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HARVARD LAW LIBRARY
INN
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Received EP I 919
Rn Der
Pitaval der Gegenwart
Almanach interessanter Straffälle.
Herausgegeben von
Dr. R. Frank Dr. 6. Roscher Dr. H. Schmidt
Professor in Tübingen. Polizeidirektor in Hamburg. Reichsgerichtsrat in Leipzig.
Leipzig, Verlag von C. L. Hirschfeld 1906.
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SEP 151919
Inhaltsverzeichnis.
| Seite Eine internationale Diebesbande. Von Landrichter Dr. Nöldecke in Hamburg . . 1 —Ein Alibi. Von Staatsanwalt Alfred Amschl ; in Graz. .. 31 Tränenreiche Weihnachten. Von Staatsanwalt Dr. Ertel in Hamburg . ; es osco 42 —Die Geschichte eines ungarischen Hochstaplers. Von Stadt- hauptmann Dr. Sárkány in Peces . . 71 Der Leipziger Bank-Prozeß. Von Staatsanwalt Dr. Weber in Leipzig . r 89 Eine entmenschte Mutter. "Von Polizelinspektor Rosalowski in Hamburg . . 173 — Ein Attentat auf den König Milan von Serbien. Von A. J. Milo- vanovic in Belgrad . . 185 Der Brünner Raubmord von 1899. Von Dr. Richard Baner, k. k. Staatsanwaltssubstitut in Troppau . . . 196 - Amerikanische Räuber. Zwei Berichte über Raubanfälle : aus dem Archiv von Pinkertons National Detective rn Von Cleveland Moffet in New-York . . 2 200.207 I. Der Rock-Island Schnellzug a 208 I. Der Bankraub in Northampton si 229 Der Fall Umland. Von B. Büttner in Göttingen ; 257 Zwei Geisteskranke. Von Geheimem Justizrat Siefert in Weimar. I. Diebstahl . . . 271 Il. Raubmordversuch A 282 Eine Ladenschwindlerin. Von Kriminalinspektor Hinsch in Hamburg . . 287 Der Knabenmörder "Breitrück. Von Dr. du. Octavio Bracken- hoeft in Hamburg . . . . Da i ; Be . 317
Eine internationale Diebsbande.
Von Landrichter Dr. Nöldeke in Hamburg.
‚Es war am Montag den 6. Juni 1892, einem herrlichen Frühsommertage. Über der Alster, jenem Kleinode des nordischen Handelsemporiums, blaute der Himmel und ihre Umgebung prangte im frischen Grün. Die Plätze vor den Cafes am Jungfernstieg waren dicht besetzt, teils von Hamburger Geschäftsleuten, welche in der angestrengten Arbeit des Tages einen Augenblick der Erholung widmeten, teils von zahlreichen Fremden, welche diese Krone der Hamburger Sehenswürdigkeiten mit allem Behagen ge- nossen.
Vor dem Café Imperial saß auch, vertieft in das Stu- dıum des Mailänder „Il Secolo“, die zweiundsiebzig- jährige Frau Auguste Nagel. Frau Nagel war weit in der Weit herumgekommen. Sie hatte viele Jahre im Aus- lande verlebt, darunter 15 Jahre in Italien. Ihr Sohn Hugo lebte als Großkaufmann in Paris, ihre Tochter Octava war eine bekannte Sängerin und trat in jener Zeit gerade in Italien auf. Frau Nagel freute sich der günstigen Kritik, die der „Secolo“ dem Auftreten ihrer Tochter widmete, als sie plötzlich von einem distinguiert aussehenden, elegant ge- kleideten und mit Goldschmuck reich versehenen Herrn in italienischer Sprache angeredet wurde. Der Herr, in dessen Begleitung sich noch ein anderer befand, sprach der Frau
Nagel seine Freude darüber aus, daß er jemanden finde, Der Pitaval der Gegenwart. II. 1
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der italienisch verstehe, denn sie selbst könnten sich, da sie nur italienisch sprächen, mit dem Kellner durchaus nicht verständigen; er bat Frau Nagel, für seinen Freund und ihn ein Glas Bier bestellen zu wollen. Frau Nagel kam dem Wunsche nach, und nachdem die beiden Fremden, welche sich als Weingutsbesitzer aus der Gegend von Alessandria vorstellten, um die Erlaubnis gebeten hatten, sich neben Frau Nagel niedersetzen zu dürfen, entspann sich eine eifrige Unterhaltung. Die beiden italienischen Gutsbesitzer erzählten, daß sie mit einem Freunde namens Gaddi, den sie noch erwarteten, Geschäfte halber nach Hamburg gekommen seien; sie verkehrten in den feinsten Hamburger Kreisen, in die sie ihr Generalkonsul eingeführt habe; Gaddi habe auch noch die Absicht, einen Neffen, dessen Mutter Hamburgerin sei und der als Volontär in ein Hamburger Handelshaus eintreten solle, in einer Pen- sion unterzubringen.
Kaum war die Unterhaltung bei diesem Punkte an- gelangt, als Herr Gaddi erschien. Derselbe hatte eine imponierende Figur, schwarzes Haar, scharfe Augen und trat ganz als Gentleman auf. Er erzählte Frau Nagel, daß er in Amerika mehrere Millionen verdient habe, wo- von er in seiner Handtasche 4—500000 Dollars mit sich führe, er besitze ferner in Italien mehrere Landgüter und habe in Liverpool eine Kiste mit Diamanten stehen. Gaddi erkundigte sich bei Frau Nagel nach den Hamburger Pen- sionsverhältnissen und Frau Nagel empfahl dabei sehr warm ihre eigene Pension bei Frau J. in der Hermannstraße, wo sie schon seit einiger Zeit wohne und vortrefflich untergebracht sei. Da dies Gaddi zusagte, beschloß man, gemeinsam mit Frau Nagel die Pension zu besichtigen. Dies geschah noch am Montage. Der Italiener fand Ge- fallen an der Pension und lud Frau Nagel mit Rücksicht auf die ihm bewiesene Liebenswürdigkeit auf den folgenden Tag zum Mittagessen in ein feines Hamburger Restaurant
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ein. Die alte Dame, auf welche das sichere Auftreten der eleganten Ausländer großen Eindruck machte, nahm die Einladung an und erschien zur abgemachten Stunde in dem Restaurant, wo sich bereits der Gastgeber mit seinen Freunden eingefunden hatte. Während des Essens unter- hielt man sich viel über geschäftliche und finanzielle An- gelegenheiten, denen Frau Nagel großes Interesse entgegen- brachte. Sie klagte lebhaft über das starke Sinken des Kurses der italienischen Rente, von welcher sie 150000 frs. zu einem wesentlich höheren als dem gegenwärtigen Kurse gekauft habe. Gaddi drückte sein Bedauern hierüber aus und erklärte, ihm komme bei seinem großen Vermögen wenig darauf an, diese Papiere längere Zeit hinzulegen; er sei bereit, sie der Frau Nagel zum Einkaufspreis abzu- nehmen, da er sicher sei, daß die italienische Rente ihren alten Kurs wieder erlangen werde und er die Papiere später mit Gewinn werde verkaufen können. Darob war Frau Nagel sehr freudig berührt, und man kam überein, daß sie die Papiere am Mittwoch von der Vereinsbank, wo sie deponiert waren, holen und Gaddi vorlegen solle. Ehe man sich aber an diesem Tage trennte, bat Gaddi Frau Nagel noch, seine Handtasche mit in ihre Wohnung zu nehmen, da er bei dem wertvollen Inhalt derselben in seinem Hotel nicht sicher genug zu sein glaube. Frau Nagel nahm die Tasche mit.
Am folgenden Morgen begab sich Frau Nagel auf die Bank, um ihre Papiere zu erheben. Dem Bankbeamten erzählte sie, daß ein ihr fremder Italiener die Papiere zu einem günstigeren als dem Tageskurse kaufen wolle. Dies kam dem Beamten recht bedenklich vor, und er hielt auch mit seinem Verdachte, daß hier ein Schwindel beabsichtigt sei, nicht zurück; er sagte Frau Nagel, der Italiener könne die Papiere ja bei der Bank einsehen und dann eventuell kaufen; dadurch werde jede Gefahr für sie beseitigt. Die
alte Dame wies indes jeden Schatten eines Verdachts 1*
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energisch zurück und bestand auf der Auslieferung der Papiere. Schließlich riet ihr der Beamte noch, die Papiere ja nicht aus der Hand zu geben, bevor sie den Preis er- halten habe, und sie sofort zurückzubringen, wenn aus dem Handel nichts werde.
Gegen Mittag erschien Gaddi in der Pension J., um die endgültige Abmachung wegen der Aufnahme seines Neffen zu treffen und mit Frau Nagel über den Ankauf der Papiere zu sprechen. Frau Nagel zeigte die Pa- piere, doch ließ sie sie eingedenk der Mahnung des Bank- beamten nicht aus der Hand, trotzdem Gaddi sie wiederholt aufforderte, ihm die Papiere zur Ansicht zu übergeben. Nunmehr machte Gaddi gewisse Schwierigkeiten, er wollte die Nummern der Papiere wissen und sich erst anderweitig über dieselben informieren, so daß an diesem Tage ein Abschluß des Geschäftes nicht zustande kam. Doch be- hielt Frau Nagel die Papiere auf die Bitte Gaddis noch in ihrer Wohnung, da derselbe am nächsten Tage noch auf die Sache zurückkommen wollte. Den Abend ver- brachte Frau Nagel mit den Italienern im Theater.
Am Donnerstagmorgen machte Gaddi Frau . Nagel einen Abschiedsbesuch. Er bat sich seine Tasche aus, er- zählte, daß er um 6 Uhr bei dem italienischen General- konsul speisen solle und am nächsten Morgen Hamburg für mehrere Tage verlassen werde. Die Verhandlungen, welche bei dieser Gelegenheit über den Ankauf der Papiere gepflogen wurden, führten wiederum nicht zum Ziel, so daß Frau Nagel erklärte, sie werde die Titel nunmehr zur Bank zurückbringen. Vor den Augen Gaddis wickelte sie die Papiere in ein Hamburger Fremdenblatt ein und nahm sie beim Fortgehen unter den Arm. Gaddi begleitete Frau Nagel zur Bank und wartete auf der Straße auf ihre Rück- kunft. Als Frau Nagel an den Schalter der Bank kam, hörte sie, daß derjenige Beamte, mit welchem sie stets in den Angelegenheiten ihrer Papiere verhandelt und welcher ıhr
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zwei Tage zuvor die Papiere herausgegeben hatte, nicht anwesend war. Sie beschloß daher, die Papiere wieder mitzunehmen. Sie erzählte Gaddi sofort, daß sie ihre Pa- piere nicht losgeworden sei. Gaddi bedauerte dies lebhaft und bat Frau Nagel, mit ihm und seinen Freunden in dem schöngelegenen Hotel Wiezel am Hafen frühstücken zu wollen, was Frau Nagel dankend annahm.
Das Hotel Wiezel liegt hoch über der Elbe und bietet von einer Glasveranda eine prächtige Aussicht auf den Masten- wald des Hamburger Hafens. In dieser Veranda nahm Frau Nagel mit Gaddi Platz, wartend der Ankunft der beiden Weingutsbesitzer. Frau Nagel legte ihre in das Zeitungspapier eingewickelten Wertpapiere auf einen Stuhl, Gaddi stellte seine Tasche darauf und breitete noch seinen Überzieher darüber, als ob er dafür Sorge tragen wolle, daß die Tasche nicht unversehens gestohlen werde. Als die beiden Freunde Gaddis erschienen waren, verließ Gaddi auf zehn Minuten das Lokal, da er noch etwas Geschäft- liches besorgen mußte. Indessen frühstückte man eifrig und unterhielt sich lebhaft. Gaddi kehrte zurück. Nun- mehr empfand Frau Nagel das Bedürfnis, die Toilette auf- zusuchen. Bevor sie das Lokal verließ, forderte sie den Kellner auf, ein Auge auf ihre Sachen zu werfen. Dieser, welcher keine Ahnung davon hatte, daß das unscheinbare Zeitungsblatt einen Inhalt von 150000 frs. umschloß, legte der Aufforderung eine besondere Bedeutung nicht bei, wurde auch von mehreren anderen Gästen gerade stark in Anspruch genommen. Als Frau Nagel aus der Toilette zurückkam, war der Stuhl mit dem Wertpapierpaket, der Tasche und dem darüber hängenden Überzieher äußerlich unverändert. Man frühstückte noch etwas weiter. Plötzlich sprang Gaddi auf und erklärte, er habe soeben eine Depesche aus Liverpool erhalten, welche ihn nötige, mit einem seiner Freunde dorthin zu reisen. Dann ergriff er das in Zeitungspapier gewickelte, angeblich die Papiere
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der Frau Nagel enthaltende Paket, schloß seine Tasche auf, steckte es hinein, verschloß die Tasche wieder und steckte den Schlüssel zu sich. Die Tasche übergab er mit feierlicher Miene der Frau Nagel und sagte:
„Leben Sie jetzt wohl, meine liebe Frau Nagel, be- wahren Sie die Tasche recht gut auf, bis ich von Liver- pool zurückkehre. Die Tasche enthält jetzt Ihr und mein Vermögen, ich werde Ihnen zum Dank von Liverpool einen schönen Brillanten mitbringen.“
Frau Nagel bat sich den Schlüssel aus, doch entgegnete Gaddi, die Rollen seien jetzt ganz richtig verteilt, sie habe das Geld, er den Schlüssel im Besitz; keiner könne ohne Zustimmung des anderen an das Geld heran. Bevor Gaddi mit dem einen seiner Freunde das Hotel verließ, bezahlte er die Zeche und trug er dem dritten noch auf, mit Rücksicht auf die große Summe, welche Frau Nagel bei sich führe, dieselbe in einer Droschke nach Hause zu geleiten und die Einladung bei dem italienischen Generalkonsul wegen der plötzlich eingetretenen Ver- hinderung abzusagen. Der Italiener brachte Frau Nagel nach Hause und verabschiedete sich von ihr in höflichster Weise. |
Frau Nagel hatte aus diesen Vorgängen keinerlei Miß- trauen geschöpft. Erst am anderen Morgen kamen ihr die Vorgänge doch recht seltsam vor. Bei allem Vertrauen, welches sie zu Herrn Gaddi gefaßt hatte, fiel es ihr doch auf, daß dieser geschäftsgewandte Mann ein solches Ver- mögen einer alten Dame zur Aufbewahrung übergeben habe. Ihre Skrupel verstärkten sich von Minute zu Minute, und so ließ sie in ihrer Unruhe gegen Mittag einen Schlosser kommen, welcher ihr die Tasche öffnete. Das Ergebnis der Untersuchung des Inhalts bestätigte ihre schlimmsten Befürchtungen: das Fremdenblatt, welches ihre Wertpapiere umschließen sollte, enthielt einige Bogen Packpapier, an Stelle der 4—500 000 Dollars befanden sich mehrere Pariser
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Zeitungen und außer Kurs gesetzte Dollarsnoten im nomi- nellen Betrage von 950 Dollars.
Frau Nagel war, als sie diese Entdeckung machte, einer Ohnmacht nahe, doch nahm sie ihre Kräfte zusammen und erstattete bei der Polizei Anzeige. Diese stellte sofort fest, daß alle Angaben der Italiener über ihre Beziehungen zu dem italienischen Generalkonsul und ersten Hamburger Firmen erfunden waren. Doch wurde konstatiert, daß die drei Schwindler noch in einer italienischen Wirtschaft von F. verkehrt hatten und daß Gaddi sich dort Demarco genannt hatte. Der Telegraph verbreitete die Nachricht über den Diebstahl sowie die Nummern der gestohlenen Papiere noch am gleichen Tage nach allen Polizeibehörden srößerer Orte im In- und Auslande. Ä
Auf der Hamburger Polizei legte man Frau Nagel das Album mit den Bildern der bekanntesten internationalen Gauner vor, und erkannte Frau Nagel sogleich mit völliger Bestimmtheit ihren Freund Gaddi in dem Bilde des weit- hin bekannten Zunino aus Corregliano. Dieser Zunino arbeitete auf demselben Gebiet der Diebstähle „à l’ameri- caine“ und wurde wegen eines ganz gleichen Diebstahls seit dem Jahre 1886 von Straßburg i. Els. aus gesucht.
Zunino war im Februar 1886 mit zwei Begleitern bei dem Gastwirt Kimmerlin in Straßburg abgestiegen. Nach einigen Tagen verließ er Straßburg, blieb aber mit den Eheleuten Kimmerlin im brieflichen Verkehr. Am 27. April - 1886 kam er zurück und erzählte den Kimmerlins von großen Spielgewinnen, die er in Monaco gemacht hätte, zeigte auch einen Scheck über 57000 frs. auf die Filiale des Credit Lyonnais in Genf vor, welcher offenbar falsch war, da später nicht einmal der Versuch gemacht worden ist, ihn einzulösen. Nach wenigen Tagen führte er einen Landsmann ein, den er zufällig in einem Café getroffen habe, wo derselbe mit Goldstücken nur so um sich ge- worfen habe; der Landsmann, welcher, wie sich später
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herausstellte, der berüchtigte Rolando war, habe vor kurzem eine Millionenerbschaft gemacht und müsse wegen seiner Neigung zur Verschwendung von ihm ein wenig beobachtet werden. Rolando spielte vortrefflich den beschränkten Millionär und zeigte sich gegen die Eheleute Kimmerlin so zuvorkommend, daß er sich von ihnen mehrere 1 £-Stücke gegen je 20 Frs. wechseln lieb.
Am 3. Mai 1886 kam Zunino mit einer Kassette zu Kimmerlin, die er für seine eigenen und Rolandos Wertpapiere gekauft habe, und bat Kimmerlin, seine Papiere zu holen, um prüfen zu können, ob die Kassette auch die für ihren. Zweck erforderliche Größe habe. Nachdem Kimmerlin gemäß dieser Aufforderung eine beträchtliche Menge Wert- papiere, Kassenscheine, Banknoten und Geld in die Kassette gelegt hatte, schloß Zunino sie ab, nahm den Schlüssel an sich und bat Kımmerlin, die Kassette aufzubewahren, bis er Gelegenheit habe, sie seinem Bekannten zu zeigen. Am nächsten Tage erschienen beide Italiener in Abwesenheit von Kimmerlin in dessen Wohnung. Rolando trug einen Handkoffer mit zwei Abteilungen bei sich, in deren einer sich eine der bereits bei Kimmerlin befindlichen ganz gleiche Kassette befand. Beide erzählten der Frau Kimmer- lin, sie müßten für acht Tage nach Rom verreisen, wo Rolando ein Legat seines Erblassers von 60000 Frs. an die Armen auszuzahlen, auch den Verkauf mehrerer Seeschiffe abzuschließen habe; bis zu ihrer Rückkehr möchten Kimmerlins ihnen die Wertpapiere in der Kassette aufbewahren. Rolando legte demgemäß eine Menge „Wertpapiere und Geld“, angeblich etwa 100000 Frs., in die bereits bei Kimmerlins befindliche Kassette und beide baten dann Frau Kimmerlin „zur größeren Sicherheit ihrer- seits“ auch noch so viel Geld und Papiere dazuzulegen, daß von beiden Parteien gleich viel in der Kassette wäre. Frau Kimmerlin legte darauf zu den bereits am Tage zu- vor hineingelegten 56000 M. noch weitere 10000 M.
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Rolando schloß die Kassette ab und steckte den Schlüssel zu sich.
Beim Abschied ze Zunino vor, man solle doch einmal zusehen, ob die Kassette auch in den Koffer passe, so dab man sie eventuell auf Reisen mitnehmen könne. Er legte sie in das leere Fach des Handkoffers und hob dann scheinbar, um das Gewicht zu erproben, den Koffer auf. Dabei wußte er ihn aber unbemerkt umzudrehen, so daß Frau Kimmerlin arglos die Kassette, welche ihr Zunino nachher übergab, entgegennahm. Die Italiener verabschiedeten sich und reisten schleunigst ab. Als sie nach acht Tagen nicht zurückkehrten, wurde die Kassette durch einen Schlosser geöffnet. Das Ergebnis war das gleiche wie im Falle der Frau Nagel: die Kassette ent- hielt lediglich einige wertlose Papiere.
In ganz gleicher Weise hat Zunino im Jahre 1887 in Luxemburg einem Balthasar Valentini die Summe von 22000 Frs. abgenommen. Dort hatte er an Stelle der beiden Kassetten zwei Kisten gehabt, die er vertauschte; an Stelle derjenigen des Valentini, in welcher sich dessen Vermögen in englischem Golde befand, hatte er eine Kiste mit wertlosen Bleiröhren unterzuschieben gewußt. Und in Luzern hatte er 1885 auf ähnliche Weise 16100 Frs. ergaunert.
Es ist begreiflich, daß man bei diesem Vorleben des Zunino auf der richtigen Fährte zu sein glaubte, als Frau Nagel dessen Bild als dasjenige des trefflichen Gaddi an- erkannte. Auch die übrigen Personen, welche die Italiener in Hamburg gesehen hatten und von der Polizei ermittelt wurden, erklärten mit Bestimmtheit, Gaddi und Zunino müßten identisch sein. Verschiedene Spuren wiesen darauf hin, daß die Italiener sich nach Paris gewandt hatten, Ein sofort dorthin gesandter Hamburger Polizeibeamter stellte fest, daß eine Person, welche dem Bilde des Zunino entsprach, am 15., 16. und 17. Juni in dem italienischen
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. Cafe Glacier Napolitain, Boulevard des Capuzines, verkehrt hatte, aber dann nach London abgereist sein sollte. Man wandte sich sofort nach London. Von dort kam indessen die enttäuschende Mitteilung, daß der auf der Photographie abgebildete Zunino, auch Morelli genannt, seit dem 7. Mai 1891 in London eine fünfjährige Gefängnisstrafe verbüße, demnach den Hamburger Diebstahl unmöglich begangen haben könne.
Aber schon wenige Tage darauf übersandte die Brüs- seler Polizei ein angebliches Bild des Zunino, welcher auch Riccardino Pietro heiße, und kam aus Turin die polizei- liche Nachricht, daß Zunino in dem Riccardini aus Cana- vese einen Doppelgänger habe, dessen Ähnlichkeit mit Zunino so groß sei, daß Riecardini schon einmal für Zu- nino in Haft gesessen habe. Beide arbeiteten auf dem- selben Gebiete und sei insbesondere Riecardini ein „truffa- tore famoso“, der Chef der Bande, welcher außer Zunino noch zwei Brüder Rolando, Sorzogno, Bonini, Gallo, Villata, Caratti, Paglieri u.a. angehörten. Diese Bande hat in Deutschland, Frankreich, Italien, England eine große Anzahl ganz ähnlicher Gaunereien ausgeführt, welche von den Gerichten teils als Diebstahl, teils als Betrug bestraft wurden. Von besonderem Interesse ist ein im Juli 1887 in Mailand vorgekommener Fall. Dort mußte das Opfer, auf welches Villata und Gallo es abgesehen hatten, sein Geld — 40000 Frs. — erst von der Bank holen. Auf der Bank wurde es jedoch gewarnt, und diese Warnung fiel, anders als bei Frau Nagel, auf fruchtbaren Boden. Die Polizei wurde benachrichtigt, legte sich am Tatorte in den Hinterhalt und als die Gauner ihren Trick vornehmen wollten, wurden sie festgenommen. In fast allen Fällen wird mit einer oder zwei Kassetten, Kasten und einer Reisetasche oder einem Koffer gearbeitet. Reisetasche oder Koffer bleiben mit wertlosem Inhalt beim Opfer zurück, während dessen Wertsachen nach vorgenommener Ver- tauschung mitgenommen werden.
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Nunmehr wurden die Nachforschungen nach Riccardini eingeleitet. Inzwischen tauchten plötzlich einige der ge- stohlenen Rententitel im Betrage von 100000 Frs. in Paris auf. Dies führte zu der Feststellung, daß bereits am 10. Juni, dem Tage nach dem Hamburger Diebstahl, zwei der Diebe in Brüssel bei einem Bankhause diese Papiere für 91.000 Frs. verkauft hatten. Der eine von ihnen hatte sich Demarco genannt und mit diesem Namen die Quittung über den Empfang des Kaufpreises vollzogen.
Die Recherchen nach Riccardini wurden sehr intensiv betrieben, die Hamburger Polizeibehörde ließ nach den Photographien, weiche sie aus Riccardinis Heimat erhalten hatte, zahlreiche Abzüge herstellen und an die auswärtigen Polizeibehörden, sowie die Verwandten der Familie Nagel senden, welche die Bilder weiter verbreiteten. Aber es kamen zwar Nachrichten, daß Riecardini noch mehr ungesühnte Straftaten auf dem Gewissen hatte, so sollte er in Rom einen großen Diebstahl begangen und in Frankreich unter dem Namen Bacon fast eine Million Frs. gestohlen haben. Doch war sein Aufenthalt zunächst nicht festzustellen.
Auch die Tochter der Bestohlenen, welche sich nach Buenos-Aires verheiratet hatte, hatte ein Bild des Räubers ihres mütterlichen Vermögens erhalten, da gerade die Hauptstadt Argentiniens als ein Mittelpunkt dieser ita- lienischen Gauner bezeichnet wurde. Sie hatte das Bild auf ihren Schreibtisch gestellt, um es sich recht fest ein- zuprägen. Am 13. November 1892 fuhr sie in einem ‘ Wagen auf der Straße, als sie aus einem Hause einen stattlichen Mann heraustreten sah, in welchem sie sofort Riecardini erkannte. Sie wies den Kutscher an, dem Manne zu folgen, und sobald sie einen Polizeibeamten sah, sprang sie aus dem Wagen, informierte den Beamten und ging mit ihm auf Riccardini los. Dieser erschrak, als er so plötzlich auf der Straße angeredet wurde, gab zu, daß er Riccardini heiße, und folgte willig auf die Polizei. Hier
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suchte er anfänglich den Diebstahl zu leugnen, gestand ihn aber dann ein und gestand weiter, daß er von dem auf ihn entfallenen Teil der Beute 37000 Frs. bei der Société de Credit Industriel et Commerciel in Paris depo- niert habe. Sofort wurde die Nachricht durch den Draht nach Hamburg mitgeteilt, von Hamburg aus wurde das Aus- lieferungsverfahren eingeleitet und die argentinische Re- gierung war auf Ersuchen der deutschen Gesandtschaft einverstanden, Riccardini so lange festzuhalten, bis die Auslieferungspapiere eingetroffen seien. Bevor aber dies möglich war, wurde Riccardini am 15. Dezember 1892 wieder aus der Haft entlassen. Einen Grund hierfür hat die argentinische Regierung nicht anzugeben gewußt, sie hat sich vielmehr auf die Beschwerde des deutschen Ge- sandten bereit erklärt, Riccardini, falls er sich wieder auf argentinischem Boden betreffen lasse, gleich wieder in Haft zu nehmen. Aber auch in Argentinien henkt man keinen, man hätte ihn denn. Die allgemeine Überzeugung war, daß Riccardini, welcher über reiche Geldmittel ver- fügte, durch ihre geschiekte Verwendung sich die Türen des Gefängnisses zu öffnen gewußt hat. Für die Familie Nagel hatte diese Episode wenigstens den materiellen Er- folg, daß ihr auf das Geständnis Riecardinis von dem Pariser Gericht die 37000 Frs., welche Riecardini bei dem Credit Industriel und weitere 9000 Fr.s, die er bei dem Credit Lyonnais deponiert hatte, zuerkannt wurden. Riccardini blieb verschollen. Die italienische Polizei überwachte seine beiden Söhne, welche in Turin bei seiner Schwester lebten, und berichtete auch einmal, es werde von der Familie das Gerücht verbreitet, Riccardini sei in Australien gestorben. Trotzdem die Familie äußerlich Trauergewänder anlegte, schenkte der italienische Polizei- präfekt diesem Gerüchte keinen Glauben. Erst im Juli 1894 traf in Hamburg eine Nachricht ein, welche den unge- wissen und tastenden Recherchen eine bestimmte Richtung
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gab. Der Unterpräfekt von Jvrea schrieb, er habe aus- gekundschaftet, daß die beiden Genossen des Riccardini ein gewisser Enrici oder Enriei Agostino aus Peveragno, auch Maino oder Roberto genannt, und ein den Spitznamen Petto tragender, durch Bluttaten in seiner Heimat berüch- tigter Gauner, seien. Beide hätten erhebliche Geldmittel, lebten nur von Verbrechen und verkehrten regelmäßig in einer Kneipe der rue Frochot in Paris, deren Wirt mit ihnen unter einer Decke stecke; daher sei bei den weiteren Recherchen große Umsicht geboten. Der italienische Be- amte hat niemals angegeben, auch auf gerichtliche Anfrage nicht, woher ihm diese Kenntnis gekommen, er hat sich stets auf seine Verpflichtung zur Amtsverschwiegenheit berufen, insbesondere erklärt, daß es der Polizei nicht möglich sei, sich bloßzustellen, indem sie die Mittel und Wege verrate, deren sie sich zur Erreichung ihrer Zwecke bediene. Von anderer Seite ist später bekannt geworden, daß der Bandengenosse des Riccardini, Rolando, welcher wegen eines in Dijon begangenen Diebstahls von 100000 Frs. in die Hände der italienischen Polizei gefallen war, die beiden Genossen Riccardinis denunziert hat. Rolando war zuerst von Riccardini aufgefordert worden, den Raubzug nach Hamburg mitzumachen, doch war ihm in letzter Stunde ein anderer vorgezogen worden. Darüber ärgerte sich Rolando derartig, daß er die Mittäter Riccardinis an- gab, als ihm von der Polizei nach dieser Richtung zuge- setzt wurde.
Mit großem Eifer nahm Hugo Nagel, der sich über- haupt keine Mühe zu viel werden ließ, um der Täter habhaft zu werden, diese neue Spur auf. Das paßte ihm um so besser, als er in Paris lebte und schon seit dem Diebstahl in ständiger Fühlung mit der Pariser Polizei stand. Letztere erklärte sich auch bereit, eine Verhaftung der betreffenden Personen vorzunehmen, sobald ihr nur genau angegeben und glaubhaft gemacht werde, welche
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Personen unter den von der italienischen Polizei bezeich- neten gemeint seien; denn unter den erwähnten Namen waren bei ihr keine Personen angemeldet oder bekannt. Da war guter Rat teuer. Aber Hugo Nagel nahm die Sache selbst in die Hand. Er gab sich das Aussehen eines italienischen Erdarbeiters und abonnierte auf die Mittags- und Abendmahlzeiten in der genannten Kneipe der rue Frochot. Eifrig beobachtete er die ein- und aus- gehenden Gäste, welche zum großen Teil einen verdäch- tigen Eindruck machten, aber niemals kamen die Namen Enriei, Roberto oder Petto über die Lippen eines der Gäste. Sie nannten sich fast gar nicht mit Namen, oder sie ge- brauchten Vornamen. Hugo Nagel ließ in seinem Eifer nicht nach. Er sandte einen Brief unter der Adresse des Enrici nach der Wirtschaft, um zu beobachten, wer den Brief in Empfang nehme. Der Brief wurde vom Wirt angenommen, blieb aber mehrere Tage auf dem Büffet liegen, ohne abgeholt zu werden.
Nachdem er so ungefähr vier Wochen seine täglichen Mahlzeiten in der Verbrecherkneipe eingenommen hatte, hörte Hugo Nagel eines Tages plötzlich, wie das fünfjährige Töchterchen des Wirtes weinend nach Hause kam und klagte: „Madame Petto m’a battu“. Das war das erste- mal, daß einer der Namen, auf die er so eifrig lauerte, in seiner Gegenwart erwähnt wurde. Er zog das Kind an sich, tröstete es und forschte dann vorsichtig danach, wer denn die Madame Petto sei, worauf das Kind ihm die in der Nachbarschaft gelegene Wohnung dieser Dame angab. In Wirklichkeit war, wie die Pariser Polizei so- fort feststellte, Madame Petto eine gewisse Madame Dela- barre, welche als Maitresse eines Italieners Mecca mit diesem zusammenlebte. Aber Mecca war mit unbekanntem Ziel auf Reisen gegangen. Seine Wohnung wurde be- obachtet, und als er am 8. September aus dem Seebade St. Nazaire gestärkt zurückkehrte, wurde er festgenommen.
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In seinem Besitz fand man mehrere verdächtige Schrift- stücke, namentlich einen Brief, der mit den Worten be- gann: „Caro amico soldato“ und endigte: „ti saluta tuo amico Riccardini Pietro.“ Mecca gab zu, daß er häufig Petto, auch Gilmont, Mussot genannt werde, wollte aber von dem Hamburger Diebstahl gar nichts wissen.
Madame Delabarre nahm die Verhaftung ihres Lieb- habers nicht sehr tragisch. Sie ließ sich am Abend der Verkaftung von Hugo Nagel zum Essen einladen und lenkte den Verdacht, der andere Mittäter zu sein, auf einen gewissen Salomone Ezio, der mit Mecca sehr viel verkehrt habe und dessen Signalement genau mit demjenigen stimme, welches Nagel in Händen habe. Dieser Salomone wohnte mit seiner Maitresse Dallichamps in dem Hause rue Jouffroy 43. Als die Polizei dorthinkam, fand sie das Nest leer, die beiden hatten sich für einige Monate auf das Land nach Wassy zurückgezogen. Hier wurde Salomone am 11. September verhaftet. Er bestritt ent- schieden, Enriei zu sein oder denselben zu kennen. Auf die Frage, was er sei, erklärte er, er habe das Schneider- handwerk erlernt, doch übe er dasselbe seit mehr als zehn Jahren nicht mehr aus; er lebe hauptsächlich vom Schmuggel. In seinem Besitz fand man einen kleinen Beutel mit Silber- münzen, über dessen Zweck der Verhaftete sich folgender- maßen aussprach:
„Je suis un voleur à l’americaine, je le reconnais vo- lontiers et je ne pense pas le nier devant l’&vidence. Ce sac devait me servir à commettre des vols.“ Aber, fügte er hinzu, deshalb dürfe man ihm doch nicht alle Dieb- stähle zur Last legen, welche in Europa begangen würden.
Die Vergangenheit Salomones bewies denn auch, daß er sich nicht mit Unrecht rühmen konnte, ein „voleur à l'américaine“ zu sein. Er war unter dem Namen Valetti schon fünfmal in Frankreich wegen ähnlicher Diebstähle in Untersuchung gewesen und dreimal bestraft worden.
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Am 13. April 1882 hatte er auf dem Nordbahnhof in Paris einen Uhrenhändler Camleret aus Cambrai getroffen, welcher ihn nach dem Wege fragte. Salomone begleitete ihn. Nach wenigen Schritten gesellte sich ein Unbekannter zu ihnen, der sehr viel Geld zeigte und Camleret zu einem Glase Wein einlud. In der Wirtschaft, in welche sich die drei alsdann begaben, erzählte Camleret, daß er drei sehr wertvolle Uhren bei sich führe. Der Unbekannte zeigte Neigung, die Uhren zu kaufen. Als Camleret die Uhren nur gegen Barzahlung aus der Hand geben zu wollen er- klärte, geriet der Unbekannte ob dieses Mißtrauens in große Erregung. Ohne weiteres vertraute er dem Uhrenhändler einen Beutel an, in dem sich 400 Frs. befänden. Das stimmte Camleret um und er übergab dem Unbekannten die Uhren, um sie genau zu besichtigen. Nunmehr machte Salomone den Vorschlag, man solle doch einmal nach dem Bahnhof gehen, um zu sehen, wann Camleret eigentlich abfahren müsse. Unterwegs verschwanden Salomone und der Unbekannte plötzlich. Camleret war seine Uhren los. Als er den Beutel untersuchte, befanden sich in demselben lediglich einige alte Zeitungen. Hierfür erhielt Salomone eine Gefängnisstrafe von 13 Monaten.
Am 28. Juni 1887 begab sich Salomone mit einem Barbero zusammen nach dem Ostbahnhofe in Paris. Bar- bero sprach einige Reisende an und forderte sie auf, mit ihnen in ein Weinhaus zu gehen. Die Fremden folgten dieser Aufforderung. In der Kneipe fing Salomone an, von einer großen Erbschaft zu erzählen, welche er jetzt erheben müsse. Zu diesem Zweck verließ er die Wirt- schaft, Kehrte aber nach einiger Zeit mit einem in Zeitungen eingewickelten Paket wieder. Er zeigte den Fremden eine wertlose Note und behauptete, das wäre eine 500 Dollars- note, und er hätte sein ganzes Paket voll solcher Noten und fürchte sehr, es könne ihm gestohlen werden. Da er den Fremden nahe legte, das Paket für ihn zu tragen,
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erklärten sich diese hierzu bereit. Salomone nahm dies freundliche Erbieten an, forderte jedoch als Sicherheit die Übergabe der Barschaft der Fremden. Nachdem Salomone auf diese Weise in den Besitz des Geldes der Fremden gekommen war, verschwand er alsdann mit seinem Freunde Barbero. Das angebliche Wertpapierpaket enthielt nur einige alte Zeitungen. Salomone mußte diese Tat mit dreijähriger Gefängnisstrafe büben.
Bei diesem Vorleben und seinen persönlichen Angaben über seinen Beruf wurde natürlich den Beteuerungen Salo- mones, er sei an dem Hamburger Diebstahle nicht beteiligt gewesen, er habe sich zwar Valetti, Vallier, Louis, aber niemals Enrici genannt, ein Glaube nicht beigemessen. Wollten doch auch Frau Nagel und andere Hamburger Personen, denen man die Photographie des Salomone vor- legte, denselben mit Bestimmtheit als einen der drei ita- lienischen Gauner wiedererkennen.
Die Verhaftung der beiden internationalen Diebe wurde telegraphisch überall verbreitet und namentlich die ita- lienische Presse gab die Einzelheiten der Tat und der Ver- haftung in aller Ausführlichkeit wieder. Der „Corriere delle Sera“ widmete der Angelegenheit unter der Über- schrift „une bande internationale di malfattori“ eine ganze Spalte seiner Nummer vom 13./14. September 1894. Da- bei wurden von verschiedenen Blättern die Taten der Gauner in unerhörter Weise vergrößert, so daß es sich schließlich nach den Mitteilungen der Presse um einen Diebstahl von nicht weniger als 4 Millionen Frs. handelte. Die italienische Polizei aber, welche den Verdacht auf die beiden Verhafteten gelenkt hatte, beschwerte sich darüber, daß man sie weder zu den Verhaftungen hinzugezogen, noch auch ihr Verdienst in der Presse in das richtige Licht gesetzt habe; nach den Zeitungsnachrichten komme das ganze Verdienst ausschließlich der Pariser Polizei zu;
auf diese Weise kämen diejenigen, denen die Verhaftung Der Pitaval der Gegenwart. II. 2
18 Dr. Nöldeke.
eigentlich zu verdanken sei, um den wohlverdienten Lohn, der in einem Avancement bestanden haben würde.
Die Verhafteten mußten im Pariser Gefängnis den Ver- lauf der langwierigen Auslieferungsverhandlungen abwarten. Trotzdem sie scharf beobachtet wurden, suchten sie doch auf alle Weise miteinander in Verbindung zu treten. Wenn sie einander auch nur von ferne erblickten, suchten sie sich Zeichen zu geben, und eines Tages wurde Mecca dabei abgefaßt, als er Salomone heimlich einen Kassiber zuzustecken suchte. In diesem Schreiben tröstet Mecca seinen Genossen, und erklärt er sich bereit, ihn eventuell herauszureißen. In den schärfsten Ausdrücken fällt er über seine Maitresse Delabarre her, er bezeichnet sie als „Schwein“ und „Kuh“, weil sie Salomone denunziert habe und schwört ihr fürchterliche Rache für den Fall, daß er wieder frei werde. Am Schlusse schreibt Mecca:
„Du stehst hier für Maino, aber ich weiß nicht, welcher Unterschied zwischen Dir und Maino besteht und Du weißt, daß man Dich hier zurückhält, weil man ihn sucht; wenn er verhaftet würde, wärest Du längst her- aus. Aber was mich betrifft, so möchte ich nicht, daß Maino es würde, es wäre schlimm für uns beide .... Wenn die Geschäfte schlecht gehen, so habe keine Angst, dann werde ich dich herausziehen.“
Dieser Brief hat allen, die sich mit ihm zu befassen hatten, viel Kopfzerbrechen gemacht, er konnte für und gegen die Schuld Salomones sprechen, namentlich der Satz: „ich weiß nicht, welcher Unterschied zwischen Dir und Maino besteht“ schien für eine Identität von Salomone und Maino zu sprechen. Die Pariser Polizei stellte ihrer- seits Ermittelungen über die Beteiligung der Verhafteten an der Hamburger Tat an und ermittelte, daß Mecca ein- mal im Jahre 1893 in einer Kneipe einen Streit mit einem Landsmann Maggiorini gehabt hatte, in welchem dieser ihm zurief:
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„On ne trouve pas toujours de vieilles femmes, comme celle d' Hambourg.“ |
Nach Erledigung aller Formalitäten kamen die beiden endlich im Dezember 1894 in Hamburg an. Hier wurden zunächst alle aufzutreibenden Personen, welche die Gauner im Juni 1892 gesehen hatten, ihnen gegenübergestellt, und wie es in ähnlicher Lage gewöhnlich der Fall ist, wichen die Aussagen der Zeugen stark voneinander ab. Die einen erkannten die Angeschuldigten oder einen derselben mit aller Bestimmtheit als die Täter an; andere waren un- sicher oder erklärten als vorsichtige Leute, daß sie nach Verlauf von fast drei Jahren ein Urteil überhaupt nicht abgeben könnten, wieder andere behaupteten ganz bestimmt, die Verhafteten seien nicht die Täter. Frau Nagel er- kannte Salomone sofort wieder, während sie wegen Meccas anfänglich zweifelte, aber mit der Zeit in der Wieder- erkennung sicherer wurde. Salomone und Mecca beteuerten nach wie vor ihre Unschuld, sie wollten weder jemals in Hamburg gewesen sein, noch von der Tat etwas wissen, und da die italienische Polizei, auf deren Angaben man die beiden verhaftet hatte, weitere Unterlagen für die Über- führung nicht lieferte, so blieb es lange zweifelhaft, ob es gelingen werde, den Verhafteten ihre Schuld nachzu- weisen.
Nach Verlauf einiger Monate veränderte Salomone seinen Standpunkt. Er erklärte, er wolle jetzt die Wahrheit sagen. Er selbst sei an dem Diebstahl unschuldig, aber er wisse von der Tat. Am 12. Juni 1892 habe er sich mit mehreren Bekannten in ihrer Kneipe in der rue Frochot in Paris befunden, als Mecca und Enrici, den er auch kenne, der aber mit ihm nicht identisch sei, in sehr vergnügter Stimmung von einer Reise gekommen seien. Mecca habe sofort für alle Gäste Wein ausgegeben. Den Grund dieser fidelen Stimmung habe er damals nicht er- fahren, einige Tage später habe er jedoch gehört, daß
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Mecca und Enrici einen großen Coup gemacht hätten. Trotz dieser Angaben Salomones blieb Mecca bei seinem Bestreiten.
Im April 1895 wurde Zunino, dessen Spur man in dieser Untersuchung aufgefunden hatte, und welcher nun- mehr wegen des in Straßburg begangenen Diebstahls ab- geurteilt werden sollte, auf dem Transport von England nach Straßburg durch Hamburg gebracht, wo er über den Diebstahl zum Nachteile der Frau Nagel vernommen wurde. Von dieser Tat wußte er nichts, weil er damals in London bereits in Haft saß. Riccardini kannte er aber sehr gut, und gab er folgendes über seine Beziehungen zu ihm an:
„Ich kenne Riccardini schon seit 25 Jahren. Riccar- dini hat niemals ein Geschäft erlernt oder betrieben, sondern lebt nur vom Diebstahl und Betrug. Ich bin mit ihm überall in der Welt herumgekommen. Früher sah er mir sehr ähnlich, und hat sich bei Begehung seiner vielen Straftaten unter anderen Namen auch den meinigen zu- gelegt.“
Zunino gab auch an, daß Salomone einer der besten Bekannten Riccardinis sei. Über die Tätigkeit Riccardinis und seiner Bande sagte er, daß ein eigentliches Konsortium mit gemeinsamer Verteilung der Beute nicht bestehe, jeder handle und betrüge für eigene Rechnung.
Nachdem eine große Anzahl von Zeugen in Paris, Brüssel und Italien vernommen worden war, konnte am 9. Juni 1896, genau vier Jahre nach dem Tage der Tat, zur Hauptverhandlung geschritten werden. Im größten Saale des Hamburger Strafjustizgebäudes fand die Ver- handlung statt. Auf der Anklagebank saßen Salomone und Mecca, deren Aussehen unter der langen Untersuchungs- haft entschieden gelitten hatte, welche aber äußerlich doch den Eindruck von Industrierittern größeren Stils machten. Ein zahlreiches Publikum hatte sich im Zuhörerraum ein- gefunden. Mit Spannung folgte es den Unschuldsbeteue-
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rungen der Angeklagten, welche, da sie der deutschen Sprache nicht mächtig waren, unter Hinzuziehung eines Dolmetschers vernommen wurden. Das Interesse wuchs, als nach seiner Mutter der junge Hugo Nagel seine per- sönlichen Nachforschungen schilderte, als er erzählte, wie er sämtliche Pariser Kriminalpolizisten mit dem Bilde Riccardinis ausgerüstet habe, wie er bald hier bald dort eine Spur der Täter entdeckt zu haben glaubte, wie er dann wochenlang in der Verbrecherkneipe der rue Frochot seine Mahlzeiten eingenommen, um Enrici und Petto aus- findig zu machen, wie er noch kurz vor der Verhandlung nach Italien gefahren sei, dort den berüchtigten Rolando, den man des Dijoner Diebstahls nicht hatte überführen können, in seinen piemontesischen Bergen aufgesucht und sich ihm als Verteidiger Meccas vorgestellt habe, um den Aufenthalt Riccardinis zu erfahren, wie er unter der gleichen Maske bei der Schwester Riccardinis in einem Dorfe bei Jvrea gewesen sei, aber kein Erfolg seine Be- mühungen gelohnt habe. Die Aussagen der Identitäts- zeugen gingen wie in der Voruntersuchung hin und her. Für Salomone war es besonders ungünstig, daß einer der aus Brüssel geladenen Zeugen, welcher sich als surveillant einer Bank vorstellte und als solcher die Aufgabe hatte, alle Personen, welche die Bank besuchten, genau zu be- obachten, um sie nötigenfalls später wiederzuerkennen und der sich eines besonders ausgebildeten Physiognomien- gedächtnisses rübmte, ihn mit aller Bestimmtheit als einen derjenigen beiden Italiener wiedererkannte, welche am 10. Juni 1892 in Brüssel die italienischen Rententitel ver- kauft hatten. Zwei und einen halben Tag wogte die Ver- handlung hin und her. Am Mittag des dritten Verhand- lungstages beantragte der Staatsanwalt die Verurteilung beider Angeklagten zu der höchsten Strafe von je fünf Jahren Gefängnis. Lebhaft gestikulierend beteuerten die Angeklagten ihre Unschuld.
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Das Gericht zog sich zur Beratung des Urteils zurück, und im Publikum, welches den Zuhörerraum bis auf den letzten Platz füllte, stritt man eifrig, ob das Gericht beide Angeklagten verurteilen, ob es einen oder beide freisprechen werde. Die Angeklagten saßen in sich versunken. Sie hatten bis zuletzt gehofft, daß ihnen der Beweis einer Schuld nicht geführt werden könne. Jetzt hatte der Staats- anwalt den Beweis für genügend erachtet, und immer näher rückte ihnen die langjährige Kerkerhaft. Heftig kämpfte es im Innern Meccas, ob er nicht doch, um den Freund zu retten, in der allerletzten Stunde ein Geständnis seiner Schuld ablegen solle. Schließlich vertraute er sich seinem ze an, und dieser ließ das Gericht schleunigst in
den Sitzungssaal zurückrufen. Hier gab Mecca folgende Erklärung ab:
Im Juni 1892 habe ihn Enriei Agostinos, den er schon länger gekannt habe, gefragt, ob er mit ihm und Riccar- dini nach Hamburg fahren wolle, um einen reichen Ita- liener auszuplündern, der mit Geld beladen sich gerade in der deutschen Hafenstadt aufhalte. Er sei hierauf ein- gegangen, sie seien abgefahren, und in Köln sei Riccardini zu ihnen gestoßen, welcher die Führung der Partie über- nommen habe. In Hamburg angekommen, hätten sie in einem kleinen Hotel in der Nähe des Bahnhofs Wohnung genommen. Der reiche Italiener, auf den man es abge- sehen, habe aber Hamburg bereits verlassen gehabt. Um dann die Reise nicht umsonst gemacht zu haben und namentlich die Reisekosten herauszuschlagen, habe man einen italienischen Gastwirt in Hamburg aufs Korn nehmen wollen. Bevor man aber dazu gekommen sei, diese Sache anzugreifen, habe Enrici die Frau Nagel vor dem Cafe sitzen sehen und sich mit ihr in ein Gespräch eingelassen. Man habe dann sein Auge auf die italienischen Renten- titel der Frau Nagel geworfen und in Wiezels Hotel habe Riccardini den Coup ausgeführt. Er, Mecca, habe nach
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der Tat von Riccardini den Auftrag erhalten, Frau Nagel in ihre Wohnung zu begleiten, was er auch getan habe. Als er dann in das Hotel gekommen, hätten Riccardini und Enrici bereits andere Kleider angelegt gehabt und seien reisefertig gewesen. Darauf seien alle drei zusammen nach Köln gefahren, unterwegs hätten sie die Titel gleich- mäßig untereinander verteilt. In Köln hätten sich Riccar- dini und Enriei erzürnt, und hätte ersterer geäußert: „Den diplomatischen Weg werden sie für dich auch noch finden.“ Riecardini sei von Köln nach Mailand, er und Enriıci seien nach Brüssel gefahren, wo sie 100000 Frs. der Titel ver- kauft hätten. Nach einigen Tagen sei er mit Riccardinj nach Buenos-Aires gegangen. Riccardini habe alsbald nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis von Buenos-Aires auf den Rat seiner Freunde Argentinien verlassen, wo er sich zur Zeit aufhalte, wisse er nicht, er habe von Riccardini seither nichts mehr gehört.
Mecca behauptete auf das entschiedenste, daß Salomone in der ganzen Sache unschuldig, insbesondere nicht mit Enrici identisch sei. Er habe anfänglich die Absicht ge- habt, sofort bei der Ankunft in Hamburg seine Schuld einzugestehen, um den unschuldigen Salomone aus der Haft zu befreien. Da aber Frau Nagel ihn nicht mit positiver Bestimmtheit erkannt habe und auch andere Zeugen zweifelhaft gewesen seien, so habe er gehofft, viel- leicht doch noch freizukommen.
Die Persönlichkeit des Enriei beschrieb er ganz genau, insbesondere gab er an, daß Enrici sehr schöne, wohlge- pflegte Hände habe, wonach er auch den Namen „Belle main“ oder „Maino“ führe; ein anderer seiner Namen sei „Robert“ oder „Roberto“. Seine Maitresse habe ein Glasauge. Als Hugo Nagel dieses hörte, sprang er auf und rief aus, jetzt wisse er genug, die Maitresse mit dem Glasauge kenne er, wenn ihm genügend Zeit gegeben werde, wolle er sofort nach Paris fahren und Enriei ermitteln und festnehmen lassen.
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Auf das Gericht machten die Geständnisse Meccas einen glaubwürdigen Eindruck. Immerhin lag die Möglichkeit nahe, daß Mecca, welcher so gut wie überführt war, lediglich das Bestreben hatte, Salomone der drohenden Verurteilung zu ent- reißen. Trotzdem wurde beschlossen, die Verhandlung auf drei Tage auszusetzenund inzwischen auch in Hamburg an der Hand der Angaben Meccas Ermittelungen anstellen zu lassen.
Alsbald nachdem das Gericht diesen Beschlufs gefaßt hatte, setzte Hugo Nagel sich auf die Bahn und fuhr nach Paris zurück. Dort begab er sich sofort auf die Polizei- präfektur und berichtete über die neuesten Ergebnisse des Hamburger Prozesses. Es gelang gleich die Wohnung der Dame mit dem Glasauge festzustellen, wenngleich diese einige Tage zuvor verstorben war. Aber ihr Liebhaber, Jules Robert, hatte sein Quartier dort noch aufgeschlagen. Am 13. Juni 1896 wurde er festgenommen. Auf das ent- schiedenste bestritt er, die Namen Enriei oder Maino zu führen, behauptete, er sei in Quebec geboren, verstehe über- haupt kein Italienisch und kenne weder Riccardini, noch Mecca oder Salomone. Aber die Polizei konstatierte als- bald, daß er die von Mecca angegebenen schönen Hände besafs, und eine ganze Reihe von Zeugen bekundeten, dab er häufig „Maino“ oder „Bellemain“ genannt werde, daß er regelmäßig italienisch gesprochen und viel mit Mecca verkehrt habe. Trotzdem blieb Robert bei seinem Leugnen. Daß er keinerlei redliche Tätigkeit ausübe, gab erzu. Er wollte von einem Vermögen leben, daß er sich auf unkon- trollierbare Weise in Amerika erworben hatte. Legitimations- papiere besaß er nicht. In seiner Wohnung wurden zwei kleine Pakete gefunden. In dem einen befand sich Zei- tungspapier, in dem anderen einige wertlose verfallene amerikanische Dollarnoten. Über den Zweck dieser, offen- bar für die Begehung von Diebstählen à américaine vor- bereiteten Pakete befragt, erklärte er, daß die Packete einen Zweck überhaupt nicht hätten.
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Inzwischen war Mecca von mehreren Polizeibeamten in Hamburg herumgeführt worden. Er hatte das Hotel am Hafen, in welchem er mit seinen Genossen abgestiegen war, wiedererkannt. Das Hotel war in andere Hände übergegangen, aber der frühere Oberkellner wurde ermittelt. Derselbe erinnerte sich der drei Italiener noch ganz genau. Er erzählte, daß ihm die Gesellen gleich verdächtig vor- gekommen seien. Nachdem sie sich einige Tage in Ham- burg aufgehalten, seien eines Nachmittags zwei von ihnen in großer Hast ins Hotel gekommen, von denen einer eine kleine Handtasche getragen habe; sie hätten sofort ihre Habseligkeiten zusammengepackt, der Größte und Kräf- tigste, welchen der Oberkeliner in der Photographie des Riccardini wiedererkannte, habe für alle drei die Rechnung bezahlt und dann seien sie schleunigst nach dem Venloer Bahnhof gegangen. Kurz nachher sei auch der Dritte gekommen und den beiden an den Bahnhof gefolgt. Nach der Abreise der Gäste habe er sofort zu dem Wirte ge- sagt: „Jetzt haben sie ihren Coup gewiß ausgeführt.“ Er habe der Polizei Kenntnis von seinen Beobachtungen geben wollen, doch habe der Wirt es ihm untersagt, da er keine Scherereien mit ‘der Polizei haben wolle. Den Ange- klagten Mecca erkannte er bestimmt als einen der Drei wieder, während er von Salomone ebenso bestimmt er- klärte, er sei nicht dabei gewesen. Aus den bei der Po- lizei befindlichen Herbergsprotokollen wurde festgestellt, daß in den Tagen des Diebstahls in dem Hotel drei Per- sonen logiert hatten, die sich als Marconi, Arivia und Demarco, Kaufleute aus Amerika, bezeichneten.
Als am 14. Juni die gerichtliche Verhandlung fortge- setzt wurde, lag ein Telegramm aus Paris auf dem Ge. richtstische, welches die Verhaftung Enricis anzeigte. Mecca schrak bei dieser Mitteilung ersichtlich zusammen, er hatte anscheinend nicht gedacht, daß man Enrici fassen werde, bevor er durch den freigesprochenen Salomone ge-
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warnt wurde. Aber sein Gesändnis hielt Mecca aufrecht. So wurde denn Salomone nach einer Untersuchungshaft von 21 Monaten freigesprochen, während Mecca eine Ge- fängnisstrafe von 4 Jahren 9 Monaten erhielt, auf welche ihm 9 Monate dererlittenenUntersuchungshaftangerechnetwurden.
Mecca hatte sein Geständnis höher bewertet, er war über die schwere Strafe, welche man ihm auferlegte, recht erbost. Als ihm die in Paris aufgenommene Photographie des Robert vorgelegt und er befragt wurde, ob dies En- rici sei, weigerte er sich, überhaupt noch etwas zu sagen, da man ihn zu schwer bestraft habe. Aber Salomone meldete sich alsbald nach seiner Freilassung in Paris bei der Polizei und erklärte dort, daß der verhaftete Robert identisch mit Enriei oder Maino, daß er in Italien geboren und seine Muttersprache das Italienische sei.
Enriei, alias Robert, wurde an Deutschland ausgeliefert und nach Hamburg transportiert, wo er sein Leugnen in der gleichen Weise fortsetzte. Bezüglich der Zeugen wie- derholte sich dasselbe Schauspiel wie in dem früheren Verfahren, nur mit dem Unterschiede, daß inzwischen noch längere Zeit verflossen war und die Zeugen in der Rekog- nition noch unsicherer geworden waren. Mecca, welcher den Schleier lüften konnte, grollte andauernd wegen seiner schweren Bestrafung.
Nach Verlauf einiger Monate überlegte sich Mecca je- doch, daß es keinen Zweck für ihn habe, seine Kenntnisse brachliegen zu lassen und daß es praktischer sei, sie für einen angemessenen Preis zu verwerten. Er. begann mit dem Untersuchungsrichter zu verhandeln und versprach, die volle Wahrheit zu sagen, falls man ihm einige Be- dingungen erfülle.e Er verlange bessere Behandlung im Gefängnis, insbesondere die Erlaubnis, mehr Briefe zu schreiben, er wünsche als Nahrung mehr Milch und Weiß- brot, da er die Gefängniskost nicht vertragen könne, auch wünsche er eine andere Beschäftigung, als Strümpfe-
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stricken, welches seinen Augen schade. Der Untersuchungs- richter versprach, sich nach dieser Richtung für Mecca bei der Gefängnisdirektion verwenden zu wollen, worauf Mecca zugab, daß der verhaftete Robert der richtige Enriei und der Mittäter am Diebstahle sei. Auf Enrici machte diese Erklärung nicht den mindesten Eindruck. Mecca hatte aber die Genugtuung, daß nach Befragung des Ge- fängnisarztes seine Wünsche erfüllt wurden.
Während in Hamburg die Untersuchung gegen Enriei schwebte, setzte Hugo Nagel in Paris die Nachforschungen nach Riccardini fort. Zu diesem Zwecke trat er mit Sa- lomone in nähere Verbindung, lud ihn wiederholt zum Diner ein und erhielt von ihm wertvolle Mitteilungen über das Treiben der ganzen Bande. Ja, Salomone legte sogar eine gewisse Anhänglichkeit an Hugo Nagel an den Tag. Daß er ursprünglich seine Verhaftung bewirkt hatte, nahm er ihm nicht übel, da Hugo Nagel durch die Tat verletzt worden war und daher berechtigt erschien, alles zu tun, um die Tat zu rächen. Aber dankbar war Salomone ihm dafür, daß er ihn durch sein rasches Eingreifen und die schnelle Verhaftung Enricis vor jahrelanger Gefängnishaft bewahrt hatte. Trotz aller Sympathien, welche Salomone Hugo Nagel gegenüber an den Tag legte, kam er jedoch mit der Angabe über den Verbleib Riecardinis nicht heraus. Nagel versprach ihm Geld, aber Salomone lehnte dies mit dem Bemerken ab, daß er daran keinen Mangel habe und sich nach Belieben Geld verschaffen könne, falls er etwas brauche. Da trat die Pariser Polizei wieder in Aktion. Salomone hing sehr an Paris, wollte sich da- selbst auch mit einer Französin, die an die Stelle seiner früheren Maitresse getreten war, verheiraten. Die Polizei erklärte ihm nun, sie werde ihn als lästigen Ausländer an die Grenze bringen, wenn er nicht binnen acht Tagen den Aufenthalt Riccardinis angebe. Das war für Salomone sehr schmerzlich, er suchte Nagel zu bewegen, auf seine
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Forderung zu verzichten, aber vergeblich. Schließlich kam ‘er eines Tages zu Nagel mit der Bitte, ihm wenigstens eine kurze Verlängerung der Frist zu erwirken, da er den Aufenthalt Riccardinis wirklich nicht wisse und erst in 14 Tagen Gelegenheit habe, ihn zu erfahren. Dann finde nämlich in Brüssel eine Versammlung der auf freiem Fuß befindlichen Mitglieder ihrer Bande statt, und werde er dort feststellen können, wo Riccardini sich zur Zeit befinde.
Salomone hielt Wort. Als er von dem Gaunerkongreß zurückkehrte, erzählte er Nagel, Riccardini befinde sich schon seit dem Jahre 1893 unter dem Namen Pedro Morel in Santiago de Chile in Haft. Nachdem er im Dezember 1892 aus dem Gefängnis in Buenos-Aires herausgekommen sei, habe er die Entdeckung gemacht, daß seine dort be- findlichen, nicht unbedeutenden Mittel von seiner Maitresse unterschlagen worden seien. Er sei dann sofort nach Santiago gefahren und habe dort mit zwei alten Bekannten, „Gianone“ und „Joseph des Grandyeux“ einen größeren Diebstahl genau nach derselben Methode wie der in Ham- burg angewandten auszuführen versucht. Dabei sei er je- doch abgefaßt und im Juni 1893 zu einer Gefängnisstrafe von 5 Jahren verurteilt worden.
Diese Angaben bewahrheiteten sich, der deutsche Kon- sul in Santiago stellte an der Hand der Photographie Ric- cardinis fest, daß der dort inhaftierte Pedro Morel mit dem so lange und so eifrig gesuchten Bandenführer Riccardini identisch war.
Kurze Zeit nachher starb Salomone. Er war schon lange auf der Lunge schwach gewesen und hatte nach der langen Untersuchungshaft immer stärker gekränkelt. Als er auf dem Totenbette lag, ließ er den jungen Nagel zu sich kommen und beteuerte ihm nochmals feierlichst, daß er mit dem Diebstahl in Hamburg nichts zu tun ge- habt habe, daß vielmehr der in Hamburg in Haft sitzende Enriei der Mitschuldige Riceardinis und Meccas sei.
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Am 5. Juli 1897 begann in Hamburg die Hauptver handlung gegen Enrici. Enriei bestritt jede Schuld und blieb bei seiner Angabe, daß er gar nicht Enriei heiße und auch kein Italienisch, sondern nur Französisch, Englisch und Spanisch kenne. Aber diese Rolle führte er nicht konsequent durch. Der italienische Dolmetscher wies an zahlreichen Merkmalen in der Aussprache des Französi- schen nach, daß die Muttersprache Enrieis die italienische sein müsse, und das Spanische sprach Enrici so, als wenn ein Italiener sich dasselbe aus seiner Sprache übersetzt. Zeugen aus der italienischen Heimat Enrieis, die ihn kannten, waren freilich nicht zu beschaffen, da Enriei be- reits als zehnjähriger Knabe seinen Geburtsort verlassen und man seither nichts mehr von ihm gehört oder gesehen hatte.
Mecca war der Tod Salomones vor der Verhandlung absichtlich nicht mitgeteilt worden, da man befürchtete, er werde, falls er das Ableben Salomones erfahre, nunmehr alle Schuld auf diesen abzuwälzen suchen. Nachdem er seine Aussage gemacht und mit aller Bestimmtheit erklärt hatte, daß Enrici mit ihm und Riccardini den Diebstahl verübt habe, wurde ihm eröffnet, daß Salomone kurz zu- vor verstorben sei. Diese Nachricht ergriff das alte Gauner- herz ganz außerordentlich. Er brach in Tränen aus und stieß wehmütig die Worte hervor: Salomone mort, Salo- mone mort! Dann klagte er sich lebhaft gestikulierend an, daß er an dem Tode Salomones mitschuldig sei; er habe doch durch ein offenes Bekenntnis die lange Haft Salo- mones, die demselben so sehr geschadet habe, ab- kürzen können! Mecca blieb auch jetzt dabei, daß Enriei und nicht Salomone sein Genosse bei der Tat gewesen sei.
Die Verhandlung ergab sehr viel belastendes Material für Enrici. Das nach dem Tode Salomones doppelt wert- volle Geständnis Meccas, die Erklärung, welche Salomone auf dem Totenbette abgegeben hatte, der Kassiber Meccas an Salomone mit den Worten: „Tu sei qui per Maino“,
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die Bekundung einer großen Anzahl Pariser Zeugen, daß Enrici häufig Maino genannt würde, die offenbare Unrich- tigkeit der Angaben Enricis über seine Herkunft und Hei- mat und manches andere Moment führten dazu, daß En- rici am 6. Juli 1897 zu einer Gefängnisstrafe von 5 Jahren verurteilt wurde.
Einige Monate später, während noch zwischen Deutsch- land, Frankreich und Italien, welche alle noch eine Rech- nung mit Riccardini zu begleichen hatten, die Verhand- lungen darüber schwebten, wer die Auslieferung bewirken solle, gelangte die offizielle Nachricht des deutschen Konsuls in Santiago nach Hamburg, daß Riccardini, alias Morel, am 10. Juni 1897 im Gefängnis am Schlagflusse gestorben sei.
Giuseppe Mecca hat seinen Bandenführer nicht lange überlebt, er ist am 23. Juli 1898 in der Hamburger Ge- fangenenanstalt gestorben, Enriei aber hat nach Verbüßung seiner Strafe am 14. Juli 1902 die Freiheit wieder erhalten.
Frau Nagel und ıhr Sohn haben wegen verschiedener der gestohlenen Rententitel gegen Banken, bei denen sie aufgetaucht waren, Zivilprozesse angestrengt, welche Jahre hindurch gedauert, wiederholt das Reichsgericht beschäf- tigt und viel Geld verschlungen haben. Als Frau Nagel im Jahre 1899 starb, mußte über ihren Nachlaß der Kon- kurs eröffnet werden. Auch ihre beiden Kinder, welche ein so großes Geschick bei der Aufspürung der Räuber ihres mütterlichen Vermögens entfaltet haben, sind nicht mehr am Leben. Nach der Entlassung Enrieis aus dem Gefängnisse wurden die Strafakten nochmals einer genauen Durchsicht unterworfen, und stellte sich dabei heraus, daß die Handtasche, welche Riccardini bei der Begehung der Tat benutzt hatte, sich noch unter gerichtlicher Beschlag- nahme befand. Da sich ein Eigentümer oder Erbe nicht ermitteln ließ, wurde die Tasche der Polizeibehörde über- wiesen, welche sie zur Erinnerung an diese interessanten Vorgänge ihrem Kriminalmuseum einverleibt hat.
Ein Alibi.”) Von Staatsanwalt Alfred Amschl in Graz.
Am 19. Februar 1883 begab ich mich von Frohnleiten aus mit zwei Schätzmeistern in einen jener steirischen Alpengräben, die, vorzeiten ziemlich bevölkert, von flei- Bigen, kräftigen Menschen bewohnt, immer mehr und mehr dem großen Grundbesitz in die Hände fallen, der die ein- zelnen Bauerngüter aufkauft, die Häuser niederreißt, Jung- wald pflanzt und das Hochwild überhegt, — ob zum Segen für die Gegend, wage ich nicht zu entscheiden.
Es galt, eine Mühlrealität abzuschätzen, die romantisch an einem Ausläufer der Hochalpe gelegen war. Den Müller, einen neunzigjährigen Greis, kannte ich recht gut. Die Verhältnisse der Gegenwart waren ihm vollkommen fremd geblieben. Oft kam er zum Bezirksrichter und bat ihn, sich der Bauern beim Kaiser anzunehmen, da die Steuern immer höher und die Zeiten immer schlechter werden. Der gute Alte hielt seinen Richter für die höchste Autorität nach dem Kaiser und war fest überzeugt, daß auch dieser „Amtstage“ halte und durch Vermittlung seiner Bezirks- richter die Wünsche und Beschwerden der Untertanen entgegennehme.
Der arme Müller batte Grund zu klagen. Im Bezirks- ort war eine Kunstmühle errichtet worden. Dorthin und
*) Über Brandlegungen vergleiche Groß, Handbuch für U.-R., 3. Auflage, XIX, S. 742ff. und Dr. A. Weingart, Handbuch für das Untersuchen von Brandstiftungen, Leipzig 1895.
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in die benachbarten Ortschaften brachten die Bauern ihr Getreide zum Vermahlen. Seine altfränkische Hausmühle entbehrte der Kunden, mit dem Vieh stand es schlecht, die Grundstücke auf dem steinigen Alpenboden lieferten geringes Erträgnis, die Wälder waren abgesteckt und die Hypothekarzinsen nicht mehr aufzubringen.
Der alte Mann besaß zwei Töchter, bildsauber, kräftig und blühend. Wenn sie mit dem schwarzen, im Genick geknüpften Seidentuch, unter dem die goldblonden Löck- chen auf die gebräunte Stirn quollen, den weißen Strümp- fen, dem kurzen blauen Rock mit schwarzem Fälbel und der schwarzen Joppe Sonntags in den Bezirksort zur Kirche kamen, so entstand nicht nur unter den Bauern- burschen freudige Bewegung, auch die sogenannten „Herren“ ergötzten sich am Anblick der schmucken Dirnen und bedauerten lebhaft, daß das alberne Dekorum ihnen verwehrte, die beiden Müllerkinder nach Hause zu be- gleiten.
Der Alte hielt streng auf Zucht und Ordnung und überzeugte sich an Sonntagen, wenn in den benachbarten Wirtshäusern die Musikanten zum Tanz aufspielten, ob seine Töchterlein wohl schön daheim ihr jungfräuliches Bette hüteten. Befriedigt sah er trotz seiner schwachen Augen die beiden Mädchen regungslos in tiefem Schlaf auf ihrem gemeinsamen Pfühl, schmunzelte und humpelte betend und seine braven Töchter segnend in sein zerbröckelndes Stübchen.
Da wurde die eine der Schwestern eines Abends von plötzlichem Unwohlsein befallen. Sie warf sich aufs Bett, schrie und wand sich in Schmerzen, so daß das ganze Haus zusammenlief. In der Nacht noch sandte man um den Arzt. Er fand die Stube voll von Menschen, die für das Seelenheil des Mädchens beteten; das arme Kind selbst, von allen Decken und Tuchenten des Hauses schier er- drückt, wimmerte schweißgebadet, schien aber erfreut, den
Ein Alibi. 33
Arzt Valentin, einen jovialen und beliebten Mann, zu sehen. Er jagte alles bis auf die Mutter zur Tür hinaus, warf die Decken vom Bett des stöhnenden Mädchens, untersuchte es und erklärte dessen Zustand, herzlich lachend, für ganz . gefahrlos: — in Kürze müsse sich die Mutter auf die An- kunft eines kleinen Enkelkindes gefaßt machen. Die Toch- ter weinte, die Mutter verwahrte sich empört gegen eine solche Zumutung. Sie habe ihre Töchter stets behütet, der Vater sich oft und oft von ihrem unschuldigen Schlaf überzeugt, den sie schliefen, während die übrige Dorfjugend im Wirtshaus bei Tanz und Wein sich vergnügte und auf Schelmenstreiche sann. Arme Mutter! Unter Tränen ge- stand die Tochter, daß der Knecht Markus des Holzhänd- lers Riegelmaier an der Reichsstraße ihr Liebhaber gewesen und daß sie mit ihrer Schwester, wenn sie aus dem Nest- chen geschlüpft, um mit den Jägern und Holzknechten zu tanzen, aus Fetzen gewickelte Popanze ins Bett gelegt, um den guten Vater zu täuschen, der die starre Ruhe dieser Puppen für den gerechten Schlaf seiner tugendhaften Töch- ter gehalten hatte.
Die arme Mutter war sprachlos; der Arzt aber beruhigte sie und versicherte, der gegenwärtige Fall sei weit unge- fährlicher als ein Typhus oder eine Lungenentzündung.
Bald darauf hallte die Mühle vom Geschrei eines kleinen Erdenbürgers wider. Der gute Vater aber machte gute Miene zum bösen Spiel und hatte zu viel Sorgen, um der Tugend seiner Töchter umständliche Betrachtungen zu widmen.
Die Gläubiger klagten auf Zinsenzahlung. Es gab nur ein Rettungsmittel: ein neues Sparkassendarlehen; vorher aber hieß es, durch gerichtliche Schätzung der Liegen- schaft die Sicherheit für eine neue Hypothek nachzu- weisen.
An einem frostigen, trüben Wintertage suchten wir die
arme Mühle heim. Über Eis und Schnee ging es, die ein- Der Pitaval der Gegenwart. II. 3
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zelnen Grundteile zu erklettern. Der alte Müller, einen derben Stock in der Hand, stieg trotz seiner neunzig Jahre rüstig voran. Die Mühle stand wehmütig still, der Mühl- bach, von der Alpe niederbrausend, floß in einen Tümpel ab, dessen stäubende Wellen sonst das Mühlrad trieben, an dem jetzt mächtige Eiszapfen grünlich glitzernd starrten.
Den einen der beiden Schätzmeister, Franz R., einen biederen Bürger des Marktes, kannte Jung und Alt im Bezirke. Das Vertrauen der Parteien und des Gerichtes hatte ihn vielfach zum Amt eines Sequesters, Vormundes oder Kurators herangezogen. Er wußte Aufschluß über alle Verhältnisse der Bezirksbewohner, über Leumund und Volksbrauch. Gern unterhielt ich mich mit ihm und kehrte auch von der Mühlenschätzung in seiner Gesellschaft nach Hause zurück.
Den 8. März hatte ich in Graz zugebracht und fuhr nach einem heitern Abend gegen 10 Uhr zum Bahnhof. Dort eilte bestürzt ein Großindustrieller aus meinem Bezirk auf mich zu mit dem Ausdruck des Bedauerns über das schreckliche Unglück.
Ich hatte keine Ahnung, was der Mann an mir, dem es in jeder Richtung vorzüglich ging, zu bedauern fände, und erkundigte mich höchst unbefangen nach der Ursache seiner Teilnahme.
„Ja, wissen Sie denn nicht? Ganz Frohnleiten steht in Flammen, die hiesige Feuerwehr wurde telegraphisch re- quiriert, das Gerichtsgebäude, die Schule und das Brau- haus sollen schon niedergebrannt sein und jetzt haben die Flammen bereits den Pfarrhof ergriffen !“
Nun war es allerdings an mir, zu erbleichen. Ich dachte mir, da der Fabrikant vom Brauhause gesprochen, der Gasthof, in dem ich wohnte, sei nebst allen meinen Fahr- nissen, nebst meinem treuen Hündchen, ein Raub der Flammen geworden; ich sah in den Ruinen des lodernden Gerichtshauses die Häftlinge herumspringen, stehlen und
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rauben und hörte meinen Bezirksrichter brummen: „Der muß auch immer (so heißt es dann gewöhnlich, wenn es auch nur zweimal des Jahres geschieht) in die Stadt fahren und gerade dann, wenn etwas geschieht!“
Der Grazer Polizeikommissar bestätigte mir die Schreckensbotschaft, und in großer Aufregung bestieg ich den Eisenbahnzug; die kurze Fahrt schien mir eine Ewig- keit zu währen. Endlich war mein reizend gelegener Marktflecken in Sicht. Riesige Feuersäulen, dicker weißer Rauch, darin Millionen Funken wogten, begrenzten den Gesichtskreis. Der Eisenbabnzug rollte näher, und ich sah die alte Kirche, die Front des Marktes am Flußufer, mein Wohnhaus, alles unversehrt. Ein Stein fiel mir vom Herzen, Ich fragte, aus dem Koupee springend, wo es brenne. „In der alten Brauerei“, hieß es. Ich kannte diesen alten, halbverfallenen Häuserhaufen, in der Nähe des Gerichts- gebäudes gelegen; die Bauart des Marktes, der schon im Jahre 1871 zum großen Teile niedergebrannt war, und die Größe der Gefahr. Aber noch stand alles übrige auf dem alten Fleck, und die Feuerwehr war tüchtig geschult. Unser Rechtspraktikant, ein ehemaliger tapferer Korps- student, galt als ihre Seele. Alle Feuerwehren aus der Nachbarschaft waren herbeigeeilt. Als ich in den Markt hinaufstieg, tönten mir die Fanfaren der Feuerwehr, ver- einzelte Feuerrufe und die Feuerglocke entgegen. Ohne viel zu fragen, eilte ich nach Hause. Mein Hund war von einer befreundeten Familie beim Ausbruch des Feuers ge- holt worden. Rasch kleidete ich mich um und begab mich auf den Brandplatz. Ich begrüßte meinen guten Bezirks- richter, den ich in großer Aufregung traf, und viele Be- kannte, die ratlos herumstanden. Der Rechtspraktikant, Steigerrottenführer, saß rittlings auf einem Dach und ließ Strahl auf Strahl aus der Handspritze in die Flammen zischen. Eine Menge Gaffer stand müßig herum. Der ‚Gendarmerieführer vermutete, daß ein Landstreicher auf
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dem offenen Dachboden übernachtet und den Brand aus Unvorsichtigkeit oder Bosheit gelegt habe. Hätte man zu- fällig, wie so oft, einen armen Vagabunden gefunden, nichts würde ihn vom Verdachte der Brandlegung gereinigt haben. Die Bevölkerung verhielt sich teilnahmslos. Der Auffor- derung, eine Kette zu bilden, um die Wassereimer von Hand zu Hand zureichen, leistete niemand Folge. Der Gendarm jagte alle müßigen Zuschauer davon. Nur ein Lehrer und eine Schusterstochter schleppten mit mir bis drei Uhr morgens Eimer auf Eimer vom Brunnen zur Spritze. —
Die Brandobjekte gehörten dem alten Schätzmeister Franz R. Er war ledigen Standes. Mit der Nachbars- tochter Wabi (Barbara) zusammen aufgewachsen, besorgte sie ihm seit etwa zehn Jahren den Haushalt. Anfänglich lebte er als Gastwirt in nicht ungünstigen Verhältnissen. Im Jahre 1876 hatte er das außer Betrieb gesetzte „alte Bräuhaus“ bei einem Zwangsverkauf um 8800 fl. er- standen. Die ganze Liegenschaft war auf 13,380 fl. geschätzt und mit Hypotheken in der Gesamthöhe von 11,750 fl. belastet.
R. war immer ein ordentlicher Mensch gewesen und sowohl bei den Bürgern als auch bei den Bauern beliebt. Niemand konnte ihm etwas Übles nachsagen. Am Tage des Brandes war er um 9 Uhr morgens nach Graz ge- fahren, wußte daher nichts von dem Unglück, das ihn ge- troffen.
Zur Realität gehörte ein großer schöner Garten, den die alte Wabi bepflanzte und der einiges Erträgnis lieferte. Vor seiner Abreise hatte ihr R. aufgetragen, Erbsen zu setzen. Den Tag brachte er gewöhnlich außer Hause zu, seiner vielen Geschäfte wegen. Mit seiner Haushälterin pflegte er nur einige Worte in der Woche zu wechseln. Im Lauf der Jahre hatten sich seine Vermögensverhältnisse sehr mißlich gestaltet.
Wabi schlief in der Küche. Am Abende des Brandes
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lag sie schon im Bett, als sie durch das nach der Straße führende Fenster Licht erblickte. Sie vermutete, daß der benachbarte Villenbesitzer heimfahre. Da aber das Licht sicb immer vergrößerte, kam ihr der Gedanke, es müsse irgendwo brennen. Wo, das sah sie nicht, weil die Küche nach der Seite des Brandplatzes hin kein Fenster besaß. Sie stand auf und ging hinaus. Von der Scheune schlugen ihr gewaltige Flammen entgegen. Nach dem ersten Schreck weckte sie die im Hause wohnhafte Lehrerin, die sogleich mit der Räumung ihres Zimmers begann.
Außer ihnen beiden wohnte im Hause nur noch eine Hebamme mit ihrem siebzigjährigen Manne. Sie hatte gerade Besuch, als sie ein Geräusch vernahm, das ihr von Katzen herzurühren schien. Da es nicht nachließ, ging sie in den Hof. Entsetzlicher Anblick! — Ein Teil der Wirt- schaftsgebäude stand bereits in hellen Flammen. Den Mann, der schon seit vielen Jahren, von der Gicht gelähmt, dar- niederlag, regte der Schreck so auf, daß er emporsprang, sein Bettzeug nahm und zu einem Nachbar flüchtete. Wie durch ein Wunder geheilt, konnte er von dieser Stunde an wieder gehen.
Das „alte Brauhaus“ umfaßte einen weitläufigen Kom- plex von winkelig gebauten verwahrlosten Häusern. An das gemauerte, mit Ziegeln gedeckte Wohnhaus schloß sich unmittelbar das im Jahre 1866 aufgeführte, seit 1870 seinem Zweck entzogene eigentliche Brauhaus an. Es ent- hielt die Küche, das ärmliche Wohnzimmer R.s, die Woh- nung der Hebamme und der Lehrerin. Rechts davon stand die Malzdörre, durch einen Mauerbogen mit dem Brauhause verbunden; links im Hof ein gemauertes, stockhohes Ge- bäude mit Malztenne, Lagerkeller und Schüttboden, worin ein Bürger seine bedeutenden Strohvorräte aufgespeichert hatte. Anstoßend ein großes Gebäude mit Dreschtenne, Obstpresse, Schlagbrücke und Wagenremise. Gegenüber der Schweinstall mit der Malzpresse. Die daneben liegende
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Holzhütte wurde von der Feuerwehr niedergerissen, nach- dem die beiden vorerwähnten Objekte vom Brande gänz- lich zerstört worden waren. Unmittelbar an den Schwein- stall reihte sich das Wirtschaftsgebäude, mit Stroh- und Futtervorräten mehrerer Bürger gefüllt. In nächster Nähe zogen sich die Häuser des Marktes hin. Eines der ersten war das gerichtliche Gefangenenhaus. Für den Markt be- stand die höchste Gefahr. Nur der Windstille und der Umsicht der Feuerwehr war es zu danken, daß der Brand nicht weiter um sich griff. Gegen 4 Uhr morgens konnte er als lokalisiert gelten, die Gefahr schien beseitigt, der Rechtspraktikant aber hatte sich ein Fieber geholt.
Am Vormittag besuchte ich die Brandstätte. Herr R. war von der Stadt zurückgekehrt und trug sein Geschick mit Fassung. Ich bedauerte ihn teilnahmsvoll, er dankte ehrerbietig. Mit ihm waren mehrere Zeitungsberichterstatter aus der Hauptstadt gekommen. Über die Ursache des Brandes konnte niemand Auskunft geben. Eine gericht- liche Anzeige wurde nicht erstattet. Die Versicherungs- gesellschaft ließ den Schaden erheben und zahlte dem R. die Summe von 3622 fl. 93 kr. aus. Wochen vergingen, die Sache fiel der Vergessenheit anheim. —
Ein Abendspaziergang führte mich an der verödeten Brandstätte vorüber. Ich blieb stehen und betrachtete sie trüben Sinnes; das ungelöste Rätsel des Brandes quälte mich. Ein junger Notariatsbeamter war mir gefolgt. „Sie wären auch froh, Herr Adjunkt — begann er — wenn Sie den Täter schon hätten! Da muß ich Ihnen aber gleich erzählen, was die Leute alles reden. Am Abende der Tat .sah man einen Stadtfiaker etwa eine Viertelstunde auber- halb der Brücke geheimnisvoll anhalten. Ein unbekannter bärtiger Mann entstieg ihm, in einen schwarzen Mantel gehüllt, unter dem er eine brennende Fackel verbarg. Langsam schritt er über die Brücke gegen den Markt zu. Bald darauf loderte das Feuer empor, der Fiaker war
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verschwunden, und der Mann ward nicht mehr ge- sehen.“
Ich meinte lächelnd, der Mantel müsse aus Asbest ge- wesen sein, da ihn die brennende Fackel nicht versengte, und ging meines Weges.
Im Gasthause traf ich abends meine gewohnte Gesell- schaft, der auch ein Kaufmann angehörte, dessen Haus an die Brandstätte grenztee Man sprach vom Feuer und er- örterte alle Möglichkeiten seiner Entstehung. Ich erzählte scherzweise in phantastischer Ausschmückung, was ich vom Notariatsbeamten gehört hatte Dem Kaufmann ge- fiel die Geschichte ausnehmend und er brannte vor Begierde, sie weiter zu verbreiten. Am nächsten Tage, den 1. April 1883, traf er auf dem Marktplatz mit R. zusammen und teilte ihm lächelnd mit, daß der Herr Adjunkt den Brand- stifter bereits kenne.
R. sah zur Erde und verlangte genau zu erfahren, was alles ich erzählt. Einige Stunden später begab er sich in das Gewölbe des Kaufmanns und drang neuerdings in ihn, zu bekennen, wer der vermummte Fackelträger gewesen; der Kaufmann erwiderte, daß er dies nicht wisse.
Zwei Tage später erhielt ich vom Untersuchungsrichter in Graz ein Schreiben des Inhaltes, daß R. dort Selbst- anzeige erstattet habe. Die Andeutungen des Kaufmanns hatten ihn erschreckt und glauben gemacht, daß ich bereits die ganze Wahrheit wisse. Aus Scham, in seinem Wohn- orte verhaftet zu werden, war er nach Graz gefahren und hatte daselbst folgendes angegeben:
„Die Brauerei war von mir im Jahre 1876 viel zu hoch übernommen worden. Den Bauzustand der Nebengebäude fand ich elend und dachte mir, wenn sie verbrennen, so habe ich das unnütze Gerümpel los und kann mich mit der Versicherungssumme vor dem Verderben retten. Schon seit Monaten trug ich mich mit dem Gedanken, die Neben- gebäude anzuzünden, ich schritt aber nicht zur Ausführung
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dieses Planes, weil ich noch immer auf andere Einnahmen rechnete.e Doch schon am Tage der Mühlenschätzung hatte ich in der Scheune für alle Fälle drei Kerzen ver- steckt.
Am 8. März fuhr ich nach Graz, um mit einem Agenten wegen des Verkaufes meiner Besitzung zu unterhandeln. Vergebens! — Meine letzte Hoffnung war dahin, die Gläu- biger drängten, Zwangsvollstreckungen drohten, der Termin zur Zinsenzahlung stand vor der Tür. Ich sah mich von Haus und Hof vertrieben, mit Schande bedeckt, als Bettler. Da beschloß ich, meinen Plan auszuführen. Der Tag war windstill, ich nicht zu Hause, sondern, wie im Markte be- kannt, verreist. Alles begünstigte mein Unternehmen. Um 4 Uhr nachmittags mietete ich einen Fiaker und fuhr nach Hause. Außerhalb der Brücke ließ ich ihn halten, schlich mich unbemerkt an meine Hintergebäude heran, steckte die drei Kerzen in das Stroh, zündete sie an und schlich beiläufig um 9 Uhr abends davon. Kein Menschenauge hatte mich gesehen. . Dem Kutscher sagte ich, daß ich einen Bekannten besucht hätte, und fuhr wieder nach Graz zurück. Bei der Abfahrt bemerkte der Kutscher, gegen den hochgelegenen Markt hindeutend, es sehe fast so aus, als ob es dort brenne. Ich meinte, er könnte recht haben, möge aber nur weiter fahren.
In einem unscheinbaren Gasthofe der Vorstadt über- nachtete ich und fuhr am nächsten Morgen mit der Bahn nach Hause. Mein Alibi schien für alle Fälle erwiesen. Leider verbrannte trotz der Windstille, auf die ich gerechnet hatte, mehr, als nach meinem Anschlage hätte verbrennen sollen.“ —
3000 fl. besaß R. noch von der Versicherungssumme. Diesen Betrag erlegte er zu Gerichtshänden, dann wurde er in Haft behalten.
Ich verfügte mich sofort nach der Brandstätte, um den gerichtlichen Augenschein einzunehmen. Überzeugt, daß
Ein Alibi. 41
die alte Wabi von der Selbststellung ihres Herrn und Freundes, die im Ort ungeheures Aufsehen erregt hatte, schon unterrichtet sei, sprach ich ihr Trost zu und enthüllte ihr so, was ich ihr gern erspart hätte. Die arme Alte war wie vom Donner gerührt. Weder sie noch sonst jemand in Frohnleiten hätte den R. einer solchen Tat für fähig gehalten.
Am 4. Juni 1883 verurteilte ihn das Schwurgericht zu fünf Jahren schweren, durch einen Fasttag im Monat er- gänzten Kerkers, am 4. August 1886 ward ihm vom Mo- narchen der Rest der Strafe nachgesehen. R. lebt noch heute im Markt als armer Einleger. Weder vor noch nach dem Brande hat er jemals irgendwem etwas zu leide getan.
Jahre waren verflossen, seit ich nach Graz versetzt worden. Ä
Eines Sonntags traf ich auf der Straße zwei städtisch geputzte Mädchen, jedes am Arm eines Soldaten. Sie sahen mich auffallend an.
Ich erkannte die sauberen Töchter des alten Müllers oder vielmehr — ihre Ruinen.
Tränenreiche Weihnachten.
Von "Staatsanwalt Dr. Ertel in Hamburg.
Das deutscheste der deutschen Feste — Weihnachten — greift tiefer in unsere Lebensgewohnheiten ein als irgend ein anderes, Die Jugend denkt schon Monate vorher an die Wunder, die das Christkind tun soll. Aber auch wenn wir die Jahre hinter uns liegen haben, in denen wir hoffen, unter dem leuchtenden Baume die Erfüllung heißer Wünsche zu finden, hört die Herrschaft des Weihnachtsmannes über uns keineswegs auf. Vielleicht ist sie nur noch tyrannischer geworden. Zur Freude hat sich auch die Sorge gesellt. Sind wir es doch jetzt, die unseren Lieben Freude bereiten sollen; hängt es doch von uns jetzt ab, ob der Glanz im dankerfüllten Herzen dem der Lichter gleichkommt!
Selbst in der größten Handelsstadt des europäischen Festlandes, in der schon allerorten recht deutliche Spuren Londoner und New-Yorker Geschäftigkeit zu finden sind, ist die Einwirkung dieses Festes in allen Kreisen unverkenn- bar. Sie steigert sich schließlich in dem Maße, daß sogar die Börse kurz vor den Weihnachtstagen ein ihr im übrigen Teile des Jahres völlig ungewohntes Kleid anlegt. Der hohe Hut und der schwarze Gehrock, ohne den wenigstens früher nach englischem Muster der City kein Kaufmann und kein Rechtsanwalt [in Hamburg kommen bekanntlich auch die Anwälte an die Börse], „der Wert auf sich legte“, in diesen Hallen erschienen wäre, und der auch heute noch
Tränenreiche Weihnachten. 43
von vielen gewissermaßen als Amts- und Ehrenkleid erachtet wird, sieht sich plötzlich in der Gesellschaft der Tchapka und der Ulanka, der Pelzmütze und der Attila, des Küras- sierhelms und des Koller. Hin und wieder findet sich wohl auch — dem im Verborgenen blühenden Veilchen vergleichbar — das schlichte Gewand des Infanteristen und das düstere des Kanoniers. Sind doch die seit dem 1. Oktober ihrer Dienstpflicht genügenden Söhne der Kauf- herren zum ersten Male auf Urlaub in der Heimat. Natürlich müssen sie sich — Menschliches, Allzumenschliches — ihren Freunden und ihren — Feinden und der sonstigen erstaunten Menschheit im Ehrenkleide und im Waffenschmucke des angehenden Kriegers zeigen.
Eine so veränderte Börse ist selbstverständlich mit ihren Gedanken nur noch zur Hälfte beim Geschäfte. Die andere weilt schon bei den zum Feste eingetroffenen oder noch erwarteten Kindern, Geschwistern, Eltern, Freunden usw., grübelnd, was ihnen zu schenken sich empfähle, sorgend, ob auch das bereits Bestellte zur rechten Zeit eintreffen werde, erwägend, wie man den heiligen Abend und die Feiertage am genußreichsten verbringen könne...
Zu guter Letzt hat die Feststimmung die Alleinherrschaft erobert und alle Geschäfts- und Amtssorgen vergessen lassen, soweit das bei einem stark beschäftigten und in seinem Berufe aufgehenden Manne überhaupt der Fall sein kann.
In solches weihnachtliches Idyll mischte sich im Jahre 1901 das Hamburg und seine Schwesterstädte Altona und Wandsbek durcheilende Gerücht, ein noch nicht dreijähriges Knäblein rechtschaffener Eltern sei plötzlich von der Straße verschwunden und trotz sofortigen und eifrigen Suchens — auch seitens der Polizei — nicht aufzufinden.
Der Glanz der Kerzen auf den immergrünen Bäumen und der Anblick der willkommenen Gaben, die sie mit ihrem Lichte übergossen, bereitete dieser bangen Kunde
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ein lauteres Echo, als derartige Nachrichten in großen Städten sonst finden können. Dachten doch gewiß viele die von froher Weihnachtsstimmung erfüllt waren, an die Möglichkeit, daß ihnen das Söhnchen, das Brüderchen ebenso entrissen werden und lauter Festesjubel in tiefe Trauer verwandelt werden könnte!
„Durch die Straßen der Städte,
Vom Jammer gefolget,
Schreitet das Unglück —
Lauernd umschleicht es
Die Häuser der Menschen,
Heute an dieser
Pforte pocht es,
Morgen an jener,
Aber noch keinen hat es verschont.“
„Darum in deinen fröhlichen Tagen Fürchte des Unglücks tückische Nähe! Nicht an die Güter hänge dein Herz,
Die das Lebeu vergänglich zieren!
Wer besitzt, der lerne verlieren,
Wer im Glück ist, der lerne den Schmerz!“
Dazu kam noch die frische Erinnerung daran, daß wenige Jahre vorher in Altona der Unhold Breitrück dafür das Schafott besteigen mußte, daß er einen Knaben seiner Wollust zum Opfer gebracht hatte. Der Gedanke mußte sich aufdrängen, hier könnte wieder einmal die menschliche Bestie zu blutiger Orgie erwacht sein.
Die nächsten Nummern der Tageszeitungen brachten bereits Näheres über das Besorgniß erregende Gerücht.
In der Nähe der St. Pauli-Landungsbrücken — des Teiles des Hamburger Hafens, der den Fremden am besten be- kannt zu sein pflegt, da in der Regel von hier aus die Fahrten durch den Hafen, nach Nienstedten (Jacob), Blankenese, Helgoland und vielen anderen Nordseebädern angetreten werden, — befindet sich eine Straße, die den etwas hochtrabenden, zurzeit durch nichts gerechtfertigten
Tränenreiche Weihnachten. 45
Namen Venusberg führt. Dort wohnen im allge- meinen sogenannte kleinere Leute, die in bescheidenen, aber auskömmlichen Verhältnissen leben. Zu diesen ge- hörte auch der Schiffsmaschinist Sch.
Am Sonntag, den 22. Dezember 1901, etwa um halb elf Uhr vormittags, hatte seine Frau ihren am 27. Juli 1899 geborenen Sohn Albert Sch. auf die Straße zum Spielen geschickt. Es war ein sehr niedliches Kind, dem eine reiche Lockenfülle zu besonderer Zierde gereichte. Trotz seiner Jugend war das Knäblein schon recht verständig, so daß die sorgsame Mutter kein Bedenken trug, es ohne Aufsicht seines siebenjährigen Bruders auf die Straße zu lassen, zumal sie ihn von den Fenstern ihrer Wohnung aus beobachten konnte und er sich nicht mit fremden Leuten einzulassen liebte. Der ältere Bruder war zum Vater geschickt worden, der auf dem an den St. Pauli- Landungsbrücken vertäut liegenden Dampfer „Irene“ be- dienstet war, um von dort Holz zu holen.
Um elf Uhr hatte die Mutter ihr Söhnchen noch heiter und guter Dinge vor ihrem Hause gesehen. Kurze Zeit darauf war es verschwunden; keins der zahlreichen, dort ebenfalls spielenden Kinder, die sie befragte, konnte ihr Kunde über seinen Verbleib geben. Alle Nachforschungen in der Nachbarschaft blieben erfolglos. Es blieb nichts übrig, als die Hilfe der Polizei in Anspruch zu nehmen, die sofort nach allen Richtungen hin den elektrischen Draht in Tätigkeit setzte.
Sie stand einer recht schwierigen Aufgabe gegenüber. Vielleicht war das Kind beim Spielen mit anderen nur in eine ihm fremde Straße geraten und konnte den Rückweg nicht finden. In diesem Falle bestand keine ernste Gefahr, denn die Erfahrung lehrt, daß solche verirrte Kinder den Passanten aufzufallen und von ihnen dem nächsten Schutz- manne übergeben zu werden pflegen. Von dem Ver- schwinden des kleinen Albert Sch. hatte die Straßenpolizei
40 Dr. Ertel
Kenntnis; wurde er eingeliefert, so wußte sie, wohin er gehörte.
Es war aber auch mit der Möglichkeit zu rechnen, daß er verunglückt sei. In dieser Richtung war es von Interesse zu wissen, daß er am Morgen, als sein älterer Bruder zum Vater an Bord der „Irene“ geschickt wurde, das Verlangen geäußert hatte, ihn begleiten zu dürfen. Die Mutter hatte die Bitte abgeschlagen, was bittere Tränen zur Folge hatte. Da ihm der Weg zur Arbeitsstelle des Vaters aus dort früher abgestatteten Besuchen wohl be- kannt war, so war der Gedanke nicht von der Hand zu weisen, daß er den Weg dorthin eingeschlagen, von einer der zum Ponton führenden Treppen in die Elbe gefallen und, von niemandem bemerkt, ertrunken sei.
Schließlich — und nicht in letzter Reihe — konnte es sich darum handeln, daß eine verbrecherische Hand ihn fortgeführt hatte. Hier war höchste Gefahr im Verzuge!
Die unter den auf dem Venusberge wohnenden Kindern sofort angestellten polizeilichen Ermittlungen hatten einen etwas besseren Erfolg als die der beklagenswerten Mutter. Nach ihnen hatte ein dreizehnjähriges Schulmädchen Frieda Ohrt den ihr wohlbekannten Albert Sch. an der Hand eines älteren ihr völlig unbekannten Knaben fortgehen sehen, dessen Kleidung und Körperbeschaffenheit sie we- nigstens in groben Umrissen anzugeben vermochte.
Diese Tatsache allein konnte keine allzu frohe Hoff nung auf baldige Aufklärung des Dunkels erwecken. Denn wie sollten lediglich auf Grund dieser sehr ober- flächlichen und auf Hunderte von Knaben passenden Beschreibung Nachforschungen angestellt werden ?
Auch blieb es zweifelhaft, ob seine Ermittelung die Untersuchung wirksam fördern würde. Er mochte mit dem Vermißten auf dem Venusberge zufällig zusammen- getroffen, mit ihm sich auf verschiedenen Straßen umher- getrieben und sich dann wieder von ihm getrennt haben
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ohne von seinem ferneren Verbleibe irgend etwas zu wissen.
Immerhin war durch die Beobachtung der Frieda Ohrt ein Anhaltspunkt gewonnen, der wenigstens die Möglichkeit in sich schloß, von großem Werte zu sein.
Aber wie ihn ausnutzen? Welche Schritte waren jetzt zu tun, welche Maßregeln zu ergreifen ?
Gar mancher würde hier die Büchse mit der Erwägung ins Korn geworfen haben, nur ein glücklicher Zufall könne weiterführen. Diesen seien hier die Worte des Mephisto ins Gedächtnis zurükgerufen:
„Wie sich Verdienst und Glück verketten, Das fällt den Toren niemals ein.
Wenn sie den Stein der Weisen hätten, Der Weise mangelte dem Stein.“
Allerdings hat der „Zufall“ eine Rolle gespielt, eine große sogar; aber machtlos wäre dieser glückliche Umstand gewesen, wenn nicht die Polizeibehörden von Hamburg und Altona sich das Verdienst erworben hätten, einerseits ohne Eifersüchtelei — nur das Ziel im Auge — Hand in Hand miteinander zu arbeiten und sich gegenseitig jeden nur möglichen Beistand zu leisten, andererseits ihre Beamten so ausgewählt und ausgebildet zu haben, daß sie das Ergebnis eines „Zufalles“ zu einem für ihre Zwecke wert- vollen Werkzeuge mit geschickter Hand umzumodeln sehr wohl imstande sind.
Die Hamburger Polizeibehörde hatte in Erfahrung ge- bracht, daß am 24. Dezember 1901 in Altona ein gewisser Gill., ein etwa sechsundzwanzigjähriger Mann, mit einem Knaben Päderastie getrieben habe und dieserhalb in Unter- suchungshaft gebracht sei. Diese Tatsache mit dem Ver- schwinden des Albert Sch. in Verbindung zu bringen, war der Gedanke, der das über den Verbleib des Kindes herr- schende Dunkel aufhellen sollte.
Der Hamburger Kriminalwachtmeister Renke begab sich
48 Dr. Ertel
im Auftrage seiner Behörde nach Altona, um sich über den Fall Gill. eingehend zu unterrichten. Hierauf suchte er in Hamburg den inzwischen seinen Eltern zugeführten Knaben auf, mit dem Gill. sich vergangen haben sollte.
Als er seiner ansichtig wurde, hielt er es nicht für unmöglich, daß die von der Frieda Ohrt gegebene Beschrei- bung diesen beträfe, er also den Burschen vor sich habe, der den kleinen Albert Sch. fortgeführt hätte.
Sollte sich dies bestätigen, so war des Rätsels Lösung wahrscheinlich nur dann zu finden, wenn der Knabe den Verbleib des Vermißten aufklären konnte und — wollte. Nach seinem Außern — er war ein kleines, jüdisches Kerlehen von wenig mehr als zwölf Jahren — war in ihm kaum der Darsteller einer wesentlichen, geschweige denn gar der Hauptrolle des uns interessierenden Dramas zu suchen.
Auf Befragen, ob er am letzten Sonntage den kleinen Albert Sch. vom Venusberge fortgeführt habe, bestritt er, irgend etwas von diesem Vorgange zu wissen. Als ihn dann die Frieda Ohrt als denjenigen bestimmt wieder- erkannte, an dessen Hand sie das vermißte Kind gesehen hätte, bequemte er sich dazu, einzuräumen, daß er mit dem Kinde, das ihm „nachgelaufen“ sei, allerdings bis zu den St. Pauli-Landungsbrücken gegangen sei. Was dann aus ihm geworden wäre, wollte er nicht angeben können, da — wie er zuerst behauptete — ein halberwachsener Bursche und — wie er kurz darauf angab — ein Mann mit schwarzem Vollbarte ihm den Knaben von der Hand ge- nommen und mit ihm fortgegangen sei. Da der Kriminal- beamte an keinen dieser beiden „Unbekannten“ glauben wollte, stellte der Knabe die Behauptung auf, Gill. habe ihm den kleinen Albert abgenommen und sei mit ihm nach Altona gegangen, er vermute, daß Gill. das Kind ermordet und die Leiche vergraben habe.
Bei seiner Vorführung beim Amtsrichter zum Zwecke
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der Entscheidung, ob er in Untersuchungshaft zu nehmen sei, stellte er den Sachverhalt so dar, als ob Gill. mit der ganzen Angelegenheit nichts zu tun, sondern er selbst das Kind verloren und von seinem Verbleibe keine Kenntnis habe. Für den erfahrenen Kriminalisten konnte sonach kein Zweifel darüber bestehen, daß der Junge über Albert Sch. jedenfalls mehr wußte, als ihm bislang aus- zusagen beliebt hatte.
Das Kind war nun seit acht Tagen verschwunden. Trotz eifrigster Nachforschungen gelang es nicht, es den be: klagenswerten Eltern zurückzugeben oder ihnen doch wenigstens Gewißheit über sein Schicksal zu schaffen. Sonach mußte schon mit der Wahrscheinlichkeit gerechnet werden, daß es sich um ein Verbrechen schwerster Art handle. |
In wem sollte man nun den Täter suchen? In dem kleinen kaum strafmündigen Knaben, der überdies noch einer Rasse entstammte, die festgestelltermaßen nur sehr selten gegen Leib und Leben der Mitmenschen frevelt, oder in Gill.?!
Gill. war damals 26 Jahre alt, heruntergekommen, mehrfach vorbestraft und hatte inzwischen dem Altonaer Richter sein knabenschänderisches Vergehen eingeräumt. Belastend waren für ihn der Umstand, daß er ein Beil in Besitz hatte, und in erster Linie die Tatsache, daß man in einem Beinkleide, das er unter einem anderen verborgen trug, Blutflecken gefunden hatte. Überdies hatte es noch den Anschein, als ob besonders blutreiche Stücke aus dieser Hose absichtlich herausgerissen und die aufgefundenen Blutflecken nur aus Unachtsamkeit in dem Kleidungsstücke verblieben wären.
Gill. bestritt jegliche Schuld in bezug auf das Ver- schwinden des kleinen Albert Sch. Das Beil wollte er nur zum Spalten von Holz benutzt haben. — Die Flecken
sollten von Pferdeblut herrühren. Er sei früher bei einem Der Pitaval der Gegenwart. II. 4
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Roßschlachter bedienstet gewesen und habe hierbei das Beinkleid mit solchem Blute besudelt. Hier mußte der Chemiker zurate gezogen werden. Die Untersuchung war um so schwieriger, als es sich um ältere Flecken handelte. |
Wenden wir inzwischen unsere Aufmerksamkeit dem Knaben zu, der von der Frieda Ohrt rekognosziert worden ist!
Nach Ansicht des Amtsrichters bestand gegen ihn so dringender Verdacht, den Albert Sch. ermordet zu haben, daß er gegen ihn einen Haftbefehl erließ. Infolgedessen wurde er ın Untersuchungshaft genommen.
Dieser Knabe, der mit Salm. bezeichnet werden soll, ist am 21. April 1889 in Hamburg als der Sohn jüdischer Eltern geboren. Sein Vater war Buchbinder und verdiente 21 Mark wöchentlich; außerdem flossen ihm noch mancher- lei Unterstützungen zu, wie Schulgeld, Kleider für die Kinder, Beisteuer zur Miete usw., so daß sein Ein- kommen zum Unterhalte seiner Familie völlig ausgereicht hätte.
Bein uns ausschließlich interessierender ältester Sohn
[Salm.] besuchte eine orthodox -mosaische sechsklassige Realschule, die ihren Zöglingen nach erfolgreicher Be- endigung des ganzen Studienganges die Berechtigung zum einjährig-freiwilligen Militärdienst verleihen konnte. Diesen sechs Klassen gingen noch drei Vorbereitungsklassen vor- aus, in denen die Elementarkenntnisse beigebracht werden sollten.
Salm. besuchte erst die oberste dieser Vorbereitungs- klassen, da er den Lehrgang der untersten und der mit- telsten hatte wiederholen müssen. Er war also hinter seinen Altersgenosen um zwei Jahre zurückgeblieben. Hieran war nur ein höchst unregelmäßiger Schulbesuch schuld, Von Ostern 1900 bis Ostern 1901 hat er 37 Tage und von Ostern 1901 bis Weihnachten 1902 sogar 43 Tage
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den Unterricht versäumt. Über seinen Fleiß und seine Aufmerksamkeit in den Schulstunden klagten seine Lehrer micht, ebensowenig über seine Begabung, nennt ihn doch der Schuldirektor Dr. phil. G. einen „nicht unintelligenten“ Sehüler.
Ein gleich günstiges Urteil fällen in dieser Hinsicht der Untersuchungsrichter, das erkennende Gericht und der Physikus, ein scharfblickender Mann von reicher Erfahrung. Der erstere spricht von seinem „guten Unterscheidungs- vermögen“ und seiner „guten Auffassungsgabe“ und weist darauf hin, daß er beim Diktieren und Vorlesen der über seine Aussagen aufgenommenen Protokolle mehrfach auf ganz feine Nuancen im Ausdrucke hingewiesen und dem- entsprechende Veränderungen veranlaßt habe. Der Physikus nennt ihn einen „geistig aufgeweckten Knaben, der rasch auffaßt“.
Zur weiteren Charakteristik empfiehlt es sich, folgenden Passus aus dem Gutachten dieses Physikus anzuführen: „Salm. ist zum Grübeln geneigt; er kennt Tingeitangel- lieder der verschiedensten Art, und er fühlt den Beruf in sich, später als Komiker zu glänzen. Abgesehen von seiner von ihm selbst übrigens als Schweinerei und als häßlich empfundenen geschlechtlichen Verirrung kann man nicht umhin, in seinem Geplauder eine anständige Gesinnung, kindliche Gutmütigkeit und ehrliche Freude am Lernen und Wissen wahrzunehmen. Er kennt seine Stärken und Schwächen im Unterricht sehr genau; er freut sich an den guten Noten seiner Zeugnisse, und er hält die schlechten Noten nicht für falsch.“
„Ich würdet — so hat Salm. sich diesem Gutachten gegenüber geäußert — „übrigens in allen Unterrichtsgegen- ständen wohl ziemlich gut mitkommen, wenn ich den Schulunterricht nur regelmäßig besuchte. Das ist aber nicht der Fall; bald aus diesem, bald aus jenem Grunde
werde ich zu Hanse gehalten.“ 4*
52 Dr. Ertel
Dieser außergewöhnlich unregelmäßige Schulbesuch — das „Schule laufen“, wie es die Hamburger Jugend zu nennen beliebt, — hat fast ausschließlich die Mutter ver- anlaßt. Sie verwandte den Knaben zur Wartung seiner drei jüngeren Geschwister und zu allerhand anderen Hilfe- leistungen im Hause sowie zum Austragen von Bettel- briefen.
Leider war sie ihrer Pflichten als Erzieherin aber auch insofern uneingedenk, als sie ıhn vier- bis fünfmal wöchent- lich mit von ihr hierzu angekauften oder angefertigten Häkeleien, Stickereien, Bilderrahmen und ähnlichen Sachen in Häuser, in denen Dirnen wohnten, und in Wirtschaften mit „Damenbedienung“ sandte, um sie dort zu verkaufen.
Während im Süden Deutschlands das Bedienen der Gäste in den Bierstuben und auf den Kellern von „zarter Hand“ zu erfolgen pflegt, ist das im Norden in guten Wirtschaftenrechtselten. Minderwertige Kneipen mit „Damen- bedienung“ bezeichnet man bei uns als „Animierkneipen“. In solchen Schenken animieren Wirtinnen und Kell- nerinnen um die Wette die Gäste zum „Ausgeben“ von Getränken an sie und lassen sich dafür allerhand Zärt- lichkeiten gefallen. Dem splendideren Gaste wird auch ein von der allgemeinen Gaststube abgetrennter Raum — Weinzimmer genannt — geöffnet. Hier kann er sich mit der Wirtin oder einer der Kellnerinnen ganz nach seinen Wünschen und Begierden belustigen. Sie sind Brut- stätten der Unzucht, gegen die die Polizei zu ihrem Leid- wesen machtlos ist, da unsere Gesetze ihr die Hände binden. In Hamburg suchte man den Übelständen einigermaßen dadurch zu begegnen, daß nur weibliche Personen über 25 Jahren als Kellnerinnen angestellt werden dürfen. |
Solche Wirtschaften aufzusuchen war für Salm. natürlich nur dann zweckmäßig, wenn Gäste anwesend waren; denn gerade sie sollten die von ihm angebotenen Sachen für die
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nach ihnen Verlangen tragenden Frauenzimmer kaufen. Hierbei bot sich ihm recht häufig die Gelegenheit, mehr oder weniger angetrunkene Männer in den Armen lüder- Jicher Kellnerinnen anzutreffen oder sonst zweifelhafte und obszöne Situationen zu beobachten. Natürlich wurde hierdurch seine Sinnlichkeit geweckt. Nach seiner eigenen Darstellung wurde beim Anblicke dieser sich allerlei „Lie- benswürdigkeiten“ erweisenden Paare die Geschlechtslust rege. Die Erinnerung an solche Vorgänge verfolgten ihn am Tage und auch in der Nacht, wenn er sein Bett aufsuchte. In letzteren Fällen will er sich dann häufig dem Laster der Selbstbefleckung hingegeben haben.
Wenn nun die von ihm angebotenen Sächelchen nicht die Lust der Frauenzimmer erregten oder die Gäste sich nicht gewillt zeigten, den geforderten Preis — von dem er übrigens nie herunterzugehen pflegte — zu zahlen, so mußte er mehr und mehr solche Wirtschaften durch- laufen, ehe er alles verkauft hatte, was ihm seine geld- gierige Mutter zu diesem Zwecke übergeben hatte. Denn andernfalls blieben ihm Scheltworte und auch Schläge nicht erspart, So kam denn häufig die Mitternacht oder eine noch spätere Stunde heran, ehe der Knabe sich zur Ruhe begeben konnte. Am nächsten Morgen war er natürlich für die Schule nicht zu brauchen.
Die Schwägerin seiner Mutter, die mit diesen ihren Verwandten allerdings völlig zerfallen ist, hat die Vermutung ausgesprochen, daß die Mutter ihren Sohn der Schule auch häufig ganz ohne Grund ferngehalten habe.
War durch den Besuch solcher Stätten die sittliche Verwahrlosung gründlich vorbereitet, so wurde sie vollends herbeigeführt, als im Jahre 1899 seine damals vierzehn- jährige Schwester aus dem israelitischen Waisenhause, in dem sie längere Zeit aus hier nicht interessierenden Gründen untergebracht war, ins Elternhaus zurückkehrte. Sie mußte etwa sechs Monate lang mit Salm. ein Bett teilen. Nach
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seiner Darstellung hat sie ihn zu Unsittlichkeiten verführt, die sich ein- bis zweimal wöchentlich wiederholten.
Nachdem wir so einen ungefähren Eindruck davon gewonnen haben, wes Geisteskind unser Salm. ist, kehren wir zur Besprechung der weiteren Tätigkeit der Polizei und des Gerichtes zurück.
Die bisherigen Ergebnisse des Verfahrens waren, soweit das mit dem Zwecke der Untersuchung vereinbar war, der Presse bekannt gegeben und so in die breiteste Öffentlich- keit gelangt. So vorzugehen empfiehlt sich schon deswegen, weil gar nicht selten aus dem Publikum der untersuchenden Behörde Mitteilungen zugehen, die von der größten Bedeu- tung sind.
Natürlich muß neben diesem Wertvollen allerhand Törichtes mit in den Kauf genommen werden. Handelt es sich um einen Prozeß, in dem grobe Sinnlichkeit und Blut eine Rolle spielen, so wird nicht nur der Eifer der Be- völkerung, an der Sühne der Tat mitzuwirken, im höchsten Maße angestachelt, sondern gar häufig auch die Phantasie in einer Weise angeregt, daß Gespenster am hellen Tage umherzugehen scheinen. So auch vorliegendenfalls. Das Publikum konnte wie immer nicht verstehen, warum man denn nicht schnellere Fortschritte in der Aufhellung des fürchterlichen Dunkels machte. Wer in solchen Unter- suchungen nicht selbst mittätig gewesen ist, ahnt gar nicht, welche außerordentlichen Schwierigkeiten sich den Unter- suchenden sehr häufig entgegentürmen. Und je weniger die Menge eine Aufgabe versteht, desto leichter pflegt ihr deren Lösung zu erscheinen.
So brach ein Anonymus darüber in Wut aus, daß man noch immer nach der Leiche des Albert Sch. suchte und sogar schließlich für die Herbeischaffung eine Prämie von 200 Mark aussetzte; denn er wollte ja dabei gewesen sein, wie sie schon vor längerer Zeit aus der Elbe gefischt worden sei.
Ein ehrsames Schneiderlein, das entweder einem Lügen-
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maule oder einem „Geisterseher“ aufgesessen ist, schreibt am 3. Januar 1902 an einen Redakteur in Wandsbek fol- gende Postkarte: „Sie schreiben in Ihrem Blatte immer noch, daß der verschwundene Knabe noch nicht gefunden ist. Ich habe schon Dienstagmittag gehört von einem, der es gesehen hat, wo der Knabe weggebracht wurde, daß er gefunden wurde mit abgeschnittenem Kopf.“
Neben vielen, vielen ganz wertlosen Mitteilungen, die nur den Polizeibeamten und der Staatsanwaltschaft ihre Aufgabe erschwerten, da sie — wenn sie nicht den Stempel der Albernheit schon an der Stirn trugen — geprüft werden mußten, ‚befand sich eine, die von der allergrößten Bedeu- tung sein konnte.
Der zwölfjäbrige Schüler Zieler hatte am 22. Dezember 1904 um halb 12 Uhr mittags ungefähr — also um die Zeit des Verschwindens des Albert Sch. — „einen dreizehnjährigen Knaben gesehen, wie derselbe einen kleinen, dreijährigen Knaben bei sich hatte und die Richtung in den Hof No. 27 in der Hafenstraße nahm.“ |
Dieser Hof No. 27 liegt westlich — also in der Richtung nach Altona zu — etwa 60 m von den erwähnten St. Pauli- Landungsbrücken zwischen der hier ansteigenden Hafen- straße, einer wichtigen Verkehrsader, und der Elbe. Er besteht aus mehreren größeren und kleineren Höfen, an denen sich eine größere Anzahl von Lagerhäusern befindet. Sie dienen fast ausschließlich dem Fellhandel. Früher stand dort eine englische Schlachterei, weshalb der Ort im Volke noch heute Schlachterhof genannt wird.
Von der Hafenstraße führt eine Treppe von 16 Stufen an den schmalen Eingang des Schlachterhofes. Wenn man in ibn eintritt, hat man einen 73 Schritte langen, nicht breiten Gang vor sich. Er führt an eine achtstufige Treppe, diein den Elbstrom hineingebautist. Von diesem langenGange biegt nach etwa 20 Schritten ein etwas schmälerer nach rechts ab, auf dessen linker Seite zwei Sackgäßchen münden.
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Wohl infolge des Umbaues der ehemaligen Schlachterei für ihren jetzigen Zweck ist die ganze Anlage ungewöhn- lich verbaut, so daß nicht wenige heimliche Gänge und verborgene Winkel dort zu finden sind.
Awu 22. Dezember 1901 — einem Sonntage — wurde hier nicht gearbeitet, das Weihnachtsgeschäft konnte bei der derzeitigen Bestimmung der Anlage hierin keine Än- derung fordern. Der Hof war menschenleer. Mehrere der kleinen Höfe sind durch die sie umgebenden Speicher gegen das pulsierende Leben auf der Hafenstraße völlig abgespertt, so daß von der Straße aus nicht gesehen werden kann, was in den Höfen vorgeht.
Für diejenigen Leser, die Hamburg noch aus früherer Zeit kennen, wird es die Belegenheit des Ortes klarer dar- stellen, wenn sie erfahren, daß der Schlachterhof nach Altona zu sich unmittelbar an den Hof anschließt, durch den man früher (etwa in den siebziger Jahren) schritt, um die ehe- maligen großen Dampfer der Hamburg-Amerikanischen Paketfahrtaktiengesellschaft zu besichtigen.
Ort und Zeit wären sonach für die Begehung eines Verbrechens recht günstig gewesen. Die Feststellung, daß Salm. und Albert Sch. die von Zieler gesehenen in die Rich- tung nach der abgelegenen Stelle gehenden Kinder gewesen seien, hätte den gegen Salm. bereits bestehenden Verdacht ungemein vermehrt, ohne andererseits den gegen Gill. be- stehenden dadurch abzuschwächen, denn daß beide ein- ander sehr wohl kannten und sogar Umgang miteinander gehabt hatten, stand ja fest; und die Vermutung lag gewiß nicht fern, daß Salm. im Schlachterhofe von Gill. erwartet wurde. Erschien es doch immer noch viel wahrscheinlicher, - daß Salm. bei dem Verbrechen — vorausgesetzt, daß ein solches überhaupt vorlag, — nur als Gehilfe oder als Mit- täter des Gill. in untergeordneter Weise mitgewirkt hätte, als daß er allein schwerste Schuld auf sich geladen haben sollte!
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Salm. wurde nun in den Schlachterhof geführt. Er räumte ein, mit dem Knaben hier gewesen und mit ihm an einer von ihm näher bezeichneten Stelle „Schweinerei“ getrieben zu haben. Hierauf sei er mit ihm an die Treppe, die in die Elbe führt, gegangen; das Kind habe sich vorn- über gebeugt, um nach den dort liegenden Schiffen zu sehen, habe das Gleichgewicht verloren und sei ins Wasser gefallen. Hierüber aufs höchste bestürzt, sei er fortgelaufen, ohne irgend etwas zur Rettung des Ertrinkenden zu tun.
War nun dieser Darstellung des als verlogen bereits erkannten Salm. Glauben zu schenken? Und wenn man es nicht wollte, wie konnten bei dieser Sachlage die wahren Begebenheiten festgestellt werden? —
Inzwischen hatte sich herausgestellt, daß das Beil, das bei Gill. gefunden war, von ihm zum Holzspalten verwendet zu werden pflegte, und daß sich an dem Werkzeuge keinerlei verdächtige Spuren befanden.
Auch die ihn so stark belastenden Blutspuren an der Hose verloren ihren mysteriösen Charakter, nachdem der Chemiker sie als unzweifelhaft nicht von Menschenblut herrührend bezeichnet hatte. Diese Belastungsmomente waren also beseitigt, und es war zweifelhaft geworden, ob Gill. irgend etwas über das rätselhafte Verschwinden des Kindes zu bekunden imstande war. Eine Aufklärung dieses Vorganges war sonach in erster Linie aus dem Munde des Salm. zu erwarten.
Diesen zu öffnen war dem Untersuchungsrichter vor- behalten, einem äußerst gewissenhaften und zu diesem Amte hervorragend befähigten Manne. Seine Aufgabe war schwer insofern, als er sich sorgfältigst hüten mußte, in den Salm. etwas „hineinzufragen“. Das war bei diesem Untersuchungs- richter um so weniger zu befürchten, als er selbst eine solche Gefahr erkannt und — wie von ihm in der Hauptverhand- lung als Zeuge bekundet worden ist — sein Augenmerk in erster Linie darauf gerichtet hatte, diese Klippe zu um-
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schiffen. Dies ist ihm auch in erfreulichster Weise ge- lungen, wie die von ihm aufgenommenen Protokolle an sehr vielen Stellen ergeben.
Seine Aufgabe war leicht insofern, als Salm. noch im Kindesalter stand und Kinder selbstredend den Ermahnungen, der Wahrheit die Ehre zu geben, ein bei weitem willigeres Ohr schenken, als abgefeimte Verbrecher, bei denen das Ehrgefühl erstorben und das Gewissen, wenn es nicht gänz- lich ertötet ist, in fafnerähnlichem kaum zu störendem Schlafe ruht. |
Wider jedes Erwarten gelang es diesem Richter, schon bei der ersten Vernehmung ein unumwundenes, außergewöhnlich eingehendes Geständniszu erlangen. Im wesentlichen ist Salm. bei dieser Darstellung auch während der ganzen Voruntersu- chung und der Hauptverhandlung verblieben. Hierdurch wurde der letzte Rest von Verdacht, der noch gegen Gill. bestand, vollkommen beseitigt.
Nach dieser glaubwürdigen Selbstbezichtigung haben sich die Vorgänge folgendermaßen abgespielt:
Am Sonntag den 22. Dezember 1901 sollte Salm. die Schule besuchen, nachdem ihn seine Mutter wieder einmal mehrere Tage hindurch daran gehindert hatte, damit er ihr mit hilfreicher Hand zur Seite stehe. In solchen Fällen stellte ihm der Vater einen Entschuldigungsschein aus, der natürlich eine Unwahrheit enthielt. Dieses Mal entschuldigte der Vater ihn mit Krankheit. Zur ordnungsmäßigen Zeit verließ Salm. die elterliche Wohnung. Seine Schritte führten ihn aber nicht zu seinen Lehrern; er trieb sich vielmehr planlos in den Straßen Hamburgs und Altonas umher. Da er während der letzten Schulversäumnis von Mitschülern auf der Straße gesehen worden war und die Lehrer den zahlreichen Entschuldigungszetteln seiner Eltern kaum noch Glauben schenkten, war es ihm peinlich, mit dem lügen- haften Zettel seines Vaters in der Schnle zu erscheinen.
Seine Streifereien führten ihn gegen elf Uhr vormittags
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auf den Venusberg. Dort traf er mit dem spielenden Albert Sch. zusammen. Der Liebreiz dieses Kindes, ins- besondere seine reiche Löckenfülle, scheint es ihm angetan zu haben. Sofort schoß ihm der Gedanke durch den Kopf, mit ihm Unsittlichkeiten zu treiben. Er forderte ihn auf, sich ihm anzuschließen und ihn auf seinem Spaziergange zu begleiten. Das Kind lehnte das ab. Als er aber mit dem Vorschlage kam, mit ihm nach dem „Dom“ zu gehen, fand er ein williges Gehör.
Unter „Dom“ versteht man in Hamburg den drei- wöchigen Weihnachtsmarkt, der auf die Jugend — und häufig auch auf recht alte „Kinder“ — eine ganz beson- dere Anziehungskraft ausübt. Zu den auch in anderen Städten üblichen Verkaufsbuden treten noch Karusselle, Hippodrome, Affen-, Floh- und Hundetheater, Stufen-, Tunnel- und Rutschbahnen — kurz alles, was großen und kleinen Kindern besonders schön zu erscheinen pflegt. Mancher gute Hamburger, der nicht will, daß seine Vater- stadt einer anderen in irgend etwas nachstehe, erblickt überdies, dank einer äußerst leistungsfähigen Phantasie, in dem Jahrmarkts- und Tingeltangeltrubel ein Analogon zum rheinischen Karneval. Die Bezeichnung rührt daher, daß dieser Markt früher um die Domkirche herum sich gruppierte. Nachdem indes dieses Gebäude im Anfang vergangenen Jahrhunderts abgetragen und seine unschätz- baren Kunstschätze in alle Winde zerstreut oder zerstört worden sind und man an. seiner Stelle das Johannis- gymnasium erbaut hat, ist der Markt auf einen dafür besser geeigneten Platz — das Heiligegeistfeld — verlegt worden. Der Name wird wohl so lange bestehen, bis der Markt einer neuen Zeitströmung zum Opfer fällt.
Als Albert Sch. nach dem „Dom“ zu folgen sich bereit erklärt hatte, nahm Salm. ihn an die Hand und führte ihn in der Richtung nach den St. Pauli-Landungsbrücken, ohne indes schon einen festen Plan entworfen zu haben,
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wo er seiner Wollust Befriedigung schaffen wollte. Als sie in die Nähe des Hafens gekommen waren, klagte der kleine Albert über Schmerzen an den Füßen; darauf setzten beide sich in einen dort stehenden Pavillon der Straßenbahn. Salm. hat sich über die Gedanken, die ihm hier kamen, folgendermaßen geäußert: „Als ich mit dem kleinen Jungen auf der Bank (im Wartepavillon) saß, fiel mir ein, daß ich in der Hafenstraße hinter den St. Pauli-Landungsbrücken einmal eine Treppe gesehen hatte, die nach dem Wasser (der Elbe) zu führte, da habe ich zu mir selbst gedacht, du willst mal mit dem Jungen da hinuntergehen und sehen, ob es da ruhig ist, und ob es sich da machen läßt, und wenn da unten Wasser ist, schmeißt du ihn nachher da hinein.“ Auf Befragen des Untersuchungsrichters, ob er die ganze Zeit über Erektionen gehabt habe, hat er erklärt: „Das hat sich. inzwischen mal gelegt und kam dann wieder.“ Nachdem die Fußschmerzen nachgelassen hatten, führte Salm. den kleinen Albert zu der zum Schlachterhofe füh- renden Treppe und stieg sie mit ihm hinunter. Dann gingen sie den 73 Schritte langen Gang bis zu dem nach rechts abzweigenden schmäleren entlang, bogen in diesen und schließlich in das erste Sackgäßchen nach links ein. Am Ende dieses Sackgäßchens befindet sich eine Treppe ‘ von sechs Stufen, die zu einem Lagerkeller führt. Diese stiegen beide hinab. Hier waren sie allen nicht in un- mittelbarer Nähe stehenden Personen völlig unsichtbar. Nun knöpfte Salm. seinem Begleiter hinten die Hose ab, hob dessen Hemd in die Höhe und führte seinen erigierten Penis an den After des kleinen Albert. Dann scheuerte er an diesem hin und her, wie er es von seiner Schwester gelernt haben wollte. Albert Sch. brach indes bald in Tränen aus, so dab Salm. es für ratsam erachtete, von weiteren Unsittlichkeiten abzusehen und ihm die Hosen wieder in Ordnung brachte. Dabei drohte das arme Kind unter Tränen, es seiner Mutter sagen zu wollen.
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Beide schlugen nun den Rückweg ein. Albert Sch. soll _ dann den Wunsch geäußert haben, an die Elbe zu gehen, um zu sehen, wo sein Vater arbeite. Demgemäß will Salm., als sie den 73 Schritte langen Gang wieder erreicht hätten, nach rechts eingebogen sein und das Kind an die acht- stufige in die Elbe gehende Treppe geführt haben.
Ob Salm. in diesem Punkte bei der reinen Wahrheit verblieben ist, gibt zu ernsten Zweifeln Anlaß; denn die Vermutung liegt ungemein nahe, daß der Weg zum Wasser auf seine Anregung eingeschlagen worden ist. Von dem Untersuchungsrichter und auch von der Richterbank in der Hauptverhandlung sind ihm wiederholt Vorhalte gemacht und Ermahnungen erteilt worden, nicht mit der Wahrheit zurückzuhalten. Er hat aber immer und immer wieder mit Nachdruck versichert, daB man ihm auch in diesem Punkte Glauben schenken könne. Ohne weiteres wird man ihn auch einer Lüge nicht zeihen können. Wie wir wissen, war ja der Vater des kleinen Albert damals auf dem Dampfer Irene, der an den nahen St. Pauli-Landungs- brücken vertäut lag, in Diensten. Als am Morgen dieses verhängnisvollen Tages der ältere Bruder zum Vater ge- sandt wurde, wollte — wie wir schon gehört haben — der jüngere ihn begleiten und dem Verbote der Mutter folgten bittere Tränen. Auch war ihm der Weg dorthin sowie die ganze Gegend gut bekannt. Schließlich könnte auch ein Erwachsener, der mit der Belegenheit des Ortes recht vertraut ist, auf die allerdings irrige Vermutung kommen, man könne von der in die Elbe führenden acht- stufigen Treppe die Landungsbrücken sehen.
Übrigens ist es nicht von allzu großer Bedeutung, bei wem der Gedanke, zu dieser Treppe zu gehen, entstanden ist. Daß das Kind dorthin etwa mit Gewalt gebracht sei, kann wohl als ausgeschlossen angesehen werden, denn anderenfalls hätte es doch geschrien und Vorübergehende auf der recht belebten Hafenstraße aufmerksam gemacht.
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Was sich nun weiter ereignete und was dabei im Innern des Frevlers vor sich ging, wollen wir aus seinem eigenen Munde hören:
„ich dachte immer daran, was nun geschehen würde, wenn der Knabe es seiner Mutter erzählte. Ich hatte große Angst. Ich habe mir, als der Junge das sagte, gleich ge- dacht, es könnten mich doch Leute wiedererkennen, die mich mit dem Jungen gesehen haben; auch muß ich häu- figer direkt auf den Venusberg gehen, da wohnt ein Mann, bei dem ich öfters für meine Mutter Geld abholen muß, [Es handelt sich um Beiträge zur Miete.]
Der Knabe ging allein; ich hatte ihn nicht an der Hand. Er stellte sich vorn [nachdem sie an die in die Elbe füh- renden Stufen gelangt waren] ganz sicher hin und sah mit dem Kopfe, den er nach vorn überbeugte, in der Richtung nach den St. Pauli-Landungsbrücken. Er stand ganz fest, und es lag keine Gefahr vor, daß er ins Wasser fiel. In dem Augenblick kam es über mich, ich gab ihm einen Schubs, und er lag drin. Ich sah das Wasser aufspritzen und lief dann weg.
Gleich als der Junge sagte, er wolle es Mama sagen, dachte ich, ich wollte ihn ins Wasser werfen. Darüber, wie ich das machen wollte, hatte ich noch nicht nach- gedacht, als der Junge auch schon sagte, er wolle ans Wasser und seinen Vater sehen. Als ich dann mit ihm den Gang ans Wasser hinunterging, dachte ich schon bei mir, wenn wir nun vorn sind, schmeiße ich ihn hinein.“
Natürlich wurde alles in Bewegung gesetzt, die Leiche aufzufinden. Konnte sie doch vielleicht Spuren aufweisen, die eine Kontrolle der Darstellung des jugendlichen Sünders ermöglichten. Je eher man sie fand, desto größer war die Möglichkeit in dieser Beziehung; mit der Zunahme der Verwesung verlor ihr Wert für die Untersuchung. Aber erst am 28. Januar 1902 wurde sie im Altonaer Hafen auf- gefischt.
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= Die Ärzte, die mit der Sektion beauftragt waren, haben sich dahin geäußert, daß der Tod durch Ertrinken einge- treten sei. Die ihnen gestellte Frage, ob die Leiche Anhalts- punkte dafür aufweise, daß päderastische Handlungen oder ein sonstiges Sittenverbrechen an dem Kinde vorgenommen worden seien, haben sie verneint.
Auf Grund dieses Tatbestandes wurde Salm. des Mordes und der Vornahme unzüchtiger Handlungen mit einer Person unter vierzehn Jahren aus den $$ 211, 176,3, 57, 74 StGB. angeklagt und diesem Antrage entsprechend das Hauptverfahren eröffnet.
Er ist wegen Mordes zu einer Gefängnisstrafe von 8 Jahren verurteilt worden.
Von der Anklage wegen Begehungen des Sittenver- brechens wurde er freigesprochen. Nach der Ansicht des erkennenden Gerichtes habe er zwar die Erkenntnis von der Verwerflichkeit seines unzüchtigen Treibens und die Überzeugung, daß die Schule, wenn sie davon Kenntnis erlangte, strafend eingreifen würde, unzweifelhaft besessen. Dagegen hat es Bedenken getragen, festzustellen, daß ihm schon bei Begehung der Tat zu vollem Bewußtsein ge- kommen sei, daß er sich auch einer gerichtlichen Strafe aussetze.
In bezug auf den Mord konnte es diese Feststellung völlig unbedenklich treffen, da ja — wie es in den Urteils- gründen ausführt — jedes nur einigermaßen geistig ent- wickelte Kind weiß‘, daß die Tötung eines Menschen mit Strafe bedroht ist.
Ob dem freisprechenden Teile des Urteils beizupflichten sei, wird nur der zu begutachten in der Lage sein, welcher zum mindesten der Hauptverhandlung beigewohnt hat. Übrigens kommt hierauf aus praktischen Gründen auch wenig an.
Die Verurteilung ist unzweifelhaft als richtig zu be- zeichnen. Gegen sie könnten Bedenken ja auch nur aus
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der Jugend des Angeklagten geschöpft werden. Bei Er- hebung der Anklage bestanden auch solche, und zwar ge- wichtigster Art; war der Knabe doch erst kurz vorher strafmündig geworden. Sie durften indes bei seinen ein- gehenden, durchaus glaubwürdigen Angaben über die seelischen Vorgänge vor und während der Tat nicht die Oberhand gewinnen. Dazu kam noch, daß er ja nach den Ansichten der berufenen Beurteiler — Lehrer, Untersuchungs- richter, Physikus [dessen Untersuchung sich vornehmlich mit seiner Geistesbeschaffenheit zu beschäftigen hatte], — ein recht intelligenter Knabe war. Denselben Eindruck muß jeder Leser der Protokolle über seine Aussagen gewinnen. Besonders bezeichnend tritt in dieser Richtung hervor, wie er nach Überwindung der kindlichen Schüchternheit seine Schutzlügen genau in den Grenzen aufstellt, die die Ver- hältnisse vorgeschrieben hatten. Jedes Mehr hätte ihnen den Stempel der völligen Unglaubwürdigkeit aufgedrückt.
Schließlich mußte seine Art der Verteidigung in der Hauptverhandlung die letzten Zweifel an seiner strafrecht- lichen Verantwortlichkeit beseitigen. Hier hat er die äußeren Vorgänge genau so geschildert wie in der Voruntersuchung. Im Widerspruche mit seiner bisherigen Darstellung hat er aber bestritten, daß er die Tat mit Überlegung ausgeführt habe. Der Gedanke, das Kind zu töten, sei ihm erst ge- kommen, als es ihm beim Antritt des Rückweges nach Beendigung der unzüchtigen Handlungen mit einer Mit- teilung an die Mutter gedroht hatte. Wie er dann am Flußufer gestanden habe, sei ihm „noch eingefallen, daß er möglicherweise mit dem Knaben gesehen worden sei, und er habe ihn darauf ins Wasser geworfen“.
Auf den Vorhalt vom Richtertische aus, daß er dem Untersuchungsrichter unumwunden eingeräumt habe, schon im Wartepavillon der Straßenbahn, also eine geraume Spanne Zeit vor Begehung der Unsittlichkeiten, den Entschluß ge- faßt zu haben, wenn es die Belegenheit des Ortes gestatte,
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das Kind ins Wasser zu werfen, bestritt er, eine solche Angabe gemacht zu haben. Auch nach Verlesung des diesen Punkt betreffenden Protokolls und nach Hinweis auf seine eigene Unterschrift verharrte er auf diesem neuen Standpunkte.
Man wird mit den Richtern den Schluß zu ekeni haben, Salm. sei in der Hauptverhandlung von der Absicht geleitet worden, die Tatsachen so darzustellen, als ob er zwar mit Vorsatz, aber nicht mit Überlegung im Sinne der §§ 211. 212 StGB. sein Verbrechen ausgeführt habe. In den Urteils- gründen wird dazu bemerkt, daß der Angeklagte über die Bedeutung dieses Umstandes durch die Voruntersuchung und die Anklageschrift aufgeklärt worden sei.
Auch wenn man annimmt, daß er nicht nur aus diesen beiden Quellen geschöpft habe, sondern daß er von Er- wachsenen wiederholt und eingehend hierüber unterrichtet worden sei, so ist es im höchsten Maße erstaunlich, daß er diese Lehren über ein nicht einfaches Thema so gründlich erfaßt und so vollkommen verarbeitet hat, daß er sie ın der Hauptverhandlung mit vollkommener Sicherheit ver- werten konnte.
Für die Leser, die sich nicht mit juristischen Studien beschäftigt haben, sei zum besseren Verständnisse des Vor- stehenden auf den Unterschied zwischen Mord und Totschlag kurz hingewiesen. Der Mann, der die Geliebte unvermutet in den Armen eines anderen antrifft und diesen ohne weiteres tot niederstreckt, begehtim Zweifel nur einen Totschlag [der höch- stens mit 15 Jahren Zuchthaus bestraft wird, $ 212 StGB.]. Tritt zu dem Vorsatze der Tötung noch die Überlegung hinzu, die die Folgen der Tat sorgfältigst prüft und nach allen Richtungen hin reiflich erwägt, so ist der Tatbestand des Mordes gegeben. Der Mann, der die Geliebte unvermutet in den Armen eines anderen antrifft, den Überraschten aber zunächst Zeit läßt und die Möglichkeit gibt, ihre Tat zu verteidigen, dann Belastung und Entlastung gegeneinander
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abwägend sich zur Tötung entschließt und sie wohlüber- legt ausführt, ist ein Mörder [der gemäß $ 211 StGB. zum Tode zu verurteilen ist. Don Cesar in der „Braut von Messina“, der den Don Manuel und Beatrice in der Um- armung antrıfft und den Bruder mit dem Dolche tötet, begeht nur einen Totschlag, Wilhelm Tell dagegen begeht an Geßler und Johann Parricida an Albrecht I. Mord.
Ich könnte hiermit die Darstellung dieses höchst eigen- artigen Rechtsfalles schließen. Es scheint mir indes für manchen Leser nicht ohne Interesse, zu erfahren, wie die vollendete Tat und der Aufenthalt im n Gefängnis auf den Täter gewirkt haben.
Unmittelbar nach der Tat hat ihn offenbar keine Reue er- griffen. Bei seiner zweiten Vernehmung vor dem Untersu- chungsrichter hat er sich folgendermaßen geäußert: „Als ich den Jungen ins Wasser geworfen hatte, ist mir gar nicht der Gedanke gekommen, schnell die kleine Treppe hinunterzugehen, ob ich ihn noch retten konnte; ich lief weg.“
Sodann sorgte er zunächst für sein leibliches Wohl, indem er eine jüdische Armenanstalt aufsuchte und sich dort ein Mittagsmahl vorsetzen ließ. Dieses verzehrte er mit dem bei ıhm üblichen vortrefflichen Appetit.
Hierauf begab er sich nach dem Heiligengeistfeld um sich den Vergnügungen des „Doms“ nach Möglichkeit hinzugeben. Zuerst zog er planlos in den Budenstraßen umher. Gegen drei Uhr nachmittags traf er mit dem ıhm bis dahin unbekannten Gill. zusammen, der als Gehilfe in einer Bude angestellt war, in der nach bewegten Puppen mit großen Bällen geworfen wurde. Teils zum Aufheben der Bälle, teils zum Bewegen der Puppen bedient man sich der Hilfe eines Knaben. An die Stelle des hierzu Bestellten, der nicht kam, trat Salm. und versah seinen Dienst zu vollster Zufriedenheit. Nach der Schilderung des Eigen-
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tümers dieser Bude war er dabei „ganz RER und machte sogar noch allerlei Unsinn“.
Salm. will den ganzen Nachmittag an seine Tate gar nicht mehr gedacht haben. Das ist indes nicht ganz richtig; in dieser Beziehung hat ihn sein sonst so gutes Gedächtnis im Stich gelassen. Denn aus dem Munde Gill.s wissen wir, daß er im Laufe dieses Nachmittags gesprächsweise die Frage an ihn gerichtet hat: „Wenn ich in Hamburg etwas getan habe und ich laufe nach Altona, dann können sie mir doch nichts tun?“ Von der Tat selber hat er dem Gill. niemals eine Andeutung gemacht.
Als um Mitternacht das Jahrmarktstreiben sein Ende erreichte, forderte Gill. seinen neuen Gehilfen auf, mit nach seiner Wohnung in Altona zu kommen. Salm. ging darauf mit Freuden ein, denn er traute sich nicht, in die Wohnung der Eltern zurückzukehren, von der er sich ja den ganzen Nachmittag ohne Erlaubnis ferngehalten hatte.
Die Nacht brachten beide in einer Werkstatt auf einem mit Heu oder Stroh gefüllten Sacke zu. Gill. hat, bald nachdem sie an dieser Schlafstelle angekommen waren, und zum zweiten Male gegen Morgen seinen Penis in den After des Knaben eingeführt und bis zu seiner Befriedigung beischlafähnliche Bewegungen vollführt.
Nach der Ansicht von Gill. seien derartige Geschlechts- verirrungen dem Kinde noch fremd gewesen; es habe auch keinen Geschmack daran gefunden, sondern nur ruhig mit sich geschehen lassen, was er von ihm verlangt habe: Die ärztliche Untersuchung des Salm. spricht nicht dagegen.
Nach der Vornahme der ersten päderastischen Handlung will Salm. sich wieder seines Verbrechens erinnert haben. Dabei seien ihm alle Zweifel darüber geschwunden, dab er bestraft werden würde. Von der Art der Strafe habe er sich indes kein klares Bild machen können.
Als am nächsten Tage Salm. wieder seinen Dienst in der Puppenbude antreten wollte, schickte ihn der Eigen-
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tümer weg. Er hatte nämlich schon vordem bei Gill. eine besondere Neigung beobachtet, sich mit Knahen abzugeben. Die am Sonntage zwischen diesem und dem kleinen Salm. plötzlich entstandene Intimität, die ihm nicht ent- gangen war, brachte ihn zu dem Entschlusse, die beiden voneinander zu trennen. Er konnte ihn aber nur in sehr beschränktem Maße ausführen, da Salm. ganz in der Nähe seiner Bude als Orgeldreher Beschäftigung fand. |
Als der „Dom“ an diesem Montage zu Ende war, sah er Gill. und Salm. zusammen die Richtung nach der Schlaf- stelle des ersteren einschlagen und dann in Altona in eine Wirtschaft einkehren. Er teilte einem Schutzmanne seine Beobachtungen mit, der darauf beide auf eine Polizeiwache brachte. Am nächsten Tage (Dienstag, den 24. Dezember 1901) kam Gill. in Untersuchungshaft, während der Knabe seinen Eltern zugeführt wurde.
Hier verblieb er bis zum 29. Dezember 1901, wo seine Versetzung in Untersuchungshaft erfolgte. Er scheint sich während dieser sechs Tage so benommen zu haben, als wenn nichts Besonderes sich ereignet hätte. Die Mutter hat bekundet: „Weihnachten ist er ganz vergnügt gewesen.“
Auch während seines Aufenthaltes im Untersuchungsge- fängnisse ist nichts zu verzeichnen, aus dem auf aufrichtige Reue zu schließen wäre. Mit dem Physikus „plaudert er (dort) in kindlicher und freimütiger Weise über. seine und seiner Familie Angelegenheiten; durch seine Inhaftierung zeigt er sich in keiner Weise bedrückt.* Dem Unter- suchungsrichter hat er allerdings beteuert, daß es ihn schmerze, das Kind ins Wasser geworfen zu haben. Aber sehr tief scheint ihm dieser Kummer nicht gegangen zu sein; denn unmittelbar darauf rühmt er seinen guten Appetit und freut sich seines vortrefflichen Schlafes.
In seinen Briefen, die er aus dem Untersuchungs- gefängnisse an seine Verwandten schickt, tut er des Ver- brechens nur in einem Falle Erwähnung. Er erzählt ihnen
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lieber von den Strümpfen und Stiefeln, die er vom Ober- inspektor „geschenkt“ erhalten habe, von den Speisen, die ihm gereicht werden und die seinen vollen Beifall finden. Mit offensichtlichem Stolze berichtet er von dem Gelde, das er durch seiner Hände Arbeit im Gefängnis erworben, und für das er sich natürlich Nahrungsmittel — Butter, Schmalz — kaufen will.
- Erst als ihm die Anklageschrift zugestellt wird, berührt er im nächsten Briefe seine Tat und zwar in äußerst be- zeichnender Weise, indem er die ganze Verantwortung seiner Mutter zuwälzt. („Das kommt davon, wenn du mich immer zu Hause behältst.‘“)
Seit etwa 2'/ Jahren ist er nun im Gefängnis. Alle jugendlichen Verbrecher werden hier in Einzelhaft gehalten. Nur während des Schulunterrichts, der ihnen in sehr gründ- licher Weise erteilt wird, und dem sie naturgemäß in der Regel mit größerem Interesse folgen als in Freiheit be- findliche Kinder — unterbricht er doch die Eintönigkeit des Gefängnislebens! —, kommen sie mit anderen jugend- lichen Missetätern zusammen. Die Arbeitszeit, die die Schule ihnen freiläßt, haben sie auf Handarbeiten, wie Kleben von Tüten, Flechten von Matten u. a., zu verwenden. Aufgabe der Geistlichen und Lehrer der Anstalt ist es besonders auch, auf das Seelenleben dieser beklagenswerten Kinder einzuwirken.
Ist bislang bei Salm. eine Wendung zum Besseren ein- getreten? Keiner der Erzieher und der sonstigen Gefängnis- beamten hat diese Frage ohne starke Einschränkungen zu bejahen gewagt.
Nach den Briefen, die er an seine Familienmitglieder richtet, behagt ihm der Aufenthalt in der Anstalt. Natürlich laufen Klagen über Langeweile mit unter.
Jetzt kommt er auch häufiger auf sein Verbrechen zurück und spricht von seiner tiefen Reue darüber, daß er das Kindehen ermordet und hierdurch dessen Eltern
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und seine eigenen in so tiefe Trauer versetzt habe. Aber die Worte ähneln denen, die Erzieber anzuwenden pflegen, wenn sie Sündern ins Gewissen reden. Ist es nur ein wesenloses Echo oder klingen dabei eigene Herztöne mit?
Hoffen wir das letztere! Möge Salm. dereinst geläutert
und als ein dauernd Gebesserter das Gefängnis verlassen!
Möge es der Zucht und Erziehung gelingen, ihn als nütz- liches Mitglied der menschlichen Gesellschaft wieder zu- zuführen!
Die Geschichte eines ungarischen Hochstaplers.
Von Stadthauptmann Dr. Sárkány in Pecs (Fünfkirchen).
Die folgenden Zeilen machen uns mit Ignaz Straßnoff bekannt, einem der raffiniertesten Hochstapler, der sich auch der falschen Namen Ladislaus Inezedy, Max Straßnoff, Ignäz Scendrei, Géza Vertessy, Alexander Bölönyi, Anton Gergely, Graf Aladár Porcia, Louis Bengei de Erdöbenye bediente. In der Wahl seiner Mittel war kaum jemand erfinderischer als er; staunenswert sind die mannigfachen Werkzeuge, mittels welcher er in möglichst sicherer Weise seine Betrügereien ausführt. Schon in früher Jugend macht er als natürliche Folge der Verübung verschiedener Diebstähle die Bekanntschaft mit der Polizei und dem Strafgerichte und, zum Manne herangereift, figuriert er fast ständig in den Polizeiberichten.
Sein „Handwerk“ mit kleineren Diebstählen beginnend, wird er bald ein Meister im Betrügen. Mit weltmännischen Allüren ausgestattet, verkehrt er in den Kaffeehäusern, raucht mit vornehmer Nonchalance, auf dem Divan hingestreckt, seine Havanna. Sein vertrauenerweckendes Äußere ermöglicht die Bekanntschaft mit geistlichen und weltlichen Würdenträgern; er stattet ihnen Besuche ab, läßt sich von ihnen bewirten und fühlt sich bei ihnen wie zu Hause. Das Geld wirft er mit vollen Händen hinaus und ist überall zu sehen, wo die Jeunesse dorée verkehrt.
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Während sich seine Geschwister durch ehrliche Arbeit und Talent einen Namen erwerben (sein Bruder ist ein berübmter ungarischer Theaterdirektor), wird er zu einer jener Existenzen, deren Erwerb die Hochstapelei, deren Einkommen die Leichtgläubigkeit der Mitmenschen und deren einziges Werkzeug Schlauheit und List ist.
Im Wirbel der Großstadt findet man zahllose solcher Existenzen, sind doch die Erfordernisse dazu nicht sehr komplizierter Natur: gut gebügelte Kleider, ein wenig Großtuerei oder Kriecherei, ein gutes Mundwerk, Ver- wegenheit und Gewandtheit. Solchen Individuen fallen leichtgläubige Menschen so leicht zum Opfer; ehe sie es ahnen, sind sie gerupft. Auch Straßnoff lebte, wenn er nicht zufällig im Kerker saß, von solchen Gaunerstreichen auf freiem Fuße wie ein kleiner König.
Ignaz Straßnoff, im Jahre 1868 in Mátészalka (Ungarn) geboren, stammt aus einer höchst anständigen Familie, bei welcher von erblicher Belastung nicht die Rede sein kann. Sein Vater war ein armer Privatbeamter, dessen einziges Streben dahin ging, seine Söhne etwas lernen lassen und sie zu ehrlichen Menschen zu erziehen. Auch Ignaz Straßnoff besuchte die Elementarschule und absolvierte vier Klassen des Gymnasiums. Da die Schuldisziplin ihm aber unerträglich wurde, wurde er in Budapest Handlungs- kommis. Hier verübt er im März 1886 sein erstes „Stückchen“, indem er in einer Tabaktrafik Zigarren, Stempel und Billetts stiehlt, und wird dafür mit einem zweiwöchigen Freiheitsverluste bestraft.
Schon nach einigen Monaten begegnen wir ihm wieder im Verhandlungssaale des Gerichtshofes. Mit seinem älteren Bruder, der in Budapest Schauspieler war, besuchte er öfters die Bühne, die Garderobe und die Schneiderwerk- stätte und wurde dadurch mit den Schauspielern und mit
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den Mysterien der Bühnenwelt bekannt. Seine Beobach- tungen ließ er selbstverständlich nicht unbenützt und die Schneider des „National-Theaters“ und des „Volkstheaters“ beklagten bald, seine Bekanntschaft gemacht zu haben, denn er stahl beiden ihre wertvollen goldenen Uhren. Das daraus gelöste Geld vergeudete er in verschiedenen Kaffeehäusern. Dann besuchte er das „Café Budapest“ und ließ in einem gelegenen Augenblicke die Billardbälle mitgehen, um durch Verwertung derselben sich von neuem Geld zu verschaffen. Da er in Erfahrung gebracht hatte, wie die Schauspieler in den verschiedenen Theatern sich Freiplätze zu verschaffen pflegten, so wandte er ein ähn- liches Verfahren an und erreichte durch Empfehlungs- schreiben, auf welchen die Namen der berühmtesten Schau- spieler gefälscht waren, daß fast alle Theater für jeden "Abend ihm Billetts zu Logen oder Sperrsitzen zur Ver- fügung stellten. Diese Karten verkaufte er selbstverständ- lich zu „ermäßigten Preisen“ durch einen eigens dazu engagierten Agenten. Für diese Schwindeleien wurde er im September 1887 zu zweimonatigem Arreste verurteilt.
Nach seiner Freilassung ernährte er sich wohl zumeist durch unentdeckte Straffälle, bis ihn 1888 folgendes bei den Gerichten wieder in Erinnerung brachte. Ein Be- kannter, der ihm gestattete, in seiner Wohnung zu über- nachten, büßte diese edle Tat dadurch, daß Straßnoff ihm aus der Tasche 200 Kronen stahl. Um im Falle einer Anzeige nicht allein wegen einer solchen Kleinigkeit zur Rechenschaft gezogen zu werden, versteckte er sich eines Tages im „Handels-Museum“, wartete dort, bis die Wächter ihren Platz verlassen, öffnete gewaltsam einige Kasten, nahm Uhren im Werte von mehr als 1000 Kronen mit, schloß das Tor mit dem aus dem Zimmer des Portiers gestohlenen Schlüssel auf und machte einige Uhren noch an demselben Abend zu Geld. Schon eine Stunde nach dem Einbruche verzechte er das erhaltene Geld in einem
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Kaffeehause. Diese Taten trugen ihm eine 3'j2jährige Zuchthausstrafe ein. |
Als Straßnoff das Zuchthaus am 30. November 189: verließ, enthielt sein Entlassungsschreiben folgende Charakte- ristik: „Die Last seiner Strafe drückte ihn nicht sehr. Es scheint, daß er seinen Leichtsinn noch nicht abgestreift hat; er ist ein Mensch, den die äußeren Einflüsse be- herrschen. Dieser Umstand kann für seine Zukunft leicht verhängnisvoll werden; jedoch ist es zu hoffen, daß günstig veränderte Lebensverhältnisse, die Erinnerung an die ausgestandenen Leiden und seine höhere Intelligenz ihn vor einem Rückfall schützen werden.“ |
Nach seiner Freilassung gelang es ihm, in der Admini- stration des „Magyar Hirlap“ als Kassierer unterzukommen. Bereits in den ersten zehn Tagen führte er dreizehn Betrüge- reien und Veruntreuungen aus, indem er eine Menge saldierter ° Rechnungen, deren Beträge er von den Schuldnern ein- kassierte, in duplo ausstellte und das Duplikat mit der Be- merkung seinem Chef übergab, daß die Schuldner erst im künftigen Monate ihrer Zahlungsverpflichtung nachkommen würden. Das auf diese Art gewonnene Geld verpraßte er so rasch, daß er aus dem Hotel, in welchem er mit einer Prostituierten die Nacht verbracht hatte, fliehen mußte, denn es fehlte ihm nicht nur an Geld für die Hotel- rechnung, sondern er kann nicht einmal das Mädchen ab- lohnen, obwohl er mit ihr am Abend vorher in einem hoch- eleganten zweispännigen Wagen im Hotel angekommen war!
Der königl. Gerichtshof in Budapest verurteilte ihn für diese Leistungen zu drei Jahren Zuchthaus. Als ihn die Direktion des Bezirksgefängnisses am 15. August 1895 wieder seiner Wege ziehen ließ, gab sie ihm folgende Be- merkung mit: „Er verläßt jetzt nicht zum letztenmal das - Gefängnis!“
Der Beamte, der dies geschrieben, hat Recht behalten! Schon unter den Augen desselben hatte Straßnoff eine
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neue Bestrafung vorbereitet. Er war ım Zuchthause zu Kanzleiarbeiten verwendet und erwies sich dadurch dank- bar, daß er die ihm anvertrauten Sträflingsmatrikel und Kassajournale fälschte und sich auf diese Weise 20 Kronen zu erschwindeln versuchte. Sein Lohn hierfür war eine weitere Zuchthausstrafe von einem Jahr. Kaum entlassen, vertauscht er die Sträflingskleider mit einer glänzenden Husarenoffiziersuniform und läßt den Säbel selbstbewußt auf dem Pflaster der Straßen von Budapest klirren. Zu der Uniform kommt er, wie gewöhnt, durch Betrug. Er schwindelt einem Schneider vor, daß er sich als Husaren- oberleutnant der Reserve bei der Militärbehörde zu melden und seine Uniform auf der Reise verloren habe; mit der geborgten Uniform wolle er sich auch „seiner Braut vor- stellen“. Statt dessen stellt er sich dem Budapester Seil- warenfabrikanten H. als Husarenoberleutnant Ladislaus Inezedy vor und übergibt ihm eine vom Brigadekomman- danten unterzeichnete Anweisung auf 1200 Stück Pferde- halfter, auf die ihm der Fabrikant 70 Kronen Provision gibt. Kurz darauf teilt er dem armen Seilhändler tele- pbonisch mit, daß er die Bestellung in Schwebe halten soll, bis er die Muster zugestellt erhielte. Dies Gespräch wird zum Verräter, denn während desselben wird das Telephon ausgeschaltet, und der Seilhändler läßt sich, um zu melden, daß er in diesem Falle den Termin nicht ein- halten könne, mit der Husarenkaserne verbinden, wo man natürlich weder von einer Bestellung, noch von einem Oberleutnant Ladislaus Inezedy etwas weiß. Straßnoff, nicht ahnend, daß der Seilwarenfabrikant die Wahrheit so rasch erfahren habe, geht am folgenden Tage mit größter Gemütlichkeit und Kaltblütigkeit wieder in das Geschäft, um eine neue Bestellung zu machen. Hier wird er auf der Tat verhaftet, und die Polizei stellt nun fest, daß er die Uniform auch dazu benützte, um mit einer Visitkarte des Husarenoberleutnants Grafen A. P. dem Oberkeliner
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eines Kaffeehauses Geld zu entlocken. Diese Straftaten ahndet der Budapester königl. Gerichtshof mit einem Jahr und neun Monaten Zuchthaus, die er bis zum 16. März 1898 verbüßt. | E
Schon am 14. April desselben Jahres begeht er einen neuen Betrug. Er hatte im Gefängnis erfahren, daß der evangelische Seelsorger A. G. seine Bücher auf Raten- abzahlung zu kaufen pflegte, und geht daher in die Buch- handlung des F. Sch., stellt sich dort als A. G., Seelsorger des Landes-Zentralgefängnisses, vor und bestellt auf monat- liche Ratenzahlung ein komplettes Lexikon, das er in seine Wohnung schicken läßt. Den folgenden Tag betrügt er auf dieselbe Weise den Buchhändler S. W., von dem er unter denselben Bedingungen 224 Bände Romane ankauft. Die Bücher nimmt er in seiner Wohnung entgegen und verkauft sie sofort an einen Antiquar. F. Sch. erfährt bald von dem Geistlichen, daß er das Opfer eines Betruges geworden, und erkennt in der Photographie des kaum vor einem Monat aus dem Gefängnis entlassenen Straßnoff sofort den Betrüger und erstattet die Anzeige. Die könig- liche Kurie verurteilte Straßnoff für diese Delikte zu zwei Jahren Zuchthaus, jedoch nicht wegen Privaturkunden- fälschung, sondern wegen des Betruges, und zwar „weil Ignaz Straßnoff sich den Buchhändlern gegenüber für einen Geistlichen, also für einen solchen Mann ausgab, dem die Buchhändler unbedingt das Vertrauen schenken konnten, daß er, wenn er Bücher auf Kredit kauft, sie auch bezahlen wird, ferner in Erwägung, daß der An- geklagte die Kaufleute mit der Vorspiegelung seiner Zahlungsfähigkeit dazu bewog, ihm Bücher von größerem. Wert zu kreditieren, daß er also sein Ziel, sich bewußt unberechtigten materiellen Nutzen zu verschaffen, auch er- reichte, und weil er sich auf dem Bestellscheine als A. G., Seelsorger des Zentralgefängnisses, unterzeichnete, aber nur um die Buchhändler in ihrer Leichtgläubigkeit zu be-
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stärken, die verfälschten Bestellscheine also nicht dem Seelsorger A. G., sondern nur dem betreffenden Buch- händler gegenüber benützt wurden und so die falsche Namensunterschrift im vorliegenden Falle nicht das Objekt, sondern nur das Mittel der strafbaren Handlung war“.
Im Mai 1900 auf freien Fuß gesetzt, nimmt er die Rolle eines Gentleman an, reist nur im Coupé I. Klasse, wohnt in Hotels ersten Ranges, versteht meisterbaft Schulden zu machen, die menschlichen Schwächen auszubeuten und sich im gegebenen Augenblicke aus dem Staube zu machen. Er geht jeden Tag in anderen Anzügen neuester Mode einher; seine Hände zieren die teuersten Ringe; ohne goldene Uhr, goldene Kette und ohne Monocle zeigt er sich überhaupt nicht. Auf seinen Reisen zwischen Wien und Budapest paradiert er stets mit einem prachtvollen kalbsledernen Handkoffer und Reiseetuis, mit einem im- posanten Plaid und mit einem fashionablen Stadtpelz, im Knopfloche das blaue Band des preußischen Kronenordens. Eines Tages reiste Straßnoff in demselben Coupe mit den Fürsten von Br. und von F, die mit dem diskreten Fremden, dessen vornehme Manieren einen Mann aus der besten Gesellschaft erkennen ließen, bald ein Gespräch anknüpften. Kurz danach begannen die Herrschaften mit ihm Makao zu spielen, wobei Straßnoff zweimal die Bank, welche mehr als 2000 Kronen enthielt, einheimste. Der Hochstapler überreichte sogar den hohen Herrschaften seine Visitkarte, auf welcher unter einer fünfzackigen Krone der Name „Ludwig Bényei de Erdöbenge, kgl. Rat, Talya“ gedruckt stand und übernahm vom Fürsten von F. auch eine Bestellung auf eine größere Qualität Tokaier Ausbruch.
Bei einer anderen Gelegenheit reiste er in Offiziers- uniform nach Baden bei Wien, woselbst er durch sein elegantes Auftreten besonders im Kreise der Damenwelt allgemeines Aufsehen erregte. Hier lernte er die etwas
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bejahrte Witwe eines Wiener Seifenfabrikanten kennen welcher er so eifrig den Hof machte, daß es ihm nach dreiwöchentlichem Liebäugeln gelang, von der hingebungs: vollen Witwe, der er baldigste Verlobung in Aussicht stellte, 4000 Kronen zu erhalten. Als die Wiener Geheimpolizisten erschienen, war Straßnoff verduftet. Er verlegte nunmehr sein Hauptquartier nach Köszeg in die Königsmanöver, wo er sich als russischer Militärattache vorstellte und aus Gefälligkeit Bestellungen auf Sättel, Pferdedecken und andere Rüstzeuge übernahm. Bei dieser Gelegenheit prellte er auch den Wiener Journalisten F. St. um 100 Kronen.
Nach mehreren ähnlichen Betrügereien übersiedelt Straßnoff im Jahre 1901 nach Hamburg, wo er sein Treiben in der Gesellschaft Josef Colmers fortsetzt. Ex übernimmt hier eine Stellung in einer Buchhandlung, deren Eigentümer sich besonders mit der Verbreitung englischer, französischer und italienischer Werke befaßt und als solcher Lieferant der vielen Konsulate ist. Straßnoff kommt dadurch mit den Konsulaten in Berührung und studiert gründlich die dort herrschenden Verhältnisse Er erfährt bei einer Gelegenheit, daß der Hamburger General- konsul der Vereinigten Staaten in Paris erkrankt und ge- nötigt ist, ferne von seiner Familie mehrere Wochen in einem Hotel sich pflegen zu lassen. Straßnoff wirft sich sogleich in seinen elegantesten Anzug, besucht alle Konsuln, legt einen auf den Namen Mme. R. gefälschten Brief vor, in welchem sie mit Hinweis auf die Erkrankung ihres Gemahls dessen Kollegen bittet, bis zur Rückkehr ihres Gatten ihr mit 200 Mark aus momentaner Geldverlegen- heit zu helfen. Die meisten gehen auf den Leim und geben dem sympathischen eleganten jungen Manne den gewünschten Betrag. Dieses Stückchen erregt riesiges Aufsehen, das seinen Abschluß mit dem Verschwinden Straßnoffs fand.
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Straßnoff verlegt jetzt das Feld seiner Tätigkeit nach Amerika, wo er sieben Monate bleibt und sich angeblich als Photograph ernährt, und dann für fünf Monate nach England. Womit er diese Länder beglückt hat, ist nicht festzustellen; gewiß ist jedenfalls, daß er keine Pause ge- macht hat. Da die Sehnsucht nach Hause ihm keine Ruhe läßt, kommt er wieder nach Ungarn. Er findet dort bei seinem älteren Bruder, der inzwischen einer der hervor- ragendsten Provinztheaterdirektoren geworden war, Unter- kommen und wird in Preßburg und Ödenburg dessen Theatersekretär. Es ist wenig wahrscheinlich, daß er wäh- rend dieser Zeit ganz von ehrlichem Verdienste lebte. Schon im November 1902 siedelte er, nachdem er sich mit seiner Schwägerin entzweit hatte, ohne Geldmittel nach Wien über. Anfangs unterstützt ihn sein Bruder, doch bald genügt ihm der brüderliche Zuschuß nicht mehr, er will wieder den großen Herrn spielen; da er Geld dazu nicht hat und ar- beiten weder will noch kann, so muß er sich das Geld auf anderem Wege verschaffen. Straßnoff selbst spricht sich über sein weiteres Leben in folgender Weise aus: „Ich entschloß mich, meine materielle Lage zu verbessern, und zwar so, daß ich mir durch Irreführung ungarischer Kirchen- fürsten Geld verschaffe. Diesen Plan wollte ich in der Weise durchführen, daß ich mich den betreffenden Geist- lichen als Géza Vertessy, Ministerialrat im Ministerium des Kgl. ungarischen Hauses, vorstellte. Ich rechnete dabei darauf, daß Herr V6rtessy ihnen persönlich unbekannt war. Zu diesem Zwecke sandte ich im Monate Dezember 1902 an die Adresse des Bischofs von Nyitra (Neutra) E. B. eine mit der Unterschrift des Ministerialrates Vertessy versehene Depesche, in welcher ich ihm anzeigte, daß ich ihn be- suchen werde, und gab ihm auch den Zeitpunkt meiner Ankunft bekannt. Als ich mein Reiseziel erreichte, fuhr ich mit der mich erwartenden bischöflichen Equipage in das bischöfliche Palais, wo ich vom Sekretär empfangen
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wurde, der mich in die für mich bestimmten Wohnräume begleitete. Ich wechselte die Toilette und begab mich zum hochwürdigsten Herrn Bischof, um ihm meine Aufwartung zu machen. Von dem hohen geistlichen Herrn wurde ich sehr freundlich bewillkomnit, er nannte mich sogleich seinen Neffen, erzählte mir, daß ich sein Verwandter, sein Neffe sei. Diese angebliche Verwandtschaft berührte mich etwas unangenehm und brachte mich natürlich in Verlegenheit. Ich verbarg sie aber meisterhaft und nützte die mir ge- botene Gelegenheit aus. Der Bischof, ein 78 jähriger alter Herr, war schwerhörig, wie ich von seinem Sekretär erfuhr; im Zimmer herrschte Halbdunkel (es war gegen 5 Uhr abends), so daß er mein Gesicht nicht gut sehen konnte. Als ich hörte, daß er mich gleich seinen lieben Neffen nannte, titulierte ich ihn einfach Onkel. Als ich bemerkte. daß er mich etwas genauer musterte, sprach ich, um ihn in seinem Glauben zu bestärken, wie folgt, zu ihm: „Er- kennen Sie mich vielleicht nicht? Ich bin ja der Géza, es ist richtig, ich habe mich infolge meiner Krankheit etwas verändert...“. Als er auf die familiären Verhältnisse zu reden kam, murmelte ich leise etwas, bis er mir selbst alles erzählte und mich über diese Dinge informierte. Später antwortete ich auf seine Fragen auf Grund seiner eigenen Informationen, doch bemübte ich mich möglichst, der Unter- redung eine andere Richtung zu geben. Ich blieb drei Tage in Nyitra, selbstverständlich war ich während dieser Zeit Gast des Bischofs. Kurz vor meiner Abreise erzählte ich ihm, daß ich der gräflichen Familie von Niezesy einen Wechsel giriert habe, der laut telegraphischer Mitteilung meiner Frau fällig geworden sei; indem ich ihm versprach, ihn nach Weihnachten wieder zu besuchen, bat ich ibn. gleichzeitig, mir die nötigen 2000 Kronen zu borgen, welchem Verlangen der Bischof-Onkel ohne jedes Bedenken sofort entsprach.
Der Bischof gab mir zu Ehren auch ein Diner, bei
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welchem ich im Frackanzug und verschiedenen (selbst- redend imitierten) Orden erschien. Hier wurde ich mit dem Domberrn Grafen B. bekannt, der mich einlud, auch ihn zu besuchen. Vom Bischof erfuhr ich, daß der Graf B. auf die Stelle eines Koadjutors reflektierte, und gerade deshalb stellte ich die Sache bei meinem Besuche so dar, als ob ich davon wüßte, daß er für die vakante Stelle ausersehen sei; ich versprach ihm als Verwandter des Bischofs, die Sache möglichst zu beschleunigen. Zugleich teilte ich ihm meinen Verdruß darüber mit, daß ich dem Grafen Niezesy einen Wechsel giriert habe, der jetzt ab- gelaufen sei und den ich bezahlen müsse, ohne daß ich in Nyitra einen Bekannten habe, von dem ich mir das Geld verschaffen könnte. Ich zeigte ihm auch ein ge- fälschtes Telegramm folgenden Inhaltes vor: „Vergiß nicht, daß heute der 22. ist, leiste deinen Verpflichtungen Genüge und denke an die Folgen, Jelta“. Durch dieses Telegramm gelang es mir auch, ihn davon zu überzeugen, daß ich von der Fälligkeit des Wechsels nichts wüßte, daß mich davon erst meine Frau benachrichtigt hätte, und ich entlockte ihm auf diese Weise 5800 Kronen. Als ich das Geld eingesteckt hatte, reiste ich sofort nach Wien, wo ich mich dessen bald entledigte.“
Als Straßnoff später verhaftet wurde, wollte der wirk- liche Ministerialrat Vertessy sich überzeugen, wer eigentlich der Mann sei, der auf seinen Namen die Betrügereien aus- führte. Er besuchte ihn daher im Polizeigefängnisse und es entspann sich zwischen ihnen folgender Dialog:
— Sagen Sie nur, wie sind Sie auf den Gedanken gekommen, die Betrügereien gerade mit meinem Namen zu verüben? Ä 1
— Bitte, das sind keine Betrügereien, sondern gelun- gene Späbße.
— Das wird schon der Gerichtshof erwägen. Ant-
worten Sie nur auf meine Fragen. Der Pitaval der Gegenwart. II. 6
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— Also, es geschah so: Ich öffnete das Beamtenver- zeichnis (Staatshandbuch), und es gefiel mir unter den Namen, die ich im Ministerium a Latere vorfand, am besten der Name Vertessy.
— Und hat Sie hierbei gar kein anderes Motiv geleitet?
— Nein. Mir gefiel bloß Ihr Name. Es ist dies ein schöner wohlklingender ungarischer Name, der sich leicht in einen italienischen verwandeln läßt. Wenn ich also schon einen fremden Namen mir aneignen wollte, wählte ich jenen, der am besten klang und gewissermaßen allen imponierte.
= — Auch den Namen des Grafen Paul N iczky haben Sie so aus dem Staatshandbuch herausgeangelt?
— Gerade auf demselben Wege. Ich glaubte, daß er ein Magnat sei, der ein Amt bekleidet, also gewiß ver- schuldet ist. |
— Dabei haben Sie sich verrechnet, denn der Graf ist vermögend und lebt in sehr geordneten Verhältnissen.
— Jawohl, ich vernahm es später selbst. Aber mein Gott, der Mensch irrt sich halt so oft.
Nachdem es ihm in Nyitra gelungen war, von den dortigen Kirchenfürsten Geld herauszulocken, ermutigte ihn dieser Erfolg und verleitete ihn dazu, auf ähnliche Weise auch anderswo sein Glück zu versuchen. Er ersah als nächstes Opfer Dr. W. J., den Bischof von Steinamanger. An diesen richtete er am 5. Januar 1903 aus Wien die folgende Depesche: „Seiner Exzellenz Dr. W. J. Bischof, Steinamanger. Komme in wichtiger Angelegenheit Nach- mittag um 2 Uhr 22 Minuten. (Diskretion). Vertessy, Mi- nisterialrat.“ — Dr. W. J. hatte den echten Vertessy nur einmal gesehen, als derselbe bei seiner Eidesleistung als Bischof assistierte, so daß er, als der falsche Vertessy ankam, sich seines Aussehens nicht mehr erinnerte und seinen Irrtum nicht bemerkte. Er empfing den Gast sehr herzlich und stellte ihm in der bischöflichen Residenz mehrere Zimmer
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zur Verfügung. Straßnoff, der vom Bischof zu Nyitra er- fahren hatte, daß Dr. W. J. für das vakante Stallum in Großwardein auserkoren war, stellte die Sache derart vor, als ob er davon auf amtlichem Wege Kenntnis und sein Kommen den Zweck habe, den Bischof dazu zu bewegen, ein Gesuch an zuständiger Stelle einzureichen. Als Dr. W. J. aber dazu nicht zu bewegen war, weil er sein Bistum nicht verlassen wollte, schlug Straßnoff andere Saiten an, zog die. Notabilitäten des Komitates in das Gespräch und gab vor, daß er auch beim Obergespan amtlich zu tun habe und demselben ebenfalls einen Besuch abstatten werde. Der Bischof begleitete ihn in seiner Equipage zu dem auf seinem Landgute wohnenden Obergespan, und während der Pseudo- Ministerialrat mit dem Obergespan unter vier Augen ver- handelte, stattete der Bischof der Obergespansfamilie einen Besuch ab. Auf der Heimfahrt nahm Straßnoff den Dr. W. J. von neuem vor. Er erzählte ihm, daß er auch damit betraut sei, die Schulden des Grafen Niezesy, der im Mini- sterium a Latere ihm zugeteilt sei, zu ordnen; es seien dies zumeist Ehrenschulden, die ihm leicht seine Stelle kosten könnten und seine junge Frau und die drei Kinder in das größte Elend stürzen würden. Der Bischof ließ sich aber nicht so leicht fangen. Der Hochstapler erwähnte weiter, daß diese Wechsel das Ministerium kompromittieren könnten und dem Obergespan auch Verlegenheit verursachen würden (auf den Obergespan konnte er sich um so sicherer be- rufen, da er sich bei dem Bischof, der ihn für den folgen- den Tag zum Diner eingeladen hatte, mit seiner Krankheit entschuldigen ließ), und kam schließlich damit heraus, daß ihm der Minister Graf Sz. selbst zu ihm gewiesen habe, da er ausdrücklich wünsche, daß der Bischof bei der Regelung der Angelegenheit behilflich sei. Jetzt war Dr. W. J. ge- fangen; als reicher Mann wußte er von Wechseln wenig und dachte nicht daran, wie ein Wechsel den Obergespan
kompromittieren könnte. Als nun am folgenden Tage dem 6 *
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Straßnoff in Anwesenheit des Bischofs ein Telegramm überreicht wurde, in welchem der Minister den Pseudo- Vertessy aufforderte, sich am folgenden Tage bei ihm „in der bekannten Angelegenheit“ zur Audienz zu melden, gab der Bischof gegen eine Bestätigung und Gegenbestätigung die verlangten 6000 Kronen ohne jeden Hintergedanken her. — Diese Gegenbestätigung wollte Straßnoff angeblich dem Minister, der ihn mit der Ordnung der Angelegenheit betraut hatte, vorlegen. — Das Telegramm, durch welches er seine Abreise von Szombathely beschleunigte, hatte er in Wien vor seiner Abreise abgegeben mit der Bitte, das- selbe erst nach drei Tagen abzusenden; die Telegraphistin hatte, da sie das ungarische Telegramm nicht verstand, dem Wunsche entsprochen. So vorsichtig und schlau be- reitete der Gauner von vornherein jedes Detail seiner Pläne vor! Er hatte auch ganz richtig darauf gerechnet, daß der Bischof während der Weihnachtsfeiertage so be- schäftigt sei, daß er sich um ihn und das geliehene Geld nicht viel den Kopf zerbrechen würde. Auf der andern Seite fürchtete er Ungelegenheiten von dem Öbergespan ; er hatte demselben zwar die Fabel von dem Grafen Niezesy nicht erwähnt, sondern ihn nur gebeten, den Bischof, der bei der Regierung gut angeschrieben sei, zur Bewerbung um das Nagyvärader Bistum zu veranlassen, aber der Ober- gespan hatte die Erfüllung dieses Wunsches abgelehnt, da er in einer so heiklen Angelegenheit ohne besondere Voll- macht nicht intervenieren wollte, und erklärt, daß er in den nächsten Tagen ohnehin in Wien zu tun habe und bei dieser Gelegenheit sich dort informieren wolle. Der Betrüger, der befürchtete, daß sein Stücklein in diesem Falle sofort entdeckt würde, besuchte den Obergespan also nochmals und erzählte ihm, daß er vom Minister tele- graphisch angewiesen sei, die Unterhandlungen mit Dr. W. J. abzubrechen, da dessen Kandidatur in Wien fallen ge- lassen sei. Er müsse jetzt nach Nagyvárad reisen, wo ihn
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neue Instruktionen erwarteten. Der Obergespan, dem diese Intervention zwar kurios vorkam, ahnte die Wahrheit noch nicht, sondern kam erst einige Tage nachher, als er den Bischof besuchte und von diesem die Fabel vom Wechsel hörte, darauf, daß er es mit einem Schwindler zu tun habe. Ohne diesen Besuch wäre der Betrug lange unentdeckt ge- blieben, denn das Auftreten des Gastes war während der ganzen Zeit so vornehm, gewählt und gewandt, seine Ma- nieren so gewinnend und seine Konversation so gebildet, daß ein Argwohn gegen seine Person nicht entstehen konnte.
Zeitig hatte Straßnoff sich aus dem Staube gemacht und saß in Wien bei Ronacher in Gesellschaft vou Orpheum- Sternen als eleganter Kavalier, während die Budapester Kriminalbeamten, die in ihm den Täter vermuteten, sich auf die Suche begaben. Nach wenigen Tagen fanden sie ` ihn in Wien, wo er von demselben Detektiv aufgegriffen wurde, der ihn schon zweimal verhaftete. Da er bei Tage nie zu Hause war, suchte der Beamte ihn nachts auf und weckte ihn vom tiefsten Schlafe. Straßnoff leuchtete ihm mit einer elektrischen Taschenlampe ins Gesicht, erkannte ihn sofort und nannte ihn bei seinem Namen:
„Nicht wahr, Herr B., Sie sind mich holen gekommen ?* „Natürlich! Sie haben doch wieder was angestellt.“ „Nur einen kleinen Spaß, sonst nichts!“ — war die
Antwort.
Auf dem Nachttische lagen die wertvollen Ringe, die goldene Uhr, im Kasten der elegante Frack mit den ver- schiedenen Orden und der goldene Zwicker; vom Gelde wurden nur 270 Kronen aufgefunden. Straßnoff gab auf alle Fragen aufrichtige Antwort; ruhig und unbefangen enthüllte er die Einzelheiten seiner Betrügereien und ohne innere Erregung schilderte er die Ausführung derselben. Als der Detektiv ihm vorhielt, ob er noch nicht genug be- straft sei, erwiderte Straßnoff, der Detektiv sei zur aller- schlechtesten Zeit gekommen, denn er plane gerade, etwas
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zu machen, dessen Gelingen ganz Europa zum Lachen ge- bracht hätte.
Vom königl. Gerichtshof zu Szombathely wurde er für die letztbeschriebenen drei Betrügereien mit 2 Jahren und 7 Monaten Zuchthaus bestraft. Auf Einlegung der Revision gegen das Urteil verzichtete er, unterwarf sich dem sofort und verbüßt die Strafe zurzeit noch.
Die Wiener Polizei verdächtigte wegen der durch Straß- noff verübten Betrügereien anfänglich einen verkommenen Magnaten, den Grafen R., verhaftete ihn und hielt denselben eine Nacht im Polizeigefängnisse. Als Straßnoff später von den Budapester Detektivs verhaftet wurde, äußerte der brave empfindsame Verbrecher: „Als ich las, daß man den R. verhaftet hatte, wurde ich sehr aufgebracht und wollte mich selbst stellen, um den Unschuldigen aus der Haft zu befreien. Doch überlegte ich mir die Sache, denn freie Luft einzuatmen, ist doch besser, als im Kerker zu sitzen.“
Dieses Vergnügen ist Straßnoff jetzt einstweilen freilich versagt. — Doch wenn er die Strafe schon verbüßt hat, wird er wieder als Kavalier vom Kopf bis zur Zehe auf- treten, wieder schöne Mädchen küssen und wieder den Champagner schäumen lassen. — Auch Opfer wird er wieder finden, und so glaube ich versprechen zu können, auch noch später an dieser Stelle von ihm erzählen zu dürfen.
Der Herausgeber hat folgende Zuschrift erhalten: Heidelberg, 17. 10. 04.
Vielleicht ist es für Sie und die Leser des Pitaval der Gegen- wart als Beitrag zur Psychopathologie des Studenten Fischer von Interesse, daß das Pitaval I 32 abgedruckte, angeblich von Fischer selbst „fabrizierte* Gedicht ein nur wenig verändertes Gedicht von Julius Hart ist. Das Original lautet so:
Traumleben.
Um meinen Nacken schlingt sich Ein blütenweicher Arm. Es ruht auf meinem Munde Ein Frühling jung und warm.
Ich wandle wie im Traume, Als wär’ mein Aug’ verhüllt; Du hast mit Deiner Liebe Ali meine Welt erfüllt.
Die Welt scheint ganz gestorben, Wir beide nur ruhen allein, Von Nachtigallen umschlungen Im blühenden Rosenhain.
Ihr ergebenster Dr. Gustav Radbruch, Privatdozent.
Der Leipziger Bank-Prozess.
Von
Staatsanwalt Dr. Weber, Leipzig.
Es liegt in der Natur des Menschen, daß er geneigt ist, bei Missetaten sein Interesse mehr den Persönlichkeiten zuzuwenden, die aktiv oder passiv dabei eine Rolle spielen, als die Tat selbst ins Auge zu fassen. Das bewies die Vor- geschichte des Leipziger Bank-Strafprozesses aufs neue.
Als in der letzten Juniwoche des Jahres 1901 der eben erfolgte Zusammenbruch der Leipziger Bank, eines der an- sehensten Geldinstitute der betriebs- und verkehrsreichsten Handelsstadt Sachsens, das Tagsgespräch bildete, da wandte man sich im tiefsten Mitleid vor allem den beklagens- werten Opfern zu, die die so jäh hereingebrochene Kata- strophe in ungezählten Tausenden gefordert hatte. Nicht genug, daß für viele die Einbuße, die sie erlitten, so hoch war, daß sie über Nacht zu Bettlern geworden waren und nun, aller Mittel entblößt, ein neues Leben beginnen muß- ten, um den nötigen Lebensunterhalt zu gewinnen; es häuften sich allmählich Nachrichten von dem Schicksal solcher, die glaubten, von dem Schlage sich überhaupt -nicht wieder erholen zu können, und daher den Versuch von vornherein aufgaben, dem Verlorenen wieder beizu- kommen. Es gingen wenig Wochen ins Land, als man bereits den achten Selbstmord zählte, den der Sturz der Leipziger Bank gezeitigt hatte. Wer mochten die Personen sein, die an solchem unermeßlichen Unheil Schuld trugen?
Begreiflicherweise beschäftigte man sich am lebhaftesten Der Pitaval der Gegenwart. H. 7
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mit dem ersten Vorstandsmitgliede der gestürzten Bank, dem Direktor August Exner, dessen am 28. Juni 1901 er- folgte Verhaftung man mit lebhafter Genugtuung begrüßte, da man in ihm den Hauptschuldigen der Katastrophe er- blickte.
In der Tat war die Persönlichkeit Exners geeignet, das Interesse aller auf sich zu lenken. Man erfuhr, daß er, am 1. Juli 1887 an die Spitze der Leipziger Bank ge- stellt, zu dieser Zeit noch im jugendlichen Alter von 28Jahren gestanden hatte. Aus kleinen Verhältnissen emporgewachsen, hatte er sich außerordentlich schnell zur Geltung zu brin- gen vermocht. In Cassel, dem Sitze der berüchtigten Trebertrocknungs-Gesellschaft, deren Verbindung mit der Leipziger Bank dieser so verhängnisvoll werden sollte, war Exner als Sohn eines Barbiers geboren. Auf der Oberreal- schule seiner Vaterstadt hatte er seine Vorbildung empfan- gen und sich danach sofort dem Bankfach gewidmet. Eine nicht unbedeutende Begabung für diesen Beruf ließ ihn bald aus der Reihe seiner Berufsgenossen hervortreten. Bei der Deutschen Bank, die später hauptsächlich berufen war, die Bresche zu füllen, die der Sturz der Leipziger Bank öffnete, genoß der Angestellte Exner derartig hohes Ver- trauen, daß sie ihn absandte, um in China die Handels- und Verkehrsverhältnisse praktisch zu studieren, damit solche Kenntnis bei künftigen Transaktionen in diesem Lande verwertet werden könnte. Man sagt, daß nach Rück- kunft von dieser Reise Exners Selbstbewußtsein, seine hoch- fliegenden Pläne und die leidenschaftliche Art, wie er sie unter Versäumung vorsichtigster Überlegung auszuführen bereit war, seinen Chefs unangenehm zu werden begann, so daß sie Exner von ihrem Institut nicht ungern scheiden sahen, als er sich bei dem Aufsichtsrat der Leipziger Bank um eine Direktorstelle bewarb.
Für die Leipziger Bank freilich war der jugendliche Eifer, die wilde Betriebsamkeit eines Exner nicht uner-
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wünscht. Man hoffte, daß solche Eigenschaften des ersten Leiters die Bank befähigen würden, den alten Glanz wie- der aufzufrischen und die Geschäftsführung des Instituts, die in der letzten Zeit immer mehr einen schleppenden Gang angenommen hatte, neu zu beleben und fortschritt- lich auszugestalten. Und in der Tat war zunächst ein Aufschwung des Instituts unter Exners Leitung nicht zu verkennen.
Die im Jahre 1838 mit 11/2 Millionen Talern Stamm- kapital errichtete Leipziger Bank, von 1839 bis Ende 1875 mit dem Rechte ausgestattet, Banknoten und Kassenscheine auszugeben, war bereits im Jahre 1887 eine angesehene und weit über Sachsens Grenzen bekannte und beliebte Kreditbank. Durch Kapitalserhöhungen waren ihre Mittel im Jahre 1855 auf 3 Millionen Taler, im Jahre 1873 aber sofort auf die doppelte Summe gebracht worden. Da mit diesen bedeutenden Mitteln Jahrzehnte hindurch in vor- sichtigster Weise nach durchaus soliden Grundsätzen ge- wirtschaftet worden war, so verband sich mit dem Namen der Leipziger Bank der Ruf eines Instituts, dem man das vollste Vertrauen entgegenbringen konnte, und mit der in engerer Geschäftsverbindung zu stehen allein schon genügte, um eine Firma als hochstehend und sicher erscheinen zu lassen. Unter Exners Leitung blieb zunächst der vortreff- liche Ruf der Leipziger Bank intakt. Wer nicht gerade an der Persönlichkeit Exners Anstoß nahm, mußte denn auch zugeben, daß das Unternehmen gedieh. Augenschein- lich trug die Leipziger Bank den gegen früher veränder- ten Lebens- und Verkehrsverhältnissen volle Rechnung; dem fortwährenden Wachstum der alten Meß- und Handels- stadt Leipzig entsprechend, dehnte auch sie, eine bedeut- same Stütze der Leipziger Kaufmannschaft, ihren Betrieb aus und suchte mit den anderen Instituten ähnlicher Art im beständigen Fortschreiten gleichen Schritt zu halten. Das Kapital der Aktiengesellschaft wurde im Jahre 1890
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noch um 6 Millionen Mark erhöht, 1896 bereits fand eine weitere Vermehrung um 8 Millionen statt, der schon 2 Jahre später eine nochmalige Erhöhung um volle 16 Millionen folgte, so daß seit 1898 die Briefe der Leipziger Bank die stolze Kopfnote tragen konnten, die von einem Aktienkapital von 48 Millionen Mark sprach. Die weitere Errichtung von Filialen, deren es bei Exners Eintritt zunächst nur eine einzige in der Hauptstadt des Landes gab — ihr folgten seit 1896 eine solche in Chemnitz, seit 1898 weitere in Plauen, Aue und Markneukirchen sowie eine Kommandite in Pöß- neck — half den Kundenkreis der Bank vergrößern. Daß die Gesellschaft gute Geschäfte machen mußte, konnte man aus den Dividenden entnehmen, die zur Verteilung gelang- ten. Zwar wurde der höchste Prozentsatz von 126/11 Proz., der im Jahre 1856 ausgeschüttet worden war, nicht wie- der erreicht; immerhin hielt sich die Dividende auf an- gesehener Höhe. Im Jahre 1887 waren es 5 Proz. ge- wesen, die verteilt wurden; seitdem hob sich der Satz allmählich auf 9 Proz., um vom Jahre 1896 an stetig mit 10 Proz. abzuwechseln. Diesen Gewinnen entsprach der Kurs der Leipziger Bank-Aktien: im Jahre 1887 stand er auf 1291/2, Anfang 1890 war er bereits auf 1471 gestiegen, Ende 1897 notierte die Börse 1931/4; in der Zukunft wich der Stand: Mitte 1898 auf 187, ein Jahr später auf 181, Ende 1899 auf 175, Mitte 1900 auf 166. Anfang 1901 war der Kurs immer noch 1581/44, am 22. Juni 1901 end- lich als letzte Notierung 141 Proz.
In ihrer letzten per 31. Dezember 1900 gültigen Bilanz wies die Leipziger Bank einen Reservefonds auf, der etwa tj des gesamten Aktienkapitals ausmachte, nämlich per Reserve-Fonds-Konto: 14073200 Mk., per Spezial-Reserve- Fonds-Konto: 1000000 Mk., per Bau-Reserve-Fonds-Konto: 1200000 Mk., wozu noch zwei andere Konten mit etwa -1000000 Mk. Reserve hinzukamen. Das Bar-Depositen- und Scheckkonto betrug 24456308 Mk., die offenen De-
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pots beliefen sich auf rund 270 000000 Mk., die Zahl der Gläubiger der Bank schwankte zwischen 7000 und 8000. Als Gewinnüberschuß bezeichnete das letzte Gewinn- und Verlustkonto den Betrag von 5623502 Mk., der in der Hauptsache als Dividende zu 9 Proz. an die Aktionäre ver- teilt wurde.
Daß bei solchen Zahlen die Bestürzung ungeheuer war, als die Katastrophe plötzlich sich am Vormittag des 25. Juni 1901 durch das Communiqué der Leipziger Bank-Organe ankündigte, liegt auf der Hand. Der Wortlaut des. Com- muniqués ließ wenig Hoffnung bestehen: „Nachdem durch den jüngst erfolgten Zusammenbruch der ‚Kreditanstalt für Industrie und Handel‘ in Dresden sich die Verhältnisse des Diskontmarktes schwierig gestaltet und die Großdiskon- teure die Hereinnahme unserer Wechsel in seitherigem Um- fange verweigert haben, .. so sehen wir uns zu unserem größten Leidwesen in die Notwendigkeit versetzt, im Inter- esse unserer Gläubiger zeitweilig unsere Zahlungen einzustellen. .... Wir geben die Erklärung, daß wir bei sachgemäßer Abwicklung unserer Geschäfte nicht nur jeden Verlust für unsere Gläubiger als ausgeschlossen ansehen, sondern auch ein günstiges Ergebnis für unsere Aktionäre glauben erwarten zu dürfen. ...“ Der Optimismus, der aus diesen Worten sprach, fand wenig Anklang. Nach- dem wie ein Blitz aus heiterem Himmel jene Schreckens- kunde die Stadt durchlaufen hatte, sammelten sich gar bald an dem Tore des Bankgebäudes Gruppen leidenschaftlich erregter Menschen, die wußten, daß ihre Existenz abhing von dem Schicksal, das ihre der Bank anvertrauten Spar- gelder gefunden hatten. Es war die Verzweiflung Ertrin- kender, die nach dem Strohhalm greifen, die sich in ihren Mienen, in ihrem Auftreten offenbarte. Rettung war aus- geschlossen. Bereits am nächsten Tage wurde das Konkurs- verfahren über die Leipziger Bank vom Gericht eröffnet und bald darauf in dem Konkursverfahren eine Feststellung
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getroffen, die alle Hoffnungen zertrümmern mußte, die etwa noch auf einen Fortbestand der Bank gerichtet gewesen waren in der Annahme, daß doch vielleicht nur ein zu- fälliges Zusammentreffen ungünstiger Momente eine vor- übergehende Stockung herbeigeführt hätte. Es wurde be- kannt, daß der stolze Bau der Leipziger Bank schon längst innerlich bis auf die Grundfesten morsch geworden, und daß der Zusammenbruch der Dresdner „Kreditanstalt für Industrie und Handel“ lediglich die äußere Veranlassung war für den Fall der Leipziger Bank. Die geringste Er- schütterung auf dem Diskontmarkt mußte sich fortpflanzen auf den Boden, der die Leipziger Bank trug. Nimmer- mehr hätte sie den fest gegründeten Bau ın Trümmer legen können, wenn nicht schon Jahr und Tag zuvor der Grund für den Ruin gelegt worden wäre. Und dieser Grund lag in der Verbindung der Leipziger Bank mit der Aktien- gesellschaft für Trebertrocknung zu Cassel. Die unge- heure Summe von 90 Millionen Mark stellte sich als der Betrag heraus, den die Leipziger Bank aufgewendet hatte, um die Illusionen jenes Treber-Schmidt durchzuführen, der sich später als geriebenes Verbrechergenie offenbarte und in der Geschichte kapitalistischer Wirtschaft wohl wenige seinesgleichen finden wird, die es so meisterhaft wie er ver- standen haben, ein bankerottes Unternehmen so lange über Wasser zu halten und dabei auch noch so viele zu enga- gieren, die ihm bei diesem heiklen Unterfangen hilfreiche Hand boten. Der dem Falle der Leipziger Bank schnell nachfolgende Konkurs der Trebergesellschaft zeitigte auch gegen die Casseler Verwaltungsorgane ein Strafverfahren. Darın wurde festgestellt, daß die Trebergesellschaft min- destens seit dem Jahre 1896 bereits pleite gewesen war. Von demselben Jahre datierte die Verbindung der Leipziger Bank mit der Casseler Gesellschaft, deren Gründung zum Zweckeder vollständigen Ausnutzung von Bier-und Brennerei- trebern im Jahre 1889 mit einem Stammkapital von nur
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350000 Mk. erfolgt war. Anfangs zwar blieb diese Ver- bindung in bescheidenen Grenzen. Der Casseler Gesell- schaft wurde ein Blankokredit von 200 000 Mk. eingeräumt, der dann auf 500000 Mk. erhöht wurde. Auch diese Summe konnte nicht als hoch bezeichnet werden, denn die Trebergesellschaft hatte bis Anfang des Jahres 1896 ihr Aktienkapital durch mehrfache Erhöhungen bereits auf 3000000 Mk. gebracht. Ihren ursprünglichen Geschäfts- zweig, Herstellung von getrockneten Trebern und Vertrieb derselben als Futtermittel, hatte der rührige Direktor der Trebergesellschaft längst erweitert. Die Trockenapparate, die zu dem Betriebe benötigt wurden, baute man in Cassel selbst; bald bildeten sie einen selbständigen Teil des von Schmidt betriebenen Handels. Vor allem aber war es der im Jahre 1895 bewirkte Ankauf der später so viel um- strittenen Bergmannpatente, auf den sich die Zukunfts- hoffnungen Schmidts stützten. Sie zielten auf eine Ver- wertung von Holzabfällen auf dem Wege der trockenen Destillation hin. Das Bergmannsche Patent sollte gegen- über dem alten Holzverkohlungsverfahren, das die besten Substanzen in dem Rauche des dampfenden Meilers davon- ziehen ließ, eine rationellere Ausnutzung ermöglichen und vor allem den Vorteil bieten, daß man nicht nur das teure Scheitholz zu Holzkohle und ihren Nebenprodukten ver- arbeiten konnte, sondern daß Abfälle aller Art, ja selbst Sägespäne noch auszunutzen waren. Auf Grund der in den Laboratorien angestellten Versuche war man in Cassel von der Rentabilität des neuen Verfahrens so überzeugt, daß man eiligst. daranging, eine ganze Legion pomphafter Fabriken in Deutschland nicht nur, sondern auch in den verschie- densten Orten des Auslandes zu errichten. Die kühnen Pläne des Casseler Direktors zielten auf nichts Geringeres hin als auf eine Monopolisierung des Marktes auf dem Gebiete der Holzdestillation; zunächst sollte eine solche für den Kontinent herbeigeführt werden, ein Welttrust für die
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Destillationsprodukte sollte die weitere Folge bilden. Außer- ordentlich interessant war die in dem Casseler und dem Leipziger Strafverfahren aufgedeckte Regiekunst Schmidts. Nicht nur, daß er es meisterhaft verstand, seine Riesen- 'pläne stets als durchführbar hinzustellen, die Schwächen, die dem Bergmannschen Verfahren anhafteten, zu verleug- nen und die ungeheuren Summen, die die fortgesetzten Versuche und die sich einander überstürzenden Neuerun- gen verschlangen, immer und immer wieder aufzubringen, auch die Art, wie er ın der finanziellen Verwaltung der einzelnen Betriebe stets die Zentrale auf das geschickteste gegen die zahlreichen Tochtergesellschaften auszuspielen und den Treberkonzern insgesamt wieder als festes Gefüge, das durch seine wuchtige Einheit imponieren konnte, hin- zustellen verstand, war erstaunlich. Die Darlegung aller jener Kniffe und Schliche, die hierbei zur Anwendung kamen, würde ein Buch für sich füllen. Uns kann bier nur die Frage interessieren, wie es möglich war, daß die Organe der Leipziger Bank so ungeheuere Summen auf eine Karte setzten, und wie die verhängnisvolle Höhe des Obligos mit Cassel der Allgemeinheit so lange unbekannt bleiben konnte; denn volle Klarheit über die Art und den Umfang der Engagements mit der Trebergesellschaft wurde erst durch die strafrechtliche Untersuchung geschaffen. Freilich wer da glaubt, daß die Bilanzen der Leipziger Bank, die ja in erster Linie dazu bestimmt waren, den Aktionären die Lage der Gesellschaft zu enthüllen, in dem Leipziger Bank-Prozeß die Hauptrolle gespielt hätten, be- findet sich im Irrtum. Gewiß gehörten auch sie zum Anklagestoff, allein den Hauptteil bildeten sie keineswegs. Der Leipziger Bank-Prozeß mußte denen, die aus ihm etwa lernen wollten, wie sie bei genauem Lesen einer Bilanz die Schwächen und Gefahren eines geschäftlichen Unter- nehmens erkennen könnten, beweisen, daß das aufmerk- samste und sorgfältigste Studium eines Geschäftsberichts
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und einer Bilanz nicht vermag das aufzudecken, was ge- wandte und erfahrene Bilanzkünstler mit Hilfe der Worte und Zahlen zu verbergen verstanden. Bei der Leipziger Bank blieben zwar für den Strafrichter noch einige Ansatz- punkte, denn hier hatte die arge Not und Drangsal der Verhältnisse zu einer Bilanzgestaltung geführt, die die Grenze des Erlaubten so überschritt, daß an dem strafbaren Charakter der angewendeten Bilanzierungsart kein Zweifel mehr bestehen konnte. Oft aber liegen die Dinge anders, und bei allem Unbehagen, das eine nichtssagende Bilanz erwecken muß, vermag doch häufig genug der Staatsan- walt die Vorwürfe nicht strafrechtlich zur Geltung zu brin- gen, die von Seite der durch die Bilanz Getäuschten er- hoben werden. Das liegt durchaus nicht immer an dem Mangel gesetzlicher Vorschriften über diesen oder jenen Punkt — im übrigen wäre auch, so sonderbar es den Laien berühren mag, ein Gesetz, das für jeden möglichen Fall Vorschriften enthielte, das schlimmste Werkzeug für die Arbeit der Juristen, das sich denken ließe —, auch nicht an dem Widerstreit der Sachverständigen, durch den oft genug bei der großen Fülle von Kontroversen Rechtsfragen in einer dem Schuldigen günstigen Weise zum Austrag gelangen. Der Kenner weiß, daß eine Bilanz so inhaltlos, so zweideutig, so phrasenhaft, so wenig die tatsächlichen Verhältnisse widerspiegelnd sein und dennoch vor dem Strafrichter bestehen kann, denn nicht alles Verschweigen, nicht jedes Beschönigen, nicht jeder Putz, in den der Be- richt und die Bilanz gekleidet wird, vermag den Tatbestand des Paragraphen zu erfüllen, der bestimmt ist, die Versäu- mung oder Entstellung der Bilanzwahrheit unter Strafe zu stellen. Darum wird der vorsichtige Bilanzleser davon ab- sehen, auf die Bilanz entscheidendes Gewicht zu legen und sich stets gegenwärtig halten, daß das, was die Bilanz nicht verrät, wichtigerund bedeutsamersein kann, als das, was ihre dürren Worte und die trockenen Zahlen in der Tat verkünden.
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Mehr als an die Bilanzen, die doch auch nur jährlich einmal veröffentlicbt wurden, war an die Geschäftsbücher selbst zu denken, die in bestimmter Weise abgefaßt sein mußten, wenn in ihnen das gefährlich hohe Risiko, das die Leipziger Bank durch die Treberverbindung auf sich senommen hatte, nicht zum Vorschein kam. Es war sehr wohl begreiflich, daß das Publikum davon ausging, die Handelsbücher der Bank müßten, wenn anders sie nicht gefälscht waren, das hohe Treberobligo klar und deutlich in Erscheinung treten lassen, und daß daher immer und immer wieder die Frage erörtert wurde, wie es doch mög- lich war, daß von dem hohen Casseler Schuldkonto nichts in die Öffentlichkeit hindurchsickerte von den Beamten, die die Bücher darüber zu führen, die Korrespondenzen mit Cassel zu besorgen, die Bücherauszüge anzufertigen und ähnliche Geschäfte zu verrichten hatten, bei denen die Höhe der Forderungen an die Trebergesellschaft offenbar werden mußte. Indessen von den Beamten der Leipziger Bank konnte schon deshalb keine Kunde von der pre- kären Lage derselben nach außen gelangen, weil sie selbst keine Ahnung von den Riesensummen hatten, die in dem Treberunternehmen angelegt worden waren. Den besten Beweis dafür bietet die Tatsache, daß von der über 100 Köpfe starken Beamtenschaft der Leipziger Zentrale lediglich 4 Personen ihr Guthaben noch 2 Tage vor der Katastrophe von der Bank abgehoben haben, weil sie aus einer ihnen in letzter Stunde zufällig bekannt gewordenen Reise der Verwaltungsorgane nach Cassel die richtigen Schlüsse zogen; alle anderen Beamten gehörten zu den be- dauernswerten Opfern des Leipziger Bank-Krachs. Kein Wunder, daß unter solchen Verhältnissen das Erstaunen des Personals über das über ihr Geschäft so plötzlich herein- gebrochene Schicksal noch größer war als bei dem außen- stehenden Publikum und den Gläubigern des Instituts. Es mußte in der Tat von den Direktoren ein außerordentlich
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raffıniertes System der Buchführung in Anwendung ge- bracht worden sein, da doch, dessen war sich jeder bewußt, von den Beamten die Grundsätze ordnungsmäßiger Buch- führung allenthalben aufs peinlichste beobachtet worden waren. In der unerschütterlich feststehenden Tatsache einerseits, daß die Buchführung der Technik nach durch- aus korrekt befunden wurde und demgemäß auch, von geringen und unwesentlichen Kleinigkeiten abgesehen, im Strafprozeß von den Sachverständigen als vortrefflich, fast musterhaft anerkannt werden mußte, und in der Überein- stimmung derselben Sachverständigen andererseits bei der Verneinung der Frage, ob aus den Büchern der Bank eine Übersicht über den wahren Vermögenszustand der Gesell- schaft zu gewinnen sei, lag die Hauptschwierigkeit, die bei Laien nicht nur, sondern auch bei Juristen oft ein richti- ges Verständnis des Straffalles ausschloß.
In der Tat war es nicht allzuschwer festzustellen, daß nur nach einer einzigen Seite der Weg zur Klärung ein- geschlagen. werden konnte. Eine Verfälschung der Bücher im gewöhnlichen Sinne des Wortes mußte selbstverständ- lich von vornherein ausgeschlossen erscheinen. In einem Bankinstitut von der Größe der Leipziger Bank hätten die Bücher falsch geführt werden können nur mit Hilfe einer groen Anzahl bestechlicher Beamter, die sich zu gleich verwerflichem Handeln hätten bestimmen lassen müssen, wie ihre Direktoren es sich zuschulden kommen ließen. Bei der Leipziger Bank sind die Vorwürfe bei den Mit- gliedern des Vorstandes sowie des Aufsichtsrats allein haften geblieben, der Strafprozeß ließ keinen Schatten auf die zahl- reichen Beamten der Bank fallen, diejenigen eingeschlossen, die berufen gewesen waren, in dem mit Unrecht so viel gescholtenen und verdächtigten Geheimsekretariat zu arbei- ten. Hätten die Direktoren die Bücher unrichtig führen lassen wollen, ohne sich wenigstens mit einigen der Be- amten vorher ins Einvernehmen zu setzen, so würde doch
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binnen kurzer Zeit das Getriebe der Bank ins Stocken ge- raten und das unredliche Treiben aufgedeckt worden sein. Bei dem zartempfindlichen Mechanismus der doppelten Buchführung ist ja eine Fälschung nur dann durchzuführen, wenn sämtliche Buchungen, die sich an den falschen Posten anschließen oder ihm entsprechen, mit der Fälschung in Einklang gebracht werden.
Die Direktoren der Leipziger Bank waren viel zu sach- kundig, als daß sie auch nur einen Versuch gemacht hätten, mit dem plumpen Mittel einer unordentlichen Buchführung die Handelsbücher der Bank unübersichtlich zu gestalten. Der einzige Weg, der sich ihnen bot, um diesen Erfolg zu erreichen, war der, daß sie von vornherein Fürsorge trafen, nur Buchungen in die Bücher hineinzubringen, die geeignet waren, eine Übersicht über die wahre Lage der Bank auszuschließen. Selbstverständlich wurden diese Buchungen an sich durchaus korrekt bewirkt. Das In- korrekte, ja Strafbare lag außerhalb dieser Buchungen, es ging dem Buchungsakt zeitlich voran. Selbst die Buchungs- unterlagen als solche, an die man zunächst zu denken ge- neigt ist, bildeten nicht den Gegenstand der Bemängelung. Haben diese doch auch an sich keinen selbständigen Wert, da sie ja lediglich den schriftlichen Ausdruck der ge- troffenen Abmachungen darstellen. Diese Abmachungen in- dessen, diese von der Leipziger Bank-Direktion zum Zwecke der Verdunkelung der Vermögenslage abgeschlossenen Ge- - schäfte sind es, an die sich der strafrechtliche Vorwurf des betrüglichen Bankerutts knüpft, der den Hauptteil der gegen die Direktoren erhobenen Anklage darstellte.
Will man die Transaktionen verstehen, die die Direk- toren der Leipziger Bank auf die Anklagebank brachten, so ist ein Rückblick auf die geschichtliche Entwicklung der Treberverbindung unerläßlich. Wenn die Verwaltungs- organe der Bank gar bald nach jener ersten losen Ver- bindung, in die sie zu der Casseler Trebergesellschaft ge-
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treten waren, das Verhältnis enger gestalteten und ein flotteres Tempo bei der Unterstützung dieser Kundin anschlugen, so waren selbstverständlich hiermit irgendwelche Motive, die zu beanstanden gewesen wären, nicht verbunden. In Cassel setzte man auf das Bergmannsche Patent die größten Erwartungen und hatte sich beeilt, den gehofften Gewinnen entsprechend, den Betrieb so bedeutend wie möglich zu erweitern und die Gesellschaft kapıtalkräftig binzustellen. Noch im Jahre 1896 verdoppelte man sofort das Aktien- kapital, um bereits nach zwei weiteren Jahren die nunmehr auf 6 Millionen Mark angewachsene Summe durch Ausgabe neuer Aktien wiederum auf das Doppelte zu bringen. Als trotz diesem raschen Wachstum die Mittel immer noch nicht genügend erschienen, um den Betrieb so einzurichten, daß auch kein Teil der erträumten Schätze ungehoben bleiben mußte, leistete die Leipziger Bank gerndurch reichliche Kredit- sewährung dem Treberunternehmen Vorspann. Und es war nicht nur die Hoffnung auf guten eigenen Verdienst hierbei für sie maßgeblich, sondern Schmidt war weitherzig genug, der Leipziger Bank für ihr durchaus nicht zaghaftes Ent- gegenkommen durch Gewährung von Provisionen zudanken, auf die allerdings Exner, die Seele der Treberengagements, stolz sein konnte. So billigte beispielsweise Treber-Schmidt der Leipziger Bank für Finanzierung der von ihm gegrün- deten Bosnischen Tochtergesellschaft die gewiß nicht ge- ringe Entschädigung von 175000 Gulden zu, obwohl die Leipziger Bank ein nennenswertes Risiko bei diesem Ge- schäft nicht auf sich zu nehmen hatte. Bei einem von der Trebertrocknung gemeinsam mit der Leipziger Bank ge- planten Geschäfte, bei dem es galt, Rußland, Italien und Frankreich in den Kreis der geschäftlichen Unternehmungen einzubeziehen, betrug gar die für die Bank normierte Pro- vision rund 1 Million Mark. Andere Banken wären vielleicht bei solcher ungewohnten Freigebigkeit stutzig geworden, ebenso wie dem kühlen und unbefangenen Beurteiler die
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ungeheuren Dividenden der Casseler Gesellschaft, 40 und sogar 50 Proz., Mißtrauen einflößen und der Ende 1896 auf 895 Proz. gestiegene Kurs der Treberaktien als „schwin- delnd hoch“ erscheinen mußte. Auch Exner mochte wohl mit solchen Gefühlen rechnen, denn er sah sich veranlaßt, seinem Aufsichtsrate eine ausdrückliche Erklärung für die ungewöhnlich hohe Vergütung zu geben, die die Treber- gesellschaft der Leipziger Bank für mehrere in der Auf- sichtsratssitzung vom 31. März 1898 besprochene Trans- aktionen zugesichert hatte. Es heißt in jenem Aufsichts- ratsprotokolle: „Die hohen Provisionen, ‘welche der Leip- ziger Bank seitens der Trebergesellschaft bei diesen und den nachstehenden Geschäften zugestanden worden sind, bilden nach ausdrücklicher Erklärung der gedachten Ge- sellschaft nieht nur ein Entgelt für die große Mühewaltung bei Abwicklung und Durchführung dieser verwickelten Transaktion, sondern auch einen Gegenwert für die seit langer Zeit der Gesellschaft in hervorragender Weise ge- währte moralische Unterstützung.“
Der Aufsichtsrat billigte die neuen Geschäfte und teilte die Bedenken über die enorme Höhe der Provisionen nicht, die Exners Genosse im Direktorium, Dr. Gentzsch, äußerte, dem, wie er später gestand, schon damals „alles so un- heimlich erschien, daß er am liebsten Kehrt gemacht hätte“. Er hatte in der Tat Grund zu bangen Gefühlen; denn eines machte sich schon damals geltend, was die Freude an den reichlichen Gewinnen doch beirächlich trüben mußte. Das war die Tatsache, daß die Gewinne, so stolz sie sich auf dem Papiere ausnahmen, so unerwünscht doch auf dem Papiere stehen blieben. Anstatt daß die Trebergesellschaft zur, wenn auch nur teilweisen, Abdeckung des bei der Leipziger Bank in Anspruch genommenen Kredits Bar- anschaffungen gemacht hätte, machten sich bei ihr immer und immer wieder Geldbedürfnisse geltend, zu deren Be- friedigung die Bank stetig neue Barmittel nach Cassel senden
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mußte. Es zeigte sich eben in Cassel, wie so oft bei neuen Entdeckungen, daß der Versuch im kleinen ein endgültiges Urteil über den Wert der Neuerung nicht zuließ. Im Groß- betriebe stellten sich Anlage und Verarbeitungskosten wesänt- lich höher, als man erwartet hatte. Hinzu kam, daß erst in der Praxis beim Großbetriebe eine überaus starke Ab- nutzung der sehr teuren maschinellen Anlagen sich heraus- stellte, so daß das Bergmann -Verfahren ungeachtet der billigeren Rohmaterialien und der weit größeren Ausnutzung der im Holz enthaltenen chemischen Substanzen doch dem alten Holzverkohlungsverfahren mit Erfolg nicht Konkurrenz machen konnte.
Ob man in Leipzig von dieser Sachlage unterrichtet war, kann dahingestellt bleiben. Daß sich die Leipziger Bank bei Bewilligung der von Cassel geforderten Kredite nicht spröde zeigte, begründete zunächst sicher keinen Vor- wurf. Man glaubte hier im Anfang gewiß ebenso fest daran, daß Berge Goldes mit dem Bergmannschen Verfahren zu gewinnen seien, wie Treber-Schmidt selbst hiervon in der ersten Zeit überzeugt sein mochte. Zu beanstanden war indessen das unbegrenzte Vertrauen, das die Bank dem Casseler Direktor entgegenbrachte, und die ungenügende Kontrolle, die man der Trebergesellschaft gegenüber übte. Während der dem Casseler Direktor und den Aufsichtsrats- mitgliedern bewilligte Kredit Ende des: Jahres 1896 ins- gesamt noch nicht 21/2 Millionen Mark betrug, war das Casseler Obligo bei der Leipziger Bank bereits im November 1897 auf 8—9 Millionen angeschwollen. Die Leipziger Verwaltungsorgane hatten tatsächlich zu diesem Zeitpunkte das Gefühl, daß sie in der Förderung der Treberinteressen reichlich weit gegangen seien. Das äußerte sich in einem Aufsichtsratbeschluß, in dem das Ergebnis einer von meh- reren Aufsichtsratsmitgliedern unternommenen Erkundi- gungsreise besprochen wurde. Man hatte in zwei von der Trebergesellschaft auswärts errichteten Fabriken den Wert
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des vielgepriesenen Bergmann-Verfahrens durch eigene Prü- fung feststellen wollen, indessen einen Beweis für die be- hauptete Rentabilität noch nicht finden können. Es wurde nun der Beschluß gefaßt, „weitere Neuunternehmungen nicht einzugehen“.
Das war gewiß das richtigste, was die Leipziger Bank beschließen konnte. Freilich wäre es geboten gewesen, eine solche Entscheidung schon zu früherer Zeit zu treffen. Denn mochte es zunächst am Platze gewesen sein, dem neuen Kunden mit Vertrauen zu begegnen, so hätte später die bloße Tatsache genügen müssen, eine Anderung hierin herbeizuführen, daß nicht eine einzige der pomphaften Ver- sprechungen Schmidts in Erfüllung ging, und anstatt eines Rückflusses der in Cassel angelegten Kapitalien von dort aus immer wieder neue Geldsendungen gefordert wurden. Immerhin wäre den Leipziger Verwaltungsmitgliedern, wenn nicht der Vorwurf unvorsichtigen Handelns, so doch eine strafrechtliche Anklage erspart geblieben, wenn jener weise Beschluß auf Einschränkung der Treberengagements auch praktisch ausgeführt worden wäre. Was bis dahin in. Cassel investiert worden war, wäre zwar zum Verluste für die Bank geworden. Indessen von solcher Einbuße hätte sie sich erholen können, und die Folgen des begangenen Fehlers wären mit der Zeit überwunden worden. Indessen bereits einige Monate nach jenem denkwürdigen Beschlusse stürzte man sich frisch und froh wieder in das alte Fahr- wasser hinein. Zwar wurde nur beschlossen, in vor- sichtiger Weise mit Cassel weiterzuarbeiten; aber daß auch dieser löbliche Vorsatz lediglich auf dem Papier prangte, beweist das ungeheuer rasche Anwachsen des Treberobligos, das sich in runden Summen am Ende der einzelnen gQuartale 1898 auf 10, 20, 27 und 28 Millionen Mark stellte. Und die Ursache dieser neuen, so auffälligen Begünstigung der Trebersache lag nicht etwa darin, daß sich die Leipziger Bank nun inzwischen von der Rentabilität
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des Bergmannschen Verfahrens überzeugt gehabt hätte; vielmehr hatte Schmidt den alten Plänen einen neuen zu- gesellt, der nun als blendendes Lockbild dienen mußte. Das war die Idee, aus Holzkohle ohne Anwendung von Elektrizität Karbid herzustellen. Freilich zeigten sich auch hier gar bald die stolzen Hoffnungen als trügerisch; aber weder bei dieser noch bei den anderen Unternehmungen war man ın Cassel oder in Leipzig offen genug, das Fehl- schlagen der Unternehmung einzugestehen. Die Blamage wäre ja nicht gering gewesen, nachdem man vorher die Vortrefflichkeit der neuen Methoden und die Musterhaftig- keit der von der Trebergesellschaft errichteten Anlagen so laut in alle Welt hinausposaunt und die Reklametrommel für die Trebererzeugnisse so wacker zu schlagen verstanden hatte. Und Tadel mußte sich an jeden Mißerfolg schon deshalb knüpfen, weil man in Cassel jeden im Laboratorium gelungenen Versuch bereits für einen vollgültigen Beweis der Brauchbarkeit und der Rentabilität eines neuen Ver- fahrens ansah und nun nicht zögerte, sofort den Großbetrieb für den betreffenden Geschäftszweig einzurichten; vielleicht, um kurz darauf auf neue Erfahrungen hin die eben erst errichtete Anlage wieder von Grund aus umzugestalten. Selbstverständlich hätte es der Leipziger Bank wenig Mühe gekostet, das verhängnisvolle System, nach dem der Treber- direktor zu arbeiten pflegte, aufzudecken. Die Scheu, dabei einen trostloseren Einblick zu erhalten, als ihr lieb sein konnte, mochte sie abhalten, dies zu tun. Man war ja doch nicht geneigt, die Konsequenzen daraus zu ziehen, daß man nicht beizeiten an eine Beschränkung der Treber- engagements gedacht hatte. Das einzige, zu dem man sich aufraffte, war, daß die Leipziger Direktion in ihren immer häufiger nach Cassel gerichteten Klagebriefen über die fortwährenden neuen Dispositionen dem Casseler Direktor zu Gemüte führte, daß die Leipziger Bank doch nun schon so weit gegangen sei, wie sich kaum wohl ein anderes Der Pitaval der Gegenwart. II. 8
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Institut mit einem einzigen Unternehmen engagiert hätte, daß die Leipziger Bank auch noch nie die Interessen eines Kunden so sehr vertreten habe, wie sie der Trebertrocknung gegenüber sich bereit gezeigt hätte. Und daran wird be- . reits in einem Briefe vom Januar 1898 die Mahnung ge- knüpft, daß auch die Leipziger Bank eine Grenze beachten müsse, denn „es dürfe doch nicht die eigene Liquidität der Bank gefährdet werden“. Der Treberdirektor war viel zu schlau und rücksichtslos, als dab er solchen Vorhaltungen ein williges Ohr geliehen hätte. Hatte er es ja doch ge- rade darauf abgesehen gehabt, die so leicht zu ködernde Bank durch Anspannung des ihm nach und nach immer höher bewilligten Kredits derartig an sich zu fesseln, daß sie nachgerade auf alle Forderungen eingehen mußte, die er an sie zu stellen wagte. Und deshalb wurde seine Sprache in demselben Maße kühner und schroffer, je mehr er hätte eingedenk der drückenden Millionenlast, die er auf sich gehäuft, als bescheidener Schuldner den Wünschen der Leipziger Bank, fast seiner einzigen Gläubigerin, sich gefügig zeigen sollen. Schmidt wußte sehr wohl, daß die Leipziger Bank mit dem Wachsen ihrer Forderungen in immer größere Abhängigkeit von ihm geraten war. Die Bank hatte keine andere Wahl, als die Trebergesellschaft weiter zu unter- stützen oder aber alle Kapitalien, die sie ihr bisher nach Cassel geschickt hatte, als verloren zu betrachten. Sobald sie sich einmal den Wünschen Schmidts nicht gefügig zeigte oder gar, was sie hin und wieder tat, die Hono- rierung der von der Trebertrocknung ausgeschriebenen Tratten schlankweg verweigerte, wies Schmidt darauf hin, daß gerade jetzt der Ausbau seiner Fabriken, die Verwirk- lichung seiner Pläne, der Beginn einer dauernden Renta- bilität der geschaffenen Einrichtungen bevorstehe und es nur noch einer kurzen Arbeit und einer Aufwendung ge- ringfügiger Mittel bedürfe, um das Riesenwerk zu vollenden und den Rückfluß der investierten Kapitalien zu sichern
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Es lag für die Organe der Leipziger Bank nahe, sich solchen Mahnungen nicht zu verschließen, da so viel gewiß war, daß die Casseler Einrichtungen, blieben sie unvoll- endet, nie würden Gewinn bringen können, und daß anderer- seits die Trebergesellschaft für die benötigten Gelder an keiner anderen Stelle würde Kredit eingeräumt erhalten. Und doch rechtfertigt das Verhalten der Bank schwere Vor- würfe. Denn sie wußte, daß die Versprechungen Schmidts, mochten sie lauten, .wie sie wollten, noch stets unerfüllt geblieben waren, und sie hätte zu der Einsicht kommen müssen, daß die allerorten errichteten Tochtergesellschaften der Trebertrocknung, die fast ausnahmslos zu Erträgnissen überhaupt nie gelangt sind, Summen beanspruchten, die die Leipziger Bank zu gewähren völlig außerstande war. Vor allem aber mußte die Leipziger Bank bei Unterstützung der Trebergesellschaft darauf bedacht sein, die Grenze inne- zuhalten, die durch die Rücksicht auf die eigene Liquidität und Sicherheit der Bank gezogen war. Daß die Bank- organe gegen diese Pflicht fehlten, war unverzeihlich, und diese Pflichtversäumung brachte es mit sich, daß auch die weiteren Maßnahmen, mochten sie an sich in den Verhält- nissen begründet sein, in keiner Weise entschuldbar wurden. Die Direktoren und der Aufsichtsrat der Bank hätten, nachdem sie zur Überzeugung gelangt waren, mit den Treberengage- ments die Bank in eine verfehlte Spekulation verwickelt zu haben, unter allen Umständen den Mut zeigen müssen, das Fiasko dieses Unternehmens zu bekennen. Einen An- lauf dazu hat Exner genommen, als er im November 1898 nach einer Unterredung mit Schmidt den Gedanken aus- sprach, ob man Cassel nicht den Kredit entziehen sollte. Er war mißtrauisch gegen Schmidt geworden und dachte schon damals daran — was im Jahre 1901 zur Wirklich- keit wurde —, in Berlin eine Hilfsaktion zu versuchen und zur Vermeidung eines Run auf die Kassen der Bank ein Com- muniqu&e zu veröffentlichen. Der Aufsichtsrat der Leip- 8*+
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ziger Bank wollte indessen von diesem Plane nichts wissen ; er schalt Exner nervös und schickte ihn zur Erholung auf Urlaub. Und so blieb alles beim alten. Man begann sich von neuem mit trügerischen Hoffnungen zu trösten und spendete ferner mit süßsaurer Miene alle verfügbaren Mittel zu dem weiteren Ausbau der umfangreichen Treberunter- nehmungen. Draußen im Publikum gab es zwar genug, die die Geschicke der Trebergeselischaft mit wachsendem Interesse verfolgten. Es war kein Geheimnis mehr, daß die Leipziger Bank der Bankier der Trebertrocknung war und daß andere Institute sich mißtrauisch gegen Cassel ver- hielten. Und es war nachgerade auch allgemein bekannt geworden, daß die Trebergesellschaft von vielen Seiten aufs schärfste angefeindet wurde. Der lebhafte Streit der alten Holzverkohler, die energisch gegen die von Cassel aus- gehende Lehre von dem allein seligmachenden neuen Ver- fahren und gegen die von der Trebertroeknung getriebene Preisschleuderei Front machten, ließ seine Wogen in die breite Öffentlichkeit hineinschwellen. Die befremdliche Tat- sache, daß die Berliner Börsen-Zulassungsstelle die jungen Treberaktien unter Berufung auf die Undurchsichtigkeit der Casseler Bilanzen zum Handel an der Börse nicht zuließ, war nur dazu angetan, den Argwohn zu erhöhen. Freilich fehlte es auch nicht an Beruhigungsmitteln, mit denen die Zweifler ihre Bedenken zu beseitigen geneigt waren: War das Bergmannsche Verfahren wirklich geeignet, die Industrie der Holzverkohlung von Grund aus umzugestalten, und war es vermöge seiner erhöhten Ergiebigkeit wirklich fähig, der Konkurrenz die Spitze zu bieten, dann war es im Grunde kein Wunder, daß sich der Kreis der in seinen Lebensinteressen bedrohten alten Holzverkohler einmütig erhob zur Abwehr der ihnen drohenden Gefahr. Daß die Casseler Bilanzen nicht klar und durchsichtig waren, mochte ein Gebot kaufmännischer Klugheit sein, die verhüten wollte daß gewisse bedeutsame Ereignisse vorzeitig offenkundig
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würden. Und es war ja anzunehmen, daß die Leipziger Bank, ehe sie die reichlichen Summen nach Cassel sandte, sich genugsam von der Solidität der Trebersache überzeugt haben würde. Wenn ja in dieser Beziehung Exner, der kühn aufstrebende erste Direktor, nicht die nötige Vorsicht üben würde, so hielt man doch den juristisch gebildeten zweiten Direktor, Dr. Gentzsch, für ein genügendes Gegen- gewicht, um allzu verwegener Unternehmungslust die Wage zu halten. Denn Dr. Gentzsch war in Leipzig von seiner früheren Anwaltstätigkeit aus als ruhig überlegender Kopf, als ein vorsichtiger und gewissenhafter Anwalt fremder Interessen bekannt, dem man volles Vertrauen entgegen- bringen konnte, daß er auch fremdes Gut auf das zuver- ‚lässigste würde zu wahren und zu schätzen wissen. Die ungezählten Kunden der Bank, die sich auf Grund solcher Erwägungen entschlossen, die Verbindung mit der Leipziger Bank aufrechtzuerhalten, ihre Ersparnisse dem Institute zu belassen oder neue Gelder der Bank anzuvertrauen, wußten nicht, daß derselbe Gentzsch, auf dessen bestim- mendes Eingreifen bei Gefahr sie ihr Vertrauen setzten, wie er sich später in der Untersuchung äußerte, „eigent- lieh seit dem Sommer 1898 keine ruhige Minute mehr ge- habt“, ohne daß er auch nur je den Versuch gemacht hätte, gegen eine Erhöhung der Casseler Engagements die Ini- tiative zu ergreifen.
In der Tat gestaltete sich die Lage der Leipziger Bank seit dem Jahre 1898 immer trostloser. Die Rentabilität der zahlreichen Tochtergesellschaften Cassels, die ununter- brochen große Kapitalien verschlangen, war trotz aller Auf- wendungen immer nur auf dem Papiere vorgerechnet, in- dessen in Wirklichkeit nie erreicht worden. Die Treber- gesellschaft blieb zwar dennoch bei ihrer Gewohnheit, ihren Aktionären reichliche Gewinne zu spenden, allein die Leip- ziger Bank mußte erfahren, daß auch diese lediglich durch die Verrechnung schöner Zahlen auf dem Papiere erreicht
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worden waren. Nicht, daß Exner dies bei einem Studium der Casseler Bücher oder einer eingehenden Prüfung der Treberverhältnisse festgestellt hätte, denn durch solche Neugier glaubte er seinen „lieben Freund“ in Cassel nicht belästigen zu sollen. Vielmehr machte Schmidt selbst in seinen Briefen daraus kein Hehl, was es mit den Casseler Dividenden für eine Bewandtnis hatte. Wiederholt wird darin betont, daß Cassel „buchmäßig“ in der Lage sei, diesen oder jenen Prozentsatz zu verteilen; es wird daran aber stets die Frage geknüpft, wie es möglich sein werde, auch nur an die geringe Anzahl derer die Dividende aus- zuzahlen, die als der Leipziger Bank und dem Treber- konzern Fernstehende sich nicht mit buchmäßiger Ver- rechnung begnügten, sondern das Geld selbst klingen hören wollten.
Durch gütiges Entgegenkommen der Leipziger Bank- Direktion kam denn auch die Trebergesellschaft Anfang 1899 noch einmal über die Schwierigkeiten hinweg. Freilich kostete es nicht geringe Mühe, die Casseler Bilanz günstig zu gestalten. Allein wozu war Exner ein vielgewandter „Bilanzierungskünstler“, wenn er nicht hier von seiner Fähigkeit Gebrauch machen wollte. War es doch fast das- selbe, als ob die Leipziger Bank selbst ihre Bilanz auf- stellte; denn war die Bilanz der Trebergesellschaft ungünstig, so war dies gleichbedeutend mit einer Diskreditierung der Leipziger Bank. Alle Welt hätte sofort, wenn in der Casseler Bilanz hohe Kreditposten erschienen, die Augen nach Leipzig gerichtet und die Leipziger Bank als die Gläubigerin be- zeichnet, bei der die Trebertrocknung jene hohen Schulden kontrahiert hätte. Da auf andere Weise die schwierige Aufgabe kaum zu lösen war, reiste Exner zur genauen Ab- sprache über die zu treffenden Maßnahmen nach Cassel, Über die viertägige umfangreiche Arbeit schreibt er von seinem Casseler Hotel aus einen nicht weniger als 34 Seiten umfassenden Brief an seinen in Leipzig verbliebenen Mit-
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direktor, der mit den Worten beginnt: „Ich habe gestern und heute mit Schmidt seine verschiedenen Ideen, die Bilanz flüssig zu gestalten, durchgearbeitet und vorbehaltlich Ihres Einverständnisses Absprachen getroffen, die es ihm denklich ermöglichen, eine schöne Bilanz seiner Generalversammlung vorzulegen.“ Daß auch durch die neuen Verabredungen mit Schmidt für die Leipziger Bank keineswegs eine Besse- rung ihrer Lage erzielt oder gar eine Lostrennung von der verhängnisvollen Verbindung angebahnt war, beweist fol- gende Briefstelle: „Allerdings werden unsere En- gagements nicht geringer, sie nehmen nur eine andere Form an, führen uns neue Provisionen und Zins- gewinne zu, ketten die Trebergesellschaft für längere Jahre weiter fest an uns und ermöglichen uns wahrscheinlich, die Trassierungen der Casseler Gesellschaft auf uns zu ver- meiden oder zu verringern, was in unserem eigensten Inter- esse liegt im Hinblick auf die feindlichen Berliner Kritiken über diese Ziehungen.“
Bemerkenswert ist, wie Exner, um den mit Schmidt getroffenen Vereinbarungen eine schöne Seite auch für die Leipziger Bank abzugewinnen, die Dinge einfach auf den ‚Kopf stellt, indem er sich brüstet, die Trebergesellschaft fester an die Bank gefesselt zu haben. In Wahrheit war es natürlich umgekehrt: Schmidt hatte nach und nach die Leipziger Bank derartig an seine Unternehmungen zu fesseln gewußt, daß sie nachgerade vollständig ins Schlepptau der Trebertroeknung gekommen und sich nun von ihr wohl oder übel weiter hineinschleppen lassen mußte, bis der Strudel kam, der beide zugleich verschlang. Daß eine andere Bank der Trebergesellschaft ihre Hilfe zuwandte, war von Leipzig aus nicht befürchtet, sondern es wäre mit aufrichtigster Freude begrüßt worden, wenn sich jemand gefunden hätte, der der Trebertrocknung einen größeren Kredit eingeräumt und es so der Leipziger Bank ermöglicht hätte, wenn auch nicht sich ganz von Cassel zurückzuziehen,
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so doch die Engagements mit Schmidt nicht noch weiter zu erhöhen. Aber der Argwohn gegenüber Cassel wurde immer größer, und der Gedanke griff im großen Publikum immer mehr Platz, daß es mit den so ungeheuer großen Gewinnen, die die Casseler Bilanzen vorrechneten, eine eigene Sache sein müßte. Vor allem stieß man sich daran, daß die Berliner Zulassungsstelle von ihrem Mißtrauen gegen die Trebertrocknung nicht lassen wollte. Und schon die fortwährende Hinauszögerung der Zulassung der jungen Treberaktien war für Cassel und Leipzig peinlich genug. Man hätte so gern die Welt mit diesen Papieren beglückt, denn die Leipziger Bank hatte bereits so viel Aktien von der Trebertroeknung und ihren verschiedenen Tochter- gesellschaften in ihren Depots, daß sie mit diesen „Werten“ bequem hätte ihre Geschäftsräume austapezieren können. Allein diese Überflutung der Bank mit Treberpapieren war nicht der einzige Grund des Ärgernisses. Wesentlicher war zunächst, daß man sich stark in der freien Bewegung durch jenes Mißtrauen behindert fühlte, mit dem alles, was aus Cassel oder Leipzig an die Öffentlichkeit drang, kritisiert wurde. Selbst die Leipziger Bank hatte bei Aufstellung ihrer Bilanz auf Berlin Rücksicht nehmen müssen, wie in einem Brief Exners an Schmidt vom 12. Januar 1899 zum Ausdruck kommt: „Gleich Ihnen habe auch ich gewaltig schaffen müssen, und es wird Sie gewiß freuen, daß meine Bank einen sehr schönen Abschluß wird ver- öffentlichen können. So flüssig hat noch keine Bilanz von uns ausgeschaut.... Berlin wird beim besten Willen nicht behaupten können, wir hätten uns durch die Trebergesellschaft festgefahren*“ Unangenehmer noch aber wurde die Lage, als die Zu- lassungsstelle gar einen Beauftragten nach Cassel ent- sandte, um die Bücher der Trebertrocknung selbst einzu- sehen. Die Kunde hiervon drang im Herbst 1899 nach Leipzig, während sich Exner gerade auf Urlaub befand.
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Besorgt, daß dieser Besuch für die Bank von Nachteil ge- wesen sein möchte, fragt Gentzsch alsbald bei Schmidt an: „Ich darf wohl annehmen, daß Sie sowohl bei dieser Gelegenheit, wie auch sonst, die Konten der Leipziger Bank als geheim behandelt, d. h. dieselben nicht mit zur Vorlegung gebracht haben, da es, wie Sie gewiß auch werden ermessen können, der Leipziger Bank nicht erwünscht sein kann, Dritten Einblick in die ziffernmäßigen Engagements der Leipziger Bank Ihrer Gesellschaft gegenüber zu gewähren.“ Die Sorge Gentzschs war indessen völlig ungerechtfertigt, denn bereits am nächsten Tage antwortet Schmidt, daß er die Vorsicht gebraucht habe, ein Geheimbuch anzulegen, in dem ein größerer Teil des Guthabens der Leipziger Bank gebucht worden sei, so daß in dem offiziellen laufenden Konto der Bank nicht der tatsächliche Saldo erscheine. Es ist selbstverständlich, daß die Teilung des Leipziger Kreditpostens bei der Trebergesellschaft auch in Leipzig eine Spaltung des Treberschuldkontos nötig machte, damit die beiderseitigen Bücher konform blieben. Das Konto ordinario der Trebergesellschaft bei der Leipziger Bank, das am 30. Juni 1899 sich auf mehr als 101% Millionen Mark beziffert hatte, wurde im September 1899 für rund 8 Millionen erkannt, und dieser Betrag wurde auf einem neuen Konto mit dem nichtssagenden Namen „Vorschußkonto“ der Trebergesellschaft wieder belastet. Auch dies wieder eine rein buchmäßige Operation, die ohne jeden wirtschaftlichen Effekt war. Ihr einziger Wert bestand darın, daß nunmehr neugierigen Fragern mit Leichtigkeit Sand in die Augen gestreut werden konnte. Wer sich etwa in Cassel das Konto der Leipziger Bank zeigen ließ, wußte nicht, daß ein Teil der Bankforderungen auf einem Separatkonto gebucht stand, und wer die Leip- ziger Bankdirektion nach der Schuld der Trebergesellschaft fragte, hatte keine Ahnung davon, daß ihm nur das auf
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Konto ordinario stehende Guthaben der Bank genannt, der gewichtige Umstand aber verschwiegen wurde, daß das offizielle Schuldkonto der Trebertrocknung geteilt und ein zweites Konto eingerichtet worden war, das einen weiteren Teil des regulären Treberobligos enthielt. Der eine Betrugsfall, der Exnern mit zur Last gelegt wurde und ihm denn auch eine Verurteilung wegen versuchten Betrugs zuzog, lief darauf hinaus, daß Exner die Frage nach der Höhe der Treberschuld unter Berücksichtigung nur des einen Kontos beantwortet, demgemäß sich einer groben Täuschung des Fragestellers schuldig gemacht hatte.
Wie wertvoll übrigens die Einrichtung des Vorschuß- kontos der Trebergesellschaft für die Leipziger Bank war, geht daraus hervor, daß trotz der Abbuchung der 8 Milli- onen von dem Konto ordinario der Trebertrocknung am 30. September 1899 doch schon wieder der Stand dieses Kontos fast 9 Millionen Mark wies. Wäre die Abtrennung des Vorschußkontos nicht erfolgt, so wären 17 Millionen Treberschuld sofort ersichtlich gewesen. Daß die Leip- ziger Bank mit solch unschönem Bild nie jemand schrecken wollte, bewies sie dadurch, daß sie den Stand, den das Konto am 31. Dezember desselben Jahres erreichte, rund 11 '/ Millionen Mark, nicht überschreiten ließ, im Gegen- teil schleunig daranging, das schon so beträchtlich. ange- schwollene Konto wieder auf weniger schreckhafte Höhe herunterzudrücken.
Wer freilich annehmen wollte, daß die Trebergesell- schaft im ersten Quartal des Jahres 1900 ıhre Schuld auf 4 Millionen abgedeckt hätte, und daß deshalb das Konto bis auf diesen Betrag sich hatte herabsetzen lassen, der wäre in einem großen Irrtum. Daß Schmidt sich keineswegs aus seiner Not hatte herausarbeiten können, beweist sein Brief an die Bank vom 28. Dezember 1899, in dem er klagt: „Unser Kredit ist nun aber derartig erschüt-
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tert worden, daß wir gar nicht riskieren dürfen, längere Kredite in Anspruch zu nehmen, ohne uns und damit auch Ihre Bank ungeheuer zu schädigen. ... Wir haben uns festgefahren, und wir müssen uns wieder locker machen. Dies bringen wir aber nicht fertig, wenn wir eine engherzige Politik be- treiben. . .“
Daß die Leipziger Bank, nachdem sie einmal sich auf Leben und Sterben mit der Trebergesellschaft verbunden hatte, in der Tat davon Abstand nahm, „engherzige Poli- tik“ zu treiben, beweist die Folgezeit. Freilich mußte da- bei schon besonders Rücksicht darauf genommen werden, daß man mit dem Strafgesetz nicht in Konflikt kam. Schmidt berührt diesen Punkt in dem Briefe vom 15. Januar 1900, in dem es heißt: „Unter gar keinen Umständen darf : ich in meiner Bilanz die hohe Bankschuld, die wir an Sie haben, ausweisen, da nicht nur unser Interesse, sondern auch Ihr Interesse damit aufs empfindlichste geschädigt würde. Wir müssen also versuchen, wie wir über diesen Punkt hinauskommen, und zwar so hinauskommen, daß man uns nichtden Vorwurf der Verschleierung machen kann.“ Den Vorwurf der Verschleierung zog sich die Leipziger Bankverwaltung allerdings zu, und schlimmeren sogar.
Es kann nicht Aufgabe dieser Zeilen bilden, darzu- legen, durch welche einzelnen Manipulationen die An- geklagten des Leipziger Bank-Prozesses den Tatbestand strafbarer Handlungen erfüllt haben. Dazu bedürfte es des Eingehens auf zahlreiche mehr oder minder verwickelte Geschäfte, die die Trebergesellschaft, sei es mit der Leip- ziger Bank, sei es unter Beistand derselben mit anderen Firmen schloß; und es wäre ferner nötig eine Darlegung der kaufmännischen Gepflogenheiten und der einschlagen- den Gesetzesbestimmungen, die für die buchmäßige Be- handlung der geschlossenen Geschäfte maßgeblich sein
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mußten. Solches Detail zu bringen, das zudem nicht jedermann, selbst dem kaufmännisch Gebildeten kaum. ohne breitere Ausführungen verständlich sein würde, liegt umsoinder weniger Veranlassung vor, als die Anklage keines- wegs etwa in der Anführung einer großen Menge von Einzel- heiten und in der Aufstellung subtiler Erwägungen über buchtechnische Fragen gipfelte. Freilich war viel neben- sächliches Beiwerk den Kernpunkten der Anklage um- lagert; die Geschworenen, die nach den einschlägigen prozessualen Vorschriften mit der Aburteilung des schwie- rigen und komplizierten Anklagefalls befaßt werden mußten, hatten ein Recht, alles zu erfahren, was gegen die An- geklagten vorlag, damit sie sich ein vollständiges und lückenloses Bild von deren Verhalten bilden konnten. Es war zudem Pflicht der Anklagebehörde, ihnen nichts vor- zuenthalten, was zum Verständnis der Handlungsweise der angeklagten Personen und zu einer gerechten Beurteilung aller objektiven und subjektiven Momente dienen konnte. Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß es den einge- setzten Richtern von Wert sein mußte, zu erfahren, wie insbesondere - die Hauptangeklagten allmählich zu immer verhängnisvolleren Schritten sich hatten hinreißen lassen, bis sie einen vom Gesetzgeber als „Verbrechen“ markierten Tatbestand verwirklichten. Darum mußte den Geschworenen das unerhörte Opfer an Zeit und Ausdauer zugemutet werden, bis in die sechste Woche hinein in der Hauptverhand- lung den Erörterungen über das Treiben und die Schick- sale der Trebergesellschaft und der Leipziger Bank zu folgen. Durch diese genaue Darlegung des Prozeßstoffes war ihnen freilich die Möglichkeit geboten, sich völlig in die Empfindungen der Personen hineinzudenken, die die Verbindung der Leipziger Bank mit der Trebertrocknung geknüpft und zum Schaden der Bank aufrechterhalten hatten. Und hierauf mußte es ankommen, damit die Ge- schworenen nicht in Gefahr gerieten, an den äußeren Er-
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eignissen und den Folgen der Katastrophe haften zu bleiben.
Deshalb wurde in der Hauptverhandlung nicht nur die Geschichte der Treberverbindung eingehend behandelt, sondern vor allem wurde auch, insbesondere an der Hand der zwischen Leipzig und Cassel gewechselten Briefe, ein- gehend erörtert, wie die Leipziger Bank nach und nach in immer größere Abhängigkeit von dem Casseler Treber- direktor geriet. Die Mittel, deren sich die Bank bediente, um trotz der Ungunst: der Verhältnisse eine gute Bilanz aufzustellen, sind zunächst wenig bedeutsam. Forderte doch auch im Anfang nicht das eigene Interesse Rück- sichtnahme auf vorsichtige Buchführung, Inventarisierung und Bilanzierung, sondern die Trebergesellschaft war es, die zuerst zu Versuchen schritt, die wahre Sachlage möglichst zu verschleiern. Sie hatte infolge der heftigen Angriffe seitens der alten Holzverkohler und des dadurch gesteigerten Mißtrauens der Berliner Zulassungsstelle, die ihre Bilanzen scharf unter die Lupe nahm, vor allem darauf zu achten, wie sie sich der zahlreichen Aktien ihrer Tochtergesell- schaften baldigst entledigen könnte. Das war nun freilich eine ziemlich schwierige Aufgabe. Das wachsende Miß- trauen gegen Schmidts Gründungen brachte es mit sich, daß, nachdem der erste Trebertaumel vorüber war, das Publikum spröde wurde und die neuen Papiere nicht mehr aufnehmen wollte. Nun lag es ja allerdings nahe, daß die. Liebenswürdigkeit der Leipziger Freunde auch hier helfend eingriff. Allein gerade der Umstand, daß der gute Wille hierzu bereits oft genug durch die Tat be- wiesen worden war, mußte die Leipziger Bank bestimmen, in ihren Hilfsaktionen vorsichtig zu sein. Sie hatte bereits sehr bedeutende Mengen Treberaktien unter ihren Beständen; teilweise zwar sollte es sich dabei nur um kurzfristige Bevorschussungen handeln, allein die kurzen Fristen mußten immer und immer wieder verlängert werden. Und da die
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Trebergesellschaft die Effekten nicht zurücknehmen konnte, eine andere Stelle sich aber nicht fand, die sie sonst hätte übernehmen wollen, so bestand Gefahr, daß die Bank die schön gedruckten Papiere in ihren Tresors behielt, und dieser zweifelhafte Schatz sich auch noch mehrte.
Aus dieser mißlichen Lage mußte ein Ausweg ge- funden werden, und er wurde in einer Weise gefunden, daß nicht nur einer Verletzung der Casseler Interessen vorgebeugt, sondern auch das Wohl der Leipziger Bank gewahrt wurde. Die Berliner Zulassungsstelle hatte von Schmidt nicht nur den Nachweis gefordert, daß die Treber- trocknung die in ihrer Bilanz befindlichen Tochterwerte verkauft habe, sondern sie wollte auch noch die Zu- sicherung haben, daß die Veräußerung ohne die Gesell- schaft belastende Bedingungen erfolgt sei. Schmidt gab, nachdem er sich mit der Leipziger Bank in Verbindung gesetzt und deren Zustimmung zu einer Reihe von neuen Geschäften erlangt hatte, die gewünschte Versicherung ab. Er verschwieg dabei aber eine sehr wichtige Tatsache, die der Annahme eines glatten Verkaufs vollständig wider- sprach, zu der die Zulassungsstelle, wenn sie sich mit Schmidts Angabe begnügte, kommen mußte und nach Schmidts Willen auch kommen sollte. Diese Tatsache bestand darin, daß in den Briefen an die Leipziger Bank, an die allerdings auch die neuerdings abgestoßenen Treber- werte gesandt wurden, zwar nicht die Trebertrocknungs- gesellschaft die Verpflichtung übernahm, die Papiere nach bestimmter Zeit zu vereinbartem Kurs wieder zurückzu- kaufen, wie sonst wohl bei den Verkäufen der letzten Zeit vereinbart worden war, sondern daß lediglich Schmidt per- sönlich sichverpflichtete, der Leipziger Bank einen „Barkäufer“ für diese Werte zu bringen. Mit diesem feinen Schwindel wurde die Zulassungsstelle in der Tat dupiert, und Schmidt konnte, wie schon oft, wieder einmal des frohen Bewußtseins leben, um drobende Klippen herumgekommen zu sein.
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Daß das Interesse der Leipziger Bank weitere Maß- nahmen erheischte, lag auf der Hand. Mußte man sich schon bereit finden, die Trebergesellschaft von den unan- genehmen Tochterwerten zu befreien, so wollte man sich doch andrerseits die Möglichkeit sichern, unbequemen Fragern mit dem Brusttone der Überzeugung die nahe- liegende Vermutung als unbegründet einzustreiten, daß ' die Leipziger Bank die Trebertochteraktien übernommen hätte.
Selbstverständlich dachten die verständigen Leiter der Leipziger Bank nicht daran, in ihrer Not etwa zn plumpen Lügen ihre Zuflucht zu nehmen. Stand doch dem Kundigen die Möglichkeit offen, die abzuschließenden Geschäfte in eine solche Form zu kleiden, daß die gewünschten Wir- kungen erzielt wurden, ohne daß dabei die Tendenz des Geschäftes offenbar würde. So bot sich als geeignetes Mittel, Treberwerte zu übernehmen und doch sich als Be- sitzer solcher Effekten nicht bekennen zu müssen, für die Leipziger Bank der Abschluß von Konsortialgeschäften. Man gewährte andern einen Anteil an dem Geschäft, in- dem man sich mit ihnen zu einem Konsortium zusammen- schloß. Die Personen, die neben der Bank an dem Ge- schäfte beteiligt wurden, mochten sie selbst Vorstands- oder Aufsichtsratsmitglieder des eigenen Instituts sein, standen der Bank insoweit als Fremde gegenüber. Was sie mit der Bank zusammen an Treberwerten übernahmen, galt, selbst wenn die Bank etwa den Kaufpreis für sie verlegte, als Konsortialbesitz und wurde dementsprechend gebucht.
Solchen Charakter hatte bereits das im Jahre 1898 bei der Leipziger Bank errichtete Trustkonto. Der Zweck des sogenannten Trustsyndikats ging dahin, zunächst für nicht weniger als 3 Millionen Mk. Treberpapiere zu über- nehmen. In diesem Falle war zwar die Leipziger Bank selbst mit vollen 97 Proz. an dem Geschäfte beteiligt, so
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daß es nahe gelegen hätte, wenn die Bank den bedeutenden Posten auf ihr eigenes Effektenkonto hätte verbuchen lassen. Da sie aber nun einmal — offenbar um eben dieser Notwendigkeit zu entgehen — drei andre noch zu je 1 Proz. an dem Geschäfte partizipieren ließ, so erschien buchmäßig die Einrichtung des Trustkontos gerechtfertigt. Jedem der vier Beteiligten wurde sein Anteil auf einem Separatkonto, genannt „Einzahlungskonto für Syndikat Trust“ belastet, während das Trustkonto selbst mit einem ganz geringfügigen Betrag zu Buche stand. Da die ein- zelnen Separatkonten in der Bilanz unsichtbar unter den Debitoren zu führen waren, so wurde durch dieses große Engagement in der Tat das Konsortialkonto nicht erhöht. Die auf das Trustkonto übernommenen Papiere sollten allerdings einer mit Schmidt getroffenen Vereinbarung ge- mäß Mitte 1900 von. der Trebertrocknung zu höheren Preisen zurückgekauft werden. Allein diese Abmachung blieb, nachdem zunächst einmal der Abnahmetermin ver- geblicb hinausgeschoben worden war, auf dem Papiere stehen. Man half sich endlich dadurch aus der Verlegen- heit, daß man unter Fortbestand der von Cassel über- nommenen Bürgschaft für Rücknahme der Papiere einem neu gebildeten anderen Konsortium die Effekten belastete. Bemerkenswert ist dabei noch, daß die Leipziger Bank aus diesem Treber-Konsortialgeschäft allein während des 23/4 jährigen Bestehens des Trustsyndikats einen Buch- gewinn von rund 1820000 M. zog.
An diese Behandlung der Trustwerte dachte man in Leipzig, als die kleinen Mittelchen, mit denen man bisher den Casseler Bilanzen ein gutes Aussehen verschafft, dem eigenen Institut aber gleichzeitig einen günstigen Abschluß zu sichern gewußt hatte, nicht mehr recht verfingen. Die Trebergesellschaft hatte im Frühjahr 1900 das dringende Bedürfnis, einen Posten von 10 Millionen Treberwerten zu veräußern. Zwei Mitglieder des Leipziger Aufsichtsrats
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beteiligten sich zu geringem Prozentsatz an zwei für ge- wisse Tochterwerte der Trebergesellschaft gebildeten neuen Syndikaten. Den Hauptteil, der so groß war, daß der Name „Konsortial-Geschäft“ fast wie eine Farce klingen mußte, hatte wiederum die Leipziger Bank selbst. Nicht weniger als 10 weitere „Konsortien“ wurden aber zu gleicher Zeit mit etwa 8 Millionen Treberwerten in den Büchern der Bank eingetragen, ohne daß hier der Titel „Konsortium“ auch nur den geringsten Anspruch auf Be- rechtigung hätte erheben können. Für zwei Effektensorten zwar ließ sich Exner mit nicht erheblichen Bruchteilen des Gesamtbetrags als „Konsorte“ eintragen, indessen nur, um an demselben Tage sich mit seinem Anteil auf seinem eigenen Konto belasten, die Leipziger Bank als einzige Mitbeteiligte aber als „Konsortium“ in den Büchern der Bank weiterleben zu lassen. Abgesehen von diesen zwei Fällen, wo ein „Konsortium“ wenigstens für einige Stunden bestand, war der Titel aber nur leere Form, unter der die übrigen Treberwerte in den Büchern der Bank erschienen. Da Exner von seinem Aufsichtsrat, an den er vermutlich in erster Linie gedacht hatte, als er die neu übernommenen Casseler Effekten für ein „zu bildendes Konsortium“ kaufte und buchen ließ, offenbar nicht die Zustimmung erhielt, die bedeutenden Posten auf alleinige Rechnung zu über- nehmen, so mochte er in Verlegenheit gekommen sein, wie er die Werte in der per 31. Dezember 1900 zu veröffent- lichenden Bilanz verbuchen sollte. In dem Konsortial- konto mit der Bezeichnung „Eigene Beteiligung an In- dustrie-Unternehmungen“, das regelmäßig in den Berichten erwähnt zu werden pflegte, die neuen Treberposten unter- zubringen, daran konnte Exner nicht denken. Denn bei einer Erhöhung dieser Rubrik um 8 Millionen wäre alle Welt stutzig geworden und auf den Gedanken gekommen, es hätten die von der Trebertrocknung wegen der „Berliner
Zulassungsstelle“ abgeschobenen Werte den Weg zur Leip- Der Pitaval der Gegenwart. II. 9
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ziger Bank gefunden. Aus demselben Grunde blieb auch der Bank die Möglichkeit genommen, die Casseler Papiere etwa unter ihren „eigenen Effekten“ zu verbuchen. Von ihrem Standpunkt aus mußte ihr nur noch der eine Weg offen erscheinen, den sie denn auch beschritt: das war der, daß Exner den Kontotitel „Konsortium“ in „Konto für...“ abändern ließ, so daß die Werte nun einfach unter den Debitoren verschwanden.
Die Verlegenheit der Leipziger Bank-Direktion, die sich darin zeigte, daß sie Werte, die Cassel unter allen Um- ständen abzustoßen wünschte, zwar übernahm, aber offen als ihren Besitz zu bekennen sich scheute, zeitigte auch andere Erscheinungen, die unter normalen Umständen bei einem Institut, das sonst allenthalben korrekt zu handeln sich bestrebte, kaum zutage getreten wären. So betraf das Hauptgeschäft, durch das man Cassel an Treberwerten erleichterte, einen Betrag von 33/4 Millionen Obligationen der Russischen Tochtergesellschaft der Trebertrocknung. Hier wurde mit dem Gegenwerte von 3374325 Mk. nicht nur ein Konsortium belastet, das gar nicht vorhanden war, sondern das Auffällige war, daß die von der Leipziger Bank gekauften Obligationen erst noch erscheinen soll- ten, daß aber auch die Buchung belassen wurde, ob- wohl in der Folgezeit die Stücke überhaupt nie geliefert worden sind. Die Russische Holzdestillations-Aktienge. sellschaft war nämlich erst dann verpflichtet, Obligationen überbaupt auszugeben, wenn ihr die Casseler Zentrale ge- wisse Maschinen geliefert, und sie dieselben als brauchbar befunden und abgenommen haben würde. Die Leipziger Bank kannte diese Verhältnisse, denn die Russische Ge- sellschaft hatte sich keineswegs schlechthin zur Über- sendung der Obligationen bereit erklärt, sondern klar und deutlich, dem Sachstand entsprechend, geschrieben: „Dem- gemäß hat uns die Aktiengesellschaft für Trebertrocknung beauftragt, die Obligationen, die wir dieser Gesellschaft
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für ihre Lieferungen sukzessive auszufolgen haben, Ihnen direkt zur Verfügung zu stellen.“ Es stand also keineswegs fest, wann die Leipziger Bank in Besitz der Papiere kommen würde; ja es war nach den Erfahrungen, die die Leipziger Bank bis dahin gesammelt hatte, überhaupt zweifelhaft, ob je für die Russische Gesell- schaft die Verpflichtung eintreten würde, die Obligationen zu schaffen. Denn häufig genug war schon der Fall ein- getreten, daß die von Cassel gelieferten Maschinen nicht das leisteten, was sie vertragsgemäß leisten sollten, und daß deshalb die gesamten Anlagen umgebaut oder gar die Maschinen als wertlos beiseite gebracht werden mußten. Über die Bedenken, die solche Erwägungen wach- rufen mußten, setzte man sich in Leipzig kühn hinweg; man wollte eben unter allen Umständen in den Büchern zugunsten der Casseler Bilanz und zur Herabminderung des bereits zu so ansehnlicher Höhe angeschwollenen Treberobligos bei der Leipziger Bank eine Gutschrift er- wirken.
Ein bedenkliches Mittel zur Erzielung desselben Effekts war ferner die Hereinnahme von Wechseln, die den Cha- rakter von bloßen Finanzwechseln trugen. Teilweise hatten die Casseler Tochtergesellschaften nur so zu kärglichem Dasein erweckt werden können, daß die Trebertroeknung sich Bargeld von der Leipziger Bank schicken ließ, das bei dem Gründungsakt dem beurkundenden Notar vor- gelegt wurde, um darauf alsbald an die Leipziger Bank zurückzuwandern. Und wenn die Tochterunternehmungen nicht so von allem Anfang an jeder Barmittel entblößt, sondern zunächst vielleicht mit einigem Betriebskapital versehen gewesen waren, so hielt doch dieser Zustand nie lange an. Denn die Belastungen, die die Tochter- gesellschaften für die von der Casseler Zentrale gelieferten Maschinenanlagen sowie für die zu enormen Summen über-
lassenen Lizenzen vom Tage der Gründung an erfahren 9*+
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hatten, waren gewöhnlich so außerordentlich hoch, daß sie ein für allemal die wirtschaftliche Unselbständigkeit der Gesellschaft besiegelten. Wenn demnach die Trebertrock- nung, um nicht die Menge der von ihr selbst umlaufenden Wechsel zu vermehren, von ihren Tochterunternehmungen Akzepte einforderte, so hätten diese eben wegen ihrer voll- ständigen Abhängigkeit von Cassel diesem Begehren will- fahren müssen, auch wenn sie nicht in den Büchern der Trebergesellschaft stets als Schuldner geführt worden wären. Die Akzepte der Treber-Tochtergesellschaften, die Schmidt zur Verfügung gestellt wurden, mußten also auf alle Fälle sehr problematischen Wert haben.
Die Leipziger Bank war viel zu genau über den Charakter der Schmidtschen Trassierungen unterrichtet, als daß sie je ernstlich den Glauben gehabt hätte, sie dürfe aus den zahlreich übersandten Wechseln — im Frühjahr 1900 waren es allein für 6000000 Mk. — wirklich Ein- gänge erwarten. Aus dieser Überzeugung heraus läßt es sich auch erklären, daß sie völlig kritiklos alles herein- nahm, was ihr einen formellen Grund zu einer Gutschrift auf dem Treberkonto bieten konnte. Ob die Wechsel über Beträge lauteten, die Zweifel aufkommen ließen, daß die Wechselgeber wirklich Schulden in Höhe des Akzeptbetrags bei der Trebertrocknung hätten, oder ob die Überzeugung bestand, daß das schwache Gebäude der Tochtergründung eine so hohe Belastung gar nicht vertragen konnte, wie aus den von Cassel ausgeschriebenen Wechseln sich er- gab, das alles galt der Leipziger Direktion gleich. Kannte sie doch als der einzige Bankier Schmidts die Verhältnisse des Treberkonzerns, von Einzelheiten abgesehen, so gut, daß es gar nicht der deutlichen Sprache bedurft hätte, mit der von Cassel aus die: mannigfachen Transaktionen als rein buchmäßige, einer wirtschaftlichen Wirkung ent- behrende hingestellt wurden. Wenn die Leipziger Bank trotzdem sich dann und wann den Anschein gab, als ob
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sie die wahre Lage der Verhältnisse nicht überblicke, und sie deshalb Anspruch auf bare Abdeckung der Treber- schuld erhob, so wies sie Schmidt mit klaren Worten auf das Zwecklose solchen Gebarens hin. Hierher gehört z. B. ein Brief Schmidts vom 19. April 1900. Die Leip- ziger Bank hatte sich wieder einmal über die fortgesetzten Dispositionen der Trebergesellschaft beklagt, der keine An- schaffungen gegenüberstanden, und die im Frühjahr 1900 geschlossenen Geschäfte dabei richtig charakterisiert mit den Worten: „Die Ermäßigung des Kontos ist zu einem großen Teile dadurch erzielt worden, daß wir sehr be- deutende Posten Effekten übernommen haben, und der derzeit niedrige Stand des Kontos darf uns nicht in Bezug auf die Höhe des tatsächlichen Engagements täuschen.“ Und weiter hatte sie darauf hingewiesen, daß auch die von Schmidt überschickten Wechsel keineswegs als Deckung gelten könnten, die Bank daher die Übersendung von Kunden wechseln for- dern müsse. Schmidt antwortete hierauf, daß allerdings in Cassel sowohl wie in Leipzig „Riesenengagements“ be- ständen und deshalb danach gestrebt werden solle, die Kasseler Engagements „in kürzerer Zeit wieder auf eine vernünftige Basis zu reduzieren“. Indessen äußert Schmidt sein Mißfallen über die Art und Weise, wie die Leipziger Bank es versuche, ihn zu Herabminderung des _ großen Obligos oder doch zu einer Einschränkung seiner Dispositionen zu bestimmen: „Es ist Ihnen genau so gut wie mir bekanut, daß wir anderweitig Kre- dite nicht in Anspruch nehmen können, und uns dies auch nur möglich wird, wenn wir durch ruhige Arbeit das Vertrauen wieder gewonnen haben. ... Nach Ihrem gestrigen Brief ist meine ganze Arbeit nutzlos, denn die- selbe kann ich nur mit Erfolg durchführen, wenn meine Gesellschaft eine brauchbare Bilanz veröffent- lichen und dieDividende zur Auszahlung bringen
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k ann, welche zur Durchführung der Pläne notwendig erscheint. Es handelt sich also darum, daß wir die Dividende von 20—25 Proz. zur Ausschüttung gelangen lassen können. .. .* Und bezüglich der letzten Wechsel- überweisungen heißt es in einem Briefe an die Leipziger Bank vom gleichen Tage: „Ich erwidere Ihnen, daß ich im Laufe des Monats März einen Teil unserer Forderungen, mit Rücksicht auf unseren Jahresabschluß trassieren ließ und Ihnen girierte, und daß meine Gesellschaft die Ver- bindlichkeit hat, diese Akzepte bei Verfall einzulösen. Ich habe Sie auch bei Übersendung dieser Tratten davon unterrichtet, daß diese Ausschreibungen ledig- lich den Zweck hatten, den Stand ihres Kontos herabzumindern.“
So waren alle im Frühjahr 1900 von der Leipziger Bank mit dem Treberdirektor verabredeten Transaktionen ungeeignet, der Bank wirtschaftlich irgendwelche Er- leichterung zu schaffen, Sie zielten ausnahmslos auf rein buchmäßige Effekte hin, und nur von diesem Stand- punkt aus läßt sich überhaupt begreifen, wie die Bank sich zum Abschluß solcher Geschäfte verstehen konnte. Die Übernahme von Treber-Tochterwerten, die zunächst als Bestand eines „Konsortiums“ gebucht wurden, die Herein- nahme von Wechseln, die von den Akzeptanten nicht ein- zulösen waren, die Annahme von Hypotheken auf Grund- stücke der Tochtergesellschaften, deren Güte nicht geprüft wurde, obwohl die Höhe der Hypothek bisweilen dem Be- trage der von der Tochtergesellschaft eben erst ausgestellten Akzepte gleichkam und schon deshalb Argwohn wegen der Begründetheit der Belastung aufkommen mußte, alle diese geschäftlichen Operationen waren für die Leipziger Bank lediglich ein Mittel, um für die Trebergesellschaft Gut- schriften zu ermöglichen, durch die die so erschrecklich hohe Treberschuld herabgemindert werden konnte. Und der Er- folg war denn auch, entsprechend den Beträgen, um die
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es sich bei jenen mehr oder weniger zweifelhaften Trans- aktionen handelte, der, daß rund 21 Millionen von dem Casseler Schuldkonto abgeschrieben wurden. Die Wirkung für die Casseler Bilanz bestand darin, daß hier nur 5 Mil- lionen Mark Kreditoren erschienen. Es bedarf keiner Aus- führung, daß die Einstellung eines Kreditorenpostens von 26 Millionen Mark, zu der es ohne den Abschluß jener Ge- schäfte hätte kommen müssen, der Trebergesellschaft ver- hängnisvoll geworden wäre und ebenso auch der Leipzi- ger Bank, denn unter ihren Debitoren hätte man den größten Teil der enormen Casseler Schuldenlast sofort vermutet.
Daß in Wahrheit das Casseler Obligo innerhalb des letzten Jahres keineswegs zurückgegangen war, zeigten die Bücher der Leipziger Bank aufs deutlichste. Zwar wies das Konto ordinario der Trebertrocknung am 31. März 1900 gegenüber ultimo 1899 nur etwas über 4 Millionen Mark auf, und das erwähnte Vorschuß-Konto der Trebergesell- schaft zeigte gegen 8 Millionen früherer Schuld überhaupt keine Belastung. Dagegen ruhte, wie oben dargetan, auf Ordinarkonto tatsächlich eine Verpflichtung der T'reber- gesellschaft, weil die Hingabe von Wechseln in Wahrheit die Schuld Cassels nicht reduzierte. Auf dem offiziellen Schuldkonto betrug das Rimessenobligo der Trebertrock- nung rund 13 Millionen, auf dem Vorschußkonto aber rund 6 Millionen Mark. Die Gesamtsumme aller Verbindlich- keiten aber, die auf den verschiedensten Konten gebucht waren, belief sich am 31. März 1900 auf 51 Millionen Mark gegen 47 Millionen im Vorquariale und 34 Millionen im Vorjahre. Daß auch im Jahre 1900 das flotte Anwachsen der Engagements keinen Stillstand erreichte, beweist der Umstand, daß am 30. September 1900, trotzdem die Ri- messenschuld ungefähr gleich geblieben war, das Ordinar- konto doch wieder einen Stand von 8 und das Vorschub- konto einen solchen von 9 Millionen Mark zeigte.
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Am 23. und 24. Oktober 1900 befaßte sich die bei der Leipziger Bank bestehende Obligokommission eingehend mit der Prüfung des Treberobligos. Der Beschluß, zu dem man dabei gelangte, lautet wörtlich: „daß die Verbindung mit gedachter Gesellschaft zur Vermeidung von gro- Ber Schädigung der Bank nicht gebrochen wer- den dürfe, daß die Leipziger Bank vielmehr zur Ver- meidung großer Verluste der Casseler Gesellschaft auch für die Zukunft Kredit zur Verfügung stellen müsse.“ Frei- lich fühlte man sich veranlaßt, gleichzeitig eine sehr ver- nünftige Bedingung aufzustellen: „Es wurde jedoch von den Erschienenen einstimmig erklärt, daß die Aufrechter- haltung des Kredits für die Casseler Gesellschaft nur dann stattfinden solle, wenn die Casseler Gesellschaft die Ein- stellung eines von der Bank zu erwählenden Vertrauens- mannes gestattet, welchem es obliegt, die Geschäftsführung der Trebergesellschaft einer eingehenden Prüfung zu unter- ziehen und bis auf weiteres zu überwachen in dem Um- fange, daß er in alle Schriftstücke und Geschäftsbücher, sowie geschäftliche Vorkommnisse Einsicht zu nehmen be- rechtigt ist.“ Hätte die Leipziger Bank dieses Verlangen früher gestellt, so hätte der Direktor der Trebergesellschaft unbedingt willfahren müssen, denn er war von der Leip- ziger Bank abhängig. Durch solche zur rechten Zeit er- griffene Maßnahme wäre die Leipziger Bank vor unge- heuren Verlusten bewahrt geblieben; denn die unerhörten Bücherfälschungen und der schwindelhafte Geschäftsbetrieb des Treberdirektors, die nach der Katastrophe aufgedeckt wurden und Schmidt denn auch eine Verurteilung wegen betrüglichen Bankerutts einbrachten, wären selbstverständ- lich auch schon damals bei sachverständiger Prüfung durch einen Beamten der Leipziger Bank ans Tageslicht ge- kommen. Als sich die Obligokommission zu solchem Ent- schluß emporrang, war freilich ein günstiger Erfolg nicht mehr zu erwarten. Die Verluste der Bank durch die
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Treberverbindung waren bereits besiegelt, und der Zwang, der früher den Treberdirektor den Wünschen seines Ban- kiers hätte gefügig machen müssen, bestand nicht mehr. Im richtigen Gefühle, daß er jetzt die Leipziger Bank seinerseits in der Hand habe, wies denn Schmidt auch die Zumutung, sich im eigenen Hause durch Fremde kon- trollieren zu lassen, mit Entrüstung zurück ; und die Leipziger Bank mußte wohl oder übel von Durchführung ihres klugen Beschlusses absehen. Sie zögerte zwar zeitweilig in der Honorierung der von Schmidt, oft ohne vorherige Ansage, auf sie gezogenen Tratten und in der Ausführung der sonstigen Zahlungsaufträge, ließ es auch ob der fortwäh- renden Weitererhöhung der Engagements nicht an Vor- würfen fehlen. Indessen war alles vergeblich. Schmidt übersah die Sachlage sehr wohl, wenn er als Antwort darauf Darlegungen gab, wie sie z. B. in seinem Schrei- ben vom 19. Oktober enthalten sind: „Wir schweben nach zwei Seiten in großen Gefahren. Die eine Seite ist die, daß über die großen Engagements, welche zwischen uns bestehen, etwas nach außen dringen könnte....., 2) daß unser schon vollständig ruinierter Kredit und Ihr Verhalten gegenüber unseren notwendigen Dispo- sitionen uns täglich in die Gefahr bringt, unsere Zahlungen einstellen zu müssen. Wir sind ledig- lich auf Sie angewiesen! ... Wie die Sache insgesamt heute liegt, ist die gute Durchführung der ganzen Unter- nehmungen nur dann mit Sicherheit möglich, wenn Sie meine Gesellschaft weiter unterstützen und so weit, wie es nötig ist, auch diejenigen Mittel beschaffen, welche zur Durchführung bei der größten Sparsamkeit unvermeidlich sind. Ich stehe auf dem Standpunkt, daß Ihre Interessen und diejenigen meiner Gesellschaft durch die enormen En- gagements, in welche wir gegenseitig durch die Verhält- nisse geraten sind, ganz identisch sind. Die großen Summen, welche Sie, sei es bei unserer Gesellschaft, sei
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. es bei unseren Tochterunternehmungen investiert haben, sind nichts wert, wenn wir nicht die verschiedensten Unternehmungen zu rentabelen gestalten.“ Schmidt schlägt nun in dem Briefe, um wenigstens buchmäßig eine Erleichterung der Lage herbeizuführen, wiederum eine Reihe neuer Transaktionen vor und fährt dann fort: „Nachdem die obigen Buchungen durchgeführt sind, sind unsere Bücher derartig rein, daß wir sie einer jeder fremden Person vorlegen können, was uns heute mit Rück- sicht auf die zwischen uns bestehenden großen Engagements unmöglich ist. Ich denke nun, daß es mir gelingt, wenn ich den Nachweis führe, daß unsere Werke vorwärtskommen und gut rentieren, und gleichzeitig meine Bücher zur Einsicht zur Verfügung stellen kann, von anderen Banken Kredit zu erhalten. — Ich weiß recht wohl, wie schwer es Ihnen bei den sroßen Engagements, die Sie schon haben, fallen wird, noch weitere Kredite meiner Gesellschaft zu ge- währen, und ich wende mich auch erst an Sie mit diesem Verlangen, nachdem ich gesehen habe, daß es zur Zeit unmöglich ist, von anderer Seite das nötige Geld beschaffen zu können. Die Frage ist heute, können die nötigen Beträge in obigem Umfang noch geschafft werden, so ist alles gesichert, ist das nicht möglich, so können wir nicht wei- ter arbeiten.“
Der Brief, der gewiß an Deutlichkeit nichts zu wün- schen übrig läßt, traf die Beurteilung der Verhältnisse so richtig, daß sich die Leipziger Direktion den von Schmidt darin gezogenen Schlüssen nicht entziehen konnte. Sie mußte, obwohl es ja nicht das einzige Mal gewesen war, daß Schmidt vor dem Abschluß seiner Unternehmungen zu stehen glaubte, wohl oder übel auch jetzt wieder sich dazu verstehen, die neu geltend gemachten Bedürfnisse der Trebertrocknung zu befriedigen. 5 Millionen Mark forderte
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Schmidt wiederum, angeblich als letzte Unterstützung. Und neue 5 Millionen flossen nach Cassel, wennschon die Be- schaffung von Bargeld der Leipziger Bank selbst nach- gerade begann, Mühe zu kosten.
So lagen die Verhältnisse zu der Zeit, als die Ver- waltungsorgane der Leipziger Bank nicht mehr allein Rück- sicht auf die Interessen der Trebergesellschaft nahmen, sondern bei allem, was sie taten, zunächst das Wohl ihres eigenen Instituts beachten mußten, das von Tag zu Tag ernstere Sorgen bereitete. Bis dahin hatte man in eifrig- ster Förderung der Treberinteressen alles getan, was man zur Durchführung der Schmidtschen Riesenpläne nur hatte vornehmen können. Schwere Vorwürfe mußten sich an solches Tun knüpfen. Denn Direktion wie Aufsichtsrat hatten nicht bedacht, daß sie fremde Gelder zu verwalten hatten und deshalb vorsichtiger noch zu Werke gehen mußten, als wenn sie etwa als Einzelkaufleute lediglich ihre eigene Haut zu Markte trugen. Die Vorstandsmit- glieder der Bank hätten Schmidts Persönlichkeit mit dem nüchternen Blicke des Kaufmanns erforschen, des Treber- direktors Riesenpläne mit der kühlen Überlegung des seinen eigenen Nutzen berechnenden Bankiers erwägen und als Angestellte eines Aktienvereins in erster Linie die Inter- essen der Gesellschaftsmitglieder in sorgfältigster Weise zu fördern suchen müssen, ebenso wie der Aufsichtsrat mit gleicher Gewissenhaftigkeit nach denselben Grundsätzen die Vorschläge der Direktion zu prüfen und die Geschäftstätig- keit der Direktoren zu überwachen verpflichtet gewesen wäre. Immerhin waren die Vorwürfe, die sich an die Ver- säumung dieser Pflichten anschlossen, nicht krimineller Art. Die Anklage lautete nicht, wie man vielleicht denken könnte, auf aktienrechtliche Untreue, so daß etwa der Ver- such unternommen worden wäre, den Angeklagten nach- zuweisen, sie hätten als Mitglieder des Vorstands oder des Aufsichtsrates der Leipziger Bank „absichtlich zum Nach-
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teile“ der Aktiengesellschaft gehandelt. Ein solcher Nach- weis wäre auch wohl schwerlich zu führen gewesen. Denn unvorsichtiges und nachlässiges Verhalten schloß immerhin die Möglichkeit nicht aus, daß die Bankorgane bei dem, was sie bewußt unternahmen, die Erzielung von Gewinn erstrebten und insbesondere später immer noch die Ver- besserung der Lage von ihren Maßregeln erwarteten. Sie glichen in ihrer Gewinnsucht dem verwegenen Spieler, den blinde Leidenschaft dazu verführt, alles auf eine Karte zu setzen, und der das verhängnisvoll gewordene Spiel fort- setzt in der vagen Hoffnung, so seine Verluste wieder ein- zuholen. Nicht weil die Bank sich durch frivoles Spiel selbst zugrunde gerichtet hat, wurden ihre Organe unter Anklage gestellt, sondern weil sie über die Interessen des eigenen Instituts hinaus verletzend in die Rechtssphäre Dritter übergriffen. Auf der Schwelle zum Jahre 1901 be- traten die verantwortlichen Organe der Leipziger Bank die schiefe Ebene, die zu den Vorwürfen strafrechtlicher Natur führte, die in dem Leipziger Bank-Strafprozeß ihre Erörterung fanden.
Auch hier wieder kann es nicht darauf ankommen, jede einzelne Phase der neuen Transaktionen zu behan- deln, die die Anklageerhebung rechtfertigten. Und noch weniger ist es angängig, die rechtliche Konstruktion der Anklage zu zergliedern und in eine Darlegung der schwie- rigen Rechtsfragen einzutreten, die der Anklagefall in zahl- reicher Menge aufrollte.1) Vielmehr soll nur in großen Grundzügen das wiedergegeben werden, was gewissermaßen die Angelpunkte des Prozesses bildete.
Das dem Ende zuneigende Geschäftsjahr 1900 forderte
1) Vgl. hierzu von Gordon in der Deutschen Juristenzeitung 1902 S.371f.; Mittelstaedt ebenda S. 520f.; Rehm, Die Bilanzen der Aktiengesellschaften usw., S. 897ff.; Hecht in den Schriften des Vereins für Sozialpolitik Bd. VI S. 373 ff.; Weber im Gerichtssaal Bd. LXII S. 362 ff., Bd. LXV S. 63 ff.
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das erste Mal, daß die Leipziger Bank im eigenen Interesse besondre Maßnahmen traf. Weniger zwar auch hier, um zu guter Bilanzgestaltung zu gelangen. Denn was konnten im Grunde geschickt gruppierte Zahlen verraten, die ja doch nur die Endergebnisse verschiedener Kontenbewegungen anzeigten, indessen darüber Aufschluß nicht brachten, aus welchen einzelnen Faktoren sich die Summe der Debitoren und andrer Posten zusammensetzte. Gerade weil die Bilanz so farblos wie möglich zu gestalten war, und man selbst- verständlich auch nicht daran dachte, in dem Geschäfts- bericht Aufschluß darüber zu geben, was die Bilanz im unklaren ließ, mußte man darauf hinarbeiten, die Handels- bücher der Bank in solchen Zustand zu versetzen, dab auch aus ihnen die verhängnisvoll hohen Treberengage- ments nicht erkannt werden konnten. Nachdem sich die Lage so zugespitzt hatte, daß die Bank lediglich unter stärkster Inanspruchnahme des Kredits, den sie selbst ge- noß, sich über Wasser halten und der Trebergesellschaft die zur Fortführung ihrer Unternehmungen nötigen Mittel beschaffen konnte, mußte sie damit rechnen, daß ein Grob- gläubiger etwa die umlaufenden Gerüchte über enorm hohe Treberengagements durch eine Nachfrage bei der Bank richtigzustellen versuchen würde. Und auch im eigenen Lager waren Indiskretionen immerhin nicht ausgeschlossen, so daß es auch nach dieser Richtung ein Gebot der Klug- heit war, beizeiten geeignete Vorkehrungen zu treffen, um Aufklärung über die wahren Verhältnisse zu hindern. Aus Gründen solcher Vorsicht hatte man bereits die — an sich unauffällige — Einrichtung des Sekretariats dazu benutzt, um die Mehrzahl der mit der Trebergesellschaft zusammen- hängenden Konten aus der laufenden Buchhaltung heraus- zunehmen und sie hier von einer geringfügig kleinen An- zahl von Beamten selbständig weiterführen zu lassen. Und gerade auch die große Anzahl von Treberkonten — es bestanden insgesamt rund 40 Stück — war an sich schon
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ein wesentlicher Faktor, der die Gesamtübersicht erheblich erschweren mußte. Die Leipziger Bank hatte es ja außer- ordentlich bequem, zu den einzelnen Geschäften, die über die Treberwerte geschlossen wurden, von vornherein ver- schiedene Bedingungen zu vereinbaren. Dann eben war ein Scheingrund für die Errichtung eines neuen Kontos geschaffen, und niemand konnte aus der Zahl der mehr- fachen Treberkonten einen Vorwurf herleiten. Daß in der Tat auf solche Weise operiert wurde, zeigt die Gründung des schon erwähnten Treber-Vorschußkontos. Da für dieses Konto genau dieselben Bedingungen bestanden, wie für das Or- dinarkonto der Trebergesellschaft, so war seine Führung schlechtweg überflüssig.
Wollte die Leipziger Bank ihr Geschäftsjahr 1900 gut abschließen und dabei die bisher beobachteten Grundsätze weiter zur Geltung bringen, so mußte sie bedenklichere Mittel anwenden, -als wie sie bisher zur Hand gehabt hatte. Es zeigte sich eben, daß alle früher ergriffenen Maßnahmen eine Überspannung nicht vertrugen. In der Zahl der Akzepte der Trebertrocknung und ihrer Toch- tergesellschaften, die mit dem Giro der Leipziger Bank im Umlaufe waren und immer aufs neue prolongiert wurden, mußte eine gewisse Grenze innegehalten werden. = Was der Treberdirektor nur irgend an Deckung und
Sicherheiten hatte zur Verfügung stellen können, ruhte längst in den Tresors der Bank, während nach Cassel enorme Summen über den Wert dieser Effekten hinaus von Leipzig gesandt worden waren. Und trotz alledem wollte sich auch nicht die Spur einer Erleichterung bemerkbar machen. Am 30. September 1900 war das Ordinarkonto der Treber- gesellschaft bereits wieder auf über 8 Millionen Mark ange- schwollen, während das Vorschußkonto einen Stand von 9 Millionen wies, wozu noch auf beiden Konten ein Ri- messenobligo von 17 Millionen lastete. Solche Zahlen durften nicht in den Büchern stehen bleiben, wennschon
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sie noch nicht entfernt die Höhe der gesamten Treber- engagements erkennen ließen, die, verteilt auf allen mög- lichen andern Konten, wie dem Trustkonto, dem Lager- schein-Vorschuß-Konto, dem Konto der Verwaltung der Trebertroeknung, mehreren Sonderkonten von Tochter- gesellschaften der Trebertrocknung, verschiedenen Konten für den eigenen Besitz der Bank an Trebertochteraktien und gewissen Garantiekonten, die runde Summe von 70 Millionen Mark ausmachten. Auf den alten Wegen, auf denen man rüstig weiterschritt, war zu einer Rettung aus der Not nicht zu gelangen. Die Bank selbst besaß bereits zu viel der zweifelhaften Treberwerte, als daß sie selbst hätte daran denken können, der Casseler Gesellschaft noch weitere abzunehmen, sei es auch nur, um sie auf Konten zu verbergen, die die Bank als die eigentliche Be- sitzerin nicht erkennen ließen. Die Wahl, wohin man das abschieben sollte, was von den laufenden Schuldkonten der Trebertrocknung unbedingt heruntergebracht werden mußte, beschränkte sich, da Dritte dabei von Anfang an nicht in Frage kamen, auf die beiden Unternehmungen selbst, hier Trebergesellschaft, hier Leipziger Bank. Der Ausweg, den man sich früher geöffnet hatte, indem man Zwischengebilde schuf, die tatsächlich zwar nicht, wohl aber dem Namen nach etwas anderes bedeuteten als die zur Wahl stehenden Alternativen, war aus den angeführten Gründen jetzt auch nicht mehr beschreitbar. Aber- eine geringe Variation, und ein andres Bild bot sich dar: es wurde zwischen Leipziger Bank und Trebertrocknung ein neues Gebilde gefügt, das zwar auch den beiden Unter- nehmungen keineswegs wesensfremd war, indessen bei der Entschleierung nicht die Gesichtszüge der sonst immer den deus ex machina darstellenden Bank bot, vielmehr die Trebergesellschaft selbst repräsentierte. Solcher Art war die Transaktion, die nach Ausspruch eines Finanzsach- verständigen im Prozeß, dem sich die Urteile der beiden
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andern Experten anschlossen, als die „genialste Schiebung“ anzusehen war, die die beiden Bankdirektoren Exner und Gentzsch mit Schmidt, dem Casseler Gesellschafts-Direktor, je ersonnen und ausgeführt hätten.
Worin besteht nun diese Transaktion, dienach derSumme, die dabei in Betracht kam, kurzweg „das 22,4 Millionen- Geschäft“ genannt zu werden pflegte? Der buchmäßige Effekt war der, dab auf das Vorschußkonto der Treber- gesellschaft eine Gutschrift von 12600000 Mk. kam und von dem Ordinarkonto 9800000 Mk. abgeschrieben wurden, während unter Weiterhaftung der Trebertrocknung für diese Schuld auf sechs besonderen Konten, den sogenannten „neparat-Vorschußkonten“, die einzelnen Mitglieder der Casseler Verwaltung mit der Gesamtsumme von 22,4 Milli- onen neu belastet wurden, und zwar Direktor Schmidt und vier Herren des Aufsichtsrats mit je 4200000 Mk. und ein fünftes weniger vermögendes Aufsichtsratsmitglied mit 1400000 Mk. Mit andern Worten: die Trebergesellschaft, die ursprüngliche Schuldnerin, wurde erkannt und blieb lediglich als Bürgin haftbar; an ihre Stelle traten die Ver- waltungsmitglieder der Gesellschaft als Selbstschuldner. Gewib bereits auf den ersten Anblick eine auffällige Trans- aktion; denn warum dieser Wechsel in der Schuldnerrolle, wo es doch so nahe lag, daß die alte Schuldnerin, deren Haftbarkeit ausdrücklich bei Bestand gelassen wurde, eben Schuldnerin blieb und zur größeren Sicherheit der Bank ihr einfach die Casseler Herren als Bürgen beigesellt wurden? Daß die Casseler Verwaltungsorgane sich geradezu ge- drängt haben sollten, als Selbstschuldner in die Verpflich- tung ihrer Gesellschaft einzutreten, anstatt die schwere, aber doch nicht in demselben Maße drückende Last einer bloßen Bürgschaft auf sich zu laden, war sicher nicht anzunehmen. Und in der Tat bedurfte es auch nicht ge- ringen Zuredens seitens des pfiffigen Treberdirektors, um seine Leute zu solchem Opfer gefügig zu machen. Es
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kam indessen gerade darauf an, die Trebergesellschaft als die Schuldnerin der enormen Summen aus den Büchern der Leipziger Bank herauszubringen. Das geschah, wenn sie in die Rolle einer bloßen Bürgin hineingedrängt wurde. Blieb die Haftung der Trebertroeknung bei Bestand, aber nur in Form der Bürgschaft, dann konnte sie nicht nur als Schuldnerin in den Büchern gestrichen werden, sondern dies mußte geschehen, und für die Eintragung der Treber- gesellschaft als Bürgin war nach den bestehenden Grund- sätzen der kaufmännischen Buchführung ın den Büchern der Leipziger Bank kein Raum. Aber nicht nur, daß die Casseler Verwaltungsmitglieder für sich keinen Wert darauf legen konnten, gerade als Schuldner einzutreten, wo eine Bürgschaft genügt haben würde; auch die Leipziger Bank hätte sicher, wenn es ihr nicht um die Entfernung der Treberschuld gerade als Verbindlichkeit der Trebergesell- schaft zu tun gewesen wäre, davon Abstand genommen, die Casseler Herren als neue Schuldner für die 22,4 Milli- onen in ihren Büchern einzutragen. Daß sie es tat, obwohl vom wirtschaftlichen Standpunkt aus in Cassel sowohl wie in Leipzig Bedenken bestehen mußten, be- rechtigt zu der Annahme, daß das ganze Geschäft als ein ernsthaftes überhaupt nicht gedacht worden ist. Vielmehr handelte es sich dabei um ein bloßes Scheinmanöver, lediglich dazu angetan und berechnet, einen Schein- grund für das zu liefern, was man unter allen Umständen erreichen wollte: für die Reduzierung der Treberschuld auf den offiziellen Schuldkonten der Trebergesellschaft bei der Leipziger Bank. Und auch nur von diesem Stand- punkt aus lassen sich eine ganze Reihe von Umständen erklären, die bei Abschluß und Durchführung des 22,4 Mil- lionen-Geschäfts in Erscheinung traten und schlechterdings unverständlich sein würden, wenn man das Geschäft als ein ernst gemeintes und auf wirtschaftliche Effekte hin-
zielendes auffassen wollte. Der Pitaval der Gegenwart. II. 10
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Daß in Cassel nicht nur, sondern vor allem auch in Leipzig gerade Bedenken wirtschaftlicher Natur gegen den Abschluß des Geschäfts hätten sprechen müssen, ist des- halb anzunehmen, weil die Casseler Herren bereits sehr hoch bei der Leipziger Bank engagiert waren. Wie dies nahe lag, waren sie von Schmidt zunächst für das eigene Unter- nehmen dergestalt herangezogen worden, daß sie einen nicht unbedeutenden Posten Treberwerte hatten übernehmen müssen. Insoweit mußten sie das Los vieler anderer Treberspekulanten teilen: sie blieben auf ihrem zweifel- haften Besitze haften. Schon deshalb mochten sie, nach- dem sie auch noch im Laufe der Zeit der Bank gegenüber zugunsten ihrer Gesellschaft weitere Verpflichtungen auf sich genommen hatten, zu Erhöhung solcher Engagements keine Lust verspüren. Andererseits mußten bei der Leip- ziger Bank, wennschon ihr vielleicht die Engagements der Casseler bei ihren eigenen Unternehmungen nicht in der vollen Höhe bekannt waren, Bedenken bestehen, den Treberleuten neue Verbindlichkeiten aufzuerlegen, da diese bereits zu rund 10 Millionen Mark als Schuldner in ihren eigenen Büchern figurierten. Davon entfielen 4 Millionen auf Akzepte, die die Casseler bereits im Frühjahr 1899 der Leipziger Bank ausgestellt hatten, die indessen seit dieser Zeit uneingelöst geblieben waren. Diese Tatsache, die selbstverständlich der Leipziger Bank-Direktion wohl- bekannt war, mußte ihr unbedingt den Gedanken nahe- legen, daß die teilweise als reich geltenden Verwaltungs- mitglieder der Trebertrocknung doch wohl nicht in dem Maße vermögend waren, wie ihnen nachgesagt wurde, und daß sie zum mindesten einen großen Teil ihres Vermögens in Treberwerten angelegt hatten und deshalb liquider Mittel ermangelten. Und dabei kam jetzt die enorme Summe von 18 Millionen Mark in Betracht, die dem Casseler Direktor und seinen Aufsichtsratsmitgliedern als neue Schulden aufgebürdet werden sollten!
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-~ Aber auch andere Erwägungen führen zu dem Schlusse, daß die Abbuchung der offiziellen Treberschuld auf die für die Verwaltungsmitglieder eingerichteten Separatvorschußkonten lediglich auf Grund eines Scheingeschäftes vorge- nommen wurde. Die Belastung der Casseler Herren mit der alten Treberschuld geschah nicht in der Form einer einfachen Schuldübernahme. Vielmebr erhielten die Cas- seler ihrerseits von Schmidt eine Reihe von Forderungen überwiesen, die das Aquivalent für die von ihnen gegen- über der Leipziger Bank übernommenen Verpflichtungen bilden sollten. In jenem Briefe vom 19. Oktober 1900, der die Lage so drastisch beleuchtet, schreibt Schmidt genauer, wie er sich die Transaktion denkt: „Die Konto-Kor- rentschuld bei Ihnen in Höhe von 18000000 M. muß aus Ihren und unseren Büchern verschwinden. Das würde sich derart machen lassen, daß die fünf Mit- glieder meiner Verwaltung und ich gemeinschaftlich diese Schuld je zu einem bestimmten Teil auf uns übernehmen ... und die Trebergesellschaft, als solche, für diese gesamten Verbindlichkeiten in einem durchaus sekret zu haltenden Schreiben die Rückbürgschaft für die richtigen Eingänge dieser Summen übernehme. In unseren Büchern fällt alsdann dadurch die Schuld von 18000000 M. vollständig fort, und da wir den betreffenden Herren als Sicherheit für diese Ihnen gegenüber zu übernehmende Verbindlichkeit unsere Buchforderungen an die diversen Gesellschaften zedieren würden, so würde diese Schuld einesteils und die großen Summen der heute nicht realisierbaren Forderungen anderenteils aus unseren Büchern verschwinden. InIhren Büchern fällt ebenso die große offene Forderung an die Treber- gesellschaft weg, und an Stelle derselben erhalten Sie die Forderungen an die sechs Ihnen bekannten Herrn mit der Rückbürgschaft der Trebertrocknung; Sie erhalten also Ihre heutige Forderung durch die sechs Herren mit anderen 10*
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Worten noch verbürgt.*“ Bezeichnend ist der Schlußpassus, in dem richtig zum Ausdruck kommt, in welcher Form das Geschäft verständlich gewesen wäre. Indessen wurde diese Form gerade nicht gewählt. Es wurde nicht der Haftung der Trebergesellschaft als Schuldnerin eine addi- tionelle Sicherheit in Gestalt der Bürgschaft der Casseler Herren beigefügt, sondern die Trebertrocknung wurde als primäre Schuldnerin entlassen und an ihre Stelle Vorstand und Aufsichtsrat der Trebergesellschaft als Selbstschuldner eingesetzt.
Ferner ist wichtig das in dem Briefe abgegebene Zu- geständnis Schmidts, daß die an seine Leute abgetretenen Forderungen „heute nicht realisierbar“ seien. In der Tat handelte es sich um Forderungen, die nicht nur damals nicht, sondern fast ausnahmslos überhaupt nie bestanden haben. Die Forderungen figurierten, wie sich später zeigte, nur in den Büchern der T’rebergesellschaft, während die Tochtergesellschaften, die in der Hauptsache als Schuld- nerinnen in Frage kamen, von dem Bestehen der angeb- lichen Schuldverbindlichkeit gar keine Ahnung hatten. Die Leipziger Bank hätte Veranlassung gehabt, sich über Bestand und Wert jener Forderungen zu erkundigen; denn ihr wurden von der Casseler Verwaltung dieselben For- derungen zur Garantie weiter abgetreten. Allein sie nahm von solchen Maßnahmen Abstand. Wozu auch solche Weiterungen, da man eben ein ernsthaftes Geschäft gar nicht eingegangen war? Und überdies war man ja im allgemeinen über die Lage der einzelnen Tochtergesell- schaften, deren Aufsichtsratsstellen vielfach mit Mitgliedern der Leipziger Verwaltungsorgane besetzt waren, genügend informiert. In der Hauptsache waren, wie man wußte, der Casseler Zentrale Forderungen an die Tochtergrün- dungen dadurch erwachsen, daß die Trebertroecknung für die ihnen überlassenen Lizenzen hohe Beträge, meist etwa die Hälfte des Grundkapitals ausmachend, berechnet hatte.
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Daß die Patente so große Summen nicht wert sein mochten, und jedenfalls die Tochtergesellschaften allen Neuerungen zum Trotz, durch die man anfängliches Versagen der Ein- richtungen wettzumachen versuchte, nie recht ins Verdienen kamen, bewies die Tatsache, daß die Zentrale immer neue Gelder in sie hineinstecken mußte, und in den Briefen Schmidts die Klage über die immer noch nicht erreichte Rentabilität der Unternehmungen ständig wiederkehrte. Bei solcher Sachlage spielten allerdings Einzelheiten keine Rolle, wie sie leicht festzustellen gewesen wären. So be- lief sich z. B. das Aktienkapital der Glückstadter Tochter- gesellschaft auf 3300000 Mk., wovon eingezahlt waren nur 1100000 Mk. Auf den Grundstücken dieser Gesell- schaft war für die Leipziger Bank eine Grundschuld von 1000000 Mk. eingetragen. Das Patentkonto wies einen Stand von 500000 Mk., das Immobilienkonto einen solchen von 1752767 Mk. 50 Pf. Die Schuld der Gesellschaft bei der Leipziger Bank bezifferte sich am 30. September 1900 in laufender Rechnung auf 22459 Mk. 49 Pf., daneben bestand ein Rimessenobligo von 1187661 Mk. 01 Pf. Und dabei trat die Trebertrocknung im Herbst 1900 noch For- derungen in Höhe von 2392933 Mk. 33 Pf. an die Oas- seler Verwaltung, und diese wieder die gleiche Summe an die Leipziger Bank ab!
Aber die Bank ging noch weiter in der Ignorierung aller kaufmännischen und rechtlichen Gepflogenheiten. Nachdem ihr jene Forderungen abgetreten worden waren, hätte sie selbstverständlich die Pflicht gehabt, die Dritt- schuldner von der Zession in Kenntnis zu setzen. Den Beamten der Bank selbst war die Notwendigkeit solcher Benachrichtigungen so einleuchtend, daß sie von sich aus bereits die betreffenden Schreiben bis zur Unterschrift fertig hergestellt hatten. Die Direktoren unterzeichneten indessen die Briefe nicht und inhibierten so ihre Absendung. Und so kam es, daß sogar zur Zeit der Konkurseröffnung die
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betreffenden Trebergesellschaften noch nichts davon wußten, mit welcher Summe sie als Schuldnerinnen in Cassel zu Buche standen, und daß zudem für diese angeblichen Schulden bereits zweimal ein Wechsel in den Personen der Gläubiger stattgefunden hatte. Damit sie nicht allzu arg erstaunten, wenn sie plötzlich wegen einer ihnen nicht bewußten Schuld in Anspruch genommen wurden, bereitete sie Treber-Schmidi am 30. Juni 1901 in fürsorglicher Weise durch Briefe folgenden Inhalts auf das Kommende vor: „Von der Konkursverwaltung der Leipziger Bank in Leipzig werden Sie einen Brief erhalten, in welchem sie auf eine zedierte Forderung zurückgreift, welche meine Gesellschaft an ... (kommt der jeweilige Name der Tochter- sründung) besitzt. Zu Ihrer Information möchte ich Ihnen bemerken, daß sich z. Z. in den Büchern meiner Gesellschaft aus den fortgesetzten Zuschüssen, Umänderungen, Neubauten etc. eine große Forderung an Ihre Gesellschaft befand, welche meine Ge- sellschaft, um Ihre Gesellschaft intakt zu halten, nicht geltend machte.... Indem ich Ihnen dies zur gefl. Information mitteile, bemerke ich Ihnen ergebenst, daß Sie der Konkursverwaltung der Leipziger Bank auf das an Sie ergangene Schreiben der Wahrheit entsprechend mit- teilen wollen, daß die von meiner Gesellschaft . . geleisteten Vorschüsse etc. gemäß der Verabredung mit der Treber- trocknung nicht geltend gemacht werden sollen, und Sie daher der Konkursverwaltung überlassen müssen, sich wegen Tilgung der Beträge mit der Trebertrocknung zu verständigen.“
Aber auch sonst hatte es mit jenen Forderungen, die der Leipziger Bank als Garantie abgetreten worden waren, eine eigene Bewandtnis. Denn waren schon die abgetretenen. Außenstände höchst zweifelhafter Natur, so war an eine feste Basis überhaupt nicht mehr zu denken, als kurze Zeit später die Vereinbarung getroffen wurde, daß die
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Forderungen schlechterdings gestrichen werden sollten. An ihrer Stelle sollten die einzelnen Gesellschaften die Verpflichtung übernehmen, der Trebertrocknung für die Dauer von 20 Jahren eine laufende Lizenzgebühr von 40 bis 50 Proz. des Bruttogewinns zufließen zu lassen. „Dieser Anteil an den Bruttogewinnen“, schreibt Schmidt hierzu, „beträgt zweifellos so viel, daß wir die Rück- zahlungen und Zinsen daraus tilgen können. Wir ver- kaufen also einen großen Teil unserer Forderungen an die sechs Herren dadurch, daß wir den größten Teil dieses Gewinnanteils denselben verpfänden und die Sicherheit übernehmen, daß mindestens die und die Beträge im Laufe der nächsten 15 bis 16 Jahre aus diesem Anteil aus dem Bruttogewinn vereinnahmt werden.“ Auch hier wieder zeigt sich, daß alle jene Abmachungen, die ihren Ausgang von der Entlassung der Trebergesellschaft aus der Schuld- nerrolle nahmen, im Grunde doch wieder auf die Haft- barkeit der Trebertroecknung hinausliefen. Die Leipziger Bank ging auch auf diesen Vorschlag ein, den Schmidt mit der geplanten Fusionierung eines Teiles der Tochter- gesellschaften mit der Zentrale rechtfertigte, obwohl ihre Position, wie ersichtlich, hierdurch noch ungünstiger und unsicherer wurde, wie zuvor.
Auch wenn man beachtet, daß insoweit ja nur eine Garantie für die Leipziger Bank in Frage kam, und in erster Linie doch die Casseler Verwaltungsmitglieder per- sönlich hafteten, muß, von allen anderen Bedenken abge- sehen, der vereinbarte Modus der Schuldentilgung die für die Bank unvorteilhafte Seite der ganzen Transaktion ins rechte Licht stellen. Schmidt schreibt. hierüber in jenem großen Programmbriefe vom 19. Oktober 1900: „Die Ver- bindlichkeiten, welche die Herren alsdann bei Ihnen haben, würden außer den Ende Juni kontrahierten M. 4000000 sich einschließlich der etwa M. 4000000 betragenden lau- fenden Akzepte auf ca. M. 22000000 beziffern. Es hat
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nun gar keinen Sinn, Verpflichtungen zur Abzahlung zu übernehmen schneller, als wie wir solche leisten können, und als Maßstab hierfür hat mir die sorgfältige Berechnung der Einnahmen gedient, welche wir bei Durch- führung der Unternehmungen sicher erwarten dürfen. Ich habe für die ersten Jahre von einer Amor- tisation vollständig Abstand nehmen müssen, da erstens die im Juni kontrahierten M. 4000000 zur Abzahlung gelan- gen müssen und ferner auch die Zahlung der laufenden Zinsen gerade genügt, die Erfüllung weiterer Verbindlich- Keiten unmöglich zu machen. Die Abzahlung der M.22000000 könnte meines Erachtens in folgender Weise zuverlässig er- folgen: Beginnend am
5.4. 1903 Mk. 250000
5.10. 1903 „ 250000
5.4. 04, 5.10. 04, 5.4. 05, 5.10. 05 je „ 500000
5.4. 06, 5. 10. 06 je „ 750000
5.4. 07 ,„ 1000000
5.10. 07 ,„ 1000000 und so fort halbjährlich M. 1000000 bis zur vollständigen Tilgung der Schuld. Die 6 Herren würden nur die Ver- bindlichkeit übernehmen, diese Schuld zu tilgen, jedoch nicht für dieZinsen aufzukommen. Die Verpflich- tung der Zinszahlung würde die Trebergesellschaft behalten und Ihnen diese Zinsen halbjährlich vergüten. Die Ver- gütung dieser Zinsen dürfte aber auch nicht vor dem 5.4. 1902 beginnen; bis dahin müßten die abgelaufenen Zinsen dem Konto der Trebergesellschaft bei
Ihnen belastet werden.“
Im höchsten Grade auffällig muß es weiter erschei- nen, daß die Leipziger Bank, ehe sie 18 Millionen neue Schulden den Casseler Herren aufbürdete, nicht wenigstens sich sorgfältig über die Vermögensverhältnisse derselben unterrichtete. Zwar zog sie Auskünfte darüber ein, allein diese hätten ihrem Inhalte nach kaum genügt, wenn es
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sich eben auch hier nicht lediglich um eine bloße Form gehandelt hätte. So ist es auch erklärlich, daß die Bank die entsprechenden Buchungen vornahm, teilweise ehe auf die Erkundigungsschreiben die Antwortbriefe eingegangen waren. Im übrigen ist wiederum auch hier bezeichnend die zu diesem Punkte gewechselte Korrespondenz. Am 23. Oktober 1900 mahnen die Leipziger Direktoren an schnelle Erledigung der getroffenen Vereinbarungen: „Nach- dem das Konto Ihrer Gesellschaft bei uns trotz unserer wiederholten Aufforderungen, den Stand desselben zu re- duzieren, im Gegenteil fortgesetzt eine Erhöhung erfahren hat, müssen wir Ihnen hierdurch mitteilen, daß es uns nunmehr absolut unmöglich ist, in dieser Form das Konto Ihrer Gesellschaft weiterzuführen, und Sie gleichzeitig ersuchen, mit Ihrem Aufsichtsrate un- verzüglich Rücksprache zu nehmen....“ Der Schluß des Briefes trägt den handschriftlichen Vermerk Exners: „Um Ihren Herren größere Vorschüsse bewilligen zu können, ist es naturgemäß Voraussetzung, daß die einzelnen Herren uns den Beweis, jeder einzelne für sich, erbringen, daß sie nach ihren Verhältnissen einen derartigen Kredit bean- spruchen können.“ Schmidt verstand die Tendenz dieser Bemerkung sehr wohl, und so gab er am 29. Oktober 1900 folgende Antwort: „Ich komme heute auf Ihre gefl. Privat- zeilen vom 23. cur. zurück und habe vom Inhalt bestens Kenntnis genommen. Ich stimme natürlich vollständig Ihren Ausführungen bei, daß bei dem zu treffenden Ab- kommen jeder Schein vermieden werden muß, welcher auf eine Verschleierung hindeuten würde, und steht selbstverständlich dem nichts im Wege, daß die einzelnen Herren die von Ihnen gewünschten Briefe an Ihre Bank schreiben.“
Es ist selbstverständlich, daß die Angeklagten nicht daran dachten, den Scheincharakter des ganzen 22,4 Mil- lionengeschäfts im Strafverfahren zuzugeben, betonten sie
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doch der ganzen Anklage gegenüber, völlig unschuldig zu sein, stets das Wohl der Gesellschaft und ihrer Gläubiger im Auge gehabt und bei aller Drangsal doch nie zu un- lauteren Manipulationen, Verschleierungen oder gar stär- kerem Schwindel ihre Zuflucht genommen zu haben. In- dessen waren sich die zur Beurteilung dieser Geschäfte als Sachverständige zugezogenen drei Vertreter der Finanz- welt darüber einig, daß die von den Angeklagten behaup- teten Vorteile ın der Tat für die Leipziger Bank aus der Durchführung dieses Geschäfts nicht entflossen. Die Bank entließ die Trebergesellschaft aus einer Schuld in bedeu- tender Höhe, die sofort fällig war, um dagegen einzutau- schen Forderungen an die Verwaltungsorgane der Treber- trocknung, die mit ihrer Gesellschaft ja schließlich auch mehr oder weniger identisch sein mußten. Und diese neuen Schuldner erhielten die Befugnis, ihre Verpflichtungen in Raten zu erfüllen, die sich auf einen Zeitraum von nicht weniger als 15 Jahren erstreckten, so daß die letzte Zah- lung erst im Jahre 1915 erfolgen konnte. Und nicht genug hiermit, wurde die Forderung der Bank, die früher unbe- fristet und unbedingt gewesen war, jetzt auch noch inso- fern zu einer höchst unsicheren, als es der Tendenz der neuen Abmachungen entsprach, daß die neuen Schuldner lediglich aus den erhofften späteren Gewinnen der Treber- gesellschaft, an denen sie selbst partizipierten, die über- nommenen Verbindlichkeiten abtragen sollten. Diesen enor- men Nachteilen gegenüber konnte der geringe Vorteil keine Rolle spielen, der darin lag, daß für die eine Forderung gegenüber früher jetzt 2 Verhaftete vorhanden waren. Das Geschäft abzuschließen, sei für die Leipziger Bank un- richtig gewesen, vom wirtschaftlichen Standpunkt sei es als völlig unvernünftig zu bezeichnen, so lautete das Gutachten des einen Sachverständigen. Der zweite nannte es eine „überaus verwerfliche“ Transaktion, der dritte be- zeichnete sein Wesen mit dem Ausdrucke „Schiebung“.
Der Leipziger Bank-Prozeß. 147
Etwas anderes, als ein Urteil über den Wert der getroffenen Abmachungen abzugeben, stand den Sachverständigen nicht zu. Einen Schritt weiter konnte indessen die Anklage- behörde gehen, denn sie durfte sich nicht mit der Beur- teilung der objektiven Erscheinungen begnügen, sondern mußte auch die subjektiven Momente ins Auge fassen, die dem Wirken der Angeklagten die Prägung gegeben haben konnten. Und von diesem Standpunkt aus mußte das 22,4 Millionengeschäft als ein Scheingeschäft bezeich- net werden. Der Abschluß des Geschäfts stellte für er- fahrene Geschäftsleute, wie es von den Leipziger Direktoren besonders Exner war, etwas so Törichtes und Widersinni- ges dar, die kaufmännische Struktur bot etwas so Unge- wöhnliches, die rechtliche Behandlung zeigte, was besonders für den Juristen Gentzsch in Betracht bekam, eine so auf- fällige Vernachlässigung der einfachsten Regeln juristischer Geschäftspraxis, daß, da nun einmal die Persönlichkeiten der Vertragschließenden geistig gesunde, die vorliegenden Verhältnisse klar erkennende und die Tragweite der Ab- machungen genau überschauende Menschen waren, eine Erklärung für all das Auffällige, das bei Abschluß und Durchführung des 22,4 Millionengeschäfts objektiv in Er- scheinung trat, nur darin zu finden war, daß man den ernsten Vertragswillen als fehlend erachtet. Die Absicht der Parteien war lediglich auf Erzielung eines Schein- effektes gerichtet gewesen. Durch Abschluß des Geschäfts wurde für die Buchführung ein Scheingrund geschaffen, die Treberschuld von den laufenden Schuldkonten der Treber- trocknung zu beseitigen. Eine tatsächliche Abdeckung der Schuld war der Trebergesellschaft nicht möglich; so mußte für die Leipziger Bank ein Mittel gefunden werden, um auch bei Weiterhaftung der Trebertrocknung doch ihren Namen als Schuldnerin entfernen zu können. Dieses Ziel wurde erreicht dadurch, daß die Trebergesellschaft eine Weiterhaftung als bloße Bürgin übernahm. Alle ferneren
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Abmachungen, die sich an diese Hauptvereinbarung an- schlossen, waren lediglich zu dem Zwecke getroffen, der Transaktion ein Mäntelchen umzuhängen und so das Auf- fällige, das ihr anhaftete, möglichst zu verbergen.
Aber mochten auch die Summen, um die es sich bei dem 22,4 Millionengeschäft handelte, sehr bedeutend sein, mochte auch Schmidt versichert haben, daß durch die Aus- führung des Geschäfts seine Bücher eine „vollständige Reinigung“ erführen und seine Gesellschaft nach dieser Reinigung „prima“ dastehen würde, so machte er doch schon im Briefe vom 11. November 1900 den Wunsch nach weiterer „Säuberung“ seiner Bücher geltend. Die Leip- ziger Bank ging um so bereitwilliger auch auf die weite- ren Wünsche Schmidts ein, als auch sie das Bedürfnis empfand, zwecks Aufstellung eines guten Abschlusses noch eine größere Anzahl von buchmäßigen Operationen vor- zunehmen. Die Einrichtung des „Solidar-Vorschuß- Kontos Sumpf und Genossen“ (Sumpf ist der Name des Casseler Aufsichtsratsvorsitzenden) bot Gelegenheit, die beiderseitigen Bedürfnisse zu befriedigen.
Das Solidar-Vorschuß-Konto war gegründet worden bereits Mitte des Jahres 1900, und zwar mit einer Kredit- eröffnung von 4 Millionen Mark. Selbstverständlich lag der Leipziger Bank durchaus nichts daran, diesen Kredit zu erhöhen. Allein es schien kein anderer Weg gangbar, um das Reinigungswerk fortzuführen, ohne das weder die Casseler noch die Leipziger Gesellschaft in der Lage ge- wesen wäre, eine günstig ausschauende Bilanz aufzustellen. Die Trebertrocknung hatte noch einen Rest weiterer fauler Debitoren, die sie aus ihren Büchern zu entfernen wünschte. Andererseits war der Leipziger Bank daran gelegen, noch einen größeren Posten von Casseler Tochterwerten vor ihrem Jahresabschluß abzustoßen, damit sie in der Lage wäre zu erklären, sie habe auf eigene Rechnung keine Tochterwerte. Und im übrigen war selbstverständlich
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beiden Seiten die Gelegenheit erwünscht, das immer wieder anschwellende Schuldkonto der Trebergesellschaft bei der Leipziger Bank wiederum zurückschrauben zu können. Von dem früher zu diesem Zwecke so gern angewen- deten Mittel der Hereinnahme von Wechseln machte man natürlich auch jetzt Gebrauch; allein das Mittel hielt nicht lange vor, und die fortgesetzten Erneuerungen der Akzepte konnten schließlich doch Aufsehen erregen. Interessant sind in diesem Zusammenhange noch zwei Briefe, die im Anschluß an das soeben vereinbarte 22,4 Millionengeschäft zwischen Leipzig und Cassel gewechselt wurden. Der eine Brief, am 16. November 1900 von der Leipziger Bank ausgehend, berührt die in großer Menge von den Casseler Tochtergesellschaften ausgegebenen Wechsel. Die Leipziger Bank-Direktion befürchtet, daß mit der beabsichtigten Strei- chung aller Barforderungen an die Tochtergesellschaften auch die Wechsel einfach verschwinden könnten, und schreibt deshalb nach Cassel: „Hierbei möchten wir Sie gleichzeitig bitten, seitens der verschiedenen Tochtergesell- schaften Vorkehrungen treffen zu lassen, daß nach Um- wandelung der jetzt bestehenden Barforderungen in Lizenz- forderungen die im Umlaufe befindlichen Akzepte dieser Gesellschaften ... nicht etwa ganz oder teilweise ohne weiteres verschwinden und zu Lasten des Kontos Ihrer Gesellschaft eingelöst werden sollen. Es muß uns sehr daran gelegen sein, diese Wechsel noch für eine längere Zeit prolongiert zu seben.“ Der zweite Brief geht von Schmidt aus und wird am 16. November 1900 an die Leipziger Bank gesandt. Er spricht davon, daß die mehrerwähnten Wechselverbindlich- keiten der Casseler Herren in Höhe von 4000000 Mk. bei dem 22,4 Millionengeschäft mit „aus der Welt“ gebracht werden sollten, und daß deshalb Schmidt die Herren nicht die offene Schuld von 18000000 Mk., vielmehr eine solche von 22000000 Mk. habe übernehmen lassen. „Meine Ge-
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sellschaft“, heißt es in diesem Zusammenhange wörtlich, „bekommt bei Übertragung der sämtlichen Mk. 22000 000 bei Ihnen ein Guthaben von ca. Mk. 4000000, welches in- dessen beglichen wird, wenn die einzelnen Akzepte der Herren in Höhe von zusammen 4000000 fällig sind und zur Einlösung gelangen. Das Ganze ist ja nur ein Buchungsvorgang.“ Damit die Leipziger Bank aber doch nicht in Verlegenheit komme, wenn sie etwa neue Wechsel brauche, heißt es weiter: „Wenn Sie die Akzepte der einzelnen Herren in irgend welchen Beträgen benöti- gen, so steht Ihnen auf Grund der jetzigen Vereinbarungen ja das Recht zu, diese Akzepte einzuziehen.“
Die speziellen Vorschläge über den weiteren Ausbau des „Solidar-Vorschuß-Kontos“, die Schmidt am 14. Januar 1901 der Leipziger Bank unterbreitete, wurden noch, so- weit möglich, in demselben Monate ausgeführt. Da in- dessen in der Folgezeit noch weitere Wünsche hervor- traten, die ebenfalls erörtert und schließlich auch zugesagt wurden, so kam es, dab ein Teil der Buchungen erst im Februar, die letzte am. 23. Februar 1901, vorgenommen werden konnte. Gleichwohl wurden aber sämtliche Ein- tragungen mit Ausnahme zweier Posten von unbedeu- tenden Beträgen datiert per 31. Dezember 1900, da sonst der von der Leipziger Bank gewünschte Effekt, den Ab- schluß ihres mit dem Kalenderjahr zusammenfallenden Geschäftsjahres günstiger zu gestalten, nicht erreicht wor- den wäre. Daß diese Rückbuchungen unzulässig waren, wurde von den Sachverständigen einmütig bestätigt; denn die Belastung auf dem Solidar-Vorschuß-Konto hätte erst erfolgen dürfen, nachdem mit den betreffenden Konten- inhabern das Geschäft perfekt geworden war.
Das Solidar-Vorschuß-Konto stellte, wie einer der Bank- sachverständigen sich ausdrückte, eine „Versenkung“ dar, in die Leipziger Bank und Trebertrocknung einen Teil der Treberwerte, die sie noch im Besitz hatten, verschwin-
Der Leipziger Bank-Prozeß. 151
den ließen. Für die Bank handelte es sich dabei um Ak- tien von Casseler Tochterunternehmungen im Gesamtbetrage von etwa 11/2 Millionen Mark, während die von der Treber- trocknung eingeworfenen Posten gleicher Effekten um etwa 200000 Mk. weniger ausmachten.
Weiter übernahm das Solidar-Vorschuß-Konto die im Depot „Berliner Finanz- und Handelszeitung“ bei der Leip- ziger Bank lagernden Treber-Tochteraktien, um den Gegen- wert dieser Effekten, 1340000 Mk., zur Ausgleichung des unangenehmen „Interimkontos Berliner Finanz- und Handels- zeitung“ zu verwenden.
Endlich wurde jetzt auch das der Bank längst lästig gewordene „Trustkonto“ beseitigt. Die auf ihm lagernden Effekten, die selbstverständlich die Trebertroeknung zurück- zunehmen außerstande war, wurden ebenfalls dem Soli- dar-Vorschuß-Konto übertragen. Durch die entsprechende Gutschrift von 2676986 Mk. 55 Pfg. konnte das „Trust- Konto“ zum Ausgleich gebracht werden. Mit dem bei den Abrechnungen sich ergebenden, nicht unbedeutenden Agio- verlust (vgl. oben S. 120) ließ sich Treber-Schmidt persön- lich belasten.
Der Charakter des ganzen Geschäfts ist dem der Ein- richtung der „Separat-Vorschuß-Konten Sumpf und Genossen“ zugrunde liegenden durchaus gleich. Es handelt sich hier wie dort um die Mitglieder der Casseler Verwaltungskör- per, auf die das abgeschoben wurde, was man auf den Konten der Bank, der Trebergesellschaft und einigen we- nigen unangenehm gewordenen weiteren Konten nicht belassen wollte. Wer über die wahre Natur des 22,4 Millionengeschäfts etwa noch im unklaren gewesen wäre, würde durch die neue Abmachung aus dem letzten Zweifel gerissen worden sein. Denselben Personen, die, schon mit großen Verbindlich- keiten beladen, durch Errichtung der Separat-Vorschuß- Konten mit 22,4 Millionen Mark neuer Schulden belastet worden waren und damit bereits bis über die Grenze ihrer
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Leistungsfähigkeit verpflichtet erscheinen mußten, wurde jetzt wieder eine neue Last von bald 11 Millionen auferlegt. Denn dieGesamtbelastung desSolidar-Vorschuß-Kontos betrug 10726390 Mk.75 Pfg. Wie dieCasselerin der Lage sein sollten, diese ungeheueren Schulden abzustoßen, darüber gab sich die Leipziger Bank-Direktion keine Rechenschaft. Sie. hatte freilich insofern keine Veranlassung, hierüber Überlegungen anzustellen, als für sie eben die Unmöglichkeit, diese For- derungen durch die Casseler Verwaltungsmitglieder gedeckt zu erhalten, von vornherein zweifelsfrei feststand. Hieran änderte nichts der Umstand, daß, ähnlich wie bei dem 22,4 Millionengeschäft, auch hier für die Rückzahlung der Schuld nebst Zinsen ein weiter Spielraum gelassen war. Die Zahlungen sollten am 30. Juni 1901 beginnen und in Halbjahrsraten von je 400000 Mk. bestehen, so daß also die letzte Rate erst im Jahre 1914 fällig geworden wäre.
Auch hier wieder konnte also von einem wirtschaft- lichen Werte der Transaktion für die Bank nicht gespro- chen werden. Im Gegenteil stellte sich die Bank schlechter, indem sie sofort fällige Forderungen in weit hinaus be- fristete umwandelte und dazu, während die Trebergesell- schaft als bloße Garantin haften blieb, als Schuldner ein- tauschte Personen, die bereits mit über 30 Millionen Mark in ihren Büchern belastet standen. Die Leipziger Bank hätte unter normalen Verhältnissen niemals daran gedacht, ein derartiges Geschäft abzuschließen. Sie tat es im vor- liegenden Falle nur zum Scheine, weil es ihr darauf an- kam, in ihren Büchern gewisse Eintragungen bewirken zu können, für die selbstverständlich den Buchhaltern Unter- lagen geschaffen werden mußten. Rund 33 Millionen waren auf solche Weise von den laufenden Treberkonten herunter- gebucht worden, ehe in Leipzig und in Cassel der Abschluß fertiggestellt wurde. Eine günstig ausschauende Bilanz war wiederum für beide Teile gesichert, und dabei verrieten vor allem auch die Bücher nicht die gefahrvolle Höhe des
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Treberobligos. Denn das Ordinarkonto zeigte ultimo 1900 einen Stand von noch nicht 1!/ Millionen Mark, während die Forderung der Bank auf Treber-Vorschuß-Konto noch nicht einmal 1 Million erreichte. In Wahrheit aber be- trug das gesamte Treberengagement um diese Zeit über 81000000 Mk.
Die ganze Mühewaltung der Leipziger und Casseler Direktion wäre umsonst gewesen, wenn sie in ihren Ge- schäftsberichten auch nur mit einem Worte die prekäre Lage angedeutet hätten, die die Zahlen der Bilanz schlech- terdings nicht ahnen ließen. Zwar erwähnte der Geschäfts- bericht der Leipziger Bank, daß der eingetretene „Rück- gang der Industrie und des Handels“, die „durch die Börsengesetzgebung gezeitigte Unsicherheit bei Annahme von Börsenaufträgen“ und die „politischen Ereignisse, in erster Linie die chinesischen Wirren“ die Banktätigkeit „zu einersehr mühevollen“ gestaltet hätten; allein von den Sorgen, die die unheilvolle Treberverbindung der Bank gebracht hatte, war keine Rede, wie denn der erhöhten Treberenga- gements überhaupt mit keinem Worte Erwähnung getan
wurde. Im Gegenteil war gerade der übrige Inhalt des Geschäftsberichts nur geeignet, die günstigsten Vorstellun- gen von der Lage der Gesellschaft zu erwecken. Wenn es hieß, daß man bestrebt gewesen sei, „die Eingehung neuer Konsortial- und Emissionsgeschäfte nach Tunlich- keit zu vermeiden“, und ausdrücklich betont wurde, daß der Stand des Konsortialkontos „keine nennenswerte Er- höhung erfahren“ habe, und der Bericht an anderer Stelle sagte, der Wirkungskreis des Instituts habe „mit Ausnahme des Effektengeschäftes, wo unter den obwaltenden Verhält- nissen eine Ausdehnung ausgeschlossen bleiben mußte“, auf allen übrigen von der Bank kultivierten Gebieten, „speziell im Kontokorrentgeschäft, eine weitere gün. stige Entwickelung erfahren“, so würden diese Stellen
genügt haben, ängstliche Gemüter zu beruhigen, auch wenn Der Pitaval der Gegenwart. I, 11
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nicht noch besonders hervorgehoben. worden wäre, dab man „im Hinblick auf die ungünstigen Zeitverhältnisse gegenüber zahlreichen Anträgen wegen neuer Geschäfts- verbindungen eine vorsichtige Zurückhaltung be- wahrt hätte“.
Und dazu die schönen Zahlen der Bilanz! Nicht nur, daß trotz reichlichster Abschreibungen ein Gewinn von über 51/2 Millionen Mark vorgerechnet wurde, der die Verteilung einer 9%/oigen Dividende gestattete; es war auch gesa gt daß von den 95 Millionen Debitoren, die die Aktivseite zeigte, etwa 83 Millionen gedeckt seien. Freilich nicht war miterwähnt, daß diese „Deckung“ in der Hauptsache aus Treberwerten bestand, die als Sicherheiten zu ihrem No- minalbetrage eingesetzt worden waren, obwohl sich kein Mensch fand, der diese „Werte“ abnahm, geschweige denn zu den berechneten Preisen. Und ebenso war nicht er- wähnt, daß von den unter das Effektenkonto gehörenden Werten fast die Hälfte sich nicht im Besitze der Bank befanden, vielmehr verpfändet worden waren, ebenso wie von dem stolzen Wechselbestand, den die Bilanz in Höhe von rund 38 Millionen Mark aufwies, rund 12 Millionen bei der Leipziger Lotterie-Darlehnskasse lombardiert waren, ohne daß dieser für die Beurteilung der Lage der Bank wesentliche Umstand aus Bilanz oder Bericht zu erkennen gewesen wäre,
So allgemein war der Geschäftsbericht für 1900 ab- gefaßt und so wenig gab er Auskunft über das Verhältnis der Bank zur Trebergesellschaft, über das in letzter Zeit so viel geschrieben und gesprochen worden war, daß Di- rektion und Aufsichtsrat der Bank es für geboten hielten, zu dem Berichte noch ein besonderes Exposé auszuarbei- ten, um durch dessen Verlesung den mit Sicherheit in der Generalversammlung erwarteten Interpellationen zuvorzu- kommen und dadurch vielleicht weitere unbequeme Fragen von vornherein abzuschneiden. Freilich bereitete die Fas-
Der Leipziger Bank-Prozeß. 155
sung des Exposés einige Schwierigkeiten. In dem Sitzungs- protokoll vom 16. März 1901 heißt es zu diesem Punkte: „Aus der eingehenden Aussprache hierüber ging hervor, daß man sich allseitig der großen Schwierigkeiten der For- mulierung einer solchen Erklärung bewußt war, da die Aktiengesellschaft für Trebertrocknung sich ja nicht in Konkurs befindet, sondern ihren Verpflich- tungen bisher nachgekommen ist. Es ist hierbei zu berück- sichtigen, daß die Leipziger Bank zur Wahrung des Ge- schäftsgeheimnisses allen ihren Kunden gegenüber verpflichtet ist... Es wurde demgemäß beschlossen, die Zahlen der Salden der verschiedenen Konten der Aktiengesellschaft für Trebertrocknung nicht bekannt zu geben, wohl aber in größeren Zügen den Geschäftsverkehr, welchen die letztere mit der Leipziger Bank unterhielt, zu schildern und darauf hinzuweisen, daß die Höhe der Salden zeitweilig eine bedeutende sei.“ !
Diesen Grundsätzen getreu war denn auch die Er- klärung gehalten, über deren Wortlaut sich Direktion und Aufsichtsrat geeinigt hatten, und die der bald darauf ver- storbene Vorsitzende des Aufsichtsrates in der Generalver- sammlung vom 19. März 1901 nun tatsächlich zum Vortrage brachte. Es wurde darin gesagt, daß die Trebergesell- schaft „außer mit vielen anderen in- und ausländischen Banken“ auch mit der Leipziger Bank seit einer Reihe von Jahren in ausgedehntem bankgeschäftlichen Verkehr stehe. Die Umsätze, die dabei erzielt worden seien, seien „sehr bedeutende“, und es sei für die Bank „die Verbindung bis- lang stets eine lukrative gewesen“. Weiter ist davon die Rede, daß die Trebertrocknung mehrere Konten unter- halte, in der Hauptsache aber zwei Arten, nämlich außer den üblichen Kontokorrent-Konten ein Warenvorschuß- konto. „Die Kontosalden“, hieß es wörtlich weiter, „vari- ieren naturgemäß in ihrer Höhe; sie sind zeitweilig be- .deutend und sind zum großen Teile gedeckt.“ Ferner
11*
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wurde in dem Exposé feierlich die Erklärung abgegeben, daß die Bank selbst Treberaktien, alte oder Junge, nicht besitze. An Trebertochteraktien wurden 3 Gattungen ge- nannt, die unter den Effekten der Bank vertreten seien; indessen wurde zur Beruhigung gleich hinzugefügt, dab diese Aktien, nicht allzu hohe Posten, auch noch mit null zu Buche ständen. Von Konsortialbeteiligungen an Treber- unternehmungen erwähnt das Exposé nur die an der bel- gischen Gründung. |
Die Leipziger Verwaltungsorgane hatten durchaus richtig gerechnet. Nach Verlesung des Exposes, zu der man geschritten war, noch ehe jemand zu dem Geschäfts- bericht oder der Bilanz das. Wort ergriffen hatte, fühlte sich die Versammlung beruhigt, und Exner konnte nach Schluß derselben freudig seinem Casseler Freund depe- schieren: „aeneralversammlung ohne Störung ver- laufen.“ Daß übrigens Schmidt nicht ohne Bangen seiner eigenen Generalversammlung gedacht hatte, beweist der Schlußpassus seines an die Leipziger Bank gerichteten Briefes vom 29. März 1901: „Ich benachrichtige Sie noch, daß der Termin zur Anstrengung einer Klage gegen die Beschlüsse unserer Generalversammlung vom 28. Februar gestern Abend abgelaufen ist, ohne daß eine Klage erfolgte“
Indessen das Schicksal ließ sich nicht mehr bannen. Mochten die Zweifler noch einmal beschwichtigt worden sein, die durch die umlaufenden Gerüchte, insbesondere durch die Berichte der Frankfurter Zeitung sich beunruhigt gefühlt hatten, die Anfang März von einem Treberobligo der Leipziger Bank in Höhe von 25 Millionen Mark ge- sprochen hatte, die Verhältnisse spitzten sich doch immer mehr zu, und die geringste Veranlassung konnte die schon so lange drohende Katastrophe plötzlich herbeiführen. Ende des ersten Quartals 1901 war das Treberobligo schon wieder um 7 Millionen gestiegen, und ein weiteres Anwachsen er-
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schien noch immer nicht ausgeschlossen. Dies, trotzdem am 27. Februar 1901 die Leipziger Bank sich zu einem Ultimatum aufgerafft, inhalts dessen der Trebertroeknung jede Erhöhung des Kredits verweigert werden sollte, und obgleich man dabei ausdrücklich bestimmt hatte, daß von dieser Entschließung „keinesfalls abgewichen werden solle“. Und auch ein gleichzeitig nach Cassel gesandtes Schreiben des Aufsichtsrates hatie nichts gefruchtet, in dem eine Stei- gerung des Obligos auch nur „um den geringsten Betrag“ als unmöglich bezeichnet worden war, nachdem die Bank bereits die Trebergesellschaft und ihre Zweiganstalten in einer Weise unterstützt habe, die ihre „eigene Leistungs- fähigkeit beeinträchtigt und geschädigt und das Ansehen der Bank ungünstig beeinflußt“ habe. Man mußte gleichwohl in Leipzig kurze Zeit darauf die praktische Durchführung des Ultimatums einstellen, da man inzwischen das Bedürfnis gefühlt hatte, mit Hilfe Cassels jetzt für die eigene Kasse Geld aufzutreiben. Des- halb war am 11. März 1901 die Leipziger Direktion von ihrem Aufsichtsrate ermächtigt worden, „die dringend- sten Geldbedürfnisse der Casseler Gesellschaft gegen Hergabe von Deckungen, unter denen auch die Abtretung von Außenständen verstanden werden soll, zu befriedigen“.
Der Casseler Direktor empfand die Geldnot der Bank, die sich immer mehr fühlbar machte, aufs peinlichste. Er fragte, ärgerlich darüber, daß die Bank jetzt immer an sich nur denke, an, ob denn die Kredite, die er beschafft habe oder die er bemüht sei zu beschaffen, lediglich dazu dienen sollten, die Bank zu entlasten, und spricht unverhohlen aus, daß dann sein Ruin besiegelt sei und für die Leipziger Bank selbst Gefahr drohe: „Für Ihre Bank ist der Bestand meiner Gesellschaft und die gute Durchführung der Ge- schäfte derselben zu einer Lebensfrage geworden, und Sie dürfen sich nicht verhehlen, daß der Ruin meiner Gesellschaft unabsehbare Folgen nach
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sich ziehen würde.“ In einem weiteren Briefe heißt es: „Wir erachten jede Korrespondenz für zwecklos, so- lange nicht eine Verständigung darüber herbei- geführt ist, daß Sie uns überhaupt ermöglichen, den Betrieb weiterzuführen. Durch Ihre Maß- nahmen werden wir gezwungen, unsern Betrieb einzustellen.“ Und am 24. März 1901 schreibt Schmidt in einem eigenhändig geschriebenen Briefe an Exner: „Ich erhielt heute Ihre gestrigen Privatzeilen, die mir den ganzen Tag über keine Ruhe gelassen haben. — — Es handelt sich darum, ob und wie-lange Sie durchkom- men können, wenn meine Gesellschaft keine Geldanforde- rungen an Sie stellt.. Die Angst, welche mir Ihre heutigen Zeilen verursacht haben, läßt mir keine Ruhe zur Arbeit. — — — Alle diese Arbeiten haben keinen Zweck, wenn wir, wie Sie schrei- ben, en Tag eine Katastrophe befürchten müssen.“
Dieselbe Aufregung hatte sich inzwischen auch des Leipziger Aufsichtsrats bemächtigt, der am 28. März nach eingehender Prüfung der Art und der Höhe der be- stehenden Engagements eine Aussprache mit den Organen der Trebergesellschaft beschloß, „bei welcher Aufklärung über die Rentabilität der Casseler Unterneh- mungen, über die Möglichkeit des Fortbetriebes, über die Geschäftsumsätze und die bestehenden Lieferungsverträge gefordert werden sollte“. Gleichzeitig wurde auch in dieser Aufsichtsratssitzung bereits eine Kommission gewählt „für den Fall, daß sich zu- gunsten der Leipziger Bank eine Hilfsaktion in Berlin nötig machen sollte“.
Alle diese Schriftstücke reden eine so deutliche Sprache, daß ein Kommentar zu ihnen überflüssig erscheint. Es waren ja schöne Beschlüsse, die man jetzt faßte, und treffliche Maßnahmen waren es, an deren schleunige Aus-
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führung man ging, allein wie außerordentlich zweck- mäßig es auch war, daß die Leipziger Verwaltungsorgane in der Tat Anfang April sich auf einige Tage nach Cassel begaben, um dort die Verhältnisse eingehend zu studieren, daß sie weiter auch zur sorgfältigen Prüfung der Casseler Bücher einen ihrer Beamten nach Cassel entsandten, und daß sie endlich einen unparteiischen Sachverständigen mit der Untersuchung der rotierenden Retorte betrauten, von der sich Schmidt an Stelle der bisher in Gebrauch befind- lichen feststehenden ungeheuere Vorteile versprach, etwas Ersprießliches für die Bank konnte nicht mehr erreicht werden. Die Zeit, in der solche Maßregeln hätten von Nutzen sein können, war längst vorüber; jetzt waren: diese Akte der Verzweiflung lediglich dazu angetan, das eigene Gewissen zu beruhigen, das schwere Verantwortung drückte, weil „jeden Tag die Katastrophe zu befürchten war“. |
Wie unrichtig daher die Behauptung des Communi- qués war, das als Grund der Zahlungsstockung den am 9. Juni 1901 erfolgten Zusammenbruch der „Kreditanstalt für Industrie und Handel“ in Dresden angab, liegt auf der Hand. Die Versuche, die die Trebergesellschaft so- wohl wie die Leipziger Bank selbst unternommen hatten um in Berlin Unterstützung zu finden, mußten erfolglos sein. Eine Hilfsaktion schloß sich aus, da die wahnsinnige Höhe von 90 Millionen Treberengagements, die Exner in Berlin dem Konsortium der Großbanken gegenüber zu- geben mußte, die Möglichkeit einer Sanierung nicht mehr offen ließ.
Während das sich an den Zusammenbruch der Bank anschließende Konkursverfahren die zivilrechtlichen Folgen der Katastrophe für die von ihr Betroffenen regelte — 67 Proz. ihrer Forderungen erhielten die Konkursgläubiger aus den Mitteln der Konkursmasse und dem, was ehe- malige Aufsichtsratsmitglieder freiwillig zum Ausgleich
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der gegen sie erhobenen Regreßansprüche gezahlt hatten; dabei hatte die Masse auf Treberwerte noch keine 5 Milli- onen Mark eingenommen —, wurde in dem Strafverfahren gegen die Verwaltungsorgane der Leipziger Bank die Frage zum Gegenstande richterlicher Entscheidung erhoben, ob und inwieweit die verantwortlichen Leiter ein strafrecht- licher Vorwurf treffe. Die Anklagebehörde vertrat den Standpunkt, daß die Direktoren wie die gesamten Auf- sichtsratsmitglieder ein strafwürdiges Verhalten gezeigt hätten. Und in der Tat wurden sie alle ausnahmslos zu Strafe verurteilt.
Der gemeinsame Gesichtspunkt, unter dem gegen alle Verwaltungsmitglieder gleichmäßig ein strafrechtliches Ver- schulden als gegeben erachtet wurde, war der der aktien- rechtlichen Verschleierung im Sinne des $314 Z. 1 des Handels- gesetzbuchs. Vorstand sowohl, d. h. die beiden Direktoren, wie der Aufsichtsrat der Leipziger Bank wurden ange- klagt, „den Stand der Verhältnisse der Gesellschaft un- wahr dargestellt und verschleiert zu haben“, und zwar sollte das geschehen sein einmal in dem über das Ge- schäftsjahr 1900 veröffentlichten Geschäftsbericht verbunden mit der Bilanz, andererseits in dem in der Generalver- sammlung vom 19. März 1901 zum Vortrag gebrachten Exposé, sowie drittens in den beiden Communiqués, die am 25. Juni 1901 veröffentlicht worden waren, um dem Publikum eine Erklärung für die Schließung der Kassen- schalter zu geben.
Inwieweit in diesen Akten, die ausnahmslos auf ge- meinschaftlicher Tätigkeit der Direktion und des Aufsichts- rates beruhten, ein strafbares Verhalten zu finden war, geht aus dem Obigen ohne weiteres hervor. All diesen Darstellungen war gemeinsam, daß sie die hohe Gefahr, die die Treberverbindung für die Leipziger Bank bedeu- tete, nicht erkennen ließen. Die Bilanz verstieß gegen die Haupigrundsätze, die nach dem Gesetze für die Bi-
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lanzgestaltung Geltung erheischten, gegen die Forderung der „Bilanzwahrheit“ und die der „Bilanzklarheit“. Und ebenso ließ der Geschäftsbericht, der in Ergänzung der Bilanz ohne Schönfärberei eine Übersicht über die wahren Vermögensverhältnisse der Bank gestatten sollte, die tat- sächliche Lage der Bank, insbesondere die wirkliche Höhe des verhängnisvollen Treberengagements, in keiner Weise erkennen. Das Exposé war darauf berechnet und infolge seiner überaus vorsichtigen und geschickten Fassung auch dazu geeignet, den falschen Eindruck, den Bericht und Bilanz erwecken mußten, nur noch zu bestärken. Es war irreführend in der Hauptsache deshalb, weil es, obwohl gerade zur Erläuterung des Verhältnisses der Bank zur Trebergesellschaft gegeben, das Eigenartige und Gefähr- liche dieser Geschäftsverbindung auch nicht entfernt er- schöpfend darstellte, wie denn, wo von den Konten die Rede war, lediglich die Konten der Zentrale genannt wurden, während das Treberobligo sich ja in der Haupt- sache auf einer Unmenge von Nebenkonten verteilte, von denen der Fernstehende schlechterdings keine Ahnung haben konnte. |
Was die beiden Communiqués betrifft, die von der Anklage und dem gerichtlichen Eröffnungsbeschluß be- mängelt wurden, weil sie von einer nur „zeitweiligen“ Zahlungseinstellung sprachen, so erfolgte insoweit eine Verurteilung der Angeklagten nicht. |
Die Strafen, mit denen die Aufsichtsratsmitglieder be- legt wurden, waren entsprechend der Dauer ihres Amtes und dem Maß ihrer Kenntnis von der wahren Sachlage — einige hatten an verschiedenen wichtigen Sitzungen, ın denen gerade die Treberengagements besprochen worden waren, nicht teilgenommen — verschieden. Von Gefäng- nisstrafe, die das Gesetz in Höhe von 1 Tag bis zu 1 Jahre zuläßt, blieben sie sämtlich verschont. Die Geldstrafe, die im Gesetze neben der Gefängnisstrafe vorgesehen ist mit
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einer Maximalhöhe von 20000 Mk., wurde gegen drei der Aufsichtsratsmitglieder auf je 18000 Mk. bemessen, gegen eines auf 15000 Mk. gegen eines auf 8000 Mk. und gegen die zwei jüngsten Mitglieder auf je 5000 Mk.
Gegen die Hauptbeschuldigten, die beiden Direktoren, erschöpfte sich die erhobene Anklage nicht in dem Vorwurfe der Verschleierung. Vielmehr bildete hier — von einigen nebensächlichen weiteren Anklagepunkten, auf die hier nicht näher eingegangen werden soll, abgesehen — den Kern- punkt die Anklage wegen betrüglichen Bankerutts. Und zwar sollten Exner und Gentzsch sich nach dieser Richtung strafbar gemacht haben, insofern als sie „als Mitglieder des Vorstandes einer Aktiengesellschaft, über deren Ver- mögen das Konkursverfahren eröffnet worden ist, gemein- schaftlich in der Absicht, die Gläubiger der Gesellschaft zu benachteiligen, die Handelsbücher der Gesellschaft verheim- licht und so geführt hätten, daß sie keine Übersicht des Vermögenszustandes gewährten“.
Die Direktoren der Leipziger Bank sollten die Bücher ihrer Gesellschaft unübersichtlich gestaltet haben, das war es, was nach der objektiven Seite in erster Linie ihnen strafrechtlich zum Vorwurf gemacht wurde. Und dieser Tatbestand war nach Ansicht nicht nur der Staatsanwalt- schaft, sondern auch des Landgerichts, das gegen die An- geschuldigten das Hauptverfahren vor dem Kgl. Schwur- gericht zu Leipzig eröffnet hat, durch die oben beschriebenen Transaktionen erfüllt worden. Es kann nicht dem geringsten Zweifel unterliegen, daß die Buchung von Scheingeschäften auch wieder nur einen Scheintatbestand in den Büchern in Erscheinung treten läßt. Und um Scheinmanöver han- delte es sich, wie wir sahen, bei dem Separat-Vorschuß- wie bei dem Solidar-Vorschuß-Konten-Geschäft. Bezüglich eines Summenkomplexes von 33 Millionen Mark, wie sie bei beiden Geschäften insgesamt in Betracht kamen, rich- tigen Bescheid missen, das bedeutet bei einem Unternehmen
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mit den Mitteln der Leipziger Bank bereits die Unmög- lichkeit, über den Vermögenszustand der Gesellschaft eine Übersicht zu gewinnen. Und wieviel kam es gerade bei der Leipziger Bank darauf an, die Höhe der Treber- schuld klar zu überschauen. Die Strafbestimmungen über betrüglichen Bankerutt verfolgen eine Tendenz: sie wollen die Gläubiger davor bewahren, daß ihnen seitens ihres Schuldners für den Fall der Zahlungsein- stellung zu seinem Vermögen noch weitere Nachteile er- wachsen, als für sie in der Tatsache der Zahlungseinstel- lung schon an sich liegt. Und zweierlei Art können diese Nachteile sein, die der Gemeinschuldner der Gläubigerschaft bereiten kann: er kann sein Vermögen, auf dessen unver- sehrte Masse die Gläubiger behufs gleichmäßiger prozen- tualer Befriedigung Anspruch haben, verringern durch Bei- seiteschaffen von Vermögensteilen oder willkürliche Auf- stellung rechtlicher Schranken, die den freien Zugriff hem- men. Er kann aber auch indirekte Schädigung der finan- ziellen Gläubigerinteressen erstreben dadurch, daß er das Recht der Gläubigerschaft auf Einblick in die Ver- hältnisse, die auf seiner Seite bestehen, schmälert. Geht doch das Interesse der Gläubiger nicht nur darauf, alle verfügbare Masse möglichst schnell zur Verteilung zu bringen, sondern der Gläubigerschaft muß vor allem auch daran liegen, den Grund der Zahlungseinstellung zu erkennen, zu beurteilen, unter welchen Bedingungen etwa zu ihrem Vor- teile das notleidende Geschäft bei Bestand erhalten werden könne, zu entscheiden, welche der bestehenden Verträge gekündigt, welche ausgehalten werden möchten, und was dergleichen Entschließungen mehr sind, die sich nötig machen, soll nicht durch unzweckmäßige Maßregeln der Schaden noch vergrößert werden. Um jederzeit klare Einsicht in die Verhältnisse des Kaufmanns zu gewährleisten, hat der Gesetzgeber dem Kaufmann die Pflicht zur ordent- lichen Buchführung auferlegt. Und um für den Fall, wo
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die Versagung solcher Möglichkeit die schlimmsten Ge- fahren mit sich bringt, der gesetzgeberischen Vorschrift den nötigen Nachdruck zu verleihen, sind die Strafbe- stimmungen des betrüglichen Bankerutts miteingesetzt wor- den. In demselben Augenblicke wird die unübersichtlich gestaltete Buchführung strafbar, in dem die Feststellung zu treffen ist, daß auf seiten des die Bücher führenden Kaufmanns die Zahlungseinstellung erfolgt ist. Dabei gilt es gleich, ob die Zahlungseinstellung zeitlich der Verwir- rung des Buchstandes vorangeht, oder aber ob sie ihr nach- folgt. Nur das eine erfordert das Gesetz noch: die Strafe des betrüglichen Bankerutts trifft nur den, der „in der Ab- sicht, seine Gläubiger zu benachteiligen“, die objektiven Bankerutthandlungen begeht. Und so muß auch der, der daran geht, seinen Büchern die Übersicht zu rauben, dies tun „absichtlich“, mit dem Bewußtsein nicht nur, daß seine Gläubiger hierdurch Nachteil erleiden möchten, sondern mit dem ausgemachten Motiv. Die Benachteiligung der Gläubiger durch die Bankerutthandlung muß dem Gemein- schuldner Zweck seines Handelns sein.
Freilich liegen diese Sätze nicht so auf der Oberfläche, daß jeder sie leicht einsähe. Gerade die Bankeruttgesetz- gebung stellt eine der schwierigsten Materien dar, die das große Gebiet der Strafrechtswissenschaft überhaupt kennt. Viele haben sich dieses nicht vor Augen gehalten, und dar- _ um sind gerade über den Leipziger Bank-Strafprozeß und seine Konstruktion oft, auch aus Juristenmund, Urteile ge- hört worden, die grundfalsch waren, weil vorschnelle Denkungsart den Sinn der einschlagenden Gesetzesbestim- mungen nicht erfaßt hatte.
Die Verteidigung machte im Strafverfahren geltend naeh der objektiven Seite, daß die Übersichtlichkeit der Bücher nicht zu bestreiten sei, denn nach den Sachverständigen- gutachten seien ja die Bücher als tadellos geführt zu be- zeichnen, und die von der Bank beobachtete Buchführung
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sei so ordentlich gewesen, wie sie nur hätte geführt werden können. Nach der subjektiven Seite aber, erklärten die Verteidiger von Exner und Gentzsch einstimmig, könne ja gar keine Rede davon sein, daß die Angeklagten gehandelt hätten „in der Absicht, die Gläubiger der Bank zu benach- teiligen“; sie hätten vielmehr ihr Augenmerk lediglich und zu jeder Zeit darauf gerichtet gehabt, die Bank zu halten und Verluste jeder Art auszuschließen. |
Dem gegenüber verwies die Anklagebehörde in objek- tiver Hinsicht auf die weiteren Bekundungen der Finanz- sachverständigen, daß selbstverständlich auch der Geist der Buchführung zu beachten sei; die schönste Ordnung, die rein äußerlich in den Büchern zu finden sei, nütze nichts, wenn die Bücher der materiellen Wahrheit entbehrten. In den Büchern der Leipziger Bank, darin gipfelte die An- klage, waren zwar sämtliche Buchungen der Buchführungs- technik nach vollkommen korrekt vorgenommen worden. Sie warennichtunordentlich geführt, wie denn auch der Wortiaut des Betrüglichen-Bankerutt-Paragraphen nicht von unordentlicher Buchführung spricht. Gleichwohl waren die Bücher „so“ geführt, daß sieeinen Einblickin die wahre Lage der Bank nicht gewährten. Denn die Abbuchung der Treber- schuld von den Schuldkonten der Trebergesellschaft war lediglich auf Grund von Scheingeschäften erfolgt. 7 Mil- lionen Mark Schulden wies zur Zeit der Konkurseröffnung das Konto ordinario der Trebergesellschaft in den Büchern der Leipziger Bank, während über 90 Millionen das ge- samte Treberobligo ausmachte. Hierin lag das Geheimnis der Buchführungskunst eines Exner und eines Schmidt, dem die Gläubiger der Leipziger Bank zum Opfer fallen sollten. Daß sie tatsächlich es wurden, verlangt der Inhalt des
. Gesetzes nicht. Aber in der „Absicht“ der Direktoren
mußte solches wenigstens gelegen haben. Und diese Absicht, das hatte die Anklage gegenüber der Verteidigung einzuwenden, war mit nichten um des-
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willen zu verneinen, weil man etwa den Angeklagten glauben wollte, daß sie stets nur das Wohl ihres Instituts verfolgt hätten. Gewiß hatten sie als Angestellte der Gesellschaft schon des eigenen Interesses wegen, bei all ihren Maß- nahmen den Nutzen der Bank im Auge. Aber der erhoffte Profit kehrte sich in das Gegenteil. Es kam die Zeit, da die Direktoren der Bank einsehen mußten, daß sie sich verspekuliert hatten. Falsche Scham, einen Fehler einzu- gestehen, und eine bei Exner in hervorragendem Maße vor- handene Großmannssucht hielten sie ab, Umkehr zu machen, als es noch Zeit war. Und als man dann immer mehr ins Elend hineingeriet, da beherrschte nur noch ein Ge- danke die Gemüter: die Bank unter allen Umständen halten und weiterwirtschaften. Aber hierzu gab es nur ein Mittel. Das Unternehmen war zu halten nur auf Kosten der Gläubiger. Sie mußten im unklaren gelassen werden über die wahren Verhältnisse. Erkannten sie sie, dann war es unrettbar um die so lange mühsam aufrecht erhaltene Existenz geschehen. Unwahrer Bücherinhalt mußte die Mög- lichkeit sperren, daß sich die Gläubiger aus den Büchern der Bank über die tatsächlichen Verhältnisse orientierten. Darum die Scheingeschäfte, deren Buchung alle Übersicht über das richtige Treberobligo verwischen mußte. Zu an- derm Zweck war die Vornahme der großen Transaktionen um die Wende des Jahres 1900 logisch überhaupt nicht denkbar, als zu dem, daß die Buchungen, die sie'zur Folge hatten, die Bücher „so“ geführt erscheinen lassen sollten, „daß sie eine Übersicht des Vermögenszustandes ur Ge- sellschaft nicht gewährten“.
Am 24. Juli 1902 sprach das Schwurgericht sein Schuldig über die Leiter der Leipziger Bank im Sinne der Anklage und des dem Hauptverfahren zugrunde gelegten gerichtlichen Eröffnungsbeschlusses.. Entsprechend dem schweren Verbrechen des betrüglichen Bankerutts, dessen die Direktoren gleichzeitig mit der Verschleierung für über-
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führt erachtet wurden, mußte die Angeklagten eine harte Strafe treffen. Für Exner, dem mildernde Umstände ver- sagt wurden, lautete das Urteil auf 5 Jahre Zuchthaus und 5 jährigen Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte. Eine bei weitem geringere Ahndung konnte Gentzsch auferlegt werden, da ihm entgegen dem Antrage des Staatsanwalts die mildernden Umstände nicht abgesprochen worden waren. Der Gerichtshof erkannte gegen ihn auf eine Gefängnis- strafe von 3 Jahren. 7 Monate der erlittenen Untersu- chungshaft werden jedem der Verurteilten auf seine Strafe angerechnet.
Während Gentzsch sich dem Urteile alsbald unterwarf und seine Strafe antrat, legte Exner Revision gegen das Erkenntnis ein. Infolgedessen hatte sich auch das Reichs- gericht mit der Sache zu befassen, zwar mit dem materi- ellen Inhalt der Anklage nicht, sondern lediglich mit der formellen Seite des gegen Exner geführten Gerichtsver- fahrens. Zu der Hauptfrage konnte das Reichsgericht also keine Stellung nehmen, zu der, die im Prozeß den Hauptgegenstand des Streites gebildet hatte, ob nämlich betrüglicher Bankerutt vorlag oder nicht. Vielmehr mußte sich das Reichsgericht darauf beschränken, nachzuprüfen, ob die prozessuale Behandlung der Sache seitens des Ge- richts allenthalben dem Gesetz entsprechend erfolgt sei. Mehrere Mängel des Verfahrens waren von der Verteidigung behauptet worden, die eine Aufhebung des ersten Urteils rechtfertigen sollten. Ein einziger davon wurde als be- gründet angesehen. Der Wortlaut des Sitzungsprotokolls, der allein maßgeblich ist für die Frage, ob die Form "in jeder Hinsicht beobachtet worden war, mußte die Meinung aufkommen lassen, daß der Vorsitzende des Gerichts die Geschworenen nicht zutreffend belehrt habe, als sie zur Berichtigung ihres Spruchs nochmals ins Beratungszimmer zurückgeschickt wurden, da sie bei Beantwortung einer Frage das Stimmenverhältnis nicht, wie vorgeschrieben,
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angegeben hatten. Das Protokoll ließ nicht erkennen, daß hierbei die Geschworenen darauf hingewiesen worden waren, daß sie bei neuer Beratung zu der betreffenden Frage an den sachlichen Inhalt ihrer früher gegebenen. Antwort nicht gebunden, also in der Lage seien, einen neuen Spruch zu fällen.
Auf Grund dieses Mangels hob das Reichsgericht am 4. Oktober 1902 das erste Urteil gegen Exner auf und ver- wies die Sache zur nochmaligen Verhandlung an die Vor- instanz zurück.
Daß der rein formelle Standpunkt, von dem aus das Reichsgericht zu seiner Entscheidung gelangt war, viel- fach, insbesondere auch von juristischer Seite, nicht geteilt wurde, hängt vor allem damit zusammen, daß man sich, wohl nicht mit Unrecht, sagte, keiner der früheren Ge- schworenen würde den Spruch auch nur in dem gering- sten Punkte geändert haben, wenn er auch noch so oft darauf hingewiesen worden wäre, daß er in dem Berichti- gungsverfahren an den alten Wahrspruch nieht gebunden sei. Hatten sie doch die Antwort auf die ihnen vorgelegten Schuldfragen gefunden lediglich durch die Würdigung der Verhandlungsergebnisse und Beachtung der rechtlichen Gesichtspunkte, die ihnen die Rechtsbelehrung des Vor- sitzenden gegeben hatte. Wie hätte sie der zufällige Um- stand, daß dem geschriebenen Spruch ein äußerer Mangel anhaftete und Abhilfe heischte, bestimmen können, die so- eben erst gewonnene Überzeugung über Bord zu werfen und den sachlichen Inhalt ihres alten Spruchs, ohne daß sie irgendwie nochmals mit der Verhandlungsmaterie befaßt worden wären, plötzlich umzuändern ?
Dem reichsgerichtlichen Urteile folgte ein neues Straf- verfahren, das diesmal gegen Exner allein geführt wurde. Eine neugebildete Geschworenenbank wurde mit der alten Sache neu befaßt. Die Verhandlungsergebnisse waren in der Hauptsache die gleichen wie früher, wie denn auch
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die wiederum zugezogenen Sachverständigen von ihren früheren Gutachten auch nur im geringsten abzugehen keine Veranlassung fanden.
Am 10. März 1903 wurde das neue Urteil gegen Exner verkündet, Er wurde wegen Verschleierung und versuchten Betrugs zu 2 Jahren 6 Monaten Gefängnis verurteilt sowie zu 20000 Mk. Geldstrafe, an deren Stelle im Falle der Uneinbringlichkeit ein weiteres Jahr Gefängnis treten sollte. 1 Jahr 3 Monate der Gefängnisstrafe wurden als durch die Untersuchungshaft verbüßt erachtet. Bezüglich des Verbrechens des betrüglichen Bankerutts hatten die neuen Geschworenen die Schuldfrage verneint.
Die tiefgehende Mißstimmung über diesen Richter- spruch äußerte sich auch darin, daß der Staatsanwaltschaft in mehrfachen Schreiben die Erwartung ausgesprochen wurde, sie werde gegen das neue Urteil Rechtsmittel einlegen. Dieser Zumutung lag der Irrtum zugrunde, als könnte die Überzeugung von der materiellen Unrichtigkeit des zweiten Schwurgerichtserkenntnisses bereits die Revision gegen das Urteil rechtfertigen. Mochte die Staatsanwaltschaft, wie sie ja die Anklage allenthalben aufrechterhalten hatte, den zweiten Geschworenenspruch gegen Exner nicht für zu- treffend erachten, eine Handhabe diesen Spruch anzugrei- fen war ihr deshalb noch nicht geboten. Eine Revision war dieses Mal nicht möglich, denn die Voraussetzungen, unter denen allein die Staatsanwaltschaft freisprechende Urteile der Schwurgerichte mit Revision anfechten kann, lagen nicht vor. Und deshalb mußte das zweite Urteil gegen Exner rechtskräftig werden.
Der Verurteilte Gentzsch blieb des betrüglichen Ban- kerutts schuldig. Annehmbar wäre auch dieses Verdikt in das Gegenteil umgewandelt worden, wenn von Gentzsch ebenfalls Revision gegen das erste Urteil eingelegt und in der zweiten Verhandlung seine Straftaten dem Forum der-
selben Geschworenen zur Aburteilung überwiesen worden Der Pitaval der Gegenwart. I. 12
170 | Dr. Weber.
wären, die über Exner das zweite Mal zu befinden hatten.
Das zweite Urteil der Geschworenen in dem Leipziger Bank-Strafprozeß um deswillen als „wahrer“ aufzufassen, weil es an zweiter Stelle ergangen war, dieser Gedanke war selbstverständlich von der Hand zu weisen. Der erste Geschworenenspruch blieb ein „Wahrspruch“ genau wie der zweite. .Daß bei dem Zwiespalt der Erkenntnisse die endgültige Aburteilung Exners den Streit der Meinungen noch nicht zum Austrag kommen ließ, kann nicht wunder- nehmen. Wer sich selbst ein Urteil über die Richtigkeit dieses oder jenes Spruches bilden will, dem dienen viel- leicht die obigen Ausführungen zu einer brauchbaren Grundlage. Freilich die Rechtsfrage entscheiden ist schwie- rig für einen Juristen, und wievielmehr für einen Laien! Und da die Strafkammer des Landgerichts zu Leipzig das Verhalten der beiden Direktoren der Leipziger Bank, das deren Zusammenbruch vorausging, mit der Anklagebehörde als „betrüglichen Bankerutt‘“ ansah und demgemäß den Fall dem Schwurgericht zur Entscheidung überwies, so liegt vielleicht in diesem Umstande der Grund, warum wir einheitliche Schuldsprüche nicht erlangten. Der Leipziger Bank-Krach, der so unendlich viel Schwierigkeiten zeitigte, er mußte auch Schwierigkeiten bereiten einem Laiengericht, das vor die heikle Aufgabe gestellt war, zu entscheiden, welcher Art die strafrechtlichen Folgen der Katastrophe sein sollten für die Verwaltungsorgane der bankerotten Bank und für ihre früheren Direktoren insbesondere. Im Anschluß an das Schicksal des Leipziger Bank-Prozesses ist daher häufig der Wunsch ausgesprochen worden, es möchte bei der bereits angekündigten Reform unseres Straf- prozesses die Frage besonders eingehend geprüft werden; ob die Zahl der dem Schwurgericht zu übertragenden De- likte nicht zu beschränken sei. Wohl kein Verbrechen würde bei einer Auswahl solcher Delikte zur Überweisung
Der Leipziger Bank-Prozeß. 171
an ein Gelehrtengericht geeigneter erscheinen als das des „betrüglichen Bankerutts“. Wann eine Reform sich dieser Aufgabe annehmen wird, steht dahin. Inzwischen mag der Wunsch sich erfüllen und für immer erfüllt bleiben, der allgemein empfunden wurde, als das Strafgericht über die Organe der Leipziger Bank zum Abschluß gekommen war, und der jenes Verlangen nach gesetzgeberischen Re- formen durch seine Erfüllung zum besten Teile gegen- standsios machen würde: mag solches Verschulden sich nicht wiederholen, wie es führte zu der Katastrophe des Leipziger Bank-Bruchs, und die Beurteilung eines Prozeß- stoffes uns ewig erspart bleiben, wie er sich bot im Leip- ziger Bank-Prozeß. |
12*
Eine entmenschte Mutter. Von
Polizeiinspektor Rosalowski, Hamburg.
Das auf den nächsten Seiten dargestellte Verbrechen spielte sich ab in dem alten Hamburg, in dem Hamburg vor dem Zollanschlusse. In den Vororten, die der Stadt noch nicht angeschlossen waren, unterbrachen noch Gärten und Weiden die angebauten Flächen. Dieses Bild bot namentlich auch der im Osten der Stadt gelegene Hammer- brook. Das von vielen Kanälen durchschnittene Gelände wies an seinem wichtigsten Zugange, dem an die Stadt grenzenden Teil der Banksstraße, auf der einen Seite ein buntes Wirrsal von Gärten, unbebauten Plätzen und großen Etagenhäusern auf, denen gegenüber die Geleisanlagen des Berliner Bahnhofes und die zu diesem gehörigen Güter- schuppen lagen. Wenn der während des Tages außerordentlich lebhafte Wagenverkehr nach Arbeitsschluß aufgehört, und die zumeist dem Arbeiterstande angehörige Bevölkerung von Rothenburgsort sich in ihre Heimstätten zurückgezogen hatte, dann wurde es öde und unheimlich in dieser Gegend. Doppelt empfand man das an einem jener für Hamburg typischen dunklen Herbstabende, wieihn der 9. November 1877 brachte. Es war gegen neun Uhr. Die gelbbrennenden, in weiten Zwischenräumen stehenden Laternen vermochten nicht die herrschende Dunkelheit zu verdrängen und warfen nur zitternde Lichtstrahlen über die schwarzen Wasser des hier von einer Brücke überspannten Kammerkanals. In
der Banksstraße gewahrte man nur vereinzelte Passanten. Der Pitaval der Gegenwart. II. 13
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Aus einer Wirtschaft der mit dem Kanal parallel laufenden Ernststraße machte sich der Ewerführer Nesemann auf den Heimweg. Ehe er die Kanalbrücke betrat, hörte er einen schweren Gegenstand ins Wasser fallen und sah oder glaubte doch zu sehen, wie drei Personen, eine weib- liche und zwei männliche, mit schnellen Schritten die Brücke verließen und in der Dunkelheit verschwanden.
Nesemann zweifelte nicht, daß der Kanal wieder, wie wohl schon öfter, das Grab eines jungen Hundes oder einer jungen Katze geworden war. Auf der Brücke an- gelangt, blickte er neugierig in die Dunkelkeit hinab, schreckte aber zurück, als er beim Lichtstrahl einer am Ufer stehen- den Laterne das Antlitz eines Kindes aus dem Wasser auf- tauchen sah. Das Kind befand sich augenscheinlich in Todesgefahr; Nesemann hörte die hilferufenden Worte: „Mama“, „Papa“, „Gott“. Die von ihm und den aus der eben verlassenen Gastwirtschaft zu Hilfe gerufenen Per- sonen angestellten Rettungsversuche wurden durch die über dem Wasser lagernde Dunkelheit und die steilen Böschungen des Kanals gehemmt. Erst nach etwa 20 Minuten, als die Wasserfläche mit Hilfe eines Polizeibootes durch die Hafen- polizei abgesucht wurde, gelang es, den Körper eines an- scheinend ertrunkenen Knaben im Wasser aufzufinden. Die angestellten Wiederbelebungsversuche waren erfolglos; der hinzugerufene Arzt konnte nur den Tod des Kindes fest- stellen. |
Die Leiche war die eines etwa zehnjährigen Knaben kräftiger Konstitution. Sie zeigte, abgesehen von kleinen anscheinend durch Rettungsversuche herbeigeführten Be- schädigungen am Knie und rechten Oberschenkel, keine Verletzungen. Bekleidet war das Kind mit gestreiftem Hemd, dunkelblauer Jacke, dunkelgrauem Beinkleide,grauen Strümpfen und Schnürschuhen. Eine Kopfbedeckung fehlte, wurde auch nicht aufgefunden. Gegenstände, welche einen Schluß auf die Herkunft des Knaben ermöglichten, waren
Eine entmenschte Mutter. 175
nicht vorhanden. In der Tasche fand man nur eine sg. Mundharmonika.
Die noch in derselben Nacht aufgenommene Unter- suchung ließ erkennen, wie ungünstig die Verhältnisse für eine Aufklärung lagen. Nach Aussehen und Bekleidung gehörte das gefundene Kind den unteren Bevölkerungs- schichten an; die geringe Wäsche war ohne Zeichen, die Kleidung zerrissen, geflickt und Fabrikware. Der Tatort befand sich in der Nähe eines stark von Arbeitern be- wohnten Stadtteils. Die drei in Hamburg einbiegenden Bahnlinien hatten ihren Endpunkt in geringer Entfernung, und in dem gleichen Wohnungszentrum befanden sich die für Auswanderer bestimmten, bis zu mehr als tausend Menschen fassenden Auswandererhäuser.
Von keiner Seite wurde das Fehlen eines Kindes ge- meldet. Die Annahme der Kriminalbeamten, daß das Kind von auswärts nach Hamburg geschafft sei, und dab der oder die Mörder sofort nach der Tat Hamburg verlassen hätten, war nicht unberechtigt. | |
Während der Untersuchungsrichter in den Hamburger Zeitungen eine genaue Beschreibung der Leiche und ihrer Kleidungsstücke veröffentlichte, ließ die Polzeibehörde den Toten photographieren und die Bilder an auswärtige Be- hörden verteilen. Auch die Schulvorsteher in Hamburg und Umgegend erhielten Exemplare der Bilder zugesandt, um diese den Altersgenossen des Getöteten vorzulegen.
Alle Bemühungen erwiesen sich erfolglos; nirgends konnte die Leiche identifiziert werden.
In dieser Lage machte die Polizeibehörde den damals noch außergewöhnlichen Versuch, die weitesten Bevölkerungs- kreise durch die Presse für die Mitarbeit zu gewinnen. Erst nach längerem Widerstreben erklärte sich die Redak- tion der in Hamburg erscheinenden „Reform“ bereit, auf ihrer ersten Seite das Bild des ertrunkenen Knaben zu re- produzieren. Diese Nummer der in Hamburg, der Provinz
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Schieswig-Holstein und auch in Mecklenburg weit ver- breiteten Zeitung gelangte auch in die Hände der Polizei in Neustadt (Schleswig-Holstein), wo das Bild des Toten sofort als dasjenige des Sohnes des Arbeiters Köster er- kannt wurde. Dem Schwager des Köster, Krumlinde, wurde die Zeitung durch den Neustädter Polizeidiener zur Identifizierung vorgelegt, und auch er erkannte im Bilde den Sohn seiner Schwägerin Köster. Seit dem 9. No- vember fehlte der Knabe; angeblich war er von seiner Schwägerin nach Lübeck fortgegeben. Die Neustädter Po- lizei verhaftete hiernach sowohl die Köster wie deren Ehemann; beide wurden nach Hamburg ausgeliefert. Der Ehemann Köster, der imstande war, seine Nichtbeteiligung an dem Morde durch ein Alibi nachzuweisen, wurde auf freien Fuß gesetzt. Die Ehefrau blieb in Haft. Katharina Friederike Dorothea Köster geb. Böhling, am 13. Januar 1834 zu Grömitz geboren, war mit dem Arbeiter Karl Friedrich Köster seit dem 4. November 1877 verheiratet. Sie war die eheliche Tochter des Arbeiters Gottfried Böhling und der Katharina Magdalena Hen- riette geb. Brede. Im Hause ihrer in Grömitz wohnenden Eltern erzogen, hatte sie dort Schuluntericht genossen und nach ihrer in Grömitz erfolgten Konfirmation in Holstein und in Hamburg auf verschiedenen Stellen als Dienst- mädchen konditioniert. Während sie in Grömitz diente, machte sie auf einem Tanzsalon in Neustadt die Bekannt- schaft des Arbeiters Karl Friedrich Köster, mit welchem sie ein intimes Verhältnis anknüpfte. Sie gebar am 16. Juni 1867 ım Hause ihrer Eltern einen Sohn, den Johann Friedrich Karl Böhling genannt Köster, welcher
zunächst in Kost gegeben wurde und sodann bei ihren
Eltern verblieb, während sie selbst in Hamburg einen Dienst
als Amme annahm. Nachdem sie Ende Mai 1872 einen Dienst in Sier- hagen, vier Stunden von Grömitz, angetreten hatte, wurde sie
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abermals von Köster schwanger und gebar am 14. Sep- tember 1873 eine Tochter, welche ebenfalls im Hause der Großeltern Böhling in Grömitz aufgezogen wurde. Die Angeklagte fand in Hamburg einen Dienst als Amme und diente sodann auf verschiedenen Stellen als Dienstmädchen in Hamburg und zuletzt bis zum 1. November 1877 ın Övelgönne bei Neustadt.
Am 4. November verheiratete sie sich in Grömitz mit Köster und zog mit demselben nach Neustadt, woselbst sie bei den Eheleuten Pfuhl eine Wohnung gemietet hatte. Ihre Tochter hatte sie bei den Eltern in Grömitz zurück- gelassen, den im 11. Lebensjahr befindlichen Sohn da- gegen mit sich nach Neustadt genommen.
Bestraft war die Köster nur mit drei Tagen Gefängnis wegen Diebstahls vom Amtsgericht Neustadt.
Die wirtschaftliche Lage der Köster’schen Eheleute war eine mißliche. Der Ehemann Köster fand nach der Verheiratung zwar Arbeit in Grömitz, doch war der Ver- dienst so gering, daß auch die Ehefrau auf Arbeit gehen mußte.
Unter diesen Verhältnissen wurde ihr die Existenz des Knaben lästig. Sie hatte keine Liebe zu ihren Kindern und namentlich war ihr der durchaus gut geartete Knabe widerwärtig. Schon vor ihrer Verheiratung äußerte sie in Gegenwart ihres Bruders, „wenn sie nur den Jungen los wäre“. Sie gab auch selbst zu, daß ihr der Junge, nament- lich nach ihrer Verheiratung, sehr im Wege sei.
Am Abend des 8. November verkaufte die Köster einen Korb an eine Frau Pfahl in Neustadt und entlieh von dieser auf die im Korbe befindlichen Kleidungsstücke 21/2 Taler. Mit diesem Gelde reiste sie am 9. November vormittags, nachdem ihr Ehemann zur Arbeit gegangen war, mit dem Knaben nach Hamburg. Der ihr begeg- nenden Frau Basel erzählte sie, sie wolle den Knaben in Hamburg austun; ihr Mann solle von der Reise nichts
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wissen. In Hamburg traf sie abends 6 Uhr ein und wurde mit dem Knaben von einer ihr bekannten Inhaberin eines Nachweisungskontors, Peters, gesehen. |
Der Barbiergehilfe Naster passierte am Tatabend 9 Uhr die Brücke und sah eine Frau mit einem Kinde dort stehen; 91/4 Uhr erfuhr er, daß ein Kind ins Wasser gefallen sei. Zwischen 91/2 und 93/4 Uhr traf die Köster in der Niedernstraße, etwa 15 Minuten vom Tatorte ent- fernt, das ihr bekannte Dienstmädchen Schmidt; sie war ohne Begleitung und erzählte, sie wäre verheiratet, habe ihre Kinder ausgetan und wolle sich wieder vermieten.
Um 10 Uhr abends fand sich die Köster wieder bei der Frau Peters ein und bat um Nachtquartier. Auf die Frage nach dem Kinde erklärte sie, es sei das Kind ihres Bruders oder Schwagers gewesen. Die Peters brachte die Köster zu einer Frau Schröder, wo sie übernachtete.
Am 10. November ging die Köster zu ihrem Bruder. Maurer Böhling, auf St. Pauli. Sie erzählte, daß sie einen, Dienst suche, daß die Kinder bei den Großeltern seien,’ daß sie aber den Knaben zu sich nehmen müsse, denn er würde von den Großeltern ganz dumm geschlagen. Als man auch davon sprach, daß ein Knabe ertrunken sei äußerte sie: „In Hamburg passiert wohl viel.“
Am 12. November kehrte die Köster nach Neustadt zurück. Ihr Schwager Krumlinde, dem sie erzählte, daß sie nicht nach Hamburg gekommen wäre, schöpfte sofort den Verdacht, daß sie den Knaben beseitigt habe, zumal er von der Ermordung eines Jungen in Hamburg gehört hatte. Ihrer Stiefmutter teilte sie mit, sie käme aus Hamburg und habe dort den Jungen verschenkt; er sei bereits auf der Reise nach Amerika. Noch an dem- selben Abend ging die Angeklagte zu ihren Eltern nach Grömitz, verließ deren Haus jedoch am folgenden Morgen in der Frühe, weil der Vater, dem das Verschwinden des Knaben und die Reise der Angeklagten nach Hamburg
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ebenfalls verdächtig erschienen war, sie sofort der Ermor- dung des Kindes beschuldigt hatte. Die Angeklagte wurde sodann auf Veranlassung ihrer Verwandten im Hause ihres Bruders, des Maurers Johann Heinrich Böhling, verhaftet.
Die Köster wurde durch den Kriminalwachtmeister Eckardt nach Hamburg transportiert; sie bestritt ihm gegenüber die Täterschaft zunächst, räumte dann aber ein, daß sie den Knaben über das Brückengeländer geworfen “und bei den Füßen nachgeholfen habe.
Vor dem Untersuchungsrichter hat die Köster die verschiedenartigsten Angaben über die Ausführung des Ver- brechens gemacht. Nachdem sie anfangs ihre Teilnahme an demselben gänzlich in Abrede gestellt hatte, legte sie wiederholt das glaubwürdige Geständnis ab, die Tat allein, ohne Gehilfen und Mitwisser, verübt zu haben. Dieses Geständnis wurde durch die Aussage des Barbiergehilfen Nasser unterstützt, welcher kurz vor der Ermordung des Knaben auf der Brücke des Kammerkanals hart am Ge- länder in Begleitung eines Knaben ein Frauenzimmer ge- sehen hatte, das der ganzen Erscheinung, Größe, Statur, Haltung und Kleidung nach die Angeklagte gewesen sein mußte. Auch war die Angeklagte, wie von dem Dienst- mädchen Schmidt konstatiert wurde, kaum eine halbe Stunde nach Verübung des Verbrechens ohne Begleitung durch die Niedernstraße gegangen. Daß sie allein mit dem Knaben nach Hamburg ‚gekommen war, wurde durch die Aussagen der Vermieterin Peters erwiesen, welche sich bei Ankunft der Angeklagten zufällig auf dem Lübecker Bahnhof befand. Während ihres ganzen Aufenthalts in Hamburg bis zum Morgen des 12. November war die An- geklagte, soweit glaubwürdige Ermittelungen vorliegen, auch nicht mit Personen zusammengekommen, auf welche sich ein Verdacht der Teilnahme an dem Verbrechen hätte lenken können. Wenn demgegenüber der Ewerführertage- löhner Nesemann, welcher auf den Hilferuf des Knaben
180 Rosalowski.
zuerst herbeigeeilt war, gesehen haben wollte, daß vom Orte der Tat zwei Männer und ein Frauenzimmer fort- geeilt seien, und die Arbeiterin Spangenberg behauptete, daß sie diese Personen verfolgt und mit denselben gekämpft habe, so mahnt das von neuem zu der größten Vorsicht bei Bewertung von Zeugenaussagen. Nesemann war nämlich offenbar durch den Anblick des ertrinkenden
Knaben so bestürzt geworden, daß seine Beobachtungen.
ganz unzuverlässig waren, und die Spangenberg, welche außergerichtlich und gerichtlich wiederholt ihre Tätigkeit bei Verfolgung der Mörder ausführlich geschildert hatte, mußte schließlich zugeben, daß sie bei Ermordung des Knaben überhaupt nicht zugegen gewesen sei und daß sie, lediglich um sich wichtig zu machen, obige Angaben ge- macht habe. Die Angeklagte nahm dann, offenbar um das eigene Verbrechen abzuschwächen, und bestimmt durch die Aussagen der Spangenberg ihr früheres Geständnis, die Tat allein verübt zu haben, zurück und behauptete, bei Ausführung der Tat von zwei Männern begleitet ge- wesen zu sein, von denen der eine mit ihr gemeinschaftlich den Knaben in das Wasser geworfen habe. Über die beiden unbekannten Männer und die Art und Weise, wie sie dieselben kennen gelernt habe, verwickelte sich die An- geklagte in vielfache Widersprüche. Alles, was in dieser Beziehung von ihr ausgesagt worden, erwies sich, soweit es überhaupt zu kontrollieren war, als erlogen.
Der Fall gelangte am 25. März 1878 vor dem Schwur- gericht zu Verhandlung.
Seit langer Zeit hatte kein Kriminalfall in Hamburg in so hohem Grade die allgemeine Teilnahme für das un- glückliche Opfer erweckt und so sehr den Abscheu der Bevölkerung gegen die entmenschte Mutter entfesselt. Schon in frühester Morgenstunde waren die Eingänge zum Gerichtsgebäude von einer dichtgedrängten Menge um- lagert. Lange vor dem Beginn der Verhandlung füllte ein
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aus allen Ständen der Bevölkerung zusammengesetztes Publikum den Zuschauerraum des Schwurgerichtssaals. Aber die erwartete Sensation blieb aus, die Verhandlung verlief ruhig, ohne dramatische Effekte.
Die Angeklagte, eine mittelgroße Person mit stupiden gemeinen Gesichtszügen, folgte der Verhandlung mit stoi- scher Ruhe; nur zuweilen hoben sich die gesenkten Augen- lider und ein katzenartiger lauernder Blick streifte über die Geschworenen und die Versammlung im Gerichtssaale. Sie gab u. a. Folgendes an:
„Am Tage nach meiner Hochzeit habe ich den Knaben in meine Wohnung genommen. Mein Mann sagte: „Wenn wir den Knaben und die Wohnung nicht hätten, könnten wir wieder in Dienst gehen.“ Ich sagte meinem Manne, er solle sich nach Arbeit umsehen. Ich wollte in Ham- burg einen Dienst suchen und den Jungen dort austun. Ich dachte nicht daran, daß ich ihn meinen Eltern wieder übergeben könnte. Ich fuhr am 9. November von Neu- stadt nach Hamburg. Hier kam ich um 6 Uhr nach- mittags an. Von Neustadt fuhr ich erst III., dann IV. Klasse. Im Wagen saßen zwei Männer, die mir zu trinken gaben. Ich wurde davon „dösig“. In Hamburg suchte ich die mir nicht bekannte Wohnung meines Bruders. Ich dachte nicht daran, daß ich diese in seiner früheren Woh- nung erfragen konnte, hatte überhaupt nicht viel Gedanken. Ich ging nach der Niedernstraße, wo ich einen Bekannten, namens Westphal, traf; bei diesem war ein zweiter Mann. Ich sagte, ich wollte zu meiner früheren Herrschaft Hars in Billwärder. Hars hatte mir einmal gesagt, er wolle etwas für den Jungen tun. Die Männer sagten mir, es sei schon zu spät, wozu ich denn dort noch hingehen wolle. Als die Männer sich von mir trennten, ging ich mit dem Jungen weiter. In der Banksstraße wurde ich unwohl und kehrte um; der Junge klagte über Müdigkeit. Ich lehnte mich an das Geländer der Brücke. Der Junge
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kletterte unterdes auf das Brückengeländer. Da kamen die beiden Männer wieder zurück. Sie machten Unsinn und fingen an, sich zu stoßen. Dabei erhielt der Junge einen Stoß und fiel ins Wasser. Ich wollte nach dem Jungen greifen, konnte ihn aber nicht mehr fassen. Die Männer nahmen mich mit und sagten, es sei schon einer hinunter, der den Jungen heraufhole. In Hamburg
blieb ich drei Tage und fuhr dann nach Neustadt zurück.
Von dem Unglücksfall meines Sohnes habe ich in Ham- burg nichts gesagt. Meinem Bruder sagte ich auf seine Frage, daß der Junge noch bei den Großeltern wäre. In Neustadt fand ich meinen Mann nicht anwesend. Ich ging zu Krumlinde, dem ich, als er nach Karl fragte, sagte, ich hätte ıhn ausgetan. Meinen Eltern, sagte ich, ich hätte den Jungen bei Leuten, die fortreisten, ausgetan. Ich begab mich dann zu meinem Bruder in Grömitz, wo ich verhaftet wurde.“
Wie aufmerksam die Angeschuldigte den Verhandlungen folgte, zeigte ihr Verhalten bei der Vernehmung des Kri- minalwachtmeisters Eckardt. Als dieser das ihm abge- legte Geständnis wiederholte, sprang die Köster auf und rief: „Ja, das habe ich gesagt, aber es ist nicht wahr!“
Daß sie den Mord schon längere Zeit vorher geplant hat, konnte nicht zweifelhaft sein, dafür traten auch im Laufe der Verhandlung noch weitere Momente hervor. So hatte sie erzählt, sie könne den Knaben bei einem Kaufmann in Hamburg unterbringen; ferner hatte sie am Tage vor ihrer Abreise aus Neustadt ihrer Hauswirtin Pfuhl die unwahre Mitteilung gemacht, ihr in Hamburg wohnhafter Bruder wolle den Knaben zu sich nehmen. Diese Unwahrheiten können nur den Zweck gehabt haben, das Verschwinden des Kindes unverdächtig erscheinen zu lassen. Die Reise nach Hamburg hat sie offenbar nur unternommen, um sich des Knaben zu entledigen. Als die Ermordung des damals noch nicht ermittelten Knaben in
Eine entmenschte Mutter. 183
ihrer Gegenwart besprochen wurde, hat sie sich in der gleichgültigsten Weise am Gespräch beteiligt.
Die Geschworenen bejahten denn auch nach einstün- diger Beratung die Hauptfrage, die auf Mord lautete. Als der Staatsanwalt beantragte, die Angeklagte wegen Mordes unter Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte zum Tode zu verurteilen, blieb diese vollkommen ruhig und antwortete auf die Frage des Gerichtspräsidenten, ob sie noch etwas hinzuzufügen habe, klar und deutlich: „Nein.“ Auch bei der Verkündung des auf Todestrafe lautenden Urteils blieb die Köster gelassen. Ebenso ruhig verließ sie die Anklagebank.
Die durch den Verteidiger eingelegte Nichtigkeitsbe- schwerde wurde von dem Oberappellationsgericht verworfen.
Während dieser Zeit machte die Köster im Gefängnis einen Selbstmordversuch, gewann aber danach ihre bis- herige Ruhe anscheinend wieder. Ihr Schlaf und Appetit ließen nichts zu wünschen übrig. |
Der Physikus Dr. Erman, der die Köster infolge des Selbstmordversuches kennen lernte, legte seine Beob- achtungen über ihren Geisteszustand in einem Bericht an den Präses des Medizinalkollegiums nieder. Die darin aufgeworfenen Bedenken führten zu einer weiteren Unter- suchung des Geisteszustandes der Köster durch die Physici Dres. Gernet und Reincke. Diese bestätigten, daß die Köster eine schwachsinnige Person sei, und daß dieser Schwachsinn nach ihrer difformen Schädelbildung als ein angeborener angesehen werden müsse. Daraufhin gab der Senat von Hamburg dem Gnadengesuch des Verteidigers Folge; die Todesstrafe wurde in lebenslängliches Zucht- haus umgewandelt.
Die Verurteilte wurde in das damals in der Ferdinand- straße befindliche alte Zuchthaus übergeführt, wo sie sich gut führte und fleißig arbeitete. Eines Morgens fand der Gefängniswärter bei der Revision der Zelle die Köster an
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ihrem Taschentuch hängend; sofortige Wiederbelebungs- versuche waren von Erfolg. Nach Fertigstellung des neuen Zuchthauses in Fuhlsbüttel wurde die Köster mit den übrigen Zuchthausgefangenen dorthin versetzt und bei der Wäsche beschäftigt. Im Laufe des Jahres 1880 zeigte sie Anfälle von Schwermut und äußerte u. a. zu ihren Mitgefangenen, es sei ihr sehnlichster Wunsch, bald vom Dasein erlöst zu werden. Am 29. Mai 1880 wurde sie vermißt und auf dem Wäscheboden, an einem Handtuche erhängt, gefunden. Sie hatte die ihr im Gnadenwege er- lassene Todesstrafe selbst vollstreckt.
Ein Attentat auf den König Milan von Serbien.
- Von A. J. Milovanovic, Belgrad.
Als im Jahre 1877 der russisch-türkische Krieg aus- brach, wollte bekanntlich Serbien Rußland durch eine Flankenbewegung seiner Armee unterstützen. Die serbischen Staatsmänner durften jedoch nicht offen mit diesem Plane hervorzutreten wagen, bevor Rußland einen Erfolg erzielt hatte. Erst im Herbste desselben Jahres marschierte die serbische Armee in die Türkei ein.
Auf einem Felde bei Kragujevač, genannt Stanovi, wurden gegen 5000 Mann Miliztruppen einberufen. Als die Soldaten in Reih und Glied standen, sollten sie den Eid der Treue ablegen, aber sie widersetzten sich, mehrere Schüsse wurden gegen die Offiziere abgefeuert, und mit blankem Säbel mußte die Ordnung wieder hergestellt werden. Die sofort angestellte Untersuchung ergab, daß man es mit einer Verschwörung zu tun hatte, deren Haupträdels- führer in Topola festgenommen wurden. Unter anderen stand auch der Oberstleutnant Markovic im Verdachte der Mitschuld. |
Alle Angeklagten wurden vor das Kriegsgericht ge- stellt und die meisten zum Tode verurteilt, darunter Mar- kovic.
Das Urteil wurde sogleich vom Kriegsgerichte dem Oberkommando nach Belgrad zur Bestätigung zugesandt. In der folgenden Nacht brachten zwei Offiziere die Ent-
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scheidung des Oberkommandos zurück, durch welches viele begnadigt, für Markovie und sechs andere jedoch das Urteil bestätigt wurde.
Das weitere Verfahren ; gegen Markovič war ungesetz- lich kurz. Nachdem ihm das Urteil bekannt gemacht war, führte man ihn auf das nächstliegende Feld, wo sein Grab schon gegraben war. Markovič war durch dieses schnelle und kurze Verfahren so überrascht, daß er sich widersetzte. Es entstand ein vollkommener Kampf mit ihm, so daß er erst überwältigt werden mußte, ehe man ihn erschoß.
In Belgrad hatte sich die Nachricht von der Verur- teilung Markovics schnell verbreitet, und seine Gattin Helene schickte an den damaligen Fürsten Milan eine Bittschrift, in welcher sie ihn anflehte, er möge, wenn er ihrem Mann schon nicht das Leben schenken wolle, doch wenigstens die Vollstreckung des Urteils verschieben, damit sie ihn noch einmal sehen könne.
Da sie keine Antwort erhielt, fuhr sie am folgenden Tage mit einem ihrer Verwandten nach Arangjelovaec, wo ihr Mann sich im Gefängnisse befand. Unterwegs begegnete ihr der Kreishauptmann, der nach Belgrad reiste, um dem Minister des Innern persönlich über die Vollstreckung des Urteils Bericht zu erstatten. Auf ihre voll Verzweiflung an ihn gerichtete Frage, wie es ihrem Gatten gehe, bekam sie zur Antwort, daß er noch nicht hingerichtet sei.
Voll Hoffnung, ihn noch einmal zu sehen, setzte sie ihren Weg fort. Als sie ankam, ging sie sogleich zu dem betreffenden Offizier und teilte ihm mit, daß sie ihren Mann zu sehen wünsche. Der Offizier antwortete, er könne ihr das nicht erlauben. „Aber ich habe Erlaubnis vom Minister,“ sagte Helene. „Trotzdem ist es nicht möglich, Ihren Wunsch zu erfüllen,“ lautete die Antwort. Auf ihre Bemerkung, daß es sein müsse, antwortete er: „Ich sage Ihnen noch einmal, daß Sie ihn nicht sehen können; aber wenn sie meinen, daß .es sein muß, dann folgen Sie mir,
Ein Attentat auf den König Milan von Serbien. 187
ich werde Ihnen Ihren Mann zeigen.“ Daraufhin führte er sie zu einer Stelle auf dem Felde, wo noch die frisch auf- geworfene Erde lag, und mit der Hand darauf hinweisend sagte er: „Hier liegt Ihr Mann, den Sie zu sehen wünschen“, Helene brach nicht zusammen, vielmehr flößte die Ver- zweiflung ihr eine wunderbare Kraft ein, und sie dachte: „Weil du nicht das Glück hast, einen Sohn zu besitzen, der dich rächt, so werde ich es tun.“
Sie hatte ganz verwirrte Rechtsbegriffe und betrachtete deshalb den Fürsten Milan als den Mörder ihres Mannes, . den sie noch immer für unschuldig hielt. Es war ihr un- begreiflich, daß der Fürst ihren Mann, den er in Anerken- ` nung seiner Verdienste im serbisch-türkischen Kriege vor der Front der Armee persönlich dekorierte, jetzt doch nicht beguadigt hatte. Sie betrachtete von nun als einzige Auf- gabe ihres Lebens die Erfüllung ihrer Rache und meinte, es wäre eine Untreue gegen ihren Gatten, diesen Schwur nicht zu halten.
Helene M. war zum ersten Male mit Dr. Johann Andre- jevi© in Neusalz verheiratet gewesen. Nach anderthalb Jahren wurde sie Witwe. Später wurde sie mit Jevrem Markowic bekannt, den sie mehr schätzte als liebte; M. war ihr Ideal. Als man sie beim Verhöre fragte, wie sie sich zur zweiten Ehe hätte entschließen können, da man doch wisse, dab sie ihren ersten Mann sehr geliebt habe, antwortete sie: „Ich habe Markovič nur darum geheiratet, weil er ein großer Patriot und ein sehr gebildeter Mann war.“
Nach der Hinrichtung ihres Mannes verlebte Helene schwere Tage. Alle Rechte einer Offizierswitwe verlor sie und war gezwungen, ihr Leben von dem Erlöse des Ver- kaufes ihrer Mobilien zu fristen. Ihre materielle Lage ver- schlechterte sich immer mehr und mehr; von Tag zu Tag wuchs ihre Verzweiflung. Einer ihrer Verwandten erzählte: „Ich weiß nicht mehr, was ich mit Helene anfangen soll; sie ist sehr unruhig und spricht in ihren Briefen immer
188 Milovanovic.
vom Tode. Ich weiß nicht, was die Arme tun wird und wovon sie leben wird, wenn sie einmal nichts mehr hat, was ich für ihre Rechnung verkaufen könnte.“
In der Tat sah Helene voraus, wie es kommen müßte, und deshalb siedelte sie im Herbst des Jahres 1881 von Jagodina nach Belgrad über, in der Absicht, eine Privat- konversationsschule für die deutsche Sprache zu eröffnen. Aber für die Frau eines Hochverräters war das eine schwere Sache, und sie bekam nicht eine einzige Schülerin, obgleich sie mehrere Male in der Zeitung annoncierte. Trotzdem versuchte sie noch immer, die Würde ihres Standes aufrecht zu erhalten. Als sie einmal bei einem Freunde in Jagodina zu Gast war, wollte sie durchaus nicht annehmen, daß er dem Kutscher für ihre Rückreise 20 Fr. zahlte; da er je- doch nicht nachließ, so schickte sie seinen Kindern aus Belgrad verschiedene Sachen, die den Wert von 20 Fr. überstiegen. Auch um einen Staatsdienst wollte sie nicht bitten, obwohl sie ihn hätte bekommen können. Der Diener der in letzter Zeit bei ihr war, sagte aus, daß er sie nie gut gelaunt sah und oft aus ihrem Zimmer tiefe Seufzer
hörte.
In den ersten Tagen des Oktobers 1882 brachte sie ihren Verwandten einen Brief mit der Aufschrift: „Ich bitte dich, Milla, hebt mir dies auf, bis ich es von euch zurück ver- lange oder im Falle, daß ich sterbe, öffnet es.“ In dem Umschlag waren, wie sich später herausstellte, sechs Briefe mit verschiedenen Adressen. In denselben nahm sie Ab- schied von ihren Verwandten und guten Bekannten und beauftragte einen nahen Verwandten mit der Verwendung ihrer Hinterlassenschaft. Der Mutter ihres Mannes schreibt sie, daß sie auf ihren Sohn stolz sein könne. Zwei Ärzten schickt sie ihre Karte und fünf Dukaten, die sie ihnen schuldet, und in einem andern Briefe nimmt sie Abschied von einer gewissen Lena Knjicanin und schreibt unter anderem: „Man wird bald sehen, ob ich eine Heldin oder
Ein Attentat auf den König Milan von Serbien. 189
ein Feigling bin. Wenn es kein Irrtum ist, daß Sie eine Patriotin sind, dann gebrauchen Sie Ihren Geist und Ihre Energie nicht zum Intrigieren, sondern setzen Sie mein Werk fort, wenn ich keine glückliche Hand habe! Ver- nichten Sie die Feinde Serbiens!“
Am Montag den 11. Oktober 1882 schritt Helene zur Ausführung der Tat, welche sie in diesem Schreiben an- deutet. Der amtliche Polizeibericht, welcher an demselben Tage der Präfektur zugestellt wurde, berichtet darüber folgendes: |
„Heute wurde die Rückkehr Sr. Majestät König Milans von seiner weiten Reise gemeldet und die Ankunft in Bel- grad auf etwa 9 Uhr vormittags festgesetzt. Deshalb ist der Unterfertigte pflichtgemäß zur Aufrechterhaltung der Ordnung bei der Kathedrale erschienen.
Der König kam aber erst nach 11 Uhr an, und während der Zeit von 81, Uhr bis zu seiner Ankunft versammelte sich eine große Menschenmenge in und vor der Kirche.
Als der königliche Wagen gegen 11!/a Uhr vorfuhr, stiegen die Majestäten aus und betraten mit ihrem Gefolge die Kirche. Am Eingang empfing sie der Bischof mit dem Klerus und bot ihnen das Kreuz, das Evangelium und ein heiliges Bild zum Kusse dar. Unter dem Gesang heiliger Lieder wollten sich die Majestäten zum Altar begeben, aber bei den ersten Schritten hörte man von der linken Seite einen Schuß fallen, welcher hinter einer Säule des Glocken- turmes gegen den König von einer Frau abgefeuert wurde. Im selben Augenblick ergriffen auch schon die Adjutanten Sr. Majestät, die Herren Protic und Franassevie, der unterfertigte Polizeikommissär, ein Polizeibeamter und ein Wirt diese Frau und nahmen ihr den Revolver ab. So wurde sie verhindert, nochmals zu schießen.
Die Kugel war in die Mauer geschlagen und der König unversehrt geblieben. Der Revolver war noch mit fünf Patronen geladen. Die Attentäterin hielt den Revolver
Der Pitaval der Gegenwart. II. 14
190 Milovanovie. -
in der rechten Hand und trug ihn an einer Schnur um den Hals und darüber ein Umschlagtuch, damit man die Waffe nicht bemerken konnte. In der linken Hand hielt sie ein offenes Federmesser, welches ihr mit dem Revolver sofort abgenommen wurde.
Sie gestand sogleich, daß sie Helene, die Frau des erschossenen Oberstleutnants Jevrem Markovic sei und daß sie die Absicht gehabt hätte, den König zu erschießen.
Die Frau war niemandem aufgefallen, besonders des- halb, weil sie für die meisten und auch für den Unter- fertigten eine ganz unbekannte Persönlichkeit war.
Die Attentäterin wurde verhaftet, als Verbrecherin so- fort einer Leibesvisitation unterzogen und gegen sie die Untersuchung eingeleitet. Der Polizeikommissär,
Ä R. Popoviĉ.“
Bei dieser Leibesvisitation fand man bei Helene einen Zettel, auf dem geschrieben stand: „Ich werde alle Hinder- nisse und Schwierigkeiten überwinden; ich denke zu sterben, aber nicht ohne...“ Auf einem zweiten Zettel standen die Worte: „Lebe wohl, Serbien! Wenn du mich auch be- leidigt hast, so hast du dich selbst noch mehr dadurch beleidigt, daß deine und meine Feinde bis jetzt nicht bestraft wurden. Aber trotzdem: Lebewohl überall! Lebewohl allen, die würdig sind! Belgrad 1882.“ Darunter stand: „Ich erfülle meine Pflicht und sterbe für dich, damit aus meinem Blute Neueres und Reineres für Serbien entstehe!“
Außer dem amtlichen Berichte sind noch folgende Um- stände zu erwähnen.
Ein Wirt, der neben der Attentäterin stand, erzählt, dab der König nach dem Schusse den Kopf auf die Seite wendete und dem Kriegsminister, der in seiner Nähe stand, befahl, achtzuhaben, daß die Ordnung nicht gestört werde.
Der König und die Königin gingen voraus. Ihnen folgte die Hofdame und dieser der Offizier Franassovic links und der diensthabende Adjutant rechts.
Ein Attentat auf den König Milan von Serbien. 191
Franassovis (jetzt General) hatte die beste Gelegenheit, alles zu beobachten. Kaum waren die Majestäten in die Kirche eingetreten, so bemerkte er hinter einer Säule eine ausgestreckte Hand, die einen Revolver hielt; aber die da- zu gehörige Person konnte er nicht sehen. Die Frau konnte, bevor Franassevic zu ihr kam, nur einmal abdrücken, dann wurde sie von ihm bei der Hand ergriffen. Sie wider- setzte sich nicht, sondern blieb ganz ruhig. Voll Bestür- zung liefen die Geistlichen auseinander; der König und die Königin gingen zur Kirche hinaus, und daraufhin entstand eine allgemeine Panik und Verwirrung. In dem unbeschreib- lichen Gedränge der hereinströmenden Menge hörte man von allen Seiten nur die Frage: „Wer ist sie? Wer ist sie?“ Die Frau hörte alles ganz gleichgültig an und rief laut: „Ich bin Helene, die Frau des erschossenen Jevrem Markovič.“ Als der König hörte, wer sie sei, wandte er sich zu ihr um und sagte: „Sie haben mir vor vier Jahren geschrieben, daß Sie mich erschießen werden.“ Damals legte der König keinen Wert auf den Brief, hatte ihn aber doch auf- bewahrt.
Als Franassovic die Attentäterin bei der Hand festhielt, kam als erster ein Polizeibeamter und verlangte die Über- gabe der Helene M. Während Franassovit noch im Zweifel war, ob er einen wirklichen Polizeibeamten vor sich habe, kam der Polizeikommissär R. Popovič hinzu. Ihm wurde die Attentäterin übergeben, um durch eine Seitentür in ein gegenüber befindliches Haus und von dort durch eine schmale Gasse auf die Polizeidirektion geführt zu werden. Bei dieser Gelegenheit konnten die Polizeibeamten die wütende Menge nicht zurückhalten. Die Frau wurde mit Stöcken geschlagen, an den Haaren gezogen, und die Kleider wurden ihr vom Leibe gerissen. Bei alledem blieb sie ruhig.
Der damalige Untersuchungsrichter Yassa Milenkovie beschreibt sie in seinem Tagebuche folgendermaßen :
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„Helene M. hatte hübsche Züge, schwarze Augen und lange schwarze Haare, die ihr, vom Pöbel zerzaust, in die Stirne hingen. Sie ordnete ihr Haar und befühlte Brust und Achsel, wo sie Schmerzen von den Stockschlägen hatte, und verlangte ein Glas Wasser. Nach zehn Minuten hatte sie sich erholt und fragte: „Jetzt ist mir besser. Was wünschen Sie, daß ich Ihnen sage?“ Ich stellte einige Fragen und sagte ihr, sie solle mir antworten. Sie sprach kalt und ernst. Wenn die Rede auf den König kam geriet sie in Feuer; ihre Augen leuchteten, ihre Fäuste waren geballt. Unter anderen Fragen stellte ich auch diese: „Sie glauben gewiß, den König getötet zu haben?“ —
„Ja,“ sagte sie. —
„Nein, S. M. der König lebt.“
„Was sagen Sie?“ —
„Der König ist unverletzt.“ —
„Ach,“ rief sie, „Ist es möglich, daß ich den verhaßten Tyrannen nicht getroffen habe? Meine unglückliche Hand, wie sie mich verriet!“ —
Der Minister des Innern Garaschanin besuchte sie mit dem Advokaten A. Novakovic. Bei seinem Anblick streckte sie den Arm aus und, auf denselben bliekend, rief sie: „Das Feuer soll dich verbrennen, weil du nicht treffen konntest.“
Noch am Tage des Attentates fand die erste Vernehmung Helenens statt. Ihre Aussage lautete: „Ich heiße Helene M. und bin die Witwe des erschossenen Oberstleutnants J. Marković. Gerade heute bin ich 37 Jahre alt, othodoxen Glaubens und aus Österreich-Ungarn gebürtig. Als meine Mutter von Neusalz nach Schopron reiste, kam ich auf dem Schiffe zur Welt. Meine Eltern lebten in Schopron. Sie sind gestorben und jetzt habe ich dort niemanden. Mein Vater hieß... ich will es jetzt nicht sagen, wie meine Mutter hieß. Bis jetzt war ich noch nie bestraft oder einem Verhör unterzogen. Das geschieht heute zum ersten Male, und ich weiß, warum.
Ein Attentat auf den König Milan von Serbien. 193
Ich lebe hier in Belgrad und bin im vorigen Herbste von Jagodina hierhergezogen in dieselbe Wohnung, in welcher ich jetzt noch lebe. Wer mich von meinen Freunden, Bekannten oder Verwandten während dieser Zeit besuchte, will ich nicht sagen.
Ich habe mich entschlossen, das auszuführen, was ich heute getan, als man mich zum Pfahle führte, wo mein Mann, der serbische Held und verdienstvolle Sohn dieses Landes, unschuldig getötet wurde. Seit dieser Zeit dachte ich nur an das Wie der Ausführung, und heute nacht ent- schloß ich mich, meine längst beschlossene Absicht auf diese Art zu vollenden.
Ich habe die Zettel, welche bei mir gefunden wurden, heute nacht geschrieben, dann legte ich mich zum Schlafen nieder. Als ich heute aufstand, war es schon Tag. Die genaueAnkunftszeit des Königs wußte ich nicht. Aberaus den Gesprächen der Passanten auf der Straße entnahm ich, daß der König bald ankommen werde.
Es war ungefähr halb neun, und ich beeilte mich, an die Ausführung meines Planes zu gehen. Ich kleidete mich an, hing den Revolver, der mir von meinem Manne ge- blieben war, um und zog darüber eine Jacke. Vor dem Spiegel sah ich, daß man den Revolver nicht bemerkte. Dann adressierte ich einen Brief an meinen Hausherrn, in welchem sich das Geld für den Mietzins befand, und lieb ihn auf dem Tische liegen, damit ihn die Polizei nach Vollführung der Tat bei der Haussuchung finden könne, Ich verschloß die Tür und begab mich zur Kirche,
In der Kirche stellte ich mich links in der Nähe eines heiligen Bildes auf, welches zum Küssen aufgestellt ist. Diesen Platz wählte ich mit Absicht, weil ich wußte, dab der König dort vorübergehen mußte. Lange mußte ich warten. Endlich hörte man, der König komme. Die Geist- lichkeit kam vom Altare her und stellte sich in der Kirchen- tür auf. Im selben Augenblicke hörte ich die Garde vor-
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beireiten und die Equipage mit den Majestäten vorfahren. Der König, der die Königin am Arm führte, trat in die Kirche ein. Ich zog, als er in meine Nähe kam, den Re- volver, richtete ihn auf sein Gesicht und feuerte. Der König taumelte auf die Seite und ich weiß nicht, ob er tot ist oder nicht. Ich wurde ergriffen und, was weiter geschah, weiß ich nicht.
Ich bin mir vollkommen bewußt, was ich getan habe. Den Gedanken, den König zu erschießen, trage ich in meiner Brust seit dem Tage, äls mein Mann erschossen wurde. Es ist meine Überzeugung, daß er unschuldig getötet wurde. Da ich mich nicht an allen, die an seinem Tode mitschuldig sind, rächen konnte, entschloß ich mich, den König zu töten, weil er das Todesurteil unterzeichnete,
Bei meiner Tat habe ich keine Mitschuldigen. Ich be- trachte mich als so erhaben, daß mich niemand zu leiten oder mir irgendwie zu helfen braucht. Ich habe das Atten- tat allein vorbereitet und habe es allein ausgeführt. Es wußte niemand etwas davon.
Ich verteidige mich nicht. Ich bin schuldig. Ich will das Schafott, ich will den Tod. Ich will meine Freiheit, ich will weder den Kerker noch das Leben, weil das Leben für mich der Kerker ist.“
Nach dem ersten Verhöre wurde Helene ins Gefängnis geführt. Eines Tages um fünf Uhr früh machte der Wärter des Gefangenenhauses die Runde. Als er zum Zimmer kam, in welchem sich Helene befand, verlangte er, sie solle die Tür öffnen, welche von innen verriegelt war. Helene . bat, er solle ein wenig Geduld haben. Als aber nach einigen Minuten der Wärter von neuem verlangte, daß sie die Türe öffne, erhielt er keine Antwort. Jetzt wurde die Türe mit Gewalt erbrochen. Man fand Helene im Bette ruhig auf der rechten Seite liegend, beide Arme über ein Wasch- becken gestreckt. Sie hatte sich die Adern am Unterarm mit einer Häkelnadel aufgerissen, an der Spiritusflamme
Ein Attentat auf den König Milan von Serbien. 195
Wasser erwärmt und sich warme Umschläge auf die Wunden * gelegt, damit das Blut schneller ausfließe. Ein Gendarm machte einen Notverband und hielt ihr die Arme fest, bis der Arzt kam. Sie machte den Versuch, sich zu befreien, und bat, man möge den Verband lösen, damit sie sich verblute und sterbe. Eine ganze Woche nahm sie keine Speise zu sich, so daß der Minister des Innern einigemale zu ihr kam und sie bat zu essen.
Am 12. April 1883 wurde ihr Todesurteil gesprochen und bekannt gemacht. Sie wollte nicht um Begnadigung bitten, aber der König änderte das Todesurteil in 20 Jahre Zuchthaus um. Als Helene M. in die Strafanstalt kam, gab man sie in ein Zimmer zu zwei anderen Gefangenen. . Ihre einzige Bitte war, ein Zimmer für sich allein zu haben Sie nahm keine Speise zu sich und wiederholte fortwährend. daß sie nach solchem Schieksale nicht mehr zu leben, brauche.
Eines Morgens fand man Helene tot. Sie lag im Bette mit dem Gesichte nach unten gekehrt zwischen zwei Kopf- kissen, um den Hals eine wie einen Strick zusammenge- wundene Serviette. Die Finger waren fest zugedrückt und erstarrt; sie hatte die Enden der Serviette selbst zugezogen, und in dieser Stellung waren ihre Hände erstarrt. Nach vollzogener Obduktion waren die Ärzte geteilter Meinung. Der eine stellte fest, daß Selbstmord vorliege; der andere, war der Ansicht, es sei nicht möglich, daß sie sich selbst. hätte erwürgen können.
Man begrub sie ohne kirchliche Zeremonie. Die Stätte wo sie endlich Ruhe gefunden, ist unbekannt.
Der Brünner Raubmord von 1899. Von Dr. Richard Bauer, k. k. Staatsanwaltssubstitut in Troppau.
Es war am Abende des 20. Februar 1899 gegen 6 Uhr, als Brünn, die Hauptstadt Mährens, das Gerücht eines gräßlichen Raubmordes durcheilte.
Die allgemeine Erregung nahm zu, als bekannt wurde, daß der in einer Verbindungsgasse zwischen der Ferdi- nandsgasse und dem Krautmarkt, einer stark frequentierten und hell beleuchteten Gasse der inneren Stadt, etablierte Uhrmacher und Goldwarenhändler Anton P. in seinem Laden ermordet aufgefunden worden war. Um 61/ Uhr abends fand sich die Gerichtskommission (welcher der Ver- fasser als Untersuchungsrichter angehörte) am Tatorte ein; die Ergebnisse dieses Lokalaugenscheines seien in der Hauptsache im nachfolgenden wiedergegeben.
Anton P., ein junger hübscher lediger Mann, der erst vor einigen Jahren seiner Militärdienstpflicht Genüge ge- leistet, hatte sein Geschäft in einem kleinen schmalen Ge- wölbe, welches einen einzigen Ausgang gegen die Gasse zu hatte. Zu dem Geschäfte gelangte man durch eine schmale Glastür, neben welcher ein Auslagefenster dem Gewölbe Licht spendete. Fast die ganze Länge des Ladens nahm ein Verkaufspult ein, neben welchem an der Wand eine eiserne Kasse stand. Der Hintergrund des Gewöl- bes war durch einen Vorbang abgetrennt, hinter welchem ein Diwan seinen Platz hatte. DBeleuchtet wurde der
Der Brünner Raubmord von 1899. 197
Laden durch zwei Gaslampen. Als eine gegen 6 Uhr abends zufällig in den Laden eintretende Frau den Anton P. auf dem Boden liegen sah, war es in dem Laden finster gewesen.
Den Mitgliedern der eintretenden Kommission bot sich ein Entsetzen erregender Anblick dar, der das Blut in den Adern erstarren machen konnte. Zwischen dem Verkaufs- pulte und der eisernen Kasse lag Anton P. mit dem Ge- sichte gegen die Erde gewendet, die beiden Arme ausge- streckt, in einer großen Blutlache.
Das Hinterhaupt des Toten war in eine fast breiartige Masse verwandelt; Blut, Knochensplitter und Gehirnmasse fanden sich auf dem Rücken. Die Wand, neben welcher der Kopf lag, war hoch mit Blutspritzen bedeckt, welche auch an dem am anderen Ende des Ladens befindlichen Auslagefenster und an der gegenüberliegenden Wand zu sehen waren; selbst an der ziemlich hohen Decke des Ladens klebte ein Stück Gehirnmasse. — Die Gerichts- ärzte, welche schon viele Jahre diesen Dienst versahen, versicherten bei der Obduktion, noch niemals einen von Menschenhand so grauenhaft zugerichteten Leichnam gesehen zu haben.
Am Rücken der Leiche war eine ziemlich deutlich in Staub ausgedrückte Fußspur zu erblicken; die Hosen des Toten waren am Gesäßteile mit Staub bedeckt. Nicht weit von der Leiche lag eine mit frischem Blute bedeckte Holzhacke. Die Taschen des Anton P. waren umgedreht; verschiedene Gegenstände, wie z. B. ein Taschentuch, eine Schachtel mit Zündhölzchen, ein Paket Tabak u. dgl. lagen verstreut daneben auf dem Fußboden.
Die eiserne Kasse stand offen und war fast leer; aus dem Auslagefenster fehlten drei Samttabletten, auf welchen goldene Uhren ausgestellt waren. Erwähnenswert ist auch, daß in der eisernen Kasse ein offenes Notizbuch lag, in welchem mit Bleistift von der Hand des Ermordeten das
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Wort „Mord“ deutlich geschrieben stand. So rätselhaft dieser Umstand auch erschien, war es doch unmöglich, ihn mit der Mordtat in irgendwelchen Zusammenhang zu bringen, da P. während des sich jedenfalls rasch abspie- lenden Überfalles dieses Wort keinesfalls geschrieben haben konnte; es blieb denn auch dieser Fund, der zu den ver- schiedensten und kühnsten Schlußfolgerungen Anlaß ge- geben hatte, unaufgeklärt. Auf dem Erdboden lagen im ganzen Laden verschiedene Schmucksachen, als Knöpfe usw., verstreut umher. Das Auslagefenster war von innen geöffnet worden und muß zur Zeit des Mordes offen gestanden haben, da sich Blutspritzen auf den sonst inner- halb der Auslage befindlichen Glasscheiben zeigten.
Bei dieser Sachlage ließen sich folgende Schlußfolgerun- gen ziehen: Der Mörder hatte offenbar in einem Augen- blicke, da Anton P. zur Kasse gegangen war, um einen Gegenstand herauszunehmen, demselben von rückwärts, mit der Hacke weit ausholend: (wovon ein in einer Glas- kugel der von der Decke herabhängenden Gaslampe be- findliches Loch Zeugnis ablegt) einen wuchtigen Hieb auf den Kopf versetzt, so daß er nach rückwärts zusammen- stürzte, ihn darauf — vermutlich, weil er noch röchelte - oder sonstige Lebenszeichen von sich gab, — mit einem Fußtritte gegen den Rücken auf das Gesicht geschleudert und sodann auf den Kopf des wehrlos Daliegenden hagel- dichte Hiebe niedersausen lassen, so daß das Blut hoch im Bogen emporspritzte und Knochensplittier und Stücke des Gehirns umherflogen. Als nun der Täter den ein- zigen Zeugen seines Verbrechens für immer verstummt glaubte, durchwühlte er in Hast die Taschen des unglück- lichen Opfers, durchsuchte die offenstehende Kasse, plün- derte die Auslage und eilte mit den rasch zusammenge- rafften Schätzen hinaus in die vor dem Geschäfte vorbei- strömende Menschenmenge, aus der wohl niemand eine Ahnung hatte, welch blutiger Vorfall sich soeben in der
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nächsten Nähe abgespielt hatte. Die Tür des Ladens war zweifellos zur Zeit der Tat von innen versperrt ge- wesen; in der Eile der Flucht dürfte der Mörder das Zusperren der Türe von außen, was die Entdeckung der Tat noch lange hätte hinausschieben können, wohl ver- gessen haben. Der Schlüsselbund mit den Ladenschlüsseln und die Samttabletten wurden in den Anlagen des bei der Stadt gelegenen Spielberges aufgefunden.
Der Mord konnte nur zwischen 5t/4 und 6 Uhr abends vollbracht worden sein, da Anton P. noch um 51/; Uhr vor seinem Geschäftslokale stehend gesehen und schon vor 6 Uhr tot aufgefunden wurde Die Menge der geraubten Gegenstände ließ sich mit Sicherheit nicht fest- stellen, da Anton P. keine ordentlichen Bücher führte und auch keinen Gehilfen im Geschäfte hielt, so daß niemand einen Einblick in den Umfang und die Art des Gsschäute- betriebes hatte.
Die Aufregung der Bevölkerung über diesen a mitten in der Stadt am Nachmittag verübten Raubmord war ungeheuer.
Die Stadtgemeinde Brünn setzte einen größeren Geld- preis auf die Entdeckung des Mörders aus. Infolgedessen wurde das Gericht mit einer Unmasse von Anzeigen, meist belanglosen Inhalts, überschwemmt. Fieberhaft war die Tätigkeit der Behörden. Allen Anhaltspunkten und Spuren, die sich auf Grund des Lokalaugenscheines und der auf- gefundenen Korrespondenz ergaben, wurde sofort nachge- gangen. Eine Spur führte auch nach Berlin, wo Anton P. im Jahre vorher längere Zeit geweilt und auch ein Liebes- verhältnis angeknüpft hatte. Der Ermorderte, der zu ga- lanten Abenteuern sehr geneigt war, hatte, wie festge- stellt wurde, auch die Nacht vor der Ermordung in weib- licher Gesellschaft zugebracht. Doch führten diese Er- hebungen zu einem negativen Resultate.
Der Verdacht der Täterschaft richtete sich auch auf
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zwei Schweizer, verdächtige Gestalten, welche als vorzügliche Schachspieler sich in den Kaffeehäusern Brünns herumge- trieben und daselbst gegen Entgelt Schach gespielt hatten, aber seit dem Tage des Mordes spurlos verschwunden waren. Als sich aber bald darauf auch deren Unschuld herausstellte, festigte sich langsam die Überzeugung, daß die Täter — man vermutete eine Mehrheit —, welche den Raubmord schon vor langer Hand vorbereitet hatten, nun schon mit ihrer Beute in Sicherheit wären. Trotzdem liefen noch ständig Anzeigen ein, die sich aber meistens als ein Produkt überhitzter Phantasie darstellten. So mel- dete die Bedienungsfrau einer Bedürfnisanstalt, daß am kritischen Tage gegen 6 Uhr abends ein Herr, der ein größeres Paket getragen, zu ihr gekommen, sich während eines längeren Verweilens in einem Kabinette gewaschen habe, und daß nach seinem Fortgange der Griff des Zuges der Wasserspülung mit Blut besudelt gewesen sei. Später mit dem wahren Mörder konfrontiert, erkannte sie in ihm mit vollster Bestimmtheit jenen Herrn wieder, obwohl sie früher angegeben, daß jener Herr mit ihr deutsch gespro- chen hatte und der Mörder nachgewiesenermaßen gar nicht deutsch sprechen konnte. Dieselbe Zeugin wollte auch in dem Bruder des Ermordeten, der dem Morde gänz- lich fern stand, denselben Herrn mit voller Gewißheit wie- der erkennen. Übrigens sei erwähnt, daß der dem Gerichte vorgelegte beinerne Griff des Zuges tatsächlich Blutspuren aufwies.
Das Hauptaugenmerk der Untersuchung wendete sich der gefundenen Hacke zu, nachdem erhoben worden war, daß Anton P. niemals eine solche besessen hatte, dieselbe also zweifellos vom Täter zurückgelassen worden war. Die Hacke war dem Anscheine nach sehr alt; an ihr war kein Schmiedezeichen zu finden; ihr Stiel war roh gearbeitet und wies Spuren von Kleieauf, so daß man schließen konnte, dab sie in einem Stalle oder dergleichen gelegen hatte.
Der Brünner Raubmord von 1899. 201
Ungefähr eine Woche nach Verübung des Mordes zu einer Zeit, da man fast jede Hoffnung aufgegeben, den Täter zu eruieren, erstattete der Schneider F. die Anzeige, daß der Schuhmacher Anton Z. aus Turas, einer Ortschaft in der Nähe Brünns, den er am Nachmittage des 20. Februar in der Nähe des Geschäftes des Anton P. gesehen hatte, seit jener Zeit über viel Geld verfüge und auch im Besitze einer neuen silbernen Uhr sei.
Da sich schon zahlreiche derartige Anzeigen als un- begründet erwiesen hatten, wurde wohl diese Anzeige nicht als besonders wichtig angesehen, allein nichtsdestoweniger dem Gendarmeriewachtmeister S. zur sofortigen Erhebung übergeben. Dieser ließ nun den Anton Z., der derzeit be- scbäftigungslos bei seinem Schwiegervater D., einem sehr anständigen Grundbesitzer in Turas, wohnte, zu dem Ge- meindevorsteher rufen, wo er ihn einem eingehenden Ver- höre unterzog. Sodann begab er sich zu dem Grundbe- sitzer D., der ihm auf seine Frage, wieviel Hacken er be- sitze, entgegnete: „drei“, von denen er zwei sogleich vor- zeigte, während er eine dritte alte meist unbenützte Hacke, die gewöhnlich auf dem Schweinestalle lag, nicht finden konnte. Da die Beschreibung der fehlenden Hacke mit der vom Mörder zurückgelassenen ziemlich übereinstimmte, ließ der Wachtmeister diese herbeischaffen. Der Grundbe- sitzer D. erkannte sie sofort als sein Eigentum, indem er dem Wachtmeister erklärte, daß er sich den Stiel zu dieser Hacke im Jahre 1860 selbst angefertigt habe und daß ein Irrtum vollkommen ausgeschlossen sei. Als nun bei einer Hausdurchsuchung ineinemHemde des Anton Z. echte goldene Hemdknöpfe aufgefunden wurden, so bestand wohl kein Zweifel darüber, daß der Mörder entdeckt sei. Dem Unter- suchungsrichter vorgeführt, leugnete Anton Z. mitder größten Ruhe und Gelassenheit jedes Verschulden und hatte auch ge- genüber den gravierendsten Beweisen entweder eine nichts- sagende Ausrede oder ein einfaches Ableugnen bei der Hand.
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Anton Z., in der Mitte der zwanziger Jahre stehend, von mittlerer Statur, eher schwächlich, denn stark gebaut, stotterte sehr stark und hatte ungewöhnlich lange Hände. Wer am Abend des 20. Februar die entsetzlich entstellte Leiche des Anton P. in ihrem Blute schwimmen sah, der hatte sich den Raubmörder gewiß anders vorgestellt, als ‚Anton Z. tatsächlich aussah, den man beim ersten Anblick für einen äußerst harmlosen Menschen hätte halten mögen, wenn nicht in Augenblicken, wo er sich unbeobachtet wähnte, ein wildes Aufblitzen in seinen Augen — dem Spiegel der Seele — davon gezeugt hätte, daß auch in dem Herzen dieses anscheinend so ruhigen Menschen wilde Triebe und Leidenschaften ihren Sitz hatten.
Die Untersuchung nahm nun einen raschen Fortgang, und die Beweise gegen Anton Z. häuften sich von Tag zu Tag.
Kurz vor seiner Verhaftung schrieb Anton Z. einem in Brünn lebenden Verwandten einen Brief, in welchem er ihn inständig bittet, im Falle er von der Gendarmerie einver- nommen werden sollte, anzugeben, er hätte ihm (dem Z.) 36 Gulden geborgt, denn sonst komme er (Z.) ins Kriminal.
Bei späteren Hausdurchsuchungen wurden teils auf dem Heuboden teils im Ofen des Zimmers 10 silberne Uhr- ketten und 64 neue und alte Taschenuhren gefunden und es gelang, wenn auch unter großen Schwierigkeiten, der Nachweis — und zwar teilweise mit Hilfe der ein- gravierten Nummern —, daß der größte Teil derselben aus dem Geschäfte des Anton P. stammte. — Ebenderselbe Nachweis wurde bezüglich der goldenen bei dem Be- schuldigten gefundenen Hemdknöpfe geführt, die Anton Z. in einer Marktbude um einige Kreuzer gekauft haben wollte. Der Winterrock, den der Beschuldigte erwiesener- maßen am Tage der Tat trug, war alt, schmutzig und aus aufgerauhtem Stoffe angefertigt; obwohl er ausgewaschen worden war, konnten die Sachverständigen an demselben, hauptsächlich an der Brust, noch Blutspuren nachweisen.
Der Brünner Raubmord von 1899. 203
An dem alten weichen und sehr stark beschmutzten Hute des Beschuldigten fand man neben mehreren Blut- flecken auch einen sehr großen langen Blutspritzer. Anton Z. behauptete nun, vor einigen Tagen beim Schlachten eines Schweines geholfen und sich bei dieser Gelegenheit die Blutflecken zugezogen zu haben. Wenn nun auch der Nachweis nicht zu erbringen war, daß es sich um Menschen- und nicht um Schweineblut handle, so stand dennoch fest, daß der Beschuldigte beim Schlachten des Schweines den Winterrock nicht an hatte. Immerhin sprach dieser Befund gegen die ursprüngliche Annahme, daß der Mörder ganz mit Blut bedeckt gewesen sein mußte. — Es wurde auch festgestellt, daß das Futter an der Innenseite des Winter- rockes in einer solchen Weite aufgetrennt war, daß der Täter durch diese Öffnung die Hacke stecken und sie so verborgen in die Stadt tragen konnte.
Der Beschuldigte wollte den Ermordeten überhaupt nicht gekannt haben. Dem entgegen wurde festgestellt, daß Anton Z. dem Ermordeten während dessen aktiver Militärdienstzeit zeit- weise als Putzer zugewiesen war, und daß mehrere Zeugen den Beschuldigten zu verschiedenen Malen in dem Geschäfte des Anton P. angetroffen hatten. In einem Geschäftsbuche des Anton P. fand sich auch eine Aufzeichnung, laut welcher der Beschuldigte im Januar 1899 eine Uhr auf Raten ge- kauft hatte. Aus einem dem Z. abgenommenen Pfand- scheine war ferner zu ersehen, daß dieser die Uhr noch an demselben Tage versetzt hatte. Kurz nach dem 20. Februar trug die Ehegattin des Z. dem Uhrenhändler D. in Brünn eine silberne Uhr zurück, die sie ihrem Manne in der Meinung, er hätte sie auf Schuld gekauft, weggenommen hatte. Im Laufe der Untersuchung stellte sich heraus, daß diese Uhr aus dem Geschäfte des Anton P. stammte, während jene Uhr, welcheZ. wirklich kurze Zeit vorher von D. auf Borg genommen und sogleich versetzt hatte, im Ver- satzamte aufgefunden und auch von D. erkannt worden war.
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Bemerkenswert ist auch nachstehender Vorfall. Vor der Entdeckung des Mörders brachte ein kleiner Junge einen in böhmischer Sprache abgefaßten Zettel auf das Polizeiamt mit dem Bemerken, daß er ihn auf den sogenannten „schwarzen Feldern“ bei Brünn von einem unbekannten Manne mit dem Auftrage erhalten habe, denselben gegen eine kleine Belohnung auf dem Polizeiamte abzugeben. Der Inhalt des Zettels lautete: „Wegen der paar Gulden (jedenfalls eine Anspielung auf den ausgeschriebenen Preis) bekommt ihr den Schuster nicht; der ist viel zu gescheit, um sich fangen zu lassen.“ Damals wurde dieser Zettel als ein schlechter Scherz aufgefaßt. Als aber der kleine Junge später dem Anton Z. gegenübergestellt wurde, er- kannte er mit Bestimmtheit in ihm den damaligen Auftrag- geber; auch die Sachverständigen aus dem Schreibfache fanden die Schrift des Zettels mit der des Anton Z. über- einstimmend. Der Beschuldigte wollte von dem ganzen Vorfalle nichts wissen. |
Alle diese Beweise, die vielleicht manchen hartgesottenen Sünder zum Reden gebracht hätten, übten auf Anton Z. gar keinen Eindruck aus. Derselbe verlor nie seine Ruhe, war nie um eine Ausrede verlegen und beteuerte stets seine Unschuld. Nicht einmal eine Veränderung in seinen Gesichtszügen war zu entdecken, als ihm z. B. der Fund der 64 Uhren vorgehalten wurde: „Die kann jeder dorthin gelegt haben,“ lautete seine gefaßte Antwort.
Erwiesenermaßen hatten weder der Schwiegervater des Anton Z. noch dessen junges Weib eine Ahnung von seinem Verbrechen, und man kann sich das Entsetzen und die Verzweiflung dieser armen Leute vorstellen, als sie sich der Überzeugung nicht mehr verschließen konnten, daß Anton Z. wirklich ein Mörder sei. Wiewohl sich der Be- schuldigte zu Anfang seiner Ehe ganz brav gehalten hatte, führte er schon seit geraumer Zeit einen unordentlichen Lebenswandel, ergab sich vollständig dem Müßiggange,
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bestahl seinen Schwiegervater und verübte verschiedene kleine Betrügereien. Von seinen Angehörigen gedrängt, sich endlich eine Arbeit zu suchen, ging er häufig nach Brünn, lungerte aber dort müßig in den Straßen herum, obne sich um eine Arbeit zu bekümmern. Seinen Schwieger- . vater vertröstete er stets damit, daß er Geld bei einem Be- kannten ausstehen habe, und daß er nach Erbalt desselben alle seine Schulden bezahlen werde. Dabei blieb es gänz- lich unaufgeklärt, was Anton Z. eigentlich mit dem aus- geborgten Gelde anfing, da er weder Spieler noch Trinker war und auch sonst fast gar keine Bedürfnisse hatte. Nichtsdestoweniger ging sein Bestreben dahin, sich auf mühelose Weise Geld zu verschaffen. So hatte er sich erst vor kurzem einem Rechtsanwalte in Brünn gegenüber als den Sohn seines Schwiegervaters ausgegeben, um sich auf diese Art auf dessen Grundstück Geld auszuborgen. Ein andermal versprach er einer Frau 10 Gulden, wenn sie die Unterschrift einer Verwandten des Z., die Grundstücke besaß, nachmachen wollte. Bei dem Fehlschlagen all dieser Versuche, sich Geld zu verschaffen, dürfte in Z. der Plan, den Anton P. zu erschlagen und zu berauben, aufgetaucht sein. Zweifellos ist, daß Z. schon seit längerer Zeit mit diesem Gedanken befaßt die Verhältnisse des P. auskund- schaftete und nur auf den geeigneten Augenblick zur Aus- . führung seines blutigen Vorhabens lauerte. Am 20. Februar, da Anton P. die Auslage neu ordnete und die eiserne Kasse offen hatte, fand er die gesuchte Gelegenheit. Jeden- falls hat er den P. veranlaßt, etwas aus der eisernen Kasse zu nehmen, da er denselben, der ihm an Kraft bedeutend überlegen war, nur in fückischer Weise von rückwärts an- fallen konnte.
Erstaunlich ist die Geschicklichkeit, mit welcher Anton Z., ein so einfacher Mensch, den Raubmord in Scene setzte, die Schnelligkeit, mit der er ihn ausführte, die Wagbhalsig- keit, mit welcher er die Tat vollführte, da zur Zeit des
Der Pitaval der Gegenwart. II. 15
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ersten Hiebes die Ladentür jedenfalls noch offen war, und die Sorglosigkeit, welche er nach dem Morde an den Tag legte. z Auch bei der am 20. April 1899 vor dem Schwurge- richte in Brünn abgehaltenen Hauptverhandlung beharrte Anton Z. bei seinem bisher an den Tag gelegten Benehmen und leugnete alles ab. Es machte den Eindruck, als. ab Z. fest an die im Volke allgemein verbreitete Ansieht glaubte, daß ein nicht geständiger Mörder nieht hingerichtet werden könnte, Er wurde von den Geschworenen einhellig schuldig erkannt. Mit derselben Ruhe wie das Urteil nahm er späterhin die Mitteilung entgegen, daß der von seinem Ver- teidiger eingebrachten Nichtigkeitsbeschwerde keine Folge gegeben und daß auch ein Gnadengesuch zurückgewiesen wurde. | Am 16. August 1899 wurde Anton Z. im Hofe des Straflandesgerichtes in Brünn durch den Strang vom Leben zum Tode gerichtet. Bis zum letzten Momente bewahrte er seine Ruhe und beteuerte seine Unschuld, von der er ebensowenig wie irgend ein anderer überzeugt war.
Amerikanische Räuber.
Zwei Berichte über Raubanfälle aus dem Archiv von Pinkertons National Detective Agency von
_ Cleveland Moffett, New-York.
Zur Einleitung.
Pinkertons National Detective Ageney ist ein über ganz Nordamerika verbreitetes Privatunternehmen der Brüder Wiliam und Robert Pinkerton, das sich mit der Auf- deckung von Verbrechen, der Herbeischaffung abhanden- gekommener Gegenstände, der Ermittelung privater Verhält- nisse (namentlich Kreditwürdigkeit, geschäftlicher Ruf) u. dergl. befaßt. Im Gegensatz zu den meisten europäischen Detektivinstituten ist dieses Unternehmen durchaus zuver- lässig und leistungsfähig. Es hat in jeder größeren Stadt der Vereinigten Staaten Filialen, besitzt die meisten krimi- nalistischen Hilfsmittel, gibt ein eigenes Verbrecheralbum heraus und unterhält Tausende von gut geschulten Detek- tivs mit dem nötigen Aufsichtspersonal. Mit Genugtuung kann das Institut auf eine große Anzahl von hervorragenden Erfolgen blicken. Es ist daher erklärlich, daß es das beste Ansehen genießt und sehr viel vom Publikum wie auch von anderen Behörden, namentlich in schwierigen Fällen, in Anspruch genommen wird. Von manchen Seiten wird es als unentbehrlich bezeichnet gegenüber der Art, wie die staatliche und kommunale Polizei der Vereinigten Staaten oft ihres Amtes waltet. Die folgenden beiden Erzählungen
15*
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sind getreu nach den Akten wiedergegeben, enthalten sich jeder Übertreibung und Ausschmückung und fesseln durch die Tatsachen und ihre geschickte Darstellung, ein packen- des. Bild verwegenen Verbrechertums zeichnend.
Hamburg, 20. Juni 1905. Dr. Roscher.
1. Der Rock-Island-Schnellzug. I.
Der durchgehende Schnellzug auf der Rock-Island- Bahn verließ Chicago um 10 Uhr 45 Min. nachm. am 12. März 1886 mit 22000 Dollars in Fünfzig- und Ein- hundertdollarnoten, welche Kellog-Nichols, ein altgedienter Bote der United States Expreß Company, in Verwahrung hatte. Diese Summe war von einer Bank in Chicago ab- ‚gesandt und sollte an die Hauptbank in Davenport, Jowa, abgeliefert werden. Außer den gewöhnlichen Personen- wagen führte der Zug zwei Transportwagen der Paket- post-Gesellschaft; den ersten, nur für die Paketbeförderung unmittelbar hinter der Lokomotive, den zweiten für Pakete und Reisegepäck. Diese Wagen hatten an beiden Enden Türen, welche Eisenbahnräubern die beste Gelegenheit für ihre Tätigkeit zu bieten pflegen. Der Bote Nichols befand sich im ersten Wagen und war, als der Zug in Joliet, einer Stadt etwa vierzig Meilen westlich von Chicago, hielt, eifrig mit seiner Arbeit beschäftigt. Beim nächsten Halt jedoch, in Morris, kam der Bremser Harry Schwartz aus dem ersten Wagen herausgestürzt und schrie: „Der Bote ist tot.“
Man fand des Boten leblosen Körper auf dem Fuß- boden des Wagens liegen. Der Kopf war ihm mit irgend einem schweren Werkzeuge zerschmettert worden, und die rechte Schulter zeigte eine Schußwunde. Anscheinend war
Amerikanische Räuber. 209
er erst nach hartem Kampfe überwältigt worden. Sein Gesieht trug den Ausdruck trotziger Entschlossenheit, seine Fäuste waren geballt, Hände und Finger in auffaliender Weise zerschunden und zerkratzt und unter den Nägeln fanden sich kleine Fetzen von Menschenfleisch. Die Schuß- wunde rührte von einer Waffe Kaliber 32 her; aber sie war nicht die Ursache des Todes. Dieser war vielmehr die Folge von Schlägen, die der Mörder nach dem Haupte seines Opfers geführt hatte, wahrscheinlich nachdem er den Schuß abgefeuert hatte. Alle, welche Nichols kannten, waren überrascht über den verzweifelten Widerstand, den er geleistet zu haben schien, denn er war ein kleiner leichter Mann, nicht größer als fünf Fuß fünf Zoll, und wog höchstens hundertunddreißig Pfund; auch stand er unter seinen Kameraden nicht in dem Rufe großen Mutes.
Der Paketwagen wurde sofort vom Zuge abgekoppelt und in Morris zurückgelassen unter der Bewachung des ganzen Zugpersonals mit Ausnahme von Schwartz, welcher mit dem Zuge nach Davenport weiterfuhr. Nach der ersten oberflächlichen Besichtigung wurde keinem gestattet, den Wagen, in welchem Nichols lag, zu:betreten, so daß man von dem Umfang des ausgeführten Raubes zunächst keine genaue Kenntnis hatte. Die Tür des Geldschrankes hatte man offen gefunden, und der Inhalt desselben lag zerstreut auf dem Boden umher.
Ein dringendes Telegramm wurde sogleich nach Chicago gesandt, und eine Anzahl Detektivs kamen ein paar Stunden später in Morris an. Nach allen Richtungen hin wurden die Landstraßen und der Schienenstrang abgesucht. Hun- derte von Personen beteiligten sich an dieser Suche, denn die Nachricht von dem Morde verbreitete sich schnell durch die ganze Gegend, und auf Meilen in der Runde blieb kein Quadratmeter undurchsucht, Zufällig war der Boden mit Schnee bedeckt, aber die sorgfältigste Nachforschung vermochte nicht irgend welche bezeichnende Fußspuren
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zu entdecken, und als nach mehrstündigem Suchen alle zurückkehrten, hatte man nur eine einzige Entdeckung gemacht. Es war dies eine Maske, welche man auf einer Viehtrift nahe bei Minorka gefunden hatte — eine Maske aus schwarzem Tuch mit weißen Bändern an jeder Seite, von denen das eine wie bei einem Kampfe aus dem Zeuge herausgerissen war.
Inzwischen betrat Mr. Pinkerton selbst den Paketwagen und untersuchte alles aufs sorgfältigste. Seine erste Entdek- kung war ein schweres Schüreisen, an welchem Blutflecken und zusammengeklebte Haare saßen. Es hing an seinem gewöhnlichen Platze hinter dem Ofen. Diese letztere Tat- sache war nach Mr. Pinkertons Meinung von großer Be- deutung; er schloß daraus, daß das Verbrechen von einem Angestellten. der Eisenbahn begangen sei. Denn, so über- legte er, nachdem das Schüreisen in solcher Weise ge- braucht war, konnte es nur mechanisch und gewohnheits- gemäß wieder an seinen gewöhnlichen Platz gehängt sein; wäre der Täter nicht ein Angestellter der Eisenbahn, so würde er das Eisen auf dem Fußboden haben liegen lassen oder er würde es fortgeworfen haben.
Als Mr. Pinkerton an den Geldschrank kam, entdeckte er, daß die 22000 Dollars fehlten und daß andere Papiere hastig durchsucht, aber als wertlos zurückgelassen waren. Zu diesen gehörte ein Bündel annullierter Wechsel, welche hastig aufgerissen und dann beiseite geworfen waren. Mr. Pinkerton achtete in dem Augenblick :kaum darauf, aber er hatte Gelegenheit sich später daran zu erinnern, daß ein kleines Stück an einem dieser Wechsel fehlte, als ob eine Ecke abgerissen wäre.
Alle Eisenbahnbediensteten wurden sogleich ins Ver- hör genommen, aber keine ihrer Aussagen war von irgend welchem Belang, außer der des Newton Watt, welcher die Aufsicht über den zweiten Wagen hatte. Er sagte, während er die Frachtbriefe und Empfangscheine gezählt
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habe, sei er durch das Krachen von zersplitterndem Glase an dem über seinem Kopfe befindlichen Ventilator auf- geschreckt worden. In demselben Augenblicke sei ein untersetzter Mann, der eine schwarze Maske trug, in den Wagen getreten und habe gesagt: „Wenn du dich rührst, wird der Mann da oben dir den Garaus machen.“ Watt blickte in die Höhe und sah durch das zer- brochene Glas eine Hand hereinragen, welche einen Re- volver hielt. So eingeschüchtert, machte er keinen Ver- such, Lärm zu schlagen, und der maskierte Mann ließ ihn unter der Bewachung der Revolverhand, welche ihn so lange bedrohte, bis der Zug Morris erreichte, und dann plötzlich verschwand. Er war imstande, die Stelle genau anzugeben, wo das Verbrechen begangen sein mußte, da er sich erinnerte, daß die Lokomotive im Vorbeifahren an Minorka pfıff, als der Fremde in den Wagen trat. Dem- nach hatte die Ausführung des Raubmordes und das Ent- kommen des Mörders dreißig Minuten in Anspruch ge- nommen.
Mr. Pinkerton kehrte nach Chicago zurück und zog dort Erkundigungen über Watt ein. Die Vergangenheit dieses Mannes war tadellos und er galt als ein vertrauens- würdiger und tüchtiger Mensch. Er hatte drei Brüder, welche seit Jahren Eisenbahnbedienstete waren und stets sich die vollste Zufriedenheit erworben hatten. Watts guter Ruf und seine aufrichtige Art und Weise sprachen stark zu seinem Gunsten, und doch war die Geschichte von der geheimnisvollen Hand nicht über allen Zweifel er- haben; aus einem Grunde: in dem Schnee, auf dem Dache des Wagens waren keine Fußspuren zu finden.
Der Bremser Schwartz, der einzige Mann auf dem Zuge, welcher bisher noch nicht verhört war, kehrte am folgenden Abend auf dem vom Zugführer Danforth ge- führten Zuge von Davenport zurück und stattete am nächsten Morgen Mr. Pinkerton seinen Bericht ab. Er
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war ein großer gut aussehender junger Mensch, etwa 27 Jahre alt, mit dünnen Lippen und einem entschlossenen Gesichtsausdruck. Er war recht fein gekleidet und behielt während der Unterhaltung seine Handschuhe an. Mr. Pinkerton empfing ihn sehr liebenswürdig, und nachdem sie etwa eine Stunde lang geraucht und geplaudert hatten, bat er ihn, es sich bequem zu machen und die Handschuhe auszuziehen. Schwartz folgte der Aufforderung. Seine Hände zeigten rötliche Spuren, als ob sie von al ln 2 zerkratzt seien.
„Wie haben sie sich denn ihre Hände so er Schwartz?“ fragte Mr. Pinkerton.
„O, das ist vorgestern Abend beim Verladen des Ge- päcks geschehen,* erklärte Schwartz; und dann erzählte er so nebenbei, daß auf der Rückfahrt nach Chicago der Zugführer Danforth einen Ranzen gefunden habe, welchen jemand in einem der Toilettenräume zurückgelassen hatte. Daraufhin ließ Mr. Pinkerton den Zugführer zu sich kommen, und dieser sagte, es sei ein alter wertloser Ranzen gewesen; da nichts darin enthalten gewesen sei, so habe er ihn auf einen Aschenhaufen geworfen. Das einzige, was er in dem Ranzen gefunden habe, sei ein Stück Papier, welches seine Aufmerksamkeit auf sich zog, da es mit roten Linien durchzogen war.
Mr. Pinkerton untersuchte dieses Stück Papier sorg- fälltig und sah alsbald, daß es von einem Wechsel abge- rissen war. Sogleich fiel ihm das Bündel ein, das er in dem Geldschranke gefunden hatte. Nun ist es eine be- merkenswerte Tatsache, daß kein Mensch imstande ist, zwei verschiedene Stücken Papier genau in derselben Weise zu zerreißen; die durchgerissenen Papierfasern passen nur dann vollkommen aneinander, wenn die beiden ursprüng- lichen Teile desselben Stückes zusammengelegt werden. Dieser Versuch wurde gemacht, und es blieb kein Zweifel, daß der von Danforth gefundene Papierfetzen abgerissen
Amerikanische Räuber. 213
war von dem Wechsel in dem in der Nacht vorher be- raubten Packwagen. Die Ränder paßten aneinander, die roten Linien entsprachen einander, und ohne Frage hatte irgend jemand jenen Papierfetzen von dem einen Zuge nach dem andern getragen. Mit anderen Worten, irgend jemand, der mit dem in der vorhergehenden Nacht be- gangenen Verbrechen in Verbindung stand, war vierund- zwanzig Stunden später mit dem Zugführer Danforth nach Chicago zurückgefahren.
Mr. Pinkerton ordnete sofort an, daß der fehlende Ranzen gesucht werde, und ließ Nachfrage halten nach den Reisenden, welche mit dem fraglichen Zuge von Davenport nach Chicago gefahren waren. Der Ranzen wurde auf dem Aschenhaufen gefunden, auf den der Zugführer ihn geworfen hatte, und im Laufe der nächsten Tage stellten die Detektivs sämtliche Passagiere des in Frage stehenden Zuges fest, mit Ausnahme eines Mannes, der auf eine Freikarte gefahren war. Der Zugführer konnte sich nur ganz unbestimmt der Gesichtszüge dieses Mannes erinnern; und, wenngleich einige Reisende sich noch ganz gut auf ihn besinnen konnten, war sein Name und seine Identität nicht festzustellen. Da anscheinend kein anderer Passagier mit dem Verbrechen in Verbindung stehen konnte, so verdoppelte man seine Anstrengungen, um den Inhaber dieser Freikarte zu entdecken.
II.
So groß war das öffentliche Interesse an dem Ver- brechen und dem es umgebenden Geheimnis, daß drei getrennte wohl organisierte Untersuchungen veranstaltet wurden. Die Beamten der Rock Island-Eisenbahn leiteten mit ihren Detektivs die eine; eine COhicagoer Zeitung, die Daily News, die zweite; und eine dritte wurde im Inter- esse der Paketpostgesellschaft der Vereinigten Staaten unternommen von den Pinkertons.
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Mr. Pinkerton war, wie wir gesehen haben, der An- sicht, daß das Verbrechen von Eisenbahnbediensteten be- gangen sei. Die Bahnbeamten waren natürlich nicht ge- neigt, von ihren Angestellten eine so schlechte Meinung zu hegen, und obendrein trat zu dieser Zeit ein Ereignis ein, . welches den Nachforschungen eine ganz neue Richtung gab und die Bahnbeamten noch mehr geneigt machte, Mr. Pinkertons Theorie ungläubig aufzunehmen. Sie erhielten nämlich von einem Sträfling des Zuchthauses in Michigan City einen Brief, in welehem dieser behauptete, er könne ihnen wichtige Nachrichten geben.
Mr. St. John, der Generaldirektor der Bahn, begab sich in eigener Person nach dem Zuchthause, um Plunketts Aussage entgegenzunehmen. Diese ging in der Tat dahin, daß er die Leute kenne, welche den Raub begangen und Nichols ermordet hätten, und daß er willens sei, die Namen derselben zu nennen, falls ihm die Bahnbeamten durch ihren Einfluß eine volle Erlassung seiner Strafe verschafften. Man versprach ihm das, wenn seine Erzählung sich als wahr erweise, und nun berichtete Plunkett von einem Plane, der vor etwa einem Jahre ausgearbeitet sei, als er mit einer Bande von Taschendieben auf Jahrmärkten „arbeitete“. Er war damals zusammen mit „Butch“ Me Coy, James Connor (bekannt als „Gelbhammer“) und einem Mann namens „Jeff“, dessen Zunamen er nicht kannte. Diese drei Männer, so sagte Plunkett, hatten einen Eisen- bahnranb auf der Rock-Island-Bahn geplant, der genau in derselben Weise und genau an derselben Stelle ausgeführt werden sollte, wie in dem in Frage stehenden Falle.
Die Geschichte klang sehr plausibel und fand bei Mr. John Glauben. Sie fand auch Glauben bei Mr. Melville E. Stone von den Daily News, und sogleich wurden die Detektivs der Eisenbahn, welche mit den Detektivsder Zeitung zusammen arbeiteten, angewiesen, die neue Spur zu verfolgen, ohne Mühe und Kosten zu scheuen. Zunächst bemühten
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sie sich, des „Butch“ Mc Coy, des Hauptes der Bande, habhaft zu werden. Butch war Taschendieb, Einbrecher und Allerweltsdieb, der in „Geschäften“ die ganzen Ver- einigten Staaten bereiste.
Nachdem man sich vergebens mit der Polizei in ver- schiedenen Städten in Verbindung gesetzt hatte, beschloß Mr. Stone schließlich zu tun, was bis dahin wahrscheinlich noch kein Eigentümer einer Zeitung getan hatte, nämlich persönlich auf die Suche nach Mc Coy und seinen Ge- nossen zu gehen. Mit Frank Murray, einem der besten Detektivs in Chicago, und anderen Detektivs reiste er nach Galesburg, wo die Bande eine Art Hauptquartier haben sollte. Sie fanden dort keinen der Leute, hinter denen sie her waren, aber sie erfuhren, daß „Thatch“ Grady, ein notorischer Verbrecher, mit dem „Butch“ Me Coy in Be- ziehungen stand, in Omaha sei. Sie eilten nach Omaha, aber nur um dort zu hören, daß Grady nach St. Louis gereist sei. Also begaben sich Mr. Stone und seine Detek- tivs auf frischer Fährte nach St. Louis und verbrachten dort einige Tage mit eifrigen Nachforschungen.
- Wie interessant die Methode ist, den Aufenthalt eines Verbrechers in einer großen Stadt ausfindig zu machen, ist wenig bekannt. Zunächst verschafft man sich bei der städtischen Polizei Auskunft darüber, in welchen Lokalen Verbrecher der betreffenden Art mit Vorliebe verkehren, indem man bei diesen vorläufigen Erkundigungen beson- deren Wert legt auf etwaige Liebesaffären. Denn Diebe stehen häufig noch mehr als ehrliche Leute unter der Herrschaft dieser zärtiichen Leidenschaft und werden sehr oft durch die Mithilfe von Frauen in die Hände der Ge- rechtigkeit geliefert. Auch Mr. Stone und seine Detektivs verfuhren in dieser Weise, brachten dann ihre Zeit in der- artigen Lokalen zu, knüpften Bekanntschaften an mit den Besuchern dieser Lokale und brachten das Gespräch ge- schickt auf den Mann, nach dem sie suchten. Es ist ein
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Irrtum zu glauben, daß Detektivs sich bei solcher Arbeit verkleiden. Falsche Bärte, Brillen und blitzschnelles Wechseln der Kleidung sind Dinge, von denen man nur in den Geschichten schlecht unterrichteter Schriftsteller liest. In einer mehr als fünfundzwanzigjährigen Tätigkeit trug Mr. Murray niemals eine Verkleidung und ebensowenig wußte er von irgend einem bekannten Detektiv, der das getan hätte. Auch bei diesem Unternehmen nahmen die Detektivs einfach den Charakter und die Gewohnheiten der Personen an, mit denen sie zusammenkamen; und nachdem sie diese überzeugt hatten, daß sie nıchts Böses gegen sie im Schilde führten, gelang es ihnen unschwer, über Me Coy und die anderen Auskunft zu erhalten, so- weit diese gegeben werden konnte. Unglücklicherweise war das nicht viel. |
Nachdem die Detektivs auf verschiedenen Spuren von einer Stadt zur andern gereist waren, von dem einem Mit- gliede der Bande hier, von dem andern dort gehört hatten, ohne irgendwo ıhres Mannes habhaft zu werden, gingen sie schließlich in New Orleans vor Anker. Sie hatten fünf oder sechs Wochen Zeit und eine recht ansehnliche Summe Geld verbraucht, um schließlich auch nicht den geringsten Anhalt dafür zu haben, wo sich die von ihnen verfolgten Leute befanden. Sie waren sehr entmutigt, als plötzlich ein Telegramm von Mr. Pinkerton ihnen mitteilte, dab „Butch“ Me Coy nach Galesburg zurückgekehrt sei, wo sie ihn zuerst gesucht hatten. In aller Eile reisten sie dorthin, machten Me Coy in einem Vergnügungslokale ausfindig, und dort nahmen drei von ihnen — John Smith, in Vertretung der Rock-Island-Bahn, John Mc Ginn von der Pinkerton Ageney und Frank Murray, der für Mr. Stone arbeitete, — den Verbrecher mit gezogenen Revol- vern gefangen, trotz eines verzweifelten Versuches, den er machte, zu entkommen.
Zu Me Coys Festnahme beglückwünschten sich alle
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bei der Angelegenheit interessierten Personen. Mr. St. John und Mr. Stone waren fest überzeugt, daß nun der Schleier des Geheimnisses, welches den Raubmord umgab, bald werde gelüftet und der Mörder werde überführt werden. Aber Me Coy bewies bei dem Verhör, daß er New Orleans auf der Reise nach Norden erst am Sonnabend vor dem Morde verlassen und jene ganze Nacht auf der Illinois- Zentralbahn zugebracht hatte. Es stellte sich obendrein heraus, daß Me Coys Genosse Connor zur Zeit des Mordes im Gefängnisse saß und daß der Dritte im Bunde „Jeff“ tot war. So hatte sich die ganze Plunkett-Geschichte in nichts aufgelöst. III.
Einige Zeit vor den eben erzählten Ereignissen war der Mann, welcher auf die Freikarte gefahren war und den Detektivs so viel Mühe verursacht hatte, zufällig durch Jack Mullins, einen Bremser von Danforths Zuge, aufge- funden worden. Es stellte-sich heraus, daß es ein Annoncen- agent war, der im Dienste von Mr. Melville E. Stone stand, und der letztere hätte sicher tausend Dollars darum gegeben, wenn er gewußt hätte, was sein Agent wußte. Denn dieser Mann hatte gesehen, wie der Zugführer den Ranzen fort- schaffte, welcher das hochwichtige Fragment des Wechsels enthielt. Aber er hatte den Wert der in seinem Besitz be- findlichen Neuigkeit nicht begriffen, und Mr. Pinkerton trug Sorge, ihn nicht zur Kenntnis davon kommen zu lassen. Eine einzige Andeutung des wahren Sachverhaltes gegenüber den Leuten von den „Daily News“, und die Geschichte würde in den Spalten dieser Zeitung ausposaunt, der Mörder würde gewarnt sein. Erst als Mr. Pinkerton den Mann sicher in einem Zuge sah, welcher Chikago verließ, atmete er frei auf; und erst Monate später erfuhr Mr. Stone, wie nahe er daran gewesen war, einen glänzenden Fang zu machen, der seinen Ruf in der ganzen Stadt und im Lande verbreitet hätte.
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Die Feststellung der Persönlichkeit des Freikarten- besitzers beseitigte die, letzte Möglichkeit, daß der Ranzen durch einen der Passagiere in den Zug gebracht sei. Und doch war der Ranzen da! Wie kam er dahin? Im Ver- laufe der Untersuchung hatten zwei von den Reisenden bekundet, sie hätten während der Fahrt Schwartz in den Waschraum gehen sehen. Der Bremser Mullins gab an, daß er zweimal während der Nacht in demselben Raume gewesen sei; das erste Mal sei der Ranzen nicht dage- wesen, das zweite Mal habe er ihn dort bemerkt. Andere Zeugen im Wagen behaupteten mit voller Bestimmtheit, die Person, welche den Waschraum betreten habe, bevor Mullins dort den Ranzen fand, sei Schwartz gewesen. So schloß sich allmählich Glied an Glied in der Kette der Be- weise, und Mr. Pinkerton ließ Schwartz holen.
Nachdem er in halbvertraulicher Weise mit dem Bremser eine Zeitlang geplaudert hatte, begann er ihn über seinen Kameraden Watt zu befragen. Schwartz sagte, Watt sei ein braver Kerl und sprach im allgemeinen nur Gutes von ihm. Mr. Pinkerton schien einen Augen- blick zu zaudern, dann sagte er:
„Kann ich Ihnen trauen, Schwartz?“
„Ja, Herr.“
„Nun, offen gesagt, dieser Watt scheint mir etwas ver- dächtig. Sehen Sie, die Geschichte, die er da erzählt von der Hand über seinem Kopfe, hat keinen rechten Zusammen- hang. Ich möchte ihm nicht unrecht tun, aber er muß überwacht werden. Mein Gedanke ist nun, daß Sie mög- lichst viel mit ihm verkehren und zusehen sollen, ob er mit irgend welchen Fremden zusammentrifft oder viel Geld ausgibt. Von allem, was Sie erfahren, müssen Sie mir dann Nachricht geben. Wollen Sie?“
Schwartz willigte ein unter der Bedingung daß die Bahnverwaltung ihm Urlaub gebe. Am nächsten Tage berichtete er, Watt habe eine Zusammenkunft gehabt mit
Amerikanische Räuber. 219
einem Manne, der einen Schlapphut trug, ungekämmtes rotes Haar hatte und im allgemeinen aussah wie ein Grenzräuber. Er hatte ihr Gespräch in einem Vergnügungs- lokale in der Cottage Grove Avenue belauscht und gehört, wie der Fremde von den Einzelheiten des Mordes sprach und sich dabei mit dem ganzen Ereignisse auffallend ver- traut zeigte. Schwartz hatte sich offenbar eine Theorie zurecht gemacht, wonach das Verbrechen von einer Räuber- bande aus dem Westen begangen sein sollte, zu welcher der Kerl, von dem er sprach, in Beziehungen stand.
Mr. Pinkerton hörte das alles mit großem Interesse an, war aber weniger davon erbaut, als Schwartz sich ein- bildete; denn zwei seiner zuverlässigsten „Sehatten‘*), welche Schwartz gefolgt waren, hatten ihm einen Bericht erstattet, aus dem klar hervorging, daß der rothaarige Räuber eine mythische Persönlichkeit war und daß eine Zusammen- kunft, wie Schwartz sie beschrieb, gar nicht stattgefunden hatte. Trotzdem erklärte Mr. Pinkerton sich äußerst zu- frieden mit Schwartz’ Bemühungen und beauftragte ihn, den fabelhaften Räuber weiter zu beobachten. Schwartz fuhr fort, falsche Berichte zu liefern. Schließlich wurde ihm gestattet, seine Arbeit bei der Eisenbahn wieder aufzunehmen, ohne daß durch irgend ein Wort auch nur der geringste Verdacht bei ihm erregt wäre.
Die „Schatten“, welche auch fernerhin. Schwartz be- obachteten, berichteten von einer verdächtigen Vertraulich- keit zwischen ihm und Watt, und ein sehr gewandter Detektiv, Frank Jones, wurde dazu ausersehen womöglich das Vertrauen der beiden zu gewinnen. Er erhielt eine „Strecke“ als Bremser zwischen Des Moines und Daven- port, und es wurde so eingerichtet, daß er aus dem Westen kommen und an denselben Tagen in Davenport überliegen sollte, an denen auch Schwartz und Watt nach Beendigung
*) Schatten (shadow) bezeichnet in der Detektivsprache den mit der Beobachtung eines Verdächtigen betrauten Detektiv.
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ihrer Fahrt aus dem Osten dort überlagen. Jones spielte seine Rolle vorzüglich und stand bald auf vertrautem Fuße mit den beiden; er nahm seine Mahlzeiten in demselben Wirtshause ein, wie sie, und schlief in einem Zimmer, das neben ihrem Schlafraum lag. Schließlich mochten die beiden ihn so gern, daß sie ihm den Vorschlag machten, er solle sich auf ihre Strecke zwischen Davenport und Chicago versetzen lassen. Das geschah, und nun waren die drei fortwährend zusammen; ja, Jones gab sich sogar bei Schwartz in Chicago in Kost und Wohnung. Um diese Zeit begann Schwartz davon zu sprechen, er wolle die Arbeit bei der Eisenbahn aufgeben und nach Kansas oder dem fernen Westen ziehen. So wurde denn beschlossen, daß Jones ihn und seine Frau auf der Reise nach dem Westen begleiten sollte. Inzwischen bat Schwartz bei der Eisenbahngesellschaft um Urlaub unter der Angabe, er wolle einige Familienangelegenheiten in Philadelphia ordnen. m
Mr. Pinkerton, welcher durch Jones von diesem Ur- laubsgesuche unterrichtet war, brachte es durch seinen Einfluß fertig, daß es gewährt wurde. Als der junge Mann nach dem Osten abreiste, fuhr er nicht allein. Jede seiner Bewegungen wurde beobachtet und darüber berichtet, und während einer mehrwöchigen Abwesenheit in New York, Philadephia und anderen Städten des Ostens blieb er nicht einen Augenblick, bei Tag und Nacht, unbeobachtet.
Wer die Hilfsmittel und Einrichtungen einer großen Detektivgesellschaft nicht kennt, dem muß es unbegreiflich erscheinen, wie ein andauerndes „Beschatten“ — Tag für Tag, Woche für Woche, auf einer Reise von Tausenden von Meilen — sich durchführen läßt.
Die Sache wird dadurch nicht einfacher, wenn man weiß, daß die „Schatten“ jeden Tag gewechselt werden müssen. Mag ein Detektiv noch so geschickt sein, seine fortwährende Anwesenheit würde bald Verdacht erregen.
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Der tägliche Wechsel der „Schatten“ ist leicht, wenn der Beobachtete an demselben Orte bleibt; denn dann ist es nur nötig, einen neuen „Schatten“ aus dem Zentralbureau hinzuschicken, der am frühen Morgen an die Stelle des- jenigen tritt, welcher am Abend vorher „den Mann zu Bett gebracht hat.“ Ganz anders liegt der Fall, wenn der Gegen- stand der Beobachtung fortwährend auf Dampfern und Eisenbahnen umherreist und vielleicht jede Nacht in einer anderen Stadt schläft. Ohne das Netzwerk von Agenturen, von großen und kleinen Bureaus, welche die Pinkertons all- mählich über die ganzen Vereinigten Staaten errichtet haben, wäre das „Beschatten“ eines Mannes auf rascher Flucht einfach unmöglich. Wie die Verhältnisse jetzt liegen, ist nichts leichter. Schwartz z. B. brachte einige Tage in Buffalo zu, wo über seine Handlungen stündlich berichtet, wurde, bis er seine Fahrkarte nach Philadelphia löste. Als er in den Zug stieg, stieg ein neuer „Schatten“ mit ein, sicherte sich eine Kabine in demselben Schlaf- wagen mit ihm und nahm seine Mahlzeiten zu derselben Zeit wie er, entweder im Speisewagen oder auf der Station. Kaum hatte der Zug die Station verlassen, als der Pinker- ton-Agent in Buffalo eine chiffrierte Depesche absandte an das Bureau in Philadelphia, wohin Schwartz reiste. Die genaue Form der Depesche, welche uns eine Illustration des bei den Pinkertonbureausüblichen Systems gibt, warfolgende: R. J. Linden 44 I Chestnut Street Philadelphia, Pa. Gieriger Schuhe Sauger Brown marmoriert Mann anderer aussteigend acht kommt an Tölpel groß fünfzig marmo- riert Artikel weiter oder Derby Rock Schiff sehr braun Sehender diese tragend haben und ist Band Tinte Staub Central Dienstag für Staub zu Reis Hut und und Papier Weste gelb Tinte ankommen muß Juwelen Morgen Bahnhof
D. Robertson. Der Pitaval der Gegenwart. II. 16
222 Moffett.
In derartigen Depeschen werden wichtige Nachrichten. über Verbrecher fortwährend von einem Orte zum anderen gedrahtet ohne Gefahr, daß etwas durchleckt.
So kann jederzeit, von einer Stadt zur andern und durch jeden Teil des Landes, jeder Verbrecher „beschattet* werden, wie Schwartz „beschattet“ wurde, indem eine Ab- teilung von Detektivs alle vierundzwanzig Stunden die andere ablöst. Jedes Wort, jede Handlung des Mannes wird sorgfältig notiert und berichtet, ohne daß er den ge- 'ringsten Verdacht hegt, daß er fortwährend beobachtet wird. Die Aufgabe, eine Person zu beschatten, welche durch die Straßen einer Stadt geht, wird Leuten anver- traut, welche besonders geschickt sind in der Kunst (denn eine Kunst ist es) zu sehen, ohne gesehen zu werden. Dies ist in der Tat eine der schwierigsten Aufgaben, zu deren Lösung ein Detektiv berufen werden kann, und die wenigen, welche sich darin besonders auszeichnen, haben kaum eine andere Beschäftigung. Wo ein Verbrecher wie Schwartz, von dessen schließlicher Ergreifung viel abhängt, verfolgt wird, werden zwei, drei oder sogar vier „Schatten“ zu- gleich gebraucht; einer hält sich vor dem Verfolgten auf einer in seinem Rücken, zwei zu beiden Seiten. Der Vor- teil dieses Verfahrens ist, daß einer den andern durch einen Wechsel der Stellung ablöst und so die Gefahr der Ent- deckung verringert, während es natürlich kaum möglich ist, daß mehrere Schatten zugleich von der Spur ab- kommen. Ein geschickter Verbrecher kann vielleicht einem Schatten ein Schnippchen schlagen, kaum aber mehreren. Kommt ein Schatten mit dem Gegenstand seiner Beob- achtung in eine neue Stadt, so entdeckt er sich dem Schatten, der ihn ablösen soll, durch ein vorher verab- redetes Zeichen, z. B. ein in der linken Hand gehaltenes Taschentuch oder dgl.
Im Falle Schwartz war das Ergebnis des Beschattens entscheidend. Kaum war der Bremser aus Chicago
Amerikanische Räuber. 223
heraus, als er anfing Ausgaben zu machen, welche sein Einkommen weit überstiegen. Er kaufte eine feine Ausstattung, teure Kleidung, Juwelen, Geschenke für seine Frau und legte sich eine auserlesene Sammlung von Büchsen, Flinten, Revolvern und Munition aller Art an, darunter eine Anzahl Patronen. Die „Schatten“ fanden, daß er fast in jedem Falle seine Einkäufe mit Fünfzig- oder Hundertdollarnoten bezahlte. Soweit dies möglich war, wußten die Detektivs sich diese Scheine von den Personen zu verschaffen, denen sie in Zahlung gegeben waren.
Der Leser wird sich erinnern, daß das geraubte Geld aus Fünfzig- und Hundertdollarnoten bestand.
IV.
Die Nachforschungen der Detektivs in Philadelphia ergaben überdies, daß Schwartz der Sohn eines reichen Schlachters war, welcher sich vom Geschäft zurückge- zogen hatte, eines sehr geachteten Mannes, und daß er Frau und Kind in Philadephia hatte, welche er hatte sitzen lassen, um sich in Chieago aufs neue zu verheiraten. Dadurch fand sich eine Gelegenheit, ihn zu verhaften, ohne ihm zu verraten, daß er im Verdachte stand, ein noch weit schwereres Verbrechen begangen zu haben. Die Frau und das Kind wurden von Philadelphia nach Chicago gebracht, und Schwartz wurde festgenommen und der Bigamie an- geklagt.
Mr. Pinkerton suchte Schwartz sogleich im Gefängnis auf, und da er sich sein Vertrauen so lange wie möglich zu erhalten wünschte, versicherte er ihm, daß diese Fest- nahme durchaus nicht sein Werk sei, sondern das der De- tektivs Smith und Murray, welche, wie Schwartz wußte, im Interesse der Bahngesellschaft und der „Daily News“ arbeiteten. Mr. Pinkerton erzählte Schwartz, er glaube noch immer, wie er es die ganze Zeit getan habe, daß Watt der Schuldige sei, und versprach alles zu tun, wodurch er
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Schwartz gefällig sein könne. Der letztere schien nicht sehr beunruhigt zu sein und erklärte, daß ein Rechtsanwalt aus Philadelphia kommen und ihn verteitigen werde. Der Rechtsanwalt kam in der Tat einige Tage darauf, eine Kaution von 2000 Dollars wurde gestellt, und Schwartz wurde aus der Haft entlassen. Die Angelegenheit war jetzt indessen so weit gediehen, daß man es nicht mehr für sicher hielt, Schwartz aus dem Gefängnisse zu entlassen; er wurde sogleich wieder verhaftet unter der Anklage des Mordes.
Sei es nun wegen der langen Vorbereitung dieses Ver- fahrens oder weil Schwartz ein Mann von starkem Cha- rakter war, er hielt auch diesem Schlage stand, ohne die geringste Erregung zu zeigen, und ging ebenso kaltblütig ins Gefängnis zurück, wie er herausgekommen war. Er verlangte nur so bald wie möglich eine Unterredung mit seiner Frau zu haben.
Mr. Pinkerton hatte nun zwar Beweise genug in der Hand, um einen starken Schuldverdacht gegen Schwartz zu liefern, aber alle diese Beweise waren Indizienbeweise, und überdies betrafen sie nicht Newton Watt, welcher der Mit- täterschaft mehr als verdächtig war. Vom ersten Augen- blick an war Mr. Pinkerton sehr verbindlich gegen die zweite Frau Schwartz gewesen. Jetzt wußte er im richtigen Augenblicke sich ihrer in geschiekter Weise zu versichern. Er fuhr mit ihr nach Morris und am nächsten Morgen von dort zurück nach Chicago, und so gelang es ihm, zu ver- hindern, daß sie irgend welchen Rat empfing von dem Rechts- anwalt ihres Mannes, welcher — jedesmal mit einem späteren Zuge — dieselbe doppelte Reise machte, um sie vor einem Gespräche mit Mr. Pinkerton zu warnen. Sie hatte sich daran gewöhnt, in Mr. Pinkerton mehr einen Beschützer zu sehen als einen Feind, und er gebrauchte während der Stunden ihres Zusammenseins jede List, um etwas Belast- endes aus ihr herauszubringen. Er erzählte ihr, die Be- weisgründe gegen ihren Mann seien allerdings sehr ernster
Amerikanische Räuber. 225
Art, aber nach seiner Meinung doch nicht ausreichend, um seine Schuld ganz sicher festzustellen. Er machte ihr Mit- teilung von den in Schwartz’ Besitze gefundenen Banknoten, von dem abgerissenen Papierfetzen, welcher in dem Ranzen gewesen war, von den Kratzwunden auf den Händen ihres Mannes und von seinen Jügenhaften Erzählungen. Alles dies, so. sagte er, beweise, daß Schwartz in irgend welchen Be- ziehungen zu dem Raube stehe, aber nicht, daß er den Mord begangen oder mehr getan habe, als Watt beizustehen, den Mr. Pinkerton nach wie vor als den Hauptverbrecher ansehe, Er stellte ihr eindringlich vor, der einzige Weg, ihren Mann zu retten, sei, eine einfache Darstellung des wahren Sachverhalts zu geben und darauf zu vertrauen, daß er sie in ihres Mannes Interesse verwenden werde.
Frau Schwartz hörte alles dies an, versuchte auf mancherlei Weise der Beantwortung der Hauptfrage aus- zuweichen und gab schließlich zu, daß ihr Mann am Abend seiner Rückfahrt nach Chicago in dem vom Zugführer Danforth geführten Zuge unter einem der Sitze ein Paket gefunden habe, welches fünftausend Dollars von dem ge- stohlenen Gelde enthielt. Dieses Geld habe er behalten und für sich verwandt; das sei alles, was er begangen habe. Frau Schwartz blieb unerschütterlich bei dieser Aussage und wollte nichts weiteres zugestehen.
Da Pinkerton überzeugt war, daß er so viel wie mög- lich aus ihr herausgebracht hatte, begleitete er die Frau nach dem Gefängnisse, wo sie ihren Mann besuchen sollte. Die ersten Worte, welche sie beim Eintritt an ihren Mann richtete, waren: „Harry, ich habe Mr. Pinkerton die volle Wahrheit gesagt. Ich glaubte, das sei das beste, denn er ist dein Freund. Ich habe ihm erzählt, daß du die fünf- tausend Dollars unter dem Sitze des Wagens gefunden hättest und daß das alles wäre, was du mit der Geschichte zu tun hast.“ Ä
Zum ersten Male hätte Schwartz sich jetzt beinahe
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durch seine Erregung verraten. Er nahm sich indessen zu- sammen und gab nur im allgemeinen zu, daß etwas Wahres an dem sei, was seine Frau sage. Er weigerte sich jedoch geradezu in die Einzelheiten einzugehen, schien sehr ner- vös und bat, man möge ihn mit seiner Frau allein lassen. Mr. Pinkerton hatte das erwartet und war darauf vorbe- reitet. Er hatte sehr wohl bemerkt, welche Erschütterung das unerwartete Geständnis seiner Frau bei Schwartz her- vorgerufen hatte, und rechnete darauf, daß er dadurch zu weiteren Äußerungen würde veranlaßt werden. Es war da- her von der größten Wichtigkeit, daß glaubhafte Zeugen alles belauschen konnten, was bei der Unterredung zwischen Schwartz und seiner Frau an den Tag kam. Zu diesem Zwecke war der Raum, in welchem die Unterredung statt- finden sollte, so eingerichtet worden, daß ein Anzahl Zeugen alles sehen und hören konnten, ohne daß man ihre An- = wesenheit ahnte; und der Sheriff der Grafschaft, ein ange- sehener Kaufmann und ein Bankier harrten in ihrem Ver- stecke der Dinge, die da kommen sollten.
Sobald die Tür sich geschlossen hatte und Mann und Frau allein waren, rief Schwartz aus:
„Du Närrin, du hast Watt und mir den Strick um den Hals gelegt!“
„Aber, Harry, ich mußte ihm etwas erzählen, er wußte schon zu viel. Du kannst ihm trauen.“
„Du hättest besser getan, überhaupt keinem zu trauen.“
Der Mann ging auf und ab, eine Beute der heftigsten Erregung, während seine Frau ihn vergebens zu beruhigen suchte. Bei jeder zärtlichen Berührung stieß er sie rauh zurück und ging fluchend mit heftigen Schritten auf und ab. Plötzlich brach er los: | | „Was hast du mit dem Rocke angefangen? mit dem
Rocke, aus dem du die Maske herausgeschnitten hast?“
„O, das ist in Ordnung; er liegt im Holzschuppen
unter dem ganzen Holzhaufen.“
Amerikanische Räuber. 227
Sie redeten noch über eine Stunde lang weiter, sprachen wiederholt von dem Raubmorde und lieferten so Beweise genug, um die Schuld von Schwartz sowohl wie von Watt unzweifelhaft festzustellen.
Inzwischen war Watt in Chicago festgenommen worden, ebenfalls unter der Anklage des Mordes, und in mehreren Verhören hatte es den Anschein gehabt, als ob er zusammen- brechen und gestehen würde; aber jedesmal hatte er sich wieder gefaßt und nichts gesagt. Die Beweise jedoch, welche Schwartz bei der Unterredung im Gefängnisse ge- liefert hatte, zusammen mit der Menge der übrigen Beweise, die sich allmählich angehäuft hatten, waren ausreichend, um beide Männer zu überführen. Sie wurden zu lebens- länglichem Zuchthause verurteilt. Sicherlich hätte man sie gehängt, wenn nicht ein Geschworener, der kein Anhänger der Todesstrafe war, Bedenken gehabt hätte. Watt ist in- zwischen gestorben, Schwartz war nach den letzten Nach- richten noch im Zuchthause.
Etwa ein Jahr nach dem Prozesse starb Frau Schwartz an Auszehrung. Auf dem Totenbette legte sie ein umfas- sendes Geständnis ab. Sie sagte, die Phantasie ihres Mannes sei durch die fortwährende Lektüre von Kolportageromanen erhitzt worden, unter diesem üblen Einflusse habe er den Raub geplant in dem Glauben, daß es leicht sein werde, einen schwachen Mann wie Nichols einzuschüchtern und mit dem Gelde zu entkommen, ohne ihm ein Leids zu tun. Nichols indessen habe sich wie ein Löwe gewehrt und ihn schließlich gezwungen, ihn zu töten. Während des Kampfes hatte er ihm die Maske abgerissen, welche Frau Schwartz aus einem alten Rocke ihres Mannes gemacht hatte. Watt hatte den Revolver abgefeuert, während Schwartz das Schür- eisen als Waffe gebrauchte. Schwartz hatte Watt 5000 Dollars von dem geraubten Gelde gegeben und das übrige für sich behalten. Er hatte das Geld in einer alten Schul- mappe fortgetragen, welche er zu diesem Zwecke gekauft
228 Moffett.
hatte. Zum Verstecken des Geldes hatte er einen höchst ungewöhnlichen Platz gewählt, an welchem dasselbe der Entdeckung entgangen war, obwohl bei verschiedenen Haus- suchungen die Detektivs es buchstäblich in der Hand hatten.
Schwartz hatte eine Anzahl Patronen genommen, welche er für seine Flinte gekauft hatte, dieselben entleert, in jede Hülse eine Fünfzig- oder Hundertdollarnote gesteckt und Pulver und Schrot wieder hineingetan, so daß die Patronen, wie sie da in der Schublade lagen, anscheinend ganz in Ördnung waren. Die Detektivs hatten sogar Schrot und Pulver aus einigen Hülsen herausgenommen; da sie jedoch dabei nichts Auffallendes entdeckten, so hatten sie gar nicht daran gedacht, auf dem Boden der Hülsen nach einer zu- sammengeknüllten Banknote zu suchen.
So lagen 13000 Dollar in diesen ganz wie gewöhnliche Patronen aussehenden Hülsen und wurden schließlich auf folgende Weise entfernt: Während Schwartz in Untersu- chungshaft war, kam eines Tages ein wohlbekannter Rechts- anwalt aus Philadelphia zu Frau Schwartz mit einer Auf- forderung ihres Mannes, ihm das Geld auszuliefern. Sie glaubte, es handle sich um die Bezahlung der Prozebkosten und der anderen Rechtsanwälte. Der Polizeiinspektor Robert- son erinnert sich noch sehr wohl der Erregung der sterben- den Frau, als sie diese feierliche Aussage machte, welche geeignet war, einen Mann, der eine geachtete Stellung ein- nahm und einem angesehenen Stande angehörte, schwer zu kompromittieren. Die Frau litt unter einer furchtbaren Krankheit und wußte, daß ihr Ende nahe war. Ihr Ge- sicht war gerötet und ihre Augen funkelten vor Haß, als sie erklärte, daß nicht ein Dollar von jenem Gelde ihr je zurückgegeben oder zur Bezahlung der Prozeßkosten ver- wandt sei. Ebensowenig hat die Eisenbahngesellschaft oder die Bank, welche die wirkliche Eigentümerin war, je einen Pfennig des gestohlenen Gutes zurückerhalten.
Amerikanische Räuber. 229
2. Der Bankraub in Northampton.
Am Dienstag, den 25. Januar 1876, drangen um Mitter- nacht fünf maskierte Männer in das Haus ein, welches John Whittelsey in Northampton, Massachusetts, bewohnte. Mr. Whittelsey war der Kassierer der Nationalbank in Northampton, und man wußte von ihm, daß er die Schlüssel des Bankgebäudes und die Kombination zu dem Schlosse des Bankgewölbes in seinem Besitz hatte. Die fünf Männer betraten geräuschlos das Haus, dessen Tür sie mit falschen zu diesem Zwecke verfertigten Schlüsseln geöffnet hatten. Sie stiegen die Treppe hinauf, welche zu den Schlafzimmern führte, überwältigten sieben Bewohner des Hauses und knebelten und banden sie derartig, daß sie außerstande waren, Widerständ zu leisten oder Lärm zu schlagen. Es waren dies Mr. Whittelsey und seine Frau, Herr und Frau Cutler, Fräulein White, Fräulein Benton und ein Dienstmädchen.
Die beiden Männer, welche in das Schlafzimmer des Ehepaares Whittelsey eindrangen, schienen die Führer der Bande zu sein. Einer von ihnen trug einen langen leinenen Staubmantel, welcher beinahe bis zu den Knieen zugeknöpft war, Handschuhe und Überschuhe; der andere trug eine Jacke und Gamaschen. Beide hatten ihr Gesicht hinter Masken verborgen, und einer von ihnen trug eine Blend- laterne. Beim Betreten des Zimmers gingen sie ohne weiteres auf das Bett zu, traten jeder an eine Seite des- selben und legten Mr. Whittelsey und seiner Frau Hand- schellen an; beide führten Revolver. In den anderen Schlafzimmern verlief der Vorgang ganz ähnlich.
Nachdem die Räuber sich eine Zeitlang flüsternd be- raten hatten, befahlen sie den fünf Frauen, aufzustehen und sich anzuziehen. Als das geschehen war, wurden ihnen Fuß- und Handgelenke zusammengeschnürt, und sie wurden in ein kleines Zimmer gebracht, wo einer von der Bande
230 Moffett.
bei ihnen Wache hielt. Mr. Cutler wurde in derselben Weise eingesperrt. Darauf widmeten sich die beiden An- führer ganz Herrn Whittelsey. Sie sagten ihm ohne Um- schweife, daß sie die Schlüssel der Bank und die Kom- bination zu dem Schlosse des Bankgewölbes zu haben wünschten. Wenn er ihrem Verlangen nicht willfahre, so würden sie ihm tüchtig „einheizen“. Whittelsey erwiderte, es sei ganz nutzlos, einen Einbruch in die Bank zu ver- suchen, da die Schlösser zu stark seien und er die ihm anvertrauten Schlüssel nicht ausliefern werde. Der Mann im Staubmantel zuckte die Achseln und meinte, das wollten sie einmal sehen.
Mr. Whittelsey wurde nun die Treppe hinuntergebracht und nochmals aufgefordert die Schlüssel herauszugeben. Er weigerte sich. Der Mann in Gamaschen griff in die Hosentasche des Kassierers und zog einen Schlüssel heraus.
„Ist das der Schlüssel zur Bank?“ fragte er.
„Ja, das ist er“, antwortete der Kassierer, welcher hoffte Zeit zu gewinnen.
„Sie lügen,“ sagte der Räuber mit drohender Gebärde; dann versuchte er den Schlüssel in dem Schlosse der Haus- tür, welches sich damit öffnen ließ.
„Tu ihm noch nichts,“ sagte der andere, „er ist krank.“ Dann fragte er Mr. Whittelsey, ob er einen Schluck Kognak trinken wolle. Mr. Whittelsey schüttelte den Kopf. Der Mann im Staubmantel begann nun von neuem nach der Kombination des Gewölbeschlosses zu fragen. Mr. Whittelsey gab ihm einige Ziffern für die äußere Tür, welche der Räuber auf einem Stück Papier niederschrieb. Er ver- langte sodann die Kombination für die innere Tür und der Kassierer gab ihm wieder einige Ziffern. Als der Räuber diese aufgeschrieben hatte, trat er ganz nahe an seinen Gefangenen heran und sagte: „Wollen Sie schwören, daß die Ziffern richtig sind?“
„Ja,“ antwortete Mr. Whittelsey.
Amerikanische Räuber. 231
„Sie lügen wieder. Wenn sie richtig sind, so wieder- holen Sie sie.“
Der Kassierer konnte das nicht und gab damit zu, daß die Ziffern falsch seien.
„Hör mal, Nummer Eins,“ sagte der Räuber zu seinem Genossen, „wir verlieren Zeit; wir müssen ihm das Lügen abgewöhnen.“
Damit schlug er Mr. Whittelsey mit der scharfen Spitze seines Bleistiftes so heftig ins Gesicht, daß dieser blutete, und versetzte ihm noch einige heftige Schläge auf den Körper.
„Wollen Sie jetzt mit der Wahrheit heraus?“ fragte er.
Der Kassierer schwieg. Nun stürzten sich die beiden Räuber auf ihn, rissen ihn an den Ohren, packten ihn an der Kehle, warfen ihn zu Boden und knieten sich auf seine Brust. Drei Stunden lang dauerte diese Tortur. Mehr als einmal setzten die Schurken ihrem unglücklichen Opfer die Revolver an die Stirn und drohten ihn niederzu- schießen, wenn er nicht nachgebe. Schließlich fügte der Kassierer sich ihrem Willen; die Qualen waren zu groß, und der Trieb der Selbsterhaltung machte sich geltend. Gegen vier Uhr morgens, zerschlagen und zerschunden von Kopf bis zu Fuß und jedes ferneren Widerstandes unfähig, übergab er ihnen die Schlüssel und enthüllte ihnen die richtige Kombination zu dem Gewölbe.
Die Räuber entfernten sich, ließen aber zwei ihrer Genossen zur Bewachung der Gefangenen zurück. Einer von der Bande verschmähte es nicht, vor seinem Fort- gehen Mr. Whittelsey’s Kleider zu durchsuchen und seine Uhr mit Kette und vierzehn Dollars mitzunehmen. Der letzte von der Bande blieb bis sechs Uhr; eine Stunde später gelang es Mr. Whittelsey sich aus seinen Fesseln zu befreien.
Er eilte sogleich nach der Bank, wo er kurz nach. sieben Uhr ankam. Er fand die Tür des Gewölbes ver-
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schlossen und die Zeigerblätter abgebrochen, so daß es unmöglich war, im Augenblick den Umfang des Raubes festzustellen, oder ob überhaupt ein Raub stattgefunden hatte. Man mußte einen Sachverständigen aus New-York kommen lassen, bevor das Gewölbe geöffnet werden konnte. Damit verging längere Zeit, und als das Gewölbe endlich spät in der Nacht geöffnet wurde, waren zwanzig Stunden seit dem Einbruch verflossen. Es ergab sich, daß die Räuber leider nur zu erfolgreich gewesen waren; fünfviertel Millionen Dollars in Geld und Papieren waren ihnen in die Hände gefallen. Ein großer Teil dieser Summe bestand aus Depositen, deren Verlust die Eigentümer traf, und für einige bedeutete dies den Verlust ihres ganzen Vermögens.
Den Behörden fehlte es zunächst an jedem Anbalts- punkte, um die Persönlichkeit der Räuber festzustellen, obgleich sie zahlreiche Beweise ihrer Anwesenheit zurück- gelassen hatten: Blendlaternen, Masken, Schmiedehämmer, Überschuhe und dergleichen. Ihr Entkommen war ebenso geschickt bewerkstelligt worden wie der Raub selbst. Polizeibeamte und Detektivs taten während der nächsten Tage und Wochen ihr Bestes, aber ihre Bemühungen waren erfolglos. Der Präsident der Bank setzte eine Belohnung von fünfundzwanzigtausend Dollars aus für die Ergreifung der Räuber und die Wiederherbeischaffung des Eigentums; es wurde nichts entdeckt. |
Nach Ablauf mehrerer Monate wurden die Pinkertons zu Rate gezogen. Sie begannen damit, sorgfältig gewisse Mitteilungen zu studieren, welche die Bankdirektoren von solehen Personen erhalten hatten, die behaupteten im Be- sitze der entwendeten Wertpapiere zu sein. Die erste dieser Mitteilungen war datiert aus New-York, den 27. Februar 1876, etwa einen Monat nach dem Raube. Die Buchstaben waren sorgfältig in Druckschrift geschrieben, so daß sehr wenig Aussicht war, durch die Handschrift zu irgend welcher Feststellung zu gelangen. Der Inhalt war:
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„Geehrte Herren, wenn Sie an der Geschicklichkeit der Detektivs allmählich genug haben, so können Sie uns, den augenblicklichen Besitzern der Wertpapiere, Ihre Vor- schläge machen, und wenn Sie liberal sind, so können wir vielleicht ein Geschäft miteinander machen. Sollten Sie auf unsern Vorschlag eingehen, so erlassen Sie bitte ein Inserat im New-Yorker „Herald“. Adressieren Sie an X X X und unterzeichnen Sie „Rufus“. Um Ihnen zu beweisen, daß wir im Besitze der Papiere sind, senden wir Ihnen zwei Stück derselben.“
(Ohne Unterschrift.)
Dieser -Brief war unbeachtet geblieben, obwohl zwei Obligationen beigelegt waren, welche ohne Zweifel aus dem Bankgewölbe stammten. Drei weitere Briefe ähnlichen Inhalts waren später angekommen. Auf einen dieser Briefe hatte die Bank eine vorsichtige Antwort geschickt und darauf folgende Erwiderung erhalten:
„New-York, den 20. Oktober 1876.
Geehrte Herren, da Sie es für richtig erachtet haben, den Empfang unseres Briefes anzuerkennen, so wollen wir Ihnen jetzt den Preis angeben für die Rückgabe der Papiere. Die Staatspapiere und das Geld können nicht zurückgegeben werden; aber alles andere — Obligationen, Briefe, Papiere bis auf das kleinste Dokument werden für einhundertundfünfzigtausend Dollarszurückgegeben werden. Wenn diese Ziffern Ihnen passen, wollen wir die Anord- nungen unserm Versprechen gemäß treffen; und sobald die nötigen Vorverhandlungen bezüglich einersicheren Erledigung des Geschäftes getroffen sind, können Sie in Besitz der Papiere gelangen. Sind Sie mit dem Preise einverstanden, so inserieren Sie im New-Yorker „Herald“ unter den persönlichen Anzeigen einfach das Wort „Agatha“.
Hochachtungsvoll Rufus.“
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Der Hauptwert dieser Briefe lag darin, daß sie den Detektivs einen Fingerzeig gaben, welche von den ver- schiedenen Banden von Bankräubern, die zu der Zeit im Lande „arbeiteten“, wahrscheinlich das Verbrechen begangen hätte. Da Robert Pinkerton mit der Methode jeder Bande vertraut war, so vermochte er wichtige Schlüsse zu ziehen aus Beweismaterial, das sonst ziemlich bedeutungslos gewesen wäre. Er wußte z. B, daß die bekannte Bande, an deren Spitze James Dunlap stand, mehr als jede andere geneigt sein würde, in dieser Weise über die Rückgabe aller Wertpapiere in Bausch und Bogen zu verhandeln, da es Dunlap’s festes Prinzip war, den Ertrag seiner Räubereien so lange unter seiner persönlichen Obhut zu behalten, bis endgültig darüber verfügt war. Auf der andern Seite würden die Banden, an deren Spitze der berüchtigte „Jimmy“ Hope, „Worcester Sam“ und George Bliss standen, wahrscheinlich die Papiere unter die Mit- glieder verteilt und dann versucht haben, über die einzelnen Teile einen Kompromiß zu schließen.
Eine Tatsache von besonderer Bedeutung war für die Pinkertons das auffallende Interesse, welches ein gewisser J. G. Evans für den Fall zeigte. Dieser Evans war Sach- verständiger in Geldschränken und Bankgewölben und der Vertreter einer der größten Geldschrankfabriken des Landes.
Am Tage nach dem Raube war Evans in Bristol, Connecticut, gewesen in Vertretung seiner Firma, welche ihm bei Empfang der Neuigkeit von dem Bankraube sofort gedrahtet hatte, er solle nach Northampton reisen. Seine Anwesenheit fiel dort nicht weiter auf, denn er war während der dem Raube vorhergehenden Monate schon mehrfach dagewesen und hatte die Schlösser des Gewölbes der beraubten Bank nachgesehen. Etwas auffallend jedoch erschien das augenscheinliche Interesse, welches Evans für das Zustandekommen eines Kompromisses bezüglich der Rückgabe der gestohlenen Wertpapiere zeigte. Mehr als
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ein dutzendmal unterhielt er sich mit dem Präsidenten und anderen Beamten der Bank über den Raub und gab ganz deutlich zu verstehen, er sei in der Lage, ihnen bei der Wiedererlangung der verlorenen Papiere behülflich zu sein. Ein paar Monate nach dem Raube ging er sogar so weit, einem der Direktoren zu erzählen, er könne die Mit- glieder der Bande namhaft machen. Die Neigung Evans’, bei den Verhandlungen in den Vordergrund zu treten, gewann für Robert Pinkerton um so mehr Bedeutung, da das Gerücht ging, eine Reihe von sehr dreisten Bank- räubereien, die kürzlich in verschiedenen Teilen des Landes begangen waren, hätten ihren Erfolg der Mitarbeit eines Sachverständigen in Geldschränken und Sicherheitsschlössern zu verdanken, welcher infolge seiner Vertrauensstellung imstande gewesen sei, den Räubern viele Geheimnisse von schwachen Bankschlössern, Geldschränken und Gewölben zu enthüllen. Bis jetzt waren diese Gerüchte nur unbestimmt aufgetreten; man wagte nicht den Mann namhaft zu machen. Es war jedoch bekannt, daß der verräterische Sachverständige ein Mann von angesehener Stellung in seinem Berufe sei und allgemein als über jeden Verdacht erhaben gelte. Es war ferner bekannt, daß bei anderen Banden von Bankräubern große Eifersucht herrsche wegen der erstaunlichen Erfolge der Bande, mit welcher dieser Mann arbeitete, und daß von den Führern einiger Banden sogar Versuche gemacht seien, diesen begehrenswerten Helfershelfer für sich zu gewinnen. Robert Pinkerton war schon zu dem Schlusse gelangt, daß die so geschickt unter- stützte Bande die von Dunlap sei; und er war jetzt auch so gut wie überzeugt, daß der Raub in Northampton von dieser Bande ausgeführt se. Es war somit mehr als genügend Grund vorhanden, ein scharfes Auge auf den Geldschrank-Sachverständigen Evans zu haben.
Bei dem Studium des Falles erinnerte sich Mr. Pinkerton an einen Umstand, der sich gegen Ende des Jahres 1875
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ereignet hatte. In der Nacht des 4. November 1875 war die Erste Nationalbank von Pittston, Pennsylvanien, um sechzigtausend Dollars beraubt worden, und Pinkerton hatte sich dorthin begeben, um den Fall zu untersuchen. Er traf eine Anzahl Geldschrankleute, deren Gewohnheit es ist, sich auf dem Schauplatze eines bedeutenden Bank- raubes einzufinden, um neue Geldschränke an. Stelle der erbrochenen zu liefern. Während sie das Gewölbe unter- suchten, in welchem noch die durch die Explosion umher- geschleuderten Trümmer herumlagen, nahm der Vertreter einer der Geldschrankfabriken eine kleine Luftpumpe auf, welche die Räuber benutzt hatten, besah sie mit kritischen Blicken und bemerkte, er hätte schwören mögen, daß diese Luftpumpe seiner Gesellschaft gehöre, wenn er nicht wüßte, daß dies unmöglich sei. Die Luftpumpe sei, so erklärte er, genau nach einem seiner Gesellschaft gehörenden Modell angefertigt, welches kürzlich zu einem ganz bestimmten Zwecke entworfen sei. Damals hatte Mr. Pinkerton dies lediglich als ein zufälliges Zusammentreffen angesehen, jetzt aber fuhr ihm blitzartig der Gedanke durch den Kopf, daß der Mann, welchem die Ähnlichkeit der Luft- pumpe aufgefallen war, dieselbe Gesellschaft vertrat, die auch Evans in ihren Diensten hatte.
In Anbetracht aller dieser Umstände beschloß man, Evans streng ins Verhör zu nehmen. Er leugnete nicht, daß er sich in ungewöhnlicher Weise darum bemüht habe, die Rückgabe der Wertpapiere zu bewirken, behauptete aber, er habe das nur getan, weil es ihm aufrichtig leid getan habe um die vielen Leute, welche durch den Raub ruiniert seien. Er behauptete ferner zu glauben, daß er bei der Sache ungerecht behandelt sei: wie und von wem, wollte er nicht sagen. Für die erfahrene Beobachtung des Detektivs war es augenscheinlich, daß er sehr besorgt und furchtsam war und seiner selbst nicht sicher.
Im November 1876 hatte George H. Bangs, ein Ober-
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detektiv der Pinkerton-Agentur, ein Mann, der eine besondere Geschicklichkeit darin besaß, verdächtigen Personen Ge- ständnisse zu entlocken, eine Unterredung mit Evans. Er erklärte Evans, daß die Detektivs sicheres Beweismaterial besäßen, um das ganze Geheimnis aufzuklären; daß sie wüßten (während sie nur die Vermutung hegten), daß der Einbruch von der Bande Dunlap und Scott verübt sei und daß Evans ihr Helfershelfer sei; daß sie seit Wochen Scott und Dunlap beobachtet hätten {was der Wahrheit entsprach) und sie jeden Augenblick festnehmen könnten; daß es keinem Zweifel unterliege, daß die Bande versuche, mit Evans ein falsches Spiel zu spielen (eine sehr schlaue Vermutung) und ihn ohne Gewissensbisse opfern würde; und schließlich, daß es für Evans zwei Wege gebe: ent- weder sich wegen Bankraubes festnehmen zu lassen, mit der Aussicht auf zwanzig Jahre Gefängnis, oder sich zu retten und zugleich eine ansehnliche Geldsumme zu ver- dienen, indem er ein offenes Geständnis über seine Be- ziehungen zu dem Verbrechen ablege. Alles dies, mit der Miene vollkommenster Sicherheit vorgebracht, war mehr, als Evans vertragen konnte. Er brach vollständig zu- sammen und erzählte alles, was er wußte.
Die Geschichte, welche Evans erzählte, ist eine der bemerkenswertesten in der Kriminalgeschichte. Er gab zu, daß die Vermutung Robert Pinkertons, die Bank in North- ampton sei von Scott, Dunlap und Konsorten beraubt worden, richtig sei, und um seine eigenen Beziehungen zu dieser gefährlichen Bande zu erklären, ging er bis auf die Organisation derselben im Jahre 1872 zurück. Der Führer der Bande war James Dunlap, alias James Barton, welcher, ehe er Bankräuber wurde, Bremser auf der Chicago-, Alton und St. Louis-Eisenbahn gewesen war. Die ihm innewohnenden verbrecherischen Instinkte veranlaßten ihn, die Versammlungsorte von Dieben in Chicago zu besuchen,
und so kam er zusammen mit „Johnny“ Lamb und einem Der Pitaval der Gegenwart. I. 17
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Manne namens Perry, welcher ihn gern mochte und ihm alles beibrachte, was er über das Erbrechen von Geld- schränken wußte. Dunlap übertraf bald seine Meister, er entwickelte ein wahres Räuber- und Organisationsgenie, so daß er bald der gefürchtetste unter allen Bankräubern war, welche damals im Lande arbeiteten, selbst nicht aus- genommen „Jimmy“ Hope, den berüchtigten Manhattan- Bankräuber. Er hatte den langen Kopf und die Hals- starrigkeit seiner schottischen Vorfahren, verbunden mit der den Amerikanern eigenen Waghalsigkeit und Findig- keit. Ende 1872 organisierte er die gefährlichste und am besten ausgerüstete Bande von Bankräubern, welche Amerika je gesehen hat.
Dunlaps rechte Hand war Robert Scott, alias „Hust- ling Bob“, ursprünglich Matrose auf einem Mississippi- dampfer und später Hoteldieb. Scott war ein großer, außerordentlich kräftiger Mann, von einer Entschlossenheit, die allem gewachsen war. Die Genossen dieser beiden waren ihrer Herren und Meister würdig. Unter anderen gehörten dazu ein professioneller Einbrecher aus Kanada, James Greer, und der berüchtigte John Leary, alias der „rote“ Leary, von dem später noch die Rede sein wird. Außer diesen zählte die Bande noch einige Mitglieder von gleicher Bedeutung und mehrere, welche nur als Aufpasser, Zwischenträger oder Boten verwendet wurden.
Das erste große Unternehmen der Bande fällt in das Jahr 1872, wo sie in der Falls City Bank in Louisville gegen zweihunderttausend Dollars raubten und mit ihrer Beute entkamen. Das war als Anfang recht befriedigend, aber Dunlap und Scott träumten von Taten, neben welchen diese unbedeutend war. Sie stellten in mehreren Staaten genaue Nachforschungen an, um zu erfahren, wo sich Banken befänden, die schwach gebaut wären und große Schätze enthielten. Einer von der Bande fand schließlich das, was sie suchten, in der Zweiten Nationalbank in
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Elmira im Staate New-York, welche der Regierung als Depositorium diente und, wie sie von gut unterrichteter Seite erfuhren, zweihundertiausend Dollars in Papiergeld und sechs Millionen in Obligationen enthielt.
Eine Besichtigung des Grundstückes gab der Bande die befriedigende Gewißheit, daß trotz der schweren eisernen Mauern und der komplizierten Schlösser das Gewölbe der Bank keineswegs ganz unzugänglich sei. In dem Stock- werke über der Bank lagen die Räume der „Gesellschaft christlicher junger Männer“, und einer dieser Räume befand sich unmittelbar über dem Gewölbe. Dazwischen war der Fußboden und unter diesem ein festes Mauerwerk von vier Fuß Dicke; einige Steine wogen eine Tonne (907 kg) Und unter dem Mauerwerk befand sich eine Lage Eisen- bahnschienen, welche auf einer anderhalbzölligen Stahl- platte ruhten. Alles dies entmutigte indessen die Einbrecher nicht, sondern gab ihnen vielmehr noch größeres Vertrauen auf Erfolg, da gerade die Sicherheit des Gewölbes gegen einen Angriff von oben her die Wachsamkeit verringern mußte. In der Tat bestand die größte Schwierigkeit nach Ansicht der Räuber darin, sich bequem und, ohne Verdacht zu erregen, Eingang in die Räume der Gesellschaft christ- licher junger Männer zu verschaffen.
Der Sekretär, ein sehr vorsichtiger Mann, hatte an die äußere Tür ein verbessertes Yale-Schloß gelegt, welches damals neu im Handel war und für denjenigen, der es mit dem Dietrich zu öffnen suchte, ungewöhnliche Hinder- nisse bot. Weder Dunlap noch Scott noch irgend ein anderer war geschickt genug, das Schloß zu öffnen, ohne es zu erbrechen, was natürlich für ihren Plan verhängnis- voll gewesen wäre. Tagelang schien daher ihr Vorhaben durch ein Schloß an einer hölzernen Tür in Frage gestellt, nachdem sonst alle Einzelheiten des Einbruchs geordnet waren.
Die Sache wurde schließlich so ernsthaft, daß Scott und Dunlap sich die Mühe machten, bei Nacht in das Haus
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des Sekretärs einzubrechen und seine Taschen zu durch- suchen, in der Hoffnung, die Schlüssel zu finden und einen Abdruck davon zu nehmen. Aber auch hier hatte der Sekretär Vorsichtsmaßregeln getroffen, welche ihren Zweck vereitelten; denn er hatte die Schlüssel unter seinem Teppich versteckt, wo die Diebe nicht einmal daran dachten nachzusehen. Enttäuscht über ihren Mißerfolg, gingen sie fort, ohne einen Versuch zu machen etwas mitzunehmen; eine Enthaltsamkeit, welche den braven Sekretär nicht wenig in Verwunderung setzte, als er am nächsten Morgen entdeckte, daß nichts fehlte, obwohl deutliche Spuren von Einbrechern da waren.
Das Yale-Schloß blieb also nach wie vor eine unlös- bare Schwierigkeit, und so machte Perry schließlich eine Reise nach New-York, in der Hoffnung, dort irgend eine Art, es zu öffnen, in Erfahrung zu bringen. Auf dieser Suche machte er auf merkwürdige Weise die Bekanntschaft Evans, der damals als Verkäufer bei einer angesehenen Geldsehrankfirma beschäftigt war.
Ehe er in den Dienst der Geldschrankfabrikanten trat, hatte Evans ein bedeutendes Geschäft in einer Stadt des Ostens besessen, wo er als ein reicher unbescholtener Mann galt. Er hatte ausgedehnte kaufmännische Be- ziehungen im Süden und erfreute sich eines großen Kredits; aber der Ausbruch des Krieges hatte ihn zur Zahlungs- einstellung gezwungen. Bei diesem Bankrott sollte er sehr schlau zu Werke gegangen sein, und der Umstand, daß er unmittelbar darauf Kanada verließ, machte diese Vermutung sehr wahrscheinlich. Jedenfalls akkordierte er mit seinen Gläubigern in einer für ihn sehr vorteilhaften Weise.
Nach seiner Rückkehr aus Kanada schlug Evans seinen Wohnsitz in New-York auf und gab sich dort Liebhabereien hin, deren Kosten sein Einkommen weit überstiegen, vor allem der Liebhaberei für Rennpferde. Perry hörte von Evans durch einen gewissen Ryan, den er vor Jahren als
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Dieb gekannt hatte und der jetzt einen Mietsstall in einer Straße der oberen Stadt hielt. In Wirklichkeit war dieser Mietsstall nur ein Vorwand für den Verkauf ungesunder Pferde, welche „aufgedoktort* wurden, um die Käufer za täuschen. Davon wußte Evans jedoch nichts; er hatte im gutem Glauben eins seiner eigenen Pferde bei Ryan ein- gestellt. Dies führte zu einer gewissen Vertraulichkeit zwischen ihm und Ryan, der jetzt auf Veranlassung von Perry Evans in seiner Neigung, über seine Verhältnisse zu leben, noch ermunterte.
In kurzer Zeit geriet Evans in finanzielle Schwierig- keiten. Da er nicht imstande war, Ryan das Geld zu bezahlen, welches er ihm für Stallung und Vefpflegung schuldete, sprach er davon, sein Pferd zu verkaufen; und eines Tages, als er sich darüber beklagte, daß er knapp bei Gelde sei, meinte Ryan: „Wenn ich in Ihrer Stellung wäre, sollte es mir nie an Geld fehlen.“
Evans fragte ihn, wie er das meine.
0,“ sagte Ryan, „es gibt eine ganze Menge Leute, die tüchtig dafür blechen würden, wenn sie etwas von Ihren Kenntnissen über Geldschränke und Banken besäßen.‘
Nach und nach kam Ryan immer offener mit seiner Meinung heraus, und Evans war zunächst sehr ungehalten darüber. Man ließ den Gesprächsgegenstand fallen, aber, so oft sie sich wiedersahen, kam Ryan darauf zurück. Inzwischen geriet Evans immer mehr in die Klemme, und eines Tages sagte er: „Was wollen denn diese Leute eigent- lich wissen?“ |
„Na,“ erwiderte Ryan, „sie möchten z. B. gern wissen, ob es kein Mittel gibt, diese neuen Yale-Schlösser zu öffnen.“
„Mit einem Dietrich kann man die nicht öffen,“ ant- wortete Evans, „das dauert zu lange; aber es gibt ein, Mittel, sie aufzumachen.“
„Wie denn?“
„Davon wollen wir ein andermal sprechen.“
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Es dauerte nun nicht mehr lange, bis Evans auf den Köder anbiß, den man ihm so geschickt hingeworfen hatte. Er ließ sich mit Perry bekannt machen, der ihm bald klarzumachen wußte, wie leicht es für einen Mann, der die Geheimnisse der Geldschrankfabrikation kenne und leicht schwach gebaute Banken ausfindig machen könne, sein müßte, ein gutes Stück Geld zu verdienen, ohne selbst irgend welche Gefahr zu laufen.
„Sie können mit uns in einer einzigen Nacht mehr verdienen,“ meinte er, „als wenn Sie ein ganzes Jahr für diese Geldschrankmenschen arbeiten.“
Das Resultat war, dab Evans gegen Zahlung von fünfzigtausend Dollars schließlich einwilligte, den Räubern ein Mittel zu liefern, um das Yale-Schloß zu öffnen, welches sie hinderte, zu den ersehnten Schätzen zu gelangen.
Perry fuhr sehr erfreut eilends nach Elmira zurück und berichtete Dunlap und Scott von seinem Erfolge. Um Evans in unverdächtiger Weise nach Elmira zu bringen, schrieb man der Firma, für die er arbeitete, einen Brief mit einem höchst verlockenden Angebot betreffs Ankaufs von Geldschränken. Evans wurde sogleich nach Elmira geschickt, um das Geschäft zu erledigen. Im Rathbone House, wo er abstieg, erwartete ihn Scott, mit dem er einen Operationsplan verabredete. Scott sollte abends ein dünnes Stückchen Holz in das Yale-Schloß stecken, so daß das Schloß nicht funk- tionierte. Da die Anwesenheit von Evans in der Stadt bekannt war, so war anzunehmen, daß man ihn als Sachverständigen in schwierigen Schlössern würde holen lassen, um zu sehen, was mit dem Schlosse los se. Dadurch würde er Gelegenheit haben, sich einen Abdruck von dem Schlüssel zu verschaffen. Der Plan gelang nur zu gut, und vier- undzwanzig Stunden später waren die Einbrecher imstande, in den Räumen der Gesellschaft christlicher junger Männer nach Belieben aus und einzugehen, ohne daß irgend jemand darum wußte.
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Es handelte sich nun darum, in das Gewölbe hinunter- zugraben — eine ungeheure Aufgabe, für welche die dauernde Anwesenheit der ganzen Bande in Elmira not- wendig war. Ebenso notwendig war es aber auch, daß diese Anwesenheit nicht bemerkt wurde, und zu diesem Zwecke kam eine Frau, welche mit einem Mitgliede der Bande schon bei früheren Unternehmungen in Verbindung gestanden hatte, von Baltimore nach Elmira und mietete ein Haus in der Vorstadt unter dem Vorgeben, sie sei die Frau eines Mannes, der meistens in Geschäften auf Reisen sei. Das Haus wurde einfach möbliert, und jeden Tag machte sich die Frau zum Gaudium der Nachbaren eifrig damit zu schaffen, die Treppen zu fegen, Fenster zu klären und bald diese , bald jene Arbeit im Hofe zu verrichten. Inzwischen befanden sich in dem Hause, sorgsam ver- borgen, die Mitglieder der Bande: Scott, Dunlap, der rote Leary, Conroy und Perry. Sie gingen bei Tage nie aus und verließen nachts den Platz so vorsichtig, immer zur Zeit, daß niemand eine Ahnung von ihrer Anwesenheit hatte, obgleich sie sechs Wochen dort wohnten.
Jede Nacht versammelten sie sich in den Räumen der Gesellschaft christlicher junger Männer, nachdem diese nach Hause gegangen waren, indem sie falsche Schlüssel benutzten, um sich Einlaß zu verschaffen. Sie blieben dort stundenlang, mit einer Arbeit beschäftigt, die man im all- gemeinen für eine recht geräuschvolle hält; aber ihre Be- wegungen waren so vorsichtig und wohlüberlegt, daß man ihre Anwesenheit in dem Gebäude gar nicht vermutete. Jede Nacht wurde der Teppich und der Fußboden auf- genommen und sorgfältig wieder hingelegt, sobald sie mit ihren Durchbrucharbeiten aufhörten. Ganze Tons Mauer- werk und schwere Steine wurden herausgeschafft, in Körbe geschaufelt und nach dem Dache des Opernhauses hinaufgebracht, welches neben dem Bankgebäude lag, wo wenig Gefahr vorhanden war, daß der Mauerschutt
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entdeckt wurde. So arbeiteten sich die unermüdlichen Halunken durch die Lage Eisenbahnschienen und waren schließlich von dem Innern des Gewölbes nur noch durch die Stahlplatte getrennt. Der Erfolg stand greifbar vor ihnen, als ein unvorhergesehener Zufall alles verdarb.
Eines Tages war der Präsident der Bank, Mr. Pratt, überrascht, beim Betreten des Gewölbes den Fußboden mit feinem weißen Staub bedeckt zu finden. Eine Unter- suchung wurde angestellt, und das ganze Komplott wurde entdeckt. Die Mitglieder der Bande bekamen jedoch zur rechten Zeit Wind von der Sache und flüchteten mit Aus- nahme von Perry, welcher des versuchten Einbruchs über- führt und zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt wurde.
Unbekümmert um diesen Fehlschlag begannen Scott und Dunlap das Land wieder abzusuchen nach einer anderen Bank, die sich für ihre Pläne eignete; und im Februar 1874 ‘teilten sie der Bande mit, daß sie in Quincy, Illinois, „Arbeit“ gefunden hätten. Der Einbruch in die Bank in Quincy wurde in derselben Weise ausgeführt, wie der in Elmira. Die Frau aus Baltimore mietete wieder ein Haus, welches den Leuten Obdach und Unterschlupf gewährte; mit Nachschlüsseln verschafften sie sich Zutritt in die Räume oberhalb der Bank, der Fußboden wurde jede Nacht aufgenommen und wieder hingelegt, ohne Verdacht zu erregen; das Mauerwerk wurde fortgeschafft, die Eisen- platten wurden durchbohrt, und schließlich waren Scott und Dunlap eines Nachts imstande sich durch das Loch in den Geldraum hinabzulassen.
Es handelte sich nun darum, die Geldschränke in dem Gewölbe zu erbrechen; und hierbei wandten die Einbrecher — zum ersten Male in der Geschichte der Geldschrankdieb- stähle in Amerika — die sogenannte Luftpumpenmethode an, welche Evans ersonnen und Scott und Dunlap ein- gehend erklärt hatte. Die Firma, bei der Evans beschäftigt war, wollte um diese Zeit eine neue Panzerung einführen,
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die dazu bestimmt war, die Geldschränke sicherer zu machen; und Evans war auf die Idee gekommen, in Gegenwart des Käufers mittelst einer Luftpumpe Pulver in die Fugen der Geldscehranktür einzuführen, um den Käufer von der Notwendigkeit der netien Panzerung zu überzeugen. Evans war bei dem Einbruche in die Bank in Quincy nicht zugegen; er hatte mit dem Einbruche nichts weiter zu tun, als daß er die Luftpumpe und die dazu nötige Unterweisung lieferte. Scott und Dunlap be- sorgten die Arbeit.
Zunächst wurden alle Fugen der Geldschranktüren sorgfältig verkittet, nur am oberen und am unteren Ende blieb eine kleine Öffnung. Dann hielt Scott an die obere Öffnung einen kleinen mit feinem Pulver gefüllten Trichter, während Dunlap die Luftpumpe am unteren Ende ansetzte. Durch den Luftdruck wurde das Pulver in die Zwischenräume zwischen den schweren Türen und den Rahmen der Geldschränke getrieben. Dann wurde eine kleine, einfach mit Pulver geladene Pistole an der oberen Öffnung befestigt und mittelst eines am Drücker befindlichen Bindfadens aus sicherer Entfernung abgefeuert. Mehrere Versuche waren nötig, ehe eine vollkommene Explosion erzielt wurde; aber schließlich gelang es, die Geldschränke zu sprengen und sich ihres Inhalts zu be- mächtigen. Die Räuber entkamen mit hundertundzwanzig- tausend Dollars in Geld und gegen siebenhunderttausend Dollars in Wertpapieren. Von dem baren Gelde sah die Bank nie einen Pfennig wieder, ebensowenig wie man irgend eines Mitgliedes der Bande habhaft wurde. Die Wertpapiere wurden später von der Bank zurückgekauft. Die ganze Sache war so geschickt eingefädelt und aus- geführt, daß weder auf Scott oder Dunlap noch auf irgend einen ihrer Genossen der geringste Verdacht fiel.
Dieses Mal hatte die Bande leicht genug ein Ver- mögen verdient, und ohne Zweifel konnte man auf dieselbe
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Weise noch mehr einheimsen. Während des Sommers lebten Scott und Dunlap in Newyork wie die Fürsten und erregten viele Aufmerksamkeit in Coney Island, wo sie Rennpferde laufen ließen. Niemand ahnte, daß sie die Führer der verwegensten Bankräuberbande waren, welche je in irgend einem Lande existiert hat.
Gegen Ende des Jahres wurde ihnen das Geld knapp, und sie beschlossen, sich naclı einem neuen Geschäfte um- zusehen. Bei dem Raube in Quiney hatten sie ihr Über- einkommen mit Evans gebrochen, indem sie ihm für den Gebrauch der von ihm gelieferten Luftpumpe nur eine kleine Summe bezahlten. Jetzt jedoch suchten sie ihn wieder auf und brachten ihn teils durch Drobungen, teils durch freigebiege Anerbietungen dazu, ihnen wieder seinen Bei- stand zu leihen. Eine Reihe von erfolglosen Einbruchs- versuchen wurden in verschiedenen Banken gemacht. In einzelnen Fällen trat ein Fehlschlag in demselben Augen- blicke ein, wo der Erfolg gesichert schien. In Covington wurde z. B. Nitroglyzerin gebraucht, um den Geldschrank zu sprengen, und die Explosion war so heftig, daß die Ein- brecher erschraken und in panischem Schrecken die Flucht ergriffen. Zweihunderttausend Dollars in Papiergeld und anderthalb Millionen Dollars in börsenfähigen Papieren ließen sie unberührt zurück. In Rockville war ebenfalls alles programmäßig verlaufen; alles war herausgeschafft und beseitigt, bis auf eine dünne Lage von Backsteinen. Da stieß Scott zufällig das Brecheisen, mit dem er arbeitete, durch das Dach des Gewölbes und ließ es nach innen fallen. Da es zu spät war, die Arbeit in derselben Nacht zu vollenden, und da das Brecheisen im Gewölbe unver- meidlich Aufsehen verursachen würde, so mußten sie das Unternehmen gänzlich aufgeben.
Das verzweifeltste Abenteuer hatte die Bande bei ihrem Einbruche in die Erste Nationalbank in Pittston, Pennsyl- vanien, zu bestehen. Die Bank bestand aus einem ein-
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stöckigen Gebäude mit einem Zinndache, und die Räuber beschlossen, den Einbruch vom Dache aus zu bewerkstel- ligen. Eine ernstliche Schwierigkeit bestand darin, daß, wenn etwa nach Beginn der Arbeit Regen eintrat, Wasser durch die Öffnung eindringen und die Einbrecher verraten konnte. Dunlaps Findigkeit war indessen auch dieser Mög- lichkeit gewachsen: jede Nacht legten sie nach Beendigung ihrer Arbeit die Zinnplatten wieder an ihre Stelle und ver- strichen die Fugen mit rotem Kitt, der an Farbe dem Dache glich. Und so gut legten sie den Kitt auf, daß, obgleich es am Tage nach Beginn der Arbeit heftig regnete, nicht ein Tropfen durchleckte.
In der Nacht des 4. November trennte sie nur eine Lage von Backsteinen von dem Gewölbe, und man beschloß, die Arbeit zu beenden und den Raub in derselben Nacht auszuführen. Zwei Stunden harter Arbeit mit Erdräumer und Hebeschraube genügten, um eine Öffnung zu schaffen, und Scott und Dunlap wurden in das Gewölbe hinabge- gelassen. Sie fanden drei Marvin-Kugelschränke, welche durch ein Einbrecherläutwerk geschützt waren.
Dunlap war so etwas von einem Elektrotechniker und wußte das Läutwerk mit schweren Brettern derart zu um- geben, daß es ziemlich gefahrlos wurde. Indessen hatten sie beim Sprengen der Geldschränke viele Schwierigkeiten zu überwinden. Der erste gab bei der zweiten Explosion nach, und sie erbeuteten fünfhundert Dollars in Geld und sechzigtausend Dollars in Wertpapieren. Der zweite Schrank verursachte weit mehr Mühe: nicht weniger als zehn Spreng- versuche waren nötig, um ihn zu öffnen. Und gerade, als die Arbeit schließlich vollendet war und sie auf dem Punkte waren, sich einer großen Summe Geldes zu bemächtigen, kam eine Warnung von Conroy, welcher auf dem Dache Posten stand, und sie mußten flüchten.
Als Dunlap und Scott von ihren Genossen aus dem Gewölbe gezogen waren, stellte es sich heraus, daß sie kaum
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imstande waren zu laufen. Während all der zwölf Explo- sionen von Pulver und Dynamit hatten sie das Gewölbe nicht verlassen, sondern, hinter die um das Läutwerk ge- stellten Bretter geduckt, waren sie auf Armeslänge von Explosionen entfernt, die so heftig waren, daß sie Gußstahl- platten wegrissen und das ganze Gebäude erschütterten. Schlimmer als die Ersehütterung waren die schädlichen Gase, welche sich bei den Explosionen entwickelten und welche Dunlap und Scott einatmen mußten. Als sie heraus- kamen, waren ihre Kleider von Schweiß zum Auswringen naß, und sie waren so schwach, daß ihnen die Beine zit- terten und ihre Kameraden sie eine Zeitlang beinahe tragen mußten. Aber trotzdem brachten sie es fertig, in derselben Nacht noch fast fünfzig Kilometer zu gehen, bis nach Lehigh, wo sie in einen Zug nach New York stiegen.
Bei dieser Gelegenheit hatten sie im Gewölbe die Laft- pumpe zurückgelassen, an welche Robert Pinkerton sich später zum Nachteile für Evans erinnerte.
Als Evans in seinem Geständnisse zu dem Bankraube in Northampton kam, sagte er, die Bande habe beabsich- tigt, diesen Einbruch schon einige Monate früher auszu- führen. Eine Zeitlang hätten sie beabsichtigt, die Erste Nationalbank zu berauben, wo Evans beschäftigt gewesen war, neue Türen einzusetzen; aber dieser Plan wurde später aufgegeben. Da Evans das vollste Vertrauen der Beamten der Northampton-Bank genoß, so hatte er der Bank wieder- holte Besuche gemacht und wichtige Nachrichten für seine Genossen erfahren. Seinem Einflusse war es zuzuschrei- ben, daß die Direktoren sich entschlossen, die ganze Kom- bination des Gewölbes dem Kassierer Whittelsey zu geben, welcher früher nur mit der Hälfte betraut war, während der Rest einem der Kommis anvertraut war. |
In der Nacht des Einbruchs war Evans in Newyork, aber er war einen oder zwei Tage später nach Northampton gefahren. Da war ihm zum ersten Male zum Bewußtsein
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gekommen, welch ungeheures Unrecht und welcher Schaden unschuldigen Leuten durch die Räuber zugefügt werde, und diese Wahrnehmung, so sagte er, habe ihn veranlaßt, sich um die Rückgabe der Wertpapiere an ihre Eigentümer zu bemühen.
Als er nach Newyork zurückkam, setzte er sich sofort durch eine Anzeige im „Herald“ mit Scott und Dunlap in Verbindung und hatte während des Monats Februar meh- rere Zusammenkünfte mit ihnen. Während sie sich be- mühten, die Wertpapiere unterzubringen, war es vom ersten Moment klar, daß sie Evans mißtrauten und sich vornah- men, seinen Anteil an dem Gewinst zu verringern. Sie taten zwar so, als ob sie mit den Schritten einverstanden seien, die er unternahm, um einen Kompromiß mit der Bank berbeizuführen, unterhandelten aber tatsächlich insgeheim auch anderweit zu demselben Zwecke. Das gegenseitige Mißtrauen ließ sich schließlich nieht mehr verbergen. Als Evans eines Tages Scott im Prospect Park begegnete, sagte er zu ibm: „Wann wollen Sie endlich die Angelegenheit ordnen und mir meinen Anteil geben?“
„Die sollen keinen Heller haben,“ erwiderte Scott, „Sie haben die ganze Bande verraten.“
Einige Zeit hindurch trafen sie sich nicht wieder. Evans setzte seine Bemühungen, einen Ausgleich herbeizuführen, vergebens fort. Da Monat auf Monat verging und er die Gefahr für sich immer drohender werden sah, so wuchs seine Angst und Besorgnis. Am 9. November traf er Scott, Dunlap und den roten Leary an der Grenze von Brooklyn. Ein heftiger Streit entspann sich über die Teilung der Beute, Vorwürfe und Drohungen schleuderte man sich gegen- seitig ins Gesicht, und zeitweise war Evans tatsächlich in Lebensgefahr.
Bald nach dieser Unterredung beschloß Evans unter der Leitung des Oberdetektivs Bangs, sich zu retten, indem er ein volles Geständnis ablegte. Er hatte weniger Ge-
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wissensbisse, seine Genossen zu verraten, weil er sich überzeugt hatte, daß er bei den früheren Einbrüchen, be- sonders dem in Quincy, von Scott und Dunlap schlecht be- handelt sei.
Evans sagte, daß die Bande in den dem Raube in Nort- hampton vorhergehenden Wochen sich in dem Dachgeschosse eines Schulbauses verborgen habe, welches vier oder fünf Ruten von der Landstraße entfernt und abseits von anderen Häusern stand. Seine Angabe wurde dadurch bestätigt, daß man in dem betreffenden Dachgeschosse nach dem Einbruche Decken, Leinentaschen, Bohrer, Flaschenzüge und Lebensmittel entdeckte, darunter eine Flasche Whisky mit der Etikette einer Newyorker Firma. Nachdem das Gewölbe ausgeplündert war, hatten die Einbrecher Geld und Wertpapiere in einen Sack und einen Kissenüberzug gesteckt und nach dem Schulhause getragen, wo sie ihre Beute an sorgfältig vorbereiteten Stellen versteckten. Eins dieser Verstecke war unter der Estrade, auf der das Pult des Lehrers stand; ein zweites in einer Höhlung hinter einer Wandtafel, welche zu diesem Zwecke abgenommen und sorgsam wieder an ihrem Platze festgeschraubt wurde. Nahezu zwei Wochen lag dieser Schatz von mehr als einer Million Dollars in dem Schulhause, ohne daß ein Mensch etwas davon ahnte. Der Lehrer stand täglich auf einem Teile davon und die Kinder machten ihre Rechenaufgaben auf der Wandtafel, hinter welcher der Rest steckte. Die Räuber ließen ihre Beute so lange dort, weil alle Fremden auf der Eisenbabnstation und den Straßen streng beobachtet wurden. Schließlich kaufte Scott ein Gespann Pferde für neunhun- dert Dollars und fuhr mit Jim Brady von Springfield nach Northampton hinüber. Nachdem sie sich ihrer Beute ver- sichert hatten, kostete es ihnen viel Mühe fortzukommen. Brady fiel in einen Mühlbach, über dessen Eis sie gingen, und dieser Unfall nötigte sie, die ganze Nacht in einer Hütte im Walde zuzubringen.
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Nachdem Mr. Pinkerton Evans’ Erzählung gehört hatte, beschäftigte er sich vor allem mit der Frage, wo die ge- stohlenen Wertpapiere jetzt versteckt seien. Aus dem, was Evans sagte und was er selbst über die Methode der Bande wußte, hatte er die feste Überzeugung gewonnen, daß Dunlap um dieses Geheimnis wisse und es niemandem anvertrauen werde, wenn er dazu nicht absolut gezwungen wäre. Der Weg, welcher am meisten Erfolg versprach, war, ihn fest- zunehmen, was jetzt sehr wohl geschehen konnte, nachdem - Evans sich bereit erklärt hatte, gegen ihn als Kronzeuge aufzutreten. Wochenlang waren Pinkertons „Schatten“ hinter Scott und Dunlap hergewesen, welche den größten Teil ihrer Zeit in New-York zubrachten, wo Scott mit seiner Frau in einer vornehmen Pension am Washington-Square lebte.
Den „Schatten“ wurden demgemäß die nötigen Wei- sungen erteilt, und am 14. Februar 1877 wurden die beiden Männer in Philadelphia verhaftet, in dem Augenblicke, als sie einen nach dem Süden gehenden Zug besteigen woliten.
Trotz der großen Summe in Wertpapieren, welche in ihrem Besitze war, war ihnen das Geld knapp geworden, und, während sie auf das Zustandekommen des Kompro- misses warteten, wollten sie einen neuen Raubzug unter- nehmen. Sie wurden nach Northampton in Untersuchungs- haft gebracht.
Nun geschah, was Mr. Pinkerton vorhergesehen hatte. Ihrer Freiheit beraubt, sahen Dunlap und Scott sich ge- zwungen, das Versteck der Beute einem anderen Mitgliede der Bande zu verraten. Ihre Wahl fiel auf den roten Leary. Wie sich nachher herausstellte, waren die Wertpapiere da- mals in einem Keller der Sixth Avenue nahe der dreiund- dreißigsten Straße in Newyork vergraben. Die Stelle wurde Leary genau angegeben von Frau Scott, die ihn zugleich an das unter den Mitgliedern der Bande bestehende Ab-
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kommen erinnerte, wonach jeder von ihnen, sobald er in Not geriete, seine Genossen auffordern könne, die Wert- papiere um jeden möglichen Preis loszuschlagen und den Ertrag zu verwenden, um ihn und andere — falls auch andere in Not seien — zu befreien. Damals spottete Leary über dieses Abkommen, aber bald darauf war er sehr eifrig darauf bedacht, es den anderen einschärfen zu lassen, als er auf Anordnung des Polizeiinspektors Byrnes selbst fest- genommen wurde unter der Anklage der Mitschuld an dem denkwürdigen Manhattan-Bankraube, welcher einige Zeit vorher stattgefunden hatte. Da ein Versuch, Leary auf seinem Wege nach dem Verstecke der Wertpapiere zu „be- schatten“, fehlgeschlagen war, so hatte Robert Pinkerton sich entschlossen, Leary als Mitschuldigen bei dem Bank- raube in Northampton festnehmen zu lassen. Es wurden sofort die nötigen Schritte getan, um einen Haftbefehl zu erwirken, und bis zur Ankunft desselben wurde Leary unter der anderen Anklage festgehalten, denn in Wirklich- keit dachte man gar nicht daran, daß er bei dem Einbruche in die Manhattan-Bank beteiligt gewesen sei.
Die Verbrecherannalen der Vereinigten Staaten ent- halten kein ergreifenderes Kapitel als das von den Aben- teuern des roten Leary. Er war seiner äußeren Erschei- nung nach ein typischer Desperado, mit seinem zottigen roten Haar seinem struppigen roten Schnurrbart und seinem häßlichen, starkknochigen Gesichte, während sein gewaltiger Nacken, seine starken Schultern, sein dieker Kopf und seine mächtigen behaarten Hände auf eine ungeheure körper- liche Kraft deuteten. Er wog nahezu dreihundert Pfund und seine Spießgesellen pflegten mit Stolz darauf hinzu- weisen, daß er einen größeren Hut trug, als irgend ein Staatsmann in Amerika — acht und ein viertel.
Während ein großer Teil von Learys Leben mit Ge- walttätigkeiten aller Art verging, hatte er bei verschiedenen Gelegenheiten solch glänzende Tapferkeit, ja sogar einen
Amerikanische Räuber. 253
Heldenmut bewiesen, der fast seine Verbrechen aufwog. Es gibt wenige Soldaten, welche nicht stolz sein würden auf solche Leistungen auf dem Schlachtfelde, wie Leary sie aufzuweisen hatte. Er gehörte zu den Ersten, welche im Bürgerkriege dem Rufe des Vaterlandes folgten, indem er als Freiwilliger in das Erste Kentucky-Regiment unter Oberst Guthrie eintrat; und er war ein guter Soldat von der Zeit seines Diensteintritts an bis zu seiner ehrenvollen Entlassung.
Die geschicktesten Rechtsanwälte wurden jetzt mit seiner Verteidigung beauftragt, und mit jeder nur mög- lichen Methode gesetzlicher Obstruktion unterhielten sie vor ‘den Newyorker Gerichten eine lebbafte Kontroverse bis in die ersten Tage des Mai 1879. Inzwischen ruhte sich Leary im Gefängnis der Ludlow-Street aus, wo er alle Vergün- stigungen genoß, die je einem Gefangenen gewährt wurden, Dafür bezahlte er dem Gefängniswärter die ansehnliche Summe von dreißig Dollars wöchentlich; und es war augen- scheinlich, daß er, mochte er nun bei dem Einbruche in Northampton beteiligt gewesen sein oder nicht, auf irgend welche Weise reichlich Geld bekommen hatte. Er erhielt fortwährend Besuche von seiner Frau.
Am Nachmittage des 7. Mai machte Frau Leary ihrem Manne einen Besuch in Begleitung von „Butch“ Me. Carthy, und die drei waren bis acht Uhr allein in Learys Zimmer. Danach ging Leary innerhalb des Gefängnisses umher, und um.ein Viertel nach zehn sah der Aufseher Wendell, wel- cher die Aufsicht über das erste Stockwerk hatte, wo Learys Zimmer lag, ihn vom zweiten Stockwerke nach dem dritten hinaufgehen. Das war an und für sieh niehts Wunderbares, denn Leary pflegte gewöhnlich das Badezimmer im dritten Stockwerk zu benutzen. Eine Viertelstunde später begann Wendell zufolge der Gefängnisordnung seinen Rundgang, um zu sehen, ob jeder Gefangene auf seinem Flure sicher einge- schlossen sei. Als er nach Learys Zimmer kam, war er etwas
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überrascht, ihn noch abwesend zu finden, glaubte jedoch, er würde gleich kommen. Nachdem er indessen einige Minuten vergeblich gewartet hatte, wurde er unruhig und begann nachzusuchen. Er ging zuerst in das Badezimmer, und als er Leary dort nicht fand, suchte er an anderen Orten oben und unten. Dann kehrte er nach dem Bade- zimmer zurück und machte dort eine Entdeckung, die ihn in die größte Bestürzung versetzte. Er sah in der Back- steinmauer — was zuerst seiner Aufmerksamkeit entgangen war — eine gähnende Öffnung, groß genug, um einen Mann durchzulassen. Die Öffnung führte in einen Tunnel, der nach unten zu gehen schien. Der Aufseher schlug sogleich Lärm, und es zeigte sich, daß seine Befürchtung nur zu sehr begründet war: der rote Leary war entwischt.
Es ergab sich, daß der Tunnel vom Badezimmer in ein Zimmer des fünften Stockes eines Mietshauses führte, welches an das Gefängnis stieß. Die beiden Zwischen- mauern bestanden aus viereinhalb Fuß diekem, solidem Mauerwerk, welches von den Freunden Learys durch- brochen war. In den von ihnen gemieteten drei Zim- mern des Hauses fanden sich zahlreiche Beweise ihrer Arbeit.
Leary flüchtete zunächst nach Europa, wurde aber später in Brooklyn verhaftet von Robert Pinkerton und dreien seiner Leute, die ihn in einem Schlitten aufhielten und ihm Handschellen anlegten, bevor er von einem großen Revolver, den er bei sich trug, Gebrauch machen konnte. Er wurde sogleich ins Gefängnis in Northampton gebracht.
Einige Zeit vorher hatte Pinkerton Conroy, der auch aus dem Gefängnisse in Ludlow Street ausgebrochen war, in Philadelphia ausfindig gemacht; und sogleich nach der Festnahme Learys schickte er seine Detektivs nach Phila- delphia, welche Conroy noch an demselben Abend ding- fest machten.
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Inzwischen hatten Scott und Dunlap, welche jetzt im Staatsgefängnisse saßen, ein Geständnis gegen Leary ab- gelegt, welcher im Besitze der Wertpapiere war; und als Leary nach Northampton gebracht wurde, schrieben sie ihm einen Brief des Inhalts, daß, wenn die Wertpapiere nicht ihren Eigentümern zurückgegeben würden, sie gegen ihn als Zeugen auftreten wollten. Wenn er dagegen die Wertpapiere zurückgäbe, so würden sie das Zeugnis gegen ihn verweigern. Dieser Brief hatte den Erfolg, daß die Bank fast sämtliche Wertpapiere wieder erhielt, ausgenommen die Staatspapiere und das gestohlene bare Geld.
Einige der Wertpapiere waren seit der Zeit, wo sie gestohlen wurden, so im Werte gesunken, daß dies einen Fehlbetrag von mehr als hunderttausend Dollars ausmachte. Die wiedererlangten Papiere repräsentierten einen Wert von siebenhunderttausend Dollars und waren über zwei Jahre in den Händen der Diebe gewesen.
Da sich Scott und Dunlap nunmehr weigerten, gegen Leary und Doty auszusagen, mußten diese freigelassen werden, ebenso wie Conroy, der nur als Zwischenträger gedient und keinen tätigen Anteil an dem Einbruche ge- nommen hatte.
Der Prozeß gegen Scott und Dunlap endete damit, daß beide zu zwanzig Jahren Zuchthaus verurteilt wurden. Scott starb im Gefängnisse; Dunlap, welcher einige Jahre später begnadigt wurde, lebt jetzt in einer Stadt des Westens, wo er als ein gebesserter Mensch sich sein ehrliches Brot verdient. Conroy ist ebenfalls ein ehrlicher, von all seinen Bekannten geachteter Mann geworden.
Der rote Leary kam auf merkwürdige Art ums Leben. Eines Abends im April 1888 hatte er mit einigen Freunden in einem bekannten Wirtshause in Newyork gezecht. Zu der Gesellschaft gehörte „Billy“ Train, welcher, als sie auf
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die Straße kamen, einen Ziegelstein aufhob und in die Luft warf, indem er schrie: „Habt acht auf eure Köpfe, Jungens!“ | |
Leary achtete nicht auf diese Warnung, der Ziegelstein traf ıhn mit voller Wucht auf den Kopf und zertrümmerte den Schädel. Er wurde nach dem Hospital gebracht und starb dort am 23. April. |
Der Fall Umland.
Von B. Büttner, Göttingen.
Es war am 25. Oktober 1876 morgens gegen 8 Uhr als eine Frau bei dem Nachtposten der Kriminalpolizei auf dem Stadthause zu Hamburg erschien und anzeigte, daß man soeben den Drechsler Umland in seiner Wohnung Langereihe 82 St. Georg ermordet aufgefunden habe. Einer der diensthabenden Offizianten (so hießen damals in Ham- burg die jetzigen Kriminalwachtmeister), Backs, ließ sofort den Polizeiarzt Dr. Lang, der soeben den Dienst im Stadt- hause angetreten hatte, von der Meldung benachrichtigen. Auf weitere Nachfrage erfuhr der Offiziant von der Frau, daß sie, als sie um 71/a Uhr zur gewohnten Arbeit bei Umland erschienen sei, ihn in seiner Wohnung leblos auf dem Fußboden gefunden habe und dann schleunigst hier- her geeilt sei.
Backs, die Frau und Dr. Lang verließen schon wenige Minuten später das Stadthaus. Dr. Lang ging vorauf; Backs folgte ihm mit der Frau in einem kurzen Abstande. Eine sonderbare Person, diese Frau! Man hätte denken können, sie käme von irgend einem anregenden Schau- spiele, so vergnügt und munter plauderte sie über den Tod ihres Brodgebers. Sie erzählte unter vielem andren, daß der Ermordete, für den sie Schirme genäht habe, oft wunderlich und von seinen Launen abhängig gewesen sei.
Zu der offenbar vorliegenden Mordtat bemerkte sie, daß am Der Pitaval der Gegenwart. II. 19
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vergangenen Abend ein großer starker Mann in den Laden gekommen sei, um eine Pfeife zu kaufen. Er habe sehr verdächtig ausgesehn, was auch Umland aufgefallen sei, und wäre angetrunken gewesen. — Backs beobachtete die Frau während des ganzen Weges scharf und dabei fiel dem erfahrenen Beamten auf, daß die Munterkeit der Person etwas gezwungenes hatte. Diese Frau wußte doch offenbar mehr von dem Verbrechen, als sie sagte! —
Als man das Haus, in dem Umland wohnte, erreicht hatte, unterzog Dr. Lang den Körper des Toten einer ge- nauen Besichtigung und inzwischen unterrichtete sich der Offiziant über die Umlandsche Wohnung.
Von einem langen und nicht sehr breiten Korridor gelangte man links in eine Krämerei, rechts in den Laden Umlands. An den Laden schlossen sich seine Wohnräume an, und zwar so, daß ein Zwischenkorridor nach hinten in das Schlafzimmer und nach links in das Wohnzimmer führte. Die Werkstatt hing nur mit dem Korridor, nicht mit der eigentlichen Wohnung zusammen. Das Wohn- zimmer war einfach, aber ganz behaglich eingerichtet; ein altmodisches Sofa mit braunem Überzuge, ein großer runder Tisch davor, an dem mehrere Stühle standen, und über ihm eine grünbeschirmte Hängelampe; ein Bücherbort an der einen, ein breiter Eckschrank und ein Sekretär an der andern Längswand. Das Schlafzimmer enthielt außer zwei Betten und zwei Garderoben (Umlands Frau war vor einigen Jahren gestorben) eine Kommode und einen Kleiderschrank.
Im Wohnzimmer lag die Leiche vor dem Sofa auf dem Boden, mit Kopf und Schultern unter dem Sofa, die Arme und Beine auffallend regelmäßig gestreckt; der An- zug war durchaus in Ordnung. Von einer Wunde sah der Arzt zuerst nichts und entdeckte selbst bei genauerem Betrachten nur geringe Hautabschürfungen im Gesichte, Erst als Dr. Lang ein um den Hals des Toten gebundenes
Der Fall Umland. 259
Tuch löste, fand er die deutlichen Anzeichen dafür, daß Umland stark gewürgt und wahrscheinlich mit den Fäusten erwürgt war. Die weitere Untersuchung gab einen An- halt dafür, daß Umlands Tod am vorhergehenden Abende etwa um 8 Uhr erfolgt sein mußte. Der Arzt konstatierte auch, daß neben den Verletzungen am Halse eine größere Anzahl andrer zum Teil recht erheblicher Wunden vor- handen war, und daß mit offenbarer Sorgfalt von dem Gesichte des Toten, von seinen Kleidern und vom Fub- boden alle Blutflecken abgewaschen waren. — An den Wänden, an den Möbeln, an den Gardinen sogar fanden sich blutige Merkmale dafür, daß hier ein entsetzlicher Kampf getobt haben mußte.
Backs wandte während dieser Dulkendhune wieder seine Aufmerksamkeit, wie schon unterwegs, der Frau zu, die die Meldung gebracht hatte. Sie führte mit den neugierig herumstehenden Nachbaren, die sie als Frau Allweld anrede- ten, in lautem Tone Unterhaltungen, die immer wieder darauf hinausliefen, daß sie totunglücklich über den Verlust eines so wackeren Brodherren sei und hoffe, der Mörder möge recht bald gefaßt werden. — Backs veranlaßte die Nach- baren, die Wohnung zu verlassen, behielt aber Frau All- weld zurück, damit sie ihm genauer Rede stehe. Er über- zeugte sich bald, daß die Allweld über den Mann, der den Umland besucht haben sollte, falsche Angaben mache, und nach weiterem Verhöre glaubte der Beamte genügend Grund für die Annahme zu haben, daß die Allweld um die Tat wisse und bestrebt sei, den Täter durch erfundene Erzählungen zu schützen. Er nahm sie demnach vorläufig fest und lieferte sie im Stadthause ein. Schleunige Er- mittelungen stellten fest, daß sie einen in der Neustädter Neustraße logierenden Schuhmachergesellen Adolf Haack zum Geliebten habe. Erst einige Tage später konnte man seiner habhaft werden. Da es ihm nicht möglich war,
sein Alibi für jenen verhängnisvollen Abend nachzuweisen, 19*
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wurde er in das Untersuchungsgefängnis abgeführt, unter dem Verdachte, den Umland in dessen Wohnung ermordet zu haben.
Eingehende Ermittelungen und ärztliche Explorationen ließen der Möglichkeit Raum, daß Haack irrsinnig sei. Er wurde daher zunächst der Irrenanstalt zu Friedrichs- berg (Hamburg) überwiesen, um dort genauer von dem Physikus Dr. Reincke auf seinen geistigen Zustand be- obachtet zu werden.
Die Voruntersuchung förderte folgendes ans Licht:
Die Näherin Henriette Marie Magarethe Allweld, ge- boren 12. Mai 1843 zu Lüneburg, lutherischh, kam 1873 nach Hamburg, wo sie in verschiedenen Stellen diente; den letzten Dienst gab sie im Mai 1876 auf und ernährte sich dann durch Nähen. Im August 1876 machte sie die Bekanntschaft des Gesellen Adolf Haack und trat zu dem- selben bald in ein näheres Verhältnis. — Durch eine An- nonce erhielt sie damals Beschäftigung bei dem ın der Langenreihe in St. Georg wohnenden Umland, für dessen Schirmgeschäft sie Dienstags und Freitags arbeitete. In der ersten Zeit holte Haack, der._bei einem Schuhmacher in der Neustraße-St. Georg wohnte, sie einigemale abends von ihrer Arbeitsstelle ab und brachte sie nach ihrer Wohnung bei einer Frau Melle am Valentinskamp.
Die Allweld gab zu, daß sie damals aus dem Um- landschen Laden drei Schirme, zwei Stöcke und eine Zigarrenspitze entwendet und dem Haack, der darum wußte, geschenkt habe. Sie hatte oft Gelegenheit zu sehen, daß Umland in seinem Sekretär viel Geld aufbewahrte; dieser selbst hatte gelegentlich geäußert, daß er oft 8000 Mark und darüber dort habe. Schon Anfang Oktober be- absichtigte Haack, dem die Allweld von diesem Reichtume erzählt hatte, Umland zu besteblen. Nach der Darstellung der Allweld sollte sie hineingehn, das Geld stehlen und es dem draußen wartenden Haack, der sich vor den Hunden
Der Fall Umland. 261
Umlands fürchtete, einhändigen; Haack wollte dann mit dem Raube fortreisen und die Allweld sollte ihm später folgen. Angeblich hat die Allweld sich diesem Plane widersetzt, so daß Haack ihn aufgab.
Die Nacht vom 23. zum 24. Oktober brachte Haack ‚bei der Allweld zu und blieb, während diese morgens um 8 Uhr zur Arbeit bei Umland ging, angeblich ohne mit Haack ein Zusammentreffen für den Abend verabredet zu haben, noch bis 1 Uhr mittags auf ihrem Zimmer.
Am Abend des 24. Oktober erschien Haack bei Um- land. Die Allweld, welche sich in dem Wohnzimmer auf- hielt, erkannte seine Stimme, als er den Laden Umlands betrat, konnte jedoch nicht verstehn, was gesprochen wurde. Umland — so gab die Allweld an — machte die Türe zwischen Wohnzimmer und Korridor zu und rief dabei, sie solle seine Hunde bei sich behalten, denn im Laden sei eine große Dogge. Diesen Hund, welchen der Eigen- tümer Gastwirt Basse, bei dem Haack täglich zu verkehren pflegte, vom Nachmittage des 24. Oktober bis spät in die Nacht hinein vermißte, hatte Haack mitgelockt, um Schutz vor Umlands Hunden zu haben. Nach einer Viertel- stunde ging Haack wieder aus dem Laden fort, an dem Tone seiner Stimme hörte die Allweld, daß er betrunken war. Sie arbeitete nun weiter und aß dann mit Umland Abendbrot. Etwa um 7!/2 Uhr kam Haack wieder in den Laden. Die kleinen Hunde Umlands waren noch bei der Allweld, die über die nun folgenden Vorgänge zunächst Folgendes angab: Umland und Haack, die sich um- schlungen hielten, seien nach hinten gekommen, und Um- land habe ihr dann aufgetragen, in den Laden zu gehen, was sie auch getan. Als sie nach kurzer Zeit im Wohn- zimmer das Klirren von Glas gehört, sei sie hingelaufen und habe gesehen, daß Haack und Umland mit einander rangen. Umland habe sich über den knienden Gegner ge- beugt, sodaß die Aliweld geglaubt habe, dab er — ein
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starker Mann — den Haack wohl durchprügeln würde. Sie sei dann wieder in den Laden zurückgekehrt; sie habe keine Hilfe geholt, weil die Ladentüre abgeschlossen und kein Schlüssel zur Hand gewesen sei. Nach einer Weile sei die Tür des Wohnzimmers aufgestoßen worden und sie habe eine Stimme rufen hören, sie solle das Gas ausdrehen. Nachdem sie das Gas ausgelöscht, habe sie noch eine Weile gewartet und sei dann in das Wohnzimmer gegan- gen. Haack habe rittlings mit blutüberströmten Gesichte auf dem am Boden liegenden Umland gesessen und der All- weld zugerufen, sie solle ihm Wasser bringen und ihn ab- waschen. Ob Umland damals noch lebte, wußte die An- geklagte nicht zu sagen. Als sie mit dem Wasser, das sie von der Wasserleitung in der Werkstatt holte, zurückge- kommen, habe Haack im Zimmer gestanden und Umland am Boden gelegen. Haack habe ihr unter heftigen Dro- hungen Schweigen gegen Jedermann geboten. Die Allweld habe ihm, der aus einer Kopfwunde blutete, mit einem Handtuche das Blut abgewaschen und auf seinen Befehl das Geld aus dem Sekretär geholt. Inzwischen habe die von Haack mitgebrachte große Dogge die Blutlachen vom Boden und von der Leiche abgeleckt. Nach Angabe der Allweld sollte der Kampf zwischen den beiden etwa 3/4 Stunden gedauert haben. Haack ging dann durch die vordere Ladentüre fort und die Allweld folgte ihm bald. Unterwegs sagte er zu ihr, wenn sie ihn verriete, ging es ihr, wie dem Umland.
Gegen 10 Uhr abends kamen Haack und die Allweld in das Logis der Allweld zurück. Die Hauswirtin, wel- cher das Benehmen der beiden auffällig erschien, horchte an der Türe und vernahm, wie sie Geld zählten. Bald nach Mitternacht verließen die Verbrecher das Logis und begaben sich nach der Ublenhorst, um das geraubte Geld zu vergraben; hierbei mußte angeblich die Allweld in der Nähe warten, weil Haack nicht wollte, daß sie wüßte, wo das Geld lag.
Der Fall Umland. 263
Diese von der Allweld gemachten Angaben wurden zwar hinsichtlich der Zeit durch die Aussagen der zahl- reichen Zeugen bestätigt; doch fanden sich auch für ihre Mitwirkung bei der Tat manche Anhaltspunkte.
An sich schon schien es fast ausgeschlossen, daß Haack, der in der dem Tage des Verbrechens vorhergehenden Nacht bei der Allweld gewesen war, mit ihr nicht von seinem Besuche bei Umland und seinem Plane, sich sein Geld anzueignen, gesprochen haben sollte, um so mehr, als er wußte, daß die Allweld zu jener Zeit bei Umland sich aufhalten werde.
Es mußte der Allweld, wenn sie nicht eingeweiht war sebr auffallen, daß Haack Umlands Laden, wohin er noch niemals gekommen war, aufsuchte, noch dazu in Begleitung eines fremden Hundes. Der Mörder würde wohl kaum eine Zeit zu dem Verbrechen gewählt haben, wo er die All- weld bei Umland wußte, denn an ihr hätte er sich, falls sie nicht mit ihm unter einer Decke steckte, gar leicht eine Verräterin schaffen können. Auch der Umstand, daß die Angeklagte in keiner Weise versucht hatte, Hilfe zu holen, als Haack und Umland mit einander kämpften, war von um so größerer Bedeutung gegen sie, als ihre Angabe, die Türe sei verschlossen und kein Schlüssel zur Hand gewesen, dadurch widerlegt werden konnte, daß man am Morgen nach der Tat die Türe offen und nicht etwa er- brochen vorfand. Verdächtig mußte auch das ungewöhn- lich aufgeregte unruhige Wesen der Allweld erscheinen, das einer Käuferin schon am Nachmittage des 24. Oktober aufgefallen war. Von Bedeutung für die Schuld der All- weld war auch folgender Umstand. Um sich von der Richtigkeit der Angabe, Haack habe das Geld auf der Uhlenhorst vergraben, zu überzeugen, fuhren zwei Offi- zianten mit der Allweld nach jenem Platze. Als sie sich nach mehrstündigem Suchen, des vergeblichen Umherirrens müde, wieder auf den Rückweg begeben wollten, führte
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die Allweld sie geraden Weges zu der Stelle, wo 700;M. und zwei goldene Medaillons von Haack vergraben. und jetzt gefunden wurden. Wie eine Frau, welche mehrere Wochen mit der Allweild zusammen in Untersuchungshaft gesessen hatte, bekundete, war die Allweld im Gefängnis stets munter und vergnügt gewesen; sie hatte öfters aus- lassen getanzt und gesungen. Sie hatte dort auch erzählt, daß Haack und sie immer den Plan gehabt hätten, Um- land zu bestehlen. Sie habe neben Umland im Laden ge- standen, als Haack mit dem Hunde eingetreten sei, und habe sich gleich gedacht, daß es ohne Mord nicht abgehen würde. Darum habe sie auch sofort das Gas ausgedreht. Haack habe Umland von hinten gepackt, ihn in das Neben- zimmer geschleppt und dort erwürgt. Sie sei hinausge- gangen und habe an der Ecke gewartet. Umland sei ein geiziger Kerl gewesen, an dessen Tode nichts gelegen sei. Das gestohlene Geld habe Haack mit ihr zusammen noch in derselben Nacht unter einer alten Weide auf der Uhlen- horst vergraben. Außerdem hatte die Allweld in einer schwachen Stunde auf der Rückfahrt von der Uhlenhorst einem der begleitenden Offizianten mitgeteilt, daß sie zwar nicht bei der Ermordung und Beraubung Umlands ge- holfen hätte, daß aber das Ganze zwischen ihr und Haack geplant worden sei.
Da die psychiatrische Peatachiing des Haack in Friedrichsberg noch nicht beendet war, wurde das Ver- fahren gegen die Beteiligten getrennt. Die Allweld wurde auf Grund dieser belastenden Momente am 5. März 1877 vom Schwurgerichte wegen Beihilfe zum Morde zu einer zehnjährigen Zuchthausstrafe und Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte verurteilt.
Ein volles Jahr war seit der Verurteilung der Allweld verstrichen, ehe man zur Hauptverhandlung gegen den eigentlichen Mörder schreiten konnte. Haack hatte seinem
Der Fall Umland. 265
Beobachter, dem Physikus Dr. Reincke, viel zu schaffen gemacht; obwohl er nach der festen Überzeugung des Arztes überhaupt nicht irrsinnig war, wußte er sich so ge- schickt zu verstellen, daß es fast unmöglich schien, seine Simulation nachzuweisen. Dr. Reincke stellte allerdings fest, daß der Angeklagte in früher Jugend einmal an einer Gehirnkrankheit gelitten hatte, konstatierte aber auch, daß von derselben zur Zeit nicht die geringste Spur mehr vor- handen war und daß für eine erneute Erkrankung Anhalte nicht vorlagen.
Auch Haacks körperlicher Zustand hinderte längere Zeit seine Aburteilung ; er hatte sich in den in aussch weifendster Weise verlebten letzten Tagen seiner Freiheit eine Krank- heit zugezogen, die erst durch eine langwierige Behandlung im Kurhause von Friedriehsberg gehoben werden konnte. Nun erst konnte er vor das Schwurgericht gestellt werden. Die Voruntersuchung hatte folgendes ergeben:
Haack, geboren am 9. Dezember 1847 zu Lyck, katho- lisch, war ursprünglich durchaus nicht so verworfen, wie man annehmen sollte. Er war ernst, arbeitsam und seine Meister schätzten ihn als tüchtigen fleißigen Gesellen. Aber der Alkohol und mehr noch die Weiber wurden ihm zum Fluche. Namentlich die sexuellen Neigungen forderten Geld, viel Geld für seine Verhältnisse. Auch die Allweld stellte hohe Ansprüche an seine Kasse. Sein Lohn war nicht bedeutend und auch seine Geliebte hatte nur kärg- liches Einkommen. Sie schufen sich bald Einnahmen durch das Versetzen entbehrlicher und unentbehrlicher Kleidungs- stücke, mußten aber, als alles, was sie nicht auf dem Leibe trugen, ins Pfandhaus gewandert war, auf neue Mittel sinnen. Und nun wußte die Allweld Rat; ein ge- meinsames Verbrechen, das war es, wodurch die verwor- fene Person den jüngeren Haack noch fester an sich ketten wollte, und in dem Wunsche, in der Gier nach dem Besitze von Geld begegneten sich beide. Bei Haack, der inzwischen
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moralisch schon so weit gesunken war, daß er vor keiner Straftat mehr zurückscheute, fand der Plan, Umland zu berauben, Beifall. In einer wüst zusammen verbrachten Nacht einigten sie sich dahin, daß sie den Drechsler am folgenden Abende ermorden und sich in den ersehnten Be- sitz des Geldes bringen wollten. Die Hauptrolle bei dem Verbrechen fiel naturgemäß Haack zu: seinen Körperkräften sollte Umland erliegen.
Zur gewohnten Zeit, um 71/4 Uhr, verließ die Allweld ihr Logis, um sich zu ihrem Arbeitgeber in der Langen- reihe zu begeben. AlsHaack um 1 Uhr mittags ausgeschlafen hatte, ging auch er, um sich bis zum Abend in Hamburgs Straßen herumzutreiben und über die nähere Ausführung der Tat nachzudenken. Er beschloß, keine Waffe mitzu- nehmen, weil es den Anschein erwecken sollte, als ob Umland, den er erwürgen würde, eines natürlichen Todes gestorben sei. Da er fürchten mußte, von den Hunden Umlands durch Bellen verraten zu werden, so hielt er es für ratsam, einen großen Hund mitzunehmen. Er ging daher am Nachmittage bei Gastwirt Basse vor, dessen große Dogge ihn kannte, trank ein paar Glas Bier, und ver- schwand in einem unbemerkten Augenblicke mit dem Hunde. Er trank dann in der Harmsschen Gastwirtschaft zwei Seidel Bier, ging aber bald, da er von dem Wirte eigentümlich gemustert zu werden glaubte, in eine in der Nähe der Langenreihe belegene Wirtschaft, wo er eine halbe Stunde bei Schnaps und Bier verbrachte. Nunmehr sah er sich den Schauplatz der Tat an. Als er .hierbei die Gewißheit erhielt, daß Umland kleiner und anscheinend auch schwächer war als er selbst, da schlug er das letzte Bedenken in den Wind. Er trieb sich noch eine Zeitlang umher, trank wieder ein paar Glas Bier und betrat dann zum zweiten Male Umlands Laden, den er erst nach der Ermordung und Beraubung des Umland wieder verließ.
Am nächsten Morgen entledigte Haack sich seiner
Der Fall Umland. 267
Kleider, die durch schlecht abgewaschene Blutspuren an die Ereignisse der verflossenen Nacht mahnten, ging nach seiner Wohnung, wo er dem Meister das schuldige Logis- geld aushändigte, und löste beim Versatzamte seinen Sonn- tagsanzug ein. Nachdem er diesen angelegt, begab er sich in die Allweldsche Wohnung und verbrannte im Ofen nun seine alten Kleider. Hierauf machte er eine Rundreise durch eine größere Anzahl von Wirtschaften und ging, als er die Allweld nicht zu Hause fand, zu anderen Dirnen. Am nächsten Morgen setzte er das Treiben fort, nachdem er sich den Bart hatte stutzen lassen, um unkenntlicher zu werden. Auch die folgenden Tage trieb er sich rastlos in den verschiedensten Wirtschaften umher und befand sich infolgedessen ständig in einem halbbe- trunkenen Zustande. Erst am Abende des 29. Oktober kehrte er in sein Logis zurück. Hier wurde er von zwei Kriminalbeamten verhaftet. Ihre Haussuchung hatte schon zu Tage gefördert ein blutiges Hemd und ein blutiges Taschentusch, außerdem an bei Umland gestohlenen Gegen- ständen zwei Regenschirme, zwei Stöcke und zwei Zigarren- spitzen. Trotz dieses Überführungsmaterials bestritt Haack die Tat.
Auch in der Voruntersuchung blieb Haack beim Leugnen. Er wollte mit der Allweld nie über Umlands Gelder gesprochen haben. Die Blutflecken in Hemd und Taschentuch sowie in seinen inzwischen verbrannten Kleidern, die von mehreren Zeugen bemerkt worden waren, sollten von einer in der Trunkenheit herbeigeführ- ten Schlägerei herrühren. Seine ärztliche Untersuchung ergab, daß er eine große Anzahl von Verletzungen an der obern Vorderseite des Körpers hatte: am Halse und der rechten Hand Kratzwunden, am rechten Ringfinger eine Bißwunde. Diese Verletzungen, welche die Heftigkeit des Verzweiflungskampfes illustrieren, wollte Haack teils am 29. Oktober bei einer Schlägerei, teils in einem am
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23. Oktober bei Basse stattgefundenen Ringkampfe, sowie bei einem Messerkampf auf dem Großneumarkt erhalten haben. — Wo er vom 24. Oktober abends bis zum Abend des 25. gewesen war, wußte er nicht genau mehr anzugeben.
Während sich Haack in der Voruntersuchung wenig- stens zu diesen Aussagen bequemt hatte, war in der Haupt- verhandlung vor dem Schwurgerichte nichts aus ihm her- auszubringen. Er spielte den Irrsinnigen weiter. Wie geistesabwesend blickte er im Gerichtssaale umher; die Gesichtsmuskeln arbeiteten andauernd; die Augenlider hoben und senkten sich ungewöhnlich lebhaft; bald zuckte der eine, bald der andere Mundwinkel; die Stirne warf . tiefe Falten; unruhig bewegten sich die breiten, schwarzen Brauen auf und nieder; die Nasenflügel zitterten.
Indessen stellte der als Sachverständiger erschienene Dr. Reincke auf Grund seiner langen Beobachtungen fest, daß Haack nicht geisteskrank gewesen sei oder ist. Er konnte sich dabei auch auf einige Tatsachen. aus dem Verhandlungstermine selbst beziehen. Haack reagierte öfters auf Fragen, durch deren Beantwortung er sich wohl entlasten zu können glaubte, ließ aber alle ihm un- bequemen Fragen beharrlich unbeachtet. Er vermochte auch seine Unruhe nicht zu unterdrücken, als ein Straf- gefangener, der längere Zeit mit ihm die Zelle geteilt hatte, aussagte, Haack habe im anvertraut, daß er den Umland hätte umbringen müssen, da dieser ihn sonst verraten haben würde.
Nach einer sehr erschöpfenden fünftägigen Verhandlung gaben die Geschworenen am 20. März 1878 ihr Verdikt auf Mord ab und der Gerichtshof verurteilte den Haack zum Tode und Ehrverlust. Die gegen dieses Urteil er- hobene Nichtigkeitsbeschwerde wurde verworfen. Auch ein an den Senat der freien und Hansestadt Hamburg gerichtetes Gnadengesuch wurde am 17. Mai 1878 zurlick- gewiesen.
Der Fall Umland. 269
Als ihm dies durch den Gefängnisdirektor eröffnet wurde, blieb er ganz gelassen und meinte geringschätzig, sterben müßten ja doch alle, und auf die paar Jahre früher komme es ihm auch nicht an. Auch ferner schien er Reue nicht zu empfinden und ganz gefühllos zu sein; er scherzte mit seinen Wächtern und bat dieselben sogar, mit ihm „Sechsundsechzig* zu spielen. Einem scharfen Beobachter aber konnte es nicht entgehen, daß der Delin- quent durch das zur Schau getragene Wesen eine innere Angst zu verdecken und seine Umgebung zu täuschen suchte. Wenn er sich mit den wachhabenden Konstablern unterhielt, dann lag doch etwas Gezwungenes in seinen bleichen Zügen, während das dunkle aufgerissene Auge in unheimlichem Glanze eine fieberhafte Erregung verriet. Haack, der sich erst heftig gegen den Verkehr mit der Geistlichkeit gesträubt hatte, ließ sich am 20. Mai willig die Sterbesakramente reichen und zeigte sich dem milden Zuspruche zweier Pfarrer zugänglicher. Er bat, allerdings nach langem Zaudern, einen der frommen Herren, doch seinem in der Nähe Königsbergs wohnenden Vater schonend zu schreiben, er möge seinen Sobn vergessen; der Tod sei wohlverdient und er, der Schuldige, litte ihn gefaßt. — Als ihm die Sterbesakramente gereicht worden waren, kniete er aus eigenem Antriebe zu längerem Gebete nieder und schien von Andacht erfüllt zu sein. Dann legte er sich gegen 11 Uhr abends nieder und schlief bis 2 Uhr. Gegen Morgen erschien mit dem Verteidiger der Ober- staatsanwalt Dr. Braband, der den Verurteilten durch seine eindringlichen und ermahnenden Worte in tiefe Bewegung versetzte, ja zu Tränen rührte. — Als man Haack fragte, ob er noch irgend jemanden zu sehn wünsche, verneinte er das und wehrte namentlich die Zumutung, die Allweld noch einmal zu sehen, heftig ab; er verlöre — so meinte er — den Verstand, wenn ihm diese Person zu Gesicht käme!
270 Büttner. Der Fall Umland.
Am Morgen des 21. Mai 1878 um 6 Uhr wurde der Verurteilte aus der Zelle, in der die dem Tode verfallenen Verbrecher die letzte Nacht zubringen, zum letzten Gange auf den Gefängnishof geführt. Ein Kaplan mit dem Kru- zifixe ging vorauf; ihm folgte zwischen den beiden Geist- lichen der Delinquent mit einem Rosenkranze in den Händen, gefaßtund aufrecht; einige Polizeibeamte schlossen den traurigen Zug. Das Armesünderglöckchen läutete. Als Haack die schwarz behangene Guillotine erblickte, verließ ihn die Fassung; die Beine versagten den Dienst und die Geistlichen mußten ihn stützen. Nachdem das Urteil und der Entschluß des Senats, vom Begnadigungs- rechte keinen Gebrauch zu machen, verlesen waren, über- gab der Oberstaatsanwalt dem Scharfrichter den Verur- teilten, der von den Scharfrichtergehülfen die Stufen des Schaffots hinaufgebracht werden mußte und in wenigen Sekunden auf der Guillotine festgeschnallt wurde. Ein Druck auf den Knopf, das Fallbeil sauste nieder; der an Umland begangene Mord war gesühnt. |
Zwei Geisteskranke, Von Geheimem Justizrat Siefert, Weimar.
I. Diebstahl.
Auf Grund seines Geständnisses wurde im Januar 1904 seitens der Staatsanwaltschaft Weimar gegen den Sohn der aus Bromberg stammenden Friseur-Eheleute Q. zu Berlin, den 26 Jahre alten, nicht vorbestraften Schrift- steller G. die Anklage erhoben, zu Weimar am 12. Januar 1904 der Ausstellung für Kunst und Kunstgewerbe folgende, dieser gehörige Gegenstände im Gesamtwerte von 635 Mk. nämlich zwei eingelegte Vasen, Wert 175 Mk., ein kleines, silbernes, japanisches Räuchergefäß, Wert 250 Mk., zwei japanische Satsumavasen, Wert 100 Mk. bez. 80 Mk, ein Elfenbein-Falzbein, Wert 30 Mk, in der Absicht rechts- widriger Zueignung weggenommen zu haben.
G. war seit dem 5 Januar bei einem ihm befreunde- ten Kaufmann in Weimar aufhältlich gewesen, um bei Sr. Königl. Hoheit dem Großherzoge eine Audienz zu erlangen und sich um eine Stellung zu bewerben; die Audienz war ihm am 12. Januar gewährt worden. Nach derselben be- gab er sich in die oben gedachte Ausstellung, wo er in zwei Räumen die obigen Gegenstände an sich nahm. Da das Fehlen der Sachen bemerkt und zur Feststellung des Tatbestandes die Polizei herbeigeholt wurde, erging an G. die Aufforderung, sich in einem Hinterzimmer untersuchen zu lassen. Hier bezeichnete nach Angabe des Polizei-
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beamten G. sich als den Dieb und gab die in den Taschen seines Mantels verborgenen Gegenstände wieder heraus. Auf der Polizei erklärte er: „Ich bin kein Sammler der- artiger Kunstgegenstände und kann tatsächlich nicht sagen, warum ich mich so vergessen konnte.“
Auf die öffentliche Klage, die ihm am 4. Februar zu- gestellt wurde, erklärte er an demselben Tage: „Ich be- haupte — gestützt auf meine bisherige Führung im Leben, auf mein Nichtbestraftsein und meine guten Leumunds- zeugnisse —, die mich quälende und von mir selbst tief bedauerte Tat nur in einem Zustand gestörter Seelentätig- keit getan zu haben.“
Dabei bezog er sich auf das Gutachten des Professors Mendel und des Dr. Bierbach in Berlin. Da jedoch seine Behauptung, daß er bei der Ausführung der Tat unzu- rechnungsfähig gewesen sei, durch nichts unterstützt war, wurde ohne vorgängige Beweiserhebung das Hauptver- fahren gegen ihn eröffnet und Termin zur Hauptverhand- lung anberaumt. Jetzt beantragte ein Verteidiger, den Termin wieder aufzuheben und von den genannten Ärzten: schriftliche Gutachten einzuziehen, auch die in dem Schrift- satze benannten Personen als Zeugen zu hören, falls dies dem Gerichte zur Feststellung des objektiven Tatbestandes über die Persönlichkeit und den Geisteszustand des Ange- klagten erforderlich erscheine. Diese Personen waren In- genieur Th., Buchhalter J., Korrespondent Sch, Porträt- maler W., Frau Geh. Regierungsrat B. Beigefügt war ein Zeugnis des praktischen Arztes Dr. Bierbach. Dr. B» hatte ausweislich dieses Zeugnisses G. am 20. Januar 1904 einer genauen Untersuchung unterzogen und war am 22. Januar 1904 in Gs. Wohnung mit Professor Mendel zu. einer weiteren Untersuchung und Konsultation zusammen gekommen. Es heißt in dem Zeugnisse: „Das Ergebnis dieser Untersuchungen ist das, daß ich Herrn G. für einen an epileptischen Anfällen leidenden Mann halte, der die in
Zwei Geisteskranke. I. Diebstahl. 273
Frage stehende Tat in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistes- tätigkeit begangen hat.“
Im weiteren Verlaufe des Prozesses wurde G. in der Irrenheilanstalt zu Jena beobachtet und schließlich auf Grund des $ 51 StGB. freigesprochen.
Über den fraglichen Vorgang in der Kunstausstellung äußert sich G. gegenüber den Irrenärzten wie folgt: „Er sei auf dem Rückwege von der Audienz beim Ausstellungs- gebäude vorbei gekommen und in dasselbe eingetreten, er erinnere sich, daß er mit der Billetverkäuferin gesprochen und zunächst die gesamten Säle durchschritten, dann sich Einzelheiten zu betrachten begonnen habe.“ Für das Weitere behauptet er Erinnerungsdefekt. Er weiß nicht genau, ob er schon wieder bei klarem Bewußtsein war, als der Kriminalschutzmann ihn aufforderte, die Visitation an sich vornehmen zu lassen. Doch sagt er: „Wäre ich schon vorher wieder bei Bewußtsein gewesen, dann hätte ich die Gegenstände in meiner Tasche bemerken müssen und hätte dieselben alsbald zurückgeliefert. So aber be- merkte ich dies erst, nachdem der Herr mich angesprochen hatte. Ich hatte wohl gehört, daß jener Herr bestimmte Worte mit mir sprach; ganz klar wurden mir dieselben aber erst, nachdem ich einige Schritte auf- und abgegangen war und dabei bemerkte, daß meine Taschen ganz voll gepfropft waren. Für die Folgezeit kann ich mich dann aller Einzelheiten genau entsinnen.“
Irgend welche sichere Syptome, welche für Epilepsie oder Hysterie sprachen, lagen nicht vor. Dagegen waren bei G. sowohl vor als nach der Tat Zustände beobachtet worden, bei denen gleichfalls „das Bewußtsein für kürzere oder längere Zeit getrübt oder aufgehoben war“. Aller- dings hatte er bei keiner solchen Bewußtseinsstörung eine mehr oder weniger komplizierte Handlung begangen. Doch
sagt der Psychiater: „Unsere Erfahrung lehrt uns aber, Der Pitaval der Gegenwart. II. 20
274 Siefert.
daß bei demselben Individuum Anfälle von einfach ge- trübtem Bewußtsein, wie sie sich als leichte Ohnmachts- anfälle darstellen, durchaus nicht selten neben solchen vor- kommen, in denen die kompliziertesten Handlungen be- gangen werden. Ich stehe daher nicht an, jene Anfälle und den Anfall in der Kunstausstellung als in dieselbe Kategorie gehörig zu erklären.“
Zu wiederholten Malen wurde G. in der Klinik, in der er sich vom 16. Mai bis 13. Juni 1904 befand, von heftigem Nasenbluten heimgesucht. Auch am Morgen des 1. Juni 1904 hatte er heftiges Nasenbluten. Bei der ärztlichen Visite klagte er über heftige Kopfschmerzen. Nachmittags wollte er mit einigen Patienten einen Spaziergang unternehmen. Um 31» Uhr fand man ihn leichenblaß mit merkwürdig verzogenem Gesichte in der Ecke seines Zimmersofas: wie schlafend vor. Auf wiederholtes lautes Anrufen reagierte er in keiner Weise. Nach etwa 10 Minuten schlug er die Augen auf. Nachdem man ihn alsbald ins Bett gebracht hatte, fing er heftig zu schluchzen an, ohne auf Befragen einen Grund dafür angeben zu können. Er klagte dann noch eine Stunde lang über heftige linksseitige Kopf- schmerzen, dann erst erklärte er, sich wieder ganz wohl zu fühlen. Nachträglich gab er an, während er in der Sofaecke gesessen hätte, wäre es ihm plötzlich schwarz und blau vor den Augen geworden, er hätte einen Schwindel- anfall verspürt; was dann weiter gewesen wäre, wüßte er nicht. Am 4. Juni ging er in Begleitung eines Patienten in die Stadt; sie kehrten in einer Wirtschaft ein, wo G. ein Glas leichten Bieres trank. Mitten in der Unterhaltung bemerkte sein Begleiter plötzlich, daß G. leichenblaß wurde, am ganzen Körper zu zittern anfing. Das Bewußtsein verlor er bei dieser Gelegenheit nicht. Der Begleiter führte ihn sofort an die frische Luft und er konnte mit leichter Unterstützung den zehn Minuten Auen Weg nach der Klinik zurücklegen.
Zwei Geisteskranke. I. Diebstahl. | 275
Buchhalter J., der seit Oktober 1903 mit G. in inti- meren Verkehr trat, hat angegeben: Anfangs Februar 1904 seien beide in einem literarischen Zirkel in einem Wirtschafts- lokale mit anderen Herren zusammengekommen. G., der etwas aus seinen Dichtungen vortragen sollte, erklärte sich infolge des Milieus dazu außerstande. „Die Gleichmäßig- keit der Tischordnung und die Kahlheit der Wände wirkten vollkommen ablenkend auf ihn ein.“ Als er dann unter heftiger Erregung doch mit dem Vortrage begann, warf er plötzlich das Buch bei Seite, sprang auf und erklärte mit lauter und zitternder Stimme seine Unfähigkeit. Als ihm dann. einer der Anwesenden einen Bierfilz zuwarf, brachte ihn dies von neuem in Aufregung, so daß er u. A. er- klärte: „Mich kann überhaupt niemand beleidigen, dazu stehe ich viel zu hoch.“ Nach dieser Äußerung sank er in sieh zusammen und zitterte heftig an den Gliedmaßen. — Es scheint dies derselbe Vorfall zu sein, von dem Korrespondent Sch. erzählt: G. habe sich darüber geärgert, daß die Tische des Versammlungslokales mit roten Tisch- tlüichern belegt und mit Biergläsern bestellt waren, weil er es nicht für ästhetisch und passend hielt, daß die lite- rarische Vereinigung in einem derartigen Lokale stattfand, insbesondere seine Dichtungen hier zum Vortrage gelangten. Auch Ingenieur Th, der G. mindestens schon 3 Jahre kannte, erwähnt diesen Vorgang, der sich ereignet habe, nachdem sie sich vorher.in den Wohnungen der Vereins- mitglieder versammelt hatten. Als Zeit gibt Th. etwa November 1903 an. Er sagt: „Plötzlich sprang der An- geklagte auf und erklärte: Das paßt mir nicht, daß die Tischtücher rot gemustert und die Gläser in einer Reihe auf dem Tische aufgestellt worden sind.“
Der Korrespondent Sch., der seit zwei Jahren häufig in Gesellschaft mit G. zusammen war und ihn als einen sehr leicht erregbaren Menschen kennen gelernt hatte, er-
zählte einen weiteren nach der Tat stattgehabten Vorfall 20*
276 Siefert.
aus Februar oder März 1904. Die Mitglieder der literari- schen Vereinigung waren bei einem Herm Goldschmid versammelt, der G. einem Dritten gegenüber beschuldigt hatte, ihm ein Buch genommen zu baben. G. erfuhr dies und stellte Goldschmid in einem Nebenzimmer über diese Bezichtigung zur Rede. Dann stand er mit Sch. am Fenster und hörte der Vorlesung zu. Plötzlich fiel G. um, er sah sehr bleich aus, hatte die Augen geschlossen, sein Gesicht war mit Schweiß bedeckt. Goldschmid hat seine Bezichtigung zurückgenommen. Denselben Vorfall hat auch Ingenieur Th. erwähnt, der aber auch hier die Zeit desselben vor die Tat verlegen möchte, etwa Dezember 1903. Er sagt, daß die Äußerung Goldschmids über G. diesem mitgeteilt worden sei und fährt dann fort: „Der Angeklagte, der bis dahin sehr vergnügt war, ging stillschweigend an das Fenster und hielt sich dort hinter der Gardine versteckt auf. Nach einer Weile kam ein anderer Herr, der nach ihm gesehen hatte, mit ihm hinter der Gardine vor. Der Angeklagte war in Ohnmacht verfallen und sein Gesicht mit Schweiß bedeckt. Er wurde von zwei Personen hin- ausgeführt und kam nach längerer Zeit wieder hinein, nachdem er zu sich gekommen war. Er sah sehr bleich aus und sprach nur wenig. Ich bemerke noch, daß der Angeklagte immer sehr blaß und angegriffen aussah“. Die Mitteilungen der Frau Geh. Regierungsrat B. sind ohne scharfe Zeitfeststellungen. Der erste Fall spielt „be- reits“ im Winter 1903/1904, für den zweiten ist Dezem- ber 1903 angegeben, der Dritte liegt später. Sie lernte ihn ein Jahr vorher bei einer Wohltätigkeitsversammlung kennen. Als damals einer Vorstandsdame ein Bukett überreicht wurde, bekam er einen Weinkrampfanfall und ging hin- aus. Später im Winter war er im B.schen Salon mit an- deren Personen zusammen. Plötzlich bemerkte Frau B. dab G. da saß, das Gesicht mit der Hand bedeckend, die Zähne auf einander beißend. Auf Anreden reagierte er
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nicht, bis er nach einer Weile aufstand, das Balkonfenster öffnete, „Luft, Luft“ rief und fortging. G. sah kreidebleich aus, alles Blut war aus seinem Gesichte gewichen. Im Dezember 1903 bat er Frau B. „aus bedrängtem Herzen, an sein Krankenbett zu kommen“. Er sah sehr schlecht aus, erklärte aber, es fehle ihm nichts, er wolle nur keinen Menschen sehen und nicht mehr aus dem Zimmer gehen. „Schließlich — sagt Frau B. — fand ich ihn eines Tages in einem anderen Hause wieder, die Hand über das Gesicht gedeckt, mit zusammengebissenen Zähnen sitzend. Auf meine Anrede reagierte er wiederum zuerst längere Zeit gar nicht. Als er zu sich kam, teilte ich ihm mit, daß ein Minister seine Bekanntschaft machen wolle, und stellte ihm vor, daß ihm das doch nützlich sein könne. Erst weigerte er sich überhaupt mitzukommen, indem er wieder erklärte, keinen Menschen sehen zu wollen; schließlich kam er mit, sprach jedoch kein Wort und setzte mich dadurch, da ich ihn dem Minister auf seinen Wunsch vorgestellt hatte, in die größte Verlegenheit“.
Der Porträtmaler W. bekundete: „Ich habe den Ange- klagten im Winter 1902/3 kennen gelernt und sodann häufig mit ihm verkehrt, ihn in den Verein Berliner Künstler, in meine und andere Familien eingeführt. Ich habe den Angeklagten wohl als leicht erregbaren nervösen äußerst empfindsamen Menschen kennen gelernt. Körperlich ist mir an ihm aufgefallen, daß er zuweilen Nasenbluten be- kam. Abnormale Zustände der Erregbarkeit, Ohnmachts- anfälle u. dergl. habe ich nicht beobachtet.“
Wie schon erwähnt worden ist, hat der Psychiater die sonst festgestellten Fälle und den „Anfall in der Kunst- ausstellung“ als in dieselbe Kategorie gehörig erklärt. „Diese Anfälle von Bewußtseinsstörung kommen, sagt er weiter, als Anfälle sui generis bei schwer neuropathischen Personen vor. Bei G. haben wir es mit einem schwer neuropa- his chen Menschen zu tun. Abgesehen davon, daß bei
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ihm eine gewisse Erblichkeit vorliegt, kommt eine ganze Reihe schwerer Schädlichkeiten in Frage, welche nach und nach auf das Nervensystem des Exploraten in ungünstigster Weise eingewirkt haben.“
In den ersten Lebensjahren hat sich G. körperlich und geistig gut entwickelt. Seine Erziehung war eine sehr strenge. Vielleicht durch diesen Umstand sowie dadurch, daß er das einzige lebende Kind seiner Eltern war, be- günstigt, war er seiner Umgebung gegenüber abgeschlossen, sehr wenig mitteilsam. Als Knabe von 9 Jahren machte er eine schwere Scharlacherkrankung durch. Im Alter von 12 Jahren erlitt er einen schweren Unfall, indem er von einem Mitschüler eine Treppe herabgestoßen wurde und bis zum nächsten Treppenabsatz stürzte, wo er besinnungs- los liegen blieb. Er trug eine Wunde am Hinterkopfe da- von. In den Jahren 1888, 1889, 1890 brachte er, da er blutarm war, die Ferien in Kinderheilstätten an der deutschen Seeküste zu, im Alter von 13 Jahren überstand er Typhus. Seine Schulbildung genoß er in einer Berliner Gemeindeschule; er wollte ein Gymnasium besuchen, doch sein Vater nahm ihn als Lehrling in sein Perrückenmacher- geschäft. Bei den infolge dessen unausbleiblichen Miß- helligkeiten zwischen Eltern und Sohn zeigte letzterer ein maßlos rechthaberisches aufgeregtes namentlich der Mutter gegenüber ungezogenes und schroffes Wesen. In dem Ge- werbe selbst brachte er Musterleistungen hervor. Nach sehr gut bestandener Gesellenprüfung ließ er sich als Perrückenmacher in Montreux nieder; seine freie Zeit be- nutzte er. dazu, die englische und französische Sprache zu erlernen. Dann ging er nach Genf, wo es ihm gelang; durch kleinere, schriftstellerische Versuche bei einigen Zeitungen als Mitarbeiter anzukommen. Noch nicht 20 Jahre alt, unternahm er mit einem jungen Italiener eine Reise durch Italien, welche er gegen festes Honorar in einer Zeitung beschrieb. Schwere Fieberanfälle nötigten ihn, das Albert-
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hospital in St. Johann aufzusuchen, wo er zunächst an Malaria, dann an einer neuen Typhusinfektion 12 Wochen lang krank lag. Psychisch und körperlich heruntergekom- men, kehrte er Weihnachten 1897 zu seinen Eltern zurück. Dann wandte er sich nach Bremen, wo er in einem größeren Geschäfte seiner Branche als Verkäufer und Korrespondent Stellung fand. Daneben beschäftigte er sich bis spät in die Nächte mit dem Studium griechischer und römischer Philosophen in der Übersetzung und mit naturwissenschaft- lichen Studien. Infolge erneuten Auftretens heftiger Fieberer- scheinungen kehrte er nach Berlin zurück und bestand hier die Prüfung zur Berechtigung für den einjährig-freiwilligen Militärdienst. Wegen einer Beinverletzung bei einem Rad- fahrunfall wurde er jedoch vom Militär ausgemustert. Nunmehr folgte die schwerste Zeit für ihn. Als Volontär bei den „Berliner Neuesten Nachrichten“ hatte er eine sehr anstrengende journalistische Tätigkeit. Daneben setzte er aber seine Studien auf den Gebieten der Philosophie, Theo- logie, Naturwissenschaft, Nationalökonomie fort, und lebte tagelang nur von Kaffee und Tabakgenuß. Allmählich gelang es ihm, sich durchzuringen; er fand Anerkennung seiner Arbeit und damit en) seiner pekuniären Verhältnisse.
In der Jenaer Klinik zeigten. Empfindungs- und Ge- dankenleben keine Störung, die Stimmung war dagegen deutlichen erheblichen Schwankungen unterworfen. Über- wiegend trat die Neigung zu gemütlicher Verstimmung hervor. Schon geringfügige Reize genügten, um unverhält- nismäßig lebhafte Affektentladungen, namentlich trauriger oder zorniger Art auszulösen, z. B. bedurfte es nur der Er- wähnung von Einzelheiten aus seiner schweren Studien- zeit, um ihn in die heftigsten Tränen ausbrechen zu lassen. Unvermittelte Übergänge zu Perioden mehr heiterer Stim- mung wurden nicht beobachtet. Er gab den Ärzten an, daß er im Laufe der Zeit mehr und mehr an allgemein
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nervösen Störungen gelitten habe. Im Vordergrunde hatte eine periodische Schlaflosigkeit stattgefunden. Dieselbe hatte sich einerseits in völligem Mangel an Schlaf geäußert, andererseits darin, daß er, wenn er einschlafen konnte, durch unruhige Träume aufgeschreckt wurde. Nächst der periodischen Schlaflosigkeit wurde er besonders durch all- gemeine heftige Kopfschmerzen gequält. Die Folge war auf der einen Seite Gefühl der Abgespanntheit, Unlust zu jeder körperlichen und geistigen Tätigkeit, gesteigert bis zur völligen Apathie, auf der anderen Seite eine maßlose Reizbarkeit.
Im Anschlusse an die von den Zeugen angegebenen Ohnmachten entsann er sich einer Reihe von Fällen, welche sich in seiner Wohnung zugetragen haben sollten. Es wäre ihm z. B. wiederholt zugestoßen, daß er gar nicht bemerkt hätte, wenn seine Wirtin oder eine andere Persönlichkeit das Zimmer betreten und ihn selbst aus nächster Nähe an- gesprochen hätten. Das hätte nicht etwa darauf beruht, daß er tief in Gedanken versunken gewesen wäre, sondern es müßte wohl vielmehr eine Art Schwindelanfall gewesen sein, Diese Anfälle wären namentlich dann aufgetreten, wenn er seine periodische Schlaflosigkeit und einseitigen Kopfschmerzen gehabt hätte. Er hätte jedesmal nach den- selben das Gefühl gehabt, daß irgend etwas Besonderes mit ihm vorgegangen sein müsse, ohne sich darüber recht klar werden zu können, ob und inwieweit der Alkohol eine Rolle bei dem Zustandekommen jener Anfälle gespielt ‚habe. Er wußte nur soviel, daß er schon nach 1—2 Glas Bier oder Wein sehr gesprächig wurde, die Gedanken flögen ihm nur so zu. Aber schon sehr bald danach hätte er eine deutliche Erschwerung der Denktätigkeit bemerkt, ‚er wäre müde geworden und abgefallen.
Der anderen, von den Zeugen bekundeten Vorfälle -konnte G. nach seiner Angabe sich nicht entsinnen. Jeden- falls waren die Zeugen aber doch von ihm selbst dem
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‘Verteidiger angegeben worden, ehe dieser sie benennen konnte.
Der Psychiater fabte sein Gutachten schließlich dahin zusammen: „Das schwere Schädeltrauma im Alter von 12 Jahren, die verschiedenen schweren Infektionskrank- heiten wie Scharlach, zweimal Typhus, Malaria haben auf sein Nervensystem ungünstig eingewirkt. Wenn man in Betracht zieht, unter welchen ungünstigen Bedingungen er ‚gerade in den Entwicklungsjahren die größten Anforderun- gen an seine geistige und körperliche Leistungsfähigkeit gestellt hat, obwohl er durchaus keine hervorragend veran- lagte Natur war, wird man begreifen, daß er über kurz oder lang Schaden nehmen mußte. Wenn wir gesehen haben, wie schon verhältnismäßig leichte äußere Reize ge- nügten, um schwere Störungen zu veranlassen, sei es nun in Form von Affektentladungen oder jener Bewußtseinstrü- bungen, und bedenken, in welch hochgradiger Spannung und Erwartung er sich an jenem Tage befand, welcher über seine Zukunft eine Entscheidung bringen sollte, dann werden wir über das Moment, welches jenen Anfall im ‘Museum auslöste, nicht im Unklaren sein.“
Das Gericht hat sich dieser Argumentation nicht ent- ziehen können. Gern hätte man noch erfahren, welche Be- obachtungen der Schutzmann am 12. Januar an G. gemacht hatte und wie Goldschmid die Bezichtigung wegen des Buch- diebstahls begründete. Auch wäre eine genauere zeitliche Feststellung der von den Zeugen bekundeten Vorgänge er- wünscht gewesen, um sicher zu erkennen, was vor usr Tat geschah und was nachher.
Ein Mitglied des Kuratoriums für das Museum teilte mir nach Einsicht der gegenwärtigen Darstellung mit, daß er geholt worden sei, weil im ersten Stockwerke Sachen gestohlen worden seien und jemand verdächtig sei, dessen Überziehertaschen sehr aufgebauscht seien. Der Ver- dächtige habe sich entfernen wollen, sei aber auf die
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Eröffnung, daß niemand das Gebäude verlassen dürfe, ohne ein Wort der Erwiderung die Treppe hinauf in das erste Stockwerk gestiegen. Er sei dann in ein hinteres Zimmer eingeladen worden, er habe genau gewußt, wo er die ein- zelnen Sachen untergebracht hatte, und wenn er nach einem bestimmten Gegenstande gefragt wurde, ohne Zögern nach der betreffenden Tasche gegriffen. Bei der Wegnahme der Sachen habe er Veranstaltung getroffen, die Lücken wieder auszufüllen. Nachmittags sei er der Einladung einer vor- nehmen Dame gefolgt und dort in keiner Weise aufgefallen.
II. Raubmordversuch.
Am Weimarer Vogelschießen im Jahre 1887 war der Handelsmann Emil Ulrich aus Dessau als Rekommandeur in einer Schaubude beschäftigt gewesen. Nach Schluß des Festes, am 9. August, wollte Ulrich sich wieder auf die Wanderschaft begeben. An dem nach Erfurt führenden Wege liegt? — damals am Ausgange der Stadt — die Herberge zur Heimat, in welcher er nachmittags nach 1 Uhr einkehrte. Er führte einen Zigarrenkasten und einen etwas größeren Kasten bei sich; in denselben befanden sich Wurzeln, mit denen er Handel trieb. Beide Kästen waren verschnürt und durch Bindfaden zusammengebunden. Er war im Besitze von 2 Mk., welches Geld er bis auf 31 Pfg. verbrauchte.
In der Herberge fand Ulrich einen älteren lebhaften Mann vor, der sich Warz aus Nöda nannte, viele Kriege und eine Reihe von Seeschlachten in Haiti und Australien mitgemacht haben wollte. Ulrich teilte ihm von seinem Mittagsessen mit, gab ihm Bier und erzählte ihm, daß er bis nach Vieselbach gehen und von da nach Erfurt fahren wolle. Der angebliche Warz trug Frauenzeugschuhe, die über der Spanne aufgeschnitten waren; das linke Bein
Zwei Geisteskranke II Raubmordversuch. 283
war von unten bis an das Knie mit einer Wolga um- wickelt.
Kurz vor 3 Uhr brach Ulrich auf, der alte Mann folgte ihm. Sein Weg führte ihn bald am Bahnhofe der Weimar—Berkaer Eisenbahn vorbei, letzteren links lassend. Rechts vom Wege stehen einige Bäume; Ulrich verspürte Müdigkeit und legte sich in den Schatten, die Kisten, seine Mütze und seine Stiefeln neben sich legend. Dann schlief er ein.
Unweit des gedachten Hölzchens überschreitet ds vom obigen Bahnhofe nach dem Thüringer Bahnhofe führende Geleis die Chaussee. An dieser Stelle kam gegen 4 Uhr der auf Wanderschaft befindliche Buchbinder Kloth vorbei, welcher beobachtete, wie ein Mann mit einer bedeutenden Kopfwunde auf dem Bahngeleise sich nach dem Bahnhofe zu bewegte. Der Mann war obne Besinnung und wurde von Kloth zur Polizei geführt. Es war Ulrich. In dem Hölzchen fand dann der Polizeiinspektor eine etwas ver- trocknete Blutlache von Handgröße und 50 cm davon einen halben Bogen braunen Packpapieres, unter diesem aber ein zweite Blutlache, doppelt so groß wie die andere. Unweit davon lagen am Gebüsche zwei Steine, ein klei- nerer angelehnt an einen größeren. Nach Wegnahme des kleineren Steines zeigte der größere an seiner verdeckt gewesenen Breitseite, namentlich aber auf seiner Schmal- seite und Kante, Blut und Menschenhaare. Die Haare rührten von Ulrich her. Es war kein Zweifel, daß der größere Stein dem schlafenden Ulrich auf den Hinter- kopf geworfen worden war. Wurf und Stein waren dazu angetan, den Kopf zu zerschmettern; der Stein fiel aber auf den Hinterkopf da auf, wo derselbe sich nach dem Genick zu einzieht, und glitt mit seiner scharfen Kante — das Fleisch, die Knochenhaut und griesige Knochenteilchen abschälend — an der Schädeldecke nach dem Nacken zu ab. Der Blutverlust Ulrichs war sehr bedeutend. Die
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Steine stammten von dem Steinmaterial auf der Chaussee her. Hier hatte der Arbeiter Berndt nach 3 Uhr einen alten Mann mit defektem Beine beobachtet. Er war aus der Stadt gekommen, hatte sich eine gute Viertelstunde lang auf der Chaussee aufgehalten und war dann nach der „Lausebank* (in dem oben erwähnten Hölzchen an- gebracht) zu gegangen. Dabei hatte er etwas unter dem Arme. | |
Als Ulrich aufwachte, bemerkte er, daß er in einer großen Blutlache lag. Ihm fehlten seine Kopfbedeckung und die beiden Kistchen.
Der Verdacht dieses Raubmordversuches fiel auf einen alten Mann, der am Nachmittage vom Fleischer Bauch gesehen worden. war, wie er, aus der Richtung der Lause- bank kommend, durch ein Haferfeld gegangen war und dann auf der Chaussee nach Tröbsdorf zu schritt. In Tröbsdorf vertauschte er beim dortigen Bäcker die Frauen- schuhe, in der achten Abendstunde kehrte er im Tröbs- dorfer Gasthofe ein. Am Morgen des 10. August trat er in Hopfgarten auf, wo er sich damit einführte, daß er einem kleinem Mädchen ein Fünfzigpfennigstück abnahm, sich in das Wirtshaus begab und das Geld vertrank: Hier wurde er auf den gegen den Raubmörder erlassenen Steck- brief hin verhaftet. Der Grund dazu wurde ihm zwar nicht angegeben, er sagte aber sofort:
„Ich habe niemand totgeworfen. Mögen sie den ver- urteilen, der der schuldige Teil ist.“
Der Mann war die von Berndt und Bauch wahrge- nommene Person und der in der Herberge zur Heimat aufgetretene angebliche Warz. In seinem Besitze waren Ulrichs Mütze und ein Teil der Wurzeln Ulrichs; in dem Haferfelde, welches der von Bauch Beobachtete durch- schritten hatte, wurde seine Mütze gefunden.
Er wollte mit Ulrich zusammen aus der Herberge zur Heimat weggegangen sein. „Nach etwa einer Viertelstunde
Zwei Geisteskranke. II. Raubmordversuch. 285
— sagte er — legten wir uns beide schlafen. Ich hatte aber starke Schmerzen an meinem Beine und habe eher den Schlafplatz verlassen, als Ulrich, und habe eine Quelle aufgesucht, um mir mein Bein zu waschen. Auf dem Wege dahin begegnete mir ein großer starker Mann mit Vollbart, der mich attackierte, hierauf aber schnell fort- sprang, nachdem er mich erschreckt hatte durch Zuwerfen eines Tuches ins Gesicht.“
Später stellte er den Vorfall etwas anders dar. „Ich bin eher weiter gegangen, da mich mein Bein schmerzte ... Ich ging einen Separationsweg, ich bekam plötzlich Krämpfe und mußte mich hinlegen. Plötzlich kam ein fremder großer Mann, der dem Transporteur aus Hopfgarten sehr ähnlich sah, kniete auf mir, zog mir meine Kleider aus, nahm sie an sich und warf mir ein paar von seinen hin und riß dann aus und ließ mich nackt liegen. ... Als er fort war, zog ich die hingeworfenen Kleider an, in diesen Kleidern bin ich dann ergriffen worden. Die Wurzeln, die man mir abgenommen hat, waren von dem Mann in Lumpen gebunden, sie wurden mir mit von ihm hingeworfen. Ich habe, ohne die Lumpen anzusehen, es mitgenommen.“
Die Kleider, welche der Verhaftete trug, waren offen- bar Eigentum einer Anstalt, ein Teil derselben trug den StempelM.S.A. Mit Bezugnahme hierauf verlautbarte er, wohl auf einen Vorhalt des Untersuchungsrichters, noch folgendes:
„Ich muß behaupten, daß der fremde Kerl ein Meininger war, denn in seinen Kleidern waren Stempel, die Meiningen- sche Herkunft ergaben.“
Untersuchungsrichter und Staatsanwalt waren der Mei- nung, daß Anlaß vorliege, die Zurechnungsfähigkeit des Verdächtigen zu erörtern, der Landgerichtsarzt aber erklärte, daß derselbe nicht geisteskrank oder schwachsinnig sei. „Sowohl heute (12. August) als auch in der vor einigen Tagen mit ihm gepflogenen Unterredung hatte er ein gutes Gedächtnis für alle Momente aus seiner jüngsten Vergangen-
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heit, insofern dieselben nicht mit dem ihm zur Last gelegten: Verbrechen in Zusammenhang zu stehen scheinen. Sobald das Verbrechen selbst irgendwie in Frage kam, wußte er in ganz geschickter Weise und mit ganz verändertem Aus- drucke seiner Augen andere Ideen vorzubringen, und nur auf scharfes Zureden erzählte er den angeblichen Tatbestand in einer Weise, die den Gedanken an Schwachsinn bei ihm nicht gestattet.“
Inzwischen war die Staatsanwaltschaft auf der Suche nach der Anstalt, aus der die Kleider des Untersuchungs- gefangenen stammten. Aueh die Presse bemächtigte sich des Falles. Da traf ein Schreiben der Provinzialirrenanstalt zu Alt-Scherbitz, d. d. 17. August 1887, ein, in welehem gesagt wurde, daß es sich bei dem angeblichen Warz un- zweifelhaft um einen Geisteskranken, namens Heinrich Christoph Rödger aus Walschleben handele, der sich seit 10. Juni 1852 in der Provinzialirrenanstalt zu Nietleben befunden habe und von dort am 15. November 1886. in das Siechenasyl zu Alt-Scherbitz versetzt worden, jetzt aber entwichen sei. Bei einer früheren Flucht aus der Niet- lebener Anstalt habe sich Rödger ebenfalls Warz genannt und die Kleidungsstücke der Kranken des Siechenasyls in Alt-Scherbitz seien M.S. A. (Männer-Siechen-Asyl) gezeichnet. Ein Wärter der gedachten Anstalt rekognoszierte dann: den angeblichen Warz als Rödger.
Hinterher stellte sich heraus, daß, als Rödger in Erfurt das Schuhmacherhandwerk erlernte, in derselben Werkstelle ein Geselle Warz aus Nöda arbeitete.
Später war Rödger in religiösen Wahnsinn verfallen und durch Erkenntnis vom 9. Dezember 1856 für blödsinnig erklärt worden. Jetzt wurde die Voruntersuchung ge- schlossen, Rödger nach Alt-Scherbitz zurückgebracht.
‚Die Täterschaft :des Rödger, des angeblichen Warz, war über allen Zweifel erhaben, wegen seiner Unzurech- nungsfähigkeit wurde er aber außer Verfolgung gesetzt.
Eine Ladenschwindlerin. Von Kriminalinspektor Hinsch, Hamburg.
Im Sommer des Jahres 1904 erschien in den ver- schiedensten Damenkonfektions-, Weißwaren-, Goldwaren-, Schuhwaren-, Konfitüren-und anderen Geschäften Hamburgs eine junge Dame, die sich einige Male als Frau Dr. W., dann als Frau Dr. T., Frau Dr. G., Frau Dr. R. und auch unter anderen Namen vorstellte. Sie kaufte eine größere Partie Waren oder einen teuren Schmuck und bat, diese Sachen mit der quittierten Rechnung ihr am nächsten Tage in ihre Wohnung zu senden. Unter der angegebenen Adresse wohnte in den meisten Fällen auch eine Person gleichen Namens, die aber von dem Einkauf nichts wußte; oder:der Name existierte in der bezeichneten Wohnung überhaupt nicht. Gleichzeitig kaufte die „Frau Dr.“ noch einen minder wertvollen Gegenstand, z. B. einen goldenen Ring, eiù Paar Damenschuhe, einen Kostümrock, ein Quantum Konfitüren, eine Bluse, einen Schirm oder ähnliche Sachen, die sie gleich mitnehmen wollte, deren Preis sie aber mit auf die Rechnung zu setzen bat. In den meisten Fällen glückte die List, denn die Schwindlerin schädigte auf diese Weise 23 Geschäfte, während es in 8 Geschäften, die durch Er- fahrungen gewitzigt, vorsichtiger waren und dem Verlangen auf Mitgabe der gekauften Ware moni on, ' þei einem Versuche blieb.
Die Täterin wurde überall- ie eine , Petson von mitt- lerer Statur, im Alter von annähernd 30 Jahren, mit röt-
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lichem Haar, länglich spitzem Gesicht u. sog. Karpfenmund beschrieben. Sie zeigte ein sicheres und gewandtes Auf- treten und erklärte bei Nennung ihres Namens fast immer, da sie ja als die bezeichnete Frau Dr. dort nicht bekannt sei, daß bisher ihr Mann die Einkäufe dort besorgt habe, zurzeit aber durch Abwesenheit, Krankheit oder Geschäfts- überbürdung verhindert sei.
Fast täglich wurde ein Betrugsfall der beschriebenen Art der Kriminalpolizei angezeigt; an einigen Tagen waren sogar zwei und mehrere Fälle verübt, so daß die Behörde zu besonderen Maßnahmen veranlaßt wurde und Beamte mit den speziellen Nachforschungen beauftragte. Diesen gelang es auch bald, die Schwindlerin in der Person des 20,jäh- rigen Hausfräuleins St. aus H. in einem Straßenbahnwagen zu ermitteln und festzunehmen. Auf direkten Vorhalt ge- stand sie auch sofort die ihr zur Last gelegten Straftaten ein, bemerkte aber dabei, daß sie nicht imstande sei, die Anzahl der Betrügereien anzugeben und die einzelnen Geschäfte, zu deren Nachteil sie gehandelt habe, zu nennen. Die erschwindelten Sachen habe sie teils in ihrem Logis und bei ihren Eltern oder sonstigen Verwandten untergebracht, ohne diesen die Sachen zu zeigen oder ihnen über die Herkunft derselben wahrheitsgetreue Angaben zu machen. Bei ihrer nach geschehener Vernehmung erfolgten Abführung in den Arrest nahm sie diese Angaben dahin. zurück, daß bei ihren Eltern keine ertrogenen Gegenstände untergebracht seien, sondern nur bei anderen Verwandten und Bekannten. Einen Teil der Sachen habe sie auch an Bekannte verschenkt oder auch selbst benutzt. Zu letzteren. gehörten u. a. auch die von ihr bei der Festnahme ge- tragenen Schuhe, eine an ihrem Körper gefundene Hand- tasche und ein goldener Ring. =
Am Tage nach ihrer Festnahme dem Amtsgericht zu- geführt, wiederholte sie bei ihrer dortigen Aussage die bei der polizeilichen Vernehmung gemachten Angaben, denen
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sie noch solche über ihren Aufenthalt in den letzten Monaten hinzufügte; sie gab weiter an, erst nach 14tägiger Abwesen- heit am Tage ihrer Festnahme nach Hamburg zurückge- kehrt zu sein. Als Entschuldigung für ihre Straftaten gab sie dem Amtsrichter noch an, daß ihr bei der Hitze öfter das Blut zu Kopfe steige und sie dann nicht recht wisse, was sie tue, wie ihr auch der Arzt Dr. B., der sie vor Jahren wegen dieses Leidens behandelt habe, bescheinigen könne. Auf Grund des erlassenen amtsrichterlichen Haft- befehls wurde die St. in Untersuchungshaft abgeführt, aus der sie den Untersuchungsrichter um Haftentlassung bat. Dieser Bitte fügte sie wörtlich hinzu: „Da ich meine getane Handlung ja nicht in bösartiger Weise begangen habe, sondern mein aufwallendes Blut mich zu dem sündigen Schritt getrieben hat, denich ja auch sehr bereue und für mein ferneres Leben ein stetes Mahnungszeichen sein und blei- ben wird.“ Der Antrag auf Haftentlassung wurde abgelehnt,
Nachdem die Festnahme der Ladenschwindlerin durch die Tagespresse zur allgemeinen Kenntnis gelangt war, wurden noch mehrere der Polizeibehörde bisher nicht an- gezeigte Betrugsfälle mitgeteilt.
Bei den gerichtlichen Vernehmungen bestritt sie ZU- nächst eine Anzahl der ihr zur Last gelegten Betrugsfälle, gab schließlich aber unter Tränen zu, auch diese verübt zu haben. Sie wisse aber nicht mehr, welche Namen sie in den einzelnen Fällen sich beigelegt habe. Diese habe sie auch nicht dem Adreßbuch entnommen, sondern aufs Geratewohl angegeben. Ihr Zweck sei in jedem Falle ge- wesen, Sachen für sich gleich mitzubekommen, deshalb habe sie die großen Bestellungen gemacht. Die in die von ihr angegebenen Wohnungen bestellten Waren zu er- langen, habe sie in keinem Falle beabsichtigt. Die er- schwindelten Sachen habe sie nicht weiter verkaufen, sondern für sich behalten wollen. Nur in wenigen Fällen habe sie
die Sachen verschenkt. Der Pitaval der Gegenwart. II. 21
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Zum Hauptverhandlungstermin wurde der Arzt Dr. B. als Sachverständiger geladen, der auf Grund $ 81 StPO. beantragte, die Angeklagte zur Beobachtung ihres Geistes- zustandes in eine Öffentliche Irrenanstalt zu bringen, da ihm von der Angeklagten Fälle bekannt seien, die an ihrer Zurechnungfähigkeit Zweifel aufkommen ließen.
Die Angeschuldigte hatte nämlich im Jahre 1901, 17 Jahre alt, Betrügereien gleicher Art, aber nur in einigen Fällen, verübt und es hierbei hauptsächlich auf Näschereien, wie Schokolade, abgesehen, in einem Falle sich aber auch Puder, Puderguaste u. ähnl. Sachen erschwindelt; Gegen- stände, die zur Befriedigung ihrer beginnenden Eitelkeit dienen sollten. Im vorliegenden Falle war, wie an anderer Stelle näher ausgeführt ist, dieselbe Eitelkeit die Trieb- feder ihrer Handlungen.
Um dem der Angeklagten auf ihren Antrag gestellten Verteidiger Gelegenheit zu geben, sich über diesen Antrag des Sachverständigen zu äußern, wurde die Verhandlung ausgesetzt. Der Antrag des Verteidigers ging im Einver- ständnis mit der Angeklagten dahin, diese in einer Irren- anstalt auf ihren Geisteszustand untersuchen zu lassen. Auch er, der Verteidiger, habe bei der Unterredung mit der Ge- fangenen das Empfinden gehabt, daß sie tatsächlich geistes- krank sei. Diesem Antrage entsprach ein Gerichtsbeschluß, worauf die Angeklagte der Irrenanstalt Friedrichsberg, die um ein Gutachten auf Grund $ 51 StGB. ersucht wurde, zugeführt wurde.
Inzwischen ging noch eine Mitteilung des Verteidigers ein, in welcher behauptet wurde, daß die St. von mütter- licher Seite her erblich belastet sei, da in der Familie ihrer verstorbenen Mutter mehrfach Fälle von Epilepsie vorgekommen seien.
Nach Beendigung der sechswöchigen Beobachtungs- zeit kam der Oberarzt der Irrenanstalt unterm 21. Novem- ber 1904 zu folgendem Gutachten: „Die sechswöchige Be-
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obachtung der St. hat ergeben, daß es sich um eine Kranke handelt, die an Hysterie leidet. Dafür sprechen einerseits gewisse körperliche Befunde, andererseits auf seelischem Gebiete ihre Unaufrichtigkeit, die Unfähigkeit, für ihre Handlungen verständige Motive anzugeben, die Neigung, von 'sich auffallende Sachen zu erfinden und sich sonst interessant zu machen. Es fragt sich nun, ob die Hysterie einen solchen Grad erreicht oder solche Form angenommen hat, daß die Bedingungen des $ 51 StGB. gegeben sind. Nun würden allerdings die während des Aufenthalts in der Irrenanstalt beobachteten Störungen an sich nicht ge- nügen, um bei der Angeklagten die strafrechtliche Ver- antwortung auszuschließen. Wenn wir aber die in der Vorgeschichte niedergelegten Berichte der Verwandten und Dienstherrschaften, welche nicht nur das geistige Bild der St. passend vervöllständigen, sondern auch sich einander gut ergänzen und in diesem Falle von entscheidender Wichtigkeit sind, berücksichtigen, müssen wir annehmen, daß das Seelenleben der Angeklagten derart vom normalen abweicht, daß sie für die begangenen Straftaten nicht ver- antwortlich gemacht werden kann.“
Aus der oben bezeichneten Vorgeschichte und den während der Beobachtungszeit von den Ärzten gemachten Wahrnehmungen bleibt noch das Folgende als erwähnens- wert anzuführen.
Die Angeklagte stammt aus einer Familie, die psycho- pathisch ziemlich schwer belastet ist. Der Vater der St. — ein Lehrer — hat darüber folgende Angaben gemacht: Der Bruder seiner verstorbenen Mutter sei im Jahre 1886 in der Irrenanstalt zu Hildesheim gestorben, habe seit dem 16. Lebensjahre an Krampfanfällen gelitten, habe sich zeitweise immer um sich selbst gedreht. Die Schwester seiner verstorbenen Frau habe viele Jahre epileptische - Anfälle gehabt, sei dann jedoch wieder besser geworden. Ein Bruder des erstgenannten sowie der Großvater seiner
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verstorbenen Frau wären von demselben Leiden heimge- sucht gewesen, ersterer nur in der Jugend. Die Mutter der Angeklagten habe nur an periodisch wiederkehrenden Kopfschmerzen gelitten, sei leicht erregbar, sonst aber ge- sund gewesen. Sie machte in hochschwangerem Zustande einen Fehltritt und so kam es, daß die St. als Sieben- monatskind zur Welt kam. Der die Geburt leitende Arzt soll wiederholt seine Verwunderung darüber ausgesprochen haben, daß das Kind überhaupt noch lebensfähig sei. Daß die Angeklagte von Haus aus abnorm veranlagt sei, habe sich‘, nach Angabe des Vaters und des Onkels L., bereits in frühester Jugend bemerkbar gemacht. Sie sei ganz unberechenbar, bald freundlich, bald abstoßend in raschem Wechsel, dazu intrigant und im höchsten Grade ` von sich eingenommen gewesen.
: Als vierjähriges Kind soll sie es bereits verstanden haben, ihren Vater gegen ihre leibliche Mutter einzu- nehmen, um sich auf diese Weise um wohlverdiente Strafe zu drücken. Als sie im Alter von neun Jahren ihre Mutter verlor, fiel es allgemein auf, daß ihr der Tod der- selben völlig gleichgültig war. An dem darauf folgenden Weihnachten kam sie zu ihrer Tante zu Besuch und fing dort plötzlich an furchtbar zu weinen, sodaß diese glaubte, sie sei über den Tod der Mutter betrübt. Wie sich jedoch bald herausstellte, hatte sie die Befürchtung, deswegen kein Weihnachtsgeschenk zu erhalten. Ihre Erziehung lag in der nächsten Zeit bald bei der Haushälterin, bald bei der schon erwähnten Tante, Frau L. Diese soll dem heranwachsenden Mädchen erzählt haben, es sei von der Mutter viel Vermögen da, und so dem Mädchen hoch- mütige Dinge in den Kopf gesetzt haben.
Die’, St. hat als Kind an eigentlichen Krankheiten - Keuchhusten, Masern und Scharlach durchgemacht. In der Schule konnte sie gut behalten und bekam gute Zeug- nisse. Im Gegensatz zu so vielen anderen Schulmädchen
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gelang es ihr jedoch nie recht, mit ihren Kameradinnen intime Freundschaften zu schließen. Daß bereits in der Kindheit eine krankhafte Neigung vorhanden war, die Unwahrheit zu reden und Erfindungen zu machen, be- weist folgende vom Vater mitgeteilte und von der Ange- klagten zugestandene Geschichte: Sie ging eines Tages — sie war etwa zehn Jahre alt — zu ihrer Tante und be- schwerte sich bei derselben über die Haushälterin ihres Vaters, sie bekäme nicht einmal einen „Rumpf“ an. Die Tante, die sie daraufhin untersuchte, konnte auch keinen finden, da sie denselben ausgezogen und im Bette ver- steckt hatte. Sie verstand es auch trotz ihrer Jugend, wie ihr Onkel noch berichtet, durch Intrigen eine ihr un- sympathische Haushälterin bald aus dem Hause zu bringen, da sie auf ihren Vater immer einen großen Einfluß ausübte. Dieser verheiratete sich wieder. War sie schon vorher oft launisch und unverträglich gewesen, so war sie es jetzt noch mehr und besonders der Stiefmutter gegenüber. Wie diese, die eine recht verständige und ordentliche Frau ist, erklärte, konnte die Tochter zeitweise wieder ungemein liebenswürdig sein, sodaß der schlechte Eindruck der früheren Szenen bald verwischt wurde, besonders da sie auch im Hausstand tüchtig mit helfen konnte. Gegen ihre Stiefgeschwister hat sie eine ganz besondere Abneigung gehabt. Wie die Angeklagte jetzt glaubt, liegt es daran, daß sie überhaupt keine Kinder leiden könne. Sie freute sich, wenn dieselben Prügel bekamen, schlug und stieß sie auch gern selber. Ihre Schwester, äußerte sie einmal, wolle sie zum Fenster hinauswerfen, mit der Begründung, sie wolle keine Schwester haben.
Dem Onkel L. gegenüber hat sie sich direkt un- sympathisch und auffallend verschlossen gezeigt. Sie ist leicht ärgerlich und übelnehmend gewesen, hat häufig keine Antworten geben wollen‘ Als Mittel dagegen hat man sie einfach auf den Balkon gestellt, darauf ist sie
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wieder zugänglich geworden. Früh zeigte sich das be- denkliche Zeichen, daß sie höher hinauswollte, als ihr zu- kam, wozu wohl die bereits oben erwähnten Aufschnei- dereien ihrer Tante, daß sie von reicher Herkunft sei, beigetragen haben mögen. Bei ihrer Konfirmation gefragt, was sie werden wolle, meinte sie, sie möchte sich am liebsten immer bedienen lassen. Schneidern wollte sie schon lernen, aber nur für sich, nicht um Geld damit zu verdienen.
Etwa mit dem 16. Lebensjahre war sie zuerst men- struiert. Die Menses scheinen bei ihr nie ganz normal ge- wesen zu sein. Die letzten Tage vor dem Unwohlsein war sie ganz besonders unausstehlich. Wenn ihre Stief- mutter sich nach ihrem Befinden erkundigen wollte, ver- weigerte sie jede Auskunft darüber. Häufig litt sie an aufsteigender Hitze mit Flimmern vor den Augen, zu- weilen, wie sie selbst angibt, sei ihr dabei schwarz vor den Augen geworden. Diese Attacken haben sich bis jetzt nicht verloren. Sie pflegte dann die Wohnung zu. verlassen und sich so lange draußen zu ergehen, bis der Zustand vorüber war. Mit ihrer Stiefmutter hatte sie alle Augenblicke Differenzen. Besonders machte sich der un- angenehme Zug bemerkbar, durch Erfindungen Uneinig- keiten zwischen ihren Eltern hervorzurufen; sie freute sich dann immer, wenn sie dabei Erfolg hatte. Schließlich hielt man es für geeignet, sie in Stellung zu bringen. Nach- dem sie bei zwei Herrschaften je eine kurze Zeit war, kam sie als Kinderfräulein zu einer Familie S., wo sie etwa drei Monate war. Das Zeugnis, welches man ihr hier ausstellte, war wenig schmeichelhaft: sie sei lügen- haft und gebrauche gegen die Kinder schlechte Ausdrücke. Von ihren Eltern hatte sie allerlei unhaltbare und phan- tastische Angaben gemacht: sie lebten unglücklich, des- halb könne sie nicht zu Hause bleiben, jede Woche sei bei denselben Gesellschaft, mehrere Dienstboten würden
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gehalten, sie selbst sei im Theater abonniert, müsse des- wegen abends fort. Bei Besuchen zu Hause erzählte sie andere Dinge: sie sei mit einem Lehrer bekannt, abends habe sie mit ihm Champagner getrunken, er wolle sie heiraten, hole sie unten ab usw. Die Stiefmutter, die be- greiflicherweise darüber in Bestürzung geriet, suchte der Sache auf den Grund zu kommen, ging ihrer Tochter nach, konnte jedoch nichts von ihrer Herrenbekanntschaft entdecken. Nach langem Fragen und vielen Ermahnungen mußte sie denn endlich auch zugeben, daß die Sache nicht wahr sei.
Daß die Angeklagte in dieser Zeit auch Dinge ge- macht hatte, die noch viel schlimmer waren und durch die sie mit der Krimininalpolizei in Konflikt kam, wurde den Eltern bald darauf klar, als sie bei einer Frau H. eine neue Stelle angetreten hatte und plötzlich polizeilich sistiert wurde. Sie hatte als jetzt 17jähriges Mädchen bei einem Fruchthändler für einen Dr. M. zehn Pfund Eßbirnen, fünf Pfund Äpfel und fünf Pfund Feigen, zusammen für Mk. 9,90 bestellt und verlangt, daß die Sachen hinge- schickt würden, für sich aber ein Pfund Feigen im Werte von 60 Pf. gleich mitgenommen. Wie diese Waren, kam auch eine Partie Konditoreiwaren, die sie an denselben Herrn hatte gelangen lassen, als nicht bestellt zurück. Die Angeklagte beschränkte sich aber hierauf nicht. Am Weih- nachtsabend bestellte sie auch für Dr. M. bei einem Dro- genhändler einen Soxhletapparat und ein Pfund Verband- watte; für 50 Pfennige Puder, eine Puderdose und eine Quaste nahm sie gleich mit. Einige Wochen später war sie plötzlich die Tochter des Dr. M. und bestellte für diesen in einer Konditorei eine Marzipantorte. Gekaufte Ware hat sie dort nicht mitgenommen; ob sie heimlich etwas von den Tellern genommen hat, ist nicht festgestellt wor- den. Ähnliche Bestellangen hatte sie auch in anderen Konditoreien gemacht. Auch auf den Namen eines Kauf-
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-~ mannes und eines Schankwirtes machte sie Bestellungen
und hatte eine Düte Datteln gleich mitbekommen. Wie planlos sie handelte, erhellt daraus, daß sie in dem Laden einer Frau, trotz der Anwesenheit der Tochter, die sie genau kannte, fingierte Bestellungen machte, um für 40 Pf. Kuchen gleich mitnehmen zu können. Bei einem andern Konditor war während ihrer Bestellung dessen Sohn, mit dem sie zusammen in die Schule gegangen war, und den sie auch kennen mußte, anwesend.
Bei ihrer zu dieser Zeit (Anfang des J ahres 1901) erfolgten Sistierung machte sie die Angabe: „Mein Vater hat mich erst vor einigen Tagen durch einen Arzt unter- suchen lassen, der geraten hat, mich in eine Anstalt zu verbringen. Ich bin zeitweise geistig gestört.“ Da die Angeklagte den Eindruck einer geistig nicht ganz norma- len Person machte, wurde von ihrer Festnahme Abstand genommen und sie ihren Eltern zugeführt. Der Vater hat dann erklärt, daß die Menstruation sich bei seiner Tochter seit 11/4 Jahren nicht wieder eingestellt habe, und sie seit jener Zeit zeitweilig mit ihren Gedanken abwesend sei und allerlei besorgniserregende Redensarten führe. Er habe sie von dem Arzt Dr. B. untersuchen lassen, der ihm erklärt habe, daß seine Tochter für die in ihrem Wahne ausgeführten Taten nicht verantwortlich zu machen sei und daß es am zweckmäßigsten sei, sie in einer An- stalt unterzubringen.
Dr. B. hat bei seiner Vernehmung diese Angabe mit dem Bemerken bestätigt, daß er die St. für hochgradig hysterisch halte,
Wie noch bekannt geworden ist, hatte die Angeklagte damals für eine bekannte Frau einen Perlenkranz bestellt, für sich bei dieser Gelegenheit einen Blumenstrauß für 50 Pf. entnommen. An einer anderen Stelle hatte sie eine Torte bestellt und für sich ein Stück Kuchen im Werte von 30 Pf. gleich mitgenommen, welches sie nachher auf
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‚der Straße weggeworfen hatte. Hunger konnte sie nicht haben, da sie kurz zuvor vom Abendessen aufgestanden war.
Einige Monate blieb die St. dann im elterlichen Hause. In diese Zeit fällt folgende, eigenartige Handlung: Eines Tages war sie wegen ihres unreinen Teints zum Arzt ge- schickt worden. Bei ihrer Rückkehr zeigte sich, daß sie von ihrem Paletot einen Knopf verloren hatte. Fortge- sandt, diesen zu suchen, ging sie zu einem in demselben Hause wohnhaften Grünwarenhändler und bestellte hier für ihre Mutter 20 Liter Rosenkohl, wobei sie die Be- merkung machte, ihre Eltern hätten am nächsten Tage große Gesellschaft. Für sich entnahm sie nichts. Als Be- weggrund für ihre sonderbare Handlung gab sie an, es wären junge Leute auf der Treppe gewesen und, um sich von ihnen nicht sehen zu lassen, sei sie in den Laden geflüchtet. | |
In nächster Zeit trat sie in dem benachbarten B. bei einem Gastwirt in den Dienst, den sie ein ganzes Jahr zur Zufriedenheit ihrer Herrschaft verrichtet hat. Symp- tome von Geisteskrankheit sind an der St. nicht hervor- getreten. Dagegen fiel den Eltern auf, daß die Tochter die Neigung zeigte, die große Dame zu spielen. Wenn sie nach Hause zu Besuch kam, mußte sie immer in der zweiten Klasse der Eisenbahn fahren. Ihre Kleider ver- kaufte sie, offenbar, weil sie ihr nicht gut genug waren, an das Nebenmädchen. Ihrer Stiefmutter gegenüber be- hauptete sie jedoch, sie habe die Sachen! garnicht bekom- men. Erst nach langen Ermahnungen gab sie schließlich zu, die Unwahrheit gesagt zu haben. Bedenklich erschien den Eltern, daß sie wieder anfing, von Herrenbekanntschaften zu renommieren, die sie gemacht haben wollte. Bald war es ein Doktor, bald ein Villenbesitzer in O., bald ein Realschullehrer in A., der Heiratsabsichten gezeigt hätte. Nachforschungen ergaben immer, daß an diesen Behaup- tungen nichts Wahres war.
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Die Angeklagte hat in der Folgezeit noch verschie. dene Stellungen bald kürzere, bald längere Zeit bekleidet, ohne daß aus jener Zeit etwas Besonderes bekannt ge- worden ist. | 4
Von erwähnenswerter Bedeutung jedoch ist ihr Auf- enthalt in S. bei der Familie H., wo sie über ein Jahr lang als sog. Stütze gewesen ist. Anfänglich scheint sie sich dort gut geführt zu haben, dann verfiel sie wieder auf merkwürdige Dinge. Auf den Namen ihrer Herrin ent- nahm sie deren Geschäfte eine Unmenge Band, Spitzen, ein halbes Dutzend Broschen im Werte von 50—60 Pf. obwohl sie goldene besaß, Kindertaschentücher, obwohl sie reichlich Wäsche mitbekommen hatte. Ihr Vater, dem diese Vorfälle mitgeteilt wurden, bezahlte den Betrag. Seine Tochter mußte den Dienst jedoch sofort verlassen. Um die Entwendungen zu ermöglichen, hatte sie sich in ein Lügengewebe verwickelt und auch den anderen Dienstboten über ihre Person unglaubliche Sachen er- zählt. Wenn die Dienstherrin auch bis zum Bekannt- werden der Unredlichkeiten die St. für eine normale Per- son gehalten hatte, so kamen ihr doch nachträglich Be- denken an der Geistesklarheit derselben, eben weil sie auch Gegenstände an sich gebracht hatte, die nahezu wertlos waren. Die Angeklagte hatte auch im Hause dieser Dienstherrin von einem Arzt erzählt, der ihr Cousin sei und der sie am kommenden Ostern heiraten wolle. Sie hat von ihrer eleganten Aussteuer, die schon angefertigt würde, und dergleichen mehr gesprochen. Sie hat, was ihre Person anbelangt, immer in höheren Regionen ge- schwebt, daneben aber auch hier ihre Arbeiten zur vollsten Zufriedenheit und mit großer Akkuratesse erledigt.
Nachdem sie aus dem Dienst der Familie H. entlassen war, kehrte sie in das elterliche Haus zurück. Ihr Vater aber wies sie aus dem Hause und sie fand bei ihrem Onkel L. Unterkunft, der sie in die Kochlehre brachte.
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In diese Zeit fallen die eingangs dargestellten Eigentums- vergehen.
Von ihrem Onkel wurde sie nach dessen Angabe reichlich mit Geld versehen und gab ihm gegenüber die Erklärung ab, daß sie kein Geld von ihm benötige, so viel, wie sie ge- brauche, bekomme sie schon. Als der Onkel ihr einmal einen neuen Hut kaufen wollte, lehnte sie ihn ab und sagte, sie bekäme schon einen; eine ihr bekannte Dame sei Direktrice, die würde ihr für das Essen, das sie ihr bringe, schon einen Hut schenken. Auf welche Weise sie sich jedoch in den Besitz der Gegenstände, die sie haben wollte, zu setzen wußte, ist oben schon erwähnt.
Die Dame, bei der sie das Kochen erlernte, wurde durch allerlei Erzählungen der St. in Erstaunen versetzt. Zunächst schwärzte sie ihre Stiefmutter an; zu derselben, die sehr reich sei und immer in den feinsten Toiletten ginge, von denen sie detaillierte Beschreibungen machte, kämen immer Leutnants. Sie erzählte ferner von einem Dr. M., der sie heiraten wolle; vorher wolle sie eine Bade- reise nggh Wiesbaden machen. Einmal meinte sie, als sie ausgehen wollte, Dr. M. sei ganz überraschend ange- kommen, hätte depeschiert, er käme von Amerika. Damit es nicht auffiel, daß nie Briefe von ihm ankamen, erzählte sie, daß diese der Tante geschickt würden; bei dieser sind aber nie Briefe eingetroffen. Sie renommierte, daß ihr Onkel schwer reich sei und bereits ein Haus in Wands- bek gekauft habe, in dem sie nach ihrer Verheiratung mit Dr. M. wohnen solle. Von ihren Eltern sprach sie hier nie anders als von dem „Herrn Papa“ und der „Frau Mama“. Dem Dienstmädchen schenkte sie Kleider und einen Ring; die Kleider könne sie nicht mehr brauchen, da dieselben für eine zukünftige Frau Dr. M. nicht mehr gut genug seien. Zuweilen brachte sie Kuchen und Schokolade mit; dann gab sie an, sie habe es von ihrem Schwiegervater, den sie in der Straßenbahn getroffen, ge-
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schenkt erhalten. Für die Badereise habe sie sechs seidene Unterhemden bekommen. Man zweifelte nicht an der Richtigkeit ihrer Angaben, da sie auch ihren Onkel als schwerreichen Mann hingestellt hatte.
Nach etwa sechs Monaten verließ sie die Kochlehre und erzählte über diesen Abgang einen ganzen Roman. Ihre Dienstherrin habe ihr Geschäft verkauft, weil sie das Pensionat ihres in B. plötzlich verstorbenen Bruders habe übernehmen müssen. Ihr hiesiges Geschäft habe sie an einen Kellner im Zoologischen Garten verkauft. Alle diese Angaben waren erfunden. Da ıhr Onkel L. und ihre Tante verreist waren, ging sie zu einer in K. wohnenden Tante, die sie dadurch in Erstaunen setzte, daß sie sich die Augen- brauen mit schwarzer Farbe verstärkte mit der Begrün- dung, in der Großstadt täte das jede Dame. Auch erzählte sie hier von ihrer Verlobung mit einem Villenbesitzer in O. Einmal nahm sie ein Kuvert, versah es mit der Adresse des Villenbesitzers und sagte, sie wolle den Brief zur Post bringen. Am andern Morgen fand die Tante jedoch, daß der Brief noch im Morgenrock steckte und daß darin stand: „Liebes Malchen, Onkel und Tante Lene geht es in V. sehr gut.“ Nach diesen Vorkommnissen meinte die Tante in K., daß es mit ihrer Nichte wohl nicht ganz richtig sei. Diese kehrte dann auch nach Hamburg in die noch leerstehende Wohnung ihres Onkels zurück, um ihre Koffer zu packen und in B. einen neuen Dienst zu über- nehmen. Hierzu kam es aber nicht, denn inzwischen er- folgte ihre Festnahme.
Die körperliche Untersuchung der St. in der Irren- anstalt hat nur wenig Bemerkenswertes ergeben. Die Kniesehnenphänomene und die Achillessehnenreflexe waren leicht hervorzurufen. Auch die Fußsohlenreflexe waren lebhaft. Die Berührung eines Stecknadelkopfes konnte als solche am ganzen Körper empfunden werden, dagegen war die Schmerzempfindlichkeit im ganzen herabgesetzt,
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in mehreren größeren Bezirken vällig aufgehoben, ein in diesem Falle besonders wichtiger Befund. Auf Fragen gab die St. prompte und sinngemäße Auskunft. Ortlich und zeitlich war sie gut orientiert. Ihre Stimmung war im allgemeinen mehr heiter als gedrückt. Um ihre Zu- kunft schien sie sich nicht viel Sorgen zu machen. In ihrem auf Aufforderung in der Irrenanstalt geschriebenen Lebenslauf trat eine ganz gute Beherrschung des Stiles und der Orthographie hervor, der Inhalt war jedoch teil- weise unwahr und entsprach nicht den Tatsachen, ver- schwieg auch einen Teil der oben angeführten Dinge. Vor allem hatte die Angeklagte alles weggelassen, was ein un- günstiges Licht auf ihren geistigen Zustand werfen könnte. Hier sei gleich bemerkt, daß sie bei einer Intelligenz- prüfung sich anfangs etwas dumm stellte, aber auf ener- gische Mahnung hin weitere derartige Versuche unterließ, sonst jedoch nicht nur nicht irgend welche psychische Krankheitssymptome simulierte, sondern im Gegenteil sich möglichst normal hinstellte und für ihre abnormen Hand- lungenals Erklärung sich halbwegs plausible, aber bei näherer Betrachtung nicht stichbaltige Gründe zurechtkonstruierte.
Bei der ersten Intelligenzprüfung machte sie, wie be- reits erwähnt, den Versuch, sich dumm zu stellen, indem sie einige ganz einfache Rechenaufgaben, wie: 7 mal 9, 8 mal 9, 101 weniger 10, 17 und 11 und 18, nicht richtig löste. Auf andere Rechenaufgaben und auf Fragen in der Geographie und Weltgeschichte wurden größtenteils richtige Antworten gegeben.
Bei der Fortsetzung der Intelligenzprüfung an einem anderen Tage fing die Angeklagte plötzlich an zu weinen und äußerte unter Tränen: „Das hat überhaupt keinen Zweck, daß Sie mich so ausfragen. Schuld habe ich ja doch und verrückt bin ich ja doch nicht. Und meine Ver- wandten können Ihnen auch nur sagen, daß ich Schuld habe. Es ist viel besser, ich kriege meine Strafe.“
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Gleich darauf fing sie wieder an zu weinen und meinte: „Das hat ja keinen Zweck, es ist besser, ich gehe aus Hamburg. Es wissen’s ja alle, es hat ja in der Zei- tung gestanden. Zu meinem Vater darf ich nicht wieder kommen, ehe ich mich nicht gebessert habe. Das ist alles durch meinen Hochmut gekommen. Wenn Sie zu meinen Verwandten gehen, nützt es auch nichts, dann ärgern sie sich wieder und sie nehmen mich doch nicht wieder. Meine Mutter hat schon früher immer zu mir ge- sagt‘ Dein Hochmut wird Dich noch einmal zu Fall bringen‘.“
Auf die Frage, wie sich dieser Hochmut gezeigt, er- folgte “die Antwort: „Die Leute, die ich nicht mochte, habe ich immer von links angesehen und dann mochte ich immer dies und jenes haben.“
Bei ihren Arbeiten in der Nähstube der Irrenanstalt war sie ganz fleißig. Ihre Stimmung war auch in der nächsten Zeit eine ziemlich indifferente, häufig jedoch eine sorglosere, als man erwarten sollte. Hin und wieder wollte sie wieder das Hitzegefühl gehabt haben. Ein paar Tage im Anfange der Beobachtungszeit klagte sie über Halsschmerzen, ohne daß sie fieberte und die Be- sichtigung einen deutlichen Befund erkennen ließ. Ein andermal hatte sie Reißen im Kopf; das habe sie sich, gab sie an, früher mit Kampferspiritus vertrieben.
Während ihres Aufenthalts in der Irrenanstalt fand ein Ball für die Kranken statt und die Angeklagte bekam die Erlaubnis, denselben mitzumachen. Sie war auf dem Balle in vergnügter Stimmung und verfehlte keinen Tanz. Sie äußerte: „Wenn mich kein Herr auffordert, dann tanze ich als Herr und hole mir eine Dame.“ „Es wäre nachher schön* — fügte sie hinzu, — „noch ein bischen am Jungfernstieg zu spazieren und im Alsterpavillon zu speisen.“ Sie sei dreimal in der Woche zu Ball gewesen. Sie wolle gern etwas schlanker werden, das sei viel feiner.
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. Bei einer späteren Prüfung in der Anstalt gab sie an, daß sie bei ihren Heiratsgedanken gar keine bestimmte Person im Auge gehabt habe. Einmal erklärte sie, daß der hypothetische Bräutigam Jurist sei, und das andere Mal, er sei Arzt. Sie wisse übrigens recht gut, daß ein Arzt sie nicht heiraten könne. Daß sie von ihrer Heirat mit,Dr. M. erzählt habe, bezeichnet sie als ein Zeichen ihrer „Hochmütigkeit“, die daher rühre, daß ihre Tante ihr immer so viel erzählt habe, u. a. auch, daß, wenn ihre Mutter leben geblieben wäre, ihr jeder Wunsch erfüllt worden wäre.
Stimmen will sie nie gehört, auch nie Sinnestäuschungen gehabt haben, alles sei nur „Einfall“.
In der ersten Zeit war die Angeklagte dem Wärter- personal gegenüber verschlossen, legte diese Scheu aber später ab, hauptsächlich der einen Wärterin gegenüber und renommierte mit ihrem reichen Großvater; derselbe habe viel Dienstpersonal, sie sei dessen alleinige Erbin. Sie hoffe auf einen Besuch von Dr. M., denn daß derselbe alles Vorgefallene wisse, stehe doch fest. Sie habe schon mehrfach Verkehr gehabt. Als sie 16 Jahre alt war, habe sie die Bekanntschaft eines Lehrers gehabt, weicher jetzt das Oberlehrerexamen bestanden habe. Der Verkehr sei nach einem Jahre wieder aufgehoben worden, da sie un- angenehme Erfahrungen über seinen Lebenswandel ge- macht habe. In S. habe ein Gutsbesitzerssohn, der später alles erbe, um sie angehalten; sie sei auch mehrere Male mit ihm zu Balle gewesen, aber etwas recht Passendes sei es nicht gewesen. Jetzt verkehre sie seit einiger Zeit mit Dr. M., sie habe ihn auf einer Verlobungsfeier kennen gelernt, sie wolle ihn aber noch näher kennen lernen, bis sie sich mit ihm verlobe.
Bei einer späteren Befragung durch den Irrenarzt über ihr Verhältnis zu Dr. M. erklärte die St., daß sie nicht wisse, was er sei, sie sei einmal mit ihm zusammen ge-
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wesen, unterhalten habe sie sich aber nicht direkt mit ihm; sie habe ıhn auch einmal auf der Straße gesehen, aber gegrüßt habe er nicht. Einen Grund für die Erzählung, daß sie sich mit Dr M. verheiraten wolle, könne sie nicht angeben, erzählt habe sie es aber.
| Nachdem sie dem Irrenarzt gegenüber erst längere Zeit abgeleugnet hatte, gestand sie ihm schließlich unter Tränen ein, die oben beschriebenen Renommistereien der Wärterin gegenüber getan zu haben, und fügte hinzu: „Mir kommt der Gedanke immer wieder.“
Nach Motiven für ihre strafbaren Handlungen gefragt, konnte sie keine angeben; sie meinte, es falle ihr so ein, und dann denke sie nicht weiter darüber nach. Nachher, wenn es ihr jemand vorhielte, wüßte sie, daß sie Unrecht getan habe. Bei weiterem Nachfragen fing sie stets an zu weinen. Die traurige Stimmung, die durch diese Er- innerungen verursacht war, machte immer schnell wieder einer heiteren Miene Platz.
Erwähnt sei noch, daß die Angeklagte morgens recht lange Zeit in ihrem großkarrierten Unterrock im Saal herumstolzierte, damit, wie angenommen wird, ihn alle Kranken ausreichend bewundern sollten.
Nunmehr fand, nachdem die Angeklagte nach der sechswöchigen Beobachtungszeit in der Irrenanstalt in das Untersuchungsgefängnis zurückversetzt war, ein neuer Hauptverhandlungstermin statt, der zu dem‘ Beschluß führte, daß die Sache auszusetzen und auf Grund des $ 83 Abs. 3 StPO. das Gutachten einer Fachbehörde, des Medizinalkollegiums, darüber einzuholen sei, ob gegen die Angeklagte der $ 51 des StGB. in Anwendung zu kommen habe.
In diesem Termine erklärte der Irrenarzt nach näherer - Begründung, daß er nicht glaube, daß die Angeklagte sich jedesmal eingebildet habe, daß sie die Person sei, für die sie sich ausgab. Der ebenfalls als Sachverständiger
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vernommene Dr. B. war in seinem Urteil schwankend und neigte mehr der Ansicht zu, daß die Voraussetzungen des $ 51 StGB. nicht vorlägen, und daß er wohl auch früher sich zu dieser Auffassung bekannt haben würde, wenn er das gewußt, was er Jetzt erfahren habe.
Während der ganzen Zeit war die Verteidigung un- ermüdlich in der Herbeischaffung von Entlastungsmaterial, welches vorstehend mit verarbeitet ist.
Das gerichtlich beschlossene Obergutachten kam zu einem anderen Resultat über den Geisteszustand der An- geklagten als dasjenige des Irrenarztes, und hielt die St. für z. Z. nicht geisteskrank und war der Ansicht, daß kein hinreichender Grund zur Annahme vorliege, die Angeklagte sei zur inkriminierten Zeit geisteskrank und unzurechnungsfähig gewesen. Wenn auch ihre Hand- lungen und eine Reihe ihrer Charaktereigenschaften durch die Annahme eines hysterischen Zustandes bei der Ange- klagten sich erklären ließen, so’ sei ein solcher Zustand doch nicht ausreichend, um Geisteskrankheit gemäß $ 51 StGB. anzunehmen, da Erscheinungen dafür. fehlten, daß sich bei der Angeklagten auf hysterischer Grundlage ein Zustand von Geisteskrankheit (hysterisches Irresein) ent- wickelt oder zeitweilig bestanden habe. Die Angaben der Verwandten und Dienstherrschaften reichten nach An- sicht der Gutachter nicht aus zu der Annahme, daß das Seelenleben der Angeklagten derartig vom Normalen ab- weiche, daß man bei derselben strafrechtliche Unverant- wortlichkeit annehmen müsse.
In diesem Obergutachen wird auch des Näheren an- geführt, daß es sich bei den strafbaren Handlungen im Jahre 1901, als die St. auf Grund der Aussage des Arztes Dr. B. außer Verfolgung gesetzt sei, um Dinge von ge- ringem Geldwert gehandelt habe, die sie sich in Kon- ditoreien für einige, Pfennige verschaffte, also um
Näschereien, die allerdings von einer jugendlichen Person Der Pitaval der Gegenwart. II, 22
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gelegentlich sehr wert geschätzt würden, daneben aber auch um Artikel zur Befriedigung der Eitelkeit, indem sie sich bei einem Drogisten Puderguaste, Puderdose und Puder erschwindelte. Bei den jetzt in Frage stehenden Schwindeleien seien ihre Ansprüche höher gewesen; diese seien auf Kleidungsstücke, Wäschegegenstände, also Dinge gerichtet gewesen, die sie sehr wohl verwenden konnte, daneben aber auch auf Schmucksachen. Das irren- ärztliche Gutachten gehe dahin, daß die Angeklagte als hysterisch krank zu bezeichnen sei, daß die während des Aufenthaltes in der Irrenanstalt beobachteten Störungen an sich nicht genügten, um bei der Angeklagten die strafrechtliche Verantwortlichkeit auszuschließen. In dem Schlußsatz des Gutachtens komme der Irrenarzt aber zu dem Resultat, daß das Seelenleben der Angeklagten der- artig vom Normalen abweiche, daß sie für die begangenen Straftaten nicht verantwortlich gemacht werden könne. Diese Auffassung hat der Gutachter auch im Gerichts- termin vertreten. |
Wie bereits vorerwähnt, hatte Dr. B. seine frühere Ansicht über den Geisteszustand der Angeklagten geändert. Im Jahre 1901 hatte er nur ein sehr oberflächliches Urteil geben können, was daraus hervorgeht, daß er die Ange- klagte, welche ihm durch ihre Stiefmutter zugeführt wor- den war, nur ein- oder zweimal gesehen hatte, und er bei seiner damaligen polizeilichen Vernehmung trotz der Er- klärung, er habe die volle Überzeugung von der Unzurech- nungsfähigkeit der St., gleichzeitig empfahl, die Beschuldigte von einem namhaft gemachten Irrenarzt untersuchen zu lassen und daß er endlich ın der jetzigen Strafsache den Antrag auf Beobachtung des Geisteszustandes der Ange- klagten in der Irrenanstalt gestellt hatte.
Seit bald einem halben Jahre befand sich die St. bei Erstattung des Obergutachtens bereits im Untersuchungs- gefängnis, wo sie dem Aufsichtspersonal durch ihr Verhal-
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ten niemals aufgefallen ist. Sie beschäftigte sich fleißig mit Näharbeiten und Stickereien. Ein hysterisches Be- nehmen ist dort nicht bemerkt worden. Auch bei den Unterredungen, die der Referent des Obergutachtens mit der Angeklagten gehabt hat, sind besonders markante hysterische Züge nicht in die Erscheinung getreten.
Über ihren Lebensgang und ihr Verhältnis zu ihren nächsten und den ferneren Angehörigen machte sie jetzt folgende Angaben:
„Als meine Mutter starb, war ich neun Jahre alt; von ihr wurde ich nicht verzogen, dagegen von meinem Vater, insofern er mich immer in Schutz nahm, wenn ich Strafe haben sollte. Er meinte immer, es sei wohl nicht so schlimm. Ich war einziges Kind, stand meiner Mutter sehr nahe, aber auch dem Vater. Wenn Mutter mir was versagte, ging ich zum Vater hin, und umgekehrt. Ich habe stets meinen Willen gekriegt, überhaupt bin ich zu Hause verzogen. Als Kind hatte ich Verkehr mit den Töchtern eines Lehrers, doch hatte meine Mutter nicht gern ‚Besuch im Haune; später erzürnten sich auch die Familien, und so kam es, daß ich keine Freundinnen hatte. Ich war immer allein, mochte auch lieber allein sein. Nach dem Tode meiner Mutter war ich zunächst vier Wochen bei meiner TanteSt. in K., einer Schwester meiner Mutter, die mit dem Bruder meines Vaters verheiratet ist. Nach zwei Jahren verheiratete sich mein Vater wieder. In der Zwischenzeit waren verschiedene Haushälterinnen bei meinem Vater und ich war teils zu Haus, teils bei meiner Tante L., die ebenfalls eine Schwester meiner Mutter und kinderlos ist. Diese wollte mich gern für eigen annehmen, doch wollten dies mein Onkel und mein Vater nicht. Nachdem mein Vater wieder geheiratet, blieb ich dauernd zu Hause. Meine Verwandten waren gegen die zweite Heirat und äußerten, es werde nun ganz anders mit mir, ich bekäme eine Stiefmutter. Sie legten gleich was in mich, daß ich sie
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nicht leiden mochte. Ich habe meine Stiefmutter nie gerne gehabt, schlecht war sie aber nie zu mir. Nach meiner Konfirmation wollte ich gern die Lederpunzerei erlernen, doch wollte es mein Vater nicht. Er meinte, ich solle lieber zu Hause bleiben, weil ich sehr schwach sei. Ein Jahr nach meiner Konfirmation war ich sechs bis sieben Wochen in B. in Stellung als junges Mädchen im Haus- halt, darauf wieder eine Zeitlang zu Hause und dann wie- der in demselben Orte ein Jahr lang in einer Wirtschaft tätig. Nach kurzem Aufenthalt bei den Eltern fand ich Stellung in S. bei einem Brauerei- und Gutsbesitzer, der gleichzeitig ein Ladengeschäft mit Manufakturwaren hatte. Da hab’ ich ja die Sachen gemacht, wegen der ich fort- kam. Ich habe dort verschiedene Kleinigkeiten (Bänder und dergleichen) aus dem Laden geholt. Ich mußte z. B. Haarbänder für die Kinder aus dem Laden holen, dabei holte ich mir denn auch was. Ich schnitt mir meist selbst im Laden ab; da habe ich auch mal Schürzenstoff mit abgeschnitten. Nachher kam es raus, deshalb kam ich fort. Onkel L. hat es nachher bezahlt. Vater war . böse auf mich.“
Auf die Frage des Referenten: Doch wohl mit Recht? antwortete die Angeklagte: „Gewiß.“
„Schon vor dieser Sache hab’ ich mir in Hanie Näschereien verschafft. Ich wurde deshalb vernommen, doch habe ich später nichts wieder davon gehört.“
Auf die Frage: Das hat Sie wohl zu Wiederholungen Ihrer Schwindeleien ermutigt? antwortete die St.: „Nein, im Gegenteil, Vater sagte, wenn ich es wieder täte, würde ich bestraft.“
Auf Vorhalt: „Nun haben Sie ja aber so etwas wie- der getan und müssen wohl bestraft werden?‘ „Wenn ich damals bestraft worden wäre, dann wäre ich vielleicht nicht wieder auf den Gedanken gekommen, so denke ich.“
„Im November 1903 kam ich nach Hamburg zurück
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zum Onkel L, der mich dann das Kochen erlernen ließ. In dem Kochinstitut wohnte ich auch bis 14 Tage vor meiner Verhaftung. Ich bezahlte dort nichts, erhielt auch keinen Lohn. Onkel litt nicht, daß ich zum Vater ging; er sagte, wenn ich hinginge, wären wir miteinander fertig. Onkel L. gab mir gelegentlich eine Mark, sonst habe ich mich selbst unterhalten müssen. Als ich von S. kam, hatte ich noch zehn Mark. Onkel und Tante sagten mir allerdings, ich möchte sagen, wenn mir etwas fehle. Das mochte ich aber nicht, weil sie schon verschiedene Klei- dungsstücke für mich’ angeschafft hatten.
In B. ist mir mal ein Herr M. vorgestellt worden, aber ich weiß nicht, ob er es wirklich war.“
Schließlich äußerte die St., nach ihren Plänen für die Zukunft befragt, dab sie nach ihrer Entlassung aus dem Gefängnis nach Amerika wolle, um dort Stellung zu nehmen, denn hier in Hamburg finde sie ja keine Stellung wegen: ihres Vorlebens, das ja allgemein bekannt gewor- den sei. | ee
Der Referent des Obergutachtens fügt dann noch hin- zu: „Nach den Mitteilungen über Erkrankungen an Epi- lepsie, welche sowohl in der Familie des Vaters wie der Mutter vorgekommen sein sollen, ist man wohl zur An- nahme berechtigt, daß die Angeklagte Eigenschaften ererbt haben kann, die zu nervöser Erkrankung disponieren und zu geistiger Erkrankung einmal führen können. Dies be- rechtigt aber noch nicht zur Annahme des Vorhandenseins geistiger Erkrankung bei der Angeklagten, sondern würde nur zur Erklärung herangezogen werden können, wenn bei der Angeklagten Geisteskrankheit nachgewiesen wäre oder sich für eine bestimmte Zeit nachweisen ließe. We- der ist die Angeklagte jetzt geisteskrank im Sinne des $ 51 StGB. noch liegt Grund zur Annahme vor, daß die Angeklagte zur inkriminierten Zeit geisteskrank im Sinne des $ 51 StGB. gewesen sei. Es kann sogar meines Er-
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achtens fraglich sein, ob die Angeklagte als hysterisch zu bezeichnen ist. Ihr Verhalten im Untersuchungsgefängnis dem Aufsichtspersonal gegenüber und bei den Unter- redungen, die ich mit ihr hatte, rechtfertigt nicht diese Annahme. Zugegeben aber, daß das Verhalten der Ange- klagten sich bis zu einem gewissen Grade aus dieser er- erbten nervösen (hysterischen) Charakterveranlagung er- klären läßt, so fehlt doch jeglicher Nachweis und Anhalt dafür, daß es bei der Angeklagten auf der hysterischen Grundlage zu einer krankhaften Störung ihrer Geistestätig- keit, zu eigentlicher Geisteskrankheit gekommen ist. Aus- geschlossen ist es, daß die Angeklagte in einem (hysteri- schen oder hysterisch-epileptischenn Dämmerzustand die inkriminierten Delikte begangen haben sollte. Die bis ins Detail erhaltene Erinnerung an alle Vorgänge spricht ab- solut gegen eine solche Annahme. Krankhafte Wahnideen fehlen völlig. Weder hat die Angeklagte sich zur inkri- minierten Zeit in der krankhaften Vorstellung befunden, sie sei diejenige Person, für welche sie sich ausgab, noch habe ich die Überzeugung gewonnen, daß die lügenhaften Geschichten, über welche von den Verwandten und anderen Personen berichtet ist, Ausfluß von Wahnideen sind. Es liegt durchaus im Bereiche der Möglichkeit, daß sich ihr ein Herr unter dem Namen Dr. M., daß auch andere Herren sich ihr vorgestellt haben und daß sich daran allerlei Liebeswünsche bei ibr geknüpft haben. Zu Wahn- ideen haben sich solche Wünsche und Vorstellungen in- dessen meines Erachtens nie verdichtet. Sie selbst sagt jetzt, ob jener Herr wirklich Herr Dr. M. war, das weiß ich nicht, und in dem ersten Gutachten wird berichtet, daß die Angeklagte derartige phantastische Erzählungen früher schließlich als unwahr zugegeben hat. Es handelte sich damals also bei derartigen Erzählungen um Lüge oder phantastische Renommierereien und nicht um Wahnideen. Es braucht auch nicht krankhaftzu sein, wenn ein junges Mäd-
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chen ihres Alters von Herrenbekanntschaften spricht, erzählt und prahlt. Hätten die Angehörigen derartige Erzählungen als Ausfluß wirklich vorhandener Geisteskrankheit aufge- faßt, so würden dieselben doch voraussichtlich eine ärzt- liche Untersuchung des Geisteszustandes haben vornehmen lassen und nicht ihre Tochter aus dem Hause gewiesen haben. Der Geisteszustand der Tochter ist nur dann in Zweifel gezogen, als die Angeklagte im Jahre 1901 und jetzt Schwindeleien beging, die zur Kenntnis der Behörden gelangten, d. h. also zu Zeiten, wo es galt, eine gericht- liche Bestrafung von der Tochter in deren vermeintlichem Interresse und vielleicht auch in Rücksicht auf den Ruf der eigenen F'amilienangehörigen fern zu halten. — Die Annahme der Unzurechnungsfähigkeit der Angeklagten stützt das .irrenärztliche Gutachten im wesentlichen auf die Angaben der Verwandten sowie einzelner anderer Per- sonen, bei denen die St. in Stellung gewesen war. Dabei ist zu berücksichtigen, daß von den Dienstherrschaften in B., bei welchen die St. teils längere Zeit in Stellung war, ihre Zuverlässigkeit bei der Erledigung ihrer Arbeit rühmend anerkannt worden ist. | Nach meiner Ansicht erklären sich die Straftaten der St. im wesentlichen mit aus den sozialen und Familien- Verhältnissen, unter denen die Angeklagte gelebt hat und aufgewachsen ist. Bei der Erziehung der Angeklagten scheint in mancher Beziehung: gefehlt zu sein. Man ver- gegenwärtige sich, daß das Kind im 9. Lebensjahre seine Mutter verloren. Vielleicht ist längere Kränklichkeit dem Tode der Mutter vorangegangen. Die Angabe der Ange- klagten, daß ihre Mutter nicht gerne fremde Kinder im Hause gesehen, könnte ihre Erklärung darin finden. Die Angeklagte war einziges Kind ihrer Eltern. Verständ- lich erscheint dabei die Angabe der Angeklagten, daß sie stets ihren Willen im Elternhause erreichte. Vom 9. bis 11. Jahre mußte dies Kind, das den Eindruck gewonnen hatte,
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vom Vater stets verzogen zu sein, und das nach dem irren- ärztlichen Gutachten „auf den Vater immer einen großen Einfluß ausübte“, der Mutter entbehren. Die weibliche Erziehung liegt in diesem wichtigen Lebensabschnitt in den Händen verschiedener Haushälterinnen und einer kinder- losen Tante, die selbst nach dem Berichte des ersten Gut- achters viele Jahre epileptische Anfälle gehabt hat. Diese Dame erweckte allerlei verkehrte Vorstellungen in der Seele des Kindes, indem sie ihm hochmütige Dinge in den Kopf setzte. Nimmt man dieses Verhalten der Tante als richtig an, dann wird man auch der Angeklagten glauben dürfen, daß die Tante dem Kinde allerlei unzweckmässige Begriffe über eine Stiefmutter beigebacht hat, zumal wenn diese an Epilepsie leidende Tante die Absicht gehabt hat, das Kind selbst als eigenes anzunehmen. Nach dem 11. Lebensjahre kam dann die Stiefmutter ins Haus und fand ein Kind vor, das vielleicht wegen abnormer Veranlagung besonders sorgfältiger Erziehung bedurfte, dessen Erziehung aber anscheinend nicht nach einheitlichen Gesichtspunkten geleitet war. Es ist sicherlich nicht leicht für eine Stief- mutter, sich das Vertrauen eines so beschaffenen 11 jähri- gen Mädchens zu erwerben und erzieherisch auf dasselbe einzuwirken, namentlich dann nicht, wenn, wie es der Fall gewesen zu sein scheint, nebenher auch noch von anderer Seite (Familie L.), erzieherisch eingewirkt wurde. So erscheint es verständlich, daß die Stieftochter keine Sympathie für ihre Stiefmutter gewann. Die Anbahnung eines richtigen, liebevollen Verhältnisses mag auch dadurch gelitten haben, daß die Angeklagte im Laufe der ‘Zeit zwei Stiefgeschwister erhielt und nunmehr naturgemäss die Mutterliebe der Stiefmutter in erster Linie sich den leiblichen und kleineren Kindern zuwandte. So kann man sich erklären, wie es gekommen, daß die Angeklagte immer mehr die eigenen Wege ging und ihren nächsten Ange- hörigen entfremdet wurde. Schon im August 1900 (also
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im Alter von 16 Jahren) war es der Angeklagten gelungen, Schokolade im Werte von 1 Mk. zu erschwindeln, ohne daß ihr etwas danach geschah. Ja vielleicht hat sie auch schon früher erfolgreich nnd unbehelligt Schwindeleien begangen, von denen nichts bekannt geworden ist. Nasch- sucht und weibliche Eitelkeit brachten das noch jugend- liche Mädchen dann im Jahre 1901 zum ersten Male mit der Polizei in Konflikt. Was sie sich damals verschaffte und offenbar auch nur verschaffen wollte, waren Dinge von geringem Geldwert, die aber von einem Kinde bezw. jungen Mädchen oft nicht gering geschätzt werden (1 Pfund Feigen für 60 Pf, zweimal Konditoreiwaren im Betrage von 35 Pf. und 25 Pf., die sie an Ort und Stelle gleich verzehrte). Um diese ihr begehrlich erscheinenden Dinge zu erhalten, machte sie allerdings in raffinierter Weise größere Be- stellungen. Zr
Als: besonders auffallend und zur Begründung von Geisteskrankheit geeignet ist angeführt, daß die Angeklagte damals im Jahre 1901 auch einen Soxlethapparat bestellte und jemandem ins Haus schicken ließ. Dies erscheint aber weniger absonderlich, wenn man berücksichtigt, dab es ihr auch bei dieser Bestellung offenbar lediglich um Puder, Puderdose und Puderquaste zu tun war, die sie gleich mitnahm, denn die Angeklagte hatte schon damals, wie auch jetzt noch, einen unreinen Teint. Vergegen- wärtigt man sich, daß sie sich jene Puderartikel in einer Drogenhandlung verschaffte, in der Soxlethapparate ge- legentlich auf dem Ladentische oder im Schaufenster stehen, daß es ihr offenbar nicht darum zu tun war, demjenigen einen Streich zu spielen, dem sie den Soxlethapparat zu- senden ließ, sondern daß sie lediglich darauf aus war, Puderartikel zu erlangen, und dazu grössere Bestellungen machen mußte, so erscheint diese Bestellung des Soxleth- apparates nicht auffälliger, als in denjenigen Fällen, wo sie Konditor- oder Grünwaren bestellie. Sie ließ eben
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anderen Leuten zusenden, was gerade da war und was ihr in die Augen fiel. Zum Unglück der Angeklagten, wie sie selbst auch andeutet, wurde aus der Sache nichts gemacht. Die Beschwindelten wurden vom Vater ent- schädigt. Es wurde Unzurechnungsfähigkeit angenommen und das junge Mädchen erhielt nicht die volle Einsicht von der Schwere ihrer Handlungen und nicht die Vorstellung davon, auf welcher abschüssigen Bahn sie sich befand.
Später ließ sie sich in 8. Unredlichkeiten zu Schul- den kommen, die zwar zum Verlust ihrer Stellung führten, aber wieder gut gemacht wurden, indem der Onkel L, den angerichteten Schaden ersetzte. Die St. kam wieder nach Hamburg, wo sie in einem Kochinstitute Unterkommen fand. Sie hatte dort zwar ihren Unterhalt, verdiente aber nichts. Geldmittel standen ihr nicht in nennenswerter Weise zur Verfügung. Um sich das zu verschaffen, was sie an Kleidungs- und Wäschestücken nötig hatte oder nötig zu haben glaubte, verfiel sie wieder auf ihre alte Schwindelmethode, bei der sie eine Zeitlang wieder Glück hatte, bis sie abgefaßt wurde. Da sie in dem Kochinstitute die Bekanntschaft eines Herrn D. gemacht hatte, der ihr gelegentlich Blumen geschenkt und für den sie sich nach ihrer eigenen Angabe interessierte, so erscheint es auch nicht so auffällig, das sie bei den Juwelieren W. u. G. eine Herrengarnitur erschwindelte, mit der sie sich dem be- treffenden Herrn gegenüber für erhaltene Blumen revan- chierte.
Sie gesteht die ihr zur Last gelegten Dinge im wesent- lichen ein und hat schon im Anfang ihrer Haftzeit erklärt, daß es ihr nur darum zu tun war, die Waren mitzunehmen, um sie für sich zu verwerten. Sie hat selbst wiederholt im Gegensatz zu 1901 die Meinung vertreten, das sie nicht geisteskrank sei, sondern daß sie Strafe verdiene Daß die Angeklagte es zeitweilig mit der Wahrheit nicht ge- nau genommen, sondern ihrer Phantasie freien Lauf gelassen,
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wenn es ihrer Laune oder einem besonderen Zwecke ent- sprach, ist sebr wahrscheinlich.
Die in Frage stehenden Delikte und den Geisteszu- stand der Angeklagten von den vorstehend erörterten Ge- sichtspunkten aus betrachtet, erscheinen die Straftaten psychologisch verständlich; denn es ist nichts vorhanden, was die Annahme einer Geisteskrankheit (im engeren Sinne), und eines Zustandes gemäß $ 51 StGB. bei der Ange- klagten rechtfertigt.“ |
Auf Grundlage dieses Obergutachtens wurde auf den 28. März 1905 ein neuer Hauptverhandlungstermin anbe- raumt. In diesem ward die Angeklagte wegen wiederholten Betruges und wiederholten versuchten Betruges in eine Gefängnisstrafe von 14 Monaten unter Anrechnung von 7 Monaten und 3 Wochen der erlittenen Untersuchungshaft verurteilt.
Aus dem Urteil ist folgendes nachzutragen:
Die Angeklagte will sich zwar jetzt nicht mehr er- Innern, wie sie sich in jedem einzelnen Falle in den be- treffenden Geschäften benommen habe, gibt aber im großen und ganzen zu, sich in der oben geschilderten Weise unentgeltlich Sachen verschafft zu haben oder haben ver- schaffen zu wollen. Verschiedene Fälle will die Angeklagte nicht verübt haben; da sie aber bei ihrer Vernehmung vor dem Amtsrichter auch diese Fälle zugestanden, so ist das Gericht überzeugt, daß sie auch hier die Täterin ist.
Auch will die Angeklagte nicht wissen, warum sie eigentlich sich dieser Schwindeleien schuldig gemacht, und erklärt, sie habe nicht betrügen wollen. Sie meint, daß sie in den Läden wohl nicht so energisch und sicher hätte auftreten können, wenn sie sich ihres Unrechtes bewußt gewesen wäre.
In dem Gerichtstermin vertraten die beiden medizi- nischen Autoritäten die oben wieder gegebenen Ausführungen ihrer Gutachten.
316 | Hinsch.
Zu diesen Gutachten bemerkte das Gericht, dab es gegenüber dem ersten Gutachten ein weiteres Gutachten angeordnet habe, um zu erkennen zu geben, daß die erste Begutachtung ihm nicht einwandsfrei erschienen sei, ihm also nicht genügte. Indem es die Begutachtung durch eine Fachbehörde anordnete, wünschte es aber weiter ein sog. Obergutachten zu haben, also ein Gutachten, das wieder- um das erstere einer Kritik unterziehen und es auf seine Richtigkeit prüfen solle. Daraus ergab sich aber, dab das zweite Gutachten nicht neben das erste, sondern als es revidierend, darüber gestellt zu gelten habe. Selbstverständlich werde indessen das Gericht nicht gehindert sein, trotz dieses formellen Charakters des Obergutachtens bei seiner Entscheidung auch das erste Gutachten mitsprechen zu lassen und es sogar ihr allein zu Grunde zu legen, wenn es in der Lage sei, Zweifel an der Richtigkeit der Begutachtung durch die Fachbehörde zu hegen. Das sei aber vorliegend nicht der Fall.
Die Verurteilte ließ durch ihren Verteidiger Beschwerde beim Hanseatischen Oberlandesgericht wegen abgelehnter Haftentlassung nach erfolgter Verurteilung einlegen. Diese wie die Revision beim Reichsgericht und wiederholte Gnadengesuche wurden verworfen. Die Verurteilte hat ihre Strafe inzwischen verbüßt.
Der Knabenmörder Breitrück. l Von Dr. jur. Octavio Brackenhoeft, Hamburg.
Am Vormittage des 9. November 1894 gegen 11 Uhr verließ der sechsjährige Alwin Raeczka nach dem Früh- stück die in Hamburg-Eimsbüttel nahe der Altona-Langen- felder Grenze in der Müggenkampstraße belegene Wohnung seiner Eltern, um auf der Straße zu spielen, wie er das oft tat. Seine treubesorgte Mutter zog ihm noch den Paletot an, setzte ihm sein wärmendes Wollmützchen auf und schickte ihn dann hinunter mit der Weisung; er sollte nicht gar zu lange fort bleiben.
Er ging zunächst nach dem beim Taiga belegenen Hofe, scherzte und neckte sich in fröhlicher Ausgelassen- heit mit dem gerade dort stehenden Grünwarenhändler und lief dann lustig pfeifend vom Hofe fort. Vor dem Hause traf er einen Spielkameraden, erzählte diesem, er wolle nach der Langenfelder Manderube und eilte vergnügt von dannen. —
Als sein Vater, der am Tage nicht zu Hause gewesen war, gegen 6 Uhr abends heimkehrte, kam ihm seine Frau bestürzt mit der Mitteilung entgegen, der Junge sei noch nicht zurückgekehrt, obwohl er schon seit 11 Uhr fort sei. Der Vater meldete das Verschwinden seines Sohnes gleich auf der benachbarten Polizeiwache sowie auch in Altona und Langenfelde auf den Polizeiwachen und forschte uner- müdlich nach dem Verbleib seines Knaben, ohne jedoch irgend etwas erfahren zu können. Die Hamburger Krimi- nalpolizei erließ Bekanntmachungen mit dem Bilde des Kna-
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ben und stellte diese auch einer größeren Anzahl auswärtiger Polizeibehörden zu. Die Zeitungen brachten mehr oder minder ausführliche Notizen über das Verschwinden des Knaben.
Es ist interessant zu beobachten, wie lebhaft in solchen Fällen das Publikum sich beteiligt, sich leider meistensirrt und den Behörden ihre Tätigkeit oft erschwert. Es fanden sich Personen, die nicht nur Anhaltspunkte für den Verbleib des Knaben zu haben vermeinten, sondern sogar eine Entführung desselben beobachtet haben wollten. Natürlich wurde das Märchen von dem Kinderraub durch Zigeuner wieder aufge- tischt, denn man hatte gerade in jenen Tagen, noch dazu in jener Gegend, in der die Eltern des Knaben wohnten, einen mit drei kleinen Pferden bespannten Zigeunerwagen ge- sehen; es gelang die Spur dieses Wagens in Stellingen zu ermitteln und weiter zu verfolgen, doch wurde festgestellt, daß der verschwundene Knabe bei den Zigeunern nicht gewesen war. Ein zweiter wollte am Abend des 9. No- vember die Entführung des Knaben mit eigenen Augen gesehen haben: ein etwa 16jähriger Mensch von äußerst rohem Aussehen habe einen kleinen — der Beschreibung genau entsprechend gekleideten — Jungen an der Hand geführt und, als dieser weinend „Mama“ gerufen, ihn auf den Arm genommen und mit den Worten: „Du hast nur noch eine kleine Wasserfahrt zu machen, dann bist Du bei Deiner Mama“ zu trösten versucht. Diese. Mitteilung veranlaßte die Polizei auch jenseits der Elbe und auf Fährdampfern zu gründlichen und umfangreichen Er- mittelungen. Eine in der Elbe gefundene Kinderleiche gab im Publikum Anlaß zu der Annahme, daß es die Leiche des kleinen Raczka sei; sie wurde indeß als die eines an- deren zehnjährigen Knaben rekognosziert. Ein Barbier er- innerte sich eines Gehülfen, der ihm etwa ein Jahr vor- her gelegentlich einer Zurechtweisung offenbart hatte, er habe einen Groll gegen die ganze Menschheit gefaßt; dieser
Der Knabenmörder Breitrück. 319
Gehülfe habe im Sommer 1894 auf dem Spielbudenplatz, der Hauptstraße des vergnügungsreichen St. Pauli, mehreren Knaben Obst gekauft. Die Nachforschungen ergaben die völlige Harmlosigkeit des Menschenhassers. — Der Vater Raczka kam sogar auf die Idee, daß ein in Hoboken bei New York wohnender Verwandter, der den eigenen Sohn durch den Tod verloren und ihn mehrfach um Überlassung eines seiner fünf Söhne vergeblich gebeten hatte, den Alwin als den hübschesten entführt haben möge, und glaubte sogar einen Steward, der zwischen ihm und seinem Verwandten öfter kleine Bestellungen vermittelt hatte, als den eigentlichen Entführer bezeichnen zu müssen. — Einige Spielkameraden des vermißten Knaben wollten wissen, daß dieser nach einer nahegelegenen Sandgrube gegangen sei; obwohl alle Sandgruben in den umliegen- den Feldmarken abgesucht wurden, fand sich nirgends eine Spur. — Andere Knaben wieder hatten gehört, daß Alwin nach Pinneberg gewandert sei; auch hier war nichts zu ermitteln.
Und doch ist das Interesse der Öffentlichkeit oft von ungeahnter Bedeutung; es trug auch in diesem Falle wesentlich zur Entdeckung des Täters bei. Durch das von der Hamburger Polizei erlassene Rundschreiben hatte auch die Magdeburger Polizei Kenntnis von dem Verschwinden des Knaben erhalten, und dieser gelang es durch einen seltenen Zufall, den Schlüssel zur Lösung des Rätsels zu finden. Die Magd Barbara Bursik, welche bei dem Gastwirt, Be- sitzer des „Lindenhof“ Carl Breitrück in Langenfelde (Alto- naer Gebiet in unmittelbarer Nähe der Hamburger Grenze) diente, hatte nämlich an ihren in Magdeburg wohnhaften Bräutigam, den Uhrmacher Thiering, am 21. November 1894 einen Brief geschrieben, in dem es u. a. hieß:
„Lieber Emil ich wollte Dir recht was neues schreiben aber ich bin Bange das du triba sprechst tas zis nehmlich von mein Herrn ehr hat was gethan Beses
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aber ich wil nicht meine eksistenz ferliren vor Weih- nachten jetzt ist schlet wieder eine andere wieder zu grigen liber wil ich schweigen ten tas werde nicht gut für mich. Lieber Emil ich kan dir nur sofil sagen seit neuten N wie tas pasir ist bin ich kanz unklicklich im hause und kanz unheimlich aber ich weist nicht sol ich | was sagen oder nicht.“
Der Uhrmacher, dem es augenscheinlich weniger um die Treue seiner Braut, als um einen etwaigen Profit zu tun war, war durch diesen Brief in den Glauben versetzt, seine Braut hätte ihm die Treue gebrochen und sich ihrem Dienstherrn hingegeben. Sein für sein Gefühlsleben inter- essanter Brief läßt sogar erkennen, daß er auf etwas Der- artiges schon gefaßt war, weil er es schon einmal erlebt hatte. Er schreibt nämlich am 30. November u. a.:
„Ich weiß sehr gut was dein Herr gemacht mit Dir. Das konntest Du mir ganz ausführlich schreiben wie Du bei Peters gemacht hast. Hat dein Herrn Dir Geld angeboten? Warte nur solange bis ich komme dann werde ich die Sache schon befummeln.“
Dieser Brief hatte doch seine gute Wirkung, denn einmal veranlaßte der darin gemachte Vorwurf der Schreib- faulheit die Bursik, ihrem Bräutigam sofort zu antworten und zweitens bewog er sie, die in ihrem ersten Briefe gemachten Andeutungen genauer zu präzisieren, indem sie ihm am 1. Dezember 1894 u. a. Folgendes schrieb:
„Lieber Emil (diese Anrede findet sich zehnmal in dem Briefe) was du dir tengst von mein Herrn tas ist vicht der fal er hat kanz was anderes gemach nemlich Hier wohnt tich bei einer Schumacher ten sein Knabe von 6! Jahre ist ferswunden und ten selben tach habe ich gemerkt tas unzere Herrn mit oben in Knecht seine Stube abgeslosen war und nachtrechlich habe ich auch tas Zouch von dem jungen gevunden habe und auch bei,
. eine tekl lerae schachtl von Waselin ich klaube er hat
Der Knabenmörder Breitrück. 321
tas kind gebrauch. ich will dir tas alles mindlich sagen tas Weiteres sprech nicht triba. ich lase mir auch nichtz bis jezt merken.“
Thiering las diesen Brief seinem Schwager Grote, bei dem er wohnte, vor, und dieser machte von dem Inhalte des Briefes Mitteilung an die Magdeburger Polizei, welcher es gelang, die beiden Briefe von Thiering noch am Morgen des 6. Dezember kurz vor seiner Abreise nach Hamburg zu erhalten. Sie übersandte dieselben am 6. Dezember an die Hamburger Kriminalpolizei mit dem Bemerken, daß „die p. Bursik vermutlich den 61% jährigen Knaben Alwin Raczka meine, der nach einem Ausschreiben der Polizei- behörde Hamburg (J.-No. 2895 II 8/94) vom 12. Nov. seit dem 9. November 1894 vermißt werde.“ Als dieses Schrei- ben am 7. Dezember morgens in Hamburg ankam, hatte man schon durch die Bursik selbst genauere Einzelheiten erfahren. Thiering hatte nämlich am Abend des 5. De- zember seine Braut telegraphisch benachrichtigt, daß er nach Hamburg komme. Die Bursik konnte ihren Dienst- herrn Breitrück erst in der Nacht, als er heimkehrte, um die Erlaubnis bitten, am folgenden Tage ausgehen zu dürfen. Breitrück, der schon durch seine Haushälterin von dem Eintreffen einer für die Magd bestimmten Depesche gehört hatte, verlangte diese zu sehen. Als die Bursik sie ihm brachte und zeigen wollte, riß er sie ihr ungestüm und voll Spannung aus den Händen, gab sie ihr aber nach dem Durchlesen mit einem Scherze über die Herkunft zurück und erteilte ihr bereitwillig den gewünschten Urlaub.
Thiering traf dann auch am Nachmittage des 6. De- zember in Hamburg ein und wurde am Bahnhof von seiner Braut empfangen. Er erkundigte sich bei ihr nach den näheren Einzelheiten, die nach seiner Meinung der Polizeibehörde bereits bekannt waren, und war sehr er- staunt, auf weiteres Befragen zu erfahren, daß ihr Dienst-
herr noch nicht verhaftet sei. Er hatte wohl nach den Der Pitaval der Gegenwart. II. 23
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Beobachtungen seiner Braut keinen Zweifel mehr darüber, daß Breitrick den vermißten Knaben beseitigt habe, ver- anlaßte seine Braut, nicht wieder in das Haus ihres Dienst- herrn zurückzukehren, und begab sich alsbald nach seiner Ankunft mit ihr auf das Bureau der Kriminalpolizei, um hier von ihren Wahrnehmungen Anzeige zu erstatten. Sie hatte das bisher aus Angst vor Breitrück unterlassen, denn sie fürchtete, einmal eben vor Weihnachten ihre Stelle und dann auch das Geld, das er ihr noch schuldete, verlieren zu müssen. Schließlich hielt sie es auch für möglich, daß Breitrück ihr gleichfalls etwas antun würde.
Nach den Angaben der Magd und des 17jährigen Hausknechts Dallmeier, die derzeit die alleinigen Haus- genossen des Breitrück waren, hat sich an jenem bedeu- tungsvollen Tage — 9. November 1894 — Folgendes im Be- reich des „Lindenhof“ zugetragen:
Der Knecht Diedrich Dallmeier, der erst am 3. No- vember 1894 bei Breitrück in Dienst getreten war, hielt sich am Vormittage des 9. November in der Küche auf und sah, als er auf dem Wege zur Toilette die Küchen- tür geöffnet hatte, daß sein Herr einen etwa 6—7 jährigen, mit blauem Mantel, schwarzen Strümpfen und wollener Troddelmütze bekleideten Knaben an der Hand führte und mit ihm die von dem vor der Küche liegenden Vorplatz aus nach oben zu den Wohn- und Schlafräumen führende Treppe hinaufging. Dallmeier dachte sich weiter nichts dabei und sah auch nicht das Gesicht des Knaben, den er nicht wieder herunterkommen sah. Als die Bursik bald darauf in dem die eigentlichen Wirtschaftsräume enthalten- den Erdgeschosse des Hauptgebäudes rein machte, kam der in Hamburg-St. Pauli wohnende Onkel des Breitrück gleichen Namens in das Lokal und fragte nach seinem Neffen, dem er etwas mitzuteilen habe. Die Magd ging nach seinem im ersten Stock belegenen Wohnzimmer hin- auf, ohne ihn jedoch zu finden. Da sie ihn auch in den
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übrigen Zimmern des ersten Stocks, die alle unverschlossen waren, nicht antraf, ging sie weiter nach dem zweiten Stockwerk hinauf. Auf einer Stufe der zu diesem führen- den Treppe fand sie eine gestrickte wollene Kindermütze mit Troddel, die sie aufhob und an sich nahm. Im zweiten Stock lagen außer einigen kleinen Vorratsräumen und dem Boden die Zimmer der Magd und des Knechts nnd neben dem letzteren ein nur von diesem aus zugängliches Turm- zimmer. Auch hier oben traf die Bursik ihren Herrn nicht an, doch fand sie die Tür des sonst stets offenen Knechtszimmers verschlossen. Sie rief mehrmals mit lauter vernehmlicher Stimme: „Herr Breitrück, unten ist jemand, der Sie zu sprechen wünscht“, erhielt jedoch keine Ant- wort. Sie ging unverrichteter Sache wieder hinunter in die Kegelbahn und zeigte hier dem Hausknechte die Mütze. . Auf ihr Fragen nach dem Herrn erzählte Dallmeier ihr, Breitrück sei vor kurzer Zeit mit einem kleinen Knaben, der die von der Bursik gefundene Mütze getragen habe, die Treppe hinaufgegangen. Die Magd, die wußte, daß Breitrück für Dallmeier einen andern Knecht annehmen wollte, fragte in dem Glauben, dieser neue Knecht sei in- zwischen angekommen, genauer nach Größe und Alter des Jungen, den ihr Dallmeier als einen Knaben von 7 bis 8 Jahren beschrieb. Die Bursik kehrte in das Gastzimmer zurück und teilte dem Onkel Breitrück die Erfolglosigkeit ihres Suchens sowie auch die Auskunft des Knechts mit. Auf Veranlassung des Onkels ging die Bursik nach etwa einer Viertelstunde, nachdem sie die Mütze auf einen Stuhl ‚gelegt hatte — von dem sie sonderbarer Weise nachher verschwunden ist —, nochmals nach oben. Auch jetzt traf sie ihn weder im ersten noch im zweiten Stockwerk an, auch jetzt fand sie noch die Tür des Knechtzimmers verschlossen, doch schaute sie, da ihr Interesse und ihre Neugierde inzwischen erwacht waren, durch das Schlüssel- loch und sah, daß die Rouleaux heruntergelassen waren 23%
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und der Schlüssel von innen aufsteckte. Sie berichtete dem Onkel, daß sie auch jetzt ihren Herrn nirgends an- getroffen habe, und der Onkel ging.
Kaum war er fort, als der junge Breitrück von oben herunterkam und, nachdem er von der Magd gehört hatte, daß sein Onkel soeben. zur Pferdebahn gegangen sei, ihm nacheilte und mit dem Onkel zurück kam, um mit ihm in der Gaststube zu sprechen. Der Bursik fiel auf, daß der schwarze Anzug ihres Herrn gedrückt aussah, alsob er damit im Bette gelegen habe. Nachdem der Onkel fort- gegangen war, begab die Bursik sich in die Küche, um das Mittagsmahl herzurichten, während Breitrück wieder nach oben ging. Als die Magd etwa um drei Uhr das Essen fertig hatte, ging sie abermals auf die Suche nach ihrem Dienstherrn, den sie aber nirgends fand. Vor dem Knechtszimmer, das nach wie vor verschlossen war, rief sie mehrfach ihren Dienstherrn bei Namen an nnd fügte hin- zu, das Essen sei fertig. Da sie eine Antwort nicht er- hielt, ging sie nach unten und fragte den Knecht noch- mals, ob er sich nicht geirrt haben könnte, denn in ihr war jetzt der Verdacht aufgestiegen, daß Breitrück wie schon früher ein Mädchen bei sich habe und nicht gestört werden wolle. Während sie noch mit dem Knechte sprach, kam Breitrück die Treppe hinunter und ging in die Küche. Die Magd bemerkte, daß er an der einen Backe eine kleine. frische blutige Wunde hatte und fragte, wo er denn so lange gewesen sei, sie habe ihn mehrfach zum Essen ge- rufen, das ja nun schon ganz kalt sein müsse. Er nahm mit den Worten: „Wie sehe ich denn aus?“ eine Kleider- bürste, bürstete sein Zeug ab und sagte, er sei auf dem Dache gewesen und habe fix gearbeitet. Da diese Aus- kunft der Magd auffallend erschien, teilte sie ihm nun weiter mit, daß der Hausknecht ihn mit einem Kna- ben habe die Treppe hinaufgehen sehen, worauf er ganz erregt und entrüstet ausrief: „Der ist wohl ver-
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rückt! Das ist nicht wahr!“ und den Knecht zur Rede stellte.
Breitrück ging alsdann in die Gaststube, wo er allein seine Mahlzeit einnahm, die ihm aber sichtlich nicht schmeckte. Auf die Frage der Bursik nach seinem auf- fallend schlechten Appetit gab er an, er habe noch einen kräftigen Katzenjammer von vorgestern, während er un- ruhig in der Gaststube auf und ab lief.
Als die Bursik dann nach oben ging, um das Bett des Hausknechts im Knechtszimmer herzurichten, war die Tür dieses Zimmers offen, doch war das nur vom Knechtszimmer aus zugängliche Turmzimmer, dessen Tür tagaus tagein offen stand, verschlossen und der Schlüssel steckte nicht auf der Tür. Als sie sich dann an die Arbeit machte, wurde sie wieder abgerufen und ging wieder in die Küche hinunter. Breitrück begab sich abermals nach oben, kam aber bald darauf wieder nach unten und setzte sich in der Gaststube an einen Tisch, um Kaffee zu trinken.
Die Bursik ging wiederum nach oben und machte das Bett fertig. Als sie die auch jetzt noch herabge- lassenen Rouleaux aufzog, bemerkte sie zufällig, daß der Schlüssel zum Turmzimmer jetzt aufsteckte. Sie faßte daher an die Tür, die nicht mehr verschlossen war, und trat in das Turmzimmer. Hiersah sie hinten in der einen Ecke Kinderzeug, insbesondere Hose, Jacke, Überzieher, Schnürstiefel und Strümpfe, liegen, das sie einzeln in die Hand nahm und mit lebhaftem Interesse betrachtete. Als sie sich noch über diesen eigenartigen unerwarteten Fund den Kopf zerbrach, hörte sie ein leises Stöhnen; sie traute ihren Ohren kaum, ging aber, als die Laute sich wieder- holten, auf den Punkt zu, von dem dies Geräusch aus- ging. Hier lag eine alte zerrissene Portiere und ein Kissen, doch bot sich, als sie diese Sachen entfernt hatte, ihren Augen ein schrecklicher Anblick: ein in eine Markise gehülltes Bündel, das zuckte! Als sie von Ent-
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setzen erfaßt, noch unschlüssig, dachte was sie machen sollte, hörte sie die Stimme ihres Herrn, der schon wieder einen Auftrag für sie hatte. Sie bemerkte nur noch, daß dicht bei dem Markisenbündel ein zusammengerolltes mit Blut beschmutztes Bettlaken und eine Strähne blonden Haares lag, und eilte hinunter, um für ihren Herrn ein Stück Sandtorte zu holen. Als sie nach kurzer Zeit mit dem Kuchen zurückkam, wagte sie es vor Angst nicht, etwas von ihren Wahrnehmungen verlauten zu lassen, und eilte nochmals nach oben, um nunmehr, nachdem sie ihre Furcht inzwischen bemeistert hatte, das geheimnisvolle Bündel zu besichtigen, doch vergeblich, denn jetzt war das Turmzimmer wieder verschlossen. Sie suchte den Schlüssel, der bis dahin niemals gefehlt hatte, doch siehe! er war abgezogen und so war es ihr unmöglich, das Dunkel dieses Geheimnisses zu lüften.
Im Laufe des Abends kam der Postbote mit einem Briefe für Breitrück, für den fünf Pfennige nachzuzahlen waren. Die Bursik ging nach oben, um sich von ihm das geforderte Geld geben zu lassen. Er stand ım Schlaf- zimmer an der von ihm selbst nicht zum Schlafen benutzten eisernen Bettstelle und legte die Markise, die Hülle. des von ihr oben im Turmzimmer gesehenen zuckenden Bündels, zusammen. Als sie mit den Worten: „Herr Breitrück, es ist ein Brief da, der fünf Pfennige kostet“ in das Zimmer trat, erschrak er ersichtlich, kam ihr mit der Markise in der Hand entgegen und gab ihr zehn Pfennige für den Briefträger. In diesem Augenblicke wurde die Bettdecke der eisernen Bettstelle von innen hochgehoben. Die Bursik fuhr vor Schreck zusammen und rief: „O Gott! Was ist denn das da in dem Bette ?*, worauf Breitrück gelassen erwiderte, das sei gar nichts, gar nichts! Sie übergab dann dem Postboten das Geld. Am Abend, als sie das Bett ihres Herrn zurecht machte, untersuchte sie auch das eiserne Bett; es lag nichts mehr
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in demselben, doch fand sich ein Eindruck in ihm, als ob dort etwas gelegen hätte. Sonst war Verdächtiges nicht zu bemerken. Sie beobachtete aber, daß sämtliche Türen
zu den weiteren Wohnräumen ihres Herrn — bis zum nächsten Morgen! — verschlossen waren und daß ihr
Herr im Laufe des Abends noch mehrere Male von den Gästen fort und mit Licht nach oben ging. Am Morgen des 10. November kam Breitrück viel früher als sonst aus seinem Zimmer herunter; seine Stiefel waren so auf- fallend schmutzig, daß die Bursik annahm, er sei am Abend oder in der Nacht vom Hause fortgewesen; mit dieser Vermutung stimmte auch ihre Beobachtung über- ein, daß nach ihrem Zubettgehen die Haustür knarrte.
An den beiden folgenden Tagen, 10. und 11. November, hat die Bursik das Kinderzeug, das zweifellos das Zeug des verschwundenen Alwin Raczka war, noch an dem- selben Platze im Turmzimmer des zweiten Stockwerkes liegen sehen und am 10. November den Mut gefunden, ihrem Herrn von ihrem rätselhaften Fund Mitteilung zu machen. Er ist daraufhin ohne weiteres mit ihr in das Turmzimmer gegangen und hat dort behanptet, es müßte schon recht lange dort liegen; er wüßte nicht, auf welche Weise es dorthin gekommen sei. Am Morgen des 13. No- vember war jedoch das Kinderzeug dort oben plötzlich ver- schwunden. |
Die Bursik hatte inzwischen im Turmzimmer noch ein Bündel Haare und mehrere Glasmarmelin, die beim Aufheben der Knabenhose herausgefallen waren, sowie im Kleiderschrank ein mit Breitrücks Namen gezeichnetes blutiges Taschentuch und im Papierkorb im Kontor ein blutiges Staubtuch gefunden.
Breitrück hatte die Markise, die der Bursik aufgefallen war, bereits am Mittag des 10. November wieder in den Wäscheschrank gelegt, in dem sie ursprünglich aufbewahrt lag. Seine Seife hatte er fortgeworfen und ein neues
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Stück in Benutzung genommen; doch fand sich das alte Stück, an dem kleine Haare saßen, beim Ausgießen des Toiletteneimers. Sein Kontor wurde nach dem 9. No- vember von der ersten Etage in den Windfang hinunter verlegt, wohin auch der bis dahin in seinem Wohnzimmer befindliche Teppich von ihm selbst gebracht wurde. Auf einem Tisch, der am Fenster des bis dahin als Kontor benutzten Zimmers des I. Stockes stand, fand die Bursik endlich noch ein Stückchen Sandtorte und ein Stück Scho- kolade, welch letzteres aus dem im Lindenhof befindlichen Schokoladenautomat entnommen zu sein schien. Auf dem in der Küche befindlichen Schranke lag ein zweites Staub- tuch, das so zusammengeballt war, daß es als Knebel be- nutzt zu sein schien.
Da die Bursik nach dem Abgange des Dallmeier niemanden hatte, mit dem sie diese rätselhaften Funde besprechen konnte, machte sie, wie oben schon dargestellt, ihrem Bräutigam Mitteilung davon, daß ihr Herr etwas „Böses“ getan habe müsse. |
Auf Grund des über die Aussagen der Barbara Bursik am Abend des 6. Dezember aufgenommenen Protokolls wurde von der Hamburger Kriminalpolizei am frühen Morgen des 7. Dezember ein Kriminalkommissar an die Altonaer Polizei, in deren Gebiete der „Lindenhof“ liegt, mit einem Assistenzersuchen entsandt. Infolgedessen be- gaben sich in der Frühe des 7. Dezember Hamburger und Altonaer Polizeibeamte nach dem Breitrückschen Lokal „Lindenhof“. Zwei von ihnen traten ins Haus und er- suchten die Haushälterin Bang, ihrem Herrn mitzuteilen, daß zwei Herren ihn zu sprechen wünschten. Sie ging daher mit den beiden Beamten nach oben und klopfte mehrfach an das verschlossene Schlafzimmer des Breitrück, der erst nach längerer Zeit die Tür öffnete und mit einem in Zeitungspapier eingewickelten Paket auf den Korridor hin- austrat. Er hatte inzwischen, wie einer der vor dem Hause auf
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der Straße verbliebenen Beamten beobachtet hatte, eine Zeitlang am Fenster seines Schlafzimmers gestanden und sich ersicht- lich dort zu schaffen gemacht. Die Beamten legitimierten sich und gingen mit ihm in sein Wohnzimmer, auf dessen Sofa er das in der Hand gehaltene Paket legte. Als ihm nunmehr die Ursache dieses frühen Polizeibesuchs klar gelegt und von den Angaben seiner Magd Kenntnis gegeben wurde, verfärbte er sich auffallend und begann lebhaft zu zittern, um sich gleich zu fassen und in eine stoische Ruhe zu verfallen. Er erinnerte sich sofort mit großer Bestimmtheit, daß er am Nachmittage des 9. No- vember den Besuch seines Onkels empfangen habe und diesem nachgelaufen sei, bestritt jedoch die Richtigkeit der ihm vorgehaltenen Angaben der Bursik, die er als freie Erfindung und einen Racheakt bezeichnete, obgleich er vorher seine volle Zufriedenheit mit den Lei- stungen und dem Betragen der Bursik ausgesprochen hatte. Mit der Durchsuchung der sämtlichen Räume seines Hauses erklärte er sich bereitwilligst einverstanden und wurde dann nach der nächsten Altonaer Polizeiwache ge- führt. Er war ganz ruhig geworden; nur zeigte sein Gesicht eine auffallende Blässe. Den ihn geleitenden Be- amten sagte er, er könne es absolut nicht begreifen, wie ‚die Dienstmagd dazu käme, solche Anschuldigungen gegen ihn zu erheben; sie habe eine Depesche erhalten und sei daraufhin weggegangen, ohne in den Dienst zurückzu- kehren; er sei ein großer Kinderfreund; die Beamten würden doch auch sicherlich nicht an die Beschuldigung glauben. Bei Ankunft auf der Polizeiwache sagte er zu dem Wachthabenden scherzend: „Na, schon wieder ein Arrestat“ und ließ sich eine Zeitung geben, auf ‚die er unentwegt hinstarrte. Dann lief er wieder unruhig 'im Zimmer umher und wunderte sich über die lange Dauer der Haussuchung, da es doch nur ein paar Zimmer selen. Als dann ein Kriminalkommissar nach beendeter Durch-
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suchung an Wache kam und Breitrück fragte, wo er das Kind gelassen habe, entgegnete er mit größter Ruhe: „Sie scherzen wohl“ und, als er von dem Auffinden der Kinder- kleider benachrichtigt und nochmals nach dem Verbleib des Knaben gefragt wurde, gab er überhaupt keine Ant- wort mehr. | u
Die inzwischen erledigte Durchsuchung des „Lindenhof“ hatte folgendes Ergebnis gehabt:
In dem Turmzimmer fand man eine Marmel, die der Vater Raczka als seinem verschwundenen Sohne gehörig bezeichnete, weil genau solche Marmeln der Onkel aus Amerika ihm geschickt hatte Daselbst wurden ferner kurze blonde Haare und eine graue Knabenhose gefunden, die von den Eheleuten Raczka mit absoluter Sicherheit . als diejenige wiedererkannt wurde, welche ihr Junge zu- letzt getragen hatte.
In dem an das Turmzimmer stoßenden Knechtszimmer entdeckte man in dem Bette des Knechtes beim Zurück- schlagen der Bettdecke an dem Fußende des Betts zwischen Matratze und Bettstelle in Zeitungspapier eingewickelt zwei weitere Marmeln. Die Bursik, welche das Bett am Tage der Entlassung des Knechts Dallmeier (2. Dezbr.) zuletzt gemacht hatte, hatte damals nichts von den Marmeln im Bette bemerkt, so daß der Schluß gerechtfertigt erscheint, sie seien erst später in das Bett gelegt worden.
Im Wohnzimmer stießen die Polizeibeamten auf das in Zeitungspapier gewickelte Paket, das Breitrück beim Betreten dieses Zimmers in Gegenwart der Beamten auf das Sofa gelegt hatte. Trotz seines Leugnens kann es nach der bestimmten Aussage der beiden Polizeibeamten keinem Zweifel unterliegen, daß er das fragliche Paket und nicht, wie er behauptet hat, nur ein Bündel alter Zeitungen auf das Sofa legte. In diesem Paket nun fan- den sich ein Paar Kinderschnürstiefel, die gleichfalls von den Eheleuten Raczka mit Bestimmtheit als diejenigen
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wieder erkannt wurden, welche ihr Sohn beim Verlassen der Wohnung getragen hatte.
In dem Schlafzimmer des Breitrück machten zwei der Beamten die erstaunliche Wahrnehmung, daß die Tür des ganz neuen und noch nicht benutzen Ofens sich nicht öffnen ließ. Als sie dieselbe mittels eines Hammers geöffnet hatten, entdeckten sie auf dem Rost des Ofens neben Resten verkohlten Papiers viele kurze blonde Haare, über die der sonst unter dem Rost befindliche Aschenkasten gestellt war, so daß man die Haare zunächst gar nicht sehen konnte. Im Waschtisch lag ein Rasiermesser und auf einer kleinen Kiste unter der in das zweite Stockwerk führenden Treppe ein kleinerer Büschel kurzer blonder Haare.
Daraufhin wurde Breitrück noch an demselben Tage — 7. Dezember — dem Kgl. Amtsgerichte Altona zuge- führt. Hier stellte er jede Schuld in Abrede, wollte nicht wissen, wie die gefundenen Sachen in seine Wohnung ge- langt seien, und bestritt mit aller Entschiedenheit, daß er jemals einen Knaben in seinem Hause an der Hand ge- habt und die Treppe hinaufgeführt habe. Er blieb in Haft.
Im Laufe des 7. November 1894 fand noch eine zweite genaue Durchsuchung des „Lindenhof“ statt, welche weitere interessante Funde lieferte. Zunächst wurde in dem Tanzsaale, der unmittelbar an das Haupthaus angebaut war, unter dem Orchester im Sande verscharrt eine wollene Kindermütze mit Troddel gefunden — dieselbe, die s. Zt. von der Bursik gefunden und auf einen Stuhl im Gastzimmer gelegt und dann verschwunden war. In dieser Mütze lagen sorgfältig zusammengewickelt eine Knabenunterhose und ein am hinteren Teile mit Blut beflecktes Hemd. : Auch diese drei Teile wurden von den Eheleuten Raczka als ihrem vermißten Sohne gehörig wieder erkannt. Auf dem Hausboden entdecktö man weitere blonde Kopfhaare, die nach Angabe der Eltern genau von der gleichen Be- schaffenheit waren wie die ihres Sohnes Alwin. In dem
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Bette der Wirtschafterin fanden sich an einer Bettdecke und an einem Kopfkissen eingetrocknete Blutflecke; es stellte sich heraus, daß diese beiden Teile bis zum Dienstantritt der Haushälterin, am 12. November, im Turmzimmer ge- legen hatten und damals, bereits mit den Blutflecken be- haftet, der Bursik für das Bett der Bang übergeben waren. Endlich ermittelte man auf dem Vorplatze der ersten Etage in dem Handstein auch das Stück Seife, das Breit- rück benutzt hatte, als er sich am Nachmittage des 9. No- vember die Hände wusch. In dem als Kontor benutzten Vorzimmer lag eine Speisekarte mit Blutflecken.
Die weitere Verfolgung der Sache wurde nunmehr von der Hamburger Staatsanwaltschaft an die Kgl. Staats- anwaltschaft Altona abgegeben, da die Tat auf dortigem Gebiete verübt und auch der Täter dort wohnhaft war.
Am 9. Dezember wurde die Voruntersuchnng wegen Mordes gegen Breitrück eröffnet.
Immer noch fehlte das wichtigste Überführungsstück, die Leiche des Knaben. Doch alles Mühen war vergeblich, so viel und so eifrig man auch suchte. Bei diesen Nach- forschungen wurde aber noch der Teppich, der im Kontor vor dem Schreibtisch des Breitrück gelegen hatte, beschlag- nahmt, weil er auf der untern Seite viele große Flecke, die Blutspuren zu sein schienen, und augenscheinlich auch den Abdruck eines menschlichen Körpers aufwies.
Der Knecht Dallmeier, der von dem Verdachte gegen Breitrück gehört hatte, berichtete der Polizeibehörde jetzt, daß Breitrück ihn mehrfach, wenn er sich um die im zweiten Stocke befindlichen Wasserkasten kümmern wollte, von dort fortjagte. Es wurde daher auch in den Wasser- behältern gründlich Umschau gehalten, doch von der Leiche nichts entdeckt.
Über den ganzen Tanzsaal’ des Lindenhofs erstreckte sich ein Boden, dessen Tür verschlossen gefunden und, da der Schlüssel nicht zu finden war, vom Schlosser geöffnet
Der Knabenmörder Breitrück. 333
wurde. Der Boden war so niedrig, daß man sich in ihm nur gebückt und an mehreren Stellen sogar nur kriechend bewegen konnte. Um zu diesem Boden zu gelangen, mußten die Durchsuchenden zunächst von den flachen Dächern der unter dem Nordgiebel des Tanzsaals befind- lichen Räume aus an den in der Giebelwand eingelassenen Steigeisen emporklettern, auf dem vorgebauten Dach des Speisesaals ein Laufbrett passieren und von der Mitte dieses Laufbretts auf ein Podest kriechen, um von diesem mittels einer Leiter eine noch zwei Meter höher ge- legene eiserne Tür zu erreichen. Durch diese 57 qem große Tür gelangten die Durchsuchenden auf den 33,5 m langen und 6 m breiten Spitzboden, den sie nur kriechend oder gebückt passieren konnten.
In der Mitte des Bodens, dort wo dieser dunkel zu . werden begann, angelangt, sahen sie auf einer Bierflasche eine Kerze stehen. Sie zündeten dieselbe an und suchten mit Hülfe des Lichts weiter. Im äußersten Winkel, den das Dach mit dem Fußboden bildete, stießen sie auf einen Haufen von Steinen, Kalk und Papier. Nach- dem sie einige Steine und Kalkstücke fortgeräumt hatten, ragte aus dem Haufen eine Schnur hervor, die sie anzogen. Es kam ein Sack zum Vorschein, aus dem der blutige Kopf des ermordeten Alwin Raczka her- aussah, während die übrigen Teile der Leiche in dem Sacke steckten. Um den Hals war die Gardinenschnur gewickelt, welche zur Auffindung der Leiche geführt hatte.
Die Leiche war blaurot, das Gesicht stellenweise von Schimmel bedeckt, die Haupthaare kurz abgeschnitten. Auf Anordnung der inzwischen erschienenen Gerichtskom- mission wurde die Leiche in einer versiegelten Kiste in das städtische Krankenhaus überführt. Auf dem Boden nahm man Spuren davon wahr, daß die Leiche auf dem Fußboden entlang gezogen war; in nächster Nähe eines
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Fensters stand eine kleine mit Petroleum gefüllte Flasche. Der Schlüssel zu der Bodentür wurde in der Küche auf dem dazu bestimmten Schlüsselbrett gefunden.
Es wurde nun, nachdem die gefundene ziemlich gut erhaltene Leiche von dem Schuhmachermeister Raczka als die seines Sohnes Alwin anerkannt war, weiter festgestellt, daß Nachbarn des Breitrück in der Zeit nach dem Ver- schwinden des Knaben mehrfach bemerkt hatten, wie er sich auf dem Dache und auf dem Boden zu schaffen machte. Einer von ihnen hatte sogar von seinem Zimmer aus deutlich beobachten können, wie Breitrück sich mit einer Leiter auf den im Laufbrett befindlichen Podest be- gab und mit Hülfe dieser die Luke öffnete und alsdann den Boden betrat. Die Haushälterin gab ferner noch an, daß ihr Herr an dem zweiten Sonntage nach dem Ver- schwinden des Knaben auf dem Boden gewesen sei, um angeblich die auf demselben befindlichen Ventilations- schächte mit Säcken zuzudecken, weil sich ein Tanzordner über starken Zug beschwert hatte.
Die chemische Untersuchung der beschlagnahmten Gegenstände ergab folgende interessante und wichtige Momente: Fünf auf den Fensterbänken und am Ofen des Breitrüäckschen Schlafzimmers gefundene verdächtige Flecke von rötlicher Farbe entpuppten sich bei der Unter- suchung nicht als Blutspuren, für die sie nach dem ersten Aussehen unbedingt gehalten werden mußten, sondern als Teile eines braunen Lacküberzugs. — Auf dem Rücken des Knabenhemdes befanden sich in der Höhe des Gesäßes zwei unregelmäßig geformte, je drei Zentimeter breite und fünf Zentimeter lange Blutflecke, und zwar auf der äußeren Seite, so daß sie jedenfalls nur durch eine von außen — vermutlich mit Daumen und Zeigefinger — erfolgte Be- rührung entstanden sein konnten. — Weitere grünliche Flecke ließen die Vermutung nach dem Vorhandensein von Spermatozoen entstehen, doch ließen sich solche selbst
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unter dem Mikroskop nicht nachweisen. Ein unbedeu- tender Blutfleck am Saume des Leibchens der Unterhose schien von einer nur oberflächlichen Hautabschürfung her- zurühren. Ferner wurde Blut auf der im Kontor gefundenen Speisekarte sowie an der Bettdecke und dem Kopfkissen festgestellt, welche Breitrück für die Wirtschafterin aus dem Turmzimmer herausgeholt hatte. — Wenn die übrigen Gegen- stände auch blutfrei befunden wurden, so konstatierte die Untersuchung doch, daß an dem Rasiermesser Kohlentrümmer hafteten, die sich als angesengte oder verkohlte Haare er- wiesen, die nach Struktur, Dimension und Farbe genau mit den Haaren des Kindes übereinstimmten und auch den an der Seife und sonstigen Sachen gefundenen Haaren glichen. — Die von Breitrück getragene Hose wies zahl- reiche Ceresinflecke auf, die durchaus mit der auf der Flasche gefundenen Kerze übereinstimmten.
Am 11. Dezember um 12 Uhr mittags fand sich die Gerichtskommission im städtischen Krankenhause zur Obduk- tion der gefundenen Leiche ein. Der miterschienene Vater des Raczka erkannte die Leiche nochmals als die seines vermißten Sohnes Alwin an. Als Breitrück zur Rekogno- szierung vorgeführt wurde, trat er mit eisiger Ruhe an den Leichnam heran und erklärte mit fester Stimme, daß er die Leiche nicht kenne, den Knaben niemals gesehen habe und unschuldig sei. — |
Aus dem Obduktionsbefunde ist Folgendes hervorzu- heben: Die Leiche war bis zum Halse in einen groben Sack eingeschlagen, um dessen oberes Ende — gleichwie auch um den Hals selbst — eine Gardinenschnur festgeschlungen war. Nach der Entfernung des Sackes zeigte sich der ‚Körper, der verhältnismäßig gut erhalten, an den Gliedern blaß und schwach rötlich, am Unterleib hochrot gefärbt und an vielen Stellen mit Schimmel bedeckt war. An dem Kopfe fehlte in der Mitte und vorn das Haar fast gänzlich, während an den Seiten und am Hinterkopfe nur kurze und spärliche
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Haare vorhanden waren. An Stirn, Schläfe und Händen zeigte sich ein abkratzbarer Belag, der von dem Chemiker als verbrannte, verkohlte Haare und Haut ermittelt wurde. Oberhalb des linken Ohres fehlte ein Stückchen Haut voll- ständig, ebenso die Augenbraunen. Am Gesicht war ein Ge- ruch von Petroleum deutlich wahrnehmbar. Die zweimal um den Hals gewundene Schnur war sehr stramm geschnürt sodaß sie in tiefe Hauffalten gelagert zu sein schien, und auch im Nacken zusammengebunden. An Brust und Bauch zeigten sich keine besonderen Merkmale. Der Penis war schlaff, die Innenseite des Praeputium erschien hochrot und des Oberhäutchens beraubt. Die Schleimhaut des Rectum zeigte am Rande kleine Risse. An Armen und Beinen und auf der äußeren Seite beider Ellenbogen und Unterschenkel fanden sich rote Linien, die gleichfalls auf Einschnürungen hindeuteten.
Das Gutachten der Sachverständigen ging dahin, daß der Knabe durch Erstickung ums Leben gekommen sei, die - durch die sichtlich erfolgte Strangulation hervorgerufen war. Nach der Art und Beschaffenheit der Hautrinnen und Falten war es unzweifelhaft, daß die Strangulation noch an dem le- benden Kinde vorgenommen war. Sodann hat noch brennendes Petroleum auf den Körper und zwar namentlich auf Kopf, Hals und Hände eingewirkt, ohne daß mit Sicherheit festzu- stellen oder auch nur darauf zu schließen gewesen wäre, ob diese Einwirkung des Feuers noch bei Lebzeiten oder erst nach dem Tode erfolgt ist. Es wurde aber als zweifel- los gefolgert, daß die Umschlingungen der Arme und Beine zu Lebzeiten des Knaben vorgenommen, aber erst nach seinem Tode gelöst waren. Die aus dem Befunde des Rectum (anus) zunächst gefolgerte Annahme einer gewalt- tätigen (päderastischen) Einwirkung wurde unbestimmt ge- lassen, aber als sicher angenommen, daß eine gewalttätige Einwirkung auf den Penis durch Zerrung und Dehnung stattgefunden habe.
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Breitrück beteuerte auch diesem erdrückenden Beweis- material gegenüber seine Unschuld. Er konnte sich jetzt des 9. November und seiner Einzelheiten nicht mehr ent- sinnen und bestritt auch, solches jemals den Beamten an- gegeben zu haben. Er machte darauf aufmerksam, daß die Bursik ihre Angaben, die ihm völlig unbegreiflich waren, erst einen Monat nach der angeblichen Tat gemacht habe, hielt den Knecht Dallmeier für rachsüchtig und nachtragend, konnte aber einen Verdacht gegen irgend jemand nicht aussprechen, sondern wies nur darauf hin, daß in der frag- lichen Zeit sehr viele Arbeiter in seinem Gewese beschäftigt gewesen seien, von denen vielleicht einer die vorgefundenen Sachen ins Haus gebracht und dort versteckt habe, um sich selbst zu retten. Er erinnerte sich nicht, den Knaben,
‚dessen Bild ihm vorgelegt wurde, und die aufgefundenen
Sachen jemals gesehen zu haben. Schließlich glaubte er, sich zu erinnern, daß er am Nachmittage den Besuch eines ihm befreundeten Mädchens erhalten und am Abend gegen 10 Uhr ein Vergnügungsetablissement für mehrere Stunden aufgesucht habe. Er bestritt, häufig auf dem Spitzboden gewesen zu sein, gab aber zu, daß er sich öfters auf den platten Dächern aufgehalten habe, um die Flaggen auf- zuziehen und um nach den Scheiben in dem Oberlicht zu sehen.
_ Breitrück ist im September 1866 zu Hamburg geboren und kam schon im jugendlichen Alter von 7 Jahren nach Altona, wo sein Vater den „Englischen Garten“ übernahm, ein hauptsächlich von Arbeitern, Seeleuten und leichtfertigen Mädchen besuchtes Tanzlokal. In Altona besuchte er die Bürgerschule und später in Kiel fast drei Jahre lang die Realschule. Nachdem er dann das Krämereigewerbe erlernt hatte, fand er in einem Engrosgeschäft Stellung, bis er im Jahre 1887 seiner Militärpflicht beim Infanterie-Regiment 77 genügte, wo er sich gut führte. Im September 1889 begann er selbständig eine Krämerei in Hamburg-Eimsbüttel, die er
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bis zum März 1894 behielt. Ein Delikatessengeschäft in St. Pauli jedoch gab er im August desselben Jahres auf und übernahm den in Langenfelde belegenen „Lindenhof“, ein umfangreiches Wirtschaftsgewese mit Tanzsalon. Er war nicht verheiratet, unterhielt aber viel Verkehr mit Frauen- zimmern, ohne indess in sexueller Beziehung unmäßig zu sein. Er wußte sich bei Frauen durch sein höfliches und oft übertrieben zuvorkommendes Benehmen beliebt zu machen. Auch im „Lindenhof“ hat er in seinen Privat- zimmern häufig Damenbesuch empfangen. So ist die Freundin, deren Besuch er am Nachmittage des 9. November gehabt zu haben behauptete, vielfach bei ihm gewesen. Da sie Buch über diese Besuche führte, konnte nachgewiesen werden, daß sie nicht an jenem Tage, sondern erst am 10. November bei ihm gewesen war. Eine andere Freundin, die er schon als Krämer kennen gelernt und nach längerem Widerstreben verführt hatte, besuchte ihn auch später noch im „Lindenhof“. Dieselbe hatte an ihm eine eigentümliche Neigung beobachtet: er frisierte oder schnitt auch wohl ihr Haar; wenn das Haupthaar nur ein wenig ausgerauht war, brachte er es wieder in Ordnung und regelmäßig schnitt er ihr die kleinen Nackenhaare mit der Schere ab und beseitigte, da ihm auch das noch nicht genügte, mit dem Rasiermesser die letzten Reste dieser kleinen Haare, die er dann fortwarf.
Breitrück hatte sich beim Militär und auch im bürger- lichen Leben straffrei geführt bis auf eine im Oktober 1892 vom Landgericht Hamburg wegen Vergehens gegen das Markenschutzgesetz gegen ihn erkannte Geldstrafe von 150 M.
Am 30. Januar 1895 erhob die Kgl. Staatsanwaltschaft Altona gegen Breitrück Anklage wegen Mordes. Der Ver- teidiger beantragte Einholung eines Obergutachtens des Medizinalkollegiums über die drei Fragen, ob die Erstickung notwendigerweise gewaltsam herbeigeführt sein mußte, ob
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die an dem Rasiermesser gefundenen Haare mit denen des Knaben identisch waren, und wann der Tod eingetreten war, und hielt es für seine Pflicht, Ergänzung der Voruntersuchung und Haftentlassung zu beantragen und damit zu begründen, daß die Belastungszeugen unglaubwürdigseien. Diese Anträge wurden abgelehnt und gleichzeitig das Hauptverfahren vor dem Schwurgerichte Altona eröffnet. Die gegen diesen Be- schluß eingelegte Beschwerde des Verteidigers wurde vom Oberlandesgerichte Kiel verworfen. Jetzt beantragte der Ver- teidiger die Ladung von 44 weiteren Zeugen sowie eines Schreibsachverständigen, der bereits ein schriftliches Gut- achten auf Grund der photographischen Reproduktionen der Briefe der Bursik erstattet und in diesem erklärt hatte, er müsse die Originale sehen, da er nur aus der Handschrift selbst einen sichern Schluß auf „eine etwa vorhandene Krank- heit“ ziehen könne. Die Ladung einiger der benannten Zeugen wurde verfügt, die des Schreibsachverständigen abgelehnt.
Als endlich am Vormittage des 10. Februar 1895 um 10 Uhr die Hauptverhandlung begann, waren die Korridore des Altonaer Gerichtsgebäudes von einer Menschenmenge derart überfüllt, daß aus dem Gedränge heraus vielfach Angst- und Hülferufe laut wurden. Erst allmählich verzog sich der Schwarm, als man erfuhr, daß der Eintritt zum Schwurge- richtssaale nur gegen Karten gestattet wurde. Nachdem in fünftägiger Verhandlung 102 Zeugen und 5 Sachver- ständige vernommen waren, beantragte der Verteidiger die Aussetzung der Verhandlung, um Ermittelungen über das Vorhandensein einer erblichen Belastung und von Bewußt- seinsstörungen bei der Bursik vorzunehmen. Dieser Antrag wurde abgelehnt, da er nach dem übereinstimmenden Gut- achten der Sachverständigen unbegründet war und auf Aus- setzung und Hinhaltung des Urteilsspruchs abzielte, und die Beweisaufnahme wurde geschlossen.
Es wurde den Geschworenen nur die eine Frage vor-
gelegt, ob der Angeklagte Breitrück schuldig sei, im November 24 *
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1894 zu Altona-Langenfelde den Knaben Alwin Raczka vor- sätzlich getötet und diese Tötung mit Überlegung ausgeführt zu haben. Der Staatsanwalt bat um Bejahung, der Verteidiger um Verneinung der Schuldfrage und Breitrück beteuerte nochmals seine Unschuld. Die Geschworenen bejahten die Schuldfrage.
Breitrück sagte nichts mehr und der Verteidiger er- klärte, er habe keine weiteren Anträge zu stellen. Das Urteil wurde dann dahin verkündet, daß Breitrück des Mordes schuldig und deshalb mit dem Tode und dem Verluste der bürgerlichen Ehrenrechte zu bestrafen, auch in die Kosten des Verfahrens zu verurteilen sei. Breitrück stützte dabei seinen Kopf mit den auf die Schranke der Anklagebank gelegten Armen, so daß sein Gesicht nicht zu sehen war. Ohne ein Wort, aber laut weinend, verließ er schwankenden Schrittes den Saal. In der Zelle angelangt, sank er zu Boden und fiel, obwohl mehrmals von den Beamten auf- gehoben, immer wieder nieder und schluchzte heftig. Als er sich allmählich beruhigt hatte, kauerte er sich in einer Ecke der Zelle zusammen und ließ sich willig die Hand- schellen anlegen; eine Maßregel, die getroffen wurde, um Selbstmord zu verhindern.
Alle Aufforderungen der Gefängnisbeamten, sich zu Bett zu begeben, ließ er unbeachtet; die ihm vorgesetzten Speisen rührte er nicht an; der ihn am nächsten Morgen aufsuchende Gefängnisgeistliche mußte sich unverrichteter Sache wieder entfernen, da sein Zuspruch dem Verurteilten nicht erwünscht war.
Die am 27. Februar 1895 von dem Verteidiger und am 1. März von seinem Nachfolger nochmals eingelegte Re- vision wurde am 26. April vom Reichsgericht verworfen. Ein am 8. Mai eingereichtes Gesuch um Wiederaufnahme des Verfahrens und Aufschub der Strafvollstreckung wurde durch Beschluß des Landgerichts am 16. Mai abgelehnt und die gegen diesen Beschluß eingelegte Beschwerde
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durch das Oberlandesgericht Kiel am 8. Juni 1895 ver- worfen. Das gleiche Geschick widerfuhr einem zwei- ten und dritten Antrage auf Wiederaufnahme des Ver- fahrens.
In der Nacht auf den 25. August 1895 machte Breit- rück den Versuch, aus dem Gefängnis auszubrechen. Er hatte mit Hülfe eines am Abend ihm versehentlich nicht ab- genommenen Arbeitsınessers seine Fußfessel gesprengt und von der Mauer ein Stückchen Bewurf und Mörtel losge- kratzt, jedoch bei der Aussichtslosigkeit von der weiteren Ausführung abgelassen. In seinem Strohsack hatte er einen etwa 11/2 Meter langen Strick verborgen, den er aus ihm zur Anfertigung von Säcken übergebenen Bindfäden ge- flochten hatte. Dieser Fluchtversuch hatte zur Folge, daß ihm Handfesseln für die Nacht und Fußfesseln auch für die Tageszeit angelegt wurden.
Ein am 22. Mai eingereichtes Gnadengesuch wurde durch allerhöchsten Entschluß vom 3. Februar 1896 abge- lehnt. Als am Nachmittage des 14. Februar Breitrück er- öffnet wurde, daß das Urteil am Morgen des nächsten Tages vollstreckt werden würde, beteuerte er wiederholt seine Unschuld und bat um Reichung des Abendmahls durch einen von ihm benannten Geistlichen. Hierauf zün- dete er sich eine Zigarre an und schrieb eine an die Staats- anwaltschaft gerichtete Rechtfertigungsschrift, die er jedoch, nachdem er über das Zwecklose seines Vorhabens durch den Geistlichen belehrt war, nicht beendete, sondern ver- nichtete. Er bat dann um Kaffee und Portwein und be- teuerte seinen Eltern, die ihn zum letzten Male aufsuchten und fast zwei Stunden bei ihm verweilten, seine Unschuld. Später empfing er nochmals den Besuch des Gefängnis- geistlichen, dem er rundweg erklärte, er habe nichts mit ihm zu tun. Mit einem andern auf seinen Wunsch hin- zugezogenen Geistlichen unterhielt er sich dagegen gern und eingehend, ohne jedoch die Tat einzuräumen. Um
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1 Uhr nachts schrieb er seinen Eltern einen Abschiedsbrief und legte sich um 11/2 Ubr zu Bett, schlief aber erst gegen 5 Uhr ein. Kurz vor 6 erhob er sich wieder, um gleich darauf nochmals den Besuch des von ihm gewünschten Geist- lichen zu empfangen. Zwei Stunden später wurde die Strafe im Hofe des Gerichtsgefängnisses vollstreckt. Ein wuchtiger Hieb trennte das Haupt vom Rumpfe und der Leichnam wurde den Angehörigen zur Beisetzung überwiesen.
Auch angesichts des Todes hatte Breitrück sich nicht zu einem Geständnis verstanden. Wenn es nun auch zum Nachweise seiner Schuld angesichts der erdrückenden Be- lastung seines Geständnisses nicht bedurfte, so wäre doch aus dem Gesichtspunkte der Aufklärung der Tat und ihres Motivs ein eingehendes Geständnis bedeutungsvoll gewesen. Denn einige Angaben, welche Breitrück in einem nach seiner Verurteilung auf unaufgeklärte Weise aus dem Untersuchungsgefängnis herausbeförderten Briefe über die Ausführung der Tat gemacht hat, geben gewiß kein rich- tiges Bild von Motiv und Ausführung der Tat, weil dieser Brief den Zweck hatte, den Verdacht der Täterschaft auf eine andere Person abzuwälzen.
Die gesamten Umstände deuten — ganz abgesehen von dem Mangel eines andern erkennbaren Motives — daraufhin, daß Breitrück zur Ermordung des Knaben durch die Geschlechtslust getrieben worden ist. Dafür spricht zu- nächst folgender Vorfall, der zeigt, daß Breitstück zweifel- los päderastische Neigungen hatte. Im Frühjahr 1894 traf Breiträck in einem Lokale mit einem von seiner Mutter begleiteten 6jährigen Jungen zusammen, den er weiter nicht kannte. Er kaufte ihm für 80 Pfennige Schokolade, schenkte ihm einen Groschen, streichelte seine Wangen und fuhr ihm mehrfach durch und über die Haare, sodaß die Mutter ihm schließlich sein Gebahren ausdrücklich untersagen mußte und, als auch das nichts fruchtete, das
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Lokal verließ, um ein anderes aufzusuchen. Sofort erschien auch hier Breitrück und setzte sich wieder zu ihnen; er wiederholte seine Liebenswürdigkeiten gegen den Knaben und fragte u. a. auch, ob er nicht einmal mit ihm allein spazieren gehen dürfe. Die Mutter verneinte dies und ` suchte, als Breitrück ihr nun gar Unterstützung anbot, ihm abermals zu entkommen. Er schien das jedoch bemerkt zu haben und bat sie, noch ein anderes Lokal zu besuchen, in dem es einen schönen steifen Grog gäbe. Obwohl sie anfangs sich auf nichts einlassen wollte, willigte sie schließ- lich auf sein liebenswürdiges Zureden ein. Als Breitrück dann in diesem dritten Wirtschaftslokal mit einem Fremden Streit bekam, benutzte die Frau mit großer Vorsicht diesen günstigen Moment und entfernte sich wiederum mit ihrem Jungen; kaum war sie ein Stückchen des Weges gegangen, als Breitrück ihr nachgeeilt kam und auf ihre ärgerliche Frage, was er denn um alles in der Welt von ihr wollte, ganz offen erklärte, er wolle von ihr überhaupt nichts, da sie ihm zu alt sei, aber er interessiere sich für ihren hüb- schen Jungen und wolle sie daher auch gern unterstützen. Nur dadurch, daß sie ihm eine falsche Adresse angab und ihm versprach, sich mit dem Jungen am nächsten Abend ` wieder einzufinden, entging sie schließlich seiner Verfolgung. Am nächsten Morgen ließ sie dem Jungen sein langes lockiges Haar abschneiden, damit der Verfolger ihn nicht wieder erkenne. Breitrücks Name war auch in den Kreisen, die perversen Neigungen nachgehen, nicht unbekannt.
Die gleiche sexuelle Anziehungskraft, wie dieser Knabe, scheint auch der blondlockige hübsche und gleichalterige Alwin Raczka auf Breitrück ausgeübt zu haben. Was bei dem wohlbehüteten Knaben nicht gelang, gelang bei dem arg- und schutzlosen Kinde. Welche Rolle in Breitrücks sexuellem Leben gerade die Haare spielten, ist aus der oben wiedergegebenen Erzählung der einen Freundin zu ent- nehmen. Auch mit den Haaren des kleinen Raczka hat
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Breitrück sich, wie oben dargestellt, in auffallender Weise zu schaffen gemacht. Der Einwand, daß sich an der Leiche Spuren eines geschlechtlichen Mißbrauchs odergrobe Verletzungen nicht gefunden haben, spricht nicht gegen die Annahme des sexuellen Motivs, denn die Gruppe der sog. Fetischisten findet geschlechtliche Befriedigung oft schon lediglich durch das Ergreifen und Betasten gewisser, häufig lebloser Gegenstände (Fetische). Kraft-Ebing erzählt in seiner Psychopathia sexualis den Fall des Verzeni, der drei Frauen erdrosselte und drei andre zu erdrosseln versuchte; er erklärte, daß ihm das Gefühl, wenn er sein Opfer am Halse berührt und zu würgen begonnen hatte, sexuelle Empfindungen erregt hätte und daß er daher die Frauen, bei deren Drosseln er sich schon befriedigt habe, am Leben gelassen habe. Dieser Verzeni war nach dem Ausdrucke Kraft-Ebings übrigens auch eine Art Haarfetischist, denn es gewährte ihm nach seinen eigenen Angaben einen großen Genuß, den Ermordeten die Haarnadein aus dem Haare zu ziehen. In diese Kategorie werden wir auch Breitrück einreihen können. Demgegenüber kommt nicht in Betracht, daß er in geschlechtlicher Beziehung anscheinend auch normale Befriedigung suchte und fand, denn die verschie- denen Formen desselben Triebes laufen in demselben In- dividuum nicht selten neben einander her.
Auf die Feststellung, wie die grausige Tat des Breit- rück im einzelnen verlaufen ist, müssen wir nach dem Tode des einzigen Wissenden verzichten.
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