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GE Engelhorns

allgemeine

Nona Bülach

. Gräfin Polly.

von

Palle Roſenkrantz.

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Engelhorns Allgemeine a Ba! der en hellen modernen RomanbibliotheR. romane ater vörker.

Alle vierzehn Tage eriheint ein Band. Preis jedes Bandes 50 Pf. Eleg. in leinwand geb. 75 Pf.

(26 Bände jährlich, Geiamtpreis broſchilert 13 Mark, gebunden 19 Mark 50 Pl.)

ber „Engelhorns Allgemeine Romanbibliothek” ſchrelbt der „Sambur- gilche Eorreipondent*: Das lit ein Unternehmen, das In jeder Welle gefördert zu werden verdient! Als vor nun mehr denn 25 Jahren die eriten roten Bände erichlenen, mag mancher Kurzlichtige und Engherzige den Kopf geichüffelt haben über das tolle

' Wagitück, wirklich gute und wertvolle gelltige Koft zu fo bifligen Prellen zu verab- relchen. Wenn man heute auf die 1. mggpReihe von Jahren zurücblickt, wie viel ift

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Die bisher erich tashiöfgenden Verzeichnis aufge- führten Romane könng Id rend # jede Buchhandlung zum Prelle von 50 Pfennig für Jeg broihiertep And 75 Pfennig für den ge- bundenen Band bezogen week

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Band 1. 2. Ohnet, Der Steinbruch. 8. Lindau, Helene Zweiter Jahrgang. Jung. 4. Bret Harte, Maruja. 5. Die Sozlaliſten. D . HYaltuy, Griquette. 7. Wilbrandt, Der Wille zum Leben. Untrennbar. 8. Valera, Die Juuſtonen des Dr. Yauftino. 9. 10. Sarjeon, Zu fein geſponnen. 11. Rielland, Gift. 12. Rielland, Fortuna. 18. 14. Ohnet, Life Fleuron. 15. Farina, Aus des Meeres Schaum. 16. Frey, Auf der Woge des Glücks. 17. 18. Kroker, Die hübſche Miß Neville. 19. Feuillet, Die Verſtorbene. 20. Aazler. Mein erſtes Abenteuer u. a. G. 21. 22. Alexander, Ihr ärgſter Feind. 23. v. mer, Ein Fürſtenſohn. Zerline. 24. Brei Harte, Bon der Grenze. 25. 26. Conway, Eine Familiengeſchichte.

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Ein einach Der Genius 3 ein Erb. 18 er Er 21. s, Mein Freund Jim. „an Das beſte Teil. 24. 25. Conway, Leben 2 tot. 26. de Bonnier Familie Monach.

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Lahe Kenias. . 'oß, Kinder des Südens. 13. ogarzaro, Daniele Cortis. Ser be Gy erz⸗Neune. 16. 17. Ohnet, Sie will. 18. v. 9 2 zogen, Si: Sind er 2 19. darin, Um den 9 Ruhmes. 20—22. Daudet, urnett, Der kleine Lord. 24. Cheuriet, Der Prozeß Froideville.

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Zn 1. 2. Jo Robert Leicht audet. Der Fünfter Jahrgang. 7; 1 05 ir Ouita, a RR ap 5.6 . Memint, ee ken 1 5 bill Be eilige Joſeph vermag. 8. v. Glümer, nen. 9. 1 4 cn zunn 11. ae . CElaretie, Jean 8. aa Auf der En Satisfaktlon. 16, ine 1 Die Scheinheilige. 17. 2. ameau. 19. Peſchkau, Sem Regine. 20. de 9 „Ad See ep 22. e Mein Sohn. 28. Greville. Doſias Tochter. und ſein Weib. 25. 26. Dandet, Numa Roumeftan.

Band 1. 2. v. Woltogen, Die tolle Komteß. 3. de Tin- Sechlter Jahrgang. ſeau, Eine S 1 4. Ihilips, Jack und feine drei zur 5. 6. Gunter, Mr. Barnes, von New Pork. 7. Chenriet, Gertruds Heimniß. 8. Conway, Wunderbare Gaben. 9. 10. Ohnet, Letzte Liebe. 11. Voß, Die Sabinerin. 12. Memini, Mia. 18. 14. Croker, Diana Barrington.

15. u, Heigel, Der reine Thor. 16. Pontoppidan, Ein a Junge Liebe. 17. 18. Dandet, Die Könige im Gy. 19. Philips, Die verhängnisvlle 25 ne. 20. 21. Ohnet, Sergius Panin. 22. 7 Meta 3 buffen, Salonidylie. 24. 25. Gunter, Mr. Potter aus Texas. 26. Murray,

Ein gefährliches Werkzeug.

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Verhängnis.

Ban en Band 1.2. Croker, Irgend ein 8. 5 5

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Bandı.2. © Im Schuldbuch des e Neunter Jahrgang. 1 et. e 4. ee Sen ker, len, iolette M. Kd 2 ay, a ie 9. 10, ee in u: ide. = 11 * S em arte, In N ee a Awiſchen Lipp' is ne 25 15. Conway erſter Klient u. 360 5 16. de Tinſeau, Auf ſteinigen ke 17—19. Heimatlos. 20. v. 10 50 Baronin Müller. 21. Mairet, In guter ou: 121 9 Echte in. Das 23. 24. Warden, Das Haus am Moor. ao, oder den 2 Dreißig zent. 26. Tondouze, Des S Tagebuch.

Zehnter Jahrgang. Sem . Aullbenbunth, Tas aer W 4 .

ee Einer 2 au. See 2 65 ubin, Schatten. 6. 7. a ze Opfer, 9. ielfen, Die Möwe. 1 . 2 a, Heſhichen, 13. 14. v. Bee: Margarete nd 15. ant, Die Herzogstochter. 16. Daud Briefe aus

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Band 1. 2. Be olzogen, Die Erbſchleicherinnen. Zwölfter Sairgong 3. Ottolen 1. Ber AP 4. Claretie, Die a und 1 e 5. 6. 55 Dodo. 7. Zehren, Die Brüder erts, Revanche! 11. Serrao, infel rage. 13. 14. Rameau, Das Magdalenen⸗ * M0 avage, Wandelbilder. 17. 18. z e 19. Jerome, Noman⸗Skudien. 20. 9 2 Croker, Eine Familienähnlichkeit. 23. van ide Ur botene Frucht. 2 7 Moeller, Gold und Ehre. 25. 26. Jota, Eine ge

Band 1. 2. Vill. leonieri. 1 Jahrgang. Die Sagt dal lege . l. Croker, Eine dritte 4 7. em Flederwiſchs Heirat. f.

* 9 ot, Ein . Ehe. 9. 10. Gerbrandt, ſelber treu. * fiiher. 12. Böhlen, Natsmädel- und Altweimariſche Geſchichten. 13. 14. u Die weißen Felſen. 15. v. Heigel, Der Herr Stationschef. 16. de 8 Reiſeabenteuer. 17. 18. Savage, Die Hexe von Harlem. 19. a, Königs 1 20. Boyefen, Selbſtbeſtimmung. 21. 22. Mengs, Froſt im ling. 23. mann, Smaragda. 24. Croker, Lady Hildegard. 25. 26. 485 Zu jung ge it

Band 1. 2. v. Woljogen, Der Kraft-:M Vierzehnter Jahrgang. 8. Böhlau, Alleinerbe Liebes⸗ und Chegeſc hren 4. Mathers, Das Bäschen vom Lande. 5. 6. Ohnet, Der Pfarrer von Favisres. 7. ubin, Die Heimkehr. 9. de Tinſeau, Bergeſſene Pflicht. 10. Hymne, Gauner-Ehre. 11. a Amicis, er und Gymnaſtik. 12. 13. Croker, Ein 14. Bra Im Joche der Liebe. 15. Böhlau, Verſpielte Leute. binfon, Die he and, 17. 18. v. Roberts, Die ſchöne Helena. 12 3 Der Biſchof in Not. 20. Greville, Das Geſtändnis. 21. 22. White, Korruption. 23. Vincent, Künſtlerblut. 24. Merrick, Eine perſönliche An cht. 25. 26. Orloffsky-Golowin, Die Nihiliſtin.

* Engelborns &

Allgemeine Roman-Bibliothek.

Eine Auswahl der besten modernen Romane aller Völker.

26. Jahrgang. 0 Band 19. Gräfin Polly.

Baron Palle Rosenkrantz.

Autorisierte Übertragung aus dem Dänischen von Fr. Bernh. müller.

4 3

Stuttgart 1910. Verlag von J. Engelhorn.

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Authorized translation of the Danish original, published October 28rd

1907. Privilege of copyright in the United States reserved under the

Act. approved March third, nineteen hundred and five, by the author Palle Rosenkrantz.

Druck der Union Deutſche Verlagsgeſellſchaft in Stuttgart.

Ir 915 RN 4

Einleitung. I.

Nlſo in einer Amtsſache ſind Euer Gnaden zu mir gekommen?“

Gräfin Polly nickte ernſthaft.

„Ja Sie, als den Amtsrichter von Edelsburg möchte ich ſprechen. Nur den! Lieber Skram, es paßt wirklich vorzüglich, daß gerade Sie hier Amts⸗ richter ſind. Mit dem alten Madſen in dieſer Sache zu reden, wäre mir ganz unmöglich. Einfach un⸗ möglich! Sie dagegen, lieber Skram, ſind mein Freund, nicht wahr? Mein getreuer Freund! Alſo, um es kurz herauszuſagen: Henrik und ich haben uns entſchloſſen, von nun an jeder ſeinen eigenen Weg zu gehen. So lautet wohl der richtige Ausdruck dafür.“

Gräfin Polly Eiſenbart war von Geburt Amerika⸗ nerin, und Amtsrichter Skram ſagte ſich im ſtillen, daß der fremde Akzent alles Konventionelle ihrer Worte aufhebe.

Skram war nur infolge einer Amtsvakanz in Vertretung zum Richter des Edelsburger Bezirks ernannt worden. Er, der jetzt achtunddreißig Jahre zählte, amtierte eigentlich als Aſſiſtent beim Juſtiz⸗ miniſterium, doch als Sohn eines Departementchefs konnte er unbedingt auf eine gute Karriere rechnen.

Von der Gräfin Polly war er ſehr eingenommen, was allerdings alle Männer waren aber außerdem ſpielte er wunderbar ſchön Cello, und die Gräfin ſchwärmte für Muſik.

Daher rührte die Freundſchaft beider, die jetzt ſchon einen Winter, einen Frühling und einen halben Som⸗

er

mer hindurch gewährt hatte. Es kam noch hinzu, daß die Amtsrichterwohnung mit ihrem großen, ſchattigen Garten dem Schloß gerade gegenüberlag und von ihm nur durch den breiten gelbgrünen Schloßgraben ge⸗ trennt war.

Über dieſen war Gräfin Polly ſoeben in ihrem kleinen, weißen Boot gerudert. Sie wollte ja nur in einer Amtsſache mit dem Richter ſprechen, denn ſie und Henrik Eiſenbart hatten, wie geſagt, ſich ent⸗ ſchloſſen, jeder ſeinen eigenen Weg zu gehen. Ihm ſollte die Grafſchaft Edelsburg nebſt allen zugehörigen Gütern, Wäldern, Kirchen und Zehnten und ihr nun ihr ſollte ſie ſelbſt gehören, weiter nichts!

Und doch ſchien es Skram, als habe der Graf das geringere Teil erhalten.

La belle dame sans merci nannten die Nach⸗ barn Gräfin Polly, und unter dieſer Bezeichnung war ſie auch von einem der erſten Künſtler des Landes gemalt worden. Eine Florentinerin, die aller Hoff- nungen erweckte, aber nichts verſprach und daher auch keine Verſprechen zu halten brauchte. Eine Floren⸗ tinerin, eine jener Renaiſſance-Frauen, die im heutigen Amerika wiedergeboren ſind. Ihr Haar war bräunlich, doch wenn die Sonne darin ſpielte, von goldigem Glanz. Sie trug es geſcheitelt und in ſchweren Locken geordnet, die ihr feines, ovales Geſicht umrahmten. Ihre Augen hatten eine Farbe, die niemand recht ergründen konnte, und ihr feingezeichneter Mund war bald ſchwellend, bald faſt grauſam feſt geſchloſſen. Immer trug ſie, ohne auf die Mode Rückſicht zu neh⸗ men, eine ausgeſchnittene Taille, die den ſchlanken, weißen Hals freiließ. Ihre Hände glichen denen der Monna Liſa, die niemand vergißt, und ihre mittelhohe Geſtalt war recht üppig eigentlich zu ſchwellend für das ovale Geſicht und den ſchlanken Hals.

La belle dame sans merci!

Fremd war ſie allen Leuten dieſer Gegend geweſen, als ſie mit achtzehn Jahren ihren Einzug auf der Edels⸗

a

burg gehalten hatte, und fremd war fie ihnen noch heute, da ſie dem Amtsrichter Skram mit ihrem eigen⸗ artigen, ſtillen Lächeln anvertraute, daß ſie und Graf Henrik beſchloſſen hätten, jedes ſeinen eigenen Weg zu gehen.

Skram wunderte ſich nicht darüber. Er fragte bloß: „Und Ivar?“

„Ivar?“ wiederholte die Gräfin. „Der iſt heute in ſein Kollegium gereiſt nach Herlufsholm. Dort mag er bleiben, bis er Student geworden iſt. Er iſt jetzt ein großer Junge von elf Jahren und wiſſen Sie, Skram, es iſt Henriks Junge, nicht meiner. Hen⸗ rik nahm mich nur, um eine Mutter für ſeinen Jungen zu haben, noch ehe dieſer geboren war. Der Stamm⸗ halter das war meine erſte Pflicht, und die habe ich erfüllt. Ich habe dem Jungen ſelbſt die Bruſt gegeben und gut auf ihn geachtet, fo lange er klein war, denn wir Amerikanerinnen können auch gute Mütter fein. Aber jetzt iſt Jvar nur der Stammhalter Henriks Junge. Und das mag er meinetwegen auch bleiben. Er kümmert ſich auch gar nicht um ſeine Mutter. Und Sie wiſſen ja, ich mache mir auch nicht viel aus Kindern.“

Das wußte Skram.

„Ich bin jetzt dreißig Jahre alt,“ fuhr die Gräfin fort und lächelte dabei etwas müde, „dreißig Jahre, das heißt, ich habe keine Zeit zu verlieren. Denn ich will leben wirklich leben. Henrik hat mir meine Freiheit gegeben, und nun komme ich zu Ihnen. Sie haben ja mit allen meinen Sachen zu tun gehabt wenn mir die Dienſtboten weggelaufen oder wenn meine Hunde über die Grenze gegangen waren.“

Skram nickte.

„Ich werde eine ſogenannte weltliche Vermittlung vornehmen und —“

Die Gräfin unterbrach ihn: „Und ein Geſuch oder, wie es heißt, an den Miniſter ſchreiben. Der Miniſter iſt mein Freund, er ſchlägt mir keinen Wunſch ab.

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Und Sie, lieber Skram Sie tun ja wohl auch alles, worum ich Sie bitte.“

Skram lächelte.

„Ich werde die Vermittlung mit aller amtsmäßigen Energie vornehmen.“

„Das iſt gar nicht einmal nötig. Henrik und ich ſind ja einig. Wäre ich älter, dann würde ich viel⸗ leicht bleiben. Hier iſt es ja ſchön, und die Menſchen ſind gut. Auch habe ich mich an dies Land gewöhnt und liebe die Edelsburg. Aber das Leben ruft, Skram um mein Leben laß ich mich nicht betrügen. Bis jetzt habe ich nicht einen einzigen Tag wirklich gelebt es hat keinen Tag für mich gegeben, an dem ich ein richtiger Menſch ſein durfte, keinen einzigen! Doch das habe ich Ihnen gewiß ſchon hundertmal er⸗ zählt.“

„Und ich bin —“

Die Gräfin ergriff Skrams Hand und drückte ſie leicht.

„Sie, lieber Skram, ſind verliebt in mich geweſen, als der nette, wohlerzogene Juriſt, der Sie ſind. Ohne Sie wäre ich geſtorben im letzten Winter, als Onkel Julius' Tod uns zwang, uns hier niederzulaſſen. Ich bin Ihnen herzlich dankbar, lieber Skram. Ihre Ver⸗ liebtheit hat mich recht erwärmt. Ja, das hat ſie wirk⸗ lich, ich wäre ſonſt geſtorben vor Kälte. Sie ſehen, Sie haben auf zweifache Art mein Leben gerettet. Nun ſollen Sie mich noch einmal retten.“

Die Hand der Gräfin lag in der ſeinen; er führte ſie an ſeine Lippen.

Sie lachte.

„Armer Skram, Sie ſind wirklich verliebt. Zürnen Sie nicht, daß ich es ſage, aber verliebt in mich ſind alle. Auch Henrik der arme Henrik! Es hilft ja alles nichts kein bißchen.“

„La belle dame sans merci,“ ſagte Skram, dem jetzt wirklich warm geworden war.

Die Gräfin ließ wieder ihr kurzes, klingendes Lachen hören.

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„Ich werde Ihr Cello ſehr vermiſſen,“ ſagte fie dann. „Aber wiſſen Sie, Skram, zu Ihrem eigenen Nutzen will ich Ihnen ſagen, daß Sie noch ein andres Inſtrument erlernen müſſen, wenn Sie Ihr Dafein nicht als Hageſtolz beſchließen wollen. Könnten Sie ebenſo ſchön, wie Sie Cello ſpielen, auch Violine ſpielen, dann, glaube ich, hätte ich mich wirklich in Sie verliebt. Tolſtoj redet von der gefährlichen Violine und Tolſtoj hat recht. Denn als Duett für Klavier und Cello konnte ſelbſt die Kreuzerſonate nicht gefähr⸗ lich werden. Nicht wahr, Skram?“

Und die Gräfin lachte wieder leiſe, mit etwas neckendem Beiklang.

„Doch nun genug der Dummheiten. Der Ernſt tritt wieder in ſein Recht, und Sie ſind wieder der ſteife Amtsrichter, der die Diebs⸗ und Mordgeſellen verhört, wenn es ſolche Leute in dieſem ſittſamen Lande gibt. Henrik und ich wollen, wie geſagt, geſchieden werden, und Sie ſind derjenige, der dafür ſorgen ſoll. So will auch Henrik es haben.“

„Werden Sie dann verreiſen, Gräfin?“

„Verreiſen? Ja, gewiß. Nach Paris.“

„Allein?“

Die Gräfin zog die Brauen zuſammen. „Ich will Sie darauf aufmerkſam machen, daß dieſes hier eine Vertrauensſache iſt, aber Sie müſſen mich nicht fragen, was ich in Zukunft zu tun gedenke; denn das ſage ich nicht. Und fo viel wiſſen Sie ſchon von mir, Skram, daß wenn ich etwas nicht ſagen will, ich es auch nie und nimmer ſage, ſelbſt wenn man mich auf ein glühen⸗ des Eiſen legte.“

Das wußte Skram Gräfin Polly war ſtärker als alle Menſchen, die er getroffen hatte einen viel⸗ leicht ausgenommen: Helmut Viffert.

Da fuhr ihm ein Gedanke durch den Kopf.

„Reiſt Helmut Viffert mit nach Paris?“

Die Gräfin erhob ſich haſtig.

„Sagen Sie das noch einmal, und ich reiſe auf

2.

der Stelle nach Kopenhagen und laſſe alles von dem alten, pedantiſchen Advokaten ordnen. Über meine Vergangenheit wiſſen Sie nichts, Skram, die Gegen⸗ wart kennen Sie meine Zukunft aber gehört mir, mir allein!“

„Vergebung,“ ſagte Skram. Er begriff, daß das, was ſie ſagte, ihr ernſt war. „Ich muß nur noch der Form wegen wiſſen, warum Sie von Ihrem Manne getrennt zu werden wünſchen. Es iſt nur eine Formſache.“

Gräfin Polly lächelte. „Das Ganze war ja nur eine Formſache meine Heirat mit Henrik ſelbſt. Ich wollte gern Gräfin ſein, und wenn der Name Eiſenbart auch wunderlich klingt, ſo iſt er doch alt und angeſehen. Die Edelsburg iſt auch alt und angeſehen. Freilich hätte ich gewußt, wie entſetzlich ſie ausſah, ehe ich Henrik veranlaſſen konnte, ſie umzubauen, ſo glaube ich kaum, daß ich ihn genommen hätte. Aber ich war damals krank an jenem ... jenem . .. nun, Sie kennen es nicht . . . und fo nahm ich Henrik ſchließ⸗ lich. Es war alles nur eine Formſache. Henrik iſt ſtets unendlich gut gegen mich geweſen, viel zu gut. Und doch kann es nicht helfen. Schließlich iſt der Stammhalter auch das Wichtigſte für ihn, und da Henrik erſt ſechsunddreißig Jahre alt iſt, ſo kann er ſich ja noch einmal verheiraten.“

„Ihr Herr Gemahl liebt Sie doch aber, Gräfin,“ ſagte Skram ernſt. „Und das wiſſen Sie recht gut.“

Die Gräfin zuckte die Achſeln. „Das tun Sie ja auch, Skram, das tun ja alle zuſammen haben es immer getan. Nur ich ich ſelbſt habe noch nie —“ Sie errötete leicht und ſchwieg.

Skram wagte nicht, etwas zu ſagen.

In dieſem Augenblick klopfte es an der Tür, und ein Sekretär trat ein; er war aus dem Bureau des Richters gekommen, das dem Gartenzimmer gegen⸗ überlag.

„Herr Kammerjunker Viffert möchte um eine Unter⸗ redung bitten,“ beſtellte er.

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„Erſuchen Sie ihn, noch einen Augenblick zu warten.“

„Aber ſagen Sie ihm nicht, daß ich hier bin, Holm,“ fiel die Gräfin ein.

Sekretär Holm verbeugte ſich tief und verließ das Zimmer.

„Nun geh' ich, Skram, denſelben Weg, den ich ge⸗ kommen bin über den See. Verſprechen Sie mir, Helmut kein Wort von dem zu ſagen, was ich mit Ihnen geredet habe, und erzählen Sie mir alles, was er Ihnen ſagt. Sie kommen doch heute zu uns zum Abendeſſen, nicht wahr? Nun gut, es wird eine Art Abſchieds⸗ ſchmaus ſein, denn ich reiſe ja bald. Mit dem Pfarrer habe ich ſchon geſprochen; der alte Faſelhans ſagte nichts dazu, und die weltliche Vermittlung können wir gut nach dem Kaffee vornehmen! Ich bin ſehr aus⸗ gelaſſen, nicht wahr? Ja, das rührt daher, daß jetzt alles vorbei iſt vorbei!“

Und damit reichte Gräfin Polly dem Richter die Hand, die Skram zweimal küßte.

Das war ſein Recht.

Dann ſchritt ſie leichtfüßig über den Raſen zu den hängenden Weiden hinab, wo ihr Boot lag.

Sie löſte es los und ruderte zum Schloß hinüber, das ſich im gelbgrünen Waſſer widerſpiegelte.

Skram hörte, wie ſie beim Rudern ſang. Es ſchien ihm die Jubelarie aus dem Fauſt zu fein.

II.

Es dauerte einige Zeit, bis das Boot der Gräfin aus dem kleinen Kanal in den breiten Teich, der vor dem Schloſſe lag, geglitten war und hinter den hängen⸗ den Weiden verſchwand.

Skram ſtand, ans Fenſterkreuz gelehnt, und ſtarrte zur Edelsburg hinüber.

Alſo wirklich Scheidung! Nun hatte Graf Henrik ſeine Zuſtimmung gegeben, und nun war es vorbei

vorbei! Auch für Skram. Nun zog ſie hinaus in die große, weite Welt, und er er konnte in die Haupt⸗ ſtadt zurückkehren, in ſeine Kanzlei und zu den gelben Konzeptbogen den ihm ſo unſäglich gleichgültigen Akten.

Die Edelsburg war ein Traum, und der Traum war nun zu Ende.

Warum geſchah es eigentlich gerade jetzt? Sie erlaubte ihm nicht, danach zu fragen, und er wußte nichts von all den Dingen. Nur für ſie hatte er Augen gehabt um die andern ſich nie gekümmert.

Der Kammerjunker Viffert wartete draußen? Nun, mochte er noch länger warten.

Sollte es am Ende Viffert ſein, um deſſen willen die Gräfin ... aber nein, das war ja unmöglich Solch ein halbergrauter Cyniker! Warum ſollte es dann auch gerade jetzt geſchehen? Die Leute erzählten ſich doch, daß ſeine Bekanntſchaft mit ihr älter ſei als ihre Ehe. Und dann konnte fie unmöglich ... nein, es war unmöglich.

Oder war es vielleicht der junge Viffert, der Neffe des Kammerjunkers, der kürzlich den Waldhof gepachtet hatte? Der war freilich jung und ein ſchöner Mann, aber immerhin recht unbedeutend, zum Schweigen ge⸗ neigt, ein richtiger Landjunker. Die beiden ſprachen auch niemals miteinander. Sigismund Viffert konnte gewiß überhaupt nicht reden; er war wie befangen und von der ſchönen Schloßfrau geblendet. Das waren ſie allerdings alle, auch Graf Henrik, der ſie dennoch freigab ſie ziehen ließ, wohin ſie wollte.

Dort lag die Edelsburg, vom Sonnenlicht über- flutet die Edelsburg mit den ſchweren roten Mauern und dem grünen Kupferdach, das lehensgräfliche Schloß. Dort war ihr Hof, an dem ſich der ganze Bezirk ver⸗ ſammelte und ihr wie einer ungekrönten Königin huldigte ihr, der ehemaligen Miß Bradlaugh, einer jungen amerikaniſchen Schönheit, über deren Geſchichte man tuſchelte, ohne ſie zu kennen der Gräfin auf

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der Edelsburg, die alles Gerede in den Winkel drängte und überall an der Spitze ſtand der Königin, die freiwillig ihr Szepter niederlegen wollte, um ihr Leben wirklich leben zu können.

Die grünen, hängenden Weiden umgaben wie ein Rahmen die roten Mauern des Schloſſes, die ſich im gelbgrünen Schloßgraben goldfarbig widerſpiegelten.

Nach der Sage ſoll die Burg von der ſchönen Jung⸗ frau Edel Eiſenbart, der Maitreſſe des Königs Hans, erbaut worden ſein. Edel Eiſenbart war die Jungfer der Königin Chriſtina, bis ſie Herrn Torbe Bille hei⸗ ratete, der durch ſie ein großer Mann wurde. Herr Torbe Bille war ſehr duldſam und mochte die Huld ſeines Königs nicht entbehren. Daher war König Hans oft ſein und Frau Edels Gaſt auf Vordingborg. Wie die Sage berichtet, ſtand König Hans, als Frau Edel auf dem Siechenbett lag, an ihrer Seite, und als ſie mit ihm von ihren Gewiſſensqualen ſprach, ſagte der König: „Edel warſt du im Leben, und edel biſt du auch im Tod.“

Wie die Sage meldet, hat Frau Edel die Edelsburg aus den Einnahmen der Güter gebaut, die ſie vom König zum Geſchenk erhalten hatte. Ihr Geſchlecht war freilich zum Adelsſtande nicht geeignet, denn ihre Mutter war nur die Tochter eines Goldſchmiedes aus Neſtved geweſen; aber zu ſpäterer Zeit wurde einer ihrer Nachkommen in den Grafenſtand erhoben und die Edelsburg ihm als Grafſchaft verliehen.

Das zugehörige Gut war ſehr groß, und nichts von ihm war während der langen Zeit veräußert worden. Außerdem gehörten noch etwa fünftauſend Morgen Waldland und zwölf prächtige Kirchen dazu. Graf Henriks Vater war ein großer Mann geweſen, einer der größten des Reiches, Graf Henrik ſelbſt aber war nur groß von Wuchs, breitſchultrig und ſtark, und dabei ſehr ſanften Gemütes. Er war die gute Stunde ſelbſt, wie man ſagt, aber anderſeits ſchwerfällig und un⸗ fähig, den Frauen zu gefallen. Er liebte ſeine Gattin

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herzlich und näherte ſich ihr nur in tiefer Ergeben⸗ heit, als wäre ſie von feinerem Stoffe als er.

Und dann hatte er ſie freigegeben, damit ſie nach zwölfjähriger Ehe ihr Leben genießen könne!

Skram wandte ſich raſch um und ſchritt zur Tür, die ins Amtszimmer führte.

Der Kammerjunker erhob ſich; er hatte ſo lange auf einem Stuhl am Pulte geſeſſen und mit dem Sekretär über Wind und Wetter geredet.

„Treten Sie näher, Herr Kammerjunker,“ ſagte Skram.

Und der Kammerjunker trat näher.

Es gibt Männer, die ein langes Leben in den angenehmſten Verhältniſſen zubringen, die vom Reich⸗ tum bis zum Überfluß umgeben ſind und nur daran denken, dieſes Leben für ſich allein zu genießen. Solche Männer verheiraten ſich nie; ſie lieben viele Weiber ein wenig und ſich ſelbſt über alle Maßen. Sie kleiden ſich nach den letzten Forderungen der Mode, tragen goldene Ringe und Diamanten, reiſen viel aber ſehen ſelten mehr als Hotels und Boudoire. Sie wiſſen viel über einige wenige, aber nichts über die vielen, und alles; was außerhalb ihres Intereſſenkreiſes lebt, exiſtiert nicht für fie. Sie arbeiten nicht; wenn man hoch rechnet, jagen ſie und ſpielen Karten oder wetten auf Vollblutpferde. Dennoch aber ſind ſie immer ge⸗ ſchäftig, ſo geſchäftig, daß ſie einen Kammerdiener haben müſſen, der ihnen in die Kleider hilft. Mit⸗ unter ſpielen ſie auch an der Börſe, aber nur, um Geld zu gewinnen, und nichts von ihrem ganzen Tun gereicht der Menſchheit zum Nutzen. Höchſtens, daß ſie ein paar Schneider ernähren, ein paar Aufwärter und einige leichtfertige Weiber, die auf ihre Koſten herrlich und in Freuden leben.

Und wenn ſie ſterben, gedenkt niemand ihrer, ob⸗ wohl ſie zu Lebzeiten von jedermann gekannt wurden. Ihre Güter fallen entfernten Verwandten zu, die ſchon ſeit Jahren auf ihren Tag gewartet haben, auf

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den Tod, den ſie ſelbſt ſeit langem fürchten und be⸗ kämpfen.

Solch ein Mann war der Kammerjunker Helmut von Viffert. Er war Däne, hätte aber ſeiner Geſinnung nach auch ebenſogut Ruſſe oder Franzoſe ſein können.

Er war mittelgroß, ſchlank und elegant und trug einen ſtarken ſchwarzen Schnurrbart, der im Verhält- nis zu dem dünnen, zierlich geordneten Haar und den etwas gerunzelten, ſchlaffen Zügen viel zu ſchwarz erſchien. Seine krumme Naſe beugte ſich mit feinen Flügeln über dieſen kohlſchwarzen Schnurrbart hinab, und ſeine braunen Augen rollten unter dichten Brauen. Ein Eſterhazy⸗Typus, wie man ihn in Monte Carlo ſowie bei den Kellnern der großen Londoner Weſt⸗ endreſtaurants findet.

Viffert hatte es verſtanden, ſich ſein Leben ein⸗ zurichten. Er, der Sohn eines ziemlich armen Guts⸗ beſitzers, war in ſeiner Jugend wegen der ſchlechten Streiche, die er verübt hatte, nach Amerika geſchickt worden. Hier debutierte er zunächſt als Cowboy, durch⸗ forſchte dann die Silberminen und wurde ſchließlich Abenteurer in New Pork. Er verſtand damals ſchon, mit Frauen umzugehen, und die Frauen würdigten ihn ihrer Aufmerkſamkeit. Eines ſchönen Tages war er reich, und er wußte ſeinen Reichtum feſtzuhalten. Er reiſte nach Europa und lebte eine Reihe von Jahren hindurch in Paris. Aus Höflichkeit machte man ihn zum Kammerjunker, und das war er bis auf den heutigen Tag geblieben. Er hatte keinen Ehrgeiz, ſondern nur eine gewiſſe Gemächlichkeit, grenzenloſen Egoismus und ſchließlich eine wahre Manie für ſeine Kleidung.

Graf Henrik, der mehrere Jahre jünger war als er, hatte ihn in Paris getroffen, und die beiden waren Freunde geworden. Den jungen Grafen, der als neu⸗ gebackener Kandidat juris an die Geſandtſchaft in Paris berufen worden war, hatten Vifferts Lebensweiſe und deſſen Manieren höchlich geblendet, und Viffert hatte ſofort den Vorſatz gefaßt, den jungen Grafen gründ⸗

a

lich zu verderben. Dies war ihm aber nur zur Hälfte

gelungen: Graf Henrik hatte ſich verheiratet, und Viffert war Hausfreund auf Edelsburg geworden,

ja mehr als das, behaupteten böſe Zungen, und man

redete heimlich über mancherlei, ohne etwas beweiſen

zu können. Viffert hatte jedenfalls auf Edelsburg

ſeine eigenen Zimmer, in denen er ſich häuslich ein⸗

richtete, und mit jedem Jahr wurde ſein Aufenthalt

länger. Schließlich rechnete man ihn zum Hauſe mit,

und der Stammhalter nannte ihn Onkel.

Man erzählte ſich, daß Graf Henrik verdroſſen über ihn und ſeinen ewigen Beſuch ſei; der Gräfin dagegen, fo hieß es, diene er als maitre de plaisir. Auf Wein und gutes Eſſen verſtand er ſich jedenfalls vortrefflich, und einen Kotillon konnte er anführen wie keiner.

Und die Gräfin, die viel unter der Langweile zu leiden hatte, tanzte doch für ihr Leben gern.

„Nehmen Sie Platz, Herr Kammerjunker,“ ſagte Skram und ſchob Viffert einen Stuhl zu.

Der Kammerjunker rückte unruhig auf ſeinem Sitz herum; er fand ihn verteufelt hart, denn das Möbel ſtammte aus der Werkſtatt des Dorftiſchlers.

„Liebe Obrigkeit,“ ſagte Viffert. „Ich komme in einer ſehr ernſten Sache zu Ihnen. Es iſt nämlich ein ganz verteufeltes Gefühl zu wiſſen, daß man das Spiel abbrechen muß, obwohl man noch Einſatz hat und ſehr gut weiß, daß die andern vergnügt weiter⸗ ſpielen werden. Aber was iſt da zu machen? Enfin c’est inévitable. Um es kurz zu ſagen: hier innen klopft es. Der Profeſſor nennt es mit dem geſchmack⸗ vollen Namen Arterioſkleroſe, und es äußert ſich da- durch, daß das Lebenslicht mit einem Male ausgeht, ohne daß man recht weiß, wie! Alſo muß man jeder⸗ zeit darauf vorbereitet ſein, aus dieſem Leben abzu⸗ reiſen, was ein recht verteufeltes Gefühl iſt. Geſetzt den Fall, es paſſiert gerade an einem ſagen wir intimen Ort ekelhaft, was? Ich kann es nicht laſſen, immer wieder daran zu denken, und das raubt

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mir den ſo nötigen Appetit und die leider abſolut not⸗ wendige Andacht. Um es noch kürzer zu ſagen: ich will mein Teſtament machen.“

„Ah,“ ſagte Skram.

„Jawohl,“ fuhr Viffert fort. „Ich möchte nach meinem Tode gern ein Wort mitzureden haben, wenn die Beute geteilt wird. Ich beſitze einiges Vermögen, wovon den verhungerten Eſeln aus dem Geſchlechte der Viffert nicht ein Groſchen zuteil werden ſoll. Als es vor Zeiten ſchlecht mit mir ging, ſind ſie ſo ſchofel gegen mich geweſen, wie ſie nur konnten, und als es dann aufwärts mit mir ging, ſind ſie vor mir gekrochen. Sie haſſen mich, und ich ich verachte fie. Je les méprise voilä tout!“

„Hm, Sie können über Ihr Vermögen verfügen, wie Sie wollen,“ ſagte Skram. „Sie haben ja weder Frau noch Kinder.“

„Nein, wenigſtens keine ehelichen Kinder,“ ſagte der Kammerjunker lachend. „Und die unehelichen ſind bereits bar ausbezahlt worden Plebejer ſämtlicher Nationen. Die zählen nicht mit. Aber ich möchte nun gern wiſſen, ob man in ſeinem Teſtament alles beſtimmen kann, wozu man Luſt verſpürt.“

„Wenn es nicht gegen Geſetz und Ehrbarkeit ver⸗ ſtößt gewiß. Und ich nehme nicht an, daß Sie, Herr Kammerjunker, gegen Geſetz und Ehrbarkeit ver⸗ ſtoßen wollen.“

„Durchaus nicht; fällt mir gar nicht ein. Sie wiſſen wohl, als Seine Majeſtät der Satan alt wurde, da ging er in ein Kloſter. Das tue ich nun nicht, oh, nein, jamais es müßte denn ein Nonnenkloſter ſein. Ich bleibe vielmehr dem Geſetz und der Ehrbarkeit treu und vermache der Gräfin Polly alles, was ich beſitze! Eines Tages nämlich das weiß ich ganz genau wird ſie ihrem gräflichen Gefängnis ent⸗ ſpringen, und dann, will ich, ſoll ſie die gewohnten Bequemlichkeiten nicht zu entbehren brauchen.“

Skram fuhr zuſammen.

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„Jawohl, mon cher,“ fuhr der Kammerjunker fort, „ſie entſpringt dem Käfig, bricht einfach aus und läuft fort nicht allein auch nicht etwa mit Ihnen o nein, ſondern mit einem ganz jungen Bürſchchen von glattem Angeſicht und ſo weiter.“

„Wollen Sie dieſen Ausbruch als eine Klauſel mit in das Teſtament aufnehmen laſſen. Er kommt einem Verſtoß gegen die Ehrbarkeit doch ſehr nahe.“ Skram verſuchte zu lächeln, aber ſein Lächeln fiel etwas bitter aus.

„Keineswegs,“ ſagte Viffert. „Hören Sie bloß zu und ſchlagen Sie ſich im übrigen die Gräfin aus dem Sinn. Denn Sie, liebe Obrigkeit, ſind zu däniſch in Ihrer Art, und Polly wird niemals däniſch werden, wenigſtens nicht mit Ihnen. Nein, ſehen Sie, ich will Sie bitten, für mich ein Teſtament aufzuſetzen, wonach die Gräfin meine Univerſalerbin wird, ſelbſtredend mit der Verpflichtung, für meine Grabſtätte und das Obſe⸗ quium, ſowie für meine letzte kleine Eroberung zu ſorgen. Doch eine Bedingung iſt an die Univerſal⸗ erbſchaft geknüpft: die Gräfin darf ſich niemals nun paſſen Sie auf, jetzt kommt's mit Sigismund verheiraten.“

Skram ſtutzte.

Viffert lachte. „Ja, da ſtutzen Sie, liebe Obrig⸗ keit. Mais c'est vrai. Sie beſitzen nicht ſolche Augen, wie ich ſie habe; denn wo es ſich um Frauenzimmer handelt, da hab' ich förmlich einen ſechſten Sinn. Ich durchſchaue ſie ganz und gar, dieſe ſüßen Aſer. Das habe ich ſchon immer gekonnt, weswegen ſie mich auch niemals haben betrügen können. Keine einzige Polly auch nicht. Wenn ſie alſo wirklich die Dumm⸗ heit begehen ſollte, Sigismund zu heiraten, ſo erbt ſie nichts.“

„Wer erbt denn dann?“ fragte Skram mit etwas heiſerer Stimme.

„Dann dann wird der Batzen geteilt. Er beträgt etwa ſechs⸗ bis ſiebenhunderttauſend ja, ſo viel iſt

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es und wird in drei gleich große Teile zerlegt. Henrik bekommt einen das wird ihn ärgern und die Vifferts erboßen; Leonie Sie wiſſen doch, die kleine, flinke franzöſiſche Zofe der Gräfin bekommt den zwei⸗ ten Teil, denn ſie iſt meine letzte Eroberung. Ich weiß allerdings ſehr gut, daß ich ſie mit Henriks Kammer⸗ diener, Herrn Jörgen Madſen, habe teilen müſſen, aber wenn auch. Die beiden werden rein närriſch über das viele Geld ſein. Den Reſt ſchließlich löſen wir in eine unendliche Reihe von winzigen Legaten auf, ſo daß er ſozuſagen ganz verſchwindet.“

„Wann ſoll das Teſtament denn fertig ſein?“ fragte Skram geſchäftsmäßig.

„Am liebſten wäre es mir, wenn es ſchon morgen fertig ſein könnte. Ich reiſe nämlich nächſtens nach Aix les Bains, um meine Gicht los zu werden, und der Teufel mag wiſſen, ob ich jemals zurückkehre. Die Arterioſkleroſe iſt eine ſchlimme Sache, und ich jappe mitunter ganz verwünſcht nach Luft.“

„Wohl beſonders nach Jagdanſtrengungen,“ ſagte Skram, um überhaupt etwas zu ſagen.

„Ich gehe nicht mehr auf die Jagd,“ verſetzte Viffert ernſt. „Wiſſen Sie, es iſt komiſch, aber ich kann geladene Schußwaffen nicht leiden. Seit den letzten Jahren habe ich immer ſo ein merkwürdiges Gefühl: ich fürchte, daß ich mich noch eines Tages erſchießen, oder vom vierten Stock zum Fenſter hinausſtürzen oder vor eine Lokomotive werfen könnte. Wiſſen Sie, das iſt eine ganz verteufelte Sache, dieſe beſtändige Furcht, Selbſt⸗ mord zu begehen, und es bewirkt, daß ich mich nicht einmal mehr ſelbſt raſiere. Ich verſpüre nicht die geringſte Neigung, mir mit einem Barbiermeſſer den Hals abzuſchneiden, und dennoch fürchte ich, daß ich es tun könnte. Ja, Sie lachen darüber, aber für mich iſt es durchaus nicht ſpaßhaft, vielmehr habe ich ganz ent⸗ ſetzlich darunter zu leiden. Wenn es nicht ganz gegen die Mode wäre, ließe ich mir einen Vollbart ſtehen

wie der nächſte Bauernknecht. Gegen Barbiermeſſer XXVI. 19. 2

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hege ich geradezu Haß. Natürlich wird man auf dieſe Weiſe ſchließlich nichts andres als ein Idiot, und die Arterioſkleroſe hat ſomit möglicherweiſe die höhere Be⸗ ſtimmung, einen davor zu retten, ſich ganz und gar lächerlich zu machen. Denn das wäre in der Tat nicht übel, wenn ich, der alles für ſeine Geſundheit tut und ein kleines Vermögen für Badereiſen ausgibt, mir das Leben nähme. Und doch bin ich ſo: ich fürchte für mein eigenes koſtbares Leben und zittere gleichzeitig vor meinen etwaigen Selbſtmordsattentaten. Darum gehe ich auch nicht mehr auf die Jagd. Jawohl. C'est ridicule.“ Und der Kammerjunker lachte mit trockener, heiſerer Stimme.

Skram zuckte die Achſeln.

„Sie meinen, es ſei Paralyſe im Anfangsſtadium?“ fuhr Viffert fort. „Nun, meinetwegen; jedenfalls iſt es Zeit, an ſein Teſtament zu denken.“

Viffert erhob ſich elegant, elaſtiſch, trotz der ſchlaffen Züge. Nur gegen fünfzig Jahre alt und dennoch ſchon fertig.

Dies war Skrams Gedanke, den er aber nicht ver⸗ lauten ließ. Er verſtand wohl zu ſchweigen, und der Kammerjunker intereſſierte ihn ſchließlich auch nur als pſychopathiſches Phänomen.

„Herr Kammerjunker,“ ſagte er, „meinen Sie aber nicht auch, daß man ſich arg darüber aufhalten wird, wenn Sie Gräfin Polly zur Univerſalerbin ein⸗ ſetzen?“

„Mag man nur,“ verſetzte Viffert mit philoſophi⸗ ſcher Ruhe. „Mich geniert es nicht, denn ich bin dann ja tot, und ſchließlich kann es auch nur meiner Eitelkeit ſchmeicheln. O, Sie hätten ſie bloß vor dreizehn bis vierzehn Jahren in Paris gekannt haben ſollen! Mer- veilleuse! Eine Friſche, ein Teint; als Mädchen, ver⸗ ſtehen Sie, noch in der Blüte einzig und allein darum hab' ich nicht vergebens gelebt! Jetzt, lieber Freund kein Vergleich und dennoch dieſe ver⸗ wünſchte Arterioſkleroſe, die iſt ihre Schuld, verſtehen

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Sie, nur ihre. Denn es gibt keine Mannsleute, deren Herzklappen die excitation aushalten können.“

Skram verſpürte größte Luſt, dieſen Cyniker beim Genick zu nehmen, doch bezwang er ſich und ſagte kurz: „Wenn Sie die Gräfin Polly als junges Mädchen gekannt haben, warum haben Sie ſie denn nicht ge⸗ heiratet?“

„Das will ich Ihnen erklären, lieber Freund,“ ver⸗ ſetzte Viffert ſchmunzelnd. „Es iſt von jeher mein Prinzip geweſen, wenn ich ein ſchönes junges Mädchen traf, es wenn möglich mit einem meiner Freunde zu verheiraten. That is so convenient, you know, und ſpart einem eine gewaltige Menge Schererei. Man hat dann nichts zu tun, als die reinen Freuden zu ge⸗ nießen. Nun wiſſen Sie es. Setzen Sie demnach hübſch das Teſtament auf. Und nun au revoir.“

Der Kammerjunker ging, und Skram riß hinter ihm Türen und Fenſter weit auf.

Dann ſtand er lange da und ſtarrte zur Edelsburg hinüber. Dieſer Lebemann war nicht der König Hans der Sage nein, das war er in Wirklichkeit, der die Frau auf Edelsburg beſuchte. Aber war es nicht mehr als ein Zufall, daß jener an demſelben Tage die Ausfertigung eines Teſtaments verlangte, an dem die Frau ihm, als der Obrigkeit, anvertraute, daß ſie ihrer eigenen Wege gehen wolle?

Und war am Ende noch ein Dritter dabei beteiligt?

„Verſprechen Sie mir, ihm kein Wort von dem zu ſagen, was ich geredet habe, und ſagen Sie mir alles, was er Ihnen ſagt.“ Das waren ihre Worte geweſen. So lautete ihre Order.

Und Skram beſchloß, ihr zu gehorchen, ſoweit es ſich mit ſeiner Amtspflicht vereinbaren ließ.

III.

Gräfin Polly hatte einſt begehrt, daß die Edelsburg umgebaut werde, denn dieſe war ein pittoreskes,

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halbverfallenes Raubneſt geweſen, von dem nur die Hälfte bewohnbar war. Graf Henrik hatte das Schloß durch einen hervorragenden Architekten nach den Angaben ſeiner Gattin umbauen laſſen und es im vollendeten Renaiſſanceſtil wiederhergeſtellt. Auf die Bewohnbarkeit war beſonders Rückſicht genommen worden, und die neue Edelsburg ſtellte ſomit einen kleinen Wunderbau dar.

Beſonders prächtig war der Speiſeſaal. Die Balken der Decke waren mit reichem Schnitzwerk geſchmückt, das Wappenſchilde und Figuren bildete; alles war ſchwer vergoldet oder nach Art des Ratshauſes zu Siena bemalt. Die Wandſtücke zwiſchen den Fenſtern beſtanden aus altertümlichem Kirchengetäfel, das man von über⸗ all her zuſammengetragen hatte; in Mannshöhe lief ein breites Geſims an den Wänden entlang, und ſeltene venezianiſche Gläſer, Rheinweinkruken und ſchwere Silberpokale ſtanden darauf. Die Tapete aus echtem Goldleder war kaum zu ſehen, da rings an den Wänden die Bilder der früheren Beſitzer der Edelsburg hingen teils Originale aus flämiſcher Schule teils Kopieen von Galeriebildern, ſowie echte Jens Juelſche Werke.

Zwei mächtige florentiniſche Kronleuchter hingen von der Decke herab, die dadurch in drei Abſchnitte ge⸗ teilt wurde. Das große bunte Glasfenſter, das am Ende des Saales gegen Süden ging, war nach der Zeichnung eines Malers einer Kopie des Altar⸗ bildes der Kirche zu Odenſe in New Pork ange- fertigt worden und ſtellte den König Hans mit der Königin Chriſtina und ihren Kindern dar. Die blei⸗ gefaßten Scheiben mit ihren bunten Farben ließen das Licht kirchenartig hereinfallen und verliehen dem Saal etwas Ernſtes, Erhabenes.

Der Tiſch, der in der Mitte des Saales unter den Kronleuchtern ſtand, war an dieſem Nachmittag zum Sechsuhrdiner gedeckt worden. Zu den vier gegen Weſten gehenden Fenſtern ſandte die Sonne ihre grellen, vom Widerſchein des Grabens verſtärkten

Strahlen herein. Außer den zum Haufe gehörenden Dienern waren nur der Graf, die Gräfin, die beiden Vifferts, Skram und der Kreisarzt Kühn er ſelbſt nannte ſich Hofarzt zur Stelle.

Der Tiſch war mit einer Unmenge von Blumen geſchmückt, die aus hohen vergoldeten Empirevaſen hervorſchauten und um einen Auſſatz mit ſteifen Göttern und Göttinnen gruppiert ſtanden, die ſich in ovalen Glasfeldern beſpiegelten. Zum Schmücken des Tiſches brauchten zwei Gärtner unter eigner Aufſicht der Gräfin täglich vier Stunden, und es war ihre Aufgabe, jeden Tag eine andre Anordnung zu er⸗ ſinnen. Das Hauptaugenmerk wurde darauf ge⸗ richtet, Schutz und Deckung des einzelnen gegen den Gegenüberſitzenden zu ſchaffen. Die Gräfin liebte eine intime Unterhaltung, und es machte ihr viel Freude, durch hohe Blumendekorationen in der Mitte des Tiſches das Treiben der Ehemänner vor den ja ſo leicht eiferſüchtigen Gattinnen auf der andren Seite zu verbergen. Sie verſtand es meiſterhaft, die Plätze der Tiſchgäſte zu ordnen. Immer ſorgte ſie dafür, daß die jungen Ehemänner auch junge und leb⸗ hafte Tiſchdamen erhielten, während ſie den jungen Frauen die älteren Honoratioren zuſchob. Sie ſelbſt ſaß am Ende des Tiſches, von wo aus ſie dank der Zweckmäßigkeit, mit der die Blumen arrangiert waren das Ganze überſchauen konnte. Von dieſem Über⸗ blickspunkt aus fachte ſie das Feuer der Unterhaltung durch kleine neckende Zwiſchenrufe zu beſtändigem Glimmen an.

Intereſſe hatte ſie nur für die Herren Damen fand ſie langweilig, und ſie tyranniſierte ſie vermöge ihrer Würde als Schloßherrin.

An dieſem Tage hatte ſie am einen Ende des Tiſches einen kleinen geſchützten Winkel für ſich und zwei Herren arrangiert für Skram, den ſie ſelbſt an den Tiſch zog und durch beſondere Liebenswürdig⸗ keit auszeichnete, und für Sigismund Viffert, der vor

Bewunderung, mit der er fie anſtarrte, faſt das Eſſen vergaß.

Graf Henrik ſaß ihr gegenüber am andren Ende des Tiſches und wurde von dem Kammerjunker und dem Kreisarzt flankiert.

Ab und zu flogen Vifferts ſcharfe Bemerkungen über die Blumenhecke herüber wie Tennisbälle über ein Netz und die Gräfin ſandte ſie zurück, häufig ſo kräftig und geſchickt, daß er ſie behalten mußte; aber hin und wieder gelang es auch ihm, den Ball ſo ge⸗ ſchickt zu werfen, daß ſie ihn behalten mußte. Skram fand im ſtillen, daß das Duell heute ſchärfer geführt wurde als ſonſt. Schließlich aber wurde die Gräfin verſtimmt, und der Kreisarzt übernahm die Leitung des Geſprächs.

Kreisarzt Kühn war ein älterer, martialiſch aus⸗ ſehender Herr mit einem Henriquatre. Er hatte die über⸗ legene Ruhe des Hausarztes, die er um ſo lieber hervor⸗ kehrte, als er ſich ſeiner ehemaligen Tätigkeit in der Hauptſtadt erinnerte; immerhin war ſein zwanzig⸗ jähriger Aufenthalt unter Bauern nicht ſpurlos an ihm vorübergegangen, und von Eleganz war an ihm nichts zu bemerken. Er liebte es, ein wenig dozierend zu reden und bei ſeinen eigenen Worten länger zu verweilen. Doch war er ein kluger Mann, und ſeine Paraden wurden in würdiger Weiſe vollführt.

Außerdem war er ein eifriger Soziolog, und gegen Ende der Mahlzeit pflegte er mit Vorliebe ſich über ſeine verſchiedenen Themata auszuſprechen, die alle das Gepräge trugen, ſoeben aus Büchern geſchöpft zu ſein. Viffert gab ſeinen Senf dazu, ſo gut er konnte, und er ergänzte den Doktor nicht ſchlecht, denn der Kammerjunker hatte viele Menſchen und Städte ge⸗ ſehen und ihre Sitten kennen gelernt; nur beim Hauptbraten hüllte er ſich in apathiſches Schweigen.

„Es iſt zweifellos ein Irrtum,“ dozierte der Kreis⸗ arzt, „anzunehmen, daß die Menſchheit ſich aus der Urſprungsform des Jägers zum Fiſcher, Hirten, No⸗

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maden und ſo weiter bis zum heutigen Städtebewohner entwickelt habe. Die Menſchen haben ſich mit ihrer Beſchäftigung immer nach ihrem Aufenthaltsort ge⸗ richtet, und alle Formen ſind zu allen Zeiten zugleich vorhanden geweſen. So iſt es ja noch heute. Nehmen Sie beiſpielsweiſe den Jägertypus alſo den Typus, der, um zu leben, das vernichtet, wovon er lebt, es geradezu ausrottet, ohne für Erneuerung zu ſorgen. Den Typus finden wir heute beim Krieger⸗ ſtande beim Lehnsadel ja, zum Beiſpiel, bei Ihnen, Herr Kammerjunker. Sie ſind von ausgepräg⸗ tem Jägertypus.“

Viffert lachte. „Ich ſpreche mit Papageno: Ein Vogelfänger bin ich ja!“ ich und unſer braver Wirt.“

Der Kreisarzt goß ein großes Glas Bordeaux hinter ſeinen Henriquatre. „Der Graf gehört be⸗ achten Sie wohl trotz ſeiner Würde entſchieden zum Hirtentypus. Er pflegt und hegt das, wovon er lebt, er ſorgt für die Zukunft, verteidigt und baut auf. Er iſt der echte däniſche Bauerntypus, der Haupttypus in dieſem Lande. Nur infolge des beharrlichen Schaf⸗ fens der Bauerngeſchlechter ſind unſere alteingeſeſſenen Familien ſo wohlgenährt geworden.“

„Und ich?“ fragte die Gräfin, hinter der Blumen⸗ hecke hervorſehend.

„Sie, Euer Gnaden ...“

„Papagena,“ fiel Viffert ſpottend ein. „Ent⸗ ſchieden Jägertypus. Die Obrigkeit dagegen iſt eine intereſſante Miſchung von denen, die das, wovon ſie leben, füttern, um es beizeiten zu ſchlachten; ähnelt ſomit den Maſtviehzucht treibenden Bauern Jütlands und weicht von den Milchvieh ziehenden Bewohnern Seelands ab. Ungeheuer intereſſant.“

Der Kreisarzt hatte aufmerkſam zugehört und fuhr nun fort: „Es iſt intereſſanter, als Sie glauben, denn in dieſen Theorieen liegt eine Erklärung für die ganze gegenwärtige politiſche Lage Europas.“

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„Aha,“ unterbrach ihn Viffert, „nun wird es ver⸗ wickelt.“

„Ja, ſehen Sie,“ fuhr der Kreisarzt fort, „die ganze Bewegung in Rußland zum Beiſpiel kann man ſich daraus erklären, daß das Volk ein patriarchaliſches Hirtenvolk iſt. Die ſpeziell in Oſteuropa geltende Ge⸗ ſellſchaftsordnung ſetzt den Patriarchen zum Herrn über die Gemeinde, und ihm hat jeder zu gehorchen. Wird er nun zum Tyrannen, erweiſt er ſich als un⸗ erträglich, ſo räumt man ihn aus dem Wege, rottet ihn aus, bringt ihn um. Das geſchieht mit Hilfe der Bomben. Der Weſteuropäer dagegen der Jäger, der ſeinem Weſen nach weit aggreſſiver iſt, hat nach und nach ganz andere Mittel gefunden, um ſeine Tyrannen zu zähmen. Er ſchafft Geſetze und Einrichtungen, die den Tyrannen beſtändig in Schach halten, ihn un⸗ ſchädlich machen und zum Volke herabziehen.“

„Hm, das klingt ganz plauſibel,“ ließ ſich Viffert vernehmen, „aber nach Ihrer Theorie, Doktor, müßte zum Beiſpiel Henrik, der doch zum Hirtentypus ge⸗ hört und auch ganz außerordentlich patriarchaliſch aus⸗ ſieht, derjenige unter uns ſein, der zur Bombe greifen würde, während zum Beiſpiel ich, der ich in ſoziolo⸗ giſchem Sinne Jäger bin, zum na, ſagen wir, zum Mundwerk greifen würde.“

„Das meine ich auch,“ beſtätigte der Kreisarzt eifrig.

Graf Henrik lächelte; er folgte der Diskuſſion ein wenig langſam und ließ ſich zum Denken reichlich Zeit.

„Sie meinen alſo, daß ich, um mich von einem Tyrannen zu befreien, dieſen nach Hirtenweiſe um⸗ bringen würde?“

„Gott bewahre,“ ſagte der Doktor. „Ich meine ſelbſtverſtändlich nicht, daß Sie, Herr Lehnsgraf, einen Mord begehen könnten, aber Ihr Naturell würde zweifellos, ohne daß Sie ſelbſt darauf reagieren, Ihnen den Gedanken eingeben, jenen umzubringen. Nur als Ausweg. Ich zweifle natürlich nicht daran, daß Sie

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noch niemals in einer ſolchen Lage geweſen ſind, aber“

Viffert unterbrach ihn. „Da irren Sie ſich denn doch, Herr Kreisarzt, denn ich kann Ihnen berichten, daß unſer vortrefflicher Wirt, der Weichherzigſte aller Weichherzigen, eines Tages in Paris.“

„Aber Helmut!“ rief der Graf dazwiſchen, und ſein Geſicht wurde dunkelrot.

„Passons au dessus de ga,“ ſagte Viffert und leerte ſein Glas.

Dann wurde es ſtill am Tiſch.

Das Deſſert war inzwiſchen herumgereicht worden, und die drei aufwartenden Diener hatten den Saal verlaſſen. So wünſchte die Gräfin es.

Viffert brach zuerſt das Schweigen.

„Um bei dem Hirtentypus zu bleiben, will ich be⸗ merken, daß dein getreuer Diener Jörgen den unſer gelehrter Doktor auch als Hirten klaſſifiziert, denn er ähnelt dir ſo ſehr, daß ich mitunter an der ehelichen Treue der ſeligen Exzellenz Zweifel hege es übrigens ganz genau ſo machen würde wie du. Wie du weißt denn die gnädigſte Gräfin benutzt liebenswürdigerweiſe jede Gelegenheit, mich darauf aufmerkſam zu machen intereſſiere ich mich ſtark für die kleine Leonie, die mich ohne Prinzeſſin zu ſein an Paris erinnert, an den einzigen Ort, wo ein Junggeſelle ein menſchen⸗ würdiges Daſein führen kann. Dieſe Jungfrau ſoll nun mit Jörgen feſt verlobt ſein! Seitdem ſich mein vortrefflicher Frangois mit einem Teil meines Bar⸗ geldes aus dem Staube gemacht hat, muß ich mich Tag für Tag vom Barbier Sörenſen unten am Markt⸗ platz mißhandeln laſſen, einfach weil ich es nicht zu⸗ laſſen kann, daß Jörgen mich barbiert. Ich habe be⸗ ſtändig das kribblige Gefühl, daß dieſer ‚Hirtentypus‘ noch auf den Gedanken verfallen könnte, mir beim Raſieren den Hals abzuſchneiden.“

Die Gräfin lachte. „Da können Sie ſehen, Doktor, was dabei herauskommt, wenn man gelehrt iſt. Nun

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haben Sie unſere ganze Mittagsandacht geſtört und ſind vielleicht Schuld daran, daß Helmut noch eines Tages gegen alle Mode mit einem Vollbart erſcheinen und auf dieſe Weiſe ſchließlich einem Ziegenbocke gleichen wird.“

„Keineswegs, liebe Polly keineswegs,“ erwiderte Viffert. „Von jetzt an werde ich mich ſelbſt raſieren. Ich will nämlich eine gewiſſe Nervoſität überwinden und verſuchen, ob ich es noch nicht vergeſſen habe. Schade, daß man in dieſem Klatſchneſt kein ordentliches Barbier⸗ meſſer bekommen kann, ich würde ſonſt gleich hier en famille mit der Übung beginnen. Auf Nachſicht des Publikums dürfte ich wohl rechnen, ſelbſt wenn das Reſultat nur ein mäßiges ſein ſollte.“

Graf Henrik, der anſcheinend wieder milder ge⸗ ſtimmt war, lächelte gutmütig.

„Du weißt, Helmut, daß ich zwei Etuis mit vor⸗ trefflichen engliſchen Meſſern habe. Wenn du willſt, kannſt du eins davon nehmen.“

„Ho, ho, ho,“ lachte Viffert. „Sie haben recht, Doktor, nun kommt die Hirtennatur in Henrik zum Vorſchein. Er will natürlich, daß ich die Exekution wirklich vornehme. Doch um von dieſen blutigen Dingen abzukommen zu welchem Typus, Herr Doktor, meinen Sie, gehört eigentlich mein lieber Neffe Sigismund hier. Er hat, während wir bei Tiſche ſaßen, nicht ein einziges Wort geredet, ſondern ſich darauf beſchränkt, ſeine ſchöne Tiſchdame mit ein Paar Augen anzuſtarren, als ob er ſie verſchlingen wolle, während ſie, die ſich offenbar für Unterhaltungen über Barbiermeſſer nicht intereſſiert, ihm allerhand zu⸗ geflüſtert und freundliche Blicke zugeworfen hat. Iſt das nun Hirtennatur, oder Jägernatur?“

Da ſtieß die Gräfin heftig ihren Stuhl zurück und hob die Tafel auf.

Iv.

Die Sonne ſank, und die Luft war warm und ſtill. Paarweiſe ging man im Garten unter den großen, ſeltenen Bäumen umher über den ſeidenweichen Raſen, der ſich zwiſchen Kanälen mit ſeltſam verzierten Brücken erſtreckte.

Der Kreisarzt und Viffert disputierten noch immer über Menſchentypen, obwohl Viffert hin und wieder ſpähende Blicke nach der Gräfin und dem jungen Mann ausſandte, die ſich ſeiner Meinung nach viel zu weit entfernten.

Der Graf ſtand, in tiefem Geſpräch mit Skram be⸗ griffen, auf einem Hügel an der Außenſeite des Parkes. Er redet mit gedämpfter, ernſter Stimme wie ein ſchwer bekümmerter Mann, deſſen Leid ſo ſtark iſt, daß er es nicht zu verhehlen vermag.

„Sie hat alſo ſchon mit Ihnen geſprochen,“ ſagte er. „Es muß alſo wirklich ſein? Skram, können Sie, der Sie doch viel klüger ſind als ich, mir nicht ſagen, wie ich es bloß anſtellen ſoll, um ſie zum Bleiben zu bewegen? Ich will es fo ... verſtehen Sie, ich will es.“

Skram wurde etwas verlegen. „Wie ich die Gräfin vorhin verſtand, war zwiſchen Ihnen ſchon die Ver⸗ abredung getroffen, daß Sie, Herr Graf, freiwillig..“

„Ja, freiwillig,“ unterbrach ihn der Graf. „Ganz recht, denn ſie zu zwingen, iſt mir natürlich nicht mög⸗ lich. Wenn ſie nun einmal gehen will, wie ſoll ich ſie da zwingen können? Aber ſie ſoll nicht gehen, ſie ſoll nicht. Sie glauben vielleicht, daß ich wie ſoll ich ſagen? kalt, ohne Gefühl oder dergleichen ſei. Das bin ich nun gar nicht. Allerdings, was man Liebe nennt ich ſage Liebe, um ein ſtarkes Wort zu ge⸗ brauchen das iſt mir vielleicht fremd. Ich habe mich nie viel um Frauen gekümmert. Es iſt, wenn man ſo ſagen kann, nicht das Weib in ihr, das ich liebe, ſondern der Menſch, nur der Menſch. Und

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mein ganzes Leben bricht zuſammen, wenn ich ſie ver⸗ liere!“

Skram wurde unruhig.

„Ja, Herr Graf, da iſt es ſchwer, zwiſchen Ihnen und der Gräfin zu vermitteln, und wenn“

Der Graf legte ſeine ſtarke, große Hand auf Skrams Schulter und ſah ihm mit offenem Blick ins Geſicht.

„Lieber Skram, ich weiß es gut: auch Sie ſind in meine Frau verliebt. Das ſind ja alle Männer, denn ſie will es ſo. Und ich verſichere Ihnen, daß ich keines⸗ wegs eiferſüchtig bin. Ich will auch nicht, daß Sie mir Ihr Vertrauen ſchenken aber Sie haben nun ja von Geſetzes wegen mit der Sache zu tun. Darum will ich es rein herausſagen: Meinetwegen mag ſich meine Frau irgend eine Schwärmerei erlauben beim Teufel, das iſt ehrlich geſprochen. Eine, wenn es ſein muß, auch zwei Schwärmereien, mag ſie haben; vielleicht ſind drei ſogar beſſer als eine. Aber bei mir bleiben ſoll ſie, denn ich kann ſie nicht entbehren. Sie verſtehen das vielleicht nicht. Das ganze Daſein iſt mir ſo gleich⸗ gültig; ich habe keine Triebe, habe niemals irgend- welche gehabt; aber in dem Augenblick, da man ſie von mir fortnimmt, ſchneidet man ein Stück aus meinem eigenen Fleiſch. Können Sie das begreifen?“

„Wäre es da nicht möglich, alles wieder in die alte Ordnung zu bringen?“ fragte Skram, ein wenig un⸗ ruhig. Er war im Grunde über die Vertraulichkeit des Grafen durchaus nicht erfreut.

Dieſer ſchüttelte den Kopf. „Sie will nicht. Sie will nicht! Ich könnte Ihnen das Ganze erzählen ſollte es vielleicht ſogar, aber ...“ er brach ab.

Skram trat einen Schritt vor, und der Graf folgte ihm. Sie gingen die lange Lindenallee hinab, an deren Ende das von der Sonne dunkelrot beleuchtete Schloß lag.

Der Graf redete langſam, als grabe er jedes einzelne Wort erſt hervor. „Die Schuld an allem hat nur Hel⸗ mut,“ ſagte er. „Ich haſſe Helmut, ja, ich haſſe ihn.

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Und doch habe ich ihn ſo viele Jahre hindurch bei mir geduldet weil ſie es ſo wollte, weil ſie ihn nicht ent⸗ behren konnte. Nach und nach hat ſich mein Haß auch abgekühlt. Schließlich mag ich alle Menſchen gern und bin zum Haſſen nicht geeignet. Ich habe es zu ver⸗ ſtehen geſucht und habe mich eingerichtet. Das kann man gut. Ich wenigſtens habe es gekonnt und bin eigentlich immer recht glücklich geweſen. Meine An⸗ ſprüche ſind beſcheiden, habe ich doch in mancher Hin⸗ ſicht mehr als ich nur irgend brauche. Ich ſage, ich mag alle Menſchen gern, aber alle Menſchen mögen auch mich gern, das ſehe ich täglich hier auf dem Gut, in der Nachbarſchaft überall; die Menſchen ſind alle gut und freundlich gegen mich auch Polly, ja, Sie ahnen nicht, wie gut und zärtlich ſie gegen mich iſt. Und dennoch will ſie jetzt fort. Ich begreife wirk⸗ lich nicht, warum.“

Skram begann zu verſtehen, aber er war eine zu gerade Natur, als daß er ſich hätte teilen mögen. Wo er ſtand, da ſtand er ganz und er ſtand auf ihrer Seite. Selbſtredend hielt auch er den Grafen für einen herrlichen Mann, einen ungewöhnlichen Menſchen, der vielleicht viel zu gut für dieſe Welt war und ſicher kein Geſchick zum Leben in ihr hatte. Aber dennoch fand Skram, daß dies hier über ſeine Kraft ging. Laß fahren dahin Ochs, Eſel und alle Güter, ſteht in der Schrift, aber das Weib, das man liebt, beſitzt man oder verliert man.

Dagegen intereſſierte ihn des Grafen Verhältnis zu Viffert. Er mochte nicht direkt danach fragen, ſon⸗ dern beſchränkte ſich auf eine Andeutung: „Sie glauben alſo, daß Helmut Viffert hinter dem Ganzen ſteckt?“ ſagte er.

„Genau weiß ich ja nichts,“ lautete die Antwort, „aber Polly ſagt, daß ſie reiſen, ihr Leben genießen frei ſein wolle. Und der einzige, der ſie zu dieſen Ideen veranlaßt haben kann, iſt doch er!“

Skram war ungläubig.

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„Glauben Sie wirklich, daß er der einzige iſt?“

Der Graf blickte verwundert auf, dann ſagte er: „Selbſtverſtändlich; ſonſt hätte ſie es mir doch erzählt. Sie erzählt mir ja alles. Ja, auch über Sie hat ſie mit mir geſprochen. Sie weiß gut, daß Sie eingenommen von ihr ſind, und ſie ſchätzt Sie auch ſehr. Nein, nie⸗ mals würde ſie etwas vor mir verbergen. Sie kennt mich ja und weiß —“

Am Ende der Allee tauchten die Gräfin und Sigis⸗ mund Viffert auf. Die Gräfin hemmte einen Augen⸗ blick lang ihren Schritt, als ob ſie zur Seite abbiegen wolle, doch dann ſetzte ſie ihren Weg fort und ſchritt den beiden gerade entgegen.

Der Graf ſchritt raſcher aus.

„Da iſt zum Beiſpiel der junge Viffert,“ ſagte er, „ein prächtiger, ſchöner Junge, den ich ſehr gern habe. Um ihn kümmert ſich Polly nicht im geringſten, denn ſie findet ihn dumm. Das iſt er allerdings gar nicht. Vielmehr iſt er außerordentlich begabt, nur etwas ſchweigſam. Schön, liebenswürdig und tüchtig iſt er auch. Aber dennoch langweilt er ſie geradezu.“

Skram warf einen verſtohlenen Blick auf den nach⸗ ſichtigen Ehemann, der das Vertrauen ſeiner Frau auch in ſolch ungewöhnlicher Hinſicht zu beſitzen glaubte. Es ſchien ihm, als habe der Kammerjunker Viffert der Jägertypus doch die richtige Spur gewittert.

Aber er ſchwieg und beſchloß, Augen und Verſtand zu gebrauchen.

Inzwiſchen waren die Gräfin und Sigismund zu ihnen herangekommen und folgten ihnen nunmehr zum Schloß hinauf. Jetzt aber ſchritt die Gräfin mit Skram voraus.

„Was wollte denn Viffert vorhin bei Ihnen?“ fragte ſie.

„Sein Teſtament machen,“ ſagte Skram ein wenig ſpöttiſch. „Er glaubt, ſterben zu müſſen.“

„So?“ rief ſie und blieb einen Augenblick lang ſtehen. „Wer ſoll ihn denn beerben?“

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„Das darf ich doch nicht ſagen.“

„Sagen Sie es dennoch,“ rief ſie befehlend und heftete ihren Blick auf Skram.

Dieſer überlegte einen Augenblick lang, dann ſagte er: „Die Erben ſind: Ihr Mann und Leonie.“ Das war nicht die volle Wahrheit.

Die Gräfin wurde blutrot. „Sigismund über⸗ geht er?“ rief ſie wie empört.

Einen ſolchen Ausbruch hatte Skram nicht erwartet; aber eigentlich war er doch ganz zufrieden damit, und er beſchloß, nichts weiter zu verraten. Er glaubte, jetzt mitten in der Sache zu ſtehen und das Ganze beſſer begreifen zu können als irgend ein anderer.

Es war klar, daß ſich der Knoten jetzt ſchürzte.

Die Gräfin ſchritt eilig voraus; ſie ſprach kein Wort, und Skram erkannte wohl, daß ſie jetzt nur den einen Wunſch hatte, mit dem Kammerjunker Viffert zu reden.

V.

„Nehmen Sie ſich eine recht lange Zigarre, dieſe hier, das iſt eine echte Garcia und hält eine Stunde lang vor. Mich freilich würde ſie in fünf Minuten um⸗ bringen. Schenken Sie ſich nun noch einen Whisky nebſt Soda ein. Heute abend nämlich ſoll das Teſtament aufgeſetzt werden. Aber entſchuldigen Sie noch einen Augenblick.“

Der Kammerjunker verließ das Turmzimmer, in dem Skram auf einem lederbezogenen Lehnſtuhl ſaß, und ging in das danebenliegende Schlafgemach.

Skram ſah ſich im Zimmer um. Es war fünfeckig und mit Fenſtern, die nach Oſten und Norden gingen, verſehen. Die Wände waren mit Reproduktionen franzöſiſcher Kunſtwerke, ſowie mit Bildern von Pferden und Soldaten bedeckt. Über dem Sofa hingen „Tann⸗ häuſer im Venusberge“, ſowie eine Gruppe ſchöner Frauenköpfe von etwas banalem Stil. Zwiſchen den beiden Fenſtern, wo die Wand etwas ſchräg ſtand,

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führte eine Türe auf die Turmtreppe hinaus. Sonſt hatte das Zimmer noch zwei Türen, eine, die auf den Korridor und eine, die in das Schlafzimmer, einen etwas kleineren Raum, führte. Die Zimmer lagen in der zweiten Etage, unmittelbar über den Schlafzimmern der Herrſchaft.

Als Viffert wieder erſchien, trug er ein kurzes, kokettes Rauchjackett mit mehrfarbigem Schnurbeſatz.

Gleich darauf klopfte es an der Tür.

„Herein,“ rief Viffert ein wenig ärgerlich und fügte brummend hinzu: „Zu dieſer Stunde in ſpäter Nacht ſollte man doch meinen, ungeſtört ſitzen und ſchwatzen zu können.“

Es war Jörgen, der Kammerdiener des Grafen.

„Nun, was wollen Sie, Jörgen?“ fragte Viffert und drehte ſich auf ſeinem Seſſel zu dem Diener herum.

Jörgen hielt Viffert ein kleines Käſtchen entgegen.

Viffert ergriff es. „Ah,“ ſagte er, „das ſind die berühmten Barbiermeſſer. Hier ſehen Sie, Obrigkeit, dies nette Käſtchen mit ſieben feinen engliſchen Klingen.“

Skram nahm das Etui und betrachtete die Meſſer.

Viffert war aufgeſtanden und beugte ſich über ihn.

„Ah, ſehen Sie mal, da ſteht eingraviert: Sunday, Monday, Tuesday und ſo weiter, alle engliſchen Tages⸗ namen. Das iſt raffiniert. Jeder Tag hat ſein Meſſer, damit nicht das eine mehr abgenutzt werde als das andere. Das iſt ein hübſches Geſchenk und der Graf wirklich ein netter Mann.“

Jörgen miſchte ſich nunmehr ins Geſpräch. „Der Herr Graf hat genau ſo eine Kaſſette wie dieſe hier, und er benutzt die Meſſer Tag für Tag. Jeden Abend muß ich das zum nächſten Morgen paſſende Meſſer bereitlegen. So weiß der Herr Graf immer gleich, welchen Tag wir gerade haben.“

Viffert lachte. „Das gleicht ſeiner ordentlichen Seele. Nun, ſetzen Sie das Käſtchen auf den Tiſch dort und überbringen Sie dem Grafen meinen Dank. Grüßen Sie den Herrn und ſagen Sie ihm, daß ich

verſuchen werde, ihm zum Gedächtnis mir mit einem dieſer vorzüglichen Meſſer den Hals abzuſchneiden.“

Jörgen verbeugte ſich ernſt wie ein Grab und nahm das Etui weg.

„Stellen Sie es auf den Tiſch dort im Schlaf— zimmer,“ ſagte Viffert und fügte dann nach kurzem Nachdenken hinzu: „Hören Sie mal, ſind Sie der einzige, der noch auf iſt?“

„Nein,“ ſagte der Diener, „der Tafeldecker iſt noch nicht nach Hauſe gegangen.“

„Gut,“ verſetzte Viffert. „Sie ſollen beide zehn Kronen bekommen, wenn Sie eine halbe Stunde warten, bis ich Sie beide brauchen werde. Nicht wahr, Herr Amtsrichter, wir können das Teſtament noch heute abend erledigen; es ſind ja nur zwei Zeugenunter⸗ ſchriften nötig, und Sie ſelbſt ſind ja Notarius publi- cus.“

Skram lächelte. „Wollen wir nicht lieber bis morgen warten?“

„Nein, auf keinen Fall,“ erwiderte Viffert beſtimmt. „Es muß noch heute gemacht werden! Alſo Sie warten, Jörgen?“

Dieſer verbeugte ſich und ging.

Viffert ſchwieg, bis ſich die Tür hinter Jörgen ge⸗ ſchloſſen hatte, dann ſagte er mit leiſem, bitterem Lächeln: „Wenn ich wie ich vorhin ſchon ſagte dieſem vortrefflichen Diener und ſeinem noch vor⸗ trefflicheren Herrn wirklich die Freude machen muß, mir mit einem dieſer ſieben Meſſer die Pulsader zu durchſchneiden, ſo dürfte es ſich doch empfehlen, bei⸗ zeiten meine Papiere in Ordnung zu bringen.“

„Wenn es nicht geſcheiter wäre, dieſe Operation bis zum nächſten Tag zu verſchieben,“ fiel Skram ein. „Denn ehrlich geſagt, Herr Kammerjunker ein Ding wiſſen wir Menſchen doch ganz genau, nämlich: daß uns der Tod nicht wegläuft! Und zweitens,“ fügte er hinzu, „irren Sie ſich wohl in Ihrer Annahme, daß der Graf Ihren Tod wünſchen könnte.“ ;

XXVI. 19.

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„Hier iſt Papier und Feder,“ ſagte Viffert. „Laßt uns nun endlich mit dem Teſtament beginnen.“

Skram nahm die Feder, tauchte ſie ein und ſchrieb mit ſeiner gleichmäßigen, eleganten Kanzleiſchrift nieder, was Viffert ihm am Nachmittage angegeben hatte. Es fiel ihm nicht einmal ein, zu fragen, ob der Text verändert werden ſolle; nur als er zu den Legaten ge⸗ kommen war, fragte er, wer damit bedacht werden ſolle, worauf Viffert bemerkte, daß das vom Teſta⸗ mentsvollſtrecker nach Gutdünken beſtimmt werden könne. „Es iſt gebräuchlich, zwei Teſtamentsvoll⸗ ſtrecker einzuſetzen,“ ſagte Skram. „Gut, nehmen Sie noch Doktor Kühn hinzu. Der iſt ein vortreff⸗ licher, wenn auch etwas langweiliger Soziologe.“

Während Skram ſchrieb, ſaß Viffert und blätterte in einem Roman. Schließlich las Skram das Teſtament laut vor, und Viffert fand es ausgezeichnet. Nun wur⸗ den die beiden Diener gerufen, um als Zeugen das Teſtament zu unterſchreiben. Der Text wurde ihnen nicht vorgeleſen, vielmehr erklärte ihnen der Amts⸗ richter lediglich, daß er als Notarius fungiere.

Das Teſtament nahm er gleich an ſich, um es in amtliche Verwahrung zu geben.

Nachdem ſomit die Formalitäten erledigt waren, zog Viffert ſeine Banknotentaſche hervor und ſagte, indem er Jörgen einen Zehnkronenſchein reichte, lächelnd: „Nun können Sie Ihrer Liebſten erzählen, daß ſie, wenn mir etwas Menſchliches zuſtoßen ſollte, ein Vermögen erben wird, das Sie vielleicht noch zum Grundbeſitzer machen kann.“

Jörgen warf dem Kammerjunker einen ſcharfen, zornigen Blick zu, den Skram, ohne es zu wollen, auffing.

Dann gingen die beiden Diener hinaus.

„Es beginnt ſpät zu werden,“ ſagte Viffert, „und ich glaube, wir beide haben Ruhe nötig. Ich bin Ihnen ſehr dankbar dafür, daß Sie außerhalb Ihrer Bureauzeit den Amtsrichter gemacht haben. Ich

Iren

werde Sie jedenfalls nicht weiter plagen. Und nun gute Nacht.“

Damit reichte er Skram ſeine weiße, mit Ringen beſetzte Hand. Dieſer ergriff ſie und fühlte, daß ſie etwas feucht war; auch fand er, daß Viffert müde ausſah, und als er ſeine Hand losließ, faßte jener nach dem Herzen.

„Sie ſehen müde aus,“ ſagte Skram.

Viffert zuckte die Achſeln. „Das macht das Herz. Wenn man bloß ſeine Nachtruhe haben könnte; mit⸗ unter nämlich iſt es höchſt unbehaglich, ſtill dazuliegen und wie ein aufs Land geworfener Karpfen nach Luft zu jappen. Aber was ſoll man ſich beklagen! Man hat fünfzig Jahre lang die Freuden des Lebens genoſſen und muß daher auch die desagr&ments der nächſten fünfzig Jahre auf ſich nehmen, ha, ha! Das wäre in der Tat nicht übel, wenn ich nach Ihnen in die Grube fahren ſollte. Die Energie dazu habe ich jedenfalls. Das kann ich Ihnen verſichern!“

Ekram ging.

Es war ſchon ſpät, doch der Mond ſtand am Himmel, und als Skram an ſeinem Fenſter ſtand und zum Schloß hinüberſah, lag es von bleichem Licht um⸗ goſſen wie in tiefem Schlaf. Von Vifferts Fenſter her blinkte noch ein Schein über den Graben, und Skram glaubte, auch aus dem Fenſter der Gräfin, das genau unter dem Vifferts lag, einen ſchmalen Lichtſtreifen hervordringen zu ſehen.

Er war müde und ging gegen Mitternacht zur Ruhe.

Erſtes Buch. Das Barbiermeſſer. I.

Es war am nächſten Morgen um zehneinhalb Uhr, als Skram, der ein Aktenſtück durchlas, plötzlich den Kopf erhob und über den Garten hinweg nach dem Schloßgraben ſchaute. Was er ſah, war das kleine Boot der Gräfin, das ſich der Anlegeſtelle unter den hängenden Weiden näherte. Skram erhob ſich und blickte aufmerkſamer hin. Das Boot wurde von einem Manne gerudert, nun legte es an, der Mann ſtieg heraus und machte es an einem der morſchen Pfähle feſt. Es war der Tafeldecker Ole Hanſen, der er⸗ graute Haushofmeiſter von Edelsburg.

„Was mag er nur wollen?“ dachte Skram und nahm ſeinen Platz am Schreibtiſch wieder ein, während der alte Mann eilig über den Raſen ſchritt. Gleich darauf ſtand er im Bureau.

„Entſchuldigen Sie, Herr Amtsrichter,“ ſagte er, „aber heute nacht iſt ein entſetzliches Unglück ge⸗ ſchehen.“

Skram fuhr in die Höhe.

„Ja, der Herr Kammerjunker hat ſich entleibt.“

„Was ſagen Sie?! Das iſt ja —“ Skram brach ab; er mußte ſich eingeſtehen, daß es eigentlich gar nicht ſo überraſchend kam, hatte er doch bereits daran gedacht, daß etwas Derartiges geſchehen könne.

„Auf welche Weiſe denn?“ fragte er.

„Er hat ſich mit einem Barbiermeſſer den Hals abgeſchnitten.“

FE,

„So, jo," ſagte Skram nachdenklich. „Wie fanden Sie ihn denn?“

„Ich habe ihn nicht gefunden, Herr Amtsrichter,“ ſagte der Tafeldecker, deſſen Stimme bebte wie bei einem Menſchen, der ſich lange darauf vorbereitet hat, etwas Entſetzliches zu erzählen, und es nun endlich ausſprechen darf. „Jörgen fand ihn, als er mit Raſier⸗ waſſer zu ihm hinaufging. Es war ſchon nach zehn Uhr, denn der Kammerjunker pflegte ſich nicht wecken zu laſſen, und es war ja auch ſchon ſpät in der Nacht, als der Herr Amtsrichter ihn geſtern verließen. Er lag in ſeinem Bett, als ob er ſchliefe, aber Jörgen ſah wohl, daß er am Halſe einen häßlichen Schnitt hatte, und das Bett triefte vor Blut.“

„Haben Sie ihn auch geſehen?“

„Nein. Jörgen rief mir wohl zu, zu kommen, denn ich war in der Nähe des Zimmers mit dem Silberzeug beſchäftigt, aber ich mochte die Leiche nicht ſehen, weil mir davor graute. Ich kam an Stelle deſſen gleich hier herübergefahren. Jörgen meinte auch, es wäre am beſten, wenn ich als der Alteſte das täte.“

„Na,“ ſagte Skram, „dann vermögen Sie alſo auch nichts weiter auszuſagen. Haben Sie nach dem Kreis⸗ arzt geſchickt?“

„Jörgen hat telephoniert. Es hieß, der Doktor werde ſofort kommen. Und Jörgen wollte ſo lange warten.“

„Hm was ſagt denn der Graf dazu?“

„Der Herr Graf iſt ſchon früh des Morgens mit dem Inſpektor nach der Mooshofer Ziegelei gefahren, und die Frau Gräfin iſt um neun Uhr mit Johann, dem zweiten Kutſcher, ausgeritten.“

„Na, dann gehen Sie nur gleich zum Kreisarzt und ſehen Sie nach, ob er zu Hauſe iſt. Wir fahren dann alle mit dem Boot nach dem Schloß hinüber. Hm, ob das Boot wohl vier Mann tragen kann?“

„O, gewiß,“ ſagte Hanſen. Dann eilte er zum Kreisarzt, deſſen Haus der Amtsrichterwohnung gegen⸗ über lag.

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Skram öffnete die Tür zum Bureau, in dem ſich augenblicklich nur das Amtsperſonal befand.

„Herr Holm,“ ſagte er, „das Teſtament, das Sie da bearbeiten, hat Kammerjunker Viffert wahrlich zur rechten Zeit aufſetzen laſſen. Wie mir eben mit⸗ geteilt wird, hat er ſich heute nacht den Hals abge⸗ ſchnitten.“

„Was?“ Der Sekretär ſprang auf.

Skram zuckte die Achſeln. „Ja, geſchehen iſt ge⸗ ſchehen. Er iſt tot. Die Welt verliert nichts weiter an ihm, und nur wenige werden ihn betrauern. Es iſt wohl am beſten, wir gehen ſogleich hinüber und nehmen die Leichenſchau vor. Der Graf und die Gräfin ſind ausgefahren. Laſſen Sie Jenſen gleich zum Kranken⸗ haus gehen und eine Ambulanz beſtellen, wenn die Leute eine haben. Nehmen Sie das Protokoll und kommen Sie mit zum Boot hinab. Dort kommt auch ſchon der Tafeldecker mit dem Kreisarzt an.“

Der Polizeibeamte Jenſen erhob ſich eilig, um die Ambulanz zu beſtellen.

„Aber, Jenſen,“ rief ihm Skram nach, „zu keinem ein Wort darüber reden! Die Sache muß geheim bleiben, ſolange es möglich iſt. Ich will nicht, daß die Blätter ſchon vor Zeiten mit ihrem Gewäſch beginnen.“

Der Kreisarzt trat ein.

Skram reichte ihm die Hand.

„Das iſt ja entſetzlich,“ ſagte der Doktor, „und ich bin geſtern abend eine ganze Stunde lang mit ihm ſpazieren gegangen und hab' nachher noch Billard mit ihm geſpielt, ohne etwas an ihm zu merken!“

„Hm,“ ſagte Skram, „ich habe ihm geſtern abend ein Teſtament aufſetzen müſſen, und da ſchien es mir allerdings, daß er Eile habe, mit der Sache zu Streich zu kommen. Und wenn ich noch in Betracht ziehe, was er mir geſtern abend erzählte, ſo bin ich über ſeine Tat gar nicht ſonderlich erſtaunt. Jetzt gilt es bloß, den Grafen und die Gräfin gegen das Gerede der Leute und das Gewäſch der Zeitungen zu ſchützen.“

=, JG =

Der Sekretär ſtand mit dem Protokoll in der Hand zum Gehen bereit, und ſo begaben ſich die drei Herren zum Boot hinab, das der alte Ole Hanſen ſchon los⸗ gebunden hatte.

Während ſie über den Graben ruderten, ſagte Skram lächelnd zum Kreisarzt: „Ich kann Ihnen übri⸗ gens etwas Erfreuliches mitteilen: Sie ſind zum Voll⸗ ſtrecker der Erbmaſſe ernannt, die ſich auf ſechs⸗ bis ſiebenhunderttauſend beläuft; das Honorar iſt alſo ſchon ganz mitnehmenswert.“

„Ich?“ fragte der Doktor und öffnete den Mund vor Erſtaunen.

„Ja, Sie und meine Wenigkeit. Sie haben Viffert geſtern abend mit Ihrer Soziologie imponiert; Sie wiſſen ja, die Wiſſenſchaft macht ſich bezahlt. Wenn wir erſt mit der Leichenſchau fertig ſind, werden Sie etwas Intereſſantes zu erfahren bekommen. Doch davon ſpäter.“

Schweigend ruderten ſie weiter.

Die Leiche des Kammerjunkers lag entkleidet im Bett lang auf dem Rücken ausgeſtreckt wie im Schlaf, den Kopf halb von der Wand abgekehrt. An der linken Seite des Halſes ſaß eine klaffende Wunde, der rechte Arm hing zur Seite hinab und ſeine Hand hielt ein blankes, mit Blut beflecktes Barbiermeſſer loſe zwiſchen den Fingern. Das Laken war mit Blut benetzt und einiges davon über die Bettkante auf den Boden getropft.

Der Arzt trat ans Bett und beugte ſich über den Toten. Die Geſichtszüge des Kammerjunkers waren ruhig, ſeine Augen feſt geſchloſſen, ſo daß es ausſah, als ſchlafe er; nur die Naſe trat ſcharf hervor, und der Bart zeichnete ſich grauſchimmernd über dem feſt ge⸗ ſchloſſenen Munde ab. Doch wenn man von der Wunde 80 abſah, hatte der Tote nichts Unheimliches an ſich.

„Skram,“ ſagte der Doktor, nachdem er ſeine Unter- ſuchung beendet hatte, „da ſtimmt etwas nicht.“

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Skram trat näher und betrachtete den Leichnam.

„Sehen Sie, er hat ſich wie ein rechter Dummkopf benommen,“ fuhr der Doktor fort, „wenn man ſich den Hals abſchneiden will, ſo tut man es doch hier an der Seite, wo die Pulsader liegt. Dieſer Schnitt aber liegt ungefähr in der Mitte, von links beginnend, und ein ſolcher Schnitt verurſacht nimmermehr den Tod. Und dann ſehen Sie das Blut! Das iſt ja gar nichts, kaum ein kleines Waſchbecken voll, während es nach einem ſolchen Schnitt in Strömen gefloſſen ſein müßte. Ich kann nicht begreifen, wie dieſer Schnitt ihn ge⸗ tötet haben ſoll. Vielleicht, daß er ſich die vena jugularis verletzt hat, was ſeine Folgen für die Lungen gehabt hätte; das kann ich indes erſt feſtſtellen, wenn ich die Leiche geöffnet habe. Aber ſo ſieht die Sache höchſt merkwürdig aus. Der Mund iſt auch ganz ge⸗ ſchloſſen. Und die Augen na, ja, das gibt ſich wohl noch. Das Meſſer hält er ganz regelrecht in der rechten Hand, leicht gefaßt ſehen Sie, es hängt bloß zwiſchen den Fingern.“

Skram wandte ſich um. Im Zimmer ſtand außer ihnen nur der Sekretär Holm.

„Das iſt wahr,“ ſagte Skram, „Jenſen kann noch nicht zurück ſein; denn der Weg außen um die Stadt herum und über den Schloßgraben iſt lang. Wo iſt Ole Hanſen?“

„Hier,“ rief der Tafeldecker aus dem Vorzimmer.

„Dann kommen Sie herein,“ ſagte Skram.

„Kann ich nicht davon befreit werden?“ erwiderte der Tafeldecker ängſtlich. „Ich bin ſchon ein alter Mann, und Jörgen iſt ja auch da.“

„Jörgen,“ rief Skram doch dann überlegte er einen Augenblick lang. „Nein, das geht doch nicht. Wir müſſen warten, bis Jenſen kommt.“

„Jörgen paßt doch aber ſehr gut zum Zeugen,“ meinte der Arzt. 5

„Er iſt derjenige, der die Leiche gefunden hat,“ ſagte Skram, „und wird daher ſchon deswegen für

ae

ſich allein vernommen. Zum Zeugen können wir ihn nicht brauchen. Kommen Sie herein,“ rief er dann Jörgen zu.

Dieſer trat ein.

Skram ſah ihn feſt an.

„Haben Sie den Kammerjunker tot aufgefunden?“

„Ja,“ antwortete der Diener, deſſen Antlitz un⸗ beweglich, aber ſehr ernſt war.

„Und Sie haben nichts an der Leiche verändert?“

„Nein, Herr Amtsrichter.“

Skram ſah ihn forſchend an, dann verſetzte er ruhig:

„Konnten Sie den Kammerjunker leiden, während er noch lebte?“

Jörgen hob den Kopf hoch und erwiderte feſt: „Nein, Herr Amtsrichter, denn er war ein ſehr ſchlechter Menſch und hat uns alle geärgert. Mag ihm der Herr jetzt gnädig ſein.“

Der Kreisarzt ſtutzte.

„Gut, Jörgen,“ ſagte Skram, „gehen Sie in die andere Stube.“

Nachdem ſich die Türe hinter ihm geſchloſſen, beugte ſich der Arzt über die Leiche. „Die Vene muß durch⸗ ſchnitten ſein,“ ſagte er, „denn bei einem Schnitt in die Pulsader wäre das Blut bis zur Decke geſpritzt. Ich kann die Sache nicht begreifen, aber natürlich liegt Selbſtmord vor; es kann nur Selbſtmord ſein.“

„Davon bin ich auch überzeugt,“ ſagte Skram. „Ich fragte Viffert ſelbſt geſtern abend, ob er daran denke, und ich hatte allen Grund zu einer ſolchen Frage. Über die Motive können wir ja ſpäter noch reden. Außerdem aber hatte er ein Herzleiden. Davon wiſſen Sie wohl?“

„Nein,“ verſetzte der Arzt „er hat niemals dar⸗ über mit mir geſprochen. Er hielt nichts von den Arzten, wie er ſagte. Herzkrank ſoll er geweſen ſein?“ fügte er kopfſchüttelnd hinzu. N

Skram fuhr fort. „Der Gedanke liegt nahe, daß er in der Nacht einen Anfall bekommen und aus

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dieſem Grunde und den andern Motiven ſeinem Leben ein Ende geſetzt hat.“

Der Polizeibeamte meldete ſich nunmehr, und ſo nahmen ſie ein Protokoll über den Toten und ſeine Lage im Bett auf.

Skram nahm darauf das Barbiermeſſer betrachtend in die Hand und drehte es ſo, daß die Sonne ſich in der breiten Klinge ſpiegelte.

„Komiſch,“ ſagte er, „geſtern abend erzählte er mir noch, daß er kein Barbiermeſſer in der Hand halten könne, weil er fürchte, vielleicht Luſt zu bekommen, ſich die Kehle abzuſchneiden, und als er geſtern dieſes Meſſer vom Grafen zum Geſchenk erhielt, ſagte er ——“

Skram ſchwieg plötzlich, wandte ſich dann um und ging zum Toilettentiſch, auf dem das Etui mit den Meſſern ſtand.

„Sehen Sie mal, Herr Kreisarzt, da liegt Methode darin; auf dem Rücken dieſes Meſſers ſteht Tuesday. Und heute iſt auch richtig Dienstag. Er hat Ordnung in den Dingen haben wollen. Da können Sie die anderen Meſſer ſehen.“

Damit öffnete er das Etui und ſchaute die Meſſer an. Doch plötzlich ergriff er den Kreisarzt beim Arm.

„Doktor,“ rief er erſtaunt, „was iſt das? Sehen Sie her geſtern abend habe ich ſelbſt die Meſſer im Etui geſehen, und da waren ſie alle mit den Namen der Tage von Sonntag bis Sonnabend verſehen. Hier iſt nun das Meſſer, das wir in Vifferts Hand gefunden haben.“

Skram hatte ſeine Stimme zum Flüſtern herab⸗ gedämpft. Der Sekretär und Jenſen ſtanden im Vorzimmer, wo ſie das Protokoll auf dem Tiſch aus⸗ gebreitet hatten.

„Herr Kreisarzt, die Sache ſtimmt nicht,“ ſagte Skram. „Sehen Sie ſich die Meſſer an, die hier im Etui liegen; auf ihnen ſteht: Sonntag, Montag, Dienstag, Mittwoch Donnerstag fehlt Freitag und Sonnabend. Donnerstag fehlt, und auf

=, 15

dem Meſſer, das ich hier in der Hand halte, mit dem Viffert ſich den Hals abgeſchnitten haben ſoll, ſteht Dienstag!“

Der Kreisarzt begriff nicht.

„Ja, ſehen Sie,“ fuhr Skram in demſelben ge⸗ dämpften Tone fort, „ich habe dieſe Meſſer geſtern abend ſelbſt im Etui geſehen; und ich weiß beſtimmt, daß ſie alle mit dem Namen der Wochentage verſehen waren. Hier ſind nun zwar auch ſieben Meſſer, aber zwei davon ſind mit Dienstag gekennzeichnet, während das Donnerstagmeſſer fehlt.“

„Ich begreife nicht,“ ſagte der Doktor, „wie das möglich iſt.“

Skram flüſterte jetzt ganz leife. „Unten auf dem Toilettentiſch des Grafen ſteht genau ſolch ein Etui mit Meſſern wie dieſes hier, und ich ſage Ihnen, in dem werden Sie zwei Donnerstagmeſſer, aber dafür kein Dienstagmeſſer finden. Verſtehen Sie jetzt?“

Der Arzt war bleich geworden. „Das be⸗ deutet“

„Mord,“ vollendete Skram. „Der Mann da hat nicht Selbſtmord begangen; ſondern iſt ermordet worden.“

Der Kreisarzt ſchritt langſam zum Bett hin.

Skram fuhr fort. „Ich erinnere mich deutlich, daß Viffert mir geſtern abend im Scherz vormachte, daß er ſich den Hals abſchneiden werde; und dabei führte er die Hand ganz richtig über die Pulsader an der rechten Seite, nicht aber wie der Schnitt ausgeführt iſt, über die Mitte.“

„Wer kann es aber begangen haben?“

Skram ſchwieg eine Weile lang.

„Herr Doktor Kühn,“ ſagte er dann. „Sie und ich, wir ſind Amtsperſonen, und wir haben unſere Pflichten; außerdem ſind wir die Vollſtrecker des Teſtaments. Ich werde ſicher meine Pflicht tun, aber ich ſage Ihnen ſchon jetzt wäre ich frei und ohne amtliche Verant⸗ wortung, dann würde ich dieſe Sache als Selbſtmords⸗

ar, Ka =

ſache ſchließen. Ich weiß, was Sie fagen wollen, Doktor Kühn, aber Sie brauchen es nicht zu ſagen. Ich kenne meine Pflicht und werde danach handeln. Bloß um das eine bitte ich Sie: bewahren Sie Still⸗ ſchweigen über unſere Entdeckung, denn eben nur dann kann ich meine Pflicht tun. Wir nehmen eine geſetz⸗ mäßige Leichenſchau vor und geben Selbſtmord als Todesurſache an. Alle Umſtände zeugen dafür. Ver⸗ ſtehen Sie mich recht, nur dann kann meine Unter⸗ ſuchung von Erfolg begleitet ſein, wenn der Täter ſich in Sicherheit glaubt. Nur Sie und ich und der Täter wiſſen, daß es Mord iſt. Für alle anderen iſt es Selbſtmord.“

Der Arzt nickte ſchweigend.

Noch vor Rückkehr des Grafen von ſeinem Ausflug war die Leichenſchau beendet und der Körper des Kammerjunkers auf einer Bahre ins Krankenhaus ge⸗ bracht worden, wo der Kreisarzt die Obduktion vor⸗ nehmen wollte.

Das furchtbare Begebnis konnte nicht verborgen bleiben, und gegen Nachmittag redete die ganze Stadt von dem Selbſtmord des Kammerjunkers. Vom Schloß her aber war nichts zu erfahren, und das Kreis⸗ amt verweigerte jede Auskunft.

II.

Skram war ein tüchtiger Juriſt, der ſeine Examina glänzend beſtanden hatte. Seine Erziehung hatte in den Händen eines Vaters gelegen, der ſelbſt ein hervor⸗ ragender Juriſt war. Von früheſter Jugend an hatte er im Hauſe ſeines Vaters Gelegenheit gehabt, die be⸗ rühmteſten Richter des Landes zu ſehen und zu hören. Er ſelbſt war beim Kopenhagener Amtsgericht und darauf fünf Jahre lang beim Juſtizminiſterium tätig geweſen. Er verſtand feine Sache gut und war außer- dem ein gebildeter und ſehr beleſener Mann, der das Studium von Verbrechen zu ſeinem Lebensſtudium

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gemacht hatte, aber auch gleichzeitig feine Zeit zum Studium von Menſchen benutzte.

Skram war Ariſtokrat; er gehörte einem alten däniſchen Adelsgeſchlecht an; ſein Vater war konſer⸗ vativ, und das war er, wenigſtens in politiſcher Hin⸗ ſicht auch.

Was die Sache betraf, die er jetzt vornehmen wollte, ſo fühlte er, daß dieſe das Einſetzen ſeiner ganzen Kraft verlangte. Unter Bewahrung völligen Stillſchweigens nach außen hin mußte ſie geführt werden. Er war überzeugt davon, daß hier ein Mord vorlag, aber den- noch beeilte er ſich nicht, ſeinen Verdacht gegen eine beſtimmte Perſon zu richten, ja, er kämpfte ſogar da⸗ gegen an, um nicht eine falſche Spur zu betreten. Er mochte mit keiner Hypotheſe beginnen, deren Wurzel in einem Umſtand außerhalb der Situation, wie er ſie zuerſt vorgefunden hatte, zu ſuchen war. Dadurch, daß er jeden Verdacht zurückwies, ſchloß er von vorn⸗ herein jeden Fehlgriff aus. Auf ſchnelles Handeln kam es hier nicht an, denn verwiſcht konnte die Spur, die er gefunden hatte, nicht werden. Sie beſtand nur aus einem Umſtand, der aufgeklärt werden mußte aus einem einfachen, beweglichen Gegenſtand dem ge⸗ fundenen Barbiermeſſer, das auf ſeinem Rücken den Tagesnamen Dienstag trug! Und das einzige, was er jetzt tun konnte, war, daß er das Etui ſowie das Meſſer, das in des Toten Hand geſteckt hatte, an ſich nahm.

Während Jörgen bei der Tragbahre beſchäftigt war, ging Skram haſtig die Turmtreppe hinab, die zu den Schlafzimmern im erſten Stockwerk führte. Er öffnete die zur Wohnung führende Tür und ſtand im Schlafgemach der Gräfin, das unmittelbar unter Vifferts Wohnzimmer lag.

Das Zimmer war mit reichlichem und ſtilvollem Luxus ausgeſtattet. Niemand war zugegen, und Skram, der die Wohnung bereits früher geſehen hatte und ſie daher kannte, ſchritt eilig zu der gegenüber⸗

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liegenden weißladierten Tür, durch die er ins An⸗ kleidezimmer des Grafen trat.

Hier ſtand ein großer Toilettentiſch dem Fenſter gegenüber. Auf dem weißen Tuch, das ihn bedeckte, lagen Bürſten, Kämme und allerhand koſtbare Toiletten⸗ gegenſtände mitten unter ihnen neben einem blanken Metallſchälchen auch ein Barbiermeſſer, das genau dem glich, das er im Zimmer des Kammerjunkers gefunden hatte. Er nahm es betrachtend in die Hand auf dem Rücken der Klinge ſtand Donnerstag!

Skram ſchaute ſich in der Stube um. Alles war in ſtrenger Ordnung gehalten, denn dem Grafen war jede Unordnung zuwider. Auf einer Etagere am Fenſter erblickte Skram einen kleinen Kaſten, der genau dem Etui glich, das er in der Hand hielt; er trat zur Etagere hin und öffnete das Käſtchen, und wie es ſein mußte, ſo war es: in dieſem Etuis lag noch ein zweites Donnerstagmeſſer, während das Dienstagmeſſer fehlte.

Skram zögerte einen Augenblick lang; es war augen⸗ ſcheinlich, daß der Graf das Raſieren bis auf ſpätere Zeit verſchoben hatte; denn die kleine Metallſchale war noch unbenutzt, und das Meſſer anſcheinend erſt zum Gebrauch hervorgeholt worden. Demnach hatte der Graf die Abſicht, nach ſeiner Rückkehr ſeine Toilette zu voll⸗ enden, und er mußte dann entdecken, daß es nicht das richtige Meſſer war, er mußte entdecken, daß eine Um⸗ wechslung zweier Klingen ſtattgefunden hatte und dann In einem Falle würde er ſchweigen, in einem Falle, den Skram bereits in Betracht ge⸗ zogen, doch unter die anderen Vermutungen zurück⸗ gewieſen hatte. In allen anderen Fällen würde er reden.

Skram überlegte. Würde es ſich nicht empfehlen, das richtige Meſſer an die Stelle des falſchen zu legen? Sowohl er als auch der Kreisarzt hatten ja den ver⸗ dächtigen Fall konſtatiert; er gehörte bereits zu den Akten. Inſofern alſo würde das Umwechſeln der

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Meſſer nicht ſchaden, doch in dieſem Falle griff Skram das Beweismaterial an und ließ einen Anhaltspunkt fahren, der unter Umſtänden von großem Nutzen ſein konnte.

Was ſollte er tun?

Er wandte ſich haſtig um und eilte durchs Zimmer der Gräfin zur Wendeltreppe zurück, die nach Vifferts Zimmer führte. Als er ins Turmzimmer eintrat, ſtand der Kreisarzt allein vor dem Bett und unterſuchte die blutbefleckten Bettſtücke.

„Doktor,“ ſagte Skram, „kommen Sie mit.“

Sie ſchritten nun zum Ankleidezimmer des Grafen hinab, und während der Doktor verſtändnislos daneben⸗ ſtand, tauſchte Skram die Meſſer um, ſo daß die Klinge, die jetzt auf dem Toilettentiſch lag, den Vermerk Diens⸗ tag trug, wie es der Ordnung entſprach.

„Doktor,“ ſagte Skram, „ich habe nicht Zeit, Ihnen den Grund dieſes Tuns zu erklären, ich will Ihnen jetzt bloß ſagen, daß ich meine Gründe dazu habe. Ich deute hier mit Bleiſtift die Stelle des Tiſches an, auf der wir das Meſſer fanden; dieſes ſtecken wir nunmehr in Vifferts Etui, in das es ſicher hineingehört. Ich bitte Sie, genau darauf zu achten. Warum ich dies tue, werde ich Ihnen ſpäter erklären. Wir können ja jetzt nach Hauſe gehen, und wenn Sie bei mir früh⸗ ſtücken wollen, werde ich mit ein paar Worten ver⸗ ſuchen, Sie in die ganze Situation hineinzuverſetzen. Das Barbiermeſſer iſt in Wirklichkeit die einzige Grund⸗ lage meines ganzen Wiſſens in dieſer Sache. Dieſe kann außerordentlich einfach und ſimpel ſein und bis Sonnenuntergang ihre Erklärung gefunden haben. Aber ebenſo gut kann ſie ſich auch ſehr verwickelt ge⸗ ſtalten und Ihnen und mir viel zu denken aufgeben, bevor wir ſie abſchließen können. Kommen Sie, wir wollen gehen; hier können wir ja doch nichts weiter ausrichten.“

So gingen ſie.

III.

Der Kreisarzt frühſtückte richtig bei Skram, und während der Mahlzeit ſprachen ſie über die Sache. Skram gehörte nicht zu denen, die gleich allen ihr volles Vertrauen ſchenken, aber in dieſer Sache war der Kreisarzt ſein Mitwiſſer, der einzige, den er in ſein Geheimnis einweihte. Dazu kam, daß Doktor Kühn, der vertretungsweiſe auch als Gemeindephyſikus fun- gierte, der einzige amtliche Arzt war, der mit dieſer Sache zu tun bekam. Er war ein freiſinniger und vorurteilsloſer Mann, ein Menſch, auf den Skram in jeder Hinſicht rechnen konnte. Aufs höchſte intereſſiert lauſchte er den Berechnungen des Richters und brummte ab und zu mißbilligend oder beiſtimmend.

Als ſie im Gartenzimmer beim Kaffee ſaßen, fragte der Doktor: „Was wollen Sie nun eigentlich tun?“

„So wenig als möglich,“ erwiderte Skram. „Am meiſten Luſt hätte ich, mich bei der Bezeichnung ‚Selbit- mord“ zu beruhigen. Viffert war mir immer zuwider, und ſein Tod iſt ihm außerdem nicht unerwartet ge⸗ kommen. Schließlich gereicht ſein Ableben keinem Menſchen zum Verdruß, ſondern im Gegenteil allen, die davon überhaupt berührt werden, zum Nutzen und zur Freude, Sie, lieber Doktor, und mich nicht aus⸗ genommen. Nun iſt es jedoch eine komiſche Eigen⸗ ſchaft von uns Menſchen, daß wir rein inſtinktmäßig aus dem Selbſterhaltungstrieb der Geſellſchaft heraus uns gegen jede Art von Verbrechen wehren. Mir würde ſelbſt als Laien unzufrieden und unbehaglich zumute ſein, wenn ich wüßte, daß ein Mord in aller Stille als Selbſtmord ad acta gelegt werde. Als Amtsperſon nun gar kann ich mich ganz und gar nicht da hineinfinden, und als Behörde dieſes Ortes bin ich ja geradezu gezwungen, mich weiter mit der Sache zu befaſſen.“

„Das wollen Sie alſo auch tun?“

„Selbſtredend.“

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„Aber wo beginnen?“

„Das will ich Ihnen ſagen,“ erwiderte Skram. „Sehen Sie, Vifferts Zimmer liegt in der zweiten Etage, und die Tür zum Korridor war wie immer feſt verſchloſſen. Die Tür dagegen, die aus demſelben Zimmer auf die Wendeltreppe führt, war nicht ver⸗ ſchloſſen. Er hat mir einmal ſelbſt erzählt, daß er es nicht liebe, bei offenen Türen zu ſchlafen, aber ſich ander⸗ ſeits auch davor fürchte, bei einer etwaigen Feuers⸗ gefahr im Schlafe verbrannt zu werden, weil niemand zu ihm hätte dringen können; er ſchlief nämlich auf⸗ fallend feſt. Ja, der gute Viffert war ſehr beſorgt um ſein Leben, aber hier auf der Edelsburg das geſtand er ſelbſt ein fühlte er ſich einigermaßen ſicher, denn ſeine Tür zum Korridor konnte er verſchließen, die Tür zur Wendeltreppe dagegen ruhig offenſtehen laſſen. Aufwärts führt dieſe Treppe ja nur zum Zimmer der Kammerjungfer Leonie, abwärts aber zum Schlafzimmer der Gräfin, das nach dem Korri⸗ dor zu ebenfalls ſtets verſchloſſen iſt. In der unter⸗ ſten Etage ſchließlich liegt an der Treppe nur das Dienerzimmer, in dem Jörgen mit dem Dienerburſchen John wohnt. Sehen Sie, in dieſer Gruppierung haben wir alle Perſonen bei einander, die für einen Ver⸗ dacht in Frage kommen. John will ich aus dem Spiel laſſen.“ f

„Und die Gräfin?“ fiel der Doktor ein.

„Selbſtredend auch die Gräfin. Es bleiben dem⸗ nach: der Graf, Jörgen und Leonie. Von dieſen iſt vor allen Jörgen verdächtig. Freilich iſt er ein tüch⸗ tiger Menſch, über den nichts Unvorteilhaftes bekannt iſt, aber er iſt der letzte, den ich mit Viffert zuſammen geſehen habe, und zugleich derjenige, der den Toten ge⸗ funden hat. Außerdem hat er ſelbſt und auch Viffert von dem leicht begreiflichen Haß, den er gegen den Ermordeten hegte, geredet. Ich habe ſelbſt gehört, wie Viffert ihm erzählte, daß er nach dem Tode des Kammerjunkers ein wohlhabender Mann ſein b,

XXVI. 19.

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und Viffert ſchlug ihm dabei ſcherzweiſe ſelbſt die Methode vor, nach der er den Erblaſſer umbringen ſollte, wie es jetzt ja auch geſchehen iſt. Und da Jörgen gerade derjenige iſt, der das Meſſer des Grafen bereit zu legen hatte und auch das Etui auf den Toiletten⸗ tiſch des Kammerjunkers geſetzt hat, ſo kann ihm ſehr leicht die Idee gekommen ſein, die Meſſer nach dem Morde umzutauſchen, um das Verbrechen zu verbergen. Der einzige ſchwierige Punkt hiebei iſt, daß er bei der Umwechslung die Tagesnamen nicht beachtet haben ſollte. Dies Verſehen iſt jedoch inſofern erklärbar, als die engliſchen Namen Tuesday und Thursday von einem Manne, der wie Jörgen nicht engliſch verſteht, leicht verwechſelt werden können. Seine Unwiſſen⸗ heit erklärt auch den ungeſchickten Schnitt. Es war ihm leicht, ſich ins Zimmer des Kammerjunkers zu ſchleichen, und ebenſo leicht, ſich wieder hinabzuſchleichen. Wie Sie ſehen, liegt ein prächtiges Indizienmaterial vor, das durchaus genügen würde, eine augenblickliche Verhaftung vorzunehmen. Der arme Jörgen iſt im Grunde genommen ganz wehrlos, und daher nehme ich es auch nicht eilig mit ſeiner Verhaftung.

Was ſeine Liebſte betrifft, ſo liegt die Sache derart, daß man ſie nicht gut von dem Verdachte der Mit⸗ wiſſenſchaft befreien kann. Die Idee zu der Tat kann leicht in ihrem fixen, kleinen Kopf entſtanden ſein, und ſie hat ſich in den ſchönen däniſchen Diener ſicher ebenſo ſehr vergafft, als ihr der gräſige Kammer⸗ junker, mit dem ſie ſich nur aus finanziellen Gründen abgab, zuwider war. Sie können mir glauben, lieber Doktor, in neun von zehn Fällen würde es nicht nur klug gehandelt, ſondern einfach meine Pflicht ſein, hier mit Verhaftungen vorzugehen. Arreſt, Verhör, Auf⸗ wicklung der Indizien und des ganzen Tatbeſtandes könnten in acht Tagen mit Glanz erledigt ſein!“

„Warum tun Sie es dann nicht?“ fragte der Doktor aus einer mächtigen Rauchwolke heraus.

„Weil Sie es auf eine ſolche bloße Vermutung hin

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ebenfalls nicht tun würden. Keiner von uns mag einen Juſtizmord begehen, und außerdem haben wir uns bisher nur mit den Leuten der Dienerſtube und der Manſarde beſchäftigt. Die Herrſchaft im erſten Stock haben wir ganz außer acht gelaſſen!“

„Tja!“ rief der Doktor, ſtutzig geworden.

„Wir nahmen vorhin die Gräfin aus. Schön, das will ich auch jetzt tun. Nicht etwa, weil ſie am Tode Vifferts kein Intereſſe hätte, denn ſie iſt ja ſeine Erbin. Aber es iſt mir einfach unmöglich, mir die Gräfin Polly als Lady Macbeth vorzuſtellen. Wenn ich ſage unmöglich, ſo meine ich damit, daß dieſer Gedanke meine letzte Zuflucht iſt, wenn alle Stränge reißen, und daß ich dieſen Verdacht nur auf eine mündliche 1 mit ihr, nicht auf Vermutungen begründen will.

Mit dem Grafen dagegen iſt es eine andere Sache. Er hat mir ſelber erzählt, daß er den Mann haſſe; er bringt nämlich den Entſchluß der Gräfin, ihn zu verlaſſen, mit Viffert in Verbindung. Er hat ſich als Hirtennatur, die er Ihrer Theorie nach iſt ſicher oft mit dem Gedanken beſchäftigt, Viffert aus dem Wege zu räu⸗ men, und von der Überlegung zur Handlung führt nur ein Schritt. Um das Zimmer Vifferts nachts zu erreichen, mußte der Graf freilich das Schlafgemach der Gräfin paſſieren, aber dieſes iſt zweifellos nach ſeinem Zimmer zu unverſchloſſen geweſen. Schwerer läßt ſich der Umſtand mit den Meſſern erklären. Seiner ganzen Natur nach zu urteilen, dürfte er ein ſolches Verſehen kaum begangen haben. Daß er ſich, als er zur Tat ſchritt, mit einem Meſſer bewaffnet haben möchte, traue ich ihm ſchon zu, doch daß er ſich hinter⸗ her dadurch kompromittiert haben ſollte, daß er ein falſches Meſſer aus dem Etui nahm, das traue ich ihm nicht zu. Es iſt, wie geſagt, ein ſchwieriger Punkt. Und wenn ich vorhin die Meſſer auf dem Tiſch des Grafen umtauſchte, ſo geſchah es in der Abſicht, ihm eine Falle zu ſtellen.“

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„Sie halten ihn alſo wirklich für den Täter, ihn, den edlen, rechtſinnigen Grafen Henrik?“

„Den Hirten, ja,“ ſagte Skram lächelnd. „Aber ich ſagte Ihnen ja ſchon, daß ich einen beſtimmten Ver⸗ dacht auf niemand werfe. Ich meine bloß, daß er Grund zu dem Mord gehabt haben kann. In dieſem Fall muß er ſo aufgeregt geweſen ſein, daß er aus reiner Nervoſität den Fehler begangen hat, als er das Meſſer umtauſchen wollte. Wenn er nun nach ſeiner Rück⸗ kehr von der Ausfahrt das eigene Meſſer benutzte, ſo würde er nicht umhin können, den Fehler zu entdecken, und demzufolge gründlich auf ſeiner Hut ſein. Ich weiß ganz genau, daß ich geſtern abend die ſieben Klingen mit den Tagesnamen geſehen habe, aber was würde einem Manne wie dem Grafen Henrik Eiſen⸗ bart gegenüber, der Lehensgraf, Kammerherr und Danebrogritter iſt, der Verdacht eines jungen, ſoeben ernannten Richters zu bedeuten haben, der ſich zu be⸗ haupten unterfängt, nachdem er ein Diner von acht Gerichten nebſt den dazu gehörigen Weinen und Whis⸗ kys mit Soda eingenommen, mitten in der Nacht ein paar mattgeſchliffene Namen auf einigen Barbier⸗ meſſern geſehen zu haben? Und anders iſt es doch in Wirklichkeit nicht!“

„Nein,“ ſagte der Doktor, „da haben Sie recht. Aber anderſeits ſehe ich auch gar nicht ein, inwiefern die von Ihnen vorgenommene Umwechslung der Meſſer die Sache verbeſſert?“

„Dadurch erreiche ich etwas ſehr Wichtiges: ich verhindere, daß Jörgen, der ja auch der Täter ſein kann, aber, falls der Graf die Tat begangen hat, völlig unſchuldig iſt, in ein Geſpräch über die Meſſer hineingezogen wird. Beide zuſammen ſind ſie wohl kaum ſchuldig, und ſo würde es nicht zu umgehen ſein, daß ſie über den merkwürdigen Umſtand, daß im Etui des Grafen zwei Donnerstag⸗Meſſer ſtecken, miteinander reden. Und das will ich verhindern; es ſoll über dieſe Meſſer nicht eher geredet werden, als

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bis der richtige Zeitpunkt gekommen ift. Der Schuldige, der den Tagesnamen auf dem Meſſer nicht beachtet haben kann denn ſonſt hätte er das Verſehen nicht be⸗ gangen ſoll nicht Gelegenheit haben, über die Meſſer zu reden, und der Unſchuldige ſoll in dem Glauben verbleiben, daß Selbſtmord vorliege bis ich ſelbſt über den Mord zu reden beginne!“

„Das kann ſich freilich als klug erweiſen,“ ſagte der Doktor, „aber ich glaube dennoch, daß die Meſſer ein vorzüglicher Anhaltspunkt ſind.“

„Für mich, für uns, ja,“ unterbrach ihn Skram. „Sie liefern uns die nahezu abſolute Gewißheit, daß ein Mord begangen worden iſt. Ich kann mich nicht irren, das weiß ich beſtimmt, denn ich habe die Namen geſtern abend deutlich geleſen. Aber es beſteht ein Unterſchied zwiſchen den Momenten, die dem Wiſſen des Richters zu Grunde liegen, und den Momenten, die für Dritte einen Beweis bedeuten. Aus dieſem Grunde erleiden zahlreiche Unterſuchungsrichter mit Unrecht Schiffbruch in der öffentlichen Meinung, die mit Miß⸗ trauen auf die Richtervermutungen ſieht. Ich verlange niemals, daß andre an die Beweisgründe glauben, die ich nur mit meinen Augen ſehe. Was ich zu tun habe, iſt: die Meſſer ſo auszuſpielen, daß die Ausſagen der Verdächtigen ſie ſelber verraten, weil ſie meine An⸗ ſichten beſtreiten und ich kein Intereſſe habe zu lügen.“

„Wollen Sie die Meſſer denn jetzt noch nicht aus⸗ ſpielen?“ fragte Kühn.

„Nein,“ erwiderte Skram, „ich will heute und vielleicht auch noch morgen Vifferts Tod für Selbſt⸗ mord gelten und keinen Verdacht durchblicken laſſen. Ich will nicht als Richter, ſondern als Freund des gräflichen Hauſes mit allen Bewohnern des Schloſ— ſes reden und von dem Barbiermeſſer ganz und gar ſchweigen. Und es müßte merkwürdig zugehen, wenn ich nicht vermittels der ſcharfgeſchliffenen Waffe, die ich in der Reſerve habe, bereits morgen mit aller Gewißheit davon reden könnte, worüber wir uns jetzt

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nur in ſchlecht fundierten Hypotheſen ergehen können. Nehmen Sie nun die Obduktion vor; es iſt wohl am beſten, gleich jetzt die Sache zu beſorgen, bei der ich ja nicht zugegen ſein brauche. Dann will ich heute mit dem Grafen und der Gräfin reden und auch Jörgen und Leonie verhören.“

So ſchieden die beiden Herren und gingen an ihre Arbeit.

IV.

„Der Herr Amtsrichter mögen entſchuldigen, aber der Herr Graf iſt eben dabei, ſich umzukleiden.“

Skram ſtand in der Vorhalle des Schloſſes Jörgen gegenüber, den er hatte rufen laſſen.

„Ganz gleich,“ ſagte Skram, „heute kann ich darauf nicht Rückſicht nehmen. Ich muß den Grafen ſogleich ſprechen.“

„Der Herr Graf iſt gerade dabei, ſich zu raſieren,“ ſagte Jörgen etwas unwillig; „es iſt unmöglich, ihn zu ſtören. Aber ich werde den Herrn Amtsrichter ſofort melden.“

„Sie bleiben hier,“ verſetzte Skram kurz und ſchob den Diener beiſeite. Nicht um alles in der Welt wollte er ſich dieſe Gelegenheit entgehen laſſen.

Haſtig eilte er die Treppe hinauf und ſtand gleich darauf vor der Tür, die zum Ankleidezimmer führte. Nach einem kurzen, kräftigen Klopfen trat er ein.

Der Graf ſtand vor dem Spiegel. Die eine Hälfte ſeines Geſichtes war eingeſeift, und in der Rechten hielt er ein Barbiermeſſer. Er blickte Skram etwas verwundert an, aber er war doch ein zu wohlerzogener Mann, als daß er ſeiner Verwunderung Ausdruck ge⸗ geben hätte.

„Entſchuldigen Sie gütigſt, Herr Graf,“ ſagte Skram, „aber nach dem, was vorgefallen iſt, muß ich Sie dringend ſprechen.“

Der Graf machte nicht die geringſte Andeutung darüber, daß der Amtsrichter doch wenigſtens ſo lange

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hätte warten können, bis er den Schaum vom Geſicht entfernt habe, ſondern deutete auf einen Stuhl und ſagte lächelnd: „Wenn ich hiemit bloß erſt fertig wäre! Wir haben ja heute genug Unglück mit einem Barbier⸗ meſſer gehabt.“ Und ernſter fügte er hinzu: „Um eins möchte ich Sie bitten, Skram, betrachten Sie alles, was ich geſtern ſagte, als nicht geſagt. Über die Toten nur Gutes, und am Grabe ſenkt man den Degen.“

Skram nahm Platz und betrachtete den Grafen der jetzt anfing, das Meſſer über die linke, unbarbierte Wange zu führen, von der Seite.

„Da haben Sie ſich ja geſchnitten, Herr Graf,“ ſagte Skram. „Das iſt doch hoffentlich nicht meine Schuld? Sonſt bitte ich tauſendmal um Entſchuldigung.“

Der Graf ließ die Hand mit dem Meſſer ſinken. „Nein,“ ſagte er, „das tat ich, bevor Sie kamen. Es pflegt mir übrigens ſonſt niemals zu paſſieren, daß ich mich ſchneide, und ſeltſamerweiſe ſteht es auch noch mit dem armen Viffert in Verbindung.“

„Inwiefern denn?“ fragte Skram und hielt vor Spannung den Atem an.

Der Graf wies auf den Toilettentiſch, und Skram ſah nun, daß ein zweites Meſſer auf der Platte lag, deſſen Klinge im Seifnäpfchen ruhte.

„Ja, ſehen Sie, geſtern ſchenkte ich Viffert die unglückſeligen Meſſer, von denen er eines zu ſeiner ſchrecklichen Tat benutzt hat. Ich ſandte Jörgen geſtern abend damit hinauf, und ich erinnere mich noch, daß ich ſie vorher betrachtete. Aber dennoch kann ich nicht begreifen, wie das zugeht. Wir müſſen einige Meſſer vertauſcht haben, denn das Meſſer, das Sie dort liegen ſehen, gehört in das andre Etui hinein.“

Skram erhob ſich mit einem Ruck und griff nach der Klinge.

Der Graf fuhr fort: „Meine eigenen Meſſer gleichen allerdings genau denen, die ich Viffert ſchenkte; ich hatte ſie bloß zu meinem eigenen Gebrauch noch ein⸗ mal extra abziehen laſſen. Wollen Sie ſehen, dieſe

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Klinge iſt um eine Kleinigkeit eine ganze Kleinigkeit ſchmäler als die andre. Daher kam es, daß ich, der ich an dieſe Meſſer gewöhnt bin, mir mit dem andern einen kleinen Schnitt am Kinn beigebracht habe. Es hat abſolut nichts zu bedeuten; das Merkwürdige be⸗ ruht bloß darin, daß es gerade heute paſſiert und daß wir die Meſſer vertauſcht haben müſſen.“

Skram lauſchte atemlos. 8

„Ich halte ſtreng darauf, daß Jörgen immer das Meſſer bereit legt, das dem Tage entſpricht; wie Sie ſehen, ſteht Tuesday auf der Klinge dort. Ich kann es mir nicht anders erklären, als daß Jörgen geſtern unter den Meſſern der beiden Etuis herumgekramt hat; der Unterſchied iſt ja auch nicht leicht zu be⸗ merken.“

„Die Meſſer, die Viffert erhielt, ſtimmen alſo nicht ganz mit dieſen überein?“

„Nein, das liegt am Abzug, aber ſie ſind auch gut, und —“ fügte er ernſt hinzu, „haben ſich ja leider als brauchbar erwieſen. Hätte ich gewußt, was Viffert vorhatte, dann hätte ich ſie ihm nicht gegeben.“

„Sie ſind alſo ganz ſicher darin, Herr Graf, daß dieſes Meſſer in Vifferts Etui hineingehört?“

„Ja, ohne jeden Zweifel. Das hab' ich gleich ge⸗ ſehen. Ich werde es Jörgen ſagen, denn ich mag es nicht gern haben, daß die Meſſer vertauſcht werden.“

Skram legte die Klinge auf den Tiſch.

„Entſchuldigen Sie, Herr Graf,“ ſagte er, „aber als Polizeiverwalter muß ich Sie bitten, hierüber nichts zu Jörgen zu reden!“

„Was meinen Sie?“ rief der Graf erſtaunt.

Skram räuſperte ſich. „Ja,“ ſagte er, „ich habe Ihnen zu berichten, Herr Graf, daß durch einen ganz wunderbaren Zufall der Kammerjunker ſich gerade mit einem Dienstag⸗Meſſer verletzt hat. Das Meſſer wie auch das Etui muß daher vorläufig in den Händen des Gerichts bleiben alſo bei mir. Jörgen kann die Umwechslung daher nicht vornehmen, und ich muß

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als Polizeimeiſter verlangen oder richtiger, Sie bitten, niemand ein Wort darüber zu ſagen.“

Der Graf betrachtete Skram mit höchſt erſtauntem und ganz verſtändnisloſem Blick, und dieſer glaubte daher, ſich noch eingehender erklären zu müſſen.

„Selbſtredend liegt durchaus nicht der Verdacht vor, Viffert habe etwa nicht Selbſtmord begangen. Im Protokoll iſt nichts darüber bemerkt worden, aber es dreht ſich nun einmal um den Tod eines Menſchen, und wir müſſen alle Möglichkeiten offen laſſen. Der Umſtand, daß der Selbſtmord nicht mit einem Meſſer aus Vifferts Etui, ſondern mit einem, das in Ihr Etui hineingehört, begangen wurde, iſt an ſich vielleicht bedeutungslos, aber mir als der Polizeibehörde hat nichts bedeutungslos zu ſein.“

Der Graf begann zu verſtehen.

„Sie glauben doch wohl nicht, daß Jörgen. aber das iſt ja ganz ausgeſchloſſen!“

Skram unterbrach ihn. „Ich glaube durchaus nichts, Herr Graf, ſondern möchte Sie bloß bitten, niemand ein Wort hierüber zu ſagen, nicht einmal Ihrer Gnaden. Es tut nichts, wenn Sie und ich es allein wiſſen; ja, um Jörgens willen iſt es ſogar beſſer fo, denn wenn es herauskäme, ſo könnte das ſehr gefährlich für Jörgen werden. Sie erinnern ſich wohl ſelbſt, welche Worte geſtern abend bei Tiſch fielen. Ich brauche nur den Namen Leonie zu nennen.“

Nun verſtand der Graf alles.

„Sie haben recht, Skram, ſelbſtredend haben Sie. recht. Ich werde kein Wort ſagen und das Meſſer werde ich ſelbſt reinigen. a

Skram fiel ein: „Wenn Jörgen es ſelbſt entdecken und mit Ihnen darüber ſprechen ſollte, ſo wäre das der beſte Beweis, daß er unſchuldig iſt.“

„Unſchuldig?“ ſagte der Graf. „Sie glauben alſo dennoch —?“

„Nein,“ verſetzte Skram, „ich glaube nichts, aber ich weiß, wenn derartiges in einem Hauſe wie dem

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Ihrigen geſchieht, jo entiteht draußen immer ſehr viel Gerede, und vom Haufe ſelbſt follte nur jo wenig als möglich in die Öffentlichkeit gelangen. Doch nun will ich nicht weiter ſtören, Herr Graf denn aus dem Raſieren wird es doch nichts, ſolange ich hier bin.“

Skram lächelte und erhob ſich. „Ich werde in der Bibliothek warten.“ f

„Wie Sie wollen,“ ſagte der Graf, „ich ſehe ſchon, daß wir hierüber noch bedeutend mehr zu reden haben werden, als ich gedacht hatte.“ f

„Vielleicht,“ erwiderte Skram. „Auf mich können Sie jedenfalls zählen, Herr Graf, wie ich in jeder Hinſicht Ihnen vertraue.“

Der Graf neigte den Kopf und Skram ging.

Und während er langſam den breiten Korridor hinabſchritt, ſprach er leiſe vor ſich hin: „Eins iſt jetzt jedenfalls gewiß er iſt nicht der Täter!“

Dann lenkte er ſeine Schritte den Zimmern Vif⸗ ferts zu.

V.

Skram mußte zugeben, daß der Kammerjunker ein vorſichtiger Mann geweſen war. Die Gewißheit, daß ſeine Krankheit ſeinem Leben ein plötzliches Ende machen könne, ohne ihm Zeit zu Vorbereitungen zu laſſen, hatte ihn veranlaßt, alles zu vernichten, was nach ſeinem Tode ihn ſelbſt und andre kompromittieren könnte.

Jedenfalls fanden ſich in ſeinen Behältern, die Skram ſorgfältig durchſuchte, nur alte, bedeutungsloſe Briefe und Rechnungen vor. Seine Wertpapiere waren nach ſeiner Angabe beim Credit Lyonnais in Paris deponiert, von dem er einen Kreditbrief über eine bedeutende Summe, ſowie ein Scheckbuch er⸗ halten hatte.

Skram nahm das Scheckbuch zur Hand und blätterte darin, doch bei dem letzten abgeriſſenen Scheck hielt

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er erſtaunt inne: auf dem zugehörigen Abſchnitt ſtand nämlich von Vifferts Handſchrift geſchrieben: Leonie Chaubert zehntauſend Franken und das Datum des vorangegangenen Tages.

Alſo hatte der Kammerjunker am vorigen Tage Leonie einen Scheck über zehntauſend Franken ge⸗ ſchenkt, was eine recht anſehnliche Belohnung für eine Zofe iſt, ſelbſt wenn man ſich ihr verpflichtet fühlt.

Daß Viffert ihr für einen gewiſſen Fall einen weit größeren Betrag als Erbe ausgeſetzt hatte, war ja bedeutungslos, denn daß ihr dieſe Erbſchaft zufiel, hing von Umſtänden ab, die vielleicht niemals eintreten würden. Mit einer Heirat zwiſchen der Gräfin Polly und Sigismund Viffert konnte man noch nicht rechnen, da noch keine Schritte zur endgültigen Löſung ihrer erſten Ehe mit Graf Henrik getan waren. Die zehn⸗ tauſend Franken dagegen bedeuteten etwas Poſitives, ſie waren bereits gezahlt.

Dieſer Umſtand redete nun aber ſtark dagegen, daß Leonie Mitwiſſerin des Mordes ſein könne. Denn es hatte doch nicht der geringſte Grund für ſie vorgelegen, den Mann, der ihr ſoeben eine ſolche Summe geſchenkt hatte, aus dem Leben zu ſchaffen, bevor das Geld von der Bank abgehoben war. Von der ihr unter Umſtänden zufallenden Erbſchaft konnte ſie auch nichts wiſſen, und jedenfalls würde ſie kaum gerade zu dieſer Zeit einen Schritt getan haben, um den Tod des Erblaſſers herbeizuführen. ß

Skram beſchloß gleich, mit der „Mamſell“, wie ſie auf dem Schloß genannt wurde, zu reden, und läutete daher nach Ole, den er bat, die Mamſelle herunterzurufen.

Mamſell Leonie kam. Sie war eine mittelgroße, ſchlanke Pariſerin mit lebhaften braunen Augen und einer von den Franzoſen ſo oft geprieſenen petit nez rétroussé. Der Ausdruck ihres Geſichts wie ihr ganzes Weſen war einſchmeichelnd⸗frech, aber doch recht an⸗ genehm. Sie führte ſich ſchicklich und nett auf, war

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flink, jung und hübſch. Augenblicklich ſchien ſie ſich etwas beklommen zu fühlen, aber darauf verſtand ſich Skram vortrefflich.

Er redete ſie auf franzöſiſch an, um ſicher zu ſein, daß ſie ihn verſtehe, und bat ſie, Platz zu nehmen.

Die Mamſell ſetzte ſich auf die Kante eines Stuhles, wobei ſie ängſtlich nach der Tür ſchielte, hinter der die Leiche gefunden worden war.

„Sie haben geſtern abend einen Scheck über zehn⸗ tauſend Franken von dem verſtorbenen Herrn Viffert bekommen?“ fragte Skram, indem er, um die Mam⸗ ſelle zur Andacht zu ſtimmen, ein Taſchenbuch her⸗ vornahm und etwas auf dem weißen Blatt notierte.

„Ja, Monsieur,“ ſagte Mamſell Leonie, ein wenig verlegen.

„Wofür haben Sie den Betrag erhalten?“ fragte Skram weiter.

„Monſieur Viffert mochte mich gern,“ ſagte die Mamſell ein wenig ſchnippiſch. „Er gab mir den Scheck als Hochzeitsgabe. Monſieur müſſen nämlich wiſſen, daß ich im Begriff ſtehe, Jörgen, den valet de chambre des Grafen, zu heiraten.“

„Hatte der Verſtorbene denn beſonderen Grund, Ihnen zugetan zu ſein? Kannte er Ihre Eltern, oder ſtand er in andrer Weiſe in Beziehung zu Ihnen?“

„Nein,“ ſagte die Mamſell etwas verlegen, „er war mir nur zugetan

Skram hielt es zwar für richtig, hier als Unter⸗ ſuchungsrichter aufzutreten, aber er war doch niemals roh. Rückſichtnahme, ſelbſt überführten Verbrechern gegen⸗ über, gehörte zu ſeinen feſten Prinzipien. Und die Mamſell war doch nur von Pariſer Art und höchſtens ein wenig unmoraliſch. „Ich bin beauftragt, den letzten Willen des Verſtorbenen auszuführen,“ ſagte er, „und in dem Teſtament befinden ſich Beſtimmungen, die ſcheinbar darauf ſchließen laſſen, daß zwiſchen Ihnen und dem Verſtorbenen eine Art Verhältnis beſtanden hat. Sie verſtehen mich wohl, Mamſell, ich wünſche

zart

nicht, indiskret zu fein, aber als Beamter muß ich zu⸗ weilen gewiſſe Rückſichten fallen laſſen, und es ge⸗ ſchieht daher nicht, um Sie zu verletzen, ſondern aus rein amtsmäßigen Gründen, wenn ich Sie frage, ob Sie Herrn Vifferts Geliebte geweſen ſind.“

Von Mamſell Leonies Lippen kam ein leiſes zaghaftes: „Ja.“

„Wie lange hat dieſes Verhältnis ſchon beſtanden?“ fragte Skram.

„Fünf Monate,“ erwiderte ſie. „Es begann kurz nach Herrn Vifferts Herkunft. Er war immer ſo gentil gegen mich, und außerdem war er ja auch alt. Ich bin arm, ſehr arm und möchte gern heiraten. Aber ich habe kein Heiratsgut, und Madame la Comteſſe will mir keines geben.“

„Sie brauchen ſich nicht zu entſchuldigen, Mam⸗ ſell,“ ſagte Skram gutmütig. „Ich bin ja ſelbſt Jung⸗ geſelle und vermag die Situation vollkommen zu ver⸗ ſtehen. Ich habe auch nichts gegen die zehntauſend Franken, die Ihnen ohne Bezug auf den Todesfall gehören, einzuwenden, aber ich muß anderſeits ein paar Fragen ſtellen, die Sie mir doch beantworten müſſen.“ :

„Herzlich gern,“ ſagte Mamſell. Sie war recht froh über den leichten Ton, in der Skram die Unter⸗ haltung führte; ſie fühlte feſten Boden unter den Füßen und begann ſogar, mit ihren lebhaften, mun⸗ teren Augen ſpähende Blicke nach ihm auszuſenden. Sie ſah in Skram bereits nur den ſchönen Mann, der er war. Und auf Männer verſtand ſich die kleine Pariſerin offenbar vortrefflich.

„Wann erhielten Sie den Scheck?“ fragte Skram.

„Ich will die Wahrheit ſagen,“ begann Leonie.

„Das hoffe ich,“ verſetzte er.

„Ich erhielt den Scheck heute nacht um eins oder zwei. Ich war bereits ſchlafen gegangen, als es an meiner Tür klopfte und ich davon aufwachte. Ich pflege nämlich die zur Treppe führende Tür nie zu verſchließen

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„Wie alt ſind Sie?“ fragte Skram.

„Vierundzwanzig Jahre.“

Das war gewiß richtig.

„Sie ſagten alſo, Herr Viffert habe Sie ah ein Uhr verlaſſen. Legten Sie ſich dann wieder ſchlafen?“

„Nein,“ ſagte die Mamſell, ein wenig verlegen, „ich glaubte, ich müſſe dieſe erfreuliche Begebenheit noch meinem Liebſten erzählen, und ſo nahm ich ein peignoir um und lief die Treppe hinab. Sein Zimmer liegt nämlich unten im Erdgeſchoß an der Wendel- treppe. Dort ſchläft er zuſammen mit John, aber John ſchläft wie ein Stein, und ſo konnte ich mich gut mit Georges unterhalten.“

„Das taten Sie denn alſo auch. Wie lange?“ fragte Skram, der nun wieder als Unterſuchungs⸗ richter höchſtes Intereſſe empfand.

Die Mamſell errötete tief.

„Sie können es mir ruhig ſagen,“ verſetzte Skram freundlich. „Herrgott, ich bin doch ſelbſt eine Manns⸗ perſon.“

Die Mamſell, die ſich augenſcheinlich recht genierte, zögerte mit der Antwort „es war ſieben Uhr,“ ſagte ſie ſchließlich langſam, doch dann fügte ſie raſch hinzu: „aber wir ſetzten auch die Hochzeit feſt und redeten über die Zukunft und unſer Glück.“

„Und John ſchlief?“

„Nicht während der ganzen Zeit. Ich glaube, um halb ſieben erwachte er und ſagte etwas zu Georges.“

„Entdeckte er Sie?“

„Ich glaube, ja; denn am Morgen beim Frühſtück lachte er ſo verſchmitzt.“

„Ja, liebe Mamſell,“ ſagte der Amtsrichter, „nun ſind Sie ja ganz außerordentlich offenherzig gegen mich geweſen. Das wird nicht wieder nötig ſein, und Ihre zehntauſend Franken können Sie von der Bank ab- heben. Wenn Sie wünſchen, werde ich Ihnen gern dabei helfen, denn es iſt möglich, daß man Ihnen nun, da Herr Viffert tot iſt, Schwierigkeiten machen wird.

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Sie müſſen mir bloß noch ſagen, ob Jörgen irgend welchen Groll gegen Herrn Viffert gehegt hat.“

„Mon dieu, nein!“ rief die Mamſell. „Er ſagte bloß, es wäre gut, daß es jetzt vorbei ſei; denn nun, könnten wir uns auf Grund der Zehntauſend verhei⸗ raten.“

„Sagte er das, noch ehe er wußte, daß Monſieur Viffert tot war?“

„Mais oui ja er ſagte es heute nacht. Ich habe niemals Georges einzureden verſucht, daß ich eine Heilige ſei, und er hat alles gewußt und iſt nicht böſe darüber geweſen.“

„Auch auf Monſieur Viffert nicht?“

„Ih, nein, Monſieur! Viffert war ja ſo gentil.“

Skram mußte zugeben, daß ſein Verdacht gegen Jörgen und deſſen Liebſte auf einen ſehr geringen Reſt zuſammenſchrumpfte. Die ganze Darſtellung der Mamſell trug das Gepräge der Wahrheit. Die leichte, faſt plaudernde Art, in der die Ereigniſſe der letzten Nacht hier von einem jungen Mädchen erzählt wurden, das das Leben auf ſeine Art nahm, ließ die Erzählung glaubhaft erſcheinen. Sie hatte nichts zu verbergen und erzählte daher vertrauensvoll alles. Ein ſolch kleiner Zug wie der, daß ſie ſich beeilt hatte, Jörgen ihr Glück zu erzählen, und bis zum Morgen in ſeinem Zimmer geweſen war, wo John geſchnarcht hatte und mit einem Witzwort erwacht war, redete für ſie. Zwei finſtere Mörder waren dieſe nicht, nein, er war ein ſpießig kluger däniſcher Knecht und ſie ein praktiſches Pariſer Mädchen, das in der Lebenslotterie einen Gewinn von zehntauſend Franken gezogen hatte. Es war ausgeſchloſſen, daß Jörgen die Tat vor zwei Uhr begangen hatte, wenn das Mädchen die Wahrheit redete, und das tat ſie ſicher, dafür ſprach ſchon der Scheck. Dem Kammerjunker mußte die Idee hierzu erſt gekommen ſein, nachdem Skram gegangen war, denn ſonſt hätte er darüber geredet. Leonie hatte ſich gleich, nachdem Viffert ſie verlaſſen hatte, zu Jörgen e

XXVI. 10.

geſchlichen, jo daß für dieſen ein regelrechtes Alibi bis ſieben Uhr vorlag. Daß ſich Jörgen dann nach ſieben Uhr, als ſchon alles im Schloſſe hell und erwacht war, hinaufgeſchlichen habe, um dem Kammerjunker zum Dank für den Scheck den Hals abzuſchneiden, erſchien vorläufig wenig glaubhaft.

Hierzu kam noch, daß Jörgen, um wirklich den Mord zu begehen, auf einem langen Umwege in das Ankleidezimmer hätte gehen müſſen, da er das Schlaf⸗ gemach der Gräfin doch nicht paſſieren konnte; er hätte ſich auf demſelben langen Umweg zurückſchleichen müſſen, um zu Viffert zu gelangen, und ſchließlich noch einmal auf demſelben Wege zurückkehren müſſen, um das Meſſer auf den Toilettentiſch zu legen, alles zwiſchen ſieben und ſiebeneinhalb Uhr morgens. Da dürfte eine Unterſuchung wohl ergeben, daß ſein Alibi in beſter Ordnung war.

Aber konnte Skram denn überhaupt eine Unter⸗ ſuchung beginnen, die ſich jetzt nur gegen eine beſtimmte Perſon richten konnte?

Oder hatte der Graf recht? Waren die Meſſer wirklich von Jörgen vertauſcht worden, und lag ſomit Selbſtmord vor? Unmöglich! Er hatte ja ſelbſt die Meſſer in richtiger Ordnung im Etui geſehen.

„Monſieur,“ ſagte die Mamſell etwas zögernd, „Herr Viffert gab mir geſtern abend einen Brief an ſeinen Neffen Sigismund Viffert, den ich beſorgen ſoll; doch darf ich ihn nicht mit der Poſt ſchicken. Ich habe den Brief noch bei mir, und ich möchte es wäre mir am liebſten, wenn Sie den Brief an ſich nehmen wollten.“

Skram ſtutzte.

„Das wünſche ich nicht nur, ſondern es iſt ſogar Ihre Pflicht, mir den Brief zu geben,“ ſagte er. „Das letzte Schreiben eines Mannes, der unter ſolchen Um⸗ ſtänden geſtorben iſt, muß der Obrigkeit übergeben werden.“

Die Mamſell zog den Brief hervor.

er Bi

Skram erhob ſich und ſchritt mit dem Brief in der Hand haſtig in das Zimmer, in dem er den letzten Abend mit Viffert verbracht hatte.

Dort erbrach er das Sigel und las.

VI.

Edelsburg, am letzten Abend vor meiner Abreiſe. „Mein guter Sigismund!

Du biſt von Deinem Vater, meinem Herzensbruder, dazu erzogen worden, mich als das mauvais sujet der Familie zu betrachten. Und als ihr Du ſowohl als Deine edle Sippe mich nicht mehr ſchinden konntet, biſt du mir mit deiner albernen Wohlerzogen⸗ heit entgegengetreten. Wir ſind keine Freunde, und dieſer Brief iſt daher auch kein Freundſchaftsakt. Du erhältſt ihn unter Verhältniſſen, die Erklärungen von meiner Seite unnötig machen. Dein Urteil über mich iſt mir gleichgültig, aber Du magſt wiſſen, daß Du nie und nimmer etwas von mir erben wirſt weder Du noch ſie!

Lies die beifolgenden Keinen, die zur Be⸗ lehrung eines in allen Tugenden erwachſenen Jüng⸗ lings verfaßt worden ſind. Sie werden vielleicht die eine oder andre Deiner Illuſionen zerſtören doch dann iſt die Abſicht dieſer Zeilen auch erreicht. Meine Memoiren eigne ich Dir alſo zu, damit Du ſie als Richtſchnur benutzeſt.

Alſo ſtudiere ſie eifrig!“

Dem Briefe war ein Manufkript älteren Datums beigefügt, das die elegante Handſchrift des Kammer⸗ junkers aufwies.

„Ich ſchreibe hier meinen Lebensroman. Aller⸗ dings ſtimme ich mit der Anſicht eines bedeutenden Kritikers, der leider nicht mehr lebt, darin überein, daß die Ichform eines Romans zu verwerfen iſt, aber nichtsdeſtoweniger wird man es begreiflich finden, daß ich, um meinen perſönlichen Roman zu erzählen, die Ich⸗

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form benutzen muß. Die Schilderung meiner Eltern und meiner Kindheit ſchenke ich mir. Gottlob iſt es aus der Mode gekommen, mit der Schilderung des Helden ſchon bei der Wiege anzufangen, und es würde Dir außerdem wenig nützen, wenn ich Dir berichtete, wie ich als Sohn tugendſamer, aber armer Eltern von einer Amme auf⸗ gepäppelt wurde und wie ich ſehr frühzeitig von der Frucht des Baumes der Erkenntnis koſtete. Ich bin entſchieden überzeugt, daß in meiner Kindheitsgeſchichte auch nicht ein einziges Moment zur Beurteilung meines ſpäteren Schidjal3 enthalten iſt.

Laſſen wir ſie alſo ruhig weg. Als ich ein ſiebzehn⸗ jähriger Jüngling war, debütierte ich in Kopenhagen als vaurien, doch gab es damals immerhin noch Laſter, in denen ich nicht meinen Mann ſtellte. Wenn es Dich intereſſiert, will ich aber bemerken, daß ich als Achtzehn⸗ jähriger einen Wechſel fälſchte, was die gute Familie in ſo hohem Grade alterierte, daß ſie mich per Zwangs⸗ paß nach Amerika exportierte. Ich will keine Zeit mit eingeflochtenen, moraliſierenden Betrachtungen vergeuden, aber ich kann mich doch nicht der Bemerkung enthalten, daß ein Mann, ſelbſt wenn er als Achtzehn⸗ jähriger einen falſchen Wechſel geſchrieben hat, immer noch ſehr ehrbar und rechtſchaffen ſein kann. Dies iſt mein einziges wirkliches Verbrechen, und ich darf ruhig behaupten, daß es in der Reihe meiner übrigen unmoraliſchen Handlungen ziemlich hoch ſteht.

Aber, wie geſagt, man zog die Hand von mir ab. Heimkehrende Amerikafahrer werden Dir berichten können, wie meine erſten Jahre draußen in the far west verliefen. Ich verweile nur bei den Ereigniſſen, die typiſch für mich ſind, und da will ich gleich ſagen, daß ich nach einigen wirklich ehrlichen Verſuchen, mich durchzuſchlagen, eine Entdeckung machte, die maßgebend für mein ganzes Leben wurde. Ich machte nämlich die Entdeckung, daß der Mann, um ſich in den Sattel zu ſchwingen, das Weib als Steigbügel benutzen kann. Ich verlange nicht, daß Du dieſe Entdeckung als von

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mir gemacht hinnimmſt. Ich weiß ſehr wohl, daß ſchon zu allen Zeiten viele Männer das Weib als Steig⸗ bügel benutzt haben. Eine gute Partie zu machen, dazu werden die armen Männer aus guter Familie ja geradezu abgerichtet, und ſich mit Geld zu ver⸗ heiraten, iſt ebenſo verdienſtvoll, wie ein Examen zu machen oder die drahtloſe Telegraphie zu erfinden. Das weiß ich alles ſehr wohl. Aber das Neue oder, richtiger das Beſondere in meiner Methode beſtand darin, daß ich mich überhaupt nicht verheiratete; dazu habe ich mich niemals bequemen können, denn ich bin geborener Soliſt und haſſe die häusliche Gemütlichkeit. Ich habe mich aber auch niemals von Weibern unter⸗ halten laſſen, durchaus nicht, das hatte ich auch gar nicht nötig. Ich benutzte ſie tout simplement.

Es begann mit Verlobungen. In Amerika verlobt man ſich ſehr leicht, und ich bin mindeſtens zwanzigmal verlobt geweſen, immer mit netten, anſtändigen Mäd⸗ chen, die ebenſo jungfräulich in das nächſtfolgende Ver⸗ löbnis hineinſchritten, wie ſie in das vorangegangene mit mir gekommen waren. Es währte jedesmal nicht lange; aber ich war ſehr nett und rückſichtsvoll und ſtehe mit meinen Verfloſſenen, die inzwiſchen wohl Großmütter geworden ſind, noch auf dem ſchönſten Fuße. Während vieler Jahre verſchaffte mir das mehrere vortreffliche Anſtellungen und ehrbare Amter. Ich wechſelte allerdings etwas häufig, aber abgeſehen von einem einzigen Fall, hat mich meine Tätigkeit als Verlobter eine hübſch mit lebenden Blumen geſchmückte Treppe hinaufgeführt, mit Blumen, deren ſüßen Duft ich einatmete, ohne ſie zu brechen.

So wurde ich älter bis in die Dreißiger gelangte ich hinein, und es paßte nicht mehr ſo recht für mich, verlobt zu ſein. Kurz entſchloſſen ſprang ich daher über die verheirateten Frauen hinweg und legte mich auf die Witwen. Von dieſen iſt in Amerika immer eine große Auswahl vorhanden. Ich hatte mir nach und nach einige Geſchäftskenntniſſe erworben und war auch im Spiel

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immer glücklich geweſen. Selbſt im Börſenſpiel hatte ich niemals Pech, und ſo begann ich, Geld zu verdienen. Ich wurde der Geſchäftsführer verſchiedener junger Witwen, und behandelte dieſe gut und gewiſſenhaft. Eines ſchönen Tages machte ich die Wahrnehmung, daß ich ein wohlhabender Mann war, und wie alle Leute von mitgebrachter Kultur begann ich mich nach Europa zu ſehnen. Ich will keine Vergleiche über die alte und die neue Welt anſtellen, denn das iſt nutzlos und banal, aber ein vermögender Edelmann kann ſeinen Wohn⸗ ſitz nun einmal nur in Europa haben.

Ich machte mich alſo von meiner letzten Witwe frei, um nach Paris zu ziehen, und erſt hier beginnt meine Geſchichte den Gegenſtand zu berühren, mit dem ich Dein Wiſſen, mein guter Sigismund, berei⸗ chern will.

Ich logierte mich in einem kleinen, hübſchen Hauſe am Square de Roule ein und ſchickte meine Karte herum. Die däniſche Geſandtſchaft kannte meine Bank⸗ verbindungen, auch war ihr meine Familie zu Hauſe nicht unbekannt. So wurde ich denn wohlwollend aufgenommen, und der Zufall fügte es, daß ich durch den däniſchen Geſandten in ein exquiſit feines Haus eingeführt wurde, wo ich mit verſchiedenen franzö⸗ ſiſchen Adelsfamilien in Berührung kam.

An meinen amerikaniſchen Verbindungen hielt ich ebenfalls noch feſt, und nach Verlauf einer kurzen Zeit gelang es mir, einen Verkehr zwiſchen dem feinſten franzöſiſchen blauen Blut aus den Tagen Franz des Erſten und der Plutokratie der neuen Welt anzubahnen. Natürlich führte ich dieſe Vermittlung nicht umſonſt aus, ſondern ließ die Plutokratie kräftig bluten. Sehr intereſſant ſind zum Beiſpiel die Aufzeichnungen der Beträge, die ein Mr. Thomſon aus Detroit und ein Mr. Smith aus Denver mir dafür zahlten, daß ich ihnen Eingang in die Salons der Herzogin de la Rochefoucauld und der Madame de Saint Leger verſchaffte. Ich war ſehr teuer, aber ich fungierte auch

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in tadelloſer Weiſe und hatte eine feine Naſe für Menſchen.

Im Jahre 1890 machte ich die Bekanntſchaft einer amerikaniſchen Konzertſängerin, die in den letzten Tagen des Kaiſerreichs eine Rolle geſpielt hatte und dann aus Paris verſchwunden war. Der Himmel mag wiſſen, was ſie in den dazwiſchen liegenden zwanzig Jahren geweſen iſt. Sie ſelbſt behauptete, in Amerika mit einem halbverrückten Doktor verheiratet geweſen zu ſein, und niemand konnte es ihr wider⸗ legen. Sie hatte jetzt eine achtzehnjährige Tochter bei ſich, die Polly hieß und einfach wunderbar war. Ich kann Weiber wohl beurteilen, aber nicht beſchreiben, und mit einem Verſuch, Dir Polly Bradlaugh zu be⸗ ſchreiben, will ich dich lieber verſchonen. Du kennſt ſie, wie fie jetzt iſt; damals war fie von einer fraicheur inexprimable ſie war einfach vollendet! Und eine Mannsperſon wie ich darf wohl beanſpruchen, daß man ihrem Urteil Wert beimißt.

Madame Bradlaugh war nicht ſonderlich wohl⸗ habend, auch nicht ſehr fein, und ihre Stimme natür⸗ lich längſt zum Teufel. Aber ſie machte einen impo⸗ ſanten und nicht gerade abſtoßenden Eindruck. Du kennſt wohl jene Sorte von Müttern, die, wenn ſie ihre ſchönen Töchter begleiten, wie ein memento mori wirken. So war Mrs. Bradlaugh nun nicht, ſondern leichtlebig, muſikaliſch, liebenswürdig, kurz geſagt, recht einnehmend, ihre Tochter aber ſchön wie eine Göttin. Über Reichtum verfügten ſie nicht, doch wurden beide, die in Begleitung eines Stallmeiſters aus der Zeit des Prinzen Plonpon erſchienen, überall wohl auf⸗ genommen. Nun iſt aber eine Heirat immer eine ernſte Sache, und in Paris, wo ſo viele wirklich prächtige Partieen zu haben ſind, iſt Schönheit allein nicht ge⸗ nug. Mrs. Bradlaugh hätte ſich nun mit Leichtigkeit ein ſorgenfreies Alter ſichern können, wenn ſie ihre Tochter der Halbwelt geopfert hätte. Dreihundert⸗ tauſend Franken jährlich und ein eigenes Hotel hätte

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Miß Bradlaugh mit Leichtigkeit erzielen können, denn ein paar ruſſiſche Fürſten, deren Reichtum ins Un⸗ ermeßliche ging, waren mehr als bereit dazu. Aber Polly war verſtändig und laß mich hinzufügen auch willensſtark.

Ich glaube, ihr Verſtand und ihre Willenskraft retteten ſie, wenn man hier von Rettung reden kann. Ich für meine Perſon halte nämlich die Stellung einer privilegierten Pariſer Liebhaberin für ebenſo be⸗ gehrenswert wie die einer Miniſterfrau. Doch das iſt Geſchmackſache.

Von dem, was ich jetzt erzähle, hat noch niemand etwas erfahren, doch da es von durchgreifender Be- deutung für mich und auch für ſie iſt, ſo will ich es Dir erzählen und bitte Dich, gut aufzupaſſen.

Schon am erſten Abend, an dem ich Polly ſah, war ich von ihrer Schönheit geblendet; ſo ließ ich mich denn ihrer Mama vorſtellen, und dank meiner Routine im Be⸗ handeln von Witwen gewann ich bald ihr Vertrauen. Ich rühme mich guter Manieren, habe ein ganzes Teil geſehen, kurz mein Auftreten war tadellos. Außerdem ſah ich vor dreizehn Jahren noch recht gut aus, und Geld hatte ich natürlich nicht bei weitem ſo viel, als Miß Polly beanſpruchen konnte, aber enfin, ich ſtellte doch ſchon immer etwas vor. Ich wurde der Kavalier der Damen, leiftete ihnen verſchiedene Dienſte und verſchaffte ihnen natürlich gratis Einla⸗ dungen in amerikaniſche, engliſche und franzöſiſche Kreiſe. Nachdem ich in ihren ſehr genau abgepaßten Hausſtand aufgenommen worden war, machte ich ſelbſt den Vorſchlag, ihr kleines Vermögen zu verwalten, kurz geſagt, ich wurde ihnen das, was ein in der Pariſer Geſellſchaft erfahrener Lotſe zwei Damen, die nichts ſind und viel ſein wollen, nur werden kann. Eine Zeitlang beſorgte ich dies gratis, denn ich bin von Natur recht groß veranlagt und vermag von augenblick⸗ lichen Vorteilen abzuſehen. Außerdem hatte ich zu jener Zeit gerade beträchtliches Glück an der New Porker

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Börſe und legte den Grund zu dem, was ich jetzt, ohne unbeſcheiden zu ſein, mein kleines Vermögen nennen kann. Ja, ich habe einmal ſogar über eine Million Kronen beſeſſen, doch hat es freilich nicht lange gedauert, war aber gerade in jenen Tagen der Fall. Ich ſtand damals dem Entſchluß nahe, Polly zu heiraten, und ich will es bekennen freite regelrecht um ſie. Eine Benommenheit war über mich gekommen, eine tiefe Be⸗ nommenheit, die nicht das Geringſte mit Liebe zu tun hatte, und ich muß zu meiner Schande geſtehen, daß dieſe Benommenheit noch zu jetziger Stunde vor⸗ handen iſt und zwölf ganze Jahre hindurch gewährt hat. Ich nenne es nicht Liebe, denn mein Gefühl enthält keinen Tropfen von Altruismus, und das, glaub' ich, gehört rezeptmäßig dazu. Aber ſo wie da⸗ mals bin ich noch heute in leidenſchaftlicher Weiſe von dieſem Weibe benommen und mit dieſer Be⸗ nommenheit werde ich ſterben wenn ich nicht an ihr ſterbe.

Ich freite alſo, und ſie ſagte Nein!

Da ich auch bloß ein Menſch bin, ſo nahm ich mir vor, den Verkehr mit den beiden Damen abzubrechen. Selbſtredend ſagte Polly mir allerhand von Freundſchaft und geſchwiſterlichem Gefühl und Erkenntlichkeit, Worte, die die Weiber immer bei ſolchen Gelegenheiten auf der Zunge haben, und die aus einer Art von Nächſtenliebe hervorgehen. Darauf biß ich indeſſen nicht an. Ich legte ihr ganz ausführlich meine Gefühle klar, übertrieb nichts, ſondern tat im Gegenteil mit meinem Egoismus groß, aber ich verbarg auch nicht, was ich von ihr wollte, und ſagte rein heraus: wenn ſie nicht ſo wolle wie ich, dann habe ſie auch von mir nichts mehr zu erwarten, dann ſei es aus und vorbei. Der Narr eines Weibes ſei ich nie geweſen und wolle ich auch niemals ſein!

Ich glaube, ich habe eine ganz beſondere Begabung, auf Weiber einzureden, und die Unannehmlichkeit, meine goldenen Worte zurückzunehmen oder auch nur einen Verſuch dazu zu machen, werde ich mir nie be⸗

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reiten. Beachte wohl: ſelbſt die geriſſenſten Roman⸗ dichter ſind nicht imſtande, eine Verführungsſzene

überzeugend zu ſchildern, während doch in der Praxis ſo viele Tolpatſche die Sache virtuos verſtehen. Sie läßt ſich eben nicht durch Worte ausdrücken, ſondern liegt im Blut, im ganzen Interieur. Auf der Szene kann man ſie ebenfalls nicht darſtellen, ſchon allein aus dem Grunde, weil die beiden Darſteller mit Reſpekt zu melden ſich nicht zuſammen ins Bett legen können. Durch Muſik allerdings läßt ſie ſich ausdrücken eine Sekunde lang vorzaubern.

Ich will nicht lang und breit berichten, was da ge⸗ ſchah und wie es geſchah, ſondern mich kurz faſſen und erklären, daß gerade, weil mich Polly Bradlaugh nicht liebte und ich ſie nicht liebte, und gerade, weil ſie mich verſchmähte und meine Aſſiſtenz, die ſie für wertvoll anſah, nicht verlieren wollte, ſie meine Geliebte wurde.

Ich haſſe phyſiologiſche Unterſuchungen der Triebe und werde Dich mit jedwedem Verſuch, zu erklären, wie es zuging, verſchonen. Im Intereſſe der Wahrheit muß ich ſogar eingeſtehen, daß es mir anfangs eine nicht geringe Enttäuſchung bereitete aber dennoch lag in dieſem ganzen Verhältnis eine gewiſſe Pikanterie, die nicht anders als anſpornend wirken konnte. Polly hatte Willenskraft, und ich hatte Willenskraft, doch ohne zu prahlen, darf ich behaupten, daß mein Wille gleich die Oberhand gewann und ſie auch behielt.

Meine Stellung in der Geſellſchaft war feſt genug, daß ich die beiden Damen beſchützen konnte, und ich darf wieder ohne zu prahlen behaupten, daß ich ganz außerordentlich geſchickt manövrierte. Ich unter⸗ hielt nicht etwa die beiden Damen o, nein, ich unter⸗ ſtützte ſie kaum und meine Gaben waren ebenſo diskret als beſcheiden. Aber ich verwaltete ihr kleines Ver⸗ mögen mit Umſicht, lief ab und zu ein kleines Riſiko und ſorgte dafür, daß immer genug Geld da war. So ging es ein Jahr lang. Die Mama wurde ſelbſtverſtänd⸗ lich Mitwiſſerin; die gute Seele hoffte gewiß auf eine

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Ehe, denn ſie kannte mich nicht, und die alte Welt war ihr neu. Ich ſelbſt war ruhig. Meine feſte Abſicht war jetzt die, Polly eine gute Partie machen zu laſſen, und ihr die zu beſorgen, bildete jetzt das Ziel meiner Arbeit.

Da machte ich plötzlich eine Wahrnehmung, die mich im höchſten Grade beunruhigte. Ich will gern zugeben, was ich jetzt erzähle, iſt für den, der ſich mit den kritiſchen Einzelheiten in Pollys und meinem Leben nicht vertraut gemacht hat, ſchwer verſtändlich. Ich ſelbſt dagegen kann es mit Leichtigkeit erfaſſen, und wenn Du Dir rechte Mühe gibſt, wirſt Du es vielleicht auch begreifen.

Polly machte die Bekanntſchaft eines reichen, eng⸗ liſchen Edelmannes, eines Lord Newton, der ein netter, junger Mann war, mir freilich nicht imponierte, aber hunderttauſend Pfund jährlich Rente und einen ſchönen Titel beſaß. Er war von ihr ſehr eingenommen, un⸗ abhängig, ohne mütterlichen Anhang und hatte alle Luſt, ſie zu heiraten. Mrs. Bradlaugh und ich waren ſehr für die Partie; es wäre ja geradezu lächerlich ge⸗ weſen, nicht mit beiden Händen zuzugreifen, und Polly war von dem jungen Manne auch ſehr eingenommen, ich glaube gar, ſie war in ihn verliebt. Aber als wir ſie darüber zur Rede ſtellten, erklärte ſie zu meiner großen Verblüffung aufs Beſtimmteſte, daß ſie den Mann nicht heiraten werde. Nun, ich redete, was man in ſolchen Fällen zu reden pflegt, denn ich war ſehr für die Partie. Zu einer Szene zwiſchen uns kam es wohl nicht, aber es kann ſein, daß mein Ton etwas heftig wurde, und da erklärte ſie rund heraus, daß ſie dieſen Mann nicht betrügen wolle, daß er zu gut für ſie ſei. Dies war unbedingt ein gegen mich gerichteter Stich, was ich ſehr wohl verſtand; aber ich bin es ja von den Frauen gewohnt, daß ſie mir Vorwürfe machen, weil ſie durch mich Freude und Befriedigung gefunden haben. Das iſt ein ganz natürlicher Zug bei ihnen, und jeder vernünftige Mann rechnet damit, obwohl etwas ganz Ungerechtes und Inkonſequentes darin

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liegt. Aber das ganz Merkwürdige bei der Sache be⸗ ſtand darin, daß ſie im ſchönſten Zuge war, ſich in den Engländer zu verlieben, und ihn in ihrer erwachenden Liebe zu ſolcher Höhe emporhob, daß ſie, wie es in der Bibel heißt zu der ſie doch ſonſt nicht in Beziehung ſtand Aſche auf ihr prächtiges braunblondes Haar ſtreute. Und eines Tages ſagte ſie etwas, das mir einen Augenblick lang all meine ſonſtige Überlegenheit raubte: ‚Helmut,‘ ſagte fie ich erinnere mich der Worte, als wären ſie erſt heute geſprochen worden ‚wenn du bereit biſt, durch eigene Hand zu ſterben, fo will ich ihm mein Jawort geben.“

Das klang mir furchtbar töricht, war aber im Grunde genommen gar nicht ſo dumm. Es lebte in ihr etwas etwas wirklich Urkräftiges, alles Über⸗ wältigendes, etwas rein Inſtinktives, das ich niemals habe verſtehen können, wenn ich auch immer da⸗ mit zu rechnen wußte. Ich antwortete natürlich, daß mir nichts ferner liege, als eine derartige ſelbſtopfernde Handlung; ich befände mich ganz außerordentlich wohl in d’efem Leben und wolle vom Tode durchaus nichts wiſſen. Kurz geſagt, ich ſchlug es ihr ab. Aber noch heute krankt ſie daran, und den jungen Engländer hat ſie nie vergeſſen. Nun, was dieſen letzteren betrifft, ſo brach er ein Jahr ſpäter bei einer Steeplechaſe den Hals, und zu der Zeit war Polly bereits mit Graf Henrik Eiſenbart vermählt.

Jetzt kommen wir nämlich zu Ihrer Gnaden hoch— wohlgeborenem Gemahl.

Mit dem vita ante acta des Grafen Eiſenbart will ich dich ebenfalls verſchonen, und zwar ſchon aus dem Grunde, weil es mir ſelbſt nur unvollſtändig bekannt iſt und ich auch nicht glaube, daß es ſonderlich inter⸗ eſſant geweſen ſein kann. Ich traf ihn zum erſten⸗ mal auf dem Ball Bullier in Paris, und wir ſchloſſen unſere Bekanntſchaft recht nachdrücklich dadurch, daß ich gleich am erſten Abend die Ehre hatte, ihm das Leben zu retten. Ich habe ſeitdem oft bereut, daß ich

es getan, und mein einziger Troft beruht darin, daß ich weiß, daß er in noch höherem Maße bedauert hat, daß gerade ich es war, der die Tat beging. Immerhin war es eine verteufelt fixe Leiſtung von mir, und da Du mich auch von einer ſchmeichelhafteren Seite kennen lernen ſollſt, ſo will ich das Ganze erzählen.

Graf Henrik war, nachdem er das juriſtiſche Staats⸗ examen überwältigt hatte, als Legationsſekretär nach Paris geſchickt worden, und zwar allein zu dem Zweck, unter kundiger Aufſicht verdorben zu werden. Er war nämlich etwas zu naiv von Charakter, und ſeine Frau Mama, ein vernünftiges Weib, ſah ſehr wohl ein, daß es ſich für einen Mann, der im Leben vorwärts kommen ſoll, durchaus nicht ſchickt, ſämtliche Tugenden zu beſitzen, ſondern daß auch ein gewiſſes Quantum Laſter dazu gehört.

In den guten alten Tagen importierte man dieſe aus Paris. Einiges wußten ausſchließlich die höheren Rangklaſſen, anderes wurde auch über dieſe hinaus ge⸗ bräuchlich. Alſo rüſtete man den Stammhalter Henrik mit einem Begleiter und einer wohlgeſpickten Börſe aus und ſandte ihn nach Paris. Der Begleiter war ein Kandidat Juris, der es ſpäter noch ungewöhnlich weit gebracht hat. Er war perfekt in allen Dingen auch in den Laſtern doch erlaubt mir meine Zeit nicht, hierbei länger zu verweilen. Graf Henrik glich einem Lohengrin, denn er trug damals einen ſehr langen, hellen Bart, den er ſpäter, weil er ſeine Frau genierte, auf dem ehelichen Altar geopfert hat. Hier auf dem Ball Bullier nun genierte der Bart die Franzoſen; ſie ſahen Henrik für einen Deutſchen an und titulierten ihn „sale Allemand“. Darob geriet der bärtige Kämpe in eine Raſerei, in die ſolch große Mannsperſonen, wenn ſie etwas betrunken ſind, mitunter geraten können. Er gebärdete ſich wie ein Wikinger und ſchlug ein paar franzöſiſche Studenten, die ihn ihrerſeits genierten, zu Boden.

Natürlich entſtand wie bei ſolchen Gelegenheiten

Zeugs. „ze

immer in Paris große Empörung, viel Geſchrei, ſelbſt Dolche wurden gezückt. Henrik, der wie raſend war, wollte partout die hitzigſten ſeiner Gegner um⸗ bringen, ſtark wie ein Bär war er ja. Sein weiſer Mentor, der augenſcheinlich glaubte, er befinde ſich im „Figaro“ in Kopenhagen, lief ſchleunigſt nach der Polizei, und als dieſe erſchien, ergriff ſie ſelbſtredend gegen den ‚sale Allemand“ Partei. Darob geriet Henrik in noch vollkommenere Wildheit und ging ſogar gegen die Schergen los, die ihn ihrerſeits mit blanker Waffe attackierten. Da geſchah es denn, daß ich, der ich durch meinen ehemaligen Aufenthalt in the far west eine gewiſſe Fähigkeit erworben habe, Luft um mich zu machen, gerade im letzten Augenblick einigen von den Ordnungshütern die Arme aus dem Gelenk drehte, eine Reſervetür ſprengte und den Stammhalter in Sicherheit brachte. Es ſteht ſomit feſt, daß ich ihm das Leben gerettet habe, denn die Polizei hätte ihn ſicher niedergemacht, da er ja der angreifende Teil ge⸗ weſen war und obendrein für einen Deutſchen gehalten wurde. In jenen Tagen war alles, was Deutſch heißt, in Paris noch mehr verhaßt als heute, wo die Politik andre Bahnen einzuſchlagen geſtattet.

So ſaßen wir denn auf ein paar Weinfäſſern im Hinterhof und ſchmiedeten Pläne für die Zukunft. Henrik nannte mich ſeinen Lebensretter, drückte mich als das große Kind, das er war, an ſein Herz und wir ſchloſſen Bruderſchaft fürs Leben. Am nächſten Tage klärte ich Seine Exzellenz den Geſandten über die Affäre auf und veranlaßte, daß der weiſe Mentor, den die Polizei auf der Walſtatt gefangen genommen hatte, aus ſeinem Arreſt entlaſſen wurde.

Henrik und ich aber waren von nun an unzertrenn⸗ lich, und erſterer wurde ſomit auch bald bei den Damen Bradlaugh eingeführt. Die Mama war ſofort ent⸗ zückt von ihm, denn eine ſo ſeelengute Haut wie ihn gibt's ja nicht ſo bald wieder, und er ſtrahlte damals geradezu von Herzensgüte. Polly intereſſierte ſich

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auch für ihn, doch zeigte ſie ſich im übrigen ganz be⸗ herrſcht. Seit der Affäre mit dem Lord war eine ge⸗ wiſſe Kühle zwiſchen ihr und mir eingetreten, eine Kühle, die nur ab und zu von einer unbeſchreiblichen, faft raubtierartigen Wildheit, die zu meinen wertvollſten Erinnerungen gehört, unterbrochen wurde. Außerdem aber hatte ich damals Pech im Börſenſpiel und war daher in recht mißvergnügter Stimmung, und jo kam mir ſchließlich der unſelige Gedanke, aus Polly und Henrik ein Paar zu machen.

Ja, daran findeſt Du freilich wenig Gefallen, mein tugendſamer Herr Neffe, aber Du lieſeſt ja auch nicht die Geſchichte eines Heiligen, ſondern die meinige, und ich kann mich daher ohne Kommentar an das Faktum halten. Die Mama war hingeriſſen, Henrik verliebt wie ein Fiſch und Polly nach einer Kriſis gerade ſo weit herabgekommen, daß es ihr gefiel, ſich ſelbſt zum Opfer zu bringen. Mit derartigen Ver⸗ irrungen muß man ja ſelbſt bei den ſtärkſten Frauen rechnen.

Aber nun kam noch etwas ganz beſonderes hinzu: Polly verlangte aufs das Beſtimmteſte, daß Henrik ihr Verhältnis zu mir kennen ſolle. In dieſem Falle war nicht die Rede davon, daß ich verſchwinden müſſe, ſterben oder dergleichen wie beim erſten Male, nein, im Gegenteil, aber auch der gute Wikinger ſollte nicht von ihr betrogen werden; er ſollte ſie ganz und gar kennen und ſo weiter. Ich fand das anfangs zwar abſurd, aber bei näherer Überlegung ſagte mir die Idee doch zu. Sie ſchmeckte ein wenig nach ſchlechten franzöſiſchen Romanen, denen ich ſchon von jeher ver⸗ fallen war, und außerdem wollte ich auch ungern ganz und gar auf Polly Verzicht leiſten. Ich dachte mir, wenn der Wikinger mit offenen Augen in den Bund hineintritt, ſo wird meine Lage zweifellos ungenier⸗ ter ſein.

Alſo trat ich Pollys Plan bei, ja, ich tat mehr als das: ich arrangierte das Ganze. Wir führten ein

richtiges Drama auf, wie Meiſter Ohnet es nicht beſſer hätte erſinnen können. Die Frau Mama ermutigte den zaghaften Wikinger, dieſer brachte ſtammelnd und in ziemlich ſchlechtem Franzöſiſch ſeine Werbung vor, und Polly erwiderte, daß es ihr leider unmöglich ſei, ja zu ſagen warum, das wiſſe ich!

Nun trat ich auf die Szene, der Duzbruder, Lebens⸗ retter und Freund des Wikingerknaben. Anfangs leug⸗ nete ich ſcheinbar, dann erzählte ich alles, und die gute Seele wurde außerordentlich betrübt. Er lief ein paar Tage lang auf eigene Fauſt umher, dann kam er zurück und erzählte mir allerhand von ſeiner lieben Mutter, ſeinem Namen und der Ehre ſeines Geſchlechts. Ich bemerkte hierauf ſehr kühl, daß er in allen Stücken recht habe, aber ich meinerſeits wolle mich niemals verheiraten, betrachte mein Abenteuer mit Polly als beendet und dächte daran, mich von den Damen zurück⸗ zuziehen.

Dir, mein Herr Neveu, wird nun dieſe ganze Sache natürlich höchſt widerwärtig erſcheinen; mich freilich wirſt Du ohne weiteres verſtehen und darum über mein Verhalten nicht erſtaunt ſein, aber daß auch ſie, der Engel, den du anbeteſt, ſo handeln konnte, das vermagſt du natürlich nicht zu begreifen. Darum will ich den Ver⸗ ſuch nicht ſcheuen, es Dir zu erklären: Weißt Du, was beſtändig drohend wie ein Schreckensgeſpenſt vor ihren Augen ſtand? le demimonde! In Paris iſt der Schritt dorthin nicht lang und wird öfter ge⸗ macht, als man glaubt. Er wird ſelten auf einmal gemacht der Weg dorthin iſt genau derſelbe, den Polly bereits betreten hatte. Eine Chance hatte ſie ſich bereits entgehen laſſen; nach einer tiefen inneren Anſchauung hatte ſie gehandelt, wobei ihr Gelegen⸗ heit genug geblieben war, zu überdenken, ob ſie klug oder dumm handle. Der Lord war über alle Berge, ihre Lage unſicher, und nun kam dieſe große däniſche Dogge an und wollte reinen Tiſch machen. In den Kreiſen, in denen ſie verkehrte, hatte Polly genug kon⸗

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ventionelle Ehen geſehen, und durch mich hatte ſie eine Seite des Lebens kennen gelernt, die die Frauen der Geſellſchaft ſonſt erſt in der Ehe kennen lernen. Sie wußte, was dieſe war. In jenem Augenblick, als der Mann, den ſie nicht liebte, um ſie anhielt, war ſie nichts als ein Mädchen, das zu Schaden gekommen war und eine Reparatur nötig hatte, voild tout! Ganz ſo närriſch nämlich iſt die Theorie der guten Sozial⸗ demokraten von der Gleichheit der Menſchen nicht.

Und da der biedere Wikinger verliebt war wie ein Märzhaſe, ſo wurden die beiden unter meinem und Mamas Segen vermählt. Ich vermag dafür zu garan⸗ tieren, daß wir alle vier bei der Gelegenheit als die Ladies und Gentlemen auftraten, die wir waren. Das iſt einem eben ſchon angeboren trotz der Sozial⸗ demokraten.

Während des erſten Ehejahres hielt ich mich in einem gewiſſen Abſtand von ihnen, dann kam das übliche Ereignis, das programmmüßig eintraf, und da Henrik der älteſte Sohn des Lehnsgrafen war und er nun ſelbſt Vater eines Sohnes war, ſo erhielt er Papas und Mamas Abſolution. Der Herr Papa ſegnete bald darauf das Zeitliche, und Henrik erbte die Grafſchaft.

Inzwiſchen hatte ich der Mama Bradlaugh in Riva am Gardaſee die Augen zugedrückt, und da ich dieſer lieben Frau noch in letzter Stunde feierlich gelobt hatte, auf Polly ein wachſames Auge zu haben, ſo näherte ich mich vorſichtig dem Taubenſchlag. Ich fand die beiden Turteltauben, jede auf ihrer Stange; Polly langweilte ſich, indes Henr'k ſich als Trockenamme be⸗ tätigte. Sofort war mir klar, daß Polly ſich weder aus dem Kind etwas machte, noch ihren Mann liebte. Dem Verſprechen, das ich ihrer ſeligen Mutter ge⸗ geben, eingedenk, machte ich einige ſchwache Verſuche, das Ganze wieder einzurenken, doch kam ich mir da⸗ bei recht lächerlich vor. Polly war herrlich, und die Erinnerungen regten ſich, und zwar nicht allein bei mir. Eines Tages kam Henrik entſetzt in mein Sue

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geſprungen und erzählte mir, feine Frau habe ihm ſoeben geſagt, daß ſie mich noch liebe. Er baute auf mich wie auf einen Ehrenmann, und da er weder aus noch ein wußte, fragte er mich ganz naiv um Rat. Nun muß ich geſtehen, daß ich für dieſen Menſchen niemals viel übrig gehabt habe. Ich habe ihm zwar des Leben gerettet, doch das hätte ich im gleichen Augenblick auch jeder andern Perſon gegenüber getan. Dafür hab ich ſein Eſſen gegeſſen, ſeinen Wein ge⸗ trunken, ſeine Pferde geritten und auf ſein Wild geſchoſſen. Seine Heirat arrangierte ich nur um Pollys willen, er ſelbſt war mir in dieſer Hinſicht völlig gleich⸗ gültig. Folglich verſpürte ich betreffs ſeiner Perſon auch keine Gewiſſensbiſſe.

Ich ſagte ihm rund heraus, daß es meinem Lebens⸗ plan durchaus zuwiderlaufe, ein ſo ſchönes Weib wie Polly zu bitten, von ihrer Liebe zu mir abzuſtehen daß ich indes ſelbſtredend bereit ſei, ſofort abzureiſen, aber nicht für die Folgen einſtehen könne, wenn ſie mit⸗ reiſte. Was die beiden darauf miteinander geredet haben, weiß ich nicht, aber er bat mich ſelbſt, bei ihm zu bleiben, und ſeitdem haben wir beide immer von Polly wie von einer lieben gemeinſamen Freundin, die wir beide hochſchätzten, geredet. Ich brachte die alte Welt in das neue Heim, und daran hat ſie nur Freude gehabt. Wir beide haben uns durchaus korrekt aufgeführt, und was vor zehn Jahren unſer Blut noch zum Sieden bringen konnte, das wirkt jetzt nicht mehr exploſiv!“

Am Fuße des Manufkripts war hinzugefügt: „Dies iſt die Geſchichte, die ich Dir erzählen wollte. Aller⸗ dings habe ich ſie nicht um Deinetwillen geſchrieben, denn ich weiß, daß Du Dich vielleicht über das Ganze hinwegſetzeſt. Aber ich habe ihr geſagt, daß Du alles wiſſen ſollſt, worauf ſie, um es zu verhindern, mir gedroht, mich angefleht und ſchließlich geweint hat. Vielleicht wirſt Du zu philoſophieren beginnen (obwohl Du zu dieſer Tätigkeit nicht beſonders geeignet erſcheinſt): Sie hat nicht einen Mann gehabt, ſie hat zwei Männer

gehabt. Eine vortreffliche Philoſophie, mein tugend⸗ ſamer Herr Neveu, aber lies dieſen Bericht noch ein⸗ mal durch: als ſie damals dem Lord Newton den Lauf⸗ paß gab, verſtand ſie noch nicht zu lügen jetzt aber Dir gegenüber hat ſie's ſchon gelernt!

Willſt Du ſie trotz meines väterlichen Rates bei Dir aufnehmen, gut, tue es doch dann nimmſt Du auch mich in den Kauf, denn mein war ſie und iſt ſie, und ich werde das Idyll arrondieren. Darauf kannſt Du Dich verlaſſen.

Lies ihr dieſes laut vor und höre dann, was ſie Dir über einen abweſenden Mann vorflunkern wird. Ich habe ihr geſagt, daß Du alles erfahren ſollſt, und ſie wird ſicher danach handeln.

Dein Onkel Helmut von Piffert.“

Skram faltete die Papiere zuſammen und verließ das Zimmer. Nun galt es, auf neuem Wiſſen einen neuen Plan aufzubauen.

VII.

Lady Macbeth!

Skram ſaß in der Bibliothek und blätterte in einem illuſtrierten Shakeſpeare⸗Bande. Das Bild, das er⸗ aufſchlug, war keine hervorragende Leiſtung des Zeich⸗ ners, namentlich der Geſichtsausdruck der Lady Mac⸗ beth war recht nichtsſagend oder gar einfältig, aber die Szene hatte der Zeichner richtig erfaßt: in ein falten⸗ reiches, mehr griechiſches als ſchottiſches Gewand ge⸗ kleidet, ſtand die ſchlanke Lady mit aufgelöſtem Haar unter einem mächtigen Steingewölbe. Neben ihr auf einem breiten Säulenkopf brannte ein qualmendes Licht. Sie preßte ihre linke Hand gegen die rechte, als wolle ſie ein Merkmal wegwiſchen.

Vet here's a spot.

Im Hintergrunde ſieht man den Arzt und die Geſellſchaftsdame.

Out, damned spot out, I say!

zrgi

Und die Lady Macbeth des Bildes nahm die Züge an, die Skram ſo gut kannte, die Züge der belle dame sans merci. Sie würde nicht reden, nicht einmal zu ſich ſelbſt. Ihr Mund würde geſchloſſen ſein, feſt und grauſam, wie er es ſein konnte, wenn ihre Lippen ſich nach einem ſpitzen Sarkasmus zuſammenpreßten.

Einer plötzlichen Eingebung folgend, erhob ſich Skram und eilte zum Telephon, das an der Wand des Bibliothekzimmers angebracht war.

Nachdem er einen Augenblick lang gezögert, läutete er.

Es verging eine Weile, ohne daß Antwort kam.

Da läutete er wieder.

„Ich möchte Verbindung mit Waldhof,“ ſagte er.

„Dann müſſen Sie erſt mit Xdorf verbunden werden,“ lautete die Antwort.

„Wird das noch lange dauern?“ fragte er, ſchon im Begriff, ſeinen Vorſatz fallen zu laſſen. Aber der Zufall wollte, daß Xdorf gerade zu haben war und er Ver⸗ bindung mit Waldhof erhielt.

„Iſt Herr Pächter Viffert zu Hauſe?“ rief er in den Apparat. Der Pächter ſei zu Hauſe, hieß es; ob etwas Wichtiges vorliege?

„Ja, hier iſt Amtsrichter Skram. Es iſt etwas ſehr Wichtiges.“

Ein paar Minuten vergingen. Dann kam Sigis⸗ mund Viffert ans Telephon.

„Sind Sie da, Herr Viffert? Ja, alſo ich habe Ihnen die betrübende Mitteilung zu machen, daß Ihr Onkel, der Herr Kammerjunker, letzte Nacht geſtor⸗ ben iſt.“

„Geſtorben?“

„Ja, er hat ſich mit einem Barbiermeſſer den Hals abgeſchnitten.“

Es kam keine Antwort.

„Sind Sie noch da?“

„Ja, wünſchen Sie, daß ich noch heute nach der Edelsburg hinüberkomme, Herr Amtsrichter?“

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„Nein, das iſt nicht erforderlich. Wir haben die Leichenſchau bereits abgehalten und die Leiche nach dem Krankenhaus gebracht. Aber wenn es Ihnen morgen paßt oder ſchließlich ich bin der Vollſtrecker des Teſtaments, und ſo kann ich noch heute abend zu Ihnen hinüberkommen.“

„Weiß der Graf ſchon von der Sache?“

„Der Graf weiß davon. Die Gräfin iſt am Morgen ausgeritten und noch nicht zurückgekehrt, doch erwarten wir fie jeden Augenblick. Ich telephoniere von der Edelsburg aus, wo ich mit dem Grafen eine Unter⸗ redung haben werde. Sind Sie noch da?“

Es vergingen ein paar Augenblicke. Skram ſtand mit dem Hörrohr in der Hand da und wartete ruhig.

Dann erklang eine andere Stimme im Telephon die der Gräfin. Skram nickte ruhig vor ſich hin. Das hatte er gerade erwartet.

„Sind Sie dort, Skram?“

„Ja, ich höre, Euer Gnaden.“

„Viffert erzählt mir, Helmut habe Hand an ſich gelegt!“

„Das ſtimmt.“

„Und Henrik?“

„Der Graf nimmt es ſehr ruhig auf; alle nehmen es ruhig auf. Ich werde mit Euer Gnaden noch wegen des Teſtaments reden müſſen; das iſt nämlich höchſt ſonderbar na, darüber ſpäter.“

Die Stimme der Gräfin klang etwas unſicher, als ſie ſagte: „Sigismund Viffert erzählt mir eben, daß Sie auch mit ihm reden wollen.“

„Ja, mit ihm auch,“ verſetzte Skram.

„So bitten Sie Henrik, daß er das neue Auto mit dem Chauffeur herüberſchickt; ich bin hier auf Waldhof und möchte Sie gleich, und zwar hier ſprechen.“

„Soll ich dem Grafen dieſen Beſcheid geben?“ fragte Skram.

„Ja,“ lautete die Antwort.

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„Und wenn der Graf unter ſolchen Umſtänden mit- kommen will?“ fragte er wieder.

„So ſagen Sie ihm, daß ich mit Ihnen allein zu ſprechen wünſche, und bitten Sie ihn zu warten, bis wir nach Hauſe kommen. Ich ſchicke Johann mit den Reitpferden nach Hauſe.“

„Wie Sie wollen. Alſo auf Wiederſehen.“

Er läutete ab.

Dann nahm er auf einem der niedrigen Lehnſtühle der Bibliothek Platz und ſchlug die Beine übereinander, wie er zu tun pflegte, wenn er allein mit ſeinen Ge⸗ danken war.

Viffert hatte alſo recht gehabt die Gräfin war auf Waldhof, und der Selbſtmord würde keinen Ein⸗ fluß auf ihre Pläne ausüben, wenn nicht wenn nicht

Die Tür ging auf, und der Graf trat ein.

Er ſah aufgeräumt und heiter aus.

„Ich habe Sie wohl etwas lange warten laſſen,“ ſagte er, „aber um nicht Jörgens Mißtrauen zu er⸗ wecken, habe ich das weniger gute Meſſer benutzt. Das nahm längere Zeit in Anſpruch und erforderte auch Vorſicht. Nun iſt es überſtanden, und wir können in aller Ruhe über das Ereignis reden. Neh⸗ men Sie eine Zigarre?“

Skram nahm dankend eine, und die Zigarren wurden angezündet.

„Ich habe inzwiſchen über Ihre Mitteilungen ge⸗ hörig nachgedacht,“ fuhr der Graf fort. „Sie haben recht, es darf unter den Leuten nicht das geringſte Geſchwätz entſtehen. Was wollen Sie aber als Motiv zu dem Selbſtmord angeben?“

Skram erhob den Kopf. „Es iſt natürlich niemals leicht zu ermitteln, aus welchem Grunde ein Selbſt⸗ mörder ſeine Tat begangen hat. Nahrungsſorgen ſind hier ausgeſchloſſen, denn Viffert war ja ein ſehr ver⸗ mögender Mann; Liebeskummer iſt auch kaum die Urſache geweſen, denn dazu war er ein viel zu einge⸗

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fleiſchter Egoiſt. Ich glaube, feine Herzkrankheit hat zu⸗ ſammen mit einer krankhaften Zwangsvorſtellung, die er mir übrigens geſtern in ſehr intereſſanter Weiſe beſchrieb, auf ihn eingewirkt. Er ſagte geſtern, er liebe das Leben, befürchte aber dennoch, daß er eines Tags Selbſtmord begehen könne. Daher gehe er auch nicht auf Jagd, könne weder Berge noch Türme beſteigen und raſiere ſich ungern ſelbſt. Die Furcht iſt ihm zum richtigen Zwangsgedanken geworden, ſein Gehirn muß nicht ganz normal funktioniert haben. Ich glaube, es liegt ein Fall vor, den die engliſche Coroner Jury ‚momental insanity‘ nennt. Aber ſchließlich will ich ſeinen Motiven nicht nachjagen, ſondern das Doktor Kühn überlaſſen.“

Der Graf nickte. „Gut,“ ſagte er, „das iſt alles ſehr klug erdacht. Aber ich bitte Sie, Skram, ver⸗ geſſen Sie, was ich geſtern ſagte; ich war etwas erregt, und ich hege keinen Zweifel, daß meine Frau nun, nachdem Biffert tot iſt, viele Dinge mit andern Augen anſehen wird; ja, ich will Ihnen nicht verhehlen, daß dieſer Todesfall mir nicht ſolchen Kummer bereitet, wie es doch eigentlich ſein müßte.“

Skram lächelte. „Es gibt ſicher niemand, der Viffert eine Träne nachweint! Das iſt das Los aller Egoiſten. Ein ſtilvolles Begräbnis voild tout! würde Viffert ſelbſt geſagt haben.“

„Ich bin dem Manne ſehr zugetan geweſen,“ ſagte der Graf ernſt, „allerdings vor vielen Jahren. Na, über die Toten nur Gutes! Er war ein begabter und in mancher Hinſicht auch tüchtiger Mann. Liebens⸗ würdig war er ja nicht und ſein Charakter war nicht gut. Na, wollen lieber nicht mehr davon reden. Wer beerbt ihn denn?“

Skram zuckte die Achſeln. „Das darf ich jetzt noch nicht ſagen. Das Teſtament ſetzte ich erſt geſtern abend auf, nachdem die Herrſchaft zur Ruhe gegangen war. Es iſt ſeinem Inhalt nach recht wunderlich und wird ſicher noch genug Zwiſt und Arger erregen.

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Aber es iſt vollkommen geſetzmäßig und unanfecht⸗ bar.“

„Sie meinen, ſeine Verwandtſchaft werde einen Prozeß anſtrengen?“

„Zweifellos. Man wird behaupten, Viffert ſei unzurechnungsfähig geweſen, als er es machte. Wer die geſetzmäßigen Erben ſind, habe ich noch nicht unter⸗ ſucht, aber die werden ſich ſchon von ſelbſt melden. Jeder Tag hat ſeine Plage!“

Der Graf ſchwieg eine Weile lang, dann erhob er den Kopf.

„Und Sie ſind ſicher, daß hier Selbſtmord vorliegt?“ „Warum fragen Sie danach, Herr Graf?“

„Sie haben ja ſelbſt geſagt, daß auf Jörgen ein Verdacht fallen könnte, denn Leonie iſt wohl die Erbin, das würde wenigſtens Helmut gleichſehen und dann iſt es ja jedenfalls Ihre Pflicht, eine Unter⸗ ſuchung anzuſtellen. Für Jörgen ſtehe ich ein er iſt kreuzbrav und treu wie Gold, aber die Unterſuchung würde in höchſt unerwünſchter Weiſe die Aufmerk⸗ ſamkeit der Zeitungen auf die Affäre lenken. Sie verſtehen mich wohl.“

Skram erhob ſich.

„Ich verſtehe es ſehr gut, Herr Graf, aber ſo weit kennen Sie mich wohl ſchon, um überzeugt zu ſein, daß ich nur im äußerſten Notfall einen Schritt unter⸗ nehmen werde, der dieſem Hauſe, in dem ich ſo viel Liebenswürdigkeit und Gaſtfreundſchaft genoſſen, Un⸗ friede und Ungemach ſchaffen müßte. Meine Pflicht als Beamter muß ich freilich tun, aber ich werde ſie zu vereinigen ſuchen mit dem, was ich Ihnen als Ihr Freund ſchulde.“

Der Graf drückte ihm die Hand.

„Ich vertraue Ihnen, Skram. Aber ſagen Sie, kann das wirklich möglich ſein?“

„Es iſt noch ſehr unwahrſcheinlich,“ ſagte Skram, „in jedem Falle hängt es von dem Ergebnis der Ob⸗ duktion ab, die der Kreisarzt vornimmt. Bevor ich

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irgend einen Schritt in dieſer 8 tue, werde ich Ihnen Bericht erſtatten.“

„Hm,“ meinte der Graf nach einer Weile nach⸗ denklich. „Polly iſt noch immer nicht zu Hauſe. Sie iſt am Morgen ausgeritten und hat den Beſcheid zurück⸗ gelaſſen, daß ſie zum Frühſtück wieder da ſein werde. Ich vermute, daß ſie bei Ahrenfelds oder vielleicht auch in Taarnborg iſt, aber Sie verſtehen wohl unter dieſen Umſtänden kann ich nicht rings herum nach ihr telephonieren. Das Gerücht geht natürlich draußen ſchon um. Ich ſelbſt hörte die Nachricht zuerſt von einem Landbriefträger, als ich von der Ziegelei zurück⸗ kehrte. Ich wünſche auch nicht, daß Sie nach der Gräfin telephonieren. Sie bekommt es noch früh genug zu wiſſen.“

„Selbſtredend,“ ſagte Skram. „Übrigens weiß ich, wo ſich Ihre Gnaden befindet. Sie iſt nach Waldhof hinüber .. . wahrſcheinlich hat fie ſich mit dem jungen Viffert geſtern abend verabredet. Ich muß wegen des Teſtaments zu ihm hinüberfahren, und die Frau Gräfin, mit der ich per Telephon redete, erſuchte mich, Sie zu bitten, mir das Auto zur Verfügung zu ſtellen.“

Der Graf ſtutzte.

„Auf Waldhof?“ ſagte er langſam. „Und ſie weiß es? Wie nahm ſie es auf?“

„Sehr ruhig,“ verſetzte Skram. „Die Frau Gräfin hat ja eine ſeltene Charakterſtärke. Sie ſagte noch, ſie möchte gern gleich mit mir reden.“

„Dann fahren wir beide zuſammen hinüber,“ ſagte der Graf und erhob ſich, um nach dem Stall zu klingeln.

„Einen Augenblick noch!“ rief Skram. „Wollen Sie mich nicht lieber allein fahren laſſen, Herr Graf? Im Anſchluß an unſer Geſpräch von geſtern abend glaube ich, gerade heute etwas ausrichten zu können, und Sie wiſſen, daß niemand ſehnlicher den Wunſch hegen kann, daß die Verhältniſſe hier dieſelben bleiben, als gerade ich, beſonders nach dieſem Ereignis. Ich habe

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einigen Takt und einige Menſchenkenntnis. Wirklich, Herr Graf, Sie ſollten meinem Vorſchlag folgen.“

„Nun, meinetwegen,“ ſagte dieſer.

„Dann warte ich alſo auf den Wagen,“ fuhr Skram fort, „und Sie ſorgen wohl dafür, Herr Graf, daß die Zimmer geſchloſſen werden und niemand Zutritt er⸗

ält.“

„Wie Sie wünſchen. Brauchen Sie mich ſonſt noch?“

„Nein, danke.“

„Dann will ich zuſehen, ein wenig Eſſen zu be⸗ kommen, und auch ein paar Briefe ſchreiben. Im übrigen ſtehe ich zu Ihrer Verfügung.“

Skram verbeugte ſich.

Der Graf klingelte. „Wollen Sie etwas zu eſſen haben?“ fragte er noch.

„Nein, danke,“ ſagte Skram, „ich habe ſchon ge⸗ geſſen. Was ich noch zu beſtellen habe und das iſt ein ganzes Teil muß noch bis heute abend er⸗ ledigt ſein.“

So ſchieden ſie.

Zweites Buch. Gräfin Polly. I.

Das Automobil des Grafen war ein großer, roter Wagen von dreißig Pferdekräften; die beiden offenen Sitze des Inneren waren mit braunem Leder bezogen, und die mächtige Laterne blitzte in der Sonne um die Wette mit den ſchweren, blanken Beſchlägen. Skram ſaß, in einen Staubmantel gehüllt, auf dem Hinterſitz und überließ den Wagen der Führung des Chauffeurs. Er wollte nachdenken.

Waldhof lag drei Meilen Wegs entfernt, und die Landſtraße lief durch ein ſtark kupiertes Terrain. Es war, als ſtünde der Wagen ſtill, und als werde die Landſchaft unter ihm hinweggezogen. Der Weg ſchien einem breiten gelbweißen Bande gleich auf mächtigen Rollen zu laufen, während die Gegend auf beiden Seiten mit Feldern, Gehöften und Kirchen langſamer als der Weg vorüberzugleiten ſchien; nur der Wald am Horizont, der ſcheinbar eine feſte Umrahmung des Ganzen bildete, ſtand ſtill; er lag anſcheinend außer⸗ halb der Maſchinerie.

Der Chauffeur hatte Ordre erhalten, die Fahrt über das erlaubte Maß zu beſchleunigen, denn Skram hatte Eile, und mit heiſerem Tuten fuhr der große, rote Wagen an den niedrigen Hütten, den Ententeichen und den Wirtsgärten vorbei, am Zaune des Kirchhofes herum, dann vorwärts, auf- und niedergleitend und mit wiegender Bewegung die Hinderniſſe nehmend.

Skram dachte über die Sache nach. Er liebte es,

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Verantwortung zu tragen, niemals war er froher, als wenn er einer Tatſache gegenüberſtand, die eine neue, von ihm ſeiner Perſönlichkeit und Kraft geſchaffene Situation hervorrief. Hätte es ſich hier um eine ein⸗ fache bürgerliche Familie gehandelt hätte ſich dieſes Schauſpiel in einem einfachen bürgerlichen Hauſe ab⸗ geſpielt dann hätte kein Diener des Rechts gezögert, auf der Stelle einzuſchreiten. Daß wirklich ein Mord vorlag, betrachtete Skram als feſtſtehend, denn mit einem Meſſer, das abends um acht Uhr auf dem Toilettentiſch des Grafen gelegen hatte, konnte der Kammerjunker ſich nicht um zwei Uhr nachts den Hals abſchneiden, ohne ſich das Meſſer zu holen, und daß er zwiſchen zwölf und zwei Uhr nachts eins der ihm ge- ſchenkten Meſſer umgetauſcht haben konnte, war ganz un⸗ denkbar. Er hätte dann das Schlafzimmer der Gräfin paſſieren oder auf einem weiten Umweg über ver⸗ ſchiedene Treppen durch das Schlafzimmer des Grafen gehen müſſen, denn die nach dem Korridor führende Tür des Ankleidezimmers war in der Nacht verſchloſſen. Das hatte Skram konſtatiert. Nach allem, was vor⸗ lag, mußte ſich eine Perſon nach zwei Uhr nachts, als der Kammerjunker von ſeinem nächtlichen Beſuch bei Mamſell Leonie zurückgekehrt war, Zugang zu ſeinen Zimmern verſchafft haben. Da nun ſicher noch einige Zeit verſtrichen war, bis der Kammerjunker zur Ruhe gegangen und eingeſchlafen war, ſo konnte die Tat nicht gut vor drei Uhr geſchehen ſein. Und für dieſen Zeitpunkt mußte ſich Jörgens und Leonies Alibi feſt⸗ ſtellen laſſen. Graf Henrik konnte dieſe Perſon eben⸗ falls nicht ſein, denn er hätte Skram ſicher nicht auf die Verſchiedenheit der Meſſer aufmerkſam gemacht, wenn er ſelbſt als der Täter die Meſſer umgetauſcht hätte, um die Spur des Verbrechens zu verwiſchen. Natürlich lag der Gedanke nahe, daß ein ſehr raffi⸗ nierter Verbrecher auf einen ſolchen Plan verfallen könnte, jedoch ſolch ein raffinierter Verbrecher war Graf Henrik auf keinen Fall. Er, ein Mann von ge⸗

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rader Denkweiſe, war wohl ein wenig ſchwerfällig, hatte keinen ſonderlich hellen Kopf, aber er war ehr⸗ lich und treuherzig. Ein ſolcher Mann konnte in ſeinem Leben allenfalls wirklich ein Verbrechen begehen und auch Schritte tun, es zu verbergen das bewirkt ja einfach der Selbſterhaltungstrieb aber immer mußten ſich in ſeiner Verteidigungstaktik Züge finden, die ſeiner Natur entſprachen. Wenn er den Umtauſch bewirkt hätte, dann hätte er ſicher nicht den Tagesnamen über⸗ ſehen, er, der doch ganz pedantiſch daran feſthielt, daß jeder Tag ſein beſtimmtes Meſſer habe für den dieſe Tagesnamen täglich eine Rolle ſpielten. Und wenn er es wirklich überſehen hätte infolge der Aufregung, infolge jener unverſtändlichen Blindheit, von der Verbrechen oft begleitet ſind ſo würde ſeine Reflexion doch wieder erwacht ſein, als er das Meſſer in der Hand hielt. Er würde dann niemals den Mann, der ihm gefährlich werden konnte, auf eine Spur leiten, die ganz unnötig war, da dieſer Mann ja noch gar keinen Verdacht geäußert hatte. Auch beim Geſpräch über Jörgen hatte der Graf keinen Augenblick lang den Eindruck des Schuldigen gemacht. Skram fühlte ſich völlig überzeugt, daß er hier kein Recht zum Einſchreiten habe und daß jeder Angriffs⸗ punkt mangle.

Aber der Kammerjunker war ermordet worden, und es war ſo gut wie ausgeſchloſſen, daß der Täter von außen her gekommen war. Es mußte jemand von den Bewohnern des Schloſſes geweſen ſein, und nach allen Erwägungen blieb nur noch eine Perſon übrig: die Gräfin Polly!

Und ſie hatte Beweggründe für die Tat gehabt. Es war klar, daß ihrem Wunſch, ihr Leben zu leben, nichts andres als eine Spätſommerverliebtheit in Sigismund Viffert zu Grunde lag, den ſie noch vor Erkaltung ihres Opfers aufgeſucht hatte. Viffert hatte ihr gedroht, das ſtand ja deutlich in dem Briefe; er hatte geſagt, daß er ſeinem jungen Neffen alles

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erzählen werde. Den Heiligenſchein, der von ihr aus⸗ ſtrahlte, hatte er ihr nehmen und den jungen Mann hatte er ſehend machen wollen ſo ſehend, daß der Zauber brechen mußte. Und damit dieſes nicht geſchehe, mußte er ſterben. Das war klar. Gräfin Polly hatte ſchon einmal eine ähnliche leidenſchaftliche Liebe gehabt damals, als ſie zu Viffert geſagt hatte: „Wenn du bereit biſt, durch eigene Hand zu ſterben.“ Nun trat wieder eine ſolche Leidenſchaft in ihr Leben, jetzt aber kannte ſie die Menſchen, ſie kannte das Leben, und ſie kannte Viffert, und nun fragte ſie nicht, ob er ſterben wolle, ſondern nahm ihm das Leben, während er ſchlief, weil es das Sicherſte war und weil ſie ſeinen Tod wollte.

Sie hatte nichts von den Meſſern gewußt und die Bemerkung bei Tiſch vielleicht überhört. Daher nahm fie das ſcharfgeſchliffene Meſſer, das wie fie wußte auf dem Tiſch des Grafen lag, als Waffe an ſich; es galt für ſie vor allem, Viffert aus dem Leben zu ſchaffen, und weniger, die Spur des Verbrechens zu verwiſchen. Er mußte ſterben, bevor es Tag wurde, denn am nächſten Tage wollte er reden, das hatte er ſelbſt geſagt, und ſie wußte, daß er Wort halten würde. Sie hatte nicht überlegt, wie ſie ihre Tat verbergen ſolle, denn dazu fanden ſich wohl immer noch Mittel im Hauſe. Und ſie ſchreckte wohl auch kaum davor zurück, den Verdacht auf Jörgen oder gar Henrik zu lenken. Sie konnte nicht ahnen, daß Viffert einen Brief geſchrieben und dieſen Leonie zur Beſorgung übergeben hatte, und wie ſollte wohl jemand, ohne den Inhalt des Briefes zu kennen, auf einen Ver⸗ dacht gegen ſie verfallen? So war ſie denn, nachdem ſie gelauſcht und ſeine Tritte über den Fußboden und die Treppe mit atemloſer Spannung verfolgt hatte, hinaufgeſchlichen hatte gewartet, bis ſie annehmen konnte, daß er ſchlafe, und ihn dann umgebracht. Dann hatte ſie ſich wohl umgeſehen und die Meſſer entdeckt, und ſofort war ihr der Gedanke gekommen, daß ſie

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auf leichte Weiſe den Verdacht gegen jedermann aus⸗ ſchließen könne. Sie kannte die Meſſer wohl, doch beachtete ſie die Tagesnamen nicht; als Frau inter⸗ eſſierte ſie ſich nicht für Barbiermeſſer und bekümmerte ſich nicht um die Toilettenfineſſen ihres Mannes. Sie griff blind darauf zu, nahm das Donnerstag⸗Meſſer und ſchlich damit in ihr Schlafzimmer hinab, nicht ah⸗ nend, daß ein Zufall ihr die Kammerzofe in den Weg führen könnte, die nicht, wie die Gräfin glauben mußte, ruhig ſchlafend in ihrer Manſarde lag.

Und dann früh des Morgens war ſie aus⸗ geritten, um fern von aller Unruhe und aller Pein, die die Entdeckung des Todesfalls mit ſich bringen mußte, zu fein um ihn zu treffen und Pläne für ihr künftiges Leben zu ſchmieden.

Dies waren die Gedanken, die Skrams Gehirn durchjagten, während der gelbweiße Weg unter ihm fortgeriſſen wurde. So war es zugegangen, und daraufhin war er berechtigt, Gräfin Polly Eiſenbart zu jeder Stunde zu verhaften und ſie des Mordes zu bezichtigen, des Verbrechens, deſſen Strafe der Tod iſt.

Aber wollte er das wirklich tun?

Skram war ein heftiger Widerſacher der in der Rechtsordnung feſtgeſetzten Todesſtrafe, aber ebenſo heftige Abneigung hegte er gegen die Veranlaſſung dieſer Strafe gegen den Mord. Er betrachtete das Leben als ein Recht aller. Nur im Notwehrfalle, wo Leben gegen Leben ſtand, erſchien ihm das Töten eines Menſchen ſtatthaft, obwohl er ſelbſt bier verlangte, daß es tunlich vermieden werde. In dieſem Punkt war er Fanatiker, und jung war er ja auch. Hier Schonung zu üben, wie das Herz es verlangte, ging gegen die Erfahrung ſeines Lebens und den Grundzug ſeines Charakters. Nicht, daß es ihn getrieben hätte, das Wehe der Ver⸗ geltung über ihr Haupt zu bringen, aber ihm deuchte es unumgänglich, daß ſie, die die erſte Forderung der Geſellſchaft, Achtung vor dem Leben des andern zu empfinden, verletzt hatte, auch die Wiedervergel⸗

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tung derſelben Geſellſchaft die Strafe auf ſich nähme.

So ſicher war er ſeiner Sache, daß er in Gedanken die Gräfin bereits ihrer Strafe gegenüberſtellte und von allen andern Möglichkeiten abjah.

Aber wenn es auch für ihn in dieſer Hinſicht kein Zweifeln und Zögern mehr gab, wie ſtand es denn mit den andern, die nicht ſo wiſſend und ſehend waren wie er?

Viffert war tot; dieſe Tatſache ſtand feſt; aber es konnte ſich um Selbſtmord handeln; im Edelsburger Polizeiprotokoll ſtand vorläufig geſchrieben, daß Selbſt⸗ mord vorliege, und es gab nur einen, der mit Sicher⸗ heit wußte, daß es nicht ſo zuſammenhing. Die Beweg⸗ gründe zu der Tat kannten nur ſie und er. Sie hatte ihre treibende Kraft gefühlt, und er hatte ſie aus den Worten des Toten herausgeleſen, die, ohne von dieſer Kraft zu reden, ihn doch vermuten ließen, zu welcher Stärke ſie bei ihr anwachſen könnte. Aber nicht einmal ihr Mann, der doch behauptete, daß ſie nichts vor ihm verberge, ahnte, daß ſie Sigismund Viffert liebte, und Skrams einziger Zeuge war der Brief, der ebenfalls nichts Poſitives beſagte. Die Enthüllungen, die im Briefe Vifferts ſtanden, hatten ihm wohl Gewißheit verſchafft, allein nur, weil ſie ſich auf ſein Wiſſen von dem gefundenen Meſſer ſtützten. Die Erzählung allein war nicht hinreichend, dieſe Gewißheit zu ſchaffen; ſie bildete nur ein Beweismoment, einen Anlaß für Glauben oder Nichtglauben für eine richterliche Vermutung. Der Brief ſelbſt beſagte nichts; ihm wie auch dem Teſtament konnte Skram jede beliebige Aus⸗ legung unterſchieben. Und die Gräfin würde ſicher ihre Schuld verneinen. Er erinnerte ſich noch ihrer Worte: Was ich nicht ſagen will, das ſage ich nicht, und wenn man mich auf ein glühendes Eiſen legte. Sie würde wie der Inkakönig mit den Worten auf den Lippen ſterben: Auch ich hab' nicht auf Roſen gelegen; aber eingeſtehen würde ſie nichts.

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Und was die Meſſer betraf freilich der Kreis⸗ arzt war vorhin Zeuge geweſen, aber dieſer hatte nicht die im Etui liegenden Klingen am Abend vorher ge⸗ ſehen, und die Worte des Grafen klangen noch in Skrams Ohren: „Es muß eine Vertauſchung vor⸗ gekommen ſein; das iſt zwar merkwürdig, aber immer⸗ hin möglich; es muß eine Vertauſchung vorliegen.“ Und ſchließlich gedachte Skram auch ſeiner eigenen Worte: „Tuesday kann leicht für Thursday geleſen werden.“ Und zwei Buchſtaben von wenigen Milli⸗ metern Höhe ſollten die Grundlage dazu bilden, die Gräfin Polly Eiſenbart auf Edelsburg des Mordes zu bezichtigen?

Die Sozialdemokraten vielleicht würden es glauben, aber der wohlgeſinntere Mittelſtand und gar die Großen im Lande —?

Niemals! Auf das Zeugnis eines einzigen Beamten hin wird keiner zum Tode verurteilt. Nein, jeder würde es für Selbſtmord halten; daß hier Selbſtmord vorlag, konnte man doch ſchon daran erkennen, daß der Kammer⸗ junker es ſo eilig mit ſeinem Teſtament gehabt hatte. Der junge Richter, würde es heißen, befindet ſich auf einer falſchen Spur; es iſt ja ganz ſchön, eine wach⸗ ſame Behörde zu haben, aber beſſer iſt es immerhin, das Schwert des Rechts einem alten, ruhigen Manne anzuvertrauen, und nicht einem Brauſekopf, der um ſich einen Namen zu machen darauf losſtürmt und Menſchenleben vernichtet!

Ein Brauſekopf, der vorwärts ſtürmt, von ſeinem Ehrgeiz getrieben? Nun, er, der die Wahrheit kannte, war jedenfalls bereit, auch die Verantwortung auf ſich zu nehmen.

Und eins nahm er ſich vor: hier ſollte kein Fehler begangen werden. So iſt es ſchon ein Fehler, das Schwert zu ziehen, wenn man es nicht ſchwingen darf; denn ſo oft das Schwert des Rechts gegen den Willen des Volkes geſchwungen wird ſo oft es geſchwungen wird, ohne daß das Volk einſieht, warum erhält

XXVI. 19. 7

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die Schneide eine Scharte, und die blanke Klinge wird bei ſolchem Mißbrauch zur ſtumpfen Säge.

Nein, tauſendmal lieber Verbrechen ohne Strafe als Strafe ohne Verbrechen, und das Verbrechen muß, um ein ſolches zu ſein, von allen erkannt werden.

Denn die Allgemeinheit ſtraft nicht ein einzi⸗ ger.

Nun zeichneten ſich die roten Dächer von Waldhof zwiſchen dem Grün der Bäume ab. Skram ſchaute auf. Hic Rhodus hic salta!

II.

Gräfin Polly wartete an der Treppe, als das Auto- mobil heranrollte und vor dem ausgehauenen Stein⸗ portal hielt. Sigismund Viffert ſtand neben ihr. Beide grüßten freundlich und ernſt, wie die Lage der Dinge es gebot, und bald darauf ſaß Skram in dem großen, altmodiſch möblierten Gartenzimmer, vor deſſen ſchma⸗ len Fenſtern dichtſtehende Obſtbäume eine ſchützende Wehr gegen die Sonnenſtrahlen bildeten.

Klipp und klar berichtete Skram, was geſchehen war; den Hauptnachdruck legte er auf die Abfaſſung des Teſtaments und die ſonderbare Eile, die Viffert dabei gezeigt hatte. Er redete von der Herzkrankheit und den Zwangsvorſtellungen, verweilte lange bei dem ſonderbaren Vorfall mit den Barbiermeſſern, die Viffert mitten in der Nacht gebracht wurden, und ſchloß mit einigen gewöhnlichen Worten über den Verſtorbenen, deſſen trauriges Ende kein eigentlicher Verluſt war, ſondern ein Ereignis, das bald in Vergeſſenheit geraten würde.

Die beiden hörten ihm ſchweigend zu, Viffert be⸗ nommen, ernſt und ruhig, Gräfin Polly mit weib⸗ licher Teilnahme, etwas unbehaglich berührt, vielleicht ſogar ein wenig bekümmert.

„Und die Leiche?“ fragte ſie.

„Die iſt ſchon nach dem Krankenhaus gebracht

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worden, wo die Obduktion vorgenommen werden ſoll. Alsdann iſt die Sache erledigt.“

Sie redeten über den Verſtorbenen, und Außerungen wurden getan, wie ſie Skram nur erwartet hatte. Hel⸗ mut Viffert war tot, und fein Nachruf entſprach feinem Verdienſt.

Gräfin Polly ſuchte ihn zu entſchuldigen, indem ſie ſein einſames Leben hervorhob, die harten Kämpfe, die er in der Jugend durchgemacht hatte, das von ſeiner Verwandtſchaft an ihm begangene Unrecht, ſeine eigen⸗ artige Begabung und große Begabung auf einzelnen Gebieten.

Eine nette Leichenrede, dachte Skram. Sie war genau ſo, wie er ſie erwartet hatte.

Und dabei merkte er deutlich, daß Gräfin Polly ſich ſehr für den Grund intereſſierte, der ihn nach Waldhof geführt hatte.

Skrams Abſicht war in Wirklichkeit nur, ſie zu treffen, der erſte zu ſein, der ihr Nachricht brachte, und die Vermutung, daß Sigismund der Mann ihrer Wahl ſei, beſtätigt zu ſehen. Sodann wünſchte er, mit ihr unter vier Augen zu ſprechen, noch ehe ſie mit einem andern geredet hätte und die Möglichkeiten, die ihr die Zukunft bot, überſchauen könnte.

Er wollte mit andern Worten ſie für ſein erſtes Verhör iſolieren.

Dies freilich konnte er nicht gut als den Grund ſeines Kommens angeben. Und darum ſagte er: „Ich wollte mit Ihnen, Herr Viffert, als dem nächſten Ver⸗ wandten des Verſtorbenen gern reden, bevor ich das Amt übernehme, das mir der Verſtorbene zugedacht hat. Das Teſtament iſt ein Glied in der Kette von Umſtänden, die ſich um den Selbſtmord ſchließt, und ich möchte Ihren Namen nicht gern in die Sache hinein⸗ ziehen, bevor ich mit Ihnen geredet habe. Wenn die Frau Gräfin mir alſo ein paar Minuten zu einem Geſpräch mit Herrn Viffert laſſen wollte —“

Sigismund unterbrach ihn. „Iſt nicht nötig, lieber

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Herr Amtsrichter. Gräfin Polly und ich haben keine Geheimniſſe voreinander.“

„Ja,“ fügte die Gräfin ruhig hinzu, „nach dieſem ungewöhnlichen Ereignis habe ich nichts dagegen ein⸗ zuwenden, daß Sie erfahren, daß Sigismund Viffert die Urſache zu meinem Schritt bildet, über den ich geſtern mit Ihnen ſprach. Ich brauche wohl nicht mehr zu ſagen.“

Skram verbeugte ſich der erſte Teil feiner Miſſion war beendet. Viffert hatte mit ſeiner Vermutung recht gehabt.

„Sie wollen uns alſo mitteilen,“ fuhr die Gräfin fort, „welche Beſtimmungen Helmuts Teſtament ent⸗ hält mit Bezug auf Sigismund und mich.“

Skram begriff ſofort, daß dieſes „und mich“ deut⸗ lich verriet, daß die Gräfin ſchon am vorigen Abend mit Viffert über das Teſtament unterhandelt hatte. Wußte ſie alſo ſchon alles? Das mußte er ſofort er⸗ proben.

„Der Kammerjunker erzählte mir geſtern abend, daß er Euer Gnaden bereits den Inhalt des Teſtaments mitgeteilt habe. Da es von mir als Amtsperſon nicht korrekt gehandelt ſein würde, den Inhalt einem andern als Herrn Viffert allein anzuvertrauen, ſo möchte ich gern wiſſen, ob Euer Gnaden den Inhalt wirklich ſchon kennen oder nicht.“

„Ja,“ ſagte die Gräfin, „ich weiß, daß ich ſeine Erbin unter gewiſſen Bedingungen bin aber,“ fügte ſie hinzu, als bereue ſie, ſich ſoweit vorgewagt zu haben, „ſomit iſt es ja ſinnlos, daß Sie es mir nicht ſagen wollen. Das hätte ich von Ihnen nicht erwartet, Skram. Oder iſt das Teſtament etwa abgeändert worden?“

Skram ſchien es, als habe er jetzt bereits einen Fehler begangen. In einem ſo unweſentlichen Punkte hätte er nicht Schwierigkeiten machen dürfen, zumal, da die Gräfin bedingungslos Beſcheid wußte.

Er verbeſſerte ſich daher ſchnell und ſagte lächelnd:

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„Euer Gnaden müſſen ſchon meine Beamtenpedan⸗ terie entſchuldigen; die wahre Urſache aber iſt, daß ich mich geniert fühle, über dieſe Bedingungen zu dreien zu diskutieren. Wie Euer Gnaden wohl wiſſen, ver⸗ langt der Verſtorbene von Ihnen, daß Sie die Er⸗ klärung abgeben, niemals mit Herrn Viffert die Ehe einzugehen, nachdem Ihre gegenwärtige Ehe, wie der Verſtorbene es erwartete, gelöſt iſt. Darf ich fortfahren?“

Die Gräfin war glühend rot geworden. Skram ſtutzte. Wußte ſie es etwa nicht? Aber nun war es einmal geſagt, und ſo fuhr er fort: „Dieſe Bedingung, die den nächſten Erben in zweifacher Weiſe von der Erbſchaft ausſchließt, iſt an und für ſich anſtößig. Man kann ſie nicht gut veröffentlichen, und leider läßt ſie ſich auch nicht beiſeiteſchieben. Was ich nun wünſche, iſt eine Erklärung des Herrn Viffert, die zuſammen mit der offiziellen Bekanntmachung des Teſtaments den Erben vorgelegt werden und der abſonderlichen Ver⸗ mutung, die das Teſtament ausſpricht, den Stachel nehmen könnte.“

Die Gräfin ſah Skram bewundernd an, und dieſer fand im Stillen ihre Bewunderung ganz berechtigt; denn dieſe Wendung war wirklich wohlgeglückt, um ſo mehr, als er ſie was die Gräfin nicht wußte ganz impulſiv, einer Eingebung des Augenblicks folgend, vorgeſchlagen hatte.

Skram fuhr fort: „Wenn ich eine ſolche Erklärung vorlegen könnte, würde jedermann ſich ſagen, der Ver⸗ ſtorbene habe einen ganz ſonderbaren Irrtum be⸗ gangen. Ich hatte zuerſt gedacht, daß Euer Gnaden ſelbſt eine ſolche Erklärung abgeben könnten, wenn Sie, was ich allerdings vorhin nicht wußte, keine Be⸗ denken dagegen trügen. Es ließe ſich jedenfalls machen, ohne auch nur den Schimmer eines Argwohns auf Sie zu werfen. Es dreht ſich ja nur um die wunder⸗ lichen Ideen eines Selbſtmörders.“

„Was meinen Sie aber jetzt, da Sie mehr wiſſen?“

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fragte die Gräfin. Sie verließ ſich offenbar ganz auf Skrams Scharfſinn und ſeine juriſtiſche Tüchtigkeit.

„Ja,“ ſagte Skram, „wenn es wirklich Ihre Ab⸗ ſicht iſt, in drei Jahren mit Herrn Viffert die Ehe einzugehen, dann wird es freilich ſchwer fallen, eine Erklärung abzugeben, daß Sie das nicht tun wollen. In dieſem Falle möchte ich Ihnen raten, zu erklären, daß Sie unter keinen Umſtänden ein Erbe annehmen wollen, das ſich als eine gewiſſe Anſpielung auffaſſen läßt, die gegenwärtig, da Sie Graf Henriks Gattin ſind, nur beleidigend für Sie ſein kann. Eine ſolche Er⸗ klärung würde ich mit Vergnügen für Sie abfaſſen, und damit fielen alle Zweifel fort.“

„Zuſammen mit der Erbſchaft,“ ſagte die Gräfin, kurz auflachend.

„Zuſammen mit der Erbſchaft,“ wiederholte Skram und blickte ſie forſchend an. „Aber Euer Gnaden können ſelbſtverſtändlich auch anders handeln. Sie könnten wenigſtens vorläufig Ihre Pläne fallen laſſen, eine Erklärung wie die erſtgenannte abgeben und das Erbe in Empfang nehmen. Sollten Sie ſpäter Ihre An⸗ ſicht ändern und die Ehe einzugehen wünſchen, ſo müßten Sie ſelbſtredend den vollen Betrag an die berechtigten Erben zurückerſtatten. Aber ich möchte doch bemerken, daß ich nach dem, was geſchehen iſt, eine ſolche Erklärung nur ungern abfaſſen würde.“

„Das alles will ſagen: er verfolgt mich über das Grab hinaus,“ ſagte die Gräfin bitter und biß die Zähne zuſammen.

Skram blickte ſie an. Der grauſame Mund! dachte er.

Doch ſie bereute ihren Ausruf ſofort und fuhr eilig fort: „Wer find denn die ſonſtigen Erben?“

„Graf Henrik Mamſell Leonie und der Reſt iſt für das Allgemeinwohl beſtimmt nach Kühns und meinem Gutdünken.“

„Mir dies zu verraten, dazu halten Sie ſich wohl ohne weiteres für berechtigt, nicht?“ ſagte die Gräfin ſcharf.

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„Ja,“ verſetzte Skram. „Sie wußten es ja ſchon.“

„Nein,“ ſagte ſie, „mir das zu erzählen, iſt ihm doch zu ſchwer gefallen.“

„Es iſt indeſſen ſo,“ ſagte Skram. „Ich ſehe Schwierigkeiten voraus, aber ich, der als Notar das Teſtament atteſtiert hat, muß hervorheben, daß der Kammerjunker bei voller Vernunft geweſen iſt, als er ſeine Beſtimmungen traf, und dieſe müſſen ſomit von jedermann reſpektiert werden.“

„Ich muß mit dir darüber reden, Sigismund,“ ſagte die Gräfin.

Das Wort „du“ wird in jener Gegend gewöhnlich zwiſchen Nachbarn gebraucht, und hat ſomit nichts weiter zu bedeuten. Skram hatte die Gräfin aller⸗ dings noch nie ſo zu Viffert reden hören und er hatte ja auch erſt ſoeben ihr gegenſeitiges Verhältnis erfahren, aber dennoch war er überzeugt, daß dieſes „Du“ an und für ſich nichts zu bedeuten hatte.

„Dazu iſt auch reichlich Zeit,“ ſagte er. „Nur ſcheint mir, als hätte ich Herrn Viffert gar nicht aufzuſuchen brauchen. Ich vermag wohl zu verſtehen, daß Ihnen die Erörterungen, die an dieſes ſonderbare Teſtament geknüpft werden können, nicht ſympathiſch ſind und daß Sie Ihre Entſcheidung gerne auf ſpäter verſchieben möchten. In dieſem Falle iſt mein Auftrag erledigt. Ich ſelbſt habe nur die Beſtimmungen des Teſtaments zu erfüllen und das Barvermögen zu verwalten, das nach der Ausſage des Verſtorbenen gegen ſechs⸗ bis ſiebenhunderttauſend Kronen beträgt, mithin recht be⸗ deutend iſt.“

Die beiden ſaßen ſchweigend da.

„Und einen andern Auftrag haben Sie nicht?“ fragte die Gräfin nach einer Weile.

„Doch,“ ſagte Skram, „im Grunde genommen, habe ich noch einen zweiten Auftrag, und ich kann ihn auch gleich nennen. Es hat dem Kammerjunker offenbar daran gelegen, einen Bruch zwiſchen Euer Gnaden und ſeinem Neffen herbeizuführen. Er hat ſchärfere Augen

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gehabt als wir andern, ja, als Graf Henrik ſelbſt; das darf ich nun, da Sie mir Ihr Vertrauen geſchenkt haben, wohl ſagen. Und er hat ſich in den Kopf geſetzt, dieſe laſſen Sie mich ſagen Partie zu verhindern. Er hat einen Brief an Herrn Viffert hinterlaſſen, in dem er ſeinem Neffen eindringliche Vorhaltungen macht, wie unrecht es gehandelt ſei, zwiſchen zwei Ehegatten zu treten. Dieſer Brief befindet ſich in meinem Verwahrſam und darf wohl dem Adreſſaten übergeben werden.“

Skram hatte ſich ausſchließlich an die Gräfin ge⸗ wendet, und er merkte, daß ſie ihn verſtand; ſie er⸗ glühte und bewegte ſich unruhig auf ihrem Stuhl.

Sie unterbrach ihn: „Und den Brief haben Sie bei ſich?“

„Ja,“ ſagte Skram.

„Haben Sie ihn geleſen?“ fragte ſie kurz.

Skram glaubte ihr Herz ſchlagen zu hören. Sie wußte, was in dem Briefe ſtand. „Ja,“ ſagte er, „es war von Amts wegen meine Pflicht.“

„Ihre Pflicht, einen Brief zu leſen, der nicht an Sie gerichtet iſt?“

„Mit den unabgeſandten Briefen eines Selbſt⸗ mörders muß ſich die Behörde bekannt machen. Es iſt bloß noch mein Amt, Herrn Viffert zu ſagen, daß ihm der Brief nicht vor Abſchluß der Sache ausgeliefert werden kann.“

Sigismund Viffert verſtand offenbar die Erregung der Gräfin nicht. Er ſaß wie gewöhnlich da und ſtarrte ſie an. Sie war jetzt etwas blaß, aber äußerlich ruhig, und ihr geſchloſſener Mund verriet wieder rückſichts⸗ loſe Entſchloſſenheit.

Skram begriff, daß die Vergangenheit, die er mit ihr verlebt hatte, jetzt unwiderruflich vorbei war. Er war nicht ihr Freund mehr, er hatte ihr geſagt, daß Vifferts Geheimnis nicht mit deſſen Tod ins Grab gehen werde, ſondern in ihm weiterlebe. Und wenn es zum Kampfe kam, mußte er das Geheimnis offen⸗

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baren. Doch unter der Maske der Freundſchaft zu kämpfen, war ſeiner Natur zuwider. Hier ſtand hart gegen hart. Sollte er fie beſiegen, dann mußte der Sieg durch ſein größere Stärke und die gute Sache, die er verfocht, gewonnen werden; überliſten ließ ſie ſich gewiß nicht. Und nun hatte er ſich ihr ſo weit genähert, daß ſie die Gefahr ahnte: das Geheimnis des Toten lebte noch und wurde von einem Manne bewahrt, der die Macht hatte, es zu benutzen von einem Manne, mit dem ſie nicht brechen konnte, weil er die Seele des Ganzen war.

Die Gräfin erhob ſich.

„Ich muß jetzt nach Hauſe,“ ſagte ſie. „Wir können ja noch morgen darüber ſprechen, Sigismund. Heute abend noch will ich mit Henrik reden. Ich wünſche in den nächſten Tagen nicht zu Hauſe zu ſein. Mögen die Leute reden ſo viel ſie wollen. Wir können auch morgen darüber ſprechen, Skram. Haben Sie Herrn Viffert noch etwas zu ſagen, oder kommen Sie mit mir nach der Edelsburg, wie unſre Verabredung lautete?“

Skram verbeugte ſich. „Nach dem, was ich erfahren habe, bleibt nichts für mich zu tun übrig. Ich begreife recht wohl, daß Euer Gnaden darüber nachdenken wollen, und ich werde das Teſtament ſo lange zurückhalten, bis Sie und Herr Viffert ſich über Ihren Entſchluß geeinigt haben; ich bin ja auch bereit, Ihnen jederzeit bei dieſem nicht leichten Schritt zu helfen. Der Brief ſteht, wie geſagt, Herrn Viffert zur Verfügung, ſobald die Sache abgeſchloſſen iſt, was in den nächſten Tagen der Fall ſein wird.“

Viffert fragte Skram, ob er eine Erfriſchung wünſche, was Skram bejahte, und ſo wurden Wein und Speiſen gebracht. Sie tranken ſchweigend, und Skram bemerkte dabei, wie Gräfin Pollys Blick forſchend auf ihn ge⸗ richtet war.

Dies war erſt ein Vorpoſtengefecht geweſen. Der Weg, der zum Ziel führte, war lang, und Skram war noch weit vom Ziel entfernt.

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III.

Eine kleine Meile von Waldhof entfernt liegt am Waldſaum ein altes Hünengrab, über das ſich hohe Buchen neigen. Es iſt eine runde Erhöhung, auf deren Spitze ein Dolmen von ſchweren, moosbewachſenen Steinen ſteht. Die Erhöhung liegt nicht weit von der Landſtraße entfernt, und ein Fußpfad führt über die Feldſteinmauer, die den Wald vom Ackerlande trennt. Von dieſer Höhe aus hat man nach Südweſten eine weite Ausſicht über das Land, das ſich wellenförmig zum Meere hinabſenkt. Weit draußen am Horizont, hinter grünen Hügeln hervorſchimmernd, liegt eine kleine Stadt mit ſpitzen Türmen, ſowie auch die Edels⸗ burg mit ihrem grünen Kupferdach, während hinter beiden das Meer als ſchmaler blauer Streifen glänzt.

Der Wind kam von Südweſt und ſchlug den Fahren⸗ den kühl und ſcharf ins Geſicht. Eine Unterhaltung war darum nur ſchwer zu führen, und die Gräfin rief daher dem Chauffeur zu, daß er anhalten ſolle. „Skram,“ ſagte ſie, „wir haben ſchon früher an dieſer Stelle geplaudert. Ich möchte nun mit Ihnen reden. Kommen Sie, wir wollen zum Hügel hinaufgehen und uns Zeit zur Ausſprache laſſen. Später können wir ſchweigen und einholen, was wir an Zeit verloren haben.“

Skram neigte den Kopf und ſtieg aus dem Wagen. Dann reichte er der Gräfin die Hand, und dieſe ſprang leicht auf den grauen, ſtaubbedeckten Weg. Der Chauf⸗ feur drehte den Wagen zur Seite und ſetzte ſich hin, um zu warten wie einer, der über ſeine Zeit nicht ſelbſt verfügt.

Die Gräfin ſchritt mit Skram nun zur Steinkammer hinauf. Einen Augenblick lang blieb ſie ſtehen und ſtarrte über die gelblichen Felder hin, dann ſagte ſie mit traurigem Lächeln: „Skram, alles dieſes iſt mein, und doch verlaſſe ich es gern um ihm zu folgen.“

Skram ſagte nichts.

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Sie fuhr fort: „Es gab eine Zeit, da war ich wirk- lich ſtolz und froh, alles dieſes zu beſitzen, und doch lernte ich bald verſtehen, daß ich in Wirklichkeit nichts beſaß, weil es nur in der Geſamtheit, als das Ganze mein eigen war weil es zu groß iſt, um es im Kleinen zu verteilen. Nun, da ich im Begriffe ſtehe, dieſes Land zu verlaſſen, bin ich ihm noch fremder, als da ich kam. Wer hier an ſeinem Beſitz Freude haben ſoll, muß ſein Eigentumsrecht mit andern teilen können; hier ſind es die Kleinen, die über die Großen herr⸗ ſchen, und dieſe Kleinen beſitzen hier das Land. Und mit ihnen habe ich es niemals teilen mögen; fie trauen mir auch nicht, und ich habe fie nie ge— winnen können.“

Skram betrachtete ſie, wie ſie dort im Sonnen⸗ ſchein ſtand. Seine Feindin ſie, mit der er kämpfte ſie, die er beſiegen wollte. Ihr Antlitz war nicht ſo, wie er es von früher her kannte; ſie war nicht mehr die lächelnde Königin nicht mehr la belle dame sans merci, ſondern eine betrübte, bereuende Frau.

Haſtig wandte ſie ſich zu ihm um.

„Skram,“ ſagte ſie, „ſind Sie eigentlich mein Freund, oder mein Feind?“ dabei blickte ſie ihn ſcharf an, als verlange ſie eine Antwort.

„Ich habe keinen Anſpruch auf die Vertraulichkeit Euer Gnaden,“ ſagte Skram ruhig. „Ich habe bisher immer geglaubt, daß ich Ihr Freund ſei, aber es gibt doch Handlungen, durch die Menſchen und ſelbſt eine Frau wie Sie meine Freundſchaft verlieren können.“

„Bedeutet das, daß Sie mein Feind ſind?“ fragte ſie in demſelben traurigen Ton.

„Mir gefällt die Art nicht, in der Sie dieſe Sache nehmen,“ ſagte Skram. „Ich ſage Ihnen rund heraus: Lieben Sie Sigismund Viffert, jo haben weder ich, noch ein andrer das Recht, zwiſchen Sie und Ihre Liebe zu treten. Doch dann gebietet das Geſetz der Ehre, daß Sie alle Folgen dieſer Liebe tragen.“

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Dies ſagte Skram, um ſie von dem Weg, den ſie betreten hatte, fortzuleiten.

„Sie denken wohl an das Teſtament?“ fragte ſie. „Glauben Sie wirklich, daß dieſes jetzt eine Rolle für mich ſpielt? Oder ſollte es möglich ſein, daß Viffert mich in ſeinem Brief an Sigismund um uns von⸗ einander zu trennen verleumdet hat? Skram, nun müſſen Sie mir ſagen, warum Sie mit Sigis⸗ mund zu reden wünſchten. Wollten Sie mein Freund mich verraten ihm gegenüber, den ich liebe?“

Skram ſchüttelte den Kopf.

„Nein, ich wollte nur ſehen, ob er es iſt, den Sie lieben, denn das hatten Sie mir ja noch nicht geſagt. Sie hatten mir ja ſogar verboten, danach zu fragen.“

„Geſtern,“ ſagte ſie leiſe, „aber heute iſt nicht geſtern, und viel hat ſich inzwiſchen geändert. Nun bedarf ich Ihrer Vertraulichkeit, Ihrer Freundſchaft, und nun ſpreche ich das aus, was ich geſtern nicht ausſprechen wollte: Ja, ich liebe ihn, er iſt für mich das Leben, das ich in allen vergangenen Jahren nicht leben durfte. Ich klammere mich an dies Leben, ich will es, ich will es! Und Sie müſſen mir helfen, nun, da ich in Not bin.“

Sie ergriff ſeine Hand.

„Skram, ich frage Sie bei unſrer Freundſchaft wollen Sie mir wirklich Ihre Hilfe abſchlagen? Geben Sie mir den Brief, Skram! Ja? Geben Sie mir den Brief.“

Hat ſie Viffert ermordet? fragte Skram ſich ſelbſt, und ſein Blick wurde ruhiger und feſter bei dieſer Frage.

„Euer Gnaden müſſen mir klarlegen, wozu Sie meine Freundſchaft wünſchen; denn erſt, wenn ich das weiß, kann ich antworten. Ich muß wiſſen, wobei ich helfen ſoll, und ob ich die Hilfe, die Sie verlangen, auch leiſten kann. Ihnen den Brief zu übergeben, dazu habe ich nicht das Recht.“

Ihr Blick war nur betrübt. Sie ſah ihn an und ſagte leiſe: „Männer ſind Egoiſten alle!“

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Dann ſetzte fie ſich auf einen der großen Steine an dem Grab; ihre Hand ſpielte mit den Blumen im Mooſe, und ihr Fuß bewegte ſich ganz leiſe wie in Ungeduld. Und ſie redete auch zuerſt.

Den Kopf erhebend, ſagte ſie: „Wann verließen Sie Viffert geſtern abend, Skram?“

„Gegen Mitternacht,“ erwiderte er.

„Wiſſen Sie, daß er gleich, nachdem Sie ihn verlaſſen hatten, an meine Tür klopfte?“

Skram ſtutzte. „An Ihre Tür? Waren Sie denn da noch nicht zur Ruhe gegangen?“

„Doch,“ erwiderte ſie, „aber ich ſchlafe oft ſchlecht. Ich lag noch wach im Bett und las. Ich liege oft und leſe bis in den hellen Morgen hinein. Es iſt eine An⸗ gewohnheit von mir, die er kannte. Helmut Viffert und ich ſtanden auf ſehr vertrautem Fuß miteinander, und er hat oft in der Nacht, wenn alles ſchlief, an meinem Bett geſeſſen.“

Sie ſagte das in ganz natürlichem Ton, ohne es näher zu erklären.

Skram ſchwieg.

Die Gräfin fuhr fort: „Er klopfte an meine Tür, die unverſchloſſen war. Leonie pflegt ſonſt dieſen Ein⸗ gang zu benutzen denn ſie ſchläft oben, das heißt, noch über ſeinen Zimmern.“

Das wußte Skram; er wunderte ſich bloß darüber, daß Viffert dem Anſchein nach ſeinen Beſuch bei der Gräfin, noch bevor er ſich zur Manſarde hinaufbemüht, abgeſtattet hatte. Aber er verriet nichts von dieſen Gedanken.

„Ich glaubte auch, es ſei Leonie,“ fuhr die Gräfin fort, „denn dieſe kommt nachts zuweilen zu mir. Ich glaubte es um ſo mehr, als er und ich am letzten Abend im Zorn voneinander gegangen waren, und ich ihm das geſagt hatte, was ich ihm ſchon lange hatte ſagen wollen.

„Aber er war es doch. 8

„Er redete nicht viel, ſondern bat mich nur, zu

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vergeſſen, daß er zornig geweſen, denn er wolle nicht in Unfrieden von mir ſcheiden. Er beabſichtige, in der Frühe des nächſten Morgens abzureiſen, um mir nicht eher wieder zu begegnen, als bis ich ſelbſt es wünſchte. Er benahm ſich ſehr demütig und redete mit weicher Stimme. Ich weiß, daß er in allen Tonarten reden kann; ich kenne ſeine Redeweiſe und laſſe mich von ihr nicht mehr beeinfluſſen.

„„Ich bin zu alt, ſagte er und das Alter hat kein Recht mehr. Verſprich mir nur, daß er du weißt ſchon, wen ich meine dir niemals mehr ſein wird, als ich dir geweſen bin.“

„Ich antwortete nicht, denn ich mochte hierüber kein Wort zu ihm ſagen.

„Dann redete er von den alten Tagen, von Dingen, die nur er und ich kennen und über die ich mit andern nicht ſprechen kann.

„Doch ich antwortete ihm nicht.

„Da fragte er mich, ob ich zürnen würde, wenn er jetzt mit Henrik redete. Henrik ſchläft, ſagte ich. Ich weiß, daß mein Mann immer bis Sonnenaufgang feſt ſchläft. Im übrigen weißt du ja, fügte ich hinzu, ‚va du Henrik nichts ſagen kannſt, wenn ich dir verbiete, es ihm zu fagen‘.

„Hm Sigismund, ſchaltete er ein.

„Und ich erwiderte: Einmal erfährt er es doch, und ſo iſt es gleich, ob er es durch dich oder durch mich erfährt.“ ü

„Er ging nun zur Tür, die nach Henriks Toiletten- zimmer führt, öffnete ſie und trat in das Zimmer ein. Ich ſah, daß er Licht machte, und hörte gleich darauf etwas klirren, als krame er am Toilettentiſch herum. Ich horchte auf, dann kam er zurück. Vor meinem Bett blieb er ſtehen und ſah mich mit ſtarrem Blick an. Ich erſchauderte einen Augenblick lang, denn der Ge⸗ danke drängte ſich mir auf, daß er ſoeben Henriks Bar⸗ biermeſſer genommen haben könne, um mich damit

„Er muß mir den Gedanken vom Geſicht geleſen

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haben der Schein meiner Leſelampe fiel ja ſcharf auf mich herab denn er ſagte lächelnd: ‚Nein, Polly du ſollſt leben. Lebe wohl.“ Und dann ging er. —“

Skram hatte, nach vorne gebeugt, dieſer ſeltſamen Erzählung gelauſcht. Warum erzählte ſie ihm das? Warum nahm ſie ſeinem Glauben den einzigen feſten Anhaltspunkt fort? Sie, die ja gar nicht wiſſen konnte, was er glaubte und warum er es glaubte. Was ſie ihm da erzählt hatte, bedeutete nichts Geringeres, als daß Viffert ſelbſt die Meſſer umgetauſcht habe. Erzählte ſie das, ohne etwas von dem Umtauſch zu wiſſen? Durch andere konnte ſie nichts davon erfahren haben, und er ſelbſt, der einzige, der es wußte, hatte kein Wort darüber geſprochen.

Warum erzählte ſie ihm das?

Etwa, weil es Wahrheit war? Von ſeiner Ver⸗ mutung, daß ſie die Perſon ſei, die Viffert ermordet hatte, konnte ſie ja gar nichts ahnen. Oder ahnte ſie es doch? Aber wie konnte ſie dann wiſſen, daß es gerade auf eine Erklärung für den Umtauſch der Meſſer ankam? Sie hatte ja falls ſie die Täterin war beim Umtauſch einen Fehler begangen, und ſie war nicht auf Edelsburg geweſen, als Jörgen die Leiche gefunden hatte. Sie hätte ihren Fehler am nächſten Morgen, noch ehe das Haus erwacht war, entdecken können, doch dann hätte ſie ihn berichtigt.

Skram fühlte, daß der Grund unter ihm wich. War ihre Erzählung wahr, dann war Viffert nicht ermordet worden, ſondern von eigener Hand geſtorben.

Sie ſtand noch vor ihm und ſchaute ihn mit dem⸗ ſelben traurigen Blick an.

„Sie verſtehen wohl, Skram, was ich Ihnen ſoeben erzählt habe, das vermag ich nicht ſo zu geſtalten, daß auch Sigismund es erfahren darf. Ich weiß, daß ich ihn verliere, wenn er etwas davon erfährt, was nun da Helmut tot iſt der Vergangenheit angehört. Und Sie verſtehen nun auch wohl, Skram, daß ich bei dem Gedanken zittere, daß Sie nicht mehr mein Freund

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fein könnten Sie, der mein Geſchick in den Händen hat und alles ans Licht ziehen kann, was auf Edels⸗ burg in der letzten Nacht geſchehen iſt. Ihnen darf ich alles erzählen, aber dann müſſen Sie mich auch ſchonen. Das iſt es, worum ich Sie bitte. Und darum müſſen Sie mir den Brief geben.“

Skram erhob den Kopf. „Meinen Sie damit, daß ich kein Verhör über Sie abhalten und nicht ſuchen ſoll, den Motiven zu Vifferts Selbſtmord auf den Grund zu kommen? Das vermag ich gut zu verſtehen. Und Sie brauchen ſich nicht zu fürchten, denn nie werde ich alles dies unnötigerweiſe einer gaffenden Pöbelmenge bloßlegen. Aber warum erzählten Sie mir das eigentlich unaufgefordert?“

„Weil ich fühle, daß ich zum Reden gezwungen werden könnte. Als Sie mir erzählten, daß Viffert Hand an ſich gelegt habe, begriff ich ſofort, daß es mit dem Meſſer, das auf meines Mannes Tiſch gelegen hatte, geſchehen ſein müſſe. Viffert ſelbſt hatte ja keine Barbiermeſſer; ein närriſcher Zwangsgedanke ließ ihn beſtändig befürchten, daß er ſich den Hals durch⸗ ſchneiden könne. Das hat er mir erſt kürzlich erzählt. Er konnte keine geladenen Waffen bei ſich tragen, weder Türme noch hohe Berge beſteigen, ja, kaum auf dem Bahnſteig ſtehen, wenn ein Zug einlief, alles aus Furcht vor Selbſtmord. Er, der doch vor dem Tode ſolche Angſt hatte. Darum war er jetzt genötigt, das Meſſer aus meines Mannes Zimmer zu holen. Und da dieſes nach dem Korridor zu verſchloſſen iſt, mußte er mein Schlafzimmer paſſieren. Verſtehen Sie nun, warum ich glaubte, es Ihnen erzählen zu müſſen?“

Skram verſtand es. Als Graf Henrik ihm den Unterſchied der beiden Meſſer gezeigt hatte, war er ſofort überzeugt geweſen, daß der Graf nicht der Mörder ſei. Als Leonie ihm berichtet hatte, was in der Nacht auf Edelsburg geſchehen war, hatte er ſofort ein⸗ geräumt, daß weder ſie noch Jörgen an der Tat be⸗ teiligt ſein könnten. Aber in keinem von beiden Be⸗

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richten hatte die überzeugende Kraft gelegen wie in den traurigen Worten der Gräfin, die alles erklärten, auch das, was nur er wußte.

Und doch war ſein erſter Gedanke nicht der: ſie iſt unſchuldig. Nein, der Gedanke, der ihm wie ein Blitz durch den Kopf fuhr, lautete: ſie hat telephoniſch mit dem Kreisarzt Kühn verkehrt, und er hat ihr alles er⸗ zählt. Und nun lügt ſie, um mich auf eine falſche Spur zu bringen! Skram fühlte, daß der Verdacht da war, dem kein Richter, und wenn er noch ſo ſtark iſt, widerſtehen kann.

„Haben Euer Gnaden mit dem Kreisarzt Kühn geſprochen?“ fragte er.

„Mit Kühn? Heute? Nein! Warum fragen Sie?“ Sie ſah verwundert auf.

„Weil ich nicht allein damit zu ſchaffen habe,“ ſagte Skram ruhig. „Bei der Leichenſchau wirken Richter und Arzt zuſammen, und es wird notwendig ſein, Kühn dasſelbe Vertrauen zu ſchenken, das Sie mir er⸗ wieſen haben.“

„Kühn iſt ſeit vielen Jahren mein Arzt,“ ſagte ſie. „Ihm kann ich wohl vertrauen, und was ich Ihnen ſage, kann ich auch ihm ſagen. Vielleicht ſogar beſſer, weil er älter iſt als Sie. Aber bedeutete Ihre Außerung vorhin, daß Sie meine Vertraulichkeit dennoch nicht wünſchen?“

„Nein,“ ſagte Skram, „das bedeutete ſie nicht. Sie bedeutete nur, daß ich nicht verſprechen kann, Kühn gegenüber in jeder Hinſicht zu ſchweigen.“

Sie hatte alſo nicht mit dem Kreisarzt ge⸗ ſprochen.

„Kann es umgangen werden, daß ich im Verhör nach den Dingen gefragt werde, die Sie nun ohne⸗ hin ſchon wiſſen?“

„Das ſollte ich meinen,“ verſetzte Skram. „Be⸗ ſonders wenn Sie kurz entſchloſſen auf Vifferts Erbe Verzicht leiſteten.“

„Wieſo dann?“ fragte ſie und blickte ihn e an.

XXVI. 10.

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„Euer Gnaden müſſen bedenken, daß die Ereigniſſe von heute nacht keine Zeugen gehabt haben. Bei einem ſo geheimnisvollen Todesfall wie dieſem löſen ſich Zungen, die ſonſt gebunden ſind. Gegen giftiges Ge⸗ ſchwätz kann ſich niemand wehren und...“

Die Gräfin erhob ſich haſtig.

„Meinen Sie, daß irgend ein Menſch wagen könne zu glauben, daß ich ich Helmut Viffert ermordet hätte, um ſein lumpiges Geld zu erben?“

„Ja,“ ſagte Skram ruhig.

Die Gräfin erglühte.

„Das glauben Sie vielleicht gar ſelbſt?“

„Ja,“ ſagte Skram. „Ich glaubte freilich nicht, daß Sie Viffert ermordet hätten, um ihn zu beerben, aber bis zu dem Augenblick, da Sie mir dieſes erzählten, glaubte ich, daß Sie Viffert ermordet hätten, um ihn zu hindern, ſeinem Neffen alles zu erzählen, wie er es ja angedroht hatte, und der Umſtand, daß Sie mich um den Brief baten, hat mich in meinen Glauben beſtärkt. Nun wiſſen Sie es.“

Die Gräfin war jetzt ganz blaß; ſie ſtand, an einen der großen Steine gelehnt, die Hände geballt und die Zähne feſt zuſammengebiſſen.

„Viffert ſchreibt gewiß in dem Brief an Sigis⸗ mund, den Sie geleſen haben, daß ich ſeine Geliebte geweſen ſei, vielleicht ſogar, ſeine bezahlte Geliebte, eine Abenteurerin, die er gefunden habe! Und daher bieten Sie mir ſolchen Hohn!“

„Ich bitte Euer Gnaden, mich nur als Richter zu betrachten,“ ſagte Skram. „Das bin ich jetzt lediglich. Mein Beruf zwingt mich mitunter dazu, die Rückſicht, die ſich Männer ſonſt Damen gegenüber auferlegen, beiſeite zu ſetzen. Darum allein konnte ich nicht ant⸗ worten, als Sie mich fragten, ob ich Ihr Freund ſei. Ich kann es nicht ſein, ſolange mein Richteramt mir gebietet, da Gewißheit zu ſuchen, wo andre ſich mit Vermutungen begnügen können. Ich habe Urſache gehabt zu glauben, daß Sie es ſeien, der ihn ermordet

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hat, und ich habe es für richtig gehalten, es Ihnen zu ſagen. Nun wiſſen Sie es alſo.“

Es war, als ob der Wald ſich über ihnen ſchlöſſe, die gelblichen Felder und die weißen Gehöfte ver⸗ bergend, das Meer verbergend, das hinter den roten Dächern der Stadt und den blanken Türmen der Edelsburg blinkte. Es war, als ſtünde Skram in der kleinen dumpfen Stube des Rathauſes, ein Verhör abhaltend, und als werde der grünbemooſte Grabhügel zu einem grünbezogenen Tiſch.

Skrams Herz klopfte, ſein Puls ſchlug heftig, und doch ſtand er nur vor der Entſcheidung über eine Sache, in die ihn ſein Beruf verwickelt hatte; es war dieſelbe Erregung, die er zum erſten Male geſpürt, als er im Beginn ſeiner Laufbahn das von bebenden Lip⸗ pen geſprochene Geſtändnis einer Kindesmörderin an⸗ gehört hatte.

Und ſie, die dort vor ihm ſtand ſchien vor der Schranke zu ſtehen, der Schranke, hinter der er als Richter ſicher auf ſeinem Stuhl ſaß.

Seine Worte waren nur Taktik, nicht die Worte eines Menſchen zum andern geweſen.

Die Gräfin machte einen Schritt vorwärts, dann ſagte ſie mit traurigem Tonfall: „Kommen Sie, Herr Amtsrichter, wir wollen gehen. Mich friert. Ich will nach Hauſe.“

Er folgte ihr, und ſie winkte dem Chauffeur, der den Wagen auf den Weg brachte.

„Wollen Sie an meiner Seite Platz nehmen, Herr Amtsrichter?“ fragte ſie. „Ich werde ſelbſt die Füh⸗ rung übernehmen; das wird meinen Nerven gut tun.“

„Wie Euer Gnaden wollen,“ ſagte Skram.

Sie lächelte ſchmerzlich. „Sie fürchten ſich doch nicht etwa, mit mir zu fahren, jetzt, nachdem —“

„Ich fürchte mich nie,“ ſagte Skram ruhig.

Dann nahmen ſie Platz, und die Gräfin ſetzte den großen, roten Wagen in Bewegung.

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IV.

Es ging gegen den Wind den Hügel hinab. Die Gräfin redete nicht, ſie ſaß, leicht nach vorn gebeugt, die Hände auf das Rad gelegt, während der Wind in ihren Haaren ſpielte. Die weite, faltige Automobil⸗ kleidung verlieh ihr etwas Unförmiges und ließ ſie mit dem Rad, dem ganzen Wagen verwachſen er⸗ ſcheinen.

Und die Luft war ſchneidend trotz des Sonnen⸗ ſcheins.

Auch Skram redete nicht. Seine Gedanken drehten ſich beſtändig um dieſelbe Frage. Hat ſie gewußt oder auch nur geahnt, daß die beiden Meſſer vertauſcht waren? Wer kann es ihr geſagt haben? Oder iſt ſie wirklich unſchuldig? Liegt Selbſtmord vor? Hat Vif⸗ fert ſich noch im Tode rächen und einen verdächtigen Schein auf das Haus werfen wollen, das er haßte und das ihn haßte?

Viffert war wohl imſtande dazu geweſen. Er war imſtande geweſen, mit kalter, hämiſcher Berechnung ſeine Pläne auszuführen. Selbſt ſein Beſuch bei Leonie und ſein Scheck ließen ſich im Anſchluß hieran erklären. Der Brief war offenbar ein Glied in ſeinem Plan; der Verdacht ſollte ſich nicht gegen die Gleich⸗ gültigen, gegen die Dienerſchaft, ſondern höher hinauf, gegen den Grafen oder gegen die Gräfin richten.

Hatte Viffert nun dieſe Abſicht erreicht?

Oder log ſie?

Vom erſten Augenblick an war Skram einem ruhigen wohlüberlegten Plan gefolgt. Er fand ſelbſt, daß das Glück ihn dabei begünſtigt habe zu ſehr begünſtigt habe. Nun hemmten die neidiſchen Götter ſeinen Schritt und ſtürzten ihn ins Dunkel der Ungewiß⸗ heit hinaus. Nun wußte er nichts. Und die Gewiß⸗ heit, die er ſich erzwungen hatte, war nun zum Zweifel geworden. Er zweifelte an allem. Er ſtand allein; er, der Richter, der gegen die Miſſetat kämpfen wollte,

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hatte ſein Schwert gerade gegen die erhoben, die er davor beſchützen ſollte.

Viffert hatte ſicher Hand an ſich gelegt. Skram ſtand das bleiche Antlitz des Toten mit dem zyniſchen Lächeln vor Augen: So narre ich Sie, liebe Obrigkeit; ein bißchen Spannung ein bißchen Erſchlaffung voilà tout!

Und warum hatte er der Gräfin vorhin ſeine Ver⸗ mutung verraten? Wie töricht war es von ihm ge⸗ weſen, ihren Zorn zu erregen, und wie roh, ſie ſo zu kränken! War ſie unſchuldig, ſo hatte er gehandelt, wie ein kluger Mann nicht handeln darf. Und er war doch nicht allein Richter, ſondern auch ein Mann.

Das hatte er vergeſſen.

Vorwärts ging es gegen den ſchneidenden Wind über das wellige, hügelige Land.

Eine halbe Meile von Edelsburg entfernt läuft der Weg einen Hügel hinab und führt dann quer über einen Eiſenbahndamm. Die Bahnanlage gehört einer Privatgeſellſchaft, und am Übergang ſind keine Schlag⸗ bäume angebracht, nur in kurzer Entfernung von den Schienen ſteht auf jeder Seite ein Pfahl mit der Warnungstafel: „Auf den Zug achten!“ Und es iſt nicht ſchwer, auf den Zug zu achten, denn die Bahn⸗ linie ſchneidet den Weg im rechten Winkel und führt von der Stadt an aufwärts. Auf beiden Seiten kann man die Bahnlinie ſchon von weitem ſehen, und über⸗ dies verkehren nur wenig Züge auf ihr.

Es war gegen fünf Uhr, und der von der Stadt herkommende Zug arbeitete ſich ſchwerfällig den langen Hügel hinauf.

„Werden wir noch hinüberkommen?“ fragte Skram.

„Wollen's verſuchen,“ erwiderte die Genie „Sie haben ja Eile.“ N

„Wie Euer Gnaden wünſchen.“

Sie fuhren jetzt mit einer Geſchwindigkeit von zehn Meilen in der Stunde, was weit über das erlaubte Maß hinausging, und die auf der Landſtraße Befind-

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lichen blickten kopfſchüttelnd dem Wagen nach, der mit kurzen, heiſeren Tutenſtößen dahinjagte und den Staub aufwirbelte, daß er wie eine Mauer hinter ihm ſtand.

Nun näherten ſie ſich der Bahnlinie.

„Es geht nicht,“ ſagte Skram.

„Es muß gehen,“ lautete die Antwort.

Die Gräfin preßte den Mund zuſammen und voll⸗ führte einen Griff am Regulator. Die Steine der Straße flogen jetzt weit von den Rädern ab und ſchlugen gegen die Stämme der Chauſſeebäume.

„Haben Sie Angſt, Skram?“ fragte ſie neckend.

„Ich habe geſagt, daß ich niemals Angſt habe,“ erwiderte er und lehnte ſich zurück, die Füße gegen den Boden ſtemmend.

Es war alſo ihre Abſicht, den Wagen in den heran⸗ brauſenden Zug hineinfahren zu laſſen. Es konnte nur noch einige Sekunden dauern, dann mußte es ge⸗ ſchehen nur ein Schlag ein Krachen, und das Ganze würde vorbei ſein.

Jetzt war es ſchon zu ſpät.

Die Lokomotive pfiff warnend ein, zwei, drei, viermal und zum fünften Mal das Gefahr⸗ ſignal.

Der Chauffeur im Hinterſitz ſprang auf und ſchrie: „Bremſen Bremſen!“

Doch die Gräfin biß die Zähne zuſammen.

Nun mußte es geſchehen. Die Lokomotive ſtieß dichten, weißen Dampf aus; ſie bremſte mit aller Kraft, während ihre Pfeife die Luft durchſchnitt. Und die Fahrt verlangſamte ſich. Wohl war es unmöglich, den Zug zum Stehen zu bringen, er mußte über den Weg, doch Skram erkannte, daß der lautlos vorwärts ſchießende Wagen den Vorſprung eines Augenblicks hatte und die Bahnlinie überqueren konnte, wenn er dieſe Fahrt beibehielt.

Da beugte ſich die Gräfin ſchnell herab und Skram ſah, wie ihr Fuß die Bremſe ſuchte. Er ſelbſt war ein geübter Chauffeur und erkannte ihr Vorhaben.

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Vom Zuge her erſcholl das heiſere Rufen des Lokomotivführers, während der Dampf, vom Winde getrieben, ihnen warm und feucht ins Geſicht ſchlug.

Wurde jetzt die Fahrt verlangſamt, ſo war ein Zuſammenſtoß unvermeidlich.

Und energiſch beugte ſich Skram zur Gräfin hin und ſchlug ihren Fuß von der Bremſe weg. Ihre linke Hand ruhte auf dem Rad, die rechte führte ſie jetzt zur Bremſe hinab, die über dem Trittbrett angebracht war. Sie wollte den Wagen mit einem Ruck mitten vor dem Zuge zum Stehen bringen. Skram, der alle Muskeln anſpannte, taſtete mit der Linken nach dem Regulator und ſtellte ihn ſo ein, daß die Maſchine mit äußerſter Kraft arbeitete. Dann erfaßte er das Rad und hielt es feſt, um ein Abbiegen und Umſtürzen des Wagens zu verhindern. Faſt auf dem Boden knieend, beugte er ſich über die Gräfin, hinderte ſie, die Kuppelung der Maſchine mit dem Wagenrad zu löſen, und ſchlug mit der Linken ihre rechte Hand von der Bremſe weg.

Es ſauſte um ſeinen Kopf, während der Wagen vorwärts fuhr. Einen Augenblick lang erblickte er dicht neben ſich die große grüngeſtrichene Lokomotive mit ihren Lampen und den blanken Beſchlägen und nahm die ihr entſtrömende glühende Hitze wahr.

Den Bruchteil einer Sekunde lang nur; dann war es vorbei und der Wagen jagte den Hügel hinunter, während hinter ihnen der Zug mit angezogenen Brem⸗ ſen und kreiſchenden Rädern vorüberglitt.

Skram ſtieß die Gräfin zur Seite, ſtieß ſie ganz gegen die Seitenlehne; ſie leiſtete nicht den geringſten Widerſtand. Er ergriff nun ſelbſt das Rad, ſchlug die Kuppelung vom Triebrade und preßte langſam die Bremſe hinab, daß die Fahrt ſich zuſehends verlang⸗ ſamte und der Wagen mit ſtillſtehenden Rädern den Weg hinunterglitt.

Dann hielt er ſtill noch zitternd wie ein Renner nach wildem, wahnwitzigem Lauf.

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Skram wandte ſich zu der Gräfin um ſie war bleich, aber ihre Augen glühten.

Der Chauffeur ſtand zitternd auf dem Weg, und hinter ihnen klang das kurze Fauchen des Zuges, der ſich wieder in ſchnellere Fahrt ſetzte.

Leute kamen herbei; ſie wollten reden, doch als ſie den Amtsrichter erkannten, ſchwiegen ſie.

Skram erhob ſich.

„Wir wollen unſre Plätze tauſchen,“ ſagte er kurz und beſtimmt. „Denn nun ſind Sie nervös, Gräfin!“ Und er bat den Chauffeur, wieder im Wagen Platz zu nehmen.

Dann ging es mit Skram am Rade in mäßig ſchneller Fahrt vorwärts. Und als ſich der Staub wieder hinter ihnen hob und die ihnen nachſtarrenden Leute weit zurückgeblieben waren, wandte ſich Skram mit leiſem Lächeln zu der Gräfin um und ſagte: „Warum taten Sie das? Jetzt hege ich ja keinen Verdacht mehr gegen Sie.“

Gräfin Polly ſchwieg.

Aber ſie war totenbleich im Geſicht.

V.

Das zum Amtskreiſe gehörende Krankenhaus war ein großes rotes Gebäude, das auf einem ſteil ab⸗ fallenden Hügel am Schloßſee gelegen und von einem großen ſchattigen Garten umgeben war. In einer Ecke des Gartens, verborgen hinter hohen Bäumen, lag das Leichenhaus, ein kleines, mit einem Kreuz verziertes Gebäude. Man hatte es ſo im Verborgenen angelegt, um es den Augen der Kranken, die die Nähe des Todes nicht merken ſollten, möglichſt zu entziehen. Sein Inneres war ein kleiner Raum mit breiten, hoch⸗ liegenden Fenſtern und zur Zeit gänzlich leer, nur in der Mitte des Zimmers ſtand ein Seziertiſch, an dem jetzt der Kreisarzt mit zwei Gehilfen arbeitete.

Der Kreisarzt trug einen weißen Leinenkittel, deſſen

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Armel er aufgekrempelt hatte; ſeine Arme waren mit Blut beſpritzt.

Auf dem Tiſche lag die Leiche Helmut Vifferts, entkleidet und willenlos dem Meſſer des Arztes ver⸗ fallen.

Skram ſtand, an die Mauer gelehnt, dabei und rauchte eine Zigarre. Er war nun, nach dem Auf⸗ tritt am Hünengrab, ganz ruhig. Die Obduktion inter⸗ eſſierte ihn nicht, und er war nur gekommen, weil der Kreisarzt nach ihm geſchickt hatte.

Eigentlich entſprach es ſeiner Abſicht nicht, daß eine geſetzliche Obduktion vorgenommen wurde. Er war jetzt feſt entſchloſſen, der Gräfin zu glauben.

Der Kreisarzt arbeitete haſtig.

„Nun, ſind Sie bald fertig?“ fragte Skram. „Und haben Sie geſehen, was zu ſehen war?“

Skrams Blick ſtreifte den zerfetzten Körper ohne Scheu. Er war gewohnt, dergleichen Dinge zu ſehen; ihn berührte das nicht. Er ſehnte ſich nur, nach Hauſe und zur Ruhe zu kommen, denn nun war er wirklich müde.

„Ja,“ verſetzte der Kreisarzt, „nun bin ich fertig.“ Er gab den Gehilfen ein Zeichen, daß ſie zurücktreten ſollten, und näherte ſich Skram.

„Skram,“ ſagte er flüſternd, „wir haben mit unſrer Annahme recht gehabt, bloß liegt die Sache ganz anders, als wir gedacht haben. Der Mann da hat tatſächlich wie Sie heute morgen erwähnten an einer ſehr vorgeſchrittenen Arterioſkleroſe gelitten, an einer durchgreifenden Verkalkung der Herzarterien, und das allein hat ſeinen Tod verurſacht. Er iſt plötz⸗ lich geſtorben, als er im Bett lag. Die Schnittwunde dagegen iſt nicht lebensgefährlich, die iſt ihm bei⸗ gebracht worden, nachdem er ſchon geſtorben war. Das will ſagen: von Selbſtmord kann keine Rede ſein und ſelbſtredend iſt er auch nicht ermordet worden. Er iſt an Verkalkung des Herzens, wie man es in der populären Sprache nennt, geſtorben.“

Das Blut braufte Skram in den Ohren. Alſo doch! Er antwortete nicht, ſondern blickte aufmerkſam den Kreisarzt an.

Dieſer fuhr fort: „Es liegt, wie Sie ſehen, ein ſehr intereſſanter Fall vor. Ich glaubte einen Augenblick lang trotz Ihrer ſcharfſinnigen Hypotheſe mit den Meſſern, daß vielleicht Selbſtmord in Verbindung mit Herzſchlag vorliege. Aber das Ergebnis meiner Unter⸗ ſuchung läßt das als höchſt unwahrſcheinlich, um nicht zu ſagen, ganz ausgeſchloſſen, erſcheinen.“

„Und Sie ſind ſicher, Doktor,“ fragte Skram, „daß nicht etwa meine Hypotheſe mit den Meſſern Ihnen eine vorgefaßte Meinung erweckt? Ich will Ihnen ſagen, daß mir von dieſen vorgefaßten Meinungen Angſt ge⸗ worden iſt. Ich muß Ihnen geſtehen, daß ſie heute alle fehlgeſchlagen haben. Sogar die Hypotheſe mit den Meſſern! Ich werde Ihnen ſpäter erklären, warum und beſchränke ich mich vorläufig bloß darauf, zu ſagen, daß die Hypotheſe hinfällig iſt. Von ihr müſſen Sie alſo ganz abſehen.“

Der Kreisarzt ſchüttelte den Kopf.

„Die Herren Juriſten können ſich natürlich bei den ſogenannten phyſiſchen Tatſachen irren, ſie können ſich auch bei den Kombinationen der realen Tatſachen irren. Wir Arzte aber arbeiten ſtreng empiriſch, und in unſern Spezialfächern, da, wo das Meſſer das Wort führt, irren wir uns ſelten. Hier iſt jeder Fehler ſo gut wie ausgeſchloſſen. Jeder Arzt wird zugeben, daß meine Schlußfolgerung nicht nur richtig, ſondern über⸗ haupt die einzig mögliche iſt. Ich muß ſomit kon⸗ ſtatieren, daß hier ein plötzlicher Tod infolge des chroniſchen Leidens des Mannes eingetreten iſt. Als Begleitumſtand aber erſt nachdem der Tod ein⸗ getreten war kommt dieſer recht ungefährliche Schnitt hinzu, der an und für ſich nicht den Tod verurſacht haben kann. Ja, ich muß ſogar ſagen doch betone ich hierbei, daß ich mich auf das Gebiet der Hypotheſen

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begebe daß der Mörder beim Schneiden innegehalten oder jedenfalls den Schnitt mit geringerer Kraft aus⸗ geführt hat, weil er ſehen mußte, daß er in einen toten Körper ſchnitt. Hier kann überhaupt nicht von eigent⸗ licher Blutung die Rede ſein, ſondern, da bloß eine Vene durchſchnitten iſt, von einem Ausſickern des Blutes, das vielleicht kurz nach dem Tode, als die Blutkörper noch in Bewegung waren, vor ſich ging.“

„Es war recht viel Blut,“ ſagte Skram.

„Ja, es war vielleicht zu viel,“ verſetzte der Arzt. „Wie ich ſagte, iſt das letztere nur Mutmaßung, aber über die Hauptſache herrſcht kein Zweifel, und ich für meine Perſon trage kein Bedenken, mein Gutachten über den Fund in voller Übereinſtimmung hiermit ab⸗ zugeben.“

„So ſind Sie fertig mit dem Geſchäft?“ fragte Skram.

„Vollſtändig,“ erwiderte jener. „Jetzt können Sie ihn meinetwegen begraben laſſen. Wenn Sie nicht etwa meinen, daß wir noch einen andern Arzt hinzu⸗ ziehen ſollen.“

„Jetzt noch nicht,“ ſagte Skram ſchnell. „Laßt uns gehen.“

„Ich will bloß noch Toilette machen,“ verſetzte der Arzt, „dann ſtehe ich wieder zu Dienſten. Ich möchte übrigens auch gern mit Ihnen reden.“

„Haben Sie den Leuten da etwas über das Re⸗ ſultat Ihrer Unterſuchung geſagt?“

„Nichts über derartige Dinge ſpreche ich nie mit dem Perſonal.“

Ekram ſtand draußen im Garten des Kran⸗ kenhauſes und ſtarrte zum Schloß hinüber. Alſo war der Kampf aufs neue eröffnet!

„Warum taten Sie das? Ich hege ja keinen Ver⸗ dacht mehr gegen Sie.“

Es war alſo ihr feſter Vorſatz geweſen, den Wagen gegen den Zug zu ſteuern mit ſeinem und ihrem Leben va banque zu ſpielen, ſie beide von der Erde

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zu vertilgen, um der Sache ein Ende zu machen. Sie hatte ja nicht gewußt, daß der Kreisarzt die verdächtigen Umſtände kannte, und daß durch ihren Tod die Sache gerade aufgerührt werden würde. Sie glaubte, daß er der einzige ſei, der es wußte, und darum hatte er mit ihr ſterben ſollen.

Er hatte geglaubt, es ſei Erregung, gekränkter Stolz, wahnwitziger Zorn über ſeinen Verdacht ge⸗ weſen. Nun begann er zu verſtehen, daß die Urſache tiefer lag, wenn er auch nicht verſtand, zu welchem Zweck ſie von einem nächtlichen Beſuch Vifferts ge⸗ ſprochen hatte. Ihre Erzählung war wohl eine Lüge geweſen, obgleich er nicht begreifen konnte, warum fie gerade in dieſer Weiſe gelogen hatte. Nun galt es zunächſt für ihn, in Erfahrung zu bringen, zu welcher Zeit ſie zuerſt vom Tode Vifferts gehört hatte.

Es war eine Gerichtsſache, und es wurde eine.

„Sagen Sie mir, Skram,“ ſprach der Kreisarzt, an ſeine Seite tretend, „iſt es ſtrafbar, einem toten Menſchen den Hals abzuſchneiden?“

„Nach unſerm Geſetz, ja,“ erwiderte Skram, indem er mit dem Doktor die breite Hauptallee des Gartens hinabſchritt. „Man nennt das ein putatives Ver⸗ brechen, einen Verſuch mit untauglichen Mitteln. Als ſtändiges Beiſpiel für dieſes Syſtem gilt, daß ein Menſch in dem Glauben, man könne an Zucker ſterben, den Verſuch macht, einen andern durch ein Stück Zucker zu vergiften. Das wird hierzulande beſtraft, allerdings mit verhältnismäßig geringerer Strafe. Doch gibt es Länder, in denen ſolche Handlungen ſtraffrei ſind, und ich perſönlich bin nicht Anhänger einer ſolchen Beſtrafung. Man kann keinen toten Menſchen noch einmal töten. Nichtsdeſtoweniger bleibt die Frage über putative und imaginäre Verbrechen höchſt intereſſant. Ein imaginäres Verbrechen würde es ſein, wenn ein Menſch, obwohl er glaubte, etwas Strafbares zu tun, eine Leiche verletzte, wohl wiſſend, daß es eine Leiche

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iſt. Hier iſt der Irrtum bezüglich der rechtlichen Wir⸗ kungen der Tat das entſcheidende Moment.

Um bei unſerm Fall zu bleiben: wenn der betreffende gewußt hat, daß Viffert tot war, und ihm aus irgend einem Grunde den Schnitt in den Hals beigebracht hat, ſo iſt dieſe Handlung nicht ſtrafbar, weil der Be⸗ treffende vielleicht ſelbſt nicht geglaubt hat, daß er etwas Strafbares begehe. Iſt er dagegen im Glauben geweſen, daß Viffert lebe und nur ſchlafe, ſo iſt ſeine Handlung ſtrafbar, weil ſein Irrtum ſich auf das Tat⸗ ſächliche, nicht auf das Rechtliche bezieht.

Dieſer Fall iſt alſo recht kompliziert, wenn er für uns auch nicht das Intereſſe hat, das wir von ihm vermuteten, bevor Sie durch Ihre Unterſuchung feſt⸗ ſtellten, daß ſeine Herzkrankheit den Tod Vifferts verur⸗ ſacht hat. Während ich von dem Standpunkt aus, den wir heute morgen einnahmen, auf eine Ermittlung der Täterſchaft unmöglich verzichten konnte, möchte ich mich jetzt ehrlich geſagt am liebſten mit Ihnen darüber einigen, daß wir als Todesurſache Herzlähmung, die während eines Selbſtmordverſuches eingetreten iſt, an⸗ geben.“

„Das kann ich nicht,“ ſagte der Doktor, „denn das glaub' ich nicht ich meine —“

„Wohl möglich,“ unterbrach ihn Skram, „aber die Herren Arzte ſind ihrer Sache immer ſo verteufelt ſicher, während wir Juriſten uns häufig auf recht unſicherem Grunde bewegen. Wenn ſich nun einmal die Gelegenheit bietet, von der Sicherheit ein wenig abzulaſſen, dann ſollten ſich die Herren nicht ſo ſehr auf ihre Unfehlbarkeit verſteifen.“

Sie ſtanden nunmehr am Markte, der Wohnung des Richters gegenüber.

„Ich habe Eile, Herr Doktor,“ ſagte Skram, „aber ſpäter möchte ich gern mit Ihnen darüber reden; ich werde Ihnen Beſcheid ſenden.“

f „Wie Sie wollen,“ ſagte der Arzt, und ſo ſchieden ie.

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Das Bureau war noch offen.

„Etwas Neues?“ fragte Skram.

„Nichts von Bedeutung,“ ſagte der Sekretär. „Nur Pächter Viffert telephonierte vor kurzem von Wald⸗ hof, daß er heute abend herkommen werde.“

Skram überlegte einen Augenblick lang, dann ſagte er: „Hören Sie, Holm, erſuchen Sie Jörgen Madſen und Mamſell Leonie telephoniſch, noch heute abend herüberzukommen und John mitzubringen. Ich muß mit ihnen reden. Und Sie, Jenſen, machen Sie ſich bereit, zum Schloß hinüberzugehen und bei der Gräfin einen Brief abzugeben, den ich jetzt ſchreiben werde.“

Stkram ſchrieb den Brief, und der Polizeibeamte ging. „Was iſt denn bei der Obduktion herausgekommen?“ fragte der Sekretär.

Skram zuckte die Achſeln. „Nichts Neues,“ ſagte er. „Es liegt gewöhnlicher Selbſtmord vor, den wir aber diskret behandeln müſſen. Das ſchulden wir denen dort oben.“

Und damit ging er in ſein eigenes Bureau.

VI.

Sollte ſie doch etwas über den Umſtand mit den vertauſchten Meſſern erfahren haben?

Alle dieſe Vermutungen, die er aufgeſtellt hatte, ſo wie ſie in ſeinem Gehirn entſtanden waren, hatten gewiß ihr Gutes an ſich, und manche von ihnen traf vielleicht das Richtige aber ebenſogut konnten ſie auch alleſamt irrig ſein. Wenn Skram das Ganze überdachte, ſo geſtalteten ſich die nächtlichen Begeben⸗ heiten zu einem richtigen Romankapitel. Die Szene bildete der Seitenflügel des Schloſſes, deſſen vier Etagen bewohnt waren: Im Erdgeſchoß wohnte der Diener, im erſten Stock die Gräfin, im zweiten der ermordete Viffert und ganz oben unter dem Dach die Kammerjungfer Leonie. Die vier Etagen waren durch

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eine Wendeltreppe verbunden, die durch den Turm aufwärts führte. Auf dieſer Wendeltreppe nun hatte ſich in der Nacht ein Verkehr entwickelt, der an und für ſich wohl ganz berechtigt ſein mochte, aber doch recht unwahrſcheinlich erſchien.

Die Gräfin behauptete, daß Viffert auf dieſer Treppe um halb ein Uhr zu ihr herabgeſtiegen und nach etwa zehn Minuten wieder hinaufgegangen ſei. Zu etwa derſelben Zeit mußte er, wenn Leonie die Wahrheit redete, wieder die Treppe paſſiert haben, um der Mamſell den Brief und den Scheck zu geben. Dies war nicht unwahrſcheinlich, da die Mamſell ja Scheck und Brief gezeigt hatte. Und da man Viffert in ſeinem Bett im zweiten Stock gefunden hatte, ſo mußte er die Treppe zu ſeinem Zimmer wieder hinab⸗ geſtiegen ſein. Daß Leonie darauf dieſelbe Treppe hinabgeſchlichen war, ließ ſich wohl durch Zeugen be⸗ weiſen, ebenſo daß ſie ſicher erſt gegen ſieben Uhr wieder in ihre Kammer zurückgekehrt war. Aber noch blieb die wichtigſte Benutzung der Treppe zu erklären übrig. War es die Gräfin geweſen, die ſich um zwei Uhr in den zweiten Stock begeben hatte, und war dann wirklich geſchehen, was Skrams Ver⸗ mutungen zu Grund lag?

Skram mußte ſich mit einem Lächeln ein⸗ geſtehen, daß auf dieſer Treppe in dieſer Nacht ein Verkehr ſtattgefunden hatte, wie ihn ein franzöſiſcher Luſtſpieldichter nur ſchwerlich ſeinem Publikum bieten dürfte. Als Inhalt eines Theaterſtückes wäre das Ganze unwahrſcheinlich und unnatürlich erſchienen, als Glied in einer Kette von Tatſachen aber ſtellte es Möglichkeiten vor, mit denen man rechnen mußte. Man hätte einige Glieder ausſchalten und dadurch das Ganze wahrſcheinlicher geſtalten können, doch dann war man wieder ohne Erklärung für die Ereigniſſe, die das zuverläſſige Gepräge des wirklichen Lebens trugen.

Skram ſaß in ſeinem Bureau und machte auf einem

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Foliobogen Notizen. Bis jetzt hatte er ſich noch zu keinem poſitiven Schritt entſchloſſen. Allerdings hatte er Leonie verhört und aus dem Geſpräch mit der Gräfin entnommen, daß Viffert in ihrem Zimmer ge⸗ weſen war und ſelbſt die Meſſer umgetauſcht hatte. Aber direkt geſagt hatte ſie ihm dieſes letztere nicht; ſie wußte ja gar nichts von den beiden Etuis, ſondern glaubte nur, daß Viffert das Meſſer des Grafen, mit dem die Tat geſchehen war, an ſich genommen habe. Sie mußte alſo noch ein Geſtändnis ablegen daß ſie an dem nächtlichen Verkehr auf der Treppe teil⸗ genommen und Vifferts Zimmer nach ſeinem Tode betreten hatte.

Und um dieſes Geſtändnis zu erlangen, hatte Skram ſie gebeten, noch an demſelben Abend zu ihm zu kommen.

Ob ſie nun kommen würde?

Daß ſie den mißglückten Selbſtmordverſuch noch einmal wiederholte, war wohl ausgeſchloſſen, denn Skram hatte ihr ja geſagt, daß er keinen Verdacht mehr gegen ſie hege, und außerdem in ſeinem Schrei⸗ ben bemerkt, daß er unter gewiſſen Umſtänden Vifferts Brief vernichten wolle.

Würde ſie nun alles eingeſtehen?

Das zu erreichen, war ſeine Aufgabe. Noch hatte er ſich nichts vorgenommen. Die verſchiedenſten Ver⸗ mutungen hatten ſein Gehirn durchkreuzt, er hatte ſie auf ihre Richtigkeit geprüft und war zu einem Re⸗ ſultat gekommen, über das er lächeln mußte, zu einer Theaterſzene, die einem kritiſchen Publikum ſchwer auf die Bruſt fallen dürfte! N

Es klopfte, und Mamſell Leonie und Jörgen traten ein. Skram empfing ſie freundlich und bat ſie, Platz zu nehmen; dann ſchrieb er, indem er Leonie aus⸗ fragte, dieſelbe Erklärung, die ſie ſchon einmal ab⸗ gegeben hatte, nieder, und Leonie wiederholte ſie ohne die geringſte Abweichung. Jörgen ſaß während dieſes Verhörs, das auf franzöſiſch geführt wurde, ſtill⸗

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ſchweigend auf ſeinem Stuhl. Nun bat Skram die Mamſell, das Zimmer zu verlaſſen, und verhörte darauf Jörgen, der mit knappen Worten, aber in glaubhafter Weiſe eine Erklärung abgab, die mit der der Mamſell übereinſtimmte. Schließlich wurde noch John vernommen, der jo lange im Vorzimmer ge⸗ wartet hatte, und Skram gewann die Überzeugung, daß alle dieſe Menſchen die Wahrheit redeten. Der zweite Teil des Verhörs beſtand darin, daß Skram konſtatierte, die Mamſell habe um halb neun Uhr bei der Gräfin angeklopft und ihr beim Ankleiden ge⸗ holfen, worauf dieſe ſogleich durch John die Reit⸗ pferde habe beſtellen laſſen. Nachdem dann die Gräfin gefrühſtückt, war ſie ausgeritten. Sie hatte vorher noch mit dem Grafen geredet, der ebenſo wie ſie im Begriff geweſen war auszufahren, doch ſonſt hatte ſie nur mit Leonie, John und dem Tafeldecker, der zuſammen mit Jörgen den Frühſtückstiſch beſorgte, geſprochen. Unterwegs konnte ſie ſicher nichts er⸗ fahren haben, was ſie auf den Gedanken hätte bringen können, die Erzählung von dem nächtlichen Beſuch Vifferts zu erfinden. Und was ſie auf Waldhof er⸗ fahren hatte, das mußte Sigismund Viffert bezeugen.

Skram ſtellte ſomit feſt, daß weder Jörgen noch Leonie verdächtigt werden konnten, ſondern daß die Gräfin im Zimmer Vifferts geweſen ſein mußte, wenn ſie ſchon bei ihrem Beſuch auf Waldhof vom Tode Vifferts gewußt hatte. Skram entließ daher die Diener⸗ ſchaft mit einigen freundlichen Worten und bereitete ſich vor, den vierten Zeugen, Sigismund Viffert, zu empfangen.

Der junge Mann kam. Er kam von ſelbſt und mußte alſo etwas auf dem Herzen haben. Skram ſagte ſich, daß allein auf dieſem Wege das Geſtändnis zu erreichen ſei, nach dem er trachtete. Aber während er vorhin, als das Automobil ihn nach Waldhof führte, ſie, die einem Menſchen das Leben genommen, fällen wollte, war ſein Ziel jetzt ein andres. Er wollte ihr

XXVI. 10. 9

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die Sache ganz ebnen und zurechtlegen, ſie vielleicht ſogar ſchonen. Und dennoch das Geſchehene aus ihrem Leben tilgen wollte er nicht. Hatte ſie das Meſſer gegen den ſchlafenden Menſchen erhoben war er alſo noch ihr Feind, ſo ſollte ſie ihm auch nicht an der Seite des jungen Mannes entſchlüpfen, um ihr Leben zu genießen, als ob nichts geſchehen wäre. Das war eine Forderung der Gerechtigkeit, und ſie mußte erfüllt werden nicht wie gewöhnlich vor der Schranke des Richters, ſondern zwiſchen Menſch und Menſch.

„Herr Viffert,“ ſagte Skram, „darf ich Sie bitten, Platz zu nehmen und mir zu ſagen, was mir die Ehre Ihres Beſuchs verſchafft?“

Der junge Mann brachte ſeine Antwort etwas ſtammelnd hervor. „Ich glaubte, mit Ihnen reden zu müſſen. Die Sache iſt nämlich die, daß Gräfin Polly und ich verabredet haben ſie hat es ja ſelbſt geſagt und ſo wiſſen Sie ja, daß wir daß ſie und ich ein neues Leben beginnen wollen ...“

Skram nickte. „Ja, das kam mir recht überraſchend.“

„Mir auch!“ bekannte Viffert offen und wurde blut⸗ rot. „Sie iſt ja eine Königin, eine Madonna, ſo rein, fo ſtolz ...“

„Sie hatten wohl bloß an eine Bewunderung auf Abſtand gedacht,“ ſagte Skram. „Und heute nun hat ſie Sie mit einem Male überraſcht! Sind Sie wirk⸗ lich nie auf den Gedanken gekommen, daß fie —“ Skram zögerte, dann fügte er lächelnd hinzu: „Sie ebenfalls liebe?“

„Nie,“ ſagte Viffert. „Ich wußte freilich, daß ſie nicht glücklich war, das konnte ich ja ſehen, aber mit ihr über Liebe reden, wie hätte ich das können? Und außerdem war ſie ja mit Henrik vermählt.“

„So iſt es alſo erſt heute geſchehen, daß die Gräfin Ihnen ihre Pläne verriet und Sie vor Glück wie aus den Wolken fielen?“

„Das tat ich allerdings! Ich traute ja meinen

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Ohren kaum. Es überwältigte mich. Doch was ich Ihnen ſagen wollte, iſt etwas ganz andres. Gräſin Polly will ſich nun alſo von ihrem Manne trennen. Aber dann muß ich auch das Pachtgut verlaſſen, denn ich kann doch nicht länger Henriks Pächter ſein. Ich ſelbſt beſitze rein nichts; im Gegenteil, ich müßte noch Schulden machen, da ich Beſitz und Inventar nach Joachimſen, der vor mir den Waldhof hatte, über⸗ nommen habe. Ich hätte gewiß Onkel Helmut be⸗ wegen können, mir zu helfen, denn er war ja ſehr reich; das glaubte ich wenigſtens, aber nun verſtehe ich nicht einen Muck von der ganzen Sache.“

„Na,“ verſetzte Skram, „der Zuſammenhang iſt an ſich nicht ſo ſchwer zu verſtehen. Ihr Onkel hat ge⸗ ahnt, worauf weder Sie noch ſonſt jemand gekommen iſt. Er war wohl der Freund der Gräfin, aber auch der des Grafen. Und aus letzterem Umſtand erklärt ſich ſein Wunſch zu verhindern, daß die Gräfin aus der Bahn breche. Das kann ihm keiner verdenken.“

„Aber wie iſt es dann möglich, daß Gräfin Polly mir heute morgen ſagen konnte, ſie ſei reich und un⸗ abhängig; nun ſei endlich die Stunde gekommen, da ſie dem Drange ihres Herzens folgen könne?“

Skram zuckte die Achſeln, aber er ſpitzte aufmerkſam die Ohren. „Damit hat ſie wohl gemeint, daß der Graf ihr eine große Apanage geben werde.“

„Nein,“ ſagte Viffert, „das kann ſie nicht gemeint haben, denn ſie ſagt ausdrücklich, daß ſie von Henrik keinen Pfennig nehmen wolle.“

„Dann hat ſie vielleicht ſchon gewußt, daß Ihr Herr Onkel tot iſt, und es iſt ja möglich, daß er ihr vorher geſagt hat, daß ſie ſeine Erbin ſei, ohne aber hinzuzufügen, welch fatale Bedingung er daran knüpfe.“

Skram ſah den jungen Mann ſcharf an.

„Unmöglich,“ ſagte dieſer arglos. „Sie wußte ja nicht, daß Onkel Helmut geſtorben war.“

„Hm, ich glaube aber doch, daß ſie es wußte,“ unterbrach ihn Skram. „Und wenn Sie recht nach⸗

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denken, jo wird Ihnen vielleicht auffallen, daß die Gräfin bei der Todesnachricht gar keine Überraſchung zeigte.“

Viffert ſah ihn verdutzt an. „Nein,“ ſtammelte er „nein. Sie haben recht ſie war gar nicht über⸗ raſcht ſie faßte es ganz ruhig auf. Ja, Sie haben recht! Sie muß es gewußt haben!“

„Sind Sie darin ſicher?“

„Ja, beinahe oder richtiger, ich bin ganz ſicher darin. Denn als ich ihr ſagte, ich wolle Onkel Helmut gleich mitteilen, was wir beide verabredet hätten, da lächelte ſie ſo ſonderbar. Und als ich ſie fragte, warum ſie lächle, antwortete ſie bloß: „Denk nicht an Onkel Helmut. Der ſteht ganz außerhalb der Sache.“ Erſt jetzt fällt es mir ein, aber das waren ihre Worte.“

Skram rieb ſich die Hände.

„Alſo hat die Gräfin gewußt, was geſchehen war,“ ſagte er, „und ſich bloß hinſichtlich der Erbſchaft ver⸗ rechnet. Schade, daß Sie keine Frau wie ſie ernähren können. Sie ſind ſicher zu ſtolz, um vom Grafen Geld zu nehmen, und ſelbſt haben Sie nur Schulden. Und ich ſage Ihnen mit Beſtimmtheit deswegen ſind Sie wohl auch nur gekommen weder Sie noch die Gräfin werden vom Kammerjunker Viffert einen Pfennig erben.“

Der junge Mann wurde rot vor Arger.

„Herr Amtsrichter,“ ſagte er. „Sie haben kein Recht, mich zu beleidigen. Für mich handelt es ſich hier nicht um Geld ich bin gewohnt zu arbeiten. Ich bin wohl arm in Armut geboren, aber ich habe gelernt, meine Hände zu gebrauchen, und bin ſogar bereit, wieder als Verwalter zu gehen.“

„Ein gutes Wort!“ ſagte Skram freundlich. „Sie werden ſchon mit dem Leben fertig werden wie aber ſi e? Können Sie es verantworten, fie aus all dem, was ſie jetzt beſitzt, herauszureißen aus der Gräfin Eiſenbart eine Verwaltersfrau zu machen? Sie ſind doch ein nüchterner und ruhiger Mann, Vif⸗

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fert. Denken Sie doch ein bißchen nach. Das iſt ja nichts als eine Grille von ihr! Sie iſt ſechs Jahre älter als Sie. Sie beten ſie mehr an, als daß Sie ſie lieben. Wie, wenn es ſich herausſtellen ſollte, daß ſie ſich an ſich ſelbſt geirrt hat, daß alles nur eine Laune von ihr iſt, eine Grille, die Langweile und Überdruß ihr eingegeben haben? Wenn es ſich zeigen ſollte, daß ſie eine ganz andre iſt, als Sie jetzt glauben? Wie wollen Sie dann dem Unglück begegnen, das Sie durch Ihre Unbeſonnenheit angerichtet haben?“

In Viffert gärte es.

„Sie reden von Irren? An ihr kann ſich niemand irren. Sie vermag nicht zu lügen. Sie hat wie ein unerfahrenes Kind Graf Henrik geheiratet, ſie tat es nur um ihrer Mutter willen, damit dieſe im Alter keine Not leide. Sie hat nie eine niedrige Handlung begangen, nie jemand belogen oder betrogen. Und das wagen Sie auch nicht zu behaupten!“

„Herr Viffert,“ ſagte Skram, „Sie ereifern ſich! Ohne Grund. Ich behaupte gar nichts. Es iſt durch⸗ aus nicht meine Gewohnheit, Menſchen zu verleumden, die mir Freundſchaft erwieſen haben. Aber wenn Sie ſich nun irrten, wenn die Gräfin doch eine ganz andre wäre, als Sie glauben? Wenn Sie nicht der erſte Mann wären, den ſie liebt? Verſtehen Sie mich wohl, das iſt bloß ein Gedankenexperiment von mir. Aber würden Sie es dann trotz alledem verantworten können, ſie aus der Herrlichkeit, in der ſie lebt, heraus⸗ zuführen und ihr dafür zu bieten, was ein armer Land⸗ mann zu bieten vermag?“

„Ich verſtehe mich nicht auf ſolche Dinge,“ ſagte Viffert kurz. „Ich ſelbſt bin ein ehrlicher Mann, und Ihre Gedankenexperimente gehen mich nichts an. Ich habe tief in ihre Augen geſehen, und die lügen nicht. Das Weib, das ich mein nennen ſoll, muß ohne Flecken und Makel ſein, ſo wie ſie es iſt. Und wenn ihre Ehe mit Graf Henrik erſt gelöſt iſt, wird das Einzige, was mich jetzt noch von ihr trennt, ganz aus ihrem Leben

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getilgt ſein. Ich nehme nicht die Frau eines andern Mannes, aber wenn ſie freiwillig zu mir kommt mit ihrer Liebe —“ Viffert ſchwieg.

„Und wenn ſie Ihnen nun doch nicht die Wahrheit geſagt hätte?“ fragte Skram ruhig.

Viffert erhob ſich haſtig, um zu gehen.

Doch Skram hielt ihn auf und ſagte beſtimmt: „Herr Viffert, jetzt iſt es acht Uhr. Um zehn Uhr werde ich hier anläßlich des Todes Ihres Onkels Verhör ab⸗ halten. Wollen Sie ſo freundlich ſein und ſich dann hier in meinem Bureau einfinden. Es liegt eine Sache von großer Wichtigkeit vor.“

Viffert blickte ihn verſtändnislos an, dann neigte er als Antwort den Kopf und ging.

Skram folgte ihm bis zur Tür und in ſein Zim⸗ mer zurückgekehrt flüſterte er vor ſich hin: „Sie hat gewußt, daß er tot war.“

Hatte ſie alſo die Unwahrheit geredet, als ſie er⸗ zählte, daß Viffert ſich das Meſſer ſelbſt aus dem Ankleidezimmer des Grafen geholt habe? Es konnte immerhin wahr ſein, denn die Vermutung, es liege Mord vor auf die Skram ja nur dadurch gekommen war, daß er das Meſſer des Grafen in der Hand des Toten gefunden hatte konnte von Liffert ſelbſt beabſichtigt worden ſein, und allein zu dieſem Zweck konnte er ſich das Meſſer geholt haben.

Doch wie war es nun mit der Todesurſache be⸗ ſtellt? War es Mord, Selbſtmord oder nur Herz- lähmung?

VII.

Für Skram bedeutete Muſik Ruhe. Wenn er am Tage ſchwer gearbeitet hatte und das Durcheinander der Gedanken ihm einen leichten Druck im Hinterhaupt verurſachte, konnte er plötzlich aufſpringen, die Arbeit zur Seite ſchieben und nach ſeinem Cello greifen. Stundenlang pflegte er dann, den Rücken den Fenſtern zugekehrt, über ſein Inſtrument gebeugt dazuſitzen

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es abzuſetzen, um zu ruhen, ohne zu denken und es wieder an ſich zu ziehen, um ſich in das große Nichts hinauszuſpielen. Beethovens Celloſonaten ſpielte er am liebſten, allein er ſpielte ſie nicht nur, ſondern er durchlebte die Gedanken des Meiſters ohne mit dem Gehirn zu arbeiten, nur den Tönen folgend ihnen nachblickend, wie ſie auftauchten und wieder ver⸗ ſchwanden.

Und an dieſem Abend war Skram müde, er wollte alles zuſammen durch ſein Spiel verſcheuchen, alle dieſe ſich kreuzenden Gedanken und Kombinationen auf⸗ heben, um nur den einen Gedanken, der wirklich Wert hatte, zurückzubehalten. Er wollte ihn von allen Fehl⸗ ſchlüſſen iſolieren, um ihn ein Gewebe aus Beethovens Sonaten legen, das jede Beeinfluſſung durch andre Vorſtellungen verhindern müßte.

Er merkte nicht, daß die Gartentür aufging, er ſpielte in den Tönen verſunken, ohne zu ahnen, daß ſie hinter ihm ſtand, leiſe und lauſchend und ängſtlich jede Bewegung vermeidend, um den Zauber der Töne nicht zu brechen.

Als er ſich erhob, wurde er ihrer gewahr. Er neigte den Kopf, wie man einen Freund begrüßt, und ſetzte das Cello in eine Ecke. Dann trat er zu ihr hin und ergriff ihre Hand.

„Dank, daß Sie gekommen ſind,“ ſagte er.

„Und Dank, daß Sie geſpielt haben,“ erwiderte ſie, ihm gerade in die Augen ſchauend. Ihr Blick war feucht wie von Tränen verſchleiert, dabei ſah ſie blaß und abgeſpannt aus.

Sie nahm auf einem Lehnſtuhl neben der Tür Platz und er ſtellte ſich ihr gegenüber an den Tür⸗ pfoſten. Es war gegen Sonnenuntergang, und die Glockenſchläge von der Kirche drangen über den Schloß- ſee und durch den Park.

„Kommen Sie, um zu reden, oder um zu ſchwei⸗ gen?“ fragte Skram.

Sie lächelte. „Ich muß wohl reden, nun nachdem

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Sie in der Sprache zu mir geredet haben, die ich höher ſchätze als jede andre. Ich nehme meine leicht⸗ ſinnigen Worte zurück, Skram. Sie ſollen kein andres Inſtrument als das Cello ſpielen. Das Cello iſt das Inſtrument des Mannes, und Sie, Skram, ſind ein Mann.“

„Da denken Sie wohl an das kleine Intermezzo vor dem Zuge?“ fragte er. „Nun, das machte bloß der Selbſterhaltungstrieb, ſonſt nichts. Ich habe noch einige Dinge in dieſer Welt auszurichten! Nachher mögen wir meinetwegen dorthin abreiſen, von wo man niemals wiederkehrt. Aber nicht früher. Sie ſind alſo gekommen, um zu reden. Gut, ſo will ich ſchweigen.“

„Ich ſchulde Ihnen eine Erklärung für dieſen Ein⸗ fall von mir,“ ſagte ſie. „In jenem Augenblick war ich nicht Herr über mich. Wenn das Entſetzen mich packt, bin ich imſtande, inſtinktmäßig, ohne widerſtehen zu können, Taten zu verüben, die mir in ruhigen Augenblicken nie in den Sinn kommen würden, und als ich den Wagen dem heranbrauſenden Zug ent⸗ gegenſteuerte, da war nicht ich es, die das wollte, ſondern ſtärkere Mächte in mir, denen ich gehorchen mußte. Na, es wurde ja nichts daraus, und nicht wahr, hier in der Welt, wo ſo vieles zum Ziele führt, iſt es recht zwecklos, bei Dingen, aus denen nichts wurde, zu verweilen!“

„Ganz gewiß,“ ſagte Skram. „— und darum wollen wir auch nicht weiter davon reden.“

Sie fuhr fort, indem ſie mit ihrem gewöhnlichen feſten Blick zu ihm aufſchaute. „Als Sie mir ſagten, Sie ſeien überzeugt, ich hätte Viffert ermordet, war es mir, als ſchlügen Sie mir mit einer Peitſche ins Geſicht. Es biß und brannte, wie Hohn nur brennen und beißen kann. Ich kenne Sie ja nur als den ſtillen, etwas wehmütigen, ſchweigſamen Mann, der an langen Winterabenden bei mir ſaß, wenig redete und viel lauſchte, wenn wir nicht die Töne reden ließen und

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beide ſchwiegen. Ich konnte nicht faſſen, daß Sie jo roh ſein konnten. Männer können wohl alle roh ſein, aber die beſten doch nur gegen die Frauen, die ſie lieben, und Sie, Skram, haben ja immer nur in der kühlen Entfernung der Freundſchaft zu mir geſtanden. Ich glaubte einen Augenblick lang, es ſei der Richter, der aus Ihnen redete, der rückſichtsloſe Richter, den ich nicht kannte, von dem ich nur früher gehört hatte. Aber es war nicht der Richter, es war der Mann, der aus Ihnen redete. Und darum verſtand ich Sie nicht. Heute abend habe ich darüber nachgedacht und nun verſteh' ich es beſſer. Helmut Viffert hat mit Ihnen geredet, er hat meinen Namen genannt und vielleicht davon geſprochen, was ihn und mich zuſammenknüpfte von den Leiden vieler Jahre für die Schwäche eines Abends. Und das Bild, das Sie ſich von mir geſchaffen hatten, wurde verwiſcht und durch ein ganz andres erſetzt nicht wahr?“

Skram ſchwieg.

„Ich verſtehe Sie, Skram,“ ſagte ſie, „und ich zürne Ihnen nicht mehr. Wir reden miteinander wie zwei Menſchen, die ein Geheimnis zuſammen haben. Ich bin in Not, in bitterer Not. Heute morgen glaubte ich, die Sonne gehe für mich auf, um meinen ganzen Lebenstag zu beſcheinen, und jetzt des Abends, Skram, des Abends geht ſie unter für immer, wenn Sie ihr nicht gebieten, aufs neue für mich auf⸗ zugehen. Ich will ich kann mir das Glück nicht entreißen laſſen.“

Skram lächelte. „Das Glück! Wer würde glauben, daß Sie, ſo ruhig wie Sie ſind und bei dem Vielen, das Sie geſehen und erlebt haben das Glück im Ungewiſſen ſuchen wollten. Ich verſtehe ſehr wohl: Sie wollen nicht haben, daß der junge Mann, in deſſen Perſon Sie zu finden glauben, was Sie das Leben nennen, etwas zu wiſſen bekommt. Sie haben früher verſucht, ehrlich zu ſein, aber Sie glauben jetzt, daß dieſe Ihre Ehrlichkeit Ihnen das Glück verſchleiert habe.

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Jetzt wollen Sie aufs neue geboren werden mit dem Nichts der Geburt hinter ſich, und ſo, glauben Sie, können Sie das Glück umfaſſen.“

Sie bog den Kopf vor, um zu antworten.

„Aber Sie gehen fehl, Gräfin Polly es gibt wohl Menſchen, für die das Glück aus ſeinem Garten, deſſen Tiefen niemand kennt und erforſchen kann, emporſteigt. Für die allermeiſten von uns jedoch, und dann auch nur für die Sehenden, iſt das Glück nichts als die Harmonie des Augenblicks, ein Drei⸗ klang von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Wir ſind gezwungen, die Vergangenheit in die Gegen⸗ wart hineinzuziehen, und aus dem Zuſammenſpiel beider ſchaffen wir die Zukunft. Das iſt der Drei⸗ klang des Glücks. Den Grundton darin erſticken können Sie nicht; der klingt durch das Glück des ganzen Lebens hindurch. Und Sie mögen wiſſen, daß es zu den Geheimniſſen des Lebens gehört, daß Kummer und Schmerz der Grundton eines tiefen, wahren Glücks zu werden vermögen. Wir Menſchen, die ins Leben geſchaut haben, können nicht der Vergangenheit be⸗ raubt werden, ſie ſei ſo bitter und dunkel, als ſie will.“

„Es handelt ſich hier nicht um mich,“ ſagte ſie, ſondern um ihn. Ich will, daß er mich als die zu ſich nimmt, die ich bin ohne zu wiſſen, was ich war!“

Skram zuckte die Achſeln. „Es fällt mir ſchwer, an ihn zu denken. Aber gut, ich will ihn einmal wirk⸗ lich ſo ſehen, wie Sie ihn ſehen, nicht anders. Doch nun muß ich Ihnen gleich ſagen: Sie ſehen ihn falſch, Sie kennen ihn nicht, Sie kennen ihn nicht, wie Sie auch nicht wollen, daß er Sie kenne. Glauben Sie, daß das der Weg iſt, der dem Tag entgegenführt, nach dem es Sie verlangt? Nein, das iſt ein Weg, der in die Nacht hinausführt in eine Nacht, die nicht wie die hellen Sommernächte voller Wohlgefühl und Wohl- klang, ſondern eine graue, ſchwere Winternacht iſt, in der das Gemüt erdrückt wird und die Jugend dahin⸗

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ſiecht. Sie leben Ihr Leben nicht in dem, was außer Ihnen liegt, ſo wie wir es tun, die des Tages Arbeit zu leiſten haben Sie leben Ihr Leben, wie es ſich in Ihren eigenen Gedanken widerſpiegelt. Es gibt wohl Frauen, die ſtark und tief für einen Mann emp⸗ finden, die ihr Leben in dem täglichen Schaffen für Haus und Kind erblicken die Betten machen und die Diele fegen, das Haus beſtellen und das Leinenzeug flicken die nur in ihrer einfachen tiefen Liebe zu Mann und Kindern groß ſind, ſelbſt wenn ſie klein erſcheinen. Und ſolche Frauen können wohl einen Mann ganz gewinnen, ſo daß er nach nichts anderm fragt als dem Glimmen ihrer tiefen Liebe, das er täglich ſieht ihrer Liebe, die der einzige und ganze Inhalt ihres Geiſteslebens iſt. Wären Sie derart, ſo könnten Sie verſuchen, in Zukunft allein zu leben. Doch ſo ſind Sie nicht! Sie ſind kein Gretchen mit blonden Flechten und einem gebenden Herzen. Sie ſind nicht imſtande, das Vergangene zu vergeſſen, und können auch nicht allein für ſich in der Gegen⸗ wart leben. Denn könnten Sie das, dann hätten Sie ſchon längſt mit Helmut Viffert gebrochen, Sie hätten ihn aus dem Leben geſchafft, um allein zu bleiben!“

Sie ſah auf.

„Aus dem Leben geſchafft!“ wiederholte Skram feſt.

Sie ſah ſtarr vor ſich hin, während Skram redete. Er wandte ſich um und ging ſchweigend auf und ab, als warte er auf eine Antwort von ihr jedoch ſie ſchwieg.

„Sie müſſen nicht denken, Gräfin Polly, dies ſei ein Verhör; nein, es iſt kein Verhör, ich bin nicht Ihr Richter, ich wünſche nicht zu wiſſen, was oben in der Nacht geſchehen iſt und Viffert iſt nun ein⸗ mal tot. Aber ich bitte Sie, mir, der ich Ihr Freund bin, zu ſagen, warum Sie ſich an einen Mann fort⸗ ſchenken wollen, der Ihrer nicht wert iſt warum Sie handeln wollen wie jener Geiſtesheld, der ein Bauernmädchen zu ſeiner Gattin erhob, bloß weil ſie

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jung, friſch und hübſch war, der auf dieſe Weiſe ſein Leben verſpielte und ſchließlich ſeine Torheit beweinte, was ihm auch keinen Nutzen brachte? Das möchte ich wiſſen.“

Jetzt ſtand er wieder vor ihr, an den Türpfoſten gelehnt, und ſah auf ſie herab.

Sie redete langſam, bei jedem Wort verweilend:

„Ich habe einmal irgendwo geleſen, daß die Natur uns rufen kann; es kommt die Stunde, da der Menſch ſich danach ſehnt, zur Natur zurückzukehren, aus der er hervorgegangen iſt. Dieſe Stunde iſt zu unſrer Zeit ſchon für manchen gekommen für mich iſt ſie jetzt gekommen. Das Einfache das Unzu⸗ ſammengeſetzte das Wahre das nur will, was der Menſch durch eigene Kraft erreichen kann, und es ſo will, daß es im Einklang mit der Natur ſteht das zieht mich zu ſich hin, mich, die ihr Leben bisher nur in künſtlichem Lichte zugebracht hat in einer prächtigen Halle, aus der die Sonne verbannt war und in der an ihrer Stelle vom Morgen bis zum Abend Kronleuchter brannten. Ich habe ſo vieles gehört nun ſehne ich mich nach Schweigen. Ich habe ſo viele Farben in ihrem Zuſammenſpiel geſehen nun ſehne ich mich nach wenigen, die aber rein und ſtreng voneinander gehalten ſind. Ich habe immer jenſeits von Gut und Böſe geſtanden nun ſehne ich mich nach einigen wenigen, feſten Anforderungen; aus den vielen wechſelnden Neuheiten, die mich bisher um⸗ gaben, ſehne ich mich nach wenigen, einfachen Freu⸗ den, nach einem einzigen tiefen Gefühl dem Gefühl Gretchens, wenn Sie ſo wollen. Ich habe geherrſcht nun will ich gehorchen; alle haben meine Wünſche zu erraten geſucht, haben nach meinem Wink geſpäht nun will ich ſelbſt danach ſpähen und ſuchen, mich einem harten Willen unterzubeugen. Und alles, was ich ſuche, kann er mir geben. Ich bin müde, doch ich gehe nicht in ein Kloſter, wie es andre täten, denn dort würde ich allein mit meinen Gedanken bleiben

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und daher auch keine Ruhe finden. Ich wähle mir einen Gefolgsmann, der alles will, wonach ich mich ſehne.“

„Das heißt alſo, Sie gehen doch in ein Kloſter, allerdings nicht allein, ſondern mit ihm ins Kloſter. Sie redeten alſo nicht die Wahrheit, als Sie mir geſtern ſagten, Sie wollten ihr Leben genießen, ſolange Sie noch jung ſeien. Das wollen Sie ja gar nicht! Nun, ich werde Sie nicht zurückhalten von dieſer neuen Form von Entſagung, aber eins verlange ich von Ihnen nicht um meinet⸗, ſondern um Ihretwillen: Mit geſchloſſenen Augen dürfen Sie nicht hinein⸗ gehen in dieſes neue Stadium. Sie müſſen ihn kennen, denn jetzt kennen Sie ihn noch nicht. Ich verlange nicht, daß Sie ihm demütig beichten und ihn bitten, Sie in Gnaden aufzunehmen, aber ich verlange, daß Sie ihm alles ſagen, was in der Nacht geſchehen iſt. Sagen Sie ihm alles alles, dann werden Sie ihn kennen lernen.“

Sie blickte ſpähend auf.

Er fuhr mit gedämpfter Stimme fort: „Ich bin durchaus kein Pedant; ich könnte mir die Welt ganz wohl ohne Wiedervergeltung denken, und ich fühle mich nicht berufen, aus eigener Macht zu richten. Ich richte nur, wo mein Beruf mich dazu zwingt. Aber ich glaube, daß Sie heute nacht von Angeſicht zu Angeſicht Ihrem toten Feinde gegenübergeſtanden haben in ſtarrem Entſetzen. Und was da geſchehen iſt, ſoll er erfahren. Verſteht er es nicht, ſo iſt er auch Ihrer nicht wert. Er ſoll es nicht etwa mit ſeinem Verſtande verſtehen, nein das Unzuſammengeſetzte ſoll er begreifen, ſo wie jede menſchliche Handlung auf alle Menſchen wirkt. Wir faſſen alles nur mit den Mitteln auf, über die wir verfügen. Verſteht er es gut, dann dürfen Sie ihm folgen. Aber ich ſage Ihnen, er wird es nicht verſtehen und von Ihnen ablaſſen. Und dann ſollen Sie ihn gehen laſſen, wohin er will. Es iſt beſſer, man iſt allein einſam, als mit einem andern einſam.“

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Sie antwortete nicht, ſondern ſtarrte vor ſich hin.

„Er iſt jetzt hier,“ ſagte Skram, „er wartet draußen; ich hörte ihn vorhin kommen. Reden Sie nun mit ihm. Ich ſagte Ihnen ſchon: ich bin nicht Ihr Rich⸗ ter ſondern Ihr Freund. Sagen Sie ihm, was Sie wollen und wie Sie es wollen, aber Sie mögen wiſſen, daß Sie, wenn Sie nicht jetzt reden, ſicher noch ſpäter einmal reden werden und dann wird es zu ſpät ſein. Oder aber Sie werden zu allen Zeiten ſchweigen und dann in derſelben Halle ſitzen, in der Sie, wie Sie ſagen, bisher geſeſſen haben, und das Licht der Sonne wird daraus verbannt ſein wie bisher.“

Sie antwortete nicht, und Skram ſchritt eilig zur Tür.

Auch ſie erhob ſich wie um zu gehen, doch an der Tür hemmte ſie den Schritt und ſtarrte über das grün⸗ gelbe Waſſer zur Edelsburg hinüber.

So ſtand ſie noch ſchweigend an den Türpfoſten gelehnt, als Sigismund Viffert eintrat.

Er war allein.

VIII.

Skram ließ ſich reichlich Zeit. Er ſetzte ſich an ein im Vorzimmer ſtehendes Pult und ſchrieb gemächlich einige Briefe; dann nahm er ſeinen Hut und ging aus. Er ſchritt auf gut Glück zum Fjord hinüber, der im Abendſcheine glänzend dalag verfolgte den Weg, bis er die Spitze erreicht hatte, an der der Fjord ins Meer übergeht. Er dachte an nichts, ſondern ſchritt nur vorwärts und ſaugte die friſche Abendbriſe in vollen Zügen ein.

Es war eine Viertelſtunde Wegs bis zur Spitze und eine Viertelſtunde zurück. Es verging im ganzen alſo eine halbe Stunde, und Skram wollte den beiden eine ganze Stunde laſſen. Er wußte gut, wie leicht und häufig menſchliche Macht verſagt. Er hatte als Richter oft jener hartnäckigen Schweigſamkeit gegen⸗ übergeſtanden, die in entſchwundenen Zeiten die Rich⸗

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ter zur Anwendung der Folterinſtrumente gezwungen hat. Er wußte, wie hilflos man einem, der nicht reden will, gegenüberſtehen kann. Aber Skram war auch geduldig, und ſeine Stärke beſtand darin, daß er immer reichlich Zeit ließ. Wer mit der Zeit rechnet, als ob alle Zeit ihm gehörte, der iſt Herr über die Ewigkeit, und nur aus Schwachheit glauben die Menſchen, daß die Zeit ihnen davonlaufe. So ſagt der Herzog von Wien in ſeinem „Measure for Measure“ zu dem ge⸗ fangenen Claudius: „Du eilſt dem Tod entgegen, wenn du glaubſt, ihn zu fliehen. Alle Haſt führt zum Tode. Das Leben kommt nur dem Wartenden.“

Skram lenkte feine Schritte dem Haufe des Kreis- arztes zu. Der Doktor, der ihn bereits erwartete, führte ihn in ſein Studierzimmer und bat ihn, Platz zu nehmen.

„Doktor,“ ſagte Skram, „ich will Ihnen geſtehen, daß ich jetzt in einer ernſten Klemme ſitze. Ich habe mir nach und nach eine Theorie über die Ermittlung und Konſtatierung von Miſſetaten gebildet, die von der gewöhnlichen entſchieden abweicht. An Indizien als Richtſchnur für das Urteil glaube ich nicht; ſie ſtellen den menſchlichen Wiſſensdrang durchaus nicht zufrieden, ſondern laſſen eine niederträchtige Ungewiß⸗ heit zurück, die draußen im Volke böſes Blut macht. Der Zeugenbeweis iſt der ſchlechteſte von allen Be⸗ weiſen; er tritt mit einer vom Geſetz beſtärkten, alt⸗ hergebrachten Autorität auf, die ihm im voraus ein gewaltiges Übergewicht verleiht. Aber zu unſrer Zeit mit ihren tauſendfachen Eindrücken, mit ihrem ganzen zuſammengeſetzten Geſellſchafts⸗ und Gefühlsleben hat es ſich erwieſen, daß die Menſchen buchſtäblich ge⸗ nommen überhaupt nicht imſtande ſind, zu zeugen. Die Zeugenausſagen ſind gar nicht mehr Berichte aus erſter Hand über Geſehenes und Gehörtes, ſondern ſie ſind gefällte Urteile nicht kompetenter Richter. Das einzige Beweismittel, dem ich mich beuge, iſt das eigene Geſtändnis. Wenn ein Mann ſagt, daß er ein Verbrechen begangen habe, ſo bin ich unter gewöhn⸗

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lichen Umſtänden geneigt, ihm Glauben zu ſchenken. Und ich glaube nicht, daß ich je, ohne ein Geſtändnis erlangt zu haben, eine Verurteilung ausſprechen könnte. Es kommt bloß darauf an, auf welche Weiſe man ein Geſtändnis erzwingt. Es iſt lange Zeit hindurch ge⸗ bräuchlich geweſen, von den Bezichtigten ein Geſtändnis zu erpreſſen; das iſt allerdings ausführbar, aber es können dabei Mißbräuche vorkommen, die die Sicher⸗ heit des Reſultats erſchüttern. Meine Methode da⸗ gegen iſt die, mit Vermutungen zu arbeiten, mir eine Anſicht über das Geſchehene zu ſchaffen und meine Vermutungen nach Möglichkeit zu bekräftigen. Das iſt allerdings ſchon die gebräuchliche Methode, doch wird hierbei die Gefahr außer acht gelaſſen, von vornherein Partei zu ergreifen. Im allgemeinen wird es für ſchwächlich gehalten, hinterher ſeine Anſicht zu ändern, bei meiner Methode dagegen iſt dieſes notwendig. Ich laſſe die Vermutungen aus den Tatſachen, die ich in Betracht ziehe, entſtehen, laſſe ſie verſchwinden und ſich gegenſeitig bekämpfen. Mein Ziel iſt, ſchließlich zu einer Anſicht zu gelangen, die allein richtig erſcheint, und ſie dem Betreffenden, den ich für ſchuldig halte, vorzulegen und auseinanderzuſetzen. Wenn meine Vermutung richtig iſt, wenn ich alle Wege, auf denen ich zu ihr gelangt bin, nachweiſen kann, ſo iſt es wahr⸗ ſcheinlich, daß ich das Geſtändnis erlange; das will ſagen: ich ſiege im logiſchen Zweikampf.“

Der Doktor nickte. „Das ſind allgemein gültige Bemerkungen, Skram ich bin nun unbändig neu⸗ gierig, die ſpeziellen zu hören. Wen haben Sie in Verdacht?“

„Die Gräfin,“ ſagte Skram kurz.

„Die Gräfin?“ wiederholte der Doktor und öffnete den Mund vor Erſtaunen, „das iſt ja ganz was Neues!“

„Für Sie nicht für mich. Nun, da es ſich nicht um Mord handelt, ſondern um einen leichteren Fall, trage ich kein Bedenken mehr, Sie an meinem Ge⸗ heimnis teilnehmen zu laſſen. Einen Augenblick lang

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bin ich im Zweifel geweſen, denn ſie erzählte mir mit klaren Worten, daß Viffert ſelbſt im Ankleidezimmer des Grafen geweſen ſei, nachdem er ihr Schlafzimmer paſſiert habe, und daß er ſelbſt das Meſſer, auf dem ſich unſre Theorie aufbaut, an ſich genommen habe. Da ſie unmöglich gewußt haben kann, daß mit den Meſſern etwas vorlag, ſo wäre das Ganze durch Vifferts Niedertracht, die mich keineswegs in Er⸗ ſtaunen ſetzt, erklärt. Nun dagegen ſtellt ſich die Sache wieder anders. Viffert hat nicht Selbſtmord begangen, ſchon aus dem Grunde, weil er bereits tot war, ehe ihm der Schnitt zugefügt wurde. Nicht wahr?“

„Die Wunde iſt entſchieden poſtmortal.“

„Gut, wir ſtehen alſo einem neuen Rätſel gegen⸗ über, das ſich indeſſen löſen läßt. Viffert hat das Meſſer tatſächlich in der Abſicht geholt, es zu benutzen; er wollte ſich den Hals abſchneiden, und nur fein plötzlicher Tod hat ihn daran gehindert. Nun bieten ſich zwei Möglichkeiten. Die erſte iſt folgende: er hat tot im Bett gelegen, ohne das Barbiermeſſer in der Hand zu halten ſei es, daß er ſeinen Selbſtmords⸗ plan hat fallen laſſen, ſei es, daß er zu den Vorberei⸗ tungen noch nicht geſchritten war. Das Meſſer hat jedenfalls auf dem Tiſch am Bett oder vielleicht auch auf dem Bett ſelbſt gelegen. Dann kam ſie herein nicht um ihn zu ermorden, ſondern aus andern Grün⸗ den, um mit ihm zu reden. Sie hat ihn liegen ſehen und geglaubt, er ſchlafe. Ein plötzlicher Einfall, das Blitzen des Meſſers oder, was weiß ich, hat ſie mit ſich fortgeriſſen. Sie hat das Meſſer ergriffen und zugeſchnitten, um dann, wie Sie es für wahrſcheinlich halten, zu entdecken, daß ſie in eine Leiche ſchnitt. Wenn dies richtig iſt, ſo liegt ein Mordverſuch vor, der in Anbetracht der obwaltenden Umſtände mit ein paar Jahren Zuchthaus beſtraft werden würde. Es würde hart für mich ſein, hier einzuſchreiten, denn teils bin ich prinzipmäßig Widerſacher der Beſtrafung

putativer Verbrechen, die in großen eee XXVI. 19.

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ſtraffrei find und es auch fein müſſen, teils bin ich ſehr dafür, über dieſe Handlung, die doch kaum mit voller Zurechnungsfähigkeit ausgeführt ſein kann, den Schleier fallen zu laſſen. Doch ein Konflikt liegt hier immer⸗ hin vor, und es iſt von Amtswegen meine Pflicht, hier einzuſchreiten.“

„Das wäre alſo die erſte Möglichkeit,“ ſagte der Doktor, „und nun die zweite?“

„Die zweite,“ verſetzte Skram, „iſt noch ſonder⸗ barer als die erſte, aber dennoch neige ich zu ihrer Annahme am meiſten. Viffert hatte beſchloſſen, ſich unter ſolchen Umſtänden zu entleiben, daß ein Mord⸗ verdacht auf andre fallen mußte. Die verſchiedenen Andeutungen, die er mir gegenüber geſtern abend machte, beſtärken mich in dieſem Glauben. Die Gräfin hat ſicher die Wahrheit geſprochen, als ſie von ſeinem nächtlichen Beſuche erzählte. Doch Viffert hat mehr getan; er hat ſich mit dem Meſſer bewaffnet, ſich im Bett zurecht gelegt und iſt dann, ganz unerwartet, ge⸗ ſtorben. Dann iſt ſie hinzugekommen, an ſein Bett getreten und hat geſehen, daß er bereits tot war. Beachten Sie wohl, das iſt durchaus nicht undenkbar, denn es muß gegen zwei Uhr geweſen ſein, und es war ſomit ſchon hell. Doch das Unheimliche der ganzen Si⸗ tuation, ſein Geſichtsausdruck, der feſtgeſchloſſene Mund, die Leichenſtarre und das Meſſer haben ihren Schritt gehemmt und ſie mit Entſetzen erfüllt. Und unter dem Einfluß dieſes Entſetzens hat ſie wie ein Schlaf⸗ wandler gehandelt, faſt mechaniſch das Meſſer ergriffen und zugeſchnitten, in den Kadaver hinein, der vor ihr lag. Es klingt recht wunderlich, aber es kann doch ſo geweſen ſein, und ich bin zu dem Glauben geneigt, daß es wirklich ſo gegangen iſt. Dieſe ihre Handlung würde abſolut ſtraffrei ſein, und auf dieſer Grundlage kann ihr kein Prozeß gemacht werden.“

Der Doktor ſchüttelte den Kopf. „Es klingt ſehr wunderlich aber möglich iſt es ja.“

„Jawohl,“ ſagte Skram, „es erſcheint mir weit ver⸗

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ſtändlicher, daß eine Frau wie ſie einem nervöſen, krankhaften Zwange nachgegeben hätte, als daß ſie einen Mord oder einen Verſuch dazu hätte vollbringen können. Eine Frau mit ihrem Naturell muß zu einer ſolchen Handlung angereizt werden; der paſſive Schlaf reicht nicht hin, aber der Tod ſelbſt, der Tod iſt ihr ent⸗ gegengetreten und hat ihren Handlungsdrang in dieſer wahnwitzigen Tat ausgelöſt.“

„Das iſt gar nicht ſo undenkbar,“ ſagte der Doktor, „— pſychologiſch erklärlich iſt es jedenfalls. Aber was wollen Sie nun machen?“

„Das will ich Ihnen ſagen,“ lautete die Antwort. „Ich benutze dieſe beiden wollen ſagen Richter⸗ vermutungen derart gegen ſie, daß ſie mir ſagen muß, welches die richtige iſt.“

„Und dann?“

„Einſtweilen will ich mir meine Stellungnahme noch vorbehalten, wenn ich auf Sie rechnen kann.“

„Was meinen Sie damit?“ fragte der Doktor.

„Ich möchte Sie fragen, Doktor, ob Sie, wenn ich es mit meiner Amtsverantwortung in Einklang bringen kann, die Sache ad acta zu legen, es als möglich dahin⸗ geſtellt ſein laſſen wollen, daß die Herzlähmung wäh⸗ rend eines Selbſtmordverſuches eingetreten iſt.“

„Das würde mir als Gerichtsarzt peinlich ſein,“ ſagte der Doktor, „denn, ehrlich geſagt, halte ich das für ausgeſchloſſen. Der Blutaustritt müßte dann viel größer geweſen ſein und die Wunde würde auch ganz anders ausgeſehen haben. Wie geſagt, iſt es eine poſtmortale, keine intravitale Verletzung.“

„Die Herren Arzte ſind verteufelt ſicher in ihren Urteilen,“ ſagte Skram. „Ich will in dieſem Falle ſo beſcheiden als möglich ſein: es kann doch möglich ſein, daß Sie ſich irren!“

„Dann können Sie ja ein Obergutachten einholen,“ ſagte der Kreisarzt, ein wenig verdroſſen. Es ärgerte ihn, daß man an ſeinem visum et repertum zweifelte.

„Auch ein gutes Wort,“ ſagte Skram. „Dieſe Sache

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ſoll entweder zu einem Fall werden, der das ganze Land in Aufregung verſetzt, oder ſie ſoll in aller Stille bei⸗ gelegt werden. Ein Drittes gibt es nicht. Und würden Sie mit dem letzteren einverſtanden ſein, wenn ich es täte?“

„Ja,“ ſagte der Doktor.

„So werde ich Ihnen morgen Beſcheid ſenden. Ich rechne auf Sie.“

Damit ſchieden ſie.

IX.

Als Skram zurückgekehrt war, traf er die Gräfin allein im Gartenzimmer an. Sie ſaß in der Tür⸗ öffnung und ſtarrte zum Schloß hinüber.

Als ſie Skrams Schritte hörte, erhob ſie ſich ſchnell und trat ihm entgegen.

„Wünſchen Euer Gnaden, daß ich Licht anzünde?“ fragte Skram.

„Nein,“ erwiderte fie ſchnell, „das würde Sünde ſein. Die Nacht iſt ſo herrlich, und ich liebe die Däm⸗ merung.“

„Und die Einſamkeit,“ fügte er hinzu. „Euer Gnaden, nun iſt es dahin gekommen, wohin es kommen mußte. Ich hatte erwartet, Sie allein zu treffen, und nun müſſen Sie mit mir reden. Ich bin nicht Ihr Feind, aber ich bin in dieſem Augenblick Ihr Richter. Ich habe gewartet und geſchehen laſſen, was geſchehen iſt. Sie ſind nicht gewohnt, vor jemand zu zittern, und doch haben Sie heute vor mir gezittert. Ich will ehrlich ſein: ich habe ein Doppelſpiel mit Ihnen getrieben. Doch nun kann dieſem Spiel ein Ende gemacht werden, wenn Sie es nur wollen.“

Sie trat einen Schritt zurück.

„Wollen Sie mir drohen, Skram?“

„Nein,“ ſagte er, „drohen nicht, aber Gewißheit will ich haben. Ich bezichtige Sie nicht, Viffert er⸗ mordet zu haben, weil ich jetzt weiß, daß dieſer Mann

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an einem Herzſchlag geſtorben iſt. Aber ich weiß auch, daß Sie, Gräfin, heute nacht an ſeinem Bett geſtanden haben, und ich frage Sie bloß das eine: Wußten Sie da, daß dieſer Mann tot war?“

Skram konnte ihr Geſicht nicht ſehen, aber die Umriſſe ihrer Erſcheinung waren wenn auch nur undeutlich erkennbar, und er ſah, daß ſie bebte.

Dann ſagte ſie mit heiſerer Stimme: „Wollen Sie mich etwa der gaffenden Pöbelmenge ausliefern?“

„Nein,“ verſetzte Skram, „ich habe Ihnen geſagt, was ich will. Ich will Ihr Geſtändnis.“

Sie machte einen Schritt zur Tür, doch Skram ergriff ſie beim Handgelenk.

„Ich weiche nicht von Ihnen, Gräfin. Sie ſind in meiner Gewalt.“

„So —! Alſo an ſich gelockt haben Sie mich in einen ganz erbärmlichen Hinterhalt gelockt!“

Sie ſuchte ihre Hand freizumachen.

Skram ſprach kurz und beſtimmt.

„Sie haben die Wahl, Euer Gnaden. Entweder reden Sie mit mir wie mit einem Freunde, oder ich klingle und rufe mein Perſonal herbei; dann iſt die Brücke hinter uns abgebrochen, das Verhör beginnt und niemand kann den Verlauf der Dinge mehr auf⸗ halten.“

„Wollen Sie meine Hand loslaſſen?“

Skram tat es. 5

„Warum fagten Sie das nicht früher bevor Sigismund kam?“

„Weil ich Ihnen eine Chance laſſen wollte. Ich gebe jedem, mit dem ich kämpfe, eine faire Chance. Hätten Sie ſich ihm gegenüber ausgeſprochen und wäre er derjenige, für den Sie ihn hielten, dann hätte er Sie in Sicherheit gebracht und einen Vorſprung er⸗ zielt, den ich jetzt nur ſchwer würde einholen können jedenfalls nicht, ohne einen gefährlichen Schritt zu tun, der mich große Anſtrengung koſten würde. Ich traf Sie aber hier allein und es wurde mir klar, daß Sie

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entweder nicht zu ihm geredet hatten, oder daß er nicht derjenige iſt, für den Sie ihn hielten. Was ge⸗ ſchehen iſt, bleibt ſich gleich. Ich nehme an, daß es vorbei iſt.“

Sie beugte den Kopf. „Sie haben recht. Ich redete nicht, ich brachte es nicht übers Herz; er iſt ja nur ein Kind. Ich habe mich nicht an ihm, ſondern an mir ſelber geirrt. Es iſt vorbei, wie Sie ſagen, ganz vor⸗ bei. Und nun bitte ich Sie, laſſen Sie mich gehen.“

„Euer Gnaden,“ ſagte Skram. „Sie haben Ihr Leben heute ſchon einmal aufs Spiel geſetzt, und da waren Sie ſo wenig rückſichtsvoll, auch mit dem mei⸗ nigen nicht zu rechnen. Laſſen Sie's bei dem einen Mal genug ſein. Sprechen Sie ſich aus, ſagen Sie mir alles. Ich bin kein Kind; Sie ſelbſt haben mir die Ehre erwieſen, mich einen Mann zu nennen. Gut, ich bin ein Mann, und ich kann Sie, wenn Sie wollen von dieſem ganzen Handel los und ledig machen.“

„Was wollen Sie wiſſen?“ fragte ſie heiſer.

„Das habe ich Ihnen ſchon geſagt. Ich weiß, daß Helmut Viffert an einem Herzſchlag geſtorben iſt, aber ich weiß auch, daß ein andrer ſeinen Hals mit einem Barbiermeſſer durchſchnitten hat. Dieſer andre ſind Sie. Und ich frage Sie nun bloß, ob Sie mit der Abſicht zu ihm gekommen ſind, ihm das Leben zu nehmen.“

„Nein, nein, nein!“ ſagte ſie.

„Gut, Sie kamen alſo nicht mit dieſer Abſicht. Aber als Sie in ſein Schlafzimmer traten, ſahen Sie ihn im Bett liegen, als ob er ſchlafe. Das Meſſer hielt er in ſeiner rechten Hand.“ j

„Ja,“ flüſterte fie kaum hörbar.

„Und Sie traten an das Bett in dem Glauben, daß er Hand an ſich gelegt habe. Sie mußten hin⸗ treten, nicht wahr? Sie konnten das Zimmer nicht Wee ohne ſich vergewiſſert zu haben, daß er tot war?“

„Er hatte mir ja geſagt, daß er ſterben wolle,“ ſagte

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ſie langſam. Es war, als ob ſie unter Skrams Worten zum Bewußtſein gelange.

„Sie beugten ſich über ihn und ſahen, daß er tot war

„Ja, und da kam es, daß ich, ohne mir darüber klar zu ſein, was ich tat, das Meſſer nahm und zu⸗ ſchnitt. Ich wollte, er ſolle von dem Tod betroffen zu ſein ſcheinen, mit dem er gedroht hatte. Ich haßte den Mann, Skram, ich haßte ihn noch im Tod.“

Skram ergriff ihre Hand. „Das Verhör iſt zu Ende, Euer Gnaden. Ich ſage Ihnen bei meiner Ehre, keine Behörde der Welt hat das Recht, Sie mit einem Wort über das Geſchehene zur Verantwortung zu ziehen. Und keine Seele mit Ausnahme des Dok⸗ tors ſoll etwas darüber erfahren. Das Verhör iſt beendet, und die Sache damit auch. Sie ſind frei Euer Gnaden, verſtehen Sie, frei, und haben nichts mehr zu fürchten.“

Sie zögerte.

„Aber wünſchen Sie, noch mehr zu ſagen, ſo bin ich bereit, alles anzuzuhören, was Sie zu ſagen haben. Ich ſelbſt glaube, daß Sie ſich nun leicht werden aus⸗ ſprechen können.“

Sie nickte bloß.

„Es iſt unten kühler,“ ſagte er und ſie ſchritten über den kiesbelegten Weg des Gartens zu den grünen, über das ſtille Waſſer hängenden Weiden hinab. Der Nachtwind ſauſte in ihren Alten und kräuſelte die Fläche des Grabens, der im Dunkel tiefgrün erſchien und mit ſeinen kleinen Wellen ſchluchzend gegen die Landungsbrücke und den Steinbelag der Raſenein⸗ faſſung ſchlug.

Sie redete zuerſt.

„Er hat wohl viel Häßliches über mich geſchrieben?“ fragte ſie.

„Nein,“ ſagte Skram, „er hat viel Häßliches über ſich ſelbſt geſchrieben, ſo viel, daß ich zu der Annahme neigte, Sie hätten den Entſchluß gefaßt, ihn aus der

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Welt zu ſchaffen, um den Mund zu ſchließen, der Sie jahrelang verhöhnt und verletzt hatte.“

„Mir,“ ſagte ſie, „erzählte er heute nacht, daß er ſterben wolle, aber, ſo fügte er hinzu, noch im Tode werde er bei mir bleiben, und Sigismund ſolle alles erfahren. Darum ſuchte ich ihn nochmals auf. Nicht, um ihn zu töten. Ich hätte meine Hand nicht gegen ihn erheben können. Ich war in ſeiner Gewalt und wollte frei ſein. Aber er ſollte mir ſelbſt die Freiheit ſchenken. Doch es kam ganz anders. Ich glaubte heute morgen, daß nun alles vorbei ſei, denn ich ahnte ja nicht, daß Sie mich verfolgen würden. Ich glaubte, Sie ſeien mein Freund, Skram.“

„Das bin ich auch,“ verſetzte Skram ernſt. „Ich habe Ihnen meine Freundſchaft in höherem Maße bezeugt, als Ihnen vielleicht klar geworden iſt. Und doch hätte ich Sie, wenn Sie den Mord begangen hätten, in die Hand der Obrigkeit geben müſſen. So aber habe ich meine Pflicht nicht verletzt.“

Sie lächelte trübe. „Und das waren Sie, Skram, der einſtmals mich zu lieben glaubte?“

„Gräfin Polly,“ ſagte Skram, „Sie haben mir heute abend Ihr Vertrauen geſchenkt. Wenn Sie es mir auch fernerhin zuwenden, ſo werden Sie vielleicht noch einmal erfahren, was Liebe iſt.“

Sie ſah ihn an und ergriff ſeine Hand.

„Heute beſiegeln wir alſo bloß unſre Freundſchaft!“

Skram redete mit leiſer, aber feſter Stimme, wie er zu tun pflegte, wenn er ſeinen Worten Nachdruck verleihen wollte.

„Und als Sigismund Sie verließ, begriff er da, daß es vorbei für ihn iſt?“

„Ja,“ ſagte ſie.

„Aber wie konnten Sie Ihren Gefühlen für ihn ein ſolches Gewicht beilegen, daß Sie bereit waren, mit allem zu brechen, um aufs neue zu leben, wie Sie es nannten? Und wie konnten Sie in mir eine ſolche Überzeugung von der Tiefe Ihres Gefühls wach⸗

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rufen, daß ich zu glauben vermochte, Sie könnten aus reiner Liebe zu dem jungen Manne einen Mord begehen? Denn daß ich das glaubte, wiſſen Sie ja.“

„Es war der Selbſterhaltungstrieb, der Kampf ums Glück, ums Leben. Ich war in Helmuts Gewalt. Er ſagte, er liebe mich, aber ſeine Liebe zu mir war nur ein Teil ſeiner Liebe zu ſich ſelbſt, der einzigen wah⸗ ren Liebe, die er zu empfinden vermag. Ich habe früher verſucht, mich von ſeiner Gewalt freizumachen; doch er ſtellte ſich gegen mich, und ich fiel ihm zu Füßen, um es aufs neue zu verſuchen und um mich wieder bezwingen zu laſſen. Ich war ſein Sklave und konnte ſeine Macht nicht brechen. Ich richtete alle meine Gedanken auf Sigismund Viffert, um mit ſeiner Hilfe, ohne daß er etwas ahnte, der Knechtſchaft, die mich gefangen hielt, zu entrinnen. Ich fühlte, daß das nur durch Liebe geſchehen könnte. Ich erdichtete mir Sigismund größer als er war, ebenſo wie ich meine Liebe zu ihm größer erdichtete, als ſie war. Und als Helmut das ſah und mir den Weg zu verſperren ſuchte, da bat ich, daß er ſterben möge, und ich frohlockte, als er mir ſagte, daß er ſterben wolle. Doch als ich ein⸗ ſah, daß er mich ſelbſt übers Grab hinaus noch ver⸗ folgen wolle, da wurde ich von Entſetzen erfaßt. Und dann geſchah alles, wie Sie es herausgebracht haben, ohne daß ich zu ſagen wüßte, wie.“

„Ich aber verſtehe alles,“ ſagte Skram. „Bloß das eine iſt mir nicht klar, inwiefern Sie der tote Mann ſollte verfolgen können. Wodurch ſollte der Ihnen ſchaden? Er konnte den jungen Viffert wiſſen laſſen, was zwiſchen Ihnen und ihm vorgefallen war, aber Sie konnten ja ſelbſt ſeinem Wort den Stachel nehmen. Sigismund weiß, daß Sie des Grafen Gattin ſind, und wenn er Sie liebte, müßte er Ihnen auch ver⸗ geben können, daß Sie die Geliebte ſeines Onkels geweſen ſind.“

„Das eben ſollte er nicht erfahren. Noch heute abend war alle meine Hoffnung auf ihn gerichtet,

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und ich weiß, hätte er es erfahren, dann würde ich ihn verloren haben.“

„Und nun heute abend baten Sie ihn ſelbſt zu gehen?“

„Es iſt heute viel geſchehen, Skram,“ ſagte ſie. „Und ich habe den Mann kennen gelernt, der mich ſchützen kann. Auch gegen mich ſelbſt.“

„So überantworte ich Vifferts Brief dem Feuer und laſſe jede Erinnerung an ihn in Vergeſſenheit ſinken,“ ſagte Skram.

Sie reichte ihm die Hand, indem ſie ſich erhob und dann ſchieden ſie. Skram aber ſtand noch geraume Zeit an der Brücke und ſah dem Boot nach, das über das dunkelgrüne Waſſer glitt, dem Schloß mit ſeinen ſtarken Mauern zu.

Die ſtanden jetzt nicht mehr trennend zwiſchen ihm und ihr!

Schluß,

„So iſt denn die Sache abgetan, Doktor,“ ſagte Skram, „und damit iſt dieſer Tag gut eingeleitet; es bleibt übrigens noch ein gut Teil zu tun übrig, und als Teſtamentsvollſtrecker haben wir auch noch einiges zu leiſten.“ a

Es war nun Morgen, und der Kreisarzt ſaß in der Gartenſtube des Richters an dem großen grün⸗ bezogenen Tiſch, den Skram als Arbeitstiſch benutzte.

Der Kreisarzt war ernſt geſtimmt; es hatte ihn doch einige Überwindung gekoſtet, hier von Grund⸗ ſätzen, die ihm über jeden Zweifel erhaben erſchienen, abzuweichen. Doch Skram unterſtützte ſeinen Entſchluß mit guter Begründung. Viffert war ja nicht ermordet worden, ſondern an einem Herzſchlag geſtorben, und die Gräfin hatte Skram eingeſtanden, in einer Art plötzlichen Wahnſinns einer unwiderſtehlichen Eingebung gefolgt zu ſein.

Der Kreisarzt brummte zwar: „Hätte ſich dieſes Drama oben beim verſoffenen Böttcher an der Ecke abgeſpielt, dann ſäßen die Leute jetzt alle Mann hoch hinter Schloß und Riegel und warteten auf ihre Ver⸗ urteilung.“

„Doktor,“ ſagte Skram, „merken Sie auf dies Wort: ich will Gleichheit für alle, aber ich will nicht, daß man dieſe Gleichheit dadurch zuwege bringt, daß man an denen unrecht handelt, gegen die man gegenwärtig, weil ſie hoch in der Geſellſchaft ſtehen, kein Unrecht verübt. Die wahre Gerechtigkeit beſteht darin, daß man gegen die Kleinen ebenſo gerecht iſt wie gegen die Großen, und nicht etwa, daß man gegen die Großen ebenſo ungerecht iſt wie gegen die Kleinen. Mag der

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Himmel geben, daß dieſe leicht verſtändlichen Prin⸗ zipien allen ſowohl den Kleinen als auch den Großen einleuchten. Ich bin gerecht geweſen. Ich habe nichts andres tun können, als was ich getan habe.“

Der Doktor lächelte. „Sie haben ja gar nichts getan, Skram!“

„Eben, lieber Doktor, und das iſt in neun von zehn Fällen gerade das, was ein Richter tun ſoll. Aber das werden die guten Leute gewiß erſt ſehr ſpät be⸗ greifen. Ich habe Zoll für Zoll die Sache zu ver⸗ ſtehen geſucht, und ich habe ſie verſtanden. Wenn man dagegen, wie die meiſten es tun, bei einer falſchen Vermutung ſtehen bleibt, ſo iſt damit freilich nicht geſagt, daß man nicht dennoch zur richtigen gelangen könne, aber man erreicht ſie nur auf einem weiten Umweg, und während deſſen wird über viele Unglück und Elend gebracht. Und daß ich das nicht getan, erfüllt mich mit dem Bewußtſein, daß ich recht habe. Sie ſollten bloß ahnen, wie viele wahnwitzige Fehl⸗ ſchlüſſe geſtern mein Gehirn durchkreuzt haben. Die richtige Vermutung kam erſt, als ich einen Blick in des toten Mannes Herz und in mein eigenes geworfen hatte. Schließlich war mein Fehler der, daß ich glaubte, ein Weib könne einen Mann ermorden, der ſich zwiſchen ſie und den von ihr Geliebten ſtellt. Ein Weib kann aus dieſem Grunde wohl ein andres Weib umbringen doch ſchwerlich einen Mann. Es war eine Vermutung ohne rechte pſychologiſche Grundlage, und davor müſſen wir uns in acht nehmen, Doktor. Im Grunde ge⸗ nommen, gibt es nur ein Moment, das nicht ganz aufgeklärt iſt, nämlich, wie es möglich ſein ſoll, daß ſie das Meſſer aus des Toten Hand genommen und ihm die Schneide auf die Kehle geſetzt hat. Sie ſelbſt ſagt, daß ein unwiderſtehlicher Drang ſie dazu getrieben habe, es muß alſo eine Art Wahnſinn geweſen ſein, und dergleichen iſt ja natürlich denkbar, aber ein der⸗ artiger Ausbruch von Wahnſinn bei geiſtig ganz ge⸗ ſunden Perſonen kann doch kaum auf Verſtändnis

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rechnen. Wahr iſt es indeſſen, daran hege ich keinen Zweifel. Aber es bedarf hier nicht allein der ob⸗ jektiven Wahrheit, ſondern auch einer plauſiblen Be⸗ gründung. Und hier, glaube ich, ſollte der Arzt ein Wort mitreden können.“

„Ich finde es auch gar nicht ſo ſchwer verſtändlich,“ ſagte der Doktor. „Gehen wir davon aus, daß eine ſeeliſche Abſpannung vorlag, daß ſie alles auf eine Karte ſetzte, alle Geiſteskräfte auf ein Ziel gerichtet hielt, und fügen wir dann zu dieſer Sammlung aller Kräfte die plötzliche Erſchlaffung, die über ſie kam, als ſie bemerkte, daß ſie gegen nichts mehr zu kämpfen hatte, ſo erſcheint es mir durchaus nicht ſo ſchwer, die Ideenverbindung zu verſtehen. Viffert hat mit dem Meſſer in der Hand ausgeſtreckt im Bett gelegen; alle ihre Gedanken waren auf dieſen Selbſtmord gerichtet, und die Luſt, ſeinen Selbſtmord vorzutäuſchen, iſt ihr zum Zwangsgedanken geworden. Sie hat ſich ſchon immer mit dem Gedanken beſchäftigt, daß dieſer Mann von eigener Hand ſterben müſſe. Der Zwangsgedanke wurde geboren, und die Hemmung, die ſeiner Aus⸗ führung entgegenwirkte, wurde dadurch abgeſchwächt, daß die kräftigſte Gegenvorſtellung: Du ſollſt nicht töten, nicht eintrat. Die Gräfin folgte alſo willenlos dem Zwange und griff nach dem Meſſer, deſſen Schärfe ſie als Frau nicht kannte und nicht beurteilen konnte. Der Schnitt wurde ſomit tiefer als ſie gedacht hatte; es floß Blut ſie hielt inne und wurde wieder Herr über ſich. Das Übrige erklärt ſich aus dem Selbſt⸗ erhaltungstrieb. Ich darf ſagen, daß ich recht wohl verſtehe und es auch nicht für allzu ſchwer halte, andre zum Verſtändnis zu bringen. Einem Arzt gegenüber wird Ihnen das jedenfalls mit Leichtigkeit gelingen. Aber Sie haben recht, es iſt am beſten, dieſe Sache fallen zu laſſen, wie Sie vorſchlugen.“

„Das meine ich auch,“ ſagte Skram. „Alſo iſt die Sache nunmehr tatſächlich abgetan. Wir haben jetzt bloß noch als Vollſtrecker des Teſtaments zu handeln.

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Das wird nicht weiter ſchwer ſein, da nur eine Erbin vorhanden iſt die Gräfin Polly. Das Allgemein⸗ wohl iſt ſomit um ſein Erbteil gebracht, und auch Leonie und ihr praktiſcher Geliebter müſſen ſich mit den Zehntauſend begnügen. Sie dagegen, lieber Dok⸗ tor, erhalten das ganze Exekutorhonorar, das Sie in den Stand ſetzen wird, umfaſſende ſoziologiſche Studien zu treiben.“

„Wollen Sie denn gratis fungieren?“ fragte der Doktor erſtaunt. „Und warum, wenn ich fragen darf?“

Skram lachte.

„Nein, lieber Doktor, vielmehr wünſche ich gar nicht, die Erbmaſſe des Kammerjunkers zu bearbeiten.“

„Warum nicht?“ fragte der Doktor erſtaunt.

„Weil die Zeit es vielleicht mit ſich bringen wird, daß ich die Gräfin noch lehre, was es heißt: zu leben!“

Ende.

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Man würde dieſen Roman des auch als Drama: tiker rühmlich bekannten Verfaſſers unterſchätzen, wenn man ihn nur nach der ſpannenden Handlung beurteilen wollte. Roſenkrantz verſteht es meifter- baft, uns die handelnden Perſonen, die offenbar nach dem Modell Kanaan ſind, durch ſeine her⸗ e Darſtellungskunſt menſchlich näher zu ringen.

in den in feiner,

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