Pr N Wann. er mr : 282 ER . te 90, d “run ah CARE .. DER Zu EHLNTLTTN, i s ra wre DEE u. 2 »* a 2 #r % . a, u. “7 k - e% - 4 ERDE »*» “ N .- en... “s [3 re . a X . . er *,* - ac » “re r ee wesen. PN f} . u...“ „“ er L DER ee, . “.. .. „” ... e u... . “ ER . RER n.. “ * * “ ” . * “rs 2 .... rs AR N ur £) „ee. “ss u.“ . ” * >» 2. . ee et re E ”.. .. * . vr. Me “ “re . r - a} . % ” y . P} » AN » * DI . ”. NETT IT „eo. ... ... ” r ’ > - . „ru nah es ee SR ren, ® . . .» D + - .-. «ss ».“ ® n ”.... - nr In Ar Mr SL } ON) tn “-. “ * ee H ’ *r8% rt * + u ... “ .... “. .. . + CHE Zr * “ + 4 ». “. Ku I RZ DE L N RE U ee “. et RK % art rn . 5 + ne . ER 7 “+, I KRAR u . ” Auiste tete tete .. * . wre wa * AR KLAR IE ZA HIER, OEL FM R „er es “. a cu a IE 3 “ .-.-.r nn. -.. ” 4 OEL PFLÜGER® ARCHIV FÜR DIE GESAMTE PHYSIOLOGIE DES MENSCHEN UND DER TIERE. HERAUSGEGEBEN VON MAX VERWORN PROFESSOR DER PHYSIOLOGIE UND DIREKTOR DES PHYSIOLOGISCHEN INSTITUTS DER UNIVERSITÄT BONN UNTER MITWIRKUNG VON PROF. BERNHARD SCHÖNDORFF IN BONN. BAND HUNDERT UND DREIUNDSECHZIG. MIT 3 TAFELN UND 137 TEXTFIGUREN. Ir BONN, 1916. VERLAG VON MARTIN HAGER. Inhalt. Erstes, zweites und drittes Heft. Ausgegeben am 24. Dezember 1915. Über die Koeffizienten, die im Verein mit Koronararterienver- schluss Herzkammerflimmern bewirken. Von H.E, Hering (Köln). (Aus dem pathologisch-physiologischen Institut der StAdE RO In) 2 a re re SE a NE I SR SER: Chemisch-physiologische Mitteilungen. Von Th. Bokorny Registrierung tachographischer Kurven mit Hilfe des Saiten- galvanometers. Von Dr. med. et phil. Robert Heller. (Aus dem gerichtlich-medizinischen Institut der Universität Zürich) . Über die Homogenität der Lungenluftmischungen. Unter- suchungen, anlässlich der Methoden von Krogh und Lind- hard zur Bestimmung des Minutenvolumens des Herzens. Von Dr. Carl Sonne, Privatdozent. (Aus der medizinischen Abteilung A des Reichshospitals in Kopenhagen) . Der schädliche Raum bei der Lungenatmung. Bemerkungen zu der Arbeit von Fritz Rohrer: Über den Strömungswider- stand in den menschlichen Atemwegen usw. Pflüger’s Arch. Bd. 162 S. 225. Von Prof. A. Loewy-Berlin Die Änderung von Colpoden und deren Cysten unter dem Ein- fluss von Blutserum, Von Sophie Pecker aus Bolshoi- Tokmak (Krim). (Mit 39 Textfiguren und Tafel I.) (Aus dem Institut für physikalisch-chemische Biologie der Uni- versität Bern) Viertes, fünftes und sechstes Heft. Ausgegeben am 25. Januar 1916. Kapillarchemische (kapillarelektrische) Vorgänge als Grundlage einer allgemeinen Erregungstheorie. Von Albrecht Bethe, (Mit 8 Textfiguren.) (Aus dem Institut für animalische Physiologie [Theodor-Stern-Haus] zu Frankfurt a. M.). x* Seite 27 71 75 97 101 147 IV Inhalt. Zur Frage der negativen Schwankung der Doppelbrechung bei der Muskelkontraktion. Von V. v. Ebner Über die Bedeutung der Arterienpulsationen für die Strömung in den Venen und die Pathogenese der Varicen. Von K. Hasebroek in Hamburg. (Mit 7 Textfiguren) . . Über geschmacks-physiologische Versuche mit Blutegeln. Von Privatdozent Dr. Leopold Löhner. (Aus dem physio- logischen Institut der Universität Graz) Versuche mit dem Bürgi’schen Respirationsapparate. I. Mit- teilung. Von Abraham Kopciowski aus Grajewo.- (Mit 3 Textlizuren) 0.2000. 02.0.0, “ Über den Einfluss der Tuberkulose auf die chemische Zusammen: | setzung des Tierkörpers. Von Karl Dröge. (Hierzu Tafel H und II) . .„.„Siebentes und achtes Heft. ne Ausgegeben am 2. März 1916. Rai Messende Untersuchung des Lichtsinnes der Biene. Von Pro- fessor-C. Hess in München. (Mit 12 Textfiguren) Über den Stand der Otolithenmembranen beim Kaninchen. Von H. M. de Burlet und A. de Kleijn. (Mit 1 Textfigur.) (Aus dem anatomischen und dem pharmakologischen Institut der Reichsuniversität Utrecht, Holland) . Ein Beitrag zum Studium der Bedeutung osmotischer Verhält-. nisse des Mediums für Organismen. Versuche an Würmern Enchytraeiden. Von Jaroslav KriZenecky. (Mit 2 Textfiguren.) (Aus dem Institut für allgemeine Biologie und experimentelle Morphologie bei der medizinischen Fakultät der böhmischen Universität zu Prag) Der T'hermostrom des Muskels. Von Wolfgang Pauli ‚und Johann Matula. (Mit 13 Textfiguren.) (Mit Unter- stützung der Fürst Liechtenstein- Spende.) (Aus dem Laboratorium für physik.-chem. Biologie der k. k. Universität Wien) ER Seite 179 191 239 247 266 289 321 325 355 Zur Frage der Wirkung von Schilddrüse und Thymus auf. = Froschlarven. Von R.H. Kalın. (Aus dem physiologischen- .. 384 ‚ Institute der deutschen Universität in Prag) Inhalt. Neuntes und zehntes Heft. Ausgegeben am 25. März 1916. Beiträge zum Problem der Körperstellung. I. Mitteilung. Stell- reflexe beim Zwischenhirn- und Mittelhirnkaninchen. Vor R. Magnus. (Mit 29 Textfiguren.) (Aus dem pharmako- logischen Institut der Reichsuniversität Utrecht) . Anoxybiotische Vorgänge im Muskel. Kohlensäureentbindung und Wärmebildung als Begleiterscheinungen eines Neutrali- sationsprozesses im arbeitenden und überlebenden Muskel. Von Dr. Leonhard Wacker. (Mit 2 Textfiguren.) (Aus dem pathologischen Institut der Universität München) Zur Frage nach der Wirkung des Verschlusses der Koronar- arterien des Herzens. Von R. H. Kahn. (Aus dem physiologischen Institute der deutschen Universität in Prag) Elftes und zwölftes Heft. Ausgegeben am 14. April 1916. Neue Untersuchungen über den Einfluss der Digitalis und ihr botanisch- oder wirkungs-verwandter Pflanzen auf die Farben- empfindliohkeit des menschlichen Auges. Von Hugo Schulz. (Mit 9 Textfiguren.) (Aus dem pharmakologischen Institut der Universität Greifswald) } Die Arterienmuskulatur als „peripheres Herz“? Von W.R. Hess. (Mit 12 Textfiguren.) (Aus dem BE Institut der Universität Bonn) . FI en Bess Kontraktilität und Bene des Muskels. Von J. Bern- stein Seite 405 491 506 511 594 (Aus dem pathologisch-physiologischen Institut der Stadt Köln.) Über die Koeffizienten, die im Verein mit Koronararterienverschluss Herzkammerflimmern bewirken. Von Prof. H. E. Hering (Köln). Der Zusammenhang zwischen Koronararterienverschluss (Kav) und Herzkammerflimmern (Hkf) wird in der Literatur zumeist mit der von Tigerstedt sowie Langendorff vertretenen Annahme erklärt, dass das Hkf bei der Unterbindung oder Abklemmung der Koronararterien durch Nebenverletzunugen bewirkt wird. Diese Nebenverletzungshypothese, wie ich sie nennen will, findet man immer wieder angeführt, und da sie sich an die Namen so angesehener Physiologen knüpft, ist es begreiflich, dass wenigstens viele von denjenigen, die sich mit den Folgen des Kav nicht selbst experimentell beschäftigt haben, geneigt sind, jene Hypothese an- zunehmen oder wenigstens für die wahrscheinlichste zu halten. Man lese, um nur einige Beispiele aus der letzten Zeit anzuführen, was F. B. Hofmann!) in seiner vorzüglichen allgemeinen Physiologie des Herzens vom Jahre 1905 auf S. 240 darüber anführt, oder folgende Äusserung von L. Haberlandt?): „Aus diesen Ergebnissen seiner Untersuchungen schliesst Langen- dorff wohl mit Recht, dass es bei den Versuchen mit Unterbindung der Koronararterie nicht die Herzanämie war, die das Flimmern hervorrief, sondern dass dafür jedenfalls Nebenverletzungen, die als mechanische Reize wirkten, verantwortlich gemacht werden müssen.“ Das genauere Studium der einschlägigen Mitteilungen von Tigerstedt?) und Langendorff*) hat mir ergeben, dass nur 1) Nagel, Physiologie des Menschen Bd. 1. 1905. 2) Sammlung anat. u. physiol. Vorträge u. Aufsätze H. 26. 1914. 3) Skandinav. Arch. f. Physiol. Bd. 5 S. 71. 1893. — Physiol. Zentralbl. Bd. 9 Nr. 18. 1896. 4) Pflüger’s Arch. Bd. 61 S. 320. 1395. - Pflüger’s Archiv für Physiologie. Bd. 163. 1 9) H. E. Hering: De Langendorff und auch dieser nur einen einzigen eigenen Versuch über die Abklemmung einer Koronararterie anführt, auf den ich später noch zurückkomme. So gehören demnach auch diese Autoren zu jenen, die sich selbst mit den Folgen des Kav experimentell nicht oder so gut wie nicht beschäftigt haben. Dieser Umstand lässt mich die Aufstellung und das Festhalten der Nebenverletzungshypo- these dieser Autoren wenigstens zum Teil verstehen. Zum anderen Teil ist die Aufstellung jener Hypothese dadurch zu erklären, dass jene Autoren gegen die Annahme waren, das Hkf durch Kav beruhe auf Anämie; so entstand schon aus der Stellungnahme gegen die Anämiehypothese das Bedürfnis nach einer anderen Hypo- these. — Es war auf dem X. Kongress für innere Medizin im Jahre 1891, als Frey!) unter Bezugrahme auf die Cohn.heim’schen?) Ver- suche unter anderem meinte, „dass die Anämie des Herzmuskels nach (den vorliezenden physiologischen Erfahrungen eine relativ ungefähr- liche Zirscheinung ist.“ K. Tigerstedt kam dann 1893 in seiner Mitteilung zu dem Schluss: „Dass derjenige Herzstillstand, den Cohnheim und v. Schulthess-Rechberg beobachtet haben, nicht durch die Anämie eines umschriebenen Teiles der Herzwand, sondern durch Nebenverletzungen bedingt ist.“ Hier finde ich zum ersten Male den Ausdruck „Neben- verletzungen‘“. OÖ. Langendorff schloss sieh 1895 der Nebenverletzungshypo- these an. Auf S. 324 kommt er zu folgendem Schluss: „Diese meine Ergebnisse stehen in vollständigem Einklang mit der Meinung der- jenigen, die wie v. Frey, Tigerstedt u. a. den dauernd schädigenden Einfluss der vorübergehenden Aufhebung der Blut- zufuhr zum Herzmuskel leugnen und den Grund für die von v. Bezold, Cohnheim usw. erhaltenen Resultate auf Neben- verletzungen beziehen.“ Langendorff führt auf S. 321 ausserdem an, dass schon Newell Martin und Sedgwick (1882) sowie auch Fenoglio und Drogoul (1888) auf die Möglichkeit hingewiesen haben, dass mit der Ligatur der Kranzgefässe verbundene mechanische Alte- 1) Verhandl. d. Kongr. f. innere Med. 1891 S. 277. 2) Virchow’s Arch. Bd. 85 S. 503. 1881. Über die Koeffizienten, die Herzkammerflimmern bewirken. 3 rationen benachbarter Teile schuld an den beobachteten Störungen sein können. Gegenüber dieser Nebenverletzungshypothese hielt Porter’) an der schon von GCohnheim und v. Schulthess geäusserten Anämiehypothese fest. — Bei der Differenz der Meinungen über das Entstehen aes Hkf nach Kav würde man erwarten, in der Literatur Mitteilungen zu finden, die sich speziell experimentell mit dem Hkf nach Kav be- fassen; das ist aber nicht der Fall und wohl mitbedingt dadurch, dass man die Bedeutung des Flimmerns zur Erklärung pathologischer Erscheinungen beim Menschen noch nicht zu würdigen wusste. Über die Folgen des Kav ist zwar sehr viel experimentiert worden; die Absichten, mit denen man an diese Experimente heranging, waren jedoch sehr verschieden, und eigentlich beschäftigt sich experimentell nur die Mitteilung’ von Porter im Jahre 1396 mit dem Hkf nach Kav, nachdem Tigerstedt, wie Porter sich ausdrückt, „versucht, den ganzen Streit auf das Vorhandensein dieses Flimmerns jetzt zu- zuspitzen“. In dieser Mitteilung sagt Porter, dass das Flimmern ein allgemein bekanntes Glied des gesamten Symptomenkomplexes nach Verschluss der Koronararterien ist; es geht aber aus seiner Mitteilung nicht hervor, dass er erkannt hätte, dass der „Stillstand des Herzens“ durch das Flimmern bedingt ist, oder mit anderen Worten, dass das Flimmern und nicht der „Stillstand des Herzens“ das Primäre ist. Aus S. 131 seiner früheren Mitteilung”) ergibt sich, dass Porter tatsächlich meint, der Stillstand ginge dem Flimmern voraus; von zehn Fällen, gibt er auf S. 131 an, folste in sechs das Flimmern dem Stillstand „instantly“, in vier nach: 2—5 Sekunden. In der Kurve der Fig. 1 seiner Mitteilung sieht man ‚aber nichts vom „Stillstand“. Der Ausdruck „Stillstand des Herzens“ ist hier überhaupt nicht angebracht, denn das Herz bzw. die Kammern stehen unter den ge- nannten Umständen nicht still, sondern sie fimmern. Dem wird Porter insofern gerecht, als er mehrfach statt nur vom „Stillstand “ zu reden, vom „Stillstand des Herzens mit fibrillären Zuckungen“ oder „Stillstand mit Flimmern“ spricht. Wer sich nun nicht selbst experimentell mit den Folgen des Kav beschäftigt hat, könnte dem- 1) Physiol. Zentralbl. Bd. 9 Nr. 22. 1896. 2) Journ. of Physiol. vol. 15 no. 3. 1893. 1 + 4 . H.E. Hering: nach glauben, und es ist, wie die Literatur lehrt, auch geglaubt worden, das Primäre wäre der Stillstand des Herzens, an den sich erst das Flimmern anschliesst, während nach meiner Erfahrung das Primäre das Hkf ist, und das Herz erst einige Zeit nachher mit Aufhören des Flimmerns wirklich zum Stillstand kommt!). Den Ausdruck „Herzstillstand*“ als Folge des Kav haben schon Cohnheim und v. Schulthess-Rechberg gebraucht, nach meiner Meinung dort, wo sie von ihm sprechen, mit Unrecht. Sie eaben an, dass nach Verschluss eines der grossen Koronaräste die Kammern erst stillstehen und dann flimmerten, während ich dies nach Kav nie gesehen habe, obwohl ich die Tätigkeit der Kammern immer graphisch verzeichnet habe. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist es ihnen, wie auch Porter, entgangen, dass die Kammern zur Zeit des anscheinenden Stillstandes schon flimmerten. So kam es auch, dass sie, obwohl sie das Flimmern, nachdem es dann grob- schlägiger geworden war, sehr wohl beobachtet haben, nicht er- kannten, dass das Wesentliche und Primäre des „plötzlichen Herzstillstandes“ nach Koronararterien- verschluss das Herzkammerflimmern ist. Jene unzutreffende Beschreibung in der Aufeinanderfolge der Erscheinungen hatte zum Beispiel zur Folge, dass Vierordt 1891 die Erklärung des fluttering heart beim Menschen durch die Experi- mente Cohnheim’s ablehnte, da nach diesen die Erscheinungen derart verlaufen, dass das Herz „in beiden Ventrikeln plötzlich still- steht, und dass dann nach einer gewissen Pause jene wühlenden Beweeungen auftreten“. Abgesehen davon, dass ich einen „plötzlichen Herzstillstand* nach Kav trotz graphischer Aufnahme noch nie gesehen habe, wäre nach meiner zwanzigjährigen sehr reichlichen Erfahrung über das Verhalten des Säugetierherzens ein solch plötzlich einsetzender wirklicher Stillstand der Kammern nach Kav nur verständlich durch Aufhebung der Überleitung von den Vorhöfen zu den Kammern. l) Porter gibt zwar an, dass es ihm in einem einzigen Falle nach Ver- schluss der linken Koronararterie unmöglich war, die gewöhnlichen fibrillären Zuckungen festzustellen; das Herz scheint aber doch, wenn auch nicht „aus- gesprochen“, geflimmert zu haben, da er zum Schluss schreibt: „Das Herz kam in diesem Falle sehr langsam zum Stillstande, und die Frregbarkeit der Muskel- fasern war dabei wahrscheinlich zu sehr herabgesetzt, um ein ausgesprochenes Flimmern zu erlauben.“ = Über die Koeffizienten, die Herzkammerflimmern bewirken. 5 Dass es auf diese Weise nach Kav zunächst zum Stillstand der Kammern und dann erst anschliessend daran zum Flimmern der letzteren kommen könnte, ist wohl möglich, nach Kav habe ich jedoch etwas derartiges bis jetzt noch nie beobachtet. — Wenn wir nun statt „Herzstillstand“ Hkf setzen, so hat schon v. Frey!), sich stützend auf die Versuche von Fenoglio und Drogoul sowie auf die von Porter aus dem Jahre 1893, im Jahre 1894 gesagt: „Aus diesen Versuchen folgt, dass der Herzstillstand nicht eine notwendige Folge der Verschliessung grosser. Koronaräste dar- stellt.“ Sofern wir, wie gesagt, statt Herzstillstand Hkf setzen, ist diese Folgerung ganz richtig. „Entweder“, setzt v. Frey fort, „muss zur Anämie des ab- gesperrten Herzteiles noch etwas hinzukommen, wodurch der Still- stand herbeigeführt wird, oder es ist neben der Grösse auch der Ort der Schädigung von besonderer Bedeutung.“ Wir werden auf diese Punkte noch zurückkommen. An dieser Stelle sei nur hervor- gehoben, dass v. Frey nach dieser Äusserung auf dem richtigen Wege war, um den Zusammenhang zwischen Kav und Hkf zu araly- sieren. Unter dem richtigen Wege verstehe ich hier die Anwendung der durchaus nicht neuen, aber immer wieder vernachlässigten Er- kenntnis, dass ein Geschehen nicht nur durch eine, sondern durch mehrere Ursachen oder Koeffizienten?) zustande kommt. Ein jeder Eingriff am Organismus, wie zum Beispiel der Kav, ist nur ein Koeffizient, der erst im Verein mit anderen Koeffizienten ein be- stimmtes Geschehen, hier das Hkf bewirkt. Ohne letztere tritt das Hkf nicht auf, und insofern ist es auch keine notwendige Folge des Kav. So ist auch das Hkf nicht der einzige Effekt des Kav, viel- mehr hat dieser eine ganze Anzahl Koeffekte im Gefolge. Von diesen ist in der vorliegenden Mitteilung unser Interesse speziell einem Koeffekt zugewendet, dem Hkf. Im folgenden wollen wir nun versuchen, soweit dies auf Grund eigener Experimente und unter Zuhilfenahme der Literatur bis jetzt möglich ist, folgende Frage zu beantworten: Welches sind die Koeffizienten, dieim Verein mit Koronararterienverschluss Herzkammerflimmern bewirken? 1) Zeitschr. f. klin. Med. Bd. 25. 1894. 2) Die Naturwissenschaften H. 7. 1913. 6 H. E. Hering: Wir dürfen nicht erwarten, auf diese Frage heute schon eine’ vollkommen befriedigende Antwort zu bekommen, denn es bedarf hierzu noch zahlreicher experimenteller Untersuchungen, wohl aber hoffen, auf diesem Wege zu einer grösseren Klarheit zu gelangen. Die folgenden Darlegungen gelten zunächst alle für den akuten Verschluss einer oder mehrerer Koronararterien, wie er experimentell dureh Ligatur, Abklemmung oder Verstopfung von innen aus be- wirkt werden kann; sie beziehen sich, wenn nichts anderes gesagt. ist, auf Experimente an Hunden. Meine Versuche reichen bis zum Jahre 1909 zurück und erstrecken sich auf 20 Hunde; sechs Ver- suche machte ich hier im Institute mit Dr. Beck und Dr. Kisch im Juli 1914, bis der Krieg die Fortsetzung der Experimente unterbrach. 1. Die Grösse der verschlossenen Koronararterie. Dass die Grösse der verschlossenen Koronararterie eine Rolle spielt, ob der Verschluss Hkf zur Folge hat oder nicht, das lässt sich schon der Mitteilung von Cohnheim und v. Schulthess- Rechberg entnehmen, wenn wir, wie schon weiter oben erwähnt, an Stelle von Herzstillstand Kammerflimmern setzen. Die Autoren “_ wussten sehr wohl, „dass nach dem Verschlusse kleinerer Arterien- äste nicht jedesmal die viel geschilderte Erscheinungsreihe eintritt“, und hielten es nur für genügend festgestellt, „dass die geschilderte Folge von Erscheinungen die direkte und ausschliessliche Wirkung des Verschlusses mindestens eines grösseren Kranzarterienzweiges ist.“ Mit der Grösse der verschlossenen Arterie sich zu befassen, veranlasste sie besonders folgende Überlegung: „Wenn wirklich in dem akut anämisch gemachten Bezirk des Herzmuskels ein Herzgift sich entwickelt, so sollte man meinen, dass die Geschwindigkeit, mit welcher die zur vollen Wirksamkeit erforder- liche Quantität derselben sich bildet, und die Grösse des ausgeschalteten Bezirkes in gleichem Verhältnis zunimmt.“ Aus ihren, zu diesem Zwecke angestellten Versuchen schlossen sie, „dass die Vergrösserung des akut, anämisierten Bezirkes über einen gewissen Umfang hinaus den Eintritt des Herzstillstandes nicht mehr beschleunigt“, und ferner, „dass die Verkleinerung desselben unter eine gewisse Grösse den Erfolg des Eingriffes überhaupt unsicher macht oder ihn selbst völlig ausschliesst. Innerhalb dieser Grenzen, nach oben und unten, aber scheint in der Tat die Geschwindigkeit des Eintritts der Wirkung in gleichem Ver- hältnis mit der Grösse des seiner arteriellen Zufuhr beraubten Bezirkes zu erwachsen.“ Zunächst sei bemerkt, dass die Autoren hier an Stelle der Grösse der Arterie die Grösse des anämisierten Bezirkes setzen. Über die Koeffizienten, die Herzkammerflimmern bewirken. 7 Dies ist vom ihrem Standpunkt aus wohl richtig, da nach ihrer Meinung „die Äste der Koronararterien keinerlei Anastomosen mit- einander eingehen“. Heute wissen wir, dass diese Meinung nicht zutreffend ist, vielmehr das Herz, wie sich Spalteholz!) ausdrückt, ausser- ordentlich reich an arteriellen Anastomosen ist. Trotzdem wird es im allgemeinen wohl richtig sein, dass mit der Grösse der ver- schlossenen Arterie auch die Grösse des Bezirkes zunimmt, der durch die lokale Behinderung des arteriellen Zuflusses betroffen wird. Wenn wir in diesem Abschnitte die Grösse der Arterie und nicht die Grösse des betroffenen Bezirkes in den Vordergrund stellen, so geschieht dies, weil das Sichere die Grösse der Arterie ist und man sich über die Grösse des betroffenen Bezirkes schwieriger Auf- schluss verschaffen kann mit Ausnahme jenen Bezirkes, der an der Aussenoberfläche des Herzens leicht siehtbar ist (s. weiter unten). Cohnheim und v. Schulthess-Rechberg kamen, wie er- wähnt, zu dem Schluss, dass die Geschwindigkeit des Eintrittes der Wirkung innerhalb gewisser Grenzen in gleichem Verhältnis mit der Grösse des seiner arteriellen Zufuhr beraubten Bezirkes wachse. Sagen wir nun statt Grösse des Bezirkes Grösse der Arterie, um die es sich bei ihren Feststellungen in Wirklichkeit handelte, so stimmt jener Satz nicht ohne weiteres mit folgenden von mir und anderen gemachten Erfahrungen: Das Intervall zwischen Koronar. arterienverschluss und Auftreten des Herzkammer- flimmerns kann nach Verschluss der rechten Koronar- arterie sehr verschieden gross sein. Ich habe mich speziell mit Rücksicht auf die Nebenverletzungs- hypothese für das Intervall Kav—Hfk interessiert und es an der Coronaria dextra studiert; das kürzeste betrug 1 Min. 30 Sek., das längste 45 Min.; dazwischen 2 Min. 30 Sek., (zweimal) 2 Min. 45 Sek., 10 Min., 17 Min., 20 Min., 33 Min. 35 Sek. Nach Cohnheim und v. Schulthess-Rechberg dauerte es vom Verschluss der Coronaria dextra bis zum tötlichen Herz- stillstand mindestens 5 Minuten. Porter verschloss die A. cor. dextr. 14 mal und beobachtete nur 2 mal Stillstand; nach seiner ersten Mitteilung einmal nach 108 Sekunden; für das zweite Mal fehlt die Zeitangabe. 1) Deutsch. med. Wochensshr. 1907 Nr. 20. 8 H. E. Hering: Aus einer Tabelle der Versuche, die Thomas Lewis!) zum Zwecke des Studiums der paroxysmalen Tachykardie vornahm, geht hervor, dass er zwölf Versuche mit Ligatur der Coron. dextr. machte. Vier Versuche brach er ab; in den übrigen acht Versuchen beobachtete er Kammerflimmern nach 57 Min., 1 Stde. 12 Min., 1 Stde. 25 Min., 1 Stde. 45 Min., 1 Stde. 46 Min., 1 Stde. 56 Min., 2 Stdn. 12 Min., 3 Stdn. 13 Min. - Wenn auch die Grösse der rechten Koronararterie etwas variiert, die Grösse ihres Versorgungszebiets infolge Variation der Kollateralen etwas verschieden sein und die Arterie nicht immer unmittelbar an der Aorta unterbunden sein wird (was nötig ist, da bald nach ihrem Ursprung Ästehen von der Coron. dextr. abzehen), so können doch diese auf die Gefässe sich beziehenden Variationen die grosse Ver- schiedenheit des Intervalls nicht erklären. Mit ihrem oben ‘erwähnten Satze hielten Cohnheim und v. Schulthess-Rechberg in gutem Einklange: „Dass nach dem Verschluss der Coron. dextra bis zum Eintreten der Unregelmässigkeit der Schlagfolge und dem Herzstillstand eine nicht unerheblich längere Zeit zu vergehen pfiegt als nach Ligatur der ungleich stärkeren grossen Äste der Coron. sinistra.* Während es nach ihren Erfahrungen vom Verschluss der Coron. dextra bis zum tötlichen Herzstillstand, wie schon erwähnt, mindestens 5 Minuten dauerte, betrug diese Zeit nach Ligatur einer der grossen Äste der Coron. sinistra 2 Minuten im Maximum. Nieht nach dem Intervall, sondern danach, ob überhaupt „Still- stand“ des Herzens eintrat, beurteilte Porter die Folgen des Ver- schlusses verschiedener Arterien des Herzens. Er stellte folgende Tabelle auf: Arterie Verschluss Stillstand Prozent Stamm der A. coron. sin.. . 19mal 19 mal 100 Ramus eireumflexus., 3... Hi . a 64 Ramus descendens . . . . 39, 11, 28 B2.C0rom. .dextran 0.0 JA, ie 14 R. septi der. A. coron:sin: z.’:8 SE ar Aus diesen Ergebnissen schloss Porter: „Die Häufigkeit des Stillstandes des Herzens steht also im Verhältnisse zu der Grösse der verschlossenen Arterien.“ 1) Heart vol. 1 S. 98. 1909. Über die Koeffizienten, die Herzkammerflimmern bewirken. 9) Während Cohnheim und v. Schulthess-Rechberg bei dem Vergleich der Ergebnisse der an verschiedenen Arterien an- gestellten Versuche aber nur die Grösse der Arterie in Betracht zogen, fürte Porter hinzu, „dass der Zustand des Herzens zur Zeit der Verschliessung auch von Einfluss ist“. Auf diesen sehr wichtigen Koeffizienten, den Zustand des Herzens, auf den wir weiter unten noch ausführlicher zurückkommen werden, ist es jedenfalls mit zurückzuführen, dass das Intervall Kay—Hkf bei Verschluss derselben Arterie an verschiedenen Herzen so ver- schieden gross sein kann. Aus der Gesamtheit der vorliegenden Erfahrungen ist wohl zu ersehen, dass die Grösse der verschlossenen Koronararterie eine Rolle spielt, indem unter sonst ungefähr gleichen Umständen die Wahrscheinlichkeit des Auftretens von Hkf mit der Grösse der ver- schlossenen Koronararterie wächst, dass es aber bei Verschluss der- selben Arterie an verschiedenen Herzen sehr auf seinen Zustand ankommt, ob überhaupt Hkf eintritt und wie rasch es nach dem Kav erscheint. Einen Koeffizienten sehen wir aber weder bei Cohnheim und v. Schulthess-Rechberg noch bei Porter berücksichtigt, das ist die Funktion des betroffenen Herzbezirkes; es ist jener Koeffizient, den v. Frey vielleicht meinte, als er von dem „Ort der Schädigung“ sprach, und den wir besprechen wollen, bevor wir die Bedeutung des Zustandes des Herzens weiter erörtern. 2. Die Funktion des von der Koronararterie versorgten Herzbezirkes. Dass man sich früher mit der eventuellen Bedeutung der Funktion des betroffener Herzbezirkes für das Hkf nach Kav nicht weiter beschäftigt hat, ist insofern begreiflich, als man dazu keiue senügende Veranlassung hatte. Porter!) hat zwar gerade mit Hilfe des Kav „Über die Frage eines Koordinationszentrums im Herzventrikel“ 1893 eine Untersuchung angestellt; da er aber zu dem Ergebnis kam, „dass kein Koordinationszentrum im gewöhn- lichen Sinne einer begrenzten Zusammenhäufung der Nervenzellen besteht, sei es im Septum, sei es in irgend einem anderen Teil der Ventrikularwand,“ hatte er keinen Anlass, die Funktion des be- 1) Pflüger’s Arch. Bd. 55. 1893. 10 H. E. Hering: troffenen Herzbezirkes zur Erklärung der verschiedenen. Ergebnisse nach Verschluss der verschiedenen Arterien zur Erklärung mit heranzuziehen. Seit wir nun über das Reizleitungssystem und seine Verteilung in den Kammern so gut unterrichtet sind, hat die Frage nach der Örtlichkeit des betroffenen Bezirkes eine besondere Bedeutung be- kommen, ohne dass speziell von diesem Gesichtspunkte aus Ver- suche über die Folgen des Verschlusses verschiedener Koronararterien gemacht worden wären. Ich habe daher zu diesem Zwecke im Wintersemester 1909—1910 eine Anzahl solcher Versuche an Hunden ausgeführt. Ich unterband die rechte oder Äste der linken Koronararterie und wartete den Erfolg der Unterbindung ab. Nach Beendigung des Versuches durehströmte ich von der Aorta aus die Herzen mit Neutralrot!), wodurch sich der infolge der. Unterbindung nicht gefärbte Herz- bezirk gut von dem übrigen gefärbten Herzen abhob. Die Herzen wurden dann zur anatomischen Untersuchung konserviert. Einige dieser Herzen brachte ich im April 1910 zur Erlanger Tagung der Pathologischen Gesellschaft mit und übergab sie Kollegen Aschoff zur anatomischen Untersuchung, zu der er jedoch nicht kam. Das Ergebnis meiner damaligen Versuche eing dahin, dass ich aus ihnen keine sicheren Anhaltspunkte dafür entnehmen konnte, dass die Örtlichkeit des betroffenen Bezirkes eine entschiedene Rolle spiele. Im Jähre 1911 hat dann G. Haas?) eine bei Aschoff an- geführte Arbeit „Über die Gefässversoreung des Reizleitungssystems (les Herzens“ veröffentlicht, in der er sich auch mit dem Hunde- herzen beschäftigt und dazu auf S. 654 bemerkt: „dass die Wirkungen von Unterbindungen am Kranzgefässe am Hundeherzen nur richtig beurteilt werden können, wenn man weiss, dass gerade beim Hunde nicht die. rechte Kranzarterie wie beim Menschen, sondern die linke die Hauptabschnitte des Reizleitungssystems speist“. Dazu liegen nun folgende Erfahrungen von mir vor: In zwölf Versuchen beim Hunde sah ich nach Ligatur der Coron. dextra zehnmal Rammerflimmern auftreten; in den zwei übrigen Fällen wurde nach 28 Min. bzw. ]) Siehe auch Verhandl. d. Kongr. f. innere Med. 1907 S. 531. 2) Anat. Hefte Bd. 43 H. 131. 1911. Über die Koeffizienten, die Herzkammerfliimmern bewirken. 11 40 Min. die Ligatur des R. descendens der linken Coronaria an- geschlossen, worauf nach 1 Min. bzw. 16 Min. die Kammern flimmerten. Das Intervall Kav—Hkf, das ich schon weiter oben angeführt habe, war gerade in den letzten Versuchen, die ich mit Dr. Beck und Dr. Kisch ausführte, in vier Fällen besonders kurz: 1 Min. 30 Sek., 2 Min. 30 Sek., 2 Min. 45 Sek., 2 Min. 45 Sek. Diese Erfahrungen sind unter Zugrundelesung der anatomischen Angaben von G. Haas nicht geeignet, die Annahme zu stützen, dass das Hkf nach Verschluss der Coronaria dextra von den Haupt- abschnitten des Reizleitungssystems, worunter Haas den Atrio- ventrikularknoten und den Bündelstamm versteht, ausgeht. Damit ist aber nicht gesaet, dass das nach Verschluss der Coronaria dextra auftretende Hkf überhaupt nicht vom Reizleitungs- system ausgeht, denn seine Endausbreitungen finden sich nach Tawara!) subendokardial auch an der Wand der rechten Kammer, also im Hauptspeisungsgebiet der Coron. dextra. Dass das Kammerflimmern nicht vom Atrioventrikularknoten inkl. eines Teiles des Bündelstammes ausgehen muss, habe ich bei mechanischer oder elektrischer Reizung der verschiedensten Teile der Kammern oft genug beobachtet, wie auch, dass Teile der Kammern flimmerten, die weder das Bündel noch seine beiden Hauptschenkel enthielten. Es kann also das Kammerflimmern sicher auch von Teilen ausgehen, die nicht die Hauptabschnitte des Reizleitungs- systems enthalten; demnach kann dies auch bei Hkf nach Kav der Fall sein. Schliesst also einerseits der Befund von Haas nicht aus, dass auch nach Verschluss der Coron. dextra das Hkf vom Reizleitungs- system ausgehen kann, so scheint er mir andererseits geeignet zu sein, zur Erklärung der Verschiedenheit der Ergebnisse nach Ver- schluss verschiedener Koronararterien beizutragen. Cohnheim und v. Schulthess-Rechberg sowie Porter haben, wie erwähnt, jene Verschiedenheit auf die verschiedene Grösse der Arterien, Porter auch auf den verschiedenen Zustand des Herzens mit- bezogen, auf den wir noch zu sprechen kommen. Vermutlich ist nun aber ausser diesen beiden Koeffizienten auch der Ort des betroffenen. Bezirkes zur Erklärung mit heranzuziehen. 1) Das Reizleitungssystem des Säugetierherzens. Jena 1906. — Siehe auch J. G. Mönckeberg, Ergebn. d. allg. Path. u. path. Anat. 1910 S. 625 u. 637. 12 H. E. Hering: Dafür spräche vorläufig folgendes. Das Intervall Kav—Hkf ist nach Verschluss der rechten Koronararterie, entsprechend den vor- liegenden weiter oben erwähnten zahlreichen Angaben, in der weit- aus grössten Zahl der bis jetzt vorliegenden Fälle sehr lang bzw. kommt es überhaupt während der Beobachtungszeit nicht zum Hkf. Nun ist zwar nach den Angaben von Cohnheim und v. Schulthess-Rechberg die Coron. dextra „viel schwächer, als einer der beiden Hauptäste der Sinistra“, das ist der R. eireum- flexus und der „nahezu ebenso starke“ R. descendens; es ist aber andererseits, um hier nur die Angaben von Porter zugrunde zu legen, der Effekt des Verschlusses der untereinander nahezu gleich starken Hauptäste recht verschieden, indem nack Verschluss des R. eireumflexus in 64°/o, nach Verschluss des nahezu ebenso starken R. deseendens nur in 28°o der Fälle Hkf eintrat. Diese grosse Verschiedenheit könnte vielleicht mehr auf der Mitversorgung der Hauptsysteme des Reizleitungssystems durch den R. eirceumflexus, als auf der Grössenverschiedenheit der beiden Hauptäste beruhen und so sich auch der geringere Prozentsatz (14°/o) der positiven Fälle nach Verschluss der A. coron. dextra in den Versuchen Porter’s gegenüber dem so viel höheren Prozentsatz nach Verschluss des R. eireumflexus erklären. Bei der Zahl der in Betracht kommenden Koeffizienten, vou denen, wie wir im nächsten Abschnitt hören werden, der Zustand des Herzens von grösster Bedeutung ist, lässt sich auf Grund der bis jetzt vorliegenden Versuchsergebnisse über den Kav noch nicht mit Sicherheit sagen, dass die Örtlichkeit des betroffenen Bezirkes und damit seine Funktion eine wesentliche Rolle bei dem Auftreten von Hkf nach Kav spiele. Wenn ich trotzdem zu dieser Annahme neige, so unterstützt mich darin die Erfahrung, dass die Reiz- bildungsfähigkeit des Reizleitungssystems im allge- meinen um so grösser ist, je näher die heterotope Reizbildungsstelle der nomotopen liegt, worauf ich schon wiederholt aufmerksam gemacht habe. Danach wird das Hkf unter sonst gleichen Umständen leichter von den Hauptabschnitten des Keizleitungssystems der Kammern ausgehen als von seinen Ausläufern oder der übrigen Herzkammermuskulatur, womit sich die bis jetzt vorliegenden Ergebnisse über das Auftreten von Hkf mit Kav gut in Einklang bringen lassen. Über die Koeffizienten, die Herzkammerflimmern bewirken. 13 Bezüglich der Gefässversorgung des Hundeherzens bemerkt G. Haas noch folgendes: „Für Unterbindungsversuche, die im Effekt speziell den Knoten und: das Atrioventrikularbündel treffen sollen, ist es wichtig, nicht nur ‚den Ramus septi fibrosi coronariae sinistrae aus- zuschalten, sondern auch die grosse Septumarterie. Sie geht un- mittelbar aus der Mündungsstelle der linken Koronararterie hervor, gelegentlich auch aus einem gesonderten Ostium, das dann im untersten Teil der Aortentasche zu suchen ist.“ Hierzu sei eine Stelle der S. 511 aus der Mitteilung von Cohn- heim und v. Schulthess-Rechberg erwähnt: „Ganz oben, bald nach seinem Ursprunge, und zuweilen sogar so hoch oben, dass eigentlich eine Dreiteilung des Stammes der linken Kranz- arterie vorliegt, entspringt aus ihm ein starker Ast, der sogleich ins Septum ventriculorum tritt und hier schräg von vorn oben nach hinten unten auf der dem rechten Ventrikel zugekehrten Seite desselben, nur von spärlichen Muskelbündeln bedeckt, verläuft; er gibt nach beiden Seiten zahlreiche Äste ab. Eine Folge dieses hohen Ursprungs des R. septi war es, wie gleich hier bemerkt werden mag, dass dasselbe in allen unseren Versuchen nur ein einziges Mal mit abgebunden worden ist.“ Der Ast, den die Autoren hier R. septi nennen, entspricht bei Haas wohl die Arteria septi fibrosi. Auch Porter kannte allem Anschein nach nur letztere und nennt sie auch R. septi. Demnach ist die „grosse Septumarterie“ wohl noch nicht isoliert unterbunden worden, und es wird Gegenstand weiterer Versuche sein müssen, zu erfahren, welchen Effekt ihre Unterbindung hat. Nach der weiter oben angeführten Tabelle beobachtete Porter nach Verschluss des R. septi in keinem der drei Fälle „Stillstand“ des Herzens. 3. Der Zustand der Herzkammern. Wir kommen jetzt zu einem Koeffizienten des Hkf, der eine sehr grosse Bedeutung hat, das ist der Zustand (Z) der Herzkammern. Schon von Me William!) wurde hervorgehoben, dass das Herz, je nach den jeweiligen Umständen, schwerer oder leichter ins Flimmern gerät, wovon ich mich bei vielen Experimenten oft genug überzeugt habe. Bevor man darangeht, die Abklemmung oder Abbindung einer Koronararterie vorzunehmen, ist schon durch die diesem Akte vorausgehenden Eingriffe der Zustand der Herzkammer gegenüber der Norm zweifellos etwas geändert. worden. Wie stark sich aber Z geändert hat und in welchem Sinne die einzelnen Eingriffe Z ge- ändert haben, ist noch wenig untersucht worden. Eine hierher- gehörige Angabe rührt vonPorter?°) her und lautet folgendermassen: 1) Journ. of Physiol. vol. 8. 2) Physiol. Zentralbl. Bd. 9 Nr. 222. 1896. 14 H. E, Hering: „Dass der Zustand des Herzens zur Zeit der Verschliessung auch von Einfluss ist, ersieht man aus den Folgen der Unterbindung des R. descendens bei 39 Hunden. 14 von diesen waren mit Morphium oder Curare oder beiden in gewöhnlicher Dosis vorbereitet, während 25 nur ätherisiert oder ätherisiert und durch Trennung der Medulla oblongata bewegungslos gemacht wurden. Unter den 14 erstgenannten wurde das Herz neunmal (64/0) zum Stillstand gebracht; unter den 25 letztgenannten, welche kein Morphium und Curare empfangen hatten, stand das Herz nur zweimal (nur 26°/o) still. Bei allen Tieren wurde die Arterie in der Nähe ihres Ursprunges unterbunden.“ Mit diesen Angaben stimmt überein, dass nach unseren Er- fahrungen im Institute dem Morphium eine fördernde Wirkung auf die heterotope Reizbildung zukommt). Es wäre ferner hier zu erwähnen, dass C. Hirsch?) nach Unterbindung des R. descendens bei acht Hunden und zwei Affen in keinem Falle „Herzstillstand“ eintreten sah; er verwendete zur Narkose nur Äther?) und, um die Operation möglichst schonend vor- zunehmen, das Überdruckverfahren von Brauer, wobei Sauerstoff in die Lungen eingeleitet wird. Bei meinen Versuchen wurden die Hunde erst morphinisiert und dann noch mit Äther oder seltener mit einer Äther-Chloroform- mischung narkotisiert, bis sie nach Thoraxeröffnung euraresiert und künstlich geatmet wurden. In den erwähnten Experimenten von Th. Lewis waren die Hunde mit Morphium und Paraldehyd narkotisiert unter ergänzender Narkose mit Äther zur Erzielung einer kompletten Anästhesie. Es ist schon länger bekannt und von mir bei Hunden und Katzen wiederholt beobachtet worden, dass die Tiere in der Narkose, bssonders bei Anwendung vor Chloroform, plötzlich an Hkf zugrunde gehen können. In der letzten Zeit hat sich Levy*) mit diesem Gegenstand eingehender befasst und festgestellt, dass bei Katzen das Herz besonders in leichter Chloroformnarkose häufig ins Flimmern gerät, während tiefe Chloroformnarkose das Auftreten von Flimmern zu. verhindern vermag. l) Zeitschr. f..exper. Path. u. Ther. Bd. 12 H.3 S. 389. 1913. 2) Deutsch. med. Wochenschr. 1907. Nr. 20. 3) Bei seinen Versuchen „Über die Frage eines Koordinationzentrums im Herzventrikel“, in denen die Hunde nach Unterbindung einer oder zweier Koronar- arterien mehrere Stunden bis Tage lebten, hatte Porter.die Hunde nur ätherisiert. 4) Heart vol.4 no.4. 1913. Über die Koeffizienten, die Herzkammerflimmern bewirken. 15 Diese Angaben mögen genügen zum Beweis dafür, dass die Narkotika die Flimmerdisposition des Herzens zu ändern ver- mögen, und dass hierbei nicht nur die Art des Narkotikums, sondern auch seine Menge zu berücksichtigen ist. Ein weiterer Koeffizient, der Z zu ändern vermag, ist der bei der Thoraxeröffnung jeweilig verschiedene Blutverlust. Da dieser Koeffizient die Ischämiehypothese berührt, wollen wir ihn erst mit dieser besprechen. Endlich seien hier noch die Nebenverletzungen des Herzens angeführt, deren Bedeutung für die Erklärung des Hkf nach Kav von Tigerstedt und Langendorff so überschätzt worden ist, dass sie ihnen allein die Schuld geben, wenn nach Kav das Herz flimmerte. Das ist nun zweifellos ein Irrtum, gegen den schon Porter sehr richtig angekämpft hat, dessen Angaben aber nicht gerügt haben, um die Nebenverletzungshypothese in Deutschland zu beseitigen, denn sie dominiert hier noch, wie schon eingangs er- wähnt wurde. Als disponierenden, wenn auch im allgemeinen unwesentlichen Koeffizient kann man die bei der Freilesung oder Umstechung einer Koronararterie eintretende Nebenverletzung des Herzens wohl an- sehen, und insofern sei sie hier bei Besprechung von Z auch erwähnt. Als auslösender Koeffizient kommt die Nebenverletzung aber nur als Versuchsfehler bei der Operation in Betracht, das heisst dann, wenn das Hkf unmittelbar an die Freilegung, Umstechung, Unterbindung oder Abklemmung der Koronararterie eintritt, wie dies im Gefolge einer mechanischen Reizung der Fall ist. Dass eine Nebenverletzung der Herzwand Flimmern hervorrufen kann, wird niemand leugnen, sagt Porter, und hat damit vollkommen recht; er hätte nur noch hinzufügen sollen, dass, wenn es bei den Vor- bereitungen zur Koronarunterbindung oder dieser selbst eintritt, ein Versuchsfehler vorliegt, was er dem Sinne nach, entsprechend seinen weiteren Ausführungen wohl auch meint. Um die mechanische Verletzung auszuschalten, verschloss er die Öffnung der Koronararterien mit einem Glasstabe von der Aorta aus. Es bedarf aber gar nicht dieser besonderen Methode, um zu zeigen, dass die mechanische Verletzung bei den in Frage stehenden Eingriffen nicht als auslösender Koeffizient in Betracht kommt, denn aus der Grösse des Intervalles zwischen Setzung der Verletzung und dem Eintritt des Hkf geht schon mit Sicherheit hervor, ob 16 H. E. Hering: letzteres durch die mechanische Reizung ausgelöst wurde oder nicht. Ich habe schon aus diesem Grunde bei meinen Versuchen immer, wie weiter oben bereits erwähnt, auf das Intervall Kav—Hkf geachtet, von denen das kürzeste 1!/e Minute dauerte, während das Hkf auf mechanische Reizung hin bekanntlich innerhalb so kurzer Zeit aus- gelöst wird wie eine Extrasystole durch einen mechanischen Reiz. Hiermit ist, meines Erachtens, der Widerlegung der Nebenverletzungs- hypothese schon mehr Zeit gewidmet, als sie verdient, und ich will nur zum Beweise dafür, was für eine geringe Rolle die Neben- verletzung als auslösender Koeffizient spielt, anführen, dass kein einziger meiner Versuche über die Abbindung oder Abklemmung einer Koronararterie durch die mechanische Reizung sein vorzeitiges Ende fand, was auch aus dem oben angeführten kürzesten, von mir beobachteten Intervall Kav—Hkf hervorgeht. 4. Über die auslösenden Koeffizienten des Herzkammerflimmerns nach Koronararterienverschluss. Wenn wir die Kammern elektrisch oder mechanisch direkt reizen und unmittelbar an diese Reizung sich anschliessend Hkf auftritt, so ist es klar und leicht zu sagen, welches der auslösende Koeffizient war. Nicht so bei Kav. Tritt nieht unmittelbar im Anschluss an letzteren, wie bei einer mechanischen Reizung, also durch einen Versuchsfehler, das Hkf auf, sondern erst eine bis viele Minuten nach dem Kav, so ist zwar der Kav der letzte vor dem Eintritt des Hkf zu den übrigen Koeffizienten von uns hinzugefügte Ko- effizient und insofern, der üblichen Auffassung des Begriffes Aus- lösung entsprechend, der auslösende Koeffizient, nicht aber der letzte unmittelbar vor Erscheinen des Hkf wirkende Koeffizient, wie der mechanische oder elektrische Reiz. Wie wir auch hier wieder sehen, spielt die Grösse des Intervalles Kav—Hkf bei der: weiteren Erklärung des Hkf nach Kav eine grosse Rolle, der gegenüber zum Beispiel die Varia- tionen der Latenzzeit zwischen einem mechanischen oder elektrischen Reiz und dem unmittelbar darauf erscheinenden Hkf verschwindende sind. Die verschiedene Grösse jenes Intervalles ist es auch, die bei der Erklärung des Hkf nach Kav den verschiedenen Autoren Schwierig- keiten bereitet hat, denn einmal ist es relativ sehr kurz, ein anderes Mal unendlich lang, das heisst, es trıtt das Hkf nach Kav während der Beobachtungszeit überhaupt nicht auf. Je mehr Zeit seit dem Über die Koeffizienten, die Herzkammerflimmern bewirken. 17 Kav verstrichen ist, bevor das Hkf erscheint, desto weniger macht es begreiflicherweise den Eindruck, dass das Hkf durch den Kav veranlasst wurde. Demgegenüber müssen wir wiederum darauf hinweisen, dass das Intervall Kav—Hkf im Vergleich zu dem Inter- vall zwischen einem zum Beispiel mechanischen Reiz mit dem Hkf über- haupt sehr lang ist, so dass es für die Erklärung nicht viel ändert, ob das Hkf eine oder erst eine Anzahl Minuten nach Kav auftritt. Zur vollständigen Erklärung des Erscheinens von Hkf nach Kav bedürfte es einer lückenlosen Kenntnis der Voreänge, die durch den Kav veranlasst werden. Dass der Kav eine Erschwerung bis Auf- hebung der arteriellen Blutzufuhr, das heisst eine Ischämie des von der Arterie normalerweise mit Blut versorgten Bezirkes bewirkt, darauf haben bereits die ersten Experimentatoren hingewiesen. Aber schon diese erste Folge des Kav ist durchaus keine etwa konstant zu er- wartende, wie Cohnheim und v. Schulthess-Rechberg glaubten, die die Koronararterien als Endarterien ansahen, vielmehr ist das Herz reich an arteriellen Anastomosen, was in letzter Zeit besonders von Jamin und Merkel sowie von Spalteholz hervorgehoben wurde, so dass die Möglichkeit eines kollateralen Ausgleiches ge- geben ist. Die ganze Frage nach dem Zusammenhang zwischen dem Kav und deın Hkf bekonmt ein etwas anderes Gesicht und rückt damit unsrem Verständnis wesentlich näher, wenn wir einmal auch den unıgekehrten Weg gehen und rückwärts anfangend uns fragen, was deun eigentlich das Herzflimmern für eine Erscheinung ist. Darauf können wir heute antworten, dass es die Folge des höchsten Gradeseinerheterotopen Reizbildung darstellt. Eshandelt sich also bei dem Zustandekommen des Hkf nach Kav darum, dass der Kav eine heterotope Reizbildung veranlasst. Mit dieser Er- kenntnis befriedigen wir nicht nur unser Bedürfnis nach der Fest- stellung des letzten, unmittelbar auslösenden Koeffizienten, welches demgemäss die heterotopen Herzreize sind, sondern wir ver- mögen dadurch auch aus der Reihe der Vorgänge, die sich zwischen dem Kav und dem Hkf abspielen, einen hervorzuheben, die heterotope Reizbililung, diekonstant zu erwarten ist und immer ein- treten muss, damit es zu Hkf konnt. Wie schon eingangs hervorgehoben, hatten Cohnheim und v. Schulthess-Rechberg seinerzeit nicht erkanut, dass das Wesentliche und Primäre des „plötzlichen Herzstillstandes“ nach Pflüger’s Archiv für Physiologie. Bd. 163. 2 18 H. E. Hering: Kav das Hkf ist, dass also das Wesentliche und Primäre hierbei eine Reizerscheinung ist. Infolgedessen konnten Cohnheim und v. Schulthess-Rechberg auch nicht erklären, wieso infolge der lokalen Schädigung einer Kammer beide Kammern in ihrer Totalität so plötzlich versagen können, oder mit andren Worten die Erklärung, die sie auf S. 530 für die „totale Lähmung beider Herzventrikel“ gaben, war nicht richtig, da sie übersahen, dass die „totale Lähmung beider Herzventrikel“ eine sekundäre Erscheinung und erst die Folge der primär eintretenden Reizung ist. Zur Erklärung des Zusammenhanges zwischen Kav und Hkf haben wir nach diesen Feststellungen also ausfindig zu machen, wie es nach Kav zur heterotopen Reizbildung kommt. Dazu sei zunächst bemerkt, dass wir heute schon eine ganze Anzahl Koeffizienten kennen, die zur heterotopen Reizbildung zu führen vermögen, was uns das Verständnis der heterotopen Reiz- bildung nach Kav wesentlich erleichtert. Ist, wie gesagt, der Kav auch der letzte von uns hinzugefügte Koeffizient, so löst doch dieser Eingriff nicht etwa als mechanischer Reiz, falls nicht ein Versuchsfehler vorliegt, das Hxf aus, sondern es kommt erst nach Ablauf einer verschieden langen Zeit infolge der lokalen Isehämie zur heterotopen Reizbildung, deren höchster Grad das Flimmern darstellt. Wir kommen damit zu jener Hypothese, die wir eingangs Anämie- hypothese genannt haben, die aber besser als Isehämiehypothese zu bezeichnen ist. Gegen sie ist, wie schon angeführt, besonders Tigerstedt und Langendorff aufeetreten, und zwar, wie wir heute sicher sagen können, mit Unrecht. Sie haben folgende Ver- suche veröffentlieht, die die Berechtigung ihres ablehnenden Stand- punktes beweisen. sollten: Tigerstedt hob durch Abklemmung der Vorhöfe beim Hund den ganzen Kreislauf 115—150 Sekunden. lang vollständig auf; in keinem einzigen Falle trat das Herzdelirium ein, weder während noch nach der Abklemmunge. Langendorff durchströmte nach seiner bekannten Methode von der Aorta aus durch die Koronargefässe das Herz von Kaninchen, Katzen und Hunden; nachdem die Herzen schlugen, hob er die Blutzufuhr auf; die Blutsperre bewirkte niemals Flimmern. Gegen diese Versuche soll an sich nichts gesagt werden, nur beweisen sie nicht, wie Tigerstedt meinte, „dass derjenige Herz- Über die Koeffizienten, die Herzkammerflimmern bewirken. 19 stilltand, den Cohnheim und v. Schulthess-Rechberg be- obachtet haben, nicht durch die Auämie eines umschriebenen Teiles der Herzwand, sondern durch Nebenverletzungen bedinet ist“, oder wie Langendorff meinte, dass seine Ergebnisse „in vollständigem Einklang mit der Meinung derjenigen stehen, die wie v. Frey, Tigerstedt u. a. den dauernd schädigenden Einfluss der vorüber- gehenden Aufhebung der Blutzufuhr zum Herzmuskel leugnen und den Grund für die von v. Bezold, Cohnheim usw. erhaltenen Resultate auf Nebenverletzungen beziehen“. „In dieser Beziehung ist es wichtig“, fährt Lanzendorff fort, „dass es mir in einem Falle, am isolierten Kaninchenherzen, bei dem die Blutsperrung genau wie in den übrigen gemacht und keineswegs Wogen herbeigeführt hatte, gelang, durch Zuklemmune der linken Art. coron. Wogen herbeizuführen. Unmöelich konnte an diesem die mit der Abklemmung verbundene Aufhebung der Blutzufuhr schuld haben.“ Hier übersieht Lanugendorff, wie "übrigens schon vor ihm auch Tigerstedt bei seinem Experiment, dass es doch wohl einen Unterschied geben kann, ob man eine lokale oder eine allgemeine Ischämisierung des Herzens be- wirkt, wie in ihren Versuchen, die durchaus nicht widerlegen, dass die Ischämie eines umschriebenen Teiles der Herzwaud zu Flimmern führen kann. Wenn auch Frey 1891 meinte, „dass die Anämie des Herz- muskels nach den vorliegenden physiologischeu Erfahrungen eine relativ ungefährliche Erscheinung ist“, so war er doch später (1814), im Anschluss an die Experimente von Porter, wie erwähut, auf dem richtigen Wege, als er sagte: „Entweder muss zur Anämie des abgesperrten Herzteiles noch etwas hinzukommen, wodurch der Still- stand herbeigeführt wird, oder es ist neben der Grösse auch der Ort der Schädigung von besonderer Bedeutung.“ Gewiss bewirkt nicht jede lokale Ischämie der Kammern Hkf, wohl aber unter der Mitwirkung der übrigen hierzu erforderlichen Koeffizienten, die nur nicht in allen Versuchen immer mitwirken oder denen andere Umstände entgesenwirken. Wir habeu von den Koeffizienten bisher wesentlich nur die Grösse der Arterie, die Funktion des von ihr versorgten Herzbezirkes und die Disposition der Herzkammern besprochen; aber es kommen gewiss noch audere Koeffizienten in Betracht. Der auslösende Koeffizient des Hkf, weun auch nicht der letzte, ist sicher die durch den Kav bewirkte lokale 2 * 20 H. E. Hering: Ischämie, welche, je rach den Umständen, eine grössere oder kleinere, dauernde oder vorübergehende ist; nur diesem Koeffizienten kaun die Auslösung des nach einiger Zeit auftretenden Hkf zugeschrieben werden (falls nieht, wie schon öfter erwähut, beim Verschluss der Arterie infolge eines Versuchsfehlers das Herz durch direkt mecha- nische Reizung unmittelbar im Anschluss an den Eineriff zum Flimmern gebracht wurde), denn alle anderen mit dem Eingriff gerebenen und je nach Geschick und Glück verschieden grossen Nebenverletzuneen des Herzens und seiner Nerven können höchstens die Disposition der Herzkammern etwas ändern, sie bewirken aber, wie schon Porter hervorgehoben hat, dem ich hier vollkommen beistimme, nieht das Flimmern. Wenn es nun auch, wie erwähnt, einen Uıterschied macht, ob man eine lokale oder allzemeine Ischämierung des Herzens bewirkt, so haben doch beide das Ge- meinsame, dass sie die Disposition zum Flimmern zu erhöhen ver- mören, falls sie es nicht auslösen, deun, wie schon Porter auführt, tritt auch nach Verblutung leicht Flimmern auf, worin ich ihm auf Grund reicher Erfahrung nur beistimmen kann. Wir können auf Grund der vorlierenden Erfahrungen die Be- ziehung zwischen dem Kav uud Hkf zunächst folgendermaassen präzisieren: Kommt es infolge Koronararterienverschluss zu Herzkammerflimmern, so ist die lokale Ischämie einer seiner Koeffizienten. Dies ist der Boden, auf dem wir uns bei der Analyse der weiteren Folgen des zu Hkf führenden Kav stellen müssen. Bis hierher war sie noch relativ Jeieht; aber sie wird, wie bei allem lebendigen Geschehen, um so schwieriger, je tiefer wir einzudiingen versuchen. Schon Cohnheim versuchte dies und frug sieh: „Ist nun aber die Anämie als solche oder, um es präziser auszudrücken, der Mangel an sauerstoffhaltirem Blut die eigentliche Ursache des ganzen Vorganges?* Nach Verneinung dieser Frage kam er zu der Ver- mutung, „dass hier die Wirkung einer positiven, für das Herz direkt schädlichen Substanz, eines wirklichen Herzgiftes vorliegt, das sich während des Verschlusses des Kranzarterienastes gebildet hat“. Als Uuterstützung für diese Vermutung führt er an: „Eine gewisse Ähnlichkeit unserer typischen Kurven mit beispielsweise der von der Kalivergiftung wird niemand verkennen.“ Über die Koeffizienten, die Herzkammerflimmern bewirken. 21 'Cohnheim war hier insofern auf dem richtigen Wesce, als er die von ihm beobachtete schädliche Wirkung des Kav irgendwelchen Stoffen zuschrieb. Speziell meinte er, dass es sich um Substanzen handle, die „unter dem Einflusse der Herzkontraktionen im Stoff- wechsel des Herzmuskels kontinuierlich produziert werden, welche für Muskel- und Nerventätiekeit direkt schädlich sind“. Er irrte jedoch insofern, als er glaubte, dass die in dem umschriebenen Bezirke gebildeten Substauzen eine totale Lähmung der beiden Herzventrikel bewirken; da in jenem Bezirke der Blutstrom nach seiner eigenen Angabe unterbrochen ist, können jene Substanzen wohl eine lokale Vereiftung, nicht aber „eine totale Lähmung beider Herzventrikel“ bewirken. Jene Auffassung hänet mit dem schon erwähnten Umstande zusammen, dass er nicht erkaunte, dass das Primäre das Flimmern ist, das sehr wohl durch eine lokale Vergiftung hervoreerufen werden kann. In der Tat muss die Folge des Kav, wenn er zu einer lokalen Ischämie führt, eine lokale endogene Vereiftung sein. Eine weitere Frage ist es nun, welche Stoffe es sind, die zum Auf- treten des Hkf beitragen können, ob wesentlich ein Stoff als auslösender bezeichnet werden kann. Die vielfache Beschäftigung mit der Langendorff’schen Methode der künstlichen Durehströmung des Säueetierherzens brachte mich auf den Gedauken, die Versuche über die Folgen des Kav auch an Herzen vorzunehmen, die nur mit Ringer’scher Lösung gespeist werden. Würde bei diesen Herzen nach Verschluss einer Koronararterie ebenfalls Flimmern auftreten, dann war damit ent- schieden, dass die übrigen im Blute, nieht aber in der Ringer’schen Lösung vorhandenen Stoffe notwendigerweise nichts damit zu tun haben. Meine an Huudeherzen angestellten Versuche haben nun in der Tat ergeben, dass auch an den nur mit Ringer’scher Lösung gespeisten Hundeherzen der Verschluss einer srösseren Koronararterie Hkf herbeizuführen vermag. Diese Versuche liefern durch die Art und Weise, wie ich sie an- stellte, gleichzeitig auch einen weiteren Beweis gegen die Neben- verletzungshypothese, wenn es überhaupt eines solchen noch bedurfte. Ich habe nänlich bei diesen Versuchen die Arterie, zum Beispiel die Coronaria dextra, vor der Wiederbelebung des verbluteten Herzens präpariert; so kann man auf das Peinlichste alles für die später, nach erfolgter Wiederbelebung des Herzens vorzunehmenden Abklemmung oder Abkindung der Arterie vorbereiten. 2 H. E. Hering: Die Tatsache, dass auch an den nur mit Ringer’scher Lösung gespeisten Hundeherzen Hkf nach Kav auftritt, vereinfacht die Er- forschung der an der lokalen Vergiftung beteiligten Stoffe sehr wesent- lich. Wir sehen hier das Flimmern auftreten als die Folgeerscheinung der lokalen Absperruug einer sauerstoffhaltigen Salz- lösun2. Die Folge der lokalen Absperrung der Speisungsflüssiekeit ist mit Bezug auf den Stoffwechsel eine zweifache: das Fehlen neuer Zufuhrstoffe und die Auhäufunge der Abfuhrstoffe.. Würde es sich nur um die Abscehneidung der Zufuhr bei unbehinderter Abfuhr der Stoffwechselprodukte handeln, so würde der betroffene Herzabschnitt eine Lähmung erfahren. In Wirklichkeit sehen wir aber, dass an dem betroffenen Herzabschnitt auch Erreguneserscheinungen auf- treten und diese sind wohl durch die Anhäufune von Abfuhr- stoffen veranlasst. Wenn wir auch über die letzteren noch durch- aus nicht befriedigend unterrichtet sind, so kennen wir doch be- sonders einen dieser Stoffe und seine Wirkungsweise, das ist die Kohlensäure. Auf Grund der bis jetzt vorliegenden Erfahrungen glaube ich, dass vielleieht die Kohlensäure ein wesentlicher Koeffi- zieut für das nach Kav auftretende Hkf auzusehen ist. Dafür sprechen folgende Tatsachen: 1. Es ist bekannt und von mir oft genug beobachtet worden, dass bei Erstiekung des Tieres die Kammern leicht ins Flimmern geraten, dass also Erstiekung, je nach seinem Grade, ein auslösender oder ein das Auftreten von Hkf begünstigender Koeffizient ist. 2. Beobachtet man zum Beispiel nach Unterbindung der rechten Coronaria den von ihr versoreten Herzbezirk, so sieht man ihn zu- nächst abblassen, alsbald aber eine livide Färbung annehmen; es tritt eine lokale Erstickung ein. 3. Aus Versuchen von R Magnus aus dem Jahre 1902, die er zu anderen Zwecken vorgenommen hat, geht hervor, dass die Durehströnung der Koronargefässe mit Kohlensäure die Kammern des isolierten Katzenherzeus zum Flimmern bringt. Es ist demnach möglich, dass ein wesentlicher Koeffi- zient des infolge lokaler Ischämie auftretenden Herz- kammerflimmern die Kohlensäure ist. Welche andere Stoffe ausser der Kohlensäure an dieser lokalen endogenen Vereiftung sich noch beteiligen und zum Auftreten von Über die Koeffizienten, die Herzkammerflimmern bewirken. 93 Hkf beitragen, wird Sache weiterer Untersuchungen sein, wobei an die Milchsäure, Phosphorsäure usw. wie überhaupt an die Wasserstoffionenkonzentration zu denken sein wird. Damit, dass ich die Kohlensäure als einen wesentlichen Koeffizienten für Hkf nach Kav ansehe, ist nicht gesagt, dass die Kohlensäure unter allen Umständen Hkf bewirkt. So konnten wir in den Ver- suchen, die ich im Jahre 1903 mit E. Gross über den Einfluss der Kohlensäure auf das mit Ringer’scher Lösung durchströmte Hundeherz machte, nur Lähmungserscheinungen, aber keine Erregung- erscheinungen beobachten, wenn wir den Kohleusäuregehalt der Lösung erhöhten. Das ist jedoch kein Beweis gegen die oben ge- äusserte Anschauung, wenn es mir auch Veranlassung gibt, nach dem Kriege die Versuche zu wiederholen. Es ist bekannt, dass die Kohlensäure erregend wirkt, und auch dass diese Wirkung im all- gemeinen weniger leicht zu zeigen ist als die lähmende. Wovon das abhängt, wollen wir hier nicht weiter erörtern. Es sei nur noch darauf hingewiesen, dass an der von Magnus veröffentlichten Kurve (Fig. 7) das Flimmern erst auftritt, nachdem schon einige Zeit hin- durch Lähmungserscheinungen vorausgegangen sind. Diese Tatsache erinnert an die von mir!) kürzlich hervorgehobene Beobachtung, dass schon vor dem dureh KCl bewirkten Kammerflimmern die kontraktionsschwächende Kaliwirkung bemerkbar ist. Mit diesen Beobachtungen harmoniert nun auch, dass an dem von der lokalen Ischämie betroffenen Kammerbezirk vor dem Auftreten des Flimmerns eine ausgesprochene Kontraktionsschwäche zu bemerken ist, die ich schon wiederholt graphisch aufgenommen habe. Wie das KCl wirkt hier die lokale Ischämie und die Kohlen- säure (wenigstens in der angedeuteten Weise und Menge) lähmend auf die Kontraktilität, erregend auf heterotope Reizbildungsstellen. Wir haben uns in dieser Mitteilung. wie eingangs erwähnt, auf die erregende Wirkung des Kav beschränkt, da sie das Wesentliche ist für die Tatsache, dass eine lokale Ischämie einer Kammer beide Kammern in ihrer Totalität plötzlich zum Versagen bringt, fügen hier aber jenen Koeffekt des Kav, die lokale Lähmung, ergänzend hinzu, da die Herabsetzung der Kontraktilität das Auftreten des Hkf bekanntlich begünstigt. 1) Pflüger’s Arch. Bd. 161 S. 544. 1915. DA H. E. Hering: Schlussbemerkungen. Aus den vorausgehenden Ausführungen dürfte zur Genüge her- vorgehen, warum die verschiedenen Autoren über die Folgen des Kav so verscehiederer Meinung sind. Es ist das eben ein Eingriff, dessen Erfolg sehr verschieden sein kann. Das eine Mal Auftreten von Hkf nach 1'/ Minuten, ein anderes Mal erst nach vielen Minuten, ein drittes Mal nur Infarkte oder selbst diese nicht, wie in dem be- kannten Falle von Pagenstecher!), der den R. descendens der linken A. coronaria beim Menschen hoch über der Herzspitze unter- band und 5 Tage nach der Unterbindung, als der Patient einer Perikarditis erlag, die von der unterbundenen Arterie versorgte Muskulatur gegenüber der übrigen Herzmuskulatur nicht ver- ändert fand. Wie wir gesehen haben, hängt der uns hier interessierende Erfolg des Kav, das Hkf, von einer Anzahl von Koeffizienten ab, von denen wir den Kav, die lokale Ischämie, die lokale Vereiftung durch Be- hinderung der Zu- und Abfuhr der Stoffwechselstoffe, wahrscheinlich wesentlich die Kohlensäure und schliesslich die heterotopen Herz- reize nacheinander als auslösende, die Grösse der Arterie, die Funktion des von ihr versorgten Bezirkes, die Narkose, die Blutung, . die Nebenverletzungen usw. als disponierende Koeffizienten be- zeichnen können. Fassen wir die Summe der disponierenden Koeffizienten unter dem üblichen Ausdruck Disposition (D) zusammen und stellen ihr die Auslösung (A) gegenüber, so kann in dem Verhältnis A: D be- kanntlich A um so geringer sein, je grösser D ist und umgekehrt. Dementsprechend kann die lokale Ischämie desto kleiner sein, je grösser D ist, und wird um so grösser sein müssen, je geringer D ist. Diese auf anderen Gepvieten heute sehr geläufige Beziehung von A:D ist bei der Beurteilung der Versuche über die Folgen des Kav nicht entsprechend beachtet worden, obwohl seine Beachtung gerade bei der uns hier in dieser Mitteilung hauptsächlich inter- essierenden Folgeerscheinung, dem Hkf, besonders nötig ist. Mein Interesse an dem durch Kav hervorgerufenen Hkf hängt auch mit dem durch Hkf bedingten plötzlichen Tode zusammen. Der Umstand, dass weder Cohnheim und v. Schulthess-Rech- berg noch Porter erkannten, dass das Wesentliche und Primäre 1) Deutsch. med. Wochensch. 1901 H. 4 S. 56. Über die Koeffizienten, die Herzkammerflimmern bewirken. 35 des plötzlichen Versagens der beiden Kammern nach Kav das Hkf ist, trug gewiss mit dazu bei, der schon von Me William 1887 im Brit. med. Journ. ausgesprochenen Vermutung, lass plötzliche Todesfälle beim Menschen durch Eiutritt fibrillärer Konutraktionen des Herzmuskels bedingt sein könnten, nicht die ihr zukonımende Beachtung zu schenken. Noch hiuderlicher war aber in verschiedener Beziehung die von Tigerstedt und Langendorff vertretene und vielfach an- genommene Anschauung, dass das Hkf nach Kav auf Neben- verletzungen beruhe. Zusammenfassung. Kav hat nur im Verein mit anderen Koeffizienten Hkf zur Folge; letzteres kann daher nicht die notwendige Folge nur des ersteren sein. Soweit es bis jetzt bekannt ist, gehören zu diesen Koeffizienten die Grösse der Arterie, die Funktion des von ihr versoreten Be- zirkes, die Narkose, die Blutung, die Nebenverletzungen (disponierende Koeffizienten). Das Hkf nach Kav nur auf die Nebenverletzungen zu beziehen, wie Langendorff und Tigerstedt es taten, ist unzutreffend. Tritt unmittelbar im Anschluss an eine Verletzung des Herzens, wie eine Extrasystole auf einen mechanischen Reiz, Flimmern auf, so ist dies bei den Versuchen über die Folgen des Kav ein Versuchs- fehler. Das kürzeste an 20 Hundeherzen von mir beobachtete Intervall zwischen Kav und dem Beginn des Hkf betrug 1!/s Minuten. Zusammenfassend kann man sagen, dass es von dem jeweiligen Verhältnis des Grades der Disposition (D) der Herzkammern zur Grösse der Auslösung (A) abhängt, ob und wie rasch nach Kav Hkf eintritt, mit anderen Worten wie gross das Intervall Kav—Hkf ist. Als auslösende Koeffizienten kommen nacheinander in Betracht: der Kav, die lokale Ischämie, die lokale Vergiftung, vielleicht als wesentlich die Kohlensäure und schliesslich die heterotopen Herzreize. Ein das Flimmern unterstützender Koeffizient ist die als Koeffekt des Kav auftretende lokale Herabsetzung der Koutraktilität. Auch an nur mit Ringer’scher Lösung gespeisten Hundeherzen vermag der Verschluss einer grösseren Koronararterie Hkf herbei- zuführen. 26 H.E. Hering: Über die Koeffizienten, die Herzkammerflimmern bewirken. Kommt es nach Kav zu Hkf, so geht diesem nicht, wie Cohn- heim und v. Schulthess-Rechberg und auch Porter meinten, ein Stillstand des Herzens voraus. Das plötzliche Versagen beider Kammern nach Kav beruht auf dem lokal ausgelösten Flimmern beider Kammern, durch welches sich auch Fälle von ganz plötzlichem Herztod beim Menschen er- klären lassen. Nachtrag: Aus einer Mitteilung von E. Louis Backman!) über „Die Wirkung der Milchsäure auf das isolierte und überlebende Säugetierherz“ geht hervor, dass die Milchsäure „selbst in den niedrigsten Konzeutrationsgraden“ Jähmend auf die Kontraktilität, in etwas höheren Konzeutrationseraden, als sie normalerweise im Blut vorkommen, erregend auf die Reizbildung wirkt. Dem- nach könute, wie schon weiter oben erwähnt, auch die Milchsäure als Koeffizient für das Herzkammerflimmern nach Koronararterienver- schluss wit in Betracht kommen; da sich die vorliegenden Angaben über die erregende Wirkung der Milchsäure auf die nomotope Reiz- bildungsstelle bezieht, wird noch festzustellen sein, ob das gleiche auch für die heterotopen Reizbildungsstellen eilt. Wenn dies der Fall wäre, dann würde sich die Milchsäure ähnlich verhalten wie die Kohlensäure und es wäre dann noch zu untersuchen, wie auch schon oben erwähnt, ob die Wasserstoffionenkonzentration masszebend ist, und ob, wenn dies der Fall ist, eine der Säuren durch ihre Quanti- tät einen besonderen Eiufluss besitzt, oder ob die Qualität einer Säure in Betracht kommt. 1) Skandinav. Arch. f. Physiol. Bd. 20 S. 162. 1908. 27 Chemisch-physiologische Mitteilungen. Von Th. Bokorny. Ernährungsversuche, mit organischen Stoffen an grünen Pflanzen angestellt, haben recht merkwürdige Dinge zutage gefördert. Die grüne Pflanze erscheint hiernach mit chemischen Fähigkeiten wie ein Pilz ausgestattet. Sie kann die verschiedensten organischen Stoffe assimilieren. Alkohole, Aldehyde, Ketone, organische Säuren, Aminokörper usw. dienen ihr als Kohlenstoffnahrung, und zwar meist dieselben, welche auch bei Pilzen als tauglich erkannt wurden. Die Parallele ist so weitgehend, dass man bei einer Zusammen- stellung der beiderseits erhaltenen Resultate wirklich überrascht ist. Nehmen wir als Beispiel den Methylalkohol. Der Methylalkohol oder Holzgeist steht dem Formaldehyd, diesem wahrscheinlichen Zwischenprodukt bei der Kohlensäureassimilation, sehr nahe; schon aus diesem Grunde erscheinen Ernährungsversuche mit ihm besonders interessant. Verfasser hat schon vor längerer Zeit in dieser Zeitschrift (Bd. 66. 1897) mitgeteilt, dass derselbe keine schlechte C-Nahrung für Spaltpilze sei. Es wurden vier Versuche bei Lichtabschluss aufgestellt: mit 1/o iger, . mit 0,5 Jo iger, . mit 0,1 /o iger, 4. mit 0,01°/oiger Methylalkohollösune. Sämtliche Lösungen wurden mit den nötigen Mineralsalzen versehen. Ein Versuch mit 0,1°/oiger Methylalkohollösung wurde auch am Lichte belassen. Sämtliche Lösungen wurden mit den nötigen Mineralsalzen versehen. SED 28 Th. Bokorny: Bei den Versuchen 2 und 3 trat schon am vierten Tag (bei Bruttenmperatur) ohne jede vorausgehende Impfung eine von Spalt- pilzen herrührende Trübung auf. Auch die am Lichte steheude Lösung wurde zur selben Zeit trüb. Die Trübung wurde rasch stärker. Bei 2 bildete sich bald ein starker Bodensatz aus; bei 3 weniger stark, die Bakterieubildung hörte nach einigen Wochen auf. Auch bei Versuch 4 zeigte sich schon am fünften Tage eiue schwache Trübung, nach S Tagen ziemlich starker Ausatz von Spaltpilzen an der Oberfläche, besouders an der Glaswand des Versuchsgefässes; die Bildung schritt aber dann nicht mehr weiter fort, wahrscheinlich wegen zu Starker Verdünnung der Lösung. Es fand also jedenfalls hei der Verdünnung 1:10000 noch Assimilation des Methylalkohols statt. In Versuch 1 mit 1°/o Methylalkohol zeigte sich lange keine Trübung; erst nach einigen Wochen begaun die Spaltpilzbildung, nun aber sehr ausgiebig. Es entstanden ungeheure Spaltpilzmengen, teils als dicke Haut an der Oberfläche, teils als Bodeusatz; nach 7 Wochen war ein Bodensatz von 2 mm Höhe vorhanden. Die bei 2 auftretenden Bakterien wurden mittels der Platten- kulturmethode untersucht; es zeigten sich erstens grünliche ver- flüssigende Kolouien, aus lebhaft beweglichen Stähehen bestehend, zweitens nicht verflüssigende, aus beweglichen etwas dickeren Stäbchen bestehend. Bei grünen Pflanzen macht man nun ähnliehe positive Er- fahrungen über die Brauchbarkeit des Methylalkohols zur Kohlen- stoffernährung. Ja, die Verwendungsfähigkeit ist dort vielleicht viel grösser. Während in Methylalkohollösungen meist bestimmte Bakterien wachsen, keine Hefe- oder Schimmelpilze, scheint mir die Ernährungs- fähigkeit bei grünen Pflanzen nicht so eingeschräukt zu sein. Man darf nur die unschädlichen Verdünuungen nicht verfehlen. Unschädlich ist der Methylalkohol ja ganz sicher, wenn man 0,5 °/o nieht überschreitet, für grüne Pflanzen. Dass die Pflanzenzellen lebend bleiben, wenn Methylalkohol von gewisser Verdünnung in dieselben gelangt, daran kann nach den vom Verfasser bis jetzt durchgeführten Versuchen kein Zweifel bestehen. Denn Wasserkulturen von verschiedenen Pflanzen zeigen Chemisch-physiologische Mitteilungen. 239 sich wochenlang frisch, wenn die Nährlösungen mit 0,5—2°/o Methyl- alkohol versetzt werden. Die Grenze der Unschädlichkeit scheint erst bei ca. 5°/o zu liegen (bei manchen Pflanzenarten). Feuerbohnenkeimlinge von etwa 10 cm Stengellänze und 5 em Hauptwurzellänge (Seitenwurzeln waren auch da) wurden in a) 5Ploige b) 10°%oige Methylalkohollösung gebracht. Nach 48 Stunden waren bei b die Wurzeln abgestorben und schlaff, bei a noch nicht. Nach weiteren 24 Stunden begann bei b auch der Stengel schlaff zu werden. Bei a war er noch steif, auch die Wurzel war noch nicht ab- gestorben. Erst nach 8 Tagen war bei a eine ungünstiee Beeinflussung der Wurzel zu bemerken. An Algen hat der Verfasser schon früher festgestellt, dass der Methylalkohol nicht bloss ertragen wird, sondern sogar zur Stärke- bildung dient. Das Licht ist zur Stärkebildung aus Methylalkohol freilich nicht ganz entbehrlich, aber schon relativ geringe Lichtmengen scheinen auszureichen. Meine Versuche hierüber wurden im lichtschwächsten Monat, im Dezember, angestellt. Spirogyren wurden in ausgekochtem und rasch unter Vermeidung von Kohlensäurezutritt abgekühltem Wasser, dem Methylalkohol im Verhältnis 1:200 zugefügt war, bei Lichtzutritt stehen gelassen. Die Menge der Lösung wurde auf ein geringes Maass ein- geschräukt. Der Luftzutritt wurde möglichst ausgeschlossen (Versuche in kleinen Gläschen mit gut schliessendem Stöpsel). Infusorien (als Kohlensäureproduzenten) wurden durch Waschen der Algen möglichst ausgeschlossen, Spaltpilze durch kurze Versuchs- dauer. Die Versuche wurden also folgendermaassen angestellt: Eutstärkte (durch längeres Verweilen im Duukeln, mit etwas Caleiumnitratzusatz, auszehungerte) Spirogyren wurden mit Wasser von der oben beschriebenen Beschaffenheit mehrmals gewaschen, in Gläschen von 15 eem Inhalt gebracht; die Algenmenge betrug etwa 50 Fäden von je 10 em Länge. Methylalkohol 1: 200. 30 Th. Bokorny: Sie wurden einige Zeit dem Lichte ausgesetzt, aber niemals so lange, dass Spaltpilzvegetation auftreten konute. Es gelang bei diesen Versuchsbedingungen Stärkebildung in den Algen zu beobachten, die nur auf den Methylalkohol zurückgeführt werden konnten (schon binnen 5 Stunden reichliche Stärkebildune). Der Kontrollversuch (ganz gleich mit dem vorigen, aber ohne Methylalkohol) ergab negatives Resultat. Einen Kontrollversuch aufzustellen, ist immer nötig, da geringe Mengen von vorhandeuem Zucker zur (schwachen) Stärkebildung Anlass geben können. Desgleichen ist es nötig, die Kontrollalgen von derselben ent- stärkten Algenportion zu nehmen wie die des Methylalkoholversuches. Ein gleichzeitig aufgestellter Dunkelversuch (mit denselben Algen) ergab selbst nach 2 Tagen noch keine Stärke, wiewohl die Spirogyren ihr gutes Aussehen in der Methylalkohollösung bewahrten. Ein weiterer Versuch im Februar ergab beim Lichtexperiment erst nach 24 Stunden reichlichen Stärkeansatz, nach 48 Stunden aber massenhaft Stärke. Was hat das Licht bei der Methylalkoholassimilation zu tun? Es ist doch bei Pilzen zweifellos festgestellt. dass der Methyl- alkohol zu seiner Assimilation keines Lichtes bedarf. Man kann hiernach dem Lichte keinen bedineenden, sondern nur einen förderlichen Einfluss zuschreiben, letzteren freilich nur bei grünen Pflanzen. Denn bei Pilzen fördert das Licht die Assimilation nicht. Der fördernde Einfluss des Lichtes weist ferner darauf hin, dass die Assimilation des Methylalkohols bei Spirogyren hauptsächlich im Chlorophylikörper vor sich geht. Denn im farblosen Plasma kann das Licht nieht fördernd wirken, da es nicht absorbiert wird. Es kann aber, nach dem Beispiel der Pilze, nicht angenommen werden, dass das farblose Plasma der Spirogyren gar nicht fähig sei, die Assimilation (wenigstens bis zu Zucker) zu vollbringen, auch bei Lichtabschluss. Auf letzteres weisen auch die positiven Ausfälle hin, die ich bei Dunkelversuchen, wenn sie länger dauerten, in manchen Fällen erhielt. Jedenfalls ist es sehr bemerkenswert, dass das Chorophyliplasma unter Lichteinwirkung auch Methylalkohol in Stärke zu verwandeln vermag. Chemisch-physiologische Mitteilungen. 31 Man könnte freilich einwenden, dass der Methylalkohol zuerst zu Kohlensäure verbrannt wird. Doch ist dies nieht wahrscheinlich. Denn die Natur würde damit einen Umweg einschlagen, während doch sonst alles in einfacher und direkter Weise gemacht zu werden pflegt unter Vermeidung überflüssigen Energieaufwandes. Auch spricht die Verwendung von Methylalkohol in der Pilzzelle dagegen, welche doch gewiss keine Kohlensäureassimilation zu voll- ziehen vermag. . Dass das Licht einen fördernden Einfluss übt, braucht nicht auf der Kohlensäurebildung aus Methylalkohol zu berunen. Wie oben gesagt, ist hieran wahrscheinlich der Umstand schuld, dass die Methylalkoholassimilation vorwiegend in den Chlorophyll- apparaten geschieht, welche das Licht für ihre Arbeit nutzbar zu machen verstehen. Ein quantitativer Versuch mit Methylalkohol und Spirogyren mag hier noch von Interesse sein. In zwei Flaschen von je 5 Liter Inhalt wurde ausgekochtes (luft- freies) Wasser, und zwar in jede 1 Liter, gefüllt. Ausserdem fügte ich jedesmal etwas mineralische Nährlösung hinzu und ausserdem bei der einen noch 1 g Methylalkohol. In beide Flaschen wurden je 4+g Spirogyren (feucht ge- wogen) gebracht. Die Spirogyren waren durch längere Verdunklung ausgehungert worden. Nach 20tägigem Stehen am Lichte ergab die mikroskopische Untersuchung bei den Methylalkoholalgen reichlich Stärke, bei den Kontrollaleen keine Stärke. Die Trockensubstanz der ersteren betrug 0,190 g, die der letzteren 0,080 e. Spaltpilze waren in beiden Fällen wenige vorhanden. Die Trockensubstanz betrug also, obwohl gleiche Mengen von Spirogyren angewandt worden waren, in einem Fall mehr als das Doppelte wie im andern. Es war also eine ausgiebige Ernährung mit Methylalkohol ein- getreten; derselbe war in Pflanzensubstanz umgewandelt worden. In den obigen Versuchen mit Methylalkohol und Algen wirkte das Licht mit bei der Verarbeitung des Methylalkohols. 32 Th. Bokorny: Es wurden später auch Versuche im Dunkeln angestellt, welche positives Resultat ergaben. Cladophora (eine Alge) wurde in Portionen zu je 10 g Frisch- gewicht abzewogen und in mineralische Nährlösung einerseits, 0,1°/o Methylalkohol + 0,1 °/o Mineralnährsalz andrerseits gebracht. Beide Versuche wurden unter einem schwarzen Kasten aufgestellt. Eine sogleich an einer dritten Portion gemachte Trockensubstanz ergab pro 10 g Lebendgewicht 0,36 g Trockensubstanz. Nach 14 Tagen erhielt ich beim Kontrollversuch (ohne Methyl- alkohol) 0,38 & Trockensubstanz, beim Methylalkoholversuch 0,61 g. Fine ausgiebige Ernährung durch Methylalkohol auch im Dunkeln ist somit evident. Damit verliert die Anschauung, dass der Methylalkohol im Lichte durch vorherige Umwandlung in Kohlensäure ernährend wirke, wieder- um an Wahrscheinlichkeit. Die Hypothese, wonach der Methylalkohol direkt, d.h. ohne Kohlensäurebilduns, zum Aufbau von Pflanzensubstanz diene, dürfte wohl genügend begründet sein. Sie gilt dann auch für die sonst zur Kohlenstoffernährung taug- lichen organischen Stoffe, die im folgenden bei grünen Pflanzen er- wähnt werden. Freilich ohne weiteres kann eine solche Verwendung nicht stattfinden. Die Methylalkokolmoleküle sind zu reich an Wasserstoff. Er bedarfeiner Oxydation, darum muss Luftzutritt gestattet werden. Derselbe war auch bei den Versuchen, welche Verfasser mit Kohl- pflanzen (Biochem. Zeitschr. 1915) anstellte, gegeben. Topfpflanzen wurden ein Vierteljahr lang mit 0,1 °o iger Methyl- alkohollösung, die auch die nötigen Mineralstoffe enthielt, begossen, dann untersucht und mit Kontrollpflanzen verglichen. Es wurden eine Anzahl kleine Wirsingpflanzen von einer Gärtnerei bezogen (15. März 1915). Dieselben hatten die Höhe von 10 em und wurden zum Versuch so auseewählt, dass sie von gleicher Entwicklung und Kräftigkeit der Organe waren. Ihr Gewicht betrug je 2 g Dieselben wurden je in einen Topf mit Gartenerde gepflanzt. Der Topf enthielt nur eine Pflanze und war sehr geräumig, etwa 10 kg Gartenerde fassend. Chemisch-physiologische Mitteilungen. 33 Die Pflanzen wurden regelmässig, des Tages I—2 mal begossen, alle gleich. Der Aufenthaltsort der Pflanzen war ein Fensterbrett vor einem nach Südosten gehenden Fenster, das bis mittags 1— - Uhr direkte Sonne hatte. Jeden Tag fand eine genaue Besichtigung der Pflanzen statt, ob nicht etwa der Kohlweissling oder ein anderer Schädling sich eingefunden hatte. Eventuell wurde die Entfernung desselben schleunigst vorgenommen. Die Nährlösung, mit der die Erde täglich begossen wurde, hatte folgende Zusammensetzung: Nährlösung beim CH,OH-Wirsing- Nährlösung beim Kontroll- versuch: versuch hierzu: Methylalkohol. .0,2 °/o Monokaliphosphat . 0,03 % Monokaliphosphat . 0,03 /o Caleiumnitrat ... 0,05 %o Caleiumnitrat . . 0,05 lo Magnesiumsulfat . 0,02 %o Magnesiumsulfat . 0,02 0 Kisensalz . »%.% .. Spur. Bisensalz >. Spur | Der Methylalkohol wurde in relativ starker Konzentration gegeben, weil: ich schon früher gefunden hatte, dass er in dieser Stärke - er- tragen wird, und so eher ein Erfolg zu erwarten war als bei- grösseren Verdünnungen. RN Der Versuch begann am 15. März 1915 und endete am 11. Juni 1915. - Versuchsdauer also 3 Monate. Die Licht- und Wärmeverhältnisse waren sehr günstig. Befund bei der Untersuchung der Methylalkohol - Wirsingpflanze am 11. Juni 1915: Höhe der Pflanze vom Boden an 30 cm. Länge des längsten Blattes 20 em. Breite des grössten Blattes 20 em. Stengel an seiner dieksten Stelle 2!/s em dick. Die vier ältesten Blätter wiesen noch keine deutliche Kräuse- lung auf; die folgenden haben bereits zahlreiche tiefe Gruben an der Blattunterseite und Erhebungen an der Oberseite. An den weiteren acht Blättern nahm die Kräuselung beständig ; das jüngste sichtbare Blatt war in dichte Falten gelegt. Farbe ‘der Blätter bereift grün. Stengel 10 cm lang bis zum ersten Blatt (ein paar welke Blätter waren allerdings abgefallen). Pflüger’s Archiv für Physiologie. Bd. 163. 3 34 : Th. Bokorny: Die Pflanze machte von allen weitaus den kräftigsten Eindruck, namentlich war sie der gleichzeitig mit ihr aufgestellt gewesenen, unter ganz gleichen Bedingungen gezogenen Kontrollpflanze weit überlegen, weniger, aber doch recht deutlich den Methylal- und den Glycerinpflänzen. Gewichtder. Wurzel: :.....u.2 Sr nee BEE Gewicht 'des:Stengels, =: vr ea. me. u, 2800 Gewicht der Blätter . . . Sir ee Dane Gesamtgewicht der von der anhangenden Erde befreiten Pflänze 00. 0 u en en 049 S Die Wurzel machte 5,95 °/0 des Gesamtgewichtes, der Stengel 13,67 °o, die Blätter 80,38 °/o aus. Die mikroskopische Untersuchung eines Blattstückchens ergab die gewöhnliche Struktur des Kohlblattes. Die Blätter wiesen aber, entsprechend der üppigen, auch in die Dieke gehenden Entwicklung eine grosse Zahl von assimilierenden Schichten (Pallisaden- und Blattfleischzellen) auf, S—10 Schichten. Mit Coffeinlösung konnte keine Reaktion erhalten werden, ein Zeichen, dass das Albumin im Zellsafte nichtin Form von aktivem Albumin enthalten war. Um die Menge des mit Kaliwasser (1:1000) extrahierbaren Proteins zu ermitteln, wurden die Blätter, Stengel und Wurzeln, jedes für sich, gut zerkleinert und mit einer überschüssigen Menge von Kaliwasser 3 Tage lang extrahiert. Hierauf wurde filtriert. Das Filtrat wurde bis zum Kochen erhitzt und mit Essigsäure schwach angesäuert. Es entstand ein weisslicher Niederschlag, der sich zu Flocken sammelte und bald grösstenteils oberauf schwamm (wie Suppenschaun)). Dieser Niederschlag wurde auf einem Filter gesammelt und naclı dem Auswaschen getrocknet. Das getrocknete Eiweiss betrug 0,51 g bei den Blättern Das Frischgewicht der Blätter hatte 132,2 g betragen. Demnach haben wir 0,39 %/o trockenes Eiweiss in den Blättern der Methylalkiohol-Wirsingpflanze gefunden. Im Stengel und in der Wurzel wurde der Eiweissgehalt in gleicher Weise zu bestimmen versucht. | Es ergaben sich geringere Beträge. Chemisch-physiologische Mitteilungen. 35 - Der Eiweissgehalt der Wurzel war überhaupt nicht zu bestimmen. a - Denn die Neutralisation des Kaliwasserextraktes ergab hier nur eine schwache Trübung. Beim Stengel gelang es, die Menge ungefähr festzusteilen. Es war 0,053—0,04 g trockenes Eiweiss pro 22,5 g Stengel. Das macht 0,18°/o Eiweiss. Es scheint demnach, dass die Wurzel fast kein Eiweiss ablagert, wenigstens solange sie im lebhaften Wachstum begriffen ist. Die Pflanze war ja erst 3!/s Monate alt. Im Stengel wird etwas Eiweiss zur Ablagerung gebracht, aber wesentlich weniger als wie in den Blättern. Es mag das beim Stengel vielleicht zum Teil darauf zurück- geführt werden, dass ein beträchtlicher Teil der Zellen in leblose Holzzellen übergeht, welche nieht imstande sind, Eiweiss zu speichern. In der Wurzelentwieklung machte sich eine auffallende Vernach- lässigung geltend, die in grellem Widerspruch zu der sonst so kräftig angelegten Pflanze zu stehen schien. Erklärlich wird das aber durch die offenbar schr ausgiebige organische Ernährung der Pflanze bei diesem Versuch (siehe die Aus- führungen bei Beschreibung der Kontrollpflanze). Binnen 3 Monaten hatte sich das Frischgewicht der Pflanze von 2 g auf 164,5 g vermehrt, also auf das 82 fache. | Was ist davon auf das Konto der Methylalkoholernährung zu setzen ? Neben derselben hatte natürlich eine Kohlensäureernährung statt- eefunden. Sehen wir zur Kontrollpflanze. Sie hatte unter ganz gleichen Verhältnissen von 2 & bis 74.5 g zugenommen. Es bleibt also ein Unterschied von Me. Diese Differenz kann wohl zum grossen Teil auf den Methyl- alkohol geschoben werden. Denn wenn auch zugegeben werden mag, dass einiger Unter- schied schon in der ursprünglichen Anlage zur Entwicklung gegeben sei, so macht das doch keinenfalls einen so grossen Betrag aus, da die Kontrollpflanze während der ganzen Entwicklung sieh durchaus normal zeigte, 36 Th. Bokorny: Es wurde täglich "/, Liter der oben genannten Nährlösung zu- geführt, ausser wenn nasses Wetter war. Y, Ich schätze die gesamte Lösung auf 25 Liter; das macht 50 g Methylalkoholzufuhr. Unter Hinzuziehung des Salpeterstickstoffes und des Phosphors zur Eiweissbildung mag das wohl jenes Plus von 90 & erklären. Versuche mit mehreren andern grünen Topfpflanzen er- gaben ebenfalls positives Resultat. Es scheint überhaupt bei grünen Pflanzen die Regel zu sein, dasssiemit Methylalkoholernährt werden können. Hingegen erscheint diePilzernährung mitMethylalkohol bis jetzt noch als Ausnahme. Da nun der Methylalkohol doch anscheinend (rein chemisch ge- nommen) relativ leicht in die zur Ernährung geeignete CH,O-Gruppe verwandelt werden kann, stellte ich bei Pilzen noch weitere Ver- suche an, und zwar bei Hefe, an der bis jetzt noch keine Methyl- ‚alkoholernährung gelungen ist. | Da eine Oxydation des Methylalkohols nötig ist, um eine Er- nährung zu ermöglichen, wurde reichlicher Luftzutritt bei den Ver- suchen geboten. | Die Hefe wurde mit Nährlösung teils mit CH,OH allein, teils mit CH3OH + andern C-Quellen vermischt. Die Versuche wurden folgendermaassen angestellt: Auf einem feinen, in Holz gefassten Haarsieb wurde die Hefe ausgebreitet. Das Sieb wurde zuvor mit Filtrierpapier belegt, um ein Dir schlüpfen durch das Sieb zu verhindern. Dasselbe wurde darn in eine geräumige Schale mit Nährlösung gesetzt, so dass die Flüssigkeit ungefähr 2 mm über dem Haarsieb stand. Versuch a): 0,25° Methylalkohol, 0,020 Bittersalz, 0,05 9/o Ammonsulfat, 0,05 °/o Monokaliumphosphat, a 0,025 0/0 Caleiumchlorid. Versuch b): 0,25°% Methylalkohol, =... .09506 Rohrzucker 0,05 Amimonsulfat, 0,05°/ Monokaliumphösphat, 0,02 °/o Bittersalz, 0,025 °/o Caleiumehlorid. Chemisch-physiologische Mitteilungen. 37 Bei Versuch b trat binnen 24 Stunden eine Ausbreitung, der Hefe ein, so dass sie in einen lückenlosen Schlamm verwandelt war. Bei Versuch a hatten sich nach 24 Stunden die bestehenden Lücken noch nicht geschlossen. r In ersterem Falle (b) war vermutlich eine Ernährung der Hefe- zellen und Wachstum derselben eingetreten. Denn ich habe immer, auch bei Algen,,. die Erfahrung Pomzchl dass sich ernährte und wachsende Zellen verhalten, als ob sie- ein- ander abstossen würden. ee Setzt man Spirogyren in gute Natzlonaeen so verbreiten sie sich alsbald gleichmässig in der Nährflüssiekeit und lagern sich so, dass möglichst grosse Zwischenräume zwischen den Fäden entstehen. Vermutlich ist der nun verstärkte Turgor und die durch das Wachstum (und die Zellteilung) eintretende Vergrösserung der Fäden hieran schuld. Bei Hefe dürfte es ähnlich sein. Die Zellen werden turgeszent, vergrössern sich, sprossen, und so kommt eine scheinbare gegenseitige Abstossung zustande. Ausser- dem wirkt die Gärung verteilend. Durch längere Abwesenheit des Verfassers gingen beide Versuche zugrunde, so dass sie neu aufgestellt werden mussten. Ich verwandte diesmal offene, ziemlich weite Bechergläser und zu den Nährlösungen gestandenes Wasser, da mir anderweitige Ver- suche gezeigt hatten, dass der so gewährte Luftzutritt auch für die Methylalkoholernährung genügend sei. Statt Rohrzucker (Versuch b) wurde „technischer Traubenzucker“ genommen. Ausser Versuch a und b wurden dann gleichzeitig auch noch aufgestellt: Versuch e): 0,25°/o Methylalkohol, 0,1 °/o technischer Traubenzucker, 0,05 °/o Ammonsulfat, 0,05 °/o Monokaliphosphat, 0,02 °/o Bittersalz, 0,025 °/o Caleiumchlorid. Der Zuckergehalt war hier vermindert. Sonst war alles wie bei Versuch b. Bei Versuch a und b war wie bei den folgenden Versuchen ein Zusatz von 10,8 & frischer Presshefe von 30 %/o Trockensubstanz gemacht worden. I Liter. 38 Th. Bokorny: Versuch d): 0,25°/o technischer Traubenzucker, 0,05 %/o Ammonsulfat, \ 0,05 °/o Monokaliphosphat, 1 Liter. 0,02% Bittersalz, u 0,025 °/o Caleiumchlorid. J Hier wurde der Methylalkohol ganz weggelassen. Sonst alles wie bei Versuch b (nur Traubenzucker statt Rohrzucker). Versuch e): 0,100 technischer Traubenzucker, \ 0,05 !o Ammonsulfat, 0,05 /’o Monokaliphosphat, | 1 Liter. 0,02 °/o Bittersalz, | 0,025 %/o Caleiumehlorid. ) Der Methylalkohol ist weggelassen. Der Traubenzucker ist auf 0,1 /o reduziert. Versuch d und e sind Kontrollversuche zu b und & Zu jedem der Versuche wurden 10,5 & Münchner Bier- brauereipresshefe verwendet. Die Versuchstemperatur betrug 25°C. in den ersten 3 Tagen (im Brutofen), 17—19°C. in den folgenden. Nach 2 Tagen war in Versuch b mit e noch lebhafte Gärung zu bemerken. In Versuch a hatte sich die Hefe abgesetzt. Die Flüssigkeit war von Bakterien trüb. (sanz Ähnlich war das ak KoDicle Ansehen der Versuche auch noch nach 10 Tagen. Am 13. Tage ergab die mikroskopische Untersuchung: Bei sämtlichen Versuchen war die Hefe unterdrückt. Bakterien waren in ungeheurer Menge gewachsen, ofienbar zum Teil auf Kosten der vorzüglichen Nährstoffe, welche die absterbende Hefe von sich gab. | Ausserdem ist wohl auch der bei den meisten Versuchen zu- gesetzte Zucker zur Ernährung verwendet worden. Ob der Methylalkohol, ist fraglich. In allen Versuchen war Fäulnis eingetreten, die Fäulnisbakterien hatten die Oberhand gewonnen, so dass auf einen Ernährungserfolg an Hefe nicht zu rechnen war. | Da auch bei den zuckerhaltigen Nährlösungen Fäulnis zu kon- statieren war, und zwar nicht bloss am Schluss, sondern geraume Zeit vorher, so musste wohl die Hefe abgestorben sein. Dass der Chemisch-physiologische Mitteilungen. 39 Methylalkohol dies bewirkt habe, kann nicht angenommen werden, da auch die methylalkoholfreien Lösungen in Fäulnis übergingen, Nun wurden die verschiedenen Hefen (+ Bakterien) auf Filtern gesammelt, ausgewaschen und getrocknet. Die ganze Ernte konnte freilich nieht gesammelt werden, denn die Bakterien gingen zum Teil durchs Filter, trotz wiederholter Filtration im selben Filter. Schon der oberflächliche Anblick der Ernte liess vermuten, dass die Trockensubstanz nicht vermehrt, sondern vermindert worden war. Die Trockensubstanzbestimmung ergab bei: 2.0,7.2,: 6b). 0,38, 01205 ..0) 0522 EEE. Sämtliche Versuche hatten also eine weit geringere Trocken- substanz ergeben, als anfangs vorhanden war (ea. 3 8). Offenbar hatten die Fäulnispilze die Hefe zerstört, teils vergast, teils in lösliche Substanz verwandelt. Aus diesen Versuchen konnte nichts über die Nährfähigkeit des Methylalkohols entnommen werden. Es musste also auf ein Mittel gesonnen werden, um die Fäulnis- pilze und ihre zerstörende Tätigkeit auszuschliessen. Ansäuerungder Nährlösungen schien dazu ein geeignetes Mittel zu sein. Nur musste die Konzentration der Säure entsprechend bemessen wer- den, um die schädliche Wirkung der Säure möglichst auszuschliessen. Weitere Versuche also wurden mit Methylalkohol usw. unter Zugabe von freier Phosphorsäure zu den Nährlösungen an- gestellt, um die Fäulnispilze auszuschliessen. Freie Säure ist von einer gewissen Menge ab für das Wachstum der Hefe ungünstig, begünstigt die Schimmelbildung. Man muss also mit dem Zusatz der Phosphorsäure vorsichtig sein. Versuche über freie Phosphorsäure liegen nicht vor, wohl aber über die Wirkung freier Schwefelsäure (Verfasser in Alle. Brauer- und Hefe-Ztg. 1905, Nr. 260). 1. 20 g frische Presshefe wurden mit 20 eem einer 0,5 /oigen Schwefelsäure vermischt. . Nach 6 Stunden wurde eine Gärprobe und eine Vermehrungs- probe gemacht; letztere ergab ein völlig negatives Resultat; erstere zeigte, dass das Gärvermögen nur noch ganz schwach vorhanden war. Nach 20 Stunden war die Flüssigkeit über den abgesetzten 20 g Hefe bräunlich-gelb; auch ein Zeichen des Absterbens der Hefe, 40 Th. Bokorny: 2. 20 g Presshefe, 50 cem einer 0,5°/oigen Schwefelsäure. Resultat wie in 1. 3. 20 g Presshefe, 100 eem einer 0,5 Joigen Schwefelsäure. Resultat wie in 1. 4. 20 g Presshefe, 200 eem einer 0,5 /oigen Sch we Felenure Resultat wie in 1. An dem Vermehrungsversuch war nach 2 Tagen Spaltpilztrübung sichtbar. 5. 20 8 frische Presshefe, 10 eem einer 0,5 0/oigen Schwefelsäure. Nach 24 Stunden Stehen ergab eine herauszenommene Probe, dass noch vermehrungsfähige Hefe vorhanden war; der Gärungsversuch gelang ebenfalls. .6.:20.g frische Presshefe, 50 cem einer 0,1 Ofgig igen Schwefel- säure. . Resultat wie in >. 7. 20. g frische Presshefe, :100 eem einer 0,1 /oigen Schwefel- säure. Nach 24 Stunden zeigte sich an einer herausgenommenen Probe; dass die Vermehrungsfähigkeit. verschwunden war (die Versuchsflüssig- keit blieb im Brutofen völlig klar). Die Gärfähigkeit war da, aber schwächer als bei den andern Versuchen. Es ergibt sich hieraus, dass 0,5 °/o Schwefelsäure die Vermehrungs- fähigkeit der Hefe vernichtet. In Versuch 5 war nur deswegen nach 24 Stunden noch vermehrungsfähige Hefe vorhanden, weil die Gesamt- menge der Schwefelsäure zu gering war (quantitative Giftwirkung). Aber auch 0,1 /oige Schwefelsäure scheint bei genügender Menge die Vermehrungsfähigkeit der Hefe zu vernichten (Versuch 7). Immerhin schien es. mir angebracht, einmal einen Versuch mit 0,1°/oiger Phosphorsäure als Zumischung zur Methylalkohol- nährlösung zu machen, da dieselbe doch vielleicht milder wirkt als Schwefelsäure. Phosphorsäure-Versuch a): Phosphorsäure 0,1 lo | Methylaikohol 0,25 2oa Traubenzucker (technisch) 0,25 %/0 |. Ammonsulfat 005 %o %1 Liter: Monokaliphosphat 0,05 0/0 } © Bittersalz 0,02 %o Caleiumechlorid 002540 Presshefe EN 22,008. . Chemisch-physiologische Mitteilungen. 41. -Phosphorsäure-Versuch b) (Kontrollversuch): Phosphorsäure 051.2/02 1 Traubenzucker (technisch) 0,25 /o Ammonsulfat 0,05 lo Liter Monokaliphosphat 0,05 9/0 | Bittersalz 0,02 °/o Caleiumehlorid 0,025 c Presshefe 22,00 @ Nach 4 Tagen wurde der Versuch unterbrochen, trotzdem in beiden Versuchen noch keine Klärung eingetreten war. | Der Geruch war in beiden Fällen weingeistig. Es hatte sich eine dichte Pilzdecke gebildet. Die Trockensubstanzbestimmung ergab bei a) 9,2, bei b) 8,2 Die ursprüngliche Trockensubstanz betrug in beiden Fällen (die Hefe wurde von derselben Portion käuflicher Presshefe genommen) 6,6. In a) war eine Vermehrung von 100 auf 139,4, in b) von 100 auf 124,3 eingetreten. Der Versuch ohne Methylalkohol lieferte also weniger Trocken- substanz (um 15,1 0). | Demnach scheint der Methylalkohol ver LERLEN worden zu Sein. In dem Filtrat bildete sich bei mehrtägigem Stehen in a noch eine mächtige Rahmhaut, eine weniger starke bei b). Die Trockensubstanz betrug bei a) 1,7 g, bei b) 1,3 @. Also abermals ein Unterschied zugunsten des Methylalkohols. Man kann also wohl annehmen, dass der Methylalkohol in den Stoffwechsel hineingerissen und verwendet wurde. Eine weitere noch eingehender zu prüfende Stoffgruppe sind die Aldehyde. Sie wurden von dem Verfasser zwar schon wiederholt in Betracht gezogen. | Doch stehen noch eine Anzahl von Versuchen aus. Sie sind in der Chemie bekannt als sehr reagierfähige Körper. In der Physiologie knüpfen sich an dieselben die grössten Probleme. O0. Loew hat wiederholt auf dieselben aufmerksam gemacht als Stoffe von labiler Atomgruppierung. _ Labile Aldehydgruppen sind nach demselben im aktiven Protein enthalten, welches den Hauptbestandteil des Protoplasmas bildet. 42 Th. Bokorny: Aldehyd- bzw. Ketongruppen sollen auch im- Molekül der Enzyme vorhanden sein. Der Formaldehyd ist nach A. v. Baeyer ein Zwischenglied bei der Kohlensäureassimilation. Darum mögen einige Beobachtungen über das physiologische Verhalten von Aldehyden (und Ketonen) hier Platz finden. Äthylaldehyd, CH,-COH. Derselbe wirkt wie alle Aldehyde giftig. Man muss also mit Verdünnungen von bedeutender Höhe arbeiten. Bei meinen Versuchen über Hefe (Brauer- und Hefe - Ztg. 1913, Nr. 186) fand ich, dass durch 24stündiges Verweilen in 1PJoiger Äthylaldehydlösung sowohl Vermehrungsfähigkeit als Gärkraft ver- loren geht. Sogar in 0,1°/oiger Lösung schien binnen 24 Stunden die Spross- fähigkeit verloren zu sein, nicht aber die Gärfähigkeit. Bei 0,05°/o waren nach 24Stunden noch Sprossverbände aufzufinden. Bei 0,01 zahlreiche Sprossverbände. Also scheint der Äthylaldehyd erst bei 0,05 %/o ungiftig zu werden, wenigstens für Hefe. Ich wandte also auch bei Spirogyren die Konzentration 0,05 °/o an. Die durch längeres Stehen der Aldehydlösung bei (beschränktem) Luftzutritt entstandene Essigsäure wurde durch Zusatz von etwas kohlensaurem Kalk abgestumpft. Freilich entstand dadurch essigsaures Calcium, welches, wie früher gefunden wurde, ernährt. Indes ist die Essigsäuremenge jedenfalls so gering gewesen, dass sie nach erfolgter Verdünnung des Aldehydes bis 0,05°/o keine Ein- wirkung auf das Resultat haben konnte. Der Versuch (in kleinen Gläschen.....) ergab negatives Resultat. Die Algen waren am Schlusse des Versuches (nach ellade r direkter Sonnenbeleuchtung) lebend). Warum der Äthylaldehyd nicht zur Stärkebildung verwendet werden kann, während der Formaldehyd (siehe nn) und die 1) Dass Nahrläsungen mit 0,1%0 Äthylaldehyd als einziger Kohlenstoffquelle binnen 14 Tagen keinerlei Pilzbildung aufkommen lassen, nach 3 Wochen aber Schimmel, der sich stark vermehrt, wurde schon mitgeteilt (B. in Pflüger’s Arch. Bd. 66, S. 230). 0,02°%/oige Lösung erzeugt schon binnen 12 Tagen Schimmel unıd Bakterien. Chemisch-physiologische Mitteilungen. 43 Essigsäure hierzu tauglich sind, dafür lässt sich eine Erklärung in dem relativ geringen Sauerstoffzehalte finden. Die Spirogyren vermögen offenbar die nötige Oxydation nicht zu bewirken. ER: “ Versuche mit Formaldehyd, diesem äusserst eiftigen Stoffe, haben faktisch bei sehr grosser Verdünnung desselben, ein positives Resultat ergeben an Algen. Er “ Ich verweise diesbezüglich auf meine Arbeit in Pflüger’s Arch. 1909 Bd. 128. | Der Formaldehyd wurde in der Verdünnung 0,001 °/o, also in sanz ungewöhnlich grosser Verdünnung, angewandt, wegen der grossen Giftigkeit des Formaldehydes. 0,02 °/o Monokaliumphosphat + 0,01 %/o Caleiumnitrat + 0,005°/o Magnesiumsulfat wurden hinzugefüst. Ein Kontrollversuch stand daneben, ohne Formaldehyd in der Nährlösung, sonst gleich. Bei so langer Versuchsdauer, wie sie infolge der grossen Ver- dünnung des Formaldehydes angewendet werden musste, war es am Platze, den Versuch im Dunkeln anzustellen. Der Erfolg war ein eklatanter. Nach neuntägigem Aufenthalt im Dunkeln zeigten sich die Spiro- gyren überreich mit Stärke angefüllt. Mit Jodlösung färbte sich das Plasma so intensiv blauschwarz, dass eine Unterscheidung nicht blauer Stellen häufig nicht mehr möglich war. Die Kontrollalgen wiesen eine solche Differenz hiergegen auf, dass ein grösserer Gegensatz nicht mehr möglich war. Schon für das freie Auge war ein Unterschied wahrnehmbar. Die Kontrollalgen hatten sich zu parallelen Bündeln vereinigt, wie es gewöhnlich bei Hunger der Fall ist. Unter dem Mikroskop zeigten sich die Zellen vollkommen stärkefrei. Auch die Jodprobe liess nirgends Stärke erkennen. Der gleiche Formaldehydversuch am Lichte angestellt, ergab natürlich dasselbe positive Resultat wie der Dunkelversuch. Die Versuche weisen mit Bestimmtheit darauf hin, dass Form- aldehyd von 0,001 %o die Spirogyren ernährt. Um ein Resultat mit höheren Pflanzen (Blütenpflanzen) und Formaldehyd zu erhalten, wandte ich nicht freien Formaldehyd, sondern Methylal an, von welchem grössere Konzentrationen ertragen werden. Ich wählte als Versuchspflanze den Wirsing (Brassiea oleracea var. crispa). A | 44 Th. Bokorny: - Erhofft wurde, dass dieselbe das Methylal zu spalten vermöge nach der Gleichung: CH,;ON\ CH,07 und die Spaltungsprodukte, speziell den Formaldehyd verwenden könne: Von den aus einer Gärtnerei bezogenen Wirsingpflanzen wurden zwei möglichst gleiche ausgesucht. Sie. hatten ein Gewicht von je 2g und eine. Länge von 10 an Kräftiges Aussehen und Gesundheit der Organe waren bei beiden in gleicher Weise vorhanden. Die Pflanzen wurden in je ein Holzkistchen gesetzt, bs mit 10 kg Gartenerde gefüllt war. : - Die regelmässige Begiessung, die mit Nährlösung, so oft. Tischen; heit eintrat, geschah, wurde, um sicher zu gehen, hier wie auch in den anderen beschriebenen Fällen durch den Verfasser selbst besorgt. - Die Nährlösungen für die beiden Versuchspflanzen hatten folgende Zusammensetzung (sie wurden jedesmal frisch bereitet): >CH;, + H,O = 2CH;0H + CH,0 Nährlösung für den Methylalversuch: Methylal. ... ll... 0.280 Monokaliphosphat . . . . . 0,0390 Galeiumnitrat nr. 2.2202 22.0.0590 Magnesiumsulfat . . . 2. ..0,02% Eisensalz Ne all SPUE: Nährlösung für den Kontrollversuch hierzu: Monokaliphosphat . . 2. . 0,03% Galeiumnitrat... 2 .22.2.222...0,09:%0:: Magnesiumsulfatt . . ... . 0,02% Eisensalz" 3.2 ..2.2.2..2..0, 20 Spur. Befund der Methylal-Wirsing-Pflanze am 11. Juni (nach 3 Monaten). Höhe der Pflanze 30 cm (vom Boden an). Höhe des Stengels 7'/s cm (bis zum ersten Blatt, ein paar Blätter waren abgefallen). Zahl der vorhandenen srünen Blätter In zum lngeten oben noch sichtbaren 11. Jüngstes Blatt sehr stark gekräuselt; desgieiehen auch die drei vorhergehenden. : Das fünfte Blatt vom jüngsten an gerechnet war mässig ge- kräuselt, die übrigen wenig, die drei untersten fast glatt. Chemisch-physiologische Mitteilungen. 45 Sämtliche Blätter mit einem abwischbaren Reif versehen. Grösstes Blatt (das fünfte von unten) 23 em lang (inkl. Stiel), 14 cm an der breitesten Stelle der Blattspreite breit. Stengel an der dieksten Stelle (oben) 1!/e em dick. Schon ein oberflächlicher Vergleich mit. der gleiehzeitig auf- gestellten und neben der Methylalpflanze 3 Monate vor dem Südost- fenster gestandenen Kontrollpflanze lehrte, dass erstere beträchtlich besser entwickelt war. - Die Gewichtsbestimmung brachte eine quantitative Bestätigung dessen. Die Pflanze wurde hierzu sorgfältig mit einem grossen Erd- ballen herausgenommen und behutsam in Wasser von der anhängen- den Erde befreit, dann das Wasser mit Filtrierpapier weggesaugt. Frischgewicht der ganzen Pflanze . 125,8 g Blattsewicht,.* 7. >.: . 228 Nee ge Stengelsewicht #1 22 39 18,18 Wurzelgewicht. 2.22 7 E22 207715:280} Somit war das Gewicht der Methylalpflanze um mehr als die Hälfte grösser als das der Kontrolpflanze, deren Trockengewicht nur 73,3 g betrug. Es ist somit wohl zweifellos nachgewiesen, dass der Wirsing (und verinutlich auch andere Blütenpflanzen) das Methylal zur Er- nährung gebrauchen kann. Da der Methylalkohol auch eine G-Quelle für dieselbe ist, könnte eingewendet werden, dass die Ernährung auf dem ab- gespaltenen Methylalkohol beruhe. Indes darf doch wohl angenommen werden, dass der Formalde- hyd nicht unbenützt liegen bleibt, zumal er sonst eine giftige Wirkung ‚äussern müsste. Kann die Hefe den Formaldehyd assimilieren? Das ist die Frage, die ich mir nun noch stellte. Ich verwandte zu diesen Versuchen teils freien Formaldehyd, teils formaldehydschwefligsaures Natron. Es wurden folgende Versuche aufgestellt: PSRor.maldehyda mn. le 02 (g. 1221:2j0n) Schwefelsaures Ammoniak . . . . 0,18 \ Monokalıumphosphat = 2.77. wre Masnesiumsullat 3... ea Wasser. (destlliert) 7. .....0.2.200.00:0 Spur Hefe (so dasskeine Trübung entstand) 46 Th. Bokorny: 2. Rormaldehyd.....r... on 0,01 & (d: i. 0,1 /oo) Schwefelsaures Ammoniak . . -. 0,1 g Monokaliumphosphat . . . . . Oerg Maenesiumsulfät.....* :....... » 0,05 8 ‚Wasser (destilliert). . - - - .. 100,00 g Spur Hefe. Bei Versuch a trat keinerlei Vegetation ein. Bei Versuch b zeigte sich nach 6 Wochen ein Pilzräschen auf dem Grunde der Versuchsflüssigkeit, anscheinend aus Sacharoınyces bestehend, das nach Bildung einiger Sprosszellen in Mycel aus- gewachsen war. Die Vegetation war so gering, dass sie vielleicht auf flüchtige organische Substanzen, welche aus der Luft hereingeraten waren, zurückgeführt werden kann. Aber selbst, wenn sie auf den Formaldehyd zurückzuführen ist, dann ist das ein so verschwindender Erfolg, dass man den Formalde- hyd zu den schlechtesten Hefenährstoffen rechnen müsste. Er ist eben zu giftig. Anders könnte sich der Ernährungsversuch wenden, wenn man den Formaldehyd nicht im freien Zustande, sondern in Foım einer leicht Formaldehyd abspaltenden Verbindung anwenden würde. Eine solche ist z. B. auch formaldehydschwefligsaures Natron. Cs, „+ H:0 = CH,O+H 80,Na+B;0. Wie man sieht, wird neben Formaldehyd auch saures sch weflig- saures Natron frei, welches den Hefezellen schaden könnte. Aus diesem Grunde wurde bei ‚den folgenden zwei Versuchen als Phosphorsäurequelle nicht Monokaliphosphat, sondern Dikali- phosphat zugesetzt, welches eine schwach alkalische Reaktion hat und auf saures Salz neutralisierend einwirkt. Jeh stellte folgende Lösungen auf (im Dunkeln bei 20—25° C.): 3. Formaldehydschwefligsaures Natron . . 1,00 g Bikaliphospha 3.0202. 0,2 8 Mägnesiumsulfat.. 0 202.2 08% 0,05 8 Ammoniumsulfat. . . . RT 0,1.,8 Spur Hefe (so dass keine Trübnug, entstand) Wasser& -..-.. ß 100,00 Nach 3 Tagen schen war eine beträchtliche Trübung und ausserdem Pilzrasenbildung am Grunde zu sehen. Chemis ch-physiolegische Mitteilungen. 47 ‚».. Die mikroskopische Untersuchung lehrte, dass sich stäbehen- förmige Spaltpilze und Beggiatoren ähnliche Fäden in grosser Menge eingestellt hatten. Keine Hefensprossung war sichtbar; die Hefe hatte sich nieht vermehrt. Sie machte, soweit sie noch vorhanden war, den Eindruck des abgestorbenen Zustandes. Zwar hatte der Versuch eine Neubildung von Pilzen (Bakterien) ergeben. Dieselbe ist nicht sicher auf den Formaldehyd zurück- zuführen, da aus den absterbenden Hefezellen Nährstoffe austreten konnten. Wahrscheinlich hat die Hefe das formaldehydschwefligsaure Natron gespalten und ist durch den freien Formaldehyd getötet worden. 4. Formaldehydschwefligsaures Natron . . . 089 8 Dikaliumphosphatıs 2 22 An ee 02 8 Maenesinmsullat er. 202. nur 0,05 8 Ammonsullat Asa, us ur Der VVassers as ae re LOUNUER, Spur Hefe. Auch hier trat eine Pilzbildunz ein. Es war aber nicht Hefe-, sondern Bakterienvegetation. Somit scheint für Hefe keine Aussicht zur C-Ernährung mit Formaldehyd zu bestehen. Immerhin ist es von Interesse, dass gewisse Bakterien mit formaldehydschwefligsaurem Natrou ernährt werden können. Die Ernährungsversuche mit Formaldehyd in irgendeiner Form haben deswegen besonderes Interesse, weil der Formaldehyd ein Zwischenglied bei der Kohlensäureassimilation in Pflanzen sein soll (v. Baeyer). Sein Nachweis in den Chlorophyllorganen ist allerdings noch nicht gelungen, wenigstens nicht der allgemeine Nachweis. Hingegen weiss man jetzt, dass er zur Stärkebildung verwendet werden kann, wenn er in geeigneter Weise von aussen dargeboten wird. Es besteht auch eine grosse chemische Wahrscheinlichkeit dafür, dass er ein Zwischenglied ist, da kein anderer Stoff mit einem Kohlen- stoffatom im Molekül sich so zur Bildung hoch zusammengesetzter organischer Verbindungen eignet wie der Formaldehyd. | "Nicht umsonst haben hervorragende Chemiker an diesen Stoff gedacht bei Erklärung der Kohlensäureassimilation in den Pflanzen. 48 Th. Bokorny: Der Gedanke an die Giftigkeit des Formaldehydes, der jener Hypothese hinderlich entgegensteht, verliert an Bedeutung, wenn man weiss, dass es auch für diesen Stoff (wie für alle anderen) eine Grenze der Giftwirkung gibt. 0,001°'o Formaldehyd wirkt nieht mehr giftig. Eine Anhäufung dieses. äusserst reaktionsfähigen Stoffes in der lebenden Zelle ist ja wohl ausgeschlossen, da er infolge seiner grossen Fähiekeit, in höher zusammengesetzte Stoffe sich zu verwandeln, nicht als solcher verbleiben wird. Die grossen Mengen von Stärke, welche in entstärkten Spirogyren bei Ernährung mit 0,001°o Formaldehyd (im Dunkeln) binnen 9% Tagen auftreten, liefern hierzu eine recht kräftige Bestätigung (siehe oben). Ketone wurden bis jetzt bei Algen und Pilzen wenig auf ihre Ernährungskraft geprüft. a wählte das gewöhnliche‘ Äceton zu meinen Versuchen. CO. CH;. a ist eine bewegliche, eigentümlich riechende Flüssigkeit ‚vom spezifischen Gewicht 0,7920 bei 20°, die bei 6,5%. C.. siedet. Sie mischt sich mit Wasser (Alkohol, Äther), aus der wässerigen Lösung kann es durch Caleiumchlorid oder andere Salze wieder ab- geschieden werden (natürlich nur durch sehr kräftigen Zusatz)... Aceton ist schon bei verhältnismässig geringer Aa schädlich. - - Nach R. Koch behindert Aceton von 1: 100 das Wachstum der Milzbrandbazillen in: Fleischpeptonlösung. Bei geringerer Stärke aber ist es tauglich zur. Kohlenstoff- ernährung von Bakterien (O. Loew). a | - Um eine Giftwirkung zu vermeiden, stellte ich mir eine sehr verdünnte Acetonlösung her, 0,05 9/0. | ER "In ‘derselben blieben meine Algen, SP DENEEL und nn ‚am’Leben (Versuch in kleinen Gläschen . . Si "Es zeigte sich aber nach 2 Stunden direkter. Sonnenhelenehtun? (September) keine Spur von Stärkeansatz. Daraus Kann gefolgert: werden, dass jener Stoff 2 zum mindesten keine gut brauchbare C-Quelle für Algen ist. De En i Sonst’ wäre unter so günstigen Umständen A ein- getreten. Chemisch-physiologische Mitteilungen. 49 Andere Stoffe ergeben bei soleher Beleuchtung binnen 2 Stunden deutlichen Stärkeansatz, z. B. Zucker oder Glycerin. Das direkte Sonnenlicht befördert die Assimilation in einem wunderbaren Grade. Ich habe an völlig entstärkten, gesunden Spyrogyren beobachtet, dass schon binnen 5 Minuten deutlicher Stärkeansatz eintritt, wenn die Sonne direkt auf dieselben wirkt. Es handelt sich dabei um Kohlensäureassimilation. Dieselbe gelingt den erünen Pflanzen mit unbegreiflicher Leichtiekeit. Wie weit ist der Sprung von Kohlensäure zu Stärke? Trotzdem wird er binnen so kurzer Zeit zeleistet. Offenbar ist das Chlorophyliplasma für diese Umwandlung be- sonders eingerichtet. Nicht minder merkwürdig erscheint dann die Fähigkeit, so viele andere Stoffe zu assimilieren. Von Äthern wurde der als Betäubungsmittel bekannte Schwefeläther, C,H; - O - C;H-, über dessen Ernährungsfähigkeit nichts bekannt ist, geprüft. Es kam hierbei natürlich darauf an, eine Konzentration zu finden, bei welcher keine Giftwirkung eintritt. Ferner der Essigäther, C;H,0 :O - C;H,, oder Essigsäure- äthylester. Von einem anderen Äthylester, dem Acetessigester, C>H;0 - CH; - CO, - CH; ist bereits bekannt, dass er zur Ernährung taugt (bei Algen). Mit demselben erhält man positives Resultat, wenn man die Lösung stark verdünnt anwendet. Nach 24stündigem Aufenthalt in einer Lösung von 1:5000 (bei Lichtzutritt und Kohlensäureausschluss) zeigte Spirogyra setiformis, die vorher entstärkt worden war, ziemlich erheblichen Stärkeansatz, während die Kontrollalgen stärkefrei waren. Natürlich muss eine Spaltung des Acetessigesters eintreten, damit er zur Stärkebildung verwendet werden kann, zugleich auch eine Oxydation. Denn, wie seine empirische Formel C,H,.O; er- kennen lässt, ist er zu arm an Sauerstoff. Es fehlen noch zwei Sauerstoffatome. In welcher Weise die Spaltung und Oxydation mit darauf- Pflüger's Archiv für Physiologie. Bd. 163. 4 50 Th. Bokorny: folgender Zusammenfügung zum Stärkemolekul vor sich geht ‚ lässt sich nicht sagen. Die rein chemischen Umsetzungen lassen sich hier nur wenig vergleichen. Am meisten gleichen die vom Protoplasma und den Fermenten bewirkten Zersetzungen in der Regel den durch Säuren und Basen bewirkbaren. Was gibt Acetessigester mit Säuren und Basen ? Beim Kochen mit Alkalien und Säuren wird der Ester in Aceton, CO, und Alkohol gespalten. Aus CO, könnte nun freilich die Spirogyrenzelle leicht Kohleu- säure fabrizieren. Aus Aceton nicht oder nicht leicht (siehe oben). Aus Äthylalkohol (Resultat nach früheren Versuchen von 4—6 Stunden Dauer zweifelhaft) bilden Spirogyren, wenn überhaupt, jedenfalls nur schwierig Stärke. Es bleibt also nur die Kohlensäure als stärkebildend übrig. Indes erscheint es doch sehr fraglich, ob die Spirogyren- zelle eine solche Spaltung vollzieht. Vermutlich tritt eine andere, noch unbekannte, günstigere Spaltung ein. Schwefeläther, CsH, : OÖ - C,H, bietet von vornherein wenig Aussichten auf ein positives Resultat. Derselbe ist schädlich für lebende Zellen. Um dieses Hindernis möglichst zu beseitigen, wurde eine hohe Verdünnung gewählt, nämlich 0,05 %o. In dieser Lösung bleiben Spirogyren einige Zeit am Leben. Trotzdem zeigte sich nach zweistündiger direkter Sonnen- beleuchtung (September) kein Stärkeansatz (Versuche in kleinen Gläschen . . .). Das Gläschen mit der Flüssigkeit hatte sich durch das Sonnen- licht etwas erwärmt, aber nicht in dem Grade, dass eine schädliche Wirkung zu befürchten war. Einer Verwendung zur Ernährung musste vermutlich die Spaltung in zwei Äthylalkoholmoleküle vorausgehen : 05H, - © - C,H, + H,O — 2 C,H,OH. Vielleicht gelingt der Spirogyrenzelle diese Spaltung nicht. Selbst wenn diese gelänge, ist es sehr fraglich, ob aus dem Äthylalkohol Stärke gebildet werden kann. Chemisch-physiologische Mitteilungen. 51 Diesbezügliche frühere Versuche haben ein zweifelhaftes Resultat ergeben. (B. Landwirtsch. Vers. 1899.) Der Verwendung des Äthylalkohols müsste natürlich eine Oxy- dation vorausgehen, da derselbe viel zu reich ist an Wasserstoff: 3 65H, - OH +3 0, = C,H150; + 3 H50. ÖOxydationen scheinen der Spirogyrenzelle schwerer zu fallen als Reduktionen. Recht merkwürdig erscheint daneben die Tatsache, dass Spiro- gyren aus Phenol Stärke bilden (B. in Chem. Ztg. 1894 Nr. 2), freilich erst nach langer Zeit. In 0,050 Karbolsäure blieben Spirogyren (bei Kohlensäure- ausschluss und Lichtzutritt) aın Leben; am fünften Tage zeigte sich in den Fäden deutlicher Neuansatz von Stärke, während die Spiro- eyren des Kontrollversuches schlechteres Aussehen besassen und keine Stärke enthielten. Essigäther, (;H;0 - O - C,H, , ist eine erfrischend riechende Flüssigkeit, welche sich in 16 Teilen Wasser löst und leicht in Essig- säure und Alkohol zerfällt. Die Essigsäure ist bereits als stärkebildende Substanz erkannt, freilich nur im neutralisierten Zustande (bei Spirogyren). Meine Spirogyren ergaben aber trotzdem ein negatives Re- sultat bei zweistündiger Sonnenbeleuchtung, obwohl sie am Leben blieben (in 0,05 '/oiger Lösung). Vermutlich gelingt ihnen die Spaltung dieser Substanz nicht. Oder die freigewordene Essigsäure schädigt das Assimilations- plasma. Eine Abstumpfung derselben durch von vornherein zugesetzten kohlensauren Kalk ist nicht angäneig wegen der freiwerdenden Kohlen- säure, welche zu Täuschungen Anlass geben könnte. Auch würde der kohlensaure Kalk die Spirogyrenfäden ein- hüllen und so dem Lichte den Zutritt versperren. Freie Basen können wegen der schädlichen Wirkung nicht ge- nommen werden. Es bleibt noch ein Mitte] übrig, nämlich der Zusatz von alkalisch reagierenden, aber in geringer Menge unschädlichen Salzen, wie Dikaliumphosphat oder Dinatriumphosphat. Der Versuch damit führte faktisch zu einem positiven Resultat. Ich stellte mir eine Lösung her, welche 0,05% Essigäther und 0,025°0 Dikaliumphosphat enthielt. 4 * 92 Th. Bokorny: In dieser Lösung wurden entstärkte Spirogyren (Versuch in kleinen Gläschen . . ..) 5 Stunden lange dem direkten Sonnenlicht eines schönen Septembertages ausgesetzt. Der Erfolg war überraschend. In den meisten Spirogyrenzellen, wie auch in den Zyenemen, war Stärke angesetzt worden. Einige Versuche stehen auch noch aus über Ernährung von grünen Pflanzen mit Benzaldehyd, Oxybenzaldehyd, Glyoxal. Letzteres, das Glyoxal, ist für Pilze keine oder kaum eine Nahrung, in 0,5 /oiger Lösung (OÖ. Loew, Zentralbl. f. Bakt. Bd. 12, Nr..11/12). Es wurde eine 0,5 /oige Lösung dieses Körpers versetzt mit 0,05°/o Dikaliumphosphat und Diammoniumphosphat und 0,01 lo Magnesiumsulfat. Da die Glyoxallösung sauer reagierte, wurde sie mit Soda genau neutralisiert. Bei einem ersten Versuche wurde die (unsterilisierte) Lösung aus faulender Peptonlösung infiziert und bei 15—18°C. im dunklen Schrank stehen gelassen. Nach 2 Wochen waren noch keine Bakterien gewachsen; des- eleichen nieht bei analogen Versuchen mit Tetramethylelykol, Äthyl- endiamin. OÖ. Loew stiess auf diese drei Körper bei Versuchen, einen Zusammenhang zwischen chemischer Konstitution und Ernährungs- fähigkeit zu finden: 0=C—H (CH;)gC — OH HC — NH; | | Glyoxal Tetramethylglykol Äthylendiamin. (Pinakon) Sie sind alle drei ganz untauglich zur Pilzernährung, besitzen dabei aber keinen Giftcharakter. Bei einem zweiten Versuch mit Glyoxal wurde die (sterilisierte) Lösung mit einem sehr energischen Pilz, der sich in einer 0,5 f/oigen Nährlösung von formaldehydschwefligsaurem Natron entwickelt hatte und in mehrfacher Beziehung grössere Fähigkeiten wie andere Bak- terienarten besass, infiziert. Aber auch dieser wuchs selbst binnen mehreren Wochen nicht. Demgemäss erschienen die Aussichten auf ein Ernährungs- vermögen des Glyoxals gegen Algen gering. Chemisch-physiologische Mitteilungen. 53 Ein damit. angestellter Versuch an Spirogyren ergab faktisch ein negatives Resultat. Benzaldehyd, Bittermandelöl, wurde für rein von Kahlbaum bezogen und als wässerige 0,1°/oige Lösung angewendet. Es löst sich in Wasser schwer, aber doch zu 1:30, auf. Nach dem wenigen, was über die Giftigkeit des Benzaldehydes bei Pflanzen bekannt ist, liess sich nicht viel von diesem Stoffe in ernährungsphysiologischer Beziehung erwarten. Denn nach Kitasato und Weyl ist derselbe ein starkes Gift für Spaltpilze (anaerobe). Der Versuch (in kleinen Gläschen .....) ergab mit 0,1 /oiger Benzaldehydlösung ein negatives Resultat. Die Beleuchtung war vortrefflich und dauerte S Stunden. Auch blieben die Algen in der Lösung doch einige Stunden am Leben. Ebensowenig versprach ich mir vom Oxybenzaldehyd. Denn schon 0,1°%o wirkt schädlich auf Algen ein, die Ortho- verbindung stärker als die Paraverbindung. Noch weniger aussichtsvoll aber ist O-Nitrobenzaldehyd. In 0,1°/oiger Lösung dieses Stoffes sterben tierische und pflanzliche Organismen (des Schlammes) ab, auch in 0,02°/o, und sogar 0,01 °/o ist noch schädlich. Erst in 0,005 °o bleiben die Mikroorganismen 24 Stunden lang intakt. Die Versuche mit aromatischen Aldehyden wurden nun auf- gegeben, nachdem Spirogyrenversuche auch mit diesen letzteren, mit Oxybenzaldehyd und Nitrobenzaldehyd, wie zu er- warten stand, negatives Resultat ergeben hatten. Was die Giftigkeit der Aldehyde anlangt, die hier in erster Linie an dem oft negativen Resultat schuld zu sein scheint, so ist schon früher ausgesprochen worden, dass „Körper, die noch bei grosser Verdünnung in Amidogruppen eingreifen, giftig sind; hier- her gehören Körper mit sehr labiler Aldehydgruppe, wie sie z. B. im Formaldehyd vorhanden ist. Formaldehyd wirkt bei 0,1°/o stark antiseptisch, auch als Gas wirkt es sehr intensiv; Acetaldehyd und Benzaldehyd erweisen sich für Anaeroben als scharfe Gifte.* (O. Loew, Bakt. Zentralbl. Nr. 14, Bd. 12.) Mit Kohlehydraten sind schon bei vieler grünen Pflanzen positive Resultate erhalten worden. Die Versuche hierüber reichen bis vor 30 Jahren zurück. J. Böhm (Bot. Zte. 1883, Über Stärkebildung aus Zucker) 54 Th. Bokorny: teilte mit, dass Blattabschnitte gewisser Pflanzen (z. B. Feuerbohnen), wenn sie entstärkt in 10—20 ®/oige Zuckerlösung gelegt werden, innerhalb 1—14 Tagen (im Dunkeln) reichlichen Stärkegehalt in den Chlorophyllapparaten ansammeln. Dadurch, dass die Pflanzen bis zu 14 Tagen im Dunkeln ge- halten wurden, war freilich die Gefahr einer Stärkebildung aus Stoffwechsel- und Gärprodukten der Bakterien, z. B. aus organischen Säuren, nicht ausgeschlossen. Die Kohlensäure freilich war durch die Aufstellung im Dunkeln unschädlich gemacht. Organische Säuren, welche bekanntlich auch zur Stärkebildung dienen können, würden Anlass zu Täuschungen geben können. Man müsste sie dureh tägliches Erneuern der Nährlösung ausschliessen. J. Böhm knüpfte an seine Beobachtungen den Gedanken an, dass der normalen Stärkebildung in den Blättern — aus Kohlen- säure bei Licehtzutritt — die Zuckerbildung vorausgehe, dass also die Stärke ein Umbildungsprodukt des durch Kohlensäureassimilation erzeusten Zuckers sei. Rohrzucker ergab positives Resultat. Traubenzucker ebenfalls. Die gebildete Stärkemenge war abhängig von der Konzentration der Zuckerlösung. 1—5/oige Lösung wirkte viel schwächer als 20 Jo ige. Freilich manche Blätter (von Allium, Asphodelus) bilden niemals Stärke, weder bei der normalen Kohlensäureassimilation noch bei vieltägigem Einlegen in 20 P/oige Zuckerlösung. Offenbar fehlt es hier an Stärkebildnern. Der Zucker wird hier vermutlich direkt zur Eiweissbildung, zur Zellulosebildung usw. verwendet. Nach A. Meyer (Bot. Ztg. 1885 S. 416 ff.) bilden fast alle ge- prüften Blätter aus Lävulose (10°/o) Stärke. Auch mit Dextrose erhielt A. Meyer bei fast allen geprüften Blättern Stärkebildung. Doch ist die Stärkebildung aus Dextrose keine so reichliche gewesen wie aus Lävulose }). 1) Bei der Gärung ist bekanntlich die Dextrose der Lävulose über, vergärt rascher; bei der Vergärung von Invertzucker bleibt schliesslich nur Lävulose übrig. Chemisch-physiologische Mitteilungen. 55 Das erscheint auffallend, da die Stärke bei der Spaltung Dex- trose liefert. Wir stehen hier, die Richtigkeit jener Beobachtung vorausgesetzt, vor einem Rätsel. E. Laurent erhielt in Kartoffelsprossen Stärke, als sie in Lävuloselösung bei Liehtabschluss gebracht wurden. Desgleichen mit Dextrose. Rohrzuceker kann bei fast allen Pflanzen zur Stärkebildung verwendet werden. Nur Juglans und Gypsophila ergaben bei den Versuchen von A. Meyer negatives Resultat. Mit Milehzucker konnte A. Meyer keine Stärkebildung erzielen. Nach E. Laurent aber gelingt die Stärkebildung mit dieser Zuckerart an Kartoffelsprossen. Negatives Resultat erhielt A. Meyer mit Inosit und Raffi- nose. Nur wenige Blätter erzeugen nach A. Meyer aus Galaktose Stärkemehl. E. Laurent erhielt an Kartoffelsprossen auch mit dieser Zucker- art ein positives Resultat. Bemerkenswert ist es, dass es A. Meyer schien, als seien immer die Pflanzen, innerhalb welcher eine Zuckerart normal vorkommt. auch besonders befähigt, aus derselben Stärke zu fabrizieren. Dieser Gedanke scheint nicht durchaus richtig zu sein, sonst würde nicht der Rohrzucker durch fast alle Pflanzen leicht assimi- liert werden, er kommt im Pflanzenreich viel seltener vor als Dex- trose und Lävulose. Hingegen stimmt er zu den Erfahrungen mit Michzucker. Was die Disacharide betrifft, so ist ihre Verwendung wohl von der Anwesenheit spaltender Fermente abhängig. Wenigstens kann hierin ein Grund der Nichtverwendung liegen. Milchzucker gibt bei den bis jetzt geprüften Pflanzen wohl aus diesem Grunde nega- tives Resultat. Es ist freilich nicht ausgeschlossen, dass durch das lebende Protoplasma diese Spaltung sich vollzieht, oder dass in manchen Fällen eine noch weitergehende Zerspaltung als in Dextrose und Galaktose eintritt, und dass die Spaltungsprodukte zu Stärke auf- gebaut werden. Th. Bokorny: ot (or) Ich stellte deswegen einen Versuch mit Spirogyra und Milehzucker an. Die Spirogyra war eine kleine Art, gemischt mit Zygnema. Sie enthielt wie diese etwas Stärke in den Chlorophylikörpern. Um sie zu entstärken, wurde sie mit 0,1°/o Caleiumsalpeter ins Dunkle gestellt. Nach 24 Stunden war sie stärkefrei. Von den entstärkten Algen wurden dann kleine Portionen (ca. 50 Fäden) in zwei kleine, gut verschlossene Gläschen von 50 cem Inhalt gebracht. Dieselben enthielten je 25 eem Flüssigkeit. Beide Proben wurden nebeneinander in gutes Tageslicht gestellt. Das Gläschen a enthielt 1°o Milchzucker. Das Gläschen b enthielt destilliertes Wasser (Kontrollversuch). In beiden Fällen war das Wasser ausgekocht worden (zur Ent- fernung der gelösten Kohlensäure); die Abkühlung erfolgte im ge- schlossenen Gläschen, um zu verhüten, dass von neuem Kohlensäure in die Flüssigkeit geriet. Der Ausfall des Versuches war bei a sehr deutlich ost Die mikroskopische Untersuchung der Fäden ergab schon ohne Jodprobe die Anwesenheit von reichlich Stärke in den Spiro- gyren, wie auch in den Zygnemen. Mit Jodlösung trat eine inten- sive Blauschwarzfärbung in den Chlorophylikörpern ein. Hingegen liess sich in dem Kontrollversuch keine Stärke er- kennen. Die Verwendung dieses tierischen Zuckers, Milchzucker, zur Ernährung von Algen ist im hohen Maasse interessant. Es ist ja nicht anzunehmen, dass in den Algenzellen ein Enzym vorhanden ist, welches Milchzucker in Glukose und Galaktose spaltet. Offenbar hat das Protoplasma selbst diese Spaltung vollzogen. Die entstandene Dextrose konnte dann zu Stärke werden. Bezüglich der Galaktose haben spätere Versuche ergeben (siehe unten), dass sie wohl auch zur Stärkebildung taugt. Die Raffinose, C,3H30,; +5. H,O, ist eine Hexotriose [3 C,H120, — 2 H5;0 = C,sH350,,). Dieselbe enthält nach Haedicke, Gans und Tollens drei Glykosen, und zwar je ein Molekül Dex- trose (Glukose), Galaktose, Lävulose (Fruktose); denn sie gibt mit Salpetersäure sowohl Schleimsäure als Zuckersäure, und es lässt sich ein fast wie Lävulose linksdrehender Zucker daraus abscheiden. Bei kurzem Erwärmen mit Säure wird Lävulose daraus abgespalten, Chemisch-physiologische Mitteilungen. 57 indem nach Scheibler und Mittelmeier Melibiose entsteht und indem die spezifische Drehung auf + 53,50 herabgeht. Bei längerem . Erhitzen wird auch die Melibiose in Dextrose und Galaktose zerlegt, von welchen die letztere kristallisiert. I. C1sH35015 me H,O FES C;H,20; + CsH350;1 Raffınose Lävulose Melibiose 1. 054507 + HE; 0 Sr G.H%0: + E50; Melibiose Dextrose Galaktose (Tollens Kohlehydrate II, S. 192). Eine solche Zerleeung scheint nun auch die Spirogyrenzelle fertiezubringen. Denn bei einem ganz gleichen Versuche, wie oben (bei Milch- zucker) beschrieben, ergab sich, dass die Raffinose faktisch Stärke in Spirogyren erzeugt (ebenso auch in Zygnemen. Die Raffınoselösung war 1/o ig. Die Raffınose wird natürlich nicht als Ganzes zur Stärkebildung verwendet. Erst ihre Spaltungsprodukte Galaktose, Dextrose und Lävulose sind dazı fähig. Bezüglich der Galaktose liegt jetzt posi- tives Resultat vor, ebenso bei Dextrose, nicht aber bei Lävulose (siehe später an Spirogyren). Von Interesse ist hier auch die von Berthelet und Loiseau festgestellte Tatsache, dass die Raffinose durch kräftige untergärige Bierhefe vollständig vergoren wird. Die Vergärung setzt natürlich auch eine Spaltung in einfache Zuckerarten (Hexosen) voraus, da nur diese gärungsfähig sind. Mit obergäriger Presshefe vergärt nur zirka ein Drittel, zwei Drittel bleiben zurück (als Melibiose). Offenbar ist das Hefeprotoplasma der untergärigen Bierhefe im- stande, eine vollständige Zerspaltung im Sinne der beiden Gleichungen zu bewirken, während die obergärige nur die Spaltung nach Gleichung I bewirkt. Wieweit die Zerspaltung durch Spirogyrenzellen erfeikt; lässt sich aus dem von mir angegebenen Versuche nicht entnehmen. Jeden- falls bringen sie die Spaltung nach Gleichung I fertig. Die Galaktose, C,H,50,, von der Konfiguration OH OH OH H CH;0H C C C C COH H H H OH wird nach Ost aus Milchzucker durch sechsstündiges Kochen mit 98 Th. Bokorny: der vierfachen Menge 2%oiger Schwefelsäure hergestellt. Anfangs- . drehung nach Pareus und Tollens + 117,2°. Sie vergärt nach Tollens und Stone unter günstigen Be- dingungen, d. h. mit kräftiger Bierhefe und Hefeabkochung als Nähr- lösung, zwar langsamer als Dextrose, aber nahezu ebenso vollständig. Ist keine gute Nährlösung vorhanden, so bleibt die Gärung unvoll- ständig (Tollens a. a. O. S. 122). Mit Sacharomyces apieulatus gärt Galaktose nach E. Voit und Cremer nicht. Ein Ernährungsversuch, den ich an Spirogyra (minima?) und Zygnema cruciatum anstellte, fiel positiv aus. Versuch in kleinen Gläschen ... . (Anfang September). Lösung 1 lo ig. Nach 24 stündigem Aufenthalt in der 1°/oigen Lösung von Galaktose, wobei am Tage wechselndes Licht herrschte, bald direktes Sonnenlicht, bald Wolkenlieht, ergab die mikroskopische Unter- suchung reichlichen Stärkegehalt, während im Kontroll- versuch die Stärke fehlte. Es ist von Interesse, dass auch diese Glykose oder Hexose bei Spirogyren nicht versagt. Sie ist eine Aldose wie die d-Glukose (Traubenzucker), die ja auch positives Resultat ergibt. Leider standen mir andere Aldosen nicht zur Verfügung. Da die Stärke bei ihrer Spaltung durch Säuren Traubenzucker ergibt, so ist es wahrscheinlich, dass die Dextrose ohne weitere Ver- änderung ihres Moleküls zu Stärke werden kann; die Konfiguration bleibt. Die Galaktose muss hingegen erst eine kleine Verwandlung er- fahren, bis sie zum Baustein für Stärke tauest. H:#.H2:OH Hl | OH OH OH H CHOR. 6.6: 26.:6 ..COH | CH,.0H € .C €: E COOH OH OH H OH | H: HH OH Traubenzucker | Galaktose. Wie das Spirogyrenprotoplasma dies bewerkstellist, kann nicht gesagt werden. Es ist wohl nicht ausgeschlossen, dass eine Zertrümmerung in kleine Bruchteile und dann Wiederaufbau stattfindet. Die Arabinose wurde nun zur Untersuchung herangezogen. (Drehung + 104—105°.) Sie wird aus den Pentosanen ver- schiedener Materialien (Gerste-, Weizen- und Roggenkleie usw.) ge- Chemisch-physiologische Mitteilungen. 9 wonnen. Dieselbe ist eine Pentose, C,H,,.O;. nach Cremer gibt jeder oder fast jeder menschliche Harn nach dem Klären mit Blutkohle die Pentosenspektralreaktion, wenn man ihn mit Phloro- gluein und Salzsäure erwärmt. Mit Hefe gärt Arabinose nicht (Scheibler, v. Lipp- mann usw.). Mit Bacillus aethacetieus gibt sie nach Frankland und Mae Gregor Alkohol, Essigsäure, Bernsteinsäure und (in durch Queck- silber verschlossenen Gefässen) Ameisensäure, daneben Kohlensäure, Wasserstoff, Spuren Bernsteinsäure usw. Meine Versuche über die Verwendbarkeit der Ara- binose zur Stärkebildung in Spirogyren fielen nega- tiv aus. Dieselben wurden in derselben Weise, wie bei Milchzucker an- gegeben, ausgeführt. Versuche in kleinen Gläschen .... Lösung 1 ig, Nach 24 Stunden war, trotz des ziemlich lichtreichen Tages (12 Uhr mittags bis 12 Uhr mittags) und zeitweise direkten Sonnen- lichtes, keine Stärke angesetzt worden. Die Algen elichen denen des Kontrollversuches, in welchem ebenfalls die Stärkebildung unterblieben war. Es ist sehr merkwürdig, dass die Spiroeyren, die doch sonst eine grosse Reihe von Stoffen (Methylalkohol, Methylal, Formaldehyd, Glykol, Glyzerin, Dextrose, Lävulose, Rohrzucker, Essigsäure, Milch- säure, Glykokoll, Leuein, Weinsäure, Zitronensäure, Pepton, Asparagin- säure usw.) zur Stärkebildung gebrauchen können, gerade mit Ara- binose nichts anzufangen wissen. Mag sein, dass hier die Zahl der C-Atome im Molekül eine Rolle spielt. Bemerkt sei, dass auch die Xylose bei meinen früheren Ver- suchen an Spirogyren ein negatives Resultat ergab. Rhamnose, C,H,:0; + H;0 (Isoduleit). Dieselbe ist eine Methylpentose (nach Fischer und Tafel), und zwar Methyl arabinose nach Maquenne. Drehung — 4.5 bis 5° (anfangs); später schlägt sie nach rechts um bis +8,56°. OH OH H | OH OH H CH; 2: CHOR. 2.C:2:077022:COBR: I; CEEOH CH 763 7:C-:COH H-HsOH ESsyE OH Rhamnose ]-Arabinose (gewöhnl. Arab.) Rhamnose ist nicht gärungsfähig (E. Fischer). 50 Th. Bokorny: Die Rhamnose enthält sechs C- Atome, davon eines als Methylgruppe. Es war mir von besonderem Interesse, zu erfahren, ob die Rhamnose ernährt, nachdem die Arabinose, deren Methylderivat die Rhamnose ist, ein negatives hesultat ergeben hatte. Da die Lichtverhältnisse etwas ungünstig waren, ergaben die ersten Versuche kein sicheres Resultat. An einem darauffolgenden hellen, zum Teil mit direktem Sonnen- lichte ausgestatteten Tage konnte ich aber mit Sicherheit erkennen, dass die Rhamnose (bei 1°/o) binnen 12 Stunden keine Stärke- bildung an Spirogyra hervorruft. Wirklich nährende Substanzen ergeben unter solchen Umständen und in dieser Zeit immer Stärkebildung. Es sei noch bemerkt, dass den Spirogyren Zygnemen beigemischt waren, welche von vornherein stärkehaltig waren. Sie sind durch- aus nicht so leicht nach der oben angegebenen Methode zu ent- stärken wie Spirogyren. Dieselben mussten natürlich bei der Beobachtung ausser acht gelassen werden; denn sie zeigten auch im Kontrollversuch Stärke. Warum dieselben schwieriger zu entstärken sind. ist nicht auf- geklärt. Erythrit, C,H,.O,, Erythrose, eine Tetrose bei gelinder Oxydation liefernd. CH>OH - CHOH - CHOH - CH;0H Erythrit. Mit Erythrit erhielt sowohl E. Laurent als A. Meyer bei Phanerogamen negatives Resultat. Das stimmt überein mit dem, was ich selbst bei Versuchen an Algen schon früher beobachtete (Chem.-Ztg. 1594 Nr. 2 usw.). Spirogyren zeigten keinen Stärkeansatz, als sie in Erythrit- lösung von 1:500 gebracht wurden, weder nach 10 noch nach 24 noch nach 48 Stunden. Mein neuester, jetziger Versuch wurde mit 1°/oiger Erythrit- lösung angestellt. Auch er ergab wiederum ein negatives Resultat. Die Erythritversuche bei Spirogyren stimmen also überein mit denen, welche frühere Forscher an Phanerogamen angestellt haben. Das Resultat ist auffallend, nachdem die Weinsäure, COOH - CHOH - CHOH - COOH ein positives Resultat ergeben hatte (B. in Chem.-Ztg. 1894 Nr. 2). Chemisch-physiologische Mitteilungen. 61 Freie Weinsäure ergab freilich stets (wegen der sauren Reaktion) ein negatives Ergebnis. Als aber das saure Caleiumsalz (0,1°/eige Lösung von Caleium- bitartrat) angewendet wurde, das noch mit 0,1 °/o Dikaliumphosphat neutralisiert war, setzten die völlig en:stärkten binnen 2 Tagen bei Kohlensäureausschluss deutlich Stärke an, während der Kontroll- versuch mit destilliertem Wasser allein keine Stärke zeigte. Die Fäden in ersterem Versuch waren alle sehr schön und ge- sund, die in letzterem kränklich, ausgehungert, zum Teil abgestorben. In beiden Versuchsflüssigkeiten waren keine Pilze aufgetreten. Da die Weinsäure von Naegeli und Loew als Kohlenstoft- quelle dritten Ranges für Pilze aufgeführt wird, so ist es nicht un- interessant, dieselbe auch als C-Quelle für Algen kennen zu lernen. Der Gegensatz zu Erythrit ist aber unaufgeklärt. Erythrit steht ja uach seiner Zusammensetzung den Kohlehydraten ebenso nahe wie Weinsäure. Dasselbe ist zu arm an Sauerstoff, die Weinsäure zu reich. Es scheint, dass die grünen Pflanzen leichter Re- duktionen ausführen als Oxydationen. | Das sind sie von der Kohlensäureassimilation her gewöhnt. Freilich das positive Resultat mit Methylalkohol und grünen Pflanzen (auch Spirogyren) weckt wiederum Zweifel an dieser Auf- fassung. Derselbe muss ja auch oxydiert werden, um zur Kohlehydrat- synthese tauglich zu sein. Freilich entsteht damit ein direkt taugliches Produkt CH;0, während im Falle Erythrit erst eine Zerspaltung des Moleküls ein- treten müsste. Nachdem die Arabinose negatives Resultat ergeben hatte, inter- essierte mich auch das Verhalten der Xylose. Dieselbe ist ebenfalls eine Pentose (Holzzucker). Das ist von Wheeler und Tollens durch kryoskopische Bestimmungen, die Furfurolentstehung beim Destillieren mit Salzsäure und durch die Zusammensetzung des Osazons, von E. Fischer durch Herstellung der Xylosecarbonsäure bewiesen worden. Xylose gärt nach Stone nicht mit Hefe. Von Xylose geht nach Ebstein, wenn sie von gesunden oder kranken Menschen genossen wird, ein grosser Teil in den Harn über, in welchem sie Reduktion und Pentaglykosenreaktion hervorruft. 62 Th. Bokorny: Die Xylose ist der Arabinose ähnlich, dreht rechts, kristallisiert leicht und bildet zuweilen schöne Drusen und Einzelkristalle (Tollens, Handb. d. Kohlehydrate II, S. 70). Meine Ernährungsversuche mit Xylose an Spirogyren er- gaben ein entschieden negatives Resultat. Die Xylose wurde zu 1°/o in Wasser gelöst. Versuch in kleinen Gläschen ... . Trotz vorzüglicher Beleuchtung zeigte sich an den munın Spirogyren keine Stärkebildung. Die Algen waren dabei intakt, von gutem makro- und mikro- skopischen Aussehen. Die Versuche mit Pentosen haben also durchaus negatives Resultat ergeben. Ein weiterer Versuch wurde dann mit Sorbin angestellt. Der- selbe fiel ebenfalls negativ aus. Mein Präparat war als Sorbin bezeichnet. Ist dasselbe identisch mit dem d-Sorbit, einem sechswertigen Alkohol, der durch Reduktion aus d-Glukose erhalten wird? Wie ich in Beilstein’s Handbuch fand, ist das nicht der Fall, sondern Sorbin wurde das bei der Gärung des Vogelbeersaftes sich einfindende Kohlehvdrat Sorbose genannt; es ist eine Ketose, HOR3C - (CHOH), : CO - CH,;OH, schmeckt so süss wie Rohrzucker, dreht links, vergärt mit gewöhnlicher Bierhefe nur unvollständig (Tollens, Stone). Der negative Befund bei Sorbin fällt auf. Merkwürdigerweise ist die einfache Ketose auch nicht gut ver- gärbar }). Ein gewisser Parallelismus zwischen Vergärbarkeit der Mono- glykosen und Verwendungsfähigkeit zum Stärkeaufbau in Spiro- eyren wurde schon mehrfach bemerkt. Im Anschluss an die Kohlehydrate wurden dann noch Schleim- säure und Lävulinsäure geprüft. OH: HH OH Die Schleimsäure, COOH C C C C COOH, ist optisch H OHOHH inaktiv, und zwar nach van t’Hoff und E. Fischer, weil ihr Bau völlig symmetrisch ist. Sie enthält sechs C-Atome. 1) Bei Zersetzung mit faulem Käse und Kreide entstehen Alkohol, Milch- säure und Buttersäure (Berthelot, Pflüger’s Arch. Bd. 50 S. 350). Chemisch-physiologische Mitteilungen. 63 Dieselbe löst sich in Wasser ziemlich schwer; die „l'oige“ Lösung hatte einen starken weissen Satz. Sie reagierte erheblich sauer. Demgemäss war das Resultat negativ, die Algen starben ab. Nun wurde eine wirklich 1°/oige Lösung unter Zusatz von Kali bis zur genauen Neutralisation hergestellt (die Flüssigkeit war nun vollkommen klar). Ein Lichtversuch mit der gut ausgekochten Lösung in kleinen Gläschen . . . ergab trotz sehr günstiger Beleuchtung (meist Sonnen- schein) binnen 2 Stunden keine deutliche Stärkebildung. Der Kontrollversuch war ebenfalls stärkefrei. Lävulinsäure, CH; - CO - CH; - CO,H; sie ist eine y Keton- säure mit fünf C-Atomen. Sie zeigt alle Reaktionen der Ketone, bildet eine Flüssigkeit. Die 1°/oige Lösung reagiert erheblich sauer. Demgemäss erhielt ich hiermit negatives Resultat, die Algen starben ab. In der nun weiterhin hergestellten, mit Kali genau neutrali- sierten 1°/oigen Lösung erfolste trotz sehr günstigen Lichtes binnen 2 Stunden kein Stärkeansatz. Woher der negative Ausfall ? Bei Lävulinsäure könnte man an die fünf Kohlenstoffatome denken, denn die geprüften Körper mit fünf Kohlenstoffatomen haben alle negatives Resultat ergeben. Vermutlich ist die Spirogyrenzelle nicht imstande, das Molekül zu spalten, und im ganzen kann es nicht zur Stärkebildung dienen. Was die Schleimsäure anbelangt, so könnte hier die völlig symmetrische Struktur als hinlernd in Betracht kommen, das ist ihre optisch inaktive Beschaffenheit. Die Stärke liefert bei der Spaltung stets rechtsdrehende Produkte. Ein vorhandenes Präparat lud noch zu einem Versuch mit Malonsäure, CO;H : CH; : CO,H, ein. Dieselbe gab in 1°/oiger nicht neutralisierter Lösung negatives Resultat, was nicht zu verwundern ist, da die Algen darin infolge der sauren Reaktion abstarben. Nun wurde mit Kali genau neutralisiert. Die so erhaltene 1°/oige Lösung lieferte binnen 2 Stunden (bei sehr guter Beleuchtung, meist direktem Sonnenlicht) positives Resultat. 64 Th. Bokorny: Die Kontrollalgen waren frei von Stärke. Da der Sauerstoffgehalt der Malonsäure für Kohlehydrat- bildung zu gross (der Wasserstoffgehalt zu gering) ist, muss eine Reduktion eingetreten sein. Durch Zusammentritt zweier entsprechend abgeänderter Moleküle könnte Dextrose, aus dieser Stärke entstehen. Es ist aber auch möglich, dass das Molekül bis zu einzelnen C-Atomen gespalten wird unter Herstellung der Atomgruppen CHOH; sechs solcher Atomgruppen würden das Glykosemolekül ergeben. Ein ganz ähnlicher Versuch wurde dann auch mit Trauben- säure angestellt. Dieselbe besteht aus Rechts- und Linksweinsäure; auf polari- siertes Licht wirkt sie nicht. Meine Versuche mit derselben ergaben ein negatives Re- sultat. Sie wurde, mit Kali neutralisiert, als 1 /oige Lösung angewendet, also sicher in ausreichender Konzentration. Trotzdem unterblieb die Stärkebildung binnen 2 Stunden im direkten Sonnenlicht (Anfang September). Ein Versuch mit gewöhnlicher Weinsäure (Rechtsweinsänre) er- gab, wie schon oben mitgeteilt wurde, positives Resultat. Das ist sehr bemerkenswert. Man sieht, wie die Assimilierbarkeit mit der Lagerung der Atome im Raum innig zusammenhängt. Es scheint, dass die Spirogyrenzelle eine Trennung der Trauben- säure in Rechts- und Linksweinsäure nicht fertig bringt. Sonst müsste sich mindestens aus Rechtsweinsäure ein Stärkeansatz er- geben haben. Leider stand mir Linksweinsäure nicht zu Gebote. Sie würde vermutlich ein negatives Resultat ergeben. Um den Einfluss der optischen Aktivität im Sinne einer Links- drehung zu prüfen, stellte ich noch einen Versuch mit Lävulose und Spirogyren an. A. Meyer und E. Laurent haben bezüglich dieser Zuckerart positive Resultate an höheren Pflanzen erzielt (siehe oben). Die Lävulose (d-Fruktose) ist nach E. Fischer eine Ketose von folgender Konfiguration: HH, 20H CH;0H C C C co CH:0H OH. OH =H Chemisch-physiologische Mitteilungen. 65 Sie gärt mit Hefe nach Gayon und Dubourg etwas -lang- samer als Glukose, mit einer Art Sacharomyces exiguus schneller, mit Mucor alternans dagegen sehr viel langsamer, mit dem Soorpilz nach Linossier und Roux auch langsamer als Glukose. Meine Versuche an Spirogyren ergaben negatives Re- sultat. Da mir dasselbe auffiel, wiederholte ich den Versuch mehrmals auch mit neuen entstärkten Algenportionen und erhielt immer das- selbe abweisende Ergebnis. Dieser sonst so gute Nährstoff versagte also hier, ein neuer Beweis für die Wichtigkeit der Konfiguration des Moleküls bei Er- nährungsexperimenten. Eine Gruppe wenig aussichtsvoller Stoffe in ernährungsphysio- logischer Beziehung ist die des Hydrochinons, Brenzkatechins, Resoreins, Pyrogallols. Am ehesten schien noch mit Resorein etwas erreicht werden zu können. Denn in 1°/oiger Lösung desselben kann man lebende Infusorien noch nach mehreren Stunden, lebende Fadenalgen und Diatomeen noch nach 18 Stunden wahrnehmen. 0,1°/o Hydrochinon tötet Diatomeen und Infusorien schon nach wenigen Minuten, Fadenalgen nach einigen Stunden. Das Hydrochinon färbt sich als 0,1 °/oige Lösung ziemlich rasch gelb unter Sauerstoff- aufnahme. Brenzkatechin tötet Infusorien und Diatomeen ebenfalls binnen wenigen Minuten, Fadenalgen binnen wenigen Stunden. Seine Lösung färbt sich beim Stehen an der Luft unter Sauerstoffaufnahme bald braun. Pyrogallollösung bräunt sich an der Luft rascher als Phloro- gluein (O. Loew, System der Giftwirkungen, S. 51). In 0,1 °/oiger Pyrogallollösung sterben Diatomeen und Infusorien schon nach 1 Minute ab (0. Leew). Ich stellte mir 0,05°oige Lösungen der oben genannten vier Stoffe her. Sie nahmen faktisch die oben erwähnte Färbung in der be- schriebenen Reihenfolge an. Selbstverständlich wurde zu den Versuchen die frischbereitete Lösung verwendet. Pflüger’s Archiv für Physiologie. Bd. 163. or 66 Th. Bokorny: Alle angeführten Stoffe, das Hydrochinon, Brenzkatechin, Resorein, Pyrogallol ergaben ein negativesResultat. Die Algen waren nach vierstündiger Belichtung mit direktem Sonnenlicht in diesen Lösungen stärkeleer; die meisten waren abgestorben. Von Interesse dürfte es sein, dass frühere Ernährungsversuche an Bakterien ebenfalls meist negatives Resultat ergeben haben (B. in Pflüger’s Arch. 1897, Bd. 66). Eine 0,05 °/oige, mit allen nötigen Mineralsalzen versehene Auf- lösung von Resorcin blieb bei zehntägigem Stehen im Brutofen frei von Bakterien. Hingegen waren eine Anzahl kleiner Schimmel- räschen gewachsen. Dieselben bestanden aus verzweigten, geglieder- ten Fäden und waren zum grossen Teil an der Glaswand fest- gewachsen. Eine Phloroglueinlösung von 0,05 °/0 blieb innerhalb 10 Tagen fast ganz steril, wiewohl alle erforderlichen Mineralstoffe und eine Spur Spaltpilze zugesetzt worden waren. Pyrogallussäure brachte bei der gleichen Versuchsanstellung weder eine Schimmel- noch eine Spaltpilzvegetation hervor. Die- selbe ist bekanntlich gleichbedeutend mit Pyrogallol. Die chemische Konstitution der genannten Stoffe ist folgende: Pyrogallusäure . : . CGsH;(OH), (1, 2, 3) Hydrochinon .:. .... GH,(OH) (1,4) Resorem:. ..2%.%..:.6584(092.4;3).'* Brenzkatechin . . . .. G.H,(0H), A,2): Wir haben es also hier mit zwei- bzw. dreiwertigen Phenolen zu tun. Phenol (Karbolsäure) ist (in 0,05 ?/oiger Lösung) seit Naegeli und Loew als schlechte Kohlenstoffquelle für Pilze bekannt. Auch für Spirogyren ist es nur schwer verwendbar. Immerhin blieben Spirogyren darin bei Kohlensäureausschluss und Liehtzutritt 5 Tage am Leben; am fünften Tage zeigte sich in den Fäden ‚deutlicher Neuansatz von Stärke, während die Spirogyren des Kontrollversuches schlechteres Aussehen besassen und keine Stärke enthielten. Wie fangen es die Pilze und die Spirogyren an, um aus Karbol- säure Nährstoffe für die Zelle zu bereiten ? Es bleibt wohl nichts anderes übrig, als an eine völlige Zer- trümmerung des Moleküls zu denken, so dass einfache Komplexe wie CH,O (natürlich unter Zuziehung von Sauerstoff) entstehen. Chemisch-physiologische Mitteilungen. 67 Das lebende Protoplasma ist wohl der vielseitigste Katalysator, den es gibt. Denn welche Menge verschiedenartiger Substanzen wird von demselben zu Baustoffen umgewandelt! Von dem Spirogyrenprotoplasma wird Methylalkohol, formaldehyd- schwefligsaures Natron, Methylal, Glykol, Glyzerin, Zucker, Essig- säure, Milchsäure, Asparaginsäure, Äpfelsäure, Weinsäure, Zitronen- säure, Harnstoff, Glykokoll, Leuein, Kreatin, Urethan, Tyrosin, Pepton, Phenol usw. verarbeitet, und zwar immer zu denselben für die Zelle als Bausteine tauglichen Stoffen. Die grünen Pflanzen sind fast so vielseitig in diesem Punkte wie die Pilze. Es wirft dies auch ein Schlaelicht auf die Ernährung der Kultur- pflanzen in humösem Boden (siehe B. im Bakt. Zentralbl. 1915). Kurze Übersicht über die neuen Versuchsergebnisse. Name : 4 2 r Zn en ge ee asistanz Chemische Formel Ernährungsversuchs-Ergebnis Bemerkungen Methyl- CH; :- OH Hefe vermag denselben nicht | Methylalkohol ruft alkohol zur Ernährung zu verwenden, | Stärkebildung in wenn er für sich allein ohne| Spirogyren, stär- bessere C-QWuelle aargeboten | keres Wachstum an wird. Bei gleichzeitiger An- Blütenpflanzen her- wesenheitvon Zucker (Trauben- vor. zucker, Rohrzucker) wird er | Manche Spaltpilze fin- mit verbraucht und bewirkt den an ihm (auch eine Trockensubstanzvermeh- | wenn allein geboten) rung. eine gute C-Nahrung. Äthylaldehyd CH; - COH Spirogyren setzen in 0,05 Ooiger | Lösung von Athylaldehyd bei Lichtzutritt und Kohlensäure- ausschluss keine Stärke an. Formaldehyd H» COH Derselbe ergibt bei äusserster| A1s Methylal ernährt Verdünnung (0,001°o)anSpiro-| er auch die grünen gyren positives Resultat (sogar| Blütenpflanzen. im Dunkeln, allerdings erst| Bei Pilzen lauten die nach meheren Tagen). Versuchsergebnisse fast durchaus nega- tiv, namentlich bei Hefe. Glyoxal 0=C—H Ergab keine Stärkebildung an|Ist nicht giftig d 5 Spirogyren. (0. Loew). VE 68 Th. Bokorny: a Chemische Formel Ernährungsversuchs-Ergebnis Bemerkungen Benzaldehyd C,H; - COH Keine Stärkebildung an Spiro- [Ist nach Kitasato gyren bei Lichtzutritt und| und Weyl ein star- Kohlensäureausschluss. kes Gift für anaerobe Spaltpilze. Das ne- gative Resultat wohl wegen Giftigkeit des Stoffes. o-Oxybenz- | C,EL,(OH): COH Dito. Schon 0,1% wirkt aldehyd schädlich auf Algen ein. Die Orthover- bindung noch stär- ker als die Pirraver- | bindung. o-Nitrobenz- C;H,(NO;) » COH Dito. In 0,1%oiger Lösung aldehyd dieses Stoffes ster- ben tierische und pflanzliche Organis- men des Schlammes ab, auch in 0,0200, ja sogar 0,01 % wirktnoch schädlich. Aceton | CH; - CO - CH; Kein Stärkeansatz in Spirogyren, | Zur C-Ernährung von selbst nicht bei mehrstündiger | Spaltpilzen ist es direkter Sonnenbeleuchtung| tauglich (0. Loew). (September). Schwefel- C,H; - O - C,H, Lichtversuche (bei Kohlensäure- äther ausschluss) haben ein negatives Resultat ergeben (Verdünnung 0,05°/) an Spirogyren und Zygnemen. Essigäther C;H30 - O - C,H, Spirogyrenversuche ergaben ein | Vermutlich schadet die negatives Resultat, wenn kein| bei der Spaltung Dialkaliphosphat zugesetzt] frei werdende Eissig- wurde. Bei Zusatz von 0,025°/o| säure, wenn sie nicht Dikaliphosphat zur 0,05%0-| durch Dialkaliphos- igen Essigätherlösung zeigte| phat abgestumpft sich bei den Lichtversuchen | wird. unter Kohlensäureausschluss | Stärkeansatz. 2 Milchzucker C}>H95071 Der Lichtversuch bei Kohlen- | Bekanntlich von eini- säureausschluss ergab positives | gen Hefen vergärbar. Resultat. Raffinose CjsH350,5 +5H;0 |Dieselbe erzeugt als 1P/ige|Ist vergärbar durch Lösung im Licht (bei Kohlen- | kräftige Bierhefe. säureausschluss)in Spirogyren- zellen Stärke. Galaktose on OH ON n Ein Ernährungsversuch an Spiro- | Vergärt unter günsti- ei COH gyra minima und Zygnema | genBedingungen mit HH H 08 cruciatum fiel positiv aus. kräftiger Bierhefe. Chemisch-physiologische Mitteilungen. 69 Name & an m - Br en Chemische Formel Ernährungsversuchs-Ergebnis Bemerkungen l-Arabinose C;H,005, Meine Versuche: über die Ver-|Mit Hefe gärt die OHOH H wendbarkeit der Arabinose]j Arabinose nicht. CH-0H C C C COH zur Ernährung von Spirogyren Ti EI H.OH, fielen negativ aus. Es wurde im Licht (bei Kohlensäure- | ausschluss) keine Stärke an- gesetzt. Rhamnose C;H;50; + H,O Keine Stärkebildung konnte an | Nicht gärungsfähig. (Isoduleit) eine Methylpentose, Spirogyra beobachtet werden. | ÖOHOHH CH;CHOH C C C COH H HOH Erythrit C,H,00; Kein Stärkeansatz in Spirogyren. | Auch Blütenpflanzen (eine Tetrose)| CHsOH -CHOH- setzen mit Erythrit- - CHOH - CH,0H lösung keine Stär- ke an. Xylose Pentose Ernährungsversuche mit Xylose | Xylose vergärt mit an Spirogyren ergaben ein ent-| Hefe nicht. schieden negatives Resultat. Sorbin Hs0HC - (CHOH); - Der Spirogyrenversuch fiel ne- (Sorbose) - CO » CH>0H, sativ aus. eine Ketose Schleim- ÖOHH H OH Trotz direkten Sonnenlichtes er- sänre COOH € C C C COOH| gab sich in Spirogyra keine HOHOHH Stärkebildung bei Darbietung 1°/o iger Schleimsäurelösung. Lävulin- CH, - CO CH; - CH; - Resultat negativ. säure - CO5H, eine Ketonsäure mit 5 C-Atomen Malonsäure CO;H - CH; - CO,H Der Ernährungsversuch an Spiro- gyra ergab positives Resultat. Trauben- Rechtsweinsäure + Der Versuch ergab ein negatives säure Linksweinsäure Resultat an Spirogyra. Lävulose | H HA 0N Meine Ernährungsversuche an|An höheren grünen CH,0H 6 CC Co CH,OH Spirogyren ergaben ein nega-! Pflanzen erzielten OH 0 H tives Resultat. A.Meyerund E. Laurent positi- | ves Resultat. Hydrochinon C;H,(OH), 1, 4 Negatives Resultat an Spiro- gyren. Benz- C,H,(0H), 1, 2 Dito. katechin Resorein | C;H40H) 1, 3 | Dito. | Pyrogallol C;Hs(OB), 1, 2, 3 | Dito. (Pyrogallus- säure) | 70 Th. Bokorny: Chemisch-physiologische Mitteilungen. Eines der merkwürdigsten Resultate ist der negative Ausfall des Versuches bei Lävulose, dem ein mehrfacher positiver bei höheren grünen Pflanzen gegenübersteht. Es ist das ein neuer Beweis dafür, dass die chemischen Fähig- keiten der Pflanzenzellen verschieden sind. Man muss sich also vor zu weitgehenden Verallgemeinerungen hüten. Versuche in dieser Riehtung würden gewiss des Interesses nicht entbehren. 71 (Aus dem gerichtlich-medizinischen Institut der Universität Zürich.) Registrierung tachographischer Kurven mit Hilfe des Saitengalvanometers. Von Dr. med. et phil. Robert Heller. Die Aufnahme von Tachogrammen bei experimentellen und klinischen Arbeiten ist bisher relativ selten vorgenommen worden. Der Grund liest zu einem nicht geringen Teile darin, dass die exakte Registrierung tachographischer Kurven mit Schwierigkeiten sich verknüpfte, deren technische Bewältigung besonders für Tier- versuche von längerer Dauer oder diagnostische Anwendungen am Krankenbette nicht befriedigend genug ist. Das ursprüngliche Verfahren von Kries, bei welchem die Aufnahme volumetrischer Geschwindigkeitsänderungen eines Körper- teiles durch Photographieren einer Gasflamme vorgenommen wird, deren Höhe entsprechend dem Wechsel des Füllungzustandes des Organes schwankt, konnte sich nieht einbürgern, da es trotz seiner Empfindlichkeit eine grössere Zahl von Unvollkommenheiten besitzt. Insbesondere das Flackern der Flamme bei zu grosser Ausfluss- öffnung und das Photographieren derselben gibt zu vielfachen Störungen Veranlassung. Eine grössere Verwendung haben mit Membranen, Piston- rekorder, Blasebalg oder ähnlichen Mechanismen arbeitende Instru- mente gefunden, bei welchen die Anwendung einer Flamme ver- mieden wird. Der wesentliche Nachteil einer nicht geringen Anzahl der vorgeschlagenen Anordnungen dieser Art leidet an der relativ geringen Anspruchsfähigkeit und grossen Trägheit des registrierenden Systems, infolge welcher die Feinheiten der zeitlichen Änderungen schneller, unbedeutender Volumänderungen unrichtig oder gar nicht wiedergegeben werden. Zu den besten Instrumenten mit mechanischen Übertragungs- einrichtungen gehört der Tachograph von Frank, in welchem eine Herztonkapsel zur Aufnahme der Volumschwankungen im Plethysmo- 7%) Robert Helier: ia sraphen dient. Nach den Angaben von Frank liefert dieses In- strument Kurven, welche mit den Tachogrammen von Kries sehr gut übereinstimmen. Der „Spirometer- Volumschreiber“ von Strassburger gibt nach den Angaben des Autors gemäss seiner Schwingungszahl eine nicht, ganz befriedigende Wiedergabe der Volumpulse, die Strass- burger durch Verkleinerungen des Luftraumes des Plethysmo- graphen und entsprechende Dämpfung der Figenschwingungen zu verbessern hofft. Die Anspruchsfähigkeit des Instrumentes wird wohl auch durch die Trägheit der Registriervorrichtung recht bedeutend beeinträchtigt. Für feinere Messungen weniger geeignet sind tachographische Einrichtungen mit Marey’schem Tambour auch bei Verwendung von Kapseln, die einen grossen Durchmesser besitzen, da nicht bloss der luftdiehte Abschluss derselben oft unvollkommen ist, sondern auch die Anspruchsfähigkeit der lockeren Membranen und. die Träg- heit des Schreibhebels eine präzise Registrierung nicht gestatten. Zum Studium der körperlichen Begleiterscheinungen psychischer Vorgänge aufgenommene Volumkurven haben an die präzise Charak- terisierbarkeit der Aufzeichnungen bisher keine allzu hohen Ansprüche gestellt und sind meistens ein mehr oder weniger ausgesprochenes Gemisch plethysmographischer und tachographischer Effekte. Wie sehr sich aber auch auf diesem Gebiete die Ansprüche an die zu- verlässige Deutbarkeit der registrierten Volumschwankungen steigern, zeigen die Untersuchungen Weber’s und seiner Mitarbeiter. Da die mechanischen Hilfsmittel zur Aufzeichnung tacho- graphischer Veränderungen sich im allgemeinen als wenig empfehlens- wert erweisen, stellt sich die Aufgabe, ob es möglich ist, auf einem anderen Wege, zum Beispiel durch elektromagnetische Kräfte, bessere Ergebnisse zu erreichen. Versuche zur Aufnahme von Tachosrammen mit Hilfe elek- trischer Registriervorrichtungen scheinen bisher nicht unternommen worden zu sein, trotzdem die Anspruchsfähigkeit und Empfind- lichkeit des Saitengalvanometers zur Registrierung des Spitzen- stosses und der Herztöne eine sehr ausgedehnte Verwendung ge- funden hat. Insbesondere muss sich die Methode der gemischten Stoss-Schallkurven des Herzens durch Vermittlung eines offenen Systems nach dem Vorgange von Einthoven zweifellos zu einer sehr leistungsfähigen tachographischen Technik ausarbeiten lassen. Registrierung tachograpbischer Kurven mit Hilfe des Saitengalvanometers. 73 Die Hauptschwierigkeiten einer elektrischen Übertragung liegen in der Auffindung einer befriedigenden Methode der Verwandlung der kinetischen Energie der zu registrierenden periodischen Volum- änderungen in die elektrische Energie, deren Schwankungen mit Hilfe des Saitengalvanometers beobachtet werden. Eine Lösung dieser Aufgabe ohne Einschaltung von Membranen oder anderer träger Systeme mit unzweckmässigen Eigenfrequenzen gibt die folgende Anordnung. Die Registrierung geschieht bei derselben mit Hilfe eines Mano- meters, welches auf thermoelektrischem Wege die Transformation der mechanischen Energie in elektrische vorzunehmen gestattet. Ein auf diesem Prinzip aufgebautes Manoskop ist von Gueritot konstruiert und für die Messung der magnetischen Suszeptibilität von Gasen von Piecard und Bonazzi ausserordentlich verfeinert worden. Das Manometer besteht im Prinzip aus zwei in eine Glasröhre eingeschmolzenen Thermoelementen aus feinen Drähten, die auf konstanter Temperatur gehalten werden !). Wenn eine Gasbewegung in dem dGlasrohre stattfindet, entsteht eine Temperaturdifferenz zwischen beiden Thermoelementen, die an einem in dem Stromkreis derselben eingeschalteten Saitengalvanometer einen Ausschlag erzeugt. Die trägen Massen sind bei der geschilderten Versuchsanordnung reduziert auf die Luft im Plethysmograph und den Röhren. Die Frequenz der Eigenschwingungen der Luftübertragung lässt sich durch geeignete Wahl der Dimensionen des Apparates entsprechend den besonderen Zwecken in weiten Grenzen erhöhen. Daneben ist noch die Trägheit der Thermoelemente gegenüber Änderungen der Temperatur zu berücksichtigen, die bei entsprechend kleinen Dimen- sionen derselben äusserst klein ist ?). Mit Hilfe des angegebenen Instrumentes lassen sich die tacho- graphischen Schwankungen in einem Plethysmographen mit offener Zuleitung in sehr vollkommener Weise beobachten. Die Ergebnisse der photographischen Registrierung tachogra- phischer Kurven und verschiedene experimentelle und klinische An- 1) Herrn Privatdozent Dr. Piecard danke ich für die liebenswürdige Überlassung eines empfindlichen Manometers. 2) Statt der Thermoelemente kann man eine bolometrische Einrichtung in eine Glasröhre einbauen. 74 Robert Heller: Registrierung tachographischer Kurven usw. wendungen des Verfahrens werden in einer ausführlicheren Arbeit dargelegt. Die angegebene Methode ist offenbar auch für die Registrierung aller anderen Arten physiologisch und klinisch bedeutsamer Kurven (Pulskurven, Atmungskurven, Aufnahme von Herztönen, Plethysmo- sramme, Vokalkurven usw.) anwendbar. Ihre ausserordentliche Leistungsfähigkeit für derartige Aufnahmen habe ich teilweise durch Versuche bereits feststellen können. FEingehende Untersuchungen werden im Züricher Institut für gerichtliche Medizin auch nach dieser Richtung weiter ausgeführt. (Aus der medizinischen Abteilung A des Reichshospitals in Kopenhagen.) Über die Homogenität der Lungenluftmischungen. Untersuchungen, anlässlich der Methoden von Krogh und Lindhard zur Bestimmung des Minutenvolumens des Herzens. Von Dr. Carl Sonne, Privatdozent. Krogh und Lindhard’s Methoden zur Bestimmung des Minutenvolumens. des Herzens gehen wie bekannt darauf aus, fest- zustellen, wie viel Stiekstoffoxydul im Laufe einer Zeiteinheit auf- genommen wird von dem durch die Lungen fliessenden Blut aus einer Lungenluftmischung, welche Stickstoffoxydul in einem passenden Prozent enthält, indem das Blut beim Durchgang durch die Lungen nach einem bekannten Absorptionskoeffizienten mit N,O vollständig ge- sättigt wird). Mit Hilfe der im selben Zeitraume aufgenommenen Sauerstoffmenge, die gleichzeitig berechnet und gemessen werden kann, kann man das direkt gemessene Minutenvolumen zur Grösse des Minutenvolumens bei Ruhestoffwechsel reduzieren, d.h. wenn dieses im Anschluss an den Versuch gemessen wird; hierdurch entsteht die Möglichkeit eines Vergleiches zwischen den gefundenen Werten. Lundsgaard?°) hat darauf aufmerksam gemacht, dass man durch einfaches Anführen des Verhältnisses zwischen Sauerstoffmenge und 1) Betreffs der Methode und ihrer Ausführung wird unter anderem auf Krogh und Lindhard hingewiesen: Skand. Arch. f. Physiol. Bd. 27. 1912, auch auf Abderhalden, Biochem. Arbeitsmethoden. Berlin 1914, und Lind- hard, Über das Minutenvolumen des Herzens bei Ruhe und bei Muskelarbeit. Pflüger’s Arch. f. Physiol. Bd. 161. 1915. 2) Christen Lundsgaard, Hjaertets Minutenvolumen hos Patienter med Hjartesygdomme. Habilitationschrift. Köbenhavn 1915. Diese Abhandlung wird im Laufe einiger Monate im Arch. f. klin. Medizin erscheinen. 76 Carl Sonne: derjenigen Blutmenge, welche diesen Sauerstoff aufnimmt, eine noch bessere Zahl zur Charakterisierung der Kreislaufverhältnisse erreicht, weil man dadurch dem doch etwas variierenden Faktoren entgeht, welcher der Ruhestoffwechsel ja ist. Lundsgaard nennt das Ver- hältnis das Stromäquivalent, und er versteht darunter die Blutmenge, die die Lungen passiert, wenn 100 eem Sauerstoft absorbiert wird. Durch einfaches Multiplizieren dieser Zahl mit dem Ruhestoffwechsel erhält man übrigens das Minutenvolumen bei Ruhe. Um die Zahlen zu erhalten, auf welche es ankommt, ist das direkt gemessene Minuten- volumen also überflüssig. Dieses hat eine nicht geringe Bedeutung, namentlich wenn es die Brauchbarkeit der Methode Patienten gegen- über betrifft, und als ich mich seinerzeit versucht fühlte, an Patienten Messungen des Blutstromes zu probieren, tat ich es nur, weil es mir vorkam, als ob die Methode so bedeutend vereinfacht werden könnte, dass sie nicht allein im Laboratorium, sondern auch am Krankenbett angewandt werden könnte, so dass dadurch die Mög- lichkeit einer Untersuchung der Kreislaufverhältnisse unter patho- logischen Verhältnissen erweitert würden, und dass man ein Stück über die Grenzen hinaus kommen könnte, die zum Beispiel Lunds- gaard in seiner Arbeit festgesetzt hat. Im Laufe des letzten Jahres habe ich eine Reihe verschiedener Methoden versucht, durch welche die Messung des Verhältnisses zwischen aufgenommener Stiekstoffoxydul- und Sauerstoffmenge sowie die Bestimmung der Spannung des Stiekstoffoxyduls in der Lungen- luft das Stromäquivalent geben sollte; die Resultate, die ich erreicht habe, indem ich ausgedehnte Kontrollbestimmungen vornahm, waren aber keineswegs hinreichend gleichartig oder übereinstimmend mit den von anderen gefundenen, um darauf: etwas bauen zu können, obgleich sich in theoretischer Beziehung nichts gegen die Methoden einwenden lässt. Allmählich wurde es mir aber doch klar, dass man wahrscheinlich in allen Methoden denselben Fehler nachweisen könnte, der unter den verschiedenen Umständen, die zulässlich erscheinen, variierte, und da es sich zeigte, dass dieselbe Einwendung auch gegen Krogh und Lindhard’s Methoden erhoben werden konnte, erlaube ich mir, die Untersuchungen und Erwägungen, die ich in der Beziehung gemacht habe, vorzulegen. Um näher zu präzisieren, wie ich auf diese Untersuchungen ge- fallen bin, wiil ich unten einige Resultate anführen, die ich durch Versuche mit der zuletzt angewandten Methode erhalten habe. Wegen Über die Homogenität der Lungenluftmischungen. HN des Vergleiches trifft es sich zugleich so günstig, dass diese Methode sich von Krogh und Lindhard’s Gleichgewichtsmethode nur wenig unterscheidet, indem ich hier wesentlich nur solche Veränderungen vorgenommen habe, die nötig sind, damit der Versuch am Kranken- bett und an weniger intelligenten Individuen gemacht werden kann. Ich gebrauche Mundstück, Nasenklammer und Dreiweghahn wie früher; auf der einen Seite steht der Dreiweghahn durch ein kurzes Rohr mit einem Beutel in Verbindung, worin sich Stickstoffoxydul in einer passenden Mischung befindet, im ganzen 3—4 Liter Luft: auf der anderen Seite steht der Hahn durch ein etwas längeres Rohr mit einem Beutel, der 600 ecm fassen kann, in Verbindung und von dem ein mit einem Klemmhahn abschliessbares Rohr (dünnerer Gummischlauch) zur Atmosphäre hinausführt. Dieser Beutel ist also nicht grösser, als dass man durch Druck mit der Hand schnell und leicht seinen Luftgehalt in die Atmosphäre auspressen kann, wenn der Hahn geschlossen ist und die Klammer dureh Druck mit der anderen Hand geöffnet wird. Der Versuch wird nun auf diese Weise ausgeführt, dass man zuerst die Lungenluft durch einige tiefe Respirationen in den Beutel mit der Luft desselben vermischt; sobald man annehmen kann, dass die Lungenluft gemischt ist, wird der Hahn nach einer Inspiration um 180° gedreht, wonach das Versuchs- individuum 600 eem in den im voraus geleerten kleinen Beutel exspiriert; ist dies getan, wird der Hahn um 90° gedreht, wobei das Individuum den Atem anhalten muss; während es das tut, wird erst eine Luftprobe zur Analyse der exspirierten Alveolluft vom langen Rohr am Hahn genommen, und darauf wird die Luft im kleinen Beutel in die Atmosphäre exprimiert; wenn der Atem während einer passenden Zeit (6—S Sekunden) angehalten worden ist, wird die Versuchsperson wieder aufgefordert, zu exspirieren, indem der Hahn von neuem gedreht wird, um die Verbindung mit dem kleinen Beutel herzustellen ; ist dieser gefüllt, wird der Hahn abgedreht, eine neue Luftprobe wird von derselben Stelle wie früher genommen, und der Versuch ist fertig. Die Versuchsindividuen, auch diejenigen, die im folgenden ge- nannt werden, sind erwachsene, eesunde Männer und Frauen zwischen 30 und 40 Jahren. C. L. ist dieselbe Versuchsperson, die in Dr. Lundsgaard’s Arbeit auf selbe Weise benannt wird. Ich bin Dr. Lundsgaard hierfür sehr zu Danke verpflichtet. 78 Carl Sonne: Tabelle I. Ver- Dion Erste Probe Zeile Probe &2 An suchs- 1915 PTR NIE ERLERNTE f 1 > k person co, | .0, 'N0.|00,| 9% | 10 |@ 5 METZUNGEN | | 25 (| 23. März | 5,24 | 14,27 | 16,73 6,19 | 12,79 | 15,48 | 1,39 | 3. „ 1478| 223,39 | 12,57.|.5,67 | 21,37 | 12,03:|:1.09 Il 23. „.-15,83:| 18,28 | 12.23 ] 6,24 | 16,44 | 11,36 | 1,10 25: -.. 1.5.42 | 20,44 | 6,95] 6,30 | 18,52 | 6,32 | 1,24 4.T,]| 25. / [522 14,78 | 11,82 | 5,94 | 13,00 | 10,80 | 1,37 9.31 25, |508|13,87 | 9,12 | 6,26 | 11,49 | 8,20 1,23 | Der kleine 27. „ 1468| 16,31 | 17,63 | 5,66 | 14,11 | 16,03 | 1,21 | \ Beutel fasst | DTARE 5,22 | 18,14 | 11,24 | 6,18 | 11,11 | 10,25 | 1.29 E)OAcem >. . 150011461 | 7,14 |5,76.|1325 | 6,76] 1,10 {l 27. ) [540 | 11,45 | 17.18 | 6.09 | 10,10 | 16,26 | 1,23 17. April | 4,19 | 32,90 | 15,46 | 6,03 | 30,69 | 14,03 | 0,99 2 21. „ [427 | 1772 | 1325| 6,47. 14,85 | 11,64 | 121 C.L,]J| 21. / 1409| 1826 | 11,34 | 6,15 | 15,55 | 9,82 | 1,86 & 99. 32 014,45, 617, 45 | 14.89 SH ERS I ». . [5283| 1841 | 13,80 | 675 15,67. | 18,19 | 1,19 | 8 Beuter fasst 23... 14,47 | 19:90 | 14,20 | 6,79 | 15,95 | 11,65 Bl 880 cem Das Eigentümliche bei diesen Versuchen ist, dass das Strom- äquivalent bedeutend niedriger ist, als die früheren Untersucher es bei Normalen gefunden haben. Lundsgaard führt an, dass das Stromäquivalent für Männer ungefähr 1,9, für Frauen ungefähr 1,3 ist, unl Lindhard, dass einem Stoffwechsel von 200 eem 0, pro Minuten ein Minutenvolumen von 3,6 Liter entspricht, was also be- deutet, dass das Stromäquivalent 1,5 beträgt. Woher kommt es, dass ich so entschieden niedrigere Zahlen gefunden habe? Die Sauerstoffkapazität des Blutes ist bei beiden Versuchspersonen normal. Der schädliche Raum ist in diesen Fällen vermutlich durch eine Exspiration von 600 ccm ausgewachsen. A. T. hatte nach Lindhard’s Formel einen schädlichen Raum 115 ecem, wozu das Mundstück und der Hahn ea. 40 cem kommt, also zusammen weniger wie !/s X 600, und bei C. L. kann man keine Wirkung sehen, wenn der kleine Beutel zu 880 cem ver- erössert wird. Bei der Untersuchung von C. L. den 24. April, die vollständig nach Krosh und Lindhard’s Gleichgewichtsmethode mit drei tiefen ruhigen Respirationen ins Spirometer zur Mischung vorgenommen wurde, finde ich ein Äquivalent von 1,78, das also dem von Lundsgaard früher gefundenen entspricht. Lindhard führt an (]. e. S. 271 ff.), dass es sich gezeigt habe, dass eine Änderung der Respirationstype in der Vorperiode Fehler Über die Homogenität der Lungenluftmischungen. 79 in den Versuchen mit sich führen kann; hier sind wir zu einem Punkt gelangt, wo ich bei meiner Methode scheinbar einen Fehler begangen habe. Weil die Mischung in einem Beutel vor sich. gehen soll, habe ich nicht die Grösse der Respirationen registrieren können, weswegen ich, wahrscheinlich um meiner Sache ganz sicher zu sein, die Versuchsperson dazu veranlasst habe, etwas tiefer zu respirieren, als es sonst für nötig. angesehen wird, gleichwie ich auch der Sicher- heit halber mit vier bis fünf Respirationen gemischt habe und nicht wie üblich nur mit drei. Indessen: die drei tiefen Respirationen, mit denen Lindhard mischt, ist auch keine normale Respiration, und meine Zahlen stimmen ebensogut überein wie diejenigen früherer Untersucher. Deshalb ist es von vornherein wohl nicht leicht zu entscheiden, welche Resultate die richtigsten sind. Lindhard’s Vermutung, dass verschiedene Respirationsarten in der Vorperiode des Versuches eine variierende Zusammensetzung des venösen Blutes, das durch die Lungen strömt, bedingt, scheint mir auch nicht ohne weiteres zur Erklärung für die Ungleichartigkeit der Resultate be- friedigend zu sein. Es sind deshalb Versuche für eine andere Er- klärung zu finden, die aus nachstehendem hervorgehen wird. Ich habe mehrere Möglichkeiten !) in Erwägung gezogen, meine Untersuchungen sammelten sich aber zuletzt um die zwei Punkte: 1) Unter anderem habe ich daran gedacht, ob man nicht während der letzten maximalen Exspiration, die man bei Krogh und Lindhard's Gleich- gewichtsmethode, nicht aber bei meiner Methode braucht, durch den Druck, den man bei einer forcierten Exspiration ausübt, eine bedeutendere Luftdruck- steigerung in den Alveolen bewirken könnte und, wegen der darauffolgenden vermehrten Spannung des Stickstoffoxyduls, eine vermehrte Aufpahme desselben, wodurch dieses und also auch das Stromäquivalent im ganzen zu gross wird. Wenn man zum Beispiel so tief wie möglich durch ein langes Rohr exspiriert, wird man wohl im allgemeinen erwarten, dass die Luft, die dem Mund am nächsten ist, am kohlensäurereichsten ist, und dass die Luft allmählich kohlen- säureärmer wird, je weiter man sich vom Mund entfernt; solcherweise ver- hält es sich aber keineswegs immer; ich habe bei verschiedenen Per- sonen oft gefunden, dass die zuletzt kommende Alveoliuft während maximaler Exspiration weniger kohlensäurereich ist, als die früher kommende. Zum Beispiel in einem Versuch bei einem gesunden er- wachsenen Mann bei Ausatmen durch ein langes Rohr, 6,69 %/o CO,-gerade vor dem Mund und 6,80% CO, 400 qem vom Mund entfernt oder in einem Ver- such bei einem andern Mann 6,35°/o CO,, nachdem ca. 1 Liter exspiriert und 6,66 %/0 CO,, nachdem zur Residualluft exspiriert worden ist. Ich kann der von 80 Carl Sonne: 1. die Homogenität der Mischung der Lungenluft vor der Periode des Respirationsstillstandes; 2. die Homogenität der Lungenluftmischung nach der Periode des Respirationsstillstandes. Die Homogenität der Lungenluftmischung vor der Periode des Respirationsstillstandes. Krogh und Lindhard (l. e.) geben an, gefunden zu haben, dass die Lungenluft bei der Residualmethode durch eine maximale Einatmung der Luftmischung vom Spirometer nach vorausgehendem maximalen Ausatmen in die Atmosphäre vollständig gemischt ist, sowie dass die Lungenluft bei der Gleichgewichtsmethode nach drei Respirationen, jede wenigstens von 1 Liter Tiefe, vollständig gemischt ist. Sie führen nicht‘an, wie sie dies letztere gefunden haben; ver- mutlich haben sie aber auf ähnliche Art wie bei der Untersuchung Dr. C. Lundsgaard mir gegenüber ausgesprochenen Auffassung beistimmen, dass dies Verhältnis als eine Absorption von CO, begründet, in einer Druck- vermehrung in den Alveolen bei der forcierten Exspiration er- klärt werden kann; die Absorption kann entweder im Lungengewebe oder vielleicht im Blut vor sich gegangen sein, wenn nämlich die alveoläre Kohlen- säurespannung die Kohlensäurespannung des Blutes überstiegen hat. Ich habe eine Reihe von Versuchen, die denen in Tabelle I gleichen, vorgenommen, bloss mit der Zufügung, dass ich mir zugleich eine dritte Luftprobe zur Analyse ver- schafft habe, nachdem die letzte Exspiration bis zur Residualluft fortgesetzt worden ist; wenn ich jetzt das Stromäquivalent mit Hilfe der ersten und dritten Probe berechne, habe ich wohl gewöhnlich eine Steigerung im Verhältnis zu der bei der ersten und zweiten Probe berechneten, erhalten (zum Beispiel von 1,1 bis 1,2 oder zuweilen etwas mehr), aber doch nie eine so grosse Steigerung, um die Nichtübereinstimmung zwischen meinen niedrigen und den höheren Stromäqui- valenten früherer Verfasser allein durch eine möglichst starke Druckvermehrung in den Alveoien zu deuten, was während der letzten maximalen Exspiration durch die Gleichgewichtsmethode erklärt werden kann. In dieser. Verbindung kann ich es nicht unterlassen, auf die merkwürdige Weise aufmerksam zu machen, auf welche Lindhard (l. c. S. 272 und 274) den Einfluss von willkürlich starkem exspiratorischen Druck und inspiratorischem Saugen auf die Kreislaufverhältnisse untersucht hat. Er nimmt gar keine Rücksicht darauf, dass auch die’ Spannung des Stickstoffoxyduls in den Alveolen durch diesen Druck und das Saugen ver- mehrt bzw. vermindert wird; er misst überhaupt nicht die Druckveränderungen, welche natürlich eine vermehrte oder verminderte Stickstoffoxydulaufnahme be- dingen. Seine Resultate scheinen deshalb in dieser Beziehung völlig belanglos zu sein. Über die Homogenität der Lungenluftmischungen. S1 der Luftmischung nach dem maximalen Einatmen in der Residual- methode gesehen, dass wenn der schädliche Raum ausgespült ist, man durch Exspirationen von verschiedener Tiefe jetzt konstante Prozentzahlen für die verschiedenen Luftarten in den Lungen er- halten kann, oder besser: nicht grössere Veränderungen, als sie der längeren Zeit für eine tiefere als für eine weniger tiefe Exspiration entsprechen können. Es kommt mir vor, dass man Einwendungen dagegen erheben kann; fürs erste hat man keinen sicheren Anhalts- punkt dafür, wie gross die Variationen in den Luftprozenten sein müssen, damit man mit Sicherheit sagen kann, dass sie von Zeit- unterschieden in den Exspirationen herrühren; es kann nichts anderes als eine Schätzung werden, nach der man sich hier richtet; und zweitens erhält man immer nur die exspirierte Luft zur Untersuchung, weiss aber beständig nichts über die Luft, die noch in den Lungen zurückbleibt. Den Versuch, welchen Krogh und Lindhard an- führen, wo sie mit Hilfe der Zusammensetzung der Exspirationsluft und deren Volumen durch Berechnen nach Bohr’s Formel heraus- finden, dass die Alveolarluft die gleiche Zusammensetzung hat wie “die direkt gemessene, sagt also nur, dass man im Laufe einer ge- wissen Zeit Luft von ungefähr derselben Zusammensetzung exspiriert hat, dagegen nichts über die Zusammensetzung der Luft in den Alveolen. Es wäre deshalb wünschenswert, durch eine andere Versuchs- technik von neuem zu untersuchen, ob die Lungenluft tatsächlich homogen ist, wenn der Respirationsstillstand nach Krogh und Lindhard anfangen kann. Ich habe es auf diese Weise ausgeführt, indem ich zuerst eine Wasserstoffmischung in die Lungen einfliessen liess durch Hilfe von zwei bis drei möglichst tiefen Respirationen in einen Beutel mit einer starken Wasserstoffmischung, und darauf die drei vorgeschriebenen tiefen Mischungsrespirationen in einen Spirometer mit atmosphärischer Luft vorgenommen; danach habe ich untersucht, ob Exspirationen von verschiedener Tiefe jetzt den gleichen Wasserstoffprozentgehalt geben, Ich gebrauche wie gewöhnlich einen Dreiweghahn mit Mund- stück und Nasenklammer; auf der einen Seite steht der Hahn durch ein Rohr mit einem Beutel in Verbindung, der 5—4 Liter Luft ent- hält, wovon ca. 40 °o Wasserstoff ist; ferner ist eine passende Menge Sauerstoff hinzugesetzt; auf der anderen Seite ist der Hahn durch ein Rohr mit einem Krogh’schen Spirometer, mit atmosphärischer Pflüger’s Archiv für Physiologie. Bd. 163. 6 82 Carl Sonne: Luft gefüllt, verbunden, welcher die Bewegungen auf eine rotiererde Trommel aufschreibt; dicht neben dem Hahn sind auf beiden Seiten kleine Seitenrohre zur Probeluftnahme angebracht. Der Versuch wird nun auf die Art vorgenommen, dass die Versuchsperson zuerst so tief wie möslich, entweder durch die Nase unmittelbar vor Aufsetzen der Klammer oder gewöhnlich, nachdem die Klammer aufgesetzt ist, durch den Hahn in das Spirometer hinein exspiriert; danach wird der Hahn gedreht, und es wird mit dem Beutel mit Wasserstoff- mischung Verbindung hergestellt, worin dann zwei bis drei möglichst tiefe In- und Exspirationen gemacht werden; nach der zweiten oder dritten Inspiration wird nur ungefähr zur Mittelstellung in den Beutel exspiriert, wonach der Hahn zur Verbindung mit dem Spiro- meter gedreht wird, worin dann wiederum die üblichen drei (oder zu- weilen mehrere) tiefe, ruhige Respirationen von wenigstens 1 Liter Grösse vorgenommen werden, welche später von der Trommel abgelesen werden können. Die letzte Exspiration wird schnell und so tief wie möslich gemacht, und zwar soleherweise, dass man während der- selben, wenn eine passende Menge in das Spirometer entleert ist, den Hahn so sehnell wie möglich um 180° dreht, wonach der Rest in den Beutel exspiriert wird. Nach Beendigung der Exspiration wird der Hahn geschlossen, um 90° gedreht und eine Luftprobe von beiden Seiten des Hahnes zur Analyse genommen; ferner ist früher, um zu sehen, wie stark die Wasserstoffmischung vor der Mischung mit der Spirometerluft in den Lungen gewesen ist, eine Luftprobe nach der letzten Exspiration in den Beutel genommen worden, bevor der Hahn zur Verbindung mit dem Spirometer ge- dreht wurde. Einige Male habe ich die ganze letzte, tiefe Exspiration in ein Spirometer gemacht und also die beiden letzten Luftproben von derselben Stelle genommen; die erste nur in den evakuierten Rezipienten. Den Zeitpunkt, an welchem sie genommen wurde, habe ich durch. eine kleine Scharte an der Exspirationskurve markiert, welche dadurch hervorgerufen wurde, dass ich den Hahn momentan um 90° gedreht und ihn danach, gleichzeitig mit der Probenahme, wieder zugedreht habe. Wie aus der Tabelle II hervorgeht, ist immer nach der tiefsten Exspiration mehr Wasserstoffin der Exspirationsluft gefunden worden, als wenn etwa nur 1 Liter exspiriert wurde. Nach drei Mischungsrespirationen ist mit den angewandten Verhältnissen in den meisten Fällen über 1° mehr Über die Homogenität der Lungenluftmischungen. 33 Tabelle I. 22238 = 4 = L ey ES) song SEE3 „2085| 3828| .52_| 333 Ver- SeeBellaene nn Ze area ae D SsEs522 na „a82l=sa25| särE | SESA atum sa2s5 sSegsse. STokPr ON io zu | onn'3 suchs- os \Sasza see seen son. 91: =32 ı = Pe Seeh li — | = person “EA sl nn2ese|l a+b. 2 aaa Hay hieraus geht hervor, dass der Fehler wegen unzureichender Mischung, alleanderen Verhältnissealsgleich voraus- setzt, einigermaassen von der Grösse des Stickstoff- oxydulprozentes in der angewandten Spirometerluft- mischung unabhängig ist. 88 Carl Sonne: Was die Variationen in der Grösse des Sauerstoffprozentes in der Spirometerluftmischung betrifft, wird das Verhältnis inzwischen ein anderes. Sind a, und 5b, die Sauerstoffprozente in der ersten und zweiten Probe eines Versuches und in einem anderen Versuch 41, und b, m,, so wird die berechnete Sauerstoffaufnahme im ersten Versuch ungefähr: %, (a, — 51) und im zweiten: %, (an, — bı N), während es in Wirklichkeit %, (ap — bı) und Äk, (a N pı — bı mı) sein sollte; da jetzt h (a, Pı — d) = ki (a1, Ppı — b1 mı) so folgt daraus b, m = AN Pı — 4 Pı + dı und also A, (an — b, m) = kı (aM — uNPı + Pi = bi) = —kh (1m — bi) + hm (1 Pi). Da p» immer <(1 ist, wenn die Mischung unvollständig ist (sonst —= 1) und k,n, a, (L—.pı) also positiv ist und wächst, wenn n, zunimmt, so wird man sehen, dass mit steigendem »,, d. h. steigendem Sauer- stoffprozent in der Spirometermischung, auch fehlerhaft eine steigende Sauerstoffmenge aufgenommen wird. Dies bedeutet, dass der Fehler wegen unzureichender Mischung bei einem steigenden Sauerstoffprozent in der Spirometerluftmischung, alles andere als gleich vorausgesetzt, einen Ausschlag in einem fallenden Ruheminutenvolumen und fallendem Stromäquivalent gibt. Dass es sich so verhält, kann aus nachfolgendem Versuch er- sehen werden, der vollständig nach Krogh und Lindhard’s Gleichgewichtsmethode an zwei geübten Versuchspersonen ausgeführt worden ist, die in der Vorperiode mit drei tiefen, ruhigen Respirationen gemischt haben, die, soweit möglich, von gleicher Grösse waren. Tabelle IV. Ss Ver- Erste Probe Zweite Probe = ehe Nr Be en | SE person > 00, | O5 N;0 | CO, 0% |22N.O 12 = | 1 28. Mai | 4,07 | 33,11 | 12,20 | 5,66 | 30,46 | 10,80 | 1,04 2 28, 4,24 | 14,96 | 11,80 | 5,77 | 12,95 9,67 | 2,34 AT, 3 2a 381 | 16,10 | 27,70 | 5,88 | 14,10 | 28,20 | 2,04 Q 4 al... 4,84 | 14,17 | 11,06 | 6,45 | 11,42 8,95 | 1,90 5 31.5; 4,15 | 26,43 | 10,11 | 5,83 | 29,35 8,25 | 1,43 6:10:31. 4,82 | 36,88 | 10,24 | 6,53 | 32,53 822 | 1,01 CL 7 14. Juli | 3,08 | 16,60 | 12,69 | 6,09 | 13,85 | 10,558 | 1,71 \ 2 22 8 14.6, 4,74 | 30,08 | 12,64 | 6,41 | 26,51 | 10,35 | 1,22 9) 14. „ 4,33 | 26,23 | 13,64 | 5,78 | 28,72 | 11,74 | 1,34 Über die Homogenität der Lungenluftmischungen. sg In den Versuchen Nr. 2, 3 und 4, in denen das Sauerstoff- prozent einigermaassen gleich ist, ist der Stromäquivalent wesentlich gleich, ohne Rücksicht darauf, dass das Stickstoffoxydulprozent in Ver- such Nr. 3 ungefähr dreimal so gross ist wie in Nr. 2 und 4, während in Versuch Nr. 1, 5 und 6 das Stromäquivalent bedeutend kleiner ist und gleichzeitig auch die Sauerstoffprozente bedeutend zugenommen haben und am meisten (Nr. 6), wo das Stromäquivalent am niedrigsten ist; ähnliche Verhältnisse gelten für die drei Versuche mit C. L. Die Homogenität der Lungenluftmischung nach der Periode des Respirationsstillstandes. Krogh und Lindhard sind stillschweigend davon ausgegangen, dass, wenn die Lungenluft vor einer Periode mit Respirationsstillstand homogen ist, sie auch andauernd homogen bleibt, so lange der Atem angehalten wird. Ich habe überhaupt nirgends gesehen, dass ein Verfasser diese Frage in Erwägung gezogen hat, geschweige denn Versuche gemacht, um sich hiervon zu überzeugen. Es ist wohl auch möglich, dass es sich oft auf diese Weise verhält, und in meinen früher beschriebenen Versuchen, wo Perioden mit Respirations- stillstand angewandt worden sind, bin ich auch davon ausgegangen, dass dies richtig war, und diese Versuche sowohl wie die früheren, von Krogh, Lindhard und Lundsgaard veröffentlichten, wohl auch keinen Anlass zur Vermutung gaben, dass man hierdurch auf verkehrte Bahn geraten war. Dass es sich jetzt nicht immer, jeden- falls nicht bei allen Menschen, auf diese Weise verhält, geht indessen mit aller wünschenswerten Deutlichkeit aus untenstehenden Ver- suchen hervor, die an mir selbst ausgeführt wurden. Nach Respiration in gewöhnlicher atmosphärischer Luft habe ich nach einer Inspiration den Atem 20—30 Sekunden angehalten und danach schnell bis zur Residualluft ausgeatmet, und zwar auf solche Weise, dass ich eine Luftprobe der Alveolluft zur Analyse habe nehmen können, sowohl nachdem ca. 1 Liter exspiriert, wie auch, nachdem die Exspirationen vollendet waren. In den beiden Luftproben habe ich dann folgendes gefunden: CO;- und O,-Prozente: Erste Probe Zweite Probe (ca. 1 Liter exspiriert) (nach vollständiger Ausatmung) CO, (0R 00, O5 10. April 6,92 10,12 6,36 11,54 10. Mai 6,77 10,05 3,68 12,39 135,2, 629 10,98 486 14,12 90 Carl Sonne: Man macht hier die überaus interessante Beobachtung, dass nicht allein das Kohlensäureprozent niedriger, sondern dass auch das Sauerstoffprozent in der zuletzt kommenden Alveolarluft nöher ist. Versuche an mir selbst, die dasselbe zeigen sollten, habe ich übrigens auf verschiedene Weisen variiert, und ich habe stets gefunden, dass, wenn ich den Atem einige Zeit an- gehalten und danach tief exspiriert habe, die Alveolarluft, die zuerst kommt, nachdem der schädliche Raum ausgewaschen ist, immer am meisten verbraucht, die, welche zuletzt kommt, immer am wenigsten verbraucht ist, und dass die Lungenluft also in betreff meiner Person nie homogen ist, wenn ich den Atem einige Zeit angehalten habe. Wenn ich, unmittelbar vor Anhalten des Atems, versuche, die Lungenluft mit einer fremden Luftart zu mischen, zum Beispiel mit Stickstoffoxydul durch drei bis vier tiefe Respirationen in ein Spiro- meter mit einer Stickstoffoxydulmischung, und ich nach dem Respirationsstillstand Proben der Alveolluft während der kommenden maximalen Exspiration nehme, tritt, je nachdem die EFxspiration fortschreitet, ein ziemlich bedeutender Fall des Stickstoffoxydul- prozentes ein; dies kann man im folgenden Versuch sehen, wo ich nach Mischung und Atemanhalten ea. 15 Sekunden lang so tief wie möglich durch ein langes Rohr ausatme und danach vom Rohr in verschiedenem Abstand vom Mund Luftproben zur Analyse nehme: Gerade 200 qem 400 qem vor dem Mund vom Mund entfernt vom Mund entfernt 60:0, 10,00, 0 1.0. :00 0,280 8. April 5,23 18,02 1012 588 1784 10% 5,53 17,81 10,28 Is 6,37 13,397 12,02 6,49 13,19 12,56 6,69 13,01 12,82 Je näher man dem Mund kommt, desto kleiner wird also das Kohlensäureprozent, desto höher das Sauerstoffprozent und desto niedriger das Stickstoffoxydulprozent. Noch deutlicher treten diese Verhältnisse im nachstehenden Versuche hervor, der zugleich zeigt, welcher enorme Fehler sich auf Grund dieser Umstände an Krogh und Lindhard’s Methode knüpfen kann. Die zwei letzten der drei folgenden Versuche sind genau nach Krogh und Lindhard’s Gleichgewiehtsmethode ausgeführt, nur ist die zweite Probe a während der letzten maximalen Exspiration im evakuierten Rezipient ge- nommen, nachdem ea. 1 Liter exspiriert worden ist (das Spirometer war darauf eingerichtet, zu signalisieren, wenn 1 Liter exspiriert war, in welchem Augenblick der evakuierte Rezipient gefüllt wurde; H | 3, Über die Homogenität der Lungenluftmischungen. 9] also ohne irgendeine Unterbrechung der Exspiration). Die zweite Probe b ist nach der vollständigen Exspiration genommen worden. In dem ersten der drei Versuche ist bei der zweiten Probe a 600 eem in einen Beutel ausgeatmet worden, wonach der Hahn so schnell wie möglich gedreht wird zur völligen Ausatmung auf der anderen Seite, wo die zweite Probe 5 genommen wird. Das Stromäquivalent « und 5 ist zwischen der ersten und zweiten Probe « und zwischen der ersten und zweiten Probe b berechnet worden. Wenn die Methode nicht mit Fehlern belastet war, hätten die zwei Stromäquivalenten natürlich gleich sein müssen. Man sieht, dass ich bei dem einen bis fünfmal so grosse wie bei dem anderen und vollständig absurde Zahlen gefunden habe. Dementsprechend wird man die Steigung des Sauerstoffprozentes und den starken Fall des Stiekstoffoxydulprozentes in der zuletzt kommenden Alveolarluft sehen. Tabelle V. Dan Erste Probe Zweite Probe «a Zweite Probe b er 1915 SIE = DRgES LET SeR7 7X NETTE Zi 60; 1 0571050 1 CO; | O0; |N,0'] CO, 1:0, |N50 a b 30. März | 5,24 | 12,46 | 17,36 | 6,43 | 10,37 | 16,22 | 5,58 | 11,72 | 13,24 1,02 | 5,46 24. April | 5,12 | 1443| 8,27 | 6,73 | 10,62 | 6,49 | 5,86 ı 12,21 | 5,22] 1,62 | 4,17 24, „ 2 1416: 1754| 9,28] 5,78 |:14,73| 7,69 | 5,15 | 15,18 | 8,46 | 1,63 | 4,21 Bei passender Variation der Spirometerluftmischung kann man natürlich beinahe alle wünschbaren Werte für das Stromäquivalent erhalten. Im nachfolgenden Versuch!) nach Krogh und Lindhard, doch mit einem hohen Sauerstoffprozent, ist auf die Weise bei mir ein Stromäquivalent gefunden, der dem von Lindhard und Lunds- gaard angegebenen Normaläquivalent vortrefflich entspricht. Erste Probe Zweite Probe Strom- CO; Os Ns0 (6107 (0R N50 äquivalent 5,40 24,82 13,38 5,98 21,44 10,08 1,69 Obgleich ich eine Reihe von anderen Individuen auf ähnliche Weise untersucht habe, wie ich selbst untersucht worden bin, habe ich noch keinen gefunden, der im Besitz der Eigentümlichkeit war, dass, je tiefer die Exspiration nach einem Respirationsstillstand war, eine desto sauerstoffhaltigere Luft exspiriert wurde; dass die zuletzt 1) Der Versuch und die Analyse ist von Dr. ©. Lundsgaard vor- genommen worden. 092 Carl Sonne: kommende Fxspirationsluft weniger kohlensäurereich, ist dagegen sehr oft zu finden, aber da dieses, wie früher in einer Fussnote (S. 79) erwähnt, eher auf andere Weise gedeutet werden muss, habe ich es nieht als Beweis dafür nehmen können, dass die Alveol- luft beim Aufhören des Respirationsstillstandes inhomogen gewesen ist. Die Normalpersonen, welehe Lindhard und Lundsgaard untersucht haben, haben auch kaum die bei mir gefundene Eigen- tümliehkeit dargeboten, jedenfalls nicht in bedeutenderem Grad; sonst hätten sie kaum so konstante Resultate erhalten können; da ich mir nicht bewusst bin, dass etwas Exzeptionelles!) bei meinen Lungen sein sollte, muss man natürlich immer darauf vorbereitet sein, möglicherweise andere ähnliche Fälle zu treffen. Im voraus kann man absolut niehts darüber wissen, wie die einzelnen Menschen sich verhalten. Wann ist die Alveolarluft homogen? Wie erwähnt, habe ich nicht, trotz Mischung mit bis zu fünf tiefen Respirationen, erreicht, die Lungenluft sicher homogen zu er- halten. Ich habe nicht probiert, wie es bei Versuchen ähnlicher Art, wie diejenigen in Tabelle II, gehen wird, wenn man mit mehreren Respirationen mischt; die Wasserstoffprozente in den beiden Luftproben werden sich natürlich allmählich einander nähern; da aber der Zeitpunkt, wo sie einander erreichen, wahrscheinlich auch von der Wasserstoffaufnahme des Blutes beeinflusst wird und nicht allein im Mischungsgrad begründet ist, scheint es unsicher, welche Bedeutung es hat, dass die Prozente gleich gross sind. Die Methode kann, mit anderen Worten, gebraucht werden, um zu zeigen, wann die Mischung nicht homogen ist; weniger sicher kann sie aber nachweisen, wann sie homogen ist. Allmählich wie meine Untersuchungen fortschritten, habe ich mich nicht dem Gedanken entziehen können: Ist die Alveolluft im 1) Vor 15 Jahren habe ich vielleicht eine — leichtverlaufende — Pleuritis gehabt; übrigens nie subjektive Symptome von Phthisis pulm. Bei der Röntgen- untersuchung am 5. Juli 1915 wurde gefunden, dass das unterste Drittel des rechten Lungenfeldes etwas diffus verdunkelt und marmoriert war; sonst nichts Arbnormes in den Lungen; Röntgen-Diagnose: Seq. pleuritidis (Dr. Panner). Bei Stethoskopie der Lungen am 12. Juli 1915 wurde, abgesehen von einer ver- minderten Beweglichkeit der hintersten rechten Lungengrenze, nichts Abnormes gefunden (Dr. ©. Lundsgaard). w Über die Homogenität der Lungenluftmischungen. 9: “ ( allgemeinen homogen und kann die Alveolluft überhaupt homogen werden? Der Beweis hierfür, den man darin hat finden wollen, dass die Exspirationsluft, nachdem der schädliche Raum ausgewaschen ist, einigermaassen dieselbe Zusammensetzung hat, begründet sich — wie schon im Anfang dieses Artikels erwähnt — in Wirklichkeit nur auf eine Auffassung der Art, die, wie ich meine, bewiesen zu haben, nicht stichhaltig ist. Die Lungen sind nicht wie ein paar Beutel, sondern sie sind in zahlreiche kleine Hohlräume eingeteilt; wenn die Alveolluft homogen ist, soll es bedeuten, dass in allen Hohlräumen gleichzeitig Luft von derselben Zusammensetzung ist und also, vorausgesetzt, dass der Blutstrom durch sie alle gleich ist, alle Alveolen gleich stark ventilieren. Eine solche gleich starke Ventilation ist aber keineswegs selbstverständlich, ja man kann beinahe im voraus sagen, dass sie nicht stattfindet; mit abdominaler Respiration werden also vermutlich die Alveolen in der Basis der Lungen am meisten ventiliert und umgekehrt bei kostaler Respiration; ja man hat aus der Rlinik Erfahrungen, die darauf hinweisen, dass die Alveolen in vollständig normalen Lungen gelegentlich ganz ausser Funktion gesetzt werden, zum Beispiel bei Patienten, die aus einem oder anderem Grund gezwungen sind, während längerer Zeit stille auf dem Rücken zu liegen: die wohlbekannten Salven von feinem, knitterndem Rasseln, die man oft bei einem solchen Patienten während der Inspiration bei Auskultation der Rückflächen der Lungen hören kann, wenn der Patient sich im Bett aufsetzt, wird als ein sicheres Zeichen der Ausfaltung der bis jetzt zusammengeklappten Alveolen gedeutet. Von der vollständigen Inaktivität einiger Alveolen bis zur gleich- mässigen Ventilation aller Alveolen können wohl alle möglichen Übergänge vermutet werden, und es ist keiner, der weiss, ob auch maximale Inspiration und Exspiration eine solche gleichmässige Ventilation in normalen Lungen bedingt, geschweige denn in patho- logischen Lungen. Hiermit ist es natürlich nicht ausgemacht, dass trotz der event. Inhomogenität etwas: fehlerhaftes an allen den- jenigen Versuchen klebt, die unter der stillschweigenden Voraus- setzung, dass die Alveolarluft homogen sei, gemacht sind, ja es ist sogar wohl möglich, dass keine besondere Unsicherheit den Resul- taten anhaftet; vielleicht können gewisse Verhältnisse einem die Überzeugung beibringen, dass zum Beispiel die Luftmischung, die man als Alveolarluft untersucht hat, in keinem wesentlichen Grade 94 Carl Sonne: sich von der Luftmisehung unterscheidet, die man erhalten würde, wenn die canze Luftmenge aus allen Alveolen gemischt : würde. Es ist nur meine Absicht gewesen darauf aufmerksam zu machen, das hier ein Problem liegt, das vielleicht unter gewissen Verhält- nissen von grosser Bedeutung werden konnte. Schluss. Verhält es sich nun so, dass Krogsh und Lindhard’s Methoden wirklich mit einem ziemlich bedeutenden Fehler wegen der mangelhaften Mischung arbeiten, und alles deutet ja darauf hin, dass es sich so verhält, so muss man sich natürlich darüber wundern, dass man nicht früher auf diesen Fehler aufmerksam ge- worden ist, der ja namentlich variierende Resultate bei Veränderung der Tiefe und Anzahl der Mischungsrespirationen, sowie bei ver- schiedenem Sauerstoffprozent in der Spirometerluftmischung be- dingt. Die Erklärung hierfür geht indessen aus Lindhard’s letzter Arbeit (l. e.) hervor. Die Resultate, welche Krogh und Lindhard zuerst erhielten (s. Skand. Arch. f. Physiol. Bd. 27 S. 122. 1912), waren nämlich auch nicht besonders gleichartig, und namentlich gab, wie sie selbst sagen, die Residualmethode sehr variierende Resultate, weswegen Lindhard diese später auch vollständig aufgab. Erst als er die Gleichgewichtsmethode ordentlich in System gesetzt hatte, gelang es ihm bei einer Reihe wohlgeübter Versuchsindividuen. gleichartige Resultate zu erhalten. Der Gefahr grösserer Schwankungen im Sauerstoffprozent der Spirometerluft hat er sich kaum bei Ruheversuchen ausgesetzt, indem er selbst angibt, in der Regel fast genau dieselbe Luftmischung von 2,5 Liter atmosphärischer Luft und 1 Liter Stiekstoffoxydul anzuwenden. Was danach die Mischungsrespirationen betrifft, so gibt er eine ziemlich detaillierte Beschreibung (l. e. S. 27 ff.) darüber, wie notwendig es ist, dass diese drei tiefen Respirationen nicht maximal und nicht von verändertem Respirationstypus sind, welche Fehler in den Versuchen mit sich führen können. Man sieht leicht, dass es ganz dieselben Umstände sind, die Veränderung im Mischungs- gerade mit sich führen können. Für Lindhard ist es ein für allemal eine festgesetzte Tatsache gewesen, dass die Luftmischung unter den gegebenen Verhältnissen homogen war, und die Erklärung für die weniger konstanten Resultate, wenn die Mischungsrespiration ver- ändert wird, hat er in der Hypothese suchen müssen — die also von Uber die Homogenität der Lungenluftmischungen. 95 Lindhard mit grosser Sieherheit dargelegt ist —, dass die Zusammen- setzung des Venenblutes in den zentralen venösen Reservoiren ver- ändert wird -— und zwar sehr bedeutend —, wenn die Druckverhält- nisse im Thorax und Abdomen durch veränderte Respirationstypen abgeändert werden. Wenn Lindhard trotz der erwähnten Ver- anstaltungen ab und zu nicht hinreichend konstante Resultate be- kommen hat, meint er ferner, dass dies wegen besonderer Nervosität oder Indisposition des Versuchsindividuums der Fall gewesen sein muss. Man kann daraus leicht ersehen, dass es ihm unter solchen Umständen schwer gefallen ist, den Fehler zu entdecken. Was Lundgaard’s Versuche an Normalindividuen bei Ruhe betrifft, sind hier die gegebenen Vorschriften so genau befolgt worden, dass seine Resultate nicht besonders haben abweichen können. Selbst wenn es gelungen ist, den Fehler bei Normalpersonen im Ruhezustande konstant zu halten, ist es unsicher, ob der- selbe während Lindhard’s Arbeitsversuchen unverändert bleibt, weil doch hier die Respiration oft notgedrungen stärker forciert ist. Übrigens hat auch Lindhard in der Regel bei Arbeitsversuchen Extrasauerstoff im Spirometer angewandt, welches, wie früher er- wähnt, auch das Resultat verändert. Der Wert, den man deshalb, sowohl absolut wie relativ, diesen Versuchen beimessen kann, ist darum gewiss etwas zweifelhaft. Möglicherweise sind Lunds- gaard’s Versuche an Herzpatienten, von denen man jedenfalls zuweilen annehmen kann, dass die Mischungsverhältnisse wie bei normalen sein können, wenn man nur die Resultate zum Vergleich mit den bei normalen und nicht als absolute gebraucht, von etwas srösserer Bedeutung, ohne dass man aber vorläufig ihre Unsicherheit zu übersehen wagt. Zusammenfassung. 1. Eine Methode ist zur Untersuchung angegeben, inwiefern ınan bei verschiedenen Respirationsweisen eine gleichartige Zusammen- setzung der Lungenluftmischung erreicht hat. 2. Bei drei tiefen Respirationen von wenigstens 1 Liter Tiefe oder bei einer maximalen Einatmung (nach einer maximalen Aus- atmung), so wieKrogh und Lindhard es bei ihrer Gleichgewichts- und Residualmethode zur Bestimmung des Minutenvolumens des Herzens angegeben haben, kann bei der von mir angegebenen Unter- suchungsmethode festgestellt werden, dass die Mischung nicht genügend 96 Carl Sonne: Über die Homogenität der Lungenluftmischungen. gewesen ist. Man muss deshalb annehmen, dass eine unberechen- bare Unsicherheit sich an die Resultate knüpft, die mit diesen Methoden erreicht sind. ’ 3. Man kann nicht, wie man früher scheinbar ohne weiteres getan hat, von vornherein davon ausgehen, dass eine Alveolarluft- mischung, die man für homogen annahm, fortfährt, homogen zu bleiben, während eines danach folgenden Respirationsstillstandes, Es ist eine Reihe von Versuchen von einer Versuchsperson angeführt, die nach einer Periode mit Respirationsstillstand konstant durch eine tiefe Exspiration — nachdem der schädliche Raum ausgewaschen ist — zuerst die meist verbrauchte und zuletzt die am wenigsten ge- brauchte Alveolarluft exspirierte. 4, Es kann kaum für erwiesen betrachtet werden, dass die Alveolarluft unter normalen Verhältnissen homogen ist, oder dass es überhaupt erreicht werden kann, eine homogene Zusammensetzung der Lungenluft herbeizuführen. | | | 97 Der schädliche Raum bei der Lungenatmung. Bemerkungen zu der Arbeit von Fritz Rohrer: Über den Strömungswiderstand in den menschlichen Atemwegen usw. Pflüger’s Arch. Bd. 162 S. 225. Von Prof. A. Loewy-Berlin. Seiner grossangelegten und auf Überlegungen und Berechnungen. wie sie bisher in der Physiologie der Atmung noch nicht heran- gezogen waren, fussenden Arbeit über die Luftströmungsverhältnisse in den Atemwegen fügt Rohrer ein Schlusskapitel an, in dem er sich mit der Grösse «des sogenannten „schädlichen Raumes“ im Thorax beschäftigt. — Rohrer kommt zu dem Ergebnis, dass diese Grösse, die bisher, im wesentlichen auf älteren Versuchen von nir fussend, zu ca. 140 ccm angenommen war, zu gering bemessen sei, dass sie vielmehr für den mittleren — zwischen gewöhnlicher In- spiration und gewöhnlicher Exspiration liegenden — Dehnungszustand der Lunge 225 ccm betrage.e Rohrer gibt auch physikalische Gründe an, aus denen der von mir angegebene Wert zu niedrig ausfallen sollte. Demgegenüber möchte ich betonen, dass, so wertvoll auch die Berechnungen Rohrers sind, so exakt auch seine Vermessungen des Bronchialbaumes der menschlichen Leichenlunge sein mögen, es sich doch, sowohl bei ersteren wie bei letzteren, nur um indirekte Methoden handelt, deren Bedeutung hinter den Ergebnissen direkter Bestimmungen zurückstehen muss. Nun habe ich in der von Rohrer zitierten!) und kritisierten Arbeit selbst an der Hand von Respirationsversuchen Berechnungen über die Grösse des schädlichen Raumes angestellt und gezeigt, dass l)- A. Loewy, Über die Bestimmung der Grösse des schädlichen Luft- raumes usw. Pflüger’s Arch. Bd. 53 S. 416. 1894. Pflüger’s Archiv für Physiologie. Bd. 163. 7 98 A. Loewy: er für meine Versuchsperson — einen mittelgrossen, erwachsenen Mann, mittleren Thoraxumfanges — unmöglich 200 cem, selbst nicht 180 cem betragen konnte, weil unter den in Betracht kommenden Versuchsbedingungen die Sauerstoffspannung in den Lungenalveolen negativ sein würde. Dieses Ergebnis direkter physiologischer Versuche führt Rohrer darauf zurück, dass in ihnen die Atemtiefe meines Versuchsmannes sehr gering war, nur 250 cem, und er glaubt, dass für die normale Atemtiefe von 450—500 eem der von mir angegebene Wert nicht mehr zutrifft. Dieser würde danach nicht nur, wie Rohrer sagt, eine sehr beschränkte Gültigkeit haben, sondern eigentlich für die normale Atmung überhaupt nicht zutreffen. Der leitende Gesichtspunkt für die Bestimmung des schädlichen Luftraumes war der, mit seiner Hilfe die Gasspannungen in den Lungenalveolen kennen zu lernen, und im wesentlichen werden diese ja auch heute noch unter Zugrundelegung des von mir angegebenen Wertes rechnerisch festgestellt. Nimmt man eine Atemtiefe von 500 eem an und eine dem Durchschnitt entsprechende Zusammen- setzung der Expirationsluft, so ergibt sich die,alveolare Kohlensäure- spannung zu ca. 40 mm Hg=5,6°/o CO;, die Spannung des Sauer- stoffes zu ca. 104 mm Hg=14,6 0 O.. Bei Benutzung des Rohrer’schen Wertes jedoch (von 225 ccm) stellt sich die alveolare Kohlensäurespannung, wie Rohrer selbst berechnet, zu 7,4%o==ca. 53 mm Hg und die des Sauerstoffes zu 12,6% =ca. W mm He. Diese Werte liegen aber auf einem Niveau, das Rohrer hätte auffällig sein müssen. Sie widersprechen nämlich allen Erfahrungen über die Höhe der normalen Gasspannungen in den Lungenalveolen beim Menschen. Man ist bekanntlich in neuerer Zeit dazu übergegangen, diese direkt zu bestimmen, indem man nach Haldane’s Vorschlag die letzten Anteile eines Atemzuges auffing und analysierte, in der An- nahme, in diesen reine Atemluft zu haben. Eine absolut sichere Methode ist die Haldane’sche auch nicht; zu ihrer Bewertung möchte ich nur auf die Kritik hinweisen, die Durig und Zuntz!) an ihr. geübt haben. Immerhin ist es bemerkenswert, dass, wo nach l) A. Durig und N. Zuntz, Wirkung des Höhenklimas auf Teneriffa. Biochem. Zeitschr. Bd. 39 S. 454 ff. Der schädliche Raum bei der Lungenatmung. 99 beiden Methoden, der direkten Haldane’schen und der indirekten rechnerischen — unter Zugrundelegung von 140 cem für den schäd- lichen Raum —, die Gasspannungen in den Lungenalveolen bestimmt worden sind, die gefundenen Werte im allgemeinen gut überein- stimmten. Aber wesentlicher ist folgender Punkt. Neben den Gasspannungen in den atmenden Lungen, die den Spannungen der Gase des arteriellen Blutes entsprechen, sind vielfach auch die des venösen ermittelt worden. — In komplizierter Weise unternahmen das am Menschen zuerst Loewy und v. Schroetter!), indem sie in Ana- logie der bekannten Pflüger’schen Versuche am Hunde sich des Lungenkatheterismus bedienten. Sie entnahmen dabei Luft aus ab- gesperrten Lungenabschnitten, die in Spannungsausgleich gekommen war mit dem durchströmenden venösen Lungenarterienblute. In einfacherer Weise dient dem gleichen Zwecke das von Plesch?) angegebene Verfahren, die sogenannte Sackmethode, die bereits in sehr zahlreichen Fällen zur Entscheidung verschiedener physiologischer und pathologischer Fragen benutzt worden ist. Beide Methoden ergeben annähernd die gleichen Werte. So fanden Loewy und v. Schroetter als Mittel der venösen Kohlen- säurespannung einen Wert von ca. 6°/0 CO,, Plesch einen zwischen 6° und 7Y/2°/o, Porges, Leimdörfer und Marcovici?), die sich Plesch’s Methode bedienten, 5'/„—7!/2°/o, Begun, Herrmann und Münzer*) bei der gleichen Methode 6 °/o. Aus diesen Bestimmungen geht hervor, dass der von Rohrer für die Kohlensäurespannung des arteriellen Blutes berechnete Wert an der obersten Grenze des für das venöse Blut er- mittelten liegt, den Mittelwert der Kohlensäurespannung im venösen ‘aber weit übersteigt. Man mag den vorstehend genannten physiologischen Methoden l) A. Loewy und H. v. Schroetter, Untersuchungen über die Blut- zirkulation beim Menschen. Berlin 1905. Auch: Zeitschr. f. experim, Pathol. usw. Bd. 1. 2) J. Plesch, Hämodynamische Studien. Berlin 1909. Auch: Zeitschr. f. experim. Pathol. Bd. 6. 3) O0. Porges, A. Leimdörfer und E. Marcovici, Über die Kohlen- säurespannung des Blutes usw. Zeitschr. f. klin. Med. Bd. 73. 4) A. Begun, R. Herrmann und E. Münzer, Über Acidosis und deren Regulation usw. Biochem. Zeitschr. Bd. 71. 1915. . 7* 100 A. Loewy: Der schädliche Raum bei_der Lungenatmung. noch so kritisch gegenüberstehen, so wird man doch unbedenklich behaupten können, dass ihre Ergebnisse auf sicherern Grundlagen beruhen als der Wert, den Rohrer auf einem etwas weiten Um- wege ableitet. Der Wert von 140 ecm für den schädlichen Raum ist ein Mittel- wert, der nach oben und unten in gewissem Umfange individuell schwanken wird, und der, wie wir wissen, auch durch äussere Um- stände, durch bestimmte Versuchsbedingungen Änderungen erfahren kann. Aber bis zu 225 cem, ja selbst auch nur bis zu 200 oder 180 eem kann er bei normaler, ruhiger Atmung nicht steigen. Rohrer sieht in den von ihm berechneten alveolaren Gas- spannungen einen neuen „Hinweis auf eine aktive sekretorische Tätig- keit des respiratorischen Epithels“. Fast alle in jüngster Zeit über dieses Thema erschienenen Arbeiten kommen zu einem negativen Ergebnis, und ich glaube nicht, dass Rohrer’s Zahlen sicher genug sind, um der sekretorischen Anschauung als Stütze zu dienen. 101 "(Aus dem Institut für physikalisch-chemische Biologie der Universität Bern.) Die Änderung von Colpoden und deren Cysten unter dem Einfluss von Blutserum. Von Sophie Pecker aus Bolshoi-Tokmak (Krim). (Mit 39 Textfiguren und Tafel 1.) I. Einleitung. Die beiden praktisch am häufigsten für die Bekämpfung patho- gener Protozoen in Betracht kommenden Plasmagifte sind: das Chinin und das Salvarsan. Durch Sophie Bichniewiez wurden im hiesigen Laboratorium Versuche unternommen, um das Chinin bei seiner Einwirkung auf die Protozoenzelle in systematischer Weise zu untersuchen. Da sich bei diesen an Colpidium Colpoda ausgeführten Ver- suchen eine Beeinflussungsmöglichkeit der Giftwirkung ergeben hatte, so lag es nahe, auch die Wirkung des Salvarsans auf eine Beein- flussung durch Zusätze hin zu untersuchen. Als Versuchsobjekt diente mir ebenso wie Sophie Bichniewicz eine Colpodeneinzellkultur, die ich nach dem weiter unten beschriebenen Verfahren erhielt. Zunächst handelte es sich für mich darum, die Wirkung des Salvarsans für sich allein zu untersuchen. Dasselbe erwies sich an und für sich von relativ geringer Giftigkeit gegenüber den Colpoden, wie dies die folgende, am 15. November 1912 angestellte Versuchs- reihe zeigt: Salvarsan !/ıo n. wässrige Lösung: momentan tot, R 2lioo.D. x tot nach 2—3 Minuten, ” 1/200 n. n ” ” n 10 » LToooen. h vorübergehende Vergiftung, die sich in einer taumelnden Bewegung, verbunden mit einer Form- änderung und Vergrösserung der Vakuole äusserte. 102 Sophie Pecker: Der Befund einer geringen Giftwirkung war nicht besonders auffällige, da es bekannt ist, dass das Salvarsan erst im höheren Säugetierorganismus eine oxydative Veränderung erleidet, durch die es aktiver wird. Ich versuchte nun diese Aktivierung auch ausser- halb des Organismus zu erzielen. Zunächst versuchte ich, ob ein Kontakt mit Blutserum die Ver- anlassung zu einer Giftigkeitssteigerung des Salvarsans bilden könne. Diese Vermutung erwies sich als unbegründet. Dafür zeiste sich eine andere merkwürdige Beeinflussung der Colpoden. Ich stellte nämlich fest, dass in der Serumsalvarsan- mischung die Cysten der Colpoden eine eigenartige kapselförmige Umwandlung erfuhren, die mir nie zuvor in Heuinfuskulturen der Colpoden aufgefallen war, und die ich auch nirgends in der Literatur beschrieben fand. ‚Ich prüfte nun das Serum allein und stellte die nämliche abnorme Umbildung der Cysten in dem neuen Medium fest. Das Salvarsan war also für die Veränderung nicht verantwortlich zu machen. Durch diese zufällige, unvorhergesehene Beobachtung kam meine Arbeit in ein völlig neues Geleise; denn es schien mir ein besonderes Interesse zu gewähren, der eigenartigen Cystenveränderung nach- zuspüren. Ich legte daher meine Salvarsanversuche beiseite und liess es mir in erster Linie angelegen sein, durch Eierwirkung steigender Serumkonzentrationen das Phänomen der Cystenveränderung in mög- lichst prägnanter Weise zu erhalten. Dies war nicht ohne weiteres möglich, da mein Colpodenstamm Serumkonzentrationen von !/s Serum und °/s Heuinfus zwar vertrug, nicht aber höhere Serumkonzentra- tionen. Es kam daher zunächst darauf an, die Tiere an möglichst hohe Serumkonzentrationen zu gewöhnen. II. Die Gewöhnung der Colpoden an Vollserum. Am 3. Februar 1915 begann ich die Versuche mit der Gewöh- nung der Colpoden an normales Menschenserum. Das geschah nach zwei verschiedenen Methoden. Die erste : Methode gestaltete sich folgendermaassen: Zunächst wurden in ein im Uhrschälchen befindliches Gemisch von 0,6 eem Heuinfus und 0,2 cem normalem Menschenserum einige Ösen Colpodenmaterial übergeimpft. Von da an wurde an jedem folgenden Tage ein be- stimmtes Quantum, und zwar 0,025 cem Serum zugefügt. Auf diese Die Änderung von Colpoden und deren Cysten usw. 103 Weise gewöhnten sich die Colpoden an immer steigende Serum- konzentrationen. Dabei traten die Colpoden in dem Serumschälchen in grösserer Zahl auf als in den am selben Tag angelegten Kontroll- kulturen auf Heuinfus. Auch waren die einzelnen Individuen in den Serumkulturen und die Menge der Cysten viel geringer als in dem Heuinfusschälchen. Leider wurde die Methode auf die Dauer unbrauchbar, da die Flüssigkeit im Schälehen immer trüber wurde, so dass ich die Col- poden nur mehr schwierig unter dem Mikroskop beobachten konnte. Die direkte Untersuchung im Uhrsehälchen erschien mir aber not- wendig, da ich bei einer Untersuchung auf dem Objektträger viele Formen hätte übersehen können. Ich gab daher die Gewöhnung au Serum nach der angegebenen Methode auf und versuchte das näm- liche auf einem zweiten Wege zu erzielen. Die zweite Methode bestand darin, dass ich die Colpoden jeden Tag von einem Schälchen mit geringerem Serumgehalt auf ein Schälchen mit grösserer Serum- konzentration überimpfte. Es wurden zwei Schälchen, A und B, mit Colpoden geimpft. Die Mediumzusammensetzung war die folgende: Im Schälehen A: 0,7 cem Heuinfus + 0,1 cem Serum (!/s Serum). x 2 B2.0:3%8 s +01 „ „. .(/s Serum). In beiden Schälchen traten die Tiere in beträchtlicher Menge auf, sie waren von normaler Form und Grösse, nur die Bewegung erfolgte viel langsamer und mehr gleitend als bei den Heuinfus- eolpoden !. Ich impfte nun mehrere Ösen dieser Colpodenserumkulturen von dem Schälchen mit '/s Serumgehalt auf "/ı Serumgehalt und von dem Schälehen mit !/s Serumgehalt auf ein solches mit '/s Serum- gehalt über. Am folgenden Tag waren die Colpoden im !/ı-Serum- schälchen sehr gut gediehen. Sie zeigten etwas abgerundete Form und bewegten sich langsam. Im Schälchen mit !/s Serumgehalt waren nur einzelne Tiere zu beobachten. Von diesen beiden Schälchen wurden die Tiere wieder in !/s Serum übergeimpft. Am darauffolgenden Tag hatten sich die Colpoden in !/s Serum sehr gut entwickelt. Die einzelnen Individuen waren von rund- licher, etwas plumper Form, und ihre Bewegung erfolgte langsam. l) Auch hier habe ich jeden Tag ein Kontrollschälchen mit Heuinfus augelegt. 104 Sophie Pecker: An diesem Tag impfte ich sie weiter auf zwei höhere Serum- konzentrationen über, und zwar einmal auf eine hälftige Mischung von !/s und !/s Serumheuinfus und andererseits auf ein hälftiges Gemisch dieser Konzentration mit einer Mischung von !/s Serum + ?2/s Heuinfus. Am nächsten Tag waren in beiden Schälchen die Colpoden in sehr grosser Zahl entwickelt, die einzelnen Individuen normal aus- gebildet, nur die Einbuchtung erschien etwas kleiner als bei den normalen Tieren. Inzwischen trat kaltes und regnerisches Wetter ein, und die Colpoden gingen zugrunde. Es gelang mir deshalb erst am 14. Februar, wiederum Tiere zu erhalten, welche die Konzen- tration von "es und !/s Serum aushielten. Sie entwickelten sich in beiden Konzentrationen in grosser Zahl. Auch waren sehr viele Cysten vorhanden. Zum Teil erschienen dieselben normal. An den Rändern des Schälchens dagegen, wo der Flüssiekeitsstand sehr niedrig war, fand ich folgende, auf Tafel I gezeichneten Cystenformen vor: Reihe A. Aus diesem Schälehen wurden die Tiere weiter übergeimpft, und zwar auf '/» und ?/s Serum enthaltende Gemische. Am nächsten Tage waren die Colpoden in sehr geringer Menge vorhanden; sie wurden übergeimpft auf 2/3 und ?/ı Serum. ‘Zwei Tage später waren wegen des sehr kalten und nassen Wetters nur noch Cysten zu beobachten, sehr viele davon von den schon am 14. erhaltenen Formen. Ausserdem fand ich häufig folgende Cysten vor: s. Tafel I, Reihe B. Von diesen Cysten impfte ich auf Y/s, Y/s und ?/s Serumkonzen- tration zurück. Am folgenden Tage befanden sich in allen drei Schälehen sehr viele Colpoden von kurzer, rundlicher Form, mit deutlicher Einbuchtung, die langsam beweglich waren. Im ?/s-Schälehen fanden sich häufig folgende Formen der beweglichen Colpoden: s. I Reihe C (Taf. J). Einige derselben führten kreisförmige, andere amöboide Be- wegungen aus. Unter den Cysten, die in geringer Zahl vorhanden waren, fand sich ein grosser Prozentsatz zu zwei nebeneinander gelagert. Sie waren häufix von uneleicher Grösse: s. I Reihe D (Taf. ]). Aus demselben Schälehen wurde am selben Tag Material über- geimpft in ein Schälchen, das ein Gemisch von drei Teilen Serum und einem Teil Heuinfus enthielt. Am folgenden Tag hatten sich sehr viele grosse Tiere in diesem Schälchen entwickelt... _Sie be- Die Änderung von Colpoden und deren Cysten usw. 105 sassen eine etwas abgerundete Form, die Einbuchtung war auffallend tief. .:Von diesen Tieren übertrug ich eine Anzahl auf ein Gemisch von */s Serum und !/s Heuinfus. :Tags darauf hatte sich diese Kultur prächtig entwickelt. Die Colpoden waren gross und teilweise von normaler, teilweise von abnormer Gestalt. Die letzteren zeigten folgende, auf I Reihe E (Taf. I), gezeichneten Formen. Ausserdem fand ich sehr viele abnorme Cysten, s. / Reihe F (Taf. I). Am Nachmittag des nämlichen Tages (4 Uhr) wurde’ in demselben Schälchen noch folgendes beobachtet: Ich sah im Gesichtsfeld vier völlig abgerundete, bewegliche Tiere, s. IT (Taf. I), von denen je zwei langsam sich einander näherten. Die Tiere lagerten sich unter langsamen kreisförmigen Bewegungen übereinander und verschmolzen, s. ZZ Abbildung la, Ib, 2a, 2b, 3a und 3b (Taf. I). Die verschmolzenen Zellen beider Paare näherten sieh nun ebenfalls einander und begannen nochmals zu verschmelzen. Während der folgenden 4 Stunden beobachtete ich die Tiere un- unterbrochen und stellte dabei die auf /7 Abbildung 4, 5, 6, 7, 8, 9 und 10 (Taf. I) verzeichnete Veränderung fest. Das Schälchen wurde nun über Nacht sich selbst in einer feuchten Kammer überlassen ). Am nächsten Morgen zeigte sich die auf I/ Abbildung 11, 12, 15, 14 und 15 (Taf. I) gezeichnete weitere Umwandlung. Vom 22. bis 25. Februar war das Wetter kalt und regnerisch, was auf den Zustand der Tiere zurückwirkte. Ich sah mich daher genötigt, mit dem Überimpfen bis auf die Serumkonzentration Ya zurückzugehn. Am 26. Februar fand ich bei wiederum günstiger Witterung in dieser Konzentration, zwei Tage nach dem Überimpfen, eine sehr schöne Kultur. Die meisten Tiere waren gross und in beträchtlicher Menge vorhanden. Nur die Bewegung war viel langsamer als bei den Heuinfuseolpoden. Ferner zeigte sich eine Anzahl amöboid aus- sehender Tiere, s. //ZZ Reihe A (Taf. I). Am 27. Februar schlug das Wetter von neuem um, und in dem Schälchen von *s;s Serum und 1) Trotzdem in jedem Fall die Schälchen in einer feuchten Kammer ge- halten wurden, war es nicht zu vermeiden, dass infolge der mikroskopischen Be- obachtungen an freier Luft die Flüssigkeit in den Schälchen abdunstete, so dass die Konzentration an gelösten Serum- ‚und Heuinfusstoffen mit. der Versuchs- dauer anstieg. 106 Sophie Pecker: !/; Heuinfus waren nur noch Cysten zu sehen, s. III Reihe B und C (Taf. I), ebenso im Schälchen mit /s Serumgehalt, s. Ab- bildung 3, Reihe D (Taf. ]). Aus dem ersteren Schälchen wurde Material auf die Serum- konzentration °/s übergeimpft. Am folgenden Tag fand sich in diesem ?/s-Schälchen eine sehr schöne Kultur mit grossen, abgerundeten Tieren, die sich langsam bewegten, im übrigen aber ganz normal erschienen. Aus dieser Kultur wurde Material auf Serumkonzentrationen °/s und °x über- geimpft. Am nächsten Tag hatten sich auch in der Serumkonzentration 6; die Tiere sehr gut entwickelt. Das Bild war das gleiche wie tags zuvor. Von nun an wurde an jedem Tag auf eine stärkere Serumkonzentration übergeimpft, so dass ich am 4. März eine aller- dings nicht reiche, aber nichtsdestoweniger ziemlich gute Kultur von Colpoden in Vollserum gewonnen hatte. III. Beobachtungen über das Verhalten von normalen und durch Serumwirkung veränderten Colpodenstämmen. Die im vorigen Kapitel bei der Gewöhnung der Colpoden an Vollserum erhaltenen Veränderungen der Tiere und ihrer Oysten sind so eigenartig, dass ich denselben eingehendes weiteres Studium gewidmet habe. Ehe ich aber auf diese Versuche selbst und ihre Deutung eingehe, seien zunächst meine Beobachtungen an normalen Heuinfuscolpoden und deren Cysten sowie meine Arbeitsweise be- sprochen. 1. Die Herstellung und das Verhalten der Reinkultur. (Einzellkultur.) Die Herstellung der Reinkultur führte ich nach der ebenfalls von Rhumbler!) angegebenen und auch im Laboratorium für physi- kalisch-chemische Biologie von SophieBichniewiez?)und Helene Weyland?) benutzten Methode aus. l) Rhumbler, Zeitschr. f. wissenschaftl. Zool. Bd. 46. 2) Sophie Bichniewicz, Die Beeinflussung der Giftigkeit des Chinins durch Fremdstoffe gegenüber Colpidium colpoda. Inaug.-Dissert. Bern 1913. Veröffentlicht in Zeitschr. f. allgem. Physiol. 1913 S. 135. 3) Helene Weyland, Versuche über das Verhalten von Colpidium colpoda gegenüber reizenden und lähmenden Stoffen. . Inaug.-Dissert. Bern 1914. Ver- öffentlicht in Zeitschr. f. allgem. Physiol. 1914 S. 125. Die Änderung von Colpoden und deren Cysten usw. 107 Aus einem zwei- bis dreitägigen Heuaufguss übertrug ich eine geringe Menge Kulturflüssiekeit in einen auf einem Objektträger befindlichen Heuinfustropfen. Von diesem Heuinfustropfen übertrug ich Material in gleicher Weise in einen weitern Heuinfustropfen und wiederholte die Operation so lange, bis nur noch eine einzige Col- pode bei dieser fortgesetzten Verdünnung übrig blieb. Dieses Tier wurde in ein mit sterilem Heuinfus gefülltes Uhrschälchen gespült und dieses letztere in die feuchte Kammer gestellt. Häufig waren die Tiere schon am folgenden Tage in beträchtlicher Menge ent- wickelt. Es schien mir, dass die Kulturen während der ersten Zeit, nachdem sie frisch aus einem rohen Infus angelegt worden waren, grössere, zahlreichere und beweglichere Colpoden aufwiesen als längere Zeit auf Heuinfus fortgezüchtete Stämme. Am vorteilhaftesten ist es für die Colpoden, die feuchte Kammer in einem Raum aufzubewahren, in dem die Zimmertemperatur zwischen 13 und 22° gehalten wird. Zu tiefe wie zu hohe Temperaturen wirken entwicklungshemmend, was sich sehr oft in einer Eneystierung (Bildung von Dauereysten) äusserte. Doch ist die Witterung nicht allein ausschlaggebend, gelang es mir «doch während des Sommer- semesters bei scheinbar günstigen äusseren Bedingungen nicht, eine reiche Kultur zu erhalten, während dies im Wintersemester unter äusserlich viel ungünstigern Verhältnissen möglich war. Das Über- ‚mpfen führte ich in folgender Weise aus: Aus einer tags zuvor an- gelegten Kultur übertrug ich mittels einer ausgeglühten Platinöse Kulturmaterial (drei bis vier Ösen) auf einen Objektträger, über- zeugte mich mittels des Mikroskops von der Anwesenheit von Col- poden und spülte dieselben in ein Nährmaterial enthaltendes Schälchen, wobei ich darauf bedacht war, nicht mehr als 2—3 cem Nährflüssig- keit zu verwenden, denn die Entwicklung der Reinkulturen in grösseren Infusmengen erwies sich als weniger günstig. 2. Die Nährböden. Als Nährböden für die Colpoden dienten mir einerseits Heuinfus, andererseits Menschen- und Kaninchenserum. Das Heuinfus stellte ich mir nach der von Rhumbler!) angegebenen Methode dar. Drei- bis viertägiger Heuaufguss wurde filtrieit, drei Stunden in einem Schottkolben gekocht, dann nochmals so lange filtriert, bis das l) Rhumbler,l. c. 108 Sophie Pecker: Infus eine völlig klare, strohgelbe Flüssigkeit darstellte, die dann allein oder) im Gemisch mit A) nSChensernm als Nährboden ver- wendet wurde. Das Menschenserum wurde mir in liebenswürdiger Weise von Frau Dr. Abelin, Assistentin am bakteriologischen Institut, zur Ver- fügung zestellt, wofür ich ihr an dieser Stelle meinen Dank aus- spreche. Ausserdem bediente ich mich noch eines andern Nährbodens von Menschenserum. Es war dies ein Menschenserum, das Iniojee einer zufälligen Verletzung erhalten worden war. Ferner arbeitete ich mit dem Serum eines Kaninchens, dem seh das Blut aus der Ohrvene entnahm, steril auffing, zentrifugierte und das klare Serum steril im Eissehrank aufbewahrte. a 3. Beobachtungen an normalen Colpodenstämmen. (Polymorphismus.) Ich bezeichne meine Versuchstiere mit dem Sammelnamen Col- poden, da ich bei denselben Merkmale beobachtet habe, die bald auf Colpidium colpoda, bald auf Colpoda eueullus hinwiesen. Es steht diese Beobachtung im Einklang mit frühern Angaben über den Dimorphismus der Colpoden, welche sich bei Breslauer und Woker'), Sophie Biehniewiecz?) und Helene Weyland?) finden. So schreibt Helene Weyland (I. e. S. 128) in bezug auf den im hiesigen Laboratorium beobachteten Dimorphismus: „Zugleich legt dieser Befund die Frage nahe, ob ein allzu strenges Festhalten an der spe- ziellen Terminologie bei den Colpoden gerechtfertigt ist. Dies gilt insbesondere für die Unterscheidungsmerkmale von Colpidium colpoda und Colpoda eueullus.“ / Hierauf fährt sie, bezugnehmend auf die bei ihren Versuchen benutzten Colpoden folgendermaassen fort: „Während die grosse Form in allen Punkten den in der Literatur für Colpidium colpoda an- gegebenen Erkennungsmerkmalen entspricht, zeigte die kleinere Form in bezug auf ihre Grösse, auf ihre Gestalt und auf die Lage der Vakuole Merkmale, die teils für das eine, teils für das andere Tier als charakteristisch angenommen werden. Die Grösse der Tiere und die Einbuchtung entspricht Colpoda eueullus, dagegen ist die Vakuole subterminal wie bei Colpidium Colpoda. Es scheint mir wichtig, 1) Breslauer und Woker, Zeitschr. f. allgem. Physiol. Bd. 13 H. 3. 1912. 2) Sophie Bichniewicz, l. c. 3) Helene Weyland, I. c. D:e Änderung von Colpoden und.deren Cysten usw. 109 dies besonders zu betonen,’ da mir zu Beginn meiner Versuche, im Wintersemester 1912/15, der nämliche Stamm zur Verfügung stand, welchen Helene Weyland benutzte. Im Sommersemester dagegen arbeitete ich mit zwei von mir selbst aus Heuinfus gezüchteten Stämmen (Einzellkulturen), welche auf der ganzen Linie den in der Literatur angegebenen Merkmalen des Colpoda ceueullus entsprachen, d.h. die Tiere waren kleiner und die Einbuchtung stärker, als dies für Colpidium colpoda angegeben wird. Auch zeigten die Tiere die nierenförmige Gestalt und die terminale Lage der kontraktilen Vakuole, Merkmale, wie sie für Col- poda eucullus charakteristisch: sind. Nichtsdestoweniger zeigten auch diese Stämme das nämliche dimorphe Verhalten wie der soeben erwähnte. Ich konnte des öftern einen Umschlag der Formen vom Typus des Colpoda eueullus in den des Colpidium colpoda konstatieren. Trotzdem ich von einer einzigen Zelle mit allen Merkmalen des Colpoda eueullus ausgegangen war, fand ich im Laufe meiner Ver- suche, dass bisweilen ohne nachweisbaren Grund in der Einzellkultur neben der kleinen Colpoda cuceullus grosse Zellen auftraten, die bis auf die Lage der pulsierenden Vakuole, die variieren konnte, durch- aus den Habitus des Colpidium colpoda zeigte, d. h. sie besassen (s. Bütsehli, S. 1704) eine nierenförmige Gestalt, in deren Mitte sich der Makronukleus kugelig oder ellipsoidisch befand. Die kon- traktile Vakuole liegt subterminal. In der obern Partie des Körpers kann man eine Einbuchtung wahrnehmen, in der das Cytostom sich befindet !). Wie ich, wie vorhin angegeben, aus Zellen von der Form des Colpoda eucullus Zellen des Colpidium colpoda erhalten konnte, so gelang mir auch die Rückverwandlung der umgewandelten Zellen, Ich verfuhr in der Weise, dass ich. ein Tier mit allen erwähnten Merkmalen des Colpidium colpoda isolierte und in ein Uhrschälchen auf steriles Heuinfus übertrug. Nach ein bis zwei Tagen hatte sich aus jener Zelle eine reiche Kultur entwickelt. Aber kein einziges der von der einen Colpidium-colpoda-Zelle abstammenden Tiere besass deren Merkmale. Sie entsprachen vielmehr sämtlich dem Colpoda- eueullus-Typus. 1) Ferner sind nach Schewiakoff die Cilien in einfachen Reihen an- geordnet. Sie bestehen aus zweierlei Strukturelementen: einem elastischen Stützgebilde und einer flüssigen Hülle. 110 Sophie Pecker: Es scheint ınir dieser Dimorphismus mit der von Bütschli?) hervorgehobenen Tatsache in Zusammenhang zu stehen, dass das als Colpidium colpoda bezeichnete Infusor keine Cysten bildet. Nun bietet aber die Existenz cystenloser Formen dem Ver- ständnis einige Schwierigkeiten, sind es doch Dauereysten,. durch deren Bildung sich das in ungünstige Verhältnisse gelangende Infusor lebensfähig erhält. Das Fehlen dieser Schutzvorrichtung müsste daher zu einem Aussterben dauereystenloser Arten führen, wenn nicht der betreffenden Zellart die Möglichkeit zum Umschlag in eine eystenbildende Form gegeben wäre. Colpidium eolpoda und Colpoda eueullus wären daher durch eine gemeinsame Oystenform zu einer biologischen Einheit ver- knüpft, und vielleicht. würden ähnliche Verhältnisse bei dem eben- falls als eystenlos beschriebenen Paramäeium ?) zu finden sein. 4. Beobachtungen an durch Serumwirkung veränderten Colpodenstämmen. Um zu entscheiden, ob die Veränderungen der Colpoden und ihrer Cysten, welche ich bei der in Kapitel II beschriebenen Gewöhnung eines einzelnen Stammes an Menschenserum beobachtet hatte, auch bei andern Colpodenstämmen und bei der Verwendung der verschieden: artigsten Sera in die Erscheinung treten, habe ich zu Beginn des Sommersemesters 1913 eine neue Einzellkultur angelest und dieselbe mit ca. 50 verschiedenen normalen und pathologisch veränderten Menschenseris sowie mit Kaninchenserum behandelt. Wohl: infolge der Verschiedenartigkeit der Sera?) war die Ge- wöhnung bei dem neuen Stamm, der alle Merkmale des Colpoda eucullus besass, eine ungleich viel schwierigere als bei den Versuchen, die im Wintersemester mit, ein und demselben Serum angestellt worden waren, und noch schwieriger gestaltete sich die Gewöhnung, als ich von Menschenserum zum Kaninchenserum überging. Es war mir daher im Laufe .des Sommersemesters nicht möglich, eine Ge- wöhnung an Vollserum von Menschen oder Kaninchen zu erzieien. 1) Bütschli, 1. c. S. 1545. 2) Bütschli, l. ce. S. 1645. :3) Doch können für die langsame Gewöhnung auch die Individualität des neuen Stammes sowie die auf die Dichte der Kultur zurückwirkenden sehr schlechten Witterungsverhältnisse des Sommers 1913 verantwortlich gemacht werden. Die Änderung von Colpoden und deren Cysten usw. 111 Ich gelangte nur zu einer sicheren Gewöhnung an die Konzentration €/; bei Menschenserum und °/ı bei Kaninchenserum. Dessenungeachtet waren die Formveränderungen der Colpoden und ihrer Cysten in sämtlichen Menschensera, die von der Kultur vertragen wurden), die nämlichen und im wesentlichen überein- stimmend mit den im Wintersemester bei einem andern Stamm und mit einem andern Serum erhaltenen, so dass man also wohl von einer generellen Serumwirkung sprechen kann. Um zu prüfen, ob nicht auch das normale Nährmaterial, das sterile Heuinfus, ähnliche morpho- logische Veränderungen hervorzubringen vermag, habe ich bei jedem Versuch Kontrollschälehen, die mit Heuinfus allein beschickt waren. mit einem Colpodenstamm geimpft. Ich habe jedoch in diesen Kon- trollen, ebensowenig wie bei den Winterversuchen, Abweichungen von der Norm feststellen können?). Da ich es immerhin für möglich hielt, dass beim Eindampfen von Heuinfus die Konzentration der Heuinfussalze einen solchen Betrag erreicht, dass es zu einer plas- molytischen Veränderung der Colpoden und ihrer Cysten ähnlich derjenigen im Blutserum kommen kann, so habe ich auch Kontroll- versuche mit stark eingedunstetem Heuinfus angestellt, ohne jedoch Abweichungen von der Norm zu erhalten). Im folgenden seien nun alle jene Beobachtungen — den Serum- konzentrationen nach geordnet — zusammengestellt, die ich unter den variierendsten Bedingungen mit den verschiedensten Menschen- sera-und mit Kaninchenserum erhielt: Ende April impfte ich von meinem neuen Colpodenstamm Material auf zwei Schälchen über, die mit '/s bzw. mit !/ı Menschenserum (wieder im Gemisch mit Heuinfus) beschickt waren. Nach zwei Tagen l) Quecksilber- und 'arsenhaltige Sera, die sich unter den aus der Serum- untersuchungsabteilung des bakteriol. Instituts erhaltenen befanden, töteten die Colpoden und wurden daher selbstverstänälich ohne weiteres ausgeschaltet. 2) In einem vereinzelten Fall beobachtete ich allerdings eine Cystenform, bei welcher der protoplasmatische Inhalt nicht abgeteilt war, sondern in Form einer grossen „Endospore“ erschien. Doch war es ungewiss, ob jener Stamm, der in Heuinfus die erwähnte Form gegeben hatte, nicht durch eine vorüber- gehende Serumpassage verändert war. 3) Es sei jedoch besonders betont, dass Rhumbler seine Beobachtungen über die Bildung einer Sporocyste an einer Heuinfuskultur erhalten hat, doch war dies eine wochenlang sich selbst überlassene und nicht ganz reine Kultur, in der die Anhäufung von die Änderung nach sich ziehenden Stoffwechselprodukten und die Abgabe von Alkali aus dem Glas der Gefässe möglich erscheint. 112 2 20 Sophie Pecker: bekam ich eine beträchtliche Menge von normal geformten, beweg- lichen Tieren in: beiden Schälchen. Abnorm war an den Tieren nur die viel ruhigere, langsamere Bewegung gegenüber den Tieren im Kontrollschälehen mit Heuinfus. Dagegen waren die Cysten von nicht ganz normalem Typus: Im "/s-Schälehen lagerten sich die I immer paarweise. Im "/s-Sehälchen bekam ich die folgenden Bilder (Fig. 1—3). Eines davon erweckt den Eindruck einer Cystenverschmelzung (Fig. 2). In demselben Schälchen (/s) erhielt ich nach 4 Tagen eine „kapsel- artige“ Umbildung der Cyste. Der protoplasmatische Inhalt erschien als ein endosporenähnliches Gebilde (Fig. 3). Fig. 1. Fig.£2:7.. Fig. 3. Nach ? Tagen war der Flüssigkeitsstand durch Eindunsten sehr niedrig geworden. Es fanden sich in ‘der Kultur folgende Formen in grosser Zahl vor- (Fig. 4): Fig. 4. Ausserdem befanden sich in demselben Schälchen einzelne be- wegliche, normal aussehende Tiere. Am nächsten Tage konnte ich im fast trockenen Schälchen ausser den im vorigen angeführten Formen tetrasporenartig gruppierte kleine, rundliche Gebilde konstatieren (Sporen ?). Als die ersten Veränderungen in !/« Serum auftraten, impfte ich: aus dieser. Kultur Material auf Y/s (Y/s Serum und ®/s Heu- infus) über. Am folgenden Tag bekam ich in diesem Schälchen eine sehr schöne Kultur von normalen Tieren, die viel grösser waren als diejenigen im Kontrollschälchen. Während der darauffolgenden Tage konnte ich sukzessive die nachstehenden ter men be- obachten (Fig. 5—9): Die Änderung von Colpoden und deren Cysten usw. 1383 Nach 4 Tagen: Figur 5. Nach 5 Tagen: Figur 6. Nach 7 Tagen: Figur 7. Nach S Tagen: Figur 8. Nach 9 Tagen: Figur 9. Fig. 7. @-0,@020®® 08 Fie. S Auch in diesem Fall habe ich, nachdem ich festgestellt hatte, dass die übergeimpften Colpoden die angewandte Serumkonzentration Us aushielten, auf Ys Serum übergeimpft. Es entwickelten sich normale Tiere, die sofort wieder auf ?/s Serum übergeimpft wurden. Am nächsten Tax konnte man neben normalen Tieren auch folgende abnorme, amöboide Formen der beweglichen Colpoden be- obachten, sowie in den unteren Partien des Schälchens zahlreiche konjugierende Paare (Fig. 10). Fig. 10. Pflüger’s Archiv für Physiologie. Bd. 163. [06] 114 Sophie Pecker: Am dritten Tag nach der Überimpfung stellte ich neben normalen Tieren und normalen Cysten folgende abnorme Cysten- formen fest (Fig. 11): Fig. 11. Nach 6—7 Tagen waren in demselben Schälchen keine beweg- lichen Tiere mehr vorhanden, die Cysten waren meist abnorm (Fig. 12): Fig. 12. Nach 10 Tagen zeigten sich im fast trockenen Schälchen die nachstehend angegebenen Cystentypen (Fig. 13): Fig. 13. Ich liess nun dieses Schälchen völlig austrocknen. Nach 2 Wochen fügte ich ein paar Tropfen steriles Heu- infus zu der trockenen Oystenmasse, darauf erhielt ich am nächsten Tag einige amöboid aussehende Tiere (Fig. 14): Fig. 14. und die nachfolgenden Cystenformen, die den Eindruck von „Kapseln“ mit dunkeln, dauersporenartigen Einschlüssen erweckten (Fig. 15): Die Änderung von Colpoden und deren Cysten usw. 115 Ich impfte von dem Schälcheninhalt auf reines Heuinfus über und bekam normal aussehende Tiere und normale Cystenformen. In den ersten Tagen nach der Überimpfung von !/s auf ?/s Serum nahm ich ferner eine weitere Überimpfung auf ®ı Serum vor. Am darauffolgenden Tag waren ziemlich viele normal aus- sehende Tiere vorhanden. Nach 2 Tagen erhielt ich neben normalen zahlreiche ab- norme Cysten von folgendem. Typus (Fig. 16): Nach 5 Tagen konnte ich in demselben Schälehen neben den nachstehend angeführten zahlreichen „kapselförmigen*“ Umbildungen der Teilungseyste den Austritt einer „Endospore* und die Des- organisation der Cystenwand beobachten, wie dies die folgende Ab- bildung (Fig. 17) zeigt: Fig. 17. Nach 7 Tagen zeigten sich in dem fast ausgetrockneten Schälchen die nachstehenden Cystenformen (Fig. 18): CHOHCHSHSICHS Fig. 18. Mit einigen Unterbrechungen und Zurückimpfungen erhielt ich Colpoden, welche die Serumkonzentration */s aushielten. In den ersten Tagen erschienen die beweglichen Tiere und ihre Cysten normal. SER 116 Sophie Pecker: Nachdem das Schälchen S Tage sich selbst überlassen war, fanden sich alle bisher beobachteten abnormalen Cystenformen und zugleich einige neue Formen vor, wie dies die folgende Abbildung (Fig. 19) zeigt: Fig. 19. Aus der Serumkonzentration */s impfte ich in der gewohnten Weise innerhalb der ersten Tage Kulturmaterial auf ?/s Serum über. Einige Tage nach dem Überimpfen eneystierten sich die Tiere, und es fanden sich neben normalen folgende abnorme Formen vor (Fig. 20): Fig. 20. Aus der 5/s Serumkultur impfte ich endlich auf 7 Serum über und erhielt am nächsten Tag amöboid aussehende Tiere (Fig. 21): Fig. 21. die sich sehr langsam mittels ausgestülpten Fortsätzen fortbewegten. Da es mir. wie schon eingangs erwähnt wurde, nicht gelang, die Gewöhnung der Colpoden weiter zu treiben, so beschloss ich, Serum eines andern Tieres anzuwenden, und zwar ein Kaninchen- serum. Auch mit diesem Serum erhielt ich abnorme Cysten, und zwar im allgemeinen dieselben Formen wie bei Menschenserum. Auf diese Formen ist es daher nicht notwendig nochmals einzugehen, und ich beschränke mich an dieser Stelle auf die Wiedergabe einzelner besonderer Beobachtungen, die vielleicht von Interesse sein können. Die Änderung von Colpoden und deren Oysten usw. 117 Am 18. Juni bekam ich in einem ?/s-Serumschälchen neben normalen und einzelnen amöboid aussehenden Tieren zwei sich ver- einigende Paare, eine Vereinigung, die dem Typus der Konjugation bzw. Kopulation entsprach (Fig. 22): An demselben Tag konstatierte ich in demselben Schälchen sehr viele amöboid aussehende Tiere, zum Beispiel Figur 23, und einige Gruppen zu zwei und vier verklebter Colpoden (Fig. 24). Fig. 23. Fig. 24. Am 19. Juni fand ich auch in der Serumkonzentration /2 die nachstehenden amöboiden Formen der beweglichen Colpoden (Fig. 25): Fig. 25. 118 Sophie Pecker: und am 23. Juni erhielt ich in der Serumkonzentration °?/ı fast nur solche amöboide bewegliche Tiere (Fig. 26): Fig. %6. neben abnormen Cysten von folgendem Typus (Fig. 27): ID Fig. 27. Gegen Ende des Sommersemesters konstatierte ich im Kaninchen- serum eine Anzahl Formen, die ich im Menschenserum selten oder nie beobachten konnte, und zwar in !/g Serum (Fig. 28). Die Änderung von Colpoden und deren Cysten usw, 119 IV. Die Colpodencysten und ihre Veränderung im Blutserum. 1. Historisches über Teilungseysten und Dauercysten der Colpoden. Einer der ersten, der sich mit den Colpoden und ihren Oysten befasst hat, ist Rhumbler!). Er erwähnt verschiedene Cysten- arten, die er in Teilungseysten, in Dauereysten und in Sporocysten einteilt. Die Bildung einer Teilungseyste hat, wie Bütschli?) angibt, wahrscheinlich den Zweck, das Tier vorübergehend zum Zwecke der Vermehrung zu schützen, und es würde daher nach Bütschli’s Auffassung zwischen den beiden. allein allgemein an- erkannten Cystenformen: der Dauereyste und der Teilungseyste, kein prinzipieller, sondern nur ein gradueller Unterschied bestehen, indem die mit der Cystenbildung einhergehenden Veränderungen bei der Teilungseyste auf halbem Wege stehen bleiben. Den Vorgang der Eneystierung zum Zweck der Teilung einer Zelle beschreibt Rhumpbler?) wie folgt: „Das (seine geradlinige Fortbewegung auf- gebende) Tier zieht sein Kopfende in den Leib ein und nimmt in- folgedessen eine mehr oder weniger ellipsoide bis kugelförmige Gestalt an. In dieser Form rotiert es jetzt ohne sich vom Platze zu bewegen und beginnt an seiner ganzen Oberfläche eine gelatinöse Masse auszuscheiden, welehe allmählich zu einer festen, struktur- losen Cyste erhärtet.“ Des weiteren erwähnt Rhumbler, dass die pulsierende Vakuole hierbei in ihrem gewöhnlichen Tempo weiterpulsiere, und gibt als Intervall eine Viertelminute zwischen zwei Expulsionen an. Im Gegensatz zum Verhalten in den Dauereysten würde dem- nach bei den Teilungseysten die Pulsation der Vakuole keine Ein- stellung erfahren. Die Vakuole würde nach den Befunden von Rhumpbler in der Teilungseyste, trotz aller Rotationen, keine Verlagerung erleiden. Es steht dies im Zusammenhang mit dem ebenfalls von Rhumbler beobachteten Vorhandensein einer Öffnung in der Cystenwand, welche dem Vakuolenwasser freien Austritt ge- währt, und welche späterhin den ausschlüpfenden jungen Tieren den Austritt ermöglicht. Über den eigentlichen Prozess der Teilung gibt l) Rhumbler, Zeitschr. f. wissensch. Zool. Bd. 46 S. 549. 1388, 2) Bütschli, Bronn’s Klassen und Ordnungen des Tierreichs Bd. 1 S. 1644. 1887/89. 3) Rhumbler, l. c. S. 563 Fussnote 1. 120 Sophie Pecker: Rhumbler (l. e. S. 565) an, dass derselbe mit einer Einschnürung der äusseren Körperwand beginne. Da bei länglich ovalen Cysten diese Einschnürung in dem Äquator liest, dessen Ebene senkrecht auf der Längsachse des Tieres steht, so schliesst hieraus Rhumbler, dass auch in der kugelrunden Cyste die Teilung in der Äquatorebene des Tieres geschieht. Die Vierteilung würde daher wahrscheinlich in der Äquatorialebene und einer sie schneidenden Meridionalebene er- folgen, wodurch vier gleiche Teilstücke gebildet würden, die in der Weise angeordnet wären, dass ein Tier durch die übrigen drei verdeckt würde. Zu diesen Angaben Rhumbler’s möchte ich bemerken, dass ich bei normalen Cysten meist nur drei Tiere ausschlüpfen sah. Auch scheint es mir wenig wahrscheinlich, dass in allen Fällen ein Verdecken des vierten Tieres in der Cyste stattfinden könnte; sollte man doch auch solche Fälle erwarten, wo das vierte Tier nieht unter, sondern über den drei anderen Tieren gelegen erscheint. Daneben würden nach Rhumbler auch einfache Zweiteilungen, die er als gewöhnliche Querteilung auffasst, zu beobachten sein, im Gegensatz zu der kombinierten Quer- und Längsteilung, die die Ursache der Vierteilung wäre. Endlich erwähnt Rhumbler, dass während des Teilungsvorganges der Bau der Tiere keine ein- greifenden Veränderungen erleide. Selbst der von Rhumbler erwähnte vorübergehende Schwund der Cilien ist noch fraglich '). Diese Beobachtung stellt wiederum die Teilungseysten in einen ge- wissen Gegensatz zu den Dauereysten, bei welchen eine weitgehende Rückbildung der Organisation stattfindet. Da, wie schon erwähnt wurde, in den Teilungseysten die Vakuole weiter pulsiert, wodurch weiterhin eine Öffnung in der Cysten- membran für die Entleerung des Wassers erhalten bleibt, büsst die Dauereyste mit der Einstellung der Vakuolenpulsation auch die Cystenöffnung ein. Es fehlt der Cyste aber nicht nur diese Kom- munikation mit der Aussenwelt, sondern die Membran als Ganzes ist von bedeutend festerer Beschaffenheit und von grösserer Dicke als die Membran der Teilungseyste, da es bei der letzteren ja nur auf einen vorübergehenden Schutz, bei der ersteren dagegen auf einen Schutz auf unbestimmte Zeit hin ankommt. Zudem ist die Cystenmembran bei Colpoda eueullus doppelwandig. Bütschli?) 1) Bütschli,l. c. S. 1650. 2), Bütschli,. lic. S: 1657 Die Änderung von Colpoden und deren Üysten usw. 12 sagt über dieselbe das Folgende: „Bei solehen doppelwandigen Cysten bestebt immer ein mehr oder weniger ansehnlicher Zwischenraum zwischen beiden Membranen, ‚der mit Flüssigkeit angefüllt ist. Dies erklärt sich dadurch, dass die Ausscheidung der inneren Hülle oder Entoeyste erst nach der Kondensation des Inhalts geschieht. Die äussere Membran oder Entoeyste ist sogar zuweilen gallertig; dann gewöhn:ich auch ziemlich diek und manchmal deutlich geschichtet.“ Ferner gibt Bütschli an, dass bei Colpoda bisweilen auch drei- häutige Dauereysten nach den Befunden von Fabre und Rhumbler (Sporocyste) vorkommen, und er ist der Ansicht, dass sich hier zu- nächst zwei Eetocysten und schliesslich eine Entocyste gebildet haben. Hand in Hand mit dem Auftreten einer konsistenteren Membran geht auch eine weit stärkere Kondensation des proto- plasmatischen Inhalts, womit im Zusammenhang steht, dass das Volumen der Dauereysten beträchtlich geringer ist als dasjenige der Teilungseysten. Es ist hier noch der Ort, auf eine interessante Beobachtung von Rhumbler!) hinzuweisen, die er als neue Cystenform be- schrieben hat. Die Sporoeyste Rhumbler’s ist von mindestens zwei, bisweilen von drei Hüllen geschützt. „Ihr Inhalt lässt von der ursprünglichen Organisation der Colpoden gar nichts mehr er- kennen. Die Assimilationskörperchen zerfallen, ihre Harnsäure wird ausgestossen; die Sarkode ist durch den Verlust von wässriger Substanz, des Vakuolenwassers, auf das achtfache verdichtet worden; der Kern ist nicht mehr nachweisbar, und selbst die Körperwandung fehlt allem Anschein nach.“ Ferner gibt Rhumbler an, dass die Sporoeyste von jeder Umwandlung in eine andere Cystenart aus- geschlossen sei, während der Teilungseyste die Umwandlung zur Dauerceyste und Sporocyste, der Dauereyste die Umwandlung zur Sporocyste offen stehe. Diese Befunde von Rhumbler, welche in gewisser Beziehung den meinigen ähneln, sind nicht unwidersprochen geblieben. Insbesondere hat Bütschli?) die „Sporocystenlehre der Col- poda“, wie sie von Rhumbler gegeben worden ist, einer scharfen Kritik unterzogen. Doch dürfte diese Ablehnung in Zusammenhang stehen mit der Kritik Bütscehli’s an den Angaben Rhumbler’s 1) Rhumbler, |. c. S. 593. 2) Bütschli, l. ce. S. 1666. 122 Sophie Pecker: über den Amöboflagellatenzustand der Colpoden. Denn an anderer Stelle spricht sich Bütschli!) in ausschliesslich referierender Weise über die Befunde von Rhumbler aus. Bei der Bedeutung, welche diese ähnlichen Beobachtungen an Colpoden für meine Arbeit be- sitzen, gebe ich im folgenden die Angaben Bütschli’s über diesen Gegenstand wörtlich wieder: „Seit Stein (1854) ist bekannt, dass die verschieden zahl- reichen Teilsprösslinge der Vermehrungseyste nicht immer aus- schwärmen, sondern, unter Abscheidung einer Membran, in derselben teilweise oder sämtlich zur Ruhe gelangen können. So können bis acht oder eventuell noch mehr sogenannte Spezialeysten in der ur- sprünglichen Cyste entstehen. Die Sprösslinge gehen unter nicht unerheblicher Kondensation ihres Plasmas in den Dauerzustand über; ihre sogenannten Spezialeystenhüllen dürften der Entocyste gewöhn- licher Dauerzustände entsprechen, während die ursprüngliche Ver- mehrungseyste die Rolle einer gemeinsamen Eetocyste spielt. Es kann jedoch nach Rhumbler auch vorkommen, dass der noch un- geteilte Inhalt einer Vermehrungseyste in den Dauerzustand über- geht. Dann wird die Membran durch eine neue Abscheidung inner- lich verstärkt, welche gleichzeitig die Öffnung der Vermehrungseyste schliesst. Die verstärkte Membran dürfte meiner Ansicht nach eine Eetoeyste repräsentieren, zu welcher sich später, nach Kondensation des Inhalts, wohl noch eine Entocyste gesellt. Dasselbe kann auch bei in Teilung begriffenem Inhalt eintreten, worauf die geschlossene Ectoceyste mehrere Sprösslinge und in der Folge Spezialeysten ent- hält. Schliesslich kann jeder Sprössling in der Vermehrungseyste auch den gesamten Prozess in der Dauerenceystierung durchlaufen, das heisst zunächst eine dünne Eetocyste und hierauf nach starker Kondensation eine diekere Entocyste abscheiden.“ 2. Die Deutung der im Blutserum beobachteten Cysten- veränderungen. Es fragt sich nun, wie lassen sich die in Kapitel II und II beobachteten Cystenveränderungen deuten ? Bei den meisten Veränderungen lässt sich die Erscheinung als eine Umbildung der normalen Teilungseyste zu einem „Kapsel- artigen“, ein bis mehrere „Sporen“ umschliessenden Gebilde näher 1) Bütschli, l. c. $. 1660, 1661. Die Änderung von Colpoden und deren Cysten usw. 123 präzisieren; das heisst der protoplasmatische Inhalt erscheint bei der veränderten Cyste von der Cystenwandung losgelöst, zu einem einzigen endosporenartigen Gebilde zusammengezogen oder in mehrere einander nicht berührende grössere oder kleinere „Sporen“ zerfallen, während sich bei der normalen Teilungseyste die drei bzw. vier Portionen, in welche der protoplasmatische Inhalt zerfallen ist, unter- einander berühren und der Cystenwand anliegen. Zunächst muss ich der Frage näher treten, ob es sich recht- fertigen lässt, Bildungen, wie die soeben erwähnten, bei veränderten Cysten beobachteten, als Kapseln zu bezeichnen; wäre es doch auch möglich, dass es sich hier, wie bei den Kapselbildungen einer An- zahl Bakterien (Pneumococeus Friedländer), um „Scheinkapseln“ handeln würde, die entsprechend der Interpretation von A. Fischer dadurch zustande kommen, dass sich beim Eintrocknen eiweiss- haltiger Medien die Bakterien durch Schrumpfung von ihrer Um- gebung loslösen, wodurch ein leerer Raum zwischen dem Bakterium und seiner Umhüllung entsteht, eine Veränderung, die den Eindruck einer Kapsel vortäuscht. In dem vorliegenden Fall kann es sich jedoch nicht um eine derartige Erscheinung handeln, da auch in nicht eiweisshaltigem Medium die nämlichen Kapselbildungen auftraten, wie dies bei der Einwirkung von reinen Salzlösungen auf Colpoden im hiesigen Laboratorium festgestellt werden konnte). Ich glaube daher, bei der erwähnten Cystenveränderung die Bezeichnung: Umbildung zur „Kapsel“ wählen zu dürfen, um den Vorgang der äusseren Er- scheinung nach möglichst anschaulich darzustellen. Was die innere Ursache der kapselförmigen Umbildung betrifft, so ist die Erscheinung als solehe wie die Bedingungen, unter denen sie eintritt, so beschaffen, dass ein Zurückgreifen auf die Plasmo- lyse auf der Hand liest. Unter Plasmolyse versteht man bekanntlich jene Folgeerscheinung der Osmose, die an lebendem, von einer wenig elastischen Hülle umgebenem Protoplasma zu beobachten ist, sobald dasselbe in ein hypertonisches Medium gelangt. Der höhere Salzgehalt des Aussen- mediums, der sich mit dem geringeren Salzgehalt des Zellinnern ins isotonische Gleichgewicht zu setzen sucht, zieht eine Wasser- abgabe des Protoplasten an das Aussenmedium nach sich. Die 1) Woker, Pflüger’s Arch. 1914 S. 312—319. 124 Sophie Pecker: je hierdurch bewirkte Volumverminderung des Protoplasten bedingt dessen als Plasmolyse bezeichnete Ablösung von der Zellwand, falls dieselbe nicht so elastisch ist, dass sie den Bewegungen des Proto- plasten zu folgen, das heisst also sich, wie dies bei den von einer lipoiden Hülle umgebenen roten Blutkörperchen der Fall ist, im hypertonischen Medium mit zu kontrahieren, im hypotonischen Medium mit zu expandieren vermag. Wie bei dem klassischen Versuchsobjekt von de Vries, den Zellen der Tradescantia discolor, die Schrumpfung und Ablösung des protoplasmatischen Wandbelees von der Zellmembran in der bekannten Weise in die Erscheinung tritt (Fie. 29): so würde nun auch an der Colpodeneyste eine Ablösung des proto- plasmatischen Cysteninhalts von der Membran unter dem Einfluss des hypertonischen Blutserums oder wie, im hiesigen Laboratorium gezeigt wurde!), der Serumsalze stattfinden. Es sind nun zwei Fälle möglich: Es kann die Cyste die plasmolytische Veränderung zu einer Zeit erleiden, wo der Zellinhalt noch keine Abteilung in mehrere Portionen erlitten hat. In diesem Falle schrumpft der ganze Cysteninhalt — je nach dem Grad der Hyperosmose in stärkerem oder geringerem Maasse — als Ganzes zusammen. Er repräsentiert dann eine grössere oder kleinere „Endospore“. In dieser Weise können Veränderungen wie die folgenden erklärt werden (Fig. 50): 1) Woker,|.c. Die Änderung von Colpoden und deren Cysten usw. 125 Findet die plasmolytische Wirkung des Serums an allen Teilen der Cystenoberfläche in gleicher Weise statt und ist die Cysten- membran überall von gleichartiger Beschaffenheit, so ist zu er- warten, dass es zur Bildung einer konzeutrischen Endospore kommt. Wirkt dagegen — sei es infolge von Konzentrationsungleichheiten des Serums oder infolge von Ungleichheiten der Cystenmembran — die osmotische Ursache ungleichmässig auf die Cyste ein, so ist zu erwarten, dass sich der protoplasmatische Inhalt nieht an allen Punkten der Membran gleichzeitig ablöst, und dies hat weiter zur Folge, dass es zur Bildung einer exzentrischen Endospore komut, die auch eine von der Kugelgestalt abweichende Form besitzen kann. Keine grösseren Schwierigkeiten bieten sich der Erklärung im zweiten Fall, wenn nämlich der plasmolytische Effekt sich erst dann bei der Cyste bemerkbar macht, wenn in derselben schon eine Ab- teilung des protoplasmatischen Inhalts in mehrere Portionen statt- sefunden hat. Unter dem Einfluss des hypertonischen Serums schrumpfen dann die einzelnen protoplasmatischen Portionen in gleicher Weise wie der gesamte protoplasmatische Inhalt im vorigen Fall. In dieser Weise erhält man, je nachdem eine Teilung des Inhalts in zwei, drei oder vier Portionen stattgefunden hatte, zwei, drei oder vier Sporen, die je nach der Stärke des plasmolytischen Effekts von geringerem oder grösserem Volumen sind. Was die Lagerung dieser Sporen in der Kapsel betrifft, so hängt dieselbe wie im vorigen Fall davon ab, cb die Konzentration des Mediums an allen Punkten der betreffenden Cyste die nämliche ist, und ob die Cystenhülle gleichartig beschaffen ist. Im ersteren Fall wird man gleichmässig, im zweiten dagegen ungleichmässig in der Kapsel angeordnete Sporen finden, und die Grösse der Sporen wird bei gleichartiger Übertragung des plasmolytischen Effekts auf das Zellinnere die nämliche, bei ungleichartiger Übertragung da- gegen eine ungleiche sein. In dieser Weise erklären sich sämtliche Veränderungen, bei welchen mehrere sporenartige Gebilde von gleicher wie von ungleicher Grösse und Form, von gleichmässiger wie von ungleichmässiger Anordnung in der Cyste beobachtet werden können (Fig. 31). Zerfällt der protoplasmatische Inhalt in eine grössere Zahl von Portionen als in der Norm, so erhält man eine entsprechend grössere Zahl von Sporen, deren Grösse und Anordnung wiederum von der 126 Sophie Pecker: Stärke und Gleichartiekeit des plasmolytischen Effektes abhängt. In dieser Weise erklären sich sporoeystenartige Gebilde, bei denen eine mehr oder weniger grosse Zahl von Sporen auftritt; doch können solche Sporoeysten auch dadurch zustande kommen, dass bei den in normaler Zahl abgeteilten Portionen eine sekundäre Teilung auftritt, wie ich dies in einem Fall direkt beobachten konnte (Fig. 32): > Fig. 31. Eine weitere Abnormität bilden dann die länglichen Cysten. Es möge dahingestellt sein, welches die Ursache dieser Form- änderung sei. Auf alle Fälle wirken aber auf diese länglichen Cysten die nämlichen osmotischen Kräfte ein, und die Wirkungen auf das Zellinnere sind daher dieselben. Auch hier kommt es zu einer Schrumpfung des protoplasmatischen Inhalts, und auch hier ist es denkbar, dass die Schrumpfung vor der stattgefundenen Teilung oder aber nachher eintritt. Beispiele für den ersten Fall konnte ich nicht beobaehten; dagegen stellte ich zahlreiche Fälle fest, bei denen in einer länglichen Cyste mehrere Sporen von verschiedener Grösse und Lagerung auftraten. So erhielt ich die folgenden Bilder, bei welchen zwei, drei, vier und selbst mehr Sporen anzutreffen waren. War der plasmolytische Effekt ungleichartig, so konnte es auch zur Ausbildung unregelmässig geformter Sporen kommen. Tatsächlich sind von mir solche Formen (längliche, dreieckige, halbmondförmige) beobachtet worden (Fig. 33). Fig. 33. Sehr häufig stellte ich ferner eine Auflösung der Cystenmembran fest, wodurch die eingeschlossenen Sporen in Freiheit gesetzt wurden. Dieselben zeigten häufig eine Lagerung wie in der Mutterzelle, und am meisten konnte ich eine Lagerung zu vieren (Tetrasporen) fest- stellen (Fig. 34). 00 Do 8 ; me Fig. 34. In all den erwähnten Fällen konnte ich ferner eine Veränderung an den Sporen selber feststellen, die wie eine sekundäre Sporen- bildung anmutet. Diese Veränderung geben folgende Bilder wieder (Fig. 35): Fig. 3. Die Deutung dieser Beobachtung könnte dann die sein, dass die plasmolytische Wirkung auf das Cysteninnere in solchem Maasse übergreift, dass sich an den Sporen der nämliche Prozess wieder- holt, den wir im vorhergehenden für die Cyste als Ganzes be- schrieben haben. Dass ein solches Übergreifen möglich würde, könnte nur dadurch erklärt werden, dass die Öffnung in der Exocysten- membran Flüssigkeit aus dem Aussenmedium in das Cysteninnere, welches nach der Retraktion des protoplasmatischen Inhalts als Hohlraum zu denken ist, gelangen lässt. Ein hypertonisches Medium 128 i Sophie Pecker: umspülte dann die Sporen selbst in derselben Weise, wie zuvor die Cysten als Ganzes umspült wurden. Es müsste sich daher der nämliche Austausch zwischen dem protoplasmatischen Inhalt der Fig. 36. Spore und dem Aussenmedium vollziehen, den ich vorhin für die Cyste als Ganzes beschrieben habe. Von der Sporenhülle löst sich der Sporeninhalt ab. Er schrumpft mehr und mehr und bildet eine neue, kleine, je nach der Gleichartigkeit des einwirkenden plasmolytischen Effekts und der Sporenmembran zentrisch oder exzentrisch ge- Die Änderung von Colpoden und deren Cysten usw. 129 legene neue Spore, deren Grösse abhängt von der Hypertonie des Aussenmediums. Ganz ähnliche Veränderungen, wie ich sie hier für die Sporen beschrieben habe, konnte ich ferner für die Dauereysten nachweisen, wie dies die nachfolgenden von Herrn Dr. Staub, Assistent an der schweizerischen milchwirtschaftl. Versuchsstation, freundlichst auf- genommenen Photographien zur Darstellung bringen. Bei den Dauer- eysten ebensowohl wie bei den veränderten Teilungseysten und den in denselben enthaltenen Sporen habe ich ferner, gleichsam die Um- kehrung der hier beschriebenen Änderungen, bei denen der retrahierte protoplasmatische Inhalt sich dunkel vom hellen Kapsel- bzw. Sporen- srunde abhebt, beobachtet. Es waren dies hellere Partien, die sich vom etwas dunkler erscheinenden Inhalt der Cyste oder Spore ab- hoben. Mir will es scheinen, dass diese helleren Partien als Vakuolen aufzufassen seien (Fig. 36). Eine Reihe von Bildern lassen sich nicht ohne weiteres mit den plasmolytischen Veränderungen in Zusammenhang bringen. Es gehört hierher die eigenartige zygosporenähnliche Bildung, welche im folgenden wiedergegeben ist, und: vor allem die hefeartigen Sprossungen, die ich allerdings nur in einem einzigen Fall an einer Cyste feststellen konnte, aus welcher eben ein bewegliches Colpidium ausschlüpfte. Ich komme hierauf im letzten Kapitel, bei dem Ver-. gleich mit den Versuchsresultaten von Dunbar noch zurück (Fig. 37). Fig. 37. Pflüger’s Archiv für Physiologie. Bd. 163. 9 130 Sophie Pecker: 3. Die Änderung der asexuellen Fortpflanzung der Colpoden durch die Einwirkung des Blutserums. Als Ursache der im vorigen besprochenen Cystenveränderung unter dem Einfluss von Blutserum haben wir den plasmolytischen Effekt des hypertonischen Serums angesprochen. Es galt nun zu entscheiden, ob die stattgefundene Plasmolyse die Lebensfähigkeit der Cysten aufgehoben hatte, oder ob die ver- änderten Cysten zur Weiterentwicklung befähigt waren. War dies letztere der Fall, so musste die Cystenveränderung als Variation des asexuellen Fortpflanzungsmodus der Colpoden an- gesprochen werden. Besonderes Interesse gewährte dann das Studium der Frage, ob mit dieser Variation auch die Entwicklung der Tiere eine anormale wird, und ob die Mediumveränderung auf die Variabilität der Art zurückzuwirken vermag. Meine Beobachtungen stellen nur einen bescheidenen Beitrag zur Lösung der angeschnittenen Fragen dar. Die Isolierung einer einzigen Cyste erwies sich als schwierig. Von den verschiedenen anormalen Cystenformen, welche ich nach der Eneystierung einer nur veränderte Colpoden enthaltenden Kultur, er- hielt, konnte ich nur eine einzige völlig. isolieren. Ich brachte . dieselbe zur Entwicklung auf sterilem Heuinfus. Sie besass die auf Taf. I Abb. IV 4 angegebene Form. Schon am folgenden Tage hatte sich aus dieser Cyste eine Kultur von beweglichen Tieren von normalem Habitus entwickelte. Am folgenden Tage waren jedoch in der nämlichen Kultur nur zum Teil normale, zum Teil aber anormale amöboide Tiere vorhanden und teils normale, teils anormale Cysten. Im Gegensatz zu den direkten Vorfahren zeigte sich also ein teilweiser Rückschlag zu den anormalen amö- boiden Formen. In einem Fall habe ich also den Nachweis erbracht, dass die plasmolytische Cystenveränderung im Blutserum nicht von einer Aufhebung der Lebensfähigkeit begleitet ist. Für diesen Fall darf also behauptet werden, dass die beobachtete Cystenveränderung eine Veränderung des asexuellen Fortpflanzungstypus darstellt. Zugleich geht aus meinen Versuchen hervor, dass die durch das hypertonische Medium den Colpoden und ihren Cysten auf- sezwungene Formänderung mit dem Übertragen in normale Lebens- Die Änderung von Colpoden und deren Cysten usw. 31 verhältnisse nicht notwendig sofort zu erlöschen braucht, da sich in späteren Generationen Rückschläge in die abnormen bei der Serum- passage beobachteten Formen zeigen können. V. Die Änderung der sexuellen Fortpflanzung der Colpoden durch die Einwirkung des Blutserums. Nicht allein die Zellform erfährt unter dem Einfluss des Blut- serums eine Veränderung, sondern es können auch wichtige Zell- funktionen eine Umgestaltung erfahren. Die von mir benutzten Stämme (Einzellkulturen) zeigten im Heuinfus allein niemals Kon- jugationen. Der alte Stamm, den ich im Wintersemester übernommen hatte, war vor Beginn meiner Arbeit schon mehrere Semester täglich unter- sucht worden, ohne dass jemals in demselben Konjugationen be- obachtet wurden. Als ich nun auf diesen Stamm Blutserum einwirken liess, traten reichliche Konjugationen in demselben auf. Doch waren dieselben häufig von durchaus abnormem Typus. Entgegen den bisherigen Beobachtungen über die Konjugation bei den Colpoden möchte ich die abnormen Befunde als eine Kopulation deuten. Einer gewöhnlichen Konjugation entspricht die folgende Be- obachtung, welche ich am 18. Juni 1913 in einer Mischung von 2/3 Blutserum und !/s Heuinfus erhielt, s. Taf. I Abb. IV 1. In demselben Schälchen fanden sich aber auch kopulierende Tiere, s. Taf. I Abb. IV 2. Ferner fanden sich im nämlichen Schälchen zu vieren bzw. zweien verklebende Individuen, s. Taf. I Abb. IV 5. Am 19. Juni fanden sich auch in einer hälftigen Mischung von Blutserum und Heuinfus sehr viele konjugierende bzw. kopulierende amöboid veränderte Colpoden am Grunde des Schälchens. Ferner sei auch an dieser Stelle auf die im folgenden beschriebene Kopu- lation hingewiesen, welche sich an zwei Paaren vollzog, deren Kom- ponenten unmittelbar vorher konjugiert hatten. Dass die Kopulationen gerade in jenen Schälchen zu beobachten waren, in denen sich stark und ungleichartig veränderte (amöboide) Tiere fanden, ist wohl kaum ein zufälliges Zusammentreffen. Es ist vielmehr anzunehmen, dass die Formveränderung der Tiere die Voraussetzung des Konjugations- bzw. Kopulationsvorganges darstellt, 9* 132 Sophie Pecker: indem sie an den gleichartigen, von einer Zelle stammenden Tieren die Zelldifferenzierung hervorbringt, die zu deren Vereinigung führt. Vielleicht besteht überhaupt keine ganz ‚reine Konjugation, das heisst eine Vereinigung völlig gleichartiger Komponenten, da die Einzellkulturen unter normalen Bedingungen eine zu der Kon- jugationstendenz von Mischkulturen und nicht aus einer Zelle ge- züchteten Reinkulturen in schroffem Gegensatz stehende Abneigung zur Konjugation zeigen und erst unter solehen Bedingungen diese Abneigung überwinden, die Zelldifferenzierungen zu schaffen vermag. Die Zelldifferenzierung kann so gering sein, dass sie sich der äusseren Beobachtung entzieht, und die Vereinigung solcher Kom- ponenten würde dann unter dem Bilde einer Konjugation verlaufen ; eine weitergehende, zu sichtbaren Veränderungen führende Zell- differenzierung dagegen würde als Kopulation imponieren. Es fragt sich nun, welches sind die Bedingungen, die zu einer Zelldifferenzierung führen ? In erster Linie ist hier die bekannte, durch ein umfangreiches Versuchsmaterial gestützte Theorie (Maupas)!) zu erwähnen, wonach fortgesetzte Teilung zu einer Erschöpfung der Infusorienkultur führt. Es treten Degenerationsmerkmale auf: die von Maupas (l. e.) als „degenerescence senile“ bezeichnete Er- scheinung, über welche Hertwig (l. e.) des näheren angibt, dass sie in einer Kernhypertrophie bestehe, eine Beobachtung, welche Popoff?) dahin ergänzt hat, dass der Makronukleus der Depressions- tiere eine mit dem Grad der Depression stark zunehmende Ver- grösserung und häufig eine Vakuolisierung zeigt. Auch wird die Form des Makronukleus nach Popoff’s An- gaben ungleichmässig gelappt und verfällt einer allmählichen Zer- stücklung. Die Mikronuklei vermehrten sich wie bei der Zellteilung und namentlich wie bei der Konjugation. Gleichviel, welches die Ursache dieses, wenn keine Änderung erfolgt, zum Untergang der Kultur führenden Depressionszustandes sein mag, den Popoff mit einer Abnahme der Oxydationsprozesse und einer Änderung der Dissimilationsprozesse in Zusammenhang l) Siehe Breslauer und Woker, Zeitschr. f. allg. Physiol. Bd. 13. 1913. 2) Popoff, Sitzungsber. d. Gesellsch. f. Morphol. u. Physiol. Bd. 25 S. 55. 1909. Die Änderung von Colpoden und deren Cysten usw. 133 sebracht hat, jedenfalls geht dieser durch eine gestörte Nahrungs- aufnahme und eine ungenügende Verarbeitung der Nahrung funktionell charakterisierte Zustand der Zellen mit einer degenerativen Ver- änderung derselben einher. Die Veränderung wird aber bei der überall in der Natur be- obachteten ungeleichen Resistenzfähigkeit verschiedener Individuen nieht alle Zellen in gleich intensiver Weise treffen, so dass auch eine Einzellkultur im Depressionszustande eine Summe von mor- phologisch und funktionell nicht mehr gleichartigen Tieren re- präsentiert. Damit ist aber die Möglichkeit zur Konjugation bzw, Kopulation gegeben, und dieser gleichsam automatisch als Folge- vorgang der depressiven Veränderung einsetzende Prozess ist es dann, der das Gleichgewieht in der Kultur wiederherstellt, indem er zu der Bildung einer Anzahl die Lebensfähiekeit des Stammes garantierender normaler Nachkommen führt. Eine andere Frage ist es, ob fortgesetzte Teilung als solche den Depressionszustand hervorzurufen vermag. Für die Colpoden möchte ich dies entschieden bestreiten, da der von mir zuerst benutzte Stamm, wie schon erwähnt wurde, vorher während mehrerer Semester im Laboratorium fortgezüchtet worden war, ohne jemals Depressions- und Konjugationszustände zu zeigen. Es hängt dies offenbar damit zusammen, dass die Kulturen fast täglich auf frisches Heuinfus übergeimpft wurden, so dass es nicht zu einer An- sammlung von Stoffwechselprodukten kam, die nach Popoff’s mit Kohlensäure und Ammoniakwasser angestellten Versuchen zur experi- mentellen Erzeugung einer Depression, als Ursache dieser letztern auszusprechen sind. Diese Versuche von Popoff stellen gleichsam den Übergang dar zwischen den beiden Auffassungen, wonach die Depression und die daran anschliessende Konjugation im Wesen der lebenden Substanz selbst begründet sei (Maupas) oder aber durch äussere Einflüsse hervorgerufen werde, da die in das Kultur- medium hineingelangenden Stoffwechselprodukte, welche die De- pressionszustände nach Popoff’s erwähnter Auffassung erzeugen, eine Mediumveränderung bedingen, die in ihrer Wirkung derjenigen durchaus analog sein kann, die von aussen vermittelst irgendeines Zusatzes an dem Medium vorgenommen wird. Dass die verändernden Agentien des Mediums inneren Ursachen, das heisst dem Lebensprozess der durch die Mediumveränderung in 134 Sophie Pecker: Mitleidenschaft gezogenen Zellen selbst entstammen, ist für den Effekt belanglos. Es liegen die Verhältnisse hier prinzipiell nicht anders als bei Versuchen von Enriques, die zu dessen früherer Auffassung führten, dass die Konjugation auf äussere Einflüsse zurückzuführen sei, und zwar speziell auf eine Bakterienwirkung. Denn auch bei dieser Auffassung liegt die Interpretation nahe, dass es die Stoffwechselprodukte der Bakterien sind, welche eine chemische Alteration bedingen. Gleichviel ob es sich um die Stoff- wechselprodukte der darin kultivierten Infusorienzelle oder um Stoffwechselprodukte von Bakterien oder — in einem rohen Heuauf- guss — um die Gesamtzahl der darin vorhandenen Organismen handelt, die durch dieselben verursachte Mediumveränderung und damit die Wirkung auf die Colopoden würde mit wachsender Konzentration eine Zunahme erfahren. Alle Bedingungen in der Kultur, welche zu einer Konzentrations- vermehrung der Stoffwechselprodukte führen, würden daher den Depressionszustand und damit die Konjugationstendenz vermehren. Als solehe konjugationsbegünstigende Faktoren wären folglich in erster Linie anzusprechen die Zeitdauer, während welcher den Zellen Gelegenheit gegeben ist, Stoffwechselprodukte in ihrem Kulturmedium anzuhäufen, und ferner das Kulturvolumen, auf welches sich die Stoffwechselprodukte verteilen. Mit wachsendem Volumen nimmt die Konzentration in der Lösung ab. Je grösser die Zahl der in der Kultur gedeihenden Lebewesen in einem bestimmten Volumen der Kulturflüssigkeit ist, desto höher ist dementsprechend auch die Konzentration der Stoffwechselprodukte. Damit könnte in Zusammenhang stehen, dass Enriques!) gefunden hat, dass für das Zustandekommen von Konjugationen bei Colpidium colpoda Steini der Wasserstand in seinen Kulturen nicht höher als 2—3 mm sein darf. Nur unterhalb dieser Grenze, bzw. einem bestimmten Maximalvolumen der Flüssigkeit in seinen Kulturgefässen ?) konnte er Konjugation beobachten. Die Wirkung der Stoffwechselprodukte leitet ferner über zu einem anderen die Konjugation begünstigenden l) Enriques, Arch. f. Protistenkunde Bu. 9. 1907. 2) Man müsste erwarten, dass anders dimensionierte Kulturgefässe auch einem andern Wasserstand als Grenze für das Eintreten von Konjugation ent- sprechen, wenn nur das Flüssigkeitsvolumen das Entscheidende wäre. Die Anderung von Colpoden und deren Oysten usw. 135 äussern Faktor, der durch die schönen Versuche von Enriques und Zweibaum!) bei Paramaecium Caudatum aufgefunden worden ist, und zu dessen Studien die vorliegende über den Einfluss von Blutserum auf Colpoden handelnde Arbeit einen Beitrag liefert, es ist der Einfluss der Salze. Zweibaum stellte fest, dass Paramäcien, welche eine Hungerzeit von 5—6 Wochen durchgemacht haben, beim Versetzen in ein Medium von bestimmter Salzzusammensetzung konjugieren. Das vorbereitende Hungerstadium erwies sich bei den von Enriques und Zweibaum an Paramäcien ausgeführten Ver- suchen als'notwendig, da reichlich ernährte Kulturen nur in ganz vereinzelten Fällen unter dem Einfluss des die Konjugation im besondern Maasse begünstigenden Aluminiumcehlorids eine rasch vorüber- gehende Fähigkeit zur Konjugation zeigten. Die Ursache dieses zur Konjugation prädisponierenden Einflusses der Hungerbehandlung, durch dessen Nachweis von Enriques und Zweibaum wiederum ein neues Momert in die Auffassung über die Ursachen der Konjugation hineingebracht worden ist, könnte im Einklang mit der früher geäusserten Ansicht darin zu suchen sein, dass die Zellen einer Kultur nicht in völlig gleichem Maasse durch (den Nahrungsmangel betroffen werden. Schon das ungleiche Alter der Colpoden kann hier Resistenzdifferenzen ?) schaffen, die zu einer ungleich raschen Depressionveränderung der hungernden Tiere führen. Kommt dann die Wirkung von seiten eines zugesetzten Salzes hinzu, so wird die Konjugation der veränderten ungleichartig gewordenen Zellen ausgelöst. Bei meinen an Colpoden ausgeführten Versuchen war eine vorausgehende Hungerperiode dagegen nicht erforderlich. Man könnte allerdings daran denken, dass die Ersetzung des natürlichen Nährmaterials der Colpoden, des Heuinfuses, durch. eine Nähr- flüssigkeit, an die die Tiere nicht angepasst sind, oder mit andern Worten, für deren Eiweisskörper sie keine darauf eingestellten spaltenden Fermente besitzen, gleichbedeutend mit einem Nahrungs- entzug wäre. Die Verhältnisse würden dann genau so liegen wie bei den Versuchen von Zweibaum, da die immer geringer werdende Ernährung und der wachsende Salzeinfiuss in ihrer Wirkung auf 1) Zweibaum, Arch. f. Protistenkunde Bd. 26. 2) Breslauer und Woker, Zeitschr. f. allgem. Physiol. Bd. 13. 1912. 136 Sophie Pecker: € die Colpoden zusammengreifen. Dieser Auffassung. widersprechen jedoch meine Beobachtungen. Die Serumkulturen erweckten durchaus nicht den Eindruck von Hungerkulturen. Im Gegenteil, das Serum, wenigstens in den niedrigen Konzentrationen, scheint den Colpoden ausgezeichnet zu bekommen. Die Entwieklung wird gleichsam durch den Serumeinfluss stimuliert, und die einzelnen Individuen befinden sich ihrem Aussehen nach in einem vorzüglichen Ernährungszustande. Vielleicht ist es die Natriumearbonatkomponente, der dieser: günstige Einfluss zugeschrieben werden kann, da die „belebende Wirkung“ des Natriumearbonats auf die Colpodenentwicklung in rohen Heuaufgüssen bekannt ist!). Der günstige Einfluss macht sich übrigens nicht allein den Colpoden gegenüber geltend. Bei meinen später angeführten Vergleichsversuchen mit Hefe zeigten die Serumkulturen ebenfalls in jeder Hinsicht eine bessere Entwicklung als die unter gleichen Bedingungen gehaltenen Heuinfuskulturen. Trotzdem also meine Beobachtungen nicht für die Annahme einer Hungerkomponente unter den konjugationsauslösenden Faktoren sprechen, möchte ich immerhin diese Auffassung nicht ohne weiteres von der Hand weisen, wäre es doch nicht unmöglich, dass im Serum zwei einander ent- segenwirkende, aber ungleich starke Einflüsse gegenüber den Colpoden zur Geltung kämen. Der kräftigere stimulierende Einfluss von seiten des Serums würde den nachteiligen Einfluss des Nahrungsmangels- während der Versuchsdauer im grossen und ganzen überkompensieren. Die Hungerkomponente wäre aber nichtsdestoweniger stark genug, um bestimmte, äusserlich nicht wahrnehmbare Zellveränderungen. hervorzubringen und damit jene Differenzierung zu schaffen, welche die Voraussetzung der Konjugationsfähigkeit ist. Doch auch dann, wenn man diese durchaus nicht ungezwungene Erklärung für an- nehmbar halten würde, ist immerhin eine Beobachtung schwer mit. dieser Vorstellung in Einklang zu bringen. Ist bei meinen Serum- versuchen der konjugationsbegünstigende Faktor der Nahrungsmangel, dann müsste man erwarten, dass bei der Behandlung der Colpoden mit Salzlösungen eine noch grössere Tendenz zur Konjugation beobachtet werden könnte. Konjugationen sind nun allerdings bei 1) Siehe H. Weyland, Inaug.-Dissert. Bern 1914: Zeitschr. f. allgem. Physiol. Bd. 16. 1914. Die Änderung von Colpoden und deren Cysten usw. 137 den 'entsprechenden Versuchen mit den einzelnen Serumsalzen im hiesigen Laboratorium konstatiert worden!), aber in entschieden geringerem Maasse als bei meinen Versuchen. Ich glaube daraus schliessen zu dürfen, dass bei den Colpoden ein durchgemachtes Hungerstadium nicht als notwendige Voraus- setzung für das Auftreten von Konjugationen zu betrachten ist. Was nun die Frage nach der Ursache der Konjugationsauslösung betrifft, so legen verschiedene Umstände den schon von Doflein?) ausgesprochenen Gedanken nahe, diese Ursache in Veränderungen der kolloidalen Beschaffenheit der Plasmahaut zu suchen. Tatsäch- lich erwähnt auch Doflein (]. e.), dass in Infusorienkulturen mit Konjugationstendenz die Individuen klebrig werden, und beschreibt den Vorgang des Verklebens wie folgt: „Die Erscheinung des Ver- klebens der Individuen ist auf eine eigentümliche Veränderung ihrer Körperoberfläche zurückzuführen. Sie sind in diesem Zustand meist leicht zu deformieren, und ihre Pellikula hat so sehr die übliche Starrheit verloren, dass leicht drei bis vier Individuen aneinander kleben bleiben, oder dass andere an Fremdkörpern anhaften. Aus der Substanz der Körperoberfläche lassen sich sogar in diesem Stadium Fäden ziehen.“ In Übereinstimmung mit der Angabe von Doflein, dass die Tiere in diesem Zustande von klebriger Beschaffenheit sind, dass die Pellikula ihre Starrheit verloren hat, und dass sich in Zusammenhang damit die Zellen leicht deformieren lassen, steht auch meine schon erwähnte Beobachtung, wonach ich sehr häufig serade in jenen Schälchen, in denen Konjugationen auftraten, abnorme Colpodenformen beobachten konnte, und vor allem meine schon zu Beginn dieses Kapitels erwähnte Beobachtung des Verklebens von vier und selbst mehr Individuen miteinander. Die angegebenen Membranveränderungen, welche die Vor- bedingung der Konjugation zu sein scheinen, können ihrerseits durch sanz verschiedenartige Ursachen hervorgerufen werden Doflein (l. e.) erwähnt, dass dieser Zustand bei Paramaeeium in Hunger- kulturen auftrete, was in Übereinstimmung stehen würde mit Zweibaum’s Befund über den Hunger als prädisponierendes Moment der Konjugation. Für Colpoden ist mir ähnliches, wie schon 1) Woker, Pflüger’s Arch. Bd. 159 S. 318. 1914. 2) Sitzungsber. d. Gesellsch. f. Morphol. u. Physiol. Bd. 23 S. 108—110. 1907. 138 Sophie Pecker: gesagt, nicht aufgefallen, doch sei ausdrücklich hervorgehoben, dass ich nach dieser Richtung keine besonderen Beobachtungen angestellt habe, denn die interessanten Angaben von Doflein (l. e.) und Zweibaum (]. e.) wurden mir bedauerlicherweise erst nach voll- ständigem Abschluss meiner eigenen Experimente bekannt. Diese beziehen sich aber nur auf einen zweiten von Doflein als Ursache „der Klebrigkeit“ ins Auge. gefassten Umstand: die Mediumverände- rung, bedingt durch „Zusatz oder Entziehen gewisser Substanzen in der Kulturflüssiekeit“. Bei meinen Versuchen handelt es sich um den Zusatz von Blut- -serum, und es fragt sich nun, welchen Eigenschaften das Serum seine Fähigkeit zur Beeinflussung der Zellmembran verdankt. Mehr als eine Möglichkeit ist hier gegeben, und ein Zusammenwirken ver- schiedener Komponenten scheint sehr wohl möglich. Zunächst wäre hier an den Gehalt des Serums an natürlichen verdauenden, Eiweiss eventuell auch Fett (Lipoide) spaltenden Enzymen zu denken, eine Wirkung, die in mehr oder weniger ausgeprägtem Maasse bei jedem mit Serum in Berührung kommenden Lebewesen in Erscheinung tritt. Diese generell Iytischen Wirkungen des Serums können sich dann geradeso wie die entsprechenden prinzipiell gleichartigen Immun- körperreaktionen des Serums, bei denen eine spezifische Einstellung der proteolytischen und lipolytischen Blutenzyme auf einen bestimmten geformten oder ungeformten Eiweisskörper beziehungsweise eine Fett- substanz stattgefunden hat, in verschiedener Weise äussern. Zunächst kommt die direkte Lyse in Betracht: Auflösungs- erscheinungen, die sich naturgemäss zunächst an den protoplas- matischen Hüllen äussern, und die, wenn sie tiefgreifend genug sind, zur Abtötung des Lebewesens führen. So würde bei den Bakterien zum Beispiel die „Bakteriolyse“, die „Bakterizidie“ bedingen (Much). Bei den Colpoden würde nun das ganze Verhalten der Zellen im Serum die Annahme einer solchen Iytischen Wirkung, die zur Auflösung oder mindestens zur Konsistenzänderung der Membran führt, stützen. Die Tiere werden deformiert, sie zeigen freien Protoplasten ähnliche amöboide Bewegungen, und weiterhin vermögen sie, gleich wie dies Doflein bei Paramäcien beschreibt, und wie ich dies selbst bei Colpoden beobachtet habe, miteinander zu verkleben und daran an- schliessend zugleich .häufig die zu einer. echten Konjugation oder Kopulation führenden Folgeveränderungen zu geben. Die Änderung von Colpoden und deren Cysten usw. 139 Ausserdem kommt im Serum die Wirkung der gelösten Salze in Betracht. Die Ionen der Serumsalze könzen mit den plasmatischen und insbesondere mit den periplasmatischen Kolloiden in Wechsel- wirkung treten, und die Art dieser Wechselwirkung hängt ausser von der spezifisch chemischen Eigenart der in Frage kommenden Ionen von der Grösse ihrer elektrischen Ladung beziehungsweise von ihrer Wertigkeit, von ihrer elektrolytischen Lösungstension und ihrer Wanderungsgeschwindigkeit ab. Was den wichtigsten Faktor, die Wertiekeit, betrifft, so würden nach der Hardy’schen Regel in ihrer allgemeinsten Form jene Ionen, deren elektrische Ladung der Ladung des betreffenden Kolloids entgegengesetzt ist, fällend oder, wenn es sich um Membrankolloide handelt, verfestigend wirken, während eleich geladene Ionen einen lösenden oder doch auflockernden Einfluss ausüben. Tatsächlich sind denn auch zahlreiche Fälle in der Literatur beschrieben, die auf einen derartigen Einfluss der Ionen gegenüber den periplas- matischen Kolloiden hinweisen. Erwähnt seien hier nur die Versuche von Loeb!) am Fundulus heteroclitus, diejenigen von Wolfgang Ostwald?) am Gammarus Pulex de Geer und die Verflüssigung der Cilien, die Lillie®) bei Arenicola in Gegenwart von Salzlösungen festgestellt hat. Auch wurde von S. Biechniewiez*) gezeigt, dass sich die Giftwirkung des Chinins gegenüber Colpidium colpoda durch Salzlösungen ab- schwächen oder steigern lässt, je nachdem man Salze mit mehr- wertigen Kationen, welche verfestigend und damit permeabilitäts- vermindernd oder Salze mit mehrwertigen Anionen, welche auf- lockernd und damit durchlässigkeitssteigernd auf die anodischen Kolloide der Plasmahaut einwirken, mit dem Chinin kombiniert. Es wäre daher wohl möglich, dass auch bei meinem Untersuchungs- material analoge Wirkungen der Serumsalze in Frage kämen, und dass die hierdurch bedingten Konsistenzänderungen der Plasmahaut an den dem Serum nicht angepassten Tieren hinreichen würden, l) Loeb, 2) Wolfgang Ostwald, Pflüger’s Arch. Bd. 106 S. 568. -1905. 3) Lillie, Americ. journ. of physiol. vol. 10 p. 419. 1904; siehe auch vol.5 p. 56. 1901; vol. 7 p. 25. 1902. 4) Bichniewicz, Inaug.-Dissert. Bern 1913. Veröffentlicht in Zeitschr. f. allgem. Physiol. 1913. 140 Sophie Pecker: um die beobachteten Anomalien gegenüber dem Verhalten der Heu- infuskulturen zu erklären. Zunächst würde es sich handeln um das von mir beobachtete Auftreten abnormer amöboider Formen, das Verkleben der Tiere und den von Doflein im vorigen beschriebenen Erscheinungs- komplex: Das Klebrigwerden der Individuen, der Umstand, dass die Pellikula ihre Starrheit verliert, dass die weich gewordenen Tiere sich leicht deformieren lassen. All das deutet mit Bestimmtheit auf eine Konsistenzänderung der Membran hin. Die Oberflächenveränderung der Tiere äussert sich also unter anderm darin, dass zusammentreffende Zellen miteinander verkleben. Hierdurch ist aber ein konjugationsbegünstigendes Moment geschaffen, selbst ohne dass tiefgreifende Plasmaveränderungen heran- gezogen zu werden brauchten. Doch wenn auch nach den Beobachtungen der vorher erwähnten Forscher die Wechselwirkung zwischen Kolloiden und Salzen zu jenen Konsistenzvariationen führen könnte, als deren Folgen die amöboiden Zellveränderungen und die Konjugationsbegünstigung be- trachtet werden dürften, so ist es doch fraglich, ob diese Wirkung allein für die Auslösung der angegebenen Veränderungen hinreicht, denn wie schon erwähnt, rufen Salzlösungen bei Colpoden im wesentlichen nur jene plasmolytische Cystenveränderung hervor, die auch das Serum hervorbringt. Konjugationen wurden dagegen seltener beobachtet und eine Veränderung der beweglichen Tiere in einem einzigen Fall!), und doch sollte man eine in einem bestimmten Sinne sich vollziehende Beeinflussung der Membrankolloide der Salze weitmehr bei den Lösungen eines einzigen Salzes erwarten als bei Salzgemischen, wie sie das Serum darstellt, denn in solchen Gemischen liegen die Bedingungen für die Kompensation der Wirkung einer bestimmten Ionenart viel günstiger?). Ich habe daher den Eindruck, dass die amöboiden Veränderungen der Colpoden, wie die Kon- Jugations- bzw. Kopulationsauslösung, zwar durch die Serumsalze bis zu einem gewissen Grad begünstigt werden können, dass diese Komponente aber allein zur Auslösung des erwähnten Effektes nicht 1) Woker, Pflüger’s Arch. Bd. 159 S. 318. 1914. 2) Siehe Literatur über Ionenantagonismus bei Woker, Die Katalyse, allgem. Teil S. 355, 356 und spez. Teil, 1. Abt. S. 291—295, Bd. XVXII und Bd. XXVXXII der Sammlung „Die chemische Analyse“. Stuttgart. 1910 und 1915. Die Änderung von Colpoden und deren Cysten usw. 141 hinreichend ist. Es muss gleichzeitig die lytische Komponente des Serums hinzukommen. Was auf Kosten der Lyse, was auf Kosten des Salzeffektes zu setzen ist, lässt sich nach meinem Versuchs- material jedoch im einzelnen nicht entscheiden. Es wäre dies auch nur dann bis zu einem gewissen Grade möglich, wenn es gelänge, den Gehalt der Iytischen Komponente dadurch in hohem Grade zu steigern, dass man Colpodenmaterial einem Kaninchen zum Beispiel einspritzte. Würde dann durch die Anhäufung eines spezifischen lytischen Immunkörpers im Serum die durch dasselbe hervorgerufene Veränderung stark vermehrt, so wäre damit der Beweis für die Be- deutung der Iytischen Serumstoffe erwiesen. VI. Analoge Beobachtungen bei anderen Organismen. Die im Kapitel IV beschriebenen merkwürdigen Cysten- veränderungen veranlassten mich, nach Analogien für meine Be- obachtungen zu suchen. Abgesehen von einzelnen Formen, die eine grosse Analogie mit Fortpflanzungstypen zeigten, die sich bei den Algen finden, konnte ich bei den von mir beobachteten Umwandlungs- formen der Colpodeneysten eine frappante Ähnlichkeit mit Befunden Dunbar’s bei der Petronellaalge feststellen. Was diese höchst eigenartigen, doch unter allen Kautelen der Asepsis angestellten Beobachtungen Dunbar’s, des damaligen Leiters des staatlichen hygienisch-bakteriologischen Instituts in Hamburg, anbetrifft, so lassen sich dieselben in knappen Zügen folgendermaassen wiedergeben: Die Petronellaalge zeigt in verschiedenen Nährmedien und unter Variierung dieser letzteren durch minime Zusätze von Kupfersulfat Alkalien usw. die folgenden Formen (Fig. 38). Bei langewährendem Fortzüchten auf solehen Nährböden rea- gierten die Algenkulturen, namentlich wenn sie zuvor durch eine Hungerzeit (Enriques und Zweibaum) in destilliertem Wasser empfindlicher gemacht wurden, durch die Bildung neuer, je nach den Bedingungen variierender Organismen, die Dunbar auf künstliche Nährböden überimpfte und nach ihrer Entwicklung als Vibrionen, Spirıllen, Bazillen, Hefe oder Schimmel ansprach. | Weit davon entfernt, behaupten zu wollen, dass mir eine ähn- liche Züchtung eines oder mehrerer Lebewesen aus einer zu den Infusorien gehörenden Grundzelle geglückt sei, konnte ich doch nicht, was die morphologische Änderung als solche betrifft, an der auf- fallenden Analogie mit meinen Cystenveränderungen vorübergehen. 142 Sophie Pecker: 9 088 & e,. Fig. 38. Die Ähnlichkeit erstreckt sich nicht allein auf die hier wie dort erhaltenen Bildungen, sondern auch auf die Bedingungen, unter denen die Petronellaalgee wie die Colpoden bzw. deren Cysten mit Formänderungen reagiert. Die Nährlösungen, deren sich Dunbar bediente, entsprechen wie das Blutserum, das ich benutzt habe, eher einem hypertonischen als einem isotonischen Medium für die fraglichen Zellen. So enthält die sehr häufig von Dunbar benutzte Zuckerbouillon pro Liter destilliertes Wasser 1 g Fleischextrakt, 1 g Pepton, 1 g Traubenzucker und 0,5 8 Kochsalz, der Ammonsulfatnährboden pro Liter destilliertes Wasser 10 g Pepton, 2 g Ammonsuliat und 10 g Rohrzucker. Das ausserdem von Dunbar verwendete Kartoffelzuckerwasser und Kartoffelwasser dürfte auch nicht arm an gelösten Elektrolyten und Nonelektrolyten sein. Dazu kommen die Zusätze von Alkali und Säuren, die in ihrer minimen Konzentration den alkalischen und sauren Serumsalzen analog gewirkt haben dürften. Zucker, Eiweiss, Neutralsalz , alkalische und saure Faktoren kamen also bei vielen der Dunbar’schen Versuche wie bei den meinigen zur vereinigten Wirkung auf die zur Untersuchung gelangende Zelle, und wie bei meinen Versuchen dürften auch bei jenen Dunbar’s die Salze bzw. der Zucker für jene Hypertonie des Mediums verantwortlich gemacht werden, welche die weiteren Zellveränderungen, entsprechend der im vorigen angegebenen "Deutung, nach sich zieht. Die Wirkung der Hyperosmose würde durch eine Vorbehandlung mit destilliertem Wasser aus begreiflichen Gründen noch verschärft. Die Änderung von Colpoden und deren Cysten usw. 143 Mit dieser Vorbehandlung hat Dunbar zugleich die Petronella- alge einer Mediumveränderung unterworfen, der Enriques und Zweibaum bei den Veränderungen der Paramäcien grosse Bedeutung zuschreiben, und es ist interessant, dass auch die beiden andern Faktoren, welche für die Veränderung der Paramäcien als auslösende Ursache in Betracht kommen: die Anwendung von Salzen, insbesondere Spuren von Schwermetallsalzen, durch Enriques und Zweibaum, sowie die Anhäufung von Stoffwechselprodukten bei den Versuchen von Dunbar eine Rolle spielen: denn dieser Forscher verwendet häufig einen Zusatz von Kupfersulfat, und was die zwar nicht ausdrücklich erwähnten Stoffwechselprodukte anbetrifft, so kann auf deren Einfluss wohl die von Dunbar betonte leichtere Bildung neuer Organismenformen bei alten „gereiften“ Algenkulturen zurück- geführt werden. Die Gleichheit der auslösenden Ursachen, die ein ähnliches Umwandlungsbild bei der chlorophyllhaltigen Algenzelle und der chlorophylifreien Infusorienzelle bzw. ihren Cysten nach sich zieht, legt zwar die nämliche biologische Deutung der Umwandlungs- produkte nahe, ohne dieselbe jedoch notwendig zu bedingen. Meine Versuche gestatten mir leider keine Entscheidung darüber, ob es sich zwischen den Versuchen Dunbar’s und den meinigen nur um eine rein äusserliche Analogie handelt, da ich den experimentellen Teil meiner Arbeit so gut wie abgeschlossen hatte, als mir jene Experimente Dunbar’s bekannt wurden. Auf alle Fälle habe ich das Auftreten schimmelartiger Bildungen, Vibrionen, Spirillen und Bazillen, deren Auftreten Dunbar bei der Petronellaalge festgestellt hat, in meiner Kultur niemals beobachten können. Den von Dunbar als Coccen angesprochenen und durch Überimpfen auf künstliche Nährböden in diesem Zustand fort- sezüchteten Mikroorganismen nach Bildungsweise und Aussehen durchaus ähnliche Gebilde konnte ich allerdings in- und ausserhalb der veränderten Colpodeneyste beobachten, doch’ habe ich deren Isolierung und Fortzüchtung nicht versucht. Auffallender noch ist die Ähnlichkeit, welche die Bilder, die die Züchtung von Hefe aus der Petronellaalge zum Gegenstand haben (s. S. 142), mit einer Anzahl meiner Cystenveränderungen aufweisen: wie gross die Analogie mit Hefe ist, zeigt auch der direkte Vergleich meiner Cystenumwandlungsformen mit sporen- 144 Sophie Pecker: bildender Hefe, zum Beispiel mit den Formen, welche Hansen für Sacharomyces cerevisiae angegeben hat (Fig. 39): Fig. 39. (Aus König, Unters. landw. u. gewerbl. wicht. Stoffe. 1911.) Zu dieser Analogie mit der sporenbildenden Hefe kommt hinzu, dass ich, wenn auch nur in vereinzelten Fällen, Sprossformen be- obachten konnte, wie ich dies auf S. 129, Fig. 37 unterste Ab- bildungen rechts. wiedergegeben habe. Es lag daher ausserordentlich nahe, einen direkten Vergleich mit Hefe anzustellen. Zu diesem Zweck impfte ich je ein mit Heuinfus und mit Serum beschicktes Uhrschälchen mit Presshefe. Ich erhielt in beiden Schälchen eine Entwicklung der Hefe in Form von Sprossmycel. Auch hier erwies sich das Serum als ein viel günstigeres Nährmaterial als das Heuinfus, zum mindesten war die auf Serum gezüchtete Hefe reichlicher und kräftiger entwickelt. Mit diesem Sprossmycel zeigten meine Colpodenveränderungen jedoch nicht die entfernteste Ähnlichkeit, und auch nach mehreren Tagen, das heisst in einem Zeitraum, in dem ich bei den Colpoden unter gleichen Bedingungen schon deutliche „Sporenbildung“ erhalten konnte, fand sich bei der Hefe noch keine Neigung, in diese Form überzugehen. Auch war der Habitus der vorhandenen einzelnen rundlichen Hefezellen ein ganz anderer als derjenige der veränderten Colpodeneysten. Jene waren bedeutend kleiner und im Zeitraum meiner Beobachtungen, wie erwähnt, sporenlos. Ich möchte jedoch nieht unerwähnt lassen, dass ich vielleicht die Versuchszeit zu kurz gewählt habe, denn nach einem Jahr konnte ich an dem vollkommen eingetrockneten Serumschälchen Sporenbildung nachweisen. Doch waren die Sporen, als ich nach dieser Zeit die trockenen Schälchen | | Die Änderung von Colpoden und deren Cysten usw. 145 mit Heuinfus begoss, nicht mehr entwicklungsfähig, während die zu derselben Zeit auf °/s Serum (1/s Heuinfus) angelegten Colpodenkulturen (in deren Schälchen wohl infolge der Hygroskopie von Serumsalzen oder von Blutzucker keine völlige Austrocknung des braun gefärbten Rückstandes, der zahlreiche „kapselförmig“ veränderte Cysten ent- hielt, stattgefunden hatte) wenige Tage nach dem Aufguss von Infus eine beispiellos reichliche Entwicklung von normalen Tieren zeigten. Aus meinen Versuchen kann ich also jedenfalls nieht, wie dies Dunbar bei der Petronellaalge getan hat, den Schluss ziehen, dass die Colpidienzelle unter dem Einfluss bestimmter Faktoren eine Umwandlung im Sinne einer Hefebildung erlitten habe. Doch bin ich mir bewusst, dass ich nur einen ersten Schritt zur Entscheidung dieser etwas eigenartig anmutenden, aber durch die Versuche Dunbar’s nicht ohne weiteres ad acta zu legenden Frage getan habe. Es bleibt das von Dunbar behauptete Fortzüchten der hefeartigen Bildungen auf künstlichen Nährböden übrig und vor allem — was ich auch bei Dunbar vermisse — der Nachweis, dass sich jene seltsamen Umwandlungsformen nicht nur morphologisch, sondern auch funk- tionell der Hefe gleich verhalten, das heisst also, dass sie in zucker- haltigen Lösungen alkoholische Gärung hervorzurufen vermögen. Der Vergleich meiner Beobachtungen mit den merkwürdigen Be- funden Dunbar’s legt eine Reihe interessanter Fragestellungen nahe, deren Beantwortung ein um so eingehenderes, weiteres Studium verlangt, als jeder Befund, der mehr als eine rein äusserliche Ana- logie vermuten lässt, zu Konflikten mit den Vorstellungen über die Zusammenhänge der Grundformen lebendiger Materie führen muss. Weniger einschneidend, da es sich hierbei nur um feinere Differenzen innerhalb derselben Art handeln würde, ist die weitere Frage, ob bei der Umgewöhnung der Colpoden von ihrem normalen Substrat, dem Heuinfus, an Serum, die saprophytisch lebenden Tiere zu Parasiten werden, und ob mit diesem Wechsel, in Umkehrung zu der beobachteten Virulenzabschwächung oder Einbusse zahlreicher Bakterienstämme auf künstlichen Nährböden, die harmlosen Colpoden in eine ausgesprochen tierpathogene biologische Art überzugehen vermögen, die zu den ursprünglichen Colpoden in dem nämlichen Verhältnis stehen würde, wie zum Beispiel der Tuberkel- oder Lepra- bazillus, zu seinen harmlosen saprophytischen Verwandten unter den säurefesten Bazillen. Pflüger’s Archiv für Physiologie. Bd. 163. 109 146 Sophie Pecker: Die Änderung von Colpoden und deren Cysten usw. Da es mir bisher nicht gelungen ist, die Gewöhnung der Col- poden an das Vollserum eines Versuchskaninchens zu erzielen, ‚so konnte ich leider auch diese interessante Frage nicht entscheiden. Zum Schluss ist es mir eine angenehme Pflicht, meiner hoch- verehrten Lehrerin, Fräulein Pritvatdozentin Dr. G. Woker, für das grosse Interesse, welches sie für meine Beobachtungen an den Tag legte, und für ihr wohlwollendes Entgegenkommen bei .der Aus- führung dieser Arbeit meinen Dank auszusprechen. Ferner danke ich Herrn Professor Studer für die freundliche Durchsicht der Arbeit. Pflüger's Archiv f.d. ges. Physiologie, Bd.163. Verlag v.Martin Hager, Bonn. Tata Läth. Anst. v: F.Wirtz, Darmstadt. 147 (Aus dem Institut für animalische Physiologie [Theodor Stern-Haus] zu Frankfurt a. M.) Kapillarchemische (kapillarelektrische) Vorgänge als Grundlage einer allgemeinen Erregungstheorie. Von Albrecht Bethe. (Mit 8 Textfiguren.) I. Einleitung. Verschiedenartige Zustandsänderungen sind imstande, alle lebenden Gewebe zu erregen, während andere nur auf bestimmte Gewebe einen solchen Einfluss ausüben und eine dritte Gruppe von Zustandsänderungen überhaupt wirkungslos bleibt. Die er- regend wirkenden Zustandsänderungen, die man schlechthin als Reize bezeichnet, zerfallen also in allgemeine und spezielle. Zu den ersteren werden die elektrischen, mechanischen, osmotischen und chemischen Reize, vielleicht auch noch die thermischen Reize zu rechnen sein, zu den letzteren die photischen, akustischen und die sogenannten geotropischen Reize. Durch Einrichtungen an besonderen Organen, die man als Transformatoren ') bezeichnet hat, können ‘offenbar die an und für sich auf das lebende Protoplasma unwirksamen Zustandsänderungen der zweiten Gruppe zur Wirksamkeit gebracht werden, wohl dadurch, dass als Zwischenglied eine Zustandsänderung auftritt, die zur Gruppe der allgemeinen Protoplasmareize gehört. Nur von diesen allgemeinen Reizen soll hier die Rede sein. Mag es sich um nackte Protoplasten oder beflimmerte Zellen, um Nerven, Muskeln oder Drüsen, um Gewebe tierischen oder pflanz- lichen Ursprungs handeln, stets finden wir in mehr oder weniger hohem Grade, dass elektrische ‚mechanische, osmotische und chemische Einflüsse imstande sind, eine höhere Aktivität gegenüber dem Ruhe- 1) Beer, Bethe und v. Uexküll, Biol. Zentralbl. Bd. 19 S. 517. 1899. Pflügor’s Archiv für Physiologie. Bd. 163. 11 148 Albrecht Bethe: zustand, das heisst Erregungsprozesse hervorzurufen, die je nach Art des Gereizten verschiedenartig sind, bei demselben Objekt aber eine grosse Eintönigkeit zeigen. Ob wir einen Nerv, einen Muskel oder eine Drüse elektrisch, osmotisch oder mechanisch reizen, der Effekt. ist der gleiche'). Diese Ähnlichkeit der Wirkungen lest die Ver- mutung nahe, dass die allgemeinen Reize zu ein und derselben pri- mären Veränderung im lebenden Protoplasma führen. An gelegentlichen Versuchen, die Wirkung der verschiedenen „allgemeinen Nerven- und Muskelreize“ (die zugleich auch die all- gemeinen Protoplasmareize sind) auf eine einheitliche Ursache zurück- zuführen, hat es weder in älterer noch in neuerer Zeit gefehlt. Meistens handelt es sich um die Annahme, dass alle Reize im Grunde elektrischer Natur seien, indem sowohl bei mechanischen wie bei thermischen und chemischen Alterationen die Gelegenheit zur Eut- stehung elektrischer Lokalströme gegeben sei?).. Von anderen Seiten ist au eine durch alle Reize gesetzte primäre chemische Veränderung gedacht worden, welche bald in einer Veränderung des Stoffwechsels (Hering’sche Schule), bald in lokalen Konzentrations- änderungen von Ionen bestehen sollte (Boruttau®). Überall handelt es sich, soweit ich sehe, um blosse Andeutungen von Möslich- keiten ohne konsequente Durchführung an der Hand geklärter physi- kalischer oder chemischer Vorgänge. Zurzeit existieren nur über die Natur eines Erregungsprozesses- Vorstellungen, welche den Anspruch einer durchgebildeten plysika- lisch-chemischen Theorie erheben können: das ist die Nernst’sche Theorie®) der Erregung durch den elektrischen Strom. Den Versuch,. seine Theorie auch auf andere allgemeine Reize zu übertragen, den. Nachweis zu führen, dass auch der mechanische, osmotische Reiz usw. wie der elektrische durch eine primäre Veränderung der Ionen- konzentration in den Protoplasten wirksam sein können, hat Nernst nicht unternommen’). | 1) Bei komplexen Wesen sehen wir zwar häufig verschiedenartige Reaktionen auf die verschiedenen Reize der allgemeinen Gruppe auftreten, aber dies beruht. ohne Zweifel auf einer Verschiedenartigkeit des Angriffspunktes. 2) Siehe zum Beispiel Cremer in Nagel’s Handb. Bd. 4 S. 822. 1909. 3) Pflüger’s Arch. Bd. 90 S. 261. 1902. 4) Zusammenfassung in Pflüger’s Arch. Bd. 122 S. 275. 1908. 5) In einer Arbeit von A. V. Hill (Journ. of Physiol. vol. 40 p. 224. 1910) finden sich Andeutungen eines solchen Versuches. Kapillarchemische (kapillarelektrische) Vorgänge als Grundlage usw. 149 Ehe man sich an die Frage begibt, ob eine solche Verall- gemeinerung der Nernst’schen Theorie!) möglich ist, muss geprüft werden, ob sie für den elektrischen Reiz allgemein befriedigt und ob sie für diesen die zurzeit einzig denkbare Möglichkeit der Er- klärung bietet. Nernst geht von der zweifellos richtigen Vorstellung aus, dass Wirkungen des elektrischen Stroms in Leitern zweiter Klasse, wie sie die lebenden Gewebe darstellen, nach unserm heutigen Wissen nur in der Weise vorstellbar sind, dass infolge des Stromdurchganges Konzentrationsänderungen in den vorhandenen Elektrolytlösungen erzeugt werden. Diese können wiederum nur dann auftreten, wenn die relative Wanderungsgeschwindiekeit der Ionen in hintereinander gelegenen Schichten von Leitern zweiter Klasse ungleich gross ist, Die lebenden Gewebe sind ja in der Tat stets mehrphasisch, und es braucht daher nur die von vornherein wahrscheinliche Annahme gemacht zu werden, dass in irgend welchen Schichten die Über- führungszahl der Kationen grösser oder kleiner ist als in angrenzenden Schichten. Diese Verschiedenheit in der Beweglichkeit der Ionen lässt Nernst dadurch zustande kommen, dass er sich die Elektro- lyten innerhalb der tierischen Gewebe in verschiedenen Lösungsmitteln gelöst vorstellt. Ein notwendiger Bestandteil der Nernst’schen Theorie scheint in dieser Vorstellung zunächst nicht zu liegen, denn das Wesentliche an der Theorie ist die Annahme einer verschiedenen Beweglichkeit der Ionen in verschiedenen Schichten, gleichgültig ob dieselben auf diese oder andere Weise bewirkt wird. Trotzdem ist die Zurück- führung der verschiedenen Beweglichkeit auf die Gegenwart ver- schiedener Lösungsmittel, also einer wahrscheinlich konstant bleiben- den Ursache, auf die weitere mathematische Ausbildung der Theorie nicht ohne Einfluss geblieben, da bei dieser als einziger der Kon- zentrationsänderung durch den Strom entgegenwirkender Faktor die Diffusion eingeführt wird. Auf Grund vereinfachender Annahmen hat Nernst Formeln aufgestellt, denen die Erregung gehorchen müsste, je nachdem sie durch Wechselströme, Kondensatorentladungen oder rechteckige Strom- stösse erfolgt. In der Tat ist die Übereinstimmung zwischen Theorie 1) Von den Modifikationen derselben (Lapique und Hill) wird weiter unten die Rede sein. 1 150 Albrecht Bethe: und physiologischem Experiment bei Wechselströmen recht befriedi- gend, weniger bei Kondensatorentladungen und am wenigstens bei Stromstössen. Nach den Forderungen der Nernst’schen Theorie müsste für eben wirksame Stromstösse die erregende Stromstärke multipliziert mit der Wurzel aus der Zeit ihrer Einwirkung konstant sein. Die ausgedehntesten und zuverlässigsten Untersuchungen über die Beziehung zwischen Stromstärke und Dauer des Stromstosses, nämlich diejenigen von Gildemeister und OÖ. Weiss!) zeigen aber, dass dies nur in einem kleinen Bereich annähernd der Fall ist. Auch frühere Untersuchungen von G. Weiss, Lapique und Keith-Lucas zeigten bereits genücend deutliche, wenn auch weniger grosse Abweichungen von den von Nernst aufgestellten Beziehungen una veranlassten Lapique und nach ihm Hill zu Umformungen der Nernst’schen Theorie auf Grund neuer An- nahmen. Durch beide Arbeiten wurden weitere Annäherungen zwischen Theorie und physiologiseher Erfahrung gezeitigt; aber auch diese Lösungen können noch nicht voll befriedigen. Lapique?) lässt die Konzentrationsänderung erst in einiger Entfernung von dem Ort, wo sie stattfindet (einer Membran), wirksam werden und die Erregung nicht von einer absoluten, sondern relativen Konzentrations- änderung abhängig sein. Ein Modellversuch zeigt in vielen Punkten gute Übereinstimmung mit den physiologischen Erfahrungen. Die schwachen Punkte seiner Ableitungen hat bereits Hill klar gelest. Ausgehend von der Annahme einer absoluten Ionenundurchlässig- keit ler Membranen und der Einführung einer bestimmten, endlichen Entfernung zweier Membrangrenzen, welche Nernst noch als sehr gross angenommen und daher vernachlässigt hat, gelangt Hill?) zu neuen Formeln für die verschiedenen elektrischen Reizarten. Diese befinden sich von allen bisher aufgestellten mit der Erfahrung am besten in Übereinstimmung®). Aber diese Übereinstimmung ist viel- leicht nur zufällig, denn die Hauptannahme, die vollkommene Un- durehlässigkeit der Membranen für Ionen scheint mit zahlreichen 1) Pflüger’s Arch. Bd. 130 S. 329. 1909. 2) Arch. de physiol. et de pathol. gener. t. 11 p. 1099. 1909. 3) Journ. of Physiol. vol. 40 p. 190. 1910. 4) Diese Übereinstimmung ist allerdings nur dann vorhanden, wenn sich die drei von Hill eingeführten Konstanten in einem ziemlich engen Bereich be- wegen. Mit nur einer Konstante, wie dies Nernst (Pflüger’s Arch. Bd. 122 S. 301) für wünschenswert hält, ist bisher keine befriedigende Lösung möglich gewesen. Kapillarchemische (kapillarelektrische) Vorgänge als Grundlage usw. 151 Tatsachen unvereinbar. Setzt’ man trotzdem die Existenz solcher Membranen voraus, so könnte es in den erregbaren Gebilden nur zu Ladungen kommen, und die Ionenverschiebung könnte nur minimale Grade erreichen. Der Endwert müsste sehr schnell bei jeder Poten- tialdifferenz erreicht werden, was bei trägen Geweben sicher nicht zutrifft. Ferner müsste die veränderte Ladung sehr schnell zurück- gehen; dem widerspricht aber die oft die Stromöffnung lang über- dauernde Erregbarkeitsveränderung. Hieran wird wenig geändert, wenn man nur für ein oder wenige Ionen vollkommene Undurchlässiekeit annimmt, die anderen aber frei passieren lässt. Den Fall einer blossen Verlangsamung einiger Ionen hat Hill bereits (S. 208) in Erwägung ge- zogen, hat aber für denselben keine mathematische Lösung finden können. Bei dieser Sachlage wird man sich die Frage vorlegen müssen, ob nicht in den Grundannahmen eine Änderung einzutreten hat. Zu diesen Grundannahmen gehörte bei den bisherigen Lösungsversuchen die Unveränderlichkeit desjenigen Mechanismus, welcher die Kon- zentrationsänderungen in dem System von Leitern zweiter Klasse bedingt. Eine solche durch die zustandekommende Konzentrations- änderung nicht beeinflusste Ursache wird man annehmen dürfen, wenn man die Änderung der Konzentration an der Grenze zweier verschiedener Lösungsmittel auftreten lässt, wie dies Nernst und wohl mit ihm Lapique und Hill tun. Wir werden uns daher um- sehen müssen, ob nicht noch auf andere Weise Konzentrationsände- rungen in Leitern zweiter Klasse hervorgerufen werden können. Tatsachen, welehe im Sinne von Konzentrationsänderungen in Leitern zweiter Klasse gedeutet werden müssen, sind schon seit langem bekannt. Faraday und nach ihm Gmelin!) beobachteten an der dem negativen Pol zugewandten Grenze zwischen Maenesium- sulfat und Wasser bei Anlegung einer starken Potentialdifferenz eine Abscheidung von Magnesia. Nach du Bois-Reymond?) tritt an der Grenze zwischen Fliesspapierbäuschen, welche mit Wasser und Koehsalzlösung getränkt sind, bei dem Durchgang des elektrischen Stroms Bläuung resp. Rotfärbung von Lackmus ein, je nach dem der Strom aus der Salzlösung in das Wasser eintritt oder umgekehrt. Bei anderen Flüssigkeitskombinationen werden Polarisationserschei- 1) Mit verbesserter Methodik bestätigt durch L. Hermann, Nachr. d. Kgl. Gesellsch. d. Wissensch. zu Göttingen 1887 S. 342. 2) Untersuch. über tierische Elektrizität Bd. 2 (2) S. 419. 1884. Erste Mitteilung: Monatsber. Berliner Akad. 1856 S. 395. 152 Albrecht Bethe: nungen beobachtet, welche im Sinne von entgegengesetzten Kon- zentrationsänderungen gedeutet werden können. Hermann!) bestätigte diesen Befund und führte den Nachweis, dass der Sitz der Veränderung die Grenze zwischen konzentrierter und verdünnter Lösung ist. Dieselben Tatsachen sind in neuerer Zeit mehrfach wieder entdeckt worden. Für die Erklärung der Reiz- phänomene können sie nicht in Anspruch genommen werden, da die Grenzflächen zwischen wässerigen Lösungen verschiedener Konzen- trationen oder verschiedener gelöster Stoffe ohne trennende Schichten nicht beständig sein können. Trennende Schichten müssen notwendigerweise in den lebenden (Geweben vorhanden sein; diese können entweder aus einem mit dem ersten nicht mischbaren Lösungsmittel (Fall von Nernst und Riesenfeld) oder aber auch aus mehr oder weniger festem, jedoch wasserdurchlässigem Material bestehen. Sowie aber zwischen Lösungen trennende Schichten aus porösem Material auftreten, so ist durch kapillarelektrische Phänomene eine neue Möglichkeit für das Auftreten von Konzentrationsänderungen gegeben, auch dann wenn Diffusionsgleichgewicht besteht. Diese Verhältnisse sind zuerst von mir und später von mir in Gemein- schaft mit Toropoff?) genauer untersucht worden. Die Versuchs- resultate waren kurz folgende: Beim Durchleiten eines elektrischen Stromes durch poröse Scheidewände (Gelatine, Eiereiweiss, Kasein, Eihaut, Schweine- blase, Agar-Agar, Kollodium, Holz, Kohle, Ton, Gips) treten zu beiden Seiten derselben entgegengesetzte Konzentrationsänderungen der enthaltenen Elektrolyten (Salze, Basen, Säuren) ein und im Falle der neutralen Reaktion auch eine Störung der Neutralität. (Ab- scheidung von Alkali an der einen Grenze [meist Piusgrenze] und von Säure an der anderen Grenze.) Zugleich wird eine Wasserströmung (Elektroendosmose) hervorgerufen, deren Grösse und Richtung ebenso wie die der Konzentrationsänderungen von der Art und der Kon- zentration der gegenwärtigen Neutralsalz-Ionen und dem H-Ionen- gehalt der Ausgangslösung abhängig ist. Die Ursache dieser Er- 1) Nachr. d. Kgl. Gesellsch. d. Wissensch. zu Göttingen 1887 S. 326. 2) Zeitschr. f. physikal. Chemie Bd. 83 S. 686. 1914, und Bd. 89 S. 597. 1915. — Gelegentliche Beobachtungen über derartige Konzentrationsänderungen lagen schon früher vor. Auch bei manchen Versuchen von du Bois-Reymond sind offenbar Konzentrationsänderungen dieser Art beteiligt gewesen, zum Bei- spiel Untersuch. über tierische Elektrizität Bd. 1 S. 380. 1848. Kapillarchemische (kapillarelektrische) Vorgänge als Grundlage usw. 153 scheinung ist nicht wie bei den von Nernst postulierten und von Nernst und Riesenfeld im Versuch experimentell nach- gewiesenen Konzentratiorsänderungen in der Gegenwart eines zweiten Lösungsmittels zu suchen, sondern in kapillarelektrischen Erschei- nungen. Durch Adsorption von Ionen am Material der Porenwände (oder auch durch Komplexbildung) wird hier im Prinzip dasselbe erreicht wie dort, nämlich eine Behinderung in der Beweglichkeit gewisser Ionen. Die Gesetzmässigkeiten, denen diese Vorgänge unter- worfen sind, werden aber nicht die gleichen sein, da die ersten mit dem Beginn der Durchströmung auftretenden Konzentrationsänderungen das vorherige Gleichgewicht stören. Jeder Zuwachs der Konzen- tration verändert die Adsorption und damit die Beweglichkeit der Ionen und schafft für jeden folgenden Zuwachs neue Bedingungen. Die Annahmen von Membranen aus einem zweiten Lösungsmittel, wie sie der Theorie von Nernst und den Modifikationen von Lapique und Hill zugrunde liegen, hat, wie gezeigt, zu keinen voll be- friedigenden Lösungen geführt. Es kann auch zweifelhaft erscheinen, ob solche Membranen allgemein im lebenden Geweben vorhanden sind. Dagegen unterliegt es gar keinem Zweifel, dass überall in den Zellen und Geweben die Bedingungen erfüllt sind, unter denen nach den Untersuchungen von mir und Toropoff Konzentrationsänderungen und Wasserbewegungen!) eintreten. An jeder kolloidalen ?) Membran, an jeder Stelle, wo ein Wechsel im Kolloidzustand der Eiweiskörper vorliegt, muss es notwendigerweise beim Durchleiten eines elektrischen Stromes zu-Wasserbewegungen, zu Änderungen in der Konzentration der Neutralsalze und zu Änderungen der H- Ionenkonzentration kommen. Es soll daher hier untersucht werden, ob der Weg, die Erregungsphänomene auf Grund der genannten kapillarelektrischen Phänomene zu erklären, aussichtsvoll ist. 1) Die Erscheinurgen der Elektroendosmose sind zuerst von H. Munk «Untersuchungen über das Wesen der Nervenerregung. Leipzig 1868) und später auch von mir an Nerven und anderen lebenden Geweben beobachtet worden. Erscheinungen, welche sich als die Folge von Konzentrationsänderungen am lebenden Nerven auffassen lassen, liegen in meinen Polarisationsbildern vor «Bethe, Allgem. Anat. u. Physiol. d. Nervensystems S. 277 u.f. Leipzig 1903; Festschr. f. Schmiedeberg. Leipzig 1908; Schwartz, Pflüger’s Arch. ‚Bd. 138 S. 482. 1911; Schreiter, Pflüger’s Arch. Bd. 156 S. 314. 1914). 2) Als kolloidal werden die allermeisten Membranen der Organismen an- zusehen sein. 154 Albrecht Bethe: Eine mathematische Formulierung des Problems ist bei seiner Komplikation zur Zeit nieht möglich. In derselben wäre nicht nur die Veränderlichkeit der zur Konzentrationsänderung führenden Ursache unterzubringen, sondern es wäre auch bei derselben anzunehmen, dass der Ort, wo die Konzentrationsänderung eintritt, und der Ort, wo diese Veränderung auf die erregbaren Gebilde einwirkt, voneinander getrennt sind. Eine Trennung beider Stellen ist bereits von Lapique und Hill angenommen, und dies erscheint deswegen not- wendig, weil offenbar noch ein Zwischenprozess zwischen erregender Ursache und eintretender Erregung angenommen werden muss. Dies geht aus Versuchen von Gildemeister!) hervor, nach denen ein zweiter Reiz bei indirekter Erregung des Muskels nicht nur eine Verstärkung des Effektes des ersten Reizes, sondern unter Umständen auch eine Abschwächung hervorrufen kann. — Für die Ausbreitung der Konzentrationsänderung von der „Membrangrenze“ zum Ort der Wirksamkeit kommt aber nicht nur die Diffussion in Betracht, sondern in sehr hohem Maasse auch die Fortführung des angereicherten Ions durch das angelegte Potentialgefälle. Dies ist ein Moment, das, soweit ich sehe, bei den Berechnungen von Hill nieht genügend berücksichtigt worden ist. Wollen wir die aufgestellte Hypothese, dass kapillarelektrische Phänomene die Ursache der elektrischen Erregung sind, auf ihre Richtigkeit prüfen, so sind wir bei dem Mangel einer mathematischen Formulierung auf einen Vergleich derjenigen Gesetzmässig- keiten angewiesen, welche sich einerseits au sden Modellversuchen von mir und Toropoff und andererseits aus den physiologischen Befunden ergeben. Bei diesem Vergleich müssen die Erscheinungen bei Kondensatorentladungen und Wechselströmen ausser Diskussion bleiben, weil über diese brauchbare Modellversuche noch nicht vor- liegen. Wohl aber ist der Vergleich durchführbar für Stromstösse und für gewisse Beziehungen der Erregbarkeit. Von den drei Veränderungen, welche an Diaphragmen durch den elektrischen Strom hervorgerufen werden, nämlich der Wasser- bewegung, der Veränderung der Konzentration der Neutralsalze und der Veränderung der H-Ionenkonzentration, möchte ich der letzteren die grösste Wichtigkeit zuschreiben. Es können zwar Änderungen in der Salzkonzentration, welche Nernst als das 1) Pflüger’s Arch. Bd, 124 S. 497. 1908. Kapillarchemische (kapillarelektrische) Vorgänge als Grundlage usw. 155 erregende Moment ansieht, zweifellos erregend wirken; aber nach den bisherigen Erfahrungen sind hierbei viel grössere absolute Unterschiede nötig als bei Erregung durch Veränderung der H-Ionenkonzentration. Ausserdem kann, wie unten zu zeigen sein wird, die Erregung durch hypertonische Lösungen als ein sekundärer Prozess aufgefasst werden. Nun zeigen die erregbaren Gebilde in der Regel neutrale oder nahezu neutrale Reaktion, so dass hier die Veränderungen in der H-Ionen- konzentration in entgegengesetzten Störungen der Neutralität, d. h. in einem Auftreten von Säure resp. Alkali zu beiden Seiten ein- geschalteter Membranen bestehen müssen. Danach komme ich zu der zwar nicht notwendigen aber wahrscheinlich erscheinenden Hypothese, dass die Ursache der elektrischen Erregung nicht schlechthin in kapillarelektrischen Phäno- menen, sondern im Besonderen in einer Veränderung der H-Ionenkonzentration zu suchen ist. II. Vergleich zwischen kapillarelektrischen Vorgängen und Erregungsprozessen. a) Stromstösse. Bestimmt man bei verschiedenen Spannungen die Zeit, welche nötig ist, um eine eben sichtbare Neutralitätsstörung (beurteilt am Umschlag eines Indikators) hervorzurufen, so ist dies eine Art von Schwelienbestimmung, vergleichbar derjenigen, welche Lapique, G. Weiss und Gildemeister und OÖ. Weiss bei eben wirksamen Stromstössen am Nervmuskelpräparat bzw. am Muskel vorgenommen haben. Trägt man die Spannungswerte als Abszissen, die Zeitwerte als Ordinaten in ein rechtwinkliges Koordinatensystem ein, so erhält man Kurven, welche gleichseitigen Hyperbeln sehr ähnlich sehen. Eine genaue Übereinstimmung liest aber nicht vor, wie man am besten daran sieht, dass die Produkte von Zeit und Spannung (oder die diesem Produkt proportionale Grösse: Zeit mal Stromstärke, d.h, die Elektrizitätsmenge), als Ordinaten zu den Zeiten als Abszissen eingetragen, keine geraden, sondern gekrümmte Linien ergeben !). Die Krümmung ist bei Kollodium und Pergament zur 1) Für die gleichseitige Hyperbel gilt die Formel 2>t sind die proportionalen Grössen Ext und E?xt eingezeichnet, worin # die elektromotorische Kraft bedeutet.) Kapillarchemische (kapillarelektrische) Vorgänge als Grundlage usw. 157 x Fig. 3. Dasselbe wie Fig. 1 für die Schalenhaut des Hühnereies (Aussenseite). (Fig. 2 und 3 nach unveröffentlichten Versuchen.) Vers 2 E’rt Verse o 100 100 300 400 5oo 600 700 800 900 1000 n00 1200 4300 Fig. 4. Kurven der Werte E>xt=k, woraus sich: xt=%k-+ gt ergibt. (Siehe auch Gildemeister und Weiss, Pflüger’s Arch. Bd. 130 S. 335. 1909.) Die @> = & , % » R \ = Y 1% p oz RER. 50 Re 6% PR Sr 2, 1. er 8,50, pt x. B 700 Ha, 06 BZ Da 150: ac 7b“ 7.2.0 . w? 70°? 9° ww 29° 07 107 Fig. 8 Kurven der Konzentrationsänderungen verschiedener Neutralsalze be- zogen auf die Cm der Ausgangslösung. (Aus Bethe-Toropoff, a.a. O. S. 615.) Kapillarchemische (kapillarelektrische) Vorgänge als Grundlage usw. 175 bestimmten Seite einer Membran, so müsste bei hinreichend saurer Reaktion desinneren Milieus die Erregung an der Anode stattfinden, da ja jetzt an der betreffenden Mem- branseite an der Kathode nicht Zunahme, sondern Abnahme der Cs. und Cr Stattfände. Unter Umständen müsste der Zusatz von mehrwertigen Kationen im gleichen Sinn wirken. In welchem Sinn Eindiekung der Zellsäfte wirken würde, hängt wahrscheinlich von der Art der enthaltenen Neutralsalze ab. Die Richtigkeit der Nernst’schen Theorie vorausgesetzt, dürfte ein soleher Effekt nicht eintreten, denn es ist weder einzusehen noch experimentell festzustellen, dass der Ort der Konzentrationszunahme wechselt, wenn die Reaktion zu beiden Seiten eines zweiten Lösungs- mittels geändert wird. Auch eine Entscheidung darüber, ob die Änderung der Cs.ı, oder der Cu das erregende Moment abgibt, müsste herbeizuführen sein. Bei sinkender Cn der Ausgangslösung müsste nämlich der Ort, an welchem die Erregung stattfindet, derselbe bleiben wie bei neutraler Reaktion, falls die Veränderung der Cs. das Maassgebende wäre. Läge dagegen das erregende Moment in einer Veränderung der Cn, so müsste bei starker Alkalinität der Erregungsort noch einmal wechseln. Hindernd steht derartigen Versuchen die Impermeabilität vieler Plasmahäute für H-Ionen und fremde Salzionen im Wege (s. oben S. 171). Andrerseits sind die Objekte, deren Häute den Durchtritt bis zu einem gewissen Grade gestatten, für derartige Ionen meist sehr empfindlich. Es bestehen aber einige Angaben, welche sich vielleicht zugunsten meiner Ansicht deuten lassen, nämlich gewisse Versuche über die Galvanotaxis von Protisten: Alle untersuchten Protisten zeigen im elektrischen Potextial- gefälle polare Erregungserscheinungen [Kühne, Verworn und viele andre!)]. Diese bestehen bei Wimperinfusorien in einer ent- gegengesetzten Veränderung der Richtung des Wimperschlages auf der Eintrittsseite und Austrittsseite des Stroms ?). Hierdurch stellen sich die Tiere in eine bestimmte Richtung zu den Stromfäden ein und streben nun zwangsmässig dem einen Pol zu. 1) Literatur bei Jennings, a. a. O. 2) Ludloff, Pflüger’s Arch. Bd. 59 S. 525. 1895. — Dale, Journ, of Physiol. vol. 36 p. 291. 1901. — Statkewitsch, Zeitschr. f. allgem. Physiol. Bd.5 S. 511. 1905. 176 Albrecht Bethe: Verschiedene Möglichkeiten, diese Erscheinung zu erklären, sind bereits herangezogen worden. Loeb und Budgett!) führten sie bei Paramäcium auf die oben erwähnte Abscheidung von Säure und Alkali an der Grenze verschieden konzentrierter Lösungen zurück (siehe oben S. 152) und brachten so die Galvanotaxis dieser Tiere mit ihrer positiven Chemotaxis gegen Säure und negativen gegen Alkali in Zusammenhang. — Dale?) hat diesen recht auffälligen Parallelismus später an andren Infusorienarten durch weitere Beispiele belegt. Gegen diese FErklärungsweise ist aber einzuwenden, dass für eine derartige Abscheidung von Säure und Alkali enorme Kräfte nötig sind und dass diese Neutralitätsstörung notwendigerweise durch die. viel leichter eintretende und in neutraler Lösung entgegengesetzte Störung auf Grund der kapillarelektrischen Fhänomene überdeckt werden ‘muss. Später hat ein n Schüler Loeb’s, Baneroft?), diese Erklärungs- weise verlassen und sie durch eine neue, bereits oben erwähnte Erregungshypothese Loeb’s (entgegengesetzte Änderungen der Cca, siehe oben S. 168) ersetzt. Die on angeführten Einwände gelten auch..hier. Ä Auch an ‚die, Erscheinungen der Kataphorese hat man. bereits zur Erklärung der Galvanotaxis angeknüpft. Calgren*) sieht die innere Kataphorese des Wassers in den durchströmten Infusorien als den eigentlichen Reiz an; Birukoff?) und später Coehn und Barratt‘) erblicken in der passiven Fortführung der elektrisch geladenen Infusorien das Moment, welches die Achseneinstellung bewirken soll. Die erstere Erklärung kommt der von mir bevorzugten schon nahe; sie sieht aber (äbnlich wie seinerzeit Munk bei seiner Theorie der Nervenerregung) die Ursache in einem kapillarelektrischen Phänomen, dass sicher eine geringere, physiologische Wirksamkeit ausüben ‚wirl als die mit der Wasserbewegung verbundenen ent- gegengesetzten Konzentrationsänderungen. — Die Ansicht von Coehn und Barratt lässt die notorisch eintretende primäre und andauernde 1) Pflüger’s Arch. Bd. 65 S. 518. 1897. 2) Journ. of Physiol. vol. 26 p. 291. 1901. 3) University of Californ. Publ. Physiol. vol. 3 p. 21. 1906. ;4) Arch. f. Anat. u. Physiol. 1900 S. 49. 5) Arch. f. Anat. u. Physiol. 1904 8. 271. 6) Zeitschr. f. allgem. Physiol. Bd.5 S.1. 1905. | Kapillarchemische (kapillarelektrische) Vorgärge als Grundlage usw. ]77 Änderung der Wimperstellung ganz ausser Acht und hat auch sonst wenig Wahrscheinlichkeit für sich !). Ich bin der Ansicht, dass die beste Erklärung zurzeit die ist, welche sich auf Grund der an den Grenzen von Diaphragmen auftretenden Konzentrationsänderungen der H-Ionen geben lässt. Es würde also in gewissem Sinn auf dasselbe herauskommen wie bei der ersten Hypothese von Loeb und Butgett, nur dass hier eine andere Ursache angenommen wird und die Alkali- und Säure- ausscheidung nicht nur an der äusseren Grenze der Tiere stattfinden wird, sondern auch auf der Innenseite ihrer Plasmahaut, am Proto- plasten selbst und überall da im Inneren, wo ein Wechsel der Diehtigkeit vorhanden ist. An welcher Grenze der Reiz wirksam wird, lässt sich nicht absehen. Die Einwände, welche von Coehn und Barratt gegen jede auf die Annahme einer Elektrolyse sich stützende Erklärungsweise vorgebracht sind, können fast alle durch die von Toropoff und mir gemachten Modellversuche als beseitigt angesehen werden. Nach anscheinend sehr sorgfältigen Versuchen von Dale?) und von Greely?®) hängt nun tatsächlich die Schwimmrichtung derInfusorien von derReaktion des äusseren Mediums ab. Opalina zum Beispiel schwimmt in neutralen und sauren Lösungen zur Anode, in alkalischer Lösung aber zur Kathode. Nyctoterus schwimmt in alkalischen Lösungen zur Anode, in neutralen verhält es sich indifferent, und in sauren Lösungen wendet es sich zur Kathode. Nach Greely soll die Umkehr auch bei Volvox sehr deutlich sein, und sie soll — im Eiuklang mit der kapillarelektrischen Vorstellung — bei Paramäcien auch durch mehrwertige Kationen herbeigeführt werden, während durch mehrwertige Anionen die Säure- umkehr verhindert wird. Diese Ergebnisse würden zu den entwickelten Vorstellungen gut passen. Weitere Untersuchungen sind aber notwendig, da von Bancroft der Säureeinfluss überhaupt geleugnet wird und da über die Stellung der Wimpern bei diesen Umkehrerscheinungen noch keine ausreichenden Beobachtungen vorliegen. 1) Bei Überführung in konzentriertere Salzlösungen wird sehr schnell durch ÖOsmose ein Ausgleich in der Konzentration eintreten, so dass die von ihnen er- wartete Umladung nicht zustande kommen kann. 2) Journ. of Physiol. vol. 26 p. 291. 1911. 3) Journ. of Physiol. vol. 7 p. 3. 1904. 178 Albr. Bethe: Kapillarchemische (kapillarelektrische) Vorgänge usw. II. Zusammenfassung. Die. hier gegebene kapillarelektrische (oder kapillarchemische) Erklärung der allgemeinen Erregungsphänomene gründet sich ‚auf einfache physikalisch-chemische Vorgänge, für die ohne jeden Zweifel die Bedingungen am Organismus gegeben sind. Sie macht keinerlei weitere Voraussetzung als die, dass Veränderungen der Wasserstoff- ionenkonzentration erregend wirken, eine Voraussetzung, die nach den bisherigen Versuchen grosse Wahrscheinlichkeit besitzt. Sie ist hierin im Vorteil gegenüber der einzig bisher vorhandenen klar- begründeten Erregungstheorie, nämlich der Nernst’schen Theorie des elektrischen Reizes und den Modifikationen derselben von Lapique und Hill. Hier wird im Gewebe die Existenz von Schichten aus einem zweiten Lösungsmittel vorausgesetzt und eine errende Wirkung von Konzentrationsänderungen der Neutralsalze angenommen. Die erste Voraussetzung ist wenig gesichert, da die Substanzen, welche asl zweites Lösungsmittel dienen könnten, nämlich die Lipoide, meist wohl nicht in geschlossenen Schichten auftreten, sondern in Form kolloidaler Suspensionen vorhanden sind. - Die zweite Voraussetzung ist an sich ‘begründet, aber die Konzentrationsänderungen der Neutral- salze sind sicherlich viel weniger wirksam als die der Wasserstoff- Ionen. Mit den bekannten Tatsachen der Erregungsphysiologie decken sich schliesslich, soweit ich sehe, die auf Grund der Kenntnisse von den kapillarelektrischen Phänomenen aufzustellenden Forderungen besser als mit den Gesetzmässigkeiten, welche Nernst seiner Theorie zugrunde gelegt hat. Die Modifikation der Nernst’schen Theorie, welche Hill gegeben hat, wird zwar den physiologischen Tatsachen besser gerecht, geht aber von Annahmen aus, welchen keine allzu- grosse Wahrscheinlichkeit zukommt. Zur Frage der negativen Schwankung der Doppelbrechung bei der Muskelkontraktion. Von vv. Ebner. In einer „Experimentelles und Kritisches zur Theorie der Muskel- kontraktion“ betitelten Abhandlung teilt J. Bernstein!) neue Ver- suche mit, welche sich auf die thermodynamische, osmotische und die Quellungshypothese beziehen, und sucht in kritischen Auseinander- setzungen die Unhaltbarkeit dieser Hypothesen darzutun und die gewichtigen Gründe geltend zu machen, welche für die Oberflächen- spannungshypothese sprechen. Dass es bei einer kritischen Sehrift über ein so ausserordentlich kompliziertes und der Lösung wohl noch lange harrendes Problem, wie es die Muskelkontraktion ist, nicht an Einwürfen fehlen kann, ist selbstverständlich, und jedem, der sich mit dem ganzen Probleme oder mit Teilen desselben selbst be- schäftigt hat, werden bei der Lektüre der so anregenden und viel- seitigen Abhandlung da und dort Bedenken aufstossen, ohne dass er sich jedoch deshalb veranlasst fühlen würde, diese sofort öffentlich zu äussern. Ich glaube jedoch gegen den „Kontraktilität und Doppel- brechung“ betitelten Abschnitt VI der Abhandlung Stellung nehmen zu sollen, weil ich hoffe, ein Missverständnis aufklären zu können, dessen Beseitigung für die Förderung der Lösung des grossen Problems der Muskelkontraktion nicht ganz wertlos sein dürfte. Doch will ich mich möglichst auf die im Titel ersichtlich gemachte Frage beschränken und auf eine Erörterung der bestehenden Kon- traktionshypothesen nicht eingehen. In meinen „Untersuchungen über die Ursachen der Anisotropie organisierter Substanzen“ *) habe ich den Nachweis geführt, dass das Maass der Doppelbreehung eines isotonisch sich kontrahierenden Muskels während der Kontraktion beträchtlich sinkt und auch 1) Arch. f. d. ges. Physiol. Bd. 162. 1915. 2) Leipzig 1882, bei W. Engelmann. Pflüger’s Archiv für Physiologie. Bd. 163. 13 180 V. v. Ebner: während des Tetanus merklich geringer ist als beim erschlafften Muskel, und dass die von E. v. Brücke und L. Hermann be- hauptete Unveränderlichkeit der optischen Konstanten während der Muskelkontraktion nur, und zwar mit Einschränkungen, für die iso- metrische Kontraktion gültig sei. Der Nachweis dieser Tatsache wurde in der Weise geführt, dass ich Muskeln — vorzüglich den Sartorius des Frosches — in einer von zwei Glasplatten begrenzten Kammer von konstanter Tiefe zwischen gekreuzten, polarisierenden Prismen unter dem Mikroskope zur Kontraktion brachte und unter Beobachtung aller notwendigen Vorsicht für möglichsten Parallelis- mus der sich zusammenziehenden Fasern die Interenzfarben be- stimmte, die der Muskel in der Ruhe, während des Stadiums der wachsenden Energie und während des Maximums der Zusammen- ziehung zeiste. Aus der beobachteten Interferenzfarbe bzw. aus der Dicke der dieser entsprechenden Luftschichte im Newton’schen Farbenglase und der Tiefe der Kammer bzw. der Dicke des Muskels wurde dann die Differenz der Berechnungsquotienten &—w der beiden im Muskel interferierenden Wellen bestimmt. Für die Fraunhofer’sche Linie D ergab sich für den ruhenden Sartorius im Mittel aus vielen Bestimmungen die Differenz &—-w — 0,00210. Es zeigte sich aber auch, dass diese Differenz bei verschiedenen Tieren, je nach der Jahreszeit oder je nach dem physiologischen Zustande des Muskels usw., sehr verschieden sein konnte, und er- eaben sich als Extreme die Zahlen 0,00 185—0,00250. Bei 16 Ver- suchen wurde jedesmal die Interferenzfarbe bei verschiedenen Dicken des Muskels bzw. bei verschiedener Tiefe der Kammer zwischen den zwei Glasplatten untersucht, wobei die Dieke zwischen 1,1—0,2 mm, um 0,05—0,05 mm allmählich sinkend, verändert wurde. Bei neun weiteren Versuchen wurde der Muskel in einen keilförmigen Raum zwischen zwei Spiegelglasplatten gebracht und nun die Interferenz- farbe zwischen den Dicken 0,30—0,80 mm an sechs oder elf Punkten um je 0,1 oder 0,05 mm steigend, bei ein und derselben Einstellung des Muskels untersucht. Beide Versuchsreihen ergaben, abgesehen von Zufälligkeiten, ein der Dicke des Muskels proportionales Steigen der Interferenzfarbe, d.h. also eine von der Kompression unabhängige konstante Differenz der Brechungsquotienten &—-w. Nur für die ge- ringsten Dieken zwischen 0,2-—0,4 mm ergaben sich zu hohe Inter- ferenzfarben; aber bei diesen Dieken war auch bereits die Elastizitäts- grenze für den Muskel überschritten und Presssaft aus demselben Zur Frage der negativen Schwankung der Doppelbrechung usw. 181 ausgetreten. Nachdem auf diesem Wege festgestellt war, dass die Stärke der Doppelbrechung des kontraktionsfähigen Muskels durch vertikalen Druck nicht beeinflusst wird, kann wohl kein Zweifel darüber aufkommen, dass ein beträchtliches Absinken der Interferenz- farbe des Muskels während einer isotonischen Kontraktion bei kon- stanter Dieke von einer Verminderung der Differenz &—-o herrühren muss. Diese Verminderung beträgt nach zwölf Versuchen 12—42/o der Differenz &—-w des ruhenden Muskels. Für den Sartorius fand ich als grösste Differenz: &—w — 0,00215 für den ruhenden und 0,00152 für den kontrahierten Zustand nach vorausgehender Curare- Veratrinvergiftung. Die grösste Differenz überhaupt fand ich an einem Hyoglossus des Frosches, ebenfalls nach vorausgehender Curare- Veratrinvergiftung, nämlich &-© — 0,00 167 in der Ruhe, 0,00 097 während der Kontraktion. Soweit in Kürze die tatsächlichen Beobachtungen, die, wie mir scheint, unabhängig von jeder theoretischen Vorstellung, beweisen, dass die Stärke der Doppelbrechung, d. h. die Differenz &—-w eines Muskels, während einer isotonischen Kontraktion ganz beträchtlich sinkt. Man wird es daher begreiflich finden, dass ich mit einiger Verwunderung in der zitierten Abhandlung die Behauptung las, es sei bei der Deutung meiner Versuche übersehen worden, dass der Muskel zwischen den Glasplatten bei der Kontraktion zwar dieselbe Dicke senkrecht zu diesen behalte, dass aber seine Breite parallel zu den Glasplatten entsprechend wachsen müsse. „Hierdurch erklärt es sich, dass der Betrag der Doppelbreehung in der Richtung der Dieke des Muskels abnehmen kann, während er in der Richtung der Breite zunimmt, auch wenn die spezifische Kraft der Doppelbrechung konstant bleibt.“ Es wird sodann an einer schematischen Abbildung, auf welcher zwischen zwei, die Glasplatten darstellenden, parallelen Linien, ein quadratisches Stück Muskelquerschnitt und ein doppelt so grosses Rechteck , das den Querschnitt des kontrahierten Muskels darstellt, erläutert, dass bei der Vergrösserung des Querschnitts auf das Doppelte die doppelbrechenden Teilehen auseinander rücken, und zwar nicht nur parallel, sondern auch senkrecht zu den Glasplatten im Verhältnis von Y2:1, wie durch Rechnung gezeigt wird. So würde also der „Betrag der Doppelbrechung“, obwohl „die spezifische Kraft der Doppelbrechung“ der einzelnen Teilchen konstant bleibt, bei einer Verkürzung des Muskels auf die Hälfte der ursprünglichen 12,7 182 V. v. Ebner: Länge im Verhältnis 1: Y2 sich vermindern, wenn die Dicke der Muskelschicht dieselbe bleibt. Die Rechnung geht jedoch von der unzulässigen Annahme aus, dass die Anzahl der Teilchen auf der vergrösserten Querschnitts- fläche dieselbe bleibt wie anı erschlafften Muskel, und nimmt auf die Tatsache keine Rücksicht, dass der Muskel bei der Kontraktion seinen Rauminhalt nicht ändert. Denn, wenn man Teilchen von gleichbleibenden Dimensionen und unveränderlichen optischen Kon- stanten in einem Muskelprisma sich vorstellt, so muss bei Ver- grösserung des Querschnittes auf das Doppelte auch die Zahl der in ihm enthaltenen Teilchen sich verdoppeln, da ja je zwei hinter- einander liegende Teilchen in dieselbe Querschnittebene gelangen müssen, wenn die Hälfte der Länge des Muskelstückes bei der Kon- traktion verschwindet. Man denke sich ein den Fibrillen der Muskel- faser paralleles, prismatisches Muskelstück mit quadratischer Basis, dessen Länge /!, dessen Breite 5 und dessen der Breite gleiche Dieke d sei und denke sich ferner in dieses Prisma hinein acht zylindrische Teilchen, welehe mit ihren Achsen, die zugleich den opti- schen Achsen entsprechen, der Längsrichtung des Prismas parallel sind und sich dieht berühren. Die Zylinder sollen von der halben Länge des Prismas sein und die Disdiaklasten vorstellen, welehe nun in dem erschlafften Muskelstücke in zwei Gruppen, zu je vier hintereinander, auf dem quadratischen Querschnitte des Prismas, als vier, den Ecken innen anliegende Kreise erscheinen würden. Zieht sich nun dieses prismatische Muskelstück mit den eingeschlossenen acht zylindrischen Disdiaklasten auf die Hälfte seiner Länge zusammen, so muss, bei konstant erhaltener Dicke, die Breite sich verdoppeln, da ja der d2bl 5) ai Rauminhalt dbl —= derselbe bleibt. Da nun die Zahl und Form der Disdiaklasten unverändert bleibt, so folgt notwendig, dass in dem kontrahierten Prisma in der Richtung der Länge nur mehr ein zylindrisches Teilchen Raum findet, in der Richtung der Dicke aber nach wie vor zwei Zylinder, in der Richtung der verdoppelten Breite dagegen je vier Zylinder aneinander grenzen. Das ist, wie ich glaube, eine leicht verständliche, körperliche Vorstellung von E. v. Brücke’s Disdiaklastenhypothese, die er selbst durch das Gleichnis mit einer Kompagnie Soldaten erläutert, die in ver- schiedenen Reihen aufmarschieren. Die obige Vorstellung eines prismatischen Muskelstückes, das sich in der Kontraktionsrichtung Zur Frage der negativen Schwankung der Doppelbrechung usw. 183 auf die Hälfte verkürzt, gilt natürlich für eine beliebige Zahl von Teilchen, die man für Länge, Breite und Dieke annimmt. Immer wird bei einer Kontraktion auf die Hälfte der Länge, bei konstanter Dicke das Verhältnis bestehen 31:d:28, wenn unveränderliche Teilchen in einer bei der Formveränderung den Rauminhalt nicht ändernden Substanz angenommen werden, oder allgemeiner gesagt, wenn sich bei beliebiger Verkürzung die Dimensionen des Prismas in dem Verhältnisse \ d:nb ändern, wird die Zahl der Teilchen in der Richtung der konstant erhaltenen Dimension d dieselbe bleiben. Dies ist eine unabweisliche Folgerung aus der Unveränderlich- keit des Muskelvolumens während der Kontraktion, wenn man zu- gleich unveränderliche kleinste Teilchen mit unveränderlicher „doppel- brechender Kraft“, womit nichts anderes als die Differenz der Brechungsquotienten gemeint sein kann, annimmt. Es kann daher unter diesen Umständen keine Rede davon sein, dass das Sinken der Doppelbrechung bei konstanter Dieke und selbstverständlieh bei unveränderter Richtung der optischen Achse, nur durch die Ver- breiterung des Muskels, ohne Annahme einer Änderung der doppel- brechenden Kraft erklärt werden könne. Bernstein beruft sich ferner mit Unrecht darauf, dass nach Übereinstimmung aller Be- obachter die Diekenzunahme einer Muskelfaser bei freier Kontraktion ein Steigen der Doppelbvrechung verursache. A. Rollett!), der sorsfältigste Untersucher dieser Verhältnisse, hat das Sinken der Doppelbreehung au frei sich kontrahierenden Muskelfasern von Käfern direkt beobachtet und ferner festgestellt, dass an sogenannten fixierten Kontraktionswellen, ungeachtet der auftretenden Verdiekung, die Interferenzfarbe unverändert bleibt, ja in manchen Fällen, trotz der Verdiekune, in merklichem Grade sinkt. Rollett hat damit an isolierten, quergestreiften Muskelfasern die negative optische Sehwankung der Doppelbrechung unzweifelhaft nachgewiesen und damit meine Befunde an ganzen Muskeln durch eine ganz andere Unter- suchungsmethode wesentlich erweitert. Die Abhandlung Rollett’s enthält sehr eingehende Mitteilungen über diesen Gegenstand, und 1) Denkschriften d. kaiserl. Akad. d. Wissensch. in Wien, math.-naturw. Klasse Bd. 53 5. 41. 1891: „Untersuchungen über Kontraktion und Doppel- brechung der quergestreiften Muskelfasern“. 184 V. v. Ebner: es dürfte daher nicht überflüssig sein, einige Einzelheiten über die Doppelbrechung der Muskeln aus dieser Abhandlung hier. in Er- nnerung zu bringen. Zunächst stellt Rollett fest, dass die den so- oenannten Zwischenscheiben und wo die inkonstanten Nebenscheiben vorkommen, auch die diesen angehörigen Fibrillenglieder doppel- brechend sind und zwar in geringerem Grade als die den Quer- scheiben angehörigen Q-Glieder. Während bei der zur Untersuchung benützten Gypsplatte Rot I. Ord. im Spektropolarisatorapparat das Licht von der Wellenlänge 500) ausgelöscht wurde, erhöhte sich die Auslöschungszahl für die Querstreifen Z und N in der Additionslage auf 520—541 bei verschiedenen Käferarten, da- gegen auf 540—580 für den Querstreifen ©. Bei Beobachtung mit gekreuzten Polarisationsprismen mit eingelegter Gypsplatte Rot I. Ord., aber ohne Spektropolarisator, entsprachen die Wellenlängen 520—541 dem Farbenbereiche Purpur I. Ord., die Wellenlängen 548—562 dem Farbenbereiche Violett Il. Ord., 565—580 dem Farbenbereiche Indigo II. Ord., und es konnte daher die schwächere Doppelbrechung von Z und N im Vergleich zu Q auch mit diesem einfacheren Verfahren mit Sicherheit erkannt werden. Die Messungen wurden vorzüglich an mit Alkohol flxierten, aber auch an ganz frischen Fasern, ohne Zusatz, angestellt, und letztere ergaben zum Beispiel für Z 538, für © 543 bei Dyticus, für Z 521, für @ 543 bei Hydro- phylus, für Z 532, für © 563 bei Zabrus gibbus. Bei zwei Versuchen mit Dytieusmuskeln wurden nachträglich unter dem Mikroskope die Fasern mit Alkohol durch Drainage fixiert und entwässert, hierauf mit Origanumöl aufgehellt, wobei merkwürdigerweise die Doppel- brechung sich nicht änderte, indem die Zahlen für die abgelesenen, auscelöschten Wellenlängen, vor und nach der Alkoholbehandlung und Aufhellung, bis auf die Einheiten übereinstimmten. Über die fixierten Kontraktionswellen führt Rollett zunächst die Beobachtung an, dass mit solchen versehene Fasern über der Gypsplatte keine auffallende Farbenänderung der verdiekten Stellen gegenüber den erschlafften zeigen, obwohl man eine merkliche Erhöhung der Farbe in der Additionslage erwarten sollte, wenn man die starke Farbenerhöhung vergleiche, welche eintritt, wenn zwei parallele, erschlaffte Fasern teilweise übereinander liegen. Es steigt dann die 1) Die folgenden Zahlen bedeuten Milliontel Millimeter der Wellenlängen des Angström’schen Normalspektrums. Zur Frage der negativen Schwankung der Doppelbrechung usw. 185 Farbe zum Beispiel von Indigo II. Ord. auf Grüngelb bis Gelb II. Ord. und sinkt in der Subtraktionslage von Braungelb I. Ord. auf La- vendelerau I. Ord., während die kontrahierten Stellen solcher Fasern nicht aus dem Farbenbereiche von Indigo IH. Ord., bzw. Braun- selb I. Ord. hinausgehen. Mit Hilfe des Spektropolarisators ermittelt dann Rollett an Fasern mit gut entwickelten Kon- traktionswellen die ausgelöschte Wellenlänge im erschlafiten und kontrahierten Abschnitte und findet dieselbe zum Teile nahezu gleich, in manchen Fällen aber niedriger im kontrahierten Teile, woraus er mit Bestimmtheit ein Sinken der Doppelbrechung bei der Kontraktion erschliesst. Unter den, 22 verschiedene Käfer- arten betreffenden Messungen befinden sich sechs Fälle, in welchen die ausgelöschte Wellenlänge für @ und ©’, bzw. für die Querscheiben der erschlafften und der kontrahierten Faser dieselbe st; in den übrigen 16 Fällen war durchwees die ausgelöschte Wellenlänge im kontrahierten Abschnitte niedriger als im erschlafften. Die grösste Differenz zeigte Lucanus cervus mit 580 für @ der er- schlafften und 553 für @' der kontrahierten Faser. Es folgen nun Bemerkungen über das Verschwinden der Doppelbrechung von Z. Die Doppelbrechung ist an Z’, das im gewöhnlichen Lichte schwächer lichtbrechend erscheint, als 7’ noch erhalten und verschwindet erst, wenn /’Z'I' zu dem einheitlichen Gliede Ü des Kontraktionsstreifens, der einfachbrechend ist, zusammendiessen. Schliesslich bespricht Rollett seine Beobachtungen an den 'lebenden Fasern mit freiwilligen Kontraktionen und stellt fest, dass die ablaufende Welle stets ein deutliches Sinken der Doppelbrechung in der Additionslage der Faser und ein Steigen in der Subtraktionslage erkennen lässt, dass mithin dieDoppelbrechung bei der freien Kontraktion einer Faser zweifellos sinkt, indem die durch die Verdiekung bei der Kontraktion bedingte Erhöhung der Farbe bei weitem über- kompensiert wird durch das Absinken der Doppelbrechung bei der Kontraktion. So erscheint in der Additionslage an einer gelbgrünen Faser die Welle himmelblau, und in der Subtraktionslage, in der die Faser lavendelgrau erscheint, wird die Welle gelb usw., kurz die Farbenveränderungen sind bei richtiger Anstellung der Versuche so deutlich, dass ein Zweifel über die Bedeutung derselben ausgeschlossen erscheint. Wenn man diese Befunde Rollett’s überblickt, so kann wohl die Annahme, dass im Muskel bei der Kontraktion die optischen 1865 V. v. Ebner: Konstanten der doppelbrechenden Glieder der Fibrillen sich nicht ändern, ganz unabhängig von meinen Versuchen als unhaltbar er- wiesen gelten. Für das Glied Z der Engelmann’schen Zwischenscheibe ist durch Rollett das völlige Verschwinden der Doppelbrechung während der Kontraktion festgestellt und ebenso für die Glieder N der so- genannten Nebenscheiben, die häufig fehlen und jedenfalls in den Muskeln der Wirbeltiere nur ganz ausnahmsweise vorkommen. Es wäre endlich an der Zeit, diesen Tatsachen Rechnung zu tragen und nicht mehr von einer abwechselnden Folge einfach- und doppel- brechender Querstreifen zu sprechen, wie dies Engelmann, ob- wohl ihm bereits die Zwischenscheibe Z und die Nebenscheiben N bekannt waren, tat und wie heute noch häufig angenommen wird. Rollett’s Ausdruck, arimetabole Schicht, für die Summe der Quer- streifen ZZI oder im komplizierteren Falle INEZENTI, von welchen die Streifen Z und N in der erschlafften Faser doppel- brechend sind, und die dann bei der Kontraktion zu dem einheit- lichen isotropen Kontraktionsstreifen C’ zusammenfliessen, sollte endlich an Stelle des für die erschlaffte Faser ganz unberechtigten Aus- druckes isotrope Schicht oder isotroper Querstreifen, Anerkennung finden, da ja von Rollett mit aller Sorgfalt und in durchaus über- zeugender Weise durch Alkohol- und Säurebehandlung, durch Tink- tion und Goldimprägnation, durch die Untersuchung lebender Fasern im gemeinen und im polarisierten Lichte, die reale Existenz der Fibrillenglieder / und Z bzw. I, N, E und Z in der erschlafften: Skelettmuskelfaser der Arthropoden erwiesen wurde. Geringer als in der arimetabolen Schicht sind die Veränderungen in dem von Rollett als metabole Schicht bezeichneten Querstreifen Q, in welchem nur eine Verminderung des Lichtbreehungsvermögens der Glieder ® mit gleichzeitiger Verminderung der Doppelbrechung und eine relative Steigerung des Lichtbrechungsvermögers der Mitte von % bemerkt wird. Wenn Bernstein zu dem Schlusse kommt, dass die Doppel- brechung der quergestreiften Muskelfasern keine physiologische Be- deutung haben könne, weil die in den Fibrillen vorkommenden iso- tropen Abschnitte bei der Kontraktion sich ebenfalls verkürzen, so muss dagegen bemerkt werden, dass die Fibrillen der glatten Muskeln nach ihrer ganzen Länge doppelbrechend sind und völlig einfach- breehende Muskelfibrillen bisher nicht nachgewiesen wurden. Pseudo- Zur Frage der negativen Schwankung der Doppelbrechung usw. 187 podien von Radiolarien, welche Bernstein erwähnt, sind eben keine Muskelfibrillen. Mir scheint der Schluss mehr berechtigt, dass dasjenige, was ausnahmslos bei allen Muskelfasern vorkommt, nämlich mindestens doppelbrechende Fibrillenglieder oder im ganzen doppel- brechende Fibrillen, funktionell nicht weniger wichtig sein kann als das, was ausnahmsweise vorkommt, nämlich die isotropen Glieder der quergestreiften Muskeln, die ja ganzen Tierkreisen vollständig fehlen. Nieht so zweifellos wie die negative Schwankung der Doppel- brechung der quergestreiften Muskelfasern bei isotonischer und bei freier Zusammenziehung lässt sich das Verhalten der Doppelbrechung bei isometrischer Kontraktion feststellen. Es wirken bei solehen Ver- suchen die, durch die Kontraktion bedingte, negative und die, durch die wachsende Spannung erzeugte, positive Schwankung der Doppel- brechung in entgezengesetztem Sinne. Je nach Umständen könnte daher ein Sinken, ein Gleichbleiben oder sogar ein Steigen der Doppelbrechung zustande kommen. Der erschlaffte Muskel ist sehr dehnbar, und er kann sehr beträchtlich verlängert werden, ehe ein deutliches Steigen der Doppelbrechung eintritt. Anders verhält sich der isotonisch kontrahierte Muskel im Tetanus, dessen Doppel- brechung sofort merklich im positiven Sinne zunimmt, wenn man ihn zu dehnen versucht. Ich stellte derartige Versuche vorzüglich mit dem Sartorius des Frosches an, wobei ich zugleich die Erfahrung machte, dass die Interferenzfarbe des kontrahierten Muskels bei eleichbleibender Dicke nicht höher gebracht werden konnte als die vor der Kontraktion am erschlafften Muskel beobachtete. Wurde der Muskel von vornherein an der Verkürzung verhindert (also iso- metrische Kontraktion), so blieb, wie durch den vorber erwähnten Dehnungsversuch verständlich wird, die Doppelbrechung während des Tetanus anscheinend unverändert, was mit den Erfahrungen von E.v. Brücke und L. Hermann am Mylohyoideus und am Brust- hautmuskel des Frosches in Übereinstimmung steht. Doch konnte ich bei der isometrischen Kontraktion des Sartorius im Beginne der Zusammenziehung ein deutliches Sinken der Interferenzfarbe be- merken, die dann erst während des Tetanus auf die ursprüngliche Farbe hinauf eing. Ein analoges, auffälliges Absinken der Doppel- brechung vor der fortschreitenden Kontraktionswelle beobachtete A. Rollett!) an freiwillig sich kontrahierenden Muskelfasern von DICH S490. 188 Vev.Bbnier: Käfern, wenn der vor der Welle gelegene Faserabschnitt, vermöge seiner Lage, zufällig gedehnt wurde. Die negative, optische Schwankung der Doppelbrechung während der Muskelkontraktion stimmte gut zu der sogenannten Quellungs- hypothese, so lange man auf Grund der Messungen Th. W. Engel- mann’s annehmen durfte, dass bei der Kontraktion die anisotropen (uerscheiben auf Kosten der isotropen an Volumen zunehmen. Seitdem aber diese Annahme, insbesondere durch die Untersuchungen K. Hürthle’s!), als unhaltbar sich ergeben hat, kann die Quellungs- hypothese in der Form, in der sie ursprünglich von Th. W. Engel- mann aufgestellt wurde, nicht mehr festgehalten werden. Seit den Untersuchungen Engelmann’s hat sich die Fragestellung infolge der, wenn auch langsam und unter vielen Schwierigkeiten und wider- sprechenden Befunden, fortschreitenden Erkenntnis der Muskel- struktur allmählich geändert. Vor allem glaube ich, als eines der wichtigsten Resultate der mikroskopischen und physikalischen Unter- suchung hervorheben zu sollen, dass die Muskelfasern, trotz ihres hohen Wassergehaltes, in keinem ihrer mikroskopisch unterscheid- baren Bestandteile flüssige Beschaffenheit haber, sondern dass alles Wasser in einer komplizierten, organisierten Struktur enthalten ist, die, obwohl sehr labil, doch bei Kontraktion und Erschlaffung sich immer wiederherstellt, was bei einer Flüssigkeit unmöglich wäre. Dieses Ergebnis der Muskelmikroskopie hat insbesondere M. Heiden- hain klar auseinandergesetzt, auf dessen Ausführungen in „Plasma und Zelle“ ?) ich hiermit verweise. Nach der gewonnenen Einsicht, dass die lebende Muskelfaser aus zwei Hauptbestandteilen bestehe, nämlich den, entsprechend der Querstreifung, gegliederten Fäden (Fibrillen, Säulehen) und dem die Fibrillen umhüllenden Sarko- plasma, das seinerseits noch eine komplizierte Struktur besitzt, frägt es sicn zunächst um die Bedeutung der beiden Hauptbestandteile. Das Sarkoplasma mit seinen spezifischen Körnchen, als Träger der Zellkerne, sowie als Angriffspunkt der Nervenenden und der Endzweige der Tracheen bei den Tracheaten ist wohl in erster Linie der Ort der chemisch-biologischen Prozesse, aber ungeeignet für die mechanischen Leistungen der Muskelfaser. Dass dagegen die grossen- teils mit doppelbrechenden Gliedern versehenen und bei den glatten 1) Arch. f. d. ges. Physiol. Bd. 126. 1909 2) II. Lieferung 3. 571ff. G. Fischer, Jena 1911. — Zur Frage der negativen Schwankung der Doppelbrechung usw. 189 Muskeln im ganzen doppelbrechenden Fibrillen sich bei der Kon- traktion verkürzen und verdieken und dabei mechanische Energie leisten, ist wohl nicht zu bezweifeln. Hürthle hat durch seine Messungen an Moınentphotographien und kinematographischen Auf- nahmen im polarisierten Lichte von freiwilligen Kontraktionswellen der Muskelfasern des schwarzen Wasserkäfers (Hydrophilus) gefunden, dass das Volumen der @-Glieder der Fibrillen bei der Kontraktion sich nicht ändere, und sein Schüler S. Gutherz!) kommt auf Grund der Untersuchung der Querschnittbilder zu dem Resultate, dass bei der Kontraktion eine einfache Verdiekung und Verkürzung der Muskelsäulchen stattfinde. Es kann also, nach dem heutigen Stande der, allerdings nicht leicht festzustellenden, mikrometrischen Befunde, eine Flüssigkeits- aufnahme aus dem Sarkoplasma in die Fibrillen, d.h. eine Quellung während der Kontraktion, nicht behauptet werden. Wohl aber ist eine Wasserverschiebung innerhalb der Fibrillen selbst, die von chemischen Vorgängen im Sarkoplasma ausgelöst wird, nieht aus- geschlossen, und man könnte sich vorstellen, dass die negative Schwankung der Doppelbrechung mit der Wasserverschiebung in kausalem Zusammenhange stehe, indem die Moleküle, deren Ver- bände die Struktur bedingen, in der Längsrichtung Wassermoleküle anziehen und sie in der Querrichtung einlagern, wodurch zugleich das Sinken der Doppelbrechung in den @-Gliedern und das völlige Verschwinden derselben in den Z-Gliedern sich erklären würde. Die Quellungsvorgänge an positiv doppelbrechenden Fasern und an künstlich positiv doppelbrechend gemachten Leimfäden haben nur insofern eine gewisse Analogie mit dem vorgestellten Vorgange, als bei der Quellung die Einlagerung der von aussen aufgenommenen Flüssigkeit vorwiegend senkrecht zur optischen Achse, also nach der Querrichtung erfolgt, und dass zugleich die Doppelbrechung beträcht- lich sinkt. Der einzige, sonst bekannte Vorgang, der mit dem für die Muskelkontraktion angenommenen in nähere Analogie gebracht werden kann, ist die Sehnenverkürzung durch Wärme, von der auch Engelmann bei seiner Kontraktionshypothese ausging. Es handelt sich um eine plötzliche, energische Verkürzung einer Fasermasse ohne Volumenänderung, verbunden mit starkem Sinken der Doppel- breehung. Doch hat diese Analogie das wesentliche Gebrechen, dass 1) Arch. f. mikrosk. Anat. u. Entwicklungsgesch. Bd. 75. 1910. 190 V.v. Ebner: Zur Frage der neg. Schwankung der Doppelbrechung usw. der Prozess nicht umkehrbar ist und ausserdem in bezug auf das physikalische Geschehen nicht aufgeklärt ist. Die von Engelmann auf diese Analogie aufgebaute thermodynamische Kontraktionstheorie konnte sich nicht halten, und der Versuch, den Vorgang mit Hilfe einer Violin E-Saite in umkehrbarer Form, als ein auch energetisches Analogon der Muskelkontraktion zu demonstrieren, wurde durch J. Bernstein als ein auf Quellung und Entquellung spiralig ge- drehter Faserbündel beruhendes Experiment nachgewiesen, das offenbar keine Analogie mit der Muskelkontraktion darstellen kann. Es ist aber nieht ausgeschlossen, dass im Muskel etwas der Sehnenverkürzung Analoges in umkehrbarer Form nieht durch die Wärme, sondern durch den chemischen Prozess, der bei der Kon- traktion zweifellos stattfindet (Säurebildung usw.), hervorgerufen werden kann. Wenn also auch die Quellungshypothese zur Erklärung der Muskelkontraktion, auf Grund des gegenwärtigen Wissens, ab- gelehnt werden muss, so kann das gleiche nicht für die Wasser- verschiebungshypothese gelten. Dies näher auszuführen, würde jedoch den Zweck dieser Mitteilung, die ja nur das tatsächliche Vorhanden- sein einer negativen optischen Schwankung der Doppelbrechung bei der Muskelkontraktion verteidigen will, überschreiten. Über die Bedeutung der Arterienpulsationen für die Strömung in den Venen und die Pathogenese der Varicen. Von K. Hasebroek in Hamburg. (Mit 7 Textfiguren.) Der Ausgangspunkt der in folgendem mitzuteilenden Untersuchung waren diese Beobachtungen: I. Wenn ich (Fig. 1) an meiner vor mir auf dem Tisch liegenden oder, noch besser, etwas geneigt gehaltenen linken Hand die gut ge- füllte, astfrei verlaufende und bei X mit einer Klappe versehene Hautvene P mit der Kuppe des gebeusten Mittelfingers der rechten Hand bei p° verschliesse und währenddem mit der Kuppe des flek- tierten Zeigefingers proximal von der Verschlussstelle auf p! einen leichten Klopfschlag ausübe, so fällt das Venenstück P zusammen. Es entleert sich der grösste Teil des Inhaltes durch die Klappe X, denn wenn ich jetzt durch Aufheben des Mittelfingers den distalen Verschluss bei p* beseitige, so füllt sich das Venenstück P wieder prall. P ganz zu entleeren, gelingt nicht, selbst nicht durch wiederholte Klopfungen, es bleibt ein unbeeinflussbarer Rest. II. Wenn ich mit dem rechten Mittelfinger bei p? die Vene abschliesse und alsdann mit der Kuppe des rechten Daumens bei m! den Klopf- schlag ausübe, so entleert sich ? unter Zusammenfallen ebenfalls, jedoch nicht in so hohem Grade wie beim Versuch I. Der Übertritt von Blut aus P nach M erfolet in der Beobach- tung I in der Phase der Abwärtsbewegung der Fingerkuppe durch eine Druckerhöhung in P, in der Beobachtung II in der Phase der Auf- wärtsbewegung der Fingerkuppe durch Druckverminderung in M. Nur bei solehen Vorgängen kann die Klappe X — deren Schluss- fähigkeit in bekannter Weise durch Ausstreichen von P sich fest- stellen lässt — sich öffnen. In der Beobachtung I handelt es sich 193 K. Hasebroek: um eine unmittelbare Propulsion in ?. In der Beobachtung II handelt es sich um eine Aspiration in M, und damit um eine in P relati’ geschaffene Plusdifferenz des Innendruckes. Für eine Aspiration spricht der Umstand, dass der Versuch auch bei abwärts geneigter Hand, also entgegengeseszt der Schwere der Blutsäule in P, gelingt. Man muss nun weiter fragen: Ist in der Beobachtung II eine wirk- liche Expansionsbewegung der vorher zusammengedrückten Venenwandunege mit im Spiel? Man könnte nämlich einwenden, dass eine solche nieht sicher sei: es könne auch der Zufluss aus der Zweigvene Z es sein, der beim Abheben des Fingers in M eine hydraulische Saugspannung erzeuge, und dass dann diese auf den Big=T: Inhalt von P wirke. Dies ist aber nicht der Fall, denn wenn ich den Versuch II so abändere, dass ich bei m»! den Finger nach lang- samem Niederdrücken rasch abhebe und eleichzeitig für Abschluss der Zweigvene Z sorge, so ist der Effekt der Entleerung von P im (Gegenteil grösser, als wenn Z offen bleibt. Es ist also kein Zweifel, dass der Tonus der Venenwand eine Aspi- ration ausübt. Die Erscheinungen vollziehen sich am deutlichsten, je voller die Venen sind, und ausgesprochen bei hoher Aussentemperatur in der Sommerhitze: Man konstatiert alsdann eine erstaunliche Präzision und Schnelligkeit der Entleerung, die jedesmal von neuem über- rascht. Da die Entleerung schon bei leichtestem Klopfen auf die Venen eintritt, so muss man einer Wellenerregung des Blutinhaltes eine: Über die Bedeutung der Arterienpulsationen für die Strömung usw. 193 wesentliche Rolle für das Zustandekommen der Erscheinungen zu- sprechen, denn unter den vorliegenden Verhältnissen ist eine Massen- bewegung mit der Formbewegung einer Welle verknüpft. Unter solchen Umständen könnte man an die Möglichkeit denken, dass bei der Beobachtung II die in M erregte Welle distalwärts die Klappe K als Formbewegung durchdringt, in P bis zum Verschluss p° läuft und nun auf ihrem Rückwege eine Wirkung auf die Entleerung entfaltet. Diese Möglichkeit fällt jedoch, wie ich hier schon be- merken will, nach dem Resultat der weiteren Untersuchung fort (siehe S. 195 ff. und 205). Ebenso wie am Handrücken kann man dieselben Erscheinungen auch an anderen Hautvenen hervorrufen. Sowobl die Längsvenen an der Beugeseite des Unterarms als an der medialen Seite des Unterschenkels liegen bequem zur Ausführung der Versuche. Be- sonders gut sieht man an einem über das andere Knie geschlagenen, dem Auge übersichtlich daliegenden Unterschenkel bei guter Be- leuchtung die langen klappenlosen Venenstrecken trotz ihres kleinen Durchmessers schon bei leisester Klopfwirkung ungemein prompt auf die Versuche, speziell die der Beobachtung II, mit Entleerung und Znsammenfallen reagieren. A. Physikalischer Teil. Um Klarheit über das Verhältnis zwischen Wellen- und Massen- bewegung zu erhalten, experimentierte ich an einem Venenmodell: Ich verfertiste den Venen entsprechende 9 cm lange Röhren aus elastischem Gummimaterial von 0,15 mm Dicke. Im Handel sind ge- eignete dünnwandige Gummiröhren nicht erhältlich. Die Anfertigung solcher Röhren ist mit Hilfe eines entsprechend dimensionierten Glas- rundstabes in folgender Weise leicht möglich: Auf dem nach einem Papiermodell ausgeschnittenen, auf dem Tisch ausgebreiteten recht- eckigen Gummistoff befestigt man zunächst auf dem einen Längs- rand den 7 mm dicken Glasstab der Länge nach provisorisch durch fünf bis sechs ca. 2 cm voneinander entfernte Tröpfehen Gummilösung, wie sie zum Kleben von Radreifen benutzt wird. Nach dem Antrocknen (ca. !/ Stunde) bestreicht man einige Millimeter breit den anderen Längsrand des Gummistoffes mit der Gummilösung und rollt nun mit dem Glasstabe — den man unmittelbar vorher zwecks besserer späterer Abstreifung anfeuchtet — den angehefteten Längsrand dem gegenüber liegenden Längsrand derart entgegen, dass nach der Vereinigung der ‚beiden Längsränder der Glasstab mit einem Gummimantel umrollt ist. Nach kurzem Trocknen löst man durch vorsichtiges Drehen zunächst die kleinen provisorischen Haftstellen und streift dann durch weiteres 194 K. Hasebroek: Manipulieren die fertige Gummiröhre von dem Glasstabe ab. Im Lichten betragen diese Venenröhren ca. 7!/g mm. Sie vermögen ihre Rundheit durch eigene Elastizität innezuhalten und fallen auf geringe atmo- sphärische Innendrucksenkung zusammen. Die Klappenventile bestehen aus Hausenblase, die auf die Ober- seite eines aus 0,35 mm dickem Gummimaterial ausgeschnittenen Flach- ringes von 7!/a mm Durchmesser geklebt ist. Dieser Klappenring X wird an zirka ein Viertel seiner Zirkumferenz mit Gummilösung auf das dünne, 8 mm Durchmesser haltende Ende eines konischen Gummi- stopfens befestigt. Man ersieht die Konstruktion aus Fig. 2 und 3. 1 N VKrsarst N } Mit Hilfe von zwei 3 cm langen, ca. 8 mm weiten Glasröhren werden die Ventile durch die mit 7 mm weiten Glasröhrchen ver- sehenen Gummistopfen zwischen die elastischen Röhren eingefügt (siehe Fig, 4 K!K?). Diese Ventile sind so empfindlich, dass sie gegen Wasser unter absolutem Abschluss auf geringste Druckschwankungen im Glasrohr reagieren. Die Hausenblase liefert in ihrer Wasserquellung zudem Bedingungen, die einigermaassen dem organischen Venenklappen- material entsprechen. Zur technischen Erleichterung einer luftblasenfreien Füllung des Modellsystems, der Einstellung auf verschiedenen Wasserdruck usw. kam ich zur folgenden Apparatenanordnung (Fig. 4): Die künstliche Periphervene P, Mittelvene M, Zentralvene C mit den eingeschalteten Klappen X! und K? ruhen auf einem in seiner Höhe durch zwei Stellschrauben SS höher und niedriger einstellbaren Unterlagetischehen 77T von 75:15 cm. Die beiden Enden des Röhrensystems sind angeschlossen an je eine oben und unten gleich weit offene, entgegengesetzt graduierte Bürette A und Ah!, deren Nullmarken in einer und derselben Hori- zontalen liegen, und die zugleich mit einer Mariotte’schen Flasche, zur bequemen Nachfüllung, kommunizieren. Ist also das System bis zu den Nullmarken gefüllt, so befindet sich der Inhalt im Gleich- gewicht und in Ruhe. Ein Schraubenquetschhahn E! dient zur bequemen Regulierung des Abflusses in h!, Der Quetschhahn E? hat den gleichen Zweck für den Zufluss und das Einstellen der Flüssigkeitssäule in h. Da der Druckspiegel der eingeschalteten Mariotte’schen Flasche sich in der Horizontalen der Nullmarken von h und h! befindet, so füllt sich das System bei geöffnetem Z#? und geschlossenem E!, An diesem gefüllten System gelingen die analogen Versuche unserer Beobachtungen I und II an den entsprechenden Röhren- abteilungen P und M prinzipiell gleich wie an meiner Handrücken- Über die Bedeutung der Arterienpulsationen für die Strömung usw. 195 lo + 2 m UHRWERK AN "EN x La at) Fig. 4. CMP künstliche Venenleitung mit den Klappen X! K?, Durch Uhr- werk getriebenes Hammerklopfwerk zum Gebrauch an die Veue M herangebracht zur Wellenerregung in m’ durch den Hammer H. W eingelügtes Stück ge- ’ wöhnlichen Gummischlauches. vene, nur dass die Klopfwirkung nicht annähernd so ausgiebig, be- sonders hinsichtlich des Zusammenfallens der Röhrenwandungen ist. — Um zu einer Analyse der Klopfwirkung zu kommen, untersuchte ich zunächst an dem gefüllten, an E! verschlossenen, im Gleich- gewicht befindlichen ruhenden System den Einfluss von gröberen Massenverschiebungen, wie sie durch Aufsetzen und Abheben einer Bleileiste von 4 em Länge und quadratischem Querschnitts- durchmesser von 1 cm, im Gewicht von 80 g, auf den Schlauch bei c!, m!, p! an den Bürettenniveauständen sich äussern (der Klopf- hammer ist in Fig. 4 jetzt noch fortzudenken). Ich erhielt hierbei nach sorgfältiger jedesmaliger Neueinstellung des Systeminhaltes auf die Nullmarken bestimmte Niveauverschie- bunsen in h 'und h!, die ich in den Tabellen 1 und 2 zusammenstelle, Pflüger’s Archiv für Physiologie. Bd, 163, 14 196 K. Hasebroek: Tabelle. Beim Aufsetzen der Bleileiste Niveau in h’ Niveau in h auf c! | Niveau steigt auf + S mm unter | Niveau bleibt stehen auf 0 Auf- und Niederschwanken auf m! | Niveau steigt auf + 8 mm unter Niveau bleibt stehen auf 0 Auf- und Niederschwanken auf p! | Niveau steigt auf + 3 mm unter | Niveau steigt auf +5 mm Auf- und Niederschwanken Tabelle 2. Beim Abheben der Bleileiste Niveau in A’ Niveau in h von c! Niveau stellt sich nach Auf- und | Niveau sinkt in scharfen Absätzen Niederschwanken dauernd ein auf —6 mm auf +6 mm von m! | Niveau steigt weiter unter Schwan- | Niveau sinkt in scharfen Absätzen ken dauernd auf + 11 mm auf — Il mm von p! | Niveau steigt weiter unter Schwan- | Niveau sinkt in scharfen Absätzen ken dauernd auf +8 mm auf —8 mm Meine Auslegung dieser Tabellen 1 und 2 ist folgende: Beim Aufsetzen der Bleileiste findet am Rohr eine Drueksteigerung statt, die unter der Absperrwirkung der Klappen bei Applikation (auf c! und m!) an C und M sich ausschliesslich nach h! ausgleicht (Steigen auf 8), bei Applikation (auf p!) an P da- gegen sich nur zum kleineren Teil nach h! (Steigen auf 3), zum grösseren Teil nach h (Steigen auf 5) ausgleicht. Beim Abheben der Bleileiste findet an dem entlasteten Rohr eine Druck- verminderung statt, die noch durch die Expansion des elastischen Rohres unterstützt wird: diese Druckverminderung findet, wenn es sich um die Abhebewirkung in c! auf C handelt, ihren Ausgleich durch Rückfluss aus A! (Sinken von +8 auf +6) und durch Zufiuss von h her (Fallen von 0 auf — 6); findet die Abheb- wirkung in m! oder p! auf M oder P statt, so kann wegen der Ab- sperrwirkung der Klappen der Druckausgleich nur von A her er- folgen: Daher fällt das Flüssigkeitsniveau in » unter entsprechendem weiteren Steigen des Niveaus in A! auf resp. 11 (+3) und 8 (+5). Über die Bedeutung der Arterienpulsationen für die Strömung usw. 197 Die von k nach h! in Bewegung gesetzten Massen kommen aber zufolge des Beharrungsgesetzes nicht zur Ruhe. Das Steigen der Flüssiekeit in A! unter „Auf- und Niederschwanken‘, sowie das Fallen der Flüssigkeit in % „in scharfen Absätzen“ zeigt, dass es sich um rasch abklingende Schwingungen der ganzen Wassermengen handelt. In der Richtung nach A! werden die Klappen wiederholt geöffnet, lassen Flüssigkeit in 4! übertreten; in der Richtung nach h werden die Klappen ebenso wiederholt geschlossen und jeder Rückfluss nach h gehindert: die Erhöhung des Niveaus in h! bleibt dauernd. — Zusammenfassend kann man im Ausdruck der Wellenlehre sagen: Sowohl das Aufsetzen der Bleileiste wie das Abheben ist ein eine Wellenbewegung einleitender Impuls. Drucksteigerung durch Aufsetzen der Leiste und Druckverminderung durch Abheben setzen sich, soweit sie nicht durch die Klappenwirkung gehindert werden, wellenartig sowohl vorwärts als rückwärts fort. Die durch diese Impulse erzeugte Druck- bzw. Saugwellenbewegung klingt, wie alle Wellenbewegungen in kommunizierenden höhren, rasch ab. Die trans- latorischen Bewegungen von Flüssigkeitsmengen sind bedingt durch die einseitigen Wirkungen der Klappen, die an der Stelle ihres Sitzes jede Bewegung der Wasserteilchen in der Richtung von /h nach h! gestatten, aber jede Bewegung desselben Teilchen in der Richtung von h! nach h hindern. Eine weitere Beobachtung ist folgende: Wenn man in p! durch langsamen Fingerdruck eine Massenverschiebung des Inhaltes voll- führt, so wird ausschliesslich eine Verschiebung nach h hervor- gerufen. Dagegen genügt ein rascher Fingerdruck, um auch eine Beförderung des Inhaltes unter Klappenöffnung nach A! durch- zusetzen. Analog bemerkt man bei einer kurz und rasch im Gegensatz zu einer langsam erfolgenden Abhebung des Fingers von c!, eine Senkung inAh. Die transportierende Wirksamkeit jeder Welle hängt also von der Geschwindigkeit ab, mit der der Impuls ihrer Erregung verläuft. Um für die Beurteilung einer intermittierenden Wellenerregung dieser Art bestimmte Unterlagen zu erhalten, konstruierte ich ein durch Uhrwerk getriebenes Klopfhämmerchen, dessen Energie quantitativ und qualitativ eingestellt werden konnte. Hammer und Triebwerk wurden zusammen auf einem schweren Bleiklotz befestigt, so dass der Hammer bequem an die einzelnen Ab- 14 * 198 K. Hasebroek: teilungen C, M und P in der Weise, wie Fig. 4 zeigt, herangebracht werden konnte. Durch die Stellschrauben an dem Lagerungstisch 77 wird der Hammerkopf vor dem Versuch auf eine jedesmal gleiche tangentiale Berührung mit der Aussenfläche des gefüllten Schlauches eingestellt. Fallhöhe ca. 1 cm. Lösungs- und Arretierungsvorrichtung ermöglichen eine bestimmte Anzahl Klopfwellenerregungen hintereinander. Die Schwere des Hammerfalles auf die Schlauchwandung beträgt ca. 10 g, so dass am gefüllten Schlauch noch keine volle Kompression, sondern nur ein partielles Eindrücken bewirkt wird. Mit diesem Hammerwerk erzielte ich konstante Wellenerregungen. Trotz kleiner Unregelmässig- keiten des Uhrwerkes stimmten ausnahmslos unmitttelbar hintereinander angestellte Versuche in den Millimeter-Zahlenwerten der Steigung des Niveaus in h! überein. Schwieriger stand es mit der Erreichung der Konstanz bei einer erneuten Einstellung, besonders an verschiedenen Tagen und nach Auseinandernehmen und Neuzusammensetzen des Röhrensystems. Indessen liess sich auch hier mit Sorgfalt eine genügende Genauigkeit erzielen, wie man aus den Versuchsserien ersehen kann. Notwendig ist hierzu nur, dass man bei jedem Versuche sämtliche dimensionalen Verhältnisse des Systems innehält. Man muss daher jede Schlauchabteilung, jedes Ventil, jeden Gummistöpsel mit Verbindungs- stück durch Markierungen kennzeichnen, so dass bei erneuter Zusammen- setzung des Apparates ein jeder Teil seine frühere Stellung wieder einnimmt. Die Ventile sind von Zeit zu Zeit zu kontrollieren und eventuell zu erneuern, denn die Hausenblase löst sich im Gebrauch mitunter partiell ab. Der Hammer wirkte stets auf die Stellen c!, m!, p!. Nach jeder Neufüllung des Systems muss man den Ausgleich von Temperaturdifferenzen von innen und aussen der Mariotte’schen Flasche abwarten. An unserem Modellsystem ist die }! wärts fördernde Wirkung des Hammerklopfschlages auf C, M und P also folgende: 1. In € transportiert der Fall des Hammers nach A! hin. Die Wirkung wird durch das Abheben des Hammers rückgängig. Das Abheben transportiert aber selbst. Daher entsteht insgesamt posi- tive Förderwirkung nach h!: Wir haben eine Saugwellen- wirkung. 2. In M transportiert der Fall des Hammers. Diese wird nicht durch Abheben des Hammers rückgängig gemacht (wegen Klappe X?), das Abheben transportiert aber ebenfalls. Daher entsteht grössere positive Transportierung nach ht! als beil. Wir haben eine volle Druckwellen- und reduzierte Saugwellenwirkung. 3. In P transportiert der Schlag des Hammers weniger (s. Tab. 1). Die Wirkung wird nicht beim Abheben rückeängig gemacht (wegen Klappe K? und X!). Das Abheben transportiert aber ebenfalls. Daher grössere positive Transportwirkung nach Ah! Über die Bedeutung der Arterienpulsationen für die Strömung usw. 199 als bei 1., aber kleinere als bei 2. Wir haben reduzierte Druckwellen- und fast volle Saugwellenwirkunge. Tabelle 3 gibt das Resultat einer derartigen rhythmischen Anwendung des Klopfhammers mit erzieltem Hinauftreiben der Flüssigkeit aus % in 1 durch Applikation an den einzelnen Schlauch- abschnitten ©, M und P des Modells. Vor jeder neuen Klopfserie erfolete Einstellung auf die Nullmarken. Dieses Schema der Reei- strierung liegt allen späteren Versuchen zugrunde. Tabelle 3. 22. Dezember 1914. Mariotte’sche Druckhöhe 17'/’a cm über der Röhren- achse. Wandungsdicke der Röhren 0,15 mm. Hammerfrequenz 90 pro Minute. Millimeter-Zahlen — Steighöhen des Niveaus in A’. C bedeutet Zentralvene, M Mittelvene, P Periphervene. Zahl der Z 9) Hammerklopfungen < 7 12 30 24 mm 34 mm El 927 mm 50 26 ” 42 $)) | 28 5 100 a, 5 0. Die Tabelle 3 lässt hinsichtlich der Förderwirkung das soeben erörterte Verhältnis zwischen ©, M und P im allgemeinen erkennen. Bei 100 Klopfwellenerregungen stellt es sich mit 6:11:8 zufälligerweise auf die gleichen Zahlen der Tabelle 2 des Bleileisten- versuches (S. 196) ein. Bei gegebener Wellenstärke muss der Grad der Förderung nach h! von den Widerständen der zu überwindenden Wassersäule in 4! bestimmt sein. Da diese Widerstände durch die Differenz der Höhe in h! und h gegeben sind, so wird bei unserer Versuchsanordnung mit dem Steigen in 4! der Widerstand sich zunehmend vermehren. Dementsprechend muss bei gleicher Energie der Wellen die absolute Grösse des Steigeffektes sukzessive abnehmen. Die Tabellen 4a und 4b zeigen dies. Es sind die Steighöhen von %! registriert, wie sie sich von 30 zu 30 Klopfungen des Hammers, je nach den Röhren- abteilungen C, M und P, einstellen. Man sieht, dass die über- all schnelle Abnahme des Förderungseffektes durch die zunehmenden Widerstände je nach den Röhren- abschnitten in verschiedener Weise begrenzt wird. Erreicht wird die Grenze des Förderungseffektes am » ° K. Hasebroek 200 frühesten bei Klopfung auf (, während sie bei solcher auf M und auf P sehr viel weiter hin- - = S = = wm wuu oo 0 'eschoben ist. U o° aus Die folgende Tabelle 5 zeigt den Einfluss einer Erhöhung der Hammerschwere um 2 g (mit- 199m Jaopugasaun pn Q I Jo4loM Jaapugaaaun pun Q 0 199m Mopuzaeaun pn Q 0 wu I] Aoyom FIopmwroaun pun wu gpf AP)ToMm Ylopupıoaun pin um Qp AREA opueaoaun pun o1d 06 zuambaapounuef] :ulojowı]jip ur uodenad -gr-AL SET LIT 9IT 9IT SIT FIL SIT SIT LIT 601 LOL FOL I0OL 86 86 48 IS FL 19 09 55 FF 98 76 90T 90T 90L 90ı 90T 90T 90I SOT FOL E0I SOL IOI 66 L6 G6 26 68 78 8L IL 09 67 98 07 07 0O7r 07 07 07 07 07 07 07 07 07 07 07 07 07 07 68 88 LE GE 66 16 97.19 A -1OJOULI[[LN "wur G]‘Q USFUNJISIGLUIIYOY A9p opPıpsdunpue \ "WO 3/, LT Oyoyyonıd ay9s,9470Tae m "FI6T TOqWaZad 'CG ‘a9190U uosunjdojy 0E nz 0g uoA ‘y ur dyoqsrarg ey all94eL ERS [ ’ | Be {eb} — m! mu geh 2092 ap | ni) 60 Zee ra 29er 60 001 Se ce gu eg | verleyı | 87 | Bear 08 = Eu en BE-FEBG= | 9 | 26 | Bu ee nor Canle 08 — [eb] fen! a = = 0/9, wu ut 0/, ww UM 0/, U | wu uos gs do 9wiell | z T swgeu | z + swgeu | z N re NZ H H NZ Wal Jaf nz EI H | -ungdopsg in = = | Ar Te (JUICE es) = 8 d MW 0) op 147 as ers 22 a S Bi 15 ag =- ae) ,y ur 9yOYSTOIg — HU9 Ay -AJ9Wwı]] IN toWwwe 94.19MU9S = = = « 919 = °y “oylomnypsoqun — Yr muy oad 06 zuenbasewweg ww GT‘ en S 2 oydıpssunpue y "WI 3/1] OyOyNanıdq 9y9s,99901ae W "FI6L OqWUIZIT CZ sauna 'c o][oquL a ee ee ee de OO REEL EZ GG SE Der 1296 00000... OO FERTIGTE L} 1} ei ie) = 0 os on DS o en = =) Sins er BIST - ae N Ss a unERs I, 7] man u Son sAa#3 ne & ERBe>S a oo = Zu 3 oo Fr =! gase "520% 35% n nn 8 dan ul any p au POMAWTBUNZ[OZUT OT d zne Sunydoyy - w ne Zunydojy ° 9 zae Sunydopy oynuml Über die Bedeutung der Arterienpulsationen für die Strömung usw. 9201 für seine bekannte Versuchsanordnung der Wellenerregung durch periodischen Zufluss aus einem Standgefäss zu dem Resultat, dass in elastischen Röhren die bewegende Kraft einer erregten Welle auf den Inhalt um so grösser ist, je grösser die Dehnbarkeit des Schlauches ist). Die Konstitution meines Schlauchsystems hängt zunächst in dieser Beziehung von der Innendruckbelastung, also bei unserer Versuchsanordnung von der Höhe der Nullmarken ab. Ich kann somit dureh verschiedene Einstellung von Null und durch Verände- rung der Höhenstellung der Bürette und der Mariotte’schen Flasche die Ruhespannung und damit den Dehnungszustand der Wandungen von ©, M und P verändern. Ich prüfte bei einer Höhenherabsetzung auf 8'!/; cm. Die Werte sind in Tabelle 6 registriert. Tabelle 6. 25. Dezember 1914. Mariotte’sche Druckhöhe 8!/. cm. Wandungsdicke der Röhren 0,15 mm. Hammerfrequenz 90 pro Minute. Millimeter-Werte = Steig- höhen in A’. Ä Zahl | der Hammer- & M | F klopfungen mm mm | mm 30 27 48 40 50 29 58 48 100 42 69 61 Das Resultat, verglichen mit Tabelle 3, ist: Die Förderungs- gsrösse des Klopfhammers nimmt caeteris paribus bei gsrösserer Dehnbarkeit der Wandungen infolge Ver- minderung der Innendruckbelastung des Röhren- systems zu. Ich prüfte nun den Einfluss der Wandungsverhältnisse direkt, indem ich ©, M und P aus verschieden diekem Gummimaterial ver- fertigte. Ich berücksichtigte ausser der bisherigen Dieke von 0,15 mm die Dicke 0,35 und 0,5 mm. Die stets 9 em langen Röhrenabtei- lungen verlängerten sich auf Prüfung durch ein angehängtes gleiches Gewicht um resp. 5,5, 2,5 und 1 em. Ich führe diese Zahlen als Dehnunsskoeffizienten ein. 1) Grashey, Die Wellenbewegungen in elastischen Röhren usw. S. 81. Leipzig 1880. 202 K. Hasebroek: Die folgende Tabelle 7 zeigt, dass mit abnehmendem Dehnungskoeffizienten der Röhrenwandungen die Grösse der Förderung des Systeminhaltes abnimmt: Tabelle 7. 28. Dezember 1914. Mariotte’sche Druckhöhe 17!/g cm. Hammer- frequenz MW pro Minute. Die Werte 5,5—2,5—1 = Dehnungskoeffizienten des Röhrenmaterials. Millimeter-Werte — Steighöhen in %. Zahl C M „der Hammer: | 55.125]: 1.1 55 25. 1.51 55 Pos. klopfungen mm | mm | mm mm mm | mm mm | mm | mm 30 : 19 17 11 35 3 -19 21 | 17 10 50 25 19 12 48 45 On 18224 11:: 100 29 25 18 69 61 40 41 | 386 | 16 Der positive Einfluss der Zunahme der Dehnbarkeit der Röhren- wandungen auf die Förderung hat jedoch seine Grenzen, denn die Tabelle 8 zeigt, dass an einem Röhrensystem aus feinstem Kondom- gummi mit dem Dehnungskoeffizient 36(!) bei 17!/s cm Druckhöhe der Mariotte’schen Flasche nur eine ge- ringe Förderung von h nach k!im Vergleich mit Ta- belle3 entsteht, und dass hier bei weiter erniedrigtem Innendruck, bei 8!’ em Mariotte’scher Druckhöhe, die Klopfwirkung noch geringer wird undauf (Ü ganz versagt. Tabelle 8. 28. Januar 1915. Röhrenwandungen aus Kondomgummi — Dehnungs- koeffizient 36. Hammerfrequenz 90 pro Minute. Millimeter-Werte — Steig- höhen in X. Zahl der Hammer- C M PD kloptungen mm mm mm 50 ; 1 n Mariotte’sche 100 5 % 18 Druckhöhe 17V/2 cm 50 D 8 z Mariotte’sche 100 0 14 2 Druckhöhe 8!/a cm ‚Diese Doppeltabelle 8 der sehr dehnbaren Kondomgummiröhren hat für die Beurteilung der Saugwellenwirkung des sich ab- Über die Bedeutung der Arterienpulsationen für die Strömung usw. 203 hebenden Klopfhammers noch eine spezielle, und zwar doppelte Be- deutung: Die Abhebewirkung. des Hammers hängt ab von dem Beharrungsvermögen der in der Richtung nach k! in Bewegung ge- setzten Massen; ihre Energie ist gegeben durch !/s mv?. Ist die Mariotte’sche Druckhöhe kleiner, . so ist erstens die bewegte Masse geringer, zweitens aber auch das erzielte » geringer. Die in der. Tabelle unter © angegebene Förderwirkung ist eine reine Ab- hebe-, d. h. Saugwellenwirkung: Das starke Zurückgehen dieser Wirkung bis auf Null im Vergleich zu M und P, wo die Druckwellen- wirkung (Niederfallen des Hammers) eine Rolle spielt, zeigt, dass die Saugwellenwirkung bei zunehmender absoluter oder dureh niedrigeren Innendruck bedingter Dehn- barkeit mit der Abnahme der Expansionskraft ab- nimmt und erlischt. Diese Kondomröhren muss man in anderer Weise wie die Röhren aus dickerem Material anfertigen: Man wickelt ein abgepasstes Stück des Materials unter leichter Anspannung um den entsprechenden Glas- rundstab mit ca. !/g cm Überschlag und befestigt provisorisch an beiden Enden des Stabes den Stoff mit pastenähnlichem sogenannten Automobilgummikitt in der ganzen Zirkumferenz. Alsdann klebt man mit derselben Gummipaste sukzessive, von einem Ende des Stabes zum anderen fortschreitend, in kleinen Portionen den Überschlag auf den Unterschlag. Nach kurzem Trocknen umschneidet man die provisorisch auf den Glasstabenden angehefteten Ringpartien und streift das Kondom- röhrchen ab. In die freien Enden werden wieder Glasröhrchen von 7 mm im Lichten eingebunden. — Ich prüfte jetzt den Einfluss der Frequenz der Wellen- erregungen. Es ist klar, dass die Frequenz für einige später auf das lebendige Venensystem zu ziehenden Schlüsse eine Rolle spielen muss. Durch verschieden grosse Übertragungsräder zwischen Hammer- apparat und Uhrwerk (s. Fig. 4) konnte ich ausser der bisherigen Frequenz von 90 pro Minute eine solche von 150 und 240 pro Minute anwenden. Ich prüfte wieder die Einwirkung von je 30, 50, 100 Klopfungen. Die Tabelle 9 ergibt, dass bei gleicher Anzahl Hammer- klopfungen eine Frequenzerhöhung von 90 auf 140 pro Minute in allen Röhrenabteilungen Zunahme der Förderung von h nach h! be- wirkt, dass aber die weitere Erhöhung der Frequenz auf 240 pro Minute eine Wiederabnahme hervorbringt, die in € den Förderungs- 204 K. Hasebroek: wert weit unter denjenigen der Frequenz 90 pro Minute hinabgehen lässt. Es existiert somit für die Förderwirkung in jeder Röhrenabteilung eine optimale Frequenz. Tabelle 9. 24. Dezember 1914. Mariotte’sche Druckhöhe 17!/g cm. Wandungs- dicke der Röhren 0,15 mm — Dehnungskoeffizient 5,5. Hammerfrequenz f! f?f? = 90—150—240 pro Minute. Millimeter-Werte — Steighöhen in A. Zahl der 6 M P Hammer- kom an AB ı a 2 Fl 222 gen mm ı mm | mm | mm ı mm | mm | mm | mm | mm 30 22 3l 16 34 36 33 27 30 23 | «a 50 28 39 119) 43 48 46 30 49 38 | db 100 sl 40 25 58 67 64 38 58 55 c 0/0 0/0 0/0 0/0 0/0 0/0 Resp.Differenzeng| +41 | —23 = —8 +11 a’ zwischen f!— ; +25 | —32 +12|+7 +631+26 | db u. f!—f? in Proz.) +30 | —20 +15) +10 +553| +4 | € Der an demselben Röhrensystem angestellte nächste Versuch lehrt, dass auch für den fördernden Einfluss einer Frequenzerhöhung der Hammerklopfung eine gewisse Höhe des Innendruckes erforderlich ist; denn wenn diese von 17!/s auf Sa cm Mariotte’sche Druckhöhe herabgesetzt wird, so treten, wie Ta- belle 10 zeigt, die positiven Differenzzahlen stark zurück, und es sinkt die Förderung in Ü noch früher und intensiver wieim vorigen Versuch. Tabelle 10. 25. Dezember 1914. Mariotte’sche Druckhöhe 8'/’g cm. Wandungsdicke der Röhren 0,15 mm = Dehnungskoeffizient 5,5. Hammerfrequenz f!f?f? = 90—150— 240 pro Minute. Millimeter-Werte — Steighöhen in A. Zahl der C M JE ITammer- Luzen] Me. & klopfuın : 2 f TE 1 E: IE Er Be gen mm | mm mm | mm | mm | mm | mm | mm | mm Bi) 27 26 15 B) 47 42 B) 3) 35 a 50 28 25 19 52 59 BB} 44 44 44 b 100 38 38 23 69 69 69 58 58 60 C 19230/0 % 0% % 0% %o Resp. Differenzenf — 4 | —33 +9|1—2 0 0 a’ zwischen ee a ea 00, u. f!—f° in Proz. 0.1 —4 0 0 0 +3 | ec Über die Bedeutung der Arterienpulsationen für die Strömung usw. 205 Eine nähere Analyse der Gründe für die Resultate der Frequenz- versuche zu geben, bin ich bei der Kompliziertheit der Vorgänge ausserstande. Ich muss mich damit begnügen, die Tatsachen regi- striert zu haben. Ich experimentierte bisher an einem ruhenden System. Ich wende mich nunmehr zu den Versuchen am von A nach A! strömenden System, um eine Brücke zur Übertragung der Resultate auf die Verhältnisse am lebenden Körper zu gewinnen. Es handelt sich darum, inwieweit die bisherigen Ergebnisse auch bei strömendem Inhalt Geltung haben. Da die Wellenbewegung ein selbständiger Vorgang ist, so war zu erwarten, dass an sich eine von aussen erzeugte Wellenerregung ihren fördernden Einfluss auch auf eine fliessende Massenbewegung äussern würde. Zunächst war die wichtige Frage zu erledigen: Schliessen sich im strömenden System unter den respektiven Druckschwankungen die Klappen wie am ruhenden System? Ein einfacher Versuch mit leichtem Fingerdruck zeigt sofort, dass die Verhältnisse sich anders gestalten: Während nämlicb am ruhenden System beim Aufsetzen der Bleileiste auf © und M keine Niveauänderung in h eintritt, so dass bei Wiederaufheben der Leiste die Senkung in scharfen Ab- sätzen erfolgt (s. S. 196, Tab. 2), sieht man bei dem gleichen Ver- such an dem aus geöffnetem E! strömenden System, wie jedes Auf- setzen der Bleileiste auf © und M eine Aufwärtsschwankung in h veranlasst, so dass beim rasch aufeinanderfolgenden Aufsetzen und Wiederabheben der Leiste der Senkung in A also gewissermaassen ein Auftakt vorbergeht. Es zeigt sich, dass trotz bedeutender Energie einer Fingerklopfung und selbst langsamen Strömens der Auftakt nicht verschwindet. Eine von aussen erregte Druckwelle verschliesst sich also am strömenden System nicht diePassage in der Richtung A-wärts durch die Klappen. Die Konsequenzen dieser Tatsache für die Lehre vom hydrostatischen Druck in den Körpervenen werden wir später sehen. Ich prüfte zunächst den Einfluss meiner Hammerklopfung bei einfachem Ausfluss einer bestimmten Menge Wassers aus E!: Die Bürette A! wurde entfernt und E?2 des Mariotte’schen Zu- flusses dauernd geöffnet gehalten. Durch verschiedene Öffnung von E! konnten bestimmte Geschwindigkeiten des Stromes hergestellt werden, wobei das Niveau in A je nachdem verschieden tief sich einstellt, 2306 K. Hasebroek: Die während 60 Sekunden bei E! auslaufende Flüssigkeitsmenge diente zum Vergleich: Auslösung und Abstellung der Versuchsdurchströmung wurde durch einen vor dem Hahn E! eingeschalteten langschenkligen Quetschhahn bewirkt. Die Zeitmessung geschah durch eine Stoppuhr; deren Druckauslösung vollführte ich mit der rechten Hand, während gleichzeitig die linke Hand den die Strömung auslösenden Quetschhahn E! öffnete und 60 Sekunden offen hielt. Da der Hahn Et! selbst un- berührt blieb, so stimmten die in ein Millimeter-Messgefäss aufgefangenen Abflussmengen in kontrollierenden Wiederholungen absolut miteinander überein. Der eigentliche Versuch vollzog sich so, dass der Durchfluss- menge ohne Hammerklopfeinwirkung, die vor und nach Beendigung (les Einzelversuches erhalten wurde, die Durchflussmenge unter Klopfeinwirkung gegenüberstand. Die Höhe der Nullmarken über der Röhrenleitung, die Röhrenabteilungen, Hammerfrequenz usw. wurden wie in den früheren Versuchen bezeichnet. Tabelle 11. Mariotte’sche Druckhöhe 17'/a cm. Wandungsdicke der Röhren 0,15 mm = Dehnungskoeffizient 5,5. Hammerfrequenz 90 pro Minute. Kubikzentimeter- Werte = Ausflussmenge pro Minute aus E!. Vor © 22 2 Nach Datum dem nalen Zu un 7 Tale: Ds dem Versuch |Hammer- ammer ammer- V h ID 7 klopfung. male klopfung. Habıız klopfung nahme | 7 27 cem ccm’ 0/0 ccm 0/o ccm 0/o ccm 1. Jan. 8. sl 0 82 + 1,2 8 0 sl 15 61 61 0 62 +17 61 0 61 IE 53 53 0 54 +2 BB} 0 593 ES Sl 52 +2 92,5 | +3 52 +2 51 an 47 48 +2 49 +4 48,5 +3 47 Die Tabelle 11 zeigt, wie durch die Kopfwellenerregung auf den Abschnitten C, M und P die Strömung um so mehr fördernd be- einflusst wird, je langsamer die Strömungsgeschwin- digkeit durch eine zunehmende Verengerung der Aus- flussöffnung E! vorher eingestellt war. Die Förderung tritt zuerst und am intensivsten in M auf, was den Erfahrungen am ruhenden System entspricht. Diese Tatsachen beweisen, dass auch im strömenden System die Klappenschlussbewegung, indem sie bei abnehmender Strömungsgeschwindigkeit um so mehr sich dem vollkommenen Verschluss wie beim ruhendem System nähert, die Grösse .des Effektes bestimmt. Über die Bedeutung der Arterienpulsationen für die Strömung usw. 207 Auch aus dem nächsten Versuch, in dem die Strömung im System noch weiter durch Herabsetzung des Mariotte’schen Druckes von 17!/z auf 8Y/g em verringert wurde, geht hervor, wie eine niedrige Stromgeschwindigkeit günstige Be- dingungen für die Förderung durch die Klopfwellen- erregung liefert: Denn die Tabelle 12 zeigt bei abnehmen- den Ausflussmengen vor dem Versuch die stete Zunahme der prozentualen Werte der Förderung. Tabelle 12. Mariotte’sche Druckhöhe 8'/s cm. Wandungsdicke der Röhren 0,15 mm — Dehnungskoeffizient‘ 5,5. Hammerfrequenz 90 pro Minute. Kubikzentimeter- Werte = Ausflussmenge pro Minute aus Hl. Vor © = M P Nach Don V nis h et 23 ee 2 ne Ar en h 1915 ersuc klopfung nahme klopfung | nahme klopfung nahme ersuc . ccm ccm %o cm | fo ccm %/o ccm 1. Jan sl 5l 0 53 + 4 52 + 2 Sl us 43 44 +2 46 +7 45,9 +6 43 DER, 40 42 +5 43,5 +58 43 + 7 40 SEE Sl 32 +3 3 + 10 34 + 10 3l Das gleiche zeigt die nächste Tabelle 13, die im übrigen eine Zunahme der Förderung der Strömung durch er- höhte Hammerbelastung AH, gegenüber FH, demonstrieren soll, in ihrer vierten Reihe gegenüber der dritten durch die absolute Zunahme der registrierten Prozente bei Verringerung der Ausfluss- menge vor der Klopfung von 5l cem auf 31 cem. Tabelle 13. Wandungsdicke der Röhren 0,15 mm —= Dehnungskoeffizient 5,5. Hammer- frequenz 90 pro Minute. FH, = unbelasteter, 7, um 2 g belasteter Hammer. Kubik- zentimeter-Werte — Ausflussmenge pro Minute aus E!. Mariotte- Vor C M p Nach Datum | sche Druck-| dem = dem 1915 höhe Versuch 4 | A| 7 | | HZ, | HA, \Versuch cm ccm cem , ccm | cem | cem | ccm | cem | ccm 3. Jan. 171/a al 92 52,51 52 53 92 92,9 Sl Se 8Ug SI en esser|ven en sole i 0) 0) %o 0/o 0/0 0/0 Respektive Zunahme unter ® 0 2 H, und A, in Be] yo ar Ne | En ee 5 | So een) Le |) ee 208 K. Hasebroek: Zur Ermittlung der Verhältnisse bei verschiedener Dehnbar- keitder Röhrenwandungen prüfte ich unter den etwas grössere Wertdifferenzen ergebenden Bedingungen der niedrigen 8'/s-em-Druck- höhe und des belasteten Hammers: Die Tabellen 14a und b führen zu dem Resultat, dass auch im strömenden System mit abnehmendem Dehnungs- koeffizienten ein Rückgang der Förderwirkung bis zum völligen Verschwinden stattfindet. Tabelle 14a und b. 10. Januar 1915. Mariotte’sche Druckhöhe 8'/s cm. Hammerbelastung 5 g. Kubikzentimeter-Werte — Ausflussmenge aus E! pro Minute. Dehnkres Vor © au = Nach 5 8° dem Unter Unter Unter dem koeffi- Ivorsuch| Klop- | Diff. | Klop- | Diff. | Klop- | Diff. -|Wersuch zient fungen fungen fungen ccm ccm 0/o ccm 0/0 ccm 0/0 ccm a) Hammerfrequenz —= 90 pro Minute. 5,8 46 46,5 nt 48 +4 48 +4 46 2,5 46 46 0 47 +2 47 +2 46 1 46 46 0 46 0 46 0 46 b) Hammerfrequenz — 150 pro Minute. - 5,5 41 42 +25] 44 +7 44 +7 41 2,5 42 42 0 43 + 2,5 44 +5 42 1 42 42 0 43 + 2,5 43 F251 42 Tabelle 15a und b. Wandungsdicke der Röhren 0,15 mm —= Dehnüngskoeffizient 5,5. Hammer- frequenz f!f?f? = MW—150—240 pro Minute. Kubikzentimeter-Werte = Aus- flussmenge aus E! »ro Minute. Vor 6 M Nach Datum dem | > EIER AD dem 1915: | Versuch. ne a pe oe jr | fee spa 7 Versuch ccm | cem | cem | cem | cem | ccm | cem | cem | ccm | cem | ccm a) Bei Mariotte’scher Druckhöhe 17!/e cm. 2>Jan..|' 47 48 1475| 49 | 49 ol | 52 ]485 | 49 | 50,5 47 %o | % 0% 0% % | %o Co %o | %o Differenz‘. . . 1-91 2712) 2242 EA ESS ERGO er nt as — b) Bei Mariotte’scher Druckhöhe 8!/2 cm. 10. Jan. | 40 42 | 42 | 42 | A3 | 4 | 45 | 43 | 45 | 44 40 % %g %o %o \ %o %o | % | %o % +5/+5|)+5[+8/+101+8|[+8)+12|+10 — Differenz . Über die Bedeutung der Arterienpulsationen für die Strömung usw. 209 Hinsichtlich des Einflusses einer Erhöhung der Frequenz der Wellenerregungen habe ich für das strömende System nur den Einfluss eines Summationseffektes schlechthin festgestellt, doch sprechen die Tabellen 15 a und b auch für ähnliche Beziehungen wie beim ruhenden System (Tab. 9 und 10, S. 204) d. h. dass auch im strömenden System für die Förderungin den einzelnen Röhrenabschnitten ein Optimum der Frequenz vorhanden ist. Ich teile nun noch einige Versuche mit, die für spätere Schlüsse wichtig sind, und zu deren Anstellung mich folgende Überlegung leitete: Dass im fliessenden System die Förderung des Stromes nicht so auffällig in den Zahlenwerten hervortritt, liegt daran, dass die Klappen während der Strömung sich nicht völlig schliessen, dass somit nicht jede Einzelförderung wie im ruhenden System durch Klappenschluss festgehalten wird. Es musste aber an unserem Versuchsapparat (Fig. 4) sich eine Kombination der Be- dineungen des fliessenden und ruhenden Systems herstellen lassen: nämlich dadurch, dass die Widerstände an der Ausflussöffnung FE so gross eingestellt wurden, dass ein Teil der Förderungsquote der Flüssigkeit den Weg in die wiedereingeschaltete Bürette 4! nehmen musste. Es musste dann der Effekt unserer Klopfwellenerregung sowohl in einer Zunahme des Ausflusses resp. der Stromgeschwindigkeit als in einem gleichzeitigen Hinaufsteigen geförderter Flüssigkeit in h! zum Aus- druck kommen. Dies ist nach kurzem Probieren leicht zu er- reichen durch bestimmte Einstellung der Öffnung von E!. Die Tabelle 16. 13. Januar 1915. Mariotte’sche Druckhöhe 8V/a cm. Wandungsdicke 0,15 mm — Dehnungskoeffizient 5,5. Hammerfrequenz f!f?f? = W—150—240 pro Minute. Kubikzentimeter- Werte = Ausflussmenge aus Z! pro Minute. Millimeter-Werte — Steighöhe in hl. Vor und nach dem Versuch A stets unter Null. Nor Unter Klopfung Nach Hammer- | dem C M P dem frequenz Versuch E Ber BE Fr | m Versuch ccm ccm | mm cem | mm ccm mm ccm | | a 23 25 +23 26 | +30 2353 | +30 23 ii 23 26 + 37 265 | +40 23 | +37 B) fie 23 25 + 26 | 26 | +36 26 + 40 23 210 K. Hasebroek: Tabelle 16 ergibt das Resultat, dass die Strömung stets zunimmt, während durch die gleichzeitige hohe Steigung in h! gegenüber dem tieferen Stande in h scheinbar das Gefälle sich umgekehrt hat. De fakto handelt es sich natürlich in der Steigung in )! um eine gleich- zeitige Stäuung. Diese Stauung muss auf vermehrten Zufluss, der aus E! nicht bewältigt werden kann, zurückgeführt werden. Es wird also durch dieserart Mechanik im strömenden System trotz der Zu- nahme der Ausströmung zugleich eine Vermehrung der Zu- fuhr hinter die letzte Klappe des Systems eingeleitet und hier im Nebenkanal wie in einem Stauweiher aufgestaut. Eine Frequenzerhöhung der Wellenerre- gungen ÄussertsichindiesemFall ausgesprochen mehr in der Zunahme der Aufstauung als in der Zunahme der Geschwindigkeit. Ä Ä B. Physiologischer Teil. Was zunächst unsere Fundamentalbeobachtungen I und I (S. 191—193) bei rührendem Veneninhalt anlangt, von denen wir ausgingen, So wird durch unsere Versuchsergebnisse am Modell die Richtigkeit der dort gegebenen Deutung aus der Wirkungsweise einer Druck- und Saugwellenbewegung bestätigt. Die von uns für die Beobachtung II in Erwägung gezogene Deutung aus einer Druck- welle, die in m ! (Fig. 1) erregt, als Formbewegung der Teilchen die geschlossene Klappe X durchlaufen haben und nach ihrer Re- flexion bei p? Inhalt aus P nach M befördert haben könnte, muss als in einem ruhenden System unmöglich fallen gelassen werden. Das Ausbleiben einer völligen Entleeıung der Handrückenvene P durch die Fingerklopfung muss dahin gedeutet werden, dass in einem elastischen Röhrensystem bei zu geringer Innendruckspannung der Wandungen der Transport von Inhalt auf dem Wege fort- schreitender Wellenbewegung überhaupt versagt. Die Übereinstimmung der mechanischen Bedingungen zwischen Modell mit strömendem Inhalt und den Körpervenen erlaubt es, die Entstehung von intermittierenden Druck- und Saugwellen und deren Wirkung auf die Vorgänge bei der Strömung in den Venen zu übertragen. Wenngleich die Venen an absoluter Dehnbarkeit den’ Gummiröhren sehr nachstehen!), so besteht dennoch sehr kleinen l) v. Bardeleben; Jenaische Zeitschr. 1878 8. 51. Über die Bedeutung der Arterienpulsationen für die Strömung usw. 211 Belastungen gegenüber, eine verhältnismässig grosse Zunahme der Ausdehnung'!). Sicher handelt es sich am Körper um kleine Be- lastungen. Zudem weist an sich der Umstand, dass die Venen von allen organischen Substanzen des Körpers, wie Muskel, Nerv und anderen, die grösste Ausdehnbarkeit haben ?), vom Standpunkt der Entwieklungsmechanik darauf hin, dass der Faktor der Dehnbarkeit für ihre Funktion eine grosse Rolle spielt. Jedenfalls sind die Venen- wandungen weich und nachgiebig gegenüber Druck von aussen. Trotz dieser Nachgiebigkeit besitzen die Venen eine sehr voll- kommene Elastizität, was dem zweiten Faktor, dem der elastischen Rückwirkung, in unseren Versuehsbedingungen entspricht. ‘Das Wichtigste jedoch in der Übereinstimmung zwischen den Experimentalbedingungen unserer ganzen Versuchsanordnung und den Verhältnissen am Körper ist dieses: Die Physiologie rechnet bereits mit den Vorgängen einer regelrechten Klopf- wellenerregung durch die Pulsationen benachbarter Arterien, seitdem Ozanam diese durch direkte Versuche am Körper festgestellt hat. Wie analog die unmittelbaren Erscheinungen denen unseres Klopfhammers am Modellrohr sind, erhellt aus: der Originalmitteilung Ozanam’s,°) die ich deshalb wörtlich wiedergebe: „Je disposai alors deux ampoules sur le m&öme sphygmographe, et, appliquant l’un sur l’artere, l’autre A cöte du premier, mais en dedans, sur la veine, je vis alterner au m&me moment les deux ondulations arterielles et veneuses, s’operant en sens inverse, car tout ce qui 6tait relief dans la systole arterielle aparaissait en ereux veineux correspondant, et toute depression diastolique arterielle donnait lieu & une ondulation veineuse. Mais &tait-ce la une in)- pulsion liee & la eireulation du sang ou un simple mouvement de propagation des. battements arterielles aux tissus environnants? Pr&eoccupe de cette question, j’appliquai l’instrument en dehors de l’artere crurale, et je vis qu’en effet ces monvements de succession y existaient aussi et que naturellement ils devaient s’exercer sur tous les tissus environnant le eylindre arteriel; mais ils etaient beaucoup moins accentues du cöte externe, rempli du tissu con- jonetif, que du cöt&e interne, occupe par la veine, et cela se com- 1) v. Bardeleben, Jenaische Zeitschr. 1878 S. 31. 2) v. Bardeleben, Jenaische Zeitschr. 1878 S. 59. 8) M. Ozanam, Note de l’academie des sciences. Comptes rendus t. 2 p- 93f. 18831. Pflüger’s Archiv für Physiologie. Bd. 163. 15 312 K. Hasebroek: prenait faeilement, puisque le liquide remplissant la veine pouvait librement fuir devant l’obstacle et revenir quand le vide s’op6rait. Du reste, l’aspiration et la compression alternatives des tissus d’alentour, bien loin d’etre une objection A notre maniere de voir, ne fait que la confirmer, car ces tissus sont remplis de capillaires veineux et Jymphatiques, qui &prouvent des lors la m&me influence bienfaisante de la part des arteres que les gros vaisseaux veineux. Mais le phenomene e6tait il general? Ftais je en prösence d’une loi de la eirculation ou d’un cas exceptionnel? J’experimentai des lors sur la plupart des arteres explorables, et je trouvai chez toutes, depuis les plus grosses jusqu’aux plus petites, l’expression fidele du ph&nomene observ£. La veine cave inferieure reproduisit le trace inverse de l’aorte abdominale, la erurale, la sous-claviere celle (des arteres correspondantes, et, parmi les petites veines‘, la pedieuse donna le sch&ma le plus remarquable. „Si l’on considere en outre que le c@ur comprime et vide & chaque battement les veines situ6es dans son tissu, que les arteres vertebrales battent au milieu de la gaine presque complete que leur forment les veines correspondantes, que les arteres du cordon s’enroulent autour de leur veine et Ja compriment dans tous les sens, on pourra se faire une idee de l’importance et de la gen6ralite du phenomene que j’ai voulu decrire sous Je nom de loi de la eirceu- lation par influence.“ Näheres über die Art der Wirkung auf die Strömung findet sich in der Arbeit nicht. Meines Wissens existiert auch anderweitig niehts über diesen Punkt, ein Zeichen, dass man der ganzen Sache kaum mehr Bedeutung beigelegt hat, als um sie nur flüchtig in den Lehrbüchern zu berühren !!). Für die Beeleitvenen der Arterien müssen viele verschiedene Stellen gleichzeitig in Betracht kommen. Gleichsinnige Wirkungen werden sich summieren, und zwar um so intensiver, je näher an- einander gerückt und parallel Arterie und Vene verlaufen. Mag auch manche gegenseitige Aufhebung von Wellen vorhanden sein, so wird ebensogut eine gegenseitige Addition und Verstärkung vor- kommen. Durch unblutige Messung an einer Handrückenvene hat & 1) Tigerstedt, Lehrb. 1893 S. 439 und Nicolai in Nagel’s Handb. B2:428.856. Über die Bedeutung der Arterienpulsationen für die Strömung usw. 213 man neuerdings am Menschen gefunden, dass der Venendruck regel- mässig täcliche Schwankungen aufweist, indem er tagsüber von 10 auf 20 ccm Wasser steigt, um während der Nacht auf 7—8 cem wieder zu sinken. Die Tatsache, dass die Kapazität der Vene schwanken kann, ohne dass der Innendruck sich ändert, sowie der Befund einer Venenpulsation während des Schlafes spricht nach Ansicht des Verfassers für das Vorhandensein eines venomotorischen Mechanismus, welcher dem Herzen einen konstanten Rückfluss sichert !). Man geht wohl kaum fehl, wenn man annimmt, dass hier die arterio- pulsatorischen Vorgänge mit im Spiele sind. Die Vorgänge am Modell sind physikalisch so eindeutig, dass man folgende Gesetzmässigkeiten auf die Verhältnisse am Körper- venensystem übertragen darf: 1. Von aussen erreete fortschreitende Wellen werden im strömenden System von den Klappen nicht aufgehalten. Speziell findet eine Druckwelle strom- aufwärts an den Klappen kein Hindernis (s. S. 205). 2. Die durch die Arterienpulsationen in den Be- gleitvenen erfolgende Förderung der Strömung steigt mit der Grösse des Impulses der Wellenerregung (8. Versuch Tab. 5 und 19). 3. Die arteriopulsatorische Förderung der Strömung in den Begleitvenen ist caeteris paribus am grössten in den zwischen zwei Klappen gelegenen Venenstrecken (s. Versuch Tab. 5—15). 4. Die arteriopulsatorische Förderung steigt mit zunehmender Dehnbarkeit der Venenwandungen (s. Versuch Tab. 7 und 14). Übersteigt jedoch die Dehn- barkeit eine gewisse Grenze, so sinkt die Förderung, und zwar im höchsten Grade bei gleichzeitig sehr niedrigem Innendruck, in welchem Fall die Förderung in Venenstrecken, die zentralwärts keine Klappen mehrhaben, versagt (s. Versuch Tab.8). Diesen Verhält- nissen würde am Körper die schwere tonische Er- schlaffung der Venenwände entsprechen. 1) Hooker, Observations on the venous blood pressure in man. Americ. Journ. of Physiol. vol. 35 p. 73. 1914. Ref. Zentralbl. f. Herzkrankh. 1915 S. 88. 15 * 214 K. Hasebroek: 5. Die arteriopulsatorische Förderung ist beilang- samer Venenströmung grösser als bei rascher (s. Ver- such Tab. 11—]5. 6. Eine erhöhte Frequenz der Arterienpulsation steigert im allgemeinen die Förderung der Strömung in den Begleitvenen. Für jede Venenstrecke gibt es ein Optimum der Frequenz. Die positive Wirkung ist am geringsten in Venenstrecken, die zentralwärts keine Klappen mehr haben (s, Versuch Tab. 15). Eine besondere Stellung nimmt im Körpervenensystem die Vena cava ein, für die Ozanam auch die Übertragung der Arterien- pulsation direkt nachgewiesen hat, die aber durch ihre beträchtliche Weite gegenüber den anderen Venen ausgezeichnet ist. Um diesen dimensionalen Einfluss einigermaassen zu übersehen, verfertigte ich eine 9 cm lange Gummivene von 1 cm Durchmesser mit 0,35 mm dieker Wandung (Dehnungskoeffizient 2,5) und prüfte sie als Röhren- abteilung C in meinem Modell auf direkte Hammerklopfung am strömenden System bei niedriger Mariotte’scher Druckhöhe, die für die Vena cava in Frage kommt. Das Resultat der Tabelle 17 ist, dass ein relativ beträchtlich grösserer Durchmesser jedenfalls die Förderung nicht aufhebt. Babelle 17. 17. Januar 1915. Mariotte’sche Druckhöhe 8U/a cm. Wandungsdicke der C-Köhre 0,355 mm = Dehnungskoeffizient 2,5. Hammerbelastung 5 g. Hammerfrequenz f!f? f? = 90—150—240 pro Minute. Kubikzentimeter-Werte — Ausflussmenge aus #1 pro Minute. yon a | Nach dem z an Te au f? Au dem Versuch nahme nahme nahme Versuch ccm ccm %o ccm %/o cem 0/0 ccm 25 26 +4 26 + 4 26 +4 25 19 20 5 22 215 22 +15 19 Ich wende mich jetzt zu den spezielleren mechanischen Konse- quenzen, die sich aus einer wirksamen Arterienpulsation ergeben: Die Wirkung der arteriopulsatorischen Wellenerregung, wo sie auch immer im System stattfindet, muss am weiter peripher ge- legenen Kreislaufgebiet als den Abfluss fördernd zum Ausdruck kommen. Für das kapilläre Grenzgebiet muss es speziell von Be- Über die Bedeutung der Arterienpulsationen für die Strömung usw. 215 deutung sein, dass bereits in den Venen von über 2 mm Durch- messer Klappen erscheinen und gerade hier anatomisch eine hoch entwickelte Zwillingsgemeinschaft von Arterien und Venen besteht. Es muss daher in den kleinsten Venen — entsprechend einer tieferen Niveaueinstellung in unserer Bürette h (s. S. 205) während der Hammerklopfung bei strömendem System — ein seitendrucksenkender Einfluss sich unter Umständen bemerkbar machen können. Tatsächlich spritzten die kleinsten Venen beim Anschneiden nicht!). Man ist über diese Tatsache bisher wohl zu leicht hinweggegangen, denn bei Annahme einer ausschliesslichen vis a tergo als Triebkraft ist dies mindestens sehr auffallend. Noch eins zu einer derartigen, durch weiter stromabwärts vor- handene arteriopulsatorische Kräfte stromaufwärts entstehenden aspira- torischen Drucksenkung. Schultze und Behan wollen in neuerer Zeit nämlich an trepanierten Röhrenknochen, also in einem Gebiet. wo die klappen- und muskellosen Venen offenbar unserem Büretten- reservoir » analog sind, negativen Venendruck gefunden haben ?). Auf Grund einer Nachprüfung glaubt Rothmann?) diese Be- obachtung für falsch erklären zu müssen. Hürthle, der sich ihm an- schliesst, fügt hinzu, dass ein negativer Druck von vornherein schon unwahrscheinlich sei *). Auf Grund einer, vom Fundamentalversuch II eine Analogie zulassende Berufung auf unser Modellsystem kann das Vorkommen eines negativen Druckes keineswegs mehr unwahrscheinlich und unter besonders günstigen lokalen Bedingungen einer arterio- pulsatorischen Energie sogar wahrscheinlich sein. Schultze und Behan werden wohl daher guten Grund haben, dass sie an ihrer Beobachtung festhalten und bestätigende Versuche in Aussicht stellen). Da der Parellelismus zwischen Arterie und Begleitvene kein vollkommener und sowohl aus anatomischen als körperfunktionellen Gründen vielfachem Wechsel unterworfen ist, so werden viele Varia- tionen des Effektes auf die Strömung statthaben können. Dies muss 1) Nicolai, Nagel’s Handb. Bd.I S. 778. 2) Münchener med. Wochenschr. 1912 Nr. 59. 3) Münchener med. Wochenschr. 1913 Nr. 30 S. 1664. 4) Berliner klin. Wochenschr. 1914 Nr. 30. Sitzungsber. d. med. Sektion schles. Gesellsch. f. vaterl. Kultur zu Breslau. Kritischer Bericht über das Buch von K.Hasebroek: Über den extrakardialen Kreislauf usw. S. 5 des Separatums. 5) Münchener med. Wochenschr. 1913 Nr. 30 S. 1669. 216 K. Hasebroek: sich auch in den Venendrücken äussern. Und in der Tat zeigen die experimentellen Venendruckmessungen schon seit Volkmann’s Zeiten in ihren Resultaten vielfach grobe Unstimmigkeiten. Nach unseren Modellresultaten wird das verständlich. Jedenfalls muss ein endständiger Druckmesser mit Auftrieb in ein Manometer für solche Venen, die unmittelbar peripherwärts unter arteriopulsatorischem Einfluss stehen, Bedingungen schaffen, die unseren Modellresultaten mit gleichzeitigem Auftrieb in die Bürette 7! entsprechen (s. Tab. 16). Hier bedeuten die gegenseitigen Beziehungen zwischen Abflusswider- ständen und dem jeweiligen Effekt der Arterienpulsation unüberseh- bare Variablen. Unter der von uns aus den Versuchen gewonnenen Auffassung muss die Bedeutung des Arterienpulses für die Strömung in den Venen eine wesentlich umfassendere werden, als es den bisherigen Vorstellungen der Physiologie entspriehtt. Man behandelt diesen Faktor immer nur als ein den Veneninhalt schlechthin auspressendes Moment und stellt ihn in seiner Wirkung durchaus hinter die Förderung des Stromes durch Muskelbewegune, Braune’schen Faszienzug usw. Unter dem Eindruck meiner direkten Beobachtung am Modell, wo schon eine schwache rasche Hammerklopfung ein ausgiebiges und in steter Strömung sich vollziehendes Steigen in A! vollzieht, muss man die arteriopulsatorische Mechanik für eine der wirksamsten Einrichtungen für die Strömung in den Venen überhaupt halten. Sie leistet in ihrer anatomisch be- dingten Summation und in ihrer perpetuierlichen Einwirkung im Wachen und im Schlafen viel mehr als die erwähnten nur Belenen. lich wirksamen Momente. Auch die Ansicht über den Zweck der Venenklappen muss eine vertieftere werden: Die Funktion der Klappen sollte bisher nur vorkommendenfalles in Aktion treten, nämlich dann, wenn bei mechanischen Ausseneinwirkungen der Rückfluss eingedämmt werden musste. Eine grösste Rolle spielten von jeher besonders an den Unterextremitäten, hydrostatische Widerstände, die durch die vielen Klappen gewissermaassen aufgeteilt werden sollten. Erst in neuerer Zeit hat Ledderhose, als Chirurg ausgehend von ge- nauen Beobachtungen an den Varicen, diese Ansicht vom hydro- statischen Druck ins Wanken gebracht!). Ledderhose legt die 1) Ledderhose, Studien über den Blutlauf in den Venen unter physiol. und pathol. Bedingungen. Mitt. a. d. Grenzgeb. d. Med. u. Chir. Bd. 15. 1906. Über die Bedeutung der Arterienpulsationen für die Strömung usw. 217 Tatsache zugrunde, dass man bei einem auf dem Rücken mit an- gezogenen Beinen liegenden Menschen verfolgen kann, wie bei der Inspiration eine Blutwelle von der Leistengegend in der Saphena trotz festgestellter Intaktheit der Venenklappen bis zum Knie läuft, um denselben Weg zurückzumachen, dass also die Klappen während der ununterbrochenen Venenströmung keineswegs distalwärts die Druckwellen aufhalten. In denselben Rahmen gehört übrigens die Beobachtung der internen Kliniker, dass notorisch die Entstehung der aus den Hohlvenen fortgeleiteten pulsatorischen Bewegungen in den Jugularvenen nicht an eine Funktionsstörung den Venenklappen gebunden ist!). Ledderhose weist auf den Irrtum hin, dass man bisher „von einer stillstehenden Blutsäule ausgegangen sei, statt die Tatsache des kontinuierlich, auch in den Venen schnell fliessenden Blutes zugrunde zu legen“. Er sagt: „Ich glaube also annehmen zu dürfen, dass seitlich auf die Venenwand wirkender Druck, wenn er nicht ausnahmsweise vollständige Unterbrechung des Blutstromes hervorruft, Schluss der Klappen nicht zur Folge hat, trotzdem aber als ein die venöse Strömung partiell beschleunigendes Moment an- gesehen werden kann.“ Für den Fall, dass die Klappen sich wirklich schliessen, sieht Ledderhose ihre Funktion darin, dass „sie durch ihren Schluss das an der Sperrungsstelle gestaute und rückläufig ge- wordene Blut aufhalten und in Seitenäste ableiten.“ Diese von Ledderhose gemachten Schlüsse erhalten jetzt insofern eine prinzipielle Stütze durch mein Experimentalresultat, dass die Klappen nur im ruhenden aber nicht im strömenden System die Druckwellen aufhalten, dass also im Körpervenensystem Eigenschwingungen des Inhalts nach beiden Richtungen hin möelich sind. Die Bedeutung der Klappen muss daher in einer ganz anderen Richtung liegen, und zwar ip der Frmöglichung einer Art bedeutend stromfördernder hydraulischer Widdermechanik. Die Klappen werden hier- dureh zu mechanisch tätigen Gliedern in der Kette einer ununter- brochen kinetischen Strömungsmechanik. Auch entwicklungsmechanisch versteht man bei einer derartigen Funktion das von v. Bardeleben gefundene Distanzgesetz der Klappenanordnung viel besser als vom Gesichtspunkt lediglich hydrostatischer Momente, denn eine so zahlenmässige Gesetzmässigkeit der Klappenzabl resp. Anordnung 1) Krehl, Die Erkrankungen des Herzmuskels S. 90. Wien 1913. 218 K. Hasebroek: nach der Länge der Extremitäten, wird sich sieherlich weniger aus Gelegenheitsfaktoren, wie: sie doch das hydrostatische Moment mit bestimmen, als aus irgendwelcher Dauerfunktion heraus haben entwickeln können. Ein Beweis in dieser Hinsicht ist übrigens schon darin gegeben, dass auch bei den horizontalen Venen der Vierfüssler, vollends bei den langgestreckten Amphibien und Fischen die Klappen voll ausgebildet sind. Schon Volkmann hat auf diese Unstimmiekeit mit dem hydrostatischen Druck aufmerksam gemacht. Einen Einblick in die Bedeutung der arteriopulsatorischen Trieb- wirkung gewinnt man, wenn man den Reichtum der Venen an Klappen überblieckt. An den Extremitäten sind durch v. Barde- leben die Verhältnisse sicher festgelegt. Zur Illustration gebe ich in der nachstehenden Übersichtstabelle eine Zusammenstellung nach der von ihm am genauesten untersuchten Leiche B für deren rechte Seite. Aus diesen Zahlen ergibt sich für die tiefen Venen das Vor- handensein von so vielen, dicht einander folgenden Venenstrecken, die unseren von zwei Klappen begrenzten Modellvenenabschnitten M entsprechen, dass schon auf relativ geringe arteriopulsatorische Ein- wirkung bedeutende Strömungseffekte sich summieren müssen. Anzahl der ausgebildeten Klappen. | Tiefe Venen Öberflächliche Venen Verradialisı a2 ea: Sur W..cephal..hracha. 2.0. = 7 Unterarm Voulnaris en. oa 15%. 2 V--medianas ne 8 V..interossea.... 1.0.0.0. 6 V:öbrachialis.. 22.0222. 20... Ve capital: brach. ...2..07... 4 Oberarm { V. brach. (ulnar- sin)... .. 8... V.rcapitalchumsa 2. 0.8 7 f V..ubialis-post- lat. 2. 29% |) Ve&saphena,magna. > 2... 8 Unter- V. tibialis und poplitea .. 9 | V. saphena parva ..... 11 schenkel | V. tibialis ant. (med. ant.). 12 V. tibialis ant. (lat. post.) . 10 Öber- I V. tibialis post. und poplit. 2 | V. saphena magna..... 6 schenkel V. femoral. sup. (major). . 5 Wie steht es aber mit den oberflächlichen Hautvenen, die be- kanntlich nieht von Arterien begleitet werden? Man erkennt leicht, dass diese Venen in unserem Modell der Bürette h! gleichgesetzt werden können, nur dass am Körper der Inhalt noch einen selb- ständigen speziellen kontinuierlichen Zufluss bekommt. Weshalb haben wir hier ebenfalls so zahlreiche Klappen? Man könnte in der Tat hier dazu kommen, in dem Klappenreichtum ausschliesslich einen Über die Bedeutung der Arterienpulsationen für die Strömung usw. 219 Schutz gegen die Eventualitäten eines nur von aussen die Venen treffenden Druckes und Verschlusses zu sehen. Nun, die Sache liegt dennoch anders: auch hier sind die Klappen als ein tätiges Glied im Dienste der arteriopulsatorischen Strömungsmechanik zu betrachten, denn die Wirkung der Pulsation in den tiefen Venen muss sich auch in die oberflächlichen Venen fortsetzen und hier in gleicher Weise stromfördernd äussern wie in den tiefen Venen selbst. Ermöglicht wird diese Übertragung aus der Tiefe durch bestehende Ana- tomosen. Von den Armvenen schreibt schon Weber!) in seiner Anatomie, dass zum Beispiel die Mediana immer mit den tiefen Armvenen durch einen oder mehrere Rami anastomotiei in Verbindung steht, und zwar sowohl mit der Vena radialis als brachialis ext., ulnaris und interossea. Bei Henle findet man auf Taf. CC XIX des Atlas die Anastomosen zum Teil direkt bezeichnet. Ledderhose führt an, dass an Unterschenkel und Fuss Verbindungäste zwischen oberflächlichen und tiefen Venen bestehen und dass von Klotz, Braune-Müller nachgewiesen sei, dass sie zwischen beiden in enteegengesetzter Richtung das Blut abführen können, indem sowohl die Anordnung der Klappen in umgekehrter Form vorkämen, als dass neben solchen anscheinend auch neutrale Bahnen existieren ?). Die Fortleitung der arteriellen Druckschwanküngen aus den tiefen in die oberflächlichen Venen kann man bei geeigneter Lagerung der Glieder unter günstiger Beleuchtung in zut zefüllten Arın- und Beinvenen direkt erkennen. Zum Beleg führe ich Ledderhose an, der sowohl in der varikös erweiterten Saphena als in der nor- malen Armvene die mit dem Pulse syncehronen Pulsationen be- schreibt?). Man erinnere sich auch der S. 213 mitgeteilten Beobachtung. Dass mit dem Anastomosen eine Übertragung von stromfördernden Faktoren tatsächlich verknüpft ist, dafür werde ich später mecha- nische Beweise aus den pathologischen Vorgängen bei den Varicen bringen, deren Hervorbringung für den Menschen leider von sehr -fataler Bedeutung ist. Soweit die Extremitäten! Höchst bedeutsam werden für unsere Auffassung die Unter- suchungen Koeppes*) über die Klappenverhältnisse in dem grossen 1) Weber, Handb. d. Anat. Bd. 2 S. 238. 1845. 2) Ledderhose, |. ce. S. 407. 3) Ledderhose, |. c. S. 357 ff. 4) Koeppe, Über Muskeln und Klappen in den Venen der Pfortader. Arch. f. Anat. u. Physjol., Abt. Physiol. 1890 Supplbd. S. 171. 2320 K. Hasebroek: Gebiet der Darmvenen ink]. Pfortader. Hinsichtlich wirklich schlussfähiger — also keineswegs etwa rudimentärer — Klappen stellt dieser folgendes fest: 1. Die venösen Netze in der. Submukosa des Darmes haben weder Muskeln noch Klappen. | 2. Die kurzen und langen Darmvenen, also die sich in die Sammelvenen ergiessen, haben starke Ringmuskeln und wenig äussere Längsmuskeln und einen grossen Reichtum an Klappen: I—2 mm und auch weniger vor der Mündung in die Sammelvene trifft man auf die erste Klappe, der in kurzen Abständen weitere folgen bis in die feinen die Muskulatur des Darmes durchsetzenden Venen, die zusammengefallen auf dem Objekttisch noch nicht 2 mm breit sind. Auffallend ist für Koeppe das Vorhandensein von Klappen an der einen oder beiden von zwei Venen vor ihrer Vereinigung. So liessen sich im Gebiete einer langen Darmvene auf einer Strecke von nur 7 mm nieht weniger als neun Klappen zählen, wobei auf den Haupt- stamm zwei, auf die einmündenden Äste sieben Klappen kamen. Erst wenn diese Venen die Sammelvene erreicht haben, ist der Weg nach beiden Seiten frei. 3. Der Stamm der Pfortader hat eine starke Ring- und äussere Längsmuskulatur, aber keine Klappen. Ebenso haben die die grossen Wurzelstämme bildenden Mesenterialvenen keine nennenwetren Klappen, wie die stets leichte Injektion bewies. Was lehren uns nach unseren Modellresultaten diese scharf charakterisierten anatomischen Verhältnisse der Klappen? Zunächst ganz allgemein, dass hier in einem Gebiet, wo eine vis a tergo nur minimal vorhanden sein kann, unmittelbar stromabwärts audere Trieb- kräfte zur Disposition stehen. Kaum irgendwo sonst am Körper könnte so gut die Bedeutung einer ineinandergreifenden Zwillings- tätiekeit von Arterien und Venen demonstriert werden als hier: denn gerade die kurzen und langen Darmvenen sind so regelmässig von Arterien begleitet, dass letztere durch Farben-. injektion Koeppe überhaupt als Führung zur Auffin- dung der Venen dienten. Da man anderseits. den Puls bis in die kleinsten Arterien nachweisen kann!), so wird ohne weiteres klar, welche Summe von leberwärts gerichteten propulsatorischen und darmwärts gerichteten aspiratorischen Kräften hier vereinigt sich ent- 1) Rollett, Hermann’s Physiologie 1880 S. 316. Über die Bedeutung der Arterienpulsationen für die Strömung usw. 221 wickeln müssen. Es ist sicherlich kein Zufall, dass an dieser Stelle, die sich zum doppelten Kapillarkreislauf vorbereitet, schon Klappen auch an den kleinsten Venen vorhanden sind, während sonst am Körper die untere Grenze nach Henle ein Kaliber von 2 mm beträgt. Diese Verhältnisse weisen gerade in diesem Gebiet auf eine Dauerfunktion der Klappen hin, anstatt nur auf gelegentliche Funktion bei zufälliger Beengung des Lumens durch Zerrung und Dehnung usw. Solche Vorkommnisse sind für die labilen, leicht eleitenden Intestina an sich wenig wahrscheinlich. Wenn ich "mein Modellsystem als erlaubte Analogie zugrunde lege, so entsprechen der Reihenfolge nach: die klappenlosen submukösen venösen Netze dem periphersten Reservoir der Bürette %, inkl. unserer Röhrenabteilung P und ev. dem Mariotte’schen Gefäss; die kurzen und langen Darmvenen mit den zahlreichen Klappen den doppel- seitig begrenzten Modellabteilungen M; die langen Wurzeln und der Stamm der Pfortader unseren Modellabteilunsen ©. Letzteren ent- sprechend muss in den langen Statellitvenen der Mesenterialarterien speziell eine wirksame Saugwellenaspiration vorhanden sein, die inı Leberteil der Pfortader durch die Begleitung der Arterie hepa- tica bis in die kleinsten Zweige und dadurch erzeugte eleich- gerichtete Druckwellen ausgewertet und ergänzt wird. Kurz erwähnen möchte ich noch die günstigen anatomischen Verhältnisse bei der Niere, wo (nach Weber) die Arterie wie mit zwei Armen von der Vene im Hilus umschlossen wird. Da die Nierenvenen nach Henle direkt vor ihrer Mündung in die Vena cava Klappen hat, so liegen hier die Bedingungen wie bei unserer Modellabteilung P, vielleicht M vor. Aus dem Vorhergehenden geht hervor, dass die arteriopulsato- rische Mechanik hoch bewertet werden muss. Entwicklunesmechanisch liegt hier, sei es mit oder ohne Vererbungsfaktoren, ein grandioses Beispiel dafür vor, wie die Natur mit einer primären Funktion zu- gleich die Bedingungen zu einer zweiten Funktion sich entwickeln lässt, indem sie mit der Anlage von Blut zuführenden Kanälen zu den Organen und ÖOrganteilen zugleich die Anlage für ab- führende Kanäle parallel und daher unmittelbar den pulsatorischen Kräften zugängig schafft. Und indem sie die Begleitvenen an wichtigen Stellen — man denke an die aus- nahmslose Anordnung in der Tiefe der Extremitäten — doppelt ent- stehen lässt, nutzt sie ausserdem den verfügbaren Raum doppelt aus. 222 K. Hasebroek: Auch hinsichtlich des grossen herznahen Venensystems sind die Prinzipien unserer Modellversuche imstande, unsere Auffassung über die Art und Grösse der treibenden Kräfte zu vertiefen: denn alle diese erosskalibrigen klappenfreien Zentralvenen, soweit sie unter arteriopulsatorischem Einfluss stehen, müssen auf die Peripherie direkt aspiratorisch arbeiten. Sie sind dazu besonders imstande, als hier ein niedriger Belastungsinnendruck mit kräftiger Wandungs- rückwirkung zusammentrifft. Wir haben gerade diese beiden Faktoren als günstigste Bedingung für die Förderung der Strömung am Modell- apparat festgestellt. An den zentralsten Venenstrecken inkl. Vorhof tritt durch ent- wiekelten Eieenrhythmus die Aktivität hinzu, die dureh Vorhof- ventrikelklappen die bestmöglichsten Bedingungen zur Ausnutzung der direkt stromläufig wirksamen Druckwellenbewegungen zentral- wärts erhält. Ich wende mich jetzt dazu, aus der Pathologie Indizienbeweise dafür beizubringen, dass die durch die Arterienpulsation an sich mechanisch notwendige Förderung der Venenströmung im lebendigen Venensystem tatsächlich in hohem Grade und auf weite Entfernungen bis in die oberflächlichen Venen wirkend vorhanden ist. Ich werde im folgenden nachweisen können, dass im Modell bei der analogen Klopfwellenförderung sich gesetzmässig Druck- erscheinungen verfolgen lassen, die bisher bestehende Rätsel in der Pathogenese der Varicen schlagend zu lösen vermögen: Es klärt sich nämlich eine bestimmte Form und Lokalisation der pathologischen varicösen Venenerweiterung nach übereinstimmend sich ge- staltenden Gebilden am Modell als der getreue Aus- druck und als ein festgehaltenes Dokument der arteriopulsatorischen Wellenbewegungen und Druck- sehwankungen im Venensystem auf. Ledderhose schreibt in seiner von mir bereits erwähnten Arbeit S. 417 wörtlich: „Trendelenburg hat bezüglich der so häufig im Bereich des Verlaufes der Saphena am Oberschenkel sich ausbildenden Varicen die wichtige Beobachtung gemacht, dass der grösste Durchmesser der Erweiterung nicht oberhalb der Klappe, wie man meinen Sollte, sondern vielmehr unterhalb derselben, nicht zentralwärts, sondern peripher liegt, eine Tatsache, welche bisher, wie es Über die Bedeutung der Arterienpulsationen für die Strömung usw.. 223 scheint, nicht beachtet wordenist. Slawinsky!) hat, ohne von dieser Angabe Trendelenburgs Kenntnis zu haben, sackförmige Ausbuchtungen der Saphena beschrieben, die immer (32 mal an 12 Leichen) distal von den Klappen ihren Sitz hatten. Die sackartigen Ausbuchtungen befanden sich meist am inneren Teil der Venenwand, am häufigsten am Oberschenkel, selten am Unter- schenkel (im ganzen höchstens sechs). Meist hatten sie die Form eines Sackes mit abgerundetem Boden; die Öffnung, welche in den Sack führte, war ebensoweit wie der erösste Durchmesser des Sackes, manchmal war sie aber auch viel enger, so dass dann die Ausbuchtung einem Divertikel ähnelte.e 28mal lag der obere Abschnitt des Sackes um 1 cm mehr distal als die Klappe, 4mal erreichte er die nächste proximale Klappe oder ragte über sie hinaus, aber auch im letzten Fall befand sich der breiteste Teil des Varix immer noch distal von der Klappe. Die nächste distale Kiappe lag durchschnittlich 10 em entfernt.“ Ledderhose selbst hat bei funktionierenden Klappen die distale Lokalisation an Lebenden festgestellt, alsdann mehr in der Form „einer bauchigen Flasche mit dem Boden zur Klappe gerichtet und den Hals allmählich in den Stamm der Saphena übergehend‘. Trendelenburg sowohl als Ledderhose nehmen eine dis- positionelle lokale Schwächung der Venenwand an. Was die treibende Kraft anlanst, so rechnet Trendelenburg direkt mit dem land- läufigen hydrostatischen Druck, der an der lokal schwächsten Stelle in Verbindung mit der durch die Erweiterung insuffizient werdenden Klappe wirken soll. Ledderhose lässt durch den hydrostatischen Druck wegen der relativen Enge des Klappenringes distal (!) von der Klappe eine Druckerhöhung entstehen, zu der er allerdings einer unregelmässigen Strömung und Wirbelbildung benötigt. Ledder- hose sucht die direkte Wirkung des hydrostatischen Druckes zu umgehen, indem er „den Seitendruck, den der distal von dem ‚Klappenringe gestaute Blutstrom ausübt“, für die Erweiterung ver- antwortlich macht. Er empfindet offenbar die Unmöglichkeit, mit dem direkten hydrostatischen Druck für den klappendistalen Varix zu operieren, denn er hält die Trendelenburg’sche Erklärung für „ziemlich gezwungen“. (S. 418 und 419.) 1) Zentralbl. f. allgem. Pathol. u. pathol. Anat. Bd. 10 S. 997. 1899, Bd. 13 S. 952. .1902. 294 K. Hasebroek: Auf Grund der von mir jetzt mitzuteilenden Versuche an meinem Modellsystem komme ich zu einer viel einfacheren Erklärung, weil diese durch die arteriopulsatorischen Vorgänge über direkte Druck- steigerungen von distal her verfügen kann. Um die erweiternden Vorgänge an meinen elastischen Röhren zu verfolgen, verwandte ich die bereits schon einmal (S. 203) bei den Förderungsversuchen benutzten sehr dehnbaren Röhren aus Kondom- eummi. Und zwar fügte ich jetzt, um die Verhältnisse denen der Venen mögliehst ähnlich zu gestalten, die Klappen in die Röhren: selbst ein. Die Einzelabsehnitte der Röhren, von Klappe. zu Klappe, waren wieder 9 em lang, ihr Kaliber jetzt jedoch etwas weiter. Die Konstruktion der Klappen gestaltete sich folgendermaassen: Auf einem 2 mm dicken, aus rotem Druckschlauch von 8—9 mm Durchmesser ausgeschnittenen Ringe wurde das S. 194 beschriebene Hausenblasenventil — resp. der mit der Hausenblase beklebte Gummi- flachring (s. Fig. 2 und 3, K) — zu einem Viertel der Zirkumferenz auf- geklebt. Diese etwas massivere Klappenvorrichtung wurde dann in ca. ?Ja em lange Teile einer im Kaliber eine Spur engeren Glasröhre mit Lack eingekittet. So erhält man einen kurzen gläsernen Klappen- apparat, über den man die zarten Röhrenenden bequem ziehen und mit Seidenwickelung dichten kann. Ich nahm besonders darauf Bedacht, die zur Verwendung ge- langenden Röhrenabschnitte „leichmässig weit zu machen, so dass die Ubergangsstellen auf den Klappenapparat grobe Ungleichheiten nicht aufwiesen. In das distale und proximale Ende (ich führe diese Ausdrücke zur rascheren Orientierung ein) des jetzt mit zwei Mittel- abteilungen M! und M? konstruierten künstlichen Venenrohres wurden wieder die kurzen 7 mm weiten Verbindungsröhren eingebunden. Distal befand sich, zur Mariotte’schen Flasche gehend, ein S cm langes Schaltröhrenstück aus 0,35 mm diekem Gummimaterial, wo- selbst die Hammerklopfung appliziert wurde, und das dem P unserer früheren Versuchsanordnung in Fig. 4 entspricht. Proximal war das jetzige Venenrohr dureh Zwischenstück mit dem Hahn #! verbunden. Das Nähere ergibt sich aus der Fig. 5, die im übrigen die Einfügung der Büretten und h! erkennen lässt. Die folgenden Versuche wurden öfter wiederholt. Die Re- sultate fielen bei frischem Gummimaterial stets übereinstimmend aus. Nach vielem Gebrauch traten kleine dispositionelle zeitliche und quantitative Abweichungen auf, die jedoch an dem Gesamtresultat nichts änderten. Über die Bedeutung der Arterienpulsationen für die Strömung usw. 225 Mariotte’sche Druckhöhe 17! cm. h! und h vor dem Versuch eingestellt auf den frei kommunizierenden Mariotte’schen Nullspiegel.e. Hammer distal vom Kondomröhrensystem. Hammerbeschwerung 5g. Hammer- frequenz 90 pro Minute (s. Fig. 5). Versuch I. E! geschlossen. Nach dem Ingangsetzen der Hammer- klopfung beginnen nach dem uns bekannten Steigen der Flüssigkeit in der Bürette h! auf ca. 50 mm an den Röhrenwandungen Anschwellungen zu entstehen, und zwar zuerst distal von %° als v!, dann distal von ao SUSSTS TR Klopthanm, Ben BD Fig. 5. M!M?C Röhrensystem von Kondomgummi. NRöhrenabteilung P von 0,355 mm dickem Gummi, k!k?%® proximalwärts sich öffnende Klappen, v!v?v? Anschwellungen an den einzelnen Röhrenabteilungen, wie sie unter der Klopt- einwirkung des Hammers bei P entstehen. k® als v2, während zuletzt sich »® entwickelt. Die Anschwellungen sind anfangs gestreckt kolbig, dehnen sich jedoch bald mehr und ınehr in der Richtung zu den Klappen aus, um schliesslich die Ge- stalt von länglichen Blasen anzunehmen, die auf der Röhrenbasis derartig aufsitzen, dass ihre Basalöffnung ebenso gross als ihr Längs- durchschnitt ist. Die klappenproximale Anschwellung »® behält am längsten den Charakter einer einfachen Erweiterung von € mit kolbiger Erweiterung, die im letzten Stadium und bei einer Förde- rungshöhe von über 80 mm in h!, mit v? wie eine einzige durch den Klappenring nur eingeschnürte Anschwellung erscheint. 226 . K. Hasebroek: Ich gebe ausser dem ‚Schema Fig. 5 eine aufgenommene Photo- graphie in Fig. 6. Irdem ieh in der Photographie, dureh Ausschneiden und Auf- kleben, eine Aufnahme vor der Klopfung mit einer solchen während der Klopfung vereinigt habe, kann ich den Gang der Frscheinungen demonstrieren: Man sieht beim Vergleich von 5 mit A, wie die klappendistalen Ansehwellungen v! und v? zeitlich nacheinander ent- Fig. 6. A Röhreusystem vor der Einwirkung des Klopfhammers, B dasselbe lköhrensystem unter der Einwirkung des Klopfhammers (distal von k!), k1k2%? proximalwärts sich öffnende Klappen. standen sind, und dass in dem abgebildeten Stadium die klappenproxi- male Anschwellung v® sich noch nicht zum Kolben herausilifferenziert hat. Man sieht ferner deutlich, wie in den Abteilungen M' und M? die klappendistalen Anschwellungen vo! un«d »? isoliert, ohne nennens- werte Gesamterweiterungen der Röhren, sich entwickelt ‚haben, während in © noch eine klappenproximale Gesamterweiterung be- steht. Man sieht endlich aus der Photographie, dass dieses Stadium bei einem A!-Bürettenstand von SO 'mm erreicht ist. Über die Bedeutung der Arterienpulsationen für die Strömung usw. 2927 Versuch II. Der Versuch I gelingt in gleicher Art, wenn ich das Röhrensystem proximal, auf der h! Seite, um40cm erhöht aufrichte, nur dass dann die Präponderanz von »! über v2 und ©® noclı mehr hervortritt. Die Anschwellungen bewahren von einer gewissen Grösse an ihre Gestalt nach dem Aufhören der Hammerklopfung, und es tritt keine Verteilung der Flüssigkeit in den zugehörigen Röhrenabteilungen distalwärts ein. Versuch IH. Die Versuche I und U gelingen auch am strömenden System, wenn die Ausströmung aus E! geringer ist als der Zufluss, so dass zugleich ein Hinaufsteigen in A! ver- anlasst wird (s. die analogen Vorgänge S. 209, Tab. 16). Auch in diesem Fall beginnt, wie in Versuch I, die Entstehung der An- schwellungen bei ungefähr gleichem Auftrieb in 4! von 50 mm. Die Anschwellungen bleiben zum Beispiel noch aus bei einem Ausfluss von 80 cem pro Minute, sie entwickeln sich stark bei einem Ausfluss von 25 ccm pro Minute. Versuch IV. Halte ich während der Bildung der -Anschwel- lungen v! mit dem Finger zurück, so schwillt ©? stärker an. Versuch V. Klemme ich nach Erzeugung einer mittelgrossen Anschwellung ©! und nach Ausschaltung des Klopfhammers die Leitung zwischen %? und k® durch Bleiklotz ab, und errege ich dann durch rasches Abheben des vorher langsam aufgedrückten Fingers an der Klopfstelle P eine Saugwelle, so folgt dem Abheben des Fingers jedesmal eine ruckweise vorsichgehende Vergrösserung von ®!., Aus Versuch I—V ergibt sich folgendes für uns grundlegendes Resultat: 1. An einem durchströmten sehr dehnbaren elastischen Röhren- system mit Klappen unserer Versuchsanordnung entwickeln sich durch eine wirksam distal einsetzende Klopfwellenerregung von einem ge- wissen proximal vorhandenen Druckwiderstand an, allmählich und von distal nach proximal fortschreitend, Klappendistale Anschwellungen unter gleichzeitiger Entstehung einer kKlappenproximalen Anschwellung hinter der letzten Klappe. 2. Die klappendistalen Anschwellungen stimmen in einem frühen Entwieklungsstadium mit der von Ledderhose erwähnten Flaschen- form, in ihrem späteren mit den von Slawinski beschriebenen sackförmigen Gebilden der Varieen überein. Die klappenproximale Anschwellung behält am längsten die mehr langgestreckte Gestalt. Pflüger’s Archiv für Physiologie. Bd. 163. 16 228 K. Hasebroek: 3. Die klappendistal lokalisiertte Wandungserweiterung erhält sich durch Druck- und Zugspannungen der ausgedehnten Wandungen entgegen der Schwere. 4. Die klappendistale Anschwellung wird durch von distal her- kommende Triebkräfte hervorgebracht, und zwar sowohl unmittel- bar durch Druckwellen als mittelbar durch Saugwellen, die Flüssig- keit von distal her nachschiessen lassen. 5. Die klappenproximale Anschwellung wird durch von proximal her steigendem hydrostatischen Flüssigkeitsüberdruck (aus der Bürette h*) infolge der von distal her wirkenden hammerpulsatorischen Trieb- mechanik erzeugt. Nun besteht aber ein fundamentaler Unterschied zwischen den Verhältnissen am Modell und am Körper darin, dass am Körper fast ausnahmslos die varicösen Erweiterungen an den oberflächlichen Venen vorkommen, während sie an den tiefen, von kräftigen Arterien begleiteten Venen gar nicht oder nur vereinzelt gefunden werden. Es musste darauf ankommen, die Versuchsresul- tate am Modell mit diesen Tatsachen in Einklang zu bringen. Ich konnte zunächst feststellen, dass auch an meinem Modell es nieht gelingt, durch Applikation des Klopfhammers an den Kondom- röhrenabschnitten M! und M? selbst zugleich deren eigene klappen- distale Anschwellungen ©! und ©? zu erzielen. Das ist durchaus verständlich, denn die in der übergrossen Dehnbarkeit bestehende Bedingung zur Bildung einer Anschwellung kann nicht zugleich die Bedingung zur Schaffung genügender Intensität der stromfördernden erweiternden Triebwirkung liefern. Es gehört also zur Erzeugung der typischen Anschwellungen v! und v? dazu, dass die Klopf- wellenerregung an einem ausserhalb der befallenen Abschnitte ge- legenen Röhrenteil stattfindet, dessen Wandungen geringere ab- solute Dehnbarkeit besitzen. Dies war, wie man leicht einsieht, in unserer Versuchsanordnung der Fall, wo der Röhrenabschnitt P, als Ort der Hammerklopfung, aus 0,35 mm diekem Gummi mit dem Dehnungs- koeffizienten 2,5 im Gegensatz zu den Röhrenabschnitten M!, M?, als dem Ort der Anschwellungen aus Kondomgummi mit dem Dehnungs- koeffizienten 36, konstruiert ist. Genau die gleichen Umstände treffen aber für die Verhältnisse am varicösen Körpervenensystem zu, indem die tiefen Begleitvenen der pulsatorisch tätigen Arterien, die für die Triebenergien in Frage kommen, durch die Umlagerung mit. .dickem Körpergewebe gegen Ausdehnung mehr geschützt sind als die Über die Bedeutung der Arterienpulsationen für die Strömung usw. 929 oberflächlichen und nur mit beweglicher Haut bedeckten Venen. Es galt jetzt, diese örtlichen Bedingungen am Modellsystem denen am Körper analog zu machen. Dies war dadurch leicht zu erreichen, dass ich — wie Fig. 7 zeigt — für die tiefliegenden Venen eine elastische, mit Klappen versehene Röhrenleitung 7 aus 0,35 mm dickem Gummi, für die oberflächlichen Venen eine gleiche Leitung O0 aber aus Kondomgummi anwandte und beide Leitungen parallel schaltete. Die O-Leitung mündete vor der Bürette 4! in die T-Leitung. O0 und 7 stehen mit gemeinsamem Mariotte’schen Druckgefäss und Bürette % in Verbindung. Zwischen O-Leitung und T-Leitung liest die Anastomose An, die entsprechend dem Gesetz Fig. 7. T-Leitung aus 0,355 mm dickem Gummi, O-Leitung aus Kondomgummi, k—k® proximalwärts sich öffnende Klappen, An Anastomosen, v!v?v? Anschwel- lungen, wie sie bei Klopfeinwirkung des Hammers bei P an der T-Leitung, entstehen. am Körper (v. Bardeleben) ihre beiden Einmündungsstellen ca. 2 em proximal von den Klappen %° und %! hat. Die Anastomose selbst bestand aus 0,35 mm diekem Gummi aus Gründen der leichteren technischen Ausführung einer wasserdichten Vereinigung mit dem feinen Kondomgummi, die man nicht ohne etwas dickere Verbindunges- ringe erreichen kann. Die Hammerklopfung wurde distal von der Klappe k° an der T-Leitung appliziert. Ich gebe alles im Schema wieder. Versuch VI. Nach Ingangsetzen der Hammerklopfung an der T-Leitung entwickelten sich an der O-Leitung die gleichen charakte- ristischen Anschwellungen wie in den früheren Versuchen: zuerst v!, dann v® und währenddem »*., Versuch VI. Schliesse ich proximal bei 0? ab, so entsteht ebenfalls zeitlich v!, v2, v®: dies beweist, dass auch für die klappen- proximale Anschwellung ©® die von distal her kommenden Druck- wellen auf dem Wege der O-Leitung ihre Wirkung entfalten können. = 2330 K. Hasebroek: Versuch VIII. Hebe ich nach Erzeugung einer Anschwellung v! und nach Ausschaltung des Hammers den langsam auf die Klopf- stelle P niedergedrückten Finger rasch auf, so vergrössert sich, wie im Versuch V, v! ruckweise weiter. Dies beweist, dass auch der Saugwellenimpuls des Hammers von distal her wirksam ist. Versuch IX. Schliesse ich in der Mitte zwischen 42 und 1° ab, so entstehen ziemlich gleichzeitig die Anschwellungen v! und »®, während ©? nicht entsteht. Dies beweisst, dass auch die klappen- distale ©®-Anschwellung nur von distal her sich entwickelt. Schliesse ieh die Anastomose An ab, so entsteht nur die klappen- proximale Anschwellung v°: dies beweist, dass die klappendistalen Ansehwellungen von distal her durch die Anastomose von der T-Leitung her vermittelt werden. Versuch X. Setze ich distal von dem Ort P der Hammer- klopfung noch eine weitere Klappe ein, so gelingen die Versuche zeitlich und quantitativ noch prompter als ohne diese Klappe: dies beweist, dass bei den Erscheinungen ein Röhrenabschnitt M unserer Definition, als zwischen zwei Klappen, den pulsatorischen Wirkungen intensiver Geltung verschafft als ein Abschnitt mit einer Klappe. Es entspricht dies der grösseren Förderungswirkung von M, die wir in allen früheren Versuchen festgestellt haben. Wenn ich hinzufüge, dass die Erscheinungen auch bei Erhöhung des Standes der h!-Seite und am strömenden System gleichermaassen hervorgerufen werden können, so ergeben sich für die O-Leitung des Parallelsystems auf dem Wege der Übertragung durch die Anasto- mosen dieselben gesetzmässigen Bedingungen zwischen Klopfwellen- erregung und den Wandungsanschwellungen v!, v2, v® wie an der ein- fachen 7-Leitung (Fig. 5) selbst. Nach allen diesen Versuchen dürfen wir wohl folgendes sagen: Einerseits die Übereinstimmung der mechanischen Bedingungen am Körper und Modellsystem, anderseits die absolute Ähnlichkeit der klappendistalen sackförmigen Varicen mit den am Modell sich einstellenden entsprechenden Gebilden sowie die bisher bestehende Verlegenheit einer Erklärung des klappendistalen Varix aus den hydrostatischen Verhältnissen erlauben es, am Körper das Vorhanden- sein einer bedeutenden, der Hammerklopfung analogen arterio- pulsatorischen Triebwirkung auf die Venenströmung als bewiesen zu betrachten, um so mehr als auch für den Über die Bedeutung der Arterienpulsationen für die Strömung usw. 231 klappenproximalen Varix die Deutung durch den hydrostatischen Druck allein für das strömende System des Körpers sehr gezwungen ist. Doch weiter: Eine besondere Schwierigkeit der Erklärung boten bisher klinisch diejenigen Varicen, die offenbar nur mit einer gewohnheitsmässigen angestrengten physiologischen Betätigung der Extremitäten zusammen- hängen und wo man hinsichtlich einer Heranziehuug irgendwelcher Abflussbehinderung resp. Abflussstauung in die grösste Verlegenheit kommt. Ledderhose sagt sehr richtige, dass die beliebte bisherige Voraussetzung einer venösen Stauung bei arbeitenden Körpermuskeln widersinnig sei, da der Muskel bei seinem Arbeiten grössere Blut- durehfuhr verlange und keine Stauung erlaube. Für die unteren Extremitäten musste trotzdem der hydrostatische Druck das Weitere tun, besonders für die Individuen mit überanstrenster stehender Be- schäftigung. Nun, das mag hier noch hingehen. Wie steht es aber mit den Varicen an den Armen von gesunden, kräftigen Armarbeitern ? Hier handelt es sich überwiegend um Arbeit, die mit starker Be- wegung der Extremität verknüpft ist, und mit dem hydrostatischen Druck kann man doch kaum rechnen. Wie sollte hier es in den Venen zu dauernder Stauung kommen? Und wie steht es vollends mit der an solehen muskulös glänzend leistungsfähigen Armen auch in der Ruhe stark ausgeprägten Füllung der Venen? Es wäre höchst merkwürdig, wenn das eine pathologische Überfüllung dureh Rück- stauung bedeuten sollte. Diese gute Füllung ist eben nur der Aus- druck eines prompt trainierten peripheren Zuflussbetriebes. Es ist das dieselbe Erscheinung, wie wir sie so schön an den Hautvenen gerade der besten Rennpferde sehen. Erst dadurch, dass die physiologische arteriopulsatorische Mechanik bei Muskelarbeit zu oft und überforeiert ausgelöst wird, führt die Energie einer Widderwirkung als Gelegenheitsursache zur Entstehung des Varix. Eine weitere wichtige Tatsache ist folgende: Die chirurgische Praxis hat bei der Bekämpfung der Varicen ergeben, dass an Stelle der operativ verschlossenen oder um viele Zentimeter ausgeschalteten Vena. saph. in deren Verbreitungsgebiet bekanntlich die schwersten Varicen ihren Sitz haben, sich bei Rezidiven die Blutströmung wiederherstellt. Ledderhose!) führt drei selbstbeobachtete Fälle an, „in denen nach 1) Ledderhose, a. a. O. S. 409/410. 292 K. Hasebroek: mehreren Jahren der proximale und distale Teil des Gefässes wieder in Verbindung getreten waren“. Jeder wird da zugeben müssen, dass eine Neubildung der Vene und Neuschaffung einer Strömung, vollends unter Regeneration einer sicher vorher obliterierten Strecke des Saphenastammes, auf bedeutende venöse Triebkräfte von distal her schliessen lässt. Mit nur proximal vorhandenem hydrostatischen Druck hier zu rechnen, scheint mir unmöglich. Und dass von distal her gerade pulsatorisch gesteigerte Triebkräfte viel grössere Wirksamkeit entfalten müssen als ein recht niedriger venöser Strom- druck für sich allein, liegt auf der Hand. Und nun noch ein letzter Indizienbeweis, mit dem sich die Be- weiskette für ein ursächliches Vorhandensein der arteriopulsatorischen Strömungskräfte schiiesst: Die klinische Beobachtung lehrt, dass Varieen einerseits bei im übrigen durchaus gesunden Individuen vorkommen, die ein sonstiges Defizit, speziell am Herzen vermissen lassen, und dass anderseits keineswegs häufiger Varicen auftreten, wenn selbst starke venöse Stauungen bei Herzkrankheiten vorhanden sind. Ledderhose betont auch dies als Argument gegen die Überschätzung des hydrostatischen Druckes als Grund der Varicen. Dagegen sprechen diese Umstände in hohem Maasse für unsere neuen Ansichten, da kardiale Venenstauungen mit dem Daniederliegen der Energie der arteriellen Pulsationen unmittelbar verknüpft sind. Der Einfluss der Energiegrösse der fortschreitenden Wellen hat sich aus unseren früheren Hammerklopfversuchen am Modell direkt nachweisen lassen. Fassen wir nochmals alles, was sich für die Varicen unter dem Gesichtspunkt einer arteriopulsatorischen Ursache ergeben hat, zu- sammen: so liefert uns die Pathologie des Venenvarix den einwandfreien Nachweis, dass in den arterio- pulsatorischen Vorgängen tatsächlich qualitativ und quantatitiv bedeutende Stromkräfte physiologisch in gleicher Weise in den Venen tätig sein müssen, wie wir sie am Modell in ihren Gesetzmässigkeiten fest- gestellt haben. Mir scheint daher in unseren Versuchsresultaten eine bemerkenswerte ‚Basis gegeben zu sein, um weiter an der Hand des Tierversuches manches Neue für spezielle Kreislaufgebiete fest- zustellen. Ich habe bisher meine Versuchsresultate nur von rein mechanischen Gesichtspunkten aus für die Verhältnisse am Körper ausgewertet. Über die Bedeutung der Arterienpulsationen für die Strömung usw. 233 Ich müsste jedoch mein Glaubensbekenntnis, das ich seit zwei Jahr- zehnten verteidige!), verleugnen, wenn ich die Mechanik einer rhythmischen Wellenerregung und -bewegung nicht auch an den Venen in Beziehung zur Auslösung einer biologischen aktiven Wandunesreaktion bringen würde, derartig, dass zu den mechanischen Wirkungen solche einer lebendigen Energie hinzukommen. Gerade an den Venen liegen durch die Einrichtungen der Klappen die Bedingungen für eine Inhalt fördernde Mission einer aktiven Wandungsreaktion so günstig, dass selbst die Skepsis, die neuerdings Hess?) aus physikalischen Gründen einer derartigen Stromförderung in den klappenlosen Arterien entgegenbringt, hier fortfällt. Hess kommt zu dem Resultat, dass bei den Arterien ein Mechanismus fehlt, der einer eventuell durch Arterienkontraktion entstehenden Druck- kraft die Möglichkeit schafft, stromabwärts fördernd zu wirken, da dieselbe Druckkraft um ebensoviel stromaufwärts hemmend wirkt. In dieser Fassung freilich ist das im allgemeinen richtig, und man kann in einer durchströmten elastischen Röhre ohne Klappen in der Tat durch Klopfwellenerregung keine Förderung der Strömung er- zielen. Die Verhältnisse liegen aber am Körperarteriensystem doch noch etwas anders: Hier ist eine vom Herzen primär erzeugte fort- schreitende Welle vorhanden, und es soll nun die von mir postulierte dazukommende lebendige Druckkraft der Arterien nur auf der Höhe der herzsystolischen Welle derart einsetzen, dass sie als eine Energie- erhöhung eines peripherwärts passierenden primären Impulses in Betracht kommt. Dass eine Mechanik dieser Art auch an klappen- losen elastischen Röhren tatsächlich fördernd wirkt, habe ich in Ver- suchen zeigen können ?), Um auf unsere Venen zurückzukommen, so möchte ich folgendes zur Frage einer aktiven Mitwirkung ausführen: Gubler entdeckte, dass wenn man auf einer der Dorsalvenen der Hand, etwa mit einem Schlüsselbart oder Perkussionshammer, auf- schlägt, man die getroffene Stelle der Venen sich mehr oder weniger zusammenziehen und viele Sekunden kontrahiert bleiben sieht ®). Ferner steht fest, dass die Wandungen auf erhöhten Innendruck mit Eigenbewegung reagieren. Die bekannten Pulsationen am Fleder- 1) Hasebroek, Über den extrakardialen Kreislauf des Blutes vom Stand- punkt der Physiologie, Pathologie und Therapie. Jena 1914. 2) Hess, Über die funktionelle Bedeutung der Arterienmuskulatur. Korre- spondenzblatt f. Schweizer Ärzte 1914 Nr. 32. 3) Physikalisch - experimentelle Einwände gegen die sogenannte arterielle Hypertension usw. Pflüger’s Arch. Bd. 143 S. 551. 1912. 4) Zitiert nach Rollett, Hermann’s Handb. d. Physiol. 1880 S. 456. 2334 K. Hasebroek: mausflügel treten nur von einer gewissen Höhe des Innerdruckes auf!).. Man weiss zudem, dass auch bei höheren Tieren die Venen in nicht viel anderer Weise wie die Arterien auf verschiedene Reize mit Lumenveränderungen reagieren: nach Klemensievicz, einer Autorität in der Venenforschung, antworten die Venen bei lokaler Injektion von Stryehnin mit Konstriktion, von Amylnitrit mit Dila- tation?). Die V. saphena des Kaninchens zieht sich zusammen, wenn nach längerer Anfüllung mit dyspnöijschem Blut hellrotes Blut in sie hineinströmt?). Nach allem diesen besteht sehr wohl die Möglichkeit einer ge- wissen muskulären Mitwirkung der Venenwandungen. Und wenn man sieht, wie am Körper, noch dazu am gesenkten Gliede, eine ausgestrichene, mit dem Finger distal verschlossene Vene sich beim Abheben des Fingers blitzschnell füllt, gegenüber der wesentlich langsameren Füllung bei meinen Gummiröhren, unter ähnlichen mechanischen Verhältnissen und trotz einer Zuflusshöhe von sogar 25—50 cm Wasser, so kann man sich des Eindruckes nieht erwehren, dass auch bei der Expansion der lebenden Vene mehr als nur ein elastisches Prinzip vertreten ist. Der Stein des Anstosses ist für die Physiologen das Unvermögen, experimentell für die Er- weiterung die Längsmuskulatur als selbständig wirkend direkt fest- zustellen. Einen indirekten Beweis habe ich aus der vergleichenden Anatomie und Physiologie beizubringen versucht *), indem ich zeigen konnte, dass bei den niederen Tieren ohne Herz die Gefässpulsationen erst mit dem Auftreten der Längsmuskulatur selbständig werden. Das lässt kaum eine andere Deutung zu, als dass die Erweiterung mit den Längsmuskeln mindestens eng zusammenhängt. Wenn man nicht prinzipiell jeder indirekten Beweisführung allen Wert absprechen will, so muss auch einer neueren Arbeit von Homberzer über Aktivität der Venenerweiterung, soweit es eine Lumeneinstellung betrifft, Bedeutung geschenkt werden: dieser weist nämlich nach, dass, energetisch betrachtet, die Natur hei jeder organfunktionellen arteriellen Zufluss- Hyperämie auf eine gleich- 1) Tigerstedt, Lehrbuch 1893 S. 41. 2) Sitzungsber. d. kgl. Akad. d. Wissensch. in Wien Bd. 94 (1886) zitiert nach Unna, Monatschr. f. prakt. Derm. Bd. 8 Nr. 11. 1889. 8) E. B. Hoffmann in Nagel’s Handb. Bd.1 S. 311. 4) Extrakardialer Kreislauf usw. Kap. IV. Über die Bedeutung der Arterienpulsationen für die Strömung usw. 235 zeitige aktive Erweiterung der abführenden Venen notwendig an- gewiesen ist !). Nach Ledderhose kommt nun an den Varicen nach patho- logischen Befunden neben einer Wandungsatrophie der lokalen Er- weiterungen eine starke Hypertrophie der Muskelelemente der Media der „Gefässe als Ganzes“ häufig vor. Dieser Befund macht den bis- herigen Gesichtspunkt einer allgemeinen ursächlichen dispositionellen Wandungsschwäche der Venen für die Varicen unmöglich. Die meisten Autoren helfen sich zur Erklärung der Hypertrophie mit der An- nahme einer erhöhten Inanspruchnahme der Wandungen durch den hydrostatischen Druck. Ledderhose spricht dagegen, aus der Analogie sonstiger muskulärer Hohlorgane, von einer Arbeits- hypertrophie, und sicher ist dies der einzig richtige Standpunkt. Es fragt sich nur, wie diese Arbeit aufzufassen ist: ob als Arbeit einer stationär tonischen Überspannung oder als wirkliche reaktive kinetische Arbeit. Hinsichtlich einer toniscehen UÜberspannung bleibt bei den Varicen aber alsdann rätselhaft, dass daneben das Gegenteil, eine lokale Atrophie, an den erweiterten Stellen entstehen kann. Verständlicher wird dies jedenfalls, wenn wir die Hypertrophie als durch gesteigerten Innendruck ausgelöste wirkliche physio- logische Mehrarbeit mit dem Fffekt einer Steigerung der lebendigen Kraft der spezifischen Stromstösse auffassen: denn aus der Steigerung einer derartigen Arbeit der Vene „als Ganzes“ versteht man durchaus eine allmähliche Schädigung an den mit der Widdermechanik verknüpften lokalen Prädilektionsstellen der Klappenbezirke. Es kommt noch etwas hinzu: Ich habe für die Arterien die gleiche Frage der Hypertrophie ausführlich in meinem Buche ab- gehandelt?), zugleich unter Heranziehung des Adrenalins, das eine gesteigerte Arbeitsleistung der Arterien durch gesteigerte Reizbarkeit der Gefässwandungen gegenüber den Signalen der Pulswellen ver- anlasst. Und es ist nun sicher kein Zufall, dass Karfunkel auch für die Venen an den bekannten Venenpulsationen des Fledermaus- flügels eine derartige Reizsteigerung durch Adrenalin direkt nach- weisen konnte, und zwar für Konstriktion und Dilatation. Er schreibt 1) Homberger, Die Energielehre der Blutgefässe. Würzburger Abhandl. a. d. Gesamtgeb. d. prakt. Med. Bd. 14 H. 11/12. 1914. 2) Extrakardialer Kreislauf usw. Kap. XII. 236 K. Hasebroek: Ze wörtlich: „Es ist eine Anfangswirkung von einer späteren zu unter- scheiden. Indiesem Anfangsstadium der Beschleunigung der Pulsationen ziehen sich die Venen sehr energisch zusammen, kollabieren gänzlich, ebenso ist das Stadium der aktiven Blutaufsaugung lang und ausgiebig“). Meine geschlossene Auffassung des extrakardialen Kreislaufes erhält hierdurch hinsichtlich eines für Arterien und Venen einheitlichen Reizprinzipes eine Stütze. Mein Beweismaterial wird immer grösser, dass wir in der Tat in dem Adrenalin diejenige hormonale physi- kalische Potenz zu erblicken haben, die scheinbar teleologische Vor- gänge einer bei der Funktion der Organe zunehmenden aktiven Mit- wirkung der Gefässwandungen kausal mechanisch aufzulösen vermae?). Ich erwähnte S. 192 bei meinen Fundamentalversuchen I und II, dass die Entleerung der Handrückenvene besonders ausgesprochen bei grosser Sommerhitze erscheint. Unter solchen Umständen ist die Geschwindigkeit der Vorgänge eine viel grössere als bei niedriger Aussentemperatur. Das spricht gewiss für eine Ursache durch srössere Reizbarkeit der Venenwand. Bekanntlich hat Quincke bei hohen Aussentemperaturen einen Venenpuls beobachtet; die bis- herige Erklärung dieses Pulses aus einem Durchschlagen des Arterien- pulses bei erschlafften Arterien durch erweiterte Kapillaren halte ich für unmöglich, wenn man die totale Vernichtung der Arterien- pulswelle im normalen Kapillarbezirk bedenkt. Man müsste den Venenpuls sonst viel häufiger beobachten. Viel annehmbarer erscheint mir jetzt die Deutung aus einer arteriopulsatorischen Übertragung durch Venenanastomosen aus der Tiefe, indem auch hier nichts anderes die Ursache des Phänomens ist als die höchst gesteigerte Reizbarkeit der Venenwände unter der hohen Aussentemperatur. Es ist klar, dass für unsere arteriopulsatorische Wirkung auf die Venenströmung die Mitwirkung einer aktiven Expansion als Forcierung der Energie der fördernden Saugwellenkomponente von besonderer Wichtigkeit wäre. Tatsächlich haben die Venen überhaupt 1) Untersuchungen über die sogenannten Venenherzen der Fledermaus. Arch. f. Anat. u. Physiol. 1905 (Phys.) S. 542. (Das von mir gesperrt Gedruckte ist auch bei Karfunkel gesperrt.) 2) Extrakardialer Kreislauf usw. Kap. IX und X, und Über extrakardiale Kreislauftriebkräfte und ihre Beziehungen zum Adrenalin. (Zugleich eine Be- antwortung der Einwände Hürthle’s gegen meine Theorie :vom extrakardialen Kreislauf.) Berliner klin. Wochenschr. 1915 Nr. 10. Über die Bedeutung der Arterienpulsationen für die Strömung usw. 237 nach Stöhr viel reicher entwickelte Längsmuskeln als die Arterien, und, was sehr bezeichnend ist, noch in das adventitielle Bindegewebe übergehend'). Da nach den Gesetzen der Entwicklungsmechanik ?) niemand leugnen wird, dass das Vorhandensein und die Differenzierung von Längsmuskeln einer ganz bestimmten Funktion entsprechen muss, so möchte ich auf die vorhin angezogenen, von Koeppe gefundenen histologischen Tatsachen am Pfortadersystem zurückkommen. Koeppe fand, dass 1. die venösen Netze in der Darmmucosa keine Muskeln haben, 2. die kurzen und langen Darmvenen starke Ringmuskeln und wenig Längsmuskeln haben, 3. der Stamm der Pfortader eine starke Ring- und Längs- muskulatur hat. Dieses Verhalten der Längsmuskulatur erscheint vom Standpunkt der arteriopulsatorischen Vorgänge auffallend im Rahmen einer von uns zu postulierenden Mitwirkung durch Aktivität der Wandungen, denn es entsprechen im Modellsystem: ad 1. die submucösen Venennetze unserem Reservoir h mit distaler Passivität; ad 2. die kurzen und langen Darmvenen unseren Modellabteilungen M, wo die Wandungsexpansion gegenüber der Druckwellenwirkung zurücktritt; ad 3. der Stamm der Pfort- ader unseren Modellabteilungen ©, wo eine Expansionswellenwirkung die Förderung von % her beherrscht (s. S. 196 Tab. 1 und 2 und S. 198). Es entsprechen also durchaus: 1. das Fehlen aller Muskeln der Passivität; 2. die wenigen Längsmuskeln einer physikalisch weniger verlangten Expansionswirkung; 3. eine starke Längsmusku- latur einer stark benötigten Expansion der Venenröhrenwandungen, um stromaufwärts zu wirken. Und nun noch eins zum Schluss von ähnlichen Gesichtspunkten bei diesem Anlass: Weshalb haben beim Menschen die Venen am Hals (nach Henle) so gut wie keine Muskeln? Sicher nur deshalb nicht, weil hier das hohe Eigengefälle durch die Schwere eine aktive Förderwirkung der Wandungen unnötig macht, da beim Menschen der Kopf unter ziemlich allen Umständen einen höchsten Punkt am System einnimmt. Stellt sich jedoch der Normalmensch auf 1) Homberger, ]. c. S. 282 nach Stöhr, Lehrb. d. Histologie, 11. Aufl. 2) Siehe auch: Extrakardialer Kreislauf usw. Kap. IV. 938 K. Hasebroek: Über die Bedeutung der Arterienpulsationen usw. den Kopf, so bekommt er eine starke Stauung: Diese Verhältnisse nur mit dem Begriff eines Tones der Venen als Regulator durch passive Erweiterungsfähigkeit abzufertigen, ist mindestens sehr unbefriedigend, denn Niemand wird leugnen können, dass, wenn die Muskulatur nur für Einstellung stationärer Spannungszustände zur passiven Anpassung an wechselnde Füllung da wäre, das Fehlen an den Halsvenen, deren Füllung doch sehr wechselnd ist, un- erklärbar bleibt. Ein von Jugend auf geübter Kopfequilibrist dagegen kann sich bekanntlich erlauben, wohl !/s Stunde und mehr auf dem Kopf zu stehen und mit dem Kopf nach unten ohne Stauung sogar anstrengend zu arbeiten. Man sehe bei Gelegenheit nur einmal nach: solche Individuen werden schon Muskeln an den grossen Halsvenen haben. 239 (Aus dem physiologischen Institute der Universität Graz.) Über geschmacks-physiologische Versuche mit Blutegeln. Von Privatdozent Dr. Leopold Löhner. Vor kurzem habe ich eine einfache Methode für künstliche Fütterung von Blutegeln angegeben, die ich zum Zwecke ver- dauungs-physiologischer Versuche ausgearbeitet hatte!). Unter Be- obachtung des dort geschilderten Vorgehens kann die spontane Auf- nahme einer. Reihe von Substanzen, die sonst als Nahrung dieser Tiere nicht in Betracht kommen, unschwer erreicht werden. Nach der ganzen Sachlage waren damit auch Bedingungen für geschmacks-physiologische Untersuchungen geschaffen, wie sie, gleich günstig, bei Wirbellosen sonst nur selten erzielt werden können. Ich möchte an dieser Stelle in Kürze über einige derartige Versuche berichten, die mit den für die menschliche Geschmacksprüfung üblichen Testflüssigkeiten angestellt wurden. Diese Versuche gewinnen an Interesse, wenn wir sie in Vergleich setzen zu den älteren Experimenten Graber’s°’) und besonders jenen Nagel’s®) über die chemischen Hautsinnesorgane der Egel. Nagel experimentierte in der Weise, dass er mit feinen Pipetten Flüssiekeitstropfen auf die vom Wasser nur halb bedeckten 1) L. Löhner, Über künstliche Fütterung und Verdauungsversuche mit Blutegeln. Biolog. Zentralbl. Bd. 35 S. 335—39. 1915. 2) V. Graber, Vergleichende Grundversuche über die Wirkung und die Aufnahmestellen chemischer Reize bei den Tieren. Biolog. Zentralbl, Bd. 5 S. 385—398, 449459, 483—489. 1885; Bd. 7. 1887; Bd. 8 S. 743—754. 1889, 3) W. A. Nagel, Vergleichende physiologische und anatomische Unter- suchungen über den Geruchs- und Geschmackssinn und ihre Organe mit ein- leitenden Betrachtungen aus der allgemeinen vergleichenden Sinnesphysiologie. Leukart-Chun, Bibliotheca Zoologica. Originalabhandl. a. d. Gesamtgebiete d. Zool. H. 18 207 S. u. 7 Taf. E. Nägele, Stuttgart 1894. 240 Leopold Löhner: oder das Vorderende aus dem Wasser herausstreckenden Tiere auf- trug. Die sofortige Kontraktion der Segmentalmuskulatur wurde als Kennzeichen dafür genommen, dass eine bestimmte Substanz als chemischer Reiz perzipiert wird, und zwar in dem Sinne, dass er dem Tiere „unangenehme Empfindungen verursacht“. | Auf Grund grösserer Versuchsreihen mit verschiedenen Sub- stanzen, darunter auch mit indifferenten Süss- und Bitterstoffen, kommt er zu dem Ergebnisse, dass die Haut des Egels Schmeck- vermögen besitzt, und zwar nicht nur die Mundgegend, sondern die ganze Haut. „Dies stimmt nun auch sehr gut mit dem anatomischen Befunde; denn wir finden die Organe, welche auf der zum Schmecken naturgemäss am meisten benützten Oberlippe sich in grosser Zahl zusammenscharen, spärlich verteilt auf der ganzen Körperoberfläche wieder. Wir finden ausser ihnen keine anderen Sinnesepithelien auf der Körperoberfläche verstreut, daher ergibt sich von selbst der Schluss, dass jene Organe dem Schmeckvermögen dienen.“ „Ein inneres Geschmacksorgan scheint den Egeln zu mangeln, wenigstens habe ich keine im Munde gelegenen Nervenendapparate gesehen und auch nirgends eine Angabe über solche gefunden !).“ Meine Methode dürfte für die Untersuchung des chemischen Perzeptionsvermögens der Mundregion insofern geeigneter sein und auch genauere Ergebnisse zutage fördern, als sie den natürlichen Verhältnissen näher kommt, als sie, wenn man so sagen will, bio- logisch einwandfreier ist. Das für die Versuche technisch Wesent- liche möchte ich aus der genannten Arbeit?) hier kurz wiederholen. Kieferegel, wie Hirudo medieinalis Z., müssen, um überhaupt Nahrung aufnehmen zu können, Gelegenheit haben, nach voraus- gegangenem Festsaugen ihren Saug- und Pumpmechanismus in Gang zu bringen. Setzt man einen Egel in ein Glasgefäss mit Blut, so ist er trotz aller Bemühungen nicht imstande, nennenswerte Mengen davon aufzunehmen. Dies erreichte ich aber ohne weiteres dadurch, dass ich ein mit. defibriniertem Blute gefülltes Proberöhrchen mit einem Stückchen frischen Tierfelles zuband und daran den Egel sich festsaugen liess. Diese Methode der künstlichen Fütterung ist also höchst einfach und selbstverständlich; trotzdem hat man auf einige Umstände Rücksicht zu nehmen, bei deren Nichtbeachtung, wie ich 1) W. A. Nagel, l. c. 8.145. 2) L. Löhner, ]. c. S. 386 ff. Über geschmacks-physiologische Versuche mit Blutegeln. 241 mich anfangs nur zu oft überzeugen konnte, das Gelingen in Frage gestellt wird. So ist es nötig, um überhaupt ein Ansaugen zu er- reichen, die über die Öffnung des Röhrehens zu stehen kommende Fellpartie von den Haaren zu befreien und durch flache Scheren- schnitte auf eine möglichst dünne, aber noch als Verschluss wirkende, flüssiekeitsundurchlässige Lamelle zuzuschneiden. Das Röhrchen samt Inhalt muss ferner vorher im Wasserbade auf etwa 40° C. erwärmt werden. Empfehlenswert ist es auch, die Aussenseite des Häutchens mit Blut oder Serum zu bestreichen. Sobald das Tier mit Hilfe seiner Kiefer die charakteristisch geformte, dreiblattähnliche Öffnung in die Lamelle gesägt hat und Flüssiekeit aufsaugt, beginnt sich im Röhrehen ein immer stärker werdender negativer Druck zu ent- wickeln, der die Saugarbeit erschwert und vorzeitig zu Eude bringt. Es empfiehlt sich daher, mit einer Nadel in die Membran vorsichtig ein kleines Loch zu bohren; man kann dann das Aufsteizen der Luftblasen in der Flüssigkeit im Rhythmus der Saugarbeit verfolgen. Befindet sich anstatt Blut oder Serum eine indifferente Flüssig- keit in dem Röhrchen, so bereitet es meist einige Schwierigkeiten, die Tiere zum Ansaugen zu bringen. Um in diesem Falle rasch zum Ziele zu kommen, ging ich so vor, dass ich den Egel sich zuerst an einem mit Serum gefüllten Röhrchen festsaugen liess, dann das Fellstück samt dem Egel abzog und über ein anderes, die be- treffiende Flüssigkeit enthaltendes Gefäss stülpte. Bei raschem und vorsichtigem Arbeiten gelingt diese Übertragung meist, ohne dass das Tier loslässt; liegt eine indifferente Flüssigkeit, wie zum Beispiel physiologische Kochsalzlösung, vor, so wird dieselbe dann immer anstandslos weitergesaust. Bei den im Hinblieke auf eine Prüfung des chemischen Sinnes angestellten Versuchen wurden auch mit verschliessbarem Zu- und Abflusse versehene Durchströmungsgefässe verwendet, die einen raschen Flüssigkeitswechsel bezweekten und zwischendurch noch eine gründliche Ausspülung mit physiologischer Kochsalzlösung möglich machten. In der Regel wurde bei diesen Versuchen aber so vor- gegangen, dass das nur wenig Serum enthaltende Röhrchen in einem Stative mit hölzernem Ringarm befestigt wurde. Der saugende Egel befand sich am tiefsten Punkte des senkrecht gestellten Röhrchens und wurde durch unterlegte, feuchte Tücher unterstützt. Es empfiehlt sich nämlich, eine Unterlage gegen die Zugwirkung des eigenen, immer mehr zunehmenden Gewichtes anzubringen, doch darf sie nie 242 Leopold Löhner: fest andrücken und das Tier in seinem Bewegungsvermögen be- hindern. Nachdem durch Nadeln die Ränder des Fellstückes in dem hölzernen Rähmchen befestist worden sind, kann nunmehr die Eprouvette entfernt werden. Das angenadelte Fellstück bildet auf diese Weise ein kleines Trichterchen, an dessen tiefstem Punkte der Esel saugt. Mit Hilfe ausgezogener Glasrohre können nun ver- schiedene Flüssigkeiten tropfenweise zugesetzt und auch rasch ge- wechselt werden. Diese Anordnung erlaubt das reaktive Verhalten auf den Zusatz bestimmter Flüssigkeiten oder Flüssigkeitskonzentrationen am ge- nauesten zu verfolgen. Die Beohachtung (des Kieferspieles beim Saug- akte und die Feststellung von Rhythmusänderungen oder Störungen auf den Zusatz gewisser Stoffe gibt einen feinen Indikator für die Beurteilung des ehemischen Perzeptionsvermögens ab. Das sofortige Loslassen eines eben noch saugenden Tieres stellt aber das aller- einfachste Kennzeichen dafür dar, dass eine bestimmte Substanz als von der vorhergehenden chemisch verschieden, und zwar im ab- stossenden Sinne wirksam, perzipiert wird. Es seien nun die Ergebnisse einiger orientierender Versuchs- reihen hier angeschlossen, die mit den für die Prüfung der mensch- lichen Geschmacksqualitäten salzig, süss, bitter, sauer und laugenhaft üblichen Testflüssigkeiten angestellt wurden. Es fanden demnach wässrige Lösungen von Natriumchlorid, Saecharose, neutralem Chinin- sulfat, Salzsäure und Kalilauge Verwendung. | 1. Kochsalz. Wie schon betont wurde, wird körperwarme, physiologische Kochsalzlösung als „2. Flüssigkeit“ anstandslos weitergesaugt, ohne- dass irgendein Reflex zu bemerken wäre. Die Qualität „Salzig“ von Serum und Kochsalzlösung, für uns Menschen das wichtigste ge- meinsame Geschmackskennzeichen dieser beider Flüssigkeiten, scheint demnach auch bei diesen niederen Tieren als einander ähnlicher Sinnesreiz zu wirken. Wie danach vorauszusetzen war, bereitet auch die Erzielung der Aufnahme nicht zu dichter Suspensionen unlöslicher Substanzen (Stärkekörnchen, gewisse Farbstoffe usw.) in physiologischer Kochsalzlösung keinerlei Schwierigkeiten. Die erste Frage, die ich nunmehr zu beantworten suchte, war die, innerhalb welcher Grenzen die Kochsalzkonzentration schwanken dürfe, damit die Lösungen von den Egeln noch weitergesaugt werden. Über geschmacks-physiologische Versuche mit Blutegeln. 243 Wenn die Flüssigkeitsänderung (Trichterchenmethode) ganz allmählich erfolgte, in der Weise, dass jede neue, körperwarme Lösung gegen die vorhergehende nur um 0,1°/o differierte und beim Aufträufeln auch mechanische Störungen, wie stärkere Flüssigkeitsströmungen und Wirbel, vermieden wurden, liess sich folgendes ermitteln: Eine Grenze nach unten gibt es nieht, das heisst mit anderen Worten auch reines Wasser wird noch gesaugt. Der Grenzwert nach oben ist überraschend hoch; er liegt bei 7 °/o. Bei diesem Prozentgehalte erfolet auch bei allmählichem Ansteigen das Loslassen immer und vor Ablauf einer Viertelminute nach dem Zusatze. Dieser Zeitwert von 15 Sekunden fand auch bei allen übrigen Versuchen Berücksichtigung; sobald von der „Loslassreaktion“, einer „Abstossungsreaktion“ im Sinne Nagel’s!), die Rede ist, soll damit gesagt sein, dass das reaktive Loslassen auf einen chemischen Reiz noch innerhalb der ersten Viertelminute eintrat. Lösungen von 5 bis gegen 7 °/o werden noch durch einige Minuten gesaugt, aber nie in der Menge, wie etwa physiologische Kochsalz- lösung oder Blutserum, aufgenommen. Lässt man die Konzentrations- änderung nicht allmählich erfolgen, sondern geht beim Flüssigkeits- austausche sprungweise vor, so zeigt das zeitweilige Aussetzen des Kieferspieles deutlich an, dass von dem Tiere der Unterschied be- merkt wird; dies gilt übrigens nicht nur für Natriumehloridlösungen, sondern auch für alle übrigen geprüften Substanzen. Nicht selten erfolgt dann auch die Loslassreaktion weit unter jener angegebenen Grenze; das gleiche tritt auch ein, wenn ein stärkerer Flüssigkeits- strahl die Mundregion direkt trifft, oder wenn ein merklicher Tem- peraturunterschied zwischen den beiden Flüssigkeiten besteht. Alle diese störenden Nebenumstände wurden bei diesen wie den übrigen Geschmacksprüfungsversuchen nach Möglichkeit ausgeschlossen. Erwähnenswert im Zusammenhange mit diesen Feststellungen sind die Beobachtungen Graber’s°), nach denen der naheverwandte Rossblutegel (Aulastomum) zu den ziemlich salzscheuen Tieren ge- hört und bereits aus 2%/oigem Salzwasser zu fliehen trachtet. 2. Rohrzucker. Schwache Rohrzuckerlösungen werden angenommen. Der Schwellenwert für die Abstossungsreaktion liegt hier bei 5/0. Höhere 1) W. A. Nagel,l. c. S. 44. 2) V. Graber, |. c. S.488. 1885. Pflüger’s Archiv für Physiologie. Bd. 163. 17 244 Leopold Löhner: Konzentrationen, wie etwa 10°/oige Lösungen, scheinen von den Tieren, — sit venia verbo — höchst unangenehm perzipiert zu werden und veranlassen eine blitzschnelle Reaktion. Dieser Befund ist bemerkenswert, da Nagel!) hervorhebt, dass die verschiedenen Zuckerarten selbst in den höchsten Konzentrationen auf die Haut- sinnesapparate gar nicht einwirken. Im Gegensatze zum Süssstoffe Saccharin, der sich noch in beträchtlichen Verdünnungen als wirksam erweise, könne man Egel mit starken Zuckerlösungen betropfen, die wie Wasser abrännen, ohne dass die Tiere dabei irgendwie sichtbar erregt würden. Die betreffenden Angaben kann ich bestätigen. Dies wäre die erste und einzige Beobachtung, die dafür spricht, dass zwischen dem chemischen Perzeptionsapparate der Mundregion und den entsprechenden Organen des Integumentes doch ein Unter- schied besteht. Es kann natürlich nicht ohne weiteres entschieden werden, ob für dieses differente Perzeptionsvermögen die am oberen Mundrande (Oberlippe) besonders zahlreich vorkommenden inner- vierten Epithelknospen verantwortlich zu machen sind, oder ob es auf Rechnung einer Art inneren Geschmacksorganes der Mund- und Schlundregion, für das ein anatomisches Substrat allerdings bisher nicht gefunden wurde, zu setzen ist. Werden Zucker, und das gleiche gilt auch für die noch zu erörternden Bitterstoffe, anstatt in Wasser in schwachen Kochsalzlösungen (0,75—1 °/o) gelöst und verfüttert, so zeigt es sich, dass der Schwellen- wert für die Loslassreaktion hinaufgerückt wird. So wurde für eine Reihe von Tieren, bei denen die Loslassreaktion bei wässriger Zucker- lösung im Mittel bei einem Prozentgehalte von 5°/o erfolgte, der gleiche Erfolg bei Verfütterung von Zuckerlösung in 0,9%oiger NaCL-Lösung erst bei einem Prozentgehaite von 7,5 °/o beobachtet. Diese Tatsache weist auf eine Übereinstimmung mit einem aus der menschlichen Geschmacksphysiologie her bekannten Phänome hin, nämlich auf die Abschwächung beziehungsweise Veränderung der Geschmacksempfindung bei gleichzeitiger Einwirkung zweier ver- schiedener Geschmacksqualitäten. 3. Chininsulfat. Neutrales Chininsulfat erwies sich in Verdünnungen von 0,01 °/o in wässriger Lösung noch wirkungslos. Die Abstossungsreaktion erfolgte erst bei einem Prozentgehalte von 0,08—0,1 lo. 1) W. A. Nagel,l. c. S. 145. Über geschmacks-physiologische Versuche mit Blutegeln. 245 Nagel!) berichtet im Hinblieke auf entsprechende Reizversuche mit den Epithelknospen des Integumentes, dass Chininbisulfat in der Konzentration 1/80 am ganzen Körper eine so starke Wirkung aus- löst dass eine Steigerung des Reizerfolges gegen den Kopf hin nicht mehr zu bemerken ist. Das neutrale Chininsulfat wirke viel schwächer, vor allem wohl deshalb, weil seine grösstmögliche Konzentration immer noch relativ gering ist. Dazu sei bemerkt, dass die Löslich- keit des Chininsulfat in reinem Wasser allerdings so gering ist, dass die Herstellung einer nur 0,5°/oigen Lösung kaum mehr gelinet. Diese Schwierigkeiten lassen sich aber leicht überwinden und stärkere Lösungen ohne weiteres herstellen, wenn man das Wasser mit einem Tropfen Schwefelsäure ansäuert. Ein nennenswerter Unterschied in der Empfindlichkeit gegen- über neutralem Chininsulfat scheint zwischen den Geschmacksorganen des Körpers und der Mundregion nach allem nicht zu bestehen. 4. Salzsäure und Kalilauge. Die Empfindlichkeit gegenüber Säuren und Laugen ist recht beträchtlich und in beiden Fällen einander ziemlich gleich; vielleicht ist sie gegen Laugen noch etwas grösser als gegen Säuren. Als Schwellenwerte für die Abstossungsreaktion wären für Salzsäure 0,09— 0,1, für Kalilauge 0,08—0,09 /o anzugeben. Die hohe Empfindlichkeit gegen saure und laugenhafte Sub- stanzen ist im Tierreiche bekanntlich weit verbreitet und hängt wohl damit zusammen, dass Mischeindrücke durch Beteiligung von Tastsensationen zustande kommen. Zusammenfassung. 1. Eine zum Zwecke künstlicher Fütterung von Kieferegeln ausgearbeitete Methode ermöglicht auch die Anstellung geschmacks- physiologischer Versuche mit diesen Tieren. Der Eintritt der Loslass- oder Abstossungsreaktion eines eben noch saugenden Tieres auf Zusatz einer bestimmten Substanz gibt ein einfaches Kennzeichen dafür ab, dass diese Substanz als von der vorhergehenden chemisch verschieden, und zwar im abstossenden Sinne wirksam, perzipiert wird. Die Beobachtung des Kieferspieles beim Saugakte und die Feststellung von Rhythmusänderungen auf 1) W. A. Nagel, 1. e. S. 144. Kur 946 L. Löhner: Über geschmacks-physiologische Versuche mit Blutegeln. den Zusatz gewisser Stoffe gibt einen noch feineren Indikator für die Beurteilung des chemischen Perzeptionsvermögens in allen jenen Fällen ab, in denen die Abstossungsreaktion nicht eintritt. 2. Da reines Wasser die Abstossungsreaktion nicht auslöst, sondern weitergesaugt wird, so gelingt es durch entsprechende Ver- suche für alle wasserlöslichen Substanzen die Konzentration zu er- mitteln, bei der die Loslassreaktion erfolgt. 3. Versuche, die mit den für die Prüfung der menschlichen Geschmacksqualitäten salzig, süss, bitter, sauer und laugenhaft üblichen Testflüssigkeiten angestellt wurden, lieferten folgendes Er- gebnis: Die Abstossungsreaktion erfolgte bei einem Prozentgehalte der wässrigen Lösungen von 7°/o für Kochsalz, 5°/o für Rohrzucker, 0,08—0,1°/o für Chininsulfat, 0,09—-0,1°/o für Salzsäure und 0,08 bis 0,090 für Kalilauge. 4. Das von der menschlichen Physiologie her wohlbekannte Phänomen der Abschwächung bzw. Veränderung der Geschmacks- empfindung bei gleichzeitiger Einwirkung zweier verschiedener Ge- schmacksqualitäten scheint auch bei diesen niederen Tieren in ähn- licher Weise zur Geltung zu kommen. So liess sich zum Beispiel feststellen, dass die Loslassreaktion bei Verwendung wässriger Rohr- zuckerlösung bei einem Prozentgehalte von 5/0 erfolgte, während bei Verfütterung von Rohrzucker in 0,9 °%oiger Kochsalzlösung der- selbe Erfolg erst bei einem Prozentgehalte von 7,5°/o erzielt werden konnte. D rg =] Versuche mit dem Bürgi’schen Respirationsapparate. I. Mitteilung. Von Abraham Kopeciowski aus Grajewo. (Mit 3 Textfiguren.) Als Bürgi!) in den Jahren 1898 und 1899 den respiratorischen Gaswechsel bei Ruhe und Arbeit auf Bergen untersuchte, bediente er sich eines von ihm neukonstruierten Respirationsapparates. Der- selbe ging in seiner Anlage auf den von Kronecker’s Schülern Gruber?) und Schnyder?) verwendeten Apparat zurück, doch war namentlich der mechanische Teil gründlich umgestaltet worden. Der Apparat sollte in erster Linie eine Untersuchung des Atmungs- chemismus während körperlicher Arbeit gestatten, da es damals namentlich wichtig schien, die respiratorischen Unterschiede, die in verschiedenen Höhen bei Arbeit auftraten, wissenschaftlich fest- zustellen; denn die Unterschiede, die den Sauerstoffverbrauch und die Kohlensäureausscheidung in verschiedenen Höhenlagen bei Körper- ruhe betrafen, schienen schon genügend untersucht. Der Apparat erwies sich denn auch als sehr geeignet für die Untersuchung der Kohlensäureausscheidung bei körperlicher Arbeit (Steigarbeit), und die mit ihm gewonnenen Vergleichsresultate waren in Übereinstimmung mit den zahlreichen Ergebnissen, die Zuntz) 1) E. Bürgi, Der respiratorische Gaswechsel bei Ruhe und Arbeit auf Bergen. Arch. f. Anat. u. Physiol., physiol. Abt. Jahrg. 1900. 2) Gruber, Korrespondenzbl. f. Schweizer Ärzte, 15. Okt. 1888. — Siehe auch Zeitschr. f. Biol. 1892 S. 466—491. 3) Schnyder, Zeitschr. f. Biol. Bd. 23. 1896, N. F. Bd. 15 S. 32. 4) Zuntz, Pflüger’s Arch. Bd. 53 S. 409 ff. 1894, Bd. 63 S. 461 ff. 1896, Bd. 66 S. 477 ff. 1897. 248 Abraham Kopciowski: und seine Schüler mit dem bekannten Zuntz-Geppert’schen Apparate während des Steigens in der Ebene und auf Bergen, zum Teil mit Benutzung der gleichen Bergstrecken, die auch Bürgi als Versuchsort gewählt hatte, erhalten hatten. Die einzige Ver- eleichszahl, die sich nicht in vollen Einklang bringen lässt, mag durch Verschiedenheit der individuellen Disposition, vielleicht auch durch einen unbekannten Versuchsfehler bedingt worden sind. Stark angegriffen wurden dagegen die Ruhezahlen, die Bürgi mit seinem Apparate bekommen hatte, in erster Linie von Jaquet!) und Stähelin!), welehe die Zahlen unter sich zu wenig übereinstimmend fanden. Dieser Einwand war an und für sich nicht sehr schwer- wiegend, da auch die mit den besten Apparaten gefundenen Atmungs- zahlen unter sich bedeutend (bis zu 10°/o) zu differieren pflegen, und da diejenige Zahl, die von Jaquet und Stähelin als be- sonders stark abweichend angeführt wurde, in ihrer Arbeit unrichtig wiedergegeben ist. Wichtiger schienen dagegen die starken Ab- weichungen, die zwischen den von Bürgi, übrigens auch von Schnyder und Gruber, einerseits und von der Zuntz’schen Schule andererseits gefundenen Ruhewerten bestehen, und auf die zuerst Kronecker aufmerksam gemacht hat. Kronecker?) schreibt: „In E. Bürgi’s Tabelle finden sich, ebenso wie früher in Max Gruber’s Angaben, viel höhere, häufig fast zweimal grössere Werte als die Zuntz’schen.“ Es ist klar, dass solche Verschiedenheiten nicht dureh die Individualität, sondern nur durch die verschiedenen Versuchsmethoden erklärt werden können. Zuntz und seine Schüler?) führen die grössere Kohlensäureausscheidung in der Ruhe, die Pettenkofer, Voit, Ranke, Speck und dann, wie angegeben, Gruber, Schnyder und Bürgi gefunden haben, auf die Tatsache zurück, dass bei allen Versuchen, welche von diesen Autoren angestellt wurden, keine absolute Muskelruhe bewahrt wurde. Sie schreiben: „Es kommt wohl noch weiter in Betracht, dass sowohl Speck wie die Schüler Kronecker’s alle Be- obachtungen selbst ausführten und dabei sich nieht nur in einer gewissen Spannung befanden, sondern auch unvermeidlich Be- l) Jaquet und Stähelin, Arch. f. experim. Pathol. u. Pharm. Bd. 46. 2) Kronecker, Die Bergkrankheit S. 74. Urban und Schwarzen- berg. 1903. 3) Zuntz, Höhenklima und Bergwanderungen 8. 233 ff. Versuche mit dem Bürgi’schen Respirationsapparate. 1. 249 wegungen ausführen mussten. Bei uns dagegen ruht die atmende Person in bequemster Bettlage.“ Nun ist aber die Differenz zwischen den Ergebnissen der Ruhe- versuche bei Zuntz Schülern und denjenigen Bürgi’s zu gross, als dass sie durch eine entsprechende Differenz der Muskelspannung erklärt werden könnte. Bürgi!) schreibt: „Während der Ruheversuche, die gewöhnlich 10 Minuten lang dauerten, sass ich möglichst bequem auf einem Stuhle.“ Die Muskelspannung, von der die genannten Autoren sprechen, spielt hier jedenfalls nicht die von ihnen behauptete Rolle. Auch meine Versuche mit dem Bürgi’schen Apparate haben keine grosse Differenz zwischen sitzenden Ruheversuchen und Ruhe- versuchen bei bequemem Liegen auf dem Sofa ergeben. Neben den verschiedenen Versuchsbedingungen werden wohl zur Erklärung dieses so bedeutenden Auseinanderweichens der Resultate die individuellen Eigentümlichkeiten herangezogen werden müssen. Die zahlreichen Versuche auf dem Gebiete des respiratorischen Gaswechsels in der Ruhe bei verschiedenen Höhen haben zur Evidenz ergeben, wie sehr es auf die Versuchsperson ankommt. So haben Jaquet und Stähelin auf dem Chasseral in einer Höhe von nur 1600 m bereits eine Erhöhung des Gaswechsels auf ca. 10°/o kon- statieren können, welche Zunahme erst 4 Monate nach der Rück- kehr ins Tiefland ausgeglichen werden konnte. Andererseits hat Mosso selbst auf dem Gipfel von Monte Rosa keine Zunahme der Kohlensäureausscheidung sefunden. Es müssen aber sicher noch andere Gründe vorliegen, die bei den Versuchen von Kroneeker’s Schülern zu einer grossen Kohlensäureausscheidung geführt haben. Wir werden auf diesen Punkt später zurückkommen. Der Bürgi’sche Apparat hat vor den anderen viel gebrauchten Respirationsapparaten hauptsächlich den einen wesentlichen Vorzug, die Bestimmung der gesamten ausgeschiedenen Kohlensäure zu gestatten. Es soll damit natürlich nicht gesagt sein, dass sich die Gesamtkohlensäureausscheidung nicht auch aus der Bestimmung von regelmässigen Bruchteilen be- rechnen lässt. Immerhin werden, wie früher ausgeführt, solche Be- rechnungen sogleich ungenauer, wenn es sich um die Kohlensäure- 1) E. Bürgi, Der respiratorische Gaswechsel bei Ruhe und Arbeit auf Bergen. Arch. f. Anat. u. Physiol., physiol. Abt. Jahrg. 1900. 250 Abraham Kopciowski: ausscheidung während der Arbeit handelt. Gerade hierfür eignet sich der Bürgi’sche Apparat besonders gut, und er hat gleichzeitig den Vorzug guter Transportabilität. Der Hauptnachteil des Apparates bestand in der Unmöglichkeit, mit ihm den Sauerstoffverbrauch zu ermitteln. Die Annahme, dass der respiratorische Quotient immer ungefähr gleich bleibt, war nur eln geringer Trost, wenn man mit dem Apparat abnorme Verhältnisse (wie zum Beispiel bei der Bergkrauk- IS D m dermesBusen heit) untersuchen wollte. Ein zweiter Nachteil beruht in dem grossen Gewicht der Absorptiongefässe, das, wenn keine für solehe Zwecke eingerichtete Wage zur Verfügung steht, nur grosse Differenzen fest- zustellen gestattet. Ich habe nun auf Veranlassung Bürgi’s den genannten Apparat noch einmal auf seine Genauigkeit geprüft und durch zweckmässige Umgestaltung seine Nachteile teilweise zu be- seitigen gesucht. Eines besseren Verständnisses wegen gebe ich hier eine bildliche Darstellung (Fig. 1) des Apparates, wie er von Bürgi im Engelmann’schen Archiv 1900 S. 539 angegeben Versuche mit dem Bürgi’schen Respirationsapparate. 1. 951 worden ist. Eine Schilderung der schon in verschiedenen Arbeiten beschriebenen Kohlensäureabsorptionsgefässe, die bekanntlich Natron- kalk enthalten, scheint überflüssig. Der mechanische Teil des Bürgi’schen Apparates besteht aus zwei Luftsäcken, die durch ein bewegliches Brett getrennt sind, dessen Verschiebung nach oben und unten jeweilen den einen Ballon ausdrückt, während der andere für die Atmung disponibel bleibt. Den Gedanken des Apparates mag folgendes Schema noch einmal veranschaulichen (Fig. 2). »>— >> — Zu den. Ab- Ssorptions= gefassen Fig. 2. Vor und hinter den zwei Ballons sind je zwei Ventile angebracht, die sich alle nach der gleichen Richtung öffnen. Wird der eine Ballon ausgedrückt, so kann die Luft nur nach den Absorptions- gefässen hin entweichen, und der andere bleibt für die Atmung dis- ponibel. Ich habe nun, von der Überlegung ausgehend, dass die in der Richtung der Absorptionsgefässe ausgepresste Luft beispielsweise des Luftsackes Nr. 1 auch das Ventil 5 schliesst und dadurch eventuell ungünstig auf die Einatmung in den Luftsack Nr. 2 wirken könnte, in erster Linie die Ausführungsgänge aus den zwei Luftreservoiren getrennt, so dass das Schema jetzt folgendermaassen zu zeichnen wäre (Fig. 3). Ausserdem wurden im mechanischen Teile des Apparates noch einige kleine Verbesserungen (hauptsächlich stärkere Federn, bessere Gleitstäbe) angebracht. Der Apparat funktioniert infolge dieser Änderungen bedeutend besser. Aus diesen Ballons gelangt die Luft in erster Linie in kon- zentrierte Schwefelsäure, durch welche sie vollständig entfeuchtet 252 Abraham Kopeciowski: werden soll. Dies gelingt bei dem relativen raschen Auspressen nur, wenn für jeden Ballon je zwei mit Schwefelsäure und Glasperlen an- gefüllte W ulff’sche Flaschen zur Disposition stehen. Fig. 3. Dass eine wirklich vollständige Trocknung der Exspirationsluft durch diese Anordnung bewirkt wird, beweisen die folgenden Zahlen: 3. Dezember 1907. Versuch 1. Gewicht der H,SO,-Flaschen I I Nach-Versuch . . . 640,400 g 483,680 g Vor-Versuch . . . 640,370 g 483,900 g Zunahme ©; 0,030 g 0,220 g Dass die Flasche II nach dem Experiment um ein Weniges leichter war als vorher, erklärt sich aus dem Spritzen der Schwefel- säure bei Durchleitung der Luft sowie aus der Ungenauickeit der Wage. Diese Missstände wurden bei den folgenden Versuchen nach Möglichkeit vermieden. 4. Dezember 1907. Versuch 2. Flaschengewicht I II Nach-Versuch . . . 638,960 g 786,640 g Vor-Versuch . . . 638,910 g 786,660 g Zunahme 2... 22% 0,050 g 0,020 g Versuche mit dem Bürgi’schen Respirationsapparate. 6. Dezember 1907. Nach-Versuch . Vor-Versuch Zunahme 9, Dezember 1907. Nach-Versuch . Vor-Versuch Zunahme Versuch 6. Nach-Versuch . Vor-Versuch Zunahme 10. Dezember 1907. Nach-Versuch . Vor-Versuch Zunahme 11. Dezember 1907. Nach-Versuch . Vor-Versuch Zunahme 13.. Dezember 1907. Nach-Versuch . Vor-Versuch Zunahme Versuch 10. Nach-Versuch . Vor-Versuch Zunahme 16. Dezember 1907. Nach-Versuch . Vor-Versuch Zunahme Versuch 4. Versuch 5. Versuch 7. . 569,170 g 786,870 5 0,020 0,030 Versuch 11. Flaschengewicht I 569,220 g 786,860 569,205 g 786,360 0,015 g 0,0 g Flaschengewicht I I 633.520 g 786,670 g 633.455 8 786.590 g 0,065 8 0,080 8 Flaschengewicht I II 568,890 g 786,680 g .. 568,860 g 786,620 g 0,030 g 0,060 8 Flaschengewicht I I 568,890 g 786.655 8 568,590 g 786,650 g 0,0 8 0,005 8 Flaschengewicht II 568,915 g 786,675 g 568,900 786,675 g 0,015 g 0,0 8 Versuch 8. Flaschengewicht I 1 9,170 g 786,510 g 9,090 g 786,840 g 0,080 g 0,030 g Versuch 9. Flaschengewicht I I 569,115 g 786,880 g 569,180 8 786,850 g 0,065 8 0,050 g Flaschengewicht I I 569,190 786,840 99 199 09 259 254 Abraham Kopeciowski: Bei diesen Versuchen, welche beweisen sollten, dass eine voll- ständige Trocknung der Luft stattgefunden hat, wurden nur zwei Flaschen gewogen, während bei den Versuchen, die die Zu- nahme an CO, bestimmen sollten, im allgemeinen vier Flaschen ver- wendet worden sind. Aus den Schwefelsäureflaschen gelangte die Luft bei meinen ersten Versuchen in die mit Natronkalk gefüllten Kroneceker’schen Absorptionsgefässe. Wir brauchten wiederum für jede Seite je zwei solche Flaschen, deren tadellose quantitative Kohlensäureaufnahme genügend bewiesen ist. — Phosphorsäure- ' anhydrid wurde als Trocknungsmittel nicht mehr verwendet. Ich pflegte im allgemeinen 10 Minuten lang in den Apparat zu atmen. Nachdem die ersten Schwierigkeiten, die durch Knicken der Sehläuche, schlechte Federung der Führung usw. überwunden waren, gelang die Einatmung in den Apparat mühelos. Ich pflegte durch die Nase ein- und durch den Mund auszuatmen, doch ist es jedenfalls leicht möglich, auch bei Anwendung dieses Apparates die Nasenklemme und die übrigen Vorrichtungen der Zuntz’schen Schule zu gebrauchen. In der ersten Zeit atmete ich, während ich möglichst bequem und ruhig auf einem Stuhle sass. Später be- stimmte ich den Chemismus meiner Atmung bei vollständiger Ruhe- lage auf einem Ruhebett. Ich machte sowohl morgens früh bei voll- ständiger Nüchternheit als auch nach den Mahlzeiten und zwischen den Mahlzeiten Versuche und will die bei diesen verschiedenen Be- dingungen erhaltenen Zahlen hier gesondert wiedergeben. Versuche (im Sitzen, nach der Mahlzeit). 30. Januar 1908. Versuch 1. Rechnen u Nach-Versuch . . 2082,840 gs 1882,200 g Vor-Versuch . . 2078,850 g 1879,500 g Zunahme. 20... 3,990 g 2,700 g Totalzunahme — 6,690 8. Versuch 2. Ba nee Nach-Versuch . . 2086,150 g 1885,070 g Vor-Versuch. . . 2082,980 g 1882,2380 g Zunahme. 2 0...0: 3,170 8 2,790 8 Totalzunahme — 5,960 8. Versuche mit dem Bürgi’schen Respirationsapparate. 1. 255 31. Januar 1908. Versuch 3. a nyeenicht I Nach-Versuch . . 2088,900 g 1889,010 g Vor-Versuch . . 2086,250 gs 1885,100 g Zunahme... ..% 2,650 g 3,910 g Totalzunahme = 6,560 8. 31. Januar 1908. 11 Uhr. Versuch 4. Flaschengewicht I II Nach-Versuch . . 2090,500 g 1892,230 g Vor-Versuch. . . 2088,850 gs 1889,050 g Zunahme u 1,650 g 3,180 g Totalzunahme — 4,830 9. 31. Januar 1908. 2 Uhr 25 Minuten. Versuch 5. Flaschengewicht I Nach-Versuch . . 2092,270 g 1895,650 g Vor-Versuch . . 2090,590 g 1892,250 g Zunahmenye 1,650 g 3,400 8 Totalzunahme = 5,080 g 3. Februar 1908. 9 Uhr. Versuch 6. Flaschengewicht I Nach-Versuch . . 2094,000 g 1898,490 g Vor-Versuch. . . 2092,250 g 1895,740 g Zunalmerser.28 1,750 g 2,790 g Totalzunahme — 4,500 8. 6. Februar 1908. Versuch 7. Flaschengewicht I II III IV Nach-Versuch . 2100,890 g 1918,290 g 1832,570 g 1926,370 g Vor-Versuch . 2099,650 sg 1916,010 g 1832,120 g 1925,000 g Zunahme . . 1,240 g 2,280 g 0,450 g 1,370 g Totalzunahme —= 2,340 &. 9. Februar 1908. 10 Uhr. Versuch 8. Flaschengewicht I II III IV Nach-Versuch . 2101,990 g 1920,220 g 1832,770 g 1928,100 g Vor-Versuch . 2100,880 gs 1918,250 g 1832,600 g 1926,500 g Zunahme. . . 1511075 1,970 g 0,170 g 1,600 g Totalzunahme = 4,850 8. 256 Abraham Kopciowski: 9. Februar 1908. 11 Uhr. Versuch 9. Flaschengewicht I II II Nach-Versuch . 2102,850 g 1921,590 g. 1833,700 Vor-Versuch . 2101,990 g 1920,220 g 1832,770 Zunahme. ... 0,860 g 1,370 g 0,930 Totalzunahme — 4,510 28. 11. Februar 1908. 10 Uhr. Versuch 10. Flaschengewicht I II II Zunahme. . . 9,980 g 1,2108 1,340 Total der ausgeschiedenen CO, — 4,610 11. Februar 1908. 11 Uhr. Versuch 11. Flaschengewicht II III I Zunahme... 1,050 g 1,180 g 2,000 Total der ausgeschiedenen 00, — 5,640 12. Februar 1908. 3 Uhr. Versuch 12. Flaschengewicht II I Zunahme .., 0,980 8 15220: € 1,290 Total der ausgeschiedenen CO, — 5,100 13. Februar 1908. 10 Uhr. Versuch 13. Flaschengewicht II II I Zunahme“... 0,820 8 1,010 g 1,900 Total der ausgeschiedenen CO, — 5,010 13. Februar 1908. 11 Uhr. Versuch 14. Flaschengewicht I II III Zunahme. . . 0,630 8 0,460 g 2,410 Total der ausgeschiedenen CO, — 4,450 14. Februar 1908. 10 Uhr. Versuch 15. Flaschengewicht 11 II I Zunahme, . . 0,760 g 0,960 g 1,960 Total der ausgeschiedenen CO, — 5,580 14. Februar 1908. 11 Uhr. ‚Versuch 16. Flaschengewicht II II I Zunahme. . . 0,480 8 0,630 8 2,300 Total der ausgeschiedenen 00, — 4,960 20. Februar 1908. 11 Uhr. Versuch 17. Flaschengewicht 11 III I Zunahme. 0. > 0,010 g 0,5850 8 0,800 Total der ausgeschiedenen CO, — 5,560 RR 92 [992 9 “m 2) 08 92.99 > IV 1929,450 1928,100 1,350 IV 1,080 02 Versuche mit dem Bürgi’schen Respirationsapparate. 1. 257 Die oben angeführten 17 Versuche wurde alle sitzend und nach Einnahme des Frühstücks oder der Mittagsmahlzeit vorgenommen. Das Frühstück bestand aus Kaffee und Brot, die Mittagsmahl- zeit aus Suppe, Fleisch, Gemüse, Brot und Früchten. Ein Einfluss der Art der Mahlzeit auf die Kohlensäureproduktion konnte wegen der wenigen nachmittags vorgenommenen Versuchsreihen nicht fest- gestellt werden. Jedenfalls sprechen Versuch 6 und 13 nicht für eine bedeutende Vermehrung der Kohlensäureausscheidung nach dem Mittagessen. Die allzu hohen Zahlen der ersten Versuche lassen sich durch Muskelspannung wegen mangelnder Übung erklären. — Folgende drei Versuche sollen eine Parallele bilden zu den vorher beschriebenen Versuchen. Es handelt sieh um Liegeversuche, die bei voller Ruhelage ausgeführt wurden. Versuche (liegend, nach der Mahlzeit). 21. Februar 1908. 2 Uhr. Versuch 1. Flaschengewicht I II III IV ZunaDmesaser. er 00 Z0E 0,050 8 0,980 g 4,110 g Total der ausgeatmeten 00, = 5,090 g. 21. Februar 1908. 31/a Uhr. Versuch 2. Flaschengewicht I II III IV Zunahme su... 2 1..2210,0907€ 0,050 g 4,060 g 1,090 g Total der ausgeatmeten CO, — 5,240 g. 6. März 1908. 3%/g Uhr. Versuch 3. Flaschengewicht I II III IV Minahmensr nee 12. 0510058 2,820 g DALDORT: — Total der ausgeatmeten 00, — 5,670 8. Das Mittel aus den letzteren Liegeversuchen —5,333. Das Mittel aus den Sitzversuchen = 5,248. Die erstere Zahl, verglichen mit der letzteren, zeigt eine Differenz von nur 1,5°0. Die Liege- versuche ergaben etwas konstantere Zahlen als die Sitzversuche, offenbar, weil die Muskelspannung nicht so wechselnd war, und ausserdem, da sie gleichzeitig geringer war, auch etwas weniger hohe Werte. Folgende hier anzuführende Versuche sind im nüchternen Zustande ausgeführt und teilen sich ebenso wie die vorher be- schriebenen in Sitz- und Liegeversuche ein. 258 Abraham Kopciowski: Versuche (sitzend, nüchtern). 17. Februar 1908. 10 Uhr. Versuch 1. Flaschengewicht I 11 III Zunahme... 1. 0002.4°...0:510°8 0,700 g 1,3820 g Total der ausgeatmeten CO, = 4,990 8. 17. Februar 1908. 11 Uhr. Versuch 2. Flaschengewicht I II II Zunahme. ...02..2.2.0,2908% 0,370 8 1,980 g Total der ausgeatmeten CO, — 4,740 g. 18. Februar 1908. 10!/a Uhr. Versuch 3. Flaschengewicht I I II Zunahme... 2. 2.2 .2...:.0,320. 8 0,440 g 1,680 g Total der. ausgeatmeten CO, = 4,670 8. 18. Februar 1908. 11!/a Uhr. Versuch 4. Flaschengewicht I II II Zunahmes. 2... 227.2 ,0,420° 0 0,270 8 1,620 g Total der ausgeatmeten CO, 4,350 ©. Das Mittel aus den nüchternen Sitzversuchen —= 4,687. IV 1,960 IV 2,000 g IV 2,230 8 IV 2,040 g Diese Zahl, verglichen mit der Mittelzahl aus den Mahlzeit-Sitzversuchen 5,248, ergibt eine Differenz von 10,6 °/o. Versuche (liegend, nüchtern). 21. März 1908. 10Yz Uhr. Versuch 1. Flaschengewicht I II III Zunahme. 2... 323.2.05020.8 0,190 g 1,110 g Total der ausgeatmeten CO, — 4,980 8. 21. März 1908. 11's Uhr. Versuch 2. Flaschengewicht I II III Zunahme ....2.0...%..,.20.0107 9 0,230 g 1,220 g Total der ausgeatmeten CO, — 4,700 8. 24. Februar 1908. 11'/a Uhr. Versuch 3. Flaschengewicht II 111 I Zunahme! ,; °..002.:5 0150%8 0,170 g 2,350 8 Total der ausgeatmeten CO, —= 5,210 e. IV 3,850 8 2,540 g Versuche mit dem Bürgi’schen Respirationsapparate. I 259 11 Uhr. Versuch 4. Flaschengewicht III IV 2,430 25. Februar 1908. I 11 en 0,080, € 0,170 g 0,710 g Total der ausgeatmeten CO, —= 4,310 11?/ı Uhr. Versuch 5. Flaschengewicht III IV 25. Februar 1908. I II an or RU 0,160 g 2,250 1,740 Total der ausgeatmeten 00, —= 4,740 IQ Zunahme [oje} 9 Zunahme IV 1,540 oa 26. Februar 1908. Versuch 6. Flaschengewicht I II III Zunahmesz re 02.0.3223.0100, 8 0,190 g 2,040 Total der ausgeatmeten CO, — 3,950 & Versuch 8 Uhr 10 Minuten, Flaschengewicht III 27. Februar 1908. I II 2 2.0:910,0 0,230 g 2,020 g Total der ausgeatmeten CO, — 4,540 8. 6. März 1908. 11?/s, Uhr. Versuch 8. Flaschengewicht I Il III IV RR 0,150 g 2,610 g 1,850 Total der ausgeatmeten 00, — 4,610 g -] o Iv 1,780 a Zunahme 012} 9. März 1908. 10 Uhr 27 Minuten. Versuch 9. Flaschengewicht Il 11 IV 1,950 g I 0,690 g 2,250 g —= 4,890 8. Total der ausgeatmeten ÜO, Zunahme Zunahme 9. März 1908. Versuch 10. Flaschengewicht I II III IV Zunahmer; 02....0.r.0,790°E 1,690 g 1,570 g Total der ausge Odimeten C0, —= 4,050 g Versuch 11. 8 Uhr 20 Minuten. Flaschengewicht III 10. März 1908. I 1I Zunahme nu ann. 1,630" € 2,010 g 1,140 g Total der ausgeatmeten 00, — 4,780 . Versuch 12. 11 Uhr 2 Minuten Flaschengewicht III IV 10. März 1908. I II 2.60 1,1108 0,520 g Total der ausgeatmeten CO, — 4,290 8. Pflüger’s Archiv für Physiologie. Bd. 163. 13 IV Zunahme 260 Abraham Kopeciowski: 11. März 1908. 8 Uhr 20 Minuten. Versuch 13. Flaschengewicht I II III IV: Zunahme |... 2.0.1222 72.910200 1,300 g 0,390 8 — Total der ausgeatmeten CO, — 4,200 8. Als Mittelwert der in nüchternem Zustande liegend ausgeführ- ten Versuche ergeben sich 4,557 g/m CO, Dieser Wert, verglichen mit demjenigen der Mahlzeit-Liegeversuche, ergibt eine Differenz von 14,5,/o und mit denjenigen der angestellten nüchternen Sitzversuche eine Differenz von 5,2°0. Die vier Mittelwerte: 5,333, 5,248, 4,687 sollen zur Darstellung bringen, inwiefern die Kohlensäureausschei- dung im Organismus von der Nahrungsaufnahme und inwiefern die Kohlensäure von den verschiedenen Stellungen des Sitzens und Liegens abhängig ist. — Von diesen Zahlen sind die bei absoluter Ruhe in bequemer Rückenlage und bei nüchternem Zustande erhaltenen jedenfalls die- jenigen, welche unter sich am besten übereinstimmen. Wir fanden allerdings die Zunahme der Kohlensäureausscheidung unter dem Ein- fluss der Mahlzeit sowie unter dem Einfluss einer nicht ganz voll- ständigen Entspannung des Körpers nicht so bedeutend, wie sie schon sefunden wurde. Immerhin war sie im allgemeinen deutlich nach- zuweisen. Wenn wir die bei absoluter Ruhe und im nüchternen Zu- stande erhaltenen Zahlen als Grundlage für die Beurteilung unseres Apparates nehmen, so sehen wir, dass ich im Durchschnitt 4,61 m/g CO, pro 10 Minuten, also 27,66 g/m CO, pro Stunde ausgeschieden habe. Da mein Körpergewicht 61 kg betrug, entspricht dies einer Ausscheidung pro Kilogramm und Stunde von 0,454 g/m. Diese Zahl ist niedriger als die von Bürgi früher gefundene (0,53), aber sie ist. noch bedeutend höher als die von der Zuntz’schen Schule an- gecebenen Zahlen. Bürgi fand in neuen Selbstversuchen mit seinem Apparat 0,336 g/m CO;-Ausscheidung pro Kilogramm und Stunde. Es ist schwer zu entscheiden, woher solche Unterschiede stammen, ob individuelle Verschiedenheiten vorliegen oder ob viel- leicht mit zunehmender Übung leichter in den Apparat eingeatmet wird, weil die Momente, in denen Widerstände auftreten, besser be- kannt sind. | Wenn man die Zahlen, die im allgemeinen für eine Ausscheidung der CO, pro Kilogramm und Stunde gefunden worden sind, vergleicht, so findet man als Grenzwerte die Zahlen 0,283 und 0,393. Aller- Versuche mit dem Bürgi’schen Respirationsapparate. I. 261 dings beziehen sich diese Angaben immer auf die absolute Körper- ruhe im Sinne der Zuntz’schen Schule. Meine Zahlen liegen also entschieden etwas hoch, während die von Bürgi neuerdings mit seinem Atmungsapparate gefundenen sich innerhalb der Grenzen der durch- schnittlichen Werte bewegen. Um die Frage der Differenzen endgültig zu erledigen, müssen noch eine grössere Reihe von Personen mit dem Bürgi’schen Respirationsapparate auf ihre CO,-Ausscheidung untersucht werden. Erst dann wird sich mit Sicherheit entscheiden lassen, was von diesen Differenzen auf Rechnung individueller Verschiedenheiten zu setzen ist und was nicht. Wir müssen diese Frage vorderhand unbeantwortet lassen. Nach längerer Überleeung und nach verschiedenen miss- glückten Versuchen mit anderen O-absorbierenden Substanzen ent- schlossen wir uns, mit dem von Franzen!) empfohlenen Natrium- hydrosulfit als absorbierendem Mittel für Sauerstoff unseren Apparat in der anfangs besprochenen Weise zu vervollkommen. Wir haben mit diesem Mittel eine ganze Reihe von umständlichen und vielfach variierten Versuchen vorgenommen, die aber leider nicht zum Ziele führten. Wir tränkten zuerst Glaswolle mit der genannten Substanz, dann Bimssteinstücke; aber die Widerstände wurden zu gross, und es traten noch eine ganze Reihe anderer Schwierigkeiten auf, die aber immerhin geringfügiger waren, so dass man sie schliesslich hätte überwinden können. Es war uns un- möglich, die Widerstände soweit zu vermeiden, dass bei einer voll- ständieigen Bestimmung des ausgeschiedenen Sauerstoffs ein ruhiges Atmen in den Apparat möglich gewesen wäre. Wir hätten daher, da auch mit einem anderen Absorptionsmittel für Sauerstoff keine Aussicht vorhanden war, die genannte Schwierigkeit bei Bestimmung der ganzen ausgeatmeten Menge zu überwinden, einen Teilstrom herstellen und in ihm den vorhandenen Sauerstoff feststellen müssen. Wir haben vorläufig darauf verzichtet, weil uns verschiedenes hier- zu notwendige Material fehlte. Wir werden später darauf zurück- kommen, verhehlen uns aber nicht, dass wir damit, wenigstens für die Sauerstoffabsorption, auf das Prinzip anderer Respirationsapparate zurückkommen, das wir für die Bestimmung der Kohnlensäureabsorption ausdrücklich vermeiden wollten, es sei denn, dass wir nach dem 1) Hartwig Franzen, Über die Verwendung des Natriumhydrosulfits in der Gasanalyse. Ber. d. deutsch. chem. Gesellsch. Bil. 39 S. 2069—2071. 18% 262 Abraham Kopciowski: Prinzipe von Regnault-Reiset arbeiten würden. Ich verweise hiermit auf die anfangs dieser Arbeit gemachten Bemerkungen über die Zweekmässigkeit, die gesamte ausgeatmete Kohlensäure zu be- stimmen. Meine bisherigen Versuche haben daher nur gezeigt, dass man den Bürgi’schen Apparat sehr wohl zur Bestimmung der Kohlensäureausscheidung benutzen kann, und dass er hierfür die schon früher von Bürgi angegebenen Vorteile besitzt, die in der leichten Transportfähiekeit, der Benutzbarkeit für Atmungsversuche während der Arbeit und der Möglichkeit die gesammte aus- geschiedene Kohlensäure zu messen, bestehen. . Die von mir vorgenommenen Änderungen des Apparates haben sich als zweekmässig erwiesen. Ich habe ausserdem mit diesem etwas umgestalteten Bürgi’schen Apparate die eventuelle Beeinflussung des respiratorischen Gaswechsels durch Kokain untersucht. .Die eigentümlichen Beeinflussungen der Ermüdbarkeit durch das Kauen von Kokablättern, das nach den Angaben Tsehudy’s und anderer von den Indianern Perus für das bessere Überwinden von Strapazen vielfach angewendet wird, liess schon lange unter anderen dem Gedanken aufkommen, dass das Kokain direkt oder indirekt den Stoffwechsel verändere. Wenn man sich überlegt, dass, wie Zuntz, Gruber und seitdem noch viele andere gefunden haben, durch die Tränierung der respiratorische Gaswechsel bei ein und derselben Arbeit sinkt, so kann man sich wohl vorstellen, dass Gifte, welche das Nervensystem beeinflussen, den Stoffwechsel ebenfalls in dem einen oder anderen Sinne ver- ändern. Die Gründe, warum das geschehen kann, sind nicht ohne weiteres klar und sollen hier auch nicht des genaueren besprochen werden. Jedenfalls seheint die naheliegende Erklärung der genannten Wirkung des Tränierens auf den Stoffwechsel, dass es sich einfach um ein Ökonomischeres Arbeiten des Muskels handle, kaum aus- reichend, und die Annahme nervöser Einflüsse nicht ganz un- berechtigt. Verschiedene Forscher haben bereits über die Beeinflussung des Stoffwechsels durch Kokain gearbeitet. Doch haben sie niemals die Wirkung auf den respiratorischen Gaswechsel, sondern andere Be- einflussungen untersucht. So fanden Fleischer und Maestro bei Tieren eine bedentende Abnahme der Stickstoffausscheidung. Die anderen in dieser Richtung liegenden Arbeiten wollen wir hier unbesprochen lassen, da sie für unsere Untersuchungen keinen be- Versuche mit dem Bürgi’schen Respirationsapparate. |, 263 sonderen Wert haben. Ich habe die Wirkung des Kokains auf den respiratorischen Gaswechsel nur während der absoluten Körperruhe und nur an mir selber untersucht. Die Atmungsversuche wurden gewöhnlich (das Genauere siehe in den Tabellen) ca. '/ı Stunde nach Einnahme des Mittels per os vorgenommen. Ich wählte absicht- lich ziemlieh niedrige nicht toxische Dosen und lasse hier die Resul- tate folgen: Versuche (nüchtern, liegend). 14. Februar 1909. 11 Uhr. Versuch 1. Flaschengewicht I II III NY Zunahme . 1,620 g 3,790 g 0,010 g 0,030 g Total der ausgeatmeten CO, — 5,450 g. 14. Februar 1909. 11!;e Uhr. Versuch 2. Flaschengewicht I 1I III IV Zunahme . 0 1Za0re 3,360 g 0,020 g 0,050 g Total der ausgeatmeten CO, — 5,189 8. 15. Juli 1909. 10 Uhr. Versuch 3. Flaschengewicht I II III IV Zunahme 22a 3,700 g — 0,060 g Total der ausgeatmeten CO, — 5,990 g 15. Juli 1909. 11 Uhr 15 Minuten. Versuch 4. Flaschengewicht I II III IV Zunahme 2,0307 8 3,930 8 — 0,100 g Total der ausgeatmeten 00, — 5,660 g 16. Juli 1909. 10 Uhr 5 Minuten. Versuch 5. Flaschengewicht I II I IV Zunahme Ne 1,9000; 4,230 g 0,010 0,180 g Total der ausgeatmeten CO, — 6,370 8. 16. Juli 1909. 11 Uhr 2 Minuten. Versuch 6. Flaschengewicht ii Il IV Zunahme . 720 3,110 g 0,010 g 0,260 g Total der ausgeatmeten CO, — 5,090 g. 16. Juli 1909. Versuch 7. Fiaschengewicht I II III IV Zunahme . 0,010 g 0,080 g 1,100 4,000 g Total der ausgeatmeten (O0, — 5,030 g. 264 16. Juli Zunahme 20. Juli Zunahme . 20. Juli Zunahme 20. Juli Zunahme . 22. Juli Zunahme . 23. Juli Zunahme . 23. Juli Zunahme . 28. Juli Zunahme Abraham Kopciowski: 1909: 141 Total der Uhr 15 Minuten. Versuch 8. Flaschengewicht I II 111 — 0,070 g 1,3500 g ausgeatmeten CO, — 4, 700 8. 1909. 9 Uhr 45 Minuten. Versuch 9. Total der 1909. 10 Total der 179309. 2141 Total der Flaschengewicht I 1 II 0,040 g 0,100 g 1,200 g ausgeatmeten CO, — 4,590 2. Uhr 30 Minuten. Versuch 10. Flaschengewicht I II 11 — 0,050 g 1,400 g ausgeatmeten CO, — 4,670 8. Uhr 18 Minuten. Versuch 11. Flaschengewicht N 11 I —— 0,500 g 1,460 g ausgeatmeten co, — 5% 110 R. Kokain-Versuche. 1903710 Total der 1909. 10 Total der 1909. 11 Total der 1909. 10 Total der Uhr 22 Minuten. Versuch 1. Flaschengewicht 11 I I 0,030 g 0,640 g 1,180 g ausgeatmeten CO, — 4,950 g Uhr 15 Minuten. Versuch 2. Flaschengewicht I II III 0,020 g 0,450 g 2,620 g ausgeatmeten CO, = 4,630 g. Uhr 15 Minuten. Versuch 3. Flaschengewicht I III I 0,0108 0,5508 2,380 g ausgeatmeten CO, — 4,080 8. Uhr 10 Minuten. Versuch 4. Flaschengewicht I II I 3,790 g 1,080 g = ausgeatmeten CO, — 4,830 8. Iv 3,470 g Iv 3,530 08 IV 3,220 g IV 3,090 g IV 3,100 IV 1,540 g IV 1.140 g IV 0,040 g Versuche mit dem Bürgi’schen Respirationsapparate. 1. 265 28. Juli 1909. 11 Uhr. Versuch 5. Flaschengewicht I II II IV ZAunahmer 220 0...00.:8,320. 8 1,010 g 0,040 g 0,010 g E Total der ausgeatmeten CO, —= 4,380 9. 23. Juli 1909. Versuch 6. Flaschepgewicht I I III IV Zzunahmee. 2. ey 23, 100, 1,320 g 0,150 g 0,050 g Total der ausgeatmeten CO, — 4,600 8. Aus diesen Versuchen geht hervor, dass bei meiner Versuchs- anordnung durch Zufuhr von Kokain die Ausscheidung der Kohlen- säure bei sonst gleichen Bedingungen erheblich gegen die Norm sinkt. Wir fanden einen Durchschnitt von 5,258 g/m Kohlensäure ohne und von 4,578 g/m Kohlensäure unter Gebrauch von Kokain. Der Unter- schied ist jedenfalls ein so auffallender, dass er nicht auf Zufällig- keiten zurückgeführt werden könnte. Wir haben ja die normalen Schwankungen einigermaassen sicher festgestellt. Die Bedeutung der Beeinflussung des respiratorischen Gaswechsels und damit des all- ‚gemeinen Stoffverbrauches durch Kokain soll hier nicht mehr näher ‚diskutiert werden. Wir betrachten unsere in dieser Richtung liegen- ‚den Versuche nur als einen Anfang für weitere Studien über das gleiche Thema, bei denen auch die Beeinflussung des respiratorischen ‘Gaswechsels durch Kokain während der Arbeit untersucht werden soll. — Literatur. 1) E. Bürgi, Der respiratorische Gaswechsel bei Ruhe und Arbeit auf Bergen. Arch. f. Anat. u. Physiol., physiol. Abt. Jahrg. 1900. 2) Gruber, Korrespondehzbl. f. Schweizer Ärzte, 15. Okt. 1888. — Siehe auch Zeitschr. f. Biol. 1892 S. 466—491. 3) Schnyder, Zeitschr. f. Biol. Bd. 23. 1896, N. F. Bd. 15 S. 32. 4) Zuntz, Pflüger’s Arch. Bd. 53 S. 409ff. 1894, Bd. 63 S. 461ff. 1896, Bd. 66 8. 477 ff. 1897. -5) Jaquet und Stähelin, Arch. f. experim. Pathol. u. Pharm. Bd. 46. 6) Kronecker, Die Bergkrankheit S.74. Urban und Schwarzenberg. 1903. 7) Zuntz, Höhenklima und Bergwanderungen S. 233 ff. 8) Hartwig Franzen, Über die Verwendung des Natriumhydrosulfits in der Gasanalyse. Ber. d. deutsch. chem. Gesellsch. Bd. 39 S. 2069—2071. 266 Karl Dröge: Über den Einfluss der Tuberkulose auf die chemische Zusammen- setzung des Tierkörpers. Von Karl Dröge. (Hierzu Tafel II und III.) Wenn wir den Einfluss der Tuberkulose auf den Chemismus des. menschlichen Körpers kennen lernen wollen, so erscheint es als das Gegebene, an unseren tuberkulösen Patienten selbst diese Frage zu prüfen. Alle jene Überlegungen, die wir bei der experimentellen Prüfung im Tierversuch anstellen müssen, zum Beispiel nach der Höhe der Impfdosis, nach dem Wege der Infektion usw., fallen hier fort: Den experimentellen Teil der Arbeit übernimmt die Natur hier selbst; wir brauchen nur die Resultate zu sammeln und zu sichten. Aber schon allein das Sammeln ist uns äusserst schwer gemacht, man könnte beinahe sagen, unmöglich. Denn sonst müsste doch einer diese oder jene Behauptung aufstellen und auch seine (Gegner von ihrer Richtigkeit überzeugen können! Zwei Wege zum Sammeln der Resultate kennen wir: die Stoff- wechselbilanz und die Analyse des gesamten Körpers. Der Stoffwechselbilanz haftet der Nachteil an, dass wir sie nur über wenige Tage ausdehnen können. Es ist aber klar, dass bei einer so langsam verlaufenden Erkrankung wie bei der Tuberkulose Zeiten des Fortschritts und Zeiten des Stillstandes der Krankheit abwechseln. Wenn wir aber gar nicht wissen, unter welchen Krank- heitsbedingungen zur Zeit des Versuches der Körper sich befand, so ist es uns auch nicht möglich, aus den Resultaten Schlüsse für die ganze Dauer der Erkrankung zu ziehen. Trotzdem sind solche Schlüsse aus Versuchen, die sich nur über wenige Tage erstreckten, gezogen worden. Der Frfolg war aber der, dass sie die ganze Frage mehr verwirrt als geklärt haben. Über den Einfluss der Tuberkulose auf die chem. Zusammensetzung usw. 267 Der zweite We« ist die Analyse des ganzen Körpers. Un- möglich ist es ja an sich nicht, den Körper eines erwachsenen Menschen in toto auf seine chemische Zusammensetzung hin zu untersuchen. Ausgeführt hat es aber noch niemand. Selbst an Kinderleichen ist die Untersuchung so mühselig, dass zum Beispiel Steinitz und Weigert!) uns zwar die chemische Zusammen- setzung eines einjährigen tuberkulösen Kindes mitteilen, zum Ver- gleich mit diesen Zahlen aber die Zusammensetzung 4 Monate alter, magendarmkranker Kinder heranziehen müssen. Die Autoren selbst halten zwar diesen Vergleich für erlaubt: „Da bis auf den Fett- gehalt alle bisher vorliegenden Zahlen miteinander übereinstimmen, mögen sie sich auf Neugeborene oder einige Monate alte magen- darmkranke Säuglinge beziehen, so begehen wir sicherlich keinen erheblichen Fehler, wenn wir dieselben als Vergleichswert für unseren vorliegenden Fall benutzen. Denn wir wissen zwar, dass sich im Laufe der Wachstumsperiode das Verhältnis der festen Bestandteile untereinander und dieser zum Wasser nicht unerheblich ändert, doch erfolgt die Umsetzung so allmählich, dass man die grob chemische Zusammensetzung eines 1 Jahr alten als nahezu identisch mit der eines 4 Monate alten Kindes ansehen kann.“ Man muss aber doch ihrem Gegner Robin’) recht geben, wenn er sagt: „Die Analysen von Steinitz und Weigert, die die Hypo- these der „d&min6ralisation“ nicht anzuerkennen scheinen, unter- liegen selbst zwei Haupteinwänden. Sie vergleichen zwei Fälle, die nicht vergleichbar sind, weil das Alter ihrer Kinder verschieden ist (4 Monate und 1 Jahr). Und dann hatte das als Normaltyp aus- gewählte Kind Magendarmstörungen, und man weiss, dass diese ganz besondere Mineralsalzentzieher sind.“ Robin hat daher den Schwierigkeiten der Gesamtanalyse da- durch aus dem Wege gehen wollen, dass er nur die chemische Zu- sammensetzung derjenigen Organe untersucht, in denen in erster Linie l) F. Steinitz und R. Weigert, Demineralisation und Tuberkulose. Deutsche med. Wochenschr. 1904 Nr. 23 8.838. — F. Steinitz und R. Weigert, Über Demineralisation und Fleischtherapie bei Tuberkulose. Jahrb. f. Kinder- heilkunde Bd. 61 H.1 S. 147. 2) Albert Robin, Die „Demineralisation organique“, betrachtet als Eigen- schaft des tuberkulös erkrankten und wahrscheiniich auch des der Tuberkulose zugänglichen Bodens. Medizin. Klinik Bd.5 Nr. 16 S. 577. 1909. 268 Karl Dröge: der tuberkulöse Prozess sieh abspielt. Damit schaltet er aber eine neue Fehlerquelle ein. Wenn wir zum Beispiel in der tuberkulösen Lunge gegenüber der normalen eine Ascherverminderung finden, so ist es noch lange nicht gesagt, dass der Körper deshalb an Asche verarmt sein müsste und wir therapeutisch für eine Aschenvermehrung zu sorgen hätten. Als letzte Möglichkeit, uns einen Einvlick in die chemischen Veränderungen im Organismus des tuberkulösen Menschen zu ver- schaffen, bleibt demnach nur der Tierversuch. Der Nachteil dieser Methode liegt auf der Hand: Wir werden nie berechtigt sein, selbst wenn wir im Tierversuch etwas einwandfrei gezeigt haben, das ohne weiteres auf den Menschen übertragen zu dürfen. Es ist aber wahrscheinlich, dass das, was bei einer ganzen Reihe verschiedener Tierarten, die unter denselben Bedingungen gehalten werden, immer wiederkehrt, auch für den Menschen gilt. Als erstes Glied einer solchen „Serienarbeit“ seien die folgenden Ausführungen betrachtet. Zum Versuche wurden Meerschweinchen gewählt, weil es mir darauf ankam, wirklich eine chronisch verlaufende Tuberkulose zu erzielen und insofern wenigstens den Verhältnissen beim Menschen nahe zu kommen. Nach Römer und Joseph!) galt das Meer- schweinchen früher als ein Tier, das jeder Infektion widerstandslos erliest. Sie behaupten aber, „dass wir willkürlich in der Lage sind, beim Meerschweinchen ganz chronisch und gutartig verlaufende Formen der Tuberkulose durch geeignete Dosierung und Applikations- weise des infizierenden Virus zu erzeugen“. Von meiner Serie A (s. Tab. Nr. 1 [S. 269]) starb das erste Tier (Meerschweinchen II) 5 Monate nach der Infektion. Ein zweites Tier (Meerschweinchen III) zeigte zu dieser Zeit gleichfalls sehr schwere Krankheitssymptome, sodass auch sein Tod bald zu erwarten war. Ich entschloss mich daher, da man nur gleichaltrige Tiere miteinander vergleichen kann, beim Tode des Meerschweinchens II zum Abbrechen des Versuches. Demnach haben die Tiere der Serie A (Meerschweinchen II, III, IV) 5 Monate hindurch, nämlich von ihrem zweiten bis siebenten Lebensmonat, unter dem Einfluss der tuberku- lösen Infektion gestanden. Normaltier I. dient dieser Gruppe als Kontrolltier. Die Tiere der Serie B, die gleichfalls im Alter von 1) H. Römer und Karl Joseph, Kasuistisches über experimentelle Meer- schweinchentuberkulose. Beitr. z. Klinik d. Tuberkulose Bd. 17 S. 357. Über den Einfluss der Tuberkulose auf die chem. Zusammensetzung usw. 269 2 Monaten geimpft wurden (Meerschweinchen V, VI, VII), waren dagegen nur 2 Monate der Wirkung der Tuberkelbazillen ausgesetzt, weil die Serie B 3 Monate später als Serie A in den Versuch ein- gestellt worden war. Normaltier II dient hier als Kontrolltier. Obwohl diese Tiere in ihrem klinischen Verhalten beim Tode des Meerschweinchens II noch keine schweren Symptome vou Erkrankung boten, habe ich sie doch zur gleichen Zeit wie die Tiere der Serie A getötet, um zu sehen, ob etwa schon in einer so relativ frühen Zeit nach der Infektion Veränderungen im Chemismus zu erkennen wären. Tabelle Nr. 1. Die Gewichte in absoluten Zahlen. Serie A Serie B Datum el Tier II | Tier IT) Tier IV ul Tier V | u VI Tier VII | | | | | ec Julien | 398, A107 12,350, 16.3591 = | .0> 2. Aug. 420, | 420 7 87% 376 a _ ey 464 | 424 | 390 397 — | .| 0 — — US Hl |22430 383 424 — — u Da 523° | 438 | 405 441 24 = ar SR 550 | 455 | 415 | 460 — — | Ne 6. Sept. 559. 435 | 39 433 — | — — — 3. 5 83 | 472 | 430 | 478 = 20%, 616 495 | 443 | 495 nn ee — SR 648 | 520 470 | 534 ne —_— |. — 4. Okt. 658 | 5380 | 489 557 N Nee - |. — IE, 674 | 525 | 4714 | 53 374 | 371. | 470: | 447 1 ER | 5 394 | 365 479 | 449 FH ER 690 | 534 | 4% 564 394 | 375 492 450 1. Nov. 688 540 |ı 480 | 547 SIT 50l 469 | 425 Ber, 686 Bu | gl 582 A ars 467 | 421 oe; 686 Hl Are 573 395 375 463 415 DNS 720 557 | 505 629 417 398 461 | 438 Ze 7119 | 564 495 650 441 429 | 450 | 453 6. Dez. SE 525g 648 415 45 | 405 | 455 a, 133 509 4537107623 A531 | 425 | 3807 Amt 192.0; 2022 | 580 | 45 | 605 434 Al2 397. 0.452 Zur Impfung wurde eine Reinkultur vom Typus humanus ver- wendet. Als Impfdosis wählte ich, da es mir nur darauf ankam, ungefähr die Menge der eingeführten Bakterien zu kennen, die Be- stimmung der Ösenzahl nach. Es sei aber gleich hier erwähnt, dass die Schwere der Erkrankung völlig unabhängig von der Höhe der gewählten Dosis war. So bot zum Beispiel Tier IV, das eine ganze Öse erhalten hatte, beim Tode nur einen geringen pathologisch- anatomischen Befund dar; Tier III dagegen, das eine halbe Öse, 270 Karl Dröge: [ und Tier II, das eine viertel Öse erhalten hatte, zeigten klinisch und pathologisch-anatomisch beide ein gleich schweres Krankheitsbild. Als Applikationsweise wurde die intraperitoneale Injektion ver- wendet. Die drei tuberkulösen Tiere jeder Serie wurden in einem be- sonderen Raum abgetrennt von den gleichfalls voneinander ab- gesonderten Kontrolltieren gehalten. Die möglichst reichliche Er- nährung war für alle Tiere dieselbe: im Sommer Grünfutter, im Winter Trockenfutter und Rüben. Die Bestimmung des Gewichtes erfolgte jeden Sonnabend nach- mittag zur gleichen Zeit. Schliesslich sei noch erwähnt, dass die Tiere alle männlichen Geschlechtes waren. Die Methode der Analyse war folgende: Die Tiere wurden mit Chloroformdänpfen getötet und gewogen. Der Darm- und Blasen- inhalt wurde darauf sofort entfernt und zurückgewogen. Um keine Verluste für die chemische Analyse zu erleiden, wurde nur eine oberflächliche Besichtigung der Brust- und Bauchhöhle vorgenommen. Diese ergab nachstehenden Befund: Kontrolltier I: Normale Verhältnisse. Tier II: Hühnereigrosser Abszess, die ganze Brust des Tieres bedeckend. Diffuse eitrige Peritonitis. Miliartuberkulose beider Lungen, Leber und Milz. In der Milz einzelne bis kirschkerngrosse Knoten. Perlschnurartig aufgereihte Knötchen an der unteren Fläche des Zwerch- fells. Geschrumpftes, mit derben Knoten durchsetztes Netz. In der linken Pleurahöhle ein eitriges Exsudat. Tier III: Hühnereigrosser, dicht vor dem Durchbruch stehender Abszess der rechten Bauchseite. Netz stark geschrumpft, mit grossen, verkästen Knoten durchsetzt. Die Dünndarmschlingen miteinander verwachsen. Zahlreiche miliare Knötchen in Milz, Leber und beiden Lungen, Tier IV: Auf dem parietalen Peritonaeum eine schwach gerötete, stark verdickte, etwa 10-Pfennigstück grosse Stelle. (Wohl die In- jektionsstelle.) Ein Zipfel des Netzes und einige Dünndarmschlingen an dieser Stelle befestigt. Netz geschrumpft und gerötet, Dünndarm- schlingen untereinander verwachsen. Mikroskopisch keine Knötchen zu erkennen. Lungen, Leber, Milz o. B. Kontrolltier II: Normaler Befund. Tier V: Um die gerötete und erhabene Injektionsstelle herum einzelne kirschkerngrosse, auf dem Durchschnitt gelb gefärbte Knoten. Netz geschrumpft und stark gerötet. Sonst innere Organe o. B. Tier VL: Injektionsstelle an zirkumskripter Rötung und Erhebung deutlich erkennbar. Netz stark geschrumpft. Auf seiner Oberfläche Über den Einfluss der Tuberkulose auf die chem. Zusammensetzung usw. 271 zwei etwa erbsengrosse Knoten, deren Durchschnitt in der Mitte einen gelben Fleck, am Rande einen breiten, grau gefärbten Streifen zeigt. Die übrigen Organe zeigen normales Verhalten. Tier VII: Netz schwielig verdickt und gerötet, von grossen verkästen Knoten durchsetzt. In der Milz einige erbsengrosse Knoten, auf dem Durchschnitt völlig gelb gefärbt. Dünndarmschlingen mit- einander verwachsen. Auf der unteren Seite des Zwerchfells kleinere gelbe Knötchen sichtbar. Leber und Lungen frei. Tabelle Nr. 2. Das Gewicht zu Beginn des Versuches — 100 gesetzt. Serie A Serie B Datum ] ER r | | | N Tier II | Tier III | Tier Iv | NOW Tier V | Tier VI Tier VI | | | | I | 26. Juli 100 100100 | 100. © iS SE 2 a rl BE N N a ee ER 16. aD | nee R BE PER a | ae ze a a 307.» Bea | a AR Ge a | a NE a Der salz ” ae ae 15 | Dr | 17 38 IE Dr es To a 1 = RE = ER 2 | ee ne ee re Er 2 1 To Tess 1550| 150° | 100° |. 100. | 100° 0 Ta TS Iassos u 135 Ne 1550 1% 105 98 | 102 | 100 DR: a eo DE 105... 101. 82105 | or N ae so az. 1592|: 106 97 | 100 95 Sr: 172 123 ea 112 1101 99 94 Be 2 | dos | 155 | 160 | 106 | ıor 99 3 N ist se is. dar 107 98 98 Ba. Is 0 sa | 1 118, 16 96 | 101 me se oe. ao | 1 | 05 86 | 10 13% ;, 182 1920 1eshı) a jones sı | 10 15. era 10 Tor eg |; 116-111 76 | 101 Die Tiere wurden darauf, jedes für sich in einer bedeckten Glasschale liegend, im Autoklaven bei gespanntem Dampf von 120° sterilisiert. Nachdem vorsichtshalber die Tiere eine gute Stunde im Autoklaven gelassen worden waren, liess sich die Haut und das Fleisch von den Knochen in Fetzen mit der Pincette herabziehen. Es brauchte daher nur noch eine Zerkleinerung der Knochen mit einer gut vernickelten Schere, die dann sauber mit destilliertem Wasser abgespült wurde, vorgenommen zu werden. Die zerkleinerte Masse wurde darauf vier Tage hindurch auf dem Wasserbad ge- trocknet; die Trockensubstanz wurde gewogen. Die Trennung der ätherlöslichen Substanzen und der fettfreien Trockensubstanz wurde 979 Karl Dröge: im Soxhletapparat durchgeführt. Die getrocknete und entfettete Substanz wurde dann zuerst durch eine Fleischmühle und schliess- lich bei so feiner Einstellung durch eine Kaffeemühle gemahlen, dass ein staubförmiges, durch ein Haarsieb hindurchgehendes Pulver erzielt wurde. Je ein aliquoter Teil dieser Masse und der äther- löslichen Substanzen wurde im Trockenschrank bei 60° bis zur Gewichtskonstanz getrocknet. Der auf diese Weise gefundene rest- liche Wassergehalt wurde zu dem oben ermittelten hinzugezählt, wodurch der endgültige Wassergehalt und damit auch der Gehalt an Trockensubstanz erhalten wurde. Zur chemischen Analyse wurde die fettfreie Trockensubstanz verwendet. Die Menge der ätherlöslichen Substanzen war so gering, dass auf eine chemische Untersuchung derselben verzichtet werden konnte. Die Bestimmung der Gesamtasche erfolgte auf trockenem Wege. Die Bestimmung des Kalkes und des Magnesiums wurde in derselben Portion, nachdem in der von Neumann angegebenen Weise verascht worden war, ausgeführt: die durch die Veraschung erhaltene wasserhelle Flüssigkeit wurde zur Entfernung der Nitrosylschwefel- säure fünf Minuten gekocht, mit Ammoniak alkalisch gemacht, mit Essigsäure schwach angesäuert, zur Entfernung unlöslicher Salze . gekocht und filtriert und zur Fällung des Kalkes mit heissem Ammoniumoxalat versetzt. Nach zwölfstündigem Stehen wurde der Niederschlag von Caleiumoxalat abfiltriert, im Platintiegel geglüht und als CaO gewogen. Das Filtrat wurde auf ein Drittel eingedampft, mit Dinatrium- phosphat versetzt, auf 80° erhitzt und mit Ammoniak alkalisch ge- macht. Nach zwölfstündigem Stehen wurde das ausgefällte Magnesium- pyrophosphat abfiltriert, das Filter im Porzellantiegel unter Zusatz von wenigen Tropfen Salpetersäure verascht, das Magnesium- pyrophosphat gewogen und auf MgO umgerechnet. Stets wurden Doppelanalysen ausgeführt. Im Verhalten der infizierten Tiere war in den ersten Monaten nach der Infektion kein Unterschied gegenüber dem der normalen Tiere zu bemerken. In den letzten Monaten dagegen zeigten die Tiere II und III deutliche Symptome einer schweren Erkrankung. Abgesehen davon, dass bei beiden der oben erwähnte Abszess auftrat, fielen sie durch ihr struppiges Haarkleid und die beschleunigte Atmung vor den übrigen Tieren auf. Dem patholoeisch-anatomischen Befunde nach ist es sicher, dass Über den Einfluss der Tuberkulose auf die chem. Zusammensetzung usw. 273 bei den Tieren II und III der Serie A und bei allen infizierten Tieren der Serie B es wirklich zu einer tuberkulösen Infektion ee- kommen ist. Ob dies bei Tier IV auch der Fall ist, lässt sich aus dem pathologiseh - anatomischen Befunde mit Sicherheit nicht sagen. Der Gewichtskurve (s. diese!) nach könnte man eher schliessen, dass bei. diesem Tiere die Tuberkulose überhaupt nicht zur Aus- breitung gekommen wäre. Nun ist aber die Gewichtskurve kein Massstab für die Schwere der Erkrankung. So hätte man zum Beispiel der Gewichtskurve nach vermuten sollen, dass Tier VI am schwersten von den Tieren beider Serien erkrankt wäre. Dem wider- sprechen einmal die Beobachtung des lebenden Tieres, vor allem aber der Ausfall der Sektion und der chemischen Analyse. Um- gekehrt zeigen die Tiere II und III eine ganz gute Gewichtskurve, wenigstens gegenüber den Tieren V, VI und VII, sodass einem, wenn man sie aliein als Massstab der Schwere der Erkrankung nehmen würde, der Befund beim Tode der Tiere höchst überraschend gekommen wäre. Dieselbe Erfahrung haben die Lungenärzte schon "häufig an ihren Patienten gemacht. Im allgemeinen wird aber auch heute noch der Schluss für berechtigt gehalten, dass Gewichtszunahme beim Phthisiker als Zeichen für beginnende Heilung oder wenigstens Stillstand des tuberkulösen Prozesses anzusehen wäre. Infolgedessen herrscht immer noch in den Lungensanatorien die Unsitte, den Patienten auf jede nur erdenkbare Weise trotz ihres Widerwillens Nahrung beizubringen. Der Ausdruck „Unsitte“ mag hart klingen. Wer aber einmal selbst Monate hindurch jeden Morgen seine Mehl- suppe hat essen müssen, wer täglich seine zwei Liter Milch ge- trunken hat, um nur ja eine Gewichtszunahme an den Wägetagen konstatieren zu können, wird gewiss diesen Ausdruck für berechtigt halten, wenn er hört, dass dieser Gewichtszunahme für die Aus- heilung der Tuberkulose nur ein fraglicher Wert zugestanden werden kann. Man höre zum Beispiel nur Czerny’s!) Ansicht hierüber: „Wir wissen schon aus der Ernährungstherapie des Säuglings, dass wir in jedem Falle, in welchem das Körpergewicht rapid an- steigt, einen starken Wasseransatz fürchten müssen. Dies gilt auch für das ältere Kind. Handelt es sich demnach um eine gegen Tuberkulose gerichtete Ernährung, so darf nicht die Forderung einer l) Czerny und Keller, Des Kindes Ernährung, Ernährungsstörungen und Ernährungsstherapie Bd. 2 S. 342. 1906. 274 Karl Dröge: raschen Gewichtszunahme für die Wahl und Dosierung der Nahrung massgebend sein. Wir haben eine ganze Reihe von tuberkulösen Kindern beobachtet, welche unter unserer Behandlung monatelang, ja selbst ein ganzes Jahr hindurch nieht an Gewicht zunahmen und bei welchen dabei die Tuberkulose vorzüglich ausheilte. Wir ver- folgen das Verhalten des Körpergewichts nur, um uns zu überzeugen, dass keine Abnahme stattfindet.“ Beim Kinde, dem doch physiologischerweise eine Gewichts- zunahme zukommt, hält also Czerny ein Steigen des Körper- gewichtes zur Ausheilung der Tuberkulose nicht für nötig. Erst recht brauchen wir daun beim erwachsenen Phthisiker keine Gewichts- zunahme zu erzwingen, sondern müssen vielmehr danach trachten, an die Stelle der wahllosen Überernährung eine zielbewusste Um- stimmung der chemischen Zusammeusetzung des Körpers zu setzen! Die Besprechung der bei der chemischen Analyse erhaltenen Resultate beginne ich mit dem Fettgehalt. Ehe ich aber auf den Fettgehalt der tuberkulösen Meerschweinchen eingehe, möchte ich mich etwas näher über den Fettgehalt der normalen Tiere :'aus- sprechen, da auf Grund meiner Zahlen ich ein bisher noch nicht be- kanutes Verhalten des Fettgehaltes beschreiben will. Dem Fette kommen im homoiothermen Tierkörper zwei Funk- tionen zu: erstens dient es als Wärmeregulator und zweitens als Reservedepot für Zeiten der Not. Diejenigen Tiere, die mit einem geringen Fettpolster geboren werden, bedürfen daher auch noch nach der Geburt des Schutzes der mütterlichen Wärme, da sie sonst nicht imstande wären, ihre Eigenwärme zu erhalten. So sehen wir, dass ueugeborene Hunde und Katzen, deren Fettgehalt nach Thomas?) in Prozenten der Trockensubstanz 6,90 resp. 8.42 g beträgt, noch eine Zeitlang hindurch nach der Geburt eng aneinander geschmiegt und vom mütterlichen Körper bedeckt auf ihrem Lager liegen. Be- raubt man sie dieses Wärmeschutzes, so sinkt ihre Temperatur. Nach Edwards?) bekommen die Hunde erst im Laufe der ersten zwei Wochen allmählich das Vermögen, ihre Temperatur bei gewöhn- 1) Karl Thomas, Über die Zusammensetzung von Hund und Katze während der ersten Verdoppelungsperioden des Geburtsgewichtes. Arch. f. Anat. u. Physiol., physiol. Abt. 1911 8.9. 2) W. F. Edwards, De l’influence des agents physiques sur la vie p. 132. Paris 1824. Zitiert nach Nagel, Handb. d. Physiol. des Menschen Bd. 1 S. 604. 1909. Über den Einfluss der Tuberkulose auf die chem. Zusammensetzung usw. 275 licher Zimmertemperatur selbständig zu erhalten. Um diese Zeit herum hat der Hund einen entsprechenden Fettgehalt (Thomas!), Hund II am neunten Tage 34,55 g Fett in Prozenten der Trocken- substanz), wie ihn das Meerschweinchen bei der Geburt aufweist (nach Thomas!) 32,6 g in Prozenten der Trockensubstanz). Das Meerschweinchen ist aber fähig, sofort nach der Geburt seinen Wärmehaushalt selbst zu regulieren. Aus dieser Beobachtung kann man zwar nicht schliessen, dass die Wärmeregulierung allein vom Fettgehalt des Organismus abhängig wäre. Vielmehr spielen hier noch viele andere Punkte mit. Man denke zum Beispiel nur an die Abhängigkeit der Körperwärme von den Bewegungen des Tieres oder von seiner Oberflächengrösse und seinem Volumen! So viel darf man aber wohl sagen, dass zwischen der Höhe des Fettgehaltes eines Tieres und seinem Vermögen der Wärmeregulation ein be- achtenswerter Parallelismus besteht. Zwar beruht nach Pembrey?) das Unvermögen neugeborener Mäuse, Tauben usw., die Körper- temperatur selbständig zu bewahren, in einer mangelhaften Wärme- bildung, also in einem Versagen der chemischen und nicht der physikalischen Wärmeregulation. Andererseits ist aber Babak’) auf Grund einer Beobachtung, dass beim neugeborenen Menschen trotz lebhaften Gaswechsels die Körpertemperatur sich nicht konstant hoch hält, wieder der Ansicht, dass die physikalische Wärme- regulation nicht genügt. Das Meerschweinchen würde nun vielleicht ein ganz geeignetes Objekt abgeben, diese Frage noch einmal zu prüfen. Während man bisher nämlich geglaubt hat, dass sein und auch der anderen Tiere Fettgehalt von der Geburt an gleichmässig ansteigt, möchte ich auf eine auffallende Abnahme des Fettgehaltes beim Meerschweinchen nach der Geburt aufmerksam machen. Thomas!) scheibt über den Fettgehalt des Meerschweinchens: „Wie für das Huhn, gilt auch für das Meerschweinchen: Viel Fett zur Zeit der Geburt bedingt keine oder nur geringfügige Zu- nahme in den ersten Verdopplungszeiten. Ich fand in 100 g Trocken- substanz: I) Karl Thomas,. c. 2) M. S. Pembrey, The effect of variations in external temperature upon the output of carbonie acid and the temperature of joung animals. The Journ. of Physiol. vol. 18 p. 363. 1895. 3) Edward Babak, Über die Wärmeregulation bei Neugeborenen. Pflüger’s Arch. Bd. 89 S. 154. 1902. Pflüger’s Archiv für Physiologie. Bd, 163. 19 276 Karl Dröge: beim Meerschweinchenembryo (37 8 schwer). . 20,6 g Fett, „. neugeborenen Menschen 0... 22.0.7. 20208. „.. „Li/afachen.Geburtsgewicht =... „ea 025.,05 Nun habe ich!) aber beim dreifachen Geburtsgewicht beim Meerschweinchen einen Fettgehalt von 16—17 g in Prozenten der Trockensubstanz gefunden; desgleichen kann ich aus den von Weigert?) bei der Analyse eines 2—3 Monate alten Meer- schweinchens erhaltenen Werten einen Fettgehalt von 17,68 g in Prozenten der Trockensubstanz berechnen. Daher möchte ich glauben, dass das, was in Thomas’ Resultaten nur angedeutet ist, wirklich eintritt: nämlich nach anfänglichem Steigen ein Sinken des Fett- gehaltes nach der Geburt beim homoiothermen Tiere. Thomas’ Zahlen zeigen nämlich auch bei Hund und Katze um den 100. Lebens- tag herum einen Tiefstand des Fettgehaltes, wie er dem aus- gewachsenen Hunde wenigstens nicht zuzukommen scheint. (Nach Thomas’?) beträgt nämlich der Fettgehalt des Hundes um den 59. Tag herum 44,01 g, um den 100. Tag herum 26,61 g in Prozenten der Trockensubstanz. Weigert?) dagegen findet den Fettgehalt eines erwachsenen, ziemlich mageren Hundes zu 28,91 & in Prozenten der Trockensubstanz. Für die Katze gibt Thomas am 22. Tage einen Fettgehalt von 27,10 g, am 103. Tage von 23,92 g in Prozenten der Trockensubstanz an. Angaben über den Fettgehalt einer erwachsenen Katze konnte ich in der Literatur nicht finden. Diese Abnahme des Fettgehaltes lässt sich nun ungezwungen auf folgende Weise erklären: Obwohl das junge Meerschweinchen sich sofort nach der Geburt von der Mutter frei macht, ist sein Schutzmantel von Fett doch noch nicht stark genug, um eine ge- steigerte Wärmeabgabe zu verhindern. Um nun trotzdem ein Sinken der Körpertemperatur zu vermeiden, muss eine erhöhte Verbrennung im Körper stattfinden: das ‘Material zu dieser Verbrennung wird vom Fettdepot geliefert. Natürlich wird so der Schutzwall des Fettes immer geringer, die Wärmeabgabe dagegen immer grösser, 1) Karl Dröge, Einfluss der Milzexstirpation auf die chemische Kon- stitution des Tierkörpers. Pflüger’s Arch. Bd. 157 S. 486. 1914. 2) R. Weigert, Über den Einfluss der Ernährung auf die chemische Zu- sammensetzung des Organismus. Jahrb. f. Kinderheilk. Bd. 61 S. 178. 1905. 3) Karl Thomas, |. c. Über den Einfluss der Tuberkulose auf die chem. Zusammensetzung usw. 977 so dass schliesslich ein mit dem Leben des Tieres unvereinbarer Zustand entstehen würde. Jetzt müssen daher andere Möglichkeiten der Wärmeregulation eintreten. Welcher Art diese sind, vermag ich nieht zu sagen. Dass sie aber tatsächlich eingreifen, kann man aus der Unterbrechung des oben geschilderten Cireulus vitiosus er- kennen: Analysen des etwa 4 Monate alten Meerschweinchens er- gaben einen Fettgehalt von 27,67 g (diese Arbeit, Normaltier II Tab. Nr. 6 [S. 280]), des etwa 7 Monate alten von 29,06 g (diese Arbeit, Normaltier I Tab, Nr. 6 [S. 280]) und des ausgewachsenen Tieres!) von 30,41 g in Prozenten der Trockensubstanz. Babelle Nr.>: Hund Alter | Körpergewicht | Fett NE S£ Nr Tage g g | kommen Fett I 1 380,8: = | 05119 6,90 1I %) 460,7 | 41,90 34,55 III 20 964,0 128,77 42,30 IV 59 1980 0 204,07 44,01 V 100 3651,0 306,50 26,61 Andererseits wäre es aber auch denkbar, dass die Abnahme des Fettgehaltes nicht durch ein Versagen der Wärmeregulation be- dingt wäre, sondern dass es durch eine ungenügende Nahrungs- aufnahme zu einem Verbrauch eines Teiles des Fettdepots käme, Als Zeiten für ungenügende Ernährung käme einmal die Zeit nach der Geburt und dann die Zeit des Abstillens in Betracht. Die Zeit nach der Geburt führt beim Huxide nun sicher nicht zu einer un- genügenden Aufnahme oder Resorption von Nahrung, wie ein Blick auf die von Thomas erhaltenen Zahlen für den Fettgehalt zeigt (s. Tab. Nr. 3). Für das Meerschweinchen ist aber diese Erklärungs- möglichkeit der Fettabnahme nicht so schnell auszuschliessen, da das Meerschweinchen eleich nach der Geburt einen Teil seines Nahrungsbedarfes durch artfremde Nahrung stillen muss und es wohl denkbar wäre, dass seine Drüsen noch nicht imstande sind, diesen Anforderungen zu genügen. Nun sehen wir aber, dass Eekert’s?) Hund VI trotz des Übergangs von der Mutterbrust zur 1) R. Weigert, Über den Einfluss der Ernährung auf die chemische Zu- sammensetzung des Organismus. Jahrb. f. Kinderheilk, Bd. 61 S. 178. 1905. 2) Hans Eckert, Ursachen und Wesen angeborener Diathesen. Eine experimentelle Studie. S. Karger, Berlin 1913. 192 2378 Karl Dröge: gemischten Ernährung keine Abnahme des Fettgehaltes erfahren hat, dass vielmehr sein Fettgehalt dem des an der Mutterbrust gelassenen Tieres völlig gleichkommt. Die Zahlen von Thomas’!) Hunden lassen sich zur Entscheidung dieser Frage nicht benutzen, da seine Hunde bis zum Schluss des Versuches Mutterbrust und Beikost gleich- zeitig erhielten, es also zu einem Abstillen während des Versuches gar nieht gekommen ist. Orgler?) hat nun zwar bei vier Hunden, die mit Kuhmilch ernährt wurden, während vier andere Hunde des gleichen Wurfes den ganzen Versuch hindurch Mutterbrust bekamen, einen geringeren Fettgehalt gefunden als bei den natürlich ernährten Tieren. Diese Differenz sucht er dadurch zu erklären, dass die Hundemilch dreimal soviel Fett enthielte als die Kuhmilch, die Tiere bei Ernährung mit Kuhmileh daher praktisch unmöglich grosse Mengen von Kuhmilch trinken müssten, wenn sie den Fettgehalt ihrer an der Mutterbrust gelassenen Geschwister erreichen wollten. Aus Orgler’s Arbeit ist es aber nicht ersichtlich, dass die von der Mutter 8 Tage nach der Geburt weggenommenen Tiere irgend- wie künstlich vor Wärmeverlusten geschützt worden wären. Er sagt hierüber vielmehr nur: „Die mit Kuhmilch grossgezogenen Tiere .... waren deutlich lebhafter als die natürlich ernährten; letzteres mag darauf beruhen, dass die natürlich genährten sieh mit der Mutter in einem Raum befanden, in den nur der Laboratoriums- diener und ich kamen; die künstlich genährten dagegen wurden nach der Trennung ‚von der Mutter in kleinen Versuchskäfigen in einem dem Laboratorium angrenzenden Raume gehalten; sie waren nach kurzer Zeit die erklärten Lieblinge des Laboratoriums, man beschäftigte sich viel mit ihnen, und infolgedessen erhielten sie eine bessere ‚geistige‘ Erziehung als die natürlich ernährten.“ Gerade so gut scheint es mir aber möglich zu sein. dass diese Tiere in- stinktiv durch lebhaftere Bewegungen den ihnen drohenden Wärme- verlust vermeiden wollten. Die stärkeren Bewegungen aber bedingen einen grösseren Stoffwechsel, als dessen Ausdruck der geringere Fettgehalt erscheint. Es erübrigt sich, auf weitere Arbeiten in der Literatur ein- zugehen, da in den mir bekannten Arbeiten über Stoffwechsel- 1) Kari Thomas, l. ce. 2) Arnold Orgler, Über den Ansatz bei natürlicher und künstlicher Er- nährung. Il. Mitteilung. Biochem. Zeitschr. Bd. 28 S. 359. 1910. Pl Br ale en a ERTL L DET, Fe Er ar, Über den Einfluss der Tuberkulose auf die chem. Zusammensetzung usw. 279 fo) versuche beim wachsenden Tier beide für die Frage des Fettgehaltes wichtigen Komponenten — nämlich der Einfluss der Ernährung und des Wärmeschutzes — gleichzeitig nicht berücksichtigt sind. Die Frage, worauf die beim Meerschweinchen und wohl auch bei Hund und Katze nach der Geburt auftretende Abnahme des Fettgehaltes zurückzuführen ist, muss demnach offen gelassen werden. Tabelle Nr. 4. Die Zusammensetzung der Meerschweinchen in absoluten Zahlen. | | | | IE i 3 s | Asche- u. Tier | 6e- | Trocken- ee RS: fettfreie N Sn Wasser | Na Fett |Trocken- | Tier- Asche Trocken, I: Nuc | Bunsanz substanz körper | substanz Normalt. 1 | 661,000 | 439,4645 | 221,5355 | 64,3778 | 157,1577 | 596,6222 | 23,7465 | 133,4112 II 503,000 | 384.2806 | 118,7194 | 3,7260 | 114,9934 | 499,2740 | 22,5732 | 92,4202 11 419,000 | 302,8596 | 116,1404 | 30,8514 | 85,2890 | 388,1486 | 13,3989 | 71,8901 Id% 573,000 | 380,1094 | 192,8906 | 47,4695 | 145,4211 | 525,5305 | 26,3503 | 119,0708 Normalt. I | 416,000 | 273,0729 | 142,9271 | 39,5416 | 103,3855 | 376,4584 | 12,8198 | 90,5657 V 390,000 | 284,7031 | 105,2969 | 2,4940!) 102,3029 | 387,5060 | 17,6924 | 85,1105 VI 330,000 | 235,4117 | 94,5883 | 4,9159 | 89,6724 | 325,0841 | 15.0650 | 74,6074 vu 423,000 | 305,2052 | 117,7948 | 24,5215 93,2733 | 398,4785 | 14,4014 | 78,8719 Die zweite Bedeutung des Fettgehaltes für den Organismus beruht auf der Eigenart des Fettes, sich im Körper abzulagern, ohne ein wirklicher Bestandteil der Zellen zu werden. Zu Zeiten er- höhter Anforderungen an den Körper oder bei mangelhafter Er- nährung tritt dann dieses Fettdepot ein und liefert dem Körper das Brennmaterial, so dass eine Einschmelzung von eigentlichem Körper- gsewebe vorläufig vermieden wird. Bis zu welchem Grade unter chemisch - pathologischen Verhältnissen der Fettgehalt des Körpers sinken kann, lehrt uns die klinische Beobachtung, zum Beispiel an atrophischen Kindern und tuberkulösen Patienten. Noch deutlicher tritt diese minimale Menge von Fett hervor, wenn wir den Fett- gehalt der tuberkulösen Meerschweinchen mit dem der Normaltiere vergleichen. Der Fettgehalt beider Normaltiere in Prozenten des Lebendgewichtes ist fast derselbe trotz des verschiedenen Alters und des verschiedenen absoluten Gewichtes (s. Tab. Nr. 5). 1) Da infolge Springens des Glases der Ätherextrakt verloren ging, wurde bei diesem Tier der Ätherextrakt durch Abzug der fettfreien Trockensubstanz von der Trockensubstanz berechnet. 380 Karl Dröge: Tabelle Nr. 5. Die Zusammensetzung des Tieres in Prozenten des Lebendgewichtes. | ; | Fettfreie San Tier Wasser | Trocken- md) Mrocken- Fettfreier Nr. | substanz | I Tierkörper | Normaltier I 66,48 | 33,52 9,74 | 23,78 90,26 11 76,40 | 23,60 : 0,74 | 22,86 99,26 I 72,28 | 21,12 7,36 | 20,36 | 92,64 IV 66,34 | 33,66 | 8,28 25,38 91,72 NormaltierII 65,64 | 34,36 | 9,50 | 24,85 | 90,50 V 73,00 | 27,00 | 0,64 26,36 99,36 VI 71,34 | 28,66 1,49 27,17 | 98,51 v1 72,15 | 27,85 5,80 22,05 | 94,20 Tabelle Nr. 6. Zusammensetzung in Prozenten der Trockensubstanz. Tier | | Fettfreie Asche- u. fett- Fett Asche Trocken- freie Trocken- Nr. | | substonz substanz Normaltier I 2906 | 1072, \ 710,94: 60,22 1I 3,14 | 19,01 | 96,86 | 717,85 II 26,56 | 11,54 73,74 | 61,90 IV 24,61 | 13,66 | 79,39 | 61,73 Normaltier Il 27,67 | 8,97 72,33 | 63,36 V 231 | 16,80 | 97,63 | 80,83 VI 5,20 | 15,93 | 94,80 | 78,87 VII 20,82 | 12,23 | 79,18 | 66,95 Auch in Prozenten der Trockensubstanz (s. Tab. Nr. 6) besteht zwischen den beiden Normaltieren nur ein geringer Unterschied, so- dass wir wohl berechtigt sind, alle Tiere der Serien A und B trotz ihres verschiedenen Alters und verschiedenen Gewichtes untereinander vergleichen zu dürfen. Am niedrigsten ist der Fettgehalt der Meer- schweinchen II, V und VI (s. Tab. Nr. 5 und Tab. Nr. 6). Daraus dürfen wir aber nicht schliessen, dass diese Tiere am schwersten an Tuberkulose erkrankt gewesen wären. Das Tier III zum Beispiel bot im klinischen Bilde eine genau so schwere Erkrankung wie Tier Il: beide zeigten einen hühnereigrossen Abszess, der dicht vorm Durchbruch durch die Haut stand; die Atmung war bei beiden Tieren stark beschleunigt; bei der Sektion erwies sich der tuber- kulöse Prozess bei beiden gleich weit vorgeschritten. Die Gewichts- kurve beider Tiere blieb fast parallel miteinander hinter der des normalen Tieres zurück. Und doch findet sich bei Meerschweinchen III ein fast normaler Fettgehalt, während er bei Tier II kaum noch Über den Einfluss der Tuberkulose auf die chem. Zusammensetzung usw. 281 eine Abnahme hätte erfahren können. Oder bei Meerschweinchen VII durfte man nach der Gewichtskurve einen geringeren Fettgehalt und einen weiteren Fortschritt der Tuberkulose erwarten ais bei Meer- schweinchen V. Statt dessen finden wir, dass dem pathologisch- anatomischen Bilde nach zwar Tier VII stärker als Tier V erkrankt zu sein scheint, dass aber Meerschweinchen VII einen, wenn auch nieht normalen, so doch relativ guten Fettgehalt aufweist, Meer- schweinchen V dagegen fast überhaupt kein Fett mehr in seinem Körper abgelagert hat. Zusammenfassend lässt sich daher über die Beziehungen zwischen Ausbreitung der Tuberkulose und Fettgehalt der Tiere folgendes sagen: 1. Dasjenige Tier (Meerschweinchen IV), bei dem entweder die Tuberkulose überhaupt nicht angegangen ist, oder bei dem man eine erfolgte Ausheilung der Tuberkulose annehmen muss, weist einen fast normalen Fettgehalt auf. 2. Dasjenige Tier (Meerschweinchen II), das an seiner Tuber- kulose zugrunde gegangen ist, weist einen sehr geringen Fett- gehalt auf. 3. Aus den Beobachtungen 1 und 2 aber schliessen zu wollen, dass hoher Fettgehalt mit einer grossen Widerstandskraft des Or- ganismus gegen Tuberkulose und geringer Fettgehalt mit geringer Widerstandskraft gegen Tuberkulose einherginge, ist falsch. Denn Meerschweinchen III, das in seinem klinischen und pathologisch- anatomischen Verhalten ein gleich schweres Krankheitsbild wie II darbietet, besitzt einen fast normalen Fettgehalt. Ähnlich steht es mit Tier VII. Umgekehrt zeigen die Tiere V und VI trotz ihres geringen Fettgehaltes nur an zirkumskripten Stellen tuberkulöse Herde. Nach diesen Resultaten muss es uns fraglich erscheinen, ob es überhaupt möglich ist, durch Überernährung den tuberkulösen Körper im Kampfe gegen die Tuberkulose zu unterstützen. Der Sinn der Überernährung liest doch darin, den erkrankten Organismus in möglichst gute Ernährungsverhältnisse zu bringen, d. h. nicht nur eine Einschmelzung von Körpergewebe zu verhüten, sondern sogar eine Ablagerung von Fett als Reserve im Körper herbei- zuführen. Wenn wir nun aber sehen, dass Meerschweinchen III trotz guten Fettgehaltes der Infektion nicht Herr geworden ist, Meerschweinchen V und VI dagegen trotz ihres geringen Fettpolsters 989 Karl Dröge: nur leicht an Tuberkulose erkrankt sind, so müssen wir doch stutzig werden und uns fragen, ob denn tatsächlich dem Fettgehalt des- Organismus diejenige Rolle im Kampfe gegen die Tuberkulose zu- kommt, die er seit Brehmer’s Zeiten in der Therapie der Lungen- phthise spielt. Leichtfertig würde es erscheinen, auf Grund so weniger Zahlen, die noch dazu beim Meerschweinchen und nicht beim Menschen gewonnen sind, eine so unzählige Male am Kranken- bett erprobte Erfahrung anzweifeln zu wollen. Aus zwei Gründen halten wir uns aber doch für berechtigt, diesen Zweifel aussprechen. zu dürfen. Einmal hat noch niemand zeigen können, dass beim Menschen. deshalb die Phthise ausheilt, weil es uns gelungen wäre,“ den Fett- gehalt des Organismus zu erhöhen. Der Vorgang ist vielmehr folgender: Wir ernähren unsere Phthisiker auf die denkbar beste und reichlichste Weise. Bei den einen steigt das Gewicht, und gleichzeitig kommt der örtliche Prozess zum Stillstand, womöglich zur Ausheilung. Bei den anderen erhalten wir keine Gewichts- zunahme, gleichzeitig finden wir keine Besserung des lokalen Be- fundes. Der Schluss, den man aus dieser tausendfach wiederholten Be- obachtung gezogen hat, ist, dass der tuberkulöse Prozess zum Still- stand resp. zur Heilung kommt, wenn es uns gelingt, den Körper zur Gewichtszunahme, d. h. zur Ablagerung von Fett zu bringen. Ganz abgesehen davon, dass wir bei vielen unserer tuberkulösen. Patienten trotz guter Gewichtszunahme keine Besserung des lokalen Prozesses erzielen, ja dass wir sogar trotz auffallend guter Gewichts- zunahme nicht so ganz selten plötzlich einen rapiden Fortschritt der: Tuberkulose erleben, dass wir ferner bei der Sektion oft ein gutes Fettpolster trotz ausgebreiteter Tuberkulose finden, sind wir nicht zu dem obigen Schluss berechtigt. Denn mit demselben Recht, wie wir schliessen, dass der tuberkulöse Prozess zum Stillstand kommt, weil eine Gewichtszunahme erzielt wurde, können wir schliessen, dass die Gewichtszunahme erzielt wurde, weil der tuberkulöse- Prozess zum Stillstand kam. Den zweiten Grund, der meiner Ansicht nach mir die Be- rechtigung gibt, den oben geäusserten Zweifel auszusprechen, bilden. die Resultate, die ich bei der Analyse des Wassergehaltes bei meinen. Tieren erhalten habe. So unmöglich es mir war, aus den für den Fettgehalt gefundenen Werten Beziehungen zur Ausbreitung der Über den Einfluss der Tuberkulose auf die chem. Zusammensetzung usw. 283 Tuberlose herauszulesen, so klar ‚liegen hier die Verhältnisse: die schwer erkrankten Tiere zeigen einen hohen Wassergehalt, die leicht erkrankten einen niedrigen (s. Tab. Nr. 7). Der Wassergehalt der normalen Tiere schwankt zwischen 73,66 und 72,50 in Prozenten des fettfrei gedachten Tierkörpers. Der Wassergehalt der leicht er- krankten Tiere IV, V und VI beträgt 72,33; 73,47 und 72,42, ist also ungefähr derselbe wie bei den normalen Tieren. Der Wasser- gehalt der schwer erkrankten Tiere II, III und VII dagegen beträgt 76,97; 78,00 und 76,59 g. Ihre Gewebe sind also um 3—4 Jo wasserreicher als die der normalen Tiere. Tabelle Nr. 7. Die Zusammensetzung in Prozenten des fettfrei gedachten Tierkörpers. Tier Wasser | Trocken- Tier AVaSSer | Trocken- Nr. | substanz Nr. | substanz | | Normaltier I 73,66 26,34 Normaltier II 72,50 | 27,50 I 26.900 22\ 23,03 V ER 26,53 III 78,00 | 22,00 VI 72,42 27,58 IV 72,33 | 27,67 vu 7659 | 34 Wenn sich uun auch nirgends in der Literatur eine Beobachtung fände, die dem Gehalt des Organismus an Wasser eine Bedeutung bei der Tuberkulose zuspräche, so müsste diese überraschende Über- einstimmung in meinen Resultaten doch zu denken geben. Statt dessen ist aber auch schon wiederholt von anderer Seite auf die Rolle, die der Wasserreichtum der Gewebe bei der Frage der tuber- kulösen Infektion und der Ausheilung tuberkulöser Prozesse spielt, hingewiesen worden. Zwei Ansichten stehen sich hier schroff gegenüber. Rubner und seine Anhänger glauben, dass der Wassergehalt des Organismus — abgesehen von dem physiologischen Austrocknungsprozess während des Wachstums — unter keinen physiologischen oder pathologischen Bedingungen sich verändert. So schreibt Rubner?): „Zahlen über den Wassergehalt des Menschen hängen ganz von dem Umstande ab, ob der Betreffende viel oder wenig Fett ab- gelagert hat. Bei Tieren sieht man mit der Mast den prozentigen Wassergehalt sinken und mit der Magerkeit steigen. Am häufigsten 1) Leyden’s Handb. d. Ernährungstherapie Bd. 1 S. 50. 1897, 284 Karl Dröge: begeenet man grosser Magerkeit, also wasserreichen Organen, bei Tuberkulose. Wenn in ein normales fettarmes Gewebe Fett ein- gelagert wird, so muss, weil letztere Substanz wasserfrei ist, der prozentige Wassergehalt sinken, ohne dass das Organ selbst auch nur die geringste Wassermenge verloren zu haben braucht.“ Ein Blick auf die Tabellen Nr. 5 und Nr. 7 illustriert diese Verhältnisse: Während wir bei Berechnung auf das Lebendgewicht starke Wasseranreicherung bei den tuberkulösen Tieren finden, ist dieser Unterschied bei Berechnung auf den fettfrei gedachten Tier- körper viel geringer geworden. Ganz verschwunden ist er aber, wie oben hervorgehoben, bei den schwer erkrankten Tieren nicht! (Siehe auch Tabelle Nr. 8 und Nr. 9, in denen gleichfalls die Wasser- anreicherung bei den tuberkulösen Tieren hervortritt.) Tabelle Nr. 8. Zusammensetzung des asche- und fettfrei gedachten Tierkörpers. £ ERS Auf 100 g asche- Asche el nnd Feuireineraachen Tier £ und fettfreie | und fettfrei TER Er Nr. Wasser en Selen Tierkörper kommen substanz | Tierkörper | Wasser | Trockensuhstanz Normaltier I | 439,4645 133,4112 572,8757 76,72 23,28 I 384,2806 92,4202 476,7008 80,61: 17.1939 III 302,8596 71,8901 374,7497 80,81 19,19 IV 380,1094 119,0708 499,1802 76,15 23,85 NormaltierII] 273,0729 90,5657 363,6386 75,10 24,90 V 284,7031 85,1105 369,8136 16,980. 10.2802 VI 235,4117 74,6074 310,0191 15,932 20.219407 vu 305,2052 78,8719 334,0771 79,46 20,54 Tabelle Nr.9. Beziehungen des Wassers zur asche- und fettfreien Trockensubstanz. Asche: und Auf 1 g asche- und Tier ; fettfreie Trocken- Nr. Wasser fettfreie Trocken- suhstanz kommer substanz wieviel g Wasser ? Normaltier I 439,4645 133,4112 3,29 II 324,2306 92,4202 4,16 III 302,3596 71,8901 4,21 IV 380,1094 119,0708 3,19 Normaltier II 273,0729 90,5657 3,02 V 284,7031 85,1105 3,39 VI 235,4117 74,6074 3,16 VII 305,2052 78,8719 3,87 ei ge nn Zn armen Über den Einfluss der Tuberkulose auf die chem. Zusammensetzung usw. 285 Dieselbe Beobachtung, dass die bei Berechnung auf das Lebend- gewicht grossen Unterschiede im Wassergehalt von normalen und pathologischen Tieren bei Berechnung auf den fettfrei gedachten Tierkörper zwar viel unbedeutender werden, aber doch nicht ganz verschwinden, hat Weigert!) u. a. veranlasst, Rubner’s Ansicht zu widersprechen. Weigert!) fand zum Beispiel für zwei Hunde desselben Wurfes, von denen er den einen mit Sahne, den anderen mit Buttermilch ernährte, folgende Zahlen: während der mit Sahne gefütterte Hund 25,41 & Trockensubstanz bei Berechnung auf fett- freie Leibessubstanz enthielt, zeigte der mit Buttermilch ernährte Hund nur einen Trocksubstanzgehalt von 21,69 g! Weigert kommt daher im Gegensatz zu Rubner zu dem Schlusse, dass der Wassergehalt des Tieres doch von der Ernährungs- weise abhängig sei. Welche enorme Bedeutung dieser geringen Wasseranreicherung vielleicht zukommt, zeigen uns andere Untersuchungen Weigert’s?). Er fand nämlich, dass das Wachstum der Bakterien um so schlechter wird, je geringer der Wassergehalt der Nährböden wird, und dass das Wachstum schliesslich ganz aufhört, wenn der Wassergehalt rund bis zu 65 °/o herabgesetzt ist, einer Grenze, die ungefähr dem mittleren Wassergehalt des Menschen entspricht. Ein Steigen des Wassergehaltes der Nährböden auf 68°o dagegen ermöglichte den sieben geprüften Bakterienarten ein gutes Fortkommen. Nun hat zwar Weigert bei seinen Versuchen nicht Tuberkelbazillen geprüft. Da er aber mit sieben verschiedenen Bakterienarten gearbeitet und bei ihnen allen dieselbe Abhängigkeit des Wachstums vom Wasser- gehalt des Nährbodens gefunden hat, so ist es wohl wahrscheinlich, dass die Tuberkelbazillen ein ähnliches Verhalten zeigen werden. Zwar ist dieser Nachweis direkt noch nicht geführt worden; aber auf indirektem Wege ist es Weigert°) gelungen, den Zusammen- hang zwischen Wasserreichtum und geringer Widerstandsfähigkeit gegen Tuberkulose ziemlich sicherzustellen. Er fand nämlich bei 1) R. Weigert, Über den Einfluss der Ernährung auf die chemische Zu- sammensetzung des Organismus. Jahrb. f. Kinderheilk. Bd. 61 S. 178. 1905. 2) R. Weigert, Über das Bakterienwachstum auf wasserarmen Nährböden. Ein Beitrag zur Frage der natürlichen Immunität. Zentralbl. f. Bakteriologie Bd. 36 (Originale) S. 112. 1904. 3) R. Weigert, Über den Einfluss der Ernährung auf die Tuberkulose, Berliner klin. Wochenschr. 1907 Nr. 38 S. 1209. 286 Karl Dröge: fünf Schweinen, die durch reichliche Fettzufuhr gemästet waren, einen viel günstigeren Verlauf der tuberkulösen Infektion als bei fünf anderen Tieren, die bei fettarmer Kost mit reichlichen Mengen von Zucker und Mehl, also einer den Wasseransatz begünstigenden Nahrung, gross gezogen worden waren!). Gegen seine Resultate können aber, wie Weigert selbst zugibt, von der Seite Bedenken erhoben werden, dass alle seine Tiere — auch die mit Fett ge- mästeten! — an der Tuberkulose zugrunde gegangen sind, da er absichtlich sehr grosse Impfdosen verwendet hat. Um aber einwand- frei die Bedeutung des Wasserreiehtums der Gewebe für die Aus- breitung der Tuberkulose zu zeigen, hätte eine derartige Versuchs- anordnung gewählt werden müssen, dass die mit Kohlehydraten er- nährten Tiere der Infektion erlagen, die mit Fett genährten da- gegen die Infektion überwanden. In diese Lücke tritt teilweise meine Arbeit ein. Die von mir gewählte Impfdosis war so schwach, dass es nur bei einem Teil meiner Tiere zur Ausbreitung der Tuberkulose gekommen ist, bei den anderen Tieren dagegen die Tuberkulose beschränkt geblieben, vielleicht sogar in Heilung über- gegangen ist. Da alle Tiere unter denselben Bedingungen standen, kann ich keinen Grund für dieses verschiedenartige Verhalten gegen- über der tuberkulösen Infektion angeben. Insofern bestehen also in meiner Arbeit keine Beziehungen zu Weigert’s Beobachtung. Was aber meine Versuche in direkten Zusammenhang mit den von Weigert angestellten setzt, ist der Wassergehalt meiner Tiere: Diejenigen Meerschweinchen, bei denen die Tuberkulose zu stärkerer Ausbreitung gekommen ist, zeigen bei Berechnung auf fettfreien Tierkörper einen um einige Prozent höheren Wassergehalt, als der der normalen Tiere beträgt; diejenigen Tiere aber, bei denen dem klinischen und pathologisch - anatomischen Befunde nach eine Aus- heilung der Tuberkulose zu erwarten war, zeigen diese Erhöhung des Wassergehaltes nicht. Insofern lassen sich aber meine Resultate, wie schon oben ge- sagt, nieht in Weigert’s Gedankengang einfügen, als er die Wasseranreicherung des Körpers infolge falscher Ernährung als das 1) Dasselbe haben Thomas und Hornemann (Biochem. Zeitschr. Bd. 57 S. 456) gefunden: mit Eiweiss genährte junge Ferkel zeigten im Gegensatz zu den mit Kohlehydraten genährten eine auffallend geringe Ausbreitung der Tuberkulose. Über den Einfluss der Tuberkulose auf die chem. Zusammensetzung usw. 287 primäre ansieht, wodurch erst sekundär eine Infektion des Körpers ermöglicht würde. Ich dagegen muss annehmen, dass die Tuberkel- bazillen selbst die Wasseranreicherung hervorgerufen haben, da kein Grund dafür da ist, warum bei derselben Ernährung die einen der Tiere wasserreicher, die anderen von Anfang an wasserärmer gewesen wären. Im übrigen glaube ich, dass trotz dieses scheinbaren Aus- einandergehens Weigert’s und meiner Versuchsanordnung zwischen beiden sich gut eine Verbindung herstellen lässt. Wenn Wasser- reichtum der Gewebe den Bakterien ihr Fortkommen erleichtert, so: wird sicher ein Teil der Giftwirkung der Bakterien auf unseren Körper darauf beruhen, eine Wasseranreicherung der Gewebe her- vorzurufen. Misslingt aber aus einer uns noch unbekannten Ursache den Bakterien die Wasseranreicherung, so ist ihnen die Ausbreitung im Körper unmöglich gemacht. Dass aber diese Wasseranreicherung nicht nur im Tierversuch, sondern auch beim tuberkulösen Menschen zu finden ist, geht aus der von Steinitz und Weigert!) ausgeführten Analyse eines tuberkulösen Kindes hervor. Bei dem einjährigen Kind fanden sie nämlich einen Wassergehalt von 83,06 g in Prozenten der fettfreien Leibessubstanz, während der Wassergehalt des fettfrei gedachten Neugeborenen 81,9 g beträgt. Bedenkt man dabei, dass der Wasser- gehalt des einjährigen Kindes normalerweise niedriger ist als der des Neugeborenen, so wird die Anreicherung der Gewebe bei dem Kinde an Wasser wie bei den Meerschweinchen etwa 2—3°/o be- tragen. Für die Prophylaxe und Therapie der Tuberkulose käme dem- nach alles darauf an, durch richtige Ernährung eine Wasser- anreicherung der Körpergewebe zu vermeiden oder nach erfolgter Infektion den Wassergehalt der Gewebe herabzusetzen. Diesen Weg hat Czerny°) schon beschritten. Aus seinem Lehrbuche führe ich zum Beispiel folgende Stelle an: „+. Den stärksten Einfluss auf die Wasserretention haben die Kohlehydrate, und es folet daraus, dass wir die Menge der- selben in der Nahrung kontrollieren müssen. Da die Zucker mehr 1) F. Steinitz und R. Weigert, Demineralisation und Tuberkulose. Deutsche med. Wochenschr. 1904 Nr. 23 S. 833. — F. Steinitz und R. Weigert, Über Demineralisation und Fleischtherapie bei Tuberkulose. Jahrb. f. Kinder- heilkunde Bd. 61 H.1 S. 147. 2) Czerny und Keller, |. e. S. 343. 288 Karl Dröge: Über den Einfluss der Tub erkulose usw. missbraucht werden als die Mehle, so werden hauptsächlich die ersteren eingeschränkt werden müssen. Wir geben in dieser Absicht beispielsweise Kindern nur rohes Obst, nie Kompott und vermeiden tunlichst süsse Speisen.“ Ich kann hier nicht alles zitieren, was Czerny über die Er- nährung des tuberkulösen Kindes sagt. Für den erwachsenen Phthisiker würde auch ein Teil seiner Ausführungen überhaupt nicht passen. An den Schluss dieses Abschnittes möchte ich daher nur noch die Leitsätze stellen, die Weigert!) für etwaige Versuche am Menschen auf Grund seiner Arbeiten aufgestellt hat: „l. Mästung jeder Art ist an sich nieht imstande, den Verlauf der Tuberkulose aufzuhalten.“ 2, Der im Proletariat aus wirtschaftlichen Gründen geübte Modus, den täglichen Kalorienbedarf neben eben genügender Fiweisszufuhr überwiegend durch Kohlehydrate zu decken, schafft für die Ausbreitung der Tuberkulose einen günstigeren Boden als der in den bessersituierten Klassen mögliche, relativ grosse Verbrauch von Fetten.“ „3. Bei der Ernährung Tuberkulöser ist diesen Gesichtspunkten Rechnung zu tragen, indem die Kohlehydrate der Nahrung dureh Fett so weit ersetzt werden, als es möglich ist, ohne in den Fehler einer einseitigen Ernährung zu verfallen.“ Die Veröffentlichung des zweiten Teiles der Arbeit „Die Dar- stellung der Aschenverhältnisse des Körpers unter dem Einfluss der Tuberkulose“ musste der Verfasser bei Kriegsausbruch verschieben, da er als Feldunterarzt eingezogen wurde; inzwischen hat er am 25. September 1915 in der Champagne als Assistenzarzt den Helden- tod erlitten. 1) R. Weigert, Über den Einfluss der Ernährung auf die Tuberkulose. Berliner klin. Wochenschr. 1907 Nr. 38 8. 1209. Taf.I. Pflüger's Archiv f.d ges. Physiologie, Bd 163 186, 78 [50 [ [ [70 [ 15 60 [50 [40 130 [20 Fr 10 10 ö Normal 1. M. V. MM. Verlag vMartin Hager. Bomn Gewichtskurven der Serie A. Lih.Anst.v; F-Wintz, Darmstadt Pflüger's Archiv f.d.ges. Physiologie. Bd.163 Taf I. W. Normal I. H-90 Gewichtskurven der Serie B. 80 Lith. Anst- v F_ Wirtz, Darınstadt D 0,0) o Messende Untersuchung des Lichtsinnes der Biene. Von Professor ©. Hess in München. (Mit 12 Textfiguren.) Inhaltsübersicht. ER 1. Messende Bestimmung der Unterschiedsempfindlichkeit der Bienen für Hellıskeiten sn aut ee ER LI Ar EN 290 2. Nachweis der totalen Farbenblindheit der Bienen mit der Methode der FAEDIGENGRIACHENE N N EN a THEIR. 299 Zum Nachweise der totalen Farbenblindheit der Schmetterlinge. . . . 306 3. Objektiver Nachweis der totalen Farbenblindheit der Bienen mit Hilfe des#Disterential-Bupilloskopsi. 7 van ne LEE 307 ARRZUSZITNERTASSUNNIE A PASS reale ein ee ke ee ah RE ERIES ey 318 Die Frage nach dem Vorkommen eines Farbensinnes bei Bienen ist, obschon es sich hier fast ausschliesslich um physiologische Auf- gaben handelt, bisher von physiologischer Seite nicht in Angriff ge- nommen worden. Die Zoologen haben sich der zuerst von Botanikern (Sprengel 1793) geäusserten Annahme angeschlossen, die Blüten- farben hätten sich um der Insekten willen entwickelt; man begnügte sich also mit dem unter den fraglichen Verhältnissen durchaus un- zulässigen Schlusse von einem Farbensinne beim Menschen auf einen solchen bei Bienen. Sprengel’s Lehre von der Bedeutung der Blumenfarben gründet sich sogar auf die stillschweigende Voraus- setzung, dass der angebliche Farbensinn der Bienen dem unsrigen ähnlich oder gleich sei. Für mich ergaben sich aus meinen systematischen Untersuchungen über den Lichtsinn in der Tierreihe bei Bearbeitung der Frage nach dem Lichtsinne der Bienen wesentlich andere als die bis dahin üb- lichen Gesichtspunkte und Fragestellungen. Ich ging zunächst davon aus, dass wir bestimmte und experimentell prüfbare Vorstellungen über die Sehqualitäten der Bienen nur durch solche Versuche ge- winnen können, die uns bestimmte Beziehungen, Ähnlichkeiten oder Pflüger’s Archiv für Physiologie. Bd. 163. 20 290 C. Hess: Verschiedenheiten, zwischen dem Lichtsinne des Menschen und jenem der Bienen aufzudecken gestatten. Die in der Zoologie noch immer üblichen Versuche, Bienen zu „dressieren“, können uns nicht einmal über diese wichtigste Vorfrage Aufschluss geben. Meine Befunde an zahlreichen anderen Tierarten !) hatten mich belehrt, dass bei allen bisher wissenschaftlich untersuchten Wirbel- losen das Vorhandensein eines unserem normalen vergleichbaren Farbensinnes ausgeschlossen ist. Auch liess sieh mit den von mir entwickelten messenden Methoden eindringlich dartun, dass die noch immer verbreitete Neigung, eine „Vorliebe“ verschiedener Wirbelloser für diese oder jene Farbe anzunehmen, den Tatsachen widerspricht, ebenso auch die Annahme, Art und Ausbildung des Lichtsinnes zeigten bei verschiedenen Wirbellosen wesentliche Verschiedenheiten. So mannigfach verschieden die bei verschiedenen Tierarten dureh das Licht ausgelösten Reaktionen sind, die Abhängigkeit dieser Reaktionen von den Lichtern verschiedener Wellenlänge ist bei allen bisher genügend unter- suchten Wirbellosen die gleiche, und dieselbe wie beim total farbenblinden Menschen). So führte mich die phylogenetische Behandlung unserer Aufgahe unter anderem auch zur Erkenntnis von der Unzulässigkeit jenes Anthropomorphismus , der Botaniker und Zoologen zu dem Trug- schlusse verleitet hat, weil der Mensch Farben sehe, müsse auch die Biene Farbensiun haben; und es ergab sich weiter die Frage, ob wirklich unter allen bisher untersuchten Wirbellosen den Bienen allein Farbensinn zukommt. Ich berichte im folgenden über neue Methoden, mit welchen ich zum ersten Male die messende Behandlung der Frage nach dem Farbensinne der Bienen in Angriff nehmen konnte. 1. Messende Bestimmung der Unterschiedsempfindlichkeit der Bienen für Helligkeiten. Hält man über das Flugloch eines Bienenstockes einen passen- den Glasbehälter, so haben, wie ich früher zeigte, die in diesem ge- 1) Meine Beobachtungen erstrecken sich jetzt auf mehr als vierzig ver- schiedene Arte von Wirbellosen. 2) Auch die neueren Angaben über Farbensinn bei Krebsen lassen sich mit den Methoden der wissenschaftlichen Farbenlehre leicht als irrig erweisen; ich komme darauf in anderem Zusammenhange zurück. - Messende Untersuchung des Lichtsinnes der Biene. 291 fangenen Tiere eine lebhafte Neigung, sich an der hellsten Stelle des Gefässes zu sammeln. Diese Neigung ist ceteris paribus um so ausgesprochener, je grösser die Helligkeitsunterschiede zwischen den verschiedenen Behälterteilen sind; bei geeigneter Versuchsanordnung ist die Ansammlung der Tiere im helleren Teile schon bei so geringen Lichtstärkenunterschieden deutlich, dass sich genaue messende Untersuchungen vornehmen lassen. Diese Bewegungen zum Hellen zeigen sich innerhalb eines srossen Gebietes absoluter Lichtstärken: Bringt man einen recht- eckigen Behälter aus Spiegelglas an einem hellen Tage im Freien an die Sonne oder in den Schatten eines Hauses, so haben sich in Fig. 1. wenigen Sekunden die Bienen so vollständig, wie es Fig. 1 zeigt, an der helleren Seite ihres Behälters gesammelt. Andererseits ge- nügen zu einer ähnlichen oder gleichen Ansammlung bei dunkel- adaptierten Tieren überraschend geringe Lichtstärken: Befinden sich die Bienen in einem grossen, sorgfältig verdunkelten Raume mit schwarzen Wänden, so genügt das Erglühen eines kleinen Taschen- lämpchens, ja das Entflammen eines Zündholzes in 6 m Entfernung, um rasch eine starke Ansammlung der Bienen in der dem Lichte zugekehrten Behälterecke herbeizuführen. Durch solche Versuche kann man sich auch leicht eine Vorstellung von dem grossen Um- fange der adaptativen Änderungen im Bienenauge verschaffen: In einem nicht ganz liehtdichten, dunklen Zimmer liefen die aus dem Hellen gebrachten Bienen zunächst angenähert gleichmässig in ihrem Behälter hin und her, nach einem Aufenthalte von etwa 20 Minuten 20 * 292 C. Hess: hatten sich alle an der Ecke ihres Behälters gesammelt, die einer kleinen, nicht vollständig abgedichteten Ritze am Türboden zugekehrt war. Ich erwähne den Befund, weil er zeigt, mit welchen Fehler- quellen hier zu rechnen ist, und wie sorgfältig bei messenden Ver- suchen auf jedes störende Licht, Reflexe usw. geachtet werden muss. Die Richtung, in der das Licht einfällt, ist für die Be- wegungen der Bienen zum Lichte ohne Belang. Insbesondere ist der Nachweis von Interesse, dass auch bei von unten einfallendem Lichte die Bienen in ähnlicher oder gleicher Weise zum Hellen laufen wie bei von oben oder seitlich einfallendem. Ich brachte den Fig. 2. rechteckigen Glasbehälter im Dunkelzimmer so auf ein passendes Gestell, dass die eine seitliche Hälfte des Glasbodens über schwarzem, die andere, unmittelbar angrenzende über einem durchscheinenden Öl- papier stand; unter dieser letzteren Hälfte war eine schwache Licht- quelle (Mattelasbirne) angebracht. In wenigen Sekunden waren die Bienen so vollständig, wie es Fig. 2 zeigt, über der hellen Hälfte versammelt; drehte ich den Behälter um 180° um seine senkrechte Achse, so liefen die nunmehr auf der schwarzen Bodenhälfte befind- lichen Bienen wie die Soldaten wieder auf die helle Hälfte zu. Bei längerer Dauer des Versuches laufen viele Tiere zwar im ganzen Behälter hin und her, immer aber findet man die grosse Mehrzahl in der helleren Hälfte. Dieser letztere Versuch zeiet, dass die lebhaften Bewegungen der Bienen zum Hellen auch unter solchen Bedingungen erfolgen, Messende Untersuchung des Lichtsinnes der Biene. 293 bei welchen eine Mitwirkung der Stirnocelle nahezu aus- geschlossen ist. Bei meinen Messungen ging ich zunächst davon aus, die kleinsten Lichtstärkenunterschiede zweier Lichter von gleicher physi- kalischer Zusammensetzung zu ermitteln, die noch deutliche Ansamm- lung der Tiere in einem Behälterteile zur Folge haben. Eine der von mir benutzten Methoden, die sich für meine Zwecke gut eignete, L; B Lı Fig. 3. | bestand darin, dass ich die Bienen in einen kubischen Behälter aus Spiegelglas brachte und die auf ihre Wirkung zu vergleichenden beiden Lichter von entgesengesetzten Seiten in den Behälter eintreten liess, wie vorstehendes Schema (Fig. 3) zeigt. Die beiden Lichtquellen Z, und Z, sind im Innern eines etwa 2m langen, innen mattschwarzen Tunnels von quadratischem Quer- schnitte messbar verschieblich, dessen Mitte mit einem zur Aufnahme des Behälters 5 dienenden Ausschnitte versehen ist. Zwischen je zwei Versuchen, die selbstverständlieh im Dunkelzimmer vorzunehmen sind, werden an den beiden Seiten des Behälters schwarze Kartons vorgeschoben, so dass die Bienen sich ganz im Dunkeln befinden ; sie verteilen sich dann angenähert gleichmässig im Gefäss. Werden nun die Kartons rasch weggezogen, so sieht man, wenn die Licht- stärkenunterschiede der beiden Lichtquellen eine gewisse Grösse über- schreiten, die Bienen deutlich nach links bzw. rechts laufen. Bei 294 C. Hess: genügend grossen Lichtstärkenunterschieden sind die Ansammlungen an der hellen Seite so vollständig, wie es Fig. 5 zeigt. Bei anderen Ver- suchsreihen wurden die Bienen zwischen den einzelnen Beobachtungen nicht verdunkelt, sondern durch ein vor die Stirnseite des Gefässes gehaltenes Taschenlämpehen, auf das sie lebhaft zueilten, dort ge- sammelt, bis die Verschiebung der Lampen von einem Mitarbeiter Fig. 5. besorst war; wurde nun das Taschenlämpehen rasch gelöscht, so liess sich leicht verfolgen, ob die Bienen in den ersten Sekunden vorwiegend nach der rechten oder linken Seite eilten oder sich an- genähert gleichmässig in ihrem Behälter verteilten. Li L> Fig. 6. Bei einem Teile meiner Versuche stand ein rechteckiger Behälter mit Bienen nicht in der Längsachse des Tunnels, sondern war so, wie es Schema Fig. 6 zeigt, nach vorn verschoben; in dem Aus- schnitte in der Tunnelmitte hatte ich zwei grosse, unter rechtem Winkel aneinander stossende Planspiegel so aufgestellt, dass ihre Kante die eine Seite des Behälters eben berührte. Es fiel also in diesem Falle das Licht nicht mehr durch zwei einander gegenüber liegende Behälterwände ein, sondern durch die beiden seitlichen Hälften einer und derselben Glaswand, so dass also hier die rechte Messende Untersuchung des Lichtsinnes der Biene. 295 Behälterhälfte vom Lichte der Lampe Z», die linke, unmittelbar an- srenzende, von jenem der Lampe Z, bestrahlt war; durch seitlich angebrachte schwarze Kartons wurde etwa störendes falsches Licht abgehalten. Die frisch vom Stocke geholten Bienen laufen im allgemeinen während. der ersten 10—20 Minuten lebhaft in ihrem Behälter und zeigen während dieser Zeit die erwähnte Neigung, zum Hellen zu sehen. Nachher setzen sie sich vielfach an irgendeiner Stelle fest und reagieren dann auch auf grössere Lichtstärken nicht mehr. Sie sind dann natürlich sofort durch frische zu ersetzen. Ich gebe nur ein einschlägiges Protokoll ausführlicher wieder: Die linke Lampe stand während des ganzen Versuches dauernd in. 45 cm Entfernung, die dem Bienenbehälter zugekehrten Tunnel- enden waren mit Mattglasscheiben versehen, die in ihrem oberen Teile von mattschwarzem Karton so weit verdeckt waren, dass der quadratische, > cm hohe Behälter beiderseits von einer 5 cm hohen, 10 cm breiten mattweissen Fläche bestrahlt wurde. Ich bestimmte zunächst die Grenzen, innerhalb deren ich den Abstand der rechten Lampe variieren konnte, ohne dass die rechte weisse Fläche meinem Auge merklich heller oder dunkler erschien als die linke; in einer grösseren Versuchs- reihe fand ich, dass beide Flächen mir gleich hell erschienen. wenn der Abstand der rechten Lampe nicht kleiner als 43 cm und nicht grösser als 50 cm war. Nun brachte ich die Bienen zwischen beide helle Flächen, ver- deckte letztere zwischen je zwei Versuchen mit schwarzen Kartons. sammelte die Bienen mit einer Taschenlampe an der Stirnseite des Behälters und liess den Abstand der rechten Lampe von einem Mit- arbeiter ändern; hierauf wurde die Taschenlampe rasch gelöscht, die Kartons weggezogen und festgestellt, ob in den ersten Augenblicken der Belichtung die Bienen vorwiegend nach links oder rechts liefen oder sich angenähert gleichmässig nach beiden Seiten verteilten. Sind die Lichtstärkenunterschiede sehr gross, so eilt die Mehrzahl der Bienen lebhaft nach der helleren Seite, sind die Unterschiede klein. so sieht man, insbesondere in den ersten Augenblicken der Belichtung, eine mehr oder weniger deutliche Neigung des grösseren Teiles der Tiere, nach der helleren Seite zu gehen; bei länger dauernder Be- lichtung verteilen die Bienen sich dann wieder angenähert gleichmässig im Behälter, selbst dann, wenn die Lichtstärkenunterschiede grösser sind; bei sehr grossen Lichtstärkenunterschieden findet man aber auch nach länger dauernder Belichtung in der Regel wesentlich mehr Tiere auf der helleren Seite. Zum guten Gelingen der Versuche muss der Behälter für die Bienen sorgfältig gereinigt und getrocknet sein, an warmen Tagen sind die Tiere im allgemeinen geeigneter als an kühlen; die Jahreszeit macht nach meinen bisherigen Erfahrungen keinen merklichen Unter- 296 C. Hess: schied; ich habe die geschilderten Versuche mit gleichem Ergebnisse zu fast allen Zeiten zwischen April und Oktober angestellt. Die linke Lampe steht dauernd in 45 cm Abstand. Steht | Steht re | : en So gehen die Bienen nn So gehen die Bienen em cm 12 ' stark nach links Neue Tiere: Bt stark nach rechts 40 | etwas nach rechts 55 nach links 50 | Spur nach links 40 etwas nach rechts 52 , nach links 50 , verteilen sich gleichmässig 38 ‘ deutlich nach rechts 53 nach links 53 | undeutlich, vielleicht Spur 43 verteilen sich gleichmässig | nach links 51 | Spur nach links BP) , stark nach links 41 | deutlich nach rechts 40 , deutlich nach rechts 44 verteilen sich gleichmässig 53. | deutlich nach links 46 verteilen sich gleichmässig Sl , verteilen sich gleichmässig 48 verteilen sich gleichmässig 41 , Spur nach rechts 50 eine Spur nach links 39 | nach rechts 52 deutlich nach links 54 | stark nach links 42 verteilen sich gleichmässig 42 verteilen sich gleichmässig 40 Spur nach rechts 41 | deutlich nach rechts 39 deutlich nach rechts 40 ı nach rechts 35 , stark nach rechts Die Bienen verteilten sich also angenähert gleichmässig in ihrem Behälter, wenn der Abstand der rechten Lampe zwischen 42 und 51 em schwankte. Meinem Auge erschienen beide Flächen gleich hell, wenn der Abstand der rechten Lampe zwischen 43 und 50 cm schwankte. | Für beide Versuchsreihen ergibt sich somit als Mittel für den Abstand der rechten Lampe, bei dem beide Flächen gleich hell er- scheinen, 46,5 em (auch mit anderen photometrischen Methoden überzeugte ich mich, dass die rechte Lampe eine Spur lichtstärker war als die linke). Die mitgeteilten Messungen lehren folgendes: Macht man zwei gleich helle Flächen in der angegebenen Weise sichtbar und setzt dann die Lichtstärke der einen von beiden im Verhältnis von 1:0,86 herab, bzw. erhöht man sie im Verhältnis von 1:1,16, so fängt die betreffende Fläche eben an, für unser Auge merklich dunkler bzw. heller zu erscheinen als die andere. Wird die Licht- stärke dieser Lampe im Verhältnis von 1:0,83 herabgesetzt bzw. im Verhältnis von 1:1,22 erhöht, so beginnt bei den Bienen eine deutliche Neigung, nach der nunmehr für uns helleren der beiden Flächen zu laufen. Messende Untersuchung des Lichtsinnes der Biene. 297 Do; Im Hinblicke auf die im folgenden Abschnitte (S. 303) mitgeteilten messenden Bestimmungen der Helliekeitswerte farbiger Papiere für das Bienenauge sei noch eine zweite Methode zur Messung der Unterschiedsempfiudlichkeit der Bienen beschrieben, bei welcher ich am Kreisel durch Mischung weisser und schwarzer Sektoren von verschiedener Grösse verschieden hell- bzw. dunkelgraue Flächen herstellte und deren Wirkung auf das Bienenauge mit jener eines konstanten Grau von bestimmter Helligkeit verglich. Fig. 7 gibt die Anordnung des Versuches wieder: Die Bienen befinden sich in dem oben erwähnten kubischen Glasgefässe von 10 em Seitenlänge unter einem Gehäuse aus schwarzem Blech. Dieses ist auf zwei einander gegenüberliegenden Seiten mit zwei kurzen, quadratischen, sich peripherwärts etwas verjüngenden Ansätzen versehen, von welchen der eine der konstanten grauen Fläche, der gesenüberliegende der Kreiselfläche zugekehrt ist; beide Flächen stehen unter einem Winkel von 45° zum einfallenden Lichte. Die obere Seite des Gehäuses trägt ein kurzes, schräg nach rückwärts gerichtetes Beobachtungsrohr mit einem an den Augenrand angepassten Ansatze. Die nach rückwärts gerichtete (in der Abbildung nicht sichtbare) Gehäusewand ist mit einem kleinen, verschliessbaren Ausschnitte versehen, um die Bienen zwischen den einzelnen Beobachtungen durch eine vorgehaltene 298 C. Hess: Taschenlampe an der betreffenden Behälterwand zu sammeln (8. o. S. 294). Die Vorriehtung ermöglicht, unter Fernhaltung allen störenden Lichtes, das Verhalten der Bienen zu verfolgen, während ausschliesslich von den beiden untereinander zu vergleichenden - Flächen Licht zu ihnen gelangt. Ich ermittelte zunächst für mein eigenes Auge, innerhalb welcher Grenzen ich die Grösse des weissen Sektors variieren konnte, ohne dass das beim Rotieren des Kreisels entstehende Grau merklich heller oder dunkler erschien als das konstante Vergleichsgrau. Um die beiden Flächen bei der Beobachtung wenigstens unter einiger- maassen ähnlichen Bedingungen zu sehen wie die Bienen, brachte ich im Innern des Gehäuses zwei unter rechtem Winkel zueinander stehende ebene Spiegel so an, dass beim Blicken durch das Beobachtungs- rohr zwei nicht unmittelbar aneinandergrenzende helle Felder sicht- bar waren, von welchen das eine der linken, das andere der rechten grauen Fläche entsprach. Bei einer solehen Messung fand ich für mein Auge folgendes: Links war eine farblose Fläche aufgestellt, deren Grau nach früher von mir vorgenommenen genauen photometrischen Bestimmungen gleich war einem am Kreisel aus 50° -Weiss und 310° Schwarz ge- mischten Grau. Unter den hier in Betracht kommenden Beobachtungs- bedingungen konnten dem weissen Sektor Grössen von etwa 46—53 gegeben werden, ohne dass die rechte im Beobachtungsrohre sicht- bare Fläche meinem Auge deutlich dunkler bzw. heller erschien als die linke. Entsprechende Messungen mit Bienen ergaben mir Folgendes: Grösse des weissen Die Bienen gehen Sektors 75° nach rechts 309 nach links 60 9 nach rechts 40° nach links 55 verteilen sich gleichmässig 45 verteilen sich gleichmässig 35° nach lınks 659 nach rechts Die mit dieser Methode erhaltenen Ergebnisse stehen somit in bestem Einklange mit den vorher am Tunnel erhaltenen. Aus beiden Versuchsreihen ergibt sich übereinstimmend folgendes: Messende Untersuchung des Lichtsinnes der Biene. 299 Die Bienen reagieren auf nahezu die kleinsten Lichtstärkenunterschiede, die für das unter ähnlichen Bedingungen sehende Menschenauge noch eben als Helligkeitsunterschiede wahrnehmbar sind; die Unter- schiedsempfindlichkeit!) des Bienenauges für Hellig- keiten ist also jener des menschlichen Auges ähnlich oder gleich. Damit ist zum ersten Male eine wichtige Ähnlichkeit bzw. Über- einstimmung zwischen dem Lichtsinne der Biene und jeuem des Menschen messend festgestellt; und da die fraglichen Reaktionen schon bei sehr kleinen Lichtstärkenunterschieden genügend deutlich sind, wird es auf dem eingeschlagenen neuen Wege möglich, das Ver- halten der Bienen auch gegenüber farbigen Lichtern messend ge- nauer zu verfolgen. 2. Nachweis der totalen Farbenblindheit der Bienen mit der Methode der farbigen Flächen. Seit einer Reihe von Jahren habe ich in grossem Umfange Be- obachtungen über die Wirkung farbiger Lichter auf die Bienen vor- genommen, teils im Spektrum, teils mit farbigen Glaslichtern, teils mit farbigen Papierflächen. Ich berichtete schon früher (1912) ?), dass Bienen, die ich in passender Weise den Lichtern eines Spek- trums aussetzte, sich vorwierend in der Gegend des Gelberün bis Grün sammeln und sich somit hier wie auch bei anderen Spektrum- versuchen so, wie total farbenbliude Wesen und durchaus anders verhalten, wie farbentüchtige oder partiell farbenblinde Wesen sich verhalten würden. Weiter beschrieb ich (1913) ?) kurz ein Verfahren, das auch dem Laien ermöglicht, ohre besondere Hilfs- mittel einen Teil der wichtigsten einschlägigen Erscheinungen aus eigener Anschauung kennen zu lernen. Der Glasbehälter mit den Bienen wird dabei ähnlich so, wie es Fig. 7 zeiet, von zwei einander 1) Es ist nicht zu vergessen, dass die kleinsten Lichtstärkenunterschiede, die bei den Bienen Reaktionen auslösen, nicht auch die kleinsten von ihnen eben wahrgenommenen zu sein brauchen; die Unterschiedsempfindlichkeit der Bienen für Helligkeiten ist also sicher nicht kleiner, vielleicht aber noch etwas grösser, als den hier gefundenen Werten entspricht. 2) Vgl. C. Hess, Vergleichende Physiologie des Gesichtssinnes S. 106. 3) C. Hess, Experimentelle Untersuchungen über den angeblichen Farben- sinn der Bienen. Zool. Jahrb. Abt. f. allg. Zool. u. Physiol. Bd. 34 H.1 S. 101. 300 C. Hess: gegenüberliegenden Seiten durch zwei passend zum Tageslichte auf- gestellte farbige bzw. graue Papierflächen (quadratische Kartons von 40 cm Seitenlänge) bestrahlt. Man überzeugt sich leicht, dass auch bei diesen Versuchen die Bienen sich so verhalten, wie unter ent- sprechende Bedingungen gebrachte total farbenblinde Menschen sich verhalten würden, die sich bestrebten, immer zum Hellen zu gehen. Im folgenden wird gezeigt, wie man auch dieses verhältnis- mässig einfache Verfahren zu genauen messenden Untersuchungen benützen und damit den zahlenmässigen Nachweis der Un- haltbarkeit der Annahme eines Farbensinnes bei Bienen führen kann. Dass die Bienen einen dem unsrigen, normalen, vergleichbaren F arbensinn hätten, wird heute nicht mehr geglaubt, nachdem selbst die entschiedensten Vertreter der Sprengel’schen Lehre sich mir bereits in einer Reihe der wesentlichsten Punkte angeschlossen und mir unter anderem zugegeben haben, dass die Bienen Rot und Blau- grün nicht von Grau zu unterscheiden vermögen. Dacegen meint man noch die Annahme vertreten zu können, die Bienen sähen wenigstens Blau und Gelb, verhielten sich also im wesentlichen so, wie ein partiell farbenblinder Mensch, und zwar wie ein relativ blau- sichtiger Rotgrünblinder (sogenannter Rotblinder oder Protanop). Mit der Methode der farbigen Papierflächen lässt sich, wie das Folgende zeigt, die Irrigkeit auch dieser Annahme leicht dartun. Kwald Hering hat bekanntlich gezeigt), dass die Helligkeit einer farbigen Empfindung nicht nur durch die Helligkeit ihrer farb- losen Komponente bedinet ist, sondern auch sehr wesentlich und bei satten Farben hauptsächlich von der farbigen Komponente abhängt. „Je mehr letztere im Vergleiche zur farblosen Komponente ins Ge- wicht fällt, je deutlicher sie also ist, und je gesättigter dementsprechend die farbige Empfindung, desto mehr wird die Helligkeit bzw. Dunkel- heit der Gesamtempfindung durch ihre farbige Komponente bestimmt. Eine rote Komponente des optischen Reizwertes einer Strahlung wirkt erhellend, und zwar um so mehr, je gesättigter die Farbe der Em- pfindung ist; noch stärker erhellend wirkt bei gleicher Deutlichkeit oder Sättigung der Farbe eine gelbe Komponente. Verdunkelnd da- gegen wirkt eine grüne Komponente und noch stärker verdunkelnd 1) E. Hering, Zur Lehre vom Lichtsinn. 1874, und Untersuchung eines total Farbenblinden. Arch. f. d. ges. Physiol. Bd. 49. 1891. Messende Untersuchung des Lichtsinnes der Biene. 301 eine blaue. Farbige Strahlungen von gleicher weisser Valenz können uns dementsprechend verschieden hell erscheinen, um so heller, je röter oder gelber, um so dunkler, je grüner oder blauer sie für unser Auge sind.“ Einen Maassausdruck für die Helliekeit, in der wir eine farbige Fläche sehen, können wir in der Weise erhalten, dass wir am Farben- kreisel durch Mischen eines weissen und eines schwarzen Sektors von passender Grösse ein Grau herstellen, das unserem normalen Auge mit der farbigen Fläche gleich hell erscheint. Wir ermitteln so die weisse Valenz des mit der Farbe eleich hellen Grau. Die weisse Valenz der Farbe selbst entspricht dem Hellig- keitswerte, den die Farbe für das total farbenblinde und für das normale, dunkel adaptierte, bei entsprechend herabgesetzter Licht- stärke beobachtende Menschenauge zeist; wir ermitteln sie, indem wir zum Beispiel vom total Farbenblinden am Kreisel aus Schwarz und Weiss das ihm mit der farbigen Fläche gleich hell erscheinende Grau herstellen lassen. Die folgenden Beispiele geben eine Vorstellung von der Grösse der Verschiedenheit zwischen diesen Werten, also auch von der er- hellenden Wirkung des Gelb und der verdunkelnden Wirkung des Blau. Das einem orangefarbigen Papier für mein Auge gleich hell er- scheinende Grau erhielt ich am Kreisel durch Mischen von 145° Weiss mit 215° Schwarz!). Dem total Farbenblinden erscheint dieses Grau viel heller als die orangefarbige Fläche; er stellt ein dem Orange gleich helles Grau her durch Mischen von 36° Weiss und 324° Schwarz. Dem farbentüchtigen Auge erscheint dieses Grau viel dunkler als das Orange. Um für die bei den folgenden Versuchen benutzte blaue Fiäche ein gleich helles Grau herzustellen, musste für den Farbentüchtigen dem weissen Sektor eine Grösse NONKELWaRR NE ee al ee ne ll‘. für den total Farbenblinden dem weissen Sektor eine Grösse VON LEE WAR Re Se Re gegeben werden. 1) Ich gebe jeweils die Mittelwerte aus einer grösseren Zahl solcher Be- stimmungen. 302 C. Hess: Um für die zu den Versuchen benutzte gelbe Fläche ein gleich helles Grau herzustellen, musste dem weissen Sektor für den Farbentüchtigen eine Grösse von . . . 240°, für den total Farbenblinden eine solche von . . 132° gegeben werden. Die weisse Valenz des bei diesen Kreiselmischungen benutzten schwarzen Papiers betrug 6°; daraus berechuet sich £ Die weisse a2 Valenz des gleich hellen Grau weisse Valenz Für das Blau ca. 100° | etwa 45 Für das Gelb | 242 2 136 ° Die weissen Valenzen des mit der blauen und der gelben Fläche gleich hellen Grau sind für den Rotblinden oder Protanopen, für den ja die blauen, gelben und weissen Valenzen der farbigen Lichter mit jenen für den normalen (annähernd oder ganz) überein- stimmen, von jenen für unser Auge nicht merklich verschieden, wovon ich mich noch durch besondere Versuchsreihen an zwei Rot- blinden überzeugte (vgl. hierüber auch den folgenden Abschnitt S. 314). Da somit die blaue Fläche, die einem Rotblinden mit einer bestimmten grauengleichhellerscheint, von einem total Farbenblinden viel heller gesehen wird als dieses Grau, und da ein Umgekehrtes für die gelbe Fläche gilt, so musste bei der grossen Empfindlich- keit der Bienen für Helligkeitsunterschiede durch Herstellung soleher Gleichungen die Frage sich ent- scheiden lassen, ob die Tiere den fraglichen Flächen gegenüber sich so wie rotgrünblinde („rotblinde“) oder wie total farbenblinde Menschen verhalten; denn im ersten Falle müssen für das dem benutzten Blau bzw. Gelb gleich wirkende Grau ganz andere Werte gefunden werden wie im zweiten. Schon die ersten einschlägigen Versuchsreihen gaben die ent- scheidende Antwort auf die gestellte Frage. Ich ging so vor, dass ich den Bienenbehälter in der durch Schema Fig. 8 wiedergegebenen Weise einerseits mit der farbigen (blauen bzw. gelben) Fläche # bestrahlte, andererseits mit einer gleich grossen Fläche @ farblos Messende Untersuchung des Lichtsinnes der Biene. 303 srauen Papiers von bekannter weisser Valenz!); letztere hatte ich für eine grosse Reihe von meinen grauen Papieren am Farbenkreisel in der üblichen Weise genau bestimmt. Die Versuche wurden mit immer neuen Tieren häufig wiederholt. wobei ich die farbige Fläche bald rechts, bald links aufstellte und zwischen zwei Versuchen vor beide Seiten des Behälters schwarze Kartons vorschob und das Ver- halten der Bienen bei Wegziehen derselben beobachtete. O Fig. 8. Ich gebe zwei Protokolle über Versuche mit gelben und blauen Flächen ausführlicher wieder. I. Auf der einen Behälterseite befindet sich die gelbe Fläche, für welche die weisse Valenz — 136°, die weisse Valenz des unserem Auge gleich hellen Grau — 242° ist. Auf der anderen Behälterseite befinden sich bei verschiedenen Versuchen verschieden hell graue Flächen, deren weisse Valenz in der Übersicht angegeben ist. Die Bienen laufen lebhaft nach dem Gelb. 102°: Ebenso. [ Die Bienen zeigen keine „ 5 5 a „. 122°:2 deutliche Neigung, nach t einer Seite hin zu laufen. 123°: Ebenso. 160°: f Die Bienen laufen lebhaft “"\ nach dem Grau. 262°: Ebenso. Weisse Valenz der grauen Fläche 96°: ! ” ” 2 ” ” ” n ” N” ” ” ” n ” ” II. Auf der einen Seite des Bienenbehälters steht die blaue Fläche, für welche die weisse Valenz — 100°, die weisse Valenz des unserem Auge gleich hellen Grau — 45° ist. Auf der anderen Seite befinden sich wieder bei verschiedenen Versuchen verschieden hell graue Flächen. 1) Die Flächen waren von einer grossen Fensteröffnung O gleichmässig belichtet. Passende Kartons hielten von dem Bienenbehälter B störendes Licht ab. 304 C. Hess: E L % Die Bienen laufen stark Weisse Valenz der grauen Fläche 34°: nach dem Blau. r 35°: Ebenso. 56°: Ebenso. 1 70°: Ebenso. f Die Bienen zeigen keine IHDE deutliche Neigung, sich auf ı einer Seite zu sammeln. .$ Die Bienen laufen stark N nach dem Grau. In den bisher beschriebenen Versuchen musste ich mich beim Gebrauche grauer Flächen auf die im Handel erhältlichen grauen Papiere beschränken. Nachdem ich die erstaunliche Unterschieds- empfindlichkeit der Bienen für Helligkeiten kennen gelernt hatte, war es behufs noch genauerer Messung der Helligkeitswerte farbiger Papiere für das Bienenauge wünschenswert, mit einer viel grösseren Zahl von Zwischenstufen zwischen hell- und dunkelgrauen Flächen zu arbeiten bzw. jedes beliebige Grau zur Vereleichung mit dien farbigen Flächen in ihrer Wirkung auf das Bienenauge zur Ver- fügung zu haben. Ich benutzte dazu das im ersten Abschnitte auf S. 297 beschriebene und abgebildete Verfahren. Auf der linken Seite des die Bienen umschliessenden Gehäuses wurde die jeweils zu untersuchende farbige Fläche, auf der rechten der Kreisel mit schwarzem und weissem Sektor aufgestellt, die Grösse des weissen Sektors von Versuch zu Versuch variiert und so ermittelt, inner- halb welcher Grenzen die farbige Fläche in ihrer Wirkung auf die Beweguneen der Bienen durch die farblos graue ersetzt werden kann. I. Auf der linken Seite steht eine dunkel blaue Fläche; dem total Farbenblinden erscheint diese gleich mit einem Grau, das am Kreisel durch Mischung von 99° Weiss mit 261° Schwarz hergestellt wird. Die Bienen zeigen folgendes Verhalten: ol 120° nach dem Blau nach dem Grau Grösse des | weissen Sektors | Die Bienen gehen am Kreisel 125 | nach dem Grau SI | nach dem Blau 130 | nach dem Grau 105 ® | verteilen sich gleichmässig 859 | nach dem Blau 100 | verteilen sich gleichmässig la | nach dem Grau | Messende Untersuchung des Lichtsinnes der Biene. 305 II. Auf der linken Seite steht ein Gelb, das dem total Farben- blinden gleich erscheint mit einem aus 115° Weiss und 245 ® Schwarz gemischten Grau. Die Bienen zeigen folgendes Verhalten: Grösse des weissen Sektors Die Bienen gehen am Kreisel 60 ° nach dem Gelb 120° | verteilen sich gleichmässig 100 ° | nach dem Gelb 130 ein wenig nach dem Grau 140 nach dem Grau 105° nach dem Gelb 135 ° nach dem Grau 125 verteilen sich gleichmässig 145 nach dem Grau Die in dem vorstehenden Abschnitte mitgeteilten Versuche !) lehren folgendes: 1. Ein Gelb, das für normale und für „rotblinde“ Menschenaugen mit einem bestimmten Grau gleich hell erscheint, ist für die Bienen ebenso wie für das total farbenblinde Menschenauge viel dunkler als dieses Grau. 2. Ein Blau, das für normale und für rotblinde Menschenaugen mit einem bestimmten Grau gleich hell erscheint, ist für die Bienen ebenso wie für das total farbenblinde Menschenauge viel heller als dieses Grau. 3. Eine blaue und eine gelbe Fläche, die dem total farbenblinden Menschenauge gleich hell erscheinen, wirken auch auf die Bienen wie gleich helle Flächen, während dem normalen und dem rotblinden Menschenauge die gelbe Fläche viel heller erscheint als die blaue. 4. Damit ist die von zoologischer Seite immer wieder vertretene Behauptung endgültigerledigt, die Bienen verhielten sich im wesentlichen wie rotblinde Menschen; sehen wir doch, dass das Ver- halten der Bienen von dem eines rotblinden Menschen 1) Ausser den hier beschriebenen habe ich weitere systematische Versuche noch mit zahlreichen anderen farbigen Flächen (Rot, Orange, Blaugrün, Violett usw.) angestellt; bei allen zeigte sich übereinstimmend, dass die farbigen Flächen auf die Bienen ebenso wirkten wie graue Flächen, die dem total farbenblinden Menschenauge mit den farbigen gleich hell erscheinen. Pflüger’s Archiv für Physiologie, Bd. 162. 21 306 Gates; durchaus und in ganz charakteristischer Weise verschieden, dagegen dem eines total farbenblinden sehr ähnlich oder gleich ist. Zum Nachweise der totalen Farbenblindheit der Schmetter- linge. Ein befreundeter Physiologe deutete mir gelegentlich an, er könne sieh nicht denken, dass auch die Schmetterlinge total farben- blind seien. Dies veranlasste mich, weitere einschlägige Beobachtungen an solchen zu machen; ich schildere im folgenden nur einige leicht zu wiederholende Versuche, die sich eng an die für Bienen be- schriebenen anschliessen: Ich brachte 20—30 Puppen von Pieris brassicae und von Polyxena in einen angenähert kubischen Glas- behälter von ca. 25 cm Seitenlänge mit Drahtnetzdeckel. Wenn eine grössere Zahl der Tiere ausgeschlüpft war, wurde der Behälter an einen genügend warmen Ort in der Nähe des Fensters gestellt und Vorder- und Oberseite durch schwarze Kärtons vor direkt ein- fallendem Lichte geschützt (man nimmt diese Kartons zweckmässig einige Zentimeter breiter als der Glasbehälter, um Einfallen des direkten Tageslichtes durch die Seitenwände des Behälters zu ver- hüten). Nun stellte ich wieder links und rechts vom Behälter in einem Abstande von ca. 10—20 em unter einem Winkel von 45° zur Ebene des Fensters je einen der vorher erwähnten grossen mattfarbigen Kartons auf. Ich konnte mit einer Gruppe solcher Tiere eine Woche hindurch zahlreiche Versuche anstellen, bei welchen ich wieder die mannigfachsten Kombinationen farbiger und grauer Flächen durchprüfte. Regelmässig flogen alle oder fast alle Schmetterlinge auf die für den total farben- blinden Menschen hellere Fläche zu, einerlei wie diese dem normalen Menschenauge erschien. Wurden, nachdem die Tiere sich an einer Seite gesammelt hatten, die Kartons rasch vertauscht, so waren nach nicht langer Zeit die meisten Tiere auf die gegenüber- liegende Seite des Behälters gegangen, die jetzt der für sie helleren Fläche zugekehrt lag. Bei den beständig lebhaft laufenden und fliegenden Bienen erfolgt die Ansammlung auf der helleren Seite fast augenblicklich nach Aufstellen der Kartons; bei den von mir benutzten Schmetterlingen kann dies gelegentlich einige Minuten dauern, da sie zunächst oft einige Zeit an irgendeiner Stelle ihres Behälters sitzen bleiben; dann aber fängt in der Regel dieser oder Messende Untersuchung des Lichtsinnes der Biene. 307 jener an zu flattern, bringt daduch andere in Unruhe, und nun flattern alle oder fast alle nach der für den total Farbenblinden helleren Seite. Niemals habe ich bei meinen zahlreichen Versuchen gesehen, dass die Schmetterlinge sich an einer für den total Farben- blinden weniger helleren Seite gesammelt hätten. Im wesentlichen gleiche Ergebnisse hatte ich früher (1912) mit anderen, etwas weniger eindringlichen Methoden bei Vanessa Jo erhalten. Dass viele Raupen sich durchaus so wie total farbenblinde Menschen verhalten, konnte ich mit verschiedenen Methoden unschwer feststellen; ich habe darüber früher eingehend berichtet '). Es ist wohl möglich, dass bei systematischer Fortsetzung der hier geschilderten Versuehe sieh Schmetterlingsarten finden lassen, die zu genaueren Messungen noch geeigneter sind als die bisher von mir benutzten; jedenfalls wird man so unschwer feststellen können, ob es Schmetterlinge gibt, die sich anders verhalten als wie total farbenblinde Menschen. Für die bisher von mir untersuchten Schmetter- lingsarten lehren die mitgeteilten Beobachtungen, dass auch ihre Sehqualitäten jenen des total farbenblinden Menschen ähnlich oder gleich sind, dass auch sie also sicher nicht durch die Farbenpracht der Blüten zum Besuche der letzteren angelockt werden. Ähnlich wie die Schmetterlinge verhielten sich einige von mir in gleicher Weise untersuchte Libellen. 3. Objektiver Nachweis der totalen Farbenblindheit der Bienen mit Hilfe des Differential-Pupilloskops. Im vorhergehenden Abschnitte wurden Methoden entwickelt, durch welche das Verhalten der Bienen zum Lichte zu den Helligkeits- empfindungen normaler und farbenblinder Menschen in Be- ziehung gebracht und mit diesen messend verglichen werden kann. Es ist mir möglich gewesen, den Nachweis der totalen Farben- blindheit der Bienen auch unabhängig von einer solchen Bezugnahme auf unsere subjektiven Helliekeitsempfindungen zu führen, indem ich jene objektiven Lichtreaktionen der Tiere zu objek- tiven Lichtreaktionen im Menschenauge, und zwar zum Pupillenspiele in Beziehung brachte. Bei anderweitigen physiologischen Untersuchungen über das 1) Vergleichende Physiologie des Gesichtssinnes S. 90 und 9. 21* 308 C. Hess: Pupillenspiel hatte sich mir das Bedürfnis geltend gemacht, die kleinsten Liehtstärkenunterschiede messend zu bestimmen, die in ge- sunden und kranken Menschenaugen eben merkliche Pupillenver- änderung hervorrufen. Dies gelang mir, indem ich ein angenähert farbloses konstantes und ein kontinuierlich variables Reizlicht von gleicher physikalischer Zusammensetzung in raschem Wechsel auf die zu untersuchende Pupille wirken liess. Das von mir zu diesem Fig. 9. Zwecke konstruierte „Differential-Pupilloskop‘ !) erwies sich auch für meine vergleichenden Lichtsinnversuche in besonderem Maasse geeignet, sobald ich das farblose konstante Reizlicht durch ein frei farbiges ersetzte. Ich berichte über den an anderer Stelle ausführ- licher beschriebenen Apparat nur. so weit, als zum Verständnisse des Folgenden. erforderlich ist (vel. Fig. 9). Von der Nernstlampe a wird durch ein in dem Rohre 5 be- findliches Linsensystem vermittels einer bei c unter einem Winkel l) Dasselbe wird von C. Zeiss in Jena hergestellt. Messende Untersuchung des Lichtsinnes der Biene. 309 von 45° angebrachten Spiegelvorrichtung vor der Frontlinse des Apparates eine angenähert kreisrunde Fläche gleichmässig und stark belichtet. Ein vor der Frontlinse befindlicher Doppelrahmen d ent- hält in seiner oberen Hälfte einen Schieber mit verschiedenen farbigen Gläsern!), in der unteren Hälfte zwei gegeneinander messbar ver- schiebliche spitzwinkelige Keile aus rauchgrauem Glase. Vermittels des Hebels % kann der Rahmen leicht so gehoben und gesenkt werden, dass bald eines der farbigen Gläser, bald das Graukeilpaar sich vor Frontlinse befindet, so dass die Pupille des untersuchten Auges bald mit farbigem, bald mit einem mehr oder weniger licht- starken angenähert farblos grauen Lichte bestrahlt ist. Man sucht nun, indem man die Pupille mittels des Fernrohres f beobachtet, zunächst für die verschiedenen farbigen Lichter jene Stellung der Graukeile auf, bei der die Hebelverstellung nicht zu einer deutlichen Verengerung oder Erweiterung der Pupille führt ?). Die Stellung der Graukeile wird an einer unter ihnen angebrachten Skala abgelesen; daraus ergibt sich die Menge des jeweils von den Keilen durchgelassenen Lichtes in Prozenten der auffallenden Licht- menge. Das Folgende zeigt, wie überraschend genau auf diesem Wege die pupillomotorischen Reizwerte der farbigen Lichter be- stimmt werden können. Zunächst bestimmte ich in grösseren Versuchsreihen diese mo- torischen Reizwerte für das normale, für das rotblinde („protanopische“) und für das total farbenblinde Menschenauge®?). Die nachstehende Tabelle (S. 310) zeigt, dass das „rotblinde“ Auge vom normalen sich ins- besondere durch den verhältnismässig geringen motorischen Reizwert roter Lichter unterscheidet (1,5—2,2 °/o beim Rotblinden gegenüber 9—11°/o beim Normalen). Dagegen haben die blauen Lichter für die von mir untersuchten rotblinden Augen ähnliche oder die gleichen motorischen Reizwerte wie für normale. l) Die zu meinen Messungen benutzten farbigen Gläser waren von sehr grosser Sättigung, ihre Durchlässigkeitsfaktoren genau bestimmt. 2) Auf Einzelheiten, die hierbei zu beachten sind, kann hier nicht ein- gegangen werden. 3) Auf das Verhalten der sogenannten Grünblinden („Deuteranopen“) brauche ich hier nicht einzugehen; die pupillomotorischen Reizwerte der verschiedenen farbigen Lichter sind nach meinen bisherigen Messungen bei diesen Farbenblinden von jenen für den Normalen nur wenig oder gar nicht nachweislich verschieden. 310 C. Hess: Zusammenstellung der pupillomotorischen Reizwerte der farbigen Glaslichter für eine Reihe von Tieren. (Die Zahlen geben die zu den motorischen Gleichungen erforderlichen Mengen des Messlichtes in Prozenten der Lichtstärke der Lichtquelle. Bel blau sichtiger _ Total | & Mensch Rotgrün- | Farben- Affe Tagvogel normal blinder blinder (Taube) („Rothlinder“) Be. Ss | 1502| 06 ml, 203095 Orange... 22% 16,5 —20,4 | 11,8— 13,2 6 19,4 18—22 Bläuliches Grün... 14—15 ds 0 24 14,8 7,9—8,8 Blau ea 15—25 | 2-3 | 99-118 | 2-3 0,8—0,9 (Fortsetzung.) W © ; | een | Ohrenle) Hund Katze | Kaninchen | Sepia Roter 09 LE | 08-15 <12 <0,6 Oranger au... 99—11,1 11,1—124 | (48) | 45—1,3 — Bläuliches Grün 19,45 7 48 | (483) |148-—194| - Blau ea 174—88 | 4,5—6 395—94 | 7,3—10,4 | 9,3—11,8 | | | Für das total farbenblinde Menschenauge sind, wie die Tabelle lehrt, die pupillomotorischen Reizwerte in charakte- ristischer Weise sowohl vom normalen wie vom „rot- blinden“ Auge verschieden: insbesondere ist der ausserordentlich kleine motorische Reizwert des Rot und der verhältnismässig grosse motorische Reizwert des Blau hervorzuheben, worin eben wieder die Tatsache zum Ausdrucke kommt, dass einem solchen Auge ein für uns helles Rot sehr dunkel, ein für uns viel dunkleres Blau aber wesentlich heller erscheint als jenes Rot. Unser Apparat ge- stattet zum ersten Male, einen objektiven, messenden Ausdruck für diese Verschiedenheiten zu gewinnen. Ich füge noch kurz die Ergebnisse einer Reihe von Messungen an, die ich mit dem Pupilloskop an den Pupillen verschiedener Säuger, Vögel und Cephalopoden gewonnen habe. In der folgenden Tabelle ist noch das Verhältnis der motorischen Reizwerte von Rot und Blau für verschiedene Tiere zusammengestellt. Messende Untersuchung des Lichtsinnes der Biene, 311 Verhältnis der motorischen Reizwerte des roten und blauen Lichtes. . (Mittelwerte.) Mensch Vogel aa 1n- £ R nor- rot- total Tag- | Nacht- Kaize chen Saul || Pad: maler | blinder | farbenbl. | vogel | vogel 5 | 0,7 <00n 1072.02 | 0,25 | <0,14 | <0,057 | < 0,06 Zur Erläuterung dieser Werte muss hier folgendes genügen. Einen höheren Wert für das Verhältnis — als beim Menschen finden wir beim Tagvogel, und zwar deshalb , weil hier der mo- torische Reizwert für Blau, wie ich früher zeigte, aus physikalischen Gründen — Vorlagerung roter und gelber Öl-Kugeln vor die licht- empfindlichen Elemente der Netzhaut — sehr klein ist. Beim Nachtvogel ist das Verhältnis zwar klein, aber doch noch merk- R Bl lich grösser als beim total farbenblinden Menschen. Dies steht mit der Annahme im Einklang, dass beim Nachtvogel die Seh- qualitäten jenen des total farbenblinden Menschen ähnlich, aber nicht gleich sind, dass er die uns frei farbig erscheinenden Lichter noch farbig, aber verhältnismässig stark mit Weiss verhüllt sieht. Ähnliches gilt nach unseren neuen Messungen für Katze und Kaninchen. Bei allen von mir untersuchten Wirbellosen da- gegen ist das Verhältnis A jenemfür dentotalFarben- blinden merklich genau gleich und von jenem für den „rotblinden“ Menschen grundversehieden. — Aber nicht nur mit Hilfe des Pupillenspieles gibt uns der neue Apparat Aufschluss über die Sehqualitäten der Tiere. Ich habe schon früher gezeigt!), in welcher Weise mit ihm zum Beispiel die von mir gefundenen interessanten Bewegungserscheinungen, die bei Be- schattung von Seeigeln auftreten, messend untersucht werden können; das Folgende lehrt, wie überraschend genaue Messungen über den Lichtsinn der Bienen mit dem Apparate möglich werden. Die Messung der motorischen Reizwerte farbiger Lichter. für das Bienenauge mit Hilfe des Differential-Pupilloskopes nahm ich in der folgenden Weise vor: 1) C. Hess, Untersuchungen über den Lichtsinn bei Echinodermen. Arch. f. d. ges. Physiol. Bd. 160 S. 19. 1914. 312 C. Hess: Das Pupilloskop wird mit dem im ersten Abschnitte beschriebenen Tunnel in der Weise verbunden, wie es Fig. 10 und Schema Fig. 11 zeigt; die im Ausschnitte 5 in der Tunnelmitte aufgestellten Tiere werden von rechts her mit dem Licht der Lampe 7,;, von links her mit dem Lichte des Pupilloskops bestrahlt; in der linken Tunnel- Fig. 10. | Tı Ta | | AU Or | | Fig. 11. | hälfte 7, befindet sich bei diesen Versuchen keine Lampe. Je 20—40 Bienen werden frisch vom Stocke in einem ca. 10 em breiten, 20 em \ langen, 10 em hohen Gefässe aus Spiegelglas so in die Tunnelmitte gebracht, dass die beiden Längsseiten des Gefässes in ihren mittleren Teilen in einem durch den Ausschnitt aus einer schwarzen Blende gebildeten ovalen Bezirke von etwa 6x3 cm von den miteinander zu vergleichenden Lichtern getroffen werden. Messende Untersuchung des Lichtsinnes der Biene. 313 Nachdem wieder zwischen je zwei Versuchen die Bienen durch ein an die vordere Schmalseite gehaltenes Taschenlämpchen an dieser Behälterstelle gesammelt sind (s. oben), wird die Taschenlampe rasch ausgeschaltet und nun beobachtet, ob die Bienen mehr Neigung zeigen, nach dem vom Pupilloskop A kommenden oder nach dem Ver- gleichslichte 7, zu laufen. An genügend frischen Tieren erhält man bei häufiger Wiederholung überraschend gut übereinstimmende Er- gebnisse. Vielfach ging ich so vor, dass ein Mitarbeiter die Ver- stellung der Graukeile am Pupilloskop vornahm, ohne mir Richtung und Umfang der Verstellung anzugeben; erst nachdem ich verzeichnet hatte, nach welcher Seite die Tiere gingen, wurde mir die Einstellung bekannt gegeben; auf diese Weise war also jede Selbsttäuschung ausgeschlossen. Ich gebe von einer grösseren Reihe solcher Messungen nur eine ausführlicher wieder, um eine Vorstellung vom Gange der Unter- suchung im einzelnen und von den Grenzen zu geben, innerhalb deren bei solchen Versuchen noch eine genauere Beobachtung möglich ist. Am Pupilloskop ist zunächst die blaue Glasplatte F' vorgesetzt; die Lampe 7, im Tunnel wird so lange verschoben, bis die Bienen sich angenähert gleichmässig nach beiden Seiten ihres Behälters ver- teilen, in diesem Abstande bleibt sie während der ganzen folgenden Versuchsreihe stehen. Nun wird am Pupilloskop an Stelle der blauen Glasplatte das Graukeilpaar @ vorgeschaltet, die gegenseitige Stellung der Keile von Versuch zu Versuch variiert und jedesmal ermittelt, ob die Bienen nach rechts oder links laufen. Jene Stellung der Graukeile, bei der die Tiere nicht deutlich nach rechts oder links gehen, sich vielmehr angenähert gleichmässig in ihrem Behälter ver- teilen (in den Tabellen mit „gleich“ bezeichnet), gibt uns den motorischen Reizwert des blauen Glaslichtes für die Bienen. (Die Zahlen geben die jeweils von den Keilen durchgelassenen Lichtmengen in Prozenten der Lichtstärke des auffallenden Lichtes.) 19,4°/o zu hell | 19,4 °/o zu hell 6,0°/o deutlich zu dunkel | 11,1°/o gleich 8,3 /o gleich | 6,0% zu dunkel 14,8 °/o zu hell | 2,6°/o viel zu dunkel 4,5 °/o deutlich zu dunkel 8,3°/o Spur zu dunkel 11,1°/o gleich 25,0% viel zu hell 6,0% zu dunkel 314 C. Hess: Die Messung ergibt also, dass das von den Graukeilen durch- selassene Licht, wenn dessen Menge 8,30 betrug, auf die Bienen einmal angenähert gleiche Wirkung wie das Blau hatte, ein andermal etwas geringere; bei einer Lichtstärke —=11,1°/o wirkte das von den Graukeilen durehgelassene Licht wiederholt gleich stark auf die Bienen wie das Blau. Diese Werte entsprechen fast genau dem mittleren pupillomotorischen Reizwerte des gleichen blauen Glaslichtes für den total farben- blinden Menschen (9,9—11,S ’o). Für die Pupillen des normalen und des rotblinden Menschen ist der motorische Reizwert dieses Blau =1,5—3 /o. Die Versuchsreihe zeigt aber, dass bereits Lichtstärken von 6°/o oder weniger für die Tiere deutlich geringeren Reizwert haben als das Blau. Wiederholt stellte ich dasfür den Rotblinden mit dem Blau motorisch gleichwertige Grau von 2—3° am Apparat ein und über- zeugte mich, dass dann die Tiere regelmässig lebhaft von diesem Grau weg und auf das Blau zueilen, das also für sie viel heller ist als jenes Grau. Entsprechende Messungen nahm ich unter anderem mit einem rötlichgelben Glase vor und fand in einer grösseren Versuchsreihe als Mittelwert für das auf die Bienen gleich stark wirkende Grau 6°/o; bei 4,5°/0 war die Wirkung auf die Tiere deutlich geringer, das heisst dieses Grau war für die Bienen dunkler als das rötliche Gelb. 8,3°/ wurden einige Male noch als mit dem rötlichen Gelb gleich stark wirkend, andere Male als etwas stärker wirkend gefunden; alle höheren Lichtstärken wirkten regelmässig viel stärker auf die Tiere, erschienen ihnen also heller als das rötliche Gelb. Beim Normalen entspricht der mittlere pupillomotorische Reizwert für dieses rötliche Gelb 16,5—20,4°%, beim Rotblinden 11,8—13,2°%0. Stellte ich diese Werte am Pupilloskop ein, so er- wiesen sie sich regelmässig als viel stärker wirkend, d. i. viel zu hell für die Bienen. 5 | Total Normaler Rotblinder ' farbenblinder Bienen Mensch Mensch |” Mensch | Rot en, | ga 15200 2 <öß <0$6 Rötlichgelb. . . . 165-904 | 1182182 6 6 Blaue. u 15-950 De | 99-118 | &3—1L1 | \ Messende Untersuchung des Lichtsinnes der Biene. 315 Weitere Messungsreihen nahm ich in der gleichen Weise mit einem frei roten Glaslichte vor. In der Tabelle sind die gefundenen Reizwerte der drei farbigen Lichter für Menschen und Bienen neben- einandergestellt. — Ich darf schon hier kurz erwähnen, dass ich meine Unter- suchungen am Differential-Pupilloskop auch auf Weissfische!) aus- gedehnt und bei oft wiederholten Messungen die gleichen motorischen Reizwerte gefunden habe wie bei den Bienen und den total farben- blinden Menschen. Damit ist auch hier, in Bestätigung meiner früheren Untersuchungen, durch messende Untersuchung der objektive Nachweis der totalen Farbenblindheit dieser Fische erbracht. — Bei der grossen prinzipiellen Bedeutung, die der objektive Nachweis der totalen Farbenblindheit der Bienen nach vielen Rich- Fig. 12. tungen haben muss, ist es vielleicht nicht überflüssig, wenn ich noch ein anderes, verhältnismässig einfaches Verfahren schildere, mit dem sich auch der Anfänger auf diesem Gebiete wenigstens einige der wichtigsten von den hier zum ersten Male beschriebenen Tatsachen ‚vor Augen führen kann; es hat sich mir zu Demonstrationszwecken gut geeignet erwiesen. | Wir benutzen wieder den im ersten Abschnitte beschriebenen Tunnel in soleher Anordnung, dass der Bienenbehälter von unten her in seinen beilen seitlichen Hälften mit zwei voneinander gesondert messbar variablen Lichtern bestrahlt wird (vgl. S. 292 und S. 294). Schema Fig. 12 veranschaulicht das Wesentliche. In dem Ausschnitte in der Mitte des Tunnels sind zwei unter rechtem Winkel zueinander stehende Planspiegel angebracht, die 1) Es handelt sich um die gleiche Art, über die ich früher (Untersuchungen über die Physiologie des Gesichtssinnes der Fische. Zeitschr. f. Biol. Bd. 63) berichtet habe: Jungfische von ca. 1 cm Länge, die ich im Juni am Ufer des Starnberger Sees fing. 316 C. Hess: in einer horizontalen Kante aneinander stossen, welche unmittelbar unter dem Behälterboden so verläuft, dass sie letzteren in zwei gleich grosse quadratische seitliche Hälften von etwa 10 cm Seiten- länge teilt; von diesen wird also die eine von der rechten Tunnel- lampe erhellt, die andere von der linken; unter dem Boden des Behälters liegt ein mit Ölpapier bespannter Rahmen, so dass für die Bienen zwei ziemlich gleichmässig bestrahlte Flächen unter ihren Füssen sichtbar sind. Durch frei farbige Gläser kann jede der beiden Hälften beliebig gefärbt und durch Verschieben der Lampen die Lichtstärke einer jeden von beiden Farben innerhalb weiter Grenzen messbar variiert werden. Von den vielen lehrreichen Versuchen, die mit dieser einfachen Vorriehtung angestellt werden können, sei nur einer als Beispiel beschrieben: Unter der rechten Hälfte des Bodens befindet sich ein blaues, unter der linken ein rotes Glas!). Wenn die linke l6kerzige Lampe in ca. 75 em Abstand, die rechte 5kerzige in ca. 30 em Abstand steht, erscheint das rote und blaue Feld meinem helladaptierten Auge angenähert gleich hell; die aus dem Hellen gebrachten Bienen sind in wenigen Sekunden alle auf der blauen Hälfte versammelt (ähnlich so, wie es Fig. 2 zeigt). Wird die Lampe für das Rot auf etwa 45 em Abstand herangeschoben, so verteilen sich die Bienen angenähert gleichmässig auf beiden Hälften ; meinem Auge erscheint das Rot jetzt leuchtend hell, das Blau sehr viel dunkler. Wird die Lampe für das Rot noch näher heran- geschoben, so ist bald die Mehrzahl der Bienen auf dem Rot ver- sammelt. Häufig wiederholte Versuche ergaben, dass auch auf diese Weise ziemlich genaue Messungen angestellt werden können. Die Beziehungen zwischen den motorischen Reizwerten der beiden farbigen Lichter für die Bienen und jenen für die normale Menschenpupille prüfte ich in diesem Falle mit einer früher von mir angegebenen kleinen Vorrichtung zur entoptischen Beobachtung der Pupille meines rechten Auges; das linke blickt auf die Mitte zwischen dem roten und blauen Felde. Wird ein schwarzer Karton von der halben Grösse des mit Ölpapier bespannten Rahmens auf diesem rasch nach rechts und links verschoben, so fällt in das be- obachtende Auge abwechselnd das Licht von der roten und von der 1) Das Blau erscheint, da das Ölpapier ziemlich viel von den kurzwelligen Strahlen absorbiert, verhältnismässig wenig gesättigt. Messende Untersuchung des Lichtsinnes der Biene. 317 blauen Feldhälfte, und es ist nicht schwer, den Einfluss beider Lichter auf die Pupillenweite entoptisch zu verfolgen: Bei jener Lichtstärke des Rot und Blau, bei der die Bienen sich gleichmässig verteilen, ruft im farbentüchtigen Auge Erscheinen des Rot starke Verengerung, Erscheinen des Blau Erweiterung der Pupille hervor; jene Licht- stärken des Rot und Blau, bei welchen in meinem Auge abwechselndes Erscheinen des Rot und Blau keine merkliche Verschiedenheit des Pupillenspiels zur Folge hat, also das Rot und Blau für mich mo- torisch äquivalent sind, sind für die Bienen nicht äquivalent, viel- mehr hat jetzt das Blau für sie einen viel grösseren motorischen Reizwert als das Rot. Auch auf diesem Wege ist eine miessende Verfolgung der ganzen Frage möglich. — Die in diesem Abschnitte mitgeteilten Messungen mit dem Differential-Pupilloskop lehren folgendes: 1. Ein gesättigt rotes oder rötlichgelbes Licht, das mit einem bestimmten, angenähert farblosen Vergleichslichte für den „rotblinden“ Menschen gleichen motorischen Reizwert hat, hat für die Bienen wie für den total farbenblinden Menschen viel kleineren mo- torischen Reizwert als das farblose Vergleichslicht. Der motorische Reizwert des von mir benutzten Rot ist für Bienen und für total farbenblinde Menschen kaum ein Drittel so gross wie für den „Rotblinden“, der motorische Reizwert meines rötlichen Gelb für die Bienen nur etwa halb so gross wie für den Rotblinden. 2. Ein blaues Licht, das mit einem bestimmten farblosen Liehte für den Normalen und für den Rotblinden motorisch gleichwertig ist, hat für die Bienen wie für den total Farbenblinden wesentlich grösseren motorischen Reizwert als das farblose Licht. Das von mir benutzte Blau zum Beispiel hatte für dieBienen etwa vier- mal grösseren motorischen Reizwert als wie für den Rotblinden. 3. Die motorischen Reizwerte der verschiedenen farbigen Lichter für die Bienen stimmen annähernd oder genau mit den pupillo- motorischen Reizwerten der gleichen Lichter für den total farben- blinden Menschen überein und sind in ganz charakteristischer Weise von jenen für den Rotblinden verschieden. 4. Somit ist auch durch diese messenden Bestimmungen der Lichtreaktionen der Biene und der Pupillenreaktionen des Menschen mit den gleichen farbigen Lichtern die Behauptung widerlegt, die Bienen verhielten sich im wesentlichen so, wie „rotblinde“ Menschen. 318 C. Hess: 4. Zusammenfassung. 1. Bei dem Versuche, Aufschluss über die Sehqualitäten der Bienen zu erhalten, ging ich davon aus, zu ermitteln, ob zwischen dem Lichtsinne der Bienen und jenem des Menschen überhaupt irgend- welche Beziehungen, Ähnlichkeiten oder Verschiedenheiten nachweis- bar sind. Auf diese Frage können die bisherigen Versuche der Zoologen, insbesondere auch deren „Dressuren“ keine Antwort geben, und schon deshalb entbehren auch die Hypothesen, die einen Farben- sinn bei Bienen wesentlich wegen des Vorkommens bunter Blüten- farben annehmen, genügender wissenschaftlicher Begründung. 2. Die systematische Untersuchung des Verhaltens der Bienen gegenüber Lichtern von gleicher physikalischer Zusammensetzung, aber verschiedener Stärke mit Hilfe der im ersten Abschnitte be- sehriebenen photometrischen Methoden lehrt, dass die Bienen durch Ansammlung an der jeweils lichtstärkeren Seite ihres Behälters nahezu auf die kleinsten Lichtstärkenunterschiede reagieren, die vom. menschlichen Auge noch eben als Helligkeitsunterschiede wahrgenommen werden. Es wird so durch messende Untersuchung gezeigt, dass innerhalb eines grossen Gebietes der absoluten Lichtstärken bei den Bienen die Unterschiedsempfindlichkeit für Helligkeiten jener beim Menschen ähnlich oder gleich ist. Damit ist der erste Nachweis einer Ähnlichkeit bzw. Übereinstimmung zwischen den Sehqualitäten der Bienen und jenen des Menschen erbracht. 3. Mit dem Nachweise der feinen Unterschiedsempfindlichkeit der Bienen für Helligkeiten ist die Möglichkeit gegeben, ihr Ver- halten gegenüber verschieden gefärbten Lichtquellen systematisch messend zu verfoleen und damit die Frage nach einem etwaigen Farbensinne der Bienen vom Standpunkte der wissenschaftlichen Farbenlehre in Angriff zu nehmen. 4. Es werden messende Methoden zur Untersuchung der ein- schlägigen Fragen entwickelt. Bei der ersten, mit verhältnismässig einfachen Mitteln auch von Laien leieht nachzuprüfenden, werden mittels verschiedenfarbiger und grauer Papierflächen von bekanntem Helligkeitswerte die Licehtreaktionen der Bienen mit den Hellig- keitsempfindungen des unter entsprechenden Bedingungen sehenden Menschen verglichen. Bei der zweiten Methode ist von der Bezugnahme auf die subjektive Helligkeitsempfindung des Menschen Messende Untersuchung des Lichtsinnes der Biene. 319 abgesehen; bei ihr werden die bei Bestrahlung mit farbigen Lichtern auftretenden Lichtreaktionen der Tiere mit objektiven Licht- reaktionen beim Menschen verglichen, und zwar mit den bei Belichtung normaler, partiell und total farbenblinder Menschenaugen mit den gleichen farbigen Lichtern auftretenden Pupillen- reaktionen. Es ergibt sich übereinstimmend folgendes: Zwei beliebige farbige Lichter, die für die Bienen gleichen mo- torischen Reizwert besitzen, sind auch für das total farbenblinde Menschenauge pupillomotorisch gleich- wertig und umgekehrt. Dagegen sind die motorischen Reizwerte der verschiedenen farbigen Lichter für die Bienen in ganz cha- rakteristischer Weise von den motorischen Reizwerten verschieden, die die gleichen farbigen Lichter für das normale und für das partiell farbenblinde Menschenauge haben. Die Verschieden- heit zwischen den Bienen und den Rotblinden ist der Art und dem Grade nach gleich jener zwischen dem total Farbenblinden und dem Rotblinden. 5. Die Untersuchungen mit Lichtern des Spektrums, mit farbigen Glaslichtern und mit farbigen Papieren führen somit, sämtlich über- einstimmend, zu dem Ergebnisse, dass die Sehqualitäten der Bienen jenen des total farbenblinden Menschen sehr ähnlich oder gleich, dagegen von jenen des normalen und despartiellfarben- blinden, insbesondere auch dessogenannten rotblinden Menschen durchaus und in ganz charakteristischer Weise verschieden sind. 6. Die Wirkung eines jeden, auch des gesättigtesten farbigen Lichtes auf die Bewegungen der Bienen ist gleich der Wirkung eines farblosen Lichtes von passender Lichtstärke. Die Grenzen, innerhalb deren ein farbiges Licht für die Bienen durch ein farbloses von entsprechender Lichtstärke ersetzt werden kann, entsprechen genau oder nahezu genau den Grenzen, innerhalb derendas farbige Licht für das total farbenblinde Menschenauge dem be- treffenden farblosen Lichte gleich ist; sobald die Licht- stärke des farblosen Lichtes so weit gesteigert (oder vermindert) wird, dass es dem total farbenblinden Menschenauge heller (oder dunkler) erscheint als das farbige, zeigt sich eine entsprechende Verschiedenheit auch in der Wirkung auf das Bienenauge. 320 C. Hess: Messende Untersuchung des Lichtsinnes der Biene. Damit ist auch die von zoologischer Seite noch vertretene, auf unzulängliche und leicht zu wider- legende „Dressurversuche“ sich stützende Annahme einer Rotgrün-Blindheit derBienen endgültig erledigt. 7. Durch die in der vorliegenden Abhandlung mitgeteilten neuen Messungen ist auch der Nachweis erbracht, dass die Seh- qualitäten bei den Bienen keine anderen sind als bei allen anderen bisher mit Hilfe der wissenschaftlichen Farbenlehre genauer unter- suchten Wirbellosen. Sprengels Lehre von der Bedeutung der Blütenfarben für den Insektenbesuch kann danach nicht länger verteidigt werden. | s2l (Aus dem anatomischen und dem pharmakologischen Institut der Reichsuniversität Utrecht, Holland.) Über den Stand der Otolithenmembranen beim Kaninchen. | Von H. M. de Burlet und A. de Kleijn. (Mit 1 Texttfigur.) Die Frage nach dem Stand der Maculae acusticae wurde ver- anlasst durch eine Reihe von Untersuchungen welche im hiesigen pharmakologischen Institut ausgeführt wurden und grösstenteils in Pflüger’s Archiv veröffentlicht sind !). Bei diesen Untersuchungen stellte sich heraus, dass bei dem Aufrteten von gewissen tonischen Labyrinthreflexen (Reflexen der Lage) vermutlich die Stellung der Otolithenmembranen eine ent- scheidende Rolle spielt. (Siehe Pflüger’s Archiv Bd. 145 S. 477.) Es zeigte sich, dass zur exakten Kenntnis dieses Gegenstandes die his jetzt in der Literatur vorliegenden Angaben nicht genügten. Genaueres über die Lage dieser Membranen lässt sich aus der Be- trachtung einzelner Schnitte nicht ableiten ; die Bestimmung derselben erfordert die Untersuchung lückenloser Schnittserien. Dieser Weg wurde eingeschlagen. Zunächst ist auf die allgemeine Frage einzugehen, in welcher Weise die Stellung von Flächen im Schädel zu bestimmen ist. Für diese Feststellung ist folgendes Verfahren vorzuschlagen: Zuerst bestimme man den Winkel, unter welehem die zu unter- suchende Fläche (A) die Medianebene schneidet. Der Stand der Fläche ist jedoch damit noch nicht gegeben. Man stellt sich dieses am leichtesten vor, wenn man ein Buch in irgendeinem Winkel, sagen wir von 45°, zur Tischfläche hält. Der Rücken des Buches 1) Pflüger’s Arch. Bd. 145 S. 455; Bd. 147 S.1 und 403; Bd. 149 S. 447; Bd. 154 S. 163 und 178; Bd. 159 S. 157, 218, 224 und 251; Bd. 160 S. 429. Pflüger’s Archiv für Physiologie. Bd. 163. DD 3223 H. M. de Burlet und A. de Kleijn: stelle die Schnittlinie zwischen der Fläche des Buches und der Tisch- fläche dar. Diese Schnittlinie kann sowohl parallel zur Tischkante als senkrecht zu dieser verlaufen; in beiden Fällen kann der Winkel zwischen Buch und Tisch 45° betragen. Setzen wir an Stelle des Buches die Fläche A, so liegt dort derselbe Fall vor. Es fehlt noch ein Anhaltspunkt, durch welchen die Richtung der Schnittlinie fest- gelegt wird; um auf das Beispiel von Buch und Tisch zurückzukommen, so müssen wir den Winkel zwischen Buchrücken und Tischplatte kennen. Am Schädel ist demnach eine Linie zu bestimmen, welche der Medianebene angehört; sie muss sowohl auf den Schnitten als Schädel leicht und genau aufgefunden werden können. Als solche empfiehlt sich die Linie, in welcher die Medianebene die obere Fläche der Schädelbasis schneidet. Fisur 1 stellt die nach dem Schädel- inneren gekehrte Fläche des Basalteiles des Oceipitale eines Kaninchens dar. Man kann annehmen, dass die Mitte der In- eisura intereondy loidea (a) als ein Punkt der Medianebene aufzufassen ist. Weiter Fig. 1. Pars basilaris ossio nach vorne endigt das Knochenstück in nn einer feinen medianen Spitze (b), welche eine Fortsetzung der oberen Fläche der Pars basilaris oss. oceip. bildet. Dieses von der Natur gebotene Hilfsmittel, welches regelmässig vorkommt, ist zur Bestimmung eines zweiten Punktes der Medianebene zu verwenden. Durch. die .Ver- bindung dieser beiden Punkte erhalten wir eine Linie (ab der Fig. 1), welche die Schnittlinie von Medianfläche und oberer Fläche der Schädelbasis vorstellt. Um die Stellung der Fläche A zu kennen, ist jetzt nur noch der Winkel zu messen, welchen die Schnittlinie (der Fläche A und der Medianebene) macht mit der Schädelbasislinie (ab), deren De- finierungspunkte soeben angegeben wurden. Nach diesen allgemeinen Frörterungen ist jetzt auf die spezielle Frage der Bestimmung der Lage der Otolithenmembranen einzugehen. Eine Scehwieriekeit bei dieser Feststellung entsteht dadurch, dass weder die Utrieulus- noch die Saceulus-Otolithenmembran eine Planfläche darstellt. Da die richtige Wiedergabe dieser Krümmungen Über den Stand der Otolithenmembranen beim Kaninchen. 3933 die gestellte Aufgabe erheblich ersehweren würde, ist von ihr Ab- stand genommen; was bestimmt wird, sind demnach die Winkel, welche vereinfachte „gestreckte“ Otolithenmembranen mit der Median- ebene bilden. Der so eingeführte Fehler ist, was die Utrieulus- Otolithenmembranen anbelangt, sehr gering, da diese fast vollkommen plane Flächen darstellen. Anders bei den Sacculus-Otolithenmem- branen. Der grössere untere Abschnitt derselben ist ebenfalls nahezu vollkommen flach, ihr vorderes Ende jedoch ist ziemlich stark lateral- wärts abgeknickt. Diese Abknickung ist in unserer Darstellung vernachlässigt. Es fragt sich jetzt, in welcher Weise im vorliegenden Fall die verlangten Winkel praktisch zu bestimmen sind. Anfangs haben wir die Lösung dieser Aufgabe erstrebt durch die Herstellung eines Modells nach der Born’schen Wachs-Rekonstruktionsmethode (bei 20facher Vergrösserung).. Dieses Modell hat uns wichtige Dienste geleistet zur vorläufigen Orientierung, jedoch zeigte es sich, dass genügend exakte Winkelbestimmungen auf Grund eines derartigen Modells nicht vorgenommen werden konnten. In diesem speziellen Fall, wo es sich um die Kenntnis topographischer Beziehungen handelt, verdient eine mathematisch-zeichnerische Rekonstruktionsmethode den Vorzug gegenüber der plastischen Methode. Erstere bezweckt, die Fehlerquellen, welche beim Aufbau eines Modells unumgänglich sind, zu vermeiden, indem die Präparate selbst bzw. ihre vergrösserten Abbildungen die Grundlage zur Bestimmung der einzelnen Flächen bilden. Wie die Konstruktionen nach dieser mathematischen Methode auszuführen sind, soll hier nicht näher besprochen werden. Die ‚Methode wurde von einem von uns (de Burlet) in Zusammenarbeit mit Herrn Koster, Assistenten am anatomischen Institut, ausgearbeitet und soll binnen 'kurzem an anderer Stelle ausführlich beschrieben werden ; zugleich ist dort die einschlägige Literatur zu verwerten. Mit Erlaubnis von Herrn Koster seien hier einige Ergebnisse, welche sich auf die Lage der Otolithenmembranen !) beziehen, mit- geteilt: Die beiden verlängert gedachten Utrieulus-Otolithenmembranen schneiden sich in einer Linie, welche der Medianebene angehört. 1) In der ausführlichen Mitteilung wird auch die Lage der Bogengänge berücksichtigt werden. \ 22° 394 H.M. de Burlet u. A. de Klejin: Über den Stand von Otolithenmembr. usw. Sie bilden dabei einen nach oben offenen stnmpfen Winkel, dessen Grösse 174° beträgt, und liegen demnach nahezu in einer Fläche. Der Winkel welchen eine Utrieulus-Otolithenmembran mit der Median- ebene macht, hat die Hälfte der Grösse des ebengenannten Winkels, ist also 87°. Um die Lage der Flächen der Utrieulus-Otolithenmembranen zu kennen, ist es weiterhin erforderlich, die Grösse des Winkels zu be- stimmen, welchen die Schnittlinie der beiden Utrieulus-Otolithen- membranen mit der oben beschriebenen Schädelbasislinie bildet. Die Grösse dieses Winkels beträgt 39°. Dieser Winkel ist in proximaler Richtung (nach vorne) offen; er ist oberhalb der Schädelbasislinie zu messen. Auf Grund dieser Daten lässt sich die Stellung der Utrieulus-Otolithenmembranen feststellen. Der Winkel zwischen den beiden Sacculus-Otolithenmembranen beträgt 47°. Dieser Winkel ist nach unten (vorne) offen. Die Sehnittlinie macht mit der Schädelbasislinie einen Winkel von 35°. Dieser Winkel ist nach vorne offen; er ist oberhalb der Schädelbasislinie zu messen. Der Winkel zwischen der Fläche einer Sacculus-Otolithenmembran und der Medianebene ist !/a X 47° — 23129. Der Stand der Saceulus- Otolithenmembranen ist nach diesen Angaben zu bestimmen. Im Verein mit den Angaben über den Stand der Utriculus-Otolithenmembranen ist hiermit zugleich die Grösse des Winkels zwischen den Flächen von Sacculus- und Utriculus- Otolithenmembran einer Seite festgeleet. Es zeigt sich, dass die Grösse dieses nach lateral oben offenen Winkels 107° beträgt. Die physiologische Verwertung dieser Ergebnisse bleibt einer späteren Mitteilung von Magnus und de Kleijn vorbehalten. (Aus dem Institut für allgemeine Biologie und experimentelle Morphologie bei der medizinischen Fakultät der böhmischen Universität zu Prag.) Ein Beitrag zum Studium der Bedeutung osmotischer Ver- hältnisse des Mediums für Organismen. Versuche an Würmern Enchytraeiden. Von Jaroslav Krizenecky. (Mit 2 Textfiguren.) Zur Ausführung der Versuche, über welche in folgendem be- richtet sein soll, wurde ich durch eine ganz zufällige Beobachtung veranlasst: um zu prüfen, ob man Seeigel, die in Seewasseraquarien unseres Institutes schon längere Zeit hindurch gezüchtet werden, nicht etwa mit Würmern, Enchytraeiden, füttern könnte, haben wir ihnen einige dieser Würmer (eigener Zucht) — es handelte sich um die gewöhnliche Art Enchytraeus humieultor — vorgelegt; der Ver- such ist zwar negativ ausgefallen, — die Seeigel haben die Würmer unberührt gelassen — er führte aber nichtsdestoweniger zu einer interessanten Beobachtung. Die Enchytraeiden gingen im Seewasser nicht zugrunde, sondern haben sich zu einem Haufen zusammen- geballt und lebten unter vollständig normaler Beweglichkeit in der Nähe der Lüftungskörper weiter. Über einen Monat wurde ihr Verhalten verfolgt, wobei dieses vollkommen normal und unverändert blieb; darauf gingen sie durch Zufall bei einer Reinigungsmanipulation im Aquarium verloren. | Diese Tatsache, dass nämlich Enchytraeiden als Erdwürmer, die nur mit Süsswasser in Berührung kommen und nur an Leben in demselben gewöhnt sein können, im Seewasser ohne jede Be- sehädigung, ja auch Alteration, in ihrer Vitalität leben können, ist recht beachtenswert, und zwar deswegen, da wir nämlich wissen, dass das Srewasser für Süsswassertiere allgemein recht giftig ist. 3365 Jaroslav KfiZenecky: So gehen nach Plateau’s') Versuchen in Seewasser geworfene Süsswasserinsektenlarven nach 6—4 Stunden zugrunde, Entomostraka nach weniger als 1 Stunde, der Wurm Nephelis nach 5—7, Planaria nach 4 und Hydra schon nach 1 Minute. Eine Reihe von Ver- suchen über die Giftwirkung von Seewasser für Süsswassertiere hat Paul Bert?) ausgeführt, der überall tödlichen Einfluss fest- stellen konnte, der bei einigen Tieren früher, bei, anderen später zutage trat, was sich teilweise nach der Spezies, teilweise nach der Grösse der Tiere und auch nach der Temperatur des Wassers richtete. Bei manchen Tieren zeigte sich die Giftwirkung des Seewassers be- sonders mächtig: zum Beispiel „on peut drainer et tuer une Grenouille en plongeant simplement une de ses pates dans l’eau de mer“ ?°). Anderseits kennen wir aber wieder eine ziemlich grosse An- passungsfähigkeit von Süsswassertieren an das Leben im Seewasser. Ich weise hier auf Neudörfer’s*) Versuche an verschiedenen Süsswasserfischen hin. Er hat gefunden, dass zum Beispiel die Larven von Petromyzon Planeri in Mischung von 1 Teil Seewasser und 3 Teilen gewöhnlichem Flusswasser normal zu leben scheinen. Eine höhere Konzentration ertragen dieselben aber nieht. Schon bei Konzentration von 2 Teilen Seewasser und 3 Teilen Flusswasser gingen die Tiere rasch zugrunde. „Trotzdem diese Versuche mannig- fach variiert wurden, so dass die Kouzentration nur ganz allmählich gesteigert wurde, blieb das Resultat immer dasselbe, auch in solchen Versuchen, wo es 2 Monate gedauert hatte, bis die oben erwähnte Konzentration erreicht worden war.“ Die Sterleten, Acipenser ruthenus, zeigten eine höhere Anpassungsfähigkeit an Seewasser, aber auch bei diesen war diese ziemlich beschränkt. Noch in 50 °/oigem Meerwasser zeigten sich bei Neudörfer’s Versuchen dieselben 1) F. Plateau, Recherches physico-chemiques sur les articulds aquatiques. Memoir. cour. Acad. Royale Belgique t. 36. 1871. 2) Paul Bert, Sur la cause de la mort des animaux d’eau douce qu’on plonge dans l’eau de mer et reciproquement. Compt. rend. de l’Acad. d. Scienc. de Paris t. 97. 1883. 3) Zahlreiche Versuche (analytische) über die Giftigkeit des Seewassers für Süsswassertiere hat in neuester Zeit auch Wolfgang Ostwald (Publication of California University 1905) ausgeführt; leider bleibt mir seine Publikation für heute noch unzugänglich, so dass es mir nicht möglich ist, die Experimente dieses Forschers an dieser Stelle zu besprechen. 4) A. Neudörfer, Versuche über die Anpassung von Süsswasserfischen an Salzwasser. Arch. f. Entwicklungsmech. d. Org. Bd. 23. 1907. Ein Beitrag zum Studium der Bedeutung osmotischer Verhältnisse usw. 327 als lebensfähig. Wurde dann aber die Konzentration nur um ‚wenig erhöht, so gingen diese Fische innerhalb einiger Stunden zu- grunde. „Trotz wiederholt vorgenommener Versuche — schreibt Neudörfer —, trotz lanesamstem Steigens der Konzentration ge- lang es mir niemals, über einen Salzgehalt der Flüssigkeit, welche eine Gefrierpunktdepression von — 1,10 (was einer 50 °/oigen Kon- zertration entspricht; Bemerk. des Verfass.) zeigte, zu kommen, ohne dass schwere Vergiftungserscheinungen auftraten.“ Bei Beurteilung der tödlichen Wirkung des Seewassers für die Süsswassertiere muss man zwei Momente in Betracht ziehen: erstens den chemischen Einfluss der im Seewasser enthaltenen Salze, zweitens die osmotischen Eigenschaften des Seewassers; es ist nämlich dasselbe gegenüber dem Süsswasser stark hypertonisch. Heute legt man das grösste, ja das einzige Gewicht auf den chemi- schen Einfluss des Seewassers auf die Tiere. Ich bin weit davon entfernt, die grosse Bedeutung dieses zu vermindern oder gar zu verleugnen, will aber darauf aufmerksam machen, dass es vollkommen verfehlt wäre, nur durch diesen die Giftwirkung des Seewassers für Süsswassertiere erklären zu wollen; man muss eben umgekehrt dabei auch die osmotischen Eigenschaften des Seewassers als solche in Betracht ziehen. Zu diesem Schlusse haben mich meine Versuche geführt, die ich angestellt habe, um auf die Ursachen der Lebensfähiskeit der Enchytraeiden als Süsswassertiere im Seewasser näher einzugehen. Es handelte sich mir erstens darum, festzustellen, wie lange diese Würmer im Seewasser überhaupt leben können. Bei den Ver- suchen, die ich in dieser Richtung angestellt habe, habe ich bald erfahren, dass man dabei zwei Fälle unterscheiden muss: ob nämlich das Wasser durchlüftet wird oder nicht. In ungelüftetem Seewasser lebten die Würmer sehr kurz. Höchstens gelang es mir, dieselben 3 Wochen am Leben zu erhalten, wobei aber einige von ihnen schon 3 Tage nach dem Ein- legen in Seewasser zugrunde gingen; die meisten aber nach etwa 1 Woche, so dass endlich nur etwa ein Fünftel bis ein Viertel von den ursprünglich eingelesten Würmern im Aquarium blieb. So gelang es mir, die Enchytraeiden in Seewasser nur in einem Ver- suche zu erhalten, in den fünf übrigen gingen dieselben schon in 1 Woche oder höchstens in 10—14 Tagen alle zugrunde. In gelüftetem Seewasser verhielten sich die Ergebnisse 328 Jaroslav KriZenecky: eanz anders: schon die erste zufällige, oben kurz erwähnte Be- obachtung belehrt uns, dass in gelüftetem Seewasser die Enchytraeiden über 1 Monat leben können. Bei den absichtlich angestellten Ver- suchen hat sich dann gezeigt, dass diese Würmer in gelüftetem See- wasser eigentlich überhaupt und unbegrenzt zu leben fähig sind. Die ersten in dieser Richtung angestellten Versuche ergaben zwar nicht eben die günstigsten Resultate. Nach einer gewissen Zeit gingen die eingelegten Würmer trotz fortwährender Durchlüftung der Aquarien und Wasserwechsel doch zugrunde, so etwa nach 2—3 Monaten, ja manchmal auch früher. Da die abgestorbenen Würmer aber regelmässig in allen Versuchen (ich habe im ganzen vier angestellt) sehr dünn geworden sind und den Eindruck von abgemagerten und hungernden Tieren machten, fiel mir der Gedanke ein, dass ihr Tod vielleicht eigentlich durch Hungern herbeigeführt wurde, also ein Hungertod war; es wurden nämlich die Versuche in Glasaquarien ohne jeden Untergrund, die nur mit reinem Seewasser angefüllt wurden, angestellt. Ich habe also einen neuen Versuch angestellt, in dem zugleich eine Ernährung den Würmern ermöglicht wurde. In einem Aquarium, an dessen Boden eine Schicht Meeressand sich befand, habe ich einige Blätter von Ulva lactaca gelegt. Nach dem Ein- legen bewegten sich die Würmer einige Stunden am Sandboden, und endlich haben sich alle zu diesen Blättern gesellt, wo sie auch blieben. Dieser Versuch wurde mit Wohlgedeihen gekrönt: die Würmer lebten damals über ein halbes Jahr hindurch im See- wasser; länger. habe ich diese Serie nicht beobachtet, da dieser halb- jährige Aufenthalt der Würmer im Seewasser, der ohne jede Störung ihrer Vitalität und ihres äusseren körperlichen Aussehens verlief, zweifellos davon zeugte, dass die Enchytraeiden im Seewasser, wenn die übrigen Lebensbedingungen, wie Sauerstoff und Ernährung, vor- handen sind, überhaupt unbegrenzt leben können. Ob sich die Würmer in meinem Falle mit den Blättern von Ulva lactaca er- nährt haben oder-mit Mikroorganismen, die an diesen sich aufhielten, kann ich nicht sagen; ich bemerke nur, dass es bei ihnen zu keinem Dünnwerden, zu keiner „Aushungerung“, wie bei den in reinem See- wasser gehaltenen Würmern gekommen ist, sondern dieselben haben ihre normale Gestalt und Grösse unverändert beibehalten. Die im Seewasser enthaltenen Salze sind also für die Enchy- traeiden nicht giftig, wenigstens nicht in der Konzentration, in welcher sie sich in diesem Wasser befinden. Wo in das Seewasser Ein Beitrag zum Studium der Bedeutung osmotischer Verhältnisse usw. 329 eingeleste Enchytraeiden zugrunde gingen, geschah dies nicht in- folge von Giftwirkung des Seewassers, sondern infolge ungünstiger Ernährungs- und Atmungsbedingungen. Dass eben nur diese es waren, die den Tod der Würmer herbeigeführt haben, belehrten mich die Versuche, welche ich über die Lebensfähigkeit dieser Würmer in gewöhnlichem Leitungswasser angestellt habe. Unser Prager Leitungswasser ist hartes Trinkwasser und enthält (nach amtlichen Analysen) in einem Liter: Kelam: 13,95 mg Na,SO, 12008 K,SO; . 8,90 CaSO, :-H;0. zellen Ca(NO3); . 13,36 CaCcO9,. 169.090, MsCO, 20,96 „ SiO, FIAT Fe,0, . 0,38 „ In diesem Wasser, wenn es durchgelüftet wurde und in das- selbe einige Algen eingelegt wurden, konnte ich die Enchytraeiden monatelang bei vollkommener Vitalität und normalem Aussehen halten. Dementgegen gingen die Würmer in reinem Leitungs- wasser — auch wenn dieses durchlüftet wurde — nach etwa 3 Monaten, ähnlich wie in reinem Seewässer, zugrunde, wobei sie ebenso wie in diesem dünn und abgemagert erschienen. Ihr Tod ist also auch hier als Hungertod anzunehmen. Noch schneller trat ihr Tod in nichtgelüftetem Wasser ein: in drei Versuchen, die ich angestellt habe, gingen die Würmer nach 20, 26, 22 Tagen zu- grunde, durchschnittlich also nach 25 Tagen (diese Zahlen beziehen sich auf die letzten Individuen, die am längsten am Leben blieben ; manche, ja die meisten Individuen gingen schon nach 10—15 Tagen zugrunde). Wenn ich nun zu solchen Versuchen ausgekochtes Wasser, also luftfreies, benutzt hatte, dann trat der Tod der Würmer regel- mässig schon in einigen Tagen, höchstens in 1 Woche ein. Ebenso wie mit normalem fielen auch die Versuche mit ver- dünntem Seewasser aus, gleichsültig ob dieses mit Leitungswasser oder destilliertem Wasser verdünnt wurde. Im ganzen habe ich mit folgenden Konzentrationen experimentiert: 330 Jaroslav KfiZenecky: 1 Teil Seewasser + 1 Teil Leitungswasser oder destilliertes Wasser, 1 ” ” Ale 2 Teile ” ” ” ” 2 Teile “ + 1 Teil 5 5 \ a In allen diesen Lösungen zeigten sich, wenn für Sauerstoff- zufuhr durch Lüftung der Aquarien gesorgt wurde, die Enchytraeiden als vollkommen lebensfähig !). Also nicht nur in normalem, sondern auch in verdünntem Seewasser sind die Enchytraeiden fähig zu leben. Als ich festgestellt hatte, dass die Enchytraeiden in normalem Seewasser leben können, versuchte ich zu prüfen, wie sie sich in höher konzentriertem Seewasser halten würden. Zur Vorbereitung der be- treffenden Lösungen benutzte ich die Meerwassersalze, wie sie unserem Institute aus der zoologischen Station von Triest eingesandt wurden. Die Salze wurden sorgfältig getrocknet und erst dann zur Her- stellung der betreffenden Lösungen benutzt. Die Konzentration der einzelnen Lösungen, von welchen im folgenden die Rede sein wird, sind auf die Weise hergestellt, dass die Zahl immer bedeutet, wie- viel Gramm der Salze in 100 eem dieser oder jener Lösung ent- halten sind. Ich habe Lösungen von allen Konzentrationen von 3,5 (Konzentrationen des normalen Seewassers) bis 30,5 (Konzentration sesättigter Lösung) benutzt. Bei den Versuchen hat sich nun gezeigt, dass in Lösungen mit höherer Konzentration als normales Seewasser die Würmer immer nach längerer oder kürzerer Zeit ihre Bewegungen verlangsamten, bis sie endlich bewegungslos wurden und am Boden des Ver- suchsgelases liegen blieben. Schon bei Konzentration 5, welehe doch nur wenig höher ist als die Konzentration des normalen Seewassers, die 3,5 beträgt, wurden die Würmer nach einer halben Stunde be- wegungslos. Und diese Zeit, nach welcher nämlich die Bewegungen ausbleiben, nimmt mit zunehmender Konzentration ab: bei Kon- zentration 7 verschwinden die Bewegungen schon nach 24 Minuten, bei Konzentration 20 nach 3 Minuten, und endlich bei Konzentration 30 (gesättigte Lösung) werden die Würmer schon nach 1Y/s Minute bewegungslos. 1) Die Ernährung kam bei diesen Versuchen nicht in Betracht, da ich keinen von diesen länger als 1 Monat, zu welchem Zeitpunkt ich mich von der vollkommenen Vitalität der Würmer genügend überzeugt hatte — in ungelüfteten Lösungen gehen die Würmer schon in 25 oder 21 Tagen zugrunde —, durch- geführt habe. Ein Beitrag zum Studium der Bedeutung osmotischer Verhältnisse usw. 331 Lässt man nun die bewegungslosen Würmer eine kurze Zeit nach Ausbleiben der letzten Bewegungen in der Lösung liegen — ich habe sie dort 1 Minute gelassen — und legt sie dann in gewöhn- liches Leitungswasser zurück, so erholen sich dieselben, und nach einer gewissen Zeit, früher oder später, erscheinen bei ihnen von neuem die Bewegungen. Die Zeit, welche die Würmer dabei zu ihrer Erholung brauchen, variiert, je nachdem, welche Konzentration die Lösung hatte, mit welcher die Würmer früher behandelt wurden: bei Behandlung mit höher konzentrierten Lösungen ist diese „Er- holungeszeit“ eine längere, bei Behandlung mit Lösungen niederer Konzentrationen ist dieselbe wieder eine kürzere; zum Beispiel bei Behandlung mit Lösung von Konzentration 6 brauchen die Würmer nur 3 Minuten, um sich zu erholen, bei Behandlung mit Lösung von Konzentration 15 brauchen sie dazu aber 6 Minuten. Während in gewöhnlichem Seewasser die Enchytraeiden un- begrenzt normal lebensfähig sind, zeigt sich höher konzentriertes Seewasser für sie als stark giftig, und zwar schon eine verhältnis- mässig ganz kleine Erhöhung der Konzentration zeigt sich hier von beträchtlichem Einflusse: 5 ist gegen 3,5 (Konzentration des nor- malen Seewassers) nur um 1,5 höher, aber führt schon in einer halben Stunde vollkommene Bewesgungslosigkeit der eingelegten Würmer herbei. Die schädigende Wirkung der Konzentrationserhöhung machte sich bei diesen Versuchen noch in anderer Hinsicht geltend: während die nach Behandlung mit Lösungen niederer Konzentrationen sich erholenden Würmer im gewöhnlichen Leitungswasser die ganze Zeit, als ich sie beobachtete, das heisst 4—5 Tage, normal weiter lebten, begannen bei den mit höher konzentrierten Lösungen behandelten Würmern die Bewegungen wieder zu verschwinden, und die Würmer selbst gingen dann in einigen Stunden in Zerfall über. Als Grenz- punkt der Konzentration, aus welcher sich die Würmer wieder dauernd erholen konnten, erwies sich die Konzentration 20. Würmer, welche nach Behandlung mit so konzentrierter Lösung sich erholten, blieben teils zur Hälfte dauernd am Leben, teils gingen sie nach neuem Ausbleiben der Bewegungen unter Zerfall zugrunde). 1) Bei allen diesen Versuchen hat sich eine grosse individuelle Variation der Resistenz gezeigt. Während einige Würmer früher ihre Bewegungen verloren haben, dauerte dies bei anderen ziemlich lange — es sind also nicht bei allen . je] 32 Jaroslav KriZenecky: Ich habe diese Versuche mehrere Male wiederholt und immer mit denselben Resultaten; diese finden sich nun in folgender Tabelle übersichtlich zusammengestellt: Tabelle ]. Übersicht der Versuche mit verschiedenen Konzentrationen des Seewassers. Zeit, nach 2 welcher die | Erholungs- nz Bewegungen zeit : Resultat tratıon ausbleiben Sek | Sek 3,91) 00) > Be 5,0 2220 | 180 Alle Würmer leben nach Erholung wieder normal weiter. 6,0 1980 180 Ebenso. 7,0 1440 | 240 Ebenso: 7,5 718 240 Ebenso. 10,0 420 300 Ebenso. 15,0 240 360 Ebenso. 20,0 150 420 Zu 50°o leben die erholten Würmer normal weiter, 50°o gehen aber nach neuem Ausbleiben von Be- | wegungen unter Zerfall zugrunde. 22,9 180 480 Alle Würmer gehen nach neuem Aus- bleiben von Bewegungen unter Zer- | fall zugrunde. 24,0 180 450 Ebenso. 25,0 150 450 Ebenso. 26,0 120 480 Ebenso. 27,0 100 500 Ebenso. 30,0 90 | 480 Ebenso. Aus dieser Tabelle geht hervor: 1. Mit steigender Konzentration des Seewassers nimmt seine schädigende Wirkung auf die Enchytraeiden zu: je höhere Kon- zentration, desto früher werden die Würmer bewegungslos. die Bewegungen auf einmal verloren gegangen. Ich wartete immer, bis die letzten Würmer bewegungslos blieben. Die Folge davon war, dass manche Würmer (bei welchen die Bewegungen früher ausgefallen sind) viel länger im bewegungs- losen Zustande in der Lösung lagen als andere. Dadurch lässt sich erklären, dass nach Übertragung in gewöhnliches Wasser sich alle Würmer nicht gleich verhalten; während einige dauernd von neuem zum Leben gebracht werden können, fallen bei anderen die Bewegungen wieder aus, und die Würmer gehen unter Zerfall zugrunde, wie zum Beispiel bei der Konzentration 20 (siehe noch weiter). 1) Konzentration des normalen Seewassers. 2) Absolut konzentriertes Seewasser. it Ein Beitrag zum Studium der Bedeutung osmotischer Verhältnisse usw. 333 2. In umgekehrtem Verhältnis zu der Konzentration steht die Zeit, welche die Würmer brauchen, um sich in gewöhnlichem Wasser zu erholen: je höher die Konzentration der Lösung war, mit welcher die Würmer behandeit wurden, desto länger ist diese Erholungszeit. 3. Es gibt eine Grenzkonzentration, nämlich 20; mit Lösungen dieser niederen Konzentrationen behandelte Würmer bleiben nach Erholung dauernd am Leben, wogegen bei Würmern, die mit Lösungen niederer Konzentrationen behandelt sind, diese Erholung nur eine vorübergehende ist, da die Würmer nach einiger Zeit von neuem bewegungslos werden und durch Zerfall zugrunde gehen. Stellen wir uns nun den Zusammenhang zwischen Konzentration der Lösungen und ihrer Giftigkeit vor, die sich hier in zeitlichen Eigenschaften der Wirkung klarstellt, so bekommen wir (vgl. Fig. 1) für die Zeit, nach welcher die Bewegungen ausbleiben, wenn wir die Konzentrationen auf die Abszisse, die betreffenden Zeiten (in Sekunden) auf die Ordinate auftragen, eine hyperbelähnliche Kurve (I), die von der Achse Y herabsteigt, anfangs schroffer, dann langsamer, bis sie endlich mit der Achse X parallel verläuft; für die Erholungszeit bekommen wir dann in ähnlicher Weise eine regelmässige Kurve (II), für welche y mit x zunimmt, aber nicht regelmässig, sondern immer weniger und weniger, so dass diese Kurve endlich zu einem parallelen Verlauf mit der Achse X ge- gelangt. Beide, Kurven besitzen dann den Charakter von Kurven autokatalytischer Vorgänge, wodurch sie in den Bereich der von Wolfgang Ostwald!) über die zeitlichen Eigenschaften der Lebensvorgänge aufgestellte Theorie einschlagen. Die Giftwirkung höher konzentrierten Seewassers macht sich nicht nur bei lebenden, sich bewegenden Würmern geltend, sondern auch nachdem bei denselben schon alle Bewegungen ausgeschaltet sind und die Würmer schon bewegungslos am Boden der Versuchs- gläser liegen. Davon können uns einige Versuche belehren, welche ich über die Wirkung von absolut konzentriertem Seewasser auf die Enchytraeiden ausgeführt habe. Wie schon angeführt wurde, behalten in absolut konzentriertem Seewasser die Würmer durchschnittlich 1'/’; Minute ihre Be- 1) Wolfgang Ostwald, Über die zeitlichen Eigenschaften der Ent- wicklungsvorgänge. Roux’ Vorträge und Aufsätze über Entwicklungsmechanik | Heft 5. Engelmann, Leipzig 1908. eng alla ee a ee u9puayarJ9q 9Ip :9YeumpIg- “uauoyenyuszuoyy Ip :9ssızqy "TOM UEUIFE1IOS an 013 -19qN AOSSE AA SONIITUNOMAS UT uUUep pun WOUOSSE[IF Sunsorf Jop ur our T 0'02 you u9sundanag AOp USATEJgSnY yovu A9p ‘uoylozsdunfoyasgt usp (TI PAınyy 91p) a an, suopaMmz pun fu9qlafqsnv AouLmAA U9ISOJOFULI A9P LIRUNSOMAT HIP UOY9JM ydeu ‘uoy19Z Up (] HAANy 91p) SU9ISsI9 Pun S1HSSEM99S U9AAJIOLIJUHZUON AOUOT SOP g'2% UONNEIJUIZUOMN AP UAYISIMZ soduryuaumesnz sap Sunfolsieqt aydsıydeag "7 "SLA „Denn ne 008 Jaroslav KriiZenecky 394 e) o [=] = o © {=} =} © =] oO = S =) © o oO = & © =) SQ je © ee ee S) a a ai a - „m ri = = = ee = = = Si > Li 20 “ 3 Io Ein Beitrag zum Studium der Bedeutung osmotischer Verhältnisse usw. 335 wegungsfähigkeit; dabei gehen sie unter gewaltig krampfartigen Be- wegungen in den beweeungslosen Zustand über. Lässt man die Würmer nach Ausschaltung der letzten Bewegungen noch 1 Minute in der Lösung liegen, wie ich dies bei den oben erwähnten Experi- menten ausführte, und legt sie dann in gewöhnliches Leitungswasser, so erscheinen bei ihnen in etwa 3 Minuten von neuem die Be- wegungen verstärkt wieder, bis die Würmer als vollkommen erholt erscheinen. Dieselben gehen aber bald wieder verloren, worauf die Würmer unter Zerfall zugrunde gehen. Ich versuchte nun, ob es vielleieht nicht möglich wäre, die Würmer nach Ausbleiben der letzten Bewegungen durch sofortiges Übertragen in gewöhnliches Leitungswasser dauernd zu erholen; und weiter suchte ich Antwort auf die Frage: wie lange man umgekehrt die Würmer in der Lösung, wenn sie bewegungslos geworden sind, liegen lassen müsste, damit nach Übertragung in Leitungswasser keine Bewegungen mehr er- scheinen. Es handelt sich dabei um Bestimmung zeitlicher Grenzen der Giftwirkung absolut konzentrierten Seewassers. Bei den Versuchen hat sich folgendes gezeiet: Entfernt man die Enchytraeiden gleich nach Ausbleiben der letzten Bewegungen aus dem absolut konzentrierten Seewasser und legt sie nach Ab- waschen in gewöhnliches Leitungswasser, so erscheinen die ersten Spuren neuer Bewegungen schon nach 3"/s Minuten, also früher, als wenn sie 1 Minute in absolut konzentriertem Seewasser noch nach Ausbleiben ihrer letzten Bewegungen gelassen wurden, in welchem Falle dazu S Minuten notwendig waren; die erneuerten Bewegungen vergrössern sich, bis sie etwa nach einer halben Stunde fast den normalen Zustand erreichen. Dann kann man aber an ihnen von neuem eine Verminderung der Bewegungen beobachten, und nach 1 Stunde wurden die Würmer von neuem bewesungslos und gingen unter Zerfall zugrunde. Eine dauernde Erholung der mit absolut konzentriertem Seewasser behandelten Enchytraeiden, auch wenn diese sofort nach Ausbleiben der Bewegungen wieder in gewöhnliches Leitungswasser zurückgelegt werden, ist also nicht möglich. Hatte ich die Würmer nach Ausbleiben der Bewegungen noch 2 Minuten in absolut konzentriertem Seewasser liegen lassen, so er- schienen die neuen Beweeungen (nämlich nach Übertragen der Würmer in gewöhnliches Leitungswasser) bis nach 14—15 Minuten, blieben aber schwach und verschwanden bald von neuem wieder. 336 Jaroslav Kiifenecky: Ebenso war dies der Fall, wenn die Würmer in der Lösung 3 Minuten gelassen wurden; nur verschwanden in diesem Falle die Bewegungen von neuem noch schneller. Hatte ich die Würmer 4 Minuten in der Lösung gelassen, so konnte ich nur bei einigen von ihnen nach 17 Minuten schwache Zuckungen beobachten, welche bald aufhörten, womit die. Würmer durch Zerfall zugrunde gingen. Wurden dann die Würmer 5 Minuten nach Ausbleiben der Bewegungen in absolut konzentriertem Seewasser liegen gelassen, so erschienen bei ihnen in diesem Falle nach Übertragen in gewöhnliches Leitungswasser keine Spuren von Erholung mehr, sondern die Würmer gingen direkt in Zerfall über). 1) Bei dieser Gelegenheit mache ich nebenbei auf eine interessante Er- scheinung aufmerksam, die zwar mit unseren Versuchen nicht direkt zusammen- hängt, aber vielleicht in einer anderen Hinsicht von Bedeutung sein wird. Ge- legentlich einiger Versuche mit RüZilka’s vital-lethaler Färbungsmethode (tiehe: Vlad. Rüziöka, Über tinktorielle Differenzen zwischen lebendem und abgestor- benem Protoplasma. Pflüger’s Arch. Bd. 107. 1905, und derselbe, Zur Theorie der vitalen Färbung. Zeitschr. f. wiss. Mikroskopie und mikrosk. Technik Bd. 22. 1905), die darin besteht, dass aus einer äquimolekularen Mischung von Neutralrot und Methylenblau das lebende Plasma nur die erste aufnimmt, wogegen das tote Plasma nur mit der anderen sich färbt (Näheres, besonders über die Technik dieser Methode siehe in Originalarbeiten RuüZilka’s), habe ich diese auch an den Enchytraeiden geprüft, und zwar mit positivem Erfolg: die (lebenden) Würmer färben sich dabei in einigen Stunden schwach rosa diffus, mit zahlreichen intensiv roten Flecken bedeckt, welche vielleicht den Rückenporen, mittels welchen die Leibes- höhle nach aussen kommuniziert, entsprechen. Hatte ich solcherweise vital ge- färbte Würmer ins absolut konzentrierte Seewasser gelegt, so verhielten sich dieselben ebenso wie die ungefärbten. Ein Unterschied kam aber zutage, als ich diese Würmer nach Ausbleiben ihrer Bewegungen in gewöhnliches Leitungswasser übertrug: es erschienen bei ihnen zwar ebenso wie bei normalen nach einer ge- wissen Zeit einige Bewegungen, die dann wieder verloren gingen, oder es erschienen überail keine Bewegungen von neuem, je nachdem wie lang die Würmer in dem absolut konzentrierten Seewasser bleiben; aber der Unterschied bestand darin, dass bei den früher vital gefärbten Würmern niemals ein Zerfall stattgefunden hatte, obzwar sieabgestorben waren; die Würmer haben dabei nach einiger Zeit ihre Rosafarbe in Blau verändert, was vollkommen mit Ruüzitka’s Beobachtungen an anderen Organismen in Übereinstimmung steht; aber ich konnte bei ihnen, und zwar nach 3 Tagen, keine einzige Spur von Zerfall finden, wogegen die ungefärbten Würmer schon in einigen Stunden in Zerfall gerieten. Wie es nun möglich wäre, diese höchst interessante Erscheinung zu erklären, darüber habe ich keine Ahnung. Ich mache nur auf diese Tatsache aufmerksam, da es mir scheint, dass sie vielleicht einmal dazu beitragen wird, in die Frage nach den Ursachen der Elektionsfähigkeit des lebenden Plasmas, Ein Beitrag zum Studium der Bedeutung osmotischer Verhältnisse usw. 337 Aus diesen Versuchen geht hervor, dass die Giftwirkung der höheren Konzentration des Seewassers sich auch während des be- wegungslosen Zustandes bei den Enchytraeiden geltend macht, und zwar dass mit der Zeit des Verweilens der Würmer in der kon- zentrierten Lösung die Geschwindigkeit, mit welcher sich dieselben von neuem erholen, abnimmt. Höher konzentriertes Seewasser zeigt sich also entgegen dem normalen Seewasser, in welchem die Enchytraeiden unbegrenzt leben können, wie aus den oben angeführten Versuchen hervorgeht, für dieselben stark giftie, und zwar nimmt diese Giftiekeit mit steigen- der Konzentration zu. Was die kausale Seite dieser Tatsache an- betrifft, sind hier zwei Eventualitäten vorhanden: entweder ist die Giftwirkung von höher konzentriertem Seewasser chemischer Natur, dass nämlich die einzelnen Salze dabei als chemische Fak- toren wirken, welche im normalen Seewasser nicht in dieser Rich- tung zur Geltung kommen konnten, da ihre Konzentration zu niedrig war; oder es ist die Giftwirkung physikalischer Natur, dass dabei nämlich die einzelnen Salze osmotisch tätig werden, wobei das höher konzentrierte Seewasser als eine stark hypertonische Lösung in Betracht kommt. Es lässt sich zwar die Möglichkeit der ehemischen Natur dieser Giftwirkung von höher konzentriertem Seewasser nicht von der Hand abweisen, vieles spricht aber dafür, dass diese eher physikalischer Natur sein wird. Die Versuche über das Leben der Enchytraeiden in nor- malem Seewasser haben gezeigt, dass die in diesem enthaltenen Salze für diese Würmer nicht giftig sind. Es ist zwar selbst- verständlich, dass mit zunehmender Konzentration auch die Giftig- keit zunimmt, so dass früher unschädliche Salze zu todherbeiführenden werden können. Aber es scheint nicht wahrscheinlich, dass bei Seewasser bei einer Erhöhung der Konzentration von 3,5 auf 5 die Giftigkeit der darin enthaltenen Salze so zunähme, dass das höher konzentrierte Seewasser die Enchytraeiden in einer halben Stunde entgegen der Neutralrot- und Methylenblaufärbung, die sich bei RüZitka’s Methode vitaler Färbung so auffallend zeigt, einzudringen; es wird sich dabei vielleicht um die verschiedene Struktur einerseits des lebenden, anderseits des toten Plasmas handeln, welche verursacht, dass einmal das Neutralrot (durch lebendes Plasma), ein andermal das Methylenblau (lurch das tote Plasma) ge- bunden wird. Pflüger’s Archiv für Physiologie. Bd. 163. 23 > 338 Jaroslav Kfifenecky: bewegungslos machte, wenn das normale Seewasser von Konzentration 3,5 für diese Würmer ein Medium ist, in welenem dieselben voll- kommen zormal lebensfähig sind. In physikalischer Hinsicht muss dementgegen eine Erhöhung der Konzentration von 3,5 auf 5 eine beträchtliche Erhöhung des osmotischen Druckes bedeuten, so dass, wenn das normale Seewasser für die Enchytraeiden osmotisch ein günstiges Medium repräsentiert, worüber ihr Leben in solchem Wasser zeugt, das Seewasser von auf 5 erhöhter Konzentration für diese schon stark genug hypertonisch sein muss. Meiner Ansicht nach ist also der Grund der Giftwirkung höher konzentrierten See- wassers für Enchytraeiden eher in physikalischer als in chemischer Wirkungssphäre zu suchen, dass nämlich höher konzentriertes See- wasser diese Würmer als eine mehr oder minder starke hyper- tonische Lösung beeinflusst. Als eine Unterstützung meiner Ansicht weise ich auf die inter- essanten Versuche von Ramult!) an Daphnien hin. Ramult hat gefunden, dass eine mehr als 4P/oige NaCl-Lösung für die Daphnien tödlieh giftig ist, und dass auch verdünntere Lösungen dieser Salze die Daphnien in ihrer Entwicklung und ganzem Stoff- wechsel ungünstig alterieren. Diese Tatsache wurde unabhängig von Ramult zu derselben Zeit auch von Hirsch?) festgestellt. Auf den ersten Augenblick schien es, dass der Grund dieser schädigenden Wirkung von Chlornatrium in seiner chemischen Beeinflussung der Tiere zu suchen ist, besonders wenn man an die bekannten Versuche von Loeb°) über die Giftigkeit reiner NaÜl- Lösung denkt. Dies ist aber nicht der Fall. Ramult hat ge- funden, dass dieselben Störungen wie in Chlornatriumlösungen auch 0 1) M. Ramuft, Untersuchungen über die Entwicklungsbedingungen der Sommereier von Daphnia pulex und anderen Cladoceren. Bullet. de l’Acad. d. Scienc. de Cracovie, Cl. d. Sc. mathem.-natur. Mai 1914. 2) E. Hirsch, Untersuchungen über die biologische Wirkung einiger Salze. Zoolog. Jahrb., Abt. f. allgem. Zoolog. u. Physiol. Bd. 34. 1914. 3) J. Loeb, On Ion-proteid Compounds and their Röle in the Mechanics of Life Phenomena. I. The Poisenous Character of a pure NaCl-Solution. (Americ: Journ. of Physiol. Vol. 3. 1900.) — J. Loeb, Über die relative Giftigkeit von destilliertem Wasser, Zuckerlösungen und Lösungen von einzelnen Bestandteilen des Seewassers für Seetiere. (Pflüger’s Archiv Bd. 97. 1903.) — J. Loeb, Über die Ursachen der Giftigkeit einer reinen Chlornatriumlösung und ihre Entgiftung durch K und Ca. (Biochem. Zeitschr. Bd. 2. 1906.) Ein Beitrag zum Studium der Bedeutung osmotischer Verhältnisse usw. 339 in isotonischen Saccharoselösungen stattfinden, dass also die Gift- wirkung jener NaCl-Lösungen nieht chemischer, sondern rein physi- kalischer, nämlich osmotischer Natur waren. Für die physikalische Natur der Giftwirkung höher konzentrierten Seewassers für die Enchytraeiden zeugen übrigens auch die Resultate der Versuche, die ich über die Wirkung absolut konzentrierter Lösungen von einzelnen im Seewasser enthaltenen Salzen auf diese Würmer angestellt habe. Ich experimentierte dabei mit Lösungen von Chlornatrium (NaCl), Chlormagnesium (MsCl,), Schwefelsaures Magnesium (MgSO,;), Chlorkalium (KCl), Bromnatrium (NaBr) und Schwefelsaures Kalium (K,SO,). Gips (CaSO,) habe ich nicht unter- sucht, da derselbe erstens im Wasser sehr schwer und wenig löslich ist, und zweitens, weil infolgedessen seine konzentrierte Lösung sich in ihrer Wirkung auf Enchytraeiden ebenso verhielt wie reines, destilliertes Wasser, worauf ich noch später genauer ein- gehen werde. Von diesen Salzen habe ich mir nun die absolut konzentrierten Lösungen auf die Weise hergestellt, dass ich erstens bei 90° C. eine konzentrierte Lösung machte, diese auf Versuchstemperatur 20—22° GC. abkühlte und «die dabei auskristallisierten Salze ab- filtrierte !). Die Resultate mit Lösungen von diesen Salzen seien hier nun einzeln kurz besprochen. Versuche mit NaCl-Lösung. Durchschnittlich bleiben in ab- solut konzentrierter Lösung dieser Salze die Bewegungen von eingelegten Enchytraeiden nach 1'/s Minute aus. Führt man die Würmer gleich nach dem Verschwinden der letzten Beweeungen in gewöhnliches Leitungswasser über, so werden die Bewegungen nach 3 Minuten erneuert, vergrössern sich, und werden in 20 Minuten zu vollkommen normalen. Von diesem Maximum gehen sie wieder zurück, und nach 55 Minuten bleiben sie von neuem aus, worauf ein plötzlicher Zerfall der Würmer stattfindet. Lässt man die Würmer !/s Minute nach Ausbleiben der letzen Bewegungen in der konzentrierten Lösung liegen, dann erholen sich dieselben erst 1) Auf dieselbe Weise habe ich mir übrigens, was hier nur als eine Er- gänzung des schon oben Gesagten angeführt sein soll, auch das absolut kon- zentrierte Seewasser aus den Salzen, die uns aus der Triester Station ein- gesendet wurden, hergestellt. 23 * 340 Jaroslav KiiZenecky: später, etwa nach 10 Minuten und gehen wieder anderseits früher verloren (schon nach 40 Minuten). Für einminutiges Liegenlassen in der Lösung gilt dasselbe: die Würmer erholen sich nach 12—13 Minuten, und nach 33 Minuten geraten sie wieder in bewegungslosen Zustand. Ähnlich war dieses auch bei zweiminutigem Liegenlassen : erste neue Bewegungen nach 14 Minuten, und nach 15 Minuten bleiben dieselben wieder aus. Wurden die Würmer 3 Minuten in der Lösung nach Bewegungsloswerden liegen gelassen, dann hat bei ihnen keine Erholung mehr stattgefunden, sondern sie gingen direkt in Zerfall über. Versuche mit MgCl,-Lösung. In der Lösung dieser Salze werden die Würmer schon in 5 Sekunden nach dem Einlegen be- wegungslos. Auch wenn man sie gleich danach in gewöhnliches Leitungswasser zurücklegt, erholen sie sich nicht mehr; es er- schienen bei ihnen etwa nach 2 Minuten nur schwache Zuckungen, die aber nur Y/» Minute dauerten und wieder verschwanden, worauf die Würmer in Zerfall gerieten. Hat man die Würmer in der Lösung nur eine kurze Weile nach Ausbleiben der Bewegungen liegen. gelassen, so erschienen bei ihnen weder diese Zuckungen noeh andere Spuren von einer Erholung, sondern die Würmer singen bald direkt in Zerfall über. Versuche mit MgSO,-Lösung. In dieser Lösung bleiben bei den eingelegten Würmern die Bewegungen erst nach 13 Minuten aus, und man kann die Würmer auch noch 10 Minuten danach in der Lösung liegen lassen, und diese können nach Über- tragen in gewöhnliches Wasser nach Erholung von neuem normal weiterleben, ohne dass ein Zerfall stattfände (ich beobachtete die Würmer mehrere Tage). MeSO, scheint also viel weniger sifig zu sein als NaCl und MgCl,.. Legt man die Würmer sofort nach Ausbleiben der letzten Bewegungen in gewöhnliches Leitungswasser, so erscheinen bei ihnen die neuen Bewegungen schon unmittelbar darauf. Nach einminutigem Liegenlassen er- neuern sich die Bewegungen in 1 Minute, nach fünfminutigem Liesenlassen in 8 Minuten, und nach zehnminutigem Liegen- lassen in 17 Minuten. Lässt man die Würmer 15 Minuten nach Ausbleiben der Bewegungen in der Lösung noch liegen, dann erscheinen die neuen Bewegungen erst nach 40 Minuten, verschwinden aber wieder nach 30 Minuten, und die Würmer zerfallen. Lässt man die Würmer 25 Minuten in der Lösung liegen, dann werden die Ein Beitrag zum Studium der’ Bedeutung osmotischer Verhältnisse usw. g 8 Bewegungen überhaupt nicht erneuert, sondern die Würmer gehen direkt in Zerfall über. Versuche mit KCl-Lösung. Die Bewegungen bleiben bei den Enchytraeiden nach ihrem Einlegen. in diese Lösung in 3 Minuten aus. Lest man die Würmer sofort danach in gewöhn- liches Leitungswasser, dann erneuern sich die Bewegungen schon nach 1 Minute, und die Würmer leben dann als vollkommen normale, unbeschädigte weiter, — ich habe sie mehrere Tage beobachtet, und in dieser Zeit verhielten sie sich ebenso wie die Kontrolltiere.. Ebenso war dies auch der Fall, wenn die Würmer !/s Minute in der Lösung (nämlich nach Ausbleiben der Bewegungen) gelassen wurden; lässt man sie 1 Minute in der Lösung, dann erneuerten sie ihre Bewegungen bis zu 1°/a—2 Minuten nach Übertragen in gewöhnliches Leitungswasser. Verblieben die Würmer 2, 3, 4 usw. Minuten in der Lösung, so haben sich die zur Erholung nötigen Zeiten entsprechend verlängert: für zweiminutiges Liegenlassen der Würmer in der Lösung betrug die Erholungszeit 38 Minuten, für dreiminutiges 3 Stunden und für sechsminutiges Liegenlassen 5 Stunden. Wurden die Würmer S oder 10 Minuten in der Lösung liegen gelassen, so erneuerten sie zwar nach mehreren (8—10 Stunden) ihre Bewegungen, aber diese blieben bald wieder aus, und die Würmer ginsen kurz darauf unter Zerfall zugrunde. Bei 13-minutigem und selbstverständlich auch bei längerem Liegenlassen in der Lösung nach Ausbleiben der Bewegungen erneuerten die Würmer nach Übertragung in gewöhnliches Leitungswasser nicht mehr ihre Bewegungen, sondern gingen direkt in Zerfall über. Versuche mit NaBr-Lösung. In dieser Lösung gehen die eingelegten Würmer sofort — etwa in 4-5 Sekunden — nach Einlegen in den bewegungslosen Zustand über, ohne noch er- holungsfähig zu sein, auch wenn man sie sofort nach Ausbleiben der Bewegungen in gewöhnliches Wasser überträgt; ohne Erscheinung der geringsten Spuren von neuen Bewegungen gehen die Würmer in Zerfall über. NaBr-Lösung hat sich also als die giftigste von den geprüften Salzlösungen gezeist. Versuche mit K,S0,-Lösung. Bei den in diese Lösung eingelesten Würmern bleiben die Bewegungen in nicht ganz 6 Minuten vollständig aus. Legt man die Würmer sofort danach in gewöhnliches Leitungswasser, so erscheinen bei ihnen von neuem die Bewegungen in 3 Minuten, und die Würmer bleiben dauernd 3423 Jaroslav KfiZenecky: am Leben. Ebenso verhält es sich, wenn man die Würmer nach Ausbleiben der Bewegungen noch se Minute in der Lösung liegen lässt; nur bei einigen Würmern bleiben dabei die Be- wegungen von neuem aus, und die Würmer zerfallen; diese Er- scheinung lässt sich nur durch die schon oben (vel. die Fussnote auf S. 331) erwähnten individuellen Unterschiede erklären. Bei ein-, zwei- und dreiminutigem Liegenlassen der Würmer in der Lösung, nachdem die Bewegungen aufgehört haben, verhält es sich ebenso, nur die zur Erholung nötige Zeit und die Zahl der Würmer, die wieder bewegungslos werden und zerfallen, nimmt dabei zu. Lässt man die Würmer 4 Minuten in der Lösung (nämlich nach Aus- bleiben der. Bewegungen) liegen, dann erscheinen nach ihrer Über- tragung in gewöhnliches Leitungswasser bei ihnen zwar kleine und schwache Bewegungen, die aber bald bei allen Würmern aufhören. Der Zerfall der Würmer tritt dann sogleich ein. Wurden die Würmer 6 Minuten nach Ausbleiben der Bewegungen in der Lösung gelassen, dann erholen sie sich überhaupt nicht mehr, sonderz zerfallen nach Übertragen in gewöhnliches Leitungswasser direkt. Überblicken wir die Resultate dieser Versuche, so sehen wir, dass die einzelnen geprüften Salze sich für die Enchytraeiden als verschieden giftig zeigen. Die Unterschiede erscheinen sowohl hin- sichtlich der Zeiten, nach welchen die in die Lösungen gelesten Würmer bewegungslos werden, als auch hinsichtlich der Zeiten, während welcher man die Würmer in diesen Lösungen lassen kann, und dieselben noch erholungesfähig sind usw. Um meine Aus- einanudersetzungen nicht zu sehr zu komplizieren, werde ich im weiteren nur die Zeit, nach welcher in den einzelnen Lösungen die Würmer bewegungslos geworden sind, einer Besprechung unterziehen. Die Zeit, nach welcher die Bewegungen der in die konzen- trierten Lösungen eingelegten Würmer aufhören, war bei jedem von den geprüften Salzen eine andere: in NaCl-Lösung dauerte es 1!/s Minute, in MeSO,-Lösung 13 Minuten, in MeOl,-Lösung 5 Sekunden, in NaBr-Lösung ebenso, in KsSO,-Lösung 6 Minuten und in KCl-Lösung 3 Minuten. Es erhebt sich nun die Frage: womit hängen diese Unterschiede in der Giftwirkung dieser einzelnen Salze zusammen, wo ist ihre Ursache zu suchen; liegt diese in dem chemischen Charakter der einzelnen Salze oder in den Uhnter- Ein Beitrag zum Studium der Bedeutung osmotischer Verhältnisse usw. 343 schieden der Konzentration der Lösungen (die geprüften Salze sind nämlich im Wasser verschieden stark löslich, so dass ihre absolut konzentrierten Lösungen verschieden konzentriert sind), also in den physikalischen, nämlich osmotischen Eigenschaften der letzteren? Die Möglichkeit der chemischen Natur der Unterschiede ist zwar nicht auszuschliessen, aber es scheint, dass ein grösserer, ja überwiegender Anteil an diesen Unterschieden den verschiedenen Konzentrationen der Lösungen der einzelnen Salze in physikalischer Hinsicht zukommt. Wenn wir die Zeiten, nach welchen die Be- weeungen verloren gingen, mit den Konzentrationen!) der be- treffenden Lösungen vereleichen, bekommen wir folgende Tabelle: Lösung von NaBr |MgCl, NaCl KCl |K,SO, | MgSO, Konzentrationen ee 73,34 | 58,28 | 31,19 | 71,00 | 10,74 | 49,66 Die Zeiten, nach welchen die Be- ER x Ay wegungen verschwinden (in Sek.) \ Ten ? 150 360 780 Berücksiehtigen wir diese Tabelle, so sehen wir keinen Zu- sammenhang zwischen den Zeiten, nach welchen die Bewegungen in den einzelnen Lösungen ausgeblieben sind, und der Konzentration der betreffenden Lösungen. Es gingen zwar in den Lösungen von MgCl, und NaBr, welche die grössten Konzentrationen aufweisen, die Be- wegungen am schnellsten verloren (nach 5 und 6 Sekunden), aber während zum Beispiel in NaÜl-Lösung die Bewegungen schon nach 80 Sekunden ausblieben, dauerte dies in MeSO,-Lösung, welche nur um 1,21 niedriger konzentriert als NaCl-Lösung ist, 780 Sekunden. Anders verhält es sich aber, wenn wir die Zeiten, nach welchen die Bewegungen ausgeblieben sind, mit den molekularen Konzentrationen?) der betreffenden Lösungen vergleichen: 1) Unter Konzentration verstehe ich auch hier, ähnlich wie bei den Versuchen mit höher konzentriertem Seewasser, wieviel Gramm der Salze in 100 cem der betreffenden, bei einer Temperatur von 20—20° C. absolut konzentrierten Lösung sich befindet. Die Konzentration wurde bei jeder Lösung empirisch festgestellt; die Lösungen wurden bei etwa 90° C. abgedunstet, bei 120—130°C. und endlich im Exsikkator ausgetrocknet und die Konzentration durch Wägen festgestellt. 2) Die molekulare Konzentration bekommt man, wenn man die gewöhnliche Grammkonzentration, die angibt, wieviel Gramm der betreffenden Salze in einem 344 Jaroslav KriZenecky: Lösung von NaCl | KCI |K,SO, | MgSO, NaBr |MgC1, | Molekulare Konzentrationen . . . 12 oe | 5,933 |2.0,9221:0,61. | 412 Die Zeiten, nach welchen die Be- 5 wegungen verschwinden (in Sek.) a] s | | 180 | 360 | 780 Aus dieser Tabelle geht hervor, dass in Lösungen von höherer molekularer Konzentration die eingelegten Enchytraeiden viel früher bewegungslos geworden sind als in Lösungen von niederer mole- kularer Konzentration und zwar, dass sich die Zeiten vollkommen übereinstimmend mit zunehmender molekularer Konzentration ver- kürzten: in Lösungen von Salzen, welche im Wasser löslicher sind und deren absolut konzentrierte Lösungen infolgedessen eine höhere molekulare Konzentration besitzen, wie zum Beispiel NaBr- und MgCl,- Lösungen, gehen die eingelegten Enchytraeiden rascher in bewegungs- losen Zustand über als in Lösungen von Salzen, welche im Wasser minder lösbar sind und deren absolut konzentrierte Lösungen in- folgedessen auch eine niedrigere Molekularkonzentration besitzen, wie zum Beispiel Lösungen von KCI und KsSO,. Auch in anderer Hinsicht — wenn man nämlich die Erholungszeiten usw. berücksichtigt — zeigen die ersteren Lösungen eine höhere Giftigkeit als die anderen. Nur die MeSO,-Lösung zeigt hier in ihrem Einflusse auf die Enchy- traeiden eine Abweichung von den Lösungen der übrigen Salze. Obwohl sie eine hohe Molekularkonzentration (4,12) besitzt, infolge der grossen Löslichkeit von MeSO, im Wasser, verschwinden in ihr bei den eingelegten Würmern die Bewegungen im Verhältnis zu den Lösungen der anderen Salze am spätesten; und in Übereinstimmung damit zeigt sich diese Lösung auch anderseits als am wenigsten giftig: man kann die Würmer, wie schon angeführt wurde, in der Lösung nach Ausbleiben der letzten Bewegungen noch 10 Minuten liegen lassen, und dieselben können dann nach Übertragen in ge- wöhnliches Leitungswasser von neuem nach ihrer Erholung normal weiterleben; erst wenn man die Würmer 25 Minuten in der Lösung liegen lässt, erneuern sich bei diesen die Bewegungen überhaupt nieht, sondern die Würmer gehen direkt in Zerfall über. Liter der Lösung enthalten ist, durch Molekulargewicht jener Salze dividiert; die molekulare Konzentration gibt also an, wieviel von Grammolekülen der be- treffenden Salze in 1000 ccm der Lösung aufgelöst sich befindet. Ein Beitrag zum Studium der Bedeutung osmotischer Verhältnisse usw. 345 Worin die Ursache des abweichenden Verhaltens der MgSO,- Lösung im Verhältnis zu den Lösungen der übrigen Salze zu suchen ist, ist mir nicht möglich zu sagen; ich konstatiere hier den Unter- schied, der auch kein geringer ist. Für die übrigen Salze ist aber das indirekte Verhältnis der molekularen Konzentrationen zu den Zeiten des Ausbleibens von Bewegungen bei den eingelegten Würmern von einer Übereinstimmung, wie dies auch aus der graphischen Dar- stellung dieses Zusammenhanges in Fig. 2 klar zu ersehen ist. Es besteht in diesem Falle zwar nicht eine so vollkommene Überein- stimmung zwischen der empirischen und theoretischen Kurve dieses Zusammenhanges, wie das bei den Versuchen mit Seewasser höherer Konzentrationen der Fall war — auf die Ursache dieses Unter- schiedes werde ich gleich eingehen —; aber auch hier bekommt der Zusammenhang im ganzen den Ausdruck durch eine hyperbel- ähnliche Kurve, die von einem Vorgang von autokatalytischer Natur zeugt, womit sie, ebenso wie die beiden Kurven für die Versuche mit Seewasser höherer Konzentrationen, mit der von Wolfgang Ostwald!) aufgestellten Theorie über die zeitlichen Eigenschaften der Lebensvorgänge vollkommen übereinstimmt. Der Umstand, dass in absolut konzentrierten Lösungen einzelner Salze die Bewegungen der eingelesten Würmer desto früher aus- bleiben, je höher die molekularen Konzentrationen der betreffenden Lösungen sind, wirft, meiner Ansicht nach, ein klares Licht auf die kausale Seite dieses Ausbleibens von Bewegungen der Würmer und dadurch auf die Ursache der Giftiekeit jener Lösungen. Da mit der mole- kularen Konzentration, also mit der Zahl von Grammolekülen in der Lösung der osmotische Druck in der Lösung zunimmt, ist es möglich, die Abhängigkeit der Giftigkeit der betreffenden Lösungen von ihrer molekularen Konzentration auch in Abhängigkeit von der Grösse des osmotischen Druckes auszudrücken: die Giftigkeit der Lösungen steht in direktem Verhältnis mit der Höhe des osmotischen Druckes jener Lösung. Damit will ich aber keineswegs sagen, dass die chemischen Eigenschaften der betreffenden Salze dabei vollkommen bedeutungs- los wären; eben umgekehrt: die Unvollkommenheit, die, wie schon erwähnt, in diesem Falle zwischen den theoretischen Kurven und den Versuchsergebnissen besteht, lässt sich nicht anders erklären als durch verschiedene Eigenschaften der geprüften Salze, die in ihrem 1) Wolfgang Ostwald,. c. 860 \ 180 eiten, nach welchen die Bewegungen ausgeblieben sind 80 346 Jaroslav KfiZenecky: =, Molekulare Konzentrationen einzelner Lösungen 0,61(K,S0,) 0,97 (Kc1) 4,11(MgS0,) 5,33 (NaCl) 6,11 (MgC1,) 7,12 (NaBr) Fig. 2. Graphische Darstellung des Zusammenhanges zwischen den molekularen Konzentrationen absolut konzentrierter Lösungen von NaBr, MsCl;, NaCl, MgSO,, KCl und K,SO, und den Zeiten, nach welchen die in diese Lösungen eingelegten Enchytraeiden bewegungslos werden. Bei Konstruktion der Kurven wurde das auffällig und unererklärlich abweichende Verhalten von MgSO,-Lösung nicht berücksichtigt. Abszisse: die molekularen Konzentrationen, Ordinate: die betreffenden Zeiten, nach welchen die Bewegungen ausgeblieben sind. Ein Beitrag zum Studium der Bedeutung osmotischer Verhältnisse usw. 347 Chemismus zu suchen sind. Dies soll aber nicht dahin verstanden sein, dass die Salze hier durch ihren Chemismus direkt einwirkten: wir dürfen nicht vergessen, dass wir es hier mit Elektrolyten zu tun haben, bei welchen es in der Lösung zu einer Spaltung der Ionen kommt, die dann einzeln, als ob sie selbständige Molekülen wären, in der Lösung osmotisch tätig sind. Da nun, wie bekannt, jeder Elektrolyt einen anderen Dissoziationskoeffizient besitzt, liegt voll- kommen annehmbar die Möglichkeit vor, dass eben in den Unter- schieden des Dissoziationsvermögens einzelner Salze (deren Ausdruck die Dissoziationskoeffizienten sind) die Ursachen der unvollkommenen Übereinstmmung zwischen empirischen und theoretischen Kurven in diesem Falle zu suchen sind; dass nämlich die molekulare Konzen- tration eben infolge der Unterschiede kein Ausdruck der wirklich herrschenden osmotischen Verhältnisse ist. Vielleicht lässt sich auf diese Weise auch das auffallend abweichende Verhalten der MgSO,;- Lösung erklären; es besitzt nämlich eben dieses Salz entgegen den anderen einen sehr niedrigen Dissoziationskoeffizient. Während dieser bei Chlornatrium, Chlorkalium, Kaliumsulfat usw. zwischen den Werten 1,36—2,33 variiert, beträgt er bei Maenesiumsulfat nur 1,40). Aber obzwar die Unterschiede in der Dissoziationsfähigkeit einzelner Salze durch ihren Chemismus verursacht sind, kommt dieser dadurch doch nur rein physikalisch zur Geltung, nämlich in Unterschieden der osmotischen Drucke in Lösungen einzelner dieser Salze. Es ist also nach alledem die Ursache der verschiedenen Giftig- keit von absolut konzentrierten Lösungen der im Seewasser ent- haltenen Salze in den verschiedenen osmotischen Drucken der Lösungen zu sehen: je höherer osmotischer Druck in der Lösung herrscht, desto eiftiger zeigt sich diese. Ist die Giftigkeit von Lösungen jener einzelnen Salze chemischer Natur, um so mehr wird dies auch für mehr oder minder konzentriertes Seewasser sein, wo es sich fortwährend um Mischung derselben handelt. Hiermit wende ich mich wieder zu den oben besprochenen Versuchen über die Gift- wirkung von höher konzentriertem Seewasser und mache den Schluss, dass diese ihren Grund im steigenden osmotischen Druck des kon- zentrierten Seewassers hat. 1) Vgl. hierüber J. H. Hamburger, Osmotischer Druck und Ionenlehre. 1. J. F. Bergmann, Wiesbaden 1902. S. 53. 348 Jaroslav Kfizenecky: Was die Art und Weise dieses osmotisch schädigenden Ein- flusses anbetrifft, so scheint derselbe die Enchytraeiden nicht auf indirektem Wege, zum Beispiel durch Alterationen der Oxydations- vorgänge, wie dies nach Loeb!) bei den Seeigeleiern der Fall ist, sondern direkt dadurch, dass durch die Lösung das Wasser den Tieren entzogen wird, zu beeinflussen. Es zeugt dafür der Umstand, dass in den absolut konzentrierten Lösungen von den einzelnen Salzen und höher konzentriertem Seewasser die eingelesten Würmer mehr oder minder schrumpften, und zwar desto stärker, je früher die Bewegungen ausgeblieben sind, was sich wieder je nach der Konzentration, d.h. nach der Höhe des osmotischen Druckes richtete; und wurden die Würmer in gewöhnliches Leitungswasser übertragen, so erholten sich dieselben immer erst dann, wenn diese Schrumpfung durch Wasseraufnahme zum Verschwinden gebracht wurde. Eine Erhöhung des osmotischen Druckes des Mediums über ein gewisses Maass (über dieses Maass wird noch später die Rede sein) wirkt also auf die Enchytraeiden giftig, ja auch tötend ein, und zwar scheint hier der Grenzwert des osmotischen Druckes, den die Tiere noch ertragen, beinahe der des normalen Seewassers zu sein, denn in diesem sind sie normal lebensfähig, wogegen sie schon in einem nur wenig mehr, nämlich um 1,5 konzentrierteren Seewasser zu- erunde gehen. Aus den Versuchen mit höher konzentrierten Lösungen geht hervor, dass für die Enchytraeiden die osmotischen Verhältnisse des Mediums von Lebensbedeutung sind. Ich versuchte nun, wie sich diese Würmer in destilliertem Wasser verhalten werden, also in einem Medium, in dem keiner oder höchstens ein verschwindend kleiner osmotischer Druck herrscht. Die Versuche haben gezeigt, dass die Enchytraeiden in destil- liertem Wasser nicht fähig sind zu leben, sondern wenn sie in dieses eingelegt wurden, immer nach einer gewissen, längeren oder kürzeren Zeit, je nach den Umständen, unter Zerfall zugrunde gehen, und zwar je nachdem das Wasser gelüftet oder nicht gelüftet wurde. Der letzte Umstand beweist zweifellos, dass der Luftmangel in diesem Wasser nicht als Ursache des Todes der Würmer angesehen werden kann, sondern dass diese anderswo zu suchen ist. 1) J. Loeb, Die chemische Entwicklungserregung des tierischen Eies. Springer, Berlin 1909. Ein Beitrag zum Studium der Bedeutung osmotischer Verhältnisse usw. 349 Dennoch kommt aber dem Luftmangel in destilliertem Wasser bei dem Zugrundegehen der Würmer auch eine und nicht eben kleine Bedeutung zu. Dies geht aus folgenden Versuchen hervor: In nichtgelüftetem, destilliertem Wasser gingen die Enchytraeiden in 2—3, Tagen zugrunde; wenn ich aber das destillierte Wasser, bevor die Würmer in dasselbe gelegt wurden, etwa 2 Tage hindurch ge- lüftet hatte, dann gelang es mir, die Würmer in demselben über 6 Tage am Leben zu erhalten, auch wenn das Wasser während des Ver- suches nieht gelüftet wurde; wenn also der Luftgehalt des destillierten Wassers erhöht wird, so sind die Enchytraeiden in diesem länger lebensfähig. Am längsten blieben die Würmer in destilliertem Wasser anı Leben, wenn dieses noch weiter gelüftet wurde: in diesem Falle lebten sie bis 20 Tage. Dem gegenüber hat sich gezeigt, dass, wenn man während der Versuche jede weitere Aufnahme von Luft von seiten des destillierten Wassers — auch wenn diese die kleinste ist — verhindert, so gehen die Würmer noch viel früher zugrunde, als wenn die Oberfläche des Wassers in freier Berührung mit der Luft ist, und dadurch eine weitere Absorption der Luft ermöglicht wird. Dies geht aus folgendem Versuche hervor: Zwei 5 em breite und 12 em hohe Pulvergläser mit eingeschliffenem Stopfen habe ich mit destil- liertem Wasser angefüllt und in jedes 30 Würmer gelegt; das eine Glas habe ich luftdieht mit dem Stöpsel verschlossen, das andere offen gelassen. Es befanden sich also in beiden Gläsern gleiche Mengen Würmer und gleiche Mengen Wasser, mit diesen dann auch gleiche Mengen von Luft: aber in einem Glase konnte Luft noch weiter absorbiert werden, in dem anderen dagegen nicht. Nun hat sich gezeigt, dass in dem offengelassenen Glase die Würmer wie in Aquarienversuchen mit nichtgelüftetem, destilliertem Wasser, (s. oben) etwa 3 Tage am Leben blieben, während sie in dem geschlossenen Glase schon nach 24—48 Stunden stets — ich habe nämlich diesen Versuch mehreremal wiederholt — zugrunde gingen. Daraus geht hervor, dass der Luftmangel das Leben der Enchy- traeiden in destilliertem Wasser kürzen kann. Aber die eigentliche Ursache des Todes dieser Würmer in destilliertem Wasser ist nicht in dem Luftmangel zu suchen, denn die Enchytraeiden gehen auch in gelüftetem, destilliertem Wasser, wo sie keineswegs an Luft- mangel leiden können, nach einer gewissen Zeit, und zwar nach 20 Tagen zugrunde, früher als zum Beispiel in ungelüftetem, gewöhn- 350 Jaroslav KfiZenecky: lichem Leitungswasser (20, 26 und 22 Tage), wogegen sie in gelüftetem, gewöhnlichem Leitungswasser unbegrenzt lebensfähig sind. Die eigentliche Ursache des Zugrundegehens der Enchytraeiden in destilliertem Wasser ist also in anderen Umständen als in Luft- mengenverhältnissen zu suchen. Und da liegen nur die osmotischen Verhältnisse in destillierttem Wasser als Ursache des Todes von eingelegten Enchytraeiden vor: das destillierte Wasser ist gegenüber dem gewöhnlichen Leitungswasser hypotonisch. Es kommt zwar den Enehytraeiden eine Fähigkeit zu, diesen ungünstigen osmotischen Verhältnissen in gewissem Maasse zu trotzen, aber schliesslich gehen auch unter den günstigsten Umständen -- besonders die Luft- versorgung kommt hier in Betracht — die Würmer in destilliertem Wasser zugrunde, welcher Vorgang durch günstige Luftversorgungs- verhältnisse verzögert, durch Luftmangel demgegenüber verkürzt sein kann. Die osmotischen Verhältnisse des destillierten Wassers sind also für die Enchytraeiden jedenfalls tödlich. Wie nun dieselben den Tod der Würmer herbeigeführt haben, ist schwer zu sagen; alle in destilliertem Wasser zugrunde gegangenen Würmer waren immer an- geschwollen, was eben mit den hypotonischen Eigenschaften des destillierten Wassers übereinstimmt. Meiner Ansicht nach kann man aber in dieser Anschwellung eine (direkte) Ursache des Todes der Würmer nicht sehen. Ich fand nämlich, dass in destilliertem Wasser die Würmer früher bewesungslos und reaktionsunfähig, also tot werden, als bei ihnen diese Anschwellung stattfindet, was darauf hinweist, dass diese eher eine postmortale Erscheinung ist. Das destillierte Wasser hat sich also für die Enchytraeiden ebenso wie höher konzentriertes Seewasser als giftie und tötend gezeigt, beide Male, und zwar aus demselben Grunde, nämlich wegen der osmotischen Verhältnisse. Höher konzentriertes Seewasser hat sich für diese Würmer als ein zu hypertonisches, das destillierte Wasser wiederum als ein zu hypotonisches Medium gezeigt. Es sind also nicht die in diesen Lösungen enthaltenen Salze als solche, nämlich in chemischer Hinsicht, für die Enchytraeiden von Bedeutung, sondern nur die osmotischen Verhältnisse in diesen Lösungen. Die Enehytraeiden sind für osmotische Veränderungen des Mediums recht empfindlich, und zwar empfindlicher als für chemische Veränderungen des Mediums. Aus den angeführten Versuchen geht hervor, dass diese Würmer nur einen in gewissen Grenzen variierenden, osmotischen Druck ertragen. Diese Grenze können wir in osmotischen Drucken Ein Beitrag zum Studium der Bedeutung osmotischer Verhältnisse usw. 351 des gewöhnlichen Süsswassers einerseits und des normalen See- wassers anderseits sehen. Daraus ergibt sich auch eine Antwort auf die Frage, warum die Enchytraeiden im Seewasser leben können: deswegen, weil die in diesem enthaltenen Salze für diese Würmer nieht giftig sind, und weil dieses Wasser für sie günstige osmotische Verhältnisse besitzt. Obzwar die Enchytraeiden den sich verändernden osmotischen Ver- hältnissen des Mediums anpassungsfähig sind, wofür ihre Lebens- fähigkeit in gewöhnlichem Süsswasser (Leitungswasser) einerseits und normalem Seewasser anderseits, die beide osmotisch stark von- einander differieren, zweifellos zeugt, so ist doch dieses Regulations- vermögen ein begrenztes. Diese Begrenzung des Rezulationsvermögens lässt sich meiner Ansicht nach eben als eine Anpassung an Lebens- bedingungen dieser Würmer auffassen. lie Enchytraeiden sind in der Erde lebende Würmer und müssen also allen im Boden sich wechselnden osmotischen Verhältnissen durch ein Regulationsvermögen angepasst sein. Und im Boden finden auch sehr variable osmotische Verhältnisse statt. Zwar sind unsere Kenntnisse über die osmotischen Verhältnisse im Boden leider vollständig ungenügende; trotzdem steht aber so viel fest, dass im Boden je nach der Menge der Niederschläge und allgemeinen Feuchtigkeit, wie in der Erde so auch in der Luft, sehr verschieden kon- zentrierte Lösungen sich befinden. In feuchten Gebieten, die durch Übermaass von Niederschlägen über die Verdunstung charakterisiert sind, sind die Bodenlösungen sehr verdünnt und ungesättigt; in trockenen Gebieten dagegen, in welchen mehr Wasser verdunstet als durch Niederschläge zugeführt wird, sind die Bodenlösungen viel konzentrierter, ja „in ariden Böden sammeln sich die löslichen Salze an, zuweilen so stark, dass sie in trockener Zeit kristallisch aus- blühen“ !,. Es müssen also die Enchytraeiden auch dem Leben in absolut konzentrierten Bodenlösungen angepasst sein. Da aber die in unseren Böden enthaltenen Salze verhältnismässig zu den am mindesten lösbaren gehören — die löslichsten sind eben schon seit langer Zeit im Meer ausgewaschen worden —, wird auch der in solehen absolut konzentrierten Lösungen herrschende osmotische Druck nicht zu hoch sein, vielleicht entspricht er dem osmotischen l) E.Ramann, Bodenkunde. Dritte, umgearbeitete und vermehrte Auflage, S. 527. Springer, Berlin 1911. 352 Jaroslav Krifenecky: _ Drucke des normalen Seewassers. Die Enchytraeiden können, ja müssen dem im Seewasser herrschenden Druck angepasst sein, und infolgedessen ist es begreiflich, warum sie auch im Seewasser lebens- fähig sind. Zugleich aber kann es, da die im Boden enthaltenen Salze wenig lösbar sind, in den Bodenwässern nicht zu höherem osmotischem Drucke kommen: die Enchytraeiden müssen beispiels- weise also nicht dem Medium eines höheren osmotischen Druckes angepasst sein, eben deswegen, da sie mit einem solchen als Be- wohner der Süsswasserboden nicht in Berührung kommen; und deswegen gehen sie in höher konzentrierten Gewässern zugrunde, obzwar ihre Salze in der betreffenden Konzentration für sie noch nicht giftig sein müssen. Anderseits kommt aber niemals im Boden ein „destilliertes“, nämlich salzfreies Wasser vor. Wir besitzen zwar, wie schon er- wähnt, nur sehr wenig Angaben über den Salzgehalt der Boden- wässer, aber immer enthalten diese Wässer gewisse Mensen von aufgelösten Salzen und besitzen infolgedessen auch einen gewissen osmotischen Druck. Als Beispiel zitiere ich die Angaben von Russell!) über Zusammensetzung von Dränagewasser der Rothamstedter „La- wesagrieultural Trust experiment Station“. Diese enthalten von gesamten festen Bestandteileilen in 100 Teilen An ungedüngten An mit Stallmist An mit Mineralsalzen Parzellen gedüngten Parzellen gedüngten Parzellen 0,024 640 0,04760 8 0,04076 g Es variiert also die Gesamtkonzentration der Rothamstedter Dränagewässer zwischen 0,02 und 0,05. Auch die Flusswässer, die zu den verdünntesten Wässern gezählt werden, enthalten ziemliche Mengen von aufgelösten Salzen. Als Beispiel seien hier einige An- gaben nach Ramann?) zitiert: In 100 Teilen Wasser enthalten an festen Bestandteilen (nämlich Salzen): Spree bei Berlin . . . . .:..0,01689 g Rhein bei Strassburg . . . . ... 0,02320 „ Donau-beir Wien: . .2.x .20.2..2.:0.012503 Isar. bei München... 2... 0,02990. 3 Moldau. bei Prag... ....2....2.0.00656% 1) E. J. Russell, Boden und Pflanze. Deutsch herausgegeben von H. Braehm. Steinkopf, Dresden und Leipzig 1914. S. 86. 2) E. Ramann, |. c. S. 93—9. Ein Beitrag zum Studium der Bedeutung osmotischer Verhältnisse usw. 353 Wir sehen, dass auch das Moldauwasser, das von den Pädologen und Wassertechnikern zu den salzärmsten Wassern überall gerechnet wird, einen gewissen Salzgehalt besitzt. Salzloses Wasser, können wir schliessen, ist aber im Boden eine unbekannte Erscheinung; jedes Wasser, das mit dem Boden in Berührung kommt, besitzt eine gewisse Menge von aufgelösten Salzen, und infolgedessen herrscht in diesem auch ein gewisser osmotischer Druck. Es ist nun also begreiflich, warum die Enchytraeiden in destilliertem Wasser, das osmotisch als un- tätig angesehen sein kann, nicht fähig sind zu leben: sie kommen mit einem solchen Wasser in ihrem Lebensmedium, nämlich im Boden, nie- mals in Berührung und können also an dieses auch nicht angepasst sein. Die Enchytraeiden sind also nur an jene Medien angepasst, deren osmotische Verhältnisse den Verhältnissen entsprechen, mit welchen diese Würmer während ihres Lebens auch in Berührung kommen, an welche sie angepasst sein können resp. müssen. Die beschränkte Regulationsfähigkeit der Enchytraeiden auf osmotische Verhältnisse des Mediums ist Ausdruck einer gewöhnlichen Anpassung. Es ist nun möglich, dass auch die von Neudörfer gefundene be- schränkte Anpassungsfähigkeit mancher Süsswasserfische (vgl. oben) auf Seewasser sich vielleicht auf diese Weise erklären lässt, dass es sich hier nicht um eine chemische Beschädigung der Tiere, sondern um eine physikalische, nämlich osmotische handelte. Dass hier die Beschränkung der Regulationsfähigkeit hinsichtlich der höheren Kon- zentrationen viel beträchtlicher war als bei den Enchytraeiden, lässt sich auf die Weise begreifen, dass eben die geprüften Fische nur an recht verdünntes Flusswasser angepasst sein werden, da sie als Wassertiere niemals während ihres Lebens mit konzentrierteren Lösungen, wie zum Beispiel die bodenbewohnenden Enchytraeiden, in Berührung kommen. Es wäre also erforderlich, in dieser Hinsicht Versuche anzustellen. Was nun den Mechanismus dieser Regulationsfähigkeit anbetrifft, so ist es mir schwer, darüber etwas Bestimmteres zu sagen. Es sind hier drei Möglichkeiten vorhanden: entweder sind die Membraneu der Enchytraeiden sowohl für Salze als auch für Wasser (nämlich für jene Grenzen des osmotischen Druckes) überall undurchlässig, wie dies zum Beispiel beim Flusskrebse nach Fred6rieq’s!) Angaben 1) Leon Fredericq, La physiologie de la Branchie et la pression osmoti- que du sangue de l’Ecrevisse. Bullet. Acad. Sc. Belgique T. 35. 1899. Pflüger’s Archiv für Physiologie. Bd. 163. 24 354 Jaroslav KfiZenecky: Ein Beitrag zum Studium der Bedeutung usw. der Fall ist, oder es sind ihre Membranen nur für Wasser, nicht aber für Salze durchlässig, wie zum Beispiel bei den Pflanzen, oder endlich es sind ihre Membranen sowohl für Wasser als auch für Salze durchlässig, so dass eine Ausgleichung des inneren (physiologischen) osmotischen Druckes je nach dem äusseren des Mediums vor sich singe, wie dies zum Beispiel Quinton!) bei verschiedenen Meeres- tieren, wie Seesternen, Seelarven, Kraken und Krabben gefunden hat. Welche von diesen Möglichkeiten nun bei den Enchytraeiden realisiert ist, kann ich nicht sagen, ja ich kann auch keine Vermutung darüber aussprechen. Eine Antwort über diese Verhältnisse können uns nur zweekmässig angestellte Versuche geben. 1) M. Q. Quinton, Communication osmotique, chez l’Invertebre marin normal, entre le milieu interieur de l’animal et le milieu exterieur. Comptes rendus de l’Acad. d. Sciences de. Paris t. 131. 1900. — M. Q. Quinton, Permeabilite de la parviexterieure de l’Invertebre marin, non seulement & l’eau, mais encore aux sels. Comptes rendus de l’Acad. d. Sciences de Paris t. 131. 1900. 399 (Aus dem Laboratorium für physik.-chem. Biologie der k. k. Universität Wien.) Der Thermostrom des Muskels. Von Wolfgang Pauli und Johann Matula. (Mit 13 Textfiguren.) (Mit Unterstützung der Fürst Liechtenstein-Spende,) T- Wenn auch heute die Überzeugung allgemein sein dürfte, dass die bioelektrischen Ströme auf Elektrolytketten beruhen, so gehen die Meinungen über den Aufbau dieser Ketten noch immer nach ent- gegengesetzten Richtungen auseinander. Die seit den grundlegenden Arbeiten W. Nernst’s fortgeschrittene Einsicht in den Mechanismus der galvanischen Stromerzeugung hat wohl die Formulierung der Anschauungen in der Elektrophysiologie im einzelnen vervollkommnet, nicht aber jenen wesenstiefen Gegensatz beseitigen können, welcher die beiden Theorien des Muskel- und Nervenstromes — Präexistenz oder Alteration — unvereinbar trennt. Der Nachweis eines merklichen, bei Abkühlung gesteigerten Zeitaufwandes für die Entstehung des Verletzungsstromes am Muskel durch Siegfried Garten!) konnte die Anhänger der Präexistenz- theorie nicht überzeugen, weil es trotz der im Verhältnis zur Fort- pflanzungsgeschwindigkeit der Elektrizität erheblichen Latenzzeit der Stromentwicklung (Grössenordnung 10 Sekunden) technisch nicht vollkommen gelungen ist, bei dieser Versuchsanordnung Ver- letzung und Ableitung über jeden Zweifel simultan zu gestalten. Bei der minimalen Schichtdicke jedoch, welche die Entstehung eines - Potentialunterschiedes ermöglicht, kann die Neubildung so geringer Elektrolytmengen eine Potentialdifferenz hervorrufen, dass eine weitere Vervollkommnung von Garten’s Versuchsverfahren voraussichtlich den Wert der Latenzzeit des Muskelstromes noch herabdrücken 1) Abhandl. d. Kgl. Sächs. Gesellsch. d. Wissensch., mathem.-physik. Klasse Bd. 26 Nr. 5. 1901. 24* 356 Wolfgang Pauli und Johann Matula: dürfte. Dadurch erscheinen die Aussichten, auf diesem Wege zu zwingenden Resultaten zu gelangen, vorläufig stark getrübt. Das Verlangen, die Alterationshypothese durcheinen entscheidenden Versuch zu stützen, hat schon ihren Begründer L. Hermann zur Prüfung der thermischen Beeinflussbarkeit des Demarkationsstromes am Muskel geführt. Ihm!) verdanken wir die Feststellung, dass die elektromotorische Kraft des Muskelstromes sich im Sinne der Temperatur — bei Erhöhung steigend, bei Erniedrigung fallend — verändert. Hermann erwartete, dass innerhalb der mit dem Leben verträglichen Grenzen die thermische Wandlung des Muskelstroms ihren Sitz am Querschnitte haben werde, wo, wie er meinte, Temperaturerhöhung die Zerfallsprozesse vermehren, Abkühlung dieselben vermindern sollte und bekennt seine Enttäuschung offen, als in den Versuchen nieht die Temperaturänderung am Querschnitt, sondern jene am natürlichen Längsschnitt für die thermische Schwankung des Muskel- stromes maassgebend erschien. In dieser Enttäuschung kommt die besondere, in seine Vorstellung verwobene Annahme zum Ausdruck, dass die absterbende, also einer langsam fortschreitenden Verändernng unterliegende Muskelsubstanz für die Grösse der Potentialdifferenz bestimmend ist, die tote Muskelschicht dagegen nur die Rolle eines indifferenten Zwischenleiters spielt. Auf die Möglichkeit, dass schon eine sehr dünne Schichte im Augenblicke der Verletzung abgestorbener Substanz für die Potentialdifferenz maassgebend sein könnte, während die angrenzende geschädigte Muskelmasse nur als Zwischenschichte zwischen irreversibel verändertem und unversehrtem Muskelteil dient, somit wohl die räumliche Potentialverteilung, nicht aber die Grösse der Potentialdifferenz beeinflusst, war in Hermann’s leitenden Vorstellungen keine Rücksicht genommen. Wenn auch die er- wartete Bestätigung der Alterationslehre ausgeblieben war, so hielt Hermann dennoch die Grundzüge derselben durch den negativen Ausfall seiner Versuche für unberührt. . Dagegen sieht J. Bernstein?) in den angeführten Versuchen Hermann’s den Beweis für Präexistenz und gegen Alteration . vollgültig erbracht. Nach Bernstein’s Annahme einer für Anionen halb durchlässigen Membranoberfläche des unversehrten Muskels 1) Arch. f. d. ges. Physiol. Bd. 4 S. 163. 1871. 2) Biochem. Zeitschr. Bd. 50 S. 393. .1913. — Arch. f. d. ges. Physiol. Bd. 131 8.539. 1910. — Vgl. auch Elektrobiologie. F. Vieweg, Braun- schweig 1912. Der Thermostrom des Muskels. 357 würde sich der Potentialsprung des Muskelstromes am natürlichen Längsschnitt und nicht am Querschnitt befinden. Daher sein Aus- spruch: „Der entscheidende Versuch besteht darin, dass Er- wärmung oder Abkühlung der Querschnittspartie eines Muskels die Kraft des abgeleiteten Stromes gar nicht ändert, wohl aber die Temperaturänderung der Längs- schnittpartie. Diese Kräfte sind in letzterem Falle ebenso wie bei Temperaturänderungen des ganzen Muskels nach meinen Messungen annähernd proportional den absoluten Temperaturen.“ Bernstein’s eigene Be- obachtungen betreffen thermische Änderungen des ganzen Muskel- präparats und den Potentialunterschied zwischen warmem und kaltem Längsschnitt. Der eine von uns hat wiederholt!) auf die Bedeutung etwa gebildeter Säureproteinionen für die Entstehung des Muskelstromes hingewiesen, und wir?) konnten in gemeinsamen Versuchen fest- stellen, dass eine Säure-Säureeiweisskette die elektromotorischen Kräfte des Muskelstromes zu liefern vermag. Die Beweglichkeits- unterschiede des elektropositiven Säureprotein- und des Wasser- stoffions zählen zu den grössten zwischen Ionen bisher beobachteten. Einwandfreie Messungen der Eiweissionenbeweglichkeit sind zuerst von Sven Od&n und W. Pauli’) ausgeführt worden. Dieselben zeigen, dass die Beweglichkeit des elektropositiven Albuminions je nach seiner Wertigkeit zwischen !/so und !/ıo derjenigen des H'-Ions liegt; sie ist bei Glutin von derselben Grössenordnung wie bei Albumin. Es könnte also Säurebildung (Milchsäure) an der Grenze der Fibrillen durch den mächtigen Beweglichkeitsunterschied der Kationen den Muskelstrom sowohl bei Verletzung als auch bei der Kontraktion befriedigend erklären. Ähnliches würde auch für den Nervenstrom gelten. Diese Vorstellung wurzelt in der Alterations- theorie und erscheint deshalb mit Bernstein’s Auffassung von Hermann’s thermischen Versuchen, welcher sich auch R. Höber*) anschliesst, unvereinbar. 1) Arch. f. d. ges. Physiol. Bd. 136 S. 489. 1910. (Hering-Festschrift.) — Fortschr. d. naturw. Forschung Bd.4 S. 269. 1912. 2) Kolloidchemie der Muskelkontraktion. Th. Steinkopff, Dresden 1912. 3) Anzeiger d. Kais. Akad. d. Wissensch. in Wien, XXIV. Sitzung d. mathem.- naturw. Klasse 20. Nov. 1913. 4) Physik. Chemie der Zelle und Gewebe, 4. Aufl., S. 583. Leipzig 1914. 358 Wolfgang Pauli und Johann Matula: In späterer Zeit hat F. Verzar!) aus Bernstein’s Institut Versuche über den Thermostrom des Nerven veröffentlicht. die gänzlich von den früheren Beobachtungen am Muskel abweichende Resultate, vor allem aber eine thermische Beeinflussbarkeit am Querschnitte ergaben. Diese Versuche wären geeignet gewesen, gegen die alten, von Hermann selbst so zurückhaltend beurteilten Mes- sungen Bedenken zu erwecken und ihre Wiederholung zu veranlassen, zumal Bernstein keine einzige eigene Beobachtung über thermische Beeinflussung des Muskelstromes am Querschnitt bekannt gegeben hat. Verzar hat jedoch, an Bernstein’s Membrantheorie fest- haltend, seine auffallenden Ergebnisse durch die Annahme einer Membranwirkung auch am Nervenquerschnitt zu deuten versucht. Bei der grundsätzlichen Bedeutung der Frage des Thermostromes am Muskel haben wir denselben mit einer möglichst vollkommenen Methodik noch einmal untersucht?) und sind zu vollständig eindeutigen Ergebnissen gelangt. Wir können auf Grund derselben gleich vor- wegnehmen, dass ein Unterschied im thermischen Ver- halten des Muskel- und Nervenstromes nicht besteht, dass auch vom Querschnitte aus eine thermische Be- einflussung des Muskelstromes möglich ist, und dass das thermische Verhalten des Muskelstromes nach keiner Riehtung, weder für noch gegen Präexistenz oder Alteration, auch nur die geringste Beweiskraft besitzt. II. Zur Bestimmung der elektromotorischen Kraft des Muskelstromes diente uns das bekannte Binantenelektrometer nach Dolezalek. Dieses bisher zu systematischen Messungen in der Elektrophysiologie kaum angewendete Instrument gestattet im Gegensatze zu den hier üblichen potentiometrischen Methoden, welche Stromstärken durch Kompensation abgleichen, eine direkte elektrostatische Bestimmung der Spannung. Bei diesem Verfahren ist eine durch die wiederholte Stromschliessung bewirkte polarisatorische Änderung der elektro- motorischen Kraft des Muskels, wie wir sie gelegentlich beobachtet haben, ausgeschlossen, da der Muskelstromkreis stets offen bleibt. 1) Pflüger’s Arch. Bd. 143 S. 252. 1912. 2) Bei diesen Versuchen wurden wir von Frau Dr. Dora Polak-Hoff- mann in überaus dankenswerter Weise hingebungsvoll unterstützt. Der Thermostrom des Muskels. 359 Ferner lassen sich unter diesen Umständen zur Ableitung am Muskel unsere Elektroden hohen Widerstandes verwenden, welche bei Ver- meidung von Ton oder dergleichen die Bildung einer ideal reinen Grenzschichte der Elektrodenflüssigkeit am Muskel gestatten. Die Schachteln des Elektrometers waren mit den Polen der zu messenden Kette durch eine in Metallhülsen gelegte Leitung ver- bunden unter Zwischenschaltung eines bernsteinisolierten Quecksilber- kommutators und Schlüssels mit Stahlnäpfen. Die Hälften des schwingenden Mittelkörpers wurden auf 440 Volt Differenz aufgeladen. Der obere Aufhängefaden aus Wollastondraht war 0,01 mm, der untere 0,005 mm diek. Die Spiegelablesung geschah mittels Fernrohr aus 2 m Abstand. Durch genaue zentrische Justierung wurde bei kommutierten Ausschlag eine Empfindlichkeit von rund 0,5 Milli- volt für den Skalenteil bei guter Schätzbarkeit von 0,1 Millivolt erzielt. Das Instrument wurde während des Versuchs durch Messung eines mittels Weston-Voltmeter auf 0,01 Volt bestimmten und durch einen Präzisionsrheostaten von 1000 Ohm geschlossenen Edison- akkumulators in der Weise geeicht, dass ein Zehntel und ein Zwanzigstel der Klemmenspannung des Akkumulators (rund 140 bzw. 70 Millivolt) am Widerstande abgenommen wurde. In dieser Weise wurde zugleich die Proportionalität von Nadelausschlag und an- selester Spannung geprüft. Die berechneten und gefundenen Werte sollen für zwei beliebige Beobachtungen um nicht mehr als 0,5 °/o untereinander abweichen. Wie erwähnt, wurde der Ausschlag nach beiden Seiten einer Bestimmung zugrunde gelegt, wobei aus vier Umkehrpunkten auf jeder Seite zwei Mittelwerte nach dem Ver- fahren für mässig gedämpfte Schwingungen berechnet wurden. Die halbe Summe der vier Mittelwerte bildete eine Ablesung. Nach jeder Ablesung wurde der Messkreis geöffnet, die Binantenschachtel in sich geschlossen und damit die Nullstellung wiederhergestellt.e Zu diesem Kurzschluss verwendeten wir eine mit isoliertem Griff ver- sehene Metallstange, welche auf zwei Kontaktstellen gelegt und vor der Messung von denselben gleichmässig abgehoben wurde. Kleine störende Aufladungen können durch Berührung mit Halbleitern (Papierstreifen) beseitigt werden. Wir fanden es vorteilhafter, Kom- mutator und Schlüssel nicht mittels Schnurübertragung, sondern mit dem Finger zu betätigen, wobei die berührten Enden der Isolier- griffe zweckmässig mit kleinen Stanniolkäppchen versehen werden. Als Ableitungselektroden vom Muskel verwenden wir an den oberen 360 Wolfgang Pauli und Johann Matula: Enden kleintrichterförmig erweiterte Glasröhren von ca. 5—6 mm Liehtung, die einige Zentimeter unterhalb des Trichters einen Glas- hahn tragen. Der unterhalb des Hahnes befindliche Röhrenteil ist an seinem Ende rechtwinklig umgebogen (Fig 1). Die Röhren werden in der Regel mit 0,6 'o iger Kochsalzlösung gefüllt und halten die Fül- lung bei Hahnschluss voll- kommen, wobei die Elek- trizitätsleitung durch die Kapillarschichte um den Hahn erfolgt. Die unteren Röhrenmündungen sind auf 2 mm Breite plattgedrückt und tragen in den Ecken vier Glasperlen. Unter dem Glashahn ist die Röhre S-förmig gebogen und be- sitzt auf der höchsten Kuppe eine kleine Ausbauchung als Luftblasenfänger (Fig. 1). = Die untere Mündung kann mit einem Bäuschchen rein- ster Watte ausgefüllt wer- den. Ein kurzer Glassporn nahe dem unteren Rohrende dient zum Einhängen eines kleinen Gummiringes, wel- cher den angelegten Muskel an. die schlitzförmigen Röhrenmündungen sanft an- Fig. 1. KK! Kalomelelektroden; A A! untere presst und zwischen den Enden der Elektrodenröhren £ E!; L L! Luft- Füh ; blasenfänger; M Muskel; .B Binantenelektro- Glasperlen als UNDUND meter; 7’ Temperaturbad; A Vorderansicht des Jäuft. In dieoberen Trichter Elektrodenendes. + 440 Volt tauchen die Röhrenenden der üblichen Kalomelelektroden, welche am besten wie die Muskel- elektroden mit 0,6 °/oiger Lösung von analysenreinem Kochsalz gefüllt sind. Wir haben mit Vorteil zur Verstärkung der Er- scheinungen zwei hintereinandergeschaltete Muskelpräparate, ge- Der Thermostrom des Muskels. 361 wöhnlich Froschsartorien benützt. . Eine passende Kombination ver- bundener Glasplättchen von der nachstehenden Form (Fig. 2) nimmt die entsprechend gelegten — ein Querschnitt an einem Längsschnitt — Muskeln auf und kann mittels zweier Gummischlingen an ein dazu ein gerichtetes Paar von Ableitungselektroden A, B befestigt werden.. Will man zur Verdopplung des Effektes nach Bedarf zwei Querschnitte oder Längsschnitte gleichzeitig in ein bestimmtes Temperaturbad tauchen, dann verwendet man eine Doppelelektrode, deren unteres Ende Fig. 3 zeigt. A und B sind die Röhrenenden, welche wechselständig je ein seit- lich gekerbtes Glasplättehen A’ und D’ tragen. Die Muskeln MM! Fig. 2. Fig. 3. werden zum Beispiel mit den Querschnitten nach abwärts über AD’ und A’B gelegt und daselbst mit kleinen Gummiringen befestigt. 4’ und 5 sind durch einen mit Kochsalzlösung benetzten Baumwollfaden b hintereinandergeschaltet. Alle diese Elektroden lassen an Sauber- keit und Einfachheit der Handhabung nichts zu wünschen übrig. Strömungsströme oder sonstige mit der Verwendung von Ton denk- bare Störungen sind dabei ausgeschaltet. Als temperierte Bäder verwendeten wir anfangs, wie Hermann und Bernstein, solche von reinstem Mandelöl. Ein mit dem Öl beschicktes dünnwandiges Becherglas war in ein filzumhülltes Wasser- bad getaucht, welches die eingestellte Temperatur längere Zeit gut hielt. Es wurden nur konstante Bäder von 0°, 20° und 30°C. verwendet. Sie waren leicht auswechselbar montiert und konnten von unten her gehoben werden, bis das fix gestellte Muskelpräparat 362 Wolfgang Pauli und Johann Maätula: zur gewünschten Höhe eintauchte. Ähnlich konnte auch eine dampf- gesättigte feuchte Kammer verwendet werden. Das Mandelöl zeigte sich jedoch, namentlich bei Versuchen am Querschnitte, für den Muskel nicht ganz gleichgültig. Wir sind deshalb zu Bädern von reinstem Paraffinöl übergegangen, welches durch längere Destillation im Vakuum bei 250° C. von flüchtigen Anteilen gereinigt war. Ein solches Paraffin erwies sich als ideale Konservierunesflüssigkeit für den Muskel, soweit das elektromotorische Verhalten in Betracht kam. Bei Anwendung dieser Paraffinbäder waren die Resultate ganz ein- deutig und frei von allen Störungen. Die Sartorien wurden auf beiden Seiten vom Knieende her schnell und sauber bis zum Beckenansatz abpräpariert, dann rasch hintereinander an beiden Beckenenden abgeschnitten, darauf die Querschnitte einige Millimeter tief in 0,6°oige NaCl-Lösung von 60° C. eingetaucht und die Muskeln, wie beschrieben, an den Elek- troden befestigt. III. Jede Beobachtung einer durch einen besonderen Fingriff hervor- gerufenen Schwankung des Muskelstromes hat mit jenen zeitlichen Änderungen der elektromotorischen Kraft desselben zu rechnen, welche mit dem Augenblicke der Anlegung des Querschnittes ein- setzen. Neben dabei auftretenden rhythmischen Schwankungen von kleiner Periode, wie sie von Biedermann und namentlich von S. Garten (l. e.) festgestellt wurden, die aber für unsere Messmethode nicht in Betracht kommen, kommt es bekanntlich zu einer fort- schreitenden Abnahme der E.M.K. des Muskelstromes, welche bisher nur eine wenig eingehende Bearbeitung gefunden hat [Nikolaides!)]. Dieser Autor fand, dass der Muskelstrom (Längs-Querschnitt, feuchte Kammer) zuerst schneller, dann immer langsamer abnimmt. Dieser Abfall betrug beim M. sartorius in den ersten 30 Minuten über 20 lo. Mit Rücksicht auf unsere abweichende Methodik haben wir eine grössere Versuchsreihe über den zeitlichen Abfall der E.M.K. des Demarkationsstromes ausgeführt und dessen Gang auch in jedem Versuche über thermische Beeinflussung vorher festgestellt. In allererster Reihe wirkt das Austrocknen des Muskels schädigend. Der Abfall der E.M.K. erfolgt hier linear. (Versuch I und I; Fig. 4.) 1) Arch. f. Physiol. 1889 S. 72. Daselbst ältere Literatur. Der Thermostrom des Muskels. 363 10 30 30 40 50 60 70 80 90 100 Min, Versuch I. (Fig. 4.) Sartorienpaar hintereinandergeschaltet in freier Luft bei 20° C. Am Ende des Versuches die Muskeln steife, trockene Plättehen. Skalenteil — 0,75 Millivolt. Zeit von der ersten Messung ab gerechnet. 05 (72108 11805 | AU) EB al es | 97,5 107,35 | 99,44 | 84,56 | 7 80,5 | 746 1634 |5 Minuten .... Skalenteile. . . 4,43 | 61,26 | 52,19 | 42,05 | 29,18 Millivolt. . 5 31,5 sr 149,92 | 33,731, 21,9 Versuch II. Wie Versuch I. Skalenteil = 0,9 Millivolt. Minuten... . . | 0 la an AM Skalenteile. ... | 706 | 689 6537 | 589 | 5106 | 44,8 Millivolt . . 5 | 00 | 5 | 580 | 460 | 888 In der feuchten Kammer verlangsamt sich der Abfall, und die Kurve verläuft schwach konvex gegen die Abszisse (Versuch III; Fig. 5). Versuch IH. (Fig. 5.) Sartorienpaar hintereinandergeschaltet; feuchte Kammer, 20° C. Skalen- teil = 0,585 Millivolt. Minuten. . . 45 56 58 | ABA | Skalenteile. . . 6 | 48,06 | 44,62 | 42,45 | 40,69 Millivolt . . . . 6 cs |a3 ı 84 | 8635 | 350 364 Wolfgang Pauli und Johann Matula: Miliv. 60 40 en 10 20 30 40 50 60 70 80 90 Min. Milliv. 30 10 20 30 40 50 60 70 s0 9) Min. Fig. 6. In ganz ähnlicher Weise fällt die E.M.K. des Muskelstroms im Ölbad ab (Versuch IV und V; Fig. 6). Versuch IV. (Fig. 6.) Sartorienpaar, Mandelölbad von 20° C. Beginn der Messung nach 15 Minuten Präparieren und Herrichten. Skalenteil = 0,75 Millivolt. Minuten; . 0 | 15 | 30 | s | o | 75 | 90 Skalenteile. . 8158 | must | sau | 5819 | 53,66 | 49,52 | 45,73 Millivolt . . 61,2 58,9 | 48,1 43,6 398 | 371 34,3 Versuch V. (Fig. 6.) | Wie Versuch IV. Minten....| 0, 51») 2101510 | | | | | Skalenteile. . . | 109,25 | 97,56 | 89,81 | 80,46 | 75.43 | 70,08 | 66,39 | Millivolt. .... | 819 | 733 | 606) | 608 ı 566 53.18 | 498 | Der Thermostrom des Muskels. 365 Ein schädlicher Einfluss des Sauerstoffabschlusses ist dabei nicht mit voller Sicherheit erkennbar, denn es kommen auch in der feuchten Kammer die verschiedensten Kurventypen des Abfalles von sanfter bis stärkerer Krümmung vor. (Versuch VI, VII und VII.) Bei An- wendung der feuchten Kammer konnte mitunter sehr geringer Ab- stieg der E.M.K., ja nahezu Konstanz derselben nach den ersten 15—20 Minuten durch fast eine Stunde durchaus nicht selten mit dem Elektrometer beobachtet werden (Versuche VI, VIII und andere). Versuch VI, Einzelner Sartorius, tiefere, feuchte Kammer von 20° C, Skalenteil —= 0,73 Millvolt. Minuten... . | 0 15 30 45 60 5,90 Skalenteile. ... | 58,64 | 55,13 | 48,8 | 48,88-| 46,78 | 46,88 | 46,75 Millivolt. ... . | 228 | 40% | 356 | 357 | 341 | 342 | 341 Versuch VII. Einzelner M. gastrocnemius, feuchte Kammer wie Versuch V, Skalen- teil —= 0,79 Millivolt. INInUtenee ee | 0 15 30 | 45 Skalentellesar ee 43,26 39,25 35,9 | 34,84 IMIIVOlD ar. 34,4 31,0 28, 27,5 Versuch VIII. Einzelner Sartorius, feuchte Kammer, 20° C. Skalenteil = 0,75 Millivolt. PEEEWERT EEE TR BETA HT FRE PER IST FERNSEHER SET. OS FRGERTETET GE A | Minuten... . . | 0 et 1250.80..2916,98 | Skalenteile. . Millivolt. . . Einbringen des Muskelpräparates aus der feuchten Kammer in ein Mandelölbad von der gleichen Temperatur führt leicht zu Schwankungen der E.M.K. um die durch Extrapolation aus dem zeitlichen Verlauf in Luft gewonnenen Werte, auf welche sich das Präparat allmählich einstellt (Versuch X; Fig. 7). Wolfgang Pauli und Johann Matula: Milliv eingetaucht in Olbad v 30°C GENE RB © ; = 60 + © 2? "2a 58 I} : 3 SI N 8 8%9 Fo x 80 & neh PE- 40 Senke 85 De DE 20 7 L l N pie L L fi L all Le 60 70 80 90 100 110 120 130 140 150 Min. Fig. 7. Versuch IX. Einzelner Sartorius, erst in feuchter Kammer von 20° C., dann erst mit Quer- schnitt, darauf ganz in Mandelölbad von 30° C. getaucht. Skalenteil = 0,71 Millivolt. Minuten ...| 0 une 7501 Skalenteile . sale we nr 0 0,7 13. 58,15. 56 ‚85451 Millivolt . .|443 |483 |44,7 1443 |43,1 1 a0 10,2 7 *, Querschnitt im Ölbad von 30° C. **) Ganzer Muskel im Ölbad von 30° C. 112 *) | 118**) 1,037 | | | P 362 59,61 38,1 Man beachte bei diesem Versuch die tiefere Einstellung der E.M.K. bei 30° C. im Ölbad, verglichen mit der bei 20° C. in der feuchten Kammer. Versuch X. Sartorius, feuchte Kammer von 19° C., am Schlusse Mandelölbad von 19°C. Skalenteil = 0,71 Millivolt: Minuten . . . | 0 | 7 25 3) 45 60 Skalenteile . 60,88 | 58,89 58,96 58,24 54,84 51,26 Millivolt . 43,2 | 42,8 41,6 41,3 38,9 36,4 (Fortsetzung ) Minuten... | 192.10 2105 120 128 *) 137 *) 148 *) Skalenteile. . . 48,2 | 41,76 39,69 36,11 40,025 37,49 Millivolt. 33,2 | 29:6:.°....989 25,6 28,4 26,6 *) Im Ölbad von 19° C. Der Thermostrom des Muskels. 367 Solche Schwankungen können sich besonders beim Eintauchen des Querschnittes den thermischen Einwirkungen auf den Muskelstrom superponieren und die Resultate trüben. In der Tat hat sich gezeigt (s. u.), dass die bei Hermann in einer Reihe von Versuchen er- kennbaren positiven thermischen Beeipflussungen vom Querschnitt her, welche weder er noch Bernstein beachtet haben, das typische Resultat darstellen, während seine zweifelhaften und negativen Er- gebnisse auf Versuchsfehler zurückgehen. In unserem Bade von reinstem Paraffinöl erhält sich die E.M.K. des Muskelstromes auch nach ein- bis zweistündigem Verweilen bei Temperaturen von 20° C. meist praktisch vollständig konstant. Zu- gleich tritt fast regelmässig eine Erscheinung auf, welcher man ge- legentlich in schwächerem Maasse auch bei Verwendung der feuchten Kammer, seltener bei Benützung des Mandelölbades begegnet, nämlich anfangs ein allmähliches Ansteigen der E.M.K. des Muskel- präparates. Dieses kann im Paraffinbad bis 30 Minuten nach der Herstellung des Präparates andauern und selbst 20° des Anfangs- wertes erreichen, worauf ein geringes Absinken oder gleich an- schliessend eine längere Zeit (eine Stunde und darüber) währende Konstanz der E.M.K. folgt. Schon Nikolaides hat, wie es scheint, mit Rücksicht auf die anfängliche Steigerung der Erregbarkeit des frisch dem Körper entnommenen Muskels einen Anstieg der EMK. seines Ruhestromes zu finden erwartet. Doch fielen seine Versuche mit dem Längs-Querschnittstrome:!) zegativ aus. Nur bei Bern- stein findet sich ein kurzer Hinweis auf das Vorkommen eines anfänglichen Anstieges der E.M.K. des Muskelstromes. Dagegen fehlt eine Erwähnung desselben in den bekannten monographischen Dar- stellungen der Elektrophysiologie (Biedermann, Cremer, Weiss). Zur Illustration dieses Anstieges und der folgenden Konstanz führen wir nur einige Versuche an (Versuch XI, XII). Übrigens findet sich diese Erscheinung bei fast allen weiteren Beobachtungen deutlich ausgeprägt. 1) Dagegen sah Nikolaides (l. c. S. 76) bei der Untersuchung von „Längs- schnittströmen“ oft „den Strom in der ersten Zeit (10—49 Minuten) nach dem Auflegen des Muskels steigen“. — Da diese „Längsschnittströme* im Grunde auch nur zwischen Längsschnitt und nicht erkennbar verletzten Stellen der Muskelfläche entstehen können, so möchten wir diese Beobachtung von Nikolaides als mit den unserigen am „Längsquerschnittstrom“ entschieden zusammengehörig betrachten, 368 Wolfgang Pauli und Johann Matula: Versuch XI. Sartorienpaar hintereinandergeschaltet. Paraffınbad von 20° C., dann von 9°C. Skalenteil = 0,62 Millivolt. Minnen. 0 1a een | | | | | Skalenteile. ... | 5691 | 73,99 | 795 | 74,88 75.06 | 69,95 Millivoltö =. . | 8582 | 159 ae ron ren (Fortsetzung.) | | In 9° ©. Minuten. ...| 85 | 5 10 EN Ä | | | 110%,| 12227) 7180 | | I Skalenteile. . . | 69,76 | 70,07 | 66,59 | 66,94 | 66,18 | 65,06 | 59,48 Milliyolı, « 491. 484% Ars | 415 | A00: | 203. 869 Versuch XII. Sartorienpaar hintereinändergeschaltet. Paraffinbad von 20° C. Skalen- teil — 0,53 Millivolt. Minten....|o|5s |loIlaj| 22|0|50» | | | | | | Salenteile . . . | 93,47 | 9626 [93,06 | 80,06 | 00.00 | s621 87.08 | 874 |86,00 Millivolt. . . . [495 1510 493 [466 an7 |457 |462 | 46,3 |46,1 Im folgenden Versuche ist die bekannte Änderung der EMK. bei Temperaturwirkung auf das ganze Muskelpräparat und die gute Reversibilität derselben nach langer, selbst bis halbstündiger Dauer der Temperaturwirkung dargestellt. In den älteren Untersuchungen konnte wegen des zeitlichen Potentialabfalles nur eine momentane thermische Änderung der E.M.K. mit genügende Genauigkeit ge- prüft werden (Versuch XI). Versuch XII. Sartorienpaar hintereinander geschaltet. Paraffinbäder von 20, 10 und 0°C. Skalenteil = 0,67 Millivolt. Minuten... . 2 2 ee u ul | Skalenteile. . . . | 8007 | 81,35 | 8283 | 8146 | 7995 | 7998 | 7588 Millivolt. . . 536 | 545 | 551 | 546 | 585 | 5851 | 508 (Fortsetzung.) In 10° €, In 00 €. In 20° C, eingetaucht nach 63 Min. | eingetaucht nach 31 Min. | einget. n. 127 Min. Minuten .| 70 | so | 90 | 95 [100| 110 | 120 | 125 | 130 | 185 | 142 | 5 \ | Skalenteile | 72,64 | 70,83 | | 7 | 4 7 | 8.05 [66,43 67,92 18.92 76,54| 7625 Millivolt . |48,6 |47,4 |4 5,6 0,16 7,0|45,6 |44,5 |45,5 |524 |512 [51,1 Ba 9,0 369 Der Thermostrom des Muskels. "urmLo9L 08L 'oPL 0&L 0cL OLT 00L 06 08 0L 09 08 2 08 0% oL WTB Fiese 205, 2 Tr Seen asilamgerg Sol == 0 De GET f} 0% Se ee or Tg j l j f AIX EX) oTT 0? 0X Uoo "AITIEL gl | 3.0b | ‘er 0627 Liv 20 Sr Ir or 6.9 | 18 | 279 &0'99 v2'99 119 089 | 92679 8‘e9 Sn opraguafestg Or Eu Br Veen Oo ee DE en "um 651 peu Iyoneodure UM III ydeu ENGERING) "um € ‘98 goeu IgonByodurd oo “D 028 u Do nn — en = — ae dann Le = — a -— - - (ner oA Om 2 8er 20 En a Ma br EI ron 1119 | 6829 | 6879 a1 | 68'LL | 6L ge | 16/69 &0'89 8779 | ° ° ° © ofajuapeng BERGE SE RT aERNT Se orange a EEE Er ER Se See 09 mens Fr Se on Fe au “un deu Iyone odur j IM m " } az OA G9°0 — TIeJuoeYS 9 00 pun ZI ‘zz uoA ropequypeueg "IIX qPnsaoA wr HM aeeduanoyieg *AIX YonsıoA “(8 IL) AIX YnSsIoA aysydyu dp Y310z 9q]9SSeq Bd. 163. Pflüger’s Archiv für Physiologie. 370 Wolfgang Pauli und Johann Matula: Der Hauptzweck unserer Untersuchungen, die Bestimmung der E.M.K. bei örtlichen thermischen Änderungen am Längs- oder Querschnitte, konnte in einer grossen Zahl hestens überein- stimmender Versuche, sowohl an Sartorienpaaren als auch an einzelnen Muskeln erreicht werden. Zunächst wurde das ganze Muskelpräparat in der beschriebenen Weise in ein entsprechend temperiertes Paraffinbad gebracht und das zeitliche Verhalten des Demarkationsstromes bestimmt. Dann konnte, je nachdem Längs- oder (Querschnitt nach abwärts gerichtet war, der eine oder andere in ein weiteres Paraffinbad von der zu prüfenden Temperatur ein- gebracht werden, wobei auch der in Luft von Zimmertemperatur ragende Muskelanteil genügend mit Paraffinöl überzogen blieb, um vor Verdunstung geschützt zu sein. Die Beobachtung dieser be- grenzten Temperaturwirkung wurde bis 15 Minuten ausgedehnt, wobei sich häufig eine mässige, aber deutliche Steigerung des Effektes zeigte, wohl entsprechend einer zunehmenden Tiefenwirkung der Wärmesehwankung. Die folgenden Versuche zeigen zunächst den Einfluss der Ab- kühlung von Längsschnitt, verglichen mit der darauffolgenden des ganzen Muskels (Versuche XV, XVD. Milliv. 40 o° Längsschn. o° ganz. Muskel 20 o°Längsschn. 1 o°ganz. Muskel 10 20 30 40 50 60 70 80 Min. Fig. 9. Versuch XV. (Fig. 9.) Einzelner Sartorius. Paraffinbäder von 22 und 0° C. Skalenteil = 0,57 Milli- volt. Längsschnitt nach abwärts. Längsschnitt in | 6anzer Muskel in In 22°C. 0°C. nach 45 Min. (°C. n.70,5 Min. Minuten . . d..1 1020 50.2170 80 | | | - | Skalenteile. | 42,94 | 46,4 | 47,16 | 41,96 | 41.91 | 36,06 | 30,06 | 36,39 Millivolt. . | 24,5. | 264 | 26,9 | 239 | 239 | 206 | ız1 20,7 I Der Thermostrom des Muskels. 371 . Versuch XVl. Wie Versuch XV, Längsschnitt nach abwärts. Skalenteil = 0,57 Millivolt. e Längsschnitt Ganzer Muskel In 22°C. [n.0%C. nach 14 Min. | in 0° C. nach 29,5 Min. Minuten . . OR 10 228 30. 0340 | | | RR Skalenteile . 37,06 | 36,94 33,29 | 31,15 32,3 | 33,65 Millivolt.. . 21,12 7, 21,0 19,0 IR ES 18,4 LI: Ein schönesBeispiel derselben Anordnung bildet einDoppelpräparat, dessen zwei Längsschnitte auf Null Grad abgekühlt wurden (XVII). Versuch XVII. (Fig. 10.) _Sartorienpaar hintereinandergeschaltet. Paraffinbäder von 18 und 0° C. Beide Längsschnitte nach abwärts. Skalenteil = 0,6 Millivolt. In 900 Längsschnitt in Ganzer Muskel = & 0°@.nach 10Min.| in 0° C. nach 18 Min Minuten . . BEE 15 21 25 | | ARE | Skalenteile . 86,9 | 85,6 73,09 82,9 | 83,44 Millivolt . . 92,1 | 51,4 43,9 49,7 | 50,0 Diese und zahlreiche gleich- & 0°Längsschn. artige Beobachtungen zeigen, dass = 0° Querschn. Abkühlung des Längschnittes Ab- ° 72? + fall der E.M.K. verursacht, dieser Abfall ist jedoch stärker, als der durch Eintauchen des ganzen Muskelpräparates in das gleiche Kühlbad bewirkte. Schliesst sich also an die Abkühlung des Längs- schnittes eine Abkühlung des Quer- schnittes, so steigt die E.M.K. des Muskelstromes an. Mit diesem Ergebnis in Übereinstimmung sind 10,72 20 30 Min. die Gegenversuche, in welchen Su erst Abkühlung des Querschnittes und dann des ganzen Muskels vor- genommen wurde. Hier kommt es erst zu Erhebung der E.M.K., dann zu Abfall derselben unter den Ausgangswert. Die folgenden Versuche an einzelnen Muskeln (XVII) und ent- sprechend verstärkt an Doppelpräparaten (XIX, XX) lassen diese thermische Querschnittswirkung auf die E.M.K. mit voller Deutlichkeit hervortreten. 25 * 372 Wolfgang Pauli und Johann Matula: Versuch XVIII. Einzelner Sartorius, Querschnitt nach abwärts. Paraffinbäder von 21,5 und 10°C. Skalenteil = 0,75 Millivolt. In 215° C Querschnitt Ganzer Muskel in en? ; in 10°C. nach 37 Min. | 10°C. nach 56 Min. Minuten ..| 0 | 10 | 20 | 35 | aı | 45 | 50 | 65 Skalenteile . [41,84 | 45,94 | 40,4 Be 39,78 | 40,14 | 39,89 | 36,86 | 37,27 Millivolt 81,3. 133.47. [50,3 295°1.29:82 30121299 | 2071280 Versuch XIX. Sartorienpaar hintereinandergeschaltet, beide Querschnitte nach abwärts. Paraffinbäder 20 und 0° C. Skalenteil = 0,64 Millivolt. In 0°C Querschnitte in | Ganzer Muskel in 5 0° C. nach 36 Min. | 0% C. nach 48. Min. Minuten .. | 0 n 10 | 20 - 30 2 | 47 5 | 6 Skalenteile . 15,06 |5 Millivolt 29,5 ’ Versuch XX. (Fig. 11.) Wiederholung von Versuch XIX. Befestigung verbessert. Paraffinbäder von 21,2 und 0° C. Beide Querschnitte abwärts. Versuch 1 Stunde nach Her- stellung der im Paraffinbad gehaltenen Präparate. Skalenteil = 0,65 Millivolt. 15 9190.€ Querschnitte in Ganzer Muskel in | Ganzer Muskel in 2 > 0° 6. nach 15 Min. | 0% €. nach 27 Min. | 21,20 (. nach 46 Min. Minuten. 1.0.5 9 | 23|2|44 | 52 | 8 elle ee Skalenteile . 14 49 | 88,61 | 88, 04 92,61 | 91,29 | 83,8 23 |; 71 13 | 85,8 Millivolt. . 56,9 |57,6 |572 | 602 | 593 | 544 | 535 | 66 | 53,9 Milliv. 80 ganz. Muskel o® 21r.2° c Querschn. o° | ganz. Muskel 212° C 60 40 10 20 30 40 50 60 Min. Fie. 11. Der Thermostrom des Muskels. al Bei der unter unseren Versuchsbedingungen praktisch so weit- gehenden Reversibilität der Erscheinungen sollte nichts im Wege stehen, unsere Kurven und Tabellen in verkehrter Richtung zu lesen. Danach würde also einseitiges Erwärmen des Querschnittes Abfall der E.M.K. unter, hingegen örtliches Erwärmen des Läneschnittes Anstieg der E.M.K. über jenen Wert der E.M.K. zur Folge haben, welchen der Muskelstrom bei der gleichen Temperaturänderung des sanzen Muskelpräparates aufweist. Auch diese Erscheinung lässt sieh leicht unmittelbar verwirklichen (XXI, XXI), wie die folgenden keiner näheren Erläuterung bedürftigen Versuche erkennen lassen. Versuch XXI. Einzelner Sartorius, Längsschnitt nach unten. Mandelölbad von 20 und 31° C. Skalenteil = 0,79 Millivolt. In 20° C. Kioen 2 0 oa oe | | | | | | Skalenteile | 26,96 | 30,42 | 31,6 | 32,64 | 33,71 | 33,33 | 33,31 | 33,21 | 32,7 Millivolt . | 213 | 24,0 | 24,9 | 25,8 | 26,6 | 26,3 | 26,3 | 26,2 | 25,8 (Fortsetzung.) Längsschnitt Ganzer Muskel in 31° C. nach 87 Min. in 31° C. nach 96 Min. Minuten... . . 90 | 94 98 108 Skalenteile. . . 39,94 36,05 33,65 33,2 Milliyolt. 22% 28,4 28,5 26,6 | 26,2 Versuch XXI. Einzelner Sartorius, Querschnitt nach unten. Paraffinbäder von 0 und 22° C. Teil eines anderen Versuches. Skalenteil = 0,63 Millivolt. > Querschnitt in Ganzer Muskel in 1) Ganzer Muskel in 0° C. 995. nach 28 Min.| 22° C. nach 36 Min. Minuten . . Or on |. 725 33 0 | 6 Skalenteile . | 234 | 376 | 23,8 21,16 214 | 301 Millivolt ...| 147 | 15,0 15,0 13,4 13,4 | 14,5 IV. Nach unseren Befunden können wir den Feststellungen Her- mann’s, dass Erwärmung des Muskelpräparates eine Zunahme, Abkühlung desselben eine Abnahme des Ruhestromes verursacht, noch die folgenden ergänzenden Sätze hinzufügen: 374 Wolfgang Pauli und Johann Matula: Abkühlen des Längsschnittes bewirkt eine Abnahme, Erwärmen des Längsschnittes eine Zunahme der E.M.K. des Demarkations- stromes. Dagegen führt Abkühlen des Querschnittes zu einem An- stieg, Erwärmen desselben zu einem Abfall der E.M.K. Ferner ist die thermische Änderung am Längsschnitt stets ausgiebiger wirk- sam als die am Querschnitt. Daher bestimmt auch das Verhalten des Längsschnittes den Sinn der Schwankung der E.M.K., bei ther- mischer Änderung des ganzen Muskelpräparates. Die Grösse dieser Schwankung erscheint hingegen durch die algebraische Summe der 1 — Erwärmen des Längsschnittes ganzen Muskels A, Abkühlen des Querschnittes A ganzen Muskels B 2 2 1 ” ” ” ” As Erwärmen des Querschnittes A, Abkühlen des Längsschnittes ganzen Muskels B; & „ ganzen Muskels 3 ” ” Fig. 12. Wirkungen am Querschnitt und Längsschnitt bestimmt, welche anta- gonistisch sind. In der Regel war auch die Änderung der E.M.K. des Ruhestromes durch thermische Beeinflussung von Längs- oder: Querschnitt allein grösser als die Differenz dieser zwei Änderungen, die der analogen thermischen Einwirkung auf das ganze Muskel- präparat entspricht. Die vorstehenden schematischen Figuren geben eine gute Über- sicht über die durch Wärmesehwankungen am Querschnitt oder Längs- schnitt hervorgerufenen Verschiebungen der E.M.K., verglichen mit denjenigen bei Temperaturänderungen des ganzen Muskels. Die Potentialdifferenzen sind als Ordinaten aufgetragen. Der Thermostrom des Muskels. 375 Bei der Eindeutigkeit unserer Versuchsresultate und bei dem Umstande, dass wir, von manchen Störungen abgesehen, auch bei Versuchen mit dem Mandelölbad besonders in der Kälte ähnliche Ergebnisse hatten, schien es uns unwahrscheinlich, dass nicht auch Hermann mindestens in einer Anzahl seiner Versuche die gleichen Resultate gehabt haben sollte. In der Tat fand sich diese Vermutung bei näherer Prüfung seiner Versuchsprotokolle bestätigt. Während in seinen Beobachtungen bei Längsschnittversuchen vor und nach Abkühlung regelmässig höhere Werte der elektromotorischen Kräfte gefunden wurden als während der Abkühlung, folgt in den Quer- schnittversuchen häufig einem höheren Werte bei der Abkühlung ein niederer bei der Erwärmung, oder es finden sich bei den Versuchen mit Erwärmung des Querschnittes niedrigere Werte als bei der Aus- sangstemperatur. Dieses Verhalten kehrt neben ausgebliebenen Schwan- kungen in jedem der mitgeteilten Serienversuche wieder, während Resultate mit einem entgegengesetzten Gang fast ganz zurücktreten. Wir führen nur einige Beispiele aus Hermann’s Protokollen an. Versuch 3: 21°C. 244, 230, 220; 0°C. 230; 21° C. 216; 0° C. 214, 206; 21° C. 201, 200. Versuch 4: 4° C. 365, 360; 20° C. 356, 345. Versuch 6: 23° C. 345, 340, 340; 37° C. 322; 22° C. 327, 322!/e; 38° C. 321; 23°C. 313!/2, 310; 37° C. 302, 301: 23° C. 306, 300; 381/20 C. 295; 23° C. 298, 290: 40° C. 281 usw. (Überall Querschnitt eingetaucht.) Ferner zeigte sich in den Längsschnittversuchen Hermann’s gelegentlich ein selbst um fast 25 °/o grösserer Ausschlag bei ther- mischer Änderung des Längsschnittes allein, verglichen mit derjenigen des ganzen Muskels. Wir finden also aueh in Hermann’s Ver- suchen unsere eigenen Beobachtungen nur weniger regelmässig wieder. Alle diese von Hermann als Unregelmässigkeiten betrachteten Reaktionen sind bei Ableitung des Muskelstromes mit wärmestarren Muskelstreifen gewonnen. Hermann zog dieses Verfahren einer Ableitung mit Kochsalzlösung vor, bei welcher „Unregelmässigkeiten“ häufiger zu treffen waren. Es gibt jedoch kein Bedenken gegen die Kochsalzableitung, dass sich nicht in weit stärkerem Maasse gegen ein so wenig definiertes Elektrodenmaterial, wie die Muskelstreifen 376 Wolfgang Pauli und Johann Matula: anführen liesse. F. Verzär (l.e.), welcher unter Bernstein’s Leitung über den Thermostrom des Nerven arbeitete, hat ‚mit Recht unbedenklich in Kochsalzlösung getränkte Baumwollfäden zur Ab- leitung benützt. Hermann hat auf die zweifelhaften oder negativen Versuche von thermischen Wirkungen am Querschnitt, welche geradezu die Minderheit in seinem Protokoll bilden, für seine Schlussfolgerungen das Hauptgewicht legen zu müssen geglaubt. In der Tat wäre mit seiner, zu eng gefassten Vorstellung von der Beziehung der Absterbe- prozesse zum Ruhestrom der Befund einer Steigernng der E.M.K. bei Abkühlung, einer Abnahme bei Erwärmung des Querschnittes in einen unversöhnlichen Gegensatz getreten. Wir dürfen auf Grund unserer Versuche erklären, dass das unter Berufung auf Hermann’s Angaben von Bernstein for- mulierte Gesetz der thermischen Unbeeinflussbarkeit der E.M.K. des Muskelstromes vom Querschnitte her und deren ausschlieslicher Be- einflussbarkeit vom Längsschnitte her unrichtig ist. Ebensowenig besteht der zweite Satz Bernstein’s zu Recht, dass die thermische Schwankung der E.M.K. vom Längsschnitt her in ihrem Ausmaasse gleich ist der durch gleiche thermische Einwirkung auf das ganze Muskelpräparat erzeugten. Damit fällt auch die Folgerung Beru- stein’s, dass die Erfahrungen über den Thermostrom des Muskels endgültig im Sinne der Präexistenztheorie und gegen die Alterations- theorie entschieden haben. Es besteht für uns nicht der geringste Grund, die tief in den bioelektrischen Fundamentalerscheinungen und in deren Zusammen- hang mit unseren bisherigen Erfahrungen über die Lebensprozesse begründete Alterationslehre aufzugeben. Als deren allgemeinster Inhalt darf nach unserem gegenwärtigen Standpunkte das Auftreten von elektro- motorisch wirksamen, von denjenigen im unversehrten Muskel verschiedenen Elektrolyten in der verletzten oder erregten Muskel- oder Nervensubstanz angesehen werden. Die teils chemischen, teils elektrischen erregenden Wir- kungen, welche von der abgestorbenen Schichte auf die angrenzenden Abschnitte des Muskels übergreifen, sind uns erst zum Teile, haupt- sächlieh durch neuere. Untersuchungen (Biedermann, Garten) bekannt geworden. Für das Verständnis des Thermostromes des Muskels scheint es zunächst empfehlenswert, die Haupterscheinungen, ohne ein- Der Thermostrom des Muskels. 377 schränkende spezielle Annahmen einer allgemeinen Betrachtung zu unterziehen. Bei jedem Muskel mit angelegtem Querschnitt kommen drei Grenzschichten als Sitz elektrischer Differenzen in Frage: die zwei Berührungsflächen der Ableitungselektroden (1,3) und die Grenz- schiehte der verletzten und unverletzten Substanz (2). Elektroden- unverletzter | verletzter | Elektroden- flüssigkeit Muskel | Muskel ' flüssigkeit Ji 2 > Dagegen finden sich am unverletzten Muskel, wie früher eleiche Temperatur im ganzen System vorausgesetzt, nur zwei elektromotorische Grenzflächen (Fig. 13) an den Ableitungsstellen der Elektroden, deren Wirkung im Stromkreis sich gerade aufhebt. | Se TG 7 a’ Erwärmen wir nun die linke Hälfte dieses Systems, wobei etwa T,>T,, so treten zwei neue elektrische Grenzflächen hinzu, ad’, die Grenze zwischen wärmerer und kälterer Muskelsubstanz, und bb’, die Fläche, wo wärmerer und kälterer Elektrolyt der Ableitungs- elektrode aneinanderstossen '). Der Versuch Hermann’s lehrt, dass der Thermostrom im Muskel von der kälteren zur wärmeren Stelle, also von Z/ nach I geht. Bringen wir dagegen // auf die Temperatur T, und I auf 7,, dann geht der gleiche Strom im Muskel in ent- gegengesetzter Richtung, also von / nach //. Denken wir uns nun die eine Muskelhälfte etwas verschieden von der anderen, so wird 1) Der Fall bb’ ist für sich allein im Experimente nicht realisierbar, und seine Theorie ist in Nernst’s grundlegender Arbeit nicht entwickelt. Jedenfalls besteht eine komplizierte Abhängigkeit der elektromotorischen Schwankung von den mit der Temperaturänderung gleichzeitig stattfindenden Änderungen des osmotischen Druckes und der Beweglichkeit der beteiligten Ionen. 378 Wolfgang Pauli und Johann Matula: nun nicht mehr zu erwarten sein, dass die E.M.K. bei Erwärmung von Abschnitt I genau übereinstimmen wird mit derjenigen bei gleich- artiger Erwärmung von Abschnitt II. Die zwei entgegengesetzt ge- richteten elektromotorischen Kräfte, die bei Temperaturänderung an je einer Ableitungsstelle eines solchen Muskels entstehen, werden verschieden gross sein. Auf beiden Seiten des Systems tritt also die gleiche thermoelektrische Erscheinung, nur verschiedenen Grades, auf. Diese Auffassung enthält alle Elemente unserer Versuchs- ergebnisse, sobald wir hinzufügen, dass die thermoelektrischen Än- derungen an der Querschnittseite von geringerer Intensität sind als die der Längsschnittseite. Die thermoelektrischen Einflüsse werden sich in ihrer Wirkung dem Demarkationsstrom superponieren. Der Strom im verletzten Muskel geht vom Querschnitt gegen den Längs- schnitt, der reine Thermostrom innerhalb des Muskels vom kalten zum warmen Längsschnitt; Erwärmen des Längsschnittes wird dem- nach die E.M.K. des Ruhestromes vermehren, Abkühlung dieselbe vermindern. Die thermischen Änderungen am Querschnitt werden die E.M.K. des Demarkationsstromes etwas weniger ausgiebig in der entgegengesetzten Richtung beeinflussen. Eine vollständige Theorie des Muskelstromes und seiner ther- mischen Änderung würde die Kenntnis aller in Betracht kommenden Ionen und ihre thermische Beeinflussbarkeit an mindestens fünf elektrischen Grenzflächen voraussetzen. Davon sind wir gegenwärtig weit entfernt. Alle bisherigen Versuche einer Theorie des Muskel- stromes, auch der unsere einer Säure-Säureproteinkette, enthalten die grundsätzliche Erkenntnis, dass Elektrolytketten unter den im Organismus gegebenen Bedingungen eine mögliche und plausible Erklärung der bioelektrischen Erscheinungen gestatten. Die Unter- schiede der verschiedenen Auffassungen legen lediglich in dem Ur- sprung der nötigen Differenz der Ionengeschwindigkeiten. Unsere Feststellung und Erklärung der Wärmewirkung auf den Muskelstrom kann nur als Rahmen einer künftigen, eingehenden Theorie der Vor- gänge betrachtet werden. Immerhin gestattet sie einige wichtige Folgerungen. Zunächst kann mit Sicherheit ausgesagt werden, dass die thermische Änderung des Muskelstromes die ihr von Bern- stein zugeschriebene Bedeutung für die Entscheidung zwischen Präexistens- und Alterationstheorie absolut nicht besitzt, da sämt- liche Prämissen Bernstein’s durch den Versuch widerlegt wurden. Die von uns gefundenen Tatsachen gestatten noch einen weiteren Der Thermostrom des Muskels. 379 experimentellen Ausbau. Die Erfahrungen mit dem Thermostrom am unversehrten Muskel und bis zu einem gewissem Grade auch das antagonistische Verhalten bei thermischer Einwirkung auf Quer- schnitt und Längsschnitt machen es wahrscheinlicher, dass nieht die Übergangsschichte des verletzten und unverletzten Muskels, sondern die Grenzfläche Elektrode-Muskel den Sitz der thermoelektrischen Än- derung bildet. Diese Annahme erfährt eine wertvolle Unterstützung durch den folgenden Versuch: Es wird ein etwa 2 cm breiter Abschnitt am Querschnittsende eines Sartorius durch Eintauchen in 60° C. heisse 0,6 /oige Koch- salzlösung verbrüht, wodurch die Grenzschichte zwischen verletzter und unverletzter Muskelsubstanz näher gegen die Muskelmitte verlegt wird. Bringt man nun das eine Zeitlang im Paraffinbad von 20° C. gehaltene Muskelpräparat zunächst mit dem äusseren Querschnittsende in das Kühlbad, so erhält man die typische Erhöhung der E.M.K. des Demarkationsstromes; taucht man darauf auch das Übergangsstück zwischen verletzter und unverletzter Muskelsubstanz in das Kältebad, so war eine sichere Änderung der E.M.K. nicht zu erkennen. Bei Abkühlung des ganzen Muskels kommt es dann zur Abnahme der E.M.K. des Ruhestromes, Analog verhält sich der breite Querschnitt im Wärmebad (Abnahme der E.M.K.) bei abschnittweiser Einwirkung. Leider sind in diesem Versuche bei der Nähe der differentiell zu behandelnden Muskelabschnitte Störungen infolge der Wärme- leitung möglich, aber mindestens darf die schon im ersten Augen- blicke vorhandene Änderung vom Querschnitte her bei Ausschaltung einer thermischen Beeinflussung der Grenzfläche Querschnitt-Längs- schnitt als vollständig sicher angenommen werden. Dieser Versuch soll übrigens technisch vollkommener wiederholt werden. Man kann ferner die Frage erheben, wie weit für das Grenz- flächenpotential an der Berührungsstelle der Elektroden den Elektro- lyten des Muskels oder denen der ableitenden Kochsalzlösung eine Bedeutung zukommt. Da die Kochsalzionen eine nicht unerhebliche Verschiedenheit der Beweglichkeiten aufweisen (Un. 43,5, Vor —= 65,5 bei 18° C.), so erscheint diese Frage wohl begründet. Zur Ent- scheidung derselben war die Anwendung einer Elektrodenlösung von gleicher Beweglichkeit der Kationen und Anionen geboten. Während in der physikalischen Chemie für solche Zwecke mit Vorteil Kalium- chlorid oder Ammoniumnitrat gebraucht wird, musste beim Muskel auf möglichste Indifferenz des betreffenden Elektrolyten Bedacht genommen werden. Wir bedienten uns hierzu einer Mischung von Natriumazetat mit Natriumchlorid. Da das Azetation die Beweglich- 380 Wolfgang Pauli und Johann Matula: keit 35 hat, so gelingt es leicht, Chlorionen in einem Verhältnisse zuzusetzen, dass die zwischen beiden gelegene Wanderungsgeschwindig- keit des Natriumions als mittlere Beweelichkeit der Anionen resultiert. Ersatz eines Teiles einer NaCl-Lösung durch aquivalentes Natrium- azetat ändert den Dissoziationsgrad nieht, daher gilt für eine ver- dünnte Lösung von der Normalität n, welehe z NaCl und n—x Azetat enthält, die Beziehung: Una — Ve '„H;03 VYa—WVe 530% Die für den Froschmuskel physiologische 0,1 n. NaCl-Lösung wurde demnach in den folgenden Versuchen durch eine Mischung vom Gehalte 0,0283 n. NaCl und 0,0717 n. Na-azetat ersetzt. Man kann solche Mischungen von gleicher mittlerer Beweglichkeit sämmt- licher !) Ionen als isophoretische Elektrolytmischungen bezeichnen. Oberhalb der Hähne wurden die ableitenden Elektroden, ebenso wie in den Kalomelelektroden, mit 0,6% NaCl gefüllt. | Vor allem zeigt sich, dass bei isophoretischer Elektrodenflüssigkeit der Muskelstrom ausgezeichnet konserviert wird. Ferner ist be- merkenswert eine bedeutende Verlängerung und Verstärkung des anfänglichen Anstieges der E.M.K., der sich auf 1 bis 1Y/e Stunden ausdehnen und über 25 °/o des erstgemessenen Wertes betragen kann. BEN: —(0,283n Versuch XXI. Zwei Sartorien hintereinandergeschaltet. Paraffinbäder von 18 und 0° C. Isophoretische Elektrodenflüssigkeit. Die ganzen Muskelpräparate eingetaucht. Skalenteil — 0,46 Millivolt. In 18° C. Minuten... [0 | 10 | 20 1:42" | 502"80 | © 9 | 108 |. | | Ä | Skalenteile . [86,6 100,08 | 102,05 A | 116,74 | 111,46 Millivolt . . [398| 46,0 | 469 | 492 | 509 | 505 | 587 | 593 513 (Fortsetzung.) In 0° C. nach 110 Min. WWiederen uzch 123 Min. Minuten . . 113 | | | | | | Skalenteile . | 110,35. 21,23 10271 10.109,04 119,65 | 117,06 Millivolt . . 50,8 | 47, 2 | 46,9 55,0 | 53, 8 1) H- und OH-Ionen brauchen in Neutralsalzlösungen nicht berücksichtigt zu werden. Der Thermostrom des Muskels. 381 Versuche dieser Art lehren, dass bei isophoretischer Elektroden- flüssigkeit die thermische Änderung der E.M.K. des Muskelstromes in gleicher Weise stattfindet wie bei NaCl-Lösung. Es kann also ein Diffusionspotential des äusseren Elektrolyten für diese Er- scheinung nicht maassgebend sein, sondern es werden hier vor allem die Elektrolyte des Muskels in Betracht kommen. Nach unseren Untersuchungen kann fernerhin erwartet werden, dass analog dem reinen Thermostrom des unversehrten Muskels auch ein solcher von einem stromlosen Muskelpräparat mit doppeltem (proximalem und distalem) Querschnitt ableitbar sein müsste. Leider war es trotz unserer Bemühungen nicht möglich, bei der für die einseitige thermische Einwirkung erforderliche Länge eines solchen 'Präparates, ein bei Ableitung von beiden Querschnitten genügend stromloses Objekt zu gewinnen. Da auf diesem Wege eine weitere grundsätzliche Aufklärung nicht zu erwarten war, wurde die Auf- wendung einer mühsamen Technik zur Herstellung „äquipotentialer“ Querschnitte unterlassen. Unzweifelhaft kommt der Erscheinung des anfänglichen An- stieges der E.M.K. des Muskelstromes ein nicht geringes Interesse zu. Eine Erklärung derselben aus etwaigen mechanisch erzeugten Veränderungen am Muskel, welche sich unter Erhöhung der Potential- differenz allmählich zurückbilden, ist bei der grossen Regelmässigkeit des Phänomens trotz bedeutender Zunahme unserer Übung in der Herstellung des Präparates nicht gerade wahrscheinlich. Auch tritt die Erscheinung am anäerob im Paraffınbad gehaltenen Muskel bei der besseren Konservierung des Muskelstromes in der Regel viel ausgiebiger und anhaltender auf als in der feuchten Kammer. Des- gleichen ist eine Erklärung aus einer Widerstandszunahme in den Oberflächenschichten des Muskels infolge leichter Eintrocknung oder Durehtränkung mit Paraffın, wodurch eine Nebenschliessung des Muskelstromes teilweise beseitigt wird, nicht gut mit sämtlichen Beobachtungen, vor allem der langen Dauer des Anstieges bei isophoretischer Elektrodenfüllung, widerspruchslos zu vereinen. Manche Umstände sprechen für die Mitwirkung eines zeitlich ver- laufenden Elektrolytausgleichs, allein eine endgültige Stellungnahme zu diesem Phänomen erscheint uns vor weiterem experimentellen Studium desselben nicht statthaft. In ganz vorzüglicher Übereinstimmung stehen unsere tatsächlichen Befunde am Muskelstrom mit denen Verzär’s über den Thermo- 383 Wolfgang Pauli und Johann Matula: strom des Nerven, für welchen dieser Autor eine Sonderstellung postuliert. Verzär fand bei den Thermoströmen des Nerven zwischen 0° und 20° C.!) ohne Ausnahme die warme Stelle positiv gegen die kalte, wobei sich ebenso wie der Längsschnitt auch der (Querschnitt des Nerven thermisch aktiv erwies. Abkühlung des (Querschnittes und Erwärmung des Länesschnittes vergrösserte den Längs-Querschnittstrom des Nerven, Erwärmung des Querschnittes und Abkühlung des Längsschnittes verminderte ihn. Ferner waren die Änderungen bei thermischer Beiuflussung am Querschnitt kleiner als am Längsschnitt. Nach diesen Befunden besteht kein wesentlicher Unterschied zwischen dem Thermostrom des Nerven und dem von uns untersuchten Thermostrom des Muskels, dagegen werden durch unsere Beobachtungen einige Schlussfolgerungen Verzär’s erschüttert. Dieser Forscher glaubte an Bernstein’s Membrantheorie festhalten zu können durch die Annahme, dass auch am Nervenquerschnitte eine Membranwirkung vorliest. Als wirksame Membran betrachtet er die Ranvier’schen Einschnürungen. Solange die thermoelektrische Änderung vom Muskelquerschnitt aus und damit die Hinfälligkeit von Bernstein’s Satz, dass die thermische Änderung des Bestandsstromes am Muskel mit derjenigen vom Längsschnitte aus identisch sei, unerkannt war, konnte Verzär’s Annahme weniger gesucht erscheinen. Nunmehr darf sie als Hypothese ad hoc bezeichnet werden. Bernstein glaubte, aus Hermann’s und seinen Versuchen über die thermische Beeinflussung des Nerven- und Muskelstromes bei Erwärmen und Abkühlen des ganzen Präparates eine Änderung der E.M.K. proportional der absoluten Temperatur erschliessen zu können. An sich würde das Bestehen eines Thermostroms vom Muskelquerschnitt her mit einem solchen Verhalten nicht in Wider- spruch stehen. Wiewohl unsere Versuche nicht auf eine quanti- tative Nachprüfung dieser Abhängigkeit von der absoluten Tempe- ratur gerichtet waren, möchten wir uns nach den von Bernstein bekannt gegebenen Versuchsdaten hinsichtlich einer so einfachen 1) Bei Erwärmungsversuchen mit höheren Temperaturen fand dieser Autor Unregelmässigkeiten, von denen noch festzustellen wäre, ob sie auf das nicht genügend indifferente Mandelölbad zurückgehen. Im Temperaturbereich 0—20° C. gehen die mitgeteilten Werte der E.M.K. des Nerventhermostromes pro 1° C. für Einwirkung auf den Querschnitt weiter auseinander als auf den Längsschnitt. EHER — ne EEE Der Thermostrom des Muskels. 383 thermoelektrischen Beziehung des Muskel- und Nervenstroms zur absoluten Temperatur die grösste Zurückhaltung!) auferlegen. Denn die thermische Änderung macht nur einen überaus geringen Bruchteil der E.M.K. des Bestandstromes aus. In einem als be- sonders schlagend ausgewählten Versuchsbeispiel Bernstein’s (Elektrobiologie S. 92) betrug sie für 8° C. 3—4°h. Die von Bernstein angegebenen Abweichungen der berechneten von den beobachteten Grössen müssen unter diesen Umständen als recht er- heblich bewertet werden, zumal sie nicht nach beiden Seiten schwanken, sondern einen deutlichen Gang zeigen. Wir hoffen, die hier mitgeteilten Versuche über den Thermo- strom des Muskels bald ergänzen zu können. 1) Vgl. M. Cremer in Nagel’s Handb, d. Physiol. Bd. 4 S. 366. 384 R. H. Kahn: (Aus dem physiologischen Institute der deutschen Universität in Prag.) Zur Frage der Wirkung von Schilddrüse und Thymus auf Froschlarven. Von R. H. Kahn. In einer sehr ausführlichen Mitteilung hat kürzlich Romeis!) die Resultate ausgedehnter, ganz systematisch unternommener Versuche erörtert, welche die bemerkenswerte, von Gudernatsch?) in Aus- führung eines Gedankens von A. Kohn entdeckte Wirkung der Schild- drüse und Thymus auf das Wachstum und die Entwicklung von Frosch- larven zum Gegenstande haben. Die experimentellen Resultate ent- sprechen durchaus den Befunden, welche seinerzeit von Gudernatsch erhoben wurden; durch entsprechende Anordnung der Versuche konnten jedoch noch eine ganze Reihe spezieller Punkte heraus- gearbeitet werden. So wurde dem Wassergehalte, sowie jenem an organischer und anorganischer Substanz der Versuchstiere besondere Aufmerksamkeit geschenkt, die Gewichtsverhältnisse kontrolliert, der Einfluss von Schilddrüse und Thymus auf die Regeneration studiert, sowie eine Reihe sonstiger Details der Untersuchung unterzogen. Man findet ebendort die über die Wirkung der genannten Organe auf Amphibienlarven bis dahin vorliegende Literatur?) zusammen- gestellt. 1) B. Romeis, Experimentelle Untersuchungen über die Wirkung inner- sekretorischer Organe. II. Der Einfluss von Thyreoidea- und Thymusfütterung auf das Wachstum, die Entwicklung und die Regeneration von Anurenlarven. Arch. f. Entwicklungsmech. Bd. 40 S. 571 und Bd. 41 S. 57. 1914—1915. 2) J. F. Gudernatsch, Feeding Experiments on Tadpoles. I. Arch. f. Entwicklungsmech. Bd. 35 S. 457. 1912. 3) Hierzu noch: L. Adler, Über künstliche Metamorphosehemmung bei Amphibienlarven. Verhandl. d. Berliner physiol. Gesellsch. 9. Jan. 1914. — L. Adler, Die Wirkungsweise des Milieus auf die Gestaltung der Organismen. Verhandl. d. Berliner physiol. Gesellsch. 22. Mai 1914. — L. Adler, Über sexuelle Differenzierung embryonaler Thyreoideen. Zentralbl. f. Physiol. Bd. 28 Zur Frage der Wirkung von Schilddrüse und Thymus auf Froschlarven. 385 Seit der Publikation von Gudernatsch beschäftige ich mich in jedem Frühjahre mit der Fülle sehr interessanter Erscheinungen, welche man bei der Behandlung von Frosch- und Krötenlarven mit Schilddrüse und Thymus beobachten kann. Ich weiss über keine derartig systematisch angestellten Versuche zu berichten, wie Romeis, verfüge aber über eine reiche Zahl von Versuchsprotokollen, aus denen ich einige Punkte, welche mir interessant genug erscheinen, hervorheben möchte. Am einfachsten lässt sich die Organwirkung beobachten, wenn man nach. dem Vorgange von Gudernatsch kleine Stückchen von Schilddrüse oder Thymus in die mit Wasser gefüllten Sehalen, welche die Larven enthalten, hineinwirft. In diesem Falle fungieren die Stückchen als Futter. Es lässt sich dabei zunächst eine sehr ver- schieden grosse Attraktionsfähigkeit der verschiedenen Organe auf die Tiere feststellen. Die Schilddrüse (vom Pferde ebenso wie vom Rinde) lockt die Larven sofort in hohem Maasse an. Auch wenn man das einzelne Stückchen sehr vorsichtig in das Wasser versenkt, verbreiten sich offenbar mit grosser Geschwindigkeit Stoffe in demselben, welche nach kürzester Zeit, nach wenigen Sekunden bewirken, dass die Larven auf das Organstück zustürzen und sofort heftig zu fressen beginnen. Am meisten besitzt die Pferdeschild- drüse solche anlockende Stoffe. Weniger ausgesprochen, aber doch gut zu beobachten ist die gleiche Erscheinung bei der Pferde- und Rinderleber, welche ich stets zu Kontrollversuchen benütze. Am wenigsten lockt die Thymus die Tiere an. Es kommt vor, dass die Stückehen dieses Organes längere Zeit ganz unbeachtet im Wasser liegen, bevor die Larven von ihnen fressen. Diese Erscheinungen sind in meinen Versuchen, bei welchen täglich das Wasser gewechselt und frische Organstückchen zugesetzt wurden, auch noch am zweiten Nr. 12 S. 766. 1914. — L. Adler, Metamorphosestudien an Batrachierlarven. Arch. f. Entwicklungsmech. Bd. 40 S. 1 und 18. 1914. — A. P. Dustin, Thymus et thyroide. Annal. et Bullet. de la Soc. Roy. des Science. med. et nat. de Bruxelles, 72e annee, no.5 p. 126. 1914. — V. Laufberger, O vzbuzeni meta- morforsy axolotlü krmenim Zlazou Stitnou. Lekatsk& Rozhledy, Beilage des Casopis lekarüv Ceskych. 1913. — Fr. Brendgen, Über die künstlich erzielte Metamorphose der Alyteslarven. Anat. Anz. Bd. 46 Nr. 22/23. 1914. — M. Morse, The effective prineiple in thyroid accelerating involution in frog larvae. Journ. of biol. Chemistry vol. 19 (3) p. 421. — G. Cotronei, Premiere contribution experimentale & l’etude des rapports des organes dans la croissance et dans la metamorphose des amphibies anoures. Arch. ital. de biol. t. 61 fasc.3 p. 305. 1914. Pflüger’s Archiv für Physiologie. Bd. 163. 26 386 R. H. Kahn: Fütterungstage zu sehen gewesen, später aber nicht mehr. Denn nach kurzer Zeit, oft schon nach der zweiten Fütterung, stellen die Tiere, welche Schilddrüse erhalten, das Fressen ein. Sie kümmern sich um die in die Schale geworfenen Organstücke überhaupt nicht mehr und rühren dieses Futter während der ganzen Zeit, in welcher sie nun ihre vorzeitige Metamorphose vollziehen, bis zu ihrem frühzeitigen Tode nach völliger oder teilweiser Beendigung derselben nicht mehr an. Dann ist also zu beobachten, dass die Larven begierig die Leber, ausreichend die Thymus fressen, dass die Schilddrüse aber als Futter nicht mehr in Betracht kommt. Dieses Verhalten habe ich stets so auffallend gefunden, dass es verwunderlich ist, dass keiner der Untersucher dasselbe erwähnt. Tatsächlich haben in meinen zahlreichen Versuchen mit Schilddrüsenstückchen die Tiere nur ganz im Anfange gefressen. Längstens nach 2 Tagen hörten sie auf, die Schilddrüse verdarb ihnen gleichsam den Appetit. Das Wasser, in welchem sich die Larven befinden, nimmt kurze Zeit nach dem Einbringen der Organstückchen eine charakteristische Beschaffenheit an. Zunächst löst sich darin Hämoglobin, und zwar am meisten aus der Leber, viel weniger aus der Schilddrüse und am wenigsten aus der Thymus. Das hängt natürlich mit dem Ge- halte der Organe an Blut zusammen, welcher bei der Leber am srössten ist. Ferner gewinnt das Wasser von der Schilddrüse rasch eine gelbliche Farbe, seine Viskosität nimmt zu, und es scheidet sich auf der Oberfläche der Schale ein gelblicher schmieriger Belag ab. Das Wasser, welches die Thymus enthält, wird rasch milchig- trüb. Es gehen also, wie zu erwarten, rasch charakteristische Stoffe aus den Organen in Lösung, deren eventuelle Wirksamkeit in Be- tracht gezogen werden muss. Ähnliche Verhältnisse ergeben sich beim Zusatz von getrockneten Örganpulvern bzw. käuflichen Tabletten. Die Tabletten zerfallen schnell (Thymus rascher als Schilddrüse). Romeis findet, dass die Larven die Tabletten gierig frassen, wenn dieselben zerbröckelt in die Schale geworfen wurden. Ich habe solches nie gesehen. Lässt man vorsichtig Schilddrüsen- oder Thymustabletten in das Wasser fallen, so zergehen dieselben an dem Orte, an dem sie liegen geblieben sind, ohne dass sich die Larven sonderlich darum kümmern. Gelegentlich kommen einige zu den Häufchen von Organsubstanz, fressen wohl etwas davon, verursachen aber vor allem durch die Wasserbewegung beim Schwimmen eine Verteilung der feinen Organteile im Wasser. Es dauert Zur Frage der Wirkung von Schilddrüse und Thymus auf Froschlarven. 387 aber meist viele Stunden, bevor eine Emulsion derselben im Wasser auf diesem Wege zustande kommt. Auch von den in Tablettenform eingebrachten Organen lösen sich charakteristische Bestandteile im Wasser, wieder entsteht in den Schilddrüsenschalen die gelbliche Schmiere, in den Thymusschalen eine leichte milchige Trübung. Ein grosser Teil der Tablettensubstanz bleibt ungelöst. In allen diesen Fällen befinden sich die Larven also in Wasser, welches einen Teil der zugesetzten Organsubstanzen mehr oder minder srob suspendiert, ein anderen aber gelöst enthält. Es handelt sich also stets auch um den Aufenthalt der Tiere in stärker oder schwächer konzentrierten Extrakten der einzelnen Organe. Es scheint bisher niemand Versuche darüber angestellt zu haben, ob solche Ex- trakte allein, ohne jeden Gehalt an suspendierten OÖrganteilen, auf die Larven wirken. Eine Andeutung eines solchen Versuches findet sich bloss einmal bei Gudernatsch!) (S. 449). Es wurde ein mit Gaze verschlossenes Glasfläschehen, in welchem sich Schilddrüsenstückehen befanden, aufrecht in die Schale mit den Larven gestellt, so dass sein oberer Rand nahe an die Oberfläche des Wassers reichte. Auf solche Weise gelangten Schild- drüsenbestandteile („extract or emulsion of thyreoid constituents“) in das Wasser der Schale. Es lässt sich leicht nachweisen, dass ebenso wie die Schilddrüsen- stücke und die Schilddrüsentabletten auch aus der Drüse in Wasser gelöste Substanzen die gleiche Wirksamkeit entfalten. Aus der frischen Schilddrüse wird nach Zerkleinerung des Organes in der Maschine durch 24 stündige Extraktion mit Wasser ein Extrakt hergestellt, welcher filtriert, scharf zentrifugiert und noch- mals filtriert wird. Täglicher Zusatz von geringen Mengen solchen Extraktes zum Wasser in den Versuchsschalen hat die gleiche wachstumshemmende und differenzierungsbeschleunigende Wirkung auf die Froschlarven wie die Organstücke selbst. Die reinsten Wasserextrakte, nämlich solche, welche bei mikroskopischer Unter- suchung keinerlei geformte Bestandteile aufweisen, erhält man aus Sehilddrüsentabletten. Die Aufschwemmung einer Tablette („Tabloid“ Thyroid Gland, Burroughs Wellecome, Thyraden Knoll) in ea. 30 ccm Wasser, nach 24 Stunden gut filtriert und scharf zentri- 1) J. F. Gudernatsch, Feeding Experiments on Tadpoles. II. Americ. Journ. of Anatomy vol. 15 no. 4 p. 431. 1914. 26 * 388 R.cH: Kahn: fugiert, gibt eine wasserklare, abiurete, mit Ninhydrin stark positiv reagierende Lösung von Schilddrüsenbestandteilen, welche vorzüglich wirksam ist. Hält man die Tiere in Wasser, welchem derartige Extrakte zugesetzt werden, so kann man noch ein geformtes, indifferentes Futter (Leber, Muskel) hinzusetzen. Dann stellt sich auch hier wieder heraus, dass die Tiere, welche sich in Schilddrüsenextrakten befinden, schon nach ganz kurzer Zeit das Fressen der Organstücke, auf welche sie sich im Anfange begierig stürzten, einstellen, während die mit Thymusextrakten behandelten das geformte Futter weiter nehmen. Aus solehen Versuchen geht also hervor, dass man die spezifischen Organwirkungen auf die Larven unter solchen Umständen hervor- zurufen imstande ist, bei denen von einer Fütterung im gewöhnlichen Sinne des Wortes nicht gesprochen werden kann. Hier erhebt sich nun die Frage, ob man annehmen darf, dass im Wasser gelöste Substanzen bei Mangel an geformter Nahrung auf dem gewöhnlichen Futterwege, also durch den Magen-Darm-Kanal, in den Organismus der Froschlarven übergehen können. Dabei kommt es darauf an, ob diese Tiere, ohne geformte Nahrung zu erhalten, Wasser ver- schlucken. Über die Aufnahme von Wasser durch den Verdauungs- extrakt bei Tieren, welche im Wasser leben, ist kaum etwas Sicheres bekannt. In der mir zugänglichen Literatur Konnte ich mich nieht genügend darüber orientieren. Es gibt zwar eine lebhafte Diskussion über die Frage der Ernährung der Fische und sonstiger Wasser- tiere mit gelösten Substanzen, wobei offenbar zum Teile als Tatsache vorausgesetzt wurde, dass diese Tiere auch bei Mangel einer geformten Nahrung Wasser in reichlicher Menge in den Verdauungsextrakt aufnehmen. Es scheint wohl zweifellos, dass die dauernd im Wasser lebenden Tiere ihren geringen Wasserverlust neben dem in der ge- formten Nahrung enthaltenen Wasser auch noch aus solchem decken, welches der geformten Nahrung anhaftend oder zugleich mit dieser verschluckt in den Magen-Darm-Kanal gelangt. Wenn es aber auch zweifelhaft ist, ob daneben auch ein Verschlucken von Wasser allein ' vorkommt, so kann doch nicht in Abrede gestellt werden, dass geringe Wasserquantitäten durch Schluckakte oder auch ohne solche in den Magen gelangen. Es wird also bei Ausschluss geformter Nahrung zu erwarten sein, dass solche Stoffe, deren Wirksamkeit schon bei sehr geringer Dosierung in Erscheinung tritt, dem Wasser Zur Frage der Wirkung von Schilddrüse und Thymus auf Froschlarven. 389 zugesetzt, vom Magen-Darm-Kanale aus wirksam werden können. Wie weit man ausserdem noch eine Resorption speziell an den Kiemen, aber auch an den Schleimhäuten des obersten Verdauungs- traktes und an der Körperoberfläche annehmen kann, lässt sich vor- läufig nicht mit Sicherheit feststellen. Immerhin wären solche Vor- eänge in Betracht zu ziehen. Die erwähnten Extrakte wirken nun ganz in dem Sinne, wie es seinerzeit von Gudernatsch zuerst gefunden und nachher von allen Untersuchern bestätigt wurde. Die aus Schilddrüse bereiteten beschleunigen in ausserordentlichem Maasse die Differenzierung des Körpers, die Bildung, das Hervorbreehen und das Wachstum der Extremitäten, die Reduktion des Schwanzes, während sie das Körper- wachstum hemmen. Die Thymusextrakte haben eine das Körper- wachstum sehr fördernde, die Differenzierung aber hemmende Wirkung. Mannisfache spezielle Beobachtungen, welehe in den Unter- suchungen von Gudernatsch, Romeis u. a. niedergelest sind, lassen sich immer wieder bestätigen. Namentlich die Schilddrüsen- wirkung zeigt eine Fülle von Details. Bevor wir auf die Besprechung einiger besonders bemerkenswerter eingehen, sollen im letzten Sommer angestellte Versuche erwähnt werden, welche eine weitere Ver- arbeitung der aus der Schilddrüse gewonnenen Extrakte zum Gegen- stande hatten. Diese Versuche sind wegen der Kürze der Zeit, in welcher Versuchstiere zur Verfügung standen, und wegen militär- ärztlicher Beanspruchung des Verfassers nicht sehr weit gediehen, haben aber doch einige interessante Resultate gezeitigt. Zunächst ist zu erwähnen, dass die aus frischer Schilddrüse bzw. Tabletten hergestellten wirksamen Extrakte thermostabil sind. Auch längeres Erhitzen derselben bis zum Sieden schädigte nicht merklich ihre Wirkung. Eine Gruppe von Larven von Rana tem- poraria, welche aus Eiballen stammten, die am 12. April 1915 ab- gelegt worden waren, wurde zum Beispiel zur Hälfte mit ungekochtem, zentrifugiertem Extrakte frischer Rinderschilddrüsen behandelt, die andere Hälfte dagegen mit dem gleichen Extrakte, welcher vorher durch 5 Minuten zum Sieden erhitzt worden war. Das Experiment begann am 24. April, bereits am 28. April waren in beiden Schalen die Stummeln der hinteren Extremitäten deutlich, am 30. April war die Metamorphose nahezu vollendet. Gut ausgebildete hintere Ex- tremitätenstummeln, vollendeter Durchbruch der linken vorderen 390 R. H. Kahn: Extremitätenstummeln bei vielen Tieren, starke Reduktion des Schwanzes. Ein Unterschied war zwischen beiden Gruppen nicht zu bemerken. Unter Ausbildung der typischen geigenartigen Körper- form gingen sämtliche Tiere in diesem Stadium der Behandlung ein. Die Thermostabilität des hier wirksamen Körpers gestattet, wie gleich noch zu erörtern sein wird, bei der Reinigung der Ex- trakte in bestimmter Richtung fortzuschreiten. Es ist allerdings zu erwähnen, dass Romeis bei der Verwendung gekochter Schild- drüsentabletten eine Abschwächung der Wirkung beobachtet zu haben, mitteilt. Was die Tablettenverwendung selbst anlangt, so lässt sich in Bestätigung der Angaben von Romeis die vorzügliche Wirk- samkeit von Schilddrüsentabletten verschiedener Herkunft leicht be- obachten. Namentlich die „Tabloid“-Tabletten von Burroughs Welleome wirken mindestens ebenso prompt wie frische Schild- drüse. Aber auch die Thymustabletten („Tabloid“, Thymus Gland) dieser Firma bringen die gleichen Wirkungen zu Wege wie die frische Thymus. Dass auch klare Extrakte dieser Tabletten voll wirksam sind, ist oben schon erwähnt worden. Man besitzt in der Anwendung der käuflichen Tabletten auf die Froschlarven ein sicheres Mittel der Beurteilung ihrer Wirksamkeit gegenüber dem frischen Organe und damit also eine Methode zur biologischen Prüfung derselben. Eine solche Prüfung der im Handel erhältlichen Scehilddrüsenpräparate durchzuführen, hat Romeis angekündigt. Bezüglich der Analogie der Wirkung der Schilddrüsenpräparate auf Froschlarven und Säuger, welche hier naturgemäss in erster Linie interessiert, kann etwas Bestimmtes vorläufig nicht ausgesagt werden. Jedoch ist zu vermuten, dass wenigstens ein Teil der Wirkung auf die Larven in der Beschleunigung des Stoffwechsels durch die Schild- drüse ihren Grund haben dürfte, einer Erscheinung, welche ja be- kanntlich beim Säuger das am meisten Charakteristische der Schild- drüsenwirkung ausmacht. Das Kriterium für die Wirksamkeit des betreffenden Präparates ist nicht nur ein sehr scharfes, sondern man ist schon nach kurzer Zeit in der Lage, bestimmte Angaben zu machen. Ebenso wie frische : Schilddrüse wirken gute Tabletten und Fxtrakte bereits sichtlich nach einigen Tagen. Schon am dritten Tage nach Beginn des Experimentes kann der Erfahrene die Wirksamkeit an der Körperform der Larven und dem Verhalten der Extremitätenanlagen Zur Frage der Wirkung von Schilddrüse und Thymus auf Froschlarven. 39] ‚mit. Sicherheit beurteilen. Auch das Benehmen der Tiere, die Ein- ‚stellung der Fresslust geben einen sicheren Fingerzeig ab. Nur ist es zweckmässig, worauf wir weiter unten nochmals zurückkommen, zur Schilddrüsenprüfung nicht gar zu junge, für die Thymusprüfung aber recht junge Larven zu verwenden. Ein weiterer Schritt zur Reinigung bzw. Fraktionierung der Schilddrüsenextrakte wird durch die Verwendung von Alkohol- extrakten erreicht. Auch erhält man dadurch etwas besser halt- bare Präparate als bei wässeriger Extraktion des frischen Organes. Fein zerteilte Schilddrüse mit 96°/o Alkohol extrahiert gibt nach 24stündigem Stehen und Filtration eine weingelbe, klare Flüssig- keit. Der Alkohol wird abgedampft. Dabei trübt sich die Flüssig- keit immer mehr, bis zum Schlusse schmierige, weissliche Massen ‚ausfallen, welche wesentlich aus Lipoiden bestehen. Nach grober Entfernung derselber wird die verbleibende dunkelgelbe, trübe, wässerige Lösung im Scheidetrichter mit Äther ausgeschüttelt. Man erhält auf diese Weise nach Vertreibung des Äthers eine klare, abiurete, mit Ninhydrin positive Lösung mit reichem Gehalte an Aminosäuren. Die nach Abdampfung des Alkohols ausfallenden, so- wie alle ätherlöslichen Stoffe der alkoholischen Extrakte sind — in gut gereinigtem Zustande an den Froschlarven geprüft — völlig unwirksam. Die trübe, wässerige Lösung, welche nach Abdampfung des Alkohols verbleibt und ebenfalls abiuret und ninhydrinpositiv ist, wirkt vorzüglich. Auch hier sei wieder ein Beispiel angeführt, welches zugleich mit dem oben für frischen und gekochten, wässerigen Schilddrüsenextrakt erwähnten gut verglichen werden kann. da der Beginn des Experimentes auf den gleichen Tag fiel. Am 24. April wurde ein Satz Froschlarven, welche der gleichen Quelle entstammten wie die oben erwähnten, mit dem eben angeführten trüben Präparate behandelt. Am 28. April waren die hinteren Extremitätenstummeln deutlich, am 1. Mai waren diese gut ausgebildet. Am 4. Mai waren kleine Stümpfe der linken vorderen Extremitäten durchgebrochen. Am 9. Mai waren die kleinen hinteren Extremitäten vollkommen ausgebildet, die Gelenkstellen in leichter Beugung, die Zehen ent- wickelt. In diesem Stadium gingen sämtliche Tiere zugrunde. Dabei war der Schwanz kaum reduziert, die Körpergrösse aber gegenüber den zur Kontrolle mit Leber gefütterten Tieren des gleichen Wurfes ziemlich vermindert. Das mit Äther ausgeschüttelte Präparat, welches recht 'haltbar 392 R. H. Kahn: ist und erst nach längerer Zeit verpilzt, verhält sich in der Wirk- samkeit ganz ähnlich. Auch hierfür ein Beispiel: Am 4. Mai wurde ein Satz ganz junger Froschlarven mit dem Präparate behandelt. Am 10. Mai waren die hinteren Extremitätenstümpfe erschienen, am 12. Mai waren diese schon recht gross. Am 18. Mai waren kleine hintere Extremitäten ausgebildet, die Gelenkstellen in leichter Beu- gung, die Zehen entwickelt, die Vorderextremitäten sehr klein, aber vorhanden, die linke bei einigen Exemplaren durchgebrochen, der Schwanz kaum reduziert, die Körpergrösse gegenüber den Kontroll- tieren ziemlich vermindert. In diesem Stadium gingen alle Tiere zugrunde. In den geschilderten Experimenten, von denen im Laufe der Zeit eine grosse Reihe angestellt wurde, betrug die der Wasser- menge von etwa 500 cem, in der die Larven gehalten wurden, zu- gesetzte Menge der Präparate etwa 4 cem. Dabei wurde der Schild- drüsenbrei etwa mit dem gleichen Volumen Alkohol extrahiert. Aus solehen Versuchen geht hervor, dass aus Schilddrüse her- gestellte Präparate, welche völlig eiweissfrei sind, prinzipiell die gleiche Wirkung auf die Froschlarven entfalten. Indessen ergibt der Vergleich ihrer Wirkungen mit denen der frischen Wasserextrakte einen stets zu beobachtenden Unterschied. Die Differenzierung der Tiere erfolgt nicht so stürmisch wie bei den letzteren. Die Wirkung dauert etwas längere Zeit und betrifft stets am wenigsten die Reduk- tion des Schwanzes. Auch das Aussehen der Tiere wird nicht so auffällige verändert wie bei der Behandlung mit frischen Organen oder Wasserextrakten; es bleibt die Ausbildung der Körperform, die Aufblähung des Leibes, kurz der ganze, einen gewaltsamen Eindruck machende, überstürzte Verlauf des Experimentes aus. Alles verläuft viel milder, und die Tiere sterben schliesslich, ohne bereits Tage vorher den Eindruck der Lebensunfähigkeit gemacht zu haben. Dieser Unterschied lässt sich offenbar nicht einfach darauf zurückzuführen, dass der Gehalt der Präparate an wirksamem Stoffe ein verminderter sei. Denn die Wirksamkeit frischer Schilddrüse oder frischer wässeriger Fxtrakte lässt sich nicht bis zu dem ge- schilderten Verlaufe abstufen. Auch in ganz geringen Dosen wirken diese, wenn überhaupt, noch immer recht stürmisch, wenigstens habe ich das nie anders gesehen. Es ist also zu vermuten, dass durch die geschilderten Prozeduren der wirksame Stoff entweder eine der- artige Veränderung erleidet, dass seine Wirkung eine mildere, aber Zur Frage der Wirkung von Schilddrüse und Thymus auf Froschlarven. 393 doch prinzipiell gleiche, nämlich die Differenzierung fördernde wird, oder dass von einer Anzahl verschieden wirksamer Stoffe ein Teil zugrunde geht oder abgeschieden wird, bzw. dass gewisse, die spezifische Wirkung beeinflussende Stoffe (vielleicht katalytisch be- sehleunigende) im Alkoholextrakte fehlen. Ähnliche Erfahrungen macht man mit eiweissfreien Präparaten, welche aus den käuflichen Tabletten hergestellt werden. Gut zer- rieben und 24 Stunden mit Wasser extrahiert, geben diese, wie schon oben erwähnt, nach Zentrifugieren und Filtration klare, völlig abiurete, ninhydrinpositive Lösungen. Auch diese sind sehr gut, aber milde wirksam. Nach zehntägiger Behandlung zeigten die Froschlarven alle vier Extremitäten, der Körper hatte leichte Sanduhr- form (geringe taillenförmige Einschnürung), der Schwanz zeiste nur geringe Reduktion. Die kleinen Tiere gingen sämtlich am zehnten Tage zugrunde. Endlich ist noch über eiweissfreie Präparate zu berichten, welche durch Dialyse hergestellt wurden. Frische wässerige Schilddrüsen- extrakte wurden durch Fischblase gegen destilliertes Wasser dia- lysiert. Es resultierte eine abiurete, ninhydrinpositive Lösung von sehr milaer Wirksamkeit. Am fünften Tage waren die hinteren Extremitäten ausgebildet, der Schwanz unverändert. Dann gingen die Tiere ein. Man ersieht also aus allen diesen Experimenten, dass die Schilddrüsenwirkung auf die Froschlarven an den Eiweissgehalt des Präparates durchaus nieht geknüpft ist. Damit ist natürlich keineswegs gesagt, dass der wirksame Stoff auch im frischen Organe kein Eiweisskörper oder an Eiweiss ge- knüpft sein kann. Denn in den beschriebenen Präparaten sind Abbau- produkte von Eiweiss enthalten. Und wenn man die spezifische Wirkung der frischen Schilddrüse auf ihren Gehalt an jodierten Eiweisskörpern zurückführt, kann man sich zum Beispiel in unseren Präparaten die Wirkung an jodierte Aminosäuren geknüpft denken. Für derartige Verhältnisse würden die oben zitierten Untersuchungen von Morse sprechen, welcher jodierte Aminosäuren (Dijodotyrosin) auf die Froschlarven wirksam gefunden hat. Immerhin wäre es sehr interessant, auf dem Wege der Fraktionierung fortzuschreiten, um die wirksamen Substanzen besser zu isolieren. Denn die An- nahme jodierter, Eiweisskörper als einzig wirksamer Substanz be- gesnet doch mancher in den bisherigen Erfahrungen liegender 394 R. H. Kahn: Schwierigkeiten. (Jodfreie Schilddrüsen, Genese des Jodothyrins, Unwirksamkeit anorganischer Jodverbindungen.) Eine Reihe von Ver- suchen mit Blei- und Phosphorwolframsäurefraktionen haben bisher zu keinem klaren Resultate geführt. Zum Teile waren alle Fraktionen kaum wirksam , zum Teile waren sie wegen Zeitmangels nicht ge- nügend gereinigt und wirkten giftig. Solche Untersuchungen sollen einer späteren Zeit vorbehalten sein. Was nun die Wirkung der Schilddrüse und der aus dieser hergestellten Präparate anlangt, so wäre auf einige spezielle Punkte besonders hinzuweisen. Der Unterschied, welcher sich bei der Schilddrüsenbehandlung sehr junger und älterer Froschlarven be- merkbar macht, ist besonders von Romeis hervorgehoben worden. Im allgemeinen verläuft bei älteren Larven die vorzeitige Meta- morphose ganz glatt und vollständig zu Ende. Bei einiger Sorgfalt kann man auch einige der abnorm kleinen Fröschehen wenigstens einige Zeit weiter erhalten. Bei sehr jungen Tieren ist das anders. Mir ist es nie gelungen, bei Fütterung mit Schilddrüse oder Tabletten an sehr jungen Tieren völlig ausgebildete Extremitäten zu erhalten, wohl aber alle vier Extremitätenstummeln und Schwanzreduktion. Die Stummeln der hinteren Extremitäten werden bis zu 1!/s mm lang, bleiben aber weiter undifferenziert und völlig unpigmentiert. Auch gingen diese Tiere, auch wenn keine hohen Dosen von Schild- drüse verwendet wurden, was überhaupt unzweckmässig ist, ausnahms- los zur Zeit des Erscheinens der vorderen Stummeln zugrunde. Die gleichen Beobachtungen machte Romeis an Tieren, welche infolge von Fütterung mit Schilddrüsentabletten die Metamorphose sehr rasch vollendeten. Auch hier waren ganz zarte, mehr oder weniger unentwickelte Extremitäten zu sehen. In einem Falle hat Romeis bei Tieren, deren Fütterung schon aın achten Tage nach dem Ablaichen begonnen wurde, nach 36 Tagen die Metamorphose vollendet gesehen. Über die genaue Dosierung ist leider nichts Bestimmtes ausgesast. Übrigens gibt Romeis selbst an, dass die Thyreoideakaulquappen, wenn mit der Schild- drüsenfütterung bereits auf frühem Stadium begonnen wird, ihre Metamorphose nicht mehr völlig vollenden. Jedenfalls sind ganz junge, mit Schilddrüse behandelte Larven sehr hinfällig, eine Erscheinung, welche auch von Cotronei besonders hervorgehoben wurde. Die Erfahrungen, welche ich bezüglich der Reduktion des Schwanzes an den mit Schilddrüse behandelten Tieren gemacht Zur Frage der Wirkung von Schilddrüse und Thymus auf Froschlarven. 395 habe, stimmen mit den von anderen hervorgehobenen Befunden über- ein. Bei der normalen Metamorphose der Froschlarven beginnt die Reduktion des Schwanzes bekanntlich zur Zeit des Durehbruches der vorderen Extremitäten. Nach Fütterung mit Schilddrüse oder Verwendung von Tabletten und frischen Organextrakten beginnt die Einschmelzung des Schwanzes sofort und schreitet sehr schnell vor- wärts. Dadurch erhalten die Bewegungen der Tiere im Wasser etwas eigenartig Schwirrendes, ein Phänomen, das schon Guder- natsch hervorgehoben hat. Die Regel ist es, dass die Larven kaum mehr einen Schwanz besitzen, Jange bevor noch etwas von den vorderen Extremitäten zu sehen ist. Bei Anwendung der oben erwähnten gereinieten Präparate geht die Entwicklung, wenn auch sehr beschleunigt, doch mehr ihren normalen Gang. Die Wirkung verläuft, wie oben geschildert, gleichsam milder, wenn auch in sehr kurzer Zeit; die Abnahme der Körpergrösse ist geringer, und der Schwanz lässt kaum eine Reduktion erkennen, zu einer Zeit, zu welcher auch die vorderen Extremitäten bereits durchgebrochen sind. Was nun diesen Durchbruch selbst anlangt, so ist mir seit langem ein besonderes Verhalten aufgefallen, welches früher niemals von einem Untersucher erwähnt wurde. Erst in der Arbeit von Cotronei ist davon die Rede, allen anderen Untersuchern scheint die Besonderheit entgangen zu sein. In meinen sämtlichen zahl- reichen Versuchen ist ausnahmslos die linke vordere Extremität im Laufe der durch Schilddrüse hervorgerufenen beschleunigten Meta- morphose zuerst durchgebrochen. Auch CGotronei hat nie eine Ausnahme festgestellt. Am auffallendsten habe ich diese Erscheinung an solehen Tieren gesehen, welche zuerst längere Zeit mit Thymus gefüttert und nachher mit Schilddrüse behandelt wurden. Durch die Fütterung init Thymus erzielt man bekanntlich sehr grosse nicht differenzierte Larven, welche auf Schilddrüse sehr prompt ansprechen. Man erhält hierbei relativ grosse Fröschehen fast ohne Schwanz, mit bloss drei Beinen. Das linke Vorderbein ist vollkommen ent- wickelt, längst durchgebrochen, während in vielen Fällen von dem rechten überhaupt noch nichts zu sehen ist. Aber auch bei allen anderen Behandlungsmethoden erscheint stets die linke vordere Ex- tremität zuerst. Man kann diese Erscheinung an den zahlreichen Abbildungen, welche Gudernatsch seinen Mitteilungen beigegeben hat, sehr gut sehen. Alle abgebildeten Tiere, weiche nur drei Extremitäten 396 R. FH. Kahn: besitzen, haben eine linke vordere Extremität. Romeis erwähnt selegentlich der Schilderung seiner zahlreichen Versuche das Ver- halten einzelner vorderer Extremitäten. So findet man in Ver- such XIII (S. 636) hervorgehoben, dass bei vier Tieren die linke vordere Extremität durchgebrochen ist. Auch in Versuch XV (S. 646) ist gemeldet, dass bei einer ganzen Gruppe von Thyreoidenkaulquappen die linke vordere Extremität durchgetreten ist. Ferner wird das gleiche in Versuch XVII (S. 61) berichtet, während in Versuch XX (S. 70) nur von „der einen Körperseite“ die Rede ist. Auf den der Arbeit von Romeis beigegebeuen Tafeln besitzen alle dreibeinigen Tiere die linke vordere Extremität mit einer Ausnahme. Das linke Tier der Figur 29 auf Tafel XIX besitzt, wie es scheint, nur eine vordere Extremität. Es ist die rechte. Dieses Tier stammt aus Versuch XI und wurde mit frischer Thyreoidea gefüttert. In dem gleichen Versuche erhielt eine Larvengruppe Schilddrüsentabletten. Bei dieser ist angemerkt: „Sonderbarerweise ist noch bei keinem die rechte vordere Extremität zum Vorschein gekommen, obwohl die linke schon seit längerer Zeit durchgebrochen ist.“ Endlich zeigten in der Gruppe 2 dieses Versuches (frische Schilddrüse) zwei Kaul- quappen zuerst das Durchbrechen der rechten vorderen Extremität (S. 628). Das muss als eine besondere Ausnahme bezeichnet werden, denn aus allen meinen Versuchen und aus denen von Cotronei ergibt sich, dass stets die linke Extremität zuerst, manchmal schon zu einer Zeit erscheint, wo von der Anlage der rechten noch nichts zu sehen ist. Die Erscheinung, dass regelmässig zuerst, und unter Umständen lange vor der rechten, die linke vordere Extremität das Opereulum durehbrieht, entspricht nicht den normalen Verhältnissen bei der Metamorphose. Bei Bombinatorlarven erfolgt nach den Beobachtungen von Braus!) der Durchbruch nicht selten gleichzeitig, meistens erfolst er auf einer Seite um einige Stunden oder äuch einen Tag früher als auf der anderen. Nach Barfurth?) ist es bei Frosch- larven gewöhnlich die rechte Extremität, welche zuerst durchbricht. Nach Schilddrüsenbehandlung aber bricht die linke vordere Extremität 1) H. Braus, Vordere Extremität und ÖOperculum bei Bombinatorlarven. Morph. Jahrb. Bd. 35 H. 4 S. 509. 1906. 2) D. Barfurth, Sind die Extremitäten der Frösche regenerationsfähig ? Arch. f. Entwicklungsmech. Bd. 1. (Zit. nach Braus.) Zur Frage der Wirkung von Schilddrüse und Thymus auf Froschlarven. 397 nicht nur stets zuerst durch, sondern ihr Durchbruch ist von einer oft sehr langen Pause gefolgt, oft erfolgt er auch zu einer Zeit, zu welcher von der rechten Extremität noch kaum etwas wahrzunehmen ist. Die Ursache für den Vorsprung, welchen unter den geschilderten Verhältnissen das linke Vorderbein vor dem rechten besitzt, ist un- klar. Auch Cotronei bringt keine Erklärung für diese Erscheinung. Sie mag mit der Entwicklung anderer, vielleicht der inneren Organe in einem bestimmten, vielleicht kausalen Zusammenhange stehen. Darüber wird eine Aussage erst möglich sein, bis genaue mikro- skopische Untersuchungen der verschiedenen Organe während der dureh Sehilddrüse erzwungenen Metamorphose vorliegen werden. Denn es ist anzunehmen, dass an dem abnormen Verhalten, welches sich bei der Schilddrüsenbehandlung ohne weiteres durch die äussere Betrachtung des Tieres feststellen lässt, die inneren Organe in mindestens gleichem Maasse beteiligt sind. In Verfolgung dieser Erwartung habe ich schon seit Jahren serienweise Froschlarven in den verschiedenen Stadien des durch Schilddrüse bzw. Thymus erzwungenen besonderen Zustandes zur mikroskopischen Untersuchung vorbereitet, bin aber wegen Zeitmangels noch nicht weit damit gekommen. Nur bezüglich einiger Punkte sei daher zum Schlusse noch einiges hierüber berichtet. Es wurden je einige Exemplare mehrerer Fütterungsgruppen zu zwei verschiedenen Zeiten ihrer Entwicklung in Serienschnitte zerlegt. Die Fütterung begann am 12. April 1912 unter anderem mit Leber, Sehilddrüse uud Thymus. Mehrere Exemplare dieser drei Gruppen wurden am 19. April und am 25. April zur histologischen Unter- suchung fixiert. Zu dieser Zeit waren die Thymustiere am grössten und ganz undifferenziert, die Schilddrüsentiere klein, deren Schwänze zum grössten Teile reduziert, drei oder vier Extremitäten vorhanden. Die Sterblichkeit der Schilddrüsentiere war sehr gross. Die Unter- suchung der Präparate, welche bisher nur zum Teile durchgeführt wurde, ergab folgende bemerkenswerte Resultate. Entsprechend dem auch makroskopisch bemerkbaren besonderen Verhalten gewähren die Melanophoren der Haut bei den verschieden gefütterten Tieren einen sehr verschiedenen Anblick. Eine charakte- ristische, stets zu findende Erscheinung, welche bereits von Guder- natsch beschrieben, aber sonst von keinem Forscher weiter beachtet wurde, besteht in dem Umstande, dass die mit Thymus gefütterten Tiere jederzeit auffallend dunkel, die mit Schilddrüse 398 R. H. Kahn: sefütterten auffallend hell aussehen. Dein entsprechend sieht man die Thymustiere im Schnitte von einem zusammenhängenden schwarzen Mantel umsäumt, indem die Melanophoren der Haut vollkommen expandiert innig miteinander verflochten erscheinen. Die mit Leber gefütterten Tiere zeigen einen mittleren Zustand der Ausbreitung ihrer Melanophoren, deren Zelleib übrigens deutlich heller erscheint als bei den Thymustieren. Die Schilddrüsentiere bieten einen eigen- tümlichen Anblick dar. Wie ein Rosenkranz umgeben stellenweise die völlig geballten Melanophoren als einfache Reihe tiefschwarzer, weite Lücken zwischen sich lassender runder Flecke den Schnitt. Der Unterschied ist überaus auffallend. und die Diagnose der Fütterungs- art aus den peripheren Partien der Schnitte zu stellen, hat keinerlei Schwierigkeit. Bei genauerer Durchsuchung der Präparate findet man das be- schriebene Verhalten auch an jenen pigmentführenden Zellen, welche sich tief im Innern des Körpers befinden. Namentlich an grossen Blutgefässen sind die Unterschiede in dem Zustande der Pigment- zellen gut zu sehen. Sie erstrecken sich auch, wenn auch nicht so hochgradig, auf das Pigmentepithel der Netzhaut. Die Netzhäute der Thymustiere weisen im Vergleiche mit jenes der unter sonst ganz gleichen Verhältnissen gehaltenen Schilddrüsentiere ein Ver- halten auf, weiches unter dem Namen der phototropen Reaktion des Pigmentepithels bekannt ist. Die Pigmentkörnchen reichen weiter zwischen die Aussenglieder der Neuroepithelschicht der Netzhaut hinein, während sie bei den Schilddrüsentieren die Stäbchenaussen- glieder fast frei lassen. Jedoch reicht das Phänomen in den bisher untersuchten Objekten an Intensität nicht an jene Zustände heran, welche man nach ausreichender Variation der Belichtung an er- wachsenen Tieren erzielen kann. Immerhin ist auch das Verhalten der Netzhäute für die Fütterungsart charakteristisch. Dieses Verhalten ist auch aus dem Grunde von Interesse, weil es die Frage berührt, ob sich die pigmentkörnchenführenden Zellen der Haut und der Netzhaut unter gewissen Bedingungen gleichsinnig verhalten oder nicht. Von der Reizung durch Licht abgesehen, scheinen hierüber nur Untersuchungen über das Verhalten gegenüber einem Gifte, dem Adrenalin, vorzuliegen. Nach meinen eigenen Untersuchungen und jenen, welehe ich hierüber von Lieben!) habe anstellen lassen, 1) S. Lieben, Über die Wirkung von Extrakten chromaffinen Gewebes (Adrenalin) auf die Pigmentzellen. Zentralbl. f. Physiol. Bd. 20 Nr. 4 S. 108. — Zur Frage der Wirkung von Schilddrüse und Thymus auf Froschlarven. 399 wirkt das Adrenalin direkt auf die Melanophoren der Froschhaut, indem es sie zu vorübergehender Ballung bringt. Das Pigment- epithel der Netzhaut scheint durch Adrenalin in der gleichen Weise beeinflusst zu werden. So sah Klett!) bei Injektion von Adrenalin in den Bulbus das Pigmentepithel Dunkelstellung annehmen. Es wurde sogar durch das Gift die durch Lichtreiz hervorgerufene Vor- wanderung des Pismentes bis zu einem gewissen Grade gehemmt und da, wo sie bereits erfolgt war, eine nachträgliche Ballung her- beigeführt. Allerdings hat Weiss?) nach Injektion von Suprarenin in den Rückenlymphsack des Frosches ausgesprochene Lichtstellung des Pigmentes in der Netzhaut erhalten, während sich bei den Vergleichs- tieren reine Dnnkelstellung vorfand. Indessen fehlen zu diesen Versuchen, wie Garten?) betont, noch weitere Kontrollversuche. In den oben geschilderten Fällen der Einwirkung von Thymus bzw. Schilddrüsenstoffen gehen offenbar die Wirkungen auf die Melano- phoren der Haut und das Pigmentepithel des Auges parallel. Die Thymus bewirkt Expansion der Melanophoren und Lichtstellung des Pigmentepithels, die Schilddrüse Ballung und Dunkelstellung. In- dessen scheint es, da, wie oben erwähnt, die wechselnden Zustände des Pigmentepithels bei der Drüsenfütterung hinter denen bei der Lichtreizung an Intensität in den bisher untersuchten Fällen zurück- stehen, angezeiet, die Sache in einer eigens dazu angeordneten Ver- suchsserie eingehender zu untersuchen. Dabei wäre zunächst der phototropen Epithelreaktion bei so jungen Larvenstadien überhaupt Aufmerksamkeit zu schenken und die beschriebene chemische Ein- wirkung in ihrem Verhältnisse zur Lichtwirkung zu verfolgen. An- hangsweise sei noch erwähnt, dass auch das Verhalten der Melano- phoren, verglichen mit jenem des Pigmentepithels im Auge, bei ver- schiedenen Temperaturen in eigens dazu angestellten Versuchen ge- prüft werden sollte. Ebenso das Verhalten der beiden Zellarten gegenüber dem Curare. Wenn auch das eine oder andere dieser Reizmittel in mehr oder weniger reiner Form an den einzelnen R. H. Kahn und S. Lieben, Über die scheinbaren Gestaltänderungen ‚der Pigmentzellen. Arch. f. Anat. u. Physiol. (Physiol. Abt.) 1907 S. 104. 1) Klett, Zur Beeinflussung der phototropen Epithelreaktion in der Frosch- retina durch Adrenalin. Arch. f. Anat. u. Physiol. (Physiol. Abt.) 1908 Suppl. S. 213. 2) S. Garten, Die Veränderungen der Netzhaut ‚durch Licht. Handb. d. Augenheilk., 2. Aufl., Bd.3 Kap. XII Anhang S. 87. 400 R. H. Kahn: Objekten geprüft wurde, lässt sich doch aus den vorliegenden Unter- suchungen namentlich in Hinblick auf das Verhalten des Pigment- epithels kein klares Bild gewinnen. Das Verhalten beider Gewebs- arten wäre an einem und demselben Versuchstiere unter sonst völlig gleichen Bedingungen zu untersuchen. Was nun weitere mikroskopische Befunde an den bisher unter- suchten Objekten anlangt, so beschränken sich diese bisher auf das Verhalten von Thymus, Schilddrüse und Hypophyse an mit Thymus und Schilddrüse behandelten Froschlarven. Es wurden an den Serienschnitten der oben erwähnten, zur mikroskopischen Behandlung - vorbereiteten Larvengruppen die Grösse und Entwicklung der spe- zifischen Gewebsbestandteile dieser drei Organe untersucht. Was die Thymus anlangt, so wurden jedesmal die Längen der beiden paarigen Organe in der Längsachse des Tieres, ferner die grössten Dieken durch Messung zweier senkrecht aufeinanderstehender Durch- messer der leicht elliptischen queren Durchschnitte bestimmt. Es sind als Beispiel die Maasse je dreier Tiere in die folgende Tabelle aufgenommen. Die Tiere stellen je eine mittlere Grösse aus der ganzen gleichmässig gefütterten Gruppe dar. Dabei waren die Unterschiede zwischen den einzelnen Tieren einer Fütterungsgruppe überhaupt nicht gross. Die Länge des Tieres ist von der Mund- öffnung bis zum Schwanzansatze gemessen. Alle Maasse sind in Millimetern angegeben. Für die Länge bzw. Dicke der Thymus finden sich links bzw. in der oberen Reihe die Werte für die rechte, rechts bzw. unten jene für die linke Körperseite eingesetzt. Serie I, nach einwöchiger Fütterung. Gefüttert auge | As der Vu. an Larven | Länge | Dicke Leber ne 5,79 | 0.950,98 { un SR 0,236 > 0,140 Thymus so 632 |: 0.250,26 { 01171 < 01158 Schilddrüse 5,00 0,21--0,24 { ne | yı-a ’ Serie II, nach zweiwöchiger Fütterung. Leber... 52 | 087-085 { cn Thymus 6,58 0,36—0,32 { a Schilddrüse. 0 5. 408 | 0.260,86 {| en Zur Frage der Wirkung von Schilddrüse und Thymus auf Froschlarven. 401 Aus der Tabelle ist zu ersehen, dass die Thymus der mit Thymus gefütterten Larven nach einwöchiger Fütterung etwa die gleiche Länge besitzt, dass sie aber sehr ‘deutlich dieker ist wie die der Leber-Kontrolltiere. Es ist also das ganze vorhandene Thymusvolumen grösser. Diese Grössenzunahme würde etwa der Volumzunahme des ganzen Körpers der Thymustiere entsprechen, welche in der Tabelle bloss durch die grössere Länge des Leibes ausgedrückt erscheint. Nach zweiwöchiger Fütterung ist das Ver- hältnis ein anderes. Trotzdem die Thymustiere wesentlich grösser sind, ist die Thymus weit kleiner als beim Kontrolltier. Sowohl die Längenmaasse als auch besonders die Diekenmaasse sind geringer. Was die Schilddrüsentiere anlangt, so ist nach einwöchiger Fütterung deren Thymus an Länge und Dicke etwa der geringeren Körpergrösse entsprechend kleiner als die der Lebertiere. Nach zweiwöchiger Fütterung zeigt die Thymus weit kleinere Werte in Länge und Dicke als bei den Lebertieren. Indessen sind die Schild- drüsentiere ungemein klein, und die Thymuswerte sind gegenüber jenen nach einwöchiger Fütterung bedeutend grösser geworden, trotzdem die Tiere seitdem sehr viel kleiner geworden sind. Im histologischen Verhalten ist es bei den verschieden ge- fütterten Tieren an der Thymus nicht möglich, einen besonderen Unterschied in der Entwicklung des spezifischen Gewebes zu kon- statieren. Bezüglich des Verhaltens der Sehilddrüse lassen sich folgende Beobachtungen hervorheben. Am Ende der ersten Fütterungs- woche ist die Schnittzahl, durch welche sich die beiden Schilddrüsen eines Tieres erstrecken, bei den Thymustieren nur wenig grösser als bei den Lebertieren. Ebenso verhält es sich eine Woche später. Dagegen ist die spezifische Entwicklung des Organes bei den Thymus- tieren weiter fortgeschritten. Die Zahl der einzelnen Bläschen ist hier grösser, und dieselben besitzen eine vollkommenere Ausbildung mit ordentlichem Lumen. Bei den Schilddrüsentieren erstreckt sich am Ende der ersten Fütterungswoche die Schilddrüse ganz unvoll- kommen entwickelt über eine besonders lange Strecke. Eine Woche später ist die Entwicklung der Bläschen noch immer ungemein gering. Die meisten sind noch solid, einzelne zeigen ganz verbildete Formen. Dabei erstreckt sich das Organ kaum durch die Hälfte der Schnitt- zahl der Lebertiere, während diese etwa um ein Fünftel an Körper- länge die Schilddrüsentiere übertreffen. Pflüger’s Archiv für Physiologie. Bd. 163. 27 402 R. H. Kahn: Schliesslieh wurde noch das Verhalten der Hypophyse an den verschieden gefütterten Tieren untersucht. Die Untersuchung beschränkte sich auf die Messung der Länge des Hauptlappens!) der Hypophyse in der Richtung der Körperachse. Diese gibt ziemlich gut einen Aufschluss über die Grösse des Hauptlappens (welcher dem vorderen drüsigen Anteile der Säugerhypophyse entspricht). Setzt man die Länge des Hauptlappens in Beziehung zur Körperlänge des Tieres, so erhält man Resultate, welehe wiederum durch ein Beispiel illustriert werden sollen. Die gemessenen Körperlängen dreier mittelgrosser Tiere (die Grössenunterschiede bei einer Fütterungsart !waren überhaupt gering) betrugen in der I. Serie in Millimetern: Sch. — 5,00, 52 —19,.19, Th. — 6,32 Die Grösse von L. als Einheit gesetzt: Sch. = 0,86, . — 1500, Th. — 1,09 Die Sch.-Tiere sind also um 14 °0 kleiner, die Th.-Tiere um 9 /o grösser als die L.-Tiere.. Die Längen des Hauptlappens der Hypo- physe waren in Millimetern: Sch. — 0,10, = — 0,14, Th. — 20.20 Die Länge von L. als Einheit gesetzt: Sch. == 0,71, 1. — 21500, Th. — 1,43 Der Hauptlappen der Sch.-Tiere ist demnach um 29/0 kleiner, jener der Th.-Tiere um 43°/oe grösser als der Hauptlappen der Lebertiere. u Während also die Sch.-Tiere um 14°/o kleiner sind als die L.- Tiere, ist ihr Hypophysenhauptlappen um 29°/o kleiner. Dagegen sind die Th.-Tiere um 9°/o grösser als die L.-Tiere, ihr Hypophysen- hauptlappen aber ist um 43% grösser. In der II. Serie liegen die Verhältnisse ähnlich: Sch. — 4,08, I — ml Th. = 6,58 Sch. = 0,78, EL — 1400: Ihr — 1,25 22 0/0 25 %/o Hypophysen: Sch. —= 0,09, L. 0,13, In. — 0,21 Sch. = 0,69, EB — 1:00: Th. = 1,54 31/0 45 %/o I) Siehe W. Stendell, Die Hypophysis cerebri. A. Oppel’s Lehrb. d. vergl. mikrosk. Anat. Bd. 8 S. 85. . 1914. Zur Frage der Wirkung von Schilddrüse und Thymus auf Froschlarven. 403 Aus diesen Befunden ergibt sich also, dass auch unter Berück- sichtigung des Umstandes, dass die Schilddrüsentiere kleiner, die Thymustiere grösser sind als die Lebertiere, die Schilddrüsentiere eine sehr kleine, die Thymustiere aber eine ausserordentlich grosse Hypophyse (Hauptlappen) besitzen. Überblickt man die Resultate der eben geschilderten mikro- skopischen Untersuchungen, so lässt sich aussagen, dass die mit Schilddrüse gefütterten Froschlarven im Vergleiche mit den mit Leber gefütterten Kontrolltieren eine ziemlich grosse Thymus, eine wenig entwickelte Schilddrüse und eine sehr kleine Hypophyse besitzen. Die mit Thymus gefütterten Tiere aber weisen eine kleinere Thymus, besser entwickelte Schild- drüse und eine sehr grosse Hypophyse auf. Alles dies nach zweiwöchiger Fütterung zur Zeit der fast beendeten Metamorphose der Schilddrüsentiere. Ich bin mir wohl bewusst, dass diesen Resultaten nur eine vor- läufige Bedeutung zukommen kann. Denn vor allem ist die Zahl der untersuchten Serien verschieden gefütterter Tiere zu vermehren. Auch wäre es besser, statt der einfachen geschilderten Messungen ausgedehntere oder noch besser Rekonstruktionen der Organe nach der Platten-Modelliermethode vorzunehmen. Zu diesen zeitraubenden Manipulationen fehlte mir vorläufig die Gelegenheit. Deshalb sei auch noch von der weiteren Verwertung der schon an sich gewiss interessanten Befunde abgesehen. Erst bei weiterer Vermehrung des Materials wird es zweckmässig sein, den offenbaren Zusammen- hang zwischen dem besonderen Verhalten der verschieden gefütterten Larven mit der verschiedenen Grösse und Entwicklung ihrer inner- sekretorischen Organe mit jenen Erfahrungen und Anschauungen in Beziehung zu setzen, welche die experimentellen Befunde an Säuge- tieren geliefert haben. Es sei noch erwähnt, dass auch die eingangs zitierten Untersuchungen von L. Adler an Froschlarven bestimmte Beziehungen zwischen den innersekretorischen Organen ergeben haben, welche mit unseren Befunden ganz gut in Einklang zu bringen wären. Nachtrag. Nach Abschluss des Manuskriptes erschien eine Abhandlung von Abderhalden!), welche sich ebenfalls mit den Resultaten der 1) E. Abderhalden, Studien über die von einzelnen Organen hervor- gebrachten Substanzen mit spezifischer Wirkung. Pflüger’s Arch. Bd. 162 H. 3/4 S. 99. 1915. 27 * 404 R. H. Kaha: Zur Frage der Wirkung von Schilddrüse und Thymus usw. Behandlung von Amphibienlarven mit den Substanzen innersekre- torischer Organe befasst. Die Behandlung der Kaulquappen erfolste mit den Produkten des Abbaues der einzelnen Organe durch kom- binierte Verdauung mit Pepsinsalzsäure, Pankreas- und Darmsaft. Die Tiere wurden in wässerigen Lösungen dieser Abbauprodukte aufgezogen. Diese Lösungen waren abiuret, Ninhydrin positiv, von gelber bis schwach brauner Färbung. Von der Thymusdrüse wurde auch ein Dialysat verwendet. Diese unseren oben beschriebenen gereinigten. Extrakten ähn- lichen Lösungen wurden mit Erfolg verwendet. Die Resultate von Gudernatsch konnten bestätigt werden. Bezüglich eines besonderen Verhaltens der vorderen Extremitäten an mit Schilddrüse behandelten Tieren ist Nichts mitgeteilt. An einer Stelle (S. 113) ist bemerkt, dass am sechsten Tage der Ein- wirkung der Schilddrüsensubstanz die vorderen Beine „heraus- sprossten“. In Fig. 6 und 7, welche solche Tiere zeigen, sieht man von den vorderen Fxtremitäten ausnahmslos nur eine (neun Tiere). Welche Seite es ist, und wie es sich mit der anderen Extremität verhält, ist nicht erkennbar, da es sich um Schattenbilder handelt. 405 (Aus dem pharmakologischen Institut der Reichsuniversität Utrecht.) Beiträge zum Problem der Körperstellung. I. Mitteilung. Stellreflexe beim Zwischenhirn- und Mittelhirnkaninchen. Von R. Magnus. (Mit 29 Textfiguren.) Inhaltsübersicht. Seite BTSARINIEILID OT a re a a u 406 MaaMethoden un en. N RG Sa Bar te 410 BEISEVErSUCHSETSENNISSEH pre ee AN N ER 413 A. Beobachtungen an Thalamuskaninchen. . . . . EEE ne 418 1. Allgemeines Verhalten der Tiere. ........ LINE 418 amalyserder Stelltelexe.e.n ii. cl sl ER 429 a) Beobachtungen während des Schocks . ...:..... 43 b) Übersicht der Hauptergebnisse . . » 2: 2. 222 2.2 02.. 433 c) Die Labyrinth-Stellreflexe auf den Kopf. . . .. 2... 435 d) Beobachtungen an labyrinthiosen Thalamuskaninchen. — Stellreflexe auf den Kopf durch asymmetrische Reizung der Körperoberflächen, va an Er 440 e),"Stellreflexesauf den «Körper!*.. „u. nn. 2 EEE 451 1 »Hals-Stellretlexeto a a sa a Er 451 2. Stellreflexe auf den Körper durch asymmetrische Reizung der: Korperoberflächer a 1 0. 0... Aue. 454 f):3ZUSAarRmERFaSSUn Dan N GE ee Ra 456 B. Welche Teile des Zentralnervensystems müssen für das Zustande- kommen der Stellreflexe erhalten sein? . . .. 2. 2 2 2.... 459 1. Beobachtungen an Vierhügelkaninchen . . . ..2..... 459 Allgemeines Vegkalten? Warren... EN 465 b)2Stellrellexer ar m TE er EL 463 2. Beobachtungen an dezerebrierten Kaninchen (Kleinhirn-Brücken- tieraunndeKleinhirn-@blongataplen) 2. er re 466 a) Allgemeines Verhalten dezerebrierter Kaninchen . ... . 466 b) Das Fehlen. der Stellrefiexe bei dezerebrierten Kaninchen. 469 1. -Labyrinthstellreflexe . ...:....% a TEN BE 469 2. Stellveflexe auf den Kopf durch asymmetrische Reizung ders Körperpberflacher ar 2: ee: 475 Pflüger’s Archiv für Physiologie. Bd. 163. 28 406 R. Magnus: Seite 3. Stellreflexe auf den Körper durch asymmetrische Reizung der, Körperoberfläche::.....u.2..., N urn ar 477 4. Hals-Stelireflexe ........ A ee a oe 41T IV. Zusammentassune ar a RR DEE 2a se BEE: 481 V. Schlusssätzein ax. en Se 2 De Ne ee ee 486 I. Einleitung. Ein dezerebriertes Tier, d. h. ein Tier, welchem der Hirnstamm in der Ebene des Tentorium Cerebelli durchgetrenst wurde, bleibt, wenn man es hinstellt, stehen (Sherrington!), weil diejenigen Körpermuskeln, welche die Aufgabe haben, der Schwerkraft ent- oegenzuwirken, in den Zustand der sogenannten Enthirnungsstarre geraten. In einer Reihe von Untersuchungen, die ich mit meinen Mitarbeitern in den letzten Jahren veröffentlicht habe ?), konnten wir 1) C. S. Sherrington, Integrative action of the nervous system. 1906. — C. S. Sherrington, Flexion reflex of the Jimb etc. Journ. of Physiol. vol. 40 p. 104. 1910. 2) R. Magnus, Über die Beziehungen des Kopfes zu den Gliedern. Münchener med. Wochenschr. 1912 S. 681. — R. Magnus und A. de Kleijn, Die Ahhängigkeit des Tonus der Extremitätenmuskeln von der Kopfstellung. Pflüger’s Arch. Bd. 145 S. 455. 1912. — W. Weiland, Hals- und Labyrinth- reflexe beim Kaninchen; ihr Einfluss auf den Muskeltonus und die Stellung der Extremitäten. Pflüger’s Arch. Bd. 147 8. 1. 1912. — R. Magnus und A. de Kleijn, Die Abhängigkeit des Tonus der Nackenmuskeln von der Kopf- stellung Pflüger’s Arch. Bd. 149 S. 447. 1913. — R. Magnus und A. de Kleijn, Die Abhängigkeit der Körperstellung vom Kopfstande beim normalen Kanirchen. Pflüger’s Arch. Bd. 154 S. 163. 1913. — R. Magnus und A. de Kleijn, Analyse der Folgezustände einseitiger Labyrinthexstirpation mit besonderer Berücksichtigung der Rolle der tonischen Halsreflexe. Pflüger’s Arch. Bd. 154 S. 178. 1913. — R. Magnus und A. de Kleijn, Ein weiterer Fall von tonischen Halsreflexen beim Menschen. Münchener med. Wochenschr. 1913 S. 2566. — R. Magnus und W. Storm v. Leeuwen, Die akuten und die dauernden Folgen des Ausfalles der tonischen Hals- und Labyrinthreflexe. Pflüger’s Arch. Bd. 159 S. 157. 1914. — A. de Kleijn, Zur Analyse der Folgezustände einseitiger Labyrinthexstirpation beim Frosche. Pflüger’s Arch. Bd. 159 S. 218. 1914. — R. Magnus, Welche Teile des Zentralnervensystems müssen für das Zustandekommen der tonischen Hals- und Labyrinthreflexe auf die Körpermuskulatur vorhanden sein? Pflüger’s Arch. Bd. 159 S. 224. 1914. — Ch. Socin und W. Storm v. Leeuwer, Über den Einfluss der Kopfstellung auf phasische Extremitätenreflexe. Pflüger’s Arch. Bd. 159 S. 251. 1914. — R. Magnus und A. de Kleijn, Weitere Beobachtungen über Hals- und Labyrinthreflexe auf die Gliedermuskeln der Menschen. Pflüger’s Arch. Bd. 160 S. 429. 1915. Beiträge zum Problem der Körperstellung. 1. 407 zeigen, dass man die Körperstellung eines solchen dezerebrierten Tieres vollständig und nach Willkür beherrschen kann durch die Stellung, die man dem Kopfe gibt. Je nachdem der Kopf eine bestimmte Lage im Raume (Labyrinthreflexe) oder eine bestimmte Stellung zum Rumpfe (Halsreflexe) einnimmt, ändert sich die Verteilung des Spannungs- zustandes der Körpermuskulatur, so dass durch das Zusammenwirken der beiden genannten Reflexgruppen jeweils eine bestimmte Körper- stellung zustande kommt. Es ist uns gelungen, den Mechanismus dieser ziemlich verwickelten Vorgänge aufzuklären. Es zeigtesich weiter, dass diese Reflexe sich auch beim normalen Tier mit unverletztem Gehirn nachweisen lassen, und dass sie auch beim Zustandekommen ab- normer Körperstellungen, wie sie zum Beispiel nach einseitiger Laby- rinthexstirpation auftreten, mitwirken. Ferner liessensich entsprechende Reflexe beim neugeborenen Menschen und bei menschlichen Patienten mit krankhafter Ausschaltung der Hirnfunktion auffinden. Durch diese Untersuchungen ist nun aber das Problem der Körperstellung des normalen Tieres (und Menschen) keineswegs voll- ständig aufgelöst. Während beim dezerebrierten Tier mit gegebener Intensität der Hals- und Labyrinthreflexe durch eine bestimmte Kopf- stellung bei bestimmter Körperlage die Haltung des Körpers ein- deutig bestimmt ist, kann ein normales Tier willkürlich (und re- flektorisch) auch andere Stellungen annehmen, welche den bisher von uns gefundenen Regeln sich nicht fügen. Es ist also klar, dass durch das Vorhandensein der höheren Hirxteile die Reaktionsmöglich- keiten verwickeltere werden. Daher war es nötig, die Versuche auch auf Tiere auszudehnen, bei denen solche höhere Hirnteile noch in Verbindung mit den niederen geblieben sind. Noch eine zweite Erweiterung der Versuche erwies sich als nötig. Wenn man bei einem dezerebrierten Tiere die Körperstellung einstellen will, muss man den Kopf in die Hand nehmen ‘und eine passive Bewegung mit ihm vornehmen. Man benutzt gewissermaassen den Kopf als Hebel oder Handgriff, mit dessen Hilfe man eine bestimmte Körperstellung hervorruft. Der nächste Schritt war, Sinnesreize zu diesem Zwecke zu benutzen, um das Tier reflektorisch Änderungen seiner Kopfstellung und dadurch Änderungen der Körper- haltung selbst ausführen zu lassen. Hierzu waren natürlich nur Distanzreize zu verwenden. Akustische Reize waren ungeeignet, weil sie am Ohre angreifen, das bei den Versuchen über Labyrinth- reflexe manchmal exstirpiert werden muss. Geruchsreize waren nicht 28 * 408 R. Magnus: zu verwenden, weil sie nicht genügend „gerichtet“ sind. Es blieben also nur noch optische Reize übrig. Ursprünglich beabsichtigte ich daher zunächst Versuche an Tieren anzustellen, denen das Gehirn bis zu den Sehhügeln mit Schonung der optischen Bahnen abgetragen worden war, um festzustellen, in- wiefern man durch optische Reize einen gesetzmässigen Einfluss auf die Körperstellung ausüben kann. Schon die ersten Versuche zeigten aber, dass diese Aufgabe vorläufig viel zu verwickelt ist. Ein Tier, bei dem Mittel- und Zwischenhirn in Verbindung mit Medulla oblon- gata, Brücke und Kleinhirn gelassen wird, verhält sich, was Körper- stellung und -haltung angeht, fundamental anders als das bisher untersuchte dezerebrierte Tier. Es war daher nötig, zunächst einmal das Verhalten derartiger Tiere ohne Berücksichtigung der optischen Reflexe zu studieren. Der Unterschied zwischen dem dezerebrierten Tier und dem Tier mit intaktem Mittel- und Zwischenhirn lässt sich am einfachsten so ausdrücken, dass das erstere steht, wenn man es hinstellt, und bei bestimmter Kopfstellung eine bestimmte Körperhaltung annimmt, während letzteres sich selbst stellt. Der Mechanismus dieses „Sich-selbst-Stellens“ musste zunächst untersucht werden. Bisher habe ich derartige Versuche an Katzen und Kaninchen angestellt. Zu einem vorläufigen Abschluss kamen die Experimente an Kaninchen, über welehe im nachfolgenden berichtet werden soll. Wenn man sich ein Tier mit intaktem Mittel- und Zwischenhirn, aber mit fehlendem Grosshirn und Stammganglien herstellt, so führt man dieselbe Operation aus wie bei Tieren, bei denen man den Erfolg der Grosshirnexstirpation untersuchen will. Derartige Eingriffe sind bekanntlich schon von zahlreichen Autoren an verschiedenen Tierarten ausgeführt worden. Es sei nur auf die berühmten Untersuchungen von Goltz, H. Munk und Rothmann am Hunde, von Karplus und Kreidl am Affen erinnert. Am Kaninchen haben Magendie!), Longet?°), Schiff?), Vulpian‘), 1) F. Magendie, Physiologie. Übersetzt von Hofacker, Bü. 2 S. 246. Tübingen 1826. 2) F. A. Longet, Anatomie und Physiologie des Nervensystems. Übersetzt von Hein, Bd. 1 S. 349—420. Leipzig 1847. 3) J.M. Schiff, Lehrb..d. Physiol. d. Menschen Bd:1S.331ff. Lahr 1858— 59. 4) A. Vulpian, Lecons sur la physiologie du systeme nerveux p. 532—538. Paris 1866. X Beiträge zum Problem der Körperstellung. 1. 409 Christiani!), H. Munk?), Ferrier?), Gudden®), Morita?) u. a. Grosshirnexstirpationen vorgenommen. Der Zweck dieser Experi- mente war meistens, durch Vergleich mit dem Verhalten normaler Tiere einen Aufschluss über die Funktion des Grosshirns zu bekommen. Im Einzelfalle war es dann oft schwierig zu entscheiden, ob der Ausfall bzw. die Abänderung einer bestimmten Funktion bei diesen Tieren auf den Verlust des Grosshirns oder auf Nebenverletzungen, sekundäre Degenerationen und nachfolgende Entzündungsprozesse (besonders bei den Versuchen aus der voraseptischen Zeit) bezogen werden musste. Daher kam es bei der Deutung der Ergebnisse zu den bekannten Polemiken zwischen Goltz, Munk, Christiani u. a. Der in dieser Untersuchung beschrittene Weg ist der umgekehrte. Durch die Mitteilungen von Sherrington und durch eigene, sehr zahl- reiche Erfahrungen ist das Verhalten dezerebrierter Tiere genau be- kannt, ihre Stellungs- und Bewegungsreflexe sind hinreichend studiert. Es ist jetzt also möglich zu untersuchen, inwiefern sich ein Tier mit intaktem Mittelhirn vom dezerebrierten Tier unterscheidet, ob die Reflexe durch das Hinzutreten der genannten Hirnteile modifiziert werden und ob neue Reaktionen dazukommen. Es soll also gewisser- maassen versucht werden, die Funktionen von unten nach oben auf- zubauen. Hierbei sind die Fehlerquellen geringer als bei dem um- sekehrten Verfahren. Denn wenn nach einer vollständigen Grosshirn- exstirpation, welche durch die Sektion kontrolliert werden kann, Funktionen festzustellen sind, welche dem dezerebrierten Tiere fehlen, so muss für das Zustandekommen dieser Funktionen die Anwesen- heit des Mittel- und Zwiscehenhirns notwendig sein. Es ist zu hoffen, dass man auf diese Weise, von unten nach oben fortschreitend, allmählieh die Stellungen und Bewegungen der Tiere in ihrer Abhängigkeit von den einzelnen Hirnteilen bis hinauf zum Grosshirn wird verstehen lernen. 1) A. Christiani, Zur Physiologie des Gehirns. Berlin 1885. Vgl. auch Arch. f. Physiol. 1884 S. 465. 2) H. Munk, Über die zentralen Organe für das Sehen und Hören bei den Wirbeltieren. V. Sitzungsber. d. Berliner Akad. d. Wissensch. 1884 S. 549.- 8) D. Ferrier, The functions of the brain. 2. ed. London 1886. 4) B. v. Gudden, Über die Frage der Lokalisation der Funktionen der Grosshirnrinde. Allgem. Zeitschr. f. Psych. Bd. 42 S. 478. 1886, und Ges. Abhandl. S. 42. Würzburg 1889. 5) S. Morita, Untersuchungen an grosshirnlosen Kaninchen. Schmiede- berg’s Arch. Bd. 78 S. 188. 1915. 410 R. Magnus: II. Methoden. Im ganzen wurden 50 gelungene Versuche an Kaninchen an- sestell. Am besten eignen sich Tiere zwischen 800 und 1400 g, bei grösseren pflegt die Blutung bei der Operation stärker zu sein. Bei 29 Tieren wurde die Entfernung des Grosshirns vor den Thalamis, bei zehn vor den Vierhügeln vorgenommen. Ausserdem wurden zum Vergleich 11 Tiere in gewöhnlicher Weise in der Ebene des Tentorium cerebelli dezerebriert und bei zwei Tieren zuerst die Grosshirnexstirpation und nach vorgenommener Beobachtung die Dezerebrierung ausgeführt. Zur Narkose wurde anfangs Äther, bei den späteren Versuchen Chloroform verwendet. Die ohnehin meist nicht sehr erhebliche Blutung ist in Chloroformnarkose geringer und fehlt manchmal fast ganz. Bei Tieren, die nur zu kurzdauernden Versuchen dienen sollten, wurden die Karotiden abgebunden und die Vagi durchtrennt. Bei den meisten aber, welche solange als möglich am Leben bleiben sollten, wurden die Vagi geschont, die Karotiden entweder dauernd oder tem- porär während der Operation verschlossen oder offen gelassen. Einen Unterschied in der späteren Funktion des Gehirns bedingte dieses nicht. In einigen wenigen Versuchen wurde, um die Chlorformnarkose mit Hilfe der künstlichen Atmung und mit dosierten Gemischen vor- nehmen zu können, während der Operation eine Trachealkanüle ein- gebunden. Nach Schluss der Narkose wurde die Kanüle entfernt, die Trachea mit feiner Seide vernäht und die Halswunde geschlossen. In den ersten Versuchen, bei welchen das Verhalten der Tiere nur am Tage der Operation selbst untersucht wurde, bin ich in ähnlicher Weise wie beim gewöhnlichen Dezerebrieren vorgegangen. Nach Abbindung der Karotiden und Durchtrennung der Vagi wurde mittels der künstlichen Atmung durch eine Trachealkanüle narkotisiert, der Schädel trepaniert, das ganze Schädeldach über dem Grosshirn mit der Knochenzange abgetragen und die Dura entfernt. Ein Ge- hilfe komprimierte mit der Hand die Vertebralarterien hinter den Querfortsätzen des Atlas. Die Grosshirnhemisphären wurden nun ohne Blutung auseinandergedrängt, der Balken von hinten nach vorne durchtrennt, Vierhügel und Thalami freigelegt, jederseits die Gross- hirnhemisphäre seitlich und dorsalwärts herausgehoben und durch einen Schnitt abgetrennt, der dorsal in der Furche zwischen Thalamus und Corpus striatum, ventral dicht vor dem Traetus opticus schräg von medial vorne nach lateral hinten verlief. Die beiderseitigen Schnitte trafen sich in der Lamina terminalis. Das ganze Gehirn Beiträge zum Problem der Körperstellung. 1. 411 vor den Schnitten wurde ausgeräumt. Das Chiasma und die Nn. optiei wurden bei diesen ersten Versuchen meist geschont. Darauf wurde die Kompression der Vertebralarterien aufgehoben, das Tier zur Vermeidung von Nachblutung mit dem Kopfe hochgelagert, und die Haut über dem offenen Schädel vernäht. Dieses Verfahren ist für akute Versuche gut zu brauchen, emp- fiehlt sich aber nicht bei Tieren, die man am Leben erhalten will, weil Vierhügel und Thalami dann ungeschützt unter der vernähten Haut liegen und bei Bewegungen des Tieres und durch den Ex- perimentator leicht gedrückt werden können. Daher wurde bei allen späteren Versuchen das kürzlich von Morita!) beschriebene Verfahren angewendet, bei welchem der Schädel rechts und links trepaniert wird, worauf man beiderseits das Schädeldach entfernt, aber in der Mitte eine Knochenspange stehen lässt. Diese schützt den darunter verlaufenden Sinis longi- tudinalis, der unverletzt bleibt, und später Vierhügel und Sehhügel vor Druck und Beschädigung. Vorne und seitlich wird die Öffnung so gross als irgend möglich gemacht, nach hinten darf man nur so weit gehen, dass man den Sinus transversus nicht verletzt. Danach wird zuerst auf der einen Seite die Dura eröffnet, die Grosshirn- hemisphäre von der Seite und von hinten durch kleine Wattebäusch- chen oder durch einen schmalen, passend gebogenen stumpfen Spatel vom Schädel abgedrängt und schliesslich durch die Öffnung nach aussen luxiert, wobei der Fornix sich vom Thalamus nach vorne abhebt. Der Hirnstamm wird dadurch seiner ganzen Länge nach von der Seite freigelegt, man sieht die Oberfläche der Thalami und trennt nun, wie oben beschrieben, Grosshirn und Streifenhügel durch einen Schnitt ab, der dorsal in der Furche zwischen Thalamus und Corpus striatum, ventral dieht vor dem Traetus optieus von vorne medial nach hinten lateral verläuft. Darauf lässt sich das ganze Grosshirn einschliesslich der Riechlappen und der Streifenhügel in einem oder zwei Stücken entfernen. Dieselbe Operation wird dann ebenso an der anderen Seite ausgeführt. Die beiden Schnitte treffen sich in der Lamina terminalis. Die Sehnerven kann man, wenn man will, unter Kontrolle des Auges ohne Mühe durchtrennen. Will man die Optiei dagegen erhalten, so empfiehlt es sich, an der Ventralseite des Tractus opticus jederseits ein etwa halbkirschkern- DEAN O: 419% R. Magnus: ui orosses Stück Grosshirn stehen zu lassen, welches dem medialen Teil des Gyrus piriformis angehört, und das Ende des Ammons- horns und das Subieulum eornu Ammonis, vielleieht auch noch die Verbindung: der Taenia semieireularis mit dem Mandelkern enthält [vel. Winkler und Potter’s Atlas!), Taf. 12]. Die genannten Grosshirnteile gehören zum Riechapparat, der bei den operierten Tieren wegen der Entfernung der Bulbi olfactorii nicht in Tätigkeit. tritt. Daher stört, wie auch die Beobachtung der Tiere lehrt, ihre Anwesenheit «das funktionelle Ergebnis der Operation nicht. Man schützt dadurch den Traetus opticus. In der Mehrzahl der Versuche wurde übrigens das Grosshirn total entfernt. Nach Schluss der Operation liegt der Hirnstamm unverletzt auf der Schädelbasis. Man tupft etwaige Blutgerinnsel weg, kann (doch ist dieses nicht nötig) die entstandene Höhlung durch sterile Watte verkleinern und schliesst die Haut. Die Blutung ist meistens sehr geringe. Von den Hirnnerven wird der ÖOlfactorius und (bei ab- sichtlicher Durchtrennung) der Sehnerv zerstört. Die anderen Hirn- nerven bleiben unverletzt. Will man die Tiere länger am Leben halten, so empfiehlt es sich, wegen der Gefahr der Nachblutung die erste Untersuchung erst am folgenden Tage vorzunehmen. Nach diesem Verfahren operierte Tiere blieben bis zu 11 Tagen am Leben. Da sie spontan keine Nahrung nehmen, wurde ihnen täglich 50—100 cem Milch mit der Schlundsonde eingeflösst. Nach dem Tode wurde stets die Sektion ausgeführt. Das Gehirn war stets reizlos. Die Präparate wurden zur anatomischen Untersuchung in Formol bewahrt. Zur Veranschaulichung des anatomischen Befundes seien die stereoskopischen Photographien von zwei bei der Sektion erhaltenen Präparaten abgedruckt. Versuch 29. Kaninchen, 800 g. 3. Mai 1915. Äther-Chloroform- narkose. Grösshirnexstirpation vor den Thalamis nach der Methode von Morita. Das Tier lebt 2 Tage und geht am. Anschluss an eine längere Untersuchung ein. Sektion: Grosshirn fehlt vollständig. Linker Opticus durchtrennt, rechter Opticus intakt.‘ Hirnnerven Nr. 3—12 beiderseits intakt. Vier- hügel und: Thalami unverletzt erhalten. Stammganglien fehlen. Vor [2] den Thalamis ist in der Mitte an den Fornixsäulen ca. 3 mm stehen l)C. Winkler and A. Potter, An anatumical guide to “experimental researches on the rabbits brain. Amsterdam 1911. Beiträge zum Problem der Körperstellung. 1. 413 geblieben. In der Schädelhöhle nur eine minimale Blutung. Präparat reizlos. Bei der Herausnahme wird der laterale Teil der rechten Kleinhirnhemisphäre abgerissen. Fig. 1 zeigt das Präparat von oben. Man sielıt das Kleinhirn, davor dle schmalen hinteren und die mächtigen vorderen Vierhügel. Die Thalami enden seitlich in den Corpora geniculata lateralia und lassen in der Mitte den dritten Ventrikel zwischen sich, in den man von oben hineinsieht. Vor demselben ist ein schmales Stück aus der Gegend der Lamina terminalis stehen geblieben. Seitlich vom Vorder- rand des linken vorderen Vierhügels ist das linke Corpus geniculatum mediale sichtbar. Fig. 2 (S. 414) zeigt dasselbe Präparat von der Seite. Man er- kennt die Medulla oblongata, das Kleinhirn, den hinteren und vorderen Vierhügel und den Thalamus. Vom hinteren Vierhügel zieht unter- halb des vorderen Vierhügels der hintere Vierhügelarm zum medialen Corpus geniculatum,. Die Schnittfläche vor dem Thalamus ist zum Teil sichtbar. Fig. 3 (S. 415) gibt die Ansicht des Präparates von der Ventral- seite. Man sieht die Medulla oblongata, das Corpus trapezoides mit den Pyramiden, davor die Brücke, seitlich davon die Kleinhirn- hemisphären. Vor der Brücke sieht man die Hirnschenkel heraus- kommen. Zwischen ihnen das Corpus mammillare und davor das In- fundibulum. Vorne verläuft der Tractus opticus beiderseits zum Chiasma, von dem die Stümpfe der Nervi optici ausgehen. Vor dem Chiasma steht noch ein Rest aus der Gegend der Lamina terminalis. Versuch 49. 17. Mai 1915. Kaninchen, Tracheotomie. Chloro- formnarkose mittels der künstlichen Atmung. Grosshirnexstirpation nach der Methode von Morita direkt vor den Thalamis. Optiei in die Höhe gehoben und durchtrennt. Trachea vernäht. Das Tier lebt 2 Tage und geht an Pneumonie ein. 7 6 ) 3 8 ? 5 Fig. 1. 1 Kleinhirnwurm. 2 Kleinhirn- hemisphären. 3 Hintere Vierhügel. 4 Vor- dere Vierhügel.e 5 Corpus genieulatum 2 1 mediale. 6 Thalami optici. 7 Dritter Ventrikel. 8 Corpus geniculatum laterale. 9 Lamina terminalis. Fig. 1. 414 R. Magnus: Sektion: Gehirn reizlos. T'halami und Vierhügel intakt. Gross- hirn fehlt total. Optiei durchtrennt. Hirnnerven Nr. 3—12. intakt. Der Schnitt geht auf der Dorsalseite beiderseits genau am Vorderrand der Thalami; in der Mitte ist nur sehr wenig von der Lamina termi- nalis stehen geblieben. Ventral geht der Schnitt rechts direkt vor dem Tractus opticus, links 1 mm davor. In der Mitte geht er 1 mm vor dem Chiasma. Fig. 4 (S. 416) zeigt das Präparat von der Seite. Man sieht die Medulla oblongata, das Kleinhirn, die vorderen Vierhügel. Darunter zieht der rechte Vierhügelarm zum medialen Corpus geniculatum. Vor letzterem liegt das laterale Corpus geniculatum als seitlicher Ausläufer des Thalamus optieus, der intakt ist. Ein Teil der Schnittfläche ist sichtbar. Von diesem Tiere wurden während des Lebens die als Fig. 10 und 24 wiedergegebenen Photographien genommen (s. S. 434 u. 458). Von dem Präparat eines Tieres, welches nach der Operation - 5 Tage lang lebte und fortlaufend beobachtet wurde, hat mein Kollege, Herr. Prof. Winkler, die mikroskopische Untersuchung in Serienschnitten ausgeführt, wofür ich ihm auch an dieser Stelle herzlich danke. Dabei ergab sich folgendes: Versuch 20 a. 24. März 1915. Kaninchen, Äthernarkose. Ex- stirpation des Grosshirns und der Stammganglien nach der Methode von Morita. Thalami und Vierhügel intakt. Sehnerven geschont. Das Tier lebte 5 Tage und ging schliesslich an Pneumonie ein. Es zeigte alle im nachfolgenden zu schildernden Reflexe, besonders aller Stellreflexe in vorzüglicher Weise. Pupillreaktion und reflektorischer Lidschluss auf Belichtung war nur links deutlich vorhanden. Sektion: Präparat reizlos. Grosshirn fehlt total. Hirnnerven Nr. 2—12 beiderseits intakt. Vierhügel und Thalami erhalten. Stamm- ganglien fehlen. 3 4 ) l ' 1 Fig. 2. 1 Oblongata. 2 Kleinhirn. 3 Hinterer Vier- hügel. 4 Vorderer Vierhügel. 5 Hinterer Vierhügel- arın. 6 Corpus geniculatum mediale. 7 Thalamus optieus. Fig. 2. Beiträge zum Problem der Körperstellung. I. 415 Mikroskopische Untersuchung: Die Grosshirnhemisphären fehlen total, auch die ventralen Lappen. Vom Grosshirn ist allein noch vorhanden der unter der Commissura anterior gelegene Hypo- thalamusanteil des Prosencephalon. Vom Fornix steht nur noch ein Stückehen von der Commissura fornieis anterior. Vom Nucleus cau- datus ist beiderseits noch der medialste Teil erhalten. Der Thalamus steht beiderseits. Rechts ist er vollständig und unverletzt erhalten. Links geht der Schnitt durch den lateralen Thalamusteil, so dass in der Ebene der Tafel 14 von Winkler- Potter’s Atlas der laterale Anteil des Corpus geniculatum laterale entfernt ist und in der Ebene von Tafel 15 des genannten Atlasses der Pes pedunculi und die Regio subthalmica bis an die Lamina medul- laris ventralis eingekerbt ist. Dadurch ist die Radiatio optica links verletzt und das Ausbleiben der Pupillreaktion und des Lidkneifens auf Belichtung des rechten Auges erklärt. Degeneriert sind die dem Schnitt benachbarten Teile der Gitter- schicht (Tafel 12, F.r.a. und F.r.b.) und die Zellen in den vordersten Thalamuskernen (Tafel 12, A.b., weniger stark A.a.), links stärker als rechts. Alle übrigen Bestandteile des Zwischenhirns sind unverletzt erhalten. Das Mittelhirn und die dahinter gelegenen Hirnteile sind voll- ständig intakt. In denjenigen Versuchen, in welchen das Gehirn bis zu den Vierhügeln entfernt wurde, bediente ich mich desselben Verfahrens nach Morita wie bei den Grosshirnexstirpationen vor den Thalamis. Nur wird hierbei der Hirnstamm durch einen Schnitt durehtrennt, deran der Dorsal- 2 seite 0—2 mm vor dem Vorderrand der 8 Y ER I TEE: 6 Fig. 3. 1 Medulla oblongata. 2 Corpus tra- 4 pezoides. 3 Pyramide. 4 Brücke. 5 Kleinhirn- 3 hemisphäre. 6 Hirnschenkel. 7 Corpus mammil- > lare. $ Infundibulum. 9 Tractus opticus. 10 Chiasma. 1 5 11 Nervi optici. 12 Rest aus der Gegend der Lamina terminalis. 416 R. Magnus: Vierhügel, lateral vor, durch oder hinter dem Corpus genieulatum me- diale, und an der Ventralseite durch die Hirnschenkel am Hinterrand des Corpus mammillare oder durch dasselbe verläuft. Der Schnitt trifft den Hirnstamm in einer Ebene, die zwischen den Tafeln 16 und 17 des Winkler-Potter’schen Atlasses liegt. Die Sehnittriehtung ist ungefähr dieselbe wie in den genannten Abbildungen. Durch diesen Schnitt werden unter Umständen noch die hintersten Zwischen- hirnteile (kaudales Ende des Corpus mammillare, Corpus geniceulatum mediale ganz oder im kaudalen Teil) geschont, der rote Kern der Haube bleibt bis zu seinem Vorderrand erhalten. Es handelt sich im wesentlichen um ein Präparat, in welchem das Mittelbirn vollständig und vom Zwischenhirn nur die kaudalsten Abschnitte in wachsender Ausdehnung stehen bleiben. Der Erfolg der Operation wird durch die folgenden stereoskopischen Aufnahmen veranschaulicht. Versuch 31. 5. Mai 1915. Kaninchen, 1000 g. Chloroform- narkose. Karotiden abgebunden, Vagi durchtrennt. Exstirpation des Grosshirns und der Thalami nach dem Verfahren von Morita. Der Schnitt geht dicht vor den Vierhügeln schräg nach vorne und unten. Fast keine Blutung. Das Tier bleibt 2 Tage am Leben. Sektion: An der Schnittfläche einige Blutgerinnsel. Sonstige Schädelhöhle leer. Olfactorii und Optici fehlen, Oculomotorii und sonstige Hirnnerven intakt. Der Schnitt geht an der Dorsalseite symmetrisch I—2 mm vor den vorderen Vierhügeln, an der Ventral- seite direkt hinter dem Hinterrand des Corpus mammillare durch die ’ 2 Hirnschenkel. An der linken Seite verläuft a a > er 2 mm vor dem Hinterrand des Corpus geniculatum mediale, an der rechten Seite genau am Hinterrand des Corpus genicu- latum mediale. Fig. 4. 1 Medulla oblongata. 2 Kleinhirn. 3 Vor- derer Vierhügel. 4 Hinterer Vierhügelarm. 5 Cor- pus geniculatum mediale 6 Tbalamus opticus. 7 Corpus geniculatum laterale. Fig. 4. Beiträge zum Problem der Körperstellung. 1. 417 Fig. 5 zeigt das Präparat: von der Dorsalseite. Man sieht .das Kleinhirn (7), die vorderen Vierhügel (2) und davor den 1—2 mm breiten Rest des Hinterrandes der Thalami (3). Fig. 6 (S. 418) ist von der linken Seite aufgenommen. Medulla oblongata (7), linke Kleinhirnhemisphäre (2), vorderer Vierhügel (3), darunter der hintere Vierhügelarm (2), der zum Corpus geniculatum mediale zieht, dessen hintere Hälfte (5) stehen geblieben ist, sind deutlich zu erkennen. Fig. 7 (S. 419) zeigt das Präparat von der Ventralseite. Man sieht, die Medulla oblongata (1), Corpus trapezoides (2) mit Pyramide (3), Brücke (4), Kleinhirnhemisphären (5). Vor der Brücke stehen die Hirn- schenkel (6). Das Corpus mammillare fehlt. Siehe zum Vergleich Fig. 3. Beide Operationen sipd, wenn man einmal einige durch die Sektion genau kontrollierte Versuche gemacht hat, leicht auszuführen und man sieht dabei genau, was man tut. In 10 Versuchen wurde die doppelseitige Labyrinthexstirpation von der Bulla aus durch Herrn Dr. De Kleijn vorgenommen. Das Verfahren ist in Pflüger’s Archiv (Bd. 154, S. 183, 1913) geschildert worden. Zur Nomenklatur: In unseren früheren Untersuchungen handelte es sich meistens um dezerebrierte Tiere; nur zu besonderen Zwecken wurde in einzelnen Versuclıs- reihen das Kleinhirn oder die Medulla oblongata abgetragen. Bei den hier mit- geteilten und den später zu beschreibenden Experimenten werden verschiedene höhere und niedere Hirnteile in funktioneller Ver- bindung mit Rückenmark und Medulla 418 R. Magnus: oblongata gelassen. Zur Bezeichnung: der jeweils ausgeführten Ope- ration ist eine kurze und deutliche Nomenklatur erwünscht, um Irrtümer oder umständliche Beschreibungen zu vermeiden. Ich schlage daher vor. das Präparat nach dem am meisteu oralwärts gelegenen Teile des Zentralnervensystems zu benennen, der in funktioneller Ver- bindung mit den tiefer gelegenen Teilen geblieben ist. Demnach wäre das dekapitierte Tier als Halsmarktier, das dezerebrierte als Kleinhirn-Oblongatatier bzw. als Kleinhirn-Brücken- tier zu bezeichnen. Je nach Bedarf kann man auch von einem kleinhirnlosen Oblongatier usw. reden. Die in der vorliegenden Arbeit beschriebenen Experimente sind am Zwischenhirn- oder Talamuskaninchen und am Vierhügelkaninchen angestellt. (Statt Vierhügelkaninehen kann man auch Mittelhirnkaninchen sagen, wenn man nur nicht vergisst, dass dabei meistens die kaudalsten Zwischenhirnanteile erhalten bleiben.) III. Versuchsergebnisse. A. Beobachtungen an Thalamuskaninchen. 1. Allgemeines Verhalten der Tiere. Kurze Zeit nach dem Erwachen aus der Narkose beginnt das Tier mit Versuchen, sich aufzusetzen. Nach "sa bis mehreren Re Stunden, jedenfalls aber am nächsten Tage, | sitzt es völlige normal da (Fig. 8, S. 431) wie ein intaktes Tier und nimmt jedesmal, wenn man es aus dieser Lage, zum Beispiel in Seiten- oder Rückenlage brinet, die nor- male Körperhaltung und -stellung wieder ein. Kopf und Körper stehen symmetrisch, der Kopf wird frei getragen, wobei die Fig. 6. Beiträge zum Problem der Körperstellung. 1. 419 Mundspalte meist in einem Winkel von 20—40° nach vorne ge- senkt ist, der Bauch befindet sich oberhalb des Bodens, Vorder- und Hinterbeine sind in normaler Weise gebeugt, das Tier sitzt in Hockstellung. Spontanbewegungen, die zu Ortsveränderungen führen, werden fast niemals ausgeführt. Treten sie auf, so lässt sich auch oft der äussere Reiz feststellen, der sie ausgelöst hat. Man findet das Tier meist nach Stunden noch an derselben Stelle des Käfigs sitzen, Bei oberflächlicher Beobachtung kann man keinen Unterschied mit einem normalen Tiere feststellen. Da die Zentren für die Regelung der Körpertemperatur im Zwischenhirn liegen (Isenschmid und Krehl, Isenschmid') und Schnitzler?), so wird die Körpertemperatur aufrechterhalten. Ich habe Temperaturen von 37,3°, 38°, 382° im Rektum ge- messen, Bei Tieren mit intakten Sehnerven lässt sich die Pupillen- reaktion, besonders in der Sonne, mit der grössten Deutlichkeit wahrnehmen. Ebenso tritt bei starker Belichtung, besouders in der Sonne, kräftiges reflektorisches Zukneifen der Augenliderein. Dagegen ist es mir bisher nicht gelungen, durch Belichtung (Sonne, elektrisches Licht im Dunkelzimmer) irgendwelche Ortsbewegungen 1) R. Isenschmid und L. Krehl, Uber den Einfluss des Gehirns auf die Wärmeregulation. Schmiedeberg’s Arch. Bd. 70 S. 109. 1912. 2) R.Isenschmid und W. Schnitzler, Beiträge zur Lokalisation des der Wärmeregu- lation vorstehenden Zentralapparates im Zwischen- hir. Schmiedeberg’s Arch. Bd. 76 S. 202. 1914. Fig. 7. 420 R. Magnus: oder Reflexe auf Hals-, Rumpf- und Gliedermuskeln hervorzurufen. Auch schnelles Annähern der Hand gegen das Auge oder schnelles Bewegen der Hand im Gesichtsfeld löst nach meinen bisherigen Er- fahrungen keine Reaktion der Tiere aus. Bei Thalamuskaninchen, denen die Nn. optici durchtrennt sind, fehlen natürlieh Pupillen- und Lidkneifreflex. Sonst aber habe ich bisher keinen Unterschied im Verhalten der Tiere mit erhaltenen und durehtrennten Sehnerven fest- stellen können!). Das Vermögen zur normalen Körperhaltung, das aktive Aufsitzen aus abnormen Lagen sind unabhängig von den optischen Bahnen und werden von Tieren mit durchtrennten Optieis nicht weniger prompt ausgeführt als bei intakten Sehnerven. Ebenso treten alle übrigen nachstehend zu schildernden Reaktionen bei durehtrennten Optieis in unveränderter Weise ein. Bei Berühren der Cornea oder des vorderen Audenwfükels er- folgt lebhafter Lidreflex. Ich habe mir grosse Mühe gegeben, durch passive Bewegungen der Augen irgendwelche Reflexe auf die -Hals- und Körpermuskulatur hervorzurufen, bisher aber völlige vergeblich. Nachdem ich ver- schiedene andere Verfahren als weniger brauchbar verworfen hatte, erwies sich zuletzt als zweckmässie, am Hornhautscheitel mit einer feinen Nadel beiderseits ohne Verletzung der Vorderkammer je einen feinen Seidenfaden durehzuziehen und zu knüpfen. Mit diesen Fäden liessen sich dann ein- und doppelseitige, konjugierte, kon- vergierende oder divergierende Augenbewegungen ausführen. In einzelnen Fällen hatte ich zunächst den Eindruck, hierdurch Re- aktionen des Tieres hervorrufen zu können, dieselben hörten aber auf, nachdem die Hornhaut mit Cocain anästhesiert war; es hatte sich also um Trigeminusreflexe gehandelt. Ebensowenig glückte es, durch Zus an den einzelnen Ausenmuskeln Reflexbewegungen der Tiere hervorzurufen. Propriozeptive Reflexe von den Augenmuskeln, durch Augenbewegungen hervorgerufen, habe ich also bisher nicht nachweisen können. Die Augenbewegungen selbst sind dagegen völlige normal. 1) Reizt man die Tiere mit intakten Sehnerven zum Laufen, so sind sie nach meinen Erfahrungen nicht imstande, Hindernissen auszuweichen. Das deckt sich mit den Angaben von H. Munk (l. ic.) und widerspricht denen von Christiani (|. c.). Beiträge zum Problem der Körperstellung. 1. 491 Zunächst sieht man geleeentlich, wenn auch selten, scheinbar spontane Augenbewegungen auftreten. Am besten aber kann man sie studieren bei der Untersuchung der bekannten Labyrinthreflexe auf die Augen, die noch weiter unten genauer zu schildern sein werden. Dabei liess sich feststellen, dass sowohl Heben und Senken, Einwärts- und Auswärtsbewegen sowie alle Raddrehungen der Augen genau so ausgeführt wurden wie von normalen Tieren. Schallreaktionen (auf Händeklatschen aus grösserem Ab- stand) lassen sich vielfach beobachten. Sie waren von mannigfacher Art. Unter anderen wurde beobachtet: Zucken mit den Öhren, Zucken mit dem Kopf, Heben des Kopfes mit anschliessenden Bein- bewegungen, ein oder mehrere normale Schritte des vorher ruhig sitzenden Tieres, Ausführung eines richtigen Sprunges, eventuell mit anschliessendem Weglaufen, Zukneifen der Ausenlider usw. Es sprechen also die verschiedensten motorischen Apparate auf Erregung des Hörnerven beim Thalamuskaninchen an. Sehr schön sind die Reflexe der Nahrungsaufnahme zu beobachten. Sie sollen hier auf Grund der Protokolle des Tieres (Nr. 22a) geschildert werden, welches 11 Tage am Leben blieb. Allerdings zur spontanen Nahrungsaufnahme kam es nie, weil der Olfaetorinus, zerstört war, und die Tiere mit den Augen keine Ob- jekte erkennen konnten. Sobald man aber mit einem beliebigen Gegenstand (Finger, Rübe) die Unterlippe von vorne her berührte, wurde der Kopf durch eine Halsbewegung kräftig nach vorne ge- stossen und dadurch die Zähne gegen den drückenden Gesenstand gepresst. Wurde eine Rübe mit der Hand gegen die Schneidezähne gedrückt, so nagte und biss das Tier davon ab, woran sich dann normales Kauen und Schlucken schloss. Sobald ein Stück Rübe in den Mund gelangte, setzten kräftige Kaubewegungen ein, die so lange dauerten, bis alles gekaut und geschluckt war. Dabei wurde nichts aus dem Munde verloren. Beim Kauen wurde manchmal die Zunge vorgestreckt, um die Schnauze zu lecken. Wurde ein Stück Rübe in eine Backentasche gestopft, so gelangte es schnell zwischen die Zähne, wurde gekaut und geschluckt. Kräftige Kaubewegungen konnten bei diesem und zahlreichen anderen Tieren jedesmal dadurch ausgelöst werden, dass man den Finger in den Mund zwischen Ober- und Unterkiefer schob. Die Kaubewegungen sind so kräftig, dass man sich hüten muss, nicht gebissen zu werden. Manchmal sind auch spontane Kaubewegungen bei ruhig dasitzenden Tieren zu Pflüger’s Archiv für Physiologie. Bd. 163. 29 499 R. Magnus: ad beobachten. Einmal setzte sich ein Tier auf den Hinterbeinen auf und putzte sich mit beiden Vorderpfoten die Schnauze !). Ich halte es für wahrscheinlich, dass es mit Hilfe dieser Reflexe der Nahrungsaufnahme gelingen wird, die Tiere mit ihrem normalen Futter zu ernähren und dadurch längere Zeit am Leben zu erhalten, als es bisher gelungen ist. Doch sind hierzu mehr Hilfskräfte er- forderlich, als ich sie im letzten Jahre zur Verfügung hatte. Schon den älteren Untersuchern sind die starken „pseudo- affektiven“ Reflexe der grosshirnlosen Kaninchen aufgefallen. Die Neigung zu derartigen Reflexen wechselt bei den verschiedenen Tieren sehr. Auf jeden einigermaassen starken sensibelen Reiz (Pfoten- kneifen, Reinigen des Afters usw.) beginnen die Tiere heftig zu strampeln, fortzulaufen, bekommen reflektorischen Atemstillstand oder verlangsamte, keuchende Stenosenatmung mit Larynxstridor oder be- ginnen heftig zu schreien. Charakteristisch ist bekanntlich für diese auch in gewissen Stadien der Narkose auftretenden Schreireflexe, dass sie lange andauern und daher auf den unvorbereiteten Beobachter einen sehr unangenehmen Eindruck machen. Manche Tiere werden durch diese „pseudoaftektiven“ Reflexe so erschöpft, dass man die Untersuchung eine Zeitlang unterbrechen muss, Wie schon oben berichtet wurde, sitzen die Tiere ganz wie normale und nehmen, wenn sie aus der Ruhestellung gebracht werden, dieselbe sofort wieder an. Abnorme Lage der Glieder wird im allgemeinen schnell korrigiert. Nur war es bei den meisten Tieren deutlich, dass, wenn eine der Vorderpfoten mit dem Fuss- rücken auf den Boden gesetzt wurde, dieses nicht so schnell korrigiert wurde wie bei normalen Tieren. Meistens aber wurde doch schliesslich die Pfote richtig mit der Sohle aufgesetzt. Fussrückenstand der Hinterpfote wurde dagegen fast immer sofort korrigiert. Eine ge- wisse leichte Störung des Lagegefühls der Vorder- extremität ist also nachweisbar. Das gewöhnlich ruhig dasitzende Tier kann durch Reize, wie erwähnt, zum Laufen und Springen veranlasst werden. Hierzu sind alle möglichen Reize verwendbar, wie z. B. akustische. Am besten geeignet ist symmetrischer Druck auf beide Hinterpfoten oder Kneifen des Schwanzes. Darauf führt das Tier einen oder mehrere ganz normale hüpfende Schritte aus und bleibt dann, auch ohne 1) Dasselbe sah Schiff, a. a. ©. 8. 333. Beiträge zum Problem der Körperstellung. 1. 423 dass es an ein Hindernis stösst, wieder ruhig sitzen. Er- regbare Tiere laufen auch 10 und mehr Meter weit. Auf stärkere Reize kommt es zu richtigen Sprüngen durch die Luft, wobei das Tier jedesmal mit der grössten Sicherheit durch die Luft auf den Boden kommt, nicht umfällt und gut symmetrisch die Stellung im Raume einzuhalten imstande ist. Lässt man das Tier aus dem Käfig oder vom Tisch auf den Boden springen, so kommt es auch hierbei richtig mit den Pfoten auf den Boden und fällt nicht. Das Ver- mögen, das Gleichgewicht aufrechtzuerhalten, ist also nicht nur beim Sitzen, sondern auch beim Laufen und Springen vorhanden. Wenn der Körper des Tieres passiv nach vorne oder hinten bewest wird, so führen die Extremitäten auf dem Boden die richtigen Gehbewegungen aus. An dem am längsten lebenden Tier (Nr. 22a) wurde folgendes festgestellt: Wird es an den Ohren oder am Halse gepackt und auf den Hinterbeinen aufgestellt, und bewegt man es dann nach vorwärts, so geht oder springt es mit den Hinterbeinen vorwärts. Bewegt man es rückwärts, so geht es auch mit den Hinterbeinen rückwärts. Wird das Tier am Becken gepackt, mit den Vorderbeinen auf den Boden gesetzt und nach vorne bewegt, so „läuft“ es mit den Vorderbeinen. Einer der auffallendsten Unterschiede zwischen dem Thalamus- kaninchen und dem „dezerebrierten“ Kaninchen (Oblongata- und Brückenkaninchen) ist, dass bei ersterem die Enthirnungsstarre fehlt. Beim dezerebrierten Tiere befinden sich diejenigen Muskeln, welche beim Stehen der Schwerkraft entgegenwirken, also die Strecker der Glieder und des Rückens sowie die Heber des Halses und des Schwanzes, im Zustand tonischer Kontraktion (Sherrington), während ihre Antagonisten, die Beuger der Glieder und die Muskeln, welche Hals, Rumpf und Schwanz ventralwärts krümmen, entweder gar keinen oder höchstens sehr zeringen Tonus besitzen. Diese Ent- hirnunssstarre tritt beim Thalamuskaninchen höchstens während des Erwachens aus der Narkose, wo sie auch beim Normaltier zu be- obachten ist, und auch da nur angedeutet, auf. Sobald das Tier sich einigermaassen erholt hat, ist der Zustand seiner Muskulatur so, dass man ihn am einfachsten als „normal“ beschreiben kann. Das heisst: die Muskeln, welche der Schwerkraft entgegenwirken, haben wohl Tonus, und zwar gerade so viel, dass sie das Tier beim Stehen tragen, aber sie sind nicht einseitig bevorzuet, und ihre 2g* 494 R. Magnus: Antagonisten sind ebenfalls tonisch innerviert. Man fühlt bei passiven Bewegungen ebensogut einen Widerstand gegen Streck- wie gegen Beugebewegungen, die Glieder und der Rücken sind nicht wie beim dezerebrierten Tiere „steif“, sondern verhalten sich wie die Glieder intakter Tiere. Auch die charakteristische Haltung der dezerebrierten Tiere mit maximal gestreekten Gliedern, Opisthotonus und Retraktien des Nackens gegen den Rücken fehlt dem Thalamustier, wie z. B. Fig. 8 (S. 481) zeigt. Daraus folgt, dass beim Kaninchen die Enthirnungs- starre nicht auf der Abtrennung der in der Medulla oblongata gelegenen Zentren vom Grosshirn beruht, sondern dass sie eintritt, wenn diese Zentren von Apparaten geschieden werden, die im Hirnstamm vor der Brücke gelegen sind. Wie sich im einzelnen die Tonusverteilung in der Körpermuskulatur beim Thalamuskaninchen darstellt und wie sich bei der Fortnahme des Hirnstammes bis zur Brücke hieraus die andere Tonusverteilung entwickelt, die wir als Enthirnungsstarre be- zeichnen, bedarf noch genauerer Uutersuchung. Die reziproke Inner- vation der Muskulatur ist beim Thalamustier gut zwischen den Antagonistengruppen „ausbalaneiert“, während beim dezerebrierten Tier die Streeker auf Kosten der Beuger bevorzugt sind. Man kann daher wohl mitSherrington!) die Enthirnungsstarre als „reflektorisches Stehen“ bezeichnen, aber es ist nur eine Karikatur des Stehens infolge der einseitigen Bevorzugung einer Muskelgruppe. Das Tha- lamustier dagegen steht normal. Dietonischen Hals- und Labyrinuthreflexe auf Rumpf- und Gliedermuskeln, welche sich bei dezerebrierten Tieren durch Änderung der Stellung des Kopfes zum Rumpf und im Raum nach- weisen lassen, sind, wie früher gezeigt wurde ?), auch beim intakten Kaninchen wirksam. Es ist daher selbstverständlich, dass sie auch beim Thalamuskaniuchen vorhanden sind. Da die Tonusverteilung beim letzteren durchaus der beim normalen Tier gleicht, ist das Ver- halten der Hals- und Labyrinthreflexe auch genau das gleiche wie bei letzterem. Ich kann daher für alle Details auf die frühere Arbeit ver- weisen. Bei Hebung des Kopfes richtet sich das Tier auf den Vorder- 1) ©. S. Sherrington, Flexion reflex of the limb etc. Journ. of Physiol. vol. 40 p. 104. 1910. 2) R. Magnus und A. de Kleijn, Pflüger’s Arch. Bd. 154 S. 163. 1913. Beiträge zum Problem der Körperstellung. 1. 425 beinen auf (Pflüger’s Archiv Bd. 154 S. 166, Fig. 1), bei Senkung des Kopfes sinken die Vorderbeine ein (ibid. Fig. 2.) Auf Kopf- drehen in Rückenlage werden die Kieferbeine gestreckt, die Schädel- beine gebeust und das Becken nach der anderen Seite gedreht (ibid. Fig. 3—5). Beim Thalamustier ist viel besser als beim de- zerebrierten Tier festzustellen, dass, wenn der Tonus der Strecker abnimmt, der der Beuger zunimmt und umgekehrt. Die reziproke Innervation bei diesen Reflexen ist also sehr deutlich.) Gibt man deın Kopf eine solche Stellung, dass der Tonus der Streckmuskeln eines Gliedes abnimmt, so kann man sehr häufig eine starke aktive Beugung wahrnehmen. Besonders deutlich ist dieses beim Kopf- drehen in Seitenlage. Dreht man deu Kopf mit dem Kiefer nach unten, so werden meistens die Vorderbeine aktiv gebeugt und unter den Vorderkörper gezogen (Labyrinthreflex); dieser Reflex spielt bei dem später genauer zn schildernden Aufsitzen der Tiere aus Seitenlage eine Rolle. Hierher gehört auch eine Reaktion, die man als Sprungreflex bezeichnen kann. Hebt man bei einem sitzenden Thalamuskaninchen den Kopf und beugt ihn stark gegen den Rücken, oder hebt man den Vorderkörper des Tieres, bis die Wirbelsäule senkrecht nach cben steht und beugt zugleich den Kopf dorsalwärts, so führt das Tier häufig durch gleichzeitige kräftige Streckung beider Hinterbeine einen richtigen Sprung aus. Die genauere Analyse dieses Reflexes soll in einer späteren Arbeit gegeben werden, in der über Beobachtungen an Katzen berichtet wird. Denn bei diesen Tieren ist der Reflex viel lebhafter als bei Kaninchen. Hier sei nur folgendes bemerkt: Der Reflex tritt beim Thalamustier dann auf, wenn (durch ge- eisnete Kombination von Hals- und Labyrinthreflexen) die Hinter- beine einen starken Strecktonus bekommen. Das ist der Fall, wenn der Kopf im Sitzen stark dorsalwärts gebeugt wird; denn dann addiert sich der Halsreflex auf Kopfheben zum Labyrinthreflex, da der Kopf in die Maximumstellung für Strecktonus gebracht wird ?). Bei Tieren mit überwiegenden Halsreflexen und bei Tieren mit doppelseitiger Labyrinthexstirpation tritt der Sprungreflex in allen l) Vgl. R. Magnus und A.de Kleijn, Pflüger’s Arch. Bd. 145 S. 480. 1912. Ferner J. S. Beritoff, On the reciprocal innervation in tonic reflexes from the labyrinths and the neck. Journ. of Physiol. vol. 49 p. 147. 1915. 2) Vgl. W. Weiland, Hals- und Labyrinthreflexe beim Kaninchen usw. Pflüger’s Arch. Bd. 147 S.1. 1912. 426 R. Magnus: Lagen im Raume gleich gut auf Dorsalbeugen des Kopfes auf. Bei Tieren mit überwiegenden Labyrinthreflexen dagegen ist er am deutlichsten, wenn der Kopf dorsalgebeugt wird bei sitzenden oder mit dem Vorderkörper hochgehobenen Tieren, weil bei diesen der Kopf sich dann der Maximumstellung (Scheitel unten, Schnauze 45 ° über die Horizontale gehoben!) nähert; in Seitenlage ist der Reflex dann schwächer und in Rückenlage fehlt er. Erleiehtert wird der Reflex zweifellos dadurch, dass die Hinterbeine gebeugt und belastet sind (beim Sitzen durch das Gewicht des Körpers, in Seiten- oder Rückenlage am besten dureh Druck gegen die Sohlen in der Richtung gegen den Bauch), Doch kann der Reflex auch bei unbelasteten Hinterbeinen eintreten, Letztere Tatsache zeigt, dass der Sprungreflex nicht ohne weiteres identifiziert werden kann mit dem Extensorstoss, den Sherrington?) beim Rückenmarkshunde auf Druck gegen die Zehen des stark reflek- tierten Hinterbeines eintreten sah. Denn beim Thalamuskaninchen kann der Sprungreflex auch ohne Reizung der Sohle erfolgen. Häufig beschränkt sich der Sprungreflex nicht auf die kräftige Streckung der Hinterbeine, sondern es treten gleichzeitig alter- nierende Laufbewegungen der Vorderbeine ein. — Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass man durch ein- fache Änderung der Kopfstellung imstande ist, das ruhig dasitzende Thalamustier in Bewegung zu ver- setzen. Schon in unserer ersten Mitteilung über Hals- und Laby- rinthreflexe?) haben De Kleijn und ich mitgeteilt, dass beim de- zerebrierten Tier Laufbewegungen eintreten können, wenn der Strecktonus der Gliedmaassen durch eine geeignete Kopfstellung maximal gemacht wird. Diese Laufbewegungen können so heftig sein, dass das dezerebrierte Tier dadurch vom Tisch geschleudert wird. Zu wirklichem Laufen kann es natürlich nie kommen, weil das Körpergleichgewieht nicht aufrechterhalten wird, und das Tier daher sofort umfällt. Beim Thalamustier dagegen lässt sich dadurch, dass man die Zentren der Extremitätenstrecker „mit Tonus l) Vgl. W. Weinland, Hals- und Labyrinthreflexe beim Kaninchen usw. Pflüger’s Arch. Bd. 147:8.1. 1912. 2) 6. S. Sherrington, Integrative action of the nervous system. 1906. 3) Pflüger’s Arch. Bd. 145 S. 487. 1912. — Vgl. auch Ch. Socin und W. Storm v. Leeuwen, Ptlüger’s Arch. Bd. 159 S. 273. 1914. Beiträge zum Problem der Körperstellung. 1. 497 lädt“, wirkliches Springen, Laufen und Hüpfen auslösen. Das ge- lingt durch die genannten Kopfstellungen. Hierdurch erklärt sich auch die alte Beobachtung von Christiani!), dass Thalamuskaninchen „Anhöhen erspringen“ können. Nach den Angaben von H. Munk?) erfolgt das nur, wenn die Tiere im vollen Laufen (Reizung des Gehirns durch Blutungen oder Entzündungs- prozesse bei diesen in der voraseptischen Zeit ausgeführten Versuchen) gegen ein Hindernis anrennen. Dann wird der Kopf passiv durch das Hindernis gehoben, und es erfolgt der Sprungreflex. Ausserordentlich lebhaft sind die Reaktionsbewegungen mit Kopf und Augen, welche Thalamuskaninchen bei und nach Drehen auf der Drehscheibe?) darbieten (Drehreaktionen). Dieselben gleichen durchaus denen, die bei normalen Kaninchen festzustellen sind. Da sie bei letzteren schon vielfach untersucht und beschrieben wurden, so sei auf diese Darstellungen verwiesen ®), Dreht man ein in Normalstellung dasitzendes Thalamuskaninchen nach rechts, so wird während der Drehung der Kopf nach links ge- wendet. Häufig ist dann auch Kopfnystagmus zu beobachten, dessen schnelle Komponente nach rechts gerichtet ist. Nach dem Aufhören der Drehung wird der Kopf nach der anderen Seite, im besprochenen Falle also nach rechts gewendet, wobei häufig Kopfnystagmus mit der schnellen Komponente nach links gesehen wird. Diese Bewegungen sollen als Kopfdrehreaktion, Kopfdrehnachreaktion, Kopfdrehnystagmus und Kopfdrehnachnystagmus bezeichnet werden), Zugleich werden während der Rechtsdrehung des Tieres beide Augen nach links gewendet (das linke Auge kaudalwärts, das reehte Auge nasalwärts). Häufig ist dabei Nystagmus mit der schnellen Kom- ponente nach rechts festzustellen. Nach dem Aufhören der Drehung werden beide Augen nach rechts gewendet. Häufig findet sich dabei Nystagmus mit der schnellen Komponente nach links. — Wird die 1) Christiani,l. c. 2)H. Munk,|. c. 3) Dieser Ausdruck soll nur die Art des Versuches charakterisieren. Ich habe die Kaninchen stets mit den Händen in der Luft gehalten und dann die Drehbewegungen bei verschiedenen Kopf- und Körperstellungen ausgeführt. Man hat hierbei den Vorteil, die Augen-, Kopf- und Körperbewegungen auch während des Drehens beobachten zu können. 4) Literatur bei A. Kreidl, Ergebn. d. Physiol. Bd.5 S. 572. 1906, und R. Barany und K. Wittmaack, Funktionelle Prüfung des Vestibularapparates. Referat. Verhandl. d. Deutschen otolog. Gesellsch. 1911. 5) An diese Kopfbewegungen schliessen sich die entsprechenden Körper- stellungen und -bewegungen an. Vgl. J. Rothfeld, Pflüger’s Arch. Bd. 159 S. 607. 1914. 428 R. Magnus: Drehung um die Sagittalachse des Kopfes ausgeführt, so tritt vertikale Bewegung und vertikaler Nystagmas auf, wird die Drehung um die Bitemporalachse ausgeführt, so tritt rotatorische Bewegung und rota- torischer Nystagmus auf. Diese Augenbewegungen sollen als (horizontale, vertikale, rotatorische) Augendrehreaktion, Augendrehnachreaktion, Augendrehnystagmus und Augendrehnachnystagmus bezeichnet werden. In Übereinstimmung mit Flourens, Högyes, Ewald, Barany, Bauer und Leidler!) und im Gegensatz zu Bartels und Rosenfeld ergibt sich hieraus, dass die schnelle Komponente des Kopf- und Augennystagmus unabhängig vom Grosshirn ein- treten kann. Auffallend ist die grosse Leichtigkeit, mit welcher die Dreh- reaktionen beim Thalamuskaninchen eintreten. Es genügen schon sehr geringe Winkelbeschleunigungen und sehr kleine Exkursionen. Besonders die Halsdrehreaktion stellt ein ausserordentlich empfind- liches Reagens für erhaltene Labyrinthfunktion beim Thalamus- kauinchen dar. Ihr Fehlen ist ein wertvolles Mittel, um sich von dem Gelingen der doppelseitigen Labyrinthausschaltungen zu über- zeugen. Die Halsdrehreaktion ist meist schon direkt beim Erwachen aus der Narkose nach der Grosshirnexstirpation nachzuweisen. Von den soeben geschilderten Augendrehreaktionen, welche auf Drehbewegungen des Kopfes im Raume eintreten, sind scharf zu unterscheiden die kompensatorischen Augenustellungen, welche bei den Thalamuskaninchen genau so wie bei normalen Tieren bei den verschiedenen Lagen des Kopfes im Raume an- genommen werden. Bei ihnen handelt es sich um tonische Labyrinthreflexe, die so lange andauern, als der Kaninchenkopf seine Lage im Raum beibehält. Bei normaler Kopfhaltung stehen beide Augen in Mittelstellung. Liegt der Kopf in rechter Seitenlage, so ist das linke Auge gesenkt, das rechte gehoben. Wird die Schnauze vertikal nach unten gesenkt, so geht durch eine Raddrehung der obere Hornhautrand beider Augen nach hinten, bei senkrecht nach oben erhobener Schnauze geht er nach vorne. Da über diese kompensatorischen Augensteliungen bei normalen Kaninchen, die ebenfalls schon vielfach studiert wurden, demnächst eine ausführliche 1) J. Bauer und R. Leidler, Über den Einfluss der Ausschaltung ver- schiedener Hirnabschnitte auf die vestibulären Augenreflexe. Obersteiner’s Arbeiten a. d. Wiener neurolog. Institut Bd. 19 S. 155. 1911. Dort die übrige Literatur. Beiträge zum Problem der Körperstellung. 1. 429 Arbeit aus dem hiesigen Institut von De Kleijn und van der Hoeve erscheinen wird, so möge obiges genügen mit dem Beifügen, dass dieselben sich beim Thalamuskaninchen genau geradeso ver- halten. Die vorstehende Schilderung zeigt, zu wie vielfältigen und ver- wickelten Leistungen das Thalamuskaninchen befähigt ist. Dieselben kommen erstens dadurch zustande, dass mit Ausnahme des zerstörten Riechnerven alle Gehirnnerven sich an den Reaktionen beteiligen, und zweitens dadurch, dass die vor der Brücke gelegenen Zentren des Hirnstammes eine normale Tonusverteilung in der Körper- muskulatur sowie die Einnahme und die Erhaltung der Körper- stellung in der Ruhe und bei Bewegungen gewährleisten. Nachstehende Übersicht zeigt, inwiefern sich die verschiedenen Gehirnnerven bei den einzelnen Reflexen beteiligen. Die Liste ist nicht vollständig: 1. Olfactorius:. zerstört. 2. Optieus: Pupillreaktion, Lidkneifen auf Belichtung. 3. Oculomotorius: Augenbewegungen, Autonome Oculomotoriusfasern: Pupillreaktion. Trochlearis: Augenbewegungen. Trigeminus: sensibel: Lidreflex, Fress-, Kau- und Schluckreflex ; motorisch: Kaureflex. 6. Abducens: Augenbewegungen. 7. Facialis: Lidreflexe, Lippen- und Backenbewegungen beim Fressen. Schallreflexe. 8. Octavus: Cochlearis: Schallreaktionen ; Vestibularis: tonische Labyrinthreflexe auf die Körper- muskeln, Stellreflexe, kompensatorische Augenstellungen, Drehreflexe. : 9—11. Glossopharyngeus, Vago- Accessorius: Schlucken, Schrei- reflex u. v. a, 12. Hypoglossus: Zungenbewegungen beim Fressen, or 2. Analyse der Stellreflexe. Wie bereits oben erwähnt, besitzt das Thalamuskaninchen, wenn der Schock nach der Operation vollständig überwunden ist, das Ver- mögen, die normale Körperstellung einzunehmen und dieselbe jedes- mal wieder herzustellen, wenn es daraus entfernt wird. Auch beim Laufen und Springen wird die richtige Stellung aufrechterhalten, so dass das Tier nicht umfällt oder nach einem Fall schnell wieder 430 R. Magnus: sich aufrichtet. Im folgenden soll versucht werden zu analysieren, wie das zustande kommt, welche Rezeptionsorgane und welche Zentral- teile dabei in Tätigkeit treten, und wie die verschiedenen Mechanismen zusammenwirken. Die Gesamtheit aller Reflexe, welche dazuführen, dass das Tier die normale Körperstellung einnimmt und sich darin erhält, soll als „Stellreflexe“ bezeichnet werden. Dagegen sollen als „Stehreflexe“ diejenigen benannt werden, welche das Tier in einer bestimmten Stellung erhalten, wenn man es hinstellt. Hierher gehören die bisher beim dezerebrierten Tier untersuchten Reflexe, vor allem die Enthirnungsstarre selbst und die tonischen Hals- und Labyrinthreflexe auf die Körpermuskulatur. Bereits Longet!) hat angegeben, dass Kaninchen nach der Ex- stirpation des Grosshirns noch imstande sind zu stehen und — auf Reiz — normal zu laufen und zu springen. Schiff bestätigte dieses und fand ausserdem, dass grosshirnlose Kaninchen auch nach Exstir- pation der Augen gut laufen können. Vulpian?) bemerkte, dass, wenn man die Tiere auf die Seite oder den Rücken legt, sie sich sofort wieder in die normale Stellung aufsetzen. a) Beobachtungen während des Schocks. Wenn man ein Thalamustier längere Zeit nach der Operation untersucht, so erfolgt das Aufsitzen und das Erhalten der Körper- stellung mit solcher Geschwindigkeit und Sicherheit, dass man durch einfache Beobachtung nicht viel über den Mechanismus dieser Reak- tionen feststellen kann. Sehr viel lernt man dagegen, wenn man zusieht, wie sich während des Erwachens aus der Narkose und während des Schwindens des Schocks das Vermögen, die richtige Körperstellung einzunehmen, allmählich ausbildet. Direkt nach der Operation liegt das Tier in Seitenlage da und ist auch durch keinen Reiz zum Aufsitzen zu bringen. Nach einiger Zeit sieht man, dass auf irgend einen beliebigen Reiz (zum Beispiel Schwanzkneifen) der Kopf aus der Seitenlage ge- dreht wird, zuerst nur wenig, schliesslich immer besser, bis er die „Normalstellung“ im Raume (Scheitel oben, Unterkiefer 1) F. A. Longet, Anatomie und Physiologie des Nervensystems. Übersetzt von Hein, Bd. 1 S. 408 und 420. Leipzig 1847. 2) J. M. Schiff, Lehrb. d. Physiol. des Menschen Bd. 1 S. 331ff. Lahr 1858—1859. 3) A. Vulpian, Lecons sur la physiologie gen. et comparee du systeme nerveux p. 532—538. Paris 1866. Beiträge zum Problem der Körperstellung. 1. 431 unten, Mundspalte ca. 30° nach vorne gesenkt) annimmt. Dabei bleibt zunächst der Körper ruhig in Seitenlage liegen. Nach Auf- hören des Reizes sinkt auch der Kopf wieder in Seitenlage zurück. Einige Zeit später bleibt es nicht bei einer Reaktion des Kopfes allein. Auf Reizung des Tieres geht zuerst der Kopf durch Drehung in die „Normalstellung“, daran schliesst sich dann aber das Aufsitzen des Rumpfes an. Manchmal kann man feststellen, dass auch dieses letztere schrittweise geht, indem bei fortgesetzter Reizung zuerst der Brustkorb mit den Vorderpfoten sich aufsetzt und erst danach das Hinterteil mit den Hinterbeinen _ (manchmal mit einer Art Ruck) folgt. Gewöhnlich bleibt das Tier nach Aufhören des Reizes sitzen. Allmählich sind zum Auslösen dieser Reaktionen immer schwächere Reize nötig, und schliesslich braucht der Experimentator gar keine künstlichen Reizungen mehr anzuwenden. Auch hierbei lässt sich feststellen, dass zuerst ein Stadium kommt, in welchem das in Seiten- lage auf dem Boden liegende Tier nur den Kopf durch Drehung in die Normalstellung bringt, während der Körper noch liegen bleibt. Schliesslich tritt dann der endgültige Zustand ein, dass sich das Tier aus der Seitenlage jedesmal „spontan“ in die Normalstellung mit Kopf und Körper aufsetzt (Fie. S.) Auch hier ist gelegentlich festzustellen, dass in einem Zwischen- stadium nur das Aufsitzen von Kopf- und Vorderkörper erfolgt, während der Hinterkörper erst auf einen Reiz (Schwanz- oder Pfotenkneifen) nachfolgt; oder dass die Reaktion noch so langsam eintritt, dass man erkennen kann, dass zuerst die Einstellung des Kopfes erfolgt, an die sich die Reaktion des Rumpfes anschliesst. Fig. 8. Versuch 41. Dasselbe Thalamuskaninchen wie Fig. 11. 29. Mai 1915. Normaler Sitz. 432 R. Magnus: Die ganze hier geschilderte Entwicklung spielt sich in einigen Stunden ab und ist spätestens am folgenden Tage abgelaufen. Diese Beobachtungen lehren, dass das Aufsitzen im wesent- lichen so zustande kommt, dass zunächst der Kopfin die Normalstellung gebracht wird, und dass sieh dann hieran das Aufsitzen des Rumpfes anschliesst. Dass tatsächlich beim Thalamustier das Richtigsetzen des Kopfes im Raume reflektorisch ein Aufsitzen des Rumpfes auslöst, lässt sich leicht zeigen. Wenn aus irgendeinem Grunde, z. B. im Schock, bei Seitenlage des Tieres der Kopf nicht in die „Normalstellung“ gedreht wird, so genügt es häufig, den Kopf mit der Hand zu packen und passiv in diese Stellung zu bringen, um sofort den Rumpf auf- sitzen zu sehen. (Tritt dieses nicht spontan ein, so kann man es durch Schwanzkneifen unterstützen.) Umgekehrt kann man ein richtig dasitzendes Thalamustier dadurch in Seitenlage bringen, dass man den Kopf packt und ihn 90° um die Sagittalachse drent (Fig. 9). Wenn man bei einem dezerebrierten Tier (Kleinhirn-Brückentier, Kleinhirn-Oblongatatier, kleinhirnloses Oblongatatier), das sich im Zu- stand der Enthirnungstarre befindet, aus der Seitenlage den Kopf in die Normalstellung dreht, so erfolgt kein Aufsitzen des Körpers. Es kommt nur zu den früher!) beschriebenen Tonusänderungen der Beine. Der Strecktonus des oberen Vorderbeines sinkt, der des unteren Vorderbeines verhält sich verschieden, je nachdem die Hals- oder Labyrinthreflexe überwiegen. Eine Drehung des Vorderkörpers ist 1) Pflüger’s Arch. Bd. 145 S. 507. 1912, und W. Weiland, Pflüger’s Arch..BU. 147.8.:21., 1912: Fig. 9. Versuch 41. Dasselbe Thalamnstier wie Fig. 11. 29. Mai 1915. Das Tier hatte vorher in Normalstellung gesessen (vgl. Fig. 8). Darauf wurde der Kopf mit der Hand nach rechts gedreht. Der Körper folgte und nahm ebenfalls rechte Seitenlage an. Beiträge zum Problem der Körperstellung. 1. 433 nicht deutlieh nachzuweisen. Beim Thalamustier, das keine Ent- hirnungsstarre hat, tritt auf Drehen des Kopfes in die Normalstellung zunächst aktive Beugung beider Vorderbeine ein (Labyrinthreflex), die unter den Vorderkörper gezogen werden. Es ist dieses eine Folge der anderen, mehr „normalen“ Tonusverteilung auf Beuge- und Streck- muskeln der Vorderbeine,. Ausserdem kommt aber eine Drehung des Vorderkörpers hinzu, die sich reflektorisch an die Drehung des Halses anschliesst. — Ähnliches gilt für die anschliessende Drehung der Lendenwirbelsäule und die Reaktion der Hinterbeine !). Diese ersten einfachen Beobachtungen haben also bereits ge- lehrt, dass beim Erwachen aus Narkose und Schock das Tier zunächst versucht, seinen Kopfin die Normalstellung zu bringen, und dass sich dann daran das Aufsitzen des Rumpfes anschliesst. b) Übersicht der Hauptergebnisse. Zur Erleiehterung der Darstellung sollen nunmehr die Haupt- ergebnisse der Analyse der Stellreflexe beim Thalamuskaninchen mitgeteilt werden. Das Vermögen des Thalamuskaninchens, die normale Körperstellung einzunehmen und aufrechtzuerhalten, be- ruht auf dem Zusammenwirken folgender Reflexe: l. Labyrinthstellreflexe auf denKopf. In jeder Lage des Körpers wird durch einen Reflex von den Labyrinthen aus der Kopf nach der Normalstellung hin bewest. 2. Stellreflexe auf denKopf durch asymmetrische Reizung der Körperoberfläche. Liegt der Körper in einer asymmetrischen Lage, z. B. Seitenlage auf dem Boden, so wird durch asymmetrische Erregung der sensibelen Körpernerven reflektorisch eine Drehung des Kopfes zur Normalstellung zustande gebracht. 3. Halsstellreflexe. Sobald der Kopf in der Normal- stellung steht, der Körper aber noch nicht, so wird durch die 1) Die genannten Stellreflexe machen es verständlich, warum nach unseren fräheren Untersuchungen (Magnus-De Kleijn, Pflüger’s Arch. Bd. 154 5.175. 1913) sich beim normalen, nichtdezerebrierten Kaninchen der Einfluss von Kopfbewegungen auf den Gliedertonus in Seitenlage häufig nicht gut unter- suchen lässt, weii, wie wir l. c. schrieben, „diese Lage für Kaninchen offenbar recht unbequem ist und die Tiere daher häufig Abwehrbewegungen machen. Besonders das Konpfdrehen mit dem Kiefer nach unten ist häufig ein Signal, sich aus dieser Lage zu befreien und sich in die normale Ilocksteilung zurück- zubegeben“. Nach den Ergebnissen der jetzigen Arbeit ist dieses auf die Stell- reflexe zurückzuführen. 434 R. Magnus: abnorme Haltung (Drehung, Streckung, Beuzung) des Halses ein Reflex ausgelöst, durch den der kaudal gelegene Teil der Wirbel- säule in die richtige und symmetrische Stellung zum Kopfe gebracht wird. Dieser Reflex setzt sich von vorne nach hinten längs der Wirbelsäule fort. 4. Stellreflexe auf den Körper durch asymmetrische Reizung der Körperoberfläche. Die hisher genannten drei Reflexgruppen sind sehr kräftig und leicht nachweisbar. Ausserdem fand sich noch ein unter den eingehaltenen Versuchsbedingungen weniger konstanter Reflex, durch welchen, auch wenn der Kopf sich nicht in der Normalstellung befindet, der Körper doch richtig ge- stellt werden kann. Die Erregungen, die diesen Reflex auslösen, kommen durch asymmetrische Reizung der Körperoberfläche zustande. 5. Die Drehreaktionen von den Labyrinthen auf Hals und Körper scheinen für die Aufrechterhaltung des Körper- gleichgewichts beim Kaninchen nur von untergeordneter Bedeutung zu Sein. Nunmehr sind diese einzelnen Reflexe eenauer zu schildern. Fig. 10. Versuch 49. 17. Juni 1915. Kaninchen, Grosshirn- exstirpation vor dem Thalamis. Optiei durchtrennt. — 18. Juni. Das Tier wird mit der Hand am Becken frei in die Luft gehalten, so dass der Hinterkörper sich in rechter Seitenlage befindet. Durch Drehung der Wirbelsäule, hauptsächlich in der Körper- mitte, wird der Kopf und die vordere Körperhälfteiin die Normalstellung gebracht. (Labyrinthstellreflex auf den Kopf mit anschliessendem Halsstellreflex.) Sektion: Vierhügel und Thalami intakt, Schnitt gerade vor den Thalamis, Grosshirn fehlt total, Optiei durchtrennt. Hirnnerven Nr. 3 bis 12 beiderseits intakt. Stereoskopische Abbildung des Präparates Fig. 4 S. 416. Beiträge zum Problem der Körperstellung. 1. 435 e) Die Labyrinthstellreflexe auf den Kopf. Da nach der im vorigen Abschnitt gegebenen Übersicht beim Thalamustier durch die Berührung mit dem Boden eine Reihe von Stellreflexen ausgelöst werden, als deren Rezeptoren die sensibelen Körpernerven anzusehen sind, kann man die von den Labyrinthen ausgehenden Stellreflexe am besten dann ungestört untersuchen, wenn jede Berührung des Tieres mit dem Boden vermieden wird, das heisst weun man es frei in der Luft hält. Einige stereoskopische Photographien werden die unter diesen Umständen zu beobachtenden Erscheinungen deutlicher machen als lange Beschreibungen. Auf Fig. 10 und 11 sieht man, dass, wenn der Hinterkörper des Thalamuskaninchens in Seitenlage in der Luft gehalten wird, der Kopf in die Normalstellung gedreht wird. Diese Reaktion ist bei allen Thalamustieren sehr deutlich. Meistens schliesst sich daran dann der Halsreflex an, durch den auch der Thorax, dem Kopf folgend, Fig. 11. Versuch 41. 27. Mai 1915. Kaninchen, Grosshirn- exstirpation vor den Thalamis. — 29. Mai. Tier wird mit der Hand am Becken frei in der Luft gehalten, so dass der Hinterkörper sich in rechter Seitenlage befindet. Durch Drehung der Wirbelsäule, hauptsächlich in der Körper- mitte, wird der Kopf und die vordere Körperhälfte in die Normalstellung gebracht. (Labyrinthreflex auf den Kopf mit anschliessendem Halsstellreflex.) Sektion: Vierhügel und Thalami intakt. Schnitt gerade vor den Thalamis. Vom Grosshirn steht nur links ventral am Tractus optieus noch ein kleiner Rest des Gyrus piriformis. Augenmuskelnerven und Optici intakt. 4836 R. Magnus: in die richtige Stellung gedreht wird. Manchmal erfolgt dann sogar auch die anschliessende Drehung des Beckens, so dass sich das Tier gegen den Widerstand der haltenden Hand „herumreisst“, bis der ganze Körper richtig in der Luft steht. Der Zwang, den Kopf im Raume richtig zu stellen, ist so stark, dass man das Becken des Tieres (über dem Bauch) in der Luft aus der einen Seitenlage in die andere hinüberdrehen kann, ohne dass sieh die Stellung des Kopfes im Raume dabei ändert. Man dreht dann das Tier gewissermaassen um seinen in der Luft durch den Labyrinthstellreflex festgehaltenen Kopf, eine ausserordent- lich anschauliche Demonstration. Der Kopf wird dabei meistens so gehalten, dass die Ebene der Mundspalte etwa 30° unter die Horizontalebene gesenkt ist. Der Vergleich von Fig. 10 mit Fig. 11 lehrt, dass die Reaktion in genau derselben Weise eintritt, einerlei ob die Optiei intakt oder durchtrennt sind. Wird das Tier am Becken in Rückenlage in der Luft gehalten, so dreht sich der Kopf nach der Seite. Diese Drehung beträst in den meisten Fällen 90°, kann aber auch 135° und selbst 180° be- tragen, so dass der Kopf vollständig in die Normalstellung gelangt. Manchmal wird der Kopf um 90° gedreht und darauf durch Wendung nach oben noch mehr der Normalstellung genähert. Fig.12. Dasselbe Thalamuskaninchen wie auf Fig. 11. 29. Mai1915 Das Tier wird mit der Hand am Becken in Rückenlage gehalten. Der Kopf dreht sich in (linke) Seitenlage. Daran schliesst sich die Drehung der vorderen Körperhälfte. (Labyrinthstellreflex auf den Kopf mit an- schliessendem Halsstellreflex.) we Beiträge zum Problem der Körperstellung. I. 457 ( An die Drehung des Kopfes schliesst sich (Fig. 12) meistens die entsprechende Drehung des Vorderkörpers an. Hat das Tier bei Rückenlage des Beckens eine Haltung an- genommen, wie sie auf Fig. 12 zu sehen ist (linkes Ohr nach unten gedreht), und man dreht nun das Becken in der Luft im umgekehrter Sinne (rechte Hinterbacke nach unten), so wird der Kopf zunächst in seiner Lage im Raume festgehalten, bis die Drehung der Körper- achse zu stark wird. Dann fährt plötzlich der Kopf mit einem Ruck herum, so dass das rechte Ohr nach unten kommt. Auch diese Reaktion ist sehr demonstrabel und kann zum Nachweis des Vor- handenseins des Labyrinthreflexes benutzt werden. Wenn man das Tier in Rückenlage auf den Tisch legt, so wirken auf die sensibelen Nerven des Rumpfes keine asym- metrischen Erregungen ein. Der Labyrinthstellreflex auf den Kopf kann daher auch bei Rückenlage auf dem Tisch untersucht werden. Durch denselben gelangt zunächst der Kopf, dann der Vorderkörper und im Anschluss daran auch der Hinterkörper in Seitenlage. Aus dieser richtet sich dann das Tier in Normai- stellung auf. Wird das Tier mit senkrechter Wirbelsäule und dem Kopfende nach oben in der Luft gehalten, so erfolgt Ventralbeugung des Fig. 13. Dasselbe Thalamuskaninchen wie auf Fig. 11. 29. Mai 1915. Das Tier wird mit der Hand am Becken frei in der Luft gehalten, so dass die Wirbelsäule in Rückenlage fast (30°) horizontal steht, Der Kopf ist in die Normalstellung gebracht, und die Wirbelsäule so stark ventralwärts gebeugt, dass auch der Thorax richtig steht. (Labyrinthstellreflex auf den Kopf mit anschliessendem Halsstellreflex.) Pflüger’s Archiv für Physiologie. Bd. 163. 90 438 R. Magnus: Kopfes, bis dieser in der Normalstellung steht. Hieran schliesst sich, wenn man das Tier am Becken gepackt hat, eine Ventralbeugung der Brust und der Lendenwirbelsäule, so dass auch der Vorder- körper richtig stelıt. Fig. 13 zeigt, dass diese Reaktion so wirksam ist, dass selbst wenn das Kreuzbein nicht senkrecht, sondern fast horizontal (in Rückenlage) gehalten wird, der Kopf noch in die Normalstellung im Raume gelangt. Ob, wenn man das Becken des Tieres in Rückenlage in der Luft hält, diese Ventralbewegung oder die oben geschilderte Drehung von Kopf und Vorderkörper (Fig, 12) eintritt, hängt von „zufälligen“ Nebenumständen ab. Wird das Tier am Becken gepackt und in Hängelage mit dem Kopfe nach unten bei senkrechter Wirbelsäule gehalten (Fig. 14), so wird der Kopf durch Dorsalflexion in die Normalstellung ge- bracht. Kurze Zeit nach der Operation gelingt dieses meist noch Fig.14. Dasselbe Thalamuskaninchen wie auf Fig. 11. 29. Mai 1915, Das Tier wird mit der Hand am Becken frei in der Luft gehalten, so dass die Wirbelsäule senkrecht und das Kopfende nach unten steht. Der Kopf wird durch Dorsalflexion in die Normalstellung gebracht. (Labyrinthstellreflex auf den Kopf.) Die Dorsalflexion des Kopfes veranlasst durch tonischen Halsreflex eine Streckung der Vorderbeine. Man sieht auf dieser Photographie, wie bei einem Sprung in die Tiefe durch das Zusammenwirken der genannten Reflexe der Kopf in die richtige Stellung gebracht und die Vorderbeine zugleich befähigt werden, das Gewicht des Körpers aufzufangen, Beiträge zum Problem der Korperstellung. 1. 439 nicht vollständig, so dass die Mundspalte dann noch einen Winkel von 45° mit der Horizontale bildet; alimählich aber wird der Reflex immer wirksamer, bis schliesslich der Kopf bei dieser Körperlage in der Normalstellung mit um etwa 10-——20—30 ° gesenkter Mundspalte steht. Hält man das Tier zuerst in Hängelage mit dem Kopfe nach oben (Fig. 13) und dreht dann das Becken allmählich um die Querachse um 180 °, bis die Hängelage mit dem Kopfe nach unten (Fig. 14) erreicht ist, so kann man beobachten, dass der Kopf diese Drehung des Hinter- körpers nieht oder nur wenig mitmacht. In manchen Fällen senkt sich die Schnauze dabei um 30°, in anderen überhaupt nicht. Auch hierbei kann man also den Körper in der Luft um den im Raume gleichsam fest- stehenden Kopf herumdrehen. Alle diese Stellungen in der Luft, wie sie bisher geschildert worden sind, kann man auch untersuchen, wenn man das Tier nicht am Becken, sondern an den Hinterfüssen distal vom Fussgelenk packt. Dann beteiligt sich gewöhnlich auch die hintere Körper- hälfte am Stellreflex. Das letztere Verfahren ist aber nicht all- gemein anwendbar, weil viele Tiere, wenn man sie an den Hinterfüssen zu halten versucht, Zappel- und Sprungbewegungen ausführen. Fig. 15 zeigt ein an den Hinterfüssen in der Luft gehaltenes Tier, bei dem sich Kopf und Körper in Normalstellung befinden. Die bisher geschilderten Labyrinthreflexe in der Luft, durch welche der Kopf jedesmal in die Normalstellung gebracht wird, wor- auf dann der Körper der vom Kopfe abgehenden Richtung folgt, lassen es verständlich erscheinen, dass das Thalamustier imstande Fig.15. Dasselbe Thalamuskaninchen wie auf Fig. 11. 29. Mai 1915. Das Tier wird mit der Hand an den Hinterfüssen frei in der Luft gehalten. Kopf und Körper befinden sich in Normalstellung. 440 R. Magnus: ist, beim Sprunge durch die Luft (beim Laufen, beim Springen aus dem Käfig ‘oder vom Tisch auf den Boden) stets in der richtigen Stellung auf den Boden zu kommen. Labyrinthlose Tiere verlieren dieses Vermögen direkt nach der Operation und müssen es erst unter Zuhilfenahme anderer Mechanismen in mühsamer Weise wieder lernen !). Fig. 14 zeigt, wie das Thalamuskaninchen bei Hängelage mit dem Kopf unten durch den Labyrinthstellreflex auf den Kopf und den daran anschliessenden Halsreflex auf die Vorderbeine in dieselbe Körperhaltung gebracht wird, wie sie das Tier beim Sprunge durch die Luft nach unten annehmen muss. Der Kopf ist vor dem Auf- schlagen auf den Boden geschützt, und die Vorderbeine sind durch die tonische Streckung befähigt, das Gewicht des Körpers bei der Ankunft auf dem Boden aufzufangen. Der Beweis, dass die bisher geschilderten Labyrinthstellreflexe auf den Kopf wirklich von den Labyrinthen ausgehen, wird dadurch geliefert, dass sie, wie im nächsten Abschnitt zu schildern sein wird, naeh Entfernung der Labyrinthe verschwinden. d) Beobachtungen an labyrinthlosen Thalamuskaninchen. Stellreflexeaufden KopfdurchasymmetrischeReizung der Körperoberfläche. Alle Labyrinthexstirpationen wurden von Dr. de Kleijn aus- geführt. Bei zwei Tieren wurde die Entfernung beider Labyrinthe am Tage vorher vorgenommen; die Tiere blieben danach ruhig sitzen, um sich von dem Eingriff zu erholen. Nach 24 Stunden exstirpierte ich dann das Grosshirn vor den Thalamis. Bei den acht übrigen Tieren wurde die Grosshirnexstirpation unmittelbar an die Labyrinth- exstirpation angeschlossen. In einem weiteren Falle wurde die Labyrinthausschaltung nicht chirurgisch, sondern durch Kokain- einspritzung von der Bulla aus vorgenommen. Das allgemeine Verhalten der labyrinthlosen Thalamuskaninchen weicht von dem der „normalen“ Thalamustiere, wie es oben geschildert wurde, nicht sehr wesentlich ab. Die Tiere besitzen noch das Ver- mögen, die richtige Körperstellung einzunehmen, sitzen in Hockstellung auf der Erde, wenn auch kurze Zeit nach der Operation der Tonus ihrer Nackenmuskeln wegen der Entfernung der Labyrinthe geringer 1) Vgl. die Schilderung des Verhaltens labyrinthloser Katzen bei Magnus und Storm van Leeuwen. Pflüger’s Arch. Bd. 159 S. 199. 1914. Beiträge zum Problem der Körperstellung. I. 441 ist als bei intakten Labyrinthen. Doch erlangen sie nach einiger Zeit die Fähigkeit wieder, den Kopf aufrecht zu tragen (Fig. 16). Enthirnungsstarre fehlt, die Tonusverteilung in der Körpermusku- latur ist „normal“. Wird der Finger in den Mund gesteckt, so treten Kaubewegungen ein. Auf Berühren der Cornea wird der Kopf weg- eewendet. Der Lidreflex und andere Reflexe auf den Fazialis fehlen meist, weil bei der Labyrinthoperation gewöhnlich der Fazialis zerstört wird. Kann er dagegen erhalten werden. so ist der Lidreflex usw. vor- handen. Der Sprungreflex auf starkes Dorsalbeugen des Kopfes lässt sich deutlich nachweisen. Nur ist er bei den labyrinthlosen Tieren von der Lage im Raume unabhängig. In jeder Körperlage erfolgt, wenn der Kopf stark gegen den Rücken zu gebeugt wird, kräftige Sprung- bewegung der Hinterbeine und Laufbewegung der Vorderbeine. Die bisher bekannten Labyrinthreflexe fehlen natürlich vollkommen. Durch Änderung der Stellung des Kopfes im Raume lassen sich keine Tonusänderungen der Hals- und Gliedermuskulatur mehr aus- lösen (vel. Weiland!). Ebenso sind alle Drehreaktionen erloschen. Fig. 16. Versuch 43. 1. Juni 1915. Kaninchen. Doppelseitige Labyrinthexstirpation. Grosshirnexstirpation vor den Thalamis. Aufnahme 4 Stunden nach der Operation. Sitz auf dem Tisch, Kopf richtig gehalten. Sektion: Vierhügel und Thalami intakt, Stammganglien. fehlen. Der Schnitt geht dorsal gerade vor den Thalamis, in der Mitte ist etwa 2 mm von der Gegend der Lamina terminalis stehen geblieben. Ventral geht der Schnitt gerade vor dem Chiasma. Auf der rechten Seite ist ein ganz kleines Stück des Loöbus piriformis auf dem Tractus opticus stehen geblieben. Sonst ist das Grosshirn vollständig entfernt. Nervi optiei durchtrennt. Augenmuskelnerven intakt. 442 R. Magnus: Da letzteres immer wieder gelegentlich bezweifelt wird, habe ich noch speziell auf diesen Punkt geachtet. Nach doppelseitiger Ent- fernung der Labyrinthe fehlt die Drehreaktion, Drehnachreaktion, Drehnystagmus, Drehnachnystagmus sowohl des Halses wie der Augen. Für die Augen wurde dabei das Fehlen der vertikalen, horizontalen und rotatorischen Drehreaktion und des entsprechenden Nystagmus konstatiert. Auch die kompensatorischen Augenstellungen bei ver- schiedenen Lagen des Kopfes im Raume sind nicht mehr vorhanden. Spontane Augenbewegungen werden dagegen noch prompt ausgeführt. Für die Zwecke der vorliegenden Arbeit ist nun von Wichtigkeit, dass nach Entfernung beider Labyrinthe die im vorigen Abschnitt geschilderten Labyrinthstellreflexe voll- ständig erloschen sind. Das mögen die folgenden stereo- skopischen Abbildungen beweisen. Auf Fig. 17 sieht man, dass, wenn der Hinterkörper des labyrinth- losen Thalamuskaninchens in Seitenlage in der Luft gehalten wird, der Kopf nicht in die Normalstellung gedreht wird. Infolgedessen kommt die charakteristische Stellung, wie sie Fig. 10 und 11 vom Thalamuskaninchen mit intakten Labyrinthen bei Seitenlage in der Luft zeigt, nicht zustande. Kopf und Vorderkörper sinken vielmehr, einfach der Schwere folgend, nach unten. Dreht man den Hinter- Fig. 17. Dasselbe labyrinthlose Thalamuskaninchen wie Fig. 16. Das Tier wird mit der Hand am Becken frei in der Luft gehalten, so dass der Körper sich in rechter Seitenlage befindet. Vorderkörper und Kopf (vgl. die Ohren) sind auch in rechter Seitenlage, die vordere Körperhälfte, Hals und Kopf sind, der Schwere folgend, nach unten ge- sunken. — Kopf und vordere Körperhälfte haben also nicht die Normal- stellung im Raume angenommen. Der Vergleich mit Fig. 10 (S. 434) und 11 (S. 435) lehrt, dass nach der Labyrinthexstirpation der Labyrinthstellreflex auf den Kopf fehlt. Infolgedessen bleibt auch der sich daran anschliessende Halsreflex aus. Beiträge zum Problem der Körperstellung. ı. 443 körper in der Luft von der einen Seitenlage in die andere, so folgt der Kopf passiv dieser Bewegung und wird nicht, wie bei intakten Labyrinthen, in der Normalstellung zwangsweise festgehalten. Da der Labyrinthstellreflex auf den Kopf fehlt, tritt auch der sich hieran anschliessende Halsreflex, durch den sich der Thorax in der durch den Kopf angegebenen Richtung einstellt, nicht ein. Fig. 18 zeigt, dass, wenn man das labyrinthlose Thalamustier in Rückenlage am Becken festhält, wobei es keinen Unterschied macht, ob das in der Luft oder auf dem Tische geschieht, Kopf und Vorderkörper nicht nach der Seite gedreht werden. Ein Ver- gleich mit Fig. 12 (S. 436) lehrt, dass der Labyrinthstellreflex fehlt (infolgedessen bleibt dann auch die anschliessende Drehung des Vorderkörpers aus). Versuche, sich aus völlig symmetrischer Rücken- Fig. 18. Versuch 50. 25. Juni 1915. Kaninchen. Chloroform- narkose, Karotiden abgebunden, Vagi durchtrennt. Doppelseitige Labyrinthexstirpation, danach Exstirpation des Grosshirns vor den Thalamis. Optiei in die Höhe gehoben und durchtrennt. Photographische Aufnahme 5!/s Stunden nach der Operation. Das Tier wird mit der Hand am Becken in Rückenlage auf dem Tisch gehalten. Kopf und vordere Körperhälfte befinden sich ebenfalls in Rückenlage, haben sich also nicht auf die Seite gedreht. Der Vergleich mit Fig. 12 (S. 436) lehrt, dass nach der Labyrinth- exstirpation der Labyrinthstellreflex auf den Kopf fehlt. Infolgedessen bleibt auch der sich daran anschliessende Halsreflex aus. Sektion: Fast keine intrakranielle Blutung. Optiei durchtrennt, Ausenmuskelnerven intakt. Vierhügel und Thalami intakt. Schnitt geht dorsal gerade vor den Thalamis, hinter der Lamina terminalis. Ventral geht er gerade vor dem Chiasma. Beiderseits sitzt dem Traectus opticus je ein kleines Stück des Lobus piriformis auf, das aber keinen Zusammenhang mit dem übrigen Präparat mehr besitzt. 444 R. Magnus: lace aufzusetzen, werden nieht gemacht. Dreht man das Tier aus der Rückenlage nach der einen oder anderen Seite, so folgt der Kopf passiv dieser Bewegung. Bringt man das labyrinthlose Thalamuskaninchen in Hängelage mit dem Kopfe nach oben (Fig. 19), so wird der Kopf nicht, wie bei intakten Labyrinthen (vgl. Fig. 13), durch Ventralbeugung in die Normalstellung gebracht, sondern er sinkt einfach nach hinten und wird dorsalwärts gebeust. Infolgedessen fehlt auch die ent- sprechende Ventralbeugung des Vorderkörpers, und das Tier bleibt in seiner abnormen Haltung, ohne dieselbe korrieieren zu können. Bei Hängelage mit Kopf nach unten (Fig. 20) wird der Kopf nicht, wie bei Tieren mit intakten Labyrinthen (vel. Fie. 14), durch Dorsalflexion in die Normalstellung gebracht, sondern hängt einfach, der Schwere folgend, mit der Schnauze senkrecht nach unten. Bringt man labyrinthlose Thalamuskaninchen zuerst in Hänge- lage mit dem Kopfe nach oben und dreht darauf das Becken um die Querachse um 180°, bis das Tier sich in Hängelage mit dem Kopfe nach unten befindet, so folgt der Kopf rein passiv dieser Be- wegung, und man kann keine Versuche nachweisen, die Lage des Kopfes im Raume beizuhalten. Fig. 19. Dasselbe labyrinthlose Thalamuskaninchen wie Fig. 16. Das Tier wird mit der Hand an der Wirbelsäule, mit dem Kopfende nach oben, frei in der Luft gehalten. Der Kopf ist nach hinten ge- sunken, mit dem Scheitel nach unten. Kopf und vordere Körperhälfte haben nicht die Normalstellung im Raume angenommen. Der Vergleich mit Fig. 13 (S. 437) lehrt, dass der Labyrinth- stellreflex auf den Kopf und infolgedessen auch der daran anschliessende Halsreflex fehlt. Beiträge zum Problem der Körperstellung. 1. 445 Hält man das labyrinthlose Thalamustier nicht am Becken, sondern an den Hinterfüssen in den verschiedenen möglichen Lagen in der Luft, so fehlen ebenfalls alle Labyrinthstellreflexe und- die anschliessenden Halsreflexe auf die vordere Körperhälfte. Das geschilderte Verhalten war in sämtlichen Versuchen mit Exstirpation beider Labyrinthe stets dasselbe. Daraus folgt, dass die bisher geschilderten Stellreflexe auf den Kopf, welche bei Beobachtung der Tiere in der Luft sich nachweisen lassen, wirklich von den Labyrinthen ausgehen. Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass das Thalamustier nach Verlust der Labyrinthe nicht mehr imstande ist, in der Luft die richtige Körperstellung einnehmen. Sobald das Tier jedoch in Be- rührung mit der Unterlage (Fussboder, Tisch) kommt, ändert sich dieses Verhalten. Fig. 20. Dasselbe labyrinthlose Thalamuskaninchen wie Fig. 16. Das Tier wird mit der Hand am Becken frei in der Luft gehalten, so dass die Wirbelsäule senkrecht und das Kopfende nach unten steht. Der Kopf hängt einfach mit der Schnauze vertikal nach unten, wird also nicht in die Normalstellung gebracht, der Labyrinthstellreflex fehlt, wie ein Vergleich mit Fig. 14 (S. 438) lehrt. Da der Kopf ruhig nach unten hängt, trıtt auch keine tonische Streckung der Vorder- beine ein, die „Sprungstellung“ fehlt. 446 R. Magnus: Hält man ein labyrinthloses Thalamuskaninchen zunächst in Seitenlage am Becken in der Luft, so bleibt, wie das oben auf Fig. 17 zu sehen ist, Kopf und Vorderkörper ebenfalls in Seiten- lage, und es werden keine Versuche gemacht, den Kopf in die Normalstellung zu bringen. Sobald man aber das Tier bei unveränderter Seitenlage des Beckens auf den Tisch legt, so wird sofort der Kopf in die Normalstellung sebracht. Das geschieht entweder durch einfache Drehung, oder die Schnauze wird zuerst durch Ventralbeugung zwischen die Vorder- pfoten gebracht und danach in die Normalstellung gedreht. An diese Bewegung des Kopfes schliesst sich dann der gewöhnliche Halsreflex an, durch welchen, während das Becken noch in Seiten- lage festgehalten wird, der Vorderkörper sich ebenfalls in die Sitz- stellung dreht). Auf Fig. 21 ist das Endergebnis zu sehen. 1) Unterstützt wird die Drehung des Vorderkörpers noch durch den später zu schildernden Reflex, der durch einseitige Reizung der Körperoberfläche auf den Körper selber ausgelöst wird. Fig. 21. Dasselbe labyrinthlose Thalamuskaninchen wie Fig. 18. Das Tier war zunächst am Becken in rechter Seitenlage in der Luft gehalten worden. Kopf und Vorderkörper hatten sich dabei ebenfalls in Seitenlage befunden (vel. Fig. 17), weil der Labyrinthstellreflex fehlt. Danach war es in rechter Seitenlage auf den Tisch gelegt worden. Der Kopf ragte über den Tischrand. Darauf drehte ‚sich zuerst der Kopf nach links, das heisst in die Normalstellung (Wirkung des einseitigen Druckes der Unterlage auf den Körper). Darauf folgte der Vorderkörper, während der Hinterkörper mit der Hand in rechter Seitenlage festgehalten wird. Beiträge zum Problem der Körperstellung. 1. 447 Diese Reaktion tritt sofort auf, nachdem der Körper des Tieres die Unterlage berührt hat. Auf Fig. 21 sieht man, dass sie auch erfolgt, wenn nicht der Kopf, sondern nur der Körper auf dem Tische aufliegt. Es drängt sich daher der Schluss auf, dass es sich hierbei um einen Reflex handelt, der durch die einseitige Er- regung der sensibelen (Druck-) Nerven des Tierkörpers ausgelöst wird. Die Richtigkeit dieser Überlegung lässt sich leicht beweisen. Wenn die Drehung des Kopfes in die Normalstellung durch den einseitigen Druck der Unterlage auf die Körperwand ausgelöst wird, so muss man dieselbe verhindern können, wenn man auf die oben befindliche Körperwand einen ungefähr ebenso starken Druck aus- übt. Dieses ist nun tatsächlich der Fall. Legt man nämlich, während das labyrinthlose Thalamustier sich in Seitenlage auf dem Tische befindet, auf die oben befindliche Körperseite ein Brettchen, bei- spielsweise den Deckel einer Zigarrenkiste, und beschwert dasselbe mit einem Gewicht von 1 kg, so wird der Kopf nicht mehr in die Normalstellung gedreht, sondern bleibt ebenso in Seiten- lage, wie wenn man das Tier frei in der Luft hielte. (Dieser einfache und sehr anschauliche Versuch soll im folgenden kurzweg als „Brett- versuch“ bezeichnet werden.) Fig. 22 veranschaulicht dieses Ergebnis. Fig. 22. Dasselbe labyrinthlose Thalamuskaninchen wie Fig. 18 und 21. Das Tier liegt in linker Seitenlage auf dem Tisch. Der Kopf ragt über den Tischrand. Auf die oben befindliche rechte Körper- _ seite ist ein mit einem flachen Gewicht von 1 kg beschwertes Brett gelest, das mit der Hand festgehalten wird („Brettversuch‘). Der Kopf bleibt daraufin linker Seitenlage liegen und wird nicht in die Normalstellung gedreht. (Die Wirkung des einseitigen Druckes der Unterlage ist durch den Druck des Brettes kompensiert.) 448 R. Magnus: Sobald man nun aber das beschwerte Brett wieder fortnimmt, geht der Kopf alsbald durch Drehung in die Normalstellung, und der Körper folgt dieser Drehung. Hierdurch haben wir nun einen neuen Faktor kennen gelernt, durch welchen reflektorisch das am Boden liegende Tier zum Aufsitzen gebracht wird. Im Gegensatz zum Labyrinthstellreflex, der die richtige Orientierung des Tieres auch in der Luft be- sorgt, ist für diesen Stellreflex (Stellreflex auf den Kopf durch asymmetrische Reizung der Körperoberfläche) die Berührung mit der Unterlage nötig. Beim näheren Studium stellte es sich nun heraus, dass es sich um eine Reaktion von recht weitgehender Wirksamkeit handelt. Sehr verschiedene einseitige Reize sind imstande, beim labyrinth- losen Thalamustier eine Drehung oder Wendung des Kopfes nach der anderen Seite auszulösen. So erfolgt auf Berührung einer Cornea oder eines Augenwinkels Wegwenden des Kopfes nach der anderen Seite. Hält man das Tier am Becken in Normalstellung in der Luft und kneift eine Vorderpfote, so wird der Kopf nach der anderen Seite gedreht oder gewendet. Denselben Versuch kann man auch mit dem Brettversuch kombinieren. Leet man das Tier in Seitenlage auf den Tisch und belastet die obere Körperseite mit einem beschwerten Brettchen, so bleibt der Kopf in Seitenlage (Fig. 22). Kneift man jetzt das untere Vorderbein, so wird der Kopf alsbald in die Normalstellung gedreht und geht nach Aufhören des Reizes wieder in Seitenlage zurück. Kneift man dagegen das obere Vorderbein, so dreht sıch der Kopf mit dem Scheitel nach unten. In diesem Falle ist der Druck der Unterlage durch das auf- gelegte Brett kompensiert, und es kann daher der einseitige Pfoten- reiz seinen richtenden Einfluss auf den Kopf ungestört falten. — Hält man das Tier am Becken in Normalstellung in der Luft, so kann man die Haut der einen Körperseite breit mit der Hand packen und kneifen oder drücken: der Kopf wird daraufhin nach der anderen Seite gedreht und gewendet. Der Versuch mit Pfotenkneifen lehrt zugleich, dass es nicht er- forderlich ist, dass der Rumpf des Tieres einseitig gereizt wird, sondern (dass auch asymmetrische Reize an den Extremitäten einen riehtenden Einfluss auf den Kopf haben. #s ist das für das Verständnis des Gleiehgewichtes beim stehenden Tiere von Wichtiekeit. Beiträge zum Problem der Körperstellung. 1. 449 Wenn die Berührung mit der Unterlage keine asymmetrische, sondern eine symmetrische ist, so erfolgt keine Drehung oder Wendung des Kopfes. Daher kommt es, dass, wenn man ein labyrinth- loses Thalamustier in Rückenlage auf den Tisch lest (Fig. 18), der Kopf ebenso ruhig in Rückenlage mit dem Scheitel nach unten bleibt, als ob man das Tier in der Luft hielte. Aus der Rücken- lage erfolet die Kopfdrehung nur, wenn der Labyrinthstellreflex wirksam ist. Inwiefern nun der geschilderte „Stellreflex auf den Kopf durch asymmetrische Reizung der Körperoberfläche“ beim labyrinthlosen Thalamuskaninchen imstande ist, die richtige Körperstellung zustande zu bringen, erkennt man am besten durch Beobachtung dieser Tiere, wenn sie aus dem Schock nach der Operation erwachen und all- mählich sich aufzurichten versuchen. Direkt nach der Operation liegt das Tier auf der Seite und macht auf Reize aller Art keine Versuche, den Kopf in die Normal- stellung zu bringen. Nach einiger Zeit erfolgt auf symmetrischen Reiz (Schwanzkneifen) einfaches Zappeln in Seitenlage; wird dagegen das unten liegende (nicht das obere!) Vorderbein gekniffen, so wird der Kopf in die Normalstellung gedreht. Anfangs reagiert nur der Kopf auf Reizung des unteren Vorderbeins, später schliesst sich daran das Aufsitzen des Vorderkörpers und schliesslich auch des Hinterkörpers an, so dass das Tier entweder zum richtigen Sitz in Normalstellung kommt oder über den Bauch nach der anderen Seite hisüberrollt. Sobald es dann in die Seitenlage gekommen ist, rollt es über den Bauch wieder auf die ursprüngliche Seite zurück, und so kann es kommen, dass dass Tier eine Zeit lang über den Bauch von der einen Seitenlage in die andere hin und her rollt. Niemals erfolgt das Rollen über den Rücken; immer geht der Kopf zuerst in die Normalstellung, und der Körper rollt dann über den Bauch nach. In einem weiteren Stadium des Erwachens aus dem Schock erfolgt dann diese Reaktion nicht nur auf Kneifen des unteren Vorder- beines, sondern es genügt der symmetrische Reiz des Schwanzkneifens, um, zusammen mit dem einseitigen Druck der Unterlage, Drehen des Kopfes in Normalstellung und Rollen über den Bauch nach der anderen Seite zu veranlassen. Schliesslich ist überhaupt keine künstliche Reizung mehr erforderlich. Sobald das Tier in Seitenlage gelangt, wird der Kopf in Normalstellung gedreht, und der Körper 450 R. Magnus: folgt. Anfangs erfolgt dabei noch das geschilderte Hin- und Her- rollen über den Bauch, das gewöhnlich schliesslich zum richtigen symmetrischen Sitzen in Normalstellung führt. Schliesslich aber kann sich das Tier aus der Seitenlage auf dem Tisch direkt aufsetzen und fällt nicht mehr um. Bleibt es in diesem Stadium noch einmal in Seitenlage liegen, so genügt meist ein leichtes Klopfen auf den Tisch, um das Aufsitzen auszulösen. Nach dem Aufsitzen schwankt das Tier häufig noch etwas mit dem Kopf oder Körper hin und her, wie das auch Kaninchen mit intaktem Grosshirn in den ersten Tagen nach der doppelseitigen Labyrinthexstirpation tun. Sobald bei Seiten- lage auf dem Tisch das beschwerte Brett auf die obere Körperseite auf- gelest wird, sind alle die genannten Reaktionen, durch welche Kopf und Körper nach der Normalstellung hinbewegt werden, erloschen. Nach dem Entfernen des Brettes tritt die Aufsitzreaktion dagegen sofort wieder ein. — Wird das labyrinthlose Thalamustier auf den Boden gesetzt und am Schwanz gekniffen, so macht es einen richtigen Sprung. Die von mir beobachteten Tiere fielen danach gewöhnlich auf die Seite und setzten sich darauf wieder auf. Es ist wohl mit Sicherheit anzunehmen, dass, wenn die Untersuchung auf mehrere Tage hätte ausgedehnt werden können, auch ganz normales Laufen eingetreten wäre. Überhaupt ist zu bemerken, dass, weil die labyrinthlosen Thalamus- tiere alle am ersten oder zweiten Tage eingingen, die hier geschilderten Reaktionen nur die Minimalleistungen darstellen. Ich hoffe in einer späteren Arbeit an Katzen, welche man nach der doppelseitigen Labyrinth- exstirpation beliebig lange Zeit am Leben erhalten kann, diese Studien an labyrinthlosen Thalamustieren zu ergänzen und ihre Maximal- leistungen festzustellen. Die bisher mitgeteilten Beobachtungen an Thalamustieren mit intakten Labyrinthen, wenn sie in der Luft gehalten wurden, und an labyrinthlosen Thalamustieren in der Luft und auf dem Tische haben also zunächst gelehrt, dass zwei verschiedene Gruppen von Reflexen zusammenwirken, um dem Kopfe die „Normalstellung“ im Raume zu geben. Das ist erstens der Labyrinthstellreflex und zweitens der Stellreflex durch asymmetrische Reizung der Körperoberfläche, Beide stellen den Kopf im Raume riehtie. Der Körper folgt dann der durch den Kopf angegebenen Richtung und eelanet dadurch auch zum normalen Sitz. Über die hierbei mitwirkenden Faktoren soll im folgenden noch einiges mitgeteilt werden. Beiträge zum Problem der Körperstellung. 1. 451 e) Stellreflexe auf den Körper. 1. Halsstellreflexe. Bei der Schilderung des Verhaltens von Thalamuskaninchen mit intakten Labyrinthen beim allmählichen Erwachen aus der Narkose und dem Schock wurde oben schon darauf hingewiesen (s. S. 430), dass dabei zuerst immer der Kopf in die Normal- stellung gebracht wird, und dass sich erst an dieses „Richtig- stellen“ des Kopfes das Aufsitzen des Rumpfes anschliesst. Die Abhängigkeit der Körperstellung von der Normalstellung des Kopfes liess sich dadurch beweisen, dass man den Körper eines in Seitenlage nach der Operation auf dem Tische liegenden Thalamus- tieres dadurch zum Aufsitzen bringen kann, dass, man den Kopf passiv mit der Hand in die Normalstellung dreht. Sitzt andrerseits ein Thalamustier in der richtigen Normalstellung da (Fig 8 S. 431), so kann man den Körper alsbald in Seitenlage bringen, indem man den Kopf mit der Hand in Seitenlage «dreht (Fig. 9 S. 431). Beim Erwachen aus dem Schock kann man feststellen, dass dieser Einfluss des Kopfes auf den Rumpf von vorne nach hinten fortschreitet. In einem gewissen Stadium wird, wenn der Kopf aus der Seitenlage aktiv oder passiv in die Normalstellung gedreht wird, nur der Vorderkörper zum Aufsitzen gebracht, während der Hinter- körper in Seitenlage liegen bleibt. Allmählich mit Verbesserung des Zustandes des Tieres setzt sich aber der Reflex auch auf den Hinterkörper fort, und das ganze Tier kommt zum normalen Sitz. Dieser Reflex tritt auch ein, wenn Kopf und Körper des Tieres die Unterlage nicht berühren. Auf Fig. 10 (S.434) und Fig. 11 (S. 435) sieht man, dass, wenn das Becken in Seitenlage frei in der Luft gehalten wird, sieh nieht nur der Kopf duren den Labyrinthstellreflex in die Normalstellung dreht, sondern dass auch der Vorderkörper mit den Vorderbeinen dieser Drehung folgt und in der Luft ebenfalls die Normalstellung einnimmt. Es bleibt hierbei dann eine Drehung des Rumpfes in der Gegend der Lendenwirbelsäule übrig, weil das Becken mit der Hand festzehalten wird. Sehr kräftige Tiere können aber auch in der Luft diese Reaktion noch weiter durchführen und den Hinterkörper mit einem Ruck gegen den Widerstand der haltenden- Hand in die Normalstellung „herumreissen“. Denselben Reflex sieht man auf Fig. 12 (S. 436), wo das Tier aus der Rückenlage den Kopf auf die Seite gedreht hat uud der 452 R. Magnus: Vorderkörper dieser Drehung gefolgt ist und ebenfalls auf der Seite liegt, während das Becken in Rückenlage festgehalten wird. Die geschilderte Reaktion wird, wie man sich leicht überzeugen kann, nicht ausgelöst durch Drehbewegung (Winkelbeschleunigung) des Kopfes, sondern durch seine Lage. Sie tritt mit derselben Schnelligkeit ein, wenn der Kopf schon längere Zeit in der gegen den Rumpf gedrehten Lage gehalten worden ist und man den vor- her festgehaltenen Rumpf dann loslässt. Es kann sich also um keine Bogengangsreaktionen handeln. Nimmt man dazu die Tatsache, dass dieselbe Reaktion des Vorder- und Hinterkörpers eintritt, einerlei, ob man den Kopf aus der Normalstellung in die Seitenlage oder aus der Seitenlage in die Normalstellung oder aus der Rückenlage in die Seitenlage dreht, so ergibt sich, dass es sich überhaupt nicht um einen tonischen Labyrinthreflex handeln kann. Dasselbe wird bewiesen dadurch, dass das Jlabyrinthlose Thalamustier denselben Reflex hat. Man kann es aus der Normalstellung durch Seitwärtsdrehen des Kopfes in Seitenlage bringen und aus der Seitenlage durch Drehung des Kopfes in die Normalstellung zum sofortigen Aufsitzen veranlassen. Auch hierhei lässt sich feststellen, dass in einem früheren Stadium nach der Operation auf Richtigstellen des Kopfes zunächst nur Auf- sitzen des Vorderkörpers erfolgt, während später der ganze Rump mit Vorder- und Hinterbeinen in richtige Hockstellung übergeht. Alle diese Beobachtungen nötigen zu dem Schlusse, dass es die Drehung des Halses ist, welche die nachfolgende Drehung des Vorder- und dadurch die des Hinterkörpers auslöst. Daher wurde der Reflex als Halsstellreflex bezeichnet. Durch ihn wird es erreicht, dass, wenn der Kopf die Normalstellung angenommen hat, was durch den Labyrinthstellreflex und durch asymmetrischen Druck der Unterlage veranlasst wird, der Körper dem Kopfe folgt und ebenfalls die Normalstelluug annimmt. Diesen dureh Kopfdrehen ausgelösten Halsstellreflex haben de Kleijn und ieh schon früher beschrieben '), ohne aber damals seine wichtige Bedeutung für die Einnahme der normalen Körper- stellung zu erkennen. Legt man ein normales Kaninchen mit in- taktem Grosshirn auf den Rücken und dreht dann seinen Kopf l) R. Magnus und A. de Kleijn, Die Abhängigkeit der Körperstellung vom Kopfstande beim normalen Kaninchen. Pflüger’s Arch. Bd. 154 S. 163. 1913. Beiträge zum Problem der Körperstellung. 1. 453 seitwärts, so dreht sich das Becken nach «der anderen Seite (siehe Pflüger’s Archiv. Bd. 154 S. 169, Fig. 3), so dass beispiels- weise das linke Auge nach unten, die linke Beckenseite nach oben gerichtet ist. Dabei setzt, wie ein Blick auf die genannte Abbildung lehrt, die Lendenwirbelsäule die vom Halse angefangene Drehung des Rumpfes fort, so dass die ganze Wirbelsäule eine spiralige Drehung annimmt. Würde das Becken festgehalten werden, so würde der Thorax infolge der Drehung der Lendenwirbelsäule der Halsdrehung folgen. Wir haben damals sehon nachgewiesen, dass es sich um einen Halsreflex handelt, der auch nach Fxstirpation beider Labyrinthe eintritt. Dieser Halsreflex, den ich nunmehr als Halsstellreflex bezeichnen muss, spielt, wie wir früher zeigten !), eine wichtige Rolle bei der Körperstellung und den Roilbewegungen des Kaninchens nach einseitiger Labyrinthexstirpationr, wo er durch die nach der. Operation dauernd vorhandenen Kopfdrehung ausgelöst und durch Korrektion dieser abnormen Kopfstellung jederzeit rück- gäugig gemacht werden kann. Durch die hier mitgeteilten Untersuchungen er- gibt sieh nun, dass dieser selbe Reflex eine wichtige Rolle bei der Einnahme der normalen Körperstellung aus der Seiten- und Rückenlage spielt. Über die übrigen Halsstellreflexe habe ich bisher keine näheren Untersuchungen angestellt. Aber es ergibt sich ganz allgemein die Regel, dass beim Thalamuskaninchen der Körper der durch den Kopf bei der Einnahme der Normalstellung eingeschlagenen Richtung folgt. So sieht man beispielsweise auf Fig. 13 (S. 437), wo das Becken mit der Rückenseite nach unten gehalten wird, dass nicht nur der Kopf durch Ventralbeugung in die Normalstellung bewegt wird, sondern dass der Vorderkörper dieser Bewegung folgt, indem eine starke Ventralkrümmung der Lendenwirbelsäule ausgeführt wird. Vergleicht man hiermit Fig. 14 (S. 435), so sieht man, dass bei Drehung des Beckens um die Querachse, bis das Tier mit dem Kopfe nach unten hängt, nicht nur durch eine Dorsalflexion des Halses der Kopf in der Normalstellung festgehalten wird, sondern auch die starke Ventralkrümmung der Lendenwirbelsäule sich löst und einer leichten Dorsalkrümmung im Brustteile Platz macht. l) R. Magnus und A. de Kleijn, Analyse der Folgezustände einseitiger Labyrinthexstirpation usw. Pflüger’s Arch. Bd. 154 S. 178. 1913. Pflüger’s Archiv für Physiologie. Bd. 163. 31 454 R. Magnus: 2, Stellreflexe auf den Körper durch asymmetrische Reizung der Körperoberfläche. Die bisher geschilderten Stellreflexe, durch welche das Kaninchen befähigt wird, die normale Körperstellung anzunehmen, haben in- sofern einen gleichartigen Mechanismus, als stets zunächst der Kopf in die Normalstellung gebracht wird (sei es von den La- byrinthen aus oder durch asymmetrische Reizung der Körperober- fläche), und sich dann hieran der entsprechende Halsstellreflex anschliesst, durch den auch der Körper zum richtigen Sitz ge- bracht wird. Die alltägliche Erfahrung bei der Beobachtung normaler Tiere lehrt, dass damit unmöglich die Gesamtheit der wirkamen Stell- reflexe erschöpft sein kann. Denn das sitzende Tier ist imstande, seinen Kopf nach allen Seiten frei zu bewegen und ihm verschiedene Stellungen im Raume zu geben, ohne dass es dabei umfällt. Es muss also noch ein Mechanismus vorhanden sein, durch den der Körper zum Sitzen gebracht wird oder im Sitzen erhalten wird, auch wenn der Kopf sich nicht in der Normalstellung befindet. Dass ein derartiger Mechanismus vorhanden ist, sieht man be- sonders anschaulich an Kaninchen nach einseitiger Labyrinthexstir- pation!), bei denen der Kopf dauernd nach der Seite des fehlenden Labyrinthes gedreht ist, und die doch mit ihrem Körper richtig (wenn auch in etwas verdrehter Haltung) sitzen. Die Fähigkeit zum Sitzen ist bei ihnen auch nach Verschluss der Augen nicht aufgehoben. Beim Thalamuskaninchen lässt sich nun tatsächlich ein derartiger, vom Kopf unabhängiger Stellreflex nachweisen. Wenn man Thalamuskaninchen längere Zeit nach der Operation, wenn sie den Schock gut überwunden haben, aus dem normalen Sitz durch passive Drehung des Kopfes in Seitenlage bringt (Fig. 9 S. 432), so kann man gelegentlich sehen, dass der Körper diese Seitenlage nicht dauernd beibehält. Besonders wenn man den Kopf mit der Hand in Seitenlage nicht direkt am Boden fest- hält, sondern etwas oberhalb desselben fixiert (Fig. 23), erfolgt häufig promptes Aufsitzen des Rumpfes, trotzdem der Kopf sich nicht in der Normalstellung, sondern in Seitenlage befindet. 1) R. Magnus und A. de Kleijn, Pflüger’s Arch. Bd. 154 S. 178. 1913. - Beiträge zum Problem der Körperstellung. 1. 455 Der Reiz hierfür wird geliefert durch die asymmetrische Reizung der sensibelen Körpernerven dureh den Druck der Unterlage. Das ergibt sich erstens daraus, dass die geschilderte Reaktion auch beim labyrinthlosen Thalamuskaninchen zur Beobachtung kommt, und zweitens daraus, dass man ihr Eintreten mit Sicherheit verhindern kaun, wenn man auf die oben befindliche Körperseite ein mit 1 kg beschwertes Brettchen auflest und dadurch den ein- seitigen Druck der Unterlage auf die unten befindliche Körperseite kompensiert. Je nach dem Grade, mit dem sich die Tiere vom Schock erholt haben, tritt der Reflex auf verschiedene Reizstärken ein. Häufig ist es, wenn man das Tier durch Seitwärtsdrehen des Kopfes in Seitenlage gebracht hat, erforderlich, den einseitigen Reiz der unten liegenden Körperseite dadurch zu verstärken, dass man noch das unten befindliche Vorder- oder Hinterbein kneift. Dann setzt sich der Rumpf auf, während auf Kneifen einer der beiden oben be- findliehen Beine nur Zappeln des Körpers iu Seitenlage erfolgt. In anderen Fällen, wie zum Beispiel bei dem auf Fig. 23 ab- gebildeten Thalawmuskaninchen, bleibt der Körper ungereizt in Seitenlage liezen, es genügt aber eine einfache symmetrische Reizung Fig. 23. Dasselbe Thalamuskaninchen wie Fig. 11. 29. Mai 1915. Das Tier hatte zunächst in Normalstellung dagesessen (Fig. 5 |S. 431]). Darauf war es durch Linksdrehen des Kopfes in linke Seitenlage ge- bracht worden (Fig. 9 |S. 432]). Der Kopf wnrde in linker Seitenlage festgehalten und zugleich etwas gehoben. Darauf wurde der Körper des Tieres (durch Schwanz- kneifen) gereizt. Der Körper nahm darauf normale Sitzstellung ein, ‚während der Kopf in linker Seitenlage fixiert blieb. 456 R. Magnus: (Sehwanzkneifen), um den einseitigen Druck der Unterlage zur Wirkung zu bringen. In günstigen Fällen ist überhaupt kein Extra- reiz erforderlich, und der Körper setzt sich trotz der seitlichen Drehung des Kopfes direkt richtig in Normalstellung auf. Der Grund, weshalb dieser Reflex nicht konstant und häufig nur auf besondere Reizung in Wirksamkeit tritt, liegt zum Teil sicher- lich darin, dass er bei dem geschilderten Versuchsverfahren sich gegen den Halsstellreflex durchsetzen muss, der den Körper in Seitenlage festzuhalten strebt. Daher lässt er sich nur bei gut erregbaren Tieren demonstrieren. Aus dem Vorhergehenden sieht man, dass bei einem in Seiten- lage auf dem Boden liegenden Tiere der einseitige Druck der Unter- lage auf den Körper eine doppelte Wirkung ausübt. Erstens wird dadurch reflektoriseh der Kopf in die Normalstellung gedreht, und diese Kopfdrehung veranlasst ihrerseits durch Vermittelung des Hals- stellreflexes ein Aufsitzen des Rumpfes. Zweitens aber wird durch einen direkten Reflex der Körper selber zum Aufsitzen gebracht. f) Zusammenfassung. Aus den vorhergehenden Abschnitten ergibt sich, dass eine Reihe von verschiedenen Reflexen zusammenwirken, um dem Thala- muskaninchen die Einnahme und die Erhaltung der normalen Körper- stellung zu ermöglichen. Optische Erregungen spielen dabei keine wesentliche Rolle. Vielmehr sind es zwei Gruppen von Reizen, welche hauptsächlich die geschilderten Reaktionen auslösen; erstens sind es Labyrintherregungen und zweitens Erregungen, welche von asymetrischer Reizung der sensibelen Körpernerven dureh die Unter- lage abhängig sind, wenn der Körper aus der Normalstellung ent-: fernt wird. Durch diese beiden verschiedenen „Lagereize“ wird reflektorisch der Kopf in die Normalstellung eingestellt. Um den Rumpf mit den Extremitäten in die Normalstellung zu bringen, wirken wieder zwei verschiedene Faktoren zusammen. Erstens wird, wenn der Kopf sieh in der Normalstellung befindet, ‘der Körper aber noch nicht, durch die hierbei vorhandene abnorme Halsstellung ein Reflex ausgelöst, der den Körper in die Normalstellung bringt; und zweitens zwingt die asymmetrische Reizung der sensibelen Körpernerven durch die Unterlage direkt den Körper, die Normalstellung einzunehmen. Beiträge zum Problem der Körperstellung. I. 457 Der einseitige Druck der Unterlage auf den Körper wirkt also in zweifacher Weise auf das Annehmen der Normalstellung hin: erstens indem er Richtigstellung des Kopfes bewirkt, und zweitens, indem er direkt den Körper zum Aufsitzen bringt. Man sieht, dass in diesem Falle wie in vielen anderen, wo es sich um wirklich lebenswichtige Verrichtungen des Körpers handelt, dafür gesorgt ist, dass das Aufrechterhalten der Funktion doppelt gesichert ist, und dass bei Erkrankung oder Ausfall des einen Mechanismus noch ein anderer vorhanden ist, der die Leistung, in unserem Falle die normale Körperstellung, gewährleistet. Befindet sich das Thalamustier frei in der Luft, so sind allein die Labyrinthe imstande, die normale Körperstellung aufrechtzuer- halten. Befindet sich das Thalamustier auf dem Boden, so wirken alle oben genannten Reflexe zusammen, um die Normalstellung zu sichern. Beim Thalamuskaninchen spielen, wie gezeigt wurde, die op- tischen Reize keine wesentliche Rolle für die Erhaltung des Körper- gleichgewichts. Inwiefern sie beim intakten Kaninchen oder bei anderen Tierarten nach Grosshirnexstirpation dazu mitwirken, bedarf weiterer Untersuchung. Die genannten vier Stellreflexe wirken, wie gesagt, beim Tha- lamuskaninchen mit intakten Labyrinthen zusammen und be- fähigen das Tier, unter allen Umständen die Normalstellung einzunehmen und zu bewahren. Wie das im einzelnen geschieht, ergibt sich ohne weiteres aus den vorhergehenden Abschnitten. Nur ein Spezialfall muss noch erwähnt werden: das Verhalten des Thalamuskaninchens mit intakten Labyrinthen beim Brettversuch. Auf Fig. 21 (S. 446) sieht man, dass ein labyrinthloses Thalamus- kaninchen, das in der Luft den Kopf nicht mehr in die Normal- stellung bringen kann, bei Berührung mit der Unterlage sich aus der Seitenlage aufsetzt, indem es zuerst den Kopf in die Normalstellung dreht. Die Ursache ist die asymmetrische Erregung der sensibelen Körpernerven durch die Unterlage, Kompensiert man diese asym- metrische Erregung durch Auflegen eines beschwerten Brettes (Fig. 22 [S. 447]), so bleiben Kopf und Körper des labyrinthlosen Thalamus- kaninchens auch auf dem Tische in Seitenlage liegen. — Dieser Versuch muss natürlich beim Thalamuskaninchen mit intakten Labyrinthen einen anderen Erfolg haben. Legt man ein solches Tier in Seitenlage auf den Tisch und kompensiert den asymmetrischen Reiz der Unterlage durch ein aufgelegtes beschwertes Brett (Fig. 24 [S. 458]), so wird der Kopf doch noch mit Sicherheit in die Normal- stellung gedreht, weil der Labyrinthstellreflex wirksam geblieben ist. 458 R. Magnus: Der Grund, weshalb ich diesen Versuch besonders beschreibe und durch eine Abbildung belege, liegt unter anderem hierin, dass er beweist, dass das Auflegen des Brettes keine allgemeine Hemmung der Stellreflexe bewirkt, und dass daher das Ausbleiben des Stell- reflexes beim Brettversuch am labyrinthlosen Tier (Fig. 22 [S. 447]) nicht auf eine allgemeine Reflexhemmung bezogen werden darf. Es erhebt sich nunmehr die Frage, ob die bisher geschilderten vier Gruppen von Stellreflexen, welche in den beschriebenen Versuchen beim Thalamuskaninchen gefunden wurden, auch wirklich die einzigen wesentlichen sind, welche zur Normalstellung des Tieres zusammen- arbeiten, oder ob wir erwarten können, dass sich noch andere Stellreflexe bei grosshirnlosen Kaninchen werden auffinden lassen. Folgende Überlegung spricht dafür, dass tatsächlich die Stellreflexe des Thalamuskaninchens durch die bisherigen Untersuchungen im wesentlichen erschöpft sind. Es ist bekannt, dass labyrinthlose Tiere im Wasser vollständig desorientiert sind, auch wenn sie unter gewöhnlichen Bedingungen (also wenn sie mit der Unterlage in Be- rührung sind), ihre Körperstellung mit der grössten Sicherheit auf- rechterhalten können. Das Wasser umgibt den ganzen Körper mit einem gleichmässig auf seine Oberfläche einwirkenden Mantel, in welchem eine asymmetrische Erregung der sensibelen Körpernerven bei verschiedenen Lagen im Raume nicht mehr zustande kommen Fig. 24. Dasselbe Thalamuskaninchen mit durchtrennten Optieis wie Fig. 10. 18. Mai 1915. Das Tier liegt in linker Seitenlage auf dem Tisch, der Kopf ragt über den Tischrand. Auf die oben befind- liche rechte Körperseite ist ein mit einem flachen Gewicht von 1 kg beschwertes Brett gelegt, das mit dem Finger unterstützt wird. Der Kopf ist nach rechts, das heisst in die Normalstellung gedreht. (Trotz- dem die Wirkung des einseitigen Druckes der Unterlage durch den Druck des Brettes kompensiert ist, bleibt der Labyrinthstellreflex wirksam.) Beiträge zum Problem der Körperstellung. 1. 459 kann. Ein labyrinthloses Tier wird unter diesen Umständen jeder Möglichkeit beraubt, die Normalstellung einzunehmen und ertrinkt rettungslos. Hieraus geht mit grosser Wahrscheinlichkeit hervor, dass nach Ausschaltung der Reize von den Labyrinthen und der asymmetrischen Erregungen, die durch Berührung mit der Unterlage ausgelöst werden, tatsächlich keine anderen Mechanismen von er- heblicher Wirksamkeit mehr vorhanden sind, welche die normale Körperstellung garantieren. B. Welche Teile des Zentralnervensystems müssen für das Zustandekommen der Stellreflexe erhalten sein ? Die bisher geschilderten Beobachtungen sind an Thalamuskaninchen augestellt, weil bei diesen die Wärmeregulation erhalten ist, und sie sich daher ohne Schwierigkeit mehrere Tage am Leben erhalten lassen, so dass man ihre Leistungen nach dem Abklingen des Schocks längere Zeit und bei jedem Versuchstier zu wiederholten Malen studieren kann. Es erhebt sich aber nun die Frage, ob für alle bisher am Thalamustier geschilderten Reflexe, vor allem für die Stellreflexe das Vorhandensein des ganzen Zentralnervensystems bis zum Vorderrand der Thalami notwendig ist, oder ob bereits mehr kaudalwärts gelegene Zentralteile für ihr Zustandekommen genügen. Zur Entscheidung wurden Versuche an Vierhügelkaninchen (Mittel- hirntier) und dezerebrierten Kaninchen (Kleinhirn-Brückentier und Kleinhirn-Oblangatatier) angestellt, über die im folgenden berichtet werden soll. Es stellte sich heraus, dass für das Zustandekommen der Stellreflexe im wesentlichen das Mittelhirn ver- antwortlich zu machen ist. 1. Beobachtungen an Vierhügelkaninchen. Im ganzen wurden sieben Versuche ausgeführt, in denen der Hirn- stamm am Vorderrande des Mittelhirns durehtrennt wurde. Operations- methode und Schnittverlauf wurde oben S. 415 geschildert, das Präparat eines Versuches (Nr. 31) auf Fig. 5—7 abgebildet. Die meisten Tiere wurden nur am Tage der Operation beobachtet. An einem Tier konnten 2 Tage lang Untersuchungen angestellt werden. Zur Vereinfachung der Darstellung sollen zunächst die abgekürzten Protokolle der beiden am besten gelungenen Versuche gegeben werden. Die Beobachtungen an den übrigen Tieren stimmten im wesentliehen damit überein. 460 R. Magnus: Versuch 31. 5. Mai 1915. Kaninchen, 1000 g. Chloroform- narkose. Karotiden abgebunden, Vagi durchtrennt. Exstirpation des Grosshirns und der Thalami nach der Methode von Morita. Der Schnitt geht dicht vor den Vierhügeln schräg nach vorne und unten. Blutung minimal. 10 Uhr 45 Min. Ende der Operation. Kurz darauf Spontanatmung. 11 Uhr 45 Min. Sitzt symmetrisch, hebt den Kopf vom Boden, In Seitenlage gebracht, bleibt es liegen und macht nur schwache Ver- suche, den Kopf in die Normalstellung zu bringen. Wird der Kopf passiv in Normalstellung gebracht, so bleibt der Rumpf in Seitenlage liegen. Wird aber nun eines der vier Beine gekniffen, so setzt sich der Rumpf auf. Wird das Tier in Hängelage mit Kopf-oben oder Kopf-unten in der Luft gehalten, so wird der Kopf nach der Normal- stellung hin bewegt. Wird das Tier aüf den Boden gesetzt und an beiden Hinterpfoten gekniffen, so macht es einige normale Sprünge und bleibt dann gut sitzen. Auf der Drehscheibe sehr feine Kopf- drehreaktion und Kopfdrehnachreaktion, Augendrehreaktion je nach der Drehrichtung kaudal-, nasal-, dorsal- und ventralwärts. Kompen- satorische Augenstellungen bei verschiedenen Lagen des Kopfes im Raume. Lidreflex beiderseits. Auf Kopfheben erfolgt Streckung, auf Kopfsenken erfolgt Beugung der Vorderbeine. Temperatur 34° C. Trachealkanüle entfernt, Trachea vernäht. Auf Pfotenkneifen starkes Schreien. 2 Uhr 30 Min. Das Tier sitzt gut im Käfig. Ruhige Atmung. Auf den Fussboden gesetzt, springt es auf Reiz durch den halben Experimentiersaal und bleibt dann ruhig sitzen, schreit lange, hat hörbare Stenosenatmung und wird darauf wieder normal. Auf der Drehscheibe ausser den um 11 Uhr 45 Min. beobachteten Reaktionen Augendrehnystagmus und Augendrehnachnystagmus. In der Luft wird bei Hängelage mit Kopf-oben und Kopf-unten der Kopf vollständig in die Normalstellung gebracht. In Seitenlage gelingt das noch nicht vollständig. Auf dem Boden sitzt das Tier tadellos mit Kopf und Bauch oberhalb des Bodens. Aus der Seitenlage setzt es sich jetzt spontan auf. Wird bei Seitenlage auf dem Tisch ein beschwertes Brett auf die oben befindliche Körperseite gelegt, so geht der Kopf trotzdem in die Normalstellung. Wird es an den Hinterfüssen frei in der Luft in Fussstellung oder Seitenlage gehalten, so setzt sich der Kopf im Raume richtig. Keine Enthirnungsstarre. Die Tonusverteilung an den Gliedermuskeln ist „normal“. 4 Uhr. Wird das Tier am Becken frei in der Luft gehalten (Fussstellung, beide Hängelagen, Seitenlage), so geht der Kopf in die Normalstellung. Aus der Rückenlage wird der Kopf seitlich gedreht. Kaureflex schwach positiv, wenn der Finger in den Mund gesteckt wird. 4 Uhr 30 Min. Setzt sich aus der Seitenlage spontan auf. Er- folgt das Aufsitzen einmal ausnahmsweise nur unvollständig (das heisst nur mit Kopf und Vorderbeinen), so gehen die Hinterbeine auf irgend- einen beliebigen Reiz in Sitzstellung. Hüpft auf Reiz durchs Zimmer. Fällt es dabei einmal auf die Seite, so setzt es sich sofort spontan wieder auf. Beiträge zum Problem der Körperstellung. 1. 461 Das Tier lebt am folgenden Tage noch und zeigt im wesentliehen die gleichen Reaktionen. Am Morgen des 7. Mai ist es tot. Sektionsbefund s. S. 416. Abbildung des Präparates Fig. 5 bis 7. — Der Schnitt geht dorsal 1—2 mm vor den vorderen Vier- hügeln, ventral direkt hinter dem Hinterrand des Corpus mammilare, an der linken Seite 2 mm vor. dem Hinterrand des Corpus genicul. mediale, an der rechten Seite genau am Hinterrand des Corpus genicul. mediale. — Die Ebene des Schnittes fällt zwischen Tafel 16 und 17 des Winkler-Potter’schen Atlasses. Versuch 36. 12. Mai 1915. Kaninchen, 1200 g. Chloroform- narkose. Karotiden abgebunden, Vagi intakt. Exstirpation des Gross- hirns und der Thalami nach der Methode von Morita. Der Schnitt geht 1—2 mm vor den Vierhügeln schräg nach vorne unten. Geringe Blutung. 9 Uhr 50 Min. Ende der Operation. Spontanatmung. Ent- hirnungsstarre nur angedeutet. Trachealkanüle entfernt, Trachea vernäht. 10 Uhr 35 Min. Guter Zustand. Keine Enthirnungsstarre. Tonusverteilung in der Körpermuskulatur „normal“. Bei Seitenlage des Tieres auf dem Tisch erfolgt entweder spontan oder nach dem Anfassen Richtigstellen des Kopfes, manchmal auch Aufsitzen des Vorderkörpers. Wird es in Seitenlage in der Luft ge- halten, so erfolgt ebenfalls leichte Drehung des Kopfes nach der Normalstellung zu. Bei Rückenlage wird der Kopf seitlich gedreht. Wird bei Seitenlage auf dem Tisch der Kopf passiv in die Normal- stellung gebracht, so setzt sich der Rumpf zuerst vorne, dann hinten auf. Auf Kopfheben erfolgt Streckung, auf Kopfsenken Beugung der Beine. Kofdrehen in Rückenlage bewirkt deutliche tonische Halsreflexe auf die Vorderbeine; Kopfdrehen in Seitenlage tonische Labyrinth- reflexe auf die Vorderbeine. Bei passiver Drehung des Kopfes um die Sagittalachse treten die zugehörigen kompensatorischen Augenstellungen ein Auf der Dreh- scheibe sehr feine Kopfdrehreaktion und -nachreaktion, Augendreh- reaktion und -nachreaktion, Augendrehnystagmus und -nachnystagmus. Starke pseudoaffektive Reflexe (Schreien). Lidreflex beiderseits vor- handen. 10 Uhr 50 Min. Wenn am Becken oder den Hinterbeinen frei in Seitenlage in der Luft gehalten, erfolgt Richtigstellen des Kopfes jetzt sehr deutlich. Wird der Kopf in Seitenlage auf dem Tische festgehalten, so bleibt der Rumpf in Seitenlage: wird der Kopf losgelassen, so erfolgt Richtigstellen des Kopfes und Aufsitzen des Vorderkörpers. 11 Uhr 10 Min. Die Labyrinthstellreflexe sind bei allen Lagen in der Luft jetzt deutlich vorhanden. Kaureflex tritt ein, wenn der Finger in den Mund des Tieres gesteckt wird. 11 Uhr 40 Min. Wird das Tier auf den Boden gesetzt und an den Hinterbeinen gekniffen, so läuft es tadellos durch das Zimmer und bleibt dann ruhig sitzen. Setzt sich spontan aus der Seitenlage mit Vorder- und Hinter- körper auf. 462 R. Magnus: 2 Uhr 15 Min. Sehr gutes spontanes Aufsitzen aus der Seiten- lage. Labyrinthstellreflexe bei allen verschiedenen Lagen des Körpers in der Luft jetzt vollständig ausgebildet. Aus der Rückenlage wird der Kopf mehr als bloss seitlich gedreht. Wird bei Seitenlage auf dem Tisch der Kopf in Seitenlage fest- gehalten, so bleibt der Rumpf in Seitenlage. Wird jetzt eines der Hinterbeine gekniffen, so setzt sich (trotz der Seitenlage des Kopfes) der Rumpf auf; Kneifen des unteren Hinterbeines wirkt dabei sicherer als Kneifen des oberen. Kopfheben und Kopfsenken ist stark wirksam auf den Tonus der Vorderbeine. Kopfdrehen in Rückenlage führt zu starken tonischen Halsreflexen auf die Vorderbeine. Kopfdrehen in Seitenlage bewirkt Kombination von tonischen Hals- und Labyrinthreflexen, wobei letztere überwiegen. Wird bei Seitenlage der Kopf mit dem Kiefer nach unten gedreht, so erfolgt aktive Beugung der Vorderbeine. Wird bei Seitenlage auf dem Tisch die obere Körperseite mit einem beschwerten Brette belastet, so geht der Kopf trotzdem in Normalstellung, und zwar auch, wenn der Kopf dabei frei über den Tischrand ragt. Wird das Tier am Becken in Seitenlage frei in der Luft gehalten, so steht der Kopf in Normalstellung, während der Thorax um 45° gedreht ist; vorderes „Kieferbein“ dabei mehr gestreckt als vorderes „Schädelbein“. 4 Uhr. Wird das Tier in Rückenlage auf den Boden gelegt, so dreht es sich sofort zum normalen Sitz herum. Tonusverteilung in der Gliedermuskulatur „normal“. Temperatur 35° C. Resultat: Verhalten genau wie beim Thalamustier (abgesehen von den optischen Reflexen und der Wärmeregulation). Der Versuch wird fortgesetzt, indem das Tier durch Abtrennen des Mittelhirns dezerebriert wird. Sektion: Der erste Schnitt geht auf der Dorsalseite links 1 mm, rechts 1!/e mm vor dem Vorderrande der Vierhügel. Auf der Ventral- seite geht er 2 mm vor dem Hinterrand des Corpus mammillare. Seit- lich geht er rechts 1!/s mm, links direkt vor dem Vorderrand des Corpus geniculatum mediale. Der Schnitt in diesem Versuch liegt also etwas weiter oralwärts als in Versuch 31. Er fällt ungefähr in die Ebene der Tafel 16 des Winkler-Potter’schen Atlasses. Die beiden nsitgeteilten Versuchsprotokolle und die bei den übrigen Versuchen gemachten Beobachtungen lehren übereinstimmend, dass das Vierhügelkaninchen, abgesehen von den optischen Reflexen und der Wärmeregulation noch zu denselben Leistungen befähigt ist, wie sie oben für das Thalamuskaninchen geschildert worden sind. Ins- besondere ist das Vermögen zur normalen Körperstellung noch durchaus erhalten. Im einzelnen hat sich folgendes ergeben: Beiträge zum Problem der Körperstellung. 1. 463 a) Allgemeines Verhalten. Enthirnungsstarre fehlt bzw. ist nur unmittelbar beim Erwachen aus Narkose und Schock nachzuweisen. Der Tonus der Körpermuskeln wird sehr bald wieder „normal“, die Strecker der Gliedmaassen sind den Beugern gegenüber nicht bevorzugt, Sitz und Haltung gleichen dem des intakten Tieres. Eine abnorme Lage der Vorderbeine (Fussrückenstand) wird nicht so schnell korrigiert wie vom normalen Tiere. Der Kaureflex ist nachweisbar, wenn man einen Finger in den Mund schiebt. Starke pseudoaffektive Reflexe (Schreien auf Pfotenkneifen, hörbare Stenosenatmung) sind häufig auszulösen. Auf akustische Reize (Händeklatschen) erfolgt deutliche Reaktion. Der Lidreflex ist vorhanden. Auf starkes Dorsalbeugen des Kopfes erfolgt der Sprungreflex. Die toniscben Hals- und Labyrinthreflexe auf Hals- und Glieder- muskeln verhalten sich beim Vierhügelkaninchen geradeso, wie es für das Thalamustier geschildert wurde. Mit grosser Deutlichlichkeit lassen sich die Drehreaktionen nach- weisen. Auf der Drehscheibe tritt die Kopfdrehreaktion und Kopf- drehnachreaktion ein, in zwei Versuchen konnteich Kopfdrehnystagmus, in einem Versuche auch Kopfdrehnachnystagmus auslösen. Ebenso sind, wie auch schon Högyes sowie Bauer und Leidler!) fanden, die Augendrehreaktionen beim Vierhügeltier erhalten. Ich habe Augendrehreaktion und -nachreaktion nach vorne, hinten, oben und unten sowie Augendrehnystagmus und -nachnystagmus auftreten sehen. Bei einem Tiere (Nr. 30), bei welchem bei der Operation die Oculomotorii durchtrennt waren, liess sich noch die Augendrehreaktion hervorrufen, wenn es so gedreht wurde, dass der Bulbus dabei nach hinten abweichen musste. Es handelte sich dann um eine Drehreaktion, welche durch Vermittlung des Abduzens zustande kam. Auch die kompensatorischen Augenstellungen sind beim Vier- hügelkaniuchen vorhanden. Liegt der Kopf in Seitenlage, so ist das obere Auge gesenkt, das untere gehoben. Ist die Schnauze gesenkt, so sind die Augen mit dem Oberrande nach hinten, bei erhobener Schnauze dagegen nach vorne gerollt. b) Stellreflexe. Direkt nach der Operation liegt das Tier in Seitenlage. Bald aber beeinnt es den Kopf in die Normalstellung zu drehen, zuerst DAFATO: 464 R. Magnus: nur auf Reiz, später spontan, zuerst nur unvollständig, später mit vollem Erfolg. Daran schliesst sich nach einiger Zeit dann das Auf- sitzen des Körpers an, das anfangs nur auf Reiz, später spontan erfolgt. In einem Zwischenstadium tritt häufig nur Geradesetzen des Kopfes und Aufsitzen des Vorderkörpers ein, während der Hinter- körper noch in Seitanlage liegen bleibt und erst auf Reizung auch mit aufsitzt. : Schliesslich sitzt das Tier ganz normal da, der Kopf ist in Normalstellung, die Nackenmuskeln tragen den Kopf, die Beine haben so viel Tonus, dass der Bauch in normaler Weise über dem Boden steht. Spontanbewegungen des ruhig dasitzenden Tieres sind ebenso selten wie beim Thalamustier. Auf beliebige Reizung (Schwanz- oder Pfotenkneifen) führt das Vierhügeltier entweder einen Schritt oder eine Reihe von richtigen Sprüngen aus, läuft eine verschieden lange Strecke, bis es, auch ohne an ein Hindernis zu kommen, ruhig sitzen bleibt. Beim Springen und Laufen kann das Körpergleichgewicht vollständig aufrechterhalten werden. Auch beim Sprung vom Tisch auf den Boden kam eines der Tiere richtig auf seine Beine und lief gleich weiter. Die Labyrinthstellreflexe sind beim Vierhügeltier genau so eut entwickelt wie beim Thalamustier. Hält man das Tier in den verschiedenen Lagen in der Luft, so wird der Kopf stets nach der Normalstellung hin bewegt. Eine nochmalige Schilderung erübrigt sich, und es genügt, auf die Fig. 10—15 zu verweisen. Hält man das Vierhügeltier am Becken oder den Hinterbeinen in Seitenlage in der Luft und dreht es. darauf von der einen Seitenlage in die andere, so bleibt der Kopf im Raume feststehen. Ebenso wenn man das Tier in der Luft aus der Hängelage mit Kopf-oben in die Hängelage mit Kopf-unten dreht. Wird das Tier in Seitenlage auf den Tisch gelegt und die oben befindliche Körperseite mit einem beschwerten Brettchen belastet, so geht der Kopf ebenfalls in Normal- stellung, genau so, wie es auf Fig. 24 (S. 458) für das Thalamustier zu sehen ist. Auch der Stellreflex auf den Kopf durch asym- metrische Reizung der Körperoberfläche ist beim Vier- hügeltier deutlich nachzuweisen. Liegt das Tier kurze Zeit nach der Operation in Seitenlage auf dem Tisch, so genügt Kneifen des unten liegenden Vorderbeines, um Drehung des Kopfes nach der Beiträge zum Problem der Körperstellung. 1. 405 Normalstellung auszulösen. Ebenso erfolgt, wenn man das Tier in Normalstellung in der Luft hält und dann. eines der Vorderbeine kneift, Drehung des Kopfes nach der anderen Seite. An das Richtigstellen des Kopfes schliesst sich durch Ver- mittelung der Halsstellreflexe die Normalstellung des Körpers an. Die Halsstellreflexe sind am besten bei der Untersuchung des Tieres in der Luft zu sehen. Hält man zum Beispiel ein Vierhügel- kaninchen in Seitenlage in der Luft, so steht der Kopf in der Normalstellung, und der Vorderkörper wird um ca. 45° oder mehr nach der Normalstellung zu gedreht (vel. Fig. 11, S. 435). Wenn kurze Zeit nach der Operation die Labyrinthstellreflexe auf den Kopf noch fehlen und das Tier ruhig in Seitenlage auf dem Tische liegt, so genügt es häufig, den Kopf passiv in die Normalstellung zu bringen, um sofort Aufsitzen der Vorderkörpers oder des ganzen Tieres zu bewirken. Auch der Stellreflex auf den Körper durch asym- metrische Reizung der Körperoberfläche ist beim Vier- hügeltier nachzuweisen. Bringt man das ruhig in Normalstellung sitzende Tier durch Seitwärtsdrehen des Kopfes in Seitenlage (Fig. 9, S. 432), so kann man häufig durch Kneifen des unteren Vorder- beines trotz der Seitenlage des Kopfes Aufsitzen des Rumpfes aus- lösen (Fig. 23, S. 455). Hieraus ergibt sich, dass beim Vierhügeltier alle beim Thalamuskaninchen aufgefundenen Stellreflexe nach- weisbar sind und in derselben Weise zum Zustande- kommen und der Erhaltung der normalen Körper- stellung zusammenarbeiten. Bei den Einzelversuchen sieht man gewöhnlich, dass beim Vierhügeltier die Stellreaktionen etwas weniger prompt und sicher erfolgen als beim Thalamustier. Ich glaube aber nicht, dass man daraus schliessen darf, dass sich das Zwischenhirn beim Kaninchen am Zustandekommen der Stellreflexe mit beteiligt. Denn die Thalamustiere wurden immer mehrere Tage lang beobachtet, während die Vierhügeltiere mit einer Ausnahme (Versuch 31, S. 460) nur am Tage der Operation untersucht werden konnten; und am Öperationstage zeigen auch die Thalamustiere kein besseres Verhalten. Übrigens zeigt Versuch 36 (8. 461), bis zu welcher Präzision die Stellreflexe auch beim Vierhügeltier sich ent- wickeln können. Die Versuche berechtigen demnach zu dem Schluss, dass die 466 R. Magnus: Fähigkeit, die normale Körperstellung einzunehmen und zu bewahren, beim Kaninchen erhalten bleibt, wenn das Gehirn bis zum Vorderrande des Mittelhirns entfernt wird. Hierdureh wird die Ansicht von Longet!) und Christiani'), dass die Zentren für die Erhaltung des Körpereleichgewichts beim Kaninchen im Zwischenhirn liegen, widerlegt. 2. Beobachtungen an dezerebrierten Kaninchen (Kleinhirn- Brückentier und Kleinhirn-Oblongatatier). Nach der Abtrennung des Mittelhirns von der Medulla oblongata und der Brücke ist die Fähigkeit, die Körperstellung einzunehmen und aufrechtzuerhalten beim Kaninchen (ebenso wie bei der Katze und dem Menschen) erloschen. Die meisten Versuche an derartigen „dezerebrierten“ Tieren sind bisher an der Katze angestellt worden. Doch verfügen wir durch die Untersuchungen von Weiland?) und durch sonstige gelegentliche Laboratoriumsexperimente über hinreichende eigene Erfahrungen auch am Kaninchen, und ich habe zum Studium der Stellreflexe noch bei dreizehn Kaninchen die Dezerebrierung ausgeführt. Die Lage des Schnittes wurde bei der Sektion stets genau kon- trolliert. Für die Beschreibung der Schnittebene wurde an der Ventral- seite stets ihr Abstand vom Vorder- oder Hinterrand der Brücke bzw. des Corpus trapezoides (s. Fig. 3 [S. 415] und 7 [S. 419]), an der Dorsalseite nach Längsspaltung des Kleinhirns ihr Abstand vom Hinter- rand der hinteren Vierhügel, oder von den mittleren Kleinhirnstielen oder vom Tuberculum acusticum bestimmt. In zwei Versuchen lag der Schnitt vor den hinteren Vierhügeln, in drei Versuchen lag er 1—2 mm vor dem Vorderrand der Brücke, in vier Versuchen genau an dem Vorderrand der Brücke, in einem Versuch ging er mitten durch die Brücke, in vier Fällen hinter der Brücke. Das Kleinhirn war stets intakt gelassen. a) Allgemeines Verhalten dezerebrierter Kaninchen. Der auffallendste Unterschied, den das dezerebrierte Kaninchen gecenüber dem Thalamus- oder Vierhügeltier zeigt, ist die Ent- hirnungsstarre, die sich sehr schnell mit dem Erwachen aus der Narkose ausbildet und die Streckmuskeln der Glieder und des 1) A. 2.0. 2) W. Weiland, Hals- und Labyrinthreflexe beim Kaninchen usw. Pflüger’s Arch. Bd. 147 S.1. 1912. Beiträge zum Problem der Körperstellung. 1. 467 Rückens, die Heber von Hals und Schwanz und die Schliess- muskeln des Unterkiefers ergreift (Sherrington). Die Antagonisten dieser „Muskeln, welche der Schwerkraft entgegenwirken“, haben keinen oder geringen Tonus. Das Tier bekommt dadurch in Seiten- lage auf dem Tische, oder, wenn es auf seine vier Füsse gestellt wird, die bekannte Stellung auf gestrecken Beinen mit Opisthotonus, retrahiertem Nacken und gehobenem Schwanz. Wird es auf seine vier Füsse gestellt, so genügt der kleinste Stoss, um es umzuwerfen. Nach meinen bisherigen Erfahrungen hatte ein Kaninchen (Nr. 55a), bei welchem der Schnitt auf der Dorsalseite rechts durch die Mitte, links durch das hintere Drittel des vorderen Vierhügels und auf der Ventralseite durch die Hirnschenkel gerade am Hinterrand des Corpus mammillare ging, keine Enthirnungsstarre, sondern „normales“ Verhalten des Gliedertonus, während ein anderes Tier (Nr. 44), bei welchem der Schnitt auf der Dorsalseite dicht vor den hinteren Vierhügeln, auf der Ventralseite am Vorderrand der Brücke verlief, bereits Enthirnungsstarre zeigte. Ebenso ein Tier, bei dem der Schnitt dorsal hinter den hinteren Vierhügeln, ventral 1—2 mm vor der Brücke durch die Hirnschenkel ging. Schnitte, die weiter nach hinten gelegen sind, führten stets zur Starre. Daraus ergibt sich, dass die Enthirnungsstarre auftritt, wenn der vordere Teil des Mittelhirns fortgenommen wird. Kleinphirn- Brückenkaninchen mit erhaltenen Teilen der kaudalen Mittelhirn- abschnitte zeigen bereits die Starre. Die genaue Lagebestimmung der Grenzebene, jenseits welcher die Starre auftritt, ist noch vor- zunehmen. Die früheren Versuche an dezerebrierten Tieren ') haben bereits gezeigt, dass die tonischen Hals- und Labyrinthreflexe auf die Körpermuskulatur bei ihnen mit grösster Deutlichkeit vor- handen sind. Eine genaue Schilderung kann daher an dieser Stelle unterbleiben. Beim Kaninchen kann ich bisher nur angeben, dass nach Schnitten, die dorsal dicht vor den mittleren Kleinhirnstielen und ventral hinter dem Hinterrand der Brücke verlaufen, die tonischen Hals- und Labyrinth- reflexe auf die Gliedermuskeln und die tonischen Labyrinthreflexe auf die Halsmuskeln ?) noch kräftig entwickelt sind. Bei der Katze habe ich früher gezeigt®), dass die tonischen Labyrinthreflexe auf Glieder- 1) Siehe besonders für das Kaninchen W. Weiland, a. a. OÖ. 2) Wenn der Kopf mit dem Scheitel nach unten steht und die Schnauze um 45° über die Horizontale gehoben ist, ist der Tonus der Heber des Nackens maximal. 8) Pflüger’s Arch. Bd. 159 S. 224. 1914. 4658 R. Magnus: und Halsmuskeln erst schwinden, wenn die Medulla hinter dem Eintritt der Nervi octavi durchtrennt wird, während die tonischen Halsreflexe auf die Gliedermuskeln nach Fortnahme der ganzen Medulla oblongata noch vorhanden sind. Nur mag noch erwähnt werden, dass auch der „Sprung- reflex* beim Kleinhirn-Brückentier und Kleinhirn-Oblon- gatatier durch starkes Dorsalbeugen des Kopfes ausgelöst werden kann. Bedingung hierfür ist, dass dadurch die Hinter- beine kräftigen Strecktonus bekommen. Frleichtert wird der Reflex, wie S. 426 angegeben wurde, dadurch, dass die Hinterbeine belastet sind. Je nachdem die Labyrinthreflexe schwach oder stark aus- gebildet sind, erfolgt der Reflex in jeder Körperlage oder nur beim sitzenden bzw. mit dem Vorderkörper hochgehobenen Tiere (vgl. S. 425). Zum wirklichen, erfolgreichen Springen kann dieser Reflex aber beim dezerebrierten Tiere nicht führen, weil dieses sofort auf die Seite fällt und sich nieht wieder aufsetzen kann. Interessanterweise sind auch von den Labyrinthen aus- gelöste Drehreaktionen beim dezerebrierten Tiere (also nach Fortnahme des Mittelhirns) noch vorhanden. Allerdings kann man nicht erwarten, das Augsendrehrehreaktionen nach dem Dezerebrieren noch unverändert nachweisbar sind, denn es wird dabei ein Teil der Augenmuskelkerne und der Ursprung des Oculomo- torius und häufig auch des Trochlearis zerstört. Immerhin habe ich in drei Fällen beim Kleinhirnbrückenkaninchen auf Drehen Augen- reaktionen auftreten sehen, welche auf Abduzenstätigkeit beruhten. Es genügt also das Vorhandensein der hinteren Augenmuskelkerne, um Augendrehreaktionen von den Labyrinthen aus zustande kommen zu lassen. Mit der grössten Deutlichkeit lässt sich aber bei jedem dezerebrierten Kaninchen die Kopfdrehreaktion (vgl. S. 427) auslösen, einerlei ob es sieh um ein Kleinhirn-Brückentier oder ein Kleinhirn-Oblongata- tier (Schnitt dorsal dicht vor den mittleren Kleinhirnstielen, ventral hinter der Brücke und vor dem Corpus trapezoides) handelt. Nicht nur erfolet beim gewöhnlichen Drehen des sitzenden Tieres Rechts- oder Linkswenden des Kopfes, sondern wenn man das Tier mit senkrecht erhobener Schnauze in der Horizontalebene dreht, kann man je nach der Drehriehtung Rechts- bzw. Linkswenden oder Dorsal- oder Ventralbeugen des Kopfes hervorrufen. In zwei Fällen habe ich beim Kleinhirn-Brückentier Kopfdrehnachreaktion, in einem Falle auch Kopfdrehnachnystaymus auftreten sehen. Beiträge zum Problem der Körperstellung. 1. 459 Diese Beobachtungen zeigen, dass die durch Drehen aus- lösbaren (Bogenganes-) Reflexe, wenn man als Erfoles- bewegung Nackenreaktionen statt Augenreaktionen benutzt, ihre Zentren hinter dem Mittelhirn und der Brücke haben. Der oben erwähnte Befund, dass beim Kleinhirn-Brücken- kaninchen noch Augendrehreaktionen durch Vermittelung des Ab- duzens zustande kommen, lehrt, dass für die Augendrehreaktionen das Mittelhirn nur insoweit nötig jst, als es Augenmuskelkerne und die zu diesen führenden Bahnen des Vestibularissystems enthält. Anhangsweise sei erwähnt, dass der Kaureflex durch Einschieben des Fingers in den Mund beim Kleinhirn -Oblongatakaninchen nach- weisbar war. Das sonstige allgemeine Verhalten dezerebrierter Kaninchen darf als bekannt vorausgesetzt werden. b) Das Fehlen derStellreflexebeidezerebrierten Kaninchen. Das Vermögen, die normale Körperstellung einzunehmen und aufrechtzuerhalten, fehlt, wie erwähnt, dem dezerebrierten Tiere. Man kann es wohl auf seine tonisch gestreckten Beine hinstellen, worauf es eine Zeitlang stehen bleibt, bis es von selbst oder auf irgendeinen auch leichten Anstoss umfällt und liegen bleibt. Es kann dem Falle nicht durch Bewegungen oder Stellungsänderungen entgegenwirken und ihn verhindern. Aus der Seitenlage oder anderen abnorınen Lagen sucht es sich nicht zu befreien und bleibt in ihnen, bis es daraus entfernt wird. Laufen und Springen ist unmöglich, weil zwar geordnete Bewegungen der vier Extremitäten auszulösen sind und die Glieder infolge der Enthirnungsstarre das Körpergewicht tragen könnten, aber das Tier nach dem ersten Schritt oder Sprung umfällt und nun in Seitenlage fruchtlose Zappelbewegungen ausführt. Bei der näheren Untersuchung stellt sich heraus, dass dieses Verhalten dadurch bedingt ist, dass dem dezerebrierten Ka- ninchen die Stellreflexe fehlen. Das soll im nachfolgenden näher begründet werden: 1. Labyrinthstellreflexe. Das Verhalten dezerebrierter Kaninchen, die in verschiedenen Lagen frei in der Luft gehalten werden, sieht man aus folgenden Abbildungen. Pflüger’s Archiv für Physiologie. Bd. 163. 32 470 R. Magnus: Auf Fig. 25 sieht man, dass, wenn der Hinterkörper des dezerebrierten Kaninchens in Seitenlage in der Luft gehalten wird, der Kopf nicht in die Normalstellung gedreht wird. Infolgedessen kommt die charakteristische Haltung, wie sie das Thalamuskaninchen (Fig. 10, S. 434, und Fie. 11, S. 435) bei der gleichen Lage in der Luft zeigt, nicht zustande. Kopf und Vorderkörper sinken, der Schwere folgend, einen einfach nach unten. Dreht man den Hinterkörper von der einen Seitenlage in die andere, so folgt der Kopf passiv dieser Be- wegung und wird nicht, wie beim Thalamustier, in der Normal- stellung zwangsweise festgehalten. Fig. 26 lehrt, dass wenn man ein dezerebriertes Kaninchen in Rückenlage in der Luft oder auf dem Tische untersucht, der Kopf und der Vorderkörper in Rückenlage bleiben und nicht, wie beim Thalamustier (vgl. Fig. 12, S. 436), auf die Seite gedreht werden. Fig. 25. Versuch 45. 6. Mai 1915. Dezerebriertes Kaninchen (Kleinhirn-Oblongatatier). Das Tier wird mit der Hand am Becken in Seitenlage frei in der Luft gehalten. Kopf und Vorder- körper sind auch in rechter Seitenlage. Kopf und Hals sind, der Schwere folgend, nach unten gesunken. Kopf und vordere Körperhälfte haben also nicht die Normalstellung im Raume angenommen. Der Vergleich mit Fig, 10 (S. 434) und Fig. 11 (S. 435) lehrt, dass nach der Dezerebrierung der Labyrinthstellreflex auf den Kopf fehlt. Die Stellung ist dieselbe wie auf Fig. 17 (S. 442) von einem labyrinthlosen Thalamustier abgebildet wurde. Sektion: Nach Längsspaltung des Kleinhirns sieht man, dass die Vierhügel ganz fehlen. Der Schnitt geht dorsal beiderseits vor den mittleren Kleinhirnstielen. Ventral geht er vor dem Corpus trape- zoides. Rechts fehlt die Brücke ganz, links steht der hintere Teil derselben in einer Breite bis zu 3 mm. Nervi octavi intakt. Beiträge zum Problem der Körperstellung. 1. 471 Es fehlt eben der Labyrinthstellreflex auf den Kopf. Dreht man ein dezerebriertes Tier aus der Rückenlage nach der einen oder anderen Seite, so folgt der Kopf passiv dieser Bewegung. Fig. 27 zeigt ein dezerebriertes Kaninchen in Hängelage mit dem Kopfe nach oben. Das Tier wird am Becken in der Luft ge- halten. Der Kopf ist nach hinten gesunken und dorsalwärts ge- beugt. Der Labyrinthstellreflex, der beim Thalamustier (vgl. Fig. 15, S. 437) den Kopf in die Normalstellung bringt, fehlt. Fig. 28 zeigt ein vor den hinteren Vierhügeln und vor der Brücke dezerebriertes Kaninchen in Hängelage mit Kopf unten. Der Kopf hängt mit der Schnauze senkrecht nach unten und wird nicht, wie beim Thalamustier (s. Fig. 14, S. 438), in die Normalstellung gebracht. Der Labyrinthstellreflex fehlt. Dreht man ein dezerebriertes Kaninchen aus der Hängelage mit Kopf oben (Fig. 27) in die Hängelage mit Kopf unten (Fig. 28)» so folgt der Kopf passiv dieser Bewegung und wird nicht in der Normalstellung festgehalten. Die Abbildungen Fig. 25—28 zeigen, dass dem dezerebrierten Kaninchen die Labyrinthstellreflexe fehlen. Vergleicht man diese Figuren mit Fig. 17—20, welche vom Jabyrinthlosen Thalamus- Fig. 26. Dasselbe dezerebrierte Kaninchen (Kleinhirn-Oblongata- tier) wie Fig. 25. Das Tier wird mit der Hand am Becken in Rückenlage gehalten. Kopf und vordere Körperhälfte befinden sich ebenfalls in Rückenlage, haben sich also nicht auf die Seite gedreht. Der Vergleich mit Fig. 12 (S. 436) lehrt, dass nach der Dezerebrierung der Labyrinthstellreflex auf den Kopf fehlt. Die Stellung ist dieselbe wie auf Fig. 18 (S. 443) von einem labyrinthlosen Thalamustier abgebildet wurde. 472 R. Magnus: tier stammen, so sieht man, dass nach den beiden Operationen bei der Untersuchung in der Luft sich genau das gleiche Verhalten zeigt; die Abbildungen in den sich entsprechenden Körperlagen sind so gut wie identisch). Die Ursache ist die gleiche: das Fehlen der Labyrinthstellreflexe auf den Kopf. Nur ist dieses beim labyrinth- losen Thalamustier durch die Fortnahme der Rezeptionsorgane, beim dezerebrierten Tiere durch die Fortnahme der für den Reflex not- wendigen Zentren bedingt. Die Zentren für die Labyrinthstellreflexe liegen im Mittelhirn. Nach einem Schnitt, der (Versuch 55a) auf der Dorsalseite rechts durch die Mitte, links durch das hintere Drittel des vorderen Vier- hügels, auf der Ventralseite durch die Hirnschenkel gerade am Hinter- rand des Corpus mammillare ging, war der Labyrinthstellreflex auf den Kopf in Seitenlage (nicht aber in Rückenlage und den beiden Hängelagen) noch vorhanden. Nach einem Schnitt, der (Versuch 44) 1) Nur ist auf Fig. 25—28 die Enthirnungsstarre des dezerebrierten Tieres an der Streckung der Vorderbeine deutlich, während das Thalamustier (Fig. 17—20) die Vorderbeine mehr gebeugt hält. - Fig. 27. Dasselbe dezerebrierte Kaninchen (Kleinhirn-Oblongata- tier) wie Fig. 25. Das Tier wird mit der Hand am Becken, mit dem Kopfende nach oben, frei in der Luft gehalten. Der Kopf ist nach hinten gesunken, mit dem Scheitel nach unten, wird also nicht in Normalstellung gehalten. Der Vergleich mit Fig 13 (8. 437) lehrt, dass nach der Dezerebrierung der Labyrinthstellreflex auf den Kopf fehlt. Die Stellung ist dieselbe, wie auf Fig. 19 (S. 444) von einem labyrinthlosen Thalamustier abgebildet wurde. Beiträge zum Problem der Körperstellung. I. 473 auf der Dorsalseite dicht vor den hinteren Vierhügeln, auf der Ventral- seite am Vorderrand der Brücke verlief, fehlten alle Labyrinthstell- reflexe. Bei einem Tier (Versuch 59), bei dem der Schnitt an der Dorsalseite hinter den hinteren Vierhügeln, an der Ventralseite durch “ die Hirnschenkel links 2 mm vor der Brücke, rechts dicht vor der Brücke verlief, war eine zweifelhafte Grenzreaktion beim Untersuchen in der Luft vorhanden, die aber nicht zum Ziele führte. Nach allen das Mittelhirn vollständig abtrennenden Schnitten waren die Labyrinth- stellreflexe stets aufgehoben. Nimmt man das Ergebnis, dass die Zentren für die Labyrinth- stellreflexe ihren Sitz im Mittelhirn haben, mit den Erfahrungen zusammen, welche oben über die Zentren für die Labyrinthdreh- reaktionen und in diesen und früheren Arbeiten über die Zentren für die tonischen Labyrinthreflexe auf die Hals- und Gliedermuskeln mitgeteilt werden, so ereibt sich, dass wir jetzt einen Anfang damit Fig. 23. Versuch 44. 4. Mai 1915. Kaninchen, vor den hinteren Vierhügeln dezerebriert. Das Tier wird mit der Hand an der Lendenwirbelsäule, mit dem 'Kopfende nach unten, frei in der Luft gehalten. Der Kopf hängt, der Schwere folgend. nach unten, wird also nicht in die Normalstellung gebracht, Der Vergleich mit Fig. 14 (S. 438) lehrt, dass nach der Dezerebrierung der Labyrinthstellreflex auf den Kopf fehlt. Die Stellung ist dieselbe, wie auf Fig. 20 (S. 445) von einem labyrinthlosen Thalamustier abgebildet wurde. Sektion: Der Schnitt geht an der Dorsalseite vor den hinteren Vierhügeln (rechts steht noch ein minimaler Streifen des vorderen Vierhügels), an der Ventralseite am Vorderrand der Brücke. Nervi octavi intakt. 474 R. Magnus: machen können, die verschiedenen Labyrinthreflexe anatomisch aus- einanderzulegen. Sieht man zunächst von der Reaktion auf Progressivbewegungen ab, über die ich bisher keine eigenen Erfahrungen besitze und die auch noch wenig experimentell untersucht wurden, so bleiben von Labyrinthreflexen noch übrig: 1. die Drehreaktionen, 2. die tonischen Labyrinthreflexe auf die Körpermuskulatur, 3. die Labyrinthstellreflexe, 4. die kompensatorischen Augenstellungen. 1. DieDrehreaktionen werden durch Winkelbeschleunigungen des Kopfes ausgelöst und daher von der Mehrzahl der Forscher auf die Erregung der Bogengänge bezogen. DieDrehreaktionen auf den Kopf (Hals) werden dureh Zentren vermittelt, welche hinter der Brücke gelegen sind; ob das Kleinhirn sich daran beteiligt, ist noch zu untersuchen. Für die Drehreaktionen auf die Augen genügt es, wenn vor der Eintrittsstelle der Octavi noch die Gegend der Augenmuskelkerne erhalten ist. Augendrehreaktionen können noch erfolgen, wenn nur die hinteren Augenmuskelkerne erhalten sind. Nach unvoll-: ständiger Kleinhirnexstirpation sind die Augendrehreaktionen noch vorhanden [Bauer und Leidler, Barany, Reich und Roth- feld], das Verhalten nach vollständiger Entfernung des Kleinhirns ist noch nicht mit Sicherheit festgestellt. Die tonischen Labyrinthreflexe auf die Körper- muskulatur, die Labyrinthstellreflexe und die kompen- satorischen Augenstellungen sind Reflexe der Lage, welehe nicht durch Bewegungen bzw. Beschleunigungen ausgelöst werden. Man kann daher die Hypothese aussprechen, dass sie Otolithenreflexe sind. 2. Für dietonischen Labyrinthreflexe auf die Hals- und Gliedermuskulatur muss das Zentralnervensvstem nur bis zur Eintrittsstelle der Octavi erhalten sein. Das Gehirn kann bis einschliesslich der Brücke vollständig fehlen, und auch das Kleinhirn kann total entfernt sein ?). 3. Im Gegensatz hierzu ist für das Zustandekommen der Labyrinthstellreflexe, bei denen der afferente Nerv der 1) Pflüger’s Arch. Bd. 159 S. 224. 1914. Beiträge zum Problem der Körperstellung. 1. 475 Octavus ist und die efferenten Nerven aus dem Halsmark entspringen ein weiter oralwärts gelegener Hirnteil erforderlich, das Mittelhirn. Ob das Vorhandensein des Kleinhirns für die Labyrinthstellreflexe notwendig ist, muss noch festgestellt werden. 4. Ob die kompensatorischen Augenstellungen, welche ebenfails Reflexe der Lage sind, zu den tonischen Labyrinth- reflexen auf die Körpermuskulatur oder zu den Stellreflexen gerechnet werden müssen, ist zurzeit noch zweifelhaft, doch erscheint mir letzteres als wahrscheinlicher. Vor den Octavis muss jedenfalls die Gegend der Augenmuskelkerne erhalten sein; ob noch andere Mittelhirnabschnitte und ob auch das Kleinhirn dabei mitwirken, ist noch nicht untersucht. Man sieht hieraus, wie ausserordentlich vielfältig die physio- logischen Beziehungen der Labyrinthe zu den einzelnen Abschnitten des Halsmarkes, der Medulla oblongata und des Mittelhirns sind. Es wird noch mühevoller Arbeit bedürfen, bis für alle diese Leistungen die anatomischen Substrate (Zentren, Bahnen) in den genannten Hirnteilen gefunden sind. Vorläufig muss es genügen, dass wir die verschiedenen Labyrinthreflexe mit hinreichender Sicherheit aus- einanderhalten und getrennt untersuchen können. 2. Stellreflexe auf den Kopf durch asymmetrische Reizung der Körperoberfläche. Lest man ein labyrinthloses Thalamuskaninchen, das in der Luft keine Stellreflexe mehr zeigt, auf den Tisch, so bringt es in- folge der asymmetrischen Reizung der Körperoberfläche den Kopf alsbald in die Normalstellung (Fig. 21, S. 446) und sitzt dann auf. Erst wenn man den einseitigen Reiz der Unterlage durch ein auf- gelegtes Brett kompensiert, bleibt der Kopf und der Körper in Seitenlage (Fig. 22, S. 447). Legt man dagegen ein dezerebriertes Tier in Seitenlage auf den Tisch, so bleibt es ruhig so liegen und macht keinen Versuch, den Kopf in die Normalstellung zu drehen (Fig. 29). Es fehlt der Stellreflex auf den Kopf durch asymmetrische Reizung der Körperoberfläche. Im einzelnen ergab sich folgendes: Das schon mehrfach erwähnte Tier Nr. 55a, bei welchem der Schnitt dorsal rechts durch die Mitte, links durch das hintere Drittel des vorderen Vierhügels, ventral am Hinterrand des Corpus mammillare ging, bei welchem also noch ein beträchtlicher Teil des Mittelhirns stehen geblieben war, drehte in 475 R. Magnus: Seitenlage auf dem Tisch nicht spontan, wohl aber auf Kneifen des Schwanzes oder des unteren Vorderbeines den Kopf in die Normalstellung. — In zwei Fällen (Nr. 35, 59), in. welchen der Schnitt dorsal hinter den hinteren Vierhügeln, ventral 2 mm vor dem Vorder- rand der Brücke verlief, war auf Kneifen des unteren Vorderbeines bei Seitenlage schwaches, vorübergehendes unvollständiges Drehen des Kopfes nach der Normalstellung hin auszulösen, erfolgte jedoch weder spontan noch auf Schwanzkneifen. In einem’ Falle war dasselbe bei einem Kleinhirn-Brückentier (Nr. 36) nachzuweisen. Die übrigen Klein- hirn - Brückentiere sowie alle Kleinhirn - Oblongatatiere zeigten nicht einmal auf Kneifen des unteren Vorderbeines Richtigstellen des Kopfes. Bei ihnen erfolgte statt dessen Retraktion des Nackens, Beugung des unteren mit Streckung des oberen Vorderbeines und eventuell Strampeln in Seitenlage. Daraus ergibt Sich, dass der Stellreflex auf den Kopf dureh asymmetrische Reizung der Körperober- fläche gebunden ist an das Vorhandensein des Mittel- hirnes. Nach Ausschaltung des Mittelhirnes vermag ein Kaninchen nicht mehr aus der Seitenlage auf dem Tische den Kopf in die Normalstellung zu drehen. Auch auf symmetrische Reizung (Schwanz- Fig. 29. Dasselbe dezerebrierte Kaninchen (Kleinhirn-Oblongata- tier) wie Fig. 25. Das Tier liegt in rechter Seitenlage auf dem Tisch. Kopf und Vorderkörper befinden sich ebenfalls in rechter Seitenlage, sind also nicht in der Richtung zur Normalstellung gedreht. Der Stellreflex fehlt. Die Lage ist dieselbe wie auf Fig. 22 (S. 447), wo bei einem Thalamustier der Labyrinthstellreflex durch die Labyrinthexstirpation, der Reflex von asymmetrischer Reizung der Körperoberfläche durch den Brettversuch aufgehoben ist. Im Falle der Fig. 29 handelt es sich dagegen um Fortfall des Stellreflexes, weil die Zentren im Mittel- hirn entfernt wurden. Beiträge zum Problem der Körperstellung. 1. 477 kneifen) wird der Reflex nicht zum Vorschein gerufen. — Kneifen des unteren Vorderbeines bewirkt Drehen oder Wenden des Kopfes nach der anderen Seite noch, wenn nur die hintersten Mittelhirn- anteile oder selbst der Vorderrand der Brückengegend erhalten sind. Nach Schnitten hinter dem Vorderrand der Brücke ist auch dieser Reflex erloschen. Nimmt man das Ergebnis dieses mit dem des vorigen Abschnittes zusammen, so ergibt sich, dass im Mittelhirn ein Apparat vorhanden ist, der die Spannung der Halsmuskulatur regelt und dadurch dafür sorgt, dass der Kopf in der Normalstellung gehalten und, wenn er daraus entfernt wurde, wieder in dieselbe zurückgebracht wird. Hierzu können zwei afferente Erregungen: Reize von den Labyrinthen und von den sensibelen Körpernerven den Anstoss geben. In welcher Weise diese beiden Einflüsse im Mittelhirn wirksam werden, welches ihre Bahnen sind und wie sie zusammenwirken und unter Umständen auch miteinander interferieren, bedarf weiterer Untersuchung. 3. Stellreflex auf den Körper durch asymmetrische Reizung der Körperoberfläche. Wie auf Fig. 23 (S. 455) zu sehen ist, kann das Thalamus- (und Mittelhirn-) tier seinen Körper zum richtigen Sitz bringen, auch wenn der Kopf sich nicht in der Normalstellung befindet, sondern beispielsweise um 90° nach der Seite gedreht ist. Die Reaktion wird ausgelöst durch asymmetrische Reizung der Körperoberfläche durch den Druck der Unterlage. Beim dezerebrierten Kaninchen habe ich in keinem einzigen Falle diesen Reflex nachweisen können, auch nicht wenn das Tier durch Kneifen des Schwanzes oder einer Pfote gereizt wurde. Trotzdem dieser Reflex auch beim Thalamustier nicht ganz konstant auftritt (vel. S. 455), so ist es doch beı der hinreichenden Anzahl von Beobachtungen an 13 dezerebrierten Tieren und zahl- reichen anderen Laboratoriumserfahrungen, über die ich verfüge, be- rechtigt zu schliessen, dass auch das Eintreten des Stellreflexes auf den Körper durch asymmetrische Reizung der Körperober- fläche an das Vorhandensein des Mittelhirnes gebunden ist. 4. Halsstellreflexe. Wenn durch das Zusammenwirken der verschiedenen Stellreflexe beim Tbalamus- oder Vierhügeltür der Kopf aus irgendeiner 478 R. Magnus abnormen Lage in die Normalstellung gebracht ist, so schliesst sich, wie S. 451ff. geschildert wurde, hieran ein Halsreflex, durch welchen der Körper dem Kopfe folgt und so auch in die Normalstellung gelangt. Dieser Halsreflex lässt sich gut studieren beim Aufsitzen des Tieres aus der Seitenlage. Dann wird zuerst der Kopf in die Normalstellung (d. h. mit dem Kiefer nach unten) gedreht, dadurch wird eine aktive Beugung der beiden Vorderbeine ausgelöst (tonischer Labyrinthreflex auf die Gliedermuskeln, unterstützt für das obere Vorderbein durch den tonischen Halsreflex auf die Gliedermuskeln) und zugleich wird eine Drehung der Wirbelsäule bewirkt, durch welche der Vorderkörper nach der Normalstellung zu gedreht wird (Fig. 10, S. 434, und Fig. 11, S. 435). Beides zusammen führt dann zum Auf- sitzen des Vordertieres und hieran schliesst sich das Aufsitzen des Hinterkörpers, häufig mit einem schnellen Ruck, an. Die aktive Beugung der Vorderbeine auf Drehen des Kopfes in die Normalstellung aus der Seitenlage beruht auf den gewöhnlichen, in früheren Arbeiten !) genügend geschilderten tonischen Labyrinth- (und Hals-) reflexen auf die Gliedermuskeln, die dnreh Zentren kaudalwärts von der Eintritts- ebene der Nervi octavi vermittelt werden?) (s. oben S. 467). Beim Thalamus- und Mittelhirnkaninchen führen diese Reflexe zur aktiven Beugung der Vorderbeine, weil die Tonusverteilung in ihnen eine „normale“ ist, und die Beugemuskeln nicht auf Kosten der Streck- muskeln benachteiligt sind. Beim dezerebrierten Tiere dagegen be- finden sich die Gliederstrecker im Zustand der Enthirnungsstarre, die Beuger sind tonuslos oder tonusarm; und wenn man aus der Seitenlage den Kopf passiv in die Normalstellung dreht, so wird wohl der Streektonus des oberen, manchmal auch des unteren Vorder- beines vermindert?), aber die beiden Beine bleiben doch meist ge- streckt und verhindern eben dadurch jedes Aufsitzen des Vorderkörpers. (Nur in Ausnahmefällen erfolgt auch beim dezerebrierten Tiere auf Kopfdrehen aus der Seitenlage aktive Beusung der Vorderbeine, die aber auch dann nie vollständig ist.) 1) R. Magnus und A. de Kleijn, Die Abhängigkeit des Torus der Extremitätenmuskeln von der Kopfstellung. Pflüger’s Arch. Bd. 145 S. 455. 1912. — W. Weiland, Hals- und Labyrinthreflexe beim Kaninchen. Pflüger’s Arch. Bd. 147 S.1. 1912. 2) Pflüger’s Arch. Bd.159 S. 224. 1914. 3) Pflüger’s Arch. Bd. 145 S.507. 1912. Beiträge zum Problem der Körperstellung. 1. 479 Das Verhalten der Vorderbeine beim Aufsitzen aus der Seiten- lage ist also beim Thalamus- und Vierhügeltier prinzipiell das gleiche wie beim dezerebrierten Tier, es handelt sich um die gewöhnlichen „Steh“-reflexe, die nur im letzteren Falle wegen der starken Ent- hirnungstarre dem Aufsitzen des Tieres entgegenwirken müssen, statt es, wie beim Thalamustier, zu befördern. Besondere Stellreflexe sind zur Erklärung dieser Reaktion nicht nötig. Es fragte sich daher, ob auch die Drehung der Wirbelsäule, welche durch eine vorhergehende Drehung des Kopfes gegen den Rumpf ausgelöst wird, ein einfacher „Steh“reflex ist, der auch beim dezerebrierten Tiere vorhanden ist, oder ob es sich um einen be- sonderen „Stellreflex“ handelt. Weder de Kleijn und ich!) noch Weiland?) hatten in unseren früheren Versuchen an dezerebrierten Katzen und Kaninchen jemals eine Drehung der Wirbelsäule auf Kopfdrehen auftreten sehen. Eine hochgradige Reaktion hätten wir wohl zweifellos be- merkt, schwächere Bewegungen hätten uns vielleicht entgangen sein können. Dasegen haben de Kleijn und ich bei normalen, nicht dezerebrierten Kaninchen» und Katzen auf Kopfdrehen in Rücken- lage eine Drehung der Wirbelsäule beobachtet®), die zur Becken- drehuns im umgekehrten Sinne führt und, wie S. 452 ausgeführt wurde, mit der hier besprochenen Reaktion identisch ist. Wir konnten weiter zeigen, dass dieser hochgradig tonische Reflex bei der ab- normen Körperstellung einseitig labyrinthloser (nicht dezerebrierter) Kaninchen eine wichtige Rolle spielt*.. Es war also immerhin wahrscheinlich, dass der Reflex seine Zentren vor der Medulla oblongata hat. Das wurde durch den Versuch bestätigt. Lest man ein Kleinhirn-Oblongatatier, bei dem der Schnitt dorsal zwischen Kleinhirnstielen und hinteren Vierhügeln, ventral hinter dem Hinterrand der Brücke verläuft, auf den Rücken, so bewirkt Kopf- drehen wohl starke Reflexe auf die Vorder- und Hinterbeine (Tonus- verlust in den „Schädelbeinen“, wechselndes Verhalten je nach Uber- wiegen der Hals- oder Labyrinthreflexe in den „Kieferbeinen“), aber keine Drehung der Wirbelsäule und des Beckens. Bringt man ein solches Tier in Seitenlage, so bewirkt Drehen des Kopfes in die 1) Pflüger’s Arch. Bd. 145 S. 455. 1912. 2) Pflüger’s Arch. Bd. 147 S.1. 1912. 3) Pflüger’s Arch. Bd. 154 S. 163. 1913. 4) Pflüger’s Arch. Bd. 154 S. 178. 19132. 480 R. Magnus: Normalstellung kein Aufsitzen des Vorderkörpers, auch nicht, wenn man den Schwanz oder eine Pfote kneift; eine Drehung des Vorder- körpers tritt nicht ein. Der Halsstellreflex fehlt trotz vorhandener tonischer Hals- und Labyrinthreflexe auf die Gliedermuskeln. Auch wenn die hintere Hälfte der Brücke noch vor der Medulla oblongata stehen geblieben ist, erfolgt kein Aufsitzen des Vorderkörpers bei Richtigstellung des Kopfes aus der Seitenlage. Dagegen ist beim Kleinhirn-Brückentier, bei welchem der Schnitt dorsal am Hinterrand der Vierhügel und ventral am Vorderrand der Brücke verläuft, bereits manchmal eine Andeutung des Halsstellreflexes vorhanden. In einem Falle sah ich schwache Beckendrehung auf Kopfdrehen in Rückenlage auftreten; und auf Kopfrichtigstellen aus der Seitenlage erfolgte bei einigem Nachhelfen Aufsitzen durch Drehung des Vorderkörpers. Bleibt vor der Brücke noch etwa 1—2 mm von den Hirnschenkeln ‘stehen, so wird der Halsstellreflex bereits deutlich. Auf Kopfdrehen in Rückenlage erfolgt kräftige Beckendrehung nach der anderen Seite, auf Kopfrechtsetzen aus der Seitenlage setzte sich der Vorderkörper in zwei von drei Versuchen durch Drehung der Hals- und Brustwirbel- säule und aktive Beugung der Vorderbeine auf. Nach einem Schnitte durch die vorderen Vierhügel und hinter dem Corpus mammillare (Versuch 55a) war der Halsstellreflex voll- ständig ausgebildet. Auf Kopfdrehen aus Seitenlage erfolgte promptes Aufsitzen des ganzen Tieres. Hieraus folgt, dass der „Halsstellreflex®“ von den tonischen Halsreflexen auf die Gliederinuskeln unterschieden werden muss. Letztere haben ihre Zentren im oberen Halsmark!), während die Halsstellreflexe sie weiter oralwärts haben. Andererseits liegen diese Zentren etwas weiter kaudalwärts als die für die übrigen Stell- reflexe. Es braucht nicht das ganze Mittelhirn erhalten zu sein, um einen guten Halsstellreflex zu bekommen, und die Zentren reichen bis in die Brückengegend hinein. Das Gesagte bezieht sich bisher nur auf den Halsstellreflex, der durch Drehen des Kopfes ausgelöst wird. Über die Lage der Zentren der übrigen Halsstellreflexe (vgl. S. 453) habe ich keine be- sonderen Versuche angestellt. Doch liegen sie nach meinen bisherigen Erfahrungen jedenfalls nicht weiter kaudalwärts. Die mitgeteilten Befunde lassen es verständlich erscheinen, warum das dezerebrierte Kaninchen (Brückentier und Oblongatatier) die normale Körper- stellung niehteinnehmen und aufrechterhalten kann, und I) Pflüger’s Arch. Bd. 159 S. 224. 1914. Beiträge zum Problem der Körperstellung. 1. 481 weshalb esnicht imstande ist, zulaufen und zuspringen. Es fehlen ihm alle in dieser Arbeit geschilderten Stellreflexe Die Zentren derselben liegen imMittel- hirn. (Nur die Zentren für den Halsstellreflex reichen bis in die Brückengegend.) Das dezerebrierte Tier hat, wie oben erwähnt, sehr lebhafte und prompte Drehreaktionen. Trotzdem kann es sein Gleich- gewicht nicht erhalten. Diese Reflexe können das Tier nicht vor dem Umfallen schützen. Sie sind für die Erhaltung der normalen Körperstellung jedeufalls nur von untergeordneter Bedeutung. IV. Zusammenfassung. Die in der Einleitung formulierte Aufgabe, das Zustandekommen der normalen Körperstellung beim grosshirnlosen Kaninchen zu analy- sieren, konnte im wesentlichen gelöst werden. Es hat sich heraus- gestellt, dass im Mittelhirn Apparate liegen, welche aus jeder abnormen Lage den Körper in die Normalstelluug bringen. Wie bei jeder wirklich wichtigen Körperfunktion ergab sich, dass auch in diesem Falle mehrere Einrichtungen zu demselben Endziele zusammenwirken. Die Gesamtheit aller Reflexe, welche dazu dienen, dem Tier das Einnehmen und Bewahren der normalen Körper- stellung zu ermöglichen, wurde als „Stellreflexe“ bezeichnet. Zunächst sind es die Labyrinthe, von denen bei jeder abnormen Lage des Kopfes im Raume Erregungen ausgehen, welche reflektorisch den Kopf in die Normalstellung bringen. Diese Labyrinthstellreflexe treten auf, wenn das Tier sich auf dem Boden oder in der Luft befindet. Sie lassen sich isoliert unter- "suchen, wenn ınan es frei in der Luft hält. Sie fehlen nach Exstir- pation der Labyrinthe. Hierzu gesellt sich nun, wenn das Tier in Berührung mit der Unterlage gebracht wird, eine zweite Gruppe von Reflexen. Sobald eine abnorme Körperlage (ausgenommen die Rückenlage) eingenommen wird, kommt es zu einer asymmetrischen Er- regung der sensibelen Körpernerven (Drucksinn, eventuell Propriozeptoren der Extremitäten), welche ebenfalls einen Reflex auslöst, durch den der Kopf in die Normalstellung gebracht wird. Diese Gruppe von Stellreflexen tritt also nur auf, wenn das Tier sich auf dem Boden befindet, sie fehlt bei der Unter- suchung in der Luft, sie lässt sich unwirksam machen, wenn man 483 R. Magnus: den Druck der Unterlage durch Auflegen eines beschwerten Brettes auf die oben befindliche Körperseite kompensiert. Durch diese beiden Gruppen von Stellreflexen wird bewirkt, dass zunächst einmal der Kopf in die Normalstellung gebracht wird. Ist das aber erreicht und liegt der Rumpf noch in der abnormen Ausgangsstellung, so kommt es zu einer Verbiegung des Halses. Durch diese wird nun ein Halsstellreflex ausgelöst, durch den (von vorne nach hinten fortschreitend) der Körper, dem Kopfe folgend, in die Normalstellung bewegt wird. Die Zentren dieses Reflexes reichen vom Mittelhirn bis in die Brückengegend. Während bei den bisher geschilderten Reflexen stets der Kopf zuerst in die Normalstellung gebracht wurde, worauf dann, hiervon abhängig, der Körper folgte, lehrt die alltägliche und die experi- mentelle Erfahrung, dass ein Tier auch die normale Stellung des Körpers bewahren kann, wenn sein Kopf sich nicht in der Normal- stellung befindet. In Übereinstimmung damit wurde ein weiterer Stellreflex auf den Körper gefunden, der durch Berührung des Körpers mit der Unterlage ausgelöst wird. Jede asymmetrische Lage auf dem Boden führt zu einem Reflex, durch den der Rumpf und die Glieder in die Normalstellung gebracht werden. Es liessen sich Gründe dafür anführen, dass hiermit die wich- tigsten Stellreflexe des grosshirnlosen Kaninchens erschöpft sind. Die Labyrinth@rehreaktionen des Kopfes sind jedenfalls nicht im- stande, für sich allein die Körperstellung aufrechtzuerhalten. Und optische Reflexe spielen bei dem Vermögen des grosshirnlosen Kaninchens, zu stehen, sich aufzusetzen, zu gehen und zu springen, keine wesentliche Rolle !). Durch den Besitz des Mittelhirnes gewinnt das Kaninchen also die Stellreflexe und damit das Vermögen, die Körperstellung in der Ruhe und bei der Bewegung zu bewahren und stets wiederzugewinnen. Das mittelhirnlose „dezerebrierte“ Brücken- bzw. Oblongatatier kann freilich, wenn man es hinstellt, „stehen“, aber es fällt bei der leichtesten Berührung um und kann sich nicht wieder aufrichten. Es kann wohl auf geeigneten Reiz geordnete Laufbewegungen mit seinen Gliedmaassen ausführen, aber es kann nicht wirklich laufen, weil es nach dem ersten Schritt hinfällt. Man kann beim dezere- brierten Tier dadurch, dass man dem Kopf verschiedene Lagen 1) Beim Tlere mit intaktem Grosshirn kann das natürlich anders sein. Beiträge zum Problem der Körperstellung. 1. 483 zum Rumpf oder im Raume gibt, eine ganze Reihe verschiedener Körperhaltungen und Stellungen hervorrufen, die prinzipiell in der gleichen Weise auch von Tieren mit intaktem Gehirn unter nor- malen oder pathologischen Umständen angenommen werden. Aber die auslösenden Kopfstellungen muss beim dezerebrierten Tier der Experimentator mit der Hand einstellen, sie erfolgen nicht durch Figentätigkeit des Tieres. Noch ein sehr wichtiger Unterschied zwischen dem Mittelhirn- und den Brückenkaninchern liest im Verhalten seines Muskeltonus. Das dezerebrierte Brücken- oder Oblangatatier zeigt die Enthirnungs- starre, bei der die „Stehmuskeln“, welehe die Funktion haben, der Schwerkraft entgegenzuwirken, stärksten Tonus haben, während ihre Antagonisten, die Beuger, keinen oder geringen Tonus aufweisen. Die hierdurch entstehende Steifheit der Glieder wirkt dann noch hindernd auf die zur Einnahme der normalen Körperstellung not- wendigen Bewegungen (zum Beispiel beim Aufsitzen aus der Seiten- lage). Ein Kaninchen mit intaktem Mittelhirn dagegen hat keine Ent- hirnungsstarre, die „Stehmuskeln“ sind nicht einseitig bevorzugt, auch die Beuger haben ebenso wie beim intakten Tier Tonus, die Tonus- verteilung in der Körpermuskulatur ist „normal“, und infolgedessen können auch alle phasischen und tonischen Reflexe beim Mittelhirn- kaninchen den „normalen“ Effekt haben. Die Untersuchungen zeigen, welche wichtige Rolle der Körper- sensibilität (Drucksinn, Propriozeptoren) für die Erhaltung des Körpergleichgewichts zukommt. Der Einfluss äussert sich sowohl auf die Stellung des Kopfes wie auf die des Körpers selber. Die Labyrinthe spielen bei der Auslösung der Stellreaktion keine allein ausschlaggebende, aber doch eine sehr wichtige Rolle. Die Labyrinthstellreflexe auf den Kopf lassen sich von den anderen Labyrinthreflexen scharf auseinanderhalten. Als Reflexe der Lage unterscheiden sie sich von den Kopfdrehreaktionen, welche durch Winkelbeschleunigungen ausgelöst werden und von denen sich zeigen liess, dass ihre Zentren hiuter der Brücke ge- legen sind, während die Labyrinthstellreflexe ihre Zentren im Mittelhirn haben. Von den tonischen Labyrinthreflexen auf die Hals- und Gliedermuskeln unterscheiden sich die Labyrinthstellreflexe dadurch, dass erstere eine Folge von vorgenommener Änderung der Kopfstellung sind, während die Stellreflexe derartige Änderungen der Kopfstellung | 484 R. Magnus: auslösen. Ferner liegen die Zentren der tonischen Labyrinthreflexe in der Medulla oblongata hinter der Eintrittsebene der Nervi octavi. In der Einleitung wurde darauf aufmerksam gemacht, dass beim dezerebrierten Tier mit gegebener Intensität der Hals- und Labyrinth- reflexe die Haltung des Körpers bei einer bestimmten Kopfstellung und Körperlage eindeutig bestimmt ist, dass dagegen das intakte Tier auch andere Haltungen annehmen kann. Daher müssen durch die Anwesenheit der höheren Hirnteile die Reaktionsmöglichkeiten ver- wiekeltere werden. Eine derartige Komplikation wird nun beispiels- weise durch das Hinzukommen der Stellreflexe geschaffen. Die ge- nauere Analyse der Veränderungen in den einzelnen Reflexen, Be- wegungen und Stellungen, welche hierdurch bedingt werden, liegt ausserhalb des Rahmens dieser Arbeit. Es möge genügen, an einem einzelnen Beispiel zu zeigen, wie sich diese Komplikation äussert. Auf Fig. 27 (S. 472) sieht man ein dezerebriertes Kaninchen in Hängelage mit dem Kopfe nach oben. Der Kopf ist dorsalwärts gebeust und dadurch in die Maximumstellung für die tonischen Labyrinth- reflexe gelangt; infolgedessen sind die Nackenheber tonisch innerviert, der Kopf also in dieser Lage fixiert, die Vorder- und Hinterbeine haben starken Strecktonus, der noch durch tonischen Halsreflex (in- folge Dorsalbeugung des Kopfes) verstärkt wird. Das Tier muss in dieser Stellung bleiben, solange es mit der Hand in der Hängelage festgehalten wird. — Auf Fig. 13 (S. 437) sieht man im Gegensatz dazu ein Thalamuskaninchen, das in derselben Lage in der Luft gehalten wurde. Hier ist der Labyrinthstellreflex in Tätigkeit getreten, hat den tonischen Labyrinthreflex auf die Nackenstrecker überwunden, den Kopf ventral gebeugt und in die Normalstellung gebracht, und dazu ist dann der Halsstellreflex gekommen, der den ganzen Vorderkörper des Tieres in die Normalstellung gebracht hat. Das Endresultat ist also eine völlige andere Stellung als beim dezerebrierten Tier, in- dem der Stellreflex den tonischen Labyrinthreflex auf den Hals auf- hebt. Nach Exstirpation der Labyrinthe dagegen (Fig. 19, S. 444), nimmt auch das Thalamuskaninchen in der Luft eine ähnliche Stellung an wie das dezerebrierte Tier, nur dass die Extremitäten keine Enthirnungsstarre zeigen und daher gebeust sind. Dieses Beispiel zeigt, wie durch die Anwesenheit des Mittelhirns und der Stellreflexe die Reaktionsweise des dezerebrierten Tieres verändert und kompliziert wird. Beiträge zum Problem der Körperstellung. 1. 485 Noch eine weitere Gruppe von Komplikationen lässt sich am Thalamus- und Vierhügelkaninchen gut studieren. In einer Reihe von früheren Arbeiten habe ich am Rückenmarks- hund und der Rückenmarkskatze zeigen können !), dass je nach der Lage und Stellung, die man dem ganzen Tier oder einem seiner Glieder (Bein, Schwanz) gibt, ein und derselbe Reiz ganz verschiedene Reaktionen auslöst. Durch verschiedene sensibele Dauerreize (proprio- zeptive Erregungen, Drucksinnesreize) kann man Veränderungen des Zentralorganes zu Wege bringen, durch welche eine bestimmte Erregung gezwungen sind, einmal dem einen, ein anderes Mal einem ganz anderen Zentrum zuzufliessen. Beispielsweise kann man durch verschiedene Lagerung eines Rückenmarkshundes bewirken, dass der Kratzreflex nach Willkür gleichseitig oder gekreuzt auftritt. Der- artige zentrale Veränderungen wurden als „Schaltungen“ bezeichnet. Ähnliches lässt sich auch beim Thalamıus- oder Vierhügelkaninchen beobachten. Kneift man ein solches Tier, wenn es in Normalstellung auf dem Boden sitzt, kräftig in dorsoventraler Richtung in den Schwanz, übt also einen genau symmetrischen Reiz aus, so beginnt es zu laufen und zu springen. Es erfolgen also rhythmische Be- wegungen der Extremitäten. Liegt aber das Tier einmal aus irgend- einem Grunde auf der Seite, ohne sich aufzusetzen (s. S. 430), so löst genau derselbe Reiz keine Laufbeweguneen der Beine, sondern Drehung des Kopfes in die Normalstellung aus, d. h. bei rechter Seitenlage des Tieres werden die Linksdreher, bei linker Seitenlage die Rechtsdreber des Nackens innerviert. Ein und derselbe Reiz hat also je nach der Lage und Stellung des Tieres die Zentren ganz verschiedener Muskeln in Erregung versetzt. Noch auffallender ist folgender Versuch. Wenn ein Thalamus- oder Vierhügelkaninchen noch so weit im Schock ist, dass es sich nicht von selbst aufsetzt und auch den Kopf nicht in die Normalstellung dreht, so kann ınan durch Reizung des unteren Vorderbeines die Drehung des Kopfes in die Normalstellung auslösen. Untersucht man das Tier in Seitenlage in der Luft, oder kompensiert man bei Lage auf dem Tisch den Druck der Unterlage durch ein aufgelestes, beschwertes Brett, so bewirkt Reizung des oberen Vorderbeines stets Drehung l) R. Magnus, Zur Regelung der Bewegungen durch das Zentralnerven- system. 1.—4. Mitteilung. Pflüger’s Arch. Bd. 130 S. 219. 1909; Bd. 130 S. 253. 1909; Bd. 134 S. 545. 1910; Bd. 134 S. 584. 1910. Pflüger’s Archiv für Physiologie. Bd. 163. 33 486 R, Magnus: des Kopfes mit dem Scheitel nach unten. Liegt. das Tier aber ohne Brett auf dem Tisch, so erfolet auf Kneifen des oberen Vorderbeines häufig (nieht immer) Drehung des Kopfes in die Normalstellung. In diesem Falle hat die asymmetrische Reizung der Körperoberfläche durch den Druck der Unterlage es zustande gebracht, dass auf einen so kräftigen Reiz, wie starkes Kneifen einer Vorderpfote, genau die umgekehrte Reaktion erfolgte als bei Fehlen des asymmetrischen Dauerreizes.. Durch eine bestimmte Lage des Tieres wird also ein Zustand. in seinem Zentralnervensystem geschaffen, in welchem beliebige Reize, welche sonst nicht als „Stellreize“ wirken können, die Stell- reaktion auslösen. Ich halte es für sehr wahrscheinlich, dass es sich auch in. diesen Fällen um „Schaltungen“ ünd: nicht um einfache Summation zweier unterschwelliger Reize handelt. Denn : weder starkes Kneifen des Schwanzes noch der Extremitäten. ist ein unter- schwelliger Reiz. Die zuletzt mitgeteilten Beobachtungen zeigen nl wieder mit Deutlichkeit, dass die Reaktionsmöglichkeiten des Zentralnerven- systems ausserordentlich vielfältig'sind und von den vorhergegangenen Reaktionen und von dem Verhältnis des Tieres zu seiner Umgebung in entscheidender Weise mitbestimmt werden. Aus den. in der vorliegenden Mitteilung berichteten Tatsachen ergeben sich eine ganze Reihe von weiteren Fragen, die erst be- antwortet sein müssen, ehe das Problem der Körperstellung als kellt betrachtet werden kann. V. Schlusssätze. 1. Die Ergebnisse dieser: Arbeit gelten vorläufig nur für das Kaninchen. 2. Das dezerebrierte Tier leihen Brain und Kleinhirn- Oblongatatier) steht, wenn man es a das Mittelhirntier stellt sich. selbst. 3. Nach Abtrennung des Meiieinsuns von der. Brücke. «st die Fähigkeit, die normale Körperstellung einzunehmen und zu er- halten, erloschen. 4. Als „Stellreflexe“ werden diejenigen bezeichnet, durch welche das Tier die normale Körperstellung einnimmt und sich darin Beiträge zum Problem der Körperstellung. I. 487 erhält; als „Stehreflexe“ diejenigen, welche das Tier in einer bestimmten Stellung erhalten, wenn man es hinstellt ge starre, tonische Hals- und Dabyrmihreflene) 5. Die Enthirnungsstarre entwickelt sich erst beim Ent- fernen des vorderen Teiles des Mittelhirnes; sie beruht demnach nicht auf der Abtrennung der tieferen Hirnteile vom Grosshirn. 6. Während der Erholung von der Narkose und dem Schock kann man feststellen, dass beim Aufsitzen in die normale Körper- stellung zuerst der Kopf in die Normalstellung gebracht wird, und dass sich dann hieran das Aufsitzen des Rumpfes anschliesst. 7. Das Vermögen, die normale Körperstellung einzunehmen und zu erhalten, beruht auf dem Zusammenwirken der folgenden Stellreflexe: a) Labyrinthstellreflexe auf den Kopf. Sie sind am besten zu untersuchen, wenn das Tier frei in der Luft gehalten wird. Infolge von Labyrintherregungen wird der Kopf aus jeder beliebigen Lage nach der Normalstellung hin bewegt. Man kann dann den Körper um den im Raume feststehenden Kopf nach allen Seiten bewegen. Die Labyrınthstellreflexe fehlen nach Exstirpation der Labyrinthe. Ihre Zentren liegen im Mittelhirn. b) Stellreflexe auf den Kopf durch asymmetrische Reizung der sensibelen Körpernerven. Liegt der Körper in asymmetrischer Lage auf dem Boden, so wird durch asym- metrische Erregung der sensibelen Körpernerven reflektorisch eine Drehung des Kopfes zur Normalstellung zustande gebracht. Der Reflex lässt sich aufheben, wenn man den einseitigen Druck der Unterlage durch Auflegen eines beschwerien Brettes auf die obere Körperseite kompensiert. Der Reflex ist auch beim labyrinthlosen Tiere vorhanden. Seine Zentren liegen im Mittelhirn. 0) Halsstellreflexe. Sobald der Kopf in der Normal- stellung steht, der Körper aber noch nicht, so wird durch die abnorme Haltung (Drehung, Streckung, Beugung) des Halses ein Reflex ausgelöst, durch den der kaudal gelegene Teil der Wirbel- säule in die richtige und symmetrische Stellung zum Kopfe gebracht wird. Der Reflex setzt sich von vorne nach hinten längs der Wirbel- säule fort. Er ist auch beim labyrinthlosen Tiere vorhanden. Seine Zentren reichen vom Mittelhirn bis in die Brückengegend. d) Stellreflexe auf den Körper durch asymmetrische Reizung der sensibelen Körpernerven. Auch wenn der 33 * 488 R. Magnus: Kopf sich nicht in der Normalstellung befindet, kann der Körper durch einen Reflex, der durch asymmetrische Reizung der sensibelen Körpernerven ausgelöst wird, doch richtig gestellt worden. Der Reflex kann aufgehoben werden, wenn der asymmetrische Druck der Unterlage durch Auflegen eines beschwerten Brettes kompensiert wird. Er ist auch beim labyrinthlosen Tiere vorhanden. Seine Zentren liegen im Mittelhirn. e) Optische Reize spielen beim Zwischenhirn- und Mittel- hirnkaninchen keine Rolle als Stellreize. f) Die Drehreaktionen von den Labyrinthen auf Hals und Körper sind für die Aufrechterhaltung des Körpergleichgewichts nur von untergeordneter Bedeutung. 8. Das Verhalten labyrinthloser Tiere im Wasser zeigt, dass mit den soeben genannten die wesentlichen Stellreflexe er- schöpft sind. 9. Die Stellfunktion ist stets doppelt gesichert. Als Reize dienen: a) Labyrintherregungen, b) asymmetrische Erregung der sensibelen Körpernerven. Die Normalstellung des Rumpfes wird veranlasst: a) durch Halsstellreflex, wenn der Kopf zuerst die Normalstellung gewonnen hat; b) direkt durch asymmetrische Er- regung der sensibelen Körpernerven. Die Wirkung der asym- metrischen Erregung der sensibelen Körpernerven äussert sich: a) auf den Kopf, b) auf den Körper. 10. Im Mittelhirn liegt ein Apparat, der die Spannung der Halsmuskeln regelt und dadurch den Kopf in die Normalstellung bringt und darin erhält. Afferente Erregungen hierfür werden ge- liefert: a) von den Labyrinthen, b) von den sensibelen Körpernerven. 11. In der Luft ohne berührung mit dem Boden ist das Zwischenhirn- und Mittelhirnkaninchen ausschliesslich auf die La- byrinthstellreflexe auf den Kopf mit ansschliessenden Halsstellreflexen angewiesen. 12. Durch die Wirksamkeit der Stellreflexe und durch das Fehlen der Enthirnungsstarre würd beim Mittelhirntier die Reaktions- weise des dezerebrierten Tieres verändert und kompliziert. 13. Es liessen sich Beispiele auffinden, dass beim Zwischen- hirn- und Mittelhirntier Schaltungen eine bedeutende Rolle spielen, durch. die je nach den äusseren Bedingungen ein und derselbe sensıbele Reiz verschiedenen motorischen Zentren zugeleitet werden Beiträge zum Problem der Körperstellung. 1. 489 kann. Auf diese Weise können beliebige Reize, welche gewöhnlich nicht als Stellreize wirken, Stellreaktionen auslösen. 14. Das Thalamus- oder Zwischenhirnkaninchen zeigt: Würmeregulation, Pupillenreaktion und Lidkneifen auf Be- lichtung , keine deutlichen Allgemeinreaktionen auf optische Reize, keine propriozepliven Allgemeinreflexe von den Augenmuskeln aus, gute Augenbewegungen, Lidreflex, verschiedene Reaktionen auf Schall- reize, Fress-, Kau- und Schluckreflexe, pseudoaffektive Reflexe, keine Enthirnungsstarre, sondern „normale“ Tonusverteilung zwischen Beugern und Streckern, keine Spontanbewegungen, normalen Sitz, Einnehmen der Normalstellung aus allen abnormen Körperlagen, Erhaltung des Gleichgewichtes auch beim Laufen und Springen, alle Stellreflexe, die tonischen Hals- und Labyrinthreflece auf Hals- und Gliedermuskeln, Sprungreflex, Labyrinthdrehreaktionen auf Kopf und Augen, kompensatorische Augenstellungen. 15. Das Thalamuskaninchen mit durchtrennten optischen Bahnen zeigt ausser fehlender Lidkneifreaktion auf Belichtung und Pupillen- reaktion genau dasselbe Verhalten. 16. Beim Thalamuskaninchen beteiligen sich ausser dem Riech- nerven alle Hirnnerven an den Reflexen. 17. Labyrinthlose Thalamuskaninchen zeigen ungefähr dasselbe allgemeine Verhalten wie die gewöhnlichen Thalamustiere (keine Enthirnungsstarre, Fähigkeit, auf dem Boden die Normal- stellung einzunehmen und zu erhalten). Nur fehlen ihnen alle Labyrinthreflexe und damit auch die Labyrinthstellreflexe. Daher können sie in der Luft die Normalstellung nicht mehr gewinnen. 18. Dem Vierhügel- oder Mittelhirnkaninchen fehlen (im Vergleich mit dem Thalamuskaninchen): die Wärmeregulation und die optischen Reflexe (Pupillenreaktion, Lidkneifen auf Be- Iichtung). Sonst aber verhält es sich wie das Thalamustier. Es zeigt also: gute Augenbewegungen, Lidreflex, Schallreaktionen, Kau- reflex, pseudoafjektive Reflexe, keine Enthirnungsstarre, sondern „normale“ Tonusverteilung zwischen Beugern und Streckern, keine Spontanbewegungen, normalen Sitz, Einnehmen der Normalstellung aus allen abnormen Körperlagen, Erhaltung des Gleichgewichtes auch beim Laufen und Springen, alle Stellreflexe, die tonischen Hals- und Labyrinthreflexe auf Hals- und Gliedermuskeln, Sprungreflex, Labyrinthdrehreaktionen auf Kopf und Augen, kompensatorische Augenstellungen. 490 R. Magnus: Beiträge zum Problem der Körperstellung. 1. 19. Das dezerebrierte Tier zeigt: Enthirnungsstarre (schon nach Fortnahme des vorderen Teiles des Mittelhirnes);, tonische Hals- und Labyrinthreflexe (Zentren für die Labyrinthreflexe liegen kaudal vom Eintritt: der Octavi, Zentren für die Halsreflexe im oberen Halsmark; beide Reflexe nach Kleinhirnexstirpation jbei der Katze] noch unverändert erhalten); Sprungreflex (das Tier kann aber wegen des Fehlens der Stellreflexe nicht springen); Labyrinth- direhreaktionen: a) auf die Augen (noch beim Kleinhirn- Brückentier mil erhaltenen hinteren Augenmuskelkernen), b) auf den Hals (noch beim Kleinhirn-Oblongatatier); Kaureflee (noch beim Kleinhirn- Oblongatatier). — Das dezerebrierte Tier kann dagegen die Normalstellung nicht mehr aktiv aufrechterhalten, kann sich aus abnormen Lagen nicht aufsetzen, kann nicht laufen und springen (trotz vorhandener Lauf- und Sprungbewegungen und trotz Enthirnungsstarre). Der Grund hierfür liegt im Fehlen aller Stellreflexe, wie im einzelnen bewiesen werden konnte (der Halsstellreflex erlischt erst vollständig beim Fort- nehmen des vorderen Teiles der Brücke). 20. Man kann unter Berücksichliygung der auslösenden Bere und der anatomischen Lage der Zentren nunmehr die verschiedenen Labyrinthreflexe in folgender Weise auseinanderlegen: a) Drehreaktionen, ausgelöst durch Winkelbeschleunigungen : a) auf den Kopf (Hals) (Zentren hinter der brücke, sind noch beim Kleinhirn-Oblongatatier auslösbar) ; ß) auf die Augen (Zentren reichen bis zu den Augen- muskelkernen, von denen der kaudale Teil für das Auf- treten von Abduzensreaktionen beim Brückentier genügt). b) Reflexe der Lage: e) Tonische Labyrinthreflexe auf die Körper- muskeln (Zentren kaudal von der Eintrittsebene der Octavi. Kleinhirn kann fehlen). 8) Labyrinthstellreflexe (Zentren im Mittelhirn). y) Kompensatorische Augenstellungen. (Vor der Eintrittsebene der Octavi muss noch die Gegend der Augenmuskelkerne erhalten. sein. Ob auch noch andere Mittelhirnteile, ist fraglich.) (Die durch Progressivbewegungen ausgelösten Tabyranihreflere sind hier noch ausser Betrachtung gelassen.) 491 (Aus dem pathologischen Institut der Universität München.) -Anoxybiotische Vorgänge im Muskel. Kohlensäureentbindung und Wärmebildung als Begleiterscheinungen eines Neutralisationsprozesses im arbeitenden und überlebenden Muskel. Von Dr. Leonhard Wacker. (Mit 2 Textfiguren.) Wenn wir.uns die Frage vorlegen, ob der Muskel seinen Energie- bedarf vorzugsweise durch anoxybiotische Prozesse deckt, oder ob in demselben die Oxybiose vorwiegt, so spielt naturgemäss die Her- kunft der im Muskel nachgewiesenen freien Kohlensäure, dem End- produkt aller organischen Verbennungsprozesse, eine hervorragende Rolle. Die Sauerstoffaufnahme des arbeitenden Muskels, der erhöhte Kohlensäuregehalt der Atmungsgase und der erwähnte Gehalt des Muskels an freier Kohlensäure müssen den Gedanken nahelegen, dass die wesentlichste Energiequelle in der totalen Verbrennung hochmolekularer Atomkomplexe im Muskel selbst gesucht werden muss. Zu dieser Annahme zwingt uns fernerhin die rechnerisch einwandfrei festzustellende Tatsache, dass bei dem anoxybiotischen Abbau des Glykogens zur Milchsäure nur 4,1 °/o der gesamten poten- tiellen Energie dieses Polysaccharids !) verwertet werden können. Selbst wenn wir noch die Neutralisationswärme der Milchsäure hinzunehmen, liessen sich auf anoxybiotischem Wege im allergünstigsten Falle nicht mehr als 8,1°/o für die Arbeitsleistung herausrechnen, während man doch in Wirklichkeit mit einem maximalen Wirkungsgrad der Muskelarbeit von 35°/o rechnen darf. Ganz anders gestalten sich die Verhältnisse natürlich, wenn der Organismus befähigt sein sollte, die bei der Anoxybiose an-- 1) Vgl. dazu L. Wacker, Zur Kenntnis der Totenstarre und der physio- logischen Vorgänge im Muskel.. - Münchener med. Wochenschr. Bd. 62 Nr. 26 und 27 S. 874 und 913. 1915. . N 492 Leonhard Wacker: fallende Milchsäure wiederum teilweise zu Kohle- hydrat zu regenerieren. C.Neuberg und OÖ. Langstein!) betonten bereits die Möglichkeit der Glykogenbildung aus Milchsäure beim Kaninchen. Ein mit Alanin gefüttertes Hungertier baute das Alanin zu Milchsäure ab und wandelte dieselbe in der Leber teil- weise in Glykogen um. Der direkte Beweis des Überganges von Milchsäure in Kohlehydrat durch Vermehrung des abgeschiedenen Harnzuckers nach Milchsäureaufnahme wurde von verschiedenen Seiten am diabetischen Hund?) oder beim menschlichen Diabetes ®) erbracht. Weiter gelaneten Parnas und Baer‘) zu demselben Erfolge (Glykogenbildung) beim Durchbluten von Schildkrötenleber mit d-Milchsäure. Bei diesem reversiblen Prozess würde ein Teil der mit der Muskeltätigkeit verbundenen Wärmeproduktion, wenn auch nicht im Muskel selbst, so doch in der Leber, wiederum zu dem endothermisch verlaufenden Aufbau des Kohlehydrats Verwendung finden, anderer- seits könnte durch die Regeneration die Nutzleistung für die Muskel- arbeit wesentlich in die Höhe gehen. Die Steigerung des Wirkungs- erades müsste im Verhältnis stehen zur Menge des rückgebildeten Kohlehydrats. Je grösser die verrichtete Arbeit ist, desto mehr milchsaures Natron würde durch die Anoxybiose anfallen und ein desto grösserer Prozentsatz des Natriumlaktats nach dem Prinzipe der Massenwirkung zu Kohlehydrat regeneriert werden. Der überwiegende Teil der bei der anoxybiotischen Glykogen- spaltung in das Blut übergehenden Milchsäure?) könnte trotzdem 1) ©. Neuberg und ©. Langstein, Ein Fall von Desamidierung im Tierkörper usw. Engelmann’s Arch. f. (Anat. u.) Physiol. 1903 S. 514. 2) Mandel und Lusk, Americ. Journ. of Physiol. vol. 16 p. 129. 1906. Zentralbl. f. Physiol. Bd. 19 S. 1022. 1905. — Embden und Salomon, Hof- mann’s Beitr. Bd. 6 S. 63.. 1906. 3) v. Noorden’s Handb. d. Pathol. d. Stoffwechsel, 2. Aufl. Bd. 2 S. 38. — v. Noorden und Embden, Zentralbl. f. d. ges. Physiol. u. Pathol. d. Stoff- wechsels Bd. 1 S. 1. 1906. 4) Parnas und Baer, Biochem. Zeitschr. Bd. 41 S. 386. 1912. 5) Salomon, Milchsäure im Blute. Virchow’s Arch. Bd. 113 S. 356. 1883. — Gaglio, Milchsäure des Blutes. Du Bois-Reymond’s Arch. 1886 S. 400. — Irisawa, Milchsäure im Blut und Harn. Zeitschr. f. phys. Chem. Bd. 17 S. 340. 1892. — Berlinerblau, Vorkommen der Milchsäure im Blut. Arch. f. exper. Path. u. Pharm, Bd. 23 S. 333. 1889. — A. Fries, Biochem. Zeitschr. Bd. 35 S. 368. 1911. Vgl. auch Biochem. Handlexikon Bd. 1 S. 1067. Anoxybiotische Vorgänge im Muskel. 493 als Quelle der bei der Arbeit immer zu beobachtenden Kohlensäure- vermehrung in den Atmungsgasen und der Wärmebildung angesehen werden. Der respiratorische Quotient würde durch einen vorüber- gehenden, teilweisen Wiederaufbau von Kohlehydrat aus Milehsäure keine Änderung erfahren, weil die Milchsäure prozentisch denselben Sauerstoffgehalt besitzt wie das Kohlehydrat. Viele Erscheinungen der Pathologie wären unserem Verständnis näher gerückt, wenn in der Tat unter physiologischen Verhältnissen bei der Muskelarbeit in der Leber eine teilweise Regeneration des milchsauren Natrons zu Traubenzucker und Glykogen stattfände. So zum Beispiel das Vorkommen von Milchsäure im Harne entleberter Vögel!) und Frösche?). Ferner das Auftreten von Fleischmilehsäure im Harne, meist in ursächlicher Verbindung mit Harnstoffrückgang und Ammoniakvermehrung bei akuter Leberatrophie?), bei Leber- eirrhose *) und myasthenischer Paralyse’). — Eine anoxybiotische Energiequelle‘) bei Muskeltätigkeit müssen wir unter allen Umständen anerkennen, da die Sauerstoffmenge bei maximaler Arbeitsleistung zur vollständigen Verbrennung des Kohlehydrats zu Kohlensäure nicht ausreichen würde. Wenn wir aber die zur Energieproduktion innerhalb des Muskels dienenden Stoffwechselvorgänge, wie Weinland’) und Lesser°), in einen anoxybiotischen und einen oxybiotischen zerlegen und 1) Minkowski, Über den Einfluss der Leberexstirpation auf den Stoff- wechsel. Arch. f. exper. Path. u. Pharm. Bd. 21 S.41. 1886; Bd. 31 S. 214. 1893. 2) Marcuse, Pflüger’s Arch. f. d. ges. Physiol. Bd. 39 S. 425. 1886. — Werther, Pflüger’s Arch. f. d. ges. Physiol. Bd. 46 S. 69. 1889. — Nebel- thau, Tritt beim Kaltblüter nach Ausschaltung der Leber im Harn Fleisch- milchsäure auf? Zeitschr. f. Biol. Bd. 25 S. 123. 1889. 3) Schultzen und Riess, Die akute Phosphorvergiftung und die akute Leberatrophie. Alte Charite-Ann. Bd. 15 S. 1. 1869. 4) Vgl. v Noorden, Handb. d. Path. d. Stoffwechsels, 2. Aufl. Bd. 1 S. 798 und 809 und Bd. 2 S. 839. 5) Max Kauffmann, Stoffwechseluntersuchungen bei einem Fall von myasthenischer Paralyse. Monatsschr. f. Psych. u. Neurol. Bd. 20 S. 299. 1906. 6) N. Zuntz, Bedeutung der Anoxybiose bei höheren Wirbeltieren. Oppenheimer’s Handb. d. Biochem. Bd. 4 H. i S. 846. 1911; ferner „Muskel- arbeit ohne Sauerstoff“ S. 837. — Ernst Weinland, Stoffwechsel der Wirbel- losen. Oppenheimer’s Handb. d. Biochem. Bd. 4 H.2 S. 458. 1911. 7) Ernst Weinland, Zeitschr. f. Biol. Bd. 42 S. 55. 1901. 8) E. J. Lesser, Die Wärmeabgabe der Frösche in Luft und sauerstoff- freiem Medium. Zeitschr. f. Biol. Bd. 51 S. 287. 1908. 494 Leonhard Wacker: uns den :oxybiotischen Teil, als nicht zur Arbeitsleistung 'erforder- lich, ausserhalb des Muskels abspielend denken in der Weise, dass das dureh Kohlehydratspaltung angefallene Natriumlaktat durch den Blutstrom (a. a. O.) fortgeführt wird, so müssen wir uns fragen, wo der nicht zu Kohlehydrat regenerierte, wärmespendende Teil zur Oxydation gelangt. In einer früheren Mitteilung (a. a. O.) habe ich den Standpunkt vertreten, dass die Lipochrome (Luteine). des Blut- plasmas, ihrem chemischen Verhalten nach zu urteilen, sauerstoff- übertragende Eigenschaften besitzen. Die von verschiedenen Seiten vertretene Anschauung, dass im Plasma durch die Lungenventilation und bei Gegenwart der sauerstofführenden Erytrocythen Oxydations- prozesse!) stattfinden , ist demnach nicht unwahrscheinlich. Wir wissen schon lange durch Liebig?) und andere Forscher ®), dass pflanzen- saure Alkalien im Organismus zu Alkalibicarbonat verbrannt werden. (Bei dieser Gelegenheit wurde nachgewiesen, dass mehr ais drei Viertel des gesamten Nährstoffbedarfs ruhender Tiere dureh Milehsäure be- stritten werden können.) Man kann demnach ‘von einem Kreis- lauf des Alkalis sprechen. Das Alkali beladet sich in den Muskeln mit Milchsäure, vermittelt die Verbrennung derselben zu Kohlensäure und kehrt als Alkalibiearbonat in die Muskeln zurück. Diese Kohlensäure des Blutes wird durch den Eintritt der Milch- säure gewissermaassen aufgelockert und ist nicht mehr so fest chemisch gebunden. Der erhöhte Sauerstoffbedarf bei Muskelarbeit kann auf diesen erhöhten Oxydationsprozess im Blute zurückgeführt werden, anderer- seits wird der Muskel bei der Tätigkeit auch einen grösseren Er- haltungsumsatz, wozu Sauerstoff erforderlich ist, haben. Man wird zwischen einem Muskelenergiestoffwechsel und einem Muskelernährungsstoffwechsel. unterscheiden müssen. Bereits Hermann?) und nach ihm viele andere wiesen darauf hin, dass die Kohlensäureabgabe im Muskel nicht‘ in Einklang zu bringen ist mit der Menge des aufgenommenen Sauerstoffs, und dass der vom Ds: Ludwig, zitiert nach Löwy in Oppenheimer’s Handb. d. Biochem. Bd. 4 H.1 8.9. R 2) Liebig, Ann. d. Chem. u. Pharm. Bd. 50 8. 161. 1872. — v. Mering und Zuntz, Pflüger’s Arch. f..d. ges. Physiol. Bd. 328. 337. 1883. — Araki, Zeitschr. f. phys. Chemie Bd. 19 S. 455. 1894. : 3) L. Hermann, Untersuchungen über den Stoffwechsel der Muskeln. Berlin 1867. Anoxybiotische Vorgänge im Muskel. 495 Körper getrennte Muskel sogar im sauerstofffreien Medium Kohlen- säure entwickelt. Um die experimentellen Befunde einigermaassen mit der Theorie in Einklang zu bringen, hat man von Sauer- stoffspeicherung') gesprochen, eine Annahme, welche sich ebenfalls als unsicher erwies. Fletscher?) nahm zweierlei Quellen für die Herkunft der Kohlensäure an. Einerseits sollte sie durch die Verbrennung leicht oxydabler Substanzen’ im Muskel entstehen andererseits durch Spaltung einer leicht zersetzlichen Substanz in Freiheit gesetzt werden, während Kemp°) die Anschauung vertrat, dass die vermehrte Kohlensäureproduktion bei der Muskelarbeit eher auf Oxydation von Stoffen des Blutplasmas zurückzuführen sei als auf den Abbau hochmolekularer Verbindungen des Sarkoplasmas, und weiter sind Bohr und Henriques*) der Meinung, dass ein sehr erheblicher Bruchteil, bei angestrengter Muskelarbeit bis zu zwei Drittel, der gesamten Oxydationsprozesse in den Lungen ver- laufen könne. Wie man aus diesen wenigen Angaben der umfangreichen Literatur ersieht, deuten die meisten Beobachtungen (indirekt) auf eine doppelte Quelle der Kohlensäure bei der Muskelarbeit hin. In den folgenden Ausführungen glaube ich den Beweis für die Herkunft der im Muskel ohne Sauerstoffbeteiligung auftretenden Kohlensäure führen zu können. Eine kurze Überlegung über den Chemismus des Muskelenergiestoffwechsels wird schon, ohne ex- perimentelle Belege, zur Überzeugung führen müssen, dass eine Neu- tralisation der Abbauprodukte des Kohlehydrats durch Alkalien des Blutes bzw. Muskels stattfinden muss. Die durch Abbau des Glykogens entstehende Milchsäure kann nur als Säure auftreten, und selbst allenfallsige Zwischenprodukte des Abbaues können an diesem Vorgange nichts ändern: 1) E. J. Lesser, a. a. Ö. — P. G. Unna, Berliner klin. Wochenschr. 1913 Nr. 13. — W. Oelze, Arch. f. mikrosk. Anat. (1) Bd. 84 S. 91. 1914. 2) Fletscher, The influence of oxygen upon survival respiration of muscle. Journ. of Physiol. vol. 28 p. 474. 1913. 3) G. J. Kemp, Atmung überlebender Muskel und ihre Beziehung zum Stoffwechsel. Physiologen-Kongress Heidelberg 1907. — Vgl. dazu auch v. Fürth, Probleme der physiol. und pathol. Chemie Bd. 2 S. 561 Fussnote 2. 4) Bohr und Henriques, Arch. de Physiol. norm. et pathol. (5) t. 9 p- 459. — Vgl. dazu N. Zuntz in Öppenheimer’s Handb. d. Biochem. Bü. 4 EL 178.879: 495 Leonhard Wacker: Folgendes Formelbild veranschaulicht den Prozess: (C,H100;)9 + 9 Hz0 = 18 CH,CHOHCOOH Glykogen !) = Milechsäure Diese freie Milchsäure trifft im Muskel auf alkalische Salze, vor allem Bicarbonate, wodurch unter allen Umständen eine Neutralisation erfolgen muss. Wie aus obigem ersichtlich, entstehen aus einem Molekül Glykogen 13 Moleküle Milchsäure. Die Menge der durch Neutralisation dieser Säure durch Bicarbonat freiwerdende Kohlen- säure ist nicht gering, sie kommt einem Dritteil des im abgebauten Glykogen enthaltenen Kohlenstoffes gleich, wie sich aus folgender Darstellung ergibt: 18 CH,CHOHCOOH -+ 18 Na HCO, — 18 CH,CHOHCOO Na 21800; + 18H,0. Im Ruhezustand befindet sich im Muskel gewissermaassen ein Alkaleszenzdepot. Dasselbe ist seiner Menge nach ziemlich konstant. In 100 g des Hunde- und Kaninchenmuskels ist der berechnete Alkaleszenzvorrat (die Verwendung der angeführten Indikatoren vor- ausgesetzt) hinreichend, um im Maximum 0,6—0,7 g Milchsäure zu neutralisieren (Münchener med. Wochenschrift 1915, S. 878.). Bei sofortiger Untersuchung des Muskeis eines getöteten Tieres findet man aber, dass bereits die Hälfte dieses Alkalivorrates als saueres Salz zugegen ist, daher kann man die Muskelreaktion auch als amphoter bezeichnen. Die Alkaleszenz des arbeitenden Muskels ergänzt sich zweifellos durch das Bicarbonat des Blutes, da durch die fortwährende Milchsäureproduktion schliesslich eine Erschöpfung des Depots erfolgen müsste, während andererseits die Alkaleszenz des Blutes durch Verbrennung des Natriumlaktates zu Bicarbonat aufrecht erhalten wird. Soweit die Gesamtheit der alkalischen Substanzen ?) überhaupt bekannt ist, handelt es sich um: Dialkaliphosphat vom Typus M&HPO, (Me=K oder Na). Alkalibiearbonat: MeHCO, und 1) Zur Molekulargrösse des Glykogens vgl. L. Wacker, Zeitschr. f. physiol. Chemie Bd. 71 S. 149. 1911. 2) G. Bunge, Zeitschr. f. physiol. Chemie Bd. 9 S. 60. 1885. — Röh- mann, Über die Reaktion der quergestreiften Muskeln. Pflüger’s Arch. f. d. ges. Physiol. Bd. 50 S. 84. 1891. — Katz, Die mineralischen Bestandteile des Muskelfleisches. Pflüger’s Arch. f. d. ges. Physiol. Bd. 63 S. 1. 1896. Anoxybiotische Vorgänge im Muskel. 497 Alkalialbuminate, d.h. Salze von Proteinen, welche wahrscheinlich den Globulinen angehören. Kaliumphosphate sind in grossen Mengen vorhanden, es scheint ihnen eine besondere Rolle im Kohlensäurestoffwechsel zuzukommen. Das Natriumbicarbonat ist höchstwahrscheinlich jene in der Literatur mehrfach erwähnte, leicht zersetzliche, Kohlensäure abspaltende, Sub- stanz, denn sie gibt beim Erwärmen für sich, beim Kochen mit Wasser und beim Zusammentreffen mit Milchsäure CO, ab. Die im Muskel nachgewiesene freie Kohlensäure ist also höchstwahrscheinlich auf die Neutralisation des Natriumbicarbonates durch die Milchsäure zu- rückzuführen. Selbstverständlich bedarf es hierzu keiner Sauer- stoffzufuhr. Auf diese Weise wird die Hermann’sche Beobachtung (a. a. OÖ.) über die Kohlensäureprodnktion des ausgeschnittenen Muskels ohne Sauerstoffzufuhr als Folge postmortaler Säurebildung vollkommen klar. Wenn ferner Stintzing!) bei Besprechung der Eigenschaften der CO, produzierenden Substanz des Muskels sagt, diese würde bei Arbeit verbraucht, und stark ermüdete Muskeln könnten weniger CO, erzeugen, so erklärt sich dies sofort durch die Erschöpfung des Alkaleszenzdepots und gibt uns ferner Anhalts- punkte dafür, wie wir uns den Begriff „Müdigkeit“ (Erschöpfung des Alkaleszenzdepots, infolge starker Milchsäurebildung durch fort- gesetzten Glykogenabbau) vorzustellen haben. Wenn somit im arbeitenden oder absterbenden Muskel eine Milchsäureproduktion stattfindet, so ist ein gleichzeitiges Auftreten von Kohlensäure un- vermeidlich, solange das Alkaleszenzdepot nicht völlig erschöpft ist. Extrahiertt man den Muskel mit heissem Wasser, wie dies bei der Analyse geschieht, so entweicht natürlich die Kohlensäure, bzw. das Bicarbonat wird durch anwesende Monophosphate unter CO, Ent- wicklung zerlegt. Ein direkter NachweisdesBicarbonates im Muskelextrakte ist daher unmöglich. Gleichzeitig mit dem Alkalibicarbonat befinden sich im Muskel als Bestandteile des Alkaleszenzdepots noch Dialkaliphosphat und Alkalialbuminat. Treffen diese beiden Substanzen mit der Milchsäure zusammen, so spielen sich die folgenden Reaktionen ab: 1) Stintzing, zitiert nach Landois, Lehrb. d. Physiol. d. Menschen, 8. Aufl., S. 580. 1893. 498 Leonhard Wacker: Me,HPO, + CH,CHOHCOOH — MeH;PO, + CH,CHOHCOONa!) Natr. Albuminat + CH,CHOHCOOH = Albumin + CH,CHOHCOONa. Nach der Neutralisation enthält also der Muskel ausser freier Kohlensäure noch Monoalkaliphosphat?) und saures Protein (Albumin). 1) Bei höherer Kohlensäurespannung kann aber auch die Kohlensäure ein ähnliches Verhalten zeigen wie die Milchsäure, es ist dies also ein mit geringer Wärmetönung verlaufender, reversibler Prozess. KNaHPO, + C0;, + H50 =KH;PO, + NaHCO,, KH,;PO, + NaHCO,; = KNaHPO, + CO; + H;0. Vgl. Abderhalden’s Lehrb. d. physiol. Chemie, 3. Aufl., $: 971 und 972. 2) Es ist interessant, sich einen Überblick über die Menge des im Muskel vorhandenen Alkaliphosphates und Bicarbonates, das heisst des Alkaleszenz- depots, zu verschaffen, weil man daraus ersiebt, bis zu welchem Grad diese Substanzen bei der Neutralisation beteiligt sein können. Nach Stintzing (a. a. O.) enthält der Muskel 15—18 Vol.-Proz. teils ahsorbierte, teils chemisch gebundene Kohlensäure. Unter der Annahme, dass das spez. Gewicht des Muskels 1,05 beträgt und 1 Liter Kohlensäure 1,965 g wiegt, berechnen sich auf 100 g Muskel 0,0276—0,0333 & CO,, entsprechend 0,052—0,065 g NaH,00,. Zur Neutralisation dieses Bicarbonats sind 0,056—0,068 g :Milchsäure (im Mittel 0,062 g) erforderlich. Katz (a. a. O. S. 10) fand in 1000 Teilen Hundemuskel 3,46 g, in 1000 Teilen Kaninchenmuskel 4,68 °/o Ps0, in Wasser löslicher Form, das heisst als Alkaliphosphat. Nehmen. wir an, diese Phosphate seien in der Muskale zur Hälfte als Monokaliumphosphat (M -G. 136) und zur anderen Hälfte als Dikaliumphosphat (M.-G. 174), so entspricht dies einem Durchschnittsmolekular- gewicht von 155. 2 Moleküle vom Molekulargewicht 155 (=310) entsprechen aber 1 Molekül PsV, (M.-G. 142). Daraus berechnet sich für den Hundemuskel. . . . . 0,7500 Mono- und Dikaliumphosphat, „ Kaninchenmüskel . .. 1,02% , 2; au; Zur Überführung von 1 Molekül Dikaliumphosphat in Monokaliumphosphat benötigt man 1 Molekül Milchsäure (M.-G. 90). Unter Zugrundelegung des Molkulargewichts 155 entspricht dies beim Hundemuskel. . . . . 0,43 %0 „. Kaninchenmuskel . . . 0,59 90 Addiert man zu diesen Milchsäurewerten noch die dem Bicarbonat entsprechende Milchsäure, so findet man für 100 g des Hundemuskels . . . . 0,43 + 0,06 = 0,49 g »„ Kaninchenmuskels. . 0,59 + 0,06 = 0,65 g Vergleicht man diese Zahlen mit den durch Titration der Azidität und Alkaleszenz gefundenen und auf Milchsäure berechneten der Tabelle IV (Münchener med. Wochenschr. 8. 876 und 877), so findet man, dass sie beinahe übereinstimmen (Hund 0,56 und Kaninchen 0,65). Es gewinnt also den Anschein, als ob die Alkaleszenz im Muskel hauptsächlich aus Dikaliumphosphat und Natrium- bicarbonat bestände und dem Alkal.albuminat nur eine untergeordnete Be- deutung zukäme. N Milchsäure. \ Milchsäure. Anoxybiotische Vorgänge im Muskel. 499 Beim Auskochen bleibt das Monoalkaliphosphat, im Gegensatz zur Kohlensäure, in Lösung. Eine vollkommene Neutralisation kann dieser Vorgang nicht genannt werden. Die Endprodukte sind keine Neutral- salze, sondern saure Salze, die gegen empfindliche Indikatoren als Säuren reagieren. Der Anstieg dieser sauren Bestandteile des Muskelsim Verhältnis zum Rückgang der Alkaleszenz desselben (8. 500, Fie. 1) ist der sicherste Beweis für einen Neutralisationsprozess. Wie schon früher erwähnt (Münchener med. Wochenschrift. a. a. O.), ist ein solcher Prozess dadurch charakterisiert, dass die Summe von Aeidität S und Al- kaleszenz A gleich einer konstanten Zahl C ist (S+A=Ö). Für die Kohlensäurentbindung im Muskel als Folgeerscheinung eines Neutralisationsprozesses des Natriumbicarbonats durch die Milchsäure spricht noch die folgende Beobachtung Fletschers!), welche genannter Autor aber nicht in diesem Sinne gedeutet hat: Er untersuchte den Einfluss von Milchsäurelösungen von 0,05 — 5 °/o Gehalt in physiologischer Kochsalzlösung auf die Kohlensäureentbindung im überlebenden Muskel und fand, dass zunehmende Säurestärke mehr Kohlensäure in Freiheit setzt als schwächere Säure, dass aber die Gesamt-Kohlensäureproduktion beschränkt ist. In derselben Mitteilung Fletscher’s (a. a. ©.) findet sich eine graphische Dar- stellung über die Menge der abgegebenen Kohlensäure im Muskel (Fig. 2). Vergleichen wir diese Kurve mit der Kurve (Fig. 1) der Alkaleszenz-Abnahme meiner früheren Mitteilung (a. a. O.), so finden wir eine Analogie im Verlaufe, die einen Rückschluss auf die chemischen Vorgänge gestattet. Es fällt zunächst einmal die Übereinstimmung der Alkaleszenz- abnahme mit der Menge der Kohlensäureproduktion während der ersten Periode vor Eintritt der Totenstarre in die Augen. Dies ist der Abschnitt der grössten Säurebildung und daher auch der ver- mehrten Kohlensäureentbindung. Späterhin verflachen die Kurven, die Alkaleszenz verschwindet fast ganz, und dementsprechend hat die Kohlensäureentwicklung aufgehört. Mit diesem Prozess der Neutralisation wird der Kohlensäuregehalt des Blutes natürlich nicht vermehrt, wohl aber wird die Bindung der Kohleusäure eiue lockerere, so dass sie in den Lungen leichter abgegeben bzw. bei der Blutgas- 1) Fletscher, The survival respiration of muscle. Journ. of Physiol. vol. 23 p. 54. 1898. leonhard Wacker 500 N al1e]susloL 12Pp Zunso7] n \o je" | "S[IIONSNW uUSPusgaJIaqn SIp Fqesgqwaıngsua]yoy Ss 11 uapungg ur Nez 3wyeuqy -ZU39sI[eNIV awuyeunz-9lneS eImTsuofyoy Aep 9Jue uopungg ur yloz N a - ° JL1EISU2JOL J5p pınyurgq + + un ip} SINESTOLLJL JU9ZOAT Anoxybiotische Vorgänge im Muskel. 501 analyse leichter auspumpbar geworden ist. In diesem Zusammenhang wird uns leichter verständlich wie bei einem Respirationsversuche schon das Heben eines Armes im Kohlensäuregehalt!) der Atmungs- luft einen Ausschlag geben kann. Eine so rasche Verbrennung von Kohlehydrat zu Kohlensäure wäre unerklärlich, da man doch annimmt, dass der Abbau stufenweise geschieht. Weiter ergeben sich aus dieser Betrachtungsweise der Vorgänge im Muskel zwei Wege für eine mechanische Kraftüber- tragung der freiwerdenden Energie des abgebauten Kohlehydrats. Die eine Art der Kraftleistung in den Muskel- fasern kann geschehen durch den Abbau eines kolloidalen Glykogen- moleküls in kristalloide Milehsäuremoleküle durch Steigerung des osmotischen Druckes innerhalb der Muskelelemente. Die weitere Kraftquelle liefert der anoxybiotische Neutralisations- prozess der Milchsäure durch das Bicarbonat in Form frei- werdender Kohlensäure. Denken wir uns den Sitz des Glykogenabbaus mit Milchsäure- bildung innerhalb der Muskelelemente (Muskelkästchen) und den Neutralisationsprozess im Sarkoplasma sich vollziehend, so wird zunächst in den Muskelkästehen gegenüber dem Sarkoplasma ein Überdruck durch die Milchsäure entstehen und weiter durch Kohlen- säureentbindung ein solcher innerhalb des Sarkolemmes gegenüber dem Perimysium bzw. den Blut- und Lymphgefässen. Die Wege der Kraftübertragung wären dadurch gegeben und würden sich auch, soweit sich dies übersehen lässt, mit dem histologischen Aufvau des Muskels in Einklang befinden. Die Auspützung der potentiellen Energie des Kohlehydrats für Arbeitsleistung würde demnach teils chemo- dynamisch in oben erwähnter Weise, teils thermodynamisch, indirekt durch Ausnutzung der Verbrennungswärme des milehsauren Natrons zur Regeneration eines anderen Teils des Laktates zu Glykogen, geschehen. Auf den „modus operandi“ der Kraftübertragung im Muskel soll hier nicht weiter eingegangen werden, doch sei darauf hingewiesen, dass bereits wertvolle Unterlagen?) existieren, welche uns das Ver- ständnis erleichtern. 1) Vgl. dazu A. Loewy in Oppenheimer’s Handb. d. Biochem. Bd. 4 H.1 S. 245. 2) Reuleaux, Die praktischen Beziehungen der Kinematik zu Geometrie und Mechanik 8. 772 u. ff. Braunschweig 1900. — W. Mac Dougall, A neo, Pflüger’s Archiv für Physiologie. Bd. 163. 34 502 Leonhard Wacker: Es liegt in der Natur eines Neutralisationsvorganges, dass die Kohlensäure sehr rasch geliefert werden kann, was für plötzliche Arbeitsleistung wichtig wäre, doch setzt dies das Vorhandensein von Milchsäure oder anderen Säuren im gegebenen Momente voraus. Wie wir gesehen haben (Münchner med. Wochenschr. 1915 S. 876 und 877), sind im Muskel kurz nach dem Tode und dem Aufhören der Zirkulation etwa gleich viele saure wie alkalische Bestandteile vorhanden, und es hat den Anschein, als ob sogar in vivo im Ruhe- zustand die Azidität nicht vollkommen verschwunden ist. Wenn diese Annahme richtig ist, so wären hier schon die Bedingungen für die Kohlensäureentwicklung gegeben. Über den Chemismus der Milehsäurebildung wissen wir wenig. Einige Untersuchungen behandeln das Verschwinden der Milchsäure bei Sauerstoffüberschuss und das Auftreten derselben bei Sauerstoff- mangel?). Diese Befunde sind aber widerlegt durch andere, wonach auch bei Gegenwart von Sauerstoff (im arteriellisierten Blute) im Muskel?) Milchsäure entsteht. Im Muskelpressafte, also nicht im lebenden oder absterbenden Muskel, hat Embden ein Zwischen- produkt des Kohlehydratabbaues, welches er als Laktaeidogen *) be- zeichnet hat, nachgewiesen. Letzteres kann rasch durch Spaltung Milchsäure produzieren. Es liegen hier noch wenig geklärte Ver- hältnisse vor, aber die Möglichkeit einer raschen Milchsäure- und Kohlensäureproduktion besteht. Die Geschwindigkeit der Arbeitsleistung mancher Muskel, so zum Beispiel von Insektenflügeln, welche rasch arbeitenden Motoren nieht unähnlich sind, kann man sich nicht gut durch fermentativen Abbau von Kohlehydrat und dadurch bedingte Wasserverschiebung und Eiweissquellung hervorgerufen denken. Solche Prozesse erfordern eine gewisse Zeit zur Abwicklung. Die Insektenflügelmuskel sind auch anders gebaut wie die gewöhnlichen, quergestreiften Muskel der Säugetiere. Sie besitzen eine ungewöhnlich grosse Sarkoplasma- of muscular contraction. Journ. of Anat. and Physiol. vol. 32 p. 187. 1898. — J. Bernstein, Zur Theorie der Muskelkontraktion. Pflüger’s Arch. f. d. ges. Physiol. Bd. 109 S. 323. 1905. 2) Fletscher and Hopkins, Journ. of Physiol. vol. 35 p. 247. 1907. 3) Rubner, Arch. f. (Anat. u.) Physiol. 1885 S. 38. — v. Frey, Arch. £. (Anat. u.) Physiol. 1885 S. 533. 4) G. Embden, F. Kalberlah und H. Engel, Biochem. Zeitschr. Bd. 45 S.5. 1912. Anoxybiotische Vorgänge im Muskel. 503 masse!) und damit ein grösseres Alkalescenzdepot. Dieses Sarko- plasma ist von zahlreichen feinen Kanälchen durchzogen, die wahr- scheinlich zur Abfuhr der Kohlensäure dienen. Die besprochene Kohlensäureentbindung wird natürlich auch im absterbenden Muskel als Folge der postmortalen Säurebildung statt- finden. Findet die Neutralisation innerhalb der Muskelfasern statt, so wird die Kohlensäure einen Überdruck erzeugen. Neben den anderen Vorgängen wird also der Kohlensäuredruck am Zustandekommen der Totenstarre mitwirken. Jeder Neutralisationsprozess verläuft exother- misch. Nach meiner Berechnung (Münchner med. Wochenschr. 1915 S. 914) beträgt die Neutralisationswärme der (aus Glykogen entstandenen) Milchsäure 3,98°/o der gesamten im Glykogen ge- speicherten potentiellen Energie. Die nach dem Tod eines Tieres zu beobachtende Temperatursteigerung?), welche nach vorangegangenen Muskelkrämpfen besonders hoch ist, dürfte teilweise durch Neutralisationswärme ver- ursacht sein. Die Wärmebildung beim ruhenden wie arbeitenden Muskel wurde häufig auf thermoelektrischem Wege?) (Helm- holtz) gemessen. Heidenhain gelang es, die Steigerung für jede einzelne Zuckung festzustellen, sie betrug 0,001—0,005° C. Obschon ein direkter Vergleich nicht möglich ist, wird es doch von Interesse sein, eine Berechnung anzustellen, welche Wärmemenge bzw. Temperaturerhöhung, in Zentigraden ausgedrückt, auf Konto der Neutralisation zu setzen ist. Als Beispiel mögen wieder die Zahlen von Fig 1 dienen, und zwar soll die Wärme berechnet werden, welche der neutralisierten Milchsäure entspricht, die vom Zeitpunkt des Todes bis zum Eintritt der Totenstarre neugebildet wurde: Die aus dem Alkaleszenzrückgang berechnete Milchsäure beträgt 0,204 g pro 100 g Muskel. Die Wärmeproduktion pro Grammmolekül (d. h. 90 g) Milchsäure beträgt 13700 Cal. (dabei wurde die allenfallsige Dissoziationswärme zur Ionisierung nicht in Abzug ge- bracht). Daraus berechnen sich für 0,204 & Milchsäure 31,0 Cal., 1) Mac Dougall, a. a. O. S. 209. 2) Vgl. Landois, Lehrb. d. Physiol. d. Menschen, 8. Aufl., S. 427. 1893. — Nagel’s Handb. d. Physiol. Bd. 1 S. 576. 1909. 3) Literatur siehe bei v. Frey in Nagel’s Handb. d. Physiol. Bd. 4 S. 482. 1909. 34 * 504 Leonhard Wacker: die über 100 g Muskel verteilt sind oder auf 1 & Muskel 0,31 Cal. (spezifische Wärme des Muskels—1 gesetzt). Da man unter einer (kleinen) Kalorie diejenige Wärmemenge versteht, welche erforderlich ist, um 1 & Wasser um 1° C. in der Temperatur zu erhöhen, so sind 0,31 Cal. erforderlich, um die Tem- peratur von 1 g Muskel um 0,31° C. zu steigern. Nehmen wir an, die spezifische Wärme des quergestreiften Muskels wäre 0,8251), so beträgt der Temperaturanstieg 0,37° C. Vom Zeitpunkt des Tode bis zum Starreeintritt würde sich die Temperatur der Muskulatur der Kaninchenleiche um 0,37° C. er- höhen müssen, wenn keine Verluste an Wärme durch Leitung und Strahlung stattfänden. Wie aus den angeführten Tatsachen ersichtlich, ist das Auf- treten von freier Kohlensäure im Muskel noch kein Beweis für den Abbau des Kohlehydrates zu diesem Endstoffe der Oxydation in demselben. Die durchweg mit experimentellen Belegen gestützten Ausführungen lassen viel- mehr auf einen anoxybiotischen Energiestoffwechsel schliessen. Ein schönes Beispiel für die Möglichkeit eines anoxybiotischen Energiestoffwechsels verdanken wir Weinland’s?) Untersuchungen bei den Askariden und Taenien. Diese Parasiten enthalten bekanntlich sehr viel Glykogen (Askariden bis 34°/o und Taenien bis 47 °/o der Trockeusubstanz). Zur Glykogenbildung steht ihnen im Darm _ des Wirtes reichlich Koblehydrat zur Verfügung. Sie treiben gewisser- maassen Raubbau, denn sie haben nicht nötig, Wärme zu erzeugen und Kohlehydrate zu regenerieren. Aus diesem Grunde brauchen sie die durch Glykogenspaltung entstandene Valeriansäure weder zu neutralisieren, noch zu verbrennen, noch zu regenerieren, sondern können sie direkt an den alkalischen Darm des Wirtes weitergeben. Bemerkenswert ist, dass auch bei diesem Prozess Kohlensäure gebildet wird, obschon die Parasiten möglicherweise sogar noch einen Teil ihres Sauerstoffbedarfes aus dem Kohlehydrat decken. Dieser Vorgang liesse sich, wie folgt, formulieren: (C,H100;) 9= 9 C;H100: + 9 CO, + 90 Glykogen Valeriansäure. 1) J. Rosenthal, zitiert nach Landois, Lehrb. d. Physiol., 8. Aufl., S.406. 2) E. Weinland, a. a. ©. und Stoffwechsel der Wirbellosen in Oppen- heimer’s Handb. d. Biochemie Bd. 4 H. 2 S. 463. Anoxybiotische Vorgänge im Muskel. 505 Fassen wir die Ergebnisse dieser Untersuchung nochmals zusammen: 1. Es besteht die Möglichkeit, dass der Muskel des Säugetiers seinen Energiebedarf vollkommen durch anoxybiotischen Kohle- hydratabbau bis zur Milchsäure bestreitet. 2. Dies ist nur denkbar, wenn im Organismus eine Regeneration der Milchsäure zu Kohlehydrat stattfindet. 3. Experimentell ist die Bildung von Traubenzucker und Glykogen aus Milchsäure bei Tier und Mensch erwiesen. 4. Das Auftreten von Milchsäure im Harne bei Leberinsuffizienz, Lebererkrankung und Leberexstirpation, auch im Zusammenhange mit Myasthenie, spricht für die Beteiligung der Leber an diesem Prozess. 5. Der nicht zu Kohlehydrat regenerierte, grössere Teil der Milchsäure wird, wahrscheinlich im Blut, verbrannt und dient zur Wärmeproduktion. | 6. Die durch Glykogenspaltung im Muskel entstandene Milch- säure wird vor dem Übergang in das Blut von dem vorhandenen Alkali neutralisiert. 7. Da sich unter den alkalischen Substanzen des Muskels (und des Blutes) Alkalibiearbonat befindet, wird im arbeitenden und ab- sterbenden Muskel bei der Neutralisation freie Kohlensäure gebildet. 8. Das Auftreten freier Kohlensäure im Muskel ist daher noch kein Beweis für den Abbau des Kohlehydrats an Ort und Stelle zu diesem Endprodukte der Verbrennung. 9. Zur mechanischen Arbeitsleistung im Muskel ist der osmotische Druck bei der Milchsäurebildung und der Gasdruck bei der Kohlen- säurebildung geeignet. 10. Die Kohlensäureentbindung im absterbenden Muskel, als Folge postmortaler Säurebildung, ist wahrscheinlich an dem Zustande- kommen der Totenstarre beteiligt. ll. Mit jedem Neutralisationsprozess ist eine Wärmeproduktion verbunden. Ein Teil der Wärmebildung im arbeitenden Muskel und der postmortalen Temperatursteigerung ist auf diese Neutralisation zurückführbar. 506 R. H. Kahn: (Aus dem physiologischen Institute der deutschen Universität in Prag.) zur Frage nach der Wirkung des Verschlusses der Koronararterien des Herzens. In einer vor Kurzem in Pflüger’s Archive erschienenen Mit- teilung fasst Hering!) eine Reihe von Umständen zusammen, welche für die Entstehung des Herzflimmerns nach Verschliessung von Koronararterien in Betracht kommen. Unter diesen Umständen, welche er Koeffizienten nennt, wird auch die Funktion des von der verschlossenen Koronararterie versorgten Herzbezirkes erwähnt. Hering kommt zum Schlusse, es lasse sich noch nicht mit Sicher- heit sagen, dass die Örtlichkeit des betroffenen Bezirkes und damit seine Funktion eine wesentliche Rolle spiele. Hering neigt aber doch zu dieser Annahme hin, infolge der Erfahrung, dass die Reiz- bildungsfähigkeit des Reizleitungssystems im allgemeinen um so grösser ist, je näher die heterotope Reizbildungsstelle der nomotopen liege, so dass also das Herzkammerflimmern leichter von den Haupt- abschnitten des Reizleitungssystems ausgehen würde als von seinen Ausläufern oder der übrigen Herzkammermuskulatur. Es müsste also die Verschliessung solcher Äste der Koronargefässe, welche die inneren Teile des Herzens, vor allem das Vorhofs- und Kammer- septum mit Blut versorgen, unter sonst gleichen Umständen be- sonders leicht und rasch Kammerflimmern verursachen. Die von Hering erwähnten Experimente aus der Literatur, sowie seine eigenen Versuche sind zur Stütze dieser Annahme kaum verwendbar, weil von einer auch nur einigermaassen reinen Schädigung des Reiz- 1) H. E. Hering, Über die Koeffizienten, die im Verein mit Koronar- arterienverschluss Herzkammerflimmern bewirken. Pflüger’s Arch. Bd. 163 8: 1: 1915. Zur Frage nach der Wirkung des Verschlusses der Koronararterien usw. 507 leitungssystems dabei keine Rede sein kann. Es könnten einzig die drei Versuche von Porter!) mit Unterbindung eines von ihm nicht näher bezeichneten „Ramus septi“ herangezogen werden, bei denen jede Wirkung auf das Herz ausblieb. Der Meinung, man müsse gesondert die das Reizleitungssystem versorgenden Äste der Koronargefässe verschliessen, ist auch Hering, denn er zitiert Literaturstellen über die Gefässversorgung des Septums. So eine Stelle aus der Arbeit von Haas), an welcher betont wird, dass für Ausschaltungsversuche am Reizleitungssystem des Hundes nicht nur der Ramus septi, sondern auch die grosse Septumarterie unterbunden werden muss. Ferner einen Passus aus den Unter- suchungen von Cohnheim und v. Schulthess-Rechberg?) über einen starken Ramus septi, der am Anfange der Art. coronar. sin. des Hundeherzens entspringt. Dazu bemerkt Hering: „Der Ast, den die Autoren hier Ramus septi nennen, entspricht bei Haas wohl der Arteria septi fibrosi. Auch Porter kannte allem Anschein nach nur letztere und nennt sie auch Ramus septi. Demnach ist die „grosse Septumarterie“ wohl noch nicht isoliert unterbunden worden, und es wird Gegenstand weiterer Versuche sein müssen, zu erfahren, welchen Effekt ihre Unterbindung hat.“ Hierzu wäre Folgendes zu bemerken. Es ist kaum verständlich, wie jemand nach der klaren Beschreibung und Abbildung der Be- funde bei Haas die Meinung aussprechen kann, es entspreche der Ramus septi von GCohnheim der Arteria septi fibrosi von Haas. Es ist vielmehr ganz evident, dass Haas als „grosse Septumarterie“ jenes Gefäss bezeichnet, welches schon Cohnheim als Ramus septi beschrieben hat. Was Porter als Ramus septi bezeichnet hat, bleibt unklar; es dürfte aber schon wegen ihrer verhältnismässigen Un- scheinbarkeit und verborgenen Lage kaum, was Hering meint, die Arteria septi fibrosi von Haas gewesen sein. Lässt sich also schon aus diesem Grunde nicht sicher sagen, dass die „grosse Septumarterie“ noch nicht isoliert unterbunden wurde, 1) W. T. Porter, Weiteres über den Verschluss der Koronararterien ohne mechanische Verletzung. Zentralbl. f. Physiol. Bd. 9 Nr. 22 S. 641. 1896. 2) G. Haas, Über die Gefässversorgung des Reizleitungssystems des Herzens. Anat. Hefte Bd. 43 S. 627. Juli 1911. 3) J. Cohnheim und A. v. Schulthess-Rechberg, Über die Folgen der Kranzarterienverschliessung für das Herz. Virchow’s Arch. Bd. 85 S. 503. 1881. 508 R. H. Kahn: so ist diese Angabe Hering’s auch aus einem anderen Grunde unrichtie. Am 3. März 1911, also 4 Monate vor dem Erscheinen der Arbeit von Haas, habe ich!) in einem Vortrage unter anderem auch die Folgen der isolierten Abklemmung eines starken, ausschliesslich das Septum des Hundeherzens versorgenden Koronarastes besprochen. Diese Befunde sind dann von mir?) im Laufe des Jahres 1911 aus- führlieh mitgeteilt worden. Es handelte sich bei diesen Versuchen, wie man aus der ausführlichen Beschreibung in meiner Veröffent- lichung im Vergleiche mit den klaren Angaben von Haas und Cohnheim ohne Weiteres erkennen kann, um die „grosse Septum- arterie“. Diese Untersuchungen, zu deren Vortrag er seinerzeit Diskussionsbemerkungen ?) machte, hat nunmehr Hering zu erwähnen unterlassen. Mit Unrecht, denn sie führten zu ganz bemerkenswerten Resultaten. Es trat nämlich nach Abbindung dieses mächtigen, das Reizleitungssystem versorgenden Koronarastes meistens kein Herz- flimmern ein, so dass die elektrokardiographische Untersuchung der Herzen stundenlang durchgeführt werden konnte. Manchmal blieb das Herz einige Zeit nach der Abklemmung plötzlich stehen, ge- legentlich kam es auch nach längerer Zeit zum Flimmern. Daraus geht also wohl hervor, dass die Anämisierung eines grossen Teiles des Reizleitungssystems ansich weder besonders oft, noch besonders rasch zum Herzflimmern führt. Im Gegenteil ereignet sich das Flimmern, wie ich schon damals hervorhob, auffallend selten. Dass tatsächlich das Reizleitungssystem durch den Eingriff schwer getroffen wurde, ergab sich aus den Resultaten der Untersuchung des Ekg nach Verschluss des erwähnten, von mir damals Ramus septi genannten Astes der linken Koronararterie. Es zeigten sich nämlich dıe Erscheinungen der Läsion der Tawara’schen Schenkel, und zwar beider Schenkel in wechselndem Ausmaasse. Ich habe schon damals vermutet, dass die Abklemmung dieses Ramus septi keine vollkommene Anämie des Septums verursache. Diese Vermutung hat durch die anatomischen Untersuchungen von Haas, welche zur Beschreibung der bis dahin unbekannten Arteria 1) R. H. Kahn, Anomale Kammerelektrogramme. Sitzungsber. d. wiss. Gesellsch. deutscher Ärzte in Böhmen. 3. März 1911. Prager med. Wochenschr. 1911 Nr. 128. 155. 2) R. H. Kahn, Elektrokardiogrammstudien. Pflüger’s Arch. Bd. 140 822627, 1911: 3) A. a. OÖ. Prager med. Wochenschr. Zur Frage nach der Wirkung des Verschlusses der Koronararterien usw. 509 septi fibrosi führten, ihre Bestätigung gefunden. Zugleich habe ich seinerzeit nach dem Studium der Arbeit von Haas bei neuerlicher Durchsicht der Literatur gesehen, dass das Vorhandensein des von mir beschriebenen Ramus septi schon Cohnheim und v. Schulthess- Rechberg bekannt war, dass diese Autoren aber nieht mit diesem Gefässe experimentierten. Bezüglich der anatomischen Verhältnisse möchte ich, da doch die klare Erfassung derselben für die notwendig noch weiter an- zustellenden Versuche wichtig ist, noch einige Bemerkungen hinzu- fügen. Beim Hunde erhält das Reizleitungssystem sein Blut aus zwei Ästen der Arteria coronaria sinistra. Erstens aus einem starken, zuerst von Cohnheim (Ramus septi), dann von mir (Ramus septi) und endlich von Haas (grosse Septumarterie) beschriebenen, vom Anfangsteile der linken Koronararterie ausgeheuden Gefässe, welches sich von vorn zunächst in das Kammerseptum begibt. Seine Aus- läufer lassen sich zum Bündel, den Schenkeln und den Papillar- muskelansätzen verfolgen. Dieses Gefäss wäre am besten als Arteria septi magna sive anterior zu bezeichnen. Es ist dem Experimente in einer Weise zugänglich, wie ich es beschrieben habe. Jedoch möchte ich bemerken, dass ich bei der Präparation von bisher über 25 Herzen nicht ein einziges Mal gefunden habe, dass der Abgang dieses Gefässes schon vor der Teilung der linken Koronararterie in die Rami desceudens anterior und eireumflexus, also aus dem ÖOstium stattgefunden hätte, wie es Haas als Regel bezeichnet. Steis entsprang die Arteria septi magna an der Teilungsstelle der Korounararterie oder ein wenig unterhalb derselben aus dem Ramus descendens. Zweitens erhält das Reizleitungssystem des Hundes Blut durch die von Haas beschriebene Arteria septi fibrosi, wie ich hinzufügen möchte: sive posterior. Denn sowohl beim Hunde als auch beim Menschen, wo sie aus der rechten Koronararterie entspringt, handelt es sich um ein von hinten in das Septum eintretendes Gefäss. Beim Hunde ist diese Arterie am herausgeschnittenen Herzen, wie ich mich schon nach dem Erscheinen der Untersuchungen von Haas überzeugte, leicht zu präparieren und abzubinden. Auch hier möchte ich erwähnen, dass man dieses Gefäss vielfach als Endast des Ramus eircumflexus der linken Koronararterie vorfindet. Häufig teilt sich auch das Ende des Ramus in zwei gleichstarke Zweige, die Arteria septi fibrosi und einen herzspitzenwärts gerichteten Zweig. Haas t 34 *%* 510 R.H. Kahn: Zur Frage nach der Wirkung des Verschlusses usw. verlegt den Abgang der Arteria septi fibrosi etwas weiter proximal. Wie es mit der isolierten Abbindung des Gefässes im Experimente steht, darüber habe ich noch keine Erfahrung. Sie wird wohl nicht leicht gelingen. Vielleicht führen Unterbindungsversuche am aus dem Thorax heraushängenden Herzen bei Stehen des Tieres auf dem Kopfe in geeigneter Neigung zum Ziele. Dureh Unterbindung der beiden, das Reizleitungssystem ver- sorgenden Arterien dürfte es gelingen, dasselbe völlig zu anämisieren. Auch geht aus meinen und den Untersuchungen von Haas hervor, dass die Arteria septi magna wesentlich das Bündel und die Schenkel; die Arteria septi fibrosi wesentlich den Knoten und das Bündel mit Blut versorgt. Injektionspräparate zeigen, wovon man sich leicht überzeugen kann, den Zusammenhang beider Gefässsysteme in der Bündelgegend. Bei genügender Beherrschung der hier nötigen schwierigen ex- perimentellen Technik dürfen sehr interessante Resultate erwartet werden, welche unter Anderem bei Berücksiehtigung der sonstigen Umstände auch für die Frage nach dem Herzflimmern nach Ver- schluss der Koronararterien verwendbar sein werden. Sll (Aus dem pharmakologischen Institut der Universität Greifswald.) Neue Untersuchungen über den Einfluss derDigitalis und ihr botanisch- oder wirkungs-verwandter Pflanzen auf die Farbenempfindlichkeit des menschlichen Auges. Von Hugo Schulz. (Mit 9 Textfiguren.) Wie den Lesern dieses Archivs bekannt sein wird, habe ich in den Jahren 1913 und 1914 im 154. und 156. Bande Untersuchungen über den Einfluss der Digitalis auf das Rot- und Grünsehen ver- öffentlicht. So befriedigend und den Voraussetzungen entsprechend auch deren Endergebnis sich gestaltet hatte, die Art und Weise der Versuchsanordnung liess für mich doch zu wünschen übrig. Wir hatten durchweg mit dem von Autenrieth und Königsberger angegebenen Kolorimeter bei Tageslicht gearbeitet. Dieser letzte Umstand erwies sich als wenig günstig, da wir immer von der jedes- maligen äusseren Beleuchtungsstärke abhängig waren und dies Moment sich dann besonders störend erwies, wenn die Lichtstärke schnell wechselte, wie das bei raschem Wolkenzuge und zwischendurch ein- tretendem hellen Sonnenlicht der Fall ist. Auch das Abblenden des Fensters mit weissem Papier vermochte die Folgen dieses Be- leuchtungswechsels nicht in völlig genügender Weise zu beseitigen. Ein zweiter, womöglich noch stärker ins Gewicht fallender Faktor wurde dadurch mit in unsere Versuche hereingebracht, dass wir ge- zwungen waren, mit sehr verdünnten Farblösungen arbeiten zu müssen. Es war schwer, trotz aller Sorgfalt, jedesmal genau den- selben Farbenton wiederherzustellen, wenn sich, im Verlaufe einer Versuchsreihe die Neufüllung der beiden Glasgefässe des Kolori- meters notwendig machte. Pflüger’s Archiv für Physiologie. Bd, 163. 35 512 Hugo Schulz: Um diese beiden Nachteile zu vermeiden, mussten andere Be- dingungen gestellt werden. Es kam zunächst darauf an, für alle Versuchsreihen eine absolut gleich wirkende, unveränderlich bleibende Lichtstärke zu erhalten. Weiter musste verlangt werden, dass auch die jedesmal zur Beobachtung kommende Farbe stets genau den- selben Charakter besass. Vor allen Dingen musste die Farbe absolut rein sein. Bei unseren früheren Versuchen hatte es sich um Tages- licht gehandelt, das, durch eine farbige Lösung filtriert, in das Auge gelangte. Endlich musste es sich erreichen lassen, dass das Licht für das Auge des jeweiligen Beobachters die richtige Intensität besass. Es durfte nicht zu schwach erscheinen und vor allen Dingen nicht bei längerer Beobachtung unter normalen Verhältnissen blendend wirken. Um allen diesen Übelständen aus dem Wege zu gehen, habe ich mir von der Firma Schmidt & Haensch, Berlin, einen besonderen Apparat konstruieren lassen. Einige Veränderungen an demselben, die sich während des Arbeitens als notwendig heraus- stellten, hat der Mechaniker des hiesigen physikalischen Instituts, Herr Westphal, in durchaus zufriedenstellender Weise nach- träglich noch angebracht. Der Apparat. Das Prinzip des Apparates, des Farbenempfindungs- messers, beruht auf der Verbindung eines geradsichtigen Spektroskops mit einem Polarisationsapparat. Das Spektroskop gibt die Möglich- keit, mit absolut reinen Farben arbeiten zu können. Die wechselnde Einstellung des Analysators am Polarisationsapparate gestattet, die im Gesichtsfelde befindliche Farbe in dessen einer Hälfte nach Be- lieben zu verdunkeln. Beide, Spektroskop und Polarisationsapparat, sind gemeinsam auf einem festen Stativ montiert. Als Beleuchtungsquelle dient eine Nernst-Lampe, die für eine Spannung von 220 Volt eingerichtet ist. Das Spektroskop kann mit Hilfe einer graduierten Trommel an der Stellschraube auf jede gewünschte Wellenlänge des Spektrums eingestellt werden. An beiden Enden des Spektroskops befindet sich je eine Spaltvorrichtung, die, ebenfalls mit graduierter Trommel- schraube versehen, die Spaltbreite nach Bedarf einzustellen gestattet. Das Licht gelangt mithin nach seinem Durchtritt durch den ersten Spalt in das Spektroskop, wird dort zerlegt, und der für den einzelnen Versuch notwendige Teil des Spektrums gelangt dann durch den Neue Untersuchungen über den Einfluss der Digitalis usw. 513 zweiten Spalt unmittelbar in den Polarisationsapparat. Dieser ist - als Halbschattenapparat konstruiert und in der allgemein bekannten Weise mit Stellscheibe und Noniusablesung versehen. Während sich aus dem bisher Gesagten einfach ereibt, dass Beleuchtungsquelle und Farbe für jeden Versuch stets dieselben bleiben, muss über die Art, wie die Intensität des in das Auge fallenden Lichtes reguliert wird, noch folgendes bemerkt werden. Der der Lichtquelle zugewandte Spalt wird nur so weit geöffnet, wie eben notwendig, um möglichst genau den Teil des Spektrums zu treffen, mit dem man zu arbeiten wünscht. Der zweite, dem Beobachter zugekehrte Spalt muss dagegen, je nach dessen Eiren- art entsprechend weit oder eng gestellt werden. Ein kleiner Teil- strich der zugehörenden Skala entspricht 0,01 mm. Der Beobachter hat anzugeben, ob ihm die Farbe beim Durchsehen durch den Polarisationsapparat „angenehm“ ist, das heisst gerade genügend hell erscheint, ohne zu blenden. Die für den einzeluen Beobachter einmal ermittelte Spaltbreite wird notiert und jedesmal wieder ein- gestellt, wenn er mit der bestimmten Farbe arbeiten soll. Wie aus dieser Darstellung ersichtlich, gibt also der von mir benutzte Apparat folgende Möglichkeiten an die Hand: Stets gleich- bleibende Lichtquelle, stets gleichbleibende Farbentönung und für jeden Beobachter stets gleichbleibende Menge des in sein Auge gelangenden, farbigen Lichtes. Eine wesentliche Veränderung musste ich dann noch an dem Apparate in seiner ursprünglichen Gestalt anbringen lassen. Es ergab sich nämlich eiue grosse Schwierigkeit beim Ablesen. Ich hatte zuerst gedacht, das Ablesen würde sich einfach in der Weise machen lassen, dass der Beobachter ebenso voreinge, wie wenn er an irgendeinem anderen Halbschattenapparate zu arbeiten hätte. Es stellte sich aber bald heraus, dass dies undurchführbar war. Um die genügende Anzahl einzelner Werte bei den Beobachtungen zu erhalten, musste eine grössere Reihe von Bestimmungen ausgeführt werden. Es zeigte sich, dass der Beobachter durch den wiederholten Wechsel der Beobachtung des farbigen Sehfeldes und der Nonius- ablesung bald ermüdete. Dazu kamen dann auch noch bei den ungeübteren Beobachtern Ablesungsfehler. Um diese Missstände zu vermeiden und den Beobachter selbst so weit aus dem Versuchsgange auszuschalten, dass er seine ganze Tätigkeit lediglich auf die Angabe 35 * 514 Hugo Schulz: zu beschränken hatte, ob er die rechte oder linke Hälfte des Gesichts- feldes dunkler sah, wurde folgende Einrichtung getroffen: Auf die Achse der Schraube, welche den Analysator einzustellen gestattet, wurde ein mit Zahnleisten versehener Stahlzylinder auf- gesteckt. In die Zahnleisten fassen die Zähne einer senkrecht stehenden, am Stativ des Apparates mit ihrer Achse fest montierten drehbaren Metallscheibe. Diese ist mit Gradeinteilung versehen. Die Anzahl der Zähne am Rande ist so berechnet, dass die Drehung der Scheibe um einen Grad und die damit erzeugte Drehung des Zylinders auf der Schraubenachse genau der Verschiebung des Nonius um 0,1 Grad entspricht. Während der Beobachter die farbige Scheibe im Polarisations- apparate betrachtet, dreht eine zweite Person die mit Gradeinteilung versehene Scheibe nach rechts oder nach links. Die Anzahl der Grade, die er vom Nullpunkt nach rechts und links ablesen kann, ergibt die Breite, innerhalb der der Beobachter die zu prüfende Farbe in beiden Hälften des Gesichtsfeldes als gleich anspricht. Wie hoch dieser Wert sich beläuft, erfährt der Beobachter bei diesem Verfahren nicht, kann also auch keinen Einfluss auf ihn ausüben. Um das Ablesen der Grade auf der Metallscheibe zu erleichtern, wird diese momentan bei der Ablesung und weiteren Einstellung durch eine kleine Glühlampe mit Reflektor erhellt, die nur das nötige Gesichtsfeld hell genug werden lässt und durch einen kleinen Akkumu- lator gespeist wird. Diese ganze Vorrichtung sowie das Anbringen einer Ablesungsvorrichtung an den Stellschrauben der Blendungs- spalten des Spektroskops habe ich nachträglich anbringen lassen, da sich, wie schon bemerkt, ihr Vorhandensein als notwendig heraus- gestellt hatte. Gang der Versuche. Nachdem die gewünschte Farbe eingestellt und die Helligkeit des Farbenbildes so gewählt worden war, dass der Beobachter die Farbe mit aller Schärfe, aber ohne irgendwelche Blendungsempfindung wahrnahm, wurde zunächst die Weite des Spaltes an den Blenden notiert, um für alle weiteren Versuche mit derselben Farbe wieder eingestellt werden zu können. Dann hatte der Beobachter durch wechselndes Drehen der Analysatorschraube seinen Nullpunkt zu bestimmen, also die Stellung, wo er beide Scheibenhälften vollkommen gleich hell wahrnahm. Die Versuche wurden ausnahmslos im Dunkelzimmer ausgeführt. Als einzige Beieuchtungsquelle diente die Nernst-Lampe. Diese ist Neue Untersuchungen über den Einfluss der Digitalis usw. 515 mit einem eigenen, mit dem Rücken dem Apparat zugekehrten, durch- bohrten Refiektor versehen. Der Beobachter befand sich zudem hinter der grossen Stellscheibe des Polarisationsapparates, und so erhielt sein Auge in den beobachtungsfreien Zwischenräumen nur ein ganz gedämpftes Licht. Nach Festlegung des Nullpunktes wurde mit dem eigentlichen Versuche begonnen. Zunächst wurden nur Versuche ausgeführt, die den Zweck hatten, das Beobachten der wechselnden Farben- intensität zu lernen und aus den während eines solches Versuches erhaltenen Zahlenangaben eine Übersicht über das Verhalten jedes einzelnen Beobachters unter normalen Verhältnissen zu gewinnen. Beobachtet wurde in folgender Weise: Die den Versuch an- stellende Person sieht in den Apparat hinein, nachdem der Kon- trollierende die oben beschriebene Teilscheibe um 1 oder 2 Grad aus der Nullstellung gedreht hat. Angenommen, der Beobachter erkennt erst dann einen deutlichen Unterschied zwischen Hell und Dunkel der gewählten Farbe, wenn der Ausschlag vom Nullpunkt aus nach rechts und links je 4 Grad beträgt. Bei 2 Grad rechts sagt er also auf Grund seiner Beobachtung: . Gleich! —. Dann schliesst er die Augen, der Kontrolleur dreht 1 Grad weiter, wieder erfolgt eine neue Beobachtung und das Signal: Gleich!, und erst bei der Stellung: 4 Grad rechts sagt der Beobachter: Links dunkel! — Dann wird in derselben Weise festgestellt, bei welcher Gradablesung das Signal: Rechts dunkel! gegeben wird. Damit ist dann die beiderseitige Grenze für Hell und Dunkel gewonnen und wird notiert. Bei nur einiger Übung dauert dieser ganze Vorgang !/„—*/s Minute. Es folgte dann bei unseren Versuchen ein Zwischenraum von 1 Minute. Darauf wurde von neuem beobachtet. Zwischen je zwei einzelnen Beobachtungen liegt mithin die Zeit von nahezu 2 Minuten. Wir haben reichlich Gelegenheit gehabt, zu erfahren, dass man in dieser Weise, ohne besondere Anstrengung oder Ermüdung des Auges zu bemerken, 1 Stunde hindurch beobachten kann. Man erhält mithin dreissig Einzelbeobachtungen in der Stunde. Es lag ganz in dem Belieben des Kontrollierenden, ob er den Beobachter zuerst rechts dunkel sehen lassen wollte oder links. Ich habe auf alle mögliche Weise versucht, wenn ich gerade die Kontrolle übernommen hatte, den Beobachter irrezuführen, um sicher zu werden in der Überzeugung, dass wirklich keine neben- sächlichen Momente in die Beobachtungen hereinkommen konnten. 516 Hugo Schulz: Ebenso habe ich bei mir in derselben Weise verfahren lassen, wenn ich beobachtete. Alle diese Versuche sind resultatlos geblieben. Es fiel damit der gefürchtete Einwand, dass irgendwelche Absichtlich- keiten oder Unabsichtlichkeiten uns Zahlen liefern konnten, die den Tatsachen nieht entsprachen. Die bereits bekannte Erscheinung, dass die Lage des Null- punktes bei demselben Beobachter während der Beobachtungszeit wechseln kann, konnten wir sehr oft feststellen. Dieser Wechsel des Nullpunktes braucht auf das Endresultat, die Feststellung der deutlichen Erkennungsbreite, keinen Einfluss zu haben. Hat der Beobachter wiederholt nacheinander angegeben, dass er bei 4 Grad rechts und 4 Grad links den ersten Unterschied wahrnimmt, so gibt er nach eingetretener Nullpunktsverschiebung etwa an, dass er bei 3 Grad rechts und 5 Grad liuks den Unterschied in der Helligkeit der beiden Gesichtsfeldshälften erkennt. Zuweilen kehrt sich dies Verhältnis plötzlich um, und es wird dann angegeben: Rechts dunkel, wenn der Kontrollierende die Zahl 5 rechts und ebenso: Links dunkel, wenn er die Zahl 3 links vom Nullpunkt abliest. Die Individualität des Beobachters spielt hierbei sehr mit. Nicht allein, dass die Breite des Gleichfarbigsehens bei derselben Farbe an den einzelnen Tagen wechselt. Es kann auch vorkommen, dass an einem bestimmten Tage, ohne ersichtlichen Grund, die einzelnen Zahlen nur geringe Verschiedenheiten untereinander zeigen. Dann ein anderes Mal treten diese sehr hervor, der Nullpunkt wechselt wiederholt. Es gibt nicht 2 Tage, bei denen die an unseren Ver- suchen beteiligten Personen unter denselben äusseren Verhältnissen völlig gleiche Zahlenreihen geliefert haben. Auch das Lebensalter kommt mit in Betracht. Jüngere Individuen liefern eine Zahlen- reihe, die deutlich erkennen lässt, wie sich während eines und des- selben Versuches die Erkennungsfähickeit bessert. Die Zahlen für die Unterschiedserkennung werden im Verlaufe des Versuches kleiner. Bei älteren Leuten ist das Umeekehrte der Falle. Ohne zum Be- wusstsein zu gelangen, tritt doch eine Abschwächung des Unter- scheidungsvermögens ein, die Zahlenwerte steigen. Die im weiteren mitgeteilten Zahlenreihen zeigen dies mit aller Deutlichkeit. Nach Abschluss des einzelnen Versuches verfügten wir, wie schon bemerkt, über dreissig Zahlenwerte.. Diese wurden zu je fünf, entsprechend einer Beobachtungsdauer von 10 Minuten, zur Bestimmung des Mittelwertes benutzt. So unmittelbar zum Ver- Neue Untersuchungen über den Einfluss der Digitalis usw. 517 sleich und zur Bestimmung des Gesamtergebnisses sind indessen diese Mittelwerte nicht zu verwenden. Die schon vorher erwähnten persönlichen Schwankungen an den einzelnen Beobachtungstagen erfordern noch eine weitere Umrechnung. Das wirkliche Endresultat wurde in der Weise gewonnen, dass das Mittel aus den ersten fünf Einzelwerten gleich 100 gesetzt und danach die übrigen fünf Mittel- werte umgerechnet wurden. Beteiligt waren an den hier mitzuteilenden Versuchen im ganzen zehn Personen. Von ganz besonderem Wert ist es für mich gewesen, dass der Direktor des physiologischen Instituts, Herr Geheimrat Bleibtreu, die grosse Freundlichkeit gehabt hat, die Serie der Versuche mit Digitalis mitzumachen. Meine Versuche erhielten damit eine Kontrolle, die als höchst erwünscht anzusprechen war. Dazu kam dann noch der Umstand, dass infolge der Beteiligung des Herrn Bleibtreu ich mit meinen persönlichen Beobachtungs- ergebnissen den wesentlich jüngeren, übrigen Teilnehmern nicht allein gegenüberstand. Herr Bleibtreu ist 54, ich bin 62 Jahre alt. Von den übrigen Teilnehmern zählt keiner über 25 Jahre. Es waren die Damen: Fräulein Thermann, 22 Jahre alt, Laborantin am pharmakologischen Institut, und Fräulein Waldau, Studierende der Medizin, 20 Jahre alt. Die beteiligten Herren, mit einer Aus- nahme sämtlich Studierende und Kandidaten der Medizin, waren: Hollnagel, 20 Jahre alt, Richter, 23 Jahre alt, Scherpeltz, 22 Jahre alt, Schmuggerow, 24 Jahre alt, Zorn, 21 Jahre alt, und endlich der Institutsdiener Wellner, 13 Jahre alt. Von den eben Angeführten scheidet für die eigentlichen Ver- suche aus Herr Zorn. Dieser reagierte auf die Einwirkung der “Digitalis auch dann noch nicht, als er die aufgenommene Dosis auf 15 Tropfen der Tinktur gesteigert hatte. Herr Zorn hat sich auf sein Vermögen, Farben sehen und unterscheiden zu können, durch den Direktor der hiesigen Augenklinik, Herrn Professor Römer, untersuchen lassen. Der Befund war ein durchaus normaler. Das Verhalten des Herrn Zorn ist um so auffallender und bemerkens- werter, als er auch auf Santonin in der Dosis von 0,2 g santon- sauren Natrons nicht reagiert und kein Gelbsehen bekommt, was bei meinen früheren Untersuchungen bei allen Beteiligten regel- mässig nach dieser Dosis eingetreten war. Herr Richter dagegen ist hochgradig rot- und grünblind. Seine Versuchsergebnisse liefern einen sehr schönen Beweis dafür, dass es sich bei den Störungen, die 518 Hugo Schulz: wir übrigen in unserer Farbenempfindung zu verzeichnen hatten, nicht um eine Veränderung der Fähigkeit, Hell und Dunkel all- gemein unterscheiden zu können, handelte, sondern dass es lediglich auf die Störung der Empfindlichkeit für die Wahrnehmung von Rot und Grün bei wechselnder Intensität dieser Farben ankam. Allen, die in so bereitwilliger und ausdauernder Weise bei meinen Untersuchungen mich unterstützt haben, sage ich an dieser Stelle meinen besten Dank! Die Farben, mit denen wir gearbeitet haben, waren: Rot, Gelb, Grün und Blau. Für Rot war der Apparat eingestellt auf die Linie C des Spektrums, für Gelb auf Linie D, für Grün auf Hge, für Blau auf Linie F und die diesen Linien zunächst liegenden Stellen des Spektrums. Die nachfolgende Übersicht zeigt die Werte für die Spaltbreite an, welche an der Blende genommen werden musste, die am okularen Ende des Spektroskops sich befindet, um für jede einzelne Person bei jeder einzelnen Farbe den möglichst „angenehmen“ Eindruck her- vorzurufen: Rot Gelb Grün Blau Bleibtreu... ....2.. 18,0 — 18,0 — Hollnageles. 2... 34,0 20,0 30,0 27,0 Richter 2... 20:0... 28,0 — 18,0 — Scherpeltz..... ... 40,0 27,0 30,0 35,0 Schmuggserow... 34,0 25,0 25,0 45,0 Schulze... 27,0 17,0 31,0 18,0 MYhermannerane 33,0 17,0 32,0 25,0 Wealdauss or 40,0 — 32,0 — M:elklner 2% 29,0 18,0 17,0 u ZOTUN RER — 20,0 — Wie aus der Übersicht sich ergibt, wechseln die notwendigen Spaltbreiten sehr je nach der Eigenart des Beobachters. Sie liegen für Rot zwischen 18,0 und 40,0, für Gelb zwischen 17,0 und 27,0, für Grün zwischen 17,0 und 32,0, für Blau zwischen 18,0 und 45,0. Schon vorher habe ich auf die Bedeutung der Einstellung der Spalt- breite für den Gang der Versuche hingewiesen. Sie muss jedenfalls berücksichtigt werden, um sowohl undeutliches Sehen wie Blendung zu vermeiden, beides Umstände, die den Gang des einzelnen Versuches beeinträchtigen. Neue Untersuchungen über den Einfluss der Digitalis usw. 519 Die Normalbestimmungen. Als wir mit den Versuchen über den Einfluss der Diegitalis auf das Grün- und Rotsehen anfıngen, haben wir, das heisst die sechs an diesen Versuchen Beteiligten, zunächst jeder je drei Bestimmungen durchgeführt, ohne Digitalistinktur einzunehmen. Später, als wir mit dem Gang der Versuche vertrauter wurden und die einzelnen Beobachter die hinreichende Übung erworben hatten, konnten wir uns auf je eine Normalbestimmung beschränken. Da es sich in erster Reihe darum handeln sollte, die Veränderung im Grünsehen unter lem Einfluss der Digitalis zu studieren. haben wir mit Grün begonnen, dann dessen Kontrastfarbe Rot studiert. Weiterhin sind aber auch mit Gelb und Blau noch Versuchsreihen durchgeführt, um zu erfahren, ob bei diesen Farben irgend etwas Bemerkenswertes unter der Wirkung der Digitalis oder eines der anderen Pflanzenpräparate sich ergeben möchte. Fielen diese Versuche negativ aus, so erübrigte es sich, die entsprechenden Kontrastfarben : Violett und Orange noch besonders zu prüfen. a) Grün. Hier wie durchgehend überall weiter sind die Versuchszahlen in der Weise dargestellt, dass die Werte aus dem Zeitraum von je 10 Minuten untereinander geschrieben sind. Aus jeder einzelnen so erhaltenen Reihe ist dann das Mittel berechnet und unter dem Strich angegeben. Schliesslich sind dann die Mittel in der bereits erwähnten Weise so umgerechnet, dass das erste gleich: 100 ge- setzt wurde. Bleibtreu: 9. Aug. 1915. 11Auer 21915: b) 4 4 B) 4 B) 5 4 b) b) > Bi) 4 b) 4 3 4 6 d b) 5 4 4 h) 4 6 4 5 > 7 B) b) 4 4 b) bi) 4 6 5) bi) b) 5) b) b) A B) B) 3 b) 4 4 6 5 4 b) 4 4 5 5 40 52 42 40 48 5,6 ee N 3. Sept. 1915. > 4 6 B) 4 3 4 4 h) 4 4 4 4 4 b) RB) 4 4 4 4 4 4 4 2 4 3 4 4 4 4 2972332738036 4094 Das Gesamtmittel hieraus ist: 43 46 45.40 45 4,7 04.:.100 10% 105 2 93° .1057 109: 520 Hugo Schulz: Hollnagel: 15. Okt. 1915. Scherpeltz: 16. Okt. 1915. 8 8 7 8 7 7 7 6 6 7 6 6 7 3 8 7 8 7 7 7 7 6 6 7 9 7 6 7 7 7 6 6 7 7 7 7 ) 8 9 8 7 7 6 7 6 6 8 7 8 8 8 8 8 Ü HM. 6 8 6) % 6 82718516 210720470 66 64 68 6,8 68 6,6 0d.:..100- 9572932293 2290,89 |od.: 100 97 103 103 103 100 Schmuggerow: 19. Okt. 1915. 9 8 7 6 7 4 10 9 7 6 U b) 9 7 7 6 6 6 9 b) 7 1 6 8 9 7 8 7 6 4 92 72 72 64 64 54 0d::,100. ..278..7.48. 10 20.59 Schulz: 21. Juli 1915. 23. Juli 1915. en ie | Br een Ber | Be 2262.62 6 | Beeren Bee | Bean Gero he | ee 56. 60 58 5026000 538 54 58 66 68 68 24. Juli 1915. Br rer Bi Ai (Be ee Bee 5 56 Soon 5 Gesamtmittel: 57-57 57 59 62 62 od.: 100 100 100 103 109 109 Thermann: 31. Juli 1915. 3. Aug. 1915. 520 556 | Bene ie Go Br ee Bee he Fe ee nee Ne Ge Be re 54 56 54 56 54 54 54 54 52 54 54 50 9. Aug. 1915 5A a Bee a at Bay aA 46 42 40 38 36 3,6 Gesamtmittel: 51 51 49 49 48 47 od.: 100 100 96 9% 94 92 Neue Untersuchungen über den Einfluss der Digitalis usw. 5931 Waldau: 27. Juli 1915. | 29. Juli 1915. 4 B) 4 4 3 4 | 4 4 4 b) 4 4 nl 4 6 5) 4 3 | b) 4 4 4 4 b) 4 4 b) + 5 b) 4 4 4 b) 6) > Se Be | Bene b) b) 6 3 2 4 5) 4 4 4 4 4 Br ee 42 42 40 44 38 40 30. Juli 1915. ar) 3 3 4 b) b) 4 3 4 3 3 4 6 3 B) b) 4 4 4 4 4 4 4 4 d 4 4 4 B) 20.25:0.73412 000240238 Gesamtmittel: 45 45 41 41 37 4,0 0051002 10022.912.2972082# 89 Wellner: 18. Aug. 1915. | 19. Aug. 1915. 7 6 7 b) U b) 7 6 6 6 6 b) 8 7 6 7 6 4 7 7 b) 8 6 6 Ü 7 U 7 b) 4 Z A 6 ) 6 3 6 7 b) 6 A 7 9 7 d b) 6 6 b) 7 7 7 6) 3 7 6 b) 6 6 B) 66 68 64 64 60 4,6 7A 6.08, ARE 61060 20. Aug. 1918. b) 7 6 4 3 3 6 5) 4 b) 4 b) 7 b) bi) 4 4 B) b) 4 4 4 4 4 REDE AN 3 58 54 48 42 38 :3,6 Gesamtmittel: 6,6 6,3 5,5 58 53 47 od.: 100 9.8 8 Ol Zorn: 4. Aug. 1915. | 5. Aug. 1915. Be a ee et ER (DR ET RE) | Ah a AA 5) b) 3 2 2 2 4 4 4 4 4 b) 5) E: 3 3 2 3 b) b) 4 4 b) 4 4 4 3 2 B) B) 4 4 b) 4 3 4 52 44 34 30 24 2,6 44 46 46 40 40 42 11. Aug. 1915. 5) b) 4 5 b) 4 6 4 b) 4 5) 3) b) 4 b) 6 4 6 B) b) b) b) b) b) 4 b) 6 4 b) 4 50 46 5,0 48 48 48 Gesamtmittel: 49 45 43 39 38 3,9 002:21000.49272:. 88280217780 522 Hugo Schulz: Im Anschlusse an diese Normalbestimmungen von solchen Personen, die über ein praktisch unbeeinträchtigtes Grünsehen verfügen, lasse ich nun die entsprechenden Bestimmungen folgen, die mit Herrn Richter angestellt wurden, der, wie bereits bemerkt, hochgradig erün- und rotblind ist. Riehter: 25. September 1915. Herr Richter gibt an, dass er bei völlig gleich heller Beleuchtung beider Hälften des Gesichtsfeldes den Eindruck: hell weissgrau hat. Wird die eine Gesichtsfeldshälfte verdunkelt, so erscheint sie ihm blau. 39 40 39 34 32 30 39 38 37 32 29 30 41 39 36 32 Sl 30 41 40 37,80 30 28 B 37 B 29 32 Sl 39,8 388 836,8 314. 30,8 29,8 04.2. 100:°..97 92 18) 17 15 Während die absoluten Mittel, im Gegensatz zu sämtlichen bisherigen Befunden, auffallend hohe Werte zeigen, ist das Verhältnis der einzelnen Zahlen untereinander völlig entsprechend den Werten, die wir bei den jüngeren Teilnehmern an diesen Versuchen durch- weg erhalten hatten. Von 100 bewegen sich die reduzierten Mittel- werte gleichmässig absteigend. Nur bei Waldau und Wellner ist eine geringe Abweichung in der letzten bzw. drittletzten Mittel- zahl festzustellen. Scherpeltz bleibt von der dritten Reihe ab etwas über dem Mittel, kommt aber schliesslich wieder auf die Zahl 100. Dagegen ist bei Bleibtreu und mir, und zwar bei mir am deutlichsten, die Neigung ersichtlich, mit zunehmender Be- obachtungszeit höhere Werte zu liefern. Man kann sich des Ein- druckes nicht erwehren, dass bei den jüngeren Beobachtern die Übung im Unterscheiden von Hell und Dunkel bei Grün sich geltend macht, wohingegen das Ansteigen der Zahlen gegen das Ende der Beobachtungszeit hin bei Bleibtreu und mir als Ermüdung des Auges zu deuten sein wird. b) Rot. Bleibtreu: 17. Sept. nn 24. Sept. 1915. ee | AN BE DA AA B) 7 4 b) 4 2 5 2 4 4 B) 2 6 5 5 B) 4 4 4 4 B) B) M B) 4 d 4 4 B) 3 4 4 3 B] B) 4 4 4 6 4 4 B) 4 4 3 4 3 4 8 Samoa 49 34° 936.936 39 934 Gesamtmittel: 4,5 44 41 40 34 35 04.:: 1002.98 9152892210, 2218 Neue Untersuchungen über den Einfluss der Digitalis usw. Hollnagel: 19. Okt. 1915. Scherpeltz: 21. Okt. 5) 6 4 4 3 4 b) b) 4 4 4 4 6 4 B) 3 3 4 4 4 4 B) 7 4 3 b) 4 3 5 4 4 5 B) 6 5 4 4 4 3 4 4 b) 5) 5 b) 4 5 3 4 4 4 4 5 4 4 5458508000382. 30607342 | 44 42 44 44 42 0d:1000.93 2142777107 62.2263 |od.: 100 95 100 100 95 Schmuggerow: 25. Okt. 1915. 6 6 6 6 3 4 7 6 5 4 3 B) 7 B) b) 4 4 3 7 5 5 3 3 4 6 b) b) 3 4 4 66 54 52 40 34 36 od.: 100 DE SEELE Schulz: 10. Aug. 1915 | 20. Aug. 1915. b) 6 6 7 6 7 8 8 Il b) 7 6 6 7 6 6 g Io (BT A LEN | Tea 0 10T? 6 6 U 6 6 7 7 821122129212 RR TB DE TO ei 56). 62..,69.68:.66..70 | 1,6 86 98 112 114 124 24. Aug. 1915. 134294 5 ee as ale es A) 1492192 215,2 182.21872220 as al ee ke ZA) De Ar TE Re a) 13,6 14,4 15,2 16,5 18,0 19,4 Gesamtmittel: S9 9,4 10,4 11,6 12,0 12,9 od.: 100 106 117 150 1355 145 Thermann: 19. Aug. 1915. | 25. Aug. 1915. 10 10 9 8) 3 8 &) I 9 ) ) ®) 10 &) g 6) 8 7 il) g & ) 9 10 i) 1) 8 ) 9 | 1m 10) I %) 9) ®) ®) I 9 8 8 7 | OBEN he) I) 9 10 9 9 8 8 8 | 10 10 %) I 9 ! NETTE 96 10,0 90 90 92 28. Aug. 1915. g & 8 8 8 8 ) I 8 8 8 8 g 8 8 $) 8 8 ©) 8 9 7 8 ] GE I es 90 86.8280 80. 7,8 Gesamtmittel: 95 93 87 84. 85 83 0od.: 100 98 91 8 8 8 924 Waldau: 28. Okt. 1915. fl 4 6 6 4 Y 6 6 6 4 b) 6 7 b) 4 4 8 B) b} 4 b) 6 6 b) 4 56 60 60 54 42 Gesamtmittel: 5,8 8,6 5,6 od.: 100 97 Wellner: 23. Aug. 1919. 7 9 6 7 6 8 8 b) 7 7 9 8 b) 7 6 9 7 b) 6 7 $) 8 6 B) 6 84.80.54. 64.068 6 26. Aug. 1915. 7 1% 110 921] 7 9 10 &) 80 98 Hugo Schulz: Gesamtmittel: 7,5 7,9 - od.: 100 105 4,0 | 97 7,0 6,0 80 4. Dez. 1915. 7 b) b) b) b) b) 6 b) 6 b) b) 4 6 6 b) b) 4 4 6 b) b) b) b) 4 b) b) b) b) b) b) 60 52 52 50 48 44 52 45 42 90:278....702 24, Aug. 1915. 7 6 B) 4 3 7 H 7 6 4 4 6 7 6 b) b) b) 6 b) 6 6 7 8 b) b) 4 6 2 3 4 62 58 56 44 36 5,6 b) 6 6 6 6 7 6 7 b) 6 8 7 8 b) 7 62 64 64 5,1 586 6,1 162.2 49x 81 Ebenso wie bei den Untersuchungen über das Grünsehen lasse ich auch hier wieder die Zahlenwerte folgen, die von Herrn Richter mit Rot erhalten wurden: Richter: Bei gleichmässig heller Beleuchtung des Gesichtsfeldes gibt Herr Richter an, dass er Rot sehe. Gesichtsfeldes verdunkelt, so sieht er sie blau, also zum Beispiel: Links rot, rechts blau. 1. Oktober 1915. 27 26 28 26 26 Gesamtmittel: 26,6 0d.: 100 26 27 94 26 25 25,6 96 24 24 23 23 23 23,4 88 23 25 27 21 22 23,6 89 Wird die eine Hälfte des 22 24 26 2 22 23, 87 2 24 22 24 21 19 22,0 83 Vergleicht man die für Rot erhaltenen, auf 100 umgerechneten Werte mit den entsprechenden Zahlen für Grün, so haben wir annähernd dasselbe Ergebnis in beiden Fällen. Von den jüngeren Neue Untersuchungen über den Einfluss der Digitalis usw. Teilnehmern an den Versuchen hält sich die Zahlenreihe bei Scher- peltz wieder höher wie bei den übrigen. jüngeren Beobachter. ec) Gelb. Hollnagel: 27. Okt. 1915. ee GAS. 33 Be 3 Bu ang NS mr 52 46 38 32 0d.: 100 88 73 61 Scherpeltz: 28. Okt. 4 2 3 2 4 3 3 3 4 3 2 3 3 3 3 2 4 3 2 3 8,81,32.81..2,677 2,6 od.: 100 74 68 68 Schinuggerow: 27. 6 5) B) 5) 6 d 4 5) 5) 5) d B) 7 5 4 6 7 5) d d 6,2 50 46 4,8 0d2:2100072 8127403717 Mit Ausnahme der Mittelwerte von Wellner, die recht un- regelmässig verlaufen, zeigen alle anderen dasselbe Bild wie bisher: Zunahme der Unterscheidungsschärfe bei den jüngeren Beobachtern, Abnahme bei mir. Leider konnte ich die Zahlen von Wellner nicht durch weitere Versuche derselben Art kontrollieren, da er zum 3 2 2 3 3 3 3 3 2 3 2,6. 8 50 54 1915 3 3 3 3 2 2 2 1 2 2 DA 63 58 Okt. 1915. | 4 4 4 4 4 4 4 3 3 3 33 836 es Militär eingezogen wurde. 9 8 8 \od.: 100 7 8 be) 12 10 9,2 Bleibtreu zeigt eine gleichmässige Zunahme der Erkenntnisschärfe für Rot dunkel und hell, im Gegensatze zu seinem Verhalten bei Grün. Werte steigen, wie bei Grün, gleichmässig an, entsprechend wachsender Abnahme der Sehschärfe. Richter endlich verhält sich, abgesehen von den hochliegenden absoluten Mitteln, genau so wie die übrigen, Schulz: Se? 127212 or? 1289213 13%..13 Thermann B) 18. Sept. 1213 190.314 14 214 I. 7213 12.22 IJISIK- Wellner: 23. 102211 10 10 12 @0 ht 102141 10,8 10,6 od: 10071172115 Meine eigenen 12,0 124 12,6 132 |od.: 100 103 105 110 6 8 {| 6 7 U 8 7 8 7 6 6 8 7 7 TOO 5 85 8 Sept. 1915. 18222122231 re a hl 141 a ale 12,8 11,4 12,0 139 124 130 1915. 13 18 14 15 13 14 137.15 14 14 13,4 14,2 112 118 : 2. Nov, 1915. 526 EN Hugo Schulz: d) Blau. Hollnagel: 29. Okt. 1915. Schmuggerow: 3. Nov. 1915. =: 1522°16%. 16015 224150 11 ET Ko 15:2..18%.16:%042. 2. 122°3]4 21922 lor 3 ae = 1%: 20.414 #>185°.17 15 Aa 9 1e 5 1 18 8 ee ee 90 216 152 1A 01418 ZA ea ae a EEE EEE HETEIEETEET TEE TEE ETETITTETETTEEN TEEN LIE TE TEE SEE FE EEE ERICH EEE 17,2 17,2 15,2 14,0 14,2 13,2 21;& 18,2: 15,8 14,2 12,4 11,6 04::1002%1002.88- 28,782 SAX 0d.:.100: 892:.74%...66..:58° 54 Scherpeltz: 5. Nov. 1915. Schulz: 22. Sept. 1915. 0. 2 12:14 142013518 4.4 3 85 4 47 22: I92 214 l4. 2 13812 40,742:7.42= 46 247.249 212214. 13.2. 12.2212. 12 | 40..748 45 .45.::.49 49 18.2.152°°.:14%13 271822412 Aa 490 49,45. 482249 18.158214. 2142122=12 | 414 43 43 46 49 49 19,8 152 138 134 13,6 122 | 40,6 42,2 432 45,4 48,0 48,6 0d.:::100.. 74 70:68. :,64-. 62 od.: 100 104 106 112 118 120 Thermann: 20. Sept. 1915. 29...28:.2:26..027.. 24.228 TR 3 m 292 21.21.2029. 210284.28 80...28 727.726 24-2] 28: 28er 29,0 27,6 26,8 35,8 23,6 21,8 0d:::100: 295.2.922,.89.2281 79 Für Blau gilt, wie sich aus den auf 100 umgerechneten Werten klar ergibt, genau dasselbe wie für die anderen Farben. Worauf es für die weiteren Versuche ankommt, ist dies: Sämt- liche, auf 100 berechneten Mittelwerte verlaufen, graphisch dargestellt, für alle Farben so, dass abgesehen von geringfügigen Schwankungen, bei den jüngeren Beobachtern die Neigung ausgesprochen ist, fort- laufend niedriger werdende Zahlenwerte zu liefern. Im Gegensatz dazu steht das Ergebnis bei Bleibtreu für Grün und für mich durchweg. Bei uns beiden steigen die reduzierten Werte ebenso gleichmässig an, wie sie bei den jüngeren Beobachtern fallen. Den wahrscheinlichen Grund dafür habe ich vorher schon ausgesprochen. Es handelt sich jetzt um die Frage: Werden unter dem Einflusse der Digitalis und anderer Präparate die Beobachtungswerte derartig verändert, dass sich aus dem Verlaufe der aus ihnen konstruierten Kurven deutlich und einwandsfrei der Schluss ziehen lässt, dass in der Tat eine Beeinflussung der Fähigkeit eingetreten ist, Hell und Dunkel bei eirer Farbe zu unterscheiden ? Neue Untersuchungen über den Einfluss der Digitalis usw. 527 "Digitalis. Die nun folgenden und alle übrigen Versuche wurden in gleich- mässiger Weise so angestellt, dass zunächst von jedem Beobachter fünf Bestimmungen gemacht wurden, ohne dass irgend etwas ein- genommen worden war. Dann wurde der zu prüfende Stoff genommen. Wie bei den Normalversuchen entspricht jeder Mittelwert zeitlich einer Dauer von 10 Minuten. Da alle geprüften Mittel in Form der alkoholischen Tinktur gegeben wurden, wurde, um möglichst gleich- mässige Dosierung zu erzielen, für alle Versuche eine und dieselbe Tropf- flasche zum Abzählen der Tropfen benutzt. Wir haben die Digitalisversuche mit der offizinellen Tinktur angestellt. Diese wird in der Weise bereitet, dass die getrockneten Blätter des roten Fingerhutes mit verdünntem Weingeist im Verhältnisse 1:10 ausgezogen werden. Ich führe diese bekannte Tatsache hier aus dem Grunde an, weil wir späterhin Präparate benutzt haben, darunter auch eins von Digitalis purpurea, die in anderer Weise hergestellt worden waren. Die aus einer der hiesigen Apotheken bezogene Digitalistinktur hielt sich etwa bis zur Hälfte der Zeit, die die ganze Beobachtung in Anspruch nahm. Ich meine, ihre Fähigkeit, das Farbensehen zu ändern, blieb solange unverändert. Dann war diese mit einem Male verschwunden. Ich weiss keinen Grund dafür anzugeben. Die Tinktur befand sich in einer braunen Flasche, wurde stets nach Gebrauch gut verschlossen in einen Schrank gestellt, so dass von einem etwaigen Einflusse des Lichtes nicht die Rede sein kann. Bei meinen früheren Versuchen, die ich eingangs dieser Arbeit erwähnte, haben wir mit derselben Tinktur, ohne irgend welche Veränderung zu bemerken, wesentlich längere Zeit arbeiten können. Wir mussten also den zweiten Teil unserer Versuche mit einer neuen Tinktur vornehmen, die wieder aus derselben Apotheke bezogen wurde und sich einwandfrei gehalten hat. Erste Reihe. In der ersten Beobachtungsreihe erhielt jeder Teilnehmer an den Versuchen nach Fertigstellung der ersten Zahlenserie zehn Tropfen Digitalistinktur mit 25 eem Wasser verdünnt. Die weitere Beobachtung schloss sich unmittelbar an die Aufnahme der Tinktur an. Wie schon bemerkt, scheidet Herr Zorn aus den Digitalis- Pflüger’s Archiv für Physiologie. Bd. 168, 36 528 Hugo Schulz: ud versuchen aus, da er auch nach Aufnahme von 15 Tropfen keine Abweichung von seinem normalen Verhalten zeigte, und ich es nicht für geraten ansah, bei ihm mit noch grösseren Dosen von Digitalis- tinktur ein Resultat zu erzwingen. a) Grün. Bleibtreu: 22. Aug. 1915. 31. Aug. 1915. 3 4 4 4 4 4 4 4 h) 4 4 6 3 3 5 3 3 5 4 3 4 4 3 4 4 b} 5 3 4 4 4 5 4 h) 4 3 4 4 3 4 3 4 4 3 4 4 3 3 4 4 5 4 > 4 3 4 4 4 4 3 36 40 44 36 34 42 38. 38.049 A9036.98 Gesamtmittel: 3,7839 43 839° 35: 40 od.: 100 105 116 109° 95. 108 Das Normalmittel war: 100 107 105 93 105 109 Schulz: 22. Juli: 1915. 26. Juli 1915. 6 6 7 fl 6 5 hi} 6 6 8 7 fi 7 7 f| 6 6 6 5 5 6 6 6 5 5 6 7 5) b) 5 bi) 5 6 7 6 7 bi} 7 6 h) 6 8 6 6 6 7 6 6 6 7 6 6 6 b} 5 B) 7 1 6 5 5,8. 06,6 8.06,6. 58.058,58 52 54 62 70 62 60 Gesamtmittel: 5,5 60 64 64 60 5,9 od.: 100 109 116 116 109 107 Das Normalmittel war: 100 100 100 103- 109 109 Thermann: 2. Aug. 1915. 12. Aug. 1915. 5) b) 7 5 b)} b) 4 8 6 3 4- 4 1, 7 7 5 4 5 8 6 4 4 5 8 7 5 4 3 5 7 5 3 4 b} 8 7 5 6 4 7 7 b} 3 De 6) 9 6 5 5 4 82226 4 3 43 48 714 68.54 5,0 4,02 .5,8.2°1,2.35.200.902149 Gesamtmittel: 44 66 70 538 41 42 00: :2100°7.150:2.159221207 2.932295 Das Normalmittel war: 100 100 9% %.94 9 Waldau: 28. Juli 1915. 2. Aug. 1915. 4 2 4 h) 8 4 4 3 3 4 3 Ar dreh ar Ad ah a 2 3 b} b) 4 4 4 3 5 5 3 4 4 6 5 4 3 4 3 5 3 5 5 5 5 4 5 4 & 4 4 3 3 38:.36 48.48 42:86 38 BA AA 38 3,4 Gesamtmittel: 3,8 35 46 43 38 3,6 00:::1000. 927721. 1137100°295 Das Normalmittel war: 100 100 9 1 32 8 Neue Untersuchungen über den Einfluss der Digitalis usw. 529 Wellner: 21. Aug. 1915. 27. Aug. 1915. A HAFT 6::0..05€ 35 7 7 0 780086 6 AEDERREON al... de! GER SALE a ae a RE 628758 dl | 3 U) 672:6 7 SS 7 6906 BE 5 5 62226 U | S6 7 6 38 56 58 58 54 52 6,678 :1.057.,82.,0.02206:20: 64 Gesamtmittel: 5,2 6,6 6,8 6,4 58 5,8 OT Das Normalmittel war: 10 3 8 8 89 7 Das Ergebniss dieser Versuchsreihe, bei der alle Teilnehmer sich unter dem Einflusse der Wirkung von zehn Tropfen Disgitalis- tinktur befanden, stellt sich so, dass ausnahmslos nach Verlauf der ersten 20 Minuten nach Aufnahme der Tinktur eine deutliche Ver- schlechterung der Fähigkeit, Hell und Dunkel bei Grün unterscheiden zu können, zutage tritt. Entsprechend diesem Verhalten im einzelnem muss sich dasselbe ergeben, wenn wir aus allen Mittelwerten das Gesamtmittel berechnen und dies in Form einer Kurve wiedergeben. Was diese und die folgenden Kurven anlangt, so sei zu ihrem Verständnis kurz bemerkt, dass die Abszisse der Zeitdauer des Versuches entspricht. Die Zahlen bedeuten Minuten. Die Ordinaten entsprechen den auf 100 berechneten Werten des Gesamtmittels. Je höher sie ansteigen, um so mehr sinkt die Fähigkeit, Hell und Dunkel zu unterscheiden. Das grosse Gesamtmittel für die Beobachtungszahlen der an dieser Versuchsreihe beteiligten Personen beträgt unter normaler Bedingung: 100 100 94 9 94:9 [3 [3 r “ je ii o .. no 0.0.90 „oo nee. ».® Fig. 1. 36 * 530 Hugo Schulz: Das Mittel aus der Versuchsreihe mit zehn Tropfen Digitalis- tinktur beträgt: 100 118 129 118 102 104 Beide Zahlenreihen sind in der Kurve (Fig. 1) so dargestellt, dass die durchgezogene Linie den Normalzahlen, die punktierte den Digitaliswerten entspricht. Für die weiteren Kurven gilt dasselbe. b) Rot. Bleibtreu: 20. Sept. 1915. 30. Sept. 1915. b) 4 2 3 4 4 5) b} 2 B) 2 3 5 6) 3 3 4 4 5) 3 3 4 3 4 7 3 2 b) 3 4 4 3 3 4 3 4 ee en Beh b) 4 4 6 4 3 4 3 3 3 3 b) 36 36 28 44 38 38 46 30 26 34 30 40 Gesamtmittel: 51 33 2,7 39 34 39 od.: 100. 65 53 76 67 .76 Das Normalmittel war: 100 98 9 8 76 78 Schulz: 21. Aug. 1915. 30. Aug. 1915. 11 10 se 10212 10: 2122 2117100128212 10. 10 9221222137213 11:2,.11...1052.122 2122274 122° 11.22107 2.152 72218 12 1 92113. Jazz 132.,.10721025:11:7.1277718 12:2 11.221021 2 1220914 11:11 92118 DNS 11,4 104 92 112 12,4 13,2 11,4 11,2 10,0:11.2. 1222134 Gesamtmittel: 11,4 10,8 9,6 11,2 12,3 13,3 od.: 100 9 8 98 108 117 Das Normalmittel war: 100 106 117 130 135 145 -Thermann: 23. Aug. 1915. 31. Aug. 1915. 10 9 7 7 9510 9 7 8 7 7 9 10 9 7 8 el 9 7 6 6 6 10 10 8 6 7 I 9 8 5 6 8 1% 11 8 7 7 910 9 7 4 7 9 8 10 7 6 8 92.210 9 7 6 8 9 9 102 82 66 74 90 104 90 72 58.68 78 92 Gesamtmittel: 96 7,7 62 71 84 98 od.: 00 80 64 74 87 102 Das Normalmittel war: 00 98 91 8 8 8 Waldau: 1. Nov. 1915. 4 2 DR 2 1 4 6 4 2 1 4 4 5 44 28 16 30 44 5,0 0d.: 100 64 36 68 100 114 Das Normalmittel war: 100 9. 97 9% 71 7% Neue Untersuchungen über den Einfluss der Digitalis usw. 531 Wellner: 2. Sept. 1915. - - | 18. Sept. 1915. 6 5 5 > 7 T fi 6 7 4 4 6 6 5 4 5 6 6 5 8 5 4 6 5) 8 6 4 6 6 6 5 6 B5) 4 5 4 8 5 4 6 7 7 4 5 4 4 DA: 8 4 4 6 7 7 Ü 3 3 5 5 4 7905002005866 066 56 56 48 42 50 46 Gesamtmittel: 64 53 45 50 58 56 00%: 100502 8382310, 227882. 9177587 Das Normalmittel war: 100 105 80 6% 35 8 Bei den Beobachtungen mit Rot, der Kontrastfarbe zu Grün, ver- halten sich unter ganz denselben äusseren Bedingungen die Mittelwerte im: Verlaufe jedes einzelnen Versuches genau umgekehrt wie bei Grün. Entsprechend der durchweg eintretenden Verschlechterung des Unter- scheidungsvermögens für Hell und Dunkel bei Grün unter dem Ein- flusse der Digitalis sehen wir bei Rot zur selben Zeit eine wesentliche Verbesserung eintreten. Das ganze Normalmittel der fünf beteiligten Beobachter hatte für Rot betragen: 1005.1012097.729022947 91 Unter dem Einflusse von zehn Tropfen Digitalistinktur stellte sich das Mittel so: TEE 100528182662 2818932101 Die folgende Kurve verdeutlicht dies Verhältnis der beiden Zahlenreihen zueinander: “do 00o0% [ ee Pro, vo, o = . “oannı * [II TIITITTET mm eo» nenne > „ent. 532 Hugo Schulz: ce) Gelb. Schulz: 20. Sept. 1915. ber ee 1255212751977 51452140215 10°, Ss], i32 2132.15 152 7142 214 O2 lol A ARE 11,6 12,0 12,8 13,6 14,0 14,6 0d.:71002°1032 1102 117° 12122126 Das Normalmittel war: 100: 103 105 110 113 118 Wie der Vergleich der beiden auf 100 umgerechneten Reihen ergibt, ist von einem Einfluss der Digitalis auf das Gelbsehen nichts zu bemerken. Beide Zahlenreihen steigen gleichmässig an. Dasselbe gilt für die folgende Beobachtungsreihe: Wellner: 22. Sept. 1915. 8 8 8 9 e) ) 7 9% 8 92:10 8 hl 80 84 9,6 od.: 100 105 120 Das Normalmittel war: 100 117 115 91172812 124. 1417510 107211 2..10 102.10 7210 323127212 10,0 11,0 10,8 125 137 185 139 124 130 Die unter dem Einflusse der Digitalis erhaltenen Werte liefern eine Reihe, die geradezu als normal verschiedenen obachtungen konnte davon abgesehen Nach diesen an zwei Gelb fortzusetzen. angesprochen werden kann. Personen angestellten Be- werden, die Versuche mit d) Blau. Schulz: 23. Sept. 1915. 41 46 48 50 54 56 49°..1407.,48°. 201. 2 58%. 54 46 41. .48.:52 54 56 45 Al AI 92 Dan 45 ..46 49 49.54 58 45,6 46,4 48,4 50,8 53,6 56,2 od.: 100 102 106 111 117 13 Das Normalmittel war: 100 104 106 112 118 120 Für die Versuche mit Blau ergibt sich dasselbe Resultat wie für Thermann: 21. Sept. 1915. 23°. 22.293:2.202018°.217 2307.,.22.21. 2205718220 2322.22 2212.19 27 2192 216 23..,01.2:20° :192 182 7 RE N tl 23,8 21,8 20,8 20,0 18,0 17,4 0d.: 100: 91-87 84.76: = 73 Das Normalmittel war: 1002997 29227. 892 817275 die mit Gelb: kein Einfluss der. Digitalis. Neue Untersuchungen über den Einfluss der Digitalis usw. 533 Zweite Reihe. Diese, wie auch meine früheren Versuche mit Santonin und Digitalis würde ich anzustellen keine Veranlassung gehabt haben, wenn es mir nicht besonders darauf angekommen wäre, ihr Ergebnis zu einem weiteren Ausbau und zur experimentellen Stütze des von Rudolf Arndt zuerst ausgesprochenen Biologischen Grund- gesetzes zu verwenden. Da es den Anschein hat, als ob das Arndt’sche Gesetz und damit auch der Autor desselben Gefahr läuft, totgeschwiegen zu werden, besten Falles, dass der Inhalt des Gesetzes und die daraus sich ergebenden fundamentalen Folgerungen als etwas Selbstverständliches und allgemein Bekanntes hingestellt werden, so nehme ich an dieser Stelle nochmals die Gelegenheit wahr, ausdrücklich auf das Arndt’sche Biologische Grund- gesetz aufmerksam zu machen. In seiner, im Jahre 1885 er- schienenen Monographie „Die Neurasthenie“ hat Rudolf Arndt sein Gesetz zuerst formuliert und ausgesprochen. Auf S. 32 heisst es: „Zu den wesentlichsten Eigenschaften des Protoplasmas gehört seine Reizbarkeit, die sich in grösserer oder geringerer Beweglichkeit wenn auch nur seiner kleinsten Bestandteile untereinander, zu er- kennen gibt. Und in bezug auf diese gilt nun durchaus: Schwache Reize fachen sie an, mittelstarke beschleunigen sie, starke hemmen und stärkste heben sie auf.“ Diesen Satz hat dann Arndt später in seinen, 1392 erschienenen „Biologischen Studien“ noch mit einem Zusatz versehen, der nicht unbeachtet bleiben darf. Auf S. 75 des ersten Bandes sagt er im Anschlusse an seinen Lehrsatz: „Aber individuell ist, was sich als einen schwachen, einen mittelstarken, einen starken oder sogenannten stärksten Reiz wirksam zeigt.“ Das Biologische Grundgesetz mit der ihm von Arndt gegebenen Erweiterung ist die Grundlage für diese und alle übrigen, bisher von mir ausgeführten und veröffentlichten Versuche, auch der in Pflüger’s Archiv, Band 42, erschienenen Abhandlung „Über Hefegifte* gewesen. Schon in meiner ersten Mitteilung über den Einfluss der Digitalis auf die Fähigkeit, Hell und Dunkel beim Farbensehen unterscheiden zu können, habe ich eine weitere Be- stätigung für die Richtigkeit des Arndt’schen Gesetzes erbringen können. Und wie in jener, so handelt es sich auch in dieser, hier 534 Hugo Schulz: vorliegenden Untersuchung um die Frage: Ist die Annahme gerecht- fertigt, dass, wenn eine Organfunktion durch irgend einen Einfluss beeinträchtigt wird, diese Beeinträchtigung in das Gegenteil um- schlagen msus, wenn der wirksame Reiz in seiner Energie genügend modifiziert wird? Die jetzt mitzuteilende Versuchsreihe verlief unter genau den- selben äusseren Bedingungen wie die erste. Der einzige Unterschied zwischen beiden ist nur der: Während jeder von uns in der ersten Reihe 10 Minuten nach Beginn des einzelnen Versuches zehn Tropfen Digitalistinktur einnahm, erhielt er in dieser zweiten Reihe nur einen halben Tropfen. Es wurde ein Tropfen Tinktur in 10 cem Wasser gegossen, dann kräftig umgeschüttelt und die Hälfte davon gegeben. e) Grün. Bleibtreu: 6. Sept. 1915. 14. Sept. 1915. 4 b) 5 4 4 3 B) b) 3 b) b) 6 4 4 3 3 4 4 6 5 2 4 5 6 7 3 2 4 4 5 5 3 4 b) 6 6 5 3 3 4 4 5 5 4 3 h) 5 5 5 3 4 3 5 5 5 4 4 6 6 6° 5,0 :3,6. .3,0°8,6:..4,2 74,4 52 42'382 50.54 58 Gesamtmittel: 51 39 31 43 48 51 od.: 100 76 61 84 94 100 Das Normalmittel war: 100 107 105 93 105 109 Schulz: 4. Aug. 1915. 14. Sept. 1915. 4 3 4 3 b) 6 | 6 7 b) 6 7 fo) 4 2 2 2 b) 5 8 6 6 7 9 7 4 3 4 3 5 b} 7 6 b) 7 8 9 BB Te Br de Lg 5 2 4 3 4 3 8 6 6 7 9 ) 46 2,6 34 30 46 4,6 12 62 54 68 80 84 Gesamtmittel: 59 44 44 49 63 65 od.: 100 74 74 81 107 110 Das Normalmittel war: 100 100 100 103 109 109 Thermann: 16. Aug. 1915. 15. Sept. 1915. 8 7 3 6 5 7 3 6 h) b) 8 7 7 6 3 5 b) 7 7 5 b) b} 7 8 7 b) 3 6) 6 6 8 b) 6 6 6 7 6 6 4 5 7 6 7 5 6 6 7 6 7 5 4 5 6 6 7 6 5 7 8 7 1,0.:8,8:.1954.::5,2,,58°56.4 74 54 54.58 72:70 Gesamtmittel: 7,2 56 44 55 65 6,7 od.: 00 738 61 6% 90 9 Das Normalmittel war: 100 100 9% 9% 9 -9 Neue Untersuchungen über den Einfluss der Digitalis usw. Waldau: 2. Aug. 1915, 3 5 4 3 5 4 4 4 5) 3 42 3,8 od.: 100 90 Das Normalmittel war: 100 100 Wellner: 25. Aug. 1915. 7 6 6 7 7 7 8 7 7 7 8 6 7 5 6 7 7 7 7 6:6 7, 7 6 8 6 6 5 9 8 7420.02 62 66.7668 Gesamtmittel: 7,1 6,0 od.: 100 84 Das Normalmittel war: 100 95 5,5 77 83 6,1 86 88 3 4 3 3 5 b) 2 4 3 2 4 4 3 4 hi) 26 42 40 62 100 9 9827289 31. Aug. 1915. b) 7 b) 6 7 5 7 6 d 8 h) 4 8 5 5 6,38 6,0 4, 6,7 6,9 94 9 0 7 XI II DO oo SI (918 Ks) Ser) 599 [or Koriii Eioriferifer) Wie der Überblick auf die Mittelwerte ergibt, vermissen wir bei keinem der am Versuche Beteiligten die deutliche, nach der Aufnahme der Digitalistinktur eintretende Herabminderung der Unter- scheidungsbreite. Wir haben mithin das umgekehrte Bild vor uns, wie wenn mit zehn Tropfen Digitalistinktur gearbeitet worden war. Hugo Schulz: eb} 1 S$) {op} Berechnen wir aus sämtlichen Mittelwerten das Gesamtmittel, so stellt sich dies für diese Versuchsreihe so: 1007 2280722:69°::800..:97.7.:98 Das entsprechende Normalmittel war: 100 1009 9 94 94 Die vorstehende Kurve (Fig. 3) illustriert deutlich die charakte- ristische Abweichung des Verhaltens der Unterscheidungsfähigkeit gegenüber normalen Verhältnissen, wenn ein halber Tropfen Digitalis- tinktur genommen worden war. f) Rot. Bleibtreu: 25. Sept. 1915. 28. Sept. 1915. 4 5 3 92422 4 5 Hase An 3 2 6 B) 2 4 3 3 6 7 B) + 4 2 6 4 b) b) b} B3 b) 6 4 4 4 3 4 b) 3 4 b} 7 d 4 4 6) N | 2 3:4 Bunde 3 2,8:.3,0:8,4.2.3,8: 4.098 32 54 56 3,8 38. 3,4 Gesamtmittel: 3,0 52 45 38 39 31 od.: 100 173 150 127 130. 103 Das Normalmittel war: 100 98 91 89 76 78 Sehulz: 26. Aug. 1915. | 16. Sept. 1915. 1:.0]4112,341227.1272215 | 8.14.14 7158 142213 11:13 .10200711.2215. 12 | 952719. 516, 214 13,816 12,235. Sasse | 11 152216, 16219 213 2132122. Se | 182592102 192132214 3.1021, U 2,7232 | 14.172.216 25 ll 11,8 12:6 11,0 11,4 11,8: 11,8 | 11,0 14,8 15,8 15,0 13,6 13,8 Gesamtmittel: 11,4 13,7 13,4 13,2 12,7 12,8 0d.:= 100120. 1714 116. 21115 112 Das Normalmittel war: 100 106 117 130 135 145 Thermann: 4. Sept. 1915. 17. Sept. 1915. 1022107 1125107210210 | 1121022102 2137 212 g 1974117271292 1027310=210 | 10° 10: 12-14: 10 9 19.2212.1252.102.210%2.10 | 10 972 11,,214 10 9 10,212 219 e) 8 | 97109212218 2107210 ee ee) | 10 SE) 9 10,0 11,4 11,621002.98.96 | 1002100 11,6.23.20102. 92 Gesamtmittel: 10,0- 10,7 11,6 11,7.10,1 94 0d.:1002.197.2116°. 11721017394 Das Normalmittel war: 10 98 91 8 8 83 Neue Untersuchungen. über den Einfluss der Digitalis usw. 537 Waldau: 30. Okt. 1915. 3 2 6 4 3 2 4 4 6 4 3 2 4 4 . 4 2 2 3 6 6 3 2 2 2 6 5 3 2 2 324.44 60.36.2420 0022100, 13702187 112927582262 Das Normalmittel war: 10 5 8 8 8 7 Wellner: 14. Sept. 1915. ' 16. Sept. 1915. B) d 6 7 5 5 | 6 6 ) 7 7 7 b) 5 6 6 5) 6 5 DS 7 7 5 4 6 6 7 6 4 6 6 7 6 7 B) 5 6 6 8 5 5) B) 8 8 6 7 6 N ON SE N area‘ | SER Gesamtmittel: 52 61 71 66 63 5,6 od.: 100 117 1386 127 121 108 Das Normalmittel war: 100 15 80 76 75 8 Das Gesamtmittel aus allen Mittelwerten dieser Serie stellt sich auf: 100 121 129 118 108 100 Das entsprechende Normalmittel war: LOGOS ITEEE IE III Es ergibt sich aus dem Vergleich der beiden Reihen deutlich, wie sehr die Fähigkeit, Hell und Dunkel bei Rot zu unterscheiden, beeinträchtigt wurde, wenn die Beobachter unter dem Einfluss der Wirkung von einem halben Tropfen der Dieitalistinktur standen. 130 ANOEOORE . 125 120 SEM ° ’ Onerntrnn a 115 Q Ä N 110 ® 105 100 95 90 538 Hugo Schulz: Die vorstehende Kurve (Fig. 4) zeigt genau das gegenteilige Verhalten zu der Kurve, die die Einwirkung von zehn Tropfen Digitalistinktur beim Arbeiten mit Rot ergeben hatte. Wenn man alle bisher dargestellten Kurven untereinander ver- gleicht, so ergibt sich, dass für Rot unter denselben Bedingungen das gerade Gegenteil gilt wie für Grün. Die Beobachtungen mit der einen Farbe werden durch die mit der anderen gewissermaassen kontrolliert. Im Anschluss an diese Versuche, die von Personen ausgeführt wurden, die für Rot und Grün normalsichtig waren, mögen nun die entsprechenden Beobachtungen und das Ergebniss derselben führen, die von Herrn Richter, der rot- und egrünblind ist, angestellt worden sind. Versuch mit zehn Tropfen Digitalistinktur : a) Grün. 29. Sept. 1915. 34 32 30 29 26 29 33 al 28 27 28 27 32 30 25 29 28 27 32 28 28 28 29 27 34 30 26 Du 28 27 330 302 280 28,0 27,6 27,4 od.: 100 91 8 35 34 fob} Das Normalmittel war: 100 97 92 79 77 75 Ein Blick auf beide Mittelreihen ergibt, dass von einen Einfluss der Digitalis in diesem Falle keine Rede ist. Ganz anders stellt sich dagegen das Ergebnis für Rot. Es erschien nach dem ersten Versuche so auffallend, dass ich Herrn Richter veranlasste, den- selben Versuch noch einmal zu wiederholen, wie man sehen wird, mit demselben Resultat. b) Rot. 4. Okt. 1915. 5. Okt. 1915. 4a 4 3 39 4 40 a 2 8 2383 38 4 3 3 4 4 42 42 3195 3 4 4 21 93 05 20 29 8 li 105 208: 05.59 .40..40 2.91 5 40 20 38 | 4 99 5.141,09 en | 02 00 29 u 232 22,6 258 41,6 432 392 | 240 22,6 26,6 33,6 402 41,0 Gesamtmittel: 23,6 22,6 26,2 37,6 41,7 40,1 od.: 100 96 107 160 177 170 Das Normalmittel war: 00 96 8 89 97 8 Neue Untersuchungen über den Einfluss der Digitalis usw. 539 Ein Vergleich beider Mittel ergibt eine sehr starke und bis zu Ende des Versuches anhaltende Verschlechterung der Fähigkeit, bei Rot Hell und Dunkel unterscheiden zu können. Mit anderen Worten: Herr Richter verhält sich nach dem Einnehmen von zehn Tropfen Digitalistiuktur beinahe so wie alle anderen Beobachter nach Auf- nahme von einem halben Tropfen. Seine absoluten Werte liegen an und für sich schon hoch; auf 100 berechnet zeigt sich aber dazu noch, dass sie auch unter dieser Bedingung die der übrigen Be- obachter stark übertreffen. Ausserdem bleiben sie, wie schon gesagt, hoch bis zum Ende des Versuches, während sie um diese Zeit bei anderen Beobachtern deutlich wieder sinken. Offenbar aber ist es möglich gewesen, bei Herrn Richter mit der grossen Digitalisdosis noch eine deutliche Reaktion für Rot hervorzurufen, während dies bei Grün nicht erreicht wurde. Versuch mit einem halben Tropfen Digitalistinktur: a) Grün. 27. Sept. 1915. 37 37 34 32 3l 26 35 35 32 29 29 27 37 34 32 32 28 26 36 33 30 30 28 26 38 34 32 al 28 27 36,6 34€ 32,0 30,8 28,8 26,4 od.: 100 94 87 54 79 72 Das Normalmittel war: 100 97 92 79 77 75 Dasselbe negative Ergebnis hinsichtlich einer Veränderung in der Unterscheidungsfähiekeit durch das Einnehmen von einem halben Tropfen Digitalistinktur, das sich aus dieser Beobachtung für Grün -ergibt, zeigt sich auch bei Rot; b) Rot. 2. Okt. 1915. 30 30 26 23 23 23 33 27 25 25 22 22 27 28 24 24 24 22 29 30 28 24 23 21 28 29 29 23 22 22 294 28,8 26,4 23,8 28 22,0 od.: 100 98 90 8 77 75 Das Normalmittel war: 100 96 88 89 87 833 540 Hugo Schulz: Strophanthus. Die mit der Digitalistinktur gemachten Erfahrungen liessen unwillkürlich den Gedanken aufkommen, wie sich die therapeutisch ihr nahestehende Strophanthustinktur verhalten würde in Hinsicht auf eine etwaige Beeinflussung der Unterscheidungsschärfe für Hell und Dunkel bei Grün und Rot. Da die Maximaldosis der Strophanthus- tinktur dreimal niedriger ist wie die der Digitalistinktur, sind wir zuerst mit etwas Vorsicht an sie herangegangen. Da indessen nach Aufnahme von fünf Tropfen keinerlei Wirkung auftrat, habe ich noch einmal zehn Tropfen genommen, mit demselben negativen Resultat. Um den Leser nicht durch ein Übermaass von Zahlen zu er- müden, werde ich mich hier und in der Folge darauf beschränken, bei den Versuchen mit negativem Resultat lediglich die Mittelwerte anzuführen. Am 27. September 1915 nahm Fräulein Thermann fünf Tropfen Strophantustinktur, nachdem sie vorher die üblichen fünf Normal- bestimmungen mit Grün ausgeführt hatte. Die weitere Anordnung des Versuches verlief hier wie auch bei allen weiteren Versuchen gerade so wie bei den Versuchen mit Disgitalis. Die Mittelwerte waren: 84 80.76...00..68..62 oder: 100% .9922.9027.2.83,.2,8122 74 Das Normalmittel war: 100221002296 722906, 2:94 292 Von irgend welcher Zu- oder Abnahme der Mittelwerte, die ihren gleichmässigen Verlauf, als Kurve gedacht, unterbrechen, ist nichts zu sehen. Am selben Tage nahm ich ebenfalls fünf Tropfen Strophanthus- tinktur. Die Mittelwerte waren: 8,82.29,0: 2902.:902..98.298 oder: 10022102 7210221022111. 2111 Am 28. September 1915 nahm ich zehn Tropfen der Tinktur. Die Mittelwerte waren: 98 96 10.2 10,6 10,8 112 oder: 1007.2:97.2.102.3.108. 2110/22114 Mein Norinalmittel für Grün war: 100 100 100 103 109 109 Neue Untersuchungen über den Einfluss der Digitalis usw. 541 Aus beiden Versuchen ergibt sich auch hier nichts, was für eine Wirkung der Strophanthustinktur spricht. Der negative Erfolg unserer Versuche veranlasste uns, dieselben abzubrechen und weiteres Material durchzuprüfen. Gratiola. Auf der Suche nach Pflanzenstoffen, die der Digitalis ähnlich wirken könnten, fand ich in dem Handbuch der homöopathischen Arzneimittellehre von Noack und Trinks unter den Ergeb- nissen der Arzneiprüfung von Gratiola officeinalis die An- gabe: „Erscheinen aller Gegenstände, selbst des Grüns der Bäume und des Rasens in weisser Farbe beim Öffnen der Augen.“ Da Präparate der Gratiola in der Pharmakopoe nicht vorgesehen sind, bezog ich die Tinktur aus der homöopathischen Apotheke von A. Marggraf iin Leipzig. Aus derselben Quelle stammen auch die übrigen, im Anschluss an die Gratiolatinktur geprüften Tinkturen. Dargestellt wird die Gratiolatinktur in der Weise, dass das frische, vor der Blüte gesammelte Kraut möglichst fein zerteilt und dann ausgepresst wird. Der ausgepresste Saft wird sofort mit der gleichen Gewichtsmenge 90 °/oigen Alhohol versetzt und kräftig um- geschüttelt. Nach S Tage langem Stehen wird die über den Pflanzentrümmern stehende Flüssigkeit abgegossen und filtriert. Die so gewonnene Tinktur schmeckt schwach bitter. Wie bei der Digitalis haben wir auch mit der Gratiola zwei grosse Versuchsreihen angestellt, die erste in der Weise, dass jeder von uns zehn Tropfen nahm, die zweite mit je einem halben Tropfen ausgeführt wurde. Erste Reihe. a) Grün. Hollnagel: 18. Okt. 1915. | Scherpeltz:,19. Okt. 1915. b) 8 6 b) b) 4 b) 7 8 b) 4 b) b) 6 6) h) 4 b) b) 8 6 6 5 4 5 7 5 6 5 4 6 9 5 5 4 5 6 6 5 5 4 4 | 5 8 4 5 4 4 6 6 6 5 4 4 | 5 8 5 5 4 4 54 66 54 52. 44 42 | 5,20.8.0225,6 15,2 74,27 744 00.2100 71227100296. 81 78 'od.: 100 154 108 100 81 85 Das Normalmittel war: - "Das Normalmittel war: 100205950293724932..90.2 83 100 97 103 103 103 100 - 542 Hugo Schulz: Schmuggerow: 21. Okt.1915.| Schulz: 2. Okt. 1915. 6 6 8 6 6 5 13...12 16.16 16.014 6 7 7 6 6 6 11:2 152°.16,,18° 162,14 6 6 f 5 5 5 1322 142 7182 2172 219.215 6 6 7 6 6 6 12:2:19:22190:, 127232142 =: 5 8 7 5 5 4 125:.2.30 2 19 a N 1472 312 58. 6,6 7,2. 5,0..96.2 52%) 12,2 14,3 17,6 17,0 15,0 13,0 od.:. 1007114 124 2.99.2.2.972 290 od.: 100 121 14 140 123 107 Das Normalmittel war: Das Normalmittel war: 100 78 7 70:70. 59 100 100 100 103 109 109 Thermann: 15. Okt. 1915. 7 82. 1100,1937210 6 822191907210 7 en N I) Teva LOAD 8 1108.10 21 6 6 6,8 90 11,8 11,6 86. 6,0 od.: 100 132 173 171 126 88 Das Normalmittel war: 10010 % 9% 4 9 [oriXerifer&Xer Wenn wir auch hier, wie bei den entsprechenden Versuchen mit der Digitalis, aus sämtlichen Mitteln das grosse Gesamtmittel berechnen, so stellt sich dies so: 100 127 1%4 125 10 95 Das entsprechende Normalmittel war: 100 91 92 88 87 85 sarunooeeee s . [) “ “ “ ....u... “„u.eu.oeo sun....... Boo0090,000B00 0 soon 000000000 0000 00€ [3 [2 ® e ® [3 . “.ooe000 00000 Fig. 5. Neue Untersuchungen über den Einfluss der Digitalis usw. 543 Wie nach der Aufnahme von zehn Tropfen Digitalistinktur sehen wir hier beim Vergleich der beiden Zahlenreihen ebenso die ganz wesentliche Verschlechterung im Upterscheidungsvermögen von Hell und Dunkel bei Grün auftreten, wenn zehn Tropfen Gratiola- tinktur genommen worden waren. b) Rot. Hollnagel: 23. Okt. 1915. | Schmuggerow: 26. Okt. 1915. may | RE 4 2 3 3 4 B) 7 4 4 7 7 6 NE | a 3 2 3 3 4 4 | 6 4 5 6 7 7 lee 3. 3.,82 BEE en 3:8.2.22.3.0.78,0..8,8 8,6 64 44 44 64 72 70 od.: 100 58 80 80 100 9 04.:21007 7707701007113 109 Das Normalmittel war: Das Normalmittel war: 1002293274770 64.265 10022782228087260= 518254 Scherpeltz: 27. Okt. 1915. Schulz: 16. Okt. 1915. 8 7 5 5 6 6 al) 9 7 872119 8 5 5 > 6 6 1l 9 7 7 9712 7 5 6 5 5 6 129210 8 Te ES 8 5 5 6 6 6 12 9 7 Ur ae nl 8 5 6 5 5 6 12 8 6 SH 18 54 54 52 56 60 116 92 74 72 10,4 124 0od.: 100 69 69 ee | od.: 100 .80 64 2 90 107 Das Normalmittel war: Das Normalmittel war: 100 95 100 100 95 100 100 106 117 130 :185 145 Thermann: 3. Nov. 1915. 8 Ü 6 4 7 8 8 7 5 5 8 8 8 6 4 6 8 8 8 6 3 6 8 8 8 6 4 6 8 8 80-064 2 44275418 28,0 0I=2100592.80729755, 2° 6700029702100 Das Normalmittel war: 00 98 9 8 89 8 Das Gesanıtmittel aus allen Reihen dieser Serie stellt sich auf: 1002 132,169 120 2.99,2:99 während das entsprechende Normalmittel sich berechnet auf: 1002..9827.95229477.892291 Das Endergebnis ist mithin im grossen und ganzen dasselbe, wie wir es bei den entsprechenden Versuchen mit der Digitalis- tinktur erhalten hatten. Pflüger’s Archiv für Physiologie. Bd. 163. 37 344 vo v.u„ee.e”oo og .Booon»» 10 Hugo Schulz: wo@aa0000 20 .auea& %o o © « ® ® @ 40 50 30 Fig. 6. ce) Gelb. Da weder bei den nun zu schildernden Versuchen mit Gelb noch auch bei denen mit Blau ein Unterschied gegenüber dem Ver- lauf der Versuche, bei denen kein Arzneistoff genommen worden war, sich herausgestellt hat, werde ich mich darauf beschränken, nur die aus den Einzelzahlen berechneten Mittel anzugeben. Hollnagel: 28. Okt. 1915. 3,62. 3,8.2 8,2,22,6 1,2,2.002,2 od.: 100 106 89 72 Das Normalmittel war: 1002788223732 01 61 50 61 54 Schulz: 2. Nov. 1915. 74 74 80 od.: 100 100 108 Das Normalmittel war: 100 103 105 Scherpeltz: 30. Okt. 60 58 48 :.48. 40 od.: 100 97 80 80 67 Das Normalmittel war: 100 4 68 68 6 3292 98 111221943132 110 112 118 Das Gesamtmittel aus diesen Werten ist: 100 Das Normalmittel war: Scherpeltz: 6. Nov. 1915. 100 158 148 138 132 123 128 0od.: 100 9a 897 8 Das Normalmittel war: 1007 77 = 702.268 8 64 1902:93...917 892295 4 9% 9% 87 9 d) Blau. Schmuggerow: 5. Nov. | 140 116 108 4 9 sl 10d.: 100. 8 77.67 66 | Das Normalmittel war: 62..:| 100. 85.74 ..66..:58 1915. 42 70 58 1915. 84 60 54 Neue Untersuchungen über den Einfluss der Digitalis usw. 54 [eb2 3 Das Gesamtmittel für Blau ergibt sich zu: 10027. 830282 75 lu), Das Normalmittel war: LISTET 265 Für Gelb und Blau gilt also nach Aufnahme von zehn Tropfen Gratiolatinktur dasselbe. wie nach Aufnahme von zehn Tropfen Digitalistinktur: Kein Einfluss auf die Unterscheidungsschärfe für Hell und Dunkel bei beiden Farben. Zweite Reihe. Die nachfolgenden Versuche wurden mit einem halben Tropfen Gratiolatinktur angestellt. a) Grün. Hollnagel: 22. Okt. 1915. | Schmuggerow: 20. Okt. 1915. De ne ge ar ne 5) 3 2 2 4 5 7 6 5 7 U 7. 6 4 2 3 4 6 | 7 5 7 6 7 6 6 8. al 4 4 5 | 6 5 7 6 7 8 5) 3 3 4 4 6 8 7 1 7 6 7 56 34 24 32 40 52 I 00a al 3 11042: 100,2 83.917227. 9429771:00 Das Normalmittel war: ı Das Normalmittel war: 100.029522.937 29327905285 1002 78 2077822,102 2700259 Scherpeltz: 25. Okt. 1915. Schulz: 14. Okt. 1915. 6 4 2 4 3 3 7 7 4 3 7 7 5 4 o 4 3 5 8 7. 5 4 6 7 6 5 2 4 3 3 8 5) 4 4 6 7 5 4 2 4 3 4 8 5 4 4 7 {Zi 5 2 4 4 3 3 8 4 3 3 7 7 94 38: 26 40 30 32 1,8 2.9:6, 24.052.8:06210:02..77.0 od.: 100 70 ‚48 142 2552.59 0422 1002 25T 62285890 Das Normalmittel war: Das Normalmittel war: 10072972103. 710372103 2100 100 100 100 103 109 109 Thermann: 30. Okt. 1915. 8 8 4 4 7 M 8 7 4 4 nl 8 6 5) 3 5 8 fo) ee 8 4 3 6 8 8 a od.: 100 -A 4 9 95 9 Das Normalmittel war: 100. 00 % 9% 9 9 Baln 546 Hugo Schulz: Das Endergebnis ist auch hier dasselbe wie bei den entsprechenden Versuchen mit Digitalistinktur. sich auf: 100 88.297 Das erosse Gesamtmittel stellt 66 84 89 während das grosse Normalmittel sich berechnete auf: Ile 92 100 95 90 8 80 75 70 65 60 55 10) 10 serP 0 @1 PP LI 50 8 E00. 000 Hollnagel: 22. Okt. 1915. 3,8 od.: 100 Das Normalmittel war: 100 So 00 SI 7 od.: 100 -112129°2100 Das Normalmittel war: 3 6 5 2 2 6 4 3 3 5 4 5) 3 5 4 2 5 6 4 a 32 56 42 26 8422147221112 2.168 393 74 70 67 Scherpeltz: 26. Okt. 6 8 8 6 Ei) 6 6 8 10 7 6 8 8 6 6 9 8 7 6 68 76 88 68 6,0 88 9 100 100 95 100 88. 81. 1,8 ou o004® ® .o....s ...o‚e.e....„ ee. v......0 30° 10 2200 60 20 Fig. 7. b) Rot. Schmuggerow: 1. Nov. 1915. % 5 8 7 8 6 5 3 8 7 7 7 6 6 2 8 8 7 7 7 5 3 6 6 9 7 6 5 2 6 702.10 6 6 4 2,6 6,6..:10,2°28.02°1:.0 6,2850 68 od.: 100 109 121 106 94 - 76 Das Normalmittel war: 63 100 82 8 60 51 54 1915. Schulz: 28. Okt. 1915. 6 10:2 102187217. 216 2116 6 117214727170 221722162 .16 6 ae ale el a 6 127216°2.2160.2162..16 15 6 12°721622.18-22 12.216215 6,0 11,2 144 17,2 16,8 15,8 15,4 88 od.: 100 129 153 150 141 137 Das Normalmittel war: 100 100 106 117 130 185 145 Neue Untersuchungen über den Einfluss der Digitalis usw. 547 Thermann: 1. Nov. 1915. 5 5 9 ie) 5) 6 5 6 9 8 6 6 5 6 I 7 6 5 5 6 he) 7 7 3 5 7 9 7 6 3 50 60 90 76 60 46 od.: 100 120 180 152 120 92 Das Normalmittel war: 100 98 91 8 89 87 Das grosse Gesamtmittel aus dieser Versuchsreihe stellt sich auf: 100 115 145 127 109 100 während das Normalmittel betrug: 100777:9872.95%. 79487789291 Für die Gratiola ergibt sich demnach dieselbe Wirkungsweise wie für die Digitalis. -.. o.& .v.».„.u„„.„.„...> ..„u...u.s.”..u.» ..s.0.0 “oo4% “„„o..„..„....® (KITTY ITITE 252090 9* »so....® 0 10 307 112 1:80 40 50 60 Fig. 8. Herr Richter hatte die Freundlichkeit, auch mit der Gratiola- tinktur einige Versuche zu machen. Am 12. November 1915 nahm er zehn Tropfen der Tinktur und beobachtete mit Grün. Das Resultat war: 242 238 228 218 222 262 oder: 100 98 9% 90 92 108 während das Normalmittel sich belief auf: 1003 297:2:9 2 7 E95 948 Hugo Schulz: Der geringe Anstieg im letzteu Wert der Gratiolareihe ist wohl ohne weiteres als eine Ermüdungserscheinung zu deuten. Sonst aber ergibt sich aus den Zahlen nichts, was für irgendeine Beeinflussung des Unterscheidungsvermögens bei Herrn Richter anzusprechen wäre. Sehr interessant stellt sich auch bei den Versuchen mit Gratiola wieder das Ergebnis für Rot. Am 16. November 1915 nahm Herr Richter zehn Tropfen Gratiolatinktur. Das Ergebnis, in Mittelwerten ausgedrückt, war: 248 256 340 364 370 376 oder: 100 103 137 147 150 152 Vergleicht man damit das Normalmittel: 1007,96.2.88.. 789 .87....83 so bemerkt man sofort auch hier das eigenartige Verhalten des Beobachters. Wieder und genau wie bei der Digitalis liefert er eine Zahlenreihe, die ebenso aussieht, als wenn er, normal farben- empfindlich, statt mit zehn mit nur einem halben. Tropfen der Tinktur beobachtet hätte. Es liefert dieser Versuch eine schöne Bestätigung zu dem mit Digitalistinktur gewonnenen Resultat. Die Digitalis wie auch die Gratiola sind Serophularineen. Das jedenfalls sehr bemerkenswerte Ergebnis unserer Untersuchungen, dass beide auf eine bestimmte Sinnesfunktion des Menschen in ganz gleicher Art einzuwirken imstande sind, gab mir Veranlassung, diese Pflanzenfamilie in ihren einzelnen Repräsentanten näher zu untersuchen. Das notwendige Material zu den Versuchen habe ich aus derselben Quelle bezogen wie die Gratiolatinktur. Alle Tinkturen sind in der nämlichen Weise wie diese hergestellt, immer aus frischen Pflanzenteilen. Leider habe ich die Tinkturen von Melampyrum und Rhinanthus nicht prüfen. können, da diese Pflanzen nicht im Gebrauch sind und die Darstellung der Tinkturen der vor- geschrittenen Jahreszeit wegen nicht mehr möglich war. Scrophularia nodosa. Mit dieser Tinktur haben Fräulein Thermann und Herr Schmuggerow je einen Versuch ausgeführt. Sie nahmen jeder zwanzig Tropfen und untersuchten mit Grün. Fräulein Thermann nahm die Dosis am 6 November. Die Zahlenreihe, die diesem Versuche entspricht, ist weniger deshalb Neue Untersuchungen über den Einfluss der Digitalis usw. 549 interessant, weil sie den Beweis des Nichtwirkens der Tinktur lieferte, als wegen ihrer auffallenden Regelmässigkeit. Ich hatte während (dieses Versuches die Kontrolle und habe auf alle mögliche Weise versucht, die Beobachtende zu täuschen durch stets wechselndes Einstellen des Apparates, Stehenlassen einer bestimmten Stellung usw. Schliesslich beliefen sich die Mittelwerte auf: 1062:0.16:27633:.106090210238.76 oder: 100 100 100 100 100 100 Das Normalmittel für Grün war: 100 10 8% % 4 9 Herr Schmuggerow nahm am 8. November 1915 zwanzig Tropfen. Das Ergebnis war: 16 64 66 64 60 44 oder: 100 84 81 8 79 58 Nimmt man den Mittelwert aus beiden Beobachtungen, so ergibt sich dieser zu 1002032 7729322.92522 892819 und das entsprechende Normalmittel: 100 SIENST EB Eee Von irgendeinem plötzlichen An- oder Absteigen der einzelnen Zahlen in der Reibe des Mittels ist ebensowenig zu bemerken wie bei den Mitteln jedes einzelnen Versuches. Veronica officinalis. Die Tinktur aus der Veronica habe ich mit Herrn Scherpeltz zusammen geprüft. Auch hier nahmen wir je zwanzig Tropfen und arbeiteten mit Grün. Scherpeltz: 9. Nov. 1915. Schulz: 8. Nov. 1915. 535 56 54 52 50 48 108 106 114 122 140 144 0d.: 00 6 BH E66 8 od.: 100 98 106 113 150 133 Das Normalmittel für Grün war bei Herrn Scherpeltz: 100 97 103 103 103 100 | | | für mieh: 100 100 100 103 109 109 Die Mittelwerte aus unseren Zahlen aus dem Veroniea- Versuch waren: 100 9 99 101 108 108 dos Normalmittel: 100 98 101 103 106 104 Also auch hier keine Beeinflussung des Unterscheidungsvermögens für Hell und Dunkel bei Grün. 550 Hugo Schulz: Genau in derselben Weise haben wir dann noch weiter geprüft die Tinkturen von Verbaseum thapsiforme (Thermann und Scherpeltz), Euphrasia offieinalis (Waldau und Schulz), Linaria vulgaris (Thermann und Schmuggerow), und Chelone glabra (Waldau und Schulz). Überall war das Ergebniss nach Aufnahme von zwanzig Tropfen der Tinktur ein negatives hinsichtlich einer etwaigen Veränderung in der Schärfe des Unterscheidungsvermögens. Als letzte dieser Reihe haben wir dann noch die Digitalis lutea geprüft. Das Ergebnis dieses Versuches war ein unerwartetes. Ich hatte gedacht, beide Digitalisarten oder besser: die aus ihnen hergestellten Tinkturen würden sich gleichartig verhalten. Das Gegenteil war der Fall. Fräulein Thermann und ich haben jeder einen Versuch mit je fünf Tropfen der Tinktur von Digitalis lutea gemacht. Wir nahmen absichtlich nur die halbe Dosis anstatt der früheren zehn Tropfen bei unseren Digitalisversuchen, weil die Tinktur aus Digitalis lutea ja doch in ganz anderer Weise hergestellt wird, wie die offizinelle Dieitalistinkturr. Im Anschluss an die Versuche mit Digitalis lutea haben wir dann noch einmal jeder fünf Tropfen einer Tinktur von Digitalis purpurea genommen, die ebenfalls nach der Vorschrift des Deutschen homöopathischen Arzneibuches, also ebenfalls aus frischem Material, hergestellt worden war. Ich bringe zunächst das Ergebnis unserer Versuche mit fünf Tropfen Tinktur von Digitalis Jutea. Gearbeitet wurde mit Grün. Schulz: 30. Nov. 1915. Thermann: 30. Nov. 1915. 1162110. 194212001242 2124 0 80 80 80 73 8 0d.5:1007.295 98:21032 107. 107 od.: 100 100 100 100. 97.100 Das Normalmittel war: Das Normalmittel war: 100 100 100 103 109 109 100 10 96 9% 9 93 Berechnen wir aus unseren beiden mittleren Werten das Gesamt- mittel, so stellt sich dies für die Versuche mit Digitalistinktur so: 100 97 99 102. 103 104 Dagegen das ebenso berechnete Normalmittel: 100 100 938 99 101 100 Die Unterschiede, welche beide Mittelreihen untereinander aufweisen, sind derart geringfügig, dass von einer Wirkung der Digitalis nicht die Rede sein kann. Es folgen jetzt die mit der Tinktur von Digitalis purpurea er- haltenen mittleren Werte: Neue Untersuchungen über den Einfluss der Digitalis usw. 551 Schulz: 15. November 1915. 110 130 154 170 156 146 130 oder: 100 118 140 154 142 133 118 Thermann: 2. Dezember 1915. 84 110 130 110 100 86 oder: 100 131 155 131 119 102 Das grosse Mittel aus unseren Zahlen berechnet sich danach auf: 100 124 147 142 130 117 Wir haben also hier dasselbe Resultat zu verzeichnen wie bei unseren früheren Versuchen mit der offizinellen Dieitalistinktur: Ganz wesentliche Abnahme der Fähigkeit, bei Grün Hell und Dunkel unterscheiden zu können. Allerdings besteht doch ein gewisser Unterschied zwischen diesem und dem früheren Ergebnis. Trotzdem wir bei dieser letzteren Prüfung nur die halbe Anzahl Tropfen ge- nommen hatten, liegen die einzelnen Werte des grossen Mittels nieht nur höher, sondern es halten die hohen Werte auch länger an. Ich bitte den Leser, das nun folgende Mittel aus unseren ersten Versuchen mit dem oben stehenden vergleichen zu wollen: 100721929721872°1182710122101 Es handelt sich bei diesem Unterschiede natürlich nur um eine Quantitätsfrage. Die zuletzt geprüfte Digitalistinktur enthält eben, der ganzen Art ihrer Darstellung gemäss, mehr des wirksamen Stoffes wie die offizinelle Tinktur. 150 ......e.ss . 145 8 : ° “un... 140 s . . . . 130 . “»onssann® . . s N 125 sos0tc.t s . 120 R 13 „munnvnt 115 105 [ni v..„....0..„„„.... 552 Hugo Schulz: Die vorstehende Kurve (Fig. 9) zeigt (den Verlauf dieser Ver- suchsreihe. Wie bisher ist das normale Mittel durchgezogen, das der Digitalis purpurea entsprechende durch Punkte, das von Digitalis lutea durch eine unterbrochene Linie dargestellt. Die Untersuehungen mit Digitalispräparaten sowie den Aus- zügen aus anderen Scerophularineen und aus den Strophanthussamen wären damit beendigt. In der von R. Seydeler besorgten Über- setzung von A. S. Taylor’s Buch: „Die Gifte in gerichtlieh-medi- zinischer Beziehung“, findet sich in dem Abschnitte, welcher die Wirkung des Taumellolchs, Lolium temulentum, behandelt, die Angabe, dass nach einer Vergiftung mit lolchhaltigem Brot den Befallenen alles grün gefärbt erschienen sei. In der Erwartung, dass sich aus Versuchen mit einer aus Taumellolch hergestellten Tinktur etwas ergeben möchte, was zu einer weiteren Illustration unserer bisherigen Beobachtungen dienen könnte, habe ich aus der- selben Quelle, der die übrigen Präparate entstammten, auch eine Tinetura Lolii temulenti bezogen. Da über die Wirkung der Tinktur mir aus eigener Erfahrung nichts sicher bekannt war, bin ich zu- nächst mit einiger Vorsicht an sie herangegangen. Schliesslich aber trug ich kein Bedenken, zwanzig Tropfen auf einmal zu nehmen und unter ihrer Einwirkung einen Versuch mit Grün und einen mit Rot durchzuführen. Ich hatte gehofft, wenigstens beim Arbeiten mit Grün irgendeine wesentliche Änderung gegenüber dem normalen Verhalten beobachten zu können. Diese Erwartung hat sich als irrig erwiesen. Die Mittelwerte für Grün nach Aufnahme von zwanzig Tropfen der Tinktur waren: 100106 106 111° 116° 125 zeigen .also den meine norınalen Aufnahmen bezeichnenden, gleich- mässieen Anstieg. Ebenso verlief das Resultat beim Arbeiten mit Rot: 100 98 108 115 151 14 Die von mir geprüfte Dosis von zwanzig Tropfen Loliumtinktur hat also hinsichtlich einer Störung der Empfindlichkeit von Hell und Dunkel für Grün und Rot ein völlig negatives Ergebnis gezeitigt. Die Darstellung der Tiuktur betreffend will ich noch bemerken, dass sie aus den reifen Loliumsamen mit 90 /oigem Alkohol unter Anwendung der Perkolationsniethode hergestellt wird. Ich will die Möglichkeit nicht in Abrede stellen, dass nach Anfnahme einer Neue Untersuchungen über den Einfluss der Digitalis usw. 553 noch grösseren Dosis der Tinktur doch noch ein Resultat sich hätte erzielen lassen. Da aber die sonstigen, für Lolium in der Literatur angegebenen Wirkungsäusserungen wenig Verlockendes an sich haben, inusste ich im Interesse ıneiner sonstigen Berufstätigkeit davon Abstand nehmen, mit noch höheren Gaben zu experimentiren. Das Gesamtergebnis. Die Digitalis purpurea wie auch die Gratiola offieinalis ent- halten einen, vielleicht denselben, Bestandteil, der die Eigenschaft besitzt, die Empfindlichkeit für die Unterscheidung von Hell und Dunkel bei Grün bei normal farbenempfindlichen Persouen zu ver- ändern. Je nach der zur Wirkung gelangenden Menge dieses Bestand- teiles wird die Empfindlichkeit entweder herabgesetzt oder verstärkt. Für Rot gilt im umgekehrten Sinne dasselbe. Die übrigen, auf diese Eigenschaft hin untersuchten Serophu- larineen wie auch Strophanthus und Lolium temulentum zeigten diese Eigenschaft bei den von uns angewandten Dosierungen nicht. In einem Falle (Herr Zorn) trat weder nach Aufnahme von Digitalis noch von Gratiola die in allen anderen Fällen beobachtete Wirkung ein. In einem Falle vou Grün- Rotblindheit (Herr Richter) er- hielten wir nur beim Arbeiten mit Rot eine Reaktion. Diese ent- sprach bei Digitalis und bei Gratiola nach Aufnahme von zehn Tropfen der Tinktur dem Ergebnis, das bei normal farbensehenden Personen bereits mit einem halben Tropfen erreicht wurde. Unsere Resultate bestätigen die Ergebnisse meiner früheren Versuche. Was die Kurven anlangt, so zeigen diese je nach der auf- genommenen Gabe fast ein genaues Spiegelbild für die Wirkung von zehn Tropfen und von einem halben Tropfen bei derselben Farbe. Dasselbe eilt bei Anwendung der gleichen Dosis für die beiden Kontrastfarben Grün und Rot. Der Einfluss auf die Unterscheidungsempfindlichkeit tritt in der Regel schon innerhalb der ersten 10 Minuten nach dem Einnehmen der Tinkturen auf, erreicht in den nächsten 10 Minuten sein Maximum und klingt dann wieder ab. Es unterliegt keinem Zweifel, dass die Zahlenwerte bei den einzelnen Beobachtern noch prägnanter hätten werden können, wenn wir in jedem einzelnen Falle das Optimum der Wirkung hätten 554 Hugo Schulz: Neue Untersuchungen über den Einfluss der Digitalis usw. herausbringen wollen. In Anbetracht des Umstandes, dass das dann notwendig gewesene längere Arbeiten mit Digitalis und Gratiola bei einer und derselben Person seine Bedenken hatte, habe ich von der Feststellung eines Optimums abgesehen, das zudem auch noch von der Tagesdisposition des jedesmaligen Beobachters abhängig gewesen sein würde. Wie meine früheren Versuche in derselben Richtung haben auch diese mit Spektralfarben und nach einer gauz anderen Methode gewonnenen Ergebnisse eine einwandfreie Bestätigung des von Rudolf Arndt zuerst ausgesprochenen Biologischen Grund- gesetzes gebracht, von dem ausgehend sämtliche Untersuchungen angestellt worden sind. 999 (Aus dem physiologischen Institut der Universität Bonn.) Die Arterienmuskulatur als „peripheres Herz“? Von W.R., Hess. (Mit 12 Textfiguren.) Unter den Fragen der Hämodynamik, welchen prinzipielle Be- deutung beigemessen werden muss, steht unter andern das Problem der Funktion der Arterienmuskulatur. Es entspricht wohl der häufigst vertretenen Ansicht, dass das Blut dureh die Arterien n ur fortgeleitet wird, ausschliesslich auf Kosten der mechanischen Arbeitsleistung des Herzens, ohne dass es auf dem Wege zur Peripherie noch einen Impuls von der Arterienwandung erhält. Endgültig beantwortet ist aber die Frage nicht, und gerade in neuerer Zeit hat das sogenannte „periphere Herz“ wieder entschiedene Verteidiger gefunden, ich erwähne Grützner!) und aus neuester Zeit auch Wybauer?). Dass dabei häufig auch klinische Beobach- tungen zur Klärung herangezogen werden, zum Beispiel von Hase- broek?) zeigt, dass der Frage auch unmittelbar praktisches Interesse zukommt (vgl. zum Beispiel S. Kobsarenko®). Für uns bildet das Studium dieses Themas?) eine notwendige Vorarbeit, welche sich uns 1) P. Grützner, Betrachtungen über die Bedeutung der Gefässmuskeln und ihrer Nerven. Deutsches Arch. f. klin. Med. Bd. 89 8. 132. 2) R. Wybauer, Quelques experiences relatives & la circulation arterielle. Ann. Soc. Roy. des scienses med. et nat. Bruxelles LXXUI 5 p. 114 (zit. nach Zentralbl. f. Physiol. 1914 S. 670. 3) K. Hasebroek, Über den extrakardialen Kreislauf des Blutes vom Standpunkt der Physiologie, Pathologie und Therapie. Jena 1914. 4) S. Kobsarenko, Die Tätigkeit des peripheren Gefässystems und ihre Rolle im Blutkreislauf. Zeitschr. f. experiment. Pathol. XVI 1 S. 90 (zit. nach Zentralbl. f. Physiol. 1914 S. 670). 5) W. R. Hess, Gehorcht das Blut dem allgemeinen Strömungsgesetz der Flüssigkeiten? Pflüger’s Arch. Bd. 162 S. 187. 556 W. R. Hess: bei Untersuchungen über den zirkulatorischen Regulationsmechanis- mus entgegenstellte. Eine einleitende Darstellung des heutigen Standes der Frage zu geben ist hier überflüssig. Wir können statt dessen auf die verschiedenen in eben dieser Zeitschrift erschienenen Arbeiten Hürthle’s!) und seiner Schüler verweisen. Wir finden dort eine eingehende Berücksichtigung und Kritik der hauptsächlichsten Argu- mente, welche bisher im Sinne einer aktiven Förderung des Blut- stromes durch die Arterien geltend gemacht worden sind. Auch in bezug auf das Buch von Hasebroek?), verweisen wir auf Hürthle’s kritischen Bericht, dessen Inhalt wir ohne Vorbehalt zustimmen können. Was nun die Arbeiten Hürthle’s und seiner Schüler selbst betrifft, so sei nachfolgend ausführlicher auf sie eingegangen, weil ihr Inhalt für uns sehr wichtig ist. Hervorzuheben ist vorerst eivmal der Befund Blumenfeld’s, dass das Auftreten von „Aktionsströmen“ an Arterien, welche pulsa- torische Druckschwankungen unterworfen werden, nicht auf eine aktive Tätigkeit der Arterienmuskulatur bezogen werden müssen. Ursprünglich war zwar Hürthle°®) zu der Auffassung als wahr- 1) K. Hürthle, Ist eine aktive Förderung des Blutstromes durch die Arterien erwiesen? Pflüger’s Arch. Bd. 147 S. 582. — K. Hürthle, Über pulsatorische elektrische Erscheinungen an den Arterien. Skandinav. Arch. f. Physiol. Bd. 29 S. 100. — K. Hürthle, Untersuchungen über die Frage einer Förderung des Blutstromes durch die Arterien. Pflüger’s Arch. Bd. 162 8. 301. — K. Hürthle, Die Analyse des Druck- und Strompulses. Pflüger’s Arch. Bd. 162 S. 104. — K. Hürthle, Analyse der arteriellen Druck- und Stromkurve ‘des Hundes. Pflüger’s Arch. Bd 162 S. 322. — K. Hürthle, Über die ‘Änderung der Strompulse unter dem Einfluss vasokonstriktorischer Mittel. Pflüger’s Arch. Bd. 162 S. 338. — K. Hürthle, Der Strompuls nach Lähmung der Gefässe. Pflüger’s Arch. Bd. 162 8.359. — Fritz Schäfer, Der Einfluss gefässerregender Mittel auf die bei konstantem und rhythmischem Druck durch die Hinterbeine des Frosches getriebenen Flüssigkeitsmengen. Pflüger’s Arch. Bd. 162 8.378. — Ernst Blumenfeld, Experimentelle Untersuchungen über die Natur der pulsatorischen Gefässströme. Pflüger’s Arch. Bd. 162 S. 390. — K. Hürthle, Zusammenfassende Betrachtungen über den Inhalt der vorher- gehenden Arbeiten. Pflüger’s Arch. Bd. 162 S. 413. — K. Hürthle, Die Arbeit der Gefässmuskulatur. Deutsche med. Wochenschr. 1914 Heft 1. — K. Hürthle, Kritischer Bericht über das Buch von K. Hasebroek: Über den extrakardialen Kreislauf usw. Berliner klin. Wochenschr. 1914 Nr. 30. 2) Über den extrakardialen Kreislauf des Blutes vom Standpunkt der Physio- ‚logie, Pathologie und Therapie. Jena 1914. 3) Skandin. Arch. f. Physiol. Bd. 29 S. 100. Die Arterienmuskulatur als '„peripheres Herz“ ? 557 scheinliche Erklärung geführt worden, dass es sich um eigentliche Aktionsströme handelt, die ihren Sitz in der glatten Muskulatur der Arterien haben, und dass diese durch den Reiz der pulsatorischen Dehnung zur reflektorischen Aktion veranlasst wird. Aus den eben erwähnten neuesten Untersuchungen folgt nun aber, dass es sich ohne Zweifel im wesentlichen um passive Strömungsströme handelt, also sar nicht um „Aktionsströme“; denn auch bei pulsatorischer Durch- strömung von Röhrchen aus totem Material, zum Beispiel abgetöteten Arterien, Gelatineröhrchen, treten entsprechende elektrische Erschei- nungen auf. Während somit bei näherer Untersuchung der Beweis einer aktiven Tätickeit der Arterienwand durch das Auftreten von „Aktions- strömen“ fallen gelassen werden muss, macht uns Hürthle mit einer anderen Erscheinung bekannt, welche nach dem heutigen Stand der Analyse eine aktive Förderung des Blutstromes tatsächlich nahe legt. Die „systolische Schwellung“. Hürthle hat zahlreiche Versuche darüber angestellt, welche darauf abzielen, das Verhältnis der Druckpulswelle zur Strompulswelle klar zu legen. Bei der rechnerischen Analyse stellt sich nun in zahl- reichen Fällen ein auffallender Widerspruch zwischen Beobachtung und Berechnung ein. Dieser Widerspruch besitzt, wenn er auftritt, einen ganz bestimmten Typus: In der Umgebung des Gipfels der Druckkurve ist die registrierte Stromstärke grösser als die berechnete. Das umgekehrte Verhältnis findet sich in den übrigen Abschnitten des Pulses. Das starke Anwachsen des Pulses über den berechneten Wert hinaus bezeichnet Hürthle als „systolische Schwellung“. In der Existenz dieser (besonders unter dem Einfluss gefäss- 'erregender Mittel) zustande kommender Erscheinung kann nun in der Tat ein Symptom aktiver Arterienarbeit erblickt werden. Zum mindesten lässt sie sich in Einklang mit einer solchen bringen; denn wenn das vom Herzen hervor&ebrachte Druckgefälle in den Arterien eine Beihülfe findet, so fliesst der Blutstrom schneller, als es der ausschliesslichen Wirkung des Druckgefälles entspricht. Der Stromüberschuss entspräche dem von der Arterienmuskulatur auf- gebrachten Anteil an der gesamten Förderleistung. Trotz zahlreicher und eingehender Untersuchungen kommt Hürthle aber nicht dazu, ein entscheidendes Kriterium zu finden, welches den Beweis liefert, 558 W. R. Hess: dass diese Erklärungsmöglichkeit durch Arterienarbeit tatsächlich zutrifft. Anderseits ist Hürthle aber auch nicht im Falle, den Zusammenhang verneinen zu können, weil vorderhand keine andere befriedigende Erklärung gefunden werden kann. Sollten auch weiterhin alle Anstrengungen, eine solehe zu finden, versagen, so dürften wir uns der Auffassung immer weniger verschliessen, dass wir in der „systolischen Schwellung“ tatsächlich eine Folge der Stromförderung der Arterien vor uns haben, die uns sogar deren Anteil an der für die Blutbewegung aufgebrachten me- chanischen Gesamtleistung quantitativ abschätzen lässt. Wenn wir versuchen, ein eigenes Urteil über die Hürthle’sche Beobachtung für unsere Frage zu bilden, so läuft das auf eine Nachprüfung der den Berechnungen zugrunde liegenden Voraus- setzungen hinaus; denn neben einer noch verborgenen Wirkung eines unbekannten Faktors kann natürlich die Disharmonie zwischen Berechnung und Beobachtung auch durch eine allfällige Unzuläng- lichkeit der Berechnung verursacht sein. Hürthle hat die Grundlagen seiner Berechnungen kritisch diskutiert; er kommt zu der Auffassung, dass keine Abänderung zu- lässig sei, welche geeignet wäre, die Disharmonie befriedigend zu erklären. Wenn wir hier Hürthle folgen wollen, so machen sich ver- schiedene Bedenken geltend, auf welche nachfolgend hingewiesen sei. Den Ausgangspunkt für Hürthle’s Berechnung bildet folgende Überlegung: Die pulsatorische Stromschwankung (Strompuls) an einem be- stimmten Punkt einer elastischen Bahn bildet sich unter dem Einfluss zweier getrennter Faktoren aus, nämlich: 1. unter dem Einfluss des veränderten Druckgefälles. Dieses Moment macht sich geltend in Form einer der Druckwelle parallel gehenden Änderung in der Abströmungsgeschwindigkeit durch die Widerstand bietenden Abschnitte der Arterienbahn; 2. unter dem Einfluss der Kapazitätsänderung der peripheren Arterienbahn. Eine solehe tritt in Erscheinung in Begleitung der Drucksehwankung infolge der elastischen Dehnung der Gefässwände (Windkesselwirkung). Der zweitgenannte Einfluss macht sicb in der Weise geltend, dass bei jeder systolischen Drucksteigerung nieht nur die durch die Kapillaren ständig abfliessende Blutmenge einen zentral gelegenen Die Arterienmuskulatur als. „peripheres Herz“ ? 559 Gefässquerschnitt passiert, sondern, wegen der Druckdehnung des ‘peripheren Arteriennetzes, ein Überschuss; dieser Überschuss ent- spricht der positiven Kapazitätsänderung der präkapillaren Arterien- ‚bahnen. Mit abnehmendem Druck verringert sich die Kapazität .dieser Bahn wieder; der überschüssige Inhalt, während der systolischen Phase eingetrieben, bildet nun einen Teil des konstant abfliessenden Kapillarstromes. Um diesen selben Teil muss sonach der Durch- fluss beim zentral gelegenen Gefässquerschnitt vermindert sein. Unter der Wirkung dieser beiden Faktoren, Druck- und peri- pheren Windkesselwirkung, lässt Hürthle den Strompuls entstehen, und auf dieser Basis stellt er seine Berechnung an. Damit die auf- gestellten Gleichungen durch Einsetzen der im Experiment mess- baren Grössen überhaupt rechnerisch zugänglich werden, werden eine Reihe vereinfachender Annahmen gemacht, nämlich: „il. DasHerz bzw. der von ihm anfgebrachte Druck ist die einzige treibende Kraft des Stromes. Die Stromstärke in den Arterien ist durch die Höhe des arteriellen Druckes und den Widerstand der Bahn bestimmt. 2. Die arterielle Bahn lässt sich schematisch in zwei Abschnitte zerlegen: der erste, das elastische Reservoir darstellende, reicht vom Aortenanfang bis zu den kapillaren Arterien; sein Widerstand ist sehr gering gegenüber dem des zweiten Abschnitts, welcher die Kapillargefässe umfasst (kleine Arterien, eigentliche Kapillaren und kleine Venen). Für diesen Teil der Bahn nehmen wir an, dass der Widerstand im Laufe eines Pulsschlages konstant und derart ist, dass die Stromstärke (innerhalb der normalen Werte des Blutdruckes dem Druck proportional, also V= p„tv ist (s. S. 311). 3 Der innere Widerstand (die Viskosität des Blutes) ist innerhalb der eben genannten Druckwerte gleichfalls konstant. 4. Desgleichen ist die Elastizität der Bahn konstant, so dass auch hier die Beziehung gilt E= (ps: — pı) (8. S. 310). 5. Wellenreflexion hat, falls sie überhaupt im Gefässsystem vor- kommt, bei mittlerem und geringem Widerstand (Tonus) keinen wesentlichen Einfluss auf die durch die Gleichungen Ill. und IV (S. 312) gegebene Beziehung zwischen Druck und Stromstärke (aus dem früher, S. 821, angegebenen Grunde).“ 1) Die Seitenangaben beziehen sich, soweit innerhalb der Anführungs- zeichen, auf Bd. 162. ; Pflüger’s Archiv für Physiologie. Bd. 163. 38 560 W. R. Hess: Es frägt sich nun, 6b diese Voraussetzungen nicht die Ver- nachlässigung eines wesentlichen Faktors enthalten? Auf dem Standpunkt Hürthle’s möchte ich mich stellen in Bezug auf die Beurteilung der unter 5 und 4 genannten Faktoren. Auch die unter 3 genannte Voraussetzung dürfen wir als im all- gemeinen zutreffend anerkennen. Trotz gewisser Abweichungen vom Poiseuille’schen Gesetz, welche dem Blute eigen sind !)?). Ver- schiebungselastizität, welche die Ursache dafür ist, vermag das Strömen nur bei sehr niedrigen Druckdifferenzen zu beeinflussen. Zu einer Beschränkung .des Poiseuille’schen Gesetzes in vivo könnte es allenfalls kommen in den Fällen, wo das Druckgefälle abnorm niedrig wird. Dies ist in den Hürthle’schen Versuchen der Fall bei den Vaguspulsen. Dass hier die Verschiebungselastizität vielleicht doch als Faktor merklich mitspielt, ist naheliegend. Mehr Grund zu Einspruch erscheint mir dagegen die Voraus- setzung 2 zu bieten. Ich halte es nicht für ausgeschlossen, dass hier ein Kernpunkt der ganzen Erscheinung sitzt. Wir werden des- halb diesen Punkt einer eingehenden Diskussion unterziehen. Vorher sei noch kurz darauf hingewiesen, dass das rechnerische Vorgehen Hürthle’s noch eine weitere von ihm nicht besonders auf- geführte Voraussetzung enthält. Es betrifft dies die Annahme, dass sich der Druckwechsel im Verlauf eines einzelnen Pulses nicht so rasch vollzieht, als die Trägheit der Masse eine merkliche Phaseverschiebung der Strompulswelle gegenüber der Druckpulswelle zur Folge hat. Eine solche muss tatsächlich stattfinden, und zwar tritt sie in um so ausgesprochener Weise in Erscheinung, je rascher der Druck bzw. Geschwindigkeitswechsel sich vollzieht. Sie enthält das Moment, auf welehes Hürthle im Verlauf der Diskussion der Resultate hinweist, dass nämlich das Zurückbleiben der beobachteten Strom- menge gegenüber der berechneten im ersten Abschnitt des Pulses durch das Beharrungsvermögen bedingt sei. Aber auch in den andern 1) W. R. Hess, Reibungswiderstand des Blutes und Poiseuille’sches Gesetz. Zeitschr. f. klin. Medizin Bd. 71 H. 5 und Bd. 74 H.5 und 6. — W. R, Hess, Der Strömungswiderstand des Blutes gegenüber kleinen Druck- werten. Arch. f. (Anat. u.) Physiol. 1912 S. 197. — W. R. Hess, Gehorcht das Biut dem allgemeinen Strömungsgesetz der Flüssigkeiten? Pflüger’s Arch. Bd. 162 S. 187. 2) M. Rothmann, Ist das Poiseuille’sche Gesetz für Suspensionen gültig? Pflüger’s Arch. Bd. 155 S. 318. Die Arterienmuskulatur als: „peripheres Herz“ ? 561 Abschnitten der Pulswelle kann dieser Trägheitsfaktor unter Um- ständen wesentlich modifizierend wirken, so dass seine Eliminierung nicht ohne weiteres vollzogen werden kann, wenigstens nicht ohne vorherige Prüfung. Dies umso weniger, als die Abweichung der beobachteten gegenüber der berechneten Stromwelle tatsächlieh zum Teil den Charakter einer Phasenverschiebung aufweist. Ich verweise zum Beispiel auf Fig. 1 S. 344. Gewichtiger als dieser Faktor ist aber zweifellos derjenige, auf den wir nun zu sprechen kommen, dessen Einfluss, wie ich glaube, nicht seiner tatsächlichen Wirkung entsprechend eingeschätzt wird. Wenn in einem elastischen Röhrensystem der Druck erhöht wird, so kommt es je nach den Elastizitätsverhältnissen zu einer geringen oder starken Dehnung der Wandungen, d. h. zu einer Erweiterung der Strombahn. Durch diese werden die Abflussverhältnisse verändert und zwar begünstigt. Drucksteigerung erhöht deshalb in einer solchen Bahn stets nicht nur die Strömungsgeschwindiekeit durch Verstärkung des Strömungsantriebes als direkte Folge, sondern es er- leichtert gleichzeitig auch den Abfluss als indirekte Folge von Erweiterung der. Gefässe. Wollen wir uns Rechenschaft geben über die Dienität der beiden Faktoren, so müssen wir in erster Linie darauf Rücksicht nehmen, in welchem gesetzmässigen Zusammenhang das Stromvolumen zum treibenden Drucke einerseits, zur Weite der Strombahn anderseits steht. Die Antwort auf diese Frage gibt uns das Poiseuille’sche Gesetz, dessen annähernde Gültigkeit für den in Frage kommenden Teil der Gefässbahn nicht mehr bezweifelt werden darf!). Danach steht die Durchflussmenge in der Zeiteinheit im proportionalen Ver- hältnis zum Druckgefälle und zum Quadrat des Querschnittes. Es entspricht zwar nicht der gebräuchlichen Ausdrucksweise, wenn wir nun das Poiseuille’sche Gesetz so formulieren, dass es uns den Zusammenhang zwischen Durehflussvolumen und Umfang des durchströmten röhrenförmigen Gebildes wiedergibt. Doch ist diese Formulierung speziell hier sinngemäss, weil die Quer- schnittsänderung eine Folge der linearen Dehnung der dem 1) Vgl. W. R. Hess, Viskosität des Blutes und Herzarbeit. Inaug.-Diss. Zürich 1906 S. 2 u. ff. ferner: / W. R. Hess, Das Prinzip des kleinsten Kraftverbrauches im Dienste hämodynamischer Forschung. Arch. f..(Anat. u.) Physiol. 1914 8.8. 38 * 5623 W.R. Hess: Lumen umlagerten Wandungselemente ist. Eine Interpretation des Poiseuille’schen Gesetzes auf die Abhängiekeit von Durch- flussvolumen und Gefässumfang kennzeichnet uns somit den Zusammenhang des ersteren nit der linearen Dehnung der zirkulär verlaufenden Wandungselemente! Die Interpretation lehrt uns, dass das Durchflussvolumen cet, par. proportional mit der vierten Potenz des Umfanges variiert! Was dies für die Zirkulationsmechanik bedeutet, sowohl in bezug auf die Regulation der Durchblutungsgrössen einzelner Gefäss- bahnen, als auch in bezug auf die Widerstandsveränderungen durch elastische Dehnung der Gefässe, erkennen wir an folgenden einfachen Beispielen: u Eine Kontraktion der zirkulären Muskelfasern auf die Hälfte ihrer Ausgangslänge, — eine Verkürzung, die für glatte Muskelfasern nichts Ausserordentliches darstellt, — verringert bei gegebenem Druck- eefälle die auf die Zeiteinheit berechnete Durchfiussmenge auf den 16. Teil! Oder eine lineare Dehnung der zirkulären Wandungs- elemente von 1 auf 1,19, genügt, um cet. par. die sekundliche Durch- flussmenge auf das Doppelte ansteigen zu lassen. Die Notwendigkeit, diesem Abhängiekeitsverhältnis volle Beachtung zu schenken, tritt noch mehr hervor, wenn wir dasselbe in Vergleich stellen zu dem Abhängigkeitsverhältnis, welches zwischen Druck(-ge- fälle) und Durehflussvolumen gilt. Hier besteht, wie bereits erwähnt, nur einfache Proportionalität. Nun macht sich allerdings in der Anwendung auf unsern Kon- kreten Fall, d. h. die pulsatorische Widerstandsänderung, bedingt durch die rhythmische Dehnung der Arterienbahn, eine wesentliche Einschränkung geltend. Sie ist dadurch bedingt, dass die pulsatorischen Schwankungen der Gefässe nach der Peripherie hin immer geringer werden und schliesslich versiegen. Die Beeünsti- gung der Strömung in der Systole kann sich also um so weniger geltend machen, je weiter der Blutstrom vom Zentrum entfernt ist. Es kommt nun sehr darauf an, wie sich die Stromwiderstände auf die verschiedenen Abschnitte der Arterienbahn verteilen, ob hauptsächlich auf die weiten, die mittleren oder engsten Gefässe? Je geringer der Strömungswiderstand in den ersten ist, um so mehr wird der pulsatorischen Schwankung der Gefässweiten die Einflussmöglichkeit auf die Abströmungswiderstände entzogen, weil bei Die Arterienmuskulatur als „peripheres Herz“ ? 563 den kleinsten Arterien und den Kapillaren normalerweise die pulsa- torischen Querschnittsschwankungen eben nicht merklich zum Aus- druck gelangen. Entfällt dagegen ein Grossteil des arteriellen Widerstandes noch in Verlauf der pulsatorisch schwankenden Gefässe, so muss sich diese pulsatorische Querschnittsschwankung auch entsprechend geltend machen in einer der Pulsation parallel gehenden Schwankung des gesamten Strömungswiderstandes? Der Standpunkt Hürthle’s in dieser Frage geht dahin, dass der Strömungswider- stand von der Aorta bis zu den kapillaren Arterien sehr klein ist im Vergleich zu den Widerständen von hier an stromabwärts. Trifft diese Auffassung die wirklichen Verhältnisse, dann freilich vermag die Querschnittsschwankung den Widerstand kaum zu be- einflussen, und wir dürfen mit Hürthle einen über die ganze Puls- erscheinung gleichbleibenden Strömungswiderstand annehmen und in die Rechnung einsetzen. Was nun aber die Einschätzung des Strömungswiderstandes im ersten Arterienabschuitt anbetrifft, so ist dazu zu bemerken, dass in Wirklichkeit die Verhältnisse vielleicht doch wesentlich anders liegen. Entscheidende Experimente über die Verteilung des Druckgefälles auf die verschiedenen Abschnitte der Arterienbahn kennen wir bis heute nicht wegen der Schwierigkeit, Messungen vorzunehmen, ohne eingreifende Veränderungen zu be- wirken. Daher wohl auch die sich widersprechenden Befunde der ver- schiedenen Untersucher. Jedenfalls ist aber die Vernachlässigung des Strömungswiderstandes im ersten Arterienabschnitt nicht genügend begründet; dies zu betonen, sehen wir uns um so eher veranlasst, als wir selbst eine andere Verteilung des Widerstandes für walır- scheinlicher halten, und zwar aus theoretischen Gründen. Einen Anhaltspunkt für die theoretische Beurteilung bietet uns die kon- struktive Berechnung eines Leitungssystems, welches der Forderung eines geringsten Gesamtwiderstandes entspricht!). Die Verteilung des Reibungswiderstandes auf die verschiedenen Ab- schnitte der sich verzweigenden Bahn spielt dabei eine wichtige Rolle, so dass nur bei einem ganz bestimmten Wider- standsverhältnis die Forderung nach dem Arbeits- 1) W. R. Hess, Das Prinzip des kleinsten Kraftverbrauches im Dienste hämodynamischer Forschung. Arch. f. (Anat. u.) Physiol. 1914 S. 1 (vgl. S. 41). (Im übrigen sei auf eine nächste Arbeit über die Dynamik der peripheren Kreislaufregulierung verwiesen.) 564 W.’R& Hess: minimum erfüllt ist. Dies ist der Fall in einem System, bei welchem die Gefässdurchmesser im proportionalen Verhältnis zur dritten Wurzel der Durcehflussmengen stehen. Mit diesem Verhältnis ist natürlich auch die Abhängigkeit des Strömungswider- standes vom Durchmesser festgelegt. Er nimmt danach, auf den Zentimeter: Wegstrecke berechnet, in derselben Proportion zu, als der Gefässdurchmesser infolge der fortschreitenden Aufteilung der Arterien abnimmt. Dieser sukzessive Anstieg des Widerstandes nach der Peripherie hin wird nun aber dadurch ganz bedeutend gemildert, dass der Verringerung der Gefässweiten im allgemeinen eine starke Reduktion ihrer Länge parallel geht. Trotz ihres kleinen spezifischen Widerstandes (Widerstand pro Zentimenter Wegstrecke) der weiteren Gefässe erhalten deshalb die in ihnen sich. abspielenden Reibungsvorgänge Gewicht infolge der erheblichen Weestrecke. In der Voraussetzung, dass sich das lebende Arteriensystem eng an die optimale Lösung der Zirkulationsaufgabe anschliesst, kommen wir also dazu, schon im ersten Abschnitt der Arterienbahn einen erheblichen Druckverlust zu vermuten, wie es zum Beispiel den Be- funden von Bogomolez!) entsprechen dürfte. In dem Maass aber, als der Strömungswiderstand in den pul- satorisch bewegten Abschnitten der Arterienbahn erhebliche Beträge des Gesamtwiderstandes erreicht, in dem Grade muss es auch zu einer pulsatorischen Schwankung des Gesamtwiderstandes kommen entgegen der gemachten Annahme eines systolisch und diastolisch konstanten Widerstandes. Nun müssen wir betonen, dass sich Hürthle 'auf Experimente stützen kann, wenn er den dureh die Druckänderung hervorgebrachten Querschnittsschwankungen keinen entscheidenden Einfluss beimisst. Es sind dies künstliche Durchströmungsversuche an der Femoralis frisch getöteter Hunde. Hürthle nimmt unter anderem dabei Be- zug auf noch nicht publizierte Versuche. So viel man bei den zur Verfügung gestellten Angaben beurteilen kann, besitzen aber diese Versuche nicht Beweiskraft — aus zwei Gründen. Erstens könnten 1) A. Bogomolez, Über den Druck in den kleinen Arterien und Venen (den Kapillaren nahestehenden) unter normalen und gewissen pathologischen Verhältnissen. Pflüger’s Arch. Bd. 141 S. 118. Die Arterienmuskulatur als „peripheres Herz“ ? 565 nur die Resultate entscheiden, welche ausgedehnt sind über die verschiedenen Zustäude des Gefässsystems, die erfahrungsgemäss auf das Zustandekommen der systolischen Schwellung von Einfluss sind (Lähmung und Erregung). Zweitens mahnen speziell die Versuche von Bayliss!) zur Vorsicht bei Übertragung der bei relativ langsamer Druckänderung vorgefundenen Widerstandsverhältnissen auf die in so kurzen Zeit- abschnitten verlaufenden Druckschwankungen eines einzelnen Pulses. Der genannte Autor Bayliss, und vor diesem schon Ostrou- moff?) zeigen nämlich, dass in einer entnervten. Extremität die Blutgefässe, als Antwort auf einen steigenden Innendruck, sich kon- trahieren. Die Plethysmographenkurve und auch schon die direkte Beobachtung der Arterie zeigen bei Steigerung des Innendruckes nach vorübergehender Dehnung der Gefässe eine unzweideutige Kontraktion an. Diese Tatsache gewinnt hier deshalb Bedeutung, weil sie für die Widerstandsänderung unter dem Einfluss kurz dauernder Druckänderung andere Verhältnisse schafft, als für die Widerstandsänderung bei suksessiver lange dauernder Druckerhöhung. Weeen der reaktiven Kontraktion der Gefässe bei Druckerhöhung ist nämlich zu erwarten, dass bei sehr kurzer Druckschwankung die Widerstandsänderung infolge der passiven elastischen Dehnung grössere Beträge erreicht, weil hier die Gefässe keine Zeit haben zu der wenigstens einige Sekunden beanspruchenden Tonuserhöhung. Dem- entsprechend müssten auch andere Grössen eingesetzt werden, als dies bei der Prüfung der Voraussetzungen durch Hürthle ge- schehen ist (S. 322). Sehen wir nun ab von dem Eirfluss der pulsatorischen Quer- schnittsschwankungen auf den Widerstand, so müssen wir darauf hinweisen, dass die Reibung in dem vorkapillaren Abschnitt des Arteriensystems noch weiteren störenden Einfluss auf die Rechnung Hürthle’s ausübt. Die Störung muss sich geltend machen in bezug auf die experimentelle Bestimmung der Dehnbarkeit der peripheren Arterieubahn, das heisst deren Kapazitätsänderung auf Druckvariation. Denn die Einschaltung eines Widerstandes in 1) W. M. Bayliss, On the local reactions of the arterial wall ete. The journ. of physiol. vol. 28 p. 220. 2) A. Ostroumoff, Versuche über die Hemmungsnerven der Hautgefässe. Pflüger’s Arch. Bd. 12 S.219 (vgl. S. 239). 566 WR: Hess: (und nieht nur hinter) das die Kapazität ändernde System ver- ändert den Ablauf des Dehnungsvorganges so gründlich, dass von diesem Gesichtspunkt aus der in den Berechnungen verwendete Wert (e) als sehr unsicher anzusehen ist. Alles in allem scheint mir also der Umstand, dass in der Arterienbahn der „Windkessel“ selbst. Widerstands- bahn ist, als. Ursache mächtig genug, weitgehende Differenzen herbeizuführen mit einer Berechnung, welche eine Trennung von „Windkessel* und Wider- standsbahn voraussetzt. In Hürthle’s Modell stimmen die Verhältnisse zu den Voraussetzungen, weshalb eine gute Über- einstimmung zwischen Berechnung und Befund wohl begreiflich ist. Wegen der geäusserten Bedenken können wir also Hürthle nicht folgen, wenn er schliesst, dass die Divergenz von Befund und Rechnung als Hinweis auf einen neuen physiologischen Faktor, zum Beispiel aktive Förderung durch die Arterien, zu deuten sei. Viel- mehr werden wir zu der Vermutung geführt, dass die Erscheinung doch zu Lasten der bekannten, unter den verschiedenen Bedingungen sich in wechselndem Grade kombinierenden physikalischen Faktoren zu legen ist. ‚Die Schwierigkeiten einer erschöpfenden Analyse der diskutierten Erscheinung sind vielleicht so gross, dass wir befürchten, es könnte die von ihr erwartete Entscheidung in bezug auf die Wirkung der Arterienmuskulatur versagt bleiben. Auf alle Fälle ist es gerechtfertigt, wenn wir versuchen, noch von anderer Seite dem Problem beizukommen. Allgemeines über die Mechanik des Strömungsantriebes. Einführungen in die Hämodynamik beginnen in der Regel mit einem Rückblick auf die allgemeinen Gesetze der Hydrodynamik, soweit sie für das Strömen von Flüssigkeit in Röhren in Betracht fallen. Es ist dies sehr natürlich, weil diese Gesetze die Grund- lagen bilden für das Verständnis der Vorgänge, welche uns in dem speziellen Fall der Blutzirkulation entzegentreten, und weil niemand mehr anders denkt, als dass sich die Hämodynamik streng auf den Gesetzen der allgemeinen Mechanik aufbaut. Diese allgemeinen Ausführungen berücksichtigen aber meines Wissens ausschliesslich den Fall eines Strömens entlang eines Druck- gefälles, wie es sich nach Maassgabe des vorhandenen Widerstandes herausbildet, wenn am Anfang der Strombahn ein Über- Die Arterienmuskulatur als -„peripheres Herz“? 567 druck besteht oder erzeugt wird. Es entspricht dies einem Verhältnis, das in Parallele zu setzen ist mit der Annahme, dass das Herz allein den Antrieb besorgt, die Arterien somit aus- schliesslich Leitungsgefässe sind. Mit der Frage beschäftigt, ob die Arterien eventuell dem Blute zugleich noch Bewegungsimpulse erteilen, erscheint es uns als eine selbstverständliche Notwendigkeit, dass wir die üblichen hydrodynamischen Betrachtungen entsprechend erweitern. Wir haben uns also darüber Rechenschaft zu geben, wie über- haupt in einem Rohrsystem einseitig gerichtete Flüssigkeits- strömung aktiv erzeugt wird, bzw. erzeugt werden kann. Es ist dieses Vorgehen um so dringender geboten, als in bezug auf die in Frage kommenden mechanischen Prozesse offenbar häufig ungenügend abgeklärte Vorstellungen herrschen und man dem- entsprechend in der Literatur über die Frage nicht selten die kühnsten Luftsprünge sehen kann. Dementgegen wollen wir betonen, dass uns nur Gründe — und Einwendungen — maassgebend bleiben sollen, welche mit dem Streben nach präzisierter Vorstellung im Einklang stehen. Eine Förderung des Flüssigkeitsstromes durch das aktive Eingreifen der Rohrwandung fig, 1. Arbeitsleistung der stellt in jedem Fall eine Arbeitsleistung San Weg De (2) dar, ist also das Produkt aus Kraft mal Weg. Als Kraft kommt (bei glatter Innenwandung ohne eigenbewegliche Wandungselemente, wie zum Beispiel Wimperhaare) nur ein Druck, bzw. eine Drucksteigerung in Frage. Diese muss ausgeübt werden von der Wandung auf die Flüssigkeit. Der Weg, welcher in der Drucekriehtung zurückgelegt wird, bedeutet eine Verschiebung der Rohrwand gegenüber der Flüssigkeit. Er ist gleich der Radien- differenz der in der Arbeitsleistung vollzogenen Querschnittsänderung (vel. Fig. 1). Eine allfällige Arbeitsleistung der Arterienwand, wie auch ihr spezieller Ablauf gestaltet sei, muss stets mit einer Druck- bzw. Querschnittsänderung der Gefässe einhergehen, und zwar muss sich dieser Vorgang rhythmisch wiederholen, wenn es sich nicht nur um eine einmalige, sondern eine kontinuierliche Leistung handeln soll. Das Element der Arbeitsleistung einer Rohrwandung ist somit 2 968 W. R. Hess: der in sich geschlossene Vorgang einer Verengerung mit nach- folgender Erweiterung — oder umgekehrt, einer Erweiterung mit nachfolgender Verengerung. Eine Frage ist es nun, wie sich aus dem eben beschriebenen Elementarvorgang ein höher geordneter Vorgang zusammensetzen kann, welcher einen einseitig gerichteten Strömungs- antrieb zur Folge hat? Die primäre Wirkung des von der Wandung ausgeübten Überdruckes wird immer die Erzeugung eines Druckgefälles sein. Folge dieses Druckzefälles ist wiederum das Einsetzen einer Strömung. In ihrer Riehtung ist sie bestimmt dureh die Richtung, in welcher der Druck abfällt und von den Widerständen, welche sich der Flüssiekeitsverschiebung entgegensetzen. Was den ersten Faktor anbetrifft, so ist hier maassgebend die Tatsache, dass der auf eine Flüssigkeit ausgeübte Druck sich nach allen Riehtungen in gleicher Weise geltend macht. Auf die speziellen Verhältnisse eines röhrenförmigen Gebildes an- gewendet, heisst das, dass ein von der agierenden Wandstelle erzeugtes Druckgefälle nach beiden Richturgen der freien Bahn des Lumens verläuft. Soll als Erfolg der Arbeitsleistung ein Strömen nur nach einer Richtung bewirkt werden, so kann dies nur unter dem Einfluss des zweiten Faktors geschehen.: Er tritt in Erscheinung bei einer Verschiedenheit der Abströmungswiderstände in der einen oder anderen Richtung. In dem Maasse, als die eine Seite leichter gangbar ist, in dem Maasse wird sie von der Strömung bevorzugt, so dass nun die Wandungsarbeit tatsächlich mehr oder minder vollkommen in einseitig gerichtete Strömung umgesetzt wird. Als Widerstände kommen in Frage: 1. allfällig von einer anderen Stelle des Rohres ausechender Gegendruck. 2. Trägheits- und Reibungswiderstand der in Bewegung ge- setzten Flüssigkeit. Der bezweckte einseitig gerichtete Strömungsantrieb kommt da- nach zustande, wenn mit der Aktion der Wandung eines bestimmten Gefässabsehnittes gleichzeitig auch alle diejenigen Partien des Systenis in Aktion treten, nach welchen ein Strömen nieht stattfinden soll, oder wenn’ in einer Richtung ein absolutes Strömungs- hindernis eingeschaltet wird, 'so dass überhaupt nur die andere Riehtung gangbar bleibt. Ohne einen oder beide dieser Mechanis- Die Arterienmuskulatur als „peripheres Herz“ ? 5659 men ist die Umsetzung der Wandungsarbeit in eine einseitig ge- richtete Strömunssrichtung ausgeschlossen. Noch besonders zu berücksichtigen sind die Verhältnisse, welche sich bieten, wenn im Rohrsystem mit arbeitenden Wandungen bereits aus anderer Ursache heraus Druckgefälle und Strömung bestehen, wie dies im Blutgefässsystem tatsächlich der Fall ist. Unter diesen Bedingungen kommt es zu einer einfachen Super- position der Erscheinungen, wobei jede in isolierter Betrachtung erkannte Wirkung sich geltend macht. Wenden wir die eben erreichten Gesichtspunkte beispielsweise auf die Umsetzung der Herzarbeit in einseitig gerichtetes Strömen an, so finden wir hier den geforderten stromrichtenden Mechanismus klar zutageliegend. Er ist realisiert durch die Gegenwart der Semi- lunarklappen, welche auf eine Seite ein absolutes Strömungshindernis darstellen. Ohne sie würde, darüber herrscht kein Zweifel, die systolische Drucksteigerung, hervorgerufen durch die Herzmuskulatur, unmöglich die Auswertung finden, die tatsächlich an ihr vollzogen wird. Unsere präzise Vorstellung, welche wir in bezug auf die Mechanik des Herzens besitzen, und die Erfahrungen über die Folgen einer gestörten Klappenfunktion, lassen so recht deutlich erkennen, welche funktionelle Bedeutung dem stromriehtenden Mechanismus zukommt und welch ein grosser Sprung es noch ist von einer allfälligen Arbeitsleistung bis zur Auswertung der Arbeit in eine einseitig gerichtete Strömung. Es handelt sich um nichts weniger und nichts mehr, als um eine conditio sine qua non! Diese Betonung ist deshalb an- gezeigt, als man aus der Literatur Belege dafür anführen kann, dass eine Arterienkontraktion ohne weiteres auch identifiziert wird mit Strömungsantrieb, der nach der Peripherie gerichtet ist. Dem entgegen haben wir daran festzuhalten, dass hiezu noch ein spezieller Mechanismus vorhanden sein muss für eine Auswertung der Kontraktionsarbeit in einseitig gerichtete Strömung. Über den Mechanismus der Stromförderung in den Arterien. Wenden wir nun die eben dargestellten allgemeinen Grund- sätze auf das Arteriensystem im speziellen an! Dabei wollen wir es vorläufig einmal als erwiesen ansehen, dass die Arterienwandung eine nennenswerte mechanische Arbeitsleistung aufzubringen vermag! Welcher ist nun der „stromrichtende“ Mechanismus? 570 W. R. Hess: Klappenwirkung wie beim Herzen kommt nicht in Frage, weil die Arterien keine Klappen haben, das heisst, wenn man nicht die Semilunarklappen als „Sammelklappen“ für das gesamte stromwärts liegende Arteriengebiet auffassen will! Dies kann man nicht ohne Grund tun, weil man die Möglichkeit ins Auge fassen muss, dass sich auch sämtliche Arterien eines Systemes gleichzeitig oder annähernd gleichzeitig kontrahieren. Diese Kontraktion würde eine allgemeine — zu dem vom Herzen hervorgebrachten Druck sich addierende — Drucksteigerung im Arteriensystem zur Folge haben, und die Semilunarklappen hätten, wie den vom Herzen hervorgebrachten Druck, auch‘ den von den Arterien produzierten Druckzuwachs zu tragen. In diesem Fall wäre naturgemäss in den Semilunarklappen, wie für das Herz, so auch für die Arterienarbeit der stromrichtende Mechanismus gegeben. Diese Möglichkeit kommt tatsächlich in Be- tracht — aber nur mit einem ganz bestimmten Zusatz! Dieser Zu- satz formuliert sich aus folgender Überlegung: Strömung wird nicht veranlasst durch Druck, sondern durch Druck gefälle. Eine über das ganze Arteriensystem gleichzeitig und gleichmässig verbreitete Drucksteigerung bewirkt deshalb keine Flüssiekeitsverschiebung weder in der einen noch der andern Richtung. Was zur Ursache einer Strömung werden kann, ist nur eine Erhöhung des Druck gefälles nach der Peripherie, also eine vor- wiegend von den zentralen Arterien geleistete Drucksteigerung. Diesen Fall wollen wir im Auge behalten als einen im Arterien- system vielleicht vorhandenen. Die Entscheidung, ob diese Möglich- keit zutrifft, werden wir in einer weiter unten beschriebenen experimentellen Untersuchung finden. Ausser diesem genannten Mechanismus ist aber noch ein anderer namhaft zu machen, der in Frage kommt. Er entspricht dem Vor- gang, den wir Peristaltik nennen. Er kennzeichnet sich dadurch, dass in der Kontraktion der verschiedenen hintereinander liegenden Wandungsabschnitte eine bestimmte Reihenfolge eingehalten wird. Der Mechanismus der Peristaltik wurde seiner Zeit-von Exner!) einer genaueren Analyse unterworfen. Diese Analyse müssen wir noch wesentlich erweitern, um zu denjenigen Vorstellungen zu ge- langen, welche sich auf das Blutgefässsystem anwenden lassen. Fig. 2 stellt eine solche nach rechts fortschreitende Welle dar. l) Pflüger’s Arch. Bd. 34 S. 310. ” Die Arterienmuskulatur als „peripheres Herz“ ? 571 Betrachten wir den Wellenabschnitt zwischen A und $, so finden wir dort die Wandung in der Phase der Kontraktion. Die sich ausbildende Drucksteigerung wird beantwortet von einem Abströmen Intensität des Innendruckes; Pfeile Richtung der erzeugten Strömungen. Kontraktionsphase; S—E = Dilatationsphase; 5 — Scheitel der Welle; Ma = Ort des Drüuckmaximums; Mi — Ort des Druckminimums. — Kleine Pfeile senkrecht zur Achse bedeuten Wandverschiebung; Dichte der. Vertikalschraffierung A—S Schematische Darstellung der peristaltischen Welle von links nach rechts fortschreitend, im parallel der Achse Längsschnitt gesehen. Fig. 2. des Inhaltes nach derjenigen in freier Kommunikation stehenden Stelle, in welcher diese lokale Drucksteigerung nicht oder in ge- ringerem Maasse stattfindet. Und zwar erfolgt das Abströmen nach beiden Seiten von dem Punkte aus, woim Moment das Druckmaximum liegt. Bei flüchtigem Hinsehen könnte 572 WR. Hess: man dieses auf dem Scheitel der Kontraktionswelle bei AS. ver- muten, also dort, wo der Querschnitt sein Minimum erreicht hat. Diese Vermutung trifft aber im allgemeinen nicht zu. Das Druck- maximum liegt vielmehr — einen speziellen Fall, von dem wir gleich sprechen werden, ausgenommen — weiter vorn. Maassgebend für seine Lage ist einerseits die Intensität des Bewegungsvorganges, das heisst die Kontraktionsgeschwindigkeit in den verschiedenen Abschnitten der Welle, anderseits der Widerstand, welcher, von Ort zu Ort wechselnd, sich der Druckentlastung durch Abströmen von Flüssigkeit entgegensetzt. Nur wenn der Druckausgleich nach rück- wärts vollkommen verhindert ist, wenn sich die Gefässwände bis zu völligem Abschluss des Luimens kontrahiert haben, nur in diesem Falle fällt das Druckmaximum mit dem Höhepunkt der Welle zu- sammen. In allen andern Fällen verschiebt es sich nach der Rich- tung der grössten Intensität des Arbeitsvorganges, das heisst nach vorn, wo (in Fig. 2) die senkrecht zur Wandung ge- richteten Pfeilchen am längsten sind. Die Folge dieser Verschiebung ist der Umstand, dass nicht die gesamte Kontraktionsarbeit in Strömung im Sinne der fortschreitenden Welle umgesetzt wird. Diejenigen Wandungsabschnitte, deren Kontraktion sich hinter dem Druckmaximum vollzieht, erzeugt eine entgegengesetzte Strömung. Dieser Anteil des Arbeitseffektes wird um so grösser, je geringer die Höhe der peristaltischen Welle ist, das heisst, je weiter die Bahn für den Druckausgleich nach rückwärts offen bleibt. Für Flüssigkeiten, und nur von solchen sei hier die Rede, kan» deshalb eine solche peristaltische Welle stets nur ein unvollkommenes Antriebsmittel darstellen. Den erwähnten einen Fall ausgenommen: wenn nämlich die peristaltische Welle so hoch ist, dass sie an ihrem Scheitel zu völligem Verschluss des Lumens führt. Die Behinderung des Abströmens nach hinten durch die Lumen- verengerung stellt natürlich auch ein wesentliches Moment der peri- staltischen Welle dar, wenn die Höhe der Welle nicht ausreicht, zum völligen Abschluss zu führen. Es tritt dann eben an Stelle des absoluten Stromhindernisses ein relatives, das ist vom Standpunkt des Strömungsantriebes ein insuffizientes. Wie sich im Gebiete der Wellenstirne (Fig. 2, A bis S) ein Druckmaximum ausbildet, so entsteht auf der Rückseite (E bis $) der Welle ein Druckminimum, weil hier infolge der Er- Die Arterienmuskulatur als. „peripheres Herz“ ? 573 schlaffung die Wände auseinander weichen, sofern im Innern des Systems noch Überdruck besteht. Über die bewegungserzeugende Wirkung des Druckminimums ist dasselbe auszusagen, was für die Wirkung des Maximums gilt, das heisst, der einseitige Strömungs- erfolg einer „Aspiration“ in der Erschlaffungsphase ist von den selben Faktoren abhängig wie der Überdruckerfolg der Kontrak- tionsphase. Verstärkt wird die motorische Wirkung der peristaltischen Welle, wenn die Kontraktionswelle gefolet ist von einer sogenannten Relaxationswelle, das heisst, wenn bei Bestehen eines allgemeiren Tonus nach abgelaufener Kontraktion des Spannungszustandes der Wandung nicht nur auf den Normaltonus abfällt, sondern darunter. Oder aber wenn eine Relaxationswelle der Kontraktionswelle voran- läuft. Es ist dies begreiflich, denn der Übergang aus der Relaxation auf den Höhepunkt der nachfolgenden Kontraktion bedeutet einen ent- sprechend stärkeren Spannungsunterschied des Umfangselementes. Der Unterschied ist es aber, welcher als wirksame Kraft auftritt, und die Querschnittsdifferenz ist es auch, welche die Bevorzugung der einen Strömungsrichtung bewirkt. Es würde keine Schwieriekeiten bieten, die Ausführungen über die peristaltische Welle noch zu ergänzen. Ich glaube, wir dürfen uns dessen enthalten, da .das Mitgeteilte zu der Erkenntnis genügt, dass die Wirksamkeit der peristaltischen Welle an eine erhebliche Querschnittsschwankung der Gefässe gebunden ist. Sie ist daran gebunden, erstens, weil die Querschnittsschwankung ein Faktor der primären Arbeitsleistung ist und zweitens, weil sie zum Mechanismus gehört, welcher die geleistete Arbeit in eine nach der Peripherie gerichtete Flüssigkeitsbewegung umsetzt. Und betont sei nochmals, dass eine rationelle Umsetzung überhaupt nur dann zustande kommen kann, wenn der Kontraktionsvor- gang auf den Höhepunkt zum vollständigen Abschluss des Gefässlumens führt. Dies haben wir uns vor Augen zu halten, wenn wir an eine motorische Leistung der Arterienwandung im Sinne der peristaltischen Welle denken. Hürthle hat die Frage berührt, ob wir nicht eine spezielle Form der peristaltischen Welle annehmen könnten, deren Antriebs- effekt besonders günstig sei. Gewiss hat die Form einen Einfluss. Nach den gegebenen Ausführungen kennen wir ihn. Die Form muss 574 W. R. Hess: so geartet sein, dass das Druckmaximum ‚möglichst nahe an den Wellenscheitel zu liegen kommt. Die Bedingungen hierzu sind eine bis möglichst nahe an den Scheitel der Welle zunehmende Kontraktionsgeschwindigkeit und eine Behinderung des Druckausgleiches in der Richtung der Dilatations- phase, das heisst eben ein vollständiger oder nahezu vollständiger Abschluss des Lumens auf der Höhe der Welle. Solange für den Druckausgleich nach rückwärts der Weg offen steht, kann sich das Druckmaximum nicht auf dem Scheitel der Welle ausbilden, solange wird auch ein Teil der Wandarbeit in einen der angestrebten Richtung entgegengesetzten Bewegungseffekt umgesetzt. Der Hinweis Hürthle’s auf den einseitigen Erfolg der Flimmerbewegung ist mir als Stütze seiner Einwendung nicht recht verständlich, weil dort doch ganz andere mechanische Bedingungen obwalten; beim Antrieb durch Wimpern handelt es sich um tangential zur Bewegungs- richtung angreifende Kräfte, deren Wirkungsweise sich nicht auf die Verhältnisse übertragen lässt, bei der die Antriebskraft senk- recht zur Bewegungsrichtung wirkt. Eine prinzipielle Änderung des Verhältnisses erwartet Hase- broek!) für den Fall, dass sich eine allfällige Arterienarbeit der peripherwärts passierenden primären Pulswelle, also der Herzpuls- welle, in geeigneter Weise superponiert. Es hätte danach. also etwa die Vorstellung Platz zu greifen, dass die von der Arterien- pulswelle erzeugte Arbeit gleichsam von der Herzpulswelle in der Richtung nach der Peripherie „mitgerissen“ wird. Ob nun so oder anders gedacht, eine Vorstellung, bei welcher die primäre Herzpuls- welle die Rolle des geforderten stromrichtenden Mechanismus spielt, bleibt ohne physikalische Grundlage. Es ist im Gegenteil Gesetz, dass an verschiedenen Orten erreste Wellen vollkommen ungestört übereinander hinweglaufen wenn sie sich kreuzen oder auch ent- gegengesetzt gerichtet sind. Etwas anderes ist es, wenn man das Einsetzen des Wand- druckes nicht auf den dynamischen Einfluss der primären „herz- systolischen Welle“ bezieht, sondern auf die momentane Stellung derSemilunarklappen. Wie diese unter Umständen als „strom- richtenden“ Mechanismus auch für eine allfällige Arterienarbeit 1) Über die Bedeutung der Arterienpulsationen in den Venen und die Pathogenese der Varicen. Pflüger’s Arch. Bd. 163 S. 191. Die Arterienmuskulatur als „peripheres Herz“ ? 575 herangezogen werden können, haben wir bereits gezeigt. Nach diesen Ausführungen ist es auch verständlich, wie Hasebroek mit dem in der zitierten Arbeit!) beschriebenen Apparat durch rhyth- mische Aussenpressungen des durchströmten Schlauches eine Er- höhung der Dnurchflussgeschwindigkeit erreichen konute. Es trifft dort die Versuchsanordnung genau die auf S. 570 besprochenen Ver- hältnisse, sobald die Aussenpressung in die Phase des Hahnschlusses fällt. Das durch Motor unterhaltene Öffnen und Schliessen des Hahns versieht an Stelle der automatisch wirkenden Klappenfunktion den geforderten stromriehtenden Mechanismus, welcher im Moment der Wandpressung durch Abschluss den Druckausgleich rach hinten verhindert. Über das wirkliche Bestehen eines in dieser Weise mechanisch präzisierten Antriebsmechanismus entscheiden die weiter unten be- schriebenen Versuche. Untersuchungen an der lebenden Arterie. Wir gehen nun dazu über, unsere Erörterungen im Sinne einer Entscheidung der Titelfrage zu verwerten. Eine erste Antwort leiten wir daraus ab, dass es, wenn überhaupt, im Arteriensystem nur dort zu einem Strömungsantrieb kommen kann, wo erhebliche rhythmische Querschnittsschwankungen auftreten. Denn nur dort sind, wie schon betont, die Grundbedingungen für eine Arbeitsleistung und ihre Umsetzung in Strömung erfüllt. Damit fallen die peripheren Abschnitte der Arterienbahn für einen Strömungsantrieb von vorn- herein ausser Betracht. Wir können nämlich an den feinen Arterien suchen, wie wir wollen — pathologische Fälle mit abnorm hohen Blutdruckschwankungen oder Gefässe unter abnormem Aussendruck (Arterien im Glaukomauge) oder geknickte Gefässe ausgenommen —, wir sehen nichts von ausgeprägten rhythmischen Querschnittsschwan- kungen, nicht in den Gefässen der Froschzunge, der Blase, des Mesen- teriums, nicht in den feinen Mesenterialgefässen des Warmblütlers oder an «den Arterien des menschlichen Augenhintergrundes. Freilich bleibt die Möglichkeit bestehen, auf die wieder Hürthle hinweist, dass Querschnittsschwankungen vielleicht vorkommen, dass sie aber zu rasch ablaufen, als dass wir sie sehen könnten. Ich glaube aber 1) Physikalisch - experimentelle Einwände gegen die sogenannte arterielle Hypertension usw. Pflüger’s Arch. Bd. 142 S. 551. Pflüger’s Archiv für Physiologie. Bd. 163. 39 576 W..R. Hiess: kaum, dass wir diese Annahme als Ausweg benützen dürfen zur Er- haltung der Hypothese aktiv pulsierender Arterien. Trotz allem Widerspruch zu den bekannten Eigenschaften der glatten Muskulatur wäre schliesslich noch denkbar eine unsichtbar rasch verlaufende Kon- traktion — aber die Dilatationsphase, welche die Folge jeder Kon- traktionsphase sein muss? Diese kann nur durch passive Dehnung seschehen, wozu aber für eine ebenso schnelle Variation die ent- sprechende Kraft fehlt, welche entgegen der Trägheit der mit zu bewegenden Innen- und Aussenmasse aufzutreten hat. Ein Fall, das sei hervorgehoben, ist bekannt, wo stärker aus- seprägte Querschnittsschwankungen kleiner Arterien vorkomnien. Ich ıneine die bekannten Beobachtungen an Arterien des Kaninchen- ohres, welche sich in langsamen Rhythmen erweitern und verengern. In Zusammenhang gebracht mit unserer Frage wurde diese Tat- sache durch v. Grützner. Quantitativ betrachtet dürften wir eine hierbei allfällig auftretende Förderleistung als sehr gering ver- anschlagen; denn sie könnte selbst bei maximalem Effekt doch nicht grösser sein als die Entleerung des Gesamtinhaltes des arteriellen Ohrnetzes während einer einzelnen Periode, d. i. während durchsebnittlich 15 Sekunden. Die direkte Beobachtung an allen optisch zugänglichen feinsten Gefässen und alle Versuche mit der Stromuhr an grössern Ästen lehren aber, dass die normale Durch- blutung mit einem viel rascheren Blutwechsel vor sich geht, als einer so langsamen Entleerung entsprechen würde. Auch als Produkt aus Druck und Weg würden wir nur ganz minimale Arbeitsbeträge herausrechnen, da der Weg, auf die Sekunde berechnet, ver- schwindend klein ist. Wahrscheinlich handelt es sich hier um eine ranz andere Erscheinung als um eine Blutpropulsation. Wir werden in einer späteren Arbeit über die Kreislaufregulierung darauf zu sprechen kommen. Als allfällig arbeitende Arterien kommen nach dem Gesagten also nur noch die mittleren und grossen in Frage, welche die geforderten Querschnittsschwankungen tatsächlich zeigen. Hier handelt es sich aber nun darum, Belere dafür heranzuführen, dass diese Pulsation nieht rein passiv durch die rhythmische Tätigkeit des Herzens hervorgerufen ist, sondern dass der Bewegungsvorgang eine aktive Komponente enthält. Aufgabe der Versuchsanordnung wird es sein, uns diese (wenn sie existiert), von der vom Herzen mitgeteilten passiven Arterienpulsation getrennt, vor Augen zu führen. Die Arterienmuskulatur als „peripheres Herz“ ? 577 Geeignet hierzu könnten vielleicht Versuche an überlebenden Arterien sein. Solche Versuche sind in anderem Zusammenhange bereits an- gestellt worden. O0.B. Meyer!), H. Full?), Günther?) und Bayliss*) pub- lizierten Untersuchungen über spontane Kontraktion an ausgeschnittenen Arterien oder Streifen aus Arterien. In jedem Falle war aber der Kontraktionsvorgang so träge, dass er als propulsatorisch wirksamer Vorgang nicht in Frage kommt. Soll eine Arterien- kontraktion eine wirkliche Beihilfe zur Herzleistung darstellen, so muss sie sich mindestens so rasch und häufig vollziehen, dass sich daraus Arbeitsbeträge summieren lassen, welche von derselben Grössenordnung wie die Arbeit des Herzens sind. Solche Kontraktionsvorgänge werden aber an der ausgeschnittenen überlebenden Arterie ebenso hartnäckig vermisst, als die Aktion des überlebenden Herzens erhalten bleibt. Aus diesem Fehlen wollen wir aber doch nicht einen bindenden Schluss auf die Arterien im Organismus ziehen. Durch die Loslösung der Arterie von ihrem Zusammenhange könnten wesentliche Bedingungen für das Zustande- kommen der Eigenbewegung ausgeschaltet worden sein. Das Ziel neuer Versuche muss es deshalb sein, eine Arterie ohne Loslösung aus ihrem Zusammenhange auf aktive Kontraktionsleistungen zu untersuchen, immer aber unter Eliminierung der von der Herzaktion hervorgerufenen passiven Pulsationen. Denn es kommt darauf an, eine aktive Pulsationserscheinung zu erkennen. Die Elimination der überdeckenden passiven Querschnittsschwankung können wir erreichen, wenn wir in einen geeigneten Arterienabschnitt einen das Lumen eben ausfüllenden Stopfbolzen einschieben. Wir tun dies durch einen kleinen Längsschnitt in der Arterienwand, ohne dabei die Arterie aus ihren natürlichem Bett zu lösen oder die Wandung, zum Beispiel durch Klemme oder Faden, zu beschädigen. Erregungs- leitende Elemente, soweit sie seitlich und von hinten an die Arterie 1) 0. B. Meyer, Über rhythmische Spontankontraktionen von Arterien. Zeitschr. f. Biol. Bd. 61 S. 275. — O0. B. Meyer, Über einige Eigenschaften der Gefässmuskulatur usw. Zeitschr. f. Biol. Bd. 48 S. 352. 2) Hermann Full, Versuche über die automatischen Bewegungen der Arterien. Zeitschr. f. Biol. Bd. 61 S. 287. 3) Gustav Günther, Zur Kenntnis der Spontanbewegung überlebender Arterien. Zeitschr. f. Biol. Bd. 65 S. 401. 4) W. M. Bayliss,]. e: S. 11. 392 578 W.R. Hess: herantreten, bewahren ihren freien Zutritt, ebenso der grösste Teil der in der Arterienwand selbst liegenden erregungsleitenden Elemente. Wenn dann im weiteren noch dafür gesorgt wird, dass dem ab- sesrenzten Abschnitt in der Zwischenzeit frisches arterielles Blut zugeführt wird, so besitzt wohl die Auffassung Berechtigung, dass dies Bedingungen sind, bei welchen eine normale Reaktion der Arterien- wand nicht mehr verborgen bleiben kann. Insbesondere wenn zu dem Aufdeecken eine hoch empfindliche Registriervorriehtung be- nützt wird. Die eben beschriebenen Überlegungen führen uns zu den nach- stehend beschriebenen Versuchen. | a b € Fig. 3. Stopfbolzen (a), Spornkanüle (b), Stopfkanüle (ce). Die Versuchsanordnung. Die bei den Versuchen verwendete Apparatur wird erklärt aurch Fig. 3, 4, 5 und 6. 1. Der Stopfbolzen (Fig. 3a). Beim Einschieben eines Stopfbolzens zum Abdämmen des Blutes tritt, wie zu erwarten, die Schwierigkeit auf, denselben entgegen dem Innendruck festzustellen, ohne dass er durch eine um die Arterie gelegte Fadenschlinge fixiert ist. Durch eine solche würde selbstverständlich die funktionelle Kon- tinuität der Arterienwand unterbrochen. Die Schwierigkeit fällt weg, wenn dem Stopfbolzen aus Glas die scharfe Bruchkante am breiten Ende belassen wird. Wenn der Stopfer nur um ein ganz Geringes weiter ist als die Arterie, so ist ein Rückwärtstreiben des Stopfers ausgeschlossen. ; 2. Die Stopfkanüle (Fig. 35 und c). Zum Zwecke der Die Arterienmuskulatur als „peripheres Herz“ ? 579 Registrierung der Volumschwankungen des in seinem Lumen ab- gegrenzten Arterienabschnittes muss eine Kanüle in die letztere ein- gelegt sein. Auch bei dieser tritt die Schwierigkeit in bezug auf selbsttätiges Festhalten auf. Gute Dienste leistet die Verwendung ee (& Fig. 4. Stopfbolzen und Kanüle in situ. einer „Spornkanüle“. Fig. 35 stellt eine solche dar. Ihr Cha- rakteristikum ist der in der Richtung des Anschlussstückes weiter- laufende Ansatz (Sporn), dessen Spitze blind endigt. Dieser Sporn wird ebenfalls in das Lumen der Arterie versenkt und durch leichtes Rückwärtsschieben der Kanüle im zentralen Arterienabschnitt verankert. Fig. 45 zeigt die Spornkanüle in situ. 580 W. R. Hess: Der Sporn darf nicht zu kurz sein, sonst fliegt die Kanüle doch gelegentlich heraus. Ein längerer Sporn hat aber anderseits den Nachteil, dass es zu seiner Versenkung eines ziemlich langen Längs- schnittes in der Arterienwand bedarf, wodurch der nutzbare Arterien- abschnitt ‚beschränkt wird. Deshalb bin ich bei meinen späteren Versuchen zu einer andern Kauülenform übergegangen, wie sie durch Fig. 3ec skizziert ist. Sie beruht auf dem bereits beim Stopfbolzen verwendeten Prinzip der scharfen Kante. Für das Einlegen dieser Kanüle genügt ein sehr kleiner Längs- schnitt. Dagegen macht sieh bei ihr das verengte Lumen gelegent- lich wegen leichter Verstopfung durch Gerinnsel störend geltend. Druekvorriehtung. (Fig. 5 und 6.) Diese wird mit der Kanüle zusammengefügt, um im aus- seschalteten Arterienabsehnitt den normalen Innendruck zu erhalten und nötigenfalls künstlich zu variieren. Die Verbindung wird ver- mittelt durch ein Gliederröhrehen (Gl. R.), gebildet aus einem dünnen Gummischlauch (Innenmaass 1 mm, Aussenmaass 2 mm) mit drei starren Einlagen. Diese haben den Zweck, die elastische Dehn- barkeit des Drucksystems auf ein Minimum herabzusetzen und dadurch die Volumsehwankung der Arterien möglichst ungestört zum Ausdruck gelangen zu lassen. Die Druckvorrichtung ist gebaut nach Art eines Manometers mit der Modifizierung, dass der eine Schenkel in zwei parallele Äste geteilt ist. An der Teilungsstelle ist ein Winkelhahn (W. H.) eingefüst. Er ermöglicht es, durch einfaches Drehen Druckwechsel im System zu erzeugen. Dieser kommt zu- stande, wenn beim Einstellen des Manometers auf Überdruck dem in ihm befindlichen Quecksilber ein verschieden hoher Stand erteilt wird (Hg 60 und Hg 120). Nach oben laufen die beiden Äste wieder in einem gemeinsamen Vermittlungsstück zusammen. Dieses führt zur Spiegelmembran der Registriervorrichtung (Sp. M.). Ein Seitenzweig mit Ventilöffnung (V. Ö.) vermittelt die Verbindung mit der Aussenluft bei Einstellung des Manometers auf Überdruck. Während der Registrierung ist die Ventilöffnung gesperrt. Die Füllung des Systems zwischen Arterie und Manometer besteht aus physiologischer Kochsalzlösung mit Hirudinzusatz. Im gegabelten Schenkel ist das Quecksilber mit Glyzerin über- schichtet (Gl. M. — Glyzerinmeniskus), um durch Dämpfung die Eigenschwingung des Quecksilbers hintauzuhalten, ferner um die Die Arterienmuskulatur als „peripheres Herz“ ? 581 Luft zu verdrängen und damit eine störende Temperaturempfindlich- keit der Vorrichtung zu vermeiden. Die Lichtweite des Manometer- rohres beträgt 5 mm, die Höhe 30 em. za 76.5 Fig. 5. Zusammengestellte Apparatur, schematisch. ©.c. = Art. carotis comm.; St. B. — Stopfbolzen; St. K. — Stopfkanüle; p. A. = periphere Abklemmung ; Th.s. = A. tlıyrecid. sup. abgeklemmt; A. R. = Abflussröhrchen; @I.R. = Gliederröhrehen:; Dr. V. — Druckvorrichtung; Hg 60, Hg 120 = Quecksilber- meniskus, auf 60 und auf 120 mm Druckhöhe; W.H. = Winkelhahn; G1.M. — Glyzerinmeniskus; L. L. — Luftleitung zur Spiegelmembran; Sp. M. — Spiegel- membran; V.O. — Ventilöffnung (S.L. —= Sammel'inse; Z,S. — Zeitschreiber ; Ky. = Verschlussstück des Kymographions. Vel. Fig. 6.) 982 W. R. Hess: Die Lichtweite der Luftleitung vom Manometer bis zur Membran- kapsel beträgt 1 mm; die Tiefe der Spiegelkapsel ebenfalls 1 mm. Der Innenraum ist also wieder mit Rücksicht auf die Temperatur- einflüsse möglichst eng gehalten. Vervollständigt wird die Apparatur durch das Garten’sche Kymographion, dessen Trommel durch Transmission auf eine geringe (Geschwindigkeit eingestellt ist. Hinzugefügt ist noch ein Jaquet’scher Zeitschreiber, für optische Registrierung umgeändert. Fig. 6. Versuchsanordnung zur Registrierung bereit. Ausführung des Versuches. Als Versuchsobjekt eignet sich am besten die Art. Carotis com- munis eines Kaninchens. Sie ist leicht zugänglich und läuft eine relativ lange Strecke ohne Abgabe von Seitenzweigen. In meinen Versuchen verwandte ich gewöhnlich mittelgrosse Tiere, deren Karotis kräftig genug entwickelt ist, um der Technik keine Schwierigkeiten zu bereiten. Zu grosse Tiere zu nehmen, ist nicht rationell, da im Interesse des ungestörten Verlaufes des Ver- suches am besten das gesamte Blut durch intervenöse Injektion Die Arterienmuskulatur als „peripheres Herz“ ? 583 hirudinisiert wird. Zudem erschienen mir kleinere Arterien wegen des stäkeren Vorherrschens des muskulären Elementes für Unter- suchungen über die Reaktion des letztern naturgemäss als die ge- eigneteren Objekte. — Von diesem letzteren Standpunkte aus wäre die Femoralis der Karotis vorzuziehen, weil sie bekanntlich noch die besser entwickelte Muskularis hat. Auch der Umstand, dass der Femoralispuls meistens die höheren Amplituden aufweist, ist ein Grund, dieser Arterie den Vorzug zu geben. Anderseits spricht zu Ungunsten der Femoralis der Umstand, dass mehrere abgehende Muskeläste erst abgebunden werden müssen, will man ein genüsend langes Arterienstück in den Versuch ein- beziehen können. Diese Äste gehen schief nach hinten und können nicht ohne eine stärkere Störung des Zusammenhanges der Arterie mit ihrem Bett unterbunden werden. Dagegen liegt es im Sinne des Versuches, Unterbrechungen des natürlichen Zusammenhanges der Arterie mit ihrer Umgebung nach Möglichkeit zu vermeiden, um allfälligem Zutritt nervöser Aktionsreize freie Bahn zu lassen. Bei der Karotis ist dies leicht durchzuführen, weil das einzige zu unter- bindende Ästehen, die Arterie thyreoidea sup., so verläuft, dass sie in einiger Entfernung von der Karotis gefasst werden kann. Im übrigen zeigten die Versuche, dass ein prinzipieller Unterschied zwischen beiden Untersuchungsobjekten nicht existiert. Als erstes wird dem nicht zu tief in Chloralnarkose zehaltenen Tier einerseits die Jugularvene freipräpariert für die Hirudininjektion. Vollzogen wird die Injektion noch nieht, damit richt bei weiterem Vorgehen die Blutung begünstigt wird. Als zweites sucht man die A. thyreoidea sup. der andern Seite auf und unterbindet sie ca. 3 mm von der Karotis entfernt. Durch das Unterbinden wird das Ab- strömen des unter Druck gehaltenen Inhaltes der Karotis verhindert. Die Letztere selbst wird oberhalb des oberen Randes der Cartilago thyreoidea blossgeleet, also unmittelbar vor ihrer Teilung. Einer Isolierung und späteren Abklemmung steht nichts im Wege, weil es mit Rücksicht auf den Zweck des Versuchs nur darauf ankommt, zentralwärts die Verbindung des dem Versuche unterworfenen Arterienabschnittes intakt zu erhalten. Eine weitere Freilegung der Karotis geschieht nahe dem Ansatz des M. sterno-mastoideus, hier nur so weit, dass die Karotis für einen Einschnitt auf ihrer vorderen Seite zugänglich ist. Der Einschnitt erfolgt erst, nachdem man sich überzeugt, dass nirgends auch nicht eine geringe Blutung be- 584 W.R. Hess: steht und daraufhin das Hirudin injiziert worden war. Eine Schädi- eung der Arterienaktion durch das Hirudin kann sicher bei der ge- bräuchlichen Dosierung (1 mgr auf 7,5 ccm Blut, dies zu 5°/o der Körpergrösse berechnet), ausgeschlossen werden, weil dasselbe er- fahrungsgemäss ohne merkliche Blutdruckänderung ertragen wird!). Ein solcher wäre aber bei Hemmung eines allfällig vorhandenen Aktionsmeehanismus unausbleiblich. Zum Einlegen der Kanüle wird die Karotis am peripheren Ende der Versuchsstrecke abgeklemmt, zentralwärts von der zum Einschnitt präparierten Stelle dagegen nur digital komprimiert. Ein kleines Querschnittehen gestattet das Einführen des einen Blattes einer Iridektomieschere, welche den Längsschlitz setzt (vel. Fig. 4a, S. 579). Derselbe wird etwas länzer zemacht, als dem Arteriendurchmesser entspricht. Durch diesen Schlitz wird nun der Stopfbolzen eingeführt, und zwar in zentraler Richtung. Mit Vaselin bestrichen gleitet er leicht hinein. Er wird so weit vorgeschoben, dass er unter dem Sehlitz vollständig verschwindet. Nach dem Einschieben des Stopf- bolzens kann die digitale Kompression wieder aufgehoben werden, weil nun Verschluss besteht. Es wird nun durch denselben Schlitz die Kanüle eingelegt mit peripherwärts geriehteter Öffnung (vel. Fig. 4b u. ce), Da die Kanüle schon vor dem Versuch mit der Druck- und Registrierungsvorriehtung in Verbindung gebracht war, ist durch die eben beschriebenen Manipulationen der Anschluss des nunmehr ausgeschalteten Arterienabschnittes bewerkstelligt. Ein kurzes Lösen der peripheren Abklemmung füllt das Stück wieder mit Blut. Dieses steht auch von der peripheren Seite her wegen der Kollateral- bahnen mit erheblichem Drucke zur Verfügung. Durch Drehen des vorher schief eestellten Winkelhahnes gerät der Inhalt des dem Versuch unterworfenen Arterienstückes unter den Druck der Queck- silbersäule und zwar zuerst unter den niedrigeren (50—60 mm Hg). Das Absperren der Ventilöffnung (Fig. 5, S. 581: V.Ö) unterwirft die Spiegelmembran den Volumsehwankungen des Systeminnern und damit des dem Versuch unterworfenen Arterienabschnittes. Es braucht nieht viel Übung, bis die wenigen Manipulationen in der richtigen Reihenfolge rasch hintereinander ausgeführt werden und so ein eben noch im allgemeinen Kreislauf befindliches Gefässstück nach dem 1) V. E. von Hertzen und R. H. Öhmann, Über die Einwirkung des Hirudins auf den Kreislauf. Skand. Arch. f. Physiol. Bd. 20 S. 1 1908. Die Arterienmuskulatur als „peripheres Herz“ ? 585 künstlichen Druck- und Reeistriersystem „umgeschaltet“ ist. Die Insulte, welehe dabei das Arterienstück treffen, sind in jedem Falle äusserst gering, speziell im Vergleich zu unvermeidlichen Schädi- gungen bei den Versuchen an überlebenden Arterien! Als erste Registrierung zeichnen wir die Volumschwankungen auf, wie sie ohne äussere Beeinflussung zustande kommen. Hier entscheidet sich die Frage, ob die Arterie aktive Änderung im Spannungszustand der Wandung zeist, sei es nun spontan, sei es unter dem Einfluss von Erregunzen, welehe ihr durch Nerven oder eventuell durch die Wandmuskulatur selbst zugeleitet werden. Die entsprechende Aktionserscheinung müsste, selbst wenn sie nur gering wäre, als Zacke auf der Kurve zum Ausdruck kommen. Die Diskussion der Resultate wird uns zeigen, dass nichts Derartiges der Fall ist. Ausgeschlossen ist aber die Mög- lichkeit einer Aktion auch jetzt noch nicht; denn es ist noch denk- bar, dass das Auftreten der aktiven Arterien der Auslösung durch die passiven pulsatorischen Querschnittsschwankungen, das heisst der Dehnung der Wandung, bedarf. In der Absicht, auch hierüber eine Entscheidung zu finden, war die Druckvorrichtung so gestaltet, dass das umgeschaltete Arterien- stück rasch und einfach einer Druckvariation (im Bereich der physio- logischen Grenzen) unterworfen werden kann, ohne dass aber durch die Umschaltung der Zusammenhang mit der Registrierung aufgegeben wird. Diese Forderung ist bei der beschriebenen Druckvorrichtung erreicht, wenn durch Umstellen des Winkelhahns abwechselnd der eine oder andere Schenkel eingeschaltet wird. Variation in die Versuche kann man bringen durch rascheres oder langsanıeres Umschalten. Wiederholen können wir den Versuch nach Auswechseln (des Inhaltes der Arterie. Dies kann leicht. geschehen durch kurzes Lüften der peripheren Klemme unter Freigabe des Abflussröhrehens (A.R.), welches vom Gliederröhrehen ins Freie führt. Das auf Kollateral- bahnen zum peripheren Ende des Versuchsstückes herbeiströmende Blut findet in dem freigegebenen Zweigröhrchen einen Ausgang. Auf seinem Weg dahin «durchläuft es das Versuchsstück, so dass dieses nach Wiederabschluss des Zweigröhrehens und Wiederabklemmen der Peripherie mit frischem arteriellen Blut gefüllt ist. Während des Auswechselns muss der Hahn der Druckvorrichtung geschlossen sein, da sonst ein Zurückfallen des Quecksilbers erfolgt. Um ferner eine völlige Entspannung des Versuchsstückes zu vermeiden, hält 580 W.R. Hess: man während der Durchblutung im Abflussröhrcehen A. R. einen Widerstand eingeschaltet, hergestellt durch eine partielle Lüftung der Klemme. Versuchsresultate. a) Die Ruhekurve. Die unter konstantem Innendruck (50—60 mm Hg) sich selbst überlassene Arterie schreibt eine Kurve, wie sie in Fig. /, 3 und 9 (erste Hälfte von Fig. 9) wiedergegeben ist. Wir erkennen daran verschiedene Schwankungen. Diese bestehen in der Regel in sehr flach. verlaufenden Wellen, die sich durchschnittlich über eine halbe Minute erstrecken (Fig. 7 und 8). Es ist naheliegend, diese Wellen im Wesen mit den am Kaninchenohr ohne weiteres sicht- baren trägen Querschnittsschwankungen zu identifizieren, vielleicht bedinet durch regulatorische Gleichgewichtsverschiebungen zwischen Kontraktions- und Dilatationswirkung. Ob diese Vermutung richtig ist, haben wir hier nicht zu prüfen. Was uns interessiert, ist der Umstand, dass ein propulsatorischer Effekt dieser Welle schon wegen der Trägkeit ausgeschlossen ist. Die genannte, auf die Zeiteinheit berechnete Arbeitsleistung bleibt unter einem Hundertstel der in der- selben Zeit vom Karotispuls an das System abgegebenen Arbeit (ge- schlossen aus Kurve Fie. 7). Neben diesen langgestreckten Wellen weist die Kurve von Zeit zu Zeit (in nicht regelmässigen Abständen) Zacken auf. Sie fallen zusammen mit den Schluckbewegungen des Tieres und sind wegen der Nachbarschaft des Kehlkopfes als passive Volumschwankungen zu deuten. Endlich erkennen wir ganz niedrige Kurvenwellen. Sie sind synchron mit der Atmung, .also ebenfalls passive Schwan- kungen. In der Reproduktion sind diese kleinen Wellen nur bei Fig. 8 deutlich erkennbar. Von Volumsehwankungen, welche eine Aktion der Arterienwand anzeigen würden, ist keineSpur zu ent- decken. Dass solche dennoch ablaufen, ohne dass sie in der Kurve entsprechend zum Ausdruck kommen, ist nicht annelımbar. Der Um- stand, dass sogar die Atmungsschwankungen (vom Kehlkopf mecha- nisch auf das Gefäss übertragen) zur Registrierung gelangen, berechtigt uns zu dem Schluss, dass die Registrierung ausreichend empfindlich ist auch für sehr geringe Spannungsänderungen. Im gleichen Sinne Die Arterienmuskulatur als „peripheres Herz“? 5837 spricht die direkte Registrierung des (passiven) Karotispulses am zentralen Zuführungsstück der Karotis, nachdem aus diesem der Stopfbolzen entfernt ist (vel. Fig. 12). Die Trägheit des Quecksilbers Schluckzacken; (100 mm Hg) gehaltenen Kaninchenkarotis. nn =) — — a ; =) = o = < o 3 = = Se =) = S = =! — = <{ Sr =! | oc zo a 3 ha Pi oO ug) oO an. R Se B> a f5) = — 3 ° | 2 — N = E=| re o ® NR r iQ ) | IE = = | IS zZ She — 1] Sekunde; $ Volumschwankungen Zeitmarken Q ©, gehaltenen Kaninchenkarotis. IQ. 1 Volumschwankung der unter konstantem Innendruck F reduziert zwar die Amplitude auf eine relativ geringe Höhe. Die auf- gezeichneten passiven Pulsationen sind aber immer noch so hoch, dass auch Pulsationen, deren Energieinhalt nur Bruchteile von der in der Karotis zugeleiteten Herzpulswelle beträst, zur Aufzeichnung ge- W.R. Hess: 988 Auffällig mag erscheinen, dass auch die an der überlebenden Arterie von O.B.Meyer!), Full?) und Günther?) langen müssten. opunyos [| = uayaewmaz "Zundopugwnfo‘ AaArssed anu uoyeJsog q 10q ‘(uoynop nz SungoqL1osnuo], Jwwsdurf Se) Fundopunmıpauuo‘ ueystLlomumuoy uawesdur] aıp 48T 0 19q ‘(A wur Q6--001) uadunyuemydswnfoA OT 11 A9UI9 UOA 9E]S9Q Zunaspuwumno‘ aıssed ostomsunıds [OSY9MYONIT WOLNDEJLgEW 194 SMOWNUOgDUruBy AO ‘Sg ww g) ur wur Qp u0A Sungpuy % loq :Sp wu gr ur ww (8 uoA soydnıp -sdungsepog Sop Zunaopuy A 199 !Yonıq] WOIURISUoN Aayum JSıyy 'SDO aryuogourueyp Aop uodunyuenydsunjoA 76 "DJ 2) H. Full, \. ce. 8. 22. 1).0."B!/ Meyer. .1..c..8:.22. 3):.G Günther, .c.. 8. 22 { Ke {3} Die Arterienmuskulatur als „peripheres Herz“ ? 589 konstatierten Spontankontraktionen vollkommen fehlen. Tatsächlich steht aber dieser Befund in voller Übereinstimmung mit den Resultaten von O.B. Meyer; denn aus diesen geht unzweideutig hervor, dass die fraglichen Kontraktionen nur bei Sauerstoffmangel zustande kommen. Davon kann aber natürlich bei einer Füllung der Arterie mit arteriellem Blut, wie in unseren Versuchen der Fall, keine Rede sein. | Fig. 11. Volumschwankungen der Arterie bei Druckwechsel. v Einschalten des hohen Druckes; * Einschalten des niedrigen Druckes; schematisiert. Was wir aus den Kurven, welehe unter rhythmischem Druck- wechsel zustande gekommen sind, erkennen können, lässt sich am besten am vorstehenden Schema (Fig. 11) erläutern, He Tı IHN" t EIN RR: Napllarhchluhbeih, : Kur ‚AM EAETRUNAERNTNNG LA HhieÄl, > AN) Wa N BL N" Fig. 12. Kontrollversuch: Registrierung des Karotispulses. Die Kurve diert zur Beurteilung der Registriervorrichtung. Im Verlauf der Kurve von A nach D wurde der auf dem Arterieninhalt lastende Druck einmal erhöht, einmal gesenkt. Bei A unter niedrigen Druck gehalten, wird bei y der Winkelhahn rasch sedreht, wodurch plötzlich der hohe Druck eingeschaltet wird. Unter dem Einfluss des Überdruckes sehen wir die Kurve abfallen. Unmittelbar vor dem Abfallen ist eine kleine Zacke. Diese rührt von der leichten Erschütterung her, ohne welche das Umschalten nieht möglich ist. Zu Missverstäudnissen kann diese Zacke wegen ihrer Lage nicht Gelegenheit zcben. Der Abfall selbst ist mehr oder 590 W. R. Hess: weniger steil, je nachdem die Umschaltung mit grösserer oder ge- rinzerer Geschwindigkeit besorgt wurde. Ein Wechsel der Um- schaltungsgeschwindiekeit verfolgt den Zweck, die allfälligen Unter- schiede in den auslösenden Wirkungen des verschieden raschen Einsetzens der passiven Dehnung kenntlich zu machen. Nach unten flacht sich der Abfall der Kurve regelmässig ab und strebt der Horizontalen zu. Auf die Volumänderung der Arterie interpretiert, sagt uns die Kurve: Mit Einsetzen des hohen Druckes erfolgt erst eine rasche, dann allmähliche Erweiterung der Arterie, bis ein dem neuen Druck entsprechender neuer Gleichgewichtszustand erreicht ist. Und nun die aktive Pulsation der Gefässwand? Sie bleibt aus in jedem Fall. Träte.sie auf, so müsste, entsprechend dem eintretenden Spannungswechsel, durch sie der stetige Abfall der Kurve gestört sein. Oder aber, wenn die Reaktion erst nach Erreichung des neuen Gleichgewichtszustandes eintreten würde, müsste in dieser Phase eine neue, nicht von aussen inszenierte Änderung des Kurvenverlaufs auftreten und zwar in Form einer Erhebung, da bei der gegebenen Ver- suchsanordnung Volumverminderung einen Spiegelausschlag nach oben verursacht. Die Kurven können alle durchgeprüft werden. Bei keinen der an vier Tieren ausgeführten Versuchen finden wir den Ausdruck einer solchen Arterienreaktion. Ein solcher tritt auch nicht ein im Anschluss an die Umschaltung wieder zum niedrigen Druck (bei +) mit konsekutiver Entspannung der Arterie. In übereinstimmendem Sinne sind auch diejenigen Kurven zu deuten, in deren Verlauf das Niveau der Kurven stetig abfällt infolge Inhaltsverminderung des Systemes. Zu einer solchen kann es kommen, entweder wenn die A. thyreoidea nieht unterbunden ist, oder wenn die Stopfkanüle nicht vollkommen dichtet. Auch ein langsames An- steigen des Niveaus kann zustande kommen, vermutlich als Ausdruck einer langsamen Tonuszunahme unter dem Einfluss der Drucksteige- rung (Fig. 10 a). Sollen wir nun trotz diesen unbedingt negativen Resultaten der Arterienmuskulatur die Fähigkeiten einem aktiven Strömungsantriebe zuschreiben? Die Stellung, die man zu dieser Frage einnimmt, hängt davon ab, welche Beweiskraft man den aufgeführten Experi- menten zumisst. Ich meinerseits halte die Ansicht für berechtigt, dass in den beschriebenen Experimenten der Arterie alle wesentlichen Bedingungen für die Erhaltung der normalen Reaktionsfähigkeit erfüllt waren. Die Arterienmuskulatur als „peripheres Herz“ ? 591] Diese Bedingungen sind, wir wiederholen: 1. Belassung der Arterie in ihrem natürlichen Bett und der Kontinuität der Wandung zentralwärts; 2. auswechselbare Füllung mit Arterienblut desselben Tieres unter Druck bzw. Druckschwankung innerhalb der physiologischen Grenze. 3. Ausschluss von Abkühlung und Verdunstung. Dass unter diesen Bedingungen keine Reaktion, auch keine Andeutung einer solchen sich bemerkbar macht, welche ge- eignet wäre, eine nennenswerte Arbeit aufzubringen — diese Be- obachtung erscheint mir nur begreiflich, wenn eben der Arterie eine solche Arbeitsleistung überhaupt fremd ist. Auf alle Fälle sehen wir uns in bezug auf die mechanischen Merkmale einer Aktionserscheinung der Arterienwand demselben Resultat gegenüber, zu welchem Blumenfeld!) bei den Unter- suchungen der elektrischen Merkmale, dem sog. Aktionsstrom, gelangt ist: aus der zu beobachtenden Erscheinung lässt sich keine aktive Komponente isolieren! Damit stellen sich die grösseren Arterien mit sichtbaren pul- satorischen Querschnittsschwankungen an die Seite der feinen Gefässe ohne solche; beiden fehlen die unumgänglichen Meıkmale einer aktiven Förderleistung. Dass der Arterienwandung damit der Einfluss auf die Blutströmung nicht entzogen zu sein braucht, ist selbstverständlich. Es soll aber, um Missverständnissen vorzu- beugen, noch speziell darauf hingewiesen sein. Der Einfluss, der auch ohne aktive Förderleistung bestehen bleiben kann und sicher besteht, wird vermittelt durch die ausserordentliche Abhängigkeit des Strömungswiderstandes vom Gefässquerschnitt bzw. dem Gefäss- umfang. Diese Abhängigkeit, nichteine aktive Förderleistung der Arterienwand unterwirft den Blutstrom dem Einfluss der durch- bluteten Arterie. Zusammenfassung. In neuester Zeit ist wieder von verschiedener Seite die Frage zur Diskussion gebracht worden, ob die Arterien nicht nur pas- sive Leitungsbahnen seien, sondern gleichzeitig auch Ar- beitsorgane, welche durch aktives Eingreifen in die Blutförderung das Herz unterstützen. Die Unsicherheit über die Berechtigung einer bejahenden oder 1) Blumenfeld, l.c. S. 556. Pflüger’s Archiv für Physiologie. Bd. 163. 40 592 W. R. Hess: verneinenden Auffassung macht sich um so störender geltend, als es sich um eine Sache von prinzipieller Bedeutung handelt, einmal vom rein theoretischen Standpunkt aus, dann aber auch im Zu- sammenhang mit praktischen Fragen. In bezug auf die bisherige Literatur wird auf die ausführlichen Darlegungen von Hürthle verwiesen, welche in eben dieser Zeit- schrift erschienen sind. In ihrer Bewertung schliessen wir uns dem Urteil des genannten Autors an, dass nämlich ein unbedingt ent- scheidendes Moment bis heute noch nicht beigebracht ist. Hürthle’s eigener Beitrag wird entsprechend seiner Bedeutung für die Beantwortung der Frage einer eingehenden Besprechung unterzogen. Es betrifft dies die Auslegung der „systolischen Schwellung“, welche nach dem genannten Autor darin besteht, dass in vivo zwischen Strompuls und Druckpuls die den physikalischen Gesetzen ent- sprechende Übereinstimmung fehlt. Es übertrifft die tatsächliche Strömung in Gebieten der Druckmaxima die berechnete in vielen Fällen um erhebliche Beträge. Hürthle ist geneigt, diesen Strömungsüberschuss eben als Ausdruck einer aktiven Förderung der Arterien aufzufassen. Wir selbst kommen aber zu dem Schluss, dass die Berechnung zu unsicher basiert ist, als dass sie einen solchen Schluss im Sinne der Wahrscheinlichkeit zulässt. Insbesondere er- blicken wir in der Vernachlässigung des Strömungswiderstandes in der praekapillaren Bahn eine Fehlerquelle, welche unter gegebenen Bedingungen sowohl in bezug auf die Berechnung des gesamten Widerstandes als auch auf die Berechnung des Dehnungskoeffizienten wirksam werden. In unserer eigenen Behandlung des Themas besprechen wir als erstes die in Frage kommenden mechanischen Gesetze. Wir tun dies, weil uns die Frage nur als reelles Problem und nicht als eine „Arbeitshypothese“ interessiert, welche sich ausserhalb der Funda- mentalgesetze der Mechanik stellt. Die Besprechung liefert uns eine Präzisierung derjenigen Fak- toren, an welchen ein jeder Strömungsantrieb einer Flüssigkeit gemäss des Gesetzes der Mechanik gebunden ist. Diese Präzisierung lautet: a) Eine Blutförderung durch die Arterienwand muss als Arbeits- leistung in jedem Fall das Produkt von Kraft mal Weg sein. Die Anwendung dieses Satzes auf die speziellen Verhältnisse sagt, dass die Wandung einer Arterie nur Arbeit leisten und auf Die Arterienmuskulatur als „peripheres Herz* ? 593 das Blut übertragen kann, wenn sie auf dessen Inhalt einen Druck (= Kraft) ausübt und die Druckwirkung gleichzeitig von einer Verschiebung der Wandung in der Richtung der Kraft be- gleitet ist. Es wäre dies eine Querschnittsänderung des arbeit- leistenden Gefässes. b) Wenn eine Arbeitsleistung der Gefässwand tatsächlich vor- kommt, so führt dieselbe nicht ohne weiteres zu einem nach der Peripherie gerichteten Strömungsantrieb. Hierzu bedarf es eines speziellen Mechanismus, welcher die geleistete Arbeit in eine einseitig gerichtete Blutströmung umsetzt. Im weiteren unterziehen wir das lebende Arteriensystem und einzelne Arterienstücke einer experimentellen Prüfung auf das Vor- handensein der eben präzisierten, für jede aktive Stromförderung unerlässlichen Merkmale. Die Versuchsergebnisse fallen in jeder Beziehung negativ aus. Damit kommen wir, unter gleichzeitiger Einschätzung analoger Befunde Blumenfeld’s!) in bezug auf die Aktionsströme, zu dem Schluss, den Arterien eine aktive Förderung des Blutstromes abzusprechen, also die Existenz des sogenannten „peripheren Herzens“ zu verneinen. 1) Blumenfeld, |. c. S. 556. 40* 594 J. Bernstein: Kontraktilität und Doppelbrechung des Muskels. Von 3. Bernstein. In einem Artikel „Zur Frage der negativen Schwankung der Doppelbrechung bei der Muskelkontraktion“ !) hat sich V. v. Ebner zu der in meiner Abhandlung „Experimentelles und Kritisches zur Theorie der Muskelkontraktion“ ?) ausgesprochenen Ansicht über das Verhältnis der Doppelbreehung zur Kontraktilität der Muskelfaser geäussert. Er hält das Vorhandensein einer Abnahme der Kraft der Doppelbrechung bei der Kontraktion aufrecht gegenüber der von mir gegebenen Erklärung für die von ihm beobachteten Erschei- nungen, welche er in dem Buche „Untersuchungen über die Ursachen der Anisotropie organisierter Substanzen“ ®) beschrieben hatte. In diesem grundlegenden Werke hatte v. Ebner die wichtige Be- obachtung gemacht, dass, wenn man den Muskel zwischen zwei Glasplatten verhindert, sich bei der Kontraktion zu verdicken, bei seiner Verkürzung (Isotonie) eine Abnahme der Doppelbrechung in der Diekenrichtung eintritt. Hingegen hatten schon Brücke und Hermann früher festgestellt, dass, wenn man den Muskel in dieser Lage bei der Kontraktion auch verhindert, sich zu verkürzen (Iso- metrie), eine Änderung der Doppelbrechung nicht beobachtet wird, was auch v. Ebner bestätigt. Wenn man nun den Muskel oder eine Muskelfaser sich nach allen Dimensionen frei zusammenziehen lässt, so ist das Resultat ein schwankendes. Die Angaben der Beobachter hierüber stimmen nicht überein. Brücke meinte, dass durch die Verdiekung des Muskels bei der Kontraktion eine Verstärkung der Doppelbrechung eintreten müsste, ähnlich wie dies durch Aufeinanderlegen von 1) Pflüger’s Arch. Bd. 163 8. 179. 1916. 2) Pflüger’s Arch. Bd. 162 S.1. 1915. 3) Leipzig 1882. Kontraktilität und Doppelbrechung des Muskels. 595 Muskeln und Fasern in der Ruhe der Fall ist. Er brachte daher die Präparate in ein Glaskompressorium,. um die Verdickung zu verhindern, und v. Ebner bediente sich zu diesem Zwecke dann derselben Methode. Brücke erklärte die bei seiner Kontraktion eintretende Veränderung der Doppelbrechung demnach erstens als Folge der Verdickung im Sinne einer Zunahme und zweitens als Folge einer Änderung im Azimut und Horizont der Muskelfibrillen innerhalb der Kontraktionswellen im Sinne einer Abnahme der Doppelbrechung. Um diese Störungen zu vermeiden, wurde durch Spannung und Kompression der Muskeln jede Formveränderung verhindert, und da zeigte sich bei Reizung keine Änderung der Doppelbrechung. v. Ebner verweist mich nun auf eine Arbeit von Rollett!). In dieser ausgezeichneten Untersuchung, die mit bewundernswerten Abbildungen ausgestattet ist, misst Rollett (S. 90 u. ff.) die Doppel- brechung an fixierten Kontraktionswellen. Er sagt: „Es ist auf- fallend, dass man der Tatsache so wenig Beachtung geschenkt hat, dass solche Muskelfasern auf Gipsgrund, in der Additions- und Subtraktionslage betrachtet, mit ihren kontrahierten Partien keine anffallend anderen Farbenänderung hervorrufen als mit ihren er- schlafften Partien.“ Mit Hilfe eines Spektropolarisators misst er die Änderung der Doppelbrechung in der Kontraktionswelle und erhielt entweder gar keine oder nur ausserordentlich geringe Werte hierfür an den Querstreifen @ im Sinne einer Verminderung. Unter 22 Messungen ist nur in einem Falle die Differenz eine grössere (Lucanus cervus). Nimmt man aus allen Werten das Mittel (selbst ohne Ausscheidung des gänzlich abweichenden Falles), so erhält man für die- erschlafften Partien den Wert). 564 für die kontrahierten 560,5. Rollett bestätigt dieses Ergebnis auch an lebenden Fasern und Muskelstreifen, und zwar in erhöhtem Maasse, doch waren Differenzen mit dem Spektropolarisator nicht ausführbar. Wie erklärt sich nun nach v. Ebner und Rollett diese merkwürdige Tatsache? Man muss voraussetzen, dass in der Kon- traktion die spezifische Stärke (Intensität) der Doppelbrechung 1) Untersuchungen über Kontraktion und Doppelbrechung der quergestreiften Muskelfasern. Denkschr. d. k. Akad. d. Wissensch. in Wien, math.- naturw. Klasse Bd. 58 S. 41. 1891. 2) In Milliontel Millimetern der Wellenlängen des Angström’schen Normalspektrums. 596 J. Bernstein: abnimmt, und zwar fast genau um so viel, als die Zunahme des Be- trages infolge der Verdiekung ausmacht, ja dass sogar die erstere die letztere um ein Minimum überwiegt. Rollett sagt: „Man kommt manchmal in die Lage, zu beobachten, welche gewaltige Änderung in der Farbe der an der Muskelfasern infolge Verdiekung durch Übereinanderlagerung eintritt, im Vergleich mit der unmerklichen Änderung der Farbe, die infolge Verdiekung durch Kontraktion entsteht.“ Hiernach müsste also die Abnahme der Intensität der Doppelbrechung bei der Kontraktion eine gewaltige sein, wenn Verdickung der Schicht durch Übereinanderlagerung und Kontraktion identisch wären. Dass jedoch unter diesen Voraussetzungen in allen Fällen bei ver- schiedentlicher Stärke der Kontraktionen diese beiden entgegen- gesetzten Einflüsse auf den Betrag der Doppelbrechung aus zwei total verschiedenartigen Ursachen einander gleich und entgegengesetzt sein sollen, wäre ein Fall, dessen Wahrscheinlichkeit man wohl als Null betrachten möchte. v. Ebner erklärt nun weiter theoretisch den Vorgang bei der freien Zusammenziehung des Muskels, indem er auf ein von Brücke gebrauchtes Bild zurückgreift. Hiernach denkt man sich die Anordnung der doppelbrechenden Teilchen (Disdiaklasten) der Fibrille ähnlich wie die einer Kolonne Soldaten, die in Quer- und Längsreihen aufmarschiert sind. Ebenso wie durch Eintreten aus einer Querreihe in die benachbarten die ganze Kolonne breiter und kürzer wird, so soll durch eine gleiche Verschiebung der Disdiaklasten aus einer Querschnittsreihe in die benachbarten die Muskelfaser dieker und kürzer werden. Das Aufmarschieren der Soldaten geschieht nun in diesem Falle bekanntlich nur auf Kommando nach gegebener Vorschrift. Welcher Art aber soll die Molekular- kraft sein, welche ein solches Kommando ersetzt? Es dürfte kaum gelingen, eine solche zu finden. Viel einfacher und natürlicher ist die Erklärung dieser Vor- sänge, welche wir zu geben imstande sind, wenn wir annehmen, dass bei der freien Kontraktion in jedem Querschnitt eine Entfernung der Disdiaklasten voneinander ein- tritt, so dass ihre Zahl in diesem dieselbe bleibt, während gleichzeitig eine AnnäherungderDisdiaklasten segeneinander in der Längsrichtung stattfindet, ähn- lich wie dies durch Zusammenrücken der Querstreifen sichtbar zum Ausdruck kommt. Setzen wir dann voraus, dass eine Änderun g Kontraktilität und Doppelbrechung des Muskels. 597 der Intensität der Doppelbrechung bei der Kontrak- tion nicht vor sich geht, da eine solche zunächst nieht be- wiesen ist, so ist es klar, dass bei der Kontraktion der Betrag der Doppelbrechung derselbe. bleiben muss wie in der Ruhe, da ja die Zahl der Disdiaklasten, welche der Lichtstrahl im Querschnitt durch- läuft, konstant bleibt '). Diese Folgerung stimmt mit den Ergebnissen der Rollett- schen Untersuchung zur Genüge überein, abgesehen von den sehr kleinen Verminderungen der Doppelbrechung, die häufig zum Vor- schein kommen. Diese aber lassen sich meines Erachtens durch die unvermeidlichen und nicht unbeträchtlichen Abweichungen der Fibrillen von Horizont und Azimut der Faserachse innerhalb der Kontraktionswelle ausreichend deuten. Die Abweichung beträst zum Beispiel in Fig. 8, Taf. II bei Rollett ungefähr 91/2 und in anderen Fällen noch weit mehr. Dass an den Faserbündeln und -streifen lebender Muskeln dieser Betrag noch grösser ausfallen muss, ist klar, da ja die Winkelabweichungen von der Achse sich mit zunehmender Dicke jener addieren müssen. Es liegt meines Erachtens keine Berechtigung vor, diese kleinen Verminderungen der Doppelbrechung als eine Differenz zweier grosser Änderungen zu betrachten, von denen weder die eine noch die andere be- wiesen ist. Es wäre sehr verführerisch, die von uns gefolgerte gegenseitige Entfernung und Annäherung der Disdiaklasten in der Querrichtung und Längesriehtung der Faser als die Wirkung einer abstossenden und anziehenden Kraft anzusehen, welche im Zustande der Kontraktion entsteht. In der Tat brauchte man nur die Hypothese zu machen, dass sich die Disdiaklasten wie kleine, der Längsrichtung der Faser parallel gestellte Stübehen verhalten, welche bei der Kontraktion gleich ge- richtete magnetische oder elektrische Polarität annehmen. Sie würden sich dann in der Querrichtung abstossen und in der Längsrichtung anziehen. Aber ich bin weit davon entfernt, eine solche Hypothese aufzustellen, da jede tatsächliche Gi®ndlage zu einer solchen fehlt. Vielmehr kann dieselbe Bewegung der Disdiaklasten auch durch 1) In meiner vorigen Abhandlung (S. 40 1. c.) hatte ich vorausgesetzt, dass bei freier Kontraktion die Dickenzunahme ein Steigen der Doppelbrechung ver- ursache. Da dies aber nach den Rollett’schen Untersuchungen nicht der Fall ist, so wird die dort erwähnte Möglichkeit der Einschiebung von Teilchen aus einem Querschnitt in den anderen hinfällig. 598 J. Bernstein: äussere, aus dem umgebenden Medium einwirkende Kräfte, zum Beispiel durch Oberflächenspannungen, erfolgen. Wie stellt sich nun weiter v. Ebner die Vorgänge bei der Kontraktion des Muskels vor, wenn man seine Verdickung zwischen zwei Glasplatten in der darauf senkrechten Richtung verhindert? Er geht hier ebenfalls von der Brücke’schen Vorstellung aus, dass die Disdiaklasten aus einem Querschnitt in den benach- barten eintreten, und da sie nun in der Querrichtung senkrecht zu den Glasplatten keinen Platz mehr finden, sich in der Breiten- richtung parallel zu den Platten, in der sich der Muskel verbreitern kann, anordnen. Lässt man dagegen, wie wir es begründet, diese Vorstellung fallen, und nimmt an, dass in jedem Querschnitt die Disdiaklasten, während ihre Zahl konstant bleibt, sich durch eine einwirkende Kraft voneinander entfernen, so wird dies nicht nur in der Breitenrichtung, sondern auch in der Querrichtung geschehen, wie ich es in Fig. 3 der vorigen Abhandlung S. 39 (Pflüger’s Arch. Bd. 162) dargestellt habe. Die Verminderung der Doppelbrechung, welche v. Ebner in diesem Falle beobachtet hat, erklärt sich also daraus, dass in der Querrichtung die Zahl der Disdiaklasten geringer geworden ist, und nicht, wie v. Ebner schliesst, daraus, dass ihre doppelbrechende Kraft abgenommen habe. Dementsprechend muss die Zahl der Disdiaklasten in der Breitenrichtung zunehmen und damit auch der Betrag der Doppelbrechung in dieser Richtung. In welcher Weise die Verschiebung der Teilchen in dieser Zwangslage bei der Kontraktion erfolgt, habe ich angegeben. Wäre die Muskel- substanz vollkommen flüssig, so würden sich die Disdiaklasten in der Diekenriehtung ebenso weit voneinander entfernen wie in der Breitenriehtung. Wäre dieselbe ein vollkommen fester elastischer Körper, so würde in der Diekenrichtung eine Entfernung der Disdia- klasten voneinander nicht möglich sein, und ihre Zahl würde dieselbe bleiben. Da die Muskelsubstanz (Fibrillensubstanz) als kolloider Körper eine Mittelstellung einnimmt, so muss eine Verschiebung der Disdiaklasten aus der Dieken- in die Breitenrichtung eintreten, welche mit der durch die Kontraktion hervorgerufenen Druckkraft grösser und mit dem Widerstand durch innere Reibung kleiner werden wird. Die Zahl der Disdiaklasten muss also auch in diesem Falle in der Diekenrichtung abnehmen, wenn auch weniger als in einer Flüssig- keit, und ebenso auch der Betrag der Doppelbrechung. Dass bei der Fixierung des Muskels (der isoimetrischen Kon- Kontraktilität und Doppelbrechung des Muskels. 599 traktion) keine Änderung der Doppelbrechung stattfindet, wird von allen Seiten und auch v. Ebner festgestellt. Wie erklärt dies nun v. Ebner nach seiner Theorie? Er nimmt an, dass sich in diesem Falle zwei Ursachen wiederum auf Null kompensieren. Die Abnahme der Doppelbrechung durch die Kontraktion des freien Muskels soll durch die Dehnung desselben bis zur Ruhelänge, wodurch die Doppel- brechung steigen soll, gerade genau aufgehoben werden. Diese genaue Kompensation zweier entgegengesetzter Wirkungen aus zwei verschiedenen Ursachen, wäre ebenfalls ein Zufall von sehr geringer Wahrscheinlichkeit. Hierzu kommt, dass die Dehnung des frei kontra- hierten Muskels auf die Ruhelänge die Verstärkung der Doppelbrechung, welche nach der Annahme v. Ebner’s die Verdiekung herbei- geführt hat, wieder aufheben. und dass demnach die sogenannte negative Schwankung der Doppelbrechung hierdurch zum Vorschein kommen müsste. Die Dehnung des ruhenden Muskels hat übrigens auch nadh den Versuchen v. Ebner’s sehr unbeständigen Erfolg. Meistens ist sogar ein Sinken der Doppelbrechung vorhanden urd erst beim Zer- reissen ein Steigen. Es liegt also kein Beweis dafür vor, dass die Dehnung des kontrahierten Muskels ein Steigen der Doppelbrechung ‚verursachen müsste. L. Hermann kam zu dem Resultat, dass die Dehnung des ruhenden Muskels bei gleicher Dicke keine Änderung der Doppelbrechung zur Folge habe. Dass die Doppelbrechung bei der isometrischen Kontraktion unverändert bleiben muss, ist nach unserer und der ursprünglichen Brücke’schen Ansicht leicht verständlich, wenn die Intensität der Doppelbrechung konstant bleibt, da die Zahl und Lage der Disdia- klasten in einem Querschnitt dieselbe bleibt. Eine Abweichung der- selben im Horizont und Azimut kommt bei gleichmässiger Zusammen- ziehung an allen Stellen hierbei nicht vor. Meiner Bemerkung gegenüber, dass auch die isotropen Glieder der Fibrillen sich ebenso stark kontrahieren müssten wie die an- isotropen, betont v. Ebner besonders die von Rollett gefundene Tatsache, dass jene sogenannten isotropen Glieder (JNEZENJ nach Rollett) mit Ausnahme von Z auch doppelbrechend sind, frei- lich viel schwächer als die Querscheiben (9). Aber der Unterschied beider Glieder ist doch immerhin so gross, dass Engelmann und viele andere die ersteren (arimetabole Glieder Rollett’s) als einfachbrechende bezeichnen. Dass Pseudopodien von Radiolarien 40 x 600 J. Bernstein: Kontraktilität und Doppolbrechung des Muskels. keine Muskelfibrillen sind, wie.v. Ebner bemerkt, ist freilich richtig, aber eine Analogie in ihrer Funktion und Struktur ist auf phylo- genetischer Grundlage doch erlaubt. Pseudopodien besitzen noch keine stabile Struktur, aber man darf sie als Beginn einer Faser- bildung betrachten. Es ist auch zu vermuten, dass die embryonalen Muskelzellen schon kontraktil sind, bevor sich in ihnen Fibrillen differenziert haben. Dies ist vermöge der Oberflächenspannung ihres Protoplasmas wie bei Radiolarien und ihren Pseudopodien sehr wohl möglich, doch wird die Kraft derselben nur eine geringe sein können. Durch die Entwicklung der Fibrillen und ihrer Elemente wird- die wirk- same Oberfläche dermaassen vergrössert, dass die Kraft des Muskels zur normalen Höhe steigt!). Wahrscheinlich bleibt aber die Ober- Hächenspannung der ganzen Faser gegen die Umgebung auch später noch bestehen und könnte zur Erklärung mancher Aurseheinupsen des Muskeltonus führen. v. Ebner kommt schliesslich, trotz Aufrehierhallene rt negativen Schwankung der Doppelbrechung zu dem Resultat, dass die Engelmann’sche Quellungstheorie der Kontraktion in An- betracht der mikroskopischen Untersuchungen von Hürthle und Gutherz und meiner Versuche über Quellung von Darmsaiten usw. nieht mehr haltbar ist: In der Tat, kann man ja. die Frage der Doppelbrechung zunächst ausser Betracht lassen. Er hält dagegen die Hypothese der Wasserverschiebung in den kontraktilen Elementen aus der Längs--in die Querrichtung für annehmbar.' ohne weiter an- zugeben, durch welche Kraft dies geschehen solle. Staa In bezug auf den letzteren Punkt möchte ich hinzufügen, dass ‚hier die Obenflächenspannungstheorie mit Erfolg einsetzt. Denken wir uns in den Fibrillen kleine längliche kontraktile Elemente ‘von prismatischer, zylindrischer oder ellipsoider Gestalt angeordnet, welche sich infolge zunehmender Oberflächenspannung bei der Kontraktion verkürzen und verdieken, so wird hierbei nicht ‘bloss eine Ver- schiebung der Wassermoleküle, sondern aller: verschieblichen Moleküle aus der Längs- in die Senn in ihnen erfolgen. are 1) Es würde lohnend sein, die Entwicklung der Muskelkraft beim imbryo von den ersten Stadien ab’ zu verfolgen. Pierersche Hofbuchdruckerei Stephan ‚Geibel & Co. in Altenburg. U 1 I1\| II IMIÄLLLININ IN TEE RA ine + 4% ar & et 9% u) TE ENGE id ee eh EN 4 je IE, E ; } ’ Sr. REN BE TIE Dur BE Re RE Re he An % EM ir RUN, % Be 3 N ’ uhe: en LICH N 4 7 * E ve ei rat x a vi \ Shen > DET REM PR 4 } J PAAR, d a: je eh PIRRrER, URL RE YE HERE ICE IS ER ARTE RRLIK RR RL 2 E. M a er wat » h, 2. ee ra m ie ur ww AL. B h N 4 / ' fi R 1 4 N art Ey DA FR ’ wr FRE, , A RL, K gr Ha! “ 4 h 2 E wu EYE} ” 2 : ie #3 N) Er £ at “ ur ) NER h ch ‚4 i ) e TEE EP Hu an ur CH tatatih, u Ar Br R Fi, RE nee, RE DR 1 CHE FR a: ni Re} s Bi Kg el CR ; rt »,“ apr) ve Hr, SER RR “ wi # NER NEE, wear! nr - 2 4% 958 Bar e ae \ RR ’ ARE en I I EHER je ee “ih ie ara are rue s Tan y ie BERNER RR ER RR LE ek re K r on ni . RN k i h “ RN ER ER RE A RE Ernte EretaE E ar retaEee * ve hi ” +" ’ BR DEREN in re GR Re ARE E I) e%, ‘ J ie ” “ RE A Er 2225 107 er 2 A 5 Cu Mn IH } REN BIER HE HG Ft rt Y CH) Vo a ee r Id TAauza