zenith. Die älteren Anschauungen (Einfluß der Luftper- spektive, Vergleichstheorie) deuten diese Erschei- nung als Urteilstäuschung, jedoch ohne jeden Erfolg. Die neuere „Blickrichtungstheorie" ergibt gleichfalls keine befriedigenden Resultate, da keine Übereinstimmung besteht zwischen den geometrisch- physikalischen Eigenschaften des Ob- jekts und der subjektiv-optischen Wahrnehmung des Beobachters. In einer früheren Untersuchung „Über die Gestalt des sichtbaren Himmelsgewölbes" (Ref. diese Zeitschr. 1919 S. 380) haben die beiden Forscher nachgewiesen, daß die Gestalt des Him- mels bedingt ist durch die nach verschiedenen Höhen über dem Horizont verschiedenen Himmels- helligkeiten und der aus diesen folgenden Sicht- weiten. In der neuen Untersuchung wird nun die Frage behandelt, wie weit ein Zusammenhang zwischen der sichtbaren Form des Himmels- gewölbes und der sichtbaren Größenveränderung der Gestirne besteht. Eine Nachprüfung der Gauß sehen Blickrichtungstheorie durch direkte Betrachtung eines Gestirnes und durch indirekte Betrachtung durch ein spiegelndes Prisma, ergab keine Größenunterschiede bei stirnwärts oder hori- zontal gerichtetem Auge. Die Blickrichtungstheorie konnte also die sichtbare Größenänderung nicht erklären. Im Anschluß hieran wurde messend vorgegangen und zwar derart, daß eine kreisrunde ') H. Dember u. M. Uibe, Versuch einer physikali- schen Lösung des Problems der sichtbaren Größenänderung von Sonne und Mond in verschiedenen Höhen über dem Horizont. Bcr. d. Kgl. Ges. d. Wiss. Leipzig. Math.-phy- sik. Klasse Bd. LXIX. N. F. XVni. Nr. 30 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 427 Scheibe mit dem zu prüfenden Gestirn zur Deckung gebracht wurde, indem man den Abstand des Beobachters von der Scheibe änderte. Die Scheibe hatte einen Durchmesser von 30 bis 40 cm, so- daß sich ein Abstand von 20 bis 40 m ergab. Im Anschluß an die Untersuchung über die schein- bare Gestalt des Himmelsgewölbes wurde nach- gewiesen, daß ein direkter Zusammenhang besteht zwischen scheinbarer Gestirnsgröße und schein- barer Entfernung des Himmelsgewölbes. Erklärt wird dieser Zusammenhang dadurch, daß der von dem Gestirn ausgehende nach dem Auge des Beobachters konvergierende Lichtkegel aus der das scheinbare Himmelsgewölbe H erfüllenden Luft einen Lichtkegel K bez. Kj ausschneidet. Die Projektion dieses Lichtkegels auf eine zur agestellungen selbst als verfehlt kennzeichnen. Es liegt durchaus im Wesen besonnener Natur- forschung, an Hand der Erfahrung jederzeit über sie hinauszugreifen, dadurch neue Erfahrungen als möglich in den Gesichtskreis zu rücken, und so Schritt auf Schritt weiter zu kommen. Etwas anderes ist es natürlich, wenn jemand für sich das Nachdenken über Anfänge, Ursprünge, Ent- wicklungen usw. aufgibt und sich mit Betrachtung des unmittelbar Gegebenen genügen läßt. Aber solche persönliche geistige Enthaltsamkeit, der durchaus nicht jede Bedeutung abgesprochen werden soll, kann keineswegs für die Allgemeinheit als verbindlich hingestellt werden. V. Wasielewski. Steche, Prof. Dr. Otto, Grundriß der Zoloogie. Eine Einführung in die Lehre vom Bau und den Lebenserscheinungen der Tiere für Studierende der Naturwissenschaften und der Medizin. Mit 6 Textabbildungen und 40 mehrfarbigen Doppel- tafeln. Leipzig 1919, Veit & Co. 23,40 M. Wie ich bei der Besprechung des bekannten H e r t w i g sehen Lehrbuches andeutete (vgl. Naturw. Wochenschr. Bd. 16 S. 277), unterscheiden sich zoo- logische Lehrbücher von botanischen dadurch sehr auffallend, daß bei jenen der allgemeine Teil und hier wiederum namentlich Physiologie und Biologie stark in den Hintergrund treten gegenüber der Systematik. Das liegt in dem Werdegange der Zoologie begründet, die lange Zeit von der Physio- logie getrennt blieb. Steche hat nun in dem vor- liegenden Lehrbuch zum ersten Male das Allge- meine mit Entschiedenheit in den Mittelpunkt ge- rückt. Er entwirft auf breiter Basis und in steter Anlehnung an die Daten der allgemeinen Physio- logie, der physiologischen Chemie, der Pfianzen- physiologie und der Bakteriologie und mit Berück- sichtigung tierbiologischer und -psychologischer Erkenntnisse ein Bild von den Lebenserschei- N. F. XVIII. Nr. 30 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 431 nungen der Tiere und an der Hand der in der Zoologie ja besonders ausgestalteten entwicl CH. CH, CH,.C1 CHsj.CI I - H.,0 II + 2 Cl CH-OH ■ >■ CH > I +JC1 CH-Cl CH-Cl > I CH„ CH„ + 3H2O CHg CH,.OH ■> CH-OH CH. CH,.C1 CH^-OH durchführen läßt, kam aus verschiedenen' Gründen, ^^'^'' '^'^ Kochsalz oder Kalziumchlorid oder sauer reagierende ,,„• c~u ■„ •_! -1. u • j .. 1. • 1. T>. 1 Salze wie Ferosulfat und Aluminiumsultät die Entstehung des Wie Schwierigkeiten bei der technischen Durch- Glyzerin stark, wenn auch nicht so stark wie die alkflisch tührung und Mangel an Azeton, nicht in Betracht, reagierenden Salze, begünstigen. 444 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 31 Mengen von Glyzerin erhalten werden können. „Man nimmt, schreiben Conn stein und Lud ecke, eine lOproz. Zuckerlösung, setzt derselben etwas Kalium, Magnesium und Phosphor als Nährsalze für die Hefe zu, fügt zu dieser Lösung lo"/,, vom Zucker Hefe und das entsprechende alkalisch reagierende Salz, welches durch seine Gegenwart die Hefe zur Glyzerinbildung veranlaßt, und über- läßt dann diese Mischung bei einer Temperatur von 30 — 35" sich selbst. Nach kurzer Zeit be- ginnt eineKohlensäureentwicklung. Diese dauert un- gefähr 48 — 60 Stunden. Bei einer Prüfung auf Zucker findet man dann, daß der Zucker aus der Flüssigkeit verschwunden ist. Man kann nun aus dieser Flüssigkeit den Alkohol und etwa noch ge- bildete flüchtige Produkte abdestillieren und die restierende Plüssigkeit eindampfen. Aus dem zu- rückbleibenden Salzbrei kann man dann durch Ab- saugen oder durch Extrahieren mit Alkohol, ev. auch durch Abdestillieren mit überhitztem Wasser- dampf, das Glyzerin gewinnen." Welcher Art das alkalisch reagierende Salz ist, ist für die Ent- stehung des Glyzerins zunächst ziemlich gleich- gültig, nur hat sich gezeigt, daß die alkalischen Maischen ausgezeichnete Nährböden für säure- bildende Bakterien darstellen und infolgedessen einerseits ein mehr oder minder großer Teil des Zuckers durch Nebenreaktionen, vor allem durch Umwandlung in Milchsäure verbraucht, andererseits das entstehende Glyzerin durch die entstehenden Säuren, von denen es sich nur schwer trennen läßt, verunreinigt wird. Nur ein alkalisch reagierendes Salz gibt es, daß auf die säurebildenden Bakterien stark antiseptisch wirkt, das Natriumsulfit Na.^SOg, und da dieses Salz die Glyzerinbildung in be- sonders hohem Maße begünstigt und auch von der Hefe sehr gut vertragen wird, hat es in der Praxis der Glyzeringewinnung durch Vergärung von Zucker die entscheidende Rolle gespielt. So wurde bei Verwendung von 40 "/o Natriumsulfit 23,1 "/„ Glyzerin 8o«/„ „ 27,3% 120»/,, „ 33.3 7o 200 "/o „ 36.7 7u erhalten.^) Auch läßt sich die gleiche Hefeprobe unter gewissen Vorsichtsmaßregeln immer von neuem verwenden, die ungewohnte Arbeit in der natriumsulfithaltigen Flüssigkeit übt keine schädigende Wirkung auf die Hefe aus. Die Theorie des im Vorstehenden skizzierten Verfahrens ist noch keineswegs geklärt,-) praktisch ') Die Prozentzahlen in der vorstehenden Übersicht be- ziehen sich auf die angewandte Menge Zucker. ^) Daß mit steigender Glyzerinausbeute die Menge der normalen Vergärungsprodukte des Zuckers, des Alkohols und des Kohlendioxyds abnehmen, ist selbstverständlich, bemerkenswert aber ist, daß bei der Vergärung in natriumsulfithaltigem Medium außer dem Glyzerin noch ein zweites, bei der nor- malen Gärung ebenfalls nur in sehr geringer Menge auf- tretendes Nebenprodukt, der Acetaldcliyd an Menge stark zu- nimmt. Die Ursache für diese Erscheinung liegt vermutlich darin, daß das bei der Vergärung des Zuckers entstehende Kohlendioxyd das Natriumsulfit z. T. in Natriumbisultit iiber- aber hat das Verfahren im Kriege eine große Be- deutung gehabt, wurden doch im Monat 4 bis 5 Millionen Kilogramm Zucker zu Glyzerin ver- goren und daraus etwa i Million Kilogramm Gly- zerin gewonnen. Der Mangel an Zucker aber, unter dem Deutschland in den letzten Kriegsjahren gelitten hat, ist durch diesen technischen Prozeß nicht zu erklären, denn wie die angeführten Zahlen ja ohne weiteres ersehen lassen, ist der Bevölke- rung durch die Glyzeringewinnung noch nicht ein- mal I kg Zucker pro Jahr und Kopf entzogen worden, der Mangel an Zucker ist vielmehr haupt- sächlich auf den geringeren Anbau von Zucker- rüben zurückzuführen. Mg. Zoologie. Spemanns neuere entwicklungs- mechanische Arbeiten. Spemann hatte, wie er- innerlich sein wird, in mehreren Arbeiten bis 191 2') gezeigt, daß der Augenbecher bei Rana esculenta nie imstande ist, aus über ihm implan- tierter Kopf- oder Rumpfhaut eine Linse zu er- zeugen, während bei Bombinator pachypus we- nigstens aus Kopfhaut durch bloße Nachbarschaft des Augenbechers eine Linse entstehen kann und anderseits auch die ursprünglichen Linsenbildungs- zellen nach Ausschaltung des Augenbechers we- nigstens Andeutungen einer Linse zustande bringen. Bei Rana sylvatica, einer amerikanischen Art, ver- mag nach Lewis sogar der unter die Rumpfhaut transplantierte Augenbecher diese zur Bildung einer Linse anzuregen. Ahnlich wie bei den Anuren finden sich auch sonst im Tierreich Unter- schiede von abhängiger bis zu unabhängi- ger Differenzierung der Augenlinse, worüber Spemann ausführlich berichtet. — Im gleichen Jahre behandelte Spemann die Entwicklung künstlich umgedrehter Hirnteile bei Amphibien- embryonen.-) „Man könnte mit einer kleinen Übertreibung sagen, daß man das normale Hirn wiederherstellen würde, wenn man diesen inver- tierten Abschnitt in seine normale Lage zurück- drehte." Gerade soviel, wie vorn etwa vom Ge- hirn oder den Augenanlagen stehen geblieben ist, soviel fehlt an den hinten sich ausbildenden ent- sprechenden Teilen, so daß unter Umständen vier Augenbecherfragmente sich ausbilden. Soviel über Spemanns wichtigste frühere Ergebnisse, um nun zu den neueren fortzu- schreiten, die gleichfalls an die Tiefen alter ent- wicklungsmechanischer Streitfragen rühren und zwischen den früher manchmal schlagwortartig ge- brauchten Thesen und Antithesen auf empirischer Basis vermitteln. führt und das Natriumbisulfit mit dem Acetaldehyd dann die bekannte Bisulfitverbindung bildet und ihn so der weiteren Verarbeitung durch die Hefe entzieht. ') H. Spemann, Zur Entwicklung des Wirbeltierauges. Zoologische Jahrbücher, Abteilung für Allgemeine Zoologie, Band 32, Heft i, 1912, 9S Seiten, 6 Tafeln. -) Derselbe, Über die Entwicklung umgedrehter Hirnteile bei Amphibienembryonen. Zoologische Jahrbücher, .Supple- ment .\V (Festschrift Spengel) Band 3, 4S Seiten, 3 Tafeln. N. F. XVIil. Nr. 31 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 44S Spemann nahm Transplantationen an noch auf dem Gastrulastadium stehenden und zwar zum Teil sehr frühen Embryonen von Triton taeniatus vor. ^) Das noch fast kugelige „Ei" in seinen Hüllen zeigt auf diesem frühen Stadium äußerlich nur eine trichterförmige Einziehung, den Urmund. Ich übergehe alle Einzelheiten über die Operationstechnik, zu der außer den früher ver- wendeten Glasnadeln, Haarschlingen und Glas- brücken jetzt auch eine sehr feine „Mikropipette" oder Transplantationspipette benutzt wurde, und erwähne nur noch, daß der Keim stets aus seinen Hüllen befreit wurde und die sehr verschiedene Farbe der Eier aus verschiedener Brut das genaue Erkennen eines transplantierten Stückes bis in spätere Entwicklungsstadien ermöglichte. Wurde nun auf frühem Gastrulationsstadium ein Stückchen zukünftiges Hirnrückenmark (Me- dullarplatte) mit einem Stückchen zukünftigen reinen Ektoderms von einem anderen Embryo vertauscht, so wird jenes zwischen Epidermis- zellen zu Epidermis und dieses, das eigentlich zu Epidermis bestimmt war, zwischen den Zellen der Medullarplatte zu Medullarplatte. Die Stücke verraten ihre fremde Herkunft nur durch die Farbe, betätigen also noch keinerlei pro- spektive Potenzen. Es hindert ferner auch ein ziemlich großer Altersunterschied der beiden Stücke nicht die völlige Aneignung des implan- tierten Stücks durch den neuen Besitzer. War jedoch dielVIedullarplatte schon äußer- lich sichtbar, so konnte weder jemals mehr Epidermis inMedullarsubstanz umgewandelt werden, vielmehr wurde das transplantierte Stück nach bereits vollkommener Einheilung später wieder ausgestoßen, ebensowenig wurde Medullarplatte jetzt noch zu Epidermis, sondern das transplan- tierte Stück sank in die Tiefe und entwickelte sich wochenlang weiter, jedoch zu einem be- stimmten Hirnabschnitt. Die Indifferenz der Gewebselemente hat aufgehört. Der Zeitpunkt, von dem ab sich das Gewebe als nicht mehr indifferent erweist, ist ferner aber auch je nach dem Orte verschieden. Schon beim Beginn der Gastrulation kann nämlich, wie weitere Versuche lehren, ein nahe dem Urmund — ■ den oberen Urmundlippen — entnommenes Stück, in spätere Epidermis verpflanzt, sich nicht mehr zu Epidermis ausbilden, sondern wird bereits un- bedingt zu Medullarrohr. Die fortschre it ende Determinierung des Ektoderms zu Medullar- platte breitet sich also von der erwähnten Stelle her allmählich nach vorn — da der Urmund hinten liegt — aus. Wurde zu Beginn der Gastrulation ein großes. ^) Hans Spemann, Über die Determination der ersten Organanlagen des Amphibienembryo, I — VI. Archiv für Ent- wicklungsmechenik Band 43, Heft 4, 1918, Seite 448 bis 555. 6 Tafeln. Derselbe, Über Transplantationen an Amphibienembryonen im Gastrulastadium. Sitzungsberichte der Gesellschaft natur- forschender Freunde, Berlin. Jahrgang 1906, Nummer 9, Seite 306 bis 320. halbkugelschalenförmiges Stück aus dem Dach der Gastrula ausgeschnitten und um 90 oder 180 Grad gedreht wieder eingesetzt, so entwickelte sich, wie nach obigen frühen Austauschversuchen schon zu erwarten, stets ein im wesentlichen nor- maler Embryo unter Verwendung bestimmter Materialteile zu anderem als ihrem ursprünglichen Zweck. Hieraus ergibt sich ferner die Bedeu- tung der unteren Gastrulahälfte für die Medianebene und somit das Fortschreiten des determinierenden Einflusses von unten nach oben. Als jedoch bei vorgeschrittener Gastru- lation die Drehung eines Rückenstücks, übrigens eines kleineren, um 180 Grad (also Vertauschung von Vorn und Hinten) vorgenommen wurde, ent- stand ein Embryo mit „Situs in versus", d. h. mit Vertauschung von Rechts und Links in der Asymetrie der Eingeweide. Dies kann nur darauf beruhen, daß auf diesem Stadium bereits Meso- Entodern an dem Ektoderm festhängt, also mit umgedreht wird und im Urdarmdach bereits die Tendenz zu Asymmetrie des Urdarms fest determi- niert ist. Gleichzeitig beweist die durchaus ty- pische Ausbildung des ganzen Situs viscerum da- gegen, ohne irgendeine Abnormität mit Ausnahme der Inversion, die noch weitgehende Indifferenz oder Umbildungsfähigkeit auch des übrigen Ento- Mesoderms. Spemann vereinigte ferner in mehreren Ver- suchen zwei gleichseitige Gastrulahälften mit- einander an den Schnittflächen so, daß das Vorder- ende der einen an das Hinterende der anderen zu liegen kam. Dann griff von jeder Urmundhälfte die Gastrulation auf das anstoßende Material der anderen Keimhälfte über, und an dem zusammen- gesetzten Keim entstanden vorn und hinten je eine Medullarplatte. Es sieht aus, als umarmten sich die Embryonen, und jeder sähe über die Schulter des anderen. Die verschiedene Farbe der beiden Keimhälften läßt dabei deutlich er- kennen, daß diese Teile sich zum Teil aus dem noch indifferenten Material von anderer prospek- tiver Bedeutung und noch ohne faktische prospek- tive Potenz unter dem seitlichen Einfluß des angeheilten Partners bilden. Situs inversus war übrigens von Spe- mann 1906, Preßler 1911 und Meyer 1913 schon bei Anuren nach vollendeter Ausbildung des Neuralrohrs erzielt worden, wenn ein vier- eckiges Stück von diesem samt Nachbarschaft, also der bereits eingesenkten Medullarplatte, samt dem darunter gelegenen Dach des Urdarms heraus- geschnitten und unter Vertauschung von Vorn und Hinten wieder zur Einheilung gebracht wurde. ^) ') Hans Spemann, Über eine neue Methode der em- bryonalen Transplantation. Verhandlungen der Deutschen Zoologischen Gesellschaft 1906, Seite 195 bis 202. Kurt Preßler, Beobachtungen und Versuche über den normalen und inversen Situs viscerum et cordis bei Anuren- larven. Archiv für Entwicklungsmechanik, Band 32, 1914, Heft I, 35 Seiten, 4 Tafeln. Rudolf Meyer, Die ursächlichen Beziehungen zwischen dem Situs viscerum et cordis. Ebenda Band 37, 1913, Heft I, Seite 85 bis 107. I Tafel. 446 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 31 Nicht immer ist die Ausbildung des Situs inversus ganz regelmäßig. Daß meist nicht nur der Darm, sondern auch das Herz sich spiegelbildlich anlegt („Situs inversus viscerum et cordis"), kann nach S p e m a n n und P r e ß 1 e r nicht unmittelbar durch die Operation, sondern nur mittelbar durch den zu inverser Entwicklung gezwungenen Darm ver- anlaßt sein. Meyer führt im einzelnen aus, der Situs inversus cordis könne nicht durch den Blut- strom hervorgerufen werden, da dieser, wenn er beginnt, ein unsymmetrisches Herz schon vorfinde. Der Situs cordis werde vielmehr auch normal durch eine Asymmetrie der mesodermalen Herz- anlage eingeleitet, und es leuchte am ehesten ein, daß diese herbeigeführt wird durch die Einwirkung der im entscheidenden Stadium allein unsymme- trischen Leber auf däi ihr anliegende mittlere Keimblatt. Die spiegelbildliche Entwicklung er- greift übrigens nicht nur öfter auch den normal rechts gelegenen After, sondern ferner noch das Spiraculum, das Atemloch, welches nach Abfall der äußeren Kiemenanhänge und Verschluß der Kiemendeckel über den Kiemenbögen als letzter Rest der Kiemendeckelöffnung normal auf der linken Seite der Kaulquappen kurze Zeit offen bleibt. Anderweitige Probleme behandelt eine Mit- teilung Spemanns über Versuche an noch früheren Stadien.^) Starke Einschnürung eines Tritoneies kurze Zeit nach der Befruchtung teilt das Ei in zwei durch eine dünne Brücke mit- einander verbundene Hälften, von denen nur eine den deutlich erkennbaren Eikern enthält. Die Eintrittsstellen von Spermatozoen, die „Dotter- löcher", lassen gleichzeitig erkennen, wieviele Sper- matozoen eingedrungen sind, von denen stets nur eins sich mit dem Eikern vereinigt, während die übrigen zugrunde gehen. Es furcht sich dann zunächst die den Eikern enthaltende Eihälfte, bis eine F"urche den die beiden Eihälften verbindenden Plasmastiel durchtrennt und zugleich ein Kern in die bisher kernlose Hälfte hinüberwandert. Von da ab furcht sich langsam auch diese Hälfte. Wie nun nornialkernige Eihälften von Triton sich ent- weder zu Zwillingen von halber Größe oder aber zu einem halbgroßen Embryo und einem Bauch- stück ohne Achsenorgane entwickeln, je nach der nicht immer gleichen Lage der Medianebene zur ersten Furchungsebene, so machen es auch die künstlich erzeugten ungleichkernigen Hälften nach später erfolgender Voneinandertrennung ganz un- beeinflußt davon, daß die eine Hälfte zum Beispiel '^/jg des Furchungskerns erhalten hat, die andere nur '/le- Fs liegt also am Ei- plasma, nicht an den Kernen, zu welchem Teile des Embryos sich die Teile des Keimes ent- wickeln. Wird nur eine schwächere Schnürung des Eies ') H. Spemann, Über verzögerte Versorgung von Keim- teilen. Verhandlungen der Deutschen Zoologischen Gesell- schalt, 24. Jahresversammlung, 1914, Seite 216 bis 221. vorgenommen, so trennen sich die beiden Eihälften später meist nicht, es entstehen Doppelbildungen, deren Hälften verschieden „alt" sind. Trennt man dagegen gleich nach der Befruch- tung die beiden Eihälften völlig, so entwickelt sich die mit Eikern in der zu erwartenden Weise, aber in der anderen können nun ein oder mehrere überzählig eingedrungene Spermatozoen in Tätig- keit treten und gleichfalls eine Furchung veran- lassen, während sie in einem intakten Ei zugrunde gehen würden, woraus folgt, daß sie normaler- weise durch den befruchteten Eikern irgendwie gehemmt werden. Das kann auch eintreten, wenn eine eikernhaltige und eine nur spermatozoen- haltige Eihälfte durch einen dünnen Stiel mit- einander verbunden bleiben, und beweist für jeden Fall, daß der Befruchtungsmechanismus des Triton- eies anders ist als bei solchen Eiern, die nach Eindringen mehrerer Spermatozoen in Unordnung geraten, auch anders als bei denen, in welche normalerweise eine Vielzahl von Spermien ein- dringen und vorübergehend in den Dienst der Entwicklung gestellt werden. V. Franz, Jena. Geologie. Über die drehende Wirkung der Erdbeben. Wohl bei allen Erdbeben von einiger Stärke wird die Wahrnehmung gemacht, daß frei auf- gesetzte, oder auch an einem Fixpunkte mit ihrer Unterlage verkeilte Steinmassen, Grabsteine, Denk- mäler, Säulenteile usw. durch die Erschütterung um ihre Achse gedreht, zumeist auch gleichzeitig auf ihrer Unterlage verschoben werden. Dasselbe geschieht auch nicht selten an den durch die Er- schütterung losgelösten Oberteilen von Gebäuden, an kleineren Schornsteinen, an Fabrikskaminen, ja selbst auch an Kirchtürmen und an deren Dächern. Zumeist steigt der Winkel der Ver- drehungen bis etwa 20" aber auch Drehungen bis zu 90" sind nicht selten. In Ausnahmefällen können auch Umdrehungen bis zur Gegenstellung in 180" eintreten. Die Erscheinung hatte seinerzeit zur Annahme von Wirbelstößen bei Erdbeben, zur Aufstellung der vortikosen oder rotatorischen Erd- beben, geführt. Aber bereits Ch. Darwin hat darauf hingewiesen, daß ein Wirbelstoß nur im Mittelpunkte des Wirbels eine Drehung hervor- bringen könnte. Eine solche drehende Bewegung gleich der eines Rades um seine Achse, könnte überdies nicht durch elastische Schwingungen fortgepflanzt werden, sie müßte sich in Kompres- sions- und Torsionswellen zersplittern; gegebenen- falls auch Zerreißungen an der Oberfläche hervor- rufen. Verschiedentlich wurde versucht die Drehung aus einfacher Hin- und Herbewegung in gerad- liniger Richtung abzuleiten. Auf flacher Unter- lage aufruhende Gegenstände werden bei raschen horizontalen Bewegungen dieser Unterlage ver- N. F. XVIII, Nr. 31 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 447 möge ihres Trägheitsmomentes zum Hin- und Her- gleiten gebracht. Da die Gegenstände und die Unterlage einander zumeist nicht vollkommen gleichmäßig berühren, entstehen bei der Verschie- bung Reibungswiderstände. Indem die Stellen stärkerer Haftung bei der Bewegung zurückgehalten werden, entsteht leicht Schiefstellung, beziehungs- weise Verdrehung der Kanten im Vergleich zur ursprünglichen Stellung. An einfachen Versuchen kann das leicht gezeigt werden. Diese Erklärung hat Mall et bevorzugt.') Eine Theorie von Th. Gray -) beruft sich da- rauf, daß ein kantiger Gegenstand eine Drehung erleiden muß, wenn er durch einen Stoß in Be- wegung gesetzt wird, der nicht genau senkrecht zu einer Kante und nicht genau in der Verbin- dungslinie zwischen dem Schwerpunkt und einer Ecke gelegen ist. Der Gegenstand wird dann zu- nächst um eine Kante geneigt, gleichzeitig aber um eine Ecke geschwungen, und hat, wenn er in die Ruhelage zurückkehrt, seine Kantenstellung verändert. Schwerlich kann diese Erklärung aber verwendet werden für Drehungen von Gegen- ständen mit kreisförmiger Basis und keinesfalls für Drehungen um einen Winkel von mehr als 90". Schon Fr. Hoff mann hatte versucht die so- genannte rotatorische Bewegung durch kombinierte Wirkung sich kreuzender, undulatorischer Be- wegungen zu deuten,^) und damit die späteren von Oldham*) und Reid'') gegebene genauere Erklärung vorausgeahnt. Instrumentale Beobach- tungen lehren, daß während einer Erschütterung Impulse aus verschiedenen Richtungen eintreffen. Dadurch kommen in der Tat unregelmäßige Rota- tionsbewegungen der schwingenden Erdteilchen zustande. Die Drehung ist aber nicht der eines Rades um einen Mittelpunkt vergleichbar, es ist viel- mehr eine Art Farallelrotation, wie sie die Fläche eines Buches ausführt, das mit parallel beibehaltener Kantenlage einen kreisförmigen oder elliptischen Weg entlang bewegt wird. Eine schwan- kende Säule erhält während einer Schwingungs- dauer Anstöße aus neuen Richtungen, sie wird da- durch um wechselnde Stützpunkte gedreht und der Schwerpunkt beschreibt unregelmäßige Spiralen. •) Dynamics of Earthquakes. Transact.- Roy. Irish. Acad. 1846. XXI. ^) Milne, The earthquake in Japan of Febr. 22. 1S80. Transact. Seismol. Society. Japan. Vol. I. ^) Nachgelassene Werke. Bd. II. S. 310. In Hörn es, Erdbebenkunde 1893, S. 37. ■*) R. D. Oldham, Report of the great earthquake of the 12 June 1897. Mem. of the geol. Survay of India. Cal- cutta 1899. ^) N. F. Reid, The Mechanics of the Earthquake. In Rep. of the State earthquake. Invest. Comm. The California earthqu. of April 18. Washington 1906. Vol. II. p. 43. Auf verschiedene Weise kann, wie leicht ein- zusehen ist, der Richtungswechsel der Schwingungen bewirkt werden. Z. B. durch das Ineinander- greifen der schneller fortgepflanzten Konpressions- wellen eines nachfolgenden mit den langsameren Torsionswellen eines ersten Stoßes, oder durch das Zusammentreffen der Wellen gleichzeitiger Stöße von verschiedenen Erregungsorten; dann auch durch Ablenkungen und Brechungen beim Durchgange der Stoßstrahlen durch Gesteine von verschiedener Elastizität. Hier und da findet man die Angabe, daß in einem begrenzten Bezirke eines Schüttergebietes die Drehung der Gegenstände nach einer be- stimmten Richtung vorherrscht. Über sehr be- merkenswerte diesbezügliche Beobachtungen hat kürzlich Tornquist berichtet.') Das Erdbeben von Rann in Südsteiermark am 29. Januar 191 7 war von einem starken, für die meisten Bewohner fühlbaren Drehmoment begleitet. Die Gegenstände im Stadtgebiete selbst zeigten durchweg Drehung im gleichen Sinne, u. zw. entgegengesetzt der Richtung des Uhrzeigers. Im Osten aber vollzog sich eine Änderung. Im westlichen Teile des östlich gelegenen neuen Friedhofes waren die Grab- steine noch m der gleichen Richtung gedreht. Am Ostrande dieses Friedhofes aber herrschte Drehung im entgegengesetzten Sinne. Der Drehungswechsel fällt in die Zone der stärksten Erdbebenwirkung. Diese Zone liegt in der Richtung einer tektoni- schen Störung, welche weiter im Südosten den Ostrand des Üskokengebirges begleitet und geo- logisch junge Schichten (Leithakalk und Belveder- schotter) verworfen hat. Nach Tornquists Auf- fassung war das Ranner Erdbeben die jüngste Teil- bewegung am nördlichen Ende dieser Linie. Tornquist erklärt die drehende Wirkung nicht durch das Zusammentreffen verschiedener Schwingungen, sondern durch eine spirale Bewegung der verschobenen Schollen selbst, die an der Ver- werfungsfläche gegeneinander gleitend durch eine Unebenheit auf dieser Fläche in entgegengesetzter Richtung verdreht worden sind. In jedem Falle verleihen die Angaben von Tornquist den Beobachtungen der Erdbeben- drehungen erneutes Interesse ; und eine Bestätigung der Beharrlichkeit der Drehungsrichtungen über größere Bezirke bei anderen Beispielen könnte Einfluß haben auf unsere Vorstellungen von der Art der seismischen Erregung und rückwirkende Schlüsse gestatten aus den Drehbewegungeij auf die Lage der Herdlinien. F. E. Suess. ') A. Tornquist, Das Erdbeben von Rann a. d. Save vom 29. Januar 1917, I. Teil. Akad. d. Wiss. Wien. Mitt. d. Erdbeben-Kommission 1918. N. F. Nr. 52, S. 26. 448 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 31 Bücherbesprechimgen. Wien, W., Vorträge über die neuere Ent- wicklung der Physik und ihrer An- wendungen, gehalten im Baltenlande im Frühjahr 1918 auf Veranlassung des Ober- kommandos der achten Armee. 1 16 Seiten. Leipzig 1919, J. A. Barth. — Geb. 6 Mk. Es ist sehr zu begrüßen, daß die drei Vorträge, die vom Verf. vor einem Jahre in den baltischen Städten Riga, Dorpat und Reval gehalten worden sind, durch die vorliegende Veröffentlichung weiteren Kreisen zugänglich gemacht werden. Wenn ihr volles Verständnis auch wissenschaftliche Schulung und Kenntnis der physikalischen Grund- lagen voraussetzt, so dürfte der vorzügliche Über- blick über die gesamte neuere Entwicklung der physikalischen Erkenntnis und deren Zusammen- hang mit verwandten Gebieten allen allgemein naturwissenschaftlich Interessierten, auch falls bei ihnen die genannte Voraussetzung nicht voll zu- treffen sollte, sehr willkommen sein Der erste, in Riga gehaltene Vortrag gibt in konzentrierter, aber durchweg klarer, leichtver- ständlicher Form eine zusammenfassende Be- trachtung der neueren Errungenschaften der physi- kalischen F'orschung seit Helmholtz, Kirch- hoff, Clausius und Hittorf. Er zeigt zu- nächst die Bedeutung der Entdeckung der Hertz- schen Wellen für die Physik und Technik, be- trachtet dann die F"ortschritte auf dem Gebiet der Wärmelehre insbesondere in der Erzielung tiefer Temperaturen, die im Anschluß an die Unter- suchung der Kathodenstrahlen gemachte Entdeckung der Röntgenstrahlen, verfolgt im einzelnen die Vorgänge in Entladungsröhren und geht dann zur Radioaktivität und Spektroskopie über. Daran schließt sich eine kurze Darstellung der besonderen Errungenschaften der theoretischen Physik, die in der Entwicklung und dem Ausbau der Theorie der Elektronen, der Relativität, der Wärmestrahlung und der Serienspektren für die gesamte neuere physikalische Erkenntnis grundlegend geworden sind. Bei der Kürze der Darstellung eines Gegen- standes von solch gewaltigem Umfang wird vom Leser naturgemäß ernste Gedankenarbeit gefordert. Dem Kundigen wird die Präzision der Darstellung jedenfalls hohen Genuß gewähren. Ref empfindet nur an 2 Stellen eine geringe Unklarheit, zunächst auf S. 6 und 7, wo die Auffassung der Elektrizitäts- leitung in Gasen in gewisser Hinsicht vielleicht mißverständlich werden könnte, und dann auf S. 31, wo der Einfluß der Temperatur auf den Verlauf der Wärmestrahlung angegeben wird. Der zweite, in Dorpat gehaltene Vortrag be- schäftigt sich in anregender Weise mit dem Ver- hältnis der Physik zur Erkenntnistheorie. Er be- ginnt mit der Betrachtung der Helm holt zschen erkenntnistheoretischen Untersuchung der Grund- lagen der Geometrie, in welcher er unabhängig von Riemann die nichteuklidische Geometrie begründet hat. Daran schließt sich die Würdigung der Lehren Ernst Machs und die nähere For- mulierung des Gedankeninhalts der durch ihn bereits verallgemeinerten, durch Einstein aus- gebauten Theorie der Relativität. Der dritte Vortrag behandelt die Beziehungen der Physik zur Technik. Er enthält den berech- tigten Wunsch, daß diese bisher wenig lebhaft gepflegten Beziehungen im Interesse des Fort- schritts beider Gebiete, insbesondere aber der Technik, künftig engere werden möchten. Es ist noch auf die jedem Vortrag angefügten Bemerkungen hinzuweisen, in welchen teilweise Literaturbelege, teilweise nähere Einzelheiten zu den besprochenen Fragen angegeben werden. A. Becker. Brandhoff, A., Etwas aus Unendlichem. Ein neues Energieprinzip. 32 Seiten. Frank- furt a. M. 1918, Akademisch-Technischer Verlag. Brosch. 2 M. Das vorliegende Heft befaßt sich mit der Be- schreibung einer „Weltbildungsmechanik, die die Entstehung der Weltkörper und ihre Bewegungs- erscheinungen aus der Unendlichkeit heraus" er- klären will. Von der Auffassung ausgehend, daß das Weltkörpersystem „nach außen" dauernd Energie abgebe, wodurch sein Energievorrat ver- ringert würde , glaubt Verf. nach einer äußeren Quelle suchen zu müssen, aus der Stoff und Energie sich ergänzt. Er sieht diese im Vor- handensein eines unendlichen Stoffes, den er „Weltäther" nennt und dessen „Strudeldruck" das Weltgeschehen bestimmen soll. Wir können wohl darauf verzichten, näher hierauf einzugehen, da wir nicht an die „große Umwälzung in der Weltanschauung der Menge" glauben, die Verf. sich von seiner Schrift verspricht. A. Becker. Literatur. Zimmermann, Dr. L. , Saladini de Asculo Serenitatis principis Tarenti physici principalis compendium aromatariorum. Zum ersten Male ins Deutsche übertragen, eingeleitet, erklärt und mit dem lateinischen Text neu herausgegeben. Leipzig 1919, J. A. Barth. 8 M. luliSllt: Grober, Das Ticrleben des Belad el Djerid (Südtunesien). (15 Abb.) S. 433. O. Hartleb, Zur Vorbildung auf das naturwissenschaftliche und medizinische Studium. S. 442. — £lnzelberichte : W, Connstein und K. Ludecke, Glyzeringewinnung aus Zucker. S. 443. H. Spemanns neuere entwicklungsmechanische Arbeiten. S. 444. F. E. Suess, Über die drehende Wirkung der Erdbeben. S. 446. — Bücherbesprechungen: W. Wien, Vorträge über die neuere Entwicklung der Physik und ihrer Anwendungen. S. 448. A. Er and ho ff, Etwas aus Unendlichem. — Literatur: Liste. S. 44S. Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstraße 41, erbeten. Verlag von Gustav Fischer in Jena- Druck der G. Pätz'schen Bucbdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue Folge 18. Band; der ganzen Reihe 34. Bund. Sonntag, den lo. August 1919. Nummer 33. [Nachdruck verboten.} Der natürliche Tod der Pflanzen. Von Dr. Friedl Weber (Graz). Der bekannte russische Physiologe M e t s c h n i - koff beschäftigte sich am Pasteur-lnstitut in Paris viele Jahre hindurch mit vergleichend-physiologi- schen Studien über das Problem des natürlichen Todes insbesondere der Tiere und des iVIenschen. Um sich darüber zu unterrichten, welche Ant- wort von botanischer Seite auf die Frage gegeben werde, warum die Pflanzen sterben, wandte er sich um Auskunft an Hollands berühmten Forscher Hugo de Vries. In der Antwort, die Metschnikoff zuging hieß es: „Die Frage, die Sie an mich richten, ist eine der schwersten, die es gibt. Ich glaube nicht, daß man viel von der eigentlichen Ursache des Todes der Sommerpflanzen weiß, aber man hat sich gewöhnt, sie der Erschöpfung der Organe zu- zuschreiben." Diese wenigen Worte charakterisieren vortreff- lich die Situation, in der sich die Wissenschaft dem Todesproblem heute noch gegenüber befindet. In älteren Werken — ich verweise nur auf D e Candolles Pflanzenphysiologie — fand dieses Problem meist eine liebevolle, wenn auch wenig erfolgreiche Darstellung, aus neueren und neuesten Lehr- und Handbüchern verschwindet seine Er- örterung bedauerlicherweise immer mehr, wohl deshalb, weil wenig Gesichertes darüber vorliegt. Auch ist es schwer, einen Überblick über den so überaus vielgestaltigen Fragenkomplex zu ge- winnen. Zunächst wird es gut sein, zwei Vorfragen zu erörtern : Was verstehen wir unter Tod und was unter natürlichem Tod? Der Tod kann nur definiert werden in Rela- tion zum Leben, sagt (in Anlehnung an Ver- worn) A. Lipschütz in seiner ausgezeichneten „Allgemeinen Physiologie des Todes". Der Tod ist häufig als der Stillstand des Lebens bezeichnet worden;^) der Wert dieser Definition hängt ganz davon ab, ob dem Begriffe des Lebens ein eindeutiger Inhalt gegeben werden kann. Halten wir uns an eine der neuesten Kenn- zeichnungen des Lebens: Das Leben erweist sich als eine doppelsinnige, selbsttätige Veränderung (Tschermak), wobei mit dem Worte doppel- sinnig auf die zweifache Richtung des Lebens- prozesses, auf die auf- und abbauende Stoffmeta- ') Natürlich gibt es noch zahlreiche anderslautende Defi- nitionen, so sagt z. B. Miehe (1915): Der Tod ist die Un- möglichlieit, die enge Beziehung der inneren Zustände zu der Umgebung aufrecht zu erhalten. (Allgemeine Biologie, Samm- lung ,,Aus Natur und Geisteswelt".) Leben heißt Dauer verneinen. Erhard Buschbeck. Der Anbruch 1918. morphose, auf Assimilation und Dissimilation hin- gewiesen wird. Der Stoffwechselprozeß ist jedenfalls eines der wichtigsten Charakteristika des Lebens, und der Tod wäre demnach gut gekennzeichnet als Still- stand der Stoffwechselvorgänge. Ist aber wirklich jeder Stillstand der Stoff- wechselvorgänge als Tod zu bezeichnen. Die ruhenden Samen und Sporen geben kein Lebens- zeichen von sich, ihr Stoffwechsel scheint still zu stehen — und doch tot wird sie niemand nennen wollen; es kommt ihnen vielmehr ein ganz eigen- artiges Leben zu, das man seit Cl. Bernard als latent bezeichnet. IVlan könnte demnach nur einen irreversiblen Stillstand der Stoffwechselprozesse, den endgültigen Verlust der Befähigung zu doppelsinniger selbst- tätiger Veränderung als Tod benennen. Nun ist aber noch keineswegs mit völliger Sicherheit ent- schieden, ob es sich beim latenten Leben der Samen wirklich um einen völligen Stillstand des Lebens handelt. Becquerel, der die Verhältnisse eingehend diskutiert hat, spricht von den zwei Möglichkeiten, der vie suspendu und der vie ralentie. Im hochgradigen Vakuum kann eine weit- gehende Trocknung der Samen erzielt werden; es läßt sich dann tatsächlich auch nicht die ge- ringste Spur von Stoff- oder Gaswechsel nach- weisen. Und doch betont Becquerel, dürfte man daraus noch nicht den Schluß ziehen, der Stoffwechsel habe vollkommen ausgesetzt. Die Membranen der Zellen könnten nämlich in diesem wasserfreien Zustand absolut impermeabel geworden sein für Gase und hinter diesen undurchdring- lichen Wänden könnte sich mit extremer Lang- samkeit ein anaerobes Leben unter ganz allmäh- lichem Abbau der Reservestoffe abspielen ; irgend- welche Anzeichen davon aber vermöchten nicht nach außen durchzudringen. Allerdings sprechen die Versuche Becquerels dafür, daß unter künstlichen Bedingungen — Trockenheit, Luftleere und abnorm niedere Tem- peraturen (bis zu — 23 5 "C) — das Leben (insbes. von Pilzsporen) nicht etwa bloß verlangsamt, son- dern vollständig unterbrochen wird und doch nach längerer Zeit wieder in Gang gesetzt werden kann.') Findet aber ein absoluter Stillstand des ') Über das Problem des latenten Lebens der Pflanzen siehe den Vortrag von Molisch ,,Der Scheintod der Pflanze". Wien 1915. 450 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVni. Nr. 32 Stoffwechsels statt, so müßte es im Experiment gelingen, die Pflanzen in ihren Ruhestadien tat- sächlich unsterblich zu machen. Unter natürlichen Verhältnissen aber, wobei es sich stets bloß um einen lufttrockenen Zustand handelt, ist das latente Leben der Samen und Sporen allerdings l'a\>\2.\X 7 Jahre lang in Kultur erhalten.^) ^) Bei Bastarden zwischen der einjährigen und zweijäiiri- gen Sippe des Hyoscyamus niger haben sich nach C o r r e n s (1904) alle Exemplare als zweijährig erwiesen; die Zweijährig- keit dominiert also. Bei der Keimzellbildung des Bastards tritt Spaltung ein, so daß in der II. Generation 25 **/o der Nachkommen einjährig, 75 "/„ zweijährig sind. (Über diesen Fall siehe auch die zitierte Arbeit Gaßners 1918.) ■-) Gereizte Ranken sind langlebiger als ungereizt ge- bliebene. ') Eiue wesentliche Verlängerung der Lebensdauer von N. F. XVIII. Nr. 32 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 457 Um eine Funktionsänderung kann es sich hier wohl kaum handeln, vielmehr scheint das aus- schlaggebende Moment die Isolierung des Blattes zu sein, wodurch es der korrelativen Beeinflussung entzogen wird. De Candolle war der Ansicht, die Zellen der Blätter werden durch die fort- währende Ablagerung der ihnen zugeführten ,,erden- haltigen Säfte" geschädigt. Durch die Isolierung des Blattes dürfte sich an der Zuführung der erdenhaltigen Säfte nicht viel ändern. Aber der Übertritt anderer Stoffe von selten der Tragpflanze unterbleibt. Metschnikoff meint, die Pflanzen und Pflanzenteile stürben nicht an Erschöpfung, sondern durch Vergiftung durch ihre eigenen Stoffwechselprodukte. Für niedere Organismen sei dies eine erwiesene Tatsache. Die Hefe tötet sich selbst durch den von ihr produzierten Alko- hol, die Milchsäurebakterien begehen Selbstmord, indem sie den Säuregehalt ihrer Nährflüssigkeit erhöhen. Auch bei den höheren Pflanzen könnte sich eine Autointoxikation einstellen. Gerade durch das Zusammenleben der Zellen im Gewebsverbande könnte die restlose und rasche Entfernung schäd- licher Stoffwechselprodukte erschwert werden. Damit wäre dann eben durch das Vielzelligwerden die unvermeidliche natürliche Veranlassung zu chronischer Schädigung, zum Altern und zum Tode gegeben. Vielleicht treten besonders in die Blätter der- artige Gifte in größerer Menge über, man hat ja schon oft die Vermutung ausgesprochen, mit dem Laubfalle erledige sich die Pflanze unnützer Aus- wurfstoffe. Mit der Isolierung des Blattes wird der Überschwemmung mit solchen Stoffen Einhalt getan, das Blatt vermag deshalb länger zu leben. Es könnten aber die Verhältnisse auch gerade umgekehrt liegen — übrigens ein Zeichen, daß man nichts Sicheres darüber weiß. Im Blatt selbst könnten diese schädlichen Produkte entstehen, dort Blättern durch Stecklingskultur hat auch Mathuse (1906, Beihefte bot. Zentralbl. XX. 1) erzielt. Beträchtlich ist die normale Lebensdauer der Blätter mancher Koniferen; darüber hat vor kurzem Zederbauer (1916) interessante Angaben gemacht: Die Lebensdauer der Nadeln der Fichte und ver- schiedener Föhren nimmt mit der Seehöhe zu, steht also im verkehrten Verhältnis zur Vegetationsdaucr. Die Nadeln der Fichte z. B. werden in einer Seehöhe von 230 m 4 — ö Jahre, in einer solchen von 600 m 7 — S Jahre und in einer Höhe von 1750 m sogar 10 — 13 Jahre alt. Der Zweck dieser Erschei- nung ist verständlich, die Ursache weniger; dasselbe gilt übri- gens für die von Kanngießer (1907) erkannte Tatsache, daß die Gesamtlebensdauer von Holzgewächsen an ihren Vegetationsgrenzen, also bei relativer Ungunst des Klimas und Bodens, zunimmt. herrscht ja die regste Stoffwechseltätigkeit; das Blatt ist die geheimnisvolle Fabrik in der — leider unnachahmbar — die Kohlehydrate erzeugt, viel- leicht auch die Eiweißstoffe gebildet werden; dabei könnten manche giftigen Nebenprodukte abfallen; im Zusammenhang mit der Gesamtpflanze vermag das Blatt sich dieser Gifte nicht rasch genug zu entledigen. Steht ihm aber unmittelbar an- schließend (wie bei der Stecklingskultur) ein eigenes Wurzelsystem zur Verfügung, so vermag dieses die schädlichen Produkte abzuführen. Eine Stütze dieser Auffassung ließe sich in Unter- suchungen Molliards (191 5) erblicken, der an Erbsenkulturen die schon wiederholt vermutete Ausscheidung für die Pflanze selbst giftiger Stoffe durch ihr eigenes Wurzelsystem nachgewiesen haben will. Im Sinne der Autointoxikationstheorie will auch Zlataroff die Ergebnisse seiner Studien über das „Altern" der Pflanzen gedeutet wissen. Er kultivierte Keimlinge der Kichererbse in Nähr- lösungen, denen ein Extrakt aus älteren Pflanzen der gleichen Art zugesetzt wurde. Er findet neben anderen Schädigungen der Versuchspflanzen eine wesentliche Herabsetzung der Wachstumsgeschwin- digkeit gegenüber den in extraktfreien Lösungen gezogenen Kontrollpflanzen. Diese Wachstums- verminderung hält er für ein wichtiges Kriterium des Alterns; sie soll verursacht sein durch die Stoffwechselprodukte der älteren Pflanzen.') Zlataroff meint, daß mit fortschreitendem Alter die Menge der selbsterzeugten Giftstoffe in der Pflanze zunehme. Es drängt sich hier jeden- falls die F"rage auf, gibt es auch noch andere Ver- änderungen des pflanzlichen Organismus, die sich im Laufe seiner Entwicklung einstellen und steigern und die man als Alterserscheinungen aufzufassen berechtigt wäre als Anzeichen und Vorboten des natürlichen Todes .^ Derartige Alterserscheinungen könnten sein zytologischer, morphologischer oder physiologi- scher Art, wobei natürlich die letzteren möglicher- weise direkt durch die ersteren bedingt wären. Mit derartigen Alterserscheinungen werden wir uns im folgenden zu beschäftigen haben.-) ') Gegen diesen Deutungsversuch lassen sich manche Be- denken erheben; die Arbeit Zlataroffs wurde in dieser Zeitschrift eingehender besprochen von Lipschütz 1917 (S. II). ^) Einiger davon wurde übrigens bereits Erwähnung getan. (Schluß folgt.) Bücherbesprechungen. Becher, Prof. Dr. Erich, Naturphilosophie. Unter Redaktion von C. Stumpf bearbeitet. X u. 427 S. (Des Sammelwerkes „Die Kultur der Gegenwart" 3. Teil, 7. Abteilung, i. Band.) Leipzig und Berlin 1914, B. G. Teubner. Das obige umfangreiche und sorgfältige Werk hätte eine frühere Besprechung verdient und unter andern Umständen auch erhalten. Die erst kürz- lich erfolgte Entlassung des Referenten aus dem Militärdienst und die notwendige Wiedereinarbei- tung in fast fremd gewordene Gedankengänge möchten die Verzögerung entschuldigen. 458 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVni. Nr. 32 Von der Einleitung abgesehen, die nach eini- gen geschichtlichen Notizen und vorläufigen Be- griffsbestimmungen die Aufgabe der Naturphilo- sophie aufstellt, umgrenzt und erläutert, gliedert der Verfasser seinen Stoff in zwei große Massen. Die eine derselben ist „Naturerkenntnistheorie" überschrieben, die andere gibt ein „Gesamtbild der Natur". Dieses Gesamtbild der Natur oder Bild der Gesamtnatur erscheint nach Becher als die eigentliche Hauptaufgabe der Naturphilo- sophie. Er entwirft es in vier größeren Kapiteln. Das erste handelt über Struktur und Bausteine der gewöhnlichen Körper und schreitet von der Molekular- und Atomtheorie zur Elektronentheorie und elektrischen Theorie der Materie fort. Das zweite Kapitel befaßt sich im wesentlichen mit der Ätherlehre, ihren Schwierigkeiten und den neuen kritischen Weiter- und Umbildungen, die sich an die Namen von Lorentz, Einstein, Planck usw. knüpfen. Nachdem so das materielle Sein behandelt worden ist, sind die beiden weiteren Kapitel dem körperlichen Geschehen gewidmet, und zwar behandelt das dritte das Geschehen an den unbe- lebten, das vierte und letzte das Geschehen an den belebten Körpern. Jenes führt die kinetische Naturauffassung durch, dieses gibt eine gedrängte Übersicht der Lebenserscheinungen (Stoffwechsel, Fortpflanzung, Bewegung usw., auch Beseelung, Gedächtnis), erörtert sodann die Abstammungs- lehre und die Frage der Entstehung des Lebens auf der Erde und im Kosmos, vertieft sich weiter- hin in die besonderen Probleme der Entwicklungs- lehre (Darwinismus, Lamarekismus, Mutations- theorie usw.) und schließt mit einer Betrachtung und Kritik des Vitalismus im wesentlich wohl- wollenden Sinne. Machen wir die Übersicht des Buches durch kürzeste Betrachtung seines ersten Teiles voll- ständig, so ist zu sagen, daß derselbe die Auf- gaben, Methoden und vor allem die Bedingungen und Voraussetzungen des wissenschaftlichen Er- kennens im einzelnen erörtert. Einen breiten Raum nehmen dabei die Voraussetzungen des Erinnerungsvertrauens, der Regelmäßigkeit des Naturgeschehens, sowie diejenige einer Außen- bzw. Körperwelt überhaupt, sodann die Ausfüh- rungen über das Kausalprinzip und damit zusam- menhängende Probleme in Anspruch. Schon aus dieser allgemeinen Übersicht geht hervor, daß es sich um ein nicht ganz leicht zu lesendes Buch handelt. Tatsächlich befaßt es sich teils mit abstrakten Denk- und Erkenntnisprinzipien ; teils, soweit die Natur selbst zur Erörterung steht, mit den höchsten, schwierigsten und umstrittensten Problemen. Aber auch hiervon abgesehen sind dem Referenten bei der Beschäftigung mit dem Werke zwei Punkte wiederholt aufgefallen, die nicht dazu beitragen, die geistige Aufnahme zu erleichtern. Der eine ist der gänzliche Mangel an Abbildungen. Es ist nicht zu bezweifeln, daß der Verf. seine Gründe hierfür hatte, denn an Schwierigkeiten seitens des Verlages kann wohl im Hinblick auf andere Bände des Sammelwerks nicht gedacht werden. Doch hatte ich in den ersten beiden Kapiteln des zweiten Teils öfters entschieden das Gefühl, daß ganz einfache Text- figuren — wenige Linien und Kreise — mehr verdeutlichen würden als viele Worte, zumal der erste Satz des Buches (in der Vorrede) dahin lautet, daß die Darstellung für jeden Gebildeten verständlich sein soll, also ohne besondere Vor- kenntnisse. Zweifelsohne hat es mit der Erfüllung solch löblicher Absicht bei Problemen wie den hier erörterten — man vergleiche die Zusammen- stellung oben — in jedem Falle schon Schwierig- keiten genug. Daß aber, um doch wenigstens ein Beispiel zu geben, von Seite 270 ab ausführ- lich über Struktur und Aufbau der Atome ge- sprochen, ja Atommodelle beschrieben und kriti- siert werden, ohne die Vorstellung des Lesers durch die kleinste schematische Zeichnung zu unterstützen, das scheint doch, hier und an anderen Stellen, diese Schwierigkeiten noch unnötig zu vergrößern. Sich des legitimen Hilfsmittels grö- ßerer Anschaulichkeit absichtlich enthalten, heißt dem Leser den Nutzen erschweren und sich selbst entgegenarbeiten. Damit kommen wir auf den zweiten Punkt. Die Darstellung des Verf., besonders im erkenntnis- theoretischen Teil, ist äußerst sorgfältig und be- hutsam. Sie arbeitet vielfach mit vorläufigen Bestimmungen, um genauere und angepaßtere erst weiterhin folgen zu lassen, verschmäht nicht Wieder- holungen und ist des öfteren etwas umständlich. So gibt der Verf. von S. 1 2 bis 20 — und die Seiten sind groß — eine „vorläufige Bestimmung des Begriffes Natur". Auf der nächsten Seite beginnt er das Kapitel „Naturwissenschaft und Naturphilo- sophie" mit der Definition einer Wissenschaft überhaupt, schließt daran die Erörterung, daß die „Wissenschaft von der Natur" neben den „Natur- wissenschaften" noch Raum für andere Disziplinen bietet, darunter auch für eine „Naturphilosophie" und droht auf S. 23, nunmehr zuerst den Begriff der Philosophie zu bestimmen, um dann zur Philo- sophie der Natur zu gelangen und weiterhin prüfen zu können, wie diese zu den Naturwissenschaften steht. Mit einer gewissen Erleichterung erfahren wir im nächsten Absatz, daß wir darauf vielleicht verzichten können. Die angeführten Beispiele sind keineswegs ver- einzelt. Und da möchten wir doch gestehen, daß gerade die gute Absicht, möglichst alles zu unter- scheiden und zu erörtern, bedachtsam nur kleine und kleinste Schritte zu machen, oft die entgegen- gesetzte Wirkung hat, als der Verf. wohl beab- sichtigt. Wer in solchen Erörterungen nicht mehr unbewandert ist, möchte aus der Breite in die Tiefe geführt werden und fühlt sich aufge- halten. Der Neuling dagegen verliert Übersicht und Faden, verirrt sich, und wird selten die An- haltsamkeit haben, einer so ausführlich-bedächtigen Darstellung bis zum Schlüsse zu folgen, ge- N. F. XVIII. Nr. 32 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 459 schweige denn sie wirild zum Anfangs- feld oder Schlußfeld gemacht werden kann. Wenn z. B. das Feld 42 Schlußfeld werden soll, so braucht man nur in die Felder 43 bis 64 die Zahlen bis 22 und in die Felder I bis 42 die Zahlen 23 bis 64 einzuschreiben. Das ist aber offen- bar mit den obigen Ausführungen nicht gemeint, sondern es soll, wie die angeführten Beispiele zeigen, bei Änderung des Schlußfeldes das Feld i und bei Änderung des Anfangsfeldes das Feld 64 unverändert bleiben, einerlei ob der Rösselsprung ein geschlossener ist oder nicht. In diesem Sinne wird also gesagt : 1. daß irgendein gewünschtes Feld zum Anfangsfeld oder Schlufifeld gemacht werden kann, 2. daß diese Umwandlung irgendeines gewünschten Feldes in das Anfangsfeld oder Schlufifeld auf äußerst mannig- faltige Weise herbeigeführt werden kann. Dem mag die folgende Betrachtung gegenübergestellt werden, der das obige Beispiel eines Rösselsprungs zugrunde liegt. Da die Felder I, II, 29, 47, 25 sich mit dem Felde 64 rösseln, so können zunächst aus dem Schlußfelde 64 die neuen Schlußfelder 2, 12, 30, 48, 26 abgeleitet werden, durch folgende Umstellungen: I, 64 — 2 I — II, 64 — 12 1—29, 64—30 1—47, 64— 48 I — 25, 64 — 26 Das soll die erste Stufe der Umwandlung genannt werden. In der zweiten Stufe können aus den Schlußfeldern 2 die neuen Schlußfelder 48, 22, 62, 58 12 „ „ „ 50, 20, 52, 62, 22 30 .. .. .. 40 26 „ „ „ 42, 62, 38 abgeleitet werden. Beispiele: I, 64—63, 2—62 I — II, 64—63, 12 — 62,, I — 29, 64 — 41, 30 — 40 (das von Dr. Schubert angeführte Beispiel) 1—25, 64—63, 26—62 In der dritten Stufe können aus den Schlußfeldern 48 die neuen Schlußfelder 44 62 „ „ „ 54, 38, 56, 6, 40, 60 5^ M " >i 4^1 40 50 .. I. 1. 36, 44 20 „ „ „ 14 52 .. " I. 34 42 „ ,> .. 32 38 „ „ „ 28 abgeleitet werden. Beispiele: I> 64—49, 2—43. 48—44 I, 64—63, 2—5, 62—6 I — 25, 64 — 63, 26 — 39, 62 — 40 l> 64—59, 2—47, 58-48 I — II, 64—51, 12—35, 50—36 I — II, 64 — 21, 12 — 13, 20 — 14 I— II, 64—53, 12—33, 52—34 1—25, 64—43, 26-31, 42-32 1—25, 64—39, 26—27, 38— 2S In der vierten Stufe können aus den Schlußfeldern 38 die neuen Schlußfelder 44 56 „ „ „ 58 6 „ „ „ 18, 52, 12, 26 36 „ „ „ 44 14 „ ,. ,. 16 28 ,, „ „ 34, 36 abgeleitet werden. Beispiele: I, 64—63, 2—37, 62-45, 38—44 1—25, 64—63, 26—37, 62—45, 38—44 1, 64—63, 2—55, 62—59, 56—58 I, 64—63, 2 — 5, 62 — 19, 6 — 18 I— II, 64—51, 12—35, 50—45. 36—44 I — II, 64—21, 12 — 13, 20 — 17, 14 — 16 1—25, 64—39, 26—27, 38—35. 28—34 In der fünften Stufe können aus den Schlufifeldern 52 die neuen Schlußfelder 34 '2 „ „ „ 10 26 „ „ „ 16 abgeleitet werden. Beispiele : I, 64—63, 2—5, 62—53, 6—33, 52—34 I, 64—63, 2 — 5, 62—13, 6—9, 12 — 10 I, 64—63, 2—5, 62—27, 6—15, 26—16 Aus den Schlufifeldern 34, 10, 16 können keine neuen Schlußfelder mehr abgeleitet werden, und es ist damit die Zahl der Schlufifelder, welche aus dem ursprünglichen Schluß- feld 64 abgeleitet werden können, sowie die Zahl der We^e, auf denen sie abgeleitet werden können, erschöpft. Aus Obigem ergibt sich, daß die Schlußfelder 44 auf sechs Wegen 40 „ fünf 38 „ vier 34, 48, 54, 5Ö, 58, 60, 62 „ drei 12, 16, 22, 26, 36, 52 ,, zwei 2, 6, 10, 14, 18, 20, 28, -!0| gewonnen werden können, wenn berücksichtigt wird, daß das Schlußfeld 62 in der zweiten Stufe auf drei Wegen gewonnen werden kann, demnach auch die in der dritten Stufe davon abgeleiteten Schlußfelder 38, 40, 54, 56, 60, sowie die in der vierten Stufe von 38 und 56 abgeleiteten Schlufifelder 44 und 58 auf drei Wegen gewonnen werden können. Folgende Felder können überhaupt nicht zu Schlußfeldern gemacht werden : 1. die Felder 4, S, 24, 46 2. die mit ungeraden Zahlen bezeichneten Felder. Das Anfangsfeld kann in erster Stufe nur nach Feld 63 verlegt werden, vermittelst der Umstellung 63 — I, 64. In zweiter Stufe kann es von Feld 63 auf die Felder 51, 13,29,15,27,3 verlegt werden. Beispiel: 51 — 63, 50 — 1,64. In der dritten Stufe können aus den Anfangsfeldern 13 die neuen Anfangsfelder 19, 55, 29, 59 29 „ „ „ 45. 31 15 .. .. .. 25 27 „ „ „ 29, 43, 37 3 .. .. .. 29, 13 abgeleitet werden. Beispiele: 19—13, 20—63, 12— I, 64 45—29, 46—63, 28—1, 64 25 — 15, 26—63, 14-1, 64 29-27. 30—63, 26—1, 64 29—3. 30—63, 2—1, 64 In der vierten Stufe können aus den Anfangsfeldern 29 die neuen Anfangsfelder 23, 21, II (die ersten beiden auf zwei Wegen) 59 .. 43. 45, 57 45 .. 37. 39 43 .. 33 37 .. 29 13 .. 7. 9 abgeleitet werden. Beispiele: 23—29, 22—3, 30—63, 2—1, 64 23—29, 22—13, 30—63, 12—1, 64 43 — 59, 42—13. 60—63, 12 — I, 64 37—45. 36—29. 46—63, 28—1, 64 33—43. 32—27, 44-63, 26—1, 64 29—37. 28—27, 38—63, 26—1, 64 7—13, 6—3, 14—63, 2—1, 64 In der fünften Stufe können aus den Anfangsfeldern 43 die neuen Anfangsfelder 45, 49, 47 45 .. I. » 55. 53 29 .. .. .. 31 9 ,. .. ,. II abgeleitet werden. Beispiele: 45—43. 46—59, 42—13. 60—63, 12— I, 64 55—45, 56—59. 44—13. 60-63, 12-1, 64 31—29, 32—37, 28—27, 38—63, 26—1, 64 II— 9, 12—13, 8—3, 14—63, 2—1, 64 Aus den Anfangsfeldern 45, 49, 47, 55, 53, 31, 11 lassen sieh keine weiteren Anfangsfelder ableiten. Es ergibt sich aus dem Gesagten, daß 464 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVin. Nr. 32 Anfangsfeld 29 auf fünf Wegen 45 •> drei „ II, 13, 21, 23, 31, 37, 43, 55 „ zwei 3, 7, 9, 15. 17. 19. 25. 27, 33» einem 39, 47, 49, 51, 53. 57, 59,63/ " " abgeleitet werden können. Folgende P'elder können nicht zu Anfangsfeldern gemacht werden : 1. die Felder 5, 35, 41, 61 2. die mit geraden Zahlen bezeichneten Felder. So steht denn das Ergebnis der Betrachtung zu den an Euler anknüpfenden Ausführungen Dr. Schuberts in scharfem Widerspruch. Vielleicht gelingt es einem Leser der „Naturwissenschaftlichen Wochenschrift" , eine Erklärung zu finden, durch welche dieser gelöst wird. Die selbe Auffassung, zu welcher uns unsere Untersuchung in Gegensatz gebracht hat, kehrt in einem anderen Teile des Artikels Dr. Schuberts wieder. Es wird nämlich gesagt ; ,, Unsere oben besprochene Methode, einen richtigen Rösselsprung in einen neuen zu verwandeln, bei dem ein beliebig gewähltes Feld Schlul3feld wird, liefert auch die Um- wandlung jedes ungeschlossenen Rösselsprungs in einen ge- schlossenen (d. h. einen solchen , dessen Anfangsfeld und Schlußfeld sich rösseln). Man hat nämlich nur ein das Anfangsfeld rösselndes Feld als Schlufifeld zu bestimmen und jene Methode anzuwenden. Um z. B. den zuletzt gefundenen Rösselsprung in einen geschlosse- nen zu verwandeln, hat man die hier mit II — 17, 10— I, 18—31, 64—57, 32—45, 56—46 besetzten Felder bzw. mit den aufeinanderfolgenden Zahlen 1—7, 8—17, 18—31, 32—39, 40—53, 54—64 zu besetzen." Der als Beispiel gegebene Rösselsprung ist der folgende : 7 24 53 36 5 22 5' 34 54 37 6 23 52 35 4 21 25 8 S5' 58 45 12 33 50 38 59 46 »3 48 57 20 3 9 26 •5 56 II 44 • 49 32 60 39 10 47 ■4 31 2 19 27 16 41 62 29 lg 43 64 40 61 28 ■7 42 63 30 I und die unterstrichene Stelle besagt nun, daß dieser Rössel- sprung in einen geschlossenen umgewandelt werden könne, indem das Anfangsfeld beibehalten und das Schlußfeld auf Feld 18 oder 2 verlegt würde, oder, wenn der Sinn der Stelle weiter gefaßt wird, indem beliebige Pelderpaare, z. B. die folgenden, zu Anfangs- und Schlußfeldern gemacht würden: 3, 44 — 19, 30 — 29, 56 — II, 46 usw. Es ist offenbar, daß zur Umwandlung jedes ungeschlosse- nen Rösselsprungs in einen geschlossenen nur drei Wege denk- bar sind. Entweder muß das Anfangsfeld auf ein Feld verlegt werden, welches sich mit dem Felde 64 rösselt, oder das Schlußfeld auf ein Feld verlegt werden , welches sich mit dem Felde I rösselt, oder das Anfangsfeld und das Schlußfeld auf Felder verlegt werden, welche sich miteinander rösseln. Daher muß bei jedem einzelnen Rösselsprung zunächst untersucht werden, auf welche Felder im gegebenen Falle das Anfangsfeld und das Schlußfeld überhaupt verlegt werden können. In dem obigen Rösselsprunge kann das Anfangsfeld nur verlegt werden auf das Feld 17 (Umstellung 17 — i, 18 — 64), von diesem auf die Felder II und 15. Dann muß das Schluß- feld also innerhalb der Zahlen iS — 64 liegen. Das Schlußfeld kann erstens verlegt werden auf das Feld 50 (Umstellung i — 49, 64 — 50), von diesem auf das Feld 56, und das Anfangsfeld muß also dann innerhalb der Zahlen I — 49 liegen. Es kann zweitens auf das Feld 32 verlegt werden (Um- stellung I — 31, 64 — 32) und von diesem weiter, wie folgt; 32 I 56 42 I 46 42 40 J 46 Bei allen diesen Schlußfeldern muß das Anfangsfeld also innerhalb der Zahlen I — 31 liegen. Nun fragt es sich, welcher der drei obengenannten Fälle der Rösselung auf diese überhaupt möglichen Anfangs- und Schlußfelder zutrifft. Da findet es sich, daß 1. die Felder 17, II und 15, auf welche das Anfangs- feld verlegt werden kann, sich mit dem Schlußfelde 64 nicht rösseln, 2. die Felder 50, 56, 32, 42, 46, 40, auf welche das Schlußfeld verlegt werden kann, sich mit dem An- fangsfelde I nicht rösseln, 3. unter den Feldern, auf welche das Anfangsfeld ver- legt werden kann, und den Feldern, auf welche das Schlufifeld verlegt werden kann , sich nur die fol- genden miteinander rösseln ; Anfangsfeld II mit Schlußfeld 46, und daß bei beiden Feldern die Bestimmung zutrifft, daß das Anfangsfeld innerhalb der Zahlen 1 — 31 und das Schlußfeld innerhalb der Zahlen 18 — 64 liegen muß. Da das Schlußfeld 46 auf zwei Wegen gewonnen werden kann, so ergeben sich folgende zwei Umstellungen: 11—17, 10— 1> 18—31, 64-57, 32—45, 56—46 II— 17, 10— I, 18—31, 64—57, 32—41, 56—47,42—46 Das Ergebnis der Untersuchung ist also, daß diese beiden Wege, von denen Dr. Schubert den ersteren als Beispiel anführt, die einzigen sind, auf welchen der obige Rösselsprung in einen geschlossenen umgewandelt werden kann, ein Er- gebnis, welches mit der Bemerkung, daß man zu diesem Zwecke nur ein das Anfangsfeld rösselndes Feld als Schluß- feld zu bestimmen habe, nicht in Einklang steht. Ferdinand Schmidt. Literatur. Brückmann, Dr. R., Strömungen an der Süd- und Ost- küste des baltischen Meeres. Mit 5 Textabbildungen und I Tafel. Stuttgart 1919, J. Engelhorn. 7 M. Lösen er, Prof. Dr. Th., Prodromus Florae Tsingtau- ensis. Die Pflanzenwelt des Kiautschou- Gebietes. Mit Unter- stützung des Deutsch-Chinesischen Verbandes veröffentlicht. Dresden, C. Heinrich. 9 M. Wirtz, Prof. Dr. C, Tafeln und Formeln aus Astronomie und Geodäsie für die Hand des Forschungsreisenden, Geo- graphen, Astronomen und Geodäten. Berlin 1918, ]. Springer. 18 M. Devrient, E., Familienforschung. 2. Aufl. Mit 6 Text- abbildungen. lullüli: Friedl Weber, Der natürliche Tod der Pflanzen. S. 44g. — Bücherbesprechungen: Erich Becher, Natur- philosophie. S. 457. Erich Becher, Weltgebäude, VVeltgcsetze, Weltentwicklung. S. 459. E. Marx, Handbuch der Radiologie. S. 460. DuJan, Grubir, Universal-Kausalprozeß als unser oberstes Naturgesetz. S. 462. — Anregungen und Antworten: Zur Technik des Rösselsprungs. S. 462. — Literatur: Liste. S. 464. Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstrafie 42, erbeten. Verlag von Gu.'stav Fischer in Jena. Druck der G. Pätz'schen Buchdr. LippTt & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue Folge 18. Band; der ganzen Reihe ^4. Band. Sonntag, den 17. August 1919. Nummer 33> Der natürliche Tod der Pflanzen. [Nachdruck verboten.] Beobachtungen Über physiologische Alters- erscheinungen oder doch Erscheinungen, die als solche gedeutet werden können, \) sind ziem- lich zahlreich, doch oft nur gelegentlich und zwar an Pflanzen der verschiedensten systematischen Stellung gemacht worden und daher in der Lite- ratur ungemein zerstreut; eine zusammenfassende Darstellung fehlt; sie würde erkennen lassen, daß hier noch ein weites Forschungsgebiet der Be- arbeitung harrt. Im allgemeinen handelt es sich darum, daß mit dem Älter- oder Altwerden der Pflanzen oder einzelner ihrer Organe manche Lebenstätig- keit und -fähigkeit gänzlich erlischt oder doch an Intensität merklich abnimmt. Man ist wohl be- rechtigt in solchen Fällen von Altersschwäche der Pflanze oder ihrer Teile zu sprechen und diese Altersschwäche als Vorbote des nahenden, wenn auch oft noch keineswegs unmittelbar bevor- stehenden Todes aufzufassen. Eine der wichtigsten Lebenstätigkeiten der grünen Pflanze ist die Kohlensäur eassimila- tion, die in den Blättern im Lichte vor sich geht. Es war naheliegend anzunehmen, daß junge Blätter intensiver assimilieren als alte. Einwandfreie Daten darüber sind erst vor kurzem von Willstätter und St oll') geliefert worden. Um exakte Vergleiche anstellen zu können, wurde der Begriff der , .... , , stündlich assimiliertes COj (g) Assimilationszahl = /^r,^ u w r^ Chlorophyll (g) eingeführt. Damit ist die Menge von Kohlen- dioxyd ausgedrückt, die bei optimalen Verhält- nissen von der I g Chlorophyll enthaltenden Blatt- menge assimiliert wird, also „die stündliche Leistung, bezogen auf i g Chlorophyll". Die Bestimmung der Assimilationszahl zu verschiedenen Jahreszeiten ergibt nun im Verlaufe der Vegetationsperiode ein starkes Sinken dieser Zahl. So beträgt für Sambitcus ni'^ra am i. V. die Assimilationszahl 12,2, am 14. VII. nur mehr 6,2; dieses Sinken ist unabhängig von der Jahreszeit, steht dagegen im Zusammenhange mit dem Entwicklungsstadium, also dem mit der Jahreszeit zunehmenden Alter des Blattes; das zeigt sich beim Vergleich ver- schieden alter Blätter von demselben Sprosse einer Pflanze zur gleichen Jahreszeit, z. B. der jungen Von Dr. Friedl Weber (Graz). (Schluß.) hellgrünen Blätter vom oberen Ende eines Zweiges und der tiefgrünen von der Basis desselben. 1) Über die Frage, wie weit man bei Pflanzen überhaupt von (morphologischen) Alterserscheinungen reden liönne, ver- gleiche Goebel, Organographie, 189S. ^) Untersuchungen über die Assimilation der Kohlensäure. Berlin 1918. Assimilatorische Leistung jüngerer und älterer Blätter. Nach Willstätter und Stoll. Acer baccata 23. VI. 4. — 6. Blatt von oben am Zweige 11,8 platanus 24. VI. Blätter von der Basis der Zweige 5.2 > Tilia 25. VI. junge Blätter, hellgrün 14,2 cordata 26. VI. untere, ältere Blätter, tiefgrün 6,6 0 B N Taxus 27. VI. junge Zweige 4,7 b; 28. VI. vorjährige Zweige 2.1 Die Assimilationstüchtigkeit des Blattes ist demnach in seiner Jugend größer, mit dem Alter des Blattes geht die stündliche Leistung bezogen auf seinen Chlorophyllgehalt auf ungefähr die Hälfte zurück; es muß also mit dem Alter des Blattes ein innerer Faktor, der auf die Ausnutzung des Chlorophylls einen Einfluß nimmt, eine Ab- schwächung erfahren. Diese Abschwächung er- folgt frühzeitig bereits zu Beginn des Sommers. Die assimilatorische Leistung der Blätter im Herbst, also kurz vor ihrem Tode, ist für die einzelnen Spezies sehr verschieden befunden worden ; auf das Verhalten des vergilbenden Laubes wird noch zurückzukommen sein. Unter den bis zum beginnenden Frost grünbleibenden Blättern gibt es solche, die das Assimilationsvermögen bei an- scheinend unveränderter Beschaffenheit großen- teils oder gänzlich einbüßen. Dies ist der Fall bei Robinia, Tilia curdata und zwei Arten von Ainpclopsis. „Ältere Blätter wurden im Oktober und November in noch gut grünen Zustande ge- pflückt. Sie zeigten nur sehr geringe Assimila- tionsleistungen oder fast keine mehr, während vom gleichen Stamm und zur selben Zeit von den Spitzen der Zweige gepflückte jüngere Blätter noch gute Assimilationszahlen ergaben. Der Ver- gleich der beiden Blattsorten vom nämlichen Zweig und von derselben, übrigens noch frühen Zeit des milden Herbstes ergibt für Ampelopsis quiiiquefolia bei genau übereinstimmendem Chlorophyllgehalt eine über 8 mal größere assimilatorische Leistung der jüngeren Blätter. Dieser Unterschied findet in den Assimilationszahlen 0,9 und 7,9 der alten und der jungen Blätter seinen Ausdruck. Bei den nicht mehr funktionstüchtigen Blättern vermögen wir an mikroskopischen Schnitten keine 466 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 33 anatomischen Veränderungen wahrzunehmen, die für die Aufhebung der Assimilation verantwort- lich wären. Die Chloroplasten der jüngeren und der älteren Blätter waren etwa gleich groß und gleich geformt und alle gekörnt ..." Die bei- den Autoren sind der Ansicht, daß in diesen Fällen ein an der Assimilation mitbeteiligtes En- zym im Laufe der herbstlichen Veränderungen der altersschwachen Blätter an Wirksamkeit ver- liert, i) Nicht nur die Assimilation, auch andere allge- meine wichtige Lebensfunktionen der Pflanzen ver- laufen im Alter mit verminderter Intensität. So ist bekannt, daß die Atmung mit dem Herannahen des Lebensendes abnimmt. Speziell für Blätter ist dies schon wiederholt festgestellt worden, Härder (191 5) hat es auch für Meeresalgen nach- gewiesen: „Bei fast allen Pflanzen ist die Atmung der jüngeren Teile wesentlich stärker als die der älteren. Das trifft nicht nur für die Laubteile zu, sondern ist ebenso auch bei jungen und alten Stielen von Laminaria festzustellen." Von großem Interesse ist es, daß nach Bene- dict'-) nicht nur die verschieden alten Teile ein und derselben Pflanze verschiedene Assimilations- und Dissimilationsintensitäten aufweisen, daß viel- mehr auch gleich alte Blätter verschieden alter Holzgewächse verschieden stark assimilieren und atmen, d. h. daß z. B. Blätter eines 60 jährigen Weinstockes schwächer assimilieren als die junger aus Samen gezogener Reben. Dies wäre jeden- falls als Zeichen von Altersschwäche oder Senilität der Gesamtpflanze aufzufassen. Auch über die Transpiration verschieden alter Pflanzenteile liegen bereits Angaben vor; wieder sind es die verschiedenen Altersstadien von Blättern • — , als der Transpirationsorgane -aut^ t^oyjp' — die vor allem auf die Transpirations- größe vergleichend geprüft worden sind.'^) Im allgemeinen scheinen junge Blätter unter sonst gleichen äußeren Bedingungen mehr Wasser zu verlieren als alte, es wäre demnach eine Abnahme der Verdunstungsgröße mit der Zunahme des Blattalters zu konstatieren. Nach Seelinger*) sollen allerdings die Beobachtungen Stahls, daß bei zahlreichen Objekten die herbstlich verfärbten Blätter schwächer transpirieren als die noch grünen, nicht verallgemeinert werden dürfen : Vergilbte Blätter von Acer platanoides transpirierten halb so stark wie grüne Blätter desselben Zweiges, bei Püpidits z. B. dagegen ist an den gelben Blättern eine Veränderung der bisherigen Transpiration nicht festzustellen gewesen. Ob und welche anatomischen Veränderungen des Blattbaues mit dem Alter diese Verminderung ') Von diesem Gesichtspunkte aus ist es bemerkenswert, daß von allen Kolloiden gerade ,,die Enzyme am auffallend- sten die Eigenschaft des Alterns zeigen." Bechhold (1919). '') Siehe weiter unten. ') Siehe hierüber die bekannte Monographie Burg er- ste ins. Die Transpiration der Pflanzen, 1904. ^) Über den Verlauf der Transpiration in den verschie- denen Altersstadien des Blattes, 191 1. der Wasserabgabe bedingen> ist wohl noch nicht klar gelegt. Eine große Rolle spielt aber dabei jedenfalls die Beweglichkeit der Spaltöffnungen; es fragt sich in dieser Beziehung, ob in alternden Blättern die Stomata ihre Beweglichkeit einbüßen oder bewahren.*) Slogteren (1917) gibt an, daß die Stomata junger Blätter sich schneller und gründlicher schließen als diejenigen älterer. Nach Linsbauer (1918) pflegt sich an älteren Blättern krautiger Pflanzen ein Starrezustand einzustellen; ,,sie büßen ihre Regulationsfähigkeit (der Spalt- öffnungen) völlig ein". Für Koniferennadeln macht Neger (Biologie, 19 13) folgende Angaben: Unter- sucht man die einzelnen Jahrestriebe der Fichte, Tanne usw. einerseits auf ihren Wassergehalt, andererseits auf ihren Transpirationsverlust, so er- gibt sich, daß der Wassergehalt mit zunehmendem Alter fällt, während die Transpiration um so größer ist, je älter der Trieb. Hieraus darf zweifellos der Schluß gezogen werden, daß die Spaltöff- nungen der einjährigen Nadeln auf Trockenheit besser reagieren, d. h. beweglicher sind, als die- jenigen der 2-, 3-, . . . . n-jährigen Nadeln. . . . Die Reaktionsfähigkeit der Schließzellen nimmt ab mit dem Alter der Nadel." Vielfach werden bei alten Blättern die Spalt- öffnungen durch thylloide Wucherungen, die von den Zellen des Blattinnern ausgehen, verstopft, was die Transpiration herabsetzen soll. Nach Molisch (1888) ist bei „alten" Blättern von Tradcscaniia giiia>ie)isis „die Mehrzahl der Stomata in der angegebenen Weise verlegt, hier kommt oft auf 10 — 15 verstopfte Spaltöffnungen etwa eine normale". Dasselbe hat Seh wend ener an ,, älteren" Blättern von CamclUa japonica und Pninits Laiirocerasus gesehen. Diese Erschei- nungen gehören jedoch in das Gebiet der anatomi- schen Alterserscheinungen, bedingt sind sie aber vielleicht durch physiologische Altersisolation -) der die Atemhöhle umgrenzenden Zellen. Von physiologischen Alterssymptomen seien noch einige angeführt : In der Regel nimmt mit dem Alter die Reaktionsfähigkeit äußeren Reizen gegenüber ab. [Damit ist aber nicht gesagt, daß die alternden Pflanzen die Reize nicht mehr wahr- nehmen können. Für den Schwerkraftsreiz meint Haberlandt allerdings, gehe in „alternden" Organen auch die Perzeptionsfähigkeit verloren, indem die Statolithenstärke nicht mehr dem Zug der Schwere folgt, ungleichmäßige Verteilung ein- nimmt, ja schließlich völlig zur Auflösung gelangt; dadurch sollen die alten Sinneszellen funklionslos werden.] Besonders nimmt die Regenerations- fähigkeit der Pflanzen mit dem Alter ab. So können die Primärblätter d. i. die ersten Blätter der Keimlinge mancher Pflanzen insbes. auch der ') In Fällen, wo es sich um die gleichzeitige Prüfung verschieden alter Blätter ein und derselben Pflanze auf den Öfl'nungszustand der Spaltöffnungen handelt, eignet sich be- sonders die sog. ,, Gasdiffusionsmethode". 1916, Ber. deutsch, bot. Ges. 34. ^) Auf diesen Begriff wird im folgenden zurückgekommen N. F. XVIII. Nr. 33 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 467 Farne, wenn sie abgetrennt werden, Adventiv- sprosse bilden, die Blätter älterer Pflanzen nicht. „Auch sonst — sagt G o e b e I ^) — zeigen sich oft Keimpflanzen weniger stark induziert als ältere". D. h. sie vermögen tiefergreifende Umwandlungen ihrer Organisation vorzunehmen; so ist die Um- wandlung der dorsiventralen Seitenzweige von Pliyllaiitlms in radiäre zwar bei jungen, nicht aber bei älteren Pflanzen mehr möglich. Jugendliche Apfelfrüchte bilden auf Verletzungen hin mit Leichtigkeit Wundkork aus, alte Äpfel dagegen vermag nach Schneider-Orelli der Wundreiz nicht mehr zur Korkbildung zu veran- lassen. Kr eh fand, daß jugendliche Rhizoiden von Lebermoosen noch regenerationsfähig sind, d. h. neue Zellen und ganze Individuen aus sich hervorgehen lassen können, alte Rhizoiden aber meist nicht mehr. Gallenbildung ist nur möglich, solange der betreffende Teil noch in Entwicklung begriffen ist, so lautet der Thomassche Funda- mentalsatz der Zezidogenese. Überhaupt nimmt mit dem Alter das Ver- mögen der Zellen, sich zu teilen, allmählich ab. Haberlandt erklärt dies auf Grund seiner neuesten experimentellen Studien „Zur Physiologie der Zellteilung" ^) in folgender Weise: Die embry- onalen Zellen besitzen die Fähigkeit einen Zell- teilungsstoff zu produzieren. Mit fortschreitendem Alter verlieren die meisten Zellen diese Fähigkeit und ihr Gehalt an diesem Reizstoff (Hormon) nimmt ab; auch scheint die Empfindlichkeit älterer Protoplasten für das Hormon geringer zu sein. Jedenfalls nimmt die Teilungsfähigkeit und überhaupt die Reaktionsfähigkeit, der Zelle um so mehr ab je weiter sie sich vom embryonalen Zu- stand entfernt und einer fortschreitenden Dift'eren- zierung verfallen ist. Eine differenzierte Zelle ist meist dem Tode geweiht. Die Differenzierung und die damit verbundene Beschränkung der Lebensdauer können allerdings unter bestimmten Bedingungen wieder rückgängig gemacht werden durch „Entbildung der Zelle" (Braun, 185 1), die zur Verjüngung führt. Man hat jede Zellteilung als Verjüngungsprozeß aufgefaßt, aber kaum mit Recht. Es gibt Zellteilungen, die zu progressiver '^) Entwicklung führen, also direkt zu Differenzierung und damit zum Altern und Tod, und Zellteilungen, die zu regressiver Entwicklung führen, zu Ent- differenzierung, zurück zum embryonalen Zustand, zur Verjüngung und zum Leben. Das Problem der Verjüngung kann jedoch hier nicht mit dis- kutiert werden. In einer inhaltsreichen Studie über „Die physiologische Isolation" hat Child (191 1) darauf hingewiesen, daß gewisse Formen der Vermehrung physiologische Konsequenzen sind des Alterns des Mutterorganismus. Im jugend- lichen oder doch noch in vollerLebenskraft stehenden Organismus bestehen korrelative Beeinflussungen der ') Experimentelle Morphologie, 1908. ^) Sitzber. Preuß. Ak. Wiss., Berlin, 1913, 1914, 1919. ') Vgl. darüber: Linsbauer, 1916, Die physiologischen Arten der Meristeme. Biolog. Zentralbl. 30. einzelnen Teile untereinander, so z. B. verhindern Hauptvegetationspunkte die in ihrem Wirkungsbe- reiche befindlichen Nebenvegetationspunkte oder adventiven Knospenbildungen an der Weiterentwick- lung. Beim Altern der Pflanzen scheinen nun häufig diese Korrelationen sich zu lockern, die bis- her „dominanten", herrschenden Teile verlieren aus Altersschwäche ihren Einfluß, die beherrschten Teile werden dadurch „physiologisch isoliert", selbständig; vorher in ihrer Weiterentwicklung zurückgehaltene adventive Knospen nehmen nun- mehr das Wachstum auf und tragen zu vegeta- tiver Vermehrung bei. Ein Beispiel bietet das Wiesenschaumkraut, das auf den Blättern nicht selten Knospenanlagen bildet; diese bleiben ge- wöhnlich während des normalen Lebens nur An- lagen; bei älteren Pflanzen findet aber häufig eine Weiterentwicklung dieser Anlagen zumal an den untersten Blättern statt. Bei Bcgoiiia-h.x\.^n ent- stehen Adventivknospen reichlicher bei alten als bei jungen Pflanzen und bei ersteren erreichen diese Knospen auch ein weiter fortgeschrittenes Entwicklungsstadium. Auch manche alternden Algen lassen vor dem Tode Adventivzweige in großer Anzahl entstehen. In solchen Fällen scheint also vor dem Absterben der durch Korrelationen bedingte Zusammenhang der Teile des Gesamt- organismus geschwächt zu werden. Eine Lockerung oder Schwächung der Kor- relation zwischen Stammspitze und Seitenastspitzen dürfte es auch sein, wenn z. B. bei der Fichte mit zunehmendem Alter die in jüngeren Jahren morphologisch und physiologisch dorsiventralen Seitenäste sich allmählich aufrichten und ringsum Seitensprosse ausbilden. Die Seitenäste erster Ordnung gehen also mit dem Älterwerden des Baumes allmählich vom plagiothropen zum ortho- tropen Wachstum über. Nach Lundegärdhs interessanten Studien über die „Baumarchitektonik" wäre dieser sich an alternden Bäumen abspielende Vorgang möglicherweise aber nicht auf Schwächung, also Quantitätsverminderung der Wechselbezie- hungen zurückzuführen, sondern auf eine Umstim- mung (Qualitätsänderung) derselben. Als Korrelationswirkungen erklärt ferner Mogk die auffallende Erscheinung, daß mit zunehmendem Alter eines Baumes die Triebkraft seiner Knospen mehr und mehr erlischt. An ganz alten Linden- bäumen sind nur die sekundären findknospen fähig einen kurzen Trieb zu bilden. Das Zweig- system wird dadurch reduziert. Nach Mogk (1914) ist dies nicht in einer Erschöpfung des ge- samten Baumes begründet, sondern allein in den zwischen den Zweigen bestehenden Korrelationen: „Daß es sich hierbei nicht um den Ausdruck der augenblicklich — etwa infolge der hohen Zahl der Triebe — zwischen den Zweigen bestehenden Korrelationen handelt, geht aus der lange schon be- kannten Tatsache hervor, daß von alten Bäumen auf eine junge Unterlage gepfropfte Zweige ihren alten Verzweigungsmodus beibehalten. Diese Er- scheinung ist um so auffäüiger, als im Gegensatz 468 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVm. Nr. 33 zu den jungen Knospen die ruhenden Knospen des gleichen Baumes trotz ihres höheren Alters kräftige und jugendliche Triebe zu bilden ver- mögen".^) Mogk meint, es handle sich beim Altern der Bäume für die einzelnen Zweige um eine Veränderung der spezifischen Struktur infolge eines allmählichen Erblichwerdens der durch Jahr- zehnte hindurch ausgeübten Hemmungen anderer Triebe. In dieselbe Kategorie von Erscheinungen ge- hört auch, daß mit dem Alter der Zweige die inneren Kräfte, welche die Polarität und ihre Folgen bedingen, an Intensität abnehmen. Vöch- ting -) hat dies schon vor langer Zeit klargelegt. Zweigstücke von Weiden in einem feuchten Räume aufbewahrt, bilden bekanntlich als Aus- druck ihrer Polarität an der Basis Wurzeln und an ihrer Spitze treiben Knospenaugen aus. Junge Zweigstücke nun erzeugen die Wurzeln lediglich unmittelbar über der basalen Schnittfläche und ebenso beschränkt sich alle Tätigkeit an der Spitze, je jünger ein Zweigstück ist, auf eine um so kleinere Entfernung unmittelbar von der oberen Schnittfläche her, so daß, wird an ganz jungen Trieben die Spitze abgeschnitten, fast regelmäßig allein das apikale Auge auswächst. Je älter aber die zu den Versuchen verwendeten Zweigstücke sind, um so mehr verwischt sich dieser schroffe polare Gegensatz, Wurzel- und Knospenbildung rücken von den Zweigenden ab und schreiten gegen die Zweigmitte vor; das Auswachsen der Anlagen geschieht „in einer mit dem Alter der Zweige zunehmenden, aber eine gewisse Grenze nicht überschreitenden Entfernung von beiden Enden". Vöchting legte sich schließlich die Frage vor, ob nicht mit noch weiter zunehmen- dem Alter jene Kraft den seitlichen Bildungen gegenüber — die Polarität — noch mehr ge- schwächt wird und ob sie nicht schließlich in ganz alten Teilen vollständig erlischt. Seine Ver- suche mit Weiden ergaben, daß mit steigendem Alter die Schnelligkeit und Energie der Neubil- dungsprozesse abnimmt, „daß der polare Gegen- satz zwischen Spitze und Basis schwächer wird, aber doch auch im höchsten Alter nicht gänzlich verschwindet, die innere polare Kraft ist „auch noch im ältesten Baumstumpf vorhanden, dessen Mark und inneres Holz schon längst der Vermode- rung preisgegeben sind". Als Folge unbekannter physiologischer Alters- veränderungen der lebenden Substanz ist schließ- lich vielfach aufzufassen die verminderte Widerstandsfähigkeit gegenüber schädlichen Einflüssen von selten der Umwelt. So scheinen mit dem Herannahen des natürlichen Todes im pflanzlichen Organismus stoffliche Veränderungen vor sich zu gehen, die eine erhöhte Empfindlich- keit gegenüber Pilzinfektionen bedingen. Bei ge- trenntgeschlechtlichen Pflanzen kann dies — wie jüngst von Correns (1919, Biolog. Ztrbl.) für eine Doldenpflanze beschrieben wurde — eine merkwürdige „Absterbeordnung der beiden Ge- schlechter" zur Folge haben. Die männliche Pflanze erfüllt mit der Lieferung des Pollens ihre Haupt- funktion und beginnt nachher zu altern, der weib- lichen steht noch die wichtige Aufgabe der Frucht- reifung bevor. Correns hat nun an seiner Ver- suchspflanze beobachtet, daß bis zur Blütezeit das Verhältnis der Geschlechter i : i ist, die Sterblich- keit der Männchen und Weibchen ist gleich groß. Mit Beginn der Blütezeit, noch lange vor dem Ab- blühen, gehen nach und nach fast alle Männchen an den Folgen einer Infektionskrankheit zugrunde. „Auf ein Weibchen, das zugrunde geht, kommen ungefähr 19 absterbende Männchen." Erst zur Zeit der Fruchtreife, also nahe vor dem natürlichen Tode, ist auch die Empfänglichkeit der Weibchen gegen die Infektion gesteigert. Auf einen ähnlichen Fall, der auf gesteigerte Frostempfindlichkeit der Männchen nach ihrer sexuellen Reife hinzuweisen scheint, hat mich vor Jahren Obergärtner Wibiral aufmerksam ge- macht: Alljährlich im Herbst beim ersten leisesten Frost erfrieren im botanischen Garten zu Graz die Männchen der getrenntgeschlechtlichen Datisca camiabiua, während die weiblichen Stöcke, die zu dieser Zeit erst damit beginnen, die Früchte zu reifen, die Männchen stets um viele Wochen über- leben; die männlichen Stöcke ziehen keineswegs etwa von selbst vorzeitig ein, sondern sterben eben nur ab infolge der gesteigerten Frostempfind- lichkeit.') Die Anatomie und Histologie des tierischen und vor allem des menschlichen Organismus hat zahlreiches Tatsachenmaterial über die Altersver- änderungen der Organe und ihrer Bausteine der Zellen zutage gefördert.') Die pflanzliche Mor- phologie und Anatomie dagegen weiß da- rüber nicht allzuviel zu berichten. Besonderes Interesse verdient eine 1915 in Amerika erschie- nene Arbeit von H. Benedict. Die Unter- suchung beschäftigt sich mit den Altersverände- rungen von Vitis vulpiim und anderer Holzge- wächse. Sie geht von der Tatsache aus, daß die von den Blattnerven begrenzten kleinen Flächen an den gleichen Stellen von Blättern ein und der- ') Dieser Tatsache bedient man sich in der Obstbaum- zucht zur „Verjüngung" alter Bäume, wenn diese im Wachs- tum zurücligehen und ihre Kriichle unvollliommener werden ; man begünstigt dann nämlich durch Zurückschneiden der alternden Äste das Austreiben ruhender Knospen und das Er- starken aus solchen hervorgehender Wassertriebe oder Räuber, die dann die Krone neu aufbauen und den Baum verjüngen. Molisch, 1918, S. 168. '^) Organbildung im Pflanzenreiche, 1878. ') Nach de Vries scheinen bei vielen Pflanzen junge Wurzelpartien gegen hohe Temperaturen empfindlicher zu sein als alte, sie sterben bei einer Temperatur, welche die älteren Partien noch intakt läßt. ^) Angaben darüber finden sich in den neuen zusammen- fassenden Darstellungen von Lipschütz 1915, Allgemeine Physiologie des Todes und von Korscheit 191 7, Lebens- dauer, Altern und Tod ; leider berücksichtigen beide Arbeiten fast ausschließlich die zoologische Literatur resp, die Erschei- nungen am Menschen, dagegen die botanische Literatur nur wenig. N. F. XVIII. Nr. 33 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 469 selben Pflanze von gleicher Größe sind. Verfasser fand nun, daß bei den Blättern verschieden alter Weinstöcke diese Zonen sehr verschieden groß sind. Am größten bei den jüngsten Reben, bei 3-jährigen etwa ^2 mm^, bei 70-jährigen nur mehr */]Q mm". Diese Größenabnahme der Zoneh mit dem Alter ist so gesetzmäßig, daß sich daraus eine Methode zur Bestimmung des Alters von Vilis vulpina ableiten läßt. Den gleichen Einfluß des Alters auf die Entwicklung des Blattnervensystems sollen verschiedene Bäume zeigen so z. B. Plafaiiiis occidentalis. Man möchte einwenden, die Veränderung der Blattstruktur brauche nicht unmittelbar mit dem Alter in ursächlichem Zusammenhange zu stehen ; vielleicht ist es einfach die verschiedene Ent- fernung der Blattinsertionsstelle vom Boden, die dabei eine Rolle spielt. Dagegen spricht aber der Befund, daß bei Pfropfung von Zweigen älterer Exemplare auf jüngere die Blätter den Charakter des Reises beibehalten. Die Pfropfung und das Wachstum auf jüngeren Unterlagen stellt die Jugend der Gewebe des Pfropfreises nicht wieder her. Das Alter muß nach Benedict immer ge- rechnet werden von dem Hervorgehen der Pflanze oder des Pflanzenteils aus dem Samen. Diese Be- obachtungen sprechen für die früher erwähnte seinerzeit von Jessen u. a. vertretene, dann aber von Möbius bekämpfte Anschauung, daß fortge- setzte ungeschlechtliche Vermehrung durch Steck- linge und Pfropfen bei den Kulturpflanzen zu Altersschwäche führt. ^) Benedict meint, daß die Vegetationspunkte selbst mit dem Alter der Pflanze eine Änderung erfahren, die zur Senilität führt. Die Zunahme der Gefäßbündelmasse mit dem Altern der Pflanze muß eine Verminderung der assimilatorischen Leistung der aufeinanderfolgenden Blattjahrgänge mit sich bringen. Tatsächlich wurde der Prozentsatz der ausgeschiedenen Kohlen- säure bei gleicher Blattfläche größer gefunden bei jüngeren Pflanzen als bei älteren ; -) die morpho- logische Alterserscheinung hat demnach eine phy- siologische zur Folge. Zu sehr beachtenswerten Ergebnissen haben die Untersuchungen der letzten Jahre über zyto- logische Veränderungen an alternden pflanz- lichen Zellen geführt, so u. a. die mikroskopi- schen Beobachtungen von Molisch und die- jenigen von A.Meyer und seinen Schülern über Symptome in Zellen vergilbender Blätter. Nach Molisch ^) ist das Vergilben der Blätter als typische Alterserscheinung aufzufassen, was schon daraus hervorgeht, daß dasselbe meist streng nach der Altersfolge eintritt.*) Was nun ') Vgl. Molisch, Pflanzeaphysiologie, II Aufl., 1918, S. 252, wo sich auch eine Abbildung der Nervatur der Blätter verschieden alter Weinstöcke (nach Benedict) findet. '-) Über eine eventuelle Verringerung der Assimilations- zahl (siehe oben) ist damit aber nichts ausgesagt. ') Sitzber. Ak. Wien, 1918, Über die Vergilbung der Blätter. *) Auch Swart (1914, Die Stofifwanderung in ablebenden Blättern) ist dieser Ansicht. die zytologischen Veränderungen an alternden vergilbenden Blättern betrifft, so ist am auffallend- sten die bei der Vergilbung eintretende Des- organisation der Chlorophyllkörner. Die Zerstö- rung der Farbstoffträger geht oft so weit, daß ihre plasmatische Grundlage völlig verschwindet.^) Molisch konnte die dabei erfolgende Verarmung an Eiweiß sogar makroskopisch an vergilbten Blättern von Tropacoltim inaj/is sichtbar machen.-) Wird ein normal grünes und ein vergilbtes Tro- pacolidii-'QlatX. der Eiweißprobe (Xanthoprotein- reaktion) unterworfen, so zeigt das nicht vergilbte Blatt die Eiweißreaktion sehr deutlich, das ver- gilbte aber gar nicht oder ganz schwach. A. Meyer hat dann durch genaue Messungen die allmähliche Volumabnahme der Chromatophoren (und auch des Zellkerns) während des Vergilbens nachge- wiesen. „Dieses Kleinerwerden der Organe im alternden Laubblatt hat hauptsächlich darin seinen Grund, daß das ergastische Organeiweiß der Chlo- roplasten und Kerne gelöst wird. Die Lösung des ergastischen Organeiweißes ist durch die Ab- nahme der Assimilationsenergie alternder Blätter bedingt.-^) Dies bewirkt, daß am Tage nicht so viel Eiweiß aufgebaut werden kann, als nötig ist zum Ersatz des durch Atmung und Ableitung am Tage und in der Nacht verloren gehenden." Meyer führte genaue mikroskopische Unter- suchungen der Palisadenzellen vom ausgewachsenen Zustande bis zum Absterben des Blattes durch; so wurde das zytologische Verhalten der Blatt- zellen während ihres Alterns lückenlos registriert. Auf Einzelheiten der Ergebnisse kann nicht ein- gegangen werden. Meyer kommt zu der Über- zeugung, daß abgesehen von äußeren Einflüssen die Zeit, welche der Protoplast gearbeitet hat, die „Dauer der Abnutzung der Maschine" eine Rolle beim Gelbwerden, Altern der Blätter spielt. „Es ist Tatsache, daß mit dem Alter eine „Schwächung" des Organismus eintritt, wie man eine solche Schwächung auch künstlich durch schädigende Mittel hervorbringen kann". Es ließ sich auch ein tieferer Einblick in die ursächliche Ver- knüpfung von Alter und Vergilbungsprozeß ge- winnen. Es zeigte sich nämlich, daß Kohlehydrat- reichtum den Vergilbungsprozeß verlangsamt. Da nun alte Blätter eine verhältnismäßig kleine Assi- milationsenergie also, eine geringe Produktion von Kohlehydraten besitzen, wäre die kausale Ver- knüpfung folgende: Das Altern bewirkt eine Schwächung des Organs und mithin eine Ver- ringerung der Stärkeproduktion, die Folge davon ist der Abbau des Eiweißes (das Kleinerwerden ') Auf die Veränderungen , welche die Farbstoffe des Blattes beim Vergilben erleiden, kann hier nicht eingegangen werden; die Vergilbung beginnt mit dem Verschwinden des Chlorophylls. ^) Vgl. Hofmeister 1867, „Die mikrochemischen Re- aktionen stimmen an jungen Chlorophyllkörnern völlig mit denen des Protoplasmas überein; an alten wird die Eiweifi- reaktion vermißt." ') In diesem Falle würde eine physiologische Alters- erscheinung eine zytologische zur Folge haben. 470 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 33 der Chloroplasten) und dieser beschleunigt das Vergilben des Blattes; so kommt es, daß das Ver- gilben in der Reihenfolge des Alters der Blätter erfolgt. Damit stimmt die Ansicht von Mo lisch vorzüglich überein, daß mangelhafte Ernährung, Hunger, die Blätter zum frühen Altern, vorzeitigen Vergilben bringen kann und daß, wenn Biälter durch Isolierung und Kultur als Stecklinge über- normal lang am Leben erhalten werden, die Er- klärung darin zu suchen ist, daß solche Blätter sich dabei in einem ausgezeichneten Ernährungs- zustand befinden. Solche Blattstecklinge werden mitunter zwei- bis dreimal so alt als Blätter, die am Mutterstocke verbleiben. „Durch bessere Er- nährung kann demnach das so auffallende Sym- ptom des Alterns, die Vergilbung, für lange Zeit hinausgeschoben werden." Auch das Organeiweiß der Zellkerne wird, wie erwähnt, im alternden Laubblatt allmählich gelöst. Meyer hat die dadurch bewirkte abso- lute Abnahme des Kernvolumens durch Messungen festgestellt,') ferner wurde durch Kiehn die Ab- nahme der Nukleolarsubstanz in alternden grünen Blättern jüngst sicher erwiesen. Über das Ver- halten desNukleolus in alternden Zellen liegen übrigens bereits ältere Angaben vonZacharias (1885, Bot. Ztg.) vor. Danach scheint die Ab- nahme der Nukleolarsubstanz mit zunehmendem Alter der Kerne eine sehr verbreitete Erscheinung zu sein, besonders auffallend ist sie z. B. bei Galant/ins nivalis, wenn man junge, noch in der Zwiebel eingeschlossene Laubblätter mit alten Laubblättern vergleicht, die von der Spitze her abzusterben beginnen. Die Kerne der jungen Blätter enthalten große Nukleolen, in den alten Blättern dagegen lassen sich in der Nähe der gelbgefärbten Spitze überhaupt keine Nukleolen mehr nachweisen, während in der Nähe der Basis noch Nukleolen vorhanden sind, welche aber viel kleiner sind als die in den jungen Blättern.'^) Schwarz (1887) macht auch Mitteilung über verschiedenes Verhalten des Protoplasmas in jungen und alten Zellen. Unter bestimmten Be- dingungen quillt das Zytoplasma in sehr jungen Pflanzenteilen am stärksten, in älteren Zellen tritt unter gleichen Bedingungen Vakuolenbildung ein, in sehr alten Zellen aber kann die Ouellung und Vakuolenbildung ganz unterbleiben. Nach Vouk (1908) zeigen in Wasser ausgetretene Chloro- plasten bei manchen Pflanzen in verschiedenen Altersstadien verschiedenes Quellungsvermögen. Auch die Zähigkeitsverhältnisse pflanzlichen Proto- plasmas scheinen sich mit dem Alter zu verändern. Es soll nämlich nach Chifflot die Brownsche Molekularbewegung, ' die als Maß des Viskositäts- ^) Die früher als senile Degeneration aufgefaßte direkte Kernteilung (in älteren Internodien von Tiadeicantia) ist nach Strasburger 1910 nicht als Alterserscheinung zu deuten. '^) In einer inhaltsreichen Arbeit, die sich mit den Verhält- nissen an tierischen Zellen beschäftigt, hat O. Hartmann als Charakteristik des Alters ebenfalls abnehmende Kern- und meist auch Nukleolusgröße gefunden. Archiv für Zellforschung XV, 1919. grades gelten kann, nur in jungem Plasma gut sichtbar sein, im alternden zumindest weniger gut. Ebenso gibt Russo (1910) an auf Grund seiner ultramikroskopischen Betrachtung des Protoplasmas, daß in jungen Zellen die Beweglichkeit der Teil- chen am lebhaftesten ist und daß überhaupt der Grad der Bewegung als Ausdruck der jeweiligen Höhe der Vitalität aufzufassen ist. Die Viskosität des Plasmas würde also mit dem Alter zunehmen; vielleicht steht damit im Zusammenhang, daß die Stärke in alten Statolithenzellen ihre Beweglich- keit verliert, die ja vom Zähigkeitsgrad des Plas- mas abhängt. Unterschiede zwischen altem und jungem Plasma lassen sich ferner auch färbetechnisch fest- stellen. Es war bekannt, daß junge Zellen tieri- scher Gewebe und des Blutes ein basophiles Proto- plasma besitzen. Diese Reaktion ist bedingt durch eine spezifische Substanz, die im Protoplasma ent- halten ist. Demole (1916) hat analoges Ver- halten für pflanzliche Zellen nachgewiesen. Schnitte durch die Vegetationsspitze von Elodea und die Wurzel von Osiminda zeigten mit geeigneten Farbstoffen behandelt einen deutlichen basophilen Charakter der Protoplasten des Vegetations- punktes; dieser histologische Charakter jugend- licher Zellen verliert sich aber mit dem Alter. Nach Schwarz (1884) differiert auch dieTinktions- fähigkeit der Kerne wesentlich je nach ihrem Alter. Auf Veränderungen der chemischen Beschaffen- heit alternder Kerne machte Zacharias (1909) aufmerksam : „Die alternden Kerne in Gefäßzellen mit anscheinend vollendeter VVandverdickung unterscheiden sich von den jüngeren wachsenden Kernen durch ihren geringen Gehalt an magen- saftlöslichen Stoffen. Verdauliche Substanz war in den alternden Kernen außerhalb des Nukleolus nicht in nachweisbarer Menge vorhanden, wie solches bei den jungen Kernen der Fall war." Auch im Zellsaft dürfen wohl im Alter oft tiefgreifende Veränderungen vor sich gehen. Die in ihrer Jugend roten Blüten des Vergißmeinnicht oder des Lungenkrautes bläuen sich mit zu- nehmendem Alter; dies deutet auf ein Abnehmen des Säuregehaltes des Zellsaftes hin. Nach Bene- dict ist der Säuregehalt der Blätter junger Pflanzen größer als der alter Pflanzen. Auch der mit der Zusammensetzung des Zellsaftes im Zu- sammenhang stehende Turgor der Zellen ändert sich mit dem Alter. So sagt Pantanelli für Schimmelpilze: Der Turgor nimmt beim Älter- werden der Hyphe fortwährend ab. Wir wissen nicht, ob die Alterserscheinungen der Pflanzen, von denen ein Teil Erwähnung finden konnte, besonders aber die zytologischen Alters- veränderungen den natürlichen Tod mit verur- sachen oder bloß nebensächliche Symptome sind eines Entwicklungsprozesses, deren Bedingtheit wir nicht kennen. Man hat danach gestrebt, die ,, Todes- ursache" der Pflanzenzellen zu erkennen. M Pjn ') Lepeschkin, 1912, Ber. deutsch, bot. Ges. XXX. N. F. XVIII. Nr. 33 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 471 Weg zu dieser Erkenntnis ist vielleicht das Stu- dium der Vorgänge in der Zelle während des Absterbens selbst oder auch der Vergleich der toten und lebenden Zelle. Bei diesen Studien ist meist nicht das Verhalten eines natürlichen Todes sterbender Zellen beobachtet worden; es wurde vielmehr auf experimentellem Wege die pflanz- liche Zelle unter den verschiedensten schädigenden Bedingungen zum Absterben gebracht. Die dabei beobachteten Desorganisationserscheinungen hat u. a. Kl emm eingehend beschrieben. Über die Veränderungen der lebenden Substanz beim na- türlichen Tod gilt dagegen immer noch ein Aus- spruch de Vries' aus dem Jahre 1891:^) „Die Änderungen, die das Protoplasma erleidet, wenn der Tod das Resultat natürlicher Ursachen ist, sind noch kaum studiert worden." In neuester Zeit hat man versucht den Tod der Zelle kolloid- chemisch zu erklären. Lepeschkin betont das zeitliche Zusammenfallen der Koagulation der lebenden Substanz mit ihrem Tode. Alle Faktoren, welche die Koagulation der kolloiden Lösungen von Eiweißkörpern bewirken, haben auch die Ab- tötung der lebenden Substanz zur Folge. Besonders die Temperaturabhängigkeit der Dauer des aktiven und latenten Lebens gehorcht denselben Gesetzen wie die der Koagulation unbelebter Eiweißsole. Auch Bechhold, der sich bemüht, die neuen Erkenntnisse der Kolloidchemie für Biologie und Medizin fruchtbar zu machen, versucht das Todes- problem des Protoplasmas kolloidchemisch zu fassen.-) Wenn man in der Kolloidchemie schon lange von der „Lebenskurve", vom „Altern", ^) vom „Tod" der Kolloide spreche, so seien diese ') Sur la mort des cellules vegetales, in Opera e. p. col- lata Vol. I, 19 18; de Vries meint, daß in der Mehrzahl der Fälle der natürliche Tod auf eine der drei Ursachen zurück- zuführen sei; dessechement, resorption, defaüt de nourriture. ^) Russe (1910, Arch. intern. Phys. X) hat ultramikro- skopische Beobachtungen durchgeführt über die Veränderungen, die der Protoplast erleidet beim Übergang aus dem lebenden in den toten Zustand ; er geht dabei entweder aus dem Zu- stand des Hydrosols in den des Hydrogels über (coagulation) oder es handelt sich um einen Tod durch „dissolution", durch vollkommene Verflüssigung. •*) Über das ,, Altern*' von Oberflächen kolloider Lösungen siehe Herz fei d und Kling er, Zur physikal. Chemie der Flüssigkeiten, 1919. Ausdrücke mehr als bloße Gleichnisse. Bech- hold weist darauf hin, daß eine rasch erstarrte Gelatine anfangs leicht durchgängig ist für Kri- stalloide, mit der Zeit aber ihren Widerstand ver- größert, „wir dürfen annehmen, daß in jungen Organen (frischen Membranen) der Stoffaustausch durch Diffusion rascher erfolgt . . ." Der Ge- danke, daß in alternden Zellen der Stoffaustausch infolge Verringerung der Permeabilität verringert und erschwert wird, ist in letzter Zeit von ver- schiedener Seite geäußert worden — , so spricht Benedict davon, daß in alternden Zellen das Plasma von der Außenwelt immermehr abge- schlossen, gewissermaßen „begraben" werde — , insbesondere haben dieses interessante Problem Herzfeld und Klinger (1917, Bioch. Ztschr. 83) in ihren Erörterungen über „Eiweißchemische Grundlagen der Lebensvorgänge" klar zum Aus- druck gebracht. Bei Membranen (gemeint sind hier die Plasmahäute), die seit längerer Zeit be- stehen und Stoffe aus- und eintreten ließen, ist eine allmähliche Zunaiime der Abdichtung ihrer F"iltergitter wahrscheinlich „bedingt dadurch, daß sich verschiedene Teilchen in dasselbe einlagern und die Poren verengern oder ganz verlegen . . . So wird die Permeabilität herabgesetzt und die Aufnahme von Nährstoffen seitens der Zelle er- schwert. Dieser Umstand scheint uns für die ganze Biologie von nicht zu unterschätzender Bedeutung. In ihm liegt wohl einer der wesent- lichsten Gründe für das Altern der Zellen (Indivi- duen), für das Absinken des Stoffwechsels in länger bestehenden Zellen". Dieselben müssen früher oder später durch eine Art Verhungern zu- grunde gehn. Die neuen verfeinerten Methoden der Permea- bilitätsbestimmung (Fitting 1917, Höfler 1918) würden es wohl gestatten, diese ungemein beachtenswerte Hypothese einer exakten experi- mentellen Prüfung zu unterwerfen und so besteht trotz aller Schwierigkeiten immerhin begründete Aussicht, die Grenzen des Rätsels, die das Wesen des natürlichen Todes umgeben, allmählich zu verschieben; doch bis ans Ende — sagte Delage — können wir in der Erklärung des Todes nicht gelangen, kommen wir doch auch nicht bis ans Ende der Erklärung des Lebens. Neue Beiträge zur Mutationsfrage. INachdriick verboten. Von Prof. Dr. Achtzehn Jahre sind jetzt vorübergegangen, seitdein Hugo de Vries uns seine Mutations- theorie geschenkt hat, und man darf sagen, daß de Vries das Ziel, das er sich damit stellte, vollständig erreicht hat. Dieses Ziel war, die wissenschaftliche Welt davon zu überzeugen, daß Arten und Varietäten nicht unscharf begrenzte, allmählich ineinander übergehende Typen dar- stellen, wie man mit Lamarck und Darwin Theo J. Stomps. allgemein annahm, sondern jede für sich konstant sind, die Evolution sich somit durch sprungweise Änderungen der Arten, Mutationen, vollzogen haben muß, wenn wir hier absehen vom Ent- stehen neuer Formen durch Kreuzung, von de Vries gewiß für die Evolution von Bedeu- tung erachtet, aber selbstverständlicli nicht allein imstande, die gesamte Evolution zu erklären. De Vries konnte seine Auffassung stützen durch 472 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 33 eigene Beobachtungen über das Auftreten von Mutationen bei verschiedenen Arten, u. a. der Oenothera Lamarckiana, welche in dieser Art und Weise eine gewisse Berühmtheit erlangte. Wenn es nun in den letzten Jahren noch wohl Streit auf dem Gebiet gegeben hat, so richtete dieser sich nicht gegen die Mutationstheorie selbst, im Gegenteil, die hervorragendsten Erblichkeitsforscher der Jetztzeit, Johannsen, Baur, Correns, Morgan usw., sind Anhänger der Mutationslehre und fast niemand hält mehr auf ein allmähliches Entstehen neuer Typen, sei es durch eine An- passung an neue Lebensverhältnisse, wie La- marck sichdieselbevorstellte, oder durch ein „Survival of the fittest" im Sinne Darwins, aber die Frage ist aufgeworfen worden, ob speziell das Benehmen der O. iLamarckiana wohl beweisend ist für die Mutationstheorie. Ungeachtet dessen, daß de Vries hat zeigen können, daß die O. La- marckiana ursprünglich in Nordamerika wild- wachsend vorkam, von wo sie vom Abbe Mi- ch a u x nach Europa mitgebracht wurde, haben einige I'^orscher die Neigung, anzunehmen, daß sie ein Bastard sei und die von ihr erzeugten Mutationen infolge einer Bastardspaltung hervor- gerufen werden. Ich werde versuchen, ganz kurz zu schildern, wie man zu dieser Auffassung ge- langt ist. Wenn man Oenothera biennis, unsere gemeine Nachtkerze, mit dem Pollen der O. Lamarckiana befruchtet, so erhält man aus den in dieser Art und Weise gewonnenen Samen nicht einen Bastard, sondern zwei Typen, von de Vries Laeta und Velutina genannt. Dies zeigt, so hat man ge- meint, daß O. Lamarckiana zwei Arten von Pollen- körnern erzeugt, wie ein Bastard zwischen einer blauen Campanula und einer weißblühenden Va- rietät derselben das z. B. auch tut, und somit, daß O. Lamarckiana gleichfalls ein Bastard ist. De Vries, wiewohl auch annehmend, daß seine O. Lamarckiana zwei Arten von Geschlechtszellen erzeugt, von ihm Laeta- und VelutinaGeschlechts- zellen genannt, zieht inzwischen nicht den Schluß, daß O. Lamarckiana ein Bastard zwischen zwei früheren Rassen sei, sondern hegt die Überzeugung, daß sie mit all ihren Eigentümlichkeiten durch Mutation innerhalb einer einzigen früheren Rasse entstand. A priori ist gewiß für den Standpunkt von de Vries am meisten zu sagen. Denken wir bloß einmal nach. Angenommen, O. La- marckiana sei ein Bastard zwischen zwei früheren Rassen und deshalb mit der Eigenschaft behaftet, zwei Arten von Geschlechtszellen, sowohl Eizellen in den unbefruchteten Samenknospen, wie Pollen- körnern, Laeta- und Velutina-Geschlechtszellen, zu erzeugen, so müßten ja aus der Selbstbestäu- bung einer Lamarckianapflanze drei Typen von Pflanzen hervorgehen, nämlich solche, die durch das Zusammentreffen von Laeta-Eizellen mit Laeta- Pollenkörnern entstanden, weiter solche, hervor- gerufen durch die Verschmelzung von Velutina- Eizellen mit Velutina-Pollenkörnern und schließ- lich zur Hälfte Pflanzen von der Zusammensetzung Laeta- Velutina, welche somit den Typus der Mutterpflanze wiederholen würden. Dies geschieht nun aber nicht: durch die Selbstbefruchtung einer Lamarckianapflanze erhält man nur wieder La- marckianapflanzen, abgesehen von vereinzelt auf- tretenden Mutationen. Wie ist dies zu verstehen ? Man hat die folgende Erklärung zu geben gewußt. Es hat sich gezeigt, daß die Samen einer ge- selbsteten Lamarckianapflanze nur zur Hälfte keim- fähig sind, in den weiteren Samen ist der Keim abgestorben. Man nimmt nun an, daß die reinen Laeta- und die reinen VelutinaKombinationen nicht lebensfähig sind, und damit die erwähnte Erscheinung bedingen würden. Dies läßt sich hören, aber die Hypothese, daß die O. La- marckiana ein Bastard zwischen zwei früheren Rassen wäre, gerät dadurch in Schwierigkeiten. Wir vernehmen nämlich, daß die reinen Laeta- und die reinen Velutina-Kombinationen, die durch Kreuzung O. Lamarckiana gegeben haben müßten, nicht existenzfähig sind, aber dann kann man auch schwerlich einen Bastard zwischen ihnen herstellen. Dies möge zeigen, daß die Sache nicht so einfach liegt, wie sie wohl vorgestellt wird, und daß Mutation auf jeden Fall eine Rolle gespielt hat bei der Entstehung der O. Lamar- ckiana. Hören wir jetzt, wie de Vries selbst sich die Entstehung der O. Lamarckiana in Einzel- heiten denkt. De Vries nimmt an, daß es ur- sprünglich auf dieser Erde nur eine, der O. La- marckiana sehr ähnliche Rasse von Oenothera gab, die keine abgestorbenen Samen und nur eine Art von Keimzellen, typische Geschlechts- zellen, erzeugte. Diese Rasse liatte die Eigen- tümlichkeit, ab und zu eine in die Richtung Ve- lutina mutierte Geschlechtszelle hervorzubringen. Dadurch konnte dann eine der O. Lamarckiana mehr ähnliche Verbindung in die Erscheinung treten, aber ganz typische Lamarckiana war diese noch nicht, denn tote Samen brachte sie nicht hervor und nach .Selbstbefruchtung trat Spaltung auf. Außerdem konnte sie nicht zu etwas Bleibendem führen, denn eine einfache Berechnung lehrt, daß sie eben infolge der Spaltung bald gänzlich ver- schwinden mußte. Die ursprüngliche Rasse hatte aber noch eine weitere Eigentümlichkeit, nämlich ab und zu durch Mutation Geschlechtszellen mit einem sogenannten letalen Faktor hervorzubringen. Damit meint man Geschlechtszellen, welche die Eigenschaft mitbekamen, eine Kombination Laeta- Laeta oder auch Velutina- Velutina nicht lebens- fähig sein zu lassen. Die ursprünglichen typischen Geschlechtszellen mit einem letalen Faktor sind also echte Laeta-Geschlechtszellen, in die Richtung Velutina mutierte Geschlechtszellen mit einem letalen Faktor sind erst echte Velutina-Geschlechts- zellen. Nach de Vries muß man sich nun vor- stellen, daß O. Lamarckiana aus der Vereinigung einer in Laeta mutierten Geschlechtszelle der ur- sprünglichen Rasse und einer völlig in Velutina N. F. XVIII. Nr. 33 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 473 mutierten sofort als konstante Rasse mit halber Keimkraft der Samen in die Erscheinung trat. In den toten Samen der O. Lamarckiana befindet sich immer entweder ein Keim von der Zusammen- setzung Laeta-Laeta oder aber ein solcher von der Konstitution Velutina-Velutina, während aus den lebenden Samen immer Lamarckiana-Indivi- duen, Pflanzen von der Zusammensetzung Laeta- Velutina, hervorgehen. Neulich ist de Vries imstande gewesen, seine Meinung durch die direkte Beobachtung zu be- stätigen. Im ersten Heft des Bandes für das Jahr 1919 der Berichte der deutschen botanischen Ge- sellschaft finden wir eine IVIitteilung von seiner Hand, genannt: Oenothera Lamarckiana mut. Simplex. Früher hatte de Vries aus O. La- marckiana bereits eine Mutation erhalten, die, nach ihren Eigenschaften und der bei Kreuzung, z. B. mit O. biennis, ausbleibenden Spaltung in Laeta und Velutina zu urteilen als reine Velutina betrachtet werden mußte, nur mit dem Unter- schied, daß kein letaler Faktor anwesend war, wie es in einer echten Velutinakombination ja wohl der Fall ist. De Vries belegte sie deshalb mit dem besonderen Namen O. blandina. Der Ursprung aus O. Lamarckiana muß derart ver- standen werden, daß in einem Samen mit der Kombination Velutina-Velutina, der sich also in der Regel nicht lebensfähig erweist, der letale Faktor durch Mutation zum Wegfall kam mit der Folge, daß die Kombination sich jetzt zu ent- wickeln imstande war. Es ließ sich erwarten, daß dasselbe auch in einem Samen mit einem Keim von der Zusammensetzung Laeta-Laeta würde geschehen können. Das ist nun in den Versuchen von de Vries tatsächlich geschehen und die in dieser Art und Weise erhaltene Mutation hat de Vries O. simplex genannt. Der Leser hat selbstverständlich bereits eingesehen, daß diese O. simplex nach der Auffassung von de Vries die Rasse von Oenothera darstellt, welche ur- sprünglich allein existierte und durch Mutation der O. Lamarckiana selbst einmal das Dasein ver- lieh. De Vries hat O. biennis mit dem Pollen der neuen Form bestäubt und festgestellt, daß ebensowenig wie bei Kreuzung mit O blandina jetzt eine Spaltung in Laeta und Velutina statt- fand und diesmal nur der Laetatypus in die Er- scheinung trat. Abgestorbene Samen werden von O. simplex nicht erzeugt, wie solches nicht anders erwartet werden konnte. Stellt man die Verbin- dung mit O. blandina her, so erhält mati einen Bastard, der der O. Lamarckiana fast in jeder Hinsicht genau gleicht, sich aber selbstverständ- lich durch die volle Keimkraft der Samen von ihr unterscheidet, sowie dadurch, daß nach Selbst- befruchtung Spaltung einsetzen muß. Es ist also wohl ganz sicher, daß die neu entdeckte Rasse als die F"orm betrachtet werden muß, aus der die O. Lamarckiana selbst einmal ihren Ursprung nahm. Besonders interessant ist, daß sie sich imstande zeigte, die nämlichen Mutationen hervorzubringen, welche bereits seit langer Zeit von O. Lamarckiana bekannt waren. Aber unsere höchste Aufmerk- samkeit verdient gewiß die Mitteilung von de Vries, daß er den Typus Simplex X Blandina aus der reinen Simplexrasse durch Mutation auftreten sah, wo- durch die Fähigkeit dieser Rasse, um in Velutina mutierte Geschlechtszellen hervorzubringen, nach- gewiesen und ein Ursprung durch Mutation aus einer einzigen Anfangsrasse, wie de Vries sich ihn vorstellt, für die O. Lamarckiana mehr als wahrscheinlich, man darf wohl sagen sicher wurde. Für die durch Mutation aus O. simplex ent- standenen Lamarckiana ähnlichen Pflanzen, natür- lich noch nicht vollständig O. Lamarckiana, dies wegen der vollen Keimkraft der Samen und des Aufspaltens in späteren Generationen, schlägt de Vries den Namen Secunda vor. Es läßt sich voraussagen, daß die Gegner von de Vries jetzt behaupten werden, de Vries selbst habe bewiesen, daß O. Lamarckiana ein Bastard ist, weil er ja die beiden EJternarten, Simplex und Blandina, in Kultur hat. Demgegen- über läßt sich bemerken, daß O. Lamarckiana eine Kombination Laeta- Velutina ist und Simplex ebensowenig dasselbe ist wie Laeta, wie Blandina dasselbe ist wie Velutina. Gewiß würde man annehmen können, daß ursprünglich zwei Arten, O. Simplex und O. blandina, existierten und diese durch Kreuzung die Lamarckiana ähnliche O. Se- cunda ergaben, aber typische Lamarckiana hatte man damit noch nicht erhalten und wiederholte Mutationen innerhalb der Rasse Secunda waren erforderlich, um sie zum Vorschein zu rufen. Viel einfacher ist die Auffassung von de Vries, der nur das Verschwinden einer einzigen Rasse, näm- lich der O. simplex, anzunehmen braucht im Gegensatz zu seinen Gegnern, die zwei Rassen, nämlich O. Simplex und O. blandina aussterben lassen müssen, während außerdem die Beobachtung in bezug auf das Vermögen der O. Simplex, um in die Richtung Velutina mutierte Keimzellen zu erzeugen, von hervorragender Bedeutung ist. Üb- rigens tut es nur noch äußerst wenig zur Sache, wie man sich in Einzelheiten die Entstehung der O. Lamarckiana vorstellen will. Die Hauptsache ist, daß de Vries jetzt eine Oenothera-Rasse züchtet, eben die O. simplex, die sicher Stamm- pflanze der O. Lamarckiana ist, nicht zur Hälfte abgestorbene Samen hervorbringt und nicht zwei Arten von Geschlechtszellen, somit nicht im Ver- dachte einer Bastardnatur stehen kann und doch Mutationen gibt und zwar gerade dieselben, die wir von O. Lamarckiana kennen. Gewiß, das Benehmen dieser Pflanze darf noch immer erachtet werden, Beweiskraft für die Mutationstheorie zu haben. Mit großem Interesse sehen wird jetzt weiteren Mitteilungen von de Vries entgegen, namentlich über die Resultate von Kreuzungen zwischen O. simplex und ihren Mutanten, denn durch diese wird Licht geworfen werden können über die augenblicklich noch etwas unsichere Frage, die Hauptfrage im ganzen Oenothera-Problem, ob 474 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 33 tatsächlich in O. Lamarckiana bestimmte stoffliche Träger erblicher Eigenschaften sich in einem be- sonderen Zustande, dem sog. labilen, befinden, wie de Vries angenommen hat. Vielleicht vermag die Mutationstheorie deshalb nicht einen jeden vollständig zu befriedigen, weil der Glaube existiert, daß sie ohne Ursache neue F'ormen entstehen läßt. Die Ansicht von de Vries ist dies nie gewesen. Im Gegenteil, de Vries ist überzeugt, daß jede Mutation ihre Ursache hat, aber im allgemeinen ist es bis jetzt nicht möglich gewesen, dieselbe nachzuweisen. Um so größer ist die Bedeutung einer neulich in der holländischen Zeitschrift Cultura erschienenen Arbeit von Dr. P. C. van der Wölk aus Middel- burg über das Auftreten einer Mutation mit genau bekannter Ursache bei Acer Pseudoplatanus. Ein Individuum dieser Art war stark zuge- schnitten worden, wonach man versäumt hatte, sämtliche Wunden gehörig zu verschließen. Die Folge war, daß zahlreiche Wundstellen faul wurden, und nun bot sich die merkwürdige Erscheinung dar, daß die in unmittelbarer Nähe der faulenden Wunden befindlichen Knospen sich zu Zweigen ganz anderer Art entfalteten, als hätte geschehen sollen. Die Blätter waren weiß und ganz anderer Form mit schmalen Zipfeln, sie waren auch be- haart, was normal grüne Blätter nicht sind, die Blattstiele waren länger und hellgelb mit dunkel- braunen Punkten anstatt rötlich, aber die sonder- barste Abweichung zeigten wohl die Blüten, in- dem sie eingeschlechtig wurden anstatt zweige- schlechtig, dazu anderthalbmal so groß wie die normalen und rötlich anstatt grün. Plötzlich, wie durch Mutation, traten die abweichenden Zweige in die Erscheinung und Übergänge zum normalen Typus wurden nie beobachtet. Mußten sie nun als von irgendeiner Krankheit befallene und da- durch modifizierte oder als durch die besondere Form der Mutation, die man wohl Knospenmuta- tion nennt, entstandene Zweige betrachtet werden ? Durch eine vieljährige Untersuchung hat van der Wölk die Antwort aufzufinden gewußt. Zunächst lehrten Okulierversuche, daß eine grüne Knospe, eingepflanzt auf einen weißen Zweig, sich zu einem weißen Zweige weiter entwickelte. Grüne Knospen, die man auf ihren grünen Trag- zweigen verbleiben ließ, konnten sich gleichfalls zu weißen Spro(3en entfalten, falls man in un- mittelbarer Nähe ein kleines Loch in der Rinde des Zweiges machte und in dieses eine Watten- flocke hineinführte, getränkt mit Wasser, in dem Abschabsei faulender Wunden fein zerteilt worden war. Eins und das andere deutete darauf hin, daß eine Bakterie Ursache des Auftretens der weißen Zweige sein würde, und tatsächlich gelang es van der Wölk, unter den sechs Bakterienarten, die sich aus den faulenden Wunden aufzüchten ließen, eine Art zu finden, die sich bei Infektionsversuchen mit Reinkulturen derselben imstande zeigte, die gewünschte Umbildung unmittelbar zu veranlassen. So mächtig war der Einfluß dieser Bakterie, daß es genügte, ein Versuchsbeet einige Male mit Wasser zu begießen, in dem Reinkulturen abge- strichen worden waren in einem Verhältnis von einer Petrischale pro Eimer, um zustandezubringen, daß von nachher gesäten Früchten eine kleinere oder größere Zahl sich anormal entwickelten, be- sonders wenn zuvor noch die Fruchtwand mit einer Präperiernadel beschädigt worden war. Man wird vielleicht die Bemerkung machen wollen, daß wenn es also feststeht, daß eine Bak- terie die direkte Ursache des Auftretens der anormalen Zweige war, diese offenbar einfach kranke Zweige waren und an eine Mutationser- scheinung nicht gedacht werden muß. Das Gegen- teil ist aber der Fall. Es ist nämlich van der Wölk in einer hier nicht näher zu beschreibenden Weise gelungen, die anormalen Zweige völlig zu desinfizieren, alle Bakterien zum Verschwinden zu bringen, wie natürlich in Schnitten mit Hilfe des Mikroskops leicht kontrolliert werden konnte oder aus der Unmöglichkeit hervorging, aus des- infizierten Zweigen Reinkulturen zu züchten. Den- noch blieben die einfnal weißen Zweige, auch bei ihrer weiteren Entwicklung, weiß, sogar wenn die Beobachtung Jahrelang fortgesetzt wurde, und dies zeigt klar, daß tatsächlich eine Mutation an ihrem Auftreten schuld war. Ist man noch nicht überzeugt, und würde man z. B. entgegnen wollen, daß, wenn auch die Bak- terien getötet worden waren, von ihnen abge- schiedene Stoffe vielleicht noch anwesend waren und deshalb die Infektion fortdauerte, so kann schließlich noch auf die Resultate der von van der Wölk unternommenen Bestäubungen hin- gewiesen werden. Wurden nicht desinfizierte Zweige bestäubt mit normalem Pollen, so ent- standen aus den in dieser Art und Weise er- haltenen Samen ausschließlich weiße Nachkommen. Dies beweist, daß auch die Geschlechtszellen der weißen Zweige von der Bakterie befallen waren. Wurden dagegen desinfizierte weiße Zweige mit grünen Zweigen gekreuzt, so trat ein Bastard inter- mediären Charakters mit mosaikartig gescheckten Blättern in die Erscheinung. Hieraus geht hervor, daß tatsächlich die Desinfektionsversuche dem ge- setzten Ziele genügten, sonst wären auch jetzt die Keimpflanzen weiß geworden, und somit, daß das Entstehen der anormalen weißen Zweige auf eine Mutationserscheinung zurückzuführen war. Sehr bedauerlich ist es, daß van der Wölk seine Ver- suche hat unterbrechen müssen, denn interessante Resultate hätte man wohl noch erwarten können, z. B. von der Selbstbestäubung der aus der Ver- bindung „desinfiziert weißXgrün" erhaltenen Bastard- pflanzen. Auch ohne diese Resultate inzwischen bedeutet die Arbeit von van der Wölk einen wichtigen neuen Beitrag zur Mutationsfrage. N. F. XVIII. Nr. 33 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 475 Bücherbesprechiingen. Kolloidchemie. Ein Lehrbuch von Richard Zsigmondy. Leipzig 1918, Verlag von Otto Spamer. Preis geh. 26 M., geb. 30 M., hierzu 20 % Teuerungszuschlag des Verlags. Wenn ein um die Entwicklung der Kolloid- chemie so hochverdienter Forscher wie Zsig- mondy es unternimmt, ein Lehrbuch darüber zu schreiben, so kann man von vornherein gewiß sein, daß es ein Werk von bleibendem Wert sein wird. In dieser Erwartung wird sich kaum jemand getäuscht fühlen, der aufmerksam das Zsig- mondy sehe Werk durchstudiert, das im Jahre 191 2 in erster und ganz kürzlich in zweiter Auf- lage erschienen ist. — Das Buch zerfällt in zwei Teile: einen verhältnismäßig kurzen allgemeinen und einen ausführlichen speziellen Teil. Der Hauptwert des Werkes ist nach Ansicht des Re- ferenten durch den letzteren bestimmt. Er bringt in der Reihenfolge : IVIetalle, Nichtmetalle, Oxyde, Sulfide, anorganische Salze, organische Salze (Seifen und Farbstoffe) und endlich Eiweißkörper eine Beschreibung der Darstellung und des Ver- haltens der meisten in kolloider Verteilung bis jetzt bekannten Stoffe und die Schilderung inner- halb der einzelnen Abschnitte zeichnet sich nicht nur durch weitgehende Vollständigkeit, sondern — was wichtiger ist — durch Klarheit und An- schaulichkeit, geschickte Gruppierung des Tat- sachenmaterials und seine kritische Durchleuchtung statt; der Leser hat hier, im Gegensatz zu so manchem chemischen Lehrbuch, dauernd das Gefühl, daß der Verf mit dem Komplex der Er- scheinungen trotz ihrer sehr großen Mannigfaltig- keit völlig vertraut ist, die meisten Versuche aus eigener Anschauung genau kennt und selbst , wo das vielleicht nicht der Fall sein sollte, sie bei seiner Beherrschung des ganzen kolloidalen Ge- biets kritisch zu durchschauen imstande ist. Es wird aus diesem Grunde mancher bedauern, daß nicht einige weitere Vertreter der kolloidalen Stoffe, namentlich aus der organischen Reihe (Stärke, Kautschuk, Gerbstoffe usw.) noch Berück- sichtigung gefunden haben und vom Verf. mit Absicht weggelassen worden sind ; wenn auch, wie er an einer Stelle seines Buches bemerkt, die von ihm berücksichtigten Vertreter ausreichen, um die wichtigsten prinzipiellen Fragen aus der Kolloid- chemie darzutun, so würde zweifellos eine aus Zsigmondys Feder stammende Schilderung des Verhaltens des Kautschuks, der Dextrine usw. ihren großen Reiz haben und Referent ist über- zeugt, daß mit ihm mancher Leser die stille Bitte an den Verf richten wird, die Rahmen des Buches bei der nächsten Auflage in dieser Beziehung etwas weiter zu spannen. Dieselbe Bitte scheint dem Referenten mit Bezug auf den allgemeinen Teil angebracht. Er ist, wie schon erwähnt, verhältnismäßig kurz und die vier Abschnitte, aus denen er sich zusammensetzt (L Einleitung, II. Systematik, IIL Physikalische Grundlagen, IV. Gel- und Solbildung) bringen zwar das Wesentliche aus den Gesetzmäßigkeiten und den allgemeinen Forschungsergebnissen im Gebiete kolloidaler Stoffe, aber wohl in allzu ge- drängter Form. Gegen die Kürze dieses Teiles ließe sich nichts sagen, wenn das Werk nicht die Bezeichnung „Lehrbuch" führen würde. So aber wird es für manchen Lernenden vielleicht ent- täuschend sein, wenn er z. B. neben der kurzen Beschreibung des Ultramikroskops (Seite 12) statt einer Schilderung seiner physikalischen Grundlagen nur einen Hinweis auf des Verf. Werk ,,Zur Er- kenntnis der Kolloide" findet, wenn ihm allge- meines über „Darstellung kolloider Lösungen" in einem Abschnitt von knapp "/^ Seiten Länge (Seite 10) geboten wird und er noch an manchen anderen Stellen mit den Schwierigkeiten der allzu konzentrierten Darstellung kämpfen muß. Und so wäre vielleicht eine kleine Erweiterung auch dieses Teils von Vorteil für das Werk, das im übrigen zu den schönsten Neuerscheinungen auf dem Gebiete der Chemie gehört und zum unent- behrlichen Ratgeber für jeden werden dürfte, der in das stetig an Bedeutung zunehmende Gebiet der Kolloiderscheinungen eindringen möchte. J. v. Braun. Alt, Die Wettervorhersage. Ihre Geschichte, ihr gegenwärtiger Stand und die Richtung ihrer Fortentwicklung. Mit 20 Figuren und Karten. 70 Seiten. Verlag Natur und Kultur, München 1919. Mk. 2,20. Der eigentliche Wert dieser kleinen Schrift besteht darin, nach einer Behandlung der Wetter- karte, die wir in anderen Büchern ebenso gut, wenn nicht besser finden, auf die Bestrebungen der neueren Meteorologie in allgemeinverständ- licher Form hinzuweisen. Bisher trieb man Wetter- vorhersage auf Grund von Beobachtungen, die nah an der Erdoberfläche angestellt wurden. In den letzten Jahren, seit man Drachen und Ballon in den Dienst der Forschung stellte, brach sich aber immer mehr die Überzeugung Bahn, daß die Vorgänge der oberen Luftschichten mindestens ebenso wichtig seien, wie die Ver- hältnisse an der Erdoberfläche selbst. Diese theo- retische Erkenntnis fand im Kriege einen ge- waltigen Helfer. Ein großer Teil des westlichen Beobachtungsnetzes war verloren gegangen — und doch hatte man gute Prognosen nötiger als je zuvor. So mußte man durch Qualität der Beobachtungen ersetzen, was an Quantität fehlte — und da außer- dem das Flugwesen auf die freie Atmosphäre hinwies, so entwickelte sich die Drachen- und Pilotballontechnik in ganz hervorragender Weise. Die Bereitstellung der Mittel machte weniger Schwierigkeiten als im Frieden — und nur an einem Mangel krankte der kriegsmeteorologische Dienst — • es fehlte an sachverständigen Leuten. Trotzdem wird das gesammelte Material, von dem 476 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 33 ja nun der Schleier des Dienstgeheimnisses ge- fallen ist, reiche Anregung bieten und dem praktischen Meteorologen auch im Frieden den Weg in das freie Luftmeer weisen. — Der Laie kennt diese Umwandlung in der Arbeitsweise der Wetterpropheten naturgemäß noch herzlich wenig. F'ür ihn ist „Hoch" und „Tief" noch immer das ABC aller Prognosenkunst. Drum wird er eine erste Bekanntschaft mit den jungen Bestrebungen sicher dankbar begrüßen. Mehr als eine erste Bekanntschaft kann ihm die Schrift von A 1 1 allerdings auch nicht vermitteln — und wird ihm vorläufig kein gemeinverständliches Buch ver- mitteln können. Denn eine Wissenschaft, die in den Kinderschuhen steckt, eine Wissenschaft, welche die P'achmänner selbst noch nicht richtig bewältigt haben, ist nicht geeignet allen zu dienen. Und solch eine werdende VVissenschaft ist die „Meteorologie der freien Atmosphäre" vorläufig wohl noch für mehrere Jahre. Dr. Victor Engelhardt. Emil Du Bois-Reymond. Jugendbriefe an Eduard Hall mann. Zu seinem hundertsten Geburtstag, dem 7. November 19 18, hersg. von Estelle Du Bois-Reymond. Berlin 1918. Dietrich Reimer (Ernst Vohsen). 8". 155 Seiten. Preis 5,50 M. Mit einem Satze: ein Buch, das man nicht nur einmal liest, sondern in dem man immer wieder einmal blättern wird, weil die Briefe ein Großer in seiner Jugend schrieb. Est eile Du Bois-Reymond hat uns zur Wiederkehr des 100. Geburtstages ihres Vaters (7. Nov. 1818) mit einer Ausgabe seiner Jugend- briefe an den um fünf Jahre älteren Mediziner Eduard Hallmann beschenkt, dem Du Bois den Übergang von mathematischen Studien zur Naturwissenschaft und Medizin verdankt. Aus den Briefen lernen wir den durch seine Reden in der Akademie und in der weiteren Öffentlichkeit als glänzenden Redner von wahrhaft humanistischer Allgemeinbildung bekannten Gelehrten nun auch in den Jahren der Entwicklung (1839 bis 1850) kennen. Schon derselbe Esprit — ein Vererbungs- merkmal seiner französischen Vorfahren — der- selbe Witz, die gleiche Liebe für die schöne Literatur wie später. Das ganze medizinischnaturwissen- schaftliche Milieu eines Berlin der vierziger Jahre ersteht wieder vor uns in diesen Briefen. Mit knappen und oft verteufelt scharfen Worten umreißt er seinem Freunde gegenüber die Menschen seiner Umgebung; mit großer Liebe spricht er aber auch von einigen akademischen Lehrern (z. B. von Johannes Müller) und Studiengenossen (z. B. von E. W. Brücke und H. Helmholtz). Dem König ist er als waschechter Demokrat von Anfang an nicht hold; er wendet sich aber schließlich entsetzt über die „gemeine Wirklichkeit" des „plattesten Radikalismus" zurück zur sog. „Reak- tion" (S. 128). Wir steigen mit dem jungen, kecken Du Bois in die diversen Examina, fühlen mit ihm die öftere Ebbe seines Geldbeutels, sehen ihn von 1841 an mit literarischen, technischen und experi- mentellen Studien zur „viehischen [!] Elektrizität" mit einem „zur zweiten Natur gewordenen Trieb" beschäftigt, leben mit ihm noch einmal die Forscher- freuden und -leiden durch, ehe zu Michaelis 1848 der erste Band seines epochalen Werkes an die Öffentlichkeit tritt, des ersten physiologischen Buches, „in dem Verse und Integrale zugleich vor- kommen", wie er selbst schreibt. Den Naturwissenschafts- und Medizinhistorikern sind diese Jugendbriefe eine wertvolle, neu- erschlossene Quelle. Den anderen Lesern aber, die hinter ihrer derben Hausmannskost an aktueller naturwissenschaftlicher Literatur gern einmal an süßer Speise sich delektieren wollen, werden diese köstlich lebendigen Briefe auch zu einer Quelle werden, zu einem Bronnen, aus dem das „Mensch- liche" auf den Menschen überströmt. Sicher werden Du Bois' Jugendbriefe bei den meisten Lesern Lust zur geschichtlichen Betrachtungsweise aus- lösen und vom Vorurteil befreien helfen, daß Geschichte, insbesondere die der Naturwissen- schaften, eine kalte Reihe von Namen, Jahreszahlen, Gesetzen und Ergebnissen ist, unter die man zum Schluß einen Strich setzt und die man dann zur Summe aufaddiert. Das bleibt nur das äußerste Äußere. Menschen mit ihrem Fühlen und Wollen sind es jedoch, die das innerste Innere der Wissenschaftsgeschichte ausmachen. Um die Empfehlung der Briefsammlung schließ- lich nicht wieder abschwächen zu wollen, verweise ich einige Verbesserungen und Wünsche, die den von der Herausgeberin beigefügten „Anhang" (S. 135 ff.) betreffen, in eine längere Fußnote.*) Dresden-A. Rudolph Zaunick. ') In der „Einleitung" (S. I — 10), die uns über Du Bois-Reymonds Verhältnis zu Eduard Hall mann auf- klärt, sagt die Herausgeberin, daß man Ungenauigkeitcn und Lücken des ,,Anhanges", der allerlei über die in den Briefen erwähnten Persönlichkeiten bringen soll, nachsichtig beurteilen möge, da der Krieg ihr die Mithilfe von Universitäts- lehrern und Ärzten entzogen habe. Die erbetene ,, Nachsicht" ist ihr gewiß. Doch werden vielleicht manchem Leser, sicherlich aber der Herausgeberin für eine kommende Neuauflage — an die ich glaube — , einige Verbesserungen nicht ganz unwillkommen sein. Zunächst ist es bei allen biographischen Kommentaren von Briefausgaben in der Tat sehr scliwcr, das Wesentliche hervorzustt'Uen. Zu empfehlen sind dann stets in erster Linie die Artikel in den 55 Bänden der „Allgemeinen Deutschen Biographie" (München 1875 — 1910; Generalregister, 1912) und in den bekannten ausländischen Biographien, auf welche in genauer Zitierung hingewiesen werden müßte. Gerade über eine Reihe in den Briefen in Frage kommender Persönlich- keiten enthält die „A. D. B ", besonders in den Nachtrags- bänden, ausführliche Artikel. Hoffentlich folgt man künftig ganz allgemein diesem erprobten Ratschlag. Nun aber einige Verbesserungen. Ich folge dem Alphabet. J. Fr. Dieffenbachs Geburtsjahr ist 1794, nicht 1795. Der auf S. 109 genannte Diesterweg ist ohne Zweifel der bekannte Volksschulmann, der jedoch Friedrich Adolf als Vornamen trägt und nicht A d olf Wil heim , die eines schon 1835 verstorbenen Bonner Mathematikers Diester- N. F. XVm. Nr. 33 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 477 Grundzüge der wissenschaftlichen Drogen- kunde und organischen Rohstofflehre nebst einem Entwurf einer Ersatzmittelkunde. Von Prof. Dr. Viktor Pöschl, Direktor der Insti- tuts für Warenkunde an der Handelshochschule Mannheim. Mit 52 Bildern im Text. Berlin, Verlag- Adolf L. Herrmann G. m. b. H., 19 17. Unter Drogen versteht man im allgemeinen pflanzliche oder tierische Rohstoffe, die in irgend- einer Beziehung zur Medizin stehen, und die wissenschaftliche Drogenkunde pflegt man mit dem Namen Pharmakognosie zu bezeichnen. Es kann dem Verf. zugegeben werden, daß die Definition der Begriffe „Droge" und „Pharmakognosie", je nach dem persönlichen Standpunkt des Autors, in den Lehrbüchern schwankte, daß der Begriff Droge weiter oder enger gefaßt wird, daß er in den verschiedenen Ländern oder zu verschiedenen Zeiten bald so, bald so begrenzt wird; aber, ob es sich darum lohnt, eine neue Definition zu ver- suchen und auf Grund dieser ein neues System der Drogen- und Rohstoffkunde zu begründen, erscheint dem Ref. doch recht zweifelhaft. Der Verf. kommt auf Grund seiner Überlegungen zu einem „geklärten" Begriff Droge und definiert ihn folgendermaßen : „Drogen sind trocken erscheinende aus dem Tier- oder Pflanzenreich stammende Waren, welche aus einem oder mehreren Organen be- stehen und den ursprünglichen anatomischen Bau (Zellverband) im wesentlichen beibehalten." Es werden 1 1 Klassen der Drogen unterschieden : Kohlenhydratdrogen, Eiweißdrogen, Fettdrcgen, Farbstoffdrogen, Gerbstoffdrogen, Riechstofifdrogen, Alkaloiddrogen, Glykosiddrogen, Kohlenstoffdrogen, Kalziumkarbonatdrogen und Kieselsäuredrogen. — Für die weitere Einteilung werden morphologische. weg; nicht 1852 ward dieser F. A. Diesterweg nach Berlin berufen, sondern schon 1832. Die Vornamen von Döbereiner sind Johann Wolfgang. Alex. Fr. Wilh. Duncker lebte von 1813 bis 1897. Anton Hall- mann ward 1812 geboren. Johann Jacoby war Arzt und sozialistischer Abgeordneter. Jüngken führte die Vornamen Joh. Christian. ,, Professor Koch aus Jena" (S. 117) möchte ich mit Sicherheit als den damaligen Jenenser Bota- niker Karl Heinr. Emil Koch (1S09 — 1S79) ansprechen, der 1847 endgültig nach Berlin übersiedelte, wo er 1849 Ad- junkt am Botanischen Garten wurde. Der auf S. 90 in einer ergötzlichen Szene auftretende Generalarzt Lohmeyer (Joh. Karl Jac.) lebte von 1776— 1852. Wilhelm (K. Hartw.) Peters, der Reisende und Naturforscher, starb erst 18S3 und nicht 1833. Der oft genannte Optiker Pistor ist sicher- lich Inhaber der 1813 gegründeten Firma Pistor & Martins. Der ganz zu Anfang (auf S. 15 u, 17) vom jungen Du Bois sarkastisch gezeichnete Jenenser Professor Suckow ist nicht Mineralog und Kristallograph gewesen ; das dürfte eine Ver- wechslung mit seinem Sohne Gustav (1803 — 1S67) sein. Der alte Suckow (Wilhelm Karl Friedrich) (1770 — 1848) las in Jena neben Medizin auch Pharmakologie und Toxiko- logie, worauf ja auch Du Bois' witzige Episode anspielt. Der Berliner Kliniker Traube starb 1876, nicht 1875. Das Geburtsjahr des Theologen Twesteu, Schleiermachers Nach- folgers, ist 1789, nicht 1798. — Dies sind die dem Rezen- senten ins Auge gefallenen Fehler. Bei weiteren Nachforschun- gen ließe sicii vielleicht auch noch dies und jenes aufklären. Hoffen wir das beste in dieser Hinsicht von einer kommenden Neuausgabe, die dann auch mit ihren „Anhang" vor der Kritik wohl bestehen kannl anatomische, physikalische und chemisch-physiolo- gische Tatsachen verwendet. Auf Grund der vom Verf. gegebenen Definition gehören u. a. zu den Drogen Heu in allen seinen Formen, sämtliche Getreidearten, Hülsenfrüchte, Hölzer (Tannen-, Fichten-, Lärchenholz usw.), Hanf, Ramie, Flachs, Jute, Stroh, während Manna, Lakritz, Stärke, Traganth, Gummiarabikum, Katechu, Kampfer, Opium usw. nicht zu den Drogen, sondern zu den „Rohstoffen" gehören. Diese Beispiele scheinen dem Ref. zu genügen, um darzutun, daß das System des Verf. höchstwahrscheinlich in den Kreisen der Fachleute wenig Anklang finden wird. Der Getreide- und Holzhändler wird nichts mit Drogen zu tun haben wollen und der Apotheker wird nach wie vor sein Opium zu den Drogen zählen. Für die wissenschaftliche Bearbeitung der Drogen und Rohstoffe dürfte es ziemlich gleich- gühig sein, ob sie dem „geklärten" Begriff „Droge" oder dem Begriff „Rohstoffe" entsprechen. — Sehr übersichtlich sind die Listen der Drogen und Roh- stoffe, die in tabellarischer Form nach dem System des Verf. zusammengestellt sind. Ein Abschnitt handelt von der volkswirtschaftlichen Bedeutung der Drogen in der Vergangenheit, ein anderer von den Drogen in Handel und Industrie der neuesten Zeit und ein weiterer von den Drogen in der Wissenschaft. Den Schluß des Buches bildet ein Kapitel über die Bedeutung der Drogen und Rohstoffe für die Ersatzfrage und ein „Schlag- wörterverzeichnis". Wächter. Soergel, W., Lösse, Eiszeiten und Paläo- lithische Kulturen. Gustav Fischer, 1919. Grundlegende und viele bisher ungelöste Fragen der Diluvialgeologie in eindeutiger Weise klärende Forschungen, an deren Ergebnissen auch Anthropologie und Prähistorie in weitestgehendem Maße interessiert sind, werden in diesem Werke veröffenlicht. Liegen doch in den Ablagerungen der Eiszeit die Zeugnisse begraben, aus denen wir die letzten Wegestrecken in der Entwicklung der Säugetier- welt, die verschiedenen Schicksale ihre Stämme, die ihre Entwicklung förderndem und hemmenden Ursachen erkennen, aus denen wir aber auch gleichzeitig die Vorgeschichte unseres Geschlechtes durch Werkzeuge aus Stein und Knochen, aus Skelettresten der alten Rassen aufbauen können. Der richtigen Deutung dieser verschiedenartigen Dokumente muß eine geologisch fest begründete Stratigraphie das stützende Rückgrat geben. Eine Grundfrage dieser Diluvialgeologie ist die Alters- stellung der Lösse, ihr Verhältnis zu den ver- schiedenen Eiszeiten. Damit untrennbar verknüpft ist die Frage nach dem Altersverhältnis der paläo- lithischen Kulturen zu Lössen und Eiszeiten. Die Zeit der Lößbildung, für die bisher von den einzelnen Autoren sehr verschiedene Perioden im glazial-interglazialen Zyklus in Anspruch ge- nommen wurden (Sauer, Kraus, Werth, Gagel nehmen ihr glaziales Alter an, Penck, Obermayer, 478 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 33 Wüst ihr interglaziales, neben anderen, zwischen glazialer und interglazialer Enstehung schwankenden Meinungen) hat sich nunmehr eindeutig auf glaziale Perioden, und zwar auf Vorstoßphase und Höhepunkt jeder Vereisung festlegen lassen. In diesem Sinne sprechen die Art der Entstehung und Verbreitung des Lösses, seine Lagerungsweise zu den Moränen, petrographische Eigentümlich- keiten, ferner die Schnecken- und Säugetierfauna der Lösse, die kritisch nach Zusammensetzung und Ausbreitung gewürdigt wird. Eine Reihe von Profilen beweist dazu, daß die Lößbildung meist schon in Zeiten einer vorgeschrittenen Vorstoß- phase einer Eiszeit begann. In Rückzugsphasen ist dagegen niemals Löß gebildet worden, da über den beim Rückzug einer Vereisung frei- werdenden oder gebildeten Moränen stets die Lösse der zugehörigen Eiszeit fehlen. Aus dieser Art des Vorkommens muß auf wesentlich andere klimatische und meteorologische X'^cr- hältnisse während der Rückzugsphasen als während der Vorstoßphasen und der Höhepunkte eine Eis- zeit geschlossen werden. Die Rückzugsphasen lassen sich als Zeiten flächenhafter Abschmelzung auffassen; im Einklang mit dieser Auffassung finden sich manche morphologische Einzelheiten im Bilde der norddeutschen Diluviallandschaft, die als subglazial unter dem Toteis entstandene oder genetisch mit seinem Abschmelzen verknüpfte Bildungen zu deuten sind. Nach ihrem Alter zerfallen die Lösse in drei Gruppen: die älteren, die jüngeren und die jüngsten Lösse. Während die Altersstellung dieser drei Gruppen im Rahmen des Eiszeitalters sicher abgegrenzt werden kann, begegnet die Einordnung der Teilstufen jeder Gruppe in die Folge der durch Interglazialzeiten getrennten Eis- zeiten zum Teil noch beträchtlichen Schwierig- keiten. Von den älteren Lössen läßt sich der obere, der in den meisten Gebieten gemeinhin als „älterer" Löß bezeichnet wird, sicher als zeitliches Äquivalent der II. norddeutschen oder Rißeiszeit der Alpen erweisen. Die unteren Glieder der älteren Löß- formation, die in Westdeutschland gelegentlich bis über vier durch Lehmzonen geschiedene Lösse umfaßt, dürften der Mindeleiszeit angehören, für die auch ein im Alpenvorland gefundener Löß in Anspruch genommen werden kann. Auf die Günzeiszeit kann bisher in Mittel- und Westdeutsch- land kein Löß bezogen werden, doch gehören vielleicht die ältesten Lößlehme der Alpen hierher. Die jüngeren Lösse gehören zweifellos der letzten Eiszeit an. Sie zerfallen in Mittel- und Westdeutschland und in Österreich sicher in zwei Stufen, den jüngeren Löß I und den jüngeren Löss II. Alle geologischen Merkmale beweisen, daß der jüngere Löß I der ersten großen Vor- stoßphase der letzten Eiszeit zuzurechnen ist, als die Soergel im Alpengebiet mit anderen Autoren die „größte Verglctscherung" der Schweiz, in Norddeutschland den Vorstoß auffaßt, der die verwaschenen „Jungmoränen" zwischen Halle und Leipzig aufgeschüttet hat. Der jüngere Löß II hinwiederum ist das zeitliche Äquivalent des zweiten Hauptvorstoßes der letzten Eiszeit, für die S Orgel in den Alpen Pencks Würmeiszeit, in Norddeutschland den Vorstoß in Anspruch nimmt, der den Endmoränenzug im Norden des Breslau- Magdeburger Urstromtales und den Endmoränen- zug Grünberg- Lissa-Piessen aufschüttete Die jüngsten Lösse gehören also zwei Bildungsphasen an. Die jüngste ist ausgesprochen postglazial und hat nur im alpinen Gebiet zum Lößabsatz geführt. Der älteren ist die Mehrzahl der intramoränen Lösse der Alpen, die Flottlehme der Lüneburger Heide und andere zuzurechnen. Sie fallen zeitlich zusammen mit dem Bühlvorstoß in den Alpen, dem baltischen Vorstoß in Nord deutschland. Zu einer gleichen Gliederung und Alters- stellung der verschiedenen Lösse , als wie sie auf geologischer Grundlage gewonnen wurde, führt eine vergleichende Gliederung auf Grund der diluvial- archäologischen Funde. Von diesen können einige ältere Kulturen, vor allem die Kulturkreise des Spät-Acheuleen und des früheren Mousterien nicht, die jüngeren aber mit ihren Unterabteilungen für stratigraphische Zwecke in kleineren Gebieten als durchaus verwendbar gelten. Dabei ergab sich ein wesentlich höheres Alter für das Magdalenien, als bisher allgemein angenommen. Die Magdalenien- kultur setzt bei uns im Höhepunkt des zweiten Haupt- vorstoßes der letzten Eiszeit ein und reicht bis über das Bühlstadium hinaus. In einer graphischen Darstellung gibt Soergel die Beziehungen der letzten alpinen Vereisung zum jüngeren und jüngsten Löß, zur Verbreitung und Folge der verschiedenen Säugetierfaunen und zur zeitlichem Stellung der paläolithischen Kulturen vom Mousterien bis zum Spät-Magdalenien. Krenkel. Molisch, Professor Dr. Hans, Pflanzenphy- siologie als Theorie der Gärtnerei. Für Botaniker, Gärtner, Landwirte, Forstleute und Pflanzenfreunde. 2. neubearbeitete Auflage, mit 137 Abb. im Text. Jena 1918. Gustav Irischer. Genau zwei Jahre nach der ersten erscheint eine zweite Auflage dieses schönen Buches und das mitten im Kriege und der Revolution; ein Beweis für das große Interesse, das diesem Werke entgegengebracht wurde. Schade, daß nicht fest- zustellen ist, von wem das Buch besonders ge- kauft worden ist, ob von Botanikern, Praktikern oder Pflanzenfreunden. Man geht aber wohl nicht fehl, wenn man annimmt, daß in erster Linie die Gärtner die Käufer waren. Wer Gelegenheit hat, mit Gärtnern zu verkehren, wird mit F"reuden wahrgenommen haben, daß das Molischsche Buch recht bekannt geworden ist und mit Eifer gelesen wird; ein Zeichen für den Aufschwung des Gärtner- standes, dessen intelligentere Elemente sich in N. F. XVIII. Nr. 33 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 479 den letzten Jahren fast ausschließlich in der Garten- kunst zu verlieren schienen. — Der Verf. kann mit Genugtuung feststellen, daß seine Art der Darstellung die richtige ist, um diejenigen Gärtner zu fesseln, die ihren Beruf durch wissenschaftliche Vertiefung veredeln wollen. Die Gärtner, die in ihrer Mehrzahl ihren Beruf außerordentlich lieben, fühlen offenbar, daß ein Gelehrter zu ihnen spricht, der ihren Neigungen ein starkes Interesse entgegen- bringt. Des Verfassers wissenschaftliche Atbeiten verraten fast stets eine Freude am Objekt im Gegensatz zu denen mancher anderen Forscher, für die das wissenschaftliche Problem das allein Interessante ist, wobei das Objekt mehr oder weniger in den Hintergrund tritt. Vielleicht liegt darin das Geheimnis, auf wißbegierige Praktiker und Liebhaber eifolgreich wirken zu können, denn die Erfahrung lehrt, daß es nicht immer mit einem klaren und guten Stil allein getan ist. Gegenüber der ersten Auflage sind keine wesent- lichen Veränderungen notwendig gewesen. Er- gänzungen hat der Text erfahren durch Versuche über PVuchtbarmachung des Bodens durch den Regenwurm, die durch sehr instruktive Abbil- dungen erläutert werden. Ferner wurden die Ab- schnitte über Reizstoffe, Osmose, Saftsteigen, Reiz- begriff, Lichtmengegesetz beim Heliotropismus, Treiberei, Burdonen und Altersschwäche erweitert, von denen besonders die letzten beiden die Gärt- ner interessieren dürften. — Im übrigen gilt für die neue Auflage dasselbe, was für die erste ge- sagt wurde (N. W. 1916. Nr. 24). Wächter. Schmid, Bastian, Die Naturwissenschaften in Erziehungund Unterricht. (Das neue Deutschland in Erziehung und Unterricht, hersg. von B. Schmid und iVI. Brahn, Heft 3.) Leipzig 19 18. Verlag von Veit & Comp. 8». 93 S. Preis: geh. Mk. 4,20. „Neue Untersuchungen einer alten Frage", so lautete der Untertitel einer von R. v. Hanstein in dieser Wochenschrift (N. F. XIII, 1914, S. 348 f.) angezeigten Schrift Georg Kerschensteiners über „Wesen und Wert des naturwissenschaftlichen Unterrichtes" (Leipzig und Berlin 191 4). Jetzt ist nun ein Heft von Bastian Schmid erschienen, das den erziehlichen Wert insbesondere der biologischen Naturwissenschaften hervor- heben möchte. Während Kerschensteiners Untersuchung, die übrigens von Schmid völlig beiseite gelassen ist, den Bildungswert der sprachlich- historischen und der mathematisch-naturwissen- schaftlichen Unterrichtsfächer von anerkennenswert objektiver Warte aus betrachtet und gegeneinander abgewogen hat, wird Schmid auf Philologen- seite wohl kaum dieselbe Zensur erhalten. Denn audiatur et altera parsi Jedenfalls hat er sein Teilziel von Kapitel i („Der Streit der humanisti- schen und realistischen Bildung und die Natur- wissenschaften"), nämlich : diesen Streit „noch ein- mal im Zusammenhange vorzuführen" (S. 11) nicht erreicht. Um dieser Aufgabe zu genügen, müßte man als Historiker und mit Hilfe der gesamten Literatur operieren. ,,Vom Erziehungswert des naturwissenschaft- lichen Unterrichts", von „Wahrnehmen, Beobachten und Schauen" und „Von den realistischen Auf- gaben des naturwissenschaftlichen Unterrichtes" handeln die folgenden Abschnitte, in denen man dem kundigen Verf gerne und mit Gewinn folgt. Weniger geglückt scheint nach der Meinung des Ref wiederum das letzte Kapitel zu sein, das „Humanistische und philosophische Ziele des naturwissenschaftlichen Unterrichtes" betrachten will. Der Begriff „Humanismus" ist hier lediglich als Schlagwort im Titel gebraucht worden. Im Texte werden unter humanistischen Zielen nur Erörterungen über den Zweckmäßigkeitsbegriff und Tierpsychologisches und — gerade auf einer halben Seite I — die Auswertung des Kapitels 'Große Männer' fürs Ethische geboten. Durch Rudolf Burckhardts drei prächtige Reden über „Biologie und Humanismus" (Jena 1907), durch Alois Riehls Vortrag über „Humanisti- sche Ziele des mathematischen und naturwissen- schaftlichen Unterrichts" (Berlin 1909) und anderes sind wir freilich gewöhnt, in dieser Hinsicht nur Gediegenes zu verlangen, nicht Aphoristisches, ad hoc-Geschriebenes. Ein historisch gerichteter Biologe, d. h. also zu- gleich einer, der zwischen den beiden feindlichen Lagern steht, der den Bildungswert beider voll anerkennt und der daher Biologie und Huma- nismus in glücklicher Synthese in Wissen- schaft und Schule vereint sehen möchte, ein solcher wird dem ersten und dem letzten Kapitel von Schmid s Schrift nicht sonderlich viel abgewinnen können. Das Buch, als Ganzes genommen, dürfte man aber nicht wieder hinlegen, ohne mannigfache Anregungen empfangen zu haben. Dresden-A. Rudolph Zaunick. Anregungen und Antworten. Preuflische Biologische Anstalt auf Helgoland. Die Bio- logische Anstalt, die während des Krieges geschlossen war, hat jetzt ihre Tätigkeit in Helgoland wieder aufgenommen. Die großen Kriegsschäden an Gebäuden , Einrichtungen und Fahrzeugen sind noch nicht völlig behoben. Daher ist die frühere Leistungsfähigkeit der Anstalt noch nicht wieder erreicht. Die Vergebung von Arbeitsplätzen und der Versand wissenschaftlichen Materials für Universitäten , Museen und Schulen kann jedoch in beschränktem Mafle schon jetzt er- folgen. Nähere Auskunft erteilt die Direktion der Biologischen Anstalt in Helgoland. Helgoland im Juni 1919. Der Direktor, Heincke. In der „Naturw. Wochenschr." war wiederholt davon die Rede, dai3 in der norddeutschen Tiefebene Rüdersdorfer Kalk- 48o Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 33 geschiebe selten seien , so ia der auf eine Anfrage erfolgten Beantwortung von P. Dienst (N. F. Bd. 9, S. 768, Jahrg. 1910) und in dem Aufsatz „Die diluviale Eisdecke und die letzte Krustenbewegung in Norddeutschland" von Eduard Zache (Nr. 12, N. F. Bd. iS, 1919). wo auch auf Wahn- schaffe, „Oberflächengestaltung usw." S. 37 hingewiesen wird. Darum verdient wohl der Fund eines solchen nicht unwichtigen Leitgeschiebes im Königreich Sachsen aus dem Jahre 1913 veröffentlicht zu werden. Dieses Geschiebe, etwa Herrn Prorektor Blatter. Man wird das von Ihnen be- obachtete Auftreten eines Lichtschimmers beim Zerreißen von Zeitungspapier unter die Erscheinungen der „Tribolumineszenz" zu zählen haben. Man bezeichnet damit allgemein jede durch mechanische Einwirkung hervorgerufene Lichtemission eines Körpers, wobei die unmittelbare Ursache des Leuchtens noch sehr verschiedener Art sein kann und in vielen Fällen bis jetzt überhaupt noch nicht näher erkannt ist. Bei genügend isolierenden Körpern kann die mechanische Einwirkung zu 20X14X9 <^™ S'°^' f''°'^ ^"^^ "■'^ ^°S- Lehmgrubenwege auf Elektrizilätserregung (bei nichtkristallisierten Körpern wohl der Südseite des Kupferberges nahe bei Großenhain (Blatt 33 Reibungselektrizität) mit nachfolgender Büschelentladung führen. der „Geolog. Spezialkarte des Königr. Sachsen"), wohin es nebst einer Anzahl großer Gneisbrocken von dem anliegen- den Acker gebracht worden war. Es fiel nur durch seine etwas hellere Färbung auf und enthielt im Innern Petrefakten von Terebratuia vulgaris Schloth. in zahlreichen Exemplaren, deren Bestimmung mir Herr Dr. K. Wanderer in freund- lichster Weise bestätigt hat. Die Fossile haben einen etwas geringeren dorsal-ventralen Durchmesser, als die Abbildung in E. Fraas, „Der Petrefaktensammler" (Tafel 32, Fig. 21 a) zeigt. Das Muschelkalkgeschiebe befindet sich im Heimat- museum zu Großenhain, wührend ein davon abgeschlagenes Stück von Herrn Dr. Wanderer im Museum zu Dresden zurückbehalten worden ist. Einige Zeit darauf fand ich vom ersten Fundorte nur wenige Schritte entfernt noch ein zweites Muschelkalkgeschiebe, das an seiner Oberfläche nur vereinzelte Terebrateln erkennen ließ. Es wäre dankbar zu begrüßen, wenn in dieser Zeitschrift noch anderweitige Funde von Muschelkalkgeschieben aufgeführt würden, zeigen sie doch den von diesen Geschieben zurückgelegten Weg. E. R. Heyne. Geschichtliche Notiz über das Ambra. Vor einigen Jahren war es mir vergönnt an der Vorlesung des Herrn Prof. C. F. Seybold, Tübingen, in der er arabische Geographen inter- pretierte, teilzunehmen. Im Ritäb masalik al-mamälik (Buch über die Wege der Königreiche) des Istachri (Edition v. d e Goeje, Bibl. geographorum arabicorum pars 1, pag. 42) findet sich folgende auf das 'Anbar (Ambra ist spanische Form) bezügliche Stelle, die vielleicht für Zoologen von Inter- esse sein könnte ; „ . . . Und in Santarem, welches am umfassenden Meere liegt, fällt 'Anbar, und wir haben keinen Ort am mittelländi- schen Meer oder am umschließenden Ozean kennen gelernt, wo 'Aubar fiel, außer Santarem, und ein wenig ist auch wäh- rend meines Aufenthaltes in Syrien an den Gestaden der Mittelmeerküste gefallen, und es geht zu Santaren jedes Jahr ein kriechendes Tier auf den Steinen an das Ufer, und von ihm kommt es. Es ist ein schwanzloser Vierfüßler in der Weichheit der Seide, seine Farbe ist die Farbe des Goldes und unterscheidet sich nicht davon, und es (das Fell) ist ein kostbares Kleinod. Man sammelt sie und verarbeitet sie zu Kleidern, die am Tage in den verschiedensten Farben schil- lern, und es verbieten (monopolisieren) die Könige der Oma- yadensöhne ihren Gebrauch, und sie werden nur heimlich aus- geführt, und das vermehrt den Wert der Kleider um 1000 Di- nare wegen ihrer Seltenheit und Schönheit." — Man sehe auch : Ethe, Ambra, Perlen und Korallen (Morgenland. Studien, Leipzig 1870, VllI, S. 167) und J. Ruskas Artikel, ,,' Anbar" in der Enzyklopädie des Islam , in welchen Aufsätzen jedoch obige Stelle des Istachri nicht erwähnt ist. Essen a. d. R. Dr. Schoy. Bei fluoreszenz- bzw. phosphoreszenzfähigen Körpern kann mechanisch erzeugte Temperatursteigerung zum Austreiben aufgespeicherter Lichtenergie führen. In anderen Fällen ist Lichtemission mit einer .Änderung des Wassergehalts der Sub- stanz, die sowohl direkt als infolge Temperaluränderungcn durch Druck oder Zug hervorgerufen sein kann, verbunden. Welcher besondere Mechanismus Ihrer Beobachtung zu- grunde lag, kann kaum ohne weiteres entschieden werden. Da Sie seihst bemerken, daß die Erscheinung nicht mit jedem Papier zu erhalten ist, müssen besondere Eigenschaften vor- gelegen haben. Der Unterzeichnete hat auch vergeblich ver- sucht, mit Benutzung zahlreicher Papierarten die Erscheinung selbst wahrzunehmen. A. Becker. Berichtigung. Das Referat „Das Farbensehen der In- sekten" (Nr. 22, S. 319 d. Zeitschr.) bedarf insofern einer Be- richtigung, als sich die kritischen Ausführungen von C. von Hess auf seine Polemik mit von Frisch beziehen; dement- sprechend ist der Name von Buttel-Reepen auszumerzen und durch den von Frisch zu ersetzen. Es gilt dies nament- lich bezüglich der Gültigkeit des zu einem unwillkommenen Ergebnis führenden Analogieschlusses. Kathariner. Literatur. Weinschenk, Prof. Dr. E., Das Polarisationsmikroskop. Mit 1S9 Abbildungen. 4. verb. Aufl. Freiburg 1919, Herder. 9 M. Küdorffs Grundriß der Chemie für den Unterricht an höheren Lehranstalten. Mit zahlreichen Abbildungen und einer Spektrallafel. Ausgabe B bearbeitet von A. Krause. 17. Aufl. Berlin 1919, H. W. Müller. 4,40 M. Aus Natur und Geisteswelt. Leipzig-Berlin, B. G. Teubner. Jedes Bändchen 1,60 M. Kowalewski, Prof. Dr. G., Einführung in die Infi- nitesimalrechnung. Mit 19 Textfig. 3. Aufl. Kichert, H., Philosophie, ihr Wesen, ihre Grund- probleme, ihre Literatur. 3. Aufl. Richter, Prof. Dr. R. f. Einführung in die Philoso- phie. 4. Aufl., herausgegeben von Dr. M. Brahn. Aster, Prof. Dr. E. v., Einführung in die Psychologie. 2. Aufl. Hennig, Dr. B., Unser Wetter. Mit 48 Tcxtabbild. 2. Aufl. Kaiser, Prof. Dr. K., Der Luftstickstoff und seine Verwertung. Mit 13 Textabb. 2. Aufl. Löhlein, Prof. Dr. M., Die kr.ankheiterregenden Bak- terien. Mit 33 Textabb. 2. Aufl. Baisch, Prof. Dr. K., Gesundheitslehre für Frauen. Mit 1 1 Textabb. 2. Aufl. Brick, H., Drähte und Kabel, ihre Anfertigung und Anwendung in der Elektrotechnik. Mit 43 Textabb. 2. Aull. Inhalt: Fr iedl Weber, Der natürliche Tod der Pflanzen. (Schluß.) S. 465. Theo J. Stomps, Neue Beiträge zur Mutationsfrage. S. 471. — Bücherbesprecbungen: Richard Zsigmondy, Kolloidchemie. S. 475. Alt, Die Wettervorhersage. S. 475. Emil Du Bois- R ey mo n d , Jugendbriefe an Eduard Hallmann. S. 476. Viktor Pöschl, Grundzüge der wissenschaftlichen Drogenkunde und organischen Rohstofflehre. S. 477. W. Soergel, Lösse, Eiszeiten und Paläolithische Kulturen. S. 477. Hans Molisch, Pflanzenphysiologie als Theorie der Gärtnerei. S. 47S. Bastian Schmidt, Die Naturwissenschaften in Erziehung und Unterricht. S. 479. — Anregungen und Antworten: Preußische Biologische Anstalt auf Helgoland. S. 479. Kalkgeschiebe. S. 479. Geschichtliche Notiz über das Ambra. S. 480. Lichtschimmer beim Zerreißen von Zeitungspapier. S. 480. Berichtigung. S. 480. — Literatur: Liste. S. 4S0. Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Mi ehe, Berlin N 4, Invalidenstraße 41, erbeten. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue Folge 18. Band; der ganzen Reihe 34. Band. Sonntag, den 24. August 1919. Nummer 34« Harze uud Harzersatz. ^) [Nachdruck verboten.] Von Johannes Harze werden fast ausschließlich im feindlichen Auslände erzeugt. Bei dem großen Bedarf vieler wichtiger Industrien an diesen Produkten trat in- folge sofortigen Stockens der Einfuhr schon sehr bald nach Kriegsbeginn fühlbarer Mangel ein, der sich schnell hätte zur Katastrophe steigern können. Lediglich früh einsetzender energischer Bewirt- schaftung und ausgedehnter Verwendung zahl- reicher Ersatzstoffe ist es zu danken, daß die dringendsten Anforderungen der Harzverbraucher seither im allgemeinen befriedigt werden konnten. Die natürlichen Harze sind sämtlich pflanz- lichen Ursprungs. Sie stellen außerordentlich kom- plizierte, oft aus vielen Einzelkörpern bestehende Gemische dar. Ihre Einreihung in eine der be- stehenden Stoffklassen der organischen Verbin- dungen ist nicht möglich. Der Begriff „Harz" ist vielmehr ein rein praktischer. Die hervorragendsten Eigenschaften eines Harzes sind : amorphe Beschaffenheit, allmähliches Er- weichen beim Schmelzen, Fähigkeit zur Lackbil- dung und verhältnismäßig große Widerstandsfähig- keit gegen chemische Einflüsse. Produkte solcher Art entstehen auch bei vielen chemischen Pro- zessen. Sie heißen dann „Kunstharze". Harze finden sich in sehr großer Zahl in der Natur. Sie haben von jeher das Interesse der Menschen erweckt. So waren die Spezereien des Morgenlandes Harze, inbesondere Myrrhen, Oli- banum und Mastix. Die Balsamierkunst der alten Ägypter gründete sich auf die Mitverwendung der Harze ; in karthagischen Gräbern hat man Sarkophage gefunden, welche völlig mit Mastix angefüllt waren. Die Verwendung der Harze zu Lacken ist ebenfalls sehr alten Datums. Die Japaner setzten schon 400 v. Chr. eine Kommission ein, die dem Niedergang des Lackiergewerbes Einhalt tun sollte. Aus Europa stammen authentische Nachrichten zwar erst aus dem 12. Jahrhundert; ältere Kennt- nis ist aber auch hier wahrscheinlich. In neuerer Zeit, namentlich im abgelaufenen Jahrhundert, nahmen die Kenntnis und die technische Wert- schätzung der Harze derart zu, daß sich die Gründung zahlreicher Fabriken notwendig erwies, die sich ausschließlich mit der Verarbeitung von Harzen befassen. Die Zahl der Harz liefernden Pflanzen ist eine sehr große. Sie gehören verschiedenen Familien an, unter denen die Koniferen, Caesalpinoideen, Burseraceen, Umbelliferen, Dipterocarpeen, Gutti- feren, Anacardiaceen, Euphorbiaceen und Kompo- siten zu nennen sind. Für praktische Harznutzung Scheiber, Leipzig. kommen wesentlich ausländische Vertreter dieser Arten in Betracht. Die Entstehung der Harze in der Pflanze er- folgt nach ganz bestimmten Gesetzen, um deren Erforschung sich A. Tschirch große Verdienste erworben hat. Meist findet sie in sogenannten Sekretbehähern statt. Außerdem hat sie Bildung einer besonderen „resinogenen" Schicht zur Vor- aussetzung. Wird eine Sekretbehälter besitzende Pflanze verwundet, so tritt etwas Harzmasse aus, die an der Luft erhärtet und die Verletzung wieder schließt. Es ist dies der „primäre" Harz- fluß. Seine Ergiebigkeit ist meist nur sehr gering. Eine Ausnahme machen allerdings die Euphor- biaceen, deren weitverzweigtes Milchröhrensystem schon bei geringen Eingriffen große Mengen Milch- saft austreten läßt. Kautschuk und Guttapercha sind demnach als Produkte des primären Harz- flusses anzusehen. Von weit größerer Bedeutung ist indessen der „sekundäre" oder der „eigentliche" Harzfluß. Dieser kommt erst als eine Folge tief greifender Ver- änderungen zustande. Selbst Pflanzen, die keine Sekretbehälter besitzen, vermögen nämlich in vielen Fällen unter dem Einfluß des Wundreizes solche Gebilde zu erzeugen. Das von diesen ab- geschiedene Harz sucht die Wunde wieder zu schließen und kann bei entsprechender Behand- lung der Verletzung dauernd neu erzeugt werden. Die meisten Harze verdanken ihre Entstehung derartigen sekundären Vorgängen; sie sind also pathologische Gebilde. Über die für die Praxis sehr wichtige Frage nach der Verteilung des Harzes in der Pflanze liegen nur wenige Beobachtungen vor. Bei den Koniferen hat H. Mayr festgestellt, daß das Wurzelholz bei weitem am harzreichsten ist. Dann kommt der Erdstamm bis etwa 2 Meter über den Boden. Die Südseite der Bäume ist ergiebiger als die Nordseite. Auch Standort und Boden- beschaft'enheit, ferner Alter und Kronenausbildung sind von Bedeutung. Die meisten Harze sind in unseren Tagen produziert; sie sind rezent. Da indes Harze sehr beständig gegen Fäulnisprozesse sind, haben sie sich vielfach auch an Stellen erhalten, wo heute keine Spur der Stammpflanze mehr vorhanden ist. Solche Harze nennt man rezent- fossil, wenn ihr Alter noch nicht allzu hoch, bis looo Jahre etwa, ist. Zu ihnen sind einige der sogenannten ') Antrittsvorlesung des Verfassers an der Universität Leipzig am 24. Mai 1919. 4«2 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVni. Nr. 34 Kopale zu rechnen. Ein direkt fossiles Harz von ehrwürdigem Alter ist der Bernstein, dessen Ent- stehung mindestens lOOOOO Jahre zurückliegt. Über die Natur der verschwundenen Stamm- pflanzen geben zahlreiche Einschlüsse ziemlich genaue Auskunft. Die Gewinnung der Harze ist reich an Be- sonderheiten mancher Art. Fossile und rezent- fossile werden gegraben. Bernstein wird direkt nach bergmännischen Prinzipien gefördert, so auf der Grube „Anna" bei Palmnicken in Ostpreußen. Größere Mengen dieses einzigartigen Naturpro- duktes werden außerdem direkt aus der See gefischt. Die Kopale werden fast ausschließlich in den Tropen und Subtropen gefunden. Sie sind teils recent, teils recent-fossil. Vielfach findet man Kopal verschiedenen Alters in den gleichen Boden- schichten. Hauptfundstätten sind die Küsten Afrikas, Madagaskar, die Sunda-Inseln, die Philippinen, Neu- seeland und Südamerika. Unter den ostafrikani- schen Sorten ragen die Kopale von Sansibar und Madagaskar durch besondere Güte hervor. Von den westafrikanischen sind Sierra-Leone, Angola, Benguela und Congo bekannte und geschätzte Marken. Der aus dem indischen Archipel stam- mende Kopal geht unter der Bezeichnung Manila. Der auf Neuseeland gegrabene heißt Kauri. Die Sortenbenennung deckt sich nicht immer mit der geographischen Herkunft. Sie ist vielmehr in erster Linie als eine Qualitätsbezeichnung auf- zufassen. Alle Kopale unterliegen vor ihrer Überlassung in den Handel einer Vorbehandlung, die sich auf die Entfernung der Verwitterungskrusten und die Auslese fremder Beimengungen erstreckt. Hierbei erfolgt in der Regel auch eine Sortierung der einzelnen Kopalstücke nach Härte und Farbe. Durch Mischen verschiedener Kopalsorten werden auch besondere Handelsmarken hervorgebracht, die dann unter irgendeinem Namen, z. B. dem des Verschiffungshafens, gehen. Bei den rein rezenten Harzen erfolgt die Ab- nahme gleich von der das Harz produzierenden Pflanze, die vorher durch eine besondere Ver- wundung zur Harzbildung angeregt ist. Am meisten sind derartige Zapfmethoden für die Harzung der Koniferen ausgebildet, die namentlich in Nord- amerika, Südfrankreich, Spanien, Österreich, Ga- lizien und Polen im größten Maßstabe geübt wird. Das aus der Wunde ausfließende Harz ist von balsamartiger Beschaffenheit und heißt „Terpentin". Durch Erhitzen wird es in einen flüchtigen Be- standteil, das „Terpentinöl", und den eigentlichen Harzkörper, das „Kolophonium", geschieden. Während die Gewinnung rezenter Harze im allgemeinen an menschliche Eingriffe gebunden ist, verdankt der „Stocklack" seine Entstehung der Tätigkeit eines Insektes, der im ganzen ost- indischen Gebiete heimischen Lackschildiaus. Diese siedelt sich auf einer Reihe von Pflanzen an und reizt diese durch ihren Stich zur Harzbildung. Das derart erzeugte Produkt kommt unter ver schiedenen Bezeichnungen in den Handel. Als „Schellack" ist es dem Publikum am bekanntesten. Die Harze sind außerordentlich wichtige Handels- artikel. Es ergibt sich das aus einigen Produk- tionsziffern. So erzeugte allein Nordamerika 1909 in 1585 Harzdestillerien 29 000 000 Gallonen Ter- pentinöl und 3250000 Faß Harz von je 125 kg Inhalt. Der Versand an Kaürikopal erreicht jähr- lich an 10 000 t. Die Produktion an Schellack ist auf 500000 dz im Jahre zu veranschlagen. Die Bedeutung der Harze für das deutsche Wirtschaftsleben ergibt sich aus den Einfuhrziffern für 191 3: Danach wurden importiert: Fichtenharze 962652 dz im Werte von M. 24066000 Kopale 53 573 .. .. „ ,. ., 5 357000 Andere Harze 47 37° » ., .. .< .> 5 35°°oo Schellack 39 500 „ „ „ „ „ 6912000 Terpentinöl usw. 350289 „ „ „ ,, „ 209580GO 1453384 dz im Werte von M. 62643000 Diese Zahlen lassen erkennen, in welch ge- radezu trostloser Weise Deutschland in bezug auf die Versorgung mit einem der wichtigsten Roh- stoffe vom feindlichen Auslande abhängig ist. Diese Verhältnisse zu bessern, ist schon im Laufe des Krieges begonnen worden. Für eine nach ausländischen Harzungsmethoden zu übende Erzeugung stehen bei uns Fichte, Kiefer und Schwarzföhre zur Verfügung. Allein an Kiefern- beständen finden sich in Deutschland 7300000 Hektar, während der gesamte Nadelholzbestand an looooooo Hektar ausmacht. Für die Harzung kommt in erster Linie die Kiefer in Betracht. H. Wisli- cenus schätzt den möglichen Harzertrag allein aus den Kiefernbeständen auf 56 000 t im Jahre. Eine Schädigung der Bäume ist bei richtiger Harzung nicht zu befürchten. Nur zu junge Stämme werden mit der Zeit im Holze minderwertig. Stämme über 40 Jahre können hingegen bis zur Schlagreife ohne jede Gefahr geharzt werden. Durch Anwendung besonders gut ausgebildeter Zapfmethoden läßt sich außerdem noch in be- sonderer Weise vorbeugen. Die in den Kriegs- jahren in Bayern, Sachsen, Preußen und Schlesien vorgenommenen Versuche sind nicht ungünstig verlaufen; namentlich hat sich ergeben, daß die Güte des gewonnenen Harzes und Terpentinöles durchaus befriedigt. Lediglich die Kosten sind noch zu hohe. Nebenher hat man sich auch die Gewinnung des sogenannten Scharrharzes angelegen sein lassen. Es ist dies das Harz, das sich an den Wundrändern der vom Wild geschälten Stämme im Laufe der Zeit ansammelt. Es enthält nur wenig Terpen- tinöl; außerdem hat der Harzkörper infolge Oxy- dation einige Veränderungen erfahren, die seine Verwendung für gewisse Zwecke etwas beein- trächtigen. Aussichtsvoll erscheint ferner die Extraktion des Harzes aus Frischholz. Nach Untersuchungen Schwalbes im Eberswalder Institut für Zellstoff- N. F. XVIII. Nr. 34 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 483 und Holzchemie enthält das frische Holz der Kiefer 2,5 — 4,9% Harz Fichte 1,0 — 1,6 „ „ Tanne ca. i „ „ R. Besemfelder gibt den deutschen Jahres- bedarf an Nadelhölzern, ohne Berücksichtigung der sehr beträchtlichen Einfuhr, auf 12 500000 t an. Da nun bei entsprechender Behandlung, z. B. nach dem auf Extraktion der Holzsäfte beruhenden Holzschnellreifeverfahren der Firma B. Schilde in Hersfeld, aus Nadelholz ungefähr I "/o Harz und Terpentin gewonnen werden können, so ist klar, daß bei ausgedehnterer Anwendung eines solchen oder eines ähnlichen Verfahrens sehr erhebliche Mengen Harz nutzbar gemacht würden, die jetzt verloren gehen. Die ganze Frage ist, wie alle derartigen Probleme, natürlich bis zum gewissen Grade reine Kalkulation. Immerhin erscheinen die Aussichten nicht allzu ungünstig, wenn man die mit einem Schnellreifeverfahren erzielte Zins- ersparnis mit in Rechnung stellt. In ihrem Äußeren bieten die Harze manche Verschiedenheit dar. Die Farbe ist sehr wechselnd. Außer Blau finden sich fast alle Nuancen. Die Durchsichtigkeit variiert von glasklar bis trübe und durchscheinend. Die Form ist wenig charakteristisch. Abgesehen von den direkt flüssigen Balsamen finden sich Klumpen von verschiedener, oft sehr beträcht- licher Größe; weiterhin trifft man vielfach Tropfen und Stalaktiten an. IVlanche Harze erscheinen auch in künstlichen Formen. Die Oberfläche bietet nur in einigen Fällen Besonderheiten dar. Hingewiesen sei auf die merk- würdigen Granulierungen mancher Kopale. So hat Sansibarkopal eine regelrechte „Gänsehaut". Die Härte ist manchmal ziemlich beträchtlich. Einige Kopale und Bernstein sind härter als Gyps. Der Schmelzpunkt erreicht bei einigen Harzen fast an 400 Grad. Wegen der Mischnatur dieser Stoffe ist er allerdings nur bedingt bestimmbar. Die Löslichkeit ist eine gute. Als Lösungs- mittel kommen die üblichen organischen Solvenzien in Betracht; außerdem einige Speziallösungsmittel sowie trocknende Öle. Bemerkt sei, daß die Lös- lichkeit der Kopale, namentlich der fossilen, durch vorheriges Abschmelzen beträchtlich erhöht wird. Die Härte und Schwerlöslichkeit eines Harzes nehmen mit dessen Alter zu. Die Ursache hier- für ist in einer Autoxydation zu sehen, die sofort einsetzt, wenn das Harz mit der Luft in Berührung kommt. Da das Harz im Pflanzenkörper in flüssiger Form enthalten ist, muß auch das Erhärten des aus der Wunde ausfließenden Harzes bereits mit derartigen Prozessen in Verbindung gebracht werden. Neben der Oxydation, vielleicht auch durch sie begünstigt, gehen Prozesse anderer Art einher, so Polymerisationen und wahrscheinlich auch Umlagerungen. Die durch alle diese Vor- gänge bedingte Umwandlung eines Harzes muß von der Oberfläche aus allmählich nach dem Innern fortschreiten. Sie kann dies um so mehr, je älter das betreffende Harz wird. Die Gesamt- heit dieser Erscheinungen bezeichnet man als das „Reifen". Je reifer ein Harz ist, desto wertvoller ist es. Aus diesem Grunde sind die fossilen Ko- pale so geschätzte Substanzen. Die Verwendung der Harze erfolgt zum weit- aus größten Teil in der Lack- und Firnis-Industrie. Diese ist auch fast alleinige Verbraucherin der Edelharze, soweit sich deren nicht die Schmuck- industrie bemächtigt. Weitere große Mengen Harz werden zur Leimung des Papieres, zur Seifen- bereitung, zu pharmazeutischen und kosmetischen Zwecken, in der Feuerwerkerei und in der Elektro- technik gebraucht. Billige Harze, speziell Kolophonium, werden in größeren Mengen auch der trockenen Destil- lation unterworfen. Die hierbei entstehenden Stoffe, Pinolin und Harzöl, finden mannigfache An- wendung. Die Harze sind also Stoffe, mit denen man dauernd in Berührung kommt. Wie unentbehrlich sie sind, zeigen die jetzigen Preise, die stellenweise eine 20 — 50 fache Wertsteigerung bedeuten. Der technischen Wichtigkeit der Harze ent- sprechend sollte ihre chemische Erforschung eine sehr weitgehende sein. Obwohl allerdings die Harze zu den ersten Objekten phytochemischer Untersuchung gehören, ist die Erkenntnis ihrer Natur doch noch durchaus in den Anfängen stecken geblieben. Die Ursache hierfür ist leicht einzu- sehen. Einmal bietet die Behandlung amorpher Stoffe besondere Schwierigkeiten. Sodann aber sind die Harze sehr kompliziert zusammengesetzte Produkte. Weiterhin ist ihr Aufbau vielen Schwankungen unterworfen, wobei Provenienz und Alter eine maßgebende Rolle spielen. Die Harze bestehen wesentlich aus Kohlen- stoff, Wasserstoff und Sauerstoff. Stickstoff findet sich nur in einigen, aber auch dann in so unter- geordneter Menge, daß die Vermutung enzymati- scher Beimengungen sehr gerechtfertigt erscheint. Die wissenschaftliche Erforschung der Harze hat über 100 Jahre gebraucht, bis auch nur eine einigermaßen sichere Grundlage für die Beurteilung der Natur dieser Stoffe geschaffen war. Inzwischen haben sich die Praktiker, denen die Wege der Wissenschaft zu langsam zum Ziele führten, auf ihre Weise geholfen, um die unerläßlichen Vor- bedingungen zu schaffen, die für Zwecke der Unterscheidung, Identitätsprüfung und Feststellung einwandfreier Beschaffenheit notwendig waren. Die hierfür ausgearbeiteten Methoden zerfallen in qualitative und quantitative. Erstere be- schränken sich meist auf Identitätsprüfungen aller Art. Nebenher ist den Löslichkeitsverhältnissen und der Bestimmung von Schmelzpunkten und spezifischen Gewichten besondere Aufmerksamkeit zuteil geworden. Wichtiger aber sind die quantitativen Methoden. Diese bestehen in der Ermittelung einer ganzen Reihe von „Zahlen", deren Werte bei Produkten 484 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 34 bestimmter Provenienz erfahrungsgemäß nur in sehr geringem Grade schwanken. In Betracht kommen u. a. Säure-, Ester- und Verseifungszahl, Harz-, Gummi-, Acetyl- und Jodzahl. Die chemische Untersuchung der Harze hat die organische Chemie in vieler Hinsicht gefördert. Hiervon legen Namen wie Benzol, Toluol, Guaja- kol und Resorcin Zeugnis ab. Von großer Be- deutung ist auch die Auffindung bestimmter or- ganischer Säuren gewesen, von denen nur Benzoe-, Bernstein-, Ferula- und p-Kumarsäure genannt seien. Ebenso hat die Entdeckung des Styrols in man- cher Hinsicht befruchtend gewirkt. Auch andere Wissenschaften haben aus der Beschäftigung mit den Harzen Nutzen gezogen. Die Elektrizität ist sogar direkt nach dem Bern- stein (gr. Elektron) genannt. Die ersten Harzuntersuchungen stammen aus dem i6. und 17. Jahrhundert. Sie setzten bei dem Bernstein und bei der Benzoe ein und führten zur Auffindung der Bernstein- und Benzoesäure. Die angewandte Methode war der damaligen Zeit entsprechend die trockene Destillation. Auf andere Harze angewandt, ergab sie nur Fehlresultate, wes- halb sie im Ausgang des 17. und besonders im 18. Jahrhundert durch Extraktionsverfahren ersetzt wurde. Der damit erzielte Erfolg trat sehr bald in Erscheinung. Schon in der Mitte des 18. Jahr- hunderts wurden Harzanalysen bekannt, die auch heute noch bis zu einem gewissen Grade als richtig anzusehen sind. Namentlich die Erkenntnis der wesentlichen Bestandteile des Schellacks, eines be- sonderen „harzartigen Wachses", stammt aus dieser Epoche. Neben der Zerlegung in einzelne Bestandteile gingen auch schon frühe Untersuchungen einher, die Einblicke in den chemischen Aufbau mancher Harze gestatteten. So erhielt man z. B. schon 1799 aus dem Acaroidharz bei der Oxydation mit Salpetersäure Pikrinsäure. Die inzwischen von verschiedenen Seiten er- kannte Säurenatur vieler Harze setzte in den 20 er Jahren des 1 9. Jahrhunderts Unverdorben instand, eine ganze Anzahl von Harzen in über- raschend viele Einzelbestandteile zu zerlegen. Berzelius datierte von diesen Untersuchungen an den Beginn einer eigentlichen Chemie der Harze. Auch kristallisierende Bestandteile wurden in dieser Epoche in zunehmendem Maße aus Harzen erhalten. So vor allem die Abietinsäure, welche Baup 1826 aus dem Kolophonium abschied. Weitere Förderung erfuhr die Harzchemie durch die Ausbildung der Elementaranalyse. Die bis dahin gewonnenen Ergebnisse ver- leiteten allerdings auch zu Fehlspekulationen. Unter diese ist z. B. die Bemühung zu rechnen, ein den Harzen zugrunde liegendes Radikal ausfindig zu machen. Andere Ideen aus dieser Zeit haben hingegen ihre Berechtigung gehabt. So die Meinung, daß zwischen den Harzen und den Terpenen sehr nahe Beziehungen bestehen müßten, ja, daß die Harze weiter nichts seien als umgewandelte Terpene. Veranlassung zu dieser Ansicht gab die Beobach- tung, daß ätherische Öle mit der Zeit an der Luft in harzige Massen übergehen. 1869 faßte Hlasiwetz die Harze als Produkte auf, die einer langsamen Oxydation und Polymerisation von Terpenen ihre Entstehung verdankten. Für die Zusammenhänge zwischen Harzen und Terpenen ließen sich im Laufe der Zeit eine ganze Anzahl von Beweisen beibringen. So fanden Wallach und Rheindorff 1892 unter den Produkten der trockenen Destillation des Kaurikopals 25 "/q Terpene. F"erner konnten Liebermann, Haller sowie Vesterberg Harze durch Reduktion mit Jodwasserstoff und rotem Phosphor in Terpene Übel führen. Auch die Reduktion mittels Zink- staubs liefert ein ähnliches Ergebnis, wenn man wie Seidel unter vermindertem Drucke arbeitet. Versuche zur direkten Überführung eines Terpens in ein Harz schlugen bislang fehl. So stellten igoo Tschirch und Brüning zwar fest, daß Terpentinöl unter dem Einfluß von Luftsauerstoff ein harziges Produkt gibt; sie fanden aber auch, daß dieses keine Übereinstimmung mit den echten Harzen besitzt. Insbesondere war das Fehlen saurer Eigenschaften überraschend. Neuerdings gibt aller- dings Frankfurter an, aus Terpentinöl ein Isomeres der Abietinsäure von ähnlichen Eigen- schaften erhalten zu haben. Nicht unerwähnt bleibe, daß zwischen den Harzen und den Gerbstoffen sowie den Choleste- rinen gewisse Beziehungen bestehen. Obwohl die Harze immer wieder zum Gegen- stand der Erforschung gemacht wurden, fehlte es doch bis in die 90 er Jahre an einer wirklich groß- zügigen Untersuchung, wie sie Wallach seit 1884 den Terpenen angedeihen iieß. Es ist das Ver- dienst Tschirchs, auch für die Harze eine ähn- lich umfassende Bearbeitung unternommen zu haben, die 1890 begonnen und bis in die Jetzt- zeit fortgeführt worden ist. Ist auch heute noch vieles unklar, ja, der angeschnittene Fragenkom- plex fast noch größer als zuvor, so haben die Tschirchschen Untersuchungen doch das wich- tige Ergebnis gehabt, daß sie durch kritische Sich- tung des gesamten Materials ebenso wie durch planmäßige Experimente eine feste Basis schufen, die als Plattform für alle weiteren Forschungen dienen kann. Tschirch und seine Mitarbeiter verfuhren in der Regel so, daß sie eine ätherische Harzlösung erschöpfend extrahierten; hierzu dienten sehr ver- dünnte Lösungen von Ammonkarbonat, Soda und Kali. Zur Erreichung des Zieles waren oft Hunderte von Extraktionen notwendig. Die nach den angedeuteten Methoden erhaltenen Substanzen bzw. Gemische wurden dann nach den allgemeinen Regeln organisch-chemischer Er- forschung weiter behandelt. Die gewonnenen Ergebnisse erlaubten zum ersten Male eine Einteilung der Harze auf rein chemischer Basis. N. F. XVIII. Nr. 34 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 48 s Die erste Gruppe dieser Einteilung umfaßt die Resino-tannol- Harze, auch Tannol- bzw. Resin-harze genannt. Diese sind durch einen Gehalt an freiem oder ge- bundenem Harzalkohol ausgezeichnet. Solche Stoffe sind schon vor Tschirch von ver- schiedenen Forschern nachgewiesen, so 1887 von IVIiller im Styrax und 1878 bzw. 1887 von Hesse bzw. Vesterberg in den Amyrinen. Tschirch teilt sie in zwei Klassen, von denen die erste Phytosterinreaktion zeigt, während die andere Gerbstoffcharakter besitzt. In den Be- zeichnungen Resinole für die erste Gruppe soll die Beziehung zu den Terpenen, Resinotannole für die andere die Beziehung zu den Tanninen zum Ausdruck gebracht werden. Die Resinole sind öfters kristallisiert erhalten worden, wogegen die Resinotannole stets amorph sind. Beide Arien von Harzalkoholen finden sich in den betreffenden Harzen teils frei, teils in Form von Estern, sog. Resinen. Diese Resine können oft auch künst- lich erhalten werden; sie stellen dann durch par- tielle Synthese erhaltene Harze dar. Zu den Resinharzen gehören in erster Linie sämtliche Benzharze, das sind die, welche als Resinkomponente Benzoe- oder Zimtsäure bzw. diesen nahestehende Säuren enthalten. Die wich- tigsten Benzharze sind: Peru- und Tolubalsam, Benzoe, Acaroid, Drachenblut, Aloe und Styrax. Die in den einzelnen Harzen enthaltenen Resinole bzw. Resinotannole sind untereinander alle ver- schieden. Ihre Konstitution ist in keinem Pralle aufgeklärt. Fest steht lediglich ihre aromatische bzw. hydroaromatische Natur. In chemischer Hin- sicht sind sie ziemlich indifferent. Schon der Nachweis der Hydroxylgruppen macht unter Um- ständen Schwierigkeiten. Ein durchsichtiger Ab- bau ist bis jetzt nicht möglicli gewesen. Weiterhin gehören zu den Resinen sämtliche Umbelliferenharze. Diese sind durch einen Ge- halt an Gummi charakterisiert, das aus der resino- genen Schicht stammt. Die sauren Resinkompo- nenten sind Salizylsäure, Umbelliferon und Ferula- säure. Als wichtigste Umbelliferenharze sind zu nennen: Ammoniacum, Galbanum, Asa foetida, Um- belliferon und Opoponax. Den Resinen schließen sich an die Rese n e. Hierunter sind Harze zu verstehen, deren Charakter durch einen vorwiegenden Gehalt an sog. Resen bestimmt ist. Diese Resene sind Stoffe, die vielleicht in naher Beziehung zu den Terpenen stehen. Im übrigen sind sie weder Alkohole, noch Säuren noch Ketone ; sie sind überhaupt sehr indifferent. Alle Resenharze ent- halten Bitterstoff. Als Vertreter sind zu nennen : Olibanum, Myrrha, Elemi, ferner Mastix sowie Dammar. Die das Harz liefernden Pflanzen gehören den Gruppen der Burseraceen, Anacardiaceen und Diptero- carpeen an. Von besonderer Bedeutung sind die Resinolsäure- Harze, das sind die der Koniferen und Caesalpinoidenen, welche ihrer nahen Beziehung zu den Terpenen auch die Bezeichnung „Terpenharze" verdanken. Bei allen diesen handelt es sich um Stoffe wesent- lich sauren Charakters. Die Harze dieser Gruppe sind technisch von allergrößter Bedeutung. Diesem Umstände ent- sprechend ist auch ihre chemische Erforschung eifrig betrieben. Namentlich die Untersuchung der Koniferenharze ist so weit gefördert, daß an eine Aufstellung von Konstitutionsformeln gedacht werden konnte. Die Koniferenharze zerfallen in drei Gruppen: rezente, rezentfossile und fossile. Die rezenten werden wiederum in solche des primären und des sekundären Harzflusses geschieden. Dem primären Harzfluß verdanken Sandarac und einige Balsame, z. B. Kanada-balsam, ihre Entstehung. Sekundären Ursprungs sind die meisten Terpentine; außerdem Wildharze, wie Fichtenscharrharz, die auch als Überwallungsharze bezeichnet werden. Zu den rezentfossilen gehören einige Kopale, so Kauri und Manila. Der fossile Typ wird durch den Bernstein repräsentiert. Die Klasse der Caesalpinoideenharze umfaßt in erster Linie Kopale älteren und jüngeren Ur- sprungs, so Sansibar, die westafrikanischen und die südamerikanischen Kopale. Außerdem einige Balsame, darunter den Kopaivabalsam. Alle diese Harze enthalten die Resinolsäuren meist in freier l""orm. Da diese z. T. gut kristal- lisieren, bzw. leicht in typische Verbindungen über- geführt werden können, ist es möglich gewesen, die den einzelnen Harzen entsprechenden Säuren zu gewinnen. Derart ist im Laufe der Zeit ein sehr reichhaltiges Material zusammengekommen, an dessen Beschaffung eine große Zahl von F"orschern beteiligt ist. Besonders eingehend sind die Koniferenharz- säuren untersucht. Ihre Zahl reicht an 50 heran. Die Frage nach ihrer Konstitution spitzt sich da- rauf zu, welchen Bau die Abietinsäure des ameri- kanischen Kolophoniums besitzt. Die Schwierigkeiten, die sich dem Studium der Harzsäuren entgegenstellen, sind ganz erhebliche. So ist es bis heute strittig, ob die Abietinsäure 19 oder 20 Kohlenstoffatome enthält. Dazu kommt, daß Umwandlungen, wahrscheinlich kolloid- chemi- scher Art, die Zahl der Isomeren erheblich größer erscheinen läßt als sie in Wirklichkeit ist. Das Verhalten der Abietinsäure bei Spaltungs- reaktionen ist vielfach untersucht. Auch die Auf- klärung der hierbei entstehenden Stoffe ist ge- nügend weit gefördert. Hierbei ergab sich u. a., daß aus Harzöl, dem Produkt der trockenen Destil- lation des Kolophoniums, der Kohlenwasserstoff „Reten" in ganz vorzüglicher Ausbeute erhalten werden kann. Reten oder Methyl-Isoproyl-Phe- nanthren aber steht in sehr naher Beziehung zu dem sog. „Fichtelit", das sich neben Reten in den Harzgängen vertorfter Wurzelstöcke findet, so daß 486 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 34 die Vermutung nahe liegt, beide seien Fossilations- produkte des ursprünglich vorhandenen Harzes, d. h. der Abietinsäure. Auf Grund aller vorliegenden Beziehungen stellte 1900 Tschirch Formeln auf, die Abietinsäure als einen Abkömmling des hy- drierten Retens erscheinen ließen. Diese Formeln haben trotz einiger Unzulänglichkeiten die Aner- kennung der meisten Forscher gefunden. Außer der Retenformel kommt noch eine Auffassung der Abietinsäure in Betracht, derzufolge es sich um ein Terpenderivat handeln soll. Diese insbesondere von Bischof und Nastvogel sowie von Fah- rion vertretene Ansicht hat Bruhn in ge- schickter Weise mit der Auffassung von Tschirch zu verbinden gesucht. Der Meinungsaustausch über die Konstitution der Abietinsäure hat nicht nur wissenschaftliches Interesse, sondern gibt auch der Technik Anre- gung. Da nämlich sicherlich zwischen der Abie- tinsäure und einigen Kopalharzsäuren sehr nahe Beziehungen vorhanden sind, so besteht die Aussicht, eines Tages Mittel und Wege zu finden, um aus dem billigen Kolophonium wertvolle Kopale zu erzeugen. Bei der zunehmenden Erschöpfung der Kopallager wäre das natürlich von großer Be- deutung. Eine weitere Gruppe bilden die Resinolharze, die nur Resinole aber keine Resene und Resinol- säuren enthalten. Einziger Vertreter ist das Guajac- harz, das in analytischer Hinsicht als Reagens eine gewisse Rolle spielt. Eine Sonderstellung nehmen die Aliphatoresine ein, die wesentlich aliphatischen Charakters sind. Das wichtigste dei hierher gehörigen Harze ist der Stocklack oder Schellack. Da dessen Entstehung auf den Stich eines Insektes zurückzuführen ist, liegt die Vermutung nahe, daß es sich nicht wie bei anderen Harzen um ein rein pflanzliches Pro- dukt handelt, sondern um ein solches, bei dessen Entstehung der Organismus des Tieres eine Rolle gespielt hat. Die erheblichen Abweichungen des Schellacks von anderen Harzen erfahren so eine plausible Deutung. Ziemlich sicher ist übrigens, daß die Begleitstoffe, Farbstoffe und Wachs, ani- malischen Ursprungs sind. Die chemische Untersuchung des Schellack ist schon frühe aufgenommen worden. Unver- dorben zerlegte bereits 1830 den Harzkörper in eine ganze Reihe von einzelnen Säuren. Pre- schern fand dann 1873 bei der Alkalischmelze reichliche Mengen von Azelainsäure, was schon damals zu der Vermutung führte, daß der Ur- sprung des Schellack ein abweichender sei. Tschirch stellte dann fest, daß die zu etwa 7570 vorhandene Harzmasse verschiedene aliphatische Säuren enthält. Unter diesen wurde insbesondere eine, die Aleurotinsäure, näher untersucht. Sie ist wahrscheinlich Dioxytridekylsäure. Ihr Auf- treten erklärt die Bildung der Azelainsäure bei der Alkalischmelze des I larzes. Die Farbstoffe des Schellack haben ebenfalls mehrfache Bearbeitung erfahren. Ihre Entfernung ist ein technisches Problem, dessen restlose Lösung noch aussteht. Von weiteren Harzen sind vor allem die Lactoresine zu erwähnen; es sind das die Milchsäfte, die in den Milchröhren vieler Pflanzen enthalten sind und neben wenig Harz vor allem Kohlenwasser- stoffe der Kautschuk- und Guttaperchaklasse ent- halten. Sodann sind die Chrom oresine zu nennen, deren Reinharz farbig ist. Bekann- tester Vertreter ist das gelbe Gummigutt. Eine Sonderklasse bilden ferner die Enzym oresine, welche neben dem Harz noch ein Enzym auf- weisen. Hierher gehört der berühmte Japanlack, dessen Hauptbestandteil, das „Urushiol", nach Riko Majima als ein Dioxybenzol mit ungesättigter aliphatischer Seitenkette anzusehen ist. Endlich gibt es noch Harze, die Zucker als charakteristischen Begleiter enthalten; man faßt sie als Glykoresine zusammen. Betrachtet man rückschauend die Ergebnisse wissenschaftlicher Harzerforschung, so kann man nur mit Tschirch sagen, daß vorläufig lediglich ein Vorberg erstiegen ist, während das eigentliche Gebirge nach wie vor in unnahbarer Majestät emporragt. Immerhin hat sich doch wenigstens ein Ausblick gewinnen lassen, der vielleicht neue Wege zu sichten gestattet, die dann in das eigent- liche Hochgebiet hineinführen mögen. Ist es also auch noch viel zu früh, an eine Synthese echter Harze zu denken, so hat die künstliche Erzeugung von Harzen doch eine Be- arbeitung finden können, welche dem Problem wenigstens nach der technischen Seite hin einiger- maßen gerecht wird. Die geradezu verderbliche Abhängigkeit der deutschen Harzversorgung vom Auslande, wie sie aus den oben angeführten Ziffern mit erschreckender Deutlichkeit hervorgeht, hat schon vor 191 4 eine Industrie der Kunstharze ins Leben gerufen. Deren Produkte sind zwar seitens der Harzverbraucher anfangs nur mit sehr großem Mißtrauen auf- genommen worden; während des Krieges hat man aber mit ihnen arbeiten gelernt, so daß sie auch nach Wiederkehr normaler Importverhältnisse auf entsprechenden Absatz rechnen können. Die Anwendung der meisten Harze beruht auf dem Umstände, daß beim Verdunsten ihrer Lösungen, der Lacke, ein mehr oder minder elastisches Häutchen, Film oder Lackschicht, hinter- bleibt. Dieses Häutchen darf nachträglich keines- falls kristallinisch werden. Es kann also an sich jeder Stoff als Harzersatz Verwendung finden, der diesen Bedingungen in technisch ausreichendem Maße genügt. N. F. XVni. Nr. 34 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 487 Solcher Produkte gibt es nun eine ganze Anzahl. So ist es eine lange bekannte Tatsache, daß manche Aldehyde mit alkoholischer Lauge harzige Umsetzungsprodukte liefern. C i a m i c i a n stellte fest, daß diese Stoffe weitgehende physikalische Übereinstimmung mit den Terpenharzen zeigen. Weiterhin ist die Polymerisation ungesättigter Verbindungen ein Mittel zur Erzeugung von har- zigen Produkten. So läßt sich brauchbarer Harzersatz nach Kronstein durch Polymerisation von Zimtsäure- allylester, Eugenol, Safrol u. a. erzeugen. Besondere Bedeutung haben während des Krieges die sogenannten Kumaronharze erlangt, die 1890 von Krämer und Spilker durch Säurepolymerisation des Kumarons und Indens zuerst erhalten worden sind. Ihre technische Dar- stellung erfolgt durch Behandlung der zwischen 160 und 180 Grad siedenden Fraktion des Roh- benzols mit konzentrierter Schwefelsäure. Die technischen Harze sind von sehr wechselnder Be- schaffenheit und werden deshalb unter Zugrunde- legung von Härte und Farbe in über 30 Sorten geschieden, für die seitens der Behörde ent- sprechende Normen aufgestellt sind. Die Produktion an Kumaronharzen erreichte 191 7 bereits etwa 10 000 t; diese fanden glatte Aufnahme, obwohl die Harze in bezug auf Trocken- vermögen und Helligkeit zum Teil sehr erhebliche Mängel aufweisen. Auch die Lichtbeständigkeit der mit ihnen hergestellten Farben läßt sehr zu wünschen übrig. Trotzdem dürften gerade die Kumaronharze auch in Zukunft noch lange eine wichtigere Rolle spielen, namentlich, wenn es der Technik gelingt, die Herstellung der harten und hellen Klassen auf eine sichere Basis zu stellen. Nach Mitteilungen Mascussons sind in dieser Hinsicht in der letzten Zeit sehr bemerkenswerte Fortschritte ge- macht. Weiterhin sind die nicht nur vom technischen Standpunkte aus interessanten Belichtungspolyme- risationen der organischen Vinylester zu erwähnen, welche seitens der Chemischen Fabrik Griesheim-Elektron geübt werden. Die als „Mowilith" im Handel befindlichen Produkte sind von glasklarer Beschaffenheit und geben wasser- helle Lacke. Besonders fruchtbar haben sich aber die schon seit 1872 durch A. V. Bayer und seine Schule studierten Umsetzungen des Formaldehyds mit Phenolen aller Art für die Herstellung von Kunst- harzen erwiesen. Die Reaktion, deren Zustandekommen von der Anwesenheit eines geeigneten Katalysators ab- hängig ist, führt in erster Phase zu einem Phenol- alkohol. Diese Phenolalkohole gehen ihrerseits indes leicht in harzige Produkte über, die als „Sali- retine" schon lange bekannt gewesen sind, ohne daß ihnen besondere Beachtung zuteil geworden wäre. Sie erlangten erst Interesse, als B 1 u m e r , DeLaire, Aylsworth, Lebach und Baeke- land erkannten, daß die Umsetzung von Form- aldehyd mit Phenolen aller Art in Gegenwart der verschiedensten Kontaktsubstanzen basischer und saurer Art außerordentlich geeignet sei, harzähn- liche Kunstprodukte zu liefern, die den Natur- harzen in vieler Hinsicht durchaus ebenbürtig seien. Die erhaltenen Stoffe zerfallen in zwei Klassen, die sich in bezug auf ihre Löslichkeit und ihre Schmelzbarkeit unterscheiden. Maßgebend für den Verlauf der Reaktion zwischen den Komponenten ist außer der Art des Katalysators insbesondere das Molekülver- hältnis zwischen Formaldehyd und dem ange- wandten Phenol. Wird nämlich das Phenol im Überschuß ver- wendet, so entstehen lösliche und schmelzbare Produkte. Diese eignen sich besonders als Ersatz für Schellack. Bekannte Vertreter dieser von Baekeland als „Novolak" bezeichneten Gruppe sind die „Laccaine", das „Bucheronium", einige „Albertole", „Issolin", „Perlit" u. a. Neuerdings hat die Anwendbarkeit dieser Kunst- harze durch die Erzeugung öllöslicher „Albertole" eine sehr beachtenswerte Verbesserung erfahren. Verwendet man hingegen den Formaldehyd im Überschuß, so werden über gleichfalls lösliche und schmelzbare Zwischenstufen hinweg schließ- lich völlig unlösliche und unschmelzbare Stoffe erhalten, die Lebach als „Resite" bezeichnet hat. Die den Novolakderivaten ähnlichen Vorstufen der Resite werden als „Resinole" und „Resitole" unterschieden. Die Resite haben sich unter den Bezeichnungen „Bakelit", „Resinit", „Kondensit",„Wenjacit", „Tena- cit" usw. ein weites Feld der Anwendung errungen. Hierzu trug einerseits die Möglichkeit bei, die Pro- dukte erst in der löslichen Vorstufe verwenden und nachträglicher Härtung unterziehen zu können. Außerdem aber der Umstand, daß sie sich mit allerlei Füllkörpern hinsichtlich Haltbarkeit und Elastizität derart verbessern lassen, daß sie als Ersatz für Hörn, Knochen, Elfenbein, Hartgummi, Ebenholz usw. in hohem Maße geeignet sind. Hierzu kommen geradezu vorzügliche physi- kalische Eigenschaften bei großer chemischer Widerstandsfähigkeit. Insbesondere das elektrische Isolationsvermögen der Resite hat bereits zur fast völligen Verdrängung der Naturharze aus manchen Anwendungsgebieten der Elektrotechnik geführt. Weitgehende Verwendung finden ungefüllte Resite auch in der Schmuckindustrie. Die chemische Konstitution aller dieser „For- molite" oder Formaldehyd-Phenolderivate ist nur bis zum gewissen Grade aufklärbar. Das von Baekeland und anderen festgestellte Auftreten von Diphenylmethanderivaten neben den Phenol- Alkoholen hat erkennen lassen, daß die Reaktion außerordentlich kompliziert verlaufen kann. Bei der Wandelbarkeit der StofTe, in Verbindung mit 488 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVm. Nr. 34 ihrer amorphen Beschaffenheit und teilweisen Un- löslichkeit und Unschmelzbarkeit ist eine restlose Feststellung der Konstitution ausgeschlossen. Die Reaktionen zur Erzeugung von Kunstharzen sind damit noch nicht erschöpft. So kann man brauchbare Produkte durch Umsetzung von Form- aldehyd mit Naphthalin in Gegenwart konzentrierter Schwefelsäure erhalten; ferner aus Benzylchlorid in Gegenwart wasserfreien Eisenchlorids, aus Di- hydrobenzol durch Kochen mit Eisessig- Schwefel- säure usw. Außer den eigentlichen Kunstharzen gibt es nun noch viele andere Stoffe, die für bestimmte Zwecke als Harzersatz in Betracht kommen. So spielen Nitro- und Acetylzellulosen eine wichtige Rolle zur Herstellung von farblosen und bunten Überzugslacken sowie von Spannlacken für die Flugzeugindustrie. Weiterhin sind zu nennen: Teere und Peche aller Art, Asphalte und Kunstasphalte, Säureharze, Zellstofflauge usw. Genügen diese Stoffe auch nicht immer den höchsten Ansprüchen, so geben sie in der Hand des geschickten Fachmanns doch Produkte, mit denen sich von Fall zu Fall aus- kommen läßt. So kann jedenfalls gesagt werden, daß die Industrie der Harzersatzprodukte auf dem besten Wege ist, ihrer großen nationalen Aufgabe mit der Zeit gerecht zu werden. Bücherbesprechungen. Sievert, O., Wetterkunde. Eine Anleitung zum Wetterverständnis und zur Wettervorher- sage. 2. verm. Aufl. 128 Seiten, 50 Text- figuren, Karten und Tabellen. Berlin 191 7, Trowitzsch & Sohn. Preis geb. 3 M. In immer weiteren Kreisen bricht sich die Erkenntnis Bahn, welch außerordentlich große Bedeutung ein gutes Wetterverständnis für die allermeisten Berufe hat. Der Krieg mit seinen vielfachen meteorologischen Aufgaben ist aller- dings vorbei — aber noch lange Zeit werden wir gezwungen sein, aus unserem heimatlichen Boden herauszuholen, was wir irgend herausholen können, und nur eine sichere Voraussicht des kommenden Wetters kann den Landmann vor herben Fehl- schlägen bewahren. — Auch das Flugzeug, wel- ches sich zu einem neuen Verkehrsmittel ent- wickeln will, trägt ins Binnenland das Bedürfnis nach zuverlässigen Vorhersagen, wie sie an der Küste schon lange bestehen. Aber selbst die- jenigen, welche sich in Schreibstube und Labora- torium gar nicht um Himmel und Wolken küm- mern, sehen ängstlich nach ihnen aus, wenn die sonntägliche Muße und der geliebte Sport ins Freie locken. So lange der Sport im Wandern, im Turnen und in Bewegungsspielen bestand, — war die Frage nach dem Wetter nur eine Frage nach der zu erwartenden Bequemlichkeit und dem zu erwartenden Genuß. — Im Augenblick aber, wo der Sport auf dem Wasser zu einem Kampf mit Wind und Wetter, auf den Bergen zu einem Ringen um schier unzugängliche Schönheiten wird, — ist die Frage nach dem Wetter — Lebensfrage. Manches junge Leben wäre auf dem Wasser, in den Bergen nicht verdorben, wenn ein rechtes Wetterverständnis hätte warnen können. Darum ist es die Aufgabe des Erziehers neben anderen Wissenschaften auch Wetterkunde gründlich zu lehren. Bücher gibt es auf diesem Gebiet gar viele, wertvolle nur wenig, und solche, die sich als kurzes Lehrbuch eignen, fast gar nicht. Sieverts Büchlein, das nun in der zweiten Auf- lage erschien, macht davon eine rühmliche Aus- nahme. Es beschreitet den einzig richtigen Weg. Erst führt es dem Leser die einzelnen meteo- rologischen Elemente getrennt vor Augen , zeigt wie sie beobachtet und gemessen werden, be- schreibt die nötigen Apparate und gibt die er- forderlichen Tabellen. Die Zusammenfassung der Elemente zu dem Begriff „das Wetter" und seine Darstellung auf der synoptischen Karte, macht dem Leser nach solchen Vorbereitungen keine Schwierigkeit. Schnell und gründlich erfaßt er die wichtigsten Gesetze, nach denen sich Wetter- änderungen vollziehen, erkennt er die Bedeutung von Hoch- und Tiefdruckgebieten nebst ihren Zwischenstufen und die Wichtigkeit von Zug- straßen und Wettertypen. Da der Verf. nirgends die Grenzen des gut begründeten Wissens überschreitet, das Sicher- stehende aber in klarer, kurzer und eindringlicher Form darstellt, dürfte sich seine Arbeit als Lehr- buch, ja als Schulbuch im guten Sinne des Wortes ganz vorzüglich eignen. Sollte dem Bedürfnis nach einer Vertiefung des meteorologischen Unterrichts auf unseren höheren Schulen Rechnung getragen werden, so wäre darum die Aufmerksamkeit der beteiligten Lehrer ganz entschieden auf Sieverts Büchlein zu lenken. Dr. V. Engelhardt. Literatur. Pöschl, Prof. Dr. V., Einführung in die Kolloidchemie. Ein Abriß der Kolloidchemie für Lehrer, Fabrikleiter, Ärzte und Studierende, t;. verb. Aufl. Mit 56 Te.\tabbild. Dresden und Leipzig 1919, Th. Steinkopff. 7 M. Inhalt: Johannes Scheiber, Harze und Harzersatz. S. 481. S. 488. — Literatur: Liste. S. 488. — Bücherbesprecbungen: O. Sievert, Welterkunde. Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstraße 42, erbeten. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck der G. Pätz'scben Bucbdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue Folge i8. Band; der ganzen Reihe 34, Band. Sonntag, den 31. August 1919. Nummer 35. Meteorologische Mythen als Uranfänge der Naturbetrachtung. [Nachdruck verboten.] Von Dr. Victor Engelhardt, Berlin-Friedenau. Die Beschäftigung mit dem Mythos hat, so seltsam es klingen mag, auch für den Naturwissen- schaftler einen gewissen Wert. Die Uranfänge der Physik und Astronomie liegen in Zeiten, in denen sich der Mensch über den Mythos zu erheben versucht, sich aber iioch nicht völlig von ihm frei machen kann. So läuft eine durchaus zusammenhängende Entwicklungs- reihe von den rohesten animistischen und feti- schistischen Vorstellungen über eine geläuterte Mythologie zu den noch vielfach mythischen An- schauungen ältester Naturphilosophie — und von da in ständigen Kämpfen gegen et erbte Vor- urteile bis zur Wissenschaft unserer Tage. Werden wir uns dieses Zusammenhanges über Jahrtausende bewußt, so gewinnen wir ein starkes Gefühl da- für, daß auch in der Wissenschaft, die wir be- treiben, viel geschichtlich Gewordenes steckt — und darum vieles nur bedingten Wert besitzt. Solche Erkenntnis ist nützlich, solche Erkenntnis gewinnt wahres Leben aber erst dann, wenn wir nicht nur das Ende der Entwicklungsreihe be- trachten, an dem wir stehen, wenn wir uns nicht bloß mit den letzten Stufen beschäftigen, die zu unserer Höhe führten, sondern wenn wir ein- mal kühn den Sprung ins mythische Dunkel des Anfangs wagen. Dort finden wir den chaotischen Ursprung alles Naturerlebens. Es läge nahe, mit dem Mythenstudium in Griechenland einzusetzen, weil uns in der ionischen Philosophie, in den Fragmenten des Thaies und Anaximander, des Anaximenes und Heraklit der Kampf des menschlichen Geistes mit der mytho- logischen Vergangenheit trefflich überliefert ist. Andererseits zeigt aber gerade die griechische Mythologie in ihrer „klassischen" Höhe eine Ver- menschlichung der Naturgötter, v/elche einer Untersuchung über älteste Naturanschauung sehr ungünstig ist. Unter diesen Umständen wird der Blick unwillkürlich auf die germanische Mythologie gelenkt. Diese wurde in ihrer Entwicklung durch den Einfall des Christentums gehemmt, bevor sie „klassisch" werden konnte. Sie ist darum viel roher und verworrener — aber auch viel ursprüng- licher und natürlicher als die griechische Lehre. Ihre Götter sind fast überall noch reine Natur- gewalten, — während sie in Griechenland größten- teils zu den oft allzu menschlichen Symbolen menschlicher Leidenschaft wurden. Wir sehen darum in den Anschauungen unserer Vorfahren die Beziehungen der einfachen Seele zur um- gebenden Natur sehr viel besser, als in den von der Schule her wohlbekannten Erzählungen der Griechen. Außerdem sind die genannten An- schauungen für uns noch lebendig, denn die Märchenwelt der Kinder ist nichts anderes, als ein, wenn auch schwacher, Abglanz innerer Er- lebnisse unserer Vorfahren. Die Vertrautheit mit diesen Märchen wird uns darum ein tieferes Ver- ständnis für die Anschauungsart der Alten eröfilnen, als es erlerntes griechisches Schulwissen je zu geben vermag. Der Mythos ist nach Simrock „Wahrheit und Dichtung zugleich, Wahrheit dem Inhalt, Dichtung der Eorm nach"(i). Mythendeutung heißt: Die Wahrheit suchen hinter der Form. Oft hat die Form aber den Inhalt so stark über- wuchert, daß er schwer oder gar nicht mehr zu erkennen ist. Das bedingt die Schwierigkeit der Deutung. Zu dieser Schwierigkeit kommt eine psychologische Gefahr. Dort, wo der wahre Kern allzu versteckt liegt, ist der persönlichen Phantasie des Forschers soviel Spielraum gelassen, daß sie leicht über die Stränge schlägt und Deutungen zustande bringt, die einen unbefangenen Beurteiler zum Lachen verleiten. So hat Traut vetter (2) alle Götter chemisch erklärt, ein Gott ist Schwefel und der andere Quecksilber. Gewiß — der Ur- zeit Götter sind Naturgewalten — aber doch nur solche, mit denen sich die Alten wirklich herum- schlagen mußten. Durch diese und ähnliche Beispiele gewarnt, müssen wir vorsichtig sein und uns bei der Ar- beit immer an Grimms einleitende Worte halten: „Vor der verirrung, die so häufig dem Studium der nordischen und griechischen myihologie ein- trag getan hat, ich meine die sucht, über halb- aufgedeckte historische daten philosophische oder astronomische deutungen zu ergießen, schützt mich schon die unvollständigkeit und der lose Zusam- menhang des rettbaren" (3). Halten wir uns auch von dieser Verirrung frei, so werden wir den sicheren Boden nicht verlassen. Wir müssen uns vor Einseitigkeiten hüten. Eine solche Einseitigkeit ist die rein astronomische Deutung Friedrichs (4). Er weist auf die großen Ähn- lichken in der Überlieferung der verschiedenen Völker hin, auf Verwandtschaften, welche durch Märchenwanderung allein nicht erklärt werden können. Sie müssen in gleichen Erlebnissen der Völker ihren Ursprung haben. Das ist richtig. Aber falsch dürfte es sein nur im Sternenhimmel, das allen Völkern Gemeinsame zu erkennen und darum jede Sage — jedes Märchen auf die drei Arten von Gestirnen zurückzulühren, unter anderem auch die Sintflutsage, welche sich überall findet. 490 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVm. Nr. 3S Ja — Friedrichs geht noch weiter. Von der Richtigkeit seiner Hypothese überzeugt, legt er den Sternenhimmel nicht nur wahllos jeder Er- zählung zugrunde, sondern auch jeder kleinsten Kleinigkeit, die sich in diesen Erzählungen findet. Gewiß — es ist anzunehmen, daß auch in neben- sächlichen Zügen des Märchens Erinnerungen an alte astronomische Mythen enthalten sind , dafür spricht schon die stets wiederkehrende Dreizahl. Immer sind es drei Schwestern, drei Brüder, drei Aufgaben, drei Fragen — so wie es drei Arten von Gestirnen gibt. Aber sicher ist mancher aus- schmückende Zug in das Märchen zu einer Zeit hineingetragen worden, als die Erinnerung an den Mythos nicht mehr bewußt im Volke lebte — und der Erzähler sich nur bemühte, das ererbte Gut anschaulich weiter zu geben. Abgesehen von der astronomischen Deutung jeder Einzelheit ist aber auch der Grundgedanke falsch. Nicht nur der Sternenhimmel bietet den Völkern gemeinsame Naturerlebnisse, sondern auch die Geschehnisse im Lufimeer weisen viele ge- meinsame Züge auf. Gewitter und Regen, Wolken und Sturm kommen an allen — oder wenigstens fast allen bewohnten Orten der Erde vor. Diese Ereignisse werden die einfache Seele mindestens ebenso stark ergreifen, wie die regelmäßigen Vor- gänge des Sternenhimmels. — Und diese Ereig- nisse werden darum im Mythos ihren Nieder- schlag ebenso finden, wie Sonne, Mond- und Planetenlauf. Ja — noch mehr, wir werden in den Symbolen der meteorologischen Geschehnisse vielleicht auf die ältesten Schichten der Natur- anschauung stoßen, da zu ihrem Erfassen eine geringere Höhe der Kultur gehört, als zur auf- merksamen Verfolgung der kleineren Gestirne. Ich sage absichtlich — der kleineren — Gestirne, denn der Lauf der Sonne hat den mächtigsten Einfluß auf alles Geschehen und wird darum schon von der einfachsten Seele erlebt. Aber er ist andererseits mit den Wetterereignissen so untrenn- bar verquickt, daß wir den Sonnenmythos von dem meteorologischen Mythos nicht zu trennen vermögen — und wir uns mit dem letzteren also tatsächlich in den Uranfägen der Mythen befinden dürften. Da es uns darum zu tun ist die allerersten Anfänge der Naturbetrachtung zu untersuchen, wollen wir uns also auf die Behandlung der mythischen Meteorologie beschränken. — Um so mehr als die meteorologische Seite der Mythen- und Märchenforschung gegenüber der astrono- mischen stets sehr benachteiligt wurde. Bei dieser Beschränkung fällt uns ein weiterer Gewinn in den Schoß. Die Wetterereignisse haben in allen Landstrichen gemeinsame Züge, so wie die astronomischen Vorgänge, — aber sie sind andererseits doch von Land zu Land so ver- schieden , daß sich die Eigentümlichkeiten des Landes im Mythos offenbaren müssen. Dadurch gewinnen wir die Möglichkeit an der Verschieden- heit der Mythen die besonderen Einwirkungen der Umgebung zu erkennen und ein tiefes Ver- ständnis für das Werden der Sage zu erlangen. Greifen wir zu der Quelle, welche uns die germanische Göttersage am besten überliefert, zur Edda, so springt uns diese klimatologische Bedingtheit der meteorologischen Mythenbildung schon auf der ersten Seite in die Augen. In keiner Mythologie, die der Lappländer vielleicht ausgenommen, ist soviel von Eis, Frost und Schnee die Rede, wie in der unserer nordischen Stammes- genossen. Darin zeigt sich der ungeheure Ein- fluß, den das geographische Milieu auf die Ge- dankenrichtung und damit auf das Weltbild des Menschen hat. Wenn ein Grieche über die Ent- stehung der Dinge nachsann, so vermochte er, wie der noch stark mythisch denkende Thaies im Wasser — oder wie der schon auf größerer Höhe stehende Heraklit im Feuer, die Urmaterie zu er- blicken — aber niemals im Eis, das im mediter- ranen Klima nur eine untergeordnete Rolle spielt. Der Nordländer aber, der Gletscher, Eisberge, Schneeblumen, Rauhreif und Eisschollen erlebte, dessen grimmigster Feind die Kälte war, konnte leicht dazu kommen, im viel gestaltenden Eis den Urgrund aller Dinge zu sehen. Hätte sich der germanische Geist ungehindert vom Mythos zur Philosophie entwickelt, so hätte er wohl eine Philosophie des Eises geschahen, wie Thaies eine solche des Wassers. Ja — die primitive Weltanschauung ist geo- graphisch - klimatologisch bedingt. Der Schöpfer des Universums hat, wie die Snorra Edda erzählt, bevor er Himmel und Erde machte, in der Eis- welt gelebt (5). Durch seine Macht entstand aus dem schmelzenden Eis der Riese Ymir, der Stamm- vater des Riesengeschlechtes. Das Schmelzwasser des Frühlings bringt Leben hervor, — das schmelzende Eis wird zum Symbol der Frucht- barkeit selbst. Denn von Ymir heißt es, daß ihm unterm linken Arme Mann und Weib wuchsen, und daß sein einer Fuß mit dem anderen einen Sohn zeugte. Aus dem schmelzenden Reif ent- stand eine Kuh: Audumla, und diese leckte aus salzigen Reifsteinen einen Mann, Buri, hervor. Unter den Nachkommen Buris finden wir die ersten Götter Odin, Will und We. Sie töteten Ymir und aus seinem Körper lief soviel Blut, daß darin alle Reifriesen ertranken. Nur einer entkam mit seinen Angehörigen in einem Boot, der Riese Bergelmir, von dem die jüngeren Reifriesen stammen. Die Flutsage findet sich also auch bei den nordi- schen Völkern — aber — und dieser Unterschied ist bedeutsam — die P"lut entsteht nicht durch Regen, wie in der Bibel und im indischen Mythos — sondern durch das Schmelzen des Eises. Diese Abhängigkeit der Flutsage vom Klima zeigt deut- lich, daß wir es hierbei nicht mit astronomischen Ereignissen zu tun haben, wie vielfach behauptet wurde, sondern mit meteorologischen Gescheh- nissen. Diese Abhängigkeit weist aber noch weiter. Sie ist eine Stütze für die Richtigkeit des Gesetzes der Mythenverschiebung, welches N. F. XVm. Nr. 35 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 491 u. a. Simrock aufgestellt hat. Nach demselben werden periodische Naturvorgänge in einmalige Weltereignisse verwandelt. Die Frühjahrsüber- schwemmungen, welche durch das Tauen des Bergschnees entstehen, werden ebenso zur Sintflut, wie die periodischen Hochwasser anderer Länder, die bestimmte Regenzeiten haben. Im weiteren Verlauf der Kosmogenie wird dem Eis die Eigenschaft der Urmaterie ganz deutlich zugesprochen, wenn es heißt : „Aus Ymirs Fleisch ward die Erde geschaffen, aus dem Blute das brausende Meer, die Berge aus dem Gebein, die Bäume aus den Haaren, aus dem Schädel das schimmernde Himmelsdach. Doch aus seinen Wimpern schufen weise Götter Midgard dem Menschengeschlecht; aus dem Hirne endlich sind alle die hartgesinnten Wetterwolken gemacht" (6). Die Vorstellungen, welche die Nordgermanen von Eis und Schnee haben, erhalten eine besondere Note durch die Feindschaft, mit der ihnen diese Naturgewalten entgegentreten. Wie fast alle dem Menschen schädlichen Mächte, werden auch diese als Riesen gedacht. ,,Spät kam der rauhe Riese vom Waidwerk, der häßliche Hymir nach Hause zurück. Er trat ein in den Saal die Eiszapfen klirrten, dem Kerl, der kam war der Kinnwald gefroren" (7) Diesen Riesen werden Fähigkeiten beigelegt, die vollkommen mit den Eigenschaften des Eises übereinstimmen. Sie treten als Baumeister auf. Die Snorra Edda erzählt, daß ein Riese sich er- bot, in einem einzigen Winter eine Burg zu er- bauen, in welcher die Götter allen Feinden Trotz bieten könnten (8). Als Lohn verlangte er Freya zum Weib und Sonne und Mond dazu. Die Götter schlössen den Pakt, machten aber zur Bedingung, daß am ersten Sommertag auch kein Steinchen mehr fehle. Nur der List des Loki gelang es, im letzten Augenblick den Bau zu verzögern und die Götter ihrer Verpflichtungen zu entbinden. Die vielen Sagen, in denen der Teufel, die Riesen, der Kobold beim Kirchbau helfen und schließlich ge- prellt werden, gehen also auf die Eigenschaften des Eises zurück. Die Reifriesen selbst finden wir im Märchen vielfach als Menschenfresser, als Riesen und als Teufel wieder. Dieses primitive bildhafte Denken zeigt uns deutlich, wie wenig der einfache Mensch der Natur objektiv gegenüberzustehen vermag. Zur Naturbetrachtung kann er sich nicht erheben — für ihn ist einzig und allein das Natur erleb nis möglich. Das Naturerlebnis, in welches er all seine Liebe und all seinen Haß hineinträgt, und dessen Gestaltung darum durchaus menschliche Formen annehmen muß. Die Kälte des Winters ist des Nordgermanen grimmigster Feind. Ein dreijähriger „Fimbul- winter" leitet das Weltende ein. Den Reifriesen gilt der ganze Haß — die ganze Liebe muß darum dem zufallen, der die Reifriesen bekämpft. Und das ist Thor, der Gott des Gewitters. Um die Riesen zu bekämpfen muß er nach Osten fahren, so wie die großen Gewitter von Westen nach Osten ziehen. Es ist sehr bedeutsam, daß der germanische Donnergott fast alle furchteinflößenden Züge verloren hat, die anderen Gewiitergöttern eigen sind. Er ist durch und durch der Menschen- freund — ein oft brummiger, aber gutmütiger Alter, — kein schreckenerregender Jupiter tonans, — oder Parjanya, von dem es im Veda heißt: „Alle Wesen fürchten sich vor dem mächtigen Waffenschwinger, vor dem Stierkräftigen flieht selbst der Schuldlose, wenn Parjanya donnernd die Missetat triftt" (9). Die nordischen Gewitter sind eben nicht so heftig, wie die der Tropen und Subtropen, — und so erregten sie dem Nord- länder meist keine Furcht. Er erlebte im ersten Donnergrollen vor allem die Ankündigung des heiß ersehnten Sommers, — er sah im Gewitter- regen das die Erde befruchtende Naß, und im Blitz, mit dem Thor gegen die Bergriesen kämpft, eine starke Gewalt, welche unwirtliches Gestein in fruchttragende Erde verwandelt. Für die enge Beziehung, in die der Nordgermane Gewitter und Frühling bringt, spricht auch der bekannte Mythos vom Hammerraub durch den Riesen Trym(io). Trym ist der Winter, er hat den Blitzhammer gestohlen und „verborgen acht Meilen tief — im Erdenschöße". Die acht Meilen sind das Symbol der acht gewitterlosen Monate. — Thor holt seine Waffe wieder, in Freyas Federhemd — in die Wolke — gekleidet, und besiegt den feindlichen Winter. Dieser klimatologisch und wirtschaftlich be- dingten Auffassung des Gewitters entspricht auch vollkommen die Stellung des Donnerers unter den Göttern. Er ist nicht der Erste von allen, er hat nicht die größte Macht, wie in anderen Mythen, weil er dem Menschen zu nahe steht, und weil das Gewitter nicht das mächtigste Naturereignis der kalten Zone ist. Dort ist der Sturmwind als Wirbelsturm und Sturmflut die verheerendste Ge- walt. Darum wurde Odin, der Gott des Sturms, an die erste Stelle gesetzt. Er lebt noch heute im Bewußtsein des Volkes als Sturmdämon, als wilder Jäger und Reiter, der um die Äquinoktien herum die Luft durchrast. Seine Hunde sind die einzelnen Winde. Läßt man in solcher Sturm- nacht die Türe offen, dann schleicht sich einer von ihnen herein und bleibt am Herde liegen, das ganze Jahr. — Wie der Wind, welcher im Ofenloch heult. Als Gott des Sturms hat Odin auch die Herr- schaft über das Meer. Drum kann er den Schiffen „seinen Wunschwind senden", sie vor Seenot retten und glückliche Fahrt gewähren. Denn : ,,Den Wind beschwör ich — auf wogender Flut Und singe in Schlummer die See" (11). Für Odins Hilfe wurden in grauer Vorzeit Menschenopfer gebracht. Die Erinnerung an diesen Brauch steckt heute noch in zahlreichen Märchen. Sie sind deswegen bedeutsam, weil sie in den älteren Formen deutlich ihren Zusammenhang mit dem Unwetter beweisen und in ihrer Entwicklung 492 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVm. Nr. 35 zeigen, wie sich das Volk allmählich dem naiven Naturerlebnis entfremdet, wie es nach und nach den Glauben an das Wunderbare verliert und da- mit den IVIythos zum Kindermärchen und schließ- lich zur Novelle erniedrigt. Der ganzen , von Odin stammenden Märchen- reihe liegt ein und derselbe Gedanke zugrunde. Im dänischen Märchen „Hans mit den goldenen Haaren" (12) wird derselbe etwa folgendermaßen zum Ausdruck gebracht. Ein Fischer gerät in Sturm, wird von einem Meermann gerettet und verspricht ihm dafür das Jüngste im Haus. Er weiß nicht, daß seine Frau einen Sohn unter dem Herzen trägt — und muß nach 14 Jahren den kleinen Hans dem Meerungeheuer zum Opfer bringen. Nach einiger Zeit gelingt es Hans wieder zu entfliehen. In der Verfolgung zeigt das Un- geheuer ganz deutlich, daß es nichts anderes ist, als Unwetter und Sturm, nichts anderes also, als der ins Dämonische verkehrte Odin. Eine große dicke Wolke kommt hinter Hans her und kann nur dadurch aufgehalten werden, daß der Flücht- ling einen Wald, und beim zweiten Mal ein Meer hinter sich zaubert. Ein Meer, welches der Meer- mann nicht überschreiten kann, ist zwar ein selt- samer Widerspruch, aber es liegt dieser Auf- fassung die gute Beobachtung zugrunde, daß Unwetter an der Küste, ja selbst an den Ufern kleinerer Gewässer oft halt machen. Bei Völkern, welche fern der See ihre Heimat haben, wird der Meer- und Sturmgott unwillkürlich verwischt und verflacht. Wir erleben den Seesturm zunächst nur aus weiter Ferne. — Ein Kaufmann verliert durch ihn im Grimmschen Märchen sein Hab und Gut (13). — Und schließlich verschwindet die Seenot vollkommen. Schlachtenunglück tritt an ihre Stelle (14). Der rettende Teufel, in den sich Odin unter dem Einfluß des Christentums ver- wandelt hat, besitzt eine Peitsche, mit der er nach den vier Winden hinknallt, und die ihm alle Naturgewalten Untertan macht. Diese letzte Be- ziehung zum Odinmythos geht schließlich auch verloren, und wie alle Märchenreihen endet auch diese in der Novelle. Die Entwicklung ist kenn- zeichnend für das geistige Werden des Volkes. Der im oben stehenden Märchen von Hans mit den goldenen Haaren erzählte Schluß ist für die Märchen aus dem Odinskreis keineswegs typisch. Sie vermischen sich durch diesen Schluß mit einer ganzen Reihe von Hexenmärchen, die in den Wolkengöitinnen, den Walküren, ihren Ursprung haben. Bei diesen macht sich die Ver- schiebung von der segenbringenden Gottheit des Mythos zum verderblichen Dämon des Märchens ganz besonders bemerkbar. Die Walküren gleichen der hellen, lichten Sommerwolke, — aus den Mähnen ihrer Rosse tropft segenbringender Tau. „Ihre Rosse schüttelten sich, es rann aus den Mähnen in liefe Täler der Tau" (15). Die Hexen aber sind nichts anderes, als die schwarze dunkle Hagelwolke, ein Glaube, der im Mittelalter so fest eingewurzelt war, daß er zu den furchtbarsten Hexenverfolgungen Anlaß gab. Wir sehen schon an dieser Verschiebung, wie das Naturerlebnis nicht nur durch die umgebende Natur allein bedingt ist, sondern von dem ganzen Vorstellungskreis eines Volkes beherrscht wird; — sei es auch von Vorstellungen, die so weit herkommen, wie das Christentum. Denn eines ist sicher. Daß die Götter zu Unholden, die Walküren zu Hexen wurden, ist teils der bewußten Arbeit der Missionare, und teilweise der unbe- wußten Einwirkung neuer christlicher Gedanken auf heidnische Gemüter zuzuschreiben. Wir sehen in den, diesem Glauben entwachsenden Greuel- taten der Hexenverfolgung aber auch, wie selbst das praktische Leben oft abhängig ist von dem in grauer Vorzeit liegenden mythischen Mächten. Wie viel mehr wird es das Naturerlebnis — und die Naturbetrachtung des einfachen Gemütes — auch heute noch — sein. Die Wandlung, welche der naive menschliche Geist in seiner Stellung zur Natur durchmachte, können wir an der Entwicklung der Hexenmärchen wiederum ebensogut, oder fast noch besser ver- folgen, als in den Erzählungen, welche dem Odins- mythos ihren Ursprung verdanken. In einem plattdeutschen Hansel- und Gretelmärchen (16) fliehen die Kinder, und die Hexe kommt wie eine schwere schwarze Wolke hinter ihnen her. Gretel verwandelt sich in einen Teich, Hans in eine Ente drauf, — die Hexe versucht den Teich aus- zusaufen und wird dicker und dicker, so wie eine Wolke durch das Verdunsten des Wassers entsteht und immer dicker wird. Schließlich platzt sie entzwei, gleich einem Cumulo Nimbus, dessen Gewalt sich in Hagel und Platzregen entlädt. — Hier ist noch alles Naturvorgang. Bald aber ver- mag der menschliche Geist den Naturvorgang nicht mehr so antropomorph zu fassen. Die Wolke verschwindet, — und die nachlaufende Hexe wird zu einem atemlosen, alten Weib (17). Und schließ- lich geht in dem bekannten Grimmschen Mär- chen von Hansel und Gretel auch die Flucht mit all ihrer Zauberei verloren. — Die Hexe wird im Backofen verbrannt (18). — Das Märchen ist eine Novelle geworden. Die Beispiele für die im Verlaufe der Unter- suchungangeführten Gedanken ließen sich, nament- lich durch Heranziehung weiterer Göltergestalten, ins Endlose fortsetzen. Immer aber würde sich dasselbe ergeben. Immer würde sich zeigen, daß der primitive Mensch die Natur nicht objektiv zu betrachten, sondern nur persönlich zu erleben ver- mag. Es gibt keine Grenze zwischen Mensch und Natur. Wir sehen das in all den Märchen, in denen die Natur über Menschenmacht zürnt, wie im „Fischer und syner Fru"(i9), oder in denen das Emporlodern des bösen Gewissens von einem Gewitter am Himmel begleitet ist, wie im Märchen vom „Machandelboom" (20). Das Erlebnis war, wie wir sahen, einerseits geographisch klimatologisch bedingt. Unsere Be- trachtung über Eis und Kälte hat dies deutlich N. F. XVm. Nr. 35 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 493 gemacht. Die mythische Naturschilderung zeigt neben den objektiven Zügen des wirklichen Vor- gangs, weil sie Naturerlebnis ist, andererseits aber auch das Spiegelbild der menschlichen Wünsche und Bedürfnisse. Sie fällt gewissermaßen ein Werturteil über den natürlichen Vorgang, ein Werturteil, wie es zum Beispiel in Charakter und Stellung des ger- manischen Donnergotts ausgedrückt liegt. Durch diesen Umstand wird die Naturschilderung von dem gesamten geistigen Vorstellungskreis eines Volkes abhängig, was sich namentlich in der Ver- wandlung des Mythos zum Märchen durch das Christentum, und in seinem allmählichen Herab- ziehen zur Novelle kundgibt. Da aber in allen diesen Erscheinungen ein ununterbrochener histo- rischer Zusammenhang besteht, werden die Vor- stellungen längst vergangener Zeiten noch in späten Tagen nachwirken. Mit welcher Kraft sie das zu tun vermögen, zeigen die mittelalterlichen Hexenverfolgungen. Gerade Vorsteliungskreise, die unserem neu- zeitlichen Denken fernliegen, vermögen uns diese Zusammenhänge klar vor Augen zu führen, da wir durch keine persönlichen Interessen und Vor- urteile an sie gebunden sind. Bedenken wir nun, daß neben dem literarischen Zweig, den wir hier berührten — noch ein anderer vom Mythos abstammt — ein philosophisch wissenschaftlicher, dessen erste keimende Anfänge etwa durch einen Thaies dargestellt werden, so dürften wir deutlich empfinden, welch ungeheure Rolle das geographisch und historisch Bedingte auch im wissenschaftlichen Leben spielt. Es ist notwendig sich dieser Um- stände stets bewußt zu bleiben, denn solches Be- wußtsein wird uns vor einer Überschätzung der gegenwärtigen Ansichten bewahren — und wird uns davor behüten, durch diese Überschätzung als Fortschrittsfeinde zu wirken. Literaturverzeichnis. 1) Simrock, Handb. der Deutschen Mythologie, 5. Aufl. Bonn 1S78, S. 2. 2) Simrock a. a. o. S. 3. 3) Grimm , Deutsche Mythologie, 4. Ausg. Gütersloh 1876. I. Band, S. 10. 4) Friedrichs, Grundlage, Entstehung und genaue Einzeldeutung der bekanntesten germanischen Märchen und Sagen. Lpz. 1909. 5) Gylfaginning 3. 6) Gylfaginning 8. 7) Himis ki]ia 10. 8) Gylfaginning 42. 9) Oldenberg, Die Religion des Veda, 2. Aufl. Stuttg. 1917. S. 22S. 10) |)rymskvil)a I u. f. 11) Hövamö^l 153. 12) Nordische Volksmärchen I, Jena 1915. S. 55. 13) Grimm, Kinder und Hausmärchen. Vollst. Ausg. Nr. 92. 14) Deutsche Märchen seit Grimm, Jena 1912. S. 155. 15) Helgakvija Hj or v ar Ji sso nar 28. 16) Plattdeutsche Volksmärchen, Jena 1914. S. 54. 17) Sommer, Sagen, Märchen und Gebräuche aus Sachsen u. Thüringen, Halle 1846. Nr. 9. iS) Grimm, Kinder und Hausmärchen. Vollst. Ausg. Nr. 15. 19) Grimm, Kinder und Hausmärchen. Vollst. Ausg. Nr. 19. 20) Grimm, Kinder und Hausmärchen. Vollst. Ausg. Nr. 47. Aufgaben der Geologie in der Türkei und ihre Förderung während des Krieges. Von Dr. Walther Penck, früherem ordentlichen Professor der Geologie und Mineralogie an der Universität Stambul. [Nachdruck verboten.] Der politische Begriff , .Türkei" deckte vor zwei Jahrzehnten noch ausgedehnte Länder, die sich über die Fugen dreier Kontinente erstreckten und von Westasien her ansehnliche Landkomplexe so- wohl in Europa als auch in Afrika umfaßten. Und wenn auch die Entwickelung des politischen Geschehens in den letzten Jahren die Grenzen der Türkei einengte, so kämpften im Kriege deutsche Truppen zusammen mit türkischen Kontingenten am Suezkanal, in Südarabien und im Kaukasus noch innerhalb des türkischen Hoheitsgebietes, und die Balkanlinie bedurfte zur Durchquerung des Restes europäischer Türkei von Adrianopel bis Stambul einer vollen Nachtfahrt. Die afri- kanischen Besitzungen waren ganz verloren ge- gangen. Das gilt indes nur im politisch geo- graphischen Sinn, nicht im physiographischen, denn afrikanische Strukturen beherrschen den Bau Arabiens und Syriens bis an den Fuß der klein- asiatischen Kettengebirge, bis an den Südsaum der südlichsten Vorketten des Taurussystemes. Es bedurfte der Katastrophe vom Sommer 1918, daß sich die Reste der türkischen .Armeen bis an jene Scheidelinie erster Ordnung zurückzogen und damit der türkische Machtbereich afrikanischen Boden im geologischen Sinn endgültig verließ. So ist heute der Begriff Türkei zusammen- geschrumpft auf das Land, das für das Osmanen- tum die Rolle des Kernlandes spielt und den eigentlichen Sitz türkischer Kultur darstellt, auf Kleinasien oder Anatolien. Aber auch dieses Land ist nicht unbestritten tür- kischer Besitz. Im Süden legen die Italiener ihre Hand auf den Küstenstrich, den Westen beansprucht Griechenland. Dem liegen tiefere geographi- sche Beziehungen zugrunde. Wir werden sie verstehen, wenn wir einen Blick in die Geschichte vergangener Jahrhunderte werfen. Da enthüllt sich in selten klarer Weise die Abhängigkeit menschlicher Geschichte und Kultur von der Lage und physischen Beschaffenheit Anatoliens. Im Altertum sehen wir von Asien her Perser vor- 494 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 35 dringen und im Innern des Landes heimisch werden. Von Westen her folgten die Griechen den Insel- reihen quer über das ägäische Meer und fanden im westlichen Kleinasien die gleiche Natur wie in ihrer Heimat. Wo der hellenische Westen an das asiatische Innere des Landes angrenzt, suchen wir die Reibungsfläche, die zu den Perserkriegen führte. Ohne Schwierigkeiten konnten die Perser europäischen Boden betreten; für die in umge- kehrter Richtung vordringenden Heere der Maze- donier bildete die Meeresverbindung zwischen Schwarzem und ägäischen Meer ebensowenig eine Schranke, wie für den Galliersturm, der nicht Halt machte an der Küste SO.-Luropas, sondern nach Anatolien einbrach. Seldschuken und Osmanen sehen wir später aus der asiatischen Heimat ein- wandern und seßhaft werden im Innern der Halb- insel, da sie hier, wie vordem die Perser, ähnliche oder gleiche Lebensbedingungen, die gleiche Natur vorfanden, an die sie von ihrer asiatischen Heimat her gewöhnt waren. Ohne Mühe trugen die Os- manen ihre Fahnen auf europäischen Boden auf denselben Wegen über die Meerengen im NW, die von Galliern, Persern, Mazedoniern und den Kreuzfahrern benutzt worden sind. Zwei geographische Momente sind es, die hier die bedingende Rolle spielen. Sie lassen sich mit Schärfe voneinander scheiden, wenn wir den heutigen Zustand ins Auge fassen. Von den Stürmen der Geschichte ist als wesent- liche Wirkung zurückgeblieben die Besiedelung des Westens durch Griechen, die von Inneranatolien durch Osmanen. Die physische Natur, Bodengestaltung, Relief und Klima, von denen die Lebensbedingungen und -formen beherrscht we rden, er wies si ch stärkeralsmachtpolitischesGeschehen. Noch heute grenzt ein hellenischer Westen, eth- nisch, kulturell und physiographisch bestimmt an das ebenfalls durch ausgeprägte Karaktere ge- kennzeichnete asiatische Innere: Asiatische Be- völkerung und Kultur, kontinentale Be- dingungen treten uns hier entgegen. Die Grenze zwischen beiden Gebieten fällt keineswegs zusammen mit der Scheide zwischen Wasser und Land, sondern verläuft quer durch die Halbinsel von Süd nach Nord. Anatolien ist ein Über- gangsland. Anatolien schlägt aber auch eine Brücke zwischen Vorderasien und Südosteuropa, im wei- teren Sinn zwischen Europa und Afrika resp. Indien. Und diese Eigenschaft der geographischen Lage be- einflußte, wie wir sahen, die geschichtlichen Er- eignisse in hervorragender Weise als zweites geographisches Moment. Es ist leicht zu erkennen, daß nicht die völkischen, sondern die macht- politischen Strömungen hierdurch ihre Richtung erhielten. Das gilt bis zum heutigen Tag. Ich brauche nur an den Bau der Bagdadbahn zu er- innern und die damit zusammenhängenden Pro- bleme, die im Kriege einer Lösung zustrebten. Es wäre nicht auszudenken, zu welcher Entfaltung ein fähiges Volk gelangt wäre, das jenes Zwischen- land ersten Ranges im Besitz gehabt hätte an Stelle der Türken, und sich nicht wie diese in einer kurzen Glanzperiode militärischer Tüchtigkeit erschöpfte. Die Erfahrungen auf der ganzen Erde haben nun gezeigt, daß die physisch-geographischen Ver- hältnisse des festen Landes allein von zwei Dingen abhängen : von der geographischen Position auf dem Planeten, welche die Grundzüge des Klimas bestimmt, und von der geologischen Struktur im weitesten Sinne. Bewegungen der Kruste bedingen die Grenzen von Wasser und Land, und damit die Eigenart des Klimas im einzelnen, der geo- logische Bau im engeren Sinn, also Zusammen- setzung und tektonische Vorgänge, die Oberflächen- gestaltung, das Relief, der festen Scholle. Wenn man dies im Auge behält, weisen die vor- skizzierten äußeren Ereignisse der Ge- schichte auf zwei große geologische Probleme, die die Halbinsel Anatolien birgt: das eine betrifft die in völkischer Hinsicht so wirkungsvoll gewordene Scheidung zwischen dem Westen und dem Inneren Kleinasiens, das andere das Wesen der großen Annäherung asia- tischen Landes an Südosteuropa, oder mit anderen Worten : die Entstehung der Meeresverbindung Pontus Bosporus Marmarameer - DardanellenÄgäis, das Meerengenproblem. Mit weitem Blick, aber noch auf allzuschmaler Grundlage versuchte E.Naumann die Grundlinien Anatoliens zu entziffern, Anatoliens, das treffend dem Hochland von Iran und Zentralasien an die Seite ge- stellt und damit der asiatische Typus seines Bauplanes gekennzeichnet wurde. Philippson verdanken wir dann die Feststellung, daß der hellenische Westen der Halbinsel durch reiche, nach Westen hin geöffnete Vertikalgliederung ausgezeichnet ist, die dem zum Teil abflußlosen Osten mit seinem innerasiatischen Gepräge fehlt. Und es zeigte sich, daß nicht die älteren Strukturen des Landes, sondern Be- wegungen der Kruste ganz jugendlichen Datums diese Gestaltung schufen. So war es also ein Geograph, der das Problem näher umschrieb, sich leiten lassend von den geographischen Wir- kungen der in ihrem Wesen noch nicht aufge- hellten Krustenbewegungen, die der Gegensätz- lichkeit des kleinasiatischen Baues zugrundeliegen. Und nun zu den Meerengen. Auch hier war die Frage, welche die Natur uns stellt, erkannt, doch ihre Lösung schien in weite Ferne gerückt. Nicht nur wegen der schweren Zugänglichkeit jener befestigten Landstrecken, in denen euro- päische Reisende noch mehr behindert wurden wie in der übrigen Türkei! Es ist leicht zu er- kennen, daß die Entstehung der Meerengen nur aufgehellt werden kann im Zusammenhang mit der Entwicklung jener Meeresbecken, welche sie verbinden. Und hierzu sind systematische Auf- nahmen vonnöten. Nur solche können an Hand der rund um jene Becken erhalten gebliebenen Schichten der jüngeren geologischen Vergangenheit N. F. XVm. Nr. 33 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 495 den Werdegang der betreffenden Meeresteile zu heutiger Form aufzeigen. Systematische For- schungen waren indes in der Türkei ausgeschlossen; mit allzugroßem IViißtrauen wurde das Tun euro- päischer Gelehrter verfolgt, unüberwindlich waren die Widerstände, die sich eingehender Forschung entgegenstellten. Aus diesem Grund ist allent- halben unsere geologische Kenntnis von der Türkei beschränkt geblieben entweder auf eine flüchtige Übersicht über größere Komplexe — wie im Norden und Westen - — oder auf vereinzelte Punkte, an denen verschiedenartige Gelegenheiten eine Förderung unseres Wissens brachten. So mußte denn auch, wiewohl für die Entstehung der heute vom Meere erfüllten Talfurchen eine auf den ersten Blick befriedigende Erklärung gefunden schien, das eigentliche Problem, nämlich die Entwicklung der Meeresbecken, die Bildung jener Naht zwischen Europa und Asien und ihre tektonischen Ursachen, unberührt bleiben. Wir sehen noch ein Anderes: als G. v. Bu- kowski im Jahre 1903 vor dem internationalen Geologenkongreß zu Wien Bericht erstattete über die Fortschritte der geologischen Kenntnis von Kleinasien, da sprach er über Fortschritte auf dem Gebiet der Stratigraphie. Es ist damit angedeutet die hauptsächliche Richtung, in welcher sich die geologische Erforschung der asiatischen Türkei bewegte. Groß ist die Zahl derer, die sich dieser Aufgabe zuwandten, v. Bukowski durfte auf eine P'ülle wichtiger Einzelergebnisse hinweisen. Doch blieben die großen Probleme durch sie zu- nächst unberührt. Andererseits aber deckten sie einen derartigen Schatz von Einzelfragen auf, daß Kleinasien schon durch diese allein ein Land von besonderer Zugkraft für den Geologen werden mußte. Und das ist es in ganz bestimmter Richtung auch geworden. Nicht die in der Ober- flächengestaltung beherrschend hervortretenden beiden Probleme mit ihren physischen und ge- schichtlichen Wirkungen standen im Vordergrund wissenschaftlicher Betätigung, sondern ein drittes, das ich eingangs nur kurz gestreift habe und das die Gestaltung der Scheide zwischen asiatischem und afrikanischem Bau in Südanatolien in sich be- greift: das Taurusproblem. Schon lange wußte man, daß Kleinasien im Süden umfalSt wird von einem Faltengebirge, das durch die Ketten Irans mit dem gewaltigsten Gebirgssystem der Erde in Verbindung steht. Und man wußte, daß der klassische Boden Griechenlands einem anderen Faltengebirge angehört, das sich, von den Alpen abzweigend, bis nach Westanatolien hin- überschwingt. Man glaubt zu ahnen, daß hiermit die enge physische Verknüpfung Westanatoliens mit Griechenland in Zusammenhang steht. Die in den letzten Jahren gewonnenen Erfahrungen bestätigten indes diese Vermutung nicht. Doch nicht darin lag das Schwergewicht für den Tek- toniker, sondern darin, ob die Faltengebirge Asiens und Europas ineinander übergehen, ob sie dem- selben System angehören oder nicht. E. Sueß zweifelte nicht daran, daß im Antlitz der Erde diese Gebirgsverbindung wirklich besteht. Die Zweifel wurden laut, als neue Einzelheiten über den Aufbau der beiden Gebirge bekannt wurden. Doch über Vermutungen hinauszugehen war selbst dann nicht möglich, weil niemand die Lötstelle zwischen Taurus und dem Ende der europäischen Faltenzüge in Anatolien gesehen hatte. Heute können wir mit Bestimmtheit sagen, daß sich die Zweifel nicht hätten richten dürfen gegen den Gedanken, der die Enden asiatischer und euro- päischer Gebirge zur Brücke verschmolz; unsicher und unrichtig war nur die Art, wie der Baumeister die Steine zur Einheit fügte. Rückschauend darf gesagt werden: Ana- tolien ist ein Land der großenProbleme. Seine geologische Verbindung mit den Leitlinien Südosteuropas, die Annäherung der Halbinsel an dessen Gestade bis auf wenige Hundert Meter stehen auf der einen Seite, auf der anderen seine Abtrennung von europäischem Boden durch Meeres- becken und Engen, deren jugendliche Bildung feststeht. Sie ziehen um Anatolien eine topo- graphische Grenze, die im W und NW keineswegs zusammenfällt mit irgendwelchen im Bau vorge- zeichneten Linien, ein Umstand, der im geo- graphischen Karakter Kleinasiens, ein Übergangs- land zu sein, zu schärfstem Ausdruck kommt. So sondert sich hier die eine für die allgemeine Geo- logie hochwichtige Frage nach der Entstehung von Meeresbecken, nach den Gründen, warum und unter welchen Umständen ein Stück der Erdkruste zur Tiefe zu sinken vermag, ab. Ich greife sie besonders heraus, weil in der Türkei das einzige Meeresbecken der Erde liegt, das zufolge seiner Kleinheit und des Umstandes, daß es ganz in den Hoheitsbereich eines einzigen Staates fällt, einem Einzelnen die technische Möglichkeit bietet, die Untersuchungen zu einem Ergebnis zu führen. Es ist das Marmarameer. Vor seiner Türe findet der in Stambul tätige Geologe eine der lockendsten Aufgaben, die sich nur denken läßt! Freilich, vor dem Krieg war es noch nicht möglich, die wissenschaftliche Fragestellung schon in ähnlich scharfen Umrissen zu zeichnen, wie ich dies hier für einige Teile des Landes zu tun versucht habe, aber es war gewiß, daß des an die Universität Stambul berufenen Geologen ein überaus lohnendes Feld wissenschaftlicher Betätigung harrte. Und dazu durfte angenommen werden, daß sich dem in türkische Dienste Tretenden alle Tore öffnen würden, daß seinem Tun nicht jene Hindernisse und Schwierigkeiten bereitet würden, die vordem jede systematische Arbeit unmöglich gemacht hatten. In diesem Punkte jedenfalls bin ich seitens der Türken nicht enttäuscht worden. Nicht nur unbehindert konnte ich auch in befestigten Gebieten mich bewegen und jedwelche Unter- suchung anstellen, sondern ich fand seitens der türkischen Regierung gelegentlich wirksamste Unterstützung, die nur übertroffen wurde durch die Bereitwilligkeit der unter deutscher Leitung 49Ö Natu rwissenschaftlich e Woch enschrift. N. F. XVIII. Nr. 35 stehenden Armee, mir deren Hilfsmittel zur Ver- fügung zu stellen. Die Schranken wissenschaftlicher Betätigung erwuchsen von anderer Seite und lagen begründet in den Aufgaben, derentwegen schließ- lich insgesamt 19 deutsche Professoren an die Universität Stambul berufen worden sind. Es handelte sich nicht um ein Unternehmen etwa von der Art einer Expedition, das, auf kurze Dauer eingerichtet, das Verfolgen bestimmter wissenschaftlicher Aufgaben bezweckte. Die Be- rufung des deutschen Kollegiums an die schon bestehende Universität hatte das Ziel, diese zu reformieren, die Pflege europäischer Wissenschaft auszubauen und durch Einführung deutscher Me- thoden des Hochschulunterrichtes und der For- schung zu verankern. War die Anstellung deutscher Universitätsprofessoren zunächst auch befristet, so war das Unternehmen türkischerseits, dem Ziele entsprechend, durchaus nicht als ein vorübergehendes, irgendwie mit den Bedürfnissen des Krieges zusammenhängendes gedacht gewesen, und deutscherseits ist es anders auch nicht auf- gefaßt worden. Friedensarbeit sollte geleistet werden, und sie sollte den Krieg überdauern. Es ist hier nicht der Raum, über das Zustande- kommen der Mission deutscher Universitäts- professoren in der Türkei und das Wirken des Einzelnen , also auch des Geologen zu berichten, das in den Rahmen der gemeinsamen Aufgabe fiel. Mit meiner Berufung auf den Lehrstuhl für Geologie und Mineralogie war wie mit der der anderen Mitglieder des deutschen Kollegiums die Verpflichtung geknüpft, eine Stätte der Forschung und der Lehre, ein Institut zu schaffen. Die Tätigkeit war somit von dreierlei Art: zunächst organisatorisch, dann als Lehrer und schließlich als Forscher. Die Türken ließen von vornherein keinen Zweifel darüber, daß ihnen, was besonders angesichts des Tiefstandes und des Mangels türkischer Mittelschullehrer nur zu be- greiflich erscheint, die Lehre und zwar die Heran- bildung von Lehrern besonders am Herzen lag. Aber auch diese Aufgabe setzte die Einrichtung eines arbeitsfähigen Institutes voraus. Dem mußte also die erste Sorge gelten. Es muß anerkannt werden, daß das türkische Unterrichtsministerium, nachdem einmal die nach türkischen Begriffen unerläßlichen, künstlich geschaffenen Hemmungen überwunden waren, durch Bereitstellung von Mitteln die Institutseinrichtung ermöglichte. Mußten im ersten Jahr die Vorlesungen noch unter schwie- rigen Umständen mit höchst primitiven Hilfs- mitteln gehalten werden, so fanden sie im zweiten Jahr schon im eigenen Gebäude statt, das neben einer reichen Bibliothek und schön vermehrten Sammlungen nahezu schon den ganzen Apparat enthielt, der für die Abhaltung der allgemeinen Demonstrationsvorlesungen und praktischer Ar- beiten auf geologischem und mineralogischem Ge- biet vonnöten ist. Ein so rascher Ausbau wäre allerdings wohl trotz der Flüssigmachung türkischer Gelder nicht möglich gewesen, wenn nicht deutsche und österreichische wissenschaftliche Anstalten meinem Ansuchen um Mitwirkung in bereit- willigster Weise nachgekommen wären. Das gilt vor allem von der Bibliothek, die wegen des Fehlens einer Universitätsbibliothek nach deutschem Muster reichhaltiger ausgestattet sein mußte, als dies in analogen Instituten deutscher Universitäten nötig zu sein pflegt. Als ein äußeres Zeichen dafür, daß die Bücherei den Bedürfnissen bald entsprach, mag angeführt werden , daß aus dem geologischen Institut schon am Ende des zweiten Jahres nach seiner Grundsteinlegung mehrere kleine wissenschaftliche Arbeiten in türkischer und deutscher Sprache hervorgingen, und die Ver- arbeitung des neuen, auf verschiedenen Reisen gewonnenen Materiales energisch betrieben werden konnte. Im Sommer 191 8 schien sich der Aus- blick auf fruchtbare Arbeit zu öffnen. Das bezog sich besonders auch auf den Unterricht, der auf größeren Studentenexkursionen die Anfänge leb- hafterer Gestaltung zu zeigen begann. Manches ließe sich über die Technik des Lehrens sagen, sehr vieles über die Erfahrungen, die nicht immer erfreulich genannt werden können. Die Vorbildung der türkischen Zuhörer ist eine andere als wir sie von der deutschen Studentenschaft gewöhnt sind, und erreicht diese wohl bei weitem nicht. Das bedeutete eine erhebliche Belastung des Unterrichtes, dem, sollte er von seiner Wissen- schaftlichkeit nicht verlieren, in den Übungen weit- gehende Propädeutik zu Hilfe kommen mußte. Doch glaube ich, aus den sehr viel glücklicheren Erfahrungen, die ich später an der landwirtschaft- lichen Hochschule machte, schließen zu dürfen, daß den Verhältnissen an der Universität mit die Maßnahme der Regierung zugrunde lag, durch die den Hörsälen der naturwissenschaftlichen Fakultät als Ersatz für die fast ausnahmslos militärisch ein- gezogenen Studenten die Zöglinge des ersten Lehrerseminars des Reiches zugeführt wurden. Und diese Zöglinge rekrutierten sich nicht aus den begabtesten Elementen. Das geologische Institut durfte sich indes nicht auf die Heranbildung von Lehrern beschränken. Sein Wirken konnte belebt werden nur dadurch, daß Fachgeologen aus ihm hervorgingen. Für solche bietet indes die Türkei keinen Raum. Es fehlt an irgendwelchen Staatseinrichtungen, die der Fachgeologen bedürften. Dem mußte zunächst Abhilfe geschaffen werden, wenn anders unter dem Nachwuchs sich Leute bereit finden sollten, Geologen von Fach zu werden. So war es eine Bedürfnisfrage des geologischen Institutes, die mich ganz unabhängig von der noch nicht spruchreifen Frage, ob die Befähigung des Türken zur Aus- übung naturwissenschaftlicher, selbständiger Tätig- keit ausreicht, dem Gedanken an die Einrichtung einer geologischen Landesuntersuchung in der Türkei näher treten ließ. Den Ge- danken selbst hatte ich schon mit auf den Weg nach Stambul genommen. Er muß sich jedem aufdrängen, dem die außerordentlich hohe wirt- N. F. XVin. Nr. 35 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 497 schaftliche Bedeutung einer solchen Anstalt und die Tatsache bekannt ist, daß der Türkei Ähnliches fehlt. Und wie nötig ist die systematische geo- logische Erforschung des Landes gerade dem Reich der Osmanen, das — ein Agrarland! — schon im Frieden der Einfuhr von Agrarprodukten nicht entbehren konnte, in dem die bodenkundlichen und wassergeologischen Fragen offen zutage liegen und der dringenden Lösung harren, in dem die Sage von großen Schätzen an Kohle und Metallen die Gemüter dauernd beschäftigt, ohne daß auch nur die Anfänge zu ihrer Feststellung gemacht und damit die Möglichkeit zu ihrer Erschließung gegeben worden wäre. Gerade vom türkischen Standpunkt mußte angesichts der notorisch passiven Handelsbilanz die geologische Erforschung des Landes dringend geboten erscheinen. Die lang- wierigen Verhandlungen mit dem osmanischen Ackerbauministerium scheiterten jedoch, und da- mit mußte vorerst die Hoffnung auf eine starke Belebung des geologischen Institutes und auf eine Anregung seiner wissenschaftlichen Bestrebungen von der Seite des pulsierenden, praktischen Lebens her begraben werden. Als einzige Frucht war gewonnen die Einrichtung der Lehrkanzel für Geologie und Mineralogie an der landwirtschaft- lichen Hochschule, mit der ich im Herbst 1917 betraut wurde. Umso stärker ward der Geologe an der Uni- versität Stambul hingewiesen auf die selbständige Aufnahme systematischer Untersuchungen. Natur- gemäß standen bei diesen nun nicht die prakti- schen Fragen, sondern die eingangs skizzierten wissenschaftlichen Probleme im Brennpunkt der Forschung. Heute, da das Wirken des Deutsch- tums in der Türkei ausgetilgt ist, muß diese Ent- wicklung begrüßt werden, denn die gewonnenen Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung sind das Einzige, was den Zusammenbruch überdauert hat und als bleibender Gewinn gebucht werden kann. Eine systematische Kartierung der Umgebung des Bosporus in großem Maßstab wurde schon im Winter 191 5 begonnen. Ihre Ergebnisse gestatte- ten nach fast dreijährigen Bemühungen, von der Entstehung und Entwicklung der Meerenge ein, wie ich glaube, endgültiges Bild zu entwerfen. Ganz von selbst wies aber das Verfolgen der einen Aufgabe über den Raum dieser ersten Unter- suchungen hinaus und enthüllte sehr bald die Notwendigkeit, das ganze Marmarabecken , wenn nicht der Kartierung, so doch eingehenderem Studium einzubeziehen. Dieses erstreckte sich von Stambul aus einerseits weit nach Südost- thrazien hinein, andererseits südwärts über die bithynische Halbinsel nach den angrenzenden Ge- birgen Anatoliens. An den Dardanellen ermög- lichte die Heeresleitung den Beginn geologischer Aufnahmen im Frühjahr 1916. Es handelte sich um Vorarbeiten. Sie führten zu einer schärferen Fassung des Problemes, denn es zeigte sich folgen- des: es bildet das Marmarameer eine Scheide zwischen sehr verschieden gebauten Gebieten. Nördlich von ihm erstreckt sich die Landschaft Thrazien , ein Land , das den tektonischen Ka- rakter eines weitgespannten Beckens besitzt, im Süden beherrschen Reihen von ost-west verlaufen- den Gebirgszügen das orographische und tektoni- sche Bild. Diese „anatolische Struktur", wie man sich zutreffend ausdrücken kann, nimmt aber ihren Anfang nicht am Südsaum des Meeresbeckens, sondern schon in nördlicherer Breite. Die ganze Südhälfte des Marmarameeres erwies sich als ein versunkenes und vor verhältnismäßig kurzer Zeit ertrunkenes Stück von Kleinasien, in dem die ostwestlichen Gebirgszüge zu Halbinseln und Inseln, die zwischenliegenden Senken zu langgestreckten Golfen geworden sind. Ertrunken sind auch die Täler einstiger Flüsse. Die Dardanellen sind solch ein überflutetes Tal eines Anatolien zuge- hörigen Gewässers. Und ebenso trägt die Nord- seite des Marmarabeckens die Marken mähligen Untertauchens festen Landes unter den Meeres- spiegel; das betroffene Land aber besitzt die Struktur Thaziens. Auch dessen Täler sind teil- weise oder ganz vom Meere überflutet. Der Bosporus gehört hierher. Es zeigte sich also, daß an der Scheide ganz verschieden gebauter Krusten- teile eine Scholle eingesunken und zum Meere geworden ist. Das ist die Naht zwischen Klein- asien und Europa. Die Meerengen jedoch sind nicht Teile dieser Naht, sondern sie sind ertrun- kene Flußtäler, die ganz der einen oder anderen Scholle angehören. Die Naht verläuft durch Süd- thrazien nördlicli der Halbinsel Gallipoli nach Osten durch das Marmarameer und betritt im innersten Winkel des Ismidgolfes wieder festes Land auf kleinasiatischem Boden. An diesen beiden Stellen bietet die Natur die Gelegenheit, das Wesen der genannten Naht auf festem Land zu untersuchen. Und hier zeigte sich, daß — so hart die verschiedenartigen Strukturen anein- anderstoßen — keine tiefgehende Scheidelinie die Kruste durchsetzt, daß einfach der Unterbau, der in Thrazien zu flachem Becken verbogen ist, auf anatolischem Boden durch gleichzeitige Be- wegungen zu enggereihten Gebirgsketten aufge- staut worden ist. Dies räumliche Zusammenfallen eines besonderen Bauplanes mit einer bestimmten Region ließ vermuten, daß jener seine Ursache in einer Eigenschaft dieser, d. h. der kleinasiati- schen Scholle finden dürfte. Folgerichtig mußte also versucht werden, den Bau Westanatoliens vorerst zu entziffern. Zwei Reisen wurden unter- nommen, die der Untersuchung eines breiten Ge- ländestreifens quer durch die Halbinsel bis zu ihrer Südküste galten. Das Profil wurde derart gelegt, daß es unter allen Umständen die Zone treffen mußte, in der die asiatischen Gebirgsketten, das Taurussystem , sich vereinigen mit den von Griechenland her nach Anatolien eintretenden Faltengebirgen. So konnte gehofft werden, nicht nur dem Taurusproblem näherzutreten, sondern auch seine Beziehungen zu der Entstehung der westanatolischen Gebirge aufzuhellen. Beides ist, 498 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVin. Nr. 3B wozu die von Herrn A. v. G w i n n e r bereitwillig gewährte, finanzielle Unterstützung nicht wenig beitrug, geglückt. Vor allem ergab sich, daß die Westkleinasien von West nach Ost durchziehenden Gebirgsketten das Produkt eines Faltungsvorganges sind, der die Kruste in weitgeschwungene Mulden und Sättel legte. Hierfür wurde der Ausdruck „Großfaltung" geprägt. Mit ihr ist verbunden ein regionales Ansteigen der ganzen kleinasiatischen Halbinsel. Dem steht die Eintiefung, die Bildung der Meeresbecken im N und W als ein gleichzeitiger Akt gegenüber. Mit aller Schärfe zeigten die weitergeführten Unter- suchungen im Marmaragebiet, daß das Marmara- meer nur ein gegenwärtiges Stadium jener Becken- bildung ist. Es hat seine Vorläufer in dem Raum zwischen dem anatolischen Großfaltenland und jenem uralten Massiv der Balkanhalbinsel, das den Namen Rhodope führt. Schon ließ sich erkennen, daß hier die Kruste seit langen Zeiten die Tendenz be- sitzt, tiefer und tiefer zu sinken, einmal hier, dann an anderen Stellen die tiefsten, wassererfüllten Depres- sionen beherbergend; immer hatten diese die Flüsse der umgebenden Länder auf sich gezogen und zur Anhäufung der mitgeführten festen Stoffe ver- anlaßt. Junge Schichten von außerordentlicher Mächtigkeit sind in der Region der sinkenden Becken entstanden. Schon konnte man ferner feststellen, daß der Prozeß des Tiefersinkens einer bestimmten Richtung folgte, daß sich nämlich die tiefsten Depressionen Kleinasien näherten. Die Absenkung ergriff schließlich in nachtertiärer Zeit den Rand des anatolischen Großfaltenlandes selbst. So sehen wir heute das Meer von Norden und von Westen her kleinasiatisches Festland über- spülen, dort die reichgegliederte Südhälfte des Marmarameeres, hier die inselreiche, vielgebuchtete Osthälfte des ägäischen Meeres entstehen. Nicht mehr von der Hand weisen ließ sich der Gedanke, daß das Sinken von Krustenteilen auf der einen, das gleichzeitige Steigen benachbarter Schollen mit ihren Großfalten auf der anderen Seite Wir- kungen einer einheitlichen Ursache seien. Das Marmaraproblem weitete sich damit zu einer Frage der allgemeinen Geologie, und seine Lösung versprach einen Lichtstrahl zu werfen in das Dunkel der Gebirgsbildung und Krustenverschiebungen überhaupt. Von größter Bedeutung war es also, die Untersuchung der Umrandung des Marmara- meeres systematisch zu gestalten und auszudehnen auf ganz Thrazien vom Sarosgolf bis zum Pontus. Und das schien gewährleistet durch die Bereit- stellung großer Mittel seitens der Humboldtstiftung der Akademie der Wissenschaften in Berlin. Doch konnte nur noch eine Reise und zwar nach der Südküste und den Inseln des Marmara- meeres und an die Dardanellen im Sommer 191 8 unternommen werden. Was in drei Jahren auf- gebaut worden war an kulturpolitischer Arbeit und eben anfing seine Wirkung auszuüben, was an wissenschaftlicher Forschung begonnen und der Vollendung nahe war, ward vernichtet durch den Waffenstillstand, in dem sich die Türkei ver- pflichtete, das deutsche Militär, die Zivilbeamten und die ausdrücklich neben der deutschen Kolonie genannten deutschen Universitätsprofessoren aus- zuweisen. Vorher schon, im August 1918, ereilte das geologische und mineralogische Institut ein tragisches Schicksal: es fiel dem letzten Brand in Stambul zum Opfer. Nichts ist übrig geblieben von der gegen 5000 Nummern umfassenden Bücherei, verloren gingen mit der schon zu kleinem Museum erweiterten Sammlung die um- fangreichen Aufsammlungen, die — ein Ergebnis der unternommenen Forschungen — der Ver- arbeitung harrten. Gerettet sind nur die Auf- zeichnungen und kleine Bruchstücke der Samm- lungen, die sich zufällig außerhalb des Instituts befanden. Aber auch sie mußten in Konstanti- nopel zurückgelassen werden. Sie heil nach Deutschland zu bringen , ist die nächste Sorge. Darüber hinaus aber möchte ich der Hoffnung Raum geben, daß eine Zeit komme, in der die begonnene Marmaraforschung, wenn auch nicht in dem geplanten Umfang, so doch in den Grund- zügen vollendet werden möchte. Vielleicht gibt hierzu den Anstoß die jetzt in Vorbereitung be- findliche Veröffentlichung der ersten Ergebnisse, die sich auf die geologische Entwicklung des Bosporus beziehen und die von Herrn Professor A. Merz in Berlin zu glücklicher Vollendung ge- führten ozeanographischen Untersuchungen in den Meerengen umfassen. Einzelberichte. Medizin. In der Lehre von der Entstehung des Karzinoms dürfte eine Arbeit von Kopsch^) einen Fortschritt bedeuten, und wenn auch nur einen verhältnismäßig kleinen, so ist doch mit solchen in dieser Frage bisher mehr gewonnen ') Prof. Dr. Fr. Kopsch, Die Entstehung von Granu- lalionsgesctiwülsten und Adenomen, Karzinom und Sarkom durch die Larve der Nematode Rhabditis pcUio. Ein Beitrag zur Entstehung echter Geschwülste. Leipzig, G. Thieme. 1919. 127 Seiten, 23 Tafeln, 23 Textabbildungen. worden als mit angeblichen großen. Die Arbeit ist umfangreich und mit Tafeln fast überreich aus- gestattet, dem entspricht aber auch ihr Inhalt an Reichtum und Genauigkeit. Die Annahme eines tierischen Erregers des Krebsleidens ist nicht überwunden, sondern sie besteht noch, wenn auch meist in anderer Form als früher, und zwar ist vor allem an Fadenwürmer, Nematoden, zu denken. Mag auch an der seit 1864 öfter geäußerten Vermutung, die Trichine N. F. XVIII. Nr. 35 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 499 habe einige in ihrer Nachbarschaft gefundene Krebsgeschwülste veranlaßt, nichts Haltbares sein, so hat man doch seit 1905 anderweitige Nema- toden mehr oder weniger bestimmt für das Auf- treten krebsartiger und anderweitiger Geschwülste bei Säugetieren und Fröschen verantwortlich machen können, namentlich konnte dies bei Pa- pillomen des Rattenmagens 191 3 und 191 4 Fi- biger tun, der im Anschluß an die zum Teil sehr großen Papillome auch bösartige Epitheliome mit invasivem heterotopen Wachtum sowie Metastasen auftreten sah und als Ursache entweder die Gift- produktion seitens des parasitischen Fadenwurms Spiroptera neoplastica oder etwa ultramikrosko- pische Bakterien, die der Wurm mitgebracht hätte, annimmt. Bei alledem — und es gibt noch mehrere ein- schlägige, aber in ihren Ergebnissen weniger be- stimmte Arbeiten — ist wohl nicht ausgeschlossen, daß außerdem mechanische oder thermische Reize Krebs veranlassen können, obwohl Kopsch dies nicht ausdrücklich erwähnt, während er neben Stoffwechselprodukten von extrazellulären Parasiten auch Stoffwechselprodukte des Körpers selbst so- wie, beim Schornsteinfeger-, Paraffinarbeiter- und Anilinarbeiterkrebs, von außen in den Körper ein- dringende Stoffe als mögliche oder wahrschein- liche Krebsursachen, intrazelluläre Parasiten jedoch oder Stoffwechselprodukte von solchen als eine unwahrscheinliche Ursache hinstellt. Bei Aufzucht zahlreicher junger Frösche zu anderem Zweck trat bei einem Teil der Tiere, meist den größten und kräftigsten, ein anfangs unerklärliches Sterben ein, als dessen Ursache sich weiterhin „Wurmknötchen" und deren Umwand- lung zu bösartigen Geschwülsten ergaben, hervor- gerufen durch eine Nematodenlarve, Rhab- titis pellio Schneider, die, wie seit 1775 bekannt, auch in Regenwürmern vorkommt und mit diesen von den Fröschen verzehrt wird. Sie wird im Froschmagen durch die Verdauung des Wurms frei und dringt dann in der Regel in die Schleim- haut des Magens, dem Magensaft des Frosches mithin widerstehend, während Magensaft der Maus sie tötet. Einige Larven gelangen auch mit dem Speisebrei in den Darm und dringen in die Darm- wand bis zum Caecum ein, einige werden ferner lebend mit den Fäces abgeschieden, wenige gehen im Magen zugrunde, einige schließlich wandern aus dem Magen wieder zurück, denn auch im unteren Abschnitt des Ösophagus fanden sich „Wurmknötchen". In der Magenwand nun, wo die große Mehr- zahl der Larven sich einbohrt, bildet sich um diese in einem bis zwei Tagen ein Leukozyten- haufen mit allmählich sich verdickender Binde- gewebskapsel, das Wurmknötchen. Es kann auch die Larve aktiv und unter Mithilfe des Drucks des gefüllten und zusammengezogenen Magens bis unter die Serosa der Magenwand wandern, sie vorwölben und somit ein anfangs buckliges, später aber auch gestieltes Knötchen bilden, das nach Zerreißung des Stiels in der Pleuroperitonealhöhle passiv wandert und anderswo anwachsen kann. Gelegentlich durchbricht ferner die Wurmlarve das Knötchen, wan lert selbständig und ruft ander- wärts neue Knötchen hervor; einige wandern schließlich, ohne bis dahin je eingekapselt worden zu sein, aus dem Darm bis in andere Organe und können zum Beispiel im Mesogastrium eine ,, Wurm- geschwulst" von mehreren miteinander verschmel- zenden Wurmknötchen hervorrufen. Wesentlich passiv gelangen sie dagegen, wohl meist durch die Blutwege, in Leber, Niere, Harnblase, Musku- latur und Auge; in anderen Organen wurden sie in den lückenlosen Schnittserien durch ganze Tiere noch nicht gefunden. Nach Tötung des Frosches und begonnener Zersetzung verlassen die Larven die Knötchen und bilden sich im toten Frosch zu ausgewachsenen, jetzt erst sicher bestimmbaren Tieren um, wie es auch im toten Regenwurm geschieht, während der lebende gleichfalls nur Larven enthält. Das Wurmknötchen enthält außer den herbeigewanderten Leukozyten auch Teile des Organs, in dem es sich befindet, und das somit hierdurch sowie durch die Bewegungen der Larve schon geschädigt wurde. Es stellt im übrigen zwar eine Abwehräußerung des Froschorga- nismus vor, die aber, offenbar infolge von Stoff- wechselprodukten der Larve, nicht vollständig wirkt. Sondern man bemerkt nun am Knötchen an Käsigwerden seines Zellinhalts, der von sich stark vergrößernden Kapselzellen aufgezehrt wird oder auch sich schleimig umwandelt, und die epitheloide Umbildung der Fibroblasten seiner Bindegewebskapsel. Solche epitheloide Zellen dringen auch in die Umgebung des Gewebes weiter vor und rufen damit bösartige und zwar sarkomartige, das heißt die mesodermalen Bestandteile des Körpers befallende Geschwülste hervor, von erheblicher Größe, wenn sie von mehreren Knötchen ausgehen, leicht zerfallend, ferner nach passiver Wanderung ihrer Zellen anderweitige Stellen infiltrierend und dort fern von jeder Nachbarschaft einer Wurmlarve selb- ständig weiter wachsend, also Metastasen bil- dend, wie man sie auch bei Krebs beobachtet. Es treten ferner mannigfache Epithelmeta- plasien teils in der Nähe von Knötchen auf, teils entfernt von solchen offenbar infolge von kreisenden Stoffwechselprodukten der Wurmlarve: normalerweise zylindrische Epithelien werden zu Plattenepithelien, ebenso das Flimmerepithel der Mund- und Rachenhöhle. Bindegewebe erfährt myleoische Metaplasie durch Auftreten derselben Zellformen in ihm, welche im Knochenmark vor- handen sind. Karzinom kann, als eine bösartige Epithel- wucherung, vielleicht schon in den Fällen mit Kopsch angenommen werden, wo metaplastisches Epithel atypisches Tiefen Wachstum zeigt, etwa Zapfen ins unterliegende Bindegewebe entsendet und in jenen Schichtungskugeln entstehen. Scheidet 500 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 35 man diese Fälle aus, so bleibt allerdings nur e i n Fall von Adenokarzinom der Leber übrig, in welchem von einem Leberbläschen kolbenartige, teils solide, teils mit Lichtung versehene Fortsätze nach allen Seiten in das umliegende Leberpar- enchym hineingewachsen waren. Adenome, Drüsengeschwülste, wurden im übrigen noch mehrfach gefunden, sie entstehen in IVIagenwand, Darmwand und Leber offenbar durch geringe Verlagerung von Drüsenschläuchen wesent- lich infolge mechanischer Tätigkeit der Larve, zu- mal wenn sie die Darmwand durchbricht, und unter örtlich begrenzter Umbildung der verlagerten Zellen. Diese Geschwülste bleiben aber, außer in dem einen erwähnten Fall von Adenokarzinom, stets gutartig, indem sie nicht weiter um sich greifen. Von der Magenlichtung sich gänzlich abschnürende Drüsenschläuche bilden Zysten. Die Ausbeute an eigentlichem Karzinom war also, nach Vorstehendem, gering, aber das haben wir wohl als eine Angelegenheit von geringerer Bedeutung zu betrachten, ob das Material des Verfassers nun gerade mehr zu Karzinomen (Epithel- geschwülsten) oder zu Sarkomen („Fleischgeschwül- sten"), die beim Menschen oft kaum weniger bös- artig sind, aus offenbar einer und derselben Ursache neigte. In allgemeineren Betrachtungen erörtert Kopsch, daß die Nematodenlarve augenschein- lich nicht einen optisch oder färberisch isolier- baren Krankheitserreger überträgt. An sich sei das zwar nicht undenkbar, doch müßte sich die Einwirkung eines solcher. Erregers am stärksten an den Zellen der Magenwand zeigen, was, wie auch die Gutartigkeit der Adenome und Zysten beweist, keineswegs der Fall ist. Es beginnen vielmehr alle Zellumänderungen in unmittelbarer Nähe der eingekapselten Larve und verbreiten sich von da allmählich weiter, was die schon mehrfach erwähnte Annahme begründet, daß von der lebenden Larve stammende Stoffe auf die Zellen undifferenzierend wirken. Daß bloße He- terotopie und Ausschaltung von Gewebsteilen aus ihrem Verbände nicht genügen, um destruierendes Wachstum auszulösen, beweisen abermals die Adenome und Zysten. V. Franz, Jena. Zoologie. Die Ergebnisse von experimentellen Untersuchungen über die Beeinflußbarkeit der Erbanlagen durch den Körper teilt Klatt mit (Sitzungsberichte der Gesellschaft Naturforschender Freunde zu Berlin 1919, Nr. 2). Es handelt sich um die Frage, ob Keimdrüsen, die in ein zweites Individuum transplantiert werden, von dem Kör- per desselben derart beeinflußt werden, daß sich bei den Nachkommen, die aus den Keimdrüsen- produkten entstehen , Merkmale des Somas , in dem die Geschlechtszellen zur Reife gekommen sind, bemerkbar machen. Nach vergeblichen Ver- suchen mit anderen Tieren wurde von Klatt mit Schwammspinnerraupen gearbeitet, die in seinem Material 3 deutlich voneinander schon im Raupen- stadium unterscheidbare Rassen aufweisen. Er arbeitete mit einer „Gelbrasse", einer „Normal- rasse" und einer „Schwarzrasse". Die „Gelbrasse", die für eine Kreuzung von Lymantria dispar mit Ly- mantria japonica gehalten wird, zeichnet sich durch leuchtend gelbe Färbung des 3., z. T. auch des 4. Körpersegmentes und des Genitalsegmentes auf dem Rücken aus. Die „Normalrasse" (L. dispar) weist eine rote oder rötliche Zeichnung des Genital- segmentes auf und zeigt auf dem 3. und 4. Seg- ment nur eine schmale gelbe Mittellinie mit zwei gelben Punkten, wie die übrigen Körperabschnitte. Die „Schwarzrasse" besitzt ,, einen den Rücken entlang ziehenden, breiten, tiefschwarzen Längs- strich , der scharf von dem graumarmorierten Untergrund" sich abhebt. Diese „Schwarzrasse" hält Klatt für eine in der Natur entstandene Mutation, die ohne seine Weiterzüchtung wieder ausgestorben sein würde. Sie fand sich während einer am Müggelsee ausgebrochenen Schwamm- spinnerplage nur in wenigen Exemplaren unter vielen Tausenden anders gefärbter Raupen vor. Das Merkmal „Schwarz" war sowohl über „Gelb" wie über „Normal" dominant, während „Gelb" über „Normal" dominant ist, wie aus Kreuzungsversuchen hervorging. Die Transplan- tation wurde bei den Raupen nach der zweiten oder dritten Häutung in der Weise vorgenommen, daß die Rezessiven in die Dominanten transplan- tiert wurden. Klatt konnte an 700 Operationen als geglückt bezeichnen, von denen 30 "/o bis zum Falterstadium durchkamen. Bei diesen war jedoch fast nur bei den Weibchen eine Verwachsung der überführten Keimdrüsen mit dem Ausführungsgang eingetreten und zwar auch nur in etwa 20 "/^ der Kultur. Da infolgedessen die Kopulation nur mit nicht operierten Männchen stattfinden konnte, die der Rasse der überpflanzten Keimdrüse angehörten, so hat „nur die weibliche Hälfte der die Nach- kommen liefernden Erbmasse unter dem Einflüsse eines rassefremden Somas gestanden". Es konnte nun festgestellt werden, daß niemals ein Einfluß des Körpers der „Pflegemutter" auf die aus der transplantierten Keimdrüse entstandenen Nachkommen in dem Sinne zu erkennen war, daß man eine Abänderung nach der Seite der Rasse beobachten konnte, zu der der ernährende Orga- nismus gehört hatte. Die sehr interessanten Ver- suche sollen noch fortgesetzt werden. Willer. Ein Vorkommen der Sumpfschildkröte in Nord- frankreich. In dem Gebiete um und nördlich von Laon, in welchem W. Schreitmüller bereits zwei Amphibien, den Moorfrosch, Rana arvalis Nilss., und den in Deutschland fehlenden Schlamm- taucher, Pelodytes punctatus Daud., als völlig neu für das nordöstliche oder, was den Moorfrosch betrifft, für das ganze Frankreich festgestellt hatte, und in welchem die Gelbbauchige Unke sehr N. F. XVin. Nr. 35 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 501 häufig vorkommt, konnte der Genannte im Früh- jahr 191 8 auch die Europäische Sumpfschildkröte, Emys orbicularis L., feststellen. Aufmerksam wurde er durch auf einem der am wenigsten zugäng- lichen Gräben schwimmende Schwimmblasen von Fischen. Nach und nach wurden fünf Schild- kröten verschiedener Größe und etwas verschie- dener Farbe gefangen, eine sechste von einem Knaben gekauft, der sie kurz vorher gefangen hatte. Die am Ufer ruhenden Tiere stürzen sich schnell ins Wasser, so daß man sie für eine Scher- maus halten kann, und wühlen sich dann schnell im Schlamm ein. Ein alter Franzose versicherte, die Schildkröten wären dort früher viel häufiger vorgekommen, aber durch Froschschenkeljäger ge- zehntet worden. Alles spricht für dortiges natür- liches Vorkommen dieser Tierart, deren nächst- gelegenes verbürgtes, ganz isoliertes Fundgebiet Holländisch Limburg ist, während in Belgien und Nordfrankreich Emys seit früher Alluvialzeit fehlt und sie erst im Zentrum Frankreichs in der Land- schaft Brenne in den dortigen zahlreichen Ge- wässern wieder vorkommt. Die Angaben sind offenbar von Bedeutung für die Beurteilung von Schildkrötenvorkommnissen auch in Nordwest- deutschland. Eine genaue Kartenskizze ist der Mitteilung Schreitmüllers beigegeben. (Blätter für Aquarien und Terrarienkunde, Jahrgang 30, 191 9, Nr. 9.) V. Franz. Blausäure im Kampf gegen den Traubenwickler. Die ersten Vorversuche über die Anwendung von Blausäure gegen den Heu- und Sauerwurm, die auch an dieser Stelle besprochen wurden, fanden im Frühjahr 19 17 durch Dr. F. Stellwaag in den Versuchsfeldern der bayr. Versuchsanstalt für Wein- und Obstbau in Neustadt a. H. statt. Sie lauteten einmal dahin, daß das bisher in Amerika und anderen Ländern gebräuchliche Verfahren, die Pflanzen im belaubten Zustand zu vergasen, bei den Reben an den grünen Pflanzenteilen, selbst bei Anwendung geringer Gasmengen, Schädigungen hervorruft, ohne die Ablötung des Schädhngs sicher zu gewährleisten. Demgegenüber ergab sich, daß im unbelaubten Zustand der Rebstock höhere Blausäuremengen verträgt und daß auf diese Weise die Winterpuppen unter der Rinde zum Absterben gebracht werden konnten. Auf diesen Ergebnissen aufbauend, hat die Neustadter Versuchsanstalt unter der Leitung Stellwaags und unter Mitwirkung des Institutes für physikalische Chemie und Elektrochemie eine Reihe von Versuchen für das Jahr 1918 aufge- stellt, die der politischen Verhältnisse wegen leider nicht nach ihrem ganzen Programm durchgeführt werden konnten, "^j Der erste Versuch galt einer Vergasung im freien Wein berggelä nde ohne Bedeckung, nach Art von Gasangriffen ') Zusamtnenfassender Bericht über Versuche zur Bekämp- fung der Traubenwickler mit Blausäure von Dr. Friedr. Stellwaag. Neustadt a. H. 1919. im Felde. Dieser Versuch war ergebnislos, da es nicht gelang, eine Wirkung der Blausäure dicht über dem Erdboden, d. h. in der Höhe des alten Rebholzes, in dem die Puppen sitzen, zu erreichen. Infolge der Reaktionswärme steigen die Gas- schwaden rasch bis zu 2 m in die Höhe. Auch die Vergasung im freien Gelände mit Bedeckung bewährte sich nicht restlos. Zu diesem Zwecke wurde ein einfaches Gerüst auf- geschlagen und mit einem gasdichten Stoff über- deckt, gleich dem Zelttuch bewährte sich dafür auch dichtes Papier, sog. Krepp-Packstoff. Die Versuche wurden einmal im Januar und Februar unternommen, also zu einer Zeit, wo die Atem- tätigkeit der Puppen stark herabgesetzt war und dann im März und April, als die Puppen allmäh- lich aus ihrem Ruhezustand erwachten und sich zum Ausschlüpfen anschickten. Am besten erwies sich für die Überdachung die Zweizeilenbehand- lung. Aber die Erfolge ließen häufig zu wünschen übrig, so daß S t e 1 1 w a a g zu dem Schlüsse kommt, daß „die Verwendung von gasförmiger Blausäure zu umständlich, zu kostspielig und zu wenig zu- verlässig" ist. Auch Spritzversuche mit wässeriger Blausäurelösung im Sommer nach dem Vorschlag Dr. Finklers bewährten sich nicht, da eben selbst die niedrigsten Blausäure- konzentrationen die grünen Rebteile verbrennen. Weitere Versuche galten der Verwendung von Abkömmlingen der Blausäure nach dem Vorschlag von Dr. Em de. Es wurden da- bei Spritzversuche mit gleichartigen Brühen ge- macht, die ohne fremde Zusätze auf den Reb- stöcken bis zu 24 Stunden Blausäure entwickelten. „Wie beim Finkl ersehen Verfahren traten aber Verbrennungen der Reben ein, selbst bei solchen Konzentrationen, bei denen die Würmer am Leben blieben. Diese Schädigungen rührten offenbar von der gasförmigen Blausäure her, die sich aus den Spritzbrühen entwickelte, weitere schädigende Bestandteile schienen die Emd eschen Brühen nicht zu enthalten. Das Verfahren erwies sich somit für den Sommerversuch vorerst zwar nicht geeignet, scheint aber für Winterversuche aussichts- reich." Stellwaag stellt daher eine eingehende Prüfung in Aussicht. Das Verfahren hätte vor allem den Vorteil, daß Lösungen zur Anwendung kommen, mit denen der Winzer ohne besondere Gefahr umgehen kann. Sehr günstige Erfolge lieferten bisher die winterlichen Spritzver- suche mit wässeriger Blausäurelösung. Stellwaag machte seine Versuche mit Konzen- trationen von 37 "/„ bis herunter zu ^2 %• ^^' von kamen für die Praxis, abgesehen davon, daß die Konzentrationen von 37—9 "/o die Knospen an den Rebstöcken vernichten, unter die niederen Konzentrationan von 3 % und darunter in Frage. Die behandelten Rebstöcke wurden sofort nach der Bespritzung mit Drahtgazehäuschen überdeckt, deren IVIaschen so eng waren, daß keine Motten hindurch kommen konnten. Wenn also in einem solchen Käfig Motten aus den Puppen ausschlüpfen, 502 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVin. Nr. 35 so müssen sie in diesem alle Eier ablegen und Stellwaag konnte aus den vorhandenen Wür- mern einen Maßstab für die Stärke des Befalls gewinnen. Die Erfolge waren sehr günstige, noch bei der Anwendung von nur V2 proz. Lösungen hatte das freiwerdende Gas die Puppen bis zu 100% abgetötet. Die Stell waag sehen Unter- suchungen stellen somit in der Traubenwickler- bekämpfung einen guten Schritt vorwärts dar. Und nicht nur bei der Bekämpfung des Trauben- wicklers, auch bei einer Reihe anderer Schädlinge wird sich das Mittel sicherlich mit gutem Erfolge anwenden lassen. Im Kampfe gegen die Schäd- linge im Obstbau , vor allem gegen Schildläuse und holzbewohnende Insekten , wie Borkenkäfer, Bohrraupen usw., endlich auch gegen Insekten im verarbeiteten Holze haben wir in der wässerigen Blausäure ein Mittel zur Hand, das zu den schön- sten Hoffnungen berechtigt. H. W. Frickhinger. Geologie. In einem kleineren , dem ,, Basalt- tuffmaar am Rauberbrunnen" gewidmeten Aufsätze (Jahreßber. u. Mitt. des Oberrhein. Geol. Vereins, Jahrg. 1919, S. 37 — 57) wirft M. Bräuhäuser eine Reihe von bemerkenswerten Fragen auf, die nicht nur die Geologie dieses Tuffvorkommens betreffen, sondern sich auch auf weite Teile der schwäbischen Alb wie ihres Vorlandes beziehen. Das genannte Tuffmaar liegt am Steilrande der Schwäbischen Alb, im Teck-Neuffengau. Die stark wirksame Erosion hat große Teile der Tuffaus- füllung des Explosionskraters und seiner aus Malmkalken bestehenden Randgesteine zum Opfer gefordert. Sie hat dadurch den senkrechten Auf- bau des Schlotes besser enthüllt, der in seinen unteren Teilen eine grünliche, massige Tuft'breccie enthält, die nach oben von einem wohlgeschich- teten Tuff abgelöst wird, in dem sich Einschlüsse jener Tuffbreccie aus der Tiefe finden. Der geschichtete Tuff läßt ein deutliches Ein- fallen nach der Mitte des Schlotes zu erkennen. Seine Entstehung ist schon früher lebhaft be- sprochen worden, zumal auch andere Explosions- schlote, wie das Randecker Maar, ähnliche Ver- hältnisse zeigen. Während z. B. Branco diese Beobachtungen durch wiederholte Ausbrüche an derselben Stelle erklärt, kommt Bräuhäuser zu dem Schlüsse, daß der geschichtete Tuff eine unter Mitwirkung des Wassers erfolgte Bildung am Grunde des Maars darstellt. In den engen Schlund des Kraters sind Teile der randlichen Fels- und Auswurfmassen hineingestürzt und haben sich in dem Kratersee nach Art steiler Schutt- hänge mit nach der Mitte gerichtetem Einfallen abgelagert. So erklärt sich ungezwungen das Auftreten von eckigen Malmkalken und Brocken der Tuftbreccie aus dem jetzt noch in der Tiefe anstehenden Material. War diese Deutung richtig, so war das Vor- handensein noch weiterer, möglicherweise fossil- führender Gesteine im Grunde des ehemaligen Maares wahrscheinlich. Daraufhin angestellte Gra- bungen führten zu vollem Erfolg; es fanden sich spätige, braune, z. T. fein gefältelte Schichtgesteine, in denen neben Schnecken auch weiße, kleine Knochen gefunden wurden, deren paläontologische Bearbeitung noch nicht abgeschlossen ist. Die P'ältelung des schiefrigen Gesteins erklärt sich aus unterseeischer Gleitung infolge Druckentlastung bei Änderung des Wasserstandes. Die petrogra- phische Untersuchung des Gesteins deutet hin auf einen Absatz aus mineralischen Wässern ; solche Wässer als Nachwirkungen vulkanischer Ereignisse sind ja noch heute in größerer oder kleinerer Entfernung von der Alb durchaus nicht selten. Ein weiterer Teil der Bräuh äuserschen Arbeit beschäftigt sich mit den fremden Ein- schlüssen des Tuffes. Besonders wichtig ist zu- nächst die Feststellung, daß echte Buntsandstein- stückchen vorkommen, daß also der Buntsandstein im Untergrund der Alb noch vorhanden sein muß. Eingehender wird das Auftreten leicht gebrannter Brocken von Bohnerzton besprochen. Sie erweisen das Vorkommen prämiozäner Bohnerzlager auch in der Umgebung des Rauberbrunnenmaares. Die Bildungsweise dieser Bohnerzlager bietet der Deutung manche Schwierigkeiten. Die Ge- steine des Weißjura sind derartig reine Kalksteine, daß die Bohnerze und die mit ihnen entstehungs- geschichtlich verwandten Roterden unmöglich reine Verwitterungslagerstätten darstellen können, hervorgegangen aus den Überresten der chemisch nicht angreifbaren Beimengungen der Kalke. Dazu wäre eine zu bedeutende Mächtigkeit von Kalken zu errechnen, für deren früheres Vorhandensein keinerlei Anhaltspunkte vorliegen. Für die in miozäner Zeit und später gebildeten Roterden ist eine Entstehung unter Teilnahme auf der Alb weithin zum Absatz gelangter vulkanischer Aschen denkbar, ähnlich wie von Galdieri die Ent- stehung der süditalienischen terra rossa auf vul- kanische Einwehungen zurückgeführt wird. Für die eozäne Hauptmasse der Bohnerze hingegen kommen andere Ursachen in Frage. Die Ver- breitung von Mineralstaub und Feinsand in vielen Spaltenlehmen und Kluftausfüllungen der Hochalb wird auf Windablagerung zurückzuführen sein. Ihre Herkunft nahmen diese Gesteine von der tertiären Meeresküste an der Südalb, von wo sie in abnehmender Korngröße weit nach Norden ge- tragen wurden. In diesen Ablagerungen wird man die Muttergesteine der Roterden vermuten dürfen. Vielleicht hat für die Roterdebildung auch von den Alpen her nach Norden ver- frachtetes Schottermaterial Bedeutung gehabt. Diese Möglichkeit eröffnet sich, seitdem man in hochgelegenen Schottern bei Ulm alpine Radio- larienhornsteine fand, die von Roterde bedeckt sind. Es lassen sich somit an das Auftreten der Bohnerze in den Tuffschloten weitreichende Be- trachtungen knüpfen über die Entstehung dieser N. F. XVIII. Nr. 35 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 503 Erze und der Roterde wie überhaupt über die geologische Geschichte der Alb, seitdem sie in vortertiärer Zeit zum letztenmal vom Meere über- flutet gewesen ist. W. Kegel. Das Vorkommen von Eisenerzen in Ost -Hol- land behandelt de Jongh im „De Ingenieur" Ö918). In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts bis in die letzte Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden an den Flüssen Alte Yssel, Schip-Bach, Harfsensche und Wordensche Bäche, Berkel, Regge, Beiler im Osten Hollands und in der Gegend von Ter Apel Raseneisenerze gewonnen. Früher gewann man in einigen Hochöfen am Geldernschen Issel, am alten Ipsel daraus Metall. Die Raseneisenerze kommen in der Nähe der Oberfläche vor. Fast alle sind abgebaut (Gronin- gen, Varripsel, Gelderland). Vorhanden sind sie noch in Nord-Brabant und in Drenthe. Das Erz kommt in verstreuten kleinen Flächen vor, in einer Tiefe von 20 — 50 cm, 25 — 60 cm mächtig. Man brachte das feine, pulverige Eisenerz in den Handel. In den Gasfabriken Deutschlands, Englands, der Vereinigten Staaten wurde es zum Reinigen des Leuchtgases verwandt. Nicht alluviale Sphärosiderite werden in i — 4 m Tiefe in Lagern, die mit dunkelgrauen Tonen ab- wechseln, bei Losser längs der Dinkel und dem Glanerbach gefunden. Die Analyse ergab: 33,6 «/o Fe 0,2 «/„ Mg 0,6 o/o P. Sie gleichen den deutschen Eisenerzen bei Bentheim, Ochtrup, Gronau, Alstätte, Ottenstein. Die Erze, die der unteren Kreide angehören, haben denselben Eisengehalt wie die Eisenspate des Singerlandes. Sie enthalten wenig Mangan, aber größere Rückstände. Der Schwefelgehalt ist ge- ring. Phosphorgehalt läßt sie zur Verwertung im Thomasprozeß zu. Rudolf Hundt. Meteorologie. Die nächtliche Abkühlung der untersten staubbeladenen Luftschichten. Als Ur- sache der nach Sonnenuntergang eintretenden Abkühlung der untersten Luftschichten nahm man bisher vorwiegend den sich fortgesetzt ausgleichen- den und durch Strahlung des Bodens wieder er- neuernden Temperaturunterschied zwischen Erd- boden und Luft an. Es ist jedoch nicht recht klar, wie dieser Ausgleich zu denken ist. Wärme- leitung kommt wegen ihrer geringen Geschwindig- keit in Luft für meterdicke Schichten während des Zeitraums einer Nacht nicht merklich in Frage. Aber auch die Konvektion kann bei horizontaler Erdoberfläche kaum wesentliche Beiträge liefern. Da ja die Abkühlung von unten her erfolgt, ruft sie eine außerordentlich stabile Schichtung der Atmosphäre hervor, die jeden vertikalen Luftaus- tausch verhindert. ^) Auch eine reine Strahlung der atmosphärischen Luft gegen den Boden kommt nicht in Frage, denn es müßte dann die Abküh- lung mit dem Wasserdampfgehalt der Luft zu- nehmen.-) Beobachtungen in Tiflis und Krems- münster haben aber gerade die umgekehrte Ab- hängigkeit ergeben. R. Emden hat nun die Ansicht geäußert, ') daß die Staubteilchen, die in der Luft schweben, wohl einen merklichen Einfluß auf die Strahlung haben mögen. A. Defant (Ann. Hydrogr. usw. 47, 93, 1919) hat darauf- hin den Einfluß der in der Luft enthaltenen Staub- teilchen rechnerisch untersucht und dabei die von Aitken, Fowle und anderen experimentell be- stimmten Werte für die Verteilung des Staub- gehaltes der Atmosphäre zugrunde gelegt. Das Ergebnis ist folgendes: Die nächtliche Abkühlung der untersten Luftschichten ist tatsächlich zum großen Teil auf die Ausstrahlung der Staubteilchen zurückzuführen. Die dem Boden am nächsten gelegenen Schichten, welche die meisten und gröbsten Teilchen enthalten, kühlen sich schneller ab als die höheren mit weniger und feinerem Staub, so daß also die Vorbedingungen für die rasche Ausbildung einer Temperaturinversion ge- geben sind. Die Ausstrahlung erfolgt gegen den Himmelsraum zu einem wesentlich (etwa dreimal) größeren Teil als gegen den Erdboden. Da aber die Atmosphäre umso durchlässiger für Strahlung ist, je geringer der Wasserdampfgehalt, so muß die Abkühlung bei trockener Luft am stärksten sein , was mit der Erfahrung im Einklang steht, wie oben angedeutet wurde. Der Staubgehalt bewirkt überdies aber auch noch eine außerordentlich feine Konvektion, indem jedes Staubteilchen mit einer ebenfalls abgekühlten, sehr kleinen Lufthülle jetzt schwerer als die Um- gebung wird und deshalb absinkt. Auch dadurch wird der Abkühlungsprozeß beschleunigt. Diese Bewegung führt zugleich dem Erdboden einen bedeutenden Anteil des Staubes wieder zu, der durch die Konvektion, welche die Erwärmung am Tage verursacht hat, in die höheren Luftschichten emporgehoben worden ist. So ist also hiermit auch ein Einblick in die Regulierung des Staub- gehaltes der Atmosphäre gegeben. Scholich. ■) G. Hellmann, Sitz.-Ber. d. Berl. Akad. 38, 806, 1918. — Siehe Ref. „Naturw. Wochenschr." N. F. XVIII, 83, 1919. 2) A. Defant, Sitz.-Ber. d. Wien. Akad. 125, 1537, iqi6. ') R. Emden, Sitz.-Ber. d. bayer. Akad. 1913, S. 55. Bücherbesprechungen. Wundt, Max, Griechische Weltanschau- ung. 2. Auflage 1917. Leipzig und Berlin, bei B. G. Teubner (Aus Natur und Geisteswelt, 329. Bändchen). 504 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 35 Die gehaltvollen Bändchen des Teubnerschen Verlages, die sich wohl in jeder Bibliothek einen Platz gesichert haben , bedürfen kaum einer be- sonderen Empfehlung mehr. Von dem vorliegen- den dürfte für den Leserkreis dieser Zeitschrift besonders das erste Kapitel „Die Natur", wohl auch noch das zweite und dritte, ,,Gott" und „Der Mensch" von Interesse sein. Vielleicht reizt die hier gegebene, knappe und das Wesentliche betonende Übersicht der hauptsächlichen Gedanken- züge griechischen Forschungsgeistes manchen dazu, eine ausführlichere Darstellung desselben Stoffes zur Hand zu nehmen. Verlorene Mühe würde es nicht sein, denn schon aus der kurzen zusam- menfassenden Darstellung Wundts geht hervor, in wie hohem Maße das wunderbar begabte Volk uns Späteren „vorgedacht" hat. Weil nun das damals vorliegende Erfahrungsmaterial einfacher, übersichtlicher, nicht mit unendlichen Einzelheiten belastet war, gelangen die führenden geistigen Linien zu bestimmterer Ausprägung, so daß das Studium der griechischen Naturwissenschaft und Philosophie geeignet ist, uns auch über allgemeine Wege und Ziele des modernen verwickeiteren Be- triebes aufzuklären. Gleiches und Ähnliches gilt übrigens auch von anderen Gebieten menschlicher Tätigkeit. In diesem eigentümlich vorbildhaften Charakter des Griechentums liegt schon allein, von dem positiven Werte des von ihm Geleisteten ganz abgesehen, ein starkes Gegengewicht gegen alle Bestrebungen , die ein immer erneutes Ver- tiefen in den griechischen Kulturkreis als über- flüssig hinstellen möchten. Auch für den höheren Schul-, insbesondere den Gymnasialunterricht bleibt dies stets zu bedenken. Vielleicht ist ein solcher Hinweis gerade in einer naturwissenschaftlichen Zeitschrift nicht unangebracht. V. Wasielewski. Aus großen Meistern der Naturwissenschaften. Verlag von Joh. Ambros. Barth, Leipzig. Nr. 8, 9/IO, 13, i6. Dies neue Unternehmen des Barthschen Ver- lages verdient warm begrüßt zu werden und kann vielseitiger Teilnahme sicher sein. Aus den vor- liegenden Proben ist naturgemäß noch nicht er- sichtlich, in welchem Sinne die Sammlung aus- gebaut werden wird. Daß sie aber bei geschickter und sachkundiger Auswahl und Fortführung außer- ordentlich anregend wirken und eine entschiedene Lücke ausfüllen kann, ist nicht zu bezweifeln. Immer mehr wird der Übelstand empfunden, daß der einzelne kaum mehr der engeren Fachliteratur gerecht zu werden vermag, geschweige daß er darüber hinaus Werke auch nur in die Hand be- kommt, von denen doch so manches auch ihm wertvoll sein dürfte. Hier findet man nun größere Abschnitte, auch kurze vollständige Abhandlungen, die z. T. in Gesamtausgaben ein wenig gekanntes Dasein führen, anregend, billig, wie dazu gemacht, in einer sonst müßigen Stunde, auf einer Eisen- bahnfahrt oder wo immer sonst, Geist und Be- lehrung zu spenden. Da auf den Innenumschlägen das betr. Gesamtwerk oder verwandte Schriften angezeigt sind, erhält der Leser bequemen Nach- weis, wo er einer etwa gewonnenen Anregung weiter nachgehen kann. Besonders erwünscht für die Fortführung dürften einerseits weniger bekannte Abhandlungen oder Teile derselben sein, wie Nr. 2 oder i6, sodann aber auch Mitteilungen biographischer Art, wie Nr. I, 9/10 12. Wir wünschen dem Unternehmen recht belesene, einsichtige Fortsetzer von weitem Gesichtskreis. Es kann hier wirklich etwas sehr Nützliches ge- schaffen werden. Zum Schlüsse eine Frage: warum „große" Meister? Ist Meister schlechtweg nicht genug? Wird es allen den lebenden Naturforschern, von deren Arbeiten Proben mitgeteilt werden, auch nur angenehm sein, neben Männern wie Liebig oder Fechner gleichfalls als große Meister vor- geführt zu werden? Und, ohne irgend jemand zu nahe treten zu wollen — die bisherige Namen- liste läßt tatsächlich einen weniger geräuschvollen Titel rätlich erscheinen. v. Wasielewski. Literatur. Welten, Dr. H. , Pfl.inzenkrankheiten. Mit 2 bunten und 3 schwarzen Tafeln und 76 Textabbildungen. Leipzig, Ph. Reklam. z M. Fraenkel, Dr. Ad., Einleitung in die Mengenlehre. Eine gemeinverständliche Einführung in das Reich der unend- lichen GrölSen. Mit 10 Textabb. Berlin 19 19, J. Springer. 10 M. Eichwald, Dr. E. und Fodor, Dr. A., Die physika- lisch-chemischen Grundlagen der Biologie. Mit einer Einfüh- rung in die Grundbegriffe der höheren Mathematik. Mit II9 Abbild, und 2 Tafeln. Berlin 1919, J. Springer. 42 M. Das Pflanzenrjeich. 68. Heft; Euphorbiaceae (IV. 147. IX. — XIV.) von F. Pax und K. Hoffmann. Daphnipbylla- ceae von K. Rosen thal. 32 M. 69. Heft: Saxifragaceae-Saxifraga II (IV. 117. II) von A. Engler und E. Irmscher. Pars generalis von A. Eng- ler. 40 M. Leipzig 1919, W. Engelmann. Dessoir, M., Vom Jenseits der Seele. 3. Aufl. Stutt- gart 1919, F. Enke. 15 M. Inhalt: Victor Engelhardt, Meteorologische Mythen als Uranfänge der Naturbetrachtung. S. 4S9. Walther Penck, Aufgaben der Geologie in der Türkei und ihre Förderung während des Krieges. S. 493. — Einzelberichte: Kopsch, Entstehung des Karzinoms. S. 498. Klalt, Beeinfluiäbarkeit der Erbanlagen durch den Körper. S. 500. W. Schreit- niüUer, Ein Vorkommen der Sumpfschildkröte in Nordfrankreich. S. 500, F. Stellwaag, Blausäure im Kampf gegen den Traubenwickler. S. 501. M. Bräuhäuser, Basalttuffmaar am Rauberbrunnen. S. 502. de Jongh, Das Vorkommen von Eisenerzen in Ost-Holland. S. 503. A. D e f a n t , Die nächtliche Abkühlung der untersten staubbeladenen Luftschichten. S. 503. — Bücherbesprechungen: Max Wundt, Griechische Weltanschauung. S. 503. Aus großen Meistern der Naturwissenschaften. S. 504. — Literatur: Liste. S. 504. Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstraße 41, erbeten. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. ra. b. H., Naumburg a. d. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue Folge i8. Band; der ganzen Reihe 34. Band. Sonntag, den 7. September 1919. Nummer 36. Der Pfeffermilcliling Lactarius piperatus Scop. und seine Verwendung in Westpreußen. Von Dr. Paul Dahms in Zoppot a. d. Ostsee. Pfeffermilchling, Pfefferschwamm, Pfefferreißer, weißer Pfeffer oder Pfifferling, — bitterer Täub- ling, Bitterschwamm , bitterer Kaiserling, Bitter- ling, ') — Säuerling — und auf dem Zoppoter Markt (Ende August 1918) sogar Süßling. Von diesen deutschen Bezeichnungen sind nur die be- merkenswert, welche auf seinen pfefferigen oder den von diesem verdeckten bitteren Geschmack bezugnehmen. „Säuerling" ist wohl nur durch einen Irrtum entstanden, wie man im Volke viel- fach bitter und sauer miteinander verwechselt, während man unter „Süßling" eine Marke zu er- kennen hat, um unentschlossene Marktbesucher zum Einkaufe zu veranlassen. Bei seinen hervortretenden Eigenschaften ist er für den Ciiemiker ein bemerkenswerter Gegen- stand geworden; bis zum Jahre 1907 haben nicht weniger als 15 von ihnen den Pilz untersucht. Der an Pfeffer erinnernde Geschmack hat seinen Sitz in dem weißen Safte, dessen Zusammen- setzung freilich noch sehr unvollständig bekannt ist, da in jedem Pilz von mittlerer Größe höchstens 14 bis 15 Tropfen von ihm enthalten sind und seine Gewinnung außerdem Schwierigkeiten macht. Er fließt freiwillig aus, wenn frische Pilze zer- brochen oder zerschnitten werden, besonders dort, wo die Lamellen am Hutfleisch ansitzen. Ihn durch Auspressen der Pilze zu gewinnen, ist aus- geschlossen, da sich ihm sonst noch der übrige Saft beimengen würde. Boudier, der ihn zuerst untersuchte, sieht ihn als eine eiweißartige Flüssig- keit an, in welcher Harze von fester und flüssiger Beschaffenheit in feinster Verteilung schweben; die Schärfe des Saftes soll mit dieser in Beziehung stehen und zwar derart, daß der feineren Ver- teilung die größere Schärfe entspricht. So ist der Saft der Pilze Ladariits controva-sus Pers. und L. pliiiiibciis Bull, bei einer Größe der Harz- kügelchen von 0,1 f.i Durchmesser sehr scharf, der von L. deliciosiis L. und L. serifluus DC. bei 0,2 /t oder mehr Größe nur wenig oder nicht mehr scharf. Für diese Beobachtungen aus dem Jahre 1867 finden wir eine wissenschaftliche Erklärung durch die Arbeiten der letzten Zeit auf dem Ge- biete der Kolloidchemie, nach denen feine Disper- sionen innerhalb des Größebereichs von 0,1 i^i bis I /t,H ihre physikalischen, chemischen und medi- zinischen Wirkungen zu einem Maximalwert an- wachsen lassen können. Das kleinere der eben genannten Maße für den Durchmesser der Harz- [Nachdruck verboten. 1 Der erste Pilz, der alljährlich in unsern Laub- wäldern scharenweise auftritt, ist der Pfeffermilch- ling; wie mit einem Schlage taucht er plötzlich aus dem Waldboden hervor. Selbst der Wanderer, der wenig geübt ist, diesen nach Pilzen abzusuchen, wird ihn bald gewahr, trotzdem der Milchling mit seinem vertieften Hute einen Teil des abge- fallenen Laubwerks der letzten Jahre emporhebt und deshalb kaum mit seiner weißen Farbe leuchtet. Eifrige Pilzsammler haben ihn nämlich bereits wahrgenommen und sich durch Kosten von seiner Verwendbarkeit zu Kochzwecken über- zeugen wollen. Der Befund war für sie nicht günstig, sie entdeckten den charakteristischen Ge- schmack, der sich mit der Zeit auf der Zunge immer mehr verstärkte, sie verurteilten den Pilz als schädlich oder giftig und rächten sich an ihm für den gespielten Streich dadurch, daß sie ihn zerschlugen, soweit sie seiner habhaft werden konnten, vielleicht auch, um ihre Mitmenschen vor ihm zu bewahren. Stellen mit gewaltsam zerstörten Pfeffermilchlingen findet man in jedem Jahre kurz nach seinem ersten Auftauchen. Als Zeit für sein Gedeihen werden die Monate Juli bis Oktober angegeben. In den Wäldern um Zoppot kommt er Ende Juli oder anfangs August hervor und verschwindet erst mit dem Einsetzen von kräftigem Frost. In dem lauen Winter 1917/18 erschienen bis dicht vor Weihnachten aus dem Boden inimer neue Stücke, die man als Modell- exemplare bezeichnen konnte, da sie ohne jeden Insektengang und ohne jede Spur von Raupen- fraß waren. War Schnee gefallen, so geriet der Pilz mit seiner Wachstumsperiode ins Stocken, sobald er forttaute, nahm sie wieder ihren Fort- gang; andere Pilzarten neben ihm wurden so spät nicht beobachtet, höchstens einmal ein mißfarbener und verkümmerter Täubling oder Knollenblätter- schwamm. — Mit Einsetzen des Frostes dicht vor Jahresschluß blieb schließlieh auch er fort. Der durch seine Größe und seinen charakte- ristischen Geschmack ausgezeichnete Pilz muß jedermann auffallen. Bereits Loesel (Loeselius) weiß, daß seine Benennung je nach der Ver- schiedenheit von Land und Leuten verschieden ist,') und Treichel zählt die Benennungen in den einzelnen Ländern Europas auf; ^) die be- merkenswertesten darunter, die auf den Geschmack des Pilzes hinweisen, sind im deutschen Gebiete: ') 3, S. 82. =) 14, S. 46, 47. ') 4, Bd. 3, S. 618, 619. 5ö6 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVni. Nr. 36 kügelchen liegt an der Grenze oder fällt vielleicht, infolge der rohen Messung, bereits in das Gebiet der Kolloide. An der Luft gerinnt der Milchsaft von selbst, rascher bei Einwirkung von Wärme und Alkohol. Als Bestandteil ist in ihm eine gummiartige Sub- stanz (Mycetid), eine Säure (Lakiarsäure), ein harziger Körper, das Piperon, welches dem Pilz den pfcffcranigen Geschmack verleiht, und außer- dem noch Albumin, Mannit und Bernsteinsäure gefunden worden. — Kobert sprach 1902 aus, daö der Gehalt aller Lactari/is-Ancn an brennend schmeckenden Harzen diese Pilze zur Nahrung ungeeignet mache, auch die für eßbar gehaltenen Arten, weil sie scharf sind und auf den Darm- kanal einwirken. ^) Daß Harze mit einem hohen Gehalt an ungesättigten Verbindungen, haupt- sächlich ungesättigten Harzsäuren hautreizende Eigenschaften besitzen können, ist für eine Reihe von Pflanzen bekannt, die sogar auf die Außen- haut des Menschen schädigend einwirken.-) Man wird deshalb auf jeden Fall gut tun, den Pfeffer- milchling vor dem Genuß abzuspülen und zu wässern, ein Verfahren, nach dem man in der Um- gegend von Danzig (Heubude) auch den in der Pilzliteratur als giftig und ungenießbar verrufenen Rotbraunen Reizker L. ni/iis Scop. für die Küche vorbereitet und den Harzgeschmack nach Mög- lichkeit entfernt. Über die Genießbarkeit und den Wert des Pfefifermilchlings als Speisepilz gehen die Meinungen weit auseinander. Fr. S. Bock erklärt ihn für eßbar, ^) A. Treichel sogar für wohlschmeckend und unschädlich ; *) letzterer führt ferner eine Zahl von Männern auf, welche bezeugen, daß der Pilz in verschiedenen Ländern gegessen wird. Wünsche bezeichnet ihn als verdächtig,''') während Michael auf den stark pfefferartigen Geschmack hinweist, ferner darauf, daß er als verdächtig bezeichnet wird, aber trotzdem ,,von Pilzliebhabern als pikante Zukost genommen werden" soll.") Nach Kauf- mann sind alle Pilze mit beißend schmeckender Milch giftig, wobei der Geschmack von Lact, pipcrafiis als äußerst beißend angegeben wird ; ') freilich berichten sogar Boballus und Micheli von Vergiftungserscheinungen nach dem Genuß dieses Pilzes, doch ist es in dem einen Falle nicht sicher, ob gerade er verzehrt war, im zweiten Falle handelte es sich um Leibschmerzen, die nach seinem übermäßigen Genuß auftraten. *) Nach Gramberg ist er dagegen in einzelnen Landes- teilen von Deutschland, Rußland, Frankreich, Italien und der Schweiz, besonders aber in Siebenbürgen, Rumänien und Serbien ein beliebter Speisepilz. '') •) 17, S, 175, 217. *) ^4; -25. ») 4, Bd. 3, S. 6iSj 619- *) 14, S. 46. '•) 9. S. 107. ») 18, Nr. 16. ■>■) 13, S. 218—220. ») Vgl. 14, S. 47. »J 20, S. 20. Als während der Kriegszeit die Lebensmittel knapp waren , tauchte er auch bei uns auf dem Wochenmarkte auf, zuerst als Füllmasse in zu- sammengestellten Pilzgerichten(Zoppot, Nov. 1917)- Sein Geschmack verschwand neben dem der anderen ; die einzelnen Stücke von ihm ließen sich unter den anderen des Gerichts kaum heraus- finden. Im Jahre 1918 wurde er bereits für sich allein als vollwertig zum Verkaufe angeboten; auf dem Danziger Markte verlangte man für i Pfund I M (14. Aug.), später in Langfuhr für die gleiche Gewichtsmenge 0,40 M (23. Aug.); ähnlich kostete I 1 in Zoppot Ende August zuerst 0,80 M, dann 0,60 M, darauf verschwand er, trotzdem man ihn unter der bereits erwähnten Bezeichnung „Süß- ling'' loszuschlagen suchte. Als Grund dafür, daß er im Laufe des Herbstes hinter den eigentlichen Speisepilzen zurücktrat und schließlich ganz verdrängt wurde, ist in erster Reihe wohl sein scharfer Geschmack, dann aber die Tatsache an- zuführen, daß er beim Kochen, der gebräuchlichsten Zubereitung der Pilze in unserer Gegend, äußerst derbfleischig, zähe und deshalb schwer verdaulich wird. Beschwerden, die sich nach seinem Genuß einstellen, werden dann auf die bekannte Eigen- tümlichkeit der Pilzmilch und die in ihr vermutete giftige Eigenschaft zurückgeführt. Die Pilzzellulose (Fungin, Metazellulose, Mycin) ist oft und mit den widersprechendsten Ergeb- nissen untersucht worden. Als es gelang, sie sorgfältig zu reinigen, ohne sie dabei zu verändern, fand man, daß sie gewöhnlich 4 %, im Minimum 2,6 \ Stickstoff enthält. Dieser Gehalt ist nach Spezies und Individuen derselben Art äußerst schwankend, bei einigen Arten bewegt er sich zwischen 0,24 und 3,89 "/q. Nach C. Tancred (1898) besteht Fungin aus einer Verbindung von Chitin mit einem Kohlehydrat, und spätere P"orscher konnten diese Angaben bestätigen. — Die Merri- brane der Bakterien bestehen nur aus Chitin, die höherer Pilze neben dem Zellstoff aus ihm oder einem ihm ungemein ähnlichen Körper. ') Die Chitosanreaktion nach Wisselingh zeigt das Vorhandensein von Chitin durch Rotvioleltiärbung an; von Vouk ist sie dadurch vereinfacht worden, daß man mit erhitzter, konzentrierter, gesättigter Kalilauge in einem offenen Gefäße arbeiten kann.-) P'ür frische Stücke von Ladarius pipcralus P e r s. hat die Analyse die folgenden Werte gefunden:^) Tabelle siehe S. 507 oben. Die Werte für die Rohfaser sind also recht bedeutend, besonders groß sind sie im derben Stiel, sie geben einen Begriff von der schweren Verdaulichkeit des Pilzes, besonders wenn man weiß, daß die Zellwände wegen ihrer besonderen chemischen und wohl auch mechanischen Be- schaffenheit nicht zerreißen. Das eingeschlossene Eiweiß bleibt deshalb der Einwirkung lösen- ') 17, S. 123—131. ■'] 23, S. 414- ") 17, S. 219. N. F. XVm. Nr. 36 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 507 Pilzteil Zahl der Analysen Wassergehalt des frischen Pilzes in % In Prozenten der Trockensubstanz Autor N-haltige Substanz Fett „ , N-treie Mannit , " Extraktiv- Rohfaser Zucker . „ Stoffe Asche Margewicz 11 Stiel Hut I I 91, iS 90,17 26,37 32,21 4,0 1 6,91 15.71 13.47 4.31 5.47 4.17 1 5.S1 38,86 30,30 5,27 7.13 der Flüssigkeiten entzogen. Die Widerstands- fähigkeit der Pilzzellulose zeigt sich auch dadurch, daß man nach dem Fortschmelzen des Schnees im Frühling ganze Exemplare des Milchlings in nur wenig veränderter Form auf dem Waldboden anzutreffen vermag; es ist das eine Eigentümlich- keit, die ich bei keinem andern unserer Wald- pilze zu beobachten vermochte. — Groß ist ferner die Menge der Pilzasche an Kaliverbindungen und Phosphorsäure, die bei der Bewertung des Pfeffer- milchlings zu seinen Gunsten spricht;') im Stiel ist sie geringer als im Hut, doch auch der Wert für Fett tritt in ihm erheblich zurück. Eine Aschen- analyse für Lacfarius piperafits lieferte nach B i s - sin ger die Werte: wenig brennend, dann süßlich fade, fast ekelhaft, verbunden mit sehr geringem Kratzen im Halse. Das Fleisch war zähe, hart und lederartig. — Diese Versuche hatten zwar keine tödlichen Folgen; sind aber eben nicht einladend zum Genuß einer Pilzart, welche zu Unverdaulichkeiten und anderen bösen Zufällen Anlaß geben kann." ') — In Sieben- bürgen, Rumänien und Serbien wird der Pilz dagegen nach I. Römer in Kronstadt von Hoch und Niedrig gern gegessen und häufig auf den Markt gebracht. Die gereinigten Pilze werden unzerteilt in vollem Michsaft mit Speckstreifen belegt, mit Salz bestreut und dann schnell auf einem Roste oder auf glühenden Kohlen gebraten; ihr Ge- schmack ist nach dieser Zubereitung angemessen K„0 ' Na,0 I CaO Fe.O, ■ Al.Oo Analyse selbst Auf 100 berechnet Auf den Mittelwert von 3 Analysen berechnet 50,33 6,79 0,70 42,26 S.70 0,59 2,71 0.36 0,04 4.04 3.39 0,22 MgO P2O5 SO3 SiOj Cl 1,26 30,40 4,78 3.68 1,19 1,06 25.52 4.01 3,09 I.— 0,07 1,64 0,26 0,20 0,06 C(_l„ und Verlust 15.93 13,38 0,86 119,10 IOC, — 6,42 Versuche, den Pilz durch Ankochen zur Speise vorzubereiten, hatten wenig günstigen Erfolg. Durch Fortgießen des Wassers entfernt man frei- lich den pfefferigen Geschmack, doch duftet er jetzt wenig angenehm nach Terpentin, nimmt eine graugrüne Farbe an und erhält einen bitteren Geschmack, der nicht zu beseitigen ist, gleich- giltig, ob man das Gericht durch Braten oder Kochen weiter verarbeitet. Außerdem ist der derbe Pilz jetzt lederartig und deshalb schwer verdaulich geworden. Der bittere und nachträg- lich fade Geschmack macht sich besonders unan- genehm bemerkbar und veranlaßt, daß die meisten Menschen nach den ersten Bissen eines derartigen Pilzgerichts den Löffel fortlegen. Im Herbste des verflossenen Jahres (1918) genoß eine Familie in Zoppot eine Suppe, die allein aus Ladariiis pipcratus Scop. bereitet war, wobei ihr bitterer Geschmack nach Möglichkeit durch Zusatz von Zucker verdeckt wurde. Die Suppe schmeckte den Eltern, den drei Kindern — bis zu 6 Jahren aufwärts — und dem Dienstmädchen vortrefflich und bekam auch allen gut. Nur der Ehemann, der mit seiner Verdauung nicht ganz in Ordnung war, erfuhr vorübergehend in dieser Hinsicht Störungen. Die am meisten bekannte Verar- beitungsmethode scheint für diesen Pilz die des Bratens zu sein; I. V. Krombholz berichtet über die physiologischen Ergebnisse bei dieser Behandlung 1843. Es wurde der Milchling '^[^ Stun- den gedämpft; danach war der Geschmack „ein ') 17, S. 4, 223, 227. bitter. ^) H. Bock (Hieronymus Tragus) führt bereits im Jahre 1552 an, daß arme Leute des Odenwaldes den Pilz auf glühenden Kohlen braten und, mit Salz bestreut, verzehren. ''') Ferner teilt mir Herr Oberlehrer Dr. A. Schmidt in Danzig mit, daß in der Gegend von Köslin Ar- beitsleute und Dienstboten auch jetzt noch diesen Milchling unter der Bezeichnung ,,Potruz" auf heißen Herdplatten oder im Backofen kurze Zeit der Einwirkung der Hitze aussetzen und dann recht warm genießen. Auch aus der Umgegend von Dirschau konnten Angaben über eine der- artige Zubereitungsart gesammelt werden ; leider war es unmöglich, etwas genaueres über sie in Erfahrung zu bringen. Um diese letztgenannte Zubereitungsart kennen zu lernen, legte ich einige vollständige Exemplare des Pilzes in ein Luftbad, das auf 120" C angeheizt war und eine Porzellan- schale enthielt, und ließ ihn 5 bis 10 Minuten darin. Die Stücke bräunten sich, wo sie auflagen, besonders schnell, Saft floß aus und sammelte sich in der Schale an ; er schmeckte salzig und erinnerte lebhaft in Duft und Geschmack an Maggi- Würze. Die Pilze selbst ließen sich leicht zwischen den Zähnen zerkleinern, erinnerten in ihrem Ge- schmack etwas an bittere Makronen und waren gut bekömmlich; besonders wenn man sie in den ausgeflossenen Saft tauchte, schienen sie ein an- genehmer Leckerbissen zu sein. Der bald auf- ') 7, S. 8. 2) 18, Bd. I, Nr. 39; 20, S. 20. »J 1, S. 940. So8' Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 36 tretende bittere und doch fade Nachgeschmack verhinderte freilich, daß man mehrere von ihnen zu sich nahm. — Bei dem plötzlichen Erhitzen sind wahrscheinlich die Zellwände durch ent- wickelte Wasserdämpfe zersprengt worden, ferner ballten sich wohl die Harzkügelchen des Milch- saftes zusammen und verloren dadurch ihre schäd- liche Einwirkung auf den Verdauungsapparat. Jedenfalls hat der kurz vorher erwähnte Herr, dem die Pilzsuppe nicht bekommen war, von der ge- rösteten Probe verzehrt, ohne irgend eine Störung zu erfahren. Eine weitere Angabe über die Zubereitung des Pfeffermichlings unter Anwendung von Braten verdanke ich der Liebenswürdigkeit von Fräulein M. Quiring in Danzig. Diese erfuhr von ihrer Schuhmacherfrau, der Pilz werde nach mehr- maligem Waschen und mehrstündigem Liegen in Wasser 20 bis 30 Minuten in Salzwasser gekocht, abgetropft, in Töpfe oder Schüsseln gelegt und mit abgekochtem und abgekühltem Essig — am liebsten Bieressig — soweit übergössen, daß er vollständig von ihm bedeckt ist. Die Gefäße werden Überbunden; ihr Inhalt bleibt dann monate- lang unverändert. Zur Zubereitung der Mahlzeit wird wenig Fett in die Pfanne gegeben und der Pilz schnell und scharf im eigenen Saft gebraten. Mit Kartoffeln serviert, hat das Gericht viel Beifall und den Geschmack von gedämpftem Kuheuter. Das Rezept wurde im vorigen Herbst von mehreren Familien angewendet, der Erfolg war so günstig, daß in Zukunft die Ernte des Pilzes in größerem Maße vorgenommen werden soll. Bei dem Trocknen des Milchlings in ganzen Stücken auf dem Wasserbade änderte er seine Farbe. Die weiße Farbe der Außenhaut wurde besonders an den Hüten gelblich, die Lamellen färbten sich braun, Schnittflächen durch das Fleisch dunkelbraun, fast schwarz. Dickere Schnitten durch den Stiel wurden steinhart und ließen sich mit den Zähnen kaum bewältigen, nach Einlegen in Wasser weichten sie in etwa 10 Minuten so- weit auf daß man eine Kostprobe mit ihnen an- stellen konnte; sie waren dann etwa so zähe wie Gummi und von einem ausgesprochenen bitteren Geschmack. Die Hüte ließen sich dagegen ohne Schwierigkeit verzehren; sie hatten einen Ge- schmack, der an den von scharf abgebackenen Brot- krusten erinnerte (Caramel), mit einer schwachen Nachtönung von Pfeffer. In den Zeiten der Brot- knappheit habe ich solche Stücke auf weiteren Spaziergängen mit mir geführt und sie verzehrt, ohne je üble Nachwirkung von ihnen zu verspüren. In kleineren Mengen kann man die Hüte dieses Milchlings für einen derartigen Genuß leicht in jedem Haushalte zubereiten; man legt sie in den umgekehrten Deckel eines im Gebrauch befind- lichen Wasserkessels, bis sie vollkommen getrocknet sind; sie halten sich unbegrenzt. Nach Hans Sehn egg (Unsere Speisepilze; München 191 8, S. 64) wird der getrocknete Pilz zu Mehl ver- mählen und als Gewürz verwendet. Solange von dem Milchreizker als Speisepilz in Deutschland die Rede ist, wird meist hervor- gehoben, daß er kaum oder wenig zur Speise geeignet sei und nur von armen Leuten gesammelt werde. Die Schwerverdaulichkeit der dichten Stiel- masse und der pfefferige Geschmack schrecken freilich zuerst vom Genuß ab, ebenso der bittere, wenn man die Milch durch Waschen entfernt hat. Als Material zur Vermehrung der Pilzmenge für die Herstellung von Gerichten ist er jedenfalls nicht zu verachten, besonders wenn man sich da- rauf beschränkt, nur die Hüte zu verwenden. An den Geschmack könnte man sich vielleicht gewöhnen, jedenfalls hat man es in der Hand, ihn bei gleichzeitiger Zubereitung des Milchlings mit anderen Pilzen soweit abzutönen und abzuändern, daß er seine Unannehmlichkeiten verliert. Schließlich ist noch die Verwendung des Pilzes aufzuführen, von der im Marienburger Treßlerbuch die Rede ist. Dort heißt es an einer Stelle aus dem Herbst 1399: „9 ferto') deme meister waßer zu bornen von den weyssen pfif- ferlynge"^) und vom 22. Januar 1401: „item 2m. vor 8 grosze glase vor 36 stofen, do man dem meister das wasser inne heldet von den pfif ferlinge, und 8 scot, dy glas US der glasehutten zu brengen, und zerunge. ^)" Es handelt sich hierbei um ein durch Destillation für den Hochmeister ge- wonnenes Produkt, über das weitere Angaben nicht gemacht sind. Wie ein Vergleich der ver- schiedenen Pilze, deren Bezeichnung mit dem Worte Pfeffer zusammenhängt, und eine Zusammenstellung aller weißen Lac/an'i^s- Arten, also der nächsten Verwandten des Pfeffermilchlings, zeigt, kann es sich bei den angeführten beiden Stellen nur um Lac/, pipcratus S c o p. handeln ; diese Feststellung ist bereits von A. Treichel gemacht worden.') — Der alte Culmische Stof (Staufe) enthielt nach der Berechnung von Langhausen 72^3 Pariser Kubikzoll;**) wird i Pariser Fuß mit 0,32484 m ange- setzt, so hat jenes alte Maß den Inhalt von 1,436 1. Um genauere Kenntnis von der so erhaltenen Flüssigkeit zu gewinnen, wurde eine größere Menge des Pfeffermilchlings mit Wasser angesetzt und der Destillation unterworfen. Bei 100" C ging eine schwach nach Pilzen duftende, zuerst wasser- klare, geschmacklose Flüssigkeit über; wurde der Kolbeninhalt bis zum schwachen Sieden erhitzt, so sammelte sich in der Vorlage ein schwach opalisierendes Destillat an. Dieses hatte ein aus- gesprochenes Aroma nach Pilzen, das daneben einerseits an Birnen, andererseits — aber ent- fernter — an Trimethylamin erinnerte. Auch der Geschmack war schwach nach Pilzen, der Nach- ') 1 Mark (m.) = 4 Firdung (ferto) = 24 Skot (sc.) ist für die Zeit von 1393—1407 nach Voßberg gleich 13 M., für 1407 — 1410 gleich 12,30 M. 2) 12, S. 36, Z. 2, 3. ») 12, S. 98, Z. 8—10. *) 14, S. 46, 47. s) 4, Bd. I, S, 688. N. F. XVIII. Nr. 36 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 509 geschmack bittergallig, zuletzt pfefiferartig. Er und die zarte Trübung des erhaltenen Destillats stamm- ten wahrscheinlich von mitgerissenen Teilchen des Kolbeninhaltes her; eine weitere Untersuchung er- folgte nicht, weil sie nicht von Bedeutung ist und man sich die Destillationen in früheren Zeiten nur in roher Weise ausgeführt denken muß. Eine Angabe, wer das Wasser aus dem Pfeffer- milchling für den Hofmeister gebrannt hat, ist nicht gemacht, daraus scheint hervorzugehen, daß es im Ordensschlosse selbst gewonnen wurde, wo Meister Bartholomaeus eine „alchemya" hatte.') Darunter hat man einen Arbeitsraum zu verstehen, in welchem man heilende und veredelnde Kräfte aus verschiedenen Naturkörpern zu gewinnen suchte, vor allem den Stein der Weisen : Man versuchte verschiedene Mittel, um geringere Me- talle in Gold oder Silber zu verwandeln. Das, was zu ihrem Auffärben (Tingieren) benutzt werden konnte, war dieser Stein der Weisen; er konnte unedle, d. h. kranke Metalle zu edlen, d. h. ge- sunden, machen; der gleichen Auffassung folgend, sollte er auch Menschen verjüngen und sie von ihren körperlichen Leiden befreien können; auch gegen Armut sollte er helfen. Die geheimnisvolle Kraft der wertvollen Sub- stanz lockte manchen Arzt des Mittelalters zu alchemistischen Studien und Versuchen, und nicht die schlechtesten. '^) Die Religion verhielt sich nicht ablehnend gegen die Lehren dieser Wissen- schaft, vielmehr trat sie später mit ihr in innige Verbindung, so daß die Darstellung des Steins der Weisen als Vorbedingung für das zukünftige Leben angesehen werden konnte. ■^) In den Apotheken der damaligen Zeit fand man nicht nur Rohstoffe aus den 3 Naturreichen für den ärztlichen Gebrauch, sondern auch die verschiedensten andern, urwüchsig und zum Ge- nuß zubereitet. Deshalb suchte man sich, wie bis in spätere Jahrhunderte hinein, die erforderlichen Arzeneien selbst zu beschaffen. Dazu war es oft, nicht ohne Anwendung großer Kosten, notwendig, sie sich aus fernen Gegenden kommen zu lassen. Nur F"ürsten und sehr reiche Ärzte waren dazu imstande; die ersteren schickten einander deshalb Rezepte und Heilmittel zu, die sie an sich oder an bekannten Personen als wirksam kennen ge- lernt hatten, anderseits versuchten sie selbst oder durch andere Personen in ihren Laboratorien aus zugesandten Stoffen, oder solchen, die im eigenen Lande gefunden und wegen ihrer Heilkraft be- rühmt waren, Medikamente herzustellen. Für ') 19, S. 4, Z. 35, 36. — Während der Drucklegung dieses Aufsatzes erschien die Arbeit von G. C u n y , die beiden Preußen- fahrten Herzog Heinrichs des Reichen von Bayern und Bartho- lomäus Boreschau (Zeitschrift des Westpr. Geschichtsvereins, Heft 59; Danzig iqig, S. 135 — 161). Nach ihr handelt es sich bei Meister Bartholomäus um den Generalviliar des Bischofs von Ermland, Heinrich IV. von Vogelsang. ,, Neben der geistlichen Würde zeichnete ihn seine ärztliche Kunst, deren akademische Grade er in Padtia erworben hatte, besonders aus" (S. 145)- ■'} 21, S. 80. 3) 16, S. 103. Preußen kamen im späteren Mittelalter als der- artige berühmte Landesprodukte in Betracht: die Hufe (sog. Klauen) des Elchs, Bibergeil und Bern- stein, besonders solcher von weißer Farbe. ') Magister Bartholomaeus versuchte nun aus den Pfeffermilchlingen ein derartiges Präparat her- zustellen. Es darf nicht in Erstaunen setzen, daß er als Arzt sich mit derartigen Arbeiten befaßte, um so weniger als damals die Arzte vielfach Apotheken besaßen; es geschah das einmal der erhöhten Einnahmen wegen, dann aber auch, um der richtigen Herstellung der Arzeneien sicher zu sein. Bewiesen wird diese zweifache Beschäftigung durch die in Beleihungsurkunden von Apotheken vorkommende Bezeichnung „magister" oder „Meister", die man ihm damals gab. ') Der durch einen besonderen Promotionsakt verliehene Doktor- titel kam erst im 13. Jahrhundert auf; zuerst wurde er nur auf Hochschullehrer angewendet, die als Dozent tätig waren, später auf alle, die zur Ausübung der ärztlichen Praxis berechtigt waren. ^) Der erste seines Berufs, der den Doktor- titel führte, soll am Ende des 14. Jahrhunderts ein Armenier gewesen sein, der in Frankfurt am Main als Arzt tätig war.*) Von Meister Bartho- lomaeus weiß man, daß er des „Homeisters arzt" ^) war. Neben ihm war zu Anfang des 15. Jahrhunderts noch der Wundarzt Wachsmuth tätig, von dessen Kuren berichtet wird; er be- gleitete den Hochmeister jahrelang auf seinen Fahrten und Feldzügen. Bartholomaeus war dagegen mehr der gelehrte Arzt im Sinne der damaligen Zeit, der weite Reisen machte, um be- sonders schwere Fälle bei hohen Patienten zu be- handeln, der auch dem kranken Hochmeister Kon- rad von Jungingen zu helfen suchte und schUeß- lich an sein Sterbelager herbeieilte. '') Das Marien- burger Treßlerbuch macht eine Menge interessanter Angaben über die Ärzte in der Blütezeit des Deutschen Ordens. Konrad von Jungingen nahm sich ihrer warm an, weil die fortgesetzten Einfälle in das benachbarte Heidenland, Rachezüge von dorther, Seuchen usw. ihre Hiife verlangten. Während im Reiche nur Fürsten und größere Städte Ärzte mit einem Gehalt von lo bis loo Gulden anstellten, in kleineren Städten und in weiten Gegenden auf dem Lande dagegen bis zum Jahre i 500 noch keine zu finden waren, ') erhielten bereits 1404 die Städte Danzig, Elbing und Thorn die Weisung, „daß jede von ihnen ihren eigenen geschworenen Arzt und Apotheker haben solle." *) Die Reisen, die Meister Bartholomaeus zu weltlichen und geistlichen Fürsten führten, '■') wurden zu Pferde gemacht, auch Angaben über den An- '] 6, S. 360, 362. ••') 16, S. S6. ') 21, S. 104. •>) 11, S. 430. 5) 12, S. 476, Z. 9. «) 22, S. 461; 12, S. 425, Z. 4—6. ') 11. S. 431. ») 5, S. 392. 8) 12, S.38, Z. 12—14; S. 278, Z. 1—3; S.563, Z. 1-3. Sio Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N, F. XVIII. Nr. 36 kauf von Rossen für ihn trifft man deshalb im Treßlerbuch an. Ferner erfahren wir von einem Falle, wo er im Auftrage des Ordens Herrn „Czapornen gearztyet hatte"; diese Kur brachte ihm die für damalige Zeit ansehnliche Summe von 60 m. ein. ^) Als er „zu unserm homeister seliger gedechtnisse abe und zu zog,'-)" erhielt er für diese Bemühung 8m. Nach Konrads Tode machte dessen Bruder ihn zu seinem Leibarzt und setzte ihm ein Gehalt von jährlich 70 m. aus, von dem die erste Hälfte zu Ostern, die andere zu Weihnachten ausgezahlt werden sollte. Diese Besoldung begann vom Jahre 1408, wobei ihm noch für die letzte Zeit des Jahres 1407 35 m. nachträglich gereicht wurden. ^) Bis zu seiner Anstellung und noch einige Zeit nachher scheint er in Frauenburg seinen Aufenthalt gehabt zu haben, denn er wird bei dem drohenden Tode des Hochmeisters Konrad erst von auswärts herbeigerufen und empfängt in Frauenburg seinen Ohm, Kudebor vom Ratten- berge, und seinen Freund, Jordan von Belchaw, zum Besuch;*) Mitte Juni 1409 liquidiert dann freilich der Großschäffer „6 m. vor 8 zymmer Werkes, dy meister Bartholomeus dem arzte worden,^)" er scheint also um diese Zeit in der Nähe des Hochmeisters, wahrschein- lich in der Stadt Marienburg, Wohnung gefunden zu haben. Nach dem unglücklichen Ausfall der Schlacht bei Tannenberg kehrt er nach Frauen- burg zurück und führt seine Instrumente, „ g e r e - te", auf einem Wagen mit 3 Pferden dorthin fort.*) Im Marienburger Schloß war eine Apotheke vorhanden , sie befand sich in der Vorburg und enthielt die wichtigsten Mittel, die man zur Her- stellung der Pulver und Purgapionen für die Brüder und Beamten des Ordens notwendig hatte. ") Die vorhandenen Medikamente reichten freilich nicht aus, wenn man bei ersten Fällen mehr als Haus- mittel brauchte ; dann mußte man sich an größere Apotheken in Danzig *) oder Elbing ^) wenden. Aus der Zeit, wo ßartholomaeus Leibarzt geworden ist, erfahren wir einiges von den ver- schiedenen Rohstoffen, die er — meist durch Vermittelung des Hauskomturs in Danzig erhält, es sind das: sal aniwjiyaciiiii, Alaun ^") und Kupfer- wasser. ^^) Von ihnen wird später (1668) im Danziger Arzeneibuch '-) Armenischer Stein {lapis armeniacus) und Kupferwasser oder Vitriol eben- falls genannt. Der Wert des letzteren, des Vitri- oli Calcanti, ist erheblich niedriger als des V. Un- M S. 430, Z. 31, 32. S. 42:;, Z. 4 — 6. s. 476, z. 9-13; s. 52! S. 498, Z. 24 — 26. S. 542, Z. 2b, 27. S. 3, Z. 32—34. S. 461. „ S. 3S3, Z. 16—18. 1, S. 416, Z. 21—24. ' S. 547, Z. 29—34. S. 4, Z. 35, 36. S. 42. , Z. 32-36. garici, caeridci, des Blauen oder Ungarischen Vi- triols; er beträgt im ersteren Falle 9 Pfg., im zweiten 4 Groschen für das Lot {1:5^3)- Das kristallisierte Vitriol wurde um so viel höher ge- schätzt, weil man es ohne Schwierigkeit als rein und echt erkennen konnte; es wurde, ebenso wie Eisenvitriol, zu chemischen Operationen benutzt, da es in der Gluthitze seinen Bestandteil an Schwefelsäure abspaltet und diese auf die ihm beigemengten Stoffe einwirkt. *) Kupfervitriol wurde zur Ordenszeit aus Ungarn über Krakau und Thorn zusammen mit den Metallen Kupfer, Eisen und Blei nach Preußen eingeführt; von ersterem Metalle unterschied man eine Reihe von Sorten, je nach Behandlung und Beschaffenheit einerseits und dem Orte der Herkunft anderer- seits. -) — Alaun fand als adstringierendes, blut- stillendes Mittel Verwendung. Im Jahre 1428 werden in Görlitz unter 6 aufgezählten Tierarze- neimitteln auch Alaun und Kupferwasser ge- nannt. ^) Apotheken im Sinne unserer Zeit waren im Mittelalter nicht anzutreffen. Bis zur Zeit des Paracelsus waren sie nur Niederlagen von Wurzeln, Kräutern, Syrupen und allerlei Konfekt. Ihre Be- sitzer hatten vielerlei in ihrem Geschäfte zu ver- sehen, was sich später als besonderer Zweig von ihm absonderte. So gehörte zu ihren Obliegen- heiten der Ausschank von Würzwein und ähn- lichen Spirituosen, der Verkauf von Parfümerien und Räucherwerk, die Herstellung von Zuckerwerk, Marzipan und in Zucker eingemachten Früchten, Kalmus, Ingwer, Zitronat, Latwergen, „Gekraute" — crude, eine Art Pfefferkuchen'') — und Ähn- lichem. *) Diese letzteren wurden freilich nicht nur als Leckereien verwendet; der Arzt der da- maligen Zeit bediente sich ihrer ebenso wie Kräuter, Salben und Tränke. So erwähnt FelixPlattner (1536 — 1614) in seinen Tagebuchblättern eine glückliche Kur, die er mit Marzipan bei einer sehr schwachen Wöchnerin gemacht hat; genannt wird auch „confect für den schnupfen". ") Die reiche Zahl der erwähnten Süßigkeiten ist mit dem Be- mühen des Mittelalters in Beziehung zu bringen, Arzeneien in möglichst angenehmer Form darzu- reichen. So verfütterte man Abführmittel an Hühner in der Erwartung, daß der Genuß ihres Fleisches die gleiche Wirkung wie die Mittel haben würde; Weinreben übergoß man mit Medikamenten und wollte dann aus den Trauben einen Medi- zinalwein gewinnen; geschmackverbessernde Zu- sätze sind in Menge bekannt, übel schmeckende Arzeneien hüllte man in Obst ein. ') Hieraus ist auch die Stelle im Treßlerbuch vom Dezember 1408 zu verstehen: „im. 13 scot dem apteker vor ') IG, S. 102, 104. 2) S, S. 181, 1S6, 258. ^) 15, S. 3'73- *) 15, S. 378. 6) 6, S. 300; 16, S. 86. 8) 10, S. 634. 'J 21, S. 55, 56. N. F. XVIII. Nr. 36 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 5" 2 eppel unserm homeyster und vor ander apt eke." ') Aufschluß über die Benutzung des Pfeffermilch- lings in der Ordenszeit ist zu finden, wenn man in ihm den Ausgangsstoff für die Herstellung einer Medizin sieht, die auf Grund eines Analogie- schlusses mittels Natursymbolik (durch sog. Sig- natur) wirken sollte. Ähnliche Mittel verwendet man auch heute noch bei den sympathischen Kuren. Eine solche symbolisch magische Heil- handlung bestand darin, daß man z. B. Schöß- linge des Glaskrautes Parietaria officiiialis L. zum Vertreiben von Warzen an den Händen ver- grub. Beide hatten eine gewisse Ähnlichkeit mit- einander; gleichzeitig mit dem Vermodern der Pflanzenteile im Boden sollen auch die Warzen verschwinden. ") Als man den ungewöhnlich scharfen Saft des Pfeffermilchlings kennen gelernt hatte, versuchte man, auch ihn für die Heilkunde nutzbar zu machen. Wie er mit seiner Schärfe die Zunge beizte — wiederholt findet man bei seiner Beschreibung die Stelle „linguam vellicat", — so meinte man, müsse er auch andere Gebilde im menschlichen Körper anätzen können. Nach Loesel zerteilt er, mit Syrup aus Alfhaca-SiSt eingenommen, den Blasen- stein „et urinam citat", außerdem beseitigt er auf- geträufelt Warzen. ^) Friedrich Samuel Bock,*) der Gesner unserer preußischen Naturgeschichte, führt an, daß ,,die von ihm ausgedruckte Milch mit dem Erzbischsyrup" den Stein zermalmen und Urin treiben soll; die Verwendung der Milch des Pilzes zur Beseitigung von Warzen ist also im Laufe der Zeit von 1703 bis 1783 bei Seite ge- stellt worden. Interessant ist es, daß als Nach- wirkung jener alten Vorschrift noch im Jahre 1862 von D. A. Rosenthal in seiner ,, Synopsis plantarum diaphoreticarum" Lacfarius pipärahis mit seinem weißen Milchsaft als Mittel bei Harn- beschwerden und Nierenkrankheiten empfohlen wird. ^) Mutmaßliche Heilkräfte aus Pilzen wurden ver- schiedentlich verwendet; so nennt das Danziger Arzeneibuch vom Jahre 1668: Auriculae Judae, Fungi Sambuci. HollunderSchwämme. — Boleti Cervini. Hirschbrunst. — Cynoblasti Spongiolae. Hanbotten - Schwämlein. — Orbicularis fungus, Crepitus lupi. Pofist. *) Aiiriculana sambucina Mart., Hollunder- oder Judasohr, findet sich an Hollunderstämmen nicht selten und bildet dort große, gallertartige Frucht- körper, die aus dicht verflochtenen Hyphen be- stehen und die Form eines Ohres haben ; diese eigentümliche Gestalt gab Veranlassung zur Ver- wendung in der damaligen Medizin; der Pilz wurde zu den „Adstringentia, Exsiccantia, Ophthalmica et Deobstruentia" gezählt und ferner gegen Krank- heiten des Mundes und des Schlundes benutzt. ^) — Die Gattung Elaphomyccs Nees, Hirschstreu- ling oder Hirschtrüffel, lebt unter der Erde und ist den Ttüffeln sehr ähnlich. Die bekannteste Art in Deutschland ist E. graiiiilatus Nees [Sclcrodenna cervinurii Pers. , gekörnter Hirsch- streuling), sie hat die Größe einer kleinen Walnuß und wurde früher unter der Bezeichnung Hirsch- brunst in den Apotheken geführt und als Haus- mittel bei Tieren verwendet. — Der Rosen- schwamm (Rosenapfel , Bedeguar) ist kein Pilz sondern eine große, knollenförmige Galle, die durch den Stich der Rosengallwespe [RJioJitcs rosae L.) an den Blättern der Hundsrose entsteht. Früher war sie als Spongia cynoblasti offizineil und führte auch den Namen Schlafapfel, weil man sie Kindern unter das Kopfkissen legte, um ihren Schlaf zu befördern. — Unter Bovist ist der Eierbovist Bovista nigrcscens Pers. wie auch der Bleifarbene oder Kugtribovist B. plmnhea Pers. zu verstehen. Beide wurden sowohl nach der Reife wegen ihrer staubartigen Sporen als auch vor der Reife als blutstillendes Mittel benutzt. In dem Danziger Arzeneibuch werden ferner noch „Agaricus opti- mus Lerchenschwamm" -) und einige Präparate aus ihm aufgezählt: „Pilular. de Agarico. Pillen aus Lerchen Schwam — Trochisc. de Agarico. — Extr. Agarici. Exlract auß Lerchenschwamm." ^) Es handelt sich in diesem Falle um Polyporiis officinalts Fr. [Boletus laricis Jacq ), der an Lerchen- stämmen in Südeuropa gedeiht. Er besitzt einen anhaltend und intensiv bitteren Geschmack und fand wegen seiner reizenden, drastisch purgierenden Wirkung unter dem Namen Agaricus albus, Fiin- gtis s. Boletus laricis und B. furgans in der Me- dizin Anwendung. In dem ,,Kreutterbuch von allem Erdtgewächs" von dem Stadtarzt D. Eu- charus Rhodion zu Frankfurt a. M. (1533)*) findet man eine ganze Reihe von Krankheiten aufgezählt, gegen die Agaricus (Damenschwamm) helfen soll. In den pharmazeutischen Laboratorien des Mittelalters strebte man danach, aus verschiedenen Gewächsen sogenannte geistige Wasser herzu- stellen. Man bediente sich dazu eines Brennzeugs, d. h. eines Gerätes, wie es zum Brennen oder „Vereilen" solcher Präparate üblich war. *) So zählt noch das Danziger Arzeneibuch nicht weniger als 124 verschiedene Arten von „schlechten ge- brannten Wassern" auf, die meist aus ganzen Pflanzen, seltener aus ihren Teilen, z. B. Laub, Blüten, Früchten, Schalen und Saft gewonnen wurden. '^) Das Wort „geistig" ist nicht in dem Sinne „alkoholhaltig" gebraucht, es erklärt sich aus dem theoretischen Wissen der Ärzte jener 1) 12, S. 514, Z. 9-1 1. 2) 21, S. So. ä) 3, S. S2. ■*) 4, Bd. 3, S. 618, 619. »J Vgl. 14, S. 56. «) 2, S. 28. ') 14, S. 56. ^) 2, S. 33. 3) 2, S 71, 72, 89. ^1 Vgl. 14, S. 55. ■*) 10. 0) 2, S. 48-52. 512 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVm. Nr. 36 Zeit; die Seelenkräfte des Menschen wirken nach der damaligen Auffassung auf den Körper in einem Substrat , das man als „Spiritus" be- zeichnete. „Dieses Mittelding zwischen Leib und Seele war gewissermaßen die verdünnteste Form, unter der man sich das Leben vorstellen konnte." ') Um diesen Spiritus, das spezifische Heilmittel für verschiedene Krankheiten, zu gewinnen, versuchte man ihn durch geeignete Behandlung der Roh- stoffe aus der Substanz abzusondern. Erst durch solche Abtrennung der spezifischen Kraft war das Heilmittel gewonnen. Das ist, wie später Para- c eis US angibt, die Wandlung der Lehre von der Quintessenz, dem Elixier der Tinktur der Weisen. Aus den geschichtlichen Daten weiß man andererseits, daß der Hochmeister Konrad von Jungingen den Abend seines Lebens nicht in ungestörtem Frieden verleben konnte ; zu dem ge- trübten Verhältnis mit dem König von Polen, zu den Verwüstungen seines Landes durch Seuche und Pest kamen körperliche Schmerzen, die ihn oft arg plagten. Besonders gegen das Ende seines Lebens hin litt er außerordentlich unter Blasen- steinen. Magister Bart h ol omaeus wendet sich bereits im Jahre 1 399 der Herstellung des Wassers aus „Weißen Pfifferlingen" zu, um den Hoch- meister mit ihm zu behandeln. Johannes Voigt erwähnt einen Brief an diesen (dat. Brandenburg Sonnab. vor Purifikat. Maria 1407), in dem der Marschall schreibt: „Als Meister Bartholo- meus czu uns quam, also begunden wir mit Im czu reden von euwir Crankheit und legten Im vor als von dem Bluten, do wir Im dovon gehait hatten, do sprach her weder uns, wie das syn rat were, das euwir erwirdigkeit jo in czit dorume rates pflege, went es sorglich were, wo man das lisse obirhant nemen."^) Die Kur mit dem Wasser aus den Pfefferlingen scheint keinen bemerkenswerten Er- folg gehabt zu haben. Im Jahre 1401 wird die große Menge von 36 Stof davon hergestellt, dann aber nichts mehr darüber erwähnt. Dagegen nimmt der Hochmeister im Jahre 1406 zu einem kostbaren Arzeneimittel seine Zuflucht, das ihm der Ordensprokurator aus Rom auf Anraten eines sehr berühmten Arztes zugesandt hatte. Es handelte sich um eine zusammengesetzte Medizin, deren kaum bekannte Bestandteile man aus weit ent- fernten Gegenden hatte herholen lassen. Man hätte freilich den Steinschnitt nach der von C eis US beschriebenen Weise vornehmen können. ■') Da die Hauptmenge der Chirurgen aber ihren Beruf handwerksgemäß erlernte und auf eine wissenschaftliche Ausbildung verzichtete, so hielten die studierten Ärzte sich für zu gut zu einer Betätigung in einem Fach, in der es recht sehr auch auf manuelle Technik ankam; hinzu trat noch die Besorgnis, daß Mißerfolge bei der ^iT s. 36. ^) 5, S. 343, 371 und Anm. ; 375 und Anra. ») 21, S. 67. chirurgischen Behandlung des Kranken unverhüllt zutage träten , und schließlich der Abscheu vor diesem Zweige der Medizin, in welchem das Kur- pfuschertum von allen Formen sich breitmachte. ') Meister Bartholomaeus konnte nach dem Er- kennen des Krankheitsfalles deshalb auch nur durch innere Medizin Hilfe zu bringen suchen. Als das aus den heimischen Pilzen gewonnene Wasser versagte, griff man zu einem äußerst ge- heimnisvollen und verwickelten Mittel, wie sie in jener Zeit üblich waren. — Das durch Destillation aus Lacfariits pipcratiis S c o p. hergestellte geistige Wasser stellt mithin eine Medizin des Mittelalters vor, welche gegen Blasen- und Nierenleiden ge- braucht wurde; seine Verwendung leitet sich aus der sog. Signatur her, die in diesem Falle durch den scharf brennenden Milchsaft geboten war. In wie weit es bei seiner Verwendung von Er- folg begleitet sein konnte, ist wohl außer Frage. Literatur, geordnet nach der Zeit des Erscheinens. 1. Tragus, Hie ronymus, De stirpium, maxime earum, quae in Germania nostra nascuntur etc. Argentorati 1552. 2. Designatio et valor, omiüum materialium et medica- mentorum, tarn simplicium, quam compositorum, quae in offi- cinis Gedanensibus reperiuntur et venduntur etc. Dantzig 1668. 3. Loeselius, Johannes, Flora Prussica, sive p!an- tae in regno Prussiae sponte nascentes etc. Regiomonti 1703. 4. Bocli, Friedrich Samuel, Versuch einer wirth- schaftlichen Naturgeschichte von dem Königreich Ost- und Westpreußen. Dessau; I. Bd. 1782, 3. Bd. 1783. 5. Voigt, Johannes, Geschichte Preußens, von den ältesten Zeiten bis zum Untergange der Herrschaft des deut- schen Ordens, Bd. 6. Königsberg 1S34. 6. Voigt, Johannes, Fürstenleben und Fürstensitte im sechszehnten Jahrhundert. Historisches Taschenbuch, heraus- gegeben von Friedrich v. Raumer, 6. Jahrg., Leipzig 1835, S. 201 — 371. 7. Krombholz, J. V., Naturgetreue Abbildungen und Beschreibungen der eßbaren, schädlichen und verdächtigen Schwämme; Heft 8, Prag 1843. 8. Hirsch, Theodor, Danzigs Handels- und Gewerbs- geschichte unter der Herrschaft des deutschen Ordens. Leipzig 1858. 9. Wünsche, Otto, Die Pilze. Leipzig 1877. 10. Grimm, Jacob und Grimm, Wilhelm, Deut- sches Wörterbuch. Leipzig 18S5. 11. Henne am Rhyn, Otto, Kulturgeschichte des deutschen Volkes, Bd. I. Berlin 1S92. 12. Das Marienburger Treßlerbuch der Jahre 1399 bis 1409. Herausgeg. von Archivrat Dr. Joachim. Königsberg i. Pr. 1896. 13. Kaufmann, F., Die westpreußischen Pilzarten der Gattung Lactarius Fries, die Milchlinge oder Reizker. Schrift, d. Naturf. Ges. in Danzig. N. F. Bd. 9, Heft 2. Danzig 1897, S. 2i8 — 242. 14. Tre ichel, A., Pilzdestillate als Rauschmittcl. Schrift, der Phys. -Ökonom, Ges. in Königsberg i. Pr., 39. Jahrg. 1918, S. 46—64. 15. Schelenz, Hermann, Geschichte der Pharmazie. Berlin 1904. 16. Berendes, J., Das Apothekerwesen usw. Stuttgart 1907. 17. Zellner, Julius, Chemie der höheren Pilze. Eine Monographie. Leipzig 1907. 18. Michael, Edmund, Führer für Pilzfreundc, Bd. I. Zwickau i. S. 1909. ig. Das Ausgabebuch des Marienburger Hauskomturs für die Jahre 1410 — 1420. Herausgegeben von Dr. Walther Ziesemer. Königsberg i. Pr. 1911. 21, S. 107—109. N. F. XVni. Nr. 36 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 513 20. Gramberg, Eugen, Pilze der Heimat. Leipzig 1913- 21. Diepgen, Paul, Geschichte der Medizin. 11. Mittel- alter. Sammlung Göschen. Berlin und Leipzig 1914. 22. Ziesemer, Walther, Geistiges Leben im Deut- schen Orden. Kafemanns Heimatskunde. Die Provinz Westpreußen in Wort und Bild. Teil I, 2. Aufl. Danzig 1914, S. 459—462. 23. Vouk, V., Zur Kenntnis der mikrochemischen Chitin- reaklion. Ber. d. Deutsch. Botan. Ges., 33. Jahrg., Bd. 33. Berlin 1915, S. 413—415. 24. Damm, O., Hautreizende Pflanzen. Prometheus, 27. Jahrg., Nr. 1369. Berlin 1916, S. 263 — 266. 25. Damm,0., Hautreizende Hölzer. Ebenda, Nr. 1395, S. 687, 68S. Niederschlag, Abfluß, Verdiiustnug und Versickeruug im Landklima Mitteleuropas. [Nachdruck verboten.] Unter obigem Titel hat Professor Fischer an der Landesanstalt für Gewässerkunde in Berlin in dieser Zeitschrift N. F. Bd. 17, Nr. 19 vom 12. Mai 191 8 eine Arbeit veröffentlicht, in welchem er gegen den vom Referenten in Nr. 43 derselben Zeitschrift 1916 aufgestellten Satz, daß der Som- mer im ganzen der Ansammlung, der Winter dem Aufbrauch des Wassers gewidmet sei, pole- misiert und die gegenteilige Behauptung aufstellt, daß nämlich eine Aufspeicherung im Winter zu Von Prof. Dr. W. Halbfaß in Jena. annährend so groß wie die des Sommerhalbjahrs an den Abflüssen. Im Sommer fließt trotz vor- handener stärkerer Niederschläge weniger ab als im Winter, trotz dessen geringerer Niederschlags- mengen. Ferner verbraucht der Boden im Sommer mehr Niederschläge als im Winter, weil das in Rede stehende Gebiet durchweg der Kultur, also der landwirtschaftlichen Ausnutzung zugeführt ist, es besteht also im Sommer die Tendenz dem gunsten des Sommers stattfinde. Kriegsdienst- Boden weniger Reserven dem etwaigen Grundwas- liche Verpflichtungen ließen mich nicht früher auf ser zuzuführen als im Winter. In dieser Jahreshälfte die sehr eingehenden und interessanten Ausein- andersetzungen Karl Fischers zurückkommen. Damit man nicht nach dem bekannten Schlüsse verfahre: qui tacet consentire videtur, möchte ich nunmehr das Wort ergreifen und den Kernpunkt des für unsere gesamte Boden- und Wasser- wirtschaft so überaus wichtigen Themas noch ein- mal kurz umschreiben. Auf Einzelheiten in Maß- zahlen dabei einzugehen, scheint nur wenig Zweck zu haben; sowohl Prof. Fischer wie ich operieren beide mit ,,wenn", „würde", „könnte" usw. und nehmen im Nachsatz, was bestimmte Zahlenan- gaben anlangt, oft das zurück, was sie im Vorder- satz ausgesprochen haben, daß wirklich sicheres Zahlenmaterial auf beiden Seiten bisher noch nicht vorhanden zu sein scheint. Die bisherigen exakten Messungen über Abfluß, Versickerung und Ver- dunstung waren bislang räumlich und zeitlich so beschränkt und so wenig simultan vorhanden, daß eben daraus ein bündiges Beweisverfahren unmöglich abgeleitet werden kann. Über die Niederschlagsmengen sind wir ja zeitlich besser orientiert, aber räumlich liegen sie doch auch so sehr auseinander, daß eine völlig unumstößliche Beweiskraft für den vorliegenden Streitfall ihnen schwerlich zukommt. Einige Tatsachen stehen indes fest. So kehrt sich im großen und ganzen in den Flußgebieten der Elbe und der Oder, auf die es hier allein ab- gesehen ist, das Verhältnis des Niederschlags und des Abflusses während des meteorologischen Winter- und Sommerhalbjahrs (beginnend am I. Nov. bez. I. Mai) zum ganzen Jahr geradezu um, d. h. der Anteil des Sommerhalbjahrs an den Niederschlägen des ganzen Jahres ist nahezu gleich dem Anteil des Winterhalbjahrs an den Abflüssen des ganzen Jahres und umgekehrt sind auch die Anteile des Winterhalbjahrs an den Niederschlägen ist der Boden zwar an und für sich weniger ge- neigt, Reservefonds in sich aufzunehmen, vielmehr befähigt, die Abflußquote der Niederschläge zu er- höhen, doch gelingt ihm dies nur zum Teil, weil in vielen Gegenden des Gebietes die Nieder- schläge in fester Form fallen und zum sofortigen Abfluß daher ungeeignet sind. Nun kommt der Verdunstungsfaktor in Betracht. Fischer operiert in seinen Tabellen folgerichtig mit der Formel: Niederschlag = Verdunstung -(- Abfluß + Rücklage oder Aufbrauch, vorausgesetzt, daß es möglich ist, diese Größen zeitlich wie räumlich mitein- ander in Einklang zu bringen. Zweifellos ist die Verdunstung im Sommer viel größer als im Winter und ich gebe hierin Fischer ohne weiteres recht, daß in dem stark verminderten Abflußverhältnisse des Sommers die größere Verdunstung eine wichtigere Rolle spielt, als die vermehrte Wasseraufnahme des Bodens, wobei wir ausdrücklich unter den Verdunstungs- mengen auch den Verbrauch der Vegetation ein- schließen. Ich gebe auch weiter vollkommen zu, daß aus den Versuchen von Seelhorst in Göttingen folgt, daß zur Zeit des stärksten Wachs- tums der Pflanzen, besonders der Hauptfrüchte des Ackers, ihr Wasserbedürfnis so groß ist, daß es durch die gefallenen Niederschläge allein nicht befriedigt werden kann, so daß noch Zuschüsse aus dem vorhandenen Grundwasser erforderlich sind. Soweit gehe ich also mit Fischer voll- kommen zusammen. Dürfen wir nun aber die Rücklage mit der Versickerung gleichsetzen, resp. den Aufbrauch einfach mit dem Überschuß der Verdunstung über die Niederschläge ? Dürfen wir weiter die Begriffe Abfluß, Verdunstung und Versickerung als völlig nebeneinander koordiniert setzen ? DieVerdunstungs- größe ist für mich nur ein vorübergehender SM Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVm. Nr. 36 Zwi«chenzustand zwischen Niederschlag einerseits, Abfluß und Versickerung andererseits, keine selb- ständige Größe, die sich mit jener zusammenfassen oder ausgleichen ließe. Die Verdunstung ist ja keine direkte Funktion der Niederschlagsmenge, sondern von meteoro- logischen Faktoren: Wärme, Windrichtung und Geschwindigkeit so abhängig, daß man gar nicht sagen kann, in welchem Verhältnis sie zum Nieder- schlag in einem bestimmten Zeitpunkt oder einer bestimmten Gegend steht. Ich glaube daher nicht, man darf sagen, daß von den gefallenen Nieder- schlägen einer Gegend so und soviel verdunste, sondern man kann nur von einer bestimmten Wassermenge den Verdunstungsgrad einiger- maßen genau feststellen. Wann nun eigentlich die Vermehrung resp. Ansammlung des Grund- wassers geschieht, darüber, glaube ich, bleiben wir einstweilen noch nach wie vor im unklaren. Jedenfalls kann sie von Fall zu Fall in ganz ver- schiedene Jahreszeiten fallen. Im Elb- und Oder- gebiet fällt sie im allgemeinen nicht in den Som- mer, wegen des starken Wasserbedürfnisses der Kulturpflanzen und des daraus resultierenden hohen Verdunstung«grades, in den Winter aber auch nicht, soweit der Boden gefroren ist. Es bleiben also die Herbst- und die Frühjahrsmonate als die an und für sich dafür geeignetsten Jahreszeiten und diese Tatsache drückt sich ja auch in den Ab- bildungen I und 2 des Fisch ersehen Aufsatzes wenigstens teilweise aus. Maßgeblich bleiben hier- für in erster Linie die jeweiligen Niederschlags- mengen, die von Jahr zu Jahr recht erheblichen Schwankungen unterliegen. Zu berücksichtigen ist auch die jetzt wohl allgemein zugegebene Tatsache, daß das im Boden befindliche Wasser keineswegs allein auf die oberflächlich gefallenen Niederschläge zurückzuführen ist und vor allem der Umstand, daß die Zeit, welche vergeht, bevor das Sickerwasser mit dem eigentlichen Boden- wasser einverleibt wird, namentlich örtlich außer- ordentlich verschieden ist. Der Prozeß, der sich zwischen Versickerung, Verdunstung und Grund- wasser unaufhörlich abspielt, ist so außerordentlich kompliziert, daß wir m. E. noch nicht imstande sind, auf Grund des vorhandenen Beobachtungs- materials, mit positiven Tatsachen aufzuwarten. Wir dürfen daher, meine ich, auch nicht, wie es F'ischer tut, der Gesamtverdunstung aus einem geschlossenen Flußgebiet den Unterschied zwischen Niederschlag und Abfluß ohne weiteres gleich- sehen, wenigstens nicht für die kurze Spanne eines Jahres. Vielleicht ist dies nicht einmal für bedeutend längere Zeiträume möglich. Wohl gebe ich zu, daß im großen und ganzen im Wasserkreislauf keine wesentliche Wassermenge verloren gehen mag, obwohl wir durchaus noch nicht in der Lage sind, hierüber ein sicheres Ur- teil abgeben zu können , aber für beschränkte Flußgebiete und Flußgebietsteile braucht dieser Satz keineswegs zuzutreffen, vielmehr ist da eben- sowohl eine räumliche Verminderung wie eine Ver- mehrung recht gut denkbar, und die Zahlenangaben aus einzelnen Jahren oder Jahresabschnitten scheinen mir da wenig Beweiskraft zu besitzen. Nur das eine, für die Bewohner des Elb- und Odergebietes jedenfalls recht erfreuliche, Ergebnis steht sicher fest, daß sie in den Grundwasseran- sammlungen der obersten Erdrinde einen Aus- gleich für räumlich und zeitlich beschränkte Nieder- schlagsmengen besitzen, um welche sie mit Recht von denjenigen beneidet werden können, die solcher unterirdischen Schätze entraten müssen. Einzelberichte. Zoologie. Zur Lehre vom Ursprung der tierischen Keimzellen äußert sich S. Gut herz.') Wie er ausführt, hat M. N ußbaum 1879 die viel öfter in Verbindung mit dem Namen Weis- mann erwähnte Lehre begründet, nach welcher man sich die Keimbahn der Organismengenera- tionen unter dem Bilde eines lang dahinkriechen- den Wurzelstockes vorstellen kann, von dem von Strecke zu Strecke sich einzelne Pflänzchen er- heben, die Individuen der aufeinanderfolgenden Generationen. Von Nußbaum stammt nämlich der Nachweis des sehr frühzeitigen Auftretens selb- ständigerKeimzellen beim Frosch und bei der Forelle, die mutmaßliche, sehr wahrscheinliche Zurückfüh- rung dieser Keimzellen auf unveränderte Furchungs- zellen und die Aufstellung des Gegensatzes zwi- ') S. Gutherz, Zur Lehre vom Ursprung der tierischen Keimzellen. Arch. f. niikroskop. Anatomie Band 92, 1918, 2. Abteilung, Heft 1/2, S. 1 — 40. sehen „Geschlechtszellen" und Körperzellen. Weismanns 1885 aufgestellte Theorie der Kontinuität des Keimplasmas dagegen spricht eigentlich und ursprünglich nur von Keimplasma und Soma ohne histologische Begriffsbestimmun- gen, wenn auch Weismann und seine Schule in den mikroskopischen Feststellungen (zu denen bekanntlich auch ähnliche Befunde bei Wirbel- losen, z. B. Sagitta, gehören) wertvolle Stützen der Theorie erblicken. Was G u t h e r z' neue mikroskopische Fest- stellungen betrifft, so würden seine Befunde zu- gunsten der Nußbaum sehen Lehre sprechen, zunächst bei dem in Orchideenhäusern auftreten- den Insekt Diestrammena marmorata. Bei den Insekten hat man außer einem sehr frühzeitigen Sichtbarwerden der Urgenitalzellen im Beginn der Blastodermbildung ein Sich-Ablösen und Einwan- dern dieser Zellen in die eigentliche Geschlechts- drüsenanlage erweisen können ; ja Keimdrüse und N. F. XVIII. Nr. 36 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 51S Soma der Insekten wurden sogar von einzelnen Forschern dem pflanzlichen Gametophyten und Sporophyten verglichen , die in das Innere des embryonalen Soma einwandernden Urgeschlechts- zellen sollten den pflanzlichen Sporen entsprechen — während andererseits unter vielen das Problem histologisch behandelnden Autoren, die jene Ur- geschlechtszellen und deren Einwanderung in die Keimdrüse keineswegs leugnen, Vejdovsky an Diestrammena außerdem Genitalzellen erst spät aus anders geartetem Zellmaterial und zwar aus den Zellen des sog. Endfadens des Insektenovars ') hervorgehen zu sehen glaubte, mithin das Nuß- baum sehe Prinzip durchbrochen würde. Die Nachprüfung dieses Befundes durch Gut herz führte nun zum Widerspruch gegen Vejdovsky. Sie scheint mir methodologisch wichtig, weil das- selbe wie gegen Vej dovsky sicher gegen viele Bearbeiter des Problems gesagt werden kann : die häufige Angabe, es fänden sich Übergangsbilder zwischen Oogonien und indifferenten IVIesoderm- zellen, sei trügerisch, da der Eindruck stark von Zufälligkeiten in der Größe, Lagerung und Fixation abhänge. Wichtiger wäre es, wenn an deutlichen Oogonien (die besonders an der Größe und Blaß- heit des Kerns als solche erkennbar sind) vor Be- ginn der Ovogenese keine Zellteilungen aufträten, wie das Vejdovskjr für seinen Fall behauptete: dann müßten die Oogonien, größtenteils wenig- stens, aus anders geartetem Zellmaterial hervor- gehen. Hiergegen aber hat Gut herz unzweifel- hafte Oogonienmitosen gefunden. Bei der Katze bestätigt Gutherz zunächst die Angabe der meisten Untersucher, daß die Oogonien aus indifferent aussehenden Ovarial- epithelzellen hervorgehen. Demnach könnten die Oogonien zwar „sekundäre Sexualzellen" zu sein scheinen. Es liegt aber daneben in der Literatur auch hier der wiederholte Nachweis von verhältnis- mäßig spät in die Geschlechtsdrüsenanlage ein- wandernden Genitalzellen vor, von Zellen wenig- stens, die sich sehr frühzeitig bei der Keimblätter- bildung isolieren, dann in die Keimdrüse ein- wandern, auch wie Genitalzellen aussehen und daher am ehesten als primäre Genitalzellen zu deuten wären, wenn nicht ihre Kontinuität mit den späteren massenhaften Oogonien von einigen Untersuchern ausdrücklich bestritten würde : sie sollten nach v. Winiwarter und Sainmont nur vorübergehend hypertrophierte, hernach sich wieder verkleinernde, gewöhnliche Zellen sein. Nach genauen Prüfungen der Zell- und Kernstruk- turen und wiederum nach dem Nachweis echter Oogonienmitosen hält nun Gut herz es für am wahrscheinlichsten, daß jene einwandernden „Ur- geschlechtszellen" wirklich solche sind, indem sie nämlich zum Teil direkt in typische Oogonien übergehen, zum Teil aber dadurch scheinbar schwinden, daß sie unter Größenverminderung zu den Ovarialepithelzellen werden, die ihrerseits die Mehrzahl der Oogonien liefern. Dann würden auch bei Säugern sämtliche Oogonien pri- märe Sexualzellen sein. Eine Sache für sich ist, daß die Ovarialepithel- zellen auch die Zellen des Eifollikels liefern. Daß nämlich außer Geschlechtszellen auch deren Hilfs- zellen aus Urgenitalzellen oder primären Sexual- zellen und deren Deszendenten hervorgehen können, wie sie ja in manchen Fällen — so die Nähr- zellen des Insekteneies — nur abortive Eier dar- stellen, haben auch Anhänger der Nußbaum- Weismann sehen Auffassung nie bestritten. Die Befunde Gutherz' entsprechen also durchaus dem, was vo.n Nußbaums Standpunkt aus zu fordern wäre. Ist nun ab^r die Nuß- baumsche Auffassung wirklich streng durchführ- bar? Nußbaum selber schloß bereits 1894 Pflanzen und niedere Tiere mit bedeutendem Regulationsvermögen von seiner Theorie aus, wo- durch er letztere der modernen biologischen For- schung anpaßte unter Verzicht auf einen großen und wichtigen Teil ihrer Gültigkeit. Sodann wies O. Hertwig^) darauf hin, man könnte mit dem- selben Recht wie eine Keimbahn auch eine Drüsen-, eine IVIuskel-, eine Ganglienzellen- und allerhand andere Zellbahnen unterscheiden, da sich ja letzten Endes alle Zellen auf die Eizelle als Äusganpspunkt zurückführen lassen. Gut- herz möchte einen vermittelnden Standpunkt einnehmen : die histologisch oft frühzeitig bemerk- bare Sonderstellung der Genitalzellen wäre ein Spezialfall des allgemeinen Determi- nierungsproblems. Weismann bestritt bekanntlich auf Grund seiner Theorie ebenso wie anfangs Nußbaum die IVlöglichkeit der Vererbung des Erworbenen. Gut herz meint nun, je früher die Keimzellen bei einer Organismenform auftreten, um so emp- fänglicher werde diese für äußere und innere die Vererbung beeinflussende Reize sein um so plastischer seien also die embryonalen Stadien, worin sich ja nach Ausweis der Phylogenie die verschiedenen Tierstämme sehr verschieden ver- hielten. Derartige Zusammenhänge festzustellen, wurde allerdings bisher nicht unternommen. G u t h e r z weist ferner — nicht zum ersten IVIale — auf die Möglichkeit hin, versprengte Urgenital- zellen als Mutterzellen für Teratome aufzufassen. Abgesehen von allen theoretischen Erörterun- gen bleibt die frühzeitige Erkennbarkeit der Ur- genitalzellen und die wahrscheinliche Zurückführ- barkeit aller Genitalzellen auf diese eine wichtige histologische Erscheinung, für die, soweit sie noch hypothetisch war oder es noch ist, sich neue Stützen fanden. V. Franz, Jena. ') Stets sind die Ovarien besser als die Testes, die Oogo- nien besser als die Spermalogonien für diese Untersuchungen geeignet, weil die Oogonien in der Keimdrüse sich besser von indifferentem Zellmaterial abheben als die Spermalogonien. ') Das Werden der Organismen. Jena 1916, S. 550. 5i6 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 36 Weitere Arbeiten über die Einwirkung der Witterung auf das Vogelleben, insbesondere den Vogelzug. Eine gewisse Abhängigkeit des Vogel- zugs von der Witterung wird meist angenommen, alljährlich wird sie in fast unzähligen Veröffent- lichungen ornithologischer Zeitschriften bejaht, be- sonders eine Verspätung des Frühjahrszuges in kalten F"rühjahren und seine Verfrühung in warmen Frühjahren ist oft bei vielen Zugvögeln bemerkt worden, wenn auch daneben meist Ausnahmen stehen. K. Bretscher^) stellt dagegen in seiner be- rehs in Naturw. Wochenschr. 1918, Heft 15 von Willer und Naturw. Wochenschr. 1919, Heft 17 von Eckardt besprochenen Arbeit eine erheb- liche Abhängigkeit des Vogelzugs von der Tempe- ratur in Abrede. Er folgert aus seinen namentlich in dem Will ersehen Referat schon besprochenen Tabellen, die Vögel wanderten „unabhängig von den Wärmeverhältnissen, wenn ihre Zeit gekom- men ist". Dem kann man aber nicht beistimmen, sondern diese Frage wird von Bretschers Statistik gar nicht erfaßt. Hierfür wäre nötig, etwa warme Frühlinge von kaUen und mittleren abzutrennen und für jede dieser Stufen die durch- schnittliche Lage der Zugzeit festzustellen. Bleibt sie dann in jeder Stufe sich gleich, so ist der Zug von der Temperatur unabhängig. Daß es aber für die mittleren Tagestemperaturen, bei denen sich der Zug des Vogels in den Beobach- tungsjahren abgespielt hat, in jedem Gebiet ein bestimmtes Maximum gibt und die Kurven typi- sche Variationskurven sind, kann auch im Falle einer gewissen Abhängigkeit des Zugs von der Temperatur nicht anders sein. Mancherlei be- achtenswerte Feststellungen kann man dennoch aus der Bretscherschen Arbeit herauslesen, siehe z. B. unten, Anmerkung. Dagegen dürfen wir an eine Abhängigkeit des Zugs vom Wetter nach wie vor glauben, wenn auch die Temperatur den Vogel zum Teil mehr mittelbar beeinflussen mag, durch ihren Einfluß auf die vorhandene Nahrungsmenge, und ferner oft Niederschläge oder Stürme, mit denen jedoch niedrigere Temperatur verbunden zu sein pflegt, den Vogel stärker be- einträchtigen mögen als der Temperaturgrad selbst, was beides wahrscheinlich ist, auch von Bret- scher teilweise zugelassen wird und übrigens von etwaigen unmittelbaren Temperatureinwirkungen auf statistischem Wege nicht ganz leicht zu trennen sein dürfte. Rückläufige Vogelzugbewegungen im Frühjahr haben nach K. Bertram und W. R. Eckardt-) große Ähnlichkeit mit dem Verhalten eines Teils unserer Wintervögel bei ») K. Bretscher, Die Abhängigkeit des Vogelzugs von der Witterung. Biologisches Zentralblatt, Band 38, Heft 7, 1918, S. 296—314. ^) W. R. Eckardt, Rückläufige Zugbewegungen im Frühjahr und das „Vorausahnen" der kommenden Witterung seitens der Vögel. Ornithol. Monatsschrift, XLIV. Jahrgang, 1919, Nr. 6, S. 115—122. Schneefällen und Temperaturstürzen während der kalten Jahreszeit. Beide sind großenteils aus- weichende Bewegungen nach schnee- und eisfreien Gegenden. Sie können im Frühjahr zu einem unzweideutigen Rückzug wenigstens eines Teiles der Arten oder Individuen werden. So taten es 190Ö in der Pfalz am 14. März und erneut am 24. März Scharen von Feldlerchen, Staren, Wiesen- piepern, Ringeltauben, Berg- und Buchfinken, Baumpiepern, weißen Bachstelzen, Drosselarten und Kiebitzen. Dagegen scheint solcher Rückzug auszubleiben, und man findet daher völlig er- schöpfte Vögel, sofern ein Kälterückfall sich nach beendeter Zugzeit und bendetem Zuginstinkt ein- stellt. In der Regel aber kommt es selbst zur Zugzeit nicht zu einem eigentlichen Rückwandern, sondern, so namentlich bei Schwalben, Laubsänger- arten und Rotkehlchen, zum Aufsuchen günstigerer Örtlichkeiten, z. B. der Nähe menschlicher Woh- nungen. — Da immer noch einige Ornithologen, wie V. Lucanus, an dem Glauben festhalten, die Vögel vermöchten das kommende Wetter „vorauszuahnen", war es der Mühe wert, daß Eckardt dafür angeführte Tatsachen mit seinen meteorologischen Fachkenntnissen widerlegt; das Aufhören des Krähenzugs in einem Falle vor kommendem Wettersturz beruhte darauf, daß die Nachzügler, nach Ausweis der meteorologischen Karte, sich schon in schlechtem Wetter befanden. Ein anderer Fall von Weiterwandern bei schechtem Wetter erklärt sich nicht durch das zukünftige gute, sondern besser durch das gegenwärtige nicht zu schlechte oder vielmehr nach vorherge- gangenem Stillstand der Wanderung schon ge- besserte. Kraniche sind in einem Falle nach Eckardt geradezu in das schlechte Wetter hinein- gewandert. In der Naturw. Wochenschr. 191 8, S. 188— 189 erwähnte ich nach B. Ho ff mann, Schuster und E. Hübner die verspätete Rückkehr zahl- reicher Zugvögel nach Deutschland in dem unge- wöhnlich kahen Frühjahr 19 17 sowie Beobach- tungen über die Vernichtung von Wintervögeln durch die KäUe und den Hunger. Letzteren An- gaben ist nun nach G. Wolff) noch hinzuzufügen, daß nach dem äußerst strengen Winter, der bis zum I. Mai 1917 mit seltener Zähigkeit anhielt, von den zahlreichen Haussperlingen bei dem Haus des Beobachters in Schötmar nur wenige übrig- geblieben waren, nicht mehr als zwei Paare ihre Brut hochbrachten und die alten Plätze von Staaren belegt wurden, worauf jedoch infolge der starken Vermehrung der Haussperlinge diese rasch wieder ihre alte Häufigkeit auf den Gassen erreichten. Feldsperlinge gingen gleichfalls äußerst zurück, nämlich bis auf ein Paar, und dabei etwa blieb es das ganze Jahr hindurch. Schwanzmeisen blieben den Winter hindurch gänzlich aus. Zahl- reiche Grünfüßige Teichhühner erfroren oder ver- ') G. Wolff, Aus dem Vogeljahr 1917. Ornithologische Monatsschrift, 44. Jahrgang, Heft 3, X919. S. 58—60. N. F. XVni. Nr. 36 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 517 hungerten, im Sommer fand sich daher auf der dortigen Werra und Bega leund Thorwaldsen in Rom, ein ebenso großer Zeichner als Bildhauer ha: mir eine Vig- nette entworfen, welche auf die wundersame Eigentümlichkeit Ihres Geistes, auf die in Ihnen nicht gewachsen zeigte, trat Kunth an seine Stelle. B. ging 1826 nach Buenos Aires und starb 1858 in Argentinien nacS einem an Abenteuern reichen Leben in ärmlichen Verhält- nissen. •') Diesem Band, dessen Inhalt wesentlich von dem der Ideen verschieden ist, hat der Verf. eine Kupfertafel beige- geben, auf der in kleinem Maßstabe drei Höhenkarten neben- einander dargestellt sind, nämlich vom Chimborazo (Plaga aequinoctalis, lat. o — lo"), Mont Blanc (Plaga temperata, lat. 42 — 46°) und vom Sulitelma (Zona frigida, lat. 68"). N. F. XVni. Nr. 37 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 523 vollbrachte Vereinigung von Dichtkunst, Philo- sophie und Naturkunde anspielt." Dieses Wid- mungsblatt stellt dar, wie der Genius der Poesie in Gestalt Apollos das Bild der Natur in Gestalt der vielbrüstigen Diana von Ephesus entschleiert; zu den Füßen der letzteren liegt eine Tafel mit der Aufschrift: „Metamorphose der Pflanzen". Keinen schöneren Erfolg konnte sich Hum- boldt wünschen als die Rückwirkung seiner Ideen auf den Dichterfürsten. „Im Jahre 1807 — schreibt Goethe anBertuch — sendete mir unser vor- trefflicher Alexander von Humboldt seine Ideen zu einer Geographie der Pflanzen nebst einem Naturgemälde der Tropenländer. Die gedruckt von Langlois), er bildet eine Tafel im Format von 60 : 90 cm, in der die eigentliche Zeichnung freilich nur den Raum von 36 : 45 cm einnimmt. Den fehlenden Plan also zu ersetzen, unternahm es Goethe in seiner Begeisterung, selbst eine Höhenkarte der Vegetation zu ent- werfen, die auch als Beilage zum 41. Band (16. Jahrg. 2. Teil, 181 3) der Allgemeinen Geographischen Ephemeriden veröffentlicht worden ist mit einem Schreiben Goethes an den Herausgeber B e r t u c h. Wir geben die Karte hier im verkleinerten IVlaßstabe wieder (im Original mißt die bezeichnete Fläche 23,5 : 30,5 cm) und fügen die Worte Goe- thes aus seinen Annalen hinzu: „Nachdem ich -;< .ürrahnr« u /lid- Höhen der alten Lind neuen Welt schmeichelhafte Zueignung, womit er mir diesen kostbaren Band widmete, erfüllte mich mit Ver- gnügen und Dankbarkeit. Ich verschlang das Werk und wünschte es mir und andern sogleich völlig genießbar und nützlich zu machen, woran ich dadurch einigermaßen gehindert wurde, daß meinem Exemplar der damals noch nicht fertige Plan abging." Der erwähnte Plan ist eine Dar- stellung der Vegetationszonen in den Anden mit dem Gipfel des Chimborazo und Cotopaxi (ent- worfen von A. V. H. und gezeichnet 1805 in Paris von Schöneb erger und Turpin, ge- stochen vonBouquet, die Schrift von L. A u b e r t. der Vorschrift gemäß die tropische rechte Seite mir ausgebildet und sie als die Licht- und Sonnen- seite dargestellt hatte, so setzte ich zur linken an die Stelle der Schattenseite die europäischen Höhen, und so entstand eine symbolische Landschaft, nicht unangenehm dem Anblick." „Diejenigen IVIänner ^) ') Humboldt erstieg am 23. Juni 1802 den Chimborazo bis zur Höhe von 58 10 m und stand damit auf dem höchsten bisher von Menschen erstiegenen Punkt der Erde, bis zum Gipfel fehlten nur noch 500 m. Horace Benedicte de Saussure (1740 — 1799) be- stieg als einer der ersten 17S7 den Mont Blanc. Gay-Lussac erhob sich am 16. September 1804 in einem Luftballon bis 3579 Toisen (etwa 7000 m). 524 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 37 — sagt er in den Ephemeriden — welche die höchsten Höhen in beiden Weltteilen erklommen, persönlich anzudeuten, wagte ich kleine Figuren auf die beiden Punkte zu stellen, und ließ den Luftschiffer Gay-Lussac nach seiner Angabe in Regionen schweben, wohin vor wenigen Jahren nur die Einbildungskraft den Menschen hinzu- heben wagte." Goethes lebhafte Teilnahme an der neuen Wissenschaft zeigte sich ferner darin, daß er diese Dinge zum Gegenstand seiner Mitt- wochsvorlesungen machte, die vor einem kleinen Kreis geladener Personen gehalten wurden. ^) Um aber die Aufmerksamkeit auch in weiteren Kreisen zu erregen, besprach er in der Jenaer allgemeinen Literaturzeitung eine Abhandlung von Humboldt über die „Physiognomik der Vege- tabilien", die dieser am 30. Januar 1806 in der königl. preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin gelesen hatte. -) ,, Glücklicherweise — sagt Goethe — sind in dieser kleinen Schrift die Hauptresultate so zusammengedrängt, daß wir unsern Leser mit einem Auszug erfreuen, ja wir dürfen wohl sagen, erquicken können." Er zitiert dann wörtlich, was Humboldt dort von den 16 Pflanzenformen — Inder großen Ausgabe, dem ersten Band des Reisewerkes, werden bereits 17 unterschieden — sagt, die seiner Meinung nach die Physiognomie der Natur bestimmen. Goethe, der es so liebte, alle Verhältnisse und Gegenstände in bestimmte Rubriken unterzubringen, mußte sich durch ein solches System in ganz besonderem Maße angezogen fühlen. Der genannte Aufsatz ist dann ebenso wie die Aufsätze über die Steppen und die großen Wasser- fälle des Orinoco, die Humboldt im folgenden Jahr in der Akademie las, ohne daß sie in deren Abhandlungen abgedruckt wurden, reich mit Er- läuterungen und Zusätzen versehen, in seine „An- sichten der Natur" aufgenommen worden , ein Werk, das er seinem Bruder widmete, und das 1808 bei Cotta erschien. Wir müssen also auch die „Ansichten der Natur" zu den Werken rechnen, mit denen Humboldt die Pflanzengeographie begründet hat. '') Von seinen Leistungen auf diesem Gebiet hat Grisebach eine eingehende Darstellung gegeben in dem Aufsatz „Pflanzengeographie und Botanik," der 1872 in der wissenschaftlichen Biographie Humboldts von Karl Bruhns (3. Band, S. 232 — 268) erschienen ist. „Man braucht nur — sagt Grisebach — die Reisebeschreibungen von Naturforschern dieses und des vorigen Jahrhunderts zu vergleichen, um zu erkennen, wie befruchtend auf die Auffassung des Landschaftscharakters, so- weit derselbe von der Vegetation bedingt wird, die Idee gewirkt hat, daß die Oberfläche der Erde ') Vgl. Brief an Knebel vom 4. April 1807. -) Jedenfalls nach dem „Abdruck für Freunde", der als ein Oktavheft von 28 Seiten 1806 bei Cotta (Stuttgart und Tübingen) erschien. '') Im Kosmos wird die Verbreitung der Pflanzen und Tiere nur ganz kurz am Ende des ersten Buches besprochen. gleichsam eine Krystallisation nach großem Maß- stäbe sei, wo jedes organische Wesen, gleich den Molekülen im Gefüge des Oktaeders, eine not- wendige Stelle im Zusammenhange mit den all- gemeinen Bildungskräften erhalten hat." Er weist dann darauf hin, daß Humboldt das Glück hatte, „mit seinen Ansichten über die Vegetation zu einer Zeit hervorzutreten, die, von der das Einzelne bloß unterscheidenden Methode im Bereich der Botanik sich abwendend, für erweiterte Ge- sichtspunkte vorbereitet und empfänglich war". Hier werden auch die Vorläufer erwähnt, deren wir schon gedacht haben. Wollen wir nun kurz die einzelnen Glieder hervorheben, aus denen sich die Pflanzengeographie Humboldts zusammensetzt, so können wir am besten sein oben erwähntes Werk: „De distribu- tione plantarum" zugrunde legen. Es beginnt mit einer Betrachtung über die Anzahl der bekannten Arten und verwandte Punkte. Sodann wird die Physiognomik der Gewächse als eine aus den einzelnen Beobachtungen abstrahierte Tatsache von allgemeiner Gültigkeit hingestellt und aus- führlicher behandelt. Sie scheint, wie auch aus dem oben schon darüber Gesagten hervorgeht, ein Lieblingskapitel Humboldts gewesen zu sein. Indem sie eine physiognomische Klassifikation der Pflanzen nach der Entwicklungsweise ihrer Vege- tationsorgane bietet, wird sie dadurch eine wich- tige Grundlage für pflanzengeographische Be- schreibungen und führt über zur wissenschaftlichen P'ormierung des Begriffs der Landschaften. Es handelt sich also um das, was wir jetzt als „Vege- tation" der „Flora" gegenüberstellen. Zum Ver- ständnis der ersteren dient auch eine Einsicht in das gesellige und zerstreute Vorkommen der Pflanzen, was Humboldt im weiteren Verlauf der Darstellung behandelt. Daraus nun gewinnt er eine neue Grundlage für die Aufstellung der Formationen, aus denen sich, wie er sagt, die Naturphysiognomie, die jedem Himmelsstrich aus- schließlich zukommt, ergibt. Neben dieser physiognomischen Klassifikation wird aber auch die Statistik benutzt, d. h. die Be- stimmung der absoluten Anzahl von Arten, die in einem Florengebiet zu jeder Familie gehören und die mit der Gesamtzahl der daselbst ein- heimischen Arten zu vergleichen sind. Derartige Ermittelungen weisen auf die Entwicklung der Pflanzenwelt hin, und geben wenigstens eine ge- wisse Vorstellung von der Ausbreitung der Arten, wenn uns deren Entstehung auch noch verborgen bleibt. Es handelt sich also um eine zunächst rein ziffernmäßig festzustellende Verbreitung der kleineren und größeren Sippen des Pflanzenreiches und die ebenso ermittelbare Flora eines kleineren oder größeren Gebietes der Erdoberfläche, so daß man von einer botanischen Arithmetik sprechen kann. Nun aber entsteht die F"rage nach den Um- ständen, von denen die \'erbreitung der Arten abhängt. Nach der Hypothese von den Schöpfungs- N. F. XVm. Nr. 37 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 525 Zentren sind alle vegetabilischen Keime von be- stimmten Gegenden ausgegangen. Die Arten aber konnten ihr ursprüngliches Wohngebiet erweitern durch die Hilfsmittel, die einerseits in ihrer Or- ganisation, d. h. der Wanderungsfähigkeit des Samens, andererseits in den äußeren Umständen liegen, die zur Verbreitung dienen, wie die Strömungen der Atmosphäre und des Meeres. Vor allem aber wird die Anordnung der Vege- tation durch die Einflüsse des Klimas und des Bodens bedingt. Diesen Zusammenhang konnte niemand besser als eben Humboldt beurteilen, der nicht nur wohlbewandert in der Botanik, sondern auch mit gründlichen physikalischen Kenntnissen ausgerüstet die von ihm bereisten Länder in ihren klimatischen und geognostischen Verhältnissen erforschte. Ganz besonders be- schäftigte ihn das Problem des Unterschiedes der Pflanzenwelt nach den Höhenregionen in den Ge- birgen, wozu ihn eben die Verhältnisse in den Anden lebhaft anreizten, indem man hier, wie er es auf seinen Karten dargestellt hat, aus der Region der Palmen durch alle Übergänge bis in die nivale Region gelangt. Genaue Temperatur- messungen dienten dazu, die Ursachen der Grenzen dem Verständnis zu erschließen. Überblicken wir das, was hier von Humboldt geboten wird, so können wir unserem Urteil da- rüber keine besseren Worte verleihen, als sie Grisebach in dem angeführten Aufsatz ausge- sprochen hat: „Von einer bloß geographischen Darstellung der Vegetation unterscheidet sich die Geobotanik Humboldts dadurch, daß sie ihre physischen Bedingungen zu erforschen strebt. In der großen Verkettung von Ursachen und Wir- kungen dürfe kein Stoff, keine Tätigkeit isoliert betrachtet werden: ein vollständiger Überblick der Natur, der letzte Zweck ihres Studiums, könne nur dadurch erreicht werden, daß keine Kraft, keine Formbildung unberücksichtigt bleibt. Durch diesen Grundgedanken , auf welchen alle Be- obachtungen über die räumliche Anordnung der Pflanzen zu beziehen sind, wurde der botanischen Wissenschaft und zugleich der Physik des Erd- körpers ein neues Glied, ein umfassendes Gebiet der Forschungen hinzugefügt und nach seinem Umfang, wie nach seinem Inhalt mit so sicherem Blick vorgezeichnet, daß man erstaunt ist, nach mehr als zwei Menschenaltern in den Ideen Hum- boldts fast keine einzige der Aufgaben zu ver- missen, um deren Lösung sich seitdem so viele und hervorragende Naturforscher unausgesetzt be- müht haben." Es bleibt uns deshalb nur noch übrig, zu zeigen, welche Früchte die Taten und Gedanken Hum- boldts getragen haben. Zunächst ist zu betonen, daß auch seine Reisen — bekanntlich unternahm er nach der amerikanischen noch eine in das Innere Asiens im Jahre 1829 — zur Nachahmung reizten und daß sein Beispiel die Reisenden ver- anlaßte, auch ihrerseits pflanzengeographische Be- obachtungen anzustellen. So zeigt sich dies z. B. recht deutlich anChamisso, der durch die Lektüre von Humboldts Schriften angeregt war, fremde Länder zu besuchen, und dann auf seiner Welt- umsegelung (1815 — 1818) viele interessante Be- obachtungen im Sinne der Pflanzengeographie machte und in seiner Reisebeschreibung mitteilte ^). Daß aber auch die Pflanzengeographie nach der erfolgten Begründung wirklich als besonderes Fach anerkannt wird, geht schon daraus hervor, daß bereits im Jahre 1823 das erste Lehrbuch von ihr erscheint, und zwar in dänischer Ursprache und gleichzeitig in deutscher Übersetzung, unter dem Titel: „Grundzüge einer allgemeinen Pflanzen- geographie". Sein Verfasser, Joakim Frederik Schouw, Professor in Koppenhagen, legt zu- nächst in der Einleitung Begriff, Definition und Namen der Wissenschaft fest. Er trennt die Ge- schichte der Pflanzen von der eigentlichen Pflanzen- geographie und bezeichnet die letztere als „eine Wissenschaft, welche das Vorkommen, die Ver- breitungsbezirke und die Verteilungsweise der Pflanzen, wie sie jetzt bestehen, so wie auch die jetzigen Vegetationsverschiedenheiten der Erd- oberfläche, mit Berücksichtigung der äußeren Mo- mente darstellt". In dieser Wissenschaft unter- scheidet er zwei Hauptteile, nämlich die botanische Geographie und die Ortslehre der Pflanzen, je nachdem man die Erde als Objekt und ihre Vege- tation als Beschaffenheit oder die Pflanzen als Objekt und die Verhältnisse zur Erdoberfläche als Beschaffenheit ansieht. Schouw gibt schon ein Literaturverzeichnis von fast neun Seiten, worin er allerdings nicht nur die Werke und Abhand- lungen anführt, die unsere Disziplin zum Haupt- gegenstand haben, sondern auch solche, die nur einzelne hierhergehörige Bemerkungen enthalten, wenn sie von einiger Bedeutung sind. Von Hum- boldt sagt er, daß sowohl sein Werk von 1807 Epoche machen mußte, als auch seine Einleitung zum botanischen Teil seiner Reise (De distributione) zum zweiten Mal Epoche machte, weil hier zu- erst versucht wird, allgemeine Gesetze für die ganze Erde aufzustellen, während man früher bei einzelnen Ländern stehen geblieben war. Nun sind auch schon fast hundert Jahre ver- flossen, daß dieses erste Lehrbuch der Pflanzen- geographie erschienen ist, so daß es jetzt natürlich als veraltet gilt. Unterdessen sind nicht nur größere und kleinere Lehr- und Handbücher über diesen Gegenstand herausgegeben worden, sondern auch die meisten allgemeinen botanischen Lehr- bücher enthalten einen mehr oder minder aus- führlichen Abschnitt über Pflanzenverbreitung. Was die Lehrbücher betrifft, so behandeln sie die Sache teils mehr im Sinne der botanischen Geographie, teils mehr in dem der Ortslehre der Pflanzen (nach Schon w). Zu letzteren gehört die „Geographie botanique raisonnee ou exposi- tion des faits principaux et des lois concernant ') Vgl. M. M ö b i u s , Chamisso als Botaniker (Beihefte z. bot. Zentralb!. 191S, Bd. X.XXVl, Abt. 11, S. 270—306). 526 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVin. Nr. 37 la distribution geographique des plantes de l'epoche actuelle par Alphonse de CandoUe" (Paris 1855, T. I et II). Der Hauptzweck dieses Werkes ist, zu zeigen , was sich bei der gegenwärtigen Verteilung der Pflanzen durch die gegenwärtig wirkenden Bedingungen der Khmate erklären läßt, und was von vorangegangenen Bedingungen ab- hängt. Diesem Werke schließt sich in gewisser Hin- sicht an : A. F. W. Schimper's Pflanzengeographie auf physiologischer Grundlage (i.Aufl. Jena 1898, 2. unveränderte Aufl. 1908J ein Buch, das sich schon äußerlich durch seine zahlreichen Ab- bildungen auszeichnet, aber auch inhaltlich ganz Vortreffliches bietet. Demgegenüber, also mehr die botanische Geographie betonend, steht das prächtige, auch jetzt noch sehr lesenswerte Werk Grisebachs: „Die Vegetation der Erde nach ihrer klimatischen Anordnung (i. Aufl. Leipzig 1872, 2. Aufl. 1884). Es besitzt vor allem den Vorzug, uns in musterhafter Darstellung einen Begriff" davon zu geben, wie die Vegetation in den verschiedenen pflanzengeographischen Gebieten, von denen der Verf. 24 unterscheidet, aussieht, und wie ihre Flora zusammengesetzt ist. Dasselbe Ziel wird verfolgt im dritten Band der Neu- bearbeitung von Kerners Pflanzenleben durch Adolph Hansen, der nicht nur durch seine Meisterschaft im schriftlichen Ausdruck, sondern auch durch eigene, auf seinen Reisen in Afrika, Asien und Nordamerika erworbene Anschauung zur Lösung der Aufgabe besonders befähigt ist. Es würde zu weit führen, auf die anderen größeren Werke aus diesem Fach von Engler, Drude, Warming u. a. einzugehen. Unermeßlich groß ist vollends die Zahl von pflanzengeographischen Einzelarbeiten, die im Laufe des letzten Jahr- hunderts bei den verschiedenen Nationen er- schienen sind und die teils die Verbreitung ge- wisser Pflanzensippen behandeln, teils kleinere oder größere Gebiete nach Vegetation oder Flora schildern, teils den Einfluß klimatischer oder eda- phischer Faktoren auf die Verbreitung berück- sichtigen. Viele dieser Früchte, die seine Pflanzung gezeitigt hat, konnte Humboldt noch reifen sehen, da ihm ja ein so hohes Alter zu erreichen beschieden war. Leider haben gerade auf diesem Gebiet die verflossenen Kriegsjahre sehr störend gewirkt. Es möge deshalb zum Schluß der Hoffnung Ausdruck gegeben werden, daß es auch uns Deutschen bald wieder vergönnt sei, zu erfolgreichen Entdecker- fahrten auszuziehen und zum weiteren Ausbau dieses so interessanten Teiles der Botanik, den unser Landsmann Humboldt begründet hat, beizutragen I [Nachdruck verboten.] Die Lebenskraft oder der Rhodische Genius. Von Alexander von Humboldt. Bei der Wiederkehr seines 150. Geburtstages besprochen von A. Hansen. Am 6. iMai 1859 starb Alexander von Hnmboldt. Im November desselben Jahres wurde, wie in ganz Deutschland, auch in Hamburg die Wiederkehr von Schillers Geburtstag nach 100 Jahren durch eine großartige Feier begangen. Diese beiden Ereignisse, obwohl zunächst ohne Zusammenhang, ') sind die ersten eindrucksvollen Weltbegebnisse, deren ich mich aus meiner Jugend- zeit lebhaft erinnere. Ich war damals 8 Jahre alt, begriff aber den Verlust, den die Welt durch Humboldts Ableben erlitten hatte, wenn nicht vollkommen, doch mit kindlichem Ernste, denn in unserem Hause wurde der Name Alexander von Humboldt öfter von meiner Großmutter erwähnt. Sie zeigte mir gelegentlich einige Briefe, die H u m b o 1 d t an meinen Großvater Prof. Peter- sen, Observator an der damals nicht ganz unbe- deutenden Altonaer Sternwarte, gerichtet hatte. Ich erinnere mich noch heute sehr gut dieser Briefe auf dünnem Papier, mit der zierlichen, auf- fallend nach rechts aufsteigenden Handschrift. Auch der Kosmos wurde bei uns häufig erwähnt, aber als ich ihn zur Hand nahm, behagte er mir ') Der Zusammenhang Humboldts und Schillers liegt für das gegenwärtige Thema darin, daß Humboldts Aufsatz zuerst in Schillers Hören erschien. wenig, wegen der vielen Anmerkungen und ich las mit größerer Freude und Andacht die Reise- schilderungen in „A. von Humboldts Leben und Wirken, Reisen und Wissen" von H. Klencke, über welche Humboldt durch einen Brief an den Verfasser sich noch lobend geäußert hatte. Es war eines von den guten alten Jugendbüchern des Spam ersehen Verlages, denen die damalige Jugend soviel Bildung verdankte, während diese vortreffliche Literatur heute von Mays Phanta- sien und anderen Wunderbüchern verdrängt ist. Diese Erinnerungen bildeten das IVIotiv, der Aufforderung des verdienstvollen Herausgebers dieser Zeitschrift zu einem Beitrag für die Hum- boldtnummer Folge zu leisten. Da kompetentere Berichterstatter für die eigentlichen Verdienste Humboldts als Reisender, Geograph, Pflanzen- geograph, kosmischer Physiker vorhanden sind, so glaubte ich im Anschluß an Humboldts kleinen und vielleicht von Niemand bei dieser Gelegenheit beachteten Aufsatz „die Lebenskraft oder der rhodische Genius", auf die Bedeutung von Humboldts biologischen, zumal pflanzen- physiologischen Studien aufmerksam machen zu sollen, die die Beachtung wohl verdienen. Zwar steht dieser Aufsatz in den nicht unbekannten „Ansichten der Natur", aber meine Nachfrage er- N. F. XVm. Nr. 37 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 527 gab, daß er nur Wenigen bekannt ist. Stehen doch viele Werke unserer Geist^sheroen auf den Repositorien jeder Familie, werden auch gelegent- lich abgestaubt, aber dann stehen sie weiter. Wer liest heute wohl noch Humboldts Kosmos? Leider bildet die jährhche Sündflut der Roman- literatur das vorwiegende Bildungsmittel der deut- schen Gebildeten und das „Zeitalter der Natur- wissenschaften" ist nicht charakterisiert durch all- gemeine Kenntnis ihrer Literatur. Darum haben Gedächtnisfeiern von großen Geistern nicht bloß die ethische Bedeutung dankbarer Erinnerung, sondern auch den praktischen Wert, auf manches Wertvolle aber Vergessene hinweisen zu können. Wenn wir dann solche vor einem Jahrhundert geschriebenen Aufzeichnungen zur Hand nehmen, erkennen wir zugleich, wie wenig es in vielen Fällen auf sich hat, mit dem beliebten Worte jeder Gegenwart: „Wie wir es so herrlich weit gebracht" 1 Humboldts Aufsatz bestätigt, daß trotz der, man kann sagen, erfreulichen, oder sagen wir sogar „bewunderungswürdigen" Fort- schritte der Biologie, unsere theoretische Einsicht in das Rätsel des Lebens, welches jeden Menschen auf das lebhaftste anzieht, noch heute so gering ist, wie damals, als Humboldt seinen Mythus über die Lebenskraft niederschrieb. Wir lassen zunächst diese Erzählung hier folgen. Die Lebenskraft oder der rhodische Genius. Eine Erzählung. Die Syrakuser hatten ihre Poikile wie die Athener. Vorstellungen von Göttern und Heroen, griechische und italische Kunstwerke bekleideten die bunten Hallen des Portikus. Unablässig sah man das Volk dahin strömen, den jungen Krieger, um sich an den Taten der Ahnherren, den Künstler, um sich an dem Pinsel großer Meister zu weiden. Unter den zahllosen Gemälden, welche der emsige Fleiß der Syrakuser aus dem Mutter- lande gesammelt hatte, war nur eines, das seit einem vollen Jahrhundert die Aufmerksamkeit aller Vorübergehenden auf sich zog. Wenn es dem olympischen Jupiter, dem Städtegründer Cekrops, dem Heldenmute des Harmodius und Aristogiton an Bewunderern fehlte, so stand um jenes Bild das Volk in dichten Rotten gedrängt. Woher diese Vorliebe für dasselbe? War es ein gerettetes Werk des Apelles oder stammte es aus der Malerschule des Kallimachos her? Nein, An- mut und Grazie strahlten zwar aus dem Bilde her- vor, aber an Verschmelzung der Farben, an Cha- rakter und Stil des Ganzen durfte es sich mit vielen anderen in der Poikile nicht messen. Das Volk staunt an und bewundert, was es nicht versteht, und diese Art des Volkes begreift viele Klassen unter sich. Seit einem Jahrhunderte war das Bild aufgestellt, und unerachtet Syrakus in seinen engen Mauern mehr Kunstgenie um- faßte als das ganze übrige meerumflossene Sizilien, so blieb der Sinn desselben doch immer unent- rätselt. Man wußte nicht einmal bestimmt, in welchem Tempel dasselbe ehemals gestranden habe. Denn es ward von einem gestrandeten Schiffe ge- rettet, und nur die Waren, welche dieses führte, ließen ahnen, daß es von Rhodus kam. An dem Vordergrunde des Gemäldes sah man Jünglinge und Mädchen in eine dichte Gruppe zusammengedrängt. Sie waren ohne Gewand, wohlgebildet, aber nicht von dem schlanken Wüchse, den man in den Statuen des Praxiteles und Alkamenes bewundert. Der stärkere Glieder- bau, welcher Spuren mühevoller Anstrengungen trug, der menschliche Ausdruck ihrer Sehnsucht und ihres Kummers, alles schien sie des Himm- lischen und Gölterähnlichen zu entkleiden und an ihre irdische Heimat zu fesseln. Ihr Haar war mit Laub und Feldblumen einfach geschmückt. Verlangend streckten sie die Arme gegeneinander aus; aber ihr ernstes, trübes Auge war nach einem Genius gerichtet, der, von lichtem Schimmer um- geben, in ihrer Mitte schwebte. Ein Schmetter- ling saß auf seiner Schulter, und in der Rechten hielt er eine lodernde Fackel empor. Sein Glieder- bau war kindlich rund, sein Blick himmlisch leb- haft. Gebieterisch sah er auf die Jünglinge und Mädchen zu seinen Füßen herab. Mehr Charakte- ristisches war an dem Gemälde nicht zu unter- scheiden. Nur am Fuße glaubten einige noch die Buchstaben ^ und (j zu bemerken, woraus man (denn die Antiquarier waren damals nicht minder kühn als jetzt) den Namen eines Künstlers Zeno- dorus, also gleichnamig mit dem späteren Koloß- gießer, sehr unglücklich zusammensetzte. Dem rhodischen Genius, so nannte man das rätselhafte Bild, fehlte es indes nicht an Auslegern in Syrakus. Kunstkenner, besonders die jüngsten, wenn sie von einer flüchtigen Reise nach Korinth oder Athen zurückkamen, hätten geglaubt, alle Ansprüche auf Talent verleugnen zu müssen, wenn sie nicht sogleich mit einer neuen Erklärung.her- vorgetreten wären. Einige hielten den Genius für den Ausdruck geistiger Liebe, die den Genuß sinnlicher Freuden verbietet; andere glaubten, er solle die Herrschaft der Vernunft über die Be- gierden andeuten. Die Weiseren schwiegen, ahnten etwas Erhabeneres und ergötzten sich in der Poikile an der einfachen Komposition der Gruppe. So blieb die Sache immer unentschieden. Das Bild ward mit mannigfachen Zusätzen kopiert und nach Griechenland gesandt, ohne daß man auch nur über seinen Ursprung je einige Aufklärung erhielt. Als einst mit dem Frühaufgang der Ple- jaden die Schiffahrt ins Ägäische Meer wieder er- öffnet ward, kamen Schiffe aus Rhodus in den Hafen von Syrakus. Sie enthielten einen Schatz von Statuen, Altären, Kandelabern und Gemälden, welche die Kunstliebe der Dionyse in Griechen- land hatte sammeln lassen. Unter den Ge- mälden war eines, das man augenblicklich für ein Gegenstück zum rhodischen Genius erkannte. Es war von gleicher Größe und zeigte ein ähnliches Kolorit, nur waren die Farben besser erhalten. §28 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVm. Nr. 37 Der Genius stand ebenfalls in der Mitte, aber ohne Schmetterling, mit gesenktem Haupte, die er- loschene Fackel zur Erde gekehrt. Der Kreis der Jünglinge und Mädchen stürzte in mannigfachen Umarmungen gleichsam über ihm zusammen ; ihr Blick war nicht mehr trübe und gehorchend, sondern kündigte den Zustand wilder Entfesselung, die Befriedigung lang genährter Sehnsucht an. Schon suchten die syrakusischen Altertums- forscher ihre vorigen Erklärungen vom rhodischen Genius umzuwandeln, damit sie auch auf dieses Kunstwerk paßten, als der Tyrann Befehl gab, es in das Haus des Epicharmus zu tragen. Dieser Philosoph, aus der Schule des Pythagoras, wohnte in dem entlegenen Teile von Syrakus, den man Tyche nannte. Er besuchte selten den Hof der Dionyse, nicht, als hätten nicht ausgezeichnete Männer aus allen griechischen Pflanzstädten sich um ihn versammelt, sondern weil solche Fürsten- nähe auch den geistreichsten Männern von ihrem Geiste und ihrer Freiheit raubt. Er beschäftigte sich unablässig mit der Natur der Dinge und ihren Kräften, mit der Entstehung von Pflanzen und Tieren, mit den harmonischen Gesetzen, nach denen Weltkörper im großen, und Schneeflocken und Hagelkörner im kleinen sich kugelförmig ballen. Da er überaus bejahrt war, so ließ er sich täglich in die Poikile und von da nach Nasos an den Hafen führen, wo ihm im weiten Meere, wie er sagte, sein Auge ein Bild des Unbegrenzten, Unendlichen gab, nach dem der Geist vergebens strebt. Er ward von dem niederen Volke und doch auch von dem Tyrannen geehrt. Diesem wich er aus, wie er jenem freudig und oft hilf- reich entgegenkam. Epicharmus lag jetzt entkräftet auf seinem Ruhebette, als der Befehl des Dionysius ihm das neue Kunstwerk sandte. Man halte Sorge ge- tragen , ihm eine treue Kopie des rhodischen Genius mit zu überbringen, und der Philosoph ließ beide nebeneinander vor sich stellen. Sein Blick war lange auf sie geheftet, dann rief er seine Schüler zusammen und hob mit gerührter Stimme an : „Reißt den Vorhang von dem Fenster hinweg, daß ich mich noch einmal weide an dem Anblicke der reichbelebten, lebendigen Erde 1 Sechzig Jahre lang habe ich über die inneren Triebräder der Natur, über den Unterschied der Stoffe gesonnen, und erst heute läßt der rhodische Genius mich klarer sehen, was ich sonst nur ahnte. Wenn der Unterschied der Geschlechter lebendige Wesen wohltätig und fruchtbar aneinander kettet, so wird in der anorganischen Natur der rohe Stoff von gleichen Trieben bewegt. Schon im dunkeln Chaos häufte sich die Materie und mied sich, je nachdem Freundschaft oder F"eindschatt sie anzog oder abstieß. Das himmlische Feuer folgte den Metallen, der Magnet dem Eisen; das geriebene Elektrum bewegt leichte Stoffe; Erde mischt sich zur Erde ; das Kochsalz gerinnt aus dem Meere zusammen und die saure Feuchte der Stypteria ') (aTvnT)]Qia i'Qya) wie das wollige Haarsalz Tri- chitis heben den Thon von Melos. Alles eilt in der unbelebten Natur sich zu dem Seinen zu ge- sellen. Kein irdischer Stoff (wer wagt es, das Licht diesen beizuzählen?) ist daher irgendwo in Einfachheit und reinem, jungfräulichem Zustande zu finden. Alles strebt von seinem Entstehen an zu neuen Verbindungen; und nur die scheidende Kunst des Menschen kann ungepaart darstellen, was ihr vergebens im Inneren der Erde und in dem beweglichen Wasser- und Luftozeane sucht. In der toten, anorganischen Materie ist träge Ruhe, solange die Bande der Verwandschaft nicht ge- löst werden, solange ein dritter Stoff nicht ein- dringt, um sich den vorigen beizugesellen. Aber auch auf diese Störung folgt dann wieder unfrucht- bare Ruhe. Anders ist die Mischung derselben Stoffe im Tier- und Pflanzenkörper. Hier tritt die Lebens- kraft gebieterisch in ihre Rechte ein ; sie kümmert sich nicht um die demokratische Freundschaft und Feindschaft der Atome; sie vereinigt Stoffe, die in der unbelebten Natur sich ewig fliehen, und trennt, was in dieser sich unaufhaltsam sucht. Tretet näher um mich her, meine Schüler, und erkennt den rhodischen Genius, in dem Ausdrucke seiner jugendlichen Stärke, im Schmetterling auf seiner Schulter, im Herrscherblicke seines Auges das Symbol der Lebenskraft, wie sie jeden Keim der organischen Schöpfung beseelt. Die irdischen Elemente zu seinen Füßen streben gleich- sam ihrer eigenen Begierde zu folgen und sich mit- einander zu mischen. Befehlend droht ihnen der Genius mit aufgehobener, hochlodernder Fackel und zwingt sie, ihrer alten Rechte uneingedenk, seinem Gesetze zu folgen. Betrachtet nun das neue Kunstwerk, welches der Tyrann mir zur Auslegung gesandt; richtet eure Augen vom Bilde des Lebens ab auf das Bild des Todes. Aufwärts entschwebt ist der Schmetter- ling, ausgelodert die umgekehrte Fackel, gesenkt das Haupt des Jünglings. Der Geist ist in andere Sphären entwichen, die Lebenskraft erstorben. Nun reichen sich Jünglinge und Mädchen fröhlich die Hände. Nun treten die irdischen Stoffe in ihre Rechte ein. Der Fesseln entbunden, folgen sie wild, nach langer Entbehrung, ihren geselligen Trieben; der Tag des Todes wird ihnen ein bräut- licher Tag. — So ging die tote Materie, von Lebenskraft beseelt, durch eine zahllose Reihe von Geschlechtern ; und derselbe Stoff umhüllte viel- leicht den göttlichen Geist des Pythagoras, in welchem vormals ein dürftiger Wurm in augen- blicklichem Genüsse sich seines Daseins erfreute. Geh, Polykles, und sage dem Tyrannen, was du gehört hastl Und ihr, meine Lieben, Euriphamos, Lysis und Skopas, tretet näher und näher zu mirl Ich fühle, daß die schwache Lebenskraft auch in mir den irdischen Stoff nicht ') Alaun. Trichitis bedeutete jede nadeiförmige Kristalli- sation in Gesteinen. N. F. XVIII. Nr. 37 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 529 mehr lange beherrschen wird. Er fordert seine Freiheit wieder. Führt mich noch einmal in die Poikile und von da ans offene Gestade. Bald werdet ihr meine Asche sammeln." Dieser anziehende und merkwürdige Aufsatz erschien zuerst in S c h il 1 e rs Hören 1795, Stück 5, S. 90 — 96 und wurde später in die „Ansichten der Natur" aufgenommen. 1 794 war Alexander von Humboldt nach Weimar gekommen und Goethe näher getreten. Schiller lud Hum- boldt, obwohl dieser Naturforscher war, zur Mitarbeit an den Hören ein, worauf Humboldt ihm in einem dankbaren Briefe vom 6. August 1794 eine F"ülle von allgemein interessanten Themen aus der Geographie und Geschichte der Pflanzen vorschlug, die in nächster Beziehung zur Welt- und Völkergeschichte ständen, und nach seiner Ansicht höhere Gesichtspunkte bieten könnten, als die „elenden Registraturen der Natur", die Linn es erhabenes Beispiel verdorben hatten. Schiller äußerte sich zu Körner da- rüber sehr erfreut und schrieb : „Er ist jetzt in Deutschland gewiß der vorzüglichste in diesem Fache und übertrifft an Kopf vielleicht noch seinen Bruder, der gewiß vorzüglich ist." Bei dieser Sachlage nimmt nun zweierlei Wunder. Einmal, daß Humboldt keinen natur- wissenschaftlichen Aufsatz sandte, sondern seine Erzählung über die Lebenskraft, und daß Schiller bald seine Stimmung gegen Humbold t gänzlich änderte und sich in einem Briefe vom 6. August 1797 in der schärfsten Weise über Humboldt äußerte, so daß ihm Körner antwortete: ,,Dein Urteil über Alexander von Humboldt scheint mir doch fast zu streng." Humboldt mochte vielleicht geglaubt haben, eine naturwissenschaftliche F"rage für die Hören besser in ein poetisches Gewand zu kleiden und Schiller hat offenbar die dem Mythus zugrunde- liegenden Beobachtungen und Studien nicht ver- folgt, sonst würde er gewiß die von ihm bei Humboldt so sehr vermißte Verbindung von empirischer Forschung mit Einbildungskraft ge- rade an diesem Beispiel erkannt haben. Die Beschäftigung mit der Erzählung des rhodischen Genius klärt also manche Beziehungen zu Personen und Forschungsresultaten auf, die man bei ober- flächlichem Durchlesen nicht erwartet. Die geradezu bissige Mißstimmung Schillers gegen Humboldts Forschungsweise erscheint um so weniger begreiflich, als Schiller durch seine Jugendschrift „Über den Zusammenhang der tierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen" bewiesen hatte, wie weit sein Interesse und Ver- ständnis für naturwissenschaftliche und naturphilo- sophische Probleme ging. Niemand liest zwar heute diese Schill ersehe Schrift, über deren Reife man erstaunt, da sie von dem 20jährigen Karls- schüler selbständig und ohne fremdes Vorbild verfaßt ist (1780). Würde sie heute von einer akademischen Autorität veröffentlicht, so würde sie Aufsehen erregen und von allen Zeitungen be- achtet werden. Die momentane Abneigung Schillers gegen Humboldt war gottlob vor- übergehend, so daß man diese beiden Großen getrost nebeneinander nennen kann. Humboldt hat in seiner Erzählung die Tat- sache behandelt, die eigentlich jedem Biologen besonders einleuchten sollte : Daß das Rätsel des Lebens in dem Moment am größten und staunens- wertesten erscheint, wo es aus dem Organismus entflieht. Wenn ein im blühenden Leben stehen- der Mensch Blausäure einatmet und tot zu Boden stürzt, was ist geschehen ? Es ist noch derselbe Mensch, wir finden keine äußere und anatomische Veränderung, aber Lunge und Herz haben ihre Tätigkeit eingestellt, der Blutkreislauf hat aufge- hört, jede Reizbarkeit ist verschwunden. Das Leben ist „entflohen", sagt die Volkssprache. Dennoch kann niemand beweisen, daß etwas ent- flohen ist. Am auffallendsten bleibt aber, daß der tote Körper keinen Bestand mehr hat und schon nach Tagen zu zerfallen und sich in seine Bestand- teile aufzulösen beginnt. Nur das Knochengerüst bleibt übrig, aber auch dies ist passiv und tot. So kann allerdings der Eindruck entstehen, daß ein Spiritus rector verschwunden sei, dessen Herr- schaft den Organismus zusammenhielt, der ohne dessen Leitung auseinanderfällt, verdirbt und ver- schwindet, wie ein führerloser Staat. Vor diesem Rätsel stehen noch heute fort und fort Millionen von Menschen und noch keiner hat es aufgeklärt. Der Arzt und pathologische Anatom mögen die nächsten Ursachen des Todes nachweisen. Was während des Lebens im Körper die Herrschaft und einheitliche Leitung führte und besorgte, können sie nicht angeben und auch auf sie wirkt das Geheimnis des Todes. Humboldt hat diese Tatsache in bewunde- rungswürdiger Weise symbolisch dargestellt. Daß der Körper sich aus bekannten Stoßen , d. h. chemischen Verbindungen, aufbaut, ist bekannt. Ein Genius des Lebens beherrscht in dem Mythus die Elemente, die den Organismus zusammen- setzen, und hält sie vereinigt in der lebendigen Substanz, die ihn aufbauen. Sobald er das Zeichen seiner Macht, die Fackel, senkt, lockern sich alle elementaren Bande. Die Form der Erzählung war neu, nicht ganz der Gedanke. Aristoteles nannte das Lebens- prinzip „Seele", nach Descartes Auftreten ver- suchte man, das Leben als physikalisch- chemischen Prozeß aufzufassen, doch hatte sich, angeregt durch Leibniz, gegen die mechanistische Theorie eine Gegnerschaft erhoben, welche ihr die Lehre ent- gegensetzte , die ppäter V i t a 1 i s m u s genannt wurde, und auch heute noch, wenn auch in anderer Form, dem Mechanismus gegenübersteht. Van Helmont (t 1694) hatte statt der Seele des Aristoteles den „Archäus" eingeführt, der im Körper die Macht hatte ihn vor der Fäulnis wäh- rend des Lebens zu bewahren, der er nach dem Tode unrettbar anheimfiel. Aber dieser Archäus war eine durchaus mystische Vorstellung, sie bheb 53° Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVm. Nr. 37 es auch als Stahl das Lebensprinzip wieder „Seele" nannte. Diese Vorstellungen waren um so einseitiger, da sie sich auf die Erklärung der für die Medizin wichtigsten menschlichen Lebens- vorgänge beschränkten, was gegen Ar ist otel es einen Rückschritt bedeutete. Die induktive For- schung, welche seit dem 1 8. Jahrhundert immer kräf- tiger einzusetzen begann, stand dagegen im eng- sten Zusammenhang mit den antimetaphysischen Geistern und bekämpfte von neuem die Vorstel- lung des rätselhaften angeblichen Lebensprinzips. Es wurde immer evidenter, daß „Leben" sich in stetigen Veränderungen äußert, und da man die Veränderungen in der unbelebten Natur nicht mehr auf mystische Ursachen, sondern auf Kräfte- wirkung e n zurückführen konnte, so scheute man sich nicht, das Spiel dieser Naturkräfte auch im Orga- nismus vorauszusetzen. Das kam den Gegnern der Mechanisten nicht ungelegen. Sie verabschiedeten den Archäus und die Seele und wollten sich den Mechanisten durch Annahme des Begriffes der Kraft wissenschaftlich an die Seite stellen, aber die Veränderungen im lebenden Körper sollten nur in einer Kraft ihre Ursache haben und diese Kraft hatte mit den Naturkräften nichts zu schaffen, sie war etwas anderes und man gab ihr daher den Namen „Lebenskraft". Dieser Name hätte eigentlich beide Lager vereinigen können. Wenn man der Lebenskraft entgegenhielt, daß ihr Wesen ganz unbekannt bleibe, so galt das gleiche für die Naturkräfte, deren Wesen ebenso unbekannt war und es noch heute ist. Aber die Lebenskraft stand doch in einem anderen Verhältnis zur Ma- terie, wie die Naturkräfte. Diese wirken von außen auf die Massen, die Lebenskraft war eine innere Kraft des Organismus. Die Dampfkraft wirkt auf die Dampfmaschine, um sie in Bewegung zu setzen, steckt aber keineswegs in ihr. Die Lebens- kraft aber sollte dem Organismus immanent sein. Die beiden Vorstellungen werden auch heute noch von Biologen nicht immer scharf auseinander- gehalten. Auch Vertreter des Mechanismus spre- chen zuweilen von „Protoplasmakräften", „inneren Ursachen" u. dgl., ohne darunter die alte Lebens- kraft verstehen zu wollen, ein Zeichen, das in der Biologie extreme Standpunkte Epigenesis und Präformation, Bildungstrieb und energetische Auf- fassung leicht ineinanderfließen. Dennoch stehen sich die beiden Anschauungen, die vitalistische und mechanistische unversöhnlich gegenüber. Der rhodische Genius scheint zunächst nichts anderes zu sein, als der Archäus van Helmonts oder ein Symbol der späteren „Lebenskraft". Bei genauem Studium der dem Mythus zugrunde- liegenden naturwissenschaftlichen Beobachtungen und Gedanken Humboldts kommt man aber doch zu einem wesentlich anderen und befriedi- genderen Resultat. Ich kann daher Braeuiiig nicht zustimmen, der in seiner Schrift über „Me- chanismus und Vitalismus" (Leipzig 1907, S. 15) unter Hinweis auf den rhodischen Genius sagt: „Auch A. V. Humboldt, der neben Goethe wohl den tiefsten Einfluß auf die naturwissen- schaftliche Anschauung des Zeitalters geübt hat, lehnt eine mechanische Naturerklärung, wenigstens für die Vorgänge des Lebens und die Entstehung der Organismen vollkommen ab. In seinen „An- sichten der Natur" findet sich in wunderbar poetischer Sprache und in ein Symbol von großer Tiefe und plastischer Anschaulichkeit ge- kleidet, eine Darstellung seiner Auffassung vom Leben der Organismen." So trefflich die Charakterisierung der Form der Erzählung in diesen Worten gegeben ist, so ist es doch nicht richtig, daß Humboldt in ihr seine An- sicht über das Leben hat zum Ausdruck bringen wollen, die anderswo in seinen wissenschaftlichen Schriften deutlich genug ausgesprochen wird und ganz anders lautet. Kommt auch das Wort „Lebens- kraft" nicht nur in der Überschrift, sondern auch im Text des rhodischen Genius vor, so wäre es doch irrig, den Mythus als eine Verherrlichung der Lebenskraft auffassen zu wollen. Humboldt wollte keineswegs das Dogma der Lebenskraft symbolisieren und damit bestätigen, sondern er bezweckte die Symbolisierung des Problems des Lebens. Humboldt stand der Ansicht von einer „Lebenskraft" durchaus kritisch gegenüber. Der Begriff genügte ihm nicht , um das Leben und seine Erscheinungen zu erklären. Er ging über die Anhänger der „Lebenskraft" hinaus, in- dem er die Frage stellte, was ist Lebenskraft? Sie, d. h. der Begriff, war ihm also kein Dogma, sondern ein wissenschaftliches Problem , Hum- boldt hat im rhodischen Genius das Problem angedeutet, daß das Leben in seiner ganzen Eigen- artigkeit erscheint, wenn es erlischt. Das rhodi- sche Gemälde wird nicht verstanden. Niemand findet seine Deutung, erst als das zweite Gemälde hinzukommt , leuchtet die Erklärung des Epi- charmus allen ein. Das rhodische Gemälde stellt den Genius des Lebens dar! Durch den Tod wird das Leben erläutert. Aber Hum- boldt wollte mit seiner Erzählung nicht etwa lehren , daß die Lebenserscheinungen von einem Genius beherrscht würden, dem man auch den Namen „Lebenskraft" geben könne. Das wäre ein unfruchtbares Dogma, eine Selbsttäuschung, gewesen. Er trachtete vielmehr danach zu analy- sieren : Was ist dieser Genius des Lebens, seinem Wesen nach, ausgedrückt durch die Sprache der Wissenschaft.? Die dogmatischen Vertreter der „Lebenskraft" hatten diese ganz so aufgefaßt, wie Emil Du Bois-Reymond in der Vorrede zum I. Bande seiner „Untersuchungen über tierische Elektrizität" (1840) sie Seite XXXVI schildert: „Als Ursache der Bewegungen werden insge- mein betrachtet die Kräfte. Diese Vorstellung ist zwar grundlos; wir können aber vor der Hand dabei stehen bleiben, da das Unzulängliche davon erst bei einem vorgerückteren Stande der Unter- suchung gefährlich zu werden anfängt. Da die Bewegungen in der Richtung der Kräfte erfolgen sollen, so ist mit dem Vorhergehenden bereits N. F. XVIII. Nr. 37 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. S3I ausgesprochen, daß es weder in der anorganischen, noch in der organischen Natur Kräfte gebe, deren letzte Komponenten nicht entweder einfach an- ziehende oder abstoßende, sog. Zentralkräfte seien. Man sieht daher, und bei dieser Bemerkung wollen wir es zunächst bewenden lassen, daß der einzige Unterschied, der noch denkbar ist zwischen den Vorgängen der anorganischen und denen der or- ganischen Natur, zu suchen sein würde in einer Verschiedenheit der Zentral kräfte, womit die Stoff- teilchen in beiden ausgerüstet gedacht werden. Bei einem sehr abweichenden Ergebnis hat sich, bis auf den heutigen Tag, die große Mehr- zahl der Physiologen, Philosophen, kurz aller der- jenigen beruhigt, die es zu ihrem Geschäft machten, über das Wesen der Lebensvorgänge nachzudenken. Ihre Ansichten sind zu dunkel und unbestimmt, als daß sie mit Klarheit und Schärfe in einen Ausdruck zusammenzufassen wären. Im allge- meinen aber laufen sie darauf hinaus, anzunehmen eine Lebenskraft als Ursache und obersten Ordner aller Lebenserscheinungen. Diese Kraft bewohne den ganzen Körper, ihr unbewußtes Wesen trei- bend auf dem geheimnisvollen, ja übersinnlichen Hintergrunde eines Schauplatzes, auf dessen äußer- ster Vorbühne allein alles sinnlich Erreichbare, Erklärliche spielt. Sie sei im Innersten verschie- den von allen physikalischen und chemischen Kräften, welche in der anorganischen Natur walten, und in Ewigkeit entzogen und unzugäng^lich den ohnmächtigen Methoden, die vermocht haben, die Wirkungsweise dieser Kräfie zu durchschauen. Vor ihr müssen diese Kräfte sich beugen. Es ist ihr gegeben, zu binden und zu lösen, wie e.s ihr gefällt. Sie bemächtigt sich der eingeführten Nahrungsmittel, macht sie zu belebter Materie, verwendet sie eine Zeitlang zu ihren Zwecken und stößt dann das Untauglichgewordene wieder von sich. Bei der Fortpflanzung überträgt sie sich, ohne selbst etwas einzubüßen, auf den Keim des neuen Geschöpfs. Sie widersteht während des Lebens der feindseligen Gefräßigkeit des Sauer- stoffs, der nach unserer Kohle lechzt. Sie ver- bietet der Fäulnis Platz zu greifen, so lange sie Herr im Hause ist. Nach dem Tode jedoch zieht sie sich bescheiden und ohne daß eine Spur von ihr übrig bliebe hinter die Kulissen zurück. Diese Dienstmagd für Alles besitzt übrigens sehr mannig- faltige Kenntnisse und Fertigkeiten. Denn sie orga- nisiert, assimiliert, sezerniert, reproduziert, sie leitet die Entwicklung; resorbiert und unterscheidet noch dazu das Heilsame vom Gifte, das Nützliche vom Unbrauchbaren; sie heilt Wunden und macht Krisen; sie ist der letzte Grund der tierischen Bewegungen , der sog. Seele hilft sie wenigstens beim Denken u. dgl. m." Humboldt ging über diese Annahme einer qualitas occulta hinaus, denn er war der Erste und Einzige, welcher versuchte, den Begriff der Lebens- kraft zu definieren. Diese Definition erkennt man schon in der Erzählung, in den Worten des Epicharmus : „Tretet näher um mich her, meine Schüler, und erkennt den rhodischen Genius, in dem Aus- drucke seiner jugendlichen Stärke, im Schmetter- ling auf seiner Schulter, im Herrscherblicke seines Auges, das Symbol der Lebenskraft, wie sie jeden Keim der organischen Schöpfung beseelt. Die irdischen Elemente zu seinen Füßen streben gleich- sam ihrer eigenen Begierde zu folgen und sich miteinander zu mischen. Befehlend droht ihnen der Genius mit aufgehobener, hoch lodernder Fackel und zwingt sie, ihrer alten Rechte einge- denk seinem Gesetze zu folgen." Schon vor Abfassung des „rhodischen Genius" war die Definition ohne poetische Einkleidung gegeben worden, nämlich in den „Aphorismen zur chemischen Physiologie der Pflanzen", übersetzt von G.Fischer, Leipzig 1794, und diese Defi- nition war neu und eigenartig. Glich die Lebenskraft bei den meisten Physio- logen ganz dem Archäus van Helmonts, d. h. einem transzendenten „Ding an sich", so machte C. F. Ludwig, der die deutsche Über- setzung der Humboldtschen „Aphorismen" be- vorwortete, ausdrücklich darauf aufmerksam (S. XV), daß bemerkenswert sei : „D i e n e u e D e f i n i t i o n der Lebenskraft S. 9, die, wenn sie auch noch vielfach anders modifiziert werden wird, doch die einzige aus der inneren Natur der Wesen hergenommene ist." Deutlicher ausgedrückt muß man sagen: Den Vertretern der ,, Lebenskraft" war es gar nicht eingefallen, daß nacJi Unterordnung der Lebens- kraft unter den Kraftbegriff selbstverständlich ihr Verhältnis zu den bekannten „Kräften" zunächst festzustellen sei. Ihre Ansicht war gänzlich ani- mistisch. Die Lebenskraft bewirkte eben das Leben, das war alles, aber das war auch Nichts! Humboldt dagegen sah auch die „Lebenskraft" als eine Kraft an, die Widerstand überwäl- tigen kann (denn das gehört zum wissenschaft- lichen Begriff der Kraft) und er untersuchte ihre besondere Wirkungsweise. Diese Wirkungsweise erschien vorläufig als eine Hemmung. Die Affinität der chemischen Elemente, welche in der unbelebten Natur nach ihren, von uns festgestellten Gesetzen frei in Wirkung tritt, unterliegt im Or- ganismus offenbar, wenn nicht anderen, doch ganz besonderen regulativen Ursachen, die so lange Geltung haben, wie der Organismus lebt. Darum können wir vorläufig die Gesamtheit dieser Ursacnen Lebenskraft nennen. Der erfahrungsmäßige Ein- druck ist der, daß diese Lebenskraft die Affinität der Elemente beherrscht und in besondere Bahnen lenkt. Erst wenn diese Herrschaft beim Tode aufhört, folgen die Elemente ihren unbeeinflußten Affinitätskräften und die organischen Verbindungen „zersetzen" sich , die Elemente eilen neuen Ver- bindungen des anorganischen Zustandes zu. Das ist Humboldts Grundanschauung über die Lebenskraft, eine Anschauung, die nichts mit Metaphysik zu tun hat, sondern sich im Rahmen chemisch - physikalischen Denkens bewegt, also 532 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 37 naturwissenschaftUch keine Ähnlichkeit besitzt mit den animistischen Vorstellungen der „Lebens- kräftler". Humboldts Versuch den Unserschied lebender und unbelebter Stoffe statt durch das leere Wort „Lebenskraft" das nicht einmal den Wert einer Fiktion besitzt, durch eine che- mische Vorstellung zu erläutern, ist noch heute viel besser, als andere mit dem Begriff „Lebens- kraft" verknüpfte Meinungen. Es ist nicht unwichtig hervorzuheben, daß Humboldt, obwohl der Prozeß der Fäulnis als ein durch Mikroorganismen veranlaßter, also bio- logischer Vorgang noch nicht erkannt war, den Unterschied von chemischen Reaktionen , z. B. Oxydation des Eisens an der Luft, hervorhebt. In der Tat ist es mehr als auffallend, daß solange der Körper lebt, es den Mikroorganismen nicht gelingt, die Elemente aus den Verbindungen, welche die Gewebe aufbauen, zu trennen und in andere Verbindungen überzuführen und damit den Zerfall des Organismus zu bewerkstelligen. Das Wesentliche von Humboldts Ansicht ist also keine mystische Vorstellung von einer Kraft, die das Leben in unvorstellbarer Weise schafft, sondern die Vorstellung von wechselnden ZuständenderAffinität,dieauf der Theorie der Chemie beruht. Daß die chemische Affinität im lebenden Organismus modifiziert sein kann, stimmt überein mit den Vorstellungen der Chemie von einer wesentlich anderen Atomverkettung in den organischen Verbindungen. So können und müssen vcschiedene Konstellationen Zustandekommen, nicht durch eine besondere Kraft, sondern durch gegenseitige Beeinflussung der Elemente. Der Chemiker kann aus der Atomgruppierung ganz bestimmte Eigenschaften von Substanzen voraus- sagen, z. B. ob ein Körper gefärbt ist oder nicht. Daß Humboldt auf solche Auffassungen hinzielte, wie wir sie heute erörtern können, er- kennt man klar aus seinen beiden Schriften „Aphorismen über die chemische Physiologie der Pflanzen" und „Versuche über die gereizte Muskel- und Nervenfaser". Die der Flora Fribergensis (1793) angehängten „Aphorismi ex doctrina physiologiae chemicae plantarum (übers, v. Fischer 1794) und noch mehr die „Versuche über die gereizte Muskel- und Nervenfaser" (2 Bde. 1797) lehren, wieviel Hum- boldt an exakter physiologischer Arbeit so ganz nebenher auf Reisen geleistet hat. Es handelt sich nicht um ein paar gelegentliche Versuche und Beobachtungen, sondern um ganze zusammen- hängende Versuchsreihen, die ein heutiger Phy- siologe nur in einem gut eingerichteten Labora- torium unternehmen würde, während Humboldt seinen Apparat sogar zu Pferde mitführte. Mit diesen Untersuchungen eilt Humboldt der damaligen kaum zum Leben erwachenden Physiologie weit voraus. Seine Studien über die Reizbarkeit der Staubfäden von Berberis, Cacteen, Cynareen wurden erst in der Neuzeit wieder auf- genommen, ohne daß man des Vorarbeiters be- sonders achtete. So ging es auch mit den Be- obachtungen der Blattbewegungen bei Hedysarum, Mimosa, Dionaea, Oxalis. Die Eigenschaft der Reizbarkeit wurde von der Botanik kaum beachtet und nur der Mediziner Haller hatte darauf hin- gewiesen. Humboldt sagt 1. c. S. 54, daß, ob- wohl bei den Pflanzen keine Nerven gefunden seien, der Streit, den Philosophen seit langer Zeit über die Empfindlichkeit der Pflanzen geführt haben, nicht beizulegen sei. Er hob schon her- vor, daß die Reize, welche die einzelnen Blätter bewegen, entweder in den Vegetabilien selbst, oder in äußeren Ursachen, oder in beiden zugleich zu suchen seien. Auch unterscheidet er die periodischen Bewegungen der Blätter von Hedy- sarum, von denen bei Mimosa und Dionaea. Es ist nebensächlich, daß Humboldt meinte, die Bewegungen dieser Organe könnten vielleicht auf der Fähigkeit reizbarer Fibern, ähnlich den Muskel- fasern, beruhen. Hauptsache bleibt, seine allge- meine, physiologische Auffassung dieser Vorgänge als Reizerscheinungen, ehe dieser Begriff in Schopenhauers genauerer Fassung, in die Pflanzen- physiologie aufgenommen wurde. ^) Seine Versuche über die Wirkung der chemischen Elemente und Verbindungen auf die Reizbarkeit hätten die mo- derne experimentelle Richtung der Pflanzenphysio- logie inaugurieren können, wenn sie mehr Be- achtung gefunden hätten. An die Beobachtungen über die Wasserstoffentwicklung bei Hutpilzen, die auf einer Mannitspaltung beruht, wurde erst in neuester Zeit wieder angeknüpft. Humboldt hatte mit Scharfblick sogleich die Entdeckung von Ingenhousz richtig er- kannt. Bekannt mit dem Gaswechsel bei Pflanzen machte es ihm keine Schwierigkeit, daß die Er- nährung der Pflanzen im Gegensatz zur tierischen zunächst ein Gaswechsel sein sollte, was den damaligen Aristotelikern nicht einleuchten wollte. Humboldt bevorwortete die von Fischer be- sorgte Übersetzung von Ingenhousz Schrift „On the food of plants (1798). Allein die Indolenz der Linneschen Botanik war zu groß, als daß Humboldts Name der Entdeckung Erfolg ver- schafft hätte, die erst ca. 40 Jahre später durch L i e b i g s Energie durchdrang. Die umfangreichen „Versuche über die gereizte Nerven- und Muskelfaser" bilden eine Vorläufer- schaft zuDubois Untersuchungen über tierische Elektrizität.-) Die Theorie kommt für uns nicht in Betracht, wohl aber die Bemerkungen, die Humboldt auch hier über seinen allmählich veränderten und immer klarer angegebenen Stand- punkt gegenüber der Lebenskraft gemacht hat. Wir lesen 1. c. Bd. II, S. 431 über das Er- löschen des Lebens: „Woher nun dieser Wechsel der Erscheinungen, ') Vgl. Hansen, Ernährung der Pflanzen. 2. Auflage. Vorrede. ') E. Du Bois-Reymond, Untersuchungen über tierische Elektrizität Bd. I, S. 75, 1848. N. F. XVin. Nr. 37 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 533 dies Verschwinden des organischen Gewebes, diese eintretende Fäulniss? Warum zeigen sich auf ein- mal chemische Ziehkräfte wirksam, welche vorher gleichsam aufgehoben schienen? Diese Veränderung kann, meiner jetzigen Einsicht nach, in dreierlei Ursachen gegründet seyn : die will- kürliche Muskelbewegung und andere physiologi- sche Erscheinungen lehren uns, dass etwas Ausser- sinnliches, Vorstellungen, auf die Materie wirken, die die relative Lage der Elemente modificiren können. Es ist daher denkbar, dass etwas Aussersinnliches (eine Vorstellungskraft) die Grundkräfte der Materie im Gleichgewicht hält, und die chemischen Affinitäten der Stoffe, welche bloss von jenen Grundkräften der Anziehung und Abstossung abgeleitet sind, während des Lebens anders determinire, als wie sie sich uns in der todten Natur offenbaren. Es ist aber auch eben so denkbar, dass der Grund jenes inneren Gleich- gewichtes in der Materie selbst liegt, und zwar in einem unbekannten Elemente, welches der belebten Thier- und Pflanzenschöpfung ausschliessend eigentümlich ist, und dessen Bei- mischung die Affinitätsgesetze ändert, oder (3tens) in dem Verhältniss, dass in einem Aggregat thätiger Organe jedes derselben dem andern per- petuirlich neue Stoffe abgiebt, wodurch die älteren (im ewig erneuerten Spiel zusammenge- setzter Affinitäten) gehindert werden, den Sättigungspunkt zu erreichen, zu dem sie bei der grösseren inneren R u h e ^) der todten Natur unge- hindert gelangen. In dem tiefen Dunkel, welches noch über dem Mischungszustand der organischen Materie schwebt, scheint es mir vorsichtiger, von den erstem beiden Annahmen zu schweigen, so lange die letztere uns eine Aussicht gewährt, physische Erscheinungen nicht nur physisch, sondern auch ohne Zuflucht zu einer unbekannten Materie zu erklären. Wenn ich daher ehemals in den Aphorismen -) aus der chemischen Physiologie der pflanzen, die Lebenskraft als die unbekannte Ursach betrachtete, welche die Elemente hindert, ihren natürlichen Ziehkräften zu folgen, so glaube ich in diesem Satze ein Factum ausgedrückt zu haben, welches ich, nach meinen jetzigen Ein- sichten, keineswegs für erw ies en halte. Ich füge diese Erklärung um so ausdrücklicher bei, da mir meine Definition der Lebenskraft, die seit 4 Jahren in so viele andere, zum Theil wichtige Lehrbücher übergegangen ist, in den Schriften der Herren Reil, Veit, Ackermann und Röschlaub gründlich und scharfsinnig wider- legt zu seyn scheint. Wage ich es daher nicht, eine eigene Kraft zu nennen, was vielleicht bloss durch das Zu- sammenwirken, der, im einzelnen längst bekannten materiellen Kräfte bewirkt wird, so glaube ich ') Diese Idee habe ich bereits an einem anderen Orte (s. Schillers Hören 1795, St. 5, S. 90) im Rhodischen Genius entwickelt, einem Versuch physiologische Gegenstände ästhetisch zu behandeln. ^) S. Florae Friberg. Specimen usw. dagegen aus den chemischen Verhältnissen der Elemente eine desto sicherere Definition be- lebter und unbelebter Stoffe deduciren zu können. Eine solche Definition ist unstreitig ein großes Bedürfniss der beschreibenden Naturkunde, da alle Criterien, die man von der faserartigen Aneinanderreihung der Grundstoffe, von willkühr- licher Bewegung, von dem Umlauf flüssiger Theile in festen, und von der inneren Anneigung her- nimmt, theils allzuverwickelt, theils unbefriedigend sind. Belebt nenne ich denjenigen Stoff, dessen willkührlich getrennte Theile, nach der Trennung, unter den vorigen äusseren Verhältnissen ihren Mischungszustand ändern. Das Gleichgewicht der Elemente in der be- lebten Materie erhält sich nur so lange und da- durch, dass dieselbe Theil eines Ganzen ist. Ein Organ bestimmt das andere, eines giebt dem andern die Temperatur, in welcher diese und keine andere Affinitäten wirken. Ein Metall, oder ein Stein kann zertrennt werden, und bleiben die äusseren Bedingungen dieselben, so werden die zertrennten Stücke auch die Mischung behalten, welche sie vor der Trennung hatten. Nicht so jedes Atom der belebten Materie, es sey starr, oder tropfbar flüssig. Die gegebene Definition schliesst sich unmittelbar an die Idee des unsterb- lichen Denkers an, ,dass im Organismus' alles wechselseitig Mittel und Zweck sey?" Diese Ausführungen widersprechen endgültig jeder Annahme einer Lebenskraft, und schließen sich den Anschauungen heutiger Biologen an. Humboldt hat auch, in den Erläuterungen zum Wiederabdruck des rhodischen Genius in den Ansichten der Natur, bestimmt der Lebenskraft abgesagt. In seiner Analyse des Begriffes „Lebenskraft" läßt sich genau verfolgen, wie Humboldt zuerst der ,, Lebenskraft" der alten Vitalisten den Begriff einer hemmenden Ursache für chemische Veränderungen entgegensetzte, dann auf jede transzendente Vorstellung verzichtend, nur die Atombindung und Atombewegung für den Unter- schied lebendiger und lebloser Substanz für aus- reichend erachtete und damit den antimetaphysi- schen, naturwissenschaftlichen Standpunkt endgültig einnahm. So hatte sich Humboldt selbständig ganz zur wahrscheinlich richtigen Ansicht durchgerungen, daß auch das Leben, wie man heute sagen würde, ein Energiewechsel ist, der nur deshalb andere Erscheinungen hervorruft, weil er in der Zelle verläuft. Die Lebenskräftler hatten dagegen nie- mals hervorgehoben, daß hinter ihrem Begriff ein wissenschaftliches Problem versteckt sei, sondern sie glaubten es schon gelöst und das Leben er- kannt zu haben. Der Neovitalismus hat es nicht weiter gebracht. An Stelle des Kraftbe- griffes der ihm wegen des Anklanges an physi- kalische Vorstellungen zuwider war, hat er abstrakte Begriffe des WoUens, also psychologische, gesetzt : 534 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 37 „Psyche", „Psychoid", „Autonomie des Lebens", „Entelechie", die leer und überdies nach Kants Bezeichnung principia peregrina sind. Wenn man sich in Humboldts Erzählung vom rhodischen Genius vertieft, so muß man sagen, das Problem wird viel weniger durch die Frage bezeichnet, welche Macht die Affinitäten im lebenden Körper bindet, als durch die entgegen- gesetzte, wodurch jene beim Tode frei werden? Es wandelt sich das Problem des Lebens um in das Problem des Todes. Das zweite Gemälde kann wohl das erste erläutern, enthält aber nicht, wie der treffliche Epicharmus meint, des Rätsels Lösung, sondern gibt ein größeres auf. Man kann zugeben, daß H. Driesch, der anerkannte Führer des Neovitalismus in seinem zweibändigen Werke „Physiologie des Organischen" eine umfassende analytische Denkarbeit geleistet hat, um an Stelle eines bloßen Symbols des Lebens „der Lebenskraft" ein System philosophischer Be- griffe zu setzen. Er analysiert das Problem, zer- legt es in zahlreiche Teilprobleme, wie der Natur- forscher das auch tut. Allein er glaubt durch bloße Begriffsbildung und Deduktion allein das Ziel erreichen zu können. Ein ganzes System von Begriffen wird aufgestellt, eine neue Terminologie geschaffen, die allerdings keineswegs leicht ver- ständlich und ohne weiteres klar ist, und schon deshalb Schwierigkeiten bereitet, weil sie mit der gewohnten Ausdrucksweise der Philosophie häufig in Widerspruch steht, z. B. bei den Begriffen der Ursache, in der Teleologie, wo die Ausdrücke zweckmäßig und praktisch, umgekehrt wie üblich gebraucht werden. Der Autor muß daher oft sonst geläufigen Begriffen zufügen „in unserem Sinne". Er liebt es auch bei seinen Definitionen zuerst hervorzuheben, was ein Begriff nicht be- deuten soll, was keine Erleichterung ist. Das Resultat der umfangreichen Untersuchung wird offenbar von Philosophen höher geschätzt, als von den Biologen. Für diese bedeutet die Rückkehr zu der Entelechie des Aristoteles zu wenig. Der erst vor 150 Jahre von der Naturforschung einge- schlagene Weg hat immerhin schon bewiesen, daß er zu einem Ziel führt, während die Rückwendung zur Scholastik, wegen ihres gänzlichen Versagens in 2000 Jahren, kein Zutrauen erwecken kann. Daher wirkt diese Abkehr von der Methodik der Naturforschung und die Rückkehr zur Entelechie überraschend. Ich bescheide mich, als Nichtphilosoph einen Philosophen von Weltruf belehren zu wollen, kann aber die Erfahrungstatsache nicht aus der Welt schaffen, daß es weder mir noch anderen Fach- genossen gelungen ist, durch Drieschs System auch nur um Haaresbreite tiefer in das Ver- ständnis der Lebensvorgänge einzudringen. Es wirkt zuerst bestechend, das ganze Lebensgetriebe auf eine einheitliche Ursache zurückzuführen, aber es ist den Naturforschern nicht einmal gelungen, über die Hauptsache, was der Begriff Entelechie bedeutet, ins Reine zu kommen. Im Band II. S. 149 heißt es bei Driesch: „Wir wissen bereits, daß nicht jedes Ereignis, welches im Laufe der Fortbildung und des Stoff- wechsels statthat, der direkte Ausfluß entelechialer Akte ist, und es ist wohl der Mühe wert, hierüber noch etwas zu sagen. Zunächst wollen wir wieder- holen, daß verschiedene Arten von Entelechien am Organismus ihre Rolle spielen : Es gibt da die Entelechia morphogenetica und später die Entelechia psychoidea und die letztere kann man wieder scheiden, je nach dem sie Instinkte oder Handlungen lenkt. Ferner kann man noch sagen, daß die verschiedenen Teile des Gehirns, wie z. B. bei Wirbeltieren die Hemisphären und das Kleinhirn ihre verschiedenen Arten von Entelechie besitzen. So können wir denn in der Tat von einer Ordnung der Entelechien nach Rang oder Wert sprechen, eine Ordnung, die ver- gleichbar ist der Rang- oder Wertordnung in einem Heere oder einer Verwaltung. Alle Entelechien leiten aber ihren Ursprung von der einen anfäng- lichen her und können in dieser Beziehung doch wieder alle zusammen eine heißen." Das ist die Sprache und Vorstellungsweise der Scholastik und erinnert an das Dogma der Tri- nität. Driesch bereitet in zahlreichen Kapiteln da- rauf vor, zu erfassen, was die Entelechie eigentlich sei, was zweckmäßiger am Anfang gesagt worden wäre, da der Naturforscher gewohnt ist, bei seinen Deduktioneu von den auf Grund der Induktion festgestellten Grundbegriffen auszugehen, die zu- nächst definiert oder erläutert werden. Drieschs Darstellung, die mit einem durchaus mystischen Begriff beginnt, und diesen verwendet, ehe man ihn versteht, macht es dem Naturforscher unmög- lich , zu erfassen , wie an Stelle des Energie- begriffes, aus jenem Lebensprinzip alle Erschei- nungen abgeleitet werden können. Wenn endlich erst im 2. Bande S. 207 die Aufklärung erfolgt, was Entelechie bedeute, so ist der Naturforscher völlig enttäuscht und begreift nicht, daß die Physiologie sich damit zufrieden geben soll. Es heißt dort: „Entelechie ist nicht Energie, nicht Kraft, nicht Intensität und nicht Konstante, sondern — Entelechie." Die Naturforscher müssen auch hinter das V^'ort weitere Gedankenstriche fügen, das Resul- tat bleibt Entelechie ist Entelechie 1 X = X, also ein ganz leerer Begriff, ohne Inhalt, und es will dem Naturforscher nicht in den Kopf, daß ein reiner Begriff dynamische Wirkungen haben soll, daß er, obwohl er ansdrücklich nicht Energie bedeutet, doch ganz offenbare energetische Wirk- ungen verursachen soll. Man wird nicht bestreiten wollen, daß die durch die Sonnenenergie bewirkte Synthese von Kohlenhydraten aus Kohlensäure und Wasser im Chlorophyll unter Ausscheidung reinen Sauerstoffs ein energetischer Vorgang ist, obwohl er vom Chemiker nicht nachgemacht werden kann. Will man diesen Prozeß auf eine N. F. XVni. Nr. 37 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 535 Entelechie zurückführen, dann hätte die Chemie als Forschungsmittel zugunsten der Philosophie abzutreten, oder wir müßten an unseren Hoch- schulen zweierlei Chemie lehren, auch dann wenn die Entelechie nur bei diesem Prozeß mit- wirken sollte. Wenn die Entelechie allein die Ursache auch aller chemischen Lebensvorgänge ist, dann be- greift man nicht, warum die Pflanzen nicht ge- radesogut im Dunkeln Stärke bilden. Soll die Wirkung der Sonnenenergie nicht abgeleugnet werden, was doch schwer halten dürfte, versteht man wiederum nicht, was die „Entelechie" bei dem Prozeß zu tun hat. Auf die Klärung solcher Fragen läßt sich der Neovitalismus gar nicht ein, wie es seine Pflicht wäre. Die obige Definition der Entelechie könnte aus anderen Stellen des Werkes von Driesch vielleicht ergänzt werden , aber die Haupt- sache , ein Erfassen ihrer dynamischen Be- deutung, bleibt den Naturforschern völlig ver- schlossen. Bd. I S. 143 lautet die Erörterung über die Entelechie: „So haben wir denn endlich die Antwort auf die Frage, was unsere Konstante E. bedeuten möge. Sie bedeutet nicht den resultierenden Effekt irgendeiner Konstellation, sie ist nicht nur ein kurzer Ausdruck für eine komplizierte Sachlage: Unser E ist der Ausdruck für ein wahres Element der Natur. Das Leben, die Formbildung wenigstens, ist nicht eine besondere Anordnung anorganischer Ereignisse; die Biologie ist daher nicht angewandte Physik und Chemie. Das Leben ist eine Sache für sich und die Biologie eine unabhängige Grundwissen- schaft." Hier erschwert wieder die völlige Neuheit von Drieschs philosophischen Begriffen dem Natur- forscher das Verständnis, was gemeint sei. Ein zu erläuternder Begriff wird durch einen gleich unverständlichen zu erläutern versucht. Die Natur- forschung weiß nicht, was unter „Element der Natur" zu verstehen sei, wenn di^es nicht zu den chemischen Elementen gehören soll. Es ist hier der Ort hervorzuheben, daß schon Humboldt (Muskel- und Nervenfaser II, S. 422) die Möglichkeit einer solchen Anffassung vorweg- genommen hat, indem er sagt: ,,Es ist aber auch ebenso denkbar, daß der Grund jenes inneren Gleichgewichtes (des Lebens) in der Materie selbst liegt, und zwar in einem unbekannten Elemente, welches der belebten Tier- und Pflanzenschöpfung ausschließ- lich eigentümlich ist und dessen Bewirkung die Affinitätsgesetze ändert." Aber Humboldt lehnt diesen Gedanken als ganz unbegründet endgültig ab und die Botanik folgt ihm. Es gibt bei den Pflanzen vieles, was zunächst als reiner und durch ein Lebensprinzip regulierter Lebensvorgang erscheint, aber sich doch als rein mechanisches Geschehen erkennen läßt. Ich weise nur hin auf den Bau und die Tätigkeit der Spalt- öffnungen der Assimilationsorgane der Blätter. Es scheint psychologischer Begriffe zu bedürfen, um zu verstehen, daß die Spaltöffnungen, die selbst keine Assimilationsorgane, sondern nur Einführungs- öffnungen sind, sich rechtzeitig dem Bedürfnisse des Chlorophyllgewebes gemäß öffnen oder schließen, dennoch erklärt sich die Coincidenz restlos mechanisch durch Zusammenwirken von chemischen und osmotischen Vorgängen. Auch weiter scheint mir das Pflanzenreich in dieser Frage lehrreich zu sein. Es ist oben hervorge- hoben, daß das Problem des Lebens dann am schärfsten hervortritt, wenn es erlischt. Nun fin- den wir bei den Pflanzen die ganz merkwürdige Tatsache, daß das Leben als äußerliches Geschehen auf Jange Zeit vollständig verschwinden, latent werden kann , ohne daß der Tod eintritt. Nach langer Ruheperiode beginnt, ganz ausschließlich ausgelöst durch einfache äußere Bedingungen, Wasser und Temperatur, die Lebenstätigkeit von neuem. Wo ist in diesem Fall die Entelechie geblieben, in welchen Zustand ist sie etwa über- gegangen? Dafür findet sich in Drieschs Sy- stem keine Lösung. Seine prospektiven und äqui- potentiellen Potenzen, die dynamische Begriffe darstellen , können nicht erklären oder erläutern, daß das Leben verschwinden könne, ohne zu er- löschen. Was hier gemeint ist, ist die allgemein verbreitete Samenbildung. Die befruchtete Samen- anlage ist ein lebendiger Teil der Blüte. Es ent- wickelt sich nach der Befruchtung der Embryo, das Endosperm, die Testa. Die Eizelle bildet zu- nächst einen Gewebekörper, der sich in Würzel- chen und Cotyledonen gliedert. Die Speicherstoffe wandern in das Endosterm ein und werden dort abgelagert, die Integumente unterliegen zur Bil- dung der Testa weitgehenden anatomischen Ver- änderungen. Das sind lauter Lebensvorgänge, für die man einmal eine Entelechie als wirkende Ur- sache annehmen möge. Aber nun weiter. Der Same reift, wird abgeworfen und kann nun vollends austrocknen. Jede Lebensregung ruht. Das Wachs- tum des Embryo hat vollständig ein Ende erreicht, und Jahre, Jahrzehnte oder viel länger kann der Same, ohne tot zu sein als lebloser Körper be- stehen. Niemals macht sich eine P^ntelechie be- merkbar ihm wieder zum Leben zu verhelfen. Das- selbe findet auch bei einzelnen Zellen statt, näm- lich bei den Sporen der Kryptogamen. Es ge- nügt aber, daß der Same oder die Spore bei geeigneter Temperatur durch Ouellung Wasser aufnimmt, um die Nährstoffe in Bewegung zu setzen und die Wiederaufnahme des Wachstums durch den Embryo oder die Spore zu veranlassen, die nun in der Keimung sich stetig zur neuen Pflanze entwickeln. Dieser Vorgang ist wohl überaus rätselhaft, aber er läßt sich nicht mit Hilfe der Entelechie verstehen. Wo ist sie während der Ruheperiode des Samens oder der Spore geblieben } Da sie keine Substanz ist, kann sie nicht eingetrocknet sein. Da sie keine Größe ist, kann sie nicht zu- und abnehmen. 536 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVm. Nr. 37 Da sie nichts mit der Energie gemein hat, kann sie nicht in einen anderen Zustand übergegangen sein. Also wo blieb sie und auf welche Art soll man sich ihr Wiederauftreten vorstellen ? Für den Energetiker ist es dagegen nicht schwer, sich eine Vorstellung der wahrscheinlichen Verhältnisse zu verschaffen. Durch die Ablagerung der Nähr- stoffmassen im Endosperm mußte der Embryo schon mechanisch an weiterer Entwicklung ge- hemmt werden. Wie sollte er den Widerstand des trockenen Nährstoffgewebes und der festen Testa überwinden können? Wenn der trockene Same aber Wasser aufnimmt, so treten die Nähr- stoffe mit den Enzymen in Reaktion, ebenso wie andere chemische Verbindungen, die im trockenen Zustande in Ewigkeit unverändert nebeneinander liegen können, durch bloße Auflösung Umsetzun- gen beginnen. Der Widerstand für das Wachs- tum des Embryo wird durch Sprengung der Testa infolge der Ouellung und durch Auflösung und Abwanderung der Nährstoffe aufgehoben. Die zum neubeginnenden Wachstum nötige Energie, welche bis dahin als ruhende chemische Energie im Endosperm aufgespeichert war, liefert die Be- triebskraft für die Entwicklungsvorgänge der neuen Pflanze. Die Entelechie ist überflüssig, denn da sie keine Energieform ist, erleichtert sie nicht im geringsten das Verständnis der Entwicklung bei der Keimung. Kein Physiologe wird bestreiten, daß der Keimungsprozeß viel zu kompliziert ist, um schon restlos erklärt zu sein. Rätselhaft bleibt die Tatsache, daß das empfindliche Protoplasma im Samen oder in Sporen auf Jahrzehnte vollständig eintrocknen kann, ohne zu sterben. Aber das kann die Ente- lechie um so weniger erklären, als sie keine Energieform sein soll , für welche subjektive Be- hauptung allerdings ein Nachweis nirgends versucht ist. Wenn sie dem zweiten Hauptsatze der mechani- schen Wärmetheorie, dem Gesetz der Entropie nicht unterliegt, so müßte sie in den Pflanzensamen sozusagen ,,wenn es ihr paßt" verschwinden und wiederkehren können, eine Meinung, die jedoch nicht wissenschaftlich genannt werden könnte. Das größte Rätsel des Lebens ist die Form- bildung. Nicht nur die Formbildung überhaupt, sondern die schier unerschöpfliche Mannigfaltig- keit der Formen, die jede Abteilung des Systems erläutert. Für die Entstehung der Pflanzenform kann die Entelechie oder die Konstante nicht das geringste zum Verständnis beitragen. Bei den wichtigsten Formen der Pflanzenorgane : Blättern und Blüten, kommen nicht nur innere F"aktoren in Betracht, denn diese Organe sind Anpassungsformen und haben sich im Zusammen- hang mit P'euchtigkeitsverhältnissen des Bodens und Klimas und mit den Organformen der be- stäubenden Insekten gebildet. Man kann anneh- men, daß die Insekten die Blütenformen gezüchtet haben. Hier würde der Einfluß einer angeblichen Konstante für das Verständnis geradezu störend sein. In der Botanik haben bisher solche An- nahmen keine Erkenntnis gefördert. Sachs machte einmal einen Abstecher ins scholastische Lager und erdachte sich seine „organbildende Stoffe", aber die Ansicht ist gänzlich unfruchtbar geblieben, da ihr weder eine Erfahrung zugrunde- liegt, noch ein Weg angegeben wurde, dazu zu gelangen. Auch die organbildenden Stoffe suchten sich von der Energetik frei zu machen und ge- hören zum Vitalismus. Sie sollten in nicht nach- weisbarer Menge entstehen und dennoch anziehend und bewegend auf die Baustoffe wirken, um diese in Formen zu bannen. Philosophisch ist die Vor- stellung der organbildenden Stoffe widerspruchs- voll, durch den Vergleich mit Enzymen wurden realistische Vorstellungen in einen transzendenten Begriff hineingetragen. Die Entwicklungstheorien, mögen sie nun Vitalismus sein, oder C. F. Wolffs mechanischer Theorie anhängen, haben immer mit der Form- bildung die Wirkung einer vis a tergo verbunden. Man hat kaum beachtet, daß für die Entwicklung der Formen auch eine Gegenwirkung erforderlich ist. Alle Formen kommen nicht bloß durch be- wegende Kräfte zustande, sondern ebenso sehr durch Hemmung der Bewegung. Wenn ich einen Gipsbrei auf dem Boden ausgieße entsteht eine formlose Masse, erst wenn ich ihr den Widerstand einer tönernen Form entgegensetze, entsteht eine Figur. Das gilt auch für die lebendige Substanz. Das Protoplasma der Amöbe ist ohne Form, durch den Widerstand der Membran entsteht die ge- formte Zelle. Bei den Organen kann die Spannung der oberflächlichen Gewebe solchen formgebenden Widerstand erzeugen. Die Epidermis der Pflanzen- organe geht zuerst in Dauergewebe über und stellt gewissermaßen die „Form" dar, in die das innere Gewebe hineinwächst. Die meisten Blätter stellen ihr Wachstum an der Spitze zuerst ein und es drängt also das Gewebe in einen sich langsam bildenden Umriß hinein. Allgemein aus- gedrückt: Alle Formen, auch die organischen, sind Hemmungsbildungen. Was erläutern dabei „Äquipotentielle Potenzen" ? Die Entwicklungstheorien von D r i e s c h passen am wenigsten zu allen pathologischen Vorgängen, die doch auch Formbildungen sind. Daß prospek- tive Potenzen auch für das nicht voraussehbare Pathologische gelten sollen, ist schwer begreiflich. In der Botanik sind eine Reihe abnormer Form- bildungen bekannt, die durch die Annahme von von vornherein bestehenden Potenzen nicht erklärt werden. V ö c h t i n g stellte durch Transplantation lebende Pflanzengebilde her, die es in der Natur nicht gibt. Er pflanzte auf den mit Wurzel ver- sehenen Stengel von Beta vulgaris wieder eine Wurzel derselben Pflanze, die Blätter trug. Er transplantierte einzelne Blätter auf Wurzeln usw. und hat eine ganze Anzahl solcher zusammen- gesetzter, paradoxer Pflanzengebilde erzeugt und P'ormen gebildet, die weder ererbt, noch erblich waren. Welche Art Entelechie bestimmte die Existenz dieser Monstra ? Aber die Botanik kennt N F. XVIII. Nr. 37 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 537 auch Gestalten, die durch Kunst erzeugt und keine Monstra sind, sondern ganz normale und auf vege- tativem Wege vermehrbare Formen darstellen. Dazu gehört der merkwürdige und allbekannte Pfropf bastard Cytisus Adami und die von Winkler durch Pfropfung erzeugten Chim ären. Das sind Formen, welche für die natürliche Entwicklung eine Unmöglichkeit bedeuten und doch haben sie den Charakter normaler Bildungen. Die Unfähig- keit zur geschlechtlichen Fortpflanzung haben sie mit einer Reihe natürlicher Arten gemein, die apogam sind. Soll auch für diese Formen die Theorie der prospektiven und äquipotentiellen Potenzen gelten ? Dann gäbe es in der Natur Möglichkeiten für das in der Natur Unmög- liche. Die Möglichkeit des Unmöglichen wäre aber das Wunder, welches nicht Gegenstand der Wissenschaft, sondern des Glaubens Kind ist. Der Rhodische Genius hätte damit den Sieg errungen. Er wäre nicht bloß ein Gemälde, ein Märchen, sondern hätte Wirklichkeit gewonnen. Die Lehrsätze des Epicharmus wären das Grund- gesetz der Physiologie. Aber die Lehre war ohne Prüfung entstanden, ob der dem Symbol zugrunde- liegende Gedanke auch richtig sei. Wenn es sich um Wirklichkeiten handelt, kann der Gedanke nicht sein eigener Richter sein, den Prüfstein kann nur die Erfahrung bilden, die Erfahrung, welche Forschung heißt. Das ist es, was Humboldt dachte und anstrebte. Nun sind über lOO Jahre der Forschung vergangen, eine zu kurze Frist, um Welträtsel zu lösen. Man könnte sich aber vor- stellen, daß der Wanderer auf diesem mühsamen Wege zweifelnd den Gedanken faßte, den be- währten Wanderstab aus der Hand zu legen und sich nach einem anderen umzusehen. „Die leichte Taube" sagt Kant, „indem sie im freien Fluge die Luft teilt, deren Widerstand sie fühlt, könnte die Vorstellung fassen, daß es ihr im luftleeren Raum noch viel besser gelingen werde." Vor diesem Irrtum hat Humboldt gewarnt, wie vor ihm schon, wie er hervorhebt, Vicq d'Azyr als Warner auftrat.^) Und wenn der Neovitalismus die Naturforscher verlocken möchte, mit ihm in den Äther der reinen Begriffs- welt aufzusteigen, so empfinden die Naturforscher durch ihre eigenen Resultate das menschlich- angenehme Gefühl, schon genügend festen Boden unter den Füßen zu haben um den Naturphilo- sophen getrost zurufen zu können: Bon voyagel Die Proklamation der Biologie als eine selb- ständige Grundwissenschaft bedeutet die völlige Ausschaltung der Begriffe der Chemie und Physik bei der Aufstellung einer Theorie des Lebens. Da das Leben aber keine Funktion eines philo- sophischen Systems, sondern eine Naturerscheinung ist, dürfte der Erfolg dieses Versuches nicht bloß den Naturforschern zweifelhaft erscheinen. ') Ansichten der Natur, Erläuterung zuna rhod. Genius. Vgl. auch Vicq d'Azyr, Oeuvres, herausgeg. v. Moreau. Bd. 4, S. 15. Was heißt : die Biologie folgt eigenen elemen- taren Gesetzen ? Sind diese Gesetze unabhängig vom Verstand des Forschers, dann würde die „Philosophie des Organischen" die Möglichkeit versprechen, die den „Dingen an sich" zukommen- den Gesetzmäßigkeiten zu erkennen. Wir er- kennen aber nicht „das Leben an sich", sondern nur das Leben als Erscheinung, wofür die gleichen Kategorien gelten müssen, wie für andere Natur- erscheinungen. Besondere Gesetze zu erkennen, sind wir gar nicht imstande. Das ist nun schon lange von Kant festgestellt. Der Neovitalismus mit seinen hochklingenden transzendentalen Ideen „Autonomie des Lebens", „Entelechie", „Äquipoten- tielle Potenzen" usw., gehört doch schließlich zum Dogmatismus, da er den Wert des physikalisch- chemischen Empirismus rundweg ableugnet, während der Empirismus selbst in aller Be- scheidenheit zugibt, daß er sich gar nicht ein- bildet, das Leben schon aus dem Grunde erklären zu können, sondern nur nach eigener Methode seine Erkenntnisse ohne Ende vermehren will, um jenem Ziel zu dienen. Die geringere Popu- larität des Empirismus erklärt sich daraus, daß er vielseitiges Wissen und eine nur mühsam zu er- ringende schwierige Technik verlangt. Der popu- lärere Vitalismus, über den jeder, ohne viel Er- fahrungen über Lebenserscheinungen, mitreden kann, weil der bloße Begriff Leben dazu genügt, ist im Vorteil. Um so mehr ist der Empirismus berechtigt, sein Feld zu halten. Beispiele können leicht gefunden werden, daß die Anerkennung der souveränen Ablehnung der Chemie und Physik bei der Erklärung des Lebens zu einer völligen Verödung der Biologie führen würde. Pfeffers osmotische (rein und streng physikalische) Untersuchungen wurden angestellt um einen tieferen Einblick in die verborgenen Lebenstätigkeiten der Zelle zu gewinnen. Vom Standpunkt des Neovitalismus wäre solches Unter- nehmen als unfruchtbar abzuweisen, womit ein Fortschritt unterbunden worden wäre. Tatsäch- lich führten diese Untersuchungen zu Erfahrungen über die semipermeabelen Membranen und zu Schlüssen über das Vorhandensein der Plasma- haut und deren Bedeutung bei Stoffwechselvor- gängen und anderen Prozessen. Es eröffnete sich ein ganzes Gebiet der experimentellen Forschung und theoretischen Nachdenkens. Es braucht nur an de Vries Versuche erinnert zu werden. Außerdem entwickelte sich aus Pfeffers Unter- suchungen die für Chemie und Physik ganz neue Anschauungen begründende lonentheorie van t'Hoffs. Weder an der Fragestellung noch an der Methodik hatte der Neovitalismus den gering- sten Anteil , seine negierende Tendenz hätte alle erzielten Resultate verhindert, wenn der Empiris- mus zurückgewichen wäre. Wir Naturforscher schätzen die Philosophie als kritische Beraterin, bekennen uns aber zu der Maxime: „Führerin sei Du, Natur"! 538 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVm. Nr. 37 [Nachdruck verboten.] Alexander Ton Humboldts „Kosmos". (Zum 150. Geburtstage seines Verfassers.) Von Erich Metze. Alexander von Humboldts Kosmos ist der letzte großartige Versuch, die ihrer Zeit bekannte Fülle naturwissenschaftlicher Tatsachen in einer Schilderung des einigen in sich bewegten Weltganzen, das Allgemeine mit dem Besonderen innerlich verkettet, zu wirkungsvoller Schau zu stellen. Woher Humboldt die Anregung hier- zu erhielt, ob es, wie mehr als wahrscheinlich, der geistvolle Verkehr mit dem Weimarer Dichterkreis (1794/95) war oder ob, wie auch gut möglich, das Beispiel der französischen Enzyklopädisten daneben als Mitanreiz wirkte, ist nicht mit Bestimmtheit fest- zustellen. Humboldt selbst berichtet nur, ihm habe das Bild seines Vk^erkes „fast ein halbes Jahr- hundert lang vor der Seele geschwebt",^) und ein noch erhaltener Brief vom 24. Januar 1796 be- stätigt diese Angabe. „Je con^us l'idee d'une physique du monde" -) schreibt dort der junge Forscher an Marc AugustePictetin Genf. Es vergingen indessen noch mehrere Jahrzehnte, be- vor der Plan dieser Weltphysik zur Ausführung kommen konnte. Zunächst waren es physiologische, geognostische und chemische Arbeiten, sodann die fünfjährige amerikanische Reise und deren wissen- schaftliche Ausbeutung, die die ganze Arbeitskraft eines Mannes in Anspruch nahmen, endlich fehlte es auch noch allzusehr an den notwendigen Bau- steinen zu einem so gewaltigen Gebäude. Erst das Jahr 1827 brachte das alte zeitweise ganz auf- gegebene Vorhaben seiner Verwirklichung näher. Als nämlich Humboldt nach Aufzehrung seines beträchtlichen Vermögens durch die Herausgabe des großzügigst angelegten amerikanischen Reise- werkes gezwungen war von seinem geliebten Paris nach dem damals noch recht kleinstädtischen Berlin überzusiedeln, verdroß ihn neben so man- chem anderen das überaus geringe Verständnis, das man daselbst für Fragen der Naturwissen- schaften besaß. Schauspiel, Tonkunst und die sogenannte schöne Literatur erfüllten ganz den Gesichtskreis der Gebildeten und ließen alles andere völlig zurücktreten. Daneben herrschte an der noch jungen Hochschule die Seh eil in g- Hegel sehe Naturphilosophie, und da es im übrigen Deutschland nicht besser stand, so war ein Nieder- gang der deutschen Wissenschaft ernstlich zu be- fürchten. Da hieß es unverzüglich Wandel schaffen und keiner war für dieses schwierige Amt ge- ,,Er gleicht einem Brunnen mit vielen Röhren, wo man überall nur Gefäße unterzuhalten braucht und wo es uns immer erquicklich und unerschöpflich entgegenströmt". Goethe über A. v. Humboldt. eigneter als Alexander von Humboldt. Vermöge seines Weltrufes als Forscher, der Tiefe und Gediegenheit seines Wissens, war er hierzu wie geschaffen. Es galt zu zeigen, daß es noch andere auch wirtschaftlich und kulturpolitisch not- wendigere Dinge gab als einseitiges Schwelgen in Kunslfreuden, noch wichtiger aber war es aus achtunggebietenden Munde zu verkünden, daß die deutschen Naturforscher nicht länger gesonnen seien, sich auf die Dauer von aufgeblasenen Nicht- wissern beiseite schieben zu lassen und daß an die Stelle metaphysischer Begriffsklopferei nun- mehr wieder ernstes, unverdrossenes Erforschen der Tatsachen zu treten habe. Hurriboldt war gewiß der letzte, der all und jede Philosophie als „bodenlose Hypothese" ^) ablehnte und hat das auch wiederholt ausgesprochen, aber andererseits war er „durch den Umgang mit hochbegabten Männern früh zu der Einsicht gelangt, daß ohne den ernsten Hang nach der Kenntnis des Ein- zelnen alle große und allgemeine Weltanschauung nur ein Luftgebilde sein könne".^) Der natur- philosophische Unfug war nachgerade unerträglich geworden, so daß Humboldts in der Folge ge- sprochene Worte von dem „jugendlichen Miß- brauch edler Kräfte", von dem „Schematismus, enger als ihn je das Mittelalter der Menschheit angezwängt" '■') eher zu milde erscheinen. Man beschaue sich nur einmal die Blütenlese, die Schieiden in seiner Streitschrift gegen Nees von Esenbeck*) zusammengestellt hat, und man kann angesichts solch hohlen Geschwätzes, das den Anspruch auf ernst zu nehmende Wissen- schaft erhob, den Zorn verstehen, der sich jedes wahren Forschers hierüber bemächtigen mußte. Übrigens bot sich für Humboldt auch bald ein unmittelbarer Anlaß seinerseits das Wort zu ergreifen. Im Sommer 1827 hatte August Wilhelm von Schlegel in Berlin eine Reihe von Vorträgen über die Theorie und Geschichte der Künste gehalten. In einem derselben hatte er beiläufig die Bemerkung einfließen lassen, Europa sei zwar durch die nach allen Seiten be- richtigte Naturerkenntnis mündig geworden, ja dieser Umstand bedeute den charakteristischen Zug in der Bildung des Zeitalters, aber anderer- ') A.V.Humboldt, Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung. 1. S. V. Stuttgart und Tübingen 1845. ^) A. V. Humboldt, Correspondance scientifique et litteraire, recueillie, publice etc. par M. de la Roquette I. p. 4. Paris 1865. ') A. V. Humboldt, Ideen zu einer Geographie der Pflanzen, nebst einem Naturgemälde der Tropenländer usw. Tübingen 1807. S. V. VI. — Kosmos I. S. 72. '^j Kosmos 1. S. VI. 3) Ebenda I. S. 69. *) M. J. Schieiden, Schellings und Hegels Verhältnis zur Naturwissenschaft. Leipzig 1844. S. 27fr., 52fr. N. F. XVIII. Nr. 37 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 539 seits sei doch „bei dem Ergehen in dem End- lichen und Einzelnen nach allen Richtungen hin unseren Physikern die Grundidee, der Gedanke der Natur abhanden gekommen".-^) Hiergegen hätte sich nichts sagen lassen, ja Humboldt, der in aller wissenschaftlichen Kleinarbeit stets nur ein Mittel sah, zur „Erkenntnis der Einheit in der Vielheit der Erscheinungen" ^) zu gelangen, der von einer „philosophischen Naturkunde" forderte, daß sie sich über die „sterile Anhäufung isolierter Tatsachen" *) erhebe, konnte solcher Äußerung nur beipflichten, indes ging der Redner im weiteren Verlauf seines Vortrags in ein be- denkliches Lob von Seh elling und Hegel über und forderte damit zum Widerspruch heraus. Es ist eine alte Erfahrung, daß, wer die Jugend hat, auch die Zukunft besitzt, und um zu zeigen, daß sich die Natur auch auf dem Boden erfahrungs- mäßiger Forschung als ein Großes, Lebendiges, durch innere Kräfte bewegtes Ganzes darstellen lasse, wandte sich Humboldt darum zunächst an die „Kappen und Mützen", wie er scherzhaft sagte, an die Berliner Studenten. Er kündigte für das Winterhalbjahr 1827 — 28 eine öffentliche Vorlesung über physische Erdkunde an, die sich sofort eines überaus regen Zuspruches erfreute. „Eine ganz besondere Zierde hat", so berichtet uns eine zeitgenössische Stimme,*) ,,die Universi- tät durch den Beitritt des Hrn. Dr. Alexander von Humboldt erhalten, der in seiner Befug- nis als Mitglied der königlichen Akademie der Wissenschaften Vorlesungen über physische Erd- und Weltbeschreibung ankündigte, dieselben am 3. November vor der größtmöglichsten Zahl von Zu- hörern eröft'nete und unter stets steigender Be- geisterung derselben eifrig fortsetzte. Die ruhige Klarheit, mit welcher er die in allen Fächern der Naturwissenschaften von ihm und andern ent- deckten Wahrheiten umfaßte und zu einer Ge- samtanschauung brachte, verbreitete in seinem Vortrage ein so helles Licht über das unermeß- liche Gebiet des Naturstudiums, daß seine Methode mit diesem Vortrage eine neue Epoche ihrer Ge- schichte datiert". Der Andrang wurde schließlich derartig, daß sich Humboldt zu einer Wieder- holung entschließen mußte, die diesmal aber in der Singakademie und zwar vornehmlich für Laien stattfand. Die Zahl der Besucher war auch hier unverhältnismäßig groß (an tausend Köpfe), alles, was Berlin an geistigen Größen aufzuweisen hatte, war erschienen, sogar von außerhalb kamen Leute, um den gefeierten Redner zu hören. „Die Würde und Anmut des Vortrags", läßt sich ein anderes Berliner Blatt vernehmen,*) „vereinigt mit dem Anziehenden des Gegenstandes und der ausge- breiteten tiefen Gelehrsamkeit des Lehrers, die immer aus dem Vollen zu schöpfen vermag, dieser so seltene Zusammenfluß aller für die mündliche Belehrung ersprießlichen Eigenschaften fesselten die Zuhörer mit unwiderstehlicher, anhaltender Kraft". Der Erfolg war denn auch ein gewaltiger. „Alexander ist wirklich eine Puissance und hat durch seine Vorlesungen eine neue Art des Ruhmes erworben",") schreibt der Bruder stolz, und in der Tat, Alexander von Humboldts Vorträge haben Epoche gemacht. Sie sind ein Markstein in der Geschichte unserer Volkser- ziehung geworden. Daß der Naturwissenschaft ein bedeutender Anteil in der allgemeinen Volks- bildung gebühre, wurde damals zuerst Gedanken- gut weiterer Kreise, und wenn wir heute eine so stattliche Anzahl vortrefflicher gemeinverständlich- wissenschaftlicher Schriften besitzen, so verdanken wir das nicht zum wenigsten eben jenen Vor- lesungen, aus denen nachmals der Kosmos her- vorging. Der alte Freiherr Johann Friedrich von Cotta, der Verleger unserer großen Dichter, machte nämlich Humboldt den Vorschlag, seine Vorlesungen durch einen geübten Schnellschreiber aufzeichnen und sodann bei ihm drucken zu lassen. Trotz eines nicht unbeträchtlichen Geldangebots lehnte Humboldt ab. Persönliche Vorteile kamen ja bei ihm immer zuletzt, und er wußte nur zu gut, daß das gesprochene Wort sich auf dem Druckbogen ganz anders auszunehmen pflegt als im Hörsaal. Statt dessen beschloß er, ein Buch von der Natur zu schreiben, das „die ganze materielle Welt, alles, was wir heute von den Erscheinungen der Himmelsräume und des Erdenlebens, von den Nebelsternen bis zur Geographie der Moose auf den Granitfelsen, wissen", behandeln und „das zu- gleich in lebendiger Sprache anregen und das Gemüt ergötzen" ') sollte. Es war ein Riesen- werk, das Humboldt nunmehr (im Herbst 1834 nach wissenschaftlichem Abschluß der sibirischen ') Berliner Konversationsblalt für Poesie, Literatur und Kritik. S. 470. Nr. 118 vom 16. Juni 1827. '^) Kosmos I. S. 55. ä) Ebenda I. S. 248. *) Spenersche Zeitung vom 8. Dezember 1827. Die Vor- lesungen, 61 an der Zahl, dauerten vom 3. November 1827 bis zum 26. April 182S. ^) Vossische Zeitung vom 7. Dezember 1827. Die Vor- lesungen, 16 an der Zahl, begannen am 6. Dezember 1827 und endeten am 27. April 1S28. — Ähnliche Vorlesungen für gebildete Laien hatte Humboldt übrigens schon zwei Jahre früher in Paris im Salon der Marquise de Montauban gehalten. ^J Heinrich Böhmer, Geschichte der Entwiclslung der naturwissenschaftlichen Weltanschauung in Deutschland. Gotha 1872. S. lu. ') Briefe von Alexander von Humboldt an Varnhagen von Ense aus den Jähren 1S27 — 1858. Nebst Auszügen aus Varnhagens Tagebüchern usw. Leipzig 1860. S. 20, 21, 22. ,,lch habe den tollen Einfall, die ganze materielle Welt, alles was wir heute von den Erscheinungen der Himmelsräume und des Erdenlebens, von den Nebclsternen bis zur Geographie der Moose auf den Granitfelsen, wissen, alles in Einem Werke darzustellen, und in einem Werke, das zugleich in lebendiger Sprache anregt und das Gemüt ergötzt. Jede große und wichtige Idee, die irgendwo aufgeglimmt, muß neben den Tat- sachen hier verzeichnet sein. Es muß eine Epoche der geistigen Entwicklung der Menschheit (in ihrem Wissen von derNatur) darstellen... In dem speziellen Teile alle numerischen Resultate, die genauesten wie in Laplace exposition du Systeme du Monde . . . Das Ganze ist nicht was man gemeinhin physikalische Erdbeschreibung nennt, es begreift Himmel und Erde, alles Geschaffene." S40 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVm. Nr. 37 Reise) begann, und ihm hat er die letzten fünf- undzwanzig Jahre seines Lebens gewidmet. Als Namen wählte er nach einigem Schwanken die aus dem Griechischen stammende Bezeichnung für Weltall „Kosmos", denn diese umfasse „mit einem Schlagworte: Himmel u nd Erde". ') Ursprüng- lich auf zwei Bände berechnet, schwoll das Werk schließlich auf fünf an. Die ersten beiden Bände enthalten die Prolegomenen. Hier finden sich zu- nächst die „Einleitenden Betrachtungen über die Verschiedenartigkeit des Naturgenusses und eine wissenschaftliche Ergründung der Weltgesetze" Diese Einleitung ist im wesentlichen eine er- weiterte Wiedergabe des Vortrages, mit dem Humboldt seine Vorlesungen in der Sing- akademie eröffnet hatte.') Sie berichtet zunächst über die verschiedenen Arten des Naturgefühls, das auf seiner höchsten Stufe sich nicht mehr mit dem dumpfen Ahnen eines inneren Einklangs im Wechsel des Geschehens begnügt, sondern da- nach strebt, in der Mannigfaltigkeit der Erschei- nungen die Einheit der Naturerscheinungen ver- nunftmäßig zu erkennen. So ist Naturgefühl eine gewichtige Triebfeder des Naturerkenners. Dieses aber, begründet auf eine denkende Betrachtung der Erscheinungen und letzten Endes als Weltbe- schreibung nach allgemeinen umfassenden Über- blicken strebend, bildet neben der Geschichts- wissenschaft die Grundlage unserer geistigen, materiellen und sittlichen Kultur. Es fördert nicht nur den Gewerbefleiß und Wohlstand der Völker, es erhöht auch, und dies ist ja sein erhabenster Zweck, unser geistiges Dasein durch die Einsicht in den notwendigen Zusammenhang aller Ver- änderungen im Weltall. Mit dieser feierlichen „Thronrede" hatte Alexander von Humboldt gleichsam als verfassungsmäßiger Herrscher im Reiche der Naturwissenschaft den Anbruch des induktiven Zeitalters auch für Deutschland ange- kündigt.^) Mag manches von dem, was er vor- brachte, bereits anderweitig bemerkt worden sein, in so geistvoller Verknüpfung der Gedanken ward es erst hier ausgesprochen. Das verschaffte dieser Rede ihren durchschlagenden Erfolg und sichert ihr einen dauernden Wert. An sie reiht sich ein zweiter kurzer Abschnitt über ,, Begrenzung und wissenschaftliche Behandlung einer physischen Weltbeschreibung". Humboldt verbreitet sich hier über das Wesen der von ihm geforderten vergleichenden Weltphysik und ihrem Verhältnis zu den Einzelwissenschaften. Physische Weltbe- schreibung ist kein „enzyklopädisches Aggregat" ') aus denselben, wie man etwa vermuten könnte, sondern ein eigenes selbständiges Fach, sie ist ') Ebenda S. 22. — y.oauo^ bedeutet ursprünglich Schmuck, Ordnung und wurde zuerst von Pythagoras für Weltordnung, Weltall im Gegensatz zu x^ioi Unordnung, Wirrsal gebraucht. Vgl. Kosmos I. S. 62. ^) Briefe an Varnhagen S. 20. Der Vortrag ward noch am gleichen Tage aus der Erinnerung niedergeschrieben. ') Böhmer a. a. O. S. III. *) Kosmos 1. S. 51. „Betrachtung alles Geschaffenen, alles Seienden im Räume (der Naturdinge und Natur- kräfte) als eines gleichzeitig bestehenden Natur- ganzen", *) sie bezweckt „Erkenntnis der Einheit in der Vielheit, Erforschung des Gemeinsamen und des inneren Zusammenhanges in den tellurischen Er- scheinungen. VV'o der Einzelheiten erwähnt wird, geschieht es nur, um die Gesetze der organi- schen Gliederung mit denen der geographi- schen Verteilung in Einklang zu bringen".'^) Nach- dem Humboldt sich sodann gegen S c h e 1 1 i n g s und Hegels rein spekulative Physik („Mißbrauch oder irrige Richtungen der Geistesarbeit" ^) gewandt, läßt er nunmehr die „allgemeine Übersicht der Erscheinungen" als Kern des Ganzen, das ,, Natur- gemälde" folgen. Beginnend mit den Tiefen des Weltraums, in denen wir nur die Herrschaft des Schweregesetzes erkennen, von den Nebelflecken und Doppelsternen an, schildert der Verfasser in beredter, einfacher und trotz mancher aus der Schwierigkeit der Aufgabe sich ergebender Mängel vorbildlich schönen Sprache das Weltall als ein Gewordenes, gleichzeitig Erkanntes, nach dem Maß des Wissens um 1841, um sodann durch die Sternschicht, der unser Sonnensystem mit seinen Planeten, Monden und Asteroiden angehört, zu dem luft- und meerumflossenen Erdsphäroid herab- zusteigen. Wir werden nunmehr mit dessen Ge- stalt, Dichtigkeit, den Abstufungen seines mit der Tiefe zunehmenden Wärmegehalts, seiner in Stärke und Richtung bestimmten elektromagnetischen Spannung und den polarischen Lichterscheinungen bekannt gemacht. Eine besondere Schilderung erfährt sodann der Vulkanismus, die Wirkung des feurig flüssigen Erdinneren nach außen, die mehr oder minder geschlossene Kreise von Erschütte- rungswellen, Ausbrüche von Gas, Schlamm und heißen Quellen veranlaßt. Die höchsten Kraft- äußerungen innerirdischer Gewalten aber stellt die Erhebung feuerspeiender Berge dar. In Gruppen und Reihen angeordnet, erzeugen sie Gebirgsarten, die Urgesteine, aus deren Verwitterung wiederum die Schichtgesteine entstehen, ja vulkanische Kräfte sind es, die auch die aus Wasser abgesetzten ver- steinerungshaltigen Schichten bis zur Schneegrenze emporgehoben haben. Sie bedingen so letzten Endes die Gestaltung der gesamten Erdoberfläche, die räumliche Verteilung des Festen und Flüssigen, die Ausdehnung und Gliederung der Länder- massen nach Höhe und Breite, und damit den Wärmegrad der Meeresströme, Ebbe und Flut in ihrer örtlichen Eigenart, die Vorgänge im Luft- meer und endlich die Verbreitung der Pflanzen und Tiere. So läßt uns Humboldt durch eine in solcher Meisterschaft bis danin unerreichte „be- deutsame Anreihung der Erscheinungen ihren ur- sächlichen Zusammenhang ahnden".'') Es „führt 1) Ebenda I. S. 50. ^) Ebenda I. S. 55. Es ist hier in Sonderheit von „Erd- beschreibung" die Rede. 3) Ebenda I. S. 71. *) Ebenda 111. S. 4, 5. N. F. XVm. Nr. 37 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 541 den wißbegierigen Beobachter jede Klasse von Erscheinungen zu einer anderen, durch welche sie begründet wird oder die von ihr abhängt".') Nach einer Übersicht über die verschiedenen Abarten des „einigen" Menschengeschlechts (Humboldt spricht sich hierbei scharf gegen die sklaverei- begünstigende „unerfreuliche Annahme von höheren und niederen Menschenrassen" aus) schließt der erste (in den Jahren 1843—44 niedergeschriebene, 1845 erschienene) Band mit einem Ausspruch Wilhelm von Humboldts über die sitthche Bestimmung der gesamten Menschheit, „eines zur Er- reichung Eines Zweckes, der freien Entwicklung innerer Kraft, bestehenden Ganzen".-) Brachte der erste Band eine Darstellung der Erscheinungen des „äußeren Sinnes", so behandelt der zweite (1847 veröffentlichte) deren Einfluß auf das mensch- liche Seelenleben. Er gibt zunächst unter der Bezeichnung „Anregungsmittel zum Naturstudium" eine längere Abhandlung über die Rückwirkung der äußeren Natur auf Gefühl und Einbildungs- kraft. Die Beziehungen zwischen Naturbetrachten und den dazu anleitenden Künsten, Dichtung, Malerei und Gärtnerei werden hier geschichtlich erörtert. Verdient dieser Abschnitt, den man eine „Geschichte des Naturgefühls" nennen könnte, auch heute allgemeine Beachtung, so gilt dies in noch höherem Maße von der nun folgenden gleichsam einen selbständigen Flügel im Bau des Kosmos darstellenden ,, Geschichte der physischen Welt- anschauung". Bekanntlich beschäftigt sich Hum- boldts so selten glücklich vielseitig begabter Geist oft und gern mit fachgeschichtlichen Studien, verdanken wir ihm doch unter anderem wert- volle Beiträge zur Entdeckungsgeschichte Amerikas. In der „Geschichte der physischen Weltan- schauung" entwickelt nun Humboldt ein Bild von der im Laufe von zwei Jahrtausenden stufen- weise erfolgten Entstehung unserer Erkenntnis von der Einheit in den Erscheinungen und dem Zusammenwirken der Kräfte im Weltall und schuf damit ein Werk, das allezeit zu den Perlen unserer Geschichtsschreibung gehören wird. Wie schon bemerkt, lag es ursprünglich in Humboldts Absicht sein Werk mit dem zweiten Bande abzuschließen. Doch kam er davon ab. Die rastlos weiterschaffende Forschung hatte in der Zwischenzeit so reichlich wertvollen Stoff zu- tage gefördert, daß das „Naturgemälde" unerwartet schnell veralten mußte. So blieb ihm nur die Wahl, dieses zeitgemäß umzuarbeiten, da entstand die große, kaum vermeidbare Gefahr, durch über- reichliche Anhäufung zusammengedrängter Einzel- heiten den lebensfrischen Eindruck, die Ubersicht- sichkeit zu zerstören, oder aber durch Schaffung weiterer Bände eine Ergänzung und weitere Aus- arbeitung des Weltbildes vorzunehmen. Letzteres geschah denn auch. Der dritte Band (1S50) ent- hält die Astronomie, der vierte (1858) Erdphysik und Geologie. Der fünfte Band (1862), der das Werk beschließen sollte, blieb Bruchstück, er ent- hält eine geologische Fortsetzung, sowie ein von Eduard Buschmann (dem technischen Gehilfen bei der Kosmosarbeit) verfaßtes Gesamtinhalts- verzeichnis. Mit dem dritten und vierten Bande (der fünfte zählt ja kaum mit) entstand gewisser- maßen ein neues in sich geschlossenes Werk. Denn während die Humboldt eigentümliche Betrachtungsweise, künstlerisches Empfinden und Streben nach allgemeinen Gesichtspunkten den Prolegomenen ein ganz besonderes Gepräge ver- leihen, so daß ihr Verfasser nur mit Fug und Recht sie als „Reflex seines Selbst, seines Lebens" ^), be- zeichnen durfte, herrscht hier die Masse wissen- schaftlicher Einzelheiten vor, und auch die mittel- bare Unterstützung befreundeter Fachleute, die sich Humboldt taktvoll zu erwerben wußte, macht sich wohl bemerkbar. Bei aller Verschiedenheit in Anlage und Ausführung finden beide Teile, Prolegomenen wie Ergänzungen, indes die sie ver- bindende Klammer in einem Gedanken, der ständig hervorgehoben und betont schon deshalb beson- deren Hinweis verdient. Wohl war der Gedanke von der Einheit der Natur, die Lehre, „daß ein gemeinsames gesetzliches und darum ewiges Band die ganze lebendige Natur umschlinge"'), schon früher ausgesprochen worden. Wir finden sie bei Demokritos und Bruno, bei Spinoza und Holbach, bei Herder, Goethe und Seh el- lin g. Indes handelte es sich hier immer ganz vorwiegend um Stimmungsbegriffe, um Vorstel- lungen schönheitlicher und rein gedanklicher Her- kunft, und von den zahlreichen Verdiensten Alexander v. Humboldts um Wissenschaft und F^ortschritt ist dieses wohl die nachhaltigste Tat, daß er der Auffassung von der Einheit der Natur, von der Verkettung der Erscheinungen zu innerem Zusammenhang, eine breitere erfahrungs- mäßige Grundlage gab und sie in dieser F'orm dem Kulturbewußtsein der Menschheit einverleibte. Allerdings war es unserem Forscher hierbei nicht beschieden, auf den tiefsten zu seiner Zeit bereits erreichbaren Grund zu gelangen, denn als die Lehre von der Einheit der Natur durch die Auffindung des Gesetzes von der Erhaltung der Kraft ihre höchste Weihe erhielt, erkannte Humboldt dieses zwar als „vielartig und mit großem Aufwand von Scharfsinn entwickelt" ^) an, doch warnte er, viel- leicht in Erinnerung an Schelling, vor Täu- schungen vorzeitiger Hoffnung „das Prinzip gefunden zu haben, aus dem alles Veränderliche der Körper- welt, der Inbegriff aller sinnlich wahrnehmbaren Erscheinungen erklärt werden könne" *), und bewies damit, daß er die Tragweite der neuen Errungen- schaft doch nicht völlig erkannt hatte. Er glich gewissermaßen einem Manne, der einen wertvollen, doch noch rohen Edelstein besitzt, aber die Kunst 1) Ebenda I. S. VII. 2) Ebenda I. S. 385. ') Briefe an Varnhagen S. 91. -) Kosmos I. S. 9. ä) Ebenda V. S. 12. *J Ebenda III. S. II. 542 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVni. Nr. 37 des Schleifens nicht völlig beherrschend, ihm nur teilweise den nötigen Schliff zu geben vermag. Indes bleibt dieser Umstand unwesentlich für die Einschätzung seiner Tat, denn auch heute noch gibt es zahlreiche Gruppen von Erscheinungen, wo wir uns „noch mit dem Auffinden von empi- rischen Gesetzen" ^) begnügen und von einer Ver- dichtung „aller unserer sinnlichen Anschauungen zur Einheit des Naturbegriffs" -) Abstand nehmen müssen. Bei der Berühmtheit des Verfassers war es nicht weiter verwunderlich, daß der Kosmos eine freu- dige, ja begeisterte Aufnahme fand. Gelesen und verstanden ward es indes nur von verhältnis- mäßig Wenigen. Der naturkundliche Wissens- schatz der Durchschnittsgebildeten war im allge- meinen doch noch zu gering, um solch ein jeden- falls nur im höheren Sinne volkstümliches Werk auch gebührend begreifen zu können. So konnte der Kosmos bei seinem Erscheinen fast nur auf Fachgenossen wirken. Als sich aber im Verlaufe der folgenden Jahrzehnte die naturwissenschaftliche Volksbildung hob, da entsprach der Kosmos nicht mehr dem zeitgemäßen Wissen. Empfiehlt man heutzutage die Lesung des Kosmos, so bekommt man nicht selten ablehnen- den Bescheid. Bei aller Hochachtung, heißt es, müsse man diesem Buche doch Mängel beimessen, die sein Vergessenwerden durchaus berechtigen. Humboldts Betrachtungsweise sei doch eine vorwiegend ästhetische, die sich mit dem nüch- ternen Streben des heutigen Forschers nach ur- sächlicher Erkenntnis nicht recht vereinigen lasse. Und ferner möge man bedenken, daß Humboldt von den wichtigsten Ergebnissen gegenwärtiger Naturerkenntnis wie Spektralanalyse, Abstam- mungslehre noch nichts wissen konnte. Wolle man durchaus seinem Buche einen dauernden Wert beimessen, so könne dies nur ein geschichtlicher sein. Trifft dieses Urteil zu oder ist auch hier wie so oft in der Wertschätzung eines Geistes- helden Wahres mit Falschem gepaart ? Zweifellos ist dem Kosmos ein ästhetischer Grundzug eigen. Das Buch ist, obwohl viel später niedergeschrieben, eben ein Kind des sich neigenden achtzehnten Jahrhunderts, jener schönheitstrunkenen Zeit, da die deutsche Muse ihre unvergänglichen Kränze wand. Die Anregung hierzu erstand dem nach- maligen Verfasser im Verkehr mit Männern, die die Natur in ihrer Gesamtheit mehr beschaulich erfühlend als verstandesmäßig zergliedernd zu be- greifen suchten. ^) Das mußte, sollte die Anregung 1) Ebenda III. S. lo. ■-) Ebenda I. S. 67. — III S. 10. ■') Der Wahlspruch zum Kosmos: „Naturae vero rerum \is adque majestas in omnibus momentis fide caret, si quis modo partes ejus ac non totam complectatur anirao" (Plin. H. N. lib. 7. c. i) findet sich bereits auf Herder's Ideen zur Philo- sophie derGeschichte der Menschheit. I. Riga 1784. — Als Humboldt 1794 nach Jena kommend Goethe „ins All- gemeinere der Naturwissenschaft nötigte" (Goethe's Werke. Vollständige Ausgabe letzter Band. XX.XI. S. 33. Stuttgart und Tübingen 1830) wird dieser sicherlich wie um gleiche Überhaupt eine wirksame sein, irgendwie zum Ausdruck kommen. Darin aber, wie so oft ge- schehen, einen Mangel oder gar Fehler erblicken zu wollen, hieße doch weit übers Ziel hinaus- schießen. Humboldt war ein viel zu großer Meister wissenschaftlichen Denkens um sich von erkenntnisschädlicher Naturschwärmerei hinreißen zu lassen. In diesem Gefühle völliger Sicherheit durfte er sagen : „Ein Buch von der Natur muß den Eindruck wie die Natur selbst hervorbringen." '^) „Dem Oratorischen muß das einfach und wissen- schaftlich Beschreibende immerfort gemischt sein. So ist die Natur selbst. Die funkelnden Sterne erfreuen und begeistern, und doch kreist am Him- melsgewölbe alles in mathematischen Figuren''. -) Der Kosmos sollte eben in erster Linie keine Fachschrift für Gelehrte sondern ein Buch für gebildete Laien sein und hatte sowohl wissen- schaftliche Belehrung als auch künstlerischen Ge- nuß zu bieten. Darin hat er bahnbrechend gewirkt, denn erst mit ihm erstand ein wahrhaft gemein- verständlich-wissenschaftliches Schrifttum. Dieses Verdienst Humboldts um die allgemeine Volks- bildung kann gar nicht genug hervorgehoben werden und deshalb verdient der Kosmos auch heute noch allgemeine Beachtung zumal vonseiten unserer Erzieher. Gewiß dem heutigen in Grundsätzen strenger Arbeitsteilung aufgewachsenen Leser werden Betrachtungen über die Einwirkung der äußeren Natur auf das menschliche Seelenleben in einer Schilderung des materiellen Seins bei aller Feinheit an sich befremdlich erscheinen. Ein billiger Beurteiler, eingedenk daß auch der Ge- schmack seiner Zeit kein endgültiges Wertmaß darstellt, wird sich indes schwerlich daran stoßen und die Schönheiten des Buches genießen, wo er sie findet. Wenn man endlich in Hochspannung exakten Denkens dem Kosmosgedanken, d. h. der Vor- stellung eines wohlgeordneten in sich belebten Naturganzen einen rein ästhetischen Ursprung zuschreibt, so mag auch das richtig sein, nur sollte man dann nie vergessen, daß auch das ernste Spiel unseres Naturerkennens gleichfalls nichts anderes als der Ausdruck eines unbewußten Schönheitssuchens ist. Nicht umsonst spricht Zeit in dem bekannten Gespräche mit Schiller den Natur- forscher seiner Zeit ihre „so zerstückelte Art die Natur zu behandeln" vorgeworfen und verlangt haben „sie vielmehr wirkend und lebendig aus dem Ganzen in die Teile strebend darzustellen". Hierbei lag der Hinweis auf Herders in diesem Sinne gehaltene Werk um so näher, als Goethe an dessen Entstehen mitgewirkt hatte. („Im ersten Bande von Herders , Ideen zur Philosophie der Geschichte der Mensch- heit* sind viele Ideen, die mir gehören, besonders im Anfange. Diese Gegenstände wurden von uns damals gemeinschaftlich durchgesprochen". K. Falk, Goethe aus näherem persönlichem Umgange dargestellt. 3. Aufl. Leipzig i8!;6. S. 31.) Ohne hiermit auch nur vermutungsweise Herder und Goethe als die geistigen Väter des Kosmos und damit Humboldt als ihr ausführendes Werkzeug hinstellen zu wollen, darf man an- nehmen, daß Humboldt in der Stimmung seines Jenaer Aufent- haltes den wenig später an Pictet mitgeteilten Entschluß faßte, ') Briefe an Varnhagen S. 23. 2) Ebenda S. 92. N. F. XVIII. Nr. 37 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 543 sogar der Jünger der nüchternsten Wissenschaft tief bedeutsam von der „Eleganz der Formel". Berechtigter erscheint uns hingegen der andere Einwand. Die Naturwissenschaften haben während der letzten sechzig Jahre überaus wichtige Fort- schritte gemacht, die nicht nur in der Gewinnung von neuen Tatsachen sondern auch in der Auf- stellung neuer Lehren und Gesichtspunkte gipfelten. Humboldt hatte als erfahrungsbeflissener Forscher zwischen einer die iVIassen nur als gleichartigen kreisenden Stoff betrachtenden Weltphysik und der auch die chemische Stofifverschiedenheit berücksich- tigenden Erdphysik unterschieden und demgemäß sein Naturgemälde in einen siderischen und telluri- schen Abschnitt eingeteilt. Um die gleiche Zeit, da Humboldt starb, beseitigten Bunsen und Kirch- hoff in einfach-genialer Weise die unüberwindlich erscheinenden Hindernisse des Weltraums und legten den Grund zu einer Chemie der Gestirne. So fiel die von Humboldt freilich nur äußerlich ge- dachte, darum aber nicht minder streng beobachtete Schranke. Läßt sich nun das Ergebnis der Spek- tralanalyse dem Hu mboldtschen Weltbilde bequem anfügen, ohne tiefgehende Umbauten vor- nehmen zu müssen, so gilt dies keinesfalls für seine geologischen Lehren. Nach Humboldt hatte sich ja der ursprünglich feurig-flüssige Erdball mit einer Gesteinskruste umgeben, durch die dann der eingeschlossene Glutfluß Auswege bahnend die Erscheinungen des Vulkanismus und damit unmittelbar wie mittelbar die Gestaltung der Erdoberfläche bedingte. Diese mit plötzlichen sprungweisen Umwälzungen arbeitende Auf- fassung, als deren Hauptvertreter neben Leopold von Buch gerade Humboldt gelten muß, ist der Lehre Lyells von den beharrlich wirkenden auch heute noch tätigen Ursachen (causes now in action) gewichen. Die Art der Fortflanzung der Erdbebenwellen zwang fernerhin zu dem Schluß, daß sich der Erdkern in einem Zustande befinde, der die Dichte fester Körper etwa des Nickeleisens besitzt, andere Forscher schreiben dem Erdinnern eine mehr zähflüssige Beschaffen- heit zu, jedenfalls ist die Humboldt sehe Ansicht hierüber aufgegeben. Neben den vulkanischen hat man auch Einsturz- und tektonische Beben kennen gelernt, ja diese letzteren sind die bei weitem häufigeren. Die Vulkane selbst faßt man auch nicht mehr als Verbindungsrohre zwischen dem feurig- flüssigem Erdkern und der Erdober- fläche auf, sondern schreibt ihnen mehr oberflächlich gelegene Herde zu. Ja endlich die klimatisch so folgenschwere Hebung und Senkung der Fest- landsmassen, die Emporwölbung der Gebirge wird heute rein tektonisch erklärt. Die ständige Ab- kühlung des Erdkerns bewirkt eine Zusammen- schrumpfung der Erdbruste, die sich als Schichten- faltung, Überschiebung, Hebung und Senkung äußert. So kann man auf Grund unserer heutigen Auffassung nicht umhin Humboldt eine außer- ordentliche Überschätzung der vulkanischen Vor- gänge für die Erdgestaltung nachsagen zu müssen. Welchen Einfluß endlich Darwin auf die Um- gestaltung unseres Weltbildes ausgeübt hat, ist hinlänglich bekannt. Sein grundlegendes Werk erschien im November 1859 und mit ihm begann in den organischen Naturwissenschaften ein un- geahnter Aufschwung. Auch Humboldt, der ja Kants fast verschollene Allgemeine Natur- geschichte und Theorie des Himmels ans Licht zog, hatte dem Gedanken einer fort- schreitenden Entwicklung durchaus wohlwollend gegenüber gestanden. ^) Aber er hatte sich von ihm keine nähere Anschauung zu machen ver- mocht. Daran hinderten ihn einmal seine geolo- gischen Grundauffassungen (Darwin fußte ja auf Lyell), und dann waren gerade diejenigen Denker, die an eine Entwicklung glaubten, dem Taumel einer mystischen Naturphilosophie ver- fallen und konnten nur abschreckend wirken. So blieb einem so nüchternen, dem Banner empirischer Forschung allzeit getreuen Forscher wie Hum- boldt nur die Möglichkeit, die äußere Natur tunlichst -) als einen Gleichzeitigkeitszustand zu schildern und eine Entwicklungsgeschichte der Natur einem über reichlicheren Erfahrungsstofif verfügenden Geschlechte zu überlassen. In dieser Hinsicht ist das „Nat ur gmälde" nebst seinen Ergänzungen veraltet, aber auch so besitzt es nicht nur geschichtlichen Wert. Man schlage unbefangen, frei von archaistischen Gelüsten und frei vom Dünkel des Epigonen einen Band dieses einzigartigen Werkes auf, und man wird darin mit Vergnügen lesen müssen. Die Art der Darstellung, die Fülle des Stoffes, der wissenschaftliche Ernst , die musterhafte Genauigkeit, die uns in jeder Zeile entgegentreten, bereiten dem Leser einen wahren Genuß. Da gibt es nicht jene Unfehlbarkeit , die so häufig nichts anderes als ein Zeichen versteckter Gelehrten- eitelkeit ist, da wird überall die Lückenhaftigkeit unseres Wissens betont ohne darum die F'reude am Erreichten zu trüben. „Der eigenthche Zweck," hatte Humboldt an Varnhagen geschrieben ') Kosmos I. S. 64: „Das Sein wird in seinem Umfang und inneren Sein vollständig erst als ein Gewordenes er- kannt." — E. du Bois-Reymond, Die Humboldtdenkmäler vor der Berliner Universität in Reden I. S. 500. Leipzig l8Sö: Humboldt ,, schenkte mir den von Louis Agassiz ihm übersandten Essay on Classification, worin nur drei Jahre vor dem Erscheinen des Origin ofSpecies, welches Humboldt selbst nicht mehr erlebte, die Lehre von den Schöpfungs- perioden und die teleologische Weltansicht mit unumwundener Schärfe vorgetragen und mit zahlreichen Gründen scheinbar gestützt wurden. Humboldts Äußerungen bei dieser Gelegen- heit ließen mir keinen Zweifel, daß er weit entfernt Agassiz's Ansichten zu teilen, Anhänger der mechanischen Kausalität und Evolutionist war". -) Kosmos 1. S. 367 : In das empirische Gebiet objektiver sinnlicher Betrachtung, in die Schilderung des Gewordenen, des dermaligen Zustandes unsres Planeten gehören nicht die geheimnisvollen und ungelösten Probleme des Werdens. — Streng durchführbar war freilich dieser Standpunkt auch nicht, nicht nur „der Anblick des gestirnten Himmels bietet Un- gl eic hzei tiges dar" (Ebenda 1. S. 161) auch „das ganze Erdenleben mahnt, in jedem Stadium seiner Existenz, an die früher durchlaufenen Zustände". (Ebenda I. S. 63.) 544 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVni. Nr. 37 „ist das Schweben über den Dingen" '), und dieser schwiericren Kunst des richtigen Abstandshaltens wird der Altmeister in seltenster Weise gerecht. Die gewiß nicht geringe Gefahr in „enzyklopä- dische Oberflächlichkeit" zu verfallen wird ebenso geschickt vermieden als die andere gleichgroße, der Masse der Einzelheiten zu erliegen. Diese werden vielmehr zu Stufen, auf denen sich der Leser zu allgemeinen Überblicken geführt sieht. So wirkt Humboldt selbst da, wo er überholt ist, noch als Lehrer belebend. Man glaubt un- willkürlich, man habe nicht ein Buch vor sich, dessen Verfasser längst der Rasen deckt, sondern ein Werk, das erst kürzlich die Presse verließ. So erfrischend mutet es uns an, und in dieser Wirkung auf uns Nachgeborene liegt vielleicht sein größter Wert, und sie ist es, die Alexander von Humboldt unter die großen Schriftsteller unseres Volkes reiht. „Veralten kann der Kosmos nur in dem Sinne, daß die Lehrmeinungen, die in demselben zur Erklärung der Erscheinungen aufgestellt sind, widerlegt werden, oder daß zu den dargestellen Erscheinungen so viel Neues und Wesentliches durch weitere Entdeckungen hinzukommt, daß die bezüglichen Darstellungen des Kosmos zu unbe- deutenden Fragmenten des wahren Sachverhaltes herabsinken. Vor Wirkungen dieser Art ist keine menschliche Gestaltung auf dem Gebiete der Forschung sicher; nur im Reiche des Schönen bleibt Menschenwerk vor diesem Veralten be- wahrt. Da aber der Kosmos auch in diesen Teilen seines Inhalts mit hoher Unbefangenheit und Umsicht verfaßt ist und fast überall die Entwicklungsfähigkeit der vorgetragenen Lehr- meinungen und die Bedürftigkeit der dargestellten Wahrnehmungen und Tatsachen nach weiterer Vervollständigung und Bestätigung betont, so wird er in moralischem Sinne niemals veralten und stets eine unschätzbare Fundgrube für die Beurteilung des Zustandes der Naturerkennt- nis um die Mitte des 19. Jahrhunderts bleiben."') ') Briefe an Varnhagen S. 92. ') W. Foerster, Alexander von Humboldt. Eine Ge- dächtnisrede zur Feier der DenkmalenthüUung am 28. Mai 1883 im Festsaale des Rathauses zu Berlin gehalten. Berlin 1S83. S. 18. Literatur. Hegi, Prof. Dr. G. , Illustrierte Flora von Mitteleuropa. 39. Lieferung. München, J. F. Lehmann. 10,50 M. Hentges, Die Kröte. Eine okkultistisch- liulturgeschicht- liche Betrachtung. 80 Pf Floericke, Dr. K., Spinnen- und Spinnenleben. Stutt- gart, Franckhsche Verlagshandlung. 1,50 M. Fischer, Prof. Dr. B., Zur Neuordnung des Medizini- schen Studiums und Prüfungswesens. München 1919, J. F. Lehmann. 2,50 M. Sammlung „Aus Natur und Geisteswelt". Leipzig-Berlin, B. G. Teubner. Jedes Bäudchen 1,60 M. Bavink, Dr. B., Einführung in die allgemeine Chemie. 2. verb. Aufl. 24 Fig. Arndt, Prof. Dr. K., Elektrochemie und ihre .Anwen- dungen. 2. Aufl. 37 Te.\tabbild. Köhn, P. , Elektrische Kraftübertragung. 2. Aufl. 133 Textabbild. BoU, Prof. Dr. F., Sternglaube und Sterndeutung. 2. Aufl. Mit einer Sternkarte und 20 Abbild. Braunshausen, Dr. N., Einführung in die experi- mentelle Psychologie. 2. veränderte Aufl. 17 Text- abbildungen. Verworn, Prof. Dr. M. , Die Mechanik des Geistes- lebens. 4. Aufl. 19 Textabb. Langenbeck, W., Englands Weltmacht in ihrer Ent- wicklung vom i 7. Jahrhundert bis auf unsere Tage. 3. Aufl. Prelinger, Dr. O., Die Photographie, ihre wissen- schaftlichen Grundlagen und iiire Anwendungen. 2. verb. Aufl. 64 Textabb. Trömner, Dr. C. , Hypnotismus und Suggestion. 3. verb. Aufl. Schumburg, Prof. Dr. W., Die Tuberkulose, ihr Wesen, ihre Verbreitung, Ursache, Verhütung und Heilung. 3. Aufl. Eine Tafel. Mie, Prof. Dr. G., Das Wesen der Materie. I. Mole- küle und .Atome. 4. Aufl. 25 Textfig. Wünsche-Schorler. Die vcrbreitetsten Pflanzen Deutschlands. Ein Übungsbuch für den naturwissenschaft- lichen Unterricht. Mit 621 Textabbildungen. Hansen, Prof. Dr. A. , Goethes Morphologie (Meta- morphose der Pflanzen und Osteologie). Gießen 19191 A. Töpelmann. Arrh enius, Svante, Der Lebenslauf der Planeten. Nach der vierten .Auflage der schwedischen Originalausgabe über- setzt von Dr. B. Finkelstein. Leipzig 1919, Akademische Verlagsgesellschaft m. b. H. Bülow, Prof. Dr. C, Eine neue Theorie vom Bau che- mischer Verbindungen. Stuttgart 191S. F. Enke. 15 M. Niraführ, Dr. R., Mechanische und technische Grund- lagen des Scgelfluges. Mit 26 Textabbild. Berlin 1919, R. Schmidt i^ Co. 7,50 M. Schuchardt, G., Die technische Gewinnung von Stick- stoff, Ammoniak und schwefelsaurem Ammonium, nebst einer Übersicht der deutschen Patente. Mit 13 Abbild. Stuttgart 19 19, F. Enke. 2,50 M. Pirquet, Prof. Dr. Cl., Freiherr von, System der Er- nährung. 2. Teil. Mit 48 Abbild. Berlin I9i9i J.Springer. 19,80 M. Schnegg, Prof. Dr. H. , Unsere Giftpilze und ihre eß- baren Doppelgänger. Mit 9 Textabb. und 42 farbigen Pilz- bildern. 3. vermehrte .\ufl. München 191-9, Verlag „Natur und Kultur". 2,75 Mk. Hegi, Prof. Dr. G., Alpenflora. Mit 221 farbigen Abb. 4. verb. Aufl. München 1919, J. F. Lehmannn. 7,50 M. Wolff, Prof. Dr. W. , Erdgeschichte und Bodenaufbau Schleswig-Holsteins. Mit 4 Abb. und i Karte. Hamburg 1919, L. Friederichsen. Ulbrich, Dr. F., Deutsche Myrmekochoren. Mit 24 Textabb. Leipzig und Berlin 1919, Th. Fischer. 3,20 M. Inhalt: M. Mob ins. Die Begründung der Pflanzengeographie durch Alexander von Humboldt. (1 Abb.) S. 521. — A. Hansen, Die Lebenskraft oder der Rhodische Genius. S. 52Ö. — Erich Metze, Alexander von Humboldts „Kosmos". S. 538. — Literatur: Liste. S. 544. Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Mi ehe, Berlin N 4, Invalidenstraße 41, erbeten. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G.m.b.H., Naumburg a. d. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue Folge i8 Band; der ganzen Reihe 34. Band, Sonntag, den 21. September 1919. Nummer 38. Beiträge zur Glazialgeologie Litauens und Südkurlands zwischen Illuxt, Dünaburg und Drj^swjaty-See. Nach einem am 3. Juni 19 19 gehaltenen Vortrag in der Gesellschaft von Freunden der Naturwissenschaften zu Gera. [^Nachdruck verboten.] Von Rudolf Hundt. Mit 4 Abbildungen. Reizvoll ist die Landschaft dieser Gegend durch eine Ursprünglichkeit und Unberührtheit, wie sie im deutschen Teil des europäischen Flachlandes nur noch in Ostpreußen zu finden ist. Während im sonstigen Kurland die Ebene vorwiegt, ge- staltet sich das russische Litauen und der weit nach Süden ragende Zipfel Kurlands, eingezwängt zwischen diesem und Weißrußland, zur hügeligen Welt, auf die man mit gutem Recht, wie auch auf preußisch Masuren den Namen „bucklige Welt" übertragen kann. Ein buntes Gewirr von Hügeln, Tälern, weiten Mooren, ein Reichtum von breitflächigen Seen, schmalen, auf hunderte von Kilometern sich in einer Nord • Süd- Linie erstreckenden Rinnenseen kennzeichnen die Landschaft, die, wie schon oben gesagt worden ist, russisch Litauen und den fiiiger- gleichen Südzipfel Kurlands erfüllen. Die quartären Ablagerungen, nacli Süden hin an Mächtigkeit zunehmend, bedecken, soweit man es durch Tiefbohrungen feststellen konnte, devo nisches Grundgebirge, das nur an ganz wenigen Stellen des Gebietes ansteht und die quartären Ablagerungen durchragt. Dies geschieht in den devonischen Dolomitlagern bei Muschujak (3 km südlich Dubena), bei Garsen und Oknista (5 bzw. 10 km westlich und nordwestlich von Assern). Unter devonischen Mergeln lagern an der Mün- dung des Eglan in die Düna bei Podunai und 10 icm westlich davon Dolomite. Weiter südlich bis zum Dryswjaty - See sind bis jetzt Tiefbohrungen nicht bekannt geworden, durch welche die quartären Ablagerungen durch- sunken worden sind bis zum paläozoischen Ge- birge. Aus der Gegend von Steinensee in Süd- kurland ist nur die auf meine Veranlassung nieder- gebrachte Tiefbohrung bekannt geworden, die in 55 m Tiefe den Geschiebemergel noch nicht durchsunken hatte. Die Mächtigkeit des Geschiebe- mergels ist hier ganz beträchtlich, wenn man die zwischen 39 — 42 m eingeschalteten, ganz wenig Wasser führenden Sande nicht in Betracht zieht. Wenn auch das Landschaftsgepräge ein ver- worrenes ist, von einer auffallenden Unübersicht- lichkeit, die gerade im Kriege von vielen übel empfunden wurde, die hier zu arbeiten hatten, so lösen sich doch eine Anzahl schon im norddeut- schen Flachland erkannter, charakteristischer Land ■ Schaftstypen heraus. Wir finden in dem Gebiete wieder: die flachhügelige Grundmoränenlandschaft, die kuppige Grundmoränenlandschaft mit Durchragungen von Sand und Kies, die Asarlandschaft, die Endmoränenlandschaft mit den davor- liegenden Sanden, Staubecken, Urstrom- tälern. I. 2. 3- 4- I. Die flachhügelige Grundmoränen- landschaft. Sie tritt in der Gegend von Uzjany, Wischuny im Kreise Wilkomierz als eine weithin sich er- streckende Hochebene auf, die von wenigen, flach- welligen Hügeln unterbrochen wird. Rinnenseen und liefeingeschnittene Täler durchschneiden sie, die mittlere Höhenlage beträgt 120 — 150 m. Der fette, wie aller russische Geschiebemergel rot- braune Geschiebemergel beherrscht die Gegend. Nur die Täler schließen in ihren sehr tiefen Ein- schnitten Spatsand und Kies auf, der nach Heß von Wichdorff, dessen Nachfolger ich als Kriegsgeologe in dieser Gegend und an diesem Frontabschnitt im Winter 1917 wurde, 6—8 m mächtig ist. Unterlagert wird er von ebensolchem braunroten, fetten Geschiebemergel wie er schon im Hangenden auftritt. Der obere Geschiebe- mergel ist nach Heß von Wichdorffs Unter- suchungen 4 — 6m mächtig. Heß von Wich- dorff nennt, und ich folge hier seinem Vorbilde, den eingelagerten, horizontbeständigen Sand und Kies „unteren Sand". Dabei sind wir uns aber bewußt, daß er dem „unteren Sand" der preußi- schen geologischen Landesanstalt nicht entspricht. Klare, diese Verhältnisse erläuternde Profile lernen wir in den Schluchten der Umgebung von Uzjany kennen, die zum Wischunka-Fluß hinführen. Im liegenden Geschiebemergel fand sich ein brauch- barer, horizontbeständiger Quellhorizont, der in der Medyna-Schlucht bei Uzjany eine Reihe von Schichtflächen erzeugte, die zur Quellmoorbildung geführt haben. Heß von Wichdorff stellte in der Umgebung von Kalecki bei Uzjany ein auf dieses Profil und diesen Horizont zurückzuführen- des Gehängemoor fest, das nahezu i V-, km lang und 250 m breit sich ausdehnt. Im tiefeinge- 546 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVin. Nr. 38 schnittenen Tale selbst kann man dann die Über- gänge vom Gehängemoor zum Ouellmoor stu- dieren. Sie erinnern an die aus preußisch-Masuren von Heß von Wichdorff beschriebenen glei- chen Erscheinungen. Der Eisengehalt ist bedeutend. Durch die intensiv rote Farbe verrät er sich weithin. Bröck- lige, gelbe, dunkelgefärbte Kalktuffe setzen diese Moore zusammen, deren Konchylienfauna erst noch bearbeitet wird. Heß von Wichdorff stellte in seinem im März dieses Jahres in der Deutschen geologischen Gesellschaft gehaltenen Vortrag, in dem unser gemeinsam gesammaltes Beobachtungsmaterial aus dieser Gegend zum ersten Male zusammenhängend bearbeitet worden ist, die ausführliche Behandlung dieser Fragen in Aussicht. Gehängemoore sind an flachgeneigten Hängen vorhanden, während an steilen Abhängen, an steilwandigen Umbiegungen der Flüsse kuppige Quellmoore eine typische Ausbildung erfuhren. Zwischen Labina in Südkurland und dem Bahn- körper der Wilna-Dünaburger Bahn, im Tal der Lawkessa bei Polischki treten gleiche Quellmoore in prachtvoller ursprünglicher Erhaltung auf. Heß von Wichdorff fand „häufig geröll- führende Abschlämmassen als Zwischenzonen, die, wie in Masuren, auf Trockenperioden und Ver- legung des Quellaustrittes hindeuten". Als wert- volle Beobachtung konnte er feststellen, daß ,,in einem Ouellmoor am Westrande des genannten großen Gehängemoors zwischen Kalecki und Shawdini als bisher nirgends beobachtete Schicht in Quellmooren eine echte Faulschlammbank, die ganz von Ostrakodenschälchen wimmelte und mit kleinen Gipskristallnadeln und Gipsrosetten völlig durchsetzt war" auftrat. Im Innern dieses Quell- moors fanden sich kreuz und quer liegende Fichtenstämme mit Nadeln und breitgedrückten langen Tannenzapfen. Heß von Wichdorff verspricht sich aus diesen Beobachtungen in rus- sisch Litauen an Gehänge- und Quellmooren weit- gehende Erklärungsmethoden für die Bildungs- vorgänge pleistozäner Kalktuffvorkommen in Thüringen, die nach ihm nichts anderes wie ältere Gehängemoore sind. Ein charakteristisches Staubecken durchfließt das Wishunkatal bei Kalecki und Uzjany. Es ist 2 km breit, bis jetzt in einer Länge von 10 km verfolgt. Die Breite beträgt an der Dünaburger Straße in Uzjany sogar 4^0 km. Die kiesigen Sande sind als ebene Terrasse ausgebildet, werden an ihren Grenzen von Steilufern eingefaßt. An der Medyna-Schlucht bei Kalecki zeigen sich am Schluchtausgang als Beckenrand grobe Kiese, die verraten , daß Schluchtausgang und ein Teil der Schlucht selbst schon vor der Entstehung des Staubeckens entstanden sind. 2. Die kuppige Grundmoränenland- schaft. Wie ein versteinertes Meer mit allen seinen Wellenbergen und Tälern erscheint diese glaziale Landschaftsform zwischen Nowo Alexandroowsk und Satoki bei Dünaburg. Im Süden wird diese kuppige Grundmoränenlandschaft von der End- moräne am Dryswjaty-See und im Norden von der Lawkessa begrenzt. Der fette, rotgefärbte Lehm zeigt in dieser Gegend an einer Reihe von Stellen Durchragungen von Sand und Kies, die von mir, in Rohstoffkarten eingetragen, der kämpfenden Truppe dieses Frontabschnittes zur Ausführung von Betonbauten zugänglich gemacht wurden. Der fruchtbare Boden hat dazu beige- tragen, eine stärkere Besiedelung durch Einzel- höfe hervorzurufen, die meist in glücklicher Lage an den Hängen der Hügel prachtvoll malerisch sich hinlehnen. Die sehr reichlich vorhandenen Seen gehören dem Typus der Rinnenseen an, die in oft Hunderte von Kilometern Erstreckung sich perlschnurartig von Nord nach Süd hinziehen. Das schönste Beispiel für solche aneinandergereihte Rinnenseen ist die Rinne von der unteren Düna bei Dünaburg über Osta-See, Demmen-See, Tors- hokSee, Gateni-See, Skirna-See, kleiner Skirna- See, Dryswjaty-See. Auf den ersten Blick macht der 8 km breite Dryswjaty-See den Eindruck eines mächtigen Grundmoränensees. Doch haben Lotungen zur Legung von Minensperren gezeigt, daß in nord- südlicher Erstreckung durch den ganzen See hin- durch eine tiefe Rinne läuft, die durchschnittlich 23,25 m tief ist. So ist ursprünglich auch dieser See ein Rinnensee gewesen. Interessant ist die Dünaumbiegung bei Düna- burg nach Nordwesten hin. Der Knick erinnert sehr an die Umbiegungen unserer norddeutschen Flüsse. Meine Untersuchungen darüber, ob nicht das Lawkessatal ursprünglich die westliche Fort- setzung der Düna über BaltaSee, Ossa-See, Ossaida- See nach dem Owile-See hin zu einer Zeit ge- wesen ist, als der Gletscherlobus in dieser Gegend sich befand , konnten leider nicht abgeschlossen werden. Die schön entwickelten Terrassen im Lawkessatal und an den Seen bei Nowo Alexan- drewsk stützen die Vermutung, die sehr viel Wahrscheinlichkeit in sich schließt. Der die kuppige Grundmoräne bildende Ge- schiebemergel ist von sehr wechselnder Mächtig- keit. Oft wird er von Sand- und Kiesdurch- ragungen durchbrochen, die höchste Kuppen bilden, aber aucti an tiefergelegenen Stellen sich einstellen. Sehr oft ist liegender Sand (in der Bedeutung aufzufassen, wie ich ihn oben annahm) oder Schwimmsand in steilster Kegelform hoch- gepreßt worden. Gerade der Schwimmsand hat bei Stellungsbauten unter dem dünnen Geschiebe- lehm unendliche Schwierigkeiten bereitet, die oft nicht zu bewältigen waren und sehr oft zur Auf- gabe angefangener Stollen führten. Auch weiter im Norden, in der Gegend von Steinensee, schon im nördlichen Endmoränen- gebiet, von dem weiter unten noch die Rede sein wird, sind solche schroff wechselnde Verhält- N. F. XVIII. Nr. 38 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 547 nisse zu beobachten gewesen. In der Nähe von Neuhaus kam eine Bohrung schon bei 8 m Tiefe auf Wasser, während in ungefähr 6 m Entfernung erst bei 24 m Tiefe der Lehm durclisunken wor- den ist. Den Typus der kuppigen Grundmoränenland- schaft erscliließt die alte russische Straße von Nowo Alexandrowsk nach dem Bahnhof Tyrmont an der Wilna-Dünaburger Bahn. Zwischen den Kuppen liegen in reicher Fülle die verschieden- sten Moore als Gehänge-, Quell-, Birken- und Kusselmoore. An einer Stelle lag unter dem 2 m mächtigen Moosmoore in der Nähe von Los- kutowka ein Süßwassermergel, erfüllt von Kon- chylien, die der Bestimmung noch harren. Das war zugleich die einzige Stelle des Gebietes, an der in glazialen Ablagerungen Versteinerungen gefunden worden sind. In den zum Teil mächtigen Mooren waren für unsere kämpfende Truppe genug Brennmate- rialien für den kalten russischen Winter vorhanden, denn auch das Holz war in der Nähe des Kampf- gebietes im Laufe zweier Jahre Stellungskrieg zur Neige gegangen. Für meinen rund 75 km langen PVontabschnitt, den ich als Geologe zu bearbeiten hatte, war von mir bei der maßgebenden Kom- mandostelle angeregt worden, Torf in den Mooren zu gewinnen. Und viele Millionen Torfziegel wurden durch besondere Torfkommandos ge- stochen. Die Litauer waren über die Gewinnung des Torfes verwundert, weil ihnen die Heizkraft dieses Brennmaterials nicht bekannt war (Gegend von Waschilischki). Von eigenartigem Reiz sind die mit schlanken Birken bewachsenen Moore aus der Steinenseer Gegend und am Dryswjaty-See. 3. Die Asarlandschaft. Sowohl die flache als auch die kuppige Grund- moränenlandschaft ließen an verschiedenen Stellen die merkwürdigen Wallberge erkennen, die hin- sichtlich ihrer Entstehung und hinsichtlich ihrer Form verschiedene Rätsel zu raten aufgaben. Heß von Wichdorff wies bei Wischuny einen solchen Asarhöhenzug nach, der sich in 6 km Erstreckung als eisenbahndammähnliches Gebilde zeigt, das an manchen schmalen Stellen 25 m breit ist, an besonders breiten Stellen wie beim Hofe Pojeziori auf 100 m anschwillt. Die Osgräben sind deutlich ausgebildet. Stellenweise benutzt der Wischuny-Bach und PojezioriBach den Osgräben. An verschiedenen Stellen ist das Os verschieden hoch. Nach Heß von Wich- dorf fs Ansicht übertrifft dieser Wischuny- Os die Asar Hinterpommerns hinsichtlich der pracht- vollen Modellartigkeit der Formen. Die reich- lichen Aufschlüsse zeigen den inneren Aufbau des Oses deutlich, das sich aus kalkreichen Kies auf- baut. Stellenweise tritt ein anderer Typus auf. Wir erkennen dann an einigen Stellen sogenannte „Stauäsar". Das Innere bildet bei ihnen ein Ge- schiebemergelband, das den Kies zur rechten und linken Seite trennt. Auch in diesem Aufbau stimmt das WischunyOs mit dem von Heß von Wichdorff vom Langen Berg bei Zeitlitz und Silligsdorf beschriebenen Os aus Hinterpommern überein. Die eingepreßten Geschiebelehmstücke, die oft als Grate der einzelnen Teile des Wischuny- Oses auftreten, sind in den Inlandeisspalten durch Eisdruck aus ihrer Umgebung herausgepreßt worden. Ein zweites Os wurde von Dr. Stensloff bei Rymschany am Bahnhof Dukschty der Düna- burger Bahn entdeckt. Auch hier zeigte das Os eine starke Lehmbedeckung. Von demselben Kriegsgeologen, dessen südlich liegendes Arbeits- gebiet im Norden an das meinige heranreichte, wurden durch Lotungen am Grunde des Disna- Sees zwei Asar festgestellt. Schon von Heß von Wichdorff erkannt, von mir dann genauer erforscht, wurden die O prachtvollen Asar-Züge in der Nähe von Tyrmont- Buwidischki (Abb. i). In wunderbarer Klarheit traten die Asar mit nach Süden und Norden ab- zweigenden Biasern auf Sie schließen sich im Abb. I. Asar zwischen Plinka und Buwidischki. (Fliegeraufnahme 2500 m Höhe.) Süden unmittelbar an die Endmoränenlandschaft vom Dryswjaty-See an, von der weiter unten noch die Rede sein wird. Nach Norden verlaufen sie flach in die kuppige Grundmoränenlandschaft. Der Verlauf der kreuz und quer sich hinziehenden Asar erinnert an ein Netz mit seinen Maschen. Bis jetzt ist ein gleiches „Asar-Netz" noch von keiner anderen Stelle glazialer Landschaft bekannt geworden. Heß von Wichdorff führt diesen netzförmigen Verlauf des Tyrmont- Buwidischki- Labina Asar auf mehrmals oszilierendes Eis zurück. Das hat viel Wahrscheinliches für sich, nachdem ich auf dem Tyrmontberge eine nicht sehr mäch- tige, aber immerhin i — 2 m starke Blockpackung, die für eine Eiswandlage spricht, festgestellt habe. 548 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVm. Nr. 38 Wie beim Wischuny-Os ist auch hier der Auf- bau sehr verschieden. Bei Labina findet sich Kies in konkordanter Schichtung ungestört, ohne jede Geschiebemergeleinlagerung (Abb. 2). Der schmale Rücken ist in seiner ganzen Ausdehnung von solch geschichtetem Kies erfüllt. Dagegen zeigen Abb. 2. A': bei Labina (AutschuttuDgbasJ. (Originalaufnahme d. Verf.). gewinnung abgetragenen Oses den Grund auf 2 m ab und fand unter 0,5 m Sand und Kies Geschiebe- lehm, der sich auch unter dem ganz benachbarten Moore zeigte. So bildet das Os ein reines Auf- schültungsos und es ist sehr leicht möglich, daß die abgerissenen, im Oskies eingelagerten Ge- schiebelehmblöcke aus dem Liegenden stammen. Besonders auffällig und auf diese Weise nur ver- ständlich sind die Lehmeinlagerungen in den Asarn beiderseitig der Dünaburger Bahn, die ebenfalls zu diesem Asarnetz gehören. Auch jen- seits der Nordsüdabschmelzrinne, die vom Starocz- See über Widsy-See, Dryswjaty See nach der unteren Düna bei Dünaburg führt, sind nur durch Hiegerbilder und Scherenfernrohraufnahmen deut- lich Asar am kleinen Skirna-See bekannt gewor- den (Abb. 3). Leider kam ich auf dem letzten großen Vor- marsch nicht durch dieses interessante Gebiet, sondern durch die nördlicher liegende Dünaburger Gegend, die ebene Grundmoränenlandschaft auf- wies. Weitere Asar konnte ich bei Stazjuni, unweit Berkhof, bei Nowy Smolwy, bei Sadischki und sich zwischen Buwidischki- Tyrmont, bei Buwidischki selbst, bei Pokapina und einigen anderen Stellen ge- nau wie bei Wischuny Ge- schiebelehmeinschlüsse ein- gepreßt, die sich als einzelne Schollen oderalsgratförmige Lehmrücken, oder als ein- fache Lehmbedeckung be- merkbar machen. Manchen- orts wechselt diese Zusam- mensetzung auf wenige Meter hin (Pokapina, bei Tulbina). Es zeigen sich feine geschichtete Sande, Kiese, Blockpackung, Ge- schiebelehm in ganz kurzem Wechsel, oft gefaltet und gestaucht. Diese Asar er- strecken sich bis in die Gräben der Front hinein, lieferten in den Kiesnestern gutes Betonmaterial für Unterstandbauten, Maschi- nengewehrnester innerhalb der Front, hinter der Front günstige Batteriestellungen, zwischen Tyrmont über Buwiischki nach Labina und von Buwidischki nach Pokapina hin sind die Osgräben sehr gut entwickelt. Über den Untergrund der Asar habe ich auch einige Beobachtungen sammeln können. Bei La- bina bohrte ich auf der Basis des durch Kies- Abb. An dem Osstück ar-Landschaft am Kleinen Skirna-See auf der ssisclien Seite der alten Front (191 7). (Fliegeraufnahme, Höhe 3800 m). Solonischki in der Nähe von Nowo Alexandrowsk feststellen. Einzelheiten über den Asaraufbau sollen in gemeinsamer Arbeit mit Heß von Wichdorff veröffentlicht werden. Es gilt ja hier nur große Züge des vollständig unbekannten Glazialgebietes festzustellen. N. F. XVIII. Nr. 38 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 549 4. Endmoränenlandschaften. Anna Missunna hat aus südlicheren Ge- bieten Endmoränenlandschaften beschrieben, die bei Ignalina in die Nähe unseres Gebietes kommen. Die unten erwähnten Endmoränenzüge ließen sich mit den Endmoränen, auf der Karte Anna Missunnas dargestellt, nicht in Zusammenhang bringen. Die Bewegungsfreiheit, die für uns Geo- logen schon groß war, reichte jedoch nicht hin, solchen Zusammenhängen, die wohl bestehen können, nachzugehen. Einer der schönsten Endmoränenzüge verläuft am Nord Westrand des DryswjatySee hin, sich eng an die kuppige Grundmoränenlandschaft an- schließend. Die hohen Hügel sind kiesig aus- gebildet. Ihnen ist ein 0,5 — i km breites Band wunderbarster Blockpackung vorgelagert (Abb. 4). Dieses Band zieht aber Burni, Budyne, Jodyne nach lUischki, Smolwy bis Suntupe hin. Zwischen Smolwy und Suntupe ist allerdings der Block- packungscharakter nicht einheitlich gewahrt ge- blieben. Welche ungeheuren Blockmassen am Ufer des DryswjatySee liegen, davon erzählte Heß vonWichdorffin dem oben angeführten Vortrage, wenn er beobachtet habe, daß bei einem Unterstandsbau 500 m südlich von Burni bis zu einer Tiefe von 3 m mehrere hundert '/., — i m große Blöcke liegen. Ohne jedes Zwischenmittel sind die oft 4 — 5 m langen Blöcke mauergleich übereinander gelagert. Nach Westen hin geht diese massige Blockpackung in eine Geröllpackung über. Nur beim Dorfe Smolwy zeigt sie sich noch einmal. Nach Heß von Wichd orffs An- nahmen soll der Zug der Blockpackungswälle sich nach Süden hin über Wischnew nach Rymschany fortsetzen. Jedenfalls sind in der Dryswjaty-End- moräne großartige Blockpackungserscheinungen vorhanden, die nicht ihresgleichen suchen. Nach meiner Ansicht verläuft der Zug anders wie ihn Heß von Wichdorff annimmt. Ich bin der Meinung, daß er mit dem Endmoränenzug bei Deguze zusammenhängt. Eine zweite Endmoränenlandschaft, in auffäl- liger Breite und Mächtigkeit läuft zwischen Nowo- Alexandrowsk und Deguze über die Dünaburger Straße. Zwischen den von der Straße mehrmals geschnittenen Endmoränenbögen liegen die fürs Endmoränengebiet charakteristischen abflußlosen Becken in großer Anzahl. Weder Heß von Wichdorff noch mir ist es gelungen den ver- muteten Zusammenhang dieses Endmoränenzuges mit der Dryswjaty Endmoräne festzustellen. Weitere Eßdmoränenzüge, die auch noch nicht den großen Zügen eingeordnet werden konnten, zeigen sich von Medum an über Gribowka, Steinen- See nach Gut Grendsen hinauf. In der Um- gebung von SteinenSee haben wir es jedoch nicht mit Aufschüttungsmoränen zu tun, sondern mit Stauchungsmoränen. Vielleicht gehört dieser Zug zu dem weiter im Norden von Prof. D o ß nachge- wiesenen bei Hohenberg, Lassen, Subat. Abb. 4. Blockpackung bei Burni am Dryswjaty-See südwest- lich Dünaburgs. (Originalaufnahme d. Verf.). Wie schon oben gesagt wurde, ist es leider nicht gelungen, diese Endmoränenzüge denen der Anna Missunna einzugliedern, oder denen an- zuschließen, die Doß vom Mitauer Bogen be- schrieben hat. Doch sind in Heß von Wich- dorf fs Forschungen, die von den meinen in vielen Fällen nicht nur bestätigt, sondern sogar erweitert werden konnten, weil ich i ^|^ Jahr hier tätig war, die ersten sicheren glazialgeologischen Beobachtungen aus diesem Gebiet russisch Litauens und Südkurlands bekannt geworden. Zwangshaudluiigen mid ZivaugsYorstellungeu. [Nachdruck verboten.) Von Dr. R. Sicher ist es jedem Leser schon begegnet, daß er bei einem Gang auf der Straße gelegentlich bemerkte, wie irgendein Knabe oder Mädchen neben oder vor ihm herging, mit möglichst schnellem Schritt, um nur ja nicht „überholt" zu werden. Mancher dürfte sich auch noch von seiner Kinder- zeit her erinnern, wie er sich gleichfalls an die Schritte eines eilig dahinschreitenden Erwachsenen anschloß, emsig bestrebt, trotz der eigenen kurzen Hennig. Beinchen, schneller vorwärts zu kommen als jener oder wie er vor einem solchen Geschwindgeher eiligst einher „ging" und mit größtem Eifer da- rauf bedacht war, immer ein paar Schritte Vor- sprung zu behalten, wobei aber ein eigentliches Rennen oder Traben als unstatthaft betrachtet wurde. Beim Tun derartiger Kinder, die ge- legentlich zu etwas lästigen „Anhängseln" für den Erwachsenen werden können, handelt es sich zu- 550 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 38 nächst zwar nur um eine Art von kindlichem Spiel, aber der Trieb, diesem Spiel zu frönen, ist doch vielfach so heftig, ja, geradezu unwidersteh- lich, daß man kaum noch von einen Spiel sprechen darf, sondern von einer zwangsmäßig ausgeführten Handlung. Ein Widerstand gegen den Anreiz, schneller als der Erwachsene zu gehen, ist gar nicht leicht, wird auch meist gar nicht erst ver- sucht, sondern willenlos gibt sich das Kind der „Zwangshandlung" hin. Psychologisch sind diese Handlungen aufs engste verwandt mit denen, die unter dem Zwange der hypnotischen Suggestion ausgeführt werden müssen. Zumal posthypnotisch auszuführende Be- fehle von vielleicht ganz sinn- und zweckloser Art sind für den Vergleich vortrefflich heranzuziehen. Ein verständiger, seines Ichs völlig mächtiger Mensch, der unter der Einwirkung einer in der Hypnose vorher erteilten Suggestion steht, fühlt, wie sinnlos, vielleicht kompromittierend die Aus- führung der plötzlich in seinem Bewußtsein auf- tauchenden Handlung sein würde, aber es drängt ihn mit unwiderstehlicher Gewalt, sie dennoch zu begehen: er spricht irgendeine Albernheit, steigt auf den Tisch, zieht sich die Jacke aus oder tut, was ihm sonst vom Hypnotiseur geheißen worden war, und empfindet es wie Erlösung von einem übermächtigen Zwang, wenn er dem Antrieb nach- gegeben hat. Der Schweizer Psychologe Prof. Bleuler machte gelegentlich den Versuch, in- wieweit ein Ankämpfen gegen die posthypnotische Suggestion möglich sei. Er ließ sich einen post- hypnotisch auszuführenden, einfachen Auftrag er- teilen und leistete nachher dem Antrieb zur Hand- lung bewußt Widerstand. Wie er angibt, litt er die ganze folgende Nacht unter dem immer wie- derkehrenden Anreiz, die befohlene Handlung (Umstellen eines Glases Wasser an einen anderen Platz) nachträglich auszuführen, und war mehrfach nahe daran, dem Zwang doch noch nachzugeben. Erst gegen Morgen verlor sich der Trieb, und sein Wille blieb dennoch Sieger. Das schwere seelische Unbehagen, das ein solcher Widerstand gegen einen hypnotisch erteilten Auftrag auslöst, dürfte kaum größer sein als dasjenige, das ein Kind empfindet, wenn es, aus freiem Willen oder unter dem Druck äußerer Umstände, auf die Ausführung einer von ihm selbst diktierten Zwangshandlung zu verzichten genötigt ist. Diese Zwangshandlungen erstrecken sich nun keineswegs nur auf das Streben, schneller als ein anderer Straßenpassant zu gehen, sondern sie können sehr mannigfache Formen annehmen. Mit Vorliebe unterliegen Kinder, etwa im Alter um 10 Jahre herum, dem Triebe, sich in gewissen Handlungen von selbsterdachten, völlig zwecklosen Regeln leiten zu lassen, aber wo man nicht recht- zeitig bestrebt ist, des wunderlichen Triebes Herr zu werden , da kann sich selbst noch der Er- wachsene dem übermächtigen Drang einer be- stimmten Zwangshandlung nicht entziehen, selbst auf die Gefahr hin, daß er sich dadurch in be- stimmten Lagen des Lebens Unbequemlichkeiten aussetzt oder gar lächerlich macht. Eine weitverbreitete und ziemlich bekannte Form der Zwangshandlung besteht z. B. darin, daß ein Kind sich getrieben fühlt, bestimmte Gegenstände, wie Häuser, Bäume, Laternenpfähle, Türen usw., deren es einer größeren Menge auf einem Gange begegnet, mit der Hand oder auch mit dem Schirm, dem Stock, den es gerade bei sich trägt, zu berühren. Wird die Berührung eines der betreffenden Gegenstände aus Versehen oder wegen irgendwelcher Hindernisse verab- säumt, so stellt sich ein sehr deutliches Unbe- hagen ob der begangenen „Pflichtversäumnis" ein, ja, in sehr vielen Fällen kehrt das Kind noch- mals um, um nachträglich den ausgelassenen Gegenstand zu berühren , und setzt dann erst seine Wanderung fort. Diese absonderliche Eigen- tümlichkeit ist aber keineswegs auf das kindliche Alter beschränkt. Aueh erwachsene Personen, kluge und besonnene Leute, können ihr gelegent- lich in lebhaftester Weise unterliegen. Zumal wenn ihr Geist durch irgendwelche Gedanken vollkommen in Anspruch genommen ist, z. B. beim Nachgrübeln über irgendwelche wichtigen Fragen, beim dramatischen Dichten, Romanfabeln- Erfinden, Komponieren usw., können viele erwachsene Men- schen halb-unbewußt und mechanisch in das Trieb- leben ihrer kindlichen Zwangshandlungen zurück- fallen. Ein besonders interessantes Beispiel hier- für bot Emile Zola, der, wenn er nachts nicht schlafen konnte — vielleicht weil ihn ein Roman in Anspruch nahm — oft genug ruhelos die Zim- mer seiner Wohnung durchwanderte und eine große Zahl von Gegenständen in einer ganz be- stimmten Reihenfolge berührte. Kam dabei ein ,, Fehler" vor, so erfaßte ihn eine solche Unruhe, daß er lieber den Gang noch einmal ganz von vorn begann, um nur ja nicht gegen die selbst- erfundenen, sinnlosen „Regeln" zu verstoßen. Man kennt ferner die Sitte zahlloser Kinder, daß sie jederzeit, beim Sprechen, Essen, Ar- beiten „mit irgend etwas spielen", irgend etwas mit der jeweilig freien Hand erfassen müssen. Nun, in genau gleicher Weise pflegte Ibsen zu dichten, indem er, am Schreibtisch sitzend, mit kleinen Figürchen, die darauf standen, spielen „mußte". Nicht ganz selten sind ferner die Menschen, die ein Sklave der Zwangshandlung sind, mit den Knöpfen des Anzuges einer Person zu spielen, mit der sie sich gerade unterhalten. Entzieht sich das Gegenüber dem Zugriff oder fehlt der Knopf an der Stelle, wo er gesucht wurde, so können sie dadurch in merkliche Verwirrung und Verlegenheit gebracht werden. Eine ähnliche Form der Zwangshandlungen äußert sich, vornehmlich wieder bei Kindern, darin, daß für den Gang auf der Straße oder durchs Zimmer bestimmte selbstgegebene Zwangsregeln beobachtet werden. Auf dem mit großen Stein- platten belegten Bürgersteig tritt der Mensch etwa N. F. XVni. Nr. 38 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. SSI nur auf die Steine selbst, nicht auf die Zwischen- räume zwischen ihnen, möglichst aber nur einmal auf jeden Stein. Zuweilen sieht man ja auf der Straße Kinder die gewagtesten Sprünge machen, damit sie nur ja nicht öfters als einmal jeden Stein betreten, oder auch mit winzig kleinen Schritten dahertrippeln, damit sie, auf kleinerem Stein- pflaster, ums Himmelswillen keinen Stein „aus- lassen", ohne auf ihm gestanden zu haben. Oder sie treten umgekehrt stets auf die Zwischenräume zwischen den Steinen oder folgen der Bordschwelle und weigern sich auch nur einen einzigen Schritt zu tun, der die selbstgegebene Regel durchbrechen würde. Treffen sie auf ein nur zeitweilig vor- handenes Hindernis, vielleicht einen Menschen, der zufällig in ihrem Wege steht, so warten sie gelegentlich lieber minutenlang, bis der Mensch ihnen Platz macht, ehe sie sich entschließen, einen Schritt seitwärts zu tun und das Unbehagen einer durchbrochenen Zwangshandlung auf sich zu nehmen. — Ebenso tritt das Kind im Zimmer gern nur auf die Mitte der einzelnen Dielenbalken oder nur auf die Zwischenräume zwischen ihnen, oder es läßt bei jedem Schritt, vielleicht auf Par- kettfußboden , eine bestimmte Zahl von Holz- stückchen, I oder 2 oder 3, aus usw. Die P'ormen, in denen diese kindliche Zwangshandlung sich äußert, sind ja naturgemäß ungemein verschieden und ändern sich von Fall zu Fall. Es sind aber keineswegs nur Kinder, die diesem Trieb unterliegen. Auch Erwachsene verfallen ihm hier und da wieder, zumal wenn ihr Geist angestrengt arbeitet und die Bewegungen des Körpers nicht scharf unter Kontrolle behält. Sicher haben sich schon viele Erwachsene dabei er- tappt, wie sie zeitweise in die Kindheitsgewohn- heit zurückverfielen und für einige Sekunden oder Minuten, in Gedanken vertieft, der Zwangshand- lung neuerdings unterlagen. Sie werden sich zwar hinreichend beherrschen, um nicht allzu tolle Sprünge, nach Art der Kinder, zu machen und durch eine allzu auffällige Gangweise die Ver- wunderung und den Spott anderer Straßengänger herauszufordern, aber den verlockenden Reiz, ihre Schritte nach dem Aussehen des Straßen pflasters einzurichten oder auf Landstraßen immer in eine Wagen- oder schdn vorhandene Fußspur zu treten oder den verschlungenen Pfaden einer durch das Gelände am Boden geschleiften Stock- oder Schirm- spitze zu folgen, werden sie dennoch nicht selten in sich verspüren. In dieselbe Kategorie gehören die hier und da sich findenden Neigungen, einen bestimmten kurzen Weg stets mit genau derselben Zahl von Schritten zurückzulegen. Wenn irgendwelche äußeren Um- stände einmal dazu zwingen, die „vorgeschriebene" Zahl von Schritten zu unter- oder überschreiten, so stellt sich ein deutliches Unlustempfinden ein und ein leises oder stärkeres Verlangen, den Weg mit der „richtigen" Schrittzahl lieber nochmals zurückzulegen. Ich entsinne mich aus meiner Gymnasiastenzeit eines verehrten, damals in den 50 er Jahren stehenden Ordinarius, der Tag für Tag und Jahr für Jahr die Entfernung von der Tür des Klassenzimmers bis zum Katheder mit immer gleichbleibenden 9 Schritten zurücklegte und für den es keinen schärferen Ausdruck der Mißbilligung für irgendeine in der Klasse wahr- genommene Ungehörigkeit gab, als wenn er, auf dem Katheder angelangt, äußerte : „Fast hätte ich 10 Schritte gemacht!" Das Zählen von irgendwelchen vollkommen gleichgültigen Gegenständen, wie es sich in den eben erörterten Beispielen auf die Schritte bezog, als Zwangshandlung ist bei Erwachsenen wie Kinder sehr viel verbreiteter, als man vielleicht glaubt. Es gibt viele Menschen, die keine Treppe hinauf- oder hinuntergehen können, ohne die Zahl der Stufen zu zählen. Bei Kirchtürmen, Aussichts- und Leuchttürmen ist dies manchmal eine etwas mühsame Aufgabe, aber sie können sich dem Zwang des in ihnen wirkenden Triebes dennoch nicht entziehen. Ja, wenn sie einmal unsicher werden, ob sie sich nicht verzählt haben, so kommt es hier und da vor, daß sie lieber noch einmal von vorn zu zählen anfangen, als daß sie sich mit dem unbehaglichen Gefühl abfinden, über das ungeheuer wichtige Problem, ob 86 oder 87 Stufen auf dem Turm hinaufführen, im Unklaren geblieben zu sein. Andre Leute zählen die Menschen, die Pferde, die Hunde, die Laternenpfähle, P'eiister, Wagen usw., die sie auf ihrem Wege antreffen. Kinder treiben diese Unterhaltung bewußt als Spiel, aber wenn dies Spiel allzu oft ausgeübt wird, kann es zur Manie, zur Zwangshandlung werden und einen Menschen während seines Lebens verfolgen und peinigen. Bei seinen schon erwähnten nächtlichen Zimmerwanderungen zählte z. B. auch Zola die Zahlen der Türen, der Stühle, der Bilder, der Gas- flammen und mancher anderen Gegenstände, die er jeweilig zu Gesicht bekam. Ein anderer noch größerer Mann , der in heftiger Weise an diesem törichten Trieb litt und mehrfach ernste Unan- nehmlichkeiten durch die Ausübung seiner ebenso gleichgültigen wie unwiderstehlichen Zählwut er- lebte, war kein Geringerer als Napoleon I. Wenn er durch eine Straße ging oder ritt, erfaßte ihn ein unbezähmbarer Trieb, die Fensterreihen zu zählen und zusammenzuaddieren. Selbst beim Einzug in eroberte Städte, wo er doch eigentlich Wichtigeres zu bedenken gehabt hätte, konnte er von dieser Neigung nicht lassen, obwohl die Un- sinnigkeit und Unbedeutendheit der Handlung sicher einem so scharfen Denker, wie er es war, oft genug zum Bewußtsein gekommen sein wird. Es ist aber eben das Charakteristische der Zwangs- handlung, daß sie, trotz voller Einsicht in ihre absolute Zweck- und Sinnlosigkeit, ausgeführt werden muß, selbst wenn die Befolgung des Instinkts mit offenbaren Beeinträchtigungen und Schäden verbunden ist. Eine harmlose Form der Zwangshandlung ist es, wenn gewisse Personen jedes Wort, das sie 552 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVm. Nr. 38 sich lebhaft vorstellen, besonders Namen, Zahlen usw., „in die Luft zu schreiben" sich gedrungen fühlen, sei es mit dem Finger, mit einem Schirm oder anderen Geganstand, den sie grade bei sich haben. Wer gerade mit der Erlernung einer fremden Schrift bescliäftigt ist, etwa dem griechischen oder russischen Alphabet, oder wer ein stenographisches System erlernt, der verspürt besonders leicht den Trieb, jedes wichtigere Wort, an das er gerade denkt, in den neuerlernten Schriftzeichen unmerk- lich in die Luft zu schreiben. Auch diese Zwangs- handlung kann, in milder, erträglicher Form, einen Menschen während seines ganzen Lebens nicht verlassen. Hat ein solcher Mensch Schreibgerät und Papier zur Hand, so begnügt er sich nicht mit dem In-die Luft-Schreiben, sondern schreibt wirk- lich hin, was ihm durch den Kopf geht, ohne daß sich ein Zweck damit verbindet. Wieder zeigt es sich dann, daß bei gänzlicher Inanspruchnahme der Aufmerksamkeit durch völlig fernliegende Dinge die Hand am ehesten allerhand Worte, Namen, Buchstaben sichtbar niederschreibt, an denen das Bewußtsein des Menschen gar keinen Anteil hat. Häufiger noch „malt" die Hand aller- hand Schnörkel, Arabesken, Gestalten, Gesichter aufs Papier — die je nach der zeichnerischen Ver- anlagung des Individuums mehr oder weniger künstlerisch ausfallen. Die bleistift- oder feder- bewaffnete Hand eines solchen Menschen muß irgend etwas „produzieren". Grade während einer sehr lebhaften Unterhaltung, eines intensiven Denk- prozesses schafft seine Hand völlig unbewußt und automatisch oft umfangreiche Zeichnungen, wobei gewisse Personen sich mit Vorliebe der Darstellung immer des gleichen Vorwurfs in wechselnder Aus- führung bedienen. So kannte ich einen Herrn, einen geschickten Zeichner, der in reger Unterhaltung immer Reiterszenen, vornehmlich Kavalleriebilder, Kampfszenen usw., in oft recht künstlerischer Ausführung zu Papier brachte und der nach be- endeter Unterhaltung sich oft selbst wunderte, was für komplizierte Genrebilder er wieder einmal „hingekritzelt" hatte. Von Schiller wird berichtet, daß er beim Nachgrübeln über einen dichterischen Gegenstand große Bogen voll Papier mit „Rösseln", also wohl Pferdeköpfen, bedeckt habe. Diese Form der Zwangshandlung stellt sich immer nur ein, wenn der Betreffende ein Schreib- oder Zeichen- gerät in der Hand und Papier vor sich hat; die Zwangshandlung selbst vollzieht sich völlig auto- matisch ohne Anteilnahme des Bewußtseins: wird die Aufmerksamkeit des Zeichnenden oder Schrei- benden durch einen äußeren Anlaß auf sein Be- ginnen gelenkt, so wird die „Arbeit" unterbrochen und als sinnlos empfunden. ^ Das „automatische Schreiben und Malen" der sogenannten Schreib- und Malmedien, die im Dämmerdasein des Trancezustandes sich in genau gleicher Weise be- tätigen und die meist das Werkzeug unsichtbarer Geister zu sein glauben, da ihr eigenes Bewußt- sein an der Entstehung der „Geisterschriften" und „Geistermalereien" keinen Anteil hat, hängt natür- lich aufs allerengste mit den mehr spieltriebartigen Zwangshandlungen der geschilderten Art zusam- men, ja, ist sogar vollkommen identisch damit. Ferner sei noch eine Form der Zwangshand- lungen erwähnt, die schon mehr in das Gebiet der Zwangsvorstellungen hineingehören und nur gelegentlich noch zu wirklichen Handlungen aus- wachsen. Jedermann kennt den Zustand, daß wir stunden-, selbst tagelang „von einer Melodie ver- folgt" werden. Immer wieder und wieder taucht sie in unserem Bewußtsein auf, wir summen oder pfeifen sie endlos oft vor uns hin, oder wir „hören sie innerlich" und können ihr nur entgehen, wenn wir absichtlich andere Melodien uns vorsingen oder sonst in Gestalt von Musik längere Zeit auf uns wirken lassen. Das Interessante dabei ist, daß nach meinen Beobachtungen solche Melodien und musikalischen Motive uns oft nicht unmittelbar, nachdem wir sie gehört haben, „verfolgen", sondern erst mehrere Tage nachher. Am Morgen nach einem Konzert besinnen wir uns vielleicht ver- geblich auf eine Melodie, die uns gestern Abend gut gefallen hat, und längere Zeit später liegt uns die Melodie plötzlich im Ohr und läßt uns nun vielleicht für 24 Stunden und mehr nicht wieder los. Soweit ich an mir selbst festgestellt habe, ist etwa der 3. Tag nach gehabtem Eindruck der- jenige, an dem wir der Zwangsvorstellung am kräftigsten unterliegen und irgendeine musikalische Figur von uns nicht wieder abschütteln können, wenn wir auch an sie vorher seit dem Konzert vielleicht gar nicht mehr gedacht haben. Doch wechselt die Zeitdauer, bis der Eindruck wieder- kehrt, um uns zu „verfolgen", nicht unbe- deutend. Im engen Zusammenhang mit diesem Verfolgt- werden einzelner Personen durch eine Melodie steht die fast mysteriöse Wirkung, die von Zeit zu Zeit einzelne Gassenhauer von musikalisch meist überaus geringem Wert auf die Gemüter von Hunderttausenden und Millionen ausüben. Die musikalische Zwangsvorstellung von oft seuchen- artiger Heftigkeit ist die alleinige Ursache des unwiderstehlichen Siegeslaufs, den manche Gassen- hauer durch Länder, Kontinente und selbst um die Erde herum antreten, Gassenhauer, die sich um so sicherer in die Vorstellungen und Kehlen der Menschen heften, je simpler die Melodie, je banaler der musikalische Gedanke ist. Ebenso wie Melodien können uns gelegentlich einzelne Verse oder Wortwendungen und Phrasen ,, nicht aus dem Sinn gehen", wobei wieder läp- pische Eindrücke viel nachhaltiger und häufiger als wertvolle einzuwirken pflegen. Man denke nur an die grotesk-witzige Humoreske, in der Mark Twain die Qualen einer solchen Zwangs- vorstellung geschildert hat; die epidemieartig an- steckende Kraft, mit der sich die albernen Verse : „Knipst, ihr Brüder, knipset fein, knipst ein Loch in den Schein hinein" in die Vorstellung unzähliger N. F. XVIII. Nr. 38 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 553 Menschen hineinbohren, ist, zwar in echt IVIark Twainscher Übertreibung, im übrigen aber psy- chologisch durchaus treffend geschildert. Auch gewisse Beschäftigungen, die uns zeit- weise lebhaft in Anspruch genommen haben, können noch auf lange Zeit zwangsläufig in unserer Vorstellungswelt nachwirken. Wer eifrig Schach gespielt hat, ertappt sich wohl darauf, daß er nach einem interessanten Spiel in Gedanken, die Menschen, denen er begegnet, „setzt", oder er be- wegt alle Gegenstände, die ihn umgeben, in Springerzügen, sieht in Teppich- und Tapeten- mustern allerhand Schachprobleme. Zumal Be- rufsschachspieler sehen sich zuweilen überall von Schachbildern umgeben und vermögen sich vor dieser Zwangsvorstellung kaum zu retten. Andere Brettspiele, wie Dame, Mühle, Halma, Salta usw. geben zu ähnlichen Nachempfindungen Anlaß: mitten im Gespräch mit einer anderen Person merkt der Betreffende 'plötzlich, daß er in Ge- danken sein Gegenüber soeben über andere Men- schen oder über Gegenstände hinwegspringen ließ. Eifrige Billardspieler benutzen ebenso die zufällige Stellung von Menschen, Bäumen usw., um sie in Gedanken eine „Karambolage" ausführen zu lassen usw. Halb Zwangsvorstellung halb Zwangshandlung ist schließlich noch die ungemein weit verbreitete Sitte zahlloser Menschen, sich unaufhörlich im Gespräch bestimmter Ausdrücke oder Rede- wendungen zu bedienen. Diese Sucht besitzt gleichfalls eine bedeutende Suggestivkraft und ist gelegentlich ansteckend wie die Grippe. In den letzten Jahren hat z. B. in ganz Deutschland das Bestreben, in der Unterhaltung an nahezu jeden gesprochenen Satz ein „nicht?" zu hängen, einen zeitweise fast beängstigend großen Umfang ange- nommen; Hunderttausende konnten sich dem Zwang nicht entziehen, jeden Satz mit einem mehr oder weniger unpassenden „Nicht.'" zu schließen. Zu anderen Zeiten sind wieder andere Rede- wendungen im Schwange. Es gibt auch auf diesem Gebiet eine zweifellose Mode, der sich die Herden- natur der weitaus meisten Individuen nicht zu entziehen vermag und der die Menschen in Scharen unterliegen, bis eine neue Modenseuche neue Zwangshandlungen im Gebrauch der Sprache vor- schreibt. Im allgemeinen handelt es sich ja bei allen diesen zahlreichen Zwangshandlungen und Zwangs- vorstellungen um ziemlich harmlose Erscheinungen, die meist belanglos sind für des Menschen Wohl und Wehe. Daß sie dennoch gelegentlich recht störend und unbequem werden können, geht im- merhin aus dem Gesagten deutlich genug her- vor. Willensschwache, nervöse oder krankhaft veranlagte Personen einerseits, gesunde, aber stark an „Zerstreuung" leidende andererseits können, auch wenn sie aus dem Kindheitsalter heraus sind, das besonders lebhaft zu den Zwangshandlungen neigt, gradezu zum Sklaven selbstdiktierter, zweck- loser Belästigungen werden. Es ist daher viel- leicht die Mahnung am Platze, man möge bei Kindern solche Zwangshandlungen nicht ganz auf die leichte Achsel nehmen. So lange sie nur hier und da einmal zutage treten, lasse man die Kinder gewähren und störe nicht ihren harmlosen Spiel- trieb, der sich in ihrem Verhalten offenbart. So- bald man aber bemerkt, daß eine bestimmte Form der Zwangshandlung bei ihnen zur Gewohnheit zu werden droht, tut man in ihrem eigenen Inter- esse gut daran, vorsichtig dagegen einzuschreiten und gelegentlich eine Durchbrechung des Zwanges oder besser noch einen freiwilligen Verzicht da- rauf durchzusetzen. Bei den meisten Menschen bedingt zwar das spätere Leben ganz von selbst die Aufgabe der freiwilligen Unterordnung unter einen tyrannischen, völlig sinnlosen Gedanken. Aber gelegentlich trägt doch dieser letztere den Sieg davon, und es gelingt dann im ganzen Leben nicht, der Schrulle Herr zu werden Deshalb werden kluge Erzieher gut daran tun, wenn es nötig scheint, selbst mit fester Hand einzugreifen und der zur Gewohnheit werdenden kindlichen Zwangshandlung mit allem Nachdruck entgegen- zutreten. Einzelberichte. Zoologie. Sozialer Trieb bei einer solitären Bienenart. K.v. Frisch^) fand an einem trüben Tage an einem dürren Halm sechs Männchen von Halictus, einer solitär (einzeln) lebenden Bienenart. Ab und zu flog eins davon und kam wieder. Ein kräftiger Stoß an den Halm ließ sie außer Sicht- weite auseinanderstieben, sie kehrten aber nach mehreren Minuten wieder zurück. An den folgen- den Tagen fanden sie sich abends, nachts und morgens stets wieder am gleichen Platze, und als ') K. V. Frisch, Beitrag zur Kenntnis sozialer Instinkte bei solitären Bienen. Biolog. Zentralblatt, Band 78, 19 18, S. 183— 18S. einmal eine Schnecke herankroch, wurde sie durch Fußtritte seitens der Bienen zur Umkehr bewogen^ An einem sonnigen Tage flogen sie sämtlich da- von und waren stundenlang unsichtbar, bis eine Regenwolke sie wieder zurückführte. Außer daß diese Beobachtungen in das Pro- blem des Ortssinnes einschlagen , ist nach V. Frisch Folgendes an ihnen beachtenswert. Die meisten unserer solitären Bienen leben streng solitär. Nisten sie in Gesellschaften an einer Lehm wand, so dürfte diese das Bindeglied sein, sie kümmern sich weder umeinander noch um die Brut. Deutlicher dürfte schon gemeinsames Überwintern für einen gewissen „Herdentrieb" 554 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 38 sprechen. Von der oben besprochenen Galtung Halictus ist aber außer gemeinsamem Überwintern auch schon durch Aurivillus die Bewachung eines gemeinsamen Nestes durch ein Weibchen bekannt geworden, nach dessen mehrmaliger künstlicher Entfernung stets ein neues eintrat und schließlich der Eingang mit Erde verbarrikadiert wurde. Bei einer anderen Halictus-Art bleibt die Mutter bei den Zellen meist bis zum Ausschlüpfen der Jungen. Daher dürfte in dieser Gattung der Beginn des Sozial werdens der Bienen vorliegen , und den sozialen Instinkt in seiner reinsten Form , als In- stinkt der Zusammengehörigkeit, sieht v. Frisch in dem, was er bei seinen Halictus-Männchen be- obachtete. V. Franz. Nährungsphysiologie. Die Folgen der Unter- ernährung der heranwachsenden Jugend hat Schlesinger (Münch. med. Wochenschr. Nr. 24, 19 19) schon in den ersten zwei Kriegsjahren an Volksschülern und Lehrlingen studiert. Er dehnte im 3. und 4. Jahre seine Untersuchungen auf Säuglinge (Krippenkinder), 3000 Volksschüler, Realschüler und Gymnasiasten aus Familien des besseren Mittelstandes und der bestsituierten Kreise aus. Es wurde durch genaue Messungen und Wägungen die Wachstums- und Gewichtszunahme ermittelt und die betreffenden Größen mit den entsprechenden Zahlen von Kindern aus denselben Bevölkerungskreisen, also aus demselben Milieu, in den vorhergehenden Friedensjahren verglichen. Dabei stellte sich heraus, daß beide Größen nicht nur keine Zunahme, sondern einen Stillstand bzw. einen im Laufe des Krieges zunehmenden Rück- gang zeigten. Bereits im zweiten Kriegsjahr be- trug die Gewichtsabnahme durchschnittlich "2 — I '/s kg, besonders in den Monaten März bis Juni. Die Hauptursache dafür sieht Schlesinger im Mangel von Kohlenhydrate in der Nahrung. Wäh- rend 1906— 1909 29 "/^ Stillstand und 20 "l„ Ab- nahme im Körpergewicht gefunden wurden, waren 1916 die entsprechenden Zahlen 43 "/^ bzw. 31 "/o. 19 17 sogar 31 "/o bzw. 49 %. Diese starke Ge- wichtsabnahme wird auf den durch die Kriegs- kost bedingten großen Wasserverlust zurückgeführt. 1913 — 1916 zeigten Säuglinge und Kinder in den ersten Schuljahren noch keinen Unterschied in den Wägungsergebnissen; dagegen betrug der .Gewichtsverlust für Volksschüler der Mittelstufe */.2 kg, der der besser situierten Bürgerschüler I kg und für 14 — 17jährige Fortbildungsschüler 1V2 — 2V2 l6. Charlotte Kretzschmar, Das Nerven- system und osphradiumartige Sinnesorgan der Cyclophoriden. S. 566. Reinhold Lotze, Beiträge zur Geologie des Aarmassivs. S. 567. — Anregungen und Antworten: Über das Farbensehen der Insekten. S. 56S. — Literatur: Liste. S. 568. Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Mi ehe, Berlin N 4, Invalidenstraße 42, erbeten. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue Folge 18. Band; der ganzen Reihe 34. Band. Sonntag, den 5. Oktober 1919. Nummer 40. Die Bodenschätze des tropischen Afrika.') [Nachdruck verboten.] Afrika, zusammen mit Arabien, mit dem es geologiscli eine Einheit bildet bis hin zum Fuße der jungen Faltengebirge Eurasiens, ist ein ur- altes Bergbauland. Die älteste Periode, in der die Schätze seines Bodens, vor allem sein wertvollstes Erz, das Gold, gewonnen wurden, führen uns hinab in die Jahrtausende vorchristlicher Zeitrechnung. Die alten Ägypter sind es, die durch die Hände ihrer Sklaven im glühenden Sonnenbrand der Wüste das edle Metall — das „Gold vom Ge- birge" — dem Schöße ihres Landes abgerungen haben. War von ihnen auch das Silber, das „Weiße", zunächst höher geschätzt als das zu allen möglichen Gerätschaften verwendete Gold — Silber wurde auch in Ägypten selbst nicht gewonnen, sondern wohl aus Kilikien bezogen — so trat doch bald ein Umschwung in dieser Wertung ein. Die alten Ägypter holten, soweit Inschriften und Papyrustexte und die neuere Wiederentdeckung alter Fundplätze zeigen, ihr Gold, und zwar nach einzelnen Zahlenangaben in ganz beträchtlichen Mengen, aus zwei Gebieten. Einmal aus der arabischen Wüste zwischen Nil und Rotem Meere, wo in kristallinen Gesteinen goldführende Quarzgänge auftreten. Eine der ältesten Bezugs- quellen liegt in der Gegend von Kuft (Koptos) an der großen Gebirgsstraße, die, vom Roten Meere bei Kosser kommend, bei dieser Stadt das Niltal erreicht. An dieser Straße, im Wadi P'aua- chir, findet sich ein altes verlassenes Bergwerk, daß noch heute 1320 Arbeitsstätten aufweist, in seiner gegenwärtigen Gestalt wohl aber erst aus der ptolemäischen Zeit stammt. Von Kubbän aus führt südöstlich eine Straße durch das weitge- dehnte Wadi Alaki, die alte Heerstraße der frühesten ägyptischen Goldexpeditionen, in i ^/j Tagen Kamelritt nach den (unter 22 " 4 n. B. und 33 ''8 ö. L. gelegenen) zahlreichen, bis ins Mittelalter ausgebeuteten Goldminen von Um Garajart, in denen noch jetzt die Gerätschaften zur Gold- gewinnung wie Granitmörser und -Mühlen erhalten sind. In der Nachbarschaft liegen noch andere Minenstätten des Altertums. Ihre reichsten Goldschätze aber bezogen die alten Ägypter tief aus dem Süden ihres Reiches, aus Nubien. Auch hier im Lande des Goldes (nub bedeutet altägyptisch Gold) wurden uralte IBergwerke wiedergefunden, so eins von Linant und Bonnomi. Siebzehn Tage von der Südgrenze Ägyptens liegt in verlassener Bergwüste das alte Werk Eschu ran ib mit tiefen Schächten, Granit- mühlen, schiefen Tischen zum Auswaschen des Von Prof. E. Krenkel, Leipzig. Goldes. Die harte Gestein und gemacht Schächte folgten Quarzadern; das wurde durch Feuersetzen mürbe dann mit eisernen Haken heraus- gerissen. Der goldhaltige Quarz wurde gestoßen, gemalen und gewaschen ; die Goldblättchen wurden gesammelt und 5 Tage mit Zusätzen ausgeschmolzen. Für den Handel wurde das geschmolzene Metall in Ringe von 12 Zentimeter Durchmesser gegossen; doch wurde auch Goldstaub nach Norden ver- handelt. Außer diesem Werke bestanden in Nubien noch eine Anzahl anderer. Die Reise dorthin wird immer als sehr beschwerlich geschildert. Auf einer der ältesten Landkarten der Welt, einem Papyrus aus der Zeit Ramses IL, wird der Golddistrikt am Berge Bechen östlich von Koptos mit deutlicher Bezeichnung seiner einzelnen Bau- lichkeiten dargestellt. Seit etwa 1900 haben eine ganze Reihe von englisehen Bergbaugesellschaften versucht, die ungezählten alten, auch archäologisch hochinter- essanten Minenstätten des alten Landes Etbai wieder aufleben zu lassen. Das weniger geschätzte Kupfer kam nach Ägypten von der Westseite der Sinaihalbinsel, wo eine Menge verlassener Kupfergruben bekannt sind, oder aus dem dieser benachbarten Arabien. Aus Arabien, wo ins frühe Altertum zurück- reichende Goldminen gleichfalls nachgewiesen sind, erhielten König Hieram von Tyrus, die jüdischen Könige David und Salomo ihr Gold. Im Alter- tum war Arabien sicher eines der wichtigsten Goldländer der Welt, das die Goldschätze dieser Zeit lieferte. Gold lieferte die Landschaft Midian. Im Innern Arabiens aber ist es die Landschaft Nedjd, wohl dem Goldland der Bibel Hawilah entsprechend, dessen Gold als „köstlich" geschildert wird. Doch wissen wir nichts Neueres über seine Lagerstätten an Gold. Neben „arabischem" Golde fand nun aber auch „Ophirgold" in gewaltigen Mengen seinen Weg nach Jerusalem und nach Syrien. Woher dieses Ophirgold stammt, ist bis heute eine strittige Frage geblieben. Es wird zwar behauptet, daß arabisches und Ophirgold ein und dasselbe seien, daß beide aus Arabien stammten. Aber König Salomo sandte Gold- flotten unter Führung phönizischer Piloten aus, die vom Golfe von Akaba ausfuhren , das Rote Meer in seiner vollen Länge durchsegelten und sich dann hinaus in den offenen Indischen Ozean wandten. Wohin? Kaum nach Indien, wie auch Leipzig. Antrittsvorlesung des Verfassers an der Universität 570 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 40 angenommen wurde; denn Indien ist kein reiches Goldiand. Sondern seine Goldfiotten fuhren mit großer Wahrscheinlichkeit nach der Südostküste Afrikas , wo im Gebiete zwischen Sambesi und Sabi in der portugiesischen Kolonie IVIozam- bique, im Maschonalande das einzige Gold- land der ostafrikanischen Küste gegeben ist und uralte Spuren eines hochentwickelten, weitver- zweigten Goldbergbaues gefunden wurden. Dort, wo sich die Zeichen alter semitischer Kultur in reicher Fülle in gewaltigen Bauwerken erhalten haben, wurde das Ophirgold gegraben. Die Zahl der alten Goldminen dieser Länder wird auf 75000 geschätzt; Millionen von Tonnen Goldquarz sind hier bis zur Urzeit geschürft worden. Goldbarren in Form eines liegenden Kreuzes fanden sich vor. Salomo bezog nach einer Nachricht für 34 Mil- lionen Mark an Gold. David sogar für 255 Mil- lionen. Die Spuren einer so weit verzweigten berg- baulichen Tätigkeit konnten bis heute nicht ver- loren gehen; so große Mengen Goldes, mögen diese Zahlen auch übertrieben sein, nur aus einem ausnehmend gesegneten Goldlande entnommen werden. Ein solches ist aber weder Arabien noch Indien. Ich stimme mit Karl Peters, der zu- erst die Meinung eingehend vertreten hat, das Ophirgold stamme aus Südostafrika, nach Prüfung der geologischen Tatsachen in dieser Ansicht überein. Es ist wahrscheinlich, daß das altägyptische Goldbezugsland Punt mit dem „Ophir" Salomos zusammenfällt, dem Goldland südlich des Sam- besi. Um 1500 v. Ch. sandten die Ägypter eine große Expedition nach dem noch unbekannten Punt ab, die goldene Ringe und Goldstaub, Kupfer, Ebenholz und Elfenbein zurückbrachte, alles Dinge, die Südostafrika in Fülle birgt. Die zweite Periode in der Entwicklung Afrikas zum Bergbaulande führt uns in den Süden des Kontinentes. Ihr Beginn liegt kaum 50 Jahre zurück. Diese kurze Spanne Zeit aber hat Süd- afrika — vom Kaplande bis nach Rhodesien — zum Range eines der tonangebenden und wich- tigsten Erz- und Edelsteinländer der Erde erhoben und eine ganz ungeheure Entwicklung seiner Bergbauindustrie gebracht, die mit allen Hilfs- mitteln moderner Technik arbeitet. Gold und Diamanten sind es, die die im größten Maßstab gewonnenen Bodenschätze dieses Gebietes und zwei Eckpfeiler südafrikanischen Wirtschaftslebens sind — von den vielen andern nutzbaren Mineralien seiner Minengebiete hier zu schweigen, unter denen die Kohlen Natals und Transvaals eine für den Bergbau, neuerdings auch für die Weltschiffahrt hervorragende Rolle spielen. Im Jahre 1884 wurde das erste Gold von Arnold in Transvaal auf dem Gute Geldenhuis gefunden, und zwar in den berühmten Konglo- meraten des Witwatersrandes, des Nord- randes des Hoogeveldes, längs welchem diese wellige Hochfläche steil nach dem viel tiefer liegenden Hügelgelände um die Landeshauptstadt Pretoria abfällt. Bereits ein Jahr später setzte die erste bergmännische Ausbeute der goldhaltigen Konglomerate ein auf der Farm Wilge Spruit der Gebrüder S trüben. 1886 wurde die Gegend von der Regierung zum öffentlichen Goldfelde erklärt. Die Gründung von Johannesburg, der Metropole des Goldfeldes, folgte, das durch die Entdeckung der Steinkohlenlager des nahe liegenden Bocksburg eine neue wichtige Stütze seiner Minenindustrie erhielt. Fast jedes Jahr brachte darauf die Entdeckung neuer Gold- felder, so daß heute Südafrika zusammen mit Rhodesien rund 45 % der gesamten Goldaus- beute der Welt liefert, im Werte von 900 Millionen Mark. Davon entfallen allein auf Trans vaal, das größte Goldland der Welt, zugleich das einzig bekannte Vorkommen, das als schichtiges Gold- lager eine Rolle spielt, im Jahre 1917 9022,212 Unzen Geld im Werte von 766 Millionen Mark. Allerdings darf nicht verschwiegen werden, daß ein Teil der Goldgruben Südafrikas in den letzten Jahren in schwere Bedrängnis geraten ist. Die Entdeckung der Diamanten in Süd- afrika, die früher fällt als die der Hauptgoldfelder, entbehrt nicht des romantischen Beigeschmacks. Zuerst im Jahre 1867 sah ein Bur, Schalk van Niekerk, am Ufer des Oranjeflusses bei Hope- town in der Hand spielender Kinder glitzernde Steine, die bald als Diamanten erkannt wurden. Zwei Jahre später wurde der berühmte „Stern von Südafrika", ein 83 Karat schwerer Dia- mant, bei Zandfontein am Oranje gefunden. Dann begann ein großer Zuzug von Prospek- toren aus Natal in das Tal des Vaal, wo die pleistozänen Flußsande auf Diamanten ver- waschen wurden. Die ersten Diamanten aus an- stehendem Blaugrund, ihrem Muttergestein, stammen von Bultfontein und Jakobsdaal im Oranjefreistaat. Diesem ersten reihte sich eine Reihe von anderen Funden von Blaugrund an. 1871 wurden Diamanten auf der Farm von de Beers Vooruitzicht entdeckt, die dann die berühmte de Beers -Mine geworden ist; bald darauf ein anderes Vorkommen in der Nähe, die heutige Ki mberley -Grube. Erst erhebliche Zeit darauf, in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre, wurde auch in Transvaal die Diamanten- industrie durch Eröffnung der reichen Premier- grube bei Pretoria eingeführt. In der ersten Zeit der Diamantenjagd wurde merkwürdigerweise gar nicht beachtet, welch grund- legender Unterschied zwischen den Diamantseifen der Flußsande und dem anstehenden diamanthal- tigen Blaugrund besteht, dessen oberflächlich gelb verwitternde Lagen man ebenfalls für alte fluviatile Ablagerungen hielt. Seit den frühesten Funden hat sich der Dia- mantenbergbau Südafrikas in aufsteigender Linie entwickelt, allerdings späterhin nur unter gewissen, den freien Wettbewerb bei der Ge- winnung ausschließendenVorsichtsmaßregeln. Heute beherrschen die südafrikanischen Diamanten mit N. F. XVin. Nr. 40 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 571 (191 7) 160 Millionen Mark Jahreserzeugung den Weltmarkt. Die Kimb er ley- Grube allein hat von 1870 — 1908 Diamanten im Gewichte von 90 Millionen Karat (= 18 611 kg) und im Werte von 2644553400 Mark gefördert. Die dritte Periode endlich in der Aus- beutung afrikanischer Bodenschätze läßt nun das tropische Mittelafrika neu auf den Schau- platz treten. Sie beginnt vielleicht mit dem Jahre 19 10, als die ersten Nachrichten vom Erzreichtum der südlichsten Provinz des Kongostaates, Ka- tangas, nach Europa gelangten. Einzelne kleine Ansätze zur Hebung mittelafrikanischer Boden- schätze liegen früher. Mittelafrika spielt bis jetzt nicht die überragende Rolle unter den Erz- und Edelsteine erzeugenden Ländern, wie das benach- barte Südafrika. Dies liegt zum Teil in der ge- ringen geologischen Durchforschung seines großen Ländergebietes, die erst langsam und unter den größten Erschwerungen durch eine, geologischen Arbeiten feindliche Natur einzusetzen beginnt. Doch lassen die Anzeichen abbauwürdiger Lager- stätten, die aus sehr vielen Teilen Mittelafrikas bekannt geworden sind, erwarten, daß auch dieses sich in steigendem Maße als wertvolles Berg- bauland erweisen wird, vor allem dort, wo den südafrikanischen, an Bodenschätzen so reichen F'ormationen ähnliche Schichten zu Tage treten. Von den Ländern Mittelafrikas sollen nur zwei bezüglich ihrer Bodenschätze einer Betrachtung unterzogen werden: die belgische Kongo kol o- nie und Deutschostafrika, im Anschluß an diese in größter Kürze Angola und Mozambique. Der vor dem Kriege bekannteste Gegenstand bergbaulicher Tätigkeit in Deutschostafrika war das Goldvorkommen in Sekenke, das, 1906 entdeckt, von der Kironda-Goldminen-Ge- sellschaft ausgebeutet wurde. Sekenke liegt 12 Kilometer vom Ostrand der flachen Wemberesteppe entfernt, die zwischen den steil abfallenden Bruchrand des Irambaplateaus im Osten und die Ussongoberge im Westen einge- senkt ist. In ihr erhebt sich eine flache Boden- welle, in der die Goldquarzgänge aufsetzen. Sie sind, wie fast alle Quarzvorkommen dieses Gebietes, an diabasische und dioritische Gesteine gebunden, die so häufig im archäischen Funda- mentalgranit des Zentralen Hochlandes von Deutschostafrika auftreten. Das Ganggebiet von Sekenke umfaßt eine große Anzahl von fast parallel nach SO. streichen- den, und steil fallenden, mit Gold führendem Quarz ausgefüllten Gängen, die durch Linsenform und starken Wechsel im Streichen und Fallen ausgezeichnet sind. Gegenwärtig baut die Grube auf dem Dernburggang und dem Parallelgang. Beim Der nburggang handelt es sich um zwei ausgedehnte Erzkörper, die, durch vier Schächte aufgeschlossen, die Grundlage des Betriebes bilden. Der nördliche Erzkörper besitzt eine bauwürdige Länge von weit über 100 Metern bei einer durch- schnittlichen Mächtigkeit von 4 Metern; er ist bis zu 60 Metern Tiefe aufgeschlossen. Der südliche Erzkörper ist ähnlich gestaltet. Von den übrigen bekannten Quarzlinsen ist die größere Anzahl un- bauwürdig. Andere sehr goldreiche sind bei ihrem geringen Umfange bereits abgebaut. Das einzige Füllmaterial der Gänge bildet Quarz. Das Gold ist stets an Schwefelkies gebunden, jedoch durch das bei Goldquarzgängen übliche, sehr unregel- mäßige Auftreten gekennzeichnet. Zur Ausbeutung der Goldvorkommen hatte die Kironda- Goldminen- Gesellschaft eine Pochwerks- anlage mit 25 Stempeln und eine Cyanlaugerei errichtet. Als Antrieb diente eine Heißdampf- lokomobile. Die 800 Mann starke Arbeiter- schaft stellte der Stamm der Wanjairamba. Das europäische Personal betrug 20 Mann. Die Aus- beute ergab in den ersten Betriebsjahren den hohen Jahresdurchschnitt von 45 Gramm Gold auf die Tonne Erz. Mit dem Eindringen in größere Tiefen sank diese Ziffer erheblich. Im letzten Friedensjahre wurden 223 kg Feingold er- zeugt im Werte von 623000 Mark. Im Osten und Süden des Viktoriasees sind eine Reihe von Goldlagerstätten bekannt. Von den zahlreichen Goldfundstellen dieses Ge- bietes besitzt die größte Bedeutung die Ngasa- mogoldmine unweit des Spekegolfes, die in kleinem Umfange erfolgreich abgebaut wird. Die goldführende Zone setzt sich hier aus Diabasen und aus Diabastuffen zusammen, die zwischen Graniten eingeschaltet liegen. In den meist ostwestlich verlaufenden, schiefrigen Zonen des Diabases treten linsenförmig und nesterartig die Goldquarze auf. Das Erz ist ähnlich dem von Sekenke, gelegentlich aber kupferführend oder mit Spuren von Arsen. Die Mächtigkeit der steil- einfallenden Quarzlinsen wechselt beträchtlich. Die Goldführung nimmt bei vielen schon in geringer Tiefe ab. 191 3 bestanden auf den Ngasamo- feldern 7 Schächte bis zu 85 Fuß Tiefe und ein Tagebau, die eine Anzahl von Goldquarzgängen schon bis in die Pyritische Zone aufgeschlossen hatten. Im Bezirk Ikoma, 120 km weiter nordöstlich, liegen die Vorkommen von Nigodi, die der zentralafrikanischen Bergwerksgesellschaft gehören und mit geringem Gewinn abbauwürdig sind. Gleichfalls im Ikomabezirke, östlich von Ikoma selbst, liegen die Orangifelder bei Kilima-ja- feza, dem „Erzberg", die einem anderen Lager- stättentypus angehören. Das Nebengestein be- steht aus Diorit und grünen Schiefern. Das Gold ist an Pyrit gebunden; neben Gold finden sich Kupferlasur und Malachit, ferner ein Telur- ähnliches Mineral und Spateisenstein. Goldhaltige Konglomerate, die ja als Gegenstand des Bergbaues große Vorteile gegen- über den Goldquarzgängen voraus haben, da man bei ihnen auf viel weitere räumliche Erstreckung und gleichmäßigeren Goldgehalt rechnen kann, wurden in den Landschaften Usongo und 572 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 40 Ssamuye siidHch des Viktoriasees gefunden. Außer diesen finden sich geringmächtige gold- führende Konglomerate jungen Alters bei S e k e n k e in Sandsteinen. Was die Aussichten des Goldbergbaues im Bereiche des Viktoriasees anbetrifift, so wird man nur wenigen der bisher untersuchten Vor- kommen eine IMöglichkeit der Verwertung zu- billigen können, die bei der räumlich beschränkten Ausdehnung der Lagerstätten nur im Rahmen von Kleinbetrieben gewinnbringend sein wird. Abbauwürdige Goldseifen sind bisher nirgends aufgefunden, obgleich sich die jungen Ablagerungen vieler Flüsse und Bäche, so am Viktoriasee, als goldführend erwiesen haben, be- sonders da, wo sie aus Gebieten mit Goldquarz- gängen kommen. Einer Verwertung würdige Kupfer- und B 1 e i erzlagerstätten sind in Deutschostafrika un- bekannt. Das Kupfervorkommen am „Berge der Perlen" am Sindi ist ohne Bedeutung. Klüfte und Schichtflächen der Sandsteine der Tanganjika- formation werden hier von Anflügen von IVlalachit und Kupfervitriol überzogen. Kupferkies, auch Malachit und Kupferlasur, und Bleiglanz kommen auf goldführenden Quarzgängen nur in bedeutungs- losen Mengen vor. Unter den zahlreichen, genetisch recht ver- schiedenartigen, zurzeit aber nicht abbauwürdigen Eisenerzvorkommen seien erwähnt: Magnet- eisenerze wurden an der Hundussihöhe im west- lichen Ulugurugebirge innerhalb kristalliner Schiefer gefunden. In der Nähe, am oberen Mbakanabache, tritt schwer schmelzbares Titan- eisenerz auf. Im Kingagebirge am Njassa- see wurde eine Einlagerung von Magneteisen in Gneisen in einer Länge von 7 km beobachtet, eine zweite von 1 5 rn Mächtigkeit am Ligungko- bache. In Verbindung mit den Kohlenlagern am Njassa könnten diese Funde am ehesten Be- deutung gewinnen. Eisenreiche Gesteine finden sich in Ussongo. In der Nähe von Mamboja sind reiche Rot- und Magneteisenerze festgestellt. Die Eisenquarzitschiefer im Süden des Viktoriasees, Brauneisen verschiedener Entstehung, das weit- verbreitet vorkommt, werden von den Einge- borenen an vielen Orten verschmolzen. Von anderen nutzbaren Bodenschätzen seien erwähnt : Steinkohlen flötze der pflanzenführenden unteren Karruformation wurden am Njassaseean zwei Stellen gefunden. Einmal zwischen den Flüssen Songwe und Kiwira am Nordwestende des Sees, und ferner am unteren Ruhuhu. Die kohlen- führende Zone des ersteren Vorkommens wurde auf 15 km Länge verfolgt. Die Flötze streichen Nordsüd und fallen flach nach Osten ein. Als größte Mächtigkeit der Kohle ergab sich im Kandetebache fast 5 m. Die Kohlen werden zwar für alle Feuerungszwecke als brauchbar, aber doch als nur von mittlerer Güte beurteilt. Die gewinnbare Kohlenmenge wurde früher auf 350000 t geschätzt. Eine vor dem Kriege vor- genommene genaue Erkundung dieses Kohlen- feldes ist zu einem günstigen Urteil über die Aus- beutungsmöglichkeit gekommen. Neuerdings sind Anzeichen von Kohlenlagern auch vom Ostufer des Tanganj ikasees be- kannt geworden; ob sie ausbeutungsfähig sind, steht noch dahin. Nach den Proben handelt es sich um eine sehr unreine Kohle. Spuren von Kohlen wurden auch am Ulugurugebirge ge- funden. Ob sie abbauwürdig sind, steht noch nicht fest. Sollte das der Fall sein, so hätte dies Vorkommen wegen seiner großen Nähe an der Zentralbahn und an der Küste größere wirtschaft- liche Bedeutung als die vorgenannten, die wegen schwieriger Abfuhrverhältnisse nur schwer ver- wertbar sein werden. Es mag in diesem Zusammenhange gleich darauf hingewiesen werden, daß auch am West- ufer des Tanganjika im Gebiete der Kongokolonie Flötze wohl gleichaltriger Karruschichten im Tale des Lukuga auftreten. Lukugakohlen sind während des Krieges gefördert worden. Über die Art ihres Auftretens und ihre Mengen ist nichts zuverlässiges zu erfahren gewesen. Im Ulugurugebirge, das sich inselartig schroff aus den umgebenden Steppen erhebt, liegen ver- streut über das Gebirge bis zu Höhen von 1200 m eine Reihe von Glimmergruben, die mit Er- folg abgebaut werden. Das Gebirge besteht aus kristallinen Schiefern, die von zahlreichen, mit der Intrusion jüngerer Granite in Zusammenhang stehenden Pegmati tgängen durchzogen werden. Diese wechseln stark in ihrer Mächtigkeit. Der gewöhnlichen Mineralfüllung von Quarz und Feld- spat ist der Glimmer in verschieder Form zwischen- geschaltet. Er findet sich in den Pegmatiten, grünlich oder bräunlich getönt, bald in deren Innern, bald an den Salbändern. Er bildet dicke tafelförmige Pakete mit geraden oder gekrümmten Flächen, langgestreckte Späne oder Nester mit wirr gestellten Glimmerplatten. Die Größe der Glimmertafeln kann bis auf i m steigen, doch ist das eine Ausnahme. Am wertvollsten ist heller durchsichtiger Glimmer. Der Glimmer wird im Tagebau oder durch kurze Stollen gewonnen. Die Gewinnungsmethode ist sehr ursprünglich und ließe viele Verbesserungen zu. Die Glimmertafeln werden aus dem losge- sprengten Gestein zunächst herausgeschlagen, dann in dünne Blättchen gespalten und an den Kanten beschnitten, um das Abblättern zu ver- hindern, und nach Farbe, Größe und Güte sortiert. Die Glimmerausfuhr betrug 1912 581 000 Mk. Große Erwartungen wurden auf den Fund schleifwürdiger Granaten gesetzt, die am Ro- vuma in Hornblendegneis in großen Mengen auf- treten. Die geringe Vorliebe unserer Zeit für Granaten, die böhmische Konkurrenz billiger Steine ließ die Grube „Luisenfelde" bald zum Erliegen kommen. Der an mehreren Orten gefundene Graphit N. F. XVIII. Nr. 40 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 573 der in Graphitgneisen vorkommt, ist nirgends bau- würdig. Salz ist ein in Deutschostafrika sehr gesuchter Handelsartikel. Es wird — von der Verwendung pflanzlicher Salze hier abgesehen — in dreierlei Art gewonnen. Entweder durch Eindampfen von Meereswasser in Salzgärten, oder durch Auskochen der im Boden trockener Gebiete reichlich ent- haltenen Salze, die sich in seinen oberflächlichen Schichten anreichern, und endlich aus Sol- quellen. Diese kommen in großer Zahl am Unterlaufe des Malagarassi vor, wo sie von der Saline Gottorp in einem modernen Muster- betriebe ausgenützt werden. Der Salzgehalt der Sole beträgt bis zu iQ^/o. ist also so hoch, daß er ohne Anreicherung sofort versotten werden kann. Das Salz ist von ausgezeichneter reiner Beschaffenheit und hat während des Krieges die ganze Kolonie mit Salz versorgt. Die jährliche Salzgewinnung betrug zuletzt 2300 t. Das Vorkommen von Erdpech am Nordende des Tanganjika, auf Grund dessen man hoffte, Petroleum zu finden, das von Asbest, Natron, K o p a 1 soll nur nebenbei genannt werden. Während des Krieges von mir aufgefundene Bodenschätze müssen übergangen werden. — Wenden wir uns hinüber zum Kongostaat. Innerhalb des inneren Kongobeckens ist von erfolgverheißenden Mineralfunden bisher nur wenig bekannt geworden. Aufsehen erregte die Auf- findung von Diamanten in verschiedenen Teilen des Landes, besonders im Kassaibecken, wo es während des Krieges auch zu einer Gewinnung gekommen ist. Diamanten werden vor allem im Tschikapa, einem linken Nebenfluß des Kassai, gesammelt. Es handelt sich um Seifendiamanten, deren Ursprungsort noch unbekannt ist. Ganz ähnlich hat man erst vor kurzem im Negerfrei- staat Liberia Diamanten in Seifen entdeckt, die kristallinen Schiefern auflagern. Die Diamanten- gewinnung im Kassaigebiet betrug 191 3 nur 15000, 1918 aber bereits 85000 Karat. Neben dem Kassaibecken ist auch das erzreiche Kata nga in die Reihe der Diamantenländer getreten. Die Funde in Katanga erfolgten teils in Flußsanden, teils in anstehendem Blaugrund des Kundelungu- gebirges. Im äußersten Osten der Kongokolonie liegen westlich vom Albertsee die Goldseifengebiete von Kilo und Moto. Sie haben neuerdings einen bedeutenden Aufschwung genommen und ver- sprechen eine große Entwicklung. Die vom Staate betriebenen Gruben bauen alluviale Fluß- seifen ab. Im Jahre 1910 betrug die Erzeugung der Staatsminen nur 876 kg Gold, 1916 aber be- reits 3300 kg. Dank der Entdeckung von Gold im anstehenden Gestein werden die Aussichten für die Zukunft sehr günstig beurteilt. In der gleichen Nordostprovinz der Kongo- kolonie erfreut sich der Salzsee von Katwe gewisser Bedeutung. Diese natürliche „Salznieder- lage" hat sich in einer heute vom Edwardsee fast abgeschnürten Seebucht durch langsame Ver- dunstung des salzigen Seewassers gebildet. Wohl selten haben die Gerüchte vom Erz- reichtum eines Landes und ihrer Erschließung für die Weltwirtschaft so große Erwartungen hervor- gerufen wie diejenigen, die Ende 1910 aus Ka- tanga an die Öffentlichkeit drangen. Besonders waren es die Berichte über die Auffindung sehr reicher Kupfererze, die eine fast fieberhafte Aufregung hervorriefen und sogar geeignet er- schienen, in kurzer Zeit den Weltkupfermarkt er- zittern zu machen. Eine ganze Reihe von Expeditionen gingen damals von kapitalkräftigen Gesellschaften aus, um sich, so weit das Land nicht schon belegt war, die im Boden ruhenden Mineralschätze zu sichern. Von diesen Expeditionen, an denen viele deutsche Geologen beteiligt waren, ist eine mannigfaltige Bereicherung unserer geologischen Kenntnisse dieses Gebietes ausgegangen. Die geologischen Verhältnisse Katangas wurden von dem Altmeister der Geologie des Kongos, Cornet, ferner von Studt, Buettgenbach, Guillemain, Stutzer, Große, Behrend erforscht. Auf den geologischen Aufbau kann nicht eingegangen werden; erst in letzter Zeit beginnt sich das durch die Aufstellung feiner großen Zahl ■ von Schicht-„Systemen", die kaum eine Berechtigung haben, getrübte Bild des inneren Baues zu lichten. Seinen Ruf als Erzland verdankt Katanga dem Kupfer. Alle älteren Reisenden berichteten von dem gewaltigen Reichtum des Landes an diesem Erz. Die Eingeborenen haben es seit alter Zeit gewonnen. Die Kupferlagerstätten Katangas sind daher nicht erst in letzter Zeit entdeckt, sondern nur in europäische Bewirtschaftung über- nommen worden. Spuren alter Minen und Schmelzen der Eingeborenen sind sehr häufig und lassen auf eine sehr erhebliche Erzgewinnung schließen. Von Katanga aus wurde Kupfer durch ganz Zentralafrika verhandelt; die Kupferkreuze seiner Gießereien dienten im Kassaigebiet als Zahlungsmittel. Als Schmuckmetall aber gelangte das Katangakupfer zu weitester Verbreitung. Die wichtigsten Kupfererzlagerstätten liegen in einem 70 km breiten, wohl 400 km langen, von Ost nach West gerichteten Gürtel, der sich nördlich der Wasserscheide zwischen Kongo und Sambesi zu beiden Seiten des Lufira erstreckt. Innerhalb dieses ausgedehnten Gürtels sind gegen 100 Vorkommen bekannt, von denen aber nur wenige für einen gewinnbringenden Abbau in Frage kommen. Abgebaut werden die beiden bedeutendsten Lagerstätten „Etoile du Congo" bei Elisabethville und „Perle du Congo" bei Kam- bove, ferner die Grube Likassi. Über die praktisch sehr wichtige Frage nach der Entstehung der Lagerstätten Katangas wird noch gestritten. Alle bisher über die Ent- stehung geäußerten Meinungen stützen sich fast nur auf die Beobachtungen am Ausgehenden, der 574 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XV III. Nr. 40 Bildung des „eisernen Hutes". Auf Grund seiner Beschaffenheit kamen die meisten Forscher zu der Auffassung, daß alle diese Kupfervorkomm- nisse Lagergänge sein müßten. Eine, wenigstens für die Mehrzahl der Vorkommen abweichende Meinung ist neuerdings aufgestellt worden; sie bestreitet, daß für alle Vorkommen der gleiche genetische Typus vorliegt und unterscheidet vier verschiedene Arten des Auftretens. Diese werden bezeichnet als magmatische Erzausscheidungen, als Kupfererze führende Gänge, als syngenetisch- schichtige und als syngenetischschichtige, durch dynamometamorphe Umwandlungen beeinflußte Lager. Letztere stellen den wichtigsten Typus der Hauptkupferzone dar. Im eisernen Hut tritt das Erz in der Form von Karbonaten und Oxyden des Kupfers auf. Das begleitende Gestein ist meist ein Quarzit, in dem das Kupfer sitzt oder rechts und links von ihm im Nebengestein. Über die Tiefe der Hutbildung ist nichts bekannt. Es scheint aber, als ob die Sulfidzone früher auftritt, als man erwartete: sollte sich dies bestätigen, so müßten die Angaben über den Erzvorrat wohl erheblich reduziert werden. Der Erzvorrat der „Union Miniere" beläuft sich nach einer Schätzung von 191 5 allein auf 6000000 t ver- schiedenprozentiger Erze. Die Lebensdauer des ganzen Grubenbezirkes dürfte also für längere Zeit gewährleistet sein. Die gewonnenen Erze gelangen in die Hütte Lubumbaschi bei Elisabethville, die mit 7 Hoch- öfen arbeitet. Obwohl die Art der Erze der Ver- hüttung große Schwierigkeiten bereitet, ist die Kupfererzeugung in raschem Anstieg begriffen. Sie beschäftigt 400 Weiße und 7000 Farbige. So wurden 1914 nur 10 729 t, 191 7 28000 t Kupfer gewonnen. Die gesamten Erzeugungs- kosten belaufen sich für i t Kupfer auf 1090 Mk., der Gewinn beim Verkauf in London dagegen auf 1250 Mk. Bei den hohen Kupferpreisen hatte die Gesellschaft Union Miniere bis Ende 191 7 einen Betriebsüberschuß von 73 000 000 Mk. erreicht. Außer Kupfer wird Gold in Katanga ge- funden. Es kommt in drei Arten des Auftretens vor: als Gold-Silber haltige Pyritquarzgänge alter Schichten, als syngenetisch-schichtige Lager (alte Goldseifen) und als junge Goldseifen. Gold ist in Katanga in großer räumlicher Verbreitung, aber nur in Ruwe in ausbeutbarer Menge be- obachtet worden. Der Goldgehalt scheint, ähn- lich wie die Kupfer- und Eisenführung, an eine gewisse Zone sedimentärer, gefalteter Schichten gebunden zu sein. Die Goldmine von Ruwe, bei der Platin und Palladium eine bisher einzig da- stehende Rolle spielen, kann sich in ihrer Be- deutung nicht mit den Kilominen messen. Im belgischen Kongo sind an mehreren Stellen Zinnerze entdeckt worden, so im Uellegebiet und in Katanga. Letztere sind die wichtigeren. Sie sind zweierlei Art. Es handelt sich einmal um Zinnstein führende Gänge, ähnlich denen des Erzgebirges, und zweitens um Seifen, und zwar um eluviale wie alluviale. Die ausgedehntesten Zinnvorkommen liegen in Mittelkatanga. Sie treten in einer SW. streichenden Zone auf, die im Nord- osten am Lukuga beginnt und im Südwesten bis in das Biagebirge reicht. Innerhalb dieser Zinn- zone sind die wichtigsten Bezirke das Biage- birge und die Umgebung von Muika. Die Aussichten beider Lagerstätten sind infolge der hohen Zinnpreise und der näher rückenden Eisen- bahnen nicht ungünstig. Eisenerzvorkommen sind anscheinend über ganz Katanga verbreitet. Die Hauptmenge der nach Lage und Erzinhalt als wichtig zu bezeichnen- den Vorkommnisse befindet sich im Süden Katan- gas, obgleich auch der Norden solche aufweist. Sie sind hier, ganz entsprechend den Kupfervor- kommen der „Hauptkupferzone", in eine Gruppe von sedimentären Gesteinen zusammengedrängt, die letztere parallel im Norden und Süden be- gleiten. Neben sedimentären schichtigen Lager- stätten mit sehr reichen Hämatiten finden sich sedimentäre, durch Metamorphose stark beein- flußte Vorkommen in gefalteten Schichten in un- regelmäßiger Einschaltung. Daneben stehen Eisen- erze als Gangfüllungen und solche metasomatischer Entstehung in Kalken, ferner limonitische und lateritische Eisenerze. Einen Wert besitzen die Eisenerze Katangas vorläufig nicht. Als letzte Erze dieses Landes mögen Mangan und Kobaltmulm genannt sein. Kohlen, deren reichliches Vorkommen zur Hebung des Bergbaues Katangas von ausschlag- gebender Bedeutung sein würde, liegen vor in den bereits erwähnten Flötzen am Lukuga. Im mittleren Lualabatale sind Kohlenflötze bis zu einem Meter Mächtigkeit erbohrt, die ebenfalls der kohlenführenden Karruformation angehören. Die Auffindung anderer Flötze ist nach den in Katanga zu Tage tretenden Formationen nicht unwahrscheinlich. Für das Auftreten von Bodenschätzen in den portugiesischen Kolonien Angola und Mozam- b i q u e , auf die noch kurz hingewiesen werden soll, ergibt sich ein ähnliches Bild. Über ihre Abbauwürdigkeit jedoch ist wenig Glaubwürdiges zu erfahren. In Angola ist Gold an zahlreichen Stellen nachgewiesen, die es aber noch zu keinem dauern- den Abbau gebracht haben. Genannt sei nur die Goldzone von Lombige, wo das edle Metall in Goldquarzen und auf Seifen vorkommt, und die von Cassinga, wo es in den Alluvien mehrerer P'lüsse auftritt. Kupfer wird seit langem von Ein- geborenen gewonnen. Altbekannt sind die Fund- plätze von Dombe, Egoto, Kakonda. Kupfer findet sich im Distrikt Mossamedes an den Flüssen Bero und Giraul, bei St. Nicolau und Bembe. Das Kupfervorkommen von Senze do Itombe mit Kupferkarbonaten soll bauwürdig sein. Angola ist reich an Magnet-, Rot- und Brauneisenerzen. Die Nachrichten über Kohlenfunde, so bei Ndale N. F. XVin. Nr. 40 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 575 Tonde, über Lignite von Born Jesus bedürfen der Nachprüfung. Bitumen imprägniert im Bezirk Loanda feinkörnige Sandsteine so reichlich, daß es auf den Schichtflächen zu Tage tritt. Vielleicht ließe sich daraus auf das Vorkommen von Petro- leum schließen. Salz wird aus Meereswasser ge- wonnen und zum Einsalzen der in Mengen aus- geführten Salzfische verwendet. Guano findet sich im Küstengebiet, als Fortsetzung der Fundplätze in Südwestafrika. Nicht unglaubwürdig klingen Nachrichten über die Funde von Diamanten im Sande der Meeresküste, so bei Port Alexandre; es würden sich also die Diamantsande Südwest- afrikas nach Angola hinein fortsetzen. Sehr spärlich sind die Quellen über die Boden- schätze von Mozambique. Spuren alten Gold- bergbaues sind zahlreich. Goldquarzgänge sind in großer Anzahl bekannt. So bei Chifumbadzi und Missale an der rhodesischen Grenze, wo neue Abbauversuche unternommen wurden. Kupfer, ebenfalls seit alter Zeit bekannt, findet sich in der Kakangamine bei Tete, wo ein Erzkörper bis 33 % Kupfer führen soll. In der Nähe von Tete enthalten Quarzgänge gediegen Kupfer, Bunt- und Rotkupfererz. Am Berge Pandamakua am Sam- besi führen dagegen metamorphe Kalke Kupfer. Wolframit wird aus der Kakangagrube erwähnt. Eisenerze scheinen zahlreich zu sein. Steinkohlen- flötze der Karruformation sind im Becken von Tete nachgewiesen ; die Kohlen am Ludjende, einem Nebenfluß des Rovuma, sind ohne Be- deutung. — — Die eben gegebene kurze Übersicht über die Bodenschätze Mittelafrikas zeigt, daß dieser ge- waltige Länderkomplex von vielen Millionen Qua- dratkilometer Größe — das „dunkelste Afrika", das sich erst im letzten Viertel des vergangenen Jahr- hunderts dem Tatendrange kühner deutscher und englischer Forscher auf bewundernswerten Reisen zögernd und feindselig erschloß — reich an solchen ist, und daß die erst vor kurzem planmäßig be- gonnene geologische Erkundung bisher noch un- bekannter Gebiete mit Wahrscheinlichkeit andere ausfindig machen wird. Sie verrät weiter ein erfreuliches und rasches Anwachsen bergbaulicher Tätigkeit in Ländern, die durch mit guten Häfen nicht eben reichlich gesegnete Küsten und schwie- rige Verkehrsbedingungen im Innenlande — nur wenige große Eisenbahnen streben über den steilen Anstieg der inneren Hochländer nach dem Herzen Mittelafrikas — dem Eindringen europäischen Wirtschaftslebens vielgestaltigen Widerstand ent- gegensetzen. Zusammenfassend läßt sich über die Aus- sichten, Europa mit Bodenschätzen Mittelafrikas zu versorgen, folgendes sagen : Katanga, dessen Kupfer bereits heute eine Rolle auf dem Welt- markte spielt, wird annehmbarerweise bald einen tonangebenden Platz unter den wichtigen Kupfer- erzeugern der Erde einnehmen. Der Zinnbergbau, überall noch im Anfang seiner Entwicklung, ver- spricht im Zinngürtel Katangas gute Erträge. Auch Ostafrika wird unter die Zinnländer treten. Die Goldgewinnung Mittelafrikas beruht zurzeit vor allem auf den Seifen von Kilo und Moto, die sich steigender Ausbeute erfreuen. Die vielen kleinen Goldquarzvorkommen werden nur geringe Er- trägnisse abwerfen. Für den Abbau der in großen Mengen und guter Beschaffenheit auftretenden Eisenerze sind niedrige Frachten bei günstigen Verkehrswegen von bisher nicht verwirklichter Wichtigkeit. Kohlen, aus verschiedenen Gebieten bekannt, werden bisher nur im Lukugatale abge- baut. Die Diamantengewinnung läßt sich in ihrer künftigen Entwicklung noch nicht übersehen. Der (ilimmerbergbau wird für den Kleinunternehmer lohnend sein. Die Salzgewinnung ist für das steinsalzarme Mittelafrika von nicht zu unter- schätzender Bedeutung. Die Erforschuug der nutzbaren Lagerstätten Mittelafrikas steht noch vor großen Aufgaben. Diese sind nur zu lösen in innigster Vereinigung mit der geologischen Erkundung seiner Land- schaften, ohne die, vor allem in einem tropischen Gebiet, zu einer wirkungsvollen Ausbeute aller Schätze des Bodens niemals zu gelangen ist, von denen hier ein großer wichtiger Teil, wie die tropische Bodenkunde und die Wassererkundung, gar nicht behandelt worden sind. Wie deutsche Geologen bisher hervorragenden Anteil an der geologischen Erschließung Mittelafrikas, wie Afrikas überhaupt, genommen haben, sowohl im deutschen Kolonialreich wie außerhalb von diesem, so wollen wir hoffen, daß ihnen auch künftighin hier ein ersprießliches Feld ihrer Tätigkeit geöffnet bleibt. [Nachdruck verboten.' Ein deutscher Erfinder vor zweieinhalb Jahrhunderten. Von Dr. von Bilguer. In diesem Jahre würden wir ein eigentümliches Jubiläum begehen können : im Oktober werden gerade zweieinhalb Jahrhunderte vergangen sein, seit einer unserer merkwürdigsten, interessantesten, weil vielseitig gelehrtesten Landsleute im fernen Rom, Athanasius Kircher nach allen Regeln der damaligen Wissenschaft und Kunst seine „Sphaera Magnetica Archimedaea" erfand, die nichts Geringeres darstellen sollte als ein Perpe- tuum mobile. Athanasius Kircher, dieser Mann von be- wunderungswürdiger rastloser Tätigkeit und un- ermüdlicher Willenskraft während seines, langen tatenreichen Lebens — er wurde 78 ^3 Jahre alt 576 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVin. Nr. 40 — erfand auch die Laterna magica und kann da- her gewissermaßen als Urvater unserer heutigen — Kinos angesehen werden. Kircher hatte, bevor er sich seinen Spezial- Studien und Erfindungen widmete, bereits ein sehr bewegtes Leben hinter sich. Am 2. Mai 1602 in Geisa (Sachsen-Weimar) als Sohn eines Dr. phil. und Professors bei den Benediktinern in Seligen- stadt und späteren fürstabtlich fuldaischen Rats und Amtmanns von Haselstein geboren, besuchte der junge K i r c h e r zunächst die niederen Schulen Fuldas und trat dann sechszehnjährig in die Ge- sellschaft Jesu, in Paderborn, ein. Von dort mußte er vor dem „tollen Bischof" von Halberstadt, Christian von Braunschweig fliehen, kam nach Speyer, dann nach Münster, Cöln, Coblenz und Mainz und endlich 1630 nach Würzburg, wo wir ihn als Professor der Mathematik, Moraltheo- logie, des Hebräischen und Syrischen wiederfinden. Im folgenden Jahre mußte Kircher wieder flüchten, diesmal vor den Truppen Gustav Adolfs. Er ging bis Avignon. In Aix lernte ihn der ge- lehrte französische Senator Peres que (bei Kircher Perescius) kennen , der mit ihm hauptsächlich hieroglyphische Studien trieb und in seinem Eifer zu verhindern wußte, daß Kirch er eine ehren- volle Berufung nach Wien als „Mathematiker des Kaisers" annahm. Nach Rom ging Kirch er 1634, nachdem er unterwegs allerlei Abenteuer, Schift- bruch und anderes erlebt hatte. Zunächst wurde er Beichtvater des damals sechszehnjährigen Land- grafen Friedrich von Hessen - Darmstadt , des späteren Großpriors des Malteserordens, Befehls- habers der Ordensflotte und Oberbefehlshabers der spanischen Flotte, der 1659 Kardinal und 1673 Fürstbischof von Breslau wurde. Mit diesem ging Kirch er nach Malta und machte dann natur- wissenschaftliche Studien auf der Insel Sizilien. Nach Rom, zu dauerndem Aufenthalt, kehrte er 1638 zurück.. Hier fand er einen wirksamen Förderer in seinem Ordensgeneral P. Vincenz Caraffa und erfreute sich bald allgemeiner Wert- schätzung und Bewunderung. Papst Urban VIII. Barberini bis zu seinem eigenen Tode (1644) und sodann dessen Nachfolger Innocenz X. Pamphili (1644 — 55), sowie nicht weniger Alexander VII., Clemens IX. und Clemens X. (Kirch er lebte unter nicht weniger als zehn Päpsten) interessierten sich in besonderer Weise für die Studien, Werke und Erfindungen des deutschen Paters, der im Freunde so vieler in Rom weilender Deutscher, Künstler und Gelehrter, dem Kardinal Franz Barberini einen eifrigen Förderer gefunden hatte. Außerdem erhielt Kirch er unausgesetzte finanzielle Zuwendungen und Unterstützungen vom Kaiser Ferdinand III. (der nach dem Ableben Innocenz X. fast alle Kircherischen Unkosten trug und außerdem noch eine jährliche Rente von 100 päpstl. Scudi ausgesetzt hatte), vom Kaiser Leopold , vom Herzog von Braunschweig - Lüne- burg, vom Kurfürsten von Bayern, vom Grafen Joh. Fr. von Waldstein, Erzbischof von Prag, ferner vom Vizekönig von Neapel D. Pedro d'Aragon und anderen. Es hat auch wohl kaum einen vielseitigeren Gelehrten als Kircher ge- geben.') Denn ganz abgesehen von seiner allge- meinen Tätigkeit als Seelsorger und auf dem Lehrstuhl der gregorianischen Universität (Col- legium Romanum) beschäftigte dieser Priester, der vierundzwanzig Sprachen sprach und schrieb und dadurch sogar den König Mithridates von Pontus in den Schatten stellte, sich eingehend mit 17 ver- schiedenen Materien , nämlich mit allgemeiner Naturwissenschaft, Magnetismus, Optik, Gnomonik (Sonnenuhren betreffend), Akustik, Musik, Astro- nomie, Medizin, Philosophie, Philologie, Theologie, Pasigraphie (Weltschrift), Archäologie, Geschichte, Geographie und endlich „Prestidigitation" und „Magie". Kirch er hat uns seine Forschungs- und Studienergebnisse in mehr als 30 verschiedenen Werken hinterlassen, die größtenteils in Rom er- schienen. Wir nennen hier die hauptsächlichsten • (in chronologischer Reihenfolge): Magnesia sive conclusiones experimentales de effectibus magne- tis (Würzburg 1630), Praelusiones magneticae, Primitiae gnomonicae catoptrica sive horologia- graphia reflexa (Avignon 1634), Prodromus Cop- tus (Rom 1636), Specula Melitensis Encyclica, syntagma novum instrumentorum physico-mathe- maticorum (Messina 1638), Lingua aegyptica resti- tuta (Rom 1643), Ars magna lucis et umbrae (Rom 1646, Amsterdam 1671), Obeliscus Pam- philius (Rom 1650), Ars magnetica (Rom und Cöln 1654), Iter extaticum terrestre sive geocosmi opificium (Rom 1654), Iter extaticum coelesta sive mundi opificium (Rom und Nürnberg 1656), Scru- tinium Physico-medicum (Rom und Leipzig 1658), Arithmologia (Rom 1665); außerdem: Oedipus Aegyptiacus, Mundus subterraneus, China illustrata, Historia Eustachio Mariana, Latium, idest nova et paralella Latii tum veteris, tum novi descriptio, Mehrere dieser, zum Teil sehr luxuriös ausge- gestatteten, Werke sind Kirchers Gönnern ge- widmet wie z. B. seine 1663 in Rom erschienene Polygraphia nova et universalis dem Kaiser Leo- pold I. Dem Zug der damaligen Zeiten folgend und durch die reichlichen Geldmittel seiner Freunde und Bewunderer dazu in den Stand gesetzt, gab Kirch er sich bald auch seiner kostspieligen Lieb- lingsbeschäftigung hin, nämlich dem Erfinden. Er hinterließ uns eine ganze Reihe höchst geist- reicher und genialer Erfindungen auf den ver- schiedensten Gebieten; die hauptsächlichsten, die noch heute im Collegio Romano aufbewahrt werden, waren : ein Arithmo- und ein Pantometer, eine mathematische Orgel und die Laterna magica. Es lag nun eigentlich auf der Hand, daß in damaliger Zeit ein derartig erfinderisch angelegter ') So ist er z. B. auch wohl der erste, der in einem von ihm selbst verbesserten Mikroskop Bakterien sah. Er brachte auch schon diese kleinsten ,, Würmchen", die nach ihm faulende Stoffe durchwimmeln, mit der Pest in Beziehung. (Red.) N. F. XVIII. Nr. 40 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 577 Kopf sich auch Versuchen zur Herstellung eines Perpetuum mobile hingeben werde. Und nach langen Studien und Versuchen kam ein solches auch wirklich 1668 zustande. Das Bestreben ein „Ding, welches sich immer bewegt" zu konstruieren ist so alt wie die Er- findungen selbst, es stellt die allerdings unerreich- bare Krone derselben dar. Die hervorragendsten Köpfe aller Zeiten und aller Kulturvölker haben sich abgemüht, eine Vorrichtung oder Maschine zu erfinden, die ihren eigenen Motor dar- stellt, d. h. ihre Arbeit tut ohne eine irgendwie geartete Abnutz u ng. Aber alle diese, mitunter sehr geistreichen und genialen Erfinder hatten mindestens undeutliche Begriffe und Vorstellungen vom Wesen der Kraft und Materie. Denn jede Maschine ist ein Umformer. Sie kann nur das wiedergeben, was sie empfangen hat, nach dem Abnehmen desjenigen, was sie zu ihrem eigenen Funktionieren nötig hatte (passiver Widerstand). Den Erfindern war also das Prinzip der Erhaltung der Energie unbekannt, daß nämlich keine Energie ohne Aufwand einer gleichen Menge derselben erzeugt werden kann. Es folgt ja daraus, daß eine Maschine sich niemals in unbegrenzter Weise weiter bewegen kanh (selbst wenn sie keine eigentliche Arbeit zu leisten hat) ohne daß ihr durch eine von ihr unabhängigen Quelle Kraft zugeführt wird. Ein scheinbares Perpetuum mobile ist der Barometer, Thermometer und der- gleichen, die tatsächlich in „fortwährender Be- wegung" sind; indessen werden diese nicht durch sich selbst, sondern durch den Luftdruck oder andere Kräfte in Bewegung gesetzt. Auch Kircher hielt noch an der Möglichkeit der Herstellung eines Perpetuum mobile fest, wie alle seine gelehrten Zeitgenossen, mit Ausnahme des niederländischen Mathematikers und Physikers Huyghens, des berühmten Erfinders der Pendel- uhr und Entdeckers des Ringes und der Monde des Saturn, der schon von der Unmöglichkeit dieser Erfindung überzeugt war. Als Vorläufer des Kircherschen Perpetuum mobile können zwei seiner Versuche betrachtet werden : der erste basiert auf einer Art von Pumpe, deren in die Höhe gepumptes Wasser ein Rad in Bewegung setzt, welches seinerseits wieder die Pumpe antreibt, die das Wasser sich von neuem auf das Rad ergießen läßt. Der zweite arbeitet durch die Schwere: eine Kugel rollt eine spiralförmige Bahn herunter und wird wieder auf die Spitze der Spiralsäule hinaufgeschnellt. ,,Sem- per mota suis irrequieta cyclis" lautet das Motto dieses Apparates. Sein Perpetuum mobile nennt Kircher die ,,Sphaera magnetica Archimedaea" und fügt hinzu „Ratio sphaerae magneticae perpetuö circumeuntis caeliq. cursum perenni motu mon- strantis, idest, Sphaeram magneticam conficere, quae in centro aquae, seu medio liquorum librata lestes, totius denique Astrolaby mysteria denotet perpetucV. „Das Wesen der magnetischen Kugel besteht darin, daß sie sich immerfort bewegt und durch fortwährende Bewegung die Himmelsbahn zeigt, d. i. eine magnetische Kugel, die frei in- mitten des Wassers ewig in Bewegung bleibt und in Ewigkeit die Stunden und die Himmelsbahnen, auch die Geheimnisse des Astrolabium angibt." Der Apparat besteht aus einem, nach Süden fest und sicher aufzustellenden Kasten, auf dem sich zwei ziemlich große Kugeln befinden. Die erste Kugel ist von Metall, die zweite von Glas und zur Hälfte mit Wasser gefüllt, auf dem der magnetische, d. h. mit Magneten versehene Globus schwimmt. Kircher nimmt nun folgenden Vor- gang an; Die in der Metallkugel eingeschlossene Luft wird durch Einwirkung der Tageswärme ver- dünnt und strömt in ein mit Wasser gefülltes Ge- fäß, dessen Inhalt sie mittels einer Röhre in ein höher gelegenes Gefäß drückt. Das hier ange- sammelte Wasser fällt nun tropfenweise auf ein mit 24 Eimerchen versehenes Rad. Die in die Eimerchen sich ergießende Wassermenge ist der- artig bemessen, daß die Umdrehung des Rades in 24 Stunden erfolgt. Dies Rad setzt einen unter der Glaskugel befindlichen Magneten in drehende Bewegung, der seinerseits den im Wasser schwim- menden magnetischen Globus bewegt. Dieser nun, dessen Umdrehung in 24 Stunden sich voll- zieht, kann als Uhr oder als Anzeiger anderer Dinge verwendet werden. Das über das Rad ab- fließende Wasser sammelt sich in einem eigenen Behälter, von wo es mittels einer Röhre durch die durch die Nachtkühle verdichtete Luft der Metallkugel in seinen ursprünglichen Behälter zu- rückgesaugt wird , worauf am folgenden und an den folgenden Tagen das gleiche Spiel von neuem beginnt. — Einzelberichte. Im Anschluß Chemie. Über Membranfilter, an die von Graham in die Wissenschaft einge- führte Dialyse, d. h. die Trennung von kristalloid und kolloid gelösten Stoffen durch Diffusion durch halbdurchlässige Membranen, hatte sich — es sei hier insbesondere an die bekannten Arbeiten von H. Bechhold^) erinnert — die Ultrafiltration entwickelt, bei der als Filtermaterial äußerst fein- porige nur für Kristalloide oder äußerst feinteilige Kolloide durchlässige Membranen von Kollodium und dgl. dienen. In der Praxis aber hatte sich diese an sich so aussichtsreich erscheinende Me- thode — vermutlich, weil die für ihre Ausführung erforderliche Versuchsanordnung zu umständlich M H. Bechhold, 257, 64 (1908), 328. Zeitschr. f. physik. Chemie 60 (1907), 578 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVm. Nr, 40 war — keine Geltung gewonnen, und es hat dann R. Zsigmondy in den letzten Jahren neue Wege eingeschlagen, um die Ultrafiltration für die Auf- gaben der Praxis nutzbar zu machen. Schon im Jahre 19 12 hat Zsigmondy in Gemeinschaft mit E. Wilke-Dör fürt und A. V. Galecki darauf hingewiesen, i) daß sich dünne Kollodiummembranen ausgezeichnet zur Filtration sehr feinteiliger Niederschläge wie gefällten Chlor- silbers oder Bariumsulfats eignen, ja daß mit ihrer Hilfe sogar das Gold aus kolloidalen Goldlösungen und das Eisenoxydhydrat aus kolloidalen Eisen- oxydhydratlösungen abfiltriert werden kann. Ge- naue Vorschriften für die Herstellung brauchbarer Membranen und die Konstruktion einer besonderen, zur Einspannung der Membranen sehr geeigneten Filtervorrichtung ^) erleichterte die Benutzung des Verfahrens. Einen weiteren Fortschritt brachte eine im Jahre 19 18 von R. Zsigmondy und W. Bach- mann veröffentlichte kurze Mitteilung „über neue Filter". ^) In dieser Mitteilung wird zunächst auf die beiden Grundformen der Filtration hingewiesen, die Siebfiltration, bei der die abzufiltrierenden Teilchen von dem Filter wie von einem Siebe zurückgehalten werden, und die Adsorptions- filtration, bei der sie von dem Filtermaterial adsorbiert werden. Gewöhnliche Papierfilter wirken im wesentlichen nach der ersten, Filtrierschichten wie Fullerde, Knochenkohle, Kieselgur u. dgl. nach der zweiten Art. Immerhin sind die beiden Fil- trationsarten in der Praxis in der Regel nicht voll- kommen scharf getrennt, halten doch z. B. Filtrier- papier und Tonfilter, obwohl sie in erster Linie durch Siebung wirken, doch vielfach durch Adsorp- tion auch Teilchen zurück, deren Querschnitt kleiner als der der Poren ist. Auch hat man häufig be- obachtet, daß feinteilige Niederschläge zunächst voni Filter durch Adsorption festgehalten werden, sobald aber die Adsorptionsfähigkeit des Filters erschöpft ist, „durch's-Filter laufen"; die Adsorption selbst findet in diesem Falle natürlich nicht nur an der äußeren Oberfläche, sondern auch in denen der Filterschicht statt: die Teilchen dringen in die Filter selbst ein. Die kolloidalen Membranen wie die Zsigmondy sehen Kollodiummembranen sind nun äußerst feinporige Gebilde — darauf weist ja schon ihre absolut glatte Oberfläche hin, — in die selbst so feinteilige Körperchen, wie sie in den kolloidalen Lösungen enthalten sind, nicht einzudringen vermögen : Bei der Filtration durch Membranen bleiben die zu filtrierenden Teilchen auf der Oberfläche der Membranen liegen, eine merkliche Adsorption findet nicht statt, die Filter- membranen wirken wie reine Siebfilter. Die älteren Kollodiummembranen, deren Her- stellung Zsigmondy gelehrt hatte, hatten nun aber noch immer einen Nachteil : sie waren noch immer recht leicht verletzlich und mußten mit großer Vorsicht gehandhabt werden. Zsigmondy stellte daher in Gemeinschaft mit Bachmann (1. c.) besondere Versuche an, um so feste und dauerhafte Filtriermembranen zu gewinnen, daß sie allen Anforderungen, die Laboratorium und Industrie an sie stellen, gewachsen seien. Dies Ziel wurde in der Tat erreicht. Durch Eintrocknen von nicht ganz einfach zusammengesetzten Lösungen gewisser Kolloide, unter Einhaltung ganz be- stimmter Bedingungen erhält man pergamentähn- liche Membranen oder auch solche vom Aussehen des Glanzpapiers oder des weißen Glacehandschuh- leders, welche hinsichtlich Widerstandsfähigkeit gegen mechanische und chemische Einwirkungen ') und Filtrierwirkung allen Anforderungen ent- sprechen, die an ein Filter zu stellen sind, die sogenannten „Membranfilter". Diese Mem- branfilter deren sachgemäße Erzeugung im Labo- ratorium und Betrieb allerdings Schwierigkeiten bietet und die daher von der Firma E. de Haen in Seelze bei Hannover in den Handel gebracht worden, lassen sich ähnlich wie die Bechhold- schen Ultrafilter in verschiedener Porigkeit her- stellen; je nach der Feinheit der Poren lassen sie bei der Vakuumfiltration, bei einer Filtrierfläche von 80 qcm 1 00 ccm Wasser in einigen Sekunden oder einigen Minuten, die feinstporigen erst in 30 bis 45 Minuten durch. Über den Zahlenwert der Porengröße gibt die Tatsache Auskunft, daß ein 8 Sekundenfilter, d. h. ein Filter, der unter den angegebenen Bedingungen 100 ccm Wasser in 8 Sekunden durchläßt, kolloidale Goldteilchen von 80 bis 100 fiii Durchmesser noch vollkommen zurückhält, feinere Teilchen aber hindurchläßt.-) Die Membranfilter sind sowohl in der Wissen- schaft, z. B. in der Kolloidchemie und in der Biologie, als auch in der Technik von sehr viel- seitiger Anwendbarkeit. Im folgenden möge aber nur im Anschluß an eine ausführliche Arbeit von Gerhart Zander') ein kurzer Bericht über ihre Verwendung in der analytischen Chemie gegeben werden. Zum Zwecke einer quantitativen Analyse wird der Filter — meist benutzt man ein 20 bis 50 Sekundenfilter — zunächst in den Filtrierapparat eingespannt, der nach seiner Zusammensetzung ähnlich wie ein Buch n erscher Trichter aussieht, dann wird der Niederschlag unter Druck abfiltriert und ausgewaschen, was darum sehr schnell geht, weil die Filterfläche 80 bis 100 qcm ausmacht ') R. Zsigmondy, D. Wilke-Dör fürt und A. v. Galecki, Ber. d. D. Cbem. Gesellsch. 45 (1912), 579. ■■') R. Zsigmondy, Zeilschr. f. angew. Chem. 26 (1913), 447- — Vg^- auch ,,Im Laboratorium", herausgegeben von der Firma Warmbrunn, Quilitz tV- Co. in Berlin NW 40, Jahrg. II ("9131. S. 357. ") R. Zsigmondy und W. Bachmann, Zeitschr. f. anorgan. Chemie 103 (1918), 1. ') Gegen verdünnte Säuren auf Basen sind die Filter voll- kommen widerstandsfähig, von konzentrierter Salz- oder Schwefelsäure, von starken Laugen, von Alkohol- und Alkohol- Ather-Gemischen werden sie angegriffen. *) I /ifi = 0,000001 mm. ') Richard Zsigmondy und Gerhart Zander, Die chemische Analyse mit Membranfiltern. Als Manuskript gedruckt. Hannover 1919, Druck von Wilh. Riemschneider. N. F. XVni. Nr. 40 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 579 und der Niederschlag selbst auf dem Filter eine weit ausgebreitete — bei richtigen Arbeiten risse- lose — Schicht bildet, das Filter wird mit samt dem Niederschlag getrocknet, der Niederschlag, der sich nach dem Trocknen von der vollkommen glatten Filterfläche, in die er nicht eingedrungen ist, leicht ablöst, wird — zuletzt unter Zuhilfenahme einiger Tropfen Wasser oder, wenn man trocken arbeiten will, eines Schabspachtels — in den Schmelztiegel übergeführt und weiter verarbeitet. Das abgespülte oder abgeschabte Filter kann dann für eine neue Analyse verwendet werden. Auf die skizzierte Weise lassen sich auch Niederschläge, die wie solche von Schwefelzink Zn S, Zinnoxyd- hydrat SnOj aq. und dgl. der Filtration nicht selten große Schwierigkeiten bieten, verhältnis- mäßig rasch verarbeiten. So wurde z. B. eine Schwefelzinkbestimmung, die mit Papierfilter i^^j^ Stunden dauerte, mit einem Membranfilter in 5 72 Stunden erledigt. Mg. Über das Verhalten einiger Alkalialumosilikate bei hohen Temperaturen berichtet H. Leitmeie*" (Wien) in der Zeitschr. f. anorg. Chemie Bd. 105, Heft 1/2, S. 69 — 80. Die von ihm angestellten Versuche hatten den Zweck, Klarheit darüber her- zustellen, ob Alkalisilikate bei längerem Erhitzen auf Temperaturen knapp unterhalb des Schmelz- punktes unverändert bleiben oder nicht. Durch Abspaltung von Alkali würde eine Veränderung des Untersuchungsmaterials eintreten und mit Rücksicht darauf zog R. Naken eine derartige Veränderung des Untersuchungsmaterials bei seinen Schmelzpunktbestimmungen, die zur Klärung der großen Unterschiede in den Angaben der Schmelz- punkte von Silikatmineralien angestellt wurden, in ernste Erwägung. Da es in der Natur keine einfachen Alkali- silikate gibt, die zuerst hätten studiert werden müssen, so müßten gleich Tonerdesilikate verwandt werden. Die Untersuchungen erwiesen sich als sehr zeitraubend und kostspielig, da die Heiz- röhren der Platinwiderstandsöfen durch lange und unausgesetzte Inanspruchnahme sehr leiden. Durch den während des Krieges eingetretenen Platin- mangel konnten die Versuche auch nicht in dem beabsichtigten Umfange durchgeführt werden. Untersucht wurden ein Kalitonerdesilikat, Adular, und ein Natrontonerdesilikat, Labrador. Das Material wurde fein gepulvert und darauf einer meist sehr langen Erhitzung (bis zu 720 Stunden) von verschiedenen Temperaturen (i 1 15 — 1240+ 3") ausgesetzt. Die Versuche ergaben, daß Adular und Labrador bei sehr lang anhaltender Erhitzung auf Temperaturen, die hart unter dem Schmelz- punkt gelegen sind, einen kleinen Teil ihres Alkalis verlieren. Die entweichende Menge läßt sich aber nur durch Bestimmung des Gewichtsverlustes an- geben, da sie so gering ist, daß quantitative Be- stimmungen mit den bisher üblichen Methoden durchaus keine sicheren Resultate ergaben, son- dern nur anzuzeigen vermögen, daß überhaupt ein Alkaliverlust eingetreten ist, ohne eine Bestimmung der Größe desselben zuzulassen. Dieser Alkali- verlust ist jedenfalls so gering, daß er bei den Schmelzpunktsbestimmungen durch allmähliches, langdauerndes Er- hitzen nicht in Frage kommt, nament- lich, da die hierbei angewandte Zeit eine bedeu- tend geringere ist, als die, die zu einem überhaupt merklichen Alkaliverlust nötig ist. Ein Einfluß auf den Schmelzpunkt bei Schmelzversuchen mit so langem Erhitzen wäre nur dadurch zu bemerken, daß sich eventuell ein höherer Schmelzpunkt er- gäbe, da die Alkalisilikate einen niedrigeren Schmelzpunkt haben, als z. B. analoge Ca- Silikate, wenigstens innerhalb der Plagioklasreihe. Zum Schluß macht der Verf. noch auf eine Erscheinung aufmerksam, daß bei Temperaturen oberhalb des Schmelzpunktes bei langandauerndem Erhitzen ganz bedeutende Gewichtsverluste ein- traten. Versuche, die nach dieser Richtung hin angestellt wurden, mußten leider wegen Platin- mangels abgebrochen werden. Es scheint nicht ausgeschlossen, daß wenigstens bei manchen Sili- katen Schmelz- und Siedepunkt nahe beieinander liegen. F. H. Das Gas als Kampfmittel. ^) Das erstemal sollen französische Truppen das Gas als Kampf- mittel verwendet haben, und zwar im Herbst 1914 im Elsaß, während es von deutscher Seite zum ersten Male im Oktober des gleichen Jahres be- nutzt worden ist, aber von einem eigentlichen Gaskampfe kann man doch erst seit dem Früh- jahr 191 5 sprechen. Ursprünglich wurden ver- hältnismäßig harmlose Gase, die sog. Reizgase verwendet, die nur eine reizende Wirkung auf die Schleimhäute der Augen, des Mundes und der Nase ausübten; das bromierte Methyl-Äthyl- Keton CRjBr.CO-CHo.CHg oder CHg-CO-CHBr-CHg dürfte der Hauptvertreter dieser Gruppe von Kampfgasen sein. Bald aber traten die eigent- lichen giftigen Gase mehr und mehr in den Vordergrund. Zunächst das elementare Chlor, das sich , da es schwerer als Luft ist , leicht in großen Mengen hergestellt und transportiert wer- den kann und bereits bei einem Gehalt von 50 mg im Kubikmeter tödlich wirkt, für Kampfzwecke besonders empfahl. Lange dauerte indessen die Chlorperiode nicht: durch Gasschutzmasken, die sämtlich auf der Reinigung der einzuatmenden Luft beruhten und bei den verschiedenen Armeen mit verschiedenen Absorptionsmitteln, z. B. mit Natriumsuperoxyd Na.jOj oder mitNatriumphenoIat CgHrjONa gefüllt waren, konnte das Chlor leicht absorbiert und so unschädlich gemacht werden. An die Stelle des Chlors trat nunmehr das Phos- gen COCI3, das schon in einer Menge von 7 mg im Kubikmeter tödlich wirkt. Durch Verbesserung des Gasschutzes, insbesondere die Einführung des Vgl. Chemiker-Zeitung 1919, S. 365 bis 367. 5 So Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 40 bekannten, durch Einwirkung von Ammoniak auf Formaldehyd entstehenden Hexamethylentetramins wurde auch das Phosgen überwunden, und es setzte so wieder eine neue Periode ein, die der sog. „bunten", d. h. durch Bezeichnung der Gas- füllung der Granaten oder Gasbehälter durch ein blaues, grünes oder gelbes Kreuz gekennzeichneten Gase ein. Das Blaukreuzgas — Diphenylchlorarsin (CrH6),AsC1 — ist ein Stoff, der bei der Explo- sion der Granate in feinster Verteilung umher- gespritzt wird und überall, wo er auf die Haut trifft, einen unerträglichen Juckreiz hervorruft, so daß der Betroffene zum Abreißen seiner Schutz- maske veranlaßt wird. Eine sonstige schädliche Wirkung übt das nur etwa eine halbe Stunde lang wirkende Blaukreuzgas nicht aus, und es muß daher gleichzeitig mit dem Blaukreuzgas ein anderes Gas verschossen werden. Dies andere Gas war in der großen Mehrzahl der Fälle das äußerst giftige Trichlormethylchlorformiat Cl-CO • OCClg, das von den Deutschen als „Perstofif" be- zeichnet wurde und den Inhalt der Grünkreuz- granaten bildete. Noch furchtbarer als diese Gase wirkte das Gelbkreuzgas, das englischen Analysen zufolge aus Diäthylsulfid (C2Hii)2S bestehen soll, eine farblose, fast geruchlose, schwerflüssige Flüssig- keit, die ■ — nur langsam und allmählich wirkend — einerseits in Gasform schwerste Erkrankungen der Atmungsorgane bedingt, andererseits in flüssi- ger Form auf die Haut gebracht starke Blasen- bildung und immer weiter um sich greifende, äußerst ansteckend wirkende Verletzungen hervor- ruft. Als brauchbares Gegenmittel gegen das Gelbkreuzgas kommt allein die sofortige An- wendung von Clorkalk in Betracht. ') Zur Technik der Gasangriffe ist noch folgen- des zu bemerken: Ursprünglich, in der Chlor- periode, wurde das Gas durch Öffnung der Ven- tile aus den Behältern abgeblasen, das Gas wirkte also nur auf die vordersten Linien der feindlichen Stellung, und das Verfahren konnte nur bei ge- eigneter Windstellung benutzt werden. In der zweiten, der Phosgenperiode traten die Gasgranaten in Erscheinung, durch die auch weit hinter der Front liegende Gebiete der feindlichen Stellung vergast werden können. Eine Vervollkommnung der Gasgranaten brachte die Periode der „bunten" Gase : Die älteren Gasgranaten waren durch ihren fast lautlosen Aufschlag jedem Soldaten leicht er- kennbar, daher wurden die neuen Gasgranaten meist in Form von Gasbrisanzgranaten verwendet, d. h. sie enthielten außer der Gasfüllung noch eine Sprengladung und explodierten infolgedessen wie gewöhnliche Granaten. Die letzte Form der Gas- angriffe, die in dem soeben abgeschlossenen Kriege verwendet wurde, war das sog. ,, Gaswerfen", bei dem durch Werfen von Gasminen so ungeheure Mengen von Gas in die feindliche Stellung ge- ') Die im vorstehenden angegebene Zusammensetzung der „bunten Gase" beruht auf englischen Analysen. Amtliche deutsche Mitteilungen darüber liegen bis jetzt noch nicht vor. worfen wurden, daß die Luft von dem Gase fast vollständig verdrängt wurde und auch bei bestem Schutz durch Gasmasken Erstickung des Gegners eintrat. Mg. Geographie. Die Entstehung der Kontinente und Ozeane. Unter diesem Titel hat der bekannte Geograph und Geophysiker Alfred Wegener 191 5 ein kleines Werk bei Vieweg erscheinen lassen, das so unerwartet neue Gesichtspunkte in die Betrachtung der Erdgeschichte einführt, daß es auffallen muß, daß diese Zeitschrift ihre Leser noch nicht damit bekannt gemacht hat. Da nun diese neue Erklärung soeben von astronomischer Seite aus eine unerwartete Bestätigung gefunden hat, so wird eine Mitteilung darüber allen geo- graphisch interessierten Lesern von Wert sein. Das Erdinnere besteht zweifellos aus einem Kern von Nickelstahl, der keinerlei Zusammen- ziehung erleiden kann, abgesehen davon, daß die Lehre vom Erkalten und Einschrumpfen der Erde seit der Entdeckung der Eigenschaften des Radiums ihren Boden verloren hat, so daß man fast an- nehmen könnte, daß das Erdinnere durch die Radiumstrahlung an Wärme zunähme. Infolge- dessen kann die Kontraktionstheorie nicht mehr zur Erklärung der Gebilde der Erdoberfläche herbeigezogen werden, würde sich doch allein für die Alpen eine Zusammenziehung von 10 Breitengraden ergeben , ein absolut unzulässiger Betrag. Ebenso zeigen die modernen Schwere- messungen auf dem Ozean, daß unter diesen schwereres Gestein liegt, wie unter den Fest- ländern. Wie eine Eistafel im Wasser schwimmt, so liegen die Kontinente eingebettet in die schwerere Masse, die unter den Ozeanen sich ausbreitet. Die Tiefseeböden sind ebenso wenig abgesunkene Kontinente, wie diese jemals Meeres- boden gewesen sind , sie sind nur hier und da durch Überschwemmungen überflutet gewesen. So stehen die beiden Lehren von dem Zusammen- bruch des Erdballes nach S u e s s und von der Permanenz der Ozeane sich unvermittelt gegen- über, sich gegenseitig ausschließend. Alle diese Schwierigkeiten schafft Wegener nun dadurch fort, daß er eine neue Hypothese aufstellt. Die beiden großen Kontinentalschollen, die amerikani- sche westliche, und die asiatisch-afrikanische öst- liche haben ursprünglich eine einzige Scholle ge- bildet, bis im Tertiär der atlantische Ozean als eine riesige Spalte aufgerissen wurde und unter dem Einfluß gewisser, noch heute wirksamer Kräfte sich immer mehr verbreiterte. Grönland hing zur Eiszeit noch mit Europa und mit Nord- amerika zusammen, so daß der Raum der Binnen- eisdecke damals erheblich zusammenschrumpft. Südamerika, Südafrika, Vorderindien und Austra- lien haben sich berührt, dadurch rücken die Spuren des permischen Inlandeises zu einer nicht zu großen polaren Eiskappe zusammen. Und die hohen Gebirge, wie der Hymalaja sind entstanden N. F. XVIII. Nr. 40 Naturwissenschaftliche Wochenschritt. 581 durch den enormen, noch heute andauernden Zusammenschub, den der Kontinent erleidet. Die Erklärung VVegeners geht auf die Iso- stasie der Erdrinde zurück, das ist das Druck- gleichgewicht oder das Schwimmen der festen Erdrinde auf einer magmatischen schwereren Grundlage. Als zu den Zeiten der großen Eiszeit die Kontinente hoch mit Eis belastet waren, da mußten sie tiefer in das Magma eintauchen, und nach dem Abschmelzen, also im Tertiär tauchen sie entlastet, langsam wieder auf. Und wir sind in der Lage, aus den Strandlinien die Tiefe der Versenkung zu bestimmen, und daraus auf die Größe der Belastung zu schließen. So haben wir also nach den heutigen Anschauungen unsere Erde als aus einem Kern bestehend anzusehen, der in etwa 1500 km Tiefe beginnt, und als aus Nickel und Eisen bestehend als Nife bezeichnet wird. Darüber liegt der 1500 km dicke Mantel. Dieser ist nach den Hauptbestandteilen Silizium und Magnesium als Sima benannt, und in ihm schwimmen wie dünne oberflächliche Verwitte- rungsschichten die kontinentalen Schollen , mit einer Dicke von höchstens 100 km, also nur ein 63 stel des Erdradius. Sie werden nach ihren Hauptbestandteilen, Silizium und Aluminium als Sal bezeichnet. Bei der Dicke der salischen Schicht ruht sie in einer Tiefe, wo die Tempe- ratur so groß sein wird, daß das Sima zähflüssig ist, also eine gewisse Plastizität hat. Wegen er erinnert als Beispiel an den Siegellack. Dieser ist bei gewöhnlicher Temperatur spröde und zer- bricht beim Hinfallen in scharfkantige Stücke. Legt man aber eine Stange Siegellack auf zwei Stützpunkte an den Enden, so wird sie sich sehr langsam durchbiegen, nach ein paar Monaten hängen die Teile fast senkrecht herab. Bei den geologischen Zeiträumen steht für das Sima ge- nügend Zeit zur Verfügung. Und zwar verschiebt sich die salische Kruste unter großem inneren Widerstand des zähen Sima, wodurch die harte Kruste gefaltet wird und der Anlaß zu den Falten- gebirgen gegeben ist. So Vorderindien mit dem Hymalaja, ein Beispiel, auf das We gener noch besonders ausführlich eingeht, so auch die Anden und Cordilleren , wenn man annimmt, daß die afrikanische Scholle der ruhende Teil geblieben ist, von dem sich die anderen Schollen entfernt haben. Diese Spaltungen denkt sich Wegen er etwa in folgender Weise. Wegen der nach unten zunehmenden Plastizität wird beim Zerreißen einer Kontinentalscholle zunächst nur in den oberen, spröden Schichten ein Riß entstehen, die unteren Schichten werden durch Zug nachgeben. An den Rändern der Spalte werden die Gesteinsmassen abrutschen, so daß die Randpartien entlastet wer- den und infolge der Isostasie sich heben, einen Randwulst bildend. Erst wenn der Riß die Schollendicke von etwa 100 km wesentlich über- schreitet, wird er auch durch die tieferen Schichten gehen und eine völlige Trennung herbeiführen. Dann öfihet sich die Spalte soweit, daß dem Sima Zutritt verschafft wird, der Graben zeigt jetzt keine Schwerestörungen mehr, weil das sichtbare Massendefizit an der Oberfläche durch das schwere eingetretene Material des Sima gerade kompen- siert wird. Man braucht bei diesem Vorgange nur an die mittelrheinische Tiefebene zu denken. Der Graben dieses Bodens besteht aus denselben Gesteinen, wie wir sie auf der Höhe der Rand- gebirge noch finden. Beide Gebirge, Schwarz- wald und Vogesen, zeigen die Merkmale einer Hebung ohne Faltung, es sind die oben genannten Randwülste. Und da die Schweremessungen eine unterirdische Kompensation des sichtbaren Massen- defektes beweisen, so ist auch das Sima schon in in die Spalte von unten her eingedrungen. Über die kosmischen Kräfte, die diese Spal- tungen und Verschiebungen bewirken könnten, ist es schwer, schon jetzt etwas Positives anzu- geben. Gezeitenwirkungen des Sima könnten in Betracht kommen. Aber die Erde ist nicht der einzige Körper, auf dessen Oberfläche solche Ver- schiebungen von Massen vorkommen. Die Sonnen- oberfläche hat eine mit der Breite abnehmende Rotation, und der rote Fleck auf dem Jupiter ver- hält sich genau wie die hier angenommenen Ver- schiebungen, nur mit unvergleichlich viel größerer Geschwindigkeit. Das wichtigste Beweismaterial für seine neue Hypothese entnimmt aber Wegen er zunächst der Betrachtung des Atlantischen Ozeans. Süd- amerika und Afrika lassen sich so aneinander- legen, daß jedem Vorsprung hier eine Einbuchtung drüben entspricht. Man muß die Einzelheiten bei Wegen er selbst nachlesen, es genügt, hier ein paar Punkte herauszugreifen, die zeigen, daß die Struktur auf der einen Seite die genaue Ver- längerung der Struktur auf der anderen Seite ist. In Nordostgrönland steht in 81 Grad Breite ein Rest karbonischer Ablagerungen an, der in Spitz- bergen an der entsprechenden Stelle wiederkehrt. Dem sehr alten Gneis der Lofoten, Hebriden und von Nordschottland entsprechen drüben die Gneis- gebirge von Labrador. Das eine ist die genaue Verlängerung des anderen, es ist mitten durch- gebrochen. Das kaledonische Gebirge Norwegens und Nordenglands hat seine direkte Fortsetzung in der nördlichen Hälfte Neufundlands. Die Kohlenlager Nordamerikas erscheinen als die direkte P'ortsetzung der europäischen, die in Ir- land und der Bretagne das Meer erreichen. Hier und drüber brechen sie jäh am Meere ab, Fauna und F'lora zeigen hier wie dort Identität. In Afrika setzt sich das eigenartige Kapgebirge in Südamerika fort in den Sierren südlich von Buenos Ayres, in Bau und Geschichte völlig überein- stimmend. Für ein zweites, ebenfalls bis in die Einzelheiten durchgeführtes Beispiel nimmt We- gen er das Gondwanaland, jenes hypothetische aus biologischen Gründen angenommene ehemalige Festland, das Südamerika, Südafrika, Vorderindien und Australien miteinander verband. Er zeigt, daß man eine viel befriedigendere Erklärung findet. 582 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVra. Nr. 40 wenn man nach seiner Theorie auch hier eine Schollenverschiebung annimmt. Die Wirkungen dieser Vorgänge zeigen sich ihm in den Falten des Hymalaja, und der Gebirgsbildung von Vorder- indien und Hinterindien. Im Lichte dieser Hypothese gewinnt nun die Anschauung von den Polwanderungen ein neues Gesicht. Fehlte es zu deren mechanischer Er- klärung bisher an den nötigen Grundlagen, so werden diese durch die Verschiebungen der Kon- tinentalschollen und die dadurch bedingte Ver- legung des Schwerpunktes der Erdrotation ge- geben. Höchst überzeugend ist da Fig. 20, die Rekonstruktion der Kontinentalschollen für die große Eiszeit. Man sieht, daß die unter Eis liegenden Flächen Europas und Nordamerikas zu- sammenliegen, um die Zeit der großen Trennung herum, und sie bilden da eine kontinuierlich zu- sammenhängende Fläche, deren Grenzen scharf ineinander übergehen, mit dem damaligen Pol in der Mitte, so daß die Erklärung der Eiszeit sofort herausspringt, es war das damalige Polarland, da- her war sein Klima ein polares. Für die permo- karbonische Vereisung der Südhalbkugel ergibt sich ein Gleiches. Wenn nun auch diese Darlegungen zeigen, daß offenbar Wegeners Hypothese mehr ist, als eine bloße Arbeitshypothese, so wäre es doch im hohen Grade wünschenswert, daß es gelänge, nachzuweisen, daß solche Verschiebungen noch heute vorkommen, und daß ihre Beträge zahlen- mäßig angegeben werden könnten. Andeutungen dafür vermag Wegener ja schon zu geben. Die Färöer zeigen eine auffallende Drehung des nörd- lichen Teils gegen den Südlichen, die Längen- messungen zwischen Greenwich und Cambridge zeigen zunehmende Werte, aber ganz beweisende Zahlen fehlten noch. Das hat sich nun soeben geändert. Vor kurzem hat Wegener in den Astronomischen Nachrichten Nr. 4986 die neue Bearbeitung grönländischer Längenbestimmungen verwenden können, die sich in dem 6. Band der dänischen Grönlandexpedition finden. Hier hat Koch in einem längeren Kapitel die Drift Nord- grönlands in westlicher Richtung auf Grund der vorhandenen Längen- und Breitenbestimmungen behandelt. Sie zeigen zweifellos eine Bewegung Grönlands nach Westen. (Vgl. den Bericht in Heft 28, S. 395.) Riem. . Geologie. In einer Arbeit „Über prätria- dische Einebnung im Schwarzwald" (Jahresber. und Mitteil, des Oberrhein. Geolog. Ver., Bd. VIII, S. 119 — 127) trägt A. Strigel seine Ansichten über die Entstehung der Auflagerungsfläche des Buntsandsteins vor. Der Verfasser geht aus von der häufig er- örterten Frage, ob zur Zeit der Zechsteinbildung in Süddeutschland, besonders im Schwarzwald, eine Sedimentationspause bestand, ob also oberste Rotliegendschichten die jüngsten Vertreter des Perms und die Unterlage der Trias waren, oder ob in diesen Schichten etwa Äquivalente des norddeutschen Zechsteins zu erblicken sind. Die Antwort wird besonders dadurch erschwert, daß mancherorts , wie gerade im Schvvarzwald Rot- liegendes und Buntsandstein gleichförmig gelagert sind, also ineinander überzugehen scheinen, während an anderen Stellen, so im Wasgau, eine „unebene Abtragungsfläche" zwischen beiden Formationen vorhanden ist. Von vielen Seiten ist das Fehlen des Zechsteins in Süd westdeutschland durch spätere Abtragung erklärt worden, wobei die dabei ent- standene Abtragungsfläche auf weite Erstreckung hin den Schichten parallel verlaufen sein müßte, da ja eine Diskordanz gegen den überlagernden Buntsandstein vielerorts fehlt. In der Tat haben die geologischen Spezialauf- nahmen im Schwarzwald das Bestehen einer prätriadischen Abtragungsfläche zweifelsfrei er- geben. Diese Ebenheit, die sich als schwach ge- wellte „Fastebene" darstellt, begreift in sich so- wohl Gebiete mit älteren Stufen des Rotliegenden bis zum Oberrotliegenden herauf als auch weite Teile des kristallinen Grundgebirges. Wie ist diese Fläche entstanden? Zeitlich zweifellos zwischen Oberrotliegendem und dem untersten Gliede des Buntsandsteins. Eine Abrasion durch ein vorrückendes Oberrotliegend-Meer hält Verfasser für ausgeschlossen, da die Abrasions- produkte nicht abgerollt und ausgeschlemmt worden seien; zudem fehlten alle Anzeichen mariner Tierreste in den Ablagerungen des Ober- rotliegenden und diese selbst seien nur streifen- weise angeordnet in vergleichsweise geringer Ver- breitung, während im übrigen der Buntsandstein unmittelbar älteren Rotliegendschichten bzw. kristallinen Gesteinen aufruhe. Auch ein Zech- steinmeer könne die Ebenheit nicht geschaffen haben, denn wo der Zechstein in der Nachbar- schaft, wie im Odenwald und Spessart, transgre- diere, zeige sich keine irgendwie bedeutende Abrasion; auch zeige er von Hessen aus nach Süden eine fortgesetzt abnehmende Mächtigkeit, so daß im Schwarzwald keine grobklastische F~azies mehr zu erwarten sei. Es erhellt, daß diese letzte Annahme ein schwacher Punkt in der Beweisführung des Ver- fassers ist. Indes gilt doch auch hier wie für ein Rotliegend-Meer, daß „die als etwaige Ablagerungen eines Zechsteinmeeres in Frage kommenden Schichten des obersten Rotliegenden keineswegs den Charakter eines marinen Brandungskonglo- merates tragen". Ebenso bestreitet Verfasser, daß ein nach Süden vordringendes Buntsandsteinmeer die Eben- heit geschaffen habe, wie D e e c k e es annimmt. Er stützt sich besonders auf den Hinweis, daß der untere Buntsandstein durchaus nicht immer, wie sonst zu erwarten sei, an der Basis ein Grund- konglomerat habe, und wo er groben Schutt führe, sei es eckiges, nicht gerundetes Geröll. Zudem sei es fraglich, ob die Transgression des Bunt- N. F. XVm. Nr. 40 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 583 Sandsteins in Südwestdeutschland eine IVleeres- transgression gewesen sei. Somit kommt der Verfasser zu dem Schluß, daß die Ebenheit überhaupt keine marine Ent- stehung habe, daß sie eine Landoberfläche sei. An dem Gesteinsschutt, der sich zur Zeit der Bildung der Ebenheit entwickelte, erkennt man noch heute auf sekundärer Lagerstätte, daß der Zerfall vorwiegend physikalischer Natur war, wor- aus auf das Fehlen einer geschlossenen Pflanzen- decke geschlossen wird. Das Klima brachte wolkenbruchartige Niederschläge, die in breiter, flächenhafter Form sich über die Hänge ergossen und eine flächenhafte Abtragung und Aufschüttung mit unbedeutender Sonderung nach Korngröße ergaben. Nur selten bildeten sich Seen, in denen feiner Schlamm abgesetzt wurde, der unter Bildung von Wellenfurchen, Tongallen, Trockenrissen er- halten blieb. So entstand allmählich unter dem Einflüsse einer Trockenperiode etwa nach Art des Halbwüstenklimas im Sinne J. Walthers jene nur noch flach gewellte Landoberfläche, auf der sich mit geringer werdenden Höhenunterschieden immer feinere Sedimente nach oben bildeten. Die Dauer dieser Trockenperiode und mithin die Entstehungszeit der Landoberfläche wird in die Zeit Oberrotliegendes bis Ende des Perms verlegt, wobei sich der Verfasser keineswegs die Bedenken verhehlt, die einer solchen Annahme besonders für die Zeit des unteren Zechsteins entgegenstehen. Somit stellt sich die Auflagerungsfläche des Buntsandsteins dar als eine aus Abtragungs- und Aufschüttungsflächen zusammengesetzte Ebenheit, nicht als eine geschlossene Abrasionsfläche, sondern als Einebnungsfläche. Zum Schlüsse bringt der Verfasser die Ent- stehung des im obersten Rotliegenden häufigen Karneols und Dolomits in Beziehung zu dem an- genommenen Halbwüstenklima, ohne indes zu dieser Frage, die zweifelsohne noch einige Rätsel birgt, endgültig Stellung zu nehmen. W. Kegel. Astronomie. Das Zodiakallicht gehört zu den Erscheinungen, deren unwidersprochene Erklärung noch immer aussteht. Zwar hat die Erklärung von Seeliger durch das Ansehen, das ihr Autor genießt, ein gewisses Gewicht zu beanspruchen , wonach es sich um einen Ring kosmischen Staubes um die Sonne handelt, eine Wolke, die nach innen und außen durch zwei EUipsoide von den großen Halbaxen 1,20 und 0,24, die der Erdbahn = i, gesetzt, begrenzt wird. Die Masse dieser Wolke soll etwa gleich der des Merkur sein, also sehr unbedeutend und sich in der Bewegung des Merkursperihels äußern. Es scheint aber, daß die Erklärung durch andere zu ersetzen ist. Schon Schmidt hat auf Grund langjähriger Beobach- tungen in der reinen Bergluft der Schweiz ge- funden, daß dieser leichte Lichtschein seine Ent- stehung der Reflexion des Sonnenlichtes an den höchsten stauberfüllten Schichten der Atmosphäre verdanke, daß es sich also um ein irdisches Phä- nomen handele. Und neuerdings tritt Filehne mit dem Anspruch auf, die endgültige Aufklärung geben zu können [Leipzig 1916, bei E.H.Mayer; das Zodiakallicht und unser Sehorgan]. Indem er Beobachtungen am Äquator, in mittleren Breiten und in den Polargegenden miteinander vergleicht, kommt er zu bestimmten Angaben über die Entfernung der leuchtenden Teilchen, und er bestimmt das Licht gebende Medium als einen Ring um die Erde, mit ovalem Querschnitt, dessen innerer Rand etwa i '/a Erdradien von der Erdoberfläche entfernt ist, während die Breite des Ringes etwas mehr als ein halber Erdradius sein dürfte. Die Materie darin muß sehr dünn verteilt sein, da man durch den Schimmer hin- durch die Sterne sehen kann, auch haben sich keinerlei Gravitationswirkungen herausgestellt, die auf diesen Ring um die Erde zurückzuführen wären. Filehne spricht deshalb auch immer von einem satellitischen Gasring, der nicht in reflektiertem, sondern in zerstreutem Sonnenlicht leuchtet. Wie groß seine Dichte sein kann, läßt sich nicht angeben, da eine Refraktionswirkung nicht festgestellt werden kann. Riem. Zoologie. Die früheren Anschauungen über die Herkunft der Heringsschwärme , die in den europäischen Meeren gefangen werden, gingen dahin, daß man annahm, sie stammten aus den nordischen und den Polarmeeren. Seit den be- kannten Forschungen Heinckes über die Rassen und Lokalformen des Herings jedoch sind diese An- schauungen als falsch erkannt worden. Nachdem dieser gezeigt hatte, wie man die einzelnen Herings- formen unterscheiden kann, konnte er daraufhin nachweisen, daß man im allgemeinen zwei Gruppen voneinander trennen kann, die Frühlingslaicher und die Herbstlaicher. Weiterhin kann man Küstenheringe und Seeheringe unterscheiden, welche beiden Gruppen mit den beiden ersteren in gewissem Grade zusammenfallen. Jedoch finden sich in bestimmten Gebieten sowohl Frühjahrs- laicher wie Herbstlaicher, die sich aber auch dann morphologisch voneinander unterscheiden lassen. Über die Herkunft des für uns so wichtigen Eibherings teilt Ehrenbaum einiges mit (Der Fischerbote XI. Jg. Nr. 7). Im Vergleich mit der schottischen und der norwegischen Heringsfischerei, der Bohuslanfischerei und der englischen bei Lo- westoft und Yarmouth ist die deutsche Herings- fischerei sowohl in der Nordsee und der Elbe als auch in der Ostsee sehr unbedeutend. Dies be- zieht sich nicht allein auf die Ausbeute an Menge, sondern auch die Qualität ist eine geringere in- folge der Kleinheit und des geringeren Fettge- haltes. Ausgewachsene Heringe werden in der Eibmündung überhaupt nicht gefangen. Aber auch in der ganzen Deutschen Bucht hat man trotz eifriger Durchforschung keinen erwachsenen Hering finden können, wenn man von einer etwas zweifelhaften 100 Jahre alten Nachricht absieht. 584 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 40 Da es sich gezeigt hat, daß der an der Westküste Norwegens gefangene kleinere Smaasil das Jugend- stadium des Vaarsills oder Frühjahrsherings ist, und beide Altersstadien in großer Entfernung von- einander gefangen werden, so kann man daraus schließen, daß möglicherweise auch die ausge- wachsene Form des Eibherings sich ziemlich weit von dessen Fangplätzen befindet. Hydrographische Zusammenhänge zwischen der Deutschen Bucht und dem Kanal und der südwestlichen Nordsee lassen es nach Ehren- baum wahrscheinlich erscheinen, daß die im Kanal und der flämischen Bucht geborenen Heringe sich nach Osten ausbreiten und so als ein- und zweijährige Heringe in Schwärmen in den Fluß- mündungen einfinden. Der Eibhering wäre daher in enger Beziehung zu dem Lowestoft- und dem Yarmouthhering zu bringen. Dieser gehört zu den Herbstlaichern. Da sich eine gewaltige Steigerung der Lowestoft- und Yarmouthfischerei im Jahre 191 3 gezeigt hat, so ist es möglich, daß daraufhin auch vermehrte Schwärme des Eib- herings auftreten, wenn diese Verhältnisse dort- selbst länger angehalten haben sollten, was sich zurzeit noch nicht feststellen läßt. Willer. Durch die Methode der künstlichen Befruch- tung ist es leicht, bei Fischen Bastardierungs- versuche zu unternehmen. Besonders bei den Salmoniden, wo die Technik der künstlichen Be- fruchtung besonders gut ausgebildet ist, hat man derartige Versuche vorgenommen. Über solche Bastardierungsversuche bei Salmoniden berichtet Ärens (Ällg. Fisch.-Ztg. 1919, Nr. 13). Eine Befruchtung der Eier fand auch bei weniger nahe verwandten Salmoniden statt , z. B. Asche (Thymallus thymallus L.) mit Bachforelle (Trutta fario L.). Bei diesen sich im System weniger nahestehenden Arten fand aber die Entwicklung der Eier bald ihren Abschluß und diese starben ab. Zu einer Entwicklung lebensfähiger Fische kam es nicht. A r e n s spricht von Mißbildungen, die hierbei häufig aufgetreten wären. Je näher die Salmoniden sich standen, um so weiter konnten die Eier in der Entwicklung gebracht werden. Saiblinge (Salmo salvelinus L.) mit der Bachforelle gekreuzt ergaben bereits lebensfähige Fische in gewisser Anzahl. Beim Lachs (Salmo salar L.) mit Forelle oder bei den Forellenarten unterein- ander [Bachforelle >^ Seeforelle (Trutta lacustris L.) bzw. >x Meerforelle (Trutta trutta)] ergaben sich noch bessere Resultate (Bach- , See- und Meerforelle sieht man neuerdings nicht mehr als sichere Arten an. Ref). Bei der Bastardierung von Saibling mit Bachforelle kam es nicht zur Geschlechtsreife. Bei den Bastarden Lachs X Forelle kam es zur Reife der Geschlechtsprodukte, jedoch konnten diese bei gegenseitiger Befruchtung der Bastarde oder bei Befruchtung mit einem Teil der Eltern nicht bis zur vollen Entwicklung von Fischen gebracht werden. Bach- X! See, bzw. X Meerforelle ergaben unbegrenzt fruchtbare Kreu- zungsfische. Diese Ergebnisse stimmten also mit den An- schauungen über die Verwandtschaft unserer Sal- moniden auf anatomischer Grundlage überein. Anders verhielt es sich mit den Salmoniden aus Nordamerika. Die Regenbogenforelle (Trutta iridea W. Gibb.), die in den 80 er Jahren bei uns eingeführt wurde, gehört systematisch auf Grund ihrer anatomischen Merkmale zu den Forellen. Diese zeichnen sich durch doppelreihig bezahnten Vomerstiel vor den Lachsen, die nur eine Zahn- reihe besitzen, und den Saiblingen, die einen ver- kürzten Stiel des Pflugscharbeines und darauf keine Zahnreihe haben, aus. Die Bastardierungs- versuche zwischen Regenbogenforelle und Bach- forelle führten nun aber zu dem Resultat, daß die befruchteten Eier bald abstarben. Dies würde gegen eine so nahe Verwandtschaft sprechen. Dahingegen fielen die Versuche mit dem ameri- kanischen Bachsaibling (Salmo fontinalis Mitsch.) wesentlich günstiger aus, diese ergaben (Bach- forelle / amer. Bachsaibling) einige lebensfähige Fische, trotzdem der Bachsaibling anatomisch der Bachforelle weit weniger nahesteht als die Regen- bogenforelle. Ja in der freien Natur bildeten sich solche Bastarde sogar selbst. Hier stehen sich also die Meinungen der Ana- tomen mit denen der experimentell arbeitenden Forscher gegenüber. A r e n s sieht eine Lösung dieser Frage in den Ergebnissen der serologischen Untersuchungen, die mit Salmoniden angestellt worden sind. Diese sollen ergeben haben , daß die Regenbogenforelle weniger „blutsverwandt" mit der Bachforelle ist als der Bachsaibling. Mir scheint, daß diese Frage noch zu wenig geklärt ist, als daß man daraus so weitgehende Schlüsse ziehen könnte, wie es der Verf. tut. Er kommt nämlich schließlich zu der Frage: „Sollte bei den neuweltlichen Salmoniden die Ursache dieser auf- fälligen Abweichung nicht in einer abweichenden Stammesentwicklung liegen, die zwar zu anato- misch ähnlichen Formen geführt hat, aber doch aus einer ganz anderen Stammesgrundlage?" Willer. Illhalt: E. Krenkel, Die Bodenschätze des tropischen Afrika. S. 569. von Bilguer, Ein deutscher Erfinder vor zwei- einhalb Jahrhunderten. S. 575. — Einzelberichte: Zsigmondy, Über Membranfilter. S. 577. H. Leitmeier, Über das Verhalten einiger Alkalialumosilikate bei hohen Temperaturen. S. 579. Das Gas als Kampfmittel. S. 579. Alfred Wegener, Die Entstehung der Kontinente und Ozeane. S. 5S0. A. Strigel, Über prätriadische Einebnung im Schwarzwald. S. 582. Kilehne, Das Zodiakallicht. S. 583. Ehrenbaum, Herkunft der Heringsschwärme. S. 583. Arens, Bastardierungsversuche bei Salmoniden. S. 584. Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Mi ehe, Berlin N 4, Invalidenstraße 41, erbeten. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue Folge i8. Band; der ganzen Reihe 34, Band. Sonntag, den 12. Oktober 1919. Nummer 41. Die Formen des Laubblattes, ihre Entstehung und Umbildung. [Nachdruck verboten.] Von Dr. O. Schüepp-Basel. Mit 3 Abbildungen. I. In einer unendlichen Mannigfaltigkeit von Formen tritt uns das Blatt der Pflanze entgegen. In diese Formenfülle Ordnung zu bringen — nein, die Ordnung, welche von Natur aus herrscht, auf- zudecken, sie in Wort und Bild darzustellen, das soll die Aufgabe dieser Zeilen sein. Wir werden dazu verschiedene Wege ein- schlagen; ein erster besteht in der Untersuchung der Entstehung einer bestimmten Blattform, z. B. des Blattes unseres Bergahorn (Acer Pseudoplata- nus); wir werden also zuerst Entwicklungs- geschichte treiben. Nachdem im Frühling die Winterknospen aufge- brochen sind und die ersten Blätter sich entfaltet haben, wächst die Spitze kräftiger Ahornzweige noch einige Zeit weiter. Sie trägt jetzt eine lockere Knospe aus der nacheinander neue Blattpaare hervortreten, heranwachsen und sich entfalten. Auch die jüngsten von bloßem Auge oder mit der Lupe erkennbaren Blätter zeigen schon die dünne, zusammengefaltete Spreite mit den 5 Haupt- lappen und den kleineren Randzähnen ; durch die Blattfläche laufen schon die dicken Hauptnerven und die dünneren Seitennerven; auch ein kurzer Blattstiel ist bereits vorhanden. Die Entstehung des Blattes und seiner Gliede- rung zu verfolgen, dies gelingt nur mit Hilfe des Mikroskopes. Den ersten Bericht darüber lieferte Kaspar Friedrich Wolff im Jahre 1759 in seiner „Theoria generationis" (Zeugungslehre). Er erzählt, daß er mit der Untersuchung vordrang in das Innere der Knospe, bis zur „extremitas axeos trunci" (dem Ende des Stengels), wo die Blätter als„propulsiones trunci" (als Ausstülpungen) entstehen. Dieses Stengelende, von dem die ganze Formbildung der Pflanzen ausgeht, nannte er den „Vegetationspunkt". Um den Vegetationspunkt des Ahorns sichtbar zu machen, fertigen wir mit dem Rasiermesser genaue Längsschnitte an, machen sie mit Kali- lauge durchsichtig und betrachten sie bei sofacher Vergrößerung. Wir erhalten das Bild von Abb. i a, das ein Stück von der Länge eines Millimeters darstellt. Das Bild ist dem Auge, daß bloß an erwachsene Pflanzenteile gewöhnt ist, fremdartig, läßt sich aber doch leicht deuten auf Grund seines streng: symmetrischen Aufbaues. Ich erinnere dazu an die Blattstellung des Ahorn; je zwei Blätter sind gegenständig und die aufeinanderfolgenden Blatt- paare sind miteinander gekreuzt. Links und rechts ist das Bild begrenzt durch zwei Blattstiele (bezeichnet durch die Zahl 5). In den Winkeln zwischen diesen und dem Stengel sitzen zwei junge Seitensprosse (A); im dicken Stengel ist schon eine innere Partie als Mark (M) abgegrenzt. Links und rechts vom Stengelende stehen die Stiele des drittjüngsten Blattpaares (in der Abb. bezeichnet durch die Zahl 3); sie laufen aus in die zugespitzte Blattmittelrippe, welche auf ihrer Innenseite die gefaltete und mit Randzähnen versehene Spreite zeigt. Ein Blatt des zweitjüngsten Paares wird hinter der Stengel- spitze sichtbar. Die Zahl 2 der Abb. bezeichnet den Hauptlappen der Spreite. Das jüngste Blattpaar, bezeichnet mit i, stellt zwei ungegliederte Höcker dar, welche zwischen sich den schwach gewölbten Vegetationspuiikt einschließen. Die Abb. i b zeigt den Vegetationspunkt um- geben vom jüngsten und zweitjüngsten Blattpaar von oben gesehen. Wir erkennen an den größeren Blättern (2) die sichelförmige Gestalt der Ansatz- fläche, aus der sich die 5 Hauptlappen der Spreite in der Mitte emporheben. Das jüngste Blattpaar (i) steht gekreuzt zum vorhergehenden und weist erst ungeteilte Blattspitzen auf Nachdem wir so die Bedeutung der einzelnen Teile unserer Figur festgelegt haben, müssen wir noch bedenken, daß das ganze Gebilde in allen seinen Teilen im Wachstum begriffen ist. Blatt I erhält dabei nacheinander Größe und Form von Blatt 2, 3, 4, 5 usw.; und unterdessen entstehen aus dem wachsenden Vegetationspunkt heraus immer neue Blätter; das Gesamtbild aber bleibt, abgesehen von geringen periodischen Schwan- kungen dasselbe. Wir wenden uns nun dem einzelnen Blatte zu, das wir von seiner Innenseite, der späteren Blatt- oberseite betrachten (Abb. i c, d, e, f und i o). Aus breitem Grunde erhebt sich eine gerundete Blattspitze. Im Wachsen gliedert diese zwei seit- liche Höcker ab. Während sich alle drei zu finger- förmigen Zapfen verlängern, treten an der Außen- seite noch zwei Höcker hinzu. Damit ist die Gliederung der Spreite in 5 Hauptteile, die von der Mitte nach den Seiten an Stärke abnehmen, gegeben; es fehlen noch die feineren Zähne des Blattrandes ; es fehlt aber vor allem die Blattfläche mit ihrem Nervennetz. Abb. I f zeigt die ersten Blattzähne als Vor- wölbungen im unteren Teil der zapfenförmigen Blattglieder; in ihr ist auch die Anlage der Blatt- fläche angedeutet, die als Längsleiste zu beiden 586 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 41 Seiten jedes Zapfens hervortritt und auch die Winkel zwischen den Zapfen umsäumt. Wie aus einer solchen niedrigen Leiste die große weitaus- gebreitete Blattfläche entsteht, das zeigen Quer- schnitte durch das mittlere Spreitenglied. (Abb. ig, h, i, k; g — i stark, k schwächer vergrößert.) Das jüngste Stadium zeigt einen dreieckigen Querschnitt, im Innern durch einen Kreis abge- grenzt die Anlage des Leitbündels. Aus den beiden Ecken wächst ein Flügel heraus, der im Verlaufe der Zeit mächtig an Fläche aber fast gar nicht an Dicke zunimmt, und der sich vielfach faltet. Im Gegensatz dazu zeigt der Rest des Querschnittes mit der Leitbündelanlage ein aus- geprägtes Dickenwachstum und tritt als kreis- förmige Anschwellung immer schärfer aus der Blattfläche heraus. Mit dieser Teilung in zwei Stücke von ganz verschiedener Wachstumsweise — Anlage der Blattfläche und Anlage der Mittel- rippe — ist aber die Gliederung des Spreiten- querschnittes nicht beendet. Im Gewebe der Fläche bilden sich neue Rippenanlagen heraus; jede ist in den Abbildungen wieder durch einen kleinen Kreis, die Anlage des Leitbündels kennt- lich gemacht. Wir erkennen noch, daß bei jeder Rippenanlage die Blattfläche nach -oben zusammen- gefaltet ist, während die rippenlosen Stücke sich umgekehrt nach unten krümmen. Die P'altung der Spreite ist also nicht nur Folge des Raum- mangels in der Knospe, sie steht in gesetzmäßiger Beziehung zu ihrem inneren Bau. Die Vermehrung der Nervenanlagen dauert lange Zeit fort. Die größte Mächtigkeit erreichen die 5 Hauptnerven, die schon beim ersten Aus- wachsen der Blattfläche hervortreten. Je später ein Nerv angelegt wird, desto geringere Mächtig- keit erreicht er im ausgewachsenen Blatt. Die zuletzt angelegten Nerven bleiben in der Blatt- fläche verborgen und bilden schließlich das feine Netzwerk, das in der Abb. 1 p für einen Rand- zahn des Blattes stark vergrößert dargestellt ist. Unterdessen ist die Blattspreite aus der Knospe hervorgetreten; sie entfaltet sich und breitet sich unter fortdauerndem Flächenwachstum in eine Ebene aus. Erst jetzt wird auch die anatomische Struktur fertig gestellt, die Ausbildung der Pali- sadenzellen, der Spaltöffnungen ; das Blatt nimmt seine Tätigkeit im Dienste der Pflanze auf, nach- dem es bis jetzt bloß auf Kosten der zugeleiteten Nahrung gewachsen ist. Die Tätigkeit des ausgewachsenen Laubblattes ist aber einer der wichtigsten Naturvorgänge; hier wird aus Wasser, daß dem Boden entstammt, aus Kohlensäure, die gasförmig aus der Luft aufge- nommen wird und ans der Strahlungsenergie des Sonnenlichtes mit Hilfe des Blattgrüns Zucker und Stärke gebildet; hier ist das chemische Labo- ratorium, wo aus anorganischer Substanz organische Substanz gebildet wird, die Substanz aus der in letzter Linie alle Pflanzen und alle Tiere leben müssen. Darum betrachten wir auch das grüne assi- milierende Laubblatt als die Grundform des Blattes, und leiten von dieser die anderen Zwecken dienenden Knospenschuppen, sowie die Träger der Fortpflanzungsorgane, Staubgefäße und Stempel und die Blütenhüllblätter ab als Umbildungen oder „Metamorphosen". Mit vollem Recht können wir sicher viele Knospenschuppen als Umbildungen junger Laub- blattanlagen ansprechen. Betrachten wir zunächst eine der äußeren Schuppen, welche die ruhende Winterknospe des Ahorns bedecken (Abb. i n). Die dreieckige verholzte Schuppe trägt eine ge- bräunte, abgestorbene Spitze. Durch Auskochen in Glyzerin wird diese durchsichtig und zeigt unter dem Mikroskop genau das Bild einer jungen Spreitenanlage (Abb. i f). Die Schuppe entsteht also aus einer gewöhnlichen Laubblattanlage durch Verkümmern und Absterben der Spreite in früher Jugend und durch alleinige Ausbildung des Blattgrundes. Abb. I. Anders verhält es sich mit den inneren Knospen- scliuppen, welche im Frühling zu bleichen linealen hinfälligen Blättchen auswachsen, und die oft an der Spitze ein winzige 3 lappige grüne Spreite tragen (Abb. 1 1). Hier liegt nicht mehr eine ein- fache Verkü mm erungsondern eine tiefgreifende Umbildung des ganzen Entwicklungsganges vor. Vorwiegend besteht diese in einer Abkürzung der Entwicklung. Die Periode der Gliederung der Spreitenanlage schließt schon ab mit der drei- gliedrigen Spreite von Abb. id; die Periode des Flächenwachstums der Spreite schließt ab mit dem Stadium der Abb. ih; die Bildung eines verdickten Blattstieles unterbleibt. Dafür dauert N. F. XVm. Nr. 41 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. S87 das Wachstum des Blattgrundes längere Zeit fort, so daß an Stelle der kurzen Scheide des Laub- blattes eine langgestreckte Schuppe tritt. Abb. I m zeigt eine der ziemlich seltenen Übergangsformen von der inneren Knospenschuppe zum Laubblatt; hier schloß die erste Periode der Gliederung der Spreite mit dem Stadium der Abb.^ I e ab, die zweite Periode des Flächen- wachstums mit dem Stadium der Abb. i i. Die Blattbasis bildet einen Übergang von der flachen Schuppe zum runden Stiel. Am Blatt des Ahorns können wir auch leicht eine wichtige Feststellung machen in bezug auf die Ursachen der Blattform • — oder bescheidener und richtiger gesagt, in bezug auf die Bedingungen, welche die geschilderten Veränderungen im Ent- wicklungsgang beherrschen. G o e b e 1 hat als erster ein einfaches Experiment durchgeführt, das jedermann im Frühling an lebhaft wachsenden Trieben leicht wiederholen kann. Die Seitentriebe entstehen sehr frühzeitig, nahe der Spitze des Haupttriebes in den Blattachseln (Abb. I a bei A). Doch ist es bei unseren Bäumen Regel, daß sie im Wachstum hinter dem Haupt- trieb zurückbleiben, zuerst eine Anzahl von Knospen- schuppen bilden und erst im folgenden Frühjahr, ein volles Jahr später als der Haupttrieb, ihre Laubblätter entfalten. Entfernt man aber früh- zeitig die Spitze des Haupttriebes, so wachsen die obersten Achselsprosse in wenigen Wochen zu Laubtrieben aus. Dabei entstehen aus den gleichen Blattanlagen, die nach ihrer Stellung schon zu Knospenschuppen bestimmt waren, voll aus- gebildete Laubblätter oder doch Zwischenformen zwischen Schuppen und Laubblättern. So ergibt sich der wichtige Schluß, daß neben der unveränderlichen Erbanlage auch die veränderlichen Ernährungsbedingungen innerhalb der Pflanze den Verlauf der Entwicklung und damit die Blattform bestimmen. IL Die Entwicklung des Laubblattes, wie sie für den Bergahorn geschildert wurde, läßt sich nur mit Hilfe des iVlikroskopes verfolgen. Es gibt aber auch eine andere Art von Entwicklung, die jeder Naturfreund ohne alle technischen Hilfsmittel verfolgen kann. Es sind dies die Erscheinungen, die seinerzeit Goethe in seiner kleinen Schrift über die „Metamorphose der Pflanzen" geschil- dert hat. Auch hier halten wir uns an ein einzelnes Beispiel, die breitblättrige Platterbse, Lathyrus latifolius. Die Pflanze überwintert mit einem unterirdischen Wurzelstock. Wenn im Frühjahr die jungen Sprosse aus dem Boden hervortreten, so ist die kleine Spitzenknospe von einfachen schuppenförmigen Blättchen umhüllt; allmählich aber schwillt die Knospe an, und läßt immer größere und reicher gegliederte Blätter aus ihrem Innern hervortreten. Abb. 2 a — h zeigt eine solche Reihe aufeinanderfolgender Formen. Durch eine fortschreitende Umbildung, durch eine „Metamorphose" entsteht aus dem schuppen- förmigen Jugendblatt das reich gegliederte Folge- blatt. An der Spitze des Blattes erscheint eine Ein- kerbung, aus der wiederum ein kleines Spitzchen hervorragt. Die seitlichen Spitzen stellen, wie ein Blick auf die ganze P'ormenreihe lehrt, den ersten Anfang der Nebenblätter dar, die am Folgeblatt zu beiden Seiten des Blattstieles stehen. Während die Nebenblätter sich deutlicher ab- gliedern, wird der Mittellappen aufs neue 3spitzig (Abb. 2 b, c). Die beiden seitlichen Spitzen geben sich bald als Fiederblättchen zu erkennen, die mit einem Gelenk dem breiten geflügelten Blattstiel aufsitzen (Abb. 2d, e). Der kleine mittlere Stachel wird zur langen fadenförmigen Ranke, die sich dank ihrer Reizbarkeit um Stützen herumschlingen kann (Abb. 2 e, f). Schließ- lich erscheinen an der Ranke erst zwei, dann vier und zuletzt sechs Seitenzweige (Abb. 2 g, h). Damit ist der Höhepunkt in der Blaltbildung er- reicht; gleichzeitig schreitet die Pflanze zur Bildung der Blütentrauben, die als Achselsprosse der Folge- blätter auftreten. Wir finden also ein stufenweises Fortschreiten in der Gliederung des Blattes. Nacheinander er- halten die Nebenblätter, der Blattstiel und die Fiederblättchen, die Ranke und zuletzt die Ranken- zweige ihre volle Ausbildung. Zuerst wird die Blattbasis ausgestaltet; die Metamorphose besteht in einer immer reicheren Gliederung der Blatt- spitze. Doch wir müssen uns sorgfältig überlegen, was der zuletzt ausgesprochene Satz eigentlich be- S88 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVm. Nr. 41 deutet. Es handeh sich sicher nicht um dieselbe Erscheinung wie bei der Metamorphose eines Insektes, wo das gleiche Individuum zuerst Raupe, nachher Puppe und zuletzt Schmetterling ist. Es verwandelt sich nicht ein fertiges, ausgewachsenes Jugendblatt nachträglich in ein Eolgeblatt; jedes Blatt ist das Ende eines Entwicklungsvorganges, der am Vegetationspunkt eingesetzt hat. „Metamor- phose des Blattes" bedeutet also keine wirkliche Umbildung einer Blattform in eine andere; und wenn wir ohne weitere Überlegung von der Metamorphose der Blätter reden , so sind wir in Gefahr uns in unklare und falsche Vorstellungen zu verlieren, den Boden der Wirklichkeit zu ver- lassen, um ins Reich der Ideen und Träume uns zu begeben. Dieser Vorwurf ist auch Goethe (aber mit Unrecht. Red.) und der ganzen Richtung der „idealistischen Morphologie" gemacht worden. Aber dennoch — zwischen den verschiedenen Formen, welche die nacheinander erscheinenden Blätter uns zeigen, besteht ein ganz bestimmter Zusammenhang. Wir fühlen auch, daß dieser Zu- sammenhang von größter Bedeutung für die Er- kenntnis des Lebens sei. Pflicht der Wissenschaft ist es in einem solchen Fall, über die Kritik einer unscharfen Auffassung hinaus vorzudringen, das, was unklar geahnt wird, einem wirklichen Ver- ständnis zuzuführen. Die Abb. 2 zeigt nebeneinander zwei Formen- reihen, die mit der gleichen Endform abschließen, a — h sind die Schritte der „Metamorphose" vom Jugendblatt zum Folgeblatt; p — h sind die Ent- wicklungsstadien des Folgeblattes von seiner Ent- stehung am Vegetationspunkt ab bis zum ausge- wachsenen Zustand. Die Blattanlage im jüngsten Zustand ist ein Wall, der halbkreisförmig den Vegetationspunkt umschließt. An ihm treten zuerst die beiden Nebenblätter hervor und wachsen früh zu flachen Blättchen aus (Abb. 2 p, o, n). Sie umhüllen in der Knospe die übrigen Teile, bleiben aber schließ- lich hinter denselben zurück; dem frühen Beginn der Entwicklung folgt ein früher Abschluß der- selben. Nach den Nebenblättern treten die Fieder- blätter als zwei kräftige Höcker zu beiden Seiten der Blaltspitze hervor; sie verlängern sich zu Zapfen an denen in Form von zwei Längsleisten die Blattfläche auswächst (Abb. 2 o, n, m, 1). Die Fläche rollt sich beim Wachsen gegen die Mittel- linie hin ein und entfaltet sich erst beim Ab- schluß des Wachstums. Erst nach dem Mervor- treten der Fiederblätter gliedert die Blattspitze die Rankenzweige aus, die sehr stark in die Länge wachsen (Abb. 2 m, 1). Metamorphosenreihe und Reihe der Entwick- lungsstadien sind einander ähnlich. In beiden Fällen erscheinen die Blattglieder in der gleichen Reihenfolge, zuerst die Nebenblätter, dann die P'iederblätter, dann die Teile der Ranke. Auf Grund dieser Übereinstimmung finden wir auch eine genauere Ansicht vom Wesen der „Metamor- phose". Die Form des ausgewachsenen Folgeblattes stellt einen ersten Höhepunkt in der Entwicklung der ganzen Pflanze dar. Aber dieser Höhepunkt wird nicht in einem Zuge erreicht und nicht auf dem Wege der Metamorphosenreihe a — h unserer Abbildung; es braucht manchen Anlauf dazu. Der erste Anlauf beginnt mit einer Anlage, die als halbkreisförmiger Wall aus dem Vege- tationspunkt hervortritt; er endet weit vor dem Ziel mit dem Jugendblatt a. Jeder folgende An- lauf beginnt wiederum unten, mit der wall- förmigen Blattanlage und führt in ähnlicher Richtung ein Stück weiter; schließlich wird in einem letzten Anlauf von unten her das Ziel erreicht. Die „Metamorphosenreihe" ist die nicht reale sondern ideelle, gedachte Verbindung der Formen, mit welchen die aufeinanderfolgenden, ähnlichen Entwicklungsanläufe ihr Ende fanden. Die Metamorphose des Jugendblattes in das Folgeblatt beruht auf einer fortschreitenden Ver- längerung und Bereicherung der Blatt- entwicklung. Die ersten Anlagen haben alle die gleiche P'orm, sind aber allerdings für die Folgeblätter größer und kräftiger als für die Jugend- blätter. Für jede Blattanlage folgt auf eine Periode der Gliederung eine solche des Flächenwachstums und schließlich diejenige der Entfaltung; aber von Blatt zu Blatt werden diese Perioden verlängert. Im Jugendblatt schließt die Periode der Gliederung schon mit der Anlage der Nebenblätter ab, in mittleren Formen erst mit der Anlage der Fieder- blätter, im Folgeblatt erst mit der Anlage der Rankenzweige. Soweit gelangen wir mit der bloßen B e - Schreibung der Metamorphose. Für ein tieferes Verständnis derselben ist es vor allem nötig zu beachten, welche Rolle sie im ganzen Leben der Pflanze spielt. Zunächst ist sie eine sehr allge- meine Erscheinung, die sich an den verschiedensten Keimpflanzen oder aus Wurzelstöcken hervor- brechenden jungen Sprossen immer wieder leicht beobachten läßt. Sie ist das sichtbare Kennzeichen für den Übergang von der Jugend form der Pflanze, welche von den Reservestofien des Samens oder des Wurzelstockes lebt, zur Folgeform, welche durch die Tätigkeit der Laubblätter aus Wasser und Kohlensäure neue organische Sub- stanz aufbaut. Mit dem Übergang zur Blüh- reife tritt eine rückschreitende Metamorphose des Laubblattes ein, eine Vereinfachung zum Hoch- blatt und zum Kelchblatt; sie bezeichnet den Übergang von der Bildung der organischen Stoffe zu ihrem Verbrauch beim Aufbau der Fort- pflanzungsorgane und zur Speicherung in den Samen. Die Metamorphose der Formen steht also gewiß im Zusammenhang mit den wichtigsten inneren Zustandsänderungen im Lebens- N. F. XVm. Nr. 41 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 589 lauf der Pflanze. Es ist auch eine alte Erfahrung und die Experimente von Klebs haben diese vielfach bestätigt und erweitert, daß diese Ände- rungen durch die Einwirkungen der Außenwelt, namentlich durch die Ernährung tiefgreifend be- einflußt werden. Andererseits weist die Ähnlich- keit im Entwicklungsgang der verschiedenen Blätter auf eine konstante Kraft hin, die unter wechselnden Umständen doch ähnliche Resultate erzielt; hinter dieser Konstanten müssen wir die Erbanlage vermuten. Die Blattentwicklung und als Resultat der- selben die Blattform sind bedingt durch zweier- lei Faktoren, durch die Erbanlage, die für die aufeinanderfolgenden Blätter dieselbe ist und die der Entwicklung eine bestimmte Richtung gibt, ferner durch die wechselnden inneren Zustände, die gesamte Ernährungslage der Knospen, welche über die Dauer der einzelnen Entwicklungsperioden und damit über die ärmere oder reichere Aus- stattung des Blattes entscheiden. Die Erbanlage erscheint uns also nicht mehr als ein fertig vorgeschriebener Bauplan, den die Pflanze durch ihre Wachstumsfähigkeit verwirk- lichen muß, sondern als eine gerichtete Kraft, fast möchten wir in Anlehnung an die alten idealistischen Morphologen sagen als ein Willen, dessen Erfolg vom Kampfe mit den Einwirkungen der Außenwelt abhängt. III. Bis jetzt haben wir bloß die Blätter mitein- ander verglichen, die an einer und derselben Pflanze nacheinander gebildet werden. Wir finden aber enge Formverwandtschaft auch zwischen den Blättern verschiedener Pflanzenarten ; diese wollen wir betrachten an Hand der Abb. 3. Aus der großen Mannigfaltigkeit der Blatt- formen treten drei Grundformen besonders deutlich hervor. Es sind das gefiederte Blatt des Vogelbeerbaums (Sorbus Äncuparia) Abb. 3b; das strahlige oder fingerförmige Blatt der Roßkastanie (Aesculus Hippocastanum) Abb. 3 m und das einfache streifennervige Blatt des Germers (Veratrum album) Abb. 3 g. Beim gefiederten Blatt stehen an einer Haupt- achse schwächere Seitenachsen, alle Seiten- achsen liegen in einer Ebene und entspringen meist links und rechts der Hauptachse in gleicher Höhe. Nicht alle Seitenzweige sind unter sich gleichlang, ihre Stärke folgt in jedem Blatt einer bestimmten Regel. Häufig nimmt sie von unten gegen die Mitte zu und sinkt wieder gegen die Blattspitze; die Hauptachse schließt meistens mit einem Endblättchen ab, das den stärkeren Seiten- blättchen gleicht. Beim strahligen Typus gehen von einem Punkte aus mehrere gleich wertige Zweige; meistens ist unter diesen der mittlere, welcher die gerade Verlängerung des Blattstieles darstellt, der stärkste. Beim ungeteilten streifennervigen Blatt laufen vom Blattstiel oder der Blattscheide aus zahlreiche gleichwertige Nerven in die Blattfläche hinein; aber sie gehen nicht strahlig auseinander, sondern sie laufen parallel zueinander und vereinigen sich wieder in der Blattspitze. An diese drei Grundformen, das gefiederte, das strahlige und das streifennervige Blatt können wir die Gesamtheit der Blattformen anschließen. Durch eine Reihe kleiner Abänderungen, allmäh- licher „Metamorphosen" gelangen wir nicht nur zu allen anderen Formen; wir können auch die drei Grundformen unter sich durch Übergänge verbinden. Um dies im einzelnen nachzuweisen, gehen wir wieder aus vom gefiederten Blatt des Vogel- beerbaums. Der gefiederte Typus ändert ab in bezug auf die Länge der unteren, mittleren und oberen Seitenzweige. Bei der Wiesenraute (Tha- lictrum minus) ist das erste Fiederpaar weitaus das stärkste, es ist fast so stark wie der Rest der Hauptachse (Abb. 3 a). Die übrigen Fiedern folgen sich mit immer kleineren Abständen, wer- den kleiner, kürzer gestielt und weniger gegliedert; die letzten sind ungegliedert, bestehen nur noch aus einersitzenden, gezähnten kleinen Blattfläche; die Hauptachse endet schließlich ebenfalls mit einem solchen Blättchen. Wir haben bereits einen Übergang zum strah- ligen Typus vor uns; das Blatt ist „mehrfach dreizählig". An jedem Verzweigungspunkt gliedert es sich in drei fast gleiche Teile, ein stärkeres Mittelstück und zwei etwas schwächere Seitenteile; an jedem dieser Glieder wiederholt sich derselbe Vorgang ein erstes und zweites mal bis alle Strahlen mit kleinen gezähmten Blattflächen ab- schließen. In anderer Art bildet auch das Blatt des Eisen- hut (Aconitum Napellus) Abb. 3 h einen Übergang vom gefiederten zum strahligen Typus. Zunächst trägt die Hauptachse drei Paare von Fiederästen; die beiden ersten sind kräftiger, die übrigen etwas schwächer als der Rest der Hauptachse. Anders als bei der Wiesenraute tragen hier die starken ersten Seitenachsen ihre Zweige nicht mehr paar- weis (gegenständig) sondern einzeln (wechsel- ständig); dabei zeigt sich außerdem eine für die Darstellung der Blattformen wichtige Regel. Jeder Seitenzweig bildet mit seiner Mutterachse einen bestimmten, meistens mehr oder weniger spitzen Winkel. Er zeigt eine Innenseite, welche dem Endteil der Mutterachse zugekehrt ist und eine Außenseite, welche von der Mutterachse weggewendet ist (Abb. 3 h). Fast immer ist nun die Außenseite in ihrer Ausbildung im Vergleich zur Innenseite gefördert. Beim Eisenhut zeigt sich dies darin, daß die Außenseite nahe der Basis einen ersten starken Zweig trägt, während auf der Innenseite erst viel später ein bedeutend schwächerer Zweig nachfolgt. Und der starke Basalzweig trägt wiederum an seiner Außenseite einen besonders starken Seiten- zweig. So entsteht eine sehr charakteristische Blattform, das „mehrfach handförmig geteilte" Blatt. 590 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 41 Nachträglich bemerken wir nun auch beim Vogelbeerbaum diese Förderung der Außenseite an der unsymmetrischen Form der Seitenfiedern, ebenso bei der Wiesenraute daran, daß die Außen- seite der ersten Fiederäste mehr Teilblättchen trägt als die Innenseite. Besonders klar ist die Förderung der Außen- seite zu sehen beim „fußförmigen" Blatt der Christ- rose (Helleborus niger) Abb. 3 n. Hier trägt die Hauptachse jederseits nur einen einzigen starken Fiederast und schließt dann ab mit einem fieder- nervigen gezähnten Endblättchen. Jeder Fieder- ast trägt auf seiner Außenseite, nahe der Basis einen einzigen starken Seitenast, an diesem kann sich das gleiche wiederholen. Das fußförmige Blatt steht dem fingerförmigen oder strahligen Blatt sehr nahe; es bildet sich in das letztere um, wenn die Verzweigungspunkte 3 Fiedernerven emporschwingt zum gleichwertigen Schwesternerven des Mittelnervs in einem dreizähli- gen Blatt, so entwickelt sich an seiner Außenseite der Nerv 2 besonders stark. Auf das Hervortreten der Nerven i und 2 folgt dann das Auflösen der einheitlichen Blattfläche in 3 und 5 Teilblättchen. Es gelingt oft solche „Metamorphosenreihen" an einem und demselben Brombeerzweig aufzufinden. Das Blatt der Osterluzei (Aristolochia) Abb. 3 k zeigt dieselbe Verzweigung der Nerven im ganz- randigen Blatt. Der Nerv i trägt stärkere Zweige nur auf der Außenseite, namentlich nahe an seiner Basis den Zweig 2, auf dessen Außenseite folgt der Zweig 3. Die Verzweigung der Nerven er- innert stark an die Christrose, sie führt beim ganz- randigen Blatt zur Bildung eines „herzförmigen" Blattgrundes. Vom Brombeerblatt fast nur durch die ge- Abb. 3. und 2 (Abb. 2 n)'dem Verzweigungspunkte i immer näher rücken und schließlich mit ihm zusammen- fallen. Wir gehen noch einmal aus vom Blatt des Vogelbeerbaums und vergleichen mit ihm das Blatt der Bastardeberesche (Sorbus hybrida) Abb. 3 c. Die Blattfläche ist hier nicht mehr zusammenge- setzt, sondern nur noch „gelappt", aber die Ver- zweigung der Nerven folgt noch genau dem ge- fiederten Typus. Bei der Brombeere (Rubus fruticosus) Abb. 3 i, geschieht es nun, daß der unterste Fiedernerv sich verstärkt und zugleich auf seiner Außenseite zahlreiche Fiedernerven hervorbringt. Und so wie sich der Zweig i (Abb. 3 c) vom bloßen ringere Zerteilung der Blattfläche verschieden ist das „handförmig gelappte" Hopfenblalt (Humulus Lupulus) Abb. 30. In dem gezeichneten Falle erscheint infolge einer Verschiebung der Ver- zweigungspunkte der Nerv 3 nicht als Zweig von Nerv 2 sondern direkt als Zweig von Nerv i. Einige Schwierigkeiten bietet die Deutung des „pfeilförmigen" Blattes von Xanthosoma violaceum, einer tropischen Aracee, Abb. 3 p. Nach dem Vergleich mit der Osterluzei ist Nerv 2 Seiten- zweig von Nerv i, Nerv 3 Seitenzweig von Nerv 2. Für sich allein betrachtet werden wir das Blatt anders auffassen; der Hauptnerv trägt an seiner Basis zwei besonders starke Seitennerven, welche in die rückwärts gerichteten Pfeilspitzen laufen. Diese Pfeilnerven sind auf ihrer Innenseite be- N. F. XVIII. Nr. 41 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 591 sonders stark verzweigt, Nerv i und 2 sind Seiten- zweige von Nerv 3. Wir werden uns noch über- legen müssen, ob ein solcher Wechsel der Be- trachtungsweise wissenschaftlich zulässig ist; hier möchte ich noch auf die Schmeerwurz (Tamus communis) Abb. 3I hinweisen, welche in bezug auf den Zusammenhang der Nerven i, 2, 3 offen- bar eine Mittelstellung zwischen Osterluze;! und Xanthosoma einnimmt. Wir kehren noch einmal zum gefiederten Typus zurück und zwar diesmal zum fiedernervigen aber ganzrandigen Blatt der Magnolie, Abb. 3 d. Das Blatt ist „bogennervig"; alle Fiedernerven biegen, noch bevor sie den Blattrand erreichen, nach oben ab und schließen bogenförmig zusammen. Beim Hornstrauch (Cornus sanguinea) Abb. 3 e sind nur noch wenige Fiedernerven vorhanden, die von unten nach oben an Stärke abnehmen; die untersten Fiedernerven laufen auf eine lange Strecke dem Blattrand parallel und alle Fieder- nerven laufen gegen die Blattspitze zusammen. Beim Zimtbaum (Cinnamomum zeylanicum) Abb. 3 f entspringen zwei Paare von Fiedernerven nahe dem Spreitengrund, die beiden inneren er- reichen im Bogen die Blattspitze, die beiden äußeren endigen vorher nahe dem oberen Drittel des Blattes. Das Zusammenlaufen der Nerven gegen die Blattspitze ist auch sehr deutlich zu sehen bei der Schmeerwurz (Abb. 3I); beim chinesischen Pfeil- kraut (Sagittaria sinensis) Abb. 3 q laufen d i e stärkeren Nerven in den 3 Spitzen der Blatt- fläche zusammen. Beim Zimtbaum und ebenso bei der Schmeerwurz laufen die stärkeren Seiten- nerven, die den Hauptnerven an Bedeutung gleich- kommen, in die Blattspitze zusammen ; verschieden ist aber ihre Anordnung am Blattgrund. Beim Zimtbaum ist diese fiederförmig, bei der Schmeer- wurz faßförmig. Zwischen beiden steht der Germer (Abb. 3 g), wo alle Nerven nebeneinander aus der breiten Blattscheide in die Spreite eintreten. Das Blatt des Germers weist noch eine andere Besonderheit auf, für welche wir den Anschluß an andere Formen suchen müssen. Zwischen den zahlreichen , nahe nebeneinander verlaufenden Streifennerven gibt es nur noch ganz schwache, vom bloßen Auge nicht mehr sichtbare Querver- bindungen; dies steht im scharfen Gegensatz zu dem feinen Netzwerk, das bei den meisten Blättern zwischen den gröberen Nerven ausgespannt scheint (Abb. I p). Den Übergang zeigen uns wiederum Zimtbaum, Schmeerwurz und Pfeilkraut (Abb 3 f, 1, q). Wo immer stärkere Nervenzweige in ge- ringem Abstand nebeneinander herlaufen, da treten im Maschennetz, das sie verbindet, besonders die Querverbindungen deutlich hervor. Mit der weiteren Annäherung der starken Parallelnerven schwindet das Maschenwerk immer mehr, was davon übrig bleibt, das sind zuletzt nur noch die feinen Quer- verbindungen beim Germer. Weitere Formverwandtschaften würde uns noch die mikroskopisch-anatomische Untersuchung der Blattformen aufdecken ; so weist neuerdings Agnes Arb er auf die engen Beziehungen zwischen vielen streifennervigen Monokotylenblättern und abge- flachten Blattstielen von Dikotylen hin. Doch haben wir nun genügend festgestellt, daß alle Blattformen unter sich nach den verschiedensten Richtungen formverwandt sind; wir fragen nach einer Deutung dieser Verwandtschaft. Wir haben, vorerst ohne die Berechtigung einer solchen Ausdrucksweise zu prüfen, davon ge- sprochen, daß sich die Blattform einer Pflanzen- art in diejenige einer anderen Art umwandelt. Noch weniger als bei der Metamorphose eines Jugend- blattes in ein Folgeblatt derselben Pflanze kann es sich hier um eine wirkliche Umwandlung aus- gewachsener Teile handeln. Dennoch drängt uns die bloße Zusammenstellung der F"ormen in der Abbildung 3 den Gedanken an eine Umwandlung unwiderstehlich auf; ein geheimer Zusammenhang zwischen den Formen muß da sein. Wir erinnern uns von früher her, daß die Blattform der Ausdruck ist für das Zusammen- wirken der Erbanlage mit den wechselnden, von der Außenwelt beeinflußten Ernährungszuständen. Aus dem Wechsel des inneren Zustandes der Pflanze leiteten wir die Metamorphose in- nerhalb des Individuums ab; die Verände- rungen der Erbanlage werden wir als Ursache der Metamorphose von Art zu Art an- sehen. Hinter der Verwandtschaft der ausgewachsenen F"ormen suchen wir die Verwandtschaft der Erb- anlagen. Dabei stoßen wir uns an den engen Grenzen unseres Wissens vom Wesen und Auf- bau derselben. Wir suchen sie innerhalb der einzelnen Zellen, und zwar mit guten Gründen im Chromatin des Zellkerns, einer Substanz von der uns unsere stärksten Linsen gerade noch die äußere Form zeigen, niemals aber die innere Struktur. Die Chemie sagt uns noch, daß es sich um eiweißartige Körper handle. Die Kreuzungs- experimente Mendels und seiner Nachfolger lehren, daß die Erbanlage teilbar sei in „Gene" mit bestimmter Bedeutung für die Ausbildung einzelner Merkmale der Pflanzen. Eine begründete anschauliche Vorstellung über Kräfte und Struk- turen der Erbanlagen können wir aus diesen Bruchstücken, so wichtig sie sind, nicht aufbauen. Wir müssen darum die Erbanlagen durch ihre Leistungen charakterisieren, durch die Formen, welche sie im Zusammenwirken und im Kampf mit der Außenwelt aufbauen. Diese Formen sind nur Bilder, Symbole für die unbekannten Eigen- schaften der Erbanlagen selbst. Um die verschiedenen Formen der Abb. 3 in- einander überzuführen, lassen wir fertig ausge- bildete Blätter und_ Blattteile wachsen und ab- nehmen, verschmelzen und sich in Stücke auf- lösen, wir lassen Verzweigungsstellen sich ver- 592 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVin. Nr. 41 schieben, wir haben sogar Nebennerven in Haupt- nerven und Hauptnerven in Nebennerven sich ver- wandeln lassen. Es ist bei diesen Verwandlungen fast zugegangen wie im Märchen; es sind Dinge geschehen, die noch kein Forscher bei seinen entwicklungsgeschichtlichen Untersuchungen ge- sehen hat, und die auch keiner je sehen wird. Es entsteht die Frage, ob sich die ernste Wissenschaft auf solche Träumereien einlassen darf. Wer daran zweifelt, der suche sich zu- nächst in der Natur zu den 16 Formen der Abb. 3 noch 160 Zwischenformen, was nicht allzu schwer ist; er wird sich immer wieder zu der Ausdrucks- weise der Metamorphosenlehre gedrängt fühlen. Er bedenke aber auch, daß Träume und Märchen überall von den tiefsten und wichtigsten Geheim- nissen erzählen, von denjenigen Dingen, welche einer direkten Erforschung nicht zugänglich sind, von denen aber dennoch in Bildern und Sym- bolen viel bedeutsames ausgesagt werden kann. Wir dürfen also wohl von der Metamorphose der Blattformen reden, wenn wir uns nur des bild- lichen Charakters unserer Darstellung bewußt bleiben. Hinter der Metamorphose der Blätter steht also die Metamorphose der Erbanlagen. Ist diese unmittelbare Tatsache? oder ist sie auch wieder nur ein Bild? Die Abstammungslehre, gestützt auf die Tat- sache der Erhaltung der Formen durch Fortpflanzung und Vererbung einerseits und die Tatsache der Abänderung der Formen durch Mutation andererseits behauptet, daß eine Verwandlung der Erbanlagen durch Jahrhunderte und Jahrtausende hindurch tatsächlich stattge- funden habe; die Verwandtschaft der Erbanlagen ist für sie direkte Folge gemeinsamer Abstammung. Die Verwandtschaft der Pflanzen machen wir uns anschaulich im Bilde des Stammbaums; vom Stamm, einer ursprünglichen, in ihrer alten Form längst verschwundenen Pflanzenart, gehen die vielfach verzweigten Äste ab, die Arten, welche aus der Stammart durch Abänderungen nach ver- schiedener Richtung entstanden sind, die Aste tragen eine große Zahl von Zweigen, alle heute noch lebenden Arten. Von diesem Stammbaum, den wir uns wohl recht unregelmäßig, etwa wie einen Nußbaum oder eine Eiche vorstellen müssen, kennen wir nur die Oberfläche der Krone mit ihren zahl- losen oft dicht gedrängten Zweigspitzen, und da- zu durch Versteinerungen einzelne Punkte aus dem Innern des Astwerkes. Bei unseren Untersuchungen über die Meta- morphose der Blattformen sind wir denn auch ganz an der Oberfläche der Krone geblieben; wir sind von Zweigspitze zu Zweigspitze gesprungen und fanden nach keiner Richtung große Zwischen- räume. Unsere Verwandlungsreihen sind bis jetzt gedachte Reihen geblieben und zu den wirk- lichen Stammreihen, die vom Zentrum der Krone zu ihrer Oberfläche führen, sind wir noch nicht vorgedrungen. Wir sehen, wie schwer die Aufgabe ist, inner- halb eines Formenkreises von so naher gegen- seitiger Verwandtschaft, wie ihn die Blütenpflanzen darstellen, die Stammreihen herauszufinden; wir wollen uns auch hier nicht mehr an diese Auf- gabe wagen, um so mehr als wir ja nur ein Organ der Pflanze betrachtet haben und nicht ihre Gesamtform. Das Alles- oder Nichts-Gesetz und die Individualbiologie. Von Dr. Rud. Oehler, Frankfurt a. M. Mit 2 Abbildungen. [Nachdruck verboten,] Als Helmholtz im Jahre 1850 die Geschwin - digkeit der Nervenleitung maß und sie nicht mehr als etwa 25 Metersekunden fand, da war das ein mächtiges Beweisstück gegen die Gedankengänge der Individualphilosophen und Vitalisten. Die Nervensubstanz als Sitz der Erkenntnis und Ent- schließung müßte nach Ansicht derer, die im Leben Offenbarungen besonderer, überphysikali- scher Kräfte sahen in erster Linie mit Vollkom- menheiten ausgerüstet sein, die weit über die Leistungen physikalischer Systeme hinausgehen. Die Arbeit der Sinnesaufnahme, der Willensüber- mittlung und der Bewegungsauslösung in den Nervenzellen und Leitungsfasern dachte man sich daher blitzschnell, ja wo möglich augenblicklich, d. h. zeitlos. Und nun kam die Messung, die zeigte, daß ein biologischer Augenblick eine phy- sikalisch betrachtet recht lange Zeit ist, und daß die Nervenleitung weit entfernt gar keine Zeit zu beanspruchen, vielmehr ein verhältnismäßig träger Vorgang ist. Was sind 25 Metersekunden gegen 330 der Schallleitung, gegen die 2 — 7000 einer Explosionsleitung, gegen die 300 000 Kilometer- sekunden der Licht- und Elektrizitätsleitung? Von überphysikalischen Leistungen kann also bei der Nervenleitung keine Rede sein. Ein so mäßig geschwinder Vorgang hat für den Physiker nichts unfaßbares mehr. Trotzdem sind die Vitalisten nicht verstummt. In dem Philosophen Driesch haben sie einen gewichtigen Wortführer gefunden. Driesch stellt als überphysikalische Leistungen der Lebewesen auf: i. das äquipotentiell harmo- nische System, 2. das Psychoid, 3. die Individuen- bildung, 4. alles zusammenfassend die Entelechie. Das sind nun keine naturwissenschaftlichen Be- zeichnungen. Das ist philosophische Nomenklatur. Um diese dem naturwissenschaftlichen Denken näher zu bringen, möchte ich versuchen auf deutsch zu sagen, was Driesch damit meint. I. Das äquipotentiell harmonische System ist N. F. XVm. Nr. 41 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 593 eine hochverwickelte Regenerationserscheinung, bei der Zellen und Organe weitgehende Umstel- lung und Umprägung durchmachen. 2. Das Psychoid ist eine hochverwickelte Reiz- bewegung bei der Reizhemmungen und Reiz- speicherungen mitspielen. 3. Die Individuenbildung ist das gleichmäßig fortgesetzte Teilungs Wachstum der Zellen, Tiere und Pflanzen. 4. Die Entelechie ist die wiederholungsgerechte Verfassung der Lebewesen. Das ist in der Tat eine geschickte Aufstellung von biologischen Hochleistungen, die als über- physikalisch bezeichnet werden dürfen, wenn man damit sagen «vill, daß derzeit mit rein physikali- schen Mitteln solches in keinem Laboratorium hervorgebracht werden kann. Driesch aller- dings geht weiter. Er lehrt, daß niemals ein Experimentator mit rein physikalisch chemischen Mitteln ein äquipotentiell-harmonisches System usw. herstellen kann. Es ist nun interessant, daß V e r w o r n neuer- dings eine biologische Höhenleistung der Nerven und Muskeln herausgebracht und mit dem Namen das „Alles- oder Nichts- Gesetz" belegt hat; ein Ausdruck, der seiner Klangfarbe nach sehr an die Bezeichnungen der Drieschschen Individual- biologie erinnert. Die ersten Wahrnehmungen des Alles- oder Nichts-Gesetzes wurden am Herzmuskel gemacht.') „Hier bewirkt der Induktionsstrom entweder eine Zuckung, oder er vermag dies nicht; und vermag er das erstere, so ruft er auch gleich die umfang- reichste Zuckung hervor, welche der Induktions- strom zur gegebenen Zeit überhaupt auslösen kann." Der Herzmuskel gibt „Alles oder Nichts". Feine Untersuchungen haben ein ähn- liches Verhalten auch beim Nerven und beim Körpermuskel aufgedeckt. Schon die Tatsache, daß die Nervenleitung über kleine wie große Strecken weitergeht ohne an Erregungsstärke da- bei einzubüßen, spricht dafür. Feine Reizversuche am Nerven, der streckenweise durch Ätherdampf gelähmt wird , haben ferner gezeigt , daß die Leitungslähmung nach einer gewissen Zeit ganz plötzlich einsetzt und bei der Erholung ebenso plötzlich wieder aufhört. Im Gegensatz dazu wird die direkte Erregbarkeit durch den Induktions- strom an der ätherischen Stelle nur nach und nach herabgesetst, und hebt sich bei der Erholung auch nach und nach wieder. Das erste unabstufbare Verhalten zeigt also den Typus des Alles- oder Nichts-Gesetzes, den Verworn auch das Verhalten eines isoboli- schen Systems nennt. Systeme, die den ab- stufbaren Verlauf zeigen, heißen dann hetero- b o 1 i s c h. ^) Folgende Schauzeichnung verdeutlicht die beiden Verlaufsarten. V o r w o r n spricht nur ') Vgl. M. Verworn, Erregung und Lähmung. Jena 1914, S. 43. ^) Verworn, Erregung und Lähmung, S. 133. bei der Nerven- und Muskelerregung von einem Alles- oder Nichts-Gesetz. Es ist aber unabweis- bar denselben Vorgangszug auch bei den Reflex- bewegungen und bei den Instinktverrichtungen wieder zu erkennen. Auch sie verlaufen unab- Erregung I M I M I I I I I I I I I I I J I Reiz Abb. I. Isobblisches System. Abb. 2. Heterobolisches System. Stuf bar von A bis Z; auch sie lassen sich nicht zerlegen, nicht in der Mitte anfangen. Das ist ihr Gegensatz zu den erübten, gelernten „Willkür- bewegungen". Gleicher Vorgang bei der intuitiven Erkenntnis. Sie bringt Alles oder Nichts; im Gegensatz zur schulmäßig erlernten Erkenntnis, welche eben abstufbar, zerlegbar ist. Auch die Züchtung eines Tieres, einer Pflanze aus dem Keim bringt Alles oder Nichts. Ent- weder: die Zucht geht nicht an und es kommt nichts zustande; oder die Zucht geht an und alle Individuen des Zuchtsatzes haben alle Organe der Art. Hier schließt sich das Alles- oder Nichts- Gesetz ganz an die Drieschschen Sätze der Individuenbildung an. Ein Individuum ist eben auch ein Alles oder Nichts, d. h. ein unabstuf- barer, unzerlegbarer Einheitszug. In der Naturwissenschaft, so wie ihn Ver- worn gebraucht, ist der Ausdruck Alles- oder Nichts Gesetz ein Schlagwort; kein Doktrin. Es klingt an an die Individuenlehre der Moralphilo- sophen. Da gilt.es, daß der Mensch Alles oder Nichts hingeben soll, wenn er das Seelenheil er- langen will. Man lese Ibsens Brand. Da wird viel vom Alles oder Nichts geredet. Für die Individuenlehre gibt es eben keine Abstufungen. Ganz im Gegensatz zur Physik, welche nur ab- stufbare Vorgänge kennt. Die Physik weiß nichts von einem Alles- oder Nichts-Gesetz. Ihr Grund- satz lautet: Nichts kann zu Nichte werden. Der Reiz, welcher die Nervenerregung oder die Herz- zuckung auslöst, kann, auch wenn dem System nicht mehr entlockt als ein kleinerer Schwellen- reiz, darum doch nicht spurlos verschwinden. Irgendwie muß er sich in dem System bemerkbar machen: wahrscheinlich durch Erwärmung, oder durch eine Beschleunigung der Erregung an der Erregungsstelle, wenn das auch derzeit nicht merklich wird. Das Alles- oder Nichts-Gesetz der 594 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVm. Nr. 41 Nerven- und Muskelerregung wird deshalb am besten als ein Idealgesetz aufgefaßt, dem sich der Nerv und Muskel in seinem Verhalten nähert. Ganz so wie wir das Mariottesche Gesetz als ein Gesetz der idealen Gase haben, dem die ein- zelnen Gase wie Chlor und Sauerstoff, sich mehr weniger nähern. Darum gilt auch das Alles- oder Nichts- Gesetz, wie Verworn immer wieder be- tont, nur für den hochentwickelten Nerven und Muskel, nicht für die träge reagierende Bewegungs- substanz der Rhizopoden. Bei Ermüdung, bei Erstickung und Abkühlung gilt es nicht mehr. Nur der hocherregbare, hochvorbereitete Nerv zeigt solche biologische Höhenleistung. Und es ist interessant, daß die normale Ganglienzelle dem Alles- oder Nichts- Gesetz nicht folgt. Wird aber durch Strychnin die Erregbarkeit erhöht, dann bringt auch hier minimaler Reiz maximale Krampfzuckung hervor. Das Alles- oder Nichts- Gesetz ist also keine biologische Grundeigenschaft, sondern nur eine biologische Höhenleistung be- sonders vorbereiteter, hochgeläufiger Erregungs- bauten. Wenn diese in ihrem Verhalten sich von dem abgestuften Verlauf der einfachen physikali- schen Vorgänge auch entfernen, so sind sie darum keineswegs überphysikalisch. Es lassen sich auch mit rein physikalischen Mitteln im Laboratorium chemische Körper aufbauen , welche ganz wie Nerv und Muskel bei kleinstem Reiz maximalen Ausschlag geben. Solches sind die Explosiv- körper, mit denen Verworn darum die Nerven- und Muskelmasse gern vergleicht. Aber auch sie geben wie jene Lebensgebilde den Alles- oder Nichts-Ausschlag nur bei bester Vorbereitung und Pflege. Ist der Sprengstoff schlecht gefertigt oder mit Wasser durchsetzt, dann gibt es keine Explosion, sondern nur eine abgestufte, langsame und unvollkommene VerpufTung. Weit entfernt ein Beleg für die Vitalisten zu sein, sind also diese feinen Vorgänge am Muskel und Nerv vielmehr Beispiel und Beleg, wie die scheinbar ganz unphysikalischen Erstaunlichkeiten der lebenden Substanz dennoch dem physikalischen und experimentellen Gedankenkreis eingefügt wer- den können, wenn man sich daran erinnert, daß die Lebensgebilde eine lange, übermenschlich lange und darum überexperimentelle Vorbereitungszeit für ihre Höhenleistung hinter sich haben. Hätte der Experimentator ebensoviel Zeit und ebensolche Feinwerkzeuge wie die Zelle sie hatte, um den heutigen Nerven aufzubauen, warum sollte er nicht ebenso leistungsfähige Erregungsbauten aufführen können 1 Daß sie althistorische Gebilde mit einer langen, schwer übersehbaren Vergangenheit sind, das ist das überphysikalische Merkmal der Lebewesen. Damit ist eine tatsächliche Besonderheit gegen- über den Gebilden der Chemie und Physik zuge- billigt; aber nicht eine absolute Autonomie, wie die Individualbiologie der Vitalisten es will. Wären die Lebewesen die Verwirklichung einer über- physikalischen Verfassung, dann wäre alle expe- rimentelle Lebensforschung aussichtslos. Da aber die Lebewesen experimentell bearbeitbar sind, ganz wie die Gebilde der Chemie und Physik, so ist es Aufgabe diese Hochgeläufigkeiten der Alles- oder Nichts-Vorgänge und der Individual- gebilde im Laboratorium auf ihre Abstufbarkeit zu untersuchen und sie so dem experimentellen physikalisch-chemischen Denken zuzuführen. Für die Arten und Individuen leistet das die Ver- erbungsforschung und die Entwicklungsmechanik. Für die Organe ist die experimentelle Physiologie in dem Sinne tätig. Alle Experimentalbiologen sind sich aber bewußt, daß sie bei ihren Ansätzen althistorische, lang vorbereitete Keime oder Or- gane einsetzen , wo der Chemiker und Physiker stabile, geschichtslose Stoffe und Energien ein- setzt. Die Biologie bleibt eben immer ein Stück Kosmologie und ein Lebewesen ist ein altüber- kommenes kosmologisches Phänomen, wie ein Planetenlauf oder ein entstehender und vergehen- der Stern. Und geradeso wie die kosmologischen Vorgänge des Sternenlebens dem physikalisch- chemischen Denken nahe gebracht werden, so sollen auch die biologischen Vorgänge der Indi- viduenbildung und der Alles- oder Nichts-Vorgänge dem physikalisch-chemischen Denken, das ist dem Experiment, der Messung und Berechnung, zuge- führt werden. Die beschreibende Biologie wird immer wieder von Arten und Individuen und von Alles- oder Nichtsgebilden reden, weil die Systematik solche Namenträger braucht. Der Experimentalbiologe aber wird mit der Frage an sie herantreten: sind sie auch rein? Sind sie nicht im Laufe der kos- mologischen Epochen Stück für Stück aufgebaut? Und lassen sie sich nicht auch heute bei genauer Prüfung in Unterindividuen zerlegen ? Die Wissenschaft braucht beides: den Indi- viduengedanken der Systematiker und den Divi- duengedanken der Experimentatoren. So mag auch der Experimentalphysiologe Verworn ein- mal von Alles- oder Nichts-Vorgängen reden ; wenn nur dabei bewußt bleibt, daß das Alles oder Nichts eine ideale Forderung ist, die streng ge- nommen nur für einen idealen Nerven gelten kann, nicht aber für einen körperlich vorliegenden P'rosch- und Insektennerven. Botanik. der Kartoffel. Neues von der Einzelberichte Blattrollkrankheit Die Ursache der Blattrollkrankheit ist noch nicht vollständig aufgeklärt. Die bis- herigen Untersuchungen führen aber zu dem Schluß, N. F. XVIII. Nr. 41 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 595 daß hier tiefgreifende Störungen im Chemismus der Pflanze vorliegen müssen ') und daß eine gründliche Erforschung der Stoffwechselvorgänge uns am ehesten einer Lösung der umstrittenen Frage näher bringen wird. Auf diesem Wege ist neuerdings ein Fort- schritt erzielt worden, der um so bedeutsamer ist, als er gleichzeitig von drei verschiedenen Seiten angebahnt wurde. Unabhängig voneinander haben Neger (Ztschr. f. Pflanzenkrankh. XXIX, 27—48, 1919), Esmarch (ebenda, 1 — 20) und Miltner (Bl. f. Pflanzenschutz 1919, S. 15 — 19) festgestellt, daß bei rollkranken Kartoffeln die Abwanderung der Assimilate, besonders der Stärke, aus den Blättern in hohem Grade gehemmt ist. Verdunkelt man abgeschnittene, in Wasser ge stellte Triebe (Neger, Hiltner) oder ganze Pflanzen (Esmarch) und unterwirft man die Blätter in bestimmten Zeitabständen der Sachs- schen Stärkeprobe, so findet man, daß die ge- sunden Blätter in der Regel nach 12 — 36 Stunden stärkefrei sind, während die gerollten selbst nach mehr- (bis 12-) tägiger Verdunkelung noch mehr oder minder vollständig mit Stärke gefüllt sind. Im einzelnen erfolgt die Stärkeableitung um so schneller, je jünger die Blätter sind, gleich starke Beleuchtung vorausgesetzt, bei kranken um so lang- samer, je stärker die Rollung ist. Außerdem ist sie von äußeren Bedingungen, wie Temperatur, Feuchtigkeit, Konzentration der Nährlösung usw., abhängig. Bemerkenswert ist, daß auch die noch nicht gerollten Blätter erkrankter Pflanzen eine gehemmte Stärkeableitung aufweisen. Daraus ergibt sich, daß die Stärkeanhäufung das Primäre, die Rollung der Blätter das Sekundäre ist. Ob ein kausaler Zusammenhang zwischen beiden Vorgängen be- steht, muß einstweilen dahingestellt bleiben. Wie Neger feststellte, kann man bei kranken Pflanzen, sofern die Krankheit nicht zu weit vorge- schritten ist, dadurch eine Ableitung der Stärke er- zwingen, daß man sie günstigsten Lebensbedingungen (trockene, reine Luft, gute Beleuchtung, Wärme) aus- setzt. Neger macht auf Grund seiner Versuche für die mangelhafte Stärkeableitung in erster Linie niedrige Temperatur verantwortlich, womit über- einstimmt, daß die Blattrollkrankheit besonders bei kühler Witterung verheerend auftritt. Hiltner erzielte eine Entstärkung der gerollten Blätter durch Einsetzen derselben in Lösungen von KCl, KH,, PO4, KNO3 von bestimmter Konzentration ; er erklärt die Stärkeanhäufung durch Aufnahme zu konzentrierter Salzlösungen aus dem Boden. Die Abwanderung der Stärke aus den Blättern vollzieht sich bekanntlich in der Weise, daß sie durch Diastase in diosmierbaren Zucker ver- wandelt wird. Infolgedessen müssen alle Faktoren, die die Diastasebildung befördern, wie z. B. höhere Temperatur und intensiver Luftzutritt, ') Vgl. Esmarch, Die wichtigsten Kartoffelkrankheiten, d. Ztschr. XVIII, S. 89—98. 191g. der Stärkeanhäufung und damit dem Rollen entgegenwirken. Man sollte nun erwarten, daß die rollenden Blätter weniger Diastase ent- halten als gesunde. Merkwürdigerweise ergab sich aber gerade das Gegenteil: Kranke Blätter waren um ein Vielfaches reicher an Diastase. Wenn diese größere Menge trotzdem eine ge- ringere Wirksamkeit entfaltet, so kann nur eine Inaktivierung der Diastase durch Anhäufung der Spaltungsprodukte vorliegen. Worauf diese ihrer- seits zurückzuführen ist, läßt sich vorläufig noch nicht sagen. Vielleicht kommt hier ungenügende Versorgung der Pflanze mit gewissen Nährstoffen in Frage, vielleicht aber liegen besondere enzy- matische Verhältnisse vor. Daß die Kartoffel überhaupt zu mangelhafter Stärkeableitung neigt, dürfte damit zusammen- hängen, daß sie aus einem wärmeren Klima stammt. Die einzelnen Sorten haben sich unserem Klima in verschiedenem Grade angepaßt, leiten die Stärke in kalten Nächten teils besser, teils schlechter ab und sind daher für die Blattrollkrankheit mehr oder minder anfällig. Auch die Individuen einer Sorte verhalten sich verschieden. Damit ist uns ein Mittel in die Hand gegeben, durch Individual- auslese roUkrankfeste Stämme und Sorten heran- zuzüchten. Die oben genannten Versuchsergebnisse be- rechtigen zu der Hoffnung, daß es bald gelingen wird, die bisher so rätselhafte Blattrollkrankheit in ihren Ursachen vollständig zu erkennen. Dr. F. Esmarch. Geschlechtsdifferenzierung bei Sporidien der Brandpilze. Die Spore der Brandpilze bildet bei der Keimung ein Promycel, an dem Spori- dien (Conidien) abgeschnürt werden. Diese ver- mehren sich reichlich durch Sprossung. Unter Umständen vermögen sie aber auch miteinander zu kopulieren. Hans Kniep hat gefunden, daß das Eintreten einer solchen Kopulation nicht not- wendig durch Erschöpfung der Nährlösung be- dingt ist (Br efeld). Wenn man vielmehr Spori- dien von Gelatineplatten, auf denen man Sporen des Antherenbrandes (Ustilago violacea) zum Keimen gebracht hat, in Reagenzröhren mit Agar, dem Malzextrakt zugesetzt worden ist, oder in 0,1 proz. Malzextraktlösung überträgt, so kann man schon nach zwei Tagen reichlich Kopula- tionen beobachten. Zur Entscheidung der Frage, ob beliebige Sporidien (die äußerlich alle unter sich gleich sind — Isogamie) miteinander ver- schmelzen können oder ob die Kopulation an eine innere Verschiedenheit der Sporidien ge- knüpft ist, führte Kniep Gelatinekulturen in der Weise aus, daß er durch Sprossung entstandene Sporidienkolonien erhielt, die je aus einem ein- zigen Sporidium hervorgegangen waren. Nach der Übertragung solcher Kolonien in Agarröhr- chen zeigte sich nun, daß die Abkömmlinge eines einzigen Sporidiums nicht miteinander kopulier- 596 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 41 ten. „Bringt man Sporidien einer Kuhur (sie möge a heißen) mit denen einer behebigen an- deren Kultur (b, c, d, e usw.) in 0,1 proz. Malz- extrakt zusammen, so treten in etwa der Hälfte der Fälle paarweise Verschmelzungen ein, in den übrigen 50 "j^ der Fälle bleiben sie aus. Wenn nun z. B. a -f- b, a + e und a -\- ( Kopulationen ergeben, a-|-c, a-|-d, a-f-g dagegen nicht, so zeigt sich weiter, daß auch in den Kombinationen c -f- b, c -|- e, c -1- f, ferner d -j- b, d + e, d + f. g-j-b, g-|-^> g~f"f Verschmelzungen auftreten, während sie in b -j- e, b-|-f, e-(-f, c-)-d, c-(-g, d -|- g ausbleiben. Es gibt sonach zweierlei Spo- ridien (Gameten) , deren spezifische Verschieden- heit sich in der Fähigkeit, miteinander zu ver- schmelzen oder nicht, ausspricht. Gleiches mit Gleichem kopuliert nicht. Neutrale , d. h. kopu- lationsunfähige Sporidien, die ihre Kopulations- unfähigkeit auf die durch Sprossung entstehenden Abkömmlinge übertragen, gibt es nicht." Da Sporidien, die einem Promycel entsprossen sind, miteinander verschmelzen können, so setzt die „physiologische Geschlechtsdifferenzierung" erst bei der Keimung der Brandsporen ein, diese selbst sind also nicht geschlechtlich verschieden. Es kann kaum zweifelhaft sein, daß die Verschieden- heit bei der Reduktion der Chromosomen ent- steht, die wahrscheinlich bei der Teilung des Brandsporenkerns während der ersten Keimungs- stadien erfolgt. „Wir dürfen annehmen, daß die beiden Sporidiensorten zwei verschiedene Gene enthalten, die bei der Reduktionsteilung vonein- ander getrennt worden sind." Kniep untersuchte Ustilago violacea von fünf Caryophyllaceen : Dianthus carthusianorum , D. deltoides, D. superbus, Melandrium album und Saponaria officinalis. Anscheinend handelt es sich hier um verschiedene biologische Rassen des Pilzes. Hierfür spricht z. B. die Beobachtung, daß oft an Stellen, wo mehrere seiner Wirtsarten zu- sammen auftreten, nur eine oder zwei stark von ihm befallen sind. Ferner lassen sich an Rein- kulturen der fünf Formen Unterschiede in der Farbe der Sporidien feststellen, und auch in deren Größe sind z. T. Verschiedenheiten erkennbar. Die Dianthus deltoidesForm zeigte in den Ver- suchen starke Abweichungen von dem typischen physiologischen Verhalten, wie es an dem Antheren- brand von D. carthusianorum, D. superbus und Melandrium beobachtet wurde; hier wurde an- scheinend durch unbekannte Umstände das eine Geschlecht in der Entwicklung behindert. Die Saponaria-Form war durch die geringe Kopulations- fähigkeit ihrer Sporidien auffällig. Die einzelnen P"ormen ließen sich alle untereinander kreuzen, wobei die geschlechtlich entgegengesetzten Spo- ridien in Wirkung traten. Eine Kreuzung der Sporidien des Antherenbrandes mit denen der verwandten Ustilago major gelang aber nicht. Unter Hinweis auf ähnliche Kopulationserschei- nungen bei gewissen Schimmelpilzen (Phyco- myces nitens) und Algen (Dasycladus, Ulothrix, Stephanosphaera usw.) fuhrt Verf aus, daß wahr- scheinlich bei allen kopulierenden Gameten eine innere Verschiedenheit besteht und daß es eine „Isogamie" in physiologischem Sinne nicht gibt. Die Geschlechtstrennung erfolgt entweder wie bei Ustilago bei der Reduktionsteilung oder erst nachher; beides kehrt dann bei den heterogamen Pflanzen wieder. Schließlich hebt Kniep hervor, daß die Deutung der Verschiedenheit der beiden Sporidiensorten als Geschlechtsunterschied zwar die nächstliegende, aber nicht die einzig mögliche sei. (Zeitschrift für Botanik Jahrgang 11, 1919, S. 257—284.) F. Moewes. Die Kontaktempfindlichkeit der Windepflanzen. (Mit 2 Abbildungen.) Nachdem lange Zeit die Lehre geherrscht hatte, daß die windenden Stengel im Gegensatz zu den Ranken gegen Berührung nicht empfindlich seien und daß die Windungen nur durch die rotierende Nutation der Stengel- spitze in Verbindung mit dem negativen Geotro- pismus zustande kämen, hat Peter Stark im Jahre 191 5 die weite Verbreitung der Kontakt- reizbarkeit bei den Stengeln, ganz besonders denen der Schlingpflanzen nachgewiesen und es wahr- scheinlich gemacht, daß diese Empfindlichkeit gegen Berührungsreize beim Zustandekommen der Windungen mitwirkt. (Vgl. Naturw. Wochen- schr. 19 16, S. 107.) Doch war schon vorher (191 2) Brenner für Tamus communis zu dem gleichen Ergebnis gelangt, und Bruno Löffler hatte 1913 Versuche an Banisteria chrysophylla , Ceropegia Sandersoni und Dioscorea sativa mitgeteilt, die zur Auffindung eines eigenartigen Verfahrens zum Nachweis der Kontaktreizbarkeit bei Windepflanzen mit gegenständigen Blättern geführt hatten. Diese durch den Krieg unterbrochenen Versuche hat Löffler erst 191 8 wieder aufnehmen können. Die an Phaseolus multiflorus, vulgaris und tunki- nensis, an Humulus lupulus, Dioscorea sativa und Hexacentris mysorensis gewonnenen Ergebnisse bestätigen und erweitern das frühere Resultat. Das Wesentliche der Methode besteht darin, daß der windende Sproß entgipfelt und daß dann be- obachtet wird , welche der Achselknospen des beren Blattpaares zum Ersatzsproß auswächst. Es ergab sich stets, daß die der Stütze zunächst befindliche Achselknospe im Austreiben begünstigt war. Die Abb. i zeigt schematisch einen Quer- schnitt durch Stütze (St.), Sproß (Spr.) und Blatt- stiele (Bl.) von Phaseolus multiflorus. Verf operierte hier mit Keimpflanzen. Bald nach der Entfaltung des ersten (meist einzigen) Blattpaares wurde die Stütze so angebrächt, daß sie schon das unterste Stengelglied möglichst in ganzer Länge, dann aber auch einen der Blattstiele berührte. Zur Ge- winnung eindeutiger Ergebnisse durften nur Pflanzen mit gleich kräftig ausgebildeten Achselknospen verwendet werden. Der Gipfel wurde dann ab- geschnitten und der Sproß an der Dekapitations- stelle mit Bast an der Stütze festgebunden. Beide N. F. XVIII. Nr. 41 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 597 Achselknospen wuchsen aus; doch wuchs der aus der Knospe a hervorgehende Trieb kräftiger als der aus der Knospe b entstehende; er behielt immer einen deutlichen Vorsprung und begann zuerst zu winden, ersetzte also auch zuerst den verlorenen Gipfel. Genaue Messungen ergaben, daß der Trieb a auch durchweg stärker war als der Trieb b. Wurden die Ersatztriebe abge- schnitten, so trieben die an ihrem Grunde be- findlichen kollateralen Beiknospen (Abb. 2) alsbald aus; auch hier wieder war die der Stütze zuge- kehrte Beiknospe a vor den andern (ß, y, ö) wieder bedeutend beim Austreiben gefördert und ergab den längsten und kräftigsten Beisproß. Bringt Abb. I. man bei Keimpflanzen mit verschieden kräftig an- gelegten Achselknospen die Stütze an die Seite der stärkeren Knospe, so treibt diese häufig allein aus, und die schwächere verharrt im Ruhezustande; erhält aber die schwächere die Stütze, so kann man erreichen, daß der aus ihr hervorgehende Sproß den aus der stärkeren Achselknospe ent- stehenden fast öden ganz im Wachstum einholt. Die ungleiche Belichtung ist, wie besondere Ver- suche zeigten, an dem verschiedenen Wachstum der Achselsprosse unbeteiligt. Auch erscheint es nicht wahrscheinlich, daß die Bevorzugung der der Stütze genäherten Knospe in der inneren Organisation der Pflanze begründet ist. Die Ur- sache muß vielmehr in dem durch die Stütze auf den Stengel ausgeübten Reiz gesucht werden. Die Berührung der Stütze mit den Blattstielen ist für die Reizwirkung entbehrlich, obwohl die Blattstiele, z. B. beim Hopfen, beträchtliche Kontaktempfind- lichkeit zeigen. Daß der Kontaktreiz auch beim Zustandekommen der Windungen beteiligt ist, kann auf Grund dieser Untersuchungen freilich nicht behauptet werden; für erwiesen hält Löffler vorerst nur, daß jener das Austreiben der Knospen beim Gipfelersatz reguliert und die Wachstums- förderung und kräftigere Entwicklung des stütz- seitigen Ersatzsprosses veranlaßt. Diese Erscheinung stehe offenbar im Einklang mit der bekannten Tatsache, daß Windepflanzen zur normalen und üppigen Entwicklung der Stütze bedürfen. (Be- richte der Deutschen Botanischen Gesellschaft Bd. 37, 19 19, S. 6 — 24.) F. Moewes. Zoologie. Über ein eigenartiges Symbiose- verhältnis wird von H. Sikora berichtet (Biol. Zentralbl. Bd. 39, Nr. 6). Bei den Läusen fand Landois ein rätselhaftes Organ, das an der Ventralseite des Magens zwischen dem Epithel und der Muskelschicht gelegen ist, er nannte es die Magenscheibe oder „Leber". Dieser Körper bildet einen Komplex von radiär angeordneten Kammern, der von einer Hülle umgeben ist. Der Inhalt dieser Kammern besteht aus unregelmäßigen Schollen und Körnern, die sich wie Protoplasma färben. Beim Embryo liegt dieser Körper nach Cholodovsky vor der Umstülpung derselben im Dotter über dem Kopfe. Mit dem Wachstum des Tieres wird das Gebilde kleiner und nimmt eine „unregelmäßige verzerrte Form" an. Sikora deutet dies als eine Atrophie. Der Inhalt der radiären Kammern ist bei den jungen Läusen nicht körnig oder schollig, sondern stellt ein „Fadenkonvolut" dar, das erst nach der 3. Häutung oder kurz vorher schollig zerfällt. Derartige Fälle finden sich bei der Kopflaus, der Kleiderlaus, der Filzlaus und der Rattenlaus- Polyplax. Anders verhält es sich bei der Schweinelaus Haematopinus. Hier finden sich bei den Larven mehrere kleinere und einige größere Kammern, die über den ganzen Magen zerstreut sind. Ihr Inhalt ist meist fadenförmig. Im erwachsenen Zustande ist bei den Schweineläusen hiervon überhaupt nichts nachzuweisen, so daß es zweifel- haft erscheint, ob diese larvalen Gebilde mit der „Magenscheibe" der anderen Läuse zu vergleichen sind. Nun findet sich bei der Kleiderlaus und der Schweinelaus zwischen Eileiter und Eiröhren ein Körper von der Gestalt einer Halbkugel, dessen Wandung gefächert ist. Der Inhalt dieser Fächer besteht aus Kernen und radiär gestellten Stäbchen. Von Müller wurden diese Körper als „Ovarial- ampuUen" bezeichnet. Eine Deutung derselben als Receptacula seminis hält Sikora für nicht richtig, sondern möchte sie als „eine Art phago- zytäres Organ, das die Einschmelzung des ihm zunächst liegenden Eifollikels nach Ausstoßung des Eies zu besorgen hat", betrachten. Sie scheinen einem pilzführenden Organ ähnlich zu sein. Die Magenscheibe soll dann ein „provisorisches Mycetom" sein, das die Pilze bis zur Reife des Eierstockes enthält. Der Inhalt der einzelnen Kammern bei der Schweinelaus erklärt sich dann so, daß die Stäbchen zerfallende Pilzfäden dar- stellen, während die Kerne die aus ihnen ent- stehenden Schwärmformen sind, welche zum Ovarium wandern. Während die „provisorischen Mycetome" bei den übrigen Läusen zu der „Magen- scheibe" verkümmern , verschwinden sie bei der Schweinelaus vollständig. Bei den männUchen Tieren gehen die Pilze nach Ansicht Sikora s zugrunde. Angelegte Kulturversuche bleiben ergebnislos. Sollten sich diese interessanten An- gaben bestätigen, so würde es sich um eine interessante Symbiose handeln. Willer. 598 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 41 Hydrographie. Die Tieferlegung des Ritom- sees in der Schweiz. (Mit 2 Abbildungen.) Das immer stärker werdende Bestreben, unsere Binnen- seen und das in ihr ruhende Wasser in den Dienst der Industrie und des Verkehrs zu stellen , hat vor einigen Jahren ein Projekt zur Ausführung gebracht, das in seinen Folgeerscheinungen auch ein besonderes naturwissenschaftliches Interesse für sich in Anspruch nehmen kann und daher hier etwas näher behandelt werden soll, nämlich die Tieferlegung des Ritomsees um 34 Meter.') Der im Gotthardstock unweit der Station Airolo der Gotthardbahn in 1831,5m IVIeereshöhe gelegene Ritomsee war schon seit etwa 10 Jahren von der Gotthardbahngesellschaft dazu ausersehen, ihr im Verein mit einem ähnlichen Kraftwerk bei Amsteg an der Nordrampe der Bahn die Kraft für ihren elektrischen Betrieb zu liefern. Aus dem durch die Tieferlegung des Sees geschaffenen Stauvolumen von rund 19 Millionen Kubikmeter und der Höhendifferenz des Sees mit der Tal- station des Tessee bei Piotta ergab sich, daß im Mittel etwa 14000 PS aus dem Ritomsee zur Ver- fügung bereitgestellt werden konnten, Grund genug, das Werk zur Ausführung zu bringen, trotz ein- zelner Nachteile, die damit notwendig mit in den grO 40 V ^ 8Xtgi3 ^ " \ \ V > \ \ ^^ 'gi8___ -^ -^ 2J Tiefster Wasserstand Abb. I. Trockenrückstand in Liter vor der Tieferlegung (8. X. 1913) und naciiher (8. VI. 1918). Kauf genommen werden mußten. Die technischen Folgen der Tieferlegung interessieren uns hier aber nicht, es handeh sich vielmehr lediglich um einige höchst interessante naturwissenschaftliche Be- obachtungen, die man bei Gelegenheit dieses Werks machen konnte. Daß die Senkung des Wasser- standes von Seen Ufereinbrüche zur Folge haben, war seit langem bekannt und hat sich besonders auch in der Schweiz gelegentlich der Tieferlegung der Juraseen sowie des Poschiovasees deutlich ge- zeigt. Diese Tatsache rührt keineswegs allein von dem am Uferboden zurückgebliebenen Wasser her, sondern in der Hauptsache vielmehr daher, daß die sämtlichen Schuttböschungen , die sich unter dem stehenden Wasser angehäuft haben (Gehängeschutt, Moräne, Kies, Sand usw.) um 2 — 30 steiler sind, als die Aufschüttung gleichen Materials trocken und in 3 — 5" steiler als naß in der Luft. Auch wenn das Seeniveau langsam sinkt, sind doch die Schuttgehänge, von denen nun der Gegendruck des Wassers fortgenommen ist, zu steil geböscht, um sich feucht in der Luft halten zu können. Aber auch für die noch unter dem Wasserspiegel bleibenden Teile der Schutt- halden vermindert sich durch das Sinken des Sees der Gegendruck und es müssen Abrutschun- gen auch noch unter dem Seespiegel mit Ufer- einbrüchen erfolgen. ,0° I 2 3 4 5 6 7 8 9 10 II 12 t3 14 15°l831.5m ■ ^-^ ' "—"^ ' ' ' ' ' 1830,9 ') II lago Ritom, le lac Ritom par L. W. Collet, R. Mellet et C. Ghezzi. Mitt. der Abteilung für Wasserwirtschart der Schweiz. Dep. des Innern Nr. 13. Bern 1918. Abb. 2. Temperaturkurven vor der Tieferlegung 8. VII. 14 und 30. VI. 17, nach derselben 8. VI. 191S. Alle diese Erscheinungen konnten nun am Ritomsee nach seiner Erniedrigung deutlich be- obachtet, genau gemessen und photographiert werden, und zwar in einer so vollendeten Aus- bildung, wie es wahrscheinlich bisher noch nie- mals beobachtet werden konnte, weil bisher wohl noch kein See in wenigen Monaten um mehr als 30 m künstlich gesenkt worden ist. Sehr deut- lich trat auch der glaziale Ursprung des mit vielen Schrammen versehenen Riegels hervor, die sich unter dem Wasserspiegel vortrefflich kon- serviert hatten. Dasselbe ist der Fall mit den glazialen Ablagerungen am Flußbett der Zuflüsse. Es sind aber nicht nur diese morphologischen Erscheinungen, welche bei der Tieferlegung zu- tage traten und Interesse erregten, sondern noch einige andere physikalische und chemische, welche auf der eigenartigen und nur selten in der Natur sich wiederholenden Zusammensetzung des Wassers beruhen. Das Wasser des Sees (vor der Erniedrigung) besteht aus zwei ganz voneinander verschiedenen Teilen, die miteinander so gut wie gar nicht in Verbindung stehen, deren Grenze etwa in 13 m N. F. XVni. Nr. 41 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 599 unter dem mittleren Seespiegel liegt. Die obere Wasserschicht wird von den oberirdischen Zuflüssen genährt, enthält nicht mehr gelöste Salze und verhält sich thermisch auch ganz so, wie andere Bergseen in ähnlicher Lage. Der unterhalb ißni gelegene Teil des Seewassers ist sehr reich an HgS, ist von erheblich höherem spezifischem Ge- wicht und besitzt eine im Laufe des Jahres nahezu konstante Temperatur von 6 ". Infolge seiner größeren Schwere vermischt es sich mit dem über ihm befindlichen Wasser so gut wie gar nicht. Die Ursache dieser eigenartigen hydrographischen Erscheinung beruht wie in analogen Fällen, wie z.B. beim Lac de la Girotte in der Dauphine, im Ulmener Maar in der Eifel, im Burgsee bei Sal- zungen, auf der starken Speisung des Unterwassers durch Quellen, die ihren Bestand an H^S von den gipshaltigen Schichten beziehen, aus denen der Untergrund des Sees besteht. Im ganzen eine ähnliche Erscheinung wie beim Schwarzen Meer im großen. Durch die Absenkung, die sich bis weit in das salzigere Unterwasser hinein erstreckt, ist nun eine Vereinfachung der Teile erfolgt. Das oberflächliche Zuflußwasser vermischt sich direkt mit dem Wasser der unterirdischen Zuflüsse und infolge davon wird ihre Salinität wesentlich verdünnt, auch der thermisch so scharf ausgesprochene Gegensatz zwischen dem Ober- und Unterwasser ist teilweise ausgeglichen, wie die folgenden beiden graphischen Darstellungen zeigen, die ich der Arbeit entnommen habe. In der Temperatur macht sich der Einfluß weniger geltend wegen der teilweisen verkehrten Schich- tung (die Temperatur sank unter 4°). Prof. Dr. W. Halbfaß, Jena. Geologie. „Über den Parallelismus des Unter- karbons im Schwarzwald und den Vogesen" gibt S. v. Bubnoff einige allgemeiner interessierende Gesichtspunkte (Jahresber. und Mitt. des Ober- rhein. Geolog. Vereins, Bd. VIII, S. 28 ff.). Während das Unterkarbon in den Vogesen sich zwanglos in drei Stufen gliedert, kann man im Schwarzwald deren nur zwei unterscheiden, die indes durch eine deutliche Diskordanz voneinander geschieden sind. Indem der Verfasser daraufhin weist, daß im wesentlichen die Schichtlücke im Schwarzwald der mittleren Stufe in den Vogesen entspricht, bringt er noch eine Reihe von Einzelbeobachtungen über weitergehende Übereinstimmung auch in der unteren und oberen Stufe. Solche beziehen sich in erster Linie auf eingeschaltete Eruptivgesteine, die in beiden Gebieten selbst in der Gesteinsaus- bildung im kleinen oft erkennbare Überein- stimmung aufweisen. Es wird dann gezeigt, daß Schichtlücken im mittleren Kulm gerade in den südlicheren Teilen des variszischen Faltungsbogens mehrfach bekannt sind, so z.B. im französischen Zentralplateau. Diese Schichtlücken finden ihre Erklärung „in einer größeren Intensität der ersten prägranitischen ge- birgsbildenden Phase". Diese erste F"altungsphase hat im Schwarzwald die Schichten in O — W- Richtung zusammengeschoben, während das Streichen der jungkulmischen Sedimente nord- östlich gerichtet ist. Auch in diesem Unterschied erkennt man die Bedeutung der mittelkulmischen Diskordanz. Im übrigen ist eine Parallelisierung Schicht für Schicht vom Schwarzwald zu den Vogesen hinüber nicht möglich. Man muß sich daran ge- nügen lassen , die großen Stufen in richtige Parallele zu setzen und dann die Gebiete für sich gliedern, wobei sich noch mancherlei beachtens- werte gemeinsame Züge ergeben. W. Kegel. Bücherbesprechungen. Posch], Viktor, Einführung in die Kolloid- chemie. Ein Abriß der Kolloidchemie für Lehrer, Fabrikleiter, Ärzte und Studierende. 5. verbesserte und vermehrte Auflage. Xll u. 148 Seiten mit 56 Bildern im Text. Dresden und Leipzig 1919, Verlag von Theodor Stein- kopff. Preis geh. 7 M. Bei der Besprechung des am Kopfe der Be- sprechung genannten Buches ist vor allen Dingen darauf hinzuweisen, daß die vorliegende fünfte Auflage zu der im Jahre 1914 erschienenen vierten Auflage nur mehr in einem lockeren Zusammenhange steht: Der Verf. hat sein Buch so vollständig umgearbeitet, daß man fast von einer ganz neuen Veröffentlichung sprechen kann. Diese Umarbeitung ist dem kleinen Werke sehr zu statten gekommen. Insbeson- dere hat der Verf. auf eine möglichst scharfe Fassung der grundlegenden Begriffe hingearbeitet und so eine wesentliche Verbesserung der Dar- stellung erreicht. Daher wird das Buch seine Aufgabe, den Leser mit den Grundtatsachen und den Grundlehren der Kolloidchemie in elementarer Weise bekannt zu machen, eine Aufgabe, der es schon durch vier Auflagen gerecht zu werden gewußt hat, in der neuen Form noch erheblich besser erfüllen. Was den Inhalt im einzelnen anbelangt, so ist zu bemerken, daß der Verfasser nach einer allge- meinen Einleitung dem Leser zunächst einiges aus der Entwicklungsgeschichte der Kolloidchemie erzählt, dann den kolloiden Zustand der Stoffe im allgemeinen kennzeichnet, die Eigenschaften der Sole und Gele erörtert, die Verfahren zur Darstellung kolloider Lösungen bespricht, die Untersuchungsverfahren und Arbeitsgeräte behan- delt, die derzeitigen Anschauungen über das Wesen des Kolloidzustandes zusammenstellt, die 6oo Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVm. Nr. 41 Bedeutung der Kolloidchemie für andere Wissen- schaften und zum Schluß auch die für Industrie und Technik darlegt. Ein Literaturverzeichnis und ein alphabetisches Namen- und Sachregister schließen das Buch. Berlin-Dahlem. Werner Mecklenburg. Repetitorium und Praktikum der quantitativen Analyse. I. Teil: Maßanalyse. 2., neu ver- faßte Auflage. 50 Seiten. Leipzig 191 7, Verlag von Johann Ambrosius Barth (Breiteiisteins Repetitorien Nr. 37 a). Preis geh. 1,80 M., geb. 2,60 M. Repetitorium und Praktikum der quantitativen Analyse. II. Teil: Gewichtsanalyse. 2., neu verfaßte Auflage. 85 Seiten mit 7 Abbildungen im Text. Leipzig 1919, Verlag von Johann Ambrosius Barth (Breitensteins Repetitorien Nr. 37 b). Preis geh. 2,80 M., geb. 3,60 M. Die im vorstehenden genannten beiden Schrif- ten, die keinen Verfassernamen tragen, sind in der Darstellung recht klare, kurze und sehr ele- mentare kleine Lehrbücher, die in ihrem ganzen Aufbau an die bekannten „Praktika" erinnern, wie sie in den chemischen Unterrichtslaboratorien ständig in Gebrauch sind. Anfängern und allen denen, die die analytische Chemie nur nebenbei betreiben wollen, können sie nützliche Dienste leisten. Berlin-Dahlem. Werner Mecklenburg. Wirtz, Prof. Dr. Carl, Tafeln und Formeln aus Astronomie und Geodäsie. 236 S. Berlin 1918, Julius Springer. Geb. 18 M. Der Verf., bisher Astronom an der Sternwarte in Straßburg hat in dieser Sammlung sich eine zweifache Aufgabe gestellt, zu der sich zwar weit umfangreichere Tafelsammlungen von der Hand anderer Autoren schon finden, die aber einen für manche Zwecke zu hohen Genauigkeitsgrad haben, während die Tafeln von Wirtz nur der Genauig- keit fünfstelliger Rechnung entsprechen. Dadurch ist es möglich , sie auf den engen Raum dieses Buches zu beschränken. Der erste Teil dient der Zeitbestimmung und der geographischen Längen- und Breitenbestimmung, wobei die Tafeln den besten in Betracht kommenden Methoden ent- sprechen, auch der jetzt so wenig mehr berück- sichtigten Methode der Monddistanzen, also die Methoden, die den Instrumenten entsprechen, mit denen der Forschungsreisende in fernen Ländern ausgerüstet ist. Der zweite Teil gibt rein astro- nomische Tafeln, wie sie die Bahnbestimmung erfordert, nebst den zugehörigen Formeln. Die astronomischen und geodätischen Konstanten sind überall die am besten bestimmten oder die in der Pariser Konstantenkonferenz von 1896 all- gemein zur Verwendung angenommenen. Auf diese Weise findet der Astronom, besonders der Studierende und auch der mathematische Geo- graphie und Astronomie gebende Oberlehrer der Realanstalten das ganze Material leicht und be- quem beisammen, das nötig ist, um Beobachtungen zu reduzieren und die daraus sich ergebenden Rechnungen anzustellen. In schwierigeren Fällen sind ausführliche Beispiele durchgerechnet, wie bei den Monddistanzen, bei der Ausgleichsrechnung, der sphäroidischen Übertragung von Breiten, Längen und Azimuten und anderen Fällen. Die Ausstattung des Buches ist unter den heutigen Verhältnissen als eine durchaus befriedigende zu bezeichnen. Riem. Zimmermann, Dr. med. Leo, Saladini de Asculo compendium aromatariorum. Zum ersten Male ins Deutsche übertragen, ein- geleitet, erklärt und mit dem lateinischen Text neu herausgegeben. Leipzig 1919, J. A. Barth. 8 M. Ein Aromatorius ist ein Apotheker und das vorliegende Buch ist ein Leitfaden für angehende Apotheker. Es wurde etwa im Jahre 1450 von dem Leibarzt des Fürsten Giannantonio Orsini von Tarent, Saladin, verfaßt und stellt das ab- schließende Hauptwerk der mittelalterlichen Phar- mazie dar, das in der Folge vielfach neu heraus- gegeben und bearbeitet wurde. In Form von F"ragen und Antworten wird das gesamte Wissens- gebiet, das ein damaliger Apotheker etwa in einer Prüfung beherrschen mußte, abgehandelt. Außer- dem ist eine Gewichtslehre darin enthalten, die es sogar gestattet, die mittelalterlichen Dosierun- gen in die gegenwärtigen Maße umzurechnen, ferner eine kalendarische Anweisung zum Sam- meln der Drogen , Vorschriften über die zweck- mäßigste Art der Aufbewahrung und die Dauer der Haltbarkeit usw. Der Herausgeber hat sich durch die Übersetzung und Kommentierung dieses kulturgeschichtlichen Dokumentes ein besonderes Verdienst erworben, das insbesondere die Pharma- zeuten und pharmazeutischen Botaniker dankbar anerkennen werden. Sie seien hiermit auf das interessante kleine Buch aufmerksam gemacht. Miehe. lutaalt: O. Schüepp, Die Formen des Laubblattes, ihre Entstehung und Umbildung. (3 Abb.) S. 585. Rud. Oehler, üas Alles- oder Nichts-Gesetz und die Individualbiologie. (2 Abb.) S. 592. — Einzelberichte: Neger, Esmarch, Miltner, Neues von der Blattrollkrankheit der Kartoffel. S. 594. H. Kniep, Geschlechtsdifferenzierung bei Sporidien der Brandpilze. S. 595. B. Löffler, Die Kontaktempfindlichkeit der Windeptlanzen. (2 Abb.) S. 596. H. Sikora, Eigenartiges Symbioseverhältnis. S. 597. Collet, MeUet, Ghezzi, Die Tieferlegung des Ritomsees in der Schweiz. (2 Abb.) S. 598. S. V. Bubnoff, Über den Parallelismus des Unterkarbons im Schwarzwald und den Vogesen. S. 599. — Bücherbesprechungen: Viktor Pöschl, Einführung in die Kolloidchemie. S. 599. Repetitorium und Praktikum der quantitativen Analyse. I. Teil: Maßanalyse. II. Teil; Gewichtsanalyse. S. 600. Carl Wirtz, Tafeln und Formeln aus Astronomie und Geodäsie. S. 600. Leo Zimmmermann, Saladini de Asculo compendium aromatariorum. S. 600. Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstraße 42, erbeten. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck der G. Fätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue Folge iH. Band; der ganzen Reihe 34. Band. Sonntag, den ig, Oktober 1919, Nummer 43. [Nachdruck verboten.] Zur Kulturgeschichte des Schellkrautes. Von Dr. Heinrich Marzell (Gunzenhausen). Das Schellkraut gehört wie der Holunder, der Wegerich, die Brennessel und der „Gute Hein- rich (Chenopodium Bonus Henricus) zu den Pflanzen, die stets die menschlichen Kulturstätten begleiten. Die in fast ganz Europa und einem großen Teil des gemäßigten Asiens überall häufige Pflanze findet sich fast ausschließlich in der Nähe mensch- licher Siedelungen, an Hecken, Zäunen und Mauern. Nur selten treffen wir das Schellkraut in Wäldern oder sonst weitab von menschlichen Wohnungen an. Ja, das Schellkraut kann durch sein Vor- kommen unmittelbar Fingerzeige für die Auf- findung längst verschwundener Gebäulichkeiten geben. S c h n i z 1 e i n und Frickhinger ^) führen davon ein hübsches Beispiel an : „Mitten im Walde ist das Auftreten dieser Pflanze (d. i. des Schell- krautes) eine befremdende Erscheinung. Das rätsel- hafte Vorkommen derselben im Walde zwischen Oppertshofen und Mauren (Schwaben, Bez.-Amt Donauwörth) war aber bald erklärt, sobald man an derselben Stelle in einer Tiefe von 4 — 5 Fuß auf die Mauern eines römischen Gebäudes stieß, welches seit einigen Jahren die Aufmerksamkeit der Archäologen auf sich gezogen hat." Vielleicht erklärt sich dieses Vorkommen in der Nähe der menschlichen Wohnstätten zum Teil dadurch, daß das Gewächs eine alte Kulturpflanze ist, die man wegen ihrer (wenigstens vermeintlichen) Heilkräfte anbaute. Seiner äußeren Erscheinung nach dürfte das Schellkraut wohl den meisten Lesern bekannt sein, denn es ist so häufig und dabei so leicht zu er- kennen, daß es kaum mit einer anderen ein- heimischen Pflanze verwechselt werden kann. Seine zarten gefiederten, oben dunkelgrün, unten blau- grün gefärbten Blätter, die vier gelben Kron- blätter, die auf die Verwandtschaft mit den Mohn- arten hinweisen, und vor allem der orangegelbe Milchsaft, der in sämtlichen Teilen der Pflanze quillt, sind auffällig genug. Weniger bekannt da- gegen dürfte die Kulturgeschichte des Schellkrautes sein, seine Rolle, die es in der Volkskunde spielte und noch heute spielt. Das Wichtigste, was ich in dieser Beziehung über das Schellkraut finden konnte, sei daher in den folgenden Zeilen nieder- gelegt. Ob die alten Griechen und Römer das Schell- kraut kannten bzw. ob es in ihren Schriften be- schrieben ist, läßt sich nicht mit Sicherheit fest- stellen. Theophrast (gest. 2S6 v. Chr.), der Schüler des großen Aristoteles, nennt in seiner „Naturgeschichte der Gewächse" (7, 15) eine Pflanze Chelidonion (= Schwalbenkraut, von griech.Chelidon = Schwalbe) und schreibt, daß sie zugleich mit der Wiederkehr der Schwalben blühe. Ob er da- mit aber wirklich unser Schellkraut (Chelidonium maius) meint, ist unbestimmt, da er keine Be- schreibung davon gibt. Fr aas,') ein guter Kenner der griechischen Plora, bezweifelt dies deshalb, weil Chelidonium maius in Griechenland selten und weil es da, wo er es fand, nämlich im Hochgebirge, erst im Juni blüht, also zu einer Zeit, wo die Schwalben schon längst da sind. Dagegen darf mit ziemlicher Sicherheit ange- nommen werden, daß der römische Militärarzt Dioskorides, der um die Mitte des ersten Jahr- hunderts n. Chr. seine „Arzneimittellehre" schrieb, das Schellkraut unter seinem „großen Chelidonion" verstand, denn seine Schilderung ^) dieser Pflanze paßt gut auf Chelidonium maius. Den Namen erklärt er wie Theophrast, daraus, daß das Chelidonion zugleich mit dem Eintreffen der Schwalben blühe, mit deren Wegzug aber ver- welke. Einige berichten, fügt er hinzu, daß, wenn eine von den jungen Schwalben erblinde, die Mutter das Kraut herbeihole und den Schaden heile. Dasselbe erzählt der Römer Plinius in seiner bekannten „Naturgeschichte" (25, 89), der entweder aus Dioskorides abschrieb oder die gleiche Quelle wie dieser benutzte. In der althochdeutschen Zeit war das Schell- kraut jedenfalls gut bekannt, denn in den uns erhaltenen althochdeutschen Glossan findet sich sein Name häufig als scelli-, scella- , scellin- wurz. Dieser Name scheint kein einheimischer, sondern aus dem griechischen chelidonion (im Latein das Mittelalters celidonia) entlehnt zu sein, offenbar mit Anlehnung an das althochdeutsche scelle (= Schelle). Es ist jedoch kaum anzu- nehmen, daß die Pflanze, wie so viele andere Heil- pflanzen, erst von den Römern nach Deutschland eingeführt wurde und so den fremden Namen mit- brachte. Eher ist möglich, daß die Germanen die Verwendung der Pflanze zu Heilzwecken (durch Vermittlung der Mönche) aus den Schriften des klassischen Altertums kennen lernten und so dem bisher wenig beachteten Gewächs den an das Lateinische anklingenden Namen gaben. Jeden- falls erwähnen die alten deutschen Kräuterbücher alle mehr oder weniger ausführlich das Schell- kraut, jedoch fußen fast alle ihre Angaben auf den Berichten des Dioskorides, bzw. des *) Die Vegetationsverhaltnis.se . . . der Wörnitz und Alt- mülil. Nördlingen 1S48, loi. ') Synopsis plantar, florae classicae. München 1845, 126. ^) Mat. medica 2, 211. 602 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 42 Plinius, die ja bekanntUch bis zum Beginn der Neuzeit als unumstößliche Autoritäten galten. Der Regensburger Domherr Konrad von Megen- berg (geboren um 1309 n. Chr.) schreibt in seinem „Buch der Natur" ^) vom Schellkraut: „Celidonia haizt schellkraut, daz ist haiz und trucken, sam Platearius [Arzt des 12. Jahrh.] spricht, daz kraut rainigt daz haupt und scherpfet daz gesicht. Isidorus [594 Bischof von Sevilla, schrieb über die Ableitung der Wörter] spricht, daz daz kraut der swalben kraut sei; wan ist, das du den jungen swalben mit ainer nadeln in die äugen stichst, so pringt ir niuoter zehant [= sogleich] die pluomen von dem kraut und halt die an der kindel äugen, so kümt in daz gesicht wrider. des krauts saf [Saft] ist den äugen gar guot, wan ez benimt die plätern in den äugen und die scherpfen [Schärfe] und din weizen mail [weißen Flecken]." Von den Kräuterbüchern des 16. Jahrhunderts, die sich in- haltlich alle mehr oder weniger miteinander decken, da sie alle aus denselben Quellen (haupt- sächlich Theophr^st, Dioskorides, Plinius) schöpfen, sei nur das „New Kreutterbuch" usw. des Hieronymus Bock (1495 — 1554) angezogen. Dieser beschreibt die „Schölwurtz" recht anschau- lich : „Wir haben mit unsern Schölwurtzeln zu handeln / deren zwei geschlecht ist. Das groß [= Chelidonium malus] rnit den zarten zerhawenen schönen grossen blettern / anzusehen beinah wie Agleienkraut / oder die bletlin so sie abbrechen werden vom Kraut / dem Eichenlaub zu ver- gleichen. Von färben Schweitzergrün / aufT der ander selten Spongrün / oder biogrün färb / mit runden weissen hoorechten [haarigen] Stengeln. Mit vilen neben esten / wie ein bäumlin. Ein jedes zweiglin am rechten Stengel gleychet [gegliedert] und knopffich / gewint in der höhe schöne gäle blumen / als gäle Violen. Darauß zu letst lange schöilin oder hörnlin wachsen / darin gäler bleicher kleiner samen zeitiget. Das kraut / Stengel / und blumen so mans letzt [verletzt] gibt es gäle milch. Am allermeisten aber die wurtzel / welche ganz goltgäl ist mit vilen nebenzaseln / und ein schönen safifran färben safft (so sie geletzt wärt) von jr fallen lest / eines starken geruchs / vnd bittern geschmacks auff der zungen. Wächßt allenthalben sonderlich bei den unkreutern an den mauren und alten gebeuen [Gebäuden]." Die „krafft und würckung" schildert Bock folgendermaßen: „Der bitter safft des Schölkrauts und wurtzel ist hitziger natur. Eröffnet innerlich gebraucht die verstopffte Leber / reiniget außwendig faule wunden / und macht klare äugen. . . . Schölwurtzel mit änis samen in weissem wein gesotten und getrunken eröffnet die Leber / und vertreibt die Gälsucht. Ein handtvoll geseubert Schölwurtzel in einer halben maß Rosen essigs gesotten / dann durch gesigen [geseiht] darein zertriben drei lot Tyriak [Theriak] und des trancks ein gemein gläßlin voll getruncken / nidergelegen und ge- schwitzt / ist ein bewert stuck so jemands die pestilentz hett angestossen. . . . Schölwurtzsofft im Meien gesamlet / in eim küpfferin geschirr mit honig gekocht / ist ein köstlich augenartznei / die macht es klar und hall / darein gedropffet. . . . Das angesicht mit Schölkrautwasser geweschen vertreibt die masen / heilet die pestilentzblater / stillet das glidwasser [Wassersucht?]. Safft von Schölwurtzel heilet die fisteln / krebs und den wolff / benimpt das zanwee / mit essig im mundt gehalten. . . ." Heutzutage wird das Schellkraut von der wissen- schaftlichen Medizin nicht mehr beachtet, während es in der Volksheilkunde noch immer eine große Rolle spielt. Vor allem dient sein ätzender Milch- saft zum Vertreiben der Warzen. In vielen Fällen genügt jedoch nicht die einfache Anwendung des Mittels; es muß noeh allerlei Geheimnisvolles da- bei beobachtet werden. Im Aargau muß das Schellkraut, mit dem man die Warzen betupft, auf dem Kirchhof gewachsen sein, ') nach einem Tiroler Volksglauben soll es bei abnehmenden Mond gepflückt werden. ^) Daß Warzen und über- haupt Krankheiten bei abnehmendem Monde am leichtesten zu vertreiben sind, ist ein weitver- breiteter Glaube der „sympathetischen" Medizin, die dem Mond allerlei Einflüsse auf den körper- lichen Zustand des Menschen einräumt (Abnehmen des Mondes = Abnehmen der Krankheit). In Mittelfranken betupft man die Warzen während einer Beerdigung mit dem Saft des Schellkrautes.*) Wahrscheinlich liegt diesem Brauch eine ähnliche sympathetische Verbindung zugrunde: Wie der Tote im Grabe verwest, so sollen die Warzen ver- schwinden. Der Altausseer (Steiermark) glaubt, daß der gelbe Saft nur dann die Warzen vertreibe, wenn man sie nach dem Bestreichen nicht mehr anschaue. ■*) Während man dem scharfen Saft des Schell- krautes als Atzmittel zur Beseitigung der Warzen eine gewisse Wirkung nicht absprechen kann, beruht seine volksmedizinische Verwendung gegen Gelbsucht wohl auf einer reinen Äußerhchkeit. Nach der Lehre von der Signatura rerum, der zu- folge gewisse Pflanzen nach ihrer äußeren Form oder Farbe gegen bestimmte Krankheiten wirk- sam sein sollten (z. B. Pflanzen mit roten Blüten oder Wurzelstöcken gegen Blutfluß, mit schlangenähnlich gewundenen Wurzelstöcken gegen Schlangenbiß usw.) mußte das Schellkraut mit seinen gelben Blüten und seinem gelben Saft un- fehlbar ein Mittel gegen Gelbsuch; sein. Zeigt doch so die „gütige Natur" selber der leidenden Menschheit die Hilfe an ! Schon der oben ge- nannte Dioskorides empfahl die Wurzel des Cheli- donion mit Anis und Wein getrunken gegen Gelbsucht und in der Tat wird unsere Pflanze 225. ') Hrsg. V. F. Pfeiffer, Stuttgart 1861, 390. ') Zeitschr. f. d. Mythol. u. Sittkde. 4, 115. ^) Zeitschr. d. Deutsch, u. Österr. Alpenver. Jahrg. 1886, ^) Mitgeteilt von Herrn Präparandenlehrer Kehr, 1909. *) Andrian, F. v., Die Altausseer. Wien 1905, 137. N. F. XVni. Nr. 42 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 603 nicht nur bei germanischen, sondern auch bei romanischen und slavischen Völkern als Heilmittel bei Gelbsucht gebraucht. Nicht selten findet sich die Vorschrift, daß man zu diesem Zweck die Blätter des Schellkrautes in die Schuhe legen und darauf gehen müsse. *) In Mecklenburg backt man die Schellkrautblätter in einen Eierkuchen und gibt diesen dem Gelbsüchtigen zu essen. ") IVIan „verstärkt" hier offenbar nach dem Grund- satz „doppelt genäht hält besser" das gelbe Schellkraut durch das Eigelb. Ein bäuerliches Sympathierezept aus Neumarkt an der Rott (Ober- bayern) lautet folgendermaßen : *) 9, 7, 5 oder 3 Schellkrautwurzeln und ebensoviele Wachs- bröckchen von einem zu Lichtmeß geweihten VVachsstock werden in einem Fleck eingenäht und rückwärts zwischen den Schulterblättern auf dem bloßen Körper umgehängt. Täglich sind so viele „Vaterunser" zu beten als Wurzeln eingenäht sind. Nach 9 Tagen wird dann das Päckchen rückwärts ins Wasser geworfen und die Gelbsucht ist weg." Vermutlich ist auch der rötlich- gelbe Milchsaft des Schellkrautes der Grund, daß man es in Niederbayern gegen Rotlauf verwendet und daher auch „Rotlaufgras" nennt. *) Dieselbe Krankheit heißt im Bairisch-Österreichischen auch der „Afel", daher die Bezeichnung „Afelkraut" in Niederösterreich, Steiermark und Kanten. '') Dieser rötlich-gelbe Milchsaft unserer Pflanze mag auch die Veranlassung dazu gegeben haben, daß die Letten das Schellkraut gegen Blutharnen der Kühe für wirksam halten. *) Überhaupt scheint man wieder nach dem Grundsatz ,,Similia simili- bus" (Ähnliches durch Ähnliches) den Milchsaft des Schellkrautes mit der Kuhmilch in Verbin- dung zu bringen. So gibt die einst weitverbreitete ,, Kleine doch kurieuse und vermehrte Bauern- Physik" von L. F. Paullini (Frankfurt u. Leipzig 171 1) folgendes Mittel, „wenn die Kühe ver- seigen" (= keine Milch mehr geben): „Schell- wurzel mit Kraut gib der Kuh zu fressen, dann gibt sie wieder Milch" (S. 135). Das nämliche berichtet J. Chr. Pachelbl in seiner 17 16 (anonym erschienen) „Ausführlichen Beschreibung des Fichtelberges" usw. (S. 155): „Damit ich mich aber mit abergläubischen Sachen nicht länger aufhalte, sondern auch etwas Nützbares und in das Haushalten Dienliches anbringe, will ich dasjenige mittheilen, das ich observiert habe, wie die Fichtelbergische Bauernweiber die Milch der Kühen zu vermehren pflegen. Sie nehmen ') Martin u. Lienhart, Wörterbuch der elsäss. Mund- arten, l (1899), 552. ^) Bartsch, K. , Sagen usw. aus Mecklenburg. Wien 1880, 2, 108. ') Aus dem Archiv des Vereins für bayrische Volkskunst u. Volkskunde. München. *) Marzell, G., Altbayrische Volksbotanik. Würzburg (1909), 8. ^) Marzell bei Hegi, lUustr. Flora von Mitteleuropa. München ^, 21. ®) Histor. Studien aus dem pharmakol. Institut der Kaiserl. Universität Dorpat. Hrsg. v. Kobert. 4 (1894), 241. nemlich die Schöllwurtz mitsambt dem Kraut und gebens denen versiehenen Kühe (bei denen die Milch versiegt ist) zu essen, dann geben sie viel Milch." Gerne wird auch unsere Pflanze bei Hautver- letzungen, Brandblasen usw. aufgelegt, woher die im Plattdeutschen ziemlich häufigen Bezeich- nungen Schindkrut, Schinnwatt (gegen aufgeschundene Stellen) rühren. ^) Das Auflegen des gepreßten Krautes bei Geschwülsten, das auch ab und zu im Volke empfohlen wird, mag immerhin als Kühlmittel einige Linderung bringen. Was ist wohl der Grund, daß man das Schell- kraut in der Volksheilkunde gegen Augenleiden verwendet? Zunächst geht diese Verwendung jedenfalls auf die Autorität des Dioskorides zurück, der sagt, daß „der mit Honig gemischte und in einem ehernen Geschirr über Kohlen gekochte Saft des großen Chelidonion der Schärfe des Ge- sichts diene." Nach Plinius") soll die „ge- sichtsschärfende" Eigenschaft so groß sein, daß die jungen Schwalben, selbst wenn ihnen die Augen ausgestochen sind, durch das Schellkraut wieder sehend werden. Soll etwa gar das leuch- tende Gelb der Blüten (daher auch wohl die alte Benennung „Lichtkraut") das schwachsichtige Auge wieder auffrischen? Jedenfalls wird das Schell- kraut auch noch heute ab und zu gegen Horn- hauttrübungen (das „Fell im Auge") verwendet. Es heißt daher in Ostfriesland „Ogenklar" [Augen- klarj. ^) Ebenso gehört der schweizerische Name „Nagelchrut" hierher; unter „Nagel" versteht hier das Volk „Flecken in den Augen". *) Ein altes Arzneimittelbuch aus dem Simmental (Kanton Bern) empfiehlt für „das F'ell in den Augen" der Pferde": „Im abnehmenden Mond im Namen der heiligen Dreifaltigkeit Schellkraut dem Pferd an den Hals gebunden." ^) Auffallig erscheint die Verwendung des Schellkrautes als Mittel gegen Auszehrung und Schwindsucht, da sich diese Ver- wendung weder bei den antiken Schriftstellern noch in den Kräuterbüchern des 16. Jahrhunderts, aus denen zumeist die heutige Volksmedizin be- wußt oder unbewußt schöpft, erwähnt ist. K. E. von Moll, der Ende des 18. Jahrhunderts das Zillertal bereiste, erzählt, das Schellkraut heiße dort „Schwindwurz". Wenn sie wirken soll, dann muß der Gräber nackt sein, auch darf sie nicht mit der bloßen Hand berührt werden. Mit dem „Schwindholz" [= Eschenholz] und Erde vom Kirchhof in einen ledernen Beutel gefüllt, wird die Schwindwurz dem schwindsüchtigen Menschen umgehangen. ") Auch in der Gegend ') Schiller, K., Zum Tier- u. Kräuterbuch des mecklen- burg. Volkes. Schwerin i86x — 64, 1, 29. ^) Hist. nat. 25, 89. ') Dornkaat, J. ten, Wörterbuch der ostfriesischen Sprache. Norden 1877 fif., 2, 678. *) Schweizer Idiotikon. Frauenfeld 188 1 ff., 3, 903. ^) 16. Bericht der geogr. Gesellsch. von Bern 1S97. Bern 1898, 189. "J Naturhistor. Briefe über Österreich, Salzburg usw. Salzburg 1785, 2, 363. 6o4 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVm. Nr. 42 von Detmold hilft Branntwein, in dem Stengel und Wurzel des Schellkrautes angesetzt sind, gegen Schwindsucht und Krebs. ^) Als Sym- pathiemittel allgemeiner Natur, um das „Schwin- den" der Krankheit zu veranlassen, gilt das Schellkraut ebenfalls. Zu diesem Zwecke muß man zu einer ungeraden Stunde (ungerade Zahlen, man denke an 3, 7, 9 oder 13, spielen im zauberischen Tun eine besondere Rolle 1) drei Schellkrautpflanzen mit der Wurzel ausgraben und in ein Bündelchen schnüren. Dies wird um den Hals gehängt und gewartet, bis die drei Pflanzen vertrocknen. Wenn dies geschehen, so nimmt auch die Krankheit ab. -) Ohne auf Näheres einzugehen, sei noch be- merkt, daß das Schellkraut in der Volksmedizin auch gegen Zahnweh, gegen Wassersucht, Leber- leiden und gegen Zittern der Hände Verwendung findet. Wie fast alle Heilkräuter, vornehmlich aber solche, die in der Nähe der menschlichen Wohn- stätten wachsen, tritt uns das Schellkraut auch im Zauberglauben entgegen. Vielleicht galt es einer animistischen Naturbetrachtung als Sitz eines Dämons. Hier ist besonders eine Stelle anzu- führen aus dem „Buch der Versammlung" (Liber aggregationis). Dieses Werk wurde früher all- gemein dem gelehrten Bischof von Regensburg Albert dem Großen (Albertus Magnus, geb. 11 93) zugeschrieben. Es ist jedoch sicher, daß dieser als Philosoph und besonders als Naturforscher be- rühmte IMann das erwähnte „Buch der Versamm- lung", das ein Sammelsurium der widersinnigsten Zaubereien und Zauberkunststücke darstellt, nicht verfaßte. Wahrscheinlich diente der Name Alberts des Großen nur als Reklame für das wertlose Machwerk, das übrigens auch in späteren Jahrhunderten immer wieder abgeschrieben und oft zitiert wurde. Das 4. Kapitel dieses „Buches der Versammlung" (nach der Ausgabe Straßburg 1508) lautet folgendermaßen: „Dz fierde krüt wirt genannt von den kaldaier Aquilaris wan es wachßt zu der zyt so die adler ihr nester machen. Von die kriechen [Griechen] wurt es geheyssen Valis, von den latinischen Cliedonia [= cheli- donium] dz ist Schellwurtz. Dis krut [blüht] zu der zyt so die swalben nester machen, so wechst es auch so die adler nisten. Dis krut so dz jemants mit eins Mulwerffenhertz [Maulwurfs- herzen] (trägt) das überwindt alle sigent alle [Seuchen] und thut hinweg alle krieg und hader. Vnd so dise vorgesagten ding gelegt werden uff dz haubt eins kranken menschen, soll der sterben, so singt er alsbald mit gantzer Stymme, ist er daß er nit stürbt, so weinet er." Bemerkenswert erscheint, daß das Herz eines Maulwurfes in Schellkraut eingewickelt bei sich getragen noch heute nach dem Tiroler Volksglauben über- menschliche Stärke verleihen soll ') Der Maul- wurf, der hier eine ganz besondere Kraft haben soll, galt von jeher wegen seiner unterirdischen Lebensweise als geheimnisvolles (elbisches) Tier. Plinius berichtet in seiner „Naturgeschichte" (30, 19) einen Glauben der Magier, demzufolge derjenige, der ein rohes, noch zuckendes Maulwurfsherz esse, prophetische Gaben bekomme. Ebenso finden wir das Schellkraut nicht selten als einen Bestand- teil von Zaubersalben, „Malefizpflastern" und „Balsamen gegen alle Zauberei", mit denen in früheren Zeiten „verschrieene" Kinder oder von Dämonen besessene Menschen „behandelt" wurden. '') Auch bei den Letten wendet man das Schellkraut gegen „Hexen im Haus" an und heißt es daher „Hexenkraut". *) Im Egerland muß man das „Nagelkraut" (womit möglicher- weise unser Schellkraut gemeint ist) am Char- freitag vor Sonnenaufgang ausgraben. Seine Wurzel erschließt dann die in den Felsen ver- borgenen Schätze. ^) All diese heilkräftigen und wundertätigen Eigenschaften des Schellkrautes waren wohl, ver- bunden mit mangelhaften Sprachkenntnissen, der Anlaß, daß das Wort chelidonium als ,,coeli donum" (= Geschenk des Himmels) gedeutet und der Pflanze daher auch der deutsche Name „Gottesgabe" verliehen wurde. Oder ist es etwa umgekehrt, daß dieser mißverständlich gebildete Name der Ausgangspunkt für den Aberglauben wurde.' Heutzutage führt das Schellkraut zumeist ein bescheidenes und wenig beachtetes Dasein an Hecken, Mauern, Zäunen usw. Jedenfalls wäre es wünschenswert, wenn sich die pharmakologische Wissenschaft wieder eingehender mit dem einst so gerühmten Kraut beschäftigen würde. Viel- leicht würden genau angestellte Versuche doch zu Ergebnissen über gewisse Heilwirkungen des Schellkrautes führen. ^) Zeitschr. des Vereins f. rhein. u. westfäl. Volkskunde. 3 (igo6), 231; vgl. auch Martin u. Lienhart, Wörterb. d. elsäss. Mundarten. 1 (1899), 532, und S c h ö n w e rth , Fr., Aus der Oberpfalz. Augsburg 1857 ff., 3, 258. -) Mitgeteilt von Präparandenschüler Gronauer, Zim- mern, Weißenburg i. B. 1909. ') Zeitschr. d. Ver. f. Volkskunde. Berlin 8 (1898), 41. } ^g'- auch Keller, O., Die antike Tierwelt. Leipzig 1 (1909), 22 f. ; Höfler, M., Die volksmedizinische Organo- therapie. Stuttgart, 250. '•') Seligmann, S., Der böse Blick. Berlin igio, 1, 388, 396; 2, 103. *) Histor. Studien aus dem pharmakol. Institut der Uni- versität Dorpat. Hrsg. v. Kobert. 4 (1S94), 174- •'') John, A., Sitte, Brauch und Volksglaube im deut- schen Westböhmen. Prag 1905, 227. N. F. XVIII. Nr. 42 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 605 Über zwei mechauisch bedingte Gesetzmäßigkeiten im Bau der Blutgefäße. Von Dr. M. Schips in Schwyz (Schweiz). [Nachdruck verboten.] Mit 4 Abbildungen. Daß es für die Organe des Blutkreislaufes von die beiden Gefäße auf der Strecke AC gemein- größter Bedeutung ist, für ihre Arbeit nach dem sam geführt werden. Dieser kürzeste Weg ist Prinzip des kleinsten Kraft verbrauch es eingerichtet aber nur dann der günstigste, wenn wir von dem zu sein, geht schon aus der Größe der Leistung Energieverlust absehen, welcher bei engen Ge- hervor, welche von diesen Organen während des ganzen Lebens ununterbrochen gefordert wird. Beträgt doch die Tagesarbeit des menschlichen Herzens ungefähr iSooomkg. Bei einer solchen enormen Beanspruchung sind unnütze Energie- ausgaben sehr unwahrscheinlich, weil sie die Lebensfähigkeit des Organismus stark einschränken würden. Es sind also im Bau der Zirkulations- organe Anordnungen zu erwarten, welche es ihnen ermöglichen, mit kleinstem Kraftaufwand den größten Effekt zu erzielen. Im folgenden sollen einige neuere Forschungsergebnisse besprochen werden, welche das tatsächliche Vorhandensein optimaler Verhältnisse in den Kreislauforganen aufzeigen; sie wurden von Walter R. Heß^) unter Anwendung des Prinzips vom kleinsten Energieaufwand zuerst mathematisch abgeleitet und dann auf ihre tatsächliche Verwirklichung empirisch nachgeprüft. So bilden sie zugleich ein hervorragendes Beispiel, um die Fruchtbarkeit mathematischer Überlegungen für die biologische Forschung zu zeigen und sind in diesem Sinne ein bedeutsames Gegenstück zu der Meyer- Culmann'schen Entdeckung des gesetzmäßigen Verlaufes der Balken im Schwammgewebe der Röhrenknochen. E"ür die Größe der energetischen Belastung der Blutadern ist außer der Menge des Blutes und seiner inneren Reibung auch der Druck be- stimmend, welcher notwendig ist, um die Blut- flüssigkeit trotz des Widerstandes der Gefäße in Zirkulation zu erhalten. Dieser Druck ist der Gegenstand der folgenden Berechnungen; er ist abhängig 1. von der Länge der vom Blut zurückzulegen- den Strecken, also von der Art der Verzweigung des Gefäßnetzes, 2. vom Querschnittsverhältnis der Gefäße. I. Berechnung des günstigsten Verzweigungswinkels. ^) Es sei in der Abbildung i A die Ursprungs- stelle eines Gefäßes, welches zwei Stellen B zu versorgen hat. Dem Verlangen nach möglichster Kürze des Weges würde durch die geradlinige Führung, wie sie durch die beiden Geraden AB angedeutet ist. Genüge geschehen, da diese die kürzeste Verbindung zwischen A und B darstellen, kürzer, als z. B. der Umweg über C, bei welchem fäßen größer ist, als bei weiten. Der Reibungs- ') Die wichtigsten Ergebnisse sind von W. R. Hess zu- sammengefafit in seiner Zürcher Antrittsvorlesung: Die Zweck- mäßigkeit im Blutkreislauf. Verlag Schwabe, Basel 1918. ^) Hess, W. R., Eine mechanisch bedingte Gesetzmäßig- keit im Bau des Blutgefäßsystems. Archiv für Entwicklungs- inechanik der Organismen. i6. Bd. 1903. widerstand einer Leitungsröhre ist nämlich unter sonst gleichen Bedingungen abhängig von dem Verhältnis der Wandflächen F zum Volumen V der Röhren. Unter Annahme einer zylindrischen Röhre von der Länge 1 ist also der Widerstand proportional dem Verhältnis: F 2 r yr 1 2 V T^Ttl r Der Reibungswiderstand nimmt also bei kleiner werdendem Radius der Röhre zu. Bei Kapillaren wächst er aber noch viel schneller, als aus obiger Formel hervorgeht; er ist dann nach dem Gesetz von Poiseuille') umgekehrt proportional zum Quadrate der Fläche, also zur vierten Potenz des Radius. Hieraus geht hervor, daß der Energie- verlust in engen Gefäßen sehr rasch hohe Werte erreicht und daß in Abbildung i der Umweg über C vorteilhafter ist, weil so ein Teil der engeren Bahn durch die gemeinsam geführte Strecke AC, welcher wegen des größeren Radius ein kleinerer Energieverlust entspricht, ersetzt ist. Es handelt sich nun darum, die günstigste Ver- zweigungsstelle, d. h. den günstigsten Ver- zweigungswinkel a zu ermitteln. Zu diesem Zwecke kann man folgendermaßen vorgehen: In der Abb. 2 stelle die senkrechte Gerade einen Hauptast dar, von dem aus eine Verzweigung nach P geführt werden soll. Der Energieverlust, den das Blut beim Zurücklegen ') Daß das P oi s e uill e sehe Gesetz im Blutkreislauf fast ohne Beschränkung Gültigkeit hat, wurde von Hess wieder- holt nachgewiesen. Man vergleiche folgende seiner Veröffent- lichungen : Viskosität des Blutes und Herzarbeit. Vieneljahrs- schrift der Zürcher naturforsch. Gesellsch. 1906. — Gehorcht das Blut dem allgemeinen Strömungsgesetz der Flüssigkeiten? Pflügers Archiv 162. Bd. 1915. — Reibungswiderstand des Blutes und P ois eu i 11 esches Gesetz. Zeitschr. f. klin. Medi- zin 71. und 74. Bd. — Der Strömungswiderstand des Blutes gegenüber kleinen Druckwerten. Archiv für Anatomie und Physiologie. Physiol. Abteilung. 1912. 6o6 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVm. Nr. 42 einer Strecke von i cm im Stammgefäß erleidet, sei g, im Astgefäß, wo er natürlich größer ist, G. Wir wählen nun zuerst zwei Verzweigungen AP und BP derart, daß ihnen der gleiche Energie- verlust entspricht. Diese Bedingung ist formuliert durch die Gleichung: I AP.G = AB.g + BP.G Von P aus wird mit BP als Radius der Kreis- bogen BC gezogen. Setzt man nun AB=:1, ferner A C = d und B P = a, dann geht die Gleichung I über in die Form (a + d).g = lg+aG aG+dG = lg + aG dG = lg n d:l = g:G Die günstigste Verzweigung muß nun zwischen A und B ausgehen, da ja der Winkel ß zu klein und der Winkel ß zu groß gewählt ist. Läßt man nun, unter Aufrechterhaltung der durch die Gleichung I formulierten Bedingung, die Scheitel- punkte der beiden Winkel immer näher gegen- einander rücken, dann j/erden auch die beiden Winkel sich immer mehr nähern und zuletzt nur Abb. 2. einen Winkel bilden, welcher eben den günstigsten Verzweigungswinkel darstellt. Dabei wird der Bogen BC immer mehr mit der Sehne identisch und die PMäche ABC zu einem rechtwinkligen Dreieck umgeformt. Dann läßt sich der günstigste Verzweigungswinkel aus der Abb. 2 und aus der Gleichung II unmittelbar ablesen: cos a = d : 1 = g : G Es ergibt sich also das Gesetz :Dergünstigste Verzweigungs Winkel eines Astes ist derjenige, dessen Cosinus gleich ist dem Verhältnis de;s Energie Verlustes, den das Blut im Stammgefäß erleidet, zu demEnergieverlust, den es in einem gleich langen Aststück erfährt. Nach diesem Gesetze gestaltet sich der Verlauf der Blutgefäße auf folgende Weise: Für enge Äste ist derjenige Abzweigungspunkt der vorteil- hafteste, welcher einem Abzweigungswinkel von annähernd 90" entspricht; denn in engen Gefäßen ist G im Verhältnis zu g sehr groß, so daß der Cosinus des Verzweigungswinkels gegen Null kon- vergiert. Diese Verzweigungsart (Verzweigung D in Abb. 3) ist durch die längste, gemeinsame Strecke in dem weiteren Stammgefäß ausgezeichnet. Überhaupt geht bei ungleichmäßiger Verzweigung die Führung der Äste immer so, daß der stärkere Ast unter dem kleineren Winkel entspringt, da ihm ein größerer Energieverlust G entspricht (Verzweigung C); bei Teilung des Stammes in zwei gleich starke Äste erfolgt die Abzweigung, da G für beide Äste gleich ist, unter dem gleichen Winkel (Verzweigung B). Zur Prüfung der tatsächlichen Verhältnisse bei den Blutadern auf ihre Übereinstimmung mit dem „Cosinusgesetz" eignet sich jede flächig ausge- dehnte Gefäßverzweigung. R o u x ^) fand hierbei schon 1878, also 25 Jahre vor der Formulierung des Gesetzes durch Hess folgende Gesetzmäßig- keiten, welche in dem genannten Gesetz ihre Er- klärung finden: „Regel VI: Teilt sich ein Stamm in zwei Abb. 3. gleich starke Äste, so stehen beide in gleichem Winkel zur Richtung des Stammes." „Regel Ild: Die Ablenkung des Arterien- stammes (= Hauptastes) ist stets geringer als die Ablenkung des Astes (Nebenastes) von der ur- sprünglichen Stammesrichtung." „Regel XI; Diejenigen Äste der Aorta, der Arteria brachialis, femoralis und der Herzarterie, welche so schwach sind, daß bei ihrer Abgabe der Stamm keine Ablenkung zeigt, entspringen meist unter großen, über 70" betragenden Winkeln." „Regel XII: Äste, welche so stark sind, daß bei ihrer Abzweigung der Stamm beträchtlich abgelenkt ist, entspringen meist unter Winkeln von weniger als 70"." Man sieht, daß die von Roux aufgestellten Regeln die durch das Cosinusgesetz festgelegten Verhältnisse deutlich wiedergeben; wie beim Knochen in der Struktur der Spongiosa finden ') Roux, W., Über die Verzweigung der Blutgefäße des Menschen. Jenaische Zeitschrift für Naturwissenschaft. 12. Bd. 1S78. — Auch in Roux- Gesamnielte Abhandlungen über Entwicklungsmechanik der Organismen. X. Bd. Leipzig 1S95. N. F. XVm. Nr. 42 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 607 wir hier in bezug auf die Verzweigungswinkel eine unverkennbare Anlehnung an die günstigste Gestaltung. Eine strikte Befolgung des Gesetzes kann freilich nicht erwattet werden, weil noch eine Reihe anderer Faktoren in der Regel mit- beteiligt sind und die unbeschränkte Geltung eines einzigen Prinzipes nicht zulassen. Solche Faktoren sind : Pressung durch die Muskeln, Verlegung des Weges durch andere Gebilde, nachträgliche Ver- lagerungen. Bei den Venen, wo im Gegensatz zu den Arterien der Energieverlust überhaupt wenig in Betracht fällt, wird man das Gesetz nur in besonders günstigen Ausnahmefällen bestätigt finden. 2. Berechnung des günstigen Quer- schnittsquotienten. Da der Energieverlust bei einer weiten Strom- bahn kleiner ist, als bei einer engen, so wären an sich möglichst weite Adern das Optimum für die Blutgefäße. Im lebenden Organismus sind aber der Querschnittsentwicklung der Blutgefäße bestimmte, ziemlich enge Grenzen gesetzt. Die wichtigste einschränkende Bedingung ist, daß die im Körper vorhandene Blutmenge ausreichen muß, um den Rauminhalt des ganzen Systems auszu- füllen. Mit der Erweiterung der Adern müßte auch eine Vermehrung der Blutmenge verbunden sein; eine solche ist aber ausgeschlossen, weil sie den Stoff- und Krafthaushalt des Organismus zu sehr einseitig belasten würde. Es müssen also mit jeder Verzweigung die Äste enger werden und es ist von größter Bedeutung, daß das Maß dieser Verengung sich nach den für die Druck- verteilung günstigsten Verhältnissen richte. Da die Äste einzeln enger sind, als der Stamm, vergrößert sich der Widerstand mit jeder neuen Verzweigung, wenn die Erhöhung des Wider- standes nicht durch eine Vergrößerung des Ge- samtquerschnittes ausgeglichen wird. Die Summe S der Querschnitte der Äste muß also größer sein als der Stammquerschnitt Q. Der Grad dieser Verbreiterung der Strombahn findet sein bei den Kapillaren vielfach zutrifft, in zwei gleich starke Äste teilt. Nach dem Poiseuill eschen Gesetz ist der Widerstand einer Strombahn von sehr engem Durchmesser dem Quadrat ihres Querschnittes Maß im Verhältnis der Summe der Astquerschnitte zum Stammquerschnitt, also in dem Quotienten S:Q, welcher im folgenden Querschnitts- quotient genannt werden soll. Indem man nun den Widerstand als Funktion dieses Querschnitts- quotienten ausdrückt, muß es möglich sein, den- jenigen Querschnittsquotienten zu finden, bei wel- chem keine Widerstandserhöhung infolge der Ver- zweigung eintritt. Hess^) gibt die Berechnung an für den Fall, daß sich die Blutbahn, wie dies ') Hess, W. R., Über die periphere Regulierung der BlutzirkulatioD. Pflügers Archiv für die gesamte Physiologie. 168. Bd. 1917. umgekehrt proportional. Es ist also der Wider- stand Wj des zu teilenden Stammes ausdrückbar durch die Beziehung: wobei K von der inneren Reibung der Flüssigkeit und von der Länge der Strombahn abhängt und im folgenden als konstant angenommen wird. Es sei nun weiter W., der Gesamtwiderstand der beiden Äste, ferner w der Widerstand und q der Querschnitt eines jeden der beiden Äste, die Summe der Astquerschnitte ist dann S = 2 q. Das Volumen V des Blutes im Stamm wird gleich- mäßig auf die beiden gleichen Äste verteilt; man hat also: V^V-)-V = 2V I ^ I ' ^ Wj w w w W _ w_ K _ 2K _2K - 2 2q"^~(2q)^ S^ ■ n w, = |^ Es soll nun die Bedingung gesucht werden, unter welcher das Verhältnis der beiden durch die Gleichungen I und 11 ausgedrückten Widerstände Wj und Wo zu den entsprechenden Querschnitten sich möglichst wenig verändert. Dies ist offenbar dann der Fall, wenn die Differentialquotienten der beiden Widerstände nach den zugehörigen Quer- schnitten einander gleich sind, d. h. also, wenn die Beziehung besteht: dWi_dW, dQ ~ dS Denn hier wird, wie aus der Gleichung unmittel- bar ersichtlich ist, jede Vergrößerung von W^ gegenüber Wj durch eine Erweiterung von S gegen Q ausgeglichen und umgekehrt. Die Gleich- setzung der Differentialquotienten ergibt unter Berücksichtigung der Gleichungen I und II: _2K__2.2K I 2 Q^""Sä S» =2Q* S=:/2.Q=i,26.Q. Es ist also für eine zusammengesetzte Strombahn mit Q als Stammquerschnitt und S als Quer- schnittssumme der beiden gleichen Äste das Op- timum des Querschnittsquotienten gegeben durch das Verhältnis: Q:S= I : 1,26 Die Nachprüfung dieses Gesetzes stößt insofern auf Schwierigkeiten, als alle möglichen Reize eine Querschnittsveränderung der zu messenden Gefäße bewirken können. Gelegenheit zur Bestimmung der Gefäßdurchmesser unter einigermaßen nor- malen Bedingungsgebieten bieten photographische 6o8 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 42 Aufnahmen des Augenhintergrundes. Es ergaben sich dabei folgende Werte:') Nr. der Messung i 2 3 4 Durchmesser des Stammgefäßes 0,093 mm 0,086 mm 0,080 mm 0,063 mm Durchmesser des Astes a 0,073 0,070 0,063 °.°5° Durchmesser des Astes b 0,073 °'°63 0,063 °>°5° Querschnitts- quotient 1,27 1,30 1,27 1,26 Eine andere Methode stützt sich auf die Be- stimmung der Wandmasse beim Stamm und bei den Ästen; unter der Voraussetzung, daß bei un- mittelbar aneinander anschließenden Gefäß- abschnitten die Masse der Wände der zu ertragen- den Spannung angepaßt sei, besteht bei Gefäßen verschiedener Lichtweite direkte Proportionalität zwischen Wandmaß und Querschnitt. Die 191 8 von Blum-) durchgeführten Bestimmungen an Mesenterialgefäßen von Pferden ergaben für den Querschnittsquotienten Werte, die in die unmittel- bare Nähe der günstigen Oberflächenvergrößerung von 26 "/o fallen, nämlich zwischen 1,23 und 1,44. Das von Hess unter der Voraussetzung glei- cher Querschnitte der beiden Äste abgeleitete Gesetz läßt sich auch allgemein entwickeln, wenn man das von Hess angenommene Verhält- nis 1:1 der beiden Astquerschnitte durch die allgemeine Beziehung i : n ersetzt. Dann sind q und nq die Querschnitte der beiden Äste, ihre Summe also ~S = q -|- nq = (n -f i)q. Die Widerstände, welche sich umgekehrt wie die Quadrate der Querschnitte verhalten, sind für den engeren Ast wn^ und für den weiteren w. Die Gleichung I für den Widerstand des Stamm- gefäßes I W =^ bleibt unverändert; die weitere Entwicklung ist: ' -- + — w. w n'w ny-i n^w -^;— , — , oder, da w = -5-0 n^K K (n^ + i) n^q^ (n^ + i) q"^ Der Nenner dieses Ausdruckes soll nun auf die Form S^ = (n -|- i)-q- gebracht werden ; dies wird n- -j- I erreicht, indem man die Gleichung mit , — , — rä (n-|-l)ä multipliziert. Dann ist ') Hess, W. R., Das Prinzip des kleinsten Kraftver- brauciies im Dienste hämodynamischer Forschung. Archiv f. Anat. u. Physiol. Phys. Abtlg. 1914. ') Blum, E., Über die Querschnittsbeziehungen zwischen Stamm und Ästen im Arteriensystem. Pflügers Archiv. 175. Bd. 1919- (n+i)^^^-(n + l)'-'q K W,= S^ (n'- + 2 n + l)K (n^+i)S dWi_dW2 dQ 2K dS 2(n+ir I =n (n2+i)S* n^ + 2n-f- I '' (n2+i)S* n*-|- 2n -|- I Q-f/ n^+i Für n= I erhält man das Verhältnis: S:0^ :fT wie es oben von Hess angegeben ist. Es ist von Interesse, die äußersten Werte zu kennen, welche dieses Verhältnis mit wechselndem n an- nehmen kann. Maxima und Minima der Kurve für den Querschnittsquotienten sind mit denjenigen des Radikanden gegeben ; um diese zu finden wird der Differentialquotient der Gleichung n^ + 2n + I gleich Null gesetzt. dy_(n"+ i)(2n4-2) — (n^+2n+i)2n d^" (n2+i)2 2(n--|- i)(n+ D— 2n(n=+ 2n + i)=o n" + n^ -j- n + I -= n^ -f 2 n^ + n , n^^i n = +l Für die Werte n ^= i und n = Maximum und Minimum vor. = O I liegt also f(+ i)= 1/ — = ^2= 1,26 (Maximum). f( — 1) = ]/ — = y2:=0 (Minimum). ■) = yi Die weitere Untersuchung der Kurve lehrt, daß sie im Abstände 1 die y-Achse schneidet und sich nach rechts und links asymptotisch der Geraden y = I nähert. Die Gestalt der Kurve zeigt Abb. 4. Für unseren Zweck kommt nur die rechte Seite der Kurve in Frage, da n nicht kleiner als Null werden kann. Auf der horizontalen Achse sind die Werte für n, auf der vertikalen diejenigen für den Querschniltsquotienten eingetragen. Das Maximum wird für n = i erreicht; die Ver- zweigung in zwei gleiche Äste erfordert also zur Erhaltung des gleichen Gesamtwiderstandes die größte Querschnittsverbreiterung, nämlich 26 "/q. Für alle anderen Arten der Verzweigung ist dieser Betrag kleiner; am kleinsten für die Werte n = O und n = =0; beiden Fällen entspricht N. F. XVni. Nr. 42 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 609 aber gar keine Verzweigung und in diesem Falle bleibt der Querschnittsquotient ^ i. iVIit diesem Resultat stimmt die Angabe von Blum überein (a.a.O. S. 18), daß der günstigste Querschnittsquotient bei asymmetrischer Verzwei- gung im Vergleich zur symmetrischen eine Ver- Abb. 4. kleinerung erfahre; doch erreicht diese Verminde- rung erst bei sehr erheblichen Astunterschieden, wie sie bei den Untersuchungen Blums nicht vorgekommen sind, einen Betrag, welcher prak- tisch ins Gewicht fällt. — Trotzdem ist aber die symmetrische Aufteilung des Gefäßsystems überall dort die vorteilhafteste, wo es sich um gleich- mäßige Verteilung der Blutmenge handelt, wie dies bei den kapillaren Enden wohl immer der Fall ist. Die letzte Gabelung muß, wenn es sich um die gleichmäßige Versorgung von zwei Zellen bzw. Zellkomplexen handelt, mit Notwendigkeit symmetrisch sein ; bei den vorhergehenden Ver- zweigungen liegt der Vorteil der Symmetrie darin, daß auf diese Weise gerade die Röhren mit dem engsten Lumen, also diejenigen, welche den größ- ten Widerstand besitzen, auf die geringste Länge reduziert werden. Die Länge der Strombahn, welche in der oben gegebenen Ableitung des günstigsten Querschnittsquotienten außer Betracht gelassen wurde, ist natürlich bei der Ermittlung des Gesamtwiderstandes in Rechnung zu ziehen; dieser Gesamtwiderstand wird für jenes Leitungs- system ein Minimum, bei denen die Gesamtlänge der engsten Röhren den kleinsten Wert erreicht. Aus diesem Grunde stellt bei der kapillaren Ver- zweigung die symmetrische Aufteilung, welche auch weitaus die häufigste ist, das Optimum dar. Da nun aber gerade diese Verzweigungsart die größte Querschnittsvermehrung verlangt, ist es von besonderer Bedeutung, daß hier, wie aus den Messungen von Heß und Blum hervorgeht, sich die Querschnittsquotienten nahe um den günstig- sten Wert 1,26 gruppieren. Einzelberichte. Chemie. Über die Explosivstoffe.^) Allge- meinesüberdie Explosivsto f f e. — Explo- sivstoffe sind solche festen oder flüssigen reaktions- fähigen Systeme, die, einmal zur Reaktion angeregt, mit sehr großer Geschwindigkeit und unter Ent- wicklung eines starken Druckes reagieren. Die Druckentwicklung wird in allen Fällen dadurch bewirkt, daß die Reaktion selbst zur Entstehung von Gasen führt; reaktionsfähige Systeme, die, wie z. B. das in äußerst heftiger Reaktion unter starker Wärmeentwicklung in seine Elemente zer- fallende Acetylensilber AgC CAg = 2 Ag + 2 C 4- 87 Cal. oder die früher besprochenen Thermit-Gemische, keine gasförmigen Reaktionsprodukte liefern, sind keine Explosivstoffe. Demzufolge hängt die Wir- kung eines Explosivstoffes in erster Linie von der Menge des Gases und den Bedingungen ab, unter denen es sich entwickelt, und daher bestimmen die Faktoren, die hier von Einfluß sind, den Cha- rakter des Explosivstoffes. Vor allem sind in dieser Hinsicht die folgenden Punkte zu berück- sichtigen : I. Die Raummenge des von der Gewichts- einheit des Explosivstoffes entwickelten Gases. Diese Menge hängt in erster Linie natürlich von der chemischen Zusammensetzung des explosiven ') Mit Erlaubnis der Verlagsbuchhandlung und des Ver- fassers abgedruckt aus dem ,, Kurzen Lehrbuch der Chemie" von Prof. Dr. W ern er Me c kl enburg (Braunschweig 1919, Verlag von Friedr. Vieweg und Sohn) ; vgl. die „Selbstanzeige" in diesem Heft. Systems ab, wird aber nicht selten auch durch die Umstände, insbesondere die Art mitbestimmt, wie der explosive Vorgang ausgelöst wird. So zerfällt, um nur ein besonders einfaches Beispiel anzuführen, das in vielen Explosivstoffen als wesent- licher Bestandteil enthaltene Ammoniumnitrat NH^-NOg bei Einwirkung einer stark geladenen Sprengkapsel in Stickstoff, Sauerstoff und Wasser- dampf: NH, -NOg = N,, + 2 Ha 0 + 0, bei Einwirkung einer schwach geladenen Spreng- kapsel in Stickstoff, Stickoxyd und Wasserdampf 2 NH, . NO3 = N., + 2 NO + 4 H.3O und bei allmählicher Erhitzung in Stickoxydul und Wasserdampf: 2NH,.N03 = 2N„0 + 4H,0. Im übrigen schwankt die von i kg der ver- schiedenen Explosivstoffe unter normalen Be- dingungen entwickelte Gasmenge innerhalb ziem- lich weiter Grenzen; es liefert nämlich i kg Schwarzpulver Nitroglyzerin Pikrinsäure Ammonsalpeter 285 712 S77 937 Liter Gas. (Die Angaben beziehen sich auf einen Druck von 760 mm Hg, eine Temperatur von 1 5 " und dampfförmiges Wasser.) 2. Die mechanische Wirkung, die von dem sich bei der Explosion entwickelnden Gase aus- geht, hängt von drei Größen ab, der sogenannten Ladedichte, der mit der Explosion verbundenen Temperatursteigerung und der Geschwindigkeit des Explosionsvorganges. a) Als Ladedichte wird der Quotient aus dem 6io Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 42 in g ausgedrückten Gewicht des Explosivstoffes und dem in ccm ausgedrückten Raum bezeichnet, in dem der Explosivstoff vor der Explosion ein- geschlossen ist: , , ,. , Gewicht des Explosivstoffes in g Ladedichte = ^. — ; — : -. ^. Explosionsraum m ccm Da nun unter sonst gleichen Bedingungen der von einem Gase ausgeübte Druck um so größer ist, je kleiner der Raum ist, in dem sich das Gas befindet, so nimmt die Wirkung der Explosivstoffe mit steigender Ladedichte stark zu. So übt z. B. das Nitroglyzerin bei einer Ladedichte von 0,1 0,3 0,5 0,7 0,9 1,0 einen Druck von 1098 3847 7829 14060 25270 35010 Atmosphären pro qcm aus. Um möglichst große Sprengwirkungen zu erzielen, ist es daher erforder- lich, daß der Explosivstoff möglichst dicht sei und auch eine gewisse Plastizität besitze, damit er sich bei Sprengungen erforderlichenfalls der Wand der Bohrlöcher gut anschließe. b) Der von einem Gase ausgeübte Druck hängt, wie früher gezeigt worden ist, auch in hohem Maße von der Temperatur, also von der Wärme- menge ab, die bei der Explosion eines Explosiv- stoffes frei wird. Diese Wärmemenge ist ver- hältnismäßig klein. Ihre Bestimmung in der kalori- metrischen Bombe ergab bei Ammonsalpeter Schwarzpulver Pikrinsäure Nitroglyzerin 630 6S5 810 l58oCal.prokg, während die Verbrennungswärme von 1 kg Stein- kohle etwa 9000 und von i kg Erdöl etwa 12000 Cal. beträgt. Bis zu welcher Höchsttempe- ratur die Explosionsgase durch die bei der Ex- plosion entwickelten Wärmemengen erhitzt werden können, hängt einerseits von der spezifischen Wärme der bei der Explosion entstandenen Stoffe, andererseits von den Versuchsbedingungen ab. Sie berechnet sich für Ammonsalpeter Schwarzpulver Pikrinsäure Nitroglyzerin zu 2120 2770 2430 3470" C. Diese berechneten Höchsttemperaturen ent- sprechen jedoch nicht der Wirklichkeit; die wirk- lichen Temperaturen sind vielmehr erheblich niedriger, weil die Explosion nicht augenblicklich erfolgt, sondern einer gewissen Zeit bedarf und ein Teil der Explosionswärme während dieser Zeit durch Leitung und Strahlung verloren geht. Da- her ergibt denn auch die aus der Ladedichte und der berechneten Temperatur der Explosionsgase errechnete mechanische Leistung der Explosivstoffe zu hohe Werte, und man pflegt deshalb die mechanische Wirkung in der Praxis direkt zu be- stimmen: Man bringt 10 g des zu prüfenden Ex- plosivstoffes in ein Bohrloch von festgelegten Dimensionen, das sich in einem Block aus weichem Blei, dem sogenannten Trauzischen Bleiblock, befindet, verschließt das Bohrloch fest mit Sand, führt mit Hilfe einer Sprengkapsel die Explosion herbei und mißt durch Eingießen von Wasser die Größe der durch die Explosion bewirkten Ausbauchung des Bohrloches. Da die Versuche in der Praxis stets unter genau festgelegten Be- dingungen vorgenommen werden, so gibt das Vo- lumen der durch die Explosion entstandenen Aus- bauchung ein unmittelbares Maß für die mecha- nische Leistung des Explosivstoffes. c) Die im Trauzischen Bleiblock vorge- nommenen Bestimmungen reichen jedoch nicht aus, um die Wirkung eines Explosivstoffes hin- sichtlich der von ihm ausgeübten Wirkung voll- kommen zu kennzeichnen, weil die Wirkung eines Explosivstoffes wesentlich auch durch die Ge- schwindigkeit mit bestimmt wird, mit der die Explosion sich durch die explosive Masse fort- pflanzt ; denn wenn auch alle Explosionen an sich sehr rasch verlaufen, so läßt die genauere Be- trachtung doch sehr erhebliche Unterschiede zwischen den einzelnen Explosivstoffen erkennen: Verläuft die Explosion sehr rasch, so tritt die mechanische Wirkung der Explosionsgase plötz- lich auf, verläuft sie dagegen verhältnismäßig lang- sam, so macht sich auch die mechanische Wirkung der Explosionsgase nur verhältnismäßig allmählich geltend. Nun besteht aber, wie schon der Unter- schied zwischen allmählich wachsendem Druck und einem von dem gleichen mechanischen Kraft- aufwande bewirkten Schlag beweist, zwischen plötzlicher und allmählicher Wirkung praktisch ein sehr erheblicher Unterschied, und in der Tat bewirken sehr rasch explodierende Explosivstoffe, die sogenannten brisanten Explosivstoffe, schlag- artig eine Zerschmetterung der Wände des Ex- plosionsraumes, während die durch ihre verhältnis- mäßig geringe Explosionsgeschwindigkeit gekenn- zeichneten nichtbrisanten Explosivstoffe den Ex- plosionsraum mehr durch Druck zu erweitern streben. Demgemäß schlägt auch ein brisanter Explosivstoff, wenn er frei auf einer hohlliegenden Bleiplatte zur Explosion gebracht wird, in die Bleiplatte ein Loch, weil die Zeit zum Ausgleich der Wirkung in der Richtung des geringsten Widerstandes, also nach oben und nach der Seite hin nicht ausreicht , während ein nichtbrisanter Explosivstoff die Bleiplatte nur einbeult, ein Ver- such, der auch in der Praxis zur Beurteilung der Brisanz von Explosivstoffen benutzt wird. Der Unterschied zwischen brisanten und nichtbrisanten Explosivstoffen ist praktisch von großer Bedeutung: Brisante Explosivstoffe, wie z. B. das Dynamit, werden nur als Sprengstoffe benutzt, während die nichtbrisanten Explosivstoffe, wie z. B. das ge- wöhnliche Schwarzpulver, auch als Treibmittel für Feuerwaffen Verwendung finden können. 3. Für die praktische Verwendung von Ex- plosivstoffen kommt schließlich , abgesehen von den in Sonderfällen zu stellenden besonderen An- forderungen noch ein anderer Faktor in Frage, die sogenannte Sensibilität, d. h. die Kraft, die aufgewendet werden muß, um den Explosivstoff zur Explosion zu bringen. Grundsätzlich stehen zur Hervorrufung der Explosion zwei Möglich- keiten zur Verfügung, die Erhitzung und der Schlag oder Stoß. Eine bestimmte Temperatur, bei der N. F. XVm. Nr. 42 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 611 ein gegebener Explosivstoff explodiert, gibt es allerdings nicht, die Explosionstemperatur hängt vielmehr in weitgehendem Maße von den Ver- suchsbedingungen, so von der Menge des Spreng- stoffes und der Geschwindigkeit der Erhitzung ab. In der Praxis wird datier die als Maß für die Temperaturempfindlichkeit der Explosivstoffe dienende Verpufifungstemperatur in genau vorge- schriebener Weise, nämlich so festgestellt, daß man 0,1 g des Explosivstoffes von loo" ab mit einer Temperatursteigerung von 5 " in der Minute erwärmt, bis Explosion oder Verpufifung eintritt; die so bestimmte Verpuffungstemperatur be- trägt bei Nitroglyzerin Knallquecksilber Schwarzpulver Pikrinsäure etwa 160 bis 220 l6obisi65 ^225 ^225°. Wichtiger ist die meist durch den Fall eines Gewichtes auf eine Probe des Explosivstoffes aus verschiedenen Höhen festgestellte Empfindlichkeit gegen Schlag oder Stoß ; so beträgt z. B. die zur Hervorrufung der Explosion erforderliche Fallhöhe eines Gewichtes von 2 kg bei Knallquecksilber Nitroglyzerin Pikrinsäure Schwarzpulver 2 4 35 bis 95 100 cm. Die Zündung der Explosivstoffe: Die Zündung der Explosivstoffe, d. h. die Auslösung des Ex- plosionsvorganges, erfolgt stets durch Zuführung einer kleinen Menge Energie, kann aber im einzelnen auf sehr verschiedene Weise bewirkt werden. Für die Praxis kommt vornehmlich die Zündung durch Temperaturerhöhung und die Zündung durch Schlag oder Stoß in Frage. Zur Zündung durch Temperaturerhöhung benutzt man entweder den elektrischen Strom, durch den ein dünner Draht zum Glühen oder ein Funken zum Überspringen gebracht wird, oder eine Zündschnur oder der- gleichen. Die Schlagzündung wird meist durch Initialzündung, d. h. in der Weise bewirkt, daß man eine dem Explosivstoff zugegebene kleine Menge eines durch besonders hohe Sensibilität und besonders hohe Brisanz ausgezeichneten Spreng- stoffes, des sogenannten Initialsprengstoffes, in irgendeiner Weise, gewöhnlich durch Schlag oder durch elektrische Zündung zur Explosion bringt und dieser dann seinerseits die Gesamtmenge des Explosivstoffes durch den Explosionsstoß zündet. Als Initialzündstoffe kommen, wenn man von den bekannten, in der Regel aus explosiven Gemischen von Kaliumchlorat und Schwefelantimon u. dgl. bestehenden alten Zündhütchen absieht, in der Praxis nur zwei in Frage, das Knallquecksilber Hg(C:N-0)2 und das erst in neuester Zeit in die Sprengstofftechnik eingeführte Bleisalz der Stick- stoffwasserstoffsäure, das Bleiazid Pb(N3)2. Die gewöhnlichen Sprengkapseln enthalten meist eine Füllung von Knallquecksilber, dessen Menge mit der Nummer der Sprengkapsel von 0,3 g (Nr. i) über 0,8 g (Nr. 5) bis zu 3 g (Nr. 10) steigt. In welcher Weise man nun die Zündung eines gegebenen Explosivstoffes vornimmt, ist für das Ergebnis der Explosion keineswegs ohne Bedeutung, denn die Art der Zündung ist sowohl auf die Art der explosiven Reaktion als auch auf die die Brisanz ja in erster Linie bestimmende Explosions- geschwindigkeit von sehr erheblichem Einflüsse. Das Beispiel des je nach der Art der Zündung in ganz verschiedenem Sinne zerfallenden Ammonium- nitrats ist bereits weiter oben erwähnt worden. Hier einige weitere Beispiele : Bei Versuchen unter sonst gleichen Bedingungen wirkte gewöhnliches Schwarzpulver bei Zündung mit Zündschnur als nichtbrisanter, bei Zündung mit Sprengkapsel als brisanter Sprengstoff, im ersten Falle betrug die Explosionsgeschwindigkeit einige Meter, im zweiten Falle etwa 300 m in der Sekunde. Bei einem anderenVersuche betrug die Explosionsgeschwindig- keit von Nitroglyzerin bei Zündung mit 0,8 g Knall- quecksilber (Sprengkapsel Nr. 5) 1700 und bei Zündung mit 1,5 g Knallquecksilber (Sprengkapsel Nr. 7) 8500 m in der Sekunde. Ja, viele Stoffe, wie z. B. die Pikrinsäure, haben erst durch die Möglichkeit einer genügend starken Initialzündung ihre große Bedeutung für die Sprengstofftechnik gewonnen. Kurz, das gelegentlich geprägte Wort, die explosive Leistung hänge mehr von der Art der Zündung als von der Natur des Sprengstoffes ab, kommt, wenn es auch übertrieben sein mag, der Wirklichkeit doch recht nahe. Einige wichtigere Explosivstoffe. — Die Explosivstoffe sind von einigen ganz wenigen Ausnahmen, wie dem neuerdings als Initialzünd- stoff viel verwendeten Bleiazid PbN^ abgesehen, oxydationsfähige Systeme und bestehen demge- mäß aus einem Sauerstoff leicht abgebenden und einem leicht oxydierbaren Bestandteil. Diese beiden Bestandteile können entweder wie bei dem ge- wöhnlichen, einerseits aus Salpeter, andererseits aus Schwefel und Kohle zusammengesetzten Schwarzpulver auf verschiedene Molekeln verteilt oder wie bei dem nach der Gleichung 4C3H,(ONOA = i2CO, + ioH,0 + 6N, + 0, zerfallenden Nitroglyzerin CR, (ONO.,) . CH (ONO,) • CR, (ONO^) in einer und derselben Molekel enthalten sein. Demnach können als Explosivstoffe sowohl Ge- mische als auch reine Stoffe dienen. — Im folgen- den werden die wichtigeren Explosivstoffe im einzelnen kurz besprochen. Schwarzpulver und verwandte Gemische : Das alte, aber auch heute noch sowohl als Treibmittel, vornehmlich als Jagdpulver, als auch als Spreng- stoff viel benutzte Schwarzpulver besteht, wie be- reits früher angegeben worden ist, aus einem innigen Gemisch von Kalisalpeter, poröser Holz- kohle und Schwefel. Seine Zusammensetzung wechselt wie die Zusammensetzung aller Explosiv- gemische nicht unbeträchtlich mit dem Ver- wendungszweck. Versuche, den Kalisalpeter durch den billigeren Natronsalpeter zu ersetzen, sind im großen und ganzen an der Hygroskopizität des Natronsalpeters gescheitert. Die Hygroskopizität ist auch das größte Hemmnis für die Verwendung des Ammonsalpeters als Explosivstoff, trotzdem aber haben gerade die Ammonsalpeterexplosiv- 6l2 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVni. Nr. 42 Stoffe vor allem für Sprengarbeiten in Kohlenberg- werken eine große Bedeutung gewonnen, weil sie die in Kohlenbergwerken auftretenden und sich erfahrungsgemäß bei Sprengungen sonst leicht entzündenden schlagenden Wetter und die ebenso gefährlichen Kohlenstaubaufwirbelungen nicht zünden. Als oxydierbare Stoffe enthalten die Am- monsalpetersprengstoffe Schwefel , Kohlenstoff, Holzmehl, organische Nitroverbindungen u. dgl. Auch die durch ihre große, der der Sprenggelatine nahestehende Sprengwirkung ausgezeichneten, gegen Erhitzung, Stoß oder Reibung an sich wenig empfindlichen Ammonale sind hier zu nennen, deren Hauptbestandteile Ammoniumnitrat und feinpulveriges Aluminiummetall sind. Ferner kann man den Salpeter durch die nichthygroskopischen Alkalichlorate und -perchlorate ersetzen, nur muß man die den Chlorat- und Perchlorat-Sprengstoffen eigene, für die Praxis viel zu große Sensibilität in der Weise herabmindern, daß man die einzelnen Chlorat- oder Perchloratkriställchen bei der Her- stellung der Sprengstoffe mit dünnen Überzügen von Fett, Öl, Paraffin, Kolophonium, Gelatine u. dgl. versieht, jedes dieser Teilchen also von den Nachbarteilchen isoliert. Der aus 79 "!„ Kalium- chlorat, I "/„ Nitronaphtalin, 15 "/o Dinitrotoluol und 5 "/j Rizinusöl bestehende Cheddit sei als Beispiel für diese neuerdings immer mehr an Be- deutung gewinnenden Sprengstoffe angeführt. Oxyliquit: Eine besondere Stellung unter den Sprengstoffen nehmen die sogenannten Oxyliquit- sprengstoffe ein. Diese Sprengstoffe bestehen aus Patronen von saugfähigem Material wie Korkmehl, Sägemehl, Ruß, Kieselgur u. dgl., dem erforder- lichenfalles noch weitere leicht verbrennliche Stoffe wie Petroleum, Naphthalin u. dgl. beigemengt sind. Unmittelbar vor der Verwendung werden diese Patronen in ein Gefäß mit möglichst sauer- stoffreicher flüssiger Luft getaucht, saugen sich voll und sind dann für den Gebrauch fertig. Die Zündung erfolgt durch Sprengkapseln. Der Vor- teil dieser sehr wirksamen Sprengstoffe liegt in dem billigen Preise, der Sicherheit beim Trans- port und dem Umstände, daß etwa nicht explo- dierte Patronen nach kürzester Zeit infolge der Verdunstung der flüssigen Luft ihre Sprengwirkung verlieren und somit ungefährlich sind, ihr Nach- teil in der geringen Haltbarkeit der flüssigen Luft und der Unverwendbarkeit in Kohlengruben, die durch Schlagwetter oder Kohlenstaub gefährdet sind. Nitroexplosivstoffe: Von dem Schwarzpulver und seinen Verwandten sowie von dem Oxyliquit unterscheiden sich die Nitroexplosivstoffe dadurch, daß sie Sauerstoff und oxydierbaren Bestandteil in derselben Molekel vereint enthalten, also bei geeigneter Zündung schon für sich allein und ohne mit anderen Stoffen gemischt zu sein, bereits als Explosivstoff wirken können. In der Praxis werden indessen — das sei hier sogleich bemerkt — auch diese Explosivstoffe nur in Ausnahmefällen in Form der reinen Stoffe verwendet, meist werden sie miteinander und den Explosivstoffen der Schwarz- pulvergruppe zu Gemischen zusammengestellt, deren Zusammensetzung sich nach dem Zweck richtet, dem der Explosivstoff dienen soll. Einer der wichtigsten Nitroexplosivstoffe ist das sog. Nitroglyzerin, eine Verbindung, die durch die Einwirkung von konzentrierter Salpetersäure und konzentrierter Schwefelsäure auf Glyzerin entsteht und chemisch als das Trinitrat des Gly- zerins anzusehen ist: CH,(.0-NO.,) — CH(.0-NO.,) CH^C-O-NOa). Das Nitroglyzerin ist eine färb- und geruchlose ölige Flüssigkeit von brennend süßem Geschmack. In Wasser ist es nur wenig, leicht dagegen in Alkohol, Äther und anderen organischen Lösungs- mitteln löslich. Durch Abkühlung kann das Nitro- glyzerin leicht in fester Form erhalten werden, und zwar sind zwei, im Verhältnis der Mono- tropie zueinander stehende Modifikationen, eine in rhombischen Blättchen vom Schmelzpunkt 2 " und eine in prismatischen Nadeln vom Schmelz- punkt 1 3 " kristallisierende Form bekannt ; durch Reibung, Erschütterung und ähnliche Anstöße geht die rhombische Form unter beträchtlicher Wärme- entwicklung — 28 Cal. pro g — in die prismatische Form über. Als Sprengstoff findet das reine Nitroglyzerin nur in den Vereinigten Staaten von Nordamerika Verwendung ; in allen anderen Ländern ist der Handel mit reinem Nitroglyzerin seiner großen Sensibilität wegen untersagt. Dagegen spielt das Nitroglyzerin als Ausgangsmaterial für die Herstellung einer großen Reihe technisch wichtiger Sprengstoffe eine wichtige Rolle. Hier ist zunächst das Dynamit zu nennen. Als Dy- namite bezeichnet man allgemein solche Explosiv- stoffe, die durch Aufsaugung von Nitroglyzerin durch einen geeigneten Aufsaugestoff entstehen und eine nichttropfende Masse bilden. Als auf- saugendes Material dient meist eine durch Aus- glühen von Feuchtigkeit und organischen Ver- unreinigungen befreite, im wesentlichen aus reinem, feinstverteiltem Siliciumdioxyd bestehende Kiesel- gur, die bis zu dem Vierfachen ihres Gewichtes an Glyzerin aufzusaugen vermag. Die gewöhn- lichen Dynamitpatronen enthalten 40 bis 75 "/o Nitroglyzerin. Das Gurdynamit ist eine geruch- lose, plastische Masse, die, angezündet, ohne zu explodieren rasch und lebhaft abbrennt. Andere Dynamite enthalten Holzmehl, Zellulose, Kali-, Natron- oder Ammonsalpeter, Oxalsäure Salze u. dgl. Die Dynamite haben vor allen Dingen den Mangel, daß sie unter der Einwirkung von Feuchtigkeit das Nitroglyzerin als solches wieder austreten lassen, und werden daher neuerdings mehr und mehr durch andere Sprengstoffe ver- drängt, unter denen die nitrozellulosehaltigen Sprengstoffe von besonderer Bedeutung sind. Nitrozellulosen erhält man, wie bereits früher dargelegt worden ist, durch Behandlung von Zellulose mit einem Gemisch von konzentrierter Salpetersäure und konzentrierter Schwefelsäure. Die Nitrozellulosen, die in Wirklichkeit Salpeter- säureester der Zellulose sind, ihren Namen N. F. XVm. Nr. 42 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 613 also ähnlich wie das in ganz entsprechender Weise hergestellte Nitroglyzerin mit Unrecht tragen, sind keine einheitlichen Stoffe, sondern Gemische von Zellulosenitraten und werden in der Praxis in der Regel nach ihrem Stickstoffgehalt beurteilt. Als Explosivstoffe sind sie, obwohl ihre Haltbarkeit viel zu wünschen übrig läßt, von sehr großer Bedeutung. Die höchst nitrierte Zellulose, die von der Technik hergestellt wird, ist die in gepreßter Form als Sprengstoff viel benutzte Schießbaumwolle mit mindestens i3"/o Stickstoff. Durch Behandlung mit geeigneten Lösungs- oder Quellungsmitteln kann man die Nitrozellulosen, die zunächst noch die faserige Struktur des Aus- gangsmaterials besitzen, zu gelatineartigen Massen aufquellen. Diese gelatineartigen Massen sind für die Sprengstoffindustrie von allergrößter Wichtigkeit. Benutzt man Essigester CHg-CO., -CoH,, oder Aceton CH.j-CO-CHg oder ein ähnliches indiffe- rentes Gelatinierungsmittel und läßt dieses, nach- dem die Quellung vor sich gegangen ist, wieder verdunsten, so erhält man Nitrozellulosegelatinen von je nach den Versuchsbedingungen wechseln- dem Verdichtungsgrade, deren Explosionsgeschwin- digkeit sich innerhalb ziemlich weiter Grenzen durch Veränderung der Herstellungsbedingungen regeln läßt. Derartige nitrierte Nitrozellulosen werden, mit geeigneten Zusätzen gemischt, unter der Be- zeichnung ,, rauchlose Pulver" als Treibmittel ziemlich viel verwendet. Von viel größerer Bedeutung noch sind die im Gegensatz zum Dynamit gegen Feuchtigkeit unempfindlichen Gelatinen, die man durch Aufquellung oder Lö- sung von Nitrozellulose in Nitroglyzerin erhält. Läßt man z. B. 7 bis 10 Teile Kollodiumwolle, d. h. eine Nitrozellulose mit etwa i2"/„ Stickstoff, in 93 bis 90 Teilen Nitroglyzerin aufquellen, so entsteht die sogenannte Sprenggelatine. Die Sprenggelatine ist eine homogene gelatineartige Masse, deren Sensibilität im Gegensatz zu der- jenigen des Nitroglyzerins trotz ihres großen Ge- haltes an diesem Stoffe schon an sich verhältnis- mäßig gering ist und durch Zusatz von Kampfer noch erheblich herabgesetzt werden kann, die sich aber, sobald sie einmal durch eine genügend starke Initialzündung zur Explosion gebracht ist, als einer der brisantesten aller bekannten Sprengstoffe er- weist. Für Zwecke, für die die Brisanz der reinen Sprenggelatine zu groß ist, benutzt man ähnliche, aus Nitrozellulose und Nitroglyzerin gebildete Gelatinen, denen zur Abschwächung der Brisanz noch Nitrate, Holzmehl und andere Stoffe beige- mengt sind; es sind dieses die sogenannten Gela- tinedynamite, die in der Praxis ganz außerordent- lich häufig, unter anderem auch zu Sprengungen in gefährdeten Kohlengruben, verwendet werden. Den Salpetersäureestern Nitroglyzerin und Nitrozellulose schließen sich als Sprengstoffe eine Reihe echter aromatischer Nitroverbindungen an, die annähernd die gleiche Sprengwirkung wie jene entfalten, daneben aber als reine kristallisierte Verbindungen von vollkommen definierter Zu- sammensetzung den Vorteil größerer Haltbarkeit und leichterer Handhabung bieten. Die bei wei- tem wichtigsten Explosivstoffe dieser Gruppe, die Pikrinsäure I und das 2-4 6-Trinitrotoluol II OH CH, NO, NO, NO., H NO, H! NO, iNOa H sind wenig sensibel, zeigen aber, durch Initialzün- dung zur Explosion gebracht, eine sehr große Brisanz; sie dienen vor »allem zur Füllung von Granaten, Seeminen u. dgl. Meteorologie. Zu den „Ursachen der Klima- schwankungen der Vorzeit, besonders der Eiszeiten" nimmt Th. Arldt in der Zeitschrift f. Gletscher- kunde (Bd. XI, 1918) Stellung. Der Verf. gibt eine Übersicht über den wich- tigsten der Erklärungsversuche, durch welche die großen Tatsachen der klimatischen Vorgeschichte erklärt werden. Er unterscheidet zunächst kos- mische und tellurische. Zu den kosmischen rechnet er universale, solare und tellurokosmische Erklärungsversuche. Den universalen Erklärungsversuchen muß man die Theorie Noelkes zurechnen, der annimmt, die Sonne sei zeitweilig durch kosmische Nebel- massen gegangen, zuletzt durch den Orionnebel. Dadurch sei Sonnenlicht und Sonnenwärme ab- sorbiert worden. Zwischeneiszeiten wurden durch verschiedene Dichte und unregelmäßige Verteilung der Nebelmassen erklärt. Wärmeperioden erklärt diese Theorie nicht. Cultervell glaubt, daß durch Erhöhung beim Luftdruck in gaserfüllten Regionen, durch welche die Erde wanderte, das Klima verbessert worden ist. Fischer hat aus der Periodizität den Eiszeiten entsprechend eine solare Umlaufszeit von 22 — 28 Millionen Jahren angenommen. Sobald die Umlaufszeit sich ver- langsamt, ist nach seiner Anschauung eine Eiszeit eingetreten. Der Verf. hält die Fisch ersehe Annahme für nicht berechtigt. Ja ekel sieht darin eine Ursache der Eiszeiten, daß Venus und Merkur als Ringe zuerst von der Sonne abge- schleudert worden sind und die Sonne so ver- dunkelten. Das spräche für zwei Eiszeiten. Würde man auch die kambrische Eiszeit auf diese Art erklären, dann müßte ein dritter, bis jetzt unbe- kannt gebliebener Planet abgeschleudert worden sein. Nach Arldt muß man schließlich mit einer algonkischen, devonischen Eiszeit rechnen, so daß noch viel mehr Planeten vorhanden sein müssen. Durch diese Theorie werden die Zwischeneiszeiten auch nicht erklärt. Ob die Abschleuderung von Ringen vor sich ging, das haben wir nicht als Feststehendes aufzufassen. Zu solaren Erklärungsversuchen griffen Wood, Stentzel, David, Huntington, Dubois Woeikoff, Philippi, nach denen entweder die 6i4 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVni. Nr, 42 Sonne noch heißer werden soll oder aber Sonnen- flecke mitwirkten, oder sogar die Entwicklung der Sonne vom weißen zum gelben und roten Stern herangezogen wird. Tellurokosmische Erklärungen veröffentlichte Guy. Er sieht die Südhalbkugel noch heute als vereist an, dem eine Vergletscherung des Nordens folgt , sobald das Perihel mit dem Sommer und das Aphel mit dem Winter der Nordhalbkugel zu- sammenfällt. Remonde, Eckholm rechnen mit der Schiefe der Ekliptik. Es können kleine Klimaschwankungen durch sie erzeugt werden. Adhemar, Croll,» Schmick, Murphy, Ball, Bertrand, Geikie, Penck, Pilgrim und schließlich Hildebrandt fanden in Schwan- kungen der Exzentrizität der Erdbahn die Ursachen der Klimaschwankungen. Zu den tellurischen Erklärungsversuchen ge- hören Polverschiebungen, atmosphärische Erschei- nungen, intratellurische Vorgänge, aktologische Erscheinungen, orographische Verhältnisse. Entweder hat man Polverschiebungen ange- nommen oder man hat daran geglaubt, daß die Erdkruste über den stehenbleibenden Kern gleiten könnte. Herder, Hansen, Löffelholz von Colberg sind diese Autoren. Kreichgauer läßt den Nordpol von Südozeanien (Präkambrium) über das Meer zwischen Hawai und Mexiko (Kar- bon), südlich von Alaska (Kreide), durch das west- liche Alaska (Tertiär), über Perry- Inseln und Baffinsland nach Südgrönland (Diluvium), an Grönlands Ostküste entlang in seine jetzige Lage wandern. Golfier,Keilrich, Simroth lassen den Pol hin und her pendeln. Walther, Eck ardt glauben gleichfalls an Polverschiebungen. 0 1 d h a m sucht zur Erklärung der permischen Eiszeit den Südpol im Indischen Ozean. Es gibt noch eine Reihe anderer Annahmen. Keine davon ist er- wiesen und von vielen hat man das Gegenteilige erkannt, weil sie geologischen Tatsachen nicht entsprechen. In der Zusammensetzung der Atmosphäre will man Gründe für Klimaschwankungen erkannt haben. Bekannt ist die Kohlensäurehypothese von Arrhcnius-Frech, die von Coleman, Carthaus, White anerkannt, von Kayser, Koken, Philippi bekämpft wird. Neuere Untersuchungen von Angström, Puschen, Koch, Schäfer, Rubens, Ladenburg haben gezeigt, daß die durch Erhöhung des Kohlen- dioxydgases bewirkte Abkühlung nicht ausreicht, die Eiszeiterscheinungen zu erklären. Die geolo- gischen Stützen dieser Theorie von Frech sind von Philippi und Koken gebrochen worden. In veränderter Form stellen Chamberlin und Salisbury die Kohlensäurehypothese neu auf. Harboe führt die Entstehung der Eiszeit auf den erhöhten Wasserdampfgehalt der Luft zurück, der durch den tertiären Vulkanismus geschaffen wurde. De Marchi zog beides, Kohlendioxyd und Wasserdampf, zur Erklärung heran. Die beiden Brüder G a v a r i n fanden in den Höhenstaubwolken Erklärungsursachen für die Entstehung der Eis- zeiten. Humphrey ist gleicher Ansicht. Manson glaubt noch für die Zeit bis zum Quartär eine dichte Vulkandecke annehmen zu müssen, die seit dem Paläozoikum (heiße Zeit) über das Meso- zoikum (warm), Tertiär (gemäßigt), Eiszeit (kalt) sich verzieht. Habenicht glaubt ebenfalls an eine solche Wolkendecke im Quartär. Buffon, Mauson, Hilgard sehen in der früher im erhöhten Maße vorhanden gewesenen Erdwärme Ursachen, die Klimaschwankungen her- vorrufen. Nach Sem per und Kerner spielen auch frühere Verteilung von Land und Meer bei der Entstehung der Wärmeunterschiede eine Rolle. Kerner fand so nach der Karte vonNeumayr eine Erhöhung des Juraklimas um 2". Klein und Piette denken an eine Ablenkung des Golf- stromes. Das Meer war früher im Quartär nicht viel anders verbreitet wie jetzt und man müßte an nicht nachgewiesene Verringerung der Rotations- geschwindigkeit der Erde denken. Nordenskiöld, Upham, Dana, De Geer, Dawson, Hüll, Holst, Geinitz, Ludwig, White, Koken, Davis, Gregoire, Willis, Lepsius, Dacque nehmen an, daß Landhebungen sehr dazu beigetragen haben, Eis- zeiten zu erzeugen. Geinitz glaubt Skandinavien um 400 m, Schottland um 90 m. De Geer Skandinavien bis looo m hoch herausgehoben, Koken nimmt ein Aufsteigen des Arraligebirges ■bis 4000 m Höhe an. Lepsius sucht durch eine Erhöhung der Alpen im Mittelquartär um 1300 — 1500 m, des nordeuropäischen Kontinents um 500 — 600 m die Eiszeiten zu erklären. Arldt hat gezeigt, daß sich Eiszeiten immer an Perioden von Gebirgsbildung und vulkanischer Tätigkeit anschließen. Dadurch ist die Temperatur ernie- drigt worden. In Gebirgen ist größere Feuchtig- keit vorhanden, die in Schnee und Eis gebunden werden kann. Ramsay mit seiner Relief hypo- these und die Annahme von Enquist, nach der die Eiszeiten immer durch eine allgemeine Sen- kung des Meeresspiegels infolge Vertiefung der Ozeanbecken im Zusammenhang mit der Gebirgs- faltung verursacht werden, sind zu beachten. Die Theorien gewinnen an Wahrscheinlichkeits- wert, die alle jetzt noch an der Herausbildung von Klimazonen schaffenden Faktoren nicht in einseitiger Weise tätig sein lassen, sondern im Zusammenwirken zeigen. Solche zusammen- wirkende Ursachen sind nach Arldt: 1. Die Erhebung ausgedehnter Gebirge (Ramsay), 2. Die Bildung von Tiefseebecken im Ozean (Arldt), 3. Die Senkung des gesamten Ozeangrundes und korrespondierend damit die Hebung der kon- tinentalen Gebiete (Arldt, Enquist), 4. Intensive vulkanische Tätigkeit mit Höhen- staubwolken (Sarasin), N. F. XVra. Nr. 42 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 61S 5. Kleine Exzentrizität der Erdbahn (Hilde- b r a n d t), 6. Aufenthalt des Sonnensystems in sternen- armen Gebieten des Weltalls (Noelke), 7. Geringere Wärmestrahlung der Sonne (P h i - lippi), 8. Geringere Schiefe der Ekliptik (Eckholm), 9. Verringerung des Kohlendioxydgehaltes der Luft (Chamberlin-Salisbury), 10. Die Verteilung von Land und Meer im Sinne Kerners. Folgende Umstände erzeugen pliotherme Perioden: 1. Vorwiegend aus niedrigen Rumpfebenen bestehende Kontinente, 2. Fehlen abyssischer Gräben, 3. Hebung des Ozeangrundes und Senkung der Kontinentalschollen, 4. Vulkanische Ruhe, 5. Große Exzentrizität der Erdbahn, 6. Aufenthalt des Sonnensystems in sternreichen Gebieten des Weltalls, 7. Große Wärmestrahlung der Sonne, 8. Große Schiefe der Ekliptik, 9. Vermehrung des Kohlendioxydgehaltes der Luft. Rudolf Hundt. Einen Beitrag zur Kenntnis der Entstehung der Gebirgswinde lieferte H. Barschall (Met- Zeitschr. 36, 137, 1919) durch Beobachtungen in den mittleren Vogesen. Es standen je zwei Sta- tionen östlich und westlich des Gebirgskammes zur Verfügung. Der Unterschied des nächtlichen Bergwindes von dem durch die allgemeine Luft- druckverteilung bedingten war von vornherein dadurch gegeben, daß bei jenem gleichzeitig auf den westlichen Stationen Ostwind und den öst- lichen Stationen Westwind beobachtet wurde. Es zeigte sich nun, daß der Bergwind an klaren Nächten mit großer Regelmäßigkeit auftrat, wäh- rend er in bewölkten fehlte. Selbst vorübergehende Himmelsbedeckungen markierten sich deutlich in den Diagrammen der Windschreiber. Da nun klarer Himmel meist auftritt, wenn östliche Winde vorherrschen, so gestatteten die östlichen Stationen auch, den Wirkungsbereich der Bergwinde nach der Höhe mit kleinen Fesselballonen festzustellen. Die unbeeinflußte Wirkung des Bergwindes reichte bis ca. 30 m Höhe. Dann trat unter dem Einfluß der Reibung eine allmähliche Drehung ein, und erst von ca. 150 m Höhe ab herrschte dann der reine Gradientwind. Der Bergwind zeichnete sich auch durch große Gleichmäßigkeit in der Stärke aus. Er war also in jeder Hinsicht wohl definiert. Dagegen war ein Talwind, der also am Tage berg- auf wehen sollte, nicht beobachtet worden. Dies gestattet, über die Ursache der Gebirgswinde folgende Schlüsse zu ziehen: Sie werden offenbar nicht durch eine allgemeine Abkühlung bzw. Er- wärmung der Atmosphäre und dementsprechende Senkung bzw. Hebung der Flächen gleichen Druckes hervorgerufen, sondern sie verdanken ihre Entstehung der unmittelbaren Aus- und Einstrah- lung des Bodens. Dadurch werden nachts die dem Erdboden unmittelbar aufliegenden, abge- kühlten Luftschichten genötigt, längs der geneigten Fläche des Abhanges hinabzugleiten. Am Tage wird jedoch die durch Berührung mit dem Erd- boden erwärmte Luft vertikal in die Höhe steigen, so daß ein Talwind nicht zustande kommt. Scholich. Bticherbesprechungen. Selbstanzeige. Mecklenburg, Werner, Kurzes Lehrbuch der Chemie. XIX u. 756 S. in gr. 8" mit 100 Abbild, im Text und einer Spektraltafel. Braunschweig 1919, Verlag von Fr. Vieweg u. Sohn. Preis geh. 21 M., geb. 25 M. Das „Kurze Lehrbuch der Chemie" hat den Zweck, das altbekannte und wohlbewährte „Kurze Lehrbuch der Chemie" von R 0 s c o e und S c h o r - lemmer zu ersetzen, das zuerst im Jahre 1867 und zuletzt — in der von Alexander Classen bearbeiteten elften Auflage — im Jahre 1898 er- schienen, jetzt aber vollkommen veraltet ist. Es umfaßt die reine Chemie in ihrer Gesamtheit, d. h. die theoretische, die anorganische und die orga- nische Chemie und auch die wichtigsten Kapitel der technischen Chemie und wendet sich an alle diejenigen, die sich in die Chemie oder einzelne wichtige Kapitel der Chemie nach ihrem heutigen Stande einarbeiten oder wieder ein- arbeiten wollen. Es ist ganz elementar gehalten, sucht aber trotzdem unter Hervorhebung der all- gemeinen Grundsätze tiefer in das Wesen und die Gesetzmäßigkeiten der chemischen Vorgänge einzudringen. Auf Richtigkeit der Darstellung ist ebenso großer Wert gelegt wie auf ihre Klarheit, auch ist bei der Abfassung des Buches die neuere und neueste Originalliteratur in weitem Umfange herangezogen worden. Durch zahlreiche Ver- weisungen innerhalb des Textes soll dem Leser die verständnisvolle Durcharbeitung der Materie erleichtert werden. Die Anordnung des Stoffes ist die folgende: Zunächst kommt eine kurze, 34 Seiten umfassende Einleitung, in der die allgemeinen Grundgesetze und Voraussetzungen der Chemie besprochen werden. Dann folgt von S. 37 bis 442 der erste Teil, der die allgemeine und die anorganische Chemie umfaßt, und zwar werden die Tatsachen und Lehren der allgemeinen Chemie wie die Phasenregel (S. 47 bis 51), die Theorie der homo- genen Gleichgewichte (S. 76 bis 81), die Theorie 6i6 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVm. Nr. 42 der elektrolytischen Dissoziation (S. 95 bis 1 lo), die Kolloidchemie (S. 122 bis 126), die Elektro- chemie (S. 231 bis 240), die Lehre von den me- tallischen Verbindungen und den Legierungen (S. 241 bis 255), der Bau der Komplexverbindungen (S. 401 bis 416) und die allgemeine Theorie der chemischen Elemente (S. 421 bis 442) sowie zahlreiche wichtigere Einzelfragen in besonderen, zusammenfassenden, an geeigneter Stelle in den Text eingestreuten Abschnitten behandelt. Im zweiten Teile, der organischen Chemie (S. 445 bis 647) ist vor allen Dingen auf strenge Syste- matik geachtet worden. Einerseits aus diesem Grunde, andererseits deswegen, weil die technisch wichtigen Fragen der organischen Chemie bei der Einschaltung in den systematischen Lehrgang er- fahrungsgemäß sachlich stets zu kurz kommen, sind eine Reihe besonderer Kapitel über wichtigere Natur- und Kunststoffe für sich im letzten Teil des Buches vereinigt worden: Erdöl, Asphalt und Erdwachs (S. 647 bis 651), Fettstoffe, Seifen und Wachse (S. 652 bis 660), Eiweißstoffe (S. 660 bis 667), die Kohlenhydrate (S. 667 bis 680), Alkaloide und künstliche Arzneimittel (S. 680 bis 691), die ätherischen Öle und verwandte Stoffe (S. 691 bis 700), Farbstoffe (S. 700 bis 722), Explosionen und Explosivstoffe (S. 722 bis 733). Durch ein ausführliches Sach- und Namenregister wird das Buch abgeschlossen. Ein Bild von der Art, wie eine einzelne Frage in dem Buche behandelt ist, gibt der in der vor- liegenden Nummer der Naturwissenschaftlichen Wochenschrift abgedruckte Abschnitt „Über die Explosivstoffe" (S. 724 bis 732). Allen Lesern, die mich auf irgendwelche Mängel des Buches aufmerksam machen, werde ich zu aufrichtigem Danke verpflichtet sein. Jeder Hin- weis, der mir zukommt, kommt dem Buche zu- gute und fördert so die Sache. Berlin-Dahlem. Werner Mecklenburg. Unter den Eichen 84 b. Lampa, Dr. A. , Das naturwissenschaft- liche Märchen. Eine Betrachtung. 95 S. Reichenberg 1919, Verlag Deutsche Arbeit. Der Titel des Büchleins ist irreführend. Fast die Hälfte der Seiten bringt Betrachtungen über Romane, welche vom Flug durch den Welten- raum erzählen. Allerdings betont der Verfasser in der Einleitung, daß er die Bezeichnung „Mär- chen" in einem viel weiteren Umfange als der Literarhistoriker faßt. Trotzdem ist man über- rascht Jules Vernes „Reise nach dem Mond" und ähnliche Romane auf dieselben Triebfedern der Menschenseele zurückgeführt zu sehen, wie die Mythen und Märchen primitiver oder alter Völker. Diese Triebfedern sind nach dem Verf. einerseits der Wunsch, das Außergewöhnliche zu erklären und andererseits die Sehnsucht nach einer immer weiter gehenden Beherrschung der Natur — der Wille zur Macht. Aus dem Erstaunen über das Seltsame sind die Märchen entstanden, welche die schwarze Naht der Bohne, das schiefe Maul der Scholle, das Salz des Meeres, die Ge- stalt des Mondes — und schließlich in höchster mythologischer Vollendung die Entstehung des ganzen Kosmos erklären. Die Erklärungen, welche Märchen und Mythen geben, sind oft kühn und wunderbar, sie sind ein Produkt der dichterischen Phantasie. Aber gerade darin liegt nach des Verf. Ansicht eine gewisse Verwandtschaft mit den welterklärenden Hypothesen der Wissenschaft. Auch sie sind Schöpfungen der menschlichen Phantasie — und werden, wenn ihnen die Natur mit irgendeiner Erscheinung widerspricht — ebenso zu Märchen wie die Sagen der Alten. In diesem Gedanken weiß ich mich mit dem Verf. durchaus eins. — Ich bin seinerzeit in meinem Aufsatz über „Meteorologische Mythen als Uran- fänge der Naturbelrachtung" zu ähnlichen Ergeb- nissen gelangt. Mythenbildung und Wissenschaft sind eben deswegen ähnlich, weil sie verwandt sind, weil die erstere Urahne der letzteren ist. Die Sehnsucht nach Macht findet der Verf. in allen Märchen, welche von fliegenden Menschen erzählen und in allen Romanen, welche das gleiche Thema, zum Flug durch den Weltenraum erwei- tert, als Vorwurf erwählen. Gewiß liegt auch hier ein Verwandtsein mit der Wissenschaft vor, da diese von den praktischen Bedürfnissen mäch- tige Antriebe empfängt. Ob es aber berechtigt ist, ein allzu inniges Verhältnis zwischen Mythos, Märchen, Wissenschaft und Weltraumreiseromanen festzustellen, scheint mindestens zweifelhaft. Dr. V. Engelhardt. Literatur. Ostwald, Wilhelm, Die Farbenlehre. II. Buch: Physi- kalische Farbenlehre. Mit 64 Textfiguren. Leipzig, Unesma. 13 M. Ostwald, Wilhelm, Die Farbschule. Mit 6 Tafeln und II Textfig. Leipzig, Unesma. 9,75 M. Lassar-Cohn, Prof. Dr., Einführung in die Chemie in leichtfaßlicher Form. 5. verb. Aufl. Mit 60 Textabbildungen. 12,10 M. Rumpf, Prof. Dr. Th., Die Erhaltung der geistigen Gesundheit. Bonn 1919, A. Marcus und E. Weber. 3,60 M. Lampa, Prof. Dr. A., Das naturwissenschaftliche Mär- chen. Reichenberg 1919, Verlag Deutsche Arbeit. 4,50 M_ Illlialt: Heinrich Marzell, Zur Kulturgeschichte des Schelllirautcs. S. 601. M. Schips, Über zwei mechanisch be- dingte Gesetzmäßigkeiten im Bau der Blutgefäße. (4 Abb.) S. 605. — Einzelbericbte: Werner Mecklenburg, Über die Explosivstoffe. S. 609. Th. Arldt, Ursachen der Klimaschwankungen der Vorzeit, besonders der Eis- zeiten. S. 613. H. Barschall, Entstehung der Gebirgswinde. S. 615. — Bücherbesprechungen: Werner Mecklenburg, Kurzes Lehrbuch der Chemie. S.615. A. Lampa, Das naturwissenschaftliche Märchen. S. 6lö. — Literatur: Liste. S. 616. Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. M. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstraße 41, erbeten. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue Folge i8. Band; der ganzen Reihe _^4. Band. Sonntag, den 26. Oktober 1919. Nummer 43- [Nachdruck verboten,] Über den Farbensinn des Kindes. Von Dr. med. Fritz Marquart. Die Entwicklung des normalen Farbensinns beim Kinde hat zwar schon zahlreiche Darsteller gefunden ; trotzdem kann es von Wert sein, neues Material auf diesem Gebiet zu sammeln. Zur Aufstellung von Beobachtungsmaterial liegen zwei Wege vor: i. ein Kind von der Geburt an mehrere Jahre hindurch zu beobachten oder 2. zahlreiche Kinder verschiedenen Alters zur selben Zeit zu untersuchen und aus den Ergebnissen ein Mittel zu ziehen. Solange die Annahme, daß die Fähigkeit der Farbenunterscheidung dem Kinde angeboren ist, noch nicht durch den praktischen Beweis erhärtet werden kann, solange wird es auch richtiger sein, den letztgenannten Weg zu beschreiten und aus der Beobachtung vieler Kinder einen Mittelwert zu finden. Wenn wir später die einzelnen Untersuchungs- ergebnisse aus der Literatur betrachten werden, werden wir erstaunlich finden, wie große Ver- schiedenheiten diese zueinander aufweisen. Bei gleichen Individuen und gleich guten Methoden sowie gleich guter Beobachtung müssen jedoch mindestens sehr ähnliche Resultate der Unter- suchungen sich ergeben. Die Methoden der Farbensinnuntersuchungen müssen zweifellos sehr verschieden bewertet werden. Die Untersuchungen, die der Verf. dieses Aufsatzes an über 200 Kindern ausführte, betrafen in der ersten Gruppe Kinder vom 6. Monat bis 3. Lebensjahr. Es wurde zwar auch versucht, an noch jüngeren Kindern Farben- sinnreaktionen zu erzielen; aber alle Versuche blieben erfolglos. Zur Feststellung des Farben- sinns dieser ersten Gruppe von Kindern waren 25 geeignet, während etwa 50 gleichalt erige wegen Unlust, Schüchternheit, Krankheit usw. unzugänglich blieben. Die Untersuchungen wurden in Kinderkripppen, Säuglingsheimen, Fröbelschulen, Kinderschulen, in der Kinderklinik Heidelberg, in der Taubstummenanstalt Heidelberg, in Volks- schulen usw. gemacht. Während der Beobachtungen war das Welter fast gleichmäßig schön; die Unter- suchungen wurden nur bei gutem Tageslicht vor- genommen. Zur Bestimmung des Farbensinns der ersten Gruppe von Kindern ließ sich der Verf. eine Anzahl von Bällen herstellen, die alle den Durch- messer 5,5 cm hatten, also gut sichtbar waren und bezgl. der Größe auch zum Greifen reizen mußten. Als F"arben wurden gewählt: rot, gelb, grün, blau, lila, grau (zu orangefarbigem Ball waren leider die Bestandteile nicht aufzutreiben). Nun wurden dem zu untersuchenden Kinde z. B. ein roter und 3 graue, ein blauer und 3 graue Bälle usw. gereicht, jeweils in verschiedenen Ent- fernungen vom Auge (25 cm bis i,S m vom Auge). Lustäußerungen wurden schon bei Säuglingen vor dem 6. Monat beobachtet ; aber die Reaktion konnte ebensowohl der Bewegung der Bälle als auch ihrer Farbe gegolten haben. Solche Ergeb- nisse wurdennicht in unsere Listenmitaufgenommen. Der jüngste unter Nr. I aufgeführte Säugling mit 6 Monaten versuchte den roten unter den 3 grauen Bällen zu fassen; um Täuschungen zu vermeiden, wurde dann (wie auch bei allen spätereren Versuchen) die Lage des roten, gelben usw. Balles zu den grauen verändert; auch jetzt griff der Säugling nach rot. Wurden gelb und grau, grün und grau usw. diesem 6 monatlichen Säugling geboten, so griff er ebenso oft nach grau wie nach gelb, grün usw. Es war also mit Sicherheit nur eine Farbensinnäußerung für „rot" festzustellen gewesen. Alle Versuche, die hier aufgeführt werden, wurden vom Verf selbst vorgenommen, also nicht Pflegeschwestern oder anderen Personen überlassen. In der beschriebenen Weise wurden nun Beobachtungen an einer größeren Anzahl von Kindern gemacht, von denen 25 auf irgend eine oder mehrere Farben positiv reagierten. E. Raehl- mann (Ophthalm. Klinik Nr. 26, 1903) glaubt, daß die Kinder zu der Zeit, wo sie bewußt an- fangen zu greifen, auch schon alle Farben unter- scheiden. Diese Beobachtung wurde nicht immer durch die unserigen bestätigt. Mehiere Säuglinge, besonders die ganz jungen, tippten nur an die farbigen Bälle, ohne daß die Absicht, diese Bälle zu greifen, zugrunde gelegt werden konnte. Bei Betrachtung unserer aufgestellten Liste '■} kommen wir auf Grund unserer Beobachtungen zu der Ansicht, daß im 6. Lebensmonat die Emp- findung für „Rot" vorhanden ist, im 7. oder 8. Monat die für „Gelb" hinzutritt, im 9. sich „Grün" anschließt und im 10. oder 11. Monat noch blau und lila hinzukommt. Es drängt sich ohne weiteres die Frage auf, ob Kinderkrankheiten, Traumen, Umgebung usw. Faktoren werden können, die die normale Entwicklung des Farbensinns zu stören vermögen. Aus diesem Grunde wurden bei jedem Kind auch Beruf des Vaters, Intelligenz- grad und, soweit es möglich war, auch die ') Wegen Raummangels mußten die Tabellen, auf die im Text bezug genommen ist, weggelassen werden. Die Tabellen sind in der als Dissertation verfaßten Original- Arbeit vollständig enthalten. D. Verf. 6i8 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVin. Nr. 43 früheren und jetzigen Krankheiten bzw. Krankheits- zeichen der Untersuchten aufgenommen. Das unter Nr. 16 aufgeführte 2 jährige Kind hatte mit i Jahr Diphtherie durchgemacht und bot bei der Untersuchung den Anbhck eines 6 Monate alten Säuglings; trotzdem war der Farbensinn für rot, gelb, grün, blau und lila aus- gesprochen vorhanden. Es ist aber auffallend, wie die Kinder „arbeitender. Mütter" zweifellos eine ausgesprochene Hemmung oder Rückbildung der Farbensinnentwicklung zeigten (Nr. 5, 13, 18, 24). Auch an den Untersuchungsergebnissen wird dies zur Anschauung kommen. Es bleibt noch zu er- wähnen, daß das Mädchen Nr. 14 (23 Monate) auf die Frage: ,, welches ist der schönste Ballf" ohne Zögern nach lila griff; dieselbe Frage wurde an zahlreiche ältere Knaben und Mädchen ge- richtet mit dem Erfolg, daß Knaben gelb, Mädchen rot, blau und lila bevorzugten. Dieses Experiment, dessen Richtigkeit wir auch von pädagogischer Seite bestätigt wurde, glückte schon im 3. oder 4. Lebensjahr in der Mehrzahl der Fälle. Wir haben es hier also mit einem schon im neutralen und bisexuellen Kindesalter mehr oder weniger ausgeprägten Sexualmerkmal zu tun, das nicht auf die Erziehung zurückgeführt werden kann. Es ist beachtenswert, daß ein eigenartiger Junge, der intelligent ist, aber sich vor anderen Kindern ängstlich abseits hält (einziges Kind lebender Eltern), im Alter von 5 Jahren, dabei etwas femi- ninen Charakter zeigt, auch die Mädchenfarbe „blau" bevorzugte. Ehe wir zu den Untersuchungen an älteren Kindern übergehen, wollen wir unsere Resultate mit denen der Literatur vergleichen. Im ,, Jahresbericht über die Ophthalmologie" Bd. 25, 1894, S 102 sind die Parallelergebnisse von Michel Garbini ohne Angabe der ange- wandten Methode angeführt. Nach Garbini erwirbt das Kind erst im 16. Monat die Empfindung für rot und grün, dann erst im 3. Lebensjahre die für gelb und erst im 4. Lebensjahre die Empfindung für orange, blau und lila. Im 6. Lebensjahre sei das Farben- empfinduugsvermögen vollendet. Diese Ergebnisse entsprechen den unserigen also nicht. Zu anderen Resultaten kam E. Raehlmann (Ophthalm. Klinik Nr. 26, 1903). Er strich Milchflaschen von Säuglingen faibig an, z. B. die eine rot, die andere grün; ließ dann die eine eine Zeitlang (5 — 6 Tage nacheinander) gefüllt, die andere leer reichen: immer wurde nach der gewohnten Farbe gegriffen. Nach Raehlmann gelingt dieser Versuch schon im 6. Monat bei intelligenten Kindern; R. glaubt, daß ungefähr zur selben Zeit auch die Empfindung für die verschiedenen Farben eintritt. li o 1 d e n und Bosse stellten an 200 Kindern Untersuch- ungen an und stellten fest, daß vom 6. Monat an durchschnittlich eine Reaktion auf „Rot" bestand und vom 10. Monat an alle Farben von gleich hellem „Grau" unterschieden wuiden (Arch. of ophthalmol. XXIX, 1900). U ffe 1 mann (Hygiene des Kindes, Leipzig 1881) stellte fest, daß seine 3 eigenen Kinder bis etwa zum 16. oder 17. Monat nur hell und dunkel unterschieden und dann erst lernten, erst rot, dann grün, dann blau und zu- letzt gelb zu unterscheiden. Aus unseren Unter- suchungen würde die Entwicklungsreihe rot, gelb, grün, blau, lila entstehen. Ob erst blau oder erst lila erkannt wird, ist aus unseren Beobachtungen nicht zu ersehen. Immerhin lassen die Unter- suchungsergebnisse der Vermutung Platz, daß die Entwicklungsreihe der Farbenempfindung in direkter Beziehung zu den Wellenlängen der be- treffenden Farbenlichtstrahlen steht, daß also die Empfindung für kurze Wellenlängen früher ein- tritt als für lange. Bei der 2. Gruppe von Kindern, die im Alter von 4 bis 15 Jahren waren, wurde folgendermaßen vorgegangen. Es wurde zunächst die Frage vor- gelegt: ,,wie heißt diese Farbe?'; dann wurde, ohne auf Fehler oder Mängel in der Beantwortung dieser i. Frage hingewiesen zu haben, die 2. Frage vorgelegt: „wo ist rot, gelb usw.?". Diese Frage- stellungen hat W. Frey er in seinem Werk: „Seele des Kindes" S. 4 ff. angegeben. Als Prüfungs- mittel wurden abweichend von Frey er zum erstenmal die Täfelchen eines Farbendominos genommen und zwar für das 3., 4. und 5. Lebens- jahr die Farben: rot, orange, gelb, grün, blau, lila, schwarz und weiß, für die Lebensjahre 6 — 9 (ein- schließlich) grau hinzugefügt. Für das 10. und die folgenden Lebensjahre wurden auch die Misch- farbe braun und Tonabstufungen, im ganzen 12 Farben, verwandt. Ohne weiteres fiel uns der selbst im Beginn des Schulalters noch schlecht gepflegte verbale Farbensinn auf. Eine mangelhafte Farbentermino- logie würde auf den ersten Blick das Gebiet des ärztlichen Hygienikers kaum berühren; bei ge- nauerer Betrachtung muß man aber doch zugeben, daß, wie der Orthopäde als selbstverständlich für körperliche Übungen in der Schulzeit, eventuell schon vorher, eintritt so muß auch der Augenarzt bezw. der sozial denkende und arbeitende Arzt auf eine frühzeitige Ausbildung der Farbentermino- logie dringen. Es darf aber nicht erst Sache der Schule sein, vielmehr muß die Vorschule und vor ihr das Elternhaus das Interesse auf systematische Ausbildung des verbalen Farbensinns legen. Beim Kind wird immer, gleichsam als Geschenk der Natur, das nötige Gegeninteresse erwachen. Über die Wichtigkeit der Erziehung des F'arbensinns schrieb Magnus (D. med. Wochenschr. Nr. 47, 1878): „Holmgreen hat unter Männern 3,25%, unter Frauen 0,25 "/q Farbenblinde gefunden. Regere Beschäftigung mit Farben erzieht zum Farbensinn. Holmgreen sagt darüber: „Wenn Übung Einfluß haben kann aut diesen Punkt, so wird nach unserer Ansicht nicht sowohl das einzelne Individuum geheilt als vielmehr das ganze Geschlecht, und zwar in der Weise, daß die Übung sich ganz unmerklich auch auf die kom- menden Geschlechter erstreckt". — „Es wird N. F. XVIII. Nr. 43 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 619 (nach Magnus) durch die Farbensinnerziehung gleichsam ganz allmählig Kapital gesammelt, dessen Zinsen unsere Nachkommen erst genießen können: ein Umstand, welcher den Wert der- selben aber wohl kaum beeinträchtigen würde" — . Von Künstlern , Ärzten und Pädagogen wurde daher schon vor langem die Wichtigkeit der Farbensinnerziehung eingesehen und ihre metho- dische Ausbildung angestrebt. Es wurden also Methoden vorgeschlagen; aber jede Methode be- sitzt neben Vorteilen auch Nachteile. Nach unserer Ansicht können alle Methoden in 3 Gruppen ein- geteilt werden. Sie haben den Charakter i. des Experiments, oder 2. der schulmäßigen Aufgabe, oder 3. des kindlichen Spiels. Zu der i. Gruppe kann man die Methode von Seebeck rechnen, der vorschlägt, eine Anzahl Gegenstände nach dem Grad der Farbenähnlich- keit sondern zu lassen. Magnus schlägt für die untersten Volksschulklassen Farbentafeln vor mit den Farben : braun, purpur, Scharlach, gelb, grün, blau, violet und schwarz. Der Lehrer benenne der Reihe nach die Farben und lasse sie sich wiederholen ; dann zeige er auf ein Farbenfeld und lasse sich den Farbennamen nennen. Daran können noch gleich zu demonstrierende Belehrungen über die verschiedenen Helligkeitsgrade der Farben angeschlossen werden. In den höheren Klassen soll der Lehrer irgendeine Farbe der Farbtafel bezeichnen, die dann entsprechend aus einer An- zahl Wollbündel hervorgesucht werden soll. Schließ- lich soll der Schüler die Farbe bekannter Gegen- stände usw. (Pflanzen, Blüten, z. B. Veilchen) aus den Wollbündeln hervorsuchen. Diese und ähn- liche Methoden sind zur 2. Gruppe (schulmäßige Aufgabe) zu rechnen; sie ermüden rasch und ver- mögen nicht lange das Interesse des Kindes wach zu halten. Das Farbendomino bietet gewisse Vorteile; wenn ein Grundsatz der Pädagogik lautet: „das Kind soll sehen (hören), vergleichen, unterscheiden und durch Selbstdenken, Selbstsuchen seine Kraft reizen, üben und stärken lernen", so kommt das Farbendomino, das selbst von Imbezillen in wenigen Minuten erlernt war, allen diesen Forderungen entgegen. Das Farbendomino hat also in päda- gogischen Augen hygienischen Wert, ohne je als schulmäßige Aufgabe zu wirken. Das Farben- domino kann schon in früher Kindheit (2. Lebens- jahr) zu sinnvollem Spiel gegeben werden (gift- freie Farben Vorbedingung!), Belehrungen im ver- balen Farbensinn müssen natürlich sich anschließen. Wenn man einmal gesehen hat, mit welch spiele- rischer Leidenschaft das Farbendomino geübt wird, welch ein Schaffenseifer aus den Kinderaugen leuchtet und mit welch gelangweilten Gesichtern dieselben Kinder bei andern Spielen bzw. Farben- sinnübungen (Gruppe 2) sitzen, dann muß man sich wundern, daß das Farbendomino noch nicht in den Vorschulen usw. Eingang gefunden hat. (Ein sehr brauchbares Farbendomino, das auch zu den meisten unserer Untersuchungen genügte, wird von der Firma Scholz, Sammlung: künstlerische Spiele, hergestellt.) Betrachten wir die Ergebnisse der 2. Gruppe unserer Untersuchungen jetzt ge- nauer (aus Raummangel müssen die Listen der IL Gruppe wegbleiben): Im 3. Lebensjahre be- sassen von 1 1 untersuchten Kindern 7 ausge- prägten Farbensinn für 8 Farben; keines der Kinder beherrschte die Farbenterminologie voll- ständig. Die Farbenkenntnis war, nach dem Grad von der bekanntesten Farbe ausgehend geordnet, folgende : I. schwarz, 2. weiß, 3. rot, 4. grün, lila, gelb und orange (gleich oft bekannt), 5. blau. Im 4 Lebensjahre besaßen 20 von 26 Kindern vollständigen Farbensinn für 8 Farben ; 2 be- herrschten die Terminologie vollständig. Die Reihenfolge der Farben, nach deren Kenntnis ge- ordnet, ergab: i. schwarz, 2. weiß und rot, 3. grün, 4. gelb, 5. blau, 6. orange, 7. lila. Im 5. Lebensjahre besaßen von 56 Kindern 55 vollständigen Farbensinn für 8 Farben; 12 be- herrschten die Terminologie vollständig. Die Reihenfolge der Farben nach deren Kenntnis ge- ordnet war: i. weiß, 2. schwarz, 3. rot, 4. grün, 5. gelb, 6. blau, 7. lila, 8. orange. Im 6. Lebensjahre besaßen von 31 Kindern 30 vüUsiändig entwickeltem F"arbensinn für 9 Farben (grau kam hinzu); 8 beherrschten die Termino- logie. Die Reihenfolge der Farben nach deren Kenntnis geordnet war folgende: i. weiß, 2. rot, 3. schwarz, 4. grün, 5. grau, 6. gelb, 7. blau und orange, 8. lila. Mädchen gaben mehr richtige Antworten als Knaben. Von 9 Arbeiterkindern im Alter von 3 — 6 Jahren beherrschte keines die Terminologie. Von diesen 9 hatten 3 unvollständig ausgebildeten Farben- sinn. Von 7 Kindern von mittleren Beamten und Akademikern im gleichen Alter beherrschten 5 die vollständige Terminologie; alle 7 hatten voll- ständig ausgeprägten Farbensinn. Die Durch- schnittsintelligenz war auf beiden Seiten gleich, etwas ungünstiger bei den Arbeiterkindern. Unter vollständig ausgeprägtem Farbensinn verstehen wir hier die Fähigkeit, die Spektral- farben rot, orange, gelb, grün, blau und lila ge- nau voneinander abzugrenzen. Wir fanden nun weiter, daß im 3. und 4. Lebens- jahr noch ziemlich oft verschiedene (immer spektral benachbarte) Farben als gleich zusammengelegt werden. Es wurden als gleich nebeneinander gereiht: rot und orange, orange und gelb, rot, orange und gelb, gelb und grün, blau und lila, lila und schwarz, blau, lila und schwarz. War in diesen Fällen ein verbaler Farbensinn vorhanden, so wurde die betreffende Gruppe nach einem Bestandteil benannt, also z. B. die Gruppe rot -\- orange oder rot -j- orange -(- gelb als „rot", die Gruppe gelb -|- grün als gelb, die Gruppe blau + lila als blau; die Gruppen blau -(- lila -|- schwarz und lila -\- schwarz als „schwarz". Da sich diese Gruppen wiederholten (in der Domino- 620 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVni. Nr. 43 reihe), so muß angenommen werden, daß die be- treffenden Kinder auch tatsächlich diese Gruppen- farben als einheitliche wahrnahmen. In mehreren Fällen suchte ich die Kinder auf die Unrichtigkeit ihrer Aneinanderreihung aufmerksam zu machen, aber fast immer behauptete das Kind mit großer Hartnäckigkeit die Richtigkeit seiner Farben- reihenfolge. Dieser Zustand im kindlichen Farben- sinn war nun keineswegs an die Intelligenz, viel- mehr, wie schon angedeutet wurde, an die häus- liche Umgebung und Herkunft gebunden; dieser unvollständig ausgebildete Farbensinn vom 3. bis 6. Lebensjahre fand sich bei Arbeiterkindern in 30 "/o der Fälle, bei Beamten- und Akademiker- kindern überhaupt nicht. — Es war aber immer wieder aufTallend, wie wenig Einfluß vorausge- gangene und noch bestehende Krankheiten auf die Entwicklung des kindlichen Farbensinns hatten. Erwähnenswert erscheint der Fall: ein acht- jähriger Junge mit sehr starkem Hydrocephalus (Kopfumfang 65 cm bei 125 cm ganzer Körper- gröfje) legte alle Farben des Dominos richtig. Dieselbe Fertigkeit war bei einem 12 jährigen Knaben mit ererbter Syphilis zu beobachten. Ein 1 1 jähriges IVlädchen mit Spinalparalyse bot eben- falls einen normalen Farbensinn bei sehr ver- minderter Intelligenz. Wenden wir uns nun noch einmal der Eigen- art des Kindes zu, die Farben gleichsam groß- zügiger zu gruppieren. Bei Naturvölkern finden wir einen ähnlichen Zustand. Im Band 14 (1883) des Jahresberichts der Ophthalmologie S. 70 findet sich von Kirch- hoff folgende Beobachtung: Die Samojeden unter- scheiden die Farben gut, nur die Bezeichnungen der Mischfarben sind unvollkommen. Es wird ein Wort für eines der IVIischelemende gebraucht, z. B. für violett = rot, ebenso auch für schwarz und dunkle Töne die Bezeichnung ,, schwarz". Birgham berichtet im selben Band S. 71 über den Farbensinn der Nubier, daß bei ihnen blau gleich schwarz sei, sonst aber alle Farben des Spektrums unterschieden werden. Nach Buchner (ebendaselbst) haben die Bantuneger für Farben 3 Worte: schwarz für schwarz und blau; weiß für weiß und gelb; rot für rot. In Band I2 (1881) des Jahresberichts der Ophthalmologie S. 69 sagt Kirch h off weiter: „Die Farbennamen der Völker erhärten den Satz, daß, was Darwin von den Organen sagt, auch von unserer Sprache gilt: sie bleibt unentwickelt oder verkümmert durch Nicht- gebrauch, sie wird stärker nach Maßgabe ihrer Verwertung. — Die Schwankungen in der Be- zeichnung der einzelnen Farben bei den einzelnen Rassen betreffen verschiedene Teile des Spek- trums. Bei den nordamerikanischen Indianern und bei den Tschuktschen besteht verbale Verknüpfung von gelb und grün; bei den Nubiern von gelb, grün und blau; bei den Japanern von grasgrün und himmelblau. Bei allen Völkern scheinen rot, weiß und schwarz eigens benannt zu werden; es sind be- sondere Gruppenbezeichnungen vorhanden für rot; orange -|- gelb; grün -{- hellblau; dunkelblau -|- violet." Schon Frey er hat auf die Ähnlichkeit der Farbensinnentwicklung beim zivilisierten Kind und bei wilden Völkern hingewiesen. Wir können nach unseren Betrachtungen von vorher diese Be- obachtungen nicht nur bestätigen, sondern vielleicht etwas genauer umgrenzen: das 3 — 6jährige Ar- beiterkind steht in bezug auf seine Farbensinn- entwicklung dem Naturvolk näher als das Be- amten- und Akademikerkind. Das Handwerker- kind nimmt eine Mittelstellung ein. Es bestehen also Beziehungen zwischen Kulturhöhe und F"arbensinn. Am Schluß meiner Untersuchungen war es mir eigentümlich, daß sich unter allen untersuchten Kindern nach dem 3. Lebensjahr keines als farbenblind erwiesen hatte. Ich hielt deshalb eine Umfrage bei 4 FröbelschuUeiterinnen, die zusammen innerhalb von 25 Jahren über 4000 Kindern von 3 — 6 Jahren fast täglich und mit sehr zahlreichen von Fröbel vorgeschriebenen F"arbensinnübungen zu beobachten Gelegentheit hatten, und ich erfuhr, daß es auch am Ende des Fröbelschulunterrichts (also nach 3 Jahren) nur einem Mädchen Schwierigkeiten gemacht habe, die Farben rot und grün voneinander zu unterscheiden (leider konnte ich dieses Mädchen nicht in meine Unter- suchungen mit einbeziehen). Diesem geringen Prozentsatz darf natürlich nicht voll Glauben ge- schenktwerden; immerhin aber verdient er Beachtung. Man muß auf die Vermutung kommen, daß nicht jede Farbenblindheit angeboren ist und daß ein großer Teil der Farbenblinden durch systematische Übungen von früher Kindheit an heilbar ist. Favre (Jahresbericht der Ophthalmologie Bd. 6, 1875, Pag. 105) sagt, daß er durch methodisches Vorzeigen von Farben und Farbenskalen bei Kindern die Farbenblindheit in 14 Tagen bis 6 Monaten in der ungeheuren Mehrheit der Fälle geheilt habe. Bei Erwachsenen sei es schwieriger, doch habe er in 3 von 6 Fällen vollständigen Erfolg gehabt. An unsere Untersuchungen schließt sich nun noch eine Reihe von Experimenten an, durch die die beigefügten Aufzeichnungen erstanden sind. Ich ließ 34 nur intelligente Kinder mit aus- geprägtem Farbensinn durch verschiedenfarbige Gläser in Bruchteilen einer Sekunde sehen, fragte nach der Farbe des Glases und notierte jeweils die erhaltene Antwort. Ich bediente mich zu diesen Versuchen einer phothographischen Klapp- kamera für Platten 9X12 cm, die ich mit einem vollständig neuen (also sicher arbeitenden) Com- poundverschluß versah, der Belichtung bis V260 Sek. gestattete. Das Objektiv konnte leider während der Versuche nicht entfernt werden; es bestand aus 2 Linsen mit f = 16,5 cm. Die Mattscheibe wurde vom Apparat genommen ; der Balg so weit ausgezogen, daß eine dem Apparat vorgesetzte Glasscheibe 20 cm von den möglichst dicht in den Apparat hineinsehenden Augen entfernt N. F. XVIII. Nr. 43 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 621 war. Die Blende war bei allen Versuchen auf den kleinsten Durchmesser von 2 mm gebracht. Die farbigen Glasscheiben stammten aus einer Glasmalerei und waren nicht auf ihre Farben- durchlässigkeit geprüft; deshalb können die Er- gebnisse unserer Untersuchungen auch nur allge- meinen Wert haben. Die Farben der Gläser waren : rot, gelb, grün, blau, lila (orange war nicht aufzutreiben). War bei den untersuchten Kindern der verkale Farbensinn noch nicht vorhanden, so ließ ich die betr. Farben, die durch die Kamera gesehen worden waren, aus den Farbentäfelchen des Dominos bestimmen. Von großem Mangel war, daß keine schneller als '/260 Sek. arbeitenden Verschlüsse konstruiert werden außer Rollschlitz- verschlüsse, die sich aber, wie ich mich überzeugen konnte, nicht zu solchen Versuchen eignen. Einige (2) Kinder ermüdeten vor Beendigung der Versuche. Von den 31 vollständig unter- suchten Kindern erkannten alle bei '/og,, Sek. Belichtung rot als rot ; 29 Kinder blau als blau, 19 grün als grün, 14 gelb als gelb und 12 lila als lila. Wurde bei einer bestimmten Belichtungs- zeit die vorgesetzte Farbe nicht richtig erkannt, aber doch ,, später" gesehen, so war es im all- gemeinen eine im Spektrum mehr links gelegene Farbe, die als ,, gesehen" angegeben wurde. Ich sagte den Kindern dann nie, daß sie falsch ge- sehen hatten. Überhaupt wurde bei allen, auch den vorher beschriebenen Versuchen, die Stilling- sche Forderung eingehalten : „die zu Untersuchenden dürfen gar nicht wissen, daß es sich um eine Untersuchung handelt." Wie aus den aufgestellten Listen ersichtlich ist, trat die eben erwähnte Erscheinung, daß bei sehr kurzer Belichtung eine spektral mehr links gelegene Farbe als erkannt gemeldet wurde, mit fast gesetzmäßiger Sicherheit auf. Da „rot" selbst am weitesten links im Spektrum steht, so konnte es, wenn es überhaupt gesehen wurde, nur eben als „rot" erkannt werden, dagegen gelb zuerst bei V200 Sek. als rot, dann bei Vi 00 Sek. als gelb (Fall 12, 14, 15, 31, 32). Interessant ist der Fall Nr. I insofern, als der 4jährige sehr intelligente Junge grün bei Vosn Sek. als rot, bei Vioo ""d V50 Sek. als gelb und erst bei V25 Sek. als grün angibt. Derselbe sah lila ^'250 und '/loo Sek. als gelb, bei Vr.o ""^ ^ij Sek. als blau und bei Vio Sek. Belichtung als lila. Das 4 jährige Mädchen Nr. 6 und genau so das 5 jährige Mädchen Nr. 16 er- gaben für lila die Reihenfolge: gelb, gelb, grün, lila. Von einem Erraten kann hier nicht die Rede sein; es wurde immer wieder die Aussage des Kindes geprüft, indem ich die ,, gesehene" Farbe aus den Farbentäfelchen aussuchen ließ. War der verbale Farbensinn noch nicht vorhanden, so beschränkte ich mich auf das zugleich kon- trollierende Aussuchen der „gesehenen" Farbe, was den Wert der Untersuchung nur heben konnte. In der Literatur habe ich keine Aufzeichnungen über Beobachtungen dieser Art gefunden; da es sich nicht um Compiementärfarben durchweg handelt, kann diese Erscheinung nicht dem Kapitel der negativen Nachbilder zugewiesen werden. Es kann forensisch von Wichtigkeit werden zu wissen, daß, wie Fall 1 lehrt, „grün" als „rot" gesehen werden kann, wenn es sich um rote und grüne Bahnsignallampen handelt. Ohne eine be- friedigende Erklärung für die beschriebenen Er- scheinungen geben zu können, drängt sich doch die Vermutung auf, daß es sich bei diesen „schein- baren Täuschungen" um schnelle Unterbrechungen eines Stoffwechsel prozesses in der Netzhaut handelt. Es kann für die engere Umgrenzung des Begriffs ,, farbentüchtig" von Wert sein, die geschilderte Methode weiter auszubauen. Wie wir aus Fall 3 sehen, ist ein 4 jähriges Kind imstande, die Farben rot, gelb, grün, blau und lila in '/250 Sek. zu er- kennen. Wird es gelingen, einen schneller arbeilenden Apparat herzustellen, so wird die „Norm" vielleicht noch bei einer viel kürzeren Zeit gefunden werden. Yorgeschichtliche Bergwerke in deu Salzburger Alpen. fNachdruck verboten.] Von H. Mötefindt, Wernigerode a. H. Bis in die siebziger Jahre des vorigen Jahr- hunderts standen unsere Geschichtsforschung, unsere klassische Philologie und Archäologie gänz- lich im Banne jener durch das Schlagwort „Ex Oriente lux" gekennzeichneten Weltanschauung. Nur unter dem südlichen Himmel konnte die Menschheit sich allmählich zu dem vervollkommnet und durchgerungen haben, was wir heute als Errungenschaften der Kultur bezeichnen, und auch nur hier im Süden konnten jene uralten Erfin- geben sollte , der europäischen Vorgeschichts- forschung. Von vornherein mußte jedes irgend- wie auffällige Fundstück aus dem Süden stam- men. Zwar begann sich sehr bald gegen derartig vor- eingenommene, jeder wissenschaftlichen Forschung Hohn sprechende Urteile ein gewisser Widerspruch zu regen, und ein dunkles Ahnen von einer Selb- ständigkeit der Kulturentwicklung im Norden wagte sich schüchtern hervor. Soweit es sich um Funde aus der Steinzeit handelte, fand diese düngen und Entdeckungen sich vollzogen haben, Meinung nach und nach auch Anerkennung; Stein- die noch heute den Grundstock unserer Technik, zehfunde kannte man dazumal aus dem Süden unseres „modernen" Wissens und Könnens bilden, noch so gut wie gar nicht, und wußte dement- Dasselbe Dogma beherrschte auch die Anfänge sprechend von hier nichts aufzuweisen, was man der Wissenschaft, die ihm nachher den Todesstoß dem Norden zur Seite stellen konnte. Anders 622 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 43 dagegen stand es mit der Bronzezeit. Für diese Periode hatte sich die Anschauung von der Über- legenheit des Südens derart festgesetzt, daß jedes Ankämpfen dagegen völlig vergeblich blieb. Bis in die siebziger Jahre galt ein jedes Bronzestück von vornherein für ein Importstück aus dem Süden. Und selbst die wenigen Forscher, die etwas zurück- haltender in ihrem Urteil waren, mußten zugeben, daß zum mindesten das Rohmaterial für die Werk- zeuge, Geräte und Schmucksachen der Kupfer- und Bronzezeit nach Nord- und Mitteleuropa aus dem Süden eingeführt sei, wobei man in erster Linie an Cypern und den Orient dachte. Da kam der erste Keulenschlag gegen die Weltanschauung Ex Oriente lux. Im Jahre 1867 entdeckte man auf dem Mitterberge in den Salzburger Alpen prähistorische Kupfergruben von ungeahnter Ausdehnung. Fortan hatte man einen Beweis dafür in den Händen, daß das Roh- material für die Kupfer- und Bronzefunde im Norden gewonnen war. Dann waren aber auch die nordischen Bronzefunde im Norden selber her- gestellt und legten Zeugnis ab vom hohen Stande der nordischen Kunst und Technik. So war auf dem Wege zu unserer Erkenntnis von der frühen selbständigen Entwicklung der Kultur im Norden wieder ein Schritt vorwärts getan. Infolge dieser von der Geschichte ihnen zu- gewiesenen Bedeutung für unsere Erkenntnis der Vorzeit wurden die Mitterbergfunde sehr bald weithin bekannt; erst in zweiter Linie verdanken sie das der großen Ausdehnung des Bergwerkes, sowie dem intensiven Studium, das ihm von einer Reihe von Fachleuten zuteil wurde. Seit 1878 standen die Mitterbergfunde für zwei Jahrzehnte im Vor- dergrunde des Interesses der vorgeschichtlichen Forschung in Österreich. Kein geringerer als der 1909 verstorbene Nestor der österreichischen Vor- geschichtsforschung Matthäus Much hatte sie in jenen Jahren in die Literatur eingeführt, und bis an sein Lebensende an der weiteren Erforschung dieses alten Bergbaubetriebes mit aller Zähigkeit und Energie weitergearbeitet und dabei immer neue Beobachtungen und Untersuchungsergebnisse gewonnen und veröffentlicht. Die Mitterberg- funde blieben jedoch nicht einzig in ihrer Art. Sehr bald traten ähnliche Funde an mehreren anderen Stellen in dem Salzburger Alpengebiet zutage, die es an Umfang mit dem Mitterberg- funden ruhig aufnehmen konnten. Neben dem Mitterberg ist wohl am bedeutendsten jenes prä- historische Bergwerk am Dürrnberge bei Hallein. Seitdem sind auch noch außerhalb des Salzburger Alpen gebietes vorgeschichtliche Bergwerke er- schlossen worden — so in Tirol, am Salzberge bei Hallstatt u. a. m. ■ — , aber all diese Fund- stellen haben es an Umfang und Ausdehnung mit den Salzburger Funden nicht aufnehmen können. So sind auch noch heute die Salzburger Berg- werke die prähistorischen Bergwerke xar' e^oxijv geblieben. Noch einmal hat ein eigenartiges Schicksal über diesen Salzburger Funden gewaltet. Mat- thäus Much und seine Mitforscher hatten all die von ihnen aufgedeckten Werke für kupferzeit- lich gehalten; zu einer richtigen Erkenntnis der Zeitstellung ihrer Funde und Entdeckungen sind sie nicht gelangt. Dreißig Jahre lang wurden die Bergwerke allgemein als kupferzeitlich angesehen. Erst 1910 sprachen sich O. Klose und M. Hörn es gegen diese Zeitstellung aus, und im Anschluß an diese beiden Forscher versuchte G. Kyrie auf Grund chemischer Analysen den Bergbau der jüngeren Bronzezeit und dem Be- ginne der Hallstattzeit zuzuweisen. Um diese chronologischen Fragen nach Möglichkeit zu lösen, ließ daraufhin die K. K. Zentralkommission für Denkmalpflege eine umfassende Untersuchung all der in Frage kommenden Fundstellen durch ihren Assistenten Kyrie vornehmen. Als erstes Ergebnis dieser Untersuchungen erschien ein Jahr vor dem Kriege eine umfassende Studie über den „prähistorischen Salzbergbau am Dürrnberge bei Hallein" (Jahrbuch für Altertumskunde VII, 191 3. S. I —58). An die Seite dieser Studie tritt heute, durch den Krieg beträchtlich verzögert, eine von demselben Verfasser bearbeitete ausführliche Mono- graphie des prähistorischen Bergbaubetriebes in den Salzburger Alpen (Georg Kyrie, Der prä- historische Bergbaubetrieb in den Salzburger Alpen. Österreichische Kunsttopographie Band XVII: Ur- geschichte des Kronlandes Salzburg. Wien 1916, ausgegeben 1918. S. i — 70). Beide Schriften kommen einem seit langem immer und immer wieder ausgesiirochenen Bedürfnis der weitesten wissenschaftlichen Kreise entgegen. Wenn schon der Fachmann selber eine zusammenfassende kritische Würdigung all der in einer umfang- reichen Zeitschriftenliteratur durch etwa 40 Jahr- gänge zerstreuten Funde schmerzlich entbehrte, so braucht man eigentlich erst gar nicht auf die Bedürfnisse der Nachbardisziplinen hinzuweisen. So werden heute weite Kreise gern zu der Arbeit greifen, um einen Einblick in ein Forschungsge- biet zu erhalten, an dem sie nicht achtlos vorüber- gehen dürfen. Ein besserer Bearbeiter als Kyrie war für die Monographie schwerlich zu finden. Kyrie hat sich nicht nur mit dem Gelände völlig vertraut gemacht, sondern auch in die bergmänni- schen Fragen vollkommen eingelebt. Im Vorder- grunde der Arbeit steht natürlich die rein archäo- logische Auswertung der Fundplätze, die in jeder Beziehung mustergültig zu nennen ist. Eine der- artig klare Unterscheidung der einzelnen Auf- schlüsse war bisher noch nicht geboten worden. Nicht vergessen dürfen wir schließlich auch die hervorragenden Abbildungen, nicht etwa bloß der Fundstücke, sondern auch des Geländes und der Bergwerke selbst — Aufnahmen , die z. T. nur unter den größten Schwierigkeiten möglich ge- wesen sind und die, da die jeweils aufgeschlossenen alten Abbaue dem modernen Bergwerksbetriebe zum Opfer fallen, unschätzbare Dokumente dar- stellen. — N. F. XVIII. Nr. 43 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 623 Fünf vorgeschichtliche Abbaue auf Kupfer sind bis heute aus dem Salzburger Gebiet bekannt geworden. I. Mitterberg. Der Untertageabbau folgt hier einem Gange, der durchschnittlich 1,50 m mächtig ist. Der Abbau wurde vermutlich im Osten begonnen und nach Westen fortgesetzt. Das Abbaufeld umfaßt rund 65 000 qm, die freilich nicht als gänz- lich abgebaut aufzufassen sind. Es gibt vielmehr eine große Anzahl von Verhauen, die entweder isoliert oder miteinander durch schmale S to 1 1 en verbunden die Weichheit des Gesteins bevorzugend nur den reichsten Erzmitteln nachgefahren sind. Vom Tage aus wurde zuerst eine tiefe Grube in das den Gang überlagernde Material gegraben und sodann der Gang durch Feuersetzen vor- getrieben. In den tiefen trichterförmigen Gruben befinden sich die Mundlöcher der Verhaue. Da eine Reihe solcher Mundlöcher eng nebeneinander y liegt, darf man annehmen, daß mehrere Verhaue zu gleicher Zeit im Retrieb waren. Der meist tonlägige Verlauf der Stollen hängt mit der Feuer- setzung zusammen. Durch den schiefen Schlauch kann nämlich von seiner Sohle frische Luft nach- gesogen werden, während längs der Decke der Rauch verstreichen kann. Schächte oder hori- zontale Stollen würden nicht zu gleicher Zeit den Rauchabzug und Luftzufuhr gestatten. Bei höheren Aufbrüchen mußte eine Feuerbühne eingebaut werden. Auf diese stieg man dann durch roh ausgearbeitete Steigbäume. Das erhitzte Gestein wurde mit Wasser begossen, welches dort, wo es möglich war, mit Rinnen eingeleitet, sonst mit Kübeln heruntergebracht und in großen Holztrögen gesammelt wurde. Viel- fach mag auch das natürliche Grubenwasser ver- wendet sein. Zum Begießen des Gesteins dienten ebenfalls Kübel und vielleicht auch Schöpfkellen. Das geborstene Gestein wurde durch Holzkeile weitergesprengt, mit Bronzepickeln vom Berge losgetrennt und mit Schlägeln zerkleinert. Gleich an Ort und Stelle wurde das Erz von dem tauben Gestein grob gesondert. Das taube Gestein mag manchmal zum Versetzen verwendet worden sein, das Erz wurde zutage gefördert. Es ist wahr- scheinlich, daß die Förderung in Säcken ge- schah, in welche das Erz mit Schaufeln eingefüllt wurde. Die Arbeit des Förderns wurde durch eine Haspel erleichtert. Die Gruben und die Zu- fahrtstollen wurden, wenn der Schein der Feuer- setzung nicht ausreichte, mit Leuchtspänen erhellt. An Schutzvorrichtungen kannten die Alten Auszimmerungen, wohl meist Türstockverzimme- rungen, und Verdammungen, die die eindringenden Tagewässer aus der Grube abhielten. Obertag findet sich ein großer Pingen- zug von 1200 m Länge, der genau der Ästelung des Erzganges folgt. In unmittelbarer Nähe der Pingen liegen die Scheidplätze, während die Schmelzplätze außerordentlich verstreut liegen. Sowohl Untertag wie Obertag wurde eine große Anzahl von Werkzeugen gefunden, die mit der Gesteinsgewinnung, seiner Aufbereitung und Ver- hüttung in Verbindung stehen. Am interessantesten sind wohl die Untertag aufgedeckten Holzarbeiten wie Steigbäume, Reste von Feuerbühnen, Füll- tröge usw. 2. Einödberg. In der Nähe der Haltestelle Außerfelden der nach St. Johann führenden Straße wurden bei dem Weiler Einöd beim modernen Bergbaubetriebe untertage zahlreiche alte Verhaue aufgedeckt; sie waren z. T. schon Matthäus Much bekannt, wurden jedoch im ein7elnen erst seit 191 2 von Kyrie untersucht. Sie boten im wesentlichen dasselbe Bild wie in Mitterberg. Interessant ist ein hier aufgedeckter alter Z u - gangs- und Förderschacht, an dem sich noch eine Anzahl quergelegtcr Stempel in ihrer urspründichen Lage erhalten hat; sie liegen in Abständen von annähernd einem Meter leiterähn- lich übereinander und erleichtern die Befahrbarkeit des Schachtes. Obertag findet sich wieder der Pingenzug in einer Länge von fast 2 km. Die ganzen Pingen wände sind von kleinen zerschlagenem Gestein übersät und dazwischen finden sich spär- lich rohe Topfscherben und Steinschlegel. Schmelz- und Scheidplätze konnten bis jetzt noch nicht festgestellt weiden. Die langen Furchenpingen stellen einen obertägigen Versuchsbau auf den Erzgang dar; das ergibt sich hier klar daraus, daß der Zug der Pingen dort von der eingeschlagenen Richtung abweicht, wo durch Verwerfung oder sonstige Umstände der Gang gestört ist. Hatte man den Gang gefunden, so trachtete man in die Tiefe, und zwar benutzte man dazu auch natürliche Hohlräume und Klüfte im Berge, von denen aus man das Grubenfeld anlegte. 3. Buchberg-Hochgründeck. Noch sehr wenig erforscht sind die alten Ver- haue des am rechten Salzachufer vom Buchberg bis Hochgründeck sich hinziehenden Höhenzuges. Die früheren Anschnitte des „Alten Mannes" sind seiner- zeit nicht genügend studiert und heute nicht mehr zugängig. Die überaus zahlreichen Pingen und eine reiche Anzahl von Scheid- und Schmelzplätzen geben den sicheren Beweis, daß hier, gerade gegen- über den alten Bauen auf dem Einödberg, ein ebenso intensiver als alter Bergbau betrieben worden ist. Eine genaue Erschließung dieser Lokalität muß dem fortschreitenden modernen Bergbau vorbehalten bleiben. 4. Viehhöfen. An der Saalach im unteren Glemmtal wurde bei Viehhöfen, westlich von der Bahi Station Mais- hofen der Bahnstrecke Salzburg-Irmsbruck ein interessantes Grubenfeld mit drei Tagschächten im Jahre 1912 von Kyrie untersucht. Die Sohle des Grubenfeldes war zum großen Teile ganz 624 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 43 unberührt erhalten und ermöglichte interes- sante Feststellungen. Im südlichen Teil wurde ein altes Ort festgestellt, an dem noch eine etwa 2 cm dicke schwarze Rußschicht und darunter eine 10—15 cm dicke Schicht von kleinzer- sprungenem, leicht wegbrechbarem Gestein haftete. Wir sehen daraus, daß ein Angriff vor Ort einen 10 — 15 m tiefen Vortrieb in das Gestein be- deutete. Die Sohle des Grubenfeldes sinkt nach Norden hin um etwa 2 m. Das zuletzt in Be- trieb gestandene Ort ist der höchste Punkt. Daraus ergibt sich für die Technik des Vortriebes der Schluß, daß man bemüht war, die einsickernden Tagwässer und das von der Abkühlung des er- hitzten Gesteins überschüssige Wasser in einen tieferen Teil des Grubenfeldes zu leiten, um vor Ort im Trockenen arbeiten zu können. Mitbe- stimmend (ür die schiefe Anlage der Grubensohle dürfte auch die bessere Wetterführung bei der Feuerung gewesen sein. Auch hier wurden interessante Holzgeräte, ein Wassertrog, ein Förder- trog, ein Steigbaum u. a. m. entdeckt. Zahlreiche Pingen sowie Scheid- und Schmelzplätze lassen sich im Gelände feststellen. Hier treffen wir auch wieder Furchenpingen, die für einen mächtig aus- gedehnten Tagbau sprechen. 5. Stuhl felden. Am Dürrnberg bei Stuhlfelden wurde gleich- falls der „Alte Mann" angeschnitten ; er ist gegen- wärtig noch nicht näher untersucht, obwohl er sehr wertvolle Aufschlüsse verspricht. — Der eingehenden Beschreibung dieser fünf Fundstellen läßt Kyrie interessante Ausführungen über die Aufbereitung, Verhüttung usw. folgen. Besondere Beachtung verdient der für den Mitter- berg unternommene Versuch einer Errech- nung der ausgebrachten Kupfermassen. Durch Berechnung der Kubatur und Substanzziffer kommt Kyrie dabei auf 300 t Kupfer, während er bei einer Errechnung des Kupfers aus den vorhandenen Schlacken nur auf 125 t kommt. Eine besondere Bedeutung gewinnt die Fest- stellung des Jungbronze- bzw. hallstattzeitlichen Abbaus der Bergwerke im Hinblick auf die tiroli- schen vorgeschichtlichen Bergwerke von Kitzbühel und Schwaz, die gleichfalls der Hallstattzeit an- gehören, dieselbe Periode, der auch das große Salzbergwerk auf dem Dürrnberge bei Hallein zuzuweisen ist, das Much ursprünglich auf Grund einiger Steinbeilfunde für steinzeitlich hielt. 6. Dürrnberg bei Hallein. Südwestlich von Hallein liegt am linken Salzach- ufer etwa 770 m über dem Meere der hauptsäch- lich von Knappen und Bauern bewohnte Ort Dürrnberg. Bei diesem Orte befindet sich ein modernes staatliches Salzbergwerk; der hier an- geschnittene Salzstock, der mit dem von Berchtes- gaden und Schellenberg, sowie mit den übrigen in Abbau befindlichen großen Salzbergstätten der nördlichen Kalkalpen durch Glieder der hallorischen Gruppe in Verbindung steht, gehört dem Trias an. Durch den modernen Bergbau wurde eine Reihe von vorhistorischen Grubenfeldern ange- fahren, die uns einen guten Hinblick in die Salz- abbaumethode der Alten gewähren. Das durch moderne Stollen erschlossene sog. Heidenge- b i r g e ist ein regeneriertes Haselgebirge. Durch die Regenerierungsfähigkeit des Salzge- birges sind die untertägigen Hohlräume, die Stollen, Schächte und Grubenfelder wieder vollständig zu- sammengewachsen und nur der Schlamm der Sohle als mehr oder minder starke Schicht er- halten geblieben; in dieser Schlammschicht stecken zahlreiche Relikten der alten Bergleute, so insbe- sondere unbrauchbar gewordene Werkzeugstiele und Leuchtspäne, letztere zu vielen Tausenden von Exemplaren, daneben aber auch Seile, Leder- taschen, Gewebereste und dergleichen mehr. Sehr oft finden sich größere Reste von Verzimme- rungen aus Rundhölzern und Brettern, und zwar in den beiden noch heute gebräuchlichen Arten der Stempel- oder Mann-an-Mann-Verzimmerung und der Verschalverzimmerung, welche die Alten offenbar differenziert bei verschiedenartig druck- festem Gestein angewendet haben. In den Jahren 1573 und 1616 hat man hier sogar zwei tote Bergleute, unverwest, in ihrer Kleidung gefunden, leider aber nicht aufbe- wahrt. Daß es sich bei der 1573 gefundenen Leiche um einen prähistorischen Bergknappen handelt, geht daraus hervor, daß auch damals schon Schuhe, Kleider und hölzerne Bickel ge- funden wurden. Unter diesen hölzernen Bickel ist wohl nichts anderes zu verstehen als die häufig gefundenen knieförmigen Schäftungsstiele der Lappenäxte. Ob die 161 6 gefundene Leiche eben- so alt ist, kann infolge Fehlens näherer Fund- nachrichten nicht mehr festgestellt werden, jedoch ist es sehr wahrscheinlich. Der prähistorische Abbau ist wohl in der Weise erfolgt , daß die Alten das über den Salzlagern liegende taube Gestein in tonlägigen Schächten und Stollen mit welliger Sohle durchfuhren. In den eigentlichen Salz- lagerstätten suchten sie die Kernsalzbänke auf und bauten diese ab. Hier legten sie weit aus- gebreitete Gruben felder an und verließen sie erst wieder, wenn der Abbau nicht mehr ergiebig genug schien. Das zwischen den einzelnen Salz- bändern geschichtete taube Gestein mußten sie ebenfalls losbrechen , ließen es aber an der Sohle des Stollens liegen , wodurch diese immer höher wurde. Daraus erklärt sich auch die ver- schiedene Mächtigkeit des angefahrenen Heiden- gebirges. Die losgebrochenen Kernsalz - blocke wurden zerkleinert, wobei gegebenenfalls auch Holzkeile in die geschlagenen Schramme eingetrieben und die reinen Salzstücke von dem mitgebrochenen tauben Gestein geschieden sein mögen. Das zerkleinerte Salz wurde dann wahr- scheinlich in buttenförmige, auf dem Rücken ge- N. F. XVIII. Nr. 43 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 625 tragene Behälter aus Leder oder in Säcke geschaufelt und zutage gefördert. Ob das Salz am Tage in Wasser auf- gelöst, gereinigt und durch Versieden wieder in festem Zustand gewonnen wurde, oder in natür- lichem Zustande zur Verwendung kam, entzieht sich der strengen Beweisführung. Doch ist das letztere wohl das wahrscheinlichste, weil die Kernsalzbänke ziemlich reines Salz enthalten und die Beimengung von Kalium- und Magnesium- salzen keine so großen Mengen erreicht, daß der Kochsalzgeschmack dadurch wesentlich verändert würde. Das im modernen Bergbau verwendete Laugverfahren ist auf keinen Fall aus- geführt worden. Ist es schon an und für sich sehr schwierig, das zur Auslaugung bestimmte Werk an allen Seiten, wo ein Wasserdurchbruch in Frage kommt, durch Schramme, die mit dem Leist verschlagen werden , gegen den übrigen Grubenbau abzudämmen , da sich sonst die Sole irgendwo selbsttätig einen Ausfluß sucht und in tiefer gelegene Teile des Berges verläuft, so müssen auch noch die großen technischen Schwierigkeiten, die die Einleitung von Wasser durch wellige Stollen und Schächte mittels offener Röhren mit sich gebracht hätte, bedacht werden; daim sind auch niemals solche Schramme zutage getreten, noch Holzröhren beobachtet oder auch Leist selber im Heidengebirge angeschnitten worden. Wie weit der Bergbaubetrieb in vorgeschicht- licher Zeit ging, können wir heute lediglich durch die Anwesenheit von Heidengebirge ermessen. Der „Alte Mann" liegt überall in ziemlich gleichen Horizonten ; die gesamte Höhendifferenz beträgt 50 m. Seine Ausdehnung umfaßt beinahe das ganze heutige Bergwerk. Einzelberichte. Geologie. „Mitteilungen über den geologischen Bau von Mittelmazedonien" macht Fr. Koßmat in den Berichten der math.-physik. Kl. d. Sächsi- schen Gesellsch. d. Wissensch. zu Leipzig, Bd. LXX, S. 246—286 (1919)- Koßmat machte diese Beobachtungen wäh- rend des Krieges, zum Teil im Auftrage der Landeskundlichen Kommission. Eins der wichtig- sten seiner wissenschaftlichen Ergebnisse ist die Entdeckung einer SSO-laufenden Gosau- und Flyschzone, die westlich des Wardartales aus dem oberen Moglenicagcbiet nordwestlich der Ebene von Saloniki zum Südrande des Beckens von Üsküb verläuft. Sie teilt sich dann in mehrere Züge, die sich beiderseits des Lepenac fortsetzen, finden in der Gebirgsumrandung des SSO — NNW gestreckten Amselfeldes Anschluß an die südwest- serbischen und ostbosnischen Flyschgebiete. Im Westen des westmazedonischen Gebirges südlich des Üsküber Beckens zwischen dem War- dar und dem schwarzen Drin sehen wir ein kri- stallines Grundgebirge in der Gegend von Prilep und Monastir als nicht metamorphe Tonschiefer- und Grauwackenregion vor uns, die das Liegende der albanischen Kalkzone und deren basischer Eruptivmassen bildet. Das westmazedonische Grundgebirgsmassiv taucht im Norden unter. Als letzte Granitgneiskuppen können wir im Phyllit- und Grauwackengebiet am Gehänge des Sarday bei Kalkendalen und im Gebirge westlich von Feri- zowic Punkte bestimmen. Zwischen der mittelmazedonischen Gosau- Flyschzone und dem ostmazedonischen Gebirge einerseits und dem westmazedonischen Massiv andererseits liegt in langer Erstreckung steil ein- gefaltete Oberkreide, die meistens dem Oberturon und Devon angehört. Nur vereinzelt sind tiefere Kreidehorizonte nachgewiesen. In der Umgebung von Novipazar vereinigen sich zwei Kreidezüge: der mittelmazedonische Zug, der vom Randgebiet des Golfs von Saloniki kommt und über Alsar- Veles-Üsküb nach dem Osthang des Amselfeldes streicht und der albanische Zug, der aus dem Merditenland westlich des schwarzen Drin kommt. Die obere Kreide ist überall jünger als Ser- pentin. Dem Absatz ging eine gewaltige Faltung und Abtragung voraus. Auf diese Weise kommt es zu einer abweichenden Lagerung und Gesteins- beschaffenheit der Karstfazies der äußeren Zone des dinarischen Gebirges gegenüber. Hier zeigen die Trias- Jura Kreide Kalke hauptsächlich konkor- dante Lagerung ohne bemerkenswerte Lücken. Vom Südrande des Üsküber Tertiärbeckens über Veles-Drenowo-Polosko an der Cerna bis ins Gebiet von Alsar zeigt sich eine schuppen- förmige Wiederholung, begleitet von langen Ser- pentin- oder Gabbro- Diabaszügen, von steil auf- gerichteten paläozoischen und mesozoischen Schichten begrenzt. Folgende Sedimente beteiligen sich am Aufbau der Schuppenzone: I. Grauwacken, gestreckte holzähnliche Quarzite, Serizit- und kalkphyllite, Chlorit- und Hornblendeschiefer, dunkle Lydite, Einlagerungen von blauem und weißem Marmor. Granit und Aptit durchbrechen in der Schlucht östlich von Veles die immer etwas metamorphen Sedimente; 2. rukanoähn- liche Ouarzkonglomerate und glimmerige Kalk- schiefer^ mit kostaten Myophorien (Untertrias?) kommen im Norden der Taorschlucht (N von Veles) vor. Hier in der Nähe und auch sonst in an- deren Teilen der Schuppenzone zeigen sich schwach metamorphe, splitterige, weiße Kalke als schroffe Felsriffe. Sie sehen wie Obertriaskalke aus und führen südöstlich von Sopot Megalodonten. In den Gebirgen der Cernaschlucht in der Landschaft Morichovo traten Verrucano- und Werfener Ge- steine auf, z. T. metamorphe Kalke und Dolo- mite. Sie sind mit der transzendierenden Kreide 626 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVin. Nr. 43 verzahnt; ^. Hornstein-Plattenkalke, Ton- und Kieselschiefer (mit Radiolarien), die vielleicht zu jurassischen dinarischen Schiefern der Hornstein- formation gehören; 4. Bronziiserpentine, Gabbros und Diabase. In den Gabbros kommen Chtom- eisen und Magnesite vor. Diabas und Serpentin durchbrechen gepreßte aUe Ton- und Kalkschiefer an der Cernaenge, desgleichen Gabbro und Ser- pentin den Triaskalk bei Nowacani; 5. trans- gredierende gosauähntiche Kreide, die auf den älteren Gebilden der Schuppenzone aufliegt, steil aufgerichtet und überfaltet. Die Tektonik ist äußerst verwickelt. Sie ändert sich häufig. Öst- lich des westmazedonischen Massivs steht die Ein- heitlichkeit der von Veles in SSO ■ Richtung streichender Zonen fest. Bei Veles treten aus dem östlichen Teile des Kreidegebietes Triaskalk- züge als kurze Felsrifife auf, die im Süden durch ihr Anschwellen zu Gebirgszügen die Kreidezone zerteilen. Örtlich dieses Schuppengebietes und des Neo- gonplateaus von Konop'Ste Berowo tritt bei Mala- rupa-Pajik ein Grundgebirgssporn auf. Zu diesem Gebiet gehören noch kristalline Schiefer auf den östlichen Wardargehängen jenseits des Sermenli- plateau. Es ist eine gegen Norden flach kuppei- förmig untersinkende Randauffaltung des west- mazedonischen Massives. Die Schuppenzone wird in zwei Aste gespalten. Das Sermenliplateau ist ein großes Gabbro- und Diabasfeld. Es reicht vom Humeplateau und Bratocilo bis zur Wardar, vom unteren Ende der Demiokapu Schlucht bis zum Becken von Gjev- gjali. Es zeigen sich Laven mit Mandelsteinstruktur und Wulstoberfläche. Bei Goedec und Hudove ziehen lichtrötliche Gänge von Porphyr und Porphyrit durchs Gestein. Sie sind älter als die Kalke der DemiokapuSchlucht, die Koßmat für thitonisch anspricht. Im Plauskamm haben wir wieder eine ver- wickelt gebaute, aufgelöste Gebirgszone vor uns. Koßmat kommt bei der Tektonik der War- darzone zu der Anschauung, daß die Au.sbrüche der Jurazeit nicht an einen einzelnen Gürtel ge- knüpft sind. So war nach ihm die westmazedo- nische Aufwölbung eruptivarm. „Zur Zeit der oberen Kreide war der Verband zwischen der äußeren dinarischen Kalkzone und der mittel- mazedonischen durch Abwaschung bis auf die kristalline Basis völlig unterbrochen". Die Schuppen der Wardarzone sind selbständige tektonische Gebilde und keine Wurzeln der äußeren dinari- schen „Decken" der Teriiärzeit. Der Verf. kommt zur Annahme einer paläo- zoischen Regionalmetamorphose vorpermischen Alters. Es kam zur varistischen Faltung. Die metamorphe varistische Zentralzone bildet durch die transsilvanischen Alpen Rumäniens, durch Ostserbien und Rhodope die Verbindung Mittel- europas mit den damaligen vorderasiatischen Fallen. Im jüngsten Paläozoikum und der Trias wurden neue Sedimente abgesetzt bis eine neue Faltungsbewegung (Ostserbien) einsetzte, die aller- dings in Mazedonien noch nicht nachgewiesen ist. Vor Ablagerung der oberen Kreide kam es noch- mals zu einer großen Faltung. Die obere Kreide transgrediert in den Gosau- und Fiyschfazies über alle älteren Glieder. Nach der Ablagerung der seanonen Schichten kam es nochmals zur Faltung, die bis zum Eozän anhält. Von Senkungsgebieten erwähnt Koßmat die oligozäne Meeresbucht, die sich zu Beginn des Oligozäns bildete und im Norden bis an den Fuß des Karadag reichte , entlang der Wardarzone westlich vom Dojransee mit dem Mittelmeer zu- sammenhing. Am Bogoslowar und bei IStip zeigen sich Bruchsysteme , durch welche das Oligozän zwischen westmazedonischem Massiv und der Rhodope gegen diese Gebirgsschichten abgesenkt wurde. Diese posthume Bewegung hatte Einfluß auf die Ausbildung des Wardar- Flußgebietes. Mit diesen nachohgozänen Bewegungen hängt der tertiäre Vulkanismus zusammen, dessen Spuren sich entlang der Wardarzone finden. Hierher ge- hören auch die heißen Quellen im Strumatale bei Swetivrac, Livunowo, Demirhissar. In der Neogenzeit bestand im mittleren War- dargebiet, im heutigen Becken von Üsküb, im Gebiet der unteren Cerna, in der Ebene von Kawadar ein großes See- und Flußgebiet. Viel- leicht hing die Beckenreihe von U>küb, Veles, Kawadar durch das Sirumicagebiet mit der großen Tertiärniederung von Demirhissar und Seres, mit dem alten Strumaunterlauf zusammen. Rudolf Hundt. Physiologie. Über die Entgiftung eingeatmeter Blausäure haben die Frankfurter Biologen E.Teich- mann und W. Nagel Versuche gemacht. ^) Als Gegengift verwendeten sie nach dem Vorgang von Lang da^ Natriumthiosulfat (unterschwtflig- saures Natron, Na,3S.203). Als Versuchstiere dienten weiße Mäuse. Es ergab sich, daß nach gleich langer Einwirkung des eingeatmeten Blausäure- gases eine größere Anzahl von Mäusen leben blieb, die mit lOproz. Thiosulfatlösung injiziert waren. Ebenso konnte die nach kurzer Dauer der Einwirkung nötige Erholungszeit durch Thio- sulfatgaben bedeutend abgekürzt werden, nament- lich, wenn die Injektion vor Einatmen des Gases stattgefunden hatte. Versuche gleicher Art von F. Seh an kies -Königsberg, an Ratten vorge- nommen, hatten ein grundsätzlich gleiches Er- gebnis. Bei der jetzt häufigen Verwendung der Blau- säure zur Insekteiiveitilgung, die ja infolge der starken Giftigkeit des Gases nicht unbedenklich ist, ist es wichtig, daß auf Grund der obigen Befunde eine Behandlung mit Thiosulfat bei etwa vorkommenden leichten Vergiftungserscheinungen erfolgversprechend ist. H. H. ') Biochemische Zeitschr. 93, S. 312, 1919. N. F. XVm. Nr. 43 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 627 Physiologie. Während die einen im Inter- stitium der Geschlechtsdrüsen die alleinige Ur- sache der sekundären Geschlechtsmerkmale sehen, glauben andere Forscher, daß auch dem generativen Teil eine bestimmte Mitwirkung zufällt. In jüng- ster Zeit haben nun Tandler und Groß (191 1) auf eine neue Tatsache hingewiesen, die nach ihrer Ansicht geeignet erschiene, der Anschau- ung von der innersekretorischen Tätigkeit der Zwischenzellcn des Hodens eine Stütze zu ver- leihen. Sie faßten die Veränderungen ins Auge, welche die männlichen Keimdrüsen bei saison- dimorphen Tieren im Laufe des Jahres durch- machen. Zu ihren Untersuchungen diente als Material der Hoden des Maulwurfs. Unter dem- selben Gesichtspunkt hatte früher Schöneberg (191 3) die Ente behandelt. Auch v. Hanse- mann (1895) hatte auf ähnliche Veränderungen beim Murmeltier hingewiesen. Jedoch wurde bei allen diesen Untersuchungen mehr das Massen- verhältnis der generativen zu den interstitiellen Zellen ins Auge gefaßt, als die Schwankungen, welche der Hoden im ganzen im Laufe des Jahres erfährt. Eine neue Arbeit behandelt das Verhalten des Interstitiums im Laufe des Jahres bei der Dohle. H. Stieve (Archiv für Entvvicklungs- mechanik der Organismen Bd. 45, 19 iq) unter- suchte 300 männliche Tiere, die in der Zeit vom Juni 1916 bis Mai 191 7 in Russisch-Polen erlegt wurden. Die Brunstzeit fäUt in die zweite Hälfte des April und erste des Mai. Von Ende Jimi bis anfangs Februar waren die Testikel in der Größe konstant und zeigten nur individuelle Schwankungen; sie beträgt 1,4 mm : 0,8 mm. Der linke Hoden war fast doppelt so groß als der rechte. Der vom Alter der Tiere und von der Jahreszeit unabhängige Größenunterschied erklärt sich daraus, daß der rechte Hoden von der Leber bedeckt wird, während dem linken nur der leicht bewegliche Magen aufliegt, so daß er sich ziemlich frei nach der Bauchhöhle aus- dehnen kann. Erst Ende Februar vergrößern sich die Testikel. Im März ist der Hoden schon 6 mm : 3,5 mm, hat also eine zehnfache Ver- größerung erfahren. Ende März beträgt die Größe 7,5 mm : 4,5 mm. Mitte April, zur Zeit der Ei- ablage, auf dem Höhepunkt der Brunst haben auch die Hoden ihre beträchtlichste Ausdehnung erlangt und zeigen eine durchschnittliche Größe von 17,6 mm : 11,2 mm; linker und rechter Hoden verhalten sich wie i : 2. Die Größenzunahme i^ ungefähr das 260 fache. Dem entspricht die rasche Vergrößerung des Säugetieruterus im Anfang der Entwicklung. So mißt nach Wald ey er der jungfräuliche mensch- liche Uterus 50 ccm , am Ende der Schwanger- schaft beträgt das Volumen mit Inhalt 6000 ccm, also das 120 fache. Die Vergrößerung des Hodenvolumens beträgt, wie auch bei anderen Vogelarten festgestellt wurde. etwa das 1000 fache. Das Aussehen bleibt wäh- rend der Größenzunahme im wesentlichen das gleiche, nur wird die gelblich- weiße Färbung entsprechend der stärkeren Entwicklung der Blut- gefäße mehr rötlich. Am Ende der Brunstzeit wird die P'arbe dunkler und das Blutgefäßnetz ist stark erweitert. In der ersten Hälfte des Mai ist die Größenabnahme gering, in der zweiten ist der Hoden auf ein Viertel ZLirückgegangen und befindet sich im Juni wieder im Ruhezustand. Die Testikel der alten Männchen gleichen jetzt denen der eben ausgeschlüpften jungen Vögel und sind nur um ein geringes größer; Ende Juni bieten sie dasselbe Bild wie im Februar, die Ober- fläche ist glatt und die erweiterten Blutgefäße sind nicht mehr sichtbar. Nach Leukart be- trägt beim Haussperling die Vergrößerung des Hodens das 192 fache, nach Etzold sogar das 336 fache; er stellte fest, daß beim Haussperling der Hoden im Winter 0,00062 "/„ des Körper- gewichts gegen 2 "/^ in der Paarungszeit betrug. Die Hodenvergrößerung bei der Dohle beruht in erster Linie auf einer Ausdehnung des Keim- gewebes; die Gesamtlänge der Samenkanälchen beträgt im Winter 106,34 mm gegen 167597 mm im Sommer. Bei den bisherigen Untersuchungen wurden lediglich die Testikel als Ganzes betrachtet ohne Berücksichtigung der einzelnen Gewebsarten. Das histologische Bild blieb in der Zeit von Ende Juni bis Mitte Februar unverändert. Die Samen- kanälchen hatten fast kein Lumen und grenzten sich scharf vom interstitiellen Gewebe ab. Neben den Spermatogonien finden sich kleine Zellen mit ovalem Kern und wenig umfangreichem Proto- plasmakörper. Die Zellen des meist einschichtigen Epithels sind große Zellen mit bläschenförmigem großem Kern und feinmaschigem Protoplasma- körper; es sind offenbar die Spermatogonien, Mitosen sind nicht nachweisbar. Der Kern der Leydigschen Zellen ist ziemlich groß, kugelrund, verhältnismäßig dunkel und läßt ein feines Chro- matinnetz und vereinzelte größere Klumpen er- kennen. Der Protoplasmaleib ist gleichfalls groß und feinstens gekörnt, er zeigt verschiedene Ge- stalt, bald erscheint er polygonal, bald mehr läng- lich, bald wieder erstreckt sich ein feiner Proto- plasmafortsatz weit zwischen zwei ziemlich dicht aneinanderliegende Kanälchen. Häufig sind die Zellgrenzen nicht sehr deutlich , so daß das Zwischengewebe den Eindruck eines Syncytiums hervorruft. Um das gegenseitige Mengenverhältnis der Hodenkanälchen, also der Keimzellen einerseits zu den Zwischenzellcn andererseits festzustellen, wurden größere Flächen der Hodenschnitte mit- tels des Zeichenapparates auf dickes Papier pro- jiziert, die Umrisse eingezeichnet und dann aus- geschnitten. Hierauf wurden die den beiden Hodenanteilen zutreffenden Bezirke getrennt ge- wogen. Die vorgefundenen Gewichte stellen dann das gegenseitige Mengenverhältnis dar. Die Ge- samtmasse der Zwischenzellen ist etwa ebenso 628 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVin. Nr. 43 groß oder nur wenig kleiner als die der Keim- zellen, individuelle Schwankungen innerhalb enger Grenzen kommen hier vor, sie sind jedoch voll- kommen unabhängig von der Jahreszeit und machen sich nur darin geltend, daß sich das gegenseitige Mengenverhältnis der beiden Hoden- anteile verschiebt. Dabei übertrifft die Zwischen- substanz nur ausnahmsweise die der Keimzellen, gewöhnlich erhält man Zahlen wie l : i, 2 : 3, in Ausnahmefällen auch wie i : 2. Die Gesamt- masse der Zwischenzellen schwankt zwischen 0,7 bis 2,5 cmm, in größeren Hoden ist sie meist relativ geringer, aber absolut größer als in klei- neren. Relativ am größten ist sie in den Hoden der jungen Tiere, die noch keine Geschlechts- periode durchgemacht haben. Bei ihnen sind die Hoden in der Ruhezeit durchwegs nicht nur kleiner, sondern auch relativ reicher an Zwischen- zellen , deren absolute Menge aber keineswegs größer als bei älteren Tieren ist. Die individuellen Schwankungen im histologischen Bild lassen sich am besten zeigen, wenn man die Hodenschnitte von mehreren am nämlichen Tage erlegten Tieren miteinander vergleicht. Man findet dann stets Bilder und alle Übergänge zwischen diesen, als sicheres Zeichen dafür, daß in keinem Zeitpunkt der Ruheperiode ein vollkommen festgelegtes Mengenverhältnis der beiden Hodenteile besteht. Irgendwelche periodischen Veränderungen in der Menge der Zwischenzellen, die alle Tiere be- treffen, lassen sich in der Zeit von Mitte Juni bis Mitte Februar nicht feststellen. Eine Vermehrung der Leydigschen Zellen, welche eine Brunstperiode vorbereitet, läßt sich also mit der wünschwertesten Sicherheit ausschließen. Der Beginn der Fort- pflanzungsperiode macht sich schon im Februar an einer Vergrößerung des Hodens bemerkbar. Die Spermatogonien vermehren sich im Laufe des Frühjahrs fortgesetzt mitotisch und im April sind die Samenkanälchen mit einer 3 — 4 fachen, statt der ursprünglich einschichtigen, Lage von Samen- bildungszellen ausgekleidet. Ihr Durchmesser ist immer noch sehr klein, das Lumen aber hat sich bedeutend vergrößert und beträgt 70—90/;. Die Grundlamelle ist nicht mehr so dick und infolge- dessen weniger deutlich. Zwischenzellen umgeben die Hodenkanälchen in einer zusammenhängenden Lage. Die Blutgefäße im Stroma sind beträcht- lich vermehrt und prall gefüllt. Anfang April ist der Durchmesser und das Lumen der Samen- kanälchen bedeutend gewachsen, die Samenzellen bilden eine 6 — 8 fache Zellschicht und die peri- pheren zeigen noch spärliche Teilungsfiguren. Infolge der riesigen Verdickung der Hodenkanäl- chen werden die Zwischenzellen weit auseinander- gedrängt, und das Interstitium erscheint verhältnis- mäßig gering, hat jedoch gleichfalls eine bedeu- tende Vermehrung erfahren, da das Keimepithel auf das 125 fache zugenommen hat und das gegen- seitige Mengenverhältnis zwischen Keimepithel und Interstitium unverändert geblieben ist. In der zweiten Aprilhälfte stehen die Samenkanälchen auf der Höhe der Entwicklung, ihr Durchmesser beträgt jetzt 250 /(. Ihr Lumen ist weit, in seinem Inneren liegen zahlreiche Spermatozoen und außer- dem vereinzelte große, runde Zellen mit großen kugelförmigen Kernen und undeutlicher Chro- matinstruktur. Sie enthalten zahlreiche Sperma- tocyten , dagegen nur wenig Spermatogonien- teilungen. Das Verhältnis der Zwischensubstanz zum Keimepithel beträgt ungefähr i : 40. Im Mai beträgt die Vermehrung der Keimsubstanz ungefähr das looofache, die der Zwischenzellen etwa das 10 fache der Ruheperiode. Ende Mai beginnt die mehr und mehr fortschreitende Rückbildung des Keimepithels, wodurch die Zwischensubstanz an Ausdehnung gewinnt, so daß die vorher insel- förmigen Gruppen der Zwischenzellen zusammen- fließen. Ihre Zunahme ist aber nur eine schein- bare, in Wirklichkeit aber nimmt sie, da das rela- tive Mengenverhältnis unverändert bleibt, etwas ab. Ende Juni hat der Hoden wieder dasselbe Aussehen wie im Februar. Jetzt erscheint die Zwischensubstanz vermehrt, da das Keimepithel im Vergleich zur Geschlechtsperiode stark ver- mindert ist. Die äußerlich sichtbaren starken Veränderungen des Hodens im Laufe des Jahres beruhen fast ausschließlich auf solchen des Keimepithels. Die Zwischensubstanz dagegen erleidet nur ganz ge- ringe Volumschwankungen, die ausschließlich auf der Vergrößerung und Verkleinerung ihres Gefäß- netzes beruhen. Die Leydigschen Zellen als solche erfahren während des ganzen Jahres weder eine Vermehrung noch eine Verminderung. Dies geht ganz abgesehen von den hier mitgeteilten Untersuchungsergebnissen auch schon aus der Tatsache hervor, daß man bei ihnen niemals Mitosen oder Rückbildungsvorgänge in normalen Hoden nachweisen kann. Auch der histologische Bau der Zwischenzellen bleibt im großen und ganzen während des ganzen Jahres unverändert, wenigstens lassen sich an ihm keinerlei Schwan- kungen periodischer, sondern nur individueller Art nachweisen. Aus allem zieht der Verf. den Schluß, daß die periodischen Veränderungen, welche der Hoden im Laufe des Jahres erleidet, in Wirklichkeit nur das Keimepithel betreffen, während das Inter- stitium unverändert bleibt. Bei anderen Vögeln, welche mehrmals im Jahre nisten, z. B. .Amsel und Haussperling, gipfelt die Kurve der Entwicklung des Hodens jeweils zur Nistzeit; beim Haushahn bleibt sie stets auf der gleichen Höhe, um nur zur Zeit der Mauser ab- zusinken. Kathariner. Chemie. Lumineszenzerscheinungen bei der O.xydation von Kalium und Natrium. Bereits Davy, der Entdecker der beiden Metalle, be- obachtete, daß Kalium und Natrium an frischen Schnittflächen im Dunkeln aufleuchten. Es tritt eine zuerst rötliche, dann grünliche Lumineszenz- N. F. XVln. Nr. 43 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 629 erscheinung auf, die bei Vorhandensein von Feuchtigkeit und durch Erwärmen der Metalle noch gesteigert werden kann. Der französische Forscher M. G. Reboul hat soeben einige Studien über diese Erscheinung mhgeteilt, die einen Auf- schluß über den eigentlichen Charakter der vor- liegenden Lumineszenz zu geben versuchen. ^) Die seinen Folgerungen zugrunde liegenden Experi- mente lassen sich leicht wiederholen. Deshalb und weil sie sich zur Demonstration der Lumi- neszenzerscheinungen allgemein gut eignen, seien sie kurz wiedergegeben. Voraussetzung für gute Beobachtung ist ein ausgeruhtes Auge, daß die nicht eben sehr starke Lichterscheinung voll wahrzunehmen gestattet. Hierzu genügt ein etwa viertelstündiger Aufenthalt im Dunkelraum. Schneidet man alsdann das Metall, so sieht man das Aufleuchten deutlich. Nach kurzer Zeit ist es abgeklungen, um sofort wieder zu erscheinen, wenn man die Schnittfläche etwas ankratzt. Dies beweist zunächst, daß die Lumineszenz an die Oberfläche gebunden ist, ein Schluß der sich besonders schön bestätigt, wenn man statt der reinen Metalle ihre Legierung mit- einander benutzt. Diese ist flüssig und ihre Ober- fläche kann durch Schütteln oder Umrühren immer wieder erneuert werden. Läßt man die Legierung Tropfen für Tropfen ausfließen, so beobachtet man lauter leuchtende Kügelchen: bei einer gewissen Größe zerreißt die Oberflächenhaut und ein Auf- leuchten tritt ein — ein recht schöner Versuch. Auch auf einer Glimmerplatte verteilte Legierung zerteilt sich in zahlreiche grünlich schimmernde Kügelchen, deren Lumineszenz durch Anhauchen noch erhöht wird. Da das Aufleuchten mit dem Zerreißen einer oberflächlichen Oxydschicht verknüpft ist, so könnte man das Zerreißen für die Erscheinung ver- antwortlich machen und von Tribolumineszenz sprechen, wofür auch folgender Versuch spräche : die Legierung wird in eine Flasche unter Petroleum gebracht und geschüttelt. Alsdann tritt sehr leb- hafte Lumineszenz auf. Aber Oberflächenzerreißung und Temperaturerhöhung genügen nicht zur Er- klärung, denn Alkalihydroxyd oder Soda im Mörser gerieben leuchten nicht, obwohl sie sich stark er- hitzen. Und ebensowenig leuchten die Oxyde und Peroxyde beim Zerreiben. Wohl aber leuchten sie bei Zuführung feuchter Luft, etwa beim Anhauchen. Das Wesentliche für die Lumineszenz ist also die chemische Reaktion der Bildung von Hydroxyd aus primär entstandenen Oxy- dationsprodukten, die der Forscher etwas unbestimmt als „komplexe Suboxyde", deren Exi- stenz bisher nicht nachgewiesen werden konnte, bezeichnet. Die Erscheinung ist mithin ein Hydra- tationsphänomen und als Chemilumineszenz zu deuten. Erwärmung sowie Reißen der Hydroxyd- oberfläche geben Gelegenheit zur Bildung von Oxyd bzw. Peroxyd , daß sich alsbald mit der Luftfeuchtigkeit zu Hydroxyd umsetzt. Der Wechsel in der Bindung der Valenzelektronen, *) d. h. die Erregung der interatomoren Kraftfelder ist dann die Veranlassung zur Lumineszenz. H. H. ') Comptes rendus de l'Acad. Frangaise , 168. S. U95 (16. VI. 1919). \ Vgl. „Naturw. Wochenschr." N. F. XVIII, S. 275. 1919. Bücherbesprechungen. Festschrift Eduard Hahn zum 60. Geburtstage dargebracht von Freunden und Schülern. XI und 368 S. I Titelbild, i Tafel, i Karte und 16 Textabbildungen. Stuttgart, Verlag von Strecker und Schröder 191 7. Am 7. August 1916 hat Eduard Hahn seinen 60. Geburtstag gefeiert. Zu diesem Festtage widmete ein Kreis von Freunden und Schülern dem Jubilar eine schöne und wertvolle Gabe in Gestalt einer Festschrift. Gleichwie Eduard Hahn nicht auf einem einzigen Gebiet gearbeitet hat, sondern eine Fülle von gewöhnlich getrennten Wissensgebieten zu einer Einheit zu verschmelzen versuchte, so sind auch die 22 Abhandlungen, die zum Teil an Arbeiten von Eduard Hahn selber anknüpfen, nicht einem Gebiet entnommen. In sehr geschickter Weise hat die Redaktionskommission diese Abhandlungen unter den Stichworten: Haustiere, Kulturpflanzen, Nahrung und Wirtschaft, Landwirtschaft, Religion und Mythos, Volkskunde angeordnet. Das alles sind aber die Gebiete, auf denen Hahn selber wie ein Bahnbrecher tastend, aufbauend und auf Schritt und Tritt Themen anschneidend und Probleme stellend, deren Weiter- verfolgung der Wissenschaft reichen Nutzen ver- spricht, gearbeitet hat. Ebenso wie sich diese Arbeiten Eduard Hahns sehr schwer mit wenigen Worten gebührend würdigen lassen, so hält es auch schwer, dem stattlichen Band der Festschrift in einer Besprechung gerecht zu werden. Die folgenden Abhandlungen dürften für die Leser dieser Zeitschrift besonderes Interesse haben: I. Eduard Hahn hatte 1896 die Ansicht aus- gesprochen, daß bestimmte menschliche Rassen- merkmale „Haustiereigenschaften" gleich kämen. Diese geistreiche Vermutung Hahns hat dann Eugen Fischer in einer umfassenden Arbeit unter dem Titel „Die Rassenmerkmale des Menschen als Domestikationserscheinungen" (Zeit- schrift für Morphologie und Anatomie 18, 191 4) anatomisch zu beweisen und durch Zusammen- tragung zahlreichen Beobachtungsmaterials zu stützen versucht, und ist dabei weit über Hahn hinausgegangen, indem er darzütun versucht hat, 63Ö Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVllI. Nr. 43 daß der Mensch schlechthin eine dome- stizierte Form sei. Für die Festschrift hat Fische reine spezielle Anwendung dieser Themas beigesteuert. Fr behandelt den Unterschied in den sekundären Geschlechtsmerk- malen zwischen den verschiedenen Rassen, wie schwankende Ausbreitung und Stärke des Männerbartes, verschiedene Formen (Schmalheit oder Breite) der Frauenbüste u.a.m. vom Standpunkt ihrer Betrachtung als Haus- tiereigenschaften. Fischer ist der Meinung, daß auch in dieser ganzen Erscheinung ein Ausfluß der Domestikation zusehen sei. Auf Grund dieser Aufstellungen wird an manchem gerüttelt, was die Rassenlehre für festen Bestand ihres Wissens angesehen hat. „All unsere systematischen Versuche smd eitel 1 Jeder feste Boden unter unseren Fußen schwankt." Und doch hält Fischer einen Neuaufbau für möglich. „Wir müssen eben physiologisch wie anthropologisch arbeiten, wir müssen dem Werden der P'orm, den Wirkungen der Umwelt auf die menschlichen Merkmale, deren Änderungen und deren Ursachen nachgehen; eine „Biologie des Menschen" fehlt da noch fast ganz." Kein Zweifel, an dem, was hier auf dem Gebiet der physischen Anthropologie vorgeht, muß auch der Fthnoluge, der Prähistoriker, der Naturwissenschaftler im weitesten Sinne des Wortes interessiert sein; Fischers Abhandelung schafft hier neue Gesichtspunkte, an denen niemand achtlos vorbeigehen darf 2. Unsere Zoologen sind sich fast allgemein darin einig, daß der Ur im Stammbaum der Hausrinder eine bedeutende Rolle spielt, daß das europäische Hausrind vielleicht sogar auf ihn allein zuiückgeht. Auf Grund dieser Voraussetzungen ist Hilzheimer zu der An- schauung gekommen, daß als Ausgangspunkt derRinderzucht ein Gebiet anzunehmen sei, in dem der Ur allein ohne den Wisent lebte. Denn sonst fehlte ein Erklärungsgrund für die Nichtzähmung des letzteren, der erwiesener- maßen an sich doch auch durchaus zähmbar war. Nach den bisherigen Feststellungen kam der Ur in dieser Trennung von Wisent lediglich in den Ebene n Klein asiens, Mesopotamiens und Palästinas sowie in Algier vor. Die Lücke, die in diesem Verbreitungsgebiete bisher Ägypten bildete, schließt jetzt ein 1910 im Diluvium des Fayum gefundenes Schädel- bruchstück, in dem H. eine bisher noch nicht beschriebene Unterart des Urs erkannte, die er im Sinne der Festschrift Bos primi- genius Hahni nov. subsp. nennt. Dement- sprechend werden auch manche altägyptische Rinderdarstellungen als Abbildungen des Urs zu deuten sein. 3. „Über die Entstehung des Kultur- roggens" hat Engelbrecht eine interessante Theorie aufgestellt. Von den F'eld fruchten, welche für die menschliche Ernänrung bedeutsam sind , ist der Roggen eine der jüngsten. Den alten Griechen und Römern war er bis zum Beginn unserer Zeitrechnung unbekannt, erst P 1 i n i u s führt ihn zum ersten Male an ; offenbar ist der Roggen von Norden her erst sehr spät in die Randgebiete des römischen Reiches vorge- drungen. Seltsam dabei ist, daß die wilde Stammform des Roggens, Seeale mon- tanum Guss., gerade in den Gebirgslän- dern des Mittelmeergebiets zu Hause ist, außerdem auf der Balkanhalbinsel, in Klein- asien, Syrien, Kurdistan, Armenien und Turkestan. Aus allen diesen Ländern ist aber bis- her nichts über eine alte Kultur des Roggens bekannt geworden. So fallen das Verbreitungsgebiet der wilden Stammpflanze und das der kultivierten Pflanze völlig auseinan- der. Regel und Körnicke hatten daraus, daß in der Landschaft Taschkent Seeale montanum stellenweise so massenhaft auftritt, als ob es gesät wäre, den Schluß gezogen, daß dort der Roggen zuerst in Kultur genommen sei und von dort aus seine Wanderung angetreten habe. Diese Ansicht mag von der zu jener Zeit herrschenden Grund- anschauung beeinflußt sein, wonach Zentralasien den ältesten Herd indogermanischer Kultur be- deutete. Bei unbefangener Prüfung muß der Ursprung des Kul t u r roggens in Turke- stan als höchst unwahrscheinlich gelten; dagegen spricht schon die Tatsache, daß dieses Getreide den dortigen Eingeborenen fast fremd ist, und ebenso wäre es nicht zu verstehen , daß der Roggen sich von hier aus nur nach Westen ausgebreitet haben sollte, nicht aber auch nach China, wo er noch heute völlig unbekannt ist. Am meisten berühren sich das Gebiet des Kultur- roggens und das des wilden Roggens nördlich der Balkanhalbinsel; hier dürften wir deshalb am wahrscheinlichsten das Ursprungsland der Roggen- kultur zu suchen haben. Ein gemeinsames Stamm- wort für Roggen haben die germanischen, slawi- schen und westfinnischen Völker sowie die Thraker. Erst nach 400 v. Chr. scheint der Name des Roggens und mit ihm der Roggen selbst zu den Germanen gelangt zu sein. So liegt es nahe, an eine Verbreitung des Roggens von der Balkan- halbinsel nach dem nördlichen Waldgebiet zu denken , da der wilde Roggen in Griechenland, Serbien und Dalmatien vorkommt. Nun hat sich aber bei einem sorgfältigen Vergleich des Kultur- roggens mit den verschiedenen Varietäten von Se- eale montanum herausgestellt, daß unser Kul- turroggen nicht vondenbeiden auf der Balkan halbin sei verbreiteten Varie- täten Seeale dalmaticum Viss. und Seeale ser- bicum Paus, abstammt, sondern von der auf Vorderasien beschränkten Varietät Seeale anatolicum Boiss. Das weist auf einen Ursprung aus Kleinasien unter Umgehung der Balkan halbinsel hin ; es müßte also der Roggen in irgendeiner Weise über das Schwarze Meer gekommen sein. E. denkt sich diesen Prozeß derart, daß der wilde N. F. XVIII. Nr. 43 Naturwissenschaftliche Wochenschrift;. 631 Roggen, der in Vorderasien in den Weizenfeldern als Unkraut auftritt, bei einem Versuch, beliebte kleinasiatische Weizen- sorten in den Pontusländern anzubauen, dorthin verschleppt und dann beim Übergang in das veränderte Klima aus einem Acker- unkraut zu einer Kulturpflanze geworden ist. Von der Küste des Schwarzen Meeres aus hat er sich dann weiter nach dem Binnenlande zu verbreitet, wo der Weizen nicht mehr so gut gedeiht, und allmählich diesen als Brotkorn ersetzt; daß diese Verdrängung nur dort geschehen konnte, wo das wohlschmeckendere, zartere Brotgetreide auf sehr viel ungünstigere Wachstumsbedingungen stößt, liegt auf der Hand. In der Ebene Süd- westrußlands trifft dies etwa zwischen dem 49. und 50. Breitengrad zu, so daß un- gefähr in dieser Zone die Entstehung des Kulturroggens zu vermuten ist. Von hier aus verbreitete sich dann später sein Anbau nach den nördlich und westwärts wohnenden germanischen und slawischen Völkern. 4. Die Geschichte der Züchtung und Verbreitung der Banane hat Werth ein- gehend untersucht. Schon die Samenlosigkeit der üblichen Kultursorten der Banane setzt eine in prähistorischer Zeit begonnene Zucht voraus, und für ein hohes Alter und frühe Wertschätzung lassen sich auch eine ganze Anzahl von Sagen und Legenden verwerten, die unsere Pflanze zum Paradiesbaum werden lassen. In die Geschichte der Bananengewächse läßt uns die heutige geo- graphische Verbreitung ihrer Mitglieder einen Einblick gewinnen. Die dem Urtypus der Familie am nächsten stehende Gattung Ravenala tritt in Südamerika und Madagaskar mit je einer ein- zigen Art auf Die unbekannte Urform wird also irgendwo zwischen diesen beiden Gebieten ent- standen sein. Vor ihrem Erlöschen spaltete sie sich in zwei Gruppen, die sich nach Unterbrechung der Landverbindung zwischen Amerika und Afrika- Asien zu der neuweltlichen Gattung Hei i c o n i a und zu deraltweltlichen Gattung Musa, die beide je eine ganze Anzahl von Arten umfassen, selbständig weiterentwickelten. Noch vor der endgültigen Unterbrechung der Landverbindung Afrikas mit Madagaskar gmg aus dieser Urform die Ravenala am nächsten stehende, aber morphologisch erheb- lich vorgeschrittenere Gattung Strelitzia her- vor, die in einer beschränkten Anzahl von Arten über Südwestafrika verbreitet ist. Noch näher als Strelitzia zu Ravenala stehen die asiatischen zu den afrikanischen Musa- Arten, die als Unter- gattungen Physocaulis und Eumusa sich auch wohl erst später voneinander abgetrennt haben. Die asiatische Bananenart Rhodochla- mys ist über Asien, Nordaustralien und Ozeanien verbreitet. Nun steht aber die Kulturbanane Musa sapientum lediglich der Eumusa- gruppe nahe, während sie von der Physocaulis- gruppe ganz und gar verschieden ist. Deshalb werden wir den Gedanken an eine Heranzüchtung der Kulturbanane in Afrika aus einer Form der Physocaulisgruppe, die allein dort wild vertreten ist, von der Hand weisen müssen. Das Ver- breitungsgebiet der Eumusaarten, das sich auf Südchina, Hinter- und Vorderindien, die malaiischen Inseln, Formosa, die Philipinen, Neu- guinea und Nordaustralien beschränkt, wird viel- mehr auch das Ursprungsgebiet der Bananenkultur umschließen. In diesem Verbreitungsgebiet ist die Banane überall mit Aus- nahme von Australien für die Eingeborenenkultur von großer Bedeutung. Die Inkuhurnahme der Banane steht wohl in ursächlichem Zusammen- hange mit der Neigung ihrer Früchte zur Samen- losigkeit, die dann durch die Kultur (Zucht) so- weit verbessert wurde, daß absolute Samenlosig- keit eintrat. Die Einführung der Frucht- banane in Afrika wird höchstwahrscheinlich im Zusammenhange mit den Anfängen der dortigen Hackbaukultur durch die nigritische Bevölkerung stehen, die mit den Melanesiern Südostasiens und Ozeaniens einer Abkunft ist. Zeitlich dürfte diese Einführung vor dem Beginn der heutigen Klima- periode, mindestens noch zu dem Ende der afrikanisch- asiatischen Pluvialperiode( = europäische Eiszeit) vor sich gegangen sein. Da auch für Amerika eine Herausbildung der Kulturbanane aus den dort wildwachsenden Bananen unmöglich ist, muß die Pflanze hierher gleich- falls eingeführt sein. Diese Einführung kann aus linguistischen Gründen erst verhältnis- mäßig jungen Datums sein. Vor der Ent- deckung Amerikas durch die Europäer werden die dortigen Hackbauer schwerlich mit denen Asiens, Ozeaniens oder Afrikas in direkter oder indirekter Beziehung gestanden haben. Deshalb wird die Fruchtstaude erst nach der Entdeckung dieses Erdteiles durch die Europäer dorthin gekommen sein. Von den übrigen Abhandlungen mögen wenig- stens die Titel nachfolgen: A. Vierkandt, Die Vulgärpsychologie in der Ethnologie und die An- fänge der menschlichen Ernährung. — A. Kna- benhans, Das Problem der Arbeitsteilung und der Kommunismus im Nahrungserwerb der austra- lischen Eingeborenen. — P. Hambruch, Die Kawa auf Ponape. — R. Sieger, Die Nation als Wirtschaftskörper. — H. Magn us, Neue Städte in Norwegen. — W. V o g e 1 , Pflugbau Skythen und Hackbau Skythen. — R. Prietze, Landwirtschaft- liche Haussa-Lieder. — R. Mielke, Das Pflug- gespann. — H. Mötefindt, Der Wagen im nor- dischen Kulturkreise zur vor- und frühgeschicht- lichen Zeit. — P. Sartori, Der Seelenwagen. — H. Gressmann, Die Reliquien der kuh- köpfigen Göttin in Byblos. - — H. Bolte, Die dramatische Bußprozession zu Veurne, ein Rest alter Passionsspiele im heutigen Belgien. — F. B o e h m , Das attische Schaukelfest. — K. Brun- ner, Die volkstümlichen deutschen Schiffstypen. — L. Frobenius, Eine kabylische Volkser/täh- lung. — M. Mayerhof, Ein Beitrag zum Volks- 632 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 43 heilglauben der heutigen Ägypter. — O. Eb er- mann, Bienensegen. — R. Böhme, Volkskund- liches bei Hebbel. Sicher ist die Festschrift ihren beiden Aufgaben vollkommen gerecht geworden. Für den Jubilar selber kann die hier bekundete Anhänglichkeit und Verehrung seiner Schüler und Freunde nur ein Dankeszeichen und ein Ansporn zugleich zu wei- terem emsigen Forschen auf den von ihm be- schrittenen Bahnen sein, und daneben haben weite Kreise sehen gelernt, wie sich an die Gedanken- gänge von Eduard Hahn, so schwer verständ- lich sie auch oft sein mögen, doch so vielerlei anknüpft und aufbaut, daß sich im eigensten Inter- esse eine Hineinvertiefung in sie wohl verlohnt. Wernigerode a. H. H. Mötefindt. ernstes Werk, das mit Ausdauer studiert werden will und hoffentlich auch von vielen studiert werden wird. Brücke-Innsbruck. Eichwald, E. und Fodor, A., Die physika- lisch-chemischen Grundlagen der Biologie. 510 S. mit 119 Abb. und 2 Taf Berlin 19 19, J. Springer. Je intensiver das Feld der Biologie mit natur- wissenschaftlichen Vorkenntnissen gedüngt wird, um so reichere Ernte wiid es tragen, und deshalb ist jedes Buch auf das Wärmste zu begrüßen, das — wie das vorliegende — dieser Aufgabe dient. Im Gegensatze zur großen Zahl guter Lehr- bücher der physiologischen Chemie lag bisher außer dem ausgezeichneten Buche Höbers in der deutschen Literatur kein Werk vor, das die physikalische Chemie speziell mit Rücksicht auf die Bedürfnisse des Biologen umfassend behandelt hätte. Nach einer relativ kurzen Einführung in die mathematischen Grundbegriffe folgt eine aus- führliche Darstellung der Zustände der Materie (Aggregatzustände, die verdünnten Lösungen, die Erscheinungen an Grenzflächen und die kolloiden Systeme). In zwei weiteren Abschnitten wird die Atomtheorie und Strukturlehre und die Kinetik der chemischen Reaktionen (nebst den Ferment- vorgängen) erörtert. Den letzten Abschnitt bildet die Darstellung der Lehre von der Energie (erster und zweiler Wärmesatz, Anwendung der Thermo- dynamik und einzelne Kapitel aus der Elektro- und Photochemie). Während Höbers physikalische Chemie der Zelle und Gewebe von physiologischen Tatsachen ausgehend die ihrer Erklärung dienenden Gesetze der allgemeinen Chemie bespricht, ist der Cha- rakter des vorliegenden Werkes eher der eines Lehrbuches der physikalischen Chemie, in dem biologische Erfahrungen nur vereinzelt als Beispiele herangezogen werden. Das Buch zählt nicht zur wissenschaftlichen Belletristik, sondern ist ein Moewes, Dr. F., Die Mistel. Berlin 1919, Gebr. Bornträger. 1,80 M. ■ Die Mistel gehört unstreitig zu unseren eigen- artigsten Pflanzenformen und erweckt überall die Aufmerksamkeit, wo sie nicht allzu häufig ist. Das ist schon von jeher so gewesen, die Mistel ist eine von den Pflanzen , die seit alters die Phantasie der Völker in besonderem Maße be- schäftigten. Sie ist zwar ein Parasit, der aber nur selten wirklich großen Schaden anrichtet, und der vor allem sehr leicnt in Schranken zu halten ist, wenn er einmal überhand nehmen sollte. Viel- mehr sollte dies merkwürdige, in den Lüften thronende Sträuchlein , das im kahlen Geäst so freudig grün dem Winter zu trotzen weiß, dort geschont werden, wo es nicht häufig ist oder einen nur selten bewohnten Wirtsbaum besiedelt hat. Es ist deshalb sehr zu begrüßen, daß in der von der staatl. Stelle für Naturdenkmalspflege heraus- gegebenen Sammlung „Naturdenkmäler" auch eine kleine Monographie über die Mistel Platz gefunden hat. Ihrem Verfasser ist es vortrefflich gelungen, alles wissenswerte über die Mistel zu einer hüb- schen abgerundeten Darstellung zu vereinigen. Er schildert zunächst die Gestalt, Entwicklung, Lebensweise, Verbreitung, sowie die unterscheid- baren Siandorlsformen, wobei er die neuere Lite- ratur sorgfältig berücksichtigt hat, berichtet dann von der Rolle, die die Mistel in Sage, Dichtung, Volksmedizin, bei festlichen Gebräuchen gespielt hat und noch spielt, verfolgt ihren Namen durch die verschiedenen Gegenden und in Orts- und Flurbezeichnungen und erörtert schließlich Nutzen und Schaden. Miehe. Dessoir, Max, Vom Jenseits der Seele. Die Geheimwissenschaften in kritischer Betrach- tung. 3. Aufl. Stuttgart 1919, F". Enke. 15M. Daß dies Buch in zwei Jahren drei Auflagen erzielte, spricht für ein weitverbreitetes Interesse am Gegenstand wie für die sehr geschickte Art, mit der der scharfsinnige und äußerst schreib- gewandte Verf. das Publikum zu fesseln weiß. Da das Buch bereits früher (vgl. Naturw. Wochen- schrift Bd. XVI, S. 695) ausführlich gekennzeichnet wurde und die dritte Auflage gegenüber der ersten nur geringfügige Ergänzungen aufweist, kann ich mich hier darauf beschränken, auf das Erscheinen dieser letzteren aufmerksam zu machen. Miehe. lullMil: Frilz Marquart, Über den Farbensinn des Kindes. S. 617. H. Mötefindt, Vorgeschichtliche Bergwerke in den Sahburger Alpen. S. 621. — Einzelberichte: Fr. Koßmat, Mitteilungen über den geologischen Bau von Miltel- mazedonien. S. 625. E. T e i c h m a n n und VV. Nagel, Über die Entgiftung eingeatmeter Blausäure. S. 626. H. S t i e v e , Die Veränderungen, welche die männlichen Keimdrüsen bei saisondiniorphen Tieren im Laute des Jahres durch- machen. S. 627. M. ü. Reboul, Lumineszenzerscheinungen bei der Oxydation von Kalium und Natrium. S. 628. — Bücherbesprechungen: Festschrift Eduard Hahn zum 60. Geburtstage dargebracht von Freunden und Schülern. S. 629. E. Eichwald und A. F'odor, Die physikalisch-chemischen Grundlagen der Biologie. S. 632. F. Moewes, Die Mistel. S. 632. Max Dessoir, Vom Jenseits der Seele. S. 633. Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstraße 42, erbeten. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck der G. Pätz'scben Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue Folge ly. Band: der ganzen Reihe 34. Band. Sonntag, den 2. November 1919. Nummer 44. Die Herkunft des Kalmus (Acorus calamus L.). Von Prof. Dr. S. Killermann, Regensburg. (Nachdruck verboten.] Mit I Abbildung. Der bekannte, durch sein wohlriechendes subtropischen Ostasien, im östlichen Sibirien, in Rhizom beim Volke beliebte Kalmus (Acorus Ostindien, auf der Insel Reunion und im atlanti- calamus L.) ist bei uns an stehenden Gewässern sehen Nordamerika. so verbreitet, daß man ihn für eine einheimische Von einem Kalmus (d. h. Rohr) ist bereits in Pflanze halten möchte. Doch ist es merkwürdig, der Bibel die Rede, so bei Moses Exod. III 22: daß er es bei uns nie zur Samenbildung- bringt. „Nimm dir Spezereien . . . auch Kalmus (Keneh Nur in seiner Heimat, die man jetzt im heißen bösem) 250 Seckel." Im Hohenlied (IV 14) er- Südostasien vermutet, bildet er an den Kolben scheint er, einfach als Rohr (Keneh) bezeichnet, rötliche Beerenfrüchte aus. in Verbindung mit Narde, Safran und Zimt. H. Über die Geschichte dieser Pflanze äußerten B. Tristram') hält dafür, das es sich hier nicht sich zuerst J. H. Dierbach'j und A. K. Göp- um ein süßes, hirseartiges Gewächs handelt, das pert,-) die zu der Anschauung kamen, daß sie bis in die letzte Zeit als Zuckerrohr im heißen erst im 16. Jahrhundert unter Clusius bei uns Jordantal angebaut wurde, sondern um eine aro- auftauche. A. Engler^) und P. Ascherson matische Pflanze. Er denkt an Andropogon hielten den Kalmus wegen seiner weiten und Schoenanthus L., eine Grasart, die von Nordafrika eigentümlichen Verbreitung anfangs für eine ein- bis Indien verbreitet ist und gleich der Narde ein heimische Pflanze; in seiner bekannten Synopsis *) Öl, das sog. „Lemon-Oil" liefert. Es gilt") als schloß sich dann der letztere Autor der Ansicht ein anregendes, krampfstillendes Mittel, auch als Dierbachs an. Auch Fischer-Benzon'') Styptikum (gegen Verstopfung und zur Blutstillung tritt ihr bei, da er die Pflanze in der altdeutschen und als Mittel gegen die Cholera). Zu betonen Flora nicht findet. In neuester Zeit hat besonders ist hier, daß unser Kalmus (Acorus calamus) in M. Mücke") die Frage über die Herkunft des Palästina nicht vorkommt, auch nicht in der sump- Kalmus benandelt und sich für die Einführung figen Saronebene.'') aus Asien entschieden. Ein anderer Autor F. Hock') stellt diese Sache dagegen nur als ,, ver- mutlich" hin. Es dürfte daher am Platze sein, diese Frage nochmals aufzurollen, zumal die älte- sten Nachrichten über den Kalmus von den ge- nannten Botanikern wenig oder gar nicht heran- gezogen wurden. Die in Rede stehende Pflanze ist nach Ascher- Die ägyptischen Ausgrabungen und Denkmäler liefern keinen Anhaltspunkt über das Aussehen dieses berühmten „wohlriechenden Rohrs". G. Buschan ^) denkt wohl dabei an Acorus calamus, aber Fr. Woenig'''j führt ihn in seiner ägypti- schen Pflanzenliste, die manche Sumpfarten ent- hält, nicht auf. Die Angaben der alten Botaniker sind sehr son (a. a. O. S. 366) jetzt verbreitet über Mittel- vag und es scheinen Drogen verschiedener Rohr- und Osteuropa außer dem arktischen Gebiet; sie pflanzen von ihnen ins Auge gefaßt worden zu kommt noch vor in Oberitalien, auf dem Balkan sein. Theophrast (91, 92) und Plinius (nat. (Serbien und Rumänien),*) im tropischen und hist. XII 22, 48J ") sprechen von einem wohl- riechenden Rohr, das in Arabien und Indien wächst. ') Bemerkungen über das Vaterland des Acorus calamus L. Flora XI, 2. Bd. (Regensburg 1828) S. 545 ff. ^) Über das Vaterland des Kalmus (Acorus calamus L.) Flora XIll, 2. Bd. (Regensburg 1830) S. 473 f. ^) Natürliche l'flanzenfamilien II, 3. Araceen (Leipzig 1889) S. Il8. *) Synopsis der mitteleuropäischen Flora 2. Bd. (Leipzig 1904) S. 365. Siehe auch Verhandl. des bot. Ver. der Prov. Brandenburg 1908, S. LXVIII— LXIX. ^) Altdeutsche Gartenflora (Kiel 1894) S. 49 f. "} Über den Bau und die Entwicklung der Früchte und über die Herkunft von Acorus calamus L. Botanische Zeitg., hrsg. von Grafen zn Solms-Laubach usw. 66. Jahrg. (1908) L Abt. S. 1—23. ') Verbreitung der reichsdeutschen Einkeimblätter (Mono- kotylen). Berichte zum bot. Zentralblatt Bd. XXXII 2. Abt. (Dresden 1914) S. 44. *) Die Angabe von Sibthorp, daß Acorus calamus in einem Sumpfe bei Skala in Griechenland wachse, konnte weder von C. Fr aas (Synopsis plantarum florae classicae S. 274) noch von neueren Botanikern (Halacsy) bestätigt werden. ') The natural history of ihe Bible 6. Ed. London l8'o S. 438 u. f.; hier auch Abb. von Andropogon Schoenanthus. '^) Engler- PrantI, Natürl. Pflanzenfam. II. Teil, 2. Abt., Leipzig 18S9, S. 29. Dierbach, Über das aromatische Rohr alter und neuer Ärzte in Brandes Archiv Bd. 25 (1828) S. 159. ^) Vgl. S. Killermann, Die Blumen des hl. Landes (Leipzig 1916) S. 37. Hier auch die übrige Literatur. ■*) Vorgeschichtliche Botanik usw. (Breslau 1895). S. 81. ^) Die Pflanzen im alten Ägypten. Leipzig 1886. **} Calamus quoque odoratus in Arabia nascitur, communis Indis atque Syriae est, in qua vincit omnes . . . Inter Liba- num montem aliumque ignobilem ... in convalle modica iuxta lacum, cuius palustria aestate siccantur, tricenis ab eo stadiis calamus et iuncus odorati gignunlur. Plinius, 1. c. Ausgabe von C. Mayhoff Vol. II (Lipsiae 1S75) S. 305. Ö34 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVHI. Nr. 44 aber auch mit einem ebenfalls wohlriechenden Juncus in einem Sumpf im Libanongebiete vor- kommt. Genauer ist die Beschreibung, die der im I. Jahrhundert n. Chr. lebende Dioscorides (I 2) gibt und die ohne Zweifel auf Acorus calamus L. geht. Er sagt : ^) „x'\coron hat Blätter wie die Iris, aber schmäler, und Wurzeln ihr nicht ungleich, aber durchflochten und nicht gerade wachsend, sondern schief und oberhalb der Erde (wachsend), mit Knoten gegliedert, weißlich, scharf an Geschmack und für den Geruch nicht unan- genehm. Man unterscheidet das feste und weiße, das ungenießbare und überaus wohlriechende; so beschaffen ist das in Kolchis und das sog. Milz- kraut in Galatien. — Die Wurzel hat wärmende Kraft; getrunken treibt sie den Harn, ist passend für Anstrengungen der Lunge, Brust und Leber, für" Bauchgrimmen, Brüche, Krämpfe und Milz- krankheiten; nützt bei Harnzwang, gegen Tier- bisse und bei weiblichen Krankheiten wie die Iris. Der Wurzelsaft reinigt die Trübung der Augen- pupillen und wird auch unter Gegengifte mit Erfolg gemischt. — Die einen nennen das Acoren aphrodisischen Tanz, die Römer veneriam, die anderen Matrosensenf, die Gallier Bienenpfeffer. -J Einige der ältesten Handschriften des Dios- corides sind mit Bildern ausgestattet, so be- sonders der berühmte um 512 n.Chr. ausgemalte Codex Constantinopolitanus (VX'ien, Hofbiblio- thek).^J Die hier (toi. sS'') erscheinende Pflanze zeigt ein starkes, knotiges Rhizom mit nach allen Seiten stehenden Wurzeln und rundlichen, etwas siegelartigen Eindrücken, sowie einen Schaft mit 8 lanzettlichen Blättern (s. Abb.). Das Rhizom ist zwar braun wie das vom Kalmus; in der Form erinnert es mehr an das Salomonssiegel. Beim Kalmus sind die Narben nicht rundlich, sondern ^) üy.o^ov rä /tev ^v)J.a e^sc iu^epi] iotSt , OTsröreoa iVf, x«i Tag oi^as [Se) ovy. dt^o/ifotai , ötamTrleyittyai d's y.ai ovx eis evdi' Ttefvxi'ias, dV^ä 7T/.ayiag y.ac i| iniTtoifjg^ ydi'ccat ^lei/.rjufih'm:, VTiokEvyovi^ Ö^ifieiag Ök 7/7 ytr'uei y.at jf, daut; ovy. ärjSeta. Sm^e^iat de ro nvy.vöv y.a'i levy.öi' ußocoiöv re y.ai TxXr^oeg avojÖiag. TOtovro de eari TÖ ev Kok/iöi y.ai tö ky. 7fjs Fat-aiias äe äoTihjvov Xeyöfierov. Siifäftii' de e/^ei fj ^ij« deoiaaity.i]v. Ttwö^evov 8e ib d:TÖ^efia oioa y.irel, ao^ö^or TTOög ji}.tvt)ää Tiörovg y.ai O'tooay.os yai iJTTaiog^ etoö^ovs, tjriy^iaTU, OTiäOfiaja, onXfipag (rf) irjxei; dxfekel y.ai oi^ay- yovotdji'THg, &fjoiocii'jy.TOv» xal eh eyyäd'to^ta cbg iois TT^ög la. yvi'aiKela. 6 be /vkög Tf]S ^iL,i]s dTtoyadalnei tu enLOy.oiovria lacä yöoccis ; iieiymai de y.a'i rats di'iwoioig ij M'^a -/otjoi^tog. äy.ooov Ol de '/o^öi; \Afft>odioios > "^ P(Ofiaioi ßereotatr, ot de i'uvTtKU (iädt^, I aÜ.oi nineQ uTitovft (piper apium). P. Dioscorides, de Materia medica. Ausgabe von M. WeUmann (Berlin 1907) I. Vol S. 7 u. 8. ^) Diese sehr merkwürdige Bezeichnung des Kalmus könnte vielleicht Aufhellung erhalten durch eine Beobachtung, welche Herr P. Plazidus Gierg, Landwirtschafislehrer in Welten- burg a. D., früher eifriger Bienenzüchter, bei Vilshofen a. D. einmal gemacht hat. Er hatte Kalmus auf eine morastige Stelle gepflanzt, um dieses beim Volke, wie er sagt, beliebte Fiebermittel in der Nähe zu haben. Seine Bienen hatten die Stelle auf ihren Flügen sehr gerne besucht; als aber Kalmus eingesetzt war, mieden sie die Pfütze hartnäckig. ') Codex Aniciae Julianae, picturis illustratus. Wiener Hofbibl. Med. graec. Nr. I. Hrsg. phototyp. von A. W. Sijthoff. Leiden 1906. wie die Blätter selbst von dreieckigem Umriß; auch wachsen die Wurzeln nur auf der Unter- seite aus dem Rhizom heraus. Die auf dem Bild darstellten Blätter sind verhältnismäßig kurz und gehen fächerartig auseinander; beim wirklichen Kalmus sitzen sie direkt am Rhizom auf, hüllen auch den Blütenstengel schon von unten an mit starken Blattscheiden ein; sie sind ferner im Ver- hältnis zu ihrer Länge sehr schmal (30 — 70 cm lang und 1 — 2 cm breit). Die alte Abbildung ist also sehr schlecht und führt uns m. E. ein mix- tum compositum von Kalmus, Salomonssiegel und Schwertlilie (Iris florentina?) vor. Älteste Darstellung des Kalmus (J) Dioscorides, Cod. Constantinopol. Vindobon. fol. 58 v, (Nach Skizze des Verfassers.) In dem zweiten in Wien vorhandenen Kodex (Cod. Neapolitanus) fehlt zu dem Kapitel Acorus die Abbildung; ob zufällig oder weil das Buch vermutlich in Neapel entstanden ist, kann ich nicht entscheiden. Die in Rom befindliche Dios- corides - Handschrift (Cod. Chigianus), die aus späterer Zeit (15. Jahrh.) stammt, bringt wieder ein Bild, das O. Penzig als Acorus calamus L. an- spricht.^) ') Ich habe diesen Kodex noch nicht einsehen können. Saccardo zieht ihn in seiner Cronologia della Flora Italiana nicht heran. N. F. XVni. Nr. 44 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 63 s Es scheint also, daß Dioscorides selbst in seiner Beschreibung vom Kalmus nicht Andro- pogon Schoenanthus, auch nicht eine Iris Art, sondern tatsächlich Acorus calamus im Auge hatte, da er die Pflanze mit einer Iris vergleicht und auch von ihr unterscheidet. Bemerkenswert ist dann die Standortsangabe Kolchis (das heutige Kaukasusgebiet) und Galatien (Bithynien, west- liches Kleinasien). Die letztere Landschaft spielt nochmals eine Rolle in der Geschichte des Kalmus (s. u.). Der Maler (um 500) dagegen ist unsicher bei der Darstellung der Pflanze. Bei den mittelalterlichen Autoren, z. B. Isidor (in Spanien) und Albertus IVlagnus ist eine Kenntnis unserer Pflanze nicht nachzuweisen. Der letztere bespricht zwar den „Calamus aromaticus" (Hb. VI 1"]) ^) und beschreibt ihn als einen indi- schen und äthiopischen Strauch (frutex) mit vielen Stengeln oder als eine Art Röhricht. Es wird darunter wohl Andropogon Schoenanthus zu ver- stehen sein. Das ganze Kapitel dürfte wie so vieles bei Albertus aus arabischen Schriftstellern (Avicenna) entnommen sein. In den vor 1500 gedruckten, mit farbigen Holz- schnitten ausgestatteten Pflanzenbüchern, z. B. im Herbarius von 1485 u. 1487 ') wird uns als „Kal- mus, Calamus aromaticus" eine sehr kalmusähn- liche Pflanze vorgeführt : ein querlaufendes Rhizom mit dreieckigen Narben und mit einer dicht auf- sitzenden Reihe schwertförmiger Blätter, ohne Schaft und Blüten. Die älteren Pflanzenväter, O. Br u n fels (1530 bis 32), H. Bock (1539), L. Fuchs (1545) kennen den Kalmus nur als Droge und halten meist eine Iris-Art für die Mutterpflanze derselben. In einem alten Büchlein mit Pflanzenholzschnitten ^) aus dem Jahre lS35 erscheint die gewöhnliche gelbe Iris unter dem Titel „Geel Lilien" und Acorus. Auch C. Gesner*) macht (1561) zum Kaimus die Be- merkung: „id est Lilium aquaticum flore luteo". V. Cordus^) betont dagegen, daß Iris Pseuda- corus nicht der rechte Kalmus sei, der in Asien wachse und von dort importiert werde. Ein ander- mal bemerkt er:") ,,Nos calamo aromatico carere". Ich halle dafür, daß er damit nicht den Kalmus, sondern Andropogon Schoenanthus meint. ') Calamus aromaticus calamus vocatur propter calami similitudinem, aromaticus autem dicitur propter odoris eius nimiam fragrantiam. Est autem in genere fruticis, quoad hoc quod multas de radice producit virgas, sed in geni-re est arun- dinis quoad concavitatem. Nascitur autem in India et Ethio- pia sub cancro. . . . (Bei Jessen, Alberti Magni de vegetabilibus libri VI, S. 376. Berolini 1867). -) Gedruckt in Augsburg, bzw. in Ulm bei Conrad Dick- mut. Inkunabeln der Fürstl. Bibl. zu Regensburg Nr. 801 u 358. *) Herbarum Imagines vivae, der Kreuter lebliche Contra- faytung. Francofurli Christ. Egenolphus excudebat; (ad cali-cm) 1535; Blatt 15. Das Büchlein stammt aus dem Nachlaß des Herrn C. von Flatt. *) Horti Germaniae, Straßburg 1561, S. 241. ■^) Historiae de plantis, Strafiburg 1561, S. 203, S. I. *) Annotationes, Straßburg 1561, Bogen 4. (Nach M. Müclte a. a. O. S. 415.) In Italien taucht der Kalmus nach P. A. Sac- cardo') zum erstenmal 155 1 bei Aldrovandi II auf. In dem großen Werke des P. A. Matthioli von 1565 sehen wir dann die erste neuere Ab- bildung des Kalmus. -) Dieser Pflanzenvater hatte bei seinem Aufenthalt in Prag (1554 — 1577) am kaiserlichen Hofe Gelegenheit, einen lebenden Kalmus zu sehen, den der berühmte Gesandte am türkischen Hofe und Blumenfreund Augerius Ghislenius Busbequius übersandt hatte. Dieser hatte mit seinem Arzte W. Quackelbeen die viel genannte und gesuchte Pflanze in einem großen See bei Nicomedia in Bithynien gesammelt. Dem Bericht ist ein Holzschnitt beigefügt, der einen Kalmus ohne Blütenkolben darstellt. Nach einer beigedruckten brieflichen Mitteilung des ge- nannten Arztes trägt der Stengel eine Art Kätz- chen „ähnlich denen der pontischen Nuß- oder dem langen Pfeffer". In einer späteren Ausgabe des Matthioli (1586), die von der Hand des J. J. Camerarius stammt, wird auch ein blühender Kalmus vorgeführt.^) Mücke (S. 5) legt dar, daß der Kalmus sicher schon vor 1565 nach Europa gelangte, wahrschein- lich im Jahre 1557, da Quackelbeen Mat- thioli eine Sendung gesammelter Gegenstände mit einem Brief ""j zugehen ließ. Busbecqu schreibt dann in einem (4.), vom Jahre 1562 da- tierten Briefe, ■') bevor er Konstantinopel (für im- mer) verließ, daß er vor wenigen Jahren an Mat- thioli den Kalmus gesendet habe. Jene Reise nach Kleinasien und Bithynien hatte er, wie aus seinen Briefen ersichtlich ist, 1555 durchgeführt; das dürfte also das Jahr der Wiederentdeckung des Kalmus sein an einem Standort, den schon Dioscorides angibt (s. o.). C. Clusius beschreibt den Kalmus in seinen Werken mehrmals und führt ihn zum erstenmal auf im Anhang zu der Geschichte der seltenen in Spanien beobachteten Pflanzen") 1576. Er gibt dazu einen Holzschnitt mit einer nicht blühenden Pflanze unter dem Namen Acorum legitimum (S. 501) und bemerkt, daß sie schon seit 2 Jahren im kaiserlichen Garten in Wien gehalten werde. Das Exemplar stammte von Busbecqu und Carl Rym und war aus Konstantinopel gekom- men. In der 1583 erschienenen Pflanzengeschichte Österreichs und Ungarns') konnte Clusius auch ') Cronologia della Flora Italiana. Padova 1909, S. 37. ^) Matthioli, J'ierandrea, Commentarii in 6 libros 9. Dioscoridis usw. Veneiiis 1565, S. 20. 'j Matthioli, de plantis Epiiome. Francofurti a. M. 1586 S. 5. Die Abb. ist wohl genommen aus C 1 usius (s.u.). *) Forster, C h. T h. and Daniell, F. H B., The life and letters of Ogier Ghiselin Busbecqu. London 1881. Bd. I. S. 415. (Nach M. Mücke.) '') Busbequius, Aug. Ghis., Epistolae de rebus Turci- cis. Hannoviae 1605, S. 194. (.Nach Mücke.) ") Appendi.i peri grinarum et elegautium nonnullarum plantarum ex Thracia usque delatarum. Antverpiae Hlantin 1570, S. 520 — 522. Anhang zu Rariorum aliquot sürpium per Hispanias observatarura historia. Ebendort 1576. ') Rariorum aliquot stirpium per Fannouiam, Austriam usw. observatarum historia. Antwerpiae 1583. S. 257 u. f. 636 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVin. Nr. 44 die Abbildung eines 1577 und 1579 blühenden Kalmus bringen, welche demnach wohl die erste in dieser Art ist. Durch den Arzt B. Paludanus Frisius erfuhr Clusius ferner, daß der Kalmus massenhaft bei Wilna in Polen wachse und von den Einwohnern Tartarsky genannt werde, weil eben von den Tartaren sein Gebrauch gelehrt worden sei. Man trinke kein Wasser, ohne vor- her darin Kalmuswurzeln aufzuweichen. In Kon- stantinopel esse man die eingemachte Wurzel als Schutzmittel gegen die Ansteckung der Lull (Pest); er habe selbst von Herrn Philibert aus Kon- stantinopel ein Gefäß mit solchen eingemachten Wurzeln geschenkt bekommen.') Bei dem römischen Botaniker C. Durante (1585) werden diese offizineilen Kräfte der Pflanze wie immer in eine schöne dichterische Form ge- kleidet.") Was die Verbeitung in Polen betrifift, so weiß man auch aus anderen Quellen, daß der Kalmus dort wie in Südrußland früher als bei uns bekannt war (vgl. Mücke a. a. O. S. 5 f ). J. Came- rarius^) sagt (1588), daß er in Litauen, Weiß- rußland usw. in großer Menge wächst. Um 1601 wird er für Schlesien von C. Schwenckfeldt als Ausfuhrartikel angeführt. In westlichen Gebieten erscheint die Pflanze um 1575 in Lüttich, 1583 in Florenz, 1586 in Hessen (Garten des Landgrafen Wilhelm), 1586 in Paris, 1591 in Straßburg, 1596 in London, 1598 in Württemberg,*) etwas nach 1600 in Regens- burg*) und Eichstätt.") Einige aus dem 16. Jahrhundert erhaltene Herbarien bringen auch getrocknete Exemplare ') Retulit mihi doctissimus vir Bernardus Paludanus Fri- sius, cum anno 1577 ex Polonia in Italium liac iter faceret, coseret (? acorum), copiose admodum etiam inveniri supra Vil- nam urbem, in paludibus extrema Lilhuania Moscoviam spec- tante, et ab incolis Tartarsky appellari, quod a Tartaris eius usus primum illis sit demonstratus. Circumferre vero plerumque hanc radicem, nee aquam bibere, quin prius Acori radix in ea fuerit macerata. . . . Recentes autem radices suo cortice delibratas et diligenter repurgatas condire solent Constantinopoli, atque in usum ser- vare ; mane enim pleruraque cdere solent adversus corrupti aeris contagia, ut mihi retulit Dr. Philiberlus de Bruxella p. m. qui Constantinopoli rediens vasculo iis conditis pleno me- donavit (1. c. S. 2öO, 261). ■^) Convulsis Acorum prodest minuitque lienes. Morsaque, nembra juvat, lotium cit, menstrua pellit, Calfacit et siceat, apcritque, incidit et acris Est, et odora simul Radix, ducilque secundas ; Subvenit et jecori, toUit laterisque dolores; Pectoribus prodest, lotium simul adiuvat ipsum Destillans, tussim sanat ; demum halitus oris Commendatur eo ; retinetur apecula, et illuc Agmina deducit, folium, radixque ligata Alveo si fuerit. Herbario del Durante S. 7. 1585. '■') Hortus medicus. Francofurti 1588. S. 5 u. 6. *) Nach J. Bauh in. Vgl. R. Gr a dm an n, Das Pflanzen- leben der schwäbischen Alb. 2. Aufl. I. Bd. S. 396. ^) Jo. O ber n d orf f e ri usw. Horti medici, qui Ratis- bonae est, descriptio. Ratisbonae Anno 1621. ") Hortus Eystaettensis Ordo S fol. 9 Nr. I. Vgl. Jos. Schwertschlager, Der bot. Garten der Fürstbischöfe von Eichstätt. (Daselbst 1890). S. 65, des Kalmus, so das von Hieron. Härder,') der bei Ulm um 1576 — 1594 sammelte, und das von Casp. Ratzenberger^) von Saalfelden (Thü- ringen) um 1598. Woher die eingelegten Pflanzen stammen, wird leider nicht bemerkt; nur bei Ratzenberger findet sich wie bei Clusius und Camerarius die Angabe, daß sie in Litauen usw. wachse. Der um die Wende des 17. Jahrhunderts schaffende Regensburger Botaniker J. W. Wein- mann^) bringt zur Geschichte der Pflanze kein neues Material ; über ihre Herkunft spricht er sich nicht aus. Nach ihm wird der Kalmus als Magen- und Verdauungsmittel, dann zur Reinigung des Wassers, ferner für Augen- und Zahnweh, endlich gegen venerische Krankheiten (radix venerea) an- gewendet, ein Gebrauch, auf den schon die im Wiener Dioscorides - Kodex aufgeführte römische Bezeichnung „veneriam" hinweist. Mit dem 17. Jahrhundert darf, wie Mücke sagt, der Kalmus als bei uns vollkommen natu- ralisiert gelten. Es würde zu weit gehen, den Gang der Verbreitung unserer Pflanze, die heute noch im westlichen Florengebiete (Frankreich, Spanien) selten oder zu suchen ist,') hier zu schildern. Genauere Studien über die Verbreitung des Kalmus in einer bestimmten Gegend scheinen noch nicht oder nur wenig gemacht worden zu sein. Es sei mir gestattet, hier die mir etwas näher be- kannten Verhältnisse um Regensburg darzulegen. Die Pflanze kommt hier vor, wie schon A. Fürn- rohr^) angibt, am Ufer der Donau und des Regen, der aus dem bayerischen Walde fließt, so- wie an der Naab. Auch an der Altmühl, die den Jura durchbricht, bei Kehlheim und Riedenburg ") ist sie häufig. Auf dem Juraplateau selbst, wie auch im bayerischen Walde (außer am Rande desselben)') scheint der Kalmus zu fehlen. In der nieder- bayerischen Ebene, an der Großen und Kleinen Laaber, die in der Nähe von Straubing in die Donau münden, ist die Pflanze eine gewöhnliche Erscheinung und wird gerne am Fronleichnamstag z. B. in Moosham, Wallersdorf als „schmeckaia ') Kreuterbuch des Hieron. Härder in der Staats- bibliothek München. Vgl. M. Schinnerl, Ein neues deut- sches Herbarium aus dem 16. Jahrb. Berichte der bayer. bot. Gesellsch. z. E. d. h. Flora. Bd. XIU (München 1912) S. 207 bis 254. *} „Lebendiges Kreuterbuch" usw. auf der Bibliothek zu Gotha. Vgl. G. Zahn, Das Herbar des Dr. C. Ratzenberger 159S in der Herzogl. Bibl. zu Gotha. Mitt. des thürmg. bot. Vereins N. F. XVI (Weimar 1901) S. Iio. ") Phytanthoza usw. Regensburg 1737. I. Bd. S. 16/17. ■*) Willkomm führt den Kalmus für das Pyrenäengebiel unter den species inquirendae auf. ') Topographie von Regensburg. Ebenda 1S39. II. Bd. S. 157. 'J Frz. X. Kudorfer, Flora Riedenburgensis (Rieden- burg bei Kelheim I9i9). S. 20. ') Vgl. O. Sendtner, Die Vegetationsverbältnisse des bayr. Waldes (München 1860). S. 351/52. Er nennt als Standorte des Kalmus außer die Regensburger Umgebung noch Bodenwöhr, Thierlstein bei Cham, also das Keupergebict, dann Deggendorf und Oberzeil bei Passau. N. F. XVIII. Nr. 44 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 637 (d. h. wohlriechendes) Rohr" auf die Festesstraße geworfen.^) Im Isargebiet um Landshut muß man nach der Pflanze wieder suchen; ich konnte sie z. B. an der Pfettrach, wo Sparganium u. a. Sumpf- pflanzen in Masse wachsen, nicht entdecken. J. Hoffmann-) gibt als Standort bei Landshut die Vils bei Geisenhausen und bei München den Kanal bei Schleißheim und Nymphenburg, sowie das Dachauer Moor und Amperufer an. F. Voll mann ^) bezeichnet im allgemeinen den Kalmus als ,, ziemlich verbreitet an Gräben, Fluß- und Teichufern" durch Bayern in den Alpen bis zu einer Höhe von 800 m ; er fehlt nach ihm im Hügelgebiet um den Bodensee (Hbo) und ist im Muschelkalk (Nm) selten. Ich halte die Pflanze überhaupt für wenig verbreitet — eine Ansicht, der auch Herr Dr. H. Poeverlein, ein be- deutender Kenner der bayerischen Flora, beipflichtet. Wo sie aber auftritt, kann dies in großer Menge geschehen. Auffällig ist mir das Vorkommen des Kalmus an sehr entlegenen Orten, so in dem Sumpfgebiet von Klardorf zwischen Regensburg und Schwan- dorf, wo ich ihn auch blühend angetroffen habe. Wie ist er in diese menschenleere Gegend ge- kommen? Die Verbreitung der Pflanze kann, da sie keine Samen zeitigt, nur auf vegetative Weise durch Rhizomverzweigung und durch das Wasser, das die Rhizome fortträgt, geschehen. Gelegentlich einer Donauüberschwemmung (Eisstoß im Januar- Februar 1907?) sah ich die Wiesen oberhalb Regensburg übersät von durch das Eis (der Naab?) losgerissenen Kalmusstücken. So mag die Pflanze über das Donautal, in dem sie häufig ist,^) ver- breitet worden sein. Auf diese Weise läßt sich wohl eine Verbrei- tung der Pflanze flußabwärts erklären ; in dem oben angezogenen P'alle von Klardorf handelt es sich aber um eine höhere Lage als sie die Naab und die Donau haben , mit denen das Sumpf- gebiet in Verbindung steht. Hier müßte man an sehr große Überschwemmungen oder an eine ganz absichtliche Einsetzung durch den Menschen denken, von der natürlich nur selten sichere Nach- richten sich erhalten haben (vgl. den Fall von Vilshofen). Die Verbreitungsverhältnisse erscheinen mir noch immer nicht geklärt; es ist m. E. nicht aus- , geschlossen, daß die Pflanze doch schon, wie Engler (s.o.) angenommen hat, seit langem bei uns heimisch ist, wenn auch aus dem Mittelalter keine urkundlichen Belege auf uns gekommen sind. Man hat sie vielleicht, wie wir oben ge- sehen, von der Iris Pseudacorus nicht genauer unterschieden. Gelöst wäre die Frage, wenn sich prähistorische Funde von der Pflanze (z. B. in den Kalktuffen von Ehringsdorf bei Weimar) einmal ergeben würden. Ist sie aber tatsächlich erst seit dem 16. Jahrhundert bei uns eingeführt, dann bil- det sie einen interessanten Beleg zu der schnellen Verbreitung einer an sich schwerfälligen, nur vege- tativ sich vermehrenden Pflanze über ein weites Areal. •) Auf Grund eigener Beobachtung. Vgl. auch G. Hegi, Flora von Mitteleuropa Bd. U. S. 134 — 136. '•') Flora des Isargebietes (Landshut 1883). S. 265. ') Flora von Bayern (Stuttgart 1914) S. 12S. ') Sie kommt auch in Württemberg „an der oberen Donau abwärts bis Tuttlingen" vor. Vgl. R. Gradmann a. a. O. II. Bd., S. 64. Arbeitsgemeinschaft der naturwisseiischaftlichen Körperschaften Deutschlands, [Nacfuiruck verboten.] Ein Vorschlag. Von Hermann Zillig, Vorsitzendem des „Naturwissenschaftlichen Vereins Würzburg".') Von den etwa dreihundert naturwissenschaft- lichen Vereinen und Gesellschaften Deutschlands gaben vor dem Kriege etwa zweihundert perio- dische Veröffentlichungen heraus. Müller''^) be- nennt etwa 160 derselben. Diese rund 200 natur- wissenschaftlichen Zeitschriften kamen zu den fast ebenso zahlreichen hinzu, welche im deutschen Buchhandel erschienen. Berücksichtigt man noch nur die wichtigsten naturwissenschaftlichen Vereins- und sonstigen Zeitschriften des Auslands, so er- hält man eine Zahl von mindestens 500 periodi- schen Veröffentlichungen naturwissenschaftlichen Inhalts. Eine einzige Disziplin z. B. Botanik zählte nach Dörfler^) 34 Zeitschriften im Inland die der Vereine und des Buchhandels zusammenge- nommen, 113 im Ausland, insgesamt 147. Dabei schössen neue Zeitschriften wie Pilze aus dem Boden, nicht nur solche des Buchhandels, sondern gerade solche, welche von naturwissenschaftlichen Körperschaften herausgegeben wurden. Erblickten doch die naturwissenschaftlichen Vereine und Ge- sellschaften vielfach ihre Hauptaufgabe in der Herausgabe periodischer Veröffentlichungen! War das ein erfreulicher Zustand ? Gewiß hatte er den Vorteil, daß naturwissenschaftliche An- regung durch hunderte von Sprachrohren in weite Kreise gelangte, daß jeder, der eine naturwissen- schaftliche Arbeit veröffentlichen wollte, leicht Ge- legenheit fand sie unterzubringen. Aber gerade ') Der Verf. ersucht die naturw. Körperschaften der Frage näher zu treten und diesbez. Erklärungen an ihn ein- zusenden. Bei hinreichendem Interesse wird dann unter Mit- wirkung der Beteiligten die praktische Durchführung versucht werden. -) Müller, J., Die wissenschaftlichen Gesellschaften und Vereine Deutschlands im ig. Jahrhundert. Bibliographie ihrer Veröffentlichungen. 2. Bd., 2 Teile fortgeführt bis 1914, Berlin 191 7. ') Dörfler, J., Botaniker-Adreßbuch, III. A. Wien 1909. 638 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 44 für den wissenschaftlich Tätigen bot dieses Sy- stem immer größer werdende Schwierigkeiten, und er sah dem Entstehen jeder neuen Zeitschrift mit Skepsis entgegen. Denn wer konnte sich durch den Wust naturwissenschaftlicher Zeitschriften noch hindurcharbeiten ? Auf wieviel Bibliotheken konnte man sie auch nur annähernd alle erlangen? Die naturwissenschaftlichen Zeitschriften des Buch- handels bieten wenigstens den Vorteil, daß sie sich zumeist gegenseitig referieren bzw. Referat- organe bestehen, so daß dem Leser bedeutende Arbeiten von Schwesierzeitschriften nicht entgehen können. Aber die periodischen Veröfifentlichungen nur der bedeutend.sten naturwissenschaftlichen Körperschaften werden von den Zeitschriften des Buchhandels referiert. Die der übrigen kann man als Mausoleen der Wissenschaft bezeichnen, in welchen zahlreiche gute Arbeiten schon beim Er- scheinen der Fossilisation preisgegeben sind. Wer kann heute vor Bearbeitung einer naturwissen- schaltlichen Frage sicher angeben, daß ihm nicht irgendeine wichtige Veröffentlichung über sein Thema entgangen sei, eben weil sie in irgend- einer Vereinszeitschrift vergraben liegt? Welch ungeheurer Zeit und Mühe bedarf es wenigstens einen Teil dieser Zeitschriften vor Beginn einer Arbeit durchzusehen I Häufig enthalten diese Ver- öffentlichungen im bunten Durcheinander Arbeiten aus den verschiedensten Gebieten der Naturwissen- schaften, ja Arbeiten, die man nach dem Titel des Vereins oder der Zeitschrift niemals darin ver- muten sollte. Bisweilen bringen sie aber auch Arbeiten ohne wissenschaftlichen Wert, wenn z. B. der Vorsitzende der Körperschaft als Schrift- leiter (beim Fehlen einer Redaktions Kommission) infolge mangelnder Kenntnis der Disziplin nicht zu deren Beurteilung in der Lage ist. Vielfach endlich sind wissenschaftliche Arbeiten und Sitzungs- bzw. Jahresberichte nicht getrennt. Es erwachsen dem herausgebenden Verein dadurch ganz unnötige Mehrausgaben. Denn während man sich für seine wissenschaftlichen Veröffentlichungen in ganz Deutschland, vielleicht sogar im Ausland interessiert, empfindet man die oft recht ausführ- lich verfaßten Sitzungs bzw. Jahresberichte, welche doch allein bei den Mitgliedern Interesse bean- spruchen können, nur als Belastung. So liest man z. B. in einem Gesamtregister über die letzten zehn Jahrgänge der Zeitschrift eines Vereins den Namen einer Pflan/e, über die man gerade arbeitet, verschafft sich voll Erwartung den betr. Jahrgang um dann aus einem Sitzungsbericht dieses Jahres zu erfahren, daß Herr XX in der betr. Sitzung diese Pflanze vorgezeigt habe. War nun dieser Zustand der Zersplitterung naturwissenschaftlicher Literatur in hunderten von Zeitschriften vor dem Kriege ein notwendiges Übel ? Waren die naturwissenschaftlichen Arbeiten wirklich so zahlreiche, daß sie hunderter von Kanälen bedurften um untergebracht zu werden. Man wird diese Fragen entschieden verneinen können. Denn es handelte sich doch häufig um Arbeiten, welche unter ähnlichem Titel in ähn- licher Form in einem halben Dutzend Zeitschriften erschienen 1 Es ist nicht anzunehmen, daß die zunehmende Arbeitserschwerung infolge mangelnder Organisa- tion der wissenschaftlichen Literatur vor dem Kriege in weiten Kreisen der Wissenschaftler unter- schätzt wurde! Dies beweisen die in den letzten Jahrzehnten in zunehmender Zahl begründeten je- weiligen Übersichten über die Jahresliteratur der verschiedenen naturwissenschaftlichen Disziplinen. Der Botaniker z. B. greift dieserhalb zum Liiera- turband des „Botanischen Zentralblatts" oder zu „Jiists Botanischem Jahresbericht". Der Zoologe findet seine Jahresliteraturübersicht im „Zentral- blatt für Zoologie, allgemeine und experimentelle Biologie" oder in der von Carus begründeten „Bibliographia zoologica". Auch der von der zoologischen Station in Neapel herausgegebene Jahresbericht leistet gute Dienste, sofern man nicht gerade die rein systematische Literatur sucht. Der Chemiker findet seine Literatur im „Chemischen Zentralblatt" usw. Aber alle diese Literaturzu- sammenstellungen bringen nur die Literatur des betr. Jahres, häufig reichlich spät und hinsichtlich der Vereinszeiischrifteninhalte nicht vollständig. Diesem Überstand sucht man neuerdings durch Literaturzusammenstellungen für Untergebiete ab- zuhelfen. Freilich sind infolge der ungeheueren damit verbundenen Arbeit erst wenige derartige Zusammenstellungen erschienen. Pritzels „The- saurus Literaturae Botanicae" Leipzig 1872 ist heute völlig veraltet, und es wäre heute auch gar nicht mehr möglich die Literatur einer ganzen Disziplin in ein einziges Buch einzuzwängen. Dagegen bietet der von G. Lindau und P. Sydow her- ausgegebene fünfbändige „Thesaurus literaturae mycülogicae et lichenolochicae" Leipzig 1908/17 einen sowohl nach Autoren wie nach Gruppen usw. geordneten Überblick der gesamten Pilz- Literatur der Erde von Anfang bis zum Jahre 1910. Man kann dieser gewaltigen literarischen Arbeits- leistung heute keine ähnliche an die Seite stellen. Das dreibändige Werk: „Jongmanns, W. J., Die Paläobotanische Literatur, Bibliographische Übersicht über die Arbeiten aus dem Gesamt- gebiet der Botanik" Bd. I— III, Jena 1910 — 13 ist hinsichtlich Vollständigkeit mit ihm vergleichbar, bringt aber nur die Erscheinungen der Jahre 1908 bis einschließlich 191 1. Endlich wäre noch „M. Christianses Bibliographie des Geotropismus 1672 — 19 16" nach Jahren geordnet zu nennen, die in den Mitteilungen des Hamburger Instituts für allge- meine Botanik 2. Bd. 19 17 erschien. Auf zoologi- schem Gebiet gibt es noch keine derartigen Lite- raturübersichten. Man müßte denn an die in den wenigen Monographien von Tiergruppen des Golfs von Neapel (herausgegeben von der zoologischen Station) enthaltenen Zusammenstellungen denken. In anderen naturwissenschaftlichen Disziplinen sind dem Verf. derartige Literaturzusammenstel- lungen ebenfalls nicht bekannt. Am besten greift N. F. XVni. Nr. 44 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 639 man heute noch zu einem Katalog der großen naturwissenschaftlichen Antiquariate, welche bis- weilen gute freilich unvollständige Literaturüber- sichten enthalten (W eg, Friedländer u.a.). Es sind also erst Ansätze vorhanden Übersichtlich- keit in das Chaos auch der Vereinszeitschriften- literatur zu bringen. Die häufig bestehende Schwierigkeit der Beschaffung der betr. Zeitschrift kann dadurch freilich nicht behoben werden. Nur eine Zentralisation wenigstens der Vereinszeit- schriften läßt hier Abhilfe erhoffen. Bei den vor dem Kriege herrschenden Ver- hältnissen freilich wäre es unmöglich gewesen an eine solche zu denken. Wer hätte einen großen Forscher damals von der Gründung einer neuen Zeitschrift abhalten können mit dem Hinweis, daß eine gleichartige schon bestehe? Wer einen Verein zur Einreihung einer wissenschaftlichen Veröffent- lichung in eine große Zeitschrift veranlassen wollen? Der Stolz der Herausgabe in eigener Regie stand über dem Gedanken dem Nutzen der All- gemeinheit sich unterzuordnen. Bei den damaligen niedrigen Druck- und Papierkosten, bei der Mög- lichkeit Beiträge kostenlos oder um geringes Ent- geld zu erhalten, standen der Herausgabe in dieser Form ja auch keine Schwierigkeiten im Wege. Heute aber ist die Sachlage eine ganz andere. Die Kosten für Papier und Druck sind ungeheuere, es ist vielen Autoren auch nicht mehr möglich unter Verzicht auf Entschädigung wissenschaft- liche Arbeit zu leisten und dies wird auf Jahre hinaus so bleiben. Da erscheint der günstige Zeit- punkt gegeben an eine großzügige Organisation der naturwissenschaftlichen Zeitschriftenliteratur heranzutreten. Der Zusammenschluß gleichgerichteter Zeit- schriften des Buchhandels wird sich ja auch jetzt kaum erreichen lassen. Mehrere derselben sind während des Krieges eingegangen, andere werden folgen, neue kaum entstehen. Vielleicht könnte es dem Bemühen der großen wissenschaftlichen Fachverbände gelingen Vereinigung gleichstreben- der Zeitschriften ihres Fachs herbeizuführen. Dagegen erscheint es heute möglich eine Or- ganisation der von naturwissenschaftlichen Vereinen und Gesellschaften herausgegebenen Veröffent- lichungen durch Gründung einer ,, Arbeitsgemein- schaft der naturwissenschaftlichen Körperschaften Deutschlands" durchzuführen. Diese ,, Arbeitsge- meinschaft" würde in erster Linie die Herausgabe sämtlicher bisher von den einzelnen Körperschaften gesondert veröffentlichten naturwissenschaftlichen Arbeiten zu bewerkstelligen haben. Es würden von den Körperschaften Fachvertreter gewählt werden, welche die Redaktionsarbeit leisten und so gleichzeitig eine Jury für die eingehenden Arbeiten bilden müßten. Für jedes Fach könnten mehrere Vertreter aufgestellt werden um Ein- seitigkeit und Parteilichkeit zu verhindern. Die Zeitschrift der Arbeitsgemeinschaft würde in so viel Abteilungen erscheinen, als es naturwissen- schaftliche Fächer gibt. Jede dieser Abteilungen wäre vielleicht noch gegliedert in einen Teil für Originalarbeiten und einen für Referate. Eine Ab- teilung endlich hätte gute populärwissenschaftliche Aufsätze, Vorträge usw. zu bringen. Jede Ab- teilung müßte einzeln abonnierbar bzw. käuflich sein. Die Beiträge der einzelnen Körperschaften könnten durch den Untertitel „Aus usw." kennt- lich gemacht werden. Jede Körperschaft würde als Mitglied der Arbeitsgemeinschaft die sie inter- essierenden Abteilungen der Zeitschrift zu einem Vorzugsabonnement erhalten. Für jeden von ihr zur Veröffentlichung beanspruchten Druckbogen müßte sie außerdem einen bestimmten Satz zahlen. Aus den Überschüssen könnten an die Verfasser von der ,, Arbeitsgemeinschaft" Honorare bezahlt oder daneben auch Preisaufgaben bestritten werden. Besonders gute Arbeiten könnte sie außerdem als selbständige Veröffentlichungen in den Bichhandel bringen. So würde die Drucklegung außerordent- lich verbilligt, den einzelnen Körperschaften wäre die Mühe, die damit verbunden ist, abgenommen, als einzigen Nachteil müßten sie die Zurückweisung einer von der Jury als unbrauchbar bezeichneten Arbeit in Kauf nehmen. Ein praktisches Beispiel mag den Gang der Sache erläutern. Irgendwo in Deutschland schreibt jemand eine Arbeit über das Vorkommen einer seltenen Pflanze, sagen wir eines Eiszeitrelikts. Diese übergibt er der natur- wissenschaftlichen Körperschaft, der er angehört. Sie schickt dieselbe an die „Arbeitsgemeinschaft", d. h. sogleich an die gewählte Jury für pflanzen- geographische Arbeiten. Hier wird die Arbeit geprüft und, wenn brauchbar befunden, in der Zeit- schrift der „Arbeitsgemeinschaft" usw., Abteilung Floristik Deutschlands, veröffentlicht. Will nun später jemand wissen, ob über die betr. Pflanze floristische Spezialarbeiten bestehen, so braucht er hinsichtlich der Vereinszeitschriftenliteratur nur die betr. Abteilung der Arbeitsgemeinschaft nach- zusehen, während ihm die Arbeit bei Veröffent- lichung in einer Vereinszeitschrift wahrscheinlich entgangen wäre. Die Nummern dieser Abteilungen erscheinen nicht periodisch, sondern in Zeit und Stärke nach den vorliegenden Arbeiten und den zur Verfügung stehenden Mitteln, möglichst so, daß größere Originalarbeiten eine Nummer bilden, die dann in sich abgeschlossen im Buchhandel guten Absatz finden könnte. Um die Selbständigkeit der einzelnen Körperschaften vollkommen zu er- halten könnte man sogar daran denken, daß Arbeiten, die von der Jury abgelehnt werden, wenn die Gesellschaft darauf besteht, unter einem ent- sprechenden Vermerk dennoch in der Zeitschrift veröffentlicht würden, wobei die Gesellschaft er- höhte Kosten entsprechend denen bei selbständiger Veröffentlichung zu bestreiten hätte. Die drei Vorteile: einer gewissen Sichtung des Materials, der leichten Zugänglichmachung der Arbeiten für den Wissenschaftler und der erheblichen Ver- billigung der Veröffentlichung für die naturwissen- schaftliche Körperschaft liegen auf der Hand. Die Herausgabe müßte freilich in eigener Regie der 640 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVm. Nr. 44 Arbeitsgemeinschaft erfolgen, damit nicht irgend ein Verleger den Rahm abschöpfen würde. Was mit einer derartigen Zentralisation finanziell ge- leistet werden kann, bewies der „Deutsche Lehrer- verein für Naturkunde" vor dem Kriege. Für 2,50 M. Jahresbeitrag konnte er seinen 36COO Mitgliedern nicht allein 12 Nummern einer guten populärwissenschaftlichen Zeitschrift im Jahr liefern, er konnte sie auch alljährlich durch ein bis zwei gute Bücher erfreuen, die allein im Buchhandel das vierfache des Jahresbeitrags kosteten. Heute werden die Einnahmen publizierender naturwissen- schaftlicher Körperschaften zum größten Teil durch die Veröffentlichungen in Anspruch genommen, wenn sie überhaupt hierzu heute noch ausreichen. Alles andere wird vielfach vernachlässigt nur um am Ende des Jahres den Mitgliedern lür ihren hohen Beitrag „Mitteilungen" oder „Abhandlungen" in die Hand zu drücken, welche von den meisten zu Hause auf das Bücherregal zu anderen Büchern gestellt werden, während so wichtige Arbeiten dem nicht der Körperschaft angehörenden Spezia- listen vielfach entgehen. Es gibt auch Vereine, welche nur Veröffentlichungen herausgeben um die der anderen im Tausch zu erhalten. F"ür das Inland käme dieses Moment nach der Zentrali- sation ja ohnedies in Wegfall, während mit dem Ausland hinsichtlich des Austauschs der Zentral- zeitschrift in so viel Exemplaren übereingekommen werden könnte, daß die bisher vom Ausland be- rücksichtigten Vereine auch weitCihin die Publi- kationen erhalten könnten. Man wird einer derartigen Zentralisation der naturwissenschaftlichen Vereinszeitschriftenliteratur freilich auch heute noch vielfach skeptisch gegen- überstehen. Hat doch das Scheitern der aller- dings zu ungünstiger Zeit ins Leben gerufenen ,, Brücke" Wilhelm Ostwalds gezeigt, daß der Wissenschaftler auch für die naheliegendsten Pro- bleme großzügiger Arbeitsvereinfachung im allge- meinen heute noch kein Verständnis besitzt. Bei jeder Organisation fürchtet er schon im voraus das Verschwinden wissenschaftlicher Eigenart, das Herrschen der Schablone. Die gute Ausstattung, die einzelne hervorragend begüterte Körperschaften vielleicht auch heute noch ihren Veröffentlichungen angedeihen lassen können, müßte fallen , wird er einwenden. Durchaus nicht. Höchstens die vielen Formate, gegen welche die „Brücke" ohne Erfolg angekämpft hat. Aber es bliebe natürlich jeder Gesellschaft unbenommen ihre Veröffentlichungen durch Aufwendung von Geldmitteln über den Normalsatz hinaus mit einer entsprechenden An- zahl Tafeln, vielleicht sogar besserem Papier aus- zustatten. Das würde dem Zeitschriftenvverk nur nützen. Durch den Untertitel würde man ja dann leicht erkennen können, welche Körperschaft solche Leistungstähigkeit besitzt. Auch könnte eine leistungsfähige Gesellschaft wie früher die von ihr stammenden Arbeiten ihren sämtlichen Mit- gliedern überreichen, selbst zu Propagandazwecken verwenden, da sie dieselben ja bei Vorausbestel- lung in jeder gewünschten Anzahl als Sonder- drucke zu einem niedrigen Satze haben könnte. Daneben aber hätten die Mitglieder jetzt auch Gelegenheit die Publikationen aller anderen Körper- schaften jederzeit in übersichtlicher Form in der Vereinsbibliothek einzusehen, ja, sofern sie sich für ein bestimmtes Gebiet ganz besonders inter- essieren , selbst zu halten. Das Recht , kurze Sitzungs- bzw. Jahresberichte herauszugeben , die nur die Mitglieder interessieren, würde den Körper- schaften durch die Zentralisierung der wissen- schaftlichen Veröffentlichungen natürlich nicht ge- nommen, aber diese Jahresberichte würden nicht mehr als Ballast den wissenschaftlichen Arbeiten anhängen und in den Bibliotheken der ganzen Welt immer größeren Raum versperren. Der letzte Einwand, • daß sich die Veröffentlichungen der bedeutenderen Körperschaften auf jeder leistungsfähigen Bibliothek finden und daß in denen kleinerer Vereine nichts wissenschaftlich Wertvolles enthalten sei, sie also entbehrt werden könnten, läßt sich am besten an der Arbeit des Augustinerpaters Gregor Mendel widerlegen. Durch vierzig Jahre ist diese für die ganze Bio- logie hochbedeutsame Veröffentlichung in den Mitteilungen des naturwissenschaftlichen Vereins zu Brunn Jahrgang 1864 verborgen geblieben und wäre vielleicht auch zu Anfang unseres Jahr- hunderts noch nicht hervorgezogen worden, wenn die Mendelsche Spaltung zu dieser Zeit nicht unabhängig von Mendel durch andere Forscher entdeckt und so die ganze Literatur in dieser Richtung durchgewälzt worden wäre. Die Organisation wissenschaftlicher Arbeit, die Ausschaltung jedes unnötigen Energieverlustes hierbei ist aber heute nicht nur ein Gebot der Zweckmäßigkeit. Es handelt sich heute um weit mehr: um die Erhaltung und Leistungsfähigkeit der deutschen Wissenschaft im Konkurrenzkampf mit anderen Nationen. Welch gewaltige An- strengungen Amerika in den letzten Jahrzehnten aufwendet um die Erfolge gerade der deutschen naturwissenschaftlichen Arbeit zu übertreffen, ist bekannt. Fast 5 Jahre hat Amerika nun Zeit ge- habt im Wettlauf einen Vorsprung zu gewinnen und findet sich heute unter weit günstigeren Be- dingungen als wir. Wenn nun vollends ein wich- tiges Hilfsmittel wissenschaftlicher Arbeit, die Zeit- schriften der wissenschaftlichen Körperschaften, in der alten Zersplitterung weiter bestehen oder der Ungunst der Verhältnisse überhaupt zum Opfer fallen, dann wird der deutschen Wissenschaft hier- aus schwerer Schaden erwachsen. Gerade der natur- wissenschaftlich Tätige scheint berufen hier den An- fang zu machen und gegen Vergeudung geistiger und materieller Energie anzukämpfen. Im vorstehen- den wurde nur das Problem der Literaturzentralisa- tion als die vordringlichste und wichtigste Auf- gabe einer ,, Arbeitsgemeinschaft der naturwissen- schaftlichen Körperschaften Deutschlands" erörtert. Es ist klar, daß sich ein derartiger Zusammen- schluß auf anderen Gebieten ähnlich fruchtbringend N. F. XVm. Nr. 44 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 641 erweisen würde. Es sei nur der Austausch von Vortragenden, von Studienmaterial, von Büchern, Sammlungsobjekten usw., kurz enge Zusammen- arbeit genannt. Wenn es auch nicht möglich sein wird alle naturwissenschaftlichen Körperschaften auf einmal zu einer Arbeitsgemeinschaft zusammenzuschließen, wenn auch viele noch längere Zeit zäh an eigenen Veröffentlichungen festhalten werden, so muß doch heute mehr denn je das im vorstehenden erleuterte .Ziel erstrebt werden, weil die Not der Zeit uns hierzu zwingt. Wird dies nicht erkannt, so geht mit der Spreu viel Weizen zugrunde. Das ganze ist eine Frage der Organisation. Sind erst einmal einige größere Körperschaften dem Problem näher- getreten und haben die Ausführung zielbewußt in die Hand genommen, so werden die anderen alle kommen, früher oder später. In dieser und jener Disziplin besteht ja schon ein geeignetes Vereins- organ, welches sich zur Abteilungszeitschrift der Arbeitsgemeinschaft ausbauen ließe. Ein monat- liches Korrespondenzblatt mit nach Disziplinen geordneten Titeln der erschienen Vereinspublika- tionen läßt sich als Notbehelf sofort schaffen. Aus der Not der Zeit kann so eine vorbildliche Zentralisation deutscher naturwissenschaftlicher Literatur entstehen; wenn der Wille vorhan- den ist. Einzelberichte. Zoologie. Seltene Hilfsaktionen bei der Ei- ablage. Die meisten Weibchen der Tiere besitzen die Fähigkeit, ihre Keimprodukte durch Betätigung der Ausführungsgänge — Kontraktionen der Ei- leitermuskulatur — nach außen zu befördern. Ich möchte im folgenden zwei Fälle anführen, wo andere Körpermuskeln, die sonst der Lokomotion dienen, in den Dienst der Eiablage gestellt wer- den, damit eine sehr interessante biologische Be- sonderheit darstellend. So wurde vor Jahren berichtet , daß gewisse Haifische auf eigenartige Weise ihre Eier ablegen. Es handelt sich um solche, welche mit einer der- ben, pergamentartigen, flachen, viereckigen Schale umschlossen sind, deren Ecken in lange zusammen- gedrehte Schnüre auslaufen. Ein Teil dieser Schnüre kommt nun vor der Eiablage aus der Kloake hervor, sie hängen heraus und wickeln sich , während das Weibchen zwischen und um die Meerpflanzen usw. herumschwimmt, um irgend- eine solche Pflanze. Ist dies geschehen, so schwimmt das Weibchen geradeaus weg und zieht so ge- wissermaßen das Ei aus sich heraus, das an den Pflanzen hängen bleibt. Etwas Ähnliches berichtete kürzlich Sikora (Beitr. z. Biol. v. Pediculus vestimenti, Zentralbl. Bakt. Parasitenkunde 1. "jt. 1917, p. 523 — 537) von Haematopinus suis, der Schweinelaus. Sie beobachtete ein Weibchen bei der Ablage des Eies, welches bekanntlich wie das aller Läuse an Haaren angekittet wird. Es war nur der hintere Eipol sichtbar, dieser aber schon mit einem Tropfen Kittdrüsensubstanz an der Borste festge- klebt. Der Kitt sah noch weich aus. Nachdem die Laus noch etwa 10 Minuten unbeweglich sitzen geblieben war, ohne daß das Ei weiter hervorgetreten wäre, kroch sie vorwärts. Der Kitt war an der Luft schon erstarrt, denn das Ei blieb an der Borste festgeklebt und verließ, indem die Laus sich zu entfernen strebte, deren Körper. Wahrscheinlich wird die Zugvvirkung durch Kontraktionen der Muskulatur unterstützt, aber vermutlich vermag die Laus durch die Muskel- kraft allein das Ei nicht abzulegen. Bei der Kleiderlaus dürfte sich der Akt ähnlich abspielen, wenngleich es ihr nicht gelungen war, eine dahin- gehende Beobachtung zu machen. Wir können annehmen, daß ein ähnlicher Vor- gang bei allen Läusen, aber auch Mallophagen, die ihre Eier derart befestigen, statthaben dürfte. Es wäre ganz interessant, darauf künftighin zu achten. Ob die Vermutung Sikoras betreffend die Unfähigkeit des Muttertieres , die Eier selbst völlig auszutreiben, richtig ist, wäre erst zu prüfen, zumal eine Beobachtung von Hase (diese Zeit- schrift 1916, p. 3) vorliegt, daß Kleiderläuse bei 37" hungernd, mattgeworden, Eier, ohne sie anzu- kitten , ablegen. Es wäre übrigens auch bei den Haifischen zu prüfen, ob sie die Eier nicht ablegen können, wenn ihnen die Befestigung der- selben nicht gelingt. Unwillkürlich wird jeder da an die Hilfeleistung beim Gebärakt erinnert, welche beim kultivierten Menschen und domestizierten Tier in dem Heraus- ziehen des Jungen besteht, dafern die Mutter nicht imstande ist, aus eigener Kraft den Gebärakt vor- zunehmen. Doch ist diese Ähnlichkeit nur eine äußerliche. Jedenfalls verdienen diese bisher seltenen bio- logischen Erscheinungen wegen ihrer interessanten Eigenart hervorgehoben zu werden , wobei es nicht ausgeschlossen ist, daß ihre Zahl vermehrt wird, wenn einmal, was die vorliegenden Zeilen bezweckten, die Aufmerksamkeit darauf gelenkt ist. Priv.-Doz. Dr. Ludwig Freund (Prag). Die Lichtflucht der Clausilien. Lichtsinnver- suche an Schnecken pflegen besonders undeutlich und schwankend auszufallen. Doch stellte W. A. Nagel 1916 durch seine Beschattungsversuche den Hautlichtsinn der Heliciden fest, v. Budden- brock entdeckte 1916 die nach Beschattung auf- tretende Aufbäumebewegung dieser Tiere und führte sie sowie das Ausweichen vor größeren Hindernissen auf den Lichtsinn der auf den Fühlern sitzenden Augen zurück, und ich selber habe in 642 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVm. Nr. 44 noch nicht mitgeteilten Versuchen die Beobach- tungen früherer nacli mancherlei Schwierigkeiten — denn wie oft sind die Tiere ,, launisch" in ihrer Re- aktionsweise, anscheinend von sog. physiologischen Stimmungen stark abhängig! — im wesentlichen bestätigen, mitunter geringe positive Phototaxis nachweisen und den Augenlichtsinn durch den Nachweis sicherstellen können, daß der Fühler nach Anstoßen an sichtbaren Körpern eine geringere Retraktion erfährt als nach Anstoßen an einer Glasscheibe — während Yung 1911 bei der Weinbergschnecke weder Augen- noch Hautlicht- sinn feststellen konnte. Eine deutlicher als die Heliciden auf Licht reagierende Schneckengruppe sind anscheinend — oder gelang bei ihnen nur eine schärfere Fest- stellung der Bedingungen der verschiedenen „Stimmungen"? — unsere an Baumstämmen und zumal Felswänden nicht seltenen Clausilien oder Schließmundschnecken, deren schlank turmförmige, an der Mündung durch Falten verengte und nach Zurückziehung der Schnecke durch ein stets vor- handenes Kalkplättchen (Clausiiium) verschließbare Gehäuse Naturbeobachtern bekannt sein dürften. Solche Tiere sah G. Schmid') zuweilen das Licht fliehen, zuweilen ihm gegenüber gleichgültig sein. Genaue Versuche zeigten, daß dies Verhalten in hohem Grade von der Feuchtigkeit, in der sie sich bewegen, abhängt. Auf trockenem Untergrund, und zwar Schreibmaschinepapier, das sehr aufsaugefähig ist, sind sie lichtflüch- tend; wenigstens verhielt sich z. B. in einem derartigen Versuche die Zahl der eifrigen Licht- flüchter zu derjenigen der Lichtwanderer wie 48 zu 4, während 11 indifferent waren — also auch hier zwar individuelle Schwankungen, doch im ganzen ein bestimmtes Ergebnis. So auch in den folgenden Fällen. Entsprechendes lehrten näm- lich weitere Versuche: während auf feuchtem Holz die Tiere sich gleichgültig gegen das Licht verhielten, waren sie lichtflüchtend auch auf trockener Glasscheibe, gleichgültig auf einer ebensolchen Glasscheibe in feuchtem Räume, näm- lich in einer Kiste mit angefeuchteten Wänden. Genügend sichere Beobachtungen lehren, daß die Wärme für den Ausfall dieser Versuche nicht aus- schlaggebend ist. Was Artunterschiede betrifft, so wurden alle diese Versuche angestellt mit Clausilia laminata, biplicata, plicata, dubia und bidentata, unter denen die beiden erstgenannten sich öfters unter den Lichtwanderern befanden und manchmal überhaupt die einzigen Tiere waren, die im Trocknen sich zum Lichte wandten. Balea perversa erwies sich als eine vollkommen umstimmbare Art; sie wandert im Trocknen vom Lichte weg, im Feuchten zum Lichte hin. Alle diese Versuche wurden nicht bei Sonnen- schein, sondern nur vor hellem Fenster angestellt. ') Günther Schtnid, Die Lichtflucht der Clausilien. Nachrichtsblatt der Deutschen Malakozoologischen Gesellschaft I917, Heft, S. 8—19. Bei Sonnenschein wenden sich zwar die Clausilien auch in feuchtester Glaskammer vom Lichte weg, doch führt dies Schmid am ehesten auf die rasche Erwärmung der dunkeln Gehäuse, also auf Wärmeflucht zurück. Die ökologische Bedeutung dieser Umstimm- barkeit der genannten Schnecken liegt auf der Hand. Es ist nützlich, daß sie bei Trockenheit das Licht fliehen, denn dadurch gelangen sie ins Feuchte, ebenso nützlich ist die Lichtflucht bei Sonnenschein und schließlich die bei Balea be- obachtete Lichtwanderung bei Feuchtigkeit, die das Tier aus den Schlupfwinkeln hervorlockt. — Die Fluchtbewegung scheint geradlinig und gleich- laufend mit den einwirkenden Lichtstrahlen vor sich zu gehen. Die Abweichungen der Kriech- spur von der geraden Linie lassen sich, wie Schmid meint, wohl aus der wechselnden Lage des nachgeschleppten Gehäuses erklären. V. Franz, Jena. Zum Kopfproblem. Eine offenbar überaus schwierige Frage, die seit Jahrzehnten nicht zur Ruhe kommen will! Die Gegenbau rsche Metameren- oder Segmenttheorie des Kopfes nimmt bekanntlich an, daß der ganze Wirbeltier- körper einst bis nach vorne metamer gegliedert war, in IMetamere oder Segmente aus je einem IVIuskelabschnitt und einem Rückenmarksnerven- paar zerfiel, wie heute noch der Körper von Amphioxus, und daß aus einer Anzahl der vorderen Metameren sich der Kopf ausbildete, an welchem heute die ursprünglichen IVIetameren nur noch an der Unterseite in Gestalt der Kiemenbögen deut- lich erhalten seien. Man hat später auch die Muskelsegmente (Myomeren) des Kopfes, soweit solche ontogenetisch auffindbar, mit der Branchio- merie (Metamerie des Kiemenapparats) und der Neuromerie (Metamerie des Nervensystems) des Kopfes in Einklang zu bringen sich bemüht und dabei Kopfsegmente auch noch vor den Kiemen- bögen rekonstruiert. Gegen Fuchs, der 191 5 bei Studien an Chelone mit Hatschek den Wirbeltierkopf in seinem hinterenTeil aus Rumpf- metameren und in seinem vorderen aus dem ,,Akromerit", einer mutmaßlichen Bildung des vor- dersten Metamers, aufbaute, und gegen Ziegler, der im gleichen Jahre auf Grund der von ihm für entscheidend erachteten Übereinstimmung zwischen Branchiomerie und Myomerie ein Schema des Kopfes aufstellte, betont nunVeit,^) er glaube, mit Froriep annehmen zu müssen, der Kopf sei im wesentlichen eine von der Rumpf- metamerie örtlich unabhängige Neu- bildung. Und zwar haben sich in einem an- fangs sehr kleinen ungegliederten Bezirk am Körpervorderende Kiemenspalten als eine Bildung sui generis und Kopfsinnesor- gane entwickelt; infolge davon vergrößerte sich 1) Otto Veit: Zur Theorie des Wirbeltierkopfes. Anatom. Anzeiger Bd. 49, 1917, S. 368—376. N. F. XVin. Nr. 44 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 643 das Zentralnervensystem zum Gehirn; dadurch wurden einige Myomeren des Vorderrumpfendes mitsamt ihren Nerven zerstört, die stark ent- wickelten Kopforgane vereinigten sich nun erst mit der Chorda doisalis und Resten der vorderen Myomeren zum sogenannten Urkopf (Paläokranium), welcher Begrifif von dem des Kopfes nicht mehr grundsätzlich verschieden zu sein braucht und nach Gesagtem der Hauptsache nach eine Neu- bildung gegenüber der älteren Metamerie des Körpers bezeichnete. — Die letzterwähnte An- lagerung von Myomern samt ihren inzwischen ge- bildeten Wirbeln an den Kopf ist im wesentlichen unumstritten und ist eine Sache für sich gegen- über der eigentlichen Segmenttheorie des Kopfes als des Sinnesorgane- und Kiementeiis des Körpers. Somit bliebe, meint Veit, von der Seg- menttheorie des Kopfes ebensowenig etwas übrig wie von ihrer Vorläuferin, der Oken- Goethesc he n Wirbel th eorie des Schädels. Daß die Branchiomerie mit konsekutiver metamerer Anordnung der Hirnnerven eine Bil- dung sui generis sei, nicht zu vergleichen mit der Myomerle des Rumpfes, ergebe sich auch insofern , als letztere ganz anders zu erklären sei, nämlich als Anpassung an schwimmende, schlängelnde Fortbewegung: am Regenerat der Amphibienschwanzer bilde sich ja, nach Bar- furth (1891) und Harms (igio), zuerst ein ein- heitlicher Muskelstreifen, der nach Entwicklung von Spinalganglien in Myomeren zerfällt, und Fraisse's Befund (1885), daß bei Reptilien im Schwaiizregmerat Myomeren ohne Spinalganglien entstehen, beweise die Unabhängigkeit der Myo- merie von der Neuromerie; bei Zwangschwimmern wurde ferner das Schwanzregenerat nach Harms sofort funktionsfähig durch Einwachsen von Muskel- fasern und provisorische Innervierung vom letzten erhaltenen Nerven aus; erst später werde in diesem Falle die Innervierung segmental. Auch in der Entwicklung der Wirbelsäule erweise sich das Rumpfmetamer nicht als morphotische Einheit. Nach Agduhr (1916) z. B. gibt es sogar pluri- segmentale motorische Innervation der einzelnen quergestreiften Muskelfasern bei Säugetieren. In der Frage der Kopf- Rumpf- Grenze bei den verschiedenen Wirbeltiertypen nimmt Veit abweichend von Froriep an, daß diese Grenze nicht konstant sei. Hierbei wird nun näher ausgeführt, wie sich in den einzelnen Fällen vordere Rumpfmetameren zum neugebildeten Teil des Kopfes verhalten. Amphioxus zunächst be- sitze keinen Kopf im Sinne der Wirbeltiere; sein Kiemenapparat könne mit dem der Wirbeltiere nicht verglichen werden. Bei den Zyklostomen schließt der Schädel mit der Ohrkapsel ab. Der Kiemenkorb reicht noch weit in den Rumpf hinein; seine Biegsamkeit gestatte dies und mache keine wesentlichen Änderungen der über ihm liegenden Wirbelanlagen und Myomeren erforder- lich. Daher gliedern sich Wirbelanlagen dem die Sinnesorgane umfassenden Schädelteil nicht an, nur daß die vordersten Wirbelanlagen parachordal miteinander verschmelzen und somit ein Wider- lager für den Kopf geben können. Bei den wasser- lebigen Gnathostomen jedoch, also den Fischen ausschließlich der Zyklostomen, wirke das Kiemen- bogenskelett durch eine größere Festigkeit fixierend: die Kopf-Rumpf-Grenze bilde sich an der Stelle, wo diese Bewegungshinderung aufhört; bis zu dieser Stelle werden also in von Art zu Art wechselnder Zahl die über dem Kiemenapparat liegenden Myomeren als immer mehr funktionslos größtenteils rückgebildet und die Wirbel dem Schädel assimiliert. Auch die Verbindung des Schultergürtels mit dem Kopfe — denn bei den Fischen ist der den Zyklostomen noch fehlende Schultergürtel mit dem Schädel gelenkig ver- bunden — wirke in ähnlicher Weise fixierend und immobilisiere noch eine Anzahl Myomere und Wirbel. Bei den Am ph ibien dagegen setze sich der nunmehr zum beweglichen Greiforgan auf beweglichen Halsstiel gewordene Schädel gelenkig gegen die Wirbelsäule ab. Vergrößerung des .Schädels führe nicht mehr zur Wirbeian- angliederung, da der Schädel nun durch eigenes Wachstum an Größe zunehme und kein Kiemen- apparat mehr unter den Wirbeln fixierend wirke ebensowenig der Schultergürtel, der ja bei den Amphibien sich nicht mehr dem Schädel anlagert. Somit haben wir bei den Amphibien eine kon- stante Kopf- Rumpf Grenze. Ebenso aus den- selben Gründen bei den Amnioten (Reptilien, Vögel, Säugetiere), bei denen gegenüber den Amphibien drei weitere Wirbel dem Schädel an- gegliedert erscheinen, was schwer als nacht.räg- liche Angliederung erkannt werden könne, besser durch selbständige Ausbildung der Kopf Rumpf- Grenze bei den Amphibien einerseits, den Am- nioten andererseits. Ob der Amniotenschädel ,,auximetamer" gegenüber dem Fischschädcl sei, lasse sich nicht erweisen, da jeder weitere An- haltspunkt für das Zählen der Rumpfmetameren fehle. So nach Veit. Mögen nun auch die Dar- legungen an sich ganz annehmbar erscheinen, man befreundet sich doch nur schwer mit der Nichthomologisierung (richtiger gesagt: Nichthomo- dynamisierung) von Kiemenbögen und Rumpf- metameren, und sollte dies in Zukunft doch ge- lingen, so leuchten jedenfalls die vom Verfasser dafür beigebrachten Argumente, zumal die aus der experimentellen Biologie, nur wenig ein. Von Regeneraten kann man doch, zumal bei Amphibien, durchaus nicht verlangen, daß sie durch ihren Werdegang die Phylogenese rekapitulieren. Auch die Argumente aus der Ontogenese der Wirbel- säule und der Muskulatur können irreführend sein, da auch hier mit zänogenetischen Bildungen durch- aus zu rechnen ist. Ferner ist physiologisch nicht ersichtlich, inwiefern die Metamerie eine An- passung an das Schwimmen und Schlängeln dar- stellen solle. Noch manches kann auf Wider- 644 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 44 Spruch stoßen, wie z. B. die völlige Nichthomolo- gisierung der Amphioxuskiemen mit Wirbeltier- kiemen. Kurzum, wir haben mit Vorstehendem in eine wohl auch in Zukunft noch kontroverse Frage eingeführt, um über die allgemeinen Ge- sichtspunkte zu unterrichten. V. Franz, Jena. Botanik. Die Kräuselkrankheit der Reben, die sich von der Schweiz aus durch Elsaß und Baden mehr und mehr ausgebreitet hat und sich seit eini- gen Jahren auch im Rheingau bemerkbar macht, ist daran zu erkennen, daß die Blätter besonders im Frühjahr, wenn ihr Wachstum am auffälligsten ist, sich verkrümmen und verkräuseln und dabei eine merkwürdige Gestalt annehmen. Jetzt bleibt das Blatt, wie Dr. F. Stell waäg in einem Merk- blatt der Versuchsanstalt für Wein- und Obstbau in Neustadt a. H. ausführt, „auffallend klein und die Blattrippen liegen nahe beieinander". Allmäh- lich kommt dann die Form eines nach unten ge- öffneten Löffels zustande, der schräg nach aufwärts gerichtet ist. Auch der junge Trieb bleibt im Wachstum merklich zurück. Die Folge davon ist, daß an einem verkrümmten Trieb die kranken Blätter in kurzen Entfernungen übereinander stehen. Der Trieb ist „verzwergt", weshalb man die Krankheit auch als Verzwergung bezeichnet. Ein Mittel, betont Stell waag, ist untrüglich, um die Kräuselkrankheit rasch und sicher festzustellen. „Pflückt man ein älteres von der Kräuselkrankheit befallenes Blatt ab und hält es gegen das Licht, dann erkennt ein gutes Auge gewöhnlich eine große Anzahl feiner Stiche auf der Blattfläche. Anderen Verletzungen gegenüber sind diese da- durch ausgezeichnet, daß an ihnen die feinen Blattnerven sternförmig zusammenlaufen. Sie machen den Eindruck bleicher und unregelmäßig begrenzter Flecke. Um diese Stellen herum ist das Blattgewebe in seinem Wachstum gehemmt". Wächst das Blatt weiter, so kommt es zu Ein- ziehungen, Verkrümmungen und Zerreißungen. Als Erreger der Krankheit wirkt die Kräuselmilbe, die in das Blatt einsticht und hier Nahrung ent- nimmt. Im Frühjahr und Hochsommer sieht man bei guter Vergrößerung die Schädlinge häufig in großer Zahl sich auf der Blattunterseite herum- treiben. Im Herbst wandern sie im Trieb ab- wärts und überwintern an der Übergangsstelle zum alten Holz unter der Rinde. Der Schaden der Erkrankung ist ein zweifacher, einmal tritt durch den Milbenbefall und das dadurch hervor- gerufene schlechte Wachstum der Reben ein be- trächtlicher Ernteverlust ein, und dann führt der fortgesetzte Befall zu einer zunehmenden Schwächung des Stockes, die allmählich zum völligen Eingehen führen kann. Die beste Art der Bekämpfung besteht darin, die im Winter auf kleinem Räume zusammengedrängten und leicht erreichbaren Milben abzutöten. „Dieses ge- schieht dadurch, daß die Übergangsstelle des jungen zum alten Holz eine Spanne aufwärts und eine Spanne abwärts, ferner auch der Zapfen und seine nähere Umgebung im Frühjahr mit schwefel- haltiger Flüssigkeit bepinselt wird." Früher be- nutzte man zu diesem Zwecke die bewährte Schwefelkalkbrühe. Als vollwertigen Ersatz für dieses heute unerhältliche Mittel rühmt Stell - waag das Kalziumsulf hydrat (Casadrat). Es ist dieses eine goldgelbe ölige Flüssigkeit, die zum Gebrauche mit 3 — 4 Teilen Wasser verdünnt wird. „Mit einem Liter der gebrauchsfertigen Flüssigkeit, sagt Stell waag, kann man ungefähr 50 Stöcke behandeln." Sie werden mit einem Pinsel oder einer Bürste aufgetragen. Zur Behandlung müssen frostfreie Tage gewählt werden, auch bei nassem Wetter darf man nicht arbeiten, damit die Flüssig- keit durch die Feuchtigkeit des Stockes nicht zu stark verdünnt und dadurch unwirksam wird. Die Bepinselung muß gründlich geschehen, da die Flüssigkeit ja unter die Rinde dringen und dort die Milben abtöten soll. Wurde die Winterbe- kämpfung übersehen, so müssen im Sommer in direkter Bekämpfung die Milben selbst angegriffen werden : hier bespritzt man am besten ebenfalls mit Casudrat in 50 facher Verdünnung oder auch mit Nikotin, nur muß man darauf sehen, daß die Unterseite der Blätter getroffen wird, da ja dort die Milben hauptsächlich sitzen. H. W. Frickhinger. Die Weißährigkeit der Wiesengräser. Eine durch frühzeitiges Gelb- oder Weißwerden und Absterben der Blütenstände gekennzeichnete, unter dem Namen „Taubährigkeit" oder „Weißährigkeit" bekannte Krankheitserscheinung vieler Wiesen- gräser, dürfte erheblich größere Verbreitung be- sitzen, als wir bisher annahmen. Die Krankheit ist auf keine einheitliche Ursache zurückzuführen, sondern das Symptom kann durch eine ganze Reihe verschiedener, in der Blattscheide, im Halm- grund, am Halm oder an den Blüten, bzw. Frucht- ständen lebender Arten von Insekten verschiedener Ordnungen sowohl als auch von Milben hervor- gerufen werden. Bei der Wichtigkeit, die heute der Gewinnung einheimischer Grassaaten zukommt, dürfte es nicht ohne Bedeutung sein, auf einige der wichtigeren, diese Beschädigungen verantwort- lichen Tiere aufmerksam zu machen, wie dieses Dr. Friedrich Zacher in einem Aufsatz in der Deutschen Landwirtschaftlichen Presse (46. Jahrg. 1919 Nr. 59) tut. Die Mehrzahl der Erreger der vollkom- menen Weißährigkeit gehören der Familie der Zweiflügler an, hier sind es besonders die Grünaugen fliegen oder Chloropidcii , die als Schädlinge auftreten, vor allem die Gattungen Oscü/clla, AJcromyza, Eladiiptcra, Chlor ops und Cecidovtyia. Ihre Larven verursachen die Krank- heit durch ihren Fraß. Außerdem kommen als Erreger vielfach auch noch einzelne Schmetter- lingsraupen in Betracht, wie z. B. die Weizen- halmcule Hadcna sccalis L., ferner Aiierastia lotella Hb. und Odiscuhciiiieria faiirclla Sc/iiff.; auch der Wickler Tortrix paleana Hb. verschuldete N. F. XVtn. Nr. 44 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 645 schon die Weißährigkeit. Auch ein Hautflügler, die Getreidehalmwespe Ceplius fy^maeus L., soll im Halm von Wiesengräsern fressen und an ihnen vollkommene Weißährigkeit erzeugen. Die teilweiseWeißährigkeit wird in den meisten Fällen bei den Wiesengräsern sowohl wie beim Getreide durch Blasen fuße verschiedener Arten verursacht. Die in Frage kommenden Arten sind ApIinotJirips rufa Gmel., Limoflirips denti- cornis Hai., Chirotkrips haniata Tryb. und An- tliotlirips aculcata F. Der Angriff der Blasenfüße erstreckt sich auf die Ährenspindel oder auf ein- zelne Ahrchen oder deren Stiele. Dadurch werden diese Ährchen weiß, häufig bleiben auch die Spelzen verkümmert. Sehr häufige Erreger der Weißährigkeit sind auch die Milben: In Finnland wurden als solche von E. Reuter die Milben Pcdiculoidcs graini- iiinn und Tarsoiicmits citlmicolns E. Reuter erkannt, die zweifellos auch in Deutschland an Gräsern diese Krankheiten verursachen ; um so mehr ist dieses anzunehmen, als Dr. Zacher selbst die Hafer- milbe Tarsoncmus spirifcx Alarclial auf Wiesen- gräsern als Schädling fand. Als bestes Mittel zur Vorbeugung wird die rechtzeitige Abmähung und möglichst schnelle Einbringung aller vorzeitig gelbe oder weiße Blütenstände aufweisender Grasbestände empfohlen, gleichgültig welcher Grasart sie angehören und an welcher Stelle sie wachsen. Dabei ist be- sonders auch auf Raine und Wegränder zu achten, auf denen oft befallene Pflanzen stehen und von denen aus die Schädlinge leicht auf nahe gelegene Wiesen verschleppt werden. Dem Studium der tierischen Schädlinge der Wiesengräser ist in Deutschland bisher nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden, sicherlich weniger als sie verdienen. Dr. Zacher tritt da- für ein, daß es sich lohnt, sie eingehend zu be- obachten, nicht nur um ihrer selbst willen, sondern vor allem deshalb, weil dadurch wohl auch unsere Kenntnisse von einzelnen Getreideschädlingen eine beträchtliche Bereicherung würden erfahren können. H. W. Frickhinger. Geologie. Über die Veränderlichkeit der Form der Erzlagerstätten gibt F. Beyschlag in der Zeitschr. f. prakt. Geologie Heft I u. 4, 19 19, interessante Mitteilungen. Früher legte man auf die Form der Erzlager- stätten bedeutenden Wert, da man in ihr vor allem ein Kennzeichen der Entstehung erblickte. „Flöz" und „Lager" entsprachen sedimentärer Ent- stehung, waren also gleichbedeutend mit einer syngenetischen Lagerstätte oder einem Erzsedi- ment, das jünger als sein Liegendes und älter als sein Hangendes war. Unter „Stock" und „Gang" faßte man epigenetische Erzbildungen zusammen, die nachträglich als jüngere Massen, sei es ge- schmolzen, gasförmig oder wässerig gelöst in den gestörten Verband des Nebengesteins eingedrungen waren. Mehr und mehr hat man erkannt, daß der- selbe Bildungsvorgang Lagerstätten verschieden- ster Form schafft und daß alle Übergänge zwischen den einzelnen Hauptformen der Erzlagerstätten vorhanden sind. Die Vorstellung von der Ein- heitlichkeit und Zusammengehörigkeit der ganzen Erzbildung ging verloren, wenn die verschiedenen Formen einer Erzlagerstätte nicht dicht beisammen lagen, sondern auf größere Räume auseinander- rückten. Man pflegte sie dann früher als selb- ständige Lagerstätten anzusehen. In der vorliegen- den Arbeit versucht Beyschlag an Hand von Beispielen zu zeigen, wie man aus der Erkenntnis und Erfahrung der Veränderlichkeit Rückschlüsse auf die Zusammengehörigkeit zwischen räumlich getrennten aber zu einer einheitlichen Lagerstätten- provinz gehörigen Vorkommen zu ziehen hat. Die Oberharzer Blei- und Zinkerz- gänge erleiden beim Durchqueren der Ruschein oder Überschiebungen Formveränderungen des Erzganges; die Zusammengehörigkeit der ver- schieden geformten Gangteile ist unbestritten. Die Manganerzlager im Kr. Bieden- kopf (Lahn) und im Waldeckschen Ge- birgslande zeigen sehr verschiedene Formen. Ihre Entstehung ist aber einheitlich, indem in Spalten und Risse des mannigfach zerbrochenen Gesteins kolloide Manganerzlösungen von der Oberfläche infiltriert wurden, die nachträglich kryptokristallin geworden sind und das benach- barte Gestein in Erz umgewandelt haben. Als Nordpfalz- und Nahe- Kupfer- bezirk wird eines der größten mesovulkanischen Eruptivgebiete Deutschlands in der Nordpfalz und im Nahegebiet mit weitverbreiteten Ergüssen von Porphyr, Porphyrit und Melaphyr des Rot- liegenden bezeichnet. Der Reichtum an Metallen ist gering. Der Bezirk erstreckt sich vom Litter- mont wenig östlich der Saar in ununterbrochenem Zuge längs der Nahe über Birkenfeld, Oberstein, Kirn, Münster am Stein bis Kreuznach und gegen Süden bis zum Donnersberg und Kirchheim- Bolanden in der Nordpfalz. Die Mannigfaltigkeit der Form der Lagerstätten ist sehr groß und doch kann die Zugehörigkeit zu einer einheitlichen und gleichzeitig entstandenen Erzformation nicht bezweifelt werden. Räumlich hat man 2 Gruppen zu unterscheiden und zwar einerseits die gewaltige Porphyrerhebung des Donnersberges, andererseits die Gegend bei Oberstein a. d. Nahe. Die Ge- samtheit der überaus zahlreichen Kupfervorkom- men verschiedenster Form schließt sich zu einer einheitlichen Kupfererzprovinz zusammen , deren Lagerstättenform jeweils von der Beschaffenheit des Nebengesteins, namentlich seiner Härte, Splittrigkeit, Wasserdurchlässigkeit und Adsorp- tionsneigung abhängig ist. Die Kupferprovinz am Ostrand des Rheinischen Schiefergebirges umfaßt von S nach N folgende Hauptpunkte, an denen das Kupfererz aus Lagerstätten wechselndster Form den verschiedenen geologischen Formationen 646 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVm. Nr. 44 entnommen wurde: Frankenberg und Geismar (Ob. Zechstein), Talitter (Unt. Zechstein u. Kulm), Twiste (Buntsandstein), Leitmar (Letten des Ob. Zechsteins), Stadtberge (Unt. Zechstein u. Kiesel- schiefer des Kulms). Die Lagerstätten haben in den tonig-mergeügen Gesteinen die Form feiner Imprägnationen und Knotten, in den Schiefern die Form von Kluftausfüllungen und feinen bis feinsten Überzügen, Krusten, Durchtränkungen oder die Vererzung pflanzlicher Fossilreste. Bei aller verschiedenartigen Form herrscht das gemein- same Merkmal, nämlich das Gebundensein an Dislokationen, woraus die epigenetische Entstehung dieser früher größtenteils syngenetisch betrachteten Lagerstätte hervorgeht. Die Lagerstätten nehmen bei petrographisch gleichartigem Muttergestein sofort die gleiche Form an. Die Blei-Zinnerz-Provinz in der Gegend von Aachen und am Nordrand der Eifel bietet klassische Beispiele für den Übergang echter gangförmiger Lagerstätten in die Gestalt von Stöcken, Schläuchen und unregel- mäßig umgrenzten Massenanhäufungen, die ent- weder als Hohlraumfüllung oder als metasomati- sche Umwandlung entstanden sind. Die Zusam- menhänge zwischen der Erzlagerstätte und der Tektonik des Gebirges tritt nirgends in Deutsch- land deutlicher in die Erscheinung. Das in steile Sättel und Mulden gelegte Paläozoikum des SW — NO streichenden hohen Venu und der Eifel wird durch senkrecht zur Faltung verlaufende, NW — SO streichende Verwerfungen zerschnitten, die wieder- holt und bis in die neueste Zeit hinein wieder- aufgerissen worden sind und Erzlagerstätten bilden. Das Aachener Erzgebiet legt sich an die West- flanke des Vennsattels, das Mechernicher oder Nordeifler Bleierzgebiet an seine weniger steil gefaltete und daher breitere Ostflanke. Erwähnt sei nur das altberühmte Bleierzgebiet von Kom- mern-Mechernich, das den aus ßuntsandstein be- stehenden Südteil des dreieckigen Triaseinbruchs Euskirchen -Sötenich- Düren bildet. Die Mannig- faltigkeit der Form dieser epigenetischen, früher für syngenetisch gehaltenen Erzlagerstätte ist groß. Die Mechernicher Knottenerze der Sand- steinbänke, die Imprägnation der Konglomerate, die Durchtränkung der Letten sind räumlich engstens mit den Kluft- und Hohlraumausfüllungen, sowie der metasomatischen Umwandlung der dolomitisierten Devonkalke verbunden. Von da führt die Einheitlichkeit der geologischen Position und des räumlichen Zusammenhangs hinüber zum Aachener Erzgebiet. Die Hauptformen der Erzl agerstä t- sen sind somit a n gewiss e Hau p t fo rm en gebunden: 1. echte und zusammengesetzte Gänge im Granit- und Schiefergebirge. 2. Umwandlung der Gänge in Stöcke, Schläuche und metasomatische Lagerstätten beim Übergang in Kalk. 3. Knottenbildung und Imprägnation beim Übertritt der Spalten in Sandsteine und Konglo- merate. 4. Adsorptive konkretionäre Zusammenballung bei tonigen Massen. Alle diese verschiedenartigen Formen können durch Speisung aus einer einzigen gemeinsamen Magmaquelle, einem gemeinsamen Erzherd und ein und demselben tektonischen Vorgang ent- stehen. Die Form der Erzlagerstätten ist also Nebensache. Dertektonische Vor- gang ist Hauptsache; ihn gilt es in seiner Einheitlichkeit zu erfassen. V. Hohenstein, Halle. Das Auftreten von Kohlenoxyd in den Urgasen der Kalisalzbc-rgvverke erklärt Prof. E. Erdmann im Jahrb. des Halleschen Verb. f. d. Erforsch, d. mitteldeutsch. Bodenschätze und ihrer Verwertung. 1919, I. Heft. Das in den Kalisalzen enthaltene Kohlendioxyd, das aus kohlensauren Salzen wie Ferrokarbonat entstanden sein kann, ist durch die chemische Wirkung radioaktiver Stoffe in Kohlenoxyd um- gewandelt worden. In den Kalisalzen als auch in den Gasemanationen ist Helium verschiedent- lich festgestellt worden. Erdmann fand in Gasausströmungen, die im anhaltischen staatlichen Salzwerk Leopoldshall beobachtet wurden, neben 83,6"/,, Wasserstoff 0,17"/,, Helium. Auch andere Forscher haben den Heliumgehalt der Salze be- obachtet, der darauf zurückzuführen sein muß, daß an ihrer jetzigen Stelle ehemals radioaktive Sub- stanzen vorhanden gewesen sein müssen. Erd- mann denkt an Radiumsalze, die im Meerwasser gelöst waren und sich mit dem Carnellit zusam- men ausschieden. Radium hat eine mittlere Lebensdauer von 2500 Jahren. Helium und die Reduktionsprodukte des Radiums: Wasserstoff und Kohlenoxyd sprechen für das frühere Dasein. Der freigewordene Sauerstoff hat Eisenoxydul in Eisen- glanz verwandelt. Erdmann führt als weiteren Beweis dafür, daß radioaktive Wirkungen sta tge- funden haben, die Tatsache an, daß blaugefärbtes Steinsalz seine blaue Farbe dadurch erhalten hat, weil Steinsalz durch Radiumbestrahlung blau gefärbt wird. Die Blaufärbung beruht auf einer Zerlegung des Chlornatriums. Von Valentiner ist in blauem Steinsalz fünf bis sechsmal mehr Helium gefunden worden wie Strutt im weißen Steinsalz feststellte. Rudolf Hundt. Die Tiefbohrung Schlagenthin bei Arnswalde beschreibt A. Klautzsch im Jahrb. d. Preuß. Geol. Landesanst. Bd. XXXVII, Teil II, Heft i, 1918, S. 140 — 146. Das Rittergut Schlagenthin bei Arnswalde un- weit der pommerschen Grenze ließ eine Tief- bohrung bis zu der für das Norddeutsche Flach- land beträchtlichen Tiefe von über 350 m aus- führen. Es wurden Schichten des Diluviums, N. F. XVIII. Nr. 44 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 647 Miocäns, Eocäns und der Kreide vom Cenoman bis Gault festgestellt. Bis 135 m Tiefe reichte das Diluvium (Ge- schiebemergel, Sand). Von 135 — 148 m Tiefe (13 m) wurde das Miocän in Form von feinem glimmerigem Quarz- sand erbohrt. Oligocän fehlte. Es iolgt sofort das Alttertiär und zwar als Untereocän mit 93 m mächtigen dunkelgrauen sandigen Tonen, die Fusus cf. irilineatus enthielten. Von 24 1 m ab setzte Kreide ein und zwar 88 m Cenoman (Mergel, Quarzsand, Quarzkies) und 26 m Gault (fette Tone und weißlicher Sand). In 75 km Entfernung südöstlich von Schlagenthin lagert bei Cischkowo in der Gegend von Filehne- Czarnikau unter Tertiär solort Untere Kreide (Wealden). Zur Zeit des Wealden hat also das Meer bis in die Gegend von Cischkowo gereicht, ist dann aber später nach NW zurückgegangen, so daß zur Cenomanzeit die Küste durch die Gegend von Schlagenthin-Callies verlief V. Hohenstein, Halle. Über Dünenzüge im Torfe des Netzetales bei Czarnikau, ihr Aker und ihre Emsiehung durch westliche Winde, nebst Bemerkungen über die alluviale Entwicklung de.-* Neizetales gibt J. Korn im Jahrb. d. Freuß. Geol. Landesanst. Bd. XXXVII, Teil II, H. I, 1918 S. 147 — 156 beachtenswerte Mitteilungen, die allgemeines Interesse bean- spruchen dürfen. Zwischen Hammer und Patzig, gegenüber dem Städtchen Czarnikau, gerade an der Stelle, wo das Netzetal aus seiner nordsüdlichen in die ost- westliche Richtung umbiegt, liegen eine Anzahl von Dünen, deren Sockel im Torfe des 4 km breiten Alluvialtales begraben sind. Der etwa 4 km breite Dünenstreifen begleitet den nördlichen Rand des Alluvialtales in sanft geschwungenem Bogen, wird allmählich immer schmäler und ver- liert sich nach 10 km bei Patzig zunächst gänz- lich. Die Dünen bilden ein Netzwerk, das aus etwa westöstlich verlaufenden Strichdünen und nord- südlichen Bogendünen besteht. Zwischen den Dünen liegen kleinere oder größere, rundliche oder längliche Torfbecken mit 2 m mächtigem Torf, während der Torf außerhalb der Dünen im Tal bis über 3 m mächtig wird. Die Dünen liegen auf ebenen Sanden, die allergrößtenteils der jüngsten diluvialen Talsandstufe angehören. Die mit Torf erfüllten Senken zwischen den Dünen sind Auswehungsbecken, aus denen der Wind das Material für die Dünnen entnommen hat. Jedes Becken hat an seinem östlichen Rand eine Düne, deren Inhalt den ausgewehten Sand- massen entspricht. Ausmessungen haben ergeben, daß die Beckeninhalte mit den an ihrem West- rande liegenden Dünen keine Übereinstimmung zeigen. Die Dünen können also nur durch west- liche Winde erzeugt sein, was auch aus den Dünenprofilen hervorgeht, deren Steilhang im Osten liegt. Eine nachträgliche Umlagerung der Dünen kann auf Grund der zahlreichen Auf- schlüsse nicht erfolgt sein. In dem Maße wie die Dünen höher wuchsen, erfolgte ein Windschutz für die Auswehungsbecken. Zuletzt traten größienteils nur noch Formver- änderungen an den Dünen ein. So wird auf den Räubeibeigen eine bronzezeitliche Kuhurschicht mit Steinwerkzeugen und Getäßresten teilweise von 3 m Dünensand überlagert. Die Auswehungen aus den Becken konnten nur so lange erfolgen, als sie trocken lagen. Der Grundwasserspiegel muß mindestens so tief ge- legen haben, als die Mächtigkeit des Torfes (bis 2,8 m) beträgt. Im eigentlichen Netzetal ist der Torf bis S m mächtig und einzelne Dünen sind auch hier vorhanden. Darunter liegen bis 7 m mächtige alluviale Sande, so daß bis zu 12 m Tiefe das Netzetal vor der Aufschüttung der Allu- vialsande ausgefurcht war. Daraus erklären sich die Grundwassersenkungen, wodurch die jüngsten Diluvialterrassen soweit trocken gelegt wurden, daß hier Dünenbildung einsetzen konnte. Die tiefe Ausfurchung war aber nur möglich, wenn die Erosionsbasis, der Ostseespiegel, ent- sprechend tiefer lag, was nur in der Ancylus- zeit der P'all sein konnte, Inder auch die Dünen entstanden sind. Mit dem Ansteigen des Osisee- spiegels ging auch jener des Grundwassers, so- wie die Aufschüttung der Alluvialsande Hand in Hand. Schließlich ist das Grundwasser rascher gestiegen als die Aufschüttung der Sande erfolgen konnte, wodurch es zur Torfbildung kam. Der Torf stellt einen Wechsel von Schilftorf und Gras- torf mit vereinzelten Einlagerungen von Hypnum- torf und Bruchwaldtorf dar. Seine Entstehung erfolgte in der Litorinazeit, in der der Ostsee- spiegel sich beträchtlich hob und auch ein An- stauen des Wassers im Hinterlande im Gefolge hatte. Auf Grund der Beobachtungen im Netzetal folgert Korn, daß in den Flußtälern Norddeutsch- lands mit Torfmassen von geneigter Oberfläche allgemein die tiefe Ausfuchung der Täler in die Ancyluszeit zu verlegen ist, während dieTo rfausfüllung durch Ansteigen des Grund- wassers in der Litorinazeit, der Hau ptt orf- entwicklung, erfolgt ist. Dünen, die ebenso wie die Netzedünen eine Vereinigung von Strich- und westlich geöffneten Bogendünen aufweisen, verdanken ihre Entstehung wohl auch westlichen Winden. Solger nimmt im Gegensatz dazu Ostwinde an, die durch das damals noch vorhandene Inlandseis entstanden seien. Ihre heutigen damit in Widerspruch stehenden Gefällverhältnisse sollen sie nachträg- lich durch Umkehrung erhalten haben. V. Hohenstein, Halle. 648 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVm. Nr. 44 Bücherbesprechungen. Hansen, A., GoethcsMorphologie (Metamor- phose der Pflanzen und Osteologie). Ein Beitrag zum sachlichen und philosophischen Verständ- nis und zur Kritik der morphologischen Begrififs- bildung. 200 S. Gießen, W.Töpelmann 1919. loM. Zweifel an der Begründung der historischen Auffassung der Organismen haben in der letzten Zeit wiederholt Anlaß gegeben, die Prinzipien der Morphologie, in der diese Auffassung haupt- sächlich Ausdruck gefunden hat, auf Ursprung und Stichhaltigkeit zu prüfen (Tschulock, Rädl, Spemann, Schaxel, Naef, Schips). Bedeutungsvoll ist vor allem die Aufdeckung der Beziehungen, die zwischen der historisch-genetischen und der sog. idealistischen Morphologie bestehen. Im Zusammenhang mit der idealistischen Formen- lehre wird Goethe genannt, den vorher schon die Deszendenztheoriker, freilich ohne besondere Rechtfertigung, unter ihren, von den Zeitgenossen angeblich nicht recht verstandenen Vorläufern angeführt haben. Wie Goethe zu den Fragen der Wissenschaft seiner Zeit sich gestellt. Späteres vorbereitet oder geahnt hat, klärt nur eine sorgsame Untersuchung der Quellen verbunden mit Kenntnissen der Sache und der geschichtlichen Beziehungen auf. Der Botaniker A. Hansen hat sich der durch Person und Gegenstand gleichwichtigen Aufgabe gewidmet und in höchst verdienstvoller Weise Aufklärungen gegeben, wie sie fast an allen Stellen die Biologie- geschichte dringend benötigt. Hansen läßt seinem früheren Werke über Goethes Metamorphose der Pflanzen') eine Untersuchung der schriftlichen Darlegungen Goethes über die pflanzliche und tierische Morphologie folgen. Wieder steht die Metamor- phosenlehre im Vordergrund der Betrachtung, deren Entstehung und Ausbau als selbständige Hypothese geschildert, die in ihren philosophischen Grundlagen erörtert und zu der heutigen Morpho- logie in Beziehung gebracht wird. Dann folgen Betrachtungen über Goethes Osteologie und seine Naturforschung im allgemeinen, zu denen die polemischen Ausfälle eines leider in allen seinen geschichtlichen Versuchen wenig glücklichen ') Hansen, A., Goethes Metamorphose der Pflanzen, Geschichte einer botanischen Hypothese. Mit 9 Tafeln von Goethe und 19 Tafeln vom Verf. Gießen, 'A. Töpelmann 1907. Autors äußerer Anlaß sind. Die zweite Hälfte des Buches nehmen „Zusätze" ein, die, vielfach nach Form und Inhalt selbständige Aufsätze, viel Wertvolles (z. B. über C. Fr. Wolff, über Goethes Urphaenomen, über den Begriff des Typus) enthalten. In geschichtlicher Hinsicht weist Hansen die Behauptung zurück, es komme C. Fr. Wolff für die Goethe zugeschriebene Hypothese die Priorität zu. Wolffs Angaben über die Tat- sachen sind unrichtig und seine Deutungen enger wie die Goethes. P'alsch ist weiter die Annahme, Goethe habe den Gedanken der Metamorphose und die Bezeichnung von Linne übernommen. Linne hat den Ausdruck selber anderen ent- lehnt. Seine eigene Metamorphosentheorie ist nur ein Vergleich der Blütenentstehung mit der Insektenentwicklung und hat mit Goethes Lehre von der Umbildung der Organe zu anderen Lebenszwecken nichts gemein. Hansen will Goethe nicht unter die idealistischen Morphologen eingereiht wissen und ihn besonders nicht als Platoniker gelten lassen. Goethe stand auf empirischem Boden. „Er verband seine Beobach- tungsresultate mit Begriffen, die zu theoretischer Zusammenfassung führten. Er folgte Kant, indem er durch richtiges Nachdenken über richtig gewählte Gegenstände Wissenschaft zustande brachte. Seine Vorliebe für den von ihm ge- schaffenen Begriff des Urphänomens beweist seine Überzeugung, daß das Wesen der Dinge schon in den Erscheinungen, wenn auch nur zum Teil gegeben ist, während ein anderer Teil ihres Wesens zunächst unanschaulich bleibt, vielleicht mit der Zeit anschaulich werden kann." Von Goethe stammt die auch von der heutigen Botanik als sog. Differenzierungstheorie (Goebe 1) übernommene Metamorphosenlehre, die besagt, daß die am Vegetationspunkt der Sprosse entstehenden Zellhügel Blätter, die Blütenteile wahrscheinlich umgewandelte Blätter sind. Da der Verf. im Vorwort sagt, daß sich für seine Arbeit viereinhalb Jahre lang keine geeignete Druckgelegenheit finden ließ, sei die Bemerkung erlaubt, daiä von jetzt an die vom Referenten heraus- gegebenen .Abhandlungen zur theoretischen Biologie als Sammelstätte für historische, theorien- ergründende und -bildende Untersuchungen zur Verfügung stehen. J. Schaxel, Jena. Inhalt: S. Killermann, Die Herkunft des Kalmus (Acorus calamus L.). (i Abb.) S. 633. Hermann Zillig, Arbeits- gemeinschaft der naturwissenschaftlichen Körperschaften Deutschlands. S. 637. — Einzelberichte: Sikora, Seltene Hilfsaktionen bei der Eiablage. S. 641. G. Schmidt, Die Lichtflucht der Clausilien. S. 641. Veit, Zum Kopf- problem. S. 642. F. Stell waag, Die Kräuselkrankheit der Reben. S. 644. Friedrich Zacher, Die Weifiährig- keit der Wiesengräser. S. 644. F. Beyschlag, Über die Veränderlichkeit der Form der Erzlagerstätten. S. 645. E. Er d mann, Das Auftreten von Kohlenoxyd in den Urgascn der Kalisalzbergwerke. S. 646. A. Klautzsch, Die Tiefbohrung Schlagenthin bei Arnswalde. S. 646. J. Korn, Über Dünenzüge im Torfe des Netzetales bei Czarnikau, ihr Alter und ihre Entstehung durch westliche Winde, nebst Bemerkungen über die alluviale Entwicklung des Netze- tales. S. 647. — Bücheibesprechungen: A. Hansen, Goethes Morphologie. S. 648. Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstraße 41, erbeten. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G.m.b.H., Naumburg a. d. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue Folfie i6. Band ; der ganzen Reihe .14. Band. Sonntag, den 9. November 1919. Nummer 45. Die Augendrüsen der Wirbeltiere. [Nachdruck verboten.] Mögen auch die Augendrüsen und die anderen Hilfsteile des Augapfels nicht in gleichem Maße wie das Auge selbst einen jedermann fesselnden Gegenstand darstellen, so ist doch beachtens- wert, daß an den Augendrüsen der Wirbeltiere in den letzten Jahrzehnten sicherlich mehr Neues gefunden worden ist als zum Beispiel an der Netzhaut seit Cajals Studien aus dem Jahre 1892. Die Augendrüsen verlocken ferner zu einer Zusammenfassung der wichtigsten über sie bisher bekannten Tatsachen 1. wegen ihrer so regelmäßigen Zunahme an Kompliziertheit vom Fisch bis zum Säuge- tier, wie man sie mit Rücksicht auf die Verzweigt- heit des Stammbaumes an sich nicht gerade er- warten könnte, und wie man sie an anderen Or- ganen auch keineswegs überall findet; es sei nur erwähnt, daß der Augapfel selber im ganzen am einfachsten bei den Amphibien beschaffen ist und am kompliziertesten bei den Vögeln; 2. wegen der auch an ihnen zu findenden Anpassungen an die Lebensweise der Tiere; 3. erweist sich der Ausbildungsgrad der Augen- drüsen aber auch deutlich abhängig von den ihnen wesensfremden Nachbarteilen aus Gründen der Raumverhältnisse, eine uns nicht oft in der vergleichenden Anatomie begegnende Erscheinung; 4. begegnen wir an den Augendrüsen einigen sehr bemerkenswerten Fällen von Funktions- wechsel. I. Becherzellen. Den Cyclostomen und Fischen einschließlich der Lungenfische fehlen sämtliche Augendrüsen mit Ausnahme der überall in ihrer Haut vorhan- denen und somit auch am Lidsack, falls er aus- gebildet ist, nicht fehlenden ßecherzellen oder ,, einzelligen Drüsen", die auch in allen übrigen Wirbeliierklassen in der Konjunktiva vorhanden sind: bei den Amphibien, wo sie allerdings viel- leicht richtiger nur ,,Schieimzellen" wegen Fehlens der Offnungen heißen müßten, bei den I-le pt ilien, wo sie allerdings bisher nur von Blanis, einer Amphisbänide, durch Hanke erwähnt wurden, während diese Drüsenzellen an der Lid-, Nick- haut- und Fornixbindehaut der Vögel von Riehl ni großer Zahl nachgewiesen wurden; endlich bei den Säugetieren bis einschließlich des Men- schen, wo man sie wie bei den Vögeln trotz früher oft geäußerten und auch noch von H. Vir- chow nicht für ganz erledigt gehaltener Beden- Von Prof. V. Franz, Jena. ken als normale, wenn auch pathologisch sich vermehrende Gebilde betrachten kann. Gruppen von beieinanderliegenden oberfläch- lich gelegenen Schleimzellen können, zumal durch geringe Einsenkung zu einer kleinen Delle oder durch stärkere Einsenkung zu einer sackförmigen Grube oderKrypte, an der Bindehautoberfläche eine einfache Art vielzelliger Drüsen bilden, was beides beim Menschen von H. Virchow be- schrieben wurde und somit die reiche Anzahl von Drüsenarten des Säugerauges vermehrt. Ähnliche kryptenartige Gebilde kehren in der Karunkel des Hundes wieder, ähnliche dürften auch die stark entwickelten sog. M a n z sehen Drüsen des Schweins sein (H. Virchow). 2. Subkonjunktivale Drüsen und ihre Abkömmlinge. Erst vom Amphibium ab treten, offenbar im Zusammenhang mit dem Landleben, das viel höhere Drüsenentwicklung des Auges erfordert als das Wasserleben, kompliziertere, obschon an- fangs einfach - tubulöse, vielzellige Drüsen m it A usführ un gsgan g aus nichtdrüsigem Epithel auf, die sich von da an durch die ge- samten landlebigen Wirbeltiere verfolgen lasen und offenbar, nach dem Zeugnis der vergleichen- den Anaiomie, unter anderem sehr bald die Tränendrüse und die Hardersche Nick- hautdrüse ergeben. Den einfachsten Zustand findet man, nach Sardemann (1887), bei den Tritonen, den durch- aus amphibisch lebenden Wassermolchen. Denn während die erwähnte Tränen- und Hardersche Drüse bei Säugern embryologisch stets aus je einer gesonderten Anlage hervorgehend gefunden wurde, zeigt Triton anscheinend das phylogeneti- sche Ausgangsstadium: eine einheitliche band- förmige Reihe schlauchförmiger Drüsen mit je einem Ausführurgsgang nimmt die ganze Innen- fläche des Unterlids ein. So etwa nach Re i c h el auch noch bei ausländischen Froscharten, während bei Salamandra (Erdsalamander) die Sonderung in eine temporale, noch bandförmige und in Einzel- drüsen aufgelöste Drüsenformation und in eine nasale, deutlich aciiiöse, offenbar verzweigte Drüse vollzogen ist. Mit jener ist ,,die Tränen- drüse", mit dieser die Hardersche Nick- hautdrüse entstanden. Rana (Frosch) iällt insofern etwas aus der Reihe heraus, als erstere Drüse fehlt, letztere aber stark entwickelt ist; unter ihren in Mehrzahl vor- handenen Ausführungsgängen mündet ein beson- 6so Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 4S ders starker, aus mehreren sich sammelnder nahe der Nickhautwurzel (Gaupp). r Wenn beim nordamenkanischen Aalmolch (Amphiuma means) laut Piers ol Augendrüsen gänzlich fehlen, so mag sekundärer Schwund in- folge des Wasserlebens anzunehmen sein. Kolossale Entwicklung erreicht dagegen eine als Hard ersehe Drüse angesprochene Drüsen- masse in der Augenhöhle bei den tropischen erdbewohnenden Blindwühlen oder Gymno- phionen, Tieren mit hochgradig rudimentierten Augen. Sie füllt hier die gesamte geräumige Augenhöhle aus und mündet nicht in den Lid- sack, sondern in eine tiefe, zwischen Nasenloch und Auge gelegene Grube, die einen vorstülp- baren „Tentakel" enthält, vermutlich ein Sinnes- organ von jedoch noch nicht genau bekannter Leistung; sie ist unter anderem als Giftdrüse ge- deutet worden und stellt jedenfalls ihrer F'unktion nach keine Augendrüse mehr dar (Wieders- heim, Greeff). Da hätten wir schon ein Bei- spiel von sehr einfachem, nämlich in erster Linie nur durch veränderte anatomische Verhält- nisse bedingtem Funktionswechsel und zu- gleich zweitens einen Hmweis aut die noch öfter zu beobachtende Korrelation zwischen Auge und Augendrüsen, die Begünsti- gung der letzteren durch Verkleinerung des ersteren oder durch genügenden Or- bitalraum, nur daß für beides in diesem Falle die morphologische Identität der fraglichen Drüse mit der Harderschen Drüse noch nicht unbe- dingt feststeht. Übrigens wird hier Augenmusku- latur durch ähnlichen Funktionswechsel zum Rückziehmuskel des erwähnten Tentakels (Hanke). Verfolgt man die bei Schwanzlurchen erwähn- ten Drüsengebilde durch die verschiedenen terrestri- schen Wirbeltierklassen, so sieht man aus ihnen nicht nur die Tränendrüse und die Hard er- sehe Nickhautdrüse hervorgehen, sondern, genauer genommen, mindestens viererlei Drüsenarten, und zwar a) zerstreut liegende oder „disseminierte" einzelne Tränendrüsen; b) durch Konglomerierung von Drüsen solcher Art zu einer vielfach verzweigten Drüse mit einem oder mehreren Ausführung^gängen entsteht am temporalen Augenwinkel „die Tränendrüse", die allmählich immer mehr aus dem Bereich des Unterlids in den des oberen Lides rückt; c) auch in der Nickhaut oder an deren Basis kann bei Säugern durch Konglomeration von Einzeldrüsen „eine Tränendrüse" entstehen, die konventionell die Nickhautdrüse genannt wird. Während diese drei Drüsenarten in ihrer Struktur und in der Art ihres Sekrets, einer serösen, d. h. salzhaltigen und leichflüssigen, nicht schleimigen Flüssigkeit, den Charakter von Tränendrüsen wahren, war schon bei den Am- phibien, insbesondere bei Rana, auch die ferner- hin stets dem nasalen Augenwinkel zugehörig bleibende j"?5 d) Hardersche Drüse entstanden, die in ihrer Struktur sich von den obigen drei Drüsenarten entfernt, und deren Sekret bei Vögeln und Säuge- tieren meist als fettiges beschrieben wird. Auch ihr Sekret versorgt die Nickhaut, auch sie ist also eine Nickhautdrüse, wurde zuweilen — so von Leydig — auch so genannt, ist aber wegen der Homologie mit der von Härder 1694 beim Hirsch entdeckten Drüse besser die „Har- dersche Drüse" zu nennen, zumal sie oft neben der „Nickhautdrüse", meist tiefer in die Orbita hinein verlagert, vorkommt. Bei den Sauropsiden kennt man „disseminierte" Tränendrüsen bisher allerdings nur bei Crocodilus aus der Beschreibung von Hoffmann und bei manchen Schildkröten nach Sardemann. Im übrigen findet man bei den Reptilien die Tränen- drüse und die Hardersche Drüse oft beide. Da bei Salamandra statt der Tränendrüse nur erst die bandförmige Formation von Einzeldrüsen auf der temporalen Unterlidhälfte zu finden war, können wir zum ersten Male bei den Schildkröten und Sauriern die hier konglomerierte und oft mit mehreren bis sehr vielen Ausführungsgängen ver- sehene oder zweifellos stark verzweigte Tränen- drüse eigentlich so nennen. Sie rückt bei einigen Arten zum Teil in den Bereich des Oberlids, wäh- rend ihre Ausführungsgänge noch im Bereich des Unterlids bleiben. Bei Emys unter den Schild- kröten mündet zum ersten Male einer von den 12 bis 15 Ausführungsgängen in die Bindehaut des oberen Lides. Eine oft erwähnte riesige Entwicklung der Tränendrüsen bei der Seeschild- kröte Chelone midas beruht nach Peters wesent- lich nur auf starker Zunahme des interstitiellen Bindegewebes. Peters verdanken wir auch die histologische Kennzeichnung der Tränendrüse gegenüber der Harderschen Drüse bei Reptilien, Vögeln und Säugetieren. Die Tränendrüse besteht aus an- nähernd gleichgroßen gewundenen Drüsenschläu- chen, die Hardersche Drüse aus rundlichen Acini oder Alveolen von sehr verschiedener Größe. Die Drüsenzellen pflegen in der Tränendrüse zylin- drisch mit basalem Kern zu sein, in der Harder- schen Drüse öfter kubisch mit ziemlich zentralem Kern. Die hiernach und nach ihrer Lage stets leicht identifizierte Glandula Harderiana der Reptilien ist bei fehlender Tränendrüse kolossal bei den Schlangen entwickelt, was namentlich bei Blind- schlangen mit rudimentierten Augen autfällt und hier im Sinn der erwähnten Korrelation zwischen Orbitalraum und Augendrüsen gewertet werden kaTi, ferner hat sie bei allen Schlangen einen 't^enso bemerkenswerten wie einfachen Funktionswechsel durchgemacht, der sie zu einer Speicheldrüse machte. Den ersten An- laß dazu wird sicher die Ausbildung der eigen- artigen „Brille" der Schlangen gegeben haben, die durch Zusammenwachsen und Durchsichtigwerden der Lider oder, wohl richtiger, aus einem vor N. F. XVin. Nr. 45 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 6s I das Auge gezogenen und durchsichtig gewordenen Lide entstand. Dadurch ist der Lidsack nach außen abgeschlossen und bedarf kaum mehr eines dauernden Zuflusses von Sekret, die Tränendrüse schwand oder kam nicht mehr zur Ausbildung, und das Sekret der Nickhautdrüse mußte vollständig durch den von den Amphibien ab in allen V\'irbel- tierklassen vorhandenen Tränennasengang abfließen. Soweit ist es auch bei den gleichfalls mit „Brille" versehenen Geckoniden gekommen, aber wenn auch bei ihnen und selbst bei allen Sauriern das Sekret zum größeren oder geringeren Teil der Einspeichelung der Beute dienen mag, so wird erst bei den Schlangen dieser Funktionswechsel gleich- sam vollendet und uns morphologisch verdeut- licht, indem die Drüse nicht mehr in den Lid- sack, sondern direkt in den Tränennasengang mündet und dieser nicht mehr in die Nasenhöhle, sondern in den Ausführungsgang desjacobson- schen Organs und mit diesem in die Mundhöhle führt (Born 1883), wobei die Drüse stark ver- größert ist. Also Funktionswechsel lediglich oder in erster Linie durch veränderte anatomische Ver- hältnisse, denn veränderte histologische Verhält- nisse oder eine Veränderung des Sekrets sind wenigstens bisher nicht festgestellt worden. Bei Seeschlangen (Hydrophis) ist, offenbar infolge des dauernden Wasserlebens, die Drüse wiederum verhältnismäßig klein. Die Vögel besitzen außer Becherzellen sämt- lich die Tiänendrüse und die Har der sehe Druse, jene wie immer am temporalen Augenwinkel ge- legen, diese am nasalen mündend, jedoch mehr oder weniger weit auf die Hinterseite des Aug- apfels verlagert — einer von den vielen Fällen, in welchen der Vogelorganismus feiner diffe- renziert ist als der Säugetierorganismus. Histo- logisch konnte Peters nach den oben er- wähnten Merkmalen jede Drüse mit der ent- sprechenden der Reptilien identifizieren, womit die auch schon aus der Lage der Drüsen sich er- gebende Berechtigung der Bezeichnungen „Tränen- diüse'' und „Har d ersehe Drüse" unbedingt fest- steht. Die Mündungen der Tränendrüse , eine oder zwei an der Zahl, liegen nunmehr durchaus im Bereich des oberen Lidsacks „nahe dem äuße- ren Augenwinkel zwischen Konjunlitiva und oberem Lid" (Gadow). Ihr Sekret wird als wässerig be- schrieben. Für das Sekret der Härder sehen Drüse aber finden wir bei den Vögeln zum ersten Male eine Angabe, nach der es sich der fettigen Beschaffenheit des Sekrets der Harderschen Drüse der Säugetiere anzunähern scheint : es soll eine dicke, weißliche oder gelbe Flüssigkeit sein, die wahrscheinlich aus viel Schleim- .Her Tränen- stoff und wenig talgartiger Masse besteKb (Sarde- mann, Rudolphi). Bei den Säugetieren liegen die Drüsenverhält- nisse sehr kompliziert. Außer den oben erwähnten Becherzellen ist ein nicht seltener Befund beim Menschen der- jenige der schon erwähnten „disseminierten Tränen- drüsen", auch „Krausesche Drüsen" oder „Wal- deyersche tubuloalveoläre Drüsen" genannt, die, von Krause an der Tränenkarunkel ent- deckt, in jedem Teil des Lidsackes vorkommen können, als Erbstück vom Anamnierzustand auf- gefaßt werden dürfen und wohl auch weitere Ver- breitung bei den Säugetieren haben werden, wenn- schon sich bei Haustieren im Bereich der Lider nur einmal eine solche Drüse nahe dem Fornix des Ober- lids beim Rind fand (Zi et zsch man n). Bei Affen sind sie gelegentlich nachgewiesen (H. Virchow), beim Kaninchen bilden sie eine ausgesprochene Schicht in der Nickhaut. Beim Elefanten bilden sehr reichliche Einzeldrüsen einen dicht besetzten Gürtel nahe dem Lidrande. Mit Ausnahme einer, die am lateralen Ende liegt, haben sie hier aller- dings sämtlich verhältnismäßig dunkles, braun- rotes oder gflbliches Aussehen (H. Virchow), was den Gedanken an eine fettige Natur des Stkrets nahelegt, zumal ein ähnliches Drüsen- stratum, nach Virchow aus bis 300 Einzeldrüsen bestehend, die übrigens nach Weber nicht menr sämtlich durchaus Einzeldrüsen sind, im Lid der Wale wiederkehrt, wo die fettige Natur des Sekrets durch Weber festgestellt ist. Weber deutet daher und wegen ihrer nasal an die Har- d ersehe Drüse anschließenden Lage diese Drüsen der Wale etwa als akzessorische Härder sehe Drü- sen. Pütt er nimmt nach seinen Beobachtungen am Emoryo, die mit denen von Browman und Ask an Pinnipedierembryonen übereinkommen, sowie am erwachsenen Tier des Wals an, daß ein Teil dieser Drüsen, die lateral gelegenen, die den Walen sonst gewöhnlich abgesprochene konglome- rierte Tränendrüse bilden, doch mit fettigem Sekret, weshalb ein Funktionswechsel vorliege, be- dingt durch den Nichtbedarf an Tränen- und den Mehrbedarf an fettigem Sekret im Wasserleben. Das wäre allerdings etwa derselbe Funktions- wechsel wie der, den jede Hard ersehe Drüse durchmachte, wo sie zum ersten Male ein fettiges Sekret erhielt, und es würde daher vielleicht ge- nügen , hier nur von Differenzierung statt von Funktionswechsel zu sprechen. Das bandförmige Drüsenstratum, wenn auch bis jetzt nicht die fettige Natur seines Sekrets, ist auch von Sirenen- embryonen, die zur Untersuchung vorlagen, be- kannt (P ü 1 1 e r), und bei gewissen Robbenarten (Lobodoe) wurden von Browman und Ask ähnliche Drüsen als „große Fornixdrüsen" be- schrieben und phylogenetisch im oben ange- deuteten Sinne, als uralte Erbstücke, die sich auch bei den Sirenen und Walen erhielten, bewertet. Alle „Wassersäugetiere" scheinen sich also hierin einigermaßen ähnlich zu verhalten, aus naheliegen- den Gründen, während sich beim Elefanten bio- logische Gründe für die dortige Drüsenausbildung ähnlicher Art bisher nicht angeben lassen. Die eigentliche Tränendrüse ist der Mehr- zahl der Säugetiere eigen, beim Rind sowie bei Primaten in eine Glandula superior und inferior gesondert. Sie liegt und mündet nun stets im 652 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVm. Nr. 45 Bereich des oberen Lids. Sie fehlt dem Ele- fanten wahrscheinlich deshalb, weil das starke Stratum disseminierter Drüsen sie ersetzt, während sie bei Fischotter und Flußschwein, Walen und Seehunden aus den Gründen des Wasserlebens entweder fehlt oder rudimentiert ist (Weber u. a.). Eine konglomerierte Tränendrüse in der Nick- haut, die sogenannte N ick hau tdrüse, ist einer Anzahl von Säugetieren eigen : Kaninchen, Elefant, Affen und anderen. Beim Kaninchen findet sie sich neben der fettliefernden Harderschen Drüse, ebenso beim Rind, wo sie mit ihr eine scheinbar einheitliche Drüsenmasse bildet, die Peters erst auf histologischem Wege in die zwei Bestandteile trennen konnte. Bei einer Anzahl weiterer Säuge- tiere ist die Frage, ob die tränenliefernde Nickhaut- drüse oder die fettliefernde Hardersche Drüse vorliegt, kontrovers, zumal Loe wen thal in zahl- reichen Arbeiten diesen Drüsen auch einen mehr oder weniger gemischten Typus nachsagt. Die wohl konstantere, stets ein an Fetttröpf- chen reiches Sekret liefernde Hardersche Drüse fehlt bei Affen wie beim Menschen wohl als Folge der Rudimentierung der Nickhaut, beim Elefanten vielleicht wiederum infolge Vorhandenseins des band- förmigen Drüsenstratums; stark entwickelt ist sie dagegen bei den wasserlebigen Robben, bei Walen mindestens im Falle der Hmzurechnung der oben erwähnten subkonjunktivalen Drüsen, bei Hippo- potamus ist sie sehr groß, desgleichen mindestens gegenüber der Tränendrüse bei Lutra (Fischotter). Daß beim Wasserleben die Tränenflüssigkeit ziemlich überflüssig wird und das Auge einen besseren Schutz in einem zähen und fettreichen Sekret findet, dürfte im allgemeinen einleuchten. Derartige vom Anpassungs- oder Zweckmäßig- keitsgesichtspunkt aus aufgestellte „biologische Erklärungen" können natürlich niemals die mecha- nische oder entwicklungsmechanische Er- klärung ausschließen. Zu letzterer verhelfen nun in manchem Punkte die von Browman und Ask angestellten Beobachtungen und Erwägungen, in welchen der schon oben bei Gymnophionen und Schlangen erwähnte Gesichtspunkt der Kor- relation zwischen Drüsenausbildung und Orbitalraum eine wichtige Rolle spielt. Die genannten Autoren fanden bei sorgfälligen embryologischen Studien mit Eviden?, daß die temporal gelegenen oder Tränendrüsenanlagen in ihrer Entwicklung Schwierigkeiten und Hmder- nisse antreffen. „Die Raumverhältnisse sind offen- bar ziemlich ungünstig." Umgekehrt kämpit die nasal gelegene oder Hardersche Drüse nur im Anfang ihrer Entwicklung mit Raunischwierig- keilen, später nicht mehr. Daher bleibt sie an- fangs hinter der Tränendrüse an Entwicklung zu- rück, später kehrt sich dies um, und es resultiert beim erwachsenen Tier die starke Hardersche und die Rückbildung der Tränendrüse. Wie Browman und Ask weiterhin darlegen, scheint allgemein bei den Säugetieren die „temporale Hauptdrüse", also die Tränendrüse, in ihrer Ent- wicklung um so mehr begünstigt zu sein und die ,, nasale Hauptdrüse" — das wird für die meisten Fälle die Hardersche Drüse sein — um so mehr Druck- und Raumschwierigkeiten zu finden, je weiter das Auge in der Entwicklung des Embryos sich nach vorn dreht. In der Tat erreicht diese Nachvornedrehung nicht nur bei den Robben, Walen und Sirenen einen geringen Grad, sondern es sind auch bei den Nagern mit ihren stark seit- wärts gestellten Augen nasale Drüsenmassen stark entwickelt, und die Tränendrüse soll bei ihnen klein bleiben oder auch fehlen, umgekehrt findet man beim Menschen und den Affen mit ihren stark nach vorn gedrehten Augen die nasalen Drüsen höchstens gering entwickelt, rudimentiert oder gänzlich fehlend. Mit Recht dürften Brow- man und Ask sich gegen den von See fei der erhobenen Vorwurf verleidigen, daß „derartige grob mechanische Faktoren zu hoch bewertet seien"; vielmehr bewirken ähnliche grob mecha- nische Entwicklungshemmungen in einigen Fällen offenbar auch die Rückbildung der Augenmuskeln, insofern diese nämlich bei Tieren mit sehr großen Augen und fast verschwindender Orbitalhöhle, wie Tiefseefischen einerseits und Eulen anderer- seits, durchaus rudimentiert erscheinen. Außer den verschiedenen Arten von Tränen- drüsen und der Harderschen Drüse sind bei Säugetieren noch zwei Arten von Liddrüsen vor- handen, die sich histologisch den oben mit a bis d bezeichneten Drüsenarten am ehesten anreihen, e) die Glandula infraorbitalis, f) die Glandula orbitalis externa. jene ist ein nach innen und oben vom Joch- bogen liegendes und , wie Loewenthal zuerst 1895 fand, in den äußeren Teil des Konjunkiival- sackes mundendes, also dem Auge angehöriges Drüsengebilde teils tränendrüsenariigen, teils an- dersartigen Baues, nicht identisch mit Krauses „Glandula infraorbitalis" des Kaninchens, die eine Speicheldrüse darstellt. Die ähnlich gebaute Glan- dula orbitalis externa, von Loewenthal 1900 entdeckt, liegt sogar weit entfernt vom Auge der Ohrspeicheldrüse (Parotis) an, mündet aber mit langem Gang gleichfalls in den äußeren Teil des Lid^acks. Beide Drüsen fanden sich bei Muriden und beim Maulwurf, erstere auch beim Rind und Kaninchen, und es stellte sich bei diesen auch die Histologie und Embryologie genau berück- sichtigenden Untersuchungen heraus, daß sowohl der Maulwurf als auch die Muriden der eigentlichen Tränendrüse gänzlich entbehren. Übrigens dürften die Komplikationen damit noch nicht er- schöpft sein. 3. Talgdrüsen und ihre Abkömmlinge. Noch anderweitige Drüsen des Auges, die nur bei Säugetieren vorkommen, knüpfen teils an die Haarbalg- oder Talgdrüsen der Haut an, teils an die Schweißdrüsen. Beide Drüsenarten finden sich zunächst auf N. F. XVni. Nr. 45 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 653 der äußeren Oberfläche der Lider, die ja auch stets behaart ist , obschon man dies beim Men- schen wegen der Kürze, Feinheit und geringen Pigmentierung der Haare ohne besondere Hilfs- mittel nicht sieht. Beide Drüsenarten sind beim Menschen am Lid sogar verhäUnismäßig stark entwickeh, und auch bei den übrigen Säugetieren bieten sie mancherlei Abweichungen untereinander sowie gegenüber der Norm der entsprechenden Hautdrüsenarten dar. Echte Haarbalg- oder Talgdrüsen, und zwar mächtig entwickeUe im Verhältnis zu den winzigen, beim Menschen nur mikroskopisch nach- weisbaren, beim Hunde aber auch mit der Lupe erkennbaren Härchen, finden sich ferner in der Caruncula lacrymalis und machen sogar deren Hauptmasse aus, ohne daß man bisher angeben könnte, worin die Bedeutung dieses Körpers be- steht (vielleicht ein Hindernis für den Abfluß der Tränenflüssigkeit ?). Veränderte Haarbalgdrüsen sind wahr- scheinlich die Meibomschen Drüsen der Säugetiere, langgestreckte, auf dem Lidrand mündende, nebeneinander im Lid stehende, also wiederum ein ,,Drüsenstratum" bildende und im wesentlichen die ganze Lidhöhe einnehmende Drüsen mit gestrecktem Zentralgang, an welchem die einzelnen DrüsenaWeolen wie Beeren an einer Traube sitzen. Sie haben zwar mit Haaren nichts mehr zu tun, scheiden aber eine talgartige Masse ab, und für jene Deutung dieser in ihrer Art ein- zig dastehenden Drüsen spricht einiges aus ihrer Ontogenese (H. Vircho w, Benda) und vor allem die vergleichende Anatomie. Denn bei S c h n a b e 1 - tieren und vielen Beuteltieren scheinen die Meibomschen Drüsen als solche noch gänzlich zu fehlen, während Haarbalgdrüsen an den Wimpern wie bei allen Säugetieren vorhanden sind, bei Insektivoren erscheinen schon sehr vergrößerte Drüsen von abweichender, sackförmig trauben- förmiger Gestalt, deren Ausführungsgang sich beim Igel noch je einem Wimperhaarbalg anschließt, während sie beim Borstenigel Madagaskars, Centetes, an der Innenfläche des Lides weit ent- fernt vom Lidrand münden. Der Lage nach als echte Meibomsche Drüsen, das heißt am Lid- rand mündend und ohne Beziehung zu Haaren, findet man sie beim Känguruh unter den Beu- teltieren, wo sie indessen noch spärlich und von auffallend einfacher Gestalt — bloße einzelne Al- veolen — sind, und bei den meisten Placentaliern. Sucht man also diese verschiedenen Befunde durch eine möglichst gerade Linie zu verbinden, so führt diese von den Haarbalgdrüsen der Augenwimpern zu den Meibomschen Drüsen (v. Eggeling). Eine allmähliche Zunahme der Drüsen an Kompli- ziertheit geht mit einer ebensolchen der ganzen Lider einher. Es fehlen die Meibomschen Drüsen bei Walen und Pinnipediern, wo es durch das Wasserleben oder die infolge des Wasserlebens reichliche Entwicklung anderweitiger Drüsen er- klärt werden kann, ferner wiederum beim Ele- fanten, wo gleichfalls die oben erwähnten ander- weitigen Drüsen Ersatz bieten dürften, endlich außer bei Schnabel- und mancherlei Beuteltieren auch beim Kamel, hier ohne bisher angebbare Ur- sache. 4. Schweißdrüsen und ihre Abkömmlinge. Schweißdrüsen oder Knäueldrüsen finden sich außer auf der Lidoberfläche, wo sie ein all- gemeines Vorkommnis sind, bei einigen Tieren (Rind, Schwein) merkwürdigerweise auch an der Konjunktiva, und zwar an der der Hornhaut des Auges benachbarten (H. Vircho w), ferner Inder Caruncula lacrymalis, hier neben den erwähnten Talgdrüsen, beim Fuchs zu vermissen (Fey). Beim Menschen wird den Schweißdrüsen der Karunkel der Charakter der Mol Ischen Drüsen zugeschrieben. Mollsche Drüsen oder Ciliardrüsen des menschlichen Lidrandes heißen die hier meist in Einzahl in Cilienbälge — doch nicht in jeden — mündenden, sich also hierin von sonstigen Schweiß- drüsen, die ja von Haaren vollständig unabhängig sind, wesentlich unterscheidenden Knäueldrüsen. Daß sie sich dennoch phylogenetisch von Schweiß- drüsen ableiten, dafür sprechen namentlich die Be- funde Argauds und Falloueys: diese Drüsen stimmen beim Schwein in ihrer erheblichen Größe, ihrer muskulösen und bindegewebigen Um- hüllung, sowie in ihrem sonstigen Schichten- und Zcllenbau hochgradig mit den Schweißdrüsen der menschlichen Achselhöhle überein ; vor allem aber öffnen sie sich beim Schwein zum Teil noch frei zwischen den Wimpern, während sie zum Teil schon den Anschluß an die Haarbälge der Cilien gewonnen haben. Endlich stellt vielleicht die beim Hunde von Zietzschmann und Fey aufgefundene „Ka- runkeldrüse" Feys, die dort neben den Talg- und Schweißdrüsen vorhanden ist, in der Tiefe des Bindegewebes als eine aus mehreren Paketen mit je einem Ausführungsgang bestehende, zwar histologisch den Tränendrüsen nicht unähnliche, aber öfter auch auf Schleimfärbung reagierende Drüse, die bei Fuchs und Katze schon vermißt wird, eine Drüse eigener Art unter den Augen- drüsen dar; jedenfalls geHngt ihre Einreihung an irgendeiner Stelle noch nicht mit Sicherheit. Auch dem Kamel wird eine große Karunkeldrüse nachgesagt, die eine Talgdrüse sein soll. Zählen wir nunmehr alle uns begegneten Arten von Augen- oder Lidsackdrüsen zusammen, so erhalten wir — wenn wir von den letzterwähnten Karunkeldrüsen als Drüsen unsicherer Stellung ab- sehen — nicht weniger als zwölf Arten von Augen- drüsen,^) unter denen nur eine bei Fischen vor- ') Auch im Augapfel gibt es eine Drüse bei Fischen, insofern das „Ligamentum pectinatum" des Knocbenfischauges 654 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVm. Nr. 45 kommt, je 2 — 3 bei Amphibien sowie Reptilien Browman, Ivar, und FriUAsk, Untersuchungen und Vögeln nachgewiesen sind und eine größere "^" .'^j'; Embryonalentwicklung der Pinnipedia. 2. Über die 'y 1 1 i_ ■ <:■•■ L 11 1 1 1 •■ 1 Entwicklung der Augenadnexe und speziell des Augendrusen- Zahl bei Saugern, aber alle I2 wohl höchstens Apparats der Pinnipedia nebst Bemerkungen über die Phylo- bei Plazentaliern vorkommen, S. Tabelle. genese der Augendrüsenappate der Säugetiere im allgemeinen. Becherzellen usw. Subkonjunktivale Drüsen und ihre Abkömmlinge Talgdrüsen und ihre Abkömmlinge Schweiß- drüsen und ihre .Abkömm- linge a a S 'S s S "3 " V 05 ä ^ a S S oa OJ r. .5! a .2 S E ^g Q a s tn 1 z " .2 •So 3 o a 3 'S O O Talg- (Haar- balg-) drüsen <ü s II 1"» 1^ Fische Triton Amphibien im allgemeinen Reptilien Vögel Aplazentalier (Mehrzahl) Igel Säugetiere im allgemeinen • * * } } * * * ? » • * » * * « » * * * * • # * f * ? * Nummer I 2 3 4 5 6 7 8 9 lO II 12 Wir können an und für sich nicht beim Menschen den kompliziertesten Zustand er- warten, und er ist bei ihm auch nicht vorhanden, insofern zum Beispiel beim Schwein die „Krypten" als „M an z sehe Drüsen" eine besondere Ausbil- dung erfahren oder beim Menschen die Glandula infraorbitalis, orbitalis externa und Harderiana fehlen, unter denen letztere allerdings (Browman und Ask) embryonal angelegt wird. An der Tränendrüse indessen kennt man nur vom Rind und den Primaten die Teilung in eine obere und eine untere Partie, und nur der Mensch unter allen Mammaliern kann weinen. Letzteres soll zwar „psychisch" oder nervös be- dingt sein, doch wiesen Götz und Schirmer auch darauf hin, daß Frauen im allgemeinen eine größere Tränendrüse haben als Männer, und daß bei Männern in der Tränendrüse etwa vom 20. Lebensjahr ab sich Drüsentubuli im höheren Grade als bei Frauen zugunsten des Bindegewebes zu- rückbilden. Wir finden also hier sekundäre Geschlechtscharaktere, wie wir sie weder bei Tieren am gleichen Organ noch beim Men- schen an irgendwelchen anderen Teilen des Auges und der Orbita in gleicher Stärke erwarten dürfen. Wichtigste Literatur: Argaud, R. und Fallouey, M., Les glandes de Moll chez le porc. Compt. rend. Soc. biol. Paris T. 74. Benda, C, Das Verhältnis der Milchdrüsen zu den Hautdrüsen. Dermatolog. Zeitschrift Bd. I, 1893. Born, G. , Die Nasenhöhlen und der Tränennasengang der amnioten Wirbeltiere. 111. Morphol. Jahrbuch Bd. 8, 1883. anscheinend sezernierende Funktion hat, nach den von Hirsch aufgefundenen Sekretionszuständen der Zellen. Dagegen ist die sog. „Chorioidealdrüse" der Teleostier bekanntlich keine Drüse, sondern ein Konvolut von Kapillaren. Deutsche Südpolar-Exped. 1901— 1903, Bd. 12, Heft 2, 1909. (Ausführl. Referat von Ask in Arch. f. vergl. Ophthalmol. Jahrg. II, Heft I, 1911). Eggeling, H. v., Zur Morphologie der Augenlider der Säugetiere. Jenaische Zeitschr. Bd. 39, N. F. Bd. 39, 1904. — , Zur Phylogenese der Augenlider. Verh. d. anat. Ge- sellsch., 18. Vers. Jena 1904 (Erg.-Heft zu Bd. 25 des Ana- tom. Anz.). — , Nochmals zur Morphologie der Augenlider. Anatom. Anz. Bd. 20, igo6. Fey, W., Über die Tränenkarunkel der Karnivoren. Auch ein Beitrag zum Aufbau rudimentierter Haare. Archiv für vergleichende Ophthalmologie, 4. Jahrg., 19I4. Gadow, H, Vögel. In: Bronns Klassen und Ordnungen des Tierreichs. Leipzig 1891. Gaupp, E., A. Eckers und R. Wiedersheims Anatomie des Frosches, Bd. 3, 2. Aufl., Braunscbweig 1904. Götz, A. , Untersuchungen von Tränendrüsen aus ver- schiedenen Lebensaltern. Inaug.-Diss. med. Tübingen 1908. Greeff, K. , Über Siphonops thomensis. Sitzber. d. Gesellsch. z. Beförd. d. ges. Naturwiss. zu Marburg, Nr. I, 1884. Hanke, B., Die rudimentären Sehorgane einiger Amphi- bien und Reptilien. Archiv f. vergleich. Ophthalmol. Jahr- gang 3. 1913. Härder, Glandula nova lachrymalis una cum ductu excretorio in Cervis et Damis detecta. Acta eruditorum, Lipsiae 1694. Hirsch, J., Über das Gehirn, Rückenmark und Augen der Varietäten des Goldfisches (Carassius auratus). Arch. f. Entwicklungsmechanik Bd. 35, 1912. Hoffmann, B., Die Tränenwege der Vögel und Rep- tilien. Zeitschr. f. Naturwiss., herausgcg. v. Naturw. Verein für Sachsen und Thüringen in Halle Bd. LV (4. Folge Bd. 1) 18S2, Heft 9. Hoffmann, C. K., Reptilien. In; Bronns Klassen und Ordnungen des Tierreichs. Leipzig 1S90. Leydig, Fr., Über die Kopfdrüsen einheimischer Ophi- dier. Arch. mikr. Anat. Bd. 9, 1873. Loewenthal, N., Notiz über die Hardersche Drüse de? Igels. Anatom. Anz. Bd. Vll, 1892. — , Ein Beitrag zur Kenntnis der Harderschen Drüse bei den Säugetieren. Ebenda. N. F. XVm. Nr. 45 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 655 Loewenthal, N., Zur Kenntnis der Glandula infraorbi- talis einiger Säugetiere. Ebenda. Bd. X, 1895. — , Drüsenstudien I. (Die Hardersche Drüse.) Internat. Monatschr. f. Anat. u. Physiol, Bd. XIII, 1896. — , Drüsenstudien II. Die Glandula infraorbitalis und eine besondere der Parotis anliegende Drüse der weißen Ratte. Arch. f. mikr. Anat. Bd. 56, 1900. — , Drüsenstudien III. Die Unterkieferdrüse usw. Ebenda, Bd. 71, 1908. — , Nouvelles recherches sur la glande sous - orbitaire. Bibliogr. Anat. T. 18, 1909. — , Nouvelles recherches sur les glandes sous-orbitaires, orbitaire externe et lacrymale. Ebenda, T. 19, 1909. (Beide Arbeiten nicht zugänglich.) — , Drüsenstudien IV. Beitrag zur Kenntnis der Entwick- lung der Augendrüsen. Arch. f. mikr. Anat. Bd. 79, 1912. — , Zur Krage der Entwicklung der Augenhöhlendrüsen. .\nat. Anz. Bd. 43, 1913. — , Schlußwort (betr. Tränen- und Nickhautdrüse). Ebenda, Bd. 44, 1914. — , Weitere Beobachtungen über die Entwicklung der Augenhöhlendrüsen. Anatom. Anz. Bd. 49, 1916/17. Peters, A., Beitrag zur Kenntnis der Harderschen Drüse. Arch. f. mikr. Anat. XXXVI, 1890. Piers ol, G. A., Beiträge zur Histologie der Harderschen Drüsen der Amphibien. Arch. f. mikr. Anat. Bd. 29, 1887. Pütt er, A., Die Augen der Wassersäugetiere. Zoolog. Jahrbücher, Abt. f. Anat. Bd. 17, 1903. — , Organologie des Auges. 3. Aufl. In: Graefe-Saemisch, Handbuch der ges. Augenheilkunde, Teil I, Kapitel X, 3. Aufl., 1912. Reichel, Beitrag zur Morphologie der Mundhöhlen- drüsen der Wirbeltiere. Morpholog. Jahrb. Bd. VIII, 1883. Riehl, H.A., Über den Bau des Augenlides beim Vogel. Internat. Monatschr. f. Anat. Bd. 25, 1908. Rudolphi, Anatomisch -physiologische Abhandlungen. Berlin 1802. — , Grundriß der Physiologie. Bd. II. Berlin 1823. (Beide Arbeiten Rudolphis sind mir nicht zugänglich.) Sardemann, Beiträge zur Anatomie der Tränendrüse. Diss. med. Freiburg 1887 (Gekrönte Preisschrift, aus den Be- richten d. Naturf. Gesellsch. zu Freiburg i. Br., Bd. III, 1887). Schirmer, O., Mikroskopische Anatomie und Physio- logie der Tränenorgane. In: Graefe-Saemisch, Handb. d. ges. Augenheilkunde, I.Teil, Bd. I, VII. Kapitel, II. Aufl. Leipzig 1904. Virchow, H. , Über den Orbitalinhalt des Elefanten. Sitzungsber. d. Ges. naturforsch. Freunde, Berlin 1903. — , Weitere Bemerkungen über den Lidapparat des Ele- fanten. Ebenda, 190^. — , Bemerkungen über den Lidapparat von Balaenoptera musculus. Ebenda, igo6. — , Mikroskopische Anatomie der äußeren Augenhaut und des Lidapparates. In: Graefe-Saemisch, Handbuch der ges. Augenheilkunde. Teil 1, Band I, 1910. Weber, Max, Studien über Säugetiere. Jena. G.Fischer, 1898. Wiedersheim, A., Die Anatomie der Gymnophionen. Jena 1S79. Zietzschmann, O., Vergleichend histologische Unter- suchungen über den Bau der Augenlides der Haussäugetiere. Arch. f. Ophthalmol., Bd. 58, 1904. — , Zur Frage des Vorkommens eines Tarsus im Lide der Haussäugetiere. Arch. f. Ophthalmol. Bd. 59, 1905. [Nachdruck verboten.] Das Aeroplaiikton. Von Franz Matouschek, Wien, Staatsgymnasium IX. Die in der Luft schwebenden Staubteilchen bezeichnete G. Bonnier als „plankton atmo- spherique", H. M o 1 i s c h fast gleichzeitig als ,, Aero- plankton" (aiy'o, äigo^ = Luft, jrlayxTÖg = umher- getrieben, irrend). Woraus besteht nun der Stau b in der Luft und wie kann man die lebenden Keime, also die Mikroorganismen, die in der Luft schweben, nachweisen? Der wissenschaftliche Forscher muß da getrennte IVlethoden anwenden, um diese beiden Fragen zu beantworten. I. Der in der Luft suspendierte Staub besteht aus anorganischen und organischen Be- standteilen. Zu den ersteren gehören mineralische Teilchen : Splitter von Quarz, Feldspat, Glimmer und anderen Silikaten, jedoch auch kleinste Ge- steinssplitter, Ton- und Lehmteilchen, Partikelchen von Mörtel, Mauerschutt und Ziegelsteinen. Die Zusammensetzung dieses Staubteiles ist durch den Boden und die Umgebung des Gebietes, ober- halb dessen die Luft untersucht wurde, bedingt. Die Pflasterung der Städte besteht aus quarz- reichen oder aus quarzarmen Steinen (Quarzit in Prag, Granit in Wien; Ergußgesteine in Budapest, Tetschen a. Elbe), der Boden ist ein sandiger oder toniger, geschottert wird auch oft mit Kalkgestein, anstehendes Gestein kann auch aus Schiefern be- stehen. In jedem Präparate findet man auch Ruß. Die organisierten Bestandteile sind teils lebend, teils tot. Von den lebenden sind vor allem außer Bakterien und Protozoen namentlich Pilz- sporen zu erwähnen. Letztere rühren besonders von niederen Pilzen her. In Gegenden, wo es austrocknende Teiche und Sümpfe gibt, sichtet man auch Kieselalgen und einzellige Grün- und Blaualgen. Blütenstaub der höheren Pflanzen er- scheint oft in Mengen. Für Wien wies Pich 1er sehr genau nach, das Auftreten der Pollenkörner in der Luft korrespondiere mif der Blütezeit der einzelnen Pflanzenarten: Mitte März (191 7) erschien im Präparate zuerst der Pollen der Haselnuß und Erle; es folgte der Pollen der Ulme, Pappel und Esche, vom April an fand er den der Birke und Hainbuche. Der erste Fichtenpollen trat Mitte April auf, anfangs Mai kam reichlichst Föhren- pollen. Von Mitte Mai war Roggenpollen sehr häufig, von Mitte Juni wimmelte es geradezu von Pollenkörnern der Wiesengräser. Von Ende Mai sichtete man den Pollen von Gerste und Hafer. Naturgemäß gab es auch Pollen vieler anderer Pflanzenarten. Dunbar zeigte, daß die Pollen- körner von 18 untersuchten Gräserarten das Heu- fieber (Heuschnupfen) erzeugen können, daß alle anderen Pollenkörner unwirksam seien. Neuere Untersuchungen in N.-Amerika taten dar, daß der Pollen manch anderer Pflanzenfamilien, z. B. der Gänsefußgewächse und sogar der Korbblütler diese Krankheit hervorbringen können. Die Stärke- körnchen in den Pollenkörnern (namentlich des Roggens) repräsentieren nach Moli seh nicht das Heufiebergift, das nicht kristallisiert und auch 656 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVm. Nr. 45 sonst keine charakteristischen mikrochemischen Reaktionen gibt. Man kennt vorläufig die Natur des Pollengiftes nicht. — Von den toten Teilchen sind namentlich Pflanzenhaare zu nennen, die na- türlich nur in der wärmeren Jahreszeit in beträcht- licher Menge vorkommen. Zuerst im Jahre er- scheinen in Mitteleuropa die Haare des Roß- kastanienbaumes, die jungen Blätter sind ja ganz mit bräunlichen , gewundenen Haaren bedeckt. Im Mai findet man die Samenhaare der Pappeln, später die Haare der Früchte des Löwenzahns, den Wollfilz der Blätter der Silberpappel , des Huflattichs und der Platanen. Letztere erzeugen den „Platanenhusten", der in einer Entzündung der Schleimhäute in den Atmungsorganen besteht. Vom Herbst bis zum Frühjahre lösen sich auch von den Früchten die Borstenhaare los. In der Schweiz und in Elsaß wurde vor einigen Jahren das Anpflanzen der Platanen nächst den Schulen und Spitälern verboten. Man sieht im Präparate aber auch die Haare vieler anderen Pflanzenarten vom April bis zum Wintereintritt. Sonst werden bemerkt: Blattfetzen, Stengelstückchen, Gewebe- fragmente von Rinde, Blattoberseiten, Gefäßbündeln usw., von Nadel- und Laubholz, Teile von Ge- treidespelzen (oft aus dem Pferdemist stammend). Die in der Luft schwebenden Stärkekörnchen stammen aus der Küche, den Mühlen und von den mit Mehlsäcken beladenen Wagen her. Man hat Getreide-, Reis-, Leguminosen- und Kar- toffelstärke nachgewiesen. Von Kleidern, Teppi- chen und den Wagenplanen stammen die stets vorhandenen Baumwoll-, Leinenfasern, Schafwoll- haare und Seide her, letztere am seltensten. Säuge- tierhaare und Vogelfederteile sind gemein — man denke nur an das Ausklopfen des Bettzeuges. Oft sind die Farben der P'asern und Härchen noch gut erhalten. Teile von Insekten, aber auch ganze Lebewesen (Holz , Schild-, Blattläuse, Blasenfüße, Mücken, Motten usw.) bleiben am Glyzerin hängen, namentlich dann, wenn abends oder nachts in der Nähe von Bäumen die Luft untersucht wird. Da- mit habe ich schon verraten, Haß Glyzerin zum Auffangen von zellulären Objekten verwendet wird. Nach Mo lisch gibt man auf eine kleine Glasplatte einen Glyzerintropfen; dieser verdunstet nicht und aller Staub wird durch die klebrige Beschaffenheit des Mittels festgehalten. II. Um die in der Luft enthaltenen Keime zu ermitteln, bedient man sich zweierlei Methoden, der Absetz- oder Sedetions- und andererseits der P'iltrier- oder Aspirations- methoden. Bei den letzteren wird eine be- stimmte Menge Luft durch ein flüssiges oder festes Filter hindurchgesaugt. Als Flüssigkeit benützt man irgendeine Nährlösung, Nährgelatine oder Wasser mit dieser versetzt. Als feste Filter werden verwendet : Zucker, Natriumsulfat oder unlösliche Stoffe wie Glassand, Wolle, Ouarzsand. Man be- sitzt bisher keine ganz einwandfreie Aspirations- methode. Jede Methode dieser Art ist umständ- lich und schwer durchführbar, da oft bis lool Luft durchgesaugt werden müssen. Während man bei der Aspirationsmethode ermittelt, wie viele Keime in einem bestimmten Luftvolumen vor- handen sind, erfährt man durch die Absetzmethode, wie viele Keime in einer bestimmten Zeit auf eine bestimmte Fläche auffallen. Die Absetz - methode ist einfach, bequem und für ver- gleichend quantitative Bestimmungen recht brauch- bar. Sie besteht darin, übereinander klappbare Doppelschalen (sog. Petrischalen), die mit Nähr- gelatine usw. beschickt sind, frei eine gewisse Zeit hindurch der Luft auszusetzen. Als Nährboden kann man z. B. verwenden looo cm" Bierwürze mit 100 — 150 g Gelatine oder i g Pepton, 5 g Roh- zucker, 10 cm'' konzentr. Zwiebeldekokt, 90 cm* Leitungswasser, lO — 15 g Gelatine nebst einer Spur von Liebigs Fleischextrakt. Beide Nährböden lassen nur wenige Bakterienkolonien aufkommen und eignen sich also für das Studium der Hefen und Schimmelpilze und niederen Pilze überhaupt. Nach der Aussetzung, die 5 — 15 Minuten lang währt, kommt die Schale unter eine Glasglocke an einen finsteren, warmen Ort. Nach einigen Tagen haben sich aus den eingefallenen Keimen Kolonien gebildet; aus ihrer Zahl und ihrem Aussehen kann man einen Schluß auf die Menge und die Art der in der Luft vorhandenen Keime ziehen. Nimmt man denselben Nährstoff und setzt die Schale stets gleich lange Zeit der ruhigen Luft aus, so kann man die Ergebnisse miteinander ver- gleichen. Einige Beispiele : Exponiert man die Schale in der Luft eine.-^ feuchten Warmhauses, so ist die Zahl der Kolonien eine geringe, da die Luft mit Wasserdampf gesättigt ist. In solcher gibt es sehr wenig Staub, also auch sehr wenig Keime. Viel mehr solcher erscheinen auf dem Nährmedium, wenn die Schale in einem Schul- zimmer, noch mehr, wenn sie in einer verkehrs- reichen Straße einer Großstadt ausgesetzt wurde. Bakterien lieben im allgemeinen ein alkalisch reagierendes, die anderen niederen Pilze ein mehr saures Substrat. B o n n i e r erhielt bei vergleichen- den Versuchen mit der Luft eines Hochwaldes in Frankreich auf Bouillon der Karotte 1804, der Zuckerrübe 336, der Topinambur 204, der Zitrone 0 Kolonien von Schimmelpilzen. Solche und ähn- liche Studien ergaben im allgemeinen folgendes: I. Je wärmer, desto mehr Schimmelpilze. In Gartenluft gibt es weniger lebende Schimmel- pilzkeime als in der Siraßenluft. Im Juni oder Juli gibt es ein Maximum. Für Hefe fand ein solches Pichler für Wien im April, in der Straße ein zweites kleineres im November und Dezember. Bakterienkeime nehmen bei kaltem und feuchtem Wetter an Zahl ab. Die Regenmenge beeinflußt die Monatsmittel der Keime. Starker Regen- oder Schneefall reinigt die Luft und vermindert die Keimzahl. 2. Bei steigender Windstärke wächst die Zahl der Keime, für eine bestimmte Gegend oder Stadt hat auch die Windrichtung einen Einfluß. Streicht der Wind über die Stadt zu demjenigen Punkte N. F. XVm. Nr. 45 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 6S7 ihrer Peripherie, wo gerade die Luft untersucht wird, so wird man eine größere Zahl von Keimen beobachten. Die Luft am Meeresstrande führt noch viele Keime, über dem Meere erreicht die Keimzahl ein Minimum. 3. Mit zunehmender Höhe nimmt die Zahl der Staubkörnchen und Keime ab. Die Verteilung ist aber keine gleichmäßige, da eine Beeinflussung durch auf- und absteigende Luftströmungen statt- findet. Letztere steigen im Sommer höher als im Winter, also ist die obere Keimgrenze im Sommer höher u. zw. etwa bei 3000 m Meereshöhe, im Winter bei 1700 m. Möglicherweise verschiebt sich die obere Grenze, da Versuche von Luft- schiffen aus noch nicht angestellt wurden. Bon- nier gibt folgende Zahlen pro 50 1 Luft bei schönem Wetter im August 1909: , ... Zahl der Schimmel- Zahl der Bakterieu- Meereshohe : ., , , . 1 1 • pilzkolonien : kolonien : 260 m 226 41 1020 „ 184 2 2iqo „ 64 0 Die Bakterien nehmen mit der Höhe also rascher als die Schimmelpilzkeime ab. Auf dem Pic du Midi (2860 m) der Pyrenäen hat man frisch ge- fallenen Schnee aseptisch aufgefangen und fand noch lebende Keime in ihm. 4. Waldtuft enthält viele Keime. Bonnier gibt aus seinen Protokollen ein Beispiel : Schimmelpilz- Bakterien- kolonien: kolonien; fern vom Walde 55 4 am Waldrande 88 8 mitten im Walde 3200 13 Die absolute Staubmenge im Walde ist eine geringe, die Zahl der Keime aber relativ sehr groß. Der Humus und die faulende Streu auf dem Waldboden beherbergen sehr viele Schimmel- pilze und auch Bakterien. 6. Straßenluft ist sehr reich an Hefekeimen (73 Kolonien für Wien), die Gartenluft aber arm (2 Kol., ebenda). Dagegen ist die.se relativ reich an Schimmelpilzkeimen, die Straßenluft im Ver- gleiche zu ihrem bedeutenden Keimreichtum arm an solchen. Auf diese Erscheinung machte Pich- le r zuerst aufmerksam. Über die Zahl der Stäubchen und Keime in der Luft und über die systematische Stellung der letzteren: J. Aitken be- rechnete für I cm^ atm. Luft nach starkem Regen 3200, bei klarem Wetter 130000, für i cm'^ Luft aus der Mitte eines Zimmers I 860000, aus der Deckenhöhe 5 420 000 Teilchen. A.Mac Fadyen fand in i cm^ Londoner Luft bis 500000 Teil- chen, und auf 38 300 000 Staubpartikelchen im Freien bzw. auf 184 000 000 in der Luft kommt erst I Bakterium. Die lebenden Keime ver- schwinden also geradezu in dem großen Heer der Staubteilchen. K. Saito wies für Tokio im atmosphärischen Staube 72 (darunter 18 neue) Bakterienarten nach. Die häufigsten waren : Ba- cilhis siibfilis, B. vidgatus, B. viycoides, Sarcina Candida, S. aiiranfiaca, Micrococcus Intens, M. roseits und so manche, einen gelben oder roten Farbstoff bildende Arten. Die häufigsten Schimmel- pilze waren da: Cladosponmit hcrbannn, Penicil- liitvi glaiicnm, Epicoccum piirpiirasct'iis, weniger häufig Aspergillus glaiicus, A. nidiilans, Cateim- laria fidiginea, Miicor raceviosiis, Rhizopics nigri- cans, Macrosporium cladosporioides, Monilia-hnen ; selten waren Aliicor Alucedo, Demafium pt(lla>is, Botrytis cinerea, Verticilliiun glaucum, Fiisariinn roscuvi usw. Für Wien ist die Luft nur in bezug auf die Qualität der Schimmelpilze und Hefen (von P i c h 1 e r) untersucht worden. Von den 1 878 Schimmelpilzkeimen, während eines ganzen Jahres in den Kulturen beobachtet, gehörten die meisten Keime einem Penicilliinn, drei Cladospori/tin hrier\, Sachsia sp., Aspergilins Arten, einem Pilze mit rotbraunen Pykniden, Geinmophora purpurasccns (färbt das Substrat purpurrot), Alfernaria sp.,, Botrytis sp. an. Nicht bestimmbare Pilze gaben 63, sterile Myzelien 321 Kolonien (oft gefärbt). Von den 1797 HefepilzKolonien waren in Wien 1581 weiße, 216 gefärbte (rot in allen Tönen). Im März traten recht fetthaltige Hefezellen auf. Die Zellen waren nach dem Ccrcvisae-, Ellipsoi- dciis- und Pastorianiis-'XyYiws, gebaut. Die meisten der genannten Bakterien und niederen Pilze sind sicher unschädlich, denn sonst wäre das Menschengeschlecht schon längst aus- gestorben. Da staubreiche Luft mittels der scharf- kantigen mineralischen Bestandteile die Lunge und Schleimhäute stark angreift und anderseits die Er- reger der Tuberkulose, Cholera, des Typhus und anderer Krankheiten beherbergt, so hat man früh- zeitig dem atmosphärischen Staube große Auf- merksamkeit geschenkt. Ehrenberg hat schon 1830 mit der Staubuntersuchung in Berlin be- gonnen. Seither hat man gründliche Luftunter- suchungen vorgenommen in Carlsberg (A. Hansen), Dresden (W. Friese), Freiburg i. B. (F. Welz), Graz (F. U n g e r), Königsberg (G. W o 1 o d a r s k i), London (Mac Fadyen), Paris (P. Miquel, Paste ur), Prag (Nest 1er), St. Petersburg (A. Pawlowsky), Tokio (Saito), Voxholm (Se- iander), Wien (Mo lisch. Fr. Pich 1er), an vielen Orten Frankreichs (besonders Bounier). Die genannten Forscher untersuchten bald alle, d. h. die tierischen und pflanzlichen Mikroorganis- men, bald nur die eine oder andere Gruppe jener, z. B. die Bakterien, Infusorien. Mo lisch hat recht, wenn er meint : „Jede größere Stadt sollte nicht bloß eine genaue biologische Prüfung des Trinkwassers, sondern auch eine solche des atmo- sphärischen Staubes veranlassen, weil das in mehr- facher Beziehung und nicht zuletzt auch in hy- gienischer von Bedeutung ist." Literatur. H. Molisch: Biologie des atmosph. Staubes. (Vorträge d. Ver. z. Verbreit, naturwiss. Kenntn. i. Wien, 57. Jahrg., Heft 3.) 1917. Fried r. Pichler: Das Aeroplankton von Wien. (Denk- schrift, d. Akad. d. Wiss. Wien, 95. Bd. 1918, S. 279fif.) In diesen beiden Werken ist die hauptsächlichste Literatur angeführt. Ferner: Viele Arbeiten in hygienischen Zeitschriften; Mitteilungen in der Internat.-agr.-tecbn. Rundschau und in d. Mitteil. d. Deutsch. Dendrolog. Gesellschaft. 658 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVm. Nr. 4S Einzelberichte. Geologie. Der Kupferschiefer und seine Ver- hüttung fand auf der 3. Mitgliederversammlung des „Halleschen Verbandes für die Er- forschung der mitteldeutschen Boden- schätze und ihrer Verwertung" in der alten Bergstadt Eisleben, der Wiege des Mansfeld- schen Kupferschieferbergbaus, eine eingehende Be- sprechung, die im i. Heft des Jahrbuches des „Halleschen Verbandes" (Verlag Knapp, Halle) 19 19 weiteren Kreisen zugänglich ist. Über die Rücken im Mansfeldschen Revier und ihren Emfluß auf die Erzführung des Kupfer- schiefers gab Bergwerksdirektor Geipel (Jahrb. S. 21 — 40) interessante Mitteilungen. Der Kupfer- schi ef er gehört dem Unteren Zechstein an. Über dem Rotliegenden mit seinen leuchtend roten Sandsteinen, Konglomeraten und Schiefertonen folgt zuerst das Weißliegende, helle Sandsteine oder Konglomerate, darüber derK upferschiefer ein 40 — 50 cm mächtiger, schwarzer bituminöser, kalkiger, geschichteter Schiefer mit einem + hohen Gehalt an silberhaltigen sulfidischen Kupfererzen wie Kupferglanz, Buntkupfererz, Kupferkies, in geringen Mengen auch Sulfide anderer Metalle. Der Kupfergehalt schwankt zwischen 0,2 — 6"/,, und ist in den einzelnen Lagen des Flözes, für welche der Bergmann ebenso wie der Steinbruch- arbeiter seine Lokalbezeichnungen hat, verschieden verteilt. In der ,, groben Lette", etwa 3 — 4 cm über dem Weißliegenden, ist er am stärksten, ganz besonders aber in den ,,Rücken", wie der Bergmann seit altersher die den Schiefer durch- ziehenden Verwerfungsspalten bezeichnet. Am erzreichsten sind die Rücken im ,, Dachklotz", einer 20 cm mächtigen Bank des direkt an den Kupfer- schiefer im Hangenden angrenzenden Zechstein- kalkes. Seltener sind Erzeinsprengungen in der etwas höher liegenden „Fäule". Die Erzver- teilung ist im Dachklotz kugelig bis bohnenartig, in der Fäule an dünne das Gestein durchsetzende Klüfte gebunden. Ausnahmsweise kommen noch Kupfererze als Begleiter von Rückenspalten höher im Hangenden oder tiefer im Liegenden vor. Die Rückenspalten verlaufen WNW — OSO in der herzynischen Streichrichtung, der auch die Mansfelder Mulde und der Nordrand des Harzes folgt. Die Rücken treten in Gruppen oder Zügen verkettet auf und ziehen sich vom westlichen Aus- gehenden am Harz noch mehrere Kilometer weit in die Mansfelder Mulde hinein. Die Hauptrücken haben im allgemeinen eine Sprunghöhe von 20 bis 50 m und darüber. An der Ausfüllung der Rückenspalten beteiligen sich hauptsächlich Kalkspat und daraufsitzend der jüngere Schwerspat, hierauf bisweilen der noch jüngere Gips, außerdem noch Kupfer-, Kobalt- und Nickelerze, sowie Bleiglanz, Zinkblende, Schwefelkies, Molybdänglanz usw. Rücken mit kleiner Sprunghöhe sind häufig erzreicher als solche mit großer Sprunghöhe. Die Rücken sind wahrscheinlich im Tertiär entstanden. Noch heute steht das ganze Gebirge unter starkem seitlichen Druck, was sich beim An- fahren von Strecken im Liegenden wie auch bei frischen Anhieben des Flözes im unverritzten Felde zeigt. Über die Entstehung des Metallgehaltes im Kupferschiefer gehen die Meinungen auseinander. Posepny, Beyschlag u. a. nehmen eine epi- genetische (nachträgliche) Entstehung an und führen den Kupfergehalt des Schiefers auf eine Imprägnation mit Metallösungen zurück, die aus der Tiefe auf Rückenspalten aufgedrungen sind, wobei der Bitumengehalt des Schiefers reduzierend auf diese Lösungen gewirkt hätte. Zahlreiche Geologen sind dagegen der bereits von Lasius, Freiesleben und Cotta vertretenen Ansicht, daß der Niederschlag der Erze gleichzeitig (syn- genetisch) mit dem Schlamm erfolgte. Bei der ersteren Ansicht müßte man die stärkste Erzan- reicherung auf den Rücken mit der größten Sprunghöhe beobachten, da diese jedenfalls tief in das Liegende hinabsetzen. Dies trifft aber nicht zu. Vielmehr muß man annehmen, daß schwache Metallösungen in das flache Kupfer- schieferbecken hineinflössen und dort ausgefällt wurden, z. T. auch schon in kleinen Flitterchen und Körnchen durch die Gewässer eingeschwemmt wurden. Der Kupfergehalt der Oberflächenwasser der damaligen Zeit entstammt den Graniten, Porphyren und Melaphyren des Harzes und des Thüringer Waldes. Die Anreicherung des Kupferschiefers an den Rücken ist auf die Umsetzung der Kupfererze durch Grundwasserzirkulation zurückzuführen. In dem höher gelegenen jetzt denudierten Flözgebiet, das den Südharz bedeckte, bildeten sich oxydische Kupferverbindungen, die mit den Grundwässern auf den Rückenspalten in die Tiefe wanderten. Auffällig ist es, daß bisher ein erfolgreicher Abbau des Kupferschiefers nur in der Nähe des Harzes und Thüringer Waldes erfolgen konnte. In Westfalen führt das Flöz überhaupt kein Erz mehr. In der anschließenden Diskussion betonte u. a. Joh. Walther, daß man die mittelrotliegenden Erznierenschiefer mit Acanthodes von Goldlauter im Thüringer Wald als einen Vorläufer des Kupfer- schiefers ansehen kann. Der Kupferschiefer ist keine Meeresbildung. Die marinen Fossilien sind durch die Bildung des Kupferschiefers zum Ab- sterben gelangt, wogegen die Bewohner der süßen Gewässer des Rotliegenden Festlandes sich ver- mehren konnten. Der „Kupferschiefersee" ist höchstens einige m tief gewesen. V. Hohenstein, Halle. N. F. XVIII. Nr. 4S Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 6S9 Über „Neuernngen im Mansfeldschen Hütten- wesen" berichtete Abteilungsdirektor Franke (Jahrbuch S. 105 — 116). Die schmelzwürdigen Partien werden im Mansfeldschen „Minern" be- zeichnet und in 2 Gruppen „Schiefern" und „Dach- berge" eingeteilt. Die Schiefern sind das wichtigste Schmelzerz und gehören den unteren Lagen des Kupferschieferflözes an. Das Erz ist in feinverteiltem Zustand als Speise eingesprengt, doch auch in schmalen Schnüren und Anflügen. Der durchschnittliche Metallgehalt beträgt je Tonne 31 kg Kupfer und 170 g Silber. Die Dachberge stellen das Hangende des Kupfer- schiefers dar; sie neigen weniger zur Schichtung, sind bitumenärmer, karbonatischer und fester. Der Erzgehalt ist sehr unregelmäßig, zumeist in Form von Bohnen und Hieken eingesprenkt. In der Tonne sind etwa 15,3 kg Kupfer und 63 g Silber enthalten. Schiefer und Dachberge ge- mischt ergeben je Tonne 28 kg Kupfer und 150 g Silber. Die Verhüttung erfolgt auf feurig-flüssigem Wege und ist bei entsprechender Mengung von Schiefern und Dachberge eine ,, selbstgehende" (ohne Zuschlag). Die gesamte Verhüttung wird an Hand eines Stammbaumes übersichtlich ge- zeigt. Die Neuerungen betreffen das Verschmelzen der Minern in Wassermantelöfen ohne ihr voraus- gehendes Brennen in freien Haufen, die Reinigung der Gichtgase und die Herstellung von künst- lichem Molybdänglanz (wichtig für Veredelung des Stahles). Während des Krieges wurden 3 728 685 Tonnen Minern auf 73412 Tonnen Kupfer, 393099 kg Silber („Segen des Mansfelder Bergbaus") und 87919 Tonnen Schwefelsäure zu 50" Be verar- beitet. Die Mansfeldsche Kupferschiefer bauende Gewerkschaft hat damit Großes im Kriege geleistet. Auf sie entfällt der über- wiegendste Teil der deutschen Kupferproduktion. Deutscher Fleiß und deutsche Energie haben ebenso wie bei den phosphorhaliigen lothringi- schen Minetten erst eine lohnende Produktion ermöglicht. V. Hohenstein, Halle. Über die Verteilung des Metallgehaltes (Kupfer, Silber, Molybdän, Vanadin) im Richelsdorfer Kupfer- schiefer und über die Genesis des Flözes berichtet P. Kr u seh in der Zeitschr. f. prakt. Geol., XXVII, 1919, Heft 5, S. 76—84. In dem Richelsdorfer Gebirge zwischen Gerstungen und Bebra treten Rotliegendes und Zechstein innerhalb des ausge- dehnten Buntsandsteingebietes westlich vom Thü- ringer Walde zutage, nach Beyschlag die nord- westlich streichende Fortsetzung dieses Gebirges bildend. Der Kupferschiefer, von gebleichtem rotliegendem Konglomerat unterlagert, umsäumt den rotliegenden Sattelkern, mehr oder weniger von Verwerfungen durch Seitenverschiebung und Verkümmerung beeinflußt. Der Kupferschiefer ist sehr dicht und feinschiefrig bei vollkommener Spaltbarkeit. Sein Bitumengehalt reichte beim früheren Betriebe zum Abrösten aus. Im Profil unterscheidet der Bergmann zu unterst den bis 1 5 cm starken eigentlichen Kupferschiefer und darüberliegend die ,, Strebe" von 25 — 40 cm Stärke, die in den unteren Lagen noch erzführend ist und den Übergang zu dem mehr mergeligen, dünn geschichteten Zechstein bildet. Eine weitergehende Gliederung dieser beiden Hauptteile des Flözes konnte nicht in allen Teilen des Richelsdorfer Reviers durchgeführt werden. Überall ließ sich aber feststellen, daß die Dichtigkeit des Gefüges und der Gehalt an Metall und Bitumen vom Liegenden zum Hangenden abnimmt. Regional schwankt die Zusammensetzung des Flözes nicht unerheblich. Außer diesen ursprünglichen Ver- schiedenheiten im ganzen Profil des Flözes kom- men noch lokale vor, die vorzugsweise zu den zahlreichen , das ganze Gebiet durchsetzenden Verwerfungen in Beziehung stehen. Der Einfluß dieser Verwerfungen, der sog. ,, Rücken", auf den Kupfergehalt des Kupferschiefers ist bei Richels- dorf sehr verschieden, je nachdem die Rücken erzführend (Kobalt- und Nickelerze) oder taub sind. An den tauben Störungen zeigt sich eine Steigerung des Kupfergehaltes (bis zu 5 "/q), an den erzführenden Rücken dagegen nimmt der Kupfergehalt des Schiefers bis zur vollständigen Taubheit ab. Diese Einwirkung der verschiedenen Rückenausfüllung im Richelsdorfer Revier auf den Erzgehalt des Flözes ist wichtig und steht in den deutschen Kupferschieferrevieren vereinzelt da, da in diesen im allgemeinen eine veredelnde Wirkung der erzführenden Rücken beobachtet wird. Zu- sammenhängend mit einer Häufung edler Rücken ergibt sich für das Richelsdorfer Revier im Westen und Osten eine ungünstigere Ausbildung des Flözes und zusammenhängend mit bedeutenderen tauben Verwerfungen eine zweifelhafte Verbesserung in südlicher Richtung. Unter dem Kupferschiefer liegt das „Sanderz", d. i. mit Kupferkies impräg- niertes und entfärbtes Rotliegendes (sog. „Grau- liegendes"), mit einer häufig 5 cm und mehr er- reichenden Erzführung. Seine Verbreitung ist nicht durchgehend. Die Metallgehalte des Kupferschiefers sind erst durch die von den „Teutschenthaler Molybdän- werken" veranlaßten Untersuchungen befriedigend geklärt worden. Der Kupfergeh alt des Schie- fers beträgt etwa 3 "/ii oder etwas darüber oder darunter. Der Kupfergehalt des Sanderzes dagegen ist wesentlich höher und beträgt häufig das ein- einhalbfache (bis zu 5 "/„). Der Silbergehalt ist wesentlich niedriger als im Mansfelder Revier und scheint über 75 g in der Tonne nicht hinaus- zugehen. Er ist bedeutenden Schwankungen unter- worfen, die jedoch in keinem gesetzmäßigen Ver- hältnis zum Kupfergehalt stehen. Der Silber- gehalt der Sanderze ist ebenfalls wesentlich höher als der des Kupferschiefers (bis zu 120 g in der Tonne). Die Aufmerksamkeit weiterer Kreise erregte in den Kriegsjahren der Gehalt an Molybdän im deutschen Kupferschiefer. Das 66o Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVm. Nr. 45 IVIolybdän geht beim Hüttenprozeß in die Eisen- sauen, von denen Mansfeld vor dem Kriege 800 bis 1000 t mit ungefähr 5 "'„ Molybdän erzeugte. Der^ Molybdängehalt des Schiefers ist natürlich viel geringer. Zur einwandfreien Feststellung dieses minimalen Gehaltes mußten erst besondere Methoden ausfindig gemacht werden. Dabei hat sich herausgestellt, daß Speziallaboratorien für einzelne Elemente beim Nachweis sehr kleiner Mengen dieser Elemente nicht geeignet sind , da sie infiziert sind. Spuren dieser Elemente sind fast überall in diesen Laboratorien vorhanden, gehen in die Luft über und werden von hier auf die verschiedenen Objekte übertragen, so daß schließlich in jeder Probe das betreffende Element gefunden wird. Nachdem die Auffindung neuer, geeigneter Methoden mit Erfolg geschehen war, wurde der Molybdängehalt des Kupferschiefers im Durchschnitt zu 0,0175—0,018 */(, festgestellt. Der Molybdängehalt schwankt regional etwas. Von besonderem Interesse ist außerdem, daß der Mo- lybdängehalt im Flöz nach oben nicht ab, sondern sogar etwas zuzunehmen scheint, während der Kupfergehalt ein entgegengesetztes Verhalten zeigt. Der Molybdängehalt steht also in keinem direkten Verhältnis zum Kupfergehalt. Auch beim Sanderz zeigt sich die völlige Unabhängigkeit vom Kupfer, da es fast kein Molybdän enthält. Wesentlich höher ist der Vanadingehalt, er beträgt in dem sog. „Abschäler", dem liegendsten Teile der „Strebe", 0,05 °l^, also fast viermal soviel als der Molybdängehalt. An verschiedenen Stellen ent- nommene Kupferschieferproben enthielten im Durchschnitt 0,04 % Vanadin , das ist mehr als das Doppelte des Molybdängehaltes. Auch der Vanadingehalt zeigt regional nur geringe Schwan- kungen, die jedoch in keiner Beziehung zu der Rückenverteilung stehen. Vergleicht man die Ergebnisse der Untersuchung auf Molybdän und Vanadin, so zeigt sich eine ganz auffallende Über- einstimmung im allgemeinen Verhalten. Beide sind vom Kupfer unabhängig und gehorchen in bezug auf ihre Verteilung in vertikaler Richtung den gleichen Gesetzen. Von sekundärer Metall- verschiebung sind beide nicht betroffen worden. Auf die interessanten, ausführlichen Darlegungen des Verf über die Genesis des Kupferschiefers kann hier leider aus Raummangel nicht näher ein- gegangen werden , nur die Endergebnisse seien kurz mitgeteilt: „Die heute in dem Kupferschiefer auftretenden Reichsulfide sind durch Zementation entstanden, das primäre Erz dürfte nach dem Auf- treten des Kupfers im Sanderz der Kupferkies sein. Wegen der fast völligen Umlagerung des ursprünglichen Erzgehaltes im Schiefer ist es sehr schwierig, in eine Diskussion über die Entstehung des primären Kupfergeh altes einzutreten, auf den sich alle bisherigen Arbeiten beziehen. Die herr- schende Ansicht nimmt den bekannten primären Absatz des Kupfererzes an. Ein exakter Beweis hierfür ist bei der geschilderten Sachlage unmög- lich, indessen ist die Ähnlichkeit zwischen den Kupfer- und den Alaunschieferflözen eine derartig auffallende, daß man das Recht hat, auf eine gleiche, also primäre Entstehung beider Erzvor- kommen zu schließen, zumal die Beweise für eine außerordentlich ausgedehnte permische Kupfer- formation auch in anderen Ländern \orliegen." F. H. Zoologie. Mit 2 Abbildungen. Abgesehen von seinem schaufelartigen Geweih zeichnet sich der Elch oder das Elen (Alce alces L.) vor den anderen Hirschen durch die Größe seiner Nase und Ober- lippe aus, die zu einer Art Rüssel umgebildet sind. Die Anatomie des Elchgesichtsschädels hat A. Jacobi kürzlich untersucht und dabei folgende Einzelheiten feststellen können.^) Abb. 1. Kopf von Alce alces L. 9- Etwa '/o "^t. Größe. Nach A. Jacobi. Abb. 2. Nasenknorpel von Alce alces L. freipräpariert. Etwa 1/3 nat. Gröi3e. Nach A. Jacobi. a Nasenscheidewand, b dorsaler Seitenwandknorpel von links, c ventraler Seiten- wandknorpel, d Intermaxillare, e keilförmiger Vorsprung des Seitenwandknorpels, f An^atzknorpel mit seinem Querstück f, g S-förmiger Knorpel. Die Nase des Elchs ähnelt beim äußeren An- blick sehr der des Pferdes. Sie ist wie diese breit mit großen Nüstern, so daß die Oberhppe eine fast viereckige Form annimmt. Diese selbst ist außerordentlich stark, wulstig und hängt beträcht- lich über die Unterlippe herab. Im Profil gesehen ') Arnold Jacobi, Die Nase des Elchs (Alce alces L.) — Anatom. Anzeiger. Jena 52. Bd. 1919- S. 41 — 46. 5 Fig. N. F. XVm. Nr. 45 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 66 1 ist die Schnauze besonders in der JVIitte stark auf- getrieben, so daß der Nasenrücken fast in gleicher Höhe mit der Stirn liegt, und nicht in gerader Linie abfallend, wie bei den meisten Wiederkäuern (Abb. i). Die Lippen sind sehr beweglich und stellen eine Art Greiforgan dar, durch das der Elch hervorragend befähigt wird, Zweige und Blätter bei der Nahrungsuche abzureißen. Die anatomische Uniersuchung der Nase zeigte, daß das Knochengerüst im Verhältnis zur Höhe und Breite des Organs unbedeutend ist. Die Na- salia sind so verkürzt, daß sie sich mit den Inter- maxillaria gar nicht berühren. Dagegen überragen die inneren Nasenknochen, insbesondere die IVlaxil- loturbinalia die Nasalia um die Hallte ihrer Länge. Im Gegensatz hierzu ist das Knorpelgewebe außer- ordentlich stark entwickelt, und übertriffc bei weitem das der anderen Huftiere, so daßjacobi geradezu von einem „Knorpelskelett" spricht (Abb. 2). Die knorpelige Nasenscheidewand ist weit nach vorn ausgezogen, dient dorsal als Wider- lager für das Nasenleid (Muft'elj, ventral als Ver- längerung des Zwischenkiefers, „um der wulstigen Oberlippe eine Stütze zu bieten". Von der Scheide- wand zweigt sich dorsalwäris ein Seitenwand- knorpel ab, der sich durch eine dickwandige Auf- wölbung auszeichnet, die auch äußerlich die Llch- nase hinter dem Nasenloch wie aufgeblasen er- scheinen läßt. Entsprechend der starken Ausbildung des Knorpelskeletts ist auch die Muskulatur außer- ordentlich kräftig entwickelt. Insbesondere hat der die Bewegung der schweren Oberlippe regelnde Nasenhppenheber, M. levator nasolabialis, eine große Ausdehnung erlangt, er überzieht das ganze knorpelige Nasengerüst wie eine Kapuze und ist vor den übrigen Boiden und Cerviden ausge- zeichnet durch die mediane Halbierung für beide Kopfseiten und den getrennten lateralen Ursprung jeder Hälfte. Bei den übrigen Nasen- und Lippen- muskeln ist besonders die Länge der Sehnenab- schnitte bemerkenswert. Ferd. Müller. Ein Beitrag zur Kenntnis der Tiefseefische (Organe der inneren Sekretion). Wenn man als Organe der inneren Sekretion oder als Organe, die „Hormone" abscheiden, die hier und da zu findenden Drüsen ohne Ausführungsgänge betrachtet, sofern sie reich an Blutkapillaien sind, die den Drüsenzellen unmittelbar anliegen und mithin das Sekret ins Blut aufnehmen können, demnächst sofern sie nervenreich sind, ohne daß sie indessen von erheblicher Größe sein müßten (Beispiel: Hypophysis), dann sind, nach J. Nusz- baum-Hilarowicz,^j folgende bei Tief See- fischen gefundenen Organe als Organe dieser Art anzusprechen: i. bei Argyropelecus hemi- gymnus (Cocco) ist der größte Teil des vorderen ') J. Nuszbaum-Hilarowicz, Über einige bisher unbekannte Organe der inneren Sekretion bei den Knochen- fischen. Anatom. Anzeiger Bd. 49, 1917, S. 354 — 367. Nierenabschnittes und ein großer Teil des mitt- leren Nierenabschniites in ein solches Organ um- gewandelt. Jede der großen, sehr körnchenreichen Zellen ist dicht von Blutkapillaren umsponnen. 2. Schon B. Haller fand bei der Forelle an der Nieie einige Stellen, „welche die Form sich rück- bildender Malpighischer Körperchen darstellen". Solche Rudimente von Malpighischen Körperchen fand auch Nußbaum bei Tiefseefischen der Gattungen Argyropelecus und Gonostoma, wo ihm ihr Auftreten in stets bestimmter Zahl und Lage aulfiel nebst Strukiureigentümlichkeiten der erwähnten Art: das modifizierte Epithelgewebe bildet solide Stränge, die von Kapillaren um- sponnen sind, Auslührungsgänge oder Verbindun- gen mit den Nierenkanälchen fehlen, und in einem Falle wurden besondere, mit den Körperchen zu- sammenhängende Nervenganglien festgestellt. 3. Bei dem liefseefisch Stomias boa gibt es ein derartiges subösophageales Drüsenorgan. 4. End- hch trefien auf viele Leuchtorgane von Tief- seefischen obige Kriterien zu, wie zum Teil schon aus den Angaben Lende nfelds sowie Brauers hervorgeht. Man bemerkt in ihnen ferner auch den Zerfall von Zellen unter Auftreten großer tropfenartiger Sekretmassen. Die Leuchtorgane dürften demnach unbeschadet ihrer ökologisch wichtigen Funktion — - nach Brauer am wahr- scheinlichsten Kennzeichnung der Artgenossen — auch wichtige Organe der inneren Sekretion sein, und für alle hier erwähnten Organe dränge sich der Gedanke auf, besondere Lebensbedingungen der großen Seetiefen lassen viele besondere Re- gulalionsapparate der physiologischen Funktionen unentbehrlich erscheinen. — In jedem Falle sind diese Angaben, deren endgültige Veröffentlichung in den Publikationen von Monaco nach nunmeh- rigem Kriegsende bald erfolgen dürfte, beachtens- werte Beiträge zur Kenntnis der Tiefseefische. V. Franz, Jena. Die Biologie des Aales hat in den Arbeiten der Fischereibiologen in den letzten Jahrzehnten einen breiten Raum eingenommen. Es dürfte bekannt sein, welche bedeutungsvollen Fort- schritte die Aalforschung gemacht hat, soweit sie die Wanderungen und die Laichstätten des Aales betrifft. Weniger Kenntnis herrscht auch in Zoolügenkreisen über die Probleme und die Ergebnisse dieses Zweiges der angewandten Zoologie bezüglich der Lebensverhältnisse des Aales im Süßwasser. Es ist schon ziemlich lange bekannt, daß die in verschiedenen Seen zu glei- cher Zeit eingesetzten Setzaale ein ganz verschie- denes Wachstum zeigen. Es wurden daher von Ehrenbaum und Marukawa Methoden aus- gearbeitet, welche eine einigermaßen sichere Altersbestimmung der Aale ermöglichten, woraus sich erst Feststellungen über die Schnelligkeit des Abwachses ergeben konnten. Über diese hatte nun Marcus eine umfangreiche Unter- 662 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 45 suchung angestellt, die nach seinem Tode in Rumänien im 2. Beiheft zum Jahrbuch der Ham- burgischen Wissenschaftlichen Anstalten, IVlittei- lungen aus dem Zoologischen Museum in Ham- burg XXXVI. 1918 erschienen ist. Wulf ver- öffentlicht einen kurzen Auszug hiervon im „Fischerboten" XL Jahrg., Nr. 5/6, 1919. Die untersuchten Aale entstammten den ver- schiedensten Gewässern, und zwar sowohl fließen- den Gewässern wie stehenden und dem deutschen Wattengebiet. Die Altersbestimmung wurde ent- sprechend der von Ehrenbaum und Maru- kawa angewandten Methode durch Untersuchung sowohl der Schuppen wie der Otoliihen vorge- nommen. Bekanntlich wird aus der Bildung der Anwachsringe dieser beiden das Alter berechnet, da sich während der Zeit des geringeren Wachs- tums des Fisches (meist der Winter) schmalere Zuwachsstreifen an Schuppen und Otolithen bilden als in der Zeit des starken Wachstums. So wechseln an diesen Gebilden Zonen breiter An- wachsstreifen mit solchen schmaler ab. Oder es bilden sich überhaupt nur zu gewissen Jahres- zeiten Zuwachsstreifen. Marcus konnte nun zeigen, daß die Schuppen viel zeitiger im Jahre mit der Bildung von Zuwachs beginnen als die Otolithen. Bei den Schuppen begiimt dieser ver- einzelt im Juni, Juli und August, spätestens im September und ist im November oder bereits Ende Oktober beendet. Bei den Otolithen ist der Beginn frühestens im August zu beobachten und endet im November. Hieraus werden dann speziellere Vorschläge über die Altersberechnung und Benennung beim Aal, die ja ein sehr strittiges Kapitel ist, abgeleitet. Was das Wachtum anbetrifft, so unterscheidet Marcus schlecht-, mittelmäßig- und gutgewach- sene Aale. Am schlechtesten wachsen die Aale, welche in der Nähe ihres Geburtsortes, des atlan- tischen Ozeans, bleiben, so die an der irischen und englischen Küste gefangenen. Die kurzen Flußläufe hier können den großen Mengen in sie eindringender Aale keine genügende Nahrung dar- bieten, daher findet ein so schlechtes Wachstum statt. Diese Übervölkerung mit dem Erfolg des schlechten Zuwachses berechtigt aber auch zu dem für die Praxis wichtigen Schluß, daß eine Hebung der Aalproduktion in diesen Gewässern nicht möglich ist (wenigstens nicht im Sinne einer zahlenmäßigen Vermehrung des Aalfanges. D. Ref) Ein besseres Wachstum zeigen die deut- schen Gewässer. Zu den weniger günstigen Wasserläufen sind hier der Rhein, die Trave bei Lübeck, die Weser bei Bremen u. a. zu rechnen. Auch in der Ostsee bei Karlskrona liegen die Verhältnisse nicht so günstig wie in der Unter- elbe, die als Maßstab betrachtet wird. Die Ost- see bei Swinemünde, der Schmollensee in Pom- mern, die Trave bei Schlutup u. a. weisen mittel- mäßig gewachsene Aale auf Die gutgewachsenen Aale stammten sämtlich aus Seen oder aus see- artig erweiterten Flußläufen (z. B. Havel bei Potsdam, Paprotker See u. a.). In geschlossenen Seen ist das Wachstum offenbar am besten, wie auch Ehrenbaum und Marcus bereits früher ang-enommen hatten. WiUer. Bücherbesprechimgen. Schmidt, Dr. Joh., Der Zeugungswert des Individuums beurteilt nach demVer- fahren kreuzweiser Paarung. Jena 19 19, G. Fischer. 1,50 M. Die äußerlich sichtbaren Eigenschaften eines Individuums geben noch keinen Anhalt zur Be- urteilung der Nachkommenschaft, Phänotypus und Genotypus sind streng auseinanderzuhalten, das war das wichtigste Ergebnis, das Johannsen aus seinen Untersuchungen über reine Linien ab- leiten konnte. Oder, wie sich der Verf der vor- liegenden kleinen Schrift allgemeiner verständlich ausdrückt, der persönliche Wert eines Individuums sagt noch nichts über seinen Zeugungswert aus. Das was an Erbgut in ihm steckt, wird erst offenbar, wenn man die Nachkommenschaft prüft. Das ist am leichtesten möglich, wenn bei zwitt- rigen Organismen , wie es die meisten Pflanzen sind, durch Selbstbestäubung reine Linien ge- zogen werden. Sobald aber bei getrenntgeschlecht- lichen Organismen oder bei zwittrigen durch Fremdbefruchtung zwei Individuen ihre Anlagen in der Nachkommenschaft vereinigen, ist es schwieriger, den Anteil jedes der beiden Eltern an dem Aufbau der Nachkommen , mit anderen Worten ihren Zeugungswert festzustellen. Der Verf hat nun eine Methode durchdacht und aus- gearbeitet, deren theoretische Grundlage zwar nicht neu ist, aber doch für die Praxis noch nicht hinreichend nutzbar gemacht wurde. Er nennt sie die Methode der kreuzweisen Paarung. Sie ist anwendbar nur bei solchen Eigenschaften, die durch Gradunterschiede derselben Einheit ausge- drückt, also durch Messung und Wägung festge- stellt werden können. Er geht dabei von der zwar experimentell bisher nicht genau bewiesenen, ihm aber theoretisch begründet erscheinenden Annahme aus, daß der Durchschnittswert einer bestimmten quantitativen Eigenschaft bei den Nachkommen gleich ist dem arithmetischen Mittel aus den Werten der gleichen Eigenschaft bei den Eltern. Um einen möglichst genauen Durch- schnittswert zu erhalten, muß die Nachkommen- schaft möglichst groß sein; ferner müssen selbst- verständlich die Nachkommen unter möglichst gleichen Bedingungen aufwachsen, damit der ja ebenfalls quantitativ wirkende und deshalb beson- ders störende Einfluß der äußeren Bedingungen N. F. XVIII. Nr. 45 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 663 tunlichst verkleinert wird. Bezeichnet man nun den unbekannten Zeugungswert für irgendeine quantitativ zu erfassende Eigenschaft beim Weib- chen mit y beim Männchen mit x, und den bei der Nachkommenschaft ermittelten Durchnittswert mit d, so würde die Gleichung gellen ^^+y=d. 2 Wird nunmehr dasselbe Weibchen mit einem an- deren IVlännchen gekreuzt, dessen Zeugungswert in bezug auf die studierte Eigenschaft Xj sein möge, so ergibt sich die Gleichung ^^^±y=d, 2 ^ Führen wir nun noch ein anderes Weibchen (mit dem Faktor yj) in den Zuchtversuch ein und kreuzen dies mit den beiden Männchen, so erhalten wir zwei weitere Gleichungen: x + yi 2 xi+yi = d„ = d3. und Aus diesen vier Gleichungen läßt sich dann leicht die Differenz x- — Xj und y — y, berechnen und damit feststellen, welches Männchen resp. Weibchen dem andern überlegen ist. Man würde also dann unter den zur Auswahl stehenden Zuchttieren das Männchen und das Weibchen be- stimmen können, durch deren sexuelle Verbindung eine in Ansehung des betrachteten Merkmals möglichst günstige Nachkommenschaft zu erzielen wäre. Verf hat nun die Brauchbarkeit dieser Methode an Forellen geprüft. Als quantitative Merkmale dienten ihm die Zahl der Wirbel und die Körperlänge. Gleiche Entwicklungsbedingun- gen waren dadurch gewährleistet, daß die jungen Fische dann untersucht wurden, wenn sie gerade ihren Dottersack aufgezehrt hatten. Die sehr große Nachkommenschaft: war günstig für die Bestimmung der Durchschnittswerte. Die Ver- suche zeigten, daß die Voraussetzungen, auf denen Verf seine Methode aufbaut, richtig sind, daß man also auf diesem Wege wirklich die Zucht- tiere mit ziemlicher Sicherheit auswählen kann, die sich für die Weiterzucht am besten eignen. Verf spricht den Wunsch aus, daß die Praktiker veranlaßt werden möchten, seine Methode in die Praxis zu übertragen. Bedingungen für ihre An- wendbarkeit würden sein : genau meßbare Eigen- schaft, nicht zu geringe Nachkommenschaft, mög- lichst rasche Entwicklung und Aufzucht derselben unter möglichst gleichartigen Bedingungen. Ferner würden sich selbstverständlich nur solche Merk- male für diese Methode eignen , die im Bastard intermediär sind. Da der Verf es verstanden hat, den Gegenstand klar und faßlich darzustellen, kann die kleine Schrift auch den Praktikern emp- fohlen werden. Miehe. Das Pflanzenreich, herausgegeben von A. Engler. Leipzig, W. Engelmann. Heft 68 32 M., Heft 69 40 M. Jedes neue Heft des großen Werkes begrüßen wir mit neuer Freude und Genugtuung. Sehen wir doch, wie dies gewaltige Unternehmen, das als einziges seiner Art einen unzerstörbaren Ruhmestitel der deutschen Wissenschaft darstellt, auch trotz der Not der Zeit in rüstigem Fort- schreiten begriffen ist. Das 69. Heft bringt den Schluß der Gattung Saxifraga, der bereits das 67. Heft gewidmet war. Eng 1er hat hier auf Grund jahrzehntelanger Studien unter Mithilfe seines Schülers Irmscher eine klassisclie Monographie der Gattung Saxifraga vollendet, einer Gattung, die wegen ihres ungeheuren Formenreichtums und ihrer geographischen Verbreitung ein be- sonderes Interesse beansprucht. Den Schluß dieses Helles bildet der allgemeine Teil, in welchem Engler in zusammenhängender Darstellung ein Gesamtbild der Gattung entwirft. Im Hett 68 haben F. Fax und Käthe Hoffmann die Be- arbeitung der interessanten Familie der Euphor- biaceae fortgesetzt, und zwar behandeln sie die F"ormenkreise , die sich um die Gattungen Plu- kenelia, Epiprinus, Ricinus, Dalechampia und Pera erstrecken. Daran schließt sich als VI. Anhang zu der Familie der Euphorbiazeen eine syste- matische Übersicht über die Gruppe der Euphor- biaceae-Crotonoideae, wie sie sich nach dem nun- mehr erreichten Stande der Kenntnisse darstellt. Außerdem ist in diesem Hefte von K. Hoff- mann die kleine, nur aus der Gattung Daphni- phyllum bestehende, mit den Euphorbiazeen nahe verwandte Familie der Daphniphyllaceae behandelt worden. Miehe. Kühn, Prof Dr. A. , Die Orientierung der Tiere im Raum. Mit 40 Textabbildungen. Jena 19 19, G. Fischer. 4 M. In dieser akademischen Antrittsrede verfolgt der Verf in sehr anregender Weise die Frage durch das Tierreich, wie die Orientierungs- bewegungen zustande kommen, welche Reize und wie sie die Auslösung bewirken, wie die Bewegung verläuft, welche Bedeutung sie für das Tier be- sitzt usw. Nachdem er kurz die Tropismen festgewach- sener Tiere berührt hat, die ja nur eine im Gegen- satz zu den pflanzlichen Tropismen unbedeutende Rolle im Tierreich spielen, geht er zu den Be- wegungen frei beweglicher Tiere über, zu den Taxien, und zwar zunäciist zu den chemotaktischen und galvanotaktischen Reaktionen von Mikro- organismen. Er unterscheidet hier, wie üblich, die echten Orientierungs- oder Einstellungsreak- tionen als topische Taxien von den zu Ansamm- lungen führenden phobischen Taxien, die durch eine Unterschiedsempfindlichkeit zustande kom- men. Dann wendet er sich zu seinem eigent- lichen Thema, nämlich zu den Orientierungs- reaktionen vielzelliger Tiere, die sich von den 664 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVin. Nr. 4S vorher behandelten dadurch unterscheiden, daß in den Reizvorgang nervöse Prozesse eingehen. Reizaufnehmeapparate treten unter Vermittlung nervöser Bahnen mit Bewegungsorganen zu einein Reflexmechanismus zusammen; die mannigfaltigen Einstellungsreaktionen müssen auf die Eigenart des Reflexapparates der betreffenden Tiere zurück- geführt werden. Der Verf. gelangt zu der Auf- stellung der folgenden Begrifife: Tropotaxis (von tQentiv wenden). Die Tiere stellen sich so in ein Reizfeld ein, daß rechte und linke Flanke gleich stark vom Reiz getrofien wer- den. Sie beruht auf einer Erregungssymmettie im Nervensystem und auf einer symmetrischen Anspannung der Muskulatur. Die Organismen drehen sich so lange, bis symmetrische Punkte der Sinnesflächen gleich stark vom Reiz erregt werden und behalten dann bei weiterer Bewegung diese Beziehung bei. Menotaxis (von fisveiv bleiben). Es gibt Be- wegungen, die auch zu einer Einstellung in eine bestimmte Richtung führen , ohne daß eine Ein- stellung in eine Reizsymmetiie stattfindet. Die Tiere suchen in einer bestimmten relativen Lage zur Richtung des Reizes zu bleiben, indem sie eine bestimmte Reizverteilung auf der Sinnesfläche konstant halten. So laufen Raupen im Licht in einer primär durch irgendwelche innere Reize festgelegten Richtung geradlinig weiter, was sie im Dunkeln nicht vermögen. Telotaxis (von to xeXog das Ziel). Die Richtung der Bewegung wird nach einem Ziel orientiert. Das Tier hält reflektorisch eine bestimmte Er- regung, z. B. eine Gesichtswahrnehmung auf der- selben Netzhautstelle, der Fixierstelle, fest und richtet seine Fortbewegung in die Projektions- richtung dieser Reizquelle auf seinen Körper. Mneniotaxis (von >] ini\(.n] die Erinnerung). Die Bewegung der Tiere wird durch Erinnerungsbilder geleitet, d. h. durch die Residuen früherer Reize. Auf solche Weise gelangen Tiere an ein Ziel, das unmittelbar nicht auf ihre Sinnesorgane wirkt. Bei der Rückkehrbewegung z. B. von Bienen, Vögeln usw. kommt dazu noch die merkwürdige Komplikation hinzu, daß die Engramme des Hin- wegs für den Rückweg in umgekehrter zeitlicher und räumlicher Anordnung wirksam werden müssen. Einfache und lehrreiche Abbildungen sowie Literaturzitate und Anmerkungen erhöhen den Wert des Buches, das allen empfohlen sei, die sich durch einen der interessantesten und wichtig- sten Gedankengänge der organischen Natur führen lassen wollen, nämlich durch die Entwicklungs- geschichte des tierischen Reizlebens. Miehe. Anregungen und Antworten. Zum Gesang der Vögel während der Schlacht. Oft ist während des letzten Krieges zwar das Verstummen des Vogel- gesangs während der Kanonaden beobachtet worden, doch die Lerche pflegte auch dann noch dreinzuschmettern. In anderen Fällen hat man auch während des größten Lärms Vogelgesang in den Zweigen gehört und ihm Gemütswerte entnommen. Solche Beobachtungen berührte schon Gottfried Keller in seinem ,, Prolog zur Feier von Beethovens hundertstem Geburtstag in Zürich 1870": „Man sagt, daß in der Völkerschlacht, Wo donnern Stück und Wagen, In schmelzenden Gesanges Fracht, Als war' der schönste Lenz erwacht, Die Nachtigallen schlagen. In Busch und Baum die Schlacht entlang Verborgen in den Wettern, Wetteifernd mit Drommetenklang Und der Gefallnen Wettgesang Hört man die Triller schmettern. Sie halten den Streit für Frühlingslust, Den Tod für holdes Mmnen, Sind keiner Sorge sich bewußt — Da fährt das Blei durch ihre Brust Und reißt das Nest von hinnen. Auch daß Vögel durch Granatsplitter getötet wurden, ist im Deutschen Verteidigungskriege gelegentlich beobachtet worden. V. Franz. Druckfehlerbetichtigung : In dem Aufsatz A. Hansens über den „Rhodischen Genius" (Nr. 37J muß es auf S. 528, Sp. 2, Zeile I v. o. statt i'^^'« heißen vyod. Literatur. Möbius, Prof. Dr. M., Botanisch-mikroskopisches Prak- tikum tür Anfänger. Mit 16 Abbildungen. 3. Aufl. Berlin 1919, Gebr. Bornträger. 6 So M. Disper, P., Theorie der Entwicklung der Kometen aus den Prinzipien der Gravitation. Montabaur 1919, W. Kalb. 3 M. Zell, Dr. Th., Tierbeobachtungen. Stuttgart 1919, F'rankh- sche Verlagshandlung. 1,50 M. luliult: V. Franz, Die Augendrüsen der Wirbeltiere. S. 649. Franz Matouschek, Das Aüroplankton. S. 055. — Einzelbericbte: Geipel, Über die Rücken im Mansfeldschen Revier und ihren Kintluß auf die Erzfübruug des Kupferschiefers. S. 658. Franke, Neuerungen im Mansfeldschen Hüttenwesen. 8.659. P. Krusch, Die Verteilung des Metallgehaltes (Kupfer, Silber, Molybdän, Vanadin) im Richelsdorfer Kupferschieier. S. 659. A. Jacobi, Ana- tomie des Elchgcsichtsschädels. (2 Abb.) S. b6o. J. N u s z b a u m ■ H i 1 aro w i cz , Ein Beitrag zur Kenntnis der Tiefsee- fische (Organe der inneren Sekretion). S. 661. Marcus, Biologie des Aales. S. b6l. — Bücherbesprechungen: Joh. Schmidt, Der Zeugungswert des Individuums beuiteilt nach dem Verfahren kreuzweiser Paarung. S. 662. Das Pflanzenreich. S. 663. A. Kühn, Die Orientierung der Tiere im Raum. S. 663. — Anregungen und Antworten: Zum Gesang der Vögel während der Schlacht. S. 664. — Druckfehlerberichligung. S. 664. — Literatur: Liste. S. 6t)4. Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, InvalidenstraSe 42, erbeten. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck der G. Pätz'schen Bucbdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue Folge 18 Band: der ganzen Reihe 34. Band, Sonntag, den i6. November igig. Nummer 46. Zur Geschichte der Kakteen. Von Prof. Dr. S. Killermann, Regensburg. [Nachdruck verboten.] Mit I Abbildung. Eine besondere Eigentümlichkeit der amerikani- spitzen Dornen,^) die saftigen dicken Blätter, die sehen Wüstenvegetation bilden bekanntlich die roten feigenähnlichen, eßbaren Früchte müßten Kakteen. Die Zusammenstellung solcher Gewächse doch von den alten Auto- mit ihren fast stereometrischen Formen in einem ren genauer beschrieben worden sein. Als die Pflanze eingeführt war, suchte man natürlich ihr einen wissenschaftlichen Namen zu geben und ver- mutete hinter ihr die oft Glashaus, wie das jetzt in dem neuen Botanischen Garten zu München-Nymphenburg unter der Ägide des Herrn Geheimrats Dr. v. Goebel zur Ausfüh- rung gekommen, übt auf jeden Besucher einen großen und unauslöschlichen Eindruck aus. Die erste Kaktee, welche nach Europa ge- bracht worden und sich bei uns im Süden ganz schwer erklärbaren Pflan- eingebürgert hat, ist die sog. indische Kaktus- zen der klassischen Schrift- feige (Opuntia Ficus carica L. oder indica Miller), steller. An dem Namen Sie ist jetzt in den Mittelmeergegenden so ver- Opuntia Ficus indica, breitet und steigt sogar bis in die Berge Südtirols sagt De Candolle- (Bozen) herauf, so daß man kaum glauben möchte, Goeze (Der Ursprung daß sie nicht einheimisch wäre. Ältere Botaniker, der Kulturpflanzen S. 343 so K. Sprengel, ^) hielten sie auch für die u. 344), ist alles falsch und OpuntiaunddenCactus desTheophrast. 0. F'raas") lächerlich: „Sie stammt will die letztere Pflanze mit der Artischocke iden- nicht von Indien, sondern tifizieren, bemerkt aber, daß die Gleichung sehr von Amerika." schwierig sei und daß er sie „fast für Cactus Einige wenige altwelt- Opuntia halten möchte, obgleich gewöhnlich des- liehe Kakteen sind aller- sen Einwanderung aus Amerika angenommen dings jetzt nachgewiesen wird". worden,-) besonders eine Der Bericht bei Theophrast^) ist übrigens Rhipsalis - Art (Cassyta merkwürdig genug: „Noch wunderbarer ist es, Gärtn.); zuerst hat sie sagt er, in gewisser Art, wenn sie (die Pflanzen) Welwitsch im portugie- aus den Blättern Wurzeln ansetzen, wie bei dem sischen Westafnka, dann Fruchtkraut, das bei Opus vorkommt und auch Joh. Braun in Deutsch- zum Essen süß ist" (lib. I c. 7, 3). Und weiter: Westalrika an den Edea- „Der sog. Kaktus wächst nur in Sizilien, in Griechen- fällen festgestellt. Auch land dagegen nicht. Ganz eigenartig ist dies Ge- auf Ceylon, Madagaskar wachs ; es setzt nämlich gerade über der Wurzel usw. hat man sie gefun- oberirdische Stämme an und hat breite und dor- den. Seh u man n glaubt, nige Blätter. Man nennt diese Stengel Kaktus; daß diese Pflanze infolge sie sind eßbar, zwar etwas bitter, und man be- des leimartigen Saftes wahrt sie in Salzwasser auf" (lib. VI c. 4, 10). Es ist aber sonst keine Spur von Kakteen, weder in Samenfunden noch in Abbildungen aus dem Altertum auf uns gekommen. Die langen Kakteendorn (f), grau, braunrieckig, 8 cm lang, als Christusdorn im Domschatz von Kegensburg aufbewahrt. der Beeren vielleicht durch Vö^el so weit verbreitet wurde. Es ist übrigens ') Geschichte der Botanik I. Bd. S. 73. -) Synopsis plantarum florae classicae S. 202. ') Theophrasti Eresii Historia plantarum ed. Fr. Wim- mer Vratislaviae 1842. . . . . . Toi'Tco jtiä/,/,01' (Üs ToÖTioi' TLra doLVfiaGiCüXEOQV £1 ri eye Tcöp ^vlliof aifiriat ^i^rw cuör (faoi Tte^i 'OnovfTa TTOuiowr eirai 8 y.rü eOt)ieodai iajiv jjSv (S. 26). 7} de y.äy.ro^ xa?.ovaefr] Tisot ^ty,t}.iai' fiöi'ov^ h' rrj ' E).).ädt de oiy. eOTiv. wiov de Tiaod Tal/.a ro ^i'iör. d(firj(Ji yd^ eidijü dnö 7f]i ^''b'7» yavloi'^ 70tT0vs y.äxjovi. iS'töd'ifioi Öä elOL TTeQtXenöfjevot fiiy^öv a:Tl7iiK^oi, yai Oi^odvoi^ovoir aiiov^ ii' äliir (S. 219). ') Im Regensburger Domschatz ist ein Dorn von der „Dornenkrone Christi" in einem gotischen Glasgefäß (s. Abb.) aufbewahrt, ein feiner grauer, etwa fingerlanger (S cm) und nur 2 mm dicker nadelartiger Dorn, in dem ich einen Kakteen- slachel vermute. Die sonstigen z, B. in Paris (St. Chapelle), Kloster Andechs (bei München) aufbewahrten, sicher sehr alten Dornen gehören in die Zizyphus-Gruppe, die in Palästina sehr häufig ist und aller Wahrsciieinlichkeit zu jenem Zweck benutzt wuide. Wie aber dieser Kakteenstachel in den mittel- alterlichen Domschatz gelangte, ist mir einstweilen unerklärlich; sicherlich mußte er einmal als Rarität gegolten haben. *) Vgl. Engler-Prantl, Natürliche Ptlanzenfamilien III. Teil, Abt. 6a. Cactaceen von K. Schumann (Leipzig 1894) S. 172. 666 Naturwissenschaftliche Wochenschrift, N. F. XVm. Nr. 46 eine nicht besonders auffällige, stachellose, epiphy- tisch wachsende Pflanze. Die ersten Nachrichten und Abbildungen von Kakteen finden sich 1535 bei H. O viedo 'j libro Vlll (fol. 85/86) und libro X (fol. 92); der Autor war Statthalter von Hispaniola und Darien und kannte also die Gewächse aus eigener Anschauung. Er stellt uns vor allem eine Cereus-Art vor und dann zwei Opuntien. Von der ersteren. schreibt er, daß sie „hohe und gerade Disteln darstellt, größer als Lanzen oder vielmehr als lange vierkantige und dornige Spieße; die Christen (Spanier) heißen sie Lirios, weil sie wie Wachskerzen oder Fakeln erscheinen, abge- sehen von den Dornen. Sie sind ganz grün und so hoch wie eine Lanze, einige wie em Spieß, andere wieder kleiner und so dick wie die Wade eines Menschen, welche weder dick noch mager sei. Sie tragen eine karmoisinrote Frucht".^) An zweiter Stelle erscheint Opuntia Ficus in- dica unter dem einheimischen Namen Tune oder Wachsdistel (cardos pitahayas). „Sie bringt eine sehr angenehme Feige d. i. ihre Frucht hervor. Auf anderen Inseln von St. Juan und Cuba und Jamaika habe ich fast dieselben Tunen und Disteln gesehen; sie sind eine sehr gewöhnliche Erschei- nung in Westindien. Die Blätter sind grün, die Dornen grau und die Frucht, wie ich sie be- schrieben." '') Beim Essen, bemerkt er weiter, fär- ben sie die Lippen und die Hände wie die Maul- beerfrüchte; der Saft ist aber viel haltbarer. Die Abbildung zu diesem Kapitel stellt ein ziemlich kleines Gewächs der genannten Art vor Augen; Blüten und Früchte siiid nicht eingezeichnet. Die dritte Art, welche uns Oviedo in einem guten Holzschnitt vorführt (fol. 92), ist Opuntia FseudoTuna S. Dyck. ; der baumartige Kaktus gleicht ganz dem Bilde bei Engler-Prantl, Natürl. Pfizf. III. Cactaceen S. 201 Fig. 70. Unser Autor nennt ihn „den Baum, mit dem man ge- wöhnlich Leibschäden beim Menschen zusammen- heilt. Die Blätter sind so dornig, daß man allem Anschein nach kein anderes Gewächs von größerer Wildheit sehen kann usw. Er gibt eine ausge- zeichnete rote etwas rosaartige Farbe, eine bessere zum Schminken für die Frauen, als sie in Italien, ') Gongalo Hernandezde Oviedo, La historia general de las ladias, Sevilla 1535. Vgl. meinen Artikel ,,Zur Geschichte der Ananas und Agave" in dieser Zeitschrift 17. Bd. (1918) S. 498, Anm. 2. ^J De Uno cardos altos et derechos mayores que lanzas darmas e aun como picas luengas quadrados y espinosos a los qualos llaman los chrisiianus Lirios: porque parescen cirios o hachas de cera excepto enlas espinas. Eilos son muy verdes et tan alles como una lanza de armas e algunos como una pica e otros muy menos e tan gruessos com la pantos- rilla d'una pierna de un hombre, que ni sea gruessa ni del- gada. E»tos Uevan una fruta colorada como un carmesi. (Lib. Vlll cap. 224 fol. 85 V u. 86). ^J Estos cardos o Tunas Uevan unos muy donosos higos que es su fruta . . . Enlas otras yslas de sant Juan e Cuba e jamayca he visto assi mismo estas lunas e cardos y en otras yslas; y es cosa comun en estas indias; las hojas son verdes e las espinas pardas e la fruta que tengo dicho (Lib. Vlll cap. 25 fol. 86). Valencia, Spanien und anderen Ländern vorkommt die man auch sucht um die Götzenbilder auszu- bessern oder richtiger gesagt, wiederherzustellen und abzureiben" usw.^) Von den Pflanzenvätern scheint als erster (lSS7) der belgische Botai/iker R. Dodonaeus"') von der Opuntia zu handeln; er bildet sie (S. 565) ab noch nicht mit diesem Namen, sondern mit der Unterschrift : pourtraiet du Figuier d'Inde lequel j'estime estre l'Euphorbium de Jean Leon. Er rechnet sie also wegen ihrer Tracht zu den Eu- phorbiaceen, von denen eine (Euphorbia canarien- sis) schon den Alten bekannt war. C. Gesner (1561) widmet der neuen Pflanze in seinem wichtigen Werke „über die Gärten Deutschlands" ''j eine ganze P"olioseite (258^ und 292^'). Als Namen führt er auf: Ficus indica, Opuntia ridicula und Carduus Indiens. Wie er hörte, wurde sie in Italien und Südfrankreich unter freiem Himmel gezogen, erreichte eine Höhe von mehreren Fuß und brachte es in Rom und Griechenland auch zu Früchten. Gesner ließ sich von G. K. Rurpodius ein Blatt schicken und sah es im Topf bald mehrere andere Blätter ansetzen. Auch in Breslau, bemerkt er, zog man die Pflanze in Gärten. Desgleichen behandelt P. A. Matthioli (1565) die Pflanze, unter denselben Namen und auch dem einheimischen Wort Tyne. Er glaubt in diesem aus Westindien stammenden Gewächs die Opuntia des Plinius wiedergefunden zu haben. „Ich höre", sagt er dann zum Schluß, *) „daß sie in manchen Gegenden Italiens ') gehalten werde und Feigen hervorbringe, was bisher mir, der ich jetzt in Böhmen weile, zu sehen nicht gelungen ist. Als ich zu Görlitz mich aufhielt, hatte ich eine Pflanze dieser Art von Menschengröße, aber sie brachte nie Früchte hervor". Die Abbildung stellt eine im Kübel gezogene schön gewachsene Opuntia F'icus indica vor. ') . . Arbol o planta con que se sueldam las quebra- duras o cosas rompidas en la persona de hombre. Los quales son espinosos tales que alparecer ningun arbol o planta se puede ver de mas salvajez . . . Y es excellente color de carmesi muy bueno e alguno d'ello declina a color rosado y es mejor color para se aleytar las mujeres que la que en Italia e Valencia e espana y otras partes y son, las que que- ren emendar o mejor diziendo remcndar y estragar la ymagen o figura que dios les dio. . . (IIb. X fol. 92J. ^) Histoire des plantes usw. Anvers 1557. Französische Ausgabe des Cruydebock von 1554. 'J Horti Germaniae. Extat in Valerii Cordi Annotati- onibus in Dioscoridem. Argentorali 1561. ■') P. A. Matthioli, Medici Cacsarei et Ferdinandi Archi- ducis Austriae, Comraentarii in VI libros Dioscoridis. Vene- tiis 1565. „Audio quoque in quibusdam Italiae locis haberi hanc plantam , quae ficus prolcrat, quod tamen hactenus mihi in Boemia agenti videri non licuii; habui quidem ego dum Go- riliae agebam hanc plantam hominis magnitudine, sed num- quam edidit fruclum" (1. c. S. 2S9). ^) Als frühestes Datum ihres Auftretens in Italien gilt das Jahr 1560; s. K. Wein, Deutschlands Gartenpflanzen um die iVlitte des J 6. Jahrb. (Beih. z. bot. Centralbl. Bd. XXXI (1914) Abt. U S. 550). N. F. XVni. Nr. 46 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 66f Bei Durante^) (1585) wird die Pflanze als indische Feige (Fico d'lndia) neben der Sykomore besprochen und auch als ausländisches Gewächs, das in Italien in vielen Gärten gehalten werde, bezeichnet. Dalechamps erklärt (1586) auf Grund der Beobachtung Penas, daß aus West- indien ungemein viele Blätter in Spanien, Frank- reich und Italien in die Erde gelegt worden seien und Blüten und Früchte hervorgebracht hätten. -) Der ausgezeichnete Nürnberger Arzt und Bota- niker J. Camerarius (1588) flicht in die Be- schreibung unserer Pflanze ein neues Moment ein, indem er die Lebens- und Keimungsverhältnisse in nicht uninteressanter Weise darlegt:^) „In Spanien, Italien und Frankreich", sagt er, „bringt sie reife Früchte hervor, bei uns aber muß sie sehr gut geschützt sein, da sie leicht fault und keine Kälte vertragen kann, auch allzu einge- schlossene Orte nicht liebt. Wunderbar ist, wie diese Pflanze aus dem so harten Samen hervor- kommt. Sie keimte mir in diesem Jahre, da wir dieses schrieben, am 16. Tage nach der Aussaat und wäre vielleicht reifer geworden, wenn nicht eine ungewöhnliche Kälte eingefallen wäre, mit der wir diesen Sommer gleichsam als den Nach- klang eines sehr harten VVinters heimgesucht wor- den sind. Ein zweiter Samen, der zur selben Zeit mit dem ersteren in die Erde gesteckt wurde, kam erst im dritten Monat hervor. Beim Keimen zeigte er zwei fette, spitze, rötliche Blätter, zwi- schen denen gleichsam weißschimmernde und röt- liche Haare hervorkommen, auf die sofort ein ebenso bekleidetes und ganz behaartes Blatt folgt, nicht breit sondern stielrund; mit der Zeit ver- breitert es sich allmählich; es ist mit rötlichen und weißen weichen Stacheln bewaffnet, fürwahr ein allerliebstes Schauspiel der Natur. Die Frucht ') Herbario nuovo di Castore Durante. In Roma 1585-, ,,E pianta forestiera , et in Europa et in Ilalia sene ritrova in molti giardini" (S. 186). *) Hisloria generalis plantarum II. Bd. Lugduni 1587. „Ex Indiis folia permulla in locis Hispaniae Galliae et Italiae sata flores et fructus produxerunt, qualis se vidisse et decerpsisse et maluras Ficus esitasse testalur Pena" (S. 1795). ^} „Opunlia ... In insulis Peruvianis et potissimum Hjs- paniola sponta crescit. Translala in Hispanjam, Italiam et Galliam fructus eliam maturos profert, sed apud nos optime munienda cum facile putrescat et frigoris sit impatiens , nee tarnen etiam loca nimis occlusa ferat. Mirum enasci plantam hanc ex semine durissimo. Prodiit nobis hoc anno, quo haec exarabamus, decimo sexto die a satu, maturius lorsan proditura, nisi obstitisset frigus insolitum, quo haec aestate lanquam saevissimae hyemis reliquiis inleidum sumus confliciali. At alterum semen, eodem tarnen tempore cum priore terrae man- datum, tertio demum mense erupit. Cum primum exit, folia duo crassa, mucronata, rubentia ostendit, e quoram medio quasi pili candicantes et rubescenies simul emergunt, quos statim sequitur folium iisdem vestitum et hirsutum lolum nee latum, sed teres ; progressu temporis paulatim in latitudinem comprimitur, aculeis rubentibus et albicantibus, moUibusque armatum, iucundissimo sane Naturae speclaculo. Fructus pulpa succosa et rubens est instar Mororum succo sanguineo manus inficit: cuius crebrior esus urinam cruentam etiicit. Succum foliorum ulceribus vetustis utililer adhiberi aiunt." Hortus medicus et philosophicus usw. Autore J. Camerario Rei- publ. Norimberg. Medice D. Francofurti 1588; S. Ho/lll. mit saftigem Inhalt ist rot und befleckt die Hände gleich den Maulbeeren mit blutrotem Saft; bei häufigem Genuß derselben färbt sie auch den Harn blutig. Man sagt, daß der Saft der Blätter alten Wunden heilsam ist." In den botanischen und anderen Ziergärten bildete der Feigenkakius von nun an eine ge- wöhnliche Erscheinung.') Er wird aufgeführt z. B. im Eichstätter Bot. Garten -) um die Wende des 16. Jahrhunderts. Auch blühende Kakius er- scheinen jetzt in den Abbildungswerken. So sind in dem „Florilegium renovatum et auctum" (er- schienen Francoturti apud Matthaeum Mcrianum i64i)'*j auf Blatt 1 10 u. iii zwei Kaktusfeigen in ihren Gartenkübeln wachsend abgebildet: die erste große, schön entwickelt und blühend, mit dem Titel: Ficus Indica minima, flore luieo amplo; die zweite klein, noch unentwickelt. Hier lautet die Aufschrift genauer : „Volgende gewächs haben theils in diesem 1618, theils im negstvorgehenden Jahren sampt anderen vielen, welcher abriß in disem Buch zufinden, geblühet. In M. Laureutij Thomae Walliseri, professons philosophiae practi- cae der Academi zu Straßburg, garten. Ist zu finden bei Jo. Theo, de Bry." Weitere Kakteen- darstellungen erscheinen auf Blatt 80: Säulenkaktus (Euphorbii Cerei effigies), Kugelkaktus (Echino melücactos) und „Euphorbium". Es ist zu erwarten, daß die so seltsame Pflanze auch von den Künstlern beachtet wurde. Ich finde sie zum erstenmal dargestellt auf einem merkwürdigen Bilde Pieter Brueghels d. Ä., des sog. Bauernbrueghel. Das kleine 1567 ent- standene Gemälde zeigt uns einen Blick ins „Schlaraffenland".^) Ich will nicht reden von den gebratenen Tauben, Honigkuchen usw., sondern von der Pflanze rechts am Bildrande, vor einem, wie es scheint, aus den Wolken fallenden Bauern. Die Pflanze ist in Rotbraun gehalten und zeigt in ihrem Aufbau ganz den Charakter einer Opuntia; zwei kleinere Sproßglieder stecken neben einem entwickelten Exemplar im Boden. Blüten fehlen; die Dornen sind mit einigen dunkleren Strichen nur auf der Flachseite von drei Gliedern ange- deutet. P. Brueghel, der hauptsächlich in Ant- werpen und Brüssel lebte, einmal auch nach Italien reiste, hatte wohl lebende Kakteen gesehen und dachte bei der Darstellung des ansprechenden Stofi"es offenbar an Mexiko. Auf einem Bilde ähnlichen Inhalts, genannt ') Vgl. Gr. Kraus, Geschichte der Pflanzeneinführungen (Leipzig 1894) S. 12. ') J. Schwertschlager, Der botanische Garten der Fürstbischöle von Eichstätt (daselbst 1800) S. 84. 'j Das V^'erk iQuart) ist vom Verleger dem Frankfurter Senator Dn. Joannes Schwind gewidmet. Es bringt auf ca. 150 Tafeln (Kupferstichen) verschiedene Gartenpflanzen zur Darstellung. *J Jetzt in der A. Pinakothek München, in einem der kleineren Niederländer-Kabinette (Neuerwerbung). Vgl. den Aufsalz von M. F. Friedländer in Zeitschrift f. bild. Kunst N. F. .XX.K (Leipsig 1918/19) S 73 — 74 mit Tafel. Die Be- stimmung der Pflanze, die Friedländer nicht beachtet, stammt von mir. 668 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 46 „das goldene Zeitalter" (Florenz, Uffizien), führt uns Federigo Zuccari (j 1606 od. 1619)^) einen kleinen Kaktusstrauch inmitten einer, wie es scheint oberitalienischen Landschaft vor. Noch besser ist die Darstellung von verschiedenen Zimmerkakteen (Säulen-, Kugelkaktus) auf einem Bilde von Jan Weenix (1640— 1719) in der Schleißheimer Galerie bei München (Nr. 912). Es dürfte das die erste Darstellung der jetzt so be- liebten Zimmerkakteenkultur sein. Dann ist aus neuerer Zeit besonders der Maler K. Spitzweg") zu nennen mit seinen köstlichen Bildern, vor allem dem „Kaktuspfleger" (entstanden um 1850). Auch Goethe interessierte sich für den Gast aus Amerika. Er machte z. B. auf seiner italieni- schen Reise 1787 zu Rom Versuche mit Kaktus- sämtingen und bemerkte mit Verwunderung, daß der Keimling „ganz unschuldig die Kotyledonen in 2 zarten Blättchen enthüllt, sodann aber bei fernerem Wachstum die künftige Unform ent- wickelt".^) Mit der Zeit wurde die Opuntia eine Charakter- pflanze in der mediterranen Flora. „Die stacheligen, hellgrünen Opuntien", sagt E. Strasburger,*) ') Vgl. Zeitschrift f. bild. Kunst N. F. XXIV (Leipzig 19 13) S. 156, Artikel von H. Voss, der das Bild neuerdings Jac. Zu ccb i zuweist. -) H. Holland, Karl Spitzweg. „Die Kunst dem Volke" Nr. 26 (München 1916) S. 8. 3) F. Cohn, Die Pflanze. 2. Aufl. Breslau 1896, I. Bd, S. 100. Hier auch (S. loi) die Zeichnung eines Kaktussäm- lings ; ob nach Goethe selbst, ist nicht angegeben. ■*) Streifzüge an der Riviera. 2. Aufl. (Jena 1904) S. 109. „die so gut zu dem felsigen Strand von Italien passen, als wären sie für ihn von jeher bestimmt gewesen, sind tatsächlich erst im 16. Jahrhundert von Amerika auf ihn gelangt. Capri vermag man sich ohne die „Fichi d'India", deren abgeflachte Glieder sich in wunderbaren Krümmungen über alle Mauern drängen, kaum vorstellen, und doch kamen sie erst vor kurzem dorthin." Stras- burger weist dann wie Cohn auf den Anachro- nismus der Odysseebilder Prell ers hin, der die antike Landschaft mit Opuntien und Agaven schmückte, und stellt eine interessante Betrachtung an über den Wechsel der südeuropäischen Pflanzen- welt im Laufe der Jahrtausende. Südeuropa war früher noch stärker bewaldet;^) es wurde dann durch den Menschen in ein Gartenland umgewandelt, in dem hauptsächlich orientalische Pflanzen vorherrschten. Dieser Prozeß ging auch an dem Volksleben nicht spurlos vorüber und mußte zur Verweichlichung der Bewohner führen. So legten sich allmählich immer tiefere Schatten über die ehemals zu üppig entwickelte Kultur, die in ihrem Übermaße auch schon die Keime ihres Untergangs in sich trug. Und wenn sich heute die Kakteen im südeuropäischen Landschaftsbilde so breit machen, sind sie nicht gleichsam die Vor- posten der Herrschaft Amerikas über die alternde Kultur Europas? ') Vgl. auch A. Engler, Versuch einer Entwicklungs- geschichte der extratropischen Florengebiete der nördlichen Hemisphäre (Leipzig 1879) S. 196 u. f. [Nachdruck verboten. 1 Die Eier der Läuse (Anoplura). Von Privatdozent Dr. Ludwig Freund (Prag). Mit 4 Abbildungen. Wegen der Bedeutung, welche gewisse Ekto- parasiten im abgelaufenen Kriege erlangt haben, hat Hase 1916 u. a. eine genaue Beschreibung des Eies der Kleiderlaus in dieser Zeitschrift ver- öffentlicht. Wiewohl dies die genaueste und neueste Beschreibung eines Lauseeies, die wir be- sitzen, darstellt, so ist es doch nur ein Typus, von dem die Eier anderer Läuse mehr weniger abweichen. Wir verfügen bereits über so viel Angaben betreffend verschiedene Läuseeier, daß wir uns ein ungefähres Bild von dem Formen- reichtum auf diesem eng begrenzten Gebiete ent- werfen können. Es werden im folgenden erwähnt : Pediculus capitis, Kopf-, vestimenti, Kleider-, Phthirus pubis, Filzlaus des Menschen. Pediculus schäffi , affinis, Pidicinus rhesi, hamadryas, alles Afienläuse. Hae- matopinus macrocephalus, Pferde-, eurysternus, Rinder-, suis, Schweinelaus. Linognathus pedalis, Schaf-, piliferus, Hunde-, vituli, Kalbs-, coassus, amerik. Hirsch-, gilvus und angulatus, Schopf- antilopenläuse. Polyplax antennata, amerik. Eich- hörnchen , spinulosa, Ratte, reclinata, Spitzmaus, sciuropteri, hesperomydis, Acanthopinus sciurinus, Nagerläuse. Hoplopleura acanthopus, Feldmaus, lineata, Zwergmaus. Echinophthirius phocae, See- hund. Lepidophthirus macrorhini, Elefantenrobbe. Arctophthirius trichechi, Walroß. Haemalomyzus elephantis, Elefant. Allen Anoplureneiern ist gemeinsam der Besitz einer chitinigen Schale oder Hülle, Chorion ge- nannt, welche gegen das eine Ende des Eies (Vorderende, Kopfende des sich entwickelnden Embryos) ringförmig unterbrochen ist, wobei in den Ring ein Deckel eingefalzt erscheint. Die Chorionwand ist aus zwei Schichten, einem dünnen Endo- und einem dicken Exochorion aufgebaut. Alle Anopluren heften ihre Eier mit Hilfe des Sekretes von Kittdrüsen an Haare von Säuge- tieren, selten an Stoffäden (Pediculus vestimenti). Die Anheftung geschieht in der Nähe des Eihinter- endes. Die Form der Eier ist ovoid, eine Längs- fläche entsprechend der Rückenfläche des sich entwickelnden Embryos stärker gekrümmt als die gegenüberliegende , welche der Bauchfläche ent- N. F. XVni. Nr. 46 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 669 spricht. Das Vorderende ist etwas stärker ge- rundet als das Hinterende. So ist dies bei Pedi- culus capitis, vestimenti und Linognathus. Bei Pediculus schafft dagegen ist das Vorderende halb- kugelig aufgetrieben, das Hinterende stark zuge- spitzt. Letzteres, wenn auch nicht so stark, ist auch bei Echinophthirius phocae der Fall. Bei Pediculus affinis ist der Mittelteil stärker verdickt. Beiderseits kugelig abgerundet bei verkürzter Längsachse sind die Eierenden bei Pedicinus ha- madryas, Arctophthirius trichechi und Haemato- myzus elephantis, beiderseits zugespitzt bei Phthi- rus pubis. Länglich eiförmig sind die Eier von Haematopinus, Polyplax und Acanthopinus, doch soll bei Haematopinus eurysternus das Hinterende zugespitzt sein. Charakteristisch für das Genus Hoplopleura ist das Vorhandensein eines knopf- artigen Fortsatzes am Eihinterende. Die Größe der Eier scheint nach den Arten stark zu variieren. Nachfolgende Tabelle gibt die Zahlen nach der Literatur und eigenen IVIessungen kleinen runden Knöpfchen, verbunden durch kleine scharfe Leistchen. Dieses feine Gitterwerk ist als 3. Schicht, das Epichorion von Gross anzu- sehen. Es hängt nur am Deckelfalz und am Ei- stigma (einer Bildung am Eihinterende) mit dem Exochorion zusammen. Beim Deckelfalz geht es in ein vierseitiges Maschenwerk, gleich dem des Deckels, über. Die ganze Oberflächenskulptur wird von den Resten des FoUikelepithels , der sog. Eiweißhülle, in Form viereckiger flacher Felderchen mit den erwähnten Knöpfchen in der Mitte überdeckt. Bei Haematopinus eurysternus scheint die gleiche Zeichnung vorzuliegen. Der Deckel erfordert eine umfangreichere Schilderung, da er den sogenannten Mikropyl- apparat trägt, das sind Durchbohrungen, die in das Innere des Eies führen und von verschiedenen Reliefbildungen umgeben sein können. Diese nennt man bei Pediculus capitis, vestimenti und Phthirus pubis, wo sie bläschenförmig, wabenartig zusam- mengeschoben sind, Mikropylzellen, ebenso wie wir von Bienen- und Hummelzellen sprechen, was Ei mit Deckel Ei ohne Deckel Deckel (Fl. Ans.) Länge Breite Länge Breite Länge Breite Pediculus vestimenti 0,9 0,4 0,9 — I 0,3—0,4 1 Phtliirus pubis 0,83 0,44 0,51—0,53 0,3—0,35 0,26 Haematopinus suis '.5 0,75 Haematopinus macrocephalus 1,26 0,54 1.15 0,52 0,387 0,275 Linognathus piliferus 0,976 0,456 0,842 0,3 5 0,25 0,204 Polyplax spinulosa 0,52-0,55 Polyplax antennata 0,73 0,28 Lepidophthirus macrorhini 0,7 Für Pedicinus hamadryas werden die Eier als sehr klein angegeben. Auch Echinophthirius phocae und Arcthophthirius trichechi scheinen kleinere Eier zu haben. Die Farbe der Eier ist bei Pediculus vesti- menti weißlich, ganz leicht gelblich, schwach perlmutterglänzend, ältere Eier sind gelblich mit grünlichem Anflug. Von Pediculus capitis sind sie weiß, von Haematopinus suis leicht gelb bis schmutzigweiß. Stroebelt meint gar, daß die Eier die Farbe der Haare oder des Wirtes imi- tieren. Die Oberfläche des Eies ist bei Pediculus vestimenti, capitis und Phthirus pubis glatt, ebenso bei Linognathus angulatus. Polyplax antennata und Acanthopinus sciurinus. Dagegen zeigt Linognathus vituli sechseckige Felder durch Fur- chen getrennt. Dasselbe ist zum Teil bei Lino- gnathus piliferus der Fall, bei Linognathus pedalis glänzt die Oberfläche und ist fein punktiert. Poly- plax sciuropteri zeigt zartes Netzwerk in Schuppen- form. Bei Haematopinus suis und macrocephalus findet sich eine Felderung in Form kleiner gleich- seitiger Dreiecke gebildet an den Ecken aus Hase unbegründet beanstandet. Der Deckel selbst ist von der Fläche gesehen oval, aber von sehr wechselnder Form, lang bis kurzoval bei Pediculus vestimenti, sehr kurzoval bei Linognathus piliferus, kreisrund bei Linognathus piliferus, kreisrund bei Linognathus angulatus, länglichoval bei Haematopinus macrocephalus. Außerdem besteht eine nach außen konvexe Wölbung, die ebenfalls in ihrer Form sehr vari- iert. So ist sie bei Phthirus pubis und Pediculus vestimenti mäßig, aber bei letzterem die stärkste Wölbung exzentrisch ventral verschoben, bei Pedi- culus capitis etwas stärker. Pedicinus hamadryas hat einen flachen Deckel, ebenso Echinophthirius phocae, bei Arctophthirius trichechi ist wohl eine stärkere Wölbung, die aber in der Mitte breit ab- geflacht ist. Eine Kegelform in der Mitte auf flachem Deckel gibt es bei Polyplax reclinata. Das Zentrum stärker gewölbt, aber den Rand etwas flacher hat Haematopinus macrocephalus, während gleichmäßige Wölbungen Linognathus piliferus. Polyplax antennata, Acanthopinus sciuri- nus, Haematomyzus elephantis aufweisen. Von besonderer Variabilität ist der Mikropylar- 670 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVm. Nr. 46 apparat, nicht nur nach der Form bei den ver- schiedenen Arten, sondern auch nach der Größe und Zahl der Mikropylen innerhalb der Art selbst. Bei Pediculus capitis, vestimenti und Phthirus pubis sind die Mikropylzellen, wie erwähnt, etwa kugelige Bläschen, basal und dort, wo sie an die nachbarlichen angeschoben sind, flächenhaft einge- drückt. Mißbildungsweise können sie bei Pedi- culus vestimenti isoliert stehen und sind dann ab- gerundet. Ihre Zahl schwankt bei Pediculus ca- pitis von 10 — 14 (13), bei Pediculus vestimenti zwischen 6 und 23, bei letzterem in . einer ex- Abb. I. Eier von: a) Phthirus pubis, Filzlaus; b) Linognathus pili- ferus, Hundelaus; c) Haematopinus macrocephalus, Pferdelaus. Vergr. 27 mal. Größe, Deckel (D) , Anheflung ans Haar (H) und Kittmasse (K) verschieden. Abb. 2. Eideckel in Seitenansicht von a) Phthirus pubis, Filzlaus, b) Linognathus piliferus, Hundelaus. Vergr. 120 mal. Mikropylzellen verschieden geformt. zentrisch ventral verschobenen Gruppe zusammen- gedrängt, wodurch dorsal eine freie Deckelfläche zustande kommt. Ihre Anordnung in der Gruppe variiert. Der Mikropylkanal durchbohrt mit einer kleinen Öffnung Dach und Boden der Zelle, wobei am Boden zwei durchbohrte, kleine, umgestülpte Halbkugeln und eine niedrige Erhebung vom Kanal passiert werden. Bei Phthirus pubis sind 15 — 18 (15) Mikropylzellen um ein kleines ge- netztes Zentralfeld gruppiert, die inneren höher stehend als die äußeren, einen schmalen Streifen entlang des Deckelrandes freilassend. Bei Pedi- culus affinis sind mehrere Mikropylerhebungen im Kreise gestellt, auch Pedicinus hamadryas hat mehrere deutliche Erhebungen, die wahrscheinlich Mikropylkanäle einschließen. Linognathus vituli hat 16— 18 halbkugelige Mikropylbecher in der Mitte, umgeben von einem freien Randteil. Lino- gnathus angulatus besitzt 15 — 20 isolierte, kolbige mit 3 Quereinschnürungen versehene Mikropyl- erhebungen, unregelmäßig auf dem Deckel ver- teilt. Für Linognathus gilvus werden etwa 10 Mikropylzellen angegeben. Linognathus piliferus trägt eine in der Mitte zusammengedrängte Gruppe von 14 — 18 großen Bläschen, mit 2 basalen Quer- Abb. 3. Eideckel in Flächenansicht von a) Haematopinus macro- cephalus, Pferdelaus , b) Linognathus piliferus, Hundelaus, Vergr. 120 mal. Abb. 4. Hinterer Eipol von Phthirus pubis, Filzlaus. Vergr. 120 mal. Kittmasse |K) am Haar (H) den hinteren Eipol der Schale (S) einhüllend mit Borstenspuren (ß) der Gonopoden. einschnürungen und weiten Mikropylöffnungen Die Gruppierung variiert wie bei Pediculus vesti- menti, auch sind die Bläschen beim Zusammen- drängen unregelmäßig geneigt. Echinophthirius phocae hat zentral 8 im Kreis gestellte IVIikropyl- erhebungen. — Einen ganz abweichenden Charak- ter zeigt die Struktur der folgenden Arten. Acan- thopinus und Polyplax antennata haben einen Kranz kleiner Löcher nahe dem Deckelrand, Ho- plopleura lineata einen solchen ziemlich großer. N. F. XVm. Nr. 46 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 671 Haematopinus macrocephalus zeigt ein dichtes Netzwerk feiner Leistchen, welches unweit dem Rande einen ovalen Kranz größerer unregelmäßiger Lücken aufweist. Im Zentrum ist das Maschen- werk sehr dicht, gegen den Rand werden die Maschen größer, viereckige werden vorherrschend, in die gleichen am Deckelrand der Schale über- gehend. Mikropylkanäle sind nicht wahrzunehmen. Ein ähnliches Maschenwerk ist von Haematopinus suis angegeben. Ein Produkt des Epichorions ist es mit dem Exochorion völlig verschmolzen. Mi- kropylkanäle sind bei Haematop. suis einfache Durchbohrungen des Deckels in der Nähe des Randes, ihre Zahl soll mindestens 30 sein. Die undurchsichtige Eiweißhülle hindert ihre Zählung. Ebenso ist bei Arctophthirius trichechi ein be- stimmter Mikropylapparat nicht zu entdecken. Vielleicht besteht er aus feinen Löchern ohne oberflächliche Erhebungen. Merkwürdig ist auch die Skulptur bei Polyplax reclinata. Es scheinen niedrige Bläschen den kegelförmigen Deckel zu bedecken, am Rande findet sich ein Kranz von aufrecht stehenden mehrfach gelappten Blättchen. Die Anheftung des Eies erfolgt, wie oben erwähnt, an den Körperhaaren, bei Pediculus vesti- menti in der Regel an Fäden des bekleidenden Gewebes, aber auch an Körperhaaren. Die Stellung des Eies zum Haar ist meist der- art, daß die Längsachse des Eies einen spitzen Winkel mit der des Haares einschließt, so ist es bei Pediculus, Phthirus, Haematopinus, Polyplax, Acanthopinus und Arctophthirius. Bei Linogna- thus aber ist die Stellung beider nahezu parallel, ebenso bei Pedicinus und Echinophthirius, nahezu senkrecht oder mindestens stumpfwinkelig bei Haematomyzus elephantis. Die Zahl der an einem Haar angehefteten Eier beträgt meist eines. Pediculus vestimenti heftet aber auch gerne mehrere hintereinander an ein Haar, oder Gruppen von Eiern an Gewebsfasern, ja hier kommen sogar ganze P'elder zustande. Bei Linognathus piliferus findet man neben einzelnen auch lange Girlanden, Reihen von hintereinander, häufig abwechselnd nach rechts und links ange- hefteten Eiern. Bei Linognathus angulatus werden die Eier dirht aneinander befestigt. Ebenso zeigt eine Abbildung von Polyplax reclinata 3 Eier hintereinander. Von Haematomyzus elephantis ist Gruppenbildung von 3 gleichzeitig abgelegten fiederförmig angeordneten Eiern bekannt ge- worden. Meist geschieht die Anheftung an einem ein- zigen Haar, doch nimmt Linognathus piliferus 2, 3 — 4 Haare, Haematopinus macrocephalus auch 2 Haare, Hoplopleura acanthopus mehrere Haare (4) zusammen. Die Anheftung erfolet durch Ausscheidung einer gewissen Menge einer Kittsubstanz auf das oder die Haare bzw. Gewebsfäden, welche diese um- fließt. An die noch weiche Kittsubstanz wird das Ei angeklebt, worauf der Kitt erstarrt und sehr fest Ei und Unterlage verbindet. Er ist gelblich, durchsichtig, fast von gleichem Brechungsindex wie die Schale. Die Form und die Menge der ganzen Kittmasse ist nicht überall gleich. So bildet der Kitt bei Pediculus capitis, Pediculus schäffi und Phthirus pubis um das Haar eine lange schlanke Röhre (Manschette). An die Röhre setzt sich seitlich ein Becher, der den hinteren Eipol umfaßt, so daß das Ei dicht ans Haar zu liegen kommt. Bei Pediculs vestimenti ist die Kittmasse in unregelmäßigen, zwischen die Stoffasern ein- dringende Klumpen abgesetzt, das Ei seitlich mit Freilassung des hinteren Poles angeklebt. Bei An- heftung an ein Haar wird dieses unregelmäßig um- faßt, der hintere Eipol dann mit eingekittet. Durch diese verschiedene Befestigung am Haar unter- scheiden sich die Eier von Pediculus capitis und vestimenti. Pediculus affinis hat eine dickere und kürzere Haarhülse, ihr sitzt der massivere Becher des hinteren Eipoles breit auf. Für Pedicinus rhesi wird die Bildung einer langen Röhre (Man- schette) um das Haar angegeben und als wahr- scheinliches Gattungsmerkmal angesehen. Doch zeigt die Darstellung für Pedicinus hamadryas eine kurze Kittmenge, die seitlich weit hinaufreichend das Ei parallel ans Haar anklebt und den hinteren Eipol völlig frei läßt. Haematopinus macrocepha- lus scheidet ein kurzes Klümpchen Kitt ab, durch das das Haar geht und klebt das Ei dicht an das Haar so, daß noch eine dünne Schicht über den hinteren Eipol ausläuft. Manchmal wird weiter vorn angeklebt, so daß der hintere Eipol frei bleibt. Bei Linognathus piliferus ist die Sekretion eine reichliche, die Haare gehen durch einen rund- lichen kurzen Klumpen, der den hinteren Eipol becherförmig umfaßt. Es bleibt noch eine Schicht zwischen diesem und dem Haar, was mit der Parallelstellung der beiden zusammenhängt. Ganz so ist es bei Linognathus angulatus und coassus, während für Linognathus vituli, gilvus und pedalis eine geringere Kittmenge und eine dichtere Be- festigung des Eies angegeben wird. Bei letzterem bleibt der hintere Eipol frei. Für Hoplopleura acanthopus, Polyplax antennata, sciuropteri und reclinata wird eine Kegelform der Kittmasse und deren Befestigung am unteren Elende angeführt. Im oberen Teil der letzteren soll die Hülle schwach ringförmige Wülste besitzen, die bei mikroskopi- scher Betrachtung als stumpfe Höcker des Bild- randes erscheinen. Bei Polyplax sciuropteri soll es die basale Eiwandhälfte sein, die schönstens gefältelt ist. Acanthopinus sciurinus hat eine ge- ringe, stumpf-kegelförmige Kittmenge, die den hinteren Eipol birgt. Auch bei Echinophthirius phocae klebt eine geringe, kurze Kittmasse das parallel gestellte Ei an das Haar ebenfalls den hinteren Eipol einhüllend. Bei Arctophthirius trichechi gibt es wieder eine längere, wenn auch unregelmäßige Haarhülse, welcher vorn ein breiter, den hinteren Eipol bergender Becher aufsitzt, so daß das Ei gestielt erscheint. Ganz eigenartig sind schließlich die Verhältnisse bei Haematomy- zus elephantis. Da hier 3 — 4 Eier gleichzeitig 6/2 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 46 abgesetzt werden, so werden alle mit einer ge- meinsamen Kittmasse an das Haar angeklebt. Eine lange, unregelmäßige, dicke Röhre hüllt dieses ein. Auf kurzen Stielen sitzen rechts und links senkrecht abstehend die Eier, welche ab- weichend von allen Anoplureneiern ganz von einer dünnen Kitthülle umgeben werden. Hier muß noch eine Bildung erwähnt werden, die am Übergang von der Haarkittmasse auf das Elende jederseits zu sehen ist. Es sind zahlreiche, feine, stark lichtbrechende Streifen oder Furchen, parallel oder auf das Haar ausstrahlend, häufig s förmig gekrümmt und immer fein zugespitzt in der Haargegend endend. Es wurde von Stroe- belt angegeben, daß diese Streifen um das Haar herumgehen und sich mit den jenseitigen ver- einigen. Sie sollen elastischen Bändern gleichen, die das Ei in seiner Lage erhalten. Jüngst wurden die feinen, farblosen Streifen von Fahrenholz gesehen. Es handelt sich in Wirklichkeit um die Spuren des Borstenbesatzes an den Hinterrändern der, weiblichen Gonopodenanhänge. Beim An- drücken des Eies an die Kittmasse und beim Weiteraustreten des Eies aus der Vulva streichen die enganliegenden Gonopoden vom Kitt des Haares auf das Ei und hinterlassen so die von ihren Borsten gezogenen Furchen in dem noch weichen Kitt. Die Zahl und die Feinheit der Furchen stimmen mit der der genannten Borsten je nach vorliegender Anoplurenart überein. Es wird von Pediculus vestimenti berichtet, daß das Ei immer derart angeheftet ist, daß die Bauchseite des inliegenden Embryos der Unter- lage zugewendet ist. Dasselbe wird von Linogna- thus vituli erwähnt. Es soll auf diese Weise das auskriechende Tier leicht und sofort Fuß fassen können. Bei Haematopinus macrocephalus kann man aber oft das entgegengesetzte Verhaken be- obachten. In dem dichten Haarkleid dürfte die Lage übrigens keine wesentliche Rolle spielen. In der Regel liegt das Ei in der IVIutterlaus derart, daß sein Deckel- bzw. Kopfende auch kopfwärts zu liegen kommt, beim Legeakt also das Hinterende zuerst in der Vulva erscheint. In einem vorliegenden Präparat von Linognathus piliferus mit 2 Eiern gleicher Entwicklungshöhe im Muttertier ist das Ei der einen Seite umge- kehrt gelagert. Daher kommen dann die Fälle, in denen die Eier von Pediculus capitis oder Haematopinus suis abnormerweise mit dem vor- deren Pol festgeklebt sind, was man gar nicht selten antrifft. Am hinteren Eipol ist ein eigenartiges Gebilde beschrieben und von Grab er als „Eistigma" bezeichnet worden. Es handelt sich um eine kleine, kuppeiförmige Vorwölbung des Chorions, welche von einer sehr großen Zahl von feinen Kanälchen durchbohrt wird, die leicht gebogen innenwärts etwas einseitig abweichend konver- gieren. Das Kanalbündel gleicht einem sehr nied- rigen Kegel mit außen liegender breiter Basis. Das Lumen jedes Kanals ist außen weiter als innen. Das Chitin des Stigmas ist nicht von der- selben Beschaffenheit wie das der Schale. Bei Haematopinus suis ist das Stigma am kräftigsten entwickelt. Bei Pediculus capitis ist es ganz ähn- lich, nur kleiner mit einer geringeren Zahl von Kanälchen. Auch bei Haematopinus macrocepha- lus, Linognathus piliferus und Phthirus pubis hat es ein ähnliches Aussehen. Das Stigma wurde als eigentliche Mikropyle, als Ventilationsapparat und als Haftapparat gedeutet. Gegen alle diese Deutung lassen sich gewichtige Einwände erheben, so daß man heute über die wirkliche Bedeutung nichts Sicheres aussagen kann. Literatur (chronologisch geordnet) : 1. Denny, H. , Monographia Anoplurorum Britanniae' London 1842. 2. Leuckart, R., Über die Mikropyle und den feineren Bau der Schalenhaut bei den Insekteneiern. Arch. Anat. Pbys. 1855, S. 90 — 264. 3. Landois, L., Untersuchungen über die auf dem Menschen schmarotzenden Pediculinen , I. Phthirius pubis. Zeitschr. wiss. Zool. 14. 1864, S. I — 26. 4. Landois, L., Untersuchungen usw., IIL Pediculus vestimenti. Zeilschr. wiss. Zool. 15. 1865, S. 32 — 55. 5. Grimm, O. v., Zur Embryologie von Phthirius pubis. Bull. ac. sc. imp. St. Petersbourg, 14. 1870, S. 513 — 517. 6. Graber, V., Anatomisch-physiologische Studien über Phthirius inguinalis. Zeitschr. wiss Zool. 22. 1S72, S. 137 — 167. 7. Stroebelt, O., Anatomie und Physiologie von Hae- matopinus tenuirostris Burm. Inaug. -Diss. Münster, Düssel- dorf 18S2. 8. Harvey, F., Eggs of the long-nosed Ox-louse, Hae- matopinus vituli. Psyche, Cambridge Mass. Eni. Cl. "]. 1894, S. 250. 9. Osborn, H., Insects affecting domestic Animals. Bull. U. S. Dept. Agric. Div. Ent. No. 5, N. S., 1896. 10. Enderlein, G., Lepidoptithirus n. g. eine Laus der Elefantenrobbe von der Kergueleninsel. Zool. Anz. 28. I905, S- 43-47- 11. Gross, J. , Untersuchungen über die Ovarien von Mallophagen und Pediculiden. Zool. Jahrb. Abt. Morph. 22. 1905, S. 347—386. 12. Cholodkovsky, M., Zur Kenntnis der Mundwerk- zeuge und Systematik der Pediculiden. Zool. Am. 28. I905, S. 36S-370. 13. Mjöberg, E. , Studien über Mallophagen und Ano- pluren. Ark. {. Zool 6. 1910, Nr. 13. 14. Fahrenholz, H., Neue Läuse. 58. /59. Jahresber. naturliist. Ges. Hannover, 1910, D, S. 57 — 75. 15. Fahrenholz, H., Beiträge zur Kenntnis der Ano- pluren. 60./61. Jahresber. nalurhisl. Ges. Hannover, 1912, D, IV. S. 1—60. 16. Müller, J., Zur Naturgeschichte der Kleiderlaus. Das österr. Sanitwes. 27. 19 15, Beil. Nr. 36/38, 47/49. 17. Hase, A., Vergleichende Beobachtungen an den Eiern und Larven des Menschenflohs (Pulex irritans L.), der Kleiderlaus (Pediculus corporis de Geer) und der Bettwanze (Cimex lectularius L.). Naturw. Wochenschr. 15. 1916, S. 649 bis 656. 18. Fahren holz, H., Anopluren des Zoologischen Mu- seums in Hamburg. Milt. Zool. Mus. Hamburg, 34. 1917. S. 1—22. N. F. XVIII. Nr. 46 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 673 Einzelberichte. Chemie. Über Änderungen im chemischen Verhalten von Metallen durch mechanische Be- arbeitung macht Gustav Tarn mann einige Bemerkungen. Es ist dem Techniker wohlbekannt, daß die Eigenschaften der Metalle durch mecha- nische Bearbeitung weitgehende Veränderungen erleiden. Elastizität, elektrischer Widerstand usw. ändern sich um oft nicht kleine Beträge, wenn das Metall längerer Beanspruchung durch Druck, Zug, Hämmern, Walzen u. dgl. ausgesetzt war. Den Grund hierfür sah man anfangs in dem Auftreten neuer Modifikationen des betreffenden Metalls (Theorie von Beilby 1905) oder auch in einer Änderung der molekularen Zusammensetzung, die oberhalb einer gewissen Grenze nicht reversibel sei und sich dementsprechend in veränderten Eigenschaften kundgebe (Smits 1911). In der Anwendung dieser Theorien, denen auch Ref. im Anschluß an eigene Untersuchungen und solche von E. C o h e n • Utrecht beistimmte, muß man nach den neuen Ergebnissen der metallographi- schen Forschung jedoch vorsichtiger sein, viel- mehr: es wird sich eine bestimmte Abgrenzung des Begriffs der Allotropie nötig machen, die eine eindeutige Klassifikation der zu erwähnenden Er- scheinungen ermöglicht. Die heutige Metallo- graphie wird von einer anderen als der oben an- gedeuteten Auffassung beherrscht. Metalle zeigen bekanntermaßen ein kristallines Gefüge. Wird nun oberhalb ihrer Elastizitätsgrenze ein anhalten- der Druck oder Stoß auf sie ausgeübt, so tritt eine Deformation dieses Gefüges ein durch intra- kristalline Schiebungen oder Trans- lationen. Ihre Bildung ist etwa so zu erklären: die einzelnen Teilchen der Kristalle sind gegen- einander verschiebbar; nun besitzt ein Kristall definitionsgemäß in verschiedenen Rich- tungen voneinander abweichende Eigen- schaften. Die Teilchen gleiten also nicht wahl- los durcheinander wie es bei einer zähen Flüssig- keit (Pech und ähnliches) der Fall sein würde, sondern schieben sich in bestimmten Richtungen und stellen alsdann eine Kette von „Gleit- flächen" innerhalb des Kristalls dar. Offenbar kann längs dieser eine Gegeneinanderbewegung der Teilchen stattfinden ohne daß das kristallische Gefüge als solches zerstört wird. Eine Erschei- nung, die den sog. „elastischen" (Kaliummangan- chlorid) und „flüssigen" Kristallen (Ölsäure Salze usw.) zugrunde liegt. Solche Verhältnisse, deren Vorhandensein aus mikroskopischen Schliffbildern deutlich nachgewiesen werden kann, macht man nun jetzt für die Veränderungen durch Bearbei- tung der Metalle im kalten Zustande verantwortlich. Hierzu gibt Tammann einige Erläuterungen.') Änderung der Eigenschaften beruht auf Ver- änderung des Energieinhaltes und zwar wächst dieser mit der Bearbeitung. Durch die Verschie- bung der Teilchen in der erläuterten Weise wird Arbeit verbraucht. Sie findet sich in Form potentieller Energie im bearbeiteten Metall wieder. Die Messung der Zunahme an poten- tieller Energie geschieht beispielsweise bei ge- reckten Metallstäben so, daß man die Zerreiß- maschine, in der die Reckung stattfindet, mit einem Kalorimeter umgibt. Damit wird die frei- werdende Wärme gemessen. Gleichzeitig läßt sich durch Hebelübertragung ein Diagramm der durch den maschinellen Zug ausgeübten Dehnung aufnehmen. Aus der Kurve des Diagramms kann man nach bekannten Formeln die geleistete Ar- beit und daraus die ihr entsprechende Wärme ableiten. Der Unterschied zwischen der gemesse- nen und der errechneten Wärmemenge ist (unter gebührender Berücksichtigung aller Fehlerquellen) die im Stabe als potentielle Energie verbliebene Wärme. Schon H. Hort») fand deren Betrag bei einem weichen Eisenstab bis zum Zerreiß- punkt zu 0,3 "/(,. Nach Tammann ist der Energieinhalt einer Silberfolie von 0,I0 ,« Dicke sogar 4 "/(, größer als der von kompaktem Silber. Der veränderte Energieinhalt kalt bearbeiteten Metalls gibt sich auch in seinem elektromoto- rischen Verhalten zu erkennen. Da das (etwa durch Walzen) „härter" gewordene Metall größere potentielle Energie besitzt als im „weichen" Zu- stande, so verhält es sich notwendigerweise „un- edler", d. h. in einen Elektrolyten getaucht lad es sich negativ auf gegenüber „weicherem" Metall. Hierbei kommt nur der Zustand der an der Ober- fläche liegenden Schichten in Betracht, denn offen- bar ist der Zustand der im Innern befindlichen Teilchen ohne Einfluß auf die Erscheinung. Der Versuch an Silberdrähten bestätigt diese Folge- rung. Taucht man Silberdrähte in eine 0,02 mo- lare Lösung von Silbernitrat, so ist die Spannung dieser Kette bei beiderseits weichen Drähten kleiner als 0,0001 Volt, bei zwei harten Drähten jedoch 0,002 Volt, ebenso bei der Kombination hart- weich. Dies ist immer der Fall, gleichgültig ob die Härtung durch Ziehen, Walzen oder Häm- mern stattfand. Schon Davy fand, daß gewalztes Kupfer negativ gegen weiches ist. Das „unedlere" Verhalten kalt bearbeiteten Metalls drückt sich ferner aus in seiner höheren Lösungsgeschwindigkeit. Auch sie wird z. B. bei Eisen durch Kaltbearbeitung erheblich heraufgesetzt. Dementsprechend steigt mit der kalten Bearbeitung die Angriffsfähigkeit der Metalle durch chemische Agentien. Diese wird bei Legierungen von Gold mit Kupfer und Silber, die gewalzt und nachher poliert werden, ')' Nachr. d. Königl. Gesellschaft der Wissenschaften zu ') Mittlgn. üb. Forschungsarbeiten. Herausg. v. Verein Göttingen. Mathem.-naturwissensch. Klasse 1919, S. 351. Deutscher Ingenieure. 1907. Heft 41. 674 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVin. Nr. 46 sogar unerwartet groß. Tarn mann nimmt des- halb eine Veränderung der Atome als solcher an, indem er glaubt, daß sie durch den Vorgang der Verschiebung nach Gleitebenen untereinander viel weniger fest gebunden seien. Verschiebung der einzelnen Atome führt nun letzten Endes auch zur allotropen Umwandlung. Man sieht, daß auch den älteren Theorien wieder Berechtigung gegeben wird. Auf die praktischen Folgerungen einzugehen verbietet sich von selbst. Einiges hierzu bemerkt P. Ludwik;^) auch eine sehr belangreiche Arbeit von Z. Jeffries^) über die Verhältnisse beim Wolfram, die den oben ge- schilderte teilweisen entgegengesetzt zu liegen scheinen , gehört hierher. Wahrscheinlich auch spielen ähnliche Momente eine Rolle bei der sog. „Forcierkrankheit" des Zinns, die Cohen ^) unter- suchte und bei der vom gleichen Forscher be- merkten Tatsache, daß die Umwandlungsverhält- nisse allotroper Metalle stark von ihrer Vorge- schichte abhängen. *) Eines praktisch wichtigen Falles sei schließlich gedacht , weil er in einer großen Aluminiumfabrik entsprechend verwertet wird. ^) Kaltgezogene Aluminiumdrähte erhalten ein um 7 "/(, besseres elektrisches Leitvermögen nach dem Erwärmen (,, Anlassen") auf etwa 270". Der Grund ist die Rekristallisation des durch die Bearbeitung verschobenen und dadurch „unedler" gewordenen Gefüges. H. Heller. Anthropologie. Die Gliederung der Balkan- halbinsel nach Siedlungsräiimen und deren Beein- flussung von benachbarten Kulturen veranschau- licht Norbert Krebs im FenckFestband (Stutt- gart, Engelhorn). Eine wichtige Rolle in der Be- siedlung der verschiedenen geographischen Räume spielte die wirtschaftliche Kultur der nach der Halbinsel vorgedrungenen Völkerschaften. Acker- bauern legen den Hauptwert auf fruchtbare, aber trockene Niederungen mit mildem Klima, Vieh- züchter bevorzugen die grasreichen feuchteren Höhen, wo eben noch so viel an Zerealien reift, als sie selbst zum Eigengebrauch bedürfen. Wenn auch extensive Wirtschaftsweise unvermeidlich ist, können die Hochflächen doch vielfach früher in Besiedlung stehen als Talgaue, deren feuchte Niederungen zuletzt erst in Kultur genommen werden. Auch die Landnahme ist verschieden. Die Bauern ziehen den Tälern entlang, die Hirten gehen von Höhe zu Höhe; die Richtung der Be- wegung braucht nicht übereinzustimmen und um die Randgebiete zwischen Gebirge und Ebene be- stehen oft genug Kämpfe zwischen Ackerbürgern und Hirten, die keineswegs immer mit dem Sieg der ersteren enden. Die Bevölkerung der Niede- rungen, die den Kultureinflüssen der Peripherie '1 Zeitschr. d. Vereins Deutscher Ingenieure 63. 142. 1919. '') Chemisches Zeniralblatt 1919. I. 217 und 601. ') Zeilschr. f. physikal. Chemie 68. 214. 1909. *) Ebenda. 35. 588. ') Elektrotechnische Zeitschrift 40. 307. 1919. in höherem Maß zugänglich ist, verweichlicht leicht und wird ersetzt durch die Gebirgsbevölke- rung, die auf ihren weiten Hochflächen Kraft und Entwicklungsfähigkeit bewahrt. Dafür haben wir in Mitteleuropa mit unseren räumlich beschränkten Waldgebirgen kein rechtes Verständnis. Sitten und Gebräuche der Leute aber verweisen uns vielfach auf die Zeiten unserer Vorfahren : mit Herren- burgen und hörigen Bauern, Blutrache und Gottes- frieden, erscheinen uns Albanien und Raszien wie zurückgebliebene Teile innerhalb derselben Ent- wicklung. Auch im Verkehrsleben der Alpen klingen die Erinnerungen nach an die Zeiten, wo dieselben Grundsätze für die Anlage der Wege galten wie heute noch auf der Balkanhalbinsel. Die der Arbeit von Krebs beigegebene Karte unterscheidet einerseits die besiedelten und weg- samen Landschaften und andererseits die unbe- wohnten oder schwach besiedelten Gebiete, meist Waldgebirge, aber auch die unsicheren Überschwem- mungsgebiete an den großen Flüssen und die Sümpfe, sie zeigt ferner Engpässe und Talsperren; die Flugsandgebiete des südöstlichen Ungarn und die erst in den letzten Jahrzehnten unter den Pflug genommene Baragansteppe der östlichen Walachei sind ebenfalls herausgehoben, da sie noch vor kurzem frei von Dauersiedlungen waren. Bezüglich der Einzelheiten der anthropogeographi- schen Gliederung der Balkanhalbinsel muß auf die Originalarbeit selbst verwiesen werden. Seit dem Beginne unserer Zeitrechnung drangen auf der Balkanhalbinsel Völker und Kulturen von allen Seiten vor, sie haben sich stellenweise mehr oder weniger deutlich übereinandergeschichtet, an ande- ren Orten auch vermischt. Das dinarisch-albanische Gebirge blieb immer allen äußeren Einflüssen am wenigsten zugänglich ; seine Massigkeit und gering- fügige Gliederung erschweren das Eindringen sol- cher Einflüsse. Es fehlen durchlaufende wegsame Täler und tiefgeschartete Pässe. Die Wege müssen meist dicht am Meere steil emporsteigen und führen dann viele Stunden weit über die rauhen verkarsteten Hochflächen, bis sie sich meist auch ziemlich plötzlich in die Täler der danubischen Seite hinabsenken. Wohl können die höchsten Gebirgsstöcke umgangen werden, die sich bis über 2500 m Höhe erheben, aber 800 — 1200 m hohe Piauteaus müssen überwunden werden. Im ganzen ist die Durchquerung der unwirtlichen Zone von innen her leichter als von der Küste, der das dinarische Gebirge Abfälle zukehrt. So ist es be- greiflich, daß Staaten und Völker leicht vom Innern an die Küste vorzustoßen vermochten, während es den Seefahrern nur gelang, gut ge- schützte Halbinseln und Inseln zu besetzen. Der Balkan dagegen ist viel zu schmal und durch- gängig, als daß er ein wirksames Hemmnis für Kulturwanderungen hätte bilden können, obzwar sich kleine Gebiete im Gebirge anders entwickeln konnten, als die weiten Ebenen davor. Wenn von Griechenland abgesehen wird, so boten be- sonders die schmalen Küstenebenen der adriatischen N. F. XVm. Nr. 46 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 675 Seite der Balkanhalbinsel günstige Bedingungen für fremde Kolonisation, denn sie sind dem Ver- kehr von der Seeseite aus leicht zugänglich und durch Steilabhänge gegen das Hinterland geschützt, dessen Bevölkerung fremden Eindringlingen nicht immer freundlich entgegenkam; zudem gehören diese Ebenen zum Bereiche des mittelmeerischen Klimatypus, wo die Vegetation durch Winter- kälte kaum unterbrochen wird, so daß nament- lich für den Gartenbau gute Bedingungen gegeben sind. Die Ostküste der Halbinsel lag dagegen lange Zeit abseits von den gangbarsten Verkehrs- straßen und ihr naßkaltes pontisches Klima ge- staltete sie viel weniger einladend als die West- küste. Dennoch sind die ethnographischen Ver- hältnisse der Halbinsel auch von dort her erheb- lich beeinflußt worden. Die von Nordosten ge- kommenen Völkerwellen haben überwiegend zer- störend gewirkt. Erst in dem Maß, als die Step- pen an der unteren Donau und jenseits derselben in Kultur genommen wurden, hörte die Bedrohung durch Wandervölker auf, und heute besteht auch kaum ein Kulturgefalle gegen das nördliche Ufer der Donau wie in byzantinischer und frühtürki- scher Zeit. Rumänien schiebt sich zwischen die nord- und südslawische Staatengruppe, alle drei aber bekommen nun ihre kulturellen Anregungen von Westen her, aus Mitteleuropa. Noch deut- licher ist der mitteleuropäische Einfluß in den Siedlungsräumen im Nordwesten der Balkanhalb- insel. Trotz des konservativen Sinnes der dortigen Bauern und der aus nationalen und religiösen Gründen entspringenden Bevorzugung östlicher Kultur, die sich in der Errichtung byzantinisch- russischer Prunkbauten nach außen hin äußert, hat namentlich die deutsche Kultur, über Ö^^ter- reich und Ungarn vordringend, dem westlichen Balkan seit etwa 100 Jahren viel gegeben. Der italienische Einfluß tritt auf den quarnerischen und dalmatinischen Inseln sowie an dem schmalen Küstensaum sehr stark hervor, aber nur ganz selten reicht er weiter ins Binnenland. Im Gegensatz zur iberischen Halbinsel sind auf der Balkanhalbinsel die zentralen Siedlungs- räume nicht groß und zusammenhängend, so daß auch ihre politische Zusammenfassung und ihre Herrschaft über die Randländer schwer ist. Kul- turwellen dringen nun auf der Balkanhalbinsel von allen Seiten vor. Ursprünglich drangen sie nur von Süden, dann auch von Südwesten ins Land. Schon in der Römerzeit und dann wieder seit der deutschen Kolonisation in Österreich konnten sie auch von Norden her vordringen. Sie fanden flachen Strand und tief eingreifende Buch- ten. Aber im ganzen Mittelalter und bis ins 18. Jahrhundert hinein vermochten die Wellen sich nicht zu behaupten gegenüber den von Süden her wirkenden, deren Ursprungsstelle so sehr viel näher lag. Trotz der ungünstigen Wendungen der jüngsten Zeit, ist doch damit zu rechnen, daß die Kulturwellen aus dem Norden die stärkeren bleiben werden. H, Fehlinger. Psychologie. Die Zahl 13 im Glauben der Indogermanen. Im Volksglauben gilt bei uns die Zahl 13 als Unglückszahl und man meint ziemlich allgemein, dieser Glaube stehe mit der Abendmahlgeschichte Christi in Zusammen- hang. In anderen Ländern, wie z. B. in gewissen Gegenden Belgiens und Nordfrankreichs, ist die 13 eine ausgesprochene Glückszahl. Schon der Umstand spricht dagegen, daß die symbolische Bedeutung der 13 in der Abendmahlsgeschichte wurzelt; überdies ist sie in Kulturkreisen ver- breitet, die von der christlichen Überlieferung gar nicht berührt wurden. In der Festschrift für Gustav Kossina (Leipzig, Kurt Kabitzsch), die auch sonst wichtige Beiträge zur Kenntnis der menschlichen Geietesentwicklung bringt, zeigt Georg Wilke die außerordentlich weite Ver- breitung der symbolischen Zahl 13, die große Ge- biete Europas, Asiens, Nordafrikas und Amerikas umfaßt. Völlig unbekannt sind symbolische Zahlen und auch die 13 anscheinend den Buschmännern und den gesamten Negervölkern. Nur da, wo arabische und semitische Einflüsse eineewirkt haben, wie in dem Gebiete zwischen Viktoria- und Tanganjikasee, dürften sich vielleicht Spuren von ihr finden. Ebensowenig hat Wilke sie in den daraufhin geprüften Sagen Polynesiens, Mikro- nesiens und Australiens feststellen können. Es steht fest, daß die 13 im Glauben der indo- germanischen Völker tief wurzelt, zugleich aber auch, wie namentlich ihr Auftreten bei den Grie- chen und Indern lehrt, daß sie hier bis in die allerfrühesten Zeiten zurückreicht. Wir dürfen daher, sagt Wilke, mit vollem Recht annehmen, daß dieser Glaube schon in der indogermanischen Urzeit bestanden hat und daß ihn die indoger- manischen Einzelvölker bei ihrer Trennung von ihrer einstigen Heimat nach ihren neuen Wohn- sitzen mit hinübergenommen haben. An der Hand reichlichen Materials wird dargelegt, daß den vor- geschichtlichen Bewohnern Mitteleuropas die hei- lige Zahl 13 wohl bekannt war, und zwar reicht sie hier, wie die Sonnen- und Sternfiguren von Weyeregg. Regensburg und Groß-Gartach, und namentlich die Opferkultplatte von Schäß- burg lehren, ziemlich tief ins Neolithikum hinein. Die symbolische Bedeutung der 13 reicht weit über das Abendmahl Christi zurück. Sie kann auch nicht einfach in der Unteilbarkeit der Zahl gesucht werden. Eine andere Erklärung geht da- hin, daß sie aus der Beobachtung der MoncJphasen hervorgegangen ist. Wilke meint, daß die sym- bolische Bedeutung der 13, sowie auch jene der 12, auf einem Mond-Sonnen- Jahr beruht; die 12 entspricht den das regelmäßige Jahr bildenden synodischen 12 Monaten zu 29V.3 Tagen, die 13 dagegen bezieht sich auf einen zum Ausgleich des Mondjahres (354 Tage) mit dem Sonnenjahr (365 Tage) hinzugefügten Schaltmonat, dem im zwölf- teiligen Tierkreis das als dreizehntes hinzugefügte Bild des Raben entspricht. Daher der überall 676 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVm. Nr. 46 wiederkehrende „Unglücksrabe", weil die Schalt- monate — ebenso wie die Schalttage — im all- gemeinen für unglückbringend galten. Allerdings nimmt man ja für gewöhnlich an, daß ursprüng- lich die Zeit nur nach dem Mondlaufe eingeteilt wurde, und dies mag vielleicht auch in den aller- frühesten Perioden der Fall gewesen sein. Doch muß man daneben schon frühzeitig auf das Sonnen- jahr abgekommen sein. Zu dieser Annahme be- rechtigt uns nicht nur die verhältnismäßig hohe Entwicklung, die der im Norden schon im Cam- pignien einsetzende, in seinen einzelnen Phasen: dem Pflügen, Eggen, der Aussaat und Ernte, völlig an die Jahreszeiten und den Stand der Sonne ge- bundene Ackerbau innerhalb des Neolithikums erreicht, sondern das wird für die der neolithi- schen Kulturstufe entsprechende indogermanische Urzeit auch noch durch eine Reihe von Sprach- gleichungen ausdrücklich belegt. Auch weist die reiche Ausbildung des Sonnenkultus beim indo- germanischen Urvolke wie im neolithischen Mittel- europa mit voller Bestimmtheit auf die Bekannt- schaf^t der Indogermanen wie der neolithischen Be- wohner Mitteleuropas mit dem Sonnenjahre hin. Besonders die Steinalleen und Steinkreise der keltischen Ruinenstätten von Stonehenge und Avebury faßt Wilke als sichere Beweise dafür auf, daß bereits die neolithischen Bewohner Europas eine Zeiteinteilung hatten, die mit einem Wechsel von 12- und i3monatlichen Mond-Sonnenjahren rechnete. Damit ist die Entstehung der bereits für das europäische Neolithikum nachweisbaren symbolischen Bedeutung der 13 völlig befriedigend erklärt; Wilke hält diese Herleitung für um so mehr berechtigt, weil die 13 als heilige Zahl an- scheinend nur bei solchen Völkern vorkommt, die eine gleiche oder ähnliche Zeitrechnung besitzen, dagegen allen übrigen Völkern fehlt, die diese Zeiteinteilung nicht kennen. Die Herleitung der 13 aus einem Mond-Sonnen- jahr macht uns zugleich auch in zwangloser Weise den in den verschiedenartigen Sagen sehr häufig vorkommenden Wechsel zwischen den Zahlen 13 und 12 verständlich, die in der sakralen Kunst des hallstatt-, bronze- und steinzeitlichen Mittel- europa ungemein häufig vertreten ist, ja sogar bisweilen mit der 13 zusammen vorkommt. Endlich wird damit vielleicht auch noch die Doppelbedeutung der 13 (und 12) als Glücks- und Unglückszahl erklärt. Denn die Mondgott- heit, deren Kult ja mit dem Mondjahre im eng- sten Zusammenhange steht, war bekanntlich eine Göttin der Fruchtbarkeit und eine Totengottheit in einer Person. H. Fehlinger. Geologie. Die Bäder Oeynhausen und Salz- uflen (mit I Abbildung) hat A. Mestwerdt hinsichtlich der geologischen Verhältnisse ihrer Quellen eingehend untersucht (Jahrb. d. Preuß. Geol. Landesanst. Bd. XXXVII, Teil II, Heft i, S. 64 — 131, 1918. Das Bergland zwischen der Weser und dem Teutoburger Wald ist außerordentlich reich an natürlichen Heilquellen, die sich durch einen hohen Gehalt an Sole und ungebundener Kohlen- säure auszeichnen. Pyrmont und Oeynhausen haben längst Weltruf, Driburg und Meinberg er- freuen sich eines guten Ansehens. Dazu ist neuerdings Salzuflen getreten. Dort blühte im Mittelalter die Salzgewinnung. Badeort ist es seit Beginn dieses Jahrhunderts, hat dann schnell einen solch gewaltigen Aufschwung genommen, daß es den alten Badeorten vollwertig zur Seite steht. Daneben gibt es noch kleinere Heilquellen mit einem bescheideneren Badebetrieb (vgl. Abb.). Kohlensäuerlinge kommen als Tafelwasser in den Handel, z. B. der Wolff- Metternichbrunnen bei Vinsebeck und der Hermannsborn. .■v;^■•''•'•%;'i!: MMOCtf AI., »6. ««11 °i„jD„4„,.j Die Mineralquellen des westfälisch-lippischen Berglandes. (Vereinfachte Wiedergabe einer Figur Mestwerdt s.) Auf Grund unserer neueren Erfahrungen sind Mineralquellen nicht mehr Einzelerscheinungen, sondern lassen + enge Beziehungen mit Nachbar- quellen erkennen. Nach Still es Untersuchungen sind die Quellen im östlichen Vorlande des Teuto- burger Waldes an Hebungslinien des Gebirges, sog. „geologische Achsen" gebunden, so z. B. die Driburger Quellen an die Driburger Achse, die Quellen von Meinberg, am Bellenberge und die Heerster Kohlensäurequelle an die Osning Achse, die im Weserbergland gelegenen Quellen von Pyrmont, Oeynhausen und Salzuflen an die Zone der Pyrmonter Achse. Die Bäder Oeynhausen und Salzuflen haben kohlensäurehaltige Solquellen, die hinsichtlich ihrer Zusammensetzung große Verwandtschaft zeigen, zumal auch die geologischen P'ormationen, in denen sie auftreten, dieselben sind. Die ungebundene Kohlensäure der beiden Quellen, sowie den freien Stickstoff in den Oeynhausener Sprudeln sieht man als Nachwirkungen der vulkanischen Tätigkeit des im Tertiär aufgedrungenen basaltischen Magmas N. F. XVm. Nr. 46 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 677 an. Einige Meilen südwärts steht bei Sandebeck Basalt an. Die Eruption mag weiter nordwärts klaffende Spalten in der Tiefe erzeugt haben, durch welche die freie Kohlensäure in aufnahme- fähigere Stockwerke drang und hier bis auf den heutigen Tag aufgespeichert wurde. Der Sole- gehalt entstammt dem Salzlager des Oberen Zech- steins. Bad Oeynhausen hatte um die IVIitte des 18. Jahrhunderts eine 4proz. Solquelle, die durch eine Bohrung wesentlich verbessert wurde. Im Jahre 1830 wurde auf Veranlassung des Berg- hauptmanns Freiherrn von Oeynhausen eine Tiefbohrung niedergebracht, in der Hoffnung, daß man ein großes Salzlager antraf. Es wurde eine kohlensäurehaltige und soleführende Thermalquelle erschlossen, die zur Gründung eines Badeortes führte, dem König Friedrich Wilhelm IV. den Namen Bad Oeynhausen gab. Seither sind noch 4 Bohrungen erfolgt, die 5. im Jahre 1906, welche am tiefsten ging und die anderen durch stärkeren Solegehalt und höhere Temperatur übertraf. In Oeynhausen steht Lias und Rhätkeuper an, in der weiteren Umgebung auch Mittlerer Keuper und bei Vlotho Kohlenkeuper und Oberer Muschelkalk. Von den 5 Thermalsprudeln , die zwischen 625 und 700 m Tiefe reichen, schütten I, IV und V nach Öffnung der Ventile 3000 Liter/Minute, nach 8 stündigem freiem Auslauf 2100 Liter/Minute. Die Quellen II und III haben eine geringere Schüttung und Temperatur; sie werden mit den wärmeren Quellen zur Bereitung der Bäder mit geringerer Temperatur verwandt. Die Temperatur beträgt bei I und IV 33", bei II und III 24 bzw. 26", die Schüttung bei I 4900 hl, bei II und III 720 hl, bei IV 20000—21 500 hl in 24 Stunden. Bad Salzuflen ist im Lippischen Keuper- gebiet gelegen und vermittelt den Übergang zu dem Liasgebiet von Herford. Im Norden und Osten bedingt der Keuper durch die verschiedene Härte seiner Stufen einen lebhaften Wechsel von Berg- und Talformen. Die westliche Umgebung von Salzuflen ist flachwellig und besteht aus den mürben Mergeln des Lias. Der Übergang vom Keuper zum Lias ist für die Beurteilung der Salzuflener Quellenverhältnisse von Interesse, ebenso wie auch in Bad Oeynhausen. Für den Kurgebrauch sind 5 Heilquellen durch Bohrung erschlossen, nämlich die Paulinen-, Sophien- und Loosequelle, der Leopoldssprudel und der Neu- brunnen. Wie bereits erwähnt, besteht eine große Ähn- lichkeit der Quellen von Oeynhausen und Salzuflen hinsichtlich ihrer Entstehung und Beschaffenheit, der Gebirgsschichten und der tektonischen Ver- hältnisse. Beide Quellgebiete Hegen im Bereiche der Pyrmonter Achse an Verwerfungssystemen, jedoch an verschiedenen einander ähnlich gebauten Armen derselben. Durch Bohrtätigkeit im einen Bezirk wird die Schüttung im andern nicht beein- flußt. Bei den Bohrungen wurden in verschiedenen Stufen des Lias und der Trias Sole erschlossen, die Hauptquellen aber im Unteren Muschelkalk. Solegehalt, Temperatur und Menge der Schüttung nahmen im allgemeinen mit der Tiefe zu. Freie Kohlensäure tritt außer den Quellen der beiden Orte noch verschiedentlich längs der Pyrmonter Achse auf. V. Hohenstein, Halle. Die neueste Entwjcklung der Erdölgewinnung. i) Mit Friedensschluß hat auch m der Gewinnung von Erdöl und seinen Raffinationsprodukten eine neue Entwicklung eingesetzt. Einmal in dem Bestreben der großen erdölerzeugenden Länder, die alten Absatzgebiete für ihre kostbaren Pro- dukte wieder zu gewinnen, sodann aber auch in dem Bemühen um Erschließung neuer Erdölquellen, die dem stetig wachsenden Bedarf in erhöhtem Maße Rechnung tragen sollen. Die kaufmännische Seite dieser neuesten Entwicklungsperiode soll hier außer Betracht bleiben, vielmehr soll von der unmittelbaren Gewinnung des Erdöls, insbe- sondere den neuen Fundstätten ein kurzer Über- blick gegeben werden. Zunächst interessiert das Erdölvorkommen in Deutschland. Wir sind während des Krieges von der amerikanischen und russischen Einfuhr gänzlich , von der rumänischen zum großen Teil abgeschlossen gewesen. Der Gedanke, im eigenen Lande wenigstens einen Teil des sehr großen Be- darfes an Petroleum und seinen Abkömmlingen decken zu können, lag nahe. Leider sind alle Versuche, ein abbauwürdiges Vorkommen von Erdöl in Deutschland neu zu erschließen vergeb- lich gewesen. Wir blieben auf die sehr beschei- denen Findungen in Hannover und im Elsaß be- schränkt. Von diesen versiegen die ersten, bei Wietze (nahe Celle) gelegenen Quellen langsam und unaufhaltsam, eine Tatsache, die die aus- beutende Gesellschaft bereits veranlaßte, zur Ge- winnung künstlicher Mineralöle aus Braunkohlen überzugehen. Ergiebiger waren die seit langer Zeit bekannten Quellen im Elsaß, die Pechel- bronner Werke der Deutschen Erdöl- A.- G. Die dort gewonnene Rohölmenge erreichte 191 8 die doch nicht unbedeutende Hohe von 50000 t. Durch den Frieden sind uns diese Werke verloren gegangen und damit schwindet vor der Hand jede Aussicht, in natürlich gewonnenem Erdöl einigermaßen unabhängig vom Ausland zu werden. Die Pechelbronner Werke sind in amerikanische Hände, wahrscheinlich der Standard Oil Co. übergegangen und bilden nun einen weiteren Anteil dieser gewaltigen Unternehmung, die ein Weltmonopol zu erlangen strebt. Wie ein Spott erscheint es, daß gleichzeitig von einem neuen Erdölvorkommen in Deutschland gemeldet wird. In der Nähe von Bloh an der Strecke Olden- burg— Leer soll nach Angaben von Wünschel- rutengängern eine ölführende Schicht vorhanden ■) Nach Berichten in „Petroleum", „Zeitschrift für ange- lte Chemie" und „Mitteilungen der Hamburecr Handels- wandte Chemie" und „Mitteilungi kammer", sämtlich von 1919. 678 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVm. Nr. 46 sein. Tatsächlich haben einige Oldenburger Firmen bereits Bohrungen unternommen, bisher allerdings ohne Erfolg, obwohl die geologische Formation jenes Gebietes ein Erdölvorkommen wahrscheinlich macht. Glücklicher ist man mit den Bohrungen in England. England muß, mehr als wir, die Ge- fahr einer amerikanischen Vertrustung des Welt- handels mit Erdöl fürchten und ist infolgedessen angestrengt tätig, nach Möglichkeit auf eigenem Boden den kostbaren Stoff zu gewinnen. Bisher war nur von einem Vorkommen von ölhaltigem Schiefer in Schottland die Rede. Seine Aus- beute scheint jedoch nicht mehr wie bisher zu lohnen, denn die schottischen Werke haben sich jüngst der Anglo-Persian Oil Co. ange- schlossen und wollen künftig die Raffination der von dieser Gesellschaft eingeführten Öle betreiben. Da ist es um so bemerkenswerter, daß seit dem 15. Oktober 1918 vorgenommene Bohrungen in Derbyshire von Erfolg begleitet sind. In einer etwa 3000 Fuß tief liegenden Kalkschicht hat man ein sehr reines wertvolles Öl erbohrt. Vorläufig fließt es noch nicht überwältigend reichlich, und die ersten von der englischen Tagespresse ge- brachten aufsehenerregenden Mitteilungen darüber sind niit allergrößter Vorsicht zu beurteilen. In Fachkreisen ist man der Ansicht, daß man es mit einem sehr beständigen aber quantitativ unter- geordneten Ausfließen zu tun haben wird. Jeden- falls aber ist durch die neue Findung das Vor- handensein von Erdöl in England selbst nachge- wiesen. Es ist mithin nicht ausgeschlossen , daß weitere Abteufungen eine größere Ausbeute er- schließen. Daß man in England selbst damit rechnet, geht daraus hervor, daß an den in Frage kommenden Orten bereits große Tanks, einer sogar von 200000 Gallonen Fassungsvermögen, erbaut werden, und daß soeben die Oilfields of England Ltd. mit 250000 Pfund Sterling Stammkapital gegründet wurde, deren Zweck die Ausbeute der neuen Lagerstätten ist. In Rußland, neben Amerika einst der stärk- ste Erdölproduzent, ist die neueste Entwicklung in der Erdölgewinnung wie zu erwarten sehr wenig erfreulich. Die Förderung in dem reichen Gebiet von Baku ging von 237,8 Mill. Pud im ersten Halbjahre 1913 auf 126,4 MiU. Pud in 1918 zurück, nachdem sie 1916 sogar 243,1 Mill. erreicht hatte. Durchschnittlich ist die monatliche Erzeugung 1913 40 Mill. Pud gewesen. 1918 waren es noch ganze 1 1 Mill. Die Gründe dafür sind außer Mangel an Material und Transport- mitteln im Fördergebiet die chaotischen Zustände im bolschewistischen Rußland, die hier wie über- all den Untergang der Gesamlwirtschaft bedeuten. Die Arbeitsleistung ist stark gesunken, und von einer Aufwärtsbewegung der dortigen Erdölindu- strie ist in absehbarer Zeit nicht die Rede. Ähn- lich liegen die Verhältnisse in Grosny, wo ein Teil der Anlagen bei den Kämpfen 1917 zerstört wurde, inEruba usw. Man schätzt in maßgeben- den Kreisen die russische Gesamtförderung auf jährlich 350— 400 Mill. Pud, d. h. 6—6,5 Mill. t. Leider schreitet die Erschöpfung der „alten Felder" stetig fort, sie hat nach Rechnung der Statistiker schon 70 % erreicht. Vielfach tritt das geförderte Öl stark wasserhaltig (bis zu 80 % Ij auf, was weitere Einbußen bedeutet. Weiterhin ist statt von einem Fortschritt von einem Rückgang in der Technik in der Industrie zu reden. Die aus dem Rohöl gewonnene Menge an Nebenprodukten ist seit 191 3 nahezu um die Hälfte gesunken. — Von einer einigermaßen aussichtsvollen Entwick- lung ist lediglich in der Republik Georgie n die Rede. War diese bisher infolge des starken Be- darfs an Feuerungsmaterial für ihre Industrie und an Beleuchtungsstoff nahezu völlig auf dieEinluhr aus Rußland angewiesen, so macht ihre Erdöl- industrie jetzt mit gl oßer Energie sich von dieser Belieterung durch Erschließung einheimischer Quellen frei. Zurzeit freilich werden daselbst vorerst nur 9000 t jährlich gewonnen. Nächst Rußlands beansprucht Rumäniens Erdölgewinnung besondere Beachtung. Durch den Krieg sind zahlreiche Sonden außer Betrieb gesetzt worden, so daß die Produktion zurückgegangen ist. Jetzt jedoch wird von neuen Erbohrungen und Wiederaufnahme der alten Erzeugung be- richtet. Da die Konzessionen auf die rumänischen Erdölfelder sowohl von amerikanischer wie ins- besondere von englischer und holländischer Seite sehr begehrt werden, und Nachrichten über die hauptsächlich mit englisch - französischem Kapital betriebene Erzeugung kein klares Bild ergeben, so ist Bestimmtes über Rumänien nicht mitzu- teilen. Der Ausfuhr bereiten Wagenmangel und schlechter Zustand von Eisenbahn- und Stapel- anlagen große Schwierigkeiten. IWaterialmangel legt den Betrieb der Petroleum- gewinnung auch in Galizien lahm. Litten die dortigen Anlagen schon während des Krieges sehr unter ungenügender Zufuhr von Fanggerät, Rohren, Wagen usw., so verschärften sich diese Mißstände noch bedeutend mit der Revolution. An und für sich ist die Gewinnung an Erdöl zufriedenstellend , aber die geförderten Mengen lassen sich infolge der genannten Umstände ein- fach nicht bewältigen. Man hoffte, amerikanisches Bohrgerät und anderes Material über Danzig zu erhalten. Bisher ist nichts davon eingetroffen. Infolgedessen mußte man einige Sonden sogar vernageln, um das wertvolle Öi nicht ungenutzt ausfließen zu lassen. Da Kohlen sehr knapp sind, wird ein weiterer Teil des Rohöles zur Feuerung verwendet. Der Mangel an Zahlungsmitteln be- dingt weitere Erschwerung im Betriebe. Trotz- dem hoffen natürlich die beteiligten Gesellschaften auf Besserung der Lage und Wiederherstellung der Gewinnung im alten Umfang. Insbesondere Amerika, vor allem die Premier Oil and Pipe Line Co. Ltd., trifft umfangreiche finanzielle Vorkehrungen zur Wiederaufnahme des Betriebes auf gesunder Grundlage. Das galizische Gebiet N. F. XVm. Nr. 46 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 679 ist sehr findungsreich, so daß sogar erhebUche Erweiterungen und Neubohrungen beabsichtigt werden. Neue Erdölvorkommen werden des weiteren gemeldet aus dem tschecho-slovakischen Staat. Seit 1914 wird im Gebiete von Egbell bei Göding Erdöl gefördert. Die augenblick- liche Beorderung im Monat beträgt zwar die bei weitem nicht ausreichende Menge von 650 oco kg. Doch lassen zahlreiche Bohrungen an benachbarten Stellen erwarten, daß sich dort ein neues Erdöl- gebiet von einiger Bedeutung erschließen wird. Interesse daran hat in erster Linie natürlich die Tschechoslovakei selbst. Zurzeit ist sie durchaus abhängig von amerikanischer Zufuhr. Diese wird von der Standard OilCo. in die Wege ge- leitet und soll über Hamburg erfolgen. Von Be- deutung ist es deshalb, daß die neuen Funde in Mähren die Möglichkeit einer wenigstens teil- weisen Selbstversorgung Tschechoslovakiens offen lassen und etwaigen Monopolbestrebungen der Standard Oil entgegenstehen. In Amerika sieht man einer gewaltigen Ent- wicklung der Erdölgewinnung entgegen. Rein äußerlich ist das aus der sehr großen Zahl neu- gegründeter Erdölgesellschaften mit meist mehreren Millionen Kapital und daraus zu ersehen, daß die mächtige Standard Oil Co. ihr Stammkapital um 100 Millionen Dollar zu erhöhen beschlossen hat. Ständig werden neue Quellen erschlossen, in Pine-Islan d- Gebiet, Pennsylvanien, Texas, Wyoming, West-Virginien und an zahllosen anderen Orten. In Texas allein sind in den letzten Monaten über 200 neue Bohr- türme angesetzt worden. In der Nähe von Stock- ton (Kalifornien) sind neue riesige Lager von Ölschiefer mit einem Ergebnis von etwa 62 Gal- lonen Rohöl pro Tonne entdeckt worden. Die ganze Entwicklung geht derart stürmisch vor sich, daß in einzelnen Gebieten jetzt bereits von Über- produktion gemeldet wird, woran neben den neu erschlossenen Gebieten auch die gegen den Krieg verminderte Nachfrage schuld ist. Sieht Nordamerika also einer weiterhin glänzen- den Zukunft seiner Erdölgewinnung entgegen, so gilt das in vielleicht noch höherem Grade von Mexiko. Die großen Ölfelder von Tampico zeigen sich von außerordentlich guter Ergiebig- keit. Während bisher die Gesellschaft von S. Pearson and Son Ltd. -London die Haupt- menge der Konzessionen zu neuen Nutzungen und Bohrungen daselbst besaß, bemühen nunmehr auch italienische, spanische, russische, selbst japanische Firmen sich um Anteile an den sehr ergiebigen Feldern. Im Norden Mexikos ist es besonders die Provinz Chihuahua, in der sehr ergiebig flies- sende Sonden in großer Zahl eingeführt wurden. Obwohl die Transporte von hier ungünstiger als von dem der Küste nächst benachbarten Tampico aus erfolgen können, so hat doch auch das nord- mexikanische Petroleum eine unbedingt sehr gute Zukunft. Infolge der zahlreichen neuen Erboh- rungen ist die Ausfuhrmenge Mexikos von 430000O Barrels im März dieses Jahres auf nicht weniger als 6900000 Barrels im Mai gestiegen; eine un- gewöhnlich lebhafte Entwicklung, der es offenbar keinen wesentlich Eintrag tut, daß an einzelnen Orten, so im Tepe täte- Bezirk, Ver Wässerungen des geförderten Petroleums auftreten. Diesem bei allen Erdölfeldern notwendigerweise eintretenden Abflauen der Ergiebigkeit stehen dauernd neue Funde gegenüber, die für Mexiko von um so größerem Wert sind, als die Regierung Carran- zas sie in zweckmäßiger Weise dem Staate dienst- bar macht. Die letzte gro'ße Findung geschah im Sommer dieses Jahres auf der Insel AI ta- rn uro gegenüber der Küste der Provinz Sinaloa. Hier sind reiche Öl- und Asphaltvorkommen er- schlossen worden. Asphalt in großen Mengen wird jetzt auch aufCuba gefördert. Der cubanische Asphalt be- sitzt einen vergleichsweise hohen Schmelzpunkt, er kann deshalb in heißen Klimaten verwendet und lose verschifft werden. — Ein weiteres neues Erdölvorkommen wird aus Canada gemeldet. Die Anglo-Persian-Oil-Co. hat in N e u - Braunschweig lOOOO Quadratmeilen Land mit vermuteten Erdöl erworben und bei ihren Boh- rungen in rund 3000 Fuß Tiefe große und er- giebige Lager entdeckt. Der Gasdruck trieb das erbohrte Öl bis über die Spitze des Bohrturms hinaus. — In Südamerika ist ebenfalls von fortschreitender Gewinnung von Erdöl zu berichten. Venezuela hat Regierungsmaßnahmen getroffen, um den Reichtum des Landes an Petroleum und Asphalten zu erschließen. Für Columbien sind von den Geologen endgültig die dortigen Lager festgestellt worden. Sie erstrecken sich längs der atlantischen Küste in einer Ausdehnung von 30 Meilen Länge, 9 — 12 Meilen Breite und liegen in 1500 — 2000 F"uß Tiefe. Das Öl enthält etwa 50 "/o Benzin und 40 '7o Leuchtöl, ist also von guter Qualität. Über seine Menge gestaltet ein Bericht aus Za- patoca ein Urleil. Eine neu erschlossene Sonde liefert dort täglich 800 Barrels. Die Verschiffungs- möglichkeiten sind sehr gut, die Arbeitskräfte billig; für die im Landesinneren gelegenen P'elder sind die Transporlmöglichkeiten zwar schlecht, man will aber eine Pipeline zur Küste bauen, um auch jenes Gebiet zu erschließen. Columbien dürfte mehr und mehr an Bedeutung gewinnen, nicht zuletzt der Ausfuhrmöglichkeiten nach Au- stralien wegen. Günstig verläuft die Entwicklung der Erdöl- gewinnung in Argentinien, dem jüngsten der Petroleum erzeugenden Länder. Dort sowohl wie in Bolivien sind ausgedehnte Erdöllagerstätten vorhanden, jedoch werden sie nur in Argentinien erfolgreich abgebaut. Das Öl dient hauptsächlich zu Feuerungszwecken, da es arm an flüchtigen Stoffen ist und seine Heizkraft um die Hälfte größer als die der Kohle ist. Für Schiffsmaschinen ist es vorzüglich geeignet. Argentinien ist arm 68o Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVm. Nr. 46 an Kohle, infolgedessen .steigt die Ausbeute des qualitativ erstklassigen Öles stark. Noch 191 1 betrug sie ganze 1900 Tonnen, 1914 bereits 40000 und 1918 200GOO Tonnen 1 Schließlich sei von einem kürzlich entdeckten Erdöllager Australiens berichtet. Es liegt auf den Papua-Inseln, also auf ehemals deutschem Gebiet. Die englische und australische Regierung haben ansehnliche Mittel zu seiner Erforschung bereit gestellt. Tatsächlich handelt es sich um ein größeres Vorkommen, doch werden die Schwierigkeiten der Gewinnung als sehr groß ge- schildert. Die Hoffnung der Australier, im eigenen Lande Petroleum zu gewinnen, hat sich nicht er- füllt. Alle in Süd-Australien vorgenommenen Bohrungen waren erfolglos. Hans Heller. Bücherbesprechungen. Welten, Dr. Heinz, Pflanzenkrankheiten. (Reclam, Bücher der Naturwissenschaft, 25. Bd.). Mit 2 bunten und 3 schwarzen Tafeln und 76 Abb. im Text. (199 S.). 2 M. Die Bücher, die Pflanzenkrankheiten für einen größeren Leserkreis schildern, befassen sich fast ausschließlich mit den für Landwirtschaft und Gartenbau wichtigen Krankheiten. Es ist deshalb zu begrüßen, daß der Verf hier einmal versucht, das gesamte Gebiet der Pflanzenpathologie in ge- meinverständlicher Fassung darzustellen. Er glie- dert den Stoff in drei Abschnitte, von denen die ersten beiden „Schädigende Einflüsse der unbe- lebten Natur" und „Schädigungen durch Lebe- wesen" im allgemeinen behandeln, während der dritte die „Krankheiten der Kulturgewächse" im besonderen enthält. Diese Gliederung hat inso- fern ihre Nachteile, als in dem letzten Abschnitt naturgemäß Wiederholungen vorkommen müssen. Er war aber wohl durch die Bedürfnisse der Praxis geboten und er bringt auch , unterstützt von recht instruktiven, z. T. farbigen Abbildungen, alles, was der Leser hier erwarten darf Aller- dings ist die Fassung sehr knapp und die Biologie kommt manchmal etwas zu kurz. So fällt z. B. auf, daß der Wirtswechsel der Rostpilze kaum erwähnt wird. Sehr gut gelungen scheint mir der erste Abschnitt zu sein, dessen umfassenden Inhalt am besten die Kapitelüberschriften erkennen lassen: Kälte; Wärme; Feuer; Blitz; Nieder- schläge; Lichtmangel; Rauchgase; Leuchtgas; Andere Beimengungen der Luft; Mangel an Nah- rung; Übermaß an Nahrung; Stagnierende Boden- nässe; Abwässer, Säuren, Laugen und Salz; Raum- mangel. Auch der zweite Abschnitt ist recht gut, wenn er auch, wie schon angedeutet wurde, vielleicht dadurch gewonnen hätte, wenn er mit dem dritten verschmolzen worden wäre. — Einzel- heiten wird man an jedem Buche aussetzen kön- nen. Hier sei nur erwähnt, daß die Angabe, Exoascus gehe mit seinen Wirtspflanzen eine Symbiose ein (S. 105), falsch ist. Im ganzen wird man sagen können, daß der Verf sein Ziel, Ver- ständnis für die Ursachen der Pflanzenkrankheiten zu erwecken und gleichzeitig die Mittel und Wege zu ihrer Verhütung anzugeben, erreicht hat. Nienburg. Hentges, Ernst, Die Kröte. Eine okkultistisch- kulturgeschichtliche Betrachtung. 24 Seiten. Leipzig 1918, Max Altum. 80 Pf Der an die Kröte als Fluch der Häßlichkeit sich knüpfende Aberglaube und seine Bedeutung für die mittelalterliche Hexeninquisition und Gift- mischerei wird in der kurzen Schrift unter Angabe genauer Literaturnachweise behandelt. Da die Ausführungen über Giftwirkung des Drüsen- sekrets der Kröie und sonstige Harmlosigkeit des Tieres durchaus einwandfrei sind, werden es die kulturgeschichtlichen Angaben wohl auch sein. Manches unsereinem nur aus der Dichtung (z. B. Faust) Bekannte lernen wir hier auf geschicht- lichem Hintergrund besser verstehen. Auch wird erwähnt, daß auf dem Scheiterhaufen nicht nur Unschuldige und Hysterische als „Hexen" ver- brannt wurden. V. Franz. Berichtigung. In dem Aufsatz: ,,Über zwei mechanisch bedingte Gesetz- mäßigkeiten im Bau der Blutgefäße" sind auf Seite 607, linke Spalte die 15 untersten Zeilen unrichtig eingeordnet. Es soll heilten: Der Grad dieser Verbreiterung der Strombahn findet sein Maß im Verhältnis der Summe der Asiquerschnitte zum Stammquerschnitt, also in dem Quotienten S ; Q, welcher im folgeudcn Querschnittsquotient genannt werden soll. Indem man nun den Widersland als Funktion dieses Quer- schnittsquotienten ausdrückt, muß es möglich sein, denjenigen Querschnittsquotienten zu finden, bei welchem keine Wider- standserhöhuDg intolge der Verzweigung eintritt. Hess gibt die Berechnung an für den Kall, daß sich die Blutbahn, wie dies bei den Kapillaren vielfach zutrifft, in zwei gleich starke Äste teilt. Nach dem Poiseuille sehen Gesetz ist der Widerstand einer Sirombahn von sehr engem Durchmesser dem Quadrat ihres Querschnittes umgekehrt proportional. Seite 606 , rechte Spalte , Zeile 5 von oben ist zu lesen ,, kleinerer" statt ,, größerer". Seile 607, rechte Spalte, unterste Zeile ist zu lesen „Be- dingungen" statt ,,Bedingungsgebielen". Schips. lullHlt: S. Killerminn, Zur Geschichte der Kakteen. (l Abb.) S. 665. Ludwig Freund, Die Eier der Läuse. (4 Abb.) S. 668. — Einzelberichte: Gustav Tarn mann, Änderungen im chemischen Verhalten von Metallen durch mecha- nische Bearbeitung. S. 673. Norbert Krebs, Gliederung der Balkanhalbinsel nach Sicdlungsräumen. S. 674. Georg Wilke, Die Zahl 13 im Glauben der Indogermanen. S. 675. A. Mestwerdt, Die Bader Oeynhausen und Salzuflen, (i Abb.) S. 676. Die neueste Entwicklung der Erdölgewinnung. S.677. — Bücherbesprechungen: Heinz Welten, Pflanzenkrankheiten. S. 680. Ernst Hentges, Die Kröte. S. 6S0. — Berichtigung. S. öSo. Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Involidenstraße 41, erbeten. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue Folge i8. Band; der ganzen Reihe _34. Band. Sonntag, den 23. November 1919. Nummer 4'?'. Die „Lebenswege" H, St. Chamberlains und die Naturwissenschaft. ^) [Nachdruck verboten.] Von Prof. Dr. Bücher von Chamberlain bedürfen keiner Empfehlung durch die Kritik, dafür sorgt der Ver- lag in ausgiebigster Weise. Diesmal schon auf dem Umschlag, unbeirrt von der Bescheidenheit des Verfassers, der in dem Buch bekannt macht, daß sich in seinem Wesen eine Lücke finde: der völlige Mangel an Ehrgeiz (S. 124). Das hätte Herr' Br uckmann nicht übersehen sollen, denn Text und Musik stimmen jetzt nicht zusammen. Das ganze Buch handelt von Herrn Chamber- lain und wie er es so herrlich weit gebracht; wie Natur, berühmte Männer und Bücher sich vereinigt haben, um „den Menschen" d. h. den christlich germanischen Überengländer zu erzeugen, (vgl. auch S. 05J, stets mit sanfter Gewalt ihn, den mehr leidenden Teil förmlich drängend zur Größe, die er eigentlich abwehren möchte. Das ist keine Konstruktion. Er selbst berichtet: ein Vorgefühlt sagte ihm, daß er Ruf erlangen würde, aber er wehrte sich gegen „diesen dunklen Instinkt eines drohenden Unheils" (S. 124). Das halt ihm aber nichts gegen das Schicksal, berühmt zu wer- den, selbst nicht der Verzicht auf Erlangung des Doktorgrades, den er als Hindernis zu dem großen Ziel „Mensch" erkennen mußte (S. 108). Das Buch läßt sich schwer allgemein charakte- risieren. Man kann es nicht in eine der auf S. 257 von Chamberlain nach seiner scholastischen Art und Neigung aufgestellten drei Kategorien von Büchern : Bücher, die Bücher sind, solche die mehr und solche die weniger sind, einreihen. Die Rubrizierung bleibt also dem Leser überlassen. Sie ist auch Nebensache, weit interessanter ist der Zweck des Werkes. Das Buch ist eine Samm- lung von Briefen ungewöhnlichen Umfangs. Die Briefe sind an Menschen auf der Höhe des Lebens gerichtet, darunter ein mystischer wirklicher Fürst. Mit der Verschweigung des Namens widerspricht Chamberlain seiner eigenen Vorrede, daß die Namen der Empfänger bekannt sein müßten. Aber was nützt es, wenn nur 5 Menschen auf der ganzen Welt wissen, von dem, „was einer vorstellt", wie Schopenhauer sagt. Der Zweck des Buches ist, daß die Welt endlich aus Cham- berlains eigenem Munde erfahre, was ihr bisher von der Kritik, sei es absichtlich oder unabsicht- lich, verschwiegen wurde: Daß Chamberlain eigentlich einen großen Naturforscher vorstellt. Das bisherige Verfahren Chamberlains, als solcher zu gelten, war, daß er die Naturfor- schung und ihre Vertreter mit Haß, Verdächti- gungen und Verhöhnung angriff, um selbst als Autorität zu erscheinen. Dadurch konnte er so- A. Hansen. gar einen Kritiker, wie Ernst Traumann täu- schen, um so mehr das große Publikum. Ein Kritiker sagt über diese Methode in seinen Büchern, daß sie „in Wahrheit strotzen von Polemik schärf- ster und z. T. unvornehmster Art". Die Technik der an Haß großen, an Mut geringen Polemik besteht in dem Mangel jeder Begründung für die von ihr ausgestreuten Ehrentitel. Auch in diesem Buch wird der Leser auf angebliche wissenschaft- liche Minderwertigkeiten hingewiesen und hier liegt das nächste Motiv für den Verfasser dieses Aufsatzes, etwas genauer nachzuforschen, welche wirkliche Kenntnis der Naturwissen- schaft Chamberlain besitzt, die ihm das Recht zu solchem Urteil geben könnte. Sonst hätte ich mich vielleicht gar nicht mit diesem widerspruchsvollen Buche beschäftigt. Es handelt sich also nicht darum „das Strahlende zu schwärzen", sondern um eine berechtigte Abwehr. Chamberlain selbst hat die Tatsache ge- schaffen, daß jedesmal, wenn ein Buch von ihm erscheint, „dessen Stil wie Musik ist" (vgl. den Umschlag) die Wissenschaft den warnenden Zuruf erheben muß: „Mit Vorsicht zu genießen I" Schwache Köpfe können sich an dem berauschen- den Getränk, welches hier verzapft wird, ohne Zuguß von Wasser, Denken und Urteil völlig ver- derben, wofür ein gewichtiges Beispiel vorliegt. Bei diesem Verhältnis zwischen Chamberlain und der Wissenschaft ist es begreiflich, daß er darauf sann, endlich ein Buch zu schreiben, welches die Fachleute, die ihm vorwarfen, von der Sache verstehe er nichts, völlig lahm zu legen imstande sei. Dies Buch ist jetzt da. Chamberlain tritt unerwartet als Autorität mitten unter die Naturforscher, indem er das, was ihm von anderer Seite nicht zuteil werden konnte, sich selbst aus- stellt: Das Zeugnis der Reife. Nachdem er jetzt durch Vorlegung der „Grundlagen des Herrn Chamberlain" die für die Einzelwissenschaften in umfassendstem Maße erlangte Reife nachweist, hofft er, es könne ihm niemand mehr antworten, er sei kein Fachmann. Chamberlain schreibt indes nicht für Fach- leute, die verruchten „Spezialisten". Er hat, um mit Mephistopheles zu reden „ein groß Publikum". Vor dieses tritt er in seinen Büchern als der ab- geklärte Weise, der jede Subjektivität überwunden und die Dinge der Welt in himmlischer Objek- tivität und Gemütsreinheit zu betrachten versteht. ') H. St. Chamberlain, LebcDswege meines Denkens. 1919 bei F. Bruclsmann, A.-G. 412 S. 682 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVm. Nr. 47 So auch in diesem Buch, das über alle Nieder- trächtigkeit dieser Welt, namentlich der gelehrten, sich zum „Charakter der Weltentrücktheit" erhebt. Wie Chamberlain in seinen Büchern von diesem geheimnisvollen Thron immer im Tone höchsten persönlichen Wohlwollens gegen seine Leser überfließt, so auch in diesen Briefen, die zwar nicht an den Leser gerichtet sind, aber bei ihm endlich die Suggestion bewirken, als ob die überaus vertrauensvollen"^ Anreden , „sie werden das schon vorausgesetzt haben" oder „sie als Biologe verstehen sofort" an jeden Einzelnen ge- richtet wären. Er hofft, daß das Publikum da- durch sich gleichfalls reif fühlt, den hochmütigen offiziellen Priestern der Wissenschaft selbst ent- gegen zu treten. Die Kausalität des Widerstreits zwischen Chamberlain und der Wissenschaft ist voll- kommen verständlich, denn er betont mit großer Offenheit Seite 3, daß nicht Streben nach Erkennt- nis ihn zum rastlosen Schriftsteller gemacht, son- dern ein Dämon: „Der Trieb zum Schreiben", und er schreibt: alles — über alles 1 Mit Protest sollte abgelehnt werden, daß ein Schriftsteller nach diesem Geständnis sich zum geistigen Führer des deutschen Lebens aufwerfen will, den man sogar der Schule empfahl, denn solcher Trieb muß unweigerlich Falsches in Fülle erzeugen. Das bestätigt die Kritik schon lange, wo sich un- mißverständliche Sätze finden, die lauten: „Es ist nicht wahr, was Chamberlain sagt" und „das ist wider besseres Wissen gesagt". ^) Aber ein Protest ist unmöglich, denn das von Cham- berlain sich beigelegte IVIandat ist frei- willig von dem Strom seines Gefolges anerkannt. Es ist dieselbe kritische Unreife des „Volkes Kants", welche sich im politischen Leben kund- gibt, und das Volk Kants immer zu neuen Ab- gründen führen muß. Was wird nun die Wissenschaft zu diesem neuen Buche sagen? Ich maße mir nicht an, in ihrem Namen zu sprechen, nicht einmal im Namen aller meiner Fachgenossen. Meine Wissenschaft gibt mir aber das Recht, darüber Auskunft zu geben, daß alle Ruhmredigkeit dieser Briefe nicht bestätigt, daß Chamberlain in irgend einem Punkte die Botanik auch nur im geringsten ge- fördert hätte, das er jemals auch nur ein mittel- mäßiger Naturforscher gewesen ist und daß ihm, hier entscheidend mitzusprechen, gänzlich versagt ist, wie unten bewiesen werden soll. Dieser Beurteilung sucht er in den „Lebens- wegen" durch eine phantasievolle Schilderung seiner botanischen und anderen naturwissen- schaftlichen Studien, seines nahen Umgangs mit berühmten Botanikern u. a. zuvorzukommen. Er ') H. Maync, Goethe, Chamberlain und die Wissenschaft in German. -Roman. Monatsschrift 1913, S. 646. — E. Trau mann, H. St. Chamber lains „Goethe" eine skeptische Kriiik. Frankfurter Zeitung 1913, Nr. 8. — W.Schumann, Chamberlains Kriegsaufsätze, Kunstwart 1915, 2. Maiheft, S. 131. legt dar, wie diese sofort die ungewöhnliche Be- gabung des Genies, gegenüber eigener Einseitig- keit erkannten und ihn aufforderten, sich ihnen fachmännisch anzuschließen. Nach dieser Frukti- fizierung seiner botanischen Bekanntschaften er- klärt er dann, um die Originalität nicht abzu- schwächen, er habe in Genf wenig Botanik von den Gelehrten gelernt „außer auf Umwegen und durch eigene Kraft" (S. 97). Immer eindringlicher wird dem arglosen Leser klargemacht, welche Fülle von Aufnahmefähigkeit und von Resultaten dieser eigenen Kraft entspringt. Jede im Leben des gewöhnlichen Studenten (seine Kommilitonen bezeichnet er nach ihrer Bildung als „Kongo- Kaffern") simple Tatsache wird zu einem Erlebnis, beinahe zu einem Moment der Kulturgeschichte. Hören wir davon nur wenige Beispiele, die das ganze Buch bezeichnen. Eines Tages kauft sich Chamberlain Stras- burgers Botanisches Praktikum, das bekannte Hilfsbuch für mikroskopische Arbeiten. Er hatte vorher „tief in dem gründlichen Studium aller Schriften Piatos gesteckt", den er als „echten Naturforscher" erkannte und schreibt nun (S. 112) „so mögen Sie, verehrter Freund, es denn be- greifen, daß ich es eines Tages nicht länger aus- hielt und — von Plato und Kant dazu an- geregt! — mir Strasburgers Praktikum an- schaffte." Man kann es nicht als Lästerung empfinden, wenn die überraschende Behauptung einer nahen Beziehung von Plato und Kant zu der Rasier- messertechnik und Anilinfarbenkunst von Stras- burgers Praktikum beim Botaniker ein spaß- haftes Gefühl auslöst. Der Laie aber staunt und bewundert und das ist wohl auch die Absicht dieser Tirade. Den gleichen Eindruck erhält der Botaniker von Chamberlains „mit Leidenschaft betriebenem Studium der systematischen Botanik" (S. 79). Das „inbrünstige Interesse" für die Ranunkulazeen, eine freilich ganz achtbare Pflanzenfamilie, soll die Höhe seiner Auffassung, die souveräne Kritik der Floren von Ardoino und Gremli seine Gelehr- samkeit belegen, die aber auf den Botaniker in dieser schülerhaften Fassung nur wieder erheiternd wirken. Natürlich konnten so bescheidene Hilfs- mittel ihm nicht genügen. Er braucht, um bei Cannes und in der Schweiz einige Pflanzen zu sammeln, ganz andere Vorbereitung (S. 80). „Gerade diese Monate (in England) benutzte ich aber dazu, das große, streng wissenschaftliche Werk von Le Maout und Decaisne über syste- matische Botanik — und zwar in der bedeutend gehaltvolleren englischen Ausgabe von Joseph Hook er — gewissenhaft genau durchzuarbeiten. Daß mir von diesem ungeheuren Material — sämt- liche Phanerogamen der Erde umfassend — viel einzelnes im Kopfe haften blieb, glaube ich kaum, doch erweiterte diese Befassung mein Wissen um die Welt der blühenden Pflanzen bedeutend usw." Weder in Cannes noch in der Schweiz wachsen N. F. XVm. Nr. 47 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 683 freilich „sämtliche Phanerogamen der Erde", aber das Resultat einer solchen grandiosen Vorberei- tung auf eine botanische Exkursion war dement- sprechend: „Das merkte ich deutlich, als ich im Winter 1873/74 in Cannes und im Sommer dar- auf im Schweizer Gebirge mit einer Art kleinen Meisterschaft jedes Blatt — auch ohne Blüte oder Frucht — sofort zu deuten wußte" (S. 81). Was unter der Meisterschaft der „Deutung" jedes Blattes zu verstehen ist, ist unklar. Der Spezialist gibt an, was er gefunden und beobachtet hat und teilt mit, was wissenschaftlich interessant ist. Davon findet man bei C hambe riain nichts, die Pflanzen werden nur zu Reklamezwecken be- nutzt. Zu einem eigentlichen Systematiker war Chamberlain aber trotz alledem „nicht ge- boren", obwohl ihm angeblich ein Botaniker den „Instinkt der Sache" auf den Kopf zusagte (S. 82). Er selOst führt zwei Gegengründe an. Erstens war er kurzsichtig, zweitens hatte er die Begabung Platos des „Zusammenschauens". Den hemmen- den Einfluß des letzteren möchte ich nicht be- urteilen, dagegen mitteilen, daß ein ganz beson- ders hervorragender Systematiker Paul Ascher- son durch eine geradezu phänomenale Kurzsichtig- keit nicht verhindert wurde, in der Systematik reiche Erfolge zu erzielen. Der begründete Ver- zicht auf die Systematik soll Chamberlain aber um so mehr, nach seiner Meinung, das Recht geben, sie von seinem kritischen Standpunkt zu beurteilen. Das geschieht S. 83 in folgender Weise: „Und noch eins kann ich nicht unter- drücken, denn es ist eine Erbsünde der Menschen, wenn sie glücklich eine Wahrheit erhascht haben, die ergänzenden Wahrheiten, durch welche jene andere Wahrheit erst plastische Wirklichkeit ge- winnt, außer acht zu lassen. Ein „ergänzendes" Geheimnis des geborenen Systemaiikers ist nun die Hartnäckigkeit, mit welcher er sich weigert, die Dinge zu sehen, die er nicht sehen will; er wird geradezu „durch Willen blind", wohingegen der zusammenschauende Mensch, sobald er emmal sich veranlaßt sieht, auf Unterschiede zu achten, kein Ende fühlt." Chamberlain hat in der Tat nicht die allergeringste Kleinigkeit weder in der systematischen Botanik noch sonst geleistet. Der Mangel an Verständnis für eine von geist- vollen Forschern aller Nationen begründete und vertretene Wissenschaft gibt ihm also kein Recht, sie in den Augen eines aus Laien bestehenden Lesepublikums durch solche „ergänzende Unwahr- heiten" herabzusetzen, die als bloßes Banausen- geschwätz von seinen Lesern wiederholt werden und deren Albernheit noch für „geistreich" ge- halten wird. Es ist dieselbe Verbreitung falscher Urteile, welche auf politischem Gebiet Chamber- lain in seinen ungeheuerlichen und unwahren Kriegsbriefen unternommen hat, die durch ihre überspannte Lobhudelei deutschen Wesens und die unwürdige Herabsetzung des eigenen Volkes wesentlich beigetragen .haben an der Selbstüber- schätzung und Unterschätzung der Macht und politischen List der Gegner, denen wir das jammer- volle Resultat dieses grauenvollen Krieges ver- danken. Wenn die Engländer immer „Schuldige" vor ihr Tribunal laden wollen, sollten sie ihren Landsmann Chamberlain nicht vergessen. Doch dies nur beiläufig. Was es mit C ham be r- lains Methode des Zusammenschauens auf sich hat, ergibt ein Beispiel, welches er zur Erläuterung der Vielseitigkeit seiner Natursiudien folgender- maßen erzählt: „So erinnere ich mich, mir später als Student eine Menschenschädelsamm- lung angelegt zu haben, um mit der inne- ren und äußeren Gestalt dieses wichtigen Knochengebildes genau bekannt zu werden; doch gab ich meine Bemühungen nach einiger Zeit wieder auf; denn ich fand nicht zwei Schädel, die nicht auffallende anatomische Abweichungen aufzuweisen hätten und nicht einen, der wirklich in jedem Punkt genau übereingestimmt hätte mit dem, was uns als „Normalschädel" vorgetragen wurde; bei meiner Art, genau zu beobachten, und zu beachten, hätte mich eine solche Sammlung ins Uferlose hinausgelockt." Wo ist denn hier die Begabung des Zusammenschauens geblieben ? Daß Chamberlain die Gabe „genau zu be- obachten und zu beachten" nicht besitzt, ergibt sich daraus, daß er in seinem „Goethe" S. 360 lehrt, daß das os intermaxillare ein Knochen im Unterkiefer des Menschen sei. Für Leser die nicht als „Biologen" angeredet werden können, sei bemerkt, daß das os intermaxillare im Oberkiefer der Säugetiere sitzt, da es die Schneidezähne trägt. Chamberlain wird natürlich behaupten, es handle sich um einen Druckfehler, doch könnte ein solcher Druckfehler bei einem Forscher, der sich mit dem wichtigen Knbchengebilde des Schädels „genau bekannt gemacht hat", gar nicht vorkommen. Bedauerlich ist es, daß die Ruhmredigkeit zu- weilen kindliche Formen annimmt, würde ein ernster Forscher über seine harmlosen astronomi- schen Jugendvergnügungen sprechen wie Cham- berlain ? „Sie werden mit Recht voraussetzen können, daß ich, sobald ich zur Vernunft kam — also etwa von 16 Jahren an, astronomische Bücher mit Eifer zu lesen begann (S. 79), später als Student in Genf und trotzdem ich mich einem anderen Fach widmete, hörte ich bei Plantamour theo- retische Astronomie, ich ließ mir aus Nizza Bücher kommen, studierte Flammarions Les Etoiles, Guilrnants,^) Le Soleil und La Lune, bald darauf auch EUisee Reclus meisterhafte La Terre. Dies Studium hätte ich eher ein Verschlingen nennen sollen; denn, war einmal mein Interesse ') Der Verf. heißt Ame'dee Victor Guillemin und war ein französischer populärer Schriftsteller. Ich habe als Gymnasiast ein paar Bücher von ihm gelesen. Das ungenaue Zitieren, welches Ch. sich auch sonst erlaubt, steht im Wider- spruch mit seiner gerühmten Kenntnis französischer und anderer Literatur. 6ä4 Naturwissenschaftliche Wochenschrift N. F. XVm. Nr. 4; wach, so wandehe sich stets — wie noch heute in meinen aken Tagen — meine angeborene Un- klarheit und Umständlichkeit in eine rasend schnelle Bewältigung, die für mich und für andere unfaßlich bleibt (1). In einigen Wochen hatte ich mir einen allgemeinen Überblick über die Himmelserscheinungen verschafft, so weit dies möglich ist, ohne mathematische Begründung und ohne jede nähere Kenntnis von Physik und Chemie." Wie mag diese allgemeine Übersicht ausgesehen haben ? Jindlich ergreift Chamberlain doch ein Grauen vor seiner Vielseitigkeit. Er sieht sich in einer Vision „als Lebensdileiiant, musizierend, bota- nisierend, geologisierend, hinvegeiieren". Schauer- volU In Italien (Anklang an einen anderen ganz Großen) kommt die Erleuchtung. Chamberlain schwankt zwischen iVlusiker und Künstler, aber plötzlich fühlt er sich als Naturforscher: „Sotort stand der Entschluß leat, Naturforscher von Fach zu werden." Ein Grund für diesen Ent- schluß ist nicht zu erkennen. Aber dieser Ent- schluß gebiert, ebenfalls ohne jede ordinäre Kau- salität, sogleich den anderen: „Und sulort be- schloß icn — obwohl ich Physik und Chemie nur von Hörensagen kannte — die Pflanzenphy- siologie zu meinem Fach zu erwählen. Das alles war das Werk eines Tages, ja eigentlich eines Vormittags, an dem mich ein einsamer Spa- ziergang über die Viale dei Colli gelührt hatte" (S. 66). Grausamer Schmerz ergreift Chamberlain, aus dem leuchtenden Italien scheiden zu müssen, aber üie Pflicht Pflanzenphysiologe zu werden, ist nicht einzudämmen. Er geht nach Gent und unternimmt eine Arbeit über den Wurzeidruck, d. h. die Ausscheidung von Wasser aus dem Wurzelstumpt von Pflanzen nach Abschneiden des Stengels, worüber zuerst sein Landsmann Stephan Haies 1727, „der Begründer der neueren Pflanzen- physiologie ', eine Untersuchung angestellt hatte. Diese Bezeichnung Haies (S. 103J ist ziemlich phantastisch, man hatte dann schon van H e 1 - mont oder Malpighi so nennen müssen, weil sie einmal einen Versuch gemacht haben. Be- gründer der neueren Pflanzenphysiologie können nur die Begründer einer vollständigen neuen Me- thodik genannt werden und ihre Zahl ist mehr- fach. Chamberlain beginnt seine Arbeit — um der Originalität nicht Abbruch zu tun — unter Absehung von jedem Literaturstudium. Daß ihm das, wie er sagt, sein Lehrer T h u r y geraten, ist schwer zu glauben, ein denkender junger F'orscher würde diesen Rat keinestalls befolgt haben. Cham berlain gerät wieder ins „ Ufer- lose". Er „bewältigt die zeitraubende, mühsame IMethode der Wasserkultur" (die bei uns ein guter Institutsdiener leicht erlernt), so, daß Boissier erstaunt bekennt (S. 104), er habe nie und nirgends ähnliche Erfolge gesehen 1 Die Schilderung der Anstrengung der Arbeit dieses Pioniers der Pflanzenphysiologie wirkt wahrhaft erschütternd: „Sie finden alles in meinem Werke" „Recherches sur la seve ascendante" mit Abbil- dungen der Instrumente, und Tausenden von Be- obachtungen (es sind 46 Versuche mitgeteilt) und mit veranschaulichenden Kurven, sollten Sie sie nicht kennen, so stelle ich Ihnen das letzte Ex- emplar zur Verfügung. Hier genügt es, wenn ich Sie durch diese kurzen Mitteilungen habe emp- finden lassen, in welche frohe, erregte, ja leiden- schaltliche Stimmung wissenschaltlichen Erlor- schens der Natur (es handelt sich nur um den Wutzeldruck), ich — als Lohn für die grenzen- losen Bemühungen — nach und nach hin- eingeraten war. Leider aber — und trotzdem ich jetzt das zu untersuchende Problem scharf er- faßte — war ich noch keineswegs von der bösen Neigung zu weiteren grenzenlosen Anforde- rungen an mich selbst geheilt, hatte ich mich in den Anfängen meiner Arbeit nach allen Seiten hin in die Breite verirrt (ganze 17 Pflanzenanen wurden untersucht), so sündigte ich jetzt durch eine alle Maße übersteigende Anspan- nung der Beobachtung." Man lese selbst im Original die Fortsetzung dieser grandiosen Schilderung einer Forscheriätig- keit, was er an weiteren „Zumutungen an Auge und Hirn" auf sich genommen und wie endlich bei der furchtbaren Arbeit im Dienste der Pflanzen- physiologie das Nervensystem versagte! Niemals haben die größten Porscher aller Nationen ihre fruchtbare Tätigkeit auch nur an- nähernd so überschätzt. v^ Im Jahre 1897 wurde das „Werk" gedruckt. Der Titel, Untersuchung über den aufsteigenden Safisirom, war völlig lalsch gewählt, denn es handelte sich nicht um diesen sondern ausschließ- lich um den Wurzeldruck bei verstümniehen Pflanzen, der mit dem Transpirationssirom gar nichts zu tun hat. Die Arbeit selbst ist ebenso resuhatlos, wie sie ziellos war. Die von VV'iesner gelobte strenge Methodik, d. h. die Beobachtung unter sonst konstanten Bedingungen, wird voll- ständig vermißt. Über die Ursache des Wurzeldruckes erfahren wir nichts, als daß sie der Lebenskraft entspringen soll (Recherches S. 4), wobei die grobe Unwahrheit verbreitet wird, die neuere physiologische Schule leugne das Leben (la tendance de l'ecole ä la mode est de nier la vie). Es war aber gerade zuerst Sachs, der das Bluten der Pflanzen auf die Zelle, also das lebendige Element zurückgeführt hat, allerdings ohne die occulte „Lebenskralt" wieder in die Wissenschaft einführen zu wollen. Chamber- lain s Arbeit enthält weder Neues noch metho- disch Brauchbares. Untersuchungen über Periodi- zität des Wurzeldruckes lagen längst bessere und vielseitigere vor. Er wollte lestgesiellt haben, daß dieselbe Pflanzenart im Wasser erzogen, eine ge- ringere Energie zeige, als in Erde erwachsen, aber es fehlt jeder Nachweis, daß die verglichenen Pflanzen gleichwertig waren. Holzpflanzen sollen N. F. XVm. Nr. 47 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 68 s weniger Wasser ausscheiden, als krautig^e, das wurde aus der Beobachtungf von g'anzen drei Holz- pflanzen geschlossen. Weder Tabellen noch Kur- ven lassen eine alleemeine Recrel erkennen. Aber ebensowenig sind Ursachen für die Unregelmäßig- keit aufgefunden. Die Ansichten über den Ein- fluß von Widerständen auf den Saftausfluß sind physikalisch völlig unklar und unglaubwürdig. (Recherches S. 105.) Eine erschöpfende Kritik kann hier natürlich nicht gegeben werden. Das Angeführte genügt jedem physiologisch Gebildeten völlig, um den Unwert der Abhandlung zu er- kennen. Es ist daher auch kein Wunder, daß die Bo- tanik keine Notiz von dem „Werke" nahm, daß es in Pfeffers Pflanzenphysiologie, wo die Literatur auf das sorgfältigste behandelt ist, nicht im Text erwähnt, sondern in einer Anmerkung mit dem Satz abgetan wurde: „In Chamber- lains Arbeit wird ein Auseinanderhalten von direkten Wirkungen und physiologischen Reak- tionen vermißt" (Pfeffer I, S. 24^1 Das war alles I Einer Kritik hielt man das „Werk" nicht für wert. Dies Urteil mochte Chamberlain voraus- geahnt haben, weshalb er ihm schon in seiner Abhandlung durch folgende ., Verteidigung" (Apo- logie) vorzubeugen suchte (Recherches S. 2). „Ich wollte nicht die Sprache und Art der Tatsachendarstellung den Fachleuten nachäffen ; was ich zu sagen hatte, habe ich auf meine Art gesagt. Jedes Handwerk hat seinen Jargon, die Wissenschaft hat den ihrigen, dessen ich mich aber nicht zu bedienen weiß. Aber ich weiß desto besser, daß das meiner Dissertation eine Allüre gibt, die zuerst die Gelehrten verwirren wird; darum erlaube ich mir dem zuvorzukommen, um ihre Nachsicht beanspruchen (reclamer) zu können." Dies „Zuvorkommen" bestand in der Deckung der Dissertation durch den Namen „des berühmten Botanikers Prof J. Wiesner in Wien" (Recher- ches S. 3), dessen Interesse und Anteil an der Arbeit hervorgehoben wird. Darum wird es dem Leser der „Lebenswege" nun verständlich, daß auch in diesem Buche Wies n er, außer gelegentlichen Bemerkungen (S. 65), ein ganzes Kapitel als dem Eideshelfer für Chamberlains Bedeutung als Pflanzenphysiologe, gewidmet ist. T' f Daß Chamberlain und der verstorbene Wiesner sich gegenseitig in Briefen beräuchert, ist dadurch bekannt geworden, daß Chamber- lain schon früher solche Briefstellen in Zeit- schriften zum Besten gab, um auf das Schutz- bündnis hinzuweisen. Dabei wurde Wiesner, wie auch jetzt, immer ,,Wiesner, der Physio- loge" genannt. Eine Schrulle! denn Wiesner war anfangs gar nicht Physiologe und hat sich erst später der Physiologie zugewendet. Auch dann ist er aber niemals „der Physiologe" ge- wesen, d. h. hat nicht annähernd die Bedeutung eines Sachs, Pfeffer,'Schwendener, Hugo de Vries u.a. erlangt. Wiesner und Cham- berlain fanden sich als nicht unähnliche Charak- tere zusammen in der gemeinsamen Gegnerschaft gegen Darwin, in der rückständigen Schwärme- rei für Linne und seine rationalistische Denkweise, die aus C h am berla ins Einteilungskünsten her- vorleuchtet, und aus der Zuneigung zum unklaren Vitalismus. Beide glaubten diese Ansichten ge- meinsam besser verteidigen zu können, da Wies - ners Philosophie nicht weit reichte. Dem ausgesuchten Lob Wies ners in dem von Chamberlain abgedruckten Briefe (S. 109) muß die Wissenschaft widersprechen. Er hat dies Lob gespendet, ohne Chamberlains Ab- handlung gelesen zu haben, denn nur unter dieser Annahme ist es möglich, von „ge- nauen und streng methodisch durchgeführten Un- tersuchungen der alten, viel umstrittenen Frage der Saftleitung" zu sprechen, die in Chamberlains Abhandlung gar nicht behandelt ist. Cham- berlain hat selbst (Recherches S. 21 — 31) aus- geführt, daß er diese Frage ausschließe, da man sich seit Hofmeister wohl mit dem Transpira- tionsstrom ausführlich beschäftigt, den Wurzel- druck aber ganz vernachlässigt habe, daher sei seine Beschränkung auf dies letzte Thema ver- ständlich. Das hat Wiesner, der sich von dem unrichtigen Titel der Abhandlung ohne Prüfung des Inhaltes der französisch geschriebenen Abhandlung täuschen ließ, alles nicht beachtet, und so ist denn auch die gepriesene „historisch-kritische Darstel- lung der Saftbewegungsfrage" eine bedauerliche Entgleisung ,,des Physiologen". Wenn W i esn e r dagegen die Abhandlung ge- lesen hat, so mußte er wissen, daß solche Mano- meterbeobachtungen nichts zur Klärung des Pro- blems mehr beitragen können. Nachdem diese „Methodik" an hunderten Pflanzen ohne Resultat von anderen versucht worden, hat es keinen Sinn, dasselbe nochmals mit 17 weiteren, systemlos ge- wählten Arten zu versuchen. Die langen Tabellen Chamberlains sind wertlos. Er hätte das na- türlich aus der Literatur erfahren können, aber diese existierte nicht für ihn. Wiesner dagegen mußte diese Literatur kennen, und es ergab sich aus ihr unmittelbar die Wertlosigkeit von Cham- berlains Dissertation. So lange diese Schrift, die der Verfasser in edler Bescheidenheit ein ,,Werk" nennt, nur in einigen Antiquariatskata- logen weiterlebte, konnte man darüber schweigen. Gegenüber Chamberlains Versuch, die Wissen- schaft zu korrigieren, gäbe es für eine stumme Kritik keine Entschuldigung. Welchem Irrtum nun auch immer Wiesn ers Brief entsprungen ist, so beweist seine Benutzung Chamberlains unzureichendes Urteil über seine eigene Tätigkeit oder bedeutet eine absichtliche Irreführung der der Physiologie ferner stehenden Leser. Zum Schluß ein kurzes Wort an Chamber- lain in eigener Sache. Chamberlain ziiiert (S. 146 der Lebenswege) einen Ausdruck aus einem Aufsatz von mir, der im Goethejahrbuch 686 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVni. Nr. 47 1906 erschien und bezeichnet den Aufsatz als „das Geschreibsel eines Botanikers". So lange diese Liebenswürdigkeit nur in einem Briefe an Herrn Baron J. v. Uexküll stand, konnte sie mich nicht genieren. Nachdem Chamberlain seine Briefgeheimnisse zu Gelde gemacht und veröffent- licht hat, bin ich dem Goethejahrbuch eine Auf- klärung schuldig. Chamberlain hat ausgeführt, „daß das Ge- schreibsel eines Botanikers, Linnes wissenschaft- liche Leistungen als geistloses Handwerk zu be- zeichnen, sich erdreistete". Das ist zunächst eine unwahre Angabe. In dem Aufsatz ist von Linnes wissenschaftlichen Leistungen gar nicht die Rede, sondern von einer unwissenschaftlichen Phantasie Linnes (Meta- morphose und Prolepse genannt), die Auskunft über die Herkunft der Blüte geben sollte, aber nicht einmal den Wert einer falschen Theorie be- sitzt. Der Ausdruck „geistloses Handwerk" bezieht sich auf die von Linne seinen Anhängern hinter- lassene, lange Zeit alle wahre Wissenschaft lahm- legende Beschäftigung mit Pflanzenbestimmen, Pflanzentrocknen, und der geistlosen terminologi- schen Methode, wie sie z. B. der Jenenser Prof. Baidinger in allem Ernste, aber für uns sehr ergötzlich geschildert hat (vgl. Hansen Meta- morphose, 1907, S. 264). Es ist die Periode, die kein Geringerer als Seh leiden als die Zeit be- zeichnet, „die eigentlich nur den Charakter einer mühsam vereinzelte Notizen sammelnden Neugier t/ägt". Damit ist Linnes wirklichem Verdienst, das ich mehrfach anderen Orts bezeichnet habe, ^) kein Abbruch getan, sondern nur einer falschen Auf- fassung seiner Irrtümer entgegengetreten. Das ist überdies alles Nebensache. Was hier allein in Betracht kommt, ist, daß Chamberlain sich durch einen Aufsatz über Linne in die Frage gemischt hat, ob in der Metamorphosenlehre von Goethe eine Abhängigkeit von Linne zu ent- decken sei, die von manchen Seiten behauptet wurde. Die Frage ist endgültig von der Botanik verneint worden, trotzdem wendet sich Chamber- lain folgendermaßen an sein Laienpublikum: „Wollen Sie mir gestatten, noch einer kleinen wissenschaftlichen Schrift zu gedenken, die im Sommer und Herbst des Jahres 1907 nebenbei entstand, und die infolge ihrer Unzugänglichkeit so gut wie unbekannt geblieben ist? Sie trägt den Titel Goethe, Linne und die exakte Wissen- schaft der Natur. — — Es istmirgelungen, nachzuweisen, daß Goethe sowohl die Be- zeichnung Metamorphose, wie auch die leitenden Gedanken, von denen er ursprünglich ausging, durch Anregung Linnes empfing. Daranknüpfe ich Mitteilungen über Linnes Annahme einer „Transmutation" der Arten und mache darauf ') z. B. Voss. Zeitung 1903, 23. Oktober. Goethejahrbuch 1904, S. 128. Die Entwicklung der Botanik seit Linne 1901, Gießen. Goethes Morphologie, Gieflen 1919, S. 127. aufmerksam, daß er nicht den Begriff der Art sondern den der Gattung in den Mittelpunkt stellt." Alle diese Entdeckungen Chamberlains sind unhaltbar und für die Wissenschaft wertlos. Daß man bei Linne eine Transmutation der Arten finde, hat schon einmal 1870 ein Herr V. Heufler behauptet, der von H. v. Mohl so gründlich widerlegt wurde,*) daß Chamberlain mit seiner Aufwärmung keinen Eindruck machen wird. Wieder war es sein Gönner W i e s n e r , welcher ihn zu diesem Linneaufsatz, wie Chamberlain selbst berichtet, ermunterte, damit er zu mehrerem Ruhme Beider neben einer stattlichen Sammlung botanischer Einzeluntersuchungen in eine Wiesner- Festschrift (1908, S. 225) aufgenommen würde. Der Versuch Chamberlains, sich, trotzdem er sie so herzlich verachtet, unter die Spezialforscher einzudrängen, um sich das Ansehen eines berech- tigten botanischen Kritikers zu verschaffen, ist nach seiner eigenen Angabe im Sande verlaufen. Der Aufsatz „blieb so gut wie unbekannt". Seine Empfehlung in den „Lebenswegen" gibt Gelegen- heit, hier die Frage nochmals richtigzustellen. Als im Jahre 1838 Martins Goethes natur- wissenschaftliche Schriften in Frankreich heraus- gab, wurden Isidore Geoffroy St. Hilaire und Auguste de St. Hilaire mit einem Re- ferat für die Sitzung der Pariser Akademie beauf- tragt. Da Geoffroy erkrankt war, erstattete Auguste de St. Hilaire in der Sitzung vom 20. August 1838 das Referat allein. In seiner für Goethe sehr rühmlichen Darstellung suchte er mit dem angeborenen Nationalstolz des Franzosen auch eine gewisse Anteilnahme seiner Landsleute Jussieu und Decandolle an dem neuen Ge- danken hervorzuheben. Der einzige in Betracht kommende Satz in Jussieus Genera plantarum (Ausgabe von Usteri Zürich 1791) S. XXV führt zwar als systematische Merkmale die Blütenstände von Ficus, Dorstenia usw. auf, die die Morphologie heute als Metamorphosen bezeichnet, aber ohne diesen allgemeinen Gedanken auch nur ahnen zu lassen. Es ist im ganzen Werke Jussieus kein Anklang an Goethe zu finden. Auch Decan- dolle kommt nicht in Betracht, wie ich anders- wo nachgewiesen habe. Natürlich ließ sich da- mals der Gegenstand noch nicht übersehen. A. Kirchhof hat in seiner Schrift über die Pflanzenmetamorphose schon auf einige Unrichtig- keiten von A. de St. Hilaires Kritik hinge- wiesen (1. c. S. 26). Auguste de St. Hilaires Absicht, dem Anspruch auf Objektivität in seinem Referat zu genügen, veranlaßt ihn dann weiter zu bemerken: „Der Titel gehört nicht Goethe selbst; es ist der Titel eines der Kapitel der Philosophia Botanica, und Linne selbst hat uns eine Erklärung des Wortes Metamorphosis Plan- tarum in einem Satz der „Prolepsis" gegeben, den ') Botan. Zeitung 1870, S. 729. N. F. XVm. Nr. 47 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 687 ich wörtlich zitiere um nicht Gefahr zu laufen, den Sinn durch Übersetzung zu ändern." Das wörtliche Zitat dieses Li nn eschen Satzes bewies am besten, daß das, was Linne Meta- morphose nannte, nicht die entfernteste Ähnlich- keit mit Goethes Hypothese hatte und St. Hilaire dachte damals nicht daran, dies auch nur andeuten zu wollen. Er wollte nur auf Be- nutzung eines gleichlautenden Wortes für ver- schiedene Ansichten hinweisen. A. de St. Hilaire hat später die angebliche Priorität Jussieus in seiner Morphologie ve- götale (1840) etwas ausfuhrlicher erörtert. Man sieht daraus am besten, daß er (ohne Verständnis für jeden entwicklungsgeschichtlichen Gedanken) die von Jussieu begründete vergleichende Mor- phologie der Blüte mit Goethes Metamorphosen- lehre verwechselt. Wenn S t. H i 1 a i r e S. 1 3 seines Buches mitteilt, er habe nunmehr in L i n n e s Philo- sophia botanica einen von dessen Schülern über- sehenen und nicht verstandenen Satz entdeckt: „principium florum et foliorum idem est", der schon Goethes Metamorphosenlehre enthalte, so beweist das sein historisches Bedürfnis, obwohl seine Meinung ein Irrtum ist. Wenn heute einige Botaniker das nachsprechen, so beweisen sie da- mit ihre Unkenntnis Li nn escher Schriften, die diesen an sich mehrdeutigen Satz erläutern. A. de St. Hilaires Buch blieb bei uns wegen seiner Gedankenarmut so gut wie unbekannt und fehlt auch den Bibliotheken. Seine Ent- deckung hätte das gleiche Schicksal gehabt, wenn nicht der Goethebiograph Lewis sie durch sein früher bei uns vielgelesenes Buch ver- breitet hätte. Nicht aus Linnö, sondern aus diesem Buch stammt die Weisheit botanischer Historiker. (Lewis II. S. 103.) Der Übersetzer hat den lateinischen Satz frei und sinnändernd übersetzt: ,,In den Blüten und Blättern waltet das- selbe Prinzip " Es muß in Linnes Sinn heißen: Blüten und Blätter haben den gleichen Ursprung. Linnes anatomische Vorstellungen waren wegen seiner Mißachtung des Mikroskops sehr unvoll- kommen. Er unterschied beim Stengel die „sub- stantia meduUaris", aus der das Pistill und der Same, und die „substantia corticalis", aus der Kelch, Blumenkrone und Staubfäden entstehen sollten. ^) Da Linne auch die Laubblätter aus der Rinde entstehen läßt, so faßte er diese Mei nungen in den kurzen Satz: principium florum et foliorum idem est, zusammen. Diese Bildung der Organe aus fertigen Geweben des Stengels nannte Linne „Metamorphosis". Sie hat mit Goethes Metamorphosenlehre nicht den geringsten Zusam- menhang. Linnes Meinung war übrigens schon damals als Irrtum zu erkennen. Wolff hatte schon die Entstehung von Blättern und Blüten aus Vegetationspunkten entdeckt. In der Philosophia botanica steht unter dem obigen Satz ein zweiter, ähnlich klingender: prin- ') Hansen, Goethes Metamorphose 1907, S. 332. cipium gemmarum et foliorum idem est. Also auch die Knospen sollten wie die Blätter rinden- bürtige Gebilde sein. Wenn man nun glaubt, daß in dem ersten Satz Goethes Ansicht von der Umwandlung der Blätter in Blütenteile ver- borgen sei, so hätte Linne auch angenommen, die Knospen seien umgewandelte Blätter, was ganz sinnlos wäre. Das war jedoch nicht seine Ansicht, denn ein dritter Satz an jener Stelle lautet: gemma constat foliorum rudimentis, die Knospe besteht aus Blattanfängen. Alle diese drei Sätze drücken in gleichem Sinne genau Linnes Ansicht aus, daß den Ursprung aller genannten Organe das gleiche Stengelgewebe bilde. Von einer Umwandlung ist gar keine Rede. Bei der falschen Deutung des einen Satzes durch St. Hilaire in einem andern Sinne würde ein Widerspruch entstehen und der in seinem Rationalismus stets konsequente Linne zu einem verworrenen Denker gestempelt, was er niemals gewesen ist. Weder Linne noch seine Inter- preten gewinnen durch ihren Versuch an Ruhm. Die Sache, nahm aggressiven Charakter an durch eine umfangreiche Abhandlung des tsche- chischen Botanikers L. Celakovsky, der 1886 Goethe unumwunden des Plagiats an Linne beschuldigte. Ich habe 1907 die Irrtümer Cela- kovskys festgestellt und seither hat niemand mehr dessen Standpunkt verfochten. Dafür wurde nun Chambe riain gewonnen und von Wiesner, der seinem Landsmann Celakovsky im Stillen zustimmte, ermuntert. „Es ist mir gelungen nachzuweisen," schreibt Chamberlain in seinem Aufsatz, „daß Goethe Bezeichnung und Gedanken der Metamorphose Linne verdankt." Man findet aber bei Chamberlain nicht ein- mal den Versuch eines solchen Nachweises. Wie er Wiesner für einen Chemiker hielt, so war ihm auch Linne bis dahin ganz fremd. Cham- berlain hat weder Linnes Schriften studiert, noch Goethes Metamorphose, denn hier hätte er schon finden müssen, daß Goethe selbst am besten Linnes ganz andere Ansichten erörtert hat (vgl. Goethe-Jahrbuch 1906, S. 213). Cham- berlain hätte auch aus jeder guten Goethe- Ausgabe z. B. aus den sachverständigen Einlei- tungen Kalischers in der neuen Hempel- schen Ausgabe erfahren können, daß diese Frage längst entschieden ist. Aber Chamberlain gibt nichts auf Quellenstudien, er hat seinen „Nach- weis" aus einem englischen Schmöker, Whewells Geschichte der induktiven Wissenschaften von 1837 aufgelesen, wo ein Brief des englischen Systematikers J. D. Hooker, abgedruckt ist, der ohne Untersuchung ganz obenhin, seine Privat- meinung abgibt, Linne habe schon im Sinne von Goethe von Metarmorphose geredet. Hookers Brief kann in keiner Weise bei dieser Frage in Betracht kommen. Diesen antiquierten Brief stellt Chamberlain einer umfangreichen deutschen Literatur entgegen und schreibt dann dazu: Es ist mir gelungen nachzuweisen I Diese 688 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVin. Nr. 47 Aneig^nungf von Hookers Meinung ist, auch wenn sie keine Bedeutunp; besitzt, bemerkenswert. Chamberlains Methode, mit der Wissen- schaft Händel anzufangen begründet er auch in den Lebenswegen in offenbar pathologischem Dünkel S. 1 50 folgendermaßen : „Die weitverbreitete bewundernde Adoration einer thronenden ., Wissenschaft", der dumpf ge- horsame Glaube an alles, was ihre offiziellen Priester zu verkünden belieben, besitzt für die Kultur des Menschengeistes nicht den ge- ringsten Wert." Durch solche Lehrsätze macht sich Cham- berlain zwar unnahbar für die offiziellen Priester, aber die Tatsache, daß er kein Pflanzenphj^siologe und Naturforscher war und ist, wird dadurch nicht beseitigt. Darum hat alles, was er in seiner maß- losen Einbildung darüber mitredet, nur den Wert eines Opfers für seinen Schreib- Dämon. Ich muß schließlich ausdrücklich dem mög- lichen Irrtum entgegen treten, als handle es sich in meiner Ablehnung des Ch amberlainschen Buches um einen Gelehrtenstreit, d. h. um blnße Meinungsverschiedenheit. Das ist nicht der Fall. Es handelt sich um den Schutz der Wissen- schaft gegen grobe Entstellung und historische Fälschung, also um den Schutz des allgemeinen Interesses an dem, was wahr ist. Wenn ein Schrift- steller fort und fort mit in keiner Literatur er- hörter Selbsteinschätzung die Wissenschaften und ihre Vertreter zu diskreditieren und dafür seine weniger originellen, als verschrobenen Lehrsätze anzubieten sucht, so wird dadurch nicht nur das Tatsachenmaterial verwirrt, sondern auch das Denken der Nichtsachverständigen auf falsche Bahnen gelenkt. Solches verdorbene Denken wird dann auch im prakti'^chen Leben zum falschen Urteil führen, wie die gegenwärtige Zeit er- schreckend lehrt. Möchte unser Volk, das sein Denken durch Verschlingen einer Flut von Ro- manen und romantischem Plunder verlernt hat, sich endlich wieder wahrhaft bilden. Dazu sind die gepriesenen Bücher von Chamberlain nicht geeignet. Grobe Irrtümer, von vielem Doktrina- rismus und bunter Wortspielerei oder dunklem Phrasentum verschleiert, müssen um so verderb- licher wirken, wo sie mit dem Schein priester- licher Weisheit dargeboten werden. Darum bekämpfen wir bei Chamberlain nicht nur die Sache, sondern auch die Form, denn sie ist nicht die Form der Wissenschaft, sondern wie er schon bei seiner Dissertation bezeugte, seine eigene ,,Allüre". Obwohl Chamberlain sich mit dem Vorbilde ,,Kant" groß tut, kann man auf das Bestimmteste versichern, daß gerade Kant die Chamberl ainsche Stilistik auf das Schärfste verurteilt hätte. Daran ist nach seinen Äußerungen über blühenden Stil in der Wi 30 22 19 24 23 27 23 22 29 25 0 0 Für den Gesamtzeitraum ist angenommen, daß Rücklage und Aufbrauch einander ausglichen, also die Verdunstung gleich groß war wie der Unter- schied zwischen Niederschlag und Abfluß. „Nach- träglich vorgenommene Vergleiche mit Grund- wasserpegeln, die mittlere Verhältnisse des Havel- gebiets anzeigen, haben eine überraschend genaue Übereinstimmung des durch die Zahlentafel rech- nerisch nachgewiesenen und des wirklich beob- achteten Ganges der mittleren Grundwasserstände von Jahr zu Jahr ergeben."' „Im neunjährigen Durchschnitt hat sich der Ausgleich derart vollzogen, daß in den vier nieder- schlagreichen Jahren durchschnittlich 92 mm nicht- verdunsteter Niederschlag zum Grundwasser über- gegangen sind, wogegen in den fünf niederschlag- armen Jahren durchschnittlich 74 mm aus dem Grundwasser in die Wasserläufe übergingen." Im ') Daß bei gleichem Niederschlage der Abfluß aus durchlässigen Gebieten im allgemeinen größer ist als aus un- durchlässigen, hat hiermit nichts zu tun. Gesamtverdunstung aus einem geschlossenen Flußgebiet den Unterschied zwischen Niederschlag und Abfluß ohne weiteres gleichsetzen, wenigstens nicht für die kurze Spanne eines Jahres. Vielleicht ist dies nicht einmal für bedeutend längere Zeiträume möglich". Natürlich wäre diese Gleichsetzung ,,für die kurze Spanne eines Jahres" ein Unding. Aus meiner Abhandlung geht aber auch klar hervor, daß ich an sie gar nicht gedacht habe. Meine hierauf bezüglichen Worte lauten (diese Zeitschr. 1918, S. 266): ,,lm Mittel aus einer längeren Reihe von Jahren muß . . . die Gesanitverdunstung aus einem abgeschlossenen Flußgebiet gleich dem Unterschied zwischen Niederschlag und Abfluß sein, weil sich im Wasserkreislauf dauernde Gewinne oder Verluste nicht bemerkbar machen. Aber selbst wenn infolge irgendwelcher Einwirkungen der Wasservorrat am Ende der ganzen Zeit ein etwas anderer sein sollte als am .Anfang , so würde bei genügender Länge des Zeitraums auf das Durchschnittsjahr doch nur ein unerheb- licher Teil dieser Änderung kommen. Und nur Durchschnitts- jahre dieser Art sollen hier (d. h. im Aufsatz von 1918) vor- ausgesetzt werden, wenn auch die untersuchten Jahresreihen meist nicht so lang sind , daß diese Voraussetzung ganz be- rechtigt wäre." Die im Aufsalz von 19 18 von mir betrachteten Jahre sind also nicht Einzeljahre, sondern Vertreter der ganzen Jahres- reihe, aus der sie als Durchschnitt abgeleitet sind. Meine da- malige Voraussetzung kommt also darauf hinaus, daß in dem betrachteten G e s a m t Zeitraum eine Änderung _ des unlerirdi- N. F. XVni. Nr. 47 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 691 Daß die Abflußverhältnisse der Einzeljahre vom Austausch mit dem Grundwasser abhängig sind, hatte schon Penck in seinen „Untersuchungen über Verdunstung und Abfluß von größeren Land- flächen" ^) nachgewiesen. Auch in meiner Ab- handlung „Niederschlag und Abfluß im Odergebiet" habe ich es, .den Richtlinien Kellers folgend, kurz erörtert.^) Aus ihr ist die Tab. 4 wieder- gegeben. Sie zeigt, daß die niederschlagarmen Jahre 1892 und 1893 hier eine ganz ähnliche Rolle spielen, wie 1904 und 191 1 in den vorher betrach- teten Fällen. Trotz des geringen Niederschlages steht das Abflußverhältnis von 1892, ja auch der Abfluß selbst über dem Durchschnitt. Die Fluß- läufe haben also offenbar aus den durch die reich- lichen Niederschläge des Vorjahres aufgefüllten Grundwasservorräten gezehrt. Nunmehr erschöpfen sich diese aber. Abfluß und Abflußverhältnis sinken 1 893 unter den zehnjährigen Durchschnitt und haben selbst nicht einmal die geringe Höhe, die dem ge- ringen Niederschlage dieses Jahres im Durchschnitts- verhalten entspricht.^) Nach dem trockenen sehen Wasserschatzes nicht oder doch nur in solchen Grenzen eingetreten ist, daß der auf das Durchschniilsjahr kommende Bruchteil gegenüber den Verschiebungen im Jahreskreislauf, um die es sich im Aufsatz von 1918 allein handelte, von untergeordneter Bedeutung ist. ') Cleogr. Abhandlungen, herausgeg. v. A. Penck. Bd. 5, H. 5. Wien 1896. ') Jahrbuch f. d. Gewässerkunde Norddeulschl., Besond. Mitteil. Bd 3, Nr. 2, S. 27. ') Das Durchschnitts V erhalten, das nicht mit dem Durchschnitt, d. h. dem bloßen Gesamtmittel aus den unter- Jahrespaar 1892/93 bleiben Abfluß und Abfluß- verhältnis in dem nassen Jahr 1894 unter dem Durchschnitt und mehr noch unter dem Durch- schnittsverhalten, weil die durch die Trockenheit gerissene Lücke nun erst wieder gefüllt werden muß. Erst in den nächsten Jahren stellt sich das Durchschnittsverhalten wieder her. Bei dieser Art der Betrachtung werden die Abweichungen vom Durchschnittsverhalten also hauptsächlich durch die Vermehrung oder Ver- minderung der Grundwasservorräte erklärt. Da- neben hängt der Abfluß allerdings auch von der Verdunstung ab, deren Größe sich ebenfalls von Jahr zu Jahr ändert. Nun ist gewiß zuzugeben, daß über das beste Verfahren zur Ermittlung oder wenigstens Einschätzung der Verdunstung der einzelnen Jahre das letzte Wort noch nicht ge- sprochen ist. Die Grundzüge der ganzen Erschei- nung treten doch aber schon jetzt klar hervor. Es ist doch kein Zufall, daß der Abfluß in nassen nach trockenen Jahren so klein und umgekehrt in trockenen Jahren verhältnismäßig so groß ist, sofern diesen nicht schon eine größere Trocken- heit vorhergegangen, sondern in ihnen noch ein genügender Grundwasservorrat zur Speisung der Flüsse vorhanden ist. suchten Jahren, zu verwechseln ist, stellt das Mafi der durch- schnittlichen Zunahme des Abflusses mit dem Niederschlag dar und ist für das Odergebiet bei Hohensaaten l89[ — 1900 durch folgende Wertepaare gegeben : Niederschlag 540 600 660 mm Abfluß 128 152 180 „ Abflufiverhältnis 24 25 27 "/„ Einzelberichte. Paläontologie. Mit 2 Abbildungen. Die syste- matische Kenntnis der paläozoischen Tierwelt ist kaum bei einer Tierklasse in dem letzten Jahr- zehnt so gefördert worden wie bei den Trilobiten. Namhafte deutsche und ausländische Forscher haben sich mit diesen Gliedertieren beschäftigt. Insbesondere sind hierbei Formen aus unserem deutschen Devon bekannt geworden, die in ihrer oft abenteuerlichen Ausbildung die meisten vorher bekannten Funde in den Schatten stellen. Der unermüdlichen Durchforschung des Eifler Devons, dort besonders der sog. Geeser Trilobitenfelder, haben wir diese Kenntnis zu danken. Einige der seltsamsten Formen beschreiben Rud. u. E. Richter (Die Lichadiden des Eifler Devons. Neues Jahrbuch f. Mineralogie usw., 1917 Bd. I, S. 50—72). Die beiden, den Veröff'ent- lichungen der Verfasser als Beispiele entnommenen Abbildungen geben uns in Aufsicht und Profil ein Bild von einem der merkwürdiesten Trilobiten, von Lichas (Ceratarges) armatus Goldf. Während früher die Kenntnis einzelner Teile dieses Tieres nur ein unvollkommenes' Gesamtbild zu 'entwerfen gestattete, ist es hier der Ausdauer in mühevoller Präparation gelungen, vollständige Tiere freizulegen und damit zahlreiche Fragen morphologischer und biologischer Art der Lösung näher zu führen. Unter den letzteren seien einige herausgegriffen. Neigte man früher zu der Ansicht, daß unsere Art blind gewesen sei, da man keine Anzeichen von Augen kannte, so zeigen unsere Abbildungen deutlich die beiden, der Glabella aufsitzenden „Leuchtturmaugen". Ihre Lage am Ende von Sta.'heln, die vom Körper abstehen, hatte ohne Zweifel Bedeutung für die Erhaltung des Gleich- gewichtes beim Schwimmen. Dem gleichen Zwecke dienten überhaupt die sämtlichen Stacheln und Fortsätze, die das Tier als Zierat am ganzen Körper trägt. Durch solche Vergrößerung der Körperoberfläche wurde dem Tier das freie Schweben im Wasser wesentlich erleichtert. Das verringerte zugleich die Schwimmarbeit der Beine. Daß die Stacheln überdies Verteidigungszwecken dienten, liegt auf der Hand; zumal gerade die hörnerreichsten Trilobiten die P"ähigkeit entbehrten, sich einzurollen und schnell in dem Schlamm zu versinken. Aber noch eine andere Funktion wird den ge- 692 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVm. Nr. 47 krümmten Hörnern zugeschrieben. Es i«t bekannt, daß zarte Wassertiere, wie z. B. die Daphniden, wenn sie im bewegten Wasser in die Luft hinaus- geschieudert werden, sich vergeblich bemühen, den Wasserspiegel wieder zu durchbrechen. Die Oberflächenspannung verhindert das Eintauchen, die Tiere müssen auf dem Wasserspiegel ein- trocknen. Um einem solchen Schicksal zu ent- gehen, leisteten wohl die Stacheln gute Dienste, die ein Durchstoßen des Meniskus von unten her verhinderten. Die Vergrößerung des Oberflächen- widerstandes erschwerte ein Emportauchen, ebenso wie sie andererseits dem einmal herausgeschleuder- ten Tiere das Wiedereinsinken hätte unmöglich machen können. Besonders für junge zarte Tiere war das von Bedeutung, Lichas (Ceratarges) armatus Goldf. a) Aufsicht, b) Seitenansicht. (Aus d. 47. Ber. d. Senckenb. Naturf. Ges., 1918.) Dieser Körperbau weist daraufhin, daß die Formen der Gattung Lichas, ebenso wie z. B. die von Acidaspis, Bewohner des stillen, ruhigen Wassers waren, in dem sie sich mühelos schwebend halten konnten. Ihr Körperbau ist nicht geeignet für die bewegte Flachsee. Dieser Umstand er- öffnet neue, geographische Gesichtspunkte." Das Mitteldevon der Eifel trägt im allgemeinen die Merkmale landnaher Flachseebildung. Mit den Bildungen des offenen Meeres, wie wir sie in Böhmen kennen, hatte es wenig Verwandtschaft. Hier nun zeigt es sich, daß doch gelegentlich auch in der Eifel ruhigere Meeresverhältnisse herrschten, die sogar einen Artenanstausch mit dem Meere Böhmens ermöglichten. Das läßt sich auch in der Art der Sedimentation erkennen; denn nur in einem äußerst feinen KalkscWamm waren so zarte Gebilde, wie es unsere Trilobitenpanzer sind, überhaupt in unzerbrochenen Stücken erhaltungs- fahig. Freilich läßt sich daraus noch nicht schließen, welcher Art denn die Verbindung war, die das Einwandern böhmischer Arten in das Eifelmeer gestattete. W. Kegel. Anthropologie. Die Frage nach den Vor- fahren der Germanen sucht Oskar Montelius in der Festschrift für Gustaf Kossinna (Leipzig, Kurt Kabitzsch) zu beantworten. Während der letzten Eiszeit lagen der ganze skandinavische Norden sowie Frankreich und Mitteleuropa unter einer Decke von Eis und Schnee. Es darf als feststehend angenommen werden, daß mit dem Anfang der Aurignacperiode die Eiskante anfing, sich nach Norden zurückzuziehen. Ferner ist man zu der Annahme berechtigt, daß der Rückzug des Eises verhältnismäßig rasch vor sich ging und daß in die vom Eis befreiten Gebiete bald wieder Pflanzen- und Tierleben einzog, und sicherlich dauerte es auch nicht lange, bis der Mensch nach- folgte und der skandinavische Norden seine ersten Besucher erhielt. Deutsche und französische Forscher sind darüber einig, daß diese ersten Menschen in Skandinavien, die Vorfahren der später von dort südwärts gezogenen Germanen, einer dolichokeplialen Rasse zueehörten. die unter dem Namen Cro-Magnon-Rasse bekannt ist. „Erst am Ende der paläolithischen Zeit, also lange nach der hier in Frage stehenden Zeit, zeigen sich Brachykephale in Mitteleuropa. Von Südosten scheinen sie nach der Ostsee vorgedrungen zu sein und das Gebiet der dolichokephalen Rasse in zwei voneinander ganz verschiedene Teile ge- trennt zu haben: in Skandinavien und Westfrank- reich." Vom älteren Steinalter hat man in Skan- dinavien einige Skelette dieser Rasse gefimden, und während des iüngeren Steinalters gehörten ihr. besonders in Schweden, die größte Anzahl seiner Bewohner an. Dasselbe gilt von der Be- völkerung Schwedens noch heutigen Tages. Alles spricht dafür, daß die Schweden ,.von jenen Men- schen abstammen, die nach dem Ende der Eiszeit von Mitteleuropa nach dem Norden eingewandert sind. Zwar befanden sich dort bereits wäh'-end des iüngenen Steinalters Brachykephale neben den Dolichokephalen ; sie gehörten zu denen, die am Ende der paläoh'thisrhen Zeit sowohl hier im Norden, wie in Mitteleuropa, sich zu zeigen be- gannen. Ihre Anzahl ist aber eine bedeutend ge- ringere in den schwedischen Landschaften nörd- N. F. XVni. Nr. 47 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 693 lieh von Schonen, als in letzterem und in Däne- mark und bis zu unseren Tagen hat sich die do- lichokephale Rasse aut der skandmavischen Halb- insel ungewöhnlich rein erhalten, trotz der vielen Jahrtausende, die seit ihrer Einwanderung ver- flossen sind. Da die Dolichokephalen, die sich in Frankreich befanden, nach dem Eindringen der Brachykephalen während langer Zeiten sich mit diesen vermischt haben, sind uie Völker der skan- dinavischen Halbinsel wohl die reinsten jeizt leben- den Nachkommen der Cro Magnon-Rasse, die am Ende der Eiszeit in IVlitieleuropa lebte'. Durch Untersuchung der Ablagerungen, die ent- standen, als die Eiskanie von Schonen sich zu- rückzog, hat der Geologe Gerard de Geer ge- funden, daß 'etwa 1 5 000 Jahre vergangen sind, seitdem Schönens südüchste Küste eisirei wurde. Da bald darauf Menschen einwanderten, wird die Besiedlung Schwedens vor ungefähr 15 000 Jahren begonnen haben. Die Menschen der Cro-Mdgnon- Rasse, die nach dem letzten Zui uckweichen des Eises nach Skandinavien kamen , müssen die Vorfahren der Germanen gewesen sein. Durch spätere Differenzierung entwickelten sich aus der einheitlichen Vortahrenrasse die Einwohner Eng- lands und Frankreichs zu Kellen, die des skandi- navischen Gebiets (und Norddeutschlandsj zu Germanen und jene in gewissen östlichen Gegen- den unseres Weltteiles zu Slawen. H. Fehlinger. Mineralchemie. Die einfachen anorganischen Salze, wie Halogensalze, Sullate usw., besitzen ein großes spontanes Kristallisationsvermögen, so daß sie meist ohne wesentliche Verzögerung aus Schmelzen ihrer Gemische auskrislallisicren. Anders ist dies bei den Silikaten. Die jungen Eruptiv- gesteine zeigen, daß hier Unterkütilungen und amorphe, glasige Erstarrung das Gewöhnliche sind. Es ist nun tur die Erkenntnis der Gesteinsbildung wichtig, zu wissen, wodurch in Silikatgemischen, wie wir sie insbesondere im Magma vor uns haben, Kristallisation hervorgerufen wird. J. Jakob (Ztschr. f. anorg. Chem. lOÜ, 229, 1919) hat sich eingehend mit der 1 heorie der magmatischen Mineraiisatoren beschäftigt und kommi dabei zu folgenden Ergebnissen. Schon längere Zeit ist be- kannt, daß die eingeschlossenen Gase, wie Hj, O.2, Nj, Fj, Clj, HjO, H^S usw., für die magmatische Differentiation wichtig sind. Ebenso ist es als höchst wahrscheinlich anzusehen, daß spurenweise Beimischungen von elektronegativen Elementen, wie P, As, So u. a., sowie von amphoteren, d. h. je nach den Umständen bald positiven, bald nega- tiven Elemenien, wie V, Nb, Ta, W, Mo, Ti u. a., im gleichen Sinne wirken. Alle solche Stoffe be- zeichnet man als Mineralisatoren. Bei den ersteren, den Gasen, ist die Wirkung darauf zurückzufiHiren, daß ihre kritische Temperatur weit unterhalb der Schmelztemperatur der betreffenden Mineralbe- standteile hegt. Dadurch wird in gewissen Kon- zentrationsbereichen jene fluide Phase erzeugt, die bei hoher Temperatur und hohem Druck den kontinuierlichen Übergang vom gasförmigen zum flüssigen Zustand bildet. Aus dieser scheiden sich, wie das Experiment gezeigt hat, besonders leicht außerordentlich große Kristalle aus. Ein anderer, ebenso wichtiger Faktor für die Minera bildung ist die Bildung leichtbewegiicher, hochkomplexer Ionen. Hier spielt insbesondere der Wasserdampf eine Rolle, dann H^S, CO2 u. a., aber auch schwer schmelzbare Komponenten. Es bilden sich hier offenbar Einlagerungsverbindungen im Sinne der Werner sehen Koordinationstheorie. Da die Ko- ordinationszahl des Siliziums 6 ist, so dürfte das Kieselsäuremolekül im Magma wahrscheinlich die Zusammensetzung SiiOHj, + öH20 = [(H20)2.Si-(OH-HO),]-H^ haben, aber wegen des tierrschenden Wasser- mangels weitgenend elektrolytisch dissoziiert sein. Deshalb sind auch saure Magmen erfah- rungsgemäß die dünnflüssigeren; schon Abegg hat auf die leichte Beweglichkeit solcher kom- plexer Ionen hingewiesen. Kieselsäurcmolekeln der obigen Form durften kaum jemals in erstarrten Magmen gefunden werden, da sie sich bei der Ab- kühlung stets umsetzen werden. Wohl aber sind Subsiitutionsprodukie bekannt, in denen die Ko- ordinationszahl 6 noch deutlich zutage tritt; ins- besondere spielt die Grupf^e SiOg eine große Rolle, AI die z. B. in Tschermaks Molekül [SiOg] jvjaiEe) auftritt. Dieses kommt frei als Prismatin vor und isi an der Bildung der Hornblende und anderer Mmeralien beteiligt. Das Wasser zeigt bekannt- lich bei gewöhnlicher Temperatur ziemlich starke Neigung zur Polymerisation. Diese Eigenschaft kommt eriahrungsgemäß auch den Sauersioffver- bindungen des biliziums in hohem Maße zu und zwar wachst sie mit dem Sauerstoffgehalt. Er- reicht dieser nun ein gewisses Maximum, so führt dies zur Mmeralbildung. Man kann in diesem Palle also die Kieselsäure selbst als Mineralisator auf- fassen. Es ist überhaupt keine strenge Scheidung möglieh zwischen Lösungskomponenten und Mine- raiisatoren. Jakob glaubt nun auch die Wirkung der Gase auf Komplexbildung zurückführen zu müssen und definiert allgemein Mineraiisatoren als Stoffe, die mit anderen Komponenten Additions- verbindungen bilden, welche nach den Gesetzen der Koordinationslehre gebaut und gewöhnlich zu leicht beweglichen Ionen dissoziiert sind. Scholich. Dumas und Mitscherlich haben 1835 festgestellt, daß dem Schwefeldampf in der Nähe des Siedepunktes die Dampfdichie 6,56 zukommt, die der Formel S^ entspricht. Deville und Troost erhielten oberhalb böo" den Wert 2,23, mithin die Formel S2. Bei niedrigen Tempera- turen wurde bei Messungen unter vermindertem Druck mehrfach ein der Zusammensetzung Sg ent- sprechender Wert gefunden. Da Blitz die Wahr- 694 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVm. Nr. 4; nehmung machte, daß zwischen dem Siedepunkt und etwa looo" die Molekulargewichtbkurve keiner- lei ausgezeichnete Punkte aufwies, so nahm er an, daß überhaupt nur die beiden Moleküiarten Sg und S.2 existieren und das Gleichgewicht Sg < ^ Sg sich mit zunehmender Temperatur nach rechts verschiebt. J. J. Dobbie und J. J. Fox (Proc. Roy. Soc. A. 95, 484, 1919) haben nun versucht, auf optischem Wege Aufschluß über die Konsti- tution des Schwefeldampfes zu erhalten. Sie gingen dabei von der Beobachtung aus, daß sich die Farbe des Schwefeldampfes mit der Tempe- ratur in ganz bestimmter Weise ändert. Um dies zahlenmäßig erfassen zu können, unternahmen sie spektroskopische Messungen der Absorption des Lichts bei verschiedenen Temperaturen. Es zeigte sich, daß die Absorptionskurve nicht eine Gerade war, wie es nach der B i 1 1 z sehen Auffassung er- wartet werden mußte, sondern daß sie bei etwa 650* ein Maximum aufweist. Es muß also eine dritte Modifikation des Schwefeldampfes vorhanden sein, für die bei 650" die günstigsten Existenz- bedingungen herrschen. Die Messungen von Biltz deuten nun bei dieser Temperatur auf die Formel Sg hin. Sollte sich dies durch weitere Messungen als die wahre Zusammensetzung des Schwefeldampfes bei dieser Temperatur erweisen, so wäre damit eine neue Analogie des Schwefels mit dem Sauerstoff gefunden. Diese ist um so wahrscheinlicher, als auch das Ozon eine wesentlich größere Lichtabsorption als Oj besitzt. Oberhalb 900" ist nur noch Sj existenzfähig. Es ist aber auch bei niedriger Temperatur schon in geringer Menge vorhanden. Scholich. Zur Bedeutung des synthetischen Ammoniaks für die chemische Industrie. Zu den während des Krieges zu ganz besonders hoher Entwicklung ge- langten Industrieen gehört in erster Linien die der Stickstoffverbindungen. Ammoniak und Salpeter- säure bildeten die unersetzliche Grundlage für die Landwirtschaft und für die Munitionserzeugung. Infolge Mangels jeglicher Zufuhr von Stickstoff- verbindungen waren wir gezwungen, unseren Be- darf daran aus eigener Erzeugung zu decken. Es ist bekannt und bildet einen der schönsten Ruhmes- titel der deutschen Industrie, daß sie den unge- heuren in dieser Richtung an sie gestellten An- forderungen in vorzüglicher Weise gerecht wurde. Während vor dem Kriege rund die Hälfte unseres von Landwirtschaft und Technik benötigten Stick- stoffs aus dem Auslande eingeführt werden mußte, übersteigt jetzt die einheimische Erzeugung bei weitem den Bedarf — d. h. wohlgemerkt die mögliche Erzeugungsmenge. Es ist immer zu berücksichtigen, daß diese sich durchaus nicht mit der tatsächlichen deckt. Kohlenmangel und selbst zeitlich beschränkte Streiks drücken die erzeugte Menge um so mehr herab, als gerade die Stick- stoffwerke in wenigen Riesenbetrieben zentralisiert sind, deren Stillegung alsbald erhebliche Ausfälle in der Erzeugung bedeutet. Sehen wir davon ab, so darf mit einer jähr- lichen Erzeugung von StickstoiTverbindungen ge- rechnet werden, die einem Gehalt von etwa 5 10 000 1 reinen Stickstoffs entspricht. Von diesem ent- fällt bei weitem der Hauptanteil auf den im syn- thetischen Ammoniak, der nach dem Ver- fahren von Haber von der Badischen Anilin - und Sodafabrik hergestellt wird, gebundenen Stickstoff, nämlich 300 000 1. Mit einer willkür- lichen Beschränkung dieser Mengen, an deren Ge- winnung die Reichsregierung lebhaft beteiligt ist, ist nicht zu rechnen, und sie erschiene seltsam genug, beständen nicht gerade bezüglich der Stick- stoffmehrerzeugung gewisse Bedenken, denen zu- mal in der Jetztzeit eine gewisse Aufmerksamkeit gewidmet werden muß. Es ist nämlich die Frage, ob die einheimische Landwirtschaft die gegen ihren früheren Bedarf so sehr erhöhte Erzeugung an Stickstoffverbindungen überhaupt aufzunehmen in der Lage ist. Unsere Düngung erträgt ohne Zweifel noch erheblich mehr Stickstoff als ihr in Friedens- zeiten gegeben wurde. Ob aber unser Boden in- folge seiner physikalischen Beschaffenheit, unsere Wasserverhältnisse, ob unsere dank den Friedens- bedingungen argbenachteiligten landwirtschaftlichen Betriebsmittel, ob schließlich die mit der zu er- wartenden Mehrerzeugung verbundene Mehrarbeit bei den heutigen Lohnverhältnissen eine derartige Verwendung des Stickstoffs gestatten wie es an sich möglich wäre — dies alles ist durchaus noch ungewiß und bedarf noch der Klärung. Insbe- sondere die Preisbildung auf dem Markt der Dünge- mittel ist auf die Unterbringung des Stickstoffs in der Landwirtschaft von größtem Einfluß. An eine Ausfuhr unserer Stickstoffverbindungen ist aller Wahrscheinlichkeit nach leider nicht zu denken. Der chilenische Salpeter und der ameri- kanische Kalkstickstoff sind vermutlich in der Lage, den Wettbewerb ganz zu ihren Gunsten zu entscheiden; selbst die skandinavische Kalkstick- stoflindustrie droht der unseren infolge des ge- ringen Markwertes überlegen zu werden. Inzwischen aber geht die Erzeugung von Stick- stoffverbindungen weiter, und man darf sich fragen, in welcher Richtung sie doch zu der Bedeutung zu kommen fähig sein dürfte, die ihr von vorn- herein zugesprochen werden muß. Neben der Landwirtschaft ist es in diesem Betracht vor allem die chemische Industrie, die insbesondere aus dem synthetischen Ammoniak den größten Vorteil ziehen kann. Zu seiner Her- stellung benötigt man den in der Luft in beliebigen Mengen zur Verfügung stehenden Stickstoff, ferner Wasserstoff und (außer den wichtigen, aber der Menge nach nebensächlichen Katalysatoren) Koks und Kohle. Das alles sind Rohstoffe, bezüglich deren wir unabhängig vom Auslande sind. Für das Kalkstickstoffverfahren ist Kalk die Grundlage, und seine übergroße Verwendung für den Zweck der Stickstoffbindung ist aus mehrfachen Gründen N. F. XVm. Nr. 47 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 695 nicht erstrebenswert. Die Gewinnung des syn- thetischen Ammoniaks also muß für die chemische Industriedie Stickstoffquelle werden. Seine Verwen- dungsmöglichkeit ist nun hier sehr groß. Ich erinnere an die Kälteindustrie, die beträcht- liche Ammoniakmengen als solche verwendet und die stetig neue Aulgaben zu lösen berufen ist. So vor allem beim Abteufen von Bohrlöchern und Schächten in wasserführenden Erdschichten, die man einfrieren läßt und somit ungehindert passier- bar macht. Der Ammoniak läßt sich fernerhin zu Salpeter- und salpetriger Säure ver- brennen. Beide Säuren aber sind von grund- legender Wichtigkeit für unsere Farbenin- dustrie. Die gesamte Anilinfabrikation, die Her- stellung der zahllosen Diazofarbstoffe beruhen auf der Beschaffung jener beiden Säuren. Billiger Ammoniak ist al so gleichb edeu t e nd mit Verbilligung und iVlehrerze ugun g von Farbstotfen. Auf diesen Zusammenhang braucht nur aufmerksam gemacht zu werden, um erkennen zu lassen, welche Bedeutung der synthetische Ammoniak für die chemische Gesamtindustrie hat und darüber hinaus für unsere ganze Volkswirt- schaft. Unsere Farbenindustrie war und ist die erste der Welt. Mögen unsere Gegner sich durch Einfuhrverbote und andere Maßnahmen ihrer ent- ledigen wollen — zu vernichten ist sie nicht. Es dar! darum eindringlich darauf hingewiesen werden, unsere gewaltigen Mengen synthetischen Am- moniaks der Farbenindustrie so weit wie irgend angängig zuzuführen. Die Wirkung auf unsere Gesamiwirtschaft wird nicht geringer sein als eine nur landwirtschaftliche Verwendung, vornehmlich infolge der Ausfuhrmöglichkeit und infolge der oben angedeuteten Bedenken der Landwirtschaft andererseits. Statt vieler anderer Anwendungsmöglichkeiten in erweitertem Maße sei noch eine chemische In- dustrie erwähnt, für die der synthetische Am- moniak möglicherweise von sehr wesentlicher Be- deutung sein kann, nämlich die Sodafabrika- tion. Auf dem Kontinent gewinnt man die Soda, von deren vielseitiger Verwendung hier nichts ge- sagt zu werden braucht, vorwiegend nach dem Solvayver fahren (von der elektrolytischen Darstellung abgesehen). Hierbei wird Kohlen- säure und Ammoniak in eine Kochsalzlösung ein- geleitet, wobei sich die Soda (zunächst als Bicar- bonat) ausscheidet. Daneben entsteht Ammo- niumchlorid. Bisher pflegte man dieses mit Kalk- milch zu zersetzen. Man gewann den Ammoniak wieder, der in den Betrieb zurückgehen konnte, und erhielt daneben laufend größere Mengen von Calciumchlorid. Dieser Stoff hat für die Industrie wenig Interesse. In allerneuester Zeit ist darum vorgeschlagen worden, die Ammoniakregeneration beim Solvayprozeß aufzugeben und das Am- moniumchlorid als solches anderweit zu verwenden. ') Erhält man nämlich synthetischen Ammoniak billig in unbegrenzten Mengen, so verliert die Wiedergewinnung aus dem Sodaprozeß an Ren- tabilität. Wichtiger ist es, das Ammoniumchlorid zu verbrauchen, und zwar als Düngemittel an Stelle von Ammonium sulfat. An sich ist es gleichgültig, in welcher Form man den Ammoniak dem Boden zuführt. Kulturversuche ergaben, daß sowohl das Ammoniumchlorid wie auch das zu- meist verwendete Sulfat den gleichen Wirkungs- wert haben. Tatsächlich ist ja während des Krieges das Chlorid als Ersatz verwendet worden infolge des Mangels an Schwefelsäure. Schwefel- säure wird auch in Zukunft teuer sein. Größere Einfuhr von Schwefel liegt nicht im volkswirt- schaftlichen Interesse Deutschlands, das Verfahren der Säuredarstellung aus Gips deckt den Bedarf nicht; es ist also erwünscht, den Schwefelsäure- verbrauch nach Möglichkeit einzuschränken. Für Düngezwecke ist das nun nicht nur möglich son- dern sogar anzustreben. Die in Form von Sulfat verdüngte Schwefelsäure ist als solche verloren. Sie hat jedoch den weiteren jetzt besonders fühl- baren Nachteil, daß sie das Ammoniumsalz sehr beschwert, d. h. eine bestimmte Menge Ammon- sulfat ist etwa ein Drittel schwerer als die gleiche Stickstoffmenge enthaltendes Ammonchlorid. Das bedeutet eine Erhöhung der Transportkosten. Alle die genannten Mißstände lassen sich nun ganz oder teilweise beseitigen durch eine Um- stellung der Sodafabrikation. Statt der Über- führung des synthetischen Ammoniaks in Ammo- niumsulfat läßt man es in den Solvaybe- trieb gehen und verwendet das entstehende Am- monium chlor id. Man hat alsdann ein voll- wertiges, ja sogar höherprozentiges Düngemittel, erspart die Regeneration des Ammoniaks und ist gleichzeitig der Notwendigkeit einer Beseitigung des anfallenden Chlorcalciums enthoben. Bei dem Umfang der deutschen Soda- und Schwefelsäureindustrieen und bei der Wichtigkeit ökonomischster Bewirtschaftung, die ja bereits zur Gründung des Stickstoffsyndikats geführt hat, wäre es sehr erwünscht, daß die beteiligten Kreise der oben dargelegten, durch den synthetischen Ammoniak ermöglichten gegenseitigen Neuein- stellung aufeinander nähertreten. Hans Heller. Zoologie. Über die Frage der Erblichkeit abnormerWindungsnchiung bei Schnecken äußerten sich neuerdings F. Hesse*) und J. Dewitz. -) Letzterer hatte in einer Wassergrube mit Limnaea palustris Müll, etwa 30 linksgewundene verschie- dener Jahrgänge gefunden und als deren Nach- kommenschaft einige loo durchgängig normale, ') ^S^- G. Claude, Comptes rendus de l'Acad. Fran?. 168. S. looi. (Nr. 20, 1919). ') P. Hesse, Kann sich die abnorme Windungsrichtung bei den Gastropoden vererben? Zool. Anzeiger Bd. 44, Nr. 8, 1914, S. 377—382. ') J. Uewitz, Über die Erblichkeit der Inversion der Molluskenschale. Ebenda, Bd. 48, Nr. I, S. I — 3, 1917, 696 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVin. Nr. 4; rechtsgewundene erhalten. Er stellte damit einen neuen Fall dafür fest, daß die Sinistrorsiiät (übri- gens eine recht seltene Erscheinung) öfter an einer bestimmten Orilichkeii in iWehrzahl auftritt, so daß Vcrerbbarkeit zu vermuten wäre, die aber der Zuchtversuch keineswegs ergibt. Solche Bei- spiele gibt es von Limnaea siagnalis und Helix aspersa Müll., auch für Helix pomatia L. steht die Nichterblichkeit der Sinistrorsität fest, obwohl bei diesen Arten linksgewundene Stücke nur durch linksgewundene begatiet werden können, zwischen ungleichgewundenen es aber nur zu Liebesspielen kommt; bei Limnäen freilich hat man, laut Hesse, auch Selbstbefruchtung beobachtet, ein falschge- wundenes Tier würde also sich selbst begatten können, jedoch nicht sich mit einem normalen paaren. Trotz alledem fahrt Hesse eine Reihe von Talsachen an, die dennoch zu der Vermutung zwiijgen, daß die Sinistronität manchmal vereib- lich ist ■ — abgesehen natürlich von den verhältnis- mäßig wenigen Arten, wo sie, wie in unserer Fauna bei Üalea perversa L. unter den Pupidae oder in den Genera Physa und Aplexa unier den Limnaeidae, das Normale darstellt. So findet man Clausilien des siebenbürgischen Genus Alopia stellenweise nur links-, stellenweise nur recliis- gewunden, ähnlich kommt ein dortiger Bulimi- nus, Mastus reversalis Bielz, in zahlreichen Formen bald links-, bald rechtsgewunden vor, die normal linksgewundene Chondrula quadridens Müll, tritt im Winschgau nur rechtsgewunden auf. Umge- kehrtes gilt von Buliminus purus Wstld. an einer Stelle bei Urmia im Razokigebirge; in allen diesen und ähnlichen Fällen handelt es sich um Arten mit hochgewundenem, turmförmigem Gehäuse, welches vermutlich der Begattung zwischen zwei ungleichgewundenen Stücken weniger Schwierig- keiten entgegensetzt und somit einem vereinzelt auftretenden abnormen Stück die andernfalls nur äußerst geringe Möglichkeit der Fortpflanzung gibt. Aber selbst von Helix aspersa fand d'Or- bigny in seinem Garten in La Rochelle eine linksgewundene Kolonie, und Welch fand bei Bundoran in Irland höchst überraschender Weise ungefähr 2000 fossile linksgewundene Heiix ( I'achea) nemoralis L. Mit Recht fordert Hesse für die Zukunft die Aufzucht mindestens einer weiteren Generation und die Kreuzung linksgewundener mit rechts- gewundenen Stucken, wozu besonders Sieben- bürgener Material Gelegenheit gebe. In der zweiten Generation konnte möglichenfalls die ab- norme Windung wiederkehren. V. Franz. Bücherbesp Wagner, Georg, Geologische Heimat- kundevonWurttembergisch- Franken. RauÖhringen lyig. Brosch. 1,80 M. Ein geographisch wie geologisch recht eng begrenzter Komplex gibt dem Vertasser Anlaß und Anhaltspunkte genug, von ihm aus einzu- führen in das Verständnis von Bau und Werden des Bodens und der Landschaft. Es geschieht im allgemein verständlichen Plaudeitone ohne alle Aufdringlichkeit, ausgehend von alltäglichen Er- fahrungen, aus denen auch der einfacnere Leser schnell hinauswächst zur Methode des Verglei- chens, wie sie aller Naturkunde zugrunde liegt. Es geschieht ferner an der sicheren Hand eines Führers, der an der geologischen Erforschung seiner Heimat selbst eitrig und erfolgreich mit- gewirkt hat. Ein kurzer einführender Teil macht mit den geologischen Kräften und mit dem Wesen der organischen Einschlüsse vertraut. So gerüstet vermag der Leser dann die Ablagerungen der rechungen. Trias, die vornehmlich, fast allein beim Bau des gewählten Gebietes beteiligt sind, zu verstehen, lernt auch die Grundlagen kennen , auf denen eine Verwertung der freilich bescheidenen Boden- schätze des Landes sich etmöglicht. Dem Werden der Schichten folgt ihr Vergehen und damit die Herausschneiduiig der heut vorliegenden Land- schaft aus dem durch lange Zeiträume der Ver- gangenheit geschaffenen Block. Das so entstan- dene Relief, die in ihm sich noch weiterhin ab- spielenden Vorgänge führen zum Ausgangspunkt zurück und bieten zugleich auch weiteren natur- kundlichen Bestrebungen, wie dem Erfassen der Bedingungen, unter denen die heutige Lebewelt steht, einen sicheren Untergrund. Die klare Disposition und Darstellung zeugt von einem didaktischen Geschick, dem ein Erfolg um so weniger versagt sein wird, als sorgsam ausgewählte Abbildungen, darunter zahlreiche Originale, dem Verständnis noch weiterhin zu Hille kommen. Hennig. lullalt: A. Hansen, Die „Lebenswege" H. St. Chamberlains und die Naturwissenschaft. S. 6Sl. Karl Fischer, Nieder- schlag, Abfluü und Versickerung in ihrem Verhallen von Jahr zu Jahr. S. 68S. — Einzeloerichte: Kud. und E. Richter, Die Lichadiden des Eitler Devons. (2 Abb) S. 691. Oskar Montelius, Vorfahren der Germanen. .S. 692. J. Jakob, Theorie der magmatischen Mineralisatoren. S. 643. J. J. Dobbie und J. J. Fo.\, Die Konsti- tution des Schwcfeldampfes. S. 693. H. Heller, Zur bedeutung des synthetischen Ammoniaks für die chemische Industrie. S. 694. P. Hesse und J. Dewitz, Über die Frage der Erblichkeit abnoimer Windungsnchtung bei Schnecken. S. 095. — Bücherbesprechungen: Georg Wagner, Geologische Heimatkunde von Würltembergisch- Franken. S. 696. Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Mi ehe, Berlin N 4, Invalidenstraöe 4a, erbeten. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck der G. Pätz'ichen Bucbdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a, d. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue Folffe iH. Band; der ganzen Reihe 34. Band. Sonntag, den 30. November 1919. Nummer 48. Die Verteilung der Niederscliläge auf Abfluß, Verdunstung und Versickerung im Freistaat Sachsen-Weimar. [Nachdruck verboten.] Von Prof. Dr. W. Halbfaß, Jena. Die Natur der Erdoberfläche kümmert sich um die poHtischen Grenzen, welche der Mensch auf ihr zieht, nicht, wenngleich umgekehrt nicht geleugnet werden kann, daß der Mensch bei der Festsetzung der politischen Grenzen vielfach — durchaus nicht immer — auf die natürlichen Ver- hältnisse des Bodens Rücksicht nimmt, bzw. sie nach ihnen bestimmt. Wenn man daher z. B. den Kreislauf des Wassers innerhalb einer politi- schen Einheit näher verfolgt, so erhellt ohne weiteres, daß alle Folgerungen, die man zahlen- mäßig aus gewissen Beobachtungen und Berech- nungen ableitet, nichts weniger als einwurfsfrei sind und keineswegs dazu benutzt werden dürfen, um exakte Gesetze über den Verlauf dieser Kreisbe- wegung daraus abzuleiten. Ja nicht einmal innerhalb natürlich abgegrenzter Gebiete der Erdoberfläche lassen sich m. E. aus den besten Beobachtungen und Messungen exakte Schlüsse auf den innigen Zusammenhang zwischen Niederschlag, Abfluß, Versickerung und Verdunstung ziehen. Diese Faktoren brauchen nicht einmal innerhalb eines großen Bezirks und einer be- stimmten Zeit voneinander zahlenmäßig abhängig zu sein. Der Abfluß einer bestimmten Gegend, der in ihr vorhandene Grundwasservorrat rührt in den meisten Fällen zu einem großen Teil gar nicht von den in derselben gefallenen Niederschlägen her, sondern die Grundwasserträger können ihren Bestand aus recht großer Entfernung beziehen, der Abfluß kann aufgespeichert und die ver- dunsteten Wassermengen können herrühren aus Niederschlägen aus ganz verschiedenen Zeiten und aus Gegenden, die in keinem direkten oberfläch- lichen Zusammenhang mit den Niederschlagsge- bieten stehen. Dennoch bietet es ohne Zweifel Interesse, die hydrologischen Verhältnisse eines Landes inner- halb seiner politischen Grenzen zu untersuchen aus dem einfachen Grunde, weil man wenigstens gewisse statistische Grundlagen bei der Berech- nung einheitlich zur Verfügung hat, während dies innerhalb gewisser natürlicher Grenzen nicht der Fall zu sein pflegt. In einer äußerst interessanten Arbeit über die „hydrologischen Verhältnisse Mecklenburgs", wel- che E. Geinitz in der „Zeitschrift für Wasser- versorgung", 2. Jahrg., Heft 19 — 22 veröffentlicht hat, kommt er zu dem Ergebnis, daß innerhalb Mecklenburg-Schwerin von den jährlichen Nieder- schlägen im Durchschnitt nicht ganz 64 v. H., also beinahe zwei Drittel durch Verdunstung wieder in die Atmosphäre zurückgehen. Von dem Rest fließt nach den orographischen Bedingungen des Landes nur ein verhältnismäßig sehr kleinen Teil oberflächlich ab, mithin versickert der Rest im Boden und speist das Grundwasser, dessen Menge nach Geinitz also im großen und ganzen auch nur Vs der jährlichen Niederschlagsmenge beträgt. An diesen Schlußfolgerungen ist zunächst aus- zusetzen, daß Geinitz von der gänzlich unbe- wiesenen Hypothese ausgeht, daß das Grundwasser nur von den Niederschlägen der betreffenden Gegend herührt und weiter, daß er Niederschlags- und Sickermengen im Durchschnitt selbst mehrerer Jahre ohne weiteres miteinander in funktionelle und rechnerische Beziehung bringt. Wenn ich auch ohne weiteres zugeben will, daß juveniles Wasser in Mecklenburg überhaupt nicht in Betracht kommt, so ist sicher ein Zusam- menhang zwischen Ozeanwasser und Grundwasser zumal nach den grundlegenden Untersuchungen von F'riedrich ') nicht von der Hand zu weisen und eine Bildung von Grundwasser durch Absorp- tion der Luftfeuchtigkeit innerhalb der Erdrinde gibt ja auch Geinitz selbst zu, woraus allein schon der lückenlose rechnerische Zusammenhang zwischen Niederschlag und Sickermenge innerhalb eines bestimmten Zeitraums ein merkliches Loch erhält. Dazu kommt aber noch ein weiteres wich- tiges Moment hinzu, das gegen die Schlußfolge- rungen von Geinitz spricht. Es erscheint näm- lich im hohen Maße wahrscheinlich, daß in sehr vielen Gegenden der Erde in einer der jetzigen Zeitrechnung vorangegangenen Epoche der Erd- geschichte ein gewisser Vorrat von Himmelwasser sich in der Erdrinde angesammelt haben muß, von der wir Nachgeborenen noch immer zehren. Die gewaltigen Schmelzwasser des Inlandgletschers konnten nicht überall einen Abzug finden. Der Boden der Flüsse und Seen war vordem weit durchlässiger als heute, wo er vielfach sozusagen allmählich ausgepicht wurde, das feste Land ver- brauchte, als es noch ganz überwiegend mit Wald bestanden war, weit weniger Wasser als der Acker- bau, der heutzutage an vielen Stellen der Erde den Wald verdrängt hat, alles Umstände, die dafür sprechen, daß die Erdrinde früher viel mehr Wasser ansammeln konnte, als heute, daß also die heutige Grundwassermenge nicht bloß von der heutigen ') Die Beziehungen unseres tieferen Grundwassers zur Ost- see. Mitt. Geogr, Ges. Lübeck. 2. Reihe, Heft 27. Lübeck 1916. 698 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 48 Niederschlagsmenge herrührt, sondern auch von Vorräten aus jetzt abgeschlossenen Zeitepochen. Gegen diese Folgerungen darf man m. E. nicht den Einwand erheben, den Geinitz gemacht hat, daß sie nämlich eine allgemeine Versumpfung des Bodens notwendig hervorrufen müßten, vielmehr kann man ruhig annehmen, daß der Überschuß früherer Zeiten infolge größerer Lockerung des Erdbodens auch in viel tiefere Schichten einge- sunken ist und dort Hohlräume ausfüllte, ohne zu Sumpfbildungen der äußersten Erdrinde Ver- anlassung zu geben. Ich habe nun versucht auf Grund des vor- handenen, allerdings sehr lückenhaften Tatsachen- materials eine Wasserbilanz innerhalb des jetzigen Freistaates Sachse n-W e i m a r aufzustellen, deren Resultat entsprechend den von Mecklenburg- Schwerin sehr abweichenden Bodenverhältnissen von den Ergebnissen der Geinitzschen Rechnungen erheblich abweicht. In bezug auf Einzelheiten der dabei entwickelten Rechnungen muß ich auf meine ausführliche Arbeit in der Zeitschrift für Wasserversorgung 191 9, 6. Jahrg., Nr. 13 — 26, ver- weisen. Unter Berücksichtigung der örtlichen Verhält- nisse der verschiedenen Regenmeßstationen des Lan- des ergibt sich, daß in den beiden Jahrzehnten 1 89 1 — 1910 im Durchschnitt die jährliche Niederschlags- menge auf 2,23 cbkm veranschlagt werden darf. Von dieser Menge darf man , entsprechend den U leschen Ergebnissen im Flußgebiet der Saale, zunächst 20 v. H. auf oberflächliche Abflußmenge absetzen, d. h. ca. 0,44 cbkm, so daß für Ver- dunstung, Verbrauch durch Tiere, Menschen und gewerbliche Unternehmungen, soweit dabei flache Brunnen oder offenes Wasser in Betracht kommen, endlich für Versickerung in den Boden oder Bil- dung von Grundwasser 1,76 cbkm in Betracht kämen. Meine Aufgabe bestand nun darin, die beiden zuerst genannten Posten mögUchst exakt zu er- mitteln, woraus dann die Menge des Versickerungs- wassers sich ganz von selbst ergibt. Die Größe des von Flüssen und stehenden Gewässern allein bedeckten Areals bestimmen zu können, fehlt es an statistischen Unterlagen, ich schätze sie auf 20 qkm. Ihre jährliche Verdunstungs- menge zu 400 mm gerechnet, ergibt 8 Mill. cbm. Für Wege bleiben dann noch 14570 ha, rechnet man noch 5560 ha Haus- und Hofraum, 7220 ha Öd- und Urland, so ergibt sich für die nicht an- gebaute Erdfläche ein Areal von 27350 ha, dessen tägliche Verdunstung im Durchschnitt wohl nicht über 0,1 mm hinaus gehen dürfte. Selbst bei 40 mm im Jahr gelangen wir für diesen Posten nur auf 1 1 Mill. cbm, mithin im ganzen für die jährliche Verdunstungsmenge der unan gebauten Fläche zu höchstens 20 Mill. cbm. Was den Verbrauch von Tieren anlangt, so genügt es den Verbrauch der größeren Haustiere zu kennen. Nimmt man den Tagesverbrauch von Rindvieh zu 35, von Pferden zu 45, von Schafen und Ziegen zu je 4, von Schweinen zu 5 1 an, und rechnet für Rindvieh 150, für Schafe und Ziegen je 180, für Pferde und Schweine je 300 Tage im Jahr als Verbrauchstage, so ergibt sich bei einem Vieh- stand von 24 2 1 8 Pferden, 147 313 Stück Rindvieh, 55200 Schafen, 52754 Ziegen und 193 412 Schweinen im ganzen etwa 1,6 Mill. cbm. Der Wasserverbrauch der Menschen beläuft sich, auf den Kopf täglich 30 1 gerechnet, bei einer Bevölkerung von 400 000 Seelen, etwa 4 Mill. cbm jährlich. Sehr schwierig ist es, den Verbrauch des Was- sers für gewerbliche Zwecke zu ermitteln. Für das Zeißwerk in Jena, das größte industrielle Unternehmen im Freistaat Sachsen- Weimar, be- trug er im Jahre 191 5 über 200 000 cbm, im Durchschnitt der 3 Jahre 1913 — 15 aber nur 160000 cbm. Wahrscheinlich übersteigt der Ge- samtverbrauch an Wasser in der Industrie und im Gewerbe nicht 16 Mill. cbm, das macht mit dem häuslichen Bedarf zusammen etwa 20 Mill. cbm aus, wovon indessen die Hälfte sicher auf Grundwasser entfällt. Mithin verbleiben in diesen Gesamtposten nur etwa 12 Mill. cbm, hoch ge- rechnet, also für die Verdunstungsmenge aus den unangebauten Erdflächen, den Wasser- flächen und dem Verbrauch für Tiere, Mensch und Gewerbe zusammen nur 30 Mill. cbm, d. h. wie wir sehen werden, eine ver- schwindend geringe Menge gegenüber der Ver- dunstungsmenge durch die Vegetation. Die neuere Literatur über diese wichtige Materie findet sich am Schlüsse dieses Aufsatzes zusammen- gestellt, in bezug auf die Verbrauchsmenge durch Beeren- und andere Sträucher versagt sie aller- dings vollständig. Am meisten fällt ins Gewicht die Verdunstung des mit Halm- und Hackfrüchten, sowie mit Gemüse be- standenen Acker- und Gartenlandes. Hier sind vor allem die Versuche von v. S e e 1 - hörst in Göttingen maßgeblich, obwohl, wie V. Seelhorst selbst betont, Folgerungen aus seinen Laboratoriumsversuchen für das Wasser- bedürfnis von Kulturpflanzen auf im Freien und in großen Mengen angepflanzten Saaten eigentlich unstatthaft sind. Allein, faute de mieux, sind wir, glaube ich, doch genötigt auf v. Seelhorsts Beobachtungen zurückzugreifen, da sie die einzigen exakten Untersuchungen über diese Materie zu sein scheinen. Danach ist der Jahreswasserver- brauch auf Lehmboden von Roggen auf 380, von Weizen auf 435, von Hafer auf 390, von Kar- toffeln auf 480, von Rüben auf 370, von Klee auf 4G0 und von Brache auf 260 1 pro qm, auf Sand- boden für Roggen auf 260, für Gerste auf 275, für Kartoffeln auf 220 und für Brache auf 180 1 pro qm anzusetzen. Für Hülsenfrüchte, Meng- getreide, Garten- und Handelsgewächse habe ich auf gut Glück 400 bzw. 300 1 pro qm angesetzt. Lücken in der Liste habe ich nach Möglichkeit zu ergänzen versucht. Mit Rücksicht darauf, daß Hafer und Kartoffeln gern auf sandigen Boden an- N. F. XVni. Nr. 48 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 699 gepflanzt werden und auf die Verteilung des Lehm- und Sandbodens in den einzelnen Verwaltungs- bezirken des Freistaates ist der jährliche Wasser- verbrauch des Acker- und Gartenlandes insgesamt auf 740 IVIill. cbm zu schätzen. Für Wiesen und Weiden setzt Geinitz 5 mm tägliche Ver- dunstung und 180 Tage an; ich halte diesen An- satz für viel zu hoch und veranschlage die jähr- liche Verdunstungsmenge auf höchstens 600 mm oder 600 1 pro qm. Das ergibt bei einem Flächen- areal von rund 360 qkm einen jährlichen Ver- brauch von 220 iVIill. cbm. Das Aspirationsbedürfnis der Obstbäume ist recht verschieden. Oster walder (s. u.) nimmt für einen Birnbaum von 16 m Höhe, 10 m Kronen- durchmesser, rund 300000 Laubblätter bei 255 qm Blattfläche in der Blütezeit täglich 273 1 an, rech- net man dazu noch den Wasserverlust durch etwa 250GO Blüten = 140 qm Fläche mit 46 1, so ge- langt man zu einem Wasserverbrauch während der Vegetationszeit von 120 Tagen täglich zu 320 1 im ganzen also zu 48 — 40 cbm im Jahre. Mit Rücksicht auf die Zahl der vorhandenen Birn- bäume und die Tatsache, daß ihre Durchschnitts- größe erheblich geringer als die oben genannte ist, wäre mit einem Gesamtwasserverbrauch von je 20 cbm, zusammen mit 4,7 Mill. cbm zu rech- nen. Kirschen-, Pflaumen-, Aprikosen-, Pfirsich- und Walnußbäume verbrauchen nach demselben Autor etwa eben so viel als Birnbäume. Ihre Gesamtzahl im Freistaat beträgt i 360 000, macht bei 20 cbm im Jahr 27 Mill. cbm. Das Transpi- rationsbedürfnis der Apfelbäume ist nach Kröber (s. u.) nur etwa halb so groß als das der Birn- bäume, beträgt also pro Baum etwa 10 cbm im Jahr, bei 738000 Apfelbäumen 7,4 Mill. cbm. Mithin entfällt für alle Obstbäume des Landes eine Verdunstungsmenge von etwa 40 Mill. cbm. Über den Wasserverbrauch der Beerensträucher fehlt es nach brieflichen Mitteilungen von Prof. Burgerstein in Wien, wohl dem besten Kenner der Literatur über Wasseraufnahme und Transpi- ration der Pflanzen, bisher gänzlich an exakten Versuchen. Da zudem ihre Zahl augenscheinlich bisher noch nicht statistisch aufgenommen ist, so habe ich ihren wahrscheinlichen Bedarf unter Gartenbau (s. o.) untergebracht. Was die Ver- dunstung der Waldbäume anlangt, so verbraucht nach Höhnel (s. u.) i ha Ii5jähriger Buchen- hochwald täglich im Durchschnitt 25 — 30 cbm, ein 50 — Gojähriger Buchenbestand 15— 20; 35- jähriges Kiefernstangenholz nur etwa 5 — 6 cbm. Die Verdunstungsfähigkeit der Birken ist etwas geringer, die der Eichen etwa % derjenigen von Buchen, die der Fichten etwa doppelt so groß als die der Kiefern und die der Tannen endlich etwas geringer. Diese Annahmen ergeben als Ver- • dunstungsmenge des gesamten Waldbestandes des Freistaates, wobei als durchschnittliche Vegetations- dauer 200 Tage im Jahre angenommen wurden, insgesamt 184 Mill. cbm, wovon auf Buchenhoch- wald 56, auf Kiefern- und Fichtenhochwald je 48 Mill. cbm entfallen. Was endlich die Chausseebäume angeht, so ist ihr Wasserverbrauch, da sie im Freistaat zu einem sehr beträchtlichen Teil aus Obstbäumen sich zusammensetzen, größtenteils bereits oben in Rechnung gestellt worden ; mit Rücksicht darauf, daß auch Pappeln ziemlich häufig als Chaussee- bäume Verwendung finden, deren Wasserbedürfnis ein ungewöhnlich großer ist, mag die Verdun- stungsmenge der noch nicht in Betracht gezogenen Chausseebäume noch auf etwa i Mill. cbm veran- schlagt worden. Danach werden also durchschnittlich im Jahr im Freistaat Sachsen- Weimar durch Verdunstung beansprucht: 1200 Millionen Kubikmeter Wasser, nämlich von Gewässern S Mill., von Wegen, Ödland, Häusern und Höfen 10 Mill., von Vieh, Menschen und durch Gewerbe 10 Mill., von Acker- und Garten- land 740 Mill., von Wiesen und Weiden 220 Mill., von Obstbäumen 40 Mill., endlich durch Wald- und Chausseebäume, soweit letztere nicht Obstbäume sind, zusammen 185 Mill. Also bleiben von den 2230 Mill. cbm Niederschlag noch 590, nämlich 2230 — 440 — 1200 zur Ver- sickerung resp. Bildung von Grundwasser übrig, oder in Prozenten fließen 20 oberflächlich ab, 54 verdunsten und 26 versickern. In Mecklenburg- Schwerin versickern nach Geinitz bedeutend mehr, nämlich 36 "/q, hauptsächlich wohl deshalb, weil hier der oberflächliche Abfluß sehr un- bedeutend ist. Mit wieviel P'ehlern auch die durchgeführte Rechnung behaftet sein mag — ihre Zahl ist gewiß eine sehr große — , so scheint sie mir den- noch mehr als eine bloße Spielerei mit Zahlen zu sein. Sie gibt, wenn auch einen nur auf schwan- kenden Füßen stehenden, doch besseren Anhalt für die tatsächliche Verteilung der Niederschläge auf Abfluß, Verdunstung und Versickerung, als die sonst übliche, welche sich hauptsächlich auf Ver- allgemeinerung gewisser Resultate aus ganz spe- ziellen Beispielen ergibt und insofern besitzt sie m. E. doch eine gewisse Bedeutung namentlich auch für die Lösung des so schwierigen Problems der in einer bestimmten Bodengegend vorhandenen Grundwassermenge. Aus Gründen, die ich bereits oben entwickelt habe, kann man die Überzeugung aussprechen, daß sie auch im Freistaat Sachsen- Weimar erheblich größer ist, als aus der ange- führten Rechnung sich ergibt, wenn es auch aus allgemeinen geologischen Gründen sehr wahrschein- lich ist, daß sie in ihrer evtl. Mächtigkeit hinter besonders bevorzugten Gegenden, wie z. B. im Untergrund von Berlin und München und des Oberrheingebietes sehr erheblich zurückbleibt. Literatur. von Hoehnel, Aus dem forstlichea Versuchswesen Österreichs. Bd. II. Wien 1880. Derselbe, Zentralblatt für das gesamte Forstwesen. Bd. X. Wien 1884. 70Ö Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVni. Nr. 48 Derselbe, Wollny, Forschungen auf dem Gebiet der Agrikulturphysik. Bd. IV. München 1S81. Kröber, S., Landwirtschaft!. Jahrbücher. Bd. 24. 1895. S. 503 ff. Osterwalder,A., Landwirtschaftl. Jahrbuch der Schweiz. 1907. S. 2S7 ff. Schmitthenner, F., Bericht der Kgl. Lehranstalt für Wein-, Obst- und Gartenbau. 1907. S. 435 ff., 4';3, 457. Bechtle, A., Klima, Boden und Obstbau. Frankfurt a. O. 1908. S. 464. W a r m i n g , Lehrbuch der ökologischen Pflanzengeogra- phie. 2. Aufl. Berlin 191 1. Büsgen, M., Bau und Leben unserer Waldbäume. 2. Aufl. Jena 1917. Die ältere Literatur über den Wasserverbrauch der Pflan- zen findet sich bei Burgerstein, Die Transpiration der Pflanzen. Jena 1904. Das Ergebnis der langjährigen Untersuchungen, welche von Seelhorst in Göttingen über den Wasserverbrauch der Halm- und Hackfrüchte, sowie der Futterpflanzen angestellt hat, findet sich zusammengefalSt in seiner Arbeit ,,Die Bedeu- tung des Wassers im Leben der Kulturpflanzen" im Journal für Landwirtschaft, Bd. 59, 1911. [Nachdruck verboten.] Bild- und Stoffkuust. von Dr. Herrn. Lüer. Solange man die lebenswahren Darstellungen altsteinzeitlicher Menschen kennt, ist man bemüht ihre l<ünstlerische Eigenart gegenüber allen Kunst- gebilden jüngerer Zeiten zu deuten. An erster Stelle steht neben vielen anderen wohl die Frage, ob überhaupt geistige Beziehungen bestehen zwischen dem Schaffen der altsteinzeit- lichen und der jüngeren Menschheit, oder ob durch irgendwelche Ereignisse die ältere Kultur völlig hinweggeschwemmt wurde, und, ohne daß über- lieferter Geistesbesitz Erleichterung geboten hätte, die Grundlage zu einer neuen Kultur gefunden werden mußte. Die äußeren Gegensätze zwischen den ältesten Naturdarstellungen und der einfachen Linienkunst der Neusteinzeit sind denkbar groß und es fällt schwer in den jüngeren Arbeiten Leistungen einer fortgeschritteneren Kultur zu erblicken. Einen Lösungsversuch in diesem Sinne hat M. Verworn 1907 unternommen (Naturwissensch. Wochenschr., N. F. VI. Bd. d. ganz. R. XXIL Bd., Nr. 44). Verworn kommt zu dem Ergebnis, daß der Altsteinzeitmensch, weil ihm noch alles Theoreti- sieren und Spekulieren fremd war, im Nachbilden der Natur gar nicht anders konnte, als das fort- während beobachtete Vorbild, nur abhängig von einer größeren oder geringenen Handgeschicklich- keit, getreu — physioplastisch — wiederzugeben. Ein starkes in der Neusteinzeit einsetzendes Empor- wuchern des Vorstellungslebens führt nach Ver- worn erst die Menschen dazu, nicht das, was der sinnliche Eindruck von den Dingen direkt hinter- ließ, sondern was sie von den Dingen wußten und dachten — ideoplastisch — darzustellen. Verworns Deutung ist nicht überzeugend. Jedes menschliche Gestalten ist in erster Linie Geistesarbeit, ein Formen von Vorstellungen. Doch das möchte zunächst noch strittig sein. Verworn hat aber ebenso wie andere Gelehrte den bedeutsamsten Unterschied der Alt- und Neu- steinzeilkunst übersehen. Erst dessen Kenntnis ermöglicht die volle Aufklärung des scheinbaren Entwicklungssprunges im Geistesleben, der auch bei Verworn bestehen bleibt. H o e r n e s sagt von der Kunst des Eiszeitalters : „Sie schmückte nichts als höchstens ein paar arm- selige Jagdgeräte ... Sie war dazu völlig unge- eignet ; denn sie kannte keine Unterordnung unter ein tektonisches Gefüge, keine Beziehung, keinen Zusammenhang. Sie war freie Bildnerei im streng- sten und beschränktesten Sinne." Und weiter: „Es gehört zu den erstaunlichsten Tatsachen der Kunstgeschichte, daß jene so begabten und ge- schickten Schnitzkünstler, Zeichner, Maler nichts hervorbrachten als Einzelfiguren, im besten Falle Reihen solcher Figuren oder gar nur Teile von Tierfiguren, als Köpfe und Beine, oder end- lich mehr oder minder undeutliche Zeichen, die als Hütten, Schilde, Wurfwaffen gedeutet werden können. Wo sind die scheinbar so nahe liegen- den Jagdszenen, die einfachsten Darstellungen von Kämpfen zwischen Tieren und Menschen ? Sie fehlen gänzlich , und die Kunstsprache dieser Troglodyten gleicht einem Idiom, das ein paar Dutzend sonore Ausdrücke für lebenswichtige Be- griffe eines niederen Kulturgrades, aber nicht den geringsten Ansatz zur Syntax, kein Mittel zur Bil- dung des einfachsten Satzes enthält" (Urgeschichte S. 122 — 124). Nach weiteren Ausführungen sagt Hoernes: „Eine seltsame Unabhängigkeit be- wahrten diese Künstler auch darin, daß es ihnen nicht durchaus nötig schien, ihre im übrigen korrekt ausgeführten Tierfiguren an den Höhlenwänden so hinzustellen, wie wir es allein zulässig finden, nämlich mit abwärts gekehrten Beinen und auf- wärts gewendetem Rücken. Wir begreifen, daß sie den Einzelfiguren keinen Rahmen geben und auch keine Bodenlinie zeichneten, nicht aber, daß sie die Tiere, die allerdings zumeist auf einer idealen Horizontallinie stehen, gelegentlich auch anders stellten. In dem großen „Tiergewimmel" von Altamira entfernt sich die ideale Basislinie der Figuren von der Horizontalen oft um 45 bis 90 "... . Diese Willkür der Orientierung ver- stärkt noch den Eindruck, daß man nichts als einzelne, untereinander in keiner Beziehung stehende Figuren vor sich hat" (Urgeschichte S. 124—125). In dieser klaren, einwandfreien Kennzeichnung von Hoernes sind alle die großen Besonderheiten des altsteinzeitlichen Darstellens gegenüber dem Gestalten der ganzen Folgezeit so bestimmt her- vorgehoben, daß man sich wundert, weshalb die so naheliegende Schlußfolgerung fehlt, daß den N. F. XVIII. Nr. 48 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 701 Künstlern, d. h. der Menschheit bis zum Beginne der Neusteinzeit die Substanzvorstellung versagt war. Das Gefühl für das, was bereits für den Men- schen der Neusteinzeit ebenso wie für uns die Voraussetzung des Wirklichen ist, die Stofflichkeit, die Körperlichkeit, fehlte dem Menschen des älteren Kulturzeitalters noch. Ihm ist offenkundig nur das Äußere der Dinge, die Form, das Bild, die Voraussetzung der Wirklichkeit. Alle Formbeziehung, aller Formzusammenhang wird für uns tatsächlich nur dadurch hergestellt, daß wir unbewußt jeden Formteil, jede Linie stoff- lich empfinden. Eine nicht an Substanz gebundene Form gibt es für uns überhaupt nicht. Wir sagen von einer beliebigen Form sie liegt, sie steht, sie hängt, sie ist gebogen, geknickt; wir geben ihr jede Bezeichnung, die man körperlichen Dingen gibt und setzen regelmäßig etwas voraus, zu dem die Beziehung des Liegens, Hängens, Stehens möglich ist und nehmen etwas an, das biegbar, knickbar u. dgl. m. ist. Stofflich voll- kommen abstrakte Form steht nicht, liegt nicht, hängt nicht, läßt sich nicht biegen oder knicken. Nach unserem Empfinden ist etwas Nichtstoffliches keine Wirklichkeit, es besteht nicht und kann keinerlei Beziehungen annehmen. Dieses Bewußtsein ist für die Menschheit kein natürliches, ursprüngliches, es ist vielmehr auf langem Wege erarbeitet, erdacht, es ist geistiger Erwerb, es ist ein Erkenntnisschatz; es ist auch unzweifelhaft die Grundlage unseres Geschmackes, unseres ästhetischen Urteils. Weil dem Altsteinzeitmenschen dieser hohe Geistesbesitz noch fremd war, weil es für ihn noch nicht eine „Körperwelt" sondern erst eine „Bilder- welt" gab, deshalb stehen oder Hegen seine Kunst- schöpfungen nicht, deshalb konnte der Künstler jener Kulturstufe nicht Darstellungen zueinander in Beziehung setzen, deshalb ist für ihn auch eine Umrahmung seiner Gebilde sinnlos, deshalb konn- ten endlich auch keine Zierformen in unserem Sinne entstehen. Kunstgebilde der Altsteinzeit haben nicht, wie jegliche seit dem Beginn der Neusteinzeit geschaffenen Formen, struktive Be- deutung, sie sind ausschließlich Bilder von Dingen und haben nur deren gegenständlichen Wert. Alt- steinzeitliche „Formen" gibt es überhaupt nicht. Das Schönheitsempfinden des Eiszeitmenschen muß also, wenn man davon sprechen will, ein von dem unsrigen grundsätzlich abweichendes gewesen sein. Nur Menschen mit echtem eigenen struktiven Empfinden werden den hier kurz gekennzeichneten, gewiß fremdartigen Gegensatz zwischen altstein- zeitlichem und jüngerem künstlerischen Schaffen ganz zu erfassen vermögen. Für diejenigen, für die noch ein Zweifel be- steht, daß auf ein großes Bil dzeital ter als zweite größte Kulturepoche das Stoffzeitalter gefolgt ist, sei noch auf den entsprechenden, un- möglich zufälligen großen Wandel im technischen Bilden der Menschheit seit dem Beginne der Neu- steinzeit hingewiesen. Die technischen Leistungen, die die Mensch- heit in dem gewiß hunderttausende von Jahren umfassenden Zeiträume bis zum Ausgange der Altsteinzeit vollbracht hat, gehen doch über ein bescheidenes handwerkliches Maß nicht hinaus. Erst in dem letzten Abschnitte, in dem auch die glanzvollen künstlerischen Darstellungen entstanden sind, lernt man neben einem immerhin nur rohen Zurichten von Steingeräten auch Knochen, Hirsch- horn u. dgl. zu bearbeiten und bildsam zu formen, und man lernt endlich auch eine Anzahl von Farb- tönen herzustellen und mannigfaltig zu verwenden. Was die Menschen des Bildzeitalters technisch nicht zu leisten vermochten, tritt in voller Schärfe hervor, wenn man sich die im Stoffzeitaller in verhältnismäßig kurzer Zeitspanne dicht auf dicht folgenden unerhört großen technischen Errungen- schaften vergegenwärtigt. Neben einer höchsten Vervollkommnung der Steingerättechnik, entsteht insbesondere die Töpferei, das Spinnen und Weben. Man lernt Wohnbauten errichten, das Land bewirtschaften, Tiere zähmen. Man lernt Schiffe herstellen und Metalle gewinnen und verarbeiten. Und dieses in unendlichem Aus- maß sich bereichernde und verfeinernde technische Können wächst seit dem Beginne der Neustein- zeit fort und (ort bis in unsere Tage. Die Erkenntnis der Stoffeigenschaften, die erst anknüpfen konnte an eine völlig gereifte Erkennt- nis der Dinge dem Bilde nach, bildet die unerläß- liche und alleinige Grundlage technischer Leistungs- möglichkeiten im weitesten Sinne. Wenn es nun feststeht, daß der Mensch in einem überaus großen ersten Kulturzeitalter alle Dinge, die Wirklichkeit, ausschließlich dem Bilde nach geordnet, d. h. erkannt hat, und erst in einem davon abhängigen und darauf aufbauenden zweiten, sehr erheblich kürzeren Zeitalter die Dinge ihren stofflichen Eigenschaften nach geordnet, erkannt hat, dann muß notwendig angenommen werden, daß weitere, stets aneinander anknüpfende Kultur- zeitalter folgen, in denen jeweils das Erkenntnis- problem einer anderen wichtigsten Wesenseigen- schaft der Dinge neben Bild und Stoff, hinter denen sie jetzt gleichsam noch verborgen sind, die Menschheit im Denken verbinden wird. Naheliegend ist dann weiter die Annahme, daß der künstlerische Individualismus, der den Abschluß des Bildzeitalters kennzeichnet, einmal nicht be- liebig zu steigern ist, also einer vollkommen anders- artigen Kunstweise notwendig weichen muß, und weiter, daß dieser Individualismus am Ende jedes größten Zeitalters wiederkehren muß. Diese Periode der Wiederkehr kann aber für das Stoffzeitalter nur in den letzten hinter uns liegenden Jahrhunderten erblickt werden, und die höchste Steigerung des stofflichen Individualismus wird dann im Kunstschaffen des 19. Jahrhunderts erreicht sein. Wir ständen dann wieder an der Wende zweier größter Zeitalter, im Beginne des 702 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVffl. Nr. 48 dritten, noch nicht benennbaren, der Menschheits- kultur. Es ist ja nicht das künstlerische Gestalten dieser Zeit allein, das als individualistisch im höchsten Maße anzusprechen ist, allen Kultur- zweigen ist diese Eigenart gemeinsam und das Empfinden, das wir vor entscheidend Neuem stehen, beherrscht schon seit Jahrzehnten die denkenden Geister. Nur eine für den hier entwickelten Ge- dankengang besonders bedeutsame Äußerung eines bekannten Philosophen möge hier angeführt werden. J. Petzoldt sagt: „Wir können vor der Sub- stanzvorstellung nicht genug auf der Hut sein. Sie schleicht sich durch immer neue Hintertüren ein. Die Aufgabe ist nicht nur die grundsätzliche Erkenntnis, daß sie ein Irrtum ist, sondern die Durchdringung des gesamten theoretischen Denkens mit dieser Überzeugung. . . . Hat die Wissenschaft die Substanzvorstellung vollständig überwunden, dann ist eine mehrtausendjährige Periode des Denkens zum Abschluß gekommen." (Das Welt- problem, Teubner 191 2, S. 209). P e t z o 1 d s Worte erhalten im Zusammenhange mit den hier gegebenen Ausführungen einen be- deutsam erweiterten Sinn. Welche Folgerungen sich mit Notwendigkeit ergeben, wenn die hier in kurzen Zügen begrün- dete Annahme zutrifft, daß es nicht nur in be- stimmtem Sinne aufeinander folgende Kultur, d. h. Erkenntniszeitalter gibt, daß auch diese Zeitalter in sich einen bestimmten, gesetzmäßigen Verlauf nehmen, möge der Darlegung in einer weiteren Abhandlung vorbehalten bleiben. Einzelberichte. Zoologie. Freiwillige und unfreiwillige Insekten- wanderungen an der Nordsee. Anläßlich eines Massenvorkommens des Siebenpunktes (Cocci- iiclla scptenipiDictatä) hat Schmiedeknecht die Ansicht ausgesprochen, daß die große Zahl der Käfer durch den Sturm an den Nordseestrand geführt worden sei. Im Zusammenhange mit dieser Vermutung, über die auch an dieser Stelle be- richtet worden ist, seien auch die Ausführungen Philippsens (Kosmos 1919 S. 51 — 52), mitge- teilt, in denen er seine Erfahrungen während eines 18jährigen Aufenthaltes am äußersten Westufer der Nordseeinsel Föhr über Insektenwanderungen infolge Verschlagung durch Sturm Kenntnis gibt. Zuerst berichtet Philippsen über einige Be- obachtungen von Libellenschwärmen; es handelt sich dabei einmal um endlose Züge der vier fleckigen Wasserjungfern {Libellida quadrimaculatn), die im Sommer des Jahres 1888 auf der offenen Nordsee westlich von Pellworm bei mäßigem Nordostwind nach Südwesten zogen. Ein zweites Mal sah Ph ili ppsen im Jahre 1897 Schwärme der Libcllnla depressa, die bei Ostwind das Westufer von Föhr bedeckten. Nach kurzer Rast zogen die millionenstarken Scharen nach Westen weiter. Woher die Tiere kamen, konnte Philippsen nicht feststellen, vermutet aber vom Festlande, um so mehr, als jeder Ostwind einzelne Libellen vom Festland herübertrug, die erst bei Westwind wieder verschwanden. Als die großen Libellenschwärme die Insel bedeckten, sperrten die Bewohner sofort die Hühner und Enten ein, „weil sie die Erfahrung gemacht haben wollen, daß Hühner sowohl wie Enten nach dem Fressen der Libellen Eier ohne Schalen legen, ja sogar sterben". Natürlich beruht diese Ansicht auf einem Aber- glauben. Außer Libellen wird noch eine Reihe von Fluginsekten vom Festland über das Meer auf die Insel hinausgetrieben. So beobachtete Ph il ipp - sen besonders viele Schmetterlinge, darunter auch nicht unwichtige Schädlinge, wie den Toten- kopf, Kohlweißling u. a. An Käfern er- wähnt Philippsen ebenfalls den Siebenpunkt, der sich bei Ostwind in so großen Massen auf der Insel sammelte, daß die starren Halme von Dünengras sich unter ihrer lebenden Last bogen. „Bis 20 und mehr Käfer krabbelten auf einer Ähre." An Geradflüglern fand der Forscher die Wanderheuschrecke, die ebenfalls mit dem Winde auf Föhr Einlaß fand. Zum Schluß gibt Philippsen noch einen Überblick über die Jnsektenfauna, die mit dem Treibsei an die Insel verschlagen wurde. Oft in großer Menge werden mit dem Treibholz Käfer- oder Wanzenarten an die Insel getrieben. So be- deckten im Jahre 1895 die Leichen eines kleinen Blattkäfers eine 2 km lange Strecke, dabei einen Wall von 5 — 10 cm Höhe bildend. Auch der große Puppenräuber {Calosovia sycophanfa) kam zeitweise auf der Insel vor, immer dann, wenn Nadelholzstämme für Uferschutzbauten vom Fest- land eingeführt worden waren. Die Käfer ver- schwanden allerdings meist bald wieder von der Insel, da es auf P'öhr keine eigentlichen Wälder gibt. H. W. Frickhinger. Bei der Häufigkeit des großen Perlmutterfalters „Kaisermantel", Argynnis paphia, und dem Poly- morphismus seiner leicht vom Männchen zu unter- scheidenden Weibchen, indem nämlich neben der gelbbraunen Form seltener die immerhin jedem Schmetterlingssammler bekannte dunkelbräunlich- graue „Argynnis paphia var. ? valesina" vorkommt, während solcher Polymorphismus bei prachtvollen Exoten viel allgemeiner bekannt ist, dürften De- witz' Angaben über jene Varietät wissenswert sein.*) Aus etwa 12 bis 15 Valesina- Weibchen ') J. Dewitz, Über die Nachkommen von Argynnis paphia var. 9 valesina. Zool. Anzeiger, Bd. 43, 1914, S. 173 bis 177. N. F. XVin. Nr. 48 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 703 von Stralsund, deren Befruchtung in der Natur erfolgt war, wurden 59 Männchen und 52 Weib- chen gezüchtet, unter letzteren waren 26 gelb, 26 waren graue Valesina ; unter beiden weiblichen Formen waren auch sehr aufgehellte Stücke, wäh- rend die Männchen untereinander kaum Abwei- chungen zeigten. Nach Spormanns zwölfjähri- gen Beobachtungen in Pommern ist, wie Dewitz ferner mitteilt, Valesina dort häufiger geworden und kommt stellenweise, so bei Stralsund, den typischen Weibchen an Zahl gleich. Sie scheint sich in der näheren Umgebung von Stralsund zu einer festen Rasse auszubilden. Am Meer ist sie in den von der Küste entfernten Waldungen häu- figer, auf Rügen ist sie seltener oder fehlt ganz. Zeitlich erscheinen zuerst die Männchen, dann die typischen Weibchen mit vereinzelten Valesina, bis diese an Zahl immer mehr zunehmen. — Wenn ferner Dewitz hinzufügt, daß nach Ude bei Tegel unter 100 Argynnis paphia etwa 20 Vale- sina gefangen wurden, so entspricht dieses Zahlen- verhältnis allerdings dem des Zuchtversuchs; doch sei bemerkt, daß in der Natur außer den Valesina auch die typischen Weibchen zur Fortpflanzung kommen. Gewiß wäre die Varietät ein günstiger Gegenstand für Vererbungsversuche. ') V. Franz, Jena. ') Wahrscheinlich liegt dieselbe geschlechtsgebundene- Vererbungsweise vor wie bei der von var. 9 lacticolor vom Stachelbeerspanner, Abraxas grossulariata. Sei M = Anlage für c/" (2 M unterdrücken 2 W), W = Anlage iür V (2 W unterdrücken i M), m == Fehlen von I M, P = Anlage für Paphia-Färbung (dominant), v = Fehlen von P = Valesina-Färbung (rezessiv), wobei M oder m stets an P oder v gebunden, weil in dem gleichen Chromosom enthalten, zu schreiben: MP, M v, mv; dann ist i) MP MP W W = Paphia o^, 2) MP liTv W W = Paphia 9, 3) MvmvWW = Valesina 9- 3) mit l) befruchtet, mendeln folgendermaßen; Pat: MPMPVVW X Mv m^ WW Fili: MPnTvWW = Paphia 0^ (50%), M~P liT^' \V\V = Paphia 9 (so %) Fila: MPMPWW = Paphia o-^ (25 %)> MP liTv WW = Paphia 9 (25 »/„), MP M^ W W = Paphia 9 (25%), Mvm^WW = Valesina 9 (25 "/„). Wie bei Bückkreuzung der heterozygoten ,^ in Fil, mit den 9 in Pat. beim Stachelbeerspanner die aus der Natur nicht bekannten männlichen lacticolor auftraten, so wären auch männliche Valesina zu erwarten, wenn man kreuzt MP M^ W W X STv irri W W, denn diese müßten mendeln: MP M~v W W = Paphia er" (25 %), MP Mv W W = Paphia 9 (250/0), M^M^WVV = Valesina P.Friedrich, Grundwasseruntersuchungen. S. 704. A. Klautzsch, Zur Entstehungsgeschichte der Frischen Nehrung. (l Abb.) S. 704. J. Müller, Die diluviale Vergletscherung und Übertiefung im Lech- und liiergebiet. S. 706. E. Geinitz, Die Endmoränen Deutschlands. S. 708. Filehne, Der absolute Größeneindruck beim Sehen der irdischen Gegenstände und der Gestirne. S. 709. — Bücher- besprechungen: Wlassak, Lampa, Adler, Ernst Mach. S. 709. Max Verworn, Kausale und konditionale Weltanschauung. S. 710. — Anregungen und Antworten: Giftwirkungen bei „eßbaren Pilzen". S. 712. Wert der humanistischen Vorbildung. S. 712. Prof. J. G. Vogt y. S. 712. Mutationsfrage. S. 712. Manuskripte und Zuschriften werden an Prof Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidcnstraße 41, erbeten. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue Folffe 18. Band; der ganzen Reihe .34. Band. Sonntag, den 7. Dezember 1919. Nummer 49. Die Erweiterung unserer Sinne durch die Physik. [Nachdruck verboten.] Von Dr. Willy Kodweiß, Schon der Philosoph Spencer (i) hat den Satz ausgesprochen : „Jedes Beobachtungsinstrument ist nur eine künstliche Erweiterung der Sinne", und in der Tat dienen viele unserer physikalischen Apparate und deren Zusammenstellungen dazu, unsere Sinne zu verfeinern und deren Wahrneh- mungsbereich zu erweitern ; es gelingt uns dadurch nicht nur, unsere Umwelt zu erforschen und uns viele Vorteile im Kampf ums Dasein zu erringen, wir können uns dadurch auch eine Welt er- schließen, die unseren Sinnen für immer verborgen geblieben wäre. Ganz abgesehen davon, daß es eine Reihe von Naturerscheinungen, wie die magnetischen und elektrischen, gibt, für die uns ein direkter Sinn fehlt, sind unsere Sinnesorgane vielfach ungenügend, wenn sie auch für den täg- lichen Gebrauch vorzüglich eingerichtet sind. Ein- mal sind unsere Sinne für absolute Messungen unbrauchbar, andererseits sind sie meistens nicht scharf genug, um die hohen Anforderungen, die wir an sie stellen müssen, auch nur annähernd zu befriedigen. Dazu kommt, daß unsere Sinne mancherlei Täuschungen unterworfen sind; es sei nur daran erinnert, daß uns ein Lampenlicht hell erscheint, wenn wir aus einem dunklen Raum kommen, während es matt aussieht, wenn wir vorher im Sonnenschein waren. Es kommt eben ganz darauf an, in welchem Zustand sich unsere Sinnesorgane jeweils befinden. Durch geeigneten Bau der Apparate und durch genaue Kenntnis derselben müssen wir uns von diesen Täuschungen freimachen ; ganz gelingt dies jedoch nicht, da wir ja die Apparate immer wieder durch unsere Sinnesorgane beobachten müssen. Der Gedanke, der bei allen diesen Apparaten zugrunde liegt, ist der, daß wir uns mit Hilfe irgendeines Naturgesetzes einen Vorgang zum Bewußtsein bringen, den wir durch die unmittel- baren Sinneseindrücke nicht so vollkommen oder überhaupt nicht wahrnehmen könnten. So machen wir z. B. bei den Thermometern von der Tatsache Gebrauch, daß sich die Körper, seien es feste, flüssige oder gasförmige, bei der Erwärmung aus- dehnen und bei der Abkühlung zusammenziehen. Mit solchen Thermometern können wir die Tempe- ratur nicht nur messen, was uns ja mit dem Wärmesinn allein nicht möglich ist, diese Instru- mente sind unserem Wärmesinn auch an Empfind- lichkeit weit überlegen. Während wir unter günstigen Verhältnissen mit unserem Wärmegefühl noch einen Temperaturunterschied von höchstens Vs " C (2) feststellen können, gibt es Quecksilber- thermometer, die — in einem allerdings be- Heidenheim a. d. Brenz. schränkten, aber doch veränderlichen Meßgebiet — in Vioo " C (3) eingeteilt sind, so daß sich noch Vi 000 " C schätzen lassen. Noch empfindlicher kann man die Gasthermometer machen; so sind z. B. Differentialluftthermometer gebaut worden, die noch Temperaturschwankungen von '/o-, noo" C (4) anzeigen. Zu noch empfindlicheren Apparaten gelangen wir mit Hilfe des elektrischen Stromes. Löten wir nämlich an die beiden Enden eines Antimon- drahtes je einen Wismutdraht und verbinden wir die freien Enden der Wismutdrähte mit einem empfindlichen Galvanometer, so zeigt dasselbe einen elektrischen Strom an, sobald die beiden Lötstellen des „Thermoelements" verschiedene Temperatur haben, und zwar ist der so entstehende Thermostrom desto stärker, je größer der Tempe- raturunterschied der beiden Lötstellen ist. Sorgen wir nun dafür, daß die eine Lötstelle eine bekannte Temperatur hat, so können wir aus dem Thermo- strom auf die Temperatur der anderen Lötstelle schließen. Wir können so nicht nur sehr hohe und sehr tiefe Temperaturen messen, wir haben in dem Thermoelement auch ein sehr empfind- liches Instrument, dessen Empfindlichkeit dadurch vervielfacht werden kann, daß wir mehrere Thermo- elemente zu einer Thermosäule vereinigen. Eine solche Thermosäule eignet sich hauptsächlich zum Nachweis der Wärmestrahlung. Schon die An- näherung der Hand genügt, um einen deutlichen Galvanometerausschlag zu erhalten, wogegen ein vorgehaltenes Stück Eis einen entgegengesetzten Thermostrom hervorruft. Mit Hilfe dieser Thermo- ströme wurde nicht nur die Wärmestrahlung des Mondes (5) nachgewiesen, es konnte auch gezeigt werden, daß schon durch die Strahlung von Fix- sternen und Planeten eine Erwärmung der Löt- stelle verursacht wird; der Apparat, mit dem das letztere nachgewiesen wurde, war so empfindlich, daß er noch eine Temperaturerhöhung von Viofionooo " C (6) anzeigen würde. Falls die Luft nicht die Strahlung absorbieren würde, könnte man mit ihm noch die Strahlung einer Kerze in einem Abstand von über 8 km nachweisen und dabei muß man bedenken, daß seither Thermo- apparate konstruiert worden sind, die um ein Mehrfaches empfindlicher sind (7). Einen Strahlungsmeßapparat von ebenfalls außerordentlicher Empfindlichkeit haben wir in dem Bolometer. Bei demselben wird von der Tatsache Gebrauch gemacht, daß der elektrische Widerstand eines Drahtes zunimmt, wenn er er- wärmt wird ; bestrahlen wir also den Bolometer- 714 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVm. Nr. 49 draht, so erfährt der Strom, den wir durch den Draht hindurchschicken, eine Änderung, die wir mit einem empfindlichen Galvanometer messen können. Durch Konstruktion eines hochempfind- lichen Galvanometers konnte z. B. Paschen (8) mit einem ebenfalls selbstgebauten Bolometer eine Empfindlichkeit erreichen, die der Empfindlichkeit der Thermoapparate nicht nachsteht. Wie unser Gefühl für Temperaturunterschiede, so ist auch unser Drucksinn nur sehr mangelhaft ausgebildet. Zu einer auch nur annähernd ge- nauen Gewichtsbestimmung brauchen wir eine Wage, denn unsere Gewichtsabschätzung mit der Hand reicht nur bis 30 "/^ und läßt sich auch mit Hilfe -des Muskelgefühls durch Heben und Senken höchstens aut 10 '% (9) bringen. Unsere besten Präzisionswagen sind gegen Druckunterschiede 20millionenmal empfindlicher, denn sie zeigen bei einer beiderseitigen Belastung von i kg noch ein Übergewicht von ^j^ng mg (9) an; wären wir gegen Druckunterschiede ebenso empfindlich, so müßten wir wahrnehmen, wie ein auf der Hand liegendes Gewichtsstück von i kg leichter wird, wenn wir die Hand um nur 2 cm in die Höhe heben, da das Gewicht eines Körpers bei der Hebung um i m um rund 0,3 millionstel (10) seines Wertes abnimmt. Gehören schon diese Wagen zu den empfind- lichsten Instrumenten, die wir überhaupt besitzen, so werden sie an Empfindlichkeit noch weit über- troffen durch die Mikrowagen (11), die in letzter Zeit konstruiert worden sind und die dem Che- miker bei Mikroanalysen unschätzbare Dienste leisten. Meistens handelt es sich dabei um Hebel- wagen nach Art der feinen Analysenwagen, die nur durch Verkleinerung der Dimensionen emp- findlicher gemacht worden sind. Sehr oft sind aber auch andere Konstruktionsprinzipien ver- wendet worden. So besteht z. B. eine der ersten Mikrowagen, die gebaut worden sind, aus einem einseitig eingeklemmten Glasfaden, dessen Durch- biegung mit dem Mikroskop abgelesen werden kann. Die Wage zeigt noch eine Belastung des Glasfadens von Vi 000 "^g ^^ ^^'^ wurde von ihrem Erbauer Salvioni (12) unter anderem dazu be- nutzt, die Flüchtigkeit von Moschus nachzuweisen. Auf dem Archimedischen Prinzip beruht die Wage von Steel e und Grant (13), die noch Gewichts- unterschiede von 2 millionstel mg anzeigt und mit der das Molekulargewicht der Radiumemanation bestimmt werden konnte. Die empfindlichsten Mikrowagen sind gegenwärtig die von Riesen - feld (14), mit der sich Wägungen bis zu 0,03 millionstel g ausführen lassen und die Mikro- wage von Petterson (15), die bei einer Belas- tung von 20 mg noch etwa ein 4 millionstel mg zu messen gestattet. Da bei der letzteren Wage schon ein unsichtbares Stäubchen von ungefähr '/joo mm Durchmesser einen merklichen Aus- schlag verursachen würde, muß man solche emp- findliche Wagen in ein Vakuum einbauen. Einen allseitigen Druck können wir überhaupt nicht wahrnehmen, sonst wäre es den Menschen nicht bis zur Entdeckung Torricellis im Jahre 1643 verborgen geblieben, daß unser Körper einem Luttdruck von 10—15 t ausgesetzt ist; wir empfinden diesen Druck nicht, da die inneren Gewebe des Körpers mit Luft von demselben Druck gefüllt sind, so daß dem Druck von außen das Gleichgewicht gehalten wird. Mit dem Queck- silberbarometer können wir diesen Luftdruck nicht nur messen, wir können damit auch die Schwan- kungen desselben nachweisen; das Instrument ist aber verhältnismäßig roher Natur, ebenso wie die weitverbreiteten Aneroidbarometer, bei denen der Luftdruck eine luftverdünnte Metalldose mehr oder weniger stark zusammendrückt. Weit emp- findlicher gegen Luftdruckschwankungen ist die Top 1 ersehe Drucklibelle (16), die aus einem schwach geknickten Glasrohr besteht, in dem sich eine kleine Menge leichter Flüssigkeit, z. B. Xylol, befindet. Durch den geringsten Druckunterschied zwischen den beiden Enden des Glasrohres wird die Flüssigkeit verschoben. Mit einer solchen Drucklibelle können noch die Druckschwankungen wahrgenommen werden (17), die in einem Raum dadurch entstehen, daß in einem benachbarten Zimmer eine Person durch eine offene Tür schrei- tet, und es genügt ein rasches Öffnen und Schließen einer selbst bis zu 30 m entfernten Tür, um auch durch geschlossene Türen hindurch störend auf das Instrument einzuwirken. A. Töpler(i6) konnte bei seiner Drucklibelle mit Hilfe des Mikro- skops noch Druckunterschiede feststellen, die weniger als ein 2 millionstel des normalen Luft- drucks ausmachten; das Instrument müßte also die Druckveränderung anzeigen, die dadurch ent- steht, daß man um den Bruchteil eines Millimeters in die Höhe geht. Außer dem Luftdruck unterliegt unser Körper, wie alle Körper, noch einem weiteren Druck, der uns noch viel länger verborgen geblieben ist; es ist dies der von Maxwell i. J. 1873 vorausge- sagte Strahlungsdruck, der so klein ist, daß er erst i. J. 1901 von Lebedew (18) nachgewiesen werden konnte. Sobald nämlich eine P'iäche von Lichtstrahlen getroffen wird, üben dieselben auf die Fläche einen Druck aus, der allerdings nur sehr gering ist. Das intensive Sonnenlicht übt z. B. auf I cm''' einen Druck von etwa Va^noo mg aus, ein Druck, den Lebedew mit seinem sinn- reichen Apparat noch nachweisen und messen konnte. Zu den Apparaten, die unsere Sinneswahr- nehmung erweitern, gehören ferner die Seismo- graphen. Während wir nur verhältnismäßig starke Erdbeben direkt wahrnehmen, zeigen diese Ap- parate auch die geringste Erschütterung der Erd- rinde an, so daß selbst Erdbeben, die in Japan staltfinden, durch unsere Instrumente aufgezeichnet werden. In den meisten Fällen handelt es sich bei den seismometrischen Apparaten um eine Art Pendel, das durch die Erderschütterung in Schwingung versetzt wird und dessen Schwin- N. F. XVm. Nr. 49 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 715 gungen durch besondere Vorrichtungen in ver- größertem Maßstab registriert werden. Da da- durch die Bewegungen der Erdrinde viele tausend- mal vergrößert werden können, gelangen wir zu außerordentlich empfindlichen Apparaten. Um einen Begriff von der Empfindlichkeit eines sol- chen Seismographen zu bekommen, sei erwähnt, daß der bekannte Erdbebenforscher Wiechert (19) mit einem 2i00fach vergrößernden Instru- ment noch in einer Entfernung von 2,5 km die von einem Elektrizitätswerke herrührenden Er- schütterungen genau verfolgen konnte, so daß er z. B. feststellen konnte, wann die Mittagspause war und welche Maschinen liefen. Ferner be- obachtete Wiechert, daß ein 50 000 fach ver- größerndes Seismometer noch den Schritt eines Menschen in lOO m Entfernung anzeigte, während vorbeifahrende Wagen noch in einer Entfernung von mehreren lOOm registriert wurden. Für ein solches Instrument gibt es so gut wie keine Ruhe, selbst wenn wir es fern von jedem störenden Ein- fluß aufstellen, da die Erdrinde fast immer eine mehr oder weniger geringe seismische Bewegung zeigt. Durch die Untersuchungen Wiecherts wurden auch unsere Kenntnisse über das Erdinnere erweitert, denn die Sei>mometerkurven lassen dar- auf schließen, daß die Beschaffenheit der Erde nicht einheitlich ist, sondern daß die Erde aus einem festen metallischen Kern besieht, der von einem etwa 1500 km dicken Gesteinsmantel um- geben ist, eine Tatsache, die auch mit der ver- hältnismäßig hohen Dichte der Erde in Überein- stimmung ist. Zu den Bewegungen der Erdrinde, von denen wir ohne Apparate nichts erfahren würden, ge- hören auch die Gezeiten. Der Mond ruft näm- lich nicht nur beim Wasser, sondern auch beim festen Land Ebbe und Flut hervor, und zwar wurde von O. Hecker (20) mit einem seismometrischen Apparat, dem sog. Horizontalpendel, festgestellt, daß in den Tropen die Fluthöhe der Erdrinde mehr als 30 cm betragen kann, während sie z. B. in Berlin noch annähernd 25 cm ausmacht. An dieser Stelle seien ferner auch die Apparate erwähnt, mit denen man die Einflüsse der Ge- fühlsvorgänge auf die Atmung, auf die Herztätig- keit und auf die Blutverteilung nachweisen kann (21). Mit dem Plethysmographen, dem Volumschrei- ber, kann man z. B. die Änderung der einem Körperglied zuströmenden Blutmenge dadurch registrieren, daß man das betreffende Glied, etwa den Arm, in ein dichtes mit Wasser gefülltes Ge- fäß bringt. Sobald das Armvolumen infolge ge- steigerter Blutzufuhr zunimmt, steigt das Wasser in einer an dem Gefäß angebrachten Röhre, die mit einer Registriervorrichtung in Verbindung steht. Ein solcher Apparat zeigt deutlich, wie die Zustände von Lust und Unlust die Blutzirkulation beeinflussen; eine unangenehme Erinnerung, die man bei der Versuchsperson wachruft, ein vor- gehaltenes Stück Schokolade, die geistige An- strengung beim Lösen einer Rechenaufgabe zeigen ihren Einfluß auf den Blutkreislauf an der aufge- zeichneten Kurve. Die geringste innere Erregung tut sich auf diese Weise kund ; mag sich also ein Verbrecher äußerlich noch so sehr beherrschen, diese Apparate entlocken ihm sein Geheimnis, weshalb sie auch in die moderne Kriminalistik Eingang gefunden haben. Es sind auch sinnreiche Hebelapparate kon- struiert worden, die die unwillkürlichen Zitterbewe- gungen eines Fußes, einer Hand oder eines Fingers in Kurven aufzeichnen, mit deren Hilfe der Psy- chiater erkennt, ob er es mit einem Alkoholiker, Paralytiker oder Epileptiker zu tun hat (22). Merkwürdig liegen die Verhältnisse bei unserem Geruchsorgan, da dasselbe für jede Art von Ge- ruch wieder eine andere Empfindlichkeit zeigt; während wir mit den Leistungen unseres Geruch- sinnes meist weit hinter denjenigen vieler Tiere zurückstehen, sind wir doch gegen manche Ge- rüche erstaunlich empfindlich. Um den Geruch von Moschus zu erkennen, soll noch eine Menge von 0,00000001 millionstel mg (23) genügen, und für Merkaptan ist nachgewiesen worden, daß noch der 460. Teil eines millionstels mg (24) den cha- rakteristischen Geruch dieser Schwefelverbindung erzeugt. Wären wir für eine größere Anzahl von Stoffen ebenso empfindlich, so würden wir es schon mit den Leistungen einer Hundenase auf- nehmen können. Im allgemeinen müssen wir uns aber solch kleine Mengen eines Stoffes durch die verschieden- artigsten physikalischen und chemischen Methoden zum Bewußtsein bringen. Mit dem Arsenspiegel weist der Chemiker noch Vi 000 ^S Arsen nach und neuerdings hat Donau (25) gezeigt, daß noch I mg einer 0,00001 proz. Wismuilösung ge- nügt, um Kalzit zum Leuchten zu bringen. Die kleinste nachweisbare Wismutmenge beträgt also Viooooooo ^S uri*^ doch ist dies noch nicht die kleinste bis jetzt nachgewiesene Menge eines Schwermetalls, da sich mit Hilfe des Elektroskops noch 1 billionstel g Radium (26) bemerkbar macht. Noch kleinere Mengen kann man bei Fluroreszein nachweisen, da noch iO~'^ mg (27) dieses Stoffes eine wahrnehmbare Fluoreszenz hervorrufen. Hauptsächlich durch die Entdeckung der Spektralanalyse durch Kirch hoff und Bunsen ist uns ein Mittel an die Hand gegeben, auch die kleinsten Mengen eines Elements nachzuweisen. Verdampft man nämlich ein Metall in einer Flamme bzw. im elektrischen Lichtbogen, oder bringt man ein Gas in einer Geissle rschen Röhre zum Leuchten und zerlegt man das aus- gesandte Licht mit Hilfe des Spektroskops in seine Bestandteile, so treten in dem dadurch ent- stehenden Spektrum helle Linien auf, die für das betreffende Element charakteristisch sind. Da diese Spektrallinien schon durch die geringsten Spuren des Elements hervorgerufen werden, haben wir in der Spektralanalyse ein außerordentlich empfindliches Mittel zum Nachweis von geringen 7i6 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVin. Nr. 49 Mengen eines Elements. Es genügen z. B. bei An- wendung von Induktionsfunken noch Vioooo oon rng Strontium (28), um das charakteristische Strontium- spektrum zu erzeugen, und nach Emich sollen noch 7X10""'* mg Wasserstoff (28) mit Hilfe der Spektralanalyse nachweisbar sein. Bekannt ist auch die Anwendung der Spektralanalyse zum Nachweis von geringen Blutspuren. Eine ganz neue und noch empfindlichere Me- thode zur Auffindung kleiner Mengen verdanken wir J. J. Thomson (29), und zwar bedient er sich dabei der Kanalstrahlen, die bekanntlich in einer Crookesschen Röhre an einer mit Kanälen versehenen Kathode auftreten. Diese Kanalstrahlen bestehen aus positiv geladenen Teilchen, deren Art und Masse von der Natur der in der Röhre befindlichen Gasreste abhängen. Die Teilchen be- wegen sich mit großer Geschwindigkeit geradlinig vorwärts, sie können aber durch die Wirkung eines elektrischen und eines magnetischen Feldes aus ihrer Richtung abgelenkt werden und be- schreiben dann Parabeln. Das wichtigste an der Sache ist nun, daß jedes Element des Gasgemi- sches seine eigene Parabel hat, weil die Form der- selben von der Masse und der elektrischen Ladung der Teilchen abhängt. Da sich nun umgekehrt aus der Parabelform auch auf das betreffende Element schließen läßt, sind wir in der Lage, die Elemente anzugeben, deren Atome bzw. Moleküle an der Bildung der Kanalstrahlen beteiligt sind. Die Thomsonsche Methode hat sich als außer- ordentlich empfindlich herausgestellt, denn man erkennt damit noch Gasreste, die man mit Hilfe der Spektralanalyse nicht mehr nachweisen könnte. So konnte Thomson noch die äußerst geringe Spur Helium nachweisen, die sich in 1 cm^ Luft befindet und die ungefähr lO-*^ cm^ beträgt (30). Nicht immer handelt es sich um die Auffindung und den Nachweis sehr kleiner Mengen; der Kampf ums Dasein zwingt den Menschen unter Um- ständen auch, größere Mengen von schädlichen Stoffen und Gasen von sich fernzuhalten, vor denen ihn seine Sinne nicht warnen. Während uns die Nase z. B. vor dem gesundheitsschädlichen Leuchtgas watnt, ist dies nicht mehr der F"all, wenn wir in einen mit Kohlensäure gefüllten Keller hinabsteigen. Ein brennendes Kerzenlicht zeigt uns hier die Gefahr an, während es kompli- zierter Anordnungen bedarf, um den Bergmann rechtzeitig vor den schlagenden Wettern zu warnen. Diesem letzteren Zweck dient die Hab er sehe Schlagwetterpfeife (31); sie besteht aus 2 gleichen Pfeifen, von denen die eine mit gewöhnlicher Luft, die andere mit der Bergwerksluft angeblasen wird. Sobald nun letztere einen bestimmten Methange- halt besitzt, der dem Bergmann gefährlich werden könnte, ändert sich der Ton der betreffenden Pfeife und die beiden so gegeneinander ver- stimmten Pfeifen geben Schwebungen, die sich in der Nähe der Explosionsgrenze als charakteristi- sches Trillern anhören, wodurch der Bergmann auf Entfernungen bis zu 100 m vor der Gefahr gewarnt werden kann. Die Schlagwetterpfeife ist übrigens einer der wenigen Apparate, bei welchem das Ohr das beobachtende Sinnesorgan ist, wogegen wir sonst fast alle Apparate mit dem Auge be- obachten , und doch ist das Ohr zur Beobach- tung durchaus geeignet, denn es ist ein außer- ordentlich empfindliches Organ, dessen Empfind- lichkeit gegen Schall durch kein Instrument über- trofifen wird. Es genügt schon die geringe Ener- giemenge von etwa io~* Erg (32), um das Ohr zu reizen. Um sich eine Vorstellung von dieser kleinen Größe machen zu können, muß man be- denken, daß die Arbeit von i mkg für über 300 Millionen Jahre ausreichen würde, wenn man in jeder Sekunde 10^** Erg verbraucht. Eine Ver- schärfung unseres Ohrs durch Apparate ist also nicht zu erwarten, wohl aber können wir den das Ohr treffenden Schall durch Hörrohre , Mikro- phone, Stethoskope usw. verstärken, so daß wir z. B. die Herztöne und das Rauschen unterirdi- scher Wasseradern zu hören vermögen. Nicht vergessen dürfen wir hier das Telephon, denn es stellt ein glänzendes Beispiel dafür dar, in welch hohem Maß der Wahrnehmungsbereich unserer Sinne durch die Physik erweitert wird. Was man früher für unmöglich gehalten hätte, ist hier er- reicht: wir können mit Hilfe des elektrischen Stromes ein Gespräch auf eine Entfernung von mehreren 100 km übertragen, so daß es z. B. mög- lich ist, in Paris zu hören, was in dem 500 km weit entfernten London gesprochen wird. In Amerika hat man sogar noch bei 3000 km Ent- fernung eine gute Verständigung erzielt und das erst in jüngster Zeit konstruierte Elektronenrelais wird noch größere Erfolge zeiligen (33). Die UnvoUkommenheit des Ohrs liegt haupt- sächlich darin, daß es nur für einen bestimmten Tonbereich eingerichtet ist; was darüber hinaus- geht, müssen wir uns durch Apparate erschließen. Die Höhe eines Tones hängt bekanntlich von der Schwingungszahl des den Ton hervorbringenden Körpers ab; so führt z. B. die unterste a- Saite eines Klaviers ungefähr 27 Schwingungen in der Sekunde aus, während den übrigen 7 a- Saiten annähernd die Schwingungszahlen 54, 108, 217, 435. ^70. 1740 und 3480 zukommen. Mit dem untersten und dem obersten Ton des Klaviers sind aber die musikalischen Grenzen unseres Ohrs beinahe erreicht; tiefere Töne empfinden wir nur noch als Brummtöne und auch höhere Töne lösen keine sehr angenehmen Gefühle in uns aus. Unser Ohr ist jedoch nicht bloß in musikalischer Hin- sicht begrenzt; zu hohe und zu tiefe Töne können wir überhaupt nicht mehr wahrnehmen. Wenn wir am Klavier unten nur i und oben nur 3 Oktaven ansetzen, sind wir an der Hörbarkeitsgrenze des menschlichen Ohrs angelangt, wobei man aller- dings bedenken muß, daß die Hörbarkeitsgrenze für verschiedene Personen, namentlich was die hohen Töne anbelangt, verschieden ist. Auch N. F. XVin. Nr. 49 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 717 nimmt mit dem Alter die Empfänglichkeit für hohe Töne ab, so daß z. B. ältere Leute das Zirpen der Grillen, ja sogar das Gezwitscher der Sperlinge nicht mehr hören. Es ist leicht, durch Reiben dünner, kurzer Drähte Töne zu erzeugen, die wir nicht mehr hören, am besten eignen sich aber dazu die sog. Galtonpfeifen. Um diese hohen Töne nachzu- weisen, kann man sich u. a. der empfindlichen Leuchtgasflamme bedienen, die jedesmal zusam- menzuckt, wenn man einen solchen Ton hervor- bringt. Die höchsten Töne, die wir kennen, lassen sich mit Hilfe der Elektrizität erzeugen. Bekannt- lich besteht ein elektrischer P'unke aus sehr rasch aufeinanderfolgenden oszillatorischen Entladungen; diese verursachen offenbar eine periodische Er- wärmung der Funkenstrecke und geben so Ver- anlassung zu Schallwellen von derselben Periode. Durch besondere Vorkehrungen kann man die elektrischen Oszillationen so verlangsamen, daß die dadurch entstehenden Schallwellen noch hör- bare Töne geben ; im allgemeinen gibt es aber immer Töne, die jenseits der Hörbarkeitsgrenze liegen. W. A 1 1 b e r g (34) hat diese Töne näher unter- sucht, indem er die Länge der zugehörigen Schall- wellen bestimmte; der höchste Ton, den er fest- stellte, hatte die Schwingungszahl 340 000 und würde somit um etwa ö'/^ Oktaven höher liegen als der höchste Klavierton. Noch höhere Töne erhielt E. Dieckmann (35) mit Hilfe der elek- trischen Oszillationen im Po u 1 so n- Lichtbogen; er konnte noch Töne mit der Schwingungszahl 800000 messend verfolgen, die etwa um 8 Oktaven höher liegen als der höchste Klavierton. Damit ist aber wohl die Grenze erreicht, da die sehr kurzen Schallwellen noch höherer Töne außer- ordentlich leicht absorbiert werden, so daß die- selben schon in einem Abstand von wenigen Zentimetern von der Schallquelle nicht mehr wahr- nehmbar sind (36). Das Ohr ist nicht nur ein gegen Schallwellen außerordentlich empfindliches Organ, es besitzt auch die wunderbare Eigenschaft, aus einem Ton- gemisch, wie es etwa von einem Orchester her- rührt, die einzelnen Töne heraushören zu können. Ja ein geübtes musikalisches Ohr vermag sogar einen Klang zu analysieren, d. h. es hört aus einem Klang die verschiedenen Obertöne heraus. Besser ist es, wenn wir uns zu diesem Zweck der H e 1 m - holtzschen Resonatoren bedienen, denn damit kann auch der Ungeübte diese Obertöne wahr- nehmen. Es handelt sich dabei um kugelförmige oder zylindrische Hohlkörper, deren Luftsäulen auf einzelne Töne abgestimmt sind ; will man also feststellen, welche Töne in einem Klang enthalten sind, braucht man nur durchzuprobieren, welche Resonatoren mittönen. Auf diese Weise gelang es z. B. Helmholtz auch, die Vokale zu analysieren. Wie beim Ohr genügt auch zur Reizung des Auges die minimale Energiemenge von etwa io~* Erg (37). Das Auge ist noch imstande eine Lichtstärke von etwa iO~'' Meterkerzen (38) wahrzunehmen, so daß also bei vollkommener Dunkelheit eine brennende Kerze noch in einer Entfernung von i km gesehen werden müßte, wenn das Licht nicht durch die Luft absorbiert werden würde. Die photographische Platte ist nicht empfindlicher als das Auge; sie ist aber dem Auge insofern überlegen, als sie den Licht- eindruck festhält, wodurch wir imstande sind, uns Situationen, die schon längst vorüber sind, jeder- zeit wieder zu vergegenwärtigen. Und noch in einem anderen Punkt ist die photographische Platte dem Auge überlegen: sie vermag Lichtein- drücke zu sammeln, weshalb es möglich ist, bei genügend langer Beleuchtung lichtschwache Sterne zu photographieren, die wir selbst mit den besten Fernrohren nicht mehr sehen können. Sowohl die Lichtempfindlichkeit des Auges als auch diejenige der photographischen Platte wird übertroffen durch die Empfindlichkeit der Selen- zelle, die bekanntlich die Eigenschaft hat, daß sich ihr elektrischer Widerstand mit der Belich- tung ändert. Von den mannigfachen Anwendungen der Selenzelle (39) sei hier nur die Fernphoto- graphie erwähnt, da im Zusammenhang damit das Problem des Fernsehens aufgetaucht ist. Bei der Fernphotographie wird bekanntlich mit Hilfe der Selenzelle von einer entwickelten photographischen Platte an einem viele Kilometer entfernten Ort auf einer unbelichteten Platte eine getreue Kopie erzeugt. Denkt man sich nämlich beide Platten in lauter kleine Elemente, etwa in Quadratmilli- meter, eingeteilt, so kann man die Helligkeit der einander entsprechenden Elemente auf beiden Platten gleichmachen. Man braucht nur hinter irgendeinem Element der entwickelten Platte eine Selenzelle anzubringen, die durch einen Strom- kreis mit der anderen Station verbunden ist; je nach der Lichtdurchlässigkeit dieses Elements wird die Selenzelle mehr oder weniger Wider- stand haben und in der Leitung wird ein diesem Widerstand entsprechender Strom fließen. Man kann nun diesen Strom, dessen Stärke also von der Helligkeit des Elements abhängt, dazu ver- wenden, das entsprechende Element auf der anderen Platte so zu belichten, daß es nach vollzogener Entwicklung dieselbe Helligkeit aufweist wie das Element auf der ersten Platte. Da man so im Verlauf von etwa 10 Minuten der Reihe nach alle Elemente der einen Platte auf die entsprechenden Elemente der anderen Platte übertragen kann, ist es z. B. möglich, in Berlin ein Ereignis auf einer photographischen Platte zu fixieren, das sich einige Stunden vorher in München zugetragen hat, und damit ist bis zu einem gewissen Grad das In die- Ferne-Sehen verwirklicht. So einfach der Grundgedanke des Verfahrens ist, so kompliziert und sinnreich sind die Apparate, die nötig sind, um ein exaktes, fehlerfreies Über- tragen zu ermöglichen. Von einem richtigen Fern- sehen könnte man aber erst dann sprechen, wenn es gelingen würde, einen Gegenstand, z. B. einen 7i8 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 49 Kopf, auf der einen Station zu sehen, während sich derselbe vor dem Apparat der anderen Station befindet. Man hätte sich den Vorgang dabei etwa folgendermaßen zu denken. Durch ein Objektiv würde man von dem Gegenstand auf einer Matt- scheibe ein Bild entwerfen, und dieses Bild müßte man, wie oben auseinandergesetzt wurde, auf eine Mattscheibe der anderen Station übertragen, und zwar so, daß gleichzeitig alle Elemente auf einmal übertragen würden. Da dies jedoch prak- tisch unmöglich ist, wird sich der alte Traum des Fernsehens — wenigstens mit der Selenzelle — nie verwirklichen lassen. Der verdienstvolle Er- finder der Fernphotographie A. Korn sagt selbst: ,,Bei dem augenblicklichen Stand der Dinge wer- den immer Hunderte von Leitungen erforderlich sein und der Betrieb der Apparate würde — ganz abgesehen von den großen Kosten der Herstellung — derartige Ausgaben erfordern, daß der Betrieb nur dank der Kaprize eines Milliardärs aufrecht- erhalten werden könnte" (40). Die Selenzelle kann gegen Lichtschwankungen außerordentlich empfindlich gemacht werden, wes- halb sie auch in der Astronomie dazu verwendet wird, die Helligkeit der Sterne zu messen und die Helligkeitsschwankungen von veränderlichen Ster- nen zu registrieren. Noch empfindlicher gegen Licht als die Selen- zelle ist die „photoelektrische Zelle"; sie wurde von Elster und Geitel konstruiert und beruht auf der Tatsache, daß die Alkalimetalle Elektronen aussenden, sobald sie von Licht getroffen werden. Die Natriumzelle besteht aus einer luftleeren Glas- kugel, die zur Hälfte mit metallischem Natrium gefüllt ist. Sorgt man nun dafür, daß das Natrium immer ein negatives Potential hat, etwa dadurch, daß man es mit dem negativen Pol einer Batterie verbindet, und schmilzt man dem Natrium gegen- über einen Platindraht in die Glaskugel ein, so wandern, sobald die Zelle mit Licht bestrahlt wird, Elektronen vom Natrium zum Platindraht und geben so einen mit einem Elektrometer meß- baren Strom. Schon die geringste Bestrahlung gibt einen solchen „Photostrom". Elster und Geitel haben z. B. eine Natriumzelle in ein licht- dichtes Gehäuse gebracht und konnten durch einen Nadelstich im Gehäuse noch die Wirkung einer 9 m entfernten Kerze feststellen (41); ebenso wurde festgestellt, daß die Photozelle Lichtein- drücke nachzuweisen imstande ist, die das Auge überhaupt nicht mehr empfindet (42). In der Hand des Astronomen ist die photo- elektrische Zelle neuerdings zu einem außerordent- lich wichtigen Apparat geworden, mit dem sich viele Sterne als veränderlich erwiesen haben, die uns mit den früheren Hilfsmitteln als vollständig unveränderlich erschienen. Die Astrophoto- metrie (43) wurde dadurch zu einem der wich- tigsten Zweige der Astronomie, der noch reiche Früchte tragen wird. Wie das Ohr, so ist auch das Auge beschränkt, was den Umfang der Reize anbelangt. Dieselbe Rolle, die beim Ohr die Töne spielen, spielen beim Auge die Farben, und wie das Ohr nur für einen bestimmten Tonbereich abgestimmt ist, kann auch das Auge nur einen abgegrenzten Farbenbereich wahrnehmen. Bei den Tönen haben wir es bekanntlich mit nachweisbaren Wellenbewegungen zu tun, wir wissen aber nicht, in welcher Weise das Licht und die Farben auf unser Auge übertragen werden. Viele Tatsachen weisen nun darauf hin, daß auch das Licht ein wellenartiger Vorgang ist, als dessen Träger wir den hypothetischen, mit unseren Sinnen nicht wahr- nehmbaren Lichtäther ansehen. Jeder Wellenlänge entspricht dabei eine bestimmte Farbe, ganz ähn- lich wie beim Schall einer bestimmten Wellen- länge ein bestimmter Ton entspricht. Wenn das Auge von weißem Licht getroffen wird, befindet sich das Sehorgan in einer ähnlichen Lage wie das Ohr, das ein Orchester spielen hört. Während aber ein geübtes Ohr imstande ist, aus dem Orchester jeden einzelnen Ton herauszuhören, ist das Auge nicht fähig, die einzelnen Farben zu erkennen, aus denen bekanntlich das weiße Licht zusammengesetzt ist. Dem Auge geht die ana- lysierende Fähigkeit des Ohrs ab, so daß wir uns nach einem Hilfsmittel umsehen müssen, das diesen Mangel besehigt. Der einfachste Apparat, der das weiße Licht in seine farbigen Bestand- teile zerlegt, ist das Prisma; mit ihm erhalten wir ein Spektrum, in dem die Farben derart angeord- net sind, daß die dazugehörigen Atherwellen, beim Rot angefangen, immer kleiner werden bis zum Blau. Da die Wellenlänge des äußersten Rot mit ungefähr 00007 mm beinahe doppelt so groß ist wie die Wellenlänge des äußersten Blau mit etwa 0,0004 mm, so können wir von einer Oktave sprechen wie in der Akustik, wo die Schallwellen des Grundtons doppelt so lang sind wie die Schallwellen der Oktave. Nun wäre es aber sehr merkwürdig, wenn im Äther keine anderen Wellen möglich wären als gerade die Wellen der Farben des sichtbaren Spektrums und in der Tat existieren noch weitere Oktaven von Ätherwellen, die wir mit dem Auge nicht mehr wahrnehmen können. Zum Teil müssen wir solche Ätherwellen künstlich hervor- rufen, zum Teil kommen sie auch in der Natur vor, ja auch das Sonnenspektrum enthält Strahlen, die wir nicht mehr sehen. Die letztere Tatsache wurde schon i. J. 1800 von dem Astronomen Herschel entdeckt. Er führte ein berußtes, schmales Thermometer durch das Sonnenspektrum vom blauen bis zum roten Ende und fand, daß die Temperatur desto höher wurde, je mehr er sich dem roten Ende näherte; die Tempe- ratur nahm aber merkwürdigerweise noch mehr zu, als er das Thermometer über das rote Ende hinausführte, wo das Auge nichts mehr wahr- nimmt, denn hier befinden ^sich die unsichtbaren infraroten Strahlen, die man wegen ihrer Wärme- wirkung auch Wärmestrahlen heißt und die von jedem warmen Körper ausgehen. Außer durch N. F. XVIII. Nr. 49 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 719 ihre Wärmewirkung lassen sich diese infraroten Strahlen übrigens auch dadurch nachweisen, daß sie die Fluoreszenz eines vorher dem Licht aus- gesetzten Zinksulfidschirms vernichten. Aber auch über das blaue Ende hinaus lassen sich noch Strahlen im Spektrum verfolgen. Photo- graphiert man nämlich das Sonnenspektrum oder noch besser das mit einer Quarzlinse und einem Quarzprisma hergestellte Spektrum des elektrischen Lichtbogens, so findet man, daß die Schwärzung der Platte noch weit über das blaue Ende des Spektrums hinausreicht, und zwar rührt diese Schwärzung jenseits des sichtbaren Spektrums von den ultravioletten Strahlen her, die sich auch da- durch nachweisen lassen, daß sie eine Reihe von Stoffen, wie Zinksulfid, Chininsulfat usw. zur Fluoreszenz erregen. Es hat sich gezeigt, daß der Wellenbereich der unsichtbaren Strahlen weit größer ist als der des sichtbaren Lichts, denn während das Auge einen Umfang von Farbtönen empfindet, der akustisch gesprochen noch nicht ganz eine Oktave ausmacht, sind uns durch ge- eignete Wahl der Strahlungsquellen mit Hilfe der physikalischen Apparate insgesamt etwa 13 Ok- taven zugänglich gemacht worden; dabei fallen 3 Oktaven auf die ultravioletten Strahlen und 9 Oktaven auf die infraroten Strahlen (44). Wir können uns keine Vorstellung davon machen, welche Fülle von Eindrücken uns da- durch verloren geht, daß unser Auge in seiner Aufnahmefähigkeit für Atherwellen so sehr be- grenzt ist. Wäre unser Wahrnehmungsbereich für die Ätherwellen umfangreicher, so müßte uns die Umgebung in viel größerer Mannigfaltigkeit erscheinen und es wäre uns ein großer Teil der Arbeit erspart geblieben, die notwendig war, um uns die unserem Auge verborgene Welt zu er- schließen. Auch wenn unser Sehorgan nicht für die gewöhnlichen Lichtwellen, sondern für andere Atherwellen eingerichtet wäre, würde sicherlich die Umwelt ein ganz anderes Aussehen haben und unsere äußeren Verhältnisse würden dadurch eine beträchtliche Veränderung erfahren. Wären z. B. unsere Augen nur für die ultraroten Strahlen emp- fänglich, so könnten unsere Fensterscheiben aus dünnen Hartgummiplatten bestehen und unsere Fernrohre könnten Hartgummilinsen enthalten, da die ultraroten Strahlen durch eine dünne Schicht Hartgummi hindurchgehen (45). Hier erhebt sich auch die Frage, ob nicht manche Tiere imstande sind, Ätherwellen wahr- zunehmen, die für uns unsichtbar sind; es würden sich dadurch manche uns noch rätselhafte Er- scheinungen der Tierwelt erklären lassen. Vor- läufig ist aber in diesem Punkt Vorsicht geboten, denn wir haben bis jetzt noch keine einwand- freien Beweise dafür, daß ein Tier Ätherwellen als Licht wahrnimmt, die außerhalb des sichtbaren Spektrums liegen. Es ist zwar festgestellt worden, daß Ameisen durch ultraviolette Strahlen gereizt werden, denn wenn man auf ein künstlich an- gelegtes, flaches, mit einer Glasscheibe bedecktes Ameisennest ein Spektrum wirft, so tragen die Tierchen schleunigst ihre Puppen aus dem Ultra- violett ins Infrarot, da die Ameisen für ihre Brut die Dunkelheit aufsuchen. Es ist aber sehr wahr- scheinlich, daß das ultraviolette Licht die licht- brechenden Substanzen des Auges zu schwacher Fluoreszenz erregt, wie dies ja auch beim mensch- lichen Auge der Fall ist und daß dann diese Fluoreszenz als Lichtschein wahrgenommen wird. Aber auch wenn dies nicht der F"all wäre, wäre man nicht sicher, ob es sich um eine Lichtwirkung und nicht um eine Reizung anderer Art, z. B. chemischer Natur, handelt. Die längsten infraroten Ätherwellen, die bis jetzt nachgewiesen werden konnten, haben eine Länge von 0,3 mm (46); wir sind aber damit noch lange nicht bei den längsten Wellen an- gelangt. Die infraroten Wellen sind vielmehr nur durch ein ganz kleines noch unerforschtes Intervall von dem großen Gebiet der von Hertz ent- deckten elektrischen Wellen getrennt, die eine Länge von 2 mm (47) bis zu vielen Kilometern haben und so das eine Ende der „Oktavenskala" der Ätherwellen darstellen. Wir können nicht nur elektrische Wellen von beliebiger Länge erzeugen, wir haben auch eine ganze Reihe von Apparaten, wie z. B. den Fritter und die Detektoren, mit denen wir diese Wellen, die unseren Sinnen für immer verborgen bleiben müßten, wahrnehmen können. Auf diese Weise gelingt es, uns über große Strecken, ja über ganze Erdteile hinweg bis zu einer Entfernung von mehreren tausend Kilometern durch drahtlose Telegraphie zu verständigen, was früher auch die kühnste Phantasie nicht für mög- lich gehalten hätte. Wir sind z. B. jetzt imstande von Nauen aus nach dem 10 000 km entfernten Java Zeichen zu geben (48). Seitdem wir in der Lage sind, mit Hilfe des Poulsenschen Lichtbogens, mittels der Hoch- frequenzmaschine und neuerdings auch mit Hilfe der Elektronenröhre ungedämpfte elektrische Schwingungen zu erzeugen, ist es auch möglich drahtlos zu telephonieren ; man hat dabei in letzter Zeit Entfernungen von mehreren lOOO km (49) überbrückt, so daß die Zeit nicht mehr fern sein wird, in der man über den Ozean hinüber nach Amerika drahtlos telephonieren kann. Noch vor einem halben Jahrhundert würde man jeden für einen Phantasten gehalten haben, der an die Mög- lichkeit einer drahtlosen Verbindung zwischen solch weit entfernten Orten geglaubt hätte und doch hat man sich bei den Lichtsignalen im Prin- zip schon längst der drahtlosen Telegraphie be- dient; man verwendete eben hier Ätherwellen, die leicht zu erzeugen waren und für die das Auge empfänglich war. Ja auch die drahtlose Telephonie wurde zuerst mit gewöhnlichem Licht durchgeführt, wobei als Empfänger eine Selenzelle verwendet wurde (50). Die elektrischen Wellen finden übrigens auch sonst noch Verwendung; so gelingt es z. B. mit Hilfe derselben Gewilterregistrierapparate (51) zu 720 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVin. Nr. 49 bauen, die die atmosphärischen Entladungen in einem Umkreis von über loo km anzeigen und uns so weit über das hinausführen, was uns durch das Auge und Ohr zum Bewußtsein kommt. Ferner sei darauf hingewiesen, daß Löwy und Leimbach (52) eine Methode ausgearbeitet ha- ben, mit Hilfe der elektrischen Wellen das Erd- innere zu erforschen, um auf diese Weise Erzlager, Kohlenflöze und Grundwasserspiegel zu entdecken; das Verfahren scheint allerdings noch keine prak- tische Bedeutung erlangt zu haben. Lange Zeit schien es, als ob die ultravioletten Strahlen die kürzesten Ätherwellen seien, die wir kennen, bis i. J. 1912 durch Laue (53) und seine Mitarbeiter der Beweis erbracht wurde, daß wir es auch bei den Röntgenstrahlen mit einer wellen- artigen Ausbreitung im Äther zu tun haben. Durch wenige Entdeckungen wurde uns so deutlich ge- macht, in welch hohem Maß die Physik den Wahrnehmungsbereich unserer Sinne zu erweitern imstande ist, wie durch die Entdeckung der Röntgenstrahlen. Eine ganze Reihe von Stoffen, wie Holz, Tuch, Leder usw. sind dadurch für uns durchsichtig geworden, wie Glas und der alte Wunsch der Ärzte, ins Innere des menschlichen Körpers hineinsehen zu können, ist durch die epochemachende Entdeckung Röntgens wenig- stens zum Teil in Erfüllung gegangen. Wir wer- den wohl kaum darauf hinweisen müssen, daß die Röntgenstrahlen in gleicher Weise für den Chi- rurgen, wie für den Arzt, der eine Diagnose stellen muß, von außerordentlicher Wichtigkeit sind. Es gelingt damit nicht nur, die Lage von Fremd- körpern, wie Nadeln, Granatsplittern usw. festzu- stellen oder komplizierte Knochenbiüche genauer zu untersuchen, man sieht mit Hilfe der Röntgen- strahlen auch Nieren- und Blasensteine und kann das Herz, die Lunge und den Magen der Unter- suchung zugänglich machen. Auch in der Industrie wurde schon versucht, die Röntgenstrahlen zur Untersuchung auf Gußfehler zu verwenden. Durch die Untersuchungen von Laue und anderen Physikern ist es sogar möglich geworden, mit Hilfe der Röntgenstrahlen die innere Struktur der Kristalle und die Anordnung der Atome in denselben zu erforschen, eine Aufgabe, deren Lösung früher auch die lebhafteste Phantasie nicht für möglich gehalten hätte. Man erhält nämlich, wenn man die Röntgenstrahlen durch einen Kristall hindurchläßt, bestimmte Beugungsbilder, aus denen man auf die Anordnung der Atome im Kristalle schließen kann. Es wurde so nicht nur die Rich- tigkeit der schon i. J. 1850 von Bravais auf- gestellte Raumgittertheorie der Kristalle bestätigt, wir haben damit auch einen weiteren Anhalts- punkt für die atomistische Struktur der Materie. Wenn man übrigens die Röntgenstrahlen mit den Lichtstrahlen vergleicht, muß man bedenken, daß dies nur unter gewissen Einschränkungen statthaft ist, denn wenn es sich bei den Licht- strahlen um einen Zug zusammenhängender Wellen handelt, muß man den Röntgenstrahlen eine „aufgelöste, zerrissene Struktur" (54) beilegen, weshalb auch schon die Lichtstrahlen mit ruhigen, musikalischen Tönen und die Röntgenstrahlen mit abgerissenen, kurzen, schrillen Tönen verglichen wurden. Aber auch bei den Röntgenstrahlen können wir von einer Art Wellenlänge sprechen, wenn wir die sog. „Impulsbreite" als solche an- sehen und es hat sich gezeigt, daß dann die Röntgenstrahlen nur durch ein kleines noch un- erforschtes Intervall von den ultravioletten Strahlen getrennt sind. Während die kürzeste bis jetzt nachgewiesene ultraviolette Welle eine Länge von 0,06 /< (55) {i /x = Viooo irim) hat, kommt der längsten bei den Röntgenstrahlen auftretenden Welle eine Länge von 0075 [.i zu. Da die kürzeste Wellenlänge etwa 000002 /( (56) beträgt, so haben wir also durch die Röntgenstrahlen, wo- zu wir auch die wesensgleichen y-Strahlen des Radiums rechnen müssen, das Gebiet der Äther- wellen um weitere 12 Oktaven vergrößert. Wir müssen immer wieder staunen, wenn wir uns die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen im Äthermeer vergegenwärtigen, die wir uns mit unseren Apparaten erschlossen haben, denn das Gesamtgebiet der Ätherwellen umfaßt etwa 60 Oktaven und davon kommt uns durch das Auge nur eine einzige Oktave zum Bewußtsein (56). Nichts zeigt uns deutlicher wie mannigfaltig die uns umgebende Natur ist und wie wenig uns da- von durch unsere Sinne allein geoffenbart wird. Wenn wir einerseits die Naturvölker und manche Tiere um ihre Sehschärfe beneiden müssen, so haben wir andererseits im Fernrohr und im Mikroskop Apparate, über deren Leistungen jeder erstaunt ist, der zum erstenmal mit einem solchen Instrument in eine für ihn neue Welt blickt. Namentlich das Fernrohr ist eines der wichtig- sten Apparate, über die wir verfügen, denn seine Anwendung erstreckt sich auf fast alle Gebiete der Meßtechnik. Wenn wir mit dem Spektral- apparat ein Spektrum untersuchen, wenn wir die Länge und Breite eines Ortes oder die Zeit be- stimmen, wenn wir die Schwankungen der magneti- schen Kräfte der Erde messen wollen, überall brauchen wir das Fernrohr. Die Fernrohre, mit denen wir uns die Gegen- stände auf der Erde näher bringen, sind in der Regel binokular, wodurch es ermöglicht wird, unseren Gesichtssinn noch in einem weiteren Punkt zu verbessern. Wir können nämlich mit dem Fernrohr die Tiefenplastik der Bilder erhöhen. Dieselbe kommt ja bekanntlich dadurch zustande, daß die beiden Netzhauibilder ein wenig von- einander verschieden sind; wäre daher unser Augen- abstand und damit auch die Verschiedenheit der Netzhautbilder größer, so würde uns die Um- gebung plastischer erscheinen. In den binokularen, prismatischen Feldstechern wird nun tatsächlich der Augenabstand künstlich dadurch vergrößert, daß man den beiden Objektiven einen größeren Abstand gibt, als den beiden Okularen, die natur- gemäß immer Augenabstand haben müssen. Wäh- N. F. XVin. Nr. 49 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 721 rend man bei den Feldstechern den Objektiv- abstand in mäßigen Grenzen halten muß, wird derselbe in den Scheren- und Relieffernrohren auf das 4-, 6- und 10 fache des Augenabstandes ge- bracht, so daß die Bilder in wunderbarer Plastik erscheinen. Die einzelnen Gegenstände sind da- bei aus der Fläche herausgehoben und scheinen im Raum zu schweben, weshalb wir viel besser, als mit bloßem Auge sehen können, welche Gegen- stände uns näher liegen und welche weiter von uns entfernt sind. Sehr wichtig ist es, daß mit Hilfe der Relief- fernrohre die Konstruktion von Entfernungsmessern möglich geworden ist. Wäre z. B. in die mit dem Fernrohr betrachtete Landschaft von vorn nach hinten ein mehrere km langer Maßstab mit deutlich erkennbaren Maßzahlen hineingelegt, so könnten wir die Entfernung der Gegenstände, die in der Nähe des Maßstabes liegen, genau angeben. Dasselbe wird nun bei den Stereotelemetern da- durch erreicht, daß man einen Maßstab, gewisser- massen in die Landschaft hinausprojiziert. Man kann nämlich von einem Maßstab, wie dem oben erwähnten, eine stereoskopische Aufnahme mit einem Objektivabstand, der gleich demjenigen des Relieffernrohrs ist, machen und kann dann die beiden Stereoskopbilder in den beiden Rohren des Relieffernrohrs derart anbringen, daß der Maß- stab für den Beobachter frei im Raum zu schweben scheint. In Wirklichkeit verwendet man aller- dings immer eine berechnete Markenreihe, die derart beschaffen ist, daß sich die einzelnen Marken in den ihnen entsprechenden Entfernungen vom Fernrohr zu befinden scheinen. Will man also die Entfernung eines Gegenstandes messen, so braucht man nur festzustellen, zwischen welche Marken der Skala derselbe zu liegen kommt. Dieses Verfahren ist namentlich für Kriegsschiffe sehr wertvoll, da eine Entfernungsschätzung auf dem Meer noch schwerer ist, als auf dem Land und da es sich hier hauptsächlich darum handelt, die Geschütze möglichst rasch auf eine bestimmte Entfernung einzustellen. Es bedarf übrigens einer langen Übung, um die Instrumente handhaben zu können und es hat sich gezeigt, daß viele Men- schen wegen irgendeiner Augenanomalie nicht genügend stark und sicher tiefenplastisch sehen und deshalb auch nicht zur Entfernungsmessung mit dem Stereotelemeter zu brauchen sind. Man hat aus diesem Grund Telemeter konstruiert, bei denen man nur mit einem Auge beobachtet. Der Beobachter sieht von dem Gegenstand, dessen Entfernung er messen will, zwei nebeneinander liegende Bilder, von denen das eine durch das linke, das andere durch das rechte Objektiv des Apparates entsteht. Die beiden Bilder sind nun desto weiter voneinander entfernt, je näher der Gegenstand sich beim Beobachter befindet, so daß also der Bildabstand ein Maß für die Entfernung abgibt. Je größer der Objektivabstand ist, desto genauer läßt sich die Entfernung feststellen, wes- halb man bei feststehenden Telemetern auf Kriegs- schiffen oder in Festungswerken bis zu einem Ob- jektivabstand von 6 oder gar 10 m (57) gegangen ist. Hätten wir Relieffernrohre von genügend großem Objektivabstand zur Verfügung, so müßten wir natürlich auch den Himmelsraum plastisch sehen, d. h. wir müßten sehen, daß sich die Planeten mit ihren Monden vor den Fixsternen befinden und die Mondgebirge müßten plastisch erscheinen. Bei der ungeheuren Entfernung der Himmels- körper wäre aber ein Objektivabstand von vielen tausend km notwendig, weshalb man auf diesem Weg nicht zum Ziele gelangt. Das Ziel ist je- doch auf andere Weise erreichbar und zwar mit Hilfe des Stereoskops (58). Man macht z. B. von einem Planeten an 2 aufeinander folgenden Tagen je eine Aufnahme; da die Erde auf ihrer Bahn um die Sonne in i Sekunde einen Weg von etwa 30 km zurücklegt, würden also die beiden Aufnahmen einem Objektivabstand von über 2 Millionen km entsprechen. Betrachtet man nun die beiden Auf- nahmen mit einem Stereoskop, so tritt der Planet deutlich aus der Bildebene des Fixsternhimmels heraus und scheint im Raum zu schweben. In ähnlicher Weise können wir uns vom Mond stereoskopische Bilder verschaffen, und so die Mondgebirge plastisch sehen. Das Stereoskop stellt überhaupt ein äußerst wichtiges wissen- schaftliches Instrument dar, das in mannigfacher Weise das Wahrnehmungsvermögen unserer Augen erhöht. Man kann mit ihm sicher entscheiden, ob zwei gleich scheinende Zeichnungen, Photogra- phien usw. in allen Teilen miteinander überein- stimmen, denn beim Betrachten mit dem Stereo- skop verraten sich die kleinsten Abweichungen durch stereoskopisches Vortreten oder Zurück- treten der ungleichen Teile. Man kann so z. B. mit Leichtigkeit feststellen, ob ein Maßstab richtig ist, indem man ihn mit einem genauen Maßstab im Stereoskop betrachtet, auch läßt sich bei einem Wertpapier durch Vergleich mit einem echten Wertpapier feststellen, ob es echt ist oder nicht. Die höchste Vollendung erreichte die Anwen- dung des stereoskopischen Prinzips in dem von Pu 1fr ich konstruierten Stereokomparator (59). Ein Hauptbestandteil dieses äußerst sinnreichen Apparates ist die ,, wandernde Marke", die ähnlich wie die festen Marken beim Entfernungsmesser frei im Raum zu schweben scheint und die sich durch Schrauben in jeder beliebigen Richtung ver- schieben läßt. Betrachtet man nun etwa die stereo- skopische Aufnahme einer Landschaft mit dem Stereokomparator, so kann man die wandernde Marke " mit jedem Punkt der Landschaft zur Deckung bringen , wodurch man in der Lage ist, die Abstände, die die einzelnen Punkte des stereo- skopischen Bildes voneinander haben, zu messen. Macht man also z. B. vom Ballon aus eine stereo- skopische Aufnahme von einem Gebirge, so läßt sich ein plastisch richtiges Modell desselben kon- struieren und, um eine Karte herzustellen, braucht man nicht mehr, wie früher, Wochen und Monate lang in dem Gelände Vermessungen zu machen; 722 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVm. Nr. 49 es genügt jetzt eine stereoskopische Aufnahme, die man dann im Meßzimmer mit dem Stereokomparator ausmißt. Mit dem Stereo- Autographen von Orel (60) kann man sogar die einzelnen Punkte und die Höhenlinien automatisch auf die anzu- fertigende Karte übertragen, so daß eine Karte, zu deren Herstellung früher Wochen nötig waren, jetzt innerhalb weniger Stunden angefertigt wer- den kann. Der Stereokomparator, der wissenschaftlich und technisch gleich bedeutsam ist, ist auch für den Astronomen ein sehr wertvolles Instrument ge- worden. Es wurden mit ihm nicht nur neue Planeten und eine ganze Anzahl veränderlicher Fixsterne entdeckt, Pulfrich vermochte mit dem Apparat auch die Höhen der Mondkrater, ja sogar die Entfernung des Saturns von der Erde zu be- stimmen (61). Die größten Triumphe feiert das Fernrohr in der Astronomie, wo man natürlich darauf bedacht ist, eine möglichst starke Vergrößerung zu er- reichen. Es liegt jedoch in der Natur des Lichts, daß der Leistungsfähigkeit des Fernrohrs be- stimmte Grenzen gesetzt sind. Die größte bis jetzt durch ein Fernrohr erreichte nutzbare Ver- größerung ist ungefähr eine lOOO fache; mit einem solchen Fernrohr kann man auf dem Mond noch Gegenstände von 200 m Durchmesser wahrnehmen und man kann damit noch Sterne sehen, die nach Ansicht der jetzigen Astronomen noch einen Ab- stand von looooo Billionen km von der Erde haben (62). Da die stärkste nutzbare Vergröße- rung eines Fernrohres von dem Durchmesser des Objektivs abhängt und sich für die größten Fern- rohre ungefähr gleich der Anzahl der mm, die auf den Objektivdurchmesser gehen, ergeben hat (63) und da dieser Durchmesser bei diesen Fernrohren schon i m beträgt, wird man, selbst wenn es möglich wäre, den Durchmesser der Linsen auf 2 — 3 m zu steigern, höchstens eine 2 — 3000 fache Vergrößerung erreichen können. Wenn so der Leistungsfähigkeit der F"ernrohre schließlich Grenzen gesetzt sind, erfährt der Astro- nom von der Sternenwelt eine Fülle neuer Tat- sachen dadurch , daß er mit dem Spektroskop das Licht untersucht, das von dem Himmelskörper zu uns gelangt. Durch die Entdeckung der Spek- tralanalyse bekam die Astronomie einen ganz neuen Aufschwung, denn es konnten jetzt Fragen beantwortet werden , die zu stellen man früher nicht den Mut gehabt hätte. Wer hätte früher zu hofifen gewagt, daß es einmal möglich sein werde, festzustellen, welche Elemente sich auf der Sonne befinden und doch sind wir jetzt dazu in der Lage, da wir wissen, daß jedes Element ein charakteristisches Linien- spektrum besitzt. Finden sich also die Spektral- linien irgendeines irdischen Elements in dem Spektrum eines Sternes, so dürfen wir annehmen, daß das betreffende Element auf dem Himmels- körper vorkommt. Was die Methode leistet, zeigt z. B. die Ent- deckung des Heliums. Im Jahre 1868 wurde im Sonnenspektrum eine Spektrallinie entdeckt, die zu keinem der damals bekannten irdischen Ele- mente gehörte, weshalb man die Vermutung aus- sprach, daß man es jedenfalls mit einem Sonnen- element zu tun habe, das auf der Erde noch nicht entdeckt sei, oder dort überhaupt nicht vorkomme. Dieses Element, dem man den Namen Helium gab, wurde dann tatsächlich 27 Jahre später von R a m s a y auch auf der Erde entdeckt. Der Astro- nom kennt übrigens auch noch andere auf der Erde unbekannte Elemente, wie das Nebulium in den Nebelflecken. Es sei hier übrigens noch auf ein merk- würdiges Verfahren hingewiesen, das nament- lich vonMiethe und Wood ausgearbeit worden ist, um über die Gesteinsarten des Mondes Auf- schluß zu erhalten, wobei naturgemäß die spek- tralanalytische Methode versagen muß. Der Ge- danke, der dem Verfahren zugrunde liegt, ist der, daß zwei von ein und derselben Stelle aus gemachte photographische Aufnahmen, von denen die eine bei gewöhnlichem Licht, die andere mit ultravio- lettem Licht gemacht worden ist, in der Regel sehr verschieden voneinander ausfallen, was davon herrührt, daß das Reflexionsvermögen der Körper namentlich im ultravioletten Teil des Spektrums sehr große Unterschiede aufweist. Bestrahlen wir z. B. Zinkoxyd und Bleikarbonat (64), die in ge- wöhnlichem Licht beide weiß aussehen, in einem dunklen Raum mit ultraviolettem Licht und pho- tographieren wir nun beide Körper, so erscheint auf der Kopie das Bleikarbonat rein weiß, während das Zinkoxyd fast schwarz aussieht, da es den größten Teil der ultravioletten Strahlen absorbiert. Auf diese Weise ist schon verschiedenfach ver- sucht worden, schwer nachweisbaren Fälschungen auf die Spur zu kommen. Es kommt z. B. vor, daß in Schriftstücken durch chemische Mittel ein Teil der Schrift in so geschickter Weise entfernt worden ist, daß man die Fälschung nicht ohne weiteres nachweisen kann. Wood (65) hat nun gezeigt, daß diese chemisch behandelten Stellen im ultravioletten Licht anders aussehen, als der übrige Teil des Schriftstücks. Ebenso hat man schon mit Hilfe der Photographie im ultravioletten Licht nachträgliche Ergänzungen an Statuen fest- gestellt, die man mit bloßem Auge nicht wahr- nehmen konnte (66). Wood und Mi et he haben nun von dem Mond Aufnahmen im ultravioletten Licht, das ja auch im Sonnenlicht enthalten ist, gemacht, indem sie Filter verwendeten, die alles übrige Licht absorbierten und zwar hat sich dabei gezeigt, daß bestimmte Stellen, die bei gewöhn- licher Beobachtung genau wie ihre Umgebung aussehen, sich nun deutlich von derselben unter- schieden. So stellte Wood (67) in der Nähe von Aristarchus einen großen dunklen Fleck fest, der darauf hindeutet, daß es 'sich hier um eine Gesteinsart handelt, die sich von derjenigen der Umgebung unterscheidet. Man ging sogar soweit, N. F. XVm. Nr. 49 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 723 im Laboratorium mit irdischen Gesteinen Kontroll- versuche zu machen, um gewisse Rückschlüsse auf die Gesteinsarten des Mondes machen zu können, wobei man aber wohl nie weiter als zu bloßen Vermutungen gelangen kann. Die ultravioletten Strahlen werden außerdem auch beim Fluoreszenzmikroskop dazu verwendet, unsere Gesichtswahrnehmung so zu erweitern, daß wir Dinge voneinander unterscheiden können, die bei gewöhnlichem Licht volKtändig gleichartig erscheinen. Der Apparat beruht auf der Eigen- schaft der ultravioletten Strahlen, viele unorgani- sche und organische Stoffe, Bakterien, tierische Gewebe usw. zur Fluoreszenz zu erregen und ge- stattet, um nur ein Beispiel zu erwähnen, auch die geringste Menge Mutterkorn leicht von Mehl zu unterscheiden, da das erstere gelb, das letztere blau fluoresziert (68). Mit der Spektralanalyse können wir übrigens noch eine Reihe weiterer Fragen beantworten, deren Lösung man früher für unmöglich gehalten hätte. Man kann z. B. aus dem Spektrum er- kennen, ob man es mit einem kosmischen Nebel oder nur mit einem Sternhaufen zu tun hat, der so weit weg ist, daß ihn unsere Fernrohre nicht mehr in einzelne Sterne aufzulösen vermögen. (Schluß folgt.) Bticherbesprechimgen. Schallmayer, W., Vererbung und Auslese; Grundriß der Gesellschaftsbiologie und der Lehre vom Rassedienst. Jena 191 8, G. Fischer. 15 M., geb. 19 M. Von dem wohlbekannten Schallmayer- schen Buche ist nunmehr die 3. Auflage erschie- nen, in mancher Hinsicht stark verändert, so be- sonders zum Vorteil gleich in der Disposition. Das Buch wurde vor Kriegsschluß beendet, trägt aber den Kriegsgeschehnissen schon in weitgehen- dem Maße Rechnung. Es verdient ohne Zweifel zur gegebenen Zeit besonderer Beachtung. Denn heute, wo man in Deutscnland daran gehen muß, vieles von unten aus neu aufzubauen, da ist es auch an der Zeit, die biologischen Grundlagen von Rasse und Gesellschaft einer besonders ein- gehenden Würdigung zu unterziehen. In einer Zeit, wo man mit Marx und Engels die wirt- schaftliche Produktion und deren Wandlungen als die treibenden Kräfte der kulturellen, sozialen und intersozialen Entwicklung als den eigentlichen Inhalt der Menschheitsgeschichte erklärt (Schall- mayer), da gilt es besonders auch, die inneren Güter des Menschen, seine Erbanlagen und ihre Entwicklungsbedeutung eingehend zu studieren. Die biologischen Grundlagen von Rasse und Ge- sellschaft aufzudecken, das ist die eigentliche Auf- gabe des vorliegenden Buches. Und wenn auch nach der ganzen Natur des verarbeiteten Stoffes Leser und Verfasser nicht selten Meinungsver- schiedenheiten haben werden, so wäre doch zu wünschen , daß das Buch recht vielen von den auf dem Titelblatt genannten Berufsvertretern, wie Rassenhygienikern, Bevölkerungspolitikern,'; Ärzten , Anthropologen , Soziologen , Erziehern, | Kriminalisten, höheren Verwaltungsbeamten, aber,?' auch politisch Interessierten aller Stände in diej; Hände käme. Viele werden davon einen dauern- v den Gewinn und reiche Anregung zum Nachdenken f davontragen. jB Verf charakterisiert zunächst in der Einleitung • die Lehre vom Rassedienst und bespricht ihreA Geschichte. Gleich hier wird diese Lehre auf den Boden der modernen Vererbungslehre gestellt. Es heißt: „Demnach ist uns Rassenhygiene die Hygiene der Erbverfassung (Genotypus), während Personenhygiene die Hygiene des wirklichen Le- bens (Phänotypus) ist." Der I. Hauptteil behandelt die wissenschaft- lichen Grundlagen des Rassedienstes. Hier wer- den zunächst die Entwicklungslehre und weiter Vererbung und Variabilität besprochen. Die Ab- schnitte haben sich gegenüber der zweiten Auf- lage sehr verändert. Besonders zu begrüßen er- scheint Ref. die für die ganze Aufgabe im weite- sten Umfange wichtige, scharfe Trennung zwischen Phänotypus und Genotypus, welche als sehr ge- lungen bezeichnet werden kann und für die meisten nicht auf biologischen Grundlagen Stehen- den recht wichtig sein dürfte. Zytologische Grundlagen der Vererbung und Mendelforschung werden in zwei besonderen Abschnitten behandelt. Die Vererbung erworbener, also durch die Umwelt- einflüsse und durch Übung usw. verursachten per- sönlichen Eigenschaften wird in Übereinstimmung mit der modernen Vererbungslehre durchaus be- stritten, während die Vererbung von Abänderungen des Keimplasmas, die infolge äußerer Faktoren zustande gekommen ist, für möglich gehalten wird (Schmetterlinge, Leptinotarsa usw.). Mutationen werden nur als seltene, artverändernde Vorgänge aufgefaßt, die Variabilität wird nahezu ausschließ- lich durch Umkombination der Gene bei den Reduktionsteilungen erklärt. Selektion dieser Varianten führt dann zur Entwicklung. Man sieht, die Sätze unserer modernen, auf der Mendel- forschung aufgebauten Vererbungslehre werden durchaus vertreten. Dabei ist allerdings kaum zu bezweifeln, daß zweierlei in der gegebenen Darstellung noch kaum genügend berück- sichtigt ist. Das ist einmal die Dissonanz, welche immer schärfer zwischen Entwicklungs- lehre und Vererbungslehre hervortritt. Die Ver- erbungslehre im heutigen Sinne rechnet mit stets 724 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVni. Nr. 49 vorhandenen , immer gleichbleibenden , sich nur umgruppierenden, aber nicht gegenseitig stofflich verändernden Erbanlagen oder Erbfaktoren, über deren Herkunft und Entstehung sie nichts auszu- sagen weiß; der Entwicklungslehre aber liegt der Gedanke sich verändernder Erbfaktoren zugrunde. Einer nach den Gesetzen unserer modernen Ver- erbungslehre zustande kommenden Entwicklung kann also letzten Endes nur eine differenzierende Wirkung zugesprochen werden, die im Hinblick aufs Ganze keine Förderung zustande bringt. In der Biologie wird diese Dissonanz von verschie- denen Seiten heute so stark empfunden, daß Heribert-Nilsson, einer unserer tüchtigsten modernen Vererbungsforscher, beispielsweise zu folgender Äußerung geführt wird: „Da man nicht die induktiven Resultate der Mendelforschung (also der Vererbungslehre! verneinen kann, scheint es mir, als ob wir zu dem Punkte der Theorie der Artbildung gekommen wären, wo wir ernst- lich überlegen müssen, ob nicht die einzige kon- sequente Lösung des Widerspruchs ist , daß wir die deduktive Evolutionstheorie aufgeben." — Weiterhin verdient in Zukunft eine eingehendere Würdigung die in der Vererbungslehre immer stärker hervortretende Erfahrung, daß die Gene auf Kosten einer freien Umkombinierbarkeit gegen- seitig in hohem Maße gebunden sein können, eine Erfahrung, welche ebenfalls von nicht ge- ringen Folgen für die Rassenbiologie sein dürfte. Der folgende Abschnitt behandelt die mensch- lichen Erbanlagen, ein Kapitel, welches wohl auf besonders weitgehendes Interesse stößt. Wir müssen uns in diesem Abschnitt aber immer klar sein, daß nicht alles, was hier unter menschlichen Erbanlagen aufgeführt wird, auf einzelne oder gruppenweis vereinigte Erbanlagen im Sinne unserer Vererbungslehre zurückführbar sein dürfte, eine Überlegung, die sicher ebenfalls wieder für die folgenden praktischen Auseinandersetzungen nicht ohne Bedeutung ist. Besonders beherzigens- wert ist der Schlußsatz dieses Abschnittes: „Es ist bisher kümmerlich wenig, was wir vom mensch- lichen Erbinventar kennen, und von dem wenigen konnten hier nur einige Proben gegeben wer- den Der künftigen Forschung bietet sich hier noch unendlich viel unbekaimtes Land, dessen Erschließung uns mehr interessieren dürfte als die des Nordpols. Kann uns doch nichts der Er- gründung unseres eigenen Wesens näher bringen als das Studium der menschlichen Erbanlagen." In eingehendster Weise (S. 131 — 256) wird sodann die Frage erörtert: Warum jetzt Rasse- dienst nötig ist. Es wird hier der nach Verf. hauptsächlich ungünstigen Beeinflussungen der Lebensauslese und der Fruchtbarkeitsauslese durch die Kultur gedacht. Behandelt wird dabei die Beeinflussung der Lebensauslese durch die Rechts- verhältnisse, die wirtschaftlichen Verhältnisse und Besitzunterschiede, die kulturellen Wandlungen in der Ernährungsweise, durch Heilwesen und Hy- giene, durch die überdurchschnittliche Sterblich- keit der städtischen Bevölkerung, durch Kriege; die Beeinflussung der Fruchtbarkeitsauslese durch Ehelosigkeit, Heiratsalter, unfreiwillige Verminde- derung oder Aufhebung der Geburtenzahl und absichtliche Kleinhaltung der Geburtenzahl. Alle diese Faktoren wirken nach Verf. dahin zusammen, daß die aus den unteren Schichten emporgestiege- nen sozial wertvollen Elemente weniger zur Fort- pflanzung gelangen als die weniger wertvollen, wodurch eine Rassenverschlechterung notwendig folgen muß. Die Beschränkung der Nachkommen- quantität wie -qualität wird stets als besonders gefährlich für die Fortentwicklung der Rasse- tüchtigkeit bezeichnet. Nur gering sind nach Verf gegenüber den schädigenden die begünsti- genden Beeinflussungen des Rasseprozesses durch die Kultur. Der nächste Abschnitt behandelt den allge- meinen Niedergang und das Aussterben bzw. die Entartung von Kulturvölkern, deren Ursachen ganz allgemein in den weiter oben besprochenen Kultureinflüssen gesucht werden. Diesen Einflüssen hat sich nach Verf. bisher allein die älteste noch lebende Kulturnation, die chinesische, entzogen. Diese hat durch ihre Betonung des Ahnenkultus und die Hochhaltung des Familienlebens dauernd eine reiche Kinderzahl hervorgebracht, wodurch sie in die Lage versetzt worden sein soll, als Nation durch die Jahrtausende zu bestehen und infolge der damit in Verbindung stehenden scharfen Selektion nicht zu entarten. Aus den dargelegten Anschauungen ergibt sich sodann des Verf.s Auf- fassung über Endziel und Wertmaß aller staat- lichen Politik. Nicht das größtmögliche Glück aller Einzel- individuen wird als Endziel der staatlichen Politik hingestellt, sondern: „Die Sicherung der staat- lichen Existenz muß der Richtpunkt für die Steue- rung des Staates sein" oder (S. 323): „Alle Maß- nahmen und Unternehmungen der inneren und äußeren Politik müssen dem Ziel dienen, die Lebensfähigkeit der Nation auf die Dauer zu sichern." Im zweiten Hauptteil werden nun Ziele und Wege des Rassedienstes eingehend dargelegt. Zunächst wird die Volksmehrungspolitik erörtert. Der drohende Rückgang der Nachwuchszahl wird erwiesen, und die Maßnahmen, welche diesem mit und ohne Berücksichtigung der Rassentüchtigkeit begegnen sollen, erörtert. Verschiedene Wege der Volkseugenik werden behandelt. Von beson- derer Bedeutung erscheint die auslesende Beein- flussung der Fortpflanzungs- und Fruchtbarkeits- verhältnisse. Zur Erreichung dieses Zieles werden verschiedene Wege vorgeschlagen, so die Anlage erbbiographischer Personalbogen, rassenhygienische Eheverbote bzw. Sterilisierung und Zwangsasylie- rung, Reform von Sexualordnung, Erziehungs- und Schulwesen, Auszeichnung bei höherer Kinder- zahl usw. Weiter werden als bedeutsam genannt die rassenhygienische Beeinflussung der Gatten- wahl, Verhütung von Keimvergiftungen, Fort- N. F. XVIII. Nr. 49 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 725 pflanzungshygiene ohne Beziehung auf die Erbver- fassung. Schließlich wird einer Staatenvereinigung zur Verhütung von Kriegen im rassenhygienischen Interesse das Wort geredet. Besondere Bedeutung bei den meisten dieser Fragen kommt natürlich der Fixierung des Züch- tungszieles zu. Verf will auf Kombination guter Erbanlagen züchten und faßt als gute Erbanlagen im allgemeinen sozial wertvolle Anlagen der ver- schiedensten Art auf. Da erhebt sich aber die besonders wichtige Frage, ob wohl sozial wert- volle Anlagen auch immer generativ günstige sind, d. h. also den Genotypus fördernde und ob mit dieser Auswahl der Verbesserung des Geno- typus stets gedient ist. Dies wird anscheinend vom Verf. als mehr oder weniger selbstverständ- lich zutreffend angenommen, erscheint aber Ref. als eine der wichtigsten, noch gänzlich unge- klärten Fragen der Volkseugenik, mit deren posi- tiver oder negativer Beantwortung allerdings die von Schallmayer vorgetragene Lehre zu einem großen Teile stehen oder fallen müßte. Lehmann. Dürken, B. , Einführung in die Experi- mentalzoologie. 8'\ 446 S. 224 Text- abbildungen. Berlin 1919, Julius Springer. Geh. 30,80 M. Die Zahl der Lehrbücher der experimentellen Zoologie mehrt sich noch ständig. Von D ü r - kens „Einführung" läßt sich nur Gutes, vielleicht das Beste sagen. Der Stoff umfaßt in zwei Haupt- teilen etwa die Entwicklungs- und die Vererbungsmechanik oder, um es mit den Worten des Verfassers zu sagen: A. Versuche über Individualentwicklung. Die Faktoren der Embryonalentwicklung. Das Idioplasma im iso- liert betrachteten Individuum. B. Das Idioplasma im Zusammenhange der Generationen. Was man im engeren Sinne unter Physiologie und Allge- meiner Physiologie zu verstehen pflegt, wird also nicht behandelt; wie der Verfasser sagt: er wollte, „abgesehen von der Organfunktion, das Geschehen am lebendigen Organismus darstellen". Es ist damit offenbar vortrefflich die zweckmäßigste abrundende Umgrenzung eines immerhin sehr umfangreichen Stoffes aus tiefer Einfühlung in die innigen Beziehungen zwischen Ontogenese, Kern- struktur und Vererbung gefunden worden. Doch hängt der Verfasser nicht dogmatisch der Chromo- somen-Vererbungshypothese an, sondern würdigt auch die Einwände und Ergänzungen dazu genau, wie solche von Herbst, Mewes, Godlewski jun. und Spemann herrühren. Die Unter- abteilungen von A und B seien hier noch unter gekürzter Anführung der Überschriften erwähnt: A: I. Entwicklungserregung, II. Äußere Faktoren der Entwicklung, III. Innere Faktoren, IV. Wir- kungsweise der Faktoren. Hierbei umfaßt Entwick- lung auch Regeneration und Mißbildung. B : I. Men- delismus, IL Vererbung und Bestimmung des Ge- schlechts, III. Problem der Vererbung des Erwor- benen. Wie man sieht, ist die Gliederung des Stoffes außerordentlich klar, und dasselbe gilt für die Gliederung der einzelnen Kapitel. Dabei ist der Inhalt überaus reich und vollständig sowohl am Tatsächlichen als auch, zumal in den Zusam- menfassungen, an kritischen Erörterungen, die viel Eigenes, scharf Durchdachtes und Einleuchtendes bringen. Z. B. : „Die somatische Induktion ist deswegen möglich, weil die Trennung des Tieres in Soma und Keimbahn eine rein begriffliche ist, die in der Realität nicht besteht". So ist es ge- nußreich, sich an Hand dieses Buches über den Um- fang und die Fragen der gegenwärtigen experi- mentellen Morphologie im weitesten Sinne zu unterrichten, und mit großem Nutzen verwen- det man das Werk zum Nachschlagen. Wenig- stens fand Ref sofort in ihm mancherlei Auskünfte, die er anderwärts in letzter Zeit vergeblich ge- sucht hatte. Ausstattung und Wahl der Abbil- dungen sind gleichfalls sehr gut; unter den letz- teren sind nicht wenige Originalien. Kaum nötig zu erwähnen , daß ein ausfuhrliches Literaturver- zeichnis nicht fehlt. Zweifellos wird das Buch die Experimental- zoologie bedeutend fördern. V. Franz, Jena. Hoffmann, B., Führer durch unsere Vogel- welt, kl. 8". 2l6 Seiten, über 300 Noten- bilder. Buchschmuck von Karl Soffel. Leipzig und Berlin 1919, B. G. Teubner. Der Verf. von „Kunst und Vogelgesang" (191 1) hat nunmehr auch einen kleinen „Führer durch unsere Vogelwelt zum Bestimmen der häufigsten Arten durch Auge und Ohr" vorgelegt, dem man viel Gutes nachsagen kann. Die Darstellung führt den Leser auf Wanderungen in die winterliche und sommerliche Landschaft, gibt sichere Erken- nungsmerkmale der Vogelarten für das im Gelände beobachtende Auge sowie, mit Hilfe der Notenschrift, für das Ohr, enthält übrigens, was be- sonders hervorgehoben sei, nicht wenige liebevolle neue oder noch nicht zur genauen Wiedergabe gelangte, hier vortrefflich geschilderte Beobach- tungen und entbehrt nicht literarischer Qualitäten. So wird man das Buch gern in der Hand des Wander- burschen sehen. Allerdings ist es insofern nicht mehr als eben eine Einführung, als es nicht alle dem Wanderer in Deutschlands Gauen be- gegnenden Arten behandelt und gegenüber der verhältnismäßigen Vollständigkeit, mit der die Singvögel behandelt sind, die Unvollständigkeit besonders in Tagraubvögeln (2 Arten) und Eulen (nur eine Art) auffallen kann. Man empfindet Verstehen dafür, wenn man bedenkt, daß dem Verf ganz besonders das Musikalische, der Gesang der Vögel, am Herzen hegt, und in dieser Hin- sicht wird man denn auch das Buch nicht so leicht ausstudieren können. Der von Karl Soffel herrührende Buchschmuck, Strichzeich- nungen von wissenschaftlicher Genauigkeit, ist eine vortreffliche Leistung der Kleinkunst, so an- 726 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 49 sprechend wie der Text und scheinbar mit ihm aus einem und demselben Geiste geflossen. Ob die Schreibweise „®rafmücEe" , die der Verf. mit Rücksicht auf die Ableitung von „Grauer Schmieger" wählt, sich einbürgern wird? Wenn ja, so würde sie allerdings mancher bei Unerfah- renen verbreiteten irrtümlichen Vorstellung über diese Vögel vorbeugen. V. Franz, Jena. Naef, Dr. Adolf, Idealistische IVIorpho- logie und Phylogenetik. (Zur Methodik der systematischen Morphologie.) VI u. "]"] S. gr. 8". 4 P'ig. im Text. Jena 1919, Gustav Fischer. Preis geh. 3 M. Die kleine, aber gutgefaßte und zielbewußte Schrift hat sich die Untersuchung der Prinzipien der Formenlehre und der stammesgeschichtlichen Forschung zur Aufgabe genommen. Verf. zeigt, daß schon Goethe suchte, sich in den mannig- fachen Gestalten der Organismen zurechtzufinden und dazu den Begriff des Typus einführte, zu dem sich die Formen so stellen, wie die Einzel- fälle zum Gesetz. Zu dieser „idealistischen Mor- phologie" gibt die Deszendenztheorie die Ergän- zung, indem sie die in Typen aufstellbare Ähn- lichkeit der Formen als Folge ihrer Stammes- verwandtschaft deutet. Diese stammesgeschicht- liche Forschung oder Phylogenetik führt die vor- handenen Formen auf Vorzustände historisch zurück. Im weiteren Verlaufe seiner Untersuchung prüft Verf. die drei Urkunden der Stammes- geschichte, die Paläontologie, die vergleichende Formenlehre und die Entwicklungsgeschichte. Besonders eingehend verweilt er bei letzterer und bekämpft die Haeckelsche Vorstellung, daß die Entwicklung aus dem Ei erwachsene Ahnenstadien enthalten könne, weist also das biogenetische Prinzip, denn ein solches und kein Gesetz ist es, in seine Schranken zurück. Das ganze ist durch- aus lesenswert, nur vermissen wir eine genauere Anführung der Literatur. Der vom Verf. hervor- gehobene Vergleich der Entwicklung der Organis- men mit einem unterirdischen Wurzelstock und dessen Trieben stammt z. B. von Weismann, anderes finden wir bereits bei Goette, vieles, so den Hinweis, daß die Keimesgeschichte nicht durch Ahnenstadien, sondern durch ihre Ent- wicklungsfolgen wertvoll werde, in den Arbeiten des Referenten (z. B. Einleitung zu „Vom Urtier zum Menschen"); so hat Ref. schon 1904 und dann 1914 in der deutschen Zool. Gesellschaft ausgeführt, daß man, ehe man in der Deszendenz- theorie weiterarbeite, erst deren Grundlagen, also das Handwerkszeug, mit dem man arbeite, kennen lernen müsse. Zu dieser Unterlegung des Funda- ments gibt Naef einen wertvollen weiteren Stein. K. Guenther. Vater, R. , Praktische Thermodynamik, Aufgaben und Beispiele zur techni- schen Wärmelehre. (Aus Natur und Geisteswelt Nr. 506.) Leipzig und Berlin 1918 B. G. Teubner. Das Studium dieser Aufgabensammlung (samt ihren Lösungen) kann aufs wärmste empfohlen werden. Nichts kann so sehr das Verständnis für die Begriffe der technischen Wärmelehre und für ihre Bedeutung in der Praxis fördern, als das Durchrechnen von Aufgaben , wie sie die Praxis bietet. Gerade solche Aufgaben sind in dem Büch- lein behandelt und zwar in so leichtverständlicher Weise, daß auch der Schüler, dem das Gebiet der technischen Wärmelehre noch wenig bekannt ist, kaum ernstliche Schwierigkeiten finden wird; gerade für ihn wird das Durcharbeiten eventuell unter Zuhilfenahme einer kurzen Darstellung der „technischen Wärmelehre", etwa der von Vater in Bd. 616 dieser Sammlung von größtem Nutzen sein. Das Bändchen zerfällt in 7 Abschnitte: I. Zu- stand und Zustandsänderungen , 2. Wärme und Arbeit, 3. Kreisprozesse und Carnotscher Kreis- prozeß, 4. Dämpfe, 5. Entropie, 6. S, T - Diagramm, 7. J, SDiagramm von Mollier. Als Beispiel sei Aufgabe 42 aus dem 2. Ab- schnitt hier mitgeteilt: Auf einem Eisenhütten- werke soll für einen Schweißofen, in welchem Pakete von Eisenschrott für Feineisenerzeugung auf Schweißwärme gebracht werden, eine über- schlägige Wärmebilanz aufgestellt werden; als Lö- sung ist die Wärmebiianzrechnung durchgeführt für bestimmte der Praxis entnommene zahlen- mäßig gegebene Betriebsbedingungen. Ein anderes interessantes Beispiel (Aufgabe 83 aus Abschnitt 7) lautet: Eine Abdampft urbine wird gespeist mit Abdampf von 2 Alm. Überdruck bei 140" C; der Kondensatordruck beträgt 0,1 Atm. abs. ; die Tur- bine erhält 5 Druckstufen, die so gestaltet werden sollen, daß in jeder Druckstufe die gleiche Dampf- geschwindigkeit herrscht. Welche Spannung muß in jeder der einzelnen Druckstufen herrschen, wenn rein adiabatische Ausdehnung angenommen wird und wie groß ist die in allen Druckstufen gleiche Dampfgeschwindigkeit. S. Valentiner. Silberer, Herbert, ,,Der Traum". Einführung in die Traumpsychologie. 120 Seiten. Stutt- gart 1919, Ferd. Enke. 4 M. Sicherlich ist die Traumpsychologie ein sehr reizvolles Thema, und jedes Bestreben, Aufklärung über dieses wissenschaftliche Gebiet zu verbreiten, kann auf vielseitiges Interesse rechnen. Das vor- liegende Buch, dis unzweifelhaft manches wertvolle Material, manchen anregenden Gedanken enthält, darf trotzdem nur solchen Lesern empfohlen wer- den, die schon ein gründliches Wissen und ein eigenes Urteil über Traumpsychologie besitzen. Ais ,, Einführung" in das Gebiet ist die Lektüre jedenfalls nicht am Platze, denn Neulinge können dadurch nur verwirrt und auf falsche Bahnen ge- lenkt werden. Silberer ist ein überzeugter An- hänger der Freud sehen Lehre der Psychoanalyse und will sie, unter Außerachtlassung der Tatsache, N. F. XVni. Nr. 49 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 727 daß diese Hypothese wissenschaftlich noch stark umstritten und zum mindesten noch nicht be- wiesen ist, in allen ihren krassen Übertreibungen seinen Lesern als feststehendes wissenschaftliches Ergebnis vortragen. Hiergegen muß mit allem Nachdruck protestiert werden, zumal da auch das beigegebene Literaturverzeichnis durchaus einseitig zusammengestellt ist und in der Hauptsache Ar- beiten der Freudschen Schule autzählt, auch solche, bei denen der Gedanke der Psychoanalyse zur fixen Idee ausgeartet ist und die man daher wissenschaftlich nicht mehr ernst nehmen kann. Auch Silberer verfällt in allzu hohem Maße der Neigung, jeden beliebigen Traum p'jychoana- lytisch zu „deuten". Auf den 120 Textseiten bringt er u. a. nicnt weniger als 84 Beispiele von Träumen nebst mehr oder weniger eingehender Deutung. Manche davon sind sicherlich interessant, viele aber auch m. E. ganz belanglos, z. T. läp- pisch. Die sog. Deutung wird oft genug zur Deutelung, die nach dem Grundsatz: „Reim' dich, oder ich ireß' dich'' unter allen Umständen psycho- analytisches Kapital aus harmlosesten Traumeinzel- heiten zu schlagen sucht. Wie überall bei der Petiiio principii der Freudschen Schule, sind auch bei S i 1 b e r e r der unbegrenzten Willkür der Deutelung Tür und Tor geöffnet. Als Beispiel für die un- glaublichen Übertreibungen seiner Deutelungs- manie sei etwa auf Beispiel 39 hingewiesen (S. 52/53): weil jemand geträumt hat, er gehe in einem Tal zwischen zwei Hügeln spazieren, wird gefolgert, daß sich hierin „bestimmt genug" ein Gedanke an die Form der Geschlechtsteile sym- bolisch andeute, und weil dieselbe Person träumt, sie fahre in einem Eisenbahnzug, der dann auf einer Station „zum Stehen" kommt, folgert Sil- be rer, daß sich hierin eine Erektion wider- spiegele! Das sind doch schließlich Wortwitze und Scherze, die vielleicht in einer studentischen Bierzeitung leidlich am Platze sind, die aber eine angebliche „Einführung in die Traumpsychologie", wenn diese einigermaßen ernst genommen werden will, von vornherein auf schwerste kompromittieren müssen! Was soll man z. B. ferner dazu sagen, wenn in einem anderen Traum (S. 59) ein darin vorkommender Tisch als Bett, ein auseinander- gefaltetes Schriftstück als Vagina, feierliche Ge- wänder als Präservative „gedeutet" werden ! Die unfreiwillige Komik der ägyptischen Traumbücher verblaßt doch gegenüber derartigen Narreteien ! Es ist schade, daß das sonst in mancher Hin- sicht anregende Buch durch solche Lächerlich- keiten stark entwertet wird. Wer eine feste Stel- lung zu den Lehren Freuds bereits gewonnen hat, mag das Silber ersehe Buch trotzdem mit Nutzen lesen. Laien aber müssen vor der Lektüre geradezu gewarnt werden, da sie dadurch nicht belehrt, sondern nur irregeführt werden können. Die Aufklärung über Traumpsychologie, die der Laie aus den Schriften der Freudschen Schule im allgemeinen und der Silb ererschen Arbeit im besonderen entnehmen kann, erinnert doch allzu bedenklich an die einseitige Aufklärung der berüchtigten „Aufklärungsfilme"! Hennig. Vater, R., Die neueren Wärmekraft- maschinen, l. Einführung in die Theorie und den Bau der Gasmaschinen. 5. Aufl. (Aus Natur und Geisteswelt Nr. 21) 1918. Teubner, Leipzig und Berlin. — II. Gaserzeuger, Groß- gasmaschinen, Dampf- und Gasturbinen. 4. Aufl. (Aus Natur und Geisteswelt Nr. 66) 19 18. Teubner, Leipzig und Berlin. Die beiden Bändchen sind in ihren früheren Auflagen auch gewiß vielen Lesern dieser Zeit- schrift schon bekannt geworden. Wesentliche Änderungen in den neuen Auflagen vorzunehmen, war nicht notwendig. Denen , die die Schriften noch nicht kennen, seien sie empfohlen als klare, leicht verständliche Darstellungen der Theorie der Kraftmaschinen samt der Beschreibung der älteren und neueren Kraftmaschinen und ihrer Brennstoffe. Mathematische Entwicklungen sind vollständig vermieden; zahlreiche Abbildungen und Diagramme, schematische Zeichnungen erleichtern das Ver- ständnis. Die Vorteile und Nachteile der Ma- schinen, ihre Wirtschaftlichkeit (bei Mitberücksich- tigung von häufig vorkommenden Nebenaufgaben) sind eingehend mitbehandelt. S. Valentiner. V. Laue, M., Die Relativitätstheorie. I. Band: Das Relativitätsprinzip der Loren tz- transformation. 3. Aufl. („Die Wissenschaft" Bd. 38.) Braunschweig 1919, Vieweg & Sohn. Das vorliegende Buch ist eine, man kann wohl sagen, erschöpfende Dar.stellung der Arbeiten über das Relativitätsprinzip und als solche natürlich nur für diejenigen bestimmt, die, wie der Verf. selbst in dem Vorwort sagt, über das gebräuch- liche mathematische Rüstzeug des theoretischen Physikers, die Infinitesimalrechnung und die Vektor- analysis, und außerdem über eine gewisse Kennt- nis der Maxwellschen Theorie verfügen. Auch solche Leser müssen dem Buch selbstverständlich ein intensives Studium widmen. Dann aber wer- den sie mit ungeheurem Gewinn und großem Genuß dieser klaren Darstellung folgen können. Der Band zerfällt in die folgenden Abschnitte: I. die Problemstellung (32 S.), 2. die älteren Theo- rien der Elektrodynamik bewegter Körper (16 S.), 3. die Relativitätstheorie, kinematischer Teil (33 S.), 4. Weltvektoren und -tensoren (20 S.), 5. die Elektrodynamik des leeren Raumes nach dem Relativitätsprinzip (58 S.), 6. die Minkowskische Elektrodynamik der ponderablen Körper (31 S.), 7. Dynamik (y^ S.). Der 2. Band wird über die allgemeine Relativitätstheorie, einschl. dei Theo- rien der Gravitation handeln. S. Valentiner. 728 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 49 Anregungen und Antworten. über die Erfindung der Camera obscura und Lionardo da Vinci ah Physiker. Kollege Schips schreibt in Nr. 18 (vom 4. Mai 1919) des XVIII. Bandes N. F. dieser „Wochen- schrift" in seinem Gedenltblatt über „Lionardo da Vinci als Naturforscher" auf S. 258 (Spalte links oben): „Lionardo .... erfand die Camera obscura schon lange vor Porta (1535 [mufi heißen 1538I — 1615), der sie in seiner Magia naturalis (1558 [resp. 15S9]) beschrieb und als ihr Erfinder gilt; Lionardo benutzte sie, um eine Theorie des Sehens abzuleiten." Nach neueren Veröffentlichungen, vor allem von Eilhard M^iedemann, dem Meister arabischer Aaturwissenschafts- geschichte, möchte diese weitverbreitete Geschichtsfabel von der Erfindung der Camera obscura endgültig verschwin- den. Darum einige Notizen mit Literaturhinweisen. Bereits der Verf. der pseudaristotelischen „Problemata" weist auf die Tatsache hin , daß bei einer Sonnenfinsternis durch enge Öffnungen eine sichelförmige Abbildung entsteht; eine Erklärung aber fehlt. Darauf untersuchte al Kindi (um Soo n. Chr.) in seinem ,,Liber de aspectibus" den Strahlen- gang von einem leuchtenden Körper durch eine Öffnung zu einer Tafel hin. Aber erst der große Physiker Ibn al Hai- tam (•}" ^^ 1039), der die Camera obscura zur Beobachtung der Sonnenfinsternis verwandte, gab an der Hand zahlreicher Figuren einen im wesentlichen richtigen Beweis für das Ent- stehen der sichelförmigen Abbildung. Als XXXIX. seiner be- kannten ,, Beiträge zur Geschichte der Naturwissenschaften" (Sitz. Ber. d. Physik. -Mediz. Sozietät in Erlangen, Bd. 46, 1914, S. 155 — 169, mit 3 Fig.) hat E. Wiedemann Ibn al Hait ams ,, Abhandlung über die Gestalt der Finsternis" [Kiisi'if) in deutscher Übersetzung publiziert. Viel eingehender findet man die Theorie der Lochkamera bei Haitams Kommentator Kamäl al Din (f ^^ '320) entwickelt, der die Camera obscura auch zum ersten Male auf terrestrische Verhältnisse anwandte: auf die Abbildung einer rot und grün gefärbten Fläche, eines Vogels und einer Wolke. Eine (etwas gekürzte) Übersetzung hiervon verdanken wir ebenfalls E. Wiedemann (in: Verhandl. d. Deutsch. Physik. Gesellsch., XII, 1910, S. 177 — 1S2). Aus dieser geht übrigens hervor, daß Kam.^l al Din eine Beugungsersch einung beobachtete, von der er freilich noch annimmt , es sei das Bild eines die Sonne umgebenden Halos, das sind nach unserer heuligen Auffassung Beugungserscheinungen an den Dunstkügelchen des Wolken- schleiers. Im 13. Jahrhundert beschäftigten sich Witelo und Roger Baco mit dem Problem. Levi ben Gerson (Levi de Balueolis, f 1344) benutzte die Camera obscura auch zur Beobachtung von Mondfinsternissen. Im 15. Jahrhundert fin- det sie bei Leon Battista Alberti Erwähnung. Zeitlich wären nun erst Lionardo da Vincis Versuche mit ihr einzuordnen. F. Maurolico (1575) ist dann zu nennen, weiter Giovanni Battista della Porta (1589) mit seiner ausführlichen Behandlung der Dunkelkammer, schließlich Johann Keplers ,,Ad Vitellionem Paralipomena" (Franco- furti 1604), in denen besonders die bei der Abbildung des Mondes auftretenden eigentümlichen Erscheinungen untersucht und aufgeklärt sind. — Besonders hingewiesen sei auf J o s. Würschmidts Sammelrelerat „Zur Geschichte, Theorie und Praxis der Camera obscura" (in : Zeilschr. f. raathem. u. natur- wiss. Unterricht, Bd. 46, 1915, S. 466 — 476) hingewiesen, über das sich auch ein knappes Autoreferat in den ,, Mitteilungen zur Geschichte d. Medizin u. d. Naturwissenschaften" XIV (191 5) S. 342 f. findet. Ganz neuerdings hat sich auch F. Paul Liesegang mit der „Kamera obskura bei Porta" (in : Mitteilungen zur Gesch. d. Med. u. d. Naturwiss. XVllI, 1919, S. 1 — 6) spe- ziell beschäftigt. Nach dessen Darlegungen leuchtet ein, daß die von Poggendorf und anderen Geschichtsschreibern aus- gesprochene Auffassung, aus Portas Versuchen mit der Ca- mera obscura sei die Laterna magica hervorgegangen, ebenfalls hinfällig ist. Zur Zauberlaterne führte ein anderer Weg, wie uns Liesegang in einer anderen Arbeit darlegt (,,Vom Geisterspiegel zum Kino". Düsseldorf 1918. — Vgl. Günthers Referat in: Mitt. z. Gesch. d. Med. u. d. Natur- wiss. XVUI, 1919, S. 90 f.). Auf anderes im Aufsatze von Schips sei nicht einge- gangen. Nur möchte vor allem erwähnt sein, daß die wohl von W. Elsaesser (Preuß. Jahrbücher, 97. Band, 1899, S. 280 ff.) stammende Ansicht, Lionardo habe „die Gesetze für den Hebel unter der Voraussetzung , daß die Kräfte in beliebiger Richtung auf ihn wirken", gefunden, ebenfalls der neuesten Forschung widerstreitet. Fritz Schuster hat vor 4 Jahren in seiner bei Wiedemann entstandenen Disser- tation ,,Zur Mechanik Leonardo da Vincis. (Hebelgesetz, Rolle, Tragfähigkeit von Ständern und Trägern.)" (Erlangen 1915, S. 20, 32, 99 und 146) nachgewiesen, daß schon Heron (2. vorcbristl. Jahrh.) und JordanusNemorarius (13. nach- christl. Jahrh.) den Begriff des ,,p o te n t iel 1 e n" Hebelarms gekannt und das Hebelgesetz für den Fall ausgesprochen hatten, daß die Kraftrichtungen beliebige Winkel mit der Hebelstange bilden. Übrigens sei dann schließlich auf die kritische Unter- suchung Otto Werners „Zur Physik Leonardo da Vincis" (Diss. Erlangen 1910. — Für den Buchhandel: Berlin o. J. [1910]) die Aufmerksamkeit gelenkt. In ihr wird speziell auf dem Gebiete der Optik der Nachweis erbracht, daß Lionardo bis jetzt als Physiker viel zu sehr überschätzt worden ist. Vergleicht man nämlich seine optischen Aufzeichnungen mit denen seiner Vorgänger, wie es Werner durchgeführt hat, ,,so findet man, daß Leonardo vollständig von den Alten und besonders von den arabischen Gelehrten des Mittelalters, die ja auf den Werken der erstgenannten aufgebaut und sie in zuweilen hervorragender Weise weiterentwickelt haben, ab- hängig ist. Gerade aus den Werken der^Araber, die meist in das Lateinische und Italienische übertragen waren, und die uns zum größten Teile [erst] in den letzten Jahrzehnten zu- gänglich geworden sind, zeigt sich deutlich, wie sehr Leo- nardo beeinflußt wurde" (S. 174). — Trotz alledem gilt aber für Lionardo da Vinci immer- dar das Tiedge-Wort: ,, Unsterblich ist der Genius". Dresden-A 16. Dr. Rudolph Zaunick. Literatur. Wichelhaus, Prof. Dr. H. , Vorlesungen über chemi- sche Technologie Band I. Anorganischer Teil. 4. Aufl. Mit 104 Abbildungen. Dresden und Leipzig 1919, Th. Steinkopff. 16 M. Hess, Prof. Dr. H., Elektrizitätslehre. Nürnberg 1919, C. Koch. 6,50 M. Thorbeck e, Fr., Im Hochland von Mittelkamerum. 3. Teil. Mit 3 Farbentafeln, 141 Abbildungen auf 35 Tafeln, 32 Textfiguren, 2 Tabellen, 23 Transkriptionen und I Tafel Tonleitern. Hamburg 1919, L. Friederichsen. 10,50 M. lulistit: Willy Kodweiß, Die Erweiterung unserer Sinne durch die Physik. S. 713. — Bücherbesprechungen: W. Schallmayer, Vererbung und Auslese; Grundriß der Gesellschaftsbiologie und der Lehre vom Kassedienst. S. 723. B. Dürken, Einführung in die Experimenlalzoologie. S. 725. B. Hoffmann, Führer durch unsere Vogelwelt. S. 725. Adolf Naef, Idealistische Morphologie. S. 726. R. Vater, Praktische Thermodynamik, Aufgaben und Beispiele zur technischen Wärmelehre. S. 726. Herbert Silberer, Der Traum. S. 726. K. Vater, Die neueren Wärme- kraftmaschinen. S. 727. M. v. Laue, Die Relativitätstheorie. S. 727. — Anregungen und Antworten; Über die Er- findung der Camera obscura und Lionardo da Vinci als Physiker. S. 728. — Literatur: Liste. S. 728. Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Mi ehe, Berlin N 4, Invalidenstrafle 42, erbeten. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck der G. Pätz'cchen Buchdr. Lipperl & Co. G. m. b. H.. Naumburg a. d. S, Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue Folge 18. Band; der ganzen Reihe 34. Hand, Sonntag, den 14. Dezember 1919. Nummer 50. Die Erweiterung unserer Sinne durch die Physik. rNachdruck veiboten.] Von Dr. Willy Kodweiß, Hauptsächlich aber ist es dasDopplersche Prin- zip, das für den Astronomen sehr wiciitig geworden ist. Dasselbe tritt bekannilich immer dann auf, wenn sich der Abstand zwischen einem Wellen aussenden- den Körper, sei es nun eine Lichtquelle oder eine Schallquelle, und dem Beobachter verändert. Fährt z. B. eine pfeifende Lokomotive rasch an uns vorbei, so wird der Pfeifenton höher, wenn sich die Lokomotive uns nähert, während er tiefer wird, wenn sich die Lokomotive wieder von uns entfernt. Von einer ruhenden Schallquelle ge- langen nämlich in der Sekunde eine bestimmte Anzahl von Schallwellen ins Ohr. Bewegt sich nun die Schallquelle auf uns zu, so wird das Ohr in der Sekunde von mehr Schallwellen getroffen, während es umgekehrt ist, wenn sich die Schall- quelle von uns fortbewegt. Das eine Mal wird also der Ton höher, das andere Mal tiefer er- scheinen, als bei ruhender Schallquelle. Ähnlich liegen nun die Verhältnisse beim Licht, und zwar entsprechen dabei, wie wir schon oben gesehen haben, den Tönen die Farben. Denken wir uns z. B. auf einem Fixsterne leuchtenden Natriumdampf, so sendet der letztere in der Se- kunde 509 Billionen Lichtwellen ins Auge, wo- durch mit Hilfe des Spektroskops die gelbe Na- triumlinie zustande kommt. Bewegt sich nun der Fixstern auf uns zu, so wird das Auge von mehr Lichlwellen getroffen, was sich in Spektroskopen mit großer auflösender Kraft dadurch bemerkbar macht, daß die Spektrallinie etwas gegen das blaue Ende des Spektrums hin verschoben ist; es hat sich nämlich die Farbe der Natriumlinie, wenn auch nur äußerst wenig, geändert. Wäre die Na- triumlinie gegen das rote Ende des Spektrums hin verschoben, so dürften wir daraus den Schluß ziehen, daß sich der Fixstern von uns entfernt. Wenn auch diese Verschiebungen, der natürlich alle Spektrallinien des Sterns unterworfen sind, nur sehr klein sind, so können wir daraus doch die Geschwindigkeit des F"ixsterns bis zu einer Genauigkeit von etwa einem Kilometer be- rechnen (69). Das Doppler sehe Prinzip ist für den Astro- nomen aber auch noch aus einem anderen Grunde sehr wichtig. Bekanntlich haben wir es bei vielen Fixsternen mit Doppelsternen zu tun, die sich um ihren gemeinsamen Schwerpunkt bewegen und die man mit dem Fernrohr voneinnander trennen kann. Diese Trennung ist nun oft nicht mehr möglich, aber auch in diesem Fall, ja selbst dann, wenn der eine Stern dunkel und deshalb unsicht- bar ist, gelingt es uns mit Hilfe des Spektroskops Heideaheim a. d. Brenz. (Schluß.) die Doppelsterne als solche zu erkennen, weshalb rnän solche Doppelsterne auch sptktroskopische Doppelsterne genannt hat. Ist einer der Doppel- sterne dunkel, so haben wir eine periodische Hin- und Herbewegung der Spektrallinien, da sich der helle Plxstern abwechselnd auf uns zu bewegt und wieder von uns entfernt. Auf diese Weise wurde mit Hilfe des Doppl ersehen Prinzips mit einem Schlag die Natur vieler Fixsterne mit periodi- schen Helligkeitssrhwankungen aufgeklärt, denn die letzteren kommen dadurch zustande, daß der dunkle Begleiter den hellen Stern immer wieder verdeckt. Sind beide Fixsterne hell, so verdoppeln sich die Spektrallinien periodisch, da der eine Fix- stern sich von uns entfernt, während der andere sich auf uns zu bewegt; die Spektrallinien des einen P'ixsterns werden also nach rechts, die anderen nach links verschoben. Von allen Himmelskörpern ist die Sonne am eingehendsten erforscht und zwar ist einer der wichtigsten Appaiate, die im Dienste der Sonnen- forschung stehen, der von Haie und Deslan- dres entdeckte Spekiroheliograph (70). Während wir mit dem gewöhnlichen Spektroskop nur fest- stellen können, welche Elemente sich in der Son- nenatmosphäre befinden, gelingt es mit Hilfe des Spekiroheliographen auch die Verteilung der Ele- mente in der Sonnenatmosphäre näher zu unter- suchen; denn wir können mit diesem Apparat ge- wissermaßen die von den einzelnen Elementen gebildeten Wolken beobachten und aus deren Veränderungen und Bewegungen wichtige Schlüsse über die Vorgänge in der Sonnenatmosphäre ziehen. Meistens beschränkt man sich aus ge- wissen Gründen auf die Beobachtung der Calcium- oder Wasserstoffwolken und zwar hat man sich den Vorgang dabei etwa folgendermaßen zu denken: Wollen wir von irgendeiner Stelle der Sonne wissen, ob sich dort Calcium befindet, so entwerfen wir von dieser Stelle ein Spektrum, in- dem wir den übrigen Teil der Sonne abblenden. Ist Calcium vorhanden, so treten in diesem Spek- trum die Calciumlinien auf, von denen man natür* lieh immer nur eine, die sich besonders eignet, zu beobachten braucht. Blenden wir nun das ganze Calciumspektrum mit Ausnahme dieser Linie ab und untersuchen wir auf dieselbe Weise der Reihe nach alle Stellen der Sonne, so können wir die Verteilung des Calciums auf einer photographi- schen Platte registrieren. Mit Hilfe des Spekiro- heliographen gelingt es nicht nur die Chromo- sphäre auf der ganzen Sonnenscheibe zu ver- folgen; wenn die ziemlich schwierigen Deutungen 730 Kfaturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVni. Nr. S6 der heliographischen Bilder richtig sind, ist es so- gar möglich, die verschiedenen Schichten der Chromosphäre voneinander zu trennen und für sich zu untersuchen. Wir sind also auf dem be- sten Wege, die Sonnenatmosphäre in absehbarer Zeit genauer zu kennen als unsere eigene Erd- atmosphäre, die wir ja nie als Ganzes auf einmal übersehen können. Durch die Untersuchung der Vorgänge in der Sonnenatmosphäre wurde Haie zu der Vermutung geführt, daß die Sonnenflecken starke lokale Magnetfelder zur Folge haben. Auf den ersten Blick erscheint es unmöglich, den Nachweis dafür zu erbringen, ob die Sonne magnetische Eigen- schaften hat oder nicht. Da wir jedoch seit der Entdeckung von Zeeman wissen, daß das Licht durch den IVIagnetismus beeinflußt wird, können wir auch diese Frage mit Hilfe des Spektroskops lösen. Sobald nämlich der lichiaussendende Körper einem starken magnetischen Feld ausgesetzt wird, findet eine Aufspaltung der einfachen Spektral- linien in mehrere Linien statt und diese Beobach- tung hat Haie (71) auch bei den Sonnenflecken gemacht. Haie konnte mit Hilfe des sog. Zee- man Effekts nicht nur diese lokalen IVlagnetfelder nachweisen, er konnte auch zeigen, daß die Sonne als Ganzes sich wie eine magnetisierte Kugel ver- hält, so daß wir uns auf der Sonne ein ähnliches magnetisches Feld mit einem Nord- und einen Südpol denken müssen, wie auf der Erde. Wie wir uns im Fernrohr die optischen Ge- setze der Bi echung und Reflexion nutzbar machen, so geschieht dies noch bei einer ganzen Reihe anderer Apparate, die es dem Auge ermöglichen, Dinge zu sehen, die es sonst nicht wahrnehmen könnte. Es sei hier nur an das Periskop der Unterseeboote erinnert; ferner an die optischen Apparate, die in der Hand des Arztes zu einer Wohltat für die Menschheit geworden sind, wie die Augen-, Ohren- und Kehlkopfspiegel. Einen Triumpf der optischen Technik stellt auch das Kystoskop (72) dar, mit dem es nicht nur gelingt, das Blaseninnere zu sehen, sondern auch zu photo- graphieren. Der wichtigste optische Apparat, mit dem wir unser Sehvermögen verbessern, ist neben dem Fernrohr das Mikroskop. Man kann die Be- deutung dieses Instruments für Wissenschaft und Technik nicht hoch genug einschätzen; es genügt, sich daran zu erinnern, was für Erkenntnisse wir dem Mikroskop in der Botanik, Zoologie und Anatomie verdanken. Bei keinem Apparat tritt klarer zutage, was wir durch die Physik für den Kampf ums Dasein gewinnen, denn mit dem Mikroskop haben wir unsere größten Feinde, die Bakterien, erkannt, wodurch es uns möglich ge- worden ist, den Kampf gegen die Infektionskrank- heiten aufzunehmen. Wie der Leistungsfähigkeit des P'ernrohrs, so sind auch der des Mikroskops Grenzen gesetzt, die in der Wellennatur des Lichtes begründet sind. Unter dem „Auflösungsvermögen" eines Mikroskops versteht man bekanntlich den kleinsten Abstand, den zwei Punkte eines Objektes haben dürfen, damit sie noch getrennt gesehen werden können. Denken wir uns z. B. als Objekt eine Glasplatte mit einer Anzahl eingeritzter Striche, die denselben Abstand voneinander haben, so könnte das Auge die Striche im höchsten Fall noch dann voneinander getrennt wahrnehmen, wenn ihr Abstand etwa ^4,, mm (73) betragen würde; um noch Striche von kleinerem Abstand voneinander trennen zu können, brauchen wir eine Lupe bzw. ein Mikroskop und zwar lehrt die Theorie, daß die Striche desto näher beieinander liegen dürfen , desto kurzwelliger das angewendete Licht ist. Beleuchten wir das Objekt mit violettem Licht von der Wellenlänge 0,4 n und verwenden wir ein sog. Immersions- system, bei dem das Objekt in eine das Licht stark brechende Flüssigkeit eingebettet ist, so können wir mit unseren besten Objektiven noch Striche mit einem Abstand von V4000 "^"^ (74) voneinander trennen; da man durch Anwendung der schiefen Beleuchtung die Grenze noch bis zu einem Absland von Vsooo ™^^ (75) herunter- drücken kann, leistet also das Mikroskop etwa 200 mal soviel als das Auge. Ist es schon gut, wenn man sich bei violettem Licht der photographischen Platte bedient, da die- selbe gegen das kurzwellige Licht empfindlicher ist als das Auge, so läßt die phoiographische Platte auch noch die Verwendung von ultravio- lettem Licht zu, wodurch wir die Grenzen noch weiter herunterdrücken können. So hat A.Köh- ler (76) eine mikroskopische Einrichtung für ultraviolettes Licht von der Wellenlänge 0,275 /< konstruiert, mit der sich noch Striche mit einem Abstand von etwa Vioouo "^"^ voneinander trennen lassen. Licht von noch kürzerer Wellen- länge läßt sich praktisch nicht verwerten, weil es zu leicht absorbiert wird; es ist deshalb auch der Kohl er 'sehe Apparat mit Ouarzlinsen aus- gestattet, da Glaslinsen das ultraviolette Licht absorbieren würden. Wenn wir mit dem gewöhnlichen Mikroskop nicht über die oben erwähnten Grenzen hinaus gelangen können, hat dies seinen Grund darin, daß bei kleineren Abständen der Striche, d. h. bei feinerer Struktur des Objekts, das Bild infolge der Lichtbeugung unscharf wird. Daran ändert auch das Ultramikroskop nichts, das von Sieden- topf und Zsigmondy {]j) konstruiert worden ist und das seinen Namen nur deshalb zu Recht führt, weil man damit noch kleinste Objekte wahr- nehmen kann, die man bei gewöhnlicher Beobach- tung mit dem Mikroskop nicht mehr sieht. Diese Objekte sieht man mit dem Ultramikroskop nur als helle Punkte; die Farbe, die Form und die etwaige Struktur dieser „ultramikroskopischen" Teilchen läßt sich nicht erkennen. Um zu einem Verständnis dieses Apparats zu gelangen, ist es am besten, wenn wir uns daran erinnern, daß die Staubteilchen der Zimmerluft für gewöhnlich unsichtbar sind; sobald aber ein N. F. XVni. Nr. so Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 731 Sonnenstrahl ins Zimmer dringt, wird das Sonnen- licht an den einzelnen Staubteilchen „aufgesplittert", wodurch diese selbslleuchtend werden und so als leuchtende Punkte gesehen werden können. Das wesentliche an einem Ultramikroskop ist also, daß wir die ultramikroskopischen Teilchen durch eine geeignete Vorrichtung von der Seite her sehr intensiv beleuchten, so daß die Teilchen, mit einem gewöhnlichen Mikroskop betrachtet, als leuchtende Punkte erscheinen. Hat man z. B. eine kolloidale Goldlösung vor sich, so sieht man das wunder- bare Schauspiel von unzähligen Lichtpunkten, die sich wie Sterne von dem dunkeln Hintergrund abheben und die sich wie ein Mückenschwarm hin- und herbewegen. Es ist iibrigens sehr wohl möglich, auch mit Hilfe des Ultramikroskops zu einer Vorstellung von der Größenordnung der noch sichtbaren Teil- chen zu gelangen, denn es gelingt z. B. in einer kolloidalen Goldlösung die Teilchen eines bestimm- ten Plüssigkeitsvolumens zu zählen (78). Kennt man nun den Goldgehalt der Lösung, so kann man unter der Voraussetzung einer gewissen Form, etwa der Kugelform, den Durchmesser der Teil- chen berechnen ; dabei wird allerdings angenom- men, daß keine Goldteilchen vorhanden sind, die so klein sind, daß man sie nicht mehr sieht, denn auch der Leistungsfähigkeit des Ultramikro- skops sind Grenzen gesetzt. Dies rührt einerseits davon her, daß wir mit einem gewöhnlichen Mikroskop beobachten; es dürfen also die Teil- chen keinen zu kleinen Abstand voneinander haben, um noch getrennt wahrgenommen wcden zu können. Da es hier nicht auf die Schärfe des Bildes ankommt, liegt die Grenze etwas tiefer als die oben beim Mikroskop erwähnte, so daß bei größter Auflösungskraft des Mikroskops noch Teilchen mit einem Abstand von Vi 0000 "^"^ (79) voneinander getrennt gesehen werden. Außerdem aber müssen wir bedenken, daß wir die Teilchen, die zu klein sind, mit dem Ultramikroskop über- haupt nicht mehr sehen können und zwar rührt dies davon her, daß die Helhgkeit der ultramikro- skopischen Teilchen sehr rasch mit dem Durch- messer, nämlich mit der 6. Potenz (80) desselben, abnimmt. Je kleiner also die Teilchen sind, desto stärker müssen wir sie beleuchten. Nach Zsig- mondy (81) liegt die Grenze des Durchmessers der gerade noch sichtbar zu machenden Teilchen bei 0,005 i"> es gelingt also nicht, mit dem Ultra- mikrobkop die Moleküle sichtbar zu machen, da die mittlere Größe eines solchen etwa 10 mal kleiner ist. Trotzdem hat das Ultramikroskop viel dazu beigetragen, wenn die Atomtheorie heute aufgehört hat, eine bloße Theorie zu sein, denn erst durch diesen Apparat konnten die kolloidalen Lösungen, die Brown'sche Bewegung und andere Erscheinungen, die mit der Atom- theorie zusammenhängen, näher untersucnt werden. Es ist überhaupt erstaunlich, wieviel Scharfsinn und Forscharbeit aufgewendet worden ist, um zu zeigen, daß die Materie eine atomistische Struktur besitzt und es zeigt sich besonders hier deutlich das Bestreben, über unsere gewöhnliche Sinnes- wahrnehmung hinauszukommen. Wenn es vielleicht auch nie gelingen wird, die Moleküle und Atome zu sehen — bei den Gasmolekülen ist dies sogar sicher, da sie sich mit enormen Geschwindigkeiten hin- und her- bewegen — so können wir doch schon jetzt die Wirkungen einzelner Atome feststellen, falls dieselben eine genügende kinetische oder elek- trische Energie besitzen, wodurch sie sich uns bemerkbar machen können. Bekanntlich verdanken wir nun dem Radium Atome, die diese Eigen- schaften haben, denn dieses merkwürdige Element sendet, wie einwandfrei festgestellt worden ist, elektrisch geladene Heliumatome aus, die eine un- geheuere Geschwindigkeit besitzen. Es ist nun nicht nur gelungen, die ei nzelnen Heliumatome bei ihrerri Aufprallen auf einen Schirm aus Sidot- blende als Lichtblitze wahrzunehmen, man kann auch die elektrische Wirkung eines einzelnen Heliumatoms mit dem Elektrometer messen (82). Wilson (83) konnte sogar die Bahn dieser Atome photographieren, so daß wir für dieselben nach einem Ausspruch von Laue (84) ebensogute Be- weisgründe wie für die Sterne haben. Für den Physiker ist sogar schon das Atom selber zu einem Gegenstand der Untersuchung geworden (85), denn durch die radioaktiven Erscheinungen, durch die Spektralanalyse und neuerdings auch durch die Röntgenstrahlen suchen wir uns über den kom- plizierten Bau der Atome Aufschluß zu verschaffen. Obgleich wir mit dem Mikroskop höchstens noch 2 Punkte mit einem Abstand von Vsooo '""^ voneinander getrennt wahrnehmen können, sind wir doch in der Lage, Längenmessungen vorzunehmen, die unter dieser Grenze stehen und zwar ver- wenden wir dabei als Maß die Wellenlänge des Lichts. Wir müssen uns zu diesem Zweck eine homogene Lichtquelle verschaffen, wie wir sie in der Nainumflamme oder noch besser in der Queck- silberlampe besitzen. Lassen wir uns z. B. einen Lichtstrahl, der von einer solchen, am besten punktförmig gedachten Lichtquelle herrührt, auf eine planparallele Glasplatte auffallen, so wird derselbe zum Teil an der vorderen Begrenzungs- fläche der Platte reflektiert, zum Teil wird er aber auch in die Glasplatte eindringen und dann erst an der hintersten Begrenzungsfläche zurück- geworfen werden. Da die beiden so von der Platte kommenden Strahlen parallel sind, werden sie durch eine in ihren Weg gebrachte Linse in deren Brennebene vereinigt und dort zur Interfe- renz gebracht. Je nach der Wegdifferenz, d. h. je nach dem Gangunterschied der beiden Wellen» züge werden sich die beiden Strahlen verstärken bzw. auslöschen. Der betr. Punkt der Brennebene wird also entweder dunkel oder mehr oder weniger hell erscheinen. Da nun von der Lichtquelle auch andere Strahlen ausgehen, kommen auch in den anderen Punkten der Brennebene Interferenzen zu- stande und zwar derart, daß in der Brennebene 732 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVm. Nr. SO eine Reihe von konzentrischen Ringen entsteht, die abwechslungsweise hell und dunkel sind. Diese Interferenzkurven, die dem Physiker unter dem Namen „Kurven gleicher Neigung" bekannt sind, bleiben dieselben, wenn man statt der punkt- förmigen Lichtquelle eine ausgedehnte nimmt; das Phänomen wird dadurch nur lichtstärker. Sobald nun die Platte nicht überall gleich dick ist, weichen diese Kurven von der Kreisform ab und damit haben wir ein sehr empfindliches Mittel, um auch die kleinsten Dickenunterschiede der Platte feststellen zu können. Auf diese Weise ist es möglich geworden, äußerst genaue planparallele Platten hei zustellen, was für gewisse optische Apparate sehr wichtig ist. So liefert die Firma Zeiß(86) in Jena Platten, die auf größere Strecken bis auf V20 000 "^ni genau gleich dick smd, und Schönrock hat einen Apparat gebaut, mit dessen Hilfe man noch eine Abweichung von der Planheit ebener Flächen wahrnehmen kann, die nur Vi 000 000 mm (87) beträgt. Auch andere Interferenzmeihoden wurden viel- fach zu Messungen verwendet, bei denen es sich um überaus kleine Größenordnungen handelt; als Bei- spiel sei hier nur angeführt, daß Boltzmann und Töpler (88) mit Hilfe der Interferenzen zeigen konnten, daß ein Ton noch gehört wird, wenn die das Trommelfell in Schwingung ver- setzenden Luftteilchen eine Schwingungsweite von nur 0,00004 mm haben, woraus hervorgeht, wie überaus empfindlich das Ohr ist. Auf dem Inter- ferenzprinzip beruhen auch die Gasrefr^ktometer und Gasinterferometer, die zu gasanalyiischen Zwecken in der Industrie Eingang gefunden haben, und mit denen man die geringsten Beimengungen der Luft feststellen kann; das Gasinterferometer von Zellin ek (89) zeigt z. B. schon den Methan- gehalt der Bergweiksluft an, wenn derselbe nur Vson % beträgt. Wie sehr wir bei der Erweiterung unserer Sinne der Apparate bedürfen, zeigt sich ganz be- sonders beim Zeitsinn. Bekanntlich ist es uns nicht möglich, eine größere Zeitstrecke auch nur annähernd genau zu schätzen, was sich leicht da- durch ergibt, daß wir mehrere Personen gleich- zeilig einen bestimmten Zeilraum schätzen lassen; aber auch bei der Schätzung von Zeiträumen, die nur wenige Sekunden betragen, werden noch Fehler von einigen Zehntel Sekunden gemacht. Während sich größere Zeiträume mit Hilfe der Uhren und Chronometer verhältnismäßig leicht bis zu einer Genauigkeit von Viooo Sekunde messen lassen, sind wir sehr oft vor die schwie- rigere Aufgabe gestellt, äußerst kleine Zeiten zu messen. Eine einfache Methode, die diesem Zwecke dient, besteht in der Verwendung der Schreib- stimmgabcl ; dieselbe zeichnet ihre Schwingungen auf eine mit Ruß bedeckte zylindrische Trommel, die sich um ihre Achse dreht, in Form von Wellenlinien auf; ist nun die Schwingungszahl der Stimmgabel genau bekannt, so kennt man auch die Zeit, die zu irgendeiner Anzahl von Wellen notwendig war. Wollen wir daher eine kurze Zeitstrecke messen, so brauchen wir bloß den Anfang und das Ende derselben auf der Trommel zu markieren und die dazwischen liegenden Wellen abzuzählen. Eine klassische Anwendung dieser Methode verdanken wir Helmholtz (90), der damit die Zeit bestimmte, die zwischen dem Moment der elektrischen Reizung eines Muskels und dem Beginn der dadurch hervorgerufenen Konzentration des Muskels liegt; bekanntlich be- trägt diese „Latenzzeit" nur einige tausendstel Sekunden. Eine andere sehr wichtige Methode zur Messung sehr kurzer Zeiträume beruht auf der Anwendung des rotierenden Spiegels, mit dem man z. B. die Zeitdauer eines elektrischen Funkens messen kann; betrachtet man nämlich den elektri- schen P"unken in dem rasch rotierenden Spiegel, so sieht man ein breites Lichtband, das desto breiter ist, je rascher der Spiegel gedreht wird; wenn nun die Umlaufsgeschwindigkeit des Spiegels bekannt ist, kann man aus der Breite des Bandes auf die kurze Zeitdauer des elektrischen Funkens schließen. Mit Hilfe des rotierenden Spiegels lassen sich noch Zeiträume von 10^ Sekunden (91) messen, so daß es möglich ist, die Zeit zu messen, die das Licht braucht, um einen Weg von wenigen Metern zurückzulegen. Foucault (92) gelang es z. B. auf diese Weise, die wichtige Frage zu entscheiden, ob das Licht in Wasser oder in Luft die größere Fortpflanzungsge- schwindigkeit besitzt, indem er feststellte, daß in einer 4 m langen Wassersäule das Licht gegen- über einer ebenso großen Luftsäule eine Ver- zögerung von ungefähr '/200 000 ono Sekunde erfährt. Die kürzeste Zeitmessung verdanken wir Marx, der anläßlich der Geschwindigkeilsbestimmung der Röntgenstrahlen auf elektrischem Weg noch Zeiträume von 3X10"'° Sekunden (93) gemessen hat, in denen also das Licht nur einen Weg von 9 cm zurücklegen würde. Mit dem rotierenden Spiegel lassen sich nicht nur äußerst kleine Zeitintervalle messen, es lassen sich damit auch die äußerst rasch verlaufenden Vorgänge, die sich innerhalb einer solch kurzen Zeit abspielen, der Untersuchung zugänglich machen. Als ein einfaches Beispiel wählen wir eine singende Flamme, bei der wir es mit einem periodischen Ab- und Anschwellen der F"lamme zu tun haben, das je nach der Tonhöhe mehr oder weniger rasch, in der Regel mehrere hundert- mal in der Sekunde erfolgt. Diese periodische Bewegung der Flamme nehmen wir für gewöhn- lich nur als ein Zittern der Flamme wahr. So- bald wir aber den Kopf rasch um seine vertikale Achse drehen, während wir dabei die Flamme immer im Auge behalten, sehen wir die einzelnen voneinander getrennten Flammenbilder, da jetzt jedes Flammenbild auf eine andere Stelle der Netzhaut zu liegen kommt und dort als Nachbild zurückbleibt. Viel besser können wir nun die einzelnen Flammenbilder mit Hilfe des rotierenden Spiegels voneinander trennen, mit dem es auch N. F. XVni. Nr. 50 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 733 gelingt, die auf eine Selcunde kommenden Flam- menbilder zu zählen. Wieviel diese Methode zu leisten imstande ist, zeigt am besten der klassische Versuch von F e d - dersen (94). Feddersen erhielt nämlich bei der Beobachtung des elektrischen Funkens mit dem rotierenden Spiegel kein kontinuierliches Lichtband, sondern eine Anzahl voneinander ge- trennter Streifen und machte so die weittragende Entdeckung, daß ein elektrischer Funke nicht aus einer einmaligen Entladung, sondern aus einer Reihe von ungeheuer rasch aufeinander folgenden Oscillationen besteht. Da man mit Hilfe dieser Methode noch Oscillationen wahrnehmen kann, von denen mehrere Millionen auf eine Sekunde kämen (95), wenn der Funke überhaupt so lange andauern würde, erkennt man, wie man gewisser- maßen durch einen rotierenden Spiegel die Zeit in die Länge ziehen kann. Bei vielen Untersuchungen kann der rotierende Spiegel auch durch ein rasch bewegtes Filmbad ersetzt werden. Um z. B. die komplizierten und äußerst raschen Schwingungen der Schallplatte eines Telephons zu analysieren, verbinden wir die- selbe derart mit einem kleinen Spiegelchen, daß dasselbe die Schwingungen der Schallplatte mit- macht. Lassen wir nun auf das Spiegelchen einen Lichtstrahl auffallen, so macht auch der reflek- tierte Strahl die Schwingungen mit, und wenn wir diesen Strahl auf ein rasch bewegtes Film- band werfen, entsteht auf letzterem eine Kurve, die in allen Teilen den Schwingungen der Schall- platte entspricht. Auf diese Weise lassen sich auch die Klänge analysieren und zwar unter voll- ständiger Ausschaltung des Ohrs. Man braucht nur mit Hilfe des Fouri ersehen Theorems die auf dem Film sich abbildende Klangkurve in die Grundkurven, die den einzelnen Tönen entsprechen, zu zerlegen. Ein äußerst wichtiger Apparat, mit dem es ebenfalls gelingt, rasch wechselnde Vorgänge der Untersuchung zugänglich zu machen, ist neben einigen anderen elektrischen Apparaten, wie der Braunschen Röhre und dem Oscillographen, auch das Einth o vensche Saitengalvanometer, bei dem zwischen den Polen eines Magneten ein feines Drähtchen, die Saite, ausgespannt ist. So- bald ein elektrischer Strom durch die Saite hin- durchgeht, wird die Mitte derselben je nach der Richtung und Stärke des Stromes mehr oder weniger nach der einen oder anderen Richtung ausgebogen und wenn wir durch die Saite einen Wechselstrom hindurchschicken, wird sie in Schwingungen versetzt, die ein getreues Abbild des Stromwechsels darstellen. Wollen wir also einen Wechselstrom näher untersuchen, so brau- chen wir nur die Schwingungen der Saite durch eine photographische Registriervorrichtung aufzu- zeichnen. Man wird z. B. auf diese Weise auch die oben erwähnten Klangkurven erhalten, wenn man den durch das Telephon gehenden Strom durch das Saitengalvanometer hindurchläßt. Wie bei der Klanganalyse dient das Saiteii- galvanometer auch sonst noch vielfach zu Unter- suchungen, die an und für sich gar nichts mit Elektrizität zu tun haben. So untersuchte Neu- scheler (9O) damit den sehr geringen, aber äußerst rasch erfolgenden Temperaturwechsel, der in den Knoten einer tönenden Orgelpfeife durch die Verdichtungen und Verdünnungen der Luft hervorgerufen wird. Mit Hilfe eines Bolometers wurden die Temperaturschwankungen in Strom- schwankungen umgesetzt und diese mit dem Saitengalvanometer auf einem Film aufgezeichnet. An den so entstandenen Wellenlinien konnte nicht nur die Art des Temperaturwechsels genau ver- folgt, er konnte auch der Größe und Zeit nach gemessen werden. Wenn wir bedenken, daß der Temperaturunterschied nur ungefähr '/lo^C be- trug und daß in einem der untersuchten Fälle 167 Temperaturwechsel in der Sekunde vorhanden waren, so sehen wir wieder deutlich, was wir durch die physikalischen Apparate gewinnen und wie sehr dieselben unseren Sinnen überlegen sind. Ein sehr wichtiges Mittel zur Untersuchung sehr rasch verlaufender Vorgänge ist auch die Momentphotographie in Verbindung mit der Kine- matographie. Man kann z. B. an der Hand einer kinematographischen Aufnahme nicht nur in aller Ruhe irgend eine Bewegungsphase eines galoppie- renden Pferdes genau studiert-n, man kann auch den ganzen Bewegungsvorgang bis zu einem ge- wissen Grad dadurch künstlich verlangsamen, daß man den Film im Kinematographen langsamer laufen läßt, als dies bei der Aufnahme geschehen ist. Auf diese Weise ist es gelungen, eine ganze Reihe von Bewegungsvorgängen zu untersuchen, die uns früher nur unvollkommen bekannt waren; es sei hier nur auf den Insekten- und Vogelflug, auf die Bewegungen einer fallenden Katze und auf die Fußstellungen sich rasch bewegender Tiere hingewiesen. Die höchsten Anforderungen werden an diese Methode in der Ballistik gestellt, wo es sich um die kinematographische Aufnahme von sich ungeheuer rasch bewegenden Geschossen, so- wie um die genauere Feststellung der zerstören- den Wirkungen dieser Geschosse handelt. Es können hier natürlich nur äußerst kurze Moment- aufnahmen in betracht kommen, denn ein mo- dernes Infanteriegeschoß legt in Viono Sekunde einen Weg von ungefähr I m zurück, ja eine Momentaufnahme von i Millionstel Sekunde würde noch ein unscharfes Bild ergeben. Um nun zu solch kurzen Momentaufnahmen zu gelangen, wie man sie bei der Geschoßphotographie benötigt, bedient man sich der von Mach begründeten elektrischen Momentphotographie, die namentlich von Cranz zu höchster Vollkommenheit aus- gebildet worden ist. Man macht dabei die Auf- nahmen im Dunkeln bei offenem Objektiv und beleuchtet das Geschoß durch einen nur kurz an- dauernden elektrischen Funken. Da es möglich ist, Funken zu erzeugen, während deren Dauer das Geschoß stillzustehen scheint, und da es außer- 734 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIIL Nr. 50 dem gelungen ist, in der Sekunde bis zu lOOOOO solcher Funken (97) zu erzeugen, kann man mit Hilfe äußerst lasch bewegter Filmbänder kine- matographische Aufnahmen machen, auf denen man z. B. die Durchschießung von Knochen, Ex- plosionsvorgänge usw. genau verfolgen kann. Mach hat übrigens gezeigt, daß man beider Momentaufnahme eines Geschosses nicht nur das Geschoß selbst, sondern auch die Luftwellen, die das Geschoß verursacht und mit sich führt, auf die Platte bringen kann, was aus dem Grund sehr wichtig ist, weil man daraus wichtige Schlüsse über die zweckmäßige Form eines Geschosses ziehen kann. Er bediente sich dabei der T ö p 1 e r - sehen Schlierenmethode, durch die man in einem homogenen durchsichtigen Medium die Schlieren, d. h. die Stellen, die das Licht anders brechen als die Umgebung, erkennen kann. Da sich noch Schlieren bemerkbar machen, deren Brechungsexponent sich von dem der Um- gebung um nur i millionstel (98) unterscheidet, ist die Methode außerordentlich empfindlich, wes- halb sie auch vielfache Anwendung gefunden hat. Bekanntlich lassen sich mit Hilfe der Schlieren- methode auch die Schallwellen photographieren und sichtbar machen und von großer praktischer Be- deutung ist, daß man damit in Glasblöcken die zu optischen Apparaten verarbeitet werden sollen, die störenden Schlieren erkennen kann. Hier sei übrigens noch darauf hingewiesen, daß man mit Hilfe der Polarisationserscheinungen auch den Spannungen in Glasplatten und Linsen auf die Spur kommen kann (99), was deshalb wichtig ist, weil die Linsen aus spannungsfreiem Glas bestehen müssen. Mittels der Kinematographie kann man nicht nur die Zeit künstlich in die Länge ziehen, man kann auch umgekehrt die sich in einem größeren Zeiträume ab-pielenden Vorgänge auf einen klei- neren Zeitraum zusammendrängen. So vermochte z.B. L. Mach (100) dadurch, daß er eine Pflanze zu verschiedenen Zeiten ihres Wachstums photo- graphierte, dieses mehrere Wochen währende Wachstum auf wenige Sekunden zusammen- zudrängen; das Wachsen des Stengels, das Ent- stehen der Blätter, das Entfalten der Knospen, alles das läuft in kürzester Zeit vor dem Beobachter ab. Leichter ist es natürlich mit einem Kine- matographen die Bewegungsvorgänge in ihrer zeit- lichen Reihenfolge umzukehren und so das Un- mögliche möglich zu machen. Man braucht nur das F~ilmband umgekehrt durch den Apparat laufen zu lassen. Ebenso wie die Gesichtseindrücke lassen sich auch die Gehörseindrücke festhalten. Gewöhnlich bedient man sich zu diesem Zwecke des Grammo- phons, bei dem die Schwingungen einer Schall- platte in eine weiche Platte eingegraben werden. Ein anderer äußerst sinnreicher Apparat zur Fest- haltung von Gehörseindrücken ist das Telegraphon von Poulson (lOi). Bei demselben wird das Gespräch, bzw. das Musikstück auf einem Stahl- draht fixiert und zwar geschieht dies dadurch, daß man den Stahldraht sehr rasch an dem Magneten eines Telephons vorbeiführt. Wäre der Magnet immer gleich stark, so würde auch der Stahldraht gleichmäßig magnetisiert werden; dadurch aber, daß man gegen das Telephon spricht, entstehen in dem Magneten Schwankungen der magnetischen Kraft, die vollständig den Schwingungen der Schall- platte entsprechen; es wird daher auch der Stahl- draht an verschiedenen Stellen verschieden stark magnetisch. Führt man nun diesen Draht mit derselben Geschwindigkeit wieder an dem Ma- gneten eines Telephons vorbei, so werden in dem letzteren Stromschwankungen erzeugt, die in allen Teilen der Magnetisierung des Stahldrahts ent- sprechen; dadurch gerät die Telephonplatte in die entsprechenden Schwingungen, so daß man das aufgenommene Gespräch hört. Weniger bekannt ist, daß man auch mit Hilfe des Kinematographen Gehörseindrücke festhalten und reproduzieren kann. Es ist nämlich möglich, mittels einer sprechenden Bogenlampe auf einem Film ein Gespräch aufzunehmen, das man dann mit Hilfe der Selenzelle wieder abhören kann (102). Wenn wir jetzt zu den magnetischen und elektrischen Erscheinungen übergehen, so kommen wir damit zu Naturvorgängen, für die uns ein direktes Sinnesorgan fehlt. Trotzdem ist es uns gelungen, diese Erscheinungen in einer so voll- kommenen Weise zu erforschen und sie für unsere Zwecke derart nutzbar zu machen, daß man unser Zeitalter das Zeitalter der Elektrizität genannt hat. Es hat natürlich nicht viel Wert, wenn wir uns darüber Gedanken machen, wie es wäre, wenn wir einen magnetischen Sinn hätten. Das eine kann man aber wohl sagen, daß uns dann die magnetischen Kräfte der Erde nicht verborgen bleiben würden; wir würden durch die Kraftlinien des erdmagnetischen Feldes beeinflußt werden und wären damit im Besitz eines vorzüglichen Orien- tierungsorgans. Bis zu einem gewissen Grad ist sogar schon durch Versuche an Krebsen gezeigt worden, wie ein magnetischer Sinn wirken könnte. Es gibt Krebse, die die Eigenschaft haben, daß sie sich nach der Häutung Steinchen, sog. Stato- lithen, ins Ohr stecken, wo diese Steinchen auf Fühlhärchen drücken und so dem Krebs die Rich- tung der Schwerkraft anzeigen. Wir haben es hier also mit einem Gleichgewichtsorgan zu tun, wie es in der Tierwelt häufig vorkommt; auch der Mensch hat in der Nähe des Gehörorganes solche Statolithen in Form von kleinen Kristallen von kohlensaurem Kalk. Kreidl (103) hat nun den Krebsen die Gelegenheit genommen, unmittel- bar nach der Häutung Steinchen aufzunehmen und hat ihnen dafür Eisenstaub angeboten, wodurch die Versuchstiere eiserne Statolithen bekamen. Der Erfolg war, daß die Krebse jetzt durch einen Magneten beeinflußt werden konnten, indem sie sich senkrecht zur Summe der magnetischen Kraft und der Schwerkraft einstellten. Der Apparat, der uns den magnetischen Sinn N. F. XVIII. Nr. 50 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 735 ersetzen muß, ist die Magnetnadel, die für den Physiker zu einem unentbehrlichen Hilfsmittel ge- worden ist und nicht nur bei magnetischen, son- dern auch bei elektrischen Untersuchungen eine große Rolle spielt. Die empfindlichsten Apparate, deren wesentlicher Bestandteil die Magnetnadel ist, besitzen die magnetischen Observatorien, wo die magnetischen Kräfte der Erde aufs genaueste untersucht werden können und wo die Verände- rungen des Erdmagnetismus registriert und seine früher so rätselhaften Zusammenhänge mit den Sonnenflecken und Polarlichtern erforscht werden können. Da die Magnetnadel die Eigenschaft hat, immer der Richtung der magnetischen Kraftlinien zu folgen, wurde sie von jeher in der P'orm des Kom- passes als Orientierungsmittel verwendet. Schon die Normannen sollen sich bei ihren P'ahrten des Kompasses bedient haben, sicherlich hat man aber den Kompaß schon 400 Jahre vor der Entdeckung Amerikas im Mittelmeer verwendet (104). Man muß den Kompaß zu den größten Erfindungen rechnen und kann seine Bedeutung nicht hoch genug einschätzen; man braucht sich nur daran zu erinnern, wie sehr die Entwicklung der See- schiffahrt von dem Kompaß abhing und wieviel er zur Ausbreitung der europäischen Kultur bei- getragen hat. In Ländern mit einem weit ver- zweigten Straßensystem, wo man sich außerdem mit Hilfe von Karten orientieren kann, denkt man ja im allgemeinen nicht daran, wie wichtig der Kompaß als Orientierungsmittel ist; erst wenn man sich in vollständig unbekannten Gegenden zurecht finden muß, oder wenn jegliche Merkmale für eine Orientierung — abgesehen von den nicht immer möglichen astronomischen Beobachtungen — fehlen, wie z. B. auf der See, in der Luft und namentlich in einem Bergwerk, wird man den Wert des Kompasses in seiner ganzen Bedeutung er- kennen. Da auf den modernen Stahlschififen, die von einem Netz von elektrischen Leitungen durch- zogen sind, das Arbeiten mit dem Magnetkompaß immer schwerer wird, ist es von großer Wichtig- keit, daß wir seit neuerer Zeit in dem Kreisel- kompaß ein Hilfsmittel haben, das von magne- tischen und elektrischen Einflüssen unabhängig ist. Dieser Kompaß besteht aus einem sich un- geheuer rasch drehenden Kreisel, dessen Achse infolge der Drehkräfte der Erde immer nach dem Nordpol der Erde weist. Technisch vollkommen wird man allerdings den jetzigen Kreiselkompaß wohl noch nicht nennen können, zudem muß man bedenken, daß er durch die Bewegungen des Schiffs beeinflußt wird. Während des Kriegs wurde auch die drahtlose Telegraphie in den Dienst der Orientierung ge- stellt, denn mit Hilfe der elektrischen Wellen ist die Lösung des schwierigen Problems gelungen, auch bei unsichtigem Wetter die augenblickliche Lage und den Kurs eines Schififes oder eines Luft- schiüfes festzustellen, was dadurch erreicht wird, daß man die relative Lage der beweglichen draht- losen Station zu mehreren bekannten festen Sta- tionen bestimmt. Sendet z. B. ein Luftschiff Wellen aus, die von diesen Stationen aufgefangen werden, so läßt sich mit Hilfe besonderer Empfangs- apparate auf den einzelnen Stationen die Richtung der ankommenden Wellen feststellen und dadurch ist es möglich, dem Fahrzeug seine augenblickliche Lage zu übermitteln. Eine andere Möglichkeit wäre die, daß die festen Stationen Signale geben und daß dann auf dem Schiff bzw. Luftschiff festgestellt wird, aus welcher Richtung die Signale kommen. Würde man also etwa längs der Grenze eines Landes eine Reihe von festen Stationen errichten, so könnten die Insassen eines Luftfahrzeugs auch bei unsichtigem Wetter mit ihrem Empfangsapparat feststellen, ob sie die Grenze überflogen haben oder nicht (105). Wie schon erwähnt, haben wir auch für die Elektrizität kein unmittelbares Sinnesorgan, wir können dieselbe vielmehr nur mittelbar an den Wirkungen erkennen, die sie auf andere Körper ausübt, wenn wir davon absehen, daß wir stärkere elektrische Ströme auch direkt durch das Gefühl wahrnehmen können. Wollen wir sehen, ob ein Körper, z. B. ein geriebener Hartgummistab, elek- trisch ist, so benutzen wir ein Elektroskop, bei dem wir bekanntlich von der Eigenschaft Gebrauch machen, daß sich gleichnamig elektrische Körper — in diesem F"all dünne Metallfolien — gegen- seitig abstoßen, während sich ungleichnamig elek- trische Körper anziehen. Man kann diese Elek- troskope außerordentlich empfindlich machen, so daß man damit auch die geringsten Elektrizitäts- mengen nachweisen kann. Es sind Apparate ge- baut worden, deren Energieschwelle ungefähr bei iO~'^ Erg liegt (106); die Energiemenge, durch die die Blättchen solcher empfindlicher Elektro- skope noch in Bewegung versetzt werden, ist also 10 Millionen mal kleiner als die kleinste Energie- menge, durch die das Auge und das Ohr gerade noch gereizt werden und man kann sagen, daß die Arbeit, die zu einem einzigen Augenaufschlag nötig ist, für lOO Billiarden Elektroskopausschläge ausreichen würde. Diese hochempfindlichen In- strumente spielen nicht nur bei radioaktiven Unter- suchungen eine große Rolle, sie sind auch zum Nachweis der oben erwähnten Photoströme not- wendig, die noch angezeigt werden, selbst wenn sie nur noch eine Stärke von I0~'^ Ampere be- sitzen (107). Noch empfindlicher gegen statische Ladungen als diese Elektroskope ist ein Apparat, der zum erstenmal von Ehrenhaft gebaut worden ist und der von ihm und anderen Forschern haupt- sächlich zur Untersuchung der P'rage nach dem Elektrizitätsatom verwendet wurde (108). Es handelt sich dabei in der Hauptsache um 2 hori- zontale Kondensatorplatten, zwischen denen sich ein regulierbares elektrisches Feld befindet. In dieses Feld brachte nun Ehrenhaft äußerst 736 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 50 kleine, elektrisch geladene Ouecksilberkügelchen, deren Halbmesser nur ungefähr io~^ cm betrug und die deshalb mit dem Ultramikroskop be- trachtet werden mußten. Durch Regulierung des elektrischen Feldes konnte unschwer ein beliebiges Kügelchen schwebend erhalten werden, sobald jedoch die Ladung des Kügelchens sich auch nur um den geringsten Betrag änderte, was durch Ionisation der Luft erreicht werden konnte, begann das Kügelchen zu steigen bzw. zu fallen. Es konnten auf diese Weise Ladungsänderungen be- obachtet werden, die auch das empfindlichste Elektroskop nicht mehr anzeigen würde. An diesen Kügelchen konnte übrigens auch die Einwirkung des schon früher erwähnten Strah- lungsdrucks direkt wahrgenommen werden und bei Kügelchen von bestimmter Größe konnte so- gar der Anziehungskraft der Erde durch den Licht- druck das Gleichgewicht gehalten werden (109), eine Tatsache, die geeignet ist, die bekannten astrophysikalischen Hypothesen von Arrhenius zu stützen. Der Ehrenhaftsche Apparat stellt also nicht nur einen elektrischen Apparat dar, der noch vielfach empfindlicher ist, als die empfindlichsten Elektroskope; es können damit auch noch Drücke von I billionstel mg nachgewiesen werden (iio), so daß er, mit einer Wage verglichen, noch I Million mal empfindlicher gegen Drücke ist, als die empfindlichste Mikrowage. Zu den empfindlichsten Instrumenten, die wir besitzen, gehören auch die Galvanometer, bei denen sich hauptsächlich das Spiegelgalvanometer von Paschen(iii) durch seine große Empfind- lichkeit auszeichnet; es besitzt eine Reizschwelle von etwa i billionstel Erg und gestattet noch Ströme von weniger als I0~" Ampere zu messen, so daß damit z. ß. noch die äußerst schwachen Ströme nachgewiesen werden können, die ent- stehen, wenn man das Galvanometer mit 2 Stellen des menschlichen Körpers, etwa der Ober- und Unterseite einer Hand, verbindet. Es hat sich dabei gezeigt, daß diese elektrischen Ströme von Gemütsbewegungen beeinflußt werden; wir haben es also hier mit einer ähnlichen Erscheinung zu tun, wie bei den schon erwähnten Apparaten, durch welche Gefühlsvorgänge registriert werden können. Ebenso empfindlich wie das Pasch ensche Spiegelgalvanometer ist das Ein t ho vensche Saitengalvanometer (112), von dem schon oben die Rede war. Interessant ist dessen Verwendung zur Aufzeichnung des Elektrokardiogramms. Durch die Bewegungen des Herzens entsteht nämlich ein elektrischer Strom, der sog. Aktionsstrom, den man z. B. an den beiden Händen abnehmen und dann durch das Galvanometer gehen lassen kann. Das letztere zeigt deutlich die Stromschwankungen an, die sich bei jedem Herzschlag wiederholen und die bei einem gesunden Herzen von ganz be- stimmter Art sind. Arbeitet das Herz, etwa in- folge eines Klappenfehlers, nicht normal, so zeigt sich dies sofort an der aufgezeichneten Herzschrift, dem sog. Elektrokardiogramm, weshalb das Saiten- galvanometer für die Diagnostik von Herzkrank- heiten von großem Wert ist, wie es auch sonst noch vielfach in der Elektrophysiologie Verwen- dung findet. Mit seinem Galvanometer ist Ein- thoven sogar das Kunststück gelungen, die Diagnose bei Herzkranken zu stellen, die mehrere km von ihm entfernt waren (113). Es ist dies übrigens nur ein Beispiel von vielen für die An- wendung der Elektrizität bei Fernübertragungen, die wir schon beim Telephon und beim Tele- graphen sowie bei der Fernphotographie erwähnt haben ; auch die Temperatur läßt sich z. B. auf diese Weise in der Ferne ablesen und registrieren. Eine große Rolle in der Physik spielt die Ver- tauschung der Sinnesorgane; wo ein Sinnesorgan versagt, muß ein anderes, das sich zur Messung besser eignet, an dessen Stelle treten, wie ja auch der Blinde das fehlende Auge durch die tastende Hand und durch das verfeinerte Gehör zu er- setzen sucht. Als ein Beispiel von vielen sei hier erwähnt, daß man mit Hilfe des Auges viel besser als mit dem Ohr feststellen kann, ob 2 Stimmgabeln ge- nau aufeinander abgestimmt sind oder nicht, ganz abgesehen davon, daß dabei gar nicht in Betracht kommt, ob man ein musikalisch geübtes Ohr hat oder nicht. Man befestigt zu diesem Zwecke die beiden Stimmgabeln in 2 zueinander senkrechten Richtungen und versieht jede Stimmgabel mit einem kleinen Spiegelchen, das man an einem der beiden Zinken festmacht. Läßt man nun einen Lichtstrahl auf das eine Spiegelchen auffallen und sorgt man dafür, daß der reflektierte Strahl das Spiegelchen der anderen Stimmgabel trifft, fängt man ferner den von diesem Spiegelchen kommen- den Strahl auf einem Schirm auf, so führt der dort entstehende Lichtpunkt, falls man beide Stimmgabeln anschlägt, 2 aufeinander senkrecht stehende Schwingungen aus, die sich zu einer Lissaj ousschen Schwingungskurve addieren. Sind nun die beiden Stimmgabeln ganz genau gleich gestimmt, so muß die entstehende Lissa- joussche Kurve ihre Gestalt unverändert beibe- halten ; ist dies nicht der Fall, so sind die Schwingungszahlen der Stimmgabeln verschieden. Im letzteren Fall treten allerdings auch Schwe- bungen auf, so daß man die Verstimmung auch mit dem Ohr wahrnehmen kann; wenn jedoch die Verstimmung eine äußerst geringe ist und die Schwebungen infolgedessen sehr weit auseinander liegen, kann man nur noch mit der optischen Methode den Unterschied der beiden Töne fest- stellen. Die meisten Apparate sind für die Beobach- tung durch das Auge eingerichtet, wie wir uns ja auch im täglichen Leben hauptsächlich mit Hilfe des Auges in der Außenwelt orientieren; es gibt aber auch Fälle, wo das Ohr mit Vorteil als das beobachtende Sinnesorgan verwendet wird, wie wir schon oben bei der Schlagwetterpfeife gesehen haben. Einen etwas kuriosen Fall für N. F. XVIII. Nr. 50 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 737 die Anwendung des Ohrs stellt das akustische Thermometer von Quincke (114) dar, bei dem von dem Zusammenhang zwischen der Tempera- tur eines Körpers und der Schallgeschwindigkeit in demselben Gebrauch gemacht wird. Es kann also z. B. mittels des Ohrs die Temperatur einer Luftmasse dadurch bestimmt werden, daß man mit Hilfe des bekannten Quinckeschen Inter- ferenzapparats die Schallgeschwindigkeit in dieser Luft bestimmt. Verschiedenfach wurde auch schon versucht, mit Hilfe der Selenzelle dem Blinden mittelst des Ohrs einen Ersatz für das Auge zu verschaffen. So baute Fournier d'Albe (115) einen Apparat, bei dem sich eine Selenzelle mit einer Stromquelle und einem Hörer, wie er in ähnlicher Form von Reis, dem ersten Erfinder des Telephons, ver- wendet wurde, in einem Stromkreis befindet. So- bald die Selenzelle belichtet wird, wird der Strom und infolgedessen auch der Ton stärker, so daß dem Blinden die Helligkeitsunterschiede durch das Ohr zum Bewußtsein gebracht werden. Er wird also z. B. mit Hilfe dieses Apparates, des sog. Optophons, hören, ob die Sonne scheint, ob er sich einem Fenster nähert, ob bei Nacht ein Zim- mer beleuchtet ist usw. Es ist auch schon der Plan aufgetaucht, mit Hilfe der Selenzelle eine Blindenlesemaschine zu konstruieren; leider wird aber das meiste Zukunftsmusik bleiben, wie so manches andere, was man mit Hilfe der Selen- zelle zu erreichen hoffte. Auch sonst sind uns natürlich in allem, was wir zu erreichen wünschen, Grenzen gesetzt. Es wird aber trotzdem immer unser Bestreben sein, der Natur hinter ihre Geheimnisse zu kommen und so unsere Sinne immer mehr zu erweitern für das, was um uns herum vorgeht; wir werden immer mehr darnach trachten müssen, die Natur- gesetze kennen zu lernen, dann ist auch das scheinbar unmögliche möglich, dann kann man z. B. auch mit Hilfe eines Thermometers die Höhe eines Berges messen ; man braucht zu diesem Zwecke nur zu wissen, in welcher Weise der Luftdruck mit der Höhe abnimmt und wie ande- rerseits der Siedepunkt des Wassers vom Luftdruck abhängt. Es werden dann noch manche rätsel- hafte Erscheinungen, vielleicht auch die Frage der Wünschelrute, ihre Erklärung finden. Wie lange hat es nur gedauert, bis wir dem merkwürdigen Zusammenhang zwischen den Sonnenflecken und Polarlichtern auf die Spur kamen? Erst in dem letzten Jahrzehnt konnte man feststellen, daß es sich dabei um die Wirkung elektrischer Strahlen handelt, die von der Sonne ausgehen. Bekannt ist auch die Anekdote von Liebig (116), der sich nur mit großem Mißtrauen einer Kur in Gastein unterwarf Er untersuchte nämlich vor- her das Wasser und da es sich als vollständig neutral erwies, erklärte er, destilliertes Wasser könne er zu Hause billiger haben. Hätte Li e big etwas vom Radium gewußt, wäre ihm die Heil- wirkung der Quelle nicht so rätselhaft gewesen. Es ist natürlich keine P"rage, daß es noch weitere Naturgesetze und Naturerscheinungen gibt, die wir noch nicht kennen und denen gegenüber wir uns in einer ähnlichen Lage befinden, wie der Blinde gegenüber dem Licht. Aber wie wir uns, nach einem Ausspruch von Lodge (117), vorstellen können, daß ein Geschlecht blinder Physiker imstande sein könnte, experimentelle Mittel zur Erforschung der Lichtstrahlen zu er- sinnen, so ist es nach allen bisher gemachten Er- fahrungen sicher, daß wir noch weitere Naturer- scheinungen entdecken werden, die unseren Sinnen bis jetzt verborgen geblieben sind. Literaturverzeichnis. 1) H. Spencer, Die Prinzipien der Psychologie. I. Bd. E. Schweizerbart, Stuttgart 1882. S. 380. 2) O. Wiener, Die Erweiterung unserer Sinne. J. A. Parth, Leipzig 1900. S. 20. 3) Beckmannsche Thermometer. 4) Jul. H. West, .'^nnalen der Physik. Bd. 65. 1S98. 5) C. V. Boys, Proceedings oi the Royal Society. 47. 1890. 6) E. F. Nichols, The Astrophysical Journal. 13. 1901. 7) H. C. Jones und J. S. Guy, Physikalische Zeitschrift. Bd. 13. 1913. 8) F. Paschen, Ann. d. Phys. Bd. 48. 1893. 9) O. Wiener, (2) S. 8. 10) Handwörterbuch der Naturwissenschaften. G. Fischer, Jena. Bd. VIII. S. 991. 11) F. Eraich, Die Naturwissenschaften. Bd. 3. 1915. 12) J. Giesen, Ann. d. Phys. Bd. 10. 1903. 13) D. Steel e und K. Grant, Proceedings of the Royal Society. 82. 1909. 14) Die Naturwissenschaften. Bd. 3. 1915. S. 316. 15) O. Wiener, Physik und Kulturentwicklung. B. G. Teubner 1919. S. 10. 16) A. Top 1er, Ann. d. Phys. Bd. 56. 1895. 17) M. Töpler, Ann. d. Phys. Bd. 57. 1S96. iS) P. Lebedew, Ann. d. Phys. Bd. 6. 1901. 19) E. Wiechert, Phys. Zeitschr. Bd. 9. 1908. 20) Naturwissensch. Wochenschrift. Bd. 24. 1909. S. 29. S. auch A. Fürst, Die Wunder um uns. Vita, Deutsches Verlagshaus, Berlin. 21) H. Berger, Die Naturwissenschaften. Bd. I. 1913. 22) O. Wiener, (15) S. II. 23) Handwörterbuch der Naturwissenschaften. Bd. VIII. S. 461. 24) Handwörterbuch der Naturwissenschaften. Bd. VIII. S. 462. 25) J. Donau, Monatshefte für Chemie. Bd. 34. 1913. 26) A. Voller, Phys. Zeitschr. Bd. 6. 1905. 27) Handwörterbuch der Naturwissenschaften. Bd. IX. S. 207. 28) Müller-Pouillet, Lehrbuch der Phylik. II. Bd. Optik. 1907. S. 654. 29) Die Naturwissenschaften. Bd. 2. 1914. S. 1059 und S. 344- 30) S. Valentiner und R. Schmidt, Ann. d. Phys. Bd. 18. 1905. 31) H. Haber, Die Naturwissenschaften. Bd. i. 1913. 32) O. Wiener, (2) S. 17. 33) L. Grätz, Die Elektrizität und ihre Anwendungen. 19. Aufl. 1919. S. 729 u. S. 730. 34) W. Altberg, Ann. d. Phys. Bd. 23. 1907. 35) E. Dieckmann, Ann. d. Phys. Bd. 27. 1908. 36) P. Lebedew, Ann. d. Phys. Bd. 35. 1911. 37) O. Wiener, (2) S. 17. 38) H. Ambro nn, Ann. d. Phys. Bd. 10. 1903 u. Die Naturwissenschaften. Bd. 2. 1914. S. 907. 39) C. Ries, Sehende Maschinen. Verlag C. tluber, Diefien vor München 1916. 40) A. Korn, Fortschritte der naturw. Forschung. Bd. I. 738 Naturwiäsenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. 50 1910. S. auch A. Korn, Die Naturwissenschaften. Bd. 4. 1916. 41) Müller-Pouillet, Lehrbuch der Physik. 4. Bd. 1914. S. 1060. 42) W. Block, Das Weltall. Bd. 14. 1913/14. 431 P. Guthnick und R. Prager, Die Naturwissen- schaften. Bd. 3. 1915. 44) MüUer-PÖuillet, (28) Tafel IV. 45) O. Wiener, (2) S. 24. 4Ö) H. Rubens und O. v. Baeyer, Berliner Berichte 1911. 47) R. W. Wood, Phys. Zeitschr. Bd. 14. 19 13. 48) L. Grätz, (33) S. 769. 49) L. Grätz, (33) S. 772. 50) G. Bern dt. Das Weltall. Bd. 6. 1906. 51) Th. Toramasina, Phys. Zeitschr. Bd. 2. 1900. 52) H. Lö wy und G. Leimbach, Phys. Zeitschr. Bd. 11. 1910 u. Bd. 13. 1912. 53) W. Friedrich, P. Knipping und M. Laue, Ann. d. Phys. Bd. 41. 1913. 54) Handwörterbuch der Naturwissenschaften. Bd. VIII. S. 468. 55) Die Naturwissenschaften. Bd. 3. 1915. S. 621. 56) Zeitschrift für den phys. u. ehem. Unterricht. 19 15. 5. Heft. S. 276. 57) F. Auerbach, Die Physik im Kriege. G. Fischer, Jena 1916. S. 57. 58) M. Wolf, Stereoskopbilder vom Sternhimmel. J. A. Barth, Leipzig. 59) C. Pulfrich, Stereoskopisches Sehen und Messen. G. Fischer, Jena 1911. 60) Handwörterbuch der Naturwissenschaften. Bd. VII. S. 762. 61) Müller-Pouillet, (28) S. 384. 62) K. Schwarz Schild, Über das System der Fixsterne. B. G. Teubner, 1916. S. 39. 63) K. Schwarzschild, (62) S. 8. 64) O. Mente, Unsichtbare Strahlen. Die Wunder der Natur, 3. Bd. Deutsches Verlagshaus Bong & Co. 65) Die Naturwissenschaften. Bd. 2. 191 4. S. 30S. 66) O. Mente, (64). 67) R. W. Wood, The Astrophysical Journal 36. 1912. 68) Th. .Vogt, Prometheus. Bd. 23. 1912. 69) H. Sieveking, Die meoschlichen Sinne und ihre Erweiterung durch Instrumente. B. G. Teubner, 1913. S. 14. 70) P. Guthnick, Fortschritte der naturwissenschaftl. Forschung, i. Bd. 1910. 71) P. Zeeman, Phys. Zeitschr. Bd. 13. 1912. 72) M. V. Rohr, Die Naturwissenschaften. Bd. 4. 1916. 73) O. Wiener, (2) S. 11. 74) Müller-Pouillet, (28) S. 454. 75) Müller-Pouillet, (28) S. 455. 76) A. Köhler, Phys. Zeitschr. Bd. 5. 1904. 77) H. Siedentopf und R. Zsigmondy, Ann. d. Phys. Bd. 10. 1903. 78) F. Kirchner und R. Zsigmondy, Ann. d. Phys. Bd. 15. 1904. 79) Handwörterbuch der Naturwissenschaften. Bd. VII. S. 323- 80) Müller-Pouillet, (28) S. 458. 81) R. Zsigmondy, Zur Erkenntnis der Kolloide. G. Fischer, Jena. 1905. S. 97. 82) Müller-Pouillet, Bd. IV. S. 1252. 83) Müller-Pouillet, (82) S. 1265. 84) M. V. Laue, Die Naturwissenschaften. Bd. 2. 19 14. 85) L. Grätz, Die Atomtheorie in ihrer neuesten Ent- wicklung. J. Engelhorns Nachf., Stuttgart 1918. 86) Müller-Pouillet, (28) S. 756. 87) E. Gehrcke, Die Anwendung der Interferenzen in der Spektroskopie und Metrologie. F. Vieweg, Braunschweig. 88) L. Boltzmann und A. Top 1er, Ann. d. Physik. Bd. 141. 1870. 89) K. Zellinek, Phys Zeitschr. Bd. il. 1910. 90) E. Lech er, Lehrbuch der Physik. B. G. Teubner, 1917. S. 103. 91) H.Abraham und J. Lemoine, Annales ds chimie et de physique. 20. 1900. 92) L. Foucault, Ann. d. chim. et de phys. 41. (3). 1854. 93) E. Marx, Ann. d. Phys. Bd. 33. 1910. 94) W. Feddersen, .^inn. d. Phys. Bd. 103. 1858. 95) Müller-Pouillet, (82) S. 897. 96) K. Neusc heier, Ann. d. Phys. Bd. 34. 191 1. 97) B. Glatzel, Elektrische Methoden der Moment- photographie. F. Vieweg, Braunschweig. gS) Handwörterbuch der Naturwissenschaften. Bd. VIII. S. 927. 99) Müller-Pouillet, (28) S. 573. 100) E. Mach, Populärwissenschaftliche Vorlesungen. 101) G. Eichhorn, Fortschritte der naturwissenschaftl. Forschung. Bd. 5. 1912. 102) E. Ruhmer, Phys. Zeitschr. Bd. 2. 1900. 103) O. Wiener, (15) S. 31. Handwörterbuch der Naturw. Bd. I.X. S. 48. 104) Zeitschrift für den phys. u. ehem. Unterricht. 30. Jahr- gang. 191 7. S. 263. 105) G. Eichhorn, Fortschritte der naturw. Forschung. Ed. 7. 19:3. 106) O. Wiener, (15) S. 33. 107) E. Wertheimer, Phys. Zeitschrift. Bd. 14. 1913. 108) D. Kon stantino wsky , Die Naturwissenschaften. Bd. 6. 1918. 109) Zeitschrift für den phys. u. ehem. Unterricht. 30. Jahr- gang. 1917. S. 40. 110} O. Wiener, (15) S. 34. tu) F. Paschen, Ann. d. Phys. Bd. 48. 1893. 112) W. Einthoven, Ann. d. Phys. Bd. 12. 1903. Bd. 14. 1904 u. Bd. 21. 1906. 113) Du Bois-Reymond, Die Naturwissenschaften. Bd. I. 1913. 114) G. Quincke, Ann. d, Phys. Bd. 63. 1S97. 115) E. Fournier d'Albe, Phys. Zeitschr. Bd. 13. 1912. M. Ikle, Das Weltall. Bd. 15. 1914/15. 116) H. Sieveking, Die Naturwissenschaften. Bd. 2. 1914. 117) O. Lodge, Leben und Materie. K. Curtius, Berlin 1908. S. 89. Einzelberichte. Chemie. Ein neu aufgefundener Bestandteil der Zellulose. Bisher dachte man sich die Ent- stehung der Zellulose durch den Zusammentritt meherer Monosen unter gleichzeitigem Austritt von Wasser. Danach erhielten diese Verbindungen den gemeinsamen Namen Polyosen. Ihre wahrschein- liche Bruttoformel ist (C,jH,|,Or,)n wobei n eine verhältnismäßig große Zahl bedeuten muß. Man hatte aber keine genaue Kenntnis über den inneren Aufbau und die Größe des Moleküls. Es bedeutet nun einen großen Fortschritt, daß Pictet und Sarasin, veranlaßt durch die Erfolge der Tief- temperaturverkokung bei der Kohle, diese Methode auf die Zellulose übertragen haben. Nach einer Mitteilung der schweizerischen P'achpresse heißt es: „Reine trockene Baumwollzellulose wurde bei niederem Luftdruck von etwa 15 mm der trockenen Destillation unterworfen, wobei die ersten Anteile bei 210" übergingen. Diese bestanden zuerst aus einer wasserartigen Flüssigkeit, dann ging die Haupt- N. F. XVm. Nr. 50 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 739 menge des Destillates, ein gelbes dickflüssiges Öl über, während ein wenig Kohle als Rückstand zurückblieb. Das meiste Interesse erweckte die gelbe ölige Flüssigkeh, die durch Behandlung mit Tierkohle und durch Umkristallisieren aus heißem destilliertem Wasser in reinem Zustand, als farb- lose Nadeln oder Plättchen erhalten werden konnten. Zum Vergleich wurde auch die eben beschriebene Destillation mit reiner Stärke durchgeführt, wobei man dieselben Resultate erzielte, und das gelbe Öl ebenfalls überdestillierte. Dadurch war einmal der Beweis erbracht, daß Zellulose und Stärke bei trockener Destillation unter geringem Luft- druck denselben Körper liefern. Die Analyse des neuen Körpers ergab die gleiche prozentuale Zu- sammensetzung wie Zellulose und Stärke nämlich CgHjiiOj. Der neue Stoff löste sich in Wasser, Alkohol und Azeton, gab in wäßriger Lösung neutrale Reaktion. In gewöhnlichem Zustand drehte er die Ebene des polarisierten Lichtes nach links. Wurde er aber mit Schwefelsäure erhitzt, so ging die Linksdrehung in eine Rechtsdrehung über. Nach einigen Stunden bildete sich schließ- lich die sog. D-Glukose. Es ist merkwürdig, daß man diesen neuen Körper schon vor etlichen Jahren auf ganz andere Weise gewonnen hat, ohne natürlich seinen Zusammenhang mit der Zellulose und Stärke zu kennen. Tan r et konnte damals durch die Hydrolyse der, in den Nadeln gewisser Tannenarten vorkommenden, Glukoside wie Picein und Koniferin einen Körper darstellen, welcher dieselben Merkmale aufwies wie die neuerdings aus Zellulose und Stärke gewonnene Verbindung. Tanret nannte die Verbindung damals Levo- Glukosan. Müller und Vongerichten haben dieselbe Verbindung auf einem dritten Weg er- halten. Die große Bedeutung der Entdeckung liegt darin, daß man neue Anhaltspunkte bekommen hat, um die Konstitution der Zellulose feststellen zu können. Kennt man einmal die Konstitution der Zellulose, so ist auch sofort die Möglichkeit gegeben, aus ihr andere wichtige Körper abzuleiten oder sie aus minderwertigen Substanzen aufzubauen usw. Nun kommen auf Grund besonderer For- schungen Bietet und Sarasin von der Univer- sität Genf zu der Schlußfolgerung, daß die in dem genannten Levo Glukosan vorhandene Atomgrup- pierung schon im Molekül der Zellulose vorhanden sein muß. Beide Forscher sind weiter der Mei- nung, daß die Zellulose und Stärke Polyosen des LevoGlukosans sind, das Zellulosemolekül also durch Zusammenkettung mehrerer solcher Levo- Glukosanmoleküle gebildet sein dürfte. R. Bley. Über Carbide hat Otto Ruf f in einer neuer- dings veröffentlichten Arbeit (Zeitschr. f. Elektro- chemie 24, 157 bis 162; 1918) eine zusammen- fassende Betrachtung angestellt, über die im fol- genden kurz berichtet sei: Im elektrischen Ofen, d. h. bei Temperaturen über 2000" nehmen Wasserstoff, Stickstoff und Kohlenoxyd — vielleicht unter Bildung besonderer Verbindungen — nicht unbeträchtliche Mengen von elementarem Kohlenstoff auf. Die so ent- stehende kohlenstoffhaltige Atmosphäre vermag sämtliche Oxyde zu den ihnen zugrunde liegen- den Elementen zu reduzieren oder in Karbide umzuwandeln. Der feste Kohlenstoff beteiligt sich an der Reaktion erst dann, wenn das Oxyd oder dessen Reduktionsprodukt schmilzt und die Schmelze den Kohlenstoff — unter Karbidbildung — auflöst. Die Zahl der bekannten Karbide ist, da die meisten Metalle mit dem Kohlenstoff mehrere Verbindungen zu bilden vermögen, recht groß; besonders häufig sind unter den kohlen- stoffärmeren Karbiden Verbindungen von der Formel McgC, z. B. FcgC und Me^C, und unter den kohlenstoffreicheren Karbiden Verbindungen von der F"ormel MeC, z. B. SIC und WC, zu fin- den.') Welches Karbid ein gegebenes Metall mit dem Kohlenstoff bildet, hängt von den Versuchs- bedingungen, insbesondere der Konzentration von Metall und Kohlenstoff in der karbidbildenden Phase und der Temperatur ab. Die Beständigkeit der Karbide ist sehr verschieden. Manche Kar- bide, so das MugC sind dem festen oder flüssigen Metall gegenüber vollkommen beständig, andere wie z. B. das Fe.,C, zersetzen sich beim Schmelz- punkte in Metall oder kohlenstoffärmeres Karbid oder Graphit, bilden sich aber bei Steigerung der Temperatur von neuem, ein Beweis dafür, daß sie nur bei hohen Temperaturen beständig sind, bei niedrigen Temperaturen aber, also vor allem auch unterhalb ihres Schmelzpunktes, nur eine durch geringe Zersetzungsgeschwindigkeit vorgetäuschte scheinbare Beständigkeit besitzen, d. h. sich in metastabilem Gebiete befinden. Beim Verdampfen zerfallen alle Karbide mehr oder minder weit, und zwar geht der Zerfall um so weiter, je edler das in dem Karbid enthaltene Metall ist. Mg. Künstliche Patina. Ein interessantes Verfahren zur Herstellung von Patinaüberzügen auf kupfernen Gegenständen beschreibt Ott o Grotrian in der Zeitschr. f Elektrochemie, Bd. 24 (1918), S. 83, folgendermaßen: Man mache den Kupfergegen- stand, den es zu patinieren gilt, zur Anode, stelle ihm eine Kupferkathode gegenüber und elektro- lysiere in einem Bad von Kupfervitriol 3 Minuten lang mit einer Stromdichte von etwa i Amp. pro qdm. Nimmt man dann die Kathode aus der Lösung und läßt die Anode darin, so überzieht sich diese etwa im Laufe eines Tages mit einem festhaftenden, bläulichgrünen dünnen Überzug, der durch mehrfache Wiederholung des ganzen Vor- ganges beliebig verstärkt werden kann. Die Zu- sammensetzung der künstlichen Patina entspricht der Formel CuO • 3 H2O = H2Cu(0H)i. Mg. ') Me = Metallatom von beliebiger „Wertigkeit". 740 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVIII. Nr. so Die Chlorknallgasreaktion. Schon Robert B u n s e n hatte in seinen in Gemeinschaft mit H. E. Roscüe in den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts ausgeführten, für die Entwicklung der Photochemie grundlegenden Arbeiten über das sogenannte Chlorknallgas nachgewiesen, daß die Ge- schwindigkeit, mit der sich die beiden Elemente Chlor und Wasserstoff unter der Einwirkung des Lichtes zu Chlorwasserstoff vereinigen : CI., + Hg = 2 HCl + 44 Cal. Nach einer als „photochemische Induktion" be- zeichneten Vorperiode schwächeren Umsatzes unter sonst gleichen Bedingungen der Intensität des Lichtes direkt proportional ist. Die photochemi- sche Induktion, die, da sie mehr oder minder regelmäßig auftritt, lange Zeit hindurch als eine charakteristische Erscheinung angesehen worden ist, hat ihre Ursache, wie Ch. Burgess und D. L. Chapman i. J. 1906 festgestellt haben, in gewissen fast stets in dem Reaktionsgemisch vorhandenen Verunreinigungen, ist also für die eigentliche plio- tochemische Reaktion nicht wesentlich. In diese selbst haben neuere Arbeiten einerseits von A. Ein- stein, andererseits von W. Nernst und Lotte Pusch einen tieferen Einblick gewährt. Macht man die einfache und auch früher schon häufig ausgesprochene Annahme, daß die primäre Wir- kung des Lichtes in einer Spaltung der Chlor- molekeln in ihre Atome bestehe, so ergibt sich nach Einstein durch Anwendung der Quanten- theorie auf diesen Vorgang die einfache Beziehung Q N h.v' in der N die Anzahl der durch das Licht gespaltenen Molekeln Q die von dem Chlorknallgasgemisch absorbierte Menge Lichtenergie er . cm '^ h die Plancksche Konstante = 6,55 • lo-*^' -^ sec und V die Schwingungszahl des absorbierten Lichtes darstellt. Versucht man aber dieses Gesetz auf die Chlorknallgasreaktion anzuwenden, so bemerkt man, daß der Umsatz, wie vor allem von Max Bodenstein nachgewiesen worden ist, tatsäch- lich ganz außerordentlich, viele, viele tausendmal, größer ist, als man erwarten sollte. Diese über- raschende Tatsache ist nun neuerdings von Nernst in sehr einfacher Weise gedeutet worden. Die primäre Reaktion verlaufe, so meint Nernst, allerdings genau entsprechend dem angeführten Gesetze, der Gesamtumsatz aber sei trotzdem kein Maß für die Wirkung des Lichtes, denn die nach der Gleichung Cl, = Cl + Cl entstandenen einzelnen Chloratome wirkten zu- nächst nach der Gleichung Hg + Cl = HCl -f- H + 25 Cal. unter Bildung von einer Molekel Chlorwasserstoff und einem freien Wasserstoffatom auf eine Wasser- stoffmolekel, das freie Wasserstoffatom wirkt dann seinerseits nach der Gleichung H + Cl., = HCl + Cl + ly Cal. unter Bildung einer zweiten Molekel Chlorwasser- stoff und Regenerierung des freien Chloratoms auf eine Chlormolekel, und dieser Vorgang setze sich so lange fort, bis sich entweder zwei freie Chloratome oder zwei freie Wasserstoffatome oder ein freies Chloratom und ein freies Wasserstoffatom zu einer Molekel vereinigen und die Kette von Umsetzungen so ihr Ende findet. Die Kette selbst aber muß, da die Anzahl der durch das Licht gespaltenen Chlormolekeln im Verhältnis zu der Anzahl der insgesamt vorhandenen Chlormolekeln und damit die Anzahl der in einem gegebenen Augenblick vorhandenen freien Chlor- oder Wasser- stoffatome sehr gering und infolgedessen auch die Wahrscheinlichkeit des die Reaktionskette be- endigenden Zusammentreffens zweier freier Atome nur sehr klein ist, sehr lang sein, d. h. es müssen, wie die Erfahrung ja auch gezeigt hat, unendlich viel mehr Chlorwasserstoffmolekeln gebildet wer- den, als man nach der Anzahl der durch das Licht gespaltenen Chlormolekeln zunächst meinen würde. Wenn die im Vorstehenden skizzierte Auffas- sung richtig ist, muß das Einst einsehe Grund- gesetz erfüllt sein, wenn man die einzelnen Chlor- atome im Augenblick ihrer Entstehung durch einen geeigneten Stoff, mit dem sie zu reagieren ver- mögen, so wegfängt, daß sich an die Wegfang- reaktion keine Folgereaktion anschließen kann. Dieser Gedanke hat sich nun zwar nicht im Falle des Chlors, wohl aber in dem an sich ganz ähn- lichen F"alle des Broms verwirklichen lassen, wobei als Aufnahmesubstanz für die freiwerdenden Brom- atome Hexahydrobenzol diente. Die nach dem Einsteinschen Gesetz berechneten und die im Versuch gefundenen Werte zeigten innerhalb der Fehlergrenze der Versuche eine recht befriedigende Übereinstimmung, ein Beweis dafür, daß das grund- legende Einsteinsche Gesetz und wohl auch die Deutung der beobachteten Abweichungen von ihm der Wirklichkeit entspricht. ') Mg. Für gesättigte Dämpfe, die mit der flüssigen Phase im Gleichgewicht stehen, hat van der Waals die Zustandsgieichung aufgestellt: worin p und T Druck und absolute Temperatur und der Index k die Daten des kritischen Zu- standes bezeichnen. « sollte hierin eine univer- selle Konstante etwa ^ 0,36 sein. Schon HappeP) hatte jedoch vermutet, daß die Abweichungen von diesem Wert, die bei verschiedenen Substanzen ') Vgl. W. Nernst, Zur Anwendung des Einstein- schen photochemischen Äquivalentgesetzes I, Zeilschr. f. Elektro- chemie 24 (1918), S. 335. — Lotte Pusch, Dasselbe II, Ebenda, S. 337. 2) Happel, Ann. Phys. !,•{, 340, 1904. N. F. XVm. Nr. 50 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. ?4i bestehen, nicht dem Zufall oder ungenauer Mes- sung zuzuschreiben sind. O. Venator (Ztschr. f. d. ges. Kälteindustrie 25, i u. 9, 1918; Ztschr. phys. Chem. 93, 242, 191 9) hat nun auf Grund umfangreicher Angaben über die Sättigungs- zustände von H^O, CO,, SO.,, NH3 und N., die «Werte für diese Substanzen berechnet und da- bei die Vermutungen Happels bestätigt gefun- T den. Die Werte von a hängen von =^ ab. Jede Substanz hat im 1«, ^| - Diagramm eine be- stimmte «Kurve. Die einzelnen «-Werte einer Substanz unterscheiden sich von den entsprechen- den einer anderen stets um einen konstanten Be- trag. Die «Kurven sind also sämtlich parallel. Hat man den Wert von a für eine Substanz für T einen Wert von gemessen, so genügt dies, um ihn für alle anderen Temperaturen zu be- rechnen, vorausgesetzt, daß « für alle Werte von T = O bis T = Tjj von einer Substanz bekannt ist. Dies ist bisher noch nicht vollständig, aber für Wasser doch schon über 60 "/„ dieses Bereiches der Fall. Für die Berechnung in der Nähe des absoluten O Punktes und des kritischen Punktes reicht jedoch die Genauigkeit des vorhandenen Zahlenmaterials noch nicht aus. Scholich. Eine praktische Vorrichtung zum Sammeln von Quellgasen beschreibt Dr. O. Hackel in der Chem. Zeitung, 1919, Nr. 83. Der von B u n s e n angegebene und von Fresenius empfohlene Apparat zum Auffangen von Quellgasen weist mehrere Nachteile auf, die sich beim praktischen Gebrauch störend bemerkbar machen. Er be- steht aus einem mit einer Einschnürung ver- sehenen Glasrohr, dem ein Trichter aufgesetzt wird. Die Apparatur wird umgekehrt unter Wasser gebracht und die Quellgase mit dem Trichter aufgefangen. Dabei machen sich jedoch manche Übelstände bemerkbar. Der Verf konstruierte daher folgende Vor- richtung, die sich als sehr brauchbar erwies und die Übelstände vermeidet : Die Apparatur besteht aus einer Glasflasche von dem Volumen der be- nötigten Gasmenge und einem in dem Flaschen- hals sehr gut festsitzenden Kautschukstopfen mit doppelter Bohrung. In die eine Bohrung wird ein Trichter mit möglichst weiter Mündung, aber sehr kurzem und nicht zu engem Stiel eingesetzt, in die andere ein kurzes Glasröhrchen, das nicht tiefer als der Kautschukstopfen in die Flasche hineinragt. Die Flasche wird dann ohne Aufsatz möglichst voll mit Wasser angefüllt, darauf der mit Trichter und Glasrohr versehene Stopfen vor- sichtig so eingesetzt, daß unter ihm keine Luft- blasen in der Flasche bleiben, was sich am ein- fachsten unter Wasser verrichten läßt. Dann füllt man den Trichter mit Wasser, bringt die Appara- tur unter Wasser und kehrt sie um. Ist die Be- seitigung aller Luftbläschen vollständig gelungen, wird der Trichter über die aufsteigenden Gas- blasen gehalten, welche anfangs sehr rasch und leicht eindringen, während das Wasser aus der Flasche durch das kleine Glasrohr abfließt. Wenn die Flasche fast zur Hälfte gefüllt ist, erfolgt das Eindringen der Gasblasen langsamer, geht aber auch dann noch bis zum Schluß von selbst und ohne Mühe vor sich. Nach vollständiger Füllung wird der Stopfen unter Wasser entfernt bei dauernd umgekehrter Haltung und die Flasche durch einen festsitzenden Kautschukstopfen ver- schlossen. Zur Überführung des so gesammelten Gases in die Hempelsche Gasanalysenbürette hat sich dem Verf folgende Einrichtung bestens bewährt: Sie besteht aus einem doppelt durchbohrten, gut in den Hals der P'lasche passenden Kautschuk- stopfen, zwei in die Bohrungen eingesetzte Glas- röhrchen und zwei auf letztere aufgesetzte Gummi- schläuche mit Quetschhähnen zum Schrauben. Dieser Stopfen wird bei mäßig geöffneten Quetsch- hähnen umgekehrt unter VN'asser getaucht, so daß die Röhren und Schläuche sich vollständig mit Wasser anfüllen, worauf die Quetschhähne gut ge- schlossen werden. Nun wird der Stopfen der ebenfalls umgekehrt unter Wasser gehaltenen Gas- flasche mit dieser Vorrichtung ausgetauscht, dar- auf die Flasche herausgenommen, die Schläuche, falls sie nicht ganz mit Wasser angefüllt sind, werden nachgefüllt. Weiterhin wird auf den einen Schlauch ein Trichter aufgesetzt, der mit Wasser angefüllt wird und aus dessen Stiel man die Luft- bläschen mit einem Draht entfernt. Der andere Schlauch wird mit Hilfe einer mit Wasser ge- füllten und mit einem Quetschhahn versehenen Kapillare mit der Gasbürette verbunden. Darauf wird der Quetschhahn unter dem Trichter ge- öffnet und das Wasser fließt in die Flasche. Nun werden die beiden anderen Quetschhähne geöffnet, wodurch nach Senkung des Niveaurohres das Gas in die mit Wasser gefüllte Maßbürette strömt. F. H. Zoologie. An Augen von grundbewohnenden Knochenfischen konnte W. Harms *j bemerkens- werte Feststellungen machen, die zugleich zeigen, wie wenig bisher die Verschiedenheiten von Knochen- fischaugen genauer bekannt sind, was ebensowohl mit der großen Zahl der Teleostier- Arten als mit der Kleinheit der Augen bei vielen von ihnen zu- sammenhängt. Es fand sich nämlich, daß wie bei den an Land gehenden tropischen Schlamm- springern, Periophthalmus und Boleophthalmus, so auch bei einer Lepadogaster- und einer An- guilla-Art, Anguilla canariensis, also bei Gat- tungen, die auch in unseren Meeren vertreten sind, ferner bei verschiedenen Gobiiden, endlich ') W. Harms: Über die Augen der am Grunde der Ge- wässer lebenden Fische. Zoologischer Anzeiger, Bd. 44, 1914, S. 35—41, 5 Abb. 742 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVm. Nr. 50 beim Kaulkopf, Schlammpeizger und bei der Schmerle unter den Süßwasserfischen das freibe- wegliche Auge unter einem vorgewölbten Stück durchsichtiger Haut oder einer ,,B rille" liegt. Auch bei Scorpaena und Antennarius, meint Verf, dürfte es so sein.') Der Ausdruck „Brille" ist dem Schlangenauge entnommen, bei welchem jedoch die bekannte „Brille" eine Bildung anderer Art ist, da sie durch Zusammenwachsung der Lider entsteht, weshalb ihre Rückseite sowie die Vorder- seite der Hornhaut mit ektodermalem Epithel be- kleidet ist. Letzteres ist bei den genannten Fischen, auch nach meiner Kenntnis des Periophthalmus- und Boleophthalmusauges, ^) nicht so; trotzdem zögert Harms, die Schlußfolgerung zu ziehen, daß bei allen diesen Fischen bei fehlenden Lid- Abb. I. Die Brille von Lepadogaster spec., durch zirkulären Schnitt abgeklappt. Das Auge liegt frei in der Höhle. Br Brille, Co Cornea, T abgeschnittener Tentakel. Abb. 2. Schnitt durch das Auge von Lepadogaster spec. Br Brille, C Campanula Halleri (Linsenmuskel), Ch Chorioidea, cjs „Conjunctivalsack" (nach Harms' vom Ref. nicht geteilter Auffassung«, mit Flüssigkeit ertüUt), Co Cornea, Ep Körper- epithel, 1 Iris, L Linse, R Retina, Rt Musculus retractor, in Wahrheit ein Bindegewebsstrang (Harms), Sc Sclera, vk vor- dere Augeukaramer. Beide Abbildungen nach Harms. bildungen die Hornhaut des Auges in zwei Schichten gespalten auftritt, da die vordere Schicht, ') Ebenso ist es bei Pr.otoptorus unter den Dipnoern nach Ho seh, Arch. f. mikr. Anat., Bd. 64, 1904. '') Franz, Die Japanischen Knochenfische der Samm- lungen Haberer und Doflein. Abhandl. d. math.phys. Klasse d. Akad. d. Wiss. München, Suppl. Bd. 4, i. Abhandl., München 1910, , eben die „Brille", obschon durchsichtig, bei Cottus die Schichten des Integuments deutichl ausgeprägt zeige und die hintere, die „Cornea", wie sonst ohne Grenze in die Sklera übergeht. Abb. I u. 2. Am lebenden Tiere wurden die lebhaften Be- wegungen des Aiiges unter der unbeweglichen „Brille" bemerkt. Übrigens kann man nach einem kleinen seitlichen Einschnitt in die „Brille" das ganze Auge herausziehen, ohne die Brille weiter zu verletzen, und ihre Verheilung erfolgt darauf in wenigen Tagen. Dabei wandert das Pig- ment von der umgebenden Haut in die „Brille" ein, die nach 10 — 14 Tagen gänz- lich mit Pigment durchsetzt ist, was „vielleicht als ein metaplastischer Vorgang aufgefaßt werden kann, indem die Brille wieder infolge Funkiions- änderung den Charakter der äußeren Haut an- nimmt". Gewiß recht einleuchtend. Die Bedeutung der Brille kann, wie Verf her- vorhebt, bei den Grundfischen natürlich nicht wie bei den Schlammspringern im Trockenschutz liegen, sondern primär müssen andere Ursachen für diese Gestaltung des Auges maßgebend gewesen sein, wie Schutz vor Steinchen oder Schlammteilen, g^ V. P'ranz, Jena. Botanik. Seit den vortrefflichen Untersuchun- gen Engelmanns über die Biologie der Purpur- bakterien ist vieles über dies Gebiet geschrieben worden, und es sind auch in der Diskussion der Probleme eine Reihe gegensätzlicher Auffassungen zutage getreten. Eine kritische Behandlung des Materials verbunden mit einer Fülle neuer Be- obachtungen liefert die umfangreiche Arbeit von Buder (Jahrb. f. wiss. Bot. 58. I91 8). Die Purpur- bakterien werden in zwei Gruppen gegliedert, die Thiorhodaceen (Thiospirillum, Chromatium), die Schwefelwasserstoff' verbrennen und dadurch Energie gewinnen, und die schwefelfreien Athio- rhodaceen (Rhodospirillumj , die ausgesprochen heterotroph sind, also organischer Substanzen zu ihrem Gedeihen bedürfen. Beiden gemeinsam ist der rote Farbstoff, das Bakteriopurpurin, das indes — analog wie das Chlorophyll — nicht einheit- lich ist, sondern sich aus 2 Komponenten, dem roten Bakterioerythrin und dem grünen Bakterio- chlorin zusammensetzt. Für das Bakteriopurpurin konnten insgesamt 9 Absorptionsbänder nachge- wiesen werden, wovon 6 im sichtbaren Teil des Spektrums, 3 im Infrarot liegen. Von den ersten 6 kommen 3 auf Rechnung des Bakterioerythrins, 3 auf Rechnung des Bakteriochlorins; die Absorp- tionen im Infrarot dagegen sind vermutlich einer dritten noch unbekannten P'arbstoffkomponente zuzuschreiben. Von großer Bedeutung sind nun 2 Tatsachen: erstens, daß die Absorptionskurve des Bakieriopurpuriiis der des Chlorophylls bis auf kleinere Abweichungen durchaus gegenläufig ist, zweitens, daß ein intimer Zusammenhang besteht, zwischen der Lage der Absorptionsbänder und N. F. XVm. Nr. 50 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 743 den phototaktischen Ansammlungen der Bakterien im Spektrum. Es sind nämlich genau dieselben Spektralbezirke, die von dem Bakteriopurpurin absorbiert werden und die auf die Bakterien die höchste anlockende Wirkung ausüben. Für beide Erscheinungen läßt sich von biologischer Warte aus eine Erklärung finden. Die Purpurbakterien gedeihen im allgemeinen am besten in einer Tiefe von '/a rn unter dem Wasserspiegel, und zwar an solchen Stellen, die oberflächlich mit Algenwatten und Wasserlinsenrasen dicht überzogen sind. Diese grüne Oberschicht wirkt gewissermaßen als Strahlenfilter; gemäß der Absorptionskurve des Chlorophylls werden nur gewisse Strahlen- bezirke des Spektrums durchgelassen (vor allem Gelb, Grün und Ultrarot). Gerade diese wenig geschwächten Zonen erfahren aber durch das Bakteriopurpurin die stärkste Absorption, d. h. die Purpurbakterien sind genau auf die Licht- strahlen eingestellt, die ihnen in ihrer Tiefenlage am reichlichsten geboten werden. Die Gegen- läufigkeit der Absorptionskurven ist also als äußerst zweckmäßige Anpassung zu betrachten. Dasselbe gilt nun von der Koinzidenz der Ab- sorption des Bakteriopurpurins und der Ansamm- lungsbezirkc. Die phototaktischen Ansammlungen beruhen darauf, daß die Bakterien, wenn sie aus dem Hellen ins Dunkle gelangen, ihre Schwimm- richtung plötzlich umkehren. Auf diese Weise wirkt jeder helle Bezirk, den sie durchqueren, als „Lichtfalle", in die sie zwar durch Zufall hinein- gelangen , in der sie aber auf Grund ihres Be- wegungsmechanismus dauernd festgehalten werden. Aber diese Bewegungsumkehr findet nicht bloß beim Fortschreiten vom Hellen ins Dunkle, son- dern auch beim Übergang von hohen zu niederen Lichtintensitäten statt. Setzt man nun die Bak- terien dem kontinuierlich wechselnden Licht eines Spektralbandes aus, dann verliert sich sehr bald die ursprünglich gleichmäßige Verteilung in der bakterienhaltigen Flüssigkeit, und man beobachtet deutlich abgesetzte Streifen stärkster Ansammlung, die genau den 9 Absorptionsbändern des Bakterio- purpurins entsprechen und durch mehr oder min- der verödete Zwischenzonen getrennt sind. Da nun den Bakterien Farbenempfindungen nicht zu- gesprochen werden können, so ist diese Erschei- nung dahin zu deuten, daß das Spektralband auf sie wirkt wie ein lediglich nach Hell und Dunkel abgetönter Lichtstreifen, und daß sie auf Grund ihrer positiv phototaktischen Veranlagung die Regionen größter Helligkeit aufsuchen. Allerdings entsprechen hierbei die Helligkeitswerte nicht denen des menschlichen Auges, was ja schon aus den Ansammlungen in dem für uns unsichtbaren Infrarot hervorgeht. Vielmehr ist die Sensibilität derart abgestuft, daß die für die Lebensführung wichtigsten Strahlenbezirke auch die stärkste An- lockung hervorrufen. Das schließt nun die Fol- gerung in sich, daß das von Bakteriopurpurin ab- sorbierte Licht im Haushalt der Bakterien eine grundlegende Rolle spielt, eine Annahme, die zwar noch nicht restlos bewiesen, aber doch wohl kaum von der Hand zu weisen ist. Demnach würde das Bakteriopurpurin bei den Purpurbakterien dieselben Funktionen haben wie das Chlorophyll bei den höheren Pflanzen, d. h. es würde die Grundlage für photosynthetische Vorgänge bilden. Tatsächlich steht eine P'örderung des Gedeihens unserer Organismen durch das Licht außer Frage. Allerdings kann die Bedeutung dieser Synthese nicht von der Tragweite sein, wie bei den höhe- ren Pflanzen, da die Thiorhodaceen vermittels der Schwefelverbrennung ja auch gleichzeitig eine Chemosynthese ausführen und die Athiorhodaceen auch organische Kohlenstoffquellen ausbeuten können. Es liegt daher die Bedeutung dieser Photosynthese wohl weniger in der Assimilation der Kohlensäure als in der damit Hand in Hand gehenden Produktion von Sauerstoff", der von allen Purpurbakterien für die Atmung, von den Thio- rhodaceen speziell noch für die Oxydation des Schwefelwasserstoffs benötigt wird. Tatsächlich ist in dem Milieu, in dem die Purpurbakterien zu leben gewohnt sind, meist ein äußerster Sauerstofif- mangel vorhanden, so daß dieser besondere Weg der Sauerstoffgewinnung sehr wohl verständlich wäre. Das sind aber noch theoretische Vorstel- lungen, die einer weiteren Begründung bedürfen. Peter Stark. Bücherbesprechungen. Müller-Freienfels, R., Persönlichkeit und Weltanschauung. Psychologische Unter- suchungen zu Religion, Kunst und Philosophie. XII u. 274 Seiten. Berlin und Leipzig 1919, B. G. Teubner. Nachdem R. Müller-Freien fels in meh- reren Arbeiten, namentlich in seiner „Psychologie der Kunst" sich der bedeutungsvollen Aufgabe, psychologische Typen aufzustellen, erfolgreich ge- widmet hat, versucht er in dem vorliegenden, neuesten Werke die Beziehungen zwischen Persön- lichkeit und Weltanschauung zu ermitteln. Nach einer allgemeinen Grundlegung gibt der Verfasser eine Übersicht über die verschiedenen Typen des Aff'ekt- und Intellektlebens, um in einem dritten Teile einzelne hervorragende Persönlichkeiten und deren Weltanschauungen zu analysieren. Die psychologische Methode erweist sich nicht nur dadurch als äußerst fruchtbar, daß sie bedeutsame Regelmäßigkeiten des Geisteslebens aufdeckt, son- dern auch dadurch, daß sie jedem Absolutismus in Weltanschauungsfragen die Wurzel abgräbt und daß sie einer künftigen Synthese der von den mannigfaltigsten Standpunkten aus gewönne- 744 Naturwissenschaftliche Wochenschrift, N. K. XVm. Nr. 50 nen Wehauffassungen erfolgreich vorarbeitet. Das durchaus klar geschriebene, von gründlichen und umfassenden Kenntnissen zeugende Werl« wird viele Freunde finden ! Angersbach. Devrient, E. , Familienforschung. (Aus Natur und Geisteswelt Nr. 350.) Zweite, ver- besserte Auflage. Leipzig und Berlin 1909, B. G. Teubner. Die nach acht Jahren in zweiter Auflage vor- liegende Anleitung zu genealogischer Forschung, ein Buch von reichem und genauem, teils ins historische, teils ins biologische Gebiet fallendem Inhalt, wird voraussichtlich immer zahlreichere Freunde finden und der theoretisch wie praktisch hoch wichtigen Familienforschung solche zuführen. IVlan entnimmt aus ihm unter anderem, daß Ottokar Lorenz der Neubegründer dieser Wissenschaft ist, deren Bedeutung seit seinem Tode in größerem Umfange gewürdigt wurde, als er wohl selbst erwartet hatte, und daß, was uns Biologen besonders interessiert, in Anlehnung an ihn einst die Ansicht sich Bahn brach, daß jeder Ahn genau den Bruchteil an der Kernsubstanz geliefert hat, der seiner mathematischen Stellung in der Ahnentafel entspricht. Das Buch ist weniger als Darstellung vorliegender Ergebnisse gedacht, sondern, wie gesagt, als Anregung zu ernster Arbelt, und in dieser Hinsicht dürfte es sowohl dem Historiker durch Einführung in die biologi- schen Probleme als auch ganz besonders dem Biologen durch zielbewußte Einführung in den einschlägigen Teil der historischen Quellenforschung von großem Nutzen sein. V. Franz, Jena. Obermiller, Dr. J., Kreislauf der Energien in Natur, Leben und Technik. IV, 68 S. Leipzig 1919, J. A. Barth, kart. 3,60 M. Eine große Anzahl Vorträge, die der Verfasser im Frühjahr 19 18 in Brüssel gehalten hat, ist hier zusammengestellt. Ohne tielere Kenntnisse vor- auszusetzen wird die schwerwiegende Frage der Energieumwandlung behandelt. Sowohl in der Technik (Dampfmaschine, Explosionsmotor, Kälte- maschine, Bleiakkumulator, Überlandzentrale), der Chemie (Bildung von Kohle, offenen und ge- schlossenen Kohlenwasserstoffen, Stelnkohlenteer- und Leuchtgasfabrikation, Umwandlung des Ben- zols in Farbstoffe und Hellmittel, Pikrmsäure und Sprengstoffe, Radium), als auch dem allgemeinen Leben (Assimilation der Pflanze, Atmung des Tieres, Verwertung der verschiedenen Nahrungs- stoffe und Verdauungsprozeß, Düngung), zeigt sich die Umwandlung der Energie. Gerade die umfassende, allgemein verständliche Behandlung dieser wichtigen Frage bildet den überaus großen Wert dieser Neuerscheinung, deren Lektüre nicht dringlich genug empfohlen werden kann. Reutlinger. Strakosch-Grassmann, G., „Ernteaussichten von 1919 — 1923". IV u. 466 S. Wien 1919, Manzsche Verlagsbuchhandlung. Auf Grund einer 242jährigen Periode, deren Vorhandensein ohne tieferen Beweis behauptet wird, glaubt der Verfasser die Nachrichten über Witterung, Ernte usw. aus den Jahren 1193 — 97, 1435 — 39 und 1677 — 81 zur Prognose der Ernte- aussichten von 1919 — 23 verwenden zu können. Es wäre zunächst meteorologisch der Beweis zu erbringen, daß eine 242jährige Periode besteht, was jedoch wegen der langen Periode schwierig sein dürfte. Die an verschiedenen Stellen gegen berufene Meteorologen geführten Schläge wären besser durch sachliche Beweise, als durch scharfe Worte geführt worden. Von Interesse ist ledig- lich das reiche, kulturhistorische Material, das der Verfasser zusammengetragen hat, wenn auch hier- von vieles werllos erscheint. Reutlinger. Floericke, Dr. Kurt, Spinnen und Spinnen- leben. Stuttgart 191 9. Franckhsche Verlags- buchhandlung. Kosmos. 8**. T"] S. 1,50 M. In anschaulicher Weise werden biologische Einzelheiten aus dem Leben der Spinnen be- sprochen. Die Beschreibung geht von den in unserer Heimat vorkommenden Spinnen aus und zeugt von der liebevollen Betrachtungsweise des Verfassers, mit der sich ein aus früheren Veröffent- lichungen bekannter leichtflüssiger Stil verbindet, der wohl geeignet erscheint, recht viele Leser zum selbständigen Beobachten der reizvollen Spinnenwelt zu veranlassen. Es bleibe dahinge- stellt, ob Sätze wie folgende: — „Die Tarantel muß also ebenso wie z. B. die Dolchwespe oder die höherstehenden Raubtiere gewisse ana- tomische Kennt nisse besitzen undLage undBedeutung des Nervensystems ganz genau kennen" — in ihrer apodiktischen Art richtig sind. In Anbetracht des zu erwartenden Leserkreises und im Interesse der wissenschaft- lichen Genauigkeit wäre bei solchen und ähn- lichen Aussprüchen etwas mehr Vorsicht empfohlen. Ferd. Müller. Illbalt: Willy Kodweifi, Die Erweiterung unserer Sinne durch die Physik. (Schluß.) S. 729. — Einzelbcrichte : Fielet und Sarasin, Ein neu aufgefundener Bestandteil der Zellulose. S. 73S. Otto Ruff, Über Carbide. S. 739. Otto Grotrian, Künstliche Patina. S. 739. W. Nernst und L. Pusch, Die Chlorknallgasreaktion. S. 740. O. Venator, Gesättigte Dämpfe. S. 740. O. Ilackel, Eine praktische Vorrichtung zum Sammeln von Quellgasen. S. 741. W. Harms, Augen von grundbewohnenden Knochenfischen. (2 Abb.) S. 741. J, Buder, Biologie der Purpurbakterien. S. 742. — Bücherbesprechungen; R. M üUer- Freienfels, Persönlichkeit und Weltanschauung. S. 743. E. De- vrient, Familienforschung. S. 744. J. Obermiller, Kreislauf der Energien in Natur, Leben und Technik. S. 744. G. Strakosch-Grassmann, Ernteaussichten von 1919 — 1923. S. 744. Kurt Floericke, Spinnen und Spinnen- leben. S. 744. Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstraße 41, erbeten. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S. Naturwissenschaftliche Wochenschrift. Neue Folge t8. Band; der ganzen Reihe 34, Band. Sonntag, den 21. Dezember igrg. Nummer 51. Die Entstehung des Säugerzahns und die Paläontologie. [Nachdruck verboten.] Von Prof. Dr. Edw. Hennig, Tübingen. Über drei wichtigere Methoden verfügen wir, um Entwicklungsgeschichte betreiben zu können: Embryologie (Ontogenie) und vergleichen- de Anatomie ziehen ihre Rückschlüsse auf die Vergangenheit aus dem, was sich heute vor unseren Augen vollzieht oder an Tatsachen datbietet. Beides sind indirekte Wege. Die Paläonto- logie liefert unmittelbar das historische Tat- sachenmaterial und zwar in der wirklichen zeit- lichen Aufeinanderfolge des Geschehens. Es sollte nicht immer wieder des Hinweises bedürfen, daß dieser direktere Weg wohl die sicherste der drei Stützen für das entwicklungsgeschichtliche Gerüst abgeben muß. Keiner der drei Wege aber kann für sich allein zum Ziele führen, denn jeder ar- beitet mit bruchstückhaflem Wissen. Erst die gegenseitige Befruchtung und Kontrolle der Me- thoden vermag soweit Sicherheit des Erkennens zu gewähren, wie sie uns überhaupt erreichbar ist. Dabei ist Arbeitsteilung der Forschung selbst- verständlich. Doch mehr denn ein Schwergewicht darf kein F"orscher seinem Fache bei Unter- suchungen dieser Art zugestehen, falls er nicht in fruchtlose oder gefährliche Einseitigkeit verfallen will. Die Paläontologie hat sich die Anerkennung wenigstens der Gleichberechtigung erst erkämpfen müssen. Noch immer scheint es möglich über „das Werden der Organismen" (Oskar Hertwig, Fischer- Jena 19 16) zu schreiben, ohne von Arbeits- gebiet und Ergebnissen der Paläontologie auch nur einigermaßen zureichende Vorstellungen zu vermitteln. ^) Im allgemeinen aber darf doch gesagt werden, daß der Umschwung zum Bessern nunmehr da ist, daß vorhandenes Wissen auch nutzbringend ausgewertet wird. Um so mehr gilt das natürlich, je weiter die Spezialisierung irgendeines Organs in der Gesamtheit der heu- tigen Tier- und Pflanzenwelt vom primitiven Aus- gangspunkt der Entwicklung weggeführt hat, je weniger selbst die Wiederholung der Phylogenie im individuellen Entwicklungsgang den allmäh- lichen Aufstieg in allen Einzelheiten wiederzu- spiegeln imstande ist. Wir haben einen solchen Fall beispielsweise in der Entstehung des Säugetiergebisses wie seines Einzelelements, des Zahns. Wie sehr auf diesem Gebiet im Gegensatz zu einigen anderen die Palä- ontologie Anlaß hat, die Unvollkommenheit ihres jetzigen Materials zu betonen und zu beklagen, ') Siehe meinen Hinweis darauf in ,,Die Naturwissen- schaften" 1916, S. 514 — 51S. wird sich noch zeigen. Dennoch ist sie gegen- über den genannten Schwesterwissenschafien hier in einem ganz überragenden Vorteil. Die Litera- tur über den Gegenstand läßt denn auch erkennen, daß ihre Bedeutung dafür allerseits erkannt ist. Um so interessanter ist es zu sehen, wie ver- schiedene Ausgangspunkte zu äußerst verschiede- nen Auffassungen und Darstellungen des bisher bekannten Sachverhalts geführt haben. Es sind recht auffallige und scharfe Unter- schiede, die allein schon in den Hartbestandteilen des Körpers — es ist das ja eine sehr wesent- liche Beschränkung, der sich die paläontologische Forschung im Gegensatz zu ihren Wissens- schwestern unterworfen sieht — Säugetiere von nächst niederen Wirbeltieren, insbesondere Rep- tilien trennen: Vor allem ist unter diesen der Schädel und an ihm wieder der Bau des Unter- kiefers hervorzuheben. Eine eigentümliche Er- fahrung ist es denn auch, daß fossil Schädel und Schädelteile bei Reptilien vergleichsweise selten gefunden werden, bei Säugetieren dagegen einen großen Prozentsatz der Funde ausmachen. Es geht das so weit, daß die den Säugern nächst- stehenden Reptilgruppen ihre zum Teil erstaunlich weitgehenden Ähnlichkeiten auch in diesem ganz äußerlichen Punkte bewähren. F"ür unsere Frage nach der Umwandlung des Reptilzahns in den des Säugetieres ist das von erfreulichster Bedeutung. Dennoch ist das zur Beurteilung wertvolle Material noch ganz empfindlich dünn gesät. Denn was wir an säugetierähnlichen Reptilien in ge- wissen Konlinentalablagerungen der Triasperiode kennen, sind großenteils Formen, die zwar als nicht fernstehende Verwandte, aber allein ihrer Dimen- sionen wegen nicht als in der direkten Abstam- mungslinie der Säugetiere gelegen in Frage kom- men können. Wüßten wir's nicht aus allen Säuger- resten während des ganzen Mesozoikums, wir müßten fast deduktiv aus einem sehr allgemeinen paläontologischen Gesetze schließen, daß die Ur- Säugetiere kleine bis winzige Wesen gewesen sein müssen, deren Spuren sich natürlich leichter ver- lieren. Es hat ja scheinbar auf den ersten Blick etwas Widersinniges in sich, einen neuen Stamm in seinen Anfängen „jung" zu nennen, wo wir doch mit Gewißheit eine gewaltige Ahnenreihe an nieder organisierten Lebewesen, in unserem Fall einen Aufstieg durch Amphibien und einen Teil der Reptilien voraussetzen. Dennoch trifft der Ausdruck wie aui das Individuum bemerkens- werterweise auch auf Tiergruppen unsers Systems zu, die demnach eine natürliche, nicht bloß sehe- 746 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVin. Nr. si matische Größe darstellen müssen. Die Knospe tief unten am Repiilienstamm also, die sich zum Säugergeschlecht weiter entwickelte, schuf das Neue wie üblich, in unscheinbaren Anfängen. Es darf gleich hinzugesetzt werden, daß die Säuge- tiere ähnlich wie die Knochenfische, aber ab- weichend von dem durchaus Gesetzmäß gen auf niederer Stufe erstaunlich lange verharrten und eine urplöizliche Entfaltung erst im Tertiär er- fuhren, nachdem ihre Vorgänger auf dem Throne der Tierwelt, die Reptilien, vom Schauplatz ab- getreten waren. Eine verhähnismäßig scharfe Grenze zwischen reptihenhaften und säugermäßigen Zuständen betrifft nun noch besonders Gebiß im ganzen, Zahn im ein- zelnen. Die Reptilien pflegen einheitlich im ganzen Maul einfache Kegelzähne, höchstens von ver- schiedener Größe zu haben, die zudem häufig im Laufe des Lebens gewechstlt werden können. Die Säugetiere — und die nächststehenden Rep- Elemente. Auch hier also noch Reduktionen auf dem Wege zur Spezialisation. Für Ober- und Unterkiefer, wie für Schneide-, Eck- und besonders vordere und hintere Backenzähne sind die Wege nun selbst innerhalb der Art völlig verschieden. Es kann hier nicht darauf ankommen, alle diese verborgenen Fäden bloßzulegen. Nur zu der natürlich nicht ganz einfachen Terminologie sei ein Schlüssel an die Hand gegeben. Von Cope angebahnt wurde gerade auch in dieser Hinsicht die Methode von Osborn weiter und weiter ausgebaut. Die Darstellung ist unter dem Namen Differenzierungstheorie bekannt. Denn sie geht auf den Nachweis aus, daß aus dem einfachen Kegelzahn der Reptilien durch Gliederung des Zahnkeims und Zahnindividuums alle Säugetierzähne ableitbar seien. Die ersten Etappen des Aufstiegs seien kurz-schematisch die folgenden Stadien der Zahnentwicklung (Molaren, Prämolaren) : haplodont = Kegelspitze protodont = Spitze mit 2 Nebenzacken trikonodont = 3 gleichwertige Spitzen trituberkulär dgl. im Dreieck angeordnet von der Seite von oben ^ • tJkA. • • • AM • • • MiK • ^ • • tilien beginnen schon damit — zeigen ein differen- ziertes Gebiß, d. h. eine Arbeitsteilung der Funk- tionen und damit Reichtum an Zahngestalten. Zugleich vermindert sich die Zahl der Zahne und ein Ersatz findet im allgemeinen überhaupt nur einmal statt. Einem beirächtlichen Verzicht auf der einen Seite (wenig Zähne, 2 Generationen) steht somit ein Ausbau des Zahnindividuums auf der andern gegenüber, der Erstaunliches leistet in Mannigfaltigkeit und Nutzfähigkeit. Die Menge muß der „Persönlichkeit" weichen, um Höchst- leistunjen möglich zu machen! Den Geheim- nissen dieses Äusbaus gilt es nun eben nachzu- spüren. Von paläontologischer Seite und zwar von nordamerikanischen Forschern ergingen die ersten Anregungen. Äußerst scharfsinnige Untersuchungen haben die Vergleichsniethoden zu einem hohen Grade der Verfeinerung vorgetrieben. In das Chaos unübersehbarer Abwandlungen der Zahngestalt wurde Licht getragen durch Auflösung der scheinbar regellos gebauten Kauflächen in ihre Einzelbestand- teile: Jedes Höckerchen wurde für sich in seinen Geschicken verfolgt und zu diesem Zwecke mit eigenem Namen belegt. Da stellte sich dann heraus, daß all die ewig wechselnden Bilder wie in einem Kaleidoskop aus wenigen, stets wieder- kehrenden Bausteinen zusammengesetzt sind. Ein wichtiges Geheimnis dt-r Mannigfaltigkeit besteht aber neben der Gruppierung und Verbindung in der Unterdrückung und Ausschaltung vorhandener Damit wäre durch erste Differenzierungen ein Grundtyp erreicht, über den gewisse Formen kaum hinausgekommen sind. Er bietet für die Zerkleine- rung der Nahrung noch besonderen Vorteil dadurch, daß bei einander gegenüberstehenden Zähnen je- weils Spitze und Lücke einander entsprechen, also ein ausgezeichneter Zerreißnngs- und Zerbrechungs- apparat geschaffen ist: ^p^^ Hier darf als Regel gelten, daß die Spitze de» Dreiecks im Oberkiefer nach innen, im Unterkiefer nach außen gestellt ist: = Trigon: oben außen • • • innen 0 0 0 ^ Trigonid : unten außen Sehr bald stellen sich weitere Gehilfen ein. Zu- nächst in Gestalt endständiger niedriger Erweite- rungen, Erhebungen mit kleinen Spitzchen (Talon, Talonid) auftretend wachsen sie sich rasch zu selbstätidigen Höckern aus. So wird aus dem Dreizack der Vierspitzen-Zahn (bunodont). In- dem noch weitere, mehr sekundärer Bedeutung, sich einschalten, können schließlich 6 Spitzen in einer Krone auftreten. (Gerade bei primitivsten Säuge- tieren sehen wir auch diese Zahl noch überschritten : N. F. XVm. Nr. 51 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 747 multituberkulat und in gewissem Sinne gehen auch die Elefanten weit darüber hinaus.) Zu ihnen gesellen sich an der Außenseite des Zahns gelegentlich Pfeiler bis zur Dreizahl, die das Bild weiter komplizieren. Kaum einmal treten alle diese Elemente zugleich auf. Latent und poten- tiell sind sie überall anzunehmen und werden je nach Bedarf entwickelt oder fallen gelassen, zu Längs-, Querjochen, Halbmonden und anderen Kaufiguren miteinander verbunden. Ihre Benen- nung und Lage ist im wesentlichen die folgende ^) (Unterkieferelemente führen die Endung id): spitzigkeit auch phylogenetisch erhalten hätten durch Verschmelzung benachbarter Reptilien-Kegelzähne, wobei natürlich zahlreiche Kombinationsmöglich- keiten von vornherein gegeben sind. Es muß mehr als eine bloß theoretische Möglichkeit für solche Entwicklung zugegeben werden. Sie ist eine wohl nirgends angefochtene Tatsache bei den eigen- artigen Kauplatten der Lungenfische. Embryo- logisch sowohl wie paläontologisch sehen wir dort zahlreiche Stiftzähnchen miteinander auf gemein- samer Basis sich in radialen Reihen ordnen, die dann mit der Zeit zu einfachen, fast glatten Jochen linke Molaren: oben : aufi :n Pa Me PI Ml Pr Hy innen Med End Päd HId Prd Hyd hinten hinten außen Pr = Protoconus Pa = Paraconus Me= Metaconus Hy= Hypoconus PI r= Proioconulus Ml = Metaconulus Prd = Protoconid Med= Metaconid Päd = Paraconid Hyd= Hypoconid End = Entoconid Hld := Hypoconulid (auch Mesoconid) Außenpfeiler (Ungulaten) von vorn nach hinten: oben: Parastyl, Mesostyl, Metastyl unten: Metastylid, Entostylid, Hyposiylid oben : unten ; Jochbildungen: Vorderes Joch = Protoloph 1 Metalophid Hinteres Joch = Metaloph } Hypolophid Außenwand ^ Ectoloph , (Hypoconulid) linke Prämolaren: Pr Tr oben : vorn PI Ml Deu Tet innen Deud Tetd unten: vorn Päd Prd Med hinten hinten außen Pr = Protocon Deu = Deuterocon Tr = Tritocon Tet = Tetartocon PI = Proioconulus Ml = Metaconulus Prd = Protoconid Deud = Deuteroconid Med = Metaconid Tetd = Tetartoconid Päd = Paraconid Gleichfalls durch einen Paläontologen, den Südamerikaner Ameghino, angeregt, aber ver- schiedentlich entworfen und zur wissenschaftlichen Tat erhoben erst durch die Embryologie seitens Roses, Kükenthals und Adloffs wurde eine andere Lehrmeinung, die Konkreszenz-Theorie: Nachweisbare Verschmelzungen von Zahnanlagen bei Embryonen sollen als Beweis dafür dienen, daß die Säugerzähne überhaupt ihre Viel- oder Mehr- ') Osborn, Evolution of Mammalian molar teeth. New York 1907, S. 41, 63, 71, 82—83. werden und höchstens im Alter durch Abkauung wieder ganz verschwinden können. Bei den Säugern aber läßt uns die Paläontologie in dieser Hinsicht im Stich, ist wenigstens bisher nicht in der Lage gewesen, irgendeine Bestätigung für die Verwachsungstheorie beizubringen. So erfreut sich denn zurzeit in Paläontologen Kreisen die Osborn- sche Anschauung und Nomenklatur fast allgemeinen Anklangs und findet Widerhall auch bei namhaften Zoologen ( W e b e r - Amsterdam, Die Säugetiere, Jena 1904). 748 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVni. Nr. si Doch ist neuerdings eine dritte Lehre bzw. Modifikation der vorigen hervorgetreten, die Aufmerksamkeit beanspruchen darf, die Dimer- Theorie von Bolk- Amsterdam (1913, etwas abgeändert und ergänzt 1914). In gewissem Sinne geht sie einen IVIittelweg, nimmt von beiden vorgenannten etwas an, doch nicht ganz ohne eigene Abänderungen. Die Differenzierungen vom Stadium des trituberkulären Typs an werden zugegeben, doch mit dem Vorbehalt, daß der ideelle wahre Ausgangspunkt ein mehr- (6 ) spitzi- ger Zahn und der häufigste Vorgang Reduktion sei. Zum trituberkulären oder mulütuberkulaten Zahn aber führe nicht die Entwicklung aus dem haplo- donten Zahn im Osbornschen Sinne durch bloße Differenzierung. (Und damit wird in der Tat ein schwacher Punkt der Paläontologie angegriffen.) Sondern hier haben wirklich Verwachsungen statt- gefunden, wie das am lebenden Tier unmittelbar beobachtet werden kann. Auch dabei aber wird eine wichtige Einschränkung gemacht: nicht die in der Längsachse des Kiefers nebeneinander stehenden Zähne verwachsen, sondern nur solche, die quer dazu (iabio lingual) einander benachbart sind, daher also einem und demselben zahnbilden- den Organ entstammen, der gleichen „Zahn- Familie", nur ursprünglich getrennten Genera- tionen angehören. Dependort schließt sich ferner der Verfasser in der Auffassung und Dar- stellung an, daß es sich streng genommen nicht um Verwachsungen, sondern vielmehr um unvoll- kommene Trennungen von Zahnkeimen handle. Die Gtneraiionen entstünden so schnell nacheinander, daß man sie fast als gleichaltrig betrachten müsse. Immerhin sind die beiden Teile (Di Mer) als Pro- tomer und Deuteromer noch unterscheidbar. Es ist hierzu die etwas gewaltsam-willkürliche Voraus- setzung erforderlich, der Ausgangspunkt sei nicht bei Formen mit stark (säugerhaft) beschränktem und daher zeitlich langwierigem Zahnwechsel zu suchen, sondern gerade im Gegenteil bei solchen mit sehr lebhaftem, schnellem Aufeinanderfolgen der Gene- rationen. Bei der Konkreszenz je zweier Glieder der Kette müßte dann freilich ein gewisser Rest ganz unterdrückt worden sein. Jedenfalls ent- spricht eine Generation des Säugetierzahns hier- nach nicht einer, sondern zwei solchen beim Reptil. Und ferner stellt nicht jede Spitze und Säuger- zahnkrone einen Kegelzahn des Reptilstadiums dar, wie es eine primitivere Anschauung vom Ver- schmelzen der Zahnindividuen wollte. Der Übergang vom trikonodonten zum trituber- kulären Zahn erfolgt nun eben nicht im Sinne der Differenzierungsiheorie durch eine nirgends nachweisbare Verschiebung der Spitzen einer dreizähligen Reihe, sondern durch Zusammenwir- kung zweier. Die Entstehung der protodonten, also dreizackigen Krone wird dabei folgerichtig schon ins Reptilgeschlecht zurückverlegt, inner- halb dessen sie ja bei säugetierähnlichen Formen tatsächlich bekannt ist. Hier aber wird wieder der Differenzierung des Kegelzahns, nicht einer Verwachsung in der Längsrichtung des Kiefers das Wort geredet. Andererseits wird die nicht zu leugnende Inkonsequenz vermieden, daß durch bloße Differenzierung erst viele Spitzen entstanden, dann aber die Zahl wieder vermindert worden sei. Auch Verminderung kann nachträglich vielmehr außer durch Fortfall und Unterdrückung mittels Verschmelzung von Spitzen zustande kommen, wie die Hauptvermehrung aus der Vereinigung von ganzen Zähnen als Verdoppelung hervorge- gangen sei. Kurz j ed e S p i t z e n ver m eh ru n g parallel zur Kieferachse wird als Er- gebnis einer Differenzierung, diejeni- gen quer dazu jedoch als solche der Konkreszenz aufgefaßt. Bolk schafft eine eigene Bezeichnungsweise für die Zahnspitzen: der mittlere und Haupthöcker des Protomer wird mit P, der des Deuteromer mit D bezeichnet. Die beiden Nebenspitzen hier und dort werden von vorn nach hinten zählend mit I und 2, bzw. 3 und 4 bezeichnet. Die voll- ständige Zahn- (nicht Gebiß-) Formel lautet also: innen 4 D 3 2 P I Die Frage, ob auch dreifache Verschmelzung vorkomme, wird gleichfalls berührt und das bei Primaten in erster Linie bekannt gewordene sog. C ara bei I ische Höckerchen auf der Innenseite der Backenzähne als ein gelegentlich mit aufge- nommenes „Tritomer" angesprochen. Hier und da muß selbst ein Cingulum oder Basalband die Stelle einer angedeutet vorhandenen Sondergene- ration vertreten. Ja bei den altertümlichen Trico- nodonten ist ein solches innengelegenes Cingulum nach Osborn sogar typisches Merkmal und wird von Bolk in dem Sinne verwertet, daß auch diese m.esozoischen Säugetiere nicht mehr den einfachen dreispitzigen Reptilzahn übernommen hatten, sondern schon die typische Verschmelzung, bzw. Nichttrennung der Zahnkeime aufwiesen. Nun tritt aber mit den Trikonodonten zu- gleich eine andere Gruppe auf, die Miiltituber- kulaten. Es berührt recht eigenartig, daß Bolk diese Erscheinungen an der Wurzel des Säuge- tiergeschlechts für seine Theorie nicht nutzbringen- der zu verwerten gewußt hat. Es liegt daran, daß er hauptsächlich die jüngeren komplizierteren Vertreter dieser im Alltertiär ausgestorbenen Ab- teilung ins Auge faßte, im übrigen aber rezentes, nicht paläontologisches Zahnmaterial die Grundlage seiner Untersuchungen bildete. Die älteren Ver- treter der Multituberkulaten aber scheinen gerade- zu modellartig seine hypothetischen oder ideellen Anfangsglieder des ganzen Entwicklungsprozesses zu verkörpern. Freilich sind bislang nur ganz spärliche Funde überhaupt gemacht worden und dies Wenige ist selbst in der paläontologischen Literatur noch unzureichend bekannt gegeben, N. F. XVm. Nr. 51 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 749 zum Teil sogar nachträglich wieder verloren worden. Statt also auf sie abzielen zu können, sucht Bolk seine Ausgangstypen bei lebenden Primaten, die ja in der Tat viel Primitives an sich haben. Das ist an sich nicht ganz konsequent und hat denn auch richtig zu einem recht groben Widerspruch zwischen seinen nur durch ein Jahr getrennten Begründungsschriften der Dimer- Theorie geführt. In der ersten (191 3, S. loo) heißt es wörtlich: „Während es der Hauptgedanke jener (der Diffe- renzierungs-) Theorie ist, eine Vermehrung der Zahnhöcker bis höchstens sechs innerhalb der Säugetierreihe anzunehmen, welche dann von einer Verringerung gefolgt sein kann, . . . denke ich mir die maximale Zahl der Höcker gleich am Anfang anwesend . . . Alle Zähne sind von einer sechshöckerigen Grundform*) ableitbar. Im Laufe der weiteren Plntwicklung hat nur Verringerung der Höcker stattgefunden." In der zweiten Abhandlung (1914) aber finden wir ein Kapitel „Die Sechshöckerphase" eingeleitet durch folgenden Satz über das innere Cmgulum der Trikonodonten : „Anfangend als ein niedriger Höcker an der lingualen Seite des Zahnes, werden wir es bis zur Ensiehung eines vollständig drei- spitzigen Gebildes verfolgen". Das geschieht: Aber die Aneinanderreihung ist nicht eine histo- risch gegebene nach Maßgabe geologischen Alters, sondern es ist eine Formenreihe aus der leben- den Welt, aufgefaßt und hingestellt als genetische Folge. Typisch dafür ist der Ausdruck (S. 26): „Eine vollständige Ausbildung des Deuteromer bringt schließlich (!) auch die Nebenspitze 3 zur Entwicklung, wodurch der dimere Zahn sämt- liche morphogenetische Potenzen, die in ihm auf- gegangen sind, analysiert hat." Mit geringen, an dieser Stelle aufgezählten Ausnahmen, die den vollen Zahnbau zeigen, soll das Protomer schon zur Differenzierung, d. h. Reduktion (zunächst Doppelhöckerphase) übergehen, während das Deu- teromer sich erst zur Dreispitze entfaltet. Mit anderen Worten : Was mit Recht an der Diffe- renzierungstheorie als unnatürlich getadelt wurde, kehrt hier wieder; ein Höhepunkt der Spitzen- entwicklung muß innerhalb, statt wie angekündigt am Ausgangspunkt des Säugerstammes über- schritten werden , der Lauf der Dinge ist kein geradliniger, sogar rückläufig. Betrachten wir statt dessen die ersten Multi- tuberkulaten, von Osborn sehr treffend als Paucituberkulaten bezeichnet, wie sie uns in Süd- afrika in einem Schädel mit Oberkiefergebiß, in Württemberg in ganz wenigen vereinzelten und winzigen Zähnchen an der Grenze von Trias und Jura bekannt geworden sind, in entsprechenden Schichten Englands ebenso seltene, doch nicht so typische Vertreter aufweisen. Es handelt sich be- sonders um die drei Gattungen Mikrolestes, Trigly- ') entsprechend zwei verwachsenen protodonten Zähnen (Ref.). phus (Deutschland), und Tritylodon (Basuto-Land), deren verwandtschaftliche Beziehungen zueinander außer acht bleiben können. Gemeinsam ist diesen Zahnformen eine Anordnung der Höckerchen streng in Längsreihen des Zahns und longitudinal zum Kiefer. Eine bzw. zwei scharf ausgeprägte Furchen trennen die Reihen. Die Zahl der Höcker einer Reihe ist normal 3, selten 4 und höchstens ein- mal 5. Es gibt unter anderen einen noch unbe- schriebenen zweireihigen „Mikrolestes"(?)-Zahn der Formel — ; die dreireihigen „Triglyphus"-Zähne 3 haben 4 , wobei der letzte Zahn der Mittelreihe 3' nur als unvollkommene Nebenspitze angesehen werden kann. Für die hauptsächlichen Spitzen 3_ gilt auch bei Tritylodon-Zähnen die Formel 3 . T Das ist rein äußerlich genommen, was die DimerTheorie in ihrer ersten Fassung braucht und verlangt 1 Eine Vereinigung dreispitziger Zahnkeime, wobei die Nahtstellen in den Furchen noch ziemlich deutlich in die Erscheinung treten. Ältere Säugezähne sind nicht bekannt. Gleich- altrig sind nur einige jener Ur- Beuteltiere mit protodonten Zähnen, die zwar dem Ansehen nach grundverschieden erscheinen und deshalb nie in irgendeine Verbindung zu ihren Zeitgenossen ge- bracht werden konnten, im Lichte der Bolkschen Darstellung aber ihnen plötzlich recht nahe rücken. Weisen die wenig jüngeren Trikono- dontier ein vollständiges Protomer und ein nur durch dasCingulum angedeutetes Deuteromer auf, so zeigt Mikrolestes beide in voller Ausbildung und Triglyphus Tritylodon haben gar noch das Tri- tomer in gleicher Vollkommenheit, aber in gleich geringem Maße von Verwachsung der Teile. Vom Standpunkt der Dimer-Theorie aus wären die letzteren die primitiven Urformen des Säuger- stadiums, „Mikrolestes" das nächste Stadium, die Trikonodonten dagegen bereits spezialisiertere Typen. Bei den in vielen Dingen ja noch durch- aus primitiven Primaten aber würde sich die Bolk- sche P"ormenreihe wohl ebenfalls in diesem Sinne eine Umstellung von „Anfang" und „Ende" ge- fallen lassen müssen ! Nun sollen die so charakterisierten Beziehungen in entwicklungsgeschichtlicher Hinsicht nicht als schon erwiesene Wahrheit hingestellt werden. Es gibt noch manches Wenn und Aber, so in bezug auf die Größenordnung der Spitzen, die Wurzel- bildungen und dergleichen. Als Entwurf und Ar- beiishypoihese mögen sie immerhin ihre Dienste anbieten. Jedenfalls will solche Auffassung an- nehmbarer erscheinen als die sehr gewundene Darstellung, die Bolk vom Multituberkulaten Ge- biß gibt. Es ist nämlich Tatsache, daß die Zahl der Höcker bei den Backenzähnen dieser Gruppe im 750 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVm. Nr. 51 Verlaufe des Mesozoikums sich progressiv steigert bis zu Zahlen über 20 in einem Zahn. Diese Ver- mehrung hat aber nur statt in longitudinaler Er- streckung und ist ja, wie wir sehen, bei Triglyphus und Tritylodon schon im Gange. Um dies zu er- klären, greift Bolk seltsamerweise zu der Doppel- hilfshypothese: einmal daß eine Drehung jedes einzelnen Zahnkeimes um 90" stattgefunden habe, so daß nun die miteinander verschmelzenden Ge- nerationen nicht mehr von innen nach außen, sondern von hinten nach vorn im Kiefer sich an- schlössen; zweitens, daß die IMultituberkulaten un- versehens, trotz dieser dafür ungünstigen Stellung und im Gegensatz zu allen anderen Säugern nicht allein über 2, sondern auch über 3 Generationen von Zahnkeimen mit der Zeit noch weit hinaus- greifen konnten. Die Dreizahl der Höcker Reihen wird also dabei mit der Dreispitzigkeit der Einzel- generation in Verbindung gebracht statt mit einem Proto-, Deutero- und Tritomer. Gewiß, der Gegensatz gegen die übrige Säuger- welt in der Spitzenvermehrung besteht. Aber bei der oben gewählten Orientierung betrifft er die Differenzierung, nicht die Konkreszenz. Und wäh- rend letztere ja das Neue sein soll, worin die Säuger in ihrer Gesamtheit über die Reptilien hinausschritten, lag erstere gewissermaßen bereits am Wege. Sehr bald stellte sich heraus, daß die Konkreszenz diesen von Reptilien übernom- menen Vorgang überflüssig machte und damit wieder zu unterdrücken sich anschickte; die Multi- tuberkulaten erloschen im Eozän. Bei den aller- ersten Ansätzen der Säugerentstehung war der Lauf in dieser Richtung aber noch nicht ge- hemmt. Was in aller Welt hinderte an sich die Differenzierung über die Zahl 3 hinauszugehen, an der Bolk mit fast mystischer Starrheit fest- zuhalten scheint? Lassen wir so die Paläontologie ihren Beitrag an Material zur Beurteilung der verdienstlicher- weise durch Bolk aufgeworfenen Fragestellung zusteuern, sO gewinnt auch sie selbst in gewisser Hinsicht wieder freieres Gesichtsfeld, um an die Fragen nach den verwandtschaftlichen Verhält- Mesozoische Säugetiere. Multituberculata f Tritylodonti- dae "t" Plagiaulaci- I Polymasto- dae f I dontidae f Polyprotodontia Dromatherii- [ Tiiconodon- dae f I tidae -j- Pantotheriidae t Didelphyidae Kbät-Lias- Grenze Dogger Purbeck- Wealden Oberkreide Triglyphus Tritylodon Paläozän Microlestes Stereognathus Plagiaulax AUodon, Cte nodon Allacodon, Cimolomys, Meniscoessus Neoplagiaulax Neoplagiaulax Ptilodus Polymasto- don Dromathe- rium, Micro- conodon Tribolodon f K'arroomys"^ Amphilestes Pnascolo- therium Triconodon Spalacothe- rium Priacodon Menacodon Tinodon Amphitherium Amphitylus Amblotherium Kurtodon u. a. m. Phascolestes Diploryoodon Paurodon u. a. m. gen. indet. Thlaeodon, Eodidelphys u. a. m. Europa N. -Amerika S.-Afrika Europa N.-Amerika S.-Afrika Europa Amerika O.-Afrika Europa N.- (u. S.)} Amerika Afrika N.-Amerika Anm.: Im Paläozän tri« zu den hier genannten Vertretern der niederen Säugetiere eine beträchtliche Zahl heuer Formen aus anderen erstmals aultauchenden Gruppen, darunter auch schon große Tiere. Die Säuger erfahren hier ihre lang zurückgchiUene urplötzliche Blüte. Eine völlig neue Epoche beginnt, (f bedeutet: ausgestorbene Gruppe. Starker Querstrich bedeutet Erlöschen einer Familie.) N. F. XVin. Nr. 51 Naturwissenschaftliche Wochenschrift, 7SI nissen und genetischen Leitlinien innerhalb der mesozoischen Säugetiere neuerdings heranzutreten. Nicht vergessen werden darf dabei, daß, was die Spezialisierung des Gesamt gebisses anbetrifft, wir bei den Multituberkulaten, auch schon in ihren allerersten Vertretern, vor einem der Zeit nach fast unbegreiflich hohen Stadium stehen (starke Lücke zwischen Vorder- und Hintergebiß). Da starke Brücken bereits von IVlultituberkulaten zu den Beuteltieren herüberführen, anfänglich (Trity- lodon) sich sogar deutliche Anklänge an die noch tiefer stehenden Monotremata nachweisen lassen, da aber andererseits keine direkte Ver- bindung von den Multituberkulaten zur Gesamt- heit der übrigen Säuger überleitet, ist kaum eine Möglichkeit einzusehen, wie die letzteren je an Monotremen und Marsupialier anknüpfen, bzw. ein solches Stadium durchgemacht haben sollten. Wenn man heutige systematische Grenzen in die Vergangenheit projizieren will, so wird man sie mit den damaligen praktischerweise in Deckung zu bringen suchen müssen. Von den Trituber- kulaten an führt ein schon ziemlich gebahnter Weg in die übrige Säugerwelt des Neozoikums hinauf, und für deren Anknüpfung an Triconodonta oder doch nicht allzu fernliegende Verwandtschaft mit ihnen hat Bolk, indem er die Osbornsche Ableitung ad absurdum geführt zu haben scheint, neue Möglichkeiten im Anschluß an Arbeiten des Amerikaners Gidley (Fragen der Wurzelbildung der Zähne) erschlossen. Die Multituberkulaten- Monotremen-Marsupialier gewinnen an Einheitlich- keit und Zusammenhang, rücken aber schärfer vom Hauptstamme der Säuger (Trikonodonta ) Trituberkulata-Placentalia ab. Die triassischen Protodontier nehmen eine Mittelstellung ein, ver- binden aber nicht. Die Wurzeln liegen tiefer als in der obersten Trias. Hier folge nur noch eine Übersicht über das bisher bekanntgegebene Material an älteren Säugetieren nach ihrer zeitlichen, geographischen und syste- matischen Verteilung, auch um die noch bestehen- den Lücken (vom Riesenkontinent Asien ganz zu geschweigen) in Erscheinung treten zu lassen (Lias, Malm, Unterkreide) und zwar in der ge- bräuchlichen Systematik des Zitt eischen Lehr- buchs: (Siehe Tabelle Seite 750.) [Nachdruclc verboten.] Als im Jahre 1903 das Ultramikroskop er- funden wurde, regten sich die Biologen, hoffend mit diesem neuen Forschungsmittel Organismen von ultramikroskopischer Feinheit nachweisen zu können. Raehlmann 1904 und Gaidukow 1906 schrieben über Ultraorganismen, die sie in Zellsäften und in Flüssigkeiten gesehen hatten. 1908 machte Molisch in einer kritischen Arbeit dem ein Ende und stellte die Leitsätze auf, „daß bisher kein einziger Organismus mit Sicherheit nachgewiesen ist, der ultramikroskopischer Natur wäre. Koloniebildende Mikroben sind alle mit dem Mikroskop sichtbar. Die Säfte der Maul- und Klauenseuche und der Mosaikkrankheit des Tabak, welche durch Bakterienfilter durchgehen und doch die Krankheit übertragen, sind nach Byerink als wachsende Fermente oder nach Hunger und Baur als Stoffwechselkrankheiten aufzufassen, d. h. als ein Virus, welches autokatalytisch neues Virus bedingt". Zehn Jahre sind seitdem vergangen. Es lohnt sich zu fragen : was ist seitdem aus den Ultra- organismen geworden? Haben sich die Molisch- schen Leitsätze bewährt? Wie hat sich der Ge- danke vom wachsenden Ferment und vom auto- katalytischen Virus durchgesetzt? Da ist zu sagen, das die Kritik von Moli seh klärend gewirkt hat. Man spricht nicht mehr von Ultraorganismen, wo nichts züchtbar ist. Und wo etwas auf künstlichem Nährboden züchtbar ist, da hat sich der Satz bewährt, daß das Mikroskop auch feinste wachsende und sich teilende Körner Ultraorganismen. Von Dr. Rud. Oehler, Frankfurt a. M. sichtbar macht. Man darf sagen : es gibt zurzeit keine frei wachsende Kleinlebewesen von ultra- mikroskopischer Kleinheit. Wohl aber gibt es Krankheit übertragende Krankheitssäfie, welche durch Bakterienfilter durch- gehen, in denen kein Mikroskop ein wachsendes und teilbares Korn erkennen kann. Man hat für sie den Namen filirierbare Virusarten eingeführt. Löffler (t 1914) stellt ihrer 39 zusammen. Da- hingehören: Maul und Klauenseuche, Menschen-, Kuh- und Schafpocken, Masern, Scharlach, Fleck- fieber, Gelbfieber, Hundswut, Poliomyelitis die Leukämie und Sarkomatose der Hühner; auch die Mosaikkrankheit des Tabak. All diese Krankheiten sind wie Bakterienkrank- heiten übertragbar; man kann aber von krank- machenden Bakterien nichts finden, und Bakterien spielen als Krankheitserreger sicher keine Rolle, weil die krankmachenden Säfte durch Bakterien- filter durchgehen, die sonst selbst die kleinsten Bakterienformen zurückhalten. Man kennt filtrierbare Virusarten, welche in künstlichen Nährböden züchtbar sind und hier eine feinste kornige Trübung erzeugen. Feinste Körnchen sind dann auch in den Organen des befallenen kranken Körpers durch Färbung nach- weisbar. Die Ähnlichkeit mit den übertragbaren Bakterienkrankheiten ist vollkommen. Nur sind die Krankheitserreger hier 5 — 10 mal kleiner wie die kleinsten Bakterien. Solches ist der Fall bei der Poliomyelitis, d. h. der Kinderlähmung. Die Krankheit ist fieberhaft ; befällt Hirn- und 752 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVm. Nr. 51 Rückenmark und hinterläßt unheilbare Lähmungen. Sie kann auf Afifen übertragen werden. N o g u c h i züchtet in künstlichen Nährböden eine feinste körnige Trübung, welche im 18. und 20. Folge- röhrchen noch fähig war beim Affen die Krank- heit zu erzeugen. Es gibt filtrierbare Virusarten bei denen man im kranken Körper Körnchen färben kann, die die Krankheit kenntlich machen, ohne daß sich sagen läßt, daß dies nun die Krankheitserreger wären. Denn züchtbar ist nichts. Hierher ge- hört die Hundswut, wo in den Hirnzellen die Negrischen Körperchen auftreten. Hierher ge- hört auch das Fleckfieber, wo in der Laus als Zwischenwirt die Rickettsia färbbar ist, während aus dem ansteckenden Blutfiltrat nichts gezüchtet und nichts gefärbt werden kann. Hier könnte der Ansteckungsparasit eine mikroskopische Großform und eine ultramikroskopische Kleinform haben. Und schließlich gibt es filtrierbare Virusarten, bei denen man weder was sehen noch was züchten kann. Hierher gehört die Mehrzahl dieser feinen Krankheitserreger: z. B. Gelbfieber, Scharlach, Masern, Leukämie und Sarkomatose der Hühner, Mosaikkrankheit des Tabak. Sie sind durch Körper- säfte übertragbar, auch nach Filtration durch Bakterienfilter. Vielfach werden sie wie das Gelb- fieber durch den Stich blutsaugender Insekten übertragen. Eigenartig unübersichtlich liegen die Verhält- nisse bei der Mosaikkrankheit des Tabak und bei der Buntblättrigkeit der Malvaceen. Die Mosaik- krankheit des Tabak wird durch die Säfte der kranken Pflanze übertragen, auch wenn sie durch Bakterienfilter filtriert wurden. Aber sie soll auch ohne Ansteckung, durch üppiges Wachstum ent- stehen. Und die Buntblättrigkeit von Abutilon und anderer Malvaceen wird durch Pfropfung über- tragen, geht aber nicht auf den Samen über. Auch ist sie heilbar durch Entfernen aller kranken Blätter und Zucht im Dunkeln. Wie sie sonst entsteht ist unbekannt. Die Botaniker treten da- für ein, daß hier überhaupt kein Parasit vorliegt, sondern eine Stoffwechselkrankheit mit autoka- talytisch sich mehrendem krankmachendem Stoff- wechselprodukt. Diese Fälle beiseite stellend darf man sagen, daß das Vorkommen von sehr kleinen, mikro- skopisch nicht erfaßbaren Zell- und Saftparasiten so gut wie erwiesen ist. Daran schließt sich so- fort die Frage: gibt es auch unschädliche ultra- mikroskopische Zellsymbionten } Überall im Tier- und Pflanzenreich haben wir neben den schädlichen, krankmachenden Parasiten auch harmlose Schmarotzer, sog. Symbionten. Warum nicht auch bei den filtrierbaren Parasiten der Zellen und Zellsäfte? Wenn es filtrierbare Virusarten gibt, warum nicht auch avirulente, unschädliche, filtrierbare Zell- und Saftparasiten. Die filtrierbaren Virusarten zerstören die befallenen Zellen und Zellverbände. Die filtrierbaren aviru- lenten Symbionten tun das nicht. Wirkungslos brauchen sie darum nicht zu sein. Sie mögen die befallenen Zellen modifizieren. Dann sind sie den körperlichen Unterlagen der Gene, d. h. der Erbeinheiten gleichzusetzen, von denen die Ver- erbungsforscher reden. Denn auch diese sind als ultramikroskopische kleine, an und absetzbare, modifizierende Zellsymbionten zu denken. Sie sind genau wie die etwaigen ultramikroskopischen aviru- lenten Parasiten zurzeit nicht frei züchtbar; aber sie verimpfen sich beim Akte der Befruchtung und Konjugation in bunter Masse und Mischung von Zelle auf Zelle. Wir dürfen demnach die ganze Zelle als einen Verband von ultramikroskopischen Zellsplittern auffassen, die in Symbiose zusammen- leben. Im Konjugationsexperiment werden sie dazu gebracht modifizierende ultramikroskopische Symbionten aufzunehmen , abzustoßen , auszu- tauschen. Einzeln sind diese Zellsplitter zurzeit nicht züchtbar; ebenso wie die Einzelzelle eines Tieres oder einer Zelle im allgemeinen nicht zücht- bar ist. Aber gerade so gut wie es den Mühen der Forscher gelungen ist Geschwulstzellen, zum Teil auch Gewebszellen außer dem Zeilverbande in klaren Nährsäften zu züchten — Explantation nennt man das Verfahren — so darf man auch daran denken, daß es möglich sei einzelne Zeli- splitter abgetrennt vom sonstigen Symbiontenver- band der Zelle als Explantat in Nährsäften zu züchten. Man kann Hefezellen züchten, welche kein Gärungsferment mehr liefern. Gärungsmüde wer- den solche Hefen genannt. Der den Gärsaft Zymase liefernde Zellteil ist verloren gegangen. So gut wie man die Hefe ohne diesen Gärungs- anreger züchten kann, so gut muß einst auch der gärungserregende Zellteil ohne die übrige Hefezelle in einem geeigneten Nährsafte züchtbar gemacht werden. Aus dem Symbiontenverband der Hefezelle den gärungstüchtigen Teilhaber ab- zuspalten und einzeln zu züchten muß ebensogut möglich sein, wie es möglich war aus dem polio- myelitiskranken Affen den Poliomyelitiserreger aus- zuscheiden und einzeln zu züchten. Wenn das möglich wäre; wenn wir also im- stande wären den Gärsaft der Hefe, die Zymase, auch außer der Hefezelle zu vermehren und zu züchten, dann hätten wir das, wovon die Botaniker bei der Buntblättrigkeit der Malvaceen sprechen: ein wachsendes, vermehrungsfähiges, übertragbares Ferment. Und wir hätten eine neue Benennung für die pflanzlichen und tierischen F'ermente gewonnen. Sie wären Zellsplitter, welche die katalytische Wirkung behalten, das Wachstum und Vermeh- rungsvermögen jedoch für gewöhlich verloren haben. Und andererseits wäre die Zelle ein Ver- band von Wachstums- und vermehrungsfähigen Fermentkörpern, der autokatalytisch Zellmaße aufbaut und katalytisch Zellmaße abbaut; somit wächst, sich teilt und vermehrt. N. F. XVni. Nr. si Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 753 Die Lehre von den fihrierbaren Virusarten und Das sind wohl Phantasmen. Und doch sind den Uhramikroorganismen führt so zur Lehre von sie nicht ohne Unterlage. Ihnen einmal nachge- der Zelle als einem Verband von fermentkräfligen gangen zu sein, kann der klärenden Auffassung Ultrasymbionten. von den Lebewesen dienlich werden. Kleinere Mitteilungen. Nochmals : Massenversammlungen und Massen- wanderungen von Marienkäferchen. In Nr. 2 der Naturw. Wochenschr. habe ich Beobachtungen über massenhaftes Vorkommen von Marienkäfer- chen (Coccinella septempunctata), die ich im vorigen Jahre auf Berggipfeln in Mazedonien ge- macht habe, mitgeteilt. Im Anschlüsse daran habe ich einige Angaben ähnlicher Art erwähnt imd an den Leserkreis der Naturw. Wochenschr. die Aufforderung gerichtet, diese Angaben durch Berichte über eigene Beobachtungen zu ergänzen. Auf diese Anregung hin ist mir erfreulicherweise eine große Zahl von Zuschriften zugegangen, von denen zwei bereits in Nummer 14 und 15 ver- öffentlicht wurden. Ich ersehe aus diesen Mit- teilungen und aus mir inzwischen bekannt ge- wordenen weiteren Literaturangaben , daß das Phänomen doch nicht so selten ist, wie ich an- fänglich glaubte. Es läßt sich auf Grund dieser Angaben auch beurteilen, auf welche Art und Weise die Erscheinung zustande kommt. Wie ich schon in meinem ersten Aufsatz be- tonte, können wir Massenversammlungen auf Bergeshöhen unterscheiden von Massen- wanderungen von Marienkäferchen in der Ebene, die besonders häufig am Meeresstrande zur Beobachtung gekommen sind. Zunächst noch einiges über Massenversammlungen. I. H. Fabre, der bekannte französische Ento- mologe, beobachtete eine Kolonie von Coccinella septempunctata auf dem Mont Ventoux (Alpes du Dauphine), sie bedeckte buchstäblich die Ka- pelle auf dem Gipfel des Berges (1905 m). Eine zweite, kleinere Ansammlung fand sich in ge- ringerer Höhe. F.Werner fand Anfang August 1901 bei einer Besteigung des Bithynischen Olymps bei Brussa in Kleinasien (Keschisch Dagh, 2530 m) „an geschützten Stellen auf dem Gipfel des Berges viele Tausende von Exemplaren un- seres Marienkäferchens dichtgedrängt in einem lethargischen Zustande, der wohl auf die niedrige Temperatur auf dieser sturmumbrausten und den Schneefeldern des Nordhanges benachbarten Höhe zurückzuführen war". Camerano stellt eine ganze Anzahl ähnlicher Beobachtungen verschie- dener Autoren zusammen, die teils auf italieni- schen, teils auf nordamerikanischen Bergesgipfeln gemacht wurden. Auch unter den mir zuge- gangenen Berichten befinden sich manche ähn- licher Art. So schreibt Prof. Wegelin (Frauen- feld, Schweiz): „Ende der sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts beobachtete ich auf der Suche nach Pulsatillablüten (April) auf der aussichts- reichen Höhe des Gailinger-Berges bei Dießen- hofen (Thurgau), ca. 560 m über dem Meere, eine Ansammlung von Coccinella septempunctata: Am Grunde eines Marksteines, von hohem dürrem Grase bedeckt, saß eine große Menge dieser Käferchen vielschichtig eine Fläche von mehreren Quadratdezimetern einnehmend. Sie saßen ruhig zusammengedrängt, und mir schien damals, sie hätten hier überwintert. Ich machte die Beobach- tung mehrere Jahre." V. Franz sah Massen- ansammlungen unseres Marienkäferchens „an einem schönen Herbsttage auf dem Abhang des Zobten- berges in Schlesien", und ein anderer Autor be- richtet von einem „riesigen Flug von Johannis- käferin" auf dem Gipfel des Hohenstaufen anfangs Juni. Weitaus die interessantesten Mitteilungen über Massenversammlungen von Coccinelliden aber sind die von E. K. Carnes über die Lebensweise der kalifornischen Marienkäferchen, der „lady - birds", wie sie der Engländer nennt. Sie geben uns auch Aufschluß über die Entstehung der Erschei- nung. DieTiere beziehen in den Bergen ih reWinterquartiere, und in solchen Scharen suchen sie während der kalten Monate die kali- fornischen Berge auf, daß man sie tonnenweise sammeln kann, um sie dann an die Melonen- und sonstigen Obst- und Gemüsezüchter zur Bekämp- fung der Blattläuse, die die Hauptnahrung der Coccinelliden bilden, zu verteilen. Die Methode des Einsammelns und Über- winterns, des Verpackens und Verschickens der lebenden Käfer ist so interessant, daß ich hier noch einiges darüber sagen möchte. Etwa Anfang November suchen in Kalifornien die Marienkäfer- chen — es handelt sich hauptsächlich um die Spezies Hippodamia convergens — ihre Winter- quartiere auf Sie sammeln sich in Kolonien an Baumstämmen und sonstigen Pflanzenteilen, bleiben aber hier nur kurze Zeit, um dann, meist hoch in den Bergen, an sonnigen, gut ausgetrockneten Böschungen, in der Regel in der Nähe von fließen- dem Wasser unter Moos und Blättern und zwischen Nadeln ihre endgültigen Winterquartiere zu be- ziehen. Anfangs sind die Kolonien klein, bald aber folgen, offenbar durch den Geruch angelockt, weitere Kolonien, und nach wenigen Wochen sind Tausende und Abertausende in einem solchen Überwinterungslager beisammen. Hier suchen sie nun die Sammler auf, und mit der Zeit haben diese eine derartige Erfahrung gewonnen, daß sie genau die Stellen kennen, die als Versteck dienen. Das Aufsuchen der Kolonien geschieht im No- 754 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVm. Nr. 51 vember, kurz nach dem Eintreffen der Käfer. Die Tiere werden aber jetzt noch nicht mitgenommen, sondern es wird zunächst nur festgestellt, wieviel Pfund etwa die Kolonie ergeben wird, die Stelle wird markiert und auf einer Karte genau einge- tragen, und auf diese Weise werden alle Kolonien einer Gegend genau notiert. Erst im Winter wird das eigentliche Sammeln vorgenommen, das sich über viele Gebirgsgegenden Kaliforniens er- streckt. Im Januar und Februar gehen die Sammler wieder ins Gebirge und suchen vermittels ihrer Karten die markierten Stellen auf. Das Ausgraben der unter tiefem Schnee versteckten Coccinelliden ist bei der großen Kälte keine leichte Arbeit. Immerhin bringen zwei Mann , die gemeinsam arbeiten, an einem Tag etwa 50 bis lOO Pfund zusammen. In Säcke verpackt werden die Kolo- nien von den Leuten oder auch, wenn die Weg- verhältnisse es zulassen, von Mauleseln an be- stimmte Lagerplätze und weiterhin zur nächsten Bahnstation gebracht. Diese liegt gewöhnlich noch im Gebirge, die Ernte wird hier in einem sog. „packinghouse" gereinigt und in geeignete Kisten, jede etwa 33COO Individuen enthaltend, verpackt, um dann dort zu überwintern. Dies ist, wie Garnes sagt, der schwierigste Teil der ganzen Sache. Die natürliche Überwinterungs- periode der Tiere muß künstlich verlängert wer- den, und zwar so lange, bis die Tiere gebraucht werden. Bis gegen Ende des Winters können die Tiere in den Gebiigspackhäusern bleiben, ehe es aber wärmer wird, müssen sie in besondere große Kühlhäuser geschafft werden, wo man sie in gleich- mäßiger Temperatur und in bestimmter Feuchtig- keit so lange aufbewahrt, bis sie von den Obst- und Gemüsezüchtern verlangt werden. Über 7 Monate kann man auf diese Weise in dem staatlichen Insektariurri Kaliforniens die Cocci- nelliden in künstlicher Überwinterung halten, ohne daß sie in ihrer Lebensenergie geschwächt werden. Daß der Erfolg sehr wohl der aufgewandten Mühe entspricht, erhellt allein schon daraus, daß das Haupthindernis beim Melonenbau in Kalifornien, die Melonenblattlaus, die in wenigen Tagen oft ganze Felder zerstörte und allen Bekämpfungs- methoden trotzte, durch die Marienkäferchen rasch beseitigt werden konnte. Auf Grund dieser Mitteilungen verstehen wir auch die Beobachtungen über Massen Wande- rungen der Marienkäferchen. Es sind offenbar in den meisten Fällen Tiere, die sich zusammen- geschart haben, um gemeinsam ihre Winter- quartiere aufzusuchen. Dafür spricht vor allem, daß die Beobachtungen fast alle um die gleiche Jahreszeit, im Herbste, gemacht wurden. Zu er- klären wäre nur noch, weshalb die Erscheinung gerade an der Küste so häufig zur Beobachtung kommt. Hier handelt es sich wohl in der Regel um Schwärme, die auf ihrer Wanderung vom Winde erfaßt und über das Meer getragen worden sind. Am Strande angelangt lassen sie sich dann ermattet nieder und bedecken so oft auf weite Strecken die ganze Küste. Zum Schlüsse sei noch die wichtigste Lite- ratur, soweit ich sie nicht schon in meiner ersten Notiz erwähnt habe, zusammengestellt. Game ran o, L., Le riunioni delle Coccinelle. Zeitschr. f. wiss. Inscktenbiol., Bd. lo, 1914. Garnes, E. K., GoUecting ladybirds (Coccinellidae) by the ton. Monthly Bul. Comm. Hort. California. 1912. Fabre, J. H., Souvenirs entomologiques. Paris 1879. Hilbert, R., Über das massenhafte Auftreten von Cocci- nella quinquepunctata L. Zeitschr. f. wiss. Inscktenbiol., Bd. 10, 1914. Werner, F., Massenansaminlung von Goccinella. Zeit- schrift f. wiss. Inscktenbiol., Bd. 9, 1913. Nachtsheim. Notiz über Massenauftreten von Marienkäfern im Ussurieebiet Ende September 191Ö. In einer Mitteilung über Massenversammlungen und Massen- wanderungen von Marienkäferchen (Natur wissensch. Wochenschr. 19 19, H. 2) fordert Nachtsheim — wie Taschenberg, Entom. Mitt. 1918, H 10/12 — zur Veröffentlichung hierhergehöriger Beobachtungen auf. Mit Bezug hierauf gibt Bütt- ner (Naturw. Wochenschr. 1919, H. 15) eine von ihm Anfang Oktober 19 16 in Krasnaja Rjetschka am Ussuri beobachtete Massenversammlung von Coccinelliden bekannt. Daß es sich bei letzterer Erscheinung nicht um ein lokales Vorkommnis handelte, beweist das fast gleichzeitige ungewöhnlich häufige Auftreten von Marienkäfern in dem über 500 km südlich von Krasnaja Rjetschka gelegenen Nikolsk-Ussu- rijsk. Nikolsk, einer der größeren Orte des russi- schen fernen Ostens, liegt lOO km westlich von Wladiwostok in schwachhügeligem Gelände. Die Coccinelliden, die man sonst in Nikolsk nicht häufi- ger sah, als etwa während des Sommers in Deutsch- land, zeigten sich hier Ende September 1916 in einer Zeit andauernden trocknen, warmen Herbst- wetters plötzlich in überraschender Menge, um nach 3 Tagen wieder zu verschwinden. Es han- delte sich dabei im wesentlichen um den Sieben- punkt, Coccinella septempunctata L., mit dem aber noch 4 oder 5 andere Marienkäferarten ver- gesellschaftet waren. Für eine Schätzung der Zahl der vorüberfliegenden Marienkäfer ließ sich bei der Kleinheit dieser Insekten kein genügender Anhalt gewinnen. Von der nach Süden und der nach Osten gewandten Mauer des Erdgeschosses eines ungefähr 40 m langen und 15 m breiten Ziegelgebäudes sanmielte ich im Laufe von acht aufeinanderfolgenden Stunden etwa 600 Cocci- nelliden. Die bekannte Variabilität von Coccinella septempunctata in der Färbung, in geringerem Maße auch in der Größe, trat bei dieser Gelegenheit be- sonders deutlich in Erscheinung. Hinsichtlich der gelben bis roten Grundfarbe der Flügeldecken wie mit Rücksicht auf die Ausbildung der schwarzen Flecken ließen sich bei den gleichzeitig auftretenden Siebenpunkten Reihen ganz allmählichenÜberganges von dem einen Extrem zum andern beobachten. Die übrigen mit dem Siebenpunkt vergesellschaf- teten Marienkäferarten zeigten keine besondere Variabilität. N. F. XVm. Nr. 51 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 75S Da in den nächsten Tagen nach dem Erscheinen der Coccinelliden in Nikolsk ziemlich unvermittelt der Eintritt der Kälte erfolgte, galt diese Mas'^en- wanderung der Marienkäfer wohl dem Aufsuchen geeigneter Plätze zum Überwintern. Jedenfalls begaben sich die meisten der an das Gebäude angeflogenen Tiere an geschützte Stellen, in Fugen zwischen den Ziegeln, Löcher in den Mauern usw., wo sie einzeln oder zu mehreren blieben. Sie beschränkten sich dabei auf die Sonnenseite des Hauses. Kopulierende Paare sah ich nur in wenigen Fällen. Ob die Geselligkeit den Marien- käfern während des Überwinterns Vorteile bringt — ob wir es hier also mit einem ,, essentiellen" oder nur ,,akzidentiellen" Syncheimadium (Deegener) zu tun haben — ist nicht ersichtlich. Vielleicht er- leichtert sie im Frühling das Sichfinden der Ge- schlechter und dient dann im Dofleinschen Sinne der Beförderung der Amphimixis. Übrigens kann man auch in Deutschland häufig beobachten, daß im Herbst Coccinella septem- punctata in Scharen auftritt. Dr. W. Arndt. Einzelberichte. Heilkunde. Über die Ursachen und die Häufigkeit des Vorkommens des Rotzes beim Menschen, sowie über die Maßregeln zur Ver- hütung der Rotzübertragungen hat W. v. Brunn in der Vierteljahrsschrift für gerichtliche Medizin und öffentliches Sanitätswesen, 3. Folge, 58. Band, I. Heft (Berlin 1919, 29 Seiten) ein Sammel- referat veröffentlicht. Dessen Ergebnisse sind in folgenden Sätzen zusammenzufassen : Die Ursache der Erkrankung des Menschen an Rotz ist fast stets die Übertragung vom rotz- kranken Pferd. In der Regel dringt der Rotz- bazillus (1882 von Löffler und Schütz zuerst beschrieben) durch eine Kontinuitätstrennung der Haut oder Schleimhaut ein. Doch ist offenbar eine sehr intime Berührung, meist wohl eben eine direkte Verletzung notwendig, um die Infek- tion zu ermöglichen. Über das Verhältnis des tierischen zum mensch- lichen Rotz geht aus der Literatur — nur die Zahlen aus Deutschland sind zu verwerten — jedenfalls soviel hervor, daß im Vergleich zu den Rotzerkrankungen bei Pferden die des Menschen verschwindend klein sind. Von 1888 — 1914 kamen im ganzen Deutschen Reich nur 40 Erkrankungen des Menschen an Rotz zur Kenntnis, hingegen rund 13000 Rotzobduktionen von Pferden. Nur unter ganz besonders ungünstigen Umständen findet eine Übertragung von Pferd auf Mensch statt. Die Maßregeln zur Verhütung der Rotzüber- tragung auf den Menschen müssen zunächst die Ausbreitung der Krankheit unter den Pferden verhindern. Durch die an sich freilich nicht leichte klinische Beobachtung, vor allem aber durch die 1891 von den russischen Veterinären Helmann und Kalning — gleichzeitig und unabhängig voneinander! — erfundene MalleinAugenprobe und die serologischen Methoden ist die Diagnose- stellung so hervorragend erleichtert, daß bei ge- regelter Anwendung dieser Methoden die Krank- heitsverbreitung auf ein Mindestmaß eingeschränkt werden muß. Durch geeignete Belehrung und entsprechende Vorsicht der mit Rotz in Berührung kommenden Personen wird man Infektionen des Menschen so gut wie ganz verhüten können. Strengste Absonderung aller erkrankten Tiere und Menschen und sofortige Vernichtung aller rotzigen Tiere ist von grundlegender Bedeutung. Die aus- gezeichneten Erfolge der Immunisierung gegen Rotz bedeuten einen gewaltigen Fortschritt in der Bekämpfung dieser Seuche. Um aber das Übel an der Wurzel zu packen, muß man in erster Linie seine Einschleppung vom Auslande her, be- sonders aus dem stets und in jeder Hinsicht un- heilbringenden Osten verhüten.') Dresden. Rudolph Zaunick. Botanik. Zur Physiologie der Zellteilung. In Fortführung seiner Untersuchnngen an plasmoly- sierten Zellen (vgl. Nat. Woch. 1919, S. 397) hat G. Haberlandt Beobachtungen an Elodea canaden- sis und besonders an Elodea densa ausgeführt in der Erwartung, daß die Blätter dieser submersen Gewächse wegen ihrer zarten, für Wasser leichter durchlässigen Kutikula sich für solche Versuche besonders eigneten. Die Spro.sse wurden nur I — 3 Stunden lang in der plasmolysierenden Lösung, nämlich — n- Traubenzuckerlösung, be- lassen und dann erst in Knopscher Nährlösung, hierauf in Leitungswasser weiter kultiviert. Zur Beobachtung kamen vorzugsweise die Vorgänge in den haarähnlichen, einzelligen Blattzähnen, aber auch in den Randzellen und den Assimilations- zellen der Blätter. Nach der Überführung der Sprosse aus der Traubenzuckerlösung in Nähr- lösung und Leitungswasser geht die Plasmolyse zurück, die Protoplasten legen sich der Zellwand wieder an, die Plasmaströmung setzt wieder ein usw. Nach einiger Zeit treten die ersten Anzei- chen einer Querteilung auf: in einiger Ent- fernung von der Spitze des Haares erscheinen ganz kleine Körnchen, die ringförmig den Außen- wänden des Haares angelagert sind. Sie ver- ') Wir weisen hier zugleich auf den Artikel Paul H. Römers über Rotz im soeben erschienenen ,, Lehrbuch der Mikrobiologie" von E. Friedberger und R. Pfeifferhin (11. Bd., Jena, Fischer, 1919, S. 810—823). Dessen kurzem historischen Abschnitt sei eninommen, daß die Übertragbarkeit des Rotzes experimentell 1797 von Vi borg einwandfrei fest- gestellt wurde. 756 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVm. Nr. 51 schmelzen zu einer Ringleiste, nachdem eine dünne, den ganzen Zellraum durchsetzende Plasmaplatte, die mit größeren oder kleineren Löchern versehen ist, oder auch nur eine Plasmaleiste entstanden ist. In dieser Plasmaplatte oder Plasmaleiste bildet sich die Zelluloseleiste, die sich rasch zu einer entweder undurchbrochenen oder mit Löchern versehenen Querwand verbreitert. Durch beider- seitige Auflagerung sekundärer Verdickungsschich- ten wird die primäre Membran häufig verstärkt. Gewöhnlich ist das durch die Querwand abge- grenzte untere Fach der Zelle etwa doppelt so lang als das obere, der Spitze des Haares zuge- wandte. Der Kern liegt fast immer im unteren Fach und läßt weder durch seine Lage Beziehungen zur Querwandbildung erkennen, noch erfährt er in seiner Struktur nachweisbare Veränderungen. Hierdurch unterscheidet sich der Teilungsvorgang bei Elodea von den früher geschilderten Vorgängen bei Coleus und Allium, wo außerdem die neue Zellhaut simultan gebildet wird oder wenigstens nicht als Ringleiste ihren Anfang nimmt. Wie für diese beiden Pflanzen Analoga in Teilungsvor- gängen bei gewissen Algen (Oedogonium.Vaucheria) gefunden werden, so lassen sich die Erscheinungen bei Elodea mit solchen bei Cladophora und Spiro- gyra vergleichen. Die untersuchten drei Fälle zeigen, daß in höheren Pflanzen neben der Fähig- keit zur typischen Zellteilung „auch noch die Fähigkeit zu einer ganz anderen, primitiveren Art der Zellteilung schlummert, die durch die Plasmo- lyse geweckt werden kann". Haberlandt er- wartet, daß es sich durch geeignete Versuche werde entscheiden lassen, ob die Wirkung des plasmolytischen Reizes auf den mechanischen Folgen der Plasmolyse beruht, oder ob eine chemische Reizung infolge der Zunahme der Konzentration der im Zellsaft und Zytoplasma ge- lösten Substanzen, im besonderen des hypotheti- schen Zellteilungsstoffes vorliegt. (Sitzungsberichte der Preußischen Akademie der Wissenschaften 1919, XXXIX, S. ;2i-732.) F. Moewes. Geologie. Die oolithischen Brauneisenerzlager- stätten bei Volkmarsen beschreibt W. Land- graeber in „Kali, Erz und Kohle, XVI, 1919, Hft. 25 — 26. Bei den außerordentlichen Schwierig- keiten, die unserer Eisenindustrie bei der Deckung ihres Erzbedarfes infolge der Abtretung der lothringischen Minette entstehen, gelangen auch kleinere Erzlagerstätten wieder zur Bedeutung. Das wichtigste Vorkommen im Volkmarsener Bezirk (westlich Kassel) liegt am Ralekeskopf Es wurde 1853 entdeckt, und zwar gelegentlich der geologischen Aufnahme dieses Gebietes. Die Ablagerungen sind marinen Ursprungs und ge- hören dem mittleren Lias an. Den tieferen Unter- grund bilden triadische Schichten. Sämmtliche Schichten des Gebietes sind durch tektonische Vorgänge vielfachen Störungen unterworfen wor- den, die, hauptsächlich in der Kreide und im Tertiär erfolgt, die Schichten in einzelne Schollen zerbrachen. Die außer dem Hauptvorkommen noch vorhandenen Flötzstücke haben höchstwahr- scheinlich ehemals mit diesem in Zusammenhang gestanden. Das Hauptvorkommen am Ralekes- kopf stellt nicht, wie früher angenommen wurde, eine Mulde dar, sondern einen Grabenbruch, wo- durch das Lager von der Erosion verschont blieb. Das Einfallen der einzelnen Flötzteile ist Schwan- kungen unterworfen, an einzelnen Stellen liegen sie wagerecht. Vielfach streicht es zu Tage aus. Zahlreiche Pingen und Trichter deuten dann den Ausbiß des Flötzes an und geben Kunde von einem früher hier stattgefundenen Bergbau. Die Durchschnittsmächtigkeit des Lagers zur Berech- nung des Erzvorrates läßt sich nur schwer er- mitteln. Sie steigt von i m auf 2 — 3 m und mehr an. Durchschnittlich dürften 1,5 — 2,0 m hüttenfähiges Erz anstehen. Die Beschaffenheit des Erzes ist nicht gleichmäßig. Im Ausgehenden ist es weitgehend ausgelaugt und verwittert. Analysen aus diesen Teilen des Flötzes dürfen deshalb nicht als für das ganze Lager maßgebend angesehen werden. Aber auch der Eisengehalt der nichtausgelaugten Flötzteile ist sehr schwankend, doch dürfte die Annahme eines Durchschnitts- gehaltes vom Verkaufserz zu 30 "/q Eisen berechtigt sein. Der Kalk- und Kieselsäuregehalt ist gut. Die Erze sind im allgemeinen selbstgehend. Eine neuere Analyse gibt folgende Bestandteile an: Fe = 27— 33% Mn = 0,45— 0,48 "/o P = 0,31—0,320/0 SiO, = II- i3 7o Der Phosphorgehalt ist nicht überall gleich- mäßig. Da das Erz in den bis jetzt erschlossenen Teilen ohne Schwierigkeiten abzubauen ist und die Lohnverhältnisse nicht ungünstig liegen, ferner da der Weg von Volkmarsen nach Westfalen, dessen Hütten wohl in erster Linie als Abnehmer in Frage kommen, nur etwa halb so lang ist wie der von Lothringen nach Westfalen, würde dieses Erz ohne weiteres einen Wettbewerbskampf mit der lothringischen Minette aufnehmen können. F. H. Über die Kohle- und Erzvorkommen Nieder- ländisch-Indiens berichtet G. Buetz in der Zeit- schrift f. prakt. Geol., XXVII, 1919, S. 1 10. Seit Jahren arbeitet die niederländische Regierung da- hin, in ihren wertvollen indischen Kolonien eine Industrie zu entwickeln. Ihr mußte vor allem daran liegen, Kohlen und Erze in ihrem indischen Kolonialgebiet zu entdecken. Die Bemühungen sind nicht ohne Erfolg geblieben. Forschungen, welche schon in den Jahren 1892 und 1904 vorgenommen wurden, hatten in den zerklüfteten Bergketten Javas Kohle erwiesen. Es wurden die staatlichen Ombilin - Kohlenberg- werke errichtet, die im Jahre 19 16 481435 t und N. F. XVni. Nr. 51 (Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 757 1917 483237 t Steinkohlen lieferten. Da die Kohle nicht zum Verkoken geeignet und ihre Menge zu gering ist, sah man sich genötigt, nach weiteren, guten Steinkohlenlagern zu forschen. Durch den geologischen Landesdienst wurde im mittleren Sumatra, in Tandjong, ein Steinkohlen- lager festgestellt, das seit 1917 abgebaut wird und eine gute Kokskohle liefern soll. Da die Lager als sehr mächtig angesehen werden, hofft man mit ihnen nicht nur eine Hüttenindustrie entwickeln zu können, sondern auch seine Schiff- fahrt von der britischen Cardiffkohle unabhängig zu machen. Eine eingesetzte Untersuchungs- kommission gab an, daß die Kohle, wenn auch in ihren einzelnen Vorkommen sehr verschieden, sich in drei Hauptarten gliedern läßt: Hochwertige Gaskohle, Verbrennungsver- mögen 7000 — 8400 Kalorien, Mittelkohle, Verbrennungsvermögen 6000 — 7000 Kalorien und Braunkohle, Verbrennungsvermögen unter 6000 Kalorien. Nördlich der untersuchten Vorkommen sind neue zusammenhängende Felder erbohrt worden, die in großer Ausdehnung eine Mächtigkeit von 7 — 12 m besitzen sollen. Von den untersuchten Feldern rechnet man mit einer Ausbeute von mindestens etwa 30 Mill. t Glanzkohle und 10 Mill. t Mittelkohle. Die Mengen der vorhandenen Braun- kohle werden auf 9 Mill. t angegeben. Die Ge- samtschätzung ergab, daß außerhalb der konzes- sionierten Felder noch etwa 140 Mill. t Kohlen förderungsfähig sein werden. Außer diesen Vor- kommen sind bisher nur noch die Lager von Pulu ■ Laut ausgebeutet worden. Die dortigen Minen förderten 1916 125000 t und 1917 120835 t. An Petroleum hat man bisher nur geringe Vorräte feststellen können. Nur das Vorkommen in dem Gebiete von Tjilatjag wird ausgebeutet. Das Ölfeld hat eine Ausdehnung von 2188 ha. Die für die Hüttenindustrie weiterhin nötigen Eisenerze sind in Celebes nachgewiesen worden. Die dortigen reichen Erzlager sind aus Peridoliten durch Verwitterung und Oxydation entstanden. Die tonartigen Erze sind von schwan- kender Güte, es wird aber angenommen, daß sie mindestens jenen von Neu-Kaledonien gleichkom- men. Die Förderungsverhältnisse sind sehr günstig, da die Eisenerze sich nur etwa 15 m unter der Erdoberfläche befinden. Sie erstrecken sich nach der Schätzung des Bergingeniers Diek- mann auf rund 3000 km und sollen eine Erz- menge von etwa einer Milliarde Tonnen enthalten. Die Ausdehnung der Lager beträgt 300 — 400 qkm in einer Tiefe von 14 — 15 m. Die Erze kommen teils trocken, teils in Seengebieten als Schlamm- erze vor. In den Gebieten der Trockenerze glaubt man Tagebau anwenden zu können, die Schlamm- erze will man mit Baggermaschinen heben, wobei man sich, begünstigt durch die reichen Wasser- kräfte von Celebes, möglichst ausgiebig der Elek- trizität als Kraftquelle bedienen will. In Zusammenhang mit den Eisenerzen sind ausgedehnte Nickelerzlager in den Peridotiten festgestellt worden. Die Nickelerze treten als deren Zersetzungsprodukte als wasserhaltige Nickel- silikate auf. Die günstigsten Vorkommen hat man bisher in dem Strombecken des Maliliflusses nachgewiesen, und zwar soll der Nickelgehalt 25 "/o betragen. (In Neukaledonien, dessen Nickelerz- vorkommen diejenigen von Celebes zu ähneln scheinen, beträgt der durchschnittliche Nickel- gehalt nur 6 "Iq. Ref ). Infolge der Lage der Erze, der geringen Arbeitslöhne und der Güte der Vorkommen glaubt man, der Nickelproduktion auf Celebes eine günstige Entwicklung zusprechen zu können. Die Vorkommen sind allerdings noch so neu und die zufließenden Nachrichten recht sparsam, so daß greifbare Tatsachen bisher nicht angegeben werden können. Chrom- und Man- ganerze sind ebenfalls auf Celebes festgestellt worden, ferner ausgedehnte Phosphatlager in dem Gebiete von Cheribou. Als Produktionsland für Zinn sind die nieder- ländisch-indischen Kolonien seit Jahren bekannt. Die Zinnbergwerke auf Banka brachten dem Staate eine durchschnittliche Jahreseinnahme von IG Mill. Gulden. Die Bergwerke haben in den Kriegsjahren ein sehr gutes Geschäft gemacht. 1917 belief sich die Ausfuhr von Zinn aus Java aut 15C07 t. Im Januar 1918 wurden 25 000 Pikul (I Pikul := 61,70 kg), im Februar 35000 Pikul Bankazinn im Werte von 4,4 und 6,7 Mill. Gulden geliefert. F. H. Über Druckdestillation und Erdölwanderung berichtet M. Henglein in derZtschr. f. prakt. Geol, XXVII, 1919, S. 108. Beobachtungen von Sieg- fried in Ostgalizien haben die von Potonie aufge- stellte Hypothese gerechtfertigt, welche besagt, daß „das Petroleum der freien Natur ein Destilla- tionsprodukt aus Sapropelgesteinen ist. Genügende Hitze, meist gesteigert durch den Druck der sich entwickelnden Gase, ist in genügenden Erdtiefen vorhanden, wohin die Sapropelgesteine durch die gebirgsbildende Tätigkeit der Erde gelangen." Dem- nach sind Muttergestein und Öllager getrennt, doch besteht ein Zusammenhang insofern, als das Muttergestein sich unter dem Öllager befindet, das das porenreichste Gestein darüber darstellt. Ein Beleg für diese Hypothese wurde in dem Öllager in der Gegend von Pasieczua-Bitkow in Galizien gefunden. Bereits von Fötterle und Posepny war die Ansicht geäiißert worden, daß der Ursprung des galizischen Öles in den sog. Menilitschiefern zu suchen sei. Im Widerspruch zu der oben angeführten Theorie stand jedoch der Umstand, daß die ölführenden Schichten unter dem Menilitschiefer erbohrt wurde. Erst durch die Anwendung der Decken- und Überfaltungs- theorie auf die Karpalhen fiel dieser Umstand weg und die Menilitschiefer kamen ins Liegende der Dobrotower Schichten, die die reichsten Öl- 758 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVm. Nr. 51 horizonte Galiziens darstellen und infolge ihres Porenvolumens aufnahmefähig für das Erdöl sind. Die Frage, ob die Menge der Menilitschiefer zur Erzeugung so ausgedehnter Öllager ausreiche, hat schon Szainocha noch in Unkenntnis des Deckenbaues bejahend beantwortet. Auf Grund des Nachweises des Deckenaufbaues des Karpathen- randes und der Wiederholung der Menilitschiefer- facies unter der randlichen Decke hält Siegfried die Menge der bituminösen Menilitschiefer für fast unerschöpflich. Die Frage, ob eine derartige ÖUagerstätte als eine primäre oder sekundäre aufzufassen ist, be- antwortet der Verf. im ersteren Sinne, da Öl und Gas erst nach Imprägnation eines porösen Ge- steins ein Öllager, also einen geologisch selb- ständigen Teil der Erdrinde bilden. Nach Be- obachtungen von Kalisky können jedoch auch Faulschlammgestein und Erdöllager zusammen- fallen. In den meisten Fällen wird das Faul- schlammgestein weniger aufnahmefähig sein und das Öl sich in dem darüber liegenden porösen Gestein sammeln. Nur, wenn das Öl aus einem bereits vorhandenen Öllager durch Spalten nach einer anderen Stelle wandert, ist die Annahme einer sekundären Lögerstätte berechtigt. Am Schluß der Arbeit bringt der Verf. dem- gemäß folgende Einteilung der Erdöllager in Vor- schlag: 1. Syngenetische Öllager; Öl und Gas befin- den sich im Mnttergestein. 2. Epigenetische Öllager; Öl und Gas treten über dem Muttergestein auf. A. Destillationslager; Öl und Gas sind aus dem Muttergestein heraus destilliert und imprägnierten das darüber befindliche aufnahmefähige Gestein. B. Migrationslager; das Öl, das bereits ent- weder als I oder 2 A eine Lagerstätte bildete, wanderte lokal auf Spalten und impiägnierte von diesen aus andere auf- nahmefähige Gesteine. F. H. Anthropologie. Die Umweltbedingtheit der menschlichen Kultur kommt klar zum Ausdruck in Franz Thorbeckes „Anthropogeographie des Qst-Mbamlandes" (Abhandlungen des Ham- burgischen Kolonialinstituts, Bd. 36). Im Mbam- lande, in der Nähe des Sangaflußes, liegt der Grenzsaum, in welchem die Sudanneger von Norden und die Bantu von Süden her aufeinanderstießen. Das war gerade zur Zeit der deutschen Besitzer- greifung, als der Sudannegerstamm der Wüte, von den Fullah gedrängt, nach Süden rückte. Aber die weite Wüte- Ebene nördlich des Sanga ist doch noch vorwiegend von Bantu bevölkert, die nur zeitweise von Sudannegern beherrscht wurden. Als solche darf man von den Einwohnern des Mbamlandes nur die Wüte- und Mbumstämme be- zeichnen. Im Südosten leben einige kleinwüchsige Stämme, Reste der afrikanischen Urbevölkerung. Im äußersten Nordosten sitzen Splitter von Völkern, die wahrscheinlich erst kürzlich eingewandert sind; sie sind von besonders hohem Wuchs, oft wahre Riesen, haben ungeschlachtete Glieder und häß- liche Köpfe. Eine ganz dünne Oberschicht von Fullah hat sich im Mbamlande nicht rassenrein erhalten. Der an Kopfzahl stärkste Bantustamm sind die Tikar. Im Verhältnis zu ihren Nachbarn im Osten, Norden und Westen sind sie mittelgroß, schmächtig gebaut in mittleren Jahren zu Behäbig- keit neigend, im allgemeinen gesund und sauber. Sie sind in dem in Rede stehenden Gebiet am längsten wohnhaft und man kann an ihnen am deutlichsten die Abhängigkeit des mensch- lichenLebens von derNatur desLandes erkennen. Die politischen Grenzen der Stammesgebiete scheinen im Mbamlande häufig auf den trockenen, unfruchtbaren Wasserscheiden zu liegen, besonders wo diese sehr breit sind. Flußläufe sind fast nie Grenzen; in einem einzigen Ausnahmefall hat der Grenzfluß ein stark versumpftes Überschwemmungs- gebiet. Niemals sind die Grenzen scharfe Linien, sondern stets mehr oder weniger breite und gewöhnlich unbewohnte Landstreifen. (Über das Vorkommen solcher unbewohnter Grenzgebiete berichtete auch Schwein fürt aus dem östlichen Sudan ; ferner ist hierüber zu ver- gleichen Ratzeis „Anthopogeographie", 2. Band.) Wo in besonders fruchtbarem Gebiet Völker aufeinanderstoßen, dort verwischen sich die Grenzen und die Völker durchdringen sich gegenseitig. Die Stämme werden nirgends durch gemein- same Weltanschauung oder Religion zusammen- gehalten. Lediglich im Bereich des Islam ist es anders; seine Gemeinschaft hebt, wenigstens im gewissen Maße, die ethnischen Gemeinschaf- ten auf. Die Lage der Siedelungen zeigt vor allem ihre Abhängigkeit vom Wasser. Bevorzugt werden mittlere Bäche, aber kleine Dörfer werden mit Vorliebe an kleinen Bächen mit starkem Gefälle angelegt. An einem der großen Flüsse liegt bloß ein giößerer Eingeborenenort, der sich aus dem Fluß mit Wasser versorgt. Nicht einmal die kleinen Orte an grt ßen Flüssen sind unmittel- bare Anlieger. Die Lage der Siedlungen zum Wald ist verschieden. Die Tikar haben alle ihre Siedlungen ursprünglich im Wald angelegt, wobei wohl bestimmend war, daß der Waldboden viel fruchtbarer ist als der Grasboden. Andererseits siedeln die Wüte nur auf der Savanne, vermutlich wegen ihrer Abstammung aus dem waldlosen Norden. Schutzsiedlungen haben aus politi- schen Gründen alle Völker des Ost-Mbamlandes angelegt, um sich so gut wie möglich gegen die Einfälle fremder Eroberer zu schützen. Solchen Siedlungen kamen die in manchen Gegenden vor- handenen Inselberge sehr zustatten. Andere ge- schützte Siedlungen liegen auf Felskämmen, wieder andere auf Inseln in Flüssen. Selbst in der primitiven Wirtschaft des Ost- N. F. XVm. Nr. si Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 759 Mbamlandes kann man deutlich unterscheiden: Ortschaften in denen Nahrungsmittel gebaut und solche, in denen sie verzehrt werden; das ist ein ähnlicher Unterschied wie der von Land und Stadt bei uns. Es gibt wohl viele mittelgroße Ort- schaften, die ihren Nahrungsbedarf in der unmittel- baren Umgebung bauen und alles selbst verzehren, was sie erzeugen. Aber die größeren Häupt- lingsorte sind angewiesen auf kleine Ackerdörfer, die in weitem Umkreis liegen, manchmal viele Stunden entfernt. In Gebieten, um deren Besitz noch Kämpfe stattfinden, bergen die befestigten Ortschaften in ihrem Weichbild weite Ackerflächen. Kriegerische Ereignisse begünstigen überdies die Anlage großer Siedlungen; wo friedliche Zustände herrschen, überwiegen mittlere Dörfer. Die Volksvermehrung ist langsam. Die Still- zeit der Kinder währt 2 — 4 Jahre und so lange sind die Frauen unantastbar. Bei der schweren Kost der Neger ist auch tatsächlich das Säugen mehrere Jahre hindurch eiforderlich. Die auf eine Frau entfallende Kinderzahl ist in der Einehe immer größer als in der iVlehrehe. Von der Einschrän- kung der Mehrehen wäre deshalb eine Zunahme des Nachwuchses zu erwarten. H. Fehlinger. Bücherbesprechungen. Börnstein, R., Die Lehre von der Wärme. (Aus Natur und Geisieswelt Nr. 172.) 2. durch- gesehene Auflage herausgeg. von A. Wigand. Leipzig und Berlin 191 8, ß. G. Teubner. Das kleine Bändchen kann den Lesern dieser Zeitschrift, die sich auf bequeme Weise über die Wärmevorgänge orientieren wollen, sehr empfohlen werden; es setzt nichts voraus und was vielen besonders wertvoll sein wird und das Bändchen besonders lesensweit macht, ist die ausgiebige Bezugnahme auf die atmosphärischen V\'ärme- vorgänge; Luftströmungen aller Art, Niederschläge, Feuchtigkeitsmessimgen sind als Anwendungen ausführlich behandelt und alles ist in angenehmem, erzählendem, leicht verständlichem Ton vorge- bracht. S. Valentiner. Bloch, W., Einführung in die Relativi- tätstheorie. (Aus Natur u. Geisteswelt Nr. 6 1 8). Leipzig u. Berlin 1918, B. G. Teubner. Ein ausgezeichnet klar und sozusagen einfach geschriebenes Büchlein, das den Lesern dieser Zeilschrift sicherlich sehr erwünscht sein wird. Es behandelt den schwierigen Stoff fast ohne Be- nutzung von Mathematik, aber in genügender Breite, um die wichtigen Folgerungen des Rela- tivitätsprinzips deutlich vor Augen führen zu können. Auch die philosophische Seite des Prin- zips wird beleuchtet und den Schluß des Buches bildet ein Ausblick auf die allgemeine Rela- tivitätstheorie. In Anbetracht der großen Bedeutung der Rela- tivitätstheorie für die moderne Betrachtungsweise des Naturgeschehens sei diese Einführung jedem naturwissenschaftlich Interessierten warm emp- fohlen. S. Valentiner. Auerbach, F., Das Wesen der Materie. 147 S. m. 15 Abb. Dürrsche ßuchh., Leipzig 1918. („Pädagog. Lit.Ges. Neue Bahnen".) Das Wesen der Materie, das ist eigentlich der Inhalt der ganzen Physik, wird hier ohne Formel und Tabelle in frisch erzählendem Ton behandelt, um einem Laien einen Begriff von der Natur dessen zu geben, was ihn umgibt. Das Bändchen ist außerordentlich leicht lesbar geschrieben und der nicht vorgebildete, aufmerksame Leser wird manches Neue und Anregende daraus erfahren; die Schreibweise entspricht etwa der Aufgabe, der man sich gegenübersieht, wenn man in einem Volksbildungsvercin etwas aus dem großen Ge- biet des physikalischen Naturgeschehens erzählen soll. Ich könnte mir denken, daß auch vorge- schrittene Gymnasiasten und Oberrealschüler an der Lektüre besondere Freude haben werden und durch sie lebhafteres Interesse an den Fragen der modernen Physik gewinnen können. S. Valentiner. Abderhalden, E., Die Grundlagen unserer Ernährung und unseres Stoffwechsels. 3. Aufl. Berlin 1919, J. Springer. Das Buch, das schon in seinen ersten Auflagen, die speziell auf die Ernährung während der Kriegs- zeit Bezug nahmen, viel Gutes geleistet hat, bildet in seiner jetzigen Form eine au'^gezeichnete Ein- führung in die Ernährungs- und Stoffwechsellehre. Es ist leicht faßlich und äußerst anregend ge- schrieben und wahrt dabei doch immer seinen streng wi'^senschaftiichen Standpunkt, so daß es in jeder Hinsicht als Muster einer populären Dar- stellung bezeichnet werden muß. .Auch der Fachmann liest es mit Freude und Genuß. Brücke (Innsbruck). Pirquet, C, Frhr. v., System der Ernährung, zweiter Teil mit Beiträgen von Prof. Dr. B. Schick, Dr. E. Nobel und Dr. F. v. Groer. Berlin 1919, J. Springer. Das Buch enthält eine Studie Pirquets über den „Nemwert" der einzelnen Nahrungsmittel und seine Schwankungen auf Grund der vorliegenden chemischen Nahrungsmittel- Analysen (das „Nem" ist der durchschnittliche Kalorienwert von i g Frauenmilch), ferner Untersuchungen Schicks und weiterer Mitarbeiter über die Ernährung von Neugeborenen und Säuglingen und über die prak- tische Durchführung des Pir quetschen Ernäh- 760 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVm. Nr. 51 rungssystems. Das Werk dürfte in erster Linie für Fachleute, vor allem für Kinderärzte, von Interesse sein. Brücke, Innsbruck. Spranger, Eduard, Kultur und Erziehung. Gesammelte pädagogische Aufsätze. 8". VIII, 151 S. Leipzig 1919, Verlag Quelle & Meyer. Geh. 2,80 M., geb. 3,80 M. Ein neues Buch Eduard Sprangers kann in jeder wissenschafilichen Zeitschrift den Lesern nähergebracht werden. So verdienen auch die unter dem Titel „Kultur und Erziehung" gesam- melten sechs pädagogischen Aufsätze des Leip- ziger Gelehrten an diesem Orte der eindringlich- sten Empfehlung. Der I. Aufsatz, der „Die Hauptströmun- gen der Pädagogik vom Altertum bis zur Gegenwart" darstellt, ist das Kabinettstück einer Geschichte der Pädagogik in nuce. — IVIit besonders heute so heiß umstrittenen Problemen, wie „Grundlegende Bildung, Berufs- bildung, Allgemeinbildung", befaßt sich die zweite Skizze, die in die Forderung ausläuft, daß wir „unsre Bildungseinrichtungen immer treuer anknüpfen müssen an den wirklichen psy- chologischen Gang, in dem der menschliche Geist sich formt, wie sie andrerseits immer mehr der Mannigfaltigkeit der Begabungen, Kulturleistungen und Individualitäten gerecht werden müssen". — „D as Problem des Aufstieges" ist im dritten Aufsatz echt sprangerisch dargelegt, d. h. nicht „sozialistisch", sondern psychologisch-fortschrittlich. — Als glänzender pädagogischer Organisator er- weist sich Spranger dann in den beiden folgen- den Gutachten; zum ersten in der ,,D enkschrift über die Einrichtung der Auslands- studien an den deutschenUniversitäten" und zum anderen in der ,.Den kschrift über die Fortbildung der höheren Lehrer". Besonders der zweiten wird in den Leserkreisen unserer Wochenschrift das größte Interesse ent- gegengebracht werden. — In schönen Worten „Von der ewigen Renaissance" klingt das Buch aus und leitet hinüber zum stillen Nach- denken und werktätigen Tun in Leben und Schule. Dresden-A. Rudolph Zaunick. der Elektrizität von A. Föppl. 5. umgearb. Auflage. Herausgeg. von M. Abraham. Leipzig und Berlin 19 17, B. G. Teubner. Dieses ganz ausgezeichnete, nun schon in S.Auf- lage erschienene Buch wird manchem natur- wissenschaftlichen Leser der Zeitschrift in einer früheren Auflage wohl bekannt sein; es kann jedem, der Differential- und Integralrechnung be- herrscht und eine klare Darstellung der Maxwell- schen Theorie moderner Fassung durchzustudieren wünscht, aufs wärmste empfohlen werden. Der einleitende Abschnitt über Vektorrechnung wird vielen erwünscht sein. Gegen die 4. Auflage ist die 5. nicht wesent- lich geändert, so daß auch der vor 4 Jahren in 3. Auflage erschienene 2. Band der Theorie der Elektrizität, in dem die elektromagnetische Theorie der Strahlung und damit die neueren Theorien der Elektrodynamik bewegter Körper dargestellt sind, sich noch an diesen i. Band anschließt. Die drei großen Abschnitte des Buches sind: das elektrische Feld, das elektromagnetische Feld, weiterer Ausbau der Theorien. S. Valenliner. Abraham, M., Theorie der Elektrizität. I. Band: Einführung in die Maxwellsche Theorie Schwalm, Jak. H., Mit Rucksack und Ham- mer durch Kellerwald und Knüll, geologisches Heimat- und Wander- buch. Marburg 1919, N. G. Elwertsche Ver- lagsbuchhandlung, G. Braun. Geh. 6 M. Das Buch ist frisch und anregend geschrieben. Es behandelt ein wenig bekanntes Gebiet deut- scher Erde, in dem, besonders denke ich dabei an den Kellerwald, die stratigraphischen Verhält- nisse bis heute noch nicht endgültig geklärt sind. Darum ist das Silur des Kellerwaldes wohl auch nicht nach dem neuesten Standpunkt der neue- sten Literatur dargestellt worden. Der Gebrauch des „Heimat- und Wanderbuches" wird sehr er- leichtert durch einen guten methodischen Aufbau, den der Stoff in der Ausführung erhalten hat. Den Schlüssel zum Verständnis des Planes, wo- nach die Stoffanordnung des Buches geschah, haben wir in dem Inhaltsverzeichnis vor uns. Bei einer Neuauflage wäre es vorteilhaft, wenn man bessere Abbildungen auswählen würde, die zum Teil aus dem Rahmen des sonst sehr empfehlens- werten Buches fallen. Vielleicht fügt der Verlag eine kleine geologische Karte des Kellerwaldes und des Knüllgebirges bei. Rudolf Hundt. Inhalt: Edw. Hennig, Die Entstehung des Säugerzahns und die Paläontologie. S. 745. Rud. Dehler, Ultraorganismen. S. 751. — Kleinere Mitteilungen: Nachtsheim, Massenversammlungen und Massen Wanderungen von Marienkäfer- chen. S. 753. W. Arndt, Noliz über Massenauftrclen von Marienkäfern im Ussurigebiet Ende September 1916. S 754. — Einzelberichte: W. v. Brunn, Übt-r die Ursachen und die Häufigkeit des Vorkommens des Rotzes beim Menschen. S- 755- G. Haberlandt, Zur Physiologie der Zeiiteilung. S. 755. W. Landgraeber, Die oolithischen Braun- eisenerzlagerstätten bei Volkmarsen. S. 756. G. Buetz, Kohle- und Erzvorkommen Niederländisch-Indiens. S. 756. M. Henglein, Druckdestillation und Erdölwanderung. S. 757- Franz Thorbecke, Anthropogeographie des Ost- Mbamlandes. S. 758. — Bücherbesprechungen; R. Börnstein, Die Lehre von der Wärme. S. 759. W. Bloch, Einführung in die Relativitätstheorie. S. 759. F. Auerbach, Das Wesen der Materie. S. 759. E. Abderhalden, Die Grundlagen unserer Ernährung und unseres Stoffwechsels. S. 759- C. v. Pirquet, System der Ernährung. S. 759. Eduard Spranger, Kultur und Erziehung. S. 760. M. Abraham, Theorie der Elektrizität. S. 760. Jak. H. Schwalm, Mit i7'l,' ±2' 7) Labradorit 54 ^0 Au M P = : 860573' ±2' 8) Labradorit 64 '% An M P = - 86"/.' ±2' 9) Anorthit 94 7o An M P=. :85f50' ±3' 10) Anorthit 94 7o An M P-= -85"49^V ±3' Die graphische Darstellung dieser Verhältnisse mit der Größe der Spaltwinkel als Ordinate und dem Anorthitgehalt (An "/,j) als Abscisse ergibt eine Kurve, die erkennen läßt, daß die Änderung des Winkels als Funktion des Anorthitgehaltes für die Plagioklase so gut wie linear verläuft. Die Werte für P : M für reinen Albit und Anorthit sowie für einige Mischungen, mit nur geringen Extrapolationen dieser Kurve entnommen, gibt Spalte 5 der Zusammenstellung der Gesamtergeb- nisse am Schluß des Referates wieder. Die Verzwillingung nach dem Karlsbader Gesetz, die oft mit der fast nie fehlenden Verzwillingung nach dem Albitgesetz verbunden ist, ermöglicht es, den Winkel ß, der von den Achsen a und c eingeschlossen wird, in einfacher Weise aus Mes- sungen an Spaltflächen zu ermitteln. Zur Messung eigneten sich Albit von Amalia Co. , Labradorit von Gorodistsche und von Pillau. In der nach- folgenden Tabelle sind die Werte für ß auszugs- weise wiedergegeben. Der Wert für Anorthit wurde, da zuverlässig bekannt, der Literatur ent- nommen. Vorkommen Mol. 7o Au . ^ /S Albit v. Amalia 5 Ii6''35,3' Labradorit v. Gorodistsche 54 116" 8,7 desgl. v. PiUau 64 116" 47' Anorthit v. Vesuv 94 HS^SS.S' Einer aus diesen 4 Punkten konstruierten Kurve können die /J-Werte für die ganze Plagioklasreihe um so sicherer entnommen werden, als es sich hier ähnlich wie bei den Werten M : P um geringe Winkeländerungen handelt und die Kurve eine sehr flache Form besitzt. Die der Kurve ent- nommenen Werte für ß für die beiden Endglieder und eine Reihe anderer Mischungen finden sich in Spalte 3 der untenstehenden Zusammenstellung. Die Bestimmung des von den Achsen a und b eingeschlossenen Winkels ;' ermöglicht die Zwillingsbildung nach dem Periklingesetz in Ver- bindung mit der Kenntnis des Spallwinkels M:P. Es handelt sich hierbei um das alte Problem der Beziehung zwischen der Lage des rhombischen Schnitts — d. h. seiner Spur auf M — und dem Winkel der Achsen a und b. G. v. Rath erkannte als Erster die Zwillingsnaht zwischen den beiden Individuen eines Periklinzwillings als Spur einer nicht kristallonomischen Fläche, nach der die Zwillingsverwachsung stattfindet, und der er den Namen rhombischer Schnitt gab. Die Basis eines einfachen, nur aus Prisma und Basis bestehenden Plagioklaskristalles hat, wie alle Schnitte durch dies Prisma, die Gestalt eines Parallelogramms, in dem bei gewissen Zentral- abständen der Prismenflächen die den Winkel ;' einschließenden Achsen a und b die Diagonalen bilden. Drehen wir nun die Basis um die Achse b, so erhalten wir eine Schar von Parallelogram- men mit natürlich verändertem Winkel y. Bei einer bestimmten Fläche aus dieser Schar wird nun der Winkel y 90" und damit b nicht nur Diagonale, sondern auch Symmetrieachse. Dieses Parallelogramm geht also in eine Spezialform der Parallelogramme über, die symmetrisch zur Dia- gonale ist, und das ist der Rhombus. Daher der Name ,, rhombischer Schnitt". Um die Basis in die Lage des rhombischen Schnitts zu bringen, muß man sie beim Albit um die b-Achse nach Zusammenstellung der Werte für die Winkel der kristallographischen Achsen, der Pinakoide und für ff. Mol. o/„ An (f. ß '" P:M k :P M : k 0 94''3i,5' iit,"i\S' 8700,7' 8b"26,o' 63O29.6' 9104,6' + 40" 5 93°5S,2' 116035,3' 8842,o' 1 16032,0' 88"59,6' S6''22,0' 63O2S.5' 89016,6' + I5'/-." 20 93"3i.3' i io"26,o' 89031.5' SöDiS.s' 63032,7' 88046,7' + 7'// 30 93"^7.6' I l602O,o' S9047.2' 8bOi4,5' 63037,7' 88031,3' + 3V1" 40 93026 8' u6<>i5,o' 89058,0' 86010,5' 63"42,o' 88020,2' + V20 50 93"26,6' I i60io,3' 9o06,3' 8b06,7' 63"4b,2' 880ii,4' -1V2" 60 93026,2' IIb0ö,2' 90" 15,2' 8603,0' 63"49.7' 880i,g' -3-^0 70 93025,3' 11602,5' yo»25,3' 85059.2' 63052.8' 87051,4' — 6" So 9302i,7' H5059,5' 90040,9' 85055.5' 63054,8' 87035,9' -97=0 90 93"I0,2' '15056.5' 9I"I,9' 85051,6' 63056,6' 87015,4' - 140 05 93012,5' 115055,2' 91 "14,9' 85049.5' «3057,1' 8702,9' - 16'/," 100 93''5.3' 115054,2' 9l"34,i' 85048,0' 63057,1' 86045,1' -2oV,o N. F. XVm. Nr. 52 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 773 vornoben, beim Anorthit nach vorn-unten drehen. Dieser Drehungswinkel hat bis jetzt weiter keine Beachtung gefunden, wohl aber der von ihm nur wenig verschiedene Winkel, den die Spur des rhombischen Schnittes auf M mit den Spaltrissen nach P auf M bildet. Dieser Winkel wiid mit ± a bezeichnet, wo die Vorzeichen im gleichen Sinne wie bei den Auslöschungsschiefen zu ver- stehen sind. Dem Verf. war es möglich, an 6 Plagioklasen a auf Schliffen nach M zu messen. Eine auf Grund der eigenen und zahlreicher Be- obachtungen anderer Forscher gezeichnete Kurve vereinigt zahlreiche Punkte und verläuft stetig. Sie zeigt somit die stetige Änderung der Lage des rhombischen Schnittes mit dem An-Gehalt. Die Werte für O und dem aus IVI P und a berech- neten ^4 y sind, dieser Kurve entnommen, in Spalte 4 und 8 zusammengestellt. Aus den Unter- suchungen ergab sich auf jedem Fall, daß a für den Aliaitpol einen viel größeren Wert hat, als man bisher angenommen hat. Die Kurve, die die Änderung des ;$ y mit dem Mischungsver- hältnis darstellt, zeigt ebenfalls einen stetigen Ver- lauf. Die Unstetigkeit in den Werten für y, die in den eingangs angeführten älteren Beobachtungen zum Ausdruck kam, besteht demnach nach den Beobachtungen und Berechnungen des Verfassers nicht zu Recht. Mit Hilfe der stereographischen Projektion wurden aus den neuen Werten der Winkel ß und y und des Spaltwinkels M:P einmal der Winkel der Achsen b und c = u, sowie die Pina- koid Winkel (iOO):(oio) = Quer fläche k: Längs- fläche M und (ioo):(ooi) = Querfläche k: Basis P neu berechnet. Ihre Werte sind in Spalte 6 und 7 der nachfolgenden Tabelle zusammen- gestellt. F. H. Chemie. Die chemische Natur des Xanthose- farbstoffes hat H. Salomon'j ermittelt. Die krankhaften Gelbfärbungen der menschlichen Haut, die unter dem Namen Xanthose zusammengefaßt werden, haben in jüngster Zeit ein erhöhtes Inter- esse dadurch gewonnen, daß sie nach dem Genuß von Mohrrüben auftraten. Nach Mohrrübenmahl- zeiten beobachteten Kampe, Stoeltzner, Klose und andere Forscher bei Säuglingen und kleinen Kindern lebhafte gelbe Hautverlärbung, Schüßler fand dasselbe auch bei älteren Leuten. Diese Erscheinung — von Salomon ,,Carotten- xanthose" genannt • — deutete auf nahe Beziehungen zwischen dem Pigment der Haut und dem Mohr- rübenfarbstoff, dem von Willstätter und Mieg isolierten Carotin.^) Salomon untersuchte das Serum eines besonders schönen Falles. Es war klar und von goldgelber F"arbe, die durch Oxydationsmittel rasch verblaßte. Durch Säure- zusatz ließ sich der Farbstoff mit dem Eiweiß zusammen ausfällen und nach Behandlung mit Pottasche Essigsäure und Zusatz von Ammonsulfat völlig in Äther lösen. Diese ätherische Lösung gab an Wasser keinen Farbstofif wieder ab, wie Hämatin und seine Derivate es tun, wenn sie mit Pottaschelösung in Berührung .stehen. Der Xan- ihosefarbslofif ist also wahrscheinlich neutral und im Serum an eine saure Komponente gebunden. Nach dem Verdunsten seiner ätherischen Lösung hinterblieb er als eigelber Stoff von nunmehr nur noch ganz geringer Löslichkeit in Azeton. Um ihn zu identifizieren wurde er spektroskopisch untersucht. Hierbei zeigten sich deutliche Ab- sorptionsstreifen bei den Wellenlängen 481 und 456. Eine nahezu übereinstimmende Lage der Absorptionsstreifen zeigt nun auch das Carotin, bzw. sein Oxyd, das Xanthophyll, von dem ein Isomeres, das Lutein, den Farbstofif des Eigelbs bildet. Dessen Absorption liegt bei den Längen 477 und 457 (Willstätter und Escher 1912). Der Unterschied gegen das Spektrum des Xan- thosefarbstofies beträgt also etwa 4 bzw. 8 Wellen- längen. Berücksichtigt man die Schwierigkeit der Reindarstellung der genannten Stoffe, so darf man mit ziemlicher Sicherheit von der spektroskopi- schen und damit wohl auch chemischen Überein- stimmung von Mohrrüben- und Xanthosefarbstoff sprechen. Solche Übereinstimmungen von tieri- schen F'arbstofifen mit außerhalb des Körpers auf- tretenden Lipochromen sind ja bereits mehrfach nachgewiesen.'") H. Heller. ') Wiener klinische Wochenschr. 32, S. 495, 1919. ') Vgl. den Aufsatz ,,Das Chlorophyll" vom Verf in Naturw. Wochenschr. XVH, S. 545, 1918, Nr. 38. '') ,,Das Chlorophyll" a. a. O., Anmerkg. 8 und Naturw. Wochenschr. XVUI, S. 303, 1919, Nr. 21. Bücherbesprechungen. Ernst, A., Bastardierung als Ursache der Apogamie im Pflanzenreich. Eine Hypothese zur experimentellen Vererbungs- und Abstammungslehre. 664 u. XIV S. , mit 172 Abb. u. 2 Tafeln. Jena 1918, G. Fischer. Preis 36 M. Worauf Verf. hinaus will, ist im Titel des Buches klar ausgedrückt: die Hypothese begrün- den, daß Apogamie, wo sie im Pflanzenreich auf- tritt, auf stattgehabte Bastardierung als Ursache zurückweise. Über Apogamie und Parthenogenesis liegt eine umfangreiche Literatur vor — das Schriften -Verzeichnis zeigt über 600 Nummern, freilich nicht alle direkt auf das Hauptthema be- züglich. Die bisherige Bezeichnung und Abgren- zung jener beiden Begrifl'e genügt dem Verf. nicht, weil zu sehr nur auf morphologischen Merk- malen beruhend; er stellt folgende Einteilung auf (S. ISS): I. Parthenogenesis, autonome oder indu- 774 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. N. F. XVni. Nr. 52 zierte apomiktische Entwicklung von Gameten (bes. Eizellen) einer sexuell differenzierten und sexuell funktionsfähigen Pflanzen- oder Tierart; a) haploide (generative) Parth.; Entwick- lung von Eizellen mit haploid- chromosomigem Kern, dessen Entstehung eine normale Reduklions- teilung vorausgegangen ist; a) natürliche haploide Parth.; tritt infolge Beeinflussung der Gameten durch äußere Faktoren gelegentlich bei niederen Pflanzen, im Wechsel mit Amphimixis im Enlwicklungszyklus von Tieren, bes. Insekten, auf; ß) künstliche haploide Parth.; Entwicklungs- erregung normal entstandener Eizellen von Pflan- zen und Tieren (Fucus, Echinodermen), führt zur Ausbildung sexuell differenzierter, haploidkerniger Nachkommen ; b) diploide (somatische) Parth.; autonome oder induzierte Weiterentwicklung von Eizellen mit diploidem Kern, deren Bildung ohne Chro- mosomenreduktion erfolgt ist; «) natürliche diploide Parth.; im Wechsel mit Amphimixis im Tierreich (Blattläuse, Gall- wespen) ; ß) künstliche diploide Parth.; noch kein Fall bekannt. 2. Apogamie, die obligat apomiktische Keimbildung aus Zellen di- oder heteroploider (xametophyteii; a) ovogene Apogamie liegt vor, wenn der apomiktische Keim aus der Eizelle, b) somatische Apogamie, wenn er aus einer oder mehreren somatischen Zellen des Gameto- phyten seinen Ursprung nimmt. Nach des Verf. Hypothese ist nun Apogamie die apomiktische Vermehrung der Nachkommen- schalt von Bastarden aus Eizellen oder anderen Zellen von Gametophyten mit diploiden, von den beiden Ellern herstammenden Chromosomen- sätzen. Apogame Entwicklung ist eine Teil- erscheinung der durch Artkreuzung bewirkten vielfachen Störungen in der sexuellen Sphäre von Bastarden. Nach einem Überblick über das bisher zur Sache Bekannte kommt E. zu seinem vornehm- sten eigenen Forschungsgebiet, den F'ortpflanzungs- Verhältnissen von Chara crinita. Diese dioezische- Pflanze ist fast überall nur Oogonien tragend zu finden, welche Panhenosporen erzeugen; das völ- lige F"ehlen männlicher Organe, die Unmöglichkeit einer Befruchtung ist gewiß. Die Panhenosporen führen gleichviel Chromosomen wie alle übrigen Zellen der Pflanze, Reduktionsteilung findet nicht statt. An etlichen Standorten kommen normale, haploide Geschlechispflanzen vor, die Oogonien der weiblichen Stöcke entwickeln sich nur nach Be- fruchtung weiter, die Nachkommenschaft ist je zur Hälfte rein männlich oder rein weiblich. Die Parthe- nosporen erzeugen aber stets wieder diploide, ihrer- seits nur Parthcnosporen tragende, weibliche, aber nicht befruchtungsfähige Pflanzen. Zuweilen findet man haploide (geschlechtliche) und diploide (par- thenogenetische) Pflanzen am gleichen Standort. Nirgends aber wurden bisher Übergänge zwischen den beiderlei Formen gefunden. Doch gelang es E. zuweilen, durch Beeinflussung normal weibliche Stöcke zur Bildung von Parthcnosporen anzuregen. Übrigens liegt, nach obiger Begriffsbestimmung, bei Cliara crinita nicht Parthenogenesis, sondern „ovogene Apogamie" vor. Nun wird man — nach dem Titel des Buches — fragen: ist denn Cliara crinita ein Bastard? und wenn, aus welchen Arten entstanden? Hierauf weiß freilich E.- keine be- friedigende Antwort zu geben, die Bastardnatur der Pflanze ist bisher nicht bewiesen, wenn auch im Bereich der Möglichkeit liegend. Aber: von welcher Tier- oder Pflanzenart könnte man das nicht auch sagen ? E. meint, die apogame Pflanze sei ein metromorpher Bastard; damit wäre es aussichtslos, die väterliche Art ausfindig zu machen, wenn es nicht etwa im Experiment gelingen sollte. Diese Lücke in seiner Beweisführung ist E. bemüht auszufüllen, indem er aus allen Abteilun- gen des Pflanzenreiches eine Unzahl von Beispielen anführt, wo Bastardcharakter (vielleicht auch nur mutmaßlicher) und Abnormitäten in den Fort- pflanzungsverhältnissen miteinander vereint vor- kommen. Etwas näher möchte Ref. auf die apo- gamen P^arne eingehen. E. erwähnt hier meine Arbeit ') über Aspidium remotum AI. Br. (= A. fili:;; mas X spinulosum), hat aber eine kurze Mitteilung in Sitz. Ber. d. Ges. Naturforsch. F"reunde, Jahrg. 19 12, S. 521 übersehen, wo von noch meh- reren ähnlichen Fällen die Rede ist; nun habe ich indessen eine ausführlichere Studie, noch um einen Fall vermehrt, in Ber. D. Bot. Ges. 37, 1919, S. 286, veröffentlicht, wonach als apogam bekannt sind: i. die genannte Art, 2. Aspidium Boottii (= A. spinulosum X cribtatum), 3. Polysiichum lobatum X aculeatum, 4. Asplenum germanicum (veimutlich = A. ttichomanes X septentrionale), 5. Aspl. viride X trichomanes; letzlere Hybride ist spontan, zwischen den Ellern, im Alpinum im Schloßpark von Oliva bei Danzig entstanden. Alle 5 Bastarde zeigen nur apogame Ver- mehrung, also ein prächtiger Beleg für die Hypo- these von E., — wenn es nicht noch viel mehr Fälle von Apogamie bei Farnen gäbe, die für hybrider Abkunft zu halten kein Anlaß vor- liegt. Auch darin geht E. wohl zu weit, wenn er eine große Zahl von Fällen, in denen vegeta- tive Vermehrung regelmäßig die geschlecht- liche Fortpflanzung mehr oder weniger ersetzt, für seine Vermutung ins Feld führt. Für solche Erscheinungen düi fie doch eine Ursache ausschlag- gebend sein, die Ref. in dieser Zeitschrift, Jahrg. 1910, S. 741 und 1911, S. 166 näherer Würdigung empfohlen hat: ein perennierender Grundstock, ') Ber. Deutsch. Botan. Ges. 27, 1909, S. 495. •N F. XVni. Nr. 52 Naturwissenschaftliche Wochenschrift. 775 reifende- Samen, und etwa auftretende besondere Organe vegetativer Vermehrung (Brutzwiebeln o. dgl.) stehen miteinander in Wettbewerb um die stets nur in begrenzten Mengen vorhandenen organischen Speicherstofife; in diesem Kampf siegt der Stärkere, und wenn es nun auch möglich ist, daß die Organe der geschlechtlichen Fort- pflanzung infolge hybrider Abstammung geschwächt sind und darum im Kampf um die Nahrung leichter unterliegen, so muß das nicht in jedem Fall die Ursache sein. Daß die Samen ausdauernder Stauden häufig geringe Keimzahlen geben und ihre Keimfähigkeit nicht lange bewaliren, auch wenn hybride Abstammung schwerlich in Frage kommt, ist eine alte Ei fahrung. Sehr typisch finden wir abgestuften Ersatz der Sameiibildung durch Brutzwiebelchen bei Arten der Gattung Allium, wo sie ein Köpfchen im Grunde der Blütendolde bilden. Solche Arten bringen dann oft wenig oder gar keine Samen zur Reite, ja die Blütenbildung selbst kann weitgehend oder ganz unterdrückt sein, wie bei A. sativum, dem Knob- lauch, der meistens nur noch ein Köpfchen von Brutzwiebeln trägt, Blüten aber nur ausnahms- weise hervorbringt. Hybride Herkunft ist zur Erklärung keineswegs erforderlich. Eines der von E. näher besprochenen Beispiele ist Dentaria bul- bifera; die Pflanze bringt im Freien nur äußerst selten ihre Schoten und Samen zur Reife, es ge- lingt aber, solche zu erzielen, wenn man abge- schnittene Stengel in Wasser stellt und sorgfältig alle Ansätze von Brutzwiebeln entfernt. Inter- essant wäre es nun (was mir bisher nicht rriöglich war), die cytologisrhen Vorgänge bei der Be- fruchtung und Embryobildung so behandelter Pflanzen zu verfolgen. Aber unsere Art für einen Bastard zu erklären, hält doch schwer, und zwar deshalb, weil sie von den andern europäischen Arten in ihren Merkmalen sich so weit entfernt, daß man sie nicht wohl aus Vermischung dieser entstanden denken kann. ■■ — Obzwar eigentlich selbstverständlich, und auch von E. ausführlich dargelegt, sei noch betont, daß es zahlreiche Pflanzenbastarde gibt, die teils normal fruchtbar, teils ganz steril sind, also sicher nicht unter den Begriff „apogam" fallen. Die erhobenen Einwände richten sich, wie schon angedeutet, gegen zu weitgehende Ver- allgemeinerung der Hypothese. In vielen Fällen mag sie zutreffen, und zweifellos liegt ein großes Verdienst darin, das sehr umfangreiche Tatsachenmaterial zusammengebracht und kritisch verarbeitet zu haben; das vorliegende Werk wird darum den Wert behalten, in der Fülle von noch offenen EinzeHragen, die sich an die zahlreichen und mannigfaltigen Fortpflanzungsanomalien an- knüpfen, anregend zu wirken und gleichzeitig als Unterlage für weitere F"orschungen zu dienen. Dr. Hugo Fischer, Essen a. R. Braunshausen, N., „Einführung in die ex- perimentelle Psychologie". 2. .Auflrge. Aus Natur und Geisteswelt, Bd. 484. Leipzig, Teubners Veriag. Die Tatsache, daß diese erst 191 4 erstmalig erschienene Schrift schon heut eine 2. Auflage erlebt, scheint einen Beweis für das vielseitige Interesse zu liefern, das gegenwärtig der Psycho- logie entgegengebracht wird. Die knappe aber, recht geschickte Behandlung des Themas auf 113 Seiten wird durch eine Anzahl von Abbil- dungen und eine dankenswerte Literaturübersicht ergänzt. Die einleitenden Kapitel behandeln die Geschichte, die Berechtigung und die Hilfsquellen der experimentellen Psychologie. Es folgen dann Kapitel u. a. über seelischen Gebilde, die Emp- findung, das Weber-P"echner.sche Gesetz, Per- zeption und Apperzeption, Vorstellung und Vor- stellungstypen, Assoziationen, Psychoanalyse, Ge- dächtnis, Aussageversuche, Phantasie, Aufmerksam- keit, Denkvorgänge, Intelligenzprüfung, Ermüdung, Gefühle, Wille, Reaktionsversuche. Die Lektüre ist nicht ganz leicht und setzt eine gute Aligemeinbildung voraus. Ein Kapitel, das in der Darstellung leider fehlt und in einer Neuauflage vielleicht zu berücksichtigen wäre, sind die Versuche zur Tonpsychologie, wie sie insbe- sondere Stumpf ausgebildet hat. Hennig. Anregungen und Antworten. In der ,, Deutschen Jäger -Zeitung" berichtete kürzlich Müller - \V aldmannslrau m über das Auftreten von Tannenhähern in Hessen ara 4. Oktober in staiken Flügen. Alle Jäger und Vogclkenner mögen deshalb auf den Vogel achten und etwaige Beobachtungen (Ort, Zeit, Zahl usw.) ver- öffentlichen oder dem Unterzeichneten mitteilen. Wer Ge- legenheit dazu hat, fange Tannenhäher und zeichne sie mit Vogel wartenrin gen (Helgoland, Rossitten, Salz- burg), um die Zugsverhältnisse (besonders den Rückzug) dieser Art zu klären. Auch sonst bietet sich jetzt bis zum Frühjahr Gelegenheit, leicht viele Vögel zu fangen und zu markieren; neben Kleinvögeln kommen dafür vor allen alle Arten von Flugwild in Betracht. Besonders günstige Gelegen- heit zum Beringen haben Vogelherdbesitzer. Nachdem das Verbot des Dohnenstiegs wieder in Kraft getreten ist, ist anzunehmen und zu hoffen, daß der K r am m e ts v o g e 1 h e r d wieder mehr in Gebrauch kommt. Ich bin ein großer Freund des Naturschutzes, ohne die berechtigten Interessen der Jagd, zoologischen Wissenschaft, Vogelliebhaberei u. dgl. zu ver- neinen, sehe aber nicht ein , weshalb die großen Drosseln nicht ebenso wie die Tauben u. a. Flugwild waidmännisch gejagt und zu Speisezwecken gefangen werden sollen (ver- nünftige Schonzeiten vorausgesetzt!). Dem Dohnenstieg fielen leider viele kleine Singvögel zum Opfer, beim Drosselherd kann dagegen der Vogelsteller den kleinen Sänger wieder freilassen, und dabei bietet sich ihm reiche Gelegenheit zur Vogelberingung. Das Vogelstellen war früher ebenso angesehen wie die Jagd, diente Kaisern und Königen' zur Kurzweil und war für den Orniihologen der Vergangenheit eine reiche Fundgrube von Beobachtungen, die durch nichts hat ersetzt werden können; nur durch die zunehmende Vogel- abnahme infolge intensiver Bodenbewirtschaftung einerseits und die sentimentale Propaganda einer übertriebenen Tier- schutzbewegung andererseits verlor der Vogelfang sein An- sehen, das ihm von Rechts wegen zukommt. Es ist zu hoffen, daß jetzt nach dem Weltkriege die n^ Naturwissenschaftlich e Wochenschrift. N. F. XVm. Nr. 52 Vogelzugforschung, die auf das Zusammenarbeiten der Orni- thologen aller Länder angewiesen ist, neu aufblüht. Wenn auch unsere Vogelwarte Rossitten auf der Kurischen Nehrung, wie Prof. Dr. Thicnemann in seinem letzten Bericht lus- führte, noch im letzten Kriegsjahr durch militärische Schieß- übungen gelitten hat und ihre Helgoländer Schwesteranstalt jahrelang auf das Festland verbannt war, so werden sie sich doch bald erholen, da Nehrung und Felseninsel, die wichtig- sten Orte für den Vogelzug Mitteleuropas, beide trotz des schweren Friedens deutsch geblieben sind, Als eines erfreu- lichen Zeichens für das Wiedererwachen und Wachsen des Interesses für die Ornithologie nach dem Kriege sei noch zweier jungen ornithologischen Gründungen gedacht, des unter E. P. Tratz stehenden ,,D e ut s c h ö s t e r r. Ornithol. Instituts und der Vogelschutzslation Salzburg" und der von Dr. K. Floericke ins Leben gerufenen „Süd- deutschen Vogelwarte". Von letzterer liegt bisher als erste Bücherveröflentlichung vor ,, Detektivstudien in der Vogel- welt" mit sorgfältigen, auch den Waidmann interessierenden Untersuchungen über Vogelnahrung. Sie besitzt bereits um- fangreiche Bücherei und Sammlung und gibt demnächst eine eigene Zeitschrift und neben anderen Büchern ein ,, Jahrbuch der Vogelkunde" heraus, hält ornithologische Kurse ab und dient allen Zweigen der Vogelkunde, auch der Jagdornitho- logie. Die .,Sädd. Vogelwarte", deren Bereich Süddeuisch- iand einschließlich Hessen-Darmstadt ist, beruht auf Vereins- grundlage (Stuttgart, Ob. Birkenwaldstr. 217) und wird wie die anderen derartigen Anstalten allen Jagdfreunden und Vogelkennern zur Unterstützung empfohlen (Beitritt, Zusendung von Beiträgen für Bücherei, Vogel-, Eier-, Nester-, GewöU- sammlung, Beobachtung usw.). Bei dieser Gelegenheit möchte ich den Lesern, die mir auf meinen Aufruf zur Mitarbeit an einer Wirbeltier fauna Hessens hin Beiträge sandten, dafür danken und um weitere zoologische Mitteilungen aus und über Hessen und die Nach- bargebiete bitten. Werner Sunke), cand. zool. Marburg a. L., Frankfurtersir. 55. Geschichtliche Notiz über das Ambra. Auf Seite 4S0 des laufenden Jahrgangs wird von Dr. Seh oy eine geschicht- liche Notiz über das 'Anbar, dessen spanische Form Ambra sei, als vielleicht für Zoologen von Interesse mitgeteilt. Nun kennen wir Ambra entweder als Bezeichnung für Bernstein, oder neben Amber oder Amber gris als Bezeichnung jenes aus dem Darm des Potwals stammenden talgartigen Fettkörpers, welcher teuer bezahlt in der Parfümerie verwendet wird. Keines von beiden Objekten kommt aber bei der vorliegen- den Stelle irgendwie in Betracht. Es ist also entweder Anbar mit unserem .Ambra nicht identisch oder es bezeichnet Anbar := Ambra noch einen dritten, den Zoologen bisher nicht be- kannten Gegenstand, nach der vorliegenden Stelle scheinbar ein noch festzustellendes Tier. Priv.-Doz. Dr. Ludwig Freund (Prag). Herrn W. in Bottrop i. W. — Die Coccinelliden hatten sich wahrscheinlich gesammelt, um gemeinsam ihre Winter- quartiere aufzusuchen (vgl. den diesbezüglichen Artikel in der Nummer 51). Das Erscheinen der Habichte dürfte mit dem Auftreten der Coccinelliden nichts zu tun haben. Die Beute des Habichts besieht in größerem Getier, in Vögeln und Säugetieren. Überdies werden gerade die Coccinelliden selbst von Insektenfressern ihres übelriechenden und -schmecken- den Sekretes wegen verschmäht. Ob es sich aber in dem beobachteten Falle überhaupt um Habichte gehandelt hat? Wie mir Herr Piof. Zimmer mitteilt, ist der Habicht bei uns in Deutschland viel zu selten, als daß er in so großer Zahl vorkommen könnte. Wahrscheinlich waren es Bussarde, die sich auf dem Zuge befanden. ,, Kältere Gegenden", so heißt es in Brehms Tierleben, ,, verläßt der Bussard jedes Jahr im Herbst, und zwar im September und Oktober, um im März oder April zurückzukehren. Gelegentlich des Zuges bildet er Gesellschaften von 20 bis mehr als 100 Stück, die zwar miteinander in gleicher Richtung dahinfliegen, aber durchaus keine Schwärme bilden, sondern sich über Flächen von mehreren Geviertkilometern verteilen, langsam und meist in ziemlicher Höhe dahinfliegen, auch stets noch Zeit finden, halbe Stunden lang sich in weiten Kreisen emporzuschrauben." Die Nahrung des Bussards besteht zwar außer in Säugetieren, Vögeln, Reptilien und Amphibien auch in Kerbtieren mannig- facher Art, aber auch er wird kaum auf Coccinelliden Jagd machen. Nachtsheim. Aufruf. Eine Vergütung von 30 Ff. für jede einge- lieferte Maus aus Garten, Feld und Wald zahlt bis auf weite- res die Biologische Reichsanstalt für Land- und Forstwirt- schaft in Berlin- Dahlem. Um nach Möglichkeit einen Ober- blick über die Verbreitung der verschiedenen Mäusearten und über die Häufigkeit ihres Vorkommens in den einzelnen Ge- bieten Deutschlands zu gewinnen, bittet die genannte Anstalt um möglichst zahlreiche Einsendungen verschiedenartiger lebender und toter Mäuse aus allen Gegenden. Da die Tiere Untersuchungszwecken dienen sollen, müssen sie lebend oder frisch und sachgemäß verpackt durch die Post zum Versand gebracht werden. Geeignetes Packmaterial wird von der Biologischen Reichsanstalt auf Wunsch zur Verfügung gestellt. Außerdem wird, um Wenigerbemittelten die Mitarbeit an dem gemeinnützigen Unternehmen zu erleichtern, ob'ge Vergütung bis zum Gesamtbetrage von 3 Mk. an den Einsender gezahlt, wenn die Tiere in brauchbarem Zustande eintreffen. Die Portounkosten werden auf Wunsch ersetzt. Jeder Sendung ist nach Möglichkeit eine kurze Beschreibung der Örtlichkeit, an welcher die Mäuse gefangen wurden , beizugeben, hrage- bogen zum Eintragen entsprechender Angaben werden von der Anstalt geliefert. Literatur. Seward, A. C. , Fossil Plauts. Vol. IV. Ginkgoales, Coniferales, Gnetales. Cambridge 1919, University Press. 21 sh. Harr ies, C. D., Untersuchungen über die natürlichen und . künstlichen Kautschukarten. Mit 9 Textabb. Berlin 1919, J. Springer. 26,40 M. Hesse, Prof, Dr. A,, und Grossmannn, Prof. Dr. H., Englands Handelskrieg und die chemische Industrie. 3. Bd. Dokumente über die Kali-, Stickstoft"- und Superphosphat- industrie. Stuttgart 1919, F. Enke. 12,50 M. Chemie der Erde, Herausg. v. Prof. Dr. S. Linck. I. Bd. 4. Heft. Jena 1919, G. Fischer. Henrich, Dr. F., Der Gang der qualitativen Analyse. Für Chemiker und Pharmazeuten. Mit 4 Textfiguren. Berlin 1919. J Springer. 3,10 M. Hess, Prof. Dr. H., Elektrizitätslehre. Nürnberg 19 rg, C. Koch. 6,50 M. Zell, Dr. Th. , Tierbeobachtungen. Stuttgart, Frankh- sche Verlagshandlung. 1,50 M. Illlmit: H. Duncker, Die Krise der heutigen Naturwissenschaft. S. 761. E. Küster, Einige alte Gallenbilder. (3 Abb.) S, 766. — Einzefberichte : E. Bäc hl er. Versuche zur Wiedereinbürgerung des Sieinbockes in den Schweizer .Mpen. S. 769. Wiederenideckung der Wandertaube. S. 770. Abderhalden, Die ausschließliche Ernährung mit einem bestimmten Nahrungsmittel und der Einfluß dieser auf das Individuum und seine Nachkommenschaft. S. 770. Eduard Schmidt, Die Winkel der kristallographisehen Achsen der Plagioklase. S. 771. H. Salomon, Die chemische Natur des Xan- thosefarbstoffes. S. 773. — • Bücherbesprechungen: A. Ernst, Bastardierung als Ursache der Apogamie im Pflanzen- reich. S. 773. N. Braunshausen, Einführung in die experimentelle Psychologie. S. 775. — — Anregungen und Antworten: Tannenhäher in Hessen. S. 775. Geschichtliche Notiz über das Ambra. S. 776. Über Coccinelliden. S. 776. Aufruf. S 776. — Literatur: Liste, S. 776. Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Mi ehe, Berlin N 4, Invalidenstraße 42. erbeten. Verlag von Gustav Fischer in Jena. Druck der G. Pätz'gcben Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S. V >4 --^-:Ä: mmmmmw^m^^i^m^m. ,"Mi''iS^iiwi'tiwjirefcr ww^